TANTRA DIE HÖCHSTE EINSICHT
OSHO
4. Auflage, 1995 Herausgeber: Swami Ananda Siddhartha Übersetzung: Swami Prem Nirvan...
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TANTRA DIE HÖCHSTE EINSICHT
OSHO
4. Auflage, 1995 Herausgeber: Swami Ananda Siddhartha Übersetzung: Swami Prem Nirvano © Copyright 1975 OSHO International Foundation Titel der Originalausgabe »Tantra: The Supreme Understanding« © Copyright1980 der deutschen Ausgabe OSHO International Foundation© Fotocopyright 1980, 1982 OSHO International Foundation Alle Rechte der deutschen Ausgabe bezüglich der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe und Vervielfältigung, Tonträger jeder Art, Nachdruck, auch auszugsweise, liegen beim Sannyas-Verlag und bedürfen der schriftlichen Genehmigung. ISBN 3-922458-04-1 Sannyas-Verlag
INHALT: ÜBER OSHO I DIE ERFAHRUNG DES HÖCHSTEN II DIE WURZEL ALLER PROBLEME III DAS WESEN VON FINSTERNIS UND LICHT IV WIE EIN HOHLER BAMBUS V DIE EINGEBORENE WAHRHEIT VI DIE GROSSE LEHRE VII DER WEGLOSE WEG VIII WAHL IST KNECHTSCHAFT IX WEITER UND IMMER WEITER X DIE HÖCHSTE EINSICHT BÜCHER + ZENTRUM LISTE
ÜBER OSHO Osho wurde am 11. Dezember 1931 in Kuchwada, Madhya Pradesh, Indien, geboren. Seit seiner frühesten Kindheit war er rebellisch und unabhängig und bestand darauf, die Wahrheit selber zu erfahren und nicht Wissen und Glauben von andern anzunehmen. Nach seiner Erleuchtung im Alter von einundzwanzig Jahren beendete er seine akademischen Studien und lehrte als Professor einige Jahre Philosophie an der Universität von Jabalpur. Währenddessen reiste er in ganz Indien herum, hielt Vorträge vor Zehntausenden von Zuhörern. Er forderte die orthodoxen religiösen Führer in öffentlichen Debatten heraus und stellte traditionelle Glaubenssysteme in Frage. Ende der sechziger Jahre entwickelte Osho seine berühmten dynamischen Meditationstechniken. Fünf Jahre später entstand um ihn herum eine Kommune in Poona. Nach und nach strömten Tausende von Besuchern aus dem Westen zu ihm. 1981 reiste Osho nach Amerika, nach Oregon. In einem abgelegenen Tal in der Wüste wurde die Stadt Rajneeshpuram gegründet. Von Anfang an war dies der Reagan-Regierung ein Dorn im Auge. An die fünftausend Sannyasins nahmen an diesem Experiment teil. Zu den Festivals, die einmal im Jahr stattfanden, kamen bis zu zwanzigtausend Besucher. Vier Jahre später wurde Osho gezwungen, Amerika zu verlassen, und seine abenteuerliche Odyssee durch die ganze Welt begann. Über zwanzig Länder verweigerten ihm die Einreise. 1986 traf er in Bombay ein, um kurze Zeit später wieder nach Poona überzusiedeln. Der Ashram wurde modernisiert, und bald strömten die Suchenden aus allen Kontinenten der Welt herbei. Osho hat als Folge einer Vergiftung, die ihm während der Untersuchungshaft durch Agenten der amerikanischen Regierung zugefügt wurde, seinen Körper am 19. Januar 1991 verlassen. Seine große Kommune in Indien ist weiterhin das größte Zentrum für spirituelles Wachstum. Tausende von Besuchern aus der ganzen Welt nehmen dort an Meditationen teil, machen bei kreativen Programmen mit oder erfahren sich einfach in einem »Buddhafeld«. Der Ashram vergrößert sich laufend. Heute gehören auch Tennisplätze und ein Swimmungpool dazu. ÜBER TANTRA Tantra ist eine Meditationstechnik, die vor mehr als zweitausend Jahren von buddhistischen Mönchen in Tibet entwickelt wurde. Die Tantriker haben entdeckt, daß Sexualität und Spiritualität die »beiden Seiten derselben Energie« sind, daß mithin die sexuelle Kraft des Menschen für den inneren Transformationsprozeß genutzt werden kann. Der Transformator dieses Energieverfeinerungsprozesses ist der Geschlechtsakt. Das Konzept der Tantriker war damals genauso revolutionär wie heute. Alle Religionen und alle Gesellschaften haben die Sexenergie als eine gefährliche Kraft gefürchtet und deshalb versucht, sie zu unterdrücken. Die Folge: fast alle Neurosen - so wissen wir seit Freud entstehen aus einem gestörten Verhältnis des Menschen zu seiner Sexualität. Swami Satyananda
Diese zehn Vorträge wurden zwischen dem 11. und 20. Februar 1975 in der OSHO International Foundation in Poona, Indien, gehalten.
In seinem Gesang vom Mahamudra sagt Tilopa: Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu, Sei dennoch so viel gesagt: Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts, Ohne jede Anstrengung, Einfach nur, indem du gelöst und natürlich bleibst, Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen.
1. DIE ERFAHRUNG DES HÖCHSTEN 11. Februar 1975 Die Erfahrung des Höchsten ist überhaupt keine Erfahrung - weil der Erfahrende dabei verlorengeht. Und wenn es keinen Erfahrenden gibt, was läßt sich dann darüber sagen? Wer soll es sagen? Wer soll von der Erfahrung berichten? Wenn es kein Subjekt mehr gibt, verschwindet auch das Objekt - beide Ufer verschwinden, und nur der Fluß der reinen Erfahrung bleibt. Das Wissen ist da, aber der Wissende nicht. Das war schon immer das Problem aller Mystiker. Sie erreichen das Höchste, aber sie können denen, die nachfolgen, nichts darüber berichten. Sie können es den anderen nicht mitteilen, die es gern intellektuell nachvollziehen möchten. Sie sind eins damit geworden. Ihr ganzes Wesen drückt es aus, aber intellektuell können sie es nicht ausdrücken. Sie können es euch geben, wenn ihr bereit seid, es in Empfang zu nehmen; sie können euch auch dazu verhelfen, wenn ihr es zulassen könnt, wenn ihr empfänglich und offen seid. Aber Worte nützen nichts, Symbole nützen nichts. Theorien und philosophische Lehrmeinungen nützen nicht das Geringste. Diese Erfahrung ist so beschaffen, daß man es eher ein »Erfahren« als eine »Erfahrung« nennen muß. Es ist ein Vorgang - und er beginnt, ohne je zu enden. Du trittst in ihn ein, aber du bestimmst nie seinen Lauf. Es ist, als ob ein Tropfen in den Ozean fällt, oder vielmehr der ganze Ozean in den Tropfen. Es ist ein tiefes Verschmelzen, es ist Einheit, du verlierst dich einfach darin. Nichts bleibt zurück, keine Spur - wer also soll darüber berichten? Wer soll in die Welt des Tals zurückkehren? Wer soll in diese dunkle Nacht zurückkehren, um euch davon zu berichten? Alle Mystiker der Welt haben sich jedesmal außerstande gefühlt, ihre Erfahrung mitzuteilen. Kommunion ist möglich, aber Kommunikation - nein! Das müßt ihr von grundauf verstehen. Eine Kommunion ist eine vollkommen andere Dimension: zwei Herzen treffen sich, es ist eine Liebesgeschichte. Kommunikation geht von Kopf zu Kopf; Kommunion geht von Herz zu Herz. Kommunion ist ein Gefühl. Kommunikation ist Wissen: man gibt nur Wörter und man nimmt nur Wörter, nur Wörter werden verstanden. Und Wörter sind ihrer wahren Natur nach so leblos, daß sie nichts Lebendiges vermitteln können. Das lehrt uns schon das gewöhnliche Leben - ganz zu schweigen also von der höchsten Erfahrung. Schon wenn du unter gewöhnlichen Umständen irgendeinen Höhepunkt erlebst, einen ekstatischen Augenblick, in dem du wirklich etwas fühlst, in dem du wie umgewandelt bist, dann wird es unmöglich, das in Worten auszudrücken. In meiner Kindheit ging ich oft früh am Morgen zum Fluß. Es ist ein kleines Dorf. Der Fluß ist sehr, sehr träge, fast fließt er überhaupt nicht. Und am frühen Morgen, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist, kann man nicht erkennen, ob er überhaupt fließt, so träge und still ist er. Am Morgen, wenn niemand da ist, wenn noch kein Mensch zum Baden gekommen ist, herrscht eine ungeheuere Stille. Selbst die Vögel haben noch nicht ihr Morgenlied angestimmt - so früh, daß noch kein Laut die Lautlosigkeit stört, die alles durchdringt. Und der Duft der Mango-Bäume hängt über dem ganzen Fluß. Dort ging ich oft hin, an die entfernteste Biegung des Flusses, nur um dort zu sitzen, nur um dort zu sein. Es gab nichts zu tun, einfach da zu sein war genug, es wir ein so herrliches Erlebnis. Dann stieg ich jedesmal in den Fluß, schwamm eine Zeitlang, und wenn dann die Sonne aufging, stieg ich ans andere Ufer, legte mich dort auf den breiten Sandstrand und ließ mich von der Sonne trocknen. Dann blieb ich dort liegen, und manchmal schlief ich sogar ein. Wenn ich zurückkam, fragte meine Mutter jedesmal: »Was hast du den ganzen Morgen getrieben?« Und ich antwortete: »Nichts«, denn wirklich, ich hatte nichts getan. Und sie sagte dann: »Wie ist das nur möglich? Vier Stunden warst du fort, und du willst gar nichts getan haben? Irgendetwas mußt du doch getan haben.« Und natürlich hatte sie recht, aber ich hatte darum nicht unrecht. Ich hatte nichts Besonderes getan. Ich war nur am Fluß gewesen, in seiner Gesellschaft, ohne etwas zu tun, und hatte die Dinge geschehen lassen. Wenn es sich nach Schwimmen anfühlte - wohlgemerkt, wenn es sich danach anfühlte dann schwamm ich, aber das war kein eigentliches Tun meinerseits, ich brauchte nicht meinen Willen einzuschalten. Wenn ich mich nach Schlaf fühlte, schlief ich. Dinge geschahen, aber ich war nicht der, der sie tat. Und mein erstes Satori-Erlebnis begann an diesem Fluß. Ohne daß ich etwas tat, nur indem ich da war, geschahen tausend Dinge. Aber meine Mutter bestand darauf, daß ich irgendetwas getan haben mußte. Und so sagte ich: »Okay, ich war baden und hinterher habe ich mich in der Sonne trocknen lassen.« Und damit war sie zufrieden. Aber ich war es nicht: denn das, was da am Fluß geschehen war, ließ sich nicht mit den Worten ausdrücken: »Ich war baden.« Das machte es so arm und blaß! Das Spielen im Wasser, das Treiben mit der Strömung, das Schwimmen im Fluß war eine so tiefe Erfahrung gewesen, daß die Worte »ich war baden« barer Unsinn waren. Oder wenn ich gesagt hätte: »Ich bin am Fluß entlang gegangen, bin spazierengegangen und hab am Ufer gesessen,« - dann wäre damit genausowenig gesagt gewesen. Selbst im gewöhnlichen Leben spürst du die Sinnlosigkeit von Wörtern. Und wenn du die Sinnlosigkeit von Wörtern nicht spüren kannst, dann beweist das nur, daß du noch gar nicht gelebt hast, daß du nur sehr oberflächlich gelebt hast. Wenn alles, was du erlebt hast, in Worten ausgedrückt werden kann, dann bedeutet das, daß du gar nichts erlebt hast. Erst wenn etwas geschieht, das sich nicht in Worte fassen läßt, erst dann hat sich das Leben bemerkbar gemacht, erst dann hat das Leben an deine Tür geklopft. Und wenn das Höchste an deine Tür klopft, gehst du einfach über Worte hinaus - dann wirst du stumm, dann kannst du nicht sprechen, kein einziges Wort wird sich dann in dir bilden. Alles, was du sagen könntest, sieht so blaß, so tot, so sinnlos, so völlig bedeutungslos aus, daß es dir wie eine Verletzung der Erfahrung vorkommen muß, die dir zugestoßen ist. Das vergeßt nicht, denn Mahamudra ist die letzte, die höchste
Erfahrung. Mahamudra bedeutet: der totale Orgasmus mit dem Universum. Wenn du einmal einen anderen geliebt hast und manchmal das Verschmelzen und die gemeinsame Auflösung erfahren hast - wo zwei nicht mehr zwei sind; wo zwar die Körper getrennt bleiben - aber sich zwischen beiden Körpern eine Brücke bildet, eine goldene Brücke, und die innere Zweiheit verschwindet, und eine einzige Lebensenergie vibriert an beiden Polen - wenn dir das schon einmal widerfahren ist, dann kannst du verstehen, was Mahamudra ist. Millionen- und millionfach tiefer, millionen- und abermillionenfach höher ist Mahamudra. Es ist der totale Orgasmus mit dem All, mit dem Universum. Es ist ein Verschmelzen mit der Quelle des Seins. Und dies ist ein Gesang von Mahamudra. Es ist schön, daß Tilopa es einen Gesang genannt hat. Man kann es nur singen, nicht sagen. Man kann es tanzen, nicht sagen. Es ist eine so ungeheure Erscheinung, daß nur im Gesang ein winzig kleines Fünkchen davon aufleuchten kann - nicht in dem, was du singst, sondern wie du singst. Viele Mystiker haben nach ihrer höchsten Erfahrung nichts getan als getanzt, sie konnten nichts anderes tun. Mit ihrem ganzen Wesen und Körper brachten sie so zum Ausdruck, was geschehen war; alles war beteiligt: Körper, Sinn, Seele, alles. Sie haben getanzt, und ihr Tanz war kein gewöhnlicher Tanz. Ja, alles Tanzen überhaupt geht nur auf diese Mystiker zurück - es war eine Möglichkeit, die Ekstase, die Glückseligkeit, die Freude mitzuteilen. Etwas ist vom Unbekannten zum Bekannten durchgedrungen, etwas aus dem Jenseits ist auf die Erde gelangt - was kann man anderes tun als tanzen? Man kann es tanzen, man kann es singen. Dies ist ein Gesang von Mahamudra. Und wer soll singen? Tilopa ist nicht mehr. Es ist das orgiastische Gefühl selber, das singt. Dieser Gesang wird nicht von Tilopa gesungen: Tilopa ist nicht mehr. Die Erfahrung selber vibriert und singt. Und so ist es der Gesang des Mahamudra, der Ekstase selbst - der Ekstase, die sich selber singt. Tilopa hat nichts damit zu tun. Tilopa ist überhaupt nicht da. Tilopa hat sich aufgelöst. Erst wenn der Suchende verlorengegangen ist, ist das Ziel erreicht. Erst, wenn der Erfahrende nicht ist, ist die Erfahrung da. Suche, und du gehst am Ziel vorbei, denn durch dein Suchen wird der Suchende nur noch gestärkt. Suche nicht, und du wirst es finden. Das bloße Suchen, die bloße Anstrengung, wird zur Schranke, denn je mehr du suchst, desto mehr wird das Ego, der Sucher, gestärkt. Suche nicht. Das ist die tiefste Botschaft dieses ganzen Gesangs vom Mahamudra: suche nicht, bleibe einfach wo du bist, du brauchst nirgendwo hinzugehen. Niemand kommt je bei Gott an; niemand kann das, denn niemand kennt die Adresse. Wo willst du hingehen? Wo willst du das Göttliche finden? Es gibt keine Straßenkarte, und es gibt keinen Weg, und niemanden, der weiß, wo es langgeht. Nein, niemand kommt je bei Gott an. Es vollzieht sich immer umgekehrt: Gott kommt zu dir. Sobald du bereit bist, klopft er an deine Tür. Er sucht dich auf, sobald du bereit bist. Und deine Bereitschaft ist nichts als deine Empfänglichkeit: wenn du vollkommen aufnahmebereit bist, hört das Ego auf zu sein. Jetzt bist du ein leerer Tempel, in dem niemand wohnt. Tilopa sagt irgendwo in dem Gesang: werde zu einem hohlen Bambus - innen leer. Und plötzlich, im selben Augenblick, wo du zu einem hohlen Bambus wirst, spürst du die Lippen des Göttlichen auf dir, das hohle Bambusrohr wird zur Flöte, und der Gesang beginnt - der Gesang vom Mahamudra. Tilopa wurde zu einem hohlen Bambus, das Göttliche kam und spielte sein Lied darauf. Es ist nicht der Gesang Tilopas, sondern der höchsten Erfahrung selbst. Noch ein paar Worte über Tilopa, bevor wir in dieses herrliche Gebilde eindringen. Nicht viel ist über Tilopa bekannt, weil überhaupt nur wenig über Menschen wie ihn bekannt sein kann. Sie hinterlassen keine Spuren, sie werden nicht Teil der Geschichte. Sie existieren am Rande, sie fügen sich nicht in den Hauptstrom, mit dem sich der Verkehr der Menschheit vorwärts bewegt. Dahin gehören sie nicht. Die gesamte Menschheit wird von Begierden vorwärts getrieben, und Menschen wie Tilopa sinken immer tiefer in die Begierdelosigkeit hinein. Sie bewegen sich einfach fort vom Hauptverkehr der Menschheit, wo allein Geschichte stattfindet. Und je weiter weg sie sich vom Verkehr der Geschichte bewegen, desto sagenumwobener werden sie. Sie leben wie Mythen fort, nicht wie historische Ereignisse. Und so sollte es auch sein, denn sie gehen über die Zeit hinaus - sie leben in der Ewigkeit. Aus unserer gewöhnlichen Dimension des Menschlichen verschwinden sie einfach, verflüchtigen sie sich einfach. Den Augenblick, in dem sie sich verflüchtigen, allein diesen Augenblick behalten wir in Erinnerung soviel haben sie mit uns gemein. Und so kommt es, daß nicht viel über Tilopa bekannt ist, daß wir nicht wissen, wer er war. Dieser Gesang ist alles, was existiert. Er ist Tilopas Geschenk, und das Geschenk galt Naropa, Tilopas Jünger. Solche Geschenke werden nur Menschen gemacht, mit denen man in einer tiefen Liebesbeziehung steht. Man muß fähig sein, solche Gaben in Empfang zu nehmen, und dieser Gesang wurde Naropa zum Geschenk gemacht, seinem Jünger. Bevor er dieses Geschenk erhielt, wurde er auf tausenderlei Weise geprüft: seine Zuverlässigkeit, seine Liebe, sein Vertrauen. Als es Tilopa klar war, daß kein Zweifel mehr in Naropa war, nicht der geringste Schatten eines Zweifels, daß sein Herz randvoll war mit Vertrauen und Liebe, da wurde ihm dieser Gesang geschenkt. Auch ich bin hier, um ein Lied zu singen, aber es kann euch erst gegeben werden, wenn ihr bereit seid. Und Bereitschaft heißt, daß alle Zweifel einfach aus euch verschwunden sein müssen. Ihr dürft sie nicht unterdrücken, ihr dürft sie nicht zu bekämpfen suchen, denn wenn ihr sie >besiegt<, bleiben sie in euch. Ein unterdrückter Zweifel bleibt Teil eures Unbewußten und wird euch weiter beeinflussen. Nein - kämpft nicht gegen euren zweifelnden Geist an, unterdrückt ihn nicht, sondern gebt einfach umgekehrt eurem Vertrauen immer mehr Energie. Zeigt euch eurem Zweifel gegenüber einfach gleichgültig, mehr könnt ihr nicht tun. Gleichgültigkeit ist der Schlüssel: sei einfach gleichgültig. Der Zweifel ist da - akzeptiere ihn. Lenke deine Energien
