John Vornholt
Earth 2
Tödlicher Abgrund
Roman
l
Alonzo Solace flog - für einen Mann mit einem komplizierten Bruch ...
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John Vornholt
Earth 2
Tödlicher Abgrund
Roman
l
Alonzo Solace flog - für einen Mann mit einem komplizierten Bruch an seinem rechten Bein war dies gewiß keine einfache Sache. Aber darüber konnte er jetzt nicht nachdenken, denn links und rechts von ihm ragten Canyonwände fast einen Kilometer hoch in den Himmel. Die majestätischen Felswälle hatten die Farbe des Sonnenuntergangs und endeten in gezackten Zinnen, die wie die Finger eines Riesen aussahen. Alonzo konnte den Einfall der rötlichen Sonnenstrahlen zwischen monströsen Felsdurchbrüchen sehen, die wie Ringe für die Finger des Riesen wirkten. Der rauschende Wind dröhnte in seinen Ohren und schnitt ihm ins Gesicht, aber er konnte weiterhin den fernen Klang rauschenden Wassers tief unter sich hören. Der Pilot senkte den Blick und hielt den Atem an. Anderthalb Kilometer unterhalb von ihm schlängelte sich ein blaugrüner, mit Riffen gesprenkelter Fluß durch die Wildnis. Alonzo ließ sich tiefer sinken und konnte eine Stelle erkennen, an der zwei Flüsse zusammenstießen und sich zu schäumenden Stromschnellen vereinigten. Ein Bergrutsch hatte hausgroße Felsbrocken im Flußbett zurückgelassen, und Alonzo konnte fühlen, wie die Gischt auf seine Brust spritzte, denn das Wasser prallte gegen die Felsen und schleuderte dabei Fontänen in die Luft. Die Gefahr des Wassers veranlaßte ihn, seine Flügel schräg zu stellen und höher zu steigen zurück zu den monströsen Klippen. Jetzt hörte er weitere Geräusche donnernden Wassers, kurvte um einen Felsvorsprung und erblickte einen fantastischen Wasserfall. Aus einem Felsloch strömte das Wasser und stürzte so tief und so schnell nach unten, daß es sich auf halbem Wege in Nebel und Regenbögen verwandelte. Alonzo konnte seinen Blick kaum von dem Wasserfall abwenden, so wunderschön war er. Dann verdrehte ein plötzlicher Schwall kühler Luft seinen rechten Flügel und brachte ihn in eine gefährliche Spirallage.
Alonzo besiegte die kurz aufflackernde Panik und beschloß, sich nicht dadurch zu retten, daß er den Traum beendete. Statt dessen konzentrierte er sich darauf, den Fall abzubremsen und eine warme Luftströmung zu finden, die ihn aus dem Gefahrenbereich brachte. Er spannte jeden Muskel im Rücken, in den Schultern und in den Armen, aber sein rechter Flügel - oder sein rechter Arm - schmerzte. Alonzo konnte fühlen, wie er dem schäumenden Wasser einen knappen Kilometer unter ihm entgegenstürzte ... Widerwillig öffnete der Pilot die Augen und sah zwei Frauen, die sich über seine Hängematte beugten und ihn besorgt anblickten. Die eine von ihnen war die schöne, brünette Devon Adair. Bei Dingen, die für sie wichtig waren, legte sie ein besonderes Engagement - einige würden vielleicht sogar von Besessenheit sprechen - an den Tag, aber Alonzo mochte sie. Er hatte etwas übrig für Menschen, die die Zügel fest in die Hand nahmen, und zu denen zählte Devon mit Sicherheit. Bevor sie dreißig Jahre alt geworden war, hatte sie ein großes Vermögen angehäuft - nur um ihr privilegiertes Leben von einem Tag auf den anderen aufzugeben und einen Haufen fremder Leute zweiundzwanzig Lichtjahre weit durch den Weltraum zu diesem Erdbrocken namens G889 zu führen. Und jetzt trieb sie die ramponierten Kolonisten Tausende von Kilometer durch die Wildnis zu einer Sendeanlage, die sie unbedingt erreichen wollte, bevor ein zweites Raumschiff mit kranken Kindern eintraf, die sich auf diesem unbekannten Planeten Heilung erhofften. Devon war aus hartem Holz geschnitzt, aber Alonzo kam mit solchen Menschen gut zurecht. Bei der anderen Frau, Dr. Julia Heller, war er sich da schon weniger sicher. Gewiß, mit ihrem engelhaften Gesicht und dem goldfarbenen Haar sah sie fantastisch aus. Allerdings war ihre makellose Schönheit auf eine Genmanipulation zurückzuführen. Julia hatte dem Piloten niemals etwas getan oder Abfälliges über ihn geäußert. Tatsächlich war Alonzo ihr Vorzeigepatient - und dies war ein Umstand, der ihn maßlos erbitterte; denn er war hier als der Gesündeste von allen angekommen. Was Alonzo vielleicht am
meisten an Julia haßte, war die Tatsache, daß sie ihn ausschließlich als Patient betrachtete und in ihm nicht den gutaussehenden Mann sah, für den er sich hielt. Im Gegensatz dazu lief Devons Sohn Uly, der als Krüppel auf G889 angekommen war, jetzt wie ein junges Reh durch die Gegend. Irgendwie schien alles durcheinandergeraten zu sein. Julia musterte den Piloten wie ein Biologe, der eine Mikrobe studiert. »Sie haben wieder geträumt, nicht wahr?« »Und wenn ich geträumt habe?« knurrte er. »Jeder muß ein Hobby haben. Mit meinem gebrochenen Bein ist das so ziemlich alles, was ich tun kann.« Wie gewöhnlich war Devon direkter. »Was haben Sie also geträumt? Von der Sendeanlage und New Pacifica? Von Terrianern oder Grendlern? Kamen Menschen in ihrem Traum vor?« Alonzo lächelte wehmütig. »Kein einziger - nur dieser absolut unglaubliche Ort. Und ich bin geflogen.« Er hob zur Demonstration die Arme und stellte fest, daß sein rechter Arm immer noch schmerzte. »Geflogen«, wiederholte Julia unschlüssig und wandte sich Devon zu. »Nicht alle seine Träume bedeuten, daß die Terrianer Kontakt mit ihm aufnehmen. Vielleicht hatte er lediglich einen schönen Traum.« »Ja«, erwiderte Alonzo nachdenklich. »Aber bevor ich hierher kam, hatte ich nie solche Träume - tatsächlich hatte ich überhaupt nie Träume. Ich weiß nicht, wo sich dieser Ort befindet, aber ich hoffe, daß wir ihn nie zu sehen bekommen.« »Warum hoffen Sie das, wenn er so wunderschön ist?« fragte Devon. Alonzo kicherte. »Wenn Sie diesen Ort jemals sehen, werden Sie mich das nicht mehr fragen, glauben Sie mir.« Devon schenkte ihm ein Lächeln, was bei ihr selten vorkam. »In Ordnung, Solace, genug Zeit im Traumland verbracht. Ich werde Danziger helfen, den TransRover zu beladen und das Lager abzubrechen«, erklärte sie und begab sich mit der ihr eigenen Entschlossenheit auf den Weg.
Dr. Julia Heller jedoch blieb neben Alonzos Hängematte stehen und lächelte ihn aufmunternd an. »Es freut mich, daß Sie normale Träume haben, ich mache mir nicht nur über Ihr Bein, sondern auch über Ihre Gemütsverfassung Gedanken.« »Zur Hölle mit meiner Gemütsverfassung«, murrte Alonzo. »Meinem Gemüt fehlt nichts, das nicht durch ein paar Leibesübungen kuriert werden könnte.« Er seufzte und ließ sich in seiner Hängematte zurücksinken. Verdammt, er kam sich vor wie ein Baby in Windeln! Und warum, zur Hölle, mußte es gerade eine so gutaussehende Ärztin sein, die ihn ansah wie ein hilfloses Kleinkind? »Versprechen Sie, brav zu sein?« fragte Julia. »Ja«, brummte Alonzo. »Ganz wie Sie wünschen, Frau Doktor.« Sie tätschelte seine Schulter. »Ich muß auch zusammenpacken. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen jemand Ihr Frühstück bringt.« Der Pilot blickte Julia nach, als sie zum Lager hinüberging, das am Abend zuvor aufgeschlagen worden war. Er sah sich um und registrierte, daß alle beschäftigt waren mit der Zubereitung des Frühstücks, dem Verpacken von Vorräten, dem Zusammenfalten der Zelte oder der Feinabstimmung der mit Sonnenenergie angetriebenen Fahrzeuge. Einige, zum Beispiel John Danziger, gingen zügig und effizient zu Werke, während andere, etwa Morgan Martin, nur das Allernötigste taten. Mehr als alles andere wünschte sich Alonzo, diesen nutzlosen Bürokraten nicht mehr sehen zu müssen. So sehr er sich auch bemühte, es zu vergessen, er machte Morgan immer noch für seinen Unfall verantwortlich. Der Verletzte wandte seine Aufmerksamkeit von dem Dutzend gesunder Menschen, dem Roboter Zero sowie dem Cyborg Yale ab und blickte in die entgegengesetzte Richtung. So weit das Auge reichte, sah er nichts als Berge und dichte Wälder. Aber trotz der ungetrübten Majestät der Landschaft konnte es jeden Augenblick dazu kommen, daß Terrianer aus dem Boden auftauchten, Kobas ihre Stachel auf sie abfeuerten oder Grendler nur auf eine Gelegenheit lauerten, ihnen das letzte Hemd zu stehlen.
Die Karawane der Kolonisten versuchte, am Tag zwanzig Kilometer zurückzulegen, schaffte dieses Tagesziel jedoch aufgrund des unwegsamen Geländes nur selten. Außerdem wurden sie immer wieder durch Begegnungen mit unbekannten Tieren und den geheimnisvollen Bewohnern dieses Planeten aufgehalten. Und wer wußte schon, was sie bis zu ihrem Ziel New Pacifica sonst noch an unliebsamen Überraschungen erwartete? Alonzo hatte Devon und Julia nichts davon gesagt, aber die rötliche Sonne, die zwischen den Felsdurchbrüchen in dem Canyon seines Traums geflimmert hatte, sah derjenigen, die in diesem Augenblick hinter den Bäumen aufging, verdammt ähnlich. Wenn er schon Träume hatte, warum träumte er dann nicht von den Doppelsonnen Aurelias, einem seiner Lieblingsraumhäfen zum Ausruhen und Entspannen? Warum verfolgte ihn ausgerechnet dieselbe rote Sonne, die er hier auf G889 real vor sich sah? »Alonzo«, rief eine jugendliche Stimme den Piloten aus seinen Gedanken. Er wandte den Kopf und sah True, John Danzigers knabenhafte zehnjährige Tochter, ein selbstbewußtes Kind, das für den Patienten eine Schüssel Spirovinaeintopf in der Hand hielt. Alonzo lächelte sie an, denn von der ganzen albernen Bande hatte er sie am liebsten. »Hallo, True«, erwiderte er und nahm ihr die Schüssel aus den Händen. »Wie läuft's?« True machte ein finsteres Gesicht. »Uly ist wieder mit Ihrem ATV unterwegs. Aber wir haben ihn bereits aufgefordert, zurückzukommen.« »Es ist nicht mein ATV, ich würde sehr gerne zu Fuß gehen.« Das Mädchen schlug die Augen nieder, und Alonzo bedauerte seine schroffe Antwort augenblicklich. »Ich wollte nicht unfreundlich sein«, versuchte er einzulenken. »Ich weiß. Dr. Heller hat uns gesagt, daß Sie sich vielleicht nicht wohl fühlen.« »Ja, ja«, knurrte er. »Ich wünschte, sie würde mich nicht als eine solche Belastung ansehen.«
»Das tut sie nicht«, gab True zurück. »Niemand tut das. Letzten Endes sind Sie unsere einzige Verbindung zu den Terrianern.« Alonzo klopfte mit den Fingerknöcheln gegen seine Beinschiene. »Das ist eine größere Belastung als dieses elende Bein, glaub mir. Na, schaffen wir heute unsere zwanzig Kilometer?« True deutete auf das weite, unbekannte Land, das sich vor ihnen ausbreitete. »Kommt darauf an, was wir da draußen vorfinden.« »Ja«, bestätigte Alonzo nachdenklich und sah den kilometerhohen Canyon aus seinen Träumen vor sich. »Hoffen wir, daß wir Glück haben. Außerdem mußt du dich nicht mit mir beschäftigen. Ich denke, dein Dad könnte ein bißchen Hilfe gebrauchen.« »He, ich unterhalte mich gerne mit Ihnen. Sie sind so was wie unser Guru.« Alonzo verdrehte die Augen. »Also wirklich. Ich bin nur ein idiotischer Pilot mit einem gebrochenen Bein. Nach all diesen Sprüngen mußte das Gesetz der Wahrscheinlichkeit eines Tages bei mir zuschlagen.« True machte sich auf den Weg zu dem lastwagengroßen TransRover, wirbelte dann aber noch einmal herum. »Ich warte darauf, daß wir zusammen Spazierengehen können, Alonzo!« »Ich auch!« Alonzo lächelte und winkte dem Mädchen zu. Dann beobachtete er von seinem Ruheplatz aus, wie True zu ihrem Vater schlenderte, der an dem TransRover herumhantierte. Kurz darauf gingen die beiden quer durchs Lager zu Devon, Yale, Julia und den anderen Mitgliedern dieser unglückseligen Truppe, die sich auf den Abmarsch vorbereiteten. Obgleich hier Blinde die Blinden führten, machte dieser zusammengewürfelte Haufen Alonzo doch irgendwie Hoffnung. Wer wußte es schon? Vielleicht konnten sie diesen Kontinent ja durchwandern und zu der Sendeanlage gelangen, bevor das zweite Kolonistenschiff eintraf. Oder auch nicht, dachte Alonzo. Manchmal erinnerte ihn diese auf einem fernen Stern gestrandete Karawane an einen Vers aus einem uralten Bluessong: Wenn wir kein Unglück hätten, hätten wir auch kein Glück.
Das Glück war während der Tagesreise zum größten Teil mit ihnen, zumindest nach Yales Einschätzung. Yale war ein Cyborg mit dunkler, ledriger Haut, zum Teil Mensch, zum Teil Maschine. Die meiste Bionik war während seiner dreißigjährigen Dienstzeit für Devon Adair und ihre Familie hinzugefügt worden. Devon hatte beträchtliche Summen aufgewandt, damit er in erstklassigem Zustand blieb, und ihn letzten Endes damit am Leben erhalten. Immer wenn sich Yale alt fühlte, führte er sich vor Augen, daß er alt war ... sehr alt! Die meisten Menschen betrachteten ihn als Museumsstück. Der Cyborg konnte sich an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern, auch an die Zeit, in der er noch ganz Mensch gewesen war; aber er tat dies äußerst ungern, denn dieser Mensch war ein Krimineller gewesen. Die Erinnerungen der letzten Zeit, seit er als Devons Lehrer arbeitete, waren weitaus angenehmer, und er zog es vor, sie als seine Vergangenheit anzusehen. Yale hatte viel Zeit zum Nachdenken, während er in dem SandRail über das unebene Terrain holperte, wobei das Fahrzeug ständig stachlige Büsche niederdrückte und artistisch um Bäume herumkurvte. Der Cyborg wäre imstande gewesen, die Steuerung des mit Sonnenenergie angetriebenen Buggys selbst zu übernehmen, aber dazu bestand keine Veranlassung. Die meiste Zeit ließ er Zeros schalenförmigen Kopf fahren. Zero, ihr Allzweckroboter, hatte als einzige mechanische Hilfskraft die Plünderung der Frachtkapsel durch die Grendler überlebt. Und das war auch gut so, dachte Yale, denn ein Zero reichte vollkommen aus. Zeros Kopf war an einer speziellen Armatur vorne im SandRail installiert worden, und während der ganzen Fahrt sang dieser Kopf: »Michael, row the boat ashore. Alleluya! Michael, row the boat ashore. Alleluya! The River Jordan is deep and cold. Alleluya! Chills the body but not the soul. Alleluya!« Yale unterbrach ihn. »Mein lieber Zero, du singst dieses Lied jetzt seit zehn Kilometern. Es enthält vielleicht zwei Dutzend Worte, von denen die meisten >Halleluja< lauten. Meinst du, daß du vielleicht mal ein anderes Lied singen könntest?«
»Kennen Sie >Kumbaya« fragte Zero. Sie rumpelten über eine Bodenerhöhung, die jeden Servomechanismus in Yales Körper erschütterte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er antworten konnte. »Ja, ich kenne >Kumbaya<. Wieso bist du eigentlich so auf Lagerfeuerlieder fixiert?« »Devon Adair meinte, daß wir uns auf einer Campingfahrt befinden«, antwortete Zero. »Zumindest meinte sie, die anderen würden sich in dem Glauben, daß wir uns auf einer Campingfahrt befinden, wohler fühlen.« Yale schüttelte den Kopf. »Es mag nach einer Campingfahrt aussehen, aber wir können niemanden darüber hinwegtäuschen, um was es sich bei diesem Trip wirklich handelt. Wir befinden uns auf einer großen Forschungs- und Abenteuerfahrt, wie es sie nie mehr gegeben hat, seit die unbarmherzigen Konquistadoren Spaniens zum erstenmal ihren Fuß auf den Boden der Neuen Welt setzten.« »Konquistadoren!«, fragte Zeros Kopf. »Sie wissen, daß ich nicht darauf programmiert bin, Spanisch zu sprechen. Sprechen Sie bitte Englisch.« »Es bedeutet Eroberer«, antwortete Yale. »Aber wir sind keine Eroberer. Zum einen sind wir viel zu wenige, um irgend etwas zu erobern; und zum anderen haben wir von all den anderen erbarmungslosen Eroberern der Vergangenheit gelernt. Eroberungen um wertvoller Bodenschätze willen oder aus einem irregeleiteten Gefühl moralischer Überlegenheit heraus führen lediglich zur Versklavung und Unterdrückung der eingeborenen Bevölkerung. Wollen wir das?« »Einige von uns wollen es«, erwiderte Zero. »Zum einen Mr. Morgan Martin. Zum anderen die Bergwerksgesellschaften.« »Dann sind sie irregeleitet«, sagte Yale. »Zweck dieser Mission ist das Wohlergehen und Überleben der menschlichen Rasse. Sieh dir an, welchen Vorteil der junge Uly aus dem Kontakt mit diesem Planeten und den Terrianern gezogen hat. Das Syndrom, das so viele menschliche Kinder befallen hat, bildet sich bei Uly völlig zurück.« »Es könnte sich um einen Zufall handeln«, wandte Zero ein.
Yale schüttelte den Kopf. Seinem körperlosen Begleiter mangelte es an Fantasie. Natürlich, rief sich Yale ins Gedächtnis, war Zero nicht konstruiert worden, um Fantasie zu entwickeln, sondern um schwere Bauarbeiten zu verrichten, Maschinen zu bedienen und Fahrzeuge zu steuern. Und manchmal zweifelte Yale daran, daß überhaupt irgend jemand auf diesem Treck, Devon eingeschlossen, die monumentale Bedeutung ihrer Mission in ihrer vollen Tragweite begriff. Andere Welten waren kolonisiert worden, aber immer im Namen des Profits und der Gier. G889 bot die erste Chance, es richtig zu machen - um sowohl die Geschichte als auch die Menschheit zu ihrem Besseren zu verändern. »Kumbaya, my Lord, kumbayah!« sang Zero nun pausenlos. »Oooooh, Lord, kumbaya!« Yale schloß die Augen genau in dem Moment, in dem sie den Gipfelpunkt eines Bergkamms überquerten, so daß der Cyborg den steilen Abgrund erst bemerkte, als Zero scharf in die Bremsen trat. Die Reifen des SandRail drehten sich rückwärts und schleuderten ihn gegen die Windschutzscheibe. »Was machst du ...«, Yales Stimme brach ab, seine alten Augen traten weit aus den Höhlen. »Halten Sie sich fest!« sagte Zero warnend. Zero blieb im Rückwärtsgang, aber sie befanden sich auf irgendeinem mehligen Untergrund, der keine Bodenhaftung bot und unter den Rädern zerbröckelte. Yale verdrehte den Hals ein bißchen und konnte unmittelbar vor sich den Rand der Klippe sehen. Der Abgrund war endlos, und die gegenüberliegende Seite des Canyons war so weit entfernt, daß es schien, als würde sie auf einem anderen Kontinent liegen. Die Räder drehten sich bei Vollgas im Rückwärtsgang und wirbelten Wolken aus weißem Staub hoch, aber sie rutschten immer noch in die falsche Richtung - auf den Rand der Klippe zu. »Laß die Räder nicht weiter durchdrehen!« befahl Yale. »Es funktioniert nicht! Langsamer. Sorg für ein bißchen Bodenhaftung.«
Zero gehorchte, und die Räder drehten sich langsamer, bis ein gleichmäßiges Mahlen zu hören war. Das half jedoch nicht viel, denn der SandRail befand sich weiterhin in einer prekären Lage. Er kam von dem Abhang nicht herunter, rutschte allerdings auch nicht mehr mit der bisherigen Geschwindigkeit nach vorne. Statt ein paar Sekunden stand ihnen jetzt vielleicht eine Minute zur Verfügung, um etwas zu unternehmen. Der Cyborg war zwar nicht mehr so gelenkig wie früher, aber er kletterte über den Sitz und sprang hinten von dem Wagen herunter. »Oh, wie schön!« jammerte Zero. »Lassen Sie meinen Kopf nur an diesem Ding befestigt, während Sie sich selbst in Sicherheit bringen ...« »Gib nicht auf!« blaffte Yale und hetzte zurück zum Gipfel des Abhangs, wo er damit begann, so schnell wie möglich Ranken und Büschel aus dem Boden zu reißen. Er warf sie in die Richtung der durchdrehenden Räder, ohne sich besondere Mühe zu geben, präzise zu zielen, und hoffte darauf, daß sich etwas davon unter den Rädern verfing und dem Fahrzeug ein bißchen Bodenhaftung verschaffte. »Es funktioniert!« schrie Zero begeistert. »Ich komme wieder hoch!« Yale machte keine Pause, um sein Werk zu bewundern, sondern schleuderte einfach weiter Gesträuch in Richtung des Fahrzeugs, bis dieses plötzlich auf ihn zurumpelte, so daß er zur Seite springen mußte. Der SandRail schoß über den Gipfelpunkt und kam dann abrupt zum Stehen. Zero stellte den Motor ab, um an Ort und Stelle stehenzubleiben. Yale holte mehrmals tief Luft, torkelte zurück zum Fahrzeug und ließ sich auf den Sitz fallen. »Also«, sagte er, »jetzt wissen wir, warum sie uns vorausgeschickt haben.« »Lieber Himmel!« rief Zero aus. »Wir sollten darüber besser Bericht erstatten. Was ist das?« Yale schüttelte ungläubig den Kopf. »Es ist ein gigantischer, gewaltiger Canyon. Mehrere Kilometer breit und vielleicht auch kilometertief. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er wunderschön ist,
wenn man ihn in Ruhe bewundern kann und nicht um ein Haar hineinstürzt. Berichten wir von dieser Entdeckung erst, wenn ich Gelegenheit gehabt habe, ihn mir näher anzusehen. Aber diesmal zu Fuß!« Yales Glieder schmerzten nach den Anstrengungen dieser Tortur. Er stieg langsam aus dem Fahrzeug, trottete zum Gipfel der Anhöhe zurück und machte einen tiefen Atemzug. So weit er sehen konnte, erstreckte sich links und rechts eine Schlucht, die so riesig war, daß sie unmittelbar bis zum Kern des Planeten zu reichen schien. Majestätische Plateaus aus kupferfarbenem Fels ragten an allen Seiten in die Höhe, und einzelne Grate erhoben sich mitten in dem Canyon wie Inseln in der Luft. Die schroffen Klippen fielen zu schwindelerregenden Tiefen ab, obwohl sich ein vertikaler Teppich aus üppiger Vegetation an die Canyonwände schmiegte. Aus der gegenüberliegenden Wand strömten wie aus gigantischen Hähnen Wasserfälle hervor, die mit sprühender Eleganz dem Boden der Schlucht entgegenstürzten. Es waren mächtige Flächen aus metamorphem Fels zu sehen, von rauschendem Wasser bizarr geformt und gefärbt. Vor Millionen von Jahren, dachte Yale, mußte es hier einen Fluß gegeben haben, neben dem der Mississippi wie ein schlammiger Bach ausgesehen hätte. Vielleicht floß er immer noch, irgendwo in der Tiefe dieses atemberaubenden Naturwunders. »Haben Sie nicht genug gesehen? Wann sagen wir den anderen Bescheid?« riß Zeros Stimme den Cyborg aus seinen träumerischen Gedanken. Yale seufzte. »Sie sind fast zwei Kilometer hinter uns«, entgegnete er. »Ich habe es nicht eilig, ihnen mitzuteilen, daß unsere Fahrt an dieser Stelle vielleicht endet.« Der TransRover surrte mit seinen Ballonreifen über das unebene Terrain und behielt ein gleichmäßiges, wenn auch unspektakuläres Tempo bei, so daß der achtjährige Uly Adair keine Mühe hatte, nebenherzugehen. Das Fahrzeug sah aus wie ein großer Dünenbuggy, hochbepackt mit Vorräten und Ausrüstungsgegenständen. Im Cockpit
saß John Danziger, und auf der Ladefläche drängte sich zwischen Schlafsäcken und zusammengerollten Zelten ein halbes Dutzend Fahrgäste eng aneinander. Die Kolonisten wechselten sich mit Fahren und Gehen ab, ganz so wie die Siedler der alten Wagentrecks im amerikanischen Westen. Aber das Fahren war nicht mehr nach Ulys Geschmack. Er liebte es, zu Fuß zu gehen, zu spüren, wie sich seine Muskeln spannten und wie er stärker und stärker wurde. Er liebte das Gefühl der Luft in seinen Lungen und den Staub in seinem Gesicht. Uly hätte sich nie träumen lassen, daß das bloße Gehen einem Menschen solches Vergnügen bereiten könnte. Die anderen, insbesondere seine Mom, Dr. Heller und True, sahen ihn oft an, als ob sie erwarteten, daß er jeden Augenblick umkippte. Aber er würde sie überraschen! Devons Sohn hatte die ersten acht Jahre seines Lebens in einem Immunoanzug verbracht und von einem großen Abenteuer nur träumen können; denn sein Körper war von dem Syndrom so sehr geschwächt worden, daß er so gut wie nichts ohne fremde Hilfe bewerkstelligen konnte. Als er von den Terrianern in den Erdboden gezogen worden war, hatten sie ihm eine Wiedergeburt beschert. Uly konnte sich das nicht erklären - niemand konnte das. Vielleicht war Alonzo noch am nächsten daran, zu verstehen, was mit ihm passiert war, aber die Veränderungen bei Alonzo waren im Vergleich zu seinen geringfügig. Uly hatte das erste Versuchskaninchen von G889 gespielt, und dieses Experiment war ein großartiger Erfolg gewesen. Wie gewöhnlich fuhren Bess und Morgan Martin im TransRover mit. Bess blickte mit einem freundlichen Lächeln auf Uly herunter. »He, Uly, willst du nicht ein Weilchen fahren? Morgan könnte ein bißchen Training gebrauchen.« »Also wirklich, Bess«, protestierte der pedantische Morgan, »der Junge hat das Training nötiger als ich. Abgesehen davon habe ich von dieser lausigen Hitze Krämpfe in den Beinen bekommen.« Bess lächelte zuckersüß. »Vielleicht solltest auch du mal von den Terrianern gekidnappt werden, Liebling.«
»Nein, vielen Dank«, antwortete Morgan, der ihren Scherz ernst nahm. »Alles, was ich mir wünsche, ist ein bißchen Ruhe, etwas Anständiges zu essen und einen Urlaub in einer netten Raumstation. Zivilisation - das ist alles, was ich brauche.« Er lehnte sich auf einem Schlafsack zurück und zog seinen Hut über die Augen, als wollte er diese unangenehme Diskussion mit einem kleinen Nickerchen beenden. Bess lächelte Uly achselzuckend an, und der Kleine erwiderte ihr Lächeln. Für ihn gab es keinen Grund zur Klage. Welche Mühsale auch immer noch vor ihnen lagen, alles würde erträglicher sein als ein Leben in keuchender Hilflosigkeit. Uly verlangsamte seinen flotten Gang zu einem Schlendern und ließ den TransRover vorausrumpeln. Eine Handvoll Siedler trottete an ihm vorbei, darunter auch Zeros kopfloser Rumpf, der dahinruckte, als wäre es vollkommen normal, keinen Kopf zu haben. Ein paar Sekunden später überholte ihn Alonzo fröhlich salutierend in seinem Einmann-ATV. Alonzo sollte einmal mit den Terrianern in den Erdboden gehen, dachte Uly. Aber der Pilot hatte seine ureigene Beziehung zu den Terrianern, und diese schloß offensichtlich eine schnelle Heilung nicht ein. »Uly«, sagte eine vertraute Stimme. Er drehte sich um und sah seine Mutter auf ihn zukommen. »Ja, Mom?« »Wir könnten auf dem TransRover einen Platz für dich finden«, sagte Devon besorgt. »Nein, vielen Dank, Mom. Wenn ich müde bin, werde ich es dir sagen.« »Wirklich?« fragte sie und sah ihn zweifelnd an. Er lachte und blickte zu der rötlichen Sonne empor, die hoch am Himmel stand. »Wie könnte ich an einem solch schönen Tag müde sein? Ich fühle mich so gut, daß ich nach New Pacifica fliegen könnte!«
Sie schüttelte den Kopf. »Du und Alonzo, ihr habt es heute beide mit dem Fliegen. Ich denke, wir fangen langsam alle an, den Verlust des Luftkissenfahrzeugs zu spüren.« »Glaub mir«, sagte Uly, »selbst wenn wir ein Luftkissenfahrzeug hätten, würde ich lieber zu Fuß gehen. Es ist das großartigste aller Gefühle. Das einzige, was ich noch lieber tue als gehen, ist... rennen!« Mit diesen Worten stürmte er dem Ende der eigentümlichen Karawane entgegen. Er konnte True erkennen, die wie gewohnt die Nachhut bildete. John Danzigers Tochter ging gerne ganz hinten, weil sie in ihrem Rucksack ein Geheimnis verbarg. Als Uly herankam, regte sich etwas in dem Leinenbeutel, und die Lasche hob sich. Ein schuppiger kleiner Arm langte nach draußen. »Wie geht's deinem Freund?« fragte Uly. True sah ihn wachsam an. Obgleich er ihr Geheimnis bisher nicht verraten hatte, wußte er, daß sie ihm nicht traute. Uly konnte nicht direkt sagen, daß er und True Freunde waren, aber außer ihr gab es niemanden in der Gruppe, der altersmäßig auch nur annähernd zu ihm paßte. Und bislang hatte es sich schon mehrfach so ergeben, daß die beiden Kinder gemeinsam in große Schwierigkeiten geraten waren. Jetzt steckte der Koba seinen schuppigen Kopf aus dem Sack. Uly winkte ihm kurz zu, und die fremdartige Kreatur winkte sofort zurück. Diese Tierchen waren ausgefuchste Imitatoren und eigentlich ganz putzig; zu dumm nur, daß diese Stacheln, die sie mit einer kurzen Unterarmbewegung von sich schleudern konnten, so gefährlich waren. Auf diese Weise hatte ein Koba Commander O'Neill ins Koma versetzt und dafür gesorgt, daß er lebendig begraben wurde. Die Erwachsenen konnten nicht aufhören, an diesen schrecklichen Vorfall zu denken. Wenn sie wüßten, daß True Freundschaft mit einem dieser Tierchen geschlossen hatte und es auf dem Treck mit sich herumtrug, würden sie verrückt werden. Einmal hatte sie sich deshalb auch schon von ihrem »Freund« zu trennen versucht, aber der Koba war ihr gefolgt, und hatte sich eines Nachts einfach wieder an sie gekuschelt.
»Er scheint sich wohl zu fühlen«, sagte Uly, als sie nicht antwortete. »Ja«, räumte sie ein. »Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt noch loswerden könnte, selbst wenn ich es wollte.« »Dann versuch es auch gar nicht. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß uns die Terrianer und Kobas freundlich gesinnt sind, zumindest die, denen ich begegnet bin. Bei diesen Grendlern bin ich mir nicht so sicher.« Allen war inzwischen klargeworden, daß die krötenartigen Grendler ihre Vorräte und Ausrüstungsgegenstände aus der Frachtkapsel gestohlen hatten. Die Terrianer schienen Angst vor den Grendlern zu haben, und das reichte aus, um auch Uly ein wachsames Auge auf sie richten zu lassen. Er fragte sich immer wieder, ob er nicht eines Tages auf einen Haufen Grendler treffen würde, die mit ihrem Luftkissenfahrzeug herumflogen. »Weißt du«, sagte Uly, »dies wird ein ziemlich langer Trip werden. Du könntest also ruhig freundlich zu mir sein.« True blinzelte ihn überrascht an. »Ich dachte, daß ich freundlich zu dir wäre.« »Ach, ja?« Uly blickte sie fragend an. »Als wir uns kennenlernten, hast du dich benommen, als wäre ich eine Mißgeburt. Du hast mich mit Schimpfnamen belegt und mich dafür verantwortlich gemacht, daß du mit deinem Dad hier gestrandet bist. Habe ich irgend etwas ausgelassen?« True lächelte verlegen. »Als wir uns kennenlernten, warst du eine Mißgeburt. Ich hatte vorher nie ein Kind mit dem Syndrom gesehen.« »Nun, dann solltest du dich daran gewöhnen. Du wirst Hunderte von ihnen sehen, wenn das zweite Raumschiff hier ankommt.« True blickte in die Ferne. »Wenn das Kolonistenschiff hier ankommt, können mein Dad und ich wegfliegen.« »Du würdest diese Welt verlassen?« fragte Uly schockiert. Der Koba sah sie genauso erschüttert an, so daß beide Kinder lachen mußten. True schüttelte schließlich den Kopf.
»Ich weiß nicht, was wir tun werden«, räumte sie ein. »Unsere Anwesenheit hier war nicht geplant. Mein Dad hatte darauf gebaut, bei diesem Job genug Geld zu verdienen, um irgendwo ein Stück Land zu kaufen. Dann wollten wir seßhaft werden.« Uly umfing mit einer Armbewegung die jungfräuliche Wildnis. »Hier habt ihr einen ganzen Planeten, auf dem ihr seßhaft werden könnt.« »Nach dem, was mit dir passiert ist, ist es normal, daß du hierbleiben willst«, sagte True. »Du hast bekommen, was du gesucht hast. Aber wir sind immer noch dabei, herauszufinden, was wir wollen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Dein Dad kann großartig mit Maschinen umgehen«, erklärte Uly. »Ich würde meinen, er könnte alles tun, was er will.« True lachte schnaubend. »Du weißt nicht viel über die Arbeitsmöglichkeiten für Mechaniker heutzutage. Aber ich schätze, das kannst du auch nicht - du bist als reicher Junge geboren.« »He«, protestierte Uly, »ich kann dir einiges über Probleme erzählen, die man hat...« Aber True war plötzlich stehengeblieben und starrte auf die Fahrzeuge vor ihnen. »Irgend etwas stimmt nicht.« Uly blickte ebenfalls nach vorne und konnte erkennen, daß sowohl der TransRover als auch der ATV haltgemacht hatten. Trues Dad sprang von dem TransRover herunter und lief zu Ulys Mutter und den anderen. Keine Frage, es mußte irgend etwas los sein. »Machen wir ein Wettrennen!« schlug Uly vor. Sie liefen beide los wie der Blitz. Zu Ulys großer Erbitterung hatte True bald einen Vorsprung, trotz ihres Rucksacks und des Passagiers, der auf ihrem Rücken herumturnte. Klar versuchte er dies damit zu begründen, daß sie zwei Jahre älter und ihr ganzes Leben lang gesund gewesen war. Dennoch traf es ihn schwer, daß das Mädchen die Siedler zuerst erreichte. John Danziger stand da und blickte in die Ferne, die Arme in die Hüften gestemmt. »Ich habe gerade eine Nachricht von Yale
bekommen«, berichtete er. »Einen knappen Kilometer vor uns befindet sich irgend etwas. Er sagt, daß es groß sei.« »Groß?« fragte Devon. »Ist das alles, was er gesagt hat? Was meint er damit?« Danziger zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Er hat gesagt, daß er es nicht beschreiben könne und wir es mit unseren eigenen Augen sehen müßten. Wir sollen zu Fuß weitergehen und die Fahrzeuge langsam nachkommen lassen.« »Treibsand?« fragte Morgan Martin mit jämmerlichem Entsetzen. »Ich hasse Treibsand.« Devon sah ihn mit finsterer Miene an. »Yale kann Treibsand beschreiben. Wenn es etwas wäre, was wir schon mal gesehen haben, hätte er es uns einfach erzählt. Tun wir genau das, was er gesagt hat. Alle von uns gehen voraus, während Danziger und Solace mit halber Geschwindigkeit in den Fahrzeugen folgen. Sind Sie einverstanden?« »Sicher«, stimmte Danziger zu. Alonzo sagte überhaupt nichts. Er stützte sich nur auf das Steuerrad seines ATV und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Haben Sie mich gehört, Alonzo?« fragte Devon mit lauter Stimme. Der Pilot drehte sich mit müdem Gesichtsausdruck zu ihr um. »Ich habe Sie gehört. Da ist irgend etwas Großes vor uns. Wir können mit halber oder mit voller Geschwindigkeit hinfahren - es macht keinen Unterschied. Wenn es das ist, was ich denke, dann bewegt es sich keinen Meter.«
2
»Gütiger Gott«, murmelte Devon, als sie den Anstieg hinaufkletterte und plötzlich von Angesicht zu Angesicht der Unendlichkeit gegenüberstand. Denn so wirkte der Canyon auf sie: eine Kette von tiefen Einschnitten in der Planetenkruste, die sich bis in alle Ewigkeit links und rechts fortzusetzen und ins Nichts abzufallen schienen. Es war schwer, sich die Kräfte vorzustellen, die dies geschaffen hatten; Devon kam sich bei dem bloßen Anblick dieses Naturwunders klein und hilflos vor. Devon befand sich ganz vorne, und plötzlich wurden überall um sie herum Stöhnlaute hörbar, als auch die anderen ihre Position erreicht hatten. »Atemberaubend!« sagte Uly, und ausnahmsweise wählte er einmal genau das richtige Wort. »Himmel«, sagte Bess, »hier könnte man zwei oder drei Grand Canyons hineinpacken.« »Wie sollen wir ...«, begann Julia Heller, brachte sich aber selbst zum Schweigen. »Wow!« rief Morgan. »Ich möchte die Schürfrechte geltend machen! Und die Touristikrechte! Und die Rechte für holographische Reproduktionen!« Bess tätschelte seine Schulter. »Du kannst keinen Besitz davon ergreifen, Liebling.« Devon konnte den Blick nicht von der majestätischen Schlucht abwenden, selbst als sie hörte, daß die Fahrzeuge hinter ihr zum Stehen kamen und die Motoren abgeschaltet wurden. Die sinkende Sonne verlängerte die Schatten und ließ die emporragenden Felszinnen noch höher erscheinen, als sie in Wirklichkeit schon waren. Der Abgrund schien tiefer zu sein als die Ozeane; diese Spalte war zeitlos, unergründlich, unbezwingbar ... Und unüberbrückbar. »Verdammt!« schrie Devon und schleuderte ihre Mütze auf den Boden.
»Vorsichtig«, sagte John Danziger, während er hinter sie trat. »Wenn Sie diese Mütze in den Abgrund werfen, sehen Sie sie vielleicht niemals wieder.« Sie starrte ihn an. »Ich sage Ihnen, was ich niemals wiedersehen werde - die Sendeanlage! New Pacifica! Diese kranken Kinder! Wie, zum Teufel, sollen wir hier rüberkommen?« Danziger bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. »Sie wissen die Natur nicht so richtig zu würdigen, was?« »Ich würde sie sehr wohl zu würdigen wissen«, erwiderte Devon wütend. »Von einem Luftkissenfahrzeug aus!« In der Tiefe der Schlucht gab irgendein Vogel ein lautes Krächzen von sich, das von den Canyonwänden widerhallte. Devon murmelte etwas in sich hinein, hob ihre Mütze wieder auf und schlug sie gegen ihren Oberschenkel, um den kreidigen Staub zu entfernen. »Tut mir leid, Danziger«, lenkte sie ein. »Es gibt keinen Grund, wütend auf Sie zu sein. Sicher, dieser Canyon ist prachtvoll, aber er steht zwischen uns und New Pacifica. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, erstreckt er sich in beide Richtungen Hunderte von Kilometern weit.« »Wahrscheinlich Tausende von Kilometern«, korrigierte sie eine Stimme in ihrem Rücken. Devon drehte sich um und sah, daß Yale auf sie zukam, Zeros Kopf in den Händen. Dann setzte er den Kopf sorgfältig wieder auf Zeros Rumpf und drehte ihn fest. »Vielen Dank«, sagte der wiedervereinigte Roboter. »Du hast dich umgesehen?« fragte Devon. »Ich muß mich nicht umsehen«, antwortete der Cyborg. »Es dauert Milliarden von Jahren, bis solche Erosionen entstehen. Der Lauf des Flusses hat vermutlich wenige Veränderungen erfahren, seit sich der erste Einzeller auf diesem Planeten entwickelt hat. Wir wissen, daß wir uns ungefähr im Zentrum eines riesigen Kontinents befinden. Daher können wir davon ausgehen, daß dies in etwa auch die Mitte des Flusses ist. Es handelt sich um keine isolierte Formation - so wird es auf einer Strecke von Tausenden von Kilometern aussehen.«
»Großartig«, entgegnete Devon. Plötzlich wurde ihr Blick starr und sie schrie auf: »Uly!« Der Junge hatte sich über den Rand des Abgrunds gebeugt, so daß nur noch seine knochigen Beine und sein Po zu sehen waren. Mit ein paar schnellen Schritten war sie bei ihm, packte ihn am Hosenbund und zerrte ihn auf sicheren Boden zurück. »Was ist in dich gefahren?« fuhr sie ihn an. »Mom«, protestierte er, »ich habe nur versucht, einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Ich habe mich festgehalten.« Er zeigte ihr den Stumpf eines Strauchs, den er in den Händen hielt. »Und was hast du gesehen?« Devon bemühte sich, ruhig zu werden. »Es geht ziemlich tief runter, aber ich glaube, ich habe da unten Wasser gesehen! Wenn da ein Fluß ist, könnten wir dann nicht Flöße oder so was bauen und bis zur Küste fahren?« »Unmöglich«, rief eine Stimme hinter ihnen. Devon drehte sich um und sah Alonzo, der sich auf das Steuerrad seines ATV stützte. »Der Fluß hat Stromschnellen, die Sie sich nicht vorstellen können«, erklärte er. »Da unten ein Floß zu benutzen wäre Selbstmord. Ich bin mit dem Floß schon durch rauhe Wasser gefahren, aber das ist kein Vergleich.« »Sie haben von diesem Abgrund geträumt, nicht wahr?« fragte Devon. »Ja«, gab er zu. »Ich hatte gehofft, daß es nur ein Traum war. Doch wie Sie sehen, war es mehr als das.« »Haben Sie von einem Weg nach unten geträumt?« wollte Julia wissen. Alonzo schüttelte den Kopf. »Ich war auf einem Sturzflug in den Tod, als ich aufwachte.« Dieser düsteren Erklärung folgten mehrere Augenblicke nachdenklichen Schweigens. Es war überflüssig, Gedanken auszutauschen, denn alle dachten dasselbe. Sie waren am Ende. Bestenfalls, überlegte Devon, konnten sie dem Rand des Canyons
folgen, bis der Fluß zu einem Delta wurde, aber das mochte einen Umweg von Tausenden von Kilometern bedeuten. Die Ankunft in New Pacifica würde sich um ein Jahr oder mehr verzögern ... und das wäre voraussichtlich gleichbedeutend mit dem Scheitern ihrer Mission. In der Absicht, die anderen aufzuheitern, trat Yale nach vorne und erklärte: »Wir sollten uns an der Tatsache erfreuen, daß wir eine erstaunliche Entdeckung gemacht haben! Dieser Canyon ist vielleicht das bemerkenswerteste Naturphänomen des gesamten Planeten!« »Ja«, murmelte Julia, »aber das bringt uns New Pacifica keinen Schritt näher.« Devon hämmerte mit der Faust in ihre andere Hand. »Wir werden nicht aufgeben!« schwor sie. »Es muß einen Weg nach drüben geben, und wir werden ihn finden.« Niemand widersprach ihr, aber die Zweifel standen allen deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Schlucht war kilometertief und kilometerbreit, und sie war aus schroffem Fels gemeißelt. »Es wäre schön, wenn sich auch der andere Teil meines Traums erfüllen würde«, murmelte Alonzo vor sich hin. »Wie war er?« fragte Julia. Er lächelte wehmütig. »In meinem Traum konnte ich über diesen Canyon fliegen.« Er berührte seine Beinschiene. »Ich weiß, es hört sich ziemlich verrückt an, aber es wirkte in meinem Traum so real.« »Es wird dunkel«, meldete sich nun Danziger zu Wort. »Zeit, das Lager aufzuschlagen. Es sieht so aus, als ob wir hier reichlich Brennholz finden können ...« »Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Yale. »An dieser Stelle hier gibt es eine beträchtliche Menge von Sedimenten und vulkanischem Gestein, das leicht bröckeln kann. Mein Rat wäre, unser Lager etwa hundert Meter weiter östlich zu errichten, wo der Untergrund aus festem Granit und Kalkstein besteht.« »Gehen Sie voran«, erwiderte Danziger. Aus Gewohnheit hätte Devon den Cyborg beinahe gefragt, wie viele Kilometer sie an diesem Tag zurückgelegt hatten. Aber sie
verkniff sich die Frage, weil sie daran dachte, daß dieser Kilometer der letzte sein könnte, den die Gruppe gemeinsam hinter sich brachte. Denn wie viele von ihnen würden ihr am Ufer eines Flusses ohne Wiederkehr folgen? Devon blickte erneut in den Canyon hinab. Das verblassende Sonnenlicht vermochte die Tiefe nicht zu durchdringen und hinterließ nur ein paar goldene Streifen auf den rostfarbenen Zinnen. Es sah ganz danach aus, als sollten Devons ehrgeizige Träume im Hinblick auf G889 von dem spektakulärsten Naturwunder dieses Planeten vereitelt werden. »Ganz im Vertrauen«, sagte Danziger zu Yale, während sie den anderen vorausgingen, »selbst ein Erkundungsgang in den Canyon könnte mehrere Tage in Anspruch nehmen. Suchen wir uns also eine Stelle, die wir für eine Weile unser Zuhause nennen können.« Er warf einen gedankenvollen Blick auf den Canyon. »Es wird vermutlich eine ziemlich lange Weile.« »Je eher wir herausfinden, was wir zu erwarten haben, desto besser ist es«, antwortete Yale. »Es wäre ein Desaster, wenn wir nicht weiterkommen würden.« »Der bloße Anblick dieses Canyons«, fuhr Danziger fort, während er eine schroffe Klippe auf der gegenüberliegenden Seite betrachtete, »macht eine sehr große Entschlossenheit zum Weitergehen erforderlich.« »Das sollte aber weiterhin unser Ziel sein, meinen Sie nicht?« »Ja, bis wir festgestellt haben, daß es zu riskant ist. Das Erreichen von New Pazifica ist es nicht wert, Menschenleben zu riskieren.« »Dem stimme ich zu.« Yale blieb stehen und deutete auf eine Lichtung zwischen den Bäumen, die etwa fünfzig Meter von der Schlucht entfernt lag. »Darf ich diese Stelle vorschlagen? Sie besteht aus Muttergestein, ist dem Canyon aber nahe genug, um Temperaturschwankungen und Wetterbedingungen im Auge behalten zu können.« Danziger legte die Hände vor den Mund. »Wir werden auf dieser Lichtung lagern!« rief er den anderen erschöpften und immer noch
geschockten Mitgliedern der Gruppe zu. »Folgt Yale. Brennholzbrigade, macht euch an die Arbeit! Zeltbrigade, rammt die Pfosten fest in den Boden - wir bleiben vielleicht ein paar Tage hier.« Brennholz zu sammeln war Aufgabe der Kinder, unterstützt von Baines, Magus, Bess und Morgan. Die brünette Bess Martin, die als einzige von ihnen in der verseuchten Wildnis der Erde geboren und dort aufgewachsen war, hatte ein Händchen für die Natur und erwies sich regelmäßig als die beste Sammlerin. Sie schleppte nie wachsende Zweige mit grünen Blättern heran, sondern immer abgestorbenes Holz, das trocken war und schnell brannte. In bezug auf Männer hatte sie Danzigers Meinung nach allerdings ein weniger glückliches Händchen - zumindest, wenn man ihren Ehemann betrachtete. Aber Bess liebte ihren Morgan, dies war ebenso unbestreitbar wie unerklärlich. Der Mechaniker beobachtete die beiden in der Dämmerung. Bess zog einen prall mit Holz gefüllten Sack hinter sich her, der doppelt so groß war wie sie selbst, und ging auf einen Baum zu, den ein Blitz gespalten hatte. Morgan hingegen zerrte sinnlos an einem Wurzelbüschel herum, das niemals brennen würde. Aber wie zufällig waren die beiden dicht beieinander. Dann beendete Danziger das Einschlagen eines Zeltpfostens, nahm seinen kombinierten Axthammer auf die Schulter und näherte sich den beiden. Offensichtlich besaß Morgan einfach nicht genug gesunden Menschenverstand, um dem Beispiel seiner Frau zu folgen. Vielleicht sollte er einmal sanft darauf hingewiesen werden, es seiner Frau gleichzutun. Danziger schritt auf den sich abmühenden Bürokraten zu. »Morgan, das wird niemals brennen. Bess hat die richtige Idee warum machen Sie es nicht genauso?« »Warum kümmern Sie sich nicht um Ihre eigenen Angelegenheiten?« fragte Morgan mit finsterem Gesicht. Als wollte er seine Männlichkeit beweisen, packte er die Wurzel und riß mit seiner ganzen Kraft daran; aber seine Hände rutschten ab, und so taumelte er zurück und fiel auf den Hintern.
Danziger konnte sich das Lachen nicht verkneifen. »Tut mir leid«, sagte er, »aber wir wollten eigentlich Brennholz sammeln, nicht herstellen.« Morgan funkelte ihn an. »Jetzt werde ich auch noch von einem einfältigen Mechaniker herumkommandiert.« Danzigers Miene verdüsterte sich, aber er führte sich vor Augen, daß er es nicht persönlich nehmen sollte. Morgan behandelte auch alle anderen auf diese üble Art und Weise. Er streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine. »Das ist alles sinnlos«, knurrte Morgan und klopfte seine Hose ab. »Wir haben das Ende der Fahnenstange erreicht, und Sie wissen das.« »Das wird sich noch herausstellen«, erwiderte Danziger mit ärgerlicher Stimme. Er mußte sich daran erinnern, daß er noch ein paar Minuten zuvor eine ähnlich düstere Prognose von sich gegeben hatte. »Wie auch immer, Morgan, Sie schienen vorhin ziemlich glücklich zu sein, den Canyon zu sehen. Sie haben Ihre Rechte auf alles geltend gemacht, was er zu bieten hat.« »Ja«, gab Morgan zu. »Und ich beabsichtige, hier zu bleiben und meine Ansprüche auf den Martin Canyon zu schützen.« »Martin Canyon?« fragte der Mechaniker mit einem Lächeln. »Und auch der Fluß wird meinen Namen tragen«, fügte Morgan hinzu. »Danziger, es hat keinen Zweck, mir etwas vorzumachen. Sie wissen verdammt gut, daß wir diese Monsterschlucht nie ohne eine Flotte von Luftfahrzeugen überqueren werden. Ich schlage vor, wir errichten hier ein dauerhaftes Lager und lassen einige Schürfausrüstungen kommen. Es mag ein paar Jahre dauern, bis die Firma Martin Mining richtig ins Laufen kommt, aber wir können alle reich werden!« Danziger schob sein kantiges Kinn vor und blickte in die Dunkelheit, die den Horizont jetzt rasch einhüllte. »Bergwerksgesellschaften, Planungen, um schnell reich zu werden ... Dieses Leben liegt längst hinter uns. Sie sind derjenige, der sich etwas vormacht. Das hier ist für uns die Realität, nicht Sitzungssäle und Schürfkontrakte. Vielleicht werden uns eines Tages Minenschiffe
folgen, aber ich bezweifle es. Dieser Planet liegt zu weit von der Erde entfernt, um wirtschaftlich zu sein. Deshalb hat ihn Devon ausgewählt.« »Devon? Der Teufel soll sie holen«, grollte Morgan. »Diese Frau ist vernünftigen Argumenten nicht zugänglich. Und ich hasse Idealisten.« »Hören Sie zu, Bess hat einen großen Sack mit Holz gesammelt, und je eher Sie ihn ins Lager schaffen, desto früher können wir mit dem Abendessen anfangen.« Die Erwähnung von Essen rief Morgan aus seinen Zukunftsträumen ins Hier und Jetzt zurück. »In Ordnung, es ist ja nicht so, daß ich nicht zur Kooperation bereit bin. Das hier ist alles nur so neu für mich.« »Klar.« Der Bürokrat wandte sich zum Gehen. »Denken Sie daran, was ich über das Reichwerden gesagt habe. Ich könnte einen tatkräftigen Partner wie Sie gebrauchen!« Danziger nickte verdrießlich. Er war tatkräftig, schon richtig. Aber was hatte ihm seine ganze Tatkraft bisher eingebracht? Kein Geld auf der Bank und ein primitives Leben auf einem fremden Planeten voller Gefahren. Genau das, was sich alle Eltern für ihre junge Tochter erträumten! Seufzend trottete er zurück zum Lager und fragte sich, ob dies hier wirklich für lange Zeit ihr Zuhause sein würde. Das Lagerfeuer versprühte seine letzten Funken, und von dem dunklen Canyon jenseits des Lichtkreises wehte ein frostiger Wind herüber. Uly zog die Decke enger um seine Schultern und kroch ein paar Zentimeter näher ans Feuer heran. Er hätte es sich angenehmer machen und noch ein paar Stücke Holz aufs Feuer werfen können, aber er hatte Angst, daß es jemand merken würde. Eigentlich sollte er sowieso längst schlafen - wie alle anderen, abgesehen von Zero, der im Wald, etwa fünfzig Meter vom Lager entfernt, Wache hielt. Uly war viel zu aufgeregt, um zu schlafen, aber er wußte nicht so recht, warum. Eigentlich hätte auch er über dieses riesige Hindernis wütend sein müssen, aber diese Schlucht hatte gleichzeitig etwas
Faszinierendes an sich, etwas, das ihn aufforderte, ihre wundersamen Tiefen zu erforschen. Seit er den Canyon das erste Mal gesehen hatte, hegte er den Wunsch, sich über den Rand zu beugen und tiefer in den Abgrund hineinzusehen. Selbst jetzt in der Dunkelheit war er versucht, nach einer Taschenlampe zu greifen und einen verstohlenen Blick zu wagen. Lockte ihn die Gefahr dieser schroffen Klippen? Die Pracht der emporragenden Felsspitzen? Oder lag es vielleicht daran, daß die Schlucht bis tief ins Zentrum dieses Planeten reichte, bis zu einem Ort, dem er sich irgendwie zugehörig fühlte. In jedem Fall fürchtete er den Canyon nicht, sondern freute sich auf die Morgendämmerung, in der er auf Erkundungsreise gehen konnte falls seine Mutter ihn ließ. Er seufzte bei dem Gedanken und fragte sich, ob sie jemals etwas anderes als ein schwaches Kind in ihm sehen würde. Plötzlich sah Uly eine kleine Gestalt, die durch den Lichtkreis des Lagerfeuers flitzte und dann verschwand. Eine Sekunde später folgte eine größere Gestalt auf demselben Weg, und diese zweite Gestalt hatte eine Taschenlampe in der Hand. Augenblicklich war Uly auf den Beinen und schüttelte die Decke ab. Er glaubte, beide Gestalten erkannt zu haben, war sich aber nicht ganz sicher. Über eines war er sich jedoch völlig im klaren: Beide hatten den direkten Weg zum Canyon eingeschlagen. »True!« wisperte er. »Warte doch!« Das Licht der Taschenlampe stand still. »Psssst!« zischte das Mädchen. »Weck niemanden auf.« Uly trat lautlos auf sie zu und flüsterte: »Du bist diejenige, die durch die Gegend läuft und für Aufruhr sorgt.« »Es ist der Koba«, erklärte sie. »Er lag mit mir in meinem Schlafsack, als wir ein leises Zwitschern hörten. Dann war er weg wie der Blitz - in diese Richtung.« True ließ den Lichtkegel ihrer Lampe über den Boden huschen, bis er von der absoluten Finsternis des Abgrunds verschluckt wurde.
»Nun«, sagte Uly, »er hat vermutlich seine Artgenossen gehört und beschlossen, sich zu ihnen zu gesellen. Weißt du, es war nicht wahrscheinlich, daß er für immer bei dir bleiben würde. »Nein«, entgegnete True mit fester Stimme, »er ist nicht den ganzen Weg mitgekommen, um mich jetzt einfach zu verlassen.« Plötzlich raschelte irgend etwas in den dunklen Büschen am Rand des Canyons, und True folgte dem Laut mit der Taschenlampe. Plötzlich sprang der Koba hervor, wobei die Schuppen seines geschmeidigen Körpers im Lichtschein glänzten. Er schnatterte und schützte seine Augen vor dem Strahl, so daß True die Lampe in eine andere Richtung hielt. Als sie dann vorsichtig versuchte, den Koba wieder mit dem Lichtkegel zu finden, war er weg. »Dies ist ein großartiger Ort, um Verstecken zu spielen«, murmelte Uly. »Er will, daß wir ihm folgen.« »Ja, einen oder zwei Kilometer steil nach unten.« Das Mädchen lächelte fast boshaft. »Ich habe gesehen, wie du dich über den Rand gebeugt hast. Du willst sehen, was dort unten ist, nicht wahr?« »Ja«, gab Uly zu, »aber nicht im Dunkeln.« Ein paar Meter weiter links wurde ein Zwitschern laut. Als True die Lampe auf diese Stelle richtete, waren die Kinder ziemlich erstaunt, diesmal mehrere kleine geschmeidige Gestalten zu sehen, die zwischen den Büschen herumturnten. Sie verschwanden, als sie vom Lichtschein erfaßt wurden. »Komm«, flüsterte True. Sie schlich vorsichtig zum Rand der Finsternis und richtete dabei den Lichtkegel ein paar Zentimeter vor ihren Füßen auf den Boden. Uly kam sich wie ein Idiot vor, aber er folgte ihr. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, den Canyon bei Tageslicht zu erforschen, aber es gab keine Garantie dafür, daß seine Mutter ihm das erlauben würde. Plötzlich streckte der kleine Koba - oder einer, der genauso aussah wie Trues kleiner Freund - seinen Kopf über ein Gestrüpp und winkte. Kurz darauf verschwand er wieder, dafür huschte jetzt ein anderer
durch den schwachen Lichtschein. Wenn die Kobas nicht gerade dabei waren, Selbstmord zu begehen, überlegte Uly, mußte es hinter den Büschen etwas geben, worauf sie stehen konnten. In dem Moment ließ True sich auf Hände und Knie sinken und kroch näher an den Rand heran. »Halt mich an meinem Gürtel fest«, wisperte sie. Uly erinnerte sich bei dieser Aufforderung an die derbe Art und Weise, wie seine Mutter ihn vom Canyonrand zurückgerissen hatte, packte aber wie befohlen Trues hinteren Hosenbund. Im schwankenden Licht der Taschenlampe konnte er erkennen, daß die Klippe hier nicht so schroff abfiel wie an anderen Stellen. Der Abhang war zwar steil, wies aber doch eine leichte Neigung auf und war mit Gestrüpp und Pflanzen bewachsen. »Sieh doch!« keuchte True. »Ein Pfad!« In der Tat, Uly sah, daß sich zwischen den Büschen eine ausgetretene Spur aus glattem Erdreich hindurchschlängelte, bis sie aus dem Sichtfeld verschwand. Da es sich um einen Kobapfad handelte, war er nur etwa zwanzig Zentimeter breit. Aber wenn ein Mensch sehr mutig war, dachte Uly, dann konnte auch er ihn benutzen. Natürlich gab es kein Geländer, und ein einziger Fehltritt würde einen schnellen Trip in den Abgrund bedeuten - ohne Rückfahrkarte. »Sagen wir meiner Mom Bescheid«, schlug Uly vor. »Und was ist mit meinem Koba?« fragte True. »Ich will ihn finden, bevor wir alle Leute herholen. Du weißt, was sie mit ihm machen würden. Wenn du Angst hast, kannst du ja zurückgehen.« »Ich habe keine Angst«, murmelte der Junge. »Kätzchen!« flüsterte True. »Komm zurück.« Sie nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, so daß sie wie ein Scheinwerfer wirkte, und kroch auf Händen und Knien den Pfad hinunter, wodurch sie ihren Körperschwerpunkt verlagerte. Uly kroch ihr, ebenfalls auf Händen und Knien, hinterher, darauf gefaßt, jeden Augenblick nach ihr greifen zu müssen. Obwohl er True nicht richtig gern hatte, wollte er doch nicht mitansehen, daß sie in den Tod stürzte.
