Tina Lyr
Tempel der
vergessenen Götter
Irrlicht Band 316
Der Sturm hatte sich gelegt. Der Regen hatte aufgehört,...
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Tina Lyr
Tempel der
vergessenen Götter
Irrlicht Band 316
Der Sturm hatte sich gelegt. Der Regen hatte aufgehört, die dicke Wolkendecke war aufgebrochen. Einzelne Sonnenstrahlen sickerten durch das grüne Laubdach. Gedankenverloren wog Nicky die rätselhaften aztekischen Goldscheiben auf ihrer Handfläche. Sie funkelten und gleißten, als wollten sie eine Botschaft übermitteln. Wie lautete die Mitteilung? Was bedeuteten die eingravierten Zeichen? Waren sie Symbole einer vergessenen heidnischen Magie? Worin bestand ihre Zauberkraft? Wirkte sie heilsam, oder war sie zerstörerisch? Handelte es sich um Amulette oder um Machtinstrumente, die mit tödlicher Fluchkraft beladen waren? Die Frau spürte einen kaum wahrnehmbaren Druck an den Schläfen. Es war, als hätten Geisterfinger sie berührt. Sie wirbelte herum. Niemand war hinter ihr. Dennoch hatte sie das deutliche Empfinden, nicht allein zu sein. Der Ärztin rieselte es kalt über den Rücken. »Schnapp bloß nicht über, Nicky«, ermahnte sie sich laut. Der Eindruck, von gesichtslosen Wesen belauert zu werden, hielt an. Selbsttäuschung? Hirngespinste? Die Nachwirkung des Schocks? Oder die Nähe einer unsichtbaren, dämonischen Wesenheit?
Gleich einem schützenden Dach breitete der Dschungel seine wuchernden grünen Arme über die kleine, unzugängliche Indiosiedlung im Herzen des mexikanischen Hochlands. Die Siedlung war auf keiner Landkarte verzeichnet. Nur die Bewohner wußten, daß sie die Erben einer großen Vergangenheit waren. Der Urwald selbst hütete das Geheimnis des Dorfes am Schlangenberg. Weise Eule trat vor den geräumigen, mit Flechtwerk und Laub gedeckten Holzbau, den er mit seiner Frau Grüne Jade und seiner Familie teilte. Eine Weile stand er regungslos und nahm die vielfältigen Eindrücke auf. Vor dem langgestreckten Versammlungshaus hockten die Greise und frönten dem Vergnügen des Alters: dem Klatsch. Vom Fluß schallten aufgeregte Rufe herüber. Häuptling Tosendes Wasser lehrte die Jungen fischen. Auf dem Dorfplatz zerlegten Jäger einen Hirsch. Vor dem Kochhaus stampften alte Frauen das Mehl für die lebenswichtigen Maisfladen, die zu jeder Mahlzeit gegessen wurden. Aus dem Weghaus, wo die jüngeren Frauen und Mädchen Tuche aus Agavefasern herstellten, kam fröhliches Schwatzen. In anderen Werkstätten wurden Ton, Leder und Obsidian verarbeitet. Weise Eule empfand Stolz und Genugtuung. Das Wiederaufblühen der uralten Fertigkeiten war nicht zuletzt der Verdienst seines Vaters und seines Großvaters. Der Stamm der Nahua hatte sich auf seine überkommenen Werte und Traditionen besonnen und seine Identität wiedergewonnen. Mit gemessenen Schritten verließ Weise Eule das Dorf am Schlangenberg, das in der Sprache seines Volkes »Coatepec« hieß. Er durchquerte das Maisfeld, das sich ringförmig um den Ort erstreckte. Er hob nicht den Kopf, als ein silberner Riesenvogel die Stille der Bergwelt brach und, anmaßend genug, die Ruhe des allgegenwärtigen »Doppelherrn« störte,
der auf seinem Sternensessel über dem Universum thronte. Der Lärm schien »die Macht droben« nicht zu erzürnen. Vermutlich hörte sie nichts, weil sie schlief. Sicher bewegte sich der Mann mit der federgeschmückten Ledertoga durch die dichte, sattgrüne, gierige Urwaldvegetation. Einmal blieb er stehen und schnitt mit seinen scharfen Obsidianmesser drei große gelbblütige Orchideen ab. Weise Eule erreichte den Schlangenberg, dem die Indiosiedlung ihren Namen verdankte. Oben auf dem Hochplateau befand sich der Doppeltempel des Gottes Gefiederte Schlange und seines finsteren Widersachers Rauchender Spiegel. Eine schmale Schneise, die in die vom Dschungel überwucherten Felsterrassen geschlagen war, führte nach oben. Vor langer Zeit hatte es hier einen breiten Prozessionsweg gegeben, über den, angeführt von hohen Würdenträgern, die Gläubigen mit Opfergaben und brennenden Fackeln gezogen waren. Weise Eules Herz füllte sich mit Traurigkeit. Früher war Coatepec Eckpfeiler eines blühenden Reiches gewesen und sein Tempel eine Bastion des Glaubens. Aber davon kündeten nur noch die Legenden, die der Stamm der Nahua bei den großen Festen sang. Das Reich war untergegangen, sein Glanz erloschen, seine Religion in Vergessenheit geraten. Der Mann in der Ledertoga machte sich an den Aufstieg. Der Gang zur Tempelanlage gehörte zu seinen täglichen Pflichten, denn er war nicht nur der Medizinmann seines Stammes, sondern zugleich Bewahrer des Glaubens, Wächter des Heiligtums und oberster Priester. Es war gefährlich, die Götter zu vernachlässigen, selbst wenn es schien, als hätten sie ausgedient. Die unsichtbaren Mächte forderten ihren Tribut. Die Götter erfüllten die Menschen mit Leben, aber es waren
die Menschen, die den Göttern Kraft und Ansehen verliehen. Ein Volk, das seine Götter verleugnete, schwächte sich selbst. Der Priester hatte das Plateau erreicht. Würdevoll erklomm er die Stufen der vorderen Pyramide. Oben auf der Plattform erhob sich der Rundtempel der Gefiederten Schlange. Quetzalcoatl war, wie sein Namen schon sagte, ein schöner, freundlicher Gott, der Blutopfer verabscheute. Statt dessen liebte er Blumen und Früchte. Er war zuständig für Wind und Regen, Heilkunst, Fruchtbarkeit und Bodenschätze. Nach der Legende hatte er einst als weiser und gütiger König über sein Volk regiert. Schuld an seinem Fall war sein Feind Rauchender Spiegel. Auf Tezcatlipocas Betreiben hatte die Hexengöttin den keuschen Herrscher mit einem Zauberpilz berauscht und zur Liebe verführt. Als Gefiederte Schlange wieder zu sich kam, wurde ihm bewußt, daß er gegen die heiligsten Überlieferungen seines Volkes verstoßen hatte und sein Land verlassen mußte. Quetzalcoatl wanderte zur Küste, wo er sich auf einem Boot aus Schlangenhäuten einschiffte. Er fuhr der aufgehenden Sonne entgegen und verschmolz mit ihrem göttlichen Feuer. Eines Tages, so lautete die Prophezeiung, würde er zu seinem Volk zurückkehren und den Kampf gegen die Willkür des finsteren Tezcatlipoka aufnehmen. Weise Eule trat durch den gemeißelten Schlangenrachen, der ins Innere des Schreins führte. Erhabene Stille herrschte. Die Luft war mit süßen, aromatischen Düften erfüllt. Der Schamane verneigte sich tief und legte die Orchideenblüten vor die überlebensgroße, bemalte Steinstatue. »Nimm die Gabe, die ich dir in Ehrfurcht und Andacht zu Füßen lege, Quetzalcoatl, Beschützer des Lebens, der du den Wind wehen läßt und die Sonne am Morgen in den Himmel hebst«, intonierte der Priester.
Bekümmert sah Weise Eule in die leeren Augenhöhlen der Statue. Ein Abtrünniger hatte die Augen einst aus ihrer Fassung gebrochen und an einen weißen Kunstsammler verkauft. Sie waren etwas Besonderes, Einmaliges gewesen. Das gesamte magische Wissen des aztekischen Volkes war in ihnen enthalten. Natürlich war die Freveltat rituell gerächt worden. Der Tempelschänder, der ein „Diener des Tezcatlipoka war, hatte den Tod gefunden, und das Geheimnis von Coatepec konnte gewahrt werden. Aber die Augen des Gottes blieben verschwunden. So war Gefiederte Schlange blind für die schlimmen Dinge, die mit seinem ehemaligen Reich geschahen. »Steh deinen Untertanen bei, leuchtender Quetzalcoatl«, flehte der Priester voller Inbrunst, und sein Gebet hallte im Tempel fort. Weise Eule war nicht so vermessen, anzunehmen, daß Gefiederte Schlange nach über zwölfhundert Jahren Abwesenheit auf die Erde zurückkehren würde, um ein paar Dörfer zu retten, die weniger Einwohner zählten als ein Jahr Tage. Doch als sehender Gott würde er vielleicht aus der Ferne über die letzten Nachfahren seines Volkes wachen. Göttlicher Beistand war so ziemlich das einzige, das die Bergindianer vor der endgültigen Vernichtung retten konnte. Die Weißen rückten unaufhaltsam vor. Sie zerstörten die Natur und ihre Geschöpfe. Im gleichen Maße, wie die Wälder abgeholzt wurden, verringerte sich der Lebensraum der Nahua und der übrigen Stämme. Der Gott blieb stumm. Trotzdem fühlte Weise Eule sich auf mystische Weise getröstet, wie immer, wenn er zur Gefiederten Schlange betete. Quetzalcoatl war eins mit dem Licht, und das Licht war überall. Nie wäre Weise Eule auf die Idee verfallen, Quetzalcoatl als guten und seinen Feind Tezcatlipoka als bösen Gott zu
bezeichnen. Liebe und Haß existierten nebeneinander, und wo das Licht war, gab es auch die Finsternis, sonst wäre die Schöpfung unvollkommen. Hell und Dunkel waren notwendige Ergänzungen, durch die das heilige komische Gleichgewicht gewahrt blieb. Der Schamane verließ den Rundtempel und stieg die Stufen der Pyramide hinunter. Er überquerte einen rechteckigen Innenhof, der an seinen Längsseiten von zwei halb verfallenen Priesterpalästen gesäumt war, und erklomm die zweite Pyramide. Auf ihrer Plattform stand das Haus des Gottes Tezcatlipoka. Schwere, berauschende Gerüche hingen in der quadratischen Halle, die mit unheimlichen Schatten bevölkert war. In ihrer Mitte stand die Statue des furchterregenden finsteren Gottes, dessen Gewand mit menschlichen Gebeinen geschmückt war. Im Hintergrund ragte das Schädelgestell, an dem, brüchig und morsch, die verwitterten Schädelknochen getöteter Feinde lehnten. In der Blütezeit des Reiches waren es viele Hundert solcher Trophäen gewesen, die, nach Fäulnis und Verwesung stinkend, den Kriegsruhm des Tezcatlipoka bezeugten. Später hatten Priester die meisten Köpfe entfernt und auch keine neuen hinzugefügt. Der Pesthauch von Gewalt und Tod war dennoch geblieben. Rauchender Spiegel verkörperte das dunkle Prinzip der Natur. Er war der Blender, der Betrüger, der Hinterhältige. Er war der Patron des Krieges, der Gewalt, der schwarzen Magie, des Orakels. Er war »der, welcher die Schulter am nächsten ist.« Er war der Schatten, die substanzlose Flüsterstimme, die verderbliche, gemeine Gedanken eingab. Er war der Zwietrachtsäer, der den Menschen die Ruhe stahl, ihnen Angst einflößte. Er war der Unbegreifliche, der Unfaßbare, so monströs wie die Abgründe der Seele.
Demütig senkte Weise Eule den Kopf. Die starren, schwarzen, unnahbaren Augen des Gottes jagten ihm kalte Schauder über den Rücken. Rauchender Spiegel forderte eine Geste der Unterwerfung. Der Schamane ritzte sich mit seinem Obsidianmesser in die linke Hand. Blut quoll aus der Wunde, tropfte auf den Altar zu Füßen des Gottes. Der Opferstein war schwarz von dem Blut, das seit zahllosen Generationen darauf vergossen wurde. »Ich bringe dir mein Opfer, mächtiger Tezcatlipoka«, sagte der Priester mit hallender Stimme. »Stille deinen Durst mit Lebenssaft und erweise mir deine Gunst.« Die schwarzen Augen schienen Funken zu sprühen. Der Priester legte es als Zeichen der Zustimmung aus. Weise Eule nahm einen Spiegel aus poliertem schwarzem Obsidian vom Altar. Mit untergeschlagenen Beinen ließ er sich vor der Statue nieder. Er schüttelte ein Pulver aus zerriebenen Kräutern und Rinden in eine Schale und vermischte sie mit ölhaltigen Essenzen. Eine Stichflamme schoß blitzgleich empor. Zwei oder drei Wimpernschläge lang huschte der Feuergeist über die Decke und floh durch das massive Mauerwerk. Der Schamane sang eine Beschwörungsformel, die noch viel älter war als das Volk, dem er entstammte. Geheimnisvolle Nebel wallten aus dem Gefäß, berauschten die Sinne, luden den Schrein mit atavistischem Zauber auf. Tief sog der Priester die intensiven, betäubenden Dämpfe ein, ließ sich in die Sphäre der Magie entrücken. Er hatte das Gefühl, seinen stofflichen Körper abzustreifen, schwerelos im Raum zu schweben. Tiefer und tiefer drang er in das Mysterium des finsteren Gottes vor. Gespenstische Wesenheiten füllten den Tempel, tanzten einen dämonischen Reigen. Geisterhafte Stimmen wisperten, raunten, schwollen zu einem gewaltigen Chor. Es waren die
Stimmen des alles verschlingenden Schattens, die Rufe dessen, »welcher der Schulter am nächsten ist.« Tezcatlipoka war gegenwärtig, lebendig, überwältigend nahe. Weise Eule lauschte den unirdischen Gesängen, während er wie gebannt auf die schwarze, mit Adlerflaum verzierte Scheibe des Spiegels blickte. Der Orakelspiegel war ein Emblem des schrecklichen Gottes. Rauchschwaden stiegen aus den Tiefen des Zauberspiegels, verdichteten sich zu einem schwarzen, undurchdringlichen Schleier, der sich wie ein schwerer Mantel über den Priester legte, wieder hob und zu einer gigantischen Säule wuchs. Wie ein riesiger Rachen stieß der Spiegel neue Rauchwolken hervor. Sie wogten, teilten sich, gaben eine Vision frei: Drei Fremde drangen in das unerforschte Herz des Hochwalds vor. Es waren Weiße. Sie entweihten die heilige Tempelanlage mit ihrer Anwesenheit, zogen in das Dorf Coatepec ein. Ihnen folgten Hunderte und Aberhunderte von Gleichgesinnten: siegestrunken, triumphierend, getrieben von unmäßiger Gier… »Tötet sie«, raunte der gespenstische Chor. »Opfert sie auf meinem Altar. Sie sind eure Feinde. Nährt mich mit ihren Körpern. Gebt mir ihre Herzen zur Speise, und läßt mich ihr Blut trinken.« Der Priester fror. Er kannte die grausigen Opferriten seiner Vorfahren aus den geheiligten Überlieferungen, doch nie hatte er sie selbst vollziehen müssen. »Seid gewarnt«, wisperte es von alle Seiten. »Wenn ihr die Eindringlinge verschont, werdet ihr für eure Feigheit büßen. Ich bin hungrig, hungrig, hungrig…« Die Vision erlosch. Der Rauch legte sich, die Stimmen verstummten. Rauchender Spiegel hatte sich zurückgezogen.
Der Mann in der Ledertoga erwachte aus seiner Trance. Eine Weile blieb er benommen sitzen, um sich von der Wirkung der giftigen Dämpfe zu erholen. Schließlich dankte er dem Gott für die Offenbarung, verließ taumelnd den Tempel. Sein Herz war mit Sorge und Angst erfüllt. Bisher hatte kein Bleichhäutiger sein Dorf betreten. Selbst die Eroberer, die vor vielen, vielen Generationen über das Meer gekommen waren, um das große Reich auf ihren mörderischen Raubzügen nach dem gelben Metall auszuplündern und zu verwüsten, hatten das Dorf am Schlangenberg und seinen Doppeltempel nicht entdeckt. Nun waren die Fremden im Anmarsch. Weise Eule wußte, was er von den Weißen zu halten hatte. Sie kamen als Händler, Forscher, Missionare, Schatzsucher. Sie waren habgierig, verlogen und anmaßend. Sie brachten Masern und Schnupfen und andere Krankheiten der Zivilisation, die für die Indianer tödlich waren. Der Spruch des Orakels war klug. Die Ankömmlinge mußten sterben. Sie zu verschonen würde den Tod der Nahua bedeuten. Und den Untergang ihrer Götter.
*
Vater und Tochter funkelten sich über den Frühstückstisch kriegerisch an. Wie sie so dasaßen, das Kinn vorgereckt, die Augen fest auf den anderen geheftet, erinnerten sie an zwei rauflustige Bullterrier, die darauf lauerten, daß der Gegner sich eine Blöße gab. »Wie stellst du dir das eigentlich vor? Du mußt total übergeschnappt sein.« Dominique Quain schlug mit der Faust auf den Tisch, eine autoritäre Geste, die das Geschirr zum
Klirren brachte. »Wir haben doch kein Finanzimperium aufgebaut, damit du dich in den Slums der dritten Welt herumtreiben kannst.« »Eben weil wir so reich sind, kann ich es mir leisten, eine Weile kostenlos zu praktizieren«, konterte Nicky temperamentvoll. Sie war Ärztin und hatte zwei Jahre in einem Krankenhaus und ein Jahr in einer privaten Praxis gearbeitet. Nun war sie dabei, ihr eigentliches Ziel in die Tat umzusetzen: den Ärmsten der Armen zu helfen. »Du hast wohl deine engelhafte Ader entdeckt, Blondschopf«, spottete ihr Bruder. »Wann ist der Geist der Barmherzigkeit denn über dich gekommen?« Seine Schwester warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Willst du dich mit mir anlegen?« Auch Dominique blitzte seinen Sohn ungnädig an. »Halte den Mund, Roger!« Dann nahm er wieder seine Tochter aufs Korn. »Denke nur nicht, daß ich deine verrückte Eskapade unterstützen werde. Ich zahle dir keinen müden Cent.« Die Drohung verfing nicht. »Tue dir keinen Zwang an, Dad«, kam es gleichmütig. »Ich könnte dich enterben«, bluffte der Großindustrielle. »Meinetwegen kannst du dir dein Vermögen als Grabbeigabe aufsparen. Ich brauche es nicht.« Die hübsche sechsundzwanzigjährige Ärztin biß gelassen in ihr Marmeladenhörnchen. Zum Glück war sie finanziell unabhängig. Der Ölmagnat furchte zornig die Brauen. Allerdings war er bei weitem nicht so wütend, wie er sich gab. Tatsächlich war er ungemein stolz auf seine begabte, vielseitig interessierte Tochter. Ihre Haltung nötigte ihm Respekt ab. Seine Erstgeborene bewies Rückgrat. In ihr steckte das stählerne Durchsetzungsvermögen ihrer Vorfahren. Eine Quain katzbuckelte vor nichts und niemandem.