mehr und mehr in dein Vertrauen und deine Liebe - denn die Energie, die zu Zweifel wird, ist die gleiche Energie, die zu Vertrauen wird. Bleib dem Zweifel gegenüber gleichgültig. Sobald du dich gleichgültig machst, wird dem Zweifel deine Unterstützung entzogen, du nährst ihn nicht - denn durch Aufmerksamkeit wird alles genährt. Wenn du deinem Zweifel Aufmerksamkeit schenkst, und sei es auch indem du ihn abwehrst, wird er gefährlich, denn deine Aufmerksamkeit selbst ist die Nahrung, ist deine Unterstützung. Man muß einfach gleichgültig bleiben, weder für noch dagegen: sei nicht für den Zweifel und sei nicht gegen den Zweifel. Drei Wörter mußt du also unterscheiden lernen. Das eine Wort ist »Zweifel«, das zweite ist »Glaube« und das dritte Wort ist »Vertrauen« oder »Zuversicht« - das, was im Osten »Shraddha« genannt wird. Zweifel ist eine negative Haltung, ganz gleich, wogegen sie sich richtet. Ganz gleich, was gesagt wird, du siehst es negativ. Du bist dagegen und wirst schon Gründe und Rationalisierungen finden, dein Dagegensein zu rechtfertigen. - Dann gibt es die Glaubenshaltung: es ist die gleiche Einstellung wie beim Zweifel, nur auf den Kopf gestellt. Der Unterschied ist nicht sehr groß. Der Intellekt hat eine positive Einstellung zu den Dingen und sucht nun nach Gründen und Rationalisierungen, um seine Einstellung zu stützen, warum er »dafür« ist. Der zweifelnde Kopf unterdrückt den Glauben; der gläubige Kopf unterdrückt den Zweifel ... aber beide sind aus dem gleichen Stoff gemacht, es gibt keinen Qualitätsunterschied. Und dann gibt es die dritte Einstellung: sie entsteht, wenn der Zweifel sich einfach verloren hat. Und mit dem Zweifel verschwindet auch aller Glaube. Zuversicht ist nicht Glaube, sie ist Liebe; Zuversicht ist nicht Glaube, weil sie nichts Halbes ist, sondern etwas Totales. Zuversicht ist nicht Glaube, weil sie keinen Zweifel enthält - wie also kann es da zum Glauben kommen? Zuversicht hat nichts mit Rationalisierung zu tun: weder für noch gegen, weder dies noch das. Zuversicht ist Vertrauen, ein tiefes Vertrauen, eine große Liebe. Du brauchst sie nicht zu begründen und zu rechtfertigen, sie ist einfach da. Was also tun? Mache also deinen Zweifel nicht durch deinen Glauben wett. Mach dich einfach gegen Glauben genauso gleichgültig wie gegen Zweifel, und kanalisiere deine Energien immer mehr in die Liebe hinein; liebe mehr, liebe bedingungslos. Liebe nicht nur mich, denn das ist nicht möglich: wenn du liebst, liebst du einfach mehr und mehr. Wenn du liebst, dann existierst du einfach auf eine liebevollere Weise ... nicht nur dem Meister gegenüber, sondern gegenüber allem, was um dich her existiert: gegenüber den Bäumen und den Steinen, gegenüber dem Himmel und der Erde. Du, dein ganzes Wesen, deine ganze Art zu sein, wird zu einer Erscheinung der Liebe. Und so entsteht Vertrauen. Und nur in solchem Vertrauen kann ein Geschenk wie der Gesang vom Mahamudra übermittelt werden. Als Naropa bereit war, gab ihm Tilopa dies Geschenk. Denkt also daran: wenn ihr bei einem Meister seid, dann dürft ihr nicht im Kopf sein. Glaube und Zweifel sind beide im Kopf. Zu einem Meister mußt du vom Herzen her kommen. Und das Herz weiß nicht, was Zweifel ist, das Herz weiß nicht, was Glauben ist - das Herz kennt nur Vertrauen. Das Herz ist wie ein kleines Kind: es klammert sich an die Hand des Vaters, und wo immer der Vater hingeht, da geht es mit, ohne zu glauben und ohne zu zweifeln; das Kind ist einfach ungeteilt. Zweifel ist halbherzig, Glaube ist halbherzig. Ein Kind ist noch ungeteilt, heil - es geht einfach mit dem Vater mit, gleich, wohin er geht. Wenn der Jünger ganz wie ein Kind geworden ist, dann allein können solche Geschenke von den höchsten Gipfeln des Bewußtseins kommen. Wenn du zum tiefsten Tal der Empfängnis geworden bist, können dir die höchsten Gipfel der Erkenntnis gegeben werden. Nur ein Tal kann einen Gipfel in Empfang nehmen. Ein Jünger muß erst restlos weiblich werden, empfänglich wie ein Schoß. Nur so kann ihm ein Geschenk wie dieser Gesang gemacht werden. Tilopa ist der Meister, Naropa ist der Jünger, und Tilopa sagt: Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu, Sei dennoch so viel gesagt: Es ist jenseits von Worten und Symbolen - von allen Worten und allen Symbolen. Wie also läßt es sich dann sagen? Wenn es wirklich jenseits aller Worte und Symbole liegt, wie kann es dann gesagt werden? Gibt es dann überhaupt eine Möglichkeit? Ja, die gibt es: wenn es einen Naropa gibt, dann besteht die Möglichkeit. Ist ein wirklicher Jünger vorhanden, dann gibt es auch eine Möglichkeit. Es kommt auf den Jünger an, ob sich die Möglichkeit findet oder nicht. Wenn der Jünger so empfänglich ist, daß er keinen eigenen Kopf mehr hat - er urteilt nicht mehr, ob etwas richtig oder falsch ist, er hat einfach keinen Kopf mehr, er hat sein eigenes Denken ganz dem Meister überantwortet, er ist nur noch die Empfänglichkeit selbst, eine reine Leere, bereit, aufzunehmen, was immer man ihr geben mag, ohne jede Einschränkung - dann werden Wörter und Symbole überflüssig, dann kann etwas übermittelt werden. Und man kann es zwischen den Worten heraushören, man kann es zwischen den Zeilen lesen - Worte werden einfach nur zum Vorwand. Das Eigentliche passiert nur am Rande der Worte. Wörter sind nur ein Trick, ein Hilfsmittel. Das, worum es wirklich geht, folgt den Wörtern wie ein Schatten. Und wenn du zu sehr im Kopf bist, dann wirst du zwar auf die Wörter hören, aber es kann dir nichts mitgeteilt werden. Aber wenn du ganz ohne Kopf bist, dann folgen den Wörtern unsichtbare Schatten, so feingesponnen, daß nur das Herz sie wahrnimmt: - unmerkliche Schatten, unsichtbare Wellen, die den See des Bewußtseins kräuseln, Wellenvibrationen ... und sie machen Kommunion ohne Umschweife möglich. Tilopa sagt: Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu,
sei dennoch so viel gesagt. Was nicht gesagt werden kann - für den Jünger muß es gesagt werden. Was nicht gesagt werden kann, was absolut unsichtbar ist, muß für den Jünger sichtbar gemacht werden. Es hängt nicht so sehr vom Meister ab, es kommt vielmehr auf den Jünger an. Tilopa hatte das Glück, einen Naropa zu finden. Es hat Meister gegeben, die nicht das Glück hatten, je einen Jünger wie Naropa zu finden. Und alles, was sie erreicht hatten, verschwand wieder mit ihnen, denn es gab niemanden, der es in Empfang nehmen konnte. Manchmal haben Meister Tausende von Meilen zurückgelegt, nur um einen Jünger zu finden. Tilopa selbst ging von Indien nach Tibet, um Naropa zu finden, um seinen Jünger zu finden. Tilopa hatte ganz Indien abgesucht, aber keinen Mann von so hoher Qualität gefunden, daß er eine derartige Gabe hätte entgegennehmen können, daß er sie in ihrem Wert hätte erkennen können, daß er sie ganz in sich hätte aufnehmen können, daß er durch sie hätte wiedergeboren werden können. Und sobald Naropa seine Gabe in Empfang genommen hatte, war er ein anderer Mensch. Und Tilopa soll zu Naropa gesagt haben: »Jetzt geh du und finde deinen eigenen Naropa. « Auch Naropa hatte in dieser Hinsicht Glück: er konnte einen Jünger finden; sein Name war Marpa. Und auch Marpa hatte Glück: er fand einen Jünger namens Milarepa. Aber damit endet diese Traditions-Kette, es konnten keine Jünger von so großem Kaliber mehr gefunden werden. Viele Male ist die Religion zu den Menschen durchgedrungen und dann wieder verschwunden; und viele Male wird sie noch kommen und wieder verschwinden. Eine Religion kann nie zu einer Kirche werden, nie zu einer Sekte; eine Religion hängt von persönlicher Kommunikation ab, von persönlicher Kommunion. Die Religion Tilopas existierte nur vier Generationen lang, von Naropa bis Milarepa. Dann verschwand sie wieder. Religion ist wie eine Oase; die Wüste ist unendlich weit, und nur manchmal erscheint hier und da auf einem winzigen Fleck eine Oase. Suche sie auf, solange sie grünt, trinke aus ihr, solange sie da ist - es ist eine sehr, sehr seltene Gelegenheit. Jesus sagt viele Male zu seinen Jüngern: »Eine kleine Weile noch bin ich bei euch. Und während ich bei euch bin, trinkt mich und eßt mich. Versäumt diese Gelegenheit nicht« - denn für Tausende von Jahren wird es keinen Jesus wieder geben. Die Wüste ist riesig. Manchmal erscheint eine Oase und verschwindet dann wieder, denn die Oase kommt aus dem Unbekannten und sie braucht einen Anker auf dieser Erde. Wenn sich dieser Anker nicht findet, kann sie nicht auf Erden bleiben. Ein Naropa ist so ein Anker. Das gleiche möchte ich euch sagen: Solange ich hier bin - noch eine kleine Weile - versäumt die Gelegenheit nicht! Und du kannst sie auf lächerliche Weise versäumen: indem du dich mit Unsinnigkeiten abgibst, mit geistigem Unrat; du kannst hin- und herdenken, für oder wider - und unterdessen verschwindet die Oase. Mit dem Für und Wider kannst du dich später befassen. Jetzt aber trink dich satt; denn es wird noch Leben genug geben, in denen du dich mit dem Für und Wider abgeben kannst - da ist keine Eile. Aber solange die Oase da ist, trink von ihr. Und hast du dich erst einmal an einem Jesus oder einem Naropa betrunken, wird dich das vollkommen verändern. Die Umwandlung ist sehr, sehr leicht und einfach, sie ist ein natürlicher Prozeß. Alles, was dazugehört, ist, zum fruchtbaren Boden zu werden, und das Samenkorn in Empfang zu nehmen; ein Schoß zu werden, der den Samen aufnimmt. Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu, Sei dennoch so viel gesagt: Es kann nicht ausgedrückt werden, es ist unausdrückbar - aber für Naropa muß es gesagt werden. Wann immer der Jünger bereit wird, erscheint der Meister - muß er erscheinen. Wo immer ein tiefes Bedürfnis entsteht, muß es erfüllt werden. Das gesamte Dasein erwidert dein tiefstes Bedürfnis, aber das Bedürfnis muß da sein. Sonst gehst du an einem Tilopa, einem Buddha, einem Jesus vorbei und erkennst nicht einmal, daß dir ein Jesus begegnet ist. Tilopa lebte in diesem Land. Niemand hat ihm zugehört - und er war bereit, das allerhöchste Geschenk zu machen. Was geschah? Und es ist in diesem Land so oft vorgekommen, daß etwas dahinterstecken muß. Es ist in diesem Land häufiger vorgekommen als sonst in irgendeinem Land, denn hier sind mehr Tilopas geboren worden. Aber warum muß ein Tilopa nach Tibet gehen? Wie kommt es, daß ein Bodhidharma nach China gehen muß? Dieses Land weiß zu viel. Dies Land steckt zu sehr im Kopf. Darum ist es so schwierig, hier ein Herz zu finden - es ist das Land der Brahmanen und Pandits, das Land der großen Gelehrten und Philosophen. Sie kennen alle Veden, alle Upanischaden, sie können alle Schriften auswendig herzitieren: das Land des Kopfes. Und darum gingen die Weisen immer wieder außer Landes. Selbst ich bekomme es zu spüren - wie oft erfahre ich, daß es nahezu unmöglich ist, sich mit einem Brahmanen zu verständigen. Ein Mann, der zu viel weiß, ist ein fast unlösbarer Fall - denn er weiß, ohne das Geringste zu wissen. In seinem Kopf haben sich alle möglichen Theorien, Vorstellungen, Ideologien und Schriften angesammelt. All das ist nichts als geistiger Ballast, keine Blüte. Es ist ihm nicht selbst geschehen, er hat alles zusammengeborgt, und alles Geborgte ist Abfall, toter Müll - wirf es hinaus, sobald sich die erste Gelegenheit bietet. Nur das, was du erlebst, ist wahr. Nur das, was aus dir selbst aufblüht, ist wahr. Nur das, was in dir wächst, ist wahr und lebendig. Denk immer dran: meide geborgtes Wissen. Geborgtes Wissen wird zu einem Trick des Intellekts: versteckt sich hinter Unwissenheit - aufgehoben wird sie damit
nicht. Und je mehr du dich hinter deinem Wissen verschanzt, desto mehr Unwissenheit und Dunkelheit herrscht tief drinnen im Mittelpunkt, an der eigentlichen Quelle deines Seins. Und ein Mann von Wissen, von geborgtem Wissen, hat sich fast vollständig in seinem eigenen Unwissen vergraben - nichts dringt zu ihm durch. Und es ist schwierig, sein Herz zu finden, er selbst hat allen Kontakt zu seinem Herzen verloren. Es ist also kein Zufall, daß ein Tilopa nach Tibet gehen mußte, und ein Bodhidharma nach China. Wenn das Samenkorn keinen fruchtbaren Boden im eigenen Land findet, muß es weit reisen. Und daran müßt ihr denken, denn es ist sehr leicht, nach Wissen süchtig zu werden - es ist eine Sucht, es ist eine Droge. LSD ist nicht so gefährlich, auch Marihuana nicht. In gewisser Hinsicht sind sie ähnlich, denn auch Marihuana gibt dir einen Einblick in etwas, was nicht da ist; es gibt dir einen Traum von etwas absolut Subjektivem - es gibt dir eine Halluzination. Wissen tut dasselbe: es gibt dir eine Halluzination von Erfahrung. Du fängst an zu glauben, du wüßtest etwas, nur weil du die Veden zitieren kannst, weil du belegen und widerlegen kannst, weil du einen sehr, sehr logischen und scharfen Verstand hast. Sei kein Narr! Logik hat noch nie einen Menschen zur Wahrheit gebracht. Und ein rationaler Geist ist eine bloße Spielerei. Alles Diskutieren ist kindisch. Das Leben existiert ohne Diskussionen, und die Wahrheit braucht keine Beweise - sie braucht nichts als dein Herz. Keine Argumente, sondern deine Liebe, dein Vertrauen, deine Bereitschaft, sie entgegenzunehmen. Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Aber dir, Naropa, aufrichtig und treu, Sei dennoch so viel gesagt: Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts. Ohne jede Anstrengung, Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst, kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Bedeutsamere Worte sind nie gesagt worden. Versucht, jede Nuance von dem zu verstehen, was Tilopa sagen will. Die Leere braucht keine Stützen .. . Alles, was da ist, braucht eine Stütze, etwas, worauf es basiert. Aber wo nichts ist, wo nur Leere ist, ist auch keine Stütze notwendig. Und das ist die tiefste Wahrnehmung aller Wissenden: daß dein Sein ein Nicht-Sein ist. Zu sagen, es sei ein Sein, ist falsch, weil es nicht Etwas ist, es hat nichts vom Etwas. Es ist wie das Nichts: eine unendliche Leere, ohne jede Grenzen. Es ist ein >Anatma<, ein Nicht-Selbst; es gibt in dir kein Selbst. Das Gefühl, du seiest ein Selbst, ist verkehrt. Alle Identifikationen, daß »ich dieses oder jenes bin«, sind falsch. Wenn du zum Höchsten gelangst, wenn du zu deinem tiefsten Wesenskern vordringst, dann weißt du plötzlich, daß du weder dies noch das bist - du bist niemand. Du bist kein Ego, du bist ganz einfach eine unendliche Leere. Und manchmal, wenn du sitzt, dann schließe die Augen und fühle einfach, wer du bist, wo du bist. Geh tiefer hinein; vielleicht bekommst du dann Angst, denn je tiefer du gehst, desto tiefer fühlst du, daß du niemand bist, ein Nichts. Das ist es, was den Leuten solche Angst vor der Meditation einflößt; es ist ein Tod des Ego - und das Ego ist nichts als eine falsche Vorstellung. Inzwischen sind auch die Physiker darauf gestoßen, indem sie ihre Nachforschungen im Bereich der Materie vertieft haben: die gleiche Wahrheit, die Buddha, Tilopa, Bodhidharma durch Einsicht fanden, ist von der Wissenschaft nun auch in der Welt der äußeren Dinge entdeckt worden. Jetzt sagen sie, daß es keine Substanzen gibt - und »Substanz« ist eine Parallelvorstellung zum »Selbst«. Ein Felsblock existiert, er fühlt sich sehr substantiell an. Du kannst ihn jemanden auf den Kopf schlagen, und er wird bluten oder sogar sterben. Er ist sehr konkret. Aber frag nur die Physiker: sie sagen, er ist substanzlos, da ist nichts in ihm. Sie sagen, der Felsblock ist ein reines Energiephänomen; daß eine Menge von sich kreuzenden Energieströmen diesen Fels als kompakte Substanz erscheinen lassen. So, wie wenn man auf einem Stück Papier viele Linien zieht, die sich kreuzen: wo sich viele Linien kreuzen, entsteht eine Verdichtung. Dieser Punkt war zuvor nicht da: zwei Linien kreuzen sich, und ein Punkt entsteht. Gibt es diesen Punkt wirklich? Oder schaffen nur die kreuzenden Linien die Illusion, es handele sich um einen Punkt? Die Physiker sagen, daß Energieströme, die sich ständig kreuzen, Materie erzeugen. Und wenn du fragst, was für Energieströme das sind, dann bekommst du zur Antwort, daß sie nicht materiell sind, daß sie gewichtlos sind, daß sie substanzlos sind. Nicht-materielle Linien, die hin- und herkreuzen, schaffen die Illusion eines materiellen Objekts, so substantiell wie ein Felsblock. Buddha kam fünfundzwanzig Jahrhunderte vor Einstein zu dieser erleuchteten Einsicht: es gibt innen niemand; bloße Energielinien, die sich in dir kreuzen, geben dir die Illusion von einem Selbst. Buddha gebrauchte immer wieder das Bild vom Selbst als einer Zwiebel: du schälst sie, eine Schale löst sich und du findest eine weitere Schale. Du schälst weiter, Schale um Schale, und was bleibt am Ende übrig? Die ganze Zwiebel ist zuende geschält, und du hältst nichts in den Händen.
Der Mensch ist genau wie eine Zwiebel. Du schälst die Schalen der Gedanken, der Gefühle, und was findest du am Ende? Ein Nichts. Dieses Nichts braucht keine Stützen. Dieses Nichts lebt aus sich selbst. Darum sagt Buddha, daß es keinen Gott gibt; daß wir keinen Gott nötig haben, denn Gott ist eine Art Stütze. Und Buddha sagt daher, daß es keinen Schöpfer gibt, denn ein Nichts braucht nicht erst erschaffen zu werden. Dies ist eine der schwierigsten Vorstellungen, die du nicht eher verstehen kannst, als bis du es erkannt hast. Daher sagt Tilopa: Mahamudra ist jenseits aller Worte und Symbole Mahamudra ist eine Erfahrung des Nichts - du bist ganz einfach nicht da. Und wenn es dich nicht gibt, wer ist dann da, um zu leiden? Wer soll dann in Schmerz und Qual sein? Wer soll dann deprimiert und traurig sein? Und wer dann glücklich und selig? Buddha sagt, wenn du dich für selig hältst, mußt du auch wieder ein Opfer von Leiden werden; denn es gibt dich noch. Wenn es dich nicht mehr gibt, wenn du völlig erloschen bist, endgültig nicht mehr vorhanden, dann gibt es weder Leiden noch Glückseligkeit. Dann kannst du nicht mehr zurückfallen. Zum Nicht zu gelangen, heißt: alles zu erreichen. Meine ganze Anstrengung mit euch geht dahin, euch zum Nichts zu führen, zu einem vollkommenen Vakuum zu führen. Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts. Ohne jede Anstrengung, Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst, kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Als erstes gilt es zu verstehen, daß die Vorstellung des »Selbst« vom Intellekt produziert wird - es gibt in euch kein Selbst. Es geschah einmal, daß ein großer Buddhist, ein Erleuchteter, von einem König aufgefordert wurde, ihn zu unterrichten. Der Name des buddhistischen Mönches war Nagasen, und der König war ein Vizekönig Alexander des Großen. Als Alexander aus Indien heimkehrte, ließ er Minander als seinen Vizekönig hier zurück; sein indischer Name war Milinda. Dieser Milinda lud Nagasen ein, an seinen Hof zu kommen und ihn zu unterrichten. Er war wirklich interessiert und hatte schon viele Geschichten über Nagasen gehört. Viele Gerüchte waren bis zum Hof vorgedrungen: »Dieser Mann ist eine sehr seltene Erscheinung! Nur selten kommt es vor, daß ein Mensch zur letzten Blüte gelangt, und mit diesem hier ist es geschehen. Er strahlt eine geheimnisvolle Energie aus, eine geheimnisvolle Aura umgibt ihn. Er wandelt auf Erden, aber er ist nicht von dieser Welt.« Der König war neugierig und lud ihn ein. Der Bote, der Nagasen aufsuchte, kam ganz verwirrt zurück, denn Nagasen hatte gesagt: »Ja, wenn der König einlädt, dann wird Nagasen kommen - aber sag ihm, daß es keinen Nagasen gibt. Wenn er einlädt, dann komme ich, aber sag ihm genau, daß es kein >Ich bin< gibt. Es gibt mich nicht mehr.« Der Bote war verwirrt, wenn es Nagasen nicht mehr gab, wer sollte dann kommen? Auch Milinda war verwirrt und sagte: »Dieser Mann spricht in Rätseln. Aber lasse ihn nur kommen.« Er war ein Grieche, dieser Milinda, und der griechische Geist ist grundsätzlich logisch. Es gibt im Grunde nur zwei Geistesrichtungen auf der Welt, die indische und die griechische. Die indische ist unlogisch, und die griechische ist logisch. Der indische Geist steigt in die dunklen Tiefen hinunter, wo es keine Grenzen gibt, wo alles verschwommen und neblig wird. Der griechische Geist folgt der logischen Linie, ist geradeaus, und alles kann definiert und kategorisiert werden. Der griechische Sinn ist auf das Bekannte gerichtet. Der indische Sinn geht nach dem Unbekannten, und darüber hinaus: nach dem Unwißbaren. Der griechische Sinn ist absolut rational; der indische Sinn absolut widersprüchlich. Macht euch also nichts draus, wenn ihr in mir zu viele Widersprüche findet. Es geht nicht anders: Im Orient muß man sich durch Widersprüche verständlich machen. Milinda sagte: »Dieser Mann scheint mir völlig unberechenbar, vermutlich ist er verrückt. Und wenn es ihn nicht gibt, wie kann er dann herkommen? Aber laß ihn kommen, wir werden sehen. Ich werde ihn schon überführen: Allein dadurch, daß er kommt, ist bewiesen, daß es ihn gibt.« Und Nagasen kam. Milinda empfing ihn am Tor und sagte als erstes: »Ich wundere mich: Du bist gekommen, obwohl du gesagt hast, daß es dich nicht gibt«. Nagasen antwortete: »Das sage ich immer noch. Laßt uns die Sache also hier und jetzt klären.« Eine Menge hatte sich angesammelt, der ganze Hof war zusammengeströmt und Nagasen sagte: »Frag nur.« Milinda fragte: »Sag mir als erstes: Wenn etwas nicht da ist, wie kann es dann kommen? Wenn es erst gar nicht vorhanden ist, dann kann es auch unmöglich kommen - du aber bist gekommen. Daraus folgt, mit einfacher Logik, daß es dich gibt.« Nagasen lachte und sagte: »Schau dir diese ratha an« - der Wagen, auf dem er gekommen war - »schau sie dir an. Ihr nennt es ratha, nicht wahr?« Milinda sagte: »Ja.« Dann forderte Nagasen die Umstehenden auf, die Pferde auszuspannen. Die Pferde wurden fortgeführt und Nagasen fragte: »Sind diese Pferde der Wagen?« Milinda sagte: »Natürlich nicht.« Und nach und nach wurde Stück für Stück vom Wagen fortgenommen, jedes einzelne Teil. Als die Räder fortgenommen wurden, fragte er: »Sind diese Räder der Wagen?« und Milinda sagte: »Natürlich nicht«. Als alles fort war und nichts übrig blieb, fragte Nagasen: »Wo ist nun der Wagen, in dem ich gekommen bin? ... Und wir haben den
Wagen nie fortgebracht, und alles, was wir fortgebracht haben, war nicht der Wagen, das hast du mir selbst bestätigt. Wo ist also jetzt der Wagen?« Nagasen sagte: »Auf diese Weise existiert auch Nagasen. Nimm seine Teile fort und er wird verschwinden.« Nichts als Energielinien, die sich gegenseitig kreuzen: Entferne die Linien, und der Kreuzungspunkt verschwindet. Der Wagen war nichts anderes als eine Verbindung von Teilen. Ihr seid auch nur eine Verbindung von Teilen, das »Ich« ist nichts als eine Verbindung von Teilen. Nehmt die Einzelteile fort, und das »Ich« wird verschwinden. So kommt es, daß du, wenn alle Gedanken aus dem Bewußtsein verschwinden, nicht mehr »Ich« sagen kannst, denn es gibt kein »Ich«: was bleibt, ist ein Vakuum. Wenn alle Gefühle verschwinden, verschwindet auch das Selbst vollkommen. Du bist und bist doch nicht: Nur eine Abwesenheit, ohne Grenzen - Leere. Das ist die höchste Stufe, dieser Zustand ist Mahamudra - denn nur in diesem Zustand kannst du zum Orgasmus mit dem All gelangen - jetzt gibt es keine Grenzen mehr, kein Selbst; keine Grenze trennt dich mehr von allem übrigen ab. Das Ganze hat keine Grenzen. Du mußt zum Ganzen werden, nur so kann es zu einem Verschmelzen, zu einem Zusammentreffen kommen. Wenn du leer bist, dann bist du ohne Grenzen, und plötzlich wirst du das Ganze. Wenn es dich nicht gibt, wirst du zum Ganzen. Solange es dich gibt, bist du ein häßliches Ego. Wenn es dich nicht mehr gibt, steht die gesamte Ausdehnung des Daseins deinem Sein zur Verfügung. Aber das sind Widersprüche. Ihr müßt euch etwas anstrengen, das zu verstehen: Werdet ein wenig wie Naropa, sonst bleiben diese Wörter und Symbole ohne jeden Sinn für euch. Ihr müßt mir mit Vertrauen zuhören. Und wenn ich das sage, daß ihr mir mit Vertrauen zuhören sollt, dann meine ich damit, daß ich diese Erfahrung kenne, daß es wirklich so ist. Ich bin ein Zeuge und ich trage Zeugnis dafür, daß es so ist. Es mag nicht möglich sein, es zu sagen, aber das bedeutet nicht, daß es nicht so ist. Anderes mag sagbar sein, aber das bedeutet nicht, daß es auch stimmt. Man kann etwas sagen, das nicht ist, und man kann unfähig sein, etwas zu sagen, das wirklich so ist. Ich bin Zeuge, daß es so ist, aber ihr werdet mich nur verstehen, wenn ihr sein könnt wie Naropa, wenn ihr voll Vertrauen zuhören könnt. Ich lehre keine Ideologie; ich hätte mich nicht einen Augenblick mit Tilopa abgegeben, wenn es nicht auch meine Erfahrung wäre; und Tilopa hat es sehr gut zum Ausdruck gebracht. Die Leere braucht keine Stützen, Mahamudra ruht auf Nichts. Auf Nichts ruht Mahamudra. Mahamudra bedeutet wörtlich: »Die große Geste oder die höchste Geste, die letzte, die dir möglich ist« - danach gibt es keine mehr. Mahamudra ruht auf Nichts. Sei ein Nichts, und alles ist erreicht. Stirb und du wirst zum Gott. Verschwinde und du wirst zum All. Hier verschwindet der Tropfen, und dort kommt der Ozean zum Vorschein. Klammere dich nicht an dich selbst - all deine vergangenen Leben hast du nichts anderes getan: hast dich geklammert in der Angst, daß du, wenn du dich nicht am Ego festhältst, den Boden unter den Füßen verlieren und in einen bodenlosen Abgrund fallen müßtest ... Und so klammern wir uns an winzige Dinge, völlig bedeutungslos, wir klammern uns aus Panik fest. Dieses Klammern zeigt, daß auch du in dir eine grenzenlose Leere wahrnimmst. Das Nächstbeste, was es auch sei, ist dir recht, um dich daran festzuklammern, aber genau dieses Klammern ist dein Elend, ist dein Samsara. Laß dich in den Abgrund fallen. Und hast du dich erst einmal in den Abgrund fallen lassen, dann wirst du selbst zum Abgrund. Dann gibt es keinen Tod, denn wie kann ein Abgrund sterben? Dann gibt es kein Ende mehr, denn wie kann ein Nichts enden? Etwas kann enden, muß sogar enden - nur Nichts kann ewig sein, Mahamudra ruht auf Nichts. Laßt es mich euch mit einer Erfahrung erklären, die ihr alle kennt. Wenn du jemanden liebst, dann mußt du zu Nichts werden. Wenn du einen Menschen liebst, mußt du ein Nicht-Selbst werden. Deshalb ist die Liebe so schwierig, und deshalb sagt Jesus, daß Gott die Liebe ist. Er weiß etwas über Mahamudra - und bevor er anfing in Jerusalem zu lehren, hatte er Indien besucht. Er war auch in Tibet gewesen und war Menschen wie Tilopa und Naropa begegnet. Er hatte sich in buddhistischen Klöstern aufgehalten, er hatte gelernt, was diese Menschen unter dem >Nichts< verstehen. Danach versuchte er alles, was er gelernt hatte, in jüdische Terminologie zu übertragen. Und an dieser Stelle ging alles schief. Man kann buddhistische Einsichten nicht in jüdische Terminologie umsetzen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, weil die gesamte jüdische Terminologie von positiven Ausdrücken abhängt, während die buddhistische Terminologie nur mit absolut nihilistischen Ausdrücken arbeitet: »Das Nichts«, »die Leere«. Aber ab und zu scheint etwas in Jesus Worten durch. Wenn er sagt: »Gott ist Liebe«, dann deutet er etwas Bestimmtes an. Was ist das für ein Fingerzeig? Wenn du liebst, mußt du zu einem Niemand werden. Wenn du ein Jemand bleibst, wird dir die Liebe nie geschehen. Wenn du jemanden liebst, wenn auch nur für einen einzigen Augenblick lang die Liebe eintritt und zwischen zwei Menschen fließt, dann begegnen sich zwei Nichtheiten, nicht zwei Menschen. Wer je erfahren hat was Liebe ist, der wird dies verstehen. Zwei Liebende sitzen Seite an Seite, oder besser gesagt: zwei Nichtheiten sitzen Seite an Seite - so ist ein Zusammentreffen möglich, denn Schranken fallen und Grenzen verschwinden. Die Energie kann sich vom einen zum anderen beugen, nichts hindert sie. Und nur in so einem Augenblick tiefer Liebe kann es zum Orgasmus kommen. Wenn zwei Liebende sich umschlungen halten und wenn beide ihr Selbst verloren haben, zu Nichts geworden sind, dann geschieht ein Orgasmus. Dann verliert ihre Körperenergie, ihr ganzes Dasein, jegliche Identität; sie sind nicht mehr sie selbst - sie sind in den Abgrund gefallen. Aber dies kann nur für einen Augenblick geschehen: dann fangen sie