Nach dem, was mit Commander O'Neill passiert war, würde der Tod des Mädchens vermutlich eine Meuterei gegen seine Mutter auslösen. »O Mann!« stöhnte True, als ihre linke Hand ins Leere griff. Augenblicklich packte er ihre Waden. »Das ist irre«, hauchte er. True richtete ihre Lampe nach links, doch man konnte nicht viel erkennen. Dann leuchtete sie nach rechts, und Uly konnte sehen, wo sich der Pfad nach oben wand, um den Felsen herum, den sie entlangkrochen. Und er registrierte auch den kleinen Koba, der sich auf Händen und Knien Zentimeter um Zentimeter vorwärtsschob und die Kinder perfekt imitierte. Uly und True lachten erleichtert auf, aber der Junge spürte, wie seine Arme und Beine zitterten. »Ich möchte zurückgehen«, ächzte er. »Aber ich weiß nicht, wie.« Die beiden waren jetzt auf der einen Seite von Dickicht und Fels umgeben, und auf der anderen Seite ging es so steil hinab, daß ein Fehltritt den sicheren Tod bedeutete. Umdrehen hätten sie nur können, indem sie sich, zumindest kurzzeitig, aus ihrer Kriechlage erhoben hätten; doch an diese Möglichkeit wollte Uly nicht einmal einen Gedanken verschwenden. Die Vorstellung, den schmalen Pfad im Rückwärtsgang zu bewältigen, war ihm allerdings auch nicht sonderlich sympathisch. True schien seine Gedanken lesen zu können. »Wir müssen weitergehen ... bis wir einen Wendeplatz finden.« Uly schluckte. »In Ordnung.« Die Tatsache, daß sich der Pfad nach oben wand, machte ihm Mut, auch wenn es nur ein paar Meter waren. True nahm die Taschenlampe wieder in den Mund und kroch weiter, Uly im Schlepptau. Während sie sich Zentimeter um Zentimeter vorwärtsschoben und ihre Hände von Nesseln und Sträuchern zerkratzt wurden, schien eine Ewigkeit zu vergehen. Uly empfand die Dunkelheit beinahe als angenehm, denn so konnte er den gähnenden Abgrund unter ihnen nicht sehen. Ebenso versuchte er das Empfinden zu verdrängen, sie würden mindestens eine Stunde benötigen, um gerade einmal drei Meter voranzukommen. Manchmal schien es ihm gar, sie würden überhaupt nicht vorankommen, sondern im Kreis robben.
Plötzlich schwankte der Lichtschein, und er dachte schon, True würde abstürzen. Aber sie machte nur halt, um die Taschenlampe aus dem Mund zu nehmen. »Äh, hm«, machte sie. »Was? Was?« »Ich bin auf eine Steinwand gestoßen.« Sie ließ ihre Hand über den kalten Granit gleiten. »Der Pfad geht weiter, aber er ist wie der Sims an einem Wolkenkratzer.« »Und der Wind wird stärker«, fügte Uly schaudernd hinzu. »Wo ist der Koba?« True schüttelte verdrießlich den Kopf. »Ich glaube, er ist vor uns, aber ich weiß es nicht genau. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, damit wir umkehren können.« »Toll«, knurrte Uly. »Hier ist es noch schmaler als dort hinten.« »Du hättest ja nicht mitkommen müssen«, entgegnete True. Dann wurde ihr Tonfall sanfter. »Deine Mom wird uns küssen, wenn wir ihr diesen Pfad zeigen.« »Wenn sie uns vorher nicht umgebracht hat.« True leuchtete ein Stück hinter sich und ließ den Lichtschein an der steilen Canyonwand hochwandern. Es schien keine Stützen für Hände und Füße zu geben, nur glatten Fels und ein paar stachlige Büsche. Ein tiefer Heulton drang in ihre Ohren. »Was ist das?« fragte Uly erschrocken. True sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Hör mal, vielleicht sollten wir uns einfach darauf einrichten, hierzubleiben, bis es hell wird.« »Können wir nicht um Hilfe rufen?« fragte Uly. »Willst du, daß unsere Eltern auf der Suche nach uns von dieser Klippe fallen? Das werden sie nämlich, wenn wir uns die Lunge aus dem Leib schreien. Es war dumm, in der Dunkelheit hierherzukommen, ich gebe es zu.« Uly lachte höhnisch auf. »Die große True Danziger hat sich bei irgend etwas geirrt! Entschuldige mich, während ich dem Universum Bescheid gebe.«
True runzelte die Stirn. »Es führt zu nichts, wenn du gemein wirst. Ich dachte, ich könnte den Koba zurück ins Bett holen. Schätze, ich bin kein Koba.« »Nun, du kannst zumindest nicht wie ein Koba an Felsen entlangklettern, das ist sicher. Glaubst du, daß hier genug Platz zum Hinsetzen ist? Wenn wir unsere Beine vielleicht über den Rand baumeln lassen ...« »Ja!« rief True. »Wenn wir unsere Beine über den Rand baumeln lassen, können wir uns vielleicht umdrehen. Es ist einen Versuch wert!« »Ich hatte eigentlich nur ans Hinsetzen gedacht.« Aber True hatte bereits die Initiative ergriffen. Sie legte die Taschenlampe auf den Sims und drückte sich an die Felswand. Da die Lampe ins Leere leuchtete, konnte Uly nicht genau erkennen, was True gerade tat, und so wich er ein Stückchen zurück, um ihr mehr Platz zu verschaffen. Wieder hörten sie das eigenartige Heulen, und dadurch wurde das Mädchen für einen Augenblick abgelenkt. True ächzte, als ihr Hinterteil von dem Felsen abrutschte. Uly konnte sehen, wie sie das Gleichgewicht verlor, wild mit den Armen in der Luft herumruderte und schließlich nach vorne kippte. Er streckte die Hände nach ihr aus, aber er hatte sich zu weit von ihr entfernt. Sein erstickter Schrei wurde eins mit ihrem, als die Zehnjährige von dem Sims stürzte. »True!« Doch mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlags war sie verschwunden. Die Taschenlampe rollte hinter ihr her, und Uly sah, wie sie von dem Felsen fiel und ebenfalls verschwand. Dann gab es nur noch die Dunkelheit.
3
Yale lehnte dösend an einem Baumstamm, bis Zero ihn wachrüttelte. »Meister Yale«, sagte der klobige Roboter, »ich muß mit Ihnen reden.« Der alte Cyborg blinzelte und sah sich um. Die Nacht war immer noch pechschwarz und viel kälter als an den Abenden zuvor. »Gibt es Eindringlinge?« »Nein«, antwortete Zero. »Kann es dann nicht bis morgen warten?« Zero dachte einen Augenblick lang über die Frage nach. »Ich nehme es an.« Er drehte sich um und stampfte rasselnd davon. Aber Yale war jetzt wach. Er streckte seine Glieder und stellte sich auf die Füße. »Zero«, flüsterte er, »warte!« Der Roboter machte gehorsam halt und wartete darauf, daß Yale zu ihm aufschloß. »Ja?« Der Cyborg gähnte. »Um was geht es? Was wolltest du mir sagen?« Der Roboter hob und senkte die Schulterpartie. »Nur, daß die Kinder weg sind.« »Was?« »Weg«, wiederholte Zero. »Sie wissen, daß es zu meiner Sicherheitsprogrammierung gehört, Vorräte und Personal alle zwei Stunden zu kontrollieren. Wir wollen keine weiteren Entführungen und Räubereien.« »Ja, ja«, sagte Yale ungeduldig. »Weiter.« »Als ich eine visuelle Überprüfung vornahm, fand ich weder Uly Adair noch True Danziger in ihren Schlafsäcken vor. Eine weitergehende Überprüfung ergab, daß sie im ganzen Lager nicht auffindbar sind.« Yale inspizierte das schlafende Lager mit seinem glimmenden Feuer, der akkurat aufgestellten Zeltreihe und den Fahrzeugen, die die
Siedler umgaben wie früher die Planwagen auf den großen Trecks nach Westen. Absolut nichts schien außergewöhnlich zu sein, abgesehen von dem gewaltigen Canyon, der selbst in der Dunkelheit allgegenwärtig war. »Bist du sicher, daß keine Eindringlinge da waren?« fragte Yale. »Positiv«, antwortete Zero. »Natürlich können die Terrianer plötzlich aus dem Boden auftauchen, aber ich habe keine Vibrationen festgestellt. Sollten wir die anderen wecken?« Yale verzog nachdenklich sein faltiges Gesicht. »Noch nicht«, antwortete er. »Vielleicht haben die Kinder einen Spaziergang gemacht. Du überprüfst den Wald, und ich nehme eine Lampe und überprüfe den Canyon.« Der Roboter hielt fragend den Kopf schief. »Sie würden nicht am Canyon Spazierengehen, oder?« Yale seufzte. »Eine Sache, die man bei menschlichen Kindern lernt, ist die, daß sie zu allem fähig sind.« Uly wußte nicht, wie lange er jetzt schon hier saß - fast so starr wie die Felsspitzen ringsum. Er hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, zu atmen, Angst, nachzudenken. True war wohl tot! Doch das wußte er nicht mit letzter Gewißheit. Er wußte überhaupt nichts mit letzter Gewißheit - außer daß er hier in totaler Finsternis am Rand eines tödlichen Abgrunds saß. Er wollte schreien, so laut wie möglich um Hilfe rufen. Aber in einem Punkt hatte True recht gehabt: Das Heraufbeschwören einer Panik würde hier in der Dunkelheit wahrscheinlich zu weiteren Unglücksfällen führen. Deshalb mußte er Ruhe bewahren. Wenn auch er von dem Sims stürzte, gab es niemanden mehr, der den anderen berichten konnte, was geschehen war. Es würde so aussehen, als wären sie beide spurlos verschwunden. Der Versuch, in der Dunkelheit auf dem schmalen Pfad weiterzukriechen, stand nicht zur Debatte. Der Morgen würde noch früh genug kommen. Und dann würden die Erwachsenen mit ziemlicher Sicherheit in den Canyon hinabsteigen, und sei es auch nur, um Trues Leichnam zu bergen. Was würde ihr Vater ohne sie anfangen? Uly wollte besser nicht darüber nachdenken. Trues Liebe
zu Tieren hatte ihr das Leben gekostet, und auf eigentümliche Weise wollte es Uly scheinen, als hätte seine Freundin das gar nicht anders gewollt. Plötzlich ertönte das unheimliche Heulen wieder, aber jetzt ängstigte es ihn nicht mehr. Uly war zu der Überzeugung gelangt, daß es der Wind war, denn dieses zunächst unheimliche Geräusch wurde immer von einem kalten Luftzug begleitet. Er bemühte sich, nicht zu zittern, konnte es jedoch nicht ganz verhindern. Dies war die schlimmste Nacht seines Lebens, eine Nacht, zu der es nicht hätte kommen können, wenn er immer noch in den Immunoanzug mit all seinen Schläuchen eingeschlossen gewesen wäre. Er wußte jetzt, daß Freiheit Verantwortungsbewußtsein erforderte. Oder zumindest gesunden Menschenverstand. Bisher schien bei ihm jedoch beides nicht allzu ausgeprägt vorhanden gewesen zu sein: Er war jedoch entschlossen, zumindest von nun an vernünftig zu handeln, auch wenn das bedeutete, daß er hier die ganze Nacht in frostiger Kälte ausharren mußte. Dann sah Uly etwas, das sein Herz einen Sprung machen ließ. Ein Licht! Ein Licht im Canyon unter ihm. Aber wie war das möglich? »True!« rief er heiser. In seiner Aufregung bewegte er sich auf dem schmalen Sims ein bißchen zu hastig und spürte, daß er ins Rutschen geriet. Er hielt den Atem an und preßte den Rücken steif gegen die Felswand. Dann wartete er darauf, entweder zu sterben oder wieder atmen zu können. Einen Moment später - er lebte noch - lugte er wieder über den Rand in den Abgrund. Es stand außer Frage, daß sich dort unten ein Licht bewegte, aber es erschien ihm geisterhaft und unwirklich, denn es verschwand immer wieder aus seinem Blickfeld und erhellte nichts. »True!« flüsterte er erneut. Diesmal bekam er eine Antwort in Form eines schrillen Schnatterns. Es war der Koba! »Bring sie hier hoch!« rief Uly. »Bring mir die Lampe!« Und wirklich, das Licht näherte sich ihm langsam. Es schien dort unten keinen Pfad zu geben, denn selbst der Koba kam, die Lampe
hinter sich herziehend, an der Felswand nur langsam voran. Mehrmals hielt Uly den Atem an, wenn das Licht kurzzeitig wieder verschwand. Aber es kam immer wieder zum Vorschein, im Wind schwankend. Der Koba muß sich wahrscheinlich mühsam von Wurzel zu Wurzel hangeln, dachte Uly. Schließlich schloß er die Augen, denn er konnte den Gedanken nicht ertragen, eventuell mitansehen zu müssen, wie der Koba ebenfalls in den Abgrund stürzte. Aber Moment, dachte er dann, wenn die Lampe nur ein paar Meter nach unten gefallen war, dann konnte auch True nur ein paar Meter in die Tiefe gestürzt sein. Das machte ihm Hoffnung, und er feuerte das kleine Tier an. »Komm schon, du kannst es schaffen!« Das letzte Stück war das schlimmste, weil Uly die Hände ausstrecken wollte, um dem Koba zu helfen, dazu jedoch nicht in der Lage war. Er wagte nicht, sich zu bewegen, und mußte sich so auf Ermunterungen beschränken. »Du kannst es schaffen! Komm, komm!« Jetzt konnte er den kleinen Koba sehen, der sich an der Klippe hochkämpfte, dabei aber durch die Lampe, die er tragen mußte, behindert wurde. Mit einer Mobilisierung seiner letzten Kräfte warf er sich schließlich auf Ulys Schoß. Diese plötzliche Aktion veranlaßte Uly zu einem überraschten Aufschrei, aber er bewahrte das Gleichgewicht und griff nach der Lampe, bevor sie wieder nach unten rollte. Dann drückte er das schuppige Tier an sich, und der Koba legte seine kalten Klauen um seinen Nacken. »Ich freue mich auch, dich zu sehen!« sagte Uly. »Wo ist True? Hast du True gesehen?« Der Koba ahmte eine Schlafstellung nach, legte seine Hände seitlich an den Kopf und schloß die Augen. Das bedeutete, daß True nur bewußtlos war, hoffte Uly. Aber kannte ein Koba den Unterschied zwischen Bewußtlosigkeit und Tod? Er holte tief Luft und leuchtete nach unten, aber der Lichtstrahl war nicht stark genug, um mehr als nur ein paar Meter zu erhellen. Wieder hörte Uly das leise Heulen des Windes und fragte sich plötzlich, wo es
eigentlich herkam. Diesmal richtete er die Lampe steil nach oben, und der Strahl wurde nicht völlig von der Dunkelheit verschluckt, sondern beleuchtete etwas, das wie ein Steindach aussah! Als er den Lichtkegel wandern ließ, wurde ihm klar, daß der Koba und er sich in einer Art Torbogen befanden, den die Erosion in den massiven Fels gemeißelt hatte. Deshalb pfiff der Wind hier so heulend durch. Mit wachsender Erregung begriff Uly, daß True nicht bis auf den Grund des Canyons gestürzt sein konnte, sondern nur bis auf den Grund des Torbogens! Jetzt wurde ihm klar, daß er Hilfe holen mußte. Mit dem Gedanken, ihn ins Lager zurückzuschicken, wandte er sich dem Koba zu. Nein, entschied er dann, der Koba war nicht so süß und liebenswert wie ein typisches Schoßtier. Morgan oder ein anderer schießwütiger Erwachsener würde ihn wahrscheinlich abknallen; er mußte schon selbst gehen. Seine Beine baumelten bereits über dem Rand des Abgrunds, so daß er dasselbe Manöver versuchen konnte, das True bereits gewagt hatte. Ausnahmsweise einmal war es gut, daß er kleiner war als sie. Uly nahm seinen ganzen Mut zusammen und klemmte die Taschenlampe zwischen die Zähne. Er wartete, bis sich der Wind gelegt hatte, stützte sich dann vorne auf seine Hände und zog die Beine hinter sich. So weit, so gut! Er bewegte sich wieder auf allen vieren. Der Koba kroch vor ihm her, ebenfalls auf Händen und Knien, aber Uly war zu müde und verstört, um über seine Possen zu lachen. Es überraschte den Jungen, daß er sich an alle Felsen und Dornbüsche erinnern konnte, die er auf dem Hinweg passiert hatte; sie waren wie alte Freunde. Nur einmal griffen seine Hände ins Leere, und er langte hastig nach einem Busch, ohne darauf zu achten, wie heftig seine Hände zerkratzt wurden. Er kam zwar nur langsam voran, aber immerhin bewegte er sich in die richtige Richtung. Dann sah er etwas Verblüffendes - ein anderes Licht am Rand des Canyons! Der Koba zwitscherte und flitzte davon, aber Uly nahm die Taschenlampe aus dem Mund und ließ sie kreisen.
»Hier unten!« rief er. »Bist du das, Uly?« fragte Yales vertraute Stimme. »Ja«, hauchte er erleichtert. »Da ist ein Pfad, aber sei vorsichtig.« Yale machte eine Armbewegung, und Zero gesellte sich oben am Rand des Canyons zu ihm. »Hol ein langes Seil«, befahl der Cyborg. Während Zero davonging, kam Yale langsam den Abhang hinunter. Uly merkte, daß er nicht mehr genug Kraft hatte, sich zu bewegen oder hinzustellen. Deshalb wartete er einfach nur, bis der Lehrer einen starken Arm um seine Hüfte schlang und ihn auf sicheren Boden trug. »Wo ist True?« fragte Yale. Uly deutete zurück auf den Pfad. »Sie ist gestürzt, aber ich denke, sie ist okay.« »Du denkst!« fragte Yale mißbilligend. »Jedenfalls kannst du nicht nachgedacht haben, als du hier runtergestiegen bist. Was habt ihr überhaupt gemacht?« Uly beschloß, die Wahrheit zu sagen, zumindest weitgehend. »True und ich sahen eine Gruppe von Kobas. Wir folgten ihnen und entdeckten diesen Pfad. Wir dachten, er würde unsere Probleme lösen, uns helfen, auf den Grund des Canyons zu kommen - du weißt schon. Aber als wir nach unten kletterten, wurde der Pfad auf einmal so schmal, daß wir uns nicht mehr umdrehen konnten. Dabei ist True abgestürzt.« Uly fing an zu weinen. »Es tut mir leid.« Zero erschien mit mehreren Seilen, einer Winde, einem Flaschenzug und einer weiteren Lampe. »Ich bin bereit«, sagte er. Yale fragte Uly mit düsterer Miene: »Wenn True abgestürzt ist, wie kommst du dann auf den Gedanken, daß sie noch lebt?« »Es gibt da einen natürlichen Torbogen«, antwortete der Junge. »Da waren wir, als sie abstürzte. Ich bin sicher, daß sie jetzt auf dem Boden des Bogens liegt.« »Bleib hier«, ordnete Yale an. »Oder besser noch, geh zurück ins Bett.« True spürte einen schleimigen Kuß in ihrem Gesicht und versuchte, ihn wegzuwischen. »Nein, Uly«, murmelte sie erschöpft. Der alberne Junge wollte sie küssen! Dann merkte sie, daß ihr Hinterkopf vor
Schmerzen pochte und es um ihre Arme und Beine nicht viel besser bestellt war. Sie öffnete die Augen, aber das half überhaupt nichts alles war weiterhin dunkel und schmerzvoll. Irgend etwas kroch auf ihre Brust, und sie konnte die undeutliche Silhouette des Koba erkennen. »Kätzchen«, hauchte sie glücklich. »Wo sind wir?« Das plötzliche Heulen des Windes und das Stechen eines Felsens, der sich in ihren Rücken bohrte, ließen ihre Sinne vollends erwachen. Als sie versuchte, sich zu bewegen, hörte sie einen Stein nach unten poltern - tief nach unten. Sie streckte ihr linkes Bein aus, aber da war nichts, worauf sie ihren Fuß stützen konnte - nichts als tiefe Dunkelheit. »O Mann«, stöhnte sie. Ihre Hände waren unter den Beinen eingeklemmt, und sie hatte Angst, sie zu bewegen. Halt still, sagte sie zu sich selbst, halt ganz still. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß sie versucht hatte, sich auf dem Felssims umzudrehen, und dabei abgestürzt war. Eigentlich mußte sie tot sein. »Dies ist nicht der Himmel, oder?« fragte sie den Koba. Die reptilienähnliche Kreatur schien zu kichern und gab ihr dann einen weiteren schleimigen Kuß. Nun, dachte sie, es hatte keinen Zweck, weiter zu forschen, wo sie sich befand. Sie war irgendwo in einem sehr tiefen, sehr dunklen Canyon - lebend, aber in großen Schwierigkeiten. True erinnerte sich an ihre Taschenlampe und verdrehte den Hals, um Ausschau nach ihr zu halten, konnte sie aber nicht finden. Also mußte sie ohne dieses Hilfsmittel zurechtkommen. War Uly immer noch irgendwo dort oben? Sie konnte kein Licht über sich sehen; tatsächlich konnte sie auch keine Sterne oder sonst irgend etwas sehen. Als sie anfänglich auf dem Pfad festhingen, wollte sie mit einem Hilfeschrei keine Panik auslösen, aber jetzt hatte sie keine andere Wahl. Sie wußte nicht, wie lange sie es in dieser Position aushalten konnte - mit Schmerzen in allen Gliedern und einem pochenden Kopf. Dies war nicht der Himmel, aber die kleinste falsche Bewegung konnte sie schnell dorthin bringen. »Uly!« schrie sie. »Uly!«
Nur ihre Begleiter, der Wind und der Koba, antworteten. »Hilfe!« schrie True erneut. »Hört mich irgend jemand! Hilfe!« Trues Schreie wurden zu einem Schluchzen, sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Der Koba legte sich auf ihre Brust und streichelte ihre Wange. »Ist schon gut, Kätzchen«, beruhigte sie ihn. »Geh nur. Geh nur und rette dich.« Der Koba zirpte leise und versuchte, sie zu trösten. Sie riskierte es, sich zu bewegen und ihn zu umarmen. Als sie allerdings ihre Hand bewegte, rumpelte erneut ein Stein nach unten, und sie erstarrte für einen kurzen Moment. Da sonst nichts weiter passierte, brachte sie das Manöver zum Abschluß. Ihre Brust hob und senkte sich vor Furcht, aber nachdem sie ihren Arm um die winzigen Rippen des Koba geschlungen hatte, fühlte sie sich schon viel besser. »Ich meine immer noch, daß du gehen solltest«, beharrte sie. »Wenn ich abstürze, will ich nicht, daß du mit mir fällst.« Der Koba setzte sich plötzlich aufrecht hin und war mit einem Satz verschwunden. »He!« rief sie ihm nach. »Du mußt nicht alles tun, was ich dir sage!« Dann sah sie, was ihn aufgeschreckt hatte - zwei starke Lichtstrahlen. Sie huschten etwas oberhalb im Zickzack über eine Felsformation, die aussah wie eine aus Stein erbaute Brücke. »Hilfe!« schrie sie. »Hier unten!« »True!« rief Yales Stimme. »Halt still! Beweg dich nicht!« Das mußt du mir nicht sagen, dachte sie. Einen Augenblick später fanden die Lichtstrahlen True und blendeten sie. Sie konnte nicht sehen, wer da oben war, aber sie hörte die Stimmen von Yale und Zero. »Der Bogen sieht stabil genug aus, um ein Seil zu halten«, sagte Zero. »Wirf es drüber«, antwortete Yale. »Ich binde es mir um die Hüfte. Hast du eine Stelle gefunden, wo du es festmachen kannst?« »Ja«, antwortete Zero.
»Bist du schwer verletzt?« rief Yale nach unten. »Ich glaube nicht. Der Kopf tut mir weh, aber es sieht nicht so aus, als ob irgend etwas gebrochen wäre.« »Beweg dich nicht, bis ich dich gepackt habe«, befahl ihr der Cyborg. True hielt den Atem an, als sich die beiden Retter ans Werk machten. Eine Sache ließ sie erleichtert aufatmen: Ihr Dad schien nicht mit dort oben zu sein. Wenn sie anfing zu schluchzen und um Vergebung zu bitten, wollte sie schon auf eigenen Füßen stehen - und zwar auf ebenem Boden. Als Zero das Seil über den Bogen warf und festmachte, polterten weitere Steine an der Klippe nach unten. Einige Minuten später schrie True auf, weil sie sah, daß Yale unerwartet über ihrem Kopf hin und her flog. Er schwankte sekundenlang im Wind, bevor er sich so eingependelt hatte, daß Zero ihn langsam hinablassen konnte. Als der Cyborg langsam auf sie zukam, sah sein hochgewachsener Körper aus wie eine riesige High-Tech-Spinne. Himmel, dachte sie, ich bin von einem Koba geküßt worden, und jetzt werde ich selbst einen Roboter und einen Cyborg küssen! »Du hast verdammt viel Glück, junge Dame«, sagte Yale, als er näher kam. »Ich weiß«, hauchte sie. Bald schlangen sich seine Arme um das Mädchen, und True erhob sich von ihrem unbequemen Steinbett. Die Schmerzen machten True jetzt nichts mehr aus, denn sie bedeuteten, daß sie lebte! Dr. Julia Heller entfernte das Med-Skop von Trues Auge. »Eine Gehirnerschütterung«, stellte sie fest. »Dazu mehrere Hautabschürfungen und Quetschungen. Ich schlage Bettruhe und Beobachtung für mindestens vierundzwanzig Stunden vor.« »Und eine kräftige Standpauke«, ergänzte John Danziger mit finsterer Miene. »Die Standpauke kann warten«, sagte Julia und sah Danziger streng an. Sie wandte sich an True. »Trink viel Wasser, junge Dame, und dann leg dich in deinen Schlafsack.«
Die Zehnjährige nickte, warf ihrem erzürnten Vater noch einen schnellen Blick zu und schlurfte nach draußen. Der Mechaniker ließ seinen Zorn an Yale aus. »Warum sind Sie nicht gekommen und haben mich geholt?« »Ja, warum hast du das nicht getan?« unterstützte ihn Devon Adair und verschränkte wütend die Arme. Der Cyborg lächelte. Dies war also der Dank dafür, daß er ihre Kinder gerettet hatte - eine Standpauke, weil er alles nicht noch komplizierter und gefährlicher gemacht hatte. »Uly ist von alleine zurückgekehrt«, berichtete er. »Sein Erschöpfungszustand verlangte Ruhe, keine langatmigen Erklärungen. Ich fand es außerdem vernünftig, keine Zeit zu verschwenden. Nach Einschätzung der Situation kam ich zu der Überzeugung, daß ich selbst und Zero fähig waren, True zu retten. Unsere vordringliche Aufgabe bestand darin, festzustellen, ob eine Rettung möglich oder notwendig war.« Yale blickte Danziger in die Augen. »Hätten Sie es vorgezogen, der erste zu sein, der ihren Leichnam entdeckt?« Danzigers Lippen wurden schmal, und er schlug die Augen nieder. »Nein«, murmelte er. »Danke. Sie haben das gut gemacht.« »Gern geschehen, Sir!« zwitscherte Zero. »Ist alles inbegriffen!« Devon seufzte und warf einen Blick zurück auf das Zelt, in dem Uly immer noch schlief. »Manchmal denke ich beinahe nostalgisch an die Tage zurück, in denen Uly nirgendwo hingehen und nichts anstellen konnte.« »In seinem Alter«, sagte Yale mit einem Lächeln, »warst du noch viel weniger zu zähmen. Ich wage zu behaupten, daß auch du nachgesehen hättest, wenn dir eine Gruppe von Kobas aufgefallen wäre, die von einer Klippe in die Tiefe springt.« »Haben sie wirklich einen Weg gefunden, der in den Canyon hinunterführt?« fragte Devon. Der Cyborg nickte. »Ja, das haben sie. Aber da es sich um einen Kobapfad handelt, ist er schmal und gefährlich. Ich glaube jedoch, daß wir ihn begehen können. Bei Tageslicht natürlich und mit den entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen.«
»Was ist mit den Fahrzeugen?« fragte Danziger. Yale schüttelte den Kopf. »Es ist eindeutig ein Fußweg, mehr nicht.« Devon blickte zum Himmel empor, dessen Farbe sich von dem abweisenden Schwarz, das noch vor wenigen Augenblicken vorgeherrscht harte, zu einem cremigen Schiefergrau aufhellte. »Es wird bald Morgen«, sagte sie. »Es widerstrebt mir, aber wie es aussieht, werden wir unsere Gruppe teilen müssen. Einige von uns werden in den Canyon hinuntersteigen, während die anderen hier oben bei den Fahrzeugen bleiben, bis wir einen Weg gefunden haben, um auch diese nach unten zu bringen. Oder bis wir uns dazu entscheiden müssen, sie aufzugeben.« Danziger runzelte die Stirn. »Das ist ein bißchen drastisch, oder?« Devon blickte ihn entschlossen an. »Ob mit oder ohne Fahrzeuge wir müssen weiter nach New Pacifica. Vielleicht sollten wir jetzt festlegen, wie wir die Gruppe aufteilen, während die anderen noch schlafen.« »Einige Aufgabenverteilungen liegen auf der Hand«, warf Julia ein. »Ich sollte in den Canyon gehen, für den Fall, daß es zu Unfällen kommt. Aber Alonzo kann nicht bergsteigen. Er wird bei seinem ATV bleiben müssen.« »Das alles gefällt mir nicht«, beschwerte sich Danziger. »Diese Menschen haben einen eigenen freien Willen, wir können nicht einfach für sie Entscheidungen treffen.« Er blickte Devon an. »Wenn Sie die Fahrzeuge aufgeben, geben Sie gleichzeitig auch den größten Teil unserer Vorräte und unseres Schutzes auf. Vielleicht möchten einige von ihnen lieber weiterhin regelmäßig essen und in einem Zelt schlafen.« Yale räusperte sich und versuchte, die Stimmung ein wenig zu entspannen: »Wie wäre es, wenn wir einen Augenblick innehalten und den Umstand feiern, daß die Kinder in Sicherheit sind? Und daß es vielleicht einen Weg zur Überwindung des Canyons gibt?« »Und noch eins«, fügte Julia hinzu, »True kann für mindestens vierundzwanzig Stunden nirgendwo hingehen.«
Devon biß die Zähne zusammen und blickte von der Ärztin zu dem Mechaniker. »Wir können es uns nicht leisten, vierundzwanzig Stunden zu verschwenden«, sagte sie eindringlich. »Wenn es Sie beruhigt, Danziger, dann werde ich nach Freiwilligen fragen, die den Weg in den Canyon erkunden. Es wird hier doch wohl jemanden geben, der sich nicht scheut, ein paar Tage ohne Zelt auszukommen.« Sie marschierte davon, die Hände zu Fäusten geballt. Danziger schüttelte nur den Kopf und blickte ihr nach. »Ein ziemlich harter Brocken, was?« Yale kicherte. »Oh, das war noch gar nichts. Sie hätten sie bei einer Direktoriumssitzung in ihrer ersten Firma erleben sollen. Devon Adair hat es nicht gerne, wenn man ihr sagt, daß sie irgend etwas nicht tun kann.« »Ob es ihr nun gefällt oder nicht«, sagte Danziger, »wir sind keine Direktoren einer ihrer tollen Firmen. Wir sind freie Menschen mit unseren eigenen Vorstellungen, mit unseren eigenen Träumen, und einige von uns sind nur aufgrund unglücklicher Umstände hier. Dieser Planet hat seine eigene Sonne - sie dreht sich nicht zwangsläufig um Devon Adair. Das sollte sie sich vor Augen fuhren.« Er marschierte in die entgegengesetzte Richtung davon. Julia Heller wandte sich Yale zu und lächelte. »Die beiden sind doch wie füreinander geschaffen.« Nach dem Frühstück standen die Kolonisten unschlüssig herum und blickten in den Canyon. Sie waren sich nicht sicher, was sie als nächstes tun sollten. Normalerweise hätten sie das Lager abgebrochen, die Fahrzeuge beladen und sich auf den Weg gemacht, um die nächsten zwanzig Kilometer hinter sich zu bringen - das war alltägliche Routine, auch wenn sich das Pensum nur selten verwirklichen ließ. An diesem Morgen jedoch gähnte ihnen der gewaltige, klaffende Abgrund entgegen und machte ihnen klar, daß es heute keine Routine geben würde. John Danziger sah nach True und stellte fest, daß sie immer noch fest schlief. Erst nach und nach wurde ihm so richtig bewußt, daß er in der vergangenen Nacht seine Tochter um ein Haar verloren hätte, und
dieser entsetzliche Gedanke ließ seinen Zorn und seine Sturheit dahinschmelzen. Solange sie beide lebten und gesund waren, würden sie schon einen Weg finden, alles durchzustehen. Wer führte, wer folgte, wer an der Spitze oder am Ende der Rangordnung stand, spielte wirklich keine Rolle. Danziger hatte schon an schlimmeren Orten als diesem gelebt und schlimmere Chefs als Devon Adair ertragen, das stand fest. Er hatte es überlebt. Solange True sicher und geschützt war, erschien alles andere im Universum nebensächlich. Als Danziger das Zelt seiner Tochter verließ, überraschte es ihn nicht zu sehen, daß Devon auf einem Baumstumpf stand und die anderen zusammenrief, damit sie sich ihre Ansprache anhörten. Sie warf einen wachsamen Blick in seine Richtung, aber er verschränkte einfach nur die Arme und bedachte sie mit einem friedvollen Lächeln. Vielleicht war es eine durch das Morgenlicht bedingte optische Täuschung, aber für einen Augenblick sah es so aus, als ob sie sein Lächeln erwiderte. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten.« Devon hob beschwörend die Arme. »Alle, die am Canyon stehen, kommen Sie hier herüber! Sie werden bald so viel von diesem Canyon zu sehen bekommen, daß es Ihnen für Ihr ganzes Leben reicht.« Langsam bildeten alle einen Halbkreis um sie herum, abgesehen von Alonzo, der von seiner Hängematte aus zuhörte. Devon lächelte ihre Zuhörer an wie ein Politiker, der seine Wähler umgarnen will. »Wir haben einen Durchbruch erzielt!« behauptete sie. »In der vergangenen Nacht haben die Kinder einen Kobapfad entdeckt, der, wie wir glauben, zum Grund des Canyons hinunterführt.« Gemurmel wurde laut, und Devon hob abermals die Hände, um die Leute zum Schweigen zu bringen. »Aber es ist nur ein Fußweg, was im Augenblick bedeutet, daß wir die Fahrzeuge hier oben lassen müssen.« Sie warf einen Blick zu Danziger hinüber und fuhr dann fort: »Ich suche nach Freiwilligen, die den Pfad hinuntergehen und sich vergewissern, daß er tatsächlich bis zum Grund des Canyons führt. Ich
weiß nicht, wie lange das dauern wird, aber ich glaube, ich kann Ihnen einiges an Spannung versprechen. Diese Vorhut wird auf jedem Schritt des Weges per Funkkontakt mit dem Basislager hier oben am Rand verbunden sein.« »Ich werde gehen!« rief Alonzo laut. Einige kicherten voller Sympathie, aber Devon schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Alonzo. Wenigstens Sie, Yale, Zero und die Kinder werden hier oben bei den Fahrzeugen bleiben. Sie werden am Rand des Canyons entlangfahren und versuchen, einen Weg zu finden, auf dem Sie mit dem Wagen nach unten kommen können. Ich weiß nicht, ob Sie einen finden, aber wir müssen es wenigstens versuchen. Also, haben wir einige ernsthafte Freiwillige?« Danziger trat vor. »Ich werde gehen!« Devon starrte ihn an, auf ihrem hübschen Gesicht spiegelten sich Dankbarkeit und Überraschung zugleich. »Wollen Sie nicht hier bei True bleiben?« »Nein, Yale hat bewiesen, daß er auf die Kinder aufpassen kann.« Bei diesen Worten blähte sich die Brust des Cyborgs stolz auf. »In Ordnung«, sagte Devon. »Ich gehe mit Danziger, ich denke, das reicht wahrscheinlich aus. Von den übrigen muß niemand mitgehen.« »Ich möchte gehen«, gab Bess bekannt. »Bist du verrückt?« schrie Morgan sie an. »Es geht steil bergab! Wir wissen nicht, was da unten ist! Oder wie weit es ist!« Er stampfte mit dem Fuß auf. »Du kannst nicht ohne mich gehen.« Sie tätschelte seinen Rücken. »Gut, Liebling, dann meldest du dich eben auch freiwillig.« Morgan bewegte ein paar Augenblicke lang lautlos die Lippen und suchte nach einer Möglichkeit, einen Rückzieher zu machen. Doch da Bess heiter lächelte und die anderen ihn erwartungsvoll ansahen, ließ er schließlich die Schultern hängen und nickte. Und nachdem sich Morgan unerwartet freiwillig gemeldet hatte, hoben auch die anderen verlegen die Hände.
»Ich habe mich bereits gemeldet«, sagte Julia. »Aber Yale muß mich über Trues Zustand auf dem laufenden halten.« »Natürlich«, antwortete der Cyborg. Zum ersten Mal seit einiger Zeit strahlte Devon. »Sie sind alle sehr mutig, und ich möchte Sie wissen lassen, daß ich dieses Vertrauen in unsere Mission zu würdigen weiß. Das Packen sollte eine einfache Sache sein - nur so viel Wasser, Nahrung und Kleidung, wie in die Rucksäcke hineinpaßt. Nur so viel, wie Sie tragen können. Und viele Seile. Wir werden uns an der Hüfte anseilen, in Intervallen von fünf Metern.« Sie klatschte in die Hände. »Auf geht's!« Danziger wollte sich zwar von True verabschieden, mochte sie jedoch nicht aufwecken. Julia sah sich das Kind vorher noch einmal an und fand ihren Zustand stabil. Atmung, Temperatur - alles war normal. Die Ärztin erwartete in ein oder zwei Tagen eine vollständige Genesung des Mädchens von seiner Gehirnerschütterung. So schlüpfte der Mechaniker nur kurz ins Zelt und gab seiner Tochter einen Abschiedskuß, bevor er sich zu den anderen gesellte. Das gemeinschaftliche Packen der Rucksäcke und das Anseilen brachte die Gruppe auf eigenartige Weise näher zusammen, stellte Danziger fest. In weniger als einer Stunde waren sie ein Team - nicht unbedingt ein Spitzenteam, aber doch ein Team. Es galt die Devise: Alle für einen und einer für alle. Die Sonne war inzwischen über die monumentalen Felszinnen gekrochen und überflutete die Schlucht mit hellem, kupferfarbenem Glanz. Sie konnten den riesigen Torbogen vor ihnen klar erkennen, durch den sich der Pfad immer weiter abwärts schlängelte. Der Bogen erschien wie der Eingang zu einem geheimnisvollen Ort, denn jenseits von ihm war außer blauem Himmel nichts zu sehen.
4 »Ich habe Höhenangst!« jammerte Morgan. »Genau der richtige Zeitpunkt, uns das zu sagen«, erwiderte Devon trocken, die auf dem schmalen Pfad direkt vor dem pedantischen Regierungsbeamten in die Tiefe kletterte. Sie hatte ihn persönlich an dieser Stelle plaziert, weil sie von ihrer Führungsposition aus ein Auge auf ihn halten wollte. Als Führerin war es ihre Aufgabe, festzustellen, ob der Weg sicher war. Und Morgan sollte ihr Bescheid geben, falls irgend jemand aus der Reihe tanzte. Devon zweifelte jedoch nicht daran, daß Morgan der einzige von ihnen war, auf den man sich nicht hundertprozentig verlassen konnte. »Ich sage Ihnen, ich kann nicht nach unten sehen!« kreischte er. »Dann sieh einfach nicht nach unten«, sagte Bess, die direkt hinter ihm war. Wie bei einer Dinner-Party hatte Devon die Kletterer in der Reihenfolge Frau-Mann-Frau-Mann eingeteilt. Zuerst sich selbst, dann Morgan, dann Bess, Baines, Julia und so weiter bis zu Danziger, der den Schluß bildete. Sie hatte Danziger dort für den Fall plaziert, daß die anderen in Schwierigkeiten gerieten. Ihm blieben vielleicht nur Sekunden, um zu reagieren, aber sie hoffte, er würde es im Notfall schon rechtzeitig schaffen, das Ende des Seils irgendwo festzumachen. »Oje!« winselte Morgan, während er den Sims entlangschlurfte. Baines machte ein finsteres Gesicht. »Wenn er nicht endlich den Mund hält, schlage ich vor, daß wir ihn losbinden.« »Nein, nein!« ächzte Morgan. »Ich komme schon zurecht, ich schwöre es!« »Es scheint ein langer Weg bis nach unten zu sein«, bemerkte Devon. »Aber dieser Pfad ist offensichtlich schon häufiger benutzt worden.« »Aber nicht von Menschen!« protestierte Morgan. »Woher wollen Sie das wissen?« fragte Devon.
Die Leiterin der Truppe blickte in den Abgrund des Canyons und mußte zugeben, daß der Anblick erschreckend war. Hunderte von Metern tief gab es nichts als schroffe Felsbrocken und Zinnen, die meisten von ihnen zu farbenprächtigen Mustern aus Riefen und Graten zerfurcht. Büschel grüner und brauner Vegetation hingen an den Klippen wie Kissen. Wenn man direkt nach unten blickte, konnte man durch die verzerrte Perspektive nur schwer Entfernungen abschätzen, so daß Devon auch nicht zu sagen vermochte, ob es sich bei den Pflanzen um stämmige Sträucher oder nach oben strebendes Immergrün handelte. Auf dem Grund war ein türkisfarbener Streifen Wasser zu erkennen, der ein lockendes Ziel darstellte. Devon fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie das Wasser endlich erreichten, und ob sie alle heil dort unten ankommen würden. In diesen schmalen Pfad setzte sie ihre ganze Hoffnung, denn er war gewiß nicht zufällig entstanden. Äonenlange Nutzung hatte die Spur geprägt, selbst dort, wo sie über nackten Fels führte. Außerdem hatte es bis jetzt keine steilen Abhänge oder fehlenden Verbindungsstücke gegeben, wie sie das ursprünglich befürchtet hatte. Gelegentlich mußten sie eine oder zwei Stufen nach unten treten, besonders an Stellen, wo sich der Pfad in die entgegengesetzte Richtung schlängelte. Sie ließen sich Zeit, und der eine war dem anderen immer behilflich. So kämpften sie sich langsam voran, meistens den Rücken gegen die Felswand gepreßt und von scharfkantigen Steinspitzen gepeinigt. An anderen Stellen führte der Pfad über Simse, die mehr als einen Meter breit waren, so daß sie normal gehen konnten - das heißt, was man angesichts eines mörderischen Abgrunds normal nennen kann. Devon war dankbar dafür, daß heute ein klarer Tag war, mit wenig Wind, viel Sonnenschein und ohne Niederschlag. Sie stellte es sich schrecklich vor, diesen Abstieg auf einem glatten und nassen Untergrund bewerkstelligen zu müssen. Dieser Gedanke veranlaßte sie, zum Himmel emporzublicken und nach Wolken Ausschau zu halten; dabei trat ihr Fuß ins Leere. Indem sie ihr Gewicht auf den
anderen Fuß verlagerte und sich gegen die Felswand sinken ließ, gewann sie jedoch ihr Gleichgewicht schnell wieder. »Sie versucht uns umzubringen!« schrie Morgan. Die Karawane kam zum Stehen, und alle sahen Devon betroffen an. »Alles in Ordnung«, murmelte sie. »Es war mein Fehler.« Aber Morgan hyperventilierte. »Ah! Ah! Ah! Ah!« Bess streckte die Hand aus und schlug ihm ins Gesicht. Morgan zuckte entsetzt zurück. »Wofür war das?« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe es einmal in einem Film gesehen. Hat es funktioniert?« Morgan massierte seine Wange. »Wenn du mir den Kiefer brechen wolltest, ja.« Devon blickte an der Canyonwand hoch. Trotz des stundenlangen, nervenaufreibenden Abstiegs konnte sie den oberen Rand der Schlucht immer noch klar erkennen. Sie waren enttäuschend langsam vorangekommen, und es sah nicht danach aus, daß sich dieses Tempo ändern würde. Die Mannschaft mußte sich also mit der Möglichkeit anfreunden, die Nacht an der Canyonwand zu verbringen und sich dabei an einen schmalen Sims zu klammern. Das bedeutete keinen Schlaf, kalten Wind und eine starke Nervenbelastung - keine Aussicht, der Devon mit Freuden entgegenblickte. Vielleicht hätte sie doch allein mit Danziger oder einer kleineren Gruppe hinabsteigen sollen. Sollte sie jetzt noch einige zurückschicken? Nein, entschied sie, denn wenn sie diesen Canyon nicht überwanden, dann waren sie für die Kolonie so gut wie verloren. Sie brauchte jeden einzelnen von ihnen, selbst Morgan. Und wenn sie ihre Begleiter erst einmal sicher auf den Grund der Schlucht gelotst hatte, würde ihnen sowieso keine andere Wahl bleiben, als auf der anderen Seite wieder hinaufzuklettern. Und dieser Aufstieg würde ihr genügend Zeit lassen, um die Kinder, Alonzo, Yale, Zero und die Fahrzeuge nachzuholen - hoffte sie jedenfalls. »Wie steht's mit den Kräften bei allen?« rief Devon laut. Mehrere winkten ihr müde zu. Ein paar banden sich das Seil fester um die Hüften, doch fast alle lehnten sich an den Fels und hielten
vergebens Ausschau nach einer Stelle, wo sie sich hätten hinsetzen können. »Können wir nächstes Mal ein paar Düsenaggregate mitnehmen?« rief Danziger zurück. Devon kicherte und bedeutete ihnen, ihr weiter zu folgen. Uly richtete sich müde und verwirrt in seinem Schlafsack auf. Er erinnerte sich an einen verrückten Traum, in dem er im Dunkeln auf einem Sims gehangen und geisterhafte Lichtstrahlen und eine herumspringende Gruppe Kobas beobachtet hatte. Dann spürte er ein Stechen an seinen Händen, drehte die Handflächen nach oben und sah Dutzende von kleinen Kratzern und Pusteln. Es war kein Traum gewesen! True war in Gefahr! Er stürmte aus dem Zelt und wurde vom strahlenden Sonnenlicht geblendet. »True! True!« schrie er. »Langsam, langsam, Partner«, sagte eine ruhige Stimme. »True geht es gut.« Uly blinzelte und blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Dort lag Alonzo in seiner Hängematte und schnitzte mit einem Taschenmesser an einem Stück Holz herum. Es war Mittag, die Zelte waren noch aufgebaut, und der TransRover parkte mit abgestelltem Motor. Das alles war sehr außergewöhnlich. Am seltsamsten war jedoch, daß er und Alonzo die einzigen im Lager zu sein schienen. »True ist okay?« fragte er wie betäubt. Alonzo nickte. »Ja, sie ist in ihrem Zelt und schläft. Aber wir wollen sie weiterschlafen lassen, weil sie eine ziemlich böse Beule am Kopf hat.« »Wo sind die anderen?« »Ah«, sagte der Pilot, »Yale und Zero sind mit dem ATV und dem SandRail in entgegengesetzter Richtung am Rand des Canyons unterwegs. Deine Mom und die anderen sind den Pfad hinuntergestiegen, den ihr entdeckt habt.« »Ohne mich?« stieß der Achtjährige hervor.
»He, auch ohne mich«, korrigierte Alonzo ihn mit einem Achselzucken. »Sie haben Freiwillige für die wichtige Aufgabe gesucht, die Fahrzeuge zu bewachen; und da habe ich dich; mich und True gemeldet. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.« Der Junge machte ein zweifelndes Gesicht. »Was ist, wenn wir von Grendlern oder sonst jemandem angegriffen werden?« Alonzo fummelte in seiner Hängematte herum und hielt sein Funkgerät und ein Gewehr hoch. »Wir sind geschützt und haben Funkkontakt zu allen anderen. He, würdest du für mich mal nach True sehen? Weck' sie aber nicht auf, sondern vergewissere dich nur, daß sie regelmäßig atmet. Fühl' ihren Kopf und überzeug' dich davon, daß sie keine Temperatur hat. Du weißt schon, die üblichen Sachen, die Eltern so tun.« Uly brachte ein Lächeln zustande. »Geht klar, okay.« Der Pfad zum Canyongrund schlängelte sich nicht mehr wie eine Serpentinenstraße in den Bergen hin und her, sondern führte seit etwa einer Stunde gerade nach unten, auf beiden Seiten umrahmt von einer atemberaubenden Formation von silberfarbenen Felsspitzen, die wie riesige Stalagmiten wirkten und Devon das Gefühl gaben, durch einen Wald mit steinernen Bäumen zu wandern. Obwohl der Pfad immer noch schmal war, gab es jetzt wenigstens auf beiden Seiten Felsen. Die Gefahr eines Absturzes war dadurch geringer, was allen erlaubte, sich etwas zu entspannen. Devon merkte sich diese Stelle mit dem Hintergedanken, daß sie zu ihr zurückkehren konnten, wenn sie keinen geeigneteren Platz zum Schlafen fanden. Denn sie hatte die Hoffnung, den Grund des Canyons vor Sonnenuntergang zu erreichen, endgültig aufgegeben. Mitten in diesem Wald aus Felsspitzen hörten sie auf einmal ein eigenartiges Geräusch. Zuerst dachte Devon, daß es sich um ein Gewitter handeln würde. Sie stemmte ihre Füße fest gegen den Boden, bevor sie zum Himmel hochblickte. Aber da war keine einzige Wolke zu sehen, zumindest nicht in jenem Fenster zwischen den gewaltigen Felsspitzen, das ihr von hier unten den einzigen Ausblick bot. Morgan
fixierte sie beunruhigt, doch Devon ging ohne einen Kommentar weiter. Das Grollen wurde lauter, und Devon fragte sich, welche Überraschung in diesem Canyon wohl auf sie lauern mochte. Aber durch nichts, was sie in ihrem bisherigen Leben gesehen hatte, war sie auch nur annähernd auf das Spektakel vorbereitet gewesen, das sie begrüßte, als sie um die letzte Felsspitze bog. Eine turmhoch aufragende Mauer aus türkisfarbenem Wasser und Nebel besprühte ihr Gesicht; die Gischt stürzte von irgendeiner unsichtbaren Stelle über ihr zu einer ebenfalls unsichtbaren Stelle in der Tiefe und schien fast so breit zu sein wie der Canyon selbst. Morgan torkelte mit offenem Mund zurück und versuchte irgend etwas zu sagen. »Was?« brüllte Devon. Der Donner war ohrenbetäubend. Abermals versuchte er zu sprechen - um seine Ehrfurcht auszudrücken -, aber es hatte keinen Zweck. Devon bedeutete ihm mit einer Armbewegung, ihr hinter den Wasserfall zu folgen, denn dort führte der Pfad offenbar hin; noch bevor Devon dorthin gelangte, war sie bereits bis auf die Haut durchnäßt, zitterte und atmete durch den weit geöffneten Mund statt durch die Nase. Sie hoffte, daß es dort, wo sie nun hinwollten, nicht zu rutschig sein würde. Nacheinander verschwanden die mutigen Mitglieder der Gruppe hinter einem Gischtvorhang, während sich über ihren Köpfen ein Wasserbogen wölbte. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stieß Devon einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Sie standen in einer Höhle mit richtigen Stalagmiten und Stalaktiten, entstanden durch den kondensierenden Sprühregen, der durch Risse hineingetropft war. Man konnte hinter den Mineralsäulen deutlich den gewaltigen Wasserfall sehen. Er erschien Devon von hier aus wie ein schimmernder Türkisvorhang. Wäre es in der Höhle nicht so feucht und kalt gewesen, hätte sie sich als idealer Ort für das Nachtlager angeboten; so hingegen mußten sie weitergehen, klitschnaß und vor Kälte zitternd.
Als Devon schließlich wieder ins Sonnenlicht hinaustrat, bekam sie einen erneuten Guß ab. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß alle heil und unversehrt waren, führte Devon die Gruppe weiter durch ein Dickicht aus schotenähnlichen Pflanzen, die in dem dichten Sprühnebel wunderbar gediehen. Es dauerte allerdings fast eine halbe Stunde, bis sie wieder normal hören konnte. Uly und True saßen geduldig vor Alonzos Hängematte und sahen zu, wie er auf seine Uhr blickte. Der Pilot war bemüht gewesen, True gemäß Julias Anweisungen im Bett zu halten, aber das Mädchen hatte darauf bestanden, bei ihnen zu sitzen. Da Alonzo selbst oft gegen ärztliche Anordnungen verstieß, hatte er schnell nachgegeben. Außerdem schien es dem Mädchen gut zu gehen, und das war schließlich das Wichtigste. »Ist es schon so weit?« fragte True. »Fast«, erwiderte Alonzo. »Mir bleibt noch eine Minute Zeit.« Er lächelte Uly an. »Und du weißt, wie pünktlich deine Mutter ist.« »Ja ... Aber wo sind Yale und Zero jetzt?« »Ich weiß nicht. Sie wollten soviel Gelände wie möglich erkunden.« Plötzlich knarrte das Funkgerät. »Erkundungstrupp an Basislager«, ertönte eine blecherne Stimme. »Hier Basislager«, antwortete Alonzo. »Ihr Signal ist sehr schwach.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Devon. »Es liegt zwar keine große Entfernung zwischen uns, aber sehr viel Fels. Wie geht's den Kindern?« »Beiden gut.« »Liegt True im Bett?« Das Mädchen lächelte und legte den Finger auf die Lippen. Alonzo lächelte zurück. »Natürlich. Obgleich sie wach war und sich gut zu fühlen schien.« »Yale und Zero?«
»Sie sind mit dem ATV und dem SandRail in entgegengesetzte Richtungen gefahren. Mittags haben sie sich gemeldet. Nichts Erwähnenswertes. Wie sieht's bei Ihnen aus?« »Wir trocknen«, antwortete Devon. »Trocknen?« Sie seufzte. »Wir hatten eine Begegnung mit einem Wasserfall. Ziemlich beeindruckend. Ich könnte Ihnen nicht sagen, wie weit wir im Canyon nach unten gekommen sind, aber es hat keine Unfälle gegeben, abgesehen von ein paar Kratzern und angestoßenen Zehen. Wenn Sie die Kinder sehen, dann sagen Sie ihnen, daß sie einen großartigen Pfad entdeckt haben.« Alonzo nickte, und beide Kinder strahlten vor Stolz. »True und Uly haben mich gefragt, wann Sie zurückkommen, um sie zu holen.« »Nun«, antwortete Devon, »der Plan sieht vor, daß wir zunächst auf dem Grund ein Lager aufschlagen. Während die anderen einen Weg suchen, der auf der entgegengesetzten Seite nach oben führt, werden Danziger und ich wahrscheinlich zurückkommen, um sie zu holen.« Alonzo schluckte angestrengt, denn die nächste Frage stellte er äußerst ungern. »Gibt es eine Möglichkeit, mich nach unten zu befördern?« »Sie genießen erste Priorität«, antwortete Devon diplomatisch. Der Pilot beschloß, nicht auf eine klarere Antwort zu drängen. »In Ordnung. Also, ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen aussieht, aber wir haben es jedenfalls trocken und bequem.« »Wir setzen uns um zwanzig Uhr wieder mit Ihnen in Verbindung«, sagte Devon. »Bis dahin sollten wir einen Lagerplatz gefunden haben. Geben Sie den Kindern in unserem Namen einen Gutenachtkuß.« »Mache ich. Ende.« »Ende.« Alonzo schob die Antenne zurück in das Funkgerät, sah True und Uly an und zuckte die Achseln.
True runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, daß sie einen Weg finden werden, um Sie auch nach unten zu bringen.« »Vielleicht«, sagte Alonzo. Dann zeigte er mit dem Daumen auf den großen TransRover. »Und was ist mit diesem Ding? Ich sehe schon kommen, daß ich allein mit dem Transy rund um den Planeten kutschiere.« »Wir gehen mit Ihnen«, schwor Uly mit ernsthafter Miene. Alonzo kicherte. »Vielen Dank, mein Junge. Ihr wärt eine angenehme Gesellschaft, ich weiß das zu würdigen. Ich frage mich nur, was Yale und Zero so lange da draußen am Canyonrand tun.« In genau diesem Augenblick stützte Yale die Arme auf das Steuerrad des ATV und blickte von einer steilen Klippe in den gewaltigen Abgrund hinunter. Der alte Cyborg hatte die festgelegte Distanz zurückgelegt und wußte, daß es allmählich Zeit wurde, zum Lager zurückzukehren, aber er verspürte tiefe Enttäuschung. Ihm war klar, daß es in diesem Bereich des Canyons keinen Weg nach unten gab, es sei denn, man war ein Koba, ein Mensch oder eine Bergziege. In Fahrzeugen nach unten zu gelangen war indes absolut unmöglich. Yale führte sich immer wieder vor Augen, daß dieser Canyon irgendwo enden mußte: Aber das konnte schlimmstenfalls in einer Entfernung von Tausenden von Kilometern sein. Der Cyborg stieg aus dem ATV, ging ganz nahe an den Rand des Canyons heran und sagte sich, daß er mit Sicherheit die falsche Richtung eingeschlagen hatte. So blieb wenigstens die Hoffnung, daß Zero bei seiner Erkundungsfahrt mehr Glück gehabt hatte. Hier ging es jedenfalls seit mindestens drei Kilometern überall steil in die Tiefe, nicht einmal ein einzelner Zweig würde einen Fall abbremsen. Wegen der äußerst starken Erosion war der Grund des Canyons auf diesem Abschnitt sehr breit, und es sah so aus, als ob es auf beiden Seiten des Flusses einen lieblichen weißen Sandstrand geben würde. Aber was haben wir schon davon? dachte Yale düster. Plötzlich hörte er ein Krächzen, und als er in die Ferne blickte, sah er einen Vogel, der träge auf den warmen Luftströmungen oberhalb des Canyons dahintrieb. Ein Vogel war wohl das einzige Lebewesen,
das problemlos auf den Canyongrund gelangen konnte vorausgesetzt, es würde dort einen Platz zum Landen finden. Für Sekundenbruchteile verfolgte der Cyborg einen verrückten Gedanken, den er allerdings gleich wieder verwarf. Denn letzten Endes waren sie ja keine Vögel. Und so stieg er mit einem Seufzer wieder in sein Fahrzeug, ließ den Motor an und wendete. Devons Muskeln schmerzten fürchterlich, als sie endlich die höchste Stelle des Plateaus erreichte. Aus einem unbestimmten Gefühl heraus hatte sie die anderen auf dem Pfad zurückgelassen und war etwa zwei Meter an der Felswand hochgeklettert; dann hatte sie dieses Plateau erreicht und war begeistert von ihrer Entdeckung. Es war nicht völlig eben, bot keinen besonderen Schutz und maß nur ungefähr dreißig Quadratmeter. Dennoch kam es ihr vor wie ein Geschenk des Himmels. Devon blickte hinunter auf Morgan, der aussah, als würde er gleich einen Herzanfall bekommen. Seine Brust bebte, seine Beine waren wie Pudding, seine Augen glasig; außerdem war er völlig in Schweiß gebadet. Die anderen sahen auch nicht viel besser aus. Danziger hätte vielleicht noch hundert Meter weiterklettern können, aber das wäre es dann auch gewesen. Es würde vermutlich noch ein paar Stunden hell sein, aber Devon wußte, daß die Schatten hier unten im Canyon schnell länger werden würden, wenn die Sonne hinter den Rand zurücktrat. Und wenn das geschah, wollte sie nicht auf einem schmalen Sims festsitzen. »Das ist es!« rief sie nach unten. »Wir lagern hier!« Ein müder Jubelchor hallte nach oben, und Devon fuhr fort: »Danziger, lösen Sie Ihr Seil und klettern Sie nach oben. Die anderen bleiben angeseilt und klettern einer nach dem anderen hoch; wir sind Ihnen dabei behilflich.« Als der hochgewachsene Danziger oben bei ihr ankam, sah er sich um und lächelte. »Kein Brennholz, nasse Kleider, nichts, das uns vor der Kälte schützt - ich würde sagen, daß wir heute nacht viel kuscheln müssen.«
Devon funkelte ihn an. »Vielleicht, aber nur wegen der Wärme. Vergessen Sie das nicht.« Er nickte, schien sich aber immer noch köstlich zu amüsieren - für Devons Geschmack ein bißchen zu köstlich. »Holen wir sie hoch«, befahl sie. Yale und Zero trafen wieder im Basislager ein, als die Sonne gerade unterging. Während sie Alonzo ähnlich lautende Berichte gaben, verdüsterte sich dessen Stimmung merklich. »Nirgendwo ein Übergang«, sagte Yale kurz und schmerzlos. »Darauf läuft es hinaus«, fügte Zero hinzu. »Es kann nicht schlimmer sein, als es hier ist«, bemerkte Alonzo und deutete auf den Rand des Canyons. »Oh, das kann es sehr wohl«, widersprach Yale. »Ich begreife jetzt, warum die Kobas den Anfang ihres Pfads an diese Stelle gelegt haben. Es ist der zugänglichste Ort, den ich gesehen habe. Auf einer Strecke von fünf Kilometern ist mir ansonsten nur steiler Fels begegnet. Nicht einmal ein Vorsprung oder ein Torbogen - alles nur steil wie die Wände eines Wolkenkratzers.« »Verstehe«, murmelte Alonzo enttäuscht. »In der anderen Richtung«, berichtete Zero, »gibt es nicht nur keinen Weg, um nach unten zu gelangen, sondern der Boden am Rand ist auch gefährlich und gibt leicht nach. Man kann dort nicht einmal parken.« »Großartig«, stöhnte Alonzo. Der Pilot ließ sich in seine Hängematte zurücksinken und wurde sich dann plötzlich bewußt, daß die anderen ihn anstarrten und warteten. Niemand hatte ihn zum Anführer dieser Jammertruppe bestimmt, aber angesichts zweier Kinder, eines Roboters und eines antiquierten Cyborg mußte wohl tatsächlich der Krüppel das Kommando übernehmen. Er richtete sich wieder auf und bemühte sich, so gefaßt zu wirken, wie das einem Mann in seiner Lage nur möglich war. »In Ordnung, ich sage euch, was ich weiß. Sobald die anderen den Grund des Canyons erreicht haben, kommen Trues und Ulys Eltern zurück, um sie zu holen.« Dann deutete er auf die Fahrzeuge, die im Kreis um sie
herumstanden. »Wir brauchen drei Fahrer. Also, meine Herren ...«, er sah Yale und Zero mit gerunzelter Stirn an,»... wir kommen wohl nicht an der Tatsache vorbei, daß wir drei diese Fahrzeuge so lange fahren müssen, bis ein Übergang gefunden ist. Wir sollten einfach der Strömung folgen und darauf bauen, daß sich der Fluß irgendwann zu einem Delta teilt.« Er zeigte mit dem Daumen auf den TransRover. »Da der TransRover weitaus wertvoller ist als die anderen beiden, wollen wir ihn nicht aufgeben. Für den ATV und den SandRail finden wir vielleicht einen Weg nach drüben, aber ich werde ungeachtet dessen beim TransRover bleiben.« »Ungeachtet wessen?« fragte True. »Ungeachtet dieses blöden Beins!« schnauzte Alonzo. Er bedauerte seine Grobheit sofort und lächelte das Mädchen an. »Weißt du, True, mein Bein geht mir furchtbar auf die Nerven, aber eigentlich kann ich mich nicht allzusehr beklagen. Wußtest du, daß ich weitaus älter bin als Yale und nur wegen dieser vielen interstellaren Sprünge, die ich im Kälteschlaf hinter mich gebracht habe, jünger wirke? Ich habe eine Menge Raumjockeys gekannt, die nie wieder aufgewacht oder als Sternenstaub geendet sind.« Der gutaussehende Pilot hielt True seine Hand hin, und das Mädchen nahm sie. »Was ich sagen will, ist, daß ich in meinem Leben viel Glück gehabt habe. Ganz besonders in der Liebe. Ich schätze, es mußte irgendwann einmal dazu kommen, daß mich das Pech einholt. Du brauchst mich also nicht zu bedauern - ich werde tun, was getan werden muß.« »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Yale, »aber es ist nicht möglich, daß sie den TransRover allein schützen können. Sobald Sie einschlafen, werden sich die Grendler oder sonst jemand an ihn heranmachen. Ich werde freiwillig mit Ihnen kommen.« »Ich auch, Sir!« rief Zero. »Ich auch!« brüllte Uly mit einem Kloß im Hals und stürmte nach vorne, um Alonzo zu umarmen. »Ich auch!« rief True und schlang ihre Arme um seinen Hals.