»Du könntest schon morgen im Dallas Memorial Hospital anfangen«, mischte sich Nathalie Quain in das Gespräch. »Gewiß, weil Dad dort im Aufsichtsrat sitzt«, antwortete Nicky kühl. »In Texas gibt es mehr als genug Ärzte. Im übrigen pfeife ich darauf, dank guter Beziehungen einen angenehmen Posten zu ergattern. Ich weiß genau, was ich will.« »Müssen es wirklich die Slums von Indien oder Südamerika ‘ sein?« fragte ihre Mutter verzweifelt. »Denke an die Seuchengefahr.« Nathalie hatte viel für Wohltätigkeit übrig, doch das Vorhaben, ihrer Tochter ging ihr entschieden zu weit. »Gegen Seuchen kann man sich schützen.« Nicky schnitt eine Grimasse. »Ich wünschte, Großmama wäre hier. Sie würde mich verstehen.« »Ich betrachte es als himmlischen Segen, daß die alte Dame im afrikanischen Busch weilt«, kommentierte Dom bissig. »Ein Querkopf im Haus genügt.« Ein vorwurfsvoller Blick streifte Nathalie, so, als wäre sie für die Marotten ihrer Mutter verantwortlich. Lady Vanessa Arras, Globetrotterin aus feinstem britischem Geblüt, war ein Kapitel für sich. Jedenfalls war es allein ihr zu verdanken, wenn Nicky auch dieses Mal ihren Willen durchsetzen würde. Die exzentrische Aristokratin hatte ihrer Enkelin nämlich ein gewaltiges Vermögen überschrieben. Sehr zum Leidwesen von Roger. Er war leer ausgegangen, zum einen, weil er sowieso in die Fußstapfen seines Vaters treten sollte, und zum anderen, weil Lady Vanessa ihren Enkel als eitlen, verschwendungssüchtigen Müßiggänger einstufte. Die wenig schmeichelhafte Charakterisierung kam nicht von ungefähr. Roger gefiel sich als Juniorchef im familieneigenen Großkonzern, doch sein Hang zur Faulheit war chronisch. Obwohl Dominique wußte, daß er den Kampf verloren hatte, unternahm er einen letzten Anlauf. »Bevor du noch mehr
spleenige Pläne produzierst, solltest du besser heiraten und dafür sorgen, daß Kinder ins Haus kommen«, fuhr er seine Tochter an. »Ich brauche einen Nachfolger, der unseren Kram zusammenhält.« Roger sah verbiestert drein. Der Seitenhieb galt vor allem ihm, das war klar. Nicky lachte ihrem Vater offen ins Gesicht. »Was willst du von mir hören, Dad? Ja und amen?« Dominique Quain grollte vernehmlich. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sprang auf. »Ich muß zu einer Konferenz. Wir reden heute abend weiter.« Seine Tochter schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das tun wir nicht! Ich werde nämlich verreisen.« Es war eine spontane Eingebung und, bei Licht betrachtete, eine sehr elegante Art, die anstehenden Schwierigkeiten zu umgehen. Vor allem das Problem »Vince«, das allmählich akut wurde. Die junge Frau konnte nicht ahnen, daß ihr »Genieblitz« sie prompt in ein Inferno aus Angst und Gefahr stürzen würde. Der Ölmagnat blieb wie angewurzelt stehen. »Ach ja? Wohin?« »In die Wüste.« »Ein lobenswerter Entschluß«, sagte der Mann ironisch. »Faste und bete, vielleicht hilft’s.« Er eilte aus dem Raum. Roger küßte seine Mutter auf die Wange und wünschte seiner Schwester viel Spaß mit den Klapperschlangen. »Gehst du ins Büro, oder befindest du dich bereits im Ruhestand?« rief Nicky ihm nach. »Weder noch«, rief der junge Mann über die Schulter zurück. »Ich habe einen Termin mit meinem Masseur.« »Das heißt: Du schwänzt wieder einmal die Arbeit«, stellte seine Schwester unverblümt fest. »Du bist immer so furchtbar direkt«, klagte Roger. »Spare dir dein Gift für die Skorpione und Vipern auf. Bei ihnen bist du
unter deinesgleichen.« Mit diesem Hinweis verkrümelte er sich. »Wohin fährst du wirklich?« fragte Nathalie Quain bekümmert. Sie haßte die hitzigen Auseinandersetzungen, die ihr Mann und ihre Tochter aus vollem Herzen genossen. »Nach Mexiko«, gab Nicky wahrheitsgemäß zur Auskunft. »Ich habe soeben beschlossen, unsere neue Ausgrabungsstätte zu besichtigen.« »Wie lange bleibst du fort?« »Ich hab’ keine Ahnung.« Nathalie seufzte. Ihre Tochter war so impulsiv. Ständig tanzte sie aus der Reihe. Das mexikanische Projekt war nur eine von vielen Verrücktheiten, die mit Lady Vanessas Vermögen verwirklicht werden sollte. »Was ist mit Vince? Er hat dich für morgen abend zu einer Party eingeladen. Du kannst ihm nicht einfach davonlaufen.« »Warum nicht? Er ist eine Niete.« »Er will dich heiraten.« »Da sei Gott vor«, sagte Nicky mit einem frommen Augenaufschlag. »Was soll ich mit einem Gehirnamputierten?« »Dein Verschleiß an Verehrern ist atemberaubend. Gibt es keinen, an dem du nichts auszusetzen findest?« Nathalie hätte ihre Tochter gar zu gern in festen Händen gesehen. Als Ehefrau und Mutter mußte Nicky ruhiger und vernünftiger werden. Zumindest würde sie nicht länger wie eine wilde Hummel durch die Gegend sausen. »Nein, keinen einzigen«, sagte die junge Ärztin fröhlich. Tröstend fügte sie hinzu: »Gräme dich nicht, Mum. Ein Mann, der mir gefährlich werden könnte, würde dir wohl überhaupt nicht gefallen.« Das war auch wieder wahr. Nicky wäre durchaus fähig, einen absolut unmöglichen Typ anzuschleppen. Sie hatte eine
Schwäche für arme Schlucker und Querdenker. Es war wirklich ein Kreuz mit ihr! »Mach’s gut, Mum.« Mit beschwingten Schritten eilte die hübsche rothaarige Ärztin aus dem Frühstücksraum, um zu telefonieren. Sie ließ sich mit Larry More im Flughafen verbinden. »Fein, daß du noch unter uns weilst«, begann sie erfreut. »Ich hatte schon befürchtet, du würdest hoch in den Wolken schweben. Irre ich mich, oder fliegst du heute mit Dr. Anderson nach Mexiko?« Der Mann am anderen Ende der Leitung grinste. »Du irrst dich nicht, Goldkind. Wir starten in etwa einer halben Stunde.« »Nein, in zwei Stunden«, stellte Nicky richtig. »Ich komme mit euch. Sage Anderson, er soll sich in Geduld fassen.« Larry More lachte. »Das wird ihm nicht schmecken.« »Schadet nichts. Ich brauche Tapetenwechsel.« »Dicke Luft?« »Du sagst es. Hattest du vor, die Cessna zu nehmen?« »So war’s geplant. Aber wenn du an Bord gehst, soll’s wohl die Learjet sein. Stimmt’s?« »Du hast’s erfaßt«, kam es lobend. »Bis später.« »Laß dir Zeit, Goldkind. Es wird eine Weile dauern, bis wir unsere Ausrüstung umgeladen haben.« Vergnügt legte Nicky den Hörer auf. Blind für die schicksalhaften Fäden, die das Verhängnis bereits um sie wob, freute sie sich auf einen erlebnisreichen Abstecher in den mexikanischen Bergwald. Umsichtig und systematisch sammelte sie ihre Siebensachen zusammen. Dann füllte sie ihren Arztkoffer mit zusätzlichen Medikamenten, die in einer subtropischen Wildnis hilfreich sein konnten. Schließlich häufte sich ein ansehnlicher Stapel Gepäck in der Zimmermitte.
»Geschafft!« Aufatmend schaute sich die junge Ärztin im Raum um. Wie beiläufig richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf eine Glasvitrine, in der, unter vielen anderen Kostbarkeiten, zwei ovale, mit Jade, Perlmutt und Türkisen besetzte Goldscheiben lagen. Sie waren identisch und es handelte sich um alte mittelamerikanische Arbeiten von erlesener filigraner Schönheit. Auf irgendwelchen obskuren Kanälen waren sie einst in den Besitz der Arras gelangt. Lady Vanessa hatte sie ihrer Enkelin als Glücksbringer geschenkt. Was die Schmuckstücke darstellten, war unklar. Sie erinnerten entfernt an Augen, aber wahrscheinlich handelte es sich um Gürteloder Schulterschnallen. Die rätselhaften Scheiben funkelten im Licht der einfallenden Sonnenstrahlen, füllten sich mit Leuchtkraft und – so absurd es klang – mit Leben. Sie schienen zu sehen, zu beobachten, ihr Blick war von eigentümlicher, bezwingender, ja, hypnotischer Intensität. Das beunruhigende Phänomen trat nicht zum erstenmal auf, und es beruhte nicht auf Einbildung. War es ein optischer Trick, hervorgerufen durch eine besondere Art der Lichtbrechung? Oder fiel die Erklärung in den Bereich des Okkulten? Nicky fröstelte. Sie fühlte eine undefinierbare Scheu, ähnlich wie bei einem kultischen Erlebnis. Es gab Eindrücke, die sich dem logischen Verstand zu entziehen schienen. Die Scheiben hatten etwas Mystisches, und ihr Geheimnis war Teil einer fernen, unergründlichen Vergangenheit. Auch später war die junge Frau nie völlig sicher, ob es Zufall, Intuition oder Fügung war, daß sie die Schmuckstücke mit auf die Reise nahm. Ob ihr Entschluß, nach Mexiko zu fliegen, ihrem freien Willen, dem Zufall oder fremder Beeinflussung entsprungen war. Ob das, was sonst geschah, auf reine Zufälligkeit oder auf das Walten einer universellen Macht zurückging. Im Rückblick jedenfalls nahm sich das, was
gemeinhin dem Zufall zugeschrieben wird, wie das Wirken der Vorsehung aus. Wäre der Schamane Weise Eule zu dem Thema befragt worden, hätte er erklärt, es gäbe keine Zufälle. Nach dem religiösen Verständnis der Naturvölker wurde alles Geschehen von den Göttern gelenkt und stand seit Anbeginn der Schöpfung in den Sternen verzeichnet. Im großen Getriebe des Kosmos existierten keine planlosen Abläufe. Aber die aufgeklärten, wissenschaftlich denkenden Menschen der Zivilisation glaubten lieber an eine ziellose Verkettung von Zufällen als an das sinnvolle, zweckerfüllte Zusammenwirken übernatürlicher Kräfte und Geister. Ohne lange darüber nachzudenken, warum sie es tat, nahm Nicky die Goldscheiben aus der Vitrine, schlug sie in ein Tuch ein und verstaute sie sorgfältig in ihrer Umhängetasche. Als die junge Ärztin ihr Zimmer verließ, verspürte sie im Nacken jenes sonderbare Prickeln, das Gefahr ankündigt, doch sie achtete nicht auf die Warnung ihres Instinkts. Pure Aufregung, weiter nichts. Kurz darauf traf Nicky auf dem Privatflughafen von Dallas ein. Larry More kam ihr entgegen. Infolge einer angeborenen Mißbildung am rechten Fuß hinkte er leicht beim Gehen. Er küßte die junge Frau kameradschaftlich auf die Stirn. »Du hast ein flottes Tempo vorgelegt, Goldkind«, sagte er schnoddrig. Die Frau umarmte ihn flüchtig. »Das will ich meinen. Wie geht’s Sue?« Susan More war ihre beste Freundin. Als Larry aufgrund seiner Behinderung keine Anstellung bei einer internationalen Fluggesellschaft bekommen hatte, war es für Nicky selbstverständlich gewesen, dem tüchtigen Piloten einen Posten in ihrer Stiftung anzubieten. »Sue fühlt sich sehr schwanger, seitdem sie ihre Beine nicht mehr sehen kann«, antwortete Larry grinsend. »Außerdem
schwört sie, daß unser Stammhalter ein Raufbold wird. Er schlägt kräftig um sich.« »Super.« Nicky nickte anerkennend mit dem Kopf. »Ich erwarte von meinem Patensohn, daß er sich durchboxt. Und wie fühlt sich der werdende Vater?« »Unreif.« »Kann’s endlich losgehen?« rief eine tiefe Männerstimme gereizt. »Wieviel kostbare Zeit wollen Sie noch vergeuden?« Larry blickte zur Learjet. »Immer mit der Ruhe, Doc. Sie sehen doch, daß die Männer dabei sind, das Gepäck zu verladen. Genießen Sie die Stille. Schätze, wir haben einen stürmischen Tag vor uns. Der Kontrollturm hat durchgegeben, daß sich im Süden ein Unwetter zusammenbraut. Es könnte also ein wenig ungemütlich werden.« »Sollen wir den Flug verschieben?« schlug Nicky zögernd vor. Der Pilot zuckte die Achseln. »Die Mexikaner haben unsere Route genehmigt. Also liegt keine größere Sturmwarnung vor.« »Gut. Dann fliegen wir wie geplant ab.« Die Medizinerin verspürte einen unguten Druck im Magen, als sie die Gangway hinaufging. Resolut überspielte sie ihr Unbehagen. Was sollte ihnen Schlimmes zustoßen? Larry war ein erfahrener, verantwortungsbewußter Pilot, der kein unnötiges Risiko einging. Nicky betrat den komfortabel ausgestatteten Passagierraum. Dr. Raoul Anderson blätterte zerstreut in seinen Notizen. Er war ein attraktiver Mann, hochgewachsen, dunkelhaarig, Mitte Dreißig, mit markanten Zügen und intelligenten braunen Augen. Allerdings sah er ausgesprochen mürrisch drein. Geduld war nicht seine Stärke. Die junge Frau reichte ihm freundlich die Hand. »Hallo, Dr. Anderson. Ich bin Nicky Quain.«
»Sehr erfreut«, kam es in einem barschen Ton zurück, der genau das Gegenteil besagte. Kein Zweifel: der Neue hatte Haare auf den Zähnen. Die Frau setzte ihr sonnigstes Lächeln auf. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, daß ich Ihnen Gesellschaft leiste?« fragte sie eine Spur zu kokett. Die Tochter des Chefs war wohl auf einen Flirt erpicht? Der Archäologe kräuselte abfällig die Mundwinkel. Miß Quain vergeudete ihren Charme. Ihn würde sie nie einfangen. Gewiß, sie war bildschön: rassig, grazil, mit halblangem hellsträhnigem Haar, einem aparten Gesicht und sprechenden grünen Augen. Eine bezaubernde Kleiderpuppe, kunstvoll angemalt und geistig anspruchslos. Was aber nützte die reizvollste Fassade, wenn sie nur dazu diente, einen Mangel an Inneneinrichtung zu verdecken? Sie waren doch alle gleich, diese verwöhnten, gelangweilten Luxuspflanzen, die keinen anderen Daseinszweck kannten, als das Geld ihres reichen Daddys zu verpulvern. Stroh im Kopf und Dollars in der Tasche. Raoul hatte keine Verwendung für Nippesfiguren. Er zwang sich zu einer Grimasse, die er vermutlich für ein höfliches Lächeln hielt, die aber in Wahrheit einem Zähneblecken gleichkam. »Nein«, log er. »Auf diese Weise komme ich in den Genuß, mit Ihrem Edeljet zu fliegen. Wollen Sie in Mexico City Einkäufe tätigen?« Nicky hatte sich ihrerseits eine Meinung über Dr. Anderson gebildet. Er war ein übelgelaunter, selbstgefälliger, überheblicher, mit Vorurteilen behafteter Macho, der es für ein Naturgesetz hielt, daß eine reiche Erbin zwangsläufig auch dumm sein müßte. Es war Zeit, daß jemand seinen Dünkel dämpfte. Geflissentlich überhörte die Ärztin den Spott. »Aber ja. Gewiß werde ich einige Boutiquen besuchen«, plapperte sie, den naiven Ton von Marilyn Monroe imitierend. »Und
natürlich werde ich zu Pepe gehen. Das ist ein absolutes Muß. Pepe ist der beste Frisör von Lateinamerika.« Sie blinzelte dem Mann zutraulich zu. »Nun seien Sie nicht so sauer auf mich, Dr. Anderson«, schmeichelte sie. »Es tut mir aufrichtig leid, daß Sie meinetwegen warten mußten. Ich entschuldige mich auch.« »Keine Ursache, Miß Quain«, entgegnete er barsch. »Ihr Vater bezahlt für meine Zeit. Es ist sein Geld, das verschwendet wird.« Arroganter ging’s kaum! Ein unangenehmer Zeitgenosse. Die Frau unterdrückte das fast unwiderstehliche Verlangen, dem aufgeblasenen Rüpel mitzuteilen, was sie von ihm und seinen Manieren hielt. Statt dessen lächelte sie sphinxhaft und schwieg, weil die Maschine gerade über die Startbahn rollte und vom Boden abhob. Erst als sie in der Luft waren, stellte Nicky die Sachlage klar. »Ich fürchte, Sie unterliegen einem Irrtum, Dr. Anderson. Sie arbeiten für mich, nicht für meinen Vater. Ich habe die Expedition in die Sierra Madre angeregt. Das Dominique Quain-Institut geht auf mich zurück.« Das war allerdings peinlich. Dem Mann verschlug es buchstäbliche die Sprache. Ihm dämmerte, daß er in ein offenes Messer gelaufen war. »Ich… habe angenommen… alle Welt weiß, daß Ihr Vater mit Vornamen Dominique heißt«, stammelte er. »Stimmt«, bestätigte Nicky ungerührt. »Ich bin nach ihm benannt. Dad hat darauf bestanden, daß sein erstgeborenes Kind seinen Namen tragen sollte.« »Sie haben das Institut gegründet?« Raoul war es zumute wie einem Nichtschwimmer, der unversehens ins Wasser gestoßen wird und keinen Boden unter seinen Füßen findet. »So ist es.« Nicky sah keinen Grund, auf das Wie und Warum einzugehen. Im Einvernehmen mit Lady Vanessa hatte
sie eine Stiftung für Völkerkunde ins Leben gerufen. Das Institut förderte unter anderem ein Museum für frühe amerikanische Kunst und finanzierte archäologische Ausgrabungen. Raoul Anderson war als Leiter einer Expedition in die südöstliche Sierra Madre vorgesehen. Die nächsten Tage sollten ihm Gelegenheit geben, sein zukünftiges Grabungsgebiet zu begutachten und einheimische Arbeiter zu verpflichten. Der Wissenschaftler schwankte zwischen Ärger und Verlegenheit. Er fühlte sich veralbert, blamiert. Es war nicht zu übersehen, daß seine Geldgeberin sich auf seine Kosten prächtig unterhielt. »Wie kommt es, daß niemand Sie über die Verhältnisse im Institut aufgeklärt hat?« forschte Nicky neugierig. »Ihre Arbeitskollegen sind doch sonst nicht zurückhaltend.« »Sie vergessen, daß ich erst kurze Zeit in Ihrer Stiftung tätig bin«, erklärte der Archäologe steif. »Direktor Smith hat mir nichts gesagt. Außerdem achte ich nicht auf Klatsch.« Nein, darüber bist du erhaben, dachte Nicky. Raoul Anderson war weder umgänglich noch kontaktfreudig. Auf seinem Fachgebiet leistete er Hervorragendes und hatte schon viele brillante Artikel veröffentlicht. Ob er sich zum Leiter einer Expedition eignete, stand auf einem anderen Blatt. Er war ein Einzelgänger und interessierte sich nicht für die Menschen, mit denen er zu tun hatte. Ein Teamchef aber sollte mit seinen Leuten auf vertrautem Fuß stehen. Wenn der Gemeinschaftsgeist fehlte, ließ die Zusammenarbeit zu wünschen übrig. Dr. Anderson hing finsteren Grübeleien nach. Miß Quain benutzte also Daddys Vermögen, um sich als Mäzenin in akademischen Kreisen hervorzutun. Die Erforschung alter Kulturen war für sie ein extravagantes Steckenpferd, das sie sich leistete, weil sie es für schick hielt.
Der hochgewachsene Mann grollte innerlich. Er hatte es schon als Zumutung empfunden, seine wertvollen Kenntnisse einem texanischen Ölscheich anzubieten. Nun sollte seine berufliche Karriere von den Launen eines geistig unbedarften Nobelgeschöpfes abhängig sein, das vermutlich an die Arche Noah dachte, wenn von »Archäologie« die Rede war. Nicky war einfühlsam genug, um richtig beurteilen zu können, was in ihrem Begleiter vorging. Sie amüsierte sich über seine Seelenkrämpfe. Ein intellektueller Snob. Hoffentlich erstickte er an seinem Hochmut. Ein Rütteln ging durch das Flugzeug. »Wir trudeln ab«, stellte Raoul mit sachlicher Stimme fest. »Heute ist nicht unser Glückstag.« »Nein«, pflichtete die Frau ihm bei. Seitdem sie das Gebirge erreicht hatten, war die Witterung umgeschlagen. Orkanböen fegten über die Bergkette. Blitze sausten im Zickzackkurs über den Himmel, gefolgt von krachendem Donner. Wieder spürte die hübsche Ärztin ein alarmierendes Kribbeln im Rücken. Sie hätte früher darauf achten sollen. Jetzt war es zu spät, umzukehren oder auszusteigen. Immer wieder geriet die Maschine in Luftwirbel, sackte gelegentlich ab, um sich wieder zu fangen. »Hoppla, gleich geht’s rund«, rief Larry More über das Bordmikrofon. »Bleibt angegurtet. Das ist ein offizieller Befehl. Wir sind in einer kritischen Zone und haben den Kontakt zur Bodenstation verloren. Ich werde versuchen, das Sturmzentrum zu umgehen. Ob’s mir gelingt, ist allerdings mehr als fraglich.« Hoffen. Bangen. Innere Anspannung. Die Nerven wurden auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Die Kursänderung mißlang. Der Sturm hatte die Gewalt über die Learjet übernommen, spielte mit ihr Katz und Maus.
Erneut wurde sie von den Turbulenzen erfaßt und wie ein Wurfball hin- und hergeschleudert. »Mist!« schimpfte der Pilot. »Jetzt ist das rechte Triebwerk ausgefallen. Schätze, wir müssen runter, Freunde.« Instinktiv schaute Nicky aus dem Fenster. Die dicht bewaldete Gebirgskette mit ihren schroffen Steilhängen lud nicht gerade zu einer Notlandung ein. Die einzige relativ ebene Fläche war ein Hochplateau, das den Eindruck erweckte, als wäre es früher einmal kultiviert worden. Auch Raoul forschte mit den Augen die grüne Wildnis ab. »Sehen Sie die Felsterrassen da vorn, Captain More?« rief er aufgeregt in sein Mikrofon. »Sie liegen genau vor meiner Pupille, Doc«, kam es gelassen zurück. »Eine davon schwebt mir als Absturzstelle vor. Fangt schon mal zu beten an. Ich lasse jetzt Treibstoff ab, damit wir nicht zu Asche verkohlen, wenn wir in den Urwald krachen.« »Oje, ich habe vergessen, meine Beruhigungstabletten einzupacken«, sagte Nicky in einem Anflug von Galgenhumor. Prüfend musterte sie ihren Begleiter. Er gab sich gefaßt wie ein altgedienter Offizier, der dem Tod mit unerschütterlicher Ruhe ins Auge sieht. Seine Disziplin war bewundernswert, wirkte anspornend. Ob noch mehr unbekannte Qualitäten in ihm schlummerten? Dem Wissenschaftler wiederum imponierte die eiserne Selbstbeherrschung seiner Geldgeberin. Widerstrebend räumte er ein, daß er sie unterschätzt hatte. Sie hielt sich sehr tapfer. Ein hysterisches Huhn war sie jedenfalls nicht. Ihr Nervenkostüm war stabil. »Angst, Miß Quain?« »Ja«, gestand die Frau kleinlaut. »Ich bin fürs Heldentum nicht geschaffen.«
»Ich auch nicht.« Raoul verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, während er tröstend über ihre schmale Hand strich. »Es wird schon schiefgehen. Kopf hoch.« »Nicht hoch, sondern runter!« kommandierte Larry durch das Mikrofon. »Jetzt geht der Tanz erst richtig los. Ich öffne den Reservetank. Haltet euch gut fest. Unsere Landung könnte ein bißchen unsanft werden. Bis später.« »Auf Wiedersehen im Jenseits, du Witzbold«, murmelte Nicky. An das, was dann geschah, erinnerte sie sich später nur bruchstückhaft. Alles vollzog sich mit rasender Geschwindigkeit. Ein Rütteln geht durch die Maschine, als der Rumpf die Baumwipfel streift, in den Hochwald einbricht. Das Flugzeug kippt nach vorn, dann zur Seite. Ein Fall ins Bodenlose, begleitet von ohrenbetäubendem Krachen. Ein Alptraum aus Entsetzen und Panik. Schock, Grauen, Todesangst. Der unvermeidbare Aufprall. Eine gewaltige Hand scheint das Flugzeug in Stücke zu reißen. Berstendes Metall. Ein sprühender Funkenregen. Das Sein explodiert in einen Wirbel aus Lärm und Schmerz. Lähmende Taubheit. Ein Gefühl von Endgültigkeit. Das ist es, das Sterben, schoß es Nicky durch den Sinn, bevor eine undurchdringliche Schwärze über ihr zusammenschlug.