sich wieder, dann fangen sie wieder an, sich ans Ego zu klammern. Daran liegt es, daß die Menschen auch vor der Liebe Angst haben. Je tiefer die Liebe geht, desto stärker wird die Angst verrückt zu werden, oder sterben zu müssen, die Angst vor dem Unbekannten, vor dem, was geschehen kann. Der Abgrund öffnet seinen Schlund, die ganze Schöpfung gähnt einem entgegen, und plötzlich stehst du davor und siehst, daß du da hineinfallen kannst. Also haben die Leute Angst vor der Liebe und geben sich lieber mit Sex zufrieden, und nennen dann ihren Sex »Liebe«. Liebe ist nicht Sex. Sex kann in der Liebe vorkommen, er kann dazu gehören, wesentlich dazu gehören, aber Sex an sich ist nicht Liebe - er ist Liebes-Ersatz. Ihr versucht, die Liebe durch den Sex zu vermeiden. Ihr wiegt euch in einem Liebes-Gefühl, ohne euch auf die Liebe wirklich einzulassen. Sex ist genau wie geborgtes Wissen: man fühlt sich wissend, ohne zu wissen; man fühlt sich liebend und kann ohne Liebe lieben. Wo Liebe ist, bist du nicht vorhanden, und der andere auch nicht: dann plötzlich, und nur dann, verschwinden beide. Das gleiche geschieht in Mahamudra. Mahamudra ist ein totaler Orgasmus mit der gesamten Schöpfung. Im Tantra heißt die tiefe sexuelle Vereinigung, die orgasmische Vereinigung zwischen zwei Liebenden daher ebenfalls »Mahamudra«. Auch Tilopa ist ein tantrischer Meister; und in tantrischen Büchern, in tantrischen Tempeln werden zwei Liebende in inniger orgasmischer Umschlingung dargestellt. Das ist das tantrische Symbol für die letzte orgasmische Vereinigung mit dem All. Mahamudra ruht auf Nichts. Ohne jede Anstrengung, Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst. Und das ist Tilopas Methode und die einzige Methode im Tantra: ohne jede Anstrengung zu sein; denn wenn du dich anstrengst, wird dadurch das Ego gestärkt. Wenn du dich anstrengst, drängelst du dich vor. Liebe hat also nichts mit Anstrengung zu tun, du kannst dich nicht »anstrengen zu lieben«. Wenn es Mühe macht, kann keine Liebe aufkommen. Du fließt in sie ein, ohne dich anzustrengen; du läßt es einfach zu, du machst dir keine Mühe. Es ist kein Tun, sondern ein Geschehen: »Ohne jede Anstrengung ...« und dasselbe gilt für das Ganze, das Endgültige: du gibst dir keine Mühe, du läßt dich einfach treiben ... »einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst«. Das ist die ganze Methode, das ist die ganze Grundlage für Tantra. Yoga sagt: »Streng dich an«, und Tantra sagt, »Streng dich nicht an«. Yoga ist Ego-orientiert und macht erst am Ende den Sprung, aber Tantra ist von vornherein nicht Ego-orientiert. Yoga erreicht am Ende so tiefe Bedeutung, soviel Sinn, solche Fülle, daß es seinen Schülern sagt, »Und jetzt laßt das Ego fallen«, - aber erst ganz am Ende. Tantra dagegen sagt dies von Anfang an, vom ersten Schritt an. Ich will es einmal so sagen: Tantra fängt da an, wo Yoga aufhört. Der höchste Gipfel beim Yoga ist der erste Schritt beim Tantra - Tantra führt dich zum äußersten Ziel. Yoga kann dich auf Tantra vorbereiten, das ist alles, denn letzten Endes kommt es beiden darauf an, mühelos zu werden, »gelöst und natürlich«. Was meint Tilopa mit »gelöst und natürlich«? Kämpfe nicht mit dir selbst, sei gelassen. Zwänge dich nicht in eine Charakterstruktur, in einen Panzer aus Moral. Diszipliniere dich nicht zu sehr, sonst wird gerade aus deiner Disziplin eine Fessel. Schaff dir kein eigenes Gefängnis. Bleibe locker, bleibe im Fluß, passe dich der Situation an, geh auf die Situation ein. Geh nicht mit einer Zwangsjacke aus Charakter herum, schleppe keine fixen Einstellungen mit dir herum. Bleibe flüssig wie Wasser, laß dich nicht zu Eis gefrieren. Bleibe beweglich und im Fluß, gehe hin, wo dich die Natur hinschickt. Sträube dich nicht, bürde dir nichts auf, laß dich sein, wie du bist. Aber die gesamte Gesellschaft bringt dir bei, dich irgendwelchen Zwängen zu beugen: sei gut, sei moralisch, sei dies, sei das. Tantra dagegen liegt jenseits aller Gesellschaft, Kultur und Zivilisation. Tantra sagt, daß du mit zuviel Kultur alles Natürliche verlierst und zu einem Mechanismus wirst, der weder treiben noch fließen kann. Zwinge dir also keine Struktur auf - lebe von Augenblick zu Augenblick, sei wach. Und das ist ein Punkt, der tief verstanden werden muß. Warum liegt den Leuten so viel daran, sich eine Struktur zu verschaffen? Damit sie nicht wach zu sein brauchen - denn ohne einen Charakter, der dich zusammenhält mußt du sehr, sehr scharf aufpassen: jeden Augenblick muß eine neue Entscheidung gefällt werden. Denn jetzt hast du keine vorfabrizierten Verhaltensmuster, du hast keine festen Einstellungen. Du mußt dich ganz auf die gegebene Situation einlassen: etwas Bestimmtes liegt an, und du bist vollkommen unvorbereitet. Du mußt also ungeheuer scharf aufpassen. Und weil sie sich um diese Wachsamkeit drücken wollen, haben sich die Leute einen Trick ausgedacht; und dieser Trick nennt sich »Charakter«. Zwinge dich zu einer bestimmten Disziplin, dann kannst du alles dieser Disziplin überlassen, ob deine Sinne wach sind oder nicht. Mach es dir zur Gewohnheit, immer die Wahrheit zu sagen, und wenn es eine Gewohnheit ist, brauchst du dir keine Gedanken mehr darüber zu machen. Jemand fragt dich etwas, du sagst die Wahrheit - aus Gewohnheit, versteht sich - und damit ist die Wahrheit abgestorben. Das Leben ist nicht so einfach. Das Leben ist eine sehr, sehr komplexe Angelegenheit. Manchmal ist eine Lüge notwendig, und manchmal kann eine Wahrheit gefährlich sein - man muß also aufpassen. Zum Beispiel, wenn du mit deiner Lüge jemanden das Leben retten kannst, wenn durch deine Lüge niemand zu Schaden kommt, und vielmehr ein Leben gerettet werden kann - was machst du dann mit deiner Disziplin? Wenn du dich ganz auf sie festgelegt hast und einfach wahr sein mußt, dann wirst du damit zum Mörder. Nichts ist wertvoller als Leben, auch keine Wahrheit: nichts ist wertvoller als Leben. Und es kann vorkommen, daß deine Wahrheit jemanden das Leben kostet. Was willst du also tun? Nur um dein altes Verhaltensmuster, deine alte
Gewohnheit zu retten, dein eigenes Ego, das gern als ein wahrheitsgetreuer Mensch gelten will, opferst du ein Leben. Für nichts anderes als deinen guten Namen? Das geht zu weit, das heißt, daß du wahnsinnig bist. Wenn ein Leben auf dem Spiel steht, was spielt es dann für eine Rolle, ob die Leute dich für einen Lügner halten? Warum sich zu viele Gedanken darüber machen, was andere von dir denken? Es ist nicht leicht! Es ist schwierig, sich ein festes Muster herzustellen, denn das Leben geht immer weiter und ändert sich ständig, jeden Augenblick kommt eine neue Situation auf, und du mußt dich auf sie einstellen. Gehe mit völlig wachen Sinnen auf sie ein - das ist alles. Und laß die Entscheidung aus der Situation selber erwachsen. Laß sie nicht vorfabriziert und aufgesetzt sein. Trage keine Programme im Hirn herum, sondern bleib einfach gelöst und wach und natürlich. Das ist es, was den religiösen Menschen ausmacht; diejenigen, die man so im allgemeinen für religiös hält, sind nichts als Leichen. Sie handeln aus ihren Gewohnheiten heraus, immer nur aus ihren Gewohnheiten heraus ... Das ist Prägung, aber keine Freiheit. Zur Bewußtheit gehört Freiheit. Sei gelöst: Erinnere dich an dieses Wort so tief wie möglich. Sei durchdrungen von ihm: »Sei gelöst«, damit du mit jeder Situation mitfließen kannst, beweglich wie Wasser, das die Gestalt des Glases annimmt, wenn es in ein Glas gegossen wird. Das Wasser sträubt sich nicht, es sagt nicht, »das ist aber nicht meine Form«. Und wenn Wasser in einen Krug gegossen wird, dann nimmt es eben diese Form an. Es sträubt sich nicht, es bleibt beweglich. Bleibe beweglich wie Wasser. Manchmal mußt du dich nach Süden wenden und manchmal nach Norden; du mußt deine Richtung ändern können. Du mußt dich nach der Situation richten, während du fließt. Es genügt, wenn du weißt, wie man das macht: fließen. Das Meer ist nicht weit, wenn du zu fließen verstehst. Verstricke dich also nicht in feste Verhaltensmuster. Auch wenn dich die gesamte Gesellschaft dazu anhält, auch wenn alle Religionen dir solche Muster aufzwingen wollen. Nur sehr wenige Menschen - Erleuchtete - haben den Mut gefunden, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit ist: sei gelöst und natürlich! Wenn du gelöst bist, dann bist du von allein natürlich. Tilopa sagt nicht: sei moralisch - er sagt: sei natürlich. Und diese beiden Dimensionen sind denkbar weit voneinander entfernt. Ein moralischer Mensch ist niemals natürlich. Das kann er nicht sein. Wenn er sich wütend fühlt, kann er seine Wut nicht zeigen, denn keine Moral gestattet das. Wenn er sich liebend fühlt, kann er nicht liebend sein, weil ihm die Moral im Wege steht. Was immer er tut, geschieht gemäß der Moral, nie gemäß seiner Natur. Aber ich sage euch, wer sich nach moralischen Verhaltensmustern ausrichtet und nicht lernt, gemäß seiner Natur zu handeln, wird nie und nimmer zum Zustand des Mahamudra gelangen, denn das ist ein natürlicher Zustand, der Gipfelpunkt natürlichen Seins. Ich sage dir: Wenn du dich wütend fühlst, dann sei wütend - nur lasse es mit völliger Wachsamkeit geschehen. Die Wut darf eines nicht: dein Bewußtsein ersticken - das ist alles. Laß die Wut zu, laß sie geschehen, aber sei dir völlig bewußt, was geschieht. Bleibe entspannnt, natürlich, bewußt; beobachte, was geschieht. Nach und nach wirst du sehen, daß vieles einfach verschwunden ist, daß vieles einfach nicht mehr geschieht - und das, ohne daß du dich deinerseits im geringsten anstrengen mußtest. Du hast dich nie direkt angestrengt, diese Dinge loszuwerden, und doch sind sie ganz einfach fortgefallen. Wenn man bewußt ist, verschwindet nach und nach die Wut. Es wird dir einfach zu dumm - nicht zu »schlecht«, denk daran, denn »schlecht« ist ein moralisch aufgeladenes Wort. Wut ist einfach dumm geworden. Du meidest sie nicht, weil sie schlecht ist, sondern weil sie lächerlich geworden ist; sie ist keine Sünde, sondern einfach eine Dummheit. Und das gleiche passiert mit der Gier: sie wird dumm und verschwindet. Die Eifersucht verschwindet, sie ist einfach dumm. Denkt an diese Wertung. Für die Moral gibt es etwas >Gutes< und etwas >Schlechtes<, im natürlichen Sein gibt es etwas >Weises< und etwas >Dummes<. Ein Mensch, der natürlich lebt, ist weise, nicht »gut«. Ein Mensch, der nicht natürlich ist, ist dumm, nicht »schlecht«. Es gibt nichts Gutes und nichts Schlechtes, sondern nur weise und dumme Dinge. Wenn du dumm bist, fügst du dir selbst und anderen Schaden zu, wenn du weise bist, dann schadest du dir weder selbst noch anderen. Es gibt keine Sünde, es gibt keine Tugend, es gibt nur Weisheit. Wenn ihr sie >Tugend< nennen wollt, dann nennt sie Tugend. Und andererseits gibt es die Dummheit. Wenn ihr sie >Sünde< nennen wollt, dann ist das die einzige Sünde im Leben. Wie also kannst du deine Dummheit in Weisheit umwandeln? - denn das ist die einzige Umwandlung, auf die es ankommt; nur erzwingen kannst du sie nicht. Sie geschieht nur, wenn du locker und natürlich bist. Einfach, indem du gelöst und natürlich bleibst, Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Und man wird vollkommen frei. Anfangs wird es schwierig sein, weil dich die alten Gewohnheiten zwingen werden, bestimmte Dinge zu tun: zum Beispiel möchtest du gerne wütend werden - aber die alte Gewohnheit setzt dir unwillkürlich ein Lächeln aufs Gesicht. Es gibt Menschen, bei denen kannst du sicher sein, daß sich hinter jedem Lächeln, das sie zeigen, Wut verbirgt. Sie zeigen selbst in ihrem Lächeln ihre Wut. Sobald sie sich verstecken wollen, breiten sie ein Lächeln über ihr ganzes Gesicht. Das sind die Heuchler. Ein Heuchler ist ein unnatürlicher Mensch: sobald er Wut fühlt, lächelt er; sobald er Haß fühlt, zeigt er Liebe; sobald er sich mörderisch fühlt, zeigt er sich sehr mitleidig. Ein Heuchler ist ein perfekter Moralist - durch und durch künstlich, eine Plastikblume, häßlich, nutzlos; nichts ist natürlich, alles ist falsch. Tantra ist der Weg des Natürlichen: sei gelöst und natürlich. Leicht wird es nicht werden, weil die alten Gewohnheiten gebrochen werden müssen. Es ist schwierig, weil du in einer Gesellschaft von Heuchlern lebst. Es ist schwierig, weil du
dich überall in Konflikt mit diesen Heuchlern befinden wirst. Aber da muß man durch. Es wird viel Mühe kosten, denn du hast vieles in deine falsche künstliche Maske investiert. Du magst dir vollkommen isoliert vorkommen, aber diese Zeit wird vorübergehen. Es werden andere Dinge kommen, die deine Natürlichkeit zu schätzen wissen. Und denkt daran, authentische Wut ist weit besser als ein vorgetäuschtes Lächeln; denn sie ist wenigstens echt. Und jemand, der nicht authentisch böse werden kann, kann überhaupt nicht authentisch sein. Er ist wenigstens authentisch und wahr, seinem wirklichen Wesen treu. Was immer er sonst tut - ihr könnt euch drauf verlassen, daß es echt ist. Und meiner Beobachtung nach ist echte Wut schön und ein falsches Lächeln häßlich: und ein wahrer Haß hat ebenso große Schönheit wie wahre Liebe - denn Schönheit ist ein Merkmal der Echtheit. Sie hat weder mit Haß noch mit Liebe etwas zu tun, sondern Schönheit ist deshalb schön, weil sie wahr ist. Wahrheit ist schön - in allen ihren Formen. Ein wahrhaft toter Mann ist schöner als ein Scheinlebendiger. Wenigstens erfüllt er die Grundvoraussetzung, daß er wahr ist. Mulla Nasrudins Frau war gestorben. Die Nachbarn kamen zusammen, aber Mulla Nasrudin stand da, als ginge ihn das alles nichts an, als sei nichts geschehen. Die Nachbarn fingen zu weinen und zu trauern an und sagten: »Und was ist mit dir, Nasrudin? Sie ist tot!« Nasrudin sagte: »Wartet nur, sie ist eine solche Lügnerin! Ich muß mindestens drei Tage abwarten, ob es wirklich stimmt.« Merkt es euch also: die Schönheit läßt sich an der Wahrheit ermessen, an der Echtheit. Werde wahrhaftiger, und du wirst zu blühen beginnen. Und je echter du wirst, desto mehr alte Dinge werden nach und nach von dir abfallen und zwar ganz von allein. Und wenn du es erst einmal heraus hast, dann wirst du immer gelöster werden und immer natürlicher, echter. Und dann, sagt Tilopa: Kannst du das Joch zerbrechen Und Befreiung erlangen. Die Befreiung ist nicht weit entfernt, sie versteckt sich gleich hinter deinem Rücken. Sobald du authentisch bist, steht die Tür offen - aber du bist ein solcher Lügner, ein solcher Heuchler, ein solcher Hochstapler, daß keine Faser an dir echt ist. Darum scheint es dir, daß die Befreiung so unendlich weit entfernt ist. Das ist sie nicht! Für jemanden, der authentisch ist, kommt die Befreiung ganz natürlich. Nichts ist natürlicher! So wie Wasser zum Meer fließt, so wie Dampf zum Himmel steigt, so wie die Sonne heiß und der Mond kühl ist, so kommt die Befreiung für den der wahr ist. Es ist nichts, womit man sich brüsten kann. Es ist nichts, wovon du anderen berichten kannst, du hättest es erreicht. Als Lin Chi gefragt wurde: »Was ist mit dir geschehen, die Leute sagen, du seist erleuchtet?«, da zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Geschehen? Nichts ist geschehen. Ich haue Holz im Wald und trage Wasser zum Ashram. Ich bringe Wasser vom Brunnen und hacke Holz, denn der Winter rückt heran«. Er zuckte mit den Schultern, eine sehr bedeutsame Geste. Er sagt damit: nichts ist geschehen. Welchen Unsinn fragst du da! Es ist das Natürlichste von der Welt. Wasser vom Brunnen holen und Holzhacken im Wald. Das Leben ist völlig natürlich. Und sonst sagt Lin Chi noch: »Wenn ich müde bin, gehe ich schlafen, und wenn ich mich hungrig fühle, esse ich. Das Leben ist absolut natürlich geworden.« Befreiung heißt, daß du völlig natürlich geworden bist. Diese Befreiung läßt sich nicht an die große Glocke hängen, als ob du etwas Ungeheures erreicht hättest. Es ist nichts Großes, es ist nichts Ungewöhnliches, du bist lediglich natürlich, du bist lediglich du selbst geworden. Was ist also zu tun? Laß alle Spannungen fallen, laß alle Heuchelei fallen, laß alles fallen, was du um dein natürliches Wesen her gezüchtet hast. - Werde natürlich. Am Anfang wird es eine sehr, sehr mühselige Sache sein, aber auch nur am Anfang. Wenn du dich erst einmal eingestimmt hast, werden bald andere zu spüren beginnen, daß sich in dir etwas abspielt, denn dein authentisches Wesen hat eine große Ausstrahlung, hat eine magnetische Kraft. Sie werden spüren, daß etwas geschehen ist: dieser bewegt sich nicht länger nach unseren Gesetzmäßigkeiten, er hat sich durch und durch geändert. Und verlieren kannst du dich nicht, denn nur das, was künstlich ist, wird von dir abfallen. Und wenn du erst einmal die Leere hergestellt hast, indem du alles Künstliche hinausgeworfen hast, alle Masken und Vortäuschungen, dann beginnt dein natürliches Wesen von allein zu fließen. Alles was es dazu braucht, ist offener Raum. Sei leer, sei gelöst und natürlich. Laß das zum Grundprinzip deines Lebens werden.