Alonzo drückte die beiden Kinder an sich und spürte, daß sich in seinen Augen Tränen sammelten. »Ich könnte mir vorstellen, daß eure Eltern dazu etwas zu sagen haben, aber ich weiß das Angebot zu schätzen, wirklich. Ich werde euch alle vermissen.« Während der Pilot die beiden Kinder umarmte, gab Yale Zero einen Klaps auf die Brust: »Gehen wir Brennholz sammeln, ja?« Devon Adair war sich sicher, daß sie bei irgendeiner anderen Begebenheit in ihrem Leben schon mal mehr gefroren haben mußte, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann das gewesen war. Die Nacht fiel wie kalter Regen auf das winzige Plateau inmitten des Canyons, und der Wind heulte wie eine furchtbare Todesfee. Sie hatten hauptsächlich Nahrung und Wasser in ihre leichtgewichtigen Rucksäcke gepackt, dazu ein paar dünne Decken. Im Laufe der Nacht kam bei vielen der Wunsch auf, lieber einen warmen Schlafsack als einen vollen Magen zu haben. Aber selbst wenn sie Schlafsäcke dabeigehabt hätten, wäre auf dem winzigen Plateau nicht genug Platz gewesen, um sich richtig auszustrecken. Devon fühlte sich besser, nachdem sie das Basislager am Rand des Canyons gerufen und gehört hatte, daß dort alles in Ordnung war. Einmal mehr fragte sie sich, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, schon beim ersten Versuch eine so große Gruppe nach unten zu führen. Aber welchen Unterschied hätte das gemacht? Auch bei einem späteren Trip hätten sie nicht mehr Ausrüstungsgegenstände mitnehmen können, es wäre nachts nicht wärmer gewesen, und die Höhle hinter dem Wasserfall wäre so oder so das einzige Schutzdach geblieben. Sieh es, wie es ist, sagte sich Devon, dieser Abstieg war eine Strapaze, sollte ja aber auch kein Vergnügungsausflug sein. Sie taten all dies für Hunderte von kranken Kindern, und Ulys bemerkenswerte Genesung hatte bewiesen, daß sie auf dem richtigen Weg waren. Kein Kampf; kein Fortschritt - so lautete seit jeher ihre Devise. Sie konnte jedes Ziel erreichen, das sie sich setzte, also würde sie auch diese Nacht durchstehen. Aber verdammt noch mal, es war schon scheußlich kalt!
»Rücken Sie näher zusammen«, sagte Danziger zu den anderen. »Kommen Sie schon, drängen Sie sich eng aneinander, bewahren Sie Ihre Körperwärme - sie ist alles, was wir haben. Das Zusammenrücken hält Sie auch vom Rand des Plateaus fern. Sie können Ihren Kopf auf die Schulter von jemand anderem betten. Kommen Sie, rücken Sie zusammen.« Bess und Morgan hatten dieser Aufforderung bereits vorgegriffen, und sie bekamen schnell Gesellschaft von Julia, Baines und den anderen. Ein paar Sekunden später saß nur noch Devon abseits - eine Insel auf einer Insel. Danziger kauerte sich ebenfalls in dem Menschenhaufen nieder und blickte erwartungsvoll zu Devon hinüber. Doch die rührte sich nicht. Schließlich streckte er seinen Arm aus und lächelte sie an. Dieses Lächeln allein reichte aus, um Devon milde zu stimmen; rasch huschte sie zu ihm hinüber, um sich unter seinen muskulösen Arm und an seine Brust zu schmiegen. Allerdings wollte sie ihn dabei nicht ansehen und ihm sagen, wie gut es sich anfühlte. Doch er mußte es gespürt haben. Jedenfalls drückte er sie enger an sich, so daß die Kälte und die Schmerzen allmählich aus ihrem Körper schwanden. Es lag ziemlich lange zurück, daß ein Mann sie zuletzt so umarmt hatte, und Devon mußte sich eingestehen, daß das eigentlich ein beunruhigend angenehmes Gefühl war. Danziger war nur ein Mechaniker, sagte sie sich im stillen, und es war purer Zufall, daß er jetzt eine so große Rolle in ihrem Leben spielte. Aber in dieser Nacht fühlte sich seine Umarmung wie das Leben selbst an. Morgen würde sie ihm allerdings schon zeigen, wo sein Platz war. Morgen. In den Kokon seiner Arme eingehüllt, trieb Devon dem Schlaf entgegen. Alonzo und True schliefen ebenfalls tief und fest und befolgten so ausnahmsweise einmal Julia Hellers Anweisungen. Yale und Uly saßen schweigend am Lagerfeuer, warfen kleine Zweige in die Flammen und sahen zu, wie die Funken in die Höhe schössen.
Zero war irgendwo draußen in der Dunkelheit und drehte seine einsamen nächtlichen Runden, obwohl Yale einige Zweifel an den Wächterqualitäten des Roboters hatte. Zero schlief nie, was ein Plus war, aber er war in keiner Weise als Kampfroboter zu betrachten. Seine Nachtsicht war nur durchschnittlich und umfaßte nicht einmal den Infrarotbereich. Und auch sein Hörvermögen war begrenzt, es beschränkte sich überwiegend darauf, menschliche Befehle zu interpretieren. Er verfügte weder über einen Geruchssinn noch über irgendwelche Spezialsensoren. Mit anderen Worten: Ein Schäferhund wäre weitaus besser gewesen. Yale wußte nicht warum, aber er hatte in dieser Nacht ein unbehagliches Gefühl. Dies war einer der Grunde dafür, daß er Uly nicht genötigt hatte, in seinen Schlafsack zu kriechen. Außerdem war er gerne in Gesellschaft des Jungen. Ohne Zweifel war Uly immer noch enttäuscht, weil Yale und Zero keinen Weg gefunden hatten, um die Fahrzeuge auf den Grund des Canyons zu schaffen. Aber trotz Alonzos Schmerz darüber, daß er zurückbleiben mußte, gab es keine Alternative zu dem Plan, den er umrissen hatte: Sie würden mit den Fahrzeugen ganz einfach weiterfahren müssen, bis sich der Canyon in einen überquerbaren Graben verwandelte. Yale drehte den Kopf zur Seite und stellte fest, daß Uly ihn ansah. »Du wirkst besorgt«, sagte der Junge. »Nur nachdenklich«, antwortete der Cyborg. »Der Gedanke, daß wir unsere Gruppe aufsplitten müssen, gefällt mir nicht, aber ich sehe keine Alternative, die ich vorschlagen könnte. Nun, es gäbe eine ...« »Welche?« fragte der Junge begierig. Der alte Cyborg lächelte und schüttelte den Kopf. »Wenn ich vorschlagen würde, was ich denke, käme deine Mutter auf die Idee, meinen Kopf ersetzen zu lassen, vermutlich durch Zeros.« Der Achtjährige lachte melodisch auf. »Du würdest damit sehr lustig aussehen.« Yale legte die Hand auf Ulys schmale Schulter. »Komm jetzt, ich habe dich weit über deine Schlafenszeit aufbleiben lassen.«
»Nein«, protestierte der Junge, »ich habe den ganzen Morgen geschlafen! Bitte, ich sitze so gerne am Feuer.« »Dadurch bist du vergangene Nacht in Schwierigkeiten geraten«, erinnerte ihn Yale. »Ich verspreche, heute Nacht keine Kobas zu jagen. Bitte, laß mich noch ein bißchen aufbleiben. Wir haben seit langer Zeit nicht mehr gelernt - wie wäre es mit einer Geschichtsstunde?« Clever, dachte Yale, genau wie deine Mutter. Wenn du in einer Diskussion unterliegst, dann verwickle deinen Widersacher in eine andere Diskussion - in eine, die du gewinnen kannst. »In Ordnung«, sagte der Cyborg. »Laß mich vom Feuer aufstehen, damit du besser sehen kannst.« Yale erhob sich und wandte dem Feuer den Rücken zu. Während Uly aufmerksam zusah, projizierte der Cyborg ein Stück vor seiner Brust ein holographisches Bild - das eines Canyons, nicht ganz so tief wie der vor ihnen, aber vielfältiger und komplexer, mit kleineren Canyons, die in ihn mündeten. Oberhalb des Canyons waren Soldaten in seltsamen Metalluniformen zu sehen, die mit Federbüschen geschmückte Helme und Lanzen trugen. Ein Mann hatte eine braune Robe an und einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, ein anderer saß auf einem haarigen, vierbeinigen Tier. »Das ist keine Geschichte«, sagte der Junge, »das ist unser Canyon. Aber wer sind diese seltsamen Wesen? Fremde?« »Das ist nicht unser Canyon, sondern der Grand Canyon Nordamerikas«, antwortete Yale. »Wir schreiben das Jahr 1540, fünfhundert Jahre bevor ihn Bergwerksgesellschaften bearbeitet haben. Spanische Konquistadoren und Missionare, geführt von Garcia Lopez de Cardenas, waren die ersten Europäer, die den Grand Canyon sahen. Sie waren die Fremden, so wie wir hier die Fremden sind. Das dürfen wir nie vergessen, Uly. Obwohl Cardenas berichtete, daß er den Canyon >entdeckt< hatte, lebten eingeborene Amerikaner schon seit tausend Jahren in ihm.« »Glaubst du, daß irgend jemand auf dem Grund unseres Canyons lebt?« fragte Uly eifrig.
»Es würde mich nicht überraschen«, antwortete Yale. »Wir wissen bereits, daß Kobas in dem Canyon herumtollen. Durchaus möglich, daß sie dort unten eine blühende Kolonie gegründet haben. Wir dürfen nie den Fehler machen, den Cardenas gemacht hat: Wir haben Kenntnis von diesem Canyon bekommen, ihn aber nicht entdeckt. Ungeachtet dessen, was Mr. Martin geltend machen möchte, können wir hier keine Besitzansprüche anmelden. Zumindest gehört dieser Canyon den Kobas, die als erste hier waren.« Uly sah verwirrt aus. »Aber was ist falsch daran, wenn Mr. Martin Schürfrechte und solche Sachen geltend macht?« Yale schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt ein weises Sprichwort: >Diejenigen, die die Geschichte ignorieren, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.< Auf diese Weise sind die natürlichen Ressourcen und die Eingeborenen der Erde ausgebeutet worden, was sich letzten Endes als erster Schritt zu einem riesigen Desaster herausgestellt hat. Glaub' mir, ich würde es begrüßen, auch Mr, Martin eine Geschichtsvorlesung halten zu können.« Plötzlich hörten sie ein schrilles Pfeifen. Yale schaltete die Projektion ab und wirbelte herum. Nichts erschien ungewöhnlich: Die drei Fahrzeuge standen wie starre Skulpturen in der rauhen Landschaft, das Lagerfeuer glühte, und Alonzo schlief friedlich in seiner Hängematte. Bis auf zwei waren alle Zelte zusammengepackt worden, und in dem einen schlief True. Dennoch fühlte sich der Cyborg unbehaglich, so wie schon den ganzen Abend über. Hinzu kam, daß ein beißender Geruch in der Luft lag. »Grrr, grrr«, knurrte irgend etwas, und eine bizarre Erscheinung stürmte zwischen den Bäumen hervor. Es war Zero, und an seinem Rücken hingen drei krötenartige Kreaturen! Eine von ihnen versuchte, ihm den Kopf abzureißen! Ein Trupp der unheimlichen, hochgewachsenen Reptilien hüpfte aus dem Wald und kam geradewegs auf die Fahrzeuge zu. »Grendler!« kreischte Uly.
5
Als die Grendler das Lager überrannten, riß Yale Uly hoch und rannte auf Trues Zelt zu. Er kam eine Sekunde vor den Grendlern dort an und zerrte True aus ihrem Schlafsack, während sich die Diebe mit dem Schlafsack, dem Zelt und den Stützpfosten davonmachten. Ein Grendler-Angriff war weniger ein Angriff als vielmehr ein dreister Raubüberfall. Den häßlichen Kreaturen fehlte der Mut zum Kämpfen sie versuchten lediglich, alles zu ergreifen, was sie fanden, und damit so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Vier von ihnen hatten tatsächlich die Stoßstangen des ATV gepackt und zogen ihn weg. Alonzo fuhr in seiner Hängematte kerzengerade hoch, legte das Gewehr an und feuerte einen Schuß in ihre Richtung ab. Er traf nicht, aber die Räuber ließen den ATV los und galoppierten kreischend davon. Zero torkelte immer noch mit den drei Angreifern auf dem Rücken durch die Gegend, doch Alonzo konnte keinen gezielten Schuß abfeuern. »Halte durch!« brüllte Yale. Er rannte zu dem TransRover hinüber und hob die Kinder auf das Fahrzeug. »Klettert nach oben!« wies er sie an. True und Uly krabbelten wie verängstigte Kobas an dem Wagen hoch. Zero stolperte weiterhin herum, geplagt von einem Gewirr mißgestalteter Glieder, die an ihm klebten und versuchten, ihm den Kopf abzureißen. »Das Feuer!« brüllte Yale. Der Roboter nickte und warf sich voller Verzweiflung kopfüber ins Lagerfeuer. Sogleich quiekten die Grendler entsetzt auf und flohen aus den Flammen. Da ihre zerlumpten Umhänge brannten, sah es so aus, als würde eine Bande kleiner Feuerbälle wild im Staub umhertanzen. Aber da waren noch Dutzende anderer Angreifer, die Zelte, Vorräte und alles, was nicht festgenagelt war, wegschleppten. Eine Handvoll von ihnen wollte sich auch an die Kinder heranmachen, aber Alonzo vertrieb sie mit einem weiteren Gewehrschuß. Dennoch standen sie
auf verlorenem Posten, erkannte Yale. Der Überraschungsangriff war gut geplant, und sie befanden sich hoffnungslos in der Unterzahl. Der Cyborg zog Zero aus dem Feuer und half ihm auf die Füße. Da sein Kopf schon halb abgerissen war, entfernte Yale ihn ganz und rannte damit zum ATV. Einige Grendler waren gerade dabei, das Fahrzeug auszuschlachten, aber Yale und der kopflose Roboter schlugen sie mit den Fäusten zurück. Die Grendler liefen heulend weg. Yale war schließlich in der Lage, Zeros Kopf im ATV zu installieren, und der Rumpf des Roboters sprang auf den Sitz hinter seinem Kopf. »Fahr drei Kilometer nach Osten und bleib da stehen«, befahl Yale. »Ja, Sir!« Zero ließ den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und röhrte davon. Ein unglücklicher Grendler quietschte auf, als ihn die Räder überrollten. Yale stürmte zurück zum TransRover, während ihm ein halbes Dutzend Angreifer hinterherhüpfte. Alonzos Gewehrsalven reichten aus, sie zurückweichen zu lassen, aber sie entfernten sich nicht weit. Yale konnte ihre gelblichen Augen erkennen, die am Rande des Waldes im Dunkeln glühten. Sie warteten und sammelten sich wieder, dachten gar nicht daran, aufzugeben und zu verschwinden. Während einer Atempause hob der Cyborg Alonzo aus der Hängematte und trug ihn zu dem SandRail hinüber. Er gab ihm die gleiche Anweisung, die er auch Zero gegeben hatte: »Drei Kilometer in Richtung Osten.« »Verstanden!« sagte der Pilot und grüßte militärisch. Er schaltete Motor und Lichter ein und rumpelte davon, verfolgt von einer Bande galoppierender Grendler. Nachdem der Mann mit dem Gewehr verschwunden war, kamen die Grendler massenweise zurück. Yale hatte gerade noch Zeit, ins Cockpit zu springen und den TransRover in Gang zu bringen. Er wollte nach den Kindern sehen, aber ihm blieb nicht einmal genügend Zeit, um auch nur einen Blick auf sie zu werfen. »Haltet euch fest!« schrie er so laut, wie er nur konnte. »Keine Sorge!« schrie True zurück. »Auf geht's!«
Das Pfeifen und Quieken war beinahe überwältigend, als die Grendler über das Lager herfielen und alles an sich rafften, was noch zurückgeblieben war. Yale warf einen Blick über die Schulter und konnte aus der Ferne die chaotische Freudenfeier der Räuber beobachten. Wenigstens setzten sie den Fahrzeugen nicht nach - noch nicht. Der Cyborg ließ sich auf dem Sitz zurücksinken und überlegte, ob er Devon und ihrer Gruppe unten im Canyon von diesem unwürdigen Rückzug berichten sollte. Aber es war mitten in der Nacht, und es gab absolut nichts, was die eine Gruppe für die andere tun konnte. Unter keinen Umständen wollte er, daß Devon in der Dunkelheit zum Lager zurückgestürmt kam und es von den Grendlern überrannt vorfand. Am besten war es, wenn sich alle um ihre eigenen Probleme kümmerten, entschied er schließlich. Er machte kurz halt, um sich zu vergewissern, daß die Kinder sicher im TransRover untergebracht waren. Dann fuhr er vorsichtig die drei Kilometer bis zum Treffpunkt weiter. Zero und Alonzo warteten in ihren Fahrzeugen schon auf ihn. Alonzo wirkte äußerst grimmig, seine Fingerknöchel traten beim Umklammern des Gewehrschafts weiß hervor. Zeros Kopf war nicht fähig, Emotionen zu zeigen, aber der Rumpf des Roboters hing schlaff auf dem Sitz - eine unmißverständliche Körpersprache. Die Grendler hatten herausgefunden, daß diese kleine Nachhut ohne nennenswerten Schutz war - und sie würden zurückkommen! Wieder und wieder! »Das war knapp«, murmelte Alonzo. »Hat irgend jemand eine Idee?« »Ich nicht«, sagte Zeros Kopf. »Nun«, räumte Yale ein, »ich habe eine Idee, aber es ist eine sehr dumme Idee.« »Dumme Ideen sind besser als gar keine«, erwiderte Alonzo. »Spucken Sie's also aus.« Yale kletterte aus dem Cockpit heraus und konnte erkennen, daß True und Uly von der Ladefläche des TransRover gespannt zu ihm herabblickten. Alonzo und Zero starrten ihn ebenfalls interessiert an.
»Ich würde zuerst gerne eine Geschichtslektion vorführen«, sagte der Cyborg. Alonzo machte ein zweifelndes Gesicht. »Gibt es etwas in der Geschichte, das uns helfen kann?« Yale nickte. »Sie könnten es instruktiv finden.« »Er ist ein guter Lehrer!« warf Uly piepsend ein. »Schön«, brummte Alonzo, »halten Sie ihre Vorlesung.« Zum zweiten Mal in dieser Nacht aktivierte Yale seinen Hologrammprojektor und zeigte ihnen in unscharfen Schwarzweißbildern einige Kriegsszenen. »Das ist sehr unterhaltsam«, sagte Alonzo. »Wollen Sie vorschlagen, daß wir irgendwo ein paar Panzer auftreiben und die Grendler in die Luft jagen sollen?« »Eigentlich nicht«, entgegnete Yale. »Hier ist der Teil, den Sie sehen sollten.« Nun projizierte er Szenen mit Soldaten, die aus primitiven Propellerflugzeugen heraussprangen. Ihre kleinen, weißen Fallschirme entfalteten sich wie Blüten in einer Zeitlupenaufnahme und schwebten sicher dem Boden entgegen. Aber in den Szenen kamen nicht nur menschliche Fallschirmspringer vor, sondern auch Jeeps, Kettenfahrzeuge, Kisten und andere Objekte wurden aus den Flugzeugen gestoßen und schwebten wie an Spinnfäden hängend zum Boden. »In den Bodenkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts«, erklärte Yale, »war es allgemein üblich, Militärfahrzeuge mit Fallschirmen in Gefechtszonen abzusetzen. Ich meine nur, daß Sie meine Idee vielleicht doch nicht so dumm finden, wenn Sie gesehen haben, wie es gemacht wird.« Alonzos Augen weiteten sich vor Verblüffung. »Sie wollen die Fahrzeuge in den Abgrund hinablassen - mit Fallschirmen daran?« Yale schaltete das Hologramm ab und legte die Stirn in Falten. »Wollen ist nicht der richtige Ausdruck. Ich habe nicht das brennende Verlangen, in einen Abgrund zu schweben. Ich sage nur, daß man es machen könnte. Der TransRover ist für Notbremsungen hinten bereits
mit einem Fallschirm ausgestattet, und wir könnten die überschüssigen Nylonzelte mit molekularem Bindematerial zusammenkleben. Mit den Zusatzgurten könnten wir Fallschirme für die kleineren Fahrzeuge herstellen.« »Ja, aber ...«, Alonzo deutete auf die gewaltige Schlucht vor ihnen. »Ich habe diese Gegend heute erkundet«, sagte Yale. »Im Canyon gibt es keine Hindernisse. Soweit ich es beurteilen kann, befindet sich auf dem Grund des Canyons ein breiter Sandstrand. Natürlich bestehen Gefahren, vor allem, daß sich unser Fallschirm nicht öffnet oder wir im Wasser landen. Aber eine Landung im Wasser muß nicht unbedingt fatal sein - ein Versagen des Fallschirms schon eher.« Alonzo rieb sich sein kantiges Kinn und dachte über den Plan nach. »Es ist eine dumme Idee, keine Frage, aber es ist zugleich die einzige Idee, die wir überhaupt haben. Wir sind zu wenige, um Hunderte von Kilometern vor den Grendler zu fliehen. Wenn sie wieder auf uns losgehen, sollten wir soweit vorbereitet sein, daß wir es darauf ankommen lassen können. Was müssen wir tun?« »Was den TransRover angeht«, erläuterte Yale, »müssen wir nur eine Methode finden, um den Fahrer und die Passagiere zu sichern. Der rückwärtige Fallschirm kann manuell bedient werden, so daß der Fahrer einfach von der Klippe fahren und den Fallschirm öffnen muß, als ob die Bremsen versagt hätten.« Er nahm die Fahrzeuge in Augenschein. »Mit den Gurten und den Extrazelten können wir für die kleinen Fahrzeuge eine Art Fallschirm fabrizieren. Um nichts zu riskieren, sollten sie vielleicht unbemannt über die Klippe gehen. Ich glaube, wir werden alle Platz im TransRover finden. Außerdem muß Alonzo auf jeden Fall im TransRover untergebracht werden, um die Gefahr einer erneuten Verletzung seines Beins zu verringern.« Alonzo bedachte ihn mit einem Hol's-der-Teufel-Lächeln. »Machen Sie sich über mich keine Gedanken - so einen Trip, wie Sie ihn geschildert haben, möchte ich unter gar keinen Umständen versäumen! Die Frage ist nur, ob wir den Eltern der Kinder Bescheid sagen.«
»Nein!« protestierten True und Uly wie aus einem Munde. Sie sahen sich an und grinsten. »Ich glaube nicht, daß es ihre Eltern gerne sehen würden, wenn sie gefangengenommen werden«, fügte Yale hinzu. Alonzo blickte mit zusammengekniffenen Augen am dunklen Rand des Canyons entlang und entsicherte sein Gewehr. »In Ordnung«, sagte er, »ich halte Wache, während ihr damit anfangt, diese Fallschirme herzustellen.« True und Uly verbrachten den größten Teil der Nacht angeschnallt auf den Sitzen des TransRover und sahen Yale und Zero dabei zu, wie sie im Lampenschein vier kleine Zelte zusammenklebten, um einen großen Fallschirm herzustellen. Sie taten dies zweimal, um sowohl den SandRail als auch den ATV versorgen zu können. Alonzos Anweisungen folgend befestigten sie die aus den Rettungskapseln geborgenen Zusatzgurte an den Zeltösen und montierten die provisorischen Fallschirme dann an die beiden Fahrzeuge. Es waren keine Fallschirme, denen man sein Leben anvertrauen würde, aber das tat ja auch niemand, es sei denn, man betrachtete Zero als lebendes Wesen. Danach war Alonzo an der Reihe. Der verletzte Pilot wurde im hinteren Teil des TransRover festgeschnallt, den Blick nach hinten gerichtet. Von dort aus konnte er nicht sehen, wohin die Fahrt ging, aber er würde einen tollen Blick auf den sich öffnenden Fallschirm haben. True verdrehte den Hals, um zusehen zu können, wie Yale die Gurte und Seile um Alonzos Körper schlang. »Auf diese Weise«, erklärte Yale, »wird Ihr Rücken den Aufprall abfedern und nicht Ihre Beine.« »Hört sich gut an«, meinte Alonzo grinsend. Dann hob er sein Gewehr. »Und wenn sie uns angreifen, kann ich von hier aus ein paar Schüsse abfeuern. True und Uly, wie geht's euch beiden?« »Prima!« brüllten die Kinder. Wie Alonzo waren auch sie festgeschnallt, jedoch in der Mitte des Fahrzeugs. Beide waren durch Schlaf sacke gründlich abgefedert, aber True rechnete sich aus, daß sie
trotzdem Gelegenheit haben würden, den freien Fall gut zu beobachten. Zeros Kopf war vorne im SandRail installiert, doch den Rumpf des Roboters hatte man mit dem Bauch nach unten auf dem TransRover festgeschnallt wie einen Stapel Bauholz. Yale zog den selbstgebastelten Fallschirm über den Rahmen von Zeros SandRail, denn der Kopf des Roboters sollte das Versuchskaninchen sein: Er würde zuerst über die Klippe gehen, wenn die Grendler angriffen. Sollte er es schaffen, würden sich auch die anderen in den Abgrund stürzen. Der ATV stand in der Mitte zwischen Zeros SandRail und dem TransRover. Er sah aus wie eine klobige Couch, über die man eine Decke geworfen hatte. Der Plan sah vor, daß Yale ihn starten und unbemannt in den Abgrund schicken sollte. Dann würde er wie der Teufel zum TransRover rennen, ins Cockpit springen und auch dieses Fahrzeug über die Klippe steuern. Zufrieden, alle sicher in den Fahrzeugen untergebracht zu haben, winkte Yale den Passagieren im TransRover zu. Dann ging er zum ATV hinüber. »Hast du Angst?« flüsterte Uly True zu. »Ja«, gestand sie. »Ich habe Angst, daß ich auf die Toilette muß.« »Sonst hast du vor nichts Angst?« True schüttelte mit ernstem Gesicht den Kopf. »Doch, ich habe Angst, daß ich meinen Dad nie wiedersehe. Und du?« Uly nickte, seine Unterlippe zitterte leicht. »Vielleicht ist das hier doch keine so gute Idee.« »Wir warten alle auf eine bessere«, antwortete True. Als Uly nichts sagte, fügte das Mädchen hinzu: »Ich frage mich auch, ob ich meinen Koba jemals wiedersehe.« »Ich bin sicher, daß er okay ist«, versuchte Uly sie zu beruhigen. »Er hat uns beiden das Leben gerettet, als er letzte Nacht die Lampe zu mir zurückbrachte, weißt du.« True strahlte vor Stolz. »Ja, er ist ein liebes Tier.« Sie blickte zum Himmel empor und sah, wie die ersten Schimmer der Morgendämmerung über die dichten Wolken huschten, die über
Nacht aufgezogen waren. Und sie war froh, das Sonnenlicht zu sehen, obgleich es, laut Yale, eigentlich keine Rolle spielte, wann sie den Sprung machten. Da es keine Möglichkeit gab, die nach unten stürzenden Fahrzeuge zu steuern, mit oder ohne Fallschirme, war es egal, ob sie sehen konnten, wo sie landeten. Aber irgendwie erschien ihr dieser Gedanke nicht sehr tröstlich. »Was ist, wenn wir uns ganz ohne Grund festgeschnallt haben?« fragte Uly. »Was ist, wenn sie gar nicht kommen?« In diesem Augenblick erwachte der entfernt stehende SandRail röhrend zum Leben. True, Uly und Alonzo verrenkten in ihren Gurten den Hals, um besser sehen zu können. Zero war nicht zufällig zum Versuchskaninchen bestimmt worden. Sie alle wußten, daß ein Roboter nicht zögern würde, Befehle auszuführen. Wenn man jemanden brauchte, der einen Buggy in einen Abgrund lenken und dann ein paar Kilometer in die Tiefe stürzen sollte, mußte man einen Roboter wie Zero haben. Für ihn war es dasselbe wie das Ausheben eines Grabens. »Die Grendler kommen!« hörte True Alonzo brüllen. »Und wir gehen«, antwortete Uly. Er lächelte True tapfer zu, aber seine Lippe zitterte immer noch. Als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, jagte der SandRail auf den mächtigen Abgrund zu und schoß in den leeren Raum. True konnte sehen, daß Yale zum Rand des Canyons rannte und niederkniete, um Zeros Fortkommen zu beobachten, während sie alle den Atem anhielten. Plötzlich riß der Cyborg die Arme hoch und stieß einen Jubelschrei aus. Dieser wurde allerdings von dem wütenden Pfeifen und Kreischen der Grendler, die jetzt aus dem Wald strömten, fast übertönt. Selbst aus der Ferne konnte True erkennen, daß die krötenähnlichen Kreaturen voller Zorn herumhüpften, weil sie bereits einen Teil ihrer Beute verloren hatten. »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Feiern!« schrie Alonzo und feuerte mehrere Schüsse ab, obwohl es höchst zweifelhaft war,
daß er selbst daran glaubte, in diesem Dämmerlicht irgend etwas treffen zu können. Die Schüsse weckten zumindest Yales Aufmerksamkeit, der jetzt seinen Blick von der Klippe abwandte und endlich den ATV startete. Die Angreifer waren schon fast bei ihm, als er den Gang einlegte und zurückwich. Die Grendler blieben stehen und starrten verblüfft auf den unbemannten ATV, der zum Rand des Abgrunds rollte und ins Nichts abhob. Yale hatte keine Zeit mehr zu kontrollieren, ob sich der Fallschirm des zweiten Fahrzeugs öffnete, sondern er rannte um sein Leben, verfolgt von Dutzenden von schnellen Grendlern. Alonzo gab irgendwelche Laute von sich und feuerte so viele Schüsse wie möglich ab. Die Grendler sahen aus wie eine Stampede riesiger Frösche. Nachdem sie gesehen hatten, wie zwei Fahrzeuge über die Klippe ins Nichts gestürzt waren, mußte ihnen klar geworden sein, daß sie Gefahr liefen, ihre gesamte Beute zu verlieren. Später würden sie nicht mehr allzu viele Chancen bekommen, und so ließen sie sich durch ein bißchen Lärm und ein paar Schüsse nicht länger abschrecken. Yale rannte, so schnell er konnte, aber er war alt und nicht so flink wie seine Verfolger. Als er stolperte, waren die Grendler auch schon über ihm. »Verdammt! Verdammt!« fluchte Alonzo und zerrte an seinen Gurten. »Warum habe ich mich hier festbinden lassen?« Er wechselte die Taktik. Statt weitere Gewehrschüsse abzugeben, schrie er sich die Lunge aus dem Hals. »He, ihr! Das hier wollt ihr doch haben! Wir sind hier drüben!« Kugeln sind gegen diese tobende Horde ohnehin nicht effektiv, dachte True. Eins ließ das Mädchen jedoch hoffen: Die Grendler schienen nie gut organisiert zu sein. Sie konnten sich zwar für Attacken wie diese kurzfristig zusammenschließen, aber meist reagierten sie als Individuen mit wenig Disziplin oder Teamgeist. »Schreit mit, Kinder!« brüllte Alonzo.
Was diesen Wunsch anging, so war die Erfüllung kein Problem; True und Uly schrien aus Leibeskräften los. »Hufe! Hilfe! Aaaah! Aaaah!« Wie erhofft, entschied sich die Frontwelle der Grendler, die dürftige Beute, die der Cyborg darstellte, zu ignorieren und sich statt dessen einer Bande schreiender Gefangener und einem großen High Tech-Fahrzeug zu widmen. Die Horde sprang auf sie zu, und Yale war in der Lage, torkelnd wieder auf die Beine zu kommen. Es schien, als wollte er sich seinen Gegnern anpassen, denn er ging in die Knie und hüpfte in Richtung des TransRover - eine weitere mißgestaltete Kreatur in der Dunkelheit. Eine Sekunde später, als die Meute der Grendler kreischend und pfeifend über sie herfiel, herrschte das totale Chaos. True sah, wie sie an den Seiten des TransRover hochkletterten, und schloß die Augen, als neben ihrem Gesicht ein schuppiger Fuß auftauchte. Die Kreaturen fingen an, Sachen herunterzuzerren, ohne den drei Menschen großes Interesse entgegenzubringen - zunächst jedenfalls. Das Mädchen registrierte, daß Alonzo sein Gewehr wie einen Knüppel schwang und alle zurückschlug, die dem kostbaren Fallschirm im rückwärtigen Teil des Fahrzeugs zu nahe kamen. »Nein!« schrie Uly, als ein Grendler seine braunen Haare packte und versuchte, sie an den Wurzeln herauszuziehen. True starrte die groteske Kreatur an, der die Haube von dem schleimigen Gesicht rutschte. Der Grendler rülpste sie an, und True schrie so laut, daß dieser tatsächlich von dem Fahrzeug hinuntersprang. Ohne Vorwarnung brummte der TransRover plötzlich auf und schüttelte sich wie ein wolliges Mammut, das aus einem Nickerchen erwacht. Yale hatte es tatsächlich bis ins Cockpit geschafft! True konnte sehen, wie der Cyborg eine Horde der buckligen Reptilien abwehrte. Der TransRover ruckte abrupt an und brachte mehrere Grendler aus dem Gleichgewicht. Aber immer noch klammerte sich ein Dutzend der Angreifer an das Fahrzeug, das nun seine unvermeidliche Fahrt zum Rand des tödlichen Abgrunds aufnahm.
Jetzt schrien True und Uly ernsthaft, und mehrere erschrockene Grendler stimmten in ihre Schreie ein. True sah, wie die Kreaturen im letzten Moment absprangen, und ihr Instinkt sagte ihr, daß sie dasselbe tun sollte. Im Gegensatz zu den Grendlern war sie jedoch festgeschnallt und konnte deshalb nichts anderes tun als laut zu schreien, als der TransRover über die Klippe holperte und vom Boden abhob. Kopfüber stürzten sie in den dunklen Abgrund. True kam der Mageninhalt hoch, der versuchte, sich einen Weg nach draußen zu verschaffen. Ihre Lippen waren so trocken, daß ihr Schrei erstarb, und der Wind und die Schwerkraft verzerrten ihr Gesicht zu einer starren Maske. Uly wimmerte neben ihr, und sie konnte hören, wie Alonzo einen wilden Schrei ausstieß: »Juhuuuu!« Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, so als ob sie an einem riesigen Gummiband hängen würden. Trues Kinn wurde gegen ihre Brust geschleudert. Das Mädchen drehte den Kopf nach hinten und konnte gerade noch den dunklen Rand des Fallschirms erkennen, der wie eine Blüte über ihnen aufging. Sie fragte sich ängstlich, ob der Schirm wohl der geballten Schwerkraft widerstehen konnte. Die von dem Fallschirm gefangengenommene Luft ließ unheimliche Pfeiftöne laut werden, als der Wind durch die Planen jagte. True hatte Angst, nach unten zu blicken, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie holte tief Luft und schielte über einen Schlafsack hinweg nach draußen. Aus ihrem merkwürdigen Blickwinkel sah es so aus, als ob der Boden eine riesige Hand wäre, die sich nach oben reckte, um sie zu schlagen. Sie konnte die Linien und Finger dieser Hand erkennen, und ganz plötzlich wurde ihr klar, daß es sich in Wirklichkeit um Wasser, Sand und Pflanzen handelte, die auf sie zurasten. Ein Kilometer war schnell zurückgelegt, wenn man sich im Banne der Schwerkraft befand. Jetzt hörte man kein Schreien mehr, es gab nur noch die nüchterne Gewißheit, daß sie gleich aufschlagen würden. »Halt dich fest!« sagte sie zu Uly. »Klar!« murmelte der Junge. True wartete darauf, wie auf einer Achterbahn in letzter Sekunde der Gefahr entrissen zu werden. Aber nein, sie bohrten sich nun wie ein entgleisender Güterzug in den
Sand! Sie flog nach vorne, und einige ihrer Gurte lösten sich, als der große TransRover vehement durchgeschüttelt wurde. Dann wurde alles dunkel. »Nein!« schrie Uly. »Ich bin blind!« True machte sich ebenfalls Sorgen, aber dann brach sie in Gelächter aus und streckte die Hände von sich. »Nein!« brüllte sie. »Das ist der Fallschirm. Er ist über uns gefallen und deckt uns zu.« »Alles klar!« brüllte Uly. »Wir leben noch! Wir leben noch!« »Mann!« ächzte Alonzo irgendwo über ihnen. »Yale? Alles in Ordnung? Yale!« Da sich der Fallschirm über sie gelegt hatte, war es so dunkel, daß niemand etwas sehen konnte. »Yale! Yale!« brüllte Alonzo mit besorgter Stimme. »Puh, pfft, pah!« Würgende Spuckgeräusche wurden laut. »Es geht mir gut«, krächzte eine Stimme. »Habe nur Sand in den Mund bekommen.« Alonzo, True und Uly schrien gleichzeitig: »Juhuuuu!« Dann hörten sie Yale herzhaft auflachen. »Ich kann wahrheitsgemäß sagen, daß mir Sand noch nie so gut geschmeckt hat!« Ein paar Sekunden später ertönten Motorengeräusche, und dann durchdrang das Schimmern von zwei Scheinwerfern geisterhaft ihren silbernen Kokon. »Hallo«, rief Zeros unverkennbare Stimme, »sind alle gut angekommen?« »Ja, ja«, schrie Yale. »Wir sind alle vollzählig da. Sieh bitte mal, was du tun kannst, um uns von diesem Fallschirm zu befreien.« »Paß auf, daß du ihn nicht zerreißt« wies ihn Alonzo an. »Es ist der glorreichste Fallschirm im ganzen Universum!« True lachte. »Das ist er ganz bestimmt!« Oben auf einem kalten und ungeschützten Plateau in der Mitte eines beeindruckenden Canyons hatte Morgan Martin einen seltsamen und wundervollen Traum. Im wirklichen Leben war Morgan knapp dreißig Jahre alt, aber in seinem Traum war er uralt - und reich! Er
war Hunderte von Jahren alt und lebte in einer griechischen Villa auf einem Planeten mit gläsernen Seen und schimmernden, schneebedeckten Berggipfeln. Trotz seines fortgeschrittenen Alters fühlte er sich großartig. Er hatte von allem das Beste - Bedienstete, eine private Raumjacht, eine schmucke Meeresjacht, Feinschmeckeressen, erlesene Weine und Bess an seiner Seite. Von der Veranda seiner Villa aus konnte er alles überblicken. Auch Bess war Hunderte von Jahren alt, obgleich sie nicht einen Tag älter als fünfzig aussah. Und für fünfzig sah sie immer noch gut aus. Ein junges französisches Dienstmädchen brachte ihm sein Lieblingsbuch - ein unbezahlbares Exemplar von Mit den Haien schwimmen, einer Erstausgabe aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert. Er und Bess nahmen auf den schmiedeeisernen Möbeln ihre Plätze ein, um sich eines Frühstücks zu erfreuen, das aus frischen Brötchen, Beluga-Kaviar und Champagner bestand. Morgan hob sein kanneliertes Glas, um einen Toast auszubringen. »Auf die ewige Jugend«, sagte er. »Auf die Jugend«, wiederholte Bess mit einem Grinsen. »Und darauf, daß all dies möglich wurde.« Sie leerten ihre Gläser. »Ah«, sagte Morgan befriedigt, »es hat sich gelohnt einen Konvoi umzuleiten, damit er uns diesen Champagner bringt.« »Ich will aber besser nicht an die Kosten denken«, fügte Bess hinzu. Ihr jovialer Tonfall ließ erkennen, daß es sie nicht weiter kümmerte. Morgan tat nickend seine Zustimmung kund. »Wenn man überlegt, daß dieser elende Planet G889 all dies möglich gemacht hat ... Wer hätte das gedacht?« Er kicherte über die Absurdität. »Vergiß die Terrianer nicht«, bemerkte Bess. »Die Terrianer«, wiederholte Morgan und versuchte, sich zu erinnern. Was an den Terrianern verdiente einen Toast? »Egal«, sagte er und füllte sein Glas erneut. Er hob es, um einen weiteren Toast auszubringen. »Auf die Terrianer!«
Als er das kostbare Kristall an die Lippen führte, stieß ihn ein Arm brüsk an. »He!« brummte er schläfrig. Der Arm stieß ihn wieder an. Er wurde tatsächlich geschüttelt. »Aufwachen!« sagte John Danziger. »Oh, nein!« ächzte Morgan. Er blinzelte und blickte auf das öde Plateau, das von grauem Fels umgeben war. Die Sonne flimmerte zwar, war aber nicht in der Lage, die Finsternis zu vertreiben. »Warum mußten Sie mich aufwecken? Ich hatte einen wundervollen Traum.« »Nun, es freut mich, daß wenigstens einer Schlaf gefunden hat«, antwortete Danziger. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten, wenn Sie aufstehen.« »Komm schon, Liebling«, sagte Bess, Während sie mühsam aufstand. Dann half sie ihrem Mann auf die Beine. »Bess«, wisperte er, »ich hatte den wundervollsten Traum, den du dir nur vorstellen kannst. Wir sind zusammen alt geworden ...« »Nun, das will ich doch hoffen.« »Nein, ich meine, richtig alt. Jahrhunderte alt. Es war unglaublich wir waren reich!« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, du hättest diese Träume nur, wenn du wach bist.« »Ich weiß, daß ich in großen Maßstäben denke«, sagte Morgan, »aber dies war so wirklich. Irgend etwas hatte uns ungeheuer reich gemacht, über meine übliche Habgier hinaus. Und wir haben einen Toast darauf ausgebracht, daß wir ewig leben konnten!« Bess zog eine Grimasse und massierte ihr Kreuz. »Ich überlebe lieber erst mal die nächsten paar Tage.« Sie fing an, in ihrem Rucksack zu wühlen. »Sehen wir mal, was wir zum Frühstück haben.« Sie hielt eine braune Schachtel mit abgepackten Rationen hoch und las das Etikett. »Was ist Pemmikan?« »Nach Beluga-Kaviar ein ziemlicher Abstieg, soviel kann ich dir zumindest sagen«, brummte Morgan. Er blickte in den dunklen,
bedrohlich wirkenden Canyon hinab und lächelte. »Da unten ist etwas, das uns reich machen wird.« Plötzlich kam Devon Adair in sein Blickfeld und sah ihn interessiert an. »Haben Sie von diesem Canyon geträumt?« fragte sie. »Nicht direkt«, sagte Morgan geheimnistuerisch. »Es war nur ein angenehmer Traum, das ist alles.« »Wissen Sie«, sagte Devon, »die Terrianer haben mit Alonzo Solace in seinen Träumen kommuniziert. Wenn Sie von Terrianern geträumt haben, dann möchte ich es wissen.« »Terrianer?« wiederholte Morgan und erinnerte sich an das, was Bess in seinem Traum gesagt hatte. Die Terrianer verdienten einen Toast für irgend etwas, das sie getan hatten. Aber was? Er sah zu Bess hinüber, die jedoch damit beschäftigt war, ihr Pemmikan aufzumachen. »Ich habe von der Zivilisation geträumt«, sagte Morgan zu Devon. »Können Sie mir das verübeln?« »Nein«, murmelte Devon, während sie sich ebenfalls in dem schroffen Canyon umblickte. »Überhaupt nicht. Und Sie träumen davon, Morgan, weil wir hier eine Zivilisation aufbauen werden. Keine, wie Sie sie kennen, sondern eine, in der jeder die Chance hat, gesund zu sein, in der wir die Umwelt nicht zerstören und die Menschen nicht ausbeuten. Sie wird besser sein als jede Zivilisation, die Sie bisher kennengelernt haben.« Morgan lächelte. »Es dürfte ihr schwerfallen, der aus meinem Traum gleichzukommen.« Devon bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick aus ihren dunklen Augen. »Ich glaube nicht, daß unsere Träume die gleichen sind, aber ich wäre interessiert daran, etwas von den Ihrigen zu hören. Besonders wenn Terrianer darin vorkommen.« »Ein anderes Mal«, schlug Morgan vor. Devon nickte und klatschte in die Hände. »Eßt fertig. Leute! Wir wollen früh aufbrechen. Ich glaube nicht, daß irgendeiner von uns eine weitere Nacht an dieser Felswand hängen möchte.«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut, und Danziger kam zu ihr herüber. »Devon, meinen Sie, wir sollten uns mit dem Basislager in Verbindung setzen?« Sie lächelte liebevoll. »Nein. Sie haben vermutlich eine entspannte Nacht verbracht und schlafen jetzt noch. Lassen wir sie ruhen. Ich schätze, daß wir bei einem zeitigen Aufbruch am Nachmittag den Grund des Canyons erreichen können. Dann setzten wir uns mit ihnen in Verbindung. »Ja!« sagte Morgan enthusiastisch. »Gehen wir endlich!« Devon warf ihm einen argwöhnischen Blick zu und schüttelte dann den Kopf. Sie griff nach dem Seil und schlang es um ihre Hüfte, während Morgan eifrig drei Meter abmaß und das Seil auch um seine Hüfte knotete. »Geht es Ihnen gut?« fragte Devon. Er grinste. »Es ist mir nie besser gegangen!«
6
Als die kleine Gruppe tiefer in den gewaltigen Abgrund hinabstieg, bekam Devon das Gefühl, daß sie und ihre Begleiter die gewohnten drei Dimensionen verließen und in die vierte eintraten: in die Zeit. Die Ewigkeit, die es gedauert hatte, um diese Felskathedrale entstehen zu lassen, spiegelte sich in jeder Gesteinsschicht wider. Vor sich hatte man den Blick auf Milliarden von Jahren. Devon Adair wurde an die fernen Galaxien erinnert, die sie durch orbitale Teleskope gesehen hatte. Aufgrund der immensen Entfernungen, die das Licht zurücklegen mußte, existierten diese Galaxien in zwei verschiedenen Zeitebenen: in der Gegenwart des Beobachters und in dem Moment, in dem ihr Abbild seine Reise durch den Weltraum begonnen hatte, Milliarden von Jahren in der Vergangenheit. Dieser uralte Canyon hier hatte die gleiche Art von Magie: Er gewährte dem Betrachter einen außergewöhnlichen Blick in eine Zeit jenseits aller Vorstellungskraft. Zu der unheimlichen Atmosphäre trug auch die Stille bei, sie erschien beinahe heilig, als wären Geräusche in diesem riesigen Grab verboten. Und es war tatsächlich ein Grab, wobei jede der zahllosen Kerben in den Wänden wie ein Grabstein für jedes der Milliarden von Jahren zu stehen schien, die dieses Naturwunder schon existierte. Devon stieß mit dem Fuß einen Stein aus dem Weg und hörte, wie er Hunderte von Metern tief dem Grund entgegenpolterte. Der Stein hatte Ewigkeiten gebraucht, um diese Stelle zu erreichen, und nun hatte sie ihn mit einem bloßen Fußtritt eine Milliarde Jahre in die Vergangenheit gestoßen. Durch den Fall dieses Steins wurde Devon an ihre eigene unglaubliche Reise durch Raum und Zeit erinnert. Zweiundzwanzig Jahre hatte sie im Kälteschlaf verloren - oder gewonnen. Auch ihr Leben schien, ähnlich wie bei den Wänden dieses Canyons, in einen kurzen Augenblick zusammengedrängt worden zu sein. Kein einzelner der Lebensabschnitte schien ihr bedeutender zu sein als die anderen;
denn angesichts dieses grandiosen Anblicks wirkte alles, was sie bislang erlebt und erfahren hatte, klein und nichtig. Und plötzlich fragte sie sich, was sie im Leben eigentlich erreichen wollte. Als Devon nach unten blickte und den türkisfarbenen Fluß sah, der sich auf dem Grund des Canyons durch Sand und Dickicht wand, fand sie die Antwort: Sie würde sich Jahr für Jahr weitermühen, wie dieser Fluß, der den Canyon immer tiefer absenkte. Sie dachte an ihren kleinen Sohn. Es gab keinen vernünftigen Grund, freiwillig Kinder zu bekommen und die damit verbundenen Schmerzen und Opfer auf sich zu nehmen. Aber ähnlich wie bei diesem Fluß hatte man mit einem Kind die Möglichkeit, etwas zu hinterlassen. Dieselben Instinkte trieben Menschen dazu, Häuser zu bauen, Firmen zu gründen, Bücher zu schreiben und Kolonien auf fernen Planeten zu errichten. Es war nicht nur das Ego, stellte Devon fest, sondern der natürliche Trieb, etwas zu hinterlassen, der Menschen zu all dem veranlaßte Devon warf einen Blick zurück. Es sah so aus, als ob auch alle anderen, selbst Morgan Martin, von der Großartigkeit des Canyons in einen Zustand stiller Ehrfurcht versetzt worden waren. Während des Abstiegs war der Hang allmählich etwas ebener geworden, die Felszinnen ringsum glänzten nun kupferfarben. Der Pfad wand sich zwischen den steinernen Spitzen hindurch wie eine Kopfsteinpflasterstraße durch die Altstädte im früheren Europa. Manchmal wirkten die majestätischen Zinnen wie Wolkenkratzer, die allmählich in der Sonne dahinschmelzen. Plötzlich spürte Devon ein Rucken an ihrem Seil. Sie drehte sich um und sah, wie Morgan mit seinem Taschenmesser am Fuß eines silberfarbenen Felsens herumschnitzte. Alle hinter ihm verlangsamten ihre Schritte. »Was machen Sie da?« fragte Devon. Morgan lächelte und klappte sein Taschenmesser zusammen. »Ich nehme nur ein paar Proben.« »Sie wären in der Lage, die Zusammensetzung dieser Steine zu bestimmen?« fragte sie zweifelnd.
»Man kann nie wissen«, antwortete er, immer noch lächelnd und ungewöhnlich heiter. Ein paar Längen hinter ihm wischte Julia Heller sich mit ihrem Halstuch die Stirn ab und lehnte sich dabei an eine schmale Zinne. Als diese unter ihrer Berührung sofort zerbröckelte, stolperte die Ärztin über den Felsstumpf und stürzte binnen einer Sekunde sechs, sieben Meter tief in den Abgrund. Augenblicklich wurden Panikschreie laut, denn Baines, Bess und Walman drohten ebenfalls zu fallen. Devon rannte hinter die nächste Felsspitze und schlang soviel Seil, wie sie erübrigen konnte, um den Stein. Dadurch verlor Morgan das Gleichgewicht und schrie vor Furcht laut auf. »Stemmen Sie sich mit den Füßen gegen den Boden!« brüllte ihm Devon zu. Auch sie selbst klemmte ihre Füße in eine Felsspalte, in der sie sich mit ihren muskulösen Beinen abstützte. Sie konnte erkennen, daß Danziger in einiger Entfernung dasselbe tat, aber alle anderen hatten durch Julias Sturz die Balance verloren. Ihre Hände krallten sich in den Boden oder an struppige Büsche, um nicht auch in den Abgrund zu stürzen. Devon packte das Seil und versuchte es zurückzuziehen, aber das Gewicht der vielen Körper machte das unmöglich. Bess und Baines rutschten weiter auf den Rand des Abgrunds zu, es war einfach nichts da, woran sie sich festklammern konnten. »Schneidet mich los!« hörte man eine Stimme rufen. »Rettet euch selbst!« Julia pendelte in der Luft, der einzige Weg für sie führte Hunderte von Metern steil nach unten in den sicheren Tod. »Nein!« schrie Devon. »Wir müssen dieses Abrutschen stoppen!« »Morgan!« brüllte Devon den Regierungsbeamten an, der panikerfüllt auf dem Boden herumkroch, statt sich zu bemühen, den Fall der anderen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln abzubremsen. »Setzen Sie sich auf Ihren Hintern, packen Sie das Seil und benutzen Sie ihre Füße, um sich rückwärts zu mir hin zu bewegen. Ich brauche Ihre Hilfe!« Er starrte sie in heller Panik an.
»Tu es, Baby!« schrie Bess, während ihre Beine über den Rand glitten. Baines war inzwischen so weit abgerutscht, daß sich nur noch Arme, Schultern und sein Kopf oberhalb der Kante befanden. Er ächzte vor Anstrengung, als er versuchte, sich zu halten. Bess' Schrei veranlaßte Morgan endlich zum Handeln. Er setzte sich hin und packte das Seil mit festem Griff. Dann setzte er seine Beine ein, um sich langsam rückwärts zu Devons Fußstütze zu schieben. Das Seil in seinen Händen spannte sich, und er mußte Muskeln belasten, von denen er vorher nie gewußt hatte, daß er sie besaß. »Ziehen Sie!« schrie Devon. »Sie schaffen es! Ziehen Sie Ihre Frau hoch!« Morgan schluckte und fand schließlich zwischen zwei Felsspitzen einen festeren Halt für seine Füße. Er stemmte sie dagegen und versuchte, Bess auf sicheren Boden zu ziehen. Seine Frau half ihm dabei, indem sie mühsam ein Bein über die Kante schob. Devon war versucht, ihre Felsspalte zu verlassen und Morgan zu unterstützen, aber sie wußte, daß sie alle abstürzen würden, wenn Morgan das Seil aus den Händen verlor und sie selbst bis dahin keine sichere Position gefunden hatte. »So geht es!« rief Danziger ermutigend. »Immer weiter ziehen!« Aber es war aussichtslos. Allein war Morgan nicht stark genug. Bess rutschte wieder zurück, und Baines schrie vor Schmerz auf, weil das Seil unter dem Gewicht von Julias Körper an seiner Hüfte zerrte. »Das Seil rutscht ab!« brüllte er. Devon und Danziger sahen sich an, und Sekundenbruchteile später löste Danziger das Seil von seiner eigenen Hüfte. Die Gruppe auf seiner Seite hatte festen Halt, wenn auch alle starr vor Furcht waren. Der Mechaniker knotete das Seil an einer Wurzel fest und bahnte sich einen Weg zu Baines hinüber. Ohne seine eigene Sicherheit zu beachten, legte er sich auf den Bauch, um nach dem Seil zu greifen, das von Baines' Hüfte bis zu den Oberschenkeln runtergerutscht war. »Okay«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »kommen Sie hoch!«
Mit letzter Kraft gelang es Baines, nach oben zu klettern und sich torkelnd auf die Füße zu stellen. Gemeinsam mit Danziger versuchte er nun, die Ärztin aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. »Ziehen!« schrie Devon. »Alle ziehen!« Sie zerrte an ihrem Seil und zog Morgan ein Stückchen zu sich hinauf. Da das Seil jetzt endlich ein wenig durchhing, konnte er zu Devon in die Felsspalte krabbeln. Zu zweit schaffen sie es, auch Bess über die Kante zu zerren. Morgan grinste sie an. »Ziehen Sie weiter!« fuhr Devon ihn an. Die allgemeine Panik war nun Entschlossenheit gewichen. Alle zogen an dem Seil, an dem Julia hing. Danziger und Baines holten ganze Handbreiten davon ein, bis sich die Ärztin endlich ein Stück nach oben bewegte. Kurz darauf tasteten ihre Hände schon krampfhaft nach der Kante, bis Danziger und Baines sie endlich ergriffen und hochzogen. Dann ließen sich alle drei auf den Rücken sinken und atmeten tief durch. Auch Devon konnte endlich wieder Luft holen und stellte fest, daß ihre Beine schmerzten und völlig verspannt waren. Morgan eilte zu Bess, um sie zu umarmen; niemand schien in der Lage zu sein, zu sprechen oder mehr zu tun, als tief einzuatmen. Julia schluckte und versuchte, ihnen allen zuzuwinken, aber ihr Arm fiel sofort schlaff auf ihre Brust zurück. »Danke«, hauchte sie. »Gern geschehen«, sagte Danziger aus der Rückenlage. Er lächelte sie erschöpft an. »Ihr Glück, daß wir knapp an Ärzten sind.« »Geht es Ihnen gut?« fragte Devon. Julia schüttelte den Kopf. »Ich sage es Ihnen, wenn wir den Grund erreichen.« »Wir sind alle schuld daran«, sagte Devon wütend. »Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen war, aber ich bin einfach träumend durch die Gegend gelaufen. Wir sind sorglos geworden, als ob das hier ein Spaziergang durch den Park wäre. Das darf uns nicht noch einmal passieren.« »Ich habe nicht vor, es noch einmal zu tun«, murmelte Julia. Danziger stellte sich langsam wieder auf die Füße und funkelte Devon finster an. »Seien Sie nicht so grob zu uns. Wenn Sie Alpinisten haben wollten, hätten Sie welche engagieren sollen. Keiner von uns hat sich zu so etwas verpflichtet.«
Seine weit ausholende Armbewegung schloß die endlosen Kilometer von Fels und Zinnen ein, die steil einem fast unsichtbaren Gipfel entgegenstrebten. »Ja«, bestätigte Baines, »es ist ein Wunder, daß wir es überhaupt so weit geschafft haben!« Devon holte tief Luft und bemühte sich, ihr Temperament zu zügeln. Sie waren in der Tat sorglos gewesen, auch wenn einige anderer Meinung zu sein schienen. Aber vielleicht war dies weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um darüber zu diskutieren. »In Ordnung«, seufzte sie. »Es ist Mittag, schätze ich. Machen wir eine Pause, um etwas zu essen.« Ein kollektiver Seufzer der Dankbarkeit war zu hören. Alle griffen nach ihren Wasserflaschen und Rucksäcken. Julia wälzte sich herum und setzte sich aufrecht. Devon kniete sich neben sie und half ihr, den Rucksack abzunehmen. »Ich weiß, daß Sie nicht daran gedacht haben, als Sie über dem Abgrund hingen«, sagte Devon, »aber haben Sie zufällig gesehen, wie weit wir noch gehen müssen?« Die erschöpfte Ärztin schüttelte den Kopf. »Es sah nach einem weiten Weg für mich aus, aber ich würde schätzen, daß es nur noch etwa vierhundert Meter sind.« Devon lächelte Julia an und tätschelte ihren Rücken. »Das ist gut. Ich will niemanden antreiben, aber je eher wir unten sind, desto eher sind wir in Sicherheit.« »Meinen Sie nicht vielmehr, je eher können wir uns auf der anderen Seite an den Aufstieg machen?« fragte Julia. Devon blickte auf den Boden und wischte sich den Schweiß aus den Augen. »Sie wollen alle nur antreiben«, blieb Julia hartnäckig. »John hat recht - wir sind keine Alpinisten. Wir erfüllen keine von den Voraussetzungen, die nötig sind, um fünftausend Kilometer Wildnis zu durchqueren.«
Devon machte ein finsteres Gesicht. »Wir müssen das aber erfüllen. Wenn das Kolonistenschiff eintrifft und wir nicht an Ort und Stelle sind ...« »Sie werden ohne uns zurechtkommen«, unterbrach sie Julia. »Sie haben doch Vertrauen in Dr. Vasquez' Fähigkeiten, oder? Ich meine, Sie haben eindeutig klargemacht, daß sie ihm weitaus mehr Vertrauen entgegenbringen als mir. Ich bin Ihnen doch nur aufgehalst worden. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, daß Dr. Vasquez in dem zweiten Raumschiff mit den Syndrom-Kindern ist.« »Ich habe nicht das Gefühl, daß Sie mir aufgehalst worden sind«, widersprach Devon. »Nicht mehr. Kommen Sie, wir brauchen eine positive Einstellung!« Julia schüttelte müde den Kopf. »Wir brauchen auch eine realistische Einstellung. Woher wollen wir wissen, daß nach dem nächsten Anstieg nicht zehn weitere Canyons wie dieser auf uns warten? Oder daß wir nicht auf Kreaturen stoßen, die viel gefährlicher sind als alle, die wir bisher getroffen haben? Sie müssen die Tatsache akzeptieren, daß unsere Gruppe viel zu klein und ungenügend ausgerüstet ist. Und daß wir nur Menschen sind. Wenn wir die Fahrzeuge aufgeben müssen ...« Die Ärztin brauchte ihren Satz nicht zu beenden. »In Ordnung«, murmelte Devon, »Sie haben Ihren Standpunkt dargelegt.« Plötzlich kniete Morgan neben ihnen nieder und warf ihnen eine geöffnete Schachtel in den Schoß. »Kommen Sie, meine Damen, essen Sie! Sie müssen bei Kräften bleiben! Bess sagt, dieser Pemmikan ist gar nicht so schlecht. Wie Obstkuchen, nur nicht so süß. Er wird Sie auf den Beinen halten!« »Warum sind Sie so verdammt guter Laune?« fragte Devon argwöhnisch. Er grinste. »Ich habe festgestellt, daß mir diese Übung Spaß macht. Bergsteigen könnte zu meinem Hobby werden.«
Devon nahm einen Bissen Pemmikan und verzog das Gesicht, »Sobald wir eine Küche eingerichtet haben, werde ich das Kochen übernehmen.« »Sie könnten das erste Restaurant auf G889 eröffnen«, sagte Morgan begeistert. »Hört sich nach einer soliden Investition an.« Er stand auf und ging leise vor sich hin summend davon. Während Devon ihm nachblickte, faltete sie ihr Essenspaket zusammen und steckte es in die Hemdtasche. »Er hat etwas vor, aber mir fehlt die Zeit, herauszufinden, was es ist.« Die dunkelhaarige Frau richtete sich auf und nahm einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Gehen wir weiter!« rief sie. Nach einem kurzen Blick auf Julia verkündete sie den anderen: »Ich habe beschlossen, daß wir morgen einen Ruhetag einlegen, wenn wir es heute nachmittag bis auf den Grund schaffen. Als kleiner Ansporn!« Müder Jubel wurde laut. John Danziger grinste und blickte über den Rand auf den Fluß: »Glauben Sie, daß man da unten angeln kann?« Ein großer, häßlicher Fisch mit stacheligem Maul und gezackten Flossen am ganzen Körper sprang aus dem Fluß. Er riß sein riesiges Maul auf und zappelte umher wie eine Forelle, bevor er wieder in das sprudelnde, türkisfarbene Wasser eintauchte. »Mann!« sagte Alonzo und richtete sich im Sand auf. »Habt ihr diesen Burschen gesehen? Muß mehr als einen Meter lang gewesen sein! Er sah aus wie eine Kreuzung zwischen Barrakuda und Katzenwels.« Uly und True blickten von dem Kunstwerk auf, das sie gerade in dem cremefarbenen Sand errichteten. »Hab' ihn nicht gesehen«, sagte True kopfschüttelnd. »Ich auch nicht«, ergänzte Uly. »Für mich«, sagte eine Stimme, »sah er mehr aus wie ein Coelaconth latimeria.« Alonzo drehte sich um und erblickte Yale, der auf sie zukam und sich dabei die Hände an einem Lappen abwischte.