*
Blitze zuckten grell über den wolkenverhangenen Himmel. Donnerkrachen erschütterte die Erde. Weise Eule stand auf der Tempelpyramide des Gottes Rauchender Spiegel und verfolgte aufmerksam den Kampf des
silbernen Riesenvogels gegen die Elemente. »Die Macht droben«, hatte also ihren Zornstrahl geschleudert, um den Ruhestörer zu zermalmen. Sterbend hielt der silberne Riesenvogel seine Schwingen weit ausgebreitet, so, als könnte es ihm noch gelingen, dem Unvermeidlichen zu entrinnen. Mit stolz gespannten Flügeln stürzte er auf die Erde, schön, trotzig und zu Tode verwundet. Sein Kadaver wurde vom Urwald verschlungen. Die Aasfresser warteten bereits. Der Schamane nickte schwerfällig mit dem Kopf. Er hatte das tragische Ende des Riesenvogels vorausgeahnt. Die Götter rächten jedes Vergehen. Sie ließen sich nicht ungestraft herausfordern oder gar beleidigen. Weise Eule verspürte weder Genugtuung noch Triumph. In seinen dunklen Augen lag Trauer und Ergebenheit in die Kräfte des Schicksals, die für alle Geschöpfe galten und hingenommen werden mußten. Die Gesänge der Nahua berichteten von der Vergänglichkeit des Ruhmes. Der Fall des prachtvollen Silbervogels stand wie ein Symbol für die Tragik des aztekischen Reiches. Auf der Höhe von Glanz und Reichtum war es zerbrochen und die Beute des gefräßigen Dschungels geworden. Der Sieg und die Niederlage gehörten zusammen. Sie ergänzten sich wie der Tag und die Nacht, wie die Sonne und der Mond, wie Geburt und Tod. Werden und Vergehen hatte das gleiche Gewicht auf der großen Wange des Universums. Der Schamane bückte sich schwerfällig nach dem toten Truthahn, der auf dem Opferstein des Gottes Tezcatlipoka ausgeblutet war, und stieg, den Kadaver in der Hand, gemessen die Stufen hinab. Es war Zeit, daß er in sein Dorf zurückkehrte. Heute abend würde es in seiner Sippe gerösteten Truthahn geben, und während sie aßen, würde er vom Ende des silbernen Riesenvogels erzählen.
Eine neue Legende würde ihren Anfang nehmen. Eine Legende um ein dramatisches Geschehen, das sich unendlich oft in unendlich vielen Variationen wiederholte.
*
Widerstrebend löste sich Nicky aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie zitterte, ihre Zähne klapperten vor Kälte, und ihre Nerven vibrierten wie die Saiten einer Geige. Als sie zögernd die Augen aufschlug, sah sie, verschwommen und auf groteske Weise verzerrt, Raoul Andersons kantige Züge über sich. Allmählich wurden die Konturen klar, das Gesicht trat scharf hervor. »Sie bluten an der Schläfe«, sagte die Frau automatisch. »Wenn’s weiter nichts ist.« Der Archäologe wischte mit dem Hemdsärmel achtlos über seine Stirn. »Wir sind gerettet, das allein zählt. Wie fühlen Sie sich?« »Miserabel gut.« »Fein. Wenigstens Ihr Humor hat nicht gelitten.« Nicky betrachtete den Mann forschend aus den Augenwinkeln. Er war übel zugerichtet, so als wäre er in eine wüste Schlägerei geraten. »Sie sind auch nicht in bester Verfassung, Dr. Anderson.« Der Archäologe straffte energisch die Schultern. Sein ausgeprägtes Pflichtgefühl verbot, daß er in einer Krisensituation Schwäche zeigte. »Unsinn«, wehrte er ab. »Ich hab’ ein paar Püffe abbekommen, aber sonst bin ich in Hochform.« Die Ärztin lächelte unter Tränen. »Sie schwindeln, Dr. Anderson«, sagte sie freimütig.
Der Sturm tobte mit unverminderter Stärke, obwohl die Bäume einen gewissen Schutz boten. Regen hatte eingesetzt. Die warme Luft dampfte vor Nässe. Benommen wandte Nicky den Kopf zur Seite. Sie sah das Wrack ihres Learjet: der Rumpf in der Mitte geborsten, das Cockpit zerstört. Metallteile, die, schief und irgendwie makaber, an gesplitterten Baumstämmen hingen. Ein morbider Anblick, wie ein Ausschnitt aus einem Horrorfilm. Auf wundersame Weise hatten sie die Katastrophe überlebt. Die Maschine war – auch das grenzte an ein Wunder – nicht in Flammen aufgegangen. Sie verdankten es dem Können ihres Piloten. Er hatte eine flugtechnische Meisterleistung vollbracht. Larry! Wo war er? »Er liegt dort drüben«, sagte Raoul Anderson beruhigend. »Ist er… lebt er?« »Er ist verletzt. Ihn hat es am schlimmsten erwischt. Aber er lebt und ist bei Bewußtsein. Insgesamt haben wir das Unglück glimpflich überstanden.« Nicky schluchzte vor Erleichterung. Vorsichtig bewegte sie ihre Gliedmaßen. Stechende Schmerzen schossen durch ihren geschundenen, mit Quetschungen und Blutergüssen übersäten Körper. Knochen waren offenbar nicht gebrochen. »Haben Sie uns aus dem Wrack geholt, Dr. Anderson?« »Ja.« »Vielen Dank. Ich werd’s Ihnen nie vergessen.« »Seien Sie nicht albern, Miß Quain.« Raoul strich eine Haarlocke aus Nickys Stirn. Es war eine unbewußte, sehr zarte Geste. Die Frau richtete sich mühsam auf. Alles in ihr protestierte, als der Mann sie behutsam auf die Beine zog und festhielt. In
ihrem Kopf klirrte es wie splitterndes Glas. Zimperlich trat sie mit dem Fuß auf. Es war die reinste Tortur. »Geht’s? Können Sie stehen, Miß Quain?« Tapfer biß Nicky die Zähne zusammen. »Ja.« Dann, kläglich: »Au!« »Stöhnen Sie ruhig, Miß Quain. Manchmal hilft es.« Die Frau lachte zittrig. »Ich bin keine Heulboje, nehmen Sie das gefälligst zur Kenntnis. Und bitte, nennen Sie mich bei meinem Vornamen. In unserer mißlichen Lage sollten wir auf Förmlichkeiten verzichten.« Der Archäologe zuckte unmerklich zurück. »Wie Sie wünschen. Ich heiße Raoul.« »Ich weiß.« Humpelnd ging die Texanerin zu dem Piloten, kniete neben ihm nieder. Jede Bewegung kostete sie heroische Überwindung. »Wie geht’s, du Kunstflieger?« Nicky schlug einen gewollt forschen Ton an. Larrys fahle Blässe erschreckte sie. Der Verletzte stöhnte. »Mein rechtes Bein. Ich kann es nicht bewegen. Mein Kopf ist auch nicht in Ordnung. Vor meinen Augen flimmert es, als hätte ich eine kaputte Mattscheibe vor mir.« »Siehst du uns doppelt?« »Nein. Bei allem Respekt: einmal reicht. Eure Gesichter sind wie von Picasso gemalt.« »Du warst schon galanter«, meinte Nicky trocken. »Im übrigen muß ich dir gratulieren. Du hast uns heil auf die Erde gebracht.« »Fragt sich nur, ob sich die Mühe gelohnt hat«, murmelte Larry in einer Aufwallung von Verzweiflung. »Wir sitzen im Urwald fest. Sue wird ihr Baby ohne mich zur Welt bringen müssen.« »Sei nicht so pessimistisch«, mahnte die Frau. »Irgendwie werden wir uns aus dieser Klemme befreien. Und was Larry
junior betrifft: Du hast deinen Anteil an seiner Entstehung schon vor acht Monaten erfüllt. Schauen wir nach, wo’s dich zwickt.« »Überall«, sagte der Pilot bitter. »Lassen Sie mich ran.« Raoul Anderson wollte Nicky zur Seite schieben. »Ich verstehe mich auf Erste Hilfe.« »Zu Ihrer Information: ich auch«, kam es schnippisch zurück. »Ich bin nämlich Ärztin.« »Verzeihung. Das wußte ich nicht.« Raoul sah die Frau mit wachsender Hochachtung an. Er schämte sich für seine Voreingenommenheit und leistete ihr im stillen Abbitte. Gleichzeitig freute es ihn, daß das Bild, das er sich gemacht hatte, völlig falsch gewesen war. Dom Quains Tochter war alles andere als oberflächlich veranlagt. Obendrein hatte sie etwas sehr Anziehendes. Larry mokierte sich offen. »Unser Goldkind ist eine verdammt gute Medizinerin. Nur pocht sie nicht auf ihren Doktortitel wie gewisse andere Leute.« Raoul Anderson besaß den Anstand zu erröten. »Halt die Klappe, Larry. Du hast eine Gehirnerschütterung, auch wenn dein Mundwerk wie geölt läuft.« Sachkundig untersuchte Nicky den Piloten. Sie prüfte seine Atmung, seinen Puls, seine Reflexe, tastete das verletzte Bein ab. »Außerdem ist dein Schienbein gebrochen. Zum Glück ist es nicht gesplittert. Ich kann es einrichten und stützen.« »Hat er innere Verletzungen?« forschte Raoul betroffen. Die Ärztin nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe. »Das läßt sich ohne Röntgengerät nicht mit Sicherheit feststellen. Ich will’s nicht ausschließen, doch mir scheint, als hätte er unverschämt viel Glück gehabt. Wie wir alle.« Larry verzog den Mund zu einem schwachen Schmunzeln. »Kunststück! Ich hab’ eine saubere Bruchlandung hingelegt.«
Der Archäologe sparte nicht mit Anerkennung. »Darauf können Sie Gift nehmen. Mein Kompliment. Sie sind ein As.« »Sie machen mir keine Vorwürfe?« »Quatsch. Weshalb auch? Sie trifft doch keine Schuld. Es war einfach eine Verkettung von unglücklichen Umständen.« »Ich will euer Geplauder nicht stören, aber die Arbeit geht vor«, bemerkte Nicky und sah sich suchend um. »Wäre es denkbar, daß unsere Gepäckstücke in der Nähe verstreut liegen? Ich brauche meinen Arztkoffer. Wir müssen Larrys Bein ruhigstellen, Ihre Kopfwunde versorgen, Raoul.« »Ich bin schon fort.« Der Wissenschaftler ging hinkend zum Laderaum des Wracks. Nach überraschend kurzer Zeit kehrte er mit einer prallgefüllten bauchigen Tasche zurück. Obendrein hatte er eine Werkzeugkiste und einen langen Holzstock mitgebracht. Unaufgefordert schnitt er aus dem Stab eine Schiene zurecht. Nicky packte den Inhalt ihres Koffers aus. Dabei redete sie betont salopp auf den Verletzten ein. Sie wußte, daß ein burschikoser Ton auf Kranke beruhigend wirkte. Wenn der behandelnde Arzt flotte Sprüche klopfte, kann es um seinen Patienten nicht allzu schlimm stehen. »Mal sehen, was wir in unserer Wundertüte alles finden. Ah, da ist ja mein Handwerkszeug. Es ist alles vorhanden, um dich zusammenzuflicken.« »Glaubst du, du kriegst mich wieder hin?« fragte der Pilot mit gepreßter Stimme. »Klar. In einigen Wochen wirst du so gut wie neu sein.« Die Ärztin hatte inzwischen den Schuh von Larrys verkrüppeltem Fuß gelöst. Das gebrochene Bein war bereits stark angeschwollen. Der Verletzte krümmte sich vor Qual. Nicky zog eine Injektionsnadel auf und spritzte ihm ein schmerzstillendes Mittel. Während sie wartete, daß die Wirkung der Droge einsetzte, kümmerte sie sich um Raouls
Stirn wunde. Sie blutete nach wie vor und mußte dringend versorgt werden. »Es hat Zeit bis später«, wehrte der Wissenschaftler ab. »Verflixt, halten Sie still!« schimpfte die Ärztin. »Sie zappeln ja wie ein Fisch an der Angel.« Behutsam desinfizierte sie den tiefen Schnitt. »Seien Sie nicht so wehleidig.« Ein verlegenes Lächeln huschte über das markante Männergesicht. »Den Rüffel hab’ ich offenbar verdient.« Aus Stöcken und Planen improvisierte Raoul eine Art Feldlazarett. Nicky schiente das verletzte Bein. Der Pilot ließ die Prozedur gottergeben über sich ergehen. Er klagte auch nicht, als ihm ein Kopfverband angelegt wurde. Erst am Schluß verlor er vorübergehend das Bewußtsein. »Es ist besser für ihn«, sagte die Ärztin sachlich. »So spürt er seine Schmerzen für eine Weile nicht. In dem Zustand, in dem er sich befindet, wage ich es nicht, ihm eine starke Dosis Morphium zu spritzen.« Raoul gab keine Antwort. Geistesabwesend starrte er auf die mißgestalteten Zehen des anderen Mannes. »Und?« bemerkte Nicky eisig. Sag ein abfälliges Wort, dachte sie, dann kannst du dein blaues Wunder erleben. »Ich find’s großartig, daß er trotzdem Pilot geworden ist«, gestand der Archäologe unerwartet. »Es war sicher nicht leicht für ihn, sich in diesem Beruf zu behaupten. Ich bewundere Menschen, die ihre Probleme meistern und sich durchsetzen.« Nickys Herz flog ihm zu. Er hatte ihr einen Blick in sein Innerstes gewährt: bei seiner Zurückhaltung war es wie ein Geschenk. Er war, alles in allem, kein übler Bursche. Obwohl ihn jeder Knochen im Leib schmerzen mußte, hatte er ungebeten alle schweren Arbeiten übernommen. Er war stolz und unnahbar, doch er war härter gegen sich selbst als gegen andere und besaß ein hohes Maß an Verantwortungsbewußtsein. Wenn sie je aus diesem
Schlamassel herauskamen, sollte er den ersehnten Posten als Expeditionsleiter haben. Larry stöhnte. Er fieberte. »Es dürfte eine Weile dauern, bis er sich wieder erholt hat«, sagte die Ärztin sachlich. »Aber er wird’s überstehen.« »Sie haben wunderbare Arbeit geleistet«, lobte Raoul. »Immerhin sind Sie selbst ziemlich lädiert.« Nicky winkte mit der Hand ab. »Mich wirft so leicht nichts um. Ich bin zäh wie Schuhleder und robust wie ein Panzer. Sie scheinen vom gleichen Schlag zu sein.« Der Archäologe lachte. »Bevor wir anfangen, uns gegenseitig zu beweihräuchern, sollten wir uns besser überlegen, wie’s weitergebt.« »Wir müssen natürlich Hilfe herbeirufen.« »Bravo. Fragt sich nur, wie.« »Wie steht es mit dem Funkgerät?« »Vergessen Sie’s. Es hat sich in seine Bestandteile aufgelöst.« »Und der Flugschreiber?« »Ist unauffindbar. Wahrscheinlich ist er irgendwo im Dschungel verlorengegangen.« »Mist!« Nicky nagte ratlos an ihrer Unterlippe. »Wenn der Flugschreiber Gott weiß wo liegt, werden die Suchmannschaften uns nicht aufspüren. Vielleicht könnten wir ein Signalfeuer entzünden?« »Gern«, sagte der Mann ironisch. »Aber womit? Der Treibstoff aus dem Jet ist abgelassen, und das feuchte Unterholz wird nicht brennen.« Er hatte recht. Leider. »Unsere Zukunft sieht düster aus«, bemerkte die Frau gefaßt. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie elend sie sich in Wahrheit fühlte.
Raoul nickte grimmig mit dem Kopf. »So ist es. Wir sind auf uns gestellt und müssen uns durch den Urwald schlagen. Je früher wir damit anfangen, desto größer sind unsere Chancen, daß wir irgendwo eine Siedlung oder eine Missionsstation finden.« Die Ärztin zuckte erschrocken zurück. »Larry ist nicht transportfähig.« »Das ist mir sonnenklar, Teuerste«, kam es von oben herab. »Deshalb werde ich mich allein auf den Weg machen. Erinnern Sie sich an das Hochplateau über den Felsterrassen? Es kann nicht weit von hier sein. Ich werde es mir genauer ansehen.« »Was hoffen Sie dort zu finden?« »Was weiß ich? Vielleicht ein Dach über dem Kopf. Oder eine Höhle. Irgendwo müssen wir ansetzen.« »Sie haben recht.« Nicky sah bittend zu dem hochgewachsenen Mann auf. »Passen Sie gut auf sich auf, Raoul. Achten Sie darauf, daß Sie nicht auf eine Viper treten. Hier dürfte es von Giftschlangen wimmeln.« Der Archäologe war schon wieder sein gewohntes arrogantes Selbst. »Die wenigsten Schlagen kriechen auf dem Boden, sie hängen vielmehr von den Bäumen«, dozierte er mit gönnerhafter Stimme. »Besten Dank für die Belehrung.« Die Frau schnitt eine Grimasse. »Ich wünsche Ihnen trotzdem viel Glück. Verirren Sie sich bitte nicht.« »Keine Sorge. Ich habe einen Kompaß.« Der Mann zählte die Kugeln in seiner Munitionstasche. »Bis später. Sie könnten inzwischen überprüfen, was Ihre ehemalige Bordküche noch hergibt. Mit Verpflegung überlebt es sich leichter.« Diesen Hinweis hätte er sich sparen können, dachte die Ärztin gereizt. Ausgerüstet mit Pistole, Stablampe und Taschenmesser, bahnte Raoul sich einen Weg durch das niedrige Buschwerk.
Nicky blickte ihm mit frostiger Miene nach. Aber als sie sah, daß er beim Gehen das linke Bein nachzog, entspannten sich ihre Züge. Er war ein kaltschnäuziger Patron, ein Besserwisser ersten Grades, aber er hatte Charakter. Oder täuschte sie sich in ihm? Ging er womöglich fort, um seine eigene Haut zu retten? Betrachtete er seine Gefährten als unnützen Ballast, den er so rasch wie möglich abschütteln wollte? »Sue? Wo bist du?« kam es krächzend aus dem provisorischen Zelt. »Mir ist schwindlig.« Die Ärztin eilte zu ihrem Patienten. Seine Stirn glühte, und sein Puls raste. Nicky spritzte ihm ein fiebersenkendes Serum. Mehr konnte sie im Augenblick nicht für ihren Freund tun. Nachdem sie Larry versorgt hatte, suchte sie systematisch das Flugzeugwrack und die Unglücksstelle ab. Sie entdeckte einige Konserven mit unterschiedlichem Inhalt, obendrein Obst, Kekse und Schokolade. Es fand sich sogar eine Whiskyflasche, die den Absturz wohlbehalten überstanden hatte. Im Laderaum waren Seile, Decken, Haken und eine faltbare Trage für Larry. Achtsam legte die Frau die gefundenen Schätze zusammen. In der Wildnis konnten sie über Leben oder Tod entscheiden. Zwischen einem Gestrüpp aus Lianen und Baumwurzeln spürte Nicky ihre Umhängetasche auf. Nichts fehlte. Inzwischen hatte sich der Sturm gelegt. Der Regen hatte aufgehört, die dicke Wolkendecke war aufgebrochen. Einzelne Sonnenstrahlen sickerten durch das grüne Laubdach. Gedankenverloren wog Nicky die rätselhaften aztekischen Goldscheiben auf ihrer Handfläche. Sie funkelten und gleißten, als wollten sie eine Botschaft übermitteln. Wie lautete die Mitteilung? Was bedeuteten die eingravierten Zeichen? Waren sie Symbole einer vergessenen heidnischen Magie?