Der Gesang geht weiter: Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst, Und dann mit deinem eigenen Geist den eigenen Geist betrachtest, Verschwinden alle Unterscheidungen, Und du gelangst zur Buddhaschaft. Die Wolken wandern durch den Himmel, Sie haben weder Wurzeln noch Heimat; Wie Wolken sind die einzelnen Gedanken, Die deinen Geist durchziehen. Sobald der Geist sich selbst erkannt hat, Hört jede Unterscheidung auf. Formen und Farben bilden sich im Raum, Aber weder Schwarz noch Weiß Hinterlassen in ihm Spuren. Aus diesem Geist des Geistes entstehen alle Dinge. Weder Tugend noch Laster beflecken ihn.
II. DIE WURZEL ALLER PROBLEME 12. Februar 1975 Die Wurzel aller Probleme ist der Geist selbst. Also gibt es nichts Wichtigeres, als zu verstehen, was dieser Geist ist, aus welchem Stoff er gemacht ist; ob er ein festes Ganzes ist oder nur ein Vorgang; ob er Substanz hat oder aus dem Stoff gemacht ist, aus dem die Träume sind. Denn bevor du nicht die Natur des Geistes verstanden hast, kannst du keines deiner Lebensprobleme lösen. Du kannst dich noch so sehr anstrengen: wenn du immer nur einzelne, losgelöste Probleme bekämpfen willst, muß dir das notgedrungen mißlingen - das ist absolut sicher. Denn in Wirklichkeit gibt es keine individuellen Probleme: das Problem ist der Geist selbst. Wenn du dieses oder jenes Problem zu lösen versuchst, hilft dir das nicht weiter, weil die Wurzel des Problems davon unberührt bleibt. Es ist so, als ob du die Äste eines Baumes beschneidest, alle Blätter trimmst, aber nicht an die Wurzeln gehst. Neue Blätter werden treiben, neue Aste werden sprießen - und zwar mehr als zuvor. Wenn du einen Baum beschneidest, wird er nur umso dichter. Wenn du nicht weißt, wie du ihn mit der Wurzel ausreißen kannst, hat dein Kampf keinen Sinn, ist er töricht. Du zerstörst nur dich selbst, nicht den Baum. Wenn du so kämpfst, vergeudest du deine Energie, deine Zeit, dein Leben - und der Baum wird immer nur stärker, dichter und üppiger. Und du kannst nicht begreifen, wie es dazu kommt: du strengst dich doch wirklich an, versuchst ein Problem nach dem anderen zu lösen, und es werden immer noch mehr. Du löst ein Problem, und zehn neue setzen sich an seine Stelle. Versuch gar nicht erst einzelne, losgelöste Probleme zu lösen - denn es gibt keine: der Geist selbst ist das Problem. Aber der Geist hält sich im Untergrund versteckt. Darum nenne ich ihn die Wurzel. Er ist bei Tageslicht nicht sichtbar. Wenn du auf ein Problem stößt, ist das Problem über dem Boden, du kannst es sehen - und davon läßt du dich täuschen. Denk immer daran, das Sichtbare ist niemals die Wurzel; die Wurzel bleibt immer unsichtbar, die Wurzel ist immer versteckt. Kämpfe nie mit dem Sichtbaren, sonst kämpfst du immer nur mit Schatten. Du magst dich völlig dabei erschöpfen, aber zu einer Umwandlung deines Lebens kann es nicht kommen. Die gleichen Probleme werden immer von neuem sprießen. Wirf einen Blick in dein eigenes Leben, und du wirst sehen, was ich meine. Ich rede nicht von irgendeiner Theorie des Geistes, sondern ganz einfach davon, wie er tatsächlich ist. Und die Tatsache ist: der Geist selbst muß >gelöst< werden. Die Leute kommen zu mir und fragen, wie sie ihren geistigen Frieden erreichen können. Und darauf antworte ich: »So etwas gibt es gar nicht: geistiger Frieden. Davon habe ich ja noch nie gehört!« Der Geist ist niemals friedvoll - nur ein Geist, der nicht ist, hat Frieden. Der Geist selbst kann niemals still und friedlich sein, der Geist ist von Natur aus verspannt, voller Verwirrung. Der Geist kann nie klar sein, er kann keine Klarheit besitzen, denn der Geist ist von Natur aus neblig und verworren. Klarheit ist nur möglich, wenn das Denken aufhört; Friede ist nur ohne Denken möglich, Stille ist nur ohne Denken möglich - versucht also nicht, zu »geistigem Frieden« zu gelangen. Wenn du es dennoch versuchst, dann versuchst du von vornherein das Unmögliche. Als allererstes muß man also das Wesen des Geistes erkennen. Erst dann kann etwas geschehen. Wenn du genau hinschaust, wird dir nie eine Seinsform namens >Geist< begegnen. Er ist kein Ding, er ist einfach ein Vorgang; er ist nicht wie ein Ding beschaffen, sondern wie eine Menschenmenge. Individuelle Gedanken existieren zwar, aber sie bewegen sich so schnell, daß du die Lücken zwischen ihnen nicht sehen kannst. Die Intervalle sind nicht sichtbar, weil du nicht sehr scharfsichtig und wachsam bist; dafür brauchst du eine genauere Blickschärfe. Wenn deine Augen tief genug blicken können, kannst du plötzlich erst einen Gedanken ausmachen, dann einen anderen, dann wieder einen aber niemals >den Geist< selbst. Alle Gedanken zusammengenommen, Millionen von Gedanken, geben dir die Illusion, daß es >den Geist< gibt. Es ist wie bei einer Menschenmasse: Tausende von Einzelnen, die in einer Menge zusammenstehen: gibt es deswegen aber schon so etwas wie eine >Menge Läßt sich die >Menge< getrennt von all den Individuen finden, die dort beisammen stehen? Aber sie stehen beisammen, und ihr Zusammenstehen gibt dir das Gefühl, daß es so etwas wie >die Menge< gibt; und trotzdem gibt es nur Individuen. Das ist die allererste Einsicht in die Natur des Geistes: schau hin, und was du findest sind Gedanken; den Geist selber wirst du niemals ausfindig machen. Und wenn das zu deiner eigenen Erkenntnis geworden ist - nicht, weil ich es sage, nicht, weil Tilopa davon singt; nein, das hilft dir nicht viel weiter - nur wenn es deine Erfahrung ist, wenn es eine Tatsache ist, die du selbst erkannt hast, dann plötzlich fangen viele Dinge an sich zu verändern. Denn wenn du den Geist tief bis in die Wurzeln verstanden hast, können sich viele Dinge daraus ergeben. Beobachte den Geist, suche ihn überall, verstehe was er ist. Du wirst Gedanken finden, die wie Wolken treiben, und dazwischen Lücken. Und wenn du lange hinschaust, wirst du sehen, daß es mehr Zwischenräume gibt als Gedanken. Denn jeder Gedanke muß vom nächstfolgenden abgesetzt werden, und nicht nur jeder Gedanke, sogar jedes einzelne Wort muß durch Lücken abgetrennt werden. Je tiefer du dringst, desto mehr und mehr Lücken findest du, und sie werden größer und größer. Ein Gedanke treibt vorbei, dann kommt ein Zwischenraum, der gedankenlos ist; und dann wieder eine Lücke. Solange du unbewußt bist, kannst du die Lücken nicht wahrnehmen. Du springst von einem Gedanken zum anderen und siehst nie die Lücke. Je bewußter du wirst, desto mehr Lücken erkennst du. Bist du vollkommen bewußt, dann siehst du meilenweit nichts als Lücken. Und in diesen Lücken passieren die Satoris. In diesen Lücken klopft die Wahrheit an deine Tür. In diesen Lücken kommt der Gast. In diesen Lücken erfährst du Gott, oder wie immer du es ausdrücken willst. Und wenn das Bewußtsein absolut ist, dann gibt es nur noch eine
endlose Lücke aus Nichts. Es ist wie bei den Wolken: die Wolken treiben dahin, und sie können so dicht sein, daß du den Himmel dahinter nicht sehen kannst. Die unendliche Bläue des Himmels ist verlorengegangen, und du bist von Wolken eingehüllt. Laß dich aber dadurch nicht vom Beobachten abhalten: plötzlich reißt die Wolkenwand auf, und die eine Wolke ist schon fort und die nächste noch nicht da, und dein Auge fängt einen Fetzen der unendlichen Bläue des Himmels auf. Genauso ist es auch in dir: du bist die unendliche Bläue des Himmels, und die Gedanken sind nichts anderes als Wolken, die dich einhüllen, die dich ausfüllen. Und trotzdem gibt es die Lücken, gibt es den Himmel. Ein Stück vom Himmel zu sehen, ist Satori; zum Himmel zu werden, ist Samadhi. Und der Weg vom Satori zum Samadhi ist nichts als eine immer tiefer dringende Einsicht in die Beschaffenheit des Geistes - sonst nichts. Der Geist existiert nicht als eine feste, separate Einheit - das ist also das erste. Es gibt nur Gedanken. Und das zweite: die Gedanken existieren getrennt von dir, sie sind nicht mit deiner Natur identisch. Sie kommen und gehen - du aber bleibst, du änderst dich nicht. Du bist wie der Himmel: er kommt nie und er geht nie, er ist immer da. Wolken kommen und gehen, sie sind Erscheinungen des Augenblicks, sie sind nicht ewig. Selbst wenn du versuchst, dich an einen Gedanken zu klammern, kannst du ihn nicht lange halten, er muß weiterziehen, er hat seine eigene Geburt und seinen eigenen Tod. Gedanken gehören nicht dir, sie sind nicht deine Gedanken. Sie kommen als Besucher, als Gäste, aber sie sind nicht der Gastgeber. Beobachte es genau, und dabei wirst du zum Gastgeber und die Gedanken werden zu Gästen. Und als Gäste sind sie schön. Denn nur, wenn du völlig vergißt, daß du der Gastgeber bist, nur wenn sie zum Gastgeber werden, kommst du in Schwierigkeiten. Es ist auch als »Hölle« bekannt. Du bist der Herr des Hauses, das Haus gehört dir, und die Gäste haben sich des Hauses bemächtigt. Empfange sie, kümmere dich um sie, aber identifiziere dich nicht mit ihnen; sonst werden sie die Herren. Der Geist ist deswegen zum Problem geworden, weil du die Gedanken so tief in dich hast eindringen lassen, daß du völlig die Distanz zu ihnen verloren hast, daß du vergessen hast, was sie sind: Besucher, die kommen und gehen. Nie darfst du das in dir vergessen, was immer bleibt: das ist dein wahres Wesen, dein Tao. Richte dein Augenmerk immer auf das, was nie kommt und nie geht, was wie der Himmel ist. Andere deine Blickrichtung: richte dein Augenmerk nicht auf die Besucher, sondern behalte den Gastgeber im Auge; die Besucher kommen und gehen. Selbstverständlich, es gibt schlimme und es gibt gute Gäste, aber das braucht dich nicht zu kümmern. Ein guter Gastgeber behandelt alle Gäste gleich und macht keine Unterschiede. Ein guter Gastgeber ist einfach ein guter Gastgeber: ein schlechter Gedanke kommt hereinspaziert, und er behandelt ihn genauso höflich, wie er den guten Gedanken behandelt. Es geht ihn nichts an, ob der Gedanke gut oder schlecht ist. Was tust du nämlich, wenn du anfängst abzuwägen, ob ein Gedanke gut oder schlecht ist? Du holst den guten Gedanken näher an dich heran und stößt den schlechten Gedanken von dir. Dann wirst du dich früher oder später mit dem guten Gedanken identifizieren, und der gute Gedanke wird zum Gastgeber. Und jeder Gedanke, egal was er besagt, verursacht Elend, sobald er zum Gastgeber wird. Denn er ist nicht die Wahrheit: jeder Gedanke ist ein Hochstapler; aber du identifizierst dich. Identifikation ist die Krankheit. Gurdjieff hat immer wieder gesagt, daß es nur auf eines ankommt: sich nicht mit dem zu identifizieren, was kommt und geht. Erst kommt der Morgen, dann kommt der Mittag, dann kommt der Abend, und einer wie der andere gehen sie wieder; die Nacht kommt und dann wieder der Morgen. Du aber bleibst: nicht als »Ich« - denn auch das wäre wieder nur ein Gedanke - sondern als reines Bewußt-Sein. Nicht als Name, denn auch das ist ein Gedanke; nicht als Form, denn auch das ist ein Gedanke; nicht als dein Körper, denn eines Tages wirst du erkennen, daß selbst der ein Gedanke ist. Sondern ein reines Bewußtsein, ohne Namen, ohne Form, die absolute Reinheit, nur Formlosigkeit und Namenlosigkeit, das schiere Phänomen des Bewußt-Seins - das allein bleibt ewig. Wenn du dich identifizierst, >bist< du der Geist. Wenn du dich identifizierst >bist< du der Körper; wenn du dich identifizierst, wirst du zu Name und Form, zu dem, was die Hindus >Nama-Rupa< nennen, Namen und Formen. Und dann ist der Gastgeber verschollen. Dann hast du das Ewige vergessen und nur das Gegenwärtige ist dir wichtig. Alles Momentane gehört zur Welt; nur das Ewige ist göttlich. Das ist die zweite Einsicht, die du gewinnen mußt: daß du der Gastgeber bist, und deine Gedanken die Gäste sind. Das dritte wirst du dann bald erkennen, wenn du immer weiter beobachtest. Das dritte ist, daß Gedanken Fremdlinge sind, Eindringlinge, Außenseiter. Kein Gedanke hat etwas mit dir zu tun. Sie kommen alle von außen, du bist für sie nur ein Durchgang. Ein Vogel kommt durch die eine Tür ins Haus geflogen, und fliegt zur anderen wieder hinaus: ganz genauso kommt auch der Gedanke in dich hinein und verläßt dich wieder. Du dagegen glaubst, daß deine Gedanken dir gehören. Und nicht nur das - du kämpfst sogar für deine Gedanken, du setzt dich für sie ein: »Dies ist mein Gedanke, und er ist wahr!« Du diskutierst, du debattierst, du streitest dich, du suchst zu beweisen, daß das dein Gedanke ist. Kein Gedanke gehört dir, kein Gedanke ist originell - alle Gedanken sind entlehnt. Sie sind nicht einmal aus zweiter Hand, denn Millionen von Menschen haben genau diesen Gedanken schon vor dir für sich beansprucht. Ein Gedanke ist genauso äußerlich wie ein Ding. Irgendwo sagt der große Physiker Eddington: je tiefer die Wissenschaft in die Materie eindringt, desto deutlicher kommt sie zu der Erkenntnis, daß Dinge Gedanken sind. Das mag so sein, ich bin kein Physiker, und Eddington mag recht haben, daß die Dinge mehr und mehr wie Gedanken aussehen, je tiefer man dringt. Aber vom anderen Ende her möchte ich auch gern sagen: je tiefer du in dich selber eindringst, desto deutlicher sehen deine Gedanken wie Dinge aus. Und das sind auch tatsächlich nur zwei Seiten ein und desselben Phänomens. Ein Ding ist ein Gedanke, ein Gedanke ist eine Ding.