»Und wie schmeckt einer von denen?« fragte Alonzo. »Gebraten in ein wenig Olivenöl und Knoblauch?« »Schwer zu sagen«, antwortete der Cyborg. »Sie sind auf der Erde schon seit einer Weile ausgestorben. Unter Berücksichtigung der Entfernungen, die auf diesem Planeten zwischen den einzelnen Wasserflächen liegen, wäre ich nicht überrascht, wenn einige der einheimischen Fische zusätzlich zu den Kiemen auch noch rudimentäre Lungen besäßen.« »Das erklärt immer noch nicht, wie sie schmecken«, beharrte Alonzo. »Aber um eine wichtigere Frage zu stellen: Wie sieht's mit den Fahrzeugen aus?« »Der TransRover hat natürlich ein paar Beulen mehr abbekommen, aber nichts von Belang. Ihr ATV hatte ein Leck in der Ölwanne, aber wir haben es geflickt. Ich würde nicht sagen, daß die Fahrzeuge so gut wie neu sind - das sind sie schon seit Wochen nicht mehr -, aber wir können jederzeit aufbrechen, wenn Sie bereit sind.« »Yale?« fragte Uly dazwischen. »Wie kommt es, daß das Wasser türkis ist?« »Sieh mal«, antwortete der Cyborg und zeigte nach oben, »das Wasser nimmt viele Mineralien auf, während es durch den Canyon strömt: Kalziumkarbonat, Magnesiumkarbonat, Kalziumsulfat und Magnesiumchlorid - solche Verbindungen verleihen ihm diese Farbe.« »Kann man es gefahrlos trinken?« fragte Alonzo. »Wir sollten es sicherheitshalber zuerst kochen, um mögliche Parasiten abzutöten«, erwiderte Yale, »aber sonst hätte ich keine Bedenken. Es ist ein Experiment, das wir wagen sollten.« Alonzo stützte sich auf die Ellbogen und blickte hoch zu einem Streifen blauen Himmel, der aussah, als sei er an das Dach des Canyons gemalt worden. Es war eigenartig, aber von oben hatte der Canyon bedrohlich und tödlich gewirkt. Jetzt, tief innerhalb seiner schützenden Wände, erweckte er einen eher friedvollen und besänftigenden Eindruck. Es wehte eine leichte Brise, die die Pflanzen und Bäume am Ufer zum Rascheln brachte und einem Büschel
hellroter Blumen angenehme Düfte entlockte. Der Anblick und das Geräusch des fließenden Wassers schienen eine sehr beruhigende Wirkung auf Alonzos Gehirn zu haben. Er legte sich in den Sand zurück und gähnte. »Müssen wir wirklich hier weg?« »Wir gehen eigentlich gar nicht weg«, machte ihm Yale klar. »Wir fahren lediglich ein paar Kilometer, um zu sehen, ob wir die anderen wiederfinden.« »Wir könnten das Funkgerät benutzen«, schlug Alonzo vor. Yale schlug die Arme übereinander und blickte in die Ferne. »Sie dürften eine weniger angenehme Zeit verbringen als wir. Ich möchte sie nur höchst ungern stören, während sie sich Zentimeter um Zentimeter an einer Klippe nach unten arbeiten.« Alonzo grinste und schloß die Augen. »Sie hätten wie wir den Expreß nehmen sollen.« Yale bückte sich, um das Werk der Kinder zu studieren. »Hm, das ist sehr hübsch ... Äh, was ist es?« »Ein Raumdock!« erwiderten True und Uly gleichzeitig. »Es ist schwierig, eins zu bauen, wenn es sich auf dem Boden befindet«, fügte True hinzu. »Man muß es sich im Orbit vorstellen.« Der Cyborg lächelte. »Natürlich, jetzt erkenne ich es. Vielleicht werdet ihr Kinder eines Tages lernen, wie es ist, wenn man Häuser baut, die auf dem Boden stehen sollen.« »Das würde mir gefallen«, sagte Uly und strahlte. »Aber im Augenblick«, entgegnete Yale, während er sich wieder aufrichtete, »befinden wir uns noch in der Übergangsphase. Alonzo, soll ich Ihren ATV herbringen?« »Sicher«, murmelte der Pilot, immer noch mit geschlossenen Augen. »Wie wäre es vorher noch mit einem viertelstündigen Nickerchen?« »In Ordnung«, erklärte sich der Cyborg einverstanden. »Eine Viertelstunde.« Endlich machten die trügerischen Simse des Canyons einem steilen Hügelabhang Platz, der mit roten Blumen und rostfarbenen Felsbrocken übersät war. Zur Erleichterung aller gab es kein jähes
Abfallen in erschreckende Tiefen mehr, so daß sie endlich ihr Ziel am Fuß des Hügels schimmern sehen konnten. Der blaugrüne Fluß glich in seiner Schönheit fast einer Fata Morgana. Devon Adair konnte den Kobapfad nicht mehr ausmachen, aber sie glaubte auch nicht, daß es weiterhin erforderlich war, ihm zu folgen. Nachdem sie auf den Po gefallen und mehrere Meter gerutscht war, hatte sie die Überzeugung gewonnen, daß sie von jetzt an nur noch ein kräftiges Hinterteil brauchen würden, um nach unten zu kommen. Sie war die erste, die das Seil um ihre Hüfte löste. »Nehmen Sie die Seile ab!« befahl sie nun auch den anderen. »Jeder ist jetzt auf sich selbst angewiesen. Aber lassen Sie es vorsichtig angehen - rutschen Sie auf dem Hintern nach unten, wenn es sein muß.« Erleichtert und mit fröhlichem Geschnatter banden die anderen ihre Seile los und fühlten sich wieder als Individuen. Jeder einzelne studierte den Abhang und überlegte, wie er ihn wohl am besten angehen sollte. Danziger ließ sich auf Hände und Füße nieder, den Kopf dem Gipfel zugewandt, und arbeitete sich rückwärts nach unten. Die Martins rutschten auf ihren Hinterteilen, wobei Morgan über einen Stein glitt und vor Schmerz aufheulte. Danach rutschte er auf dem Bauch weiter. Julia ging in die Hocke und machte winzige Schritte; die anderen wandten Kombinationen dieser Praktiken an. Devon blieb einige Augenblicke lang einfach an Ort und Stelle sitzen und genoß den Blick auf den Fluß und die monumentalen Zinnen am anderen Ufer. Sie hatten es geschafft! Sie schnüffelte mit verwundertem Gesichtsausdruck und fragte sich, was so aromatisch roch, bis ihr klar wurde, daß die kleinen roten Blumen, die den Abhang tüpfelten, diesen Duft abgaben. Devon Adair hat tatsächlich innegehalten, um an Blumen zu riechen! dachte sie erstaunt. Während sie auf dem Abhang saß und ihre Gefährten auf komische Art und Weise an sich vorbeirutschen sah, überkam Devon ein Gefühl tiefer Zufriedenheit, von dem sie nicht geglaubt hätte, daß es sich vor ihrer Ankunft in New Pacifica einstellen könnte. G889 war wirklich ein großartiger Planet und all die Opfer und Anstrengungen
tatsächlich wert. Und sie hatte gute Leute für diese Mission ausgewählt, selbst wenn sich nicht alle als Alpinisten eigneten und einige von ihnen nur zufällig hier waren. Devon erinnerte sich an die vergangene Nacht, die sie schlafend in John Danzigers Armen verbracht hatte. Sie wußte nicht, wieviel Schlaf der Mechaniker abbekommen hatte. Da er der größte von ihnen war, hatte niemand ihn gegenüber der Kälte abschirmen können. Aber sie würde die Kameradschaft und Wärme, die er ihr geboten hatte, nicht vergessen, ebensowenig die Art und Weise, auf die er die anderen veranlaßt hatte, dasselbe zu tun. Wenn sie innehalten konnte, um Blumen zu riechen, dachte Devon, dann konnte sie eines Tages vielleicht auch wieder innehalten, um die Umarmung eines Mannes zu genießen. Während sie hier so auf einem Blumenfeld lag und einen türkisfarbenen Fluß betrachtete, der sich durch ein seit Jahrmillionen ungestörtes, üppiges Tal wand, erschien ihr nichts mehr ausgeschlossen. »He!« schrie Bess. »Die Fahrzeuge!« Devon sprang so plötzlich auf die Füße, daß sie fast kopfüber den Abhang hinuntergerollt wäre. »Laßt es langsam angehen«, warnte sie alle, einschließlich sich selbst. »Sie fahren uns nicht weg!« Sie schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und schüttelte verblüfft den Kopf. Die beiden kleineren Fahrzeuge rollten am Flußufer entlang, gefolgt vom TransRover. Alles wirkte ganz normal, so, als würden sie lediglich durch den Sand und die Flußablagerungen kriechen; aber irgendwie mußten sie bei der Fahrt zum Grund des Canyons sehr viel Zeit gutgemacht haben. Wie waren sie überhaupt hierher gekommen? Devons einzige Erklärung war, daß sie einen ganz einfachen Weg gefunden haben mußten, was bedeutete, daß all die Gefahren und Mühsale, denen sie die anderen während der letzten beiden Tage ausgesetzt hatte, umsonst gewesen waren. Und das ist allein meiner Ungeduld zu verdanken, dachte sie düster.
Danziger feuerte eine Leuchtrakete ab - in dem Bewußtsein, daß er und die anderen aus dieser großen Entfernung wie ein Dutzend kleiner Punkte auf einem sehr hohen Berg wirken mußten. Sofort kam die kleine Fahrzeugkolonne zum Stillstand, und der TransRover ließ seine Hupe ertönen. Devon war immer noch über ihren hektischen Aktionismus bekümmert, als sie, halb laufend, halb rutschend, den mit Steinen übersäten Hügel hinuntereilte. Wie es schien, hatte sie das Leben aller für nichts aufs Spiel gesetzt; ansonsten gab es keine vernünftige Erklärung dafür, daß die Fahrzeuge auf dem Canyongrund waren. Als Devon in der Nacht zuvor zuletzt mit dem Basislager gesprochen hatte, waren alle im Begriff gewesen, zu Bett zu gehen; angeblich hatten sie beide Richtungen kilometerweit erkundet und keine Route in die Tiefe gefunden. Wann und wie hatten sie also die mysteriöse Autobahn entdeckt, auf der sie so schnell an diesen Ort gelangt waren? Devon versuchte sich aufzuheitern, indem sie sich vor Augen führte, daß die Fahrzeuge jedenfalls gerettet waren. Außerdem mußte sie die Canyonwand nicht wieder hinaufklettern, um die Kinder zu holen. Dennoch, Baines warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu, als sie an ihm vorbeistürmte. Die anderen zeigten überhaupt keine Regung, nur Morgan, der sich immer noch in seiner unerklärlichen glückseligen Gemütsverfassung befand, lächelte sie freundlich an. Wenigstens freute sich ein süßer achtjähriger Junge darauf, sie zu sehen. Yale hob Uly gerade aus dem TransRover, als Devon den sandigen Grund erreichte. Uly kam angerannt, und seine Mutter schloß ihn in die Arme und überschüttete ihn mit Küssen. »Oh, Uly«, flüsterte sie, »ich bin so froh, dich zu sehen.« »Ich auch, Mom.« True kletterte aus eigener Kraft nach draußen und lief zu ihrem Vater. »Oh, Dad, du hättest sehen sollen, was wir gemacht haben!« Danziger warf Devon einen Blick zu. »Ich wollte euch gerade schon fragen, wie ihr so schnell hier runtergekommen seid.«
True, Uly und Yale redeten gleichzeitig los: »Wir sind in den Abgrund gefahren! Mit dem Fallschirm! Steil nach unten!« »Wir haben den Expreß genommen!« brüllte Alonzo von seinem ATV aus. Als sich die anderen Mitglieder der Gruppe langsam um sie versammelten, hob Devon die Hände. »Lassen wir Yale zuerst erzählen.« Sie lächelte Uly an. »Dann seid ihr an der Reihe.« Der Cyborg sah einen Moment lang bekümmert aus, als ob er einiges zu erklären hätte. »Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß wir durch zwei entschlossene Angriffe zu verzweifelten Maßnahmen gezwungen wurden - durch Angriffe einer großen GrendlerStreitmacht.« Devon verschränkte wütend die Arme. »Grendler? Warum habt ihr uns nicht gerufen?« »Es war spät in der Nacht«, erwiderte Yale. »Und ich glaube nicht, daß ihr in einer Position wart, von der aus ihr uns hättet helfen können.« »Okay«, räumte Devon ein. »Weiter.« »Es waren Hunderte von ihnen!« rief Uly. »Damit liegt er nicht weit daneben«, stimmte Yale zu. Dann schilderte der Cyborg den Kampf und ihren Rückzug aus dem Lager, in dessen Gefolge sie sich an einer schroffen Klippe wiederfanden, wo sie eine weitere Attacke erwarteten. Er erklärte, wie sie ein Hologramm studiert hatten, in dem schweres Kriegsmaterial mit Fallschirmen auf den Boden gebracht wurde, und daß sie nach einer Diskussion zu der Überzeugung gekommen waren, dasselbe zu riskieren, falls es erforderlich würde. »Der TransRover hatte seinen Bremsfallschirm«, fuhr Yale fort, »und es war nicht allzu schwierig, ein paar Zeltplanen zusammenzukleben, um Fallschirme für die kleineren Fahrzeuge herzustellen. Wir haben True, Uly und Alonzo im TransRover angeschnallt, und ich habe das Steuer übernommen. Zero bemannte den SandRail, während der ATV unbemannt über die Klippe ging.«
Devon und Danziger tauschten entsetzte Blicke aus. »Erinnern Sie mich daran, daß ich Sie nie wieder zum Babysitter mache«, murmelte Danziger. Alonzo schaltete sich ein. »Wir hatten keine andere Wahl, John. Ehrlich. Selbst die Fahrt in den Abgrund hätte uns beinahe nicht vor den Grendlern gerettet.« Uly hüpfte auf und ab, und Yale lächelte den Jungen an. »Vielleicht möchte Uly die Geschichte zu Ende erzählen.« »Es war cool!« sagte der Junge. »Wir fuhren direkt in den Abgrund - mitten ins Leere. Der Fallschirm öffnete sich, genauso wie Yale gesagt hat. Ich hatte nicht einmal Angst.« True zog die Augenbrauen hoch. »Na ja, vielleicht ein bißchen«, korrigierte sich der Achtjährige. »Die Landung war unheimlich«, räumte True ein. »Als uns der Boden entgegenkam ...« »Devon erschauderte und schüttelte den Kopf. »Erzählt nur nicht noch mehr. Ich bin nur froh, daß ihr alle in Sicherheit seid.« Julia ging zu True, bückte sich und blickte ihr tief in die Augen. »Fühlst du dich gut?« fragte die Ärztin. »Keine Kopfschmerzen oder so etwas?« »Mir geht es prima«, erwiderte das Mädchen. »Vielleicht ein bißchen müde.« »Wir haben letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen«, erklärte Alonzo. »Wenn mich hier jemand rausholt, dann könnte ich erzählen, daß das Liegen in diesem Sand furchtbar angenehm ist.« Morgan ließ sich in den Sand plumpsen und streckte behaglich alle viere von sich. »Ja, ich verstehe, was Sie meinen.« Während die meisten anderen dankbar auf den Sandboden sanken, schritten Devon, Danziger und Julia zu Alonzo hinüber und halfen ihm aus seinem ATV. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Julia. »Oh, ich habe mich nie besser gefühlt«, behauptete der Pilot. »Yale hat mich so angeschnallt, daß mein Rücken den Aufprall abgefangen hat.« Er gähnte. »Aber dieser Fluß hat etwas an sich, das einen schläfrig macht. Sie werden es noch merken.«
Danziger nickte und sah sich in dem fruchtbaren Tal um, das zwischen den schweigenden Canyonwänden eingebettet war. »Dies ist ein ziemlich friedvoller Ort, wenn man einmal die Mühe auf sich genommen hat, ihn zu erreichen.« »Und es gibt Fische in diesem Fluß«, fügte Alonzo hinzu. Danziger lächelte. »Im Ernst? Aber die Strömung hat eine ganz schöne Fahrt drauf.« »Ja«, sagte Devon mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das ist unsere nächste Aufgabe. Wir müssen einen Weg finden, um den Fluß zu überqueren.« »Denken Sie daran, daß Sie uns einen Tag frei gegeben haben«, erinnerte sie Julia. »Das gilt für morgen«, entgegnete Devon. »Heute bleiben uns noch ein paar Stunden.« Sie schritt zum TransRover hinüber, an dem Yale und Zero eine Inspektion vornahmen. Devon fühlte sich viel besser, seit sie wußte, daß sie das Leben der anderen nicht unnötig in Gefahr gebracht hatte, und sie beabsichtigte, dieses Ziel weiterzuverfolgen. Dies änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß sie erst ein Drittel des Canyons überwunden hatten. Die Flußüberquerung war ein weiteres Drittel, der Aufstieg auf der anderen Seite das letzte. Sie mußten weiter. Sie lächelte den Cyborg und den Roboter an. »Da habt ihr euch also in Flugzeuge verwandelt!« »Ja«, sagte Zero mit einem Rucken seines schalenförmigen Kopfes. »Es war ziemlich anregend.« »Nun, jetzt könnt ihr Taucher werden.« Devon klopfte mit den Fingerknöcheln auf den TransRover. »Wenn ihr dieses Ding zum Fliegen bringen könnt, dann könnt ihr es vielleicht auch zum Schwimmen bringen. Irgendeine Vorstellung, wie tief der Fluß ist?« »Nein«, gab Yale zu. »Wir haben noch keine Messung vorgenommen.« »Können wir das Sonar des TransRover benutzen?« »Damit sollten wir die ungefähre Tiefe feststellen können.« Der Cyborg machte eine Handbewegung in Zeros Richtung. »Steig ein.«
Devon wandte sich ab, um den Fluß in Augenschein zu nehmen, als auf einem fernen Plateau irgend etwas in ihr Blickfeld geriet. Es war nur ein Vogel, der zur Landung ansetzte, aber was für ein Vogel! Seine Flügelspanne mußte mindestens vier Meter betragen. Aber bevor sie ihn eingehender betrachten konnte, war er schon wieder hinter dem Plateau verschwunden. »Stimmt etwas nicht?« fragte Yale. »Doch, doch«, antwortete Devon. »Habt ihr in diesem Canyon einige riesenhafte Vögel gesehen?« »Nein«, antwortete Yale. »Wir haben zwei Vögel und einen Fisch gesehen. Der Fisch war ziemlich groß, aber die Vögel hatten nur eine mittlere Größe, wie Habichte etwa. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Hinweisen auf Kobaaktivitäten, aber wir haben keine ...« »Ist schon in Ordnung«, versicherte ihm Devon. »Wir wollen das Leben hier unten nicht stören ... Wir sind nur auf der Durchreise.« Devon blickte wieder zu dem Plateau hinüber, konnte jedoch keine Bewegung erkennen. Vielleicht war der riesige Vogel auch nur eine Illusion gewesen, eine Zaubervision, bedingt durch die Entfernung und die kristallklare Luft in dieser weiträumigen Wunderwelt. Ihre Blicke wanderten zum Flußufer, an dem die meisten Mitglieder ihrer furchtlosen Mannschaft wie Urlauber am Strand ausgestreckt dalagen und dösten. Devon seufzte. »Ich hoffe zumindest, daß wir nur auf der Durchreise sind«, sagte sie zu sich selbst.
7
»Rückwärtsgang, Rückwärtsgang!« schrie Danziger vom Ufer aus. Er ließ seine Arme wirbeln wie Windmühlenflügel, die ein Sturm erfaßt hat. Der TransRover steckte in Schlamm und Wasser fest und drohte in dem strudelnden Fluß umzukippen. Der Mechaniker funkelte Devon an. »Es funktioniert nicht!« Devon erwiderte seinen finsteren Blick und blickte zum TransRover hinüber. »Rückwärtsgang!« echote sie. Es war zweifelhaft, ob Yale, der im Cockpit des Fahrzeugs saß, sie beide beim Tosen des Wassers überhaupt hören konnte. Aber sein Gleichgewichtsgefühl war offensichtlich noch intakt. Er schien zu wissen, daß der einzige Weg, den der TransRover nahm, nach unten und nicht nach drüben führte. Er legte den Rückwärtsgang des plumpen Fahrzeugs ein, dessen riesige Räder sich drehten und Danziger und Devon mit Schlamm und Sand eindeckten. Aber beide blieben, wo sie waren, und stießen Anfeuerungsschreie aus. Dabei leisteten die anderen ihnen nach und nach Gesellschaft. Gemeinsam versuchten sie, den TransRover mit Gebrüll und Körpersprache aus dem Matsch zu hexen. Das mächtige Fahrzeug bewegte sich und richtete sich für eine Sekunde in eine gerade Position, sank dann aber hilflos in den weichen Schlamm zurück und bekam Schlagseite. Yale riß das Steuer scharf herum und richtete die Nase des Gefährts auf das heranrauschende Wasser. Dieser neue Winkel verlieh den Rädern nicht nur zusätzliche Bodenhaftung, sondern die Wucht des Wassers schleuderte den TransRover buchstäblich rückwärts. Er rutschte ein Stück, und Yale drehte das Steuer in die andere Richtung. Die Schwungkraft des Fahrzeugs trug ihn über die Sandbank, und so holperte er schlammtriefend auf sicheren Boden. Mit einem Ruck kam der Rover zum Stehen, und Yale stellte den Motor ab. Er setzte seine verschmierte Brille ab und blickte Danziger und Devon, die auf ihn zutrabten, unglücklich entgegen.
»Oje!« stieß Danziger hervor. »Das war knapp.« Devon wirkte niedergeschlagen. »Ich dachte, der Rover würde die Überquerung schaffen. Tut mir leid.« »Es ist seicht genug«, erwiderte Yale. »Aber es ist eine üble Kombination - starke Strömung und weicher Schlamm.« »Wir werden also nicht nach drüben fahren«, sagte Devon nachdenklich. »Wie wäre es mit einem Floß? Wenn wir erst einmal auf der anderen Seite sind könnten wir ein Flaschenzugsystem einrichten, um die anderen rüberzubringen. Wie eine Fähre.« »Wir könnten ein Floß bauen«, wandte Danziger ein, »aber das würde Tage in Anspruch nehmen. Und ich glaube nicht, daß wir ein Floß in dieser Strömung kontrollieren könnten.« »Dem kann ich nur zustimmen«, sagte Yale. »Es wäre zu gefährlich. Bei einem möglichen Auseinanderbrechen des Floßes würde selbst der stärkste Schwimmer weggeschwemmt werden.« Devon schlug mit der Faust gegen die Handfläche und blickte frustriert hoch. Und als ob das Schicksal fortfahren wollte, ihr übel mitzuspielen, landete ein dicker Regentropfen zwischen ihren Augen. Danziger kicherte. »Tut mir leid.« Eine Sekunde später wurden alle mit gigantischen Regentropfen bombardiert. True, Uly und die meisten Leute, die im Sand gefaulenzt hatten, schössen hoch, um unter den Fahrzeugen Schutz zu suchen; Danziger reckte sein Gesicht dem Schauer entgegen - und stellte fest, daß Devon dasselbe tat. Sie strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und öffnete ihren Hemdkragen. »Was starren Sie mich so an?« fragte sie vorwurfsvoll. Er lächelte. »Sie sind attraktiv, wenn Sie sich ein bißchen entspannen.« »Nun, ich bin nicht entspannt«, erwiderte sie, »nur schmutzig.« Danziger betrachtete den türkisfarbenen Fluß, der unter der Regentropfendecke jetzt ganz verschwommen aussah. »Wissen Sie, wenn wir eine Stelle finden, wo der Fluß breiter ist als hier, dann ist die Strömung wahrscheinlich nicht so stark.« »Woher wollen Sie das wissen?«
»Es entspricht der Logik. Dieselbe Wassermenge fließt den Fluß hinunter. Wenn er schmal ist, muß er tiefer und schneller sein. An einer breiten Stelle wird er langsamer und vermutlich seichter sein.« Devon lächelte ihn an. »Eine kluge Überlegung. In welcher Richtung sollten wir nach diesem seichten Übergang suchen?« Danziger deutete flußaufwärts. »Ich würde in Richtung des Oberlaufs gehen. Nur so eine Ahnung.« Devon nickte. »In dieser Richtung habe ich den riesigen Vogel gesehen.« »Riesigen Vogel?« Sie lachte. »Vielleicht habe ich auch nur geträumt, wie Alonzo. Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Morgen früh, wenn Sie alle Ihren freien Tag genießen, werde ich mich mit Yale stromaufwärts umsehen.« Devon schob ihre glatten Haare aus dem hübschen Gesicht und wandte sich zum Gehen. »Oh«, sagte sie noch, »Sie waren heute sehr mutig, als Sie Julia gerettet haben.« Er zuckte die Achseln. »Nun - einer für alle und alle für einen.« Devon bedachte ihn mit einem ihrer seltenen Blicke offener Anerkennung. »Ich schulde Ihnen irgendwann eine Einladung zum Abendessen.« Danziger runzelte die Stirn und sah ihr nach, als sie zum TransRover hinüberging. Was genau sollte diese Einladung bedeuten? überlegte er. Alles, was diese Frau tat, war ihm ein wenig zu intensiv, zu kompromißlos; mit Devon Adair würde es gewiß keine beiläufigen Affären geben, sie würde auch in der Liebe nicht auf halbem Wege stehenbleiben - bei ihr gab es nur alles oder nichts, da war er sich sicher. Der Mechaniker blickte zum Flußufer, wo Alonzo saß. Der Regen hatte ein bißchen nachgelassen, aber nicht genug, als daß Danziger genau erkennen konnte, was der Pilot tat. Vielleicht brauchte er Hilfe, um ein Dach über den Kopf zu bekommen. Danziger trabte hinüber, um ihn zu fragen. Als er näher herankam, sah er, daß Alonzo eine
lange Funkantenne aus Metall in der Hand hatte und an ihrem Ende eine Fadenspule befestigte. »Eine Angelrute!« sagte Danziger entzückt. Alonzo grinste. »Wir brauchen nur einen dieser Burschen zu fangen, um das Abendessen für alle zusammenzubekommen. Ich benutze die Spule als Schwimmer und einen Zeltpflock als Haken, aber ich bin mir nicht sicher, was ich als Köder nehmen soll.« »Ich erinnere mich an diesen Zeltpflock«, sagte Danziger. »Ich war derjenige, der ihn falsch herum eingeschlagen und verbogen hat.« »Gut, daß Sie das getan haben. Meine Mutter hat mich gelehrt, niemals etwas wegzuwerfen. Aber ohne Köder oder Blinker nutzt er nichts. Also, was würde ein alter Lederfisch wohl gerne fressen?« »Hier«, sagte eine weibliche Stimme. Die Männer drehten sich um und sahen Devon, die eine aufgeweichte Schachtel aus ihrer Hemdtasche holte. »Ich wette, daß sie Pemmikan mögen.« Sie warf Alonzo das Paket auf den Schoß. »Danke.« Er entfernte das Papier und stülpte die aufgeweichte Masse über den Haken. »Perfekt! Aber da ich nicht aufstehen kann, kann ich nicht weit werfen.« »Lassen Sie mich das machen«, bot Danziger an. Er nahm die zuammengebastelte Rute und wiegte sie befriedigt in der Hand. Dann trat er an den Rand des Flusses. Inzwischen trotzten alle dem Regen, um zu sehen, was die drei vorhatten. »Daddy, ich habe gar nicht gewußt, daß du angeln kannst!« wunderte sich True. »Ich habe nicht mehr geangelt, seit ich in deinem Alter war«, gestand Danziger. »Auf der Erde ist das eine fast völlig verlorengegangene Kunst. In den Flüssen gibt es keine Fische mehr, aber wir haben es ab und zu im Teich meines Onkels versucht. Einmal haben wir einen ergrauten, alten Sonnenfisch gefangen, aber wir wollten ihn nicht essen.« »Es heißt, daß Regenwetter gut zum Angeln ist«, meinte Bess.
Danziger sah sich um, um sicher zu sein, daß niemand im Wege stand. »Tretet zurück«, warnte er. Die anderen wichen zurück, als ob er im Begriff wäre, eine Dynamitstange zu zünden. Dann ließ der Mechaniker Haken, Schwimmer und Leine über das blaugrüne Wasser segeln. Sie landeten mit einem hübschen Plumpsgeräusch, und die starke Strömung trug sie noch weiter hinaus. Mit einiger Mühe kroch Alonzo näher ans Wasser heran, und Danziger übergab ihm die Rute. »Die Ehre gebührt Ihnen«, meinte er. Der Pilot strahlte. »Danke.« Ein paar Minuten lang tat sich nichts, so daß Morgan sich schon beklagte: »Wieso dauert das so lange?« »Das ist Angeln«, sagte seine Frau. »Geduld ist dabei die höchste Tugend.« Devon lächelte Morgan an. »Dann sind wir beide aus dem Spiel.« Yale trat mit besorgter Miene nach vorne. »Wenn eine der Kreaturen anbeißt, die wir vorhin gesehen haben, sollten Sie darauf vorbereitet sein, daß ...« »He!« schrie Alonzo, als ihm die Rute fast aus der Hand gerissen wurde. Die Kraft, die auf die Leine einwirkte, wirbelte ihn herum und zerrte ihn mehrere Meter bäuchlings über den Sand. »Hilfe!« brüllte er. Danziger sprintete zu ihm und als die Rute dem Piloten schließlich aus den Händen glitt, warf sich der Mechaniker auf sie. Er bekam die Antenne zu packen und versuchte, sie an die Brust zu ziehen, aber es fühlte sich an, als hätte er es mit einem Zyklon zu tun. Er wurde in die eine, dann in die andere Richtung gerissen, landete auf dem Rücken und wurde nun ebenfalls hilflos über den nassen Sand geschleift. »Hilfe!« heulte Danziger. Die anderen rannten neben ihm her und riefen ihm mit einer Mischung aus Besorgnis und Zuversicht zu. Devon sprang ihm direkt gegen die Brust und griff mit beiden Händen nach der Rute. Vier Hände machten jedoch kaum einen Unterschied, und so wurden sie beide flußabwärts geschleift, wobei Devon vor Vergnügen quieckte.
Als schon alles verloren schien und es für beide unmöglich war, die Rute noch einen Moment länger festzuhalten, griff auch Morgan in den Kampf ein. Er sprang nach der Angel und bekam sie am oberen Ende fest in den Griff. Als dann auch noch Bess, Julia und die Kinder dazukamen, verwandelte sich der Angelspaß in ein allgemeines Getümmel. Glücklicherweise waren Yale und Zero auf den Beinen geblieben, und dieses Duo gewann allmählich die Kontrolle über die Rute und das allgemeine Durcheinander. Und während die anderen noch versuchten, wieder zu sich zu finden, zogen der Roboter und der Cyborg den Fisch tatsächlich aus dem Wasser. Morgan richtete sich im Sand auf und schüttelte benommen den Kopf. »Ich wußte gar nicht, daß Angeln ein Mannschaftssport ist.« Bess hing auf seinem Rücken und küßte ihn. »Du warst wundervoll«, hauchte sie. Danziger half Devon auf die Füße. »Ich sollte mich bei Ihnen bedanken«, keuchte er. »Ich war im Begriff, die Angel zu verlieren.« »Das passiert den Besten von uns.« Sie kniepte ihm zu. »Sehen wir mal, was wir gefangen haben.« Während der Regen immer noch auf sie niederprasselte, versammelten sich die Mitglieder der Gruppe gespannt am Flußufer, um festzustellen, was ihnen ihre Anstrengungen eingebracht hatten. Baines und Danziger hoben Alonzo hoch und trugen ihn zu der Versammlung hinüber, damit auch er das Ergebnis seiner Angeltour mitbekam. True, Uly und Julia ächzten, als der Fang aus dem Wasser gezogen wurde. Für viele von ihnen war es das erste Mal, daß sie überhaupt einen Fisch sahen, und ein größeres, häßlicheres Exemplar wäre kaum vorstellbar gewesen. Selbst Danziger pfiff bewundernd, als er den anderthalb Meter langen Fisch sah. Er fand, daß er prähistorisch aussah - ein schwarzes, glasäugiges, ledriges Ding mit einem Dutzend spitzer Flossen und Stacheln, die seinen ganzen klobigen Körper umgaben. Das Maul war der schauerlichste Teil seiner Anatomie
stachelig, mit langen gebogenen Fühlern versehen und mit gefährlich scharfen Zähnen. Nachdem sich der Fisch eine Weile nicht bewegt hatte, wälzte er sich plötzlich wie besessen herum, so daß mehrere der Zuschauer schreiend zurücksprangen. Das Ungetüm rollte sich auf den Bauch und kroch auf die Gruppe zu, wobei er seine Flossen wie Beine benutzte. Jetzt kreischten alle auf und wichen hastig zur Seite. Bess jedoch blieb stehen und blickte die Kreatur fest an. »Es tut mir sehr leid, Fisch«, sagte sie, »aber wir müssen außer den Notrationen auch noch etwas anderes essen.« Mit diesen Worten ließ sie ein Rohrstück auf den Schädel des Tieres krachen, und dann vernahmen die Umstehenden nur noch ein lautes, knirschendes Geräusch. Nach Einbruch der Dämmerung hatte sich der Regen flußaufwärts verzogen. Die Mitglieder der Gruppe hatten genug angeschwemmtes Treibholz gefunden, unrein prasselndes Feuer zu entfachen. Der häßliche Fisch - nach dem Mann, der ihn entdeckt hatte »ein Alonzo« genannt - wurde über dem offenen Feuer am Spieß gebraten. Trotz all seiner Knochen, Flossen und der ledrigen Haut beklagte sich niemand über den gegrillten Leckerbissen. Der Fisch war unerwartet zart und hatte einen rauchigen Geschmack; so dauerte es gar nicht lange, bis einige der tapferen Esser an seinem Schwanz und am Kopf herumnagten. »Wer hätte gedacht, daß etwas so Häßliches so gut schmecken kann?« wunderte sich Morgan. »Glauben Sie, wir könnten einen Haufen >Alonzos< fangen und exportieren?« »Ich weiß nicht«, antwortete Julia. »Das nächste Restaurant ist zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt. Es wäre eine Menge Eis erforderlich.« Während alle lachten, nickte Morgan ernsthaft. »Stimmt. Aber das ist es nicht.« »Ist was nicht?« fragte Devon. Der Regierungsbeamte lächelte rätselhaft. »Die Antwort auf meine Gebete.«
Alonzo rieb sich den Magen. »Nun, es ist die Antwort auf meine Gebete.« »Auf meine auch«, stimmte ihm Danziger zu. True schmiegte sich in die Armbeuge ihres Vaters und sagte: »Und auf meine.« Der Verlauf dieses Abends, dachte das Mädchen, war fast zu schön, um wahr zu sein. Die gemeinsamen Mühen und jetzt der gemeinsame Lohn hatten dafür gesorgt, daß sich alle wie eine Familie fühlten. Wer hätte am Tag zuvor auch nur davon geträumt, daß sie heute auf dem Grund dieses gigantischen Canyons entspannt ruhen und über die Witze der anderen lachen würden? Gestern war dieser Abgrund ein Trauma für alle gewesen, und nun stellte er ihr Zuhause dar. Zuhause! dachte True verwundert. Wie mußte es sein, wenn man ein richtiges Zuhause hatte, einen Platz, den man verließ, zu dem man aber immer zurückkehrte? Sie und ihr Dad waren so viele Jahre in Raumschiffen herumgeflogen, daß sich das Mädchen längst an dieses Vagabundenleben gewöhnt hatte - ohne das Gefühl zu haben, irgend etwas zu vermissen. Und True wußte durchaus, daß das Leben für andere Kinder weitaus unangenehmer war, beispielsweise für Uly vor seiner Genesung. Oder für die Waisen, die vielen Kinder, die in Heimen aufwuchsen, während ihre Eltern im Kälteschlaf auf langen Missionen unterwegs waren. Sie sah Alonzo an und dachte, daß seine Kinder, wenn er als junger Mann welche gehabt hätte, jetzt alt genug wären, um seine Eltern sein zu können. True schmiegte sich an die Brust ihres Vaters und erinnerte sich an Bücher, die sie während ihrer letzten Schultage gelesen hatte, an Geschichten von einem Mann namens Mark Twain. Die Kinder in diesen Geschichten wuchsen in einer kleinen Stadt auf und verbrachten dort ihr gesamtes Leben. Das schien heute kaum noch möglich zu sein, obwohl True annahm, daß manche Leute lange Zeit in fernen Kolonien verbrachten. Es war so, als ob man sowohl eine Mutter als auch einen Vater hätte, etwas, das es auch nur in Büchern
zu geben schien. Aber eine Sache in diesen Geschichten war wahr gewesen! »Dad«, sagte sie leise, »sie lebten an einem Fluß.« »Was, Liebling?« »Diese Kinder, über die Mark Twain geschrieben hat. Sie lebten an einem großen Fluß, und er war ihr Zuhause.« »Das stimmt«, antwortete Danziger lächelnd. »Ein Fluß ist so etwas wie ... ein Raumschiff. Er bietet Wasser, Nahrung, Fortbewegung - alles, was Menschen brauchen.« Sie schmiegte sich noch enger an ihren Vater. »Der Fluß gefällt mir besser als ein Raumschiff.« »Mir auch«, sagte er sehnsüchtig. »Aber ein Fluß ist wild und gefährlich. Nicht von uns zu kontrollieren, wie die Kobas.« True runzelte die Stirn. »Was ist los? Hast du Angst vor den Kobas?« »Nein«, entgegnete True energisch. »Sie sind nicht wild und gefährlich.« »Hast du vergessen, was sie Commander O'Neill angetan haben?« flüsterte er. »Er hat auf sie geschossen. Er hat versucht, sie zu töten.« »Ja«, räumte Danziger ein, »das war ein Fehler. Wir müssen lernen, an der Seite wilder Dinge wie diesem Fluß zu leben, ohne sie zu zerstören.« »Ich möchte ein Zuhause haben«, sagte True plötzlich mit herzzerreißender Ernsthaftigkeit. Sie spürte, wie sich die Arme ihres Vaters enger um ihre schmalen Schultern schlangen. »Ich auch, Schatz. Vielleicht wird es das hier sein.« »Der Fluß?« Er schüttelte den Kopf. »Ulys Mom will nach New Pacifica. Vielleicht wird das auch unser Zuhause.« »Ist es da so schön wie hier?« »Ich weiß es nicht, mein Liebling.« Er blickte auf das Lagerfeuer. »Keiner von uns ist jemals dort gewesen.« Er drückte sie ermutigend.
»Wenn es da nicht so schön ist, kommen wir zurück zu diesem Fluß, einverstanden?« »Einverstanden«, murmelte sie glücklich. »Abgesehen davon«, sagte Danziger, »ist jeder Ort, an dem du bist, mein Zuhause.« Sie drückte ihn ebenfalls. »Ist das wahr, Daddy? Ich liebe dich.« »Ich liebe dich auch, meine Süße.« True versuchte, wach zu bleiben, aber die Wärme im Arm ihres Vaters, das knisternde Feuer und das sanfte Rauschen des Flusses lullten sie in den Schlaf. Sie befand sich in dem Reich zwischen Traum und Wirklichkeit, als ihr Vater sie ins Zelt trug und in ihren Schlafsack hüllte. »Gute Nacht, Daddy«, murmelte sie. »Gute Nacht, True.« Er küßte sie. Jetzt war True allein in der Dunkelheit, aber sie fühlte sich nicht einsam. Irgend etwas stimmte nicht, und sie wollte schon aus dem Schlafsack kriechen und zu ihrem Vater laufen, als sich ein glatter, kleiner Körper an ihre Brust kuschelte. »Kätzchen!« ächzte sie erregt. Der Koba zirpte ein zufriedenes Hallo und krabbelte unter ihr Kinn. Sie würde nie verstehen, warum sich Schuppen so weich anfühlten, aber es war so. »Kätzchen ... Ich habe gewußt, daß du zurückkommst.« Sie umarmte ihr Kuscheltier, und der Koba umarmte sie. Dann glitten die beiden in einen gemeinsamen Traum vom Leben am Fluß. Der Morgen war fantastisch. Goldenes Licht kroch an den Canyonwänden nach unten und verwandelte sie in Buntglasmosaike in allen Farben das Spektrums. Am erstaunlichsten fand Devon Adair, daß die Farben reliefartig hervortraten sie schienen so nahe zu sein, als würde man sie berühren können. Durch dieses Gewirr von Farben und Formen strömte der türkisfarbene Fluß, als wollte er den gezackten Felszinnen einen Ankerplatz und ein magisches Fundament bieten, wie Steine in einem Aquarium. In diesem Wunderland schienen die
Menschen so unbedeutend zu sein wie der Wind, substanzlose Geister, die durch eine Raumzeit trieben, der sie nicht angehörten. Würden sich die Steine an sie erinnern, wenn sie gegangen waren? Würde eine einzige Fußspur von ihnen zurückbleiben? Natürlich nicht. Trotz all ihrer grandiosen Ideen und Pläne waren diese Menschen ein Nichts für das ewige Dahinströmen des Flusses und die monumentale Lebensspanne der Zinnen, Plateaus und Torbögen. Devon war nie ein spiritueller Mensch, nie der Mystik zugewandt gewesen, aber die schweigsame Großartigkeit des Canyons vermittelte ihr das Gefühl, daß hier Kräfte am Werk waren, die sie nicht verstand und die sie niemals würde verstehen oder gar kontrollieren können. Sie konnte diese Kräfte akzeptieren oder bekämpfen, aber am Ende würde dies keinen Unterschied machen. Devon versuchte, sich aus ihren Träumereien zu lösen und sich auf all die Dinge zu konzentrieren, die sie an diesem Tag zu erledigen hatte. Unglücklicherweise zielten alle ihre Pläne darauf ab, Wege finden, um diesen Ort verlassen zu können; aber die Vorstellung einer Fortsetzung des Gewaltmarsches durch die Wildnis erweckte keine Begeisterung in ihr. Bisher hatten sie nichts gesehen, das so schön war wie dieses Tal, und sie erwartete auch nicht, noch einmal etwas Vergleichbares zu finden. Warum also diese Eile? Die eigene Trägheit veranlaßte Devon zu einem erschrockenen Kopfschütteln. Wenn sie schon solche Empfindungen hatte, was mochten dann erst die anderen denken? Sie blickte sich um und sah, daß alle lachten und scherzten, als hätten sie keinerlei Sorgen. Obwohl sie seit Wochen beim ersten Tageslicht stets das Lager abgebrochen hatten, dachte heute niemand daran, ein Zelt abzubauen. Einige versuchten, Angelruten zu basteln. Bess arbeitete an einem Netz, mit dem sie im Fluß ihre Kleider waschen oder zumindest durchspülen konnten. True und Uly bauten Sandburgen - richtige Gebäude, keine Raumstationen. Julia und Alonzo spielten im Sand Backgammon, während sich Yale und Zero bei einer Partie Dame stritten. Einzig John Danziger verrichtete so etwas wie eine richtige Arbeit: Er hob träge eine Grube aus, um darin die Überreste ihrer Mahlzeit
vom vergangenen Abend zu vergraben. Dabei hatte er vermutlich bereits weitere »Festessen« im Sinn. Alle nehmen diesen freien Tag ziemlich ernst, dachte Devon alarmiert. Sie kam zu der Überzeugung, daß sie die anderen hier so schnell wie möglich wegbringen mußte, weil sie diesen Platz sonst vielleicht nie wieder verlassen wollten. Unglücklicherweise war diese türkisfarbene Wasserstraße wie eine mit einem Köder versehene Falle, die sie gefangennahm und ihnen gleichzeitig einen Zufluchtsort bot. Devon seufzte und ging los, um sich zu vergewissern, daß der ATV aufgeladen und fahrbereit war. Sie sorgte sich ein bißchen, daß nicht genug Sonnenlicht den Grund des Canyons erreichte, um die mit Solarenergie angetriebenen Fahrzeuge zu versorgen; aber als sie die Zündung betätigte, brummte der ATV wie gewohnt auf. Selbst den Fahrzeugen schien das angenehme Klima am Fluß zu gefallen. Gegen eine Meuterei wäre sie gewappnet gewesen, aber sie hätte nie geglaubt, daß Zufriedenheit und Glück ihre gefährlichsten Gegner sein würden. Wie sollte sie die anderen nur davon überzeugen, dieses Paradies zu verlassen? Devon blickte zum Himmel empor, als wollte sie nach einem Zeichen Ausschau halten - und tatsächlich, da war er wieder: Ihr riesenhafter Vogel glitt zwischen den fernen Plateaus durch die Lüfte. Devon wollte die anderen rufen, um sie auf den Vogel aufmerksam zu machen, doch da war er schon wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden. Besser du schweigst, dachte Devon, sonst halten sie dich nicht nur für eine grausame, herzlose Anführerin, sondern auch noch für verrückt. Riesenhafte Vögel, also wirklich! Niemand sonst hatte sie gesehen, oder? Wenig später erschienen plötzlich zwei von diesen Wesen über einem Bergkamm und schwebten in einer perfekten Zweierformation zum Zentrum des Canyons hinunter. Devon ließ ihre Blicke über den Lagerplatz gleiten und mußte feststellen, daß die anderen unbeirrt ihren Freizeitvergnügungen nachgingen und niemand außer ihr auch nur im geringsten auf diese monströsen Vögel achtete. Wieder blickte Devon in die Ferne und konnte erkennen, daß das Paar inzwischen Gesellschaft von einem dritten Artgenossen
bekommen hatte. Während sie noch verblüfft hinübersah, starteten zwei weitere Flügelwesen von der Klippe, um mit den anderen eine kleine Schwadron von Fliegern zu bilden. Aus der Entfernung war es unmöglich zu sagen, wie groß sie genau waren, aber Devon sah keine Veranlassung, ihren anfänglichen Eindruck zu revidieren. Die Flügelspanne der Vögel schien etwa vier Meter zu betragen - wenn so etwas überhaupt möglich war; denn das bedeutete, daß man sie in die Klasse des kalifornischen Riesenkondors einzuordnen hätte, die seit einem Jahrhundert auf der Erde ausgestorben waren. Aber, dachte sie, warum sollte es in diesem Canyon eigentlich keine Kondore geben? Der Lebensraum hier wäre ideal für sie. Als die fliegenden Kreaturen jedoch näher herankamen und Devon sie eingehender studieren konnte, bekam sie den beunruhigenden Eindruck, daß dies überhaupt keine Vögel waren. Ihre länglichen Glieder und ihre Farbe ein einheitliches Graubraun vom Kopf bis zu den Zehen hatten etwas unheimlich Vertrautes und doch zugleich auch Fremdartiges an sich. Etwas sehr Fremdartiges ... Sie wollte niemanden in Panik versetzen und trabte deshalb zu John Danziger hinüber, der den Sand in der von ihm ausgehobenen Grube festklopfte. »Danziger«, sagte sie, »erinnern Sie sich, daß ich Ihnen von einem riesenhaften Vogel erzählt habe, den ich gesehen habe?« Der Mechaniker wischte sich den Schweiß von der Stirn und nickte. »Und?« »Sehen Sie sich das an.« Sie zeigte auf die Schwadron am Himmel, die eindeutig, wenn auch ohne Eile, in ihre Richtung flog. »Mann«, stieß Danziger hervor, »Sie haben keine Witze gemacht. Und sie kommen hierher.« »Wie sehen sie Ihrer Meinung nach aus?« »Wie Harpyien.« Devon zog die Augenbrauen hoch. »Harpyien? Was sind das?« »Sie sind in der griechischen Mythologie nicht so bewandert, verstehe. Wenn es Harpyien wirklich gäbe, würden Sie ihnen bestimmt nicht gerne begegnen.«
»Nun, diese Kreaturen sind wirklich«, stellte Devon fest. »Und ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen begegnen möchte.« Danziger legte die Hände vor den Mund und brüllte: »Hört mal alle! Wir haben Besucher - aus der Luft! Kann jemand ein Fernglas holen?« Statt Ferngläser zu holen, blieben alle starr an Ort und Stelle stehen und blickten zum östlichen Himmel hoch. Gerade sprangen zwei weitere Flügelwesen von den Plateaus, die den Canyon säumten, und schlössen sich der Formation der anderen an. Die Schwadron zählte jetzt sieben Mitglieder. Erschrocken führte sich Devon vor Augen, daß die Kreaturen in der Nacht die Möglichkeit gehabt hatten, überall an den Canyonwänden Position zu beziehen. Wer wußte schon, wie viele es waren? Sie hatten schon genug fremdartige Dinge auf G889 gesehen, um nahezu alles für möglich zu halten. Die Flugobjekte kamen unerbittlich näher. Mit ein paar trägen Flügelschlägen beschleunigten sie ungeheuer und verkürzten die Entfernung beträchtlich. «Oh, nein«, murmelte Alonzo, als ob er sie erkennen würde. »Was sind sie?« wollte Devon wissen. »Pterodaktylen!« schrie Morgan. Er ließ seine Angelrute fallen und versteckte sich in einem der Zelte. Devon bezweifelte, daß es tatsächlich Pterodaktylen waren, aber Morgans Spekulation brachte alle auf die Beine. Julia bemühte sich, Alonzo in Sicherheit zu zerren, und die übrigen verkrochen sich entweder oder griffe» nach einer Waffe. Plötzlich hatte sich das Paradies in Chaos verwandelt. Selbst John Danziger trat den Rückzug an. »Vielleicht sollten wir in Deckung gehen, bis wir herausfinden, was sie wollen.« »Diese Harpyien«, fragte Devon, »was machen sie?« »Sie sind ein Mythos.« »Ja, aber was machen sie?« »Sie zerreißen Menschen und verspeisen sie«, antwortete der Mechaniker. »Im Ernst?« Devon wich in die Richtung des TransRover zurück.
Baines stürmte an ihnen vorbei, warf einen besorgten Blick über die Schulter und murmelte: »Soweit unser freier Tag!« Überall herrschte Panik, aber Devon sah keine Veranlassung, Anweisungen zu geben und die Dinge noch komplizierter zu machen. Selbst Yale und Zero bezogen Position hinter dem TransRover. Die sieben Flügelwesen es waren eindeutig feine Vögel - kurvten jetzt über dem Wasser. Es stand fest, daß ihr Ziel das Lager war. Sie bewegten sich mit einer solchen Schnelligkeit, daß es unmöglich war, sie genau zu studieren, obwohl sie höchstens noch fünfzig Meter entfernt waren. Zumindest hatte Devon die Angreifer früh genug gesehen, um alle warnen zu können. Sie waren doch alle in Deckung, oder? In der Hoffnung, eine schnelle Zählung vornehmen zu können, blickte sie sich um, aber einige von ihnen hatten wie Morgan in den Zelten Zuflucht gesucht. Die meisten kauerten hinter dem TransRover, während sich Julia und Alonzo unter den SandRail geflüchtet hatten. Alle konnten abgehakt werden, abgesehen von ... Uly! Der Junge hatte als einziger den Strand nicht verlassen. Und tatsächlich schritt er den herannahenden Kreaturen unbekümmert entgegen.
8
»Uly!« schrie Devon panisch auf und stürmte aus ihrer Deckung hervor. Danziger machte einen Satz, um sie zurückzuhalten, er verfehlte sie. Devon sprintete über den Sand und betete, daß sie die Kreaturen erreichen würde, bevor diese bei Uly waren. Aber der Sand eignete sich nicht zum Laufen, nur zum Stapfen, und der Junge entfernte sich von ihr. Sie ächzte und fiel kopfüber in den Sand als das erste Wesen über ihren Kopf kurvte und unmittelbar hinter ihr landete. Devon rappelte sich auf und sah voller Erstaunen, wie nun alle sieben mit ausgebreiteten Flügeln auf den Boden glitten. Diese Flügelwesen bewegten sich mit der Grazie und Geschmeidigkeit von Adlern, obwohl sie über zwei Meter groß waren. Und dann erkannte sie plötzlich, wen sie hier tatsächlich vor sich hatte: Terrianer! Ihre schlanken, ledrigen Körper, die eingefallenen Gesichter, die schmalen, schuppigen Glieder und die Klauen an ihren Händen und Füßen waren unverkennbar. Terrianer mit Flügeln! Sie hatten ihren Sohn einmal entführt, aber sie würden es nicht noch einmal tun! Sie stürmte nach vorne und sprang Uly förmlich an. »Mom!« protestierte er. »Was machst du?« »Ich rette dich!« keuchte sie. »Sie tun nichts, sondern sehen uns nur an«, machte ihr der Junge klar. Devon musterte die statuenhaften Gestalten und mußte zugeben, daß ihr Sohn recht hatte. Die Terrianer waren offensichtlich nur gelandet, um die Zelte und Fahrzeuge besser betrachten zu können. Als Devon sie gründlicher inspizierte, erkannte sie, daß ihre Flügel nicht angewachsen, sondern mit Riemen an Armen, Brust und Schultern festgeschnallt waren. Es war schon irritierend genug, Terrianer aus dem Erdboden hervorschießen zu sehen, und jetzt stürzten sie auch noch vom Himmel herab.
»Baines!« hörte sie Danziger rufen. »Nehmen Sie das Gewehr runter!« »Aber was wollen sie?« grollte der Mann. »Das weiß ich nicht, aber sie stehen ja nur da.« Widerstrebend ließ Baines das Gewehr sinken und wartete zusammen mit den anderen ab. Einer der geflügelten Terrianer deutete auf den SandRail, unter dem Alonzo und Julia Schutz gesucht hatten. »Sie wollen das Fahrzeug haben!« stellte Baines fest. »Nein«, entgegnete Uly mit Bestimmtheit. »Sie kennen Alonzo.« »Ja«, gestand der Pilot, während er unter dem SandRail hervorkroch. Julia kam ebenfalls ins Freie, blieb aber Schutz suchend in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs. »Ich habe geträumt, daß ich mit ihnen geflogen bin«, sagte der Pilot staunend. »Als ich den Canyon zum ersten Mal sah.« Der junge Mann nickte dem Terrianer zu, um das Wiedererkennen zu bestätigen, und dieser nickte zurück. Ein anderer Terrianer trat vor und streichelte Ulys braune Haare. Devon hielt den Jungen krampfhaft fest, aber als sie die betrübte Miene des Wesens bemerkte, ließ sie zu, daß Uly die Hand ausstreckte und den Terrianer berührte. Dieser zeigte jetzt einen Gesichtsausdruck, der einem Lächeln ähnlich war. Danziger kam mit leicht erhobenen Händen langsam nach vorne. »Erschrecken wir sie nicht, okay? Sie scheinen freundlicher zu sein als die Terrianer, denen wir bisher begegnet sind.« »Dieser Stamm ist hier unten ziemlich abgeschieden«, fügte Alonzo hinzu. »Sie haben nicht viel Kontakt zu anderen Terrianern. Ich glaube, sie freuen sich ehrlich, uns zu sehen.« Yale kam heran. »Bei der Beschaffenheit dieses Canyons und der Nähe des Wassers wäre es möglich, daß sie nicht unterirdisch leben wie ihre Artgenossen. Aber sie haben das dadurch kompensiert, daß sie Flügel entwickelt und das Fliegen gelernt haben. Verblüffend!« »Schwemmt Wasser die Terrianer nicht auf?« fragte True.
»Ja«, antwortete Alonzo. »Aber wie ihr seht, halten sie sich davon fern.« Devon klammerte sich weiterhin an Uly. »Glauben Sie, daß Sie uns einen Übergang über den Fluß zeigen können?« fragte sie hoffnungsvoll. Alonzo schloß für einige Momente die Augen und schien in Trance zu verfallen. Als er die Augen wieder öffnete, nickte ihm der Terrianer, mit dem er im Traum kommuniziert hatte, wieder zu. Dann fing er an, die Flügel von seinem schlanken, muskulösen Körper zu entfernen. Devon beobachtete fasziniert, wie der Terrianer die kunstvoll verschlungenen Riemen löste und die beiden zwei Meter breiten Flügel abstreifte. Er trat gelassen auf sie zu und legte ihr die Hügel vor die Füße. Sie bückte sich und hob die überraschend leichtgewichtigen Segel auf. Verblüfft stellte sie fest, daß sie aus derselben zähen Haut gemacht waren wie der am Abend zuvor verzehrte Fisch. Alonzo lächelte. »Das ist eine hohe Ehre. Sie werden uns ihre Flügel leihen, damit wir über den Fluß fliegen können, so wie sie es tun.« »Ich würde es nicht versuchen«, warnte Yale. »Trotz ihrer Größe sind sie erheblich leichter als Menschen. Und sie haben vermutlich eine jahrhundertelange Erfahrung im Umgang mit diesen Flügeln.« Devon nickte und lächelte den Terrianer an, der ihr seine Flügel angeboten hatte. »Ich werde es nicht versuchen«, sagte sie. »Aber es war trotzdem ein wundervolles Angebot. Selbst wenn es einige von uns schaffen sollten, nach drüben zu fliegen, was wäre dann mit den Fahrzeugen und den Kindern, Alonzo?« Widerstrebend gab sie dem Terrianer die Flügel zurück und deutete mit den Fingern die Bewegung des Gehens an. Dann zeigte sie auf den Fluß. Der Terrianer nickte, als schiene er sie zu verstehen. Er machte eine Handbewegung in Richtung seiner Gefährten, die daraufhin damit begannen, den steilen Bergabhang hinaufzusteigen, den die Truppe gestern hinuntergerutscht war. Die Terrianer machten lange
Schritte, ohne sich durch die Steigung behindern zu lassen, bis sie eine Höhe von etwa dreißig Metern erreicht hatten. Nacheinander breiteten sie ihre bemerkenswerten Flügel aus und sprangen von der Klippe. Devon und die anderen beobachteten voller Erstaunen, wie die Terrianer ihre Flügel schräg stellten, um die Luftströmungen aufzufangen, und sie bei Bedarf elegant auf und ab bewegten, bis sie genug Höhe gewonnen hatten, um den Fluß zu überqueren. Als sie über den türkisfarbenen Fluß schwebten und sich dann zum Zentrum des Canyons hinunterschwangen, sahen sie aus wie eine Schwadron dunkler Engel. Einige hatten beim Einfangen warmer Luftströmungen mehr Glück als andere, und die weniger Glücklichen mußten auf Felsnasen und Vorsprüngen zwischenlanden, die ansonsten nur von den Kobas begangen werden konnten. Von dort aus kletterten sie weiter nach oben, um bessere Startrampen für erneute Sturzflüge zu finden. Auf diese Weise kehrten die sechs schließlich gemächlich dorthin zurück, wo sie hergekommen waren. Der zurückgebliebene Terrianer hob seine Flügel mit einer Geste, die an die Bewegung erinnerte, mit der die erdgebundenen Terrianer ihre Stäbe hochhielten. Er deutete mit den Flügeln in die Richtung, in die seine Kameraden flogen, und marschierte dann hurtig los. Uly befreite sich aus Devons Armen, um dem Terrianer zu folgen. Devon wartete einige Sekunden, dann rief sie: »Danziger, können Sie das Lager abbrechen und die Fahrzeuge in Marsch setzen?« »Sicher«, rief er zurück. »Aber ich möchte nicht, daß Sie alleine mit ihnen gehen!« »Ich gehe mit!« rief Bess und eilte hinter ihnen her. »Bleiben Sie in Kontakt mit uns«, forderte Danziger sie auf und reichte ihr ein Funkgerät. »Danke!« Morgan steckte scheu den Kopf aus seinem Zelt. »Kann man jetzt gefahrlos herauskommen?« Uly und die beiden Frauen waren ihrem schweigsamen Führer schon fast eine Stunde lang gefolgt, als Devon zum ersten Mal Veränderungen am Fluß bemerkte. In diesem Teil des Canyons waren
die aufragenden Wände nicht weniger imposant, aber die Hänge, die zum Fluß hinunterführten, waren breiter und nicht ganz so steil. Der Strom schien seinen Bewegungsspielraum zu nutzen und verbreiterte sich beträchtlich, wobei er an dem felsigen Ufer kleine Teiche und Inseln schuf; der einst so breite Strand war nur noch ein schmaler Streifen. Offensichtlich hatte John Danziger recht, die Strömung schien an dieser Stelle tatsächlich schwächer zu sein. Die Fahrzeuge könnten den Fluß hier vielleicht überqueren, aber im Augenblick gab es keine Veranlassung, es zu versuchen. Zum einen wären ihre Gastgeber vielleicht beleidigt gewesen, und zum anderen bestand die Möglichkeit, daß die Verhältnisse weiter flußaufwärts noch günstiger wurden. Devon hörte in der Ferne das Brummen des ATV, Danziger hatte also mit dem Rest der Gruppe zu ihnen aufgeschlossen, hielt jedoch einen respektvollen Abstand bei, um ihren Führer nicht zu ängstigen. Der Terrianer blieb gelegentlich stehen, um sich zu vergewissern, daß sie ihm noch folgten, schien aber ansonsten ihre Gegenwart gar nicht wahrzunehmen. Vielleicht genoß er seinen unerwarteten Spaziergang am Ufer. Uly zupfte an Devons Ärmel und deutete zum oberen Rand des Canyons hinauf. Dort trieben drei weitere Terrianer in schwindelerregender Höhe gemächlich dahin. Sie hatte Raumjockeys und Forscher, Grubenarbeiter und Ozeanographen kennengelernt, aber so tollkühnen Burschen wie diesen war sie noch nie begegnet. Wie viele Leben hatten sie beim Perfektionieren ihrer erstaunlichen Gleitund Flugtechniken wohl verloren? Wie lange hatte es gedauert, bis sie diese dünnen Segel aus Fischhaut zu meistern verstanden? Devon erschauderte bei dem Gedanken. Nach einer weiteren Stunde Fußmarsch nahm die Zahl der am Himmel schwebenden Gestalten weiter zu. Allerdings schien es sich weniger um eine Eskorte zu handeln als vielmehr um eine unorganisierte Bande von Neugierigen. Manche Terrianer flogen ganz nahe an die Ankömmlinge heran mit besonderem Interesse für die
dahinrumpelnden Fahrzeuge - und drehten dann ab, um von neuen Fliegern abgelöst zu werden. »Mom!« rief Uly plötzlich und deutete aufgeregt in die Ferne. Parallel zu seiner frappierend schnellen Heilung hatte sich sein Sehvermögen so verbessert, daß er von allen in der Gruppe am besten sehen konnte. Devon jedenfalls konnte kaum erkennen, worauf er zeigte. Vor ihnen schienen nur weitere endlose Kilometer Canyon und Wasser zu liegen. »Ein Dorf!« rief Bess verblüfft. Devon beschleunigte ihre Schritte, und es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Siedlung ebenfalls erkennen konnte. Auf der anderen Seite des Flusses war der zu den Klippen hinaufführende Hang mit so etwas wie Erdhügeln bedeckt, bei denen es sich in Wirklichkeit um flache Behausungen handelte, erbaut aus den Gräsern, die auf dem Hang wuchsen. Die Behausungen sahen Ameisenhügeln sehr ähnlich, so daß Devon sich fragte, wie tief sie sich wohl in den Boden hinein erstrecken mochten. Als sie näher herankamen, konnte sie weitere Zivilisationsmerkmale erkennen, darunter ausgedehnte Felder mit Salzfrüchten und etwas, das aussah wie über den Fluß gespannte Wäscheleinen. Devon konnte außerdem in unregelmäßigen Intervallen in die Felswand geschlagene Stufen und Treppen ausmachen, die zu kleinen Plateaus führten. Als ein Terrianer auf einem dieser Plateaus landete und ein anderer abhob, wurde Devon klar, daß sie sich hier Rampen gebaut hatten, von denen aus sie zu ihren Luftreisen starteten. Auch der Fluß selbst war in diesem Teil des Canyons bemerkenswert. Er wurde auf beiden Seiten von lieblichen Wasserfällen eingerahmt, die ein ganzes Stück vom Dorf entfernt sein mußten. Statt in einem tiefen Bett zu fließen, sprang das blaugrüne Wasser des Flusses hier in Kaskaden über Hunderte von Simsen, die alle nicht mehr als dreißig Zentimeter hoch waren. Auf kleinen Inseln zwischen den wirbelnden Strudeln sprossen Bäume in die Höhe. Der Schatten ließ das Wasser beschaulich und gezähmt erscheinen, während es auf seiner unaufhaltsamen Reise dahinrauschte.