Worin bestand ihre Zauberkraft? Wirkte sie heilsam, oder war sie zerstörerisch? Handelte es sich um Amulette oder um Machtinstrumente, die mit tödlicher Fluchkraft beladen waren? Die Frau spürte einen kaum wahrnehmbaren Druck an den Schläfen. Es war, als hätten Geisterfinger sie berührt. Sie wirbelte herum. Niemand war hinter ihr. Dennoch hatte sie das deutliche Empfinden, nicht allein zu sein. Der Ärztin rieselte es kalt über den Rücken. »Schnapp bloß nicht über, Nicky«, ermahnte sie sich laut. Der Eindruck, von gesichtslosen Wesen belauert zu werden, hielt an. Selbsttäuschung? Hirngespinste? Die Nachwirkung des Schocks? Oder die Nähe einer unsichtbaren, dämonischen Wesenheit? Oder war es das Ausgeliefertsein an den Dschungel? Gierig und ungezähmt wie in den ersten Tagen der Schöpfung, setzte die Wildnis uralte, primitive Ängste frei. Ein absurder Verdacht keimte in der Frau auf. Sie waren nicht zufällig über diesem Ort abgestürzt. Sie waren hier, weil fremde Mächte es so gefügt hatten. Es hing mit den augenförmigen Scheiben zusammen. In einem Anflug von abergläubischer Scheu stopfte Nicky die Schmuckstücke in ihren Beutel zurück. Sie stockte, schüttelte befremdet den Kopf über sich selbst. Kein Zweifel: sie war nicht recht bei Trost! Wo blieb Raoul? Sollte er nicht längst zurück sein? Hoffentlich war auf ihn Verlaß. Wäre es ihm überhaupt zu verübeln, wenn er einen Schwerverletzten und eine Frau, die allmählich durchdrehte, ihrem Schicksal überließe? Jäh und gegen ihren Willen begann die junge Frau zu lachen. Sie lachte und lachte: schrill, hysterisch, hilflos. Schließlich wurde sie von einem unkontrollierbaren Schluchzen geschüttelt.
Die grüne Wildnis verschluckte alles: Menschen, Dinge, Gefühle, Geräusche.
* »Auf dem Hochplateau befindet sich eine bisher unbekannte Tempelanlage.« Raoul Anderson strahlte wie ein Briefmarkensammler, der in einem ererbten Album eine blaue Mauritius entdeckt hat. »Sie scheint äußerlich unversehrt«, schwärmte er. »Ich wollte meinen Augen nicht trauen.« Nicky ließ sich von seiner freudigen Erregung anstecken. »Bedeutet es, daß die spanischen Eroberer sie nicht geplündert haben?« »Nicht unbedingt. Aber möglich wär’s.« »Sind Sie in der Anlage gewesen?« »Nein«, kam es bedauernd. »Als ich die Pyramide gesehen habe, bin ich umgehend zurückgekehrt, um Sie und Mr. More zu holen. Wir werden uns im Tempel einquartieren, bis der Captain voll transportfähig ist. Dort sind wir vor Nässe und wilden Tieren sicher.« Raoul betrachtete beifällig den ansehnlichen Gepäckstapel. »Sie sind sehr fleißig gewesen.« »Müssen wir all das Zeug zum Tempel schleppen?« forschte Nicky kleinlaut. »Ich fürchte ja. Keine Sorge, es ist nicht weit. Wir werden zuerst Mr. More hinbringen. Dann kümmern wir uns um die Rucksäcke. Und um die Whiskyflasche.« Larry wurde in eine Lage Decken gehüllt und auf die Trage gebettet. Er stöhnte, wurde aber nicht wach. »Anheben!« kommandierte der hochgewachsene Archäologe. Vorsichtig setzte sich der kleine Zug in Bewegung. Auf dem Weg durch den Urwald spürte Nicky erst richtig, wie erschöpft sie war. Sie taumelte, stolperte häufig. Die
Anstrengung ging fast über ihre Kräfte. Sie hatte die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. Allein ihr Wille hielt sie noch aufrecht. Raoul Anderson erging es kaum besser. Sein schmales Gesicht war von Müdigkeit und Schmerzen gezeichnet. Auch er hatte beinahe Übermenschliches geleistet und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Zwischendurch kontrollierte die Ärztin Larrys Atmung und Puls. Der Verletzte befand sich in einem Grenzbereich zwischen Ohnmacht und Schlaf, so daß er die Erschütterungen kaum wahrnahm. »Wie geht’s ihm?« erkundigte sich Raoul. »Zufriedenstellend, gemessen an den Umständen«, gab Nicky zur Auskunft. »Er braucht Ruhe.« »Bald wird er eine feste Unterkunft haben«, versprach der Mann. »Es ist nicht mehr weit.« Jäh und unvermittelt kam die alte Tempelanlage ins Blickfeld. Wie ein riesiger Koloß ragte sie aus dem Urwald: eine gewaltige, in Terrassen aufschwingende Pyramide aus Stein, die entfernt an die Grabbauten der ägyptischen Pharaonen erinnerte. Eine schwindelerregende steile Freitreppe führte nach oben. »Wow!« stieß Nicky hervor. Die jungen Leute setzten ihre Last ab. Fast andächtig blickten sie hinauf zu dem Rundtempel, der die Pyramide gleichsam überhöhte und krönte. Der Urwald hatte einen dichten grünen Teppich über das Bauwerk gehoben, so daß es aus der Luft nicht erkennbar war. Die spektakuläre Entdeckung überlagerte vorübergehend alle Sorgen und Ängste. »Donnerwetter!« rief die Ärztin begeistert. »Ein Tempel des Quetzalcoatl.« »Sie verstehen etwas von aztekischer Geschichte?« entschlüpfte es Raoul ungewollt.
Die Frau verspürte einen galligen Geschmack im Mund. Ihre Geduld riß. Sie geriet in Rage. »Steigen Sie endlich von Ihrem hohen Roß, Dr. Anderson. Ich bin nicht die einfältige Gans, für die Sie mich offenbar halten. Weshalb, denken Sie, habe ich eine Stiftung für Archäologie und Völkerkunde ins Leben gerufen? Weil mich das Thema seit jeher brennend interessiert.« »Verzeihen Sie…«, begann Raoul verlegen. Nicky fiel ihm grob ins Wort. »Zugegeben, ich bin keine Kapazität wie Sie, aber daß es sich um einen Schrein des Quetzalcoatl handelt, weiß selbst ich. Nur Gefiederte Schlange hat ein rundes Haus. Wollen Sie mehr hören?« »Bewahre, nein. Meine Frage war unüberlegt. Es tut mir aufrichtig leid. Meine Zunge hat leider schneller gearbeitet als mein Verstand.« Der Mann setzte eine zerknirschte Miene auf. »Ich weiß, daß ich ein Ekel bin. Geben Sie mir eins auf die Rübe, wenn ich wieder an Ihnen zweifeln sollte. Kritik ist mir willkommen.« Die Medizinerin hatte sich inzwischen beruhigt. »Entschuldigen Sie«, sagte sie reuig. »Ich wollte Sie nicht anpfeifen. In mir ist einfach eine Sicherung durchgebrannt.« »Das kommt vor.« Versöhnlich streckte der Archäologe die rechte Hand aus. »Schließen wir Frieden?« »Ja, gern.« Nicky erwiderte den Händedruck. Sie sahen sich an, maßen sich mit den Augen, so als wüßten sie nicht, ob dem anderen zu trauen war. Plötzlich brachen sie beide in Gelächter aus. Die angespannte Atmosphäre löste sich. Nicky ertappte sich bei dem Wunsch, Raouls Freundschaft zu gewinnen. Menschen, die einen Fehler offen eingestehen konnten, waren ihr sympathisch. Dr. Anderson wiederum verspürte das fast unwiderstehliche Verlangen, die Frau in die Arme zu schließen, sie zu
beschützen. Er fühlte sich stark zu ihr hingezogen. Sie besaß alle Eigenschaften, die er sich von seiner zukünftigen Lebensgefährtin erträumte. Vor allem war sie eine echte Partnerin. »Gehen wir weiter«, ordnete Raoul schließlich an. Die Trage waagerecht haltend, machten sie sich an den Aufstieg. Es war eine echte Strapaze. Stufe für Stufe mühten sie sich nach oben. Endlich erreichten sie das flache Dach der Pyramide und den Eingang zum Schrein. Behutsam luden sie den Verletzten auf der Plattform ab. Dr. Anderson drückte seiner Begleiterin eine Stablampe in die Hand. »Sie haben den Vortritt, Lady.« Nicky sträubte sich entschieden. »Gehen Sie voran, bitte. Wer weiß, was da drinnen kriecht und fliegt. Ich ekle mich vor Spinnen, Fledermäusen und anderem Getier.« Der Mann lachte gutmütig. »In diesem Fall haben wir wohl das falsche Hotel ausgesucht.« Er ging durch die rechteckige Öffnung. Instinktiv zog er den Kopf ein, als er den steinernen Schlangenrachen durchquerte. »Wie sieht’s aus?« Nicky trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. »Kommen Sie herein. Es ist völlig ungefährlich«, kam es dumpf von innen. »Wappnen Sie sich für eine umwerfende Überraschung.« Die Ärztin warf einen prüfenden Blick auf Larry, der den Transport relativ gut überstanden hatte, dann ging sie durch den Eingang, blieb wie angewurzelt stehen… Eine faszinierende, fremdartige, mystische Welt tat sich vor ihr auf. Staunend sah sie sich um. Der Tempelraum war perfekt erhalten. Beherrscht wurde er von einer riesigen bemalten Steinplastik des Gottes Gefiederte Schlange. Die Wände waren mit Scheiben aus reinem Gold ausgelegt. Auf großen goldenen Platten waren die
mannigfaltigen Erscheinungsformen Quetzalcoatls dargestellt: der Windgott, der Morgenstern, der Sonnengott, der Tröster, der Heiler und viele andere Gesichter der Gefiederten Schlange. Zu seinen Füßen lagen welke und halbwelke Orchideenblüten, die einen süßen, aromatischen Duft verströmten. »Es ist unfaßbar, wie in einem Märchen. Dieser Tempel stellt alle bisherigen Funde aus der Aztekenzeit in den Schatten.« Spontan faßte Nicky nach Raouls Hand. »Ich gratuliere Ihnen von Herzen. Ihr Ruhm als Forscher ist für alle Zeiten gesichert.« Dr. Anderson legte seine angeborene Zurückhaltung ab. Impulsiv zog er die Frau an sich, küßte sie. »Dieser Ort ist die Erfüllung meiner ehrgeizigsten Träume. Meine Kollegen werden vor Neid erblassen. Eine Entdeckung wie diese gibt es in jedem Jahrhundert nur einmal. Der heutige Tag wird als eine Sternstunde in die Geschichte der Archäologie eingehen.« Nicky teilte Raouls Jubel. So mußte Schliemann empfunden haben, als er auf die Ruinen des alten Troja stieß, oder Howard Carter, als er das Grab des Tutenchamun öffnete. »Wenn Larry nicht verletzt wäre, würde ich unser Abenteuer ehrlichen Herzens genießen«, bekannte die Frau. »Mir ergeht es ebenso.« Hand in Hand traten die jungen Leute vor Gefiederte Schlange. Er war ein schöner Gott mit milden, freundlichen Zügen. Üppige Locken lagen wie Strahlen um sein feines, edles Gesicht. Um den Hals trug er einen Kragen, der die Sonne symbolisierte. Nur die Augen fehlten. Aus den leeren Höhlen ragten je zwei Haltestifte: stumme Zeugen eines barbarischen Aktes. »Vielleicht ist es das Los aller freundlichen Götter, daß sie eines Tages erblinden«, sagte Raoul leise.
Nicky musterte ihn prüfend unter halb gesenkten Lidern. Er wirkte selbstvergessen, wie traumverloren, so als stünde er unter dem Einfluß einer Droge oder eines fremden Willens. Was bedeutete die sonderbare, sehr pessimistische Aussage? Die ovalen Löcher im Gesicht des Gottes kamen der Ärztin vertraut vor. Sie kannte die Form. Einer jähen Eingebung folgend, nestelte die Frau in ihrer Umhängetasche und holte die rätselhaften aztekischen Schmuckstücke hervor. »Könnten es die verschwundenen Augen sein?« fragte sie atemlos. Der Archäologe runzelte die Stirn. »Woher haben Sie die Scheiben?« forschte er erregt. »Von meiner Großmutter. Sie wiederum hat sie von ihrem Vater geerbt. Ich denke, sie könnten passen.« »Wir werden es überprüfen. Ich hebe Sie hoch.« Nicky wurde ohne Umschweife in die Höhe gestemmt. Probehalber setzte sie die Scheiben auf die Stifte. Sie saßen perfekt. »Tatsächlich. Es sind die Augen von Quetzalcoatl.« Die Frau verspürte tiefe innere Befriedigung. »Es widerspricht allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Dennoch ist das Unmögliche eingetreten.« Staunend, ehrfürchtig, erschüttert blickten die zwei Menschen zu der Statue auf. Die Augen des Gottes leuchteten mit einem geheimnisvollen, magischen Feuer. »Ich glaube, wir sind nur deshalb hier, damit ich Gefiederter Schlange seine Augen zurückgeben konnte«, bemerkte Nicky versonnen. »Das ist kein Zufall.« »Ein bizarrer Gedanke. Aber vermutlich ist es eine Frage der Deutung.« Raoul faßte die Frau um die Taille und hob sie hoch. »Nehmen Sie die Scheiben wieder heraus.« »Warum? Es kommt mir… blasphemisch vor.« »Tun Sie es, bitte«, sagte der Mann gebieterisch. »Aber…«
»Fackeln Sie nicht. Es ist wichtig.« Nicky gehorchte. Wortlos löste sie die Augen aus der Halterung und legte sie in ihre Umhängetasche zurück. Eine tonlose Klage ging durch den Tempel. Die leeren Höhlen wirkten wie ein Vorwurf. Wie eine Gotteslästerung. Raoul brach das lastende Schweigen. »Die Scheiben könnten sich als sehr wertvoll für uns erweisen. Sicher ist Ihnen nicht entgangen, daß in dem Tempel noch kultische Handlungen vollzogen werden. Sehen Sie die Blüten? Es sind Opfergaben.« »Das heißt: in der Nähe leben Indianer«, folgerte Nicky. »Sie werden uns weiterhelfen.« »Sie sind sehr optimistisch«, kam es nüchtern. »Woher wollen Sie wissen, daß die Indios friedfertig sind? Sie könnten uns ebensogut feindselig gesonnen sein. In diesem Fall müssen wir ihnen die Augen im Tausch gegen unser Leben anbieten.« »Sie sind ein Schwarzseher, Raoul. Wir sind so gut wie gerettet.« Die Frau fühlte sich sehr zuversichtlich. Die Hoffnung, auf eine menschliche Siedlung zu stoßen, wirkte wie elektrisierend auf sie. Erst später keimten Bedenken in ihr auf. »Kommen Sie, Raoul. Wir holen Larry herein. Ich denke, ihm wird’s hier gefallen.« Der Verletzte war wach, doch er nahm seine Umgebung kaum wahr. Die jungen Leute betteten ihn zu Füßen des Gottes. Nicky öffnete den Verschluß ihres Armbandes und legte das kostbare Schmuckstück zwischen die duftenden Blüten. Es war eine sentimentale Geste, sie kam aus einem dankbaren Herzen. »Nimm unseren kranken Freund als Gast in deinem Haus auf, gütiger Heiler«, bat sie laut. »Wir werden dir deine Augen wiedergeben, das schwöre ich dir.« Sie erhob sich und sah Raoul halb verlegen, halb trotzig an. Er lächelte verständnisvoll. »In uns allen steckt unbewußt ein
Hang zum Mystischen«, sagte er schlicht. »Es ist ein Erbe aus grauer Vorzeit, das manchmal durchbricht.« Bevor sie zur Absturzstelle zurückkehrten, um ihre Ausrüstung zu holen, umrundeten sie die Plattform der Pyramide. Sie stellten fest, daß der elegante Schrein der Gefiederten Schlange Teile einer großen, komplexen Anlage war. Ein rechteckiger Innenhof, der von teilweise verfallenen Priesterwohnungen flankiert wurde, führte zu einer zweiten Pyramide. Auf ihr stand ein gedrungener, würfelförmiger Tempel. Im Gegensatz zu Quetzalcoatls anmutigem Haus wirkte er nicht einladend, sondern abweisend, ja, bedrohlich. »Wem mag er geweiht sein?« forschte Nicky beklommen. Raoul zuckte die Achseln. »Vielleicht Xolotl, dem häßlichen Zwilling des Quetzalcoatl, oder der Erdmutter. Oder der Totengöttin. Wir werden es feststellen.« Die Frau war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt herausfinden wollte. Das klobige Gebäude auf der anderen Seite erschien ihr wie ein Symbol des Unheils. In der aztekischen Götterwelt bildeten Liebe und Feindschaft eine unlösliche Einheit. Wenn im Heiligtum der Gefiederten Schlange Harmonie und Blütendüfte regierten, dann fanden im zweiten Tempel mit Sicherheit grausige Rituale statt. Wenige Stunden später sollte Nicky erfahren, daß ihre unguten Ahnungen voll berechtigt waren. Die würfelförmige Kultstätte gehörte einer Macht, die in vieler Hinsicht dem christlichen Satan gleichkam: Rauchender Spiegel. Ein riesenhaftes Abbild aus poliertem schwarzem Obsidian beherrschte auf monströse Weise den gruftähnlichen Raum. Tezcatlipoka war ein schillernder, vielschichtiger, geheimnisvoller Gott mit kriegerischem Gepräge. Sein Waffenrock war mit den Knochen und Schädeln erschlagener Feinde geschmückt, und in der Hand hielt er eine scharfkantige Streitaxt. Seine Züge wirkten brutal und abstoßend, und die
dunklen, durchdringenden Augen schienen zu glühen. Insgesamt wirkte die Statue seltsam lebendig. Vielleicht lag es an dem glänzenden Obsidian, vielleicht an der Aura des Okkulten; die der Gestalt anhaftete. Auch dem finsteren Gott wurde noch geopfert. Nicky stellte es fest, als sie mit den Fingerkuppen probehalber über den Opferstein strich. Der Altar war schwarz von geronnenem Blut. Obendrein war er klebrig und feucht. »Igitt!« Erschrocken zog Nicky ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. Sie fröstelte. Ihr war übel. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Ich nehme an, es handelt sich hauptsächlich um Tierblut«, sagte Raoul unbeeindruckt. Unwillkürlich dachte die Frau an die furchtbaren Riten, die, zumindest in früherer Zeit, auf dem Altar zelebriert worden waren. Grausige Visionen drängten sich auf. Menschenopfer an einen unersättlichen Gott. Gefangene, denen bei vollem Bewußtsein das Herz aus der Brust gerissen wird. Zuckendes warmes Fleisch, das dem blutrünstigen Tezcatlipoka als Speise dient. Der Freitod hoher Adliger, damit der Gott den Sieg über ein feindliches Heer gewährt. Der Widerhall von Todesgeschrei. Klaffende Wunden. Leiber in Agonie. »Lassen Sie uns von hier verschwinden«, drängte Nicky. »Hier ist es unheimlicher als in einem Gruselkabinett.« Der Mann zuckte die Achseln. »Tezcatlipoka steht für die bestialische Seite der menschlichen Natur. Sein Tempel soll Furcht und Schrecken verbreiten, nicht Wohlbehagen.« Die beängstigende Atmosphäre stand im krassen Gegensatz zu der wohltuenden Stille, die den goldenen Schrein Quetzalcoatl prägte. Die abgestandene, stickige Luft roch nach Moder und Leichen und säurehaltigen Mixturen. Der
ekelerregende Gestank kam aus einer Schale am Boden. Der Himmel allein mochte wissen, welche Stoffe darin verbrannt wurden. Bizarre Schatten huschten lautlos über die schwarzen Wände, die von den Greueltaten des Kriegsgottes berichteten. Er war der Inbegriff aller Scheußlichkeiten. Das Schädelgestell mit den fahlen, fleischlosen Totenköpfen schien wie eine Mahnung an die Lebenden, den Ort umgehend zu verlassen. Dr. Anderson konnte sich nicht satt sehen. »Schauen Sie nur.« Erfreut wies er auf einen schwarzen Spiegel, der mit Flaumfedern verziert war. »Das ist ein Orakelspiegel. Offenbar ist er noch in Gebrauch. Die Federn werden mit Blut getränkt und verbrannt.« Dann, wehmütig: »Was würde ich darum geben, wenn ich an einer traditionellen Zeremonie teilnehmen dürfte.« Raouls Wunsch sollte sich auf grausige Weise erfüllen. »Nun kommen Sie schon«, bettelte Nicky. Ihr war todelend. Am liebsten hätte sie die Flucht ergriffen. Der Schrein war ein Vorhof der Hölle. Nicht mehr und nicht weniger. »Einen Augenblick.« Der Mann zog ein Klappmesser aus der Hosentasche und ritzte sich damit in einen Finger. Blutstropfen fielen auf den Altar. »Was tun Sie?« fragte die Ärztin fassungslos. »Sind Sie irre?« Der Archäologe grinste entwaffnend. »Mitnichten. Ich folge Ihrem guten Beispiel, Teuerste. Sie haben dem Gott des Lichtes gehuldigt, folglich muß auch der Dämon der Nacht befriedigt werden. Sonst ist das kosmische Gleichmaß gestört.« »Sie sind der Fachmann«, bemerkte die Frau gereizt. »Geben Sie noch ein paar Zähne dazu, als Wertausgleich sozusagen. Rauchender Spiegel könnte sich sonst beleidigt fühlen.«
Lachend legte der Mann den Arm um sie und schob sie durch den Ausgang. »Sie stechen wie eine Hornisse. Bravo.« Auf den Stufen der Pyramide blieb Nicky stehen und warf einen Blick zurück. Finster zeichnete sich das massige Bauwerk gegen den mondbeschienenen Nachthimmel ab. Es erinnerte an eine übergroße, zum Sprung geduckte Kröte. Oder an ein kauerndes Ungeheuer. Drinnen lauerte ein durstiger Gott, der nach Blut lechzte. Der Schamane blieb wie angewurzelt stehen. Er wollte seinen Sinnen nicht trauen. Er blinzelte, blinzelte abermals. Die Erscheinung blieb. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt! Weise Eule erlebte einen Augenblick reiner, ekstatischer Verzückung. Sein Herz jubelte laut vor überschäumender Freude. Gefiederte Schlange war zu seinem Volk zurückgekehrt. Der Flammenhaarige stand vor seinem Tempel und streckte seine Arme sehnsuchtsvoll der Sonne entgegen, mit der er so lange eins gewesen war. Wollte er wieder mit dem göttlichen Feuer verschmelzen, weil es ihm in seinem Reich nicht mehr gefiel? Nein, bleibe bei uns, wir brauchen dich, wollte der Priester rufen, doch seine Stimme war wie gelähmt. Ein zweiter Mann trat hinter die zierliche Gestalt mit den Feuerlocken. Gehörte er zum Gefolge des Gottes? Der Priester erstarrte… Er war einer schönen Illusion erlegen, hatte sich selbst betrogen. Der Euphorie folgte jähe Ernüchterung. Auf der Pyramide standen nicht Quetzalcoatl und ein Diener, sondern die Fremden, die Rauchender Spiegel in einer Vision angekündigt hatte.