Wenn ich sage, daß ein Gedanke ein Ding ist, was meine ich dann damit? Damit sage ich, daß du mit deinen Gedanken umgehen kannst wie mit Gegenständen. Du kannst jemandem einen Gedanken an den Kopf werfen wie einen Stein: du kannst einen anderen töten, nur indem du einen Gedanken auf ihn wirfst, wie einen Dolch. Du kannst deine Gedanken als Geschenk weitergeben, oder als Ansteckung. Gedanken sind Dinge, sie sind Kräfte, aber sie gehören nicht zu dir. Sie kommen zu dir, sie wohnen eine Zeitlang in dir, und dann verlassen sie dich. Das ganze Universum ist angefüllt von Gedanken und Gegenständen. Die Gegenstände sind nur die physische Seite der Gedanken, und die Gedanken sind die mentale Seite der Gegenstände. Aufgrund dieser Tatsache - daß Gedanken Gegenstände sind - geschehen viele Wunder. Wenn jemand unentwegt an dich und dein Wohlergehen denkt, hat das eine Auswirkung auf dich, weil er ununterbrochen eine Kraft auf dich richtet. Aus diesem Grund können Segnungen eine Wirkung haben, sie können wirklich helfen. Wenn du das Glück hast, von einem Menschen gesegnet zu werden, der den Geist hinter sich gelassen hat, wird sich sein Segen bewahrheiten; denn ein Mensch, der nie Gedanken benutzt, sammelt Gedanken-Energie an und kann damit alles wahr machen, was er sagt. In allen mystischen Traditionen des Ostens müssen diejenigen,die ins >Nicht-Denken< eingeweiht werden, als erstes Techniken erlernen, wie man sich aller Negativität enthält. Denn: erreicht man erst einmal den Zustand des NichtGeistes, behält aber eine Neigung zur Negativität, dann gewinnt man eine gefährliche Macht. Bevor man den NichtGeist erreicht, muß man vollkommen positiv werden. Das ist der ganze Unterschied zwischen weißer und schwarzer Magie. Zur schwarzen Magie kommt es ganz einfach dadurch, daß ein Mensch seine Gedankenenergie angesammelt hat, bevor er seine Negativität abgelegt hat. Und weiße Magie ist nichts anderes, als die Kraft eines Menschen, der über große Gedankenenergie verfügt, aber zuvor sein ganzes Wesen von Negativität gereinigt hat. Es ist die gleiche Energie: sie wird >schwarz<, wenn sie von Negativität bestimmt wird; sie wird >weiß<, wenn sie von Positivität bestimmt wird. Ein Gedanke ist eine große Macht, er ist ein Ding. Das also ist die dritte Einsicht. Du mußt verstehen worum es geht, und den Vorgang in dir selbst beobachten. Du hast vielleicht schon beobachtet, daß sich einer deiner Gedanken wie ein Gegenstand verhält. Aber das hast du vermutlich für einen Zufall gehalten, denn dein ganzes Denken ist materialistisch geprägt. Also gehst du darüber hinweg und schenkst dieser Entdekkung keine Beachtung; du bleibst gleichgültig und denkst nicht weiter darüber nach. Und doch weißt du ganz genau, daß es manchmal vorkommt, daß man zum Beispiel an den Tod eines bestimmten Menschen denkt - der dann stirbt. Man hält es nur für einen Zufall; oder zu einem anderen Zeitpunkt denkt man an einen Freund und wünscht sich, daß er da wäre - und da klopft es, und er steht draußen. Du hältst es für einen Zufall. Es ist kein Zufall. In Wirklichkeit gibt es überhaupt keinen Zufall, alles ist kausal bestimmt. Deine Gedanken weben immerzu eine Welt um dich herum. Eure Gedanken sind Gegenstände, geht also vorsichtig mit ihnen um. Achtet auf sie! Wenn ihr nicht sehr bewußt mit ihnen umgeht, könnt ihr euch und andere ins Unglück stürzen - und das habt ihr auch schon oft genug getan. Und wenn ihr unbewußt für andere Unglück verursacht, denkt daran, dann bringt ihr euch selbst auch ins Unglück. Ein Gedanke ist nämlich ein zweischneidiges Schwert: sobald es einen anderen verwundet, verwundet es auch dich. Erst vor zwei oder drei Jahren führte Uri Geller, ein Israeli, der sich mit Gedankenenergie beschäftigt, im englischen Fernsehen ein Experiment durch. Er kann alles Mögliche durch bloße Gedankenkraft verbiegen; jemand hält zum Beispiel einen Löffel in drei Meter Entfernung: Uri Geller richtet einfach nur seine Gedankenkraft darauf, und schon ist der Löffel verbogen. Man könne ihn nicht mit der bloßen Hand biegen, aber Uri Geller verbiegt ihn durch reine Gedankenkraft. Aber dann geschah etwas sehr Merkwürdiges während dieser Fernsehsendung: selbst Uri Geller wußte nicht, daß so etwas möglich war. Tausende sahen dieser Sendung in ihren Wohnzimmern zu, und während er seine Verbiegungskünste vorführte, fielen in vielen Häusern Englands Dinge zu Boden und verbogen sich - Tausende von Gegenständen in ganz England! Es war so, als würde seine Energie vom Fernsehen übertragen. Er arbeitete an Gegenständen in drei Meter Entfernung und in den Wohnzimmern passierten ähnliche Dinge innerhalb von drei Metern: Gegenstände wurden verbogen, fielen hin, verzogen sich. Es war höchst seltsam! Gedanken sind Dinge, und zwar sehr, sehr machtvolle. In Rußland lebt eine Frau namens Mikhailovna. Sie kann aus großer Entfernung Macht über Gegenstände ausüben: zum Beispiel kann sie Dinge auf sich zuholen, nur durch Gedankenkraft. Sowjetrußland ist ein Land, wo man okkulte Dinge nicht glaubt. Dort denkt man kommunistisch, atheistisch: und so ging man dem Fall Mikhailovna wissenschaftlich nach. Unter anderem fand man heraus, daß sie jedesmal fast zwei Pfund an Gewicht verliert, während sie auf diese Art arbeitet. Innerhalb eines halbstündigen Experimentes verliert sie zwei Pfund an Gewicht. Was verrät das? Es verrät, daß man durch Gedankentätigkeit Energie verliert - und zwar unentwegt. Dein Geist ist ein Plappermaul; ohne jeden Grund funkt er laufend überflüssige Dinge aus. Du zerstörst die Menschen um dich herum, du zerstörst dich selbst. Du bist ein gefährliches Wesen - ständig beeinflußt du deine Umwelt. Und viele Dinge geschehen deinetwegen. Und es ist ein riesiges Sendenetz. Mit jeder Stunde wird die ganze Welt elender, weil es mehr und mehr Menschen gibt, die ununterbrochen mehr und mehr Gedanken aussenden. Je weiter man in der Geschichte zurückgeht, desto friedlicher findet man die Erde: je weiter zurück, desto weniger Sender. In den Tagen Buddhas oder den Tagen Lao Tses war die Welt ausgesprochen friedlich und natürlich; sie war ein Paradies. Und warum? Erstens war die Welt sehr dünn besiedelt. Und dann neigten die Menschen auch nicht so sehr zum Denken, sie waren noch näher an ihren Gefühlen dran. Und statt zu denken, beteten die Menschen. Das erste was sie morgens nach dem Aufstehen taten, war Beten. Das letzte, was sie vorm Schlafengehen taten, war Beten. Den ganzen Tag über, wo sich nur eine Gelegenheit
dazu bot, beteten sie im Innern. Was ist Beten? Beten heißt, Segnungen an alle Menschen aussenden. Beten heißt, allen anderen dein Mitgefühl entgegenbringen. Beten heißt, eine Medizin gegen alle negativen Gedanken herstellen. - Es ist eine positive Haltung. Dies ist also die dritte Einsicht über Gedanken: daß sie Gegenstände sind, Kräfte - und du sehr vorsichtig mit ihnen umgehen mußt. Normalerweise bist du unbewußt und denkst alles Mögliche. Es wird dir schwerfallen, einen Menschen zu finden, der nicht schon in Gedanken viele Morde begangen hat; einen Menschen zu finden, der nicht schon alle möglichen Sünden und Verbrechen im Geist begangen hat. Und dann geschehen diese Dinge wirklich. Dann denkt daran, ihr mögt zwar selbst nicht morden, aber das ständige Nachdenken über einen Mord an irgendjemandem kann sehr wohl zu der Situation führen, in der dieser Mensch umgebracht wird. Jemand anders kann diesen Gedanken aufschnappen, denn es gibt überall Schwächere als man selbst, und Gedanken fließen wie Wasser - abwärts. Diejenigen, die die innere Wirklichkeit des Menschen voll erkannt haben, sagen daher, daß wir alle verantwortlich sind - für alles, was auf Erden geschieht. Ohne Ausnahme. Für das, was zum Beispiel in Vietnam passiert, sind nicht nur die Nixons verantwortlich, sondern jeder denkende Mensch auch. Nur ein Mensch kann nicht verantwortlich gemacht werden, und das ist der Mensch, der nicht denkt. Im übrigen aber ist jeder mitverantwortlich für alles, was vor sich geht. Wenn die Erde eine Hölle ist, dann hilfst du mit, dann bist du mitbeteiligt. Schiebe also nicht länger die Verantwortung auf andere - auch du bist verantwortlich; es ist ein kollektives Geschehen. Die Krankheit mag sonstwo ausbrechen, die Explosion mag am anderen Ende der Welt passieren - das ändert nicht das Geringste daran, denn Gedanken sind nichträumliche Erscheinungen, sie sind nicht an Raum gebunden. Gedanken bewegen sich daher schneller als alles andere. Selbst das Licht kommt nicht so schnell vorwärts, denn selbst das Licht benötigt Raum. Gedanken sind das Schnellste, was es gibt. Oder genauer, sie brauchen überhaupt keine Zeit, da es für sie gar keinen Raum gibt. Du magst dich hier befinden und an etwas denken, und in Amerika passiert es. Wie also kann man dich verantwortlich machen? Kein Gericht kann dich bestrafen, aber im Obersten Gerichtshof des Daseins wirst du strafbar gemacht. - Du wirst sogar schon jetzt gleich bestraft. Eben darum bist du so unglücklich. Es kommen Leute zu mir und sagen: »Wir tun nie jemand etwas zuleide und doch sind wir so unglücklich«. Sie mögen vielleicht nichts tun, aber sicherlich denken sie etwas. Und Gedanken arbeiten subtiler als Taten. Ein Mensch mag sich davor bewahren, etwas Bestimmtes zu tun, aber nicht davor, es zu denken. Für Gedanken ist jeder anfällig. »Nicht-Denken« ist ein Muß, wenn du dich vollkommen von Sünde freimachen willst, von allem freimachen willst, was um dich her geschieht. Nichts anderes heißt es, ein Buddha zu sein. Ein Buddha ist jemand, der ohne Gedanken lebt, und so ist er nicht verantwortlich. Daher sagen wir im Osten, daß er niemals Karma anhäuft, daß er von allen zukünftigen Konsequenzen verschont bleibt. Er lebt, er geht, er bewegt sich fort, er ißt, er spricht, er tut viele Dinge und eigentlich müßte er auf diese Weise Karma ansammeln, denn Karma bedeutet >Tun<. Aber es gibt im Osten ein Sprichwort, das besagt, daß ein Buddha, selbst wenn er töten würde, damit kein Karma ansammelt. Warum? Und du, obwohl du nicht tötest, sammelst dennoch Karma an? Warum? Es ist einfach. Ganz gleich, was ein Buddha tut, er tut es, ohne seinen Geist hinein zu verstricken. Er ist spontan, also ist es kein Tun . . . Er verschwendet keinen Gedanken, es geschieht einfach. Nicht er tut es. Er lebt wie eine Leere. Was er tut, kommt aus keiner Absicht, er hat nichts geplant. Aber wenn die Schöpfung will, dann läßt er es geschehen. Er hat kein Ego mehr, das sich sträuben könnte, kein Ego mehr, das etwas >tun< kann. Das ist die Bedeutung, wenn man sagt, daß er leer ist und ohne Selbst: er ist einfach ein Nicht-Wesen, Anatta, ein »Nicht-Selbst«. In diesem Zustand läßt sich nichts anhäufen, und man ist für nichts verantwortlich, was geschieht. Das heißt Transzendenz. Jeder einzelne Gedanke schafft für dich und für andere eine Wirklichkeit. Sei wachsam! Und wenn ich sage, sei wachsam, dann meine ich nicht, daß du gute Gedanken denken sollst, nein! Denn du kannst keine guten Gedanken denken, ohne in ihrem Windschatten schlechte Gedanken mitzudenken. Wie kann das Gute ohne das Böse bestehen? Wenn du dir die Liebe vorstellst, dann ist gleich daneben, dahinter, der Haß versteckt. Wie kannst du an Liebe denken, ohne auch an Haß zu denken? Es mag nicht bewußt geschehen, die Liebe mag die gesamte Bewußtseinsschicht deines Geistes erfüllen, aber dann versteckt sich der Haß im Unbewußten-Haß und Liebe gehen Hand in Hand. Sobald du >Nächstenliebe< denkst, denkst du >Grausamkeit< mit. Ist es möglich, sich Nächstenliebe ohne den Hintergrund von Grausamkeit vorzustellen? Kann man an Gewaltlosigkeit denken, ohne an Gewalt zu denken? Schon im Wort >Gewaltlosigkeit< ist die Gewalt enthalten. Sie steckt schon in der bloßen Vorstellung. Kannst du dir sexuelle Enthaltsamkeit, >Brahmacharya<, vorstellen, ohne dabei an Sex zu denken? Es ist nicht möglich. Denn was hieße denn >sexuelle Enthaltsamkeit, wenn nicht dabei an Sex gedacht wird? Und wenn sexuelle Enthaltsamkeit ohne den Gedanken an Sex nicht auskommen kann, wie enthaltsam ist diese Enthaltsamkeit dann? Nein, es gibt eine völlig andere Dimension des Daseins, die erst zum Vorschein kommt, wenn das Denken aufhört: ohne >gut<, ohne >böse<, einfach ein Zustand des Nicht-Denkens. Du beobachtest einfach, du bleibst einfach bewußt, aber du denkst nicht. Und wenn sich ein Gedanke einschmuggelt ... und das läßt sich nicht vermeiden, denn Gedanken gehören dir nicht; sie treiben einfach in der Luft. Wir sind von einer >Nus<-Sphäre umgeben, einer Gedankensphäre: genau wie von der Luft werden wir auch überall von Gedanken eingehüllt; und die dringen von sich aus in dich ein. Das hört erst dann auf, wenn du voll bewußt geworden bist. Und das nicht ohne Grund, denn je bewußter du wirst, desto weniger können sich die Gedanken halten, sie schmelzen einfach, weil Bewußtheit eine stärkere Energie ist als das Denken. Bewußtheit ist für das Denken wie Feuer. Es ist, wie wenn du in deinem Haus ein Licht entzündest, und dann keine Dunkelheit mehr eindringen kann. Sobald du es auslöscht, dringt augenblicklich die Dunkelheit herein; sie wartet nicht einmal einen