Devon hatte einmal einen Architekten engagiert, um einen Springbrunnen zu entwerfen, der eine Atmosphäre schaffen sollte, wie sie an diesem Ort herrschte. Der Springbrunnen war in einer parkähnlichen Szenerie vor einem ihrer Firmengebäude errichtet worden und hatte als außerordentliche Extravaganz gegolten, für die sie mit Recht kritisiert worden war. Doch Devon hatte ihre Idee für großartig gehalten - bis zu diesem Augenblick. Aber jener Springbrunnen, das wurde ihr jetzt klar, war nur ein schwacher Abklatsch dieser schattigen Schlucht mit den Hunderten von Miniaturwasserfällen und blaugrünen Wasserwirbeln, die wie Zuckerguß auf einem Kuchen aussahen. »Gütiger Himmel!« rief Bess und blieb stehen, um das Bild zu bewundern. »Es ist wunderschön, nicht wahr?« »Ja!« sagte Uly. »Kann ich schwimmen gehen, Mom?« »Ja«, murmelte Devon wie in Trance. Dann schüttelte sie schnell den Kopf. »Ich meinte, ja, es ist wunderschön! Und nein, du darfst nicht schwimmen gehen.« »Ach, Mom!« »Hast du die Fische vergessen, die in diesem Fluß leben? Wir haben einen zu unserer Mahlzeit gemacht, aber ein anderer könnte dich zu seiner Mahlzeit auserwählen.« Sie berührte seine Nase mit ihrer Fingerspitze. Der Junge legte bei diesem Gedanken die Stirn in tiefe Falten. »Da wir gerade von Fischen sprechen«, bemerkte Bess. »Sehen Sie sich das an!« Devon blickte wieder zu dem Wasserfallsystem hinüber und sah, wie ein halbes Dutzend der großen, häßlichen Fische plötzlich durch die Luft sprang, wie Lachse, die sich flußaufwärts klumpten. In dem verzweifelten Bemühen, das natürliche Hindernis zu überwinden und wieder in offenes Wasser zu gelangen, wälzten sie sich von Sims zu Sims. Augenblicklich rannte ihr Anführer auf die nächste Leine zu, die über den Fluß gespannt war, und am gegenüberliegenden Ufer setzten sich andere Terrianer genauso schnell in Bewegung. Sie legten ihre Flügel ab und griffen nach Speeren. Mit den Waffen in der Hand
kletterten sie nun die Felsen hoch, an denen die »Wäscheleinen« befestigt waren. Einer von ihnen packte ein schlaufenähnliches Gerät, schlitterte damit an dem Seil entlang und segelte quer über den Fluß. Mit der freien Hand brachte er seinen tödlichen Speer in Anschlag, warf jedoch nicht, sondern führte ihn so nahe an die Wasseroberfläche heran, daß er einen der Fische mitten im Sprung aufspießen konnte. Dann schwang sich der Terrianer zur anderen Seite hinüber, wo er seine Beute schnell auf dem schmalen Uferstreifen ablegte, bevor er auf den Felsen sicheren Boden erreichte. Dort wartete ein anderer darauf, den Fischer und die Schlaufe aufzufangen, um dann selbst in die entgegengesetzte Richtung loszujagen. Die Terrianer schössen über den Fluß hin und her. Es war wie eine Trapeznummer im Zirkus. Doch nicht alle waren erfolgreich, einige verfehlten die zappelnden Fische um Zentimeter, während andere den Schwanz oder eine Flosse trafen, wo die Speere keinen Halt fanden. Ein Fisch, der einem der Jäger entkommen war, wurde jedoch garantiert vom nächsten aufgespießt. Immer mehr Terrianer stürmten zum Ufer, um die Fische mit Knüppeln zu erschlagen, bevor sie sich wieder ins Wasser winden konnten. Trotz dieser tollkühnen Arbeit stieß keiner der Terrianer Jubel- oder Freudenschreie aus; es herrschte ein nahezu feierlicher Ernst, als wären hier Wesen am Werk, die mit dieser Jagd ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Devon, Uly und Bess waren wie gebannt stehengeblieben, um diesen seltsamen Fischfang zu beobachten. Alonzo machte in seinem ATV ein kleines Stück hinter ihnen halt und stellte den Motor ab. »Mann!« sagte er. »Heute abend findet wohl ein Grillfest statt, was?« »Sieht so aus«, stimmte Bess heiter zu. Devon hörte knirschende Fußtritte im Sand, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Danziger, der herankam, um sich das Schauspiel ebenfalls anzusehen. Er traf gerade noch rechtzeitig ein, um mitzubekommen, wie einer der Terrianer seinen Halt an der Schlinge verlor und ins Wasser stürzte. Mehrere Terrianer kreischten auf, als dies passierte, und die Kinder drehten sich um, um neugierig zuzusehen. Niemand machte Anstalten,
den unglücklichen Fischer zu retten. Der Fischschwarm war mittlerweile zu einer Handvoll zusammengeschrumpft, und die Terrianer versuchten, auch noch diese letzten Exemplare aufzuspießen. »Er wird ertrinken!« sagte Bess alarmiert. Ohne zu wissen, was sie tat, lief Devon auf die Miniaturwasserfälle zu, und auch Danziger stampfte hinter ihr durch den Sand. Der Körper des armen Terrianers blähte sich bereits auf, da er das Wasser durch seine poröse Haut absorbierte wie ein Schwamm. Anscheinend war der Schock so groß, daß er aufhörte zu strampeln und das Bewußtsein verlor. Danziger stürmte an Devon vorbei und warf sich in das rauschende, türkisfarbene Wasser. Devon wartete ab, wie er mit der Strömung zurechtkam. Der Mechaniker stolperte ein paarmal, kam jedoch dem aufgeblähten Terrianer ständig näher. Dann aber verlor er das Gleichgewicht, als einer der häßlichen Fische bei seinen verzweifelten Fluchtversuchen vor den Speeren direkt über seinen Kopf segelte. Nun watete Devon hinter Danziger her. Die Kälte des Wassers war weitaus schockierender als die Strömung, aber sie mußte sich trotzdem anstrengen, um auf den Beinen zu bleiben. Devon nahm ihre ganze Kraft zusammen und kämpfte sich zu Danziger vor, der sich mittlerweile wieder aufgerappelt und den unglücklichen Fischer erreicht hatte. Der Terrianer sah jetzt aus, als würde er aus Luftschläuchen bestehen. Devon mußte einen starken Widerwillen unterdrücken, um nach einem seiner gummiartigen Arme greifen zu können. Gemeinsam mit Danziger zerrte sie den aufgeschwemmten Körper des Terrianers zum Ufer. Durch das Schauspiel angezogen, starrten die Terrianer sie mit offenkundigem Erstaunen an. Sogar die zappelnden Fische auf dem Uferstreifen wurden ignoriert, als sich die Mitglieder des Stammes versammelten, um etwas in Augenschein zu nehmen, was sie anscheinend noch nie gesehen hatten: Jemand hatte sich ins Wasser begeben und war naß, aber unversehrt wieder herausgekommen. Devon zuckte zurück, als einer der Terrianer die Hand ausstreckte, um
sie zu berühren. Dann wurde ihr klar, daß er sie nur berührte, um sich zu vergewissern, daß ihn seine Augen nicht trogen. »Ja«, keuchte sie, »uns geht es gut. Aber was ist mit eurem Freund?« Julia drängte sich in die Menge und bückte sich, um den Puls des aufgeblähten Terrianers zu fühlen. »Nun, er lebt«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, was ich für diesen Patienten tun kann, abgesehen davon, ihn ruhen zu lassen hier draußen in der Sonne.« Der aufgeschwemmte Terrianer schüttelte sich plötzlich und rollte sich auf den Rücken. Er blickte die Menschen dankbar an und bewegte den Mund, sagte jedoch nichts. Dann schloß er die Augen und schlief ein. Ein anderer Terrianer brachte ein Flügelpaar und legte es über den schlafenden Körper. Ob die Flügel den Verunglückten wärmen sollten oder ob dieser Akt nur Symbolcharakter hatte, wußte Devon nicht, obwohl sie sich schon vorstellen konnte, daß diese Flügel womöglich das Äquivalent zu einem alten Hausmittelchen darstellten. Da ihr abgestürzter Kamerad für den Augenblick sicher war, machten sich die Terrianer wieder daran, ihren Fang einzubringen. Yale, Morgan und die anderen stiegen aus den Fahrzeugen und kamen nach vorne, um den halb ertrunkenen Terrianer zu inspizieren. Morgan blieb neben Devon stehen und schüttelte unangenehm berührt den Kopf. »Warum leben sie so nahe am Wasser, wenn sie wissen, wie gefährlich es für sie ist?« »Warum leben so viele Menschen im Weltraum?« erwiderte Devon. »Oder auf Monden oder Planeten mit einer tödlichen Atmosphäre? Der Weltraum ist eine absolut feindliche Umwelt für uns, aber wir sind bereit, die Risiken auf uns zu nehmen, um die Vorteile zu ernten.« »Kein Risiko, kein Gewinn«, stimmte Morgan dem Argument zu. »Ich frage mich nur, wo es hier irgend etwas von Wert gibt.« Devon sah ihn verächtlich an. »Neben einer friedvollen, naturverbundenen Existenz, die sich vermutlich seit Tausenden von Jahren nicht verändert hat?«
»Ja«, antwortete Morgan, »darüber hinaus muß es noch etwas geben!« Devon zitterte und fror in ihren nassen Kleidern viel zu sehr, als daß sie sich eine passende Antwort ausdenken mochte. Dann trat ihr terrianischer Führer vor sie hin und deutete auf die über den Fluß gespannten Seile. Er machte mit den Fingern die gleiche Gehbewegung, die sie ihm vorgeführt hatte. »Können wir, Mom?« rief Uly. »Bitte!« »Ja, bitte!« echote True. »Ich weiß nicht.« Devon wandte sich Danziger zu. »Was meinen Sie?« Der Mechaniker kratzte sich am Kopf. »Die Kräftigsten von uns könnten den Fluß hier durchschreiten, aber Sie wissen, wie stark die Strömung ist. Ich glaube nicht, daß die Kinder hinübergehen können, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie gerne tragen möchte. An den Leinen über den Fluß zu schlittern ist vielleicht die beste Methode, vorausgesetzt, sie halten sich richtig fest.« Er funkelte die beiden Kinder vielsagend an. »Was ist mit den Fahrzeugen'?« fragte Devon. »Ich weiß nicht«, antwortete Danziger. »Hier mit dem TransRover rüberzufahren könnte ihre Fischgründe zerstören. Hundert Meter weiter zurück habe ich Stellen gesehen, die für die Fahrzeuge genauso geeignet wären.« »Dem stimme ich zu«, sagte Yale. »Die übrigen sollten den Expreß nehmen«, schaltete sich Alonzo ein. »Ich würde es tun, wenn ich könnte.« »Ja! Ja!« riefen True und Uly. »Es muß jemand da sein, der sie auf der anderen Seite aufhängt«, sagte Devon. Sie wandte sich an ihren terrianischen Gastgeber und machte mit den Armen eine Fangbewegung. Der Terrianer nickte und kletterte die Felsen hoch, an denen die nächste Leine ihren Ausgangspunkt hatte. True und Uly krabbelten hinter ihm her, gefolgt von Bess. Der Terrianer winkte einem seiner Kameraden am anderen Ufer zu, woraufhin dieser in Stellung ging.
»Haltet euch mit beiden Händen fest!« warnte Devon. »Das Wasser ist eisig!« Als älteres der beiden Kinder hatte True bereits die erste Position eingenommen, und der Terrianer reichte ihr die aus Knochen hergestellte Schlaufe. Wie befohlen griff sie mit beiden Händen zu und startete mit einem Grinsen ihre Fahrt über das Wasser. »Juhuuuu!« schrie, sie und zog die Beine an, um nicht mit dem Wasser in Berührung zu kommen. Sie wartete nicht ab, bis sie auf der anderen Seite aufgefangen wurde, sondern ließ los, sobald sie den schmalen Sandstreifen am Ufer erreicht hatte. Die Schlaufe segelte weiter bis zu den Felsen, wo sie ein Terrianer auffing und sofort zurückschleuderte. Devon hielt den Atem an, als Uly startete. Aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn der Junge segelte den ganzen Weg bis zu den Felsen, wo ihn der Terrianer mit Leichtigkeit auffing und auf den Boden setzte. Er schickte die Schlaufe zu Bess zurück, die mit freudigem Gesicht schon auf dieses kleine Abenteuer wartete. »Vorsichtig, Schatz!« rief Morgan. Bess winkte ihm kurz zu und startete. Da sie schwerer war als die Kinder, streifte ihr Hinterteil mehrmals das Wasser und ließ türkisfarbene Fontänen hochspritzen. Danziger, Alonzo und mehrere andere Siedler lachten beim Anblick einer Erwachsenen, die sich so amüsierte. Bess landete aus eigener Kraft am Ufer und ließ die Schlaufe allein weitersegeln. »Es macht Spaß!« rief sie hinüber. »Ja«, sagte Danziger, »aber alle, die viel schwerer als Bess sind, sollten lieber mit den Fahrzeugen übersetzen.« Er sah Morgan, Yale, Baines und die anderen Männer an. »Ist mir recht«, sagte Morgan und ging zurück zum TransRover. »Ich hasse kaltes Wasser.« »Ah, zu schade«, knurrte Baines. »Frauen haben immer den ganzen Spaß.« Julia trat an Devon heran und lächelte. »Sollen wir?« »Machen Sie den Anfang!«
Devon sah zu, wie Julia mit wehenden Haaren über das Wasser schlitterte. Als die Schlaufe dann zurückkam und gegen ihre Hand schlug, kribbelte diese von dem Aufprall, aber Devon griff kräftig zu und ließ ihre Füße von den Felsen fliegen. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und pfiff durch ihre Kleider, als sie über die blaugrünen Wirbel hinwegjagte. Sie sackte tief durch und unterdrückte einen Begeisterungsschrei, während ihr Hinterteil eine eisige Wasserfontäne in die Luft schießen ließ. Wie True sprang auch sie bereits vor den Felsen ab und landete mit ihrem feuchten Po im Sand. Uly, True und Bess lächelten sie an. Die Männer am anderen Ufer, insbesondere Alonzo, machten enttäuschte und niedergeschlagene Gesichter, weil ihnen dieses Vergnügen versagt blieb. Danziger winkte den Frauen kurz zu, bevor er mit den anderen zurück zu den Fahrzeugen trottete. »Wir sehen uns flußabwärts!« rief Devon. »Vielen Dank«, antwortete Danziger mit einer matten Handbewegung. Bess grinste. »Warum sollten wir nicht den ganzen Spaß haben?« Am späten Nachmittag befanden sich John Danziger und die Männer fünfhundert Meter flußabwärts. Sie hatten die Fahrzeuge in der Reihenfolge aufgestellt, in der sie den Fluß überqueren wollten. Erster in der Reihe war der TransRover, der durch ein Stahlseil mit dem SandRail verbunden war; Zeros Kopf steuerte dieses Gefährt. Dahinter stand, durch ein weiteres Seil mit den anderen Fahrzeugen verbunden, Alonzos ATV. Die Hauptsorge des Mechanikers war, daß der TransRover durchsacken und im Schlamm steckenbleiben könnte. Danach kam die ebenso ernste Befürchtung, daß ein oder sogar beide kleineren Fahrzeuge abgetrieben wurden. Man konnte nicht viel tun, um das Durchsacken des TransRover zu vermeiden, aber der Umstand, daß die Vehikel durch die Seile miteinander verbunden waren, sollte zumindest verhindern, daß eines der anderen Fahrzeuge der Strömung zum Opfer fiel.
Die Strömung war hier nicht so stark wie an der Stelle, an der sie den ersten Übergang versucht hatten, aber dafür war der Fluß erheblich breiter, so daß es auch mehr Raum für tückischen Schlamm und Bodenlöcher gab. Als Danziger an der massiven Felswand auf der anderen Seite des Flusses hochsah, fragte er sich unwillkürlich, ob sich all diese Anstrengungen überhaupt lohnten. Durch das Wunder der Schwerkraft und ein tollkühnes Bravourstück, das er zum Glück nicht mit ansehen mußte, war es ihnen zwar gelungen, die Fahrzeuge in den Canyon runterzubringen; aber wie sollten sie sie auf der anderen Seite jemals wieder raufbringen? Danziger konnte Devon, Bess, True, Uly und die anderen am gegenüberliegenden Ufer sehen. Wenn es auch altmodisch klingen mochte, so tröstete er sich doch mit dem Gedanken, daß wenigstens die Frauen und Kinder in Sicherheit waren. Sie hatten immer noch das Funkgerät, das Bess bei sich trug, aber zu viel mehr, als die Zurückgebliebenen damit anzufeuern, war es nicht nutze. Der Mechaniker wollte gerade ins Cockpit des TransRover klettern und die anderen anweisen, ebenfalls aufzusteigen, als ihm Morgan auf die Schulter klopfte. »Wir haben Gesellschaft«, sagte er und deutete hinter sich. Tatsächlich näherte sich ihnen ein Terrianer. Der Gedanke, daß diese Wesen alle gleich aussahen, drängte sich zwar leicht auf, stimmte aber nicht. An dem kurzen Knoten seetangähnlichen Haares auf seinem Kopf und der nicht ausgereiften Körpergröße von knapp zwei Metern war er als jener junge Terrianer identifizierbar, den sie vor dem Ertrinken gerettet hatten. Er bewegte sich noch immer steif, wie ein Mann mit Arthritis, und benutzte seinen Speer als Stock. Aber das Aufgeschwemmte hatte sich bereits verflüchtigt, die Konturen seiner Haut waren wieder wie gewohnt. Der junge Terrianer blieb neben Alonzos ATV stehen, stützte sich auf seinen Speer und bedachte Danziger mit einer Grimasse, die ein Lächeln sein mochte.
Der Mechaniker winkte freundlich, ehe er ins Cockpit des TransRover kletterte. »Alle an Bord!« rief er. Morgan, Yale, Baines und die anderen, die kein Fahrzeug steuern mußten, stiegen in den TransRover und kauerten sich irgendwo hin. Irgendwie, fand Danziger, sahen sie bei weitem nicht so heiter aus wie die Frauen, als diese sich auf ihre Schlitterpartie über den Fluß vorbereitet hatten. In diesem Moment waren die Frauen am gegenüberliegenden Ufer allerdings weitaus weniger heiter. Devon ging nervös auf und ab, Julia ballte die Fäuste und löste sie wieder, Bess klammerte sich angespannt an das Funkgerät, und True kaute an den Fingerknöcheln. Doch es gab keine Alternative zu diesem riskanten Manöver. Danziger betätigte den Starter des TransRover, der Motor röhrte energisch auf, und dann rumpelte das Fahrzeug dem Wasser entgegen. Sofort kam der Terrianer herbeigerannt und wedelte hektisch mit seinem Speer. Danziger hielt den TransRover an. »Er versucht uns anzugreifen!« brüllte Morgan alarmiert. »Nein«, sagte Danziger, während er den Motor abstellte. »Aber was, zum Teufel, will er?« Erwartungsvoll sahen sie zu, wie der junge Terrianer vorsichtig zum Ufer ging und seinen Speer ins Wasser stieß. Mit einiger Anstrengung zog er die Waffe wieder heraus sie war mit schleimigem Schlamm bedeckt. »Er versucht uns zu sagen, daß es hier zu schlammig ist«, sagte Danziger verblüfft. »Was versteht der schon von Schlamm?« nörgelte Morgan. Zufrieden damit, daß er die Fremden gestoppt hatte, trat der Terrianer hinter den TransRover und stieg über das Seil. Dann schickte er sich an, am Ufer entlangzuhumpeln. Danziger nahm Funkverbindung zu Alonzo im ATV auf. »Was, glauben Sie, tut er da?« fragte er den Piloten. »Erinnern Sie sich«, erwiderte Alonzo, »diese Burschen fliegen die ganze Zeit über den Fluß. Aus der Luft können sie wahrscheinlich den Grund des Flusses sehen, besonders hier, wo es seicht ist.«
»Alle warten hier!« ordnete Danziger an. Dann sprang er aus dem Cockpit und folgte dem jungen Terrianer. Als dieser ihn sah, wedelte er lebhaft mit seinem Speer und richtete ihn auf eine Stelle, an der einige Wasserwirbel das Ufer umspielten. Er zeigte mit dem Speer auf einen der kleinen Strudel und schüttelte den Kopf. »Verstanden«, sagte Danziger. »Geh weiter.« Schließlich, etwa hundert Meter flußabwärts, blieb der Terrianer stehen und trat vorsichtig ans Ufer heran. Er stieß seinen Speer ins Wasser und zog ihn schnell wieder heraus; diesmal war kein Schlamm zu sehen. Danziger konnte in der rauschenden Strömung nichts erkennen und machte Anstalten, ein Bein hineinzustellen. Der Terrianer schüttelte heftig den Kopf, zog ihn vom Wasser zurück und hielt ihm seinen Speer hin. Danziger bedankte sich mit einem Kopfnicken und stieß den Speer an derselben Stelle ins Wasser, an der es auch der Terrianer getan hatte. Er traf auf Stein, so als ob sich unter dem schäumenden Wasser ein unsichtbares Schieferbett verbergen würde. »Vielen Dank, vielen Dank«, sagte Danziger dankbar lächelnd und gab seinem Begleiter den Speer zurück. Der Terrianer nahm die Waffe entgegen, stieß sie in den Sand und ließ sie dort stecken, um die Stelle zu markieren. Dann kehrten die beiden langsam zu den Fahrzeugen zurück. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Morgan. »Es bedeutet, daß wir uns eine Menge Schwierigkeiten ersparen«, erwiderte Danziger, während er wieder ins Cockpit stieg. »Ich bin überzeugt davon, daß diese Terrianer alles über den Canyon wissen, was es zu wissen gibt.« »Ist das wirklich so?« murmelte Morgan gedankenvoll. Der Terrianer war gerade dabei, sich auf einem Stein niederzulassen, um den Übergang zu beobachten, als ihm Morgan zuwinkte. »He, du!« brüllte er. »Komm her! Fahr mit uns!« »Ich frage mich, ob das klug ist«, murmelte Yale.
»Warum nicht?« fragte Morgan. »Kann nie schaden, freundlich zu sein. Zeigen wir ihm, was wir anzubieten haben.« Morgan winkte hartnäckig weiter, bis der junge Terrianer schließlich verstand, was er wollte, und an Bord des TransRover kletterte. Ohne einen Platz zugewiesen bekommen zu haben, krabbelte er bis zum höchsten Überrollbügel und klammerte sich dort aus Leibeskräften fest, noch bevor Danziger überhaupt den Motor angelassen hatte. Morgan kicherte. »Dieser Bursche fliegt mit einem Drachen kilometerhoch durch die Luft und hat Angst vor einer Fahrt im TransRover.« Er drehte sich zu dem Terrianer um und reckte den Daumen hoch. »Dir wird nichts passieren!« »In Ordnung«, sprach Danziger ins Funkgerät. »Zero, Alonzo, fahren wir mit gleichmäßigen zehn Stundenkilometern zu der Stelle, an der der Speer im Sand steckt. Dort werden wir übersetzen.« »Verstanden«, antworteten sie unisono. Danziger legte den Gang ein, und sie rumpelten erneut am Ufer entlang. Der Mechaniker warf einen Blick zurück auf den ungewöhnlichen Passagier und mußte sich das Lachen verbeißen. Er war schon vielen Terrianern begegnet, und sie hatten immer stoisch, voller Selbstvertrauen und mysteriös gewirkt. Einen, der ihn mit so blankem Entsetzen anblickte, hatte er noch nie getroffen. Er hätte den TransRover beinahe angehalten, um den Terrianer aussteigen zu lassen, fürchtete jedoch, daß eine solche Maßnahme als Beleidigung aufgefaßt werden könnte. Der Gast saß außerdem hoch genug auf dem Überrollbügel, so daß er nur durch eine extreme Flutwelle naß werden konnte. Als der TransRover auf die heranrauschende Strömung traf, hielt der Mechaniker den Atem an. Kühles» blaugrünes Wasser wirbelte und spritzte ringsum hoch, aber sie fuhren zügig weiter. Die Passagiere wurden hin und her gestoßen, als die großen Reifen über ein paar unter dem Wasser verborgene Steine rollten, aber sie drehten sich weiter. Diesmal bekamen sie keine Schlagseite, denn nirgendwo
gab es nennenswerten Schlamm. Der Himmel segne die Terrianer und ihr scharfes Auge, dachte Danziger. Das einzige Problem entstand, als Alonzos ATV, der den Abschluß des kleinen Konvois bildete, so naß wurde, daß der Motor ausging. Das Fahrzeug fing an, sich zu drehen, als es von der Strömung voll erfaßt wurde. Vorübergehend reichte Alonzo das Wasser bis zur Brust, aber er geriet nicht in Panik. Schnell beschleunigte Zero den SandRail vor ihm, so daß das Seil sich straffte und den ATV mit einem Ruck aus seinen Schwierigkeiten befreite. Wie Kinderspielzeuge, die durch eine Pfütze fuhren, rollten die drei Fahrzeuge kurz darauf schon auf dem gegenüberliegenden Uferstreifen in Richtung der Frauen und Kinder. Die Männer wurden mit Jubelrufen und Händeschütteln empfangen. Danziger sprang nach draußen und wurde von seiner Tochter mit einem Kuß begrüßt. Bess Martin fiel ihrem Mann erleichtert um den Hals, während sich Julia zu Alonzo begab, um seine Beinschiene zu kontrollieren, die vor Nässe tropfte. Die Ärztin wirkte unglücklich, weil sie wußte, daß die Schiene gewechselt werden mußte. Yale gratulierte Zero zu seiner Fahrkunst und half dann, den Kopf des Roboters wieder mit seinem Körper zu verbinden, Baines und die meisten anderen ließen sich erleichtert in den Sand plumpsen. Selbst Devon hatte ein Lächeln im Gesicht, als sie zu Danziger hinüberschlenderte. »Nicht schlecht«, sagte sie anerkennend. »Nach drei Tagen haben wir diesen Canyon schon zu zwei Dritteln bewältigt. Ich war mir nicht sicher, daß wir so weit kommen würden.« »Wir müssen uns bei unserer Leiterin bedanken«, sagte Danziger. Dann blickte er zum TransRover hinüber, wo sich der verstörte Terrianer immer noch an den Überrollbügel klammerte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er und winkte ihm. »Komm runter.« Der junge Terrianer machte einen weiten Sprung, um nicht mit der tropfnassen Karosserie des Fahrzeugs in Berührung zu kommen. Morgan reckte wieder den Daumen hoch, und der Terrianer hob seine
Klauenhand mit einer recht mißlungenen Imitation. Dann stand er still und stolz da, als würde er nur auf eine weitere Gelegenheit warten, um den Leuten, die sein Leben gerettet hatten, behilflich zu sein. »Ich mag diesen Burschen«, sagte Morgan. »Ich möchte ihn näher kennenlernen.« »In Ihren Träumen?« fragte Danziger. »Nein, ich meine es ernst«, fuhr ihn Morgan an. »Ich auch«, antwortete der Mechaniker. »So macht es Alonzo - in seinen Träumen.« »Ja«, sagte Morgan nachdenklich. »Ich sollte auf meine Träume hören, nicht wahr? Sagen Sie, Devon, wir haben es doch nicht eilig, hier wegzukommen, oder? Unser freier Tag ist bei der ganzen Aufregung irgendwie untergegangen. Wie war's, wenn wir morgen frei bekämen?« Zustimmendes Gemurmel wurde laut, und Devon sah sich in der glücklichen, aber erschöpften Gruppe um. »In Ordnung«, antwortete sie. »Obwohl vielleicht einige von uns den morgigen Tag mit der Suche nach einem Aufstiegsweg verbringen möchten. Sollen wir das Lager hier oder näher am Dorf aufschlagen?« »Näher am Fischgrill«, antwortete Alonzo mit einem Grinsen.
9
Nachdem die erschöpften Kolonisten das Lager eingerichtet und ihre Zelte aufgebaut hatten, verbrachten sie den Rest des zur Neige gehenden Tages damit, dem Terrianerstamm bei der Weiterverarbeitung der erbeuteten Fische zuzusehen. »Weiterverarbeitung« war der einzige Begriff, der Morgan Martin für das, was sie mit den Fischen machten, passend erschien. Der Bürokrat beobachtete alles sehr aufmerksam, hielt aber gleichzeitig Ausschau nach dem Unbekannten in diesem Canyon, das ihn - seinem Traum zufolge - reich machen würde. Zuerst schälten die Terrianer mit ihren Steinmessern peinlich genau die Haut der Fische ab und hängten sie zum Trocknen auf die Darmleinen, die den Fluß überspannten. Dann schnitten sie das Fleisch der Fische in dünne Streifen, ohne diese jedoch zu kochen; letzten Endes verzehrten sie den Fisch überhaupt nicht, sondern trockneten das Fleisch in der Sonne, hackten es klein und streuten es auf ihren Äckern als Dünger aus. Die Terrianer nahmen die Därme der Fische, zogen sie lang und verknüpften sie zu dicken Fäden. Danach blieben nur noch die Knochen, von denen die größeren zu Werkzeugen und Schlaufen für die Schlitterbahn verarbeitet wurden, während die kleineren als Schmuck, Nadeln und Präzisionswerkzeuge Verwendung fanden. Morgan stellte fest, daß es für jede Tätigkeit Spezialisten gab. Als die Arbeiter ihr Werk abgeschlossen hatten, war von den Fischen buchstäblich nichts mehr übrig, was weggeworfen werden mußte; alles hatte Verwendung gefunden. Morgan sah alle diese Erzeugnisse in ihren verschiedenen Produktionsstadien, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß ihn Fischdünger, Fischseile oder Fischhäute reich machen würden. Es mußte noch etwas anderes geben - aber was? In Morgans Augen waren die Dorfbewohner nichts anderes als ein Haufen von Primitiven, die aus ihren kargen Ressourcen das Beste
machten. Unglücklicherweise gab es angesichts ihrer aktuellen Lebensumstände, abgesehen von den Fahrzeugen, keine großen Unterschiede zwischen den Kolonisten und den Terrianern. »Kein Grillfest also?« fragte Alonzo enttäuscht, als Morgan ins Lager zurückkehrte. »Fürchte nicht, obwohl ich mir vorstellen kann, daß der getrocknete Fisch eßbar ist.« »Die Terrianer scheinen das nicht zu denken.« Morgan rieb sich zitternd die Hände. »Es wird dunkel. Wann zünden wir ein Feuer an?« »Nicht heute abend«, sagte Alonzo und drehte sich in seiner Hängematte in eine bequemere Lage. »Devon hat Angst, daß ein Feuer die Lederschwingen erschrecken könnte.« »Lederschwingen?« Alonzo lächelte. »Ja, so nennen sie sich selbst.« »Woher wissen Sie das?« fragte Morgan. Der Pilot schüttelte verwundert den Kopf. »Seit wir auf diesem Planeten angekommen sind, weiß ich viele Dinge über die Terrianer. Normalerweise durch meine Träume oder durch Konzentration. Manchmal ist es einfach eine Erkenntnis, die aus dem Blauen kommt. Ist Ihnen aufgefallen, daß die Terrianer niemals miteinander reden?« »Nun, ja«, antwortete Morgan und warf einen wachsamen Blick über die Schulter, »ich habe sie bislang einfach nur für schweigsam gehalten.« »Nein«, sagte Alonzo. »Nach außen hin wirken sie primitiv, aber sie kommunizieren durch irgendeine Art von Telepathie miteinander. Da bin ich mir sicher. Gelegentlich, wenn sie aufgeregt sind oder uns etwas mitteilen wollen, lassen sie sich zu einer Geste herab, aber das kommt selten vor.« Alonzo machte eine Pause und blickte auf das friedvolle Dorf, das jetzt fast völlig vom Schatten verhüllt wurde. »Ich glaube, die Terrianer sind eine viel ältere Rasse als die Menschen. Diese hier sind besonders alt - einige von ihnen sind bestimmt Hunderte von Jahren alt.«
»Woher wissen Sie das?« Wieder zuckte der Pilot die Achseln. »Sie haben einfach so etwas an sich. Ihr Anführer, der uns zum Dorf gebracht hat, ist etwa vierhundert Jahre alt, glaube ich. Es ist kein Zufall, daß sie hier unten isoliert leben, in einer Nachbarschaft, die tödlich für sie ist. Diese Terrianer sind etwas Besonderes.« »Hunderte von Jahren alt?« sinnierte Morgan. »Also, das ist schon etwas Besonderes.« Alonzo legte sich in seiner Hängematte zurück und lächelte. »Ich habe nicht mehr soviel Angst vor meinen Träumen. Vielleicht versuche ich, heute nacht etwas über die Geschichte des Stammes zu erfahren.« »Wie nehmen Sie Kontakt zu Ihnen auf - in Ihren Träumen beispielsweise?« »Nun, ich schätze, es ist so ähnlich wie astrale Projektion. Es hört sich seltsam an, aber Sie verlassen irgendwie Ihren Körper und finden sich mit ihnen an einem besonderen Ort zusammen, der für diese Art Treffen reserviert ist. Weil wir einen Geisteszustand wie diesen nicht anders deuten können, interpretieren wir ihn als Traum. Wie auch immer, man kennt einfach die Gedanken des anderen und sieht mit den Augen des anderen. Tut mir leid, ich kann es nicht besser erklären.« Morgan hob die Hände. »Ja, aber wie?« »Sie haben sich doch mit dem einen, den Devon und Danziger vor dem Ertrinken gerettet haben, angefreundet. Konzentrieren Sie sich einfach auf ihn. Lassen Sie ihn wissen, daß Sie verfügbar sind.« Der Regierungsbeamte runzelte bei dieser Wortwahl die Stirn, und Alonzo lachte. »Denken Sie darüber nach. Wie Danziger sagt, sind die Terrianer mit diesem Planeten verbunden wie die Steine und die Bäume. Ich habe das Gefühl, daß sie es wissen, wenn Sie für eine Kommunikation offen sind.« »Ich werde es sein«, sagte Morgan entschlossen. »Ja, ich werde es sein.« »Was ist das?« fragte Alonzo und blickte über Morgans Schulter.
Aus den länger werdenden Schatten kam eine kleine Abordnung von Terrianern, angeführt von ihrem anfänglichen Führer und dem Jüngling, den sie vor dem Ertrinken gerettet hatten. In ihren schuppigen Händen trugen sie getrocknete Fischstreifen, die wohl aus einem früheren Düngerlager stammten. So wie sie den Fisch trugen, war erkennbar, daß sie ihn als Nahrungsmittel anbieten wollten. Morgan dachte an das, was Alonzo gerade gesagt hatte: Diese Kreaturen hatten ihre Gedanken geteilt, sie wußten, daß Menschen Fisch aßen, auch dann, wenn sie es selbst nicht taten. Morgan, Devon, Danziger, Julia und die anderen unterbrachen ihre jeweiligen Tätigkeiten, um den Ankömmlingen entgegenzugehen. True und Uly, wie immer mutiger als die Erwachsenen, waren die ersten, die nach den eingeschrumpften Streifen griffen. Ihre Eltern warfen zweifelnde Blicke auf die getrockneten Bissen, aber sie konnten nichts sagen, ohne unhöflich zu erscheinen. Morgan griff ebenfalls nach einem der Fischstreifen, die farblos wie Knochen waren und sich wie ein Stück Baumrinde anfühlten. Er schnüffelte und stellte fest, daß es immer noch nach Fisch roch. Wie mochte es wohl schmecken? fragte er sich. »Das ist großartig«, sagte er. »Vielen Dank!« Uly führte den Fischstreifen zum Mund. »Dürfen wir, Mom?« fragte er hoffnungsvoll. Devon zuckte die Achseln. »Sicher. Nimm kleine Bissen, bis wir sehen, welche Wirkung es auf deinen Magen hat.« Morgan, Bess, die Kinder und ein paar andere versuchten Probebissen zu nehmen, aber das war gar nicht so einfach, denn der getrocknete Fisch mußte mit den Backenzähnen geradezu zermalmt werden. »Hm, ein bißchen zäh«, murmelte Morgan und stocherte an seinen Zähnen herum. »Mir schmeckt es!« rief Uly und kaute herzhaft. »Schön langsam«, warnte seine Mutter erneut. Immer noch kauend, trat Morgan an den jungen Terrianer heran und blickte ihm in die hellen, mandelförmigen Augen. »Wir müssen
uns besser kennenlernen, wenn du weißt, was ich meine.« Er kniepte ihm zu. »Du verstehst mich schon.« Der Terrianer legte verwundert den Kopf schief und bot ihm einen weiteren Fischstreifen an. »Ich bin Morgan Martin, ich werde dein Freund sein, einverstanden?« »Was haben Sie vor?« fragte Devon. »He, kann man sich nicht mal ein bißchen mit den Einheimischen anfreunden? Sie haben uns Essen gegeben, uns über den Fluß gebracht und uns alles gezeigt. Wir sind ihnen etwas schuldig. Und mein neuer Freund ist uns vielleicht auch etwas schuldig.« John Danziger ging zu dem Anführender Terrianer. »Vielen Dank«, sagte er aufrichtig. »Wir wissen dies alles zu würdigen.« So als hätte er verstanden, nickte der Terrianer und wandte sich zum Gehen. Der Rest seiner Gruppe folgte ihm schweigend. Morgans neuer Freund hielt noch einen Augenblick inne und sah den Menschen aufmerksam an. Er schien die Botschaft tatsächlich verstanden zu haben. Morgan reckte wieder den Daumen hoch. »Wir sehen uns später.« Der Terrianer hielt ebenfalls einen schuppigen Daumen hoch und schlenderte davon. Devon kaute gedankenvoll an einem Fischstreifen. »Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, Morgan, aber Sie sollten diese Wesen respektieren.« »Was mache ich denn?« fragte der Beamte und wandte sich dabei an die anderen. Dann zeigte er auf den verschrumpelten Fisch in Julias Hand: »Wenn Sie das nicht essen, hätte Alonzo es vielleicht gerne.« Julia betrachtete den trockenen Bissen skeptisch. »Ich hasse es, einen Patienten zu vergiften, aber Sie haben vermutlich recht. Er hätte es wohl gerne.« Während die Ärztin sich entfernte, klopfte Devon Uly auf die Schulter. »Wenn du mit deinem Imbiß fertig bist, möchte ich, daß du dir die Zähne putzt.«
»Okay«, erklärte sich der Junge einverstanden. Er schob sich den letzten Fischhappen in den Mund und ließ seine Kiefer mahlen. »Der Fisch ist in Ordnung«, kommentierte True beiläufig. Obwohl sich das Mädchen bemühte, diese Bemerkung durch ein zufriedenes Kauen zu untermauern, registrierte Morgan genau, daß sie irgendwie unkonzentriert war; jedenfalls warf sie bei jeder Gelegenheit verstohlene Blicke in die Schatten. »Wie sieht der Plan für morgen aus?« fragte Danziger. »Nun«, antwortete Devon, »Sie haben alle einen freien Tag. Yale und ich werden flußaufwärts gehen und nach einem Weg suchen, auf dem wir die Fahrzeuge wieder nach oben bekommen. Wenn wir nicht auf einen Erdrutsch oder so etwas stoßen, bin ich allerdings nicht sehr optimistisch.« »Und wenn wir nicht hochkommen«, sagte Danziger leise, »werden wir dann hierbleiben?« »Nein«, antwortete Devon scharf. »Wir werden einen Weg finden, um sie nach oben zu schaffen.« Morgan kicherte. »Devon, hat man Ihnen schon mal gesagt, daß Sie sich zu viele Gedanken machen? Wenn Sie ein Problem haben, dann sollten Sie darüber schlafen. Das ist es, was ich tun werde. Gute Nacht.« »Warte, Schatz!« sagte Bess und eilte hinter ihm her. Als sie außer Hörweite waren, fragte sie ihren Mann im Flüsterton: »Und was hast du vor?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Sag nicht, daß auch du mißtrauisch bist.« »Ich bin mißtrauisch«, sagte sie. »Ich kenne dich nämlich.« Morgan senkte die Stimme. »Es gibt etwas in diesem Canyon, das unbezahlbar ist. Ich kann es fühlen! Bisher haben wir seit unserer Ankunft auf diesem albernen Planeten nur Pech gehabt, aber ich werde einen Weg finden, um unser Schicksal zu wenden.« »Es ist nicht so schlimm gewesen«, widersprach Bess und drückte seinen Arm. »In den Raumstationen ging es immer ums Geschäft gibst du mir dies, geb' ich dir das, und darum, die Karriereleiter
hochzuklettern. Hier habe ich das Gefühl, daß ich dich ganz für mich habe.« »Ich denke immer noch an die Karriereleiter«, beharrte Morgan. »Aber vielleicht kann ich noch etwas viel Besseres erreichen. Ich habe Pläne, Bess. Große Pläne!« Seine Frau blinzelte ihm herausfordernd zu und zog ihn in ihr Zelt. »Ich auch«, sagte sie. Auf Alonzo Solaces jugendlichem Gesicht lag ein Lächeln, als er in seiner Hängematte von den kühlen Winden auf dem Grund des Canyons sanft hin und her geschaukelt wurde. Der Duft der kleinen roten Blumen umwehte seine Nase, und die gleichmäßigen Plätschergeräusche der Wasserkaskaden ließen ihn sanft ins Traumland hinübergleiten. Es war von Anfang an ein wonnevoller Schlaf, ein Schlaf, der den verletzten Piloten auf eine Reise durch Zeit und Geschichte führte. In jeden Zentimeter der ringsum in die Höhe ragenden Felsen schien die Geschichte eingemeißelt und wie Wind, Regen und Sonne eingedrungen zu sein. Sogar Tiere hatten ihre Spuren in der Biographie dieses Naturwunders hinterlassen. Alonzos Reise verlief nicht linear, wie er schnell erkannte. Sie begann mit einem Feuer, einem schrecklichen Flammenmeer, das die Wände des Canyons verbrannte und blutrot färbte. Etwas Großes war in diesem Feuer umgekommen, aber es war schon so lange her, daß es rasch aus Alonzos Blickfeld entschwand und in der Ferne verblich wie die sterbenden Funken eines Lagerfeuers. Sein Traum ging über zu dem noch älteren Bild eines gewaltigen Flusses, der in seiner Pracht monströs wirkte. Wie eine Flutwelle überspülte dieser Strom die Ebenen - vor zwei Milliarden Jahren war er die gewaltigste Macht auf dem ganzen Planeten gewesen. Nachdem der Boden einmal in Bewegung geraten war und sich die Ozeane zurückgezogen hatten, dauerte diese Epoche weitere Millionen von Jahren an. Alonzo trieb mit dem Fluß durch die Zeit und wurde Zeuge, wie sich das Westufer hob und das Ostufer senkte. Es kam zu abrupten Klimawechseln, begleitet vom Ansteigen und Abfallen des Wasserspiegels.
Der Canyon spürte jede dieser Veränderungen im tiefsten Inneren und paßte sich an. Vor fünfhundert Millionen Jahren gebar der türkisfarbene Strom, immer noch gewaltig, aber um die Hälfte seiner Breite geschrumpft, eine Kathedrale aus Zinnen und Klippen, die zum Himmel emporragten. In der gegenwärtigen Ära war der Fluß kaum mehr als ein Schatten seines früheren Selbst, aber er hatte gelernt, seine imposanten Leistungen zur Schau zu stellen. Alonzo betrachtete die Zerklüftungen und die Schönheit, die zwei Milliarden Jahre gegenstandsfreie Bildhauerkunst geschaffen hatten. Wie bei der Beobachtung eines Massenexodus aus dieser Zeit konnte Alonzo die Migration von Millionen von Tieren in den Canyon miterleben. Seltsame Kreaturen, die längst ausgestorben waren, strömten durch die mächtige Schlucht. Die Besucher kamen und gingen, blieben einen Monat oder ein Jahrtausend. Niemand jedoch erforschte die Geheimnisse des Canyons eingehender als die Terrianer. Sie studierten ihn aus der Luft, während sie in seiner Tiefe lebten. Immer einen Fuß auf dem Boden, den anderen im Himmel, dachte Alonzo, als er die Lederschwingen betrachtete. Da die Terrianer die Zeit nicht in irgendeinem Maßstab ausdrückten, konnte Alonzo nicht sagen, wie lange diese Schlucht schon ihr Zuhause war. Er gewann den Eindruck, daß es mindestens eine Million Jahre oder mehr sein mußten. Und jede Saison, die diese Wesen hier verbracht haben, verband sie enger mit dem Canyon. Hier unten wappneten sie sich gegen die Unbilden des Lebens, lernten sie, den Fisch zu fangen und die Salzfrucht zu ernten und eigneten sich die Kunst an, wie vom Wind getragene Blätter über den Fluß zu schweben und auf den Plateaus niederzugehen. Dann konnte Alonzo die Ältesten von ihnen sehen - und einige waren tatsächlich unvorstellbar alt! Während seiner Lebenszeit mochte ein Stammesangehöriger hunderttausend Monde sehen, die über den Canyon hinwegzogen. Er konnte an unzähligen Fischjagden und Luftexpeditionen teilnehmen und Hunderte Von Jahren stets von neuem den Frost des Winters und die Wiedergeburt des Frühlings miterleben. Wenn Überbevölkerung zu einem Problem wurde, teilte sich der Stamm und schickte seine
Nachkommen in entfernte Regionen des Canyons. Alonzo konnte in seinem Traum auch einige der am Fluß geborenen Terrianer beobachten, die in die Wildnis hinauszogen, wo sie auf andere terrianische Stämme stießen und sich ihnen anschlössen; die meisten von ihnen kehrten nie zurück. Sie waren intelligent genug, um ein komplexeres Leben führen zu können, doch warum sollten sie? Für die glücklichen Lederschwingen gab es Jahrhunderte beschaulichen Nachdenkens über das sich ständig verändernde Leben im Canyon. Aber ebenso wie der Canyon das Leben verkörperte, stand er auch für den Tod. Viele von ihnen fanden ein frühes Ende - durch Ertrinken oder fatale Stürze. Ob mit vierzehn oder vierhundert Jahren - der Tod wurde von den Terrianern als eine Gabe der Natur akzeptiert, wie die Fische und die heilige Grotte. Bei dem Gedanken an die heilige Grotte - ein Begriff, den er bislang nicht kannte - spürte Alonzo, daß er plötzlich flog; er konnte es tatsächlich mehr fühlen als wirklich spüren. Der Wind drückte seinen Körper nieder, selbst als er ihn in Wirklichkeit in die Höhe trug. Bei diesem Flug konnte Alonzo allerdings weniger erkennen als bei seinem ersten lebhaften Traum von diesem Canyon; möglicherweise fand er bei Nacht statt. Der Pilot wußte, daß die Lederschwingen so tollkühn sein würden, nachts zu fliegen - unter Berücksichtigung der angemessenen Sicherheitsvorkehrungen. Wie von einem sechsten Sinn geleitet, einer Art Raumradar, konnte er fühlen, daß sich die Flieger in der Mitte des Canyons aufhielten. Dies gestattete ihnen, in Sekundenbruchteilen Korrekturen vorzunehmen, die erforderlich waren, um ihren Flug zu kontrollieren, selbst in den dunkelsten Nächten. Die Landung war allerdings der gefährlichere Teil eines Nachtflugs. Um den heiligen Ort ohne Zwischenlandungen zu erreichen, benötigten die Lederschwingen einen bestimmten Wind, der nur in Nächten aufkam, in denen der Himmelsausschnitt am oberen Rand des Canyons von leuchtenden Wolkenbänken eingehüllt wurde. Heute war eine solche Nacht. Sie flogen in mittlerer Höhe und ließen dabei einen beträchtlichen Abstand zwischen sich. Alonzo
konnte die Kameradschaft zwischen den Pilgern und das Ziel ihrer heiligen Mission fühlen: Es ging darum, Leben und Gesundheit zu verlängern. Der Pilot erkannte plötzlich, daß der eigentliche Sinn dieser Bemühungen, den Alterungsprozeß aufzuhalten, das Erlangen von Weisheit war. Der Stamm bewahrte seine Geschichte telepathisch auf und gab sie durch Träume weiter, so wie sie jetzt an ihn weitergegeben wurde. Ein Terrianer mußte so lange leben, daß er in genügend Träumen die gesamte Geschichte seines Stammes in sich aufnehmen konnte - sämtliche früheren Begebenheiten, vor allem aber die Darstellungen, Lehren und Weisheiten all seiner Ahnen. Wenn man Hunderte von Jahren lebte, wurde man sehr weise - weise genug, um zu erkennen, daß einige Fremde harmlos waren, andere jedoch nicht. Ganz deutlich spürte Alonzo in seinem Traum die Gewißheit, daß es in dieser idyllischen Landschaft Feinde gab. Und einige von ihnen waren eine Bedrohung für den heiligen Teich! Aber was war der Teich? Dieser Teil der terrianischen Lehren wurde ihm vorenthalten. In diesem Traum wurde dem Piloten offenkundig nur ein Bruchteil des gesamten Wissens enthüllt, über das die Lederschwingen verfügten. Alonzo zweifelte jedoch nicht daran, daß der geheime Teich der Kern ihres Wissens war, das Mysterium, das den Stamm zusammenhielt. Sie betrachteten es als ihre heilige Pflicht, so lange zu leben, wie es ihnen der Teich gestattete - und der Teich war ein Teil des Canyons. Schließlich bereiteten sich die Flieger auf die Landung vor. Alle waren sehr angespannt, da dieser Teil der aufregendste des gesamten Flugs war. Die Landung in der Dunkelheit nahm alle Instinkte, Reflexe und Talente eines Fliegers in Anspruch. Es war ein gefährlicher Geschicklichkeitstest, und manche von denen, die ihn nicht bestanden, kehrten von den Nachtflügen niemals zurück. Entweder holte sie der Fluß oder die Felsen. Alonzo fühlte, daß er unter dem Schutz eines machtvollen Fliegers stand - vermutlich handelte es sich um den ehrwürdigen Führer der Lederschwingen. Seine Weisheit und seine Fähigkeiten verliehen
Alonzo ein Gefühl der Geborgenheit, selbst als er dem Felsplateau entgegenwirbelte, dessen Umrisse im Licht der schimmernden Wolken kaum zu erkennen waren. Dieses Plateau wurde von den Nachtfliegern schon seit Jahrhunderten benutzt, und irgendeine archaische Erinnerung übernahm nun das Kommando und geleitete auch den Menschen sicher nach unten. Alonzo torkelte hin und her, um auf dem Felsen das Gleichgewicht zu bewahren und nicht abzustürzen. Er mußte schließlich niederkauern, um sich sammeln zu können. Als er die zerklüfteten Klippen betrachtete, die das Plateau säumten, nahm er erleichtert einen schmalen Fußweg wahr. Er war nicht viel breiter als der Kobapfad, den Devon und die anderen genommen hatten, und ängstigte ihn zuerst. Alonzo spürte die Gefahr, hatte gleichzeitig aber auch das überwältigende Gefühl, das Schicksal herauszufordern. Die Furcht zu überwinden war jedoch Pflicht - anders war es nicht möglich, lange genug zu leben und zu träumen, um sich an alles erinnern zu können. Auf dem Pfad wuchsen Farne, Sträucher und Kletterpflanzen im Überfluß, aber die Lederschwingen entfernten sich schnell wieder von dem schmalen Weg, so daß man nach kurzer Zeit nur noch seine Konturen zwischen den Felsen hervortreten sah. Für einen Mann, der an diese Dunkelheit nicht gewöhnt war, bewegte sich Alonzo erstaunlich zügig voran, wobei er die Schritte der anderen Pilger immer vor sich hörte. Er wußte, daß es in diesem Bereich des Canyons Myriaden anderer Plateaus gab. Und von allen führten Pfade zu dem heiligen Ort. Der Eingang der Höhle war so groß, daß Alonzo sich schon in ihrem Inneren befand, ehe er überhaupt erkannte, daß es sich um eine Höhle handelte. Es war der Modergeruch, der ihn darauf aufmerksam machte, die Gegenwart der vergangenen Jahrtausende. Dann waren die Wolkenschichten über ihm verschwunden, ersetzt durch schroffen Fels, den er mehr fühlte als sah. Alonzo spürte, wie die Fischhäute von seinen Armen glitten, und wußte, ohne darüber informiert worden
zu sein, daß er seine Flügel in dieser äußeren Kammer zurücklassen mußte, wenn er mit den anderen weiter wollte. Als sich der Durchgang verengte, ging Alonzo in die Knie und tastete sich langsam vorwärts. Wenn dies kein Traum gewesen wäre, hätte er sich wohl gefragt, ob er den Weg überhaupt fortsetzen könnte. Plötzlich spürte der Pilot instinktiv die Gegenwart eines weiteren Besuchers, der kein Terrianer war. Sein erster Gedanke war: Uly! Seit seiner Entführung, Rettung und wundersamen Genesung hatte der Junge eine ganz spezielle Beziehung zu den Terrianern entwickelt. »Uly?« fragte er. Seine Stimme klang hohl; ob dies auf die Höhle oder auf den Traum zurückzuführen war, wußte er nicht zu sagen. »Nein«, antwortete eine körperlose Stimme. »Wo sind wir?« »Morgan, Sie haben es also geschafft!« Alonzo war nicht wirklich überrascht von der Anwesenheit des Regierungsbeamten an diesem Ort - zu offenkundig hatte er sich Stunden zuvor um ein engeres Verhältnis zu dem jungen Terrianer bemüht; allerdings hätte der Pilot zu gerne gewußt, welche Absichten Morgan verfolgte. »Wir sind unter der Erde«, bemerkte Alonzo, »in einer Höhle des Canyons. Wie sind Sie hierher gekommen?« »Mein Kumpel... Er war in meinem Traum, so wie Sie es angekündigt hatten. Er bedeutete mir, ihm zu folgen. Ist das alles wirklich?« »Ich habe immer gehört, daß Träume, solange sie andauern, so wirklich sind wie das Leben selbst.« »Wo ist mein Terrianer?« jammerte Morgan. »Er hat mich hierher geführt, den Pfad entlang. Aber als es, dunkel wurde, habe ich ihn verloren.« »Wir sollten mit dem Reden aufhören und uns auf die Terrianer konzentrieren. Wir brauchen sie als Führer.« »Sie sind sehr alt, nicht wahr?«, fragte Morgan mit wachsender Erregung. »Passen Sie einfach nur auf und warten Sie ab. Das Ziel ist Weisheit.«
Mit diesem Gedanken wurde sein brüchiger Kontakt zu Morgan unterbrochen, und er konnte eine Spur von phosphorisierenden Mineralien sehen, die an den Wänden der Höhle schimmerten. Es war kein richtiges Licht, das dadurch entstand, vielmehr durchzogen die Mineralien die Dunkelheit mit Leuchtfäden, die ausreichten, Alonzo glauben zu lassen, daß sein Bestimmungsort nahe war. Seine Pilgerfahrt war fast vorüber; das Geheimnis stand vor seiner Offenbarung ... Allerdings hatte er einen Preis dafür zu zahlen! Die Terrianer waren nicht habgierig, sie kannten kein Geld. Aber sie erwarteten ein Yin und ein Yang, ein Geben und Nehmen, eine Übereinkunft. Alonzo war mittlerweile eher zum Geben bereit als zudem Zeitpunkt, da die Terrianer zum ersten Mal in seine Träume eindrangen; aber er hatte nicht das Gefühl, daß sie noch mehr von ihm verlangten, sein zerschmettertes Bein schien ihnen als Eintrittskarte in ihre Traumwelt zu genügen. Doch welchen Preis hatten die anderen zu entrichten? Plötzlich traten die phosphorisierenden Markierungen an den Höhlenwänden weitaus deutlicher hervor, und diesmal führten sie abwärts. Alonzo folgte ihnen, wobei seine Furcht von Neugier und einem wachsenden Ehrfurchtsgefühl beiseite gewischt wurde: Er stand im Begriff, in das größte Mysterium dieser Welt voller undurchdringlicher Geheimnisse eingeweiht zu werden. Auf einmal attackierte ein scharfer, beißender Geruch seine Nase Schwefel, angereichert mit brennenden und siedenden Substanzen, die er in keiner Weise identifizieren konnte. Alonzo zwang sich, durch den Mund zu atmen, während er noch tiefer in die Höhle vordrang. »Wir sind da!« sagte Morgan erregt. Erneut war der Beamte nicht mehr als eine körperlose Stimme in der Dunkelheit, aber er klang diesmal näher, wirklicher. Alonzo spürte einen Anflug von Unmut, so als ob dieses Geheimnis allein für seine Traumaugen bestimmt sein sollte. War Morgan der Richtige, um das Geheimnis mit ihm zu teilen? Aber die Entscheidung darüber stand nicht ihm, sondern den Lederschwingen zu. Wenn Morgans Terrianer diesen zwielichtigen Mann ins Vertrauen
ziehen wollte, dann war das allein seine Sache. Außerdem war Alonzo der Ansicht, daß es Morgan gewiß nicht schadete, wenn er einige Dinge von den Bewohnern dieses Planeten lernte. Als der Pilot um eine Ecke bog, spürte er die Gegenwart der Lederschwingen. Einige von ihnen waren in dieser Nacht anwesend andere hingegen befanden sich im Strom der Zeit, Tausende von Jahren in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Ihre Erinnerungen und Entdeckungen halfen die anderen zu leiten. Alonzo konnte die Terrianer jetzt ganz deutlich sehen, denn der ganze Boden wurde von einem phosphorisierenden Teich erleuchtet. Er blubberte wie ein Kessel und schleuderte beißenden Rauch und Dampf in die schwüle Luft. Wenn dies kein Traum gewesen wäre, hätte Alonzo nicht sagen können, ob man an diesem Ort überhaupt atmen konnte. Jedesmal, wenn eine Luftblase in dem Teich zerplatzte, funkelte an der Höhlendecke für eine Sekunde ein matter Stern auf. Unerklärlicherweise fühlte Alonzo sich an seinem Platz wie festgefroren, als wenn es ihm nicht erlaubt wäre, diesen heiligen Ort weiterzuerkunden. Für einen kurzen Augenblick ärgerte er sich darüber, weil er sich der Schönheit kaum entziehen konnte. Dann tauchten nacheinander die Terrianer in den leuchtenden Teich ein, aber Alonzo konnte erkennen, daß es kein angenehmes Erlebnis für sie war. Sie stöhnten vor Schmerz, und einige von ihnen verloren das Bewußtsein und sanken unter die Oberfläche. Vielleicht befanden sie sich aber lediglich in Ekstase, das ließ sich schwer beurteilen. Ein schwermütiger Gesang drang von allen Seiten auf Alonzo ein, aber er konnte nicht sehen, ob die Terrianer ihre Münder bewegten. Alles schien auf einer übersinnlichen, rein geistigen Ebene zu passieren. Alonzo fragte sich, ob Morgan wohl ähnliche Dinge sah. Aber der bloße Gedanke an diesen unerwünschten Begleiter schien seine Traumvision zu vertreiben. Alonzo kämpfte darum, sie zurückzuholen, aber die Verbindung war zusammengebrochen - seine Augenlider flackerten, er erwachte. Der Pilot schoß kerzengerade in seiner Hängematte hoch und blickte sich im Lager um. Abgesehen davon, daß ein Fluß nur wenige
Meter entfernt vorbeirauschte, sah es genauso aus wie in vielen anderen Nächten, in denen sie aus irgendwelchen Gründen ohne Feuer auskommen mußten. Sollte er Devon oder sonst jemandem von seinem Traum erzählen? Wenn dieser Ort wirklich existierte und nicht bloß eine Metapher war, die allein in seinem Geist existierte, konnte er eine Gnade für alle Lebewesen auf diesem Planeten darstellen! Er würde viel Leid lindem und vielleicht Wunder bewirken bei den kranken Kindern, deren Ankunft bevorstand. Teufel, dachte Alonzo, vielleicht könnte dieser heilige Teich sogar mein lädiertes Bein kurieren? Aber es war ein Geheimnis, und dessen Enthüllung würde den Lederschwingen und ihrer Existenz womöglich Schaden zufügen. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, daß nichts großartiger war als ihre Fähigkeit zu fliegen, aber er hatte sich geirrt. Sie reisten zwar durch die Luft, aber im Grunde gehörten sie dem Boden an, mit dem sie auf mysteriöse Art und Weise verbunden waren - wie ihre »Verwandten«, die auf wundersame Weise Devons Sohn geheilt hatten. Nein, er würde den anderen nichts vom Jungbrunnen der Lederschwingen verraten. Irgend etwas bedrohte bereits die Sicherheit und Unversehrtheit dieses heiligen Ortes, und Alonzo wollte keine weiteren Gefahren heraufbeschwören. Abgesehen davon war er an der Aussicht auf eine längere Lebensdauer weitaus weniger interessiert als die meisten Menschen, denn er verfügte über eine eigene Art von Jungbrunnen - in den zahlreichen Kälteschlafperioden während der langen Flüge durch den Weltraum. In einer Beziehung war er bereits wie die Terrianer: Selbst wenn er dieselbe Arbeit noch ein paar hundert Jahre verrichtete, würde er immer noch gut und jung aussehen. Dennoch war sein derzeitiger Zustand ein Beleg dafür, daß auch dreihundert Jahre alte Raumjockeys durch irgendein Mißgeschick oder einen Unfall letztendlich aus der Bahn geworfen werden konnten. Im Grunde war seine im Kälteschlaf verbrachte Zeit wertlos gewesen, ein Nichts. Es war lediglich Zeit, die man ihm gestohlen hatte, denn sein Geist war nicht positiv beeinflußt worden.