Weise Eules Enttäuschung verwandelte sich in Zorn. Schon einmal war ein Weißer gekommen, der sich als Gefiederte Schlange begrüßen und ehren ließ. König Montezuma hatte ihn und seine Leute vertrauensvoll im Palast aufgenommen und die Schätze des Landes vor ihm ausgebreitet. Aber der Gast war nicht der Gott Quetzalcoatl gewesen, sondern der spanische Eroberer Hernando Cortez. Seine Soldaten hatten das aztekische Reich verwüstet und den letzten Herrscher Montezuma auf grausame Weise ermordet. Um ein Haar hätte sich der Fehler von einst wiederholt. Das Gesicht des Schamanen glich einer steinernen Maske. Er griff unter eine Ledertoga und blies kräftig in seine Muscheltrompete, die ein Zeichen seines Amtes war. Der Trompetenstoß war das Signal für die Nahua-Krieger, sich zu bewaffnen und zu kämpfen. Der Doppeltempel war in Gefahr. Würdevoll stieg Weise Eule die Treppe empor. Er empfand keine Furcht. Nur Sorge um das Wohl und die Zukunft seines Volkes. Raoul und Nicky sahen ihm mit gemischten Gefühlen entgegen. Der Ton des Muschelhorns verhieß nichts Gutes. »In meinen Ohren klingt es wie die Posaunen des Jüngsten Gerichtes«, murmelte die Frau. »Der Mann sieht aus wie ein rächender Dämon.« Dr. Anderson hatte den Indio rasch an seiner Kleidung eingeschätzt. »Er muß der Medizinmann seines Stammes sein«, sagte er. Instinktiv tastete er nach der Pistole in seiner Gesäßtasche. Es war eine reine Reflexhandlung. »Sie wollen doch nicht etwa auf ihn schießen?« fragte die Ärztin alarmiert. Der Archäologe zog seine Hand zurück. »Nein. Ich verabscheue Gewalt. Außerdem wäre es sinnlos. Wenn ich den Mann umbringe, haben wir seine Leute am Hals. Was könnten wir gegen vergiftete Pfeile ausrichten? Und wie sollen wir
Larry aus dem Dschungel schaffen, wenn die Indios uns nicht helfen?« Die Amerikaner stählten sich innerlich für die Prüfung, die unweigerlich auf sie zukam. Sie wußten, daß ihr Schicksal auf des Messers Schneide stand. Sie mußten sehr, sehr vorsichtig sein. Der Schamane hatte die Plattform erreicht und verharrte mitten in der Bewegung. Mit undurchdringlicher Miene maß er die Eindringlinge. Aber seine Augen loderten. »Seid gegrüßt, Fremde«, sagte er in kehligem Spanisch. »Was führt euch an diesen geweihten Ort?« »Sei gegrüßt, Priester und Seher«, ‘antwortete Raoul Anderson mit zeremonieller Höflichkeit. »Ein großes Unglück hat uns an diese heilige Stätte gebracht. Wir haben Gefiederte Schlange um Obdach gebeten, und er hat uns in seinem Haus Zuflucht gewährt.« Dem Schamanen gefiel die Rede. Es waren die Worte eines höflichen Mannes. »Seid ihr auf dem Rücken des silbernen Riesenvogels geflogen, der tot vom Himmel gestürzt ist?« Raoul interpretierte den silbernen Riesenvogel korrekt als Flugzeug. Also war der Absturz nicht unbeobachtet geblieben. Der Archäologe paßte sich der bildhaften Ausdrucksweise des Indianers an. »Wir haben im Rumpf des Riesenvogels gesessen. Als er starb, ist sein Bauch geplatzt, und wir sind herausgefallen.« Der Priester nahm die Information schweigend auf. Sie erschien ihm wichtig, obwohl er noch nicht wußte, wie er sie deuten sollte. Er würde das Orakel befragen. »Wo haben Sie so gut Spanisch gelernt?« forschte Nicky wißbegierig. »Es ist nicht die Sprache Ihres Volkes, oder?« »Mein Lehrer hat mich diese Sprache gelehrt«, sagte Weise Eule ausweichend. Er sah keine Notwendigkeit, den
unerwünschten Eindringlingen zu erklären, daß er als Junge eine Missionsschule besuchen mußte. Er hatte Gefiederte Schlange die Treue gehalten und war nicht, wie viele andere Angehörige seines Volkes, zum Gott der Christen übergelaufen. Die Weißen kamen im Namen ihres gekreuzigten Heilands. Sie stahlen den Bergbewohnern ihren angestammten Lebensraum und versprachen ihnen dafür einen guten Platz im Totenreich, das bei ihnen »Paradies« hieß. Nach Ansicht von Weise Eule war es glatter Betrug. Gewiß, es war nicht die Schuld des freundlichen Gottes Jesus, der viele Züge mit Quetzalcoatl gemeinsam hatte. Aber Jesus war für seine Leute zuständig. Er stammte aus einem fernen Wüstenland jenseits des großen Wassers und kannte weder die Nahua noch das Leben im Dschungel. Gefiederte Schlange hingegen war der göttliche Sohn eines Volkes, über das er einst regiert hatte. Der Schamane musterte die schöne Frau. Ihre Haut war golden, und ihre Augen hatten die Farbe eines klaren Bergsees. Sie war gleichsam das Ebenbild der Gefiederten Schlange. Auch das hatte sicher eine tiefe mystische Bedeutung, die es zu ergründen galt. Natürlich konnte es sich auch um eine vorsätzliche Täuschung handeln. Um einen Trick. Die Weißen waren für ihren Listenreichtum bekannt. Es hieß, daß sie ihr Aussehen nach Belieben verändern konnten. Rauchender Spiegel hatte drei Personen geweissagt. Eine fehlte. Weise Eule furchte die Stirn. »Ihr habt einen Gefährten bei euch. Wo ist er?« Raoul fragte nicht, woher der Schamane wußte, daß sie zu dritt gekommen waren. »Unser Freund ist verletzt«, sagte er. »Wir haben ihn zum großen Heilgott Quetzalcoatl gebracht, damit er wieder gesund wird.«
Der Medizinmann war auf der Hut. Er witterte eine Falle. Womöglich lag der dritte Fremdling im Hinterhalt, um den Hüter des Schreins zu töten. Der Priester gab seine Gedanken nicht preis. Statt dessen zog er sein Obsidianmesser aus seinem Gürtel und trat durch den gemeißelten Schlangenrachen. Mit einem Blick erfaßte er die verschiedenen Eindrücke. Die goldenen Scheiben waren unversehrt. Folglich waren die Weißen nicht in räuberischer Absicht gekommen. Der Mann auf der Trage, die zu Füßen des Gottes stand, war schwach und krank. »Die Macht droben« hatte ihn bestraft. Die Fremden hatten im Tempel ihr Nachtlager aufgeschlagen. Sie hatten gegessen und getrunken. Das sprach nicht zu ihren Gunsten, aber auch nicht zu ihren Ungunsten. Sie hatten dem Gott großzügig Geschenke gebracht: Früchte, ein kostbares, mit Juwelen besetztes Geschmeide. Sie hielten sich an die religiösen Bräuche. »Wir haben auch Tezcatlipoka ein Opfer gebracht«, sagte Raoul unaufgefordert. »Er hat Blut getrunken.« Weise Eule war verunsichert. Das Verhalten der Weißen war untypisch. Sie unterschieden sich vom Reist ihres Volkes. Sie benahmen sich anders, sie redeten anders. Sie kannten selbst den Geschmack der aztekischen Götter. Der Schamane richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Trage. Sein Blick wanderte von den blonden Haaren zu dem eingefallenen Gesicht, über den Körper, hinunter zu dem vorzüglich geschienten rechten Bein, dem nackten Fuß, der aus dem Verband ragte. Die mißgebildeten Zehen… Dem Priester stockte der Atem. Ihm wurde schwindlig. Ein Omen. Ein echtes, einwandfreies Omen, das keinen Zweifel zuließ.
Weise Eule sank auf die Knie und beugte demütig den Oberkörper vor, bis seine Stirn den blanken Fußboden berührte. Er stammelte vor Aufregung. Nicky beobachtete ihn verblüfft. »Ich möchte gar zu gern wissen, was er von sich gibt«, sagte sie leise auf englisch. »Irgend etwas hat ihn aus dem Häuschen gebracht.« Auch Dr. Anderson hatte das Geschehen mit nervöser Spannung verfolgt. Heimlich hatte er nach seiner Pistole gegriffen, für den Fall, daß der Priester auf die Idee kommen sollte, Larry More die Kehle durchzuschneiden. Jetzt huschte ein befreites Lächeln über Raouls unbewegte Züge. »Er spricht einen Dialekt des Aztekischen, das auch heute noch bei vielen Stämmen verbreitet ist. Er sagt: ›Sei gegrüßt, Gesegneter. Der Stamm der Nahua heißt dich willkommen.‹« Die Ärztin war verwirrt. »Bisher hat er nicht den Eindruck erweckt, als würde er uns mögen. Was hat seinen Sinneswandel bewirkt? Ist Larry etwas Besonderes?« Der Archäologe wies auf die verkrüppelten Zehen. »Bei den aztekischen Völkern gelten Menschen, die mit einer Mißbildung geboren werden, als heilig und unantastbar. Sie sind Auserwählte, von den Göttern als Boten gezeichnet.« Nicky entkrampfte sich innerlich. Sie hatte Mühe, ein hysterisches Kichern zu unterdrücken. »Wenn Larry erfährt, daß ihm seine Behinderung womöglich das Leben gerettet hat, versteht er die Welt nicht mehr«, prophezeite sie. Weise Eule erhob sich. Hinter seiner bronzefarbenen Stirn arbeitete es fieberhaft. Er befand sich in einem Zwiespalt. Er schuldete den Göttern Gehorsam. Aber wenn er dem einen Gott gehorchte, übte er an dem anderen Gott Verrat. Rauchender Spiegel hatte den Tod der Weißen gefordert, weil er ihr Blut trinken wollte. Es stand ihm nach Recht und Gesetz
zu. Seinen Wunsch zu mißachten, konnte schlimme Folgen haben. Andererseits hatten Quetzalcoatl wie auch der Himmelsherr deutliche Zeichen gesetzt. Die Fremden standen unter dem Schutz der Gefiederten Schlange. Der Gott hatte ihnen einen Gesandten und Freund beigestellt, damit sie von seinem Volk erkannt wurden. Er wünschte nicht, daß ihnen ein Leid geschah. Dem Gesegneten durfte sowieso kein Haar gekrümmt werden. Die Fremden hatten die Götter geehrt und ihnen Respekt gezollt. Von Frevel oder Tempelschändung konnte nicht die Rede sein. Die Fremden hatten den Absturz des silbernen Riesenvogels überlebt. Das hieß, daß »der Mächtige droben« ihnen nicht zürnte. Hatte er sie verschont, damit Tezcatlipoka ein blutiges Opfer bekam? Gegensätzliche Interessen prallten aufeinander. Wie ließ sich der Konflikt lösen? Weise Eule suchte einen Ausweg aus dem Dilemma. Rauchender Spiegel pflegte Unbotmäßigkeit grausam zu rächen. Zugleich aber war er ein niederträchtiger, betrügerischer Gott, dem man nicht trauen durfte. Er war es gewesen, der Quetzalcoatl gestürzt und die Zerstörung des Reiches geduldet hatte. Er war den Nahua nicht wohl gesonnen, selbst wenn er des öfteren helfend eingriff. Auf keinen Fall durften die Weißen getötet werden, solange Gefiederte Schlange segnend seine Hand über sie hielt. Aber war es erlaubt, die Fremden freizulassen? Verstieß ein solcher Akt nicht gegen alle Traditionen und Gesetze? Würde er nicht den Tod der Nahua bedeuten? Der Schamane kam zu dem Ergebnis, daß nicht er zu entscheiden hatte, was mit den Eindringlingen geschehen
sollte. Über sie hatten die höheren Mächte selbst zu bestimmen. Nicht eine allein, sondern alle. Deshalb war es auch nicht möglich, das Orakel um Rat zu fragen. Rauchender Spiegel würde eine Antwort geben, die nur seinem eigenen Vorteil diente. »Sollen wir die Augen der Statue in die Verhandlung einbringen?« wisperte Nicky dem Archäologen zu. Raoul Anderson schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Es wäre verfrüht. Die Scheiben sind ein Trumpf, den wir bis zum Schluß aufheben müssen.« Weise Eule hatte seine Überlegungen beendet. »Wir werden einen großen Rat der Götter einberufen«, verkündete er auf spanisch. »Sie werden über euch Gericht sitzen und ihr Urteil fällen.« Nicky war sich nicht sicher, ob es eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Allerdings versprach sie einen Aufschub. Einen Aufschub wovon? Sie sollte es sogleich erfahren. Weise Eule bedeutete der flammenhaarigen Frau und ihrem hochgewachsenen Begleiter, ihm auf die Plattform zu folgen. Auf den Stufen der Pyramide hatten sich mittlerweile die Krieger des Stammes versammelt. Es mußten etwa achtzig sein. Bewaffnet mit scharfen Wurfbeilen und Pfeilen, sahen sie gefährlich und wild aus. Die Ärztin schluckte trocken. Sie hatte die Antwort auf ihre Frage. Weise Eule hatte ihnen eine Gnadenfrist eingeräumt. Sonst wären sie wohl unverzüglich getötet worden. Vielleicht sogar nach dem alten grausamen Ritus. Weise Eule beriet sich leise mit Häuptling Tosendes Wasser. Dann teilte er den wartenden Kriegern mit getragener Stimme mit, was sich ereignet hatte. Ehrfürchtiges Raunen erhob sich, als die Männer erfuhren, daß ein Gesandter der Gefiederten Schlange im Tempel weilte. Die Frage, warum der Gott einen
Weißen als Boten gezeichnet hatte, stellte sich nicht. Die Beweggründe der höheren Mächte waren so rätselhaft wie die verschlungenen Wege des Schicksals. Der Priester wandte sich an die Fremden. »Ihr werdet als unsere geehrten Gäste im Dorf am Schlangenberg leben, bis sich die Götter im großen Rat versammeln.« »Wann wird das sein?« forschte Nicky bedrückt. Weise Eule lächelte unergründlich. »Die Sterne werden uns Tag und Stunde mitteilen. Vielleicht in einer Woche, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem Jahr. Die Götter messen mit anderen Zeiträumen als wir Menschen.« Das waren ja schöne Aussichten! Monate der Ungewißheit und der Angst standen bevor. Raoul legte tröstend seinen Arm um Nickys schmale Taille. »Halte die Ohren steif«, sagte er, unbewußt zum vertraulichen Du übergehend. »Wir werden auch das überstehen.« »Hoffentlich behältst du recht.« Die Frau machte aus ihrer Niedergeschlagenheit keinen Hehl. »Wer weiß, wie lange es dauern wird, bis sie uns fortlassen, falls sie es überhaupt tun.« Der Wissenschaftler zuckte die Achseln. »Wir haben keine Wahl. Zeit bedeutet den Naturvölkern nichts. Sie leben in der Gegenwart, wie ihre Götter. Wir werden unseren Aufenthalt nützen, um zu lernen.« Der Schamane wies seine Leute an, den Gesegneten ins Dorf zu schaffen. Einige Krieger beluden sich mit Gepäck. Die hohen Gäste durften keine Lasten tragen, auch wenn sie im Grunde Gefangene waren. Larry hatte nur verschwommene Eindrücke von dem, was um ihn geschah. Aber als die Indios sich respektvoll vor ihm verneigten und behutsam seine Trage aufnahmen, hob er kraftlos die Hand und winkte der bemalten Statue zu.
»Auf Wiedersehen, alter Junge«, sagte er auf seine gewohnt burschikose Art. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Es war schön bei dir. Vielen Dank für deine Gastfreundschaft.« Ob es eine bewußte oder unbewußte Geste war, blieb ungeklärt, doch Weise Eule sah sie und nickte wohlgefällig mit dem Kopf. Der Gesegnete stand auf vertrautem Fuß mit Gefiederter Schlange. Auch Nicky und Raoul nahmen Abschied von dem Gott, wie es sich gebührte. »Wir danken dir, gütiger Quetzalcoatl«, sagte der Archäologe feierlich. »Du hast uns in deinem Haus beherbergt. Du hast mit uns gespeist und uns deine Hilfe gewährt. Wache auch in Zukunft über uns.« »Wir werden wiederkommen und dir geben, was dein ist«, gelobte die hübsche junge Frau. Weise Eule konnte die englischen Worte nicht verstehen, doch ihm schien es, als würde der Gott lächeln.
*
Das Dorf am Schlangenberg machte einen bunten, geschäftigen Eindruck. Die Ankunft der Fremden war eine Sensation. Von allen Seiten strömten die Menschen herbei. Die wenigsten Bewohner von Coatepec hatten je einen Weißen gesehen. Entsprechend groß war die Aufregung. Zu Anfang überwogen Neugier, Verwunderung. Allmählich mischte sich Furcht in das Staunen. Unvermittelt kippte die Stimmung. Argwohn malte sich auf den dunklen Gesichtern mit den mandelförmigen, melancholisch blickenden Augen und den breiten Wangenknochen. Die Indios hatten ein unverfälschtes Gespür
für drohendes Unheil. Die Gesänge ihres Volkes lehrten sie, Fremden zu mißtrauen. Unruhe entstand. Gereiztes Zischeln war zu hören. Vereinzelt gab es Drohgebärden. Dominique Quain und Raoul Anderson verständigten sich wortlos mit den Augen. Beide strafften instinktiv die Schultern. Sie gingen hoch aufgerichtet, hoheitsvoll, so als würden die Anfeindungen sie nicht berühren. Mehr denn je galt es, kühles Blut zu bewahren. In diesem Gemütszustand waren die Leute unberechenbar. Jede Sekunde konnte offener Haß durchbrechen. Ein falscher Blick, eine unbedachte Bewegung konnte verhängnisvolle Folgen haben. Die aggressive Haltung der Indianer verschärfte sich. Ein Greis trat auf das kleine Podium vor dem Gemeinschaftshaus. Mit unmißverständlichen Worten forderte er die Hinrichtung der Gefangenen. »Wenn wir das Opfer nicht sofort vollziehen, wird die Todesgöttin in Coatepec umgehen«, prophezeite er am Schluß seiner Rede. »Was sagt er?« forschte die Texanerin verzagt. Dr. Anderson entschloß sich zu einer barmherzigen Lüge. »Der Alte wünscht, daß wir fortgeschafft werden«, antwortete er rasch. »Er behauptet, im Dorf sei kein Platz für uns.« Die Frau hörte den unaufrichtigen Ton. Sie übersah auch nicht die verräterische kleine Ader, die auf der Stirn ihres Begleiters pochte. Raoul verheimlichte ihr die Wahrheit. »Du brauchst unsere Lage nicht zu beschönigen«, sagte die Ärztin mit erzwungener Ruhe. »Ich habe verstanden.« Sie warf einen wachsamen Blick über die Schulter. Es gab kein Entrinnen. Ein Fluchtversuch war ausgeschlossen. Hinter ihnen ein Wall aus Kriegern, alle bis an die Zähne bewaffnet. Vor ihnen eine erbitterte, unversöhnliche Menge. Es ging nicht um eine Unterkunft im Ort. Es ging um Leben oder Tod.