einzigen Augenblick. Aber solange das Licht im Hause brennt, kann die Dunkelheit nicht eindringen. Und Gedanken sind wie Dunkelheit: sie kommen nur herein, wenn innen kein Licht brennt. Bewußtheit ist Feuer: Je bewußter du wirst, desto weniger Gedanken können in dich eindringen. Wer restlos bewußt lebt, dem kommen überhaupt keine Gedanken mehr; der ist zu einer unbezwingbaren Burg geworden, in die nichts mehr eindringen kann. Nicht, daß du dann verschlossen bist, denk daran: du bist absolut offen; es ist die schiere Energie deiner Bewußheit, die dich zu einer Burg macht. Und wenn die Gedanken nicht mehr in dich hinein können, dann werden sie kommen und an dir vorbeiziehen. Du kannst sie kommen sehen, aber sobald sie dir nahegekommen sind, werden sie einfach den Kurs wechseln ... Jetzt kannst du gehen, wohin du willst, jetzt kannst du selbst zur Hölle fahren - nichts kann dir etwas anhaben. Das ist es, was >Erleuchtung< bedeutet. Und jetzt versucht, Tilopas Gesang zu verstehen: Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst, Und dann mit deinem eigenen Geist den eigenen Geist betrachtest, Verschwinden alle Unterscheidungen, Und du gelangst zur Buddhaschaft. »Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst...« - das ist eine Methode, eine Tantra-Methode: in den Raum, in den Himmel hinein zu starren, ohne ihn zu sehen; mit leeren Augen zu schauen. Manchmal kann man einen leeren Blick in den Augen eines Irren beobachten - und Irre und Weise haben manches gemeinsam. Ein Irrer blickt dir ins Gesicht, aber du kannst genau erkennen, daß er dich nicht ansieht. Er blickt einfach durch dich hindurch, als wärst du aus Glas, durchsichtig. Du bist ihm nur im Weg, er sieht dich gar nicht. Und du bist tatsächlich durchsichtig für ihn. Er sieht auf etwas hinter dir, durch dich hindurch. Er blickt, ohne dich »an«zublicken - das »an« ist einfach nicht in seinem Blick vorhanden. Er blickt einfach. Schaue in den Himmel, ohne nach etwas Bestimmtem Ausschau zu halten, denn sobald du nach etwas Ausschau hältst, zieht zwangsläufig eine Wolke herauf: jedes beliebige »Etwas« ist eine Wolke, und »Nichts« bedeutet die unendliche Ausdehnung des blauen Himmels. Halte nach keinem Gegenstand Ausschau. Sobald du nach etwas suchst, schafft schon der bloße Blick den Gegenstand: eine Wolke zieht herauf, und nun kannst du auf diese Wolke blicken. Blicke nicht auf die Wolken; selbst wenn Wolken da sind, sieh sie nicht an - schaue einfach. Laß sie treiben, laß sie dasein, irgendwann kommt plötzlich der Augenblick, wo du so auf dieses Blicken ohne Blick eingestellt bist, daß alle Wolken für dich verschwinden und nur der unendliche Himmel zurückbleibt. Das ist schwierig, denn deine Augen sind an einen Brennpunkt gewöhnt und wollen deutlich umrissene Gegenstände sehen. Sieh dir ein kleines Kind am Tag seiner Geburt an: es hat die gleichen Augen wie ein Weiser - oder ein Irrer. Die Augen sind unfest und schwimmen. Die Augen treiben aufeinander zu und schielen, oder sie treiben zu den Augenwinkeln - sie sind noch nicht fest verankert. Alles ist noch im Fluß, das Nervensystem ist noch nicht strukturiert, alles treibt. Ein kleines Kind also kann blicken, ohne Dinge anzusehen, es hat einen wahnsinnigen Blick. Beobachte ihn: das ist genau der Blick, den du brauchst, denn auch du mußt in eine zweite Kindheit gelangen. Oder beobachte einen Wahnsinnigen. Wahnsinnig ist jemand, der aus der Gesellschaft herausgefallen ist. »Gesellschaft« bedeutet die feste Welt der Rollen und Spiele. Ein Wahnsinniger ist deshalb wahnsinnig, weil er keine feste Rolle mehr hat; er ist >aus der Rolle gefallen<. Er ist der perfekte >drop-out<. Und der Weise ist ebenfalls ein perfekter >drop-out<, nur in einem anderen Sinn. Er ist nicht verrückt; im Gegenteil: er verkörpert die einzig mögliche, die einzig wirklich geistige Gesundheit. Und weil die ganze Welt wahnsinnig und fixiert ist, erscheint der Weise wahnsinnig. Beobachtet einen Wahnsinnigen: Das ist der Blick, auf den es ankommt. In Tibet gab es früher in jedem Kloster einen Irren - nur damit die Wahrheitssucher seine Augen studieren konnten. Irre waren hoch angesehen. Sie waren sehr begehrt, denn kein Kloster konnte ohne einen Irren auskommen. Man machte aus ihm ein Studienobjekt. Die Mönche setzten sich vor den Irren hin, studierten seine Augen und versuchten dann, ebenso auf die Welt zu blicken wie der Irre. Das waren fantastische Zeiten! Im Osten haben die Irren nie so leiden müssen wie im Westen. Im Osten hat man sie immer geschätzt, ein Wahnsinniger war etwas Besonderes. Die Gesellschaft kümmerte sich um ihn, er wurde geehrt, weil er vieles mit einem Weisen gemein hat, vieles mit einem Kind gemein hat. Er unterscheidet sich von der sogenannten Gesellschaft, von Kultur und Zivilisation, er ist herausgefallen. Sicher: er ist nach unten gefallen. Ein Weiser fällt nach oben, ein Wahnsinniger fällt nach unten - das ist der ganze Unterschied - aber beide fallen sie aus dem Rahmen. Und sie haben Gemeinsamkeiten. Beobachte einen Irren und dann versuche selbst, deine Augen ohne Brennpunkt schwimmen zu lassen. In Harvard hat man vor wenigen Monaten ein Experiment durchgeführt und hat dabei eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Man wollte herausfinden, ob die Welt wirklich so ist, wie wir sie sehen: denn während der letzten Jahre sind viele neue Aspekte aufgetaucht. Die Versuchsperson war ein junger Mann: sie gaben ihm eine Brille mit entstellenden Linsen, die er sieben Tage lang tragen mußte. Während der ersten drei Tage fühlte er sich ausgesprochen elend, denn alles war verzerrt, die ganze Welt um ihn herum war schief. Er litt unter schweren Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. Selbst bei geschlossenen Augen verfolgten ihn die grotesken Formen: verzerrte Gesichter, verzerrte Bäume, verzerrte Straßen. Er konnte nicht einmal laufen, weil er sich nicht darauf verlassen konnte, daß die Dinge so waren, wie er sie sah, weil er nicht wußte, inwiefern alles nur eine Projektion seiner Zerr-Brille war. Aber dann geschah das Wunder: vom dritten Tag an gewöhnte er sich daran, die Entstellungen ließen nach. Die Brille blieb die gleiche, sie verzerrte
alles, aber er begann, die Welt auf dieselbe alte Weise zu sehen. Innerhalb einer Woche war alles in Ordnung: es gab kein Kopfweh, kein Problem mehr, und die Wissenschaftler konnten sich nur noch wundern; sie hätten es nicht für möglich gehalten. Die Augen hatten sich vollkommen umgestellt und funktionierten so, als ob die Brille gar nicht da wäre. Aber die Brille war da, und sie entstellte alles. Trotzdem hatten sich die Augen wieder auf die Welt eingestellt, die sie vorher zu sehen gelernt hatten. Wir sehen die Welt nicht so, wie sie ist, wir sehen sie so, wie sie unserer Erwartung nach aussieht. Wir projizieren ein Bild auf sie. Es wird berichtet, daß einmal ein Segelschiff zu einer kleinen Insel im Pazifik kam; es war das erste Mal, daß ein so großes Schiff hinkam. Die Inselbewohner sahen es nicht - nicht einer von ihnen! Dabei war das Schiff so unübersehbar groß ... aber die Leute dort waren nur gewohnt, kleine Einbäume zu sehen. Ein so großes Schiff war ihnen noch nie vor die Augen gekommen, so etwas hatten sie noch nie gesehen. Ihre Augen konnten den Anblick einfach nicht erfassen, die Augen verweigerten einfach den Dienst. Kein Mensch weiß, ob das, was er sieht, wirklich vorhanden ist. Es mag gar nicht dasein, oder in einer Weise dasein, die man nicht wahrnimmt. Alles, was du siehst - die Formen, die Farben - alles wird von den Augen projiziert. Und sobald deine Sehweise festgelegt ist, sobald sie sich nach gewohnten Mustern richtet, nimmst du die Dinge nur noch entsprechend deiner spezifischen gesellschaftlichen Prägung wahr. Darum hat ein Wahnsinniger einen schwimmenden Blick, einen abwesenden Blick; er blickt und blickt zugleich auch nicht. Ein solcher Blick ist schön. Im Tantra hat man daraus eine der großartigsten Techniken entwickelt: Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst .. . Sieh nicht, schaue nur. Während der ersten Tage wird sich dein Blick laufend an etwas halten wollen, einfach aus alter Gewohnheit. Wir hören Dinge aus alter Gewohnheit, wir sehen Dinge aus alter Gewohnheit, wir verstehen Dinge nach alter Gewohnheit. Einer der engsten Schüler Gurdjieffs, P. D. Ouspensky, bestand bei seinen eigenen Schülern immer auf einer bestimmten Formel - und alle haßten sie wie die Pest. Viele waren so verärgert, daß sie einfach wegblieben. Wenn jemand sagte: »Gestern haben Sie doch gesagt ...«, schnitt Ouspensky ihm sofort das Wort ab und sagte: »So dürfen Sie das nicht sagen! Fügen Sie hinzu: Soviel ich verstanden habe, sagten Sie ... Sagen Sie nie, »das war so«, sondern machen Sie immer klar, daß Sie es so verstanden haben. Was wirklich gesagt wurde, können Sie nicht wissen. Sagen Sie, was Sie gehört haben.« Und Ouspensky bestand deshalb so sehr auf dieser Formel, weil wir uns so sehr von Gewohnheit leiten lassen. Oder jemand sagte zum Beispiel: »In der Bibel steht ...« Und Ouspensky fiel sofort ein: »So nicht! Sagen Sie einfach, daß Sie die Bibel so verstehen.« Bei jeder Äußerung bestand er darauf: »Denk immer daran, daß Du es so siehst.« Aber das vergessen wir ständig. Seine Schüler vergaßen es wieder und wieder, und jeden Tag erinnerte er sie von neuem, er war unerbittlich. Er verbot einfach das, Weitersprechen. Er verlangte, daß man sofort von vorne anfing und die Formel vorausschickte: »Soviel ich verstanden habe ...« Denn jeder hört was er hören will, und sieht was er sehen will; denn jeder hört und sieht nach seinen festgelegten Programmen. Und diese Programme müssen fallen. Wer das Dasein kennenlernen will, muß alle festgefahrenen Einstellungen aufgeben. Deine Augen dürfen nur Fenster sein, keine Projektoren. Deine Ohren dürfen nur Türen sein, keine Projektoren. Ein Psychoanalytiker, der bei Gurdjieff studierte, machte einmal folgendes Experiment - ein sehr einfaches und schönes Experiment. Bei einem Hochzeits-Empfang stellte er sich neben die Schlange der Gratulanten, die an den Gastgebern vorbeizogen. Er beobachtete alle Beteiligten und stellte fest, daß keiner von den Gastgebern zuhörte, was die Gäste zu ihnen sagten - zahllose Gäste, es war der Hochzeitsempfang einer reichen Familie. Schließlich reihte er sich auch ein, und als er vor der ersten Person der Gastgeber-Reihe stand, sagte er völlig gelassen: »Meine Großmutter ist heute morgen gestorben.« Er bekam zur Antwort: »Wie reizend, wirklich entzükkend.« Dann sagte er dem nächsten dasselbe und bekam zu hören: »Das ist aber nett von Ihnen.« Und der Bräutigam erwiderte, als er ihm seinen Satz sagte: »Alte Haut, es wird Zeit, daß du es auch tust.« Kein Mensch hört einem anderen zu. Jeder hört das, was er erwartet. >Erwartung< - so heißt deine Brille, so heißen die Linsen, durch die du blickst. Mach deine Augen zu Fenstern - das ist die Technik. Nichts darf aus deinen Augen kommen, denn sobald etwas aus ihnen kommt, entsteht eine Wolke daraus. Dann siehst du Dinge, die gar nicht da sind, dann halluzinierst du auf subtile Weise. Laß nichts als eine ungetrübte Klarheit in Deinen Augen sein, in deinen Ohren sein. All deine Sinne müssen rein sein, deine Wahrnehmung ungestört. Nur so kann sich dir die Existenz offenbaren. Und wenn du die Existenz kennst, dann weißt du, daß du ein Buddha bist, ein Gott, denn in der Existenz ist alles göttlich. Wenn du vor dir im Raume nichts mehr siehst, Und dann mit deinem eigenen Geist den eigenen Geist betrachtest Fange damit an, in den Himmel zu starren; lege dich auf den Rücken und starre einfach nur in den Himmel. Achte dabei nur auf eines: daß dein Auge nichts festhält. Anfangs wirst du immer wieder ausrutschen, du wirst es immer wieder vergessen. Es wird dir nicht gelingen, dich unentwegt daran zu erinnern, aber laß den Mut nicht sinken, es ist ganz natürlich nach so langer Gewohnheit. Sobald du dich erneut erinnerst, mache deinen Blick wieder unscharf, laß die Augen wieder schwimmen und blicke einfach offen auf den Himmel - ohne das Geringste zu tun; du blickst einfach
nur. Bald kommt der Zeitpunkt, wo du in den Himmel blicken kannst, ohne dabei etwas sehen zu wollen. Und dann versuche es mit deinem inneren Himmel: Und dann mit deinem eigenen Geist den eigenen Geist betrachtest Dann schließe die Augen und blicke nach innen, ohne auf etwas Bestimmtes zu warten, mit dem gleichen abwesenden Blick. Gedanken treiben vorbei, aber du hast sie nicht gerufen und blickst sie nicht an - du schaust einfach nur. Kommen sie - gut; kommen sie nicht - auch gut. Dann, allmählich, siehst du die Lücken: ein Gedanke kommt und geht vorbei, dann ein anderer - und dazwischen plötzlich: die Lücke. Und mit der Zeit wirst du sehen, wie der Gedanke durchsichtig wird, wie du sogar durch ihn hindurch noch die Lücke sehen kannst, wie du den verborgenen Himmel hinter der Wolke im Auge behalten kannst. Und je mehr du dich an diese Sehweise gewöhnst, desto mehr Gedanken fallen fort, es werden immer weniger Gedanken auftauchen, immer und immer weniger. Die Lücken werden immer größer - minutenlang zeigt sich weit und breit kein Gedanke, alles ist so still und ruhig innen - zum ersten Mal bist du ganz bei dir. Du fühlst nichts als Seligkeit, ohne die leiseste Unruhe. Und wenn dir dieses Schauen zur zweiten Natur geworden ist - und das geschieht ganz von allein, es geschieht ganz natürlich, man braucht bloß den Brennpunkt aufzulösen, die Projektionen fallenzulassen dann: ... Verschwinden alle Unterscheidungen ... Dann gibt es kein Gut und Böse mehr, kein Schön und Häßlich, ... Und du gelangst zur Buddhaschaft ... Buddhaschaft bezeichnet die höchste Stufe der Erweckung. Wenn alle Unterscheidungen fortfallen, alle Trennlinien aufgehoben sind, dann ist die Einheit erreicht, dann bleibt nur noch das Eine. Es wird unmöglich, vom Einen zu sprechen, weil auch das noch Dualität voraussetzt. Es bleibt nur Eines, aber du kannst es nicht >das Eine< nennen, denn wie kann man vom >Einen< sprechen, ohne im Untergrund die Zweiheit mitzudenken. Nein, man kann also nicht sagen, daß nur das >Eine< bleibt, sondern nur, daß aller Zwiespalt aufhört, daß es keine Vielheit mehr gibt. Jetzt gibt es nur noch eine grenzenlose Einheit, die nirgends mehr aufhört: Der eine Baum geht in den anderen über, die Erde verschmilzt mit den Bäumen, die Bäume mit dem Himmel, der Himmel mit dem Jenseits ... du gehst in mich ein, ich gehe in dich ein ... alles dringt ineinander, wird eins ... Grenzen fallen, schmelzen und vermischen sich, wie Wellen ... eine riesige, pulsierende Einheit, lebendig, ohne Trennlinien, ohne Definitionen, ohne Unterscheidungen ... der Heilige wird zum Sünder, der Sünder zum Heiligen ... das Gute wird schlecht, das Schlechte gut ... die Nacht wird zum Tag, der Tag wird zur Nacht . . . das Leben versinkt im Tod, der Tod entsteht als neues Leben ... alles, alles ist eins geworden. Das ist der Augenblick, in dem die Buddhaschaft erreicht wird: sobald es kein Gut oder Böse mehr gibt, keine Sünde und keine Tugend, keine Dunkelheit und keine Helligkeit - nichts, keine Unterscheidungen. Unterscheidungen gibt es nur, weil eure Augen dafür geschult sind. Unterscheidungen sind anerzogen. Unterscheidungen gibt es im Dasein nicht. Unterscheidungen werden von dir produziert. Unterscheidungen trägst du in die Welt hinein - vorhanden sind sie nicht. Sie sind ein Trick deiner Augen - deine Augen halten dich zum Narren. Die Wolken wandern durch den Himmel, Sie haben weder Wurzeln noch Heimat: Wie Wolken sind die einzelnen Gedanken, Die deinen Geist durchziehen. Sobald der Geist sich selbst erkannt hat, Hört jede Unterscheidung auf. »Die Wolken wandern durch den Himmel, sie haben weder Wurzeln noch Heimat...« Und das gleiche gilt für deine Gedanken, das gleiche gilt von deinem inneren Himmel: deine Gedanken haben weder Wurzeln noch Heimat - sie wandern wie die Wolken. Du brauchst sie also nicht zu bekämpfen, du brauchst nicht gegen sie zu sein, du brauchst sie noch nicht einmal auszuhalten. Das muß dir wirklich bis in die Wurzel klar werden: denn fast jeder, der sich zum erstenmal mit Meditation befaßt, beginnt damit, die Gedanken anhalten zu wollen. Und wenn du erst einmal anfängst, die Gedanken anzuhalten, hören sie nie und nimmer auf, denn schon die bloße Anstrengung, sie zum Halten zu bringen, ist wiederum ein Gedanke. Die Anstrengung, meditieren zu wollen, ist ein Gedanke, der bloße Wunsch, zur Buddhaschaft zu gelangen, ist ein Gedanke. Und wie willst du den einen Gedanken mit einem anderen aufhalten? Wie willst du den geistigen Prozeß überhaupt zum Stillstand bringen, wenn du dazu einen anderen geistigen Prozeß einleitest? Dann klammerst du dich an