In was für einem Kontrast dazu stand da der heilige Teich, der den Lederschwingen das größte aller Geschenke machte - das Geschenk der Zeit. Sie hatten alle Zeit, die sie brauchten, um ihre Geschichte in Träumen weiterzugeben! Nein, Alonzo würde sie nicht verraten. Unglücklicherweise war er jedoch nicht der einzige, der das Geheimnis dieses Terrianerstammes kannte. Morgans Herz pochte wie wild. Konnte er glauben, was er gesehen hatte? Ein echter Jungbrunnen! Es war nicht ausdrücklich gesagt worden, aber das war der Eindruck, den er gewonnen hatte - die Terrianer verfügten über heilendes Wasser, das einen länger leben ließ! Er konnte sich schon all die reichen Leute - Industrielle, Präsidenten, Künstler - vorstellen, all jene, die um seine Gunst buhlen mußten, um in diese heilige Grotte kommen zu dürfen. Und dann auch nur mit spezieller Einladung, und zwar zu Spitzenpreisen. Langsam, langsam, besann sich Morgan, es war nur ein Traum. Vielleicht war sein terrianischer Freund ein Scherzbold! Oder vielleicht hatte sein eigenes Unterbewußtsein ihm einen Streich gespielt und ihm erzählt, was er hören wollte. Aber dieser Traum paßte nur zu gut zu dem anderen während jener kalten Nacht auf dem Plateau. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, daß jemand ein Bad in diesem schrecklichen Zeug nahm, wenn es dabei nichts zu gewinnen gab. Alonzo würde sein Verbindungsmann zu den Terrianern sein. Und Danziger würde die Rolle eines hochrangigen Managers spielen, die eines Mannes, der die Dinge anpackte. Bess und er konnten den Verkauf übernehmen. Obwohl es nicht allzu schwer sein sollte, die Idee, das Leben einer Person um das Vier- oder Fünffache zu verlängern, überall im Universum zu verkaufen! Das Haar in der Suppe war, daß alle Leute, die in Frage kamen, mindestens zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt lebten. Aber die Reichen konnten die Reise nach G889 leicht bezahlen, und sie würden mit Freuden zweiundzwanzig Jahre Kälteschlaf für etwas opfern, das der Unsterblichkeit nahekam! Und was machte es schon, daß dieses Privileg den Reichen vorbehalten war?
Morgan kicherte leise vor sich hin und ließ sich in seinen Schlafsack zurücksinken. Bess dachte, er wollte näher an sie heranrücken, und kuschelte sich an ihn. »Weißt du«, murmelte sie, »ich habe gerade darüber nachgedacht, wie wir hier reich werden.« »Das hast du?« flüsterte er aufgeregt. »Ich auch!« »Ja. Ich denke, es liegt ziemlich klar auf der Hand.« »Ja, das denke ich auch.« Sie lächelte und schmiegte sich in seinen Arm. »Wir verkaufen diesen Trockenfisch als Aphrodisiakum.« Morgan verzog das Gesicht. »Warte mal, meinst du das im Ernst? Wir sitzen hier auf einer Goldmine, aber nicht mit dem Trockenfisch.« »Was ist es dann?« fragte sie zweifelnd. »Ein Jungbrunnen«, wisperte er. Bess lachte prustend. »Für solche Behauptungen könntest du in die Psychiatrie eingeliefert werden.« »Nein, im Ernst«, beharrte er. »Ich habe ihn gesehen.« »Ja? Wo denn?« »In einem Traum.« Sie lächelte. »In Ordnung. Gute Nacht, Schatz.« Hm, dachte Morgan, ohne Beweis ist ein Jungbrunnen tatsächlich schwer zu verkaufen! Aber er würde den Skeptikern schon Beweise liefern.
10 »Machen Sie mal 'nen Punkt«, raunte Morgan Alonzo an. »Es ist wirklich passiert, und das wissen Sie auch.« Der Pilot seufzte und lehnte sich in seiner Hängematte zurück. »Ich möchte nicht darüber reden«, erwiderte er. »Sie müssen darüber reden«, beharrte Morgan. »Sie waren mit mir da! Das Schicksal hat bestimmt, daß wir in dieser Sache zusammenarbeiten.« »Zusammenarbeiten? Bei was? Uns gehört nichts in dieser Höhle. Aus irgendwelchen Gründen hat man uns einen kurzen Blick auf eine besondere Zeremonie gewährt, die uns nicht betrifft. Abgesehen davon geht uns das alles nichts an.« Morgan warf hastige Blicke in die Runde, um sich zu vergewissern, daß niemand nahe genug war, um mithören zu können. »Wollen Sie einen Jux machen?« fragte er keuchend. »Wir reden hier von einem Jungbrunnen! Wir müssen unsere Ansprüche anmelden, bevor es jemand anders tut! Wollen Sie nicht vierhundert oder fünfhundert Jahre alt werden?« »Ich könnte auch ohne das so alt werden.« »Ja, aber es würde nicht so leicht sein wie bei einem einfachen Bad. Und Sie würden all diese Jahre verschlafen und nicht leben.« Alonzo kam zu der Überzeugung, daß ihn Morgan wahrscheinlich nicht in Ruhe lassen würde, solange er diese potentielle Goldmine vor seinen raffgierigen Klauen wußte. Aber unglücklicherweise fiel dem Piloten nichts ein, womit er Morgan entmutigen oder ihn die Wunder der heiligen Grotte vergessen machen konnte. »Sie können da nicht hingehen«, murmelte er. »Sie wissen nicht einmal, wo sich die Höhle genau befindet.« »Im Moment weiß ich es nicht. Aber ich gedenke, dies zu ändern. Es schien ein ganzes Stück entfernt zu sein. Ich meine, sie müssen hinfliegen, nicht wahr?«
»Ja«, brummelte Alonzo und verfluchte sich augenblicklich dafür, daß er diesem Mistkerl mit seinen selbstsüchtigen Plänen auch nur die geringste Hilfestellung geleistet hatte. In früheren Zeiten hätte er sich dem Regierungsbeamten vielleicht bei der Jagd nach dem Geld angeschlossen, ohne Rücksicht darauf, daß eventuell jemand zu Schaden kommen konnte. Aber er war seit der Bruchlandung auf G889 ein anderer Mensch geworden, jemand, der sich um das Land und seine Ureinwohner sorgte. Er wollte ihre Lebensweise schützen, statt sie auszubeuten. Alonzo wußte genau, daß Morgan nur daran interessiert war, den Lederschwingen den heiligen Teich wegzunehmen, und das mußte er verhindern. »Wie ich Devon Adair kenne«, bemerkte Alonzo schließlich, »werden wir morgen aufbrechen. Aber der Canyon, der Teich und der Terrianerstamm werden nach unserem Weggang noch lange hier sein. Und dabei soll es auch bleiben. Die Terrianer haben uns einen Vertrauensbeweis gegeben, indem sie uns ihr Heiligtum zeigten; es ging ihnen bestimmt nicht darum, Sie reich zu machen.« Morgan trat mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck zurück. »Woher wollen Sie das wissen? Vielleicht möchten sie gerne im Penthouse eines großen Apartementhauses leben. Dann könnten sie vom Balkon springen und so weit fliegen, wie sie wollen. Oder andere ihre Landwirtschaft besorgen lassen, mit richtigem chemischem Dünger. Es ist ein kleiner Stamm - diese Sache könnte wie ein Lotteriegewinn für die Terrianer sein.« »Aber dann wären sie keine Terrianer mehr«, brummte Alonzo böse und ballte die Fäuste. Sofort bedauerte er seinen Wutanfall, denn er bekam dadurch einen schmerzhaften Krampf im unteren Rückenbereich. »Au!« ächzte er. »Pssst«, warnte Morgan. Alonzo blickte sich im Lager um und sah, daß es die anderen Mitglieder der Mannschaft an diesem Morgen langsam angehen ließen, weil es ganz offiziell ein freier Tag für sie war. Die meisten von ihnen hatten sich noch nicht mal um das Frühstück gekümmert.
Dennoch waren sie nicht träge genug, um nicht zu bemerken, daß zwei Leute sich gerade anbrüllten und stritten. Alonzo senkte seine Stimme. »Begreifen Sie nicht«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »daß ich mit der Ausbeutung des heiligen Teichs nicht das geringste zu tun haben will? Lassen Sie ihn den Terrianern - sie brauchen ihn nötiger als wir. Wenn Sie den anderen etwas von dem Traum erzählen, werde ich alles bestreiten. Ich werde Ihre Worte nicht bestätigen, und ich werde Ihnen niemals helfen.« Morgan verschränkte zornig die Arme, hob seine Stimme jedoch nicht. »So sieht das also aus, ja? Schön! Sie schneiden sich nur ins eigene Fleisch, Solace. Ich werde mich selbst mit den Terrianern in Verbindung setzen - dazu brauche ich Sie nicht.« Mit diesen Worten stürmte er davon. Alonzo hatte begriffen: Morgan wollte ihn in seinen gierigen Plan einbeziehen - damit er bei den Lederschwingen als Dolmetscher fungierte! Er sollte sie dazu verleiten, irgendeinen unmoralischen Vertrag oder etwas ähnliches zu unterzeichnen. Diese Wendung der Dinge gefiel dem Piloten überhaupt nicht. Bis jetzt hatte er den angenehmen Aufenthalt auf dem Grund des Canyons genossen, doch nun hoffte er inständig, daß Devon mit der Peitsche knallte und sie antrieb, ihre Reise mit dem Aufstieg auf der anderen Seite so schnell wie möglich fortzusetzen. Doch was konnte Morgan mit seinem Traumwissen anfangen, wenn Alonzo ihm nicht half? Das war die große Frage. Ein paar Meter entfernt beendete Devon Adair das Beladen des SandRail, mit dem sie und Yale das Ufer flußaufwärts erkunden wollten. In ihrer Nähe war der Cyborg damit beschäftigt, zwei Wasserflaschen aus den Tanks des TransRover abzufüllen. Devon warf einen Blick auf das Lager, das an diesem Morgen bemerkenswert still und geruhsam wirkte. Alle hatten diesen freien Tag nötig, das war gar keine Frage; aber Devon konnte nur hoffen; daß den Leuten ein Tag des Nichtstuns nicht allzu attraktiv erschien.
Das Leben an dem türkisfarbenen Fluß, geschützt vom Canyon, übte eine enorme Anziehungskraft aus, aber ihr künftiges Zuhause, der Ort, an dem Sie gebraucht wurden, lag Tausende von Kilometern entfernt. Allerdings war es selbst für Devon ein betrüblicher Gedanke, daß sie schon bald dieses idyllische Naturwunder gegen einen endlose Kilometer währenden Marsch voller Mühen und Gefahren eintauschen mußten. Dennoch, es gab keine Alternative für sie. Devon wollte gerade auf ihren Sitz klettern, als sie John Danziger mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht auf sie zukommen sah. Heiter winkte er ihr zu. »Hallo, Devon!« Doch Devon sprang auf ihren Sitz und versuchte, den Mechaniker zu ignorieren. Gleichgültig, wie viele von ihnen sich dagegen wehren würden, den Canyon zu verlassen - John Danziger galt es zu besiegen. Wenn er darauf bestand, zu bleiben, würde es zu heftigen Kämpfen kommen. »Sind Sie taub?« fragte er. »Ich sagte, hallo!« »Hallo«, murmelte sie. »Ich bin gekommen, um Ihnen den Irrsinn auszureden, an einem wunderschönen Tag wie diesem zu arbeiten, wo Sie doch allen anderen frei gegeben haben.« Er deutete auf den behäbig dahinfließenden Fluß und die prachtvolle Kathedrale aus kupfer- und rosefarbenen Klippen, die in den kristallklaren Himmel ragten. »Wie ich meinen freien Tag verbringe, ist meine Sache«, fuhr Devon ihn an. »In Ordnung!« Danziger hob geschlagen die Arme. »Ich wünsche Ihnen beiden viel Spaß. Was genau suchen Sie eigentlich?« Devon war dankbar dafür, daß gerade in diesem Moment Yale mit zwei Wasserflaschen in der Hand herankam und sie im SandRail verstaute. »Weißt du«, sagte er zu Devon, »heute abend sollten wir ein Feuer anmachen, die Kessel herausholen und einiges von diesem Flußwasser abkochen. Das Wasser in unseren Tanks könnte eine Auffüllung vertragen.« »Ich kümmere mich darum«, versprach Danziger. »Ich werde Freiwillige zusammentrommeln, um Holz für ein großes Feuer zu
sammeln. Ich sage ihnen einfach, daß es dazu gebraucht wird, all die Fische zu grillen, die sie fangen werden.« Bevor Devon ihm danken konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit von einem Terrianer in Anspruch genommen, der von einem Plateau in halber Höhe der Canyonwand herabsprang und anmutig über ihre Köpfe hinwegsegelte. Sie seufzte. »Zu schade, daß wir nicht fliegen können wie sie. Dann wären wir in der Lage, dreißig Kilometer am Tag zu erkunden. Aber um Ihre Frage zu beantworten, Danziger: Wir suchen nach einem Aufstiegsweg. Es wird vermutlich nur ein Fußweg für Menschen sein, obgleich wir etwas Breiteres für die Fahrzeuge brauchen.« Sie tippte auf das Steuerrad des SandRail. »Wissen Sie, wenn wir erst einmal ein paar Leute nach oben gebracht haben, könnten wir vermutlich ein Flaschenzugsystem zusammenbauen, um den SandRail und den ATV an der Canyonwand hochzuziehen. Ich weiß allerdings nicht, wie das mit dem TransRover gehen soll; aber ich würde ihn nur sehr ungern aufgeben.« Devon sagte nichts von ihrer Befürchtung, daß vermutlich einige den Wunsch haben würden, beim TransRover zu bleiben, wenn sie ihn auf dem Grund des Canyons zurücklassen mußten. Danziger zuckte die Achseln. »Wenn Sie ein Flaschenzugsystem entwerfen, könnten Sie den TransRover auseinandernehmen und in Einzelteilen nach oben ziehen.« »Das würde Tage, wenn nicht sogar Wochen in Anspruch nehmen«, stellte Yale fest. »Vielleicht gibt es einen anderen Weg.« »Ich höre«, sagte Devon. »Selbst bei einem sehr steilen Anstieg könnte der TransRover mit Hilfe seiner Motorkraft nach oben kommen, wenn wir mit Flaschenzügen und Seilen ein Zurückrutschen verhindern. Nennen wir es einen Aufstieg aus eigener Kraft mit ein bißchen Hilfestellung.« »Suchen wir also nach dem Hang«, bemerkte Devon und startete entschlossen den SandRail. Yale sprang auf den Sitz neben ihr. Danziger trat zurück und winkte. »Viel Spaß. Und passen Sie auf diesen Wasserfall auf.«
Devon drehte das Steuer herum, und der SandRail holperte am Ufer entlang, wobei er Schlamm- und Sandbrocken hochspritzen ließ. Sie fuhren sehr langsam am Dorf der Terrianer vorbei und hielten sich dabei ganz nahe am Fluß, wo keine Hütten standen. Die hochgewachsenen, würdevollen Terrianer beobachteten sie mit Interesse, allerdings aus beträchtlicher Entfernung. Die meisten waren beim ersten Geräusch des Fahrzeugs auf die Felsen gestiegen. Einzig jener Terrianer, den sie am Tag zuvor vor dem Ertrinken gerettet hatten, wagte sich bis zum Ufer herunter, um sie zu begrüßen. Mehrere Lederschwingen glitten hoch über ihnen dahin und hielten so einen noch größeren Abstand als ihre Brüder auf dem Boden. Devon war bemüht, sich ungeachtet dieser Ablenkungen auf ihre gegenwärtige Tätigkeit zu konzentrieren, nämlich nach einem Fußweg und einer Neigung der Canyonwand Ausschau zu halten. Auf seltsame Art und Weise war es für Devon ein gutes Gefühl, einmal von den anderen befreit zu sein und die Gesellschaft ihres vertrauten Gefährten Yale zu genießen. Obgleich die meisten Kolonisten talentierte Leute waren, eigneten sie sich nicht besonders für einen solchen Treck durch die Wildnis - das hatte Danziger schon richtig festgestellt. Sie würden ihre Talente später in New Pacifica unter Beweis stellen können. Aber wie sollte sie es nur schaffen, die ganze Mannschaft dorthin zu bringen? »Yale«, sagte Devon, »während ich fahre, suchst du nach einem Fußweg. Ich halte Ausschau nach dem Hang. Sag mir sofort Bescheid, wenn du etwas Vielversprechendes siehst.« »Verstanden«, antwortete der Cyborg und studierte aufmerksam die Canyonwand. »Darf ich vorschlagen, daß du hinter den Wasserfall fährst?« Devon nickte entschlossen und steuerte das Fahrzeug den Uferstreifen hinauf, genau auf das Naturereignis zu, das wie ein riesiger Wolkenkratzer aus blaugrünem Wasser aussah. Als sie in den nebligen Sprühregen hineinfuhren, wurden sie wieder einmal völlig durchnäßt und mußten durch den Mund atmen.
Hinter dem Wasserfall war es dunkel, matschig und rutschig. Devon mußte sich stark konzentrieren, um die Ballonreifen des Fahrzeugs auf einem schlammigen Sims zu halten, der gefährlich schmal wirkte. Sie warf nicht einmal einen Blick auf Yale, der näher an dem Sturzbach saß. Wenn sie in das tosende Wasser fielen, würden sie bis auf den Grund gedrückt werden und wahrscheinlich nie wieder zum Vorschein kommen. Das Donnern des in die Tiefe stürzenden Wassers war so laut, daß es die Geräusche des SandRail völlig übertönte. Devon verlangsamte das Tempo, damit die Räder sich nicht schräg stellten. Um sich zu orientieren, warf sie einen schnellen Blick auf die Wassermauer. Vor dem Hintergrund der Sonne glänzte der Wasserfall wie tausend Lagen türkisfarbener Seide. Wenn sie auch nur ein bißchen vernünftig wäre, dachte sie, würde sie den Wagen an Ort und Stelle stehenlassen, statt Yales und ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aber sie war nicht vernünftig und kämpfte sich weiter voran, wohl wissend, daß eine einzige falsche Bewegung sie in die Tiefe schleudern würde. Schließlich brach am Ende des Wasservorhangs ein Schimmer des Sonnenlichts durch. Eine Minute später waren sie aus dem dichten Sprühregen heraus. Vor Nässe tropfend, beschleunigte Devon und lenkte den SandRail sofort in die Sonnenstrahlen. Sie schüttelte sich wie ein Labrador. »Uff!« stieß sie hervor. »Ziemlich aufregend«, pflichtete ihr Yale bei. »Dies ist eine weitere unbefahrbare Stelle für den TransRover«, murmelte Devon. »Es sieht nicht gut aus für den großen Jungen.« »Devon, ich habe noch nie erlebt, daß du dich entmutigen läßt«, sagte Yale mißbilligend. »Komm schon, wir hätten doch nie gedacht, daß wir so weit kommen, und doch haben wir es geschafft! Und wir sind nicht schlechter dran als vorher.« »Yale, ich habe eine hypothetische Frage: Glaubst du, daß wir beide allein bis New Pacifica kommen könnten? Wenn wir
beispielsweise den Aufstieg schaffen und ganz einfach mit diesem kleinen SandRail losfahren würden?« »Das wäre eine lange Spritztour«, bemerkte Yale kichernd. Devon blieb jedoch ernst. »Was meinst du?« Der Cyborg hielt nachdenklich den Kopf schräg. »Es wäre sicherlich einfacher für die anderen, wenn sie in relativer Bequemlichkeit zurückblieben, während wir die Reise nach New Pacifica vollenden. Ich nehme an, du würdest bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu ihnen zurückkehren, nicht wahr?« »Ja.« »Und sie wären nicht schwer zu finden«, stellte Yale fest. »Man braucht nur irgendwo in den Canyon hinabzusteigen und wird früher oder später zwangsläufig auf sie stoßen. Ja, es wäre machbar und von ihrem Standpunkt aus sicherlich angenehm, aber wir beide könnten eine sehr schwere Zeit vor uns haben.« Sie wollte ihn unterbrechen, aber er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Wenn sich beispielsweise einer von uns verletzen oder gar sterben würde, müßte der andere allein weiterziehen. Ich brauche dir nicht zu erzählen, wie verwundbar dieser einzelne schon alleine während des Schlafens wäre. Es wäre niemand da, an den wir uns wenden könnten, niemand, der uns retten könnte. Im Falle unseres Scheiterns würden die Leute vermutlich für immer im Canyon bleiben und niemals mit den Kindern und den übrigen Kolonisten zusammenkommen.« »Das könnte uns so oder so passieren. Ich gebe zu, daß ich ungeduldig bin. Ich will nach New Pacifica, und ich weiß, daß wir beide allein schneller dorthin kommen würden.« »Ja«, lächelte Yale, »du bist ungeduldig, bist schon immer ungeduldig gewesen. Ich erinnere mich, daß ich dir immer eine Süßigkeit für die Erledigung deiner Hausaufgaben versprochen habe und du schon vorher herumgetobt und geschrien hast...« »Bitte!« flehte Devon, »sieh meinen Vorschlag als eine ernsthafte Möglichkeit an. Zumindest für den Fall, daß sich die anderen weigern, den Canyon zu verlassen ... Und das könnte durchaus passieren.«
»Wenn sie bleiben wollen, mußt du es ihnen ausreden. In der Menge liegt die Stärke, eine Maxime, die sich in der ganzen Geschichte bestätigt hat. Wenn Menschen sich zusammenschließen, erreichen sie etwas, wenn sie sich trennen, scheitern sie. Falls du meine Meinung hören willst, dann sage ich dir, daß wir einen Weg finden müssen, um unsere armselige Gruppe zusammenzuhalten. Tatsächlich erinnere ich mich noch an ein anderes Sprichwort: 'Vereint stehen wir, geteilt fallen wir!'« »Genug der Sprichworte, wir reden über Menschenleben, wie Danziger mir immer wieder vor Augen führt. Wir dürfen ihre Sicherheit nicht ignorieren. Wenn ich sie an einem geschützten Ort wie diesem zurücklassen könnte, hätte ich ein gutes Gefühl dabei, weil ich wüßte, daß sie bei meiner Rückkehr vermutlich immer noch da wären.« »Aber wir haben keine Ahnung, wie es oben auf dem Gipfel aussieht«, protestierte Yale. »Oder hinter dem nächsten Berg. Wir könnten in eine Situation kommen, bei der genau die Person benötigt wird, die du zurückgelassen hast. Und was ist mit den Kindern? Willst du Uly hierlassen?« Devon wandte den Blick vom Canyon ab und funkelte ihn an. »Ob ich will, daß er sich irgendwo aufhält, wo es sicher ist? Du hast verdammt recht, das will ich! Dieser Ort hier scheint mir nach allem, was wir schon durchgemacht haben, so ziemlich der sicherste zu sein.« Sie machte eine kurze Pause, um über ihren Ausbruch nachzudenken.. »Soweit ich es beurteilen kann«, räumte sie dann ein, »wird keiner von uns aus diesem Canyon herauskommen, so daß diese Unterhaltung für die Katz ist. Wir werden hier alle alt werden, Dünger verzehren und mit Flügeln durch den Canyon jagen.« »Das glaube ich nicht«, widersprach Yale und deutete in die Ferne. »Sieh mal, dort hinten die Kobas ... Ein paar von ihnen springen im hohen Gras herum.« »Wir müssen vorsichtig sein«, warnte Devon und zog ihre Handschuhe über die Unterarme. »Ich weiß, daß es toll wäre, einen
weiteren Kobapfad zu finden, aber diese Wege können auch verdammt gefährlich sein.« »Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie wegrennen, wenn wir nahe genug herankommen«, sagte Yale, während er bereits aus dem SandRail herausstieg. Devon eilte hinter ihm her und fragte sich, ob es nicht töricht war, daß sie keine Waffe mitnahmen. Ein paar Sekunden später waren sie auf einem kleinen Wiesenstück von hüfthohen Gräsern umgeben. Yale ging weiter, und die Kobas huschten tatsächlich davon. Dann blieb der Cyborg stehen, um etwas zu inspizieren, das die Kobas im Gras zurückgelassen hatten. Yale hielt die Haarspange eines Mädchens hoch. »Ich glaube, die gehört True«, kommentierte er mit verwundertem Gesichtsausdruck. Devon erschauderte. »Ich weiß, daß die Kobas nachts näher an uns herankommen, als ich mir das wünsche ... Aber so nah? Doch komm, suchen wir diesen Pfad.« Es dauerte nicht lange, bis sie in dem hohen Gras eine verwilderte Spur fanden, die sich zu den Felsen und von dort aus vermutlich weiter nach oben schlängelte. Devon war nun überaus froh darüber, daß die Kobas zum Fluß herunterkommen mußten, um zu trinken. Wie erwartet, war ihr Pfad nur für ungemein vorsichtige Fußgänger geeignet. Sie schätzte, daß die Bewältigung des Aufstiegs an dieser Stelle mindestens zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Devon verdrehte den Hals, um an der zerfurchten Felswand, die anderthalb Kilometer hoch in den fernen Himmel ragte, emporblicken zu können. Wegen der aufziehenden grauen Wolken konnte sie den oberen Rand des Canyons nicht erkennen. »In Ordnung«, stellte Devon fest, »unseren Fußweg haben wir also gefunden. Gehen wir weiter. Es sieht so aus, als ob es regnen könnte.« Julia blickte zu den Wolken, die auf baldigen Regen schließen ließen. Verdammt, dabei wollte sie sich doch gerade davonschleichen und in einer der kleinen Mulden am Ufer ein Bad nehmen! Sie hatte flußabwärts mehrere Stellen gesehen, dort, wo sich der Strom verbreiterte. Zwar wußte sie nicht, ob das Wasser dort Badetemperatur
haben würde, aber sie war der Meinung, daß die Aussicht auf ein erfrischendes Bad zumindest einen Versuch wert war. Und sollte das nicht möglich sein, würde sie in der Nähe des Wasserfalls duschen. Julia hatte vor kurzem beobachtet, wie Devon und Yale im SandRail hinter dem Sprühregen der niederstürzenden Kaskaden verschwunden waren; weshalb sollte sie sich nicht an genau dieser Stelle den Staub vom Körper spülen? Die Ärztin packte einen alten Kissenbezug aus, den sie als Handtuch benutzte, schlang ihn um ihre Schulter und versuchte, sich aus dem Lager zu schleichen. Da niemand ihr Verschwinden zu bemerken schien, beschleunigte sie ihre Schritte und rannte zum Strand hinunter. In diesem Augenblick hörte sie Fußtritte, die ihr stampfend folgten. Sie blickte sich um und stöhnte auf. Wenn es von allen Leuten einen gab, den sie beim Baden nun bestimmt nicht in der Nähe haben wollte, dann war das Morgan Martin. »Julia! Julia!« rief der Regierungsbeamte, als er sah, daß sie auf ihn aufmerksam geworden war. »Kann ich eine Minute mit Ihnen reden?« »Sie können mich für eine Minute begleiten, wenn Sie versprechen, daß Sie sofort wieder gehen, nachdem Sie mir erzählt haben, was Sie wollen«, antwortete Julia schroff. »Ich habe nämlich heute auch meinen freien Tag, wissen Sie!« »Oh!« rief Morgan. »Sie kehren zurück zur Natur und nehmen ein Bad? Nun, genau darüber möchte ich mit Ihnen sprechen!« »Über das Baden? Kann ich nur empfehlen. War nett, mit Ihnen geplaudert zu haben, Morgan.« »Nein, warten Sie. Was wäre, wenn ich Ihnen erzählen würde, daß es hier in diesem Canyon etwas gibt, das alle Krankheiten heilt und den Prozeß des Alterns stoppt? Und das ist kein Witz!« Sie ging etwas langsamer. »Eine Wunderdroge?« »Keine Droge ...« Er flüsterte verschwörerisch, obwohl sie ein ganzes Stück vom Lager entfernt waren. »Es geht um einen Teich, in einer Grotte. Man taucht in ihn ein. Die Terrianer haben mir diesen
Teich letzte Nacht in einem Traum gezeigt. Alonzo hatte denselben Traum. Dieser Ort könnte ihn im Handumdrehen kurieren.« Jetzt blieb Julia stehen und blickte Morgan schief an. »Reden Sie von einer Medizin der Eingeborenen? Von etwas Homöopathischem?« »Alles davon trifft zu. Wenn Sie Gelegenheit dazu bekommen, dann untersuchen Sie mal einen dieser fliegenden Terrianer. Schätzen Sie mal, wie alt sie sind. Einige sind Hunderte von Jahren alt. Alonzo weiß auch darüber Bescheid.« »Wenn Alonzo so viel weiß, warum reden wir dann nicht mit ihm darüber?« »Er wird es abstreiten«, erwiderte Morgan. »Er meint, daß außer uns beiden niemand etwas von diesem Teich wissen sollte, als wäre er nur speziell uns offenbart worden. Ich nehme an, daß das stimmt, aber der Menschenfreund in mir besteht darauf, daß eine Entdeckung dieser Tragweite allen zugänglich gemacht wird. Dies ist etwas, wonach die Zivilisation seit Jahrtausenden gesucht hat.« »Sprechen Sie von einem Jungbrunnen?« fragte Julia skeptisch. »Sie sind die Medizinerin«, räumte Morgan großmütig ein, »ich überlasse es Ihnen, dieses Phänomen zu bewerten. Ich wollte nur sicherstellen, daß Sie darüber im Bilde sind.« »Können Sie mich hinführen? Können Sie mir dieses Wunder zeigen?« »Noch nicht«, gestand Morgan. »Aber ich arbeite daran. Es ist möglich, daß auch andere von diesem heilenden Teich geträumt haben. Ich würde mich umhören, wenn ich Sie wäre. Denken Sie daran - wenn Sie Alonzo direkt fragen, wird er alles abstreiten. Aber er mag Sie. Ich bin sicher, daß Sie einen Weg finden, um zum Kern der Sache vorzudringen.« Julia nickte. »Vielleicht. Morgan, wenn dies eine Ihrer Machenschaften ist, an der nichts ...« »Dann haben Sie jeden Grund, auf mich wütend zu sein«, unterbrach Morgan sie. »Aber ich bitte Sie ja nur darum, der Sache nachzugehen. Alonzo und ich haben diesen Ort in einem Traum
gesehen. Er war so real, wie Sie jetzt vor mir stehen. Es ist ein Ort, zu dem diese Terrianer mitten in der Nacht fliegen, um sich im Wasser zu versenken. Ich kann es nicht erklären, aber es stoppt den Alterungsprozeß.« Morgan schickte sich an zu gehen, machte dabei aber eine weit ausholende Armbewegung, als wollte er den ganzen Canyon umschließen. »Sehen Sie sich um, Frau Doktor. Man kann es doch fühlen ... Man weiß ganz einfach, daß es hier unten etwas Erstaunliches gibt.« Er entfernte sich kichernd, was Julia noch mehr irritierte als seine eigenartige Behauptung. Ein Jungbrunnen? Schön. Aber irgend etwas hatte Morgan schon während der letzten paar Tage verändert und sein griesgrämiges Gehabe plötzlich einer ungewohnten Heiterkeit weichen lassen. Sollte an dieser seltsamen Geschichte tatsächlich etwas dran sein? Plötzlich hatte ein Bad seine Bedeutung für Julia verloren, eine kurze Dusche nahe dem Wasserfall würde genügen. Wenn Morgan und Alonzo tatsächlich gemeinsam einen Terrianer-Traum gehabt hatten, war allein dies schon äußerst bemerkenswert; denn der Regierungsbeamte war bislang kein Traummedium gewesen. Konnte es sein, daß noch andere von diesem angeblichen Jungbrunnen geträumt hatten? Auf jeden Fall wollte Julia den Piloten aushorchen und sei es auch nur, um einmal mehr bestätigt zu bekommen, daß Morgan ein Phantast oder Lügner war. Als Julia zum Lager zurückkam, sah sie, daß Alonzo in seiner Hängematte döste, aber sie wollte sich nicht an ihn heranschleichen. Deshalb blieb sie hinter einer Wäscheleine stehen, die am TransRover befestigt worden war, und beobachtete ihn ein paar Sekunden lang. Ärzten war so etwas erlaubt, sagte sie sich, selbst dann, wenn die Patienten jung und attraktiv waren. »Kann ich etwas für Sie tun, Julia?« fragte der Patient, ohne die Augen zu öffnen. »Hm, ja ...« Julia trat hinter der Wäscheleine hervor. »Bevor ich Sie für heute sich selbst überlasse, wollte ich mich nur vergewissern,
ob alles in Ordnung ist. Haben Sie Wasser in Ihrer Reichweite? Ist jemand da, der Ihnen helfen kann, wenn Sie mal aufstehen müssen?« »Ja, ja«, brummelte er, »ich bin versorgt. Baines verschläft den ganzen Tag im Sand. Wo gehen Sie hin?« »Ich suche mir einen Platz, wo ich mich säubern kann. Ich dachte vielleicht an den Wasserfall.« Alonzo seufzte. »Ja, er sieht einladend aus, nicht wahr? Ich wünschte, ich könnte diesen freien Tag genießen, aber es geht nicht. Glauben Sie mir, so ein Tag wie heute ist für mich langweiliger als ein Tag, an dem wir versuchen, möglichst viele Kilometer hinter uns zu lassen. Da habe ich wenigstens die Verantwortung für den ATV.« Julia trat näher an die Hängematte heran und drückte auf die Schiene an seinem rechten Bein, um sie zu untersuchen. »Sind Sie wirklich sicher, daß Sie keine neue Schiene haben wollen? Dieser Stopp wäre der geeignete Zeitpunkt dafür.« »Wo ich mich gerade an diese gewöhnt habe?« fragte er mit gespieltem Entsetzen. »Sie ist fast wieder trocken, denke ich jedenfalls. Denn das ist schwer zu beurteilen, weil es sich darunter immer klamm und feucht anfühlt. Aber wie ich es sehe, Doc, kommt diese Schiene erst runter, wenn ich überhaupt keine mehr brauche.« »Hoffen wir, daß das nicht mehr lange dauert«, bemerkte Julia mit einem aufmunternden Lächeln. »Da wäre noch eine kleine Sache, die ich Sie fragen wollte: Haben Sie Träume von einem heilenden Teich gehabt, den die Terrianer aufsuchen? Ich glaube, sie fliegen nachts dorthin.« Alonzo sah sie mit zusammengekniffenen Augen an und legte sich dann in die Hängematte zurück. Julia wußte, daß sie ins Schwarze getroffen hatte, obwohl er versuchte, sich uninteressiert zu geben. »Ich kann mich an einen solchen Traum nicht erinnern. Wieso?« Julia entschloß sich, zu einer kleinen List zu greifen, weil sie wußte, wie stur Alonzo sein konnte. »Ein paar Leute aus der Gruppe haben mir von einem gemeinsamen Traum erzählt, den sie hatten. Wenn sie diesen Traum hatten, dann müssen Sie ihn auch gehabt haben, dachte ich mir.«
»Wer hat Ihnen von diesem Traum erzählt?« fragte Alonzo argwöhnisch. Julia lächelte. »Kann ich Ihnen nicht sagen. Ärztliche Schweigepflicht, Sie wissen schon. Machen Sie sich keine Sorgen, Alonzo. Sie würden diesen Ort erkennen, wenn Sie ihn sähen. Offenbar war er ziemlich spektakulär. Sie sollten sich von ihm nicht ängstigen lassen, wenn Sie ihn zu sehen bekommen.« »Er hat mich nicht geängstigt!« erwiderte der Pilot. »Ich fand ihn wunderschön, ein außergewöhnlicher Ort. Selbst jetzt kann ich noch nicht glauben, daß er real war - nur daß ich ihn wirklich gesehen habe! Am meisten verblüfft mich, daß die Terrianer so vertrauensselig waren, ihn uns tatsächlich zu zeigen. Ich hoffe, sie bedauern das nicht eines Tages.« Julia schluckte. »Ist es wirklich ein Jungbrunnen? Sind diese fliegenden Terrianer wirklich Hunderte von Jahren alt?« Alonzo nickte mit ernstem Gesicht. »Ja, aber ich glaube, wir sollten ihren heiligen Teich in Frieden lassen. Wenn wir uns einmischen, könnte das die Lederschwingen und ihre Lebensweise zerstören.« »Selbst wenn es Ihnen helfen würde?« Der Pilot schüttelte den Kopf und lachte hohl. »Ich bin nicht so wichtig, keiner von uns ist das. Wissen Sie, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß wir diesen Planeten kolonisieren könnten, ohne ihn zu verändern. Ich kann nur hoffen, daß wir behutsam vorgehen, wenn wir etwas verändern - wir wollen uns einfügen, nicht die Herrschaft übernehmen. Aber es gibt einige Dinge auf diesem Planeten, die zu bedeutsam sind, um verändert zu werden. Sie müssen so belassen werden, wie sie sind. Dazu zählen für mich die Lederschwingen und ihre Lebensweise ... Also auch ihre Geheimnisse ...« Er umfing mit einer Armbewegung die ganze Schlucht, in der eine Zusammenballung grauer Wolken die gezackten Zinnen in der Ferne verschluckte. »Sehen Sie das? Es sind nicht nur Leute wie Morgan, die diesen Ort zerstören könnten - es sind ganz normale Leute wie Sie und ich. Morgan ist nur hinter dem Geld her, aber die Wohltäter, diejenigen, die das Universum retten wollen, sind letztlich kaum
weniger gefährlich. Egal, wie nutzlos manche Leute sind, möchte doch jeder ewig leben. Julia, wollen Sie vielleicht entscheiden, wer ewig leben darf und wer nicht? Und einer von uns könnte leicht in die Lage versetzt werden, darüber entscheiden zu müssen. Wenn bekannt würde, daß wir in diesem Canyon einen Jungbrunnen haben, wie lange würde es dann dauern, bis die Leute aus dem ganzen Universum herbeiströmen?« »Wir könnten es geheimhalten«, meinte Julia. Alonzo lachte schnaubend. »Klar. Wir hatten diesen Traum erst letzte Nacht, aber schon jetzt wissen alle darüber Bescheid.« »Aber es war die Entscheidung der Terrianer, Ihnen den Ort zu zeigen. Sie müssen einen Grund dafür gehabt haben. Welchen?« Alonzo seufzte. »Das versuche ich herauszufinden. Ich weiß, daß jemand den heiligen Teich bedroht, aber ich weiß nicht, wer es ist. Normalerweise würde ich denken, daß wir die größte Bedrohung sind. Aber warum sollten sie ihn uns dann zeigen?« »Warum erzählen Sie mir nicht von diesem Traum?« schlug die Ärztin vor. »Vielleicht kann ich ihn anders interpretieren.« »Das werde ich tun«, sagte Alonzo mit schwerer Stimme. »Aber das wird an meiner Meinung, daß wir ihnen den Teich nicht wegnehmen dürfen, nichts ändern.«
11
Der Regen kam am späten Nachmittag und zwang die Zurückgebliebenen unter das Schutzdach ihrer Zelte oder unter den TransRover. John Danziger blickte unglücklich auf das Bündel Treibholz, das er gemeinsam mit True und Bess gesammelt hatte, um ein Feuer zu entzünden. Obgleich sie eine Plane darüber geworfen hatten, war das Holz zweifellos naß geworden. Der Mechaniker bemerkte, daß die Terrianer sich sofort in ihren ameisenhügelähnlichen Behausungen verkrochen hatten, als die ersten Tropfen vom Himmel fielen. Nur der rauschende Fluß schien Vergnügen an dem Regen zu haben. Danziger fragte sich, ob es etwas gab, was er für Devon und Yale tun konnte, die sich irgendwo flußaufwärts befanden und hilflos dem Regen ausgeliefert waren. Plötzlich kam eine schlanke Gestalt durch den Regen auf den Mechaniker zugelaufen und rief seinen Namen. »Hier drüben!« brüllte er und setzte sich für einen kurzen Augenblick dem Sturzbach aus, indem er aus seinem Versteck herauskroch und winkte. Sekunden später tauchte Julia Heller unter den TransRover, um dem Mechaniker an diesem relativ geschützten Platz Gesellschaft zu leisten. Aber sie war natürlich längst tropfnaß. »Ich würde Ihnen ein Handtuch anbieten«, sagte er, »aber ich habe keins.« »Erzählen Sie mir doch einfach etwas davon«, erwiderte sie und fuhr dann mit ernster Miene fort. »Hören Sie, da Devon nicht hier ist, muß ich Sie um Rat fragen.« »Fragen Sie.« »Haben Sie von dem Jungbrunnen gehört, den Morgan und Alonzo letzte Nacht in einem Traum gesehen haben?« Danziger lächelte. »Ein Jungbrunnen?«
»Lachen Sie nicht. Sie schwören beide, daß sie letzte Nacht eine Traumreise mit den Lederschwingen unternommen haben. Sie sind zu einer heiligen Grotte geflogen, in der es einen leuchtenden Teich gibt. Man taucht in den Teich ein - und wird geheilt und kann fast ewig leben. Alonzo besteht eisern darauf, daß wir keine Anstalten machen, nach dem Teich zu suchen oder ihn gar selbst zu nutzen. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, daß er sich das Ganze nur ausgedacht hat. Er vertritt diese Meinung, obwohl die Terrianer selbst ihm diesen Teich gezeigt haben. Morgan will ihn natürlich mit allen teilen.« »Aber nicht umsonst, da bin ich mir sicher«, bemerkte Danziger. »Welchen Rat kann ich Ihnen geben? Ich bin nicht so gut im Interpretieren von Träumen.« Die Ärztin runzelte unentschlossen die Stirn. »Ich habe in dieser Sache einander widersprechende ethische Vorstellungen. Ich habe geschworen, Menschen zu heilen, und die Hoffnung auf Heilung der Syndrom-Kinder ist der einzige Grund dafür, daß wir auf diesen Planeten gekommen sind. Wir wissen, daß Uly von den Terrianern geheilt wurde, wenn auch Hunderte von Kilometern von dieser Schlucht entfernt. Aber es könnte doch sein, daß da Zusammenhänge bestehen ... Auf der anderen Seite ist da Alonzo, der mir sagt, daß wir uns von dem Teich fernhalten sollen, weil sonst die Lederschwingen vernichtet werden könnten! Ein Teil von mir weiß, daß er vielleicht recht hat, aber ich kann die Sache trotzdem nicht einfach ignorieren. Immerhin besteht theoretisch die Möglichkeit, daß dieser Teich Menschen tatsächlich helfen könnte.« Während er nachdachte, streckte Danziger eine Hand nach draußen; der Regen hatte inzwischen nachgelassen. »Also«, sagte er nach längerem Zögern, »ich bin nur ein einfacher Mechaniker, und ein Mechaniker prüft als erstes, ob das Ding, um das es geht, überhaupt die Mühe lohnt, repariert zu werden. Bevor Sie sich also mit ethischen Fragen verrückt machen, sollten Sie meiner Meinung nach prüfen, ob man beweisen kann, daß dieser Jungbrunnen wirklich existiert.«
»Wenn ich zwei Terrianer untersuchen könnte, einen älteren und einen jüngeren, wäre ich in der Lage, ein paar Vergleichstests anzustellen. Das würde mir zumindest sagen, ob sie tatsächlich Hunderte von Jahren alt werden.« »Wir kennen sowohl einen jungen als auch einen alten Terrianer«, sagte Danziger. »Da wären Morgans Freund und unser Führer, der uralt aussieht, aber noch ziemlich flink auf den Beinen ist. Kommen Sie, der Regen läßt nach. Holen Sie Ihren Medizinkoffer.« »Danke«, erwiderte Julia mit einem strahlenden Lächeln und sprang sofort auf, um in den Nieselregen hinauszulaufen. Draußen brachen gerade die ersten Sonnenstrahlen durch die rasch dahinziehenden Wolken am oberen Rand des Canyons und schufen Lichtsäulen, die an den Zinnen herunterjagten und sich über den türkisfarbenen Fluß ergossen. Einige Sekunden lang füllten prachtvolle Regenbögen den Canyon in seiner gesamten Länge aus; sie sahen aus wie magische Rutschbahnen, auf denen man wie auf einem fliegenden Teppich nach oben und nach unten schweben konnte. Sowohl bei Regen als auch bei Sonnenschein war dieser Canyon von einer Schönheit und Zeitlosigkeit, die das Gerede von einem Jungbrunnen selbst dem nüchternen Danziger plausibel erscheinen ließen. In jedem Fall war diese neue Entwicklung ein weiterer guter Grund, noch ein paar Tage hierzubleiben. Doch benötigten sie dafür überhaupt Gründe? Die Aussicht, die Canyonwand auf unwegsamen Pfaden erklimmen zu müssen, noch dazu ohne die Fahrzeuge, verursachte dem Mechaniker Magenschmerzen. Er mußte einen Weg finden, um mit Devon über diese Angelegenheit zu sprechen. Devon zitterte. Obwohl die Sonne vorübergehend wieder schien, war sie klatschnaß, und in diesem Zustand war sie den ganzen Tag in einem offenen Fahrzeug herumgefahren. Der Regen hatte ihre Erkundungsfahrt verkürzt und sie bereits um die Mittagszeit zur Umkehr gezwungen. Abgesehen von dem Kobapfad, den sie gleich hinter dem Wasserfall entdeckt hatten, war diese Exkursion jedoch reine Zeitverschwendung gewesen. Sie hatten viele imposante
Felsformationen gesehen, aber sie hatten keine Stelle im Canyon gefunden, an der auch nur eines der Fahrzeuge aufsteigen konnte, mit oder ohne Hilfestellung. Zu allem Überfluß stand der frierenden Devon auf dem Rückweg auch noch eine weitere Dusche durch den Wasserfall bevor. Die anderthalb Kilometer hohe Mauer aus türkisfarbenem Wasser ragte in hundert Metern Entfernung vor ihnen auf. »Ich denke, wir sollten noch einen weiteren Tag bleiben und auch die andere Richtung erkunden«, bemerkte sie zu Yale. »Auf den paar Kilometern zum Dorf sind wir, glaube ich, an ein paar Steilhängen vorbeigekommen, die sich eventuell eignen könnten.« Yale lächelte traurig. »Selbst du möchtest bleiben.« »Nein, das möchte ich nicht. Aber wir sparen keine Zeit, wenn wir versuchen, diesen Canyon auf dem falschen Weg zu verlassen. Ich habe gerade ein Aktionsprogramm für die Mannschaft festgelegt. Wir müssen weiter, denn sonst geraten wir wirklich in Versuchung, für immer hierzubleiben. Wenn wir morgen auch keinen leichteren Weg nach oben finden, solltest du mit Zero und den meisten anderen den Kobapfad hinaufklettern. Dort baust du dann das Flaschenzugsystem zusammen, so daß wir wenigstens die beiden kleineren Fahrzeuge nach oben bekommen.« »Weißt du was?« fragte Yale plötzlich. »Warum nehmen wir eigentlich diese gefährlichen Erkundungen vor, obwohl die Lederschwingen im Umkreis von Hunderten von Kilometern längst alles erforscht haben? Suchen wir doch lieber nach einem Weg, von ihnen eine Auskunft über mögliche Aufstiegswege zu bekommen.« »Ja, warum nicht? Und wenn es sein muß, nehmen wir den TransRover tatsächlich auseinander und ziehen ihn Stück für Stück hoch, wie Danziger vorgeschlagen hat. Das Wichtigste ist, daß wir auf unser Ziel hinarbeiten. Es ist besser, ein paar Tage bei einer Arbeit zu verlieren, die sich auszahlt, als mehrere Monate aufgrund von Unentschlossenheit.«
Yale lächelte. »Devon, man hat dir nie vorwerfen können, daß du unentschlossen bist. Was, glaubst? du, werden die anderen dazu sagen?« Sie zuckte die Achseln. »Was sollen Sie sagen? Abgesehen von Trägheit gibt es keinen Grund, hierzubleiben.« Yale schützte seine Augen vor dem niederstürzenden Wasser. »Diesmal mußt du in das Bassin des Wasserfalls blicken. Es ist ein eindrucksvolles Bild, aber ich möchte es aus dieser unmittelbaren Nähe kein zweites Mal betrachten.« Doch Devon ignorierte diese Aufforderung und hielt ihre Augen starr auf den schlammigen Sims gerichtet, um so den Spuren folgen zu können, die sie am Morgen hinterlassen hatten. Sie mußte auch nicht auf die Kaskaden blicken, um zu ahnen, welches Bild ihr entging; das ohrenbetäubende Tosen des Wassers, das noch wochenlang in ihren Ohren nachhallen würde, vermittelte ihr einen zwar indirekten, aber dennoch, imposanten Eindruck. Da sie den Sims hinter dem Wasserfall schon einmal bewältigt hatte, war sie diesmal weniger nervös und brachte den SandRail ohne Mißgeschick durch. Wieder im Freien, sah sie in der Ferne zwei Lederschwingen von einem Plateau abheben; unwillkürlich schweifte ihr Blick zu dem terrianischen Dorf und den blinkenden Miniaturwasserfällen. Beim Anblick ihrer eigenen Zelte dahinter hatte Devon das Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Dieser Ort hatte schon nach kurzer Zeit etwas eigenartig Vertrautes gewonnen; fast mochte man meinen, es sei völlig überflüssig, noch nach etwas anderem Ausschau zu halten. Widerstrebend machte sie sich jedoch sofort klar, daß sie derartige Gedanken besser verdrängen sollte: Ihr Zuhause lag in New Pacifica, dies hier war nur eine Zwischenstation auf dem Weg dorthin. Noch halb in Gedanken versunken, sah Devon nun eine kleine Gestalt durch das Terrianer-Dorf auf den SandRail zustürmen. Weil sie sich vor ihrer Rückkehr noch ein wenig von der Sonne trocknen lassen wollte, hielt sie den Wagen an und stieg aus, um sich die Beine
zu vertreten und das Wasser und den Schlamm abzuschütteln. Leicht erholt erwartete sie dann die Ankunft ihres kleinen Sohnes. Eigentlich war Uly gar nicht mehr so klein, rief sie sich ins Gedächtnis. Während seiner langjährigen Krankheit hatte sie sich angewöhnt, ihn wie ein Baby zu umsorgen. Doch seit seiner plötzlichen Heilung hatte er sich in eine kleine Persönlichkeit verwandelt, die sich ihrer Aufsicht immer häufiger entzog - nicht unbedingt ein beruhigendes Gefühl, da sich diese Veränderung in einer Umgebung vollzog, wo überall Gefahren lauerten. »Mom, habt ihr es gehört?« brüllte er. »Habt ihr es gehört?« Sie lachte. »Was gehört? Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen. Aber wir haben einen weiteren Kobapfad entdeckt, genauso einen wie den, den du mit True entdeckt hast.« »Vergeßt das«, sagte Uly wichtig. »Wißt ihr über den Jungbrunnen Bescheid?« Yale nickte. »Natürlich. Der spanische Konquistador Ponce de Leon hat ihn im südlichen Nordamerika gesucht, aber die Erzählungen davon haben sich als Mythos herausgestellt.« Uly schüttelte den Kopf, als würde sein Lehrer hoffnungslos hinter dem Mond leben. »Nicht diese, sondern der hier im Canyon! Morgan, Alonzo und Julia wissen alles über ihn. Julia hat sogar schon die Terrianer getestet, um zu sehen, ob es stimmt. Und es stimmt tatsächlich! Es gibt einen Jungbrunnen hier im Canyon. Julia denkt, es könnte sein, daß ich durch sowas kuriert worden bin.« Devon holte tief Luft und sah Yale an. »Ich schätze, diese Neuigkeit schlägt tatsächlich einen Kobapfad.« Der Cyborg machte ein nachdenkliches Gesicht. »Vielleicht könnten Zero und ich es allein bis New Pacifica schaffen, wenn du hierbleiben und Nachforschungen anstellen willst. Obgleich ich alle daran erinnern möchte, wieviel Zeit Ponce de Leon auf seine Suche verschwendet hat.« »Ich möchte Dr. Vasquez die Hand schütteln, wenn er landet«, schwor Devon. »Und ich möchte, daß er Uly sieht, als Beweis dafür, daß er mit seiner Theorie recht hatte. An diesen Zielen hat sich für
mich nichts geändert. Steig ein, Uly. Sehen wir, was das alles zu bedeuten hat.« Eine halbe Stunde später war Devon von Julia, Morgan, Danziger und einem düster blickenden Alonzo ins Bild gesetzt worden. Soweit Devon es sich zusammenreimen konnte, hatten Morgan und Alonzo einen gemeinsamen Traum gehabt, in dem sie mit den Lederschwingen zu einem heiligen Teich geflogen waren. Sie waren Zeuge geworden, wie die Gläubigen in den Teich eintauchten, und hatten, ohne daß es ausdrücklich gesagt wurde, sofort gespürt, daß dieses Wasser heilende Kräfte hatte und den Prozeß des Alterns aufhielt. Träume waren eine Sache, Julias Feststellungen eine andere. Nach den Blut-, Röntgen- und Gewebeprobenuntersuchungen der Ärztin war der junge Terrianer, wie von ihnen allen geschätzt, etwa zwanzig Jahre alt. Und eine vergleichende Analyse hatte ergeben, daß jener Terrianer, der sie ins Dorf geführt hatte, gut und gerne vierhundert Jahre zählte! Alonzo war wütend darüber, daß Julia die beiden Terrianer überhaupt untersucht hatte. »Ich kann nicht glauben, daß Sie das getan haben. Haben Sie denn überhaupt keinen Respekt vor ihrer Lebensweise?« Julia funkelte den Verletzten böse an. »Sie sind ein Heiliger, was Alonzo? Allerdings macht es Ihnen anscheinend nichts aus, in die Träume dieser Wesen einzudringen, ihre innersten Gedanken und ihre Geheimnisse zu erforschen, von denen wir angeblich nichts wissen sollten! Aber für mich hörte es sich nicht so an, als wären Sie letzte Nacht mit Gewalt zu dem heiligen Teich geschleppt worden.« »Ich habe nicht darum gebeten, hingebracht zu werden. Sie haben ihn mir von sich aus gezeigt.« »Mir haben sie ihn auch gezeigt!« meldete sich Morgan zu Wort. »Ich hatte aber nie das Gefühl, daß wir ein Geheimnis daraus machen sollten.« »Tolles Geheimnis«, murmelte Alonzo.
»Ich kann nicht erkennen, daß Ihnen die Untersuchung geschadet haben soll«, sagte Julia hartnäckig. »Sie waren damit einverstanden. Ich weiß nicht, wie lange Terrianer normalerweise leben, aber ihr Anführer hat Narben, die mindestens dreihundert Jahre alt sind! Er ist nach unseren Maßstäben uralt, befindet sich jedoch in exzellenter körperlicher Verfassung. Wenn es hier etwas gibt, das den Alterungsprozeß aufhält und das Syndrom heilen kann, dann möchte ich es sehen. Zumindest will ich ein paar Proben der chemischen Zusammensetzung nehmen.« Alonzo machte ein finsteres Gesicht und deutete auf die Pracht, die sie von allen Seiten umgab. »Glauben Sie, Sie könnten das in einem Teströhrchen duplizieren? Der Teich ist ein fest integrierter Bestandteil des Canyons. Sie können ihn nicht herausnehmen oder die Terrianer veranlassen, ihn aufzugeben.« Julia sah aus, als ob sie jeden Augenblick explodieren würde. Devon hob die Hände, um den Streit zu beenden. »Das reicht jetzt. Sie haben beide gute Argumente, aber ich möchte auch eines vorbringen. Yale, würdest du diesen Leuten bitte erzählen, was mit Ponce de Leon passiert ist?« Yale räusperte sich nach Professorenmanier. »Ich wäre entzückt.« »Ah, wir brauchen keine Geschichtslektion«, stöhnte Morgan. »Doch, die brauchen Sie«, antwortete Devon. »Ich habe mir alles angehört, was Sie gesagt haben, und jetzt werden Sie sich einen Moment anhören, was Yale zu sagen hat.« »Danke«, sagte Yale. Dann projizierte er das holographische Bild eines gelehrt aussehenden Spaniers mit einem langen, schmalen Ziegenbart. »Juan Ponce de Leon«, begann er, »war einer der erfolgreichsten und respektiertesten spanischen Gouverneure in der Karibik. In späteren Jahren war er von der Idee besessen, den mythischen Jungbrunnen zu finden. Seine Suche führte dazu, daß er Florida entdeckte und für Spanien in Anspruch nahm, aber ansonsten verlief seine jahrelange Suche absolut erfolglos und endete damit, daß er von Eingeborenen schwer verwundet wurde. Er starb alt und völlig
mittellos.« Der Cyborg schaltete das Bild ab. »Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Danziger hob die Hand. »Wollen Sie uns sagen, daß wir Idioten sind, wenn wir nach dieser Sache suchen?« »Nicht eigentlich«, bemerkte Devon, »aber die Suche nach einem Jungbrunnen ist nicht unsere primäre Zielsetzung. Wir haben eine Kolonie zu gründen. Danach können einige von uns in den Canyon zurückkehren und nach dem heiligen Teich suchen, falls es so etwas tatsächlich gibt.« Mit Blick auf Alonzo fügte sie hinzu: »Vielleicht können wir dieselben Heilkräfte auch an anderer Stelle finden, ohne eine blühende Gemeinschaft von Terrianern auseinanderzureißen.« Morgan reckte hilflos die Hände gen Himmel. »Ich kann das alles nicht glauben! Wahrscheinlich halben Sie die Lösung für alle Gesundheitsprobleme der Menschheit fest in Ihren Händen! Eventuell haben Sie sogar die Möglichkeit, stinkreich zu werden, und Sie kümmern sich überhaupt nicht darum. Sind Sie verrückt?« Bess massierte sanft seine Schultern. »Beruhige dich, Schatz. Du weißt, daß Aufregung nicht gut für deinen Blutdruck ist.« »Genau das ist es!« jammerte Morgan. »Ich brauche den Jungbrunnen! Wir alle brauchen ihn!« »Gerade deshalb sollten wir ihn nicht suchen!« brüllte Alonzo. »Jeder wird ihn haben wollen, und so stehlen wir ihn den Terrianern, selbst wenn wir das gar nicht beabsichtigen. Auch mit den besten Absichten werden wir sie verraten. So haben wir es während unserer ganzen Geschichte gemacht - fragen Sie Yale.« »Er hat recht«, stimmte der Cyborg zu. »Die Geschichte der Menschheit sieht in dieser Beziehung finster aus. Dieser Teich, falls er existiert, ist ein Bodenschatz - wie Kohle, Öl, Gold oder irgendeine andere Ressource, die wir überall in der Galaxis ausgebeutet haben.« Julia wandte sich Devon zu und appellierte direkt an sie. »Können wir nicht noch ein paar Tage hierbleiben, um der Sache auf den Grund zu gehen?« flehte sie. »Um der Kinder willen!«
Devons Lippen wurden schmal. Die richtige Antwort auf diese Frage gab es nicht. Es gab keine Möglichkeit, allen gerecht zu werden, nicht einmal sich selbst. Das letzte, was sie wollte, war die Ausbeutung terrianischen Eigentums. Aber wenn zwischen diesem Teich und Ulys mysteriöser Heilung eine Verbindung bestand - wie könnten sie dann darauf verzichten, der Sache nachzugehen? Andererseits wollte sie den Aufenthalt in diesem Canyon nicht unnötig verlängern, da ihnen allen der Abschied dann noch schwerer fallen würde. Danziger spürte Devons Zwangslage. »Ich glaube nicht, daß es schadet, wenn wir noch einen oder zwei Tage bleiben«, bemerkte er. »Außerdem haben wir keinen richtigen Plan, wie wir hier rauskommen können, oder?« »Doch, den haben wir«, ereiferte sich Devon. »Yale und ich haben einen Kobapfad entdeckt, der an der Canyonwand hochführt. Wir können sofort aufbrechen.« »Wirklich toll!« höhnte Morgan. »Wir gehen zu Fuß weiter und lassen alle Fahrzeuge und den Jungbrunnen hier unten zurück! Nun, ich werde jedenfalls nicht gehen.« Zustimmendes Gemurmel wurde laut, besonders von Baines und Julia. Da war sie, dachte Devon, die offene Meuterei, die sie befürchtet hatte. Allerdings hatte sie bislang eher damit gerechnet, daß das unterwegs passieren würde, nach einem Tag voller Opfer und Mühen. Bei richtigem Nachdenken jedoch hätte ihr klarwerden müssen, daß ein freier Tag in einem üppigen Tal mit frischen Fischen, freundlichen Terrianern und einem Jungbrunnen sehr viel geeigneter war, Widerstände gegen die Aussicht auf einen schier endlosen Gewaltmarsch aufkommen zu lassen ... »In Ordnung«, seufzte sie, »wir bleiben mindestens noch einen Tag, so daß wir noch einmal nach einem Hang suchen können, der geeignet ist, die Fahrzeuge nach oben zu bringen.« Jubel kam auf, obwohl dies in Wirklichkeit nur eine Verzögerungstaktik war, die Devon ganz bewußt gewählt hatte.