Der hohle Klang des Muschelhorns mahnte die Leute gebieterisch zur Ordnung. »Tretet beiseite.« Die befehlsgewohnte Stimme des Schamanen hallte wie Donnerschläge. »Weise Eule will zu euch sprechen.« Die Leute wichen widerstrebend zurück, schufen eine schmale Gasse für den Priester. »Nicht wir werden über das Schicksal der Gefangenen entscheiden, sondern die Götter selbst«, verkündete der Mann in der federgeschmückten Ledertoga. »Sie wünschen, daß wir die Fremden in unserer Mitte aufnehmen, bis sie ihren Spruch im großen Rat der Sterne gefällt haben.« Murren wurde laut. Raoul und Nicky hielten den Atem an. Würden sich die Nahua der Autorität ihres Sehers beugen oder widersetzen? »Wer seid ihr, daß ihr glaubt, die Omen der hohen Mächte mißachten zu dürfen?« fragte der Schamane mit grollender Stimme. »Haben sie nicht immer wieder gezeigt, wie groß ihr Zorn sein kann? Wollt ihr ihren Fluch auf uns alle laden?« Die Worte des Schamanen hatten Gewicht. Mutlosigkeit machte sich breit. Der Wille der Götter mußte geschehen, mochte der Preis noch so hoch sein. »Scharfe Axt sieht trotzdem nicht ein, warum die Fremden verschont bleiben sollen«, begehrte ein zweiter Greis auf. »Wenn wir sie sofort töten, stimmen wir Rauchenden Spiegel gnädig.« »Das ist richtig«, räumte Weise Eule ein. »Aber andere Götter werden über unsere Eigenmächtigkeit unzufrieden sein.« Mit einer dramatischen Handbewegung deutete er auf Larry More. »Dieser Mann ist ein Bote von Quetzalcoatl. Willst du den Gott des Lichts beleidigen, indem du seinen Gesandten tötest?«
Scharfe Axt verstummte. Gefiederte Schlange stand hoch über dem finsteren Tezcatlipoka. Die Kunde, daß der Mann auf der Trage ein Auserwählter war, ging von Mund zu Mund. Ein Leuchten trat auf die Gesichter der Umstehenden. Die Indios legten ihre Scheu und ihre Zurückhaltung ab. Ungezwungen gingen sie auf die Fremden zu. Larry More stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er wurde ehrerbietig begrüßt, und jeder versuchte, ihn anzufassen. Einen Gesegneten zu berühren, verhieß Glück. Daß der Weiße mit dem Kopfverband ein besonders großer Heilbringer sein mußte, zeigte sein helles Haar, das die Farbe von reifem Mais hatte. Mais bildete die Lebensgrundlage der Indianer und bedeutete satte Mägen. »He, was soll das?« beschwerte sich der verletzte Pilot, als eine Frau ihm mit flinker Hand ein Haar ausriß, um es als Reliquie in ihre Hütte zu nehmen. Protestierend wandte er sich an seine Begleiter. »Um Himmels willen, laßt nicht zu, daß sie mich rupfen«, flehte er erschrocken. Bevor Raoul und Nicky dazwischentreten konnten, griff Weise Eule ein. Er hatte den Unwillen des Gesegneten bemerkt. Mit einer schroffen Handbewegung verscheuchte er die vorwitzige Person vom Dorfplatz. Kleine Silberschelle verursachte ständig Ärger. »Zürne uns nicht, Gesegneter«, bat der Priester zerknirscht. »Kleine Silberschelle ist in ihrem Eifer zu weit gegangen. Sie wird dich nicht mehr belästigen.« »Das will ich hoffen«, brummte der Pilot, als Nicky ihm Weise Eules Worte ins Englisch übersetzte. Auch Larrys Begleiter wurden neugierig begafft. An dem scharfäugigen Mann mit der bauchigen Tasche war an sich nichts Auffälliges, wenn man davon absah, daß er sogar Häuptling Tosendes Wasser um mindestens eine Kopflänge
überragte. Gewaltiges Aufsehen erregte indessen Nickys hellgesträhntes Haar. Das war zweifellos etwas Besonderes, darüber war man sich einig. »Ob wir über den Berg sind?« fragte Nicky leise. Raoul zuckte die Achseln. »Zumindest haben wir die erste Hürde erfolgreich genommen.« Eine neue Bewährungsprobe stand prompt bevor. Aus der Ferne tönte Kindergeschrei, das sich rasch näherte. Eine Gruppe Jungen kam lärmend ins Dorf gerannt. Sie keuchten, gestikulierten, redeten durcheinander. Das Schwatzen der Erwachsenen verstummte abrupt. Weise Eule wurde aschfahl unter seiner gebräunten Haut. Entsetztes Schweigen senkte sich über den Platz. Selbst die Fremden waren vorübergehend vergessen. »Was ist geschehen?« Nicky stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte den Hals, um besser sehen zu können. »In jedem Fall etwas Schlimmes«, sagte Raoul trocken. »Die Kinder haben so schnell gesprochen, daß ich nur einzelne Worte aufschnappen konnte. Es geht, glaube ich, um einen ›Bienengeist‹.« Der Archäologe sprang auf einen Holzpfosten im Hintergrund, um das Gewühl zu überblicken. »Ein Bub ist zusammengebrochen«, teilte er seinen Begleitern aufgeregt mit. »Er ist blau im Gesicht. Anscheinend bekommt er keine Luft.« Die Medizinerin kombinierte blitzschnell: Bienengeist – Atemnot. Das konnte zweierlei bedeuten: entweder eine allergische Reaktion oder einen Stich am Hals oder im Mundbereich. »Meinen Arztkoffer, rasch!« befahl Nicky. Raoul bahnte ihr rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Sie erreichten den Schauplatz der Tragödie. Weise Eule stand wie gelähmt. Seine Frau Grüne Jade wiegte weinend ihren sterbenden Sohn in den Armen. Er rang
keuchend nach Luft und war dem Ersticken nahe. Eine Biene hatte Schnellen Pfeil in den Hals gestochen. Der Schamane der Nahua blickte hilflos auf seinen einzigen Sohn. Es gab keine Rettung für den Jungen. In einem Fall wie diesem halfen weder Opfergaben noch Gebete noch Kräutertinkturen. Schneller Pfeil war zum Tode verurteilt, noch bevor er mannbar geworden war. Er hatte den Bienengeist gegen sich aufgebracht, und der Bienengeist hatte sich grausam gerächt. Oder hatte Rauchender Spiegel den Bienengeist aufgewiegelt, Weise Eules Sohn zu verderben? Viele Nahua hatten ähnliche Gedanken. Tezcatlipoka beabsichtigte, den Lebenssaft der Kinder zu schlürfen, weil ihm das Opferblut der Weißen vorenthalten worden war. Wieder schwankte die Stimmung gefährlich. Schon stand die Todesgöttin hinter Schnellem Pfeil. Nicky stellte ihre Diagnose nach einem einzigen prüfenden Blick. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.« Sie kniete neben dem Kind nieder und kramte hektisch in ihrer Tasche. »Du gehst ein hohes Wagnis ein«, warnte Raoul. »Wenn der Junge stirbt, nachdem du ihn behandelt hast, werden sie seinen Tod uns anlasten.« »Wenn er stirbt, während ich tatenlos zusehe, werde ich mir die Schuld geben«, erwiderte die Ärztin mit scharfem Ton. »Einerlei, was mit uns geschieht, ich muß in jedem Fall versuchen, ihn zu retten. Das verlangt meine Berufsehre. Im übrigen ist es eine Gewissensfrage.« Eilig zog sie eine Spritze mit Cortison auf. Wenn das Serum sofort in die Blutbahn gelangte, bestand Hoffnung für Schnellen Pfeil.
»Du hast recht«, sagte der Archäologe mit schleppender Stimme. »Sie werden so oder so behaupten, wir hätten die Tragödie verursacht.« Die abweisende Haltung der Umstehenden zeigte dem hochgewachsenen Wissenschaftler deutlich, daß sein Schicksal und das seiner Gefährten unlösbar mit dem Los des Jungen verknüpft war. Wenn Schneller Pfeil starb, würden die Indios die fremden Eindringlinge töten, aus Furcht, Rauchender Spiegel könnte weitere Kinder für sich fordern. Wenn es allerdings gelänge, den Buben zu retten, wäre die Stellung der Weißen im Dorf gesichert. Nicky hielt die Injektionsnadel prüfend gegen das Licht. »Ich werde versuchen, Ihren Sohn zu heilen, Weise Eule«, sagte sie beherzt. »Bitte, erlauben Sie mir, daß ich ihm meine Medizin gebe.« Weise Eule hatte von den Wundermedizinen der Weißen gehört. Wortlos trat er zur Seite. Ein Flehen stand in seinen kummervollen Augen. »Rette meinen Sohn«, bat er mit brüchiger Stimme. Ohne zu zögern spritzte die Frau das Serum. »Gleich wird es dir bessergehen, mein Junge«, sagte sie leise auf spanisch. Sekundenlang bekam sie Angst vor ihrer eigenen Courage. War sie nicht doch zu forsch gewesen? Sie hatte ihr Leben und das Leben ihrer Begleiter wissentlich aufs Spiel gesetzt. Ihre Hände zitterten unmerklich, als sie die Nadel langsam herauszog. Es ging um einen sehr hohen Einsatz. Die Menge wartete wie gebannt, was geschehen würde. Das Eingreifen der Frau überraschte sie. Selbst Grüne Jade hörte zu jammern auf. Nicky schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich wirkte das Serum rechtzeitig. Jetzt hieß es Ruhe zu bewahren. Raoul stand wie eine Statue. Um seine Nervosität zu unterdrücken, ballte er die Hände zu Fäusten, bis die
Fingerknöchel weiß hervortraten. Auf seiner hohen Stirn bildeten sich feine Schweißtropfen. Larry wußte zwar nicht, was vorging, doch er spürte die Krise, die sich über ihren Köpfen zusammenbraute. Sein Puls schlug rascher, seine Kehle verengte sich. Wie ein Bleigewicht drückte die Angst auf seine Brust. Was sollte aus seiner Frau und aus seinem ungeborenen Kind werden, wenn er in diesem elenden Dschungel starb? Totenstille herrschte in der Urwaldsiedlung.
*
Warten. Nicht die Beherrschung verlieren. Hoffnung gepaart mit Verzweiflung. Die Injektion schlug an. Schneller Pfeil atmete ruhiger. Das gefährliche wächserne Blau verlor sich. Das schmale Bubengesicht nahm wieder eine normale Farbe an. Die Schwellung der Haut ging zurück. Vorsorglich bereitete die Ärztin einen essigsauren Wickel vor, zog obendrein eine Kalziumspritze auf. Schneller Pfeil ließ die Behandlung geduldig über sich ergehen. Eine Weile hielt er still, dann wand er sich wie ein Fisch aus den Armen seiner Mutter, die ihn vor aller Augen liebkoste. Er war ein großer Junge, der kurz vor seiner Initiation in die Welt der Erwachsenen und der Geister stand. Die öffentliche Zurschaustellung von Gefühlen setzte ihn in Verlegenheit. Grüne Jade kannte solche Hemmungen nicht. Sie war so glücklich, daß sie der weißen Medizinfrau vor lauter Dankbarkeit am liebsten um den Hals gefallen wäre. Religiöse Scheu hielt sie davon ab. Vielleicht stammte die Feuerhaarige direkt von den Göttern ab?
»Sei… gepriesen, heilende… Herrin«, stammelte die Indiofrau. »Mögen die guten Geister dich behüten und deine Maistöpfe nie leer werden.« Auch Weise Eule brachte seine Dankbarkeit unverhohlen zum Ausdruck. Sein Herz war übervoll vor Glück und Erleichterung. Seine Augen glänzten feucht von Tränen. »Du hast meinen Sohn gerettet«, verkündete er laut in der Sprache seines Volkes, so daß alle Dorfbewohner seine Worte verstehen konnten. »Du bist von den Göttern gesegnet, und gesegnet ist die Erde, auf der deine Füße gehen. Du und deine Gefährten seid in unserem Dorf willkommen. Bleibt bei uns und teilt mit uns, was wir haben.« Die aufgestaute Spannung des Stammes entlud sich in überschwenglichem Jubel. Die Ärztin hatte über den finsteren Kriegsgott triumphiert. Sie wandelte im hellen Schein des Lichtgottes. Gefiederte Schlange hatte erneut ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Fremden waren Freunde der Nahua. Raoul zog Dominique Quain ohne langes Zaudern in seine Arme und küßte sie ungeniert auf den Mund. »Du warst großartig, Doktorin«, wisperte er. »Das Blatt hat sich zu unseren Gunsten gewendet. Wir dürften das Schlimmste hinter uns haben.« »Bist du sicher?« fragte die Frau zweiflerisch. »Ziemlich sicher. Wir werden diesen Ort früher verlassen, als wir denken.« Es war eine voreilige Folgerung, wie sich später herausstellen sollte. »In einer heiklen Lage ist es gut, dich in der Nähe zu wissen«, bekannte der Archäologe freimütig. »Und nicht nur dann.« »Hoppla, das sind völlig neue Töne!« neckte ihn die Ärztin. »Zu Anfang sprach es sich anders.«
»Da war ich noch blind für deine Vorzüge und Reize. Im übrigen scheint es mir, als wäre zwischen gestern und heute eine Ewigkeit vergangen.« Das stimmte aufs Wort. So vieles hatte sich inzwischen ereignet. Weise Eule strich mit der Hand zärtlich über das schweißnasse Haar seines Sohnes. Flüchtig fragte sich der Schamane, ob sich sein Ansehen im Dorf schmälern würde, weil nicht er, sondern die Medizinfrau Schnellen Pfeil gerettet hatte. Seine Bedenken zerstreuten sich so rasch, wie sie aufgekeimt waren. Seine Stellung war so unangefochten wie an dem Tag, an dem er sein schweres Amt angetreten hatte. In Coatepec herrschte Volksfeststimmung. Häuptling Tosendes Wasser vereinbarte mit der Gemeinschaft, daß die hohen Gäste reihum von allen Familien verköstigt werden sollten. Man stritt sich um die Ehre, wer sie als erste bewirten durfte. »Du hast dem Captain den Rang abgelaufen, Doktorin«, stellte Raoul neidlos fest. »Ein Gesegneter ist nicht ganz soviel wert wie eine Feuerhaarige, die im Auftrag der Gefiederten Schlange Wunder vollbringt.« Nicky lachte. »Ich fühle mich geschmeichelt.« Dann neugierig: »Was stellst du eigentlich vor?« »Über meine Funktion sind sich die Leute noch nicht einig«, antwortete der Archäologe mit einem humorvollen Augenzwinkern. »Sie rätseln noch, ob ich euer Diener, euer Übersetzer oder beides bin.« »Das muß ein empfindlicher Schlag für deinen Stolz sein.« Die Ärztin amüsierte sich königlich. »Du sagst es, Doktorin«, kam es prompt zurück. »Es wird lange dauern, bis sich mein angeknackstes Selbstwertgefühl erholt hat.«
Die Indianer wetteiferten darum, ihre Wohltäter zu verwöhnen. Die Gäste bekamen eine leerstehende Hütte, die in aller Eile gesäubert wurde. Sie bestand aus einem einzigen großen Schlafraum. Geflochtene Hängematten dienten als Bettgestelle. Der Rest der Einrichtung setzte sich aus bunten Webteppichen und Fellen zusammen. Grüne Jade servierte Matetee. Er schmeckte herb, wirkte aber erfrischend und anregend. Einige Männer brachten die Gepäckstücke, die sie vom Tempel ins Dorf geschleppt hatten. Frauen boten Früchte und Maiskuchen an. Larry wurde von der unbequemen Trage auf ein weiches Lager aus Decken und Fellen gebettet. Weise Eule braute aus Heilkräutern, Rinden und anderen zu Pulvern zerstoßenen Ingredienzien einen Zaubertrank, der den Gesegneten stärken sollte. Kurz darauf schlummerte der Pilot ein. »So läßt es sich aushalten«, bemerkte Raoul zufrieden. Er rekelte sich behaglich in seiner Hängematte. Nach den vergangenen Strapazen fühlte er sich wie im Himmel. Auch Nicky lag entspannt in ihrer Matte und ruhte sich aus. »Ja«, bestätigte sie träge. »Diese Schlafnetze sind eine Wucht. Ich hätte nichts dagegen, hier für eine Weile Urlaub zu machen.« Raoul grinste wie ein römischer Faun. »He, worüber lachst du? Hab’ ich etwas besonders Witziges gesagt? Oder habe ich einen Fleck an der Nase?« Als der Mann sich ausschwieg, sagte die Ärztin provozierend: »Übrigens, ich habe gesehen, wie du mit dem Schamanen getuschelt hast. Worum ging’s denn?« »Um eine Männersache.« »Gib dich nicht so zugeknöpft«, bettelte Nicky. »War es etwas Unanständiges?«
»Das nicht«, sagte der Wissenschaftler gedehnt. »Weise Eule hat mich gefragt, ob du meine Braut bist.« Empörend sachlich ergänzte er: »Ich habe natürlich verneint.« Der Mann hatte so viel Charme wie eine giftige Baumschlange! »Klar.« Die junge Frau ließ sich ihren Ärger nicht anmerken, doch das Wort »natürlich« nagte an ihr. Ein Brechmittel war sie nun wahrhaftig nicht! »Ich habe ihm aber verraten, daß du mir sehr gut gefällst«, ergänzte Raoul Anderson unaufgefordert. »Ah. Ist es dein Ernst?« »Ja. Mein voller Ernst.« Die Ärztin war selbst überrascht, wie sehr das Bekenntnis sie freute. »Was hat Weise Eule erwidert?« fragte sie gewollt beiläufig. »Er hat mir einen prima Tip gegeben. Bei den Nahua sei es Sitte, daß ein Mann die Frau, die er zur Mutter seiner Kinder machen möchte, zu sich in die Hängematte holt.« Nicky errötete wie ein Schulmädchen. »Vor oder nach der Hochzeit?« »Vor natürlich.« Die Amerikanerin kicherte. »Sieh an. Dieser Schlawiner.« Raoul blinzelte ihr anzüglich zu. »Ich finde den Rat nicht übel. Im Vertrauen: wir sollten uns näher kennenlernen, Liebling.« »Wie hast du mich genannt?« »Tu nicht, als wärst du taub. Du hast sehr genau verstanden, was ich gesagt habe.« »Du scheinst von der schnellen Truppe zu sein.« »Nein, im Gegenteil, ich bin, was die Liebe betrifft, eher begriffsstutzig. Aber seitdem ich dich kenne, weiß ich, was die Stunde geschlagen hat. Gibt es einen Mann in deinem Leben?« Die Frage klang ein wenig eifersüchtig. Die Frau schmunzelte selbstgefällig. »Ja, zwei.« »Oh!«
»Meinen Vater und meinen Bruder.« »Damit kann ich leben. Steigst du zu mir in die Hängematte?« »Was denkst du von mir?« entgegnete Nicky empört. »Wir kennen uns seit anderthalb Tagen, und du… du nachgemachter Casanova…« Ihr fehlten die Worte. »Bei den Nahua kommt meine Frage einem Heiratsantrag gleich«, erläuterte Raoul Anderson mit samtweicher Stimme. »Ich halte mich lediglich an die einheimische Tradition. Wie findest du meinen Vorschlag?« »Höchst unromantisch«, gestand die Frau unumwunden, doch ihr Herz tat einen beglückten Hüpfer. Raoul war tatsächlich der erste Mann, den sie sich als ihren zukünftigen Lebensgefährten vorstellen konnte. Seine Manieren ließen zwar zu wünschen übrig, doch er war keine aufgeblasene Null wie Vince Gordon und Konsorten. »Wenn wir aus dieser Wildnis herauskommen, werde ich mit roten Rosen anrücken und vor dir auf die Knie fallen, wie es sich für einen perfekten Kavalier geziemt«, versprach der hochgewachsene Archäologe. »Wenn wir herauskommen«, kam es düster zurück. »Genau daran habe ich meine Zweifel. Ich fürchte, Rauchender Spiegel hat noch eine Menge unsauberer Tricks auf Lager.« Nicky sollte sich an diese Worte erinnern. Am Abend wurde zu Ehren der Gäste ein großes Festessen unter freiem Himmel veranstaltet. Das gesamte Dorf nahm daran teil, einschließlich der Kinder. Larry More war der einzige, der die Feier versäumte. Er schlief fest. Weise Eules Gebräu hatte ihm Linderung verschafft. Alle Familien trugen zu dem Mahl bei. Es gab Wildbret, Fische, Schlangenfleisch, gerösteten Mais, Beeren, Honig und eine Art Bier. Gegessen wurde mit den Fingern. Die Festteilnehmer hockten mit gekreuzten Beinen auf der Erde.
Die Speisen waren in große Blätter eingehüllt und lagen auf Tüchern aus Agavefasern. Nicky und Raoul gaben ihr Bestes, um sich den Sitz- und Eßgewohnheiten ihrer Gastgeber anzupassen. Daß es ihnen nicht immer gelang, gab Anlaß zu viel Gelächter. Die Stimmung war ausgesprochen fröhlich. Der Ruf der Muscheltrompete beendete den geselligen Teil des Abends. Das ernste Programm folgte. Die Götter mußten veranlaßt werden, eine große Ratssitzung abzuhalten. Außerdem galt es, das Datum für die Versammlung zu ermitteln. Die Kinder wurden in ihre Hängematten geschickt. »Mir ist mulmig zumute«, sagte Nicky leise zu Raoul. »Mir auch«, gestand der Mann. Die Indianer trafen ihre Vorbereitungen für die Zeremonie. Ein großes Feuer wurde entfacht. Die zeremoniellen Musikinstrumente wurden geholt: Trommeln, Schellen, Flöten und eine Art Xylophon. Die Musikanten ließen sich im Schneidersitz auf der Erde nieder. Die Tänzer bildeten einen großen Kreis auf dem Dorfplatz. Nicky und Raoul wurden angewiesen, sich in der Mitte ans Feuer zu setzen. Weise Eule gesellte sich zu ihnen. Umständlich breitete der Schamane sein Handwerkszeug vor sich aus: eine Schale mit Kräutern, Rinden und Harzen, eine Obsidianflasche, die eine obskure braune Brühe enthielt, Tierknochen, ein gebleichter menschlicher Schädel, ein kunstvoll geschnitzter Stab aus Horn. Die Amerikaner warteten gespannt. Sie hatten viel von den geheimnisvollen Ritualen der Bergindianer gehört. Wäre es nicht um ihre Freiheit gegangen, hätten sie das Schauspiel aus vollem Herzen genießen können.
Die Männer begannen zu tanzen. Erst langsam, dann schneller, immer schneller. Der Schlag der Trommeln bestimmte den Rhythmus. Stampfende Füße. Trommelwirbel. Der schrille Ton der Flöten. Glänzende Leiber, die sich endlos im Kreis bewegten. Die Monotonie wirkte hypnotisierend. Zeit und Raum verloren ihre Bedeutung. Verschwommen nahm Nicky wahr, wie sie ungewollt in einen tranceartigen Zustand glitt, sich in die Sphäre des Mystischen treiben ließ. Nein, sie wollte sich nicht anstecken lassen von der atavistischen Atmosphäre, die uralte brachliegende Emotionen und Instinkte wachrief. In jäher panischer Angst klammerte sie sich an Raoul. Er zog sie an sich, hielt sie fest. Auch er spürte das geradezu zwanghafte Bedürfnis, sich von dem magischen Sog erfassen und mitreißen zu lassen. Das durfte nicht geschehen. Sie durften sich nicht an Kräfte ausliefern, die sich ihrer Beeinflussung entzogen. Es ‘ war zu gefährlich. Weise Eule gab den Musikanten ein Zeichen. Der Klang der Trommeln brach abrupt ab. Ein letzter schriller Ton der Flöten, dann verstummten auch sie. Schellen und Xylophon riefen scheppernd die Götter herbei. Dann herrschte Stille. Weise Eule stand gemessen auf. Er öffnete seine Obsidianflasche und spritzte drei Tropfen Flüssigkeit in das lodernde Feuer. Stichflammen schossen zum gestirnten Himmel. Der Schamane hob die Arme zur Anrufung. Seine beschwörende Stimme wanderte durch die Nacht bis hinauf zu den Wolken, als er den Göttern schilderte, was sich ereignet hatte, und sein Anliegen vortrug.
»Hört die Worte eures Priesters, ihr Mächtigen. Die Boten des Lichtgottes Quetzalcoatl sind in unser Dorf eingekehrt, um uns mit ihrer Anwesenheit zu ehren. Rauchender Spiegel fordert ihr Blut als Opfer. Euer Volk bittet euch, im großen Rat der Sterne zu entscheiden, welchem Gott wir gehorchen sollen. Gebt eurem Diener durch ein Zeichen kund, an welchem Tag und zu welcher Stunde euer Gericht zusammentritt.« Der Schamane bückte sich und nahm die Schale auf. »Nehmt dieses Opfer an, ihr Mächtigen«, bat er. »Es wird euch laben.« Mit einem Ruck kippte er den Inhalt ins Feuer. Eine Rauchsäule stieg zum Himmel empor. Bläuliche Dämpfe wallten wie Nebel auf und nieder. Nicky wurde es schwindlig. Offenbar war der Inhalt der Schale mit berauschenden Drogen angereichert, die durch Hitze freigesetzt wurden. Der Schamane ließ sich vor dem Feuer nieder. Selbstvergessen hantierte er mit den fahlen Gebeinen und dem Schädel, legte sie mal zu dieser, mal zu jener Form zusammen. Wer mit den Sitten der Naturvölker nicht vertraut war, hätte Weise Eule vermutlich für einen Primitiven gehalten, der mit Knochen und anderen makabren Gegenständen einen kindischen Spuk inszenierte. Faulen Zauber, wie er einem wundergläubigen Volk, das weder das Rad kannte noch eine Schrift entwickelt hatte, angemessen war. Nicky und Raoul begingen nicht den Fehler, den Schamanen zu unterschätzen. Weise Eule war alles andere als ein Dummkopf. Er war vielmehr ein hochgebildeter Mann, der es an Intelligenz mit jedem weißen Universitätsprofessor aufnehmen konnte. Hinter seiner bronzefarbenen Stirn lag das gesamte religiöse und kulturelle Wissen seines Stammes gespeichert. Er war Philosoph und Seher, Priester und Sternenkundiger, Richter und Arzt, Kräuterfachmann, Apotheker, Therapeut. Vielleicht war einiges von dem, was er
tat, reine Schau, aber die psychologische Wirkung war gewaltig. Das allein zählte. Jede Kultur liebt und pflegt ihren besonderen Hokuspokus, der den schweren Alltag vergessen macht. Der Schamane nahm seinen Zauberstab und zeichnete mit der Spitze magische Symbole in den Staub. Eine Weile tat sich nichts. Weise Eule wirkte entrückt. Mit glasigen Augen starrte er in die zuckenden Flammen. Und dann geschah etwas Merkwürdiges, Bizarres, Phantastisches. Etwas, das die Gesetze der Physik zu verspotten schien. Etwas, das die Amerikaner mit ihrem logischen Verstand nicht erklären konnten. So oft und so ausgiebig sie später über die seltsamen Erscheinungen rätselten, nie vermochten sie das Geheimnis zu lüften, ohne daß einige Fragen ungeklärt blieben. Suggestion? Drogenwahn? Trugbilder aus dem Unterbewußtsein? Oder ein echtes okkultes Phänomen? Ein Einblick in ein heidnisches Mysterium? Das Feuer begann zu gleißen. Grelles weißes Licht blendete die Augen. Eiseskälte schlug aus der Helligkeit, vermischte sich mit der schwülen, subtropischen Luft, bis das Feuer von einer Aura aus Rauhreif und Schnee umkränzt wurde. »Wow!« sagte Raoul Anderson zutiefst beeindruckt. Gesichter erschienen in den Flammen. Geisterhaftes Gewisper schwoll zu einem gespenstischen Chor. Nicky keuchte. Sie zweifelte an ihrem Verstand, ihren Sinnen. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. »Das gibt es nicht«, hörte sie Raoul neben sich murmeln. »Es muß eine Illusion sein.« War es eine Illusion? Oder war die natürlich Ordnung der Dinge durch die Anwesenheit unfaßbarer Energien vorübergehend außer Kraft gesetzt?
Weise Eule stimmte einen monotonen Singsang an, hielt Zwiesprache mit den Geistern. Mit geschlossenen Augen, so als werde seine Hand von einer unsichtbaren Macht gelenkt, malte er mit seinem Stab die Himmelsbilder in den Staub, skizzierte den Lauf der Planeten. Die Gesichter in den Flammen verschwanden. Das geisterhafte Gewisper ging im Rascheln des Windes in den Bäumen unter. Die Temperatur erhöhte sich. Mit gemessenen Worten dankte der Schamane den Göttern für die Offenbarung. Mit einem explosionsartigen Knall erlosch das Feuer. Das Ritual war beendet. Niemand regte sich. Niemand wagte, einen Laut von sich zu geben. Es schien, als hätten die Menschen sogar das Atmen eingestellt. Weise Eule hockte bewegungslos und in sich zusammengesunken vor der glühenden Asche. Nach einer langen Weile hob er den Kopf, sammelte seine magischen Werkzeuge ein. Taumelnd kam er auf die Beine. Zwei Männer eilten herbei, um ihn zu stützen. »Die Götter haben zu Weise Eule gesprochen und ihm ihre Entscheidung mitgeteilt«, verkündete der Mann mit der ledernen Toga. »Dreimal wird der Mond in seiner vollen runden Gestalt erscheinen, dann wird der Rat der hohen Mächte zusammentreten. Bis dahin werden unsere Gäste unter uns leben und lernen zu begreifen.« Dominique Quain brauchte eine Weile, um die volle Tragweite von Weise Eules Worten zu erfassen. Der Schock stand deutlich auf ihrem schmalen Gesicht geschrieben. Mehr als drei Monate sollten sie unter den Nahua leben, abgeschnitten von der Außenwelt, in Unfreiheit, ohne jede Hoffnung auf Flucht? Mehr als drei Monate sollten sie in
Furcht und Unsicherheit gehalten werden, als verschollen gelten? Es war ungeheuerlich. Ungewiß war auch der Ausgang des göttlichen Gerichtsverfahrens. Das Urteil konnte durchaus auf Tod lauten. Nicky schluckte trocken. Sie wollte fort. Sie wollte ihre Pläne durchführen, ihren Beruf ausüben. »Was sollen wir tun?« fragte sie leise auf englisch. »Nichts«, antwortete Raoul lakonisch. Er gab sich gefaßt, obwohl es in seinen markanten Zügen arbeitete. Einerseits kam ihm ein längerer Aufenthalt in Coatepec nicht ungelegen. Wenn er seine Freundschaft mit den Nahua förderte, konnte er in aller Ruhe den Doppeltempel studieren, bevor seine Berufskollegen zu Scharen im Dorf einfielen. Andererseits störte ihn der Gedanke, den Nahua auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein. Er und seine Begleiter waren Gefangene, daran gab es nichts zu deuteln und zu rütteln. »In einhundert Tagen werden die Götter ihr Urteil fällen«, wiederholte Weise Eule. »Bis dahin sind unsere Hütten eure Hütten.« Nicht mit mir! begehrte Nicky innerlich auf. Laut aber sagte sie bedächtig: »Drei Monate sind eine sehr lange Zeit. Besteht keine Möglichkeit, die Wartefrist abzukürzen?« »Nein. Die Götter haben gesprochen.« Der Priester wirkte verstimmt. Offenbar hatte er keinen Widerspruch erwartet. »Unsere Angehörigen werden sich um uns sorgen«, gab die Ärztin zu bedenken. »Sie werden sich gedulden, wie ihr«, kam es barsch. Die Frau stieß ihrem Begleiter in die Hüfte. »Sag etwas«, drängte sie ihn. »Biete ihm die Schmuckscheiben an.«
»Es würde nichts nützen«,wandte Raoul Anderson vernünftig ein. »Er könnte uns dennoch nicht freilassen. Er ist nicht käuflich. Er richtet sich nach den Befehlen seiner Götter.« »Unsinn! Er selbst hat die Entscheidung getroffen. Zumindest kommt sie seinen eigenen Wünschen sehr entgegen. Ich denke nicht daran, mich der Willkür abgewrackter heidnischer Götzen und ihres Priesters zu unterwerfen.« Nickys Kampfgeist gewann die Oberhand. Stürmisch appellierte sie an die Einsicht des Schamanen. »Die Frau des Gesegneten erwartet ein Kind. Soll sie vor Kummer krank werden, weil sie nicht weiß, was aus ihrem Mann geworden ist?« Weise Eule rang mit sich. »Die Frau des Gesegneten wird die Kraft finden, ihr Schicksal hinzunehmen«, entschied er mit harter, unerbittlicher Stimme. Die junge Ärztin gab sich mit der Abfuhr nicht zufrieden. »Unsere Angehörigen werden uns suchen«, trumpfte sie auf. »Sie werden Scharen von silbernen Riesenvögeln aussenden, die nach uns ausspähen.« Es war die reine Wahrheit. Dom Quain würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Er würde nicht ruhen, bis die Vermißten gefunden waren. Der Schamane zuckte unmerklich zusammen. Die Flammenhaarige hatte einen wunden Punkt berührt. Nicky baute ihren Vorteil unverzüglich aus. »Die Riesenvögel werden uns aufspüren«, bluffte sie. »Ihren scharfen Augen entgeht nichts.« Weise Eule hatte diese Möglichkeit erwogen, aber keinen Ausweg gefunden. Ergeben senkte er den Kopf und sagte schlicht: »Wenn es der Wille der Götter ist, soll es geschehen.« Himmel und Zwirn. Es war zum Haareraufen. Nicky sorgte sich weniger um sich selbst als vielmehr um Larry und Sue und das ungeborene Baby. Larry More würde verzweifeln, weil er wußte, seine Frau würde sich die Augen
ausweinen. Susan wiederum würde keine ruhige Minute haben, solange sie sich um ihren Mann ängstigen mußte. Die Aufregung würde dem Kind schaden. In klaren, ungeschminkten Worten sprach die Ärztin ihre Überlegungen aus. »Selbst die Götter können nicht wünschen, daß einer werdenden Mutter und ihrem Kind Leid geschieht«, schloß sie vehement. Weise Eule seufzte. Kinder waren den Nahua heilig. Aber der Fortbestand eines Dorfes ging über das Wohl einer Familie. Raoul Anderson schlüpfte endlich aus seiner Statistenrolle. »Besteht keine Möglichkeit, daß unsere Angehörigen benachrichtigt werden?« fragte er, jedes Wort sorgfältig abwägend. »Sicher gibt es irgendwo eine weiße Missionsstation. Die Padres sind imstande, eine Botschaft weiterzuleiten. Unsere Familien müssen erfahren, daß wir leben und in Sicherheit sind.« »In diesem Fall werden sie wohl darauf verzichten, nach uns zu suchen«, versicherte Nicky. Sie sah den Medizinmann eindringlich an. »Bitte, helfen Sie uns.« Weise Eule lachte freudlos. Er versuchte, allen zu helfen. Die Fremden wollten es nur nicht begreifen. »Ich werde einen Boten zum Missionsdorf senden«, entschied der Schamane mit müder Stimme. »Pater Miguel wird euer Volk benachrichtigen.« Er verschwieg, daß Pater Miguel ein persönlicher Freund war. Der Geistliche würde die Botschaft gewissenhaft weitergeben, aber im Sinne der Nahua. Dominique Quain strahlte auf. Sie hatte wenigstens einen Teilsieg errungen. Ihr Vater würde den Rest besorgen. Huschende Ratte, der schnellste Läufer des Stammes, wurde mit der Aufgabe betraut, eine Botschaft zur Missionsstation zu bringen. Nach zehn Tagen kehrte er zurück. Er hatte seinen Auftrag erfolgreich beendet.
Inzwischen hatten sich die Weißen überraschend gut im Dorf eingelebt. Ihre anfängliche Hoffnung, von einem Suchtrupp entdeckt zu werden, war geplatzt wie ein Luftballon. An den ersten Tagen hörten sie den Motorenlärm mehrerer Hubschrauber, die über dem Dschungel kreisten, doch nach einigen Tagen herrschte Stille. Offenbar war die Suchaktion abgeblasen worden. Nicky wunderte sich darüber. Dom Quain zählte nicht zu den Menschen, die aufgaben. Pater Miguel mußte ihn über Funk beschwichtigt haben. Nicky fragte sich, auf welcher Seite der Geistliche stand. Offenbar hatte er ihrem Vater wer weiß was für Geschichten erzählt. »Vermutlich denken meine Eltern und Sue, wir würden im Urwald innere Einkehr halten«, sagte die Ärztin kopfschüttelnd. Larry fand sich damit ab, daß er die Geburt seines Sohnes nicht miterleben konnte. Da sein Bein ruhiggestellt war, ließ er sich von zwei Trägern, die abrufbereit zu seiner Verfügung standen, in die Werkstätten der Indios transportieren. Vor allem interessierte ihn die Kunst der Obsidianbearbeitung. Obsidian war ein natürliches, vielseitig verwendbares Glas, das in vulkanischen Regionen vorkam und in einer nahe gelegenen Mine gewonnen wurde. Die Nahua fertigten daraus Gegenstände für den Haushalt und die Jagd, aber auch für den religiösen Gebrauch. Raoul ging mit Feuereifer daran, das Heiligtum auf dem Schlangenberg zu erforschen. Er war in seinem Element. Er entschlüsselte die Bilder, mit denen die Tempel überreich ausgestattet waren. Stundenlang saß er bei den Alten vor dem Gemeindehaus. Er lauschte den Stammeslegenden, in denen sich die aztekische Geschichte widerspiegelte. Er sammelte indianische Mythen und machte zahllose Notizen. Mit Verwunderung stellte er fest, daß er zum erstenmal in seinem Leben restlos glücklich war. Er genoß seine Arbeit, ihm gefiel
die schlichte Kameradschaft der Dorfbewohner und die sich anbahnende Freundschaft mit Larry More. Obendrein wurde er immer vertrauter mit der Frau, die er liebte. Sie ergänzten sich auf ideale Weise. Auch Nicky hatte sich an ihre erzwungene Ruhepause gewöhnt. Ihre innere Einstellung hatte sich geändert. Aufgeschlossen für alles Neue, ließ sich die Ärztin von dem Nahua in die Welt der Naturheilkunde einführen. Weise Eule kannte alle einheimischen Kräuter und Pflanzen und wußte genau, welche Wirkstoffe sie enthielten. Er stellte Extrakte her, mischte sie und bereitete sie zu Arzneien auf. Seine Kenntnisse über die verschiedenen Gifte und Gegengifte waren bemerkenswert. Die Hochachtung der weiße Medizinerin wuchs von Tag zu Tag. Beeindruckend war auch das psychologische Fingerspitzengefühl des Medizinmannes. Es zeigte sich an dem Morgen, als Kleine Silberschelle ausflippte. Sie tat sich gern wichtig, hatte Launen und Mucken, doch an diesem Tag trieb sie es besonders toll. Schreiend rannte sie durch das Dorf, warf sich auf die Erde, wütete wie eine Tobsüchtige. Fünf Männer waren notwendig, um die rasende Frau einzufangen und festzuhalten. »Ein zorniger Dämon hat von ihr Besitz ergriffen«, sagte Weise Eule. Umgehend bereitete er sich darauf vor, an der Besessenen einen Exorzismus durchzuführen. Die Einwohner von Coatepec fanden sich auf dem Dorfplatz ein. Mit Pauken, Trompeten und allem notwendigen Tamtam wurde der böse Geist ausgetrieben. Trommelschlag hallte durch den Ort. Feuer wurden geschürt, Beschwörungen gesungen, derwischartige Tänze aufgeführt. Rasseln und Schellen schepperten. Das Ritual war so gewaltig, daß der Dämon weichen mußte. Stinkender grüner Schleim quoll aus
dem Mund der Frau, als der üble Geist ausfuhr und verschwand. Rhythmisches Händeklatschen vertrieb ihn aus dem Dorf, bevor er sich ein neues Opfer suchen konnte. Als die Zeremonie beendet war, lag Kleine Silberschelle matt und apathisch auf dem Platz. Aber am Morgen darauf spazierte sie, frisch wie eine Forelle, durch das Dorf und dankte dem Medizinmann artig für ihre Heilung. Niemand rümpfte die Nase über Kleine Silberschelle. Alle freuten sich mit ihr und gratulierten ihr zu ihrer Genesung. »Denken Sie wirklich, daß ein böser Dämon sie gepeinigt hat?« fragte die junge Ärztin skeptisch. Kleine Silberschelle war eine überspannte Person. Das Theater, das sie aufgeführt hatte, sah verdächtig nach einem hysterischen Anfall aus. Der Schamane lächelte hintergründig. »Kleine Silberschelle war in Not. Ihr Stamm hat ihr beigestanden, damit sie gesund wird. Jetzt geht es ihr wieder gut.« Nicky dachte über die Antwort nach. Kleine Silberschelle hatte Zuwendung und Aufmerksamkeit gebraucht. Beides hatte sie in hohem Maß erhalten. Gleichzeitig war es ihr gestattet worden, ihre Aggressionen und Spannungen abzubauen. Nein, es kam nicht auf den Namen der Krankheit an. Weise Eule, ein gewiefter Praktiker, hatte genau erkannt, was seiner Patientin fehlte, und die richtig Therapie angewendet. Der Zwischenfall gewährte einen tiefen Blick in das soziale Gefüge. In Coatepec gab es keine Außenseiter, keine Randgruppen. Jedes Stammesmitglied wurde angenommen, wie es war und nicht, wie es sein sollte. Ohne Vorbehalte oder Bedingungen. Kleine Silberschelle war ebenso fest in die Gemeinschaft eingebunden wie Huschende Ratte, wie Häuptling Tosendes Wasser, wie der Blinde, der Lahme, der gebrechliche Greis.