Alonzo verzog das Gesicht, schloß die Augen und ließ sich in seine Hängematte zurücksinken. »Ich Werde Ihnen nicht helfen«, sagte er. »Alles, was ich über den Teich erfahre, behalte ich für mich.« »Tun Sie das«, krähte Morgan. »Wir werden schon sehen, ob wir Sie überhaupt brauchen.« Er reckte seinen Daumen in Richtung des Flusses. »Mein Freund wird mir heute nacht schon zeigen, wie man hinkommt. Richtig?« Devon sah, daß der Regierungsbeamte zu dem jungen Terrianer hinübersah, der sie vom Flußufer aus beobachtete; das tat er seit seiner Rettung durch die Fremden fast regelmäßig. Ob er jedoch tatsächlich bereit war, Morgan zu helfen, war schwer zu beurteilen, denn sein schuppiges Gesicht ließ kaum eine Regung erkennen. Plötzlich jedoch kam der Terrianer auf sie zugerannt und deutete aufgeregt zum Himmel empor. Er war so erregt, daß er sogar ein paar hörbare Klicktöne von sich gab. Devon folgte seinen Hinweisen und sah am Himmel eine regelrechte Schwadron von Lederschwingen, vielleicht ein Dutzend oder auch mehr. Sie waren ziemlich weit entfernt, noch auf der anderen Seite des Wasserfalls. Und sie sahen wunderschön aus bei ihrem Formationsflug an diesem inzwischen wieder sonnigen Nachmittag. Devon fragte sich, warum so viele von ihnen" zusammen flogen. Dann hörte sie hinter ihrem Rücken einen Pfeifton. Als sie sich umdrehte, erblickte sie einen weiteren Terrianer, der auf einem großen Plateau mit einem Knochenstück herumwirbelte. Das Pfeifen, das der Knochen von sich gab, war nicht sehr laut, aber der Alarm elektrisierte das Dorf und ließ überall Lederschwingen aus ihren Behausungen strömen. Einige von ihnen schnallten bereits ihre Flügel an, während andere nach den Speeren griffen. Morgans Terrianer rannte an ihnen vorbei zu einem Artgenossen, der ihm ein Flügelpaar aushändigte. Sobald ein Terrianer mit seinen Flügeln ausgestattet war, kletterte er auf die Felsen und suchte sich das nächstliegende Plateau. Sie bewegten sich schnell und äußerst effizient wie tags zuvor bei der
Fischjagd. Devon blickte auf den Fluß - aber der strömte ruhig dahin, herumtollende Fische waren nirgendwo auch nur zu erahnen. »Was geht hier vor?« fragte Morgan besorgt. »Sie wissen doch so viel über sie!« spottete Alonzo. »Sagen Sie es uns!« Danziger überlegte nicht lange, sondern ging zum Geräteschrank des TransRover und holte ein Fernglas hervor. Devon wollte ihm folgen, wurde jedoch durch einen Terrianer abgelenkt, der von einem nahegelegenen Startpunkt aus abhob. Er machte heftige Flügelschläge und kämpfte fieberhaft um Höhe - mit einer Verzweiflung, die sie bisher bei den Lederschwingen noch nie gesehen hatte. Dann blickte sie zu den anderen hinüber, die ihre Flügel ebenfalls mit aller Kraft bewegten, als wollten sie ein Wettfliegen veranstalten. »Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte Bess besorgt. True klammerte sich an der Hüfte ihres Vaters fest. »Daddy, ich habe die Flieger gezählt, die heute abgeflogen sind. Es waren nicht so viele.« Danziger blickte mit zusammengekniffenen Augen in das Fernglas. »Ja, du könntest recht haben. Und ich kann mich nicht erinnern, daß sich die Terrianer, die in diesem Dorf leben, Schilf um die Brust binden. Es sieht dekorativ aus, wie eine Schärpe. Ich bin kein Experte, was Terrianer angeht, aber diese hier kommen mir anders vor.« »Ich habe Angst«, rief True. Julia griff instinktiv nach ihrem Medizinkoffer. »Sollen wir näher herangehen?« »Noch nicht«, antwortete Devon. »Warten wir ab, was passiert.« Uly kam angelaufen und ergriff ihre Hand. »He, ich weiß es!« sagte Morgan hoffnungsvoll. »Vielleicht ist diese Truppe vor ein paar Tagen abgeflogen und kommt jetzt zurück. Dies ist das Begrüßungskomitee, das sie willkommen heißt.« Devon blickte auf einen der Speerträger, der sich vor dem Eingang einer mit geernteten Salzfrüchten gefüllten Hütte postiert hatte. »Das sieht mir nicht nach einem Begrüßungskomitee aus.«
Vor dem riesigen Wasserfall teilte sich die herannahende Terrianerschwadron in zwei Reihen. Die meisten Flieger behielten ihre beträchtliche Höhe bei, aber einige brachen aus der Formation aus und stürzten sich nach unten, von wo aus ihnen die ersten der im Dorf gestarteten Lederschwingen entgegenkamen. Devon erschrak, denn die Mitglieder der beiden Gruppen flogen direkt aufeinander zu! Sie machte einen Schritt nach vorne und atmete tief durch, immer noch hoffend, daß dies eine Art sportlicher Wettkampf zwischen zwei Dörfern war. Sollte dies jedoch nicht der Fall sein, würden die beiden Fliegergruppen in wenigen Augenblicken aufeinanderprallen! Devon fühlte sich wie jemand, der einen Unfall kommen sieht, aber nichts tun kann, um ihn zu verhindern. Einzelne Mitglieder der beiden Gruppen schössen aufeinander zu, berührten sich und verhakten sich dabei für Sekundenbruchteile zu grotesken Wesen mit vier hektisch zuckenden Flügeln. Dann stürzte einer von ihnen dem blaugrünen Wasser entgegen, während der andere unkontrolliert auf die Felsen zuwirbelte. Wie durch ein Wunder gewann er jedoch noch rechtzeitig genug die Herrschaft über seine beschädigten Flügel zurück, um eine Bruchlandung auf dem Uferstreifen zu vollziehen. Devon konnte nicht ausmachen, was mit dem ins Wasser gefallenen Terrianer geschehen war, aber sie befürchtete das Schlimmste. »Das war verrückt«, murmelte sie wie betäubt. .»Es sah aus, als wären sie mit Absicht gegeneinandergekracht.« »Es war Absicht«, sagte Danziger, während er das Fernglas absetzte. »Sie haben versucht, sich gegenseitig die Flügel zu zerbrechen. Devon, dies ist Krieg!«
12
In den folgenden Minuten fand eine bizarre Schlacht statt: Immer wieder jagten Flieger durch die Lüfte, prallten gegeneinander und versuchten, sich gegenseitig vom Himmel zu holen. Durch sein Fernglas konnte Danziger einzelne Kombattanten beobachten. Er sah, wie ein einfallender Flieger direkt auf einen Gegner herunterstieß, den Feind jedoch verfehlte. Dadurch geriet der Angreifer in einen Sturzflug steil auf den Fluß zu. Er kämpfte tapfer, um den Sturz abzufangen, aber als er sich endlich wieder gerade ausgerichtet und die Gewalt über seine Flügel zurückgewonnen hatte, strich ein anderer Flieger über ihn hinweg und trat mit dem Fuß nach einer seiner Flügelspitzen. Das reichte aus, um den unglücklichen Terrianer dem Wasser entgegentaumeln zu lassen, auf dem er dann klatschend aufschlug. Danziger richtete das Fernglas ruckartig wieder auf den Himmel und bekam einen weiteren Nahkampf ins Blickfeld. Ein Flieger schlug kräftig mit seinen Flügeln, um einen anderen von oben überfallen zu können. Der anvisierte Terrianer nahm eine Reihe brillanter Ausweichmanöver vor, aber sein Verfolger paßte sich gekonnt jeder dieser verzweifelten Bewegungen an. Als der Verfolgte erkannte, daß er nicht entkommen konnte, zog er ohne jede Vorwarnung plötzlich schräg nach oben und krachte gegen die Brust seines Feindes. Nach einem anfänglichen Flügelwirbel fielen beide Terrianer wie welke Blätter dem Strand entgegen. Erleichtert erkannte Danziger einen Augenblick später, daß beide sich noch bewegten. Einer von ihnen kam wankend auf die Füße und torkelte zu den Felsen, um dort einen neuen Startversuch zu nehmen. Der Mechaniker richtete das Fernglas wieder nach oben und sah gerade noch zwei Terrianer, die sich auf direktem Kollisionskurs befanden. Einer von ihnen zog im letzten Moment nach oben und rammte dem anderen sein Knie gegen den Kopf. Während er sich wieder aufrichtete, segelte der benommene Flieger wie ein Pfeil auf
die Canyonwand zu. Er streifte eine schmale Felsspitze und krachte schließlich in die Büsche, die auf einem Sims wuchsen. Auch wenn es vielleicht nicht gerade ein tödlicher Absturz war, mußte diese Landung zumindest ziemlich schmerzhaft gewesen sein. In dem Moment rannten Julia und Devon an Danziger vorbei und forderten die Krieger schreiend auf, die Kämpfe zu stoppen. Was sollte das bringen? fragte sich Danziger. Wie wollten die beiden Frauen Gegner, die sich fünfhundert Meter über ihren Köpfen in der Luft befanden, voneinander trennen? Wider besseres Wissen stapfte jedoch auch Danziger in Richtung Kampfzone durch den Sand, Bess, Baines und ein paar andere liefen mit bestürzten Gesichtern neben ihm her. Keiner von ihnen hätte geglaubt, daß es in diesem friedlichen Canyon zu einem solchen Ausbruch von Gewalt kommen könnte. Der Mechaniker warf einen Blick über die Schulter und sah, daß True mit rudernden Armbewegungen hinter ihm her stürmte. Er hatte sie angewiesen, zurückzubleiben, aber natürlich konnte sie sich dem Anblick des Kriegsgetümmels nicht widersetzen. Wer konnte das schon? Er verlangsamte seine Schritte, um sie aufschließen zu lassen. »Ich hatte dir gesagt, daß du zurückbleiben sollst!« »Dad!« kreischte sie und lief an ihm vorbei. »Sie tun sich weh!« Danziger nahm seine Tochter auf den Arm und versuchte, sie von dem bizarren Spektakel am Himmel abzulenken. »Manchmal tun Leute einander weh.« »Auch Menschen?« fragte sie erschreckt. »Besonders Menschen.« True verrenkte den Hals, um an seiner Schulter vorbeiblicken zu können. Schließlich gab Danziger klein bei und drehte sich ebenfalls wieder dem Kampfgeschehen zu. Ohne Fernglas erschienen ihm die Lederschwingen nun wie ein Fliegenschwarm, der einen Abfallhaufen umschwirrt. Die Reihe der Eindringlinge hatte sich aufgelöst, da jeder einzelne inzwischen von einem Dorfverteidiger angegriffen worden war. Der Umstand, daß keiner der Angreifer durchgebrochen war, um
das Dorf zu attackieren, erlaubte es den Speerträgern, ihre Verteidigungspositionen zu verlassen und vorzurücken. Dies bedeutete wohl, daß die Lederschwingen aus dem Canyon im Begriff waren, den Angriff zurückzuschlagen. Es widerstrebte Danziger, noch näher an den Kampfplatz heranzurücken, aber True entwand sich seinem Griff und rannte Devon und Julia hinterher. Als er sich umblickte, sah er, daß Yale seine Arme um einen zappelnden Uly geschlungen hatte; ohne länger zu zögern, stürmte er seiner Tochter hinterher, bekam sie mit einem Sprung zu packen und warf sie in den Sand. »Dad!« kreischte sie. »Sei still! Du weißt nicht, wie Leute werden können, wenn sie sich im Krieg befinden. Man nennt das Blutrausch. Ebenso leicht wie einen Feind könnten sie auch dich oder einen ihrer eigenen Kameraden töten. Außerdem haben wir keine Ahnung, als was die Eindringlinge uns ansehen. Vielleicht betrachten sie uns ebenfalls als Feinde. Wenn du zusehen willst, dann nur von einem sicheren Platz aus! Und damit ist dieser hier gemeint.« »In Ordnung, Daddy«, antwortete True und nickte bedrückt. Mittlerweile befand sich nur noch ein knappes halbes Dutzend Flieger in der Luft. Danziger schüttelte den Sand von seinem Fernglas ab, führte es vor die Augen und beobachtete, wie die Invasoren auf dem Uferstreifen davonhinkten. Die meisten von ihnen waren bei den Abstürzen verletzt oder durch den Kontakt mit dem Wasser aufgebläht worden. Eine Handvoll unverletzter Verteidiger jagte ihnen nach. Wenn sie sich den Fliehenden auf ein bis zwei Meter genähert hatten, versuchten sie, mit ihren Speeren zuzustechen. Doch die Kämpfe hatten die Dorfbewohner offensichtlich ziemlich ermüdet, so daß nur wenige von ihnen trafen; die meisten Angreifer konnten also ihren unorganisierten Rückzug erfolgreich fortsetzen. »Komm«, sagte Danziger und legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter, »jetzt kannst du dir man die Folgen eines Krieges ansehen.« Unmittelbar hinter dem Dorf stießen sie auf Devon, die einen aufgeschwemmten Terrianer aus dem Wasser geholt hatte. Sie zog ihn
ins Sonnenlicht, und einer der Dorfbewohner deckte ihn mit Matten zu. Trotzdem zitterte und zuckte er aufgrund der Schmerzen, die seine geschwollene Haut ihm verursachte. Danziger und True gingen weiter zu Julia, die den komplizierten Beinbruch eines Terrianers behandelte. Der hochgewachsene, schuppige Eingeborene ertrug den Schmerz stoisch, während Julia ziemlich verzweifelt wirkte: »Schlimmer als Alonzos Bruch«, erklärte sie. Und an Danziger gewandt fügte sie hinzu: »Holen Sie alle, die Sie finden können, aus dem Wasser!« »Du bleibst hier!« befahl Danziger seiner Tochter. »Hilf der Ärztin!« »Mache ich!« Danziger sah einen aufgeschwemmten Körper, der im seichten Wasser an einem Felsvorsprung hängengeblieben war. Er stapfte schon durch das eisige Wasser, um das Opfer zu bergen, als er plötzlich an dem unverwechselbaren Haarknoten des Terrianers erkannte, daß es sich um den Anführer des Stammes handelte, um denjenigen, der sie ins Dorf gebracht hatte! Er packte den Verwundeten unter den Armen und zog ihn durch das seichte Wasser zum Ufer. Nachdem er dies geschafft hatte, blieb Danziger für einen Augenblick keuchend im Sand liegen und fragte sich, ob er wohl zu spät gekommen war. Der Terrianer war nämlich völlig durchnäßt und kaum noch zu erkennen; außerdem lag er regungslos im Sand, entweder stand er unter Schock oder war tatsächlich tot. Sekunden später jedoch bewegte sich seine Hand und glitt durch den Sand, um Danzigers Hand zu berühren. Danziger erwiderte diesen schwachen Händedruck erleichtert. »Du wirst es überleben, alter Junge, aber es ist verrückt, daß du dich auf so einen Luftkampf einläßt. Ich gehe jetzt, um anderen zu helfen.« Der Mechaniker stand auf und sah zu zwei weiteren Terrianern, die sich aus eigener Kraft ans Ufer kämpften. Bess watete in den Fluß, um einem von ihnen zu helfen, und Danziger griff nach dem anderen. Als
er ihn am Strand in Sicherheit gebracht hatte, bemerkte er jedoch zwei aus Schilf gefertigte Schärpen, die in X-Form quer über seine Brust gebunden waren. Der Mechaniker blickte sich nervös um, weil er befürchtete, daß die Dorfbewohner die gegnerischen Lederschwingen angreifen könnten; aber niemand zeigte Interesse daran, der Feind durfte sich ebenso friedlich in der Sonne erholen wie die Einheimischen. Als der feindliche Flieger wieder in der Lage war, sich zu bewegen, torkelte er auf die Füße und schwankte davon. Niemand hinderte ihn an der Flucht. Obwohl der Luftkampf heftig und unerbittlich geführt worden war, gingen die Terrianer nun überraschend mitleidsvoll mit dem Feind um. Anscheinend ließen sie ihn leben, obwohl sie doch damit rechnen mußten, daß er bei der nächsten Gelegenheit wieder auf sie losgehen würde. Danziger erinnerte dies an Berichte über die Piloten des Ersten Weltkriegs. Er hatte gelesen, daß diese ritterlichen Piloten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sich geweigert hatten, auf abgestürzte feindliche Luftkämpfer zu feuern; außerdem wurden gefangengenommene Piloten damals schnellstmöglich ausgetauscht. Im Zweiten Weltkrieg, nur wenige Jahre später, war diese humane Haltung jedoch schon Geschichte gewesen - da schoß man Piloten selbst noch in Fallschirmen ab. Der Mechaniker verdrängte diese betrüblichen Gedanken und schlenderte zur Canyonwand hinüber, wo Julia und True verletzte Terrianer versorgten. Die Ärztin band gerade eine Schlinge um den Arm eines Fliegers, während ihre junge Krankenschwester eine antibiotische Salbe auf seine häßliche Stirnwunde schmierte. Der Patient ließ all diese ungewohnten Aufmerksamkeiten im Sitzen über sich ergehen und blickte dabei zu den höheren Regionen des Canyons empor. Dachte er darüber nach, wie knapp er dem Tod entgangen war? fragte sich Danziger. Oder schätzte er die Möglichkeit einer weiteren Attacke ab? Da Julia und True ihn nicht brauchten, wanderte Danziger zum Dorf zurück. Vor einer Behausung fand er Morgan, der sich um seinen jungen Freund kümmerte. Der Terrianer war offenbar in irgendeinen
Dornbusch gefallen und hatte am ganzen Körper Hautabschürfungen und Kratzer, die Morgan mit einer Salbe behandelte; die Flügel des Terrianers lagen zerknautscht neben ihm. »Du kommst wieder in Ordnung«, sprach der Regierungsbeamte dem jungen Terrianer Mut zu. »Du wirst heute Nacht zum heiligen Teich gehen, nicht wahr, und bist morgen wieder gesund.« »Morgan«, sagte Danziger mißbilligend, »hören Sie nie auf, an sich selbst zu denken?« »Ich denke nicht an mich selbst!« entgegnete Morgan empört. »Sehen Sie ihn doch an! Sehen Sie sich alle an. Sie werden zu diesem wundervollen Ort gehen, darauf können Sie wetten.« Und an seinen jungen Freund gewandt, fügte er hinzu: »Wenn du nicht hinfliegen kannst, dann gehst du im Traum hin, ja? Du mußt gesund werden, genauso wie wir. Du brauchst mir nur zu zeigen, wo es ist, und ich werde gut für dich sorgen.« Danziger blickte zu dem Stück Himmel neben dem blaugrünen Wasserfall hoch. Vor wenigen Minuten war dort alles voller Krieger gewesen, die versucht hatten, sich gegenseitig in die Tiefe zu stürzen. »Morgan«, sagte er mit finsterer Miene, »hier findet ein Krieg statt. Meinen Sie nicht, daß die Dinge dadurch in einem anderen Licht erscheinen?« »Nun, wir werden natürlich ihnen helfen«, entgegnete Morgan und deutete auf den benommenen Terrianer. »Diese Eindringlinge versuchen offensichtlich, uns den Teich wegzunehmen.« »Uns?« Morgan zuckte die Achseln. »Ist nur so 'ne Redewendung. Obwohl ich es Devon schon gesagt habe und nun auch Ihnen sage: Bess und ich wohnen jetzt hier. Der Martin Canyon ist unser Zuhause, und wir werden unseren Besitz schützen.« Danziger schüttelte nur den Kopf und ging davon. Der Anblick der verletzten Terrianer war schon schlimm genug, aber Morgan zu sehen, wie der sie nur aus der Güte seiner Habgier heraus pflegte, das war zuviel. Der Mechaniker schlenderte zum Lager hinüber, wo es Yale inzwischen gelungen war, Uly zu beruhigen. Die beiden beobachteten
das Geschehen durch Ferngläser. Zero und Alonzo waren als einzige Mitglieder der Gruppe im Lager geblieben, alle anderen waren unterwegs, um den verletzten Terrianern zu helfen oder auch nur zu gaffen. Alonzo schien in seiner Hängematte zu schlafen, während der Roboter in Bereitschaft stand und auf Befehle wartete. »Benötigen sie unsere Hilfe?« fragte Yale bekümmert. Danziger warf einen Blick auf die Kampfzone. »Ich glaube, die Dinge sind unter Kontrolle. Zero, du solltest vielleicht ins Dorf gehen und sehen, ob du dich nützlich machen kannst.« »Keine schlechte Idee«, antwortete der Roboter und rappelte davon. »Ist es vorbei?« fragte Alonzo mit geschlossenen Augen. Danziger hob die Schultern. »Bis auf das Schreien... Und bis auf das Verbinden und Beerdigen. Wißt ihr was, Leute? Dieser Ort ist nicht das Paradies.« »Kein Ort ist das Paradies«, antwortete Yale, während er gleichzeitig versuchte, Ulys Fernglas in eine andere Richtung zu dirigieren. »Schau auf die Behausungen und sieh dir an, was die Ärztin macht.« Aber Uly hielt das Fernglas weiterhin gen Himmel. »Wann fangen sie wieder an zu kämpfen?« »Hoffentlich nie!« antwortete Yale. Der alte Cyborg sah Danziger an und legte die Stirn in Falten. »Was sollen wir tun? Versuchen wir, ihnen zu helfen? Können wir diesen Konflikt vielleicht beenden?« »Das ist eine gute Frage, aber ich habe auch keine Antwort darauf.« Alonzo sprach, als würde er laut denken: »Ich wußte, daß jemand sie bedroht, aber ich dachte, wir wären es. Das ist der Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir den heiligen Teich benutzen wollen. Das ist es, was sie von uns verlangen - daß wir uns um ihre Feinde kümmern. Sie selbst haben nicht die Energie dazu.« »Wenn sie in unsere Köpfe gesehen haben, dann wissen sie, daß wir diese Energie haben«, sagte Danziger und blickte auf den blaugrünen Wasserfall in der Ferne.
Julia Heller war sich nicht sicher, ob sie das Blut an ihren Händen jemals wieder loswerden würde, und schrubbte sie wiederholt im kalten, rauschenden Wasser ab. Das Blut der Terrianer war außerordentlich klebrig, fast wie Sirup, und hatte ihren Fingern die Farbe von Kirschholz verliehen. Die Dunkelheit hatte die Bemühungen der Ärztin um die Terrianer abrupt beendet. Die Verwundeten hatten ihre Behandlung weder begrüßt noch abgelehnt. Sie ertrugen Julias Fürsorge, wie sie alles in ihrem Leben hinzunehmen schienen: mit Würde und stoischer Ergebenheit. Nachdem sich Julia mehrere Stunden um die Terrianer gekümmert hatte, glaubte sie, sie besser zu kennen. Es schien so, als ob ihr Glaube ihnen den Tod nur als eine andere Form des Lebens erscheinen ließ, als betrachteten sie ihn als Geschenk derselben Quelle, die ihnen auch alles andere gab; und diese Quelle war der Canyon. Aber in dieser Nacht lag eine Traurigkeit über dem Dorf, die über die Verletzungen und die Erschöpfung der Lederschwingen hinausging. Julia hatte den Kampf der Terrianer verfolgt, der zugleich mörderisch wie auch rituell war, erschreckend und schön in einem. Sie waren fähig gewesen, zu hassen und einander Schaden zuzufügen. Dabei waren die Angehörigen des rivalisierenden Stammes doch wie ihre Spiegelbilder, für Außenstehende wie Julia allenfalls durch die Schilfschärpen von ihnen zu unterscheiden. Womöglich war dieser Stamm eine Nebenlinie der Lederschwingen, waren ihre Mitglieder Abkömmlinge von Canyonbewohnern, die vor langer Zeit aus irgendeinem Grund aus dem Stamm ausgeschlossen worden waren. Aber warum kämpften sie gegeneinander? Ging es womöglich um den Zugang zu dem heiligen Teich, von dem Alonzo und Morgan geträumt hatten? Julia hoffte, daß dieser Teich tatsächlich existierte; denn dies würde die Heilung der Terrianer erheblich beschleunigen. War sie nicht letzten Endes doch eine Romantikerin? Ja! Denn nur eine hoffnungslose Romantikerin reiste zweiundzwanzig Lichtjahre durch die Galaxis, um auf einem vermeintlich unzivilisierten Planeten eine
Art von Medizin zu praktizieren, die die Menschheit schon vor Generationen hinter sich gelassen hatte. Aber vielleicht war dieser bizarre Rückfall in überholte Heilmethoden die gerechte Strafe dafür, daß sie eine solche Närrin gewesen war, sich überhaupt auf dieses Abenteuer einzulassen. Als die Ärztin müde ins Lager zurückkehrte, konnte sie schon von weitem hören, daß dort eine lautstarke Auseinandersetzung entbrannt war. Offensichtlich stritten sich die anderen über mehrere Dinge gleichzeitig. »Wir sollten den Jungbrunnen suchen und unter Erdrecht stellen!« brüllte Morgan. »Wir müssen ihnen helfen, Frieden zu schließen!« verlangte Bess. »Wir können nicht zulassen, daß sie weiterkämpfen!« »Wir müssen diesen Ort verlassen und nach New Pacifica gehen«, erklärte Devon. »Das ist unser vorrangiges Ziel.« »Aber die Terrianer wir können doch nicht zulassen, daß sie verletzt werden!« schaltete sich True ein. »Wenn wir jetzt nicht weggehen, werden wir für immer hier gefangen sein, als Beteiligte an einem Krieg«, behauptete Alonzo. »Wollen Sie das?« »Die Geschichte bestätigt seine Meinung«, bemerkte Yale. Danach machten sämtliche Argumente erneut die Runde. Morgan steuerte seinen müden Refrain »Jungbrunnen! Jungbrunnen!« bei, gefolgt von Devon und ihrem ebenso vertrauten Lied »New Pacifica! New Pacifica!« Aber am lautesten erschallte der Chor der Sensiblen, die Frieden zwischen den kriegführenden Parteien stiften wollten. Als Julia in den Lichtkreis trat, den das Lagerfeuer warf, kam der Streit langsam zum Erliegen. Sie war die Ärztin, ihre Worte über den heilenden Teich hatten mehr Gewicht als die aller anderen. Morgan lächelte zuversichtlich und wartete darauf, daß sie erneut seine Partei ergriff. Alonzo machte ein finsteres Gesicht und wandte sich ab. Devon wirkte nervös; vielleicht dachte sie an den schweren Stand der Dinge, falls Julia es vorzog hierzubleiben, um nach dem Teich zu suchen und den Terrianern zu helfen. Niemand würde hierbleiben
wollen, um Morgan zu unterstützen, aber wenn es darum ging, Julia zu helfen, dann sah die Sache schon anders aus. Hinzu kam, daß fast alle Städter oder gar auf einer Raumstation geboren waren. Und sie hatten nur eine Ärztin dabei. Wenn sie vor der Wahl stünden, bei ihrer Ärztin zu bleiben oder ohne sie fünftausend Kilometer Wildnis zu durchqueren, würde ihnen die Entscheidung nicht sonderlich schwerfallen. Julia blickte von Gesicht zu Gesicht - alle wirkten im flackernden Licht des Feuers irgendwie düster und schattenhaft. Die Ärztin räusperte sich und straffte ihre schmerzenden Schultern. Bis zu dem Moment, in dem sie zu sprechen begann, wußte sie selbst nicht, was sie sagen würde. Dann verkündete sie entschlossen: »Wir müssen den Canyon verlassen.« Alonzo fuhr in seiner Hängematte hoch und starrte sie verwundert an. Doch Julia ignorierte seine Verblüffung und richtete ihre Worte an alle. »Sicher, ich würde einen Jungbrunnen, einen heilenden Teich, genauso gerne entdecken wie Sie alle. Aber keiner von uns ist ernsthaft krank. Wir müssen ihn nicht jetzt gleich finden. Es gibt ernste Fragen hinsichtlich des Handels, den wir mit den Terrianern abschließen müßten, um den Teich benutzen zu dürfen. Das heißt, falls er überhaupt existiert.« Julia blickte zu Yale. »Wir müssen tatsächlich auch über Ponce de Leon nachdenken. Eine längere Suche nach etwas, das vielleicht gar nicht existiert, das uns nur aus einem Traum bekannt ist, könnte eine schreckliche Zeitverschwendung sein.« Sie deutete auf Devon. »In unserem Herzen wissen wir, daß sie recht hat. Es gibt Millionen Wunder auf diesem Planeten, aber wir können nicht jedem einzelnen nachjagen. Wir brauchen ein Hauptquartier, wir müssen irgendwo zu Hause sein. Und ich meine, daß wir Dr. Vasquez und die Kinder begrüßen sollten, wenn sie eintreffen. Bedenken Sie, wieviel wir bis dahin über G889 und seine Flora und Fauna wissen werden. Stellen Sie sich vor, welche Angst die Leute von der Colony vor den Terrianern hätten, wenn wir nicht da wären, um sie zu beruhigen.«
Julia sah, daß True eine Schnute zog. Es schien, als wollte das Mädchen sie unterbrechen, es sich dann aber anders überlegte. »Ich bin fast fertig«, fuhr Julia fort. »Wir wissen nicht, wie lange die rivalisierenden Stämme schon gegeneinander kämpfen - vielleicht seit Jahrhunderten! Ich würde die Kämpfe gerne beenden, möchte aber nicht den Rest meines Lebens damit verbringen. Und so lange könnte das tatsächlich dauern ... Das war's, mehr habe ich nicht zu sagen. Ich stehe auf Devons und Alonzos Seite. Allerdings würde ich gerne eines Tages hierher zurückkehren, und das werde ich auch.« »Alles, was Julia sagt, macht Sinn«, meldete sich Danziger zu Wort. »Aber laßt uns die Gruppe nicht wieder teilen. Schlagen wir die eine oder die andere Richtung ein flußaufwärts oder flußabwärts - und ziehen wir weiter, bis wir eine Stelle finden, an der wir nach oben kommen können. Wir werden einen Weg für alle und für alles finden.« »Ja«, pflichtete ihm Alonzo bei. »Dies ist ein gefährliches Land was mir passiert ist, könnte jedem von uns passieren. Würden Sie sich nicht alle wünschen, daß möglichst viele Leute da sind, um Ihnen zu helfen, falls Sie sich verletzen? Ich bin dafür, daß wir zusammenbleiben.« Morgan starrte sie alle mit offenem Mund an und blubberte wie ein Fisch. Statt etwas zu sagen, drehte er sich auf dem Absatz um und stolzierte davon. Bess eilte hinter ihm her. Devon sah aus, als hätte sie Zweifel an Julias und Alonzos Vorschlag. »Ich möchte nur zu Bedenken geben, daß ein Weiterziehen am Fluß des Canyons einen beträchtlichen Umweg und Verschwendung kostbarer Zeit bedeuten könnte.« Yale trat an ihre Seite und erklärte: »Vereint stehen wir, geteilt fallen wir.« »In Ordnung«, gab Devon klein bei. »Aber wenn die Terrianer über irgendwelche Kenntnisse verfügen, die uns helfen könnten, möchte ich davon erfahren. Yale, Alonzo und alle, die glauben, daß sie mit den Terrianern kommunizieren können: Stellen Sie bitte fest, ob die Lederschwingen einen Weg nach oben kennen! Aber es muß ein Hang
für die Fahrzeuge sein. Kobapfade finden wir meiner Meinung nach überall im Canyon. Selbst wenn sie uns nur die richtige Richtung zeigen, wäre das eine große Hilfe.« »Ich werde daran arbeiten«, versprach Alonzo. »Ich gehe gleich rüber«, sagte Yale und machte sich prompt auf den Weg zu dem Dorf, das jetzt im Dunkeln lag. Devon klatschte in die Hände. »Also, dann brechen wir morgen auf!« Einige von ihnen stöhnten auf, aber Devon brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hören Sie, wenn wir New Pacifica aufgebaut haben, kann jeder mit meinem Segen und der vollen Unterstützung der Kolonie eine Expedition hierher zurück organisieren. Aber dieser Ort ist nur eine Zwischenstation auf unserer Reise, er ist nicht unser künftiges Zuhause.« Sie klatschte abermals in die Hände. »Wenden wir uns jetzt diesem Fischgericht zu. Dank Mr. Baines und Zero, die ihren freien Tag erfolgreich genutzt haben, gibt es zum Abendessen frischen Fisch!« Das Crew-Mitglied grinste, und der Roboter winkte verlegen. In zwanzig Meter Entfernung schäumte Morgan Martin vor Wut. Er warf sich vor seinem Zelt auf den Boden und schüttelte den Kopf. »Diese Idioten! Diese Dummköpfe! Von wegen ein Spatz in der Hand ist besser als was weiß ich auf dem Dach!« Bess setzte sich neben ihn und massierte seine Schultern. »Reg dich nicht auf, Schatz, sie setzen ganz einfach ihre eigenen Prioritäten. Ich meine auch, daß wir im Canyon bleiben sollten, um diese schrecklichen Kämpfe zwischen den Terrianern zu stoppen. Man kann so etwas nicht einfach ignorieren. Dieser Canyon ist zu schön für den Krieg.« »Die Terrianer können wenigstens ihre Verletzungen kurieren«, brummelte Morgan. »Wir können nicht einmal das. Und ich war so nahe daran, herauszufinden, wo sich dieser Teich befindet, da bin ich mir ganz sicher.« »Glaubst du, daß es dir dein Freund im Traum sagen würde?« »Sicher würde er das. Dieser Terrianer liebt mich.«
»Es ist nicht fair«, schmollte Bess. »Die Lederschwingen wollen dir mitteilen, wo der Teich ist, aber Devon will das verhindern. Wenn ich wüßte, wo er wäre, würde ich mir überlegen, ob ich nicht trotzdem hingehen sollte.« Morgan blinzelte sie überrascht an und richtete sich auf. »Was hast du gerade gesagt?« »Ich sagte, ich würde mir überlegen, ob ich nicht doch hingehen sollte. Zum Teufel mit ihnen!« Morgan küßte seine Frau. »Du bist wundervoll, weißt du das?« Die hübsche Frau mit den lockigen Haaren schmiegte sich an seine Brust. »Ich habe es gerne, wenn du das sagst.« »Ja«, erwiderte Morgan aufgeregt, »sie können uns nicht daran hindern, daß wir einfach hingehen. Wir nehmen ein paar Proben, markieren unseren Besitzanspruch und probieren den Teich aus. Die Kolonne wird sich wahrscheinlich nicht vor dem späten Vormittag in Bewegung setzen, bis dahin können wir vielleicht schon zurück sein. Und alle sind so klug wie zuvor.« Er küßte Bess erneut, und sie erwiderte seinen Kuß. »Ist schon Schlafenszeit?« fragte sie mit einem Glänzen in den Augen. »Ja«, sagte er enthusiastisch, »es ist Schlafenszeit.« Bess faltete die Hände. »Du bleibst hier draußen«, fügte Morgan hinzu. Sie sah ihn verwundert an. »Ich bleibe hier draußen? Du willst allein reingehen?« »Genau«, antwortete Morgan und krabbelte ins Zeit. »Was soll ich denn tun - hier draußen?« »Wache halten, Dummerchen«, antwortete er aus dem Inneren des Zeltes. »Sorg dafür, daß mich niemand stört. Ich muß schlafen. Und träumen.« Bess zuckte die Achseln. »Na gut«, murmelte sie. »Dann träume schön!« Sie erschauderte leicht und blickte zu dem wärmenden Lagerfeuer hinüber, das verlassen vor sich hinflackerte. Dann wanderten ihre Augen zum Himmel empor, wo die Sterne in einer prachtvollen
Anordnung von den Canyonwänden wie ein Gemälde eingerahmt wurden. Das Bild unterschied sich kaum von einem Sternenhimmel, wie man ihn von einer Raumstation aus betrachten konnte, und doch war es ein völlig anderes Gefühl, dieses Naturereignis im Freien zu erleben und zu genießen - noch dazu auf einem intakten Planeten. Irgendwie erschien der jungen Frau in diesem Moment alles größer, weiter und schöner... Und doch mußte sie sich gleichzeitig eingestehen, daß sie ihr früheres Leben, daß sie die Annehmlichkeiten eines zivilisierten Lebens ein wenig vermißte: Geschäfte, Restaurants, Spielkasinos, Theater - an all das war auf G889 nicht zu denken. Das war eine andere Zeit, ein anderes Leben. Doch zumindest war es hier nicht langweilig, und außerdem wuchs ihr Gefühl der Verbundenheit mit diesem wilden, weiten Land von Tag zu Tag. Bess gähnte und blickte wieder zu dem sternenübersäten Himmel hinauf. Plötzlich sah sie flüchtige Impressionen von Körpern, die sich vor dem Hintergrund der Sterne bewegten. Sie sahen aus wie Schatten, die über eine Fensterjalousie wandern. Lieber Himmel, dachte sie, wenn das Lederschwingen waren, dann flogen sie furchtbar hoch in der Nähe des oberen Canyonrandes. Sie konnte nicht genau erkennen, wie viele Gestalten sie gesehen hatte, und versuchte, sie am Nachthimmel wieder ins Blickfeld zu bekommen. Aber die samtene Schwärze hatte sie verschluckt, und es waren nicht genug Sterne vorhanden, um sie wieder sichtbar werden zu lassen. Die junge Frau erschauderte und kam zu der Überzeugung, daß sie sich das alles nur eingebildet hatte. So hoch oben - vermutlich waren es Vögel gewesen. Yale wurde im Dorf der Lederschwingen mit stillen Blicken begrüßt. Das war so ungefähr das Freundlichste, was die Terrianer zustande brachten, aber er war froh, als Freund und nicht als Feind betrachtet zu werden. Wie sie ihre Feinde behandelten, hatte er ja gesehen. Der Cyborg konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Lederschwingen heute abend nach ihrem wilden Kampf noch stiller
wirkten als sonst. Sie schienen keinen Nachtangriff des rivalisierenden Stammes zu erwarten, denn es waren keine Wachposten zu sehen. Die einzigen Terrianer, die auf den Beinen waren, versuchten ihre Verkrampfungen zu lockern. Geduldig wartete Yale im Zentrum des dunklen Dorfes und fragte sich, ob der Anführer wohl zu ihm nach draußen kommen würde. Nach einer Weile kroch der Ehrwürdige tatsächlich aus einer der Behausungen, richtete sich mit Mühe auf und hinkte zu dem Besucher hinüber. Die beiden Alten besaßen die Erfahrung von etlichen Leben, und das spiegelte sich in ihren Augen wider. Yale wollte den Terrianer eigentlich fragen, warum sie gegen den rivalisierenden Stamm kämpften, aber er spürte, daß er die Antwort nicht verstehen würde. Es war nie ausgesprochen worden, aber Yale hatte den Eindruck, daß dem Anführer die Kämpfe, die die Besucher mitbekommen hatten, peinlich waren. Er fragte sich, wie oft sie wohl versucht hatten, mit dem rivalisierenden Stamm Frieden zu schließen, und dabei gescheitert waren. Yale besann sich schließlich darauf, daß er gekommen war, um einen Weg aus dem Canyon zu erfragen. Im Gegensatz zu Alonzo stand der Cyborg nicht in telepathischer Verbindung zu den Terrianern, und er verstand sich auch nicht allzu gut auf die Zeichensprache. Aber er hatte seine eigene Kommunikationsmethode: Als der Terrianer ihn interessiert ansah, projizierte Yale ein holographisches Bild in den dunklen Raum zwischen ihnen. Erneut griff er auf Standardbilder von Kettenfahrzeugen, Panzern und Lastwagen aus dem zwanzigsten Jahrhundert zurück. Nur wurden die Fahrzeuge diesmal nicht mit Fallschirmen vom Himmel herabgelassen, sondern kletterten Berge hinauf. Riesige Vehikel überquerten eine Anhöhe nach der anderen, immer weiter nach oben. Um für ein bißchen Abwechslung zu sorgen, fügte Yale auch noch Bilder von Berge erklimmenden Motorradstaffeln, Fußgängern, Luftkissenfahrzeugen und Zügen hinzu - alles, was ihm einfiel, um seinem Gegenüber den Gedanken zu vermitteln, daß sie Maschinen aus dem Abgrund nach oben schaffen wollten.
Am Ende seiner visuellen Darstellung zeigte Yale eine Luftaufnahme des Grand Canyon. Zwar war dieses irdische Naturwunder nicht annähernd so groß und eindrucksvoll wie der Canyon auf Erde 2, aber der Cyborg hoffte, daß dieses Bild dem Terrianer doch klarmachen würde, wonach die Fremden suchten. »Wo?« fragte Yale, während er das holographische Bild abschaltete. Der Terrianer nickte und kniete sich auf den Boden, was ihm offensichtlich Schmerzen bereitete. Yale folgte seinem Beispiel, und auch seine alten Glieder schmerzten. Dann sah er verblüfft zu, wie der Terrianer mit einer Kralle eine Wellenlinie in den Sand zog, die wohl den Canyon darstellen sollte. Nun zog der Terrianer mit dem Finger eine andere Linie, die sich mit der ersten verband, so daß im Sand ein krakeliges Y entstand. Am Ende der kürzeren Linie zeichnete er einen Kreis. Dann bohrte er seinen Fingernagel ins Zentrum des Kreises, als wollte er sagen: Genau hier! Yale deutete in die Richtung, in die die längere Linie zeigte. »Wenn wir flußabwärts gehen«, sagte er, »mündet dann ein anderer Canyon in den Hauptcanyon? Sollten wir in den kleineren Canyon einbiegen dort die Stelle suchen, an der wir hinaufklettern können?« Der Terrianer antwortete nicht mehr, sondern stand auf und schwankte zu seiner Behausung zurück, als ob es nichts mehr gäbe, was er für den Fremden tun könnte. »Danke«, sagte Yale. Der Cyborg wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um und betrachtete das primitive Dorf. Er wollte etwas für die Terrianer tun, ihnen als Gegenleistung für ihre Hilfe etwas schenken. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Dann blickte Yale auf die krakelige, in den Sand gezeichnete Landkarte und schüttelte den Kopf. Ich hoffe, Devon gibt sich damit zufrieden, dachte er. Morgan winkte seinem terrianischen Freund im Traum zu, aber der junge Terrianer reagierte nicht. Er wirkte geistesabwesend, fast betrübt. Dann hob er vom Boden ab, schlug mit seinen großen
Flügeln, aber seine Energie schien sich auf dem Tiefpunkt zu befinden. Mit dem Licht in dem Traum stimmte ebenfalls etwas nicht, es schien Tageslicht zu sein, obwohl der Traum doch nachts stattfinden sollte. Morgan sagte sich jedoch, daß er seine Visionen nicht zu kritisch beurteilen sollte, sein Kumpel würde schon Bescheid wissen. Außerdem war der junge Terrianer durch den Kampf angeschlagen und sicher nicht in der besten Verfassung. Zu guter Letzt hatte die Sache auch noch etwas Positives: Bei Tageslicht konnte Morgan besser auf Anhaltspunkte achten, die er dringend benötigte, um den Teich später ohne Hilfe wiederzufinden. Dennoch hatte Morgan den Eindruck, daß seine heutige Traumvision irgendwie anders war als die vorhergehende unschärfer, eher wie eine Erinnerung wirkte, statt den lebendigen Eindruck eines gegenwärtigen Geschehens hervorzurufen. Diesmal flogen sie zu dem in niedriger Höhe durch den Canyon und segelten flußabwärts zu der Stelle, an der die Mannschaft diesen furchtbaren Pfad hinuntergestiegen war. Dadurch bekam Morgan eine ganze Reihe von Anhaltspunkten, an denen er sich orientieren konnte. Er erkannte die Spuren am Ufer, wo sie vergeblich versucht hatten, den Fluß zu überqueren, und von den Lederschwingen überrascht worden waren. Dann kamen sie zu dem Steilhang, den sie auf dem Hintern runtergerutscht waren und zu den Felsspitzen, wo die linkische Ärztin sie beinahe alle umgebracht hätte. Danach befand Morgan sich in jungfräulichem Land und war bemüht, neue Marksteine zu finden. Er sah einen kleinen Krater am Strand, bei dem es sich um die Stelle handeln mochte, an der die anderen per Fallschirm im TransRover nach unten gekommen waren. Ein Stück weiter gab es auf einer Seite des Canyons einen einprägsamen Felsdurchbruch und auf der anderen eine kleine, aber wunderschöne Wiese. Dann zeigte sich auf der rechten Seite ein ganz markanter Anhaltspunkt: ein zweiter Canyon mit einem schäumenden Fluß, der in den »Martin River« mündete und tobende Stromschnellen erzeugte. Merkwürdigerweise hatte dieser Fluß eine blaue Farbe und
war nicht türkisfarben wie der andere. Schnell flog er an dem klaffenden Canyon vorbei, obwohl irgend etwas in diesem Nebenarm eine starke Sogwirkung auf ihn ausübte. Jetzt glitt Morgan schräg dem Boden entgegen - der Flug war fast vorüber. Er verstand durchaus, warum die Lederschwingen diesen Flug nicht nachts unternahmen, wenn ihnen die Luftströmungen nicht gut gesinnt waren. Überhaupt suchten sie den Teich wohl nur deshalb nachts auf, weil sie verhindern wollten, daß andere den Weg dorthin fanden. Deshalb war das Privileg, den Weg zur Grotte bei Tageslicht gezeigt zu bekommen, doppelt so hoch einzuschätzen. Der Regierungsbeamte tauchte zu einem kleinen Plateau hinab und versuchte, sich sämtliche Details einzuprägen seine Form, seine Farbe, selbst die Büsche, die das Plateau säumten. Bei hellem Tageslicht landete er ohne Komplikationen, aber die Vision begann augenblicklich auch zu verblassen. Bevor sie ganz aus seinem Bewußtsein verschwunden war, krabbelte er hinunter zu einem schmalen, aber oft begangenen Pfad und wußte sofort, daß er die Grotte von hier aus finden würde. Bei diesem Gedanken verflüchtigte sich die Vision völlig, und er fand sich in einem tiefen, normalen Schlaf wieder. »Danke, Freund«, sagte seine Stimme im Traum. Dann kam er in jenes erholsame Stadium zwischen Schlaf und Wachzustand und war versucht, dort zu verweilen. Aber Morgan wußte, daß er sich das Weiterschlafen nicht erlauben konnte - nicht, wenn Ruhm und Reichtum zu erlangen waren! Und so zwang er sich aufzuwachen. Er wälzte sich herum und griff nach seiner Taschenlampe, der Wasserflasche und dem Proviant, den er schon am Abend eingepackt hatte. Dann streckte er vorsichtig den Kopf aus dem Zelt. Die Nachtluft war frostig. Neben der Zeltklappe erhob sich ein großer Deckenberg; in einer Ecke stiegen Dampfgeysire in die Luft, und vom Lagerfeuer waren nur noch ein paar Funken übriggeblieben. Behutsam rüttelte er Bess' Schulter und bemühte sich, sie dabei nicht allzusehr zu erschrecken. Seine Frau war jedoch darauf vorbereitet,
geweckt zu werden, und blinzelte ihn mit einem unerschrockenen Lächeln an. »Ist es passiert?« fragte sie. »Darauf kannst du wetten!« Er kniepte ihr zu. »Wir werden reich werden und ewig leben.« »Und die Terrianer retten.« »Und die Terrianer retten«, brummelte er. »Ich habe hier alles, was wir brauchen. Wir sollten gehen - es kann ein langer Marsch werden. Ist irgend jemand wach, der uns verraten könnte?« »Nur Zero. Als ich das letzte Mal auf ihn geachtet habe, hatte ihn Devon ein ganzes Stück entfernt da drüben postiert, in Richtung des Dorfes.« Bess gähnte und tauschte den Deckenberg gegen ihre Jacke. »Ausgezeichnet«, flüsterte Morgan. »Ich sehe ihn nicht kommen. Gehen wir!« Er kroch aus dem Zelt. »Lassen wir alles so, wie es ist?« »Sicher. Wir werden einen guten Vorsprung herausholen. Was macht es also, wenn sie wissen, daß wir weg sind?« In dem Sand am Flußufer war es leicht, lautlos davonzuschleichen. Morgan kicherte leise vor sich hin, als er und Bess das Lager am »Martin River« unbemerkt hinter sich ließen.
13
Devon Adair genoß diesen wundervollen Morgen. Sie spritzte sich kühles Flußwasser ins Gesicht und blickte zum Himmel, wo gerade die ersten Sonnenstrahlen durch die Felszinnen drangen und den Fluß berührten. Dieser Tag versprach neue Entdeckungen und neue Wege, die Dinge anzugehen. Devon hatte sich sogar mit dem Gedanken angefreundet, einfach den Canyon entlangzuziehen und auf ein Wunder zu hoffen, das ihnen den Aufstieg ermöglichte. Die Fahrzeuge waren auf einem ungewöhnlichen Weg nach unten gekommen, vielleicht würden sie ja auf ebenso ungewöhnlichem Weg auch wieder nach oben gelangen. Aber die Hauptsache war, daß sie weiterwanderten und somit die Hoffnung bestand, die SyndromKinder bei ihrer Ankunft in New Pacifica begrüßen zu können. Devon blickte sich ein letztes Mal im Canyon um und fragte sich, ob sie solch eine makellose Schönheit wohl noch einmal zu Gesicht bekommen würde. Aber trotz der positiven Empfindungen, die sie dem Canyon entgegenbrachte, zweifelte sie nicht daran, daß es richtig war, so schnell wie möglich aufzubrechen. Auf eigenartige Weise war der Luftkampf zwischen den terrianischen Stämmen ein Segen für die Kolonisten gewesen. Er hatte sie an zwei Dinge erinnert: Kein Ort war das Paradies, und wenn man etwas aufbauen wollte, das dem Paradies nahe kam, dann mußte man bereit sein, dafür zu kämpfen. Langsam wurde ihnen allen klar, daß die Terrianer komplexe, mysteriöse Lebewesen waren. Es gab keine Möglichkeit, die Dinge, die sie gestern nachmittag gesehen hatten, zu interpretieren. Sich zu tief in terrianische Angelegenheiten zu verstricken konnte ein Fehler sein, der eventuell nur schwer wiedergutzumachen wäre. Natürlich gab es immer Leute wie Morgan Martin, die es nicht kümmerte, welche Wirkung ihre Handlungsweise auf einheimische Kulturen hatte, aber Morgan mußte einen anderen Weg finden, um reich zu werden; denn diesen Canyon würden sie nicht plündern!
Hinter sich hörte sie knirschende Schritte im braunen, taubedeckten Sand und drehte sich um. Es war Yale, der ebenfalls ausgeruht und abmarschbereit aussah. Das faltige Gesicht des Cyborg lächelte sie an. »Ich glaube, man hat uns die richtige Richtung gezeigt«, erklärte er heiter. »Oh, fein! Welche?« Der Cyborg machte eine Handbewegung. »Flußabwärts. Hinter der Stelle, an der wir nach unten gekommen sind, gibt es einen weiteren Canyon, der in diesen mündet. Man hat mir gesagt, daß wir den Seitenarm hinaufgehen sollen.« Devon lächelte. »Wer hat dir das gesagt - das Touristikbüro von G889?« »Nein, ich habe einfache visuelle Hilfsmittel benutzt, um meine Frage an die Terrianer zu stellen. Ich würde sagen, der Weg flußabwärts ist einen Versuch wert, meinst du nicht? Außerdem führt dieser zweite Canyon mehr in die Richtung von New Pacifica. Wir können also gar nicht falsch liegen.« »Wenn dieser andere Canyon existiert«, stellte Devon fest. Dann seufzte sie und nickte. »Ich schätze, wir müssen einfach eine Richtung wählen und losmarschieren. Aber bevor wir uns endgültig entscheiden, sollten wir hören, ob Alonzo irgendwelche Kontakte zu den Lederschwingen hatte.« Als sie mit Yale an ihrer Seite durch das stille Lager schritt, hatte Devon das Bedürfnis, allen lauthals einen guten Morgen zu wünschen. Aber die Mitglieder der Gruppe brauchten ihre Ruhe; sie waren sowohl psychisch als auch physisch ausgebrannt. Der Abstieg war schwer genug gewesen. Hinzu kamen das Gerede um den Jungbrunnen und dieser Krieg, der die Idylle doch beträchtlich getrübt hatte. Sollten sie also noch ein bißchen schlafen, sie würden heute vermutlich ohnehin keine zwanzig Kilometer zurücklegen; also bestand auch kein Grund zu übertriebener Eile. Alonzo sah Devon und Yale kommen und winkte ihnen zu. Auch er wirkte lebhafter als zuletzt. Allmählich sah Devon ein, daß sich die Idee, allen einen Tag frei zu geben, bezahlt gemacht hatte.
»Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte Alonzo und salutierte. »Gut geschlafen?« fragte Devon. »Ja, habe ich«, gähnte Alonzo. »Der beste Schlaf seit Wochen keine Träume.« »Oh«, sagte Devon ein bißchen enttäuscht. »Sie wissen also nicht, in welche Richtung wir gehen sollten?« »Keine Ahnung«, bestätigte Alonzo strahlend. »Warum fragen Sie nicht Morgan?« »Ich hatte eine Art Unterhaltung mit dem Anführer der Lederschwingen«, schaltete sich Yale ein. »Er hat eine Landkarte in den Sand gemalt. Ich glaube, er wollte mir sagen, daß es flußabwärts einen kleineren Canyon gibt, der diesen hier kreuzt. Ich denke, wir sollten den kleineren Canyon nehmen, um einen Weg nach draußen zu finden.« Der Pilot schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß nicht das Geringste darüber.« Plötzlich aber schnippte er mit den Fingern. »Warten Sie mal, das stimmt nicht ganz. Aus meinem ersten Traum über diesen Ort, in der Nacht, bevor wir ihn tatsächlich zu Gesicht bekamen, erinnere ich mich daran, daß da noch ein anderer Canyon war, der diesen hier kreuzt. Aber ich könnte Ihnen nicht sagen, wo er war.« »Nun«, meinte Devon, »das hört sich immerhin nach einer zweiten Stimme für den Weg flußabwärts an. Ich hasse es zwar, ihn zu fragen, aber hören wir doch mal, was Morgan sagt.« »Ich bin zum Aufbruch bereit, wenn Sie es sind«, sagte Alonzo ermutigend. »Prima.« Devon reckte den Daumen hoch. Sie fühlte sich so gut, daß ihr an diesem Morgen vermutlich nicht einmal Morgan Martin die Laune verderben konnte. Sie schlenderte hinüber zu dem Zelt, das er mit Bess teilte, und nahm an, daß die beiden bereits wach waren. Vor dem Zelt lag ein Bündel Decken.
»Morgan!« rief sie. »Hallo, Morgan!« Als er nicht antwortete, versuchte sie es mit seiner besseren Hälfte. »Bess! Bess, sind Sie da drin?« Als wieder niemand reagierte, blickte sie in das Zelt, fand es jedoch leer. Jetzt legte sie die Hände vor den Mund und brüllte laut: »Bess Martin! Morgan Martin! Wo sind Sie?« Ihr Gebrüll war laut genug, auch diejenigen aufzuwecken, die noch versuchten, das Unvermeidbare hinauszuzögern. John Danziger, Julia Heller, True, Uly und die anderen schlüpften verschlafen aus ihren Zelten und blinzelten sie an. Devon lief aufgeregt durch das Lager und fragte sich, ob Bess und Morgan womöglich aus irgendeinem verrückten Grund im falschen Zelt geschlafen hatten. Aber nein, alle Zelte waren von denen bewohnt, die sie auch bewohnen sollten. Von weitem sah sie Zero vom terrianischen Dorf herüberlaufen. »Stimmt etwas nicht?« fragte Julia. »Wir haben Morgan und Bess verloren. Hat sie irgend jemand gesehen?« John Danziger stopfte sein Hemd in die Hose und eilte herbei. »Was meinen Sie damit, daß wir sie verloren haben? Bess und Morgan werden vermißt?« »Drücken wir es mal so aus«, stieß Devon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »wir wissen nicht, wo sie sind.« Als Zero bei ihnen eintraf, stellte sich Devon ihm in den Weg: »Hast du Bess oder Morgan Martin gesehen?« »Nein«, antwortete der Roboter und hielt verwundert seinen länglichen Kopf schief. »Sie sind nicht ins Dorf gegangen?« bohrte sie. »Um sich umzusehen oder um ein Bad im Wasserfall zu nehmen?« »Sie sind nicht an mir vorbeigekommen«, berichtete der Roboter. »Vertrauen Sie mir!« Devon hatte plötzlich ein Gefühl im Magen, als hätte sie zuviel Zeit in der Schwerelosigkeit verbracht. »Haben sich die beiden womöglich auf die Suche nach dem heiligen Teich gemacht?« »Oh, nein!« Yale faßte sich vor Entsetzen an den Kopf.
»Verdammt!« murmelte Danziger. »Nehmen Sie es von der heiteren Seite«, brüllte Alonzo aus der Ferne. »Vielleicht sind sie gekidnappt worden!« In Devon brodelte es vor Wut, aber sie bemühte sich, die Beherrschung zu bewahren. »In Ordnung«, sagte sie ruhig, »sie sind nicht zum Dorf gegangen, das flußaufwärts liegt, also müssen sie flußabwärts gegangen sein. Wir haben keine Ahnung, welchen Vorsprung sie haben, aber er könnte beträchtlich sein.« Sie lief zurück zum Zelt der beiden und suchte in dem körnigen Sand nach Spuren. »Bleiben Sie zurück!« wies sie die anderen an, weil sie den Ansturm unorganisierter Helfer, die alle Spuren verwischten, nicht gebrauchen konnte. Regenfälle und Tau hatten den Sand feucht genug gemacht, um Fußabdrücke aufzunehmen, und sie fand schnell einige, die wahrscheinlich in Frage kamen - Abdrücke von Schuhen, ein kleines und ein großes Paar. Devon folgte diesen Spuren bis zum Uferstreifen, und es sah nicht so aus, als ob sie bald verschwinden würden. Sie stemmte die Hände in die schlanken Hüften und kehrte zu den anderen zurück. »Wir verfolgen sie!« schwor sie. »Sie haben zwar einen Vorsprung, aber wir haben die Fahrzeuge. Yale, du nimmst mit Zero den ATV. Danziger, Sie und ich fahren mit dem SandRail.« Die drei nickten und liefen zu den Fahrzeugen, während sich Devon an die Ärztin wandte. »Julia, ich beauftrage Sie damit, das Lager abzubrechen und den TransRover zu beladen. Wir bleiben in Funkkontakt; aber da wir alle in dieselbe Richtung gehen, schlage ich vor, daß Sie uns folgen, sobald Sie fertig sind.« »Geht klar«, antwortete Julia. »Verabschieden wir uns nicht von den Terrianern?« Devon blickte zu Alonzo hinüber, der sie von seiner Hängematte aus beobachtete. Sie machte mehrere Schritte in seine Richtung und blieb dann stehen. »Alonzo, wir müssen aufbrechen. Wissen Sie einen Weg, um unseren Freunden auf Wiedersehen zu sagen?« Der verletzte Pilot nickte. »Ich werde es versuchen.«
»Sagen Sie ihnen, daß wir ihre Hilfe zu würdigen wissen, aber nun gehen müssen. Sagen Sie ihnen, daß wir einen Weg finden werden, um eines Tages hierher zurückzukehren.« »Ich sage es ihnen.« Devon hörte, daß eines der Fahrzeuge gestartet wurde, und sah, daß Danziger wartend auf dem Fahrersitz saß. Dann sah sie zu Yale, der Zeros Kopf an der Konsole des ATV befestigte und danach neben dem kopflosen Roboter Platz nahm. Während Devon zum SandRail hinüberging, schlug sie entschlossen mit der Faust gegen ihre Handfläche. »In Ordnung, Leute!« rief sie. »Essen Sie etwas, packen Sie alles ein und machen Sie sich dann auf den Weg! Überlassen Sie Morgan und Bess uns!« Morgan Martin pfiff ein fröhliches Liedchen vor sich hin, während er am Ufer entlangschritt. Er blickte bewundernd zu der prachtvollen Sonne hoch, die auf den schroffen Felsspitzen und bunt gestreiften Steilwänden des Canyons schimmerte. Dann senkte er den Blick und betrachtete anerkennend seine Frau, die ohne Hast etwa zehn Meter vor ihm herging. Irgendwie gab ihm die Tatsache, daß sie auf eigene Faust losgezogen waren, das Gefühl, ein neuer Mensch zu sein! Endlich war er nicht länger von diesen unrealistischen Wohltätern abhängig! Fünftausend Kilometer marschieren, wenn das größte Wunder aller Zeiten zum Greifen nahe war, also wirklich! Gott sei Dank mußte er diese Narren nicht länger ertragen. Natürlich gab es noch einige Probleme, die hinsichtlich des Jungbrunnens gelöst werden mußten, vor allem das Marketing. Wie konnte er die Leute, auf die es ankam, erreichen? Wie, zum Teufel, machte man für etwas Reklame, wenn man nicht einmal in der Lage war, eine Nachricht in die Welt zu setzen? Er hatte den Jungbrunnen entdeckt oder würde ihn in Kürze entdecken -, aber er hing auf diesem gottverlassenen Planeten fest und wußte nicht, ob und wann er hier wieder wegkommen würde. Also mußte er das Geheimnis über die Lage des Jungbrunnens für sich behalten, bis er gerettet wurde. Dann würde er es den richtigen Leuten offenbaren und mit den entsprechenden finanziellen Mitteln, der erforderlichen Ausrüstung
und den Wissenschaftlern zurückkommen; die würden gebraucht, um all diese glühenden Artikel für medizinische Fachzeitschriften zu schreiben - Artikel, die schließlich auch seinen Ruhm mehren würden. Mit Geduld und einer ausgeklügelten, langfristigen Planung würde es nur eine Frage der Zeit sein bis das Geld ins Haus sprudelte. Außerdem konnten er und Bess sich der Erwartung eines ewigen Lebens erfreuen! Diese angenehmen Gedanken wurden durch eine Erinnerung an seinen Traum in der letzten Nacht noch verstärkt: Er sah sich durch den Canyon fliegen und die Anhaltspunkte registrieren, die er schon vorher vom Boden aus gesehen hatte. So erwartete er jetzt den ersten Markstein, die Stelle, an der sie den Lederschwingen begegnet waren; dieser Punkt mußte jeden Moment in sein Blickfeld kommen, allerdings auf der anderen Seite des Flusses; also hieß es, sich konzentrieren und alles mit scharfem Auge registrieren. Anschließend würde er nach dem Steilhang Ausschau halten, den sie hinuntergeklettert waren, dann nach der Stelle, an der die Fahrzeuge mit dem Fallschirm gelandet waren und nach der Wiese und dem Felsdurchbruch. Und wenn er die Mündung des »Martin River« in den zweiten Canyon sah, würde er mit Bestimmtheit wissen, auf dem richtigen Weg zu sein. Dann konnte er anfangen, nach dem Plateau am anderen Ufer zu suchen, auf dem er in seinem Traum gelandet war. Von da aus würde es leicht sein, den Pfad, die Grotte und den Teich ... Plötzlich blieb Morgan wie vom Schlag getroffen stehen, sein Unterkiefer klappte nach unten. »Oh, nein!« stöhnte er auf, als ihm eine plötzliche Erkenntnis kam. »Was ist los?« fragte Bess und drehte sich leichtfüßig auf dem Absatz um, um durch den Sand zu ihm zurückzuhüpfen. »Der Fluß«, jammerte Morgan, »der Fluß! Wir sind auf der falschen Seite des Flusses!« Bess blieb stehen und blickte ihn scharf an. »Wovon redest du?« Morgan zeigte verzweifelt auf den tobenden türkisfarbenen Strom. »Begreifst du es nicht? Der zweite Fluß mündet auf dieser Seite in den größeren Fluß, und wir werden an der Mündung festsitzen. Wir
können dort nicht rüber - es gibt dort nichts anderes als entsetzliche Stromschnellen. Die einzige uns bekannte Stelle, an der wir sicher übersetzen könnten, liegt kilometerweit zurück beim Dorf!« »Schon gut, schon gut, beruhige dich ... Was willst du nun tun? Zurückgehen?« »Nein!« kreischte Morgan. »Nicht, nachdem wir so weit gekommen sind. Die anderen werden inzwischen wissen, daß wir weg sind, und sie werden niemals zulassen, daß wir einfach zum Dorf zurückkommen, den Fluß überqueren und auf der anderen Seite fröhlich weiterziehen. Wenn sie wieder das Kommando haben, werden wir nie mehr die Chance bekommen, den Teich zu suchen.« Bess hielt die Hand vor die Augen und blickte auf den Fluß. »Nun, wir sind nur zu zweit - keine Kinder und keine Fahrzeuge, um die wir uns sorgen müßten. Können wir nicht einfach rüberschwimmen?« »Ich weiß nicht«, antwortete Morgan nachdenklich. Er warf einen Blick zurück, und sah die klar umrissenen Fußspuren, die er und Bess hinterlassen hatten, ohne sich Gedanken darüber zu machen. »Weißt du, wenn sie uns verfolgen, dann wäre eine Überquerung des Flusses eine gute Gelegenheit, sie abzuschütteln.« »Und eine gute Gelegenheit zum Baden.« Morgan legte unglücklich die Stirn in Falten. »Es war trotzdem dumm von mir, es zu vergessen.« Bess legte den Arm um ihren Mann und lächelte ermutigend. »Was hätten wir sonst tun können, Schatz? Hätten wir mitten in der Nacht bis auf die Knochen naß werden sollen? Wir wären erfroren! Es ist viel besser, jetzt den Fluß zu durchqueren, wo die Sonne scheint und uns trocknen wird.« »Ja«, antwortete Morgan, der seinen Fehler nicht mehr ganz so schwernahm. Aber er blickte äußerst skeptisch auf den Fluß, wo gerade ein großes Stück Treibholz mit rasender Geschwindigkeit vorbeischoß. Die starke Strömung ließ es zwanzig Meter weit wie eine Jongleurkugel auf und ab hüpfen, bis es untertauchte und nicht wieder zum Vorschein kam. Er schluckte. »Glaubst du wirklich, daß wir es schaffen könnten? Du bist eine gute Schwimmerin, aber ich nicht.«
Bess sah sich um und hob ein von der Sonne getrocknetes Stück Treibholz auf. »Wenn wir genug von diesem Zeug sammeln, können wir sicher sein, daß du auf dem Wasser treibst.« »Gute Idee.. . Und ich habe auch ein paar Seile eingepackt. Binden wir uns also aneinander, damit wir nicht getrennt werden.« »Wie romantisch!« kommentierte Bess. Dank Bess' Gespür für das Auffinden von tauglichem Holz stand Morgan bald ein ansehnlicher Rettungsring aus großen, mit Seilen zusammengeschnürten Treibholzstücken zur Verfügung. Er band sich das Holzbündel um die Brust und ließ gerade genug Seil übrig, um es Bess zu ermöglichen, sich ein Ende um die Hüfte zu wickeln. Sie würde nur ein paar Meter von ihm entfernt sein und ständig Kontakt zu ihm haben - ein äußerst beruhigendes Gefühl für Morgan. »Paß auf«, sagte Bess, während sie auf den Zehenspitzen ans Flußufer trat und in die türkisfarbene Tiefe blickte, »wir müssen zusammen reinspringen. Ich werde mit aller Kraft schwimmen, und du mußt auch dein möglichstes tun, um vorwärts zu kommen. Wenn es einer von uns bis zum anderen Ufer schafft, haben wir gewonnen.« Morgan schluckte. »Und wenn nicht?« Sie zuckte die Achseln. »Du willst den Brunnen finden, nicht ich.« »In Ordnung«, brummelte Morgan, während sich seine Schultern versteiften. »Bess, mein Schatz, ich liebe dich!« Sie umarmte ihn. »Und ich würde dies nicht für einen Mann machen, den ich nur gern hätte.« Morgan hielt sich die Nase zu, und sie sprangen in das eisige Wasser. Er wußte beim besten Willen nicht, wie er sich bewegen sollte, vom Schwimmen einmal ganz zu schweigen. Er spürte nicht einmal, ob er sich überhaupt bewegte. Eine Welle überspülte seinen Kopf und durchnäßte ihn völlig. Vage wurde ihm bewußt, daß sie in der Strömung rasend schnell vorankamen, doch das Ufer verschwamm vor seinen Augen. Um zu verhindern, daß ihm übel wurde, blickte Morgan nach oben und versuchte, sich auf die Felsspitzen des Canyons zu konzentrieren.
Mit beinahe empfindungslosem Körper und dabei fest an seine Schwimmweste aus Treibholz gebunden, trieb Morgan einfach dahin. Er bemerkte, daß er sich dem Rhythmus der Strömung anpaßte, die ihn mit sich zog. Er starrte gerade auf das helle Blau des Himmels, als er einen Ruck an dem Seil spürte, das um seine Hüfte geschlungen war. Als er nicht reagierte, wurde das Rucken stärker und tauchte ihn für einen Moment unter. »He!« rief er wasserspuckend. »Nicht so heftig.« »Wir werden umkommen, du Idiot!« brüllte Bess zurück. »Fang endlich an zu schwimmen! Wir müssen ans andere Ufer!« »Es ist eisig kalt!« »Ich weiß!« kreischte sie. »Denk an die Stromschnellen vor uns und an die Felsen!« Und als sich Morgan immer noch nicht regte, fügte sie hinzu: »Und an die Fische!« Jetzt erinnerte er sich an ihren ersten Tag im Canyon, als dieses schaurig schuppige Ungetüm mit wild zuschnappenden Zähnen flossenschlagend auf sie losgekrochen war. Dieses Bild veranlaßte Morgans Arme und Beine, sich auf und ab zu bewegen. Erstaunt bemerkte er, daß doch noch ein bißchen Gefühl in seinen Gliedern vorhanden war, und schlug nun mit einer Imitation von Schwimmbewegungen auf das Wasser. Nach ein paar Minuten warf er einen Blick zurück zum Ufer und stellte fest, daß sie fast die Hälfte des Flusses durchquert hatten. Das gab ihm zuerst neuen Mut, aber dann wurde ihm klar, daß dies mehr an der reißenden Strömung als an ihrem eigenen Dazutun lag. Bess schwamm tapfer in Richtung des anderen, Ufers, aber so sehr sie sich auch anstrengte, karrten sie und Morgan einfach nicht aus der Flußmitte heraus. Die Strömung zerrte alles ins Zentrum. Immer wieder stießen sie gegen Treibholz oder glitschige Schilfbüschel, und für einen kurzen Augenblick sah Morgan auch einen schwarzen Schatten, der sich neben ihm im Wasser bewegte, aber sofort wieder verschwand. Der »Schwimmer« verhielt sich ganz ruhig, um die Aufmerksamkeit der Kreatur nicht auf sich zu lenken, fühlte sich aber
im gleichen Moment schuldig, weil er so auch keine Schwimmbewegungen mehr machte. Doch was spielte das schon für eine Rolle? Bess schwamm sich das Herz aus dem Leib, aber sie kamen dem anderen Ufer einfach nicht näher, die Strömung war zu stark. Morgan wußte plötzlich, daß sie sterben würden. Sie waren im Begriff, an irgendwelchen Felsen zerquetscht, von Fischen gefressen oder von den Stromschnellen so tief ins Wasser gezogen zu werden, daß sie jahrhundertelang nicht wieder zum Vorschein kommen würden! Bis dahin würde diese ganze Gegend als JungbrunnenErholungszentrum ausgebaut worden sein und würde vermutlich Devon Adair gehören! Und Morgan Martin hätte wieder einmal den kürzeren gezogen. Wenn er es in seinem Leben schon zu nichts gebracht hatte, dann wollte er wenigstens mit Bess in den Armen sterben. Er war schrecklich stolz auf sie. »Bess!« rief er. »Gib auf! Komm, halte dich mit mir zusammen an diesem Holz fest!« »Wir werden sterben!« schrie sie. »Dazu mußte es auf diesem dämlichen Planeten ja auch kommen!« schrie er zurück. »Ich liebe dich!« »Ich liebe dich auch!« Erschöpft schwamm sie in seine Richtung, doch schon nach einem oder zwei Armzügen zerrte plötzlich irgend etwas ruckartig am Seil und riß Morgan wie ein Gummiband zurück. »Aaaah!« brüllte er in dem Glauben, daß ihn ein Fisch erwischt hatte; aber im nächsten Augenblick knallte er gegen einen Felsen und wurde nur durch das Treibholzbündel vor seiner Brust gerettet. Das Holz zersplitterte und löste sich von seinem Körper. Während er sich verzweifelt an den Felsen klammerte, begriff er, daß er noch lebte, und fing an zu schreien: »Bess! Bess! Wo sind wir? Bess!« »Morgan!« hörte er ihre Stimme, schrill und überrascht, »ich bin hier!« Der Regierungsbeamte begriff endlich, daß sich das Seil, an dem sie beide hingen, an einem Felsen mitten im Fluß verfangen hatte: Bess war auf der einen Seite an dem Gesteinsbrocken
vorbeigeschossen, er auf der anderen. Nur das Seil hielt sie beide noch an diesem Felsen fest. Er konnte den Steinbrocken zwar berühren, aber nicht über ihn hinwegsehen. Immerhin hörte sich Bess so an, als wäre sie wohlauf. Sie hatten großes Glück gehabt, denn wären sie nicht seitlich an diesem Stein vorbeigeschrammt, sondern mit dem Kopf zuerst dagegen geprallt, hätte das ihr Ende bedeutet. Könnte er doch nur einen festen Halt finden und nach oben klettern, überlegte Morgan, dann wäre er in der Lage, Bess zu retten. Aber was dann? Morgan zerrte an dem Seil, aber die starke Strömung und die Überreste seiner Schwimmweste nagelten ihn praktisch an dem Felsen fest. Er sah keine Möglichkeit, wie er seine Frau aus dieser Klemme herausholen sollte. Er wollte sie zumindest beruhigen, wollte ihr sagen ... Was sagen? Daß er ein verdammter Idiot und ein Schwachkopf wie Ponce de Leon war!? »Bess, Bess«, jammerte er, »es tut mir leid! Es tut mir leid! Verzeih mir!« »Ist schon in Ordnung«, entgegnete sie mit erstaunlich klarer Stimme. Er verdrehte den Kopf, um hochzublicken, und sperrte vor Erstaunen den Mund auf: Bess stand direkt über ihm auf dem Felsen! Zwar war sie bis auf die Knochen durchnäßt und hatte einige Hautabschürfungen und Kratzer abbekommen, aber es schien nichts Ernsthaftes zu sein. Trotzdem lächelte sie nicht besonders - im Gegensatz zu ihm - vielleicht, weil sie erkannte, in was für einer aussichtslosen Lage er sich befand. »Ich hatte Glück«, übertönte ihre Stimme das Rauschen des Wassers. »Ich wurde in eine Felseinbuchtung gedrückt und hatte Platz, um mich zu bewegen. So konnte ich mich auch von dem Seil befreien. Aber ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll.« Morgan ächzte und zerrte wieder an dem Seil. »Wenn ich mich nur bewegen könnte ...« Plötzlich zeigten seine Bemühungen Wirkung und er bekam ein bißchen Spielraum mit dem Ergebnis, daß er leicht abtrieb. Bess warf sich sofort auf den Bauch und packte seinen
Jackenkragen. »Ich kann dich nicht halten!« schrie sie. »Versuch, auf die Rückseite des Felsens zu kommen und dich festzuklammern!« Es war nicht einmal nötig, Morgan darauf hinzuweisen, daß er sich schnell bewegen mußte, wenn dieser Versuch Erfolg haben sollte. Mit aller Kraft krallte er seine Finger in die kleinen Vertiefungen, die die Erosion indem Fels hinterlassen hatte, so daß Bess ihn schließlich loslassen konnte. Er hielt den Atem an und erwartete, davongeschwemmt zu werden, aber seine Finger verloren den Halt nicht. Schnaufend vor Anstrengung tastete er sich zur Rückseite des Felsens vor, wo sich die starke Strömung wegen der Gesteinsbrocken etwas abschwächte. Bess stand mit ausgestreckter Hand vor ihm, und Morgan krabbelte an dem Felsen hoch wie ein prähistorischer Fisch, der sich zum ersten Mal aus dem Wasser heraustraut. Bess lachte vor Erleichterung auf. »Himmel! Wenn wir auf Abenteuerfahrt gehen, dann aber richtig!« Morgan blieb sekundenlang auf dem Felsen liegen und rang nach Atem, bevor er wieder in der Lage war, seinen Körper zu spüren. Gott, es war ein herrliches Gefühl, in der Sonne zu liegen, statt im Wasser zu sein! Langsam spürte er, wie die Nerven in seinen Beinen erwachten. Als er langsam versuchte aufzustehen, gaben seine schmerzenden Beine nach, und Bess mußte ihn stützen. »Alles in Ordnung?« »Ja«, keuchte er. »Und was nun?« Er sah sich um und wäre fast ohnmächtig geworden, als er erkannte, wo sie sich befanden. Es war wohl purer Zufall, daß sie an einer Flußbiegung gestrandet waren, an der sich der Strom im spitzen Winkel von dem Felsen entfernte. Dadurch hatten sie fast zwei Drittel des Weges geschafft! Nun waren nur noch etwa zehn Meter zurückzulegen, bis das Wasser langsam zu kleinen Mulden und Sandbänken verkümmerte. Nur zehn Meter, dachte er, aber es konnten ohne weiteres auch hundert Meter sein. »Was sollen wir tun?« jammerte er. »Nun, du willst sicherlich nicht den Rest deines Lebens auf diesem Felsen verbringen, oder? Ich denke, wir können es jetzt bis zum Ufer schaffen, aber wir müssen so weit wie möglich von dem Felsen
wegspringen und dann den Rest der Strecke wie verrückt schwimmen.« Er schluckte. »Schwimmen?« Sie griff mit fester Hand nach seinen Schultern. »Das Seil ist weg, das Treibholz ist weg - du hast nur noch deine Arme und Beine. Aber du kannst es schaffen! Ich habe Vertrauen zu dir, Schatz. Deshalb bin ich dir so weit gefolgt.« Morgan wäre gern tapfer gewesen, aber er fühlte sich nur krank und erschöpft. Dann blickte er zurück und sah dreißig Meter eisiges, wild sprudelndes Wasser. Selbst wenn jemand vorbeikommen sollte, um sie zu retten - was unwahrscheinlich genug war -, wie sollte man dann eine Rettungsaktion ohne die erforderliche Ausrüstung, die es auf G889 einfach nicht gab, bewerkstelligen? Nein, es standen ihm tatsächlich nur seine Arme und Beine zur Verfügung! »Kannst du als erste gehen?« fragte er verlegen. »Natürlich«, erwiderte sie lächelnd. »Aber wenn ich erst einmal von diesem Felsen gesprungen bin, werde ich nicht zurückkommen. Nicht einmal zu dir, Liebling. Wenn wir gesprungen sind, gilt nur noch das andere Ufer, sonst gar nichts.« »Ich weiß. Ich würde mich nur wohler fühlen, wenn ich sehen könnte, wie du zuerst springst.« »Okay.« Bess rieb die Arme aneinander. »Das Wichtigste ist, so weit wie möglich zu springen, denn jedes Stück, das du nicht schwimmen mußt, ist ein Vorteil. Du paßt auf, wie ich es mache, ja?« »Ich passe auf.« Er gab ihr einen letzten Kuß. »Ich liebe dich!« »Ich liebe dich auch! Fertig?« »Fertig.« Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, sprang Bess wie eine Olympiaschwimmerin von dem Felsen und landete fast mit einem Bauchklatscher auf dem Wasser. Der Schwung trug sie noch ein Stückchen weiter, doch dann begannen ihre Arme und Beine sofort zu wirbeln. Obwohl die starke Strömung sie weit flußabwärts trieb, kam sie dem Ufer ständig näher. Morgan konnte sie in der Ferne kaum noch sehen, aber sie ließ nicht locker. Mit einem schwungvollen
Butterflyschlag überwand sie einen Wasserwirbel, und das schien die letzte Hürde gewesen zu sein. Morgan stieß heisere Jubelschreie aus, als seine Frau eine der kleinen Mulden erreichte und sich aus dem Wasser zog. Nach einem kurzen Augenblick richtete Bess sich auf, blickte zurück und schüttelte ungläubig den Kopf, als sie erkannte, wie weit die Strömung sie abgetrieben hatte. »Komm!« schrie sie. »Du schaffst es!« »Reichtum, Ruhm, ewiges Leben«, sang Morgan vor sich hin. »Reichtum, Ruhm, ewiges Leben. Und vergiß Bess nicht. Es gibt vieles, wofür es sich zu leben lohnt, verdammt noch mal!« Mit diesen Gedanken sprang er von dem Felsen und schlug hart auf dem eisigen Wasser auf. Diesmal ließ Morgan es erst gar nicht zu, daß die Kälte ihn betäubte - er machte einen tiefen Atemzug und fing an, wie ein Verrückter zu strampeln und zu paddeln. Dann glaubte er Bess' Stimme zu hören, die ihm zujubelte, aber das Wasser dröhnte so laut in seinen Ohren, daß er sich nicht ganz sicher war. Er bewegte seine Arme und Beine, so schnell er konnte, und stellte sich dabei Schwimmer bei einem Rennen um die Meisterschaft vor, die gerade ihre letzte Bahn vor sich haben. Morgan hielt nicht einmal inne, um seine Position zu überprüfen, denn wenn er es nicht bis zum Ufer schaffte, spielte das auch keine Rolle mehr. Sein lebloser Körper würde vermutlich bis zu irgendeinem Ozean weitertreiben. Unentwegt hämmerte er auf das Wasser ein, obwohl sich seine Ausdauer fast erschöpft hatte, bis etwas Wunderbares geschah - sein Fuß stieß auf etwas Hartes. Es war das Ufer! Das Ufer! In der festen Annahme, stehen zu können, hörte Morgan auf zu schwimmen - was sich allerdings als Fehler erwies, denn die Strömung drohte ihn in die Mitte des Flusses zurückzuziehen. Panik stieg in ihm auf, aber dann spürte er plötzlich einen festen Griff an seinem Arm, der ihn wieder in Richtung Ufer zog. »Ich danke dir«, stöhnte er und wälzte sich herum, um Bess anzusehen, die ihn seiner Überzeugung nach gerettet hatte; aber statt dessen sah er sich einem dieser monströsen Fische gegenüber. Das
glitschige, stachelige Maul des Ungetüms hatte sich um seinen Unterarm geschlungen! Aber der Fisch zog ihn in der Tat zu einer seichten Stelle - wahrscheinlich, um sich über ihn hermachen zu können. Damit sein Arm nicht in Stücke gerissen wurde, stolperte er widerstandslos hinter dem Fisch her, die ganze Zeit laut schreiend. »Bess! Bess!« »Ich komme!« rief sie und lief, so schnell sie konnte, das Ufer entlang zu der Stelle, wohin Morgan abgetrieben war. Dann zückte sie mit mörderischem Glanz in den Augen ein kleines Messer, von dem Morgan gar nicht wußte, daß sie es mitgenommen hatte, und sprang in das schäumende Wasser. Kaum war sie nahe genug herangekommen, versetzte sie dem Monster auch schon einen Stich unmittelbar hinter den Kiemen; sofort spritzte eine Blutfontäne ins Wasser, und Morgan spürte, wie sich der Griff an seinem Arm löste. Wieder und wieder stach Bess auf den Fisch ein, bis das Ungetüm schließlich mit seinem Schwanz das Wasser peitschte und sich wie ein Leviathan aufbäumte; dann versetzte ihm Bess mit der Faust einen Schlag ins Genick. Morgans Arm blutete, aber er war frei! Außerdem befand er sich an einer Stelle, an der die Strömung schwächer war, so daß er sich aufrichten konnte. Er torkelte und stolperte zum Ufer und befand sich endlich an Land. Dann warf er einen Blick zurück und vergewisserte sich, daß seine Frau ihm folgte. Bess torkelte nun ebenfalls ans Ufer und plumpste neben ihn auf den Strand, wobei sie ihren Arm auf seinen Rücken legte. Fast eine halbe Stunde blieben sie schwer atmend so liegen und dachten überhaupt nichts. Die warme Sonne hatte jedoch eine heilende Wirkung, und Morgan war schließlich in der Lage, den Kopf zu heben und sie anzusehen. »Habe ich dir jemals gesagt, daß ich dich liebe?« »Ständig«, antwortete sie und zerzauste sein nasses Haar. »Wie geht's deinem Arm?« Er hielt ihn hoch, um ihn näher zu betrachten. Der Hemdsärmel war blutig und zerrissen, und als er ihn hochschob, konnte er deutlich einen Halbkreis von Zahnabdrücken auf beiden Seiten des Unterarms erkennen.
»Es sieht nicht allzu schlimm aus«, stellte Bess fest. »Saubere Wunden, nicht sehr tief. Ich nehme an, sie werden von selbst heilen, ohne daß der Arm verbunden werden muß.« »Mein Gott, Bess!« stöhnte Morgan. »Ich muß ins Krankenhaus!« »Ich nehme an, diese Tiere zerren ihre Beute dorthin, um sie in Ruhe fressen zu können«, sagte sie gedankenverloren. »Bitte!« ächzte Morgan. »Mußt du denn über sie reden, als ob du sie bewundern würdest?« »Ich bewundere sie«, entgegnete Bess heiter. »Sie haben sich ihrer Welt perfekt angepaßt. Glaubst du, daß dir der heilige Teich helfen würde?« »Ja, ja!« schrie er fast und torkelte auf die Füße. »Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten. Gehen wir!« Der Zorn trieb Devon Adair voran, als sie mit dem SandRail durch eine Sandverwehung nach der anderen fuhr und ihrem Beifahrer dabei heftige Stöße versetzte. »Passen Sie doch auf!« rief Danziger. »Als ich Ihnen das Steuer überließ, habe ich nicht gewußt, daß Sie uns umbringen wollen!« »Wenn es Ihnen zu holprig ist«, antwortete sie gereizt, »dann können Sie ja zu den anderen zurückgehen.« »Vielen Dank, vielleicht tue ich das auch. Folgen Sie immer noch ihren Spuren?« »Ihre Spuren interessieren mich nicht, sie müssen hier langgekommen sein.« »Warten Sie mal! Halten wir kurz an, um uns zu vergewissern. Was ist, wenn der heilige Teich hier irgendwo liegt? Vielleicht sind sie die Felsen hinaufgeklettert? Sie wissen, daß es hier Höhlen gibt.« »In Ordnung.« Devon trat hart auf die Bremse, und das Fahrzeug kam mit durchdrehenden Reifen zum Stehen. »Sehen Sie nach!« wies sie ihn an. »Okay, mache ich.« Danziger begrüßte die Gelegenheit, aus dem Wagen steigen zu können, seine Beine auszuschütteln und für einen Moment von dieser Verrückten wegzukommen. Devon Adair war sicherlich keine Frau, mit der man sich gerne anlegte, deshalb zog er
es vor, auf diese Art und Weise einem Streit aus dem Weg zu gehen. Er sah Yale und Zero in dem ATV, die mit einem weitaus vernünftigeren Tempo hinter ihnen fuhren, und hob die Arme, um sie zu stoppen. »Wann haben Sie ihre Spuren zuletzt gesehen?« fragte Danziger. »Ich weiß nicht«, antwortete Yale. »Wir waren zu sehr damit beschäftigt, Ihnen zu folgen.« Danziger seufzte. »Suchen wir nach diesen Spuren!« Gemeinsam mit Yale untersuchte der Mechaniker den Sand auf dem Uferstreifen. Unglücklicherweise hatten die Reifen der Fahrzeuge den Boden stark aufgewühlt, und schließlich waren sie über die Stelle hinaus, an der Devon den SandRail geparkt hatte. Danziger starrte in den Sand und begann sich Sorgen zu machen, daß die Spuren durch das Austrocknen nicht mehr erkennbar waren; vielleicht aber hatten Morgan und Bess an irgendeiner Stelle auch einen Bogen geschlagen. In jedem Fall waren die Abdrücke nicht mehr zu sehen, obwohl sie am frühen Morgen noch so klar wie das türkisfarbene Wasser gewesen waren. »Sie sind weg«, rief er Devon zu. »Die Spuren sind weg.« »Das ist doch unmöglich!« Sie sprang aus dem SandRail und blickte sich um. »Wie kann das sein?« »Ich weiß es nicht«, gab Danziger zu. »Ich weiß nur, daß die Spuren, denen wir gefolgt sind, nun verschwunden sind.« »Wenn nicht irgend jemand die beiden weggetragen hat«, meinte Yale, »gibt es nur zwei Wege, die sie eingeschlagen haben können an der Canyonwand hoch oder ins Wasser.« »So ein Mist!« schrie Devon. Sie zerknüllte ihren Hut und schleuderte ihn auf den Boden. »Ich bringe sie um, wenn wir sie finden!« »Wenn sie dann nicht bereits tot sind«, wandte Yale ein. »Danziger hat recht - wir müssen zurückgehen und die Stelle suchen, an der ihre Spuren enden.«
Zu Fuß machte sich Danziger auf den Rückweg. »Kommen Sie mit den Fahrzeugen hinter mir her!« Er funkelte Devon böse an und fügte hinzu: »Langsam!« »Sieh mal!« rief Morgan und zeigte aufgeregt in die Ferne. »Helles Wasser! Das könnte auf den zweiten Canyon hindeuten!« »Na schön«, sagte Bess und schob ihre Locken zurück. »Und du sieh mal nach oben.« Sie zeigte in die Höhe. In dem atemberaubenden Panorama des sonnenüberfluteten Canyons hatte Morgan anfänglich Schwierigkeiten, sie ausfindig zu machen, doch schließlich bemerkte auch er die vier Flieger, die weit oben in der Luft schwebten. Nur jemand, der die Lederschwingen bei ihren Flügen erlebt hatte, konnte wissen, daß dies keine Vögel waren. »Mann, ich bin richtig froh, sie zu sehen«, sagte Morgan. »Gib mir noch ein bißchen von diesem Wasser.« Bess reichte ihm die Flasche. »Ich hatte eigentlich gedacht, daß du mittlerweile genug vom Wasser hast. Was machen sie da?« »Vielleicht bewachen sie den Teich und sind immer da stationiert.« »Nein, so lange sind sie noch nicht hier«, korrigierte ihn Bess. »Ich habe sie heute Nacht kommen sehen.« »Heute Nacht?« wunderte sich Morgan, während er in die Ferne blickte. »Aber sie kommen aus dem Dorf, oder?« Bess zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube aber nicht, daß sie diese Höhe erreicht hätten, wenn sie im Dorf abgeflogen wären.« Morgan kicherte nervös. »Es werden doch nicht etwa ... feindliche Terrianer sein?« Bess schüttelte den Kopf und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne. Morgan bemerkte, daß ihre Hand zum Knauf des Messers wanderte, das in ihrem Gürtel steckte. Er wandte den Kopf, um selbst einen genaueren Blick auf die in der Ferne fliegenden Terrianer werfen zu können, und erkannte, daß sie ihr bisher mehr vom Zufall geprägtes Flugmuster aufgegeben und sich für einen bestimmten Kurs entschieden hatten. Sie kamen direkt auf ihn und Bess zu.
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»Okay, hier ist die Stelle«, sagte Danziger. Er ging in die Knie und fuhr mit einem Stock über einige feuchte Abdrücke auf dem Uferstreifen. »Ihre letzten Spuren. Man kann erkennen, daß sie hier gestanden und wahrscheinlich überlegt haben, was sie tun sollen. Da keine Spuren zu den Felsen führen, nehme ich an, daß sie ins Wasser gesprungen sind.« Devon Adair trat an ihn heran, die Arme in die schlanken Hüften gestemmt. »Sie sind mutiger oder verrückter, als ich sie eingeschätzt hätte. Oder aber es handelt sich um ein Ablenkungsmanöver. Möglicherweise wollten sie uns durch das Hinterlassen dieser Spuren täuschen und haben ihre richtigen Spuren verwischt.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete Danziger und blickte sich im Canyon um. »Sie haben uns durch das Überqueren des Flusses schon genug getäuscht - falls sie es tatsächlich auf die andere Seite geschafft haben und nicht ertrunken sind.« »Wir könnten uns aufteilen und in den Felsen nach ihnen suchen«, schlug Yale vor. Devon kratzte sich am Kopf und blickte zum anderen Flußufer hinüber. Die Entfernung war geringer als an der Stelle, die sie mit der »terrianischen Rutschbahn« überbrückt hatten, aber zum Schwimmen war es ein weiter, gefährlicher Weg. Vielleicht hatte sie wirklich unterschätzt, wie versessen Morgan Martin auf die Entdeckung dieses Jungbrunnens war. »Die anderen werden bald hier sein und können in den Felsen nach ihnen suchen«, sagte Devon. »Wir müssen auf die andere Seite.« »Die einzige uns bekannte Stelle, an der wir sicher übersetzen können, liegt kurz vor dem Dorf«, erinnerte sie Yale. »Schön«, antwortete Devon. »Was sollen wir also tun, den ganzen Weg zurückfahren? Oder vergessen wir sie einfach?«
Sie sah erst Danziger und dann Yale an - aber statt der .beiden antwortete Zeros Stimme aus dem ATV heraus: »Wenn Sie Roboter wären, würden Sie sie vergessen.« Morgan fuhr mit dem Handrücken über seine trockenen Lippen und blickte schräg zum Himmel hoch. Die vier Terrianer kamen gemächlich auf sie zugeflogen, daran bestand kein Zweifel. Eigentlich wollte er ihnen zuwinken, um sie zu begrüßen, aber irgendwie hatte er den Eindruck, daß diese Geste nicht richtig ankommen würde. »Was wollen sie?« fragte Bess. »Woher soll ich das wissen?« »Nun, du redest im Schlaf mit ihnen. Finde heraus, was sie wollen.« Sie schob ihn mit einem Stoß nach vorne. »Was ist, wenn sie nicht wollen, daß wir zum Teich gehen?« fragte er unsicher. »Das sollten wir jetzt wohl besser herausfinden, nicht wahr?« Morgan zwang sich, die Hand zu heben. »Hallo, hallo«, säuselte er wie ein Redner bei einem Begräbnis. Ohne es genau begründen zu können, hatte er ein unbehagliches Gefühl bei der Sache. Ursprünglich wollte er den Jungbrunnen alleine mit Bess entdecken, nicht mit einer Eskorte. Die Begleitung seines Freundes hätte ihm natürlich nichts ausgemacht, aber der junge Terrianer leckte wahrscheinlich immer noch seine Wunden. Er konnte sich also auf keinen Fall unter den Terrianern dort oben in der Luft befinden, denn seine Energie hatte in der vergangenen Nacht gerade noch zum Träumen gereicht. Als Morgan darüber nachdachte, konnte er sich eigentlich nicht vorstellen, daß überhaupt eine der Lederschwingen aus dem Dorf gut genug in Form sein sollte, um in der Nacht hierher geflogen zu sein. Allerdings wußte Morgan nicht, wie es bei den feindlichen Terrianern aussah - vielleicht hatten sie ja einige Flieger in Reserve gehalten. Möglicherweise war die tollkühne Attacke bei Tageslicht sogar nur ein Täuschungsmanöver gewesen, das gar nicht siegreich enden, sondern die Dorfbewohner nur schwächen sollte. Oder der wahre Plan bestand darin, daß vier mutige Flieger auf jemanden
warteten, der zum Teich wollte. Das alles waren ausnahmslos gute Pläne, die auch Morgan selbst hätten einfallen können. Dieser Gedanke machte ihn wirklich besorgt, und er schlich langsam wieder an Bess' Seite zurück. »Willst du keine Verbindung zu ihnen aufnehmen?« fragte sie. »Ich glaube, das habe ich gerade getan.« Die Flieger waren noch etwa hundert Meter entfernt, kamen jetzt aber schnell näher. Da es keinen Fluchtweg gab, zog Morgan seine Frau fürsorglich an seine Brust und hielt sie fest. Er erinnerte sich daran, wie erschrocken er gewesen war, als sie die fliegenden Terrianer zum ersten Mal gesehen hatten - damals war dieses Erschrecken völlig unangebracht gewesen. Diesmal war es auch nicht anders, redete er sich ein, bis er die in X-Form über ihre knochigen Brüste geschnallten Schilfschärpen sah. »Das sind nicht unsere Lederschwingen!« schrie er panikerfüllt, aber es war bereits zu spät. Die Kreaturen bewegten ihre Flügel nun immer schneller und schienen dann vom Himmel zu fallen. Nach der Landung nahmen sie mit ausgebreiteten Flügeln und in geduckter Haltung sofort eine Angriffshaltung ein. Sie bildeten mit ihren Flügeln eine Mauer und kreisten die beiden Menschen förmlich ein. Wie bei allen Terrianern dominierten in ihren Gesichtern die Zähne, die knopfartigen Augen und die eingefallenen Wangen. Erschreckender war jedoch, daß in ihren wachsamen hellen Augen ein Haß lag, der keinen Zweifel daran ließ, daß sie die beiden Fremden als Feinde betrachteten. Einer der Angreifer gab zischende Laute von sich, während ein anderer drohend mit seinen Flügeln flatterte, während er näher herankam. Morgan lachte nervös auf. »Wir sind Freunde! Ihr wißt schon, Freunde!« Er hob den Arm, um zu winken, aber einer der Terrianer machte einen Sprung und schnappte mit den Zähnen nach ihm. In dem Moment streckte ein anderer den Arm aus, um Bess mit seinem Flügel zu Leibe zu rücken, aber sie schlug den Feind erfolgreich in die Flucht. Das veranlaßte den Terrianer zu einem Grollen, das sich nach
dem eines in die Enge getriebenen Löwen anhörte. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe von mehr als zwei Metern auf und stieß Bess erneut mit dem Flügel an, woraufhin sie ihr Messer zückte. »Langsam, keuchte Morgan. »Was machst du denn da?« »Wir haben zwei Möglichkeiten«, antwortete sie. »Kämpfen oder wegrennen.« Morgan verdrehte den Kopf, um über die ausgebreiteten Flügel ihrer Feinde hinwegblicken zu können. »Die Felsen sind zu weit entfernt - das würden wir niemals schaffen.« »Was ist mit dem Wasser? Dahin werden sie uns bestimmt nicht folgen.« Morgan warf einen Blick auf den vorbeirauschenden Fluß und erschauderte. Er wollte diese Fluchtmöglichkeit gerade beiseite schieben, als einer der Terrianer seine Flügel abschnallte und sorgsam in den Sand legte. Dann hob er seine monströse Klauenhand und schickte sich an, auf Morgans Gesicht loszugehen. »Alles klar, lauf!« brüllte der Regierungsbeamte. Er stürmte gegen den gespreizten Flügel eines Terrianers und wirbelte ihn herum, wahrend Bess einen anderen mit ihrem Messer ansprang. Die Flieger zischten und schlugen zurück, aber wegen ihrer Flügel fiel es ihnen schwer, die flinkeren Menschen zu packen, die zwischen ihnen hindurchschlüpften und zum Wasser rannten. »Bleib im seichten Bereich!« rief Bess. Morgan war nur noch ein kleines Stück von dem Sicherheit versprechenden Wasser entfernt, als er von hinten gepackt und zu Boden geschleudert wurde. Der Terrianer, der seine Hügel abgelegt hatte, erwies sich für seine wenig imposante äußere Erscheinung doch als erstaunlich kräftig und agil. Er drückte Morgans Gesicht in den Sand, als ob er ihn ersticken wollte. »Bess!« krächzte er. Aber seine Frau hatte ihre eigenen Probleme. Morgan konnte gerade noch erkennen, daß sie bis zur Hüfte im Wasser stand und um ihr Gleichgewicht kämpfte, während sie von den drei übrigen Terrianern bedroht wurde. In ihrer Verzweiflung fing sie an, die
Gegner mit Wasser zu bespritzen, und überraschenderweise taumelten diese tatsächlich zurück. Dann richtete Bess einen gezielten Guß auf Morgans Gegenüber und traf ihn mitten ins Gesicht. Der Angreifer kreischte auf wie ein böser Geist und riß die Hände vors Gesicht, so daß Morgan Gelegenheit bekam, sich unter ihm hervorzuwinden. Schnell wälzte er sich noch ein Stückchen weiter, bis er das Wasser erreicht hatte, wo Bess nach ihm griff und zu verhindern versuchte, daß er abgetrieben wurde. Die Terrianer waren zwar nicht ernsthaft verletzt, aber dafür waren sie jetzt ernsthaft wütend. Sie sammelten sich am Ufer, weit genug entfernt, um nicht wieder bespritzt zu werden. Offensichtlich begnügten sie sich damit, ihre Feinde durch Abwarten zu zermürben. »Vom Regen in die Traufe«, jammerte Morgan mit klappernden Zähnen. Bess stolperte, konnte aber gerade noch rechtzeitig ein paar Wurzeln packen, bevor die Strömung sie erfaßt hätte. »Was können wir tun?« stöhnte sie. Plötzlich zischte ein heller Feuerball über ihre Köpfe hinweg und schlug zwischen den Terrianern ein, die wie Kegel auseinandertaumelten. Sie kreischten auf und hüpften mit schlagenden Flügeln auf die Felsen zu. Der Terrianer, der seine Flügel im Sand liegengelassen hatte, kehrte noch einmal zurück, und ein zweiter Feuerball jagte über seinen Kopf. »Das sind Leuchtraketen!« stieß Bess hervor. Morgan fuhr herum und erblickte den ATV, der am gegenüberliegenden Ufer parkte. Daneben stand Yale mit einem Raketenwerfer in den Händen. Schließlich packte Bess ihren Mann am Kragen und zog ihn in Richtung Ufer. Zum dritten Mal an diesem Nachmittag schleppten sie sich aus dem eisigen Wasser und blieben, schwer atmend und völlig durchnäßt, in der brennenden Sonne liegen. Nach einem kurzen Moment blickte Morgan hoch und sah, wie sich zwei Terrianer in die Luft schwangen und mit ihren Flügeln schlugen, als ob sie von Dämonen verfolgt würden. Die anderen beiden
kletterten noch an den Klippen hoch, um eine geeignete Stelle zu finden, von der sie abheben konnten. »He!« brüllte Yale vom anderen Ufer zu ihnen hinüber. »Was ist los mit Ihnen? Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?« »Wir suchen den Jungbrunnen«, rief Morgan zurück. »Vielen Dank für die Hilfe.« Und zu Bess gewandt fügte er hinzu: »Komm, Schatz, gehen wir. Er ist auf der anderen Seite - was kann er schon tun, um uns aufzuhalten?« Morgan warf noch einen letzten Blick auf Yale und den ATV, dann machten sie sich flußabwärts auf den Weg. Auf der anderen Seite des Flusses schüttelte Yale den Kopf und schaltete sein Funkgerät ein. »Devon?« »Ich bin hier, Yale.« »Wir haben sie gefunden«, berichtete Yale. »Sie sind auf eurer Seite des Flusses. Es war die richtige Entscheidung, den Weg zurückzugehen und überzusetzen, während du uns auf dieser Seite weitergeschickt hast.« »Kannst du ihnen Vernunft beibringen und sie veranlassen, zurückzukommen?« »Negativ«, antwortete der Cyborg. »Aber wir sind in Sichtweite der Mündung des zweiten Canyons. Dieser Teil unserer Information stimmt also.« »Gut«, sagte Devon. »Ihr bleibt am besten an Ort und Stelle und wartet auf die anderen. Sie müßten bald da sein.« »Seid vorsichtig, es sind vier Terrianer des rivalisierenden Stammes in der Gegend. Ich mußte sie von Morgan und Bess wegjagen.« »Okay, Ende.« Danziger verdrehte die Augen und blickte die Fahrerin des davonpreschenden SandRail finster an. »Genau das haben Sie gebraucht - einen Grund, um das Pedal bis zum Anschlag durchtreten zu können.«
»Passen Sie gut auf«, entgegnete Devon mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen, »ich werde diesen Verrückten kriegen, und dann wird er sich wünschen, er wäre lieber ertrunken!« »Und wenn er den Weg wirklich kennt?« fragte Danziger. »Was ist, wenn es den Jungbrunnen tatsächlich gibt? Aus diesem Grund sind Sie doch hierhergekommen - um natürliche Heilmethoden zu finden, die unserer sterilisierten Kultur verlorengegangen sind.« »Genau aus diesem Grund«, stimmte sie ihm zu. »Aber zuerst brauchen wir unsere Operationsbasis. Ich habe während der Tour durch den Canyon gelernt, daß wir jeden brauchen, um unsere Kolonie zu gründen, sogar Morgan Martin.« Devon fuhr so hart über ein Schlagloch, daß Danziger sich fast auf die Zunge gebissen hatte. »Bringen Sie uns nur heil dorthin. Wir kommen jetzt gut voran - gerade haben wir den Hang passiert, den wir runtergerutscht sind.« »Ich weiß«, antwortete sie und legte einen höheren Gang ein. Dann klopfte Danziger ihr auf die Schulter und zeigte zum Himmel hoch. »He, sehen Sie mal da!« Sie verlangsamte die Geschwindigkeit, folgte mit den Blicken seinem Finger und sah hoch oben am Rand des Canyons vier dunkle Flieger, die sich gegen den blauen Himmel abhoben. Morgan freute sich, als sie den tosenden Zusammenstoß der beiden Flüsse passierten. Der eine war blau, der andere türkis, und da sie sich zu einem Strom vereinigten, war die Farbe fast mit der von Ozeanen vergleichbar, die er schon mal gesehen hatte. Er fühlte, daß er seinem Ziel jetzt ganz nahe war. Und diesmal gab es weder für diesen lästigen Cyborg noch für irgend jemanden sonst eine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Morgan kicherte vor sich hin. Bess sah ihn von der Seite an: »Alles in Ordnung mit dir?« »Und ob«, grinste er. »Weißt du, ich bin froh, daß sie unsere Pläne kennen, denn ihr Wissen wird als Bestätigung gelten, wenn ich meine Ansprüche anmelde. Alles entwickelt sich perfekt!« Morgan nahm die Hand seiner Frau. »Ich weiß, daß ich mich wegen dieses heiligen
Teichs verrückt anstelle, aber die Kommunikation mit den Terrianern ... sie war so wirklich, daß ich ganz einfach darauf eingehen mußte. Das verstehst du doch, Liebling, nicht wahr?« »Natürlich«, antwortete Bess und betastete behutsam eine Schramme an ihrem Oberarm. »Aber ich werde nicht noch einmal in diesen Fluß steigen - weder für dich noch für jemand anderen.« Morgan deutete auf die wilden Fluten. »Als erstes«, verkündete er, »werden wir einige Brücken über den Fluß bauen. Die Wasserkraftwerke, die Dämme - all diese Sachen kommen später.« »Oh, ich möchte den Canyon nicht verschandeln, er soll so bleiben, wie ihn die Natur geschaffen hat.« Morgan rieb sich das Kinn. »Wenn wir einen Kurort aufziehen, könnten die Kunden Wert auf eine unverdorbene Landschaft legen. Wir werden einige Wirtschaftlichkeitsstudien vornehmen und dann sehen, was fürs Geschäft am besten ist.« Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Vertrautes, etwa fünfhundert Meter entfernt: Es war zwar nicht das spektakulärste Plateau des Canyons - tatsächlich war es verwittert und sah so aus, als hätte es sich lange Zeit auf dem Grund eines Flusses befunden -, aber Morgans Herz begann bei diesem Anblick dennoch zu rasen. Ohne ein Wort der Erklärung lief er los. »Morgan«, rief Bess, die Mühe hatte, ihm zu folgen, »was ist denn los?« Ihr Mann deutete mit zitterndem Finger auf das Plateau. »Da ist es! Dort bin ich gelandet! Ich erinnere mich genau an dieses Blumenfeld siehst du es? Und an dieses knollenförmige Zeug am Rand, es wächst auch im Inneren der Grotte. Das ist es!« Jetzt hasteten sie beide durch den Sand, wobei ein erneuter Adrenalinstoß Morgans Schmerzen endgültig vertrieb und ihn seine Erschöpfung vergessen ließ. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so freudig erregt gefühlt: endlich stand er kurz davor, etwas zu entdecken! Er selbst würde reich werden, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Und niemand konnte ihm hier seine Ansprüche streitig machen.
Morgan war so glücklich, daß er das merkwürdige Geräusch im Hintergrund erst hörte, als es schon direkt hinter ihm war. Er blickte sich um und sah Devon, die im SandRail schnell näher kam. »Nein!« brüllte er und ließ sich in den Sand sacken. »Was ist?« fragte Bess, während sie sich neben ihm niederließ. Dann sah auch sie, weshalb Morgan sich so erschreckt hatte, und schlang ihre Arme um seine Schultern. »Es ist schon in Ordnung. Erklären wir es ihnen!« Der SandRail kam kurz vor ihnen zum Stehen, und Devon stellte den Motor ab. »In Ordnung, Sie stehen beide unter Arrest! Eigentlich wollte ich Sie fix und fertig machen, aber dazu bin ich jetzt zu müde.« Bess sprang auf die Füße. »Hören Sie, Devon, wir sind fast da - der heilige Teich liegt gleich hinter diesem Plateau. Irgendwo dort. Es sind höchstens noch fünfzig Meter. Lassen Sie uns wenigstens nachsehen, wenn wir schon so nahe dran sind.« »Nein!« schrie Morgan. »Sie sollen nicht wissen, wo es ist.« Devon machte ein finsteres Gesicht. »Wissen Sie was, Morgan? Nach all dem Ärger, den Sie gemacht haben, hätte ich nicht übel Lust, Sie hier allein zurückzulassen.« »Übertreiben Sie nicht, Devon«, mischte sich Danziger ins Gespräch, während er vom Beifahrersitz kletterte. »Und Sie auch nicht, Morgan. Sie und Bess steigen jetzt in den SandRail und zeigen uns, wo es ist. Wir haben alle eine lange Strecke zurückgelegt, und wir kommen hier vielleicht nie wieder vorbei. Devon, wollen Sie den Teich nicht sehen?« Devon murmelte irgend etwas vor sich hin, sagte aber nicht nein. Bess bemühte sich, Morgan aus dem Sand hochzuziehen. »Komm, Schatz, sehen wir, ob es ihn wirklich gibt.« Einerseits war Morgan zum Weinen zumute, aber seine Neugier gewann schließlich doch die Oberhand: Er mußte diesen Teich einfach sehen! Morgan führte sie zum Fuß des Plateaus, von wo aus sie sich einen Weg durch die Disteln und Blumen bahnten, die das Plateau säumten. Der Duft der kleinen roten Blumen weckte Erinnerungen an seinen
Traum - er dachte an den erregenden Flug und die Landung im Dunkeln. »Da wird ein Pfad auf der anderen Seite sein«, erklärte er ihnen, als sie das Plateau umrundeten. »Alles klar«, erwiderte Devon spöttisch. Sie hatte die Führung übernommen und war auch die erste, die den schmalen und ausgetretenen Pfad entdeckte. Es war kein Kobapfad. Danach sagte keiner mehr etwas; sie folgten nur noch dem Weg durch die Pflanzen, bis sie die Felswand und den Eingang zur Grotte erreicht hatten. Im Inneren der Höhle lehnten ein paar alte Flügelpaare an den Wänden. Bess strahlte vor Stolz, während Devon Danziger finster anblickte, als ob sie unter keinen Umständen wollte, daß sich Morgans Angaben als zutreffend herausstellten. Morgan kicherte und führte sie hinein. Der Geruch war noch feuchter und erdiger als im Traum und ließ sein Herz vor Erregung schneller schlagen. Der Teich war Wirklichkeit! Wie in den Visionen sorgten die phosphoreszierenden Fasern an den Höhlenwänden für genügend Licht und leiteten die Eindringlinge durch die schmalen Gänge nach unten. Dann kam ihnen ein zweiter, intensiverer Geruch entgegen schweflig und brennend. Devon hustete so sehr, daß sie Morgan die Führung überließ. Er versuchte, sich seinen künftigen Reichtum vorzustellen, konnte aber nicht vermeiden, daß das Mysterium und die Würde dieses Ortes einen tiefen, bedrückenden Eindruck auf ihn machten. Die uralten Lederschwingen, die er in der Nacht hier gesehen hatte, waren immer noch da zumindest ihre Aura. Morgan schluckte angestrengt und fragte sich, ob sie wohl einen Fehler begingen. Nein, die Lederschwingen hatten ihm den Weg hierher gezeigt, also wollten sie auch, daß er hierherkam. Als sie um die Ecke bogen und den phosphoreszierenden Teich erblickten, der leuchtend den ganzen Boden ausfüllte, ächzte Bess. Das Wasser brodelte einladend und schwängerte die schwüle Luft mit beißendem Dampf und Rauch. Der Schweiß strömte Morgan den Nacken hinunter, und auch auf Bess' Stirn konnte er glitzernde Tropfen erkennen.
»Zweifelt jetzt noch jemand an mir?« fragte Morgan. Seine Stimme hallte durch die stickige Grotte. »Nein«, antwortete Devon hustend. »Es ist wahrhaft erstaunlich, aber ich kann hier unten nicht atmen.« »Der Teich bringt alles in Ordnung«, erklärte Morgan wichtigtuerisch und ging näher an ihn heran. »Seien Sie vorsichtig!« warnte Danziger. Doch Morgan rollte bereits seinen Ärmel hoch und legte die Bißwunde frei, die der Fisch auf seinem Unterarm hinterlassen hatte. Er war erregt, würde aber trotzdem nicht einfach hineinspringen - er hatte die schmerzerfüllten Gesichter einiger Terrianer gesehen und ging davon aus, daß das Wasser heiß war. So hielt er es für besser, zunächst einmal eine kleine Wunde zu behandeln und nicht gleich im ersten Anlauf hundert zusätzliche Lebensjahre anzustreben. Er kroch an den schimmernden, brodelnden Teich heran und tauchte langsam seinen Arm ein. Doch kaum hatte er die Spitze des Ellenbogens in die Flüssigkeit gesteckt, als auch schon ein sengender Schmerz durch seinen Arm schoß, der ihn fast ohnmächtig werden ließ. Morgan schrie vor Entsetzen auf und riß seinen Ellenbogen zurück, während ihn Danziger und Bess vom Teich wegzogen. »Was ist los? Was ist los?« schrie Bess und kniete neben ihrem Mann nieder. »Mein Ellenbogen!« kreischte der Regierungsbeamte. »Mein Gott, das muß mindestens eine Verbrennung dritten Grades sein!« »Ich kann es hier drin nicht aushalten!« rief Devon und taumelte zu dem Gang, der nach draußen führte. »Bringen wir Sie raus ans Licht«, sagte Danziger und schickte sich an, Morgan hinauszutragen. »Aber mein Teich! Der Jungbrunnen!« Morgan verdrehte den Kopf, um einen Blick zurückzuwerfen, während Danziger und Bess ihn nach draußen brachten. Wie der Teich da brodelte und kleine Sterne an die Höhlendecke zauberte, sah er so übernatürlich schön aus; aber der Jungbrunnen war offensichtlich nicht für ihre Art bestimmt, das spürte selbst Morgan in
diesem Moment. »Mein Teich!« greinte er dennoch ununterbrochen, während Danziger und Bess ihn nach draußen trugen. »Mein Teich ...« Sie setzten ihn vor der Höhle ins Sonnenlicht, und Danziger untersuchte die Verletzung, die der Teich Morgans Ellenbogen zugefügt hatte. Bess sah betroffen zu, während Devon nervös auf und ab ging, wütend darüber, daß sie in Panik geraten war. »Verbrennungen dritten Grades, darauf wette ich«, jammerte Morgan. »Dieser Teich ist nutzlos, einfach nutzlos!« Danziger sah ganz blaß aus. »Ich will verdammt sein!« »Das ist keine Verbrennung, oder?« fragte Bess, die über die Schulter des Mechanikers blickte. »Was ist es?« gellte Morgan. »Warten Sie.« Danziger nahm Morgans Hand und dirigierte sie zu seinem Ellenbogen. »Sie werden es nicht sehen können, aber dafür fühlen. Machen Sie nur, es eitert nicht.« Morgan befühlte vorsichtig die Spitze seines Ellbogens ... Dort war keine Haut mehr, sondern etwas Trockenes und Schuppiges, fast wie bei einer Echse. l »Wenn es keine Verbrennung ist, was ist es dann?« fragte Morgan ängstlich. »Mann, der Schmerz war unerträglich!« »Ich weiß es nicht.« Danziger schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, daß es sich anfühlt wie ... terrianische Haut.« Devon blieb stehen und blickte zu ihnen hinüber. »Vielleicht verändert der Teich die molekulare Struktur von Lebewesen. Wie sollte ein Jungbrunnen sonst auch arbeiten?« »Oder er ist ganz einfach nur für Terrianer bestimmt«, meinte Bess. »Und wenn man kein Terrianer ist...« »... wird man in einen verwandelt«, beendete Morgan ihren Gedankengang. Danziger schluckte und richtete sich auf. »Dieser Sache können wir jetzt nicht nachgehen. Und ohne die erforderlichen Instrumente, die wir nicht haben, werden wir es wahrscheinlich überhaupt nicht herausfinden. Sollen wir jetzt die anderen suchen?« Devon erschauderte. »Ja, gehen wir.«
Als sie sich entfernten, drehte Morgan sich noch einmal um und blickte zurück auf den schmalen Pfad und den Eingang zur Höhle. Es wurde schon dunkel, als Yale den ATV stoppte und wankend ausstieg. Der Anblick eines riesigen Kraters, den er jetzt unmittelbar vor sich sah, versetzte den Cyborg in Staunen. Es war mit Sicherheit der größte Krater, den er jemals gesehen hatte, in etwa vergleichbar mit denen auf dem Mars. Und dies war auch der Kreis auf der Landkarte, die der alte Terrianer in den Sand gezeichnet hatte. Im verblassenden Sonnenlicht konnte Yale nicht beurteilen, wie alt der Krater war, aber seine perfekte Symmetrie ließ ihn befürchten, daß er durch irgendeine Vernichtungswaffe entstanden sein konnte; vielleicht war es aber auch nur eine gewaltige Schürfaktion gewesen. Andererseits mochte der Krater auch so alt sein, daß er auf natürliche Weise durch einen Meteorit und die dann folgende Erosion entstanden war. Der Fluß hatte sich der Existenz des Kraters längst angepaßt und in seinem Zentrum einen glitzernden See gebildet. Noch bedeutender war allerdings die Tatsache, daß der Einschlag oder was auch immer es gewesen war - die Wände des Canyons niedergerissen hatte, so daß an dieser Stelle sogar ein Kleinkind hinausspazieren konnte. Yale hämmerte auf den Knopf des Funkgeräts. »Devon, Devon! Bitte kommen!« »Ich bin hier, Yale«, antwortete eine vertraute Stimme, die allerdings erschöpft und bekümmert klang. »Wir werden aus dem Canyon rauskommen!« gab der Cyborg bekannt. »Du wirst es nicht glauben, aber wir haben mitten in dem zweiten Canyon einen riesigen Krater gefunden. Es wird ein Sonntagsausflug werden, hier hinauszufahren.« »Das ist großartig«, antwortete Devon mit hörbarer Erleichterung in der Stimme. »Habt ihr Morgan und Bess gefunden?« »Ja, aber das ist eine Geschichte für sich, die ich dir auf die Schnelle nicht erzählen kann. Warum schlagt ihr dort nicht das Lager
auf und wartet auf uns? Wir werden vielleicht erst morgen zu euch stoßen.« »Ist alles in Ordnung?« Yale, der sich mit Devons Stimmungslagen auskannte, war ein wenig besorgt. »Es ist nur, daß dieser Trip durch den Canyon mehr war, als ich erwartet hatte.« Yale lächelte. »Das gilt für uns alle. Hör mal, die anderen treffen gerade ein, wir schlagen jetzt besser das Lager auf und lassen euch etwas von unserem Fisch übrig.« »Danke«, erwiderte Devon. »Ende.« Yale schaltete das Funkgerät aus und ging den anderen entgegen. Der TransRover, in dem Alonzo saß, kam gerade an, und True und Uly folgten zu Fuß. Die anderen Mitglieder der kleinen Gruppe waren weitere vierzig Meter zurück und erweckten nicht gerade den Eindruck, als hätten sie es eilig. »Mann!« rief Alonzo verblüfft. »Sieh sich das einer an! Ein Aufzug könnte nicht besser sein!« »Das habe ich Devon auch gerade gesagt«, antwortete Yale zufrieden. In diesem Moment kamen die Kinder vorbei; True hielt ihren Rucksack auf eine eigenartige Weise und sprach zu ihm; Uly kicherte. Als sie merkten, daß Yale sie beobachtete, verstummten die beiden und beschleunigten ihre Schritte. »Wieso seid ihr beide so fröhlich?« fragte der Cyborg. »Ich habe etwas wiedergefunden, was ich verloren hatte!« rief True zurück, und dann rannten die Kinder kichernd weiter. Yale schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Alonzo zu, aber der verletzte Pilot war bereits eingeschlafen. Nicht nötig, ihn zu stören, dachte Yale, während er den anderen entgegenging, um ihnen mitzuteilen, wie die weiteren Pläne aussahen. Ja, die Dinge kehrten langsam zur Normalität zurück, sinnierte er, vorausgesetzt, man konnte auf diesem seltsamen Planeten überhaupt etwas als normal bezeichnen.
Alonzo lag schlafend im TransRover, aber sein Geist schwebte mit den Lederschwingen in der dünnen Luft zwischen den Zinnen des Canyons. Der Pilot hatte bei ihrem überhasteten Aufbruch keine Gelegenheit gehabt, sich von ihnen zu verabschieden, und wußte jetzt nicht so richtig, was er ihnen sagen sollte. Die Menschen hatten die Gastfreundschaft der Terrianer in Anspruch genommen und in gewisser Weise auch mißbraucht. Dann waren sie bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten davongelaufen. Alonzo wußte immer noch nicht, welche Bedeutung es für ihn und Morgan haben sollte, daß man ihnen den heiligen Teich gezeigt hatte, und fragte die Terrianer in seinem Traum nach dem Grund. Ihre Antwort überraschte ihn, und er spürte förmlich die Erleichterung, die Befreiung von jahrelanger Angst, die in den Stimmen mitschwang. Irgend etwas, das die Menschen während ihres Besuchs getan hatten, mußte den Terrianern tatsächlich geholfen haben, die Probleme mit ihren Feinden zu bereinigen; ihre Anwesenheit war also doch etwas wert gewesen. Obwohl Alonzo das alles nicht begriff, wußte er, daß die Terrianer für sämtliche Dinge dankbar waren, die ihnen das Leben im Canyon bescherte - egal, ob es sich dabei um Feinde, Besucher, Flutwellen oder selbst den Tod handelte. Und so flog der Pilot in seinem Traum noch einmal mit den Lederschwingen durch den Canyon und genoß die prachtvollen Bilder und die würdevolle Gesellschaft. Mit seinem letzten Gedanken vor dem Erwachen versicherte er ihnen, daß die Menschen eines Tages an diesen Ort zurückkehren würden.