Mit Verwunderung stellte Nicky fest, daß sie ruhiger und ausgeglichener war als je zuvor. Raoul und Larry erging es ebenso. Das einträchtige Miteinander der Nahua übertrug sich auf die weißen Gäste. In dieser heilen, naturbezogenen Ordnung klang die innere Unrast wie von selbst ab. Das Wort »Hektik« war in Coatepec unbekannt. »Offenbar haben wir die Wilden gebraucht, um zahm zu werden«, witzelte Larry. »Selbst ihr…«, er warf seinen Freunden einen provozierenden Blick zu, »benehmt euch wie gesittete Menschen. Wer hätte gedacht, daß zwei Querschädel wie ihr einmal ein Herz und eine Seele sein werden?« »Ich«, behauptete Raoul. Er sah Nicky verliebt in die Augen. »Hab’ ich dir nicht unlängst einen Heiratsantrag gemacht?« Die hübsche Frau lachte. »Ja. Einen Antrag nach Stammesart.« »Und? Willst du zu mir in die Hängematte steigen?« Nicky blinzelte dem geliebten Mann lausbübisch zu. »Darüber ließe sich reden.« »Laßt euch durch mich nicht stören.« Larry verließ taktvoll die Hütte. Mit seinem Gehgips, den die Ärztin ihm angelegt hatte, konnte er bereits recht gut umherhumpeln. »Flitterwöchler!« brummte er gut gelaunt. Die Weißen lernten nicht nur die heile Welt des Urwalds kennen. Hautnah erfuhren sie, was es hieß, wenn eine gewachsene Ordnung gestört wurde. Graue Wolke, ein Läufer, den Häuptling Tosendes Wasser mit einer Botschaft zu einem anderen Dorf geschickt hatte, brachte ein krankes Kind nach Coatepec. Graue Wolke hatte es im Urwald aufgelesen. Später stellte sich heraus, daß Blaue Kolibrifeder von ihrem Stamm ausgesetzt worden war, um die übrigen Dorfbewohner nicht zu gefährden. Das kleine Mädchen war mit weißen Holzfällern in Berührung gekommen
und erkrankt. Eine Zeitlang hatte es sich durch den Dschungel geschleppt und war schließlich zusammengebrochen. Graue Wolke sah den Schamanen von Coatepec erwartungsvoll an. »Deine Medizin wird Blaue Kolibrifeder wieder gesund machen«, sagte er zuversichtlich. Weise Eule kam eilig näher, um das Mädchen zu untersuchen, doch Nicky war flinker als er. Sie hatte sofort erkannt, was die verräterischen Flecken bedeuteten. »Nein, Weise Eule!« rief sie entsetzt. »Das Kind hat die Masern. Keiner von euch darf zu ihm, sonst werdet ihr alle sterben. Ihr besitzt keine Abwehrkräfte gegen diese Krankheit.« Verängstigt wichen die Leute zurück. Weise Eule war ratlos. Graue Wolke sah elend aus, so als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er hatte sich angesteckt. Sie mußten ihn und das Kind zum Sterben in den Wald treiben, um die Sicherheit des Dorfes zu gewährleisten. Mit unbewegter Stimme teilte Weise Eule seine Entscheidung mit. Wehklagen ging durch den Ort. Graue Wolke sollte aus ihrer Mitte verstoßen werden. Nicky griff ein. »Ich werde ihn und das Kind pflegen«, verkündete sie. »Ich bin gegen die Krankheit resistent.« Weise Eule nahm das Angebot dankbar an. Die Medizinerin zog mit ihren Patienten in eine Hütte, die in Windeseile außerhalb des Dorfes errichtet wurde. Raoul wollte ihr bei der Krankenpflege zur Hand gehen, doch sie lehnte ab. »Du könntest Krankheitskeime übertragen«, sagte sie. »Das dürfen wir nicht riskieren.« Noch am selben Tag brachen bei Grauer Wolke die Masernsymptome aus. Für Nicky war es furchtbar, mit ansehen zu müssen, wie ihre Patienten buchstäblich vor ihren Augen verfielen. Wie durch ein Wunder überlebte Graue Wolke die Krise. Nach sechs Wochen kehrte er, geschwächt und bleich,
zu seiner Hütte im Dorf zurück. Blaue Kolibrifeder wurde nicht gesund. Trotz liebevoller, intensiver Betreuung starb sie in der zweiten Woche. Nicky weinte, als der kleine Leichnam, in eine Decke gehüllt, an einen Begräbnisbaum gehängt wurde. Auch Raoul und Larry stimmte das traurige Ereignis sehr nachdenklich. Den Ort am Schlangenberg und seinem Doppeltempel für die weiße Bevölkerung zu erschließen, bedeutete den Tod vieler Waldindianer. »Was wir den Nahua antun wollen, ist ein Verbrechen«, stellte der Pilot mit nüchterner Stimme fest. »Das ist mir bewußt«, erklärte Dominique Quain. »Aber die Entscheidung liegt nicht allein bei mir.« Raoul dachte an seine Karriere, an den ersehnten Ruhm als Entdecker eines märchenhaften Tempels. Aber im Vordergrund stand der Preis, den die Nahua dafür bezahlen würden: Landeplätze für Hubschrauber, rücksichtslos in den Urwald geschlagen. Wissenschaftler aus aller Welt, Touristenströme. Ein Hotelkomplex »Zur Gefiederten Schlange« und ein Konkurrenzunternehmen »Zum Rauchenden Spiegel«. Coatepec als Freilichtmuseum mit seinen Bewohnern als lebendem Inventar. Folkloreabende, an denen die Nahua ihre traditionellen Tänze aufführten. Weise Eule, der für ein paar lumpige Dollars seine Medizin feilbot. Tosendes Wasser als Kassierer. Geheiligte Götterstatuen, die, begafft von einer ehrfurchtslosen Menge, in internationalen Museen ein kümmerliches Dasein fristeten. Alkohol, der die letzten Reste von Stolz und Würde zerbrach. Vorhang auf zum letzten Akt einer Tragödie, die mit den Eroberungsfeldzügen der Spanier begonnen hatte. Nach einem unrühmlichen Ende treten die Helden von der Bühne ab und sterben. Tezcatlipoka hat auf der ganzen Linie gesiegt.
»Wenn ihr die Nahua eurem Ehrgeiz opfert, kannst du mich von deiner Gehaltsliste streichen, Nicky«, drohte Larry. Die junge Frau tauschte einen Blick mit ihrem Verlobten. »Ich denke, dazu wird es nicht kommen, Larry«, meinte sie lächelnd. Raoul hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen. »Behalte deine Stelle, Larry«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Ich werde das Geheimnis von Coatepec nicht verraten.« »Also deshalb hat Weise Eule darauf bestanden, daß wir längere Zeit unter ihnen leben«, bemerkte Nicky versonnen. »Wir sollten lernen, sie zu verstehen.« Nicht zum ersten Mal streifte die Weißen der Verdacht, daß Weise Eule seine Götter geschickt manipulierte. Anders ausgedrückt: sein Wille deckte sich erstaunlich oft mit der Entscheidung der hohen Mächte. »Er ist ein schlauer Fuchs«, sagte Raoul ohne Groll. »Und ein verantwortungsbewußter, umsichtiger Führer seines Volkes«, ergänzte Nicky. »Er hat meinen vollen Respekt.« Weise Eule, der seine Gäste sehr genau im Auge behielt, war zufrieden. Die Fremden fingen an zu begreifen. Das war gut. Denn der Tag, an dem sich die Götter im großen Rat versammeln würden, stand bevor.
*
Zum dritten Mal erschien der Mond in seiner vollen Gestalt. Feierlich bewegte sich der Fackelzug über die Felsterrassen, die zur Tempelanlage führten. An der Spitze der Prozession schritt Weise Eule, angetan mit seiner prächtigsten Toga, einer Halskette aus Zähnen und einem prachtvollen Kopfputz, der aus den farbenfrohen langen Federn des seltenen
Quetzalvogels gearbeitet war. Dem Priester folgte Häuptling Tosendes Wasser. Auch er trug sein Festtagsgewand und die Zeichen seines Amtes. Hinter ihm gingen die weißen Gäste, der Ältestenrat, die Musikanten, die Krieger, die Frauen. Langsam erklomm die Menschenschlange die Treppe der vorderen Pyramide. Die Zeremonie sollte unter dem gestirnten Himmel stattfinden, im Hof zwischen den Tempeln, auf neutralem Boden, im Angesicht aller Götter und Dämonen. Nicky Quain und ihre Begleiter sahen verzagt in die Zukunft. Da sie wußten, was für die Nahua auf dem Spiel stand, wagten sie kaum zu hoffen, daß sie ihre Freiheit wiedererlangen würden. Sie waren eine Bedrohung für den Stamm. Feierlich entzündete Weise Eule die Feuer. Wie schon einmal, goß er drogenhaltige Pulver in die Flammen. Die Ältesten scharten sich um die Feuer, die an vier Ecken des Platzes loderten. Jeder Greis trug eine Maske, die das Gesicht eines Gottes hatte. Weise Eule ließ sich am fünften Feuer in der Mitte des Platzes nieder. Häuptling Tosendes Wasser, der Zeremonienmeister, geleitete die Gefangenen zu einem Holzpodest. Abgesondert und deutlich sichtbar sollten sie sich dem Urteil der hohen Mächte stellen. Die Musikanten begannen zu spielen. Die Tänzer folgten dem Rhythmus. Der Schamane erhob sich. Mit hallender Stimme rief er die Götter zur Versammlung. »Kommt, es ist alles bereit, ihr hohen Mächte. Die Feuer der Wahrheit brennen. Die Opfer sind dargebracht. Jene, über die ihr das Urteil fällen sollt, sind vorgeführt.« Die Luft zirpte und knisterte, so als stünde sie unter elektrischer Spannung. Geheimnisvolle Schatten bewegten sich um die Feuer. Berauschende Nebel schufen eine Atmosphäre
des Mystischen. Vorzeitliche magische Kräfte wurden freigesetzt. Der Zauber, virtuos inszeniert und durch eine unheimliche, uralte Kulisse verstärkt, begann zu wirken. In Nickys Kopf begann es zu kreisen. Sie hatte Mühe, sich zu orientieren. Sie schwebte in einem Grenzbereich zwischen Wachsein und Betäubung. Rascheln und Raunen verkündete die Ankunft der Götter. Die Beratung konnte beginnen. Der Schamane verneigte sich ehrerbietig nach den vier Himmelsrichtungen. »Weise Eule und sein Stamm grüßen euch, hohe Mächte. Hört das Geschehen und laßt euch zur Beratung nieder.« Mit getragener Stimme legte er den Fall dar. An den Eckfeuern erhob sich Gewisper. Die Ältesten waren in Trance gefallen. Ihr Geist war aus ihren Körpern gewichen. Ihre Leiber dienten den Göttern, deren Maske sie trugen, als Gefäße, ihre Münder waren die Sprachrohre der hohen Mächte. Der Mann in der Maske des Rauchenden Spiegels stellte seine Forderung. »Ich verlange die Fremden für mich!« rief er mit grollender Stimme. »Sie sollen auf meinem Altar geopfert werden! Sie gehören mir!« Die Maske der Gefiederten Schlange widersprach. »Ich gebiete, sie zu verschonen. Sie stehen unter meinem Schutz.« »Sie werden die Nahua vernichten.« »Du bist es, finsterer Tezcatlipoka, der die Stämme dem Untergang weiht.« Andere Masken mischten sich ein. Die Erdgöttin, die Todesgöttin, der Maisgott, der Frühlingsgott. »Sie haben dem Volk der Nahua in der Not beigestanden.« »Es war eine List, um den Argwohn des Stammes zu beschwichtigen. Sie werden dem Dorf Tod und Verderben bringen.« »Ich fordere ihren Tod.«
»Sie sollen leben.« Ein heftiges Für und Wider entbrannte. Es zog sich endlos in die Länge. Die hohen Mächte gelangten zu keiner Einigung. Die Gefangenen verfolgten wie gebannt die Beratung. Nicky und Larry hatten sich bemüht, die Sprache der Nahua zu erlernen. Die Verständigung war gut. Auf dem Tempelhof vollzog sich das ewige Drama vom Streit der Götter untereinander, vom kosmischen Kampf zwischen Licht und Finsternis. Das mystische Geschehen setzte Urkräfte frei, die so alt waren wie die Menschheit, die an die Wurzeln des Seins rührten, die unmittelbar zur Seele sprachen. Zum Vorschein kam das kollektive Bewußtsein, das den Indianern, den Weißen und den Göttern gemeinsam war: das Vermächtnis aus der Frühzeit der Menschen. Ungewollt erlagen die Weißen dem Zauber, ließen sich mitreißen. Aus Zuschauern wurden Akteure, die selbst auf die Bühne traten und ihre Rolle übernahmen. Das gemeinsame Erbe gab ihnen die richtigen Worte ein. Nicky stand auf und hob die Hände. »Die Heilerin will reden.« »Sprich«, kam es von allen Seiten. »Wir möchten einen Fürsprecher berufen, der unsere Worte in den Rat der Götter einbringt und für uns eintritt.« Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Wen wollt ihr als euren Fürsprecher berufen?« Raoul Anderson und Larry More erhoben sich, traten neben die Ärztin. » Wir bitten den mächtigen Doppelherrn, dessen Tempel das Weltall ist, für uns einzutreten«, sagten sie im Chor. Stille herrschte. Weise Eule lächelte. Die weißen Gäste hatten eine kluge Wahl getroffen. Sie war kühn, aber wohlüberlegt. »Die Macht droben«, die auf dem Polarstern thronte und mit ihrem
kosmischen Atem das Universum umhüllte, war die höchste Instanz in der göttlichen Hierarchie. Der unwandelbare Doppelherr stand über den streitenden Parteien. »Wer soll das Gefäß des Gottes werden?« fragte Rauchender Spiegel mit hämischer Stimme. »Weise Eule. Er soll die Zunge des Doppelherrn sein und oberster Richter. Wir werden uns seiner Entscheidung beugen.« Es war ein Wagnis. Die Gefangenen wußten es. Mehr als jeder andere fühlte sich der Schamane für die Sicherheit seines Stammes verantwortlich. Er war aber auch der einzige, der die Weißen richtig einschätzen konnte. An den Feuern kam es zu einer kurzen Beratung. Der Vorschlag wurde für gut befunden. »Nimmt Weise Eule die Wahl an?« fragte der Mann in der Maske der Gefiederten Schlange. Der Schamane stand auf. »Ja. Weise Eule nimmt die Wahl an.« Kein Muskel zuckte in seinem beherrschten Gesicht. »So sei es. Sprich im Namen des Doppelherrn.« Der Mann mit der Federkrone des Quetzalvogels lauschte auf die Stimme in seinem Innern. Dann verkündete er in der blumigen Sprache der Bergindianer: »Der Doppelherr hat in den Herzen des Gesegneten und seiner Begleiter geforscht und keine Falschheit entdeckt. Die weißen Gäste sollen leben. Die Nahua werden durch sie kein Leid erfahren.« »So sei es. Sie sollen leben«, riefen die Masken. Sie schienen erleichtert. Selbst Rauchender Spiegel erhob keinen Einwand. »Ich werde auf ihr Blut verzichten«, willigte er ein. »Aber ich fordere, daß sie im Dorf am Schlangenberg bleiben und es nie verlassen.« Für immer in Coatepec leben? Nie in die Zivilisation zurückkehren? Die Amerikaner schraken vor diesem Gedanken zurück.
»Wir lieben und schätzen den Stamm der Nahua, aber wir gehören zu unserem eigenen Volk«, sagte Raoul Anderson mit hallender Stimme. »Wir bitten, daß wir in unsere Dörfer und an unsere heimischen Lagerfeuer zurückkehren dürfen.« Sorgfältig wogen die Masken das Für und Wider ab. »Rauchender Spiegel verlangt, daß ihr den Wein des Vergessens trinkt, bevor ihr das Dorf am Schlangenberg verlaßt«, sprach die Maske des Tezcatlipoka. Nicky erschrak zutiefst. Es gab Gifte, die das Gehirn zerstörten. Weise Eule kannte sie alle. »Töte uns«, forderte die Frau mutig. »Es ist gnädiger, unser Blut zu vergießen, als unseren Geist zu töten.« Erneut setzte eine geflüsterte Beratung ein. »Wir werden Coatepec und seinen Tempel nicht verraten«, sagte Raoul. »Wir werden auch nicht zurückkehren, es sei denn, wir sind als Freunde willkommen.« »Sie sprechen mit gespaltener Zunge«, warnte die Erdmutter. »Nein. Sie sind ohne Arg«, widersprach eine andere Maske. Weise Eule rang mit sich. Er wandte sich an die Gefangenen. »Schwört im Angesicht der Götter, bei allem, was euch heilig ist, das Geheimnis der Nahua zu wahren. Schwört, diesen Eid bis an das Ende eures Lebens zu halten.« »Wir geloben es im Angesicht der Götter, bei allem, was uns heilig ist«, kam es einstimmig zurück. Weise Eule hörte, daß der Eid aus vollem Herzen kam. Die Weißen würden ihren Schwur nicht brechen. Der Schamane schlüpfte in die Maske des Doppelherrn. »So sei es«, verkündete er mit lauter, getragener Stimme. »Zieht in Frieden zu eurem Volk. Ihr habt Gutes getan, ihr habt die Götter geehrt, und ihr habt die Gesetze gehalten. Vernehmt das Urteil ›der Macht droben‹: Ihr seid frei.« »So sei es«, bekräftigten die übrigen Masken.
Den Amerikanern strömten vor Erleichterung die Tränen in die Augen. Der Glückstaumel war so überwältigend, daß sie ihren Dank nur mit gestammelten Worten ausdrücken konnten. Die Beratung war beendet. Unter ekstatischem Trommelwirbel löste die Versammlung der Götter sich auf. Die Greise legten ihre Masken ab. Im Tempelhof herrschte Siegesstimmung. Gefiederte Schlange hatte über Rauchenden Spiegel triumphiert. Die Anwesenden begaben sich in den Schrein des Tezcatlipoka, um den finsteren Gott mit dem Blut eines wilden Truthahns zu versöhnen. Schaudernd verfolgte Nicky das Opferritual. Einem Impuls folgend, legte sie einige Früchte auf den Altar. Die Indios wirkten befremdet. »Willst du Rauchenden Spiegel zum Vegetarier machen?« fragte Raoul neckend. Die junge Frau zuckte die Achseln. »Weshalb nicht? Ich bin Idealistin.« Über diese Antwort mußte selbst Weise Eule schmunzeln. Gemessen bewegte sich der Zug in die entgegengesetzte Richtung: zum Tempel des Quetzalcoatl. Blumen und Früchte wurden dem Lichtgott dargebracht. Dann kam das Ereignis, auf das Nicky lange gewartet hatte. Sie wandte sich an die versammelten Nahua. »Ihr habt uns das Geschenk der Freundschaft gegeben. Ihr habt uns als eure Gäste bei euch aufgenommen. Ihr habt uns gelehrt zu sehen, zu staunen, zu begreifen. Ihr habt uns gelehrt, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Wir wollen auch euch beschenken.« Die Umstehenden warteten gespannt auf die angekündigte Gabe. Raoul hob seine Braut hoch, und sie setzte der Statue die Augen ein.
Die Umstehenden wagten kaum zu atmen. Andächtiges Flüstern setzte ein, erhob sich zu lautem Jubel, verwandelte sich in Ergriffenheit. Ein Wunder war geschehen. Die Heilerin hatte Gefiederter Schlange das Augenlicht zurückgegeben. Die Gesandten des Quetzalcoatl waren gekommen, um die Herzen der Gläubigen zu prüfen. Nun wurden die Nahua belohnt. Weise Eule weinte, zum ersten und einzigen Mal in seinem ereignisreichen Leben. Er sprach aus, was die Herzen der Anwesenden bewegte: »Wir danken euch für die große Freude. Seid unsere Freunde und Geschwister, so wie wir eure Brüder und Schwestern sein wollen.« Die Nacht ging als »die Nacht des Sternenrates und des sehenden Gottes« in die Stammeslegende ein. In Coatepec wurde ein großes Fest gefeiert, das alle bisherigen Feste weit übertraf. Auch Wehmut mischte sich in die Fröhlichkeit, denn es war auch ein Abschiedsfest.
*
Tags darauf brachen die Amerikaner auf. Die Trennung fiel ihnen wie auch den Nahua schwer. Weise Eule ließ es sich nicht nehmen, seine weißen Freunde höchstpersönlich vom Dorf am Schlangenberg zur Missionsstation zu führen. Von dort sollten Pater Miguels Leute sie zur nächsten Stadt begleiten. Der Marsch durch den Urwald dauerte zehn Tage. Die Missionsstation war kaum mehr als eine kleine Ansammlung von Holzhütten mit einer Schule, einer Kirche und einem Behandlungsraum für Kranke.
Weise Eule und Pater Miguel begrüßten sich mit der Herzlichkeit langjähriger vertrauter Freunde. Dann stellte der Schamane seine Begleiter der Reihe nach vor. Der weißhaarige Geistliche schmunzelte, als er Larry kräftig die Hand drückte. »Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie einen strammen, gesunden Sohn haben, Mr. More. Ihrer Frau geht es gut. Ich gratuliere Ihnen von Herzen.« Mit strahlendem Gesicht nahm der Pilot die Glückwünsche und Hurrarufe seiner Freunde entgegen. Nicky wandte sich an den katholischen Priester. »Bitte, verraten Sie mir eines, Pater: was haben Sie meinem Vater mitgeteilt, um zu erreichen, daß er seine Suche einstellt?« Pater Miguel lächelte verschmitzt. »Die reine Wahrheit. Ich habe Ihrem Vater über Funk gesagt, Sie wollten eine Weile unter den Indianern leben, um den Sinn der Liebe zu begreifen.« »Und? Was hat Dad geantwortet?« fragte die Frau neugierig. »Er schien nicht überrascht. Er meinte, wahrscheinlich seien Sie drauf und dran, einen Wilden zu heiraten.« Nicky knuffte ihrem hochgewachsenen Bräutigam in die Hüfte. »Ich habe meinen Wilden tatsächlich gefunden. Er hat schrecklich ungehobelte Manieren.« Raoul ziepte die geliebte Frau an ihrem roten Lockenhaar. »Diese naseweise Bemerkung wird nur verziehen, wenn du für immer meine Hängematte teilst.« »Ich höre Hochzeitsglocken läuten«, sagte Pater Miguel. Er und Weise Eule wechselten einen verständnisvollen Blick. Dann galt es, Abschied von dem Schamanen zu nehmen. »Werden wir uns wiedersehen?« fragte Nicky mit erstickter Stimme. Der Medizinmann nickte mit dem Kopf. »Die Sterne sagen, daß wir uns wiedersehen. Dann werden die Nahua euch
entgegengehen und das große Fest der Freundschaft mit euch feiern.« »Gewährst du uns einen Blick in die Zukunft?« Raoul Anderson war eher neugierig als astrologiegläubig. Weise Eule lächelte unergründlich. Seine Antwort war überraschend präzise und bewies, daß er sehr viel mehr über die Pläne seiner Gäste wußte, als er je zugegeben hatte. »Ja, das will ich, Bruder. Du wirst im Urwald von Mexiko einen Tempel ausgraben, wie es vereinbart war. Deine Frau wird am Rande der großen Hauptstadt den Armen helfen, und der Gesegnete wird den Flug des silbernen Riesenvogels lenken. Eines Tages werdet ihr aufbrechen, um die Nahua zu besuchen. Wir warten auf euch.« Schweigend umarmten die Amerikaner ihren indianischen Freund. Nicky gab sich keine Mühe, ihre Tränen zu verbergen. »Wir kennen die Sorge, die dich plagt, Weise Eule«, sagte die Frau eindringlich. »Geh zu Pater Miguel, wenn dein Volk Hilfe braucht. Wir sind immer für euch da.« »Weise Eule dankt euch«, kam es gemessen. »Seid ihr unsere Augen in der Ferne, da die Augen der Gefiederten Schlange von weit her zu uns zurückgekehrt sind.« Raoul und die geliebte Frau sahen sich an. Sie nahmen die Worte als Auszeichnung. Und als Verpflichtung für ihre gemeinsame Zukunft.