den zweiten, und das geht dann unendlich so weiter - ad nauseam. Dann kommst du nie zum Ende. Kämpfe nicht - denn wer ist es, der kämpft? Wer bist du? Nichts als ein Gedanke - mache also nicht aus dem einen Gedanken ein Schlachtfeld für andere Gedanken. Mache dich vielmehr nur zum Zeugen, der die Gedanken betrachtet, wie sie vorbeitreiben. Sie hören auf; aber nicht, weil du sie zum Stillstand zwingst. Sie hören dadurch auf, daß du immer bewußter wirst, nicht, weil du dich bemüht hast, sie zum Halten zu bringen. Nein - dadurch hören sie nie auf, im Gegenteil, sie machen sich erst recht stark. Versuch es selber, und du wirst es sehen; versuche, einen Gedanken anzuhalten, und der Gedanke wird erst recht hartnäckig. Gedanken sind sehr bockig, widerspenstig; sie sind Willensmenschen, Hatha Yogis, sie weichen nicht von der Stelle. Du wirfst sie hinaus und sie kommen tausendmal zurück. Wer müde auf der Strecke bleibt, das bist du, aber nicht sie ... Es kam einmal ein Mann zu Tilopa. Er wollte zum Buddha werden und kam, weil er gehört hatte, daß Tilopa zum Buddha geworden war. Tilopa hielt sich irgendwo in einem Tempel Tibets auf. Der Mann trat vor Tilopa hin, der da saß, und erklärte: »Ich möchte gern meine Gedanken anhalten.« Tilopa antwortete: »Nichts leichter als das. Ich gebe dir eine Technik, ein Hilfsmittel. Setze dich hin und denke auf keinen Fall an Affen. Das wird genügen.« »Was?«, rief der Mann, »das soll alles sein? Nur an keine Affen zu denken? Das habe ich ja sowieso noch nie getan!« Tilopa antwortete: »Fein, fang also jetzt damit an. Und morgen früh kommst du zu mir und berichtest.« Ihr könnt euch denken, wie es diesem armen Mann erging . . . Affen, Affen, nichts als Affen, wohin er blickte. In der Nacht konnte er kein Auge schließen, keine Minute konnte er schlafen. Machte er die Augen zu, dann saßen sie nicht da; machte er sie auf, dann saßen sie da und schnitten Grimassen. Der Mann war völlig verblüfft: »Warum hat mir dieser Tilopa bloß diese Technik verordnet? Denn wenn Affen das Problem sind, dann hab ich damit doch noch nie Schwierigkeiten gehabt das ist das erste mal.« Aber er fuhr fort und noch am Morgen versuchte er, nicht an Affen zu denken. Er nahm ein Bad, saß in seinem Badewasser - aber umsonst, die Affen ließen ihn nicht in Frieden. Am Abend kam er zu Tilopa - nahezu verrückt geworden, denn die Affen folgten ihm wohin er ging, er redete schon mit ihnen. Er kam und sagte: »Bitte, rette mich irgendwie. Ich will da heraus. Vorher war alles in Ordnung. Ich will ja auch gar nichts mehr von Meditation wissen. Ich will deine Erleuchtung nicht- nur bitte, rette mich vor diesen Affen!« Wenn du dir Affen herbeiwünscht, kann es sein, daß sie nicht zu dir kommen. Aber wenn du willst, daß sie nicht zu dir kommen, dann verfolgen sie dich. Sie haben ihr Ego und können dich nicht einfach so in Ruhe lassen. Für wen hältst du dich eigentlich, daß du nichts von Affen wissen willst? Das geht den Affen gegen den Strich, das können sie sich nicht gefallen lassen. Aber so ergeht es den Leuten. Tilopa hat einen Witz gemacht. Was er sagen wollte, war: wenn du einen Gedanken zum Anhalten bringen willst, dann geht es nicht. Im Gegenteil: die Energie, die du darauf verwendest, kommt dem Gedanken zugute, die bloße Energie, ihm auszuweichen, schenkt ihm nur noch mehr Beachtung. So ist es immer: wenn du einer Sache ausweichen willst, schenkst du ihr zuviel Beachtung. Wenn du einen bestimmten Gedanken nicht denken willst, denkst du ihn bereits. Vergiß das also nicht, sonst geht es dir wie dem unglücklichen Mann, der von Affen besessen war, weil er nicht an sie denken wollte. Du brauchst das Denken nicht anzuhalten. Gedanken sind wurzellose, heimatlose Vagabunden, um die du dir keine Gedanken zu machen brauchst. Schau einfach nur, schaue ohne sie anzusehen; blicke einfach nur leer vor dich hin. Wenn Gedanken kommen - gut; fühl dich nicht schuldig, denn schon das geringste Schuldgefühl, und du hast zu kämpfen angefangen. Kein Grund zur Sorge, es ist natürlich: so wie Blätter auf den Bäumen wachsen, so kommen Gedanken in deinen Geist. Das ist vollkommen in Ordnung - so muß es sein. Kommen sie nicht, dann ist es auch gut. Bleibe ganz einfach ein unbeteiligter Zuschauer, der weder dafür noch dagegen ist, der weder applaudiert noch zischt und buht, der einfach unparteiisch bleibt. Sitze in dir selbst und schaue; schaue ohne hinzuschauen. Und es wird geschehen, daß du immer weniger siehst, je mehr du schaust. Je tiefer du blickst, desto mehr verschwinden die Gedanken: Sie verfliegen. Hast du das erst einmal erfahren, dann hältst du den Schlüssel in der Hand. Und dieser Schlüssel öffnet das geheimnisvollste aller Geheimnisse: das Geheimnis der Buddhaschaft. Die Wolken wandern durch den Himmel, Sie haben weder Wurzeln noch Heimat; Wie Wolken sind die einzelnen Gedanken, Die deinen Geist durchziehen. Sobald der Geist sich selbst erkannt hat, Hört jede Unterscheidung auf. Hast du erst einmal gesehen, daß die Gedanken vorbeitreiben, daß du nicht die Gedanken bist, sondern der Raum, in dem sie treiben, dann hat sich dein Geist selbst erkannt, dann hast du die Natur deines Bewußtseins verstanden. Damit hört alle Unterscheidung auf: dann gibt es kein Gut und Böse mehr; dann verschwindet alles Wünschen einfach, denn wenn nichts gut ist und nichts böse, dann gibt es auch nichts mehr zu wünschen, nichts mehr zu meiden. Du nimmst alles hin, du wirst gelöst und natürlich. Du läßt dich von nun an mit dem Dasein treiben, ohne Ziel, ohne Richtung. Du willst nichts mehr erreichen, weil es nichts mehr zu erreichen gibt. Jetzt wird jeder Augenblick zum Genuß, gleichgültig, was er bringt, völlig gleichgültig - vergeßt das nicht! Du kannst ihn genießen, weil du jetzt wunschlos bist und ohne jede Erwartung. Hast du keine besonderen Wünsche, dann macht dich alles dankbar, was du bekommst. Nur einfach dazusitzen und zu atmen ist ein so tiefer Genuß, einfach nur da zu sein ein solches Glück, daß jeder Augenblick
des Lebens sich mit Zauber füllt, zum Wunder wird. Formen und Farben bilden sich im Raum, Aber weder Schwarz noch Weiß Hinterlassen in ihm Spuren. Aus diesem Geist des Geistes entstehen alle Dinge. Weder Tugend noch Laster beflecken ihn. Und dann, dann weißt du, daß sich im Raum Formen und Farben bilden. Wolken nehmen alle möglichen Formen an: du kannst in ihnen Elefanten oder Löwen sehen, oder was du willst. Formen und Farben kommen im Raum, und gehen dann wieder; »Aber weder Schwarz noch Weiß hinterlassen in ihm Spuren ...«. Gleichgültig also, was geschieht, der Himmel bleibt unberührt, keine Spuren bleiben zurück. Am Morgen ist er wie ein Feuer, ein rotes Feuer, das von der Sonne ausgeht und den ganzen Himmel tönt; aber am Abend - wo ist jetzt die Röte? Der ganze Himmel dunkel, schwarz. Und am Morgen - wo ist da die Schwärze? Der Himmel selbst bleibt ungetönt, bleibt unberührt. Und das ist der Weg eines Sannyasins: wie ein Himmel zu bleiben, unberührt von allem, was geschieht, gleich was es ist. Ein guter Gedanke taucht auf - ein Sannyasin bildet sich nichts darauf ein. Er denkt nicht: »Ich bin voller guter Gedanken, edler Regungen, ich bin ein Segen für die Welt.« Nein, er rühmt sich nicht, denn wenn er es tut, hat er Farbe angenommen. Er beansprucht nicht, gut zu sein. Kommt ein schlechter Gedanke, dann deprimiert ihn das nicht, sonst hat er Farbe angenommen. Gut oder schlecht, Tag oder Nacht, was immer kommt - er schaut einfach zu. Die Jahreszeiten wechseln, und er schaut zu; Jugend wird zu Alter, und er schaut zu - er nimmt keine Farbe an. Das ist die Essenz, die den Sannyasin ausmacht: zu sein wie der Himmel, wie der leere Raum. Und das ist wirklich so. Wenn du glaubst, daß du irgendeine Tönung hast, dann ist das nichts als Denken. Wenn du glaubst, gut oder schlecht geworden zu sein, Sünder oder Heiliger, dann sind das nur Gedanken; denn dein innerer Himmel kann nie und nimmer zu etwas werden. Er ist ein Sein, er wird nie zu etwas. Alles Werden ist ein Sich-identifizieren mit irgendeiner Form, einem Namen, einer Farbe, einer Gestalt, die sich im Raum bildet - alles Werden. Du bist ein Sein, du bist das schon, und brauchst nichts zu werden. Schau dir den Himmel an: der Frühling kommt, und die gesamte Atmosphäre ist von singenden Vögeln erfüllt, von Blumen und ihrem Duft. Dann kommt der Herbst; es kommt der Sommer, es kommt die Regenzeit - alles ändert sich, ändert sich immerzu. Und es geschieht alles im Himmel, aber nichts davon hinterläßt Spuren in ihm. Er bleibt unendlich entfernt; überall gegenwärtig und dennoch entfernt; allem das Nächste und zugleich das Entfernteste. Ein Sannyasin ist genau wie der Himmel: er lebt in der Welt - es kommen Hunger und Sättigung; es kommen Sommer und Winter, gute Tage, schlechte Tage; gute Stimmungen, wo du begeistert, ekstatisch, euphorisch bist; schlechte Stimmungen, wo du deprimiert bist, im dunklen Tal, niedergedrückt - alles kommt und geht, und er bleibt der Wächter auf dem Turm. Er schaut nur zu, und er weiß: alles geht vorbei, viele Dinge werden kommen und wieder gehen. Er ist mit nichts mehr identifiziert. Nicht-Identifikation ist Sannyas, und Sannyas ist das größte Blühen, die größte Blüte, die es überhaupt gibt. Formen und Farben bilden sich im Raum, Aber weder Schwarz noch Weiß Hinterlassen in ihm Spuren. Aus diesem Geist des Geistes entstehen alle Dinge. Weder Tugend noch Laster beflecken ihn. Als Buddha zur höchsten Erleuchtung gelangte, zur äußersten Stufe der Erleuchtung, da wurde er gefragt: »Was ist es, das du erlangt hast?« - Und Buddha lachte und antwortete: »Nichts - denn alles, was ich gefunden habe, war immer schon in mir. Ich habe nichts Neues erlangt. Es ist von aller Ewigkeit her da gewesen, es ist nichts anderes als mein ureigenes Wesen. Aber ich hatte es nicht beachtet, ich hatte es nicht bemerkt. Der Schatz war da seit eh und je, aber ich hatte ihn völlig vergessen.« Du hast vergessen - das ist alles. Das ist deine ganze Unwissenheit. Zwischen dir und einem Buddha gibt es keinen Unterschied, was deine wahre Natur angeht. Es gibt nur den einen Unterschied, daß du dich nicht erinnern kannst, wer du bist - er aber kann sich erinnern. Du und er - ihr gleicht euch aufs Haar; nur: er erinnert sich und du erinnerst dich nicht. Er ist wach, und du schläfst fest und tief. Aber eure Natur ist gleich. Versuche es konkret zu leben - Tilopa will seine Verse als Hilfestellungen, als Methoden verstanden wissen - lebe so in der Welt, als ob du der Himmel bist, mache das zu deinem Lebensstil. Jemand attackiert dich mit seiner Wut und beleidigt dich - beobachte es! Sieh zu, wenn in dir die Wut hochsteigt. Wie ein Wächter auf dem Turm - du schaust und schaust und schaust. Und nur, indem du schaust, ohne das, was kommt, mit dem Blick festzuhalten, ohne dich an etwas zu verlieren, klärt sich allmählich deine Wahrnehmung, und plötzlich in einem einzigen Augenblick, oder vielmehr außerhalb jeder Zeit, geschieht es: plötzlich, zeitlos, bist du voll erwacht - bist du ein Buddha, bist du ein Erleuchteter, ein Erwachter. Was gewinnt ein Buddha dabei? Nichts gewinnt er. Im Gegenteil: er verliert eher vieles: alles Elend, alles Leid, alle Qual, die Angst, den Ehrgeiz, die Eifersucht, den Haß, die Gier und die Gewalt - alles verliert er. Was er gewinnt?
Nichts. Er erlangt nur zurück, was schon immer da war: er erinnert sich.
Der Gesang geht weiter: Die Finsternis von Jahrtausenden Kann nichts gegen die glühende Sonne ausrichten; Die langen Zeitalter des Samsara Können das helle Licht des Geistes nicht verdecken. Obwohl wir Worte brauchen, um die Leere zu erklären, Ist doch die Leere selbst nicht sagbar. Wir sagen zwar: Bewußtsein ist ein helles Licht«, Doch läßt es sich mit Worten und Symbolen nicht erfassen, Bewußtsein ist in seinem Wesen leer, Und doch umfaßt und hält es alle Dinge.
III. DAS WESEN VON FINSTERNIS UND LICHT 13. Februar 1975 Laßt uns zuerst ein wenig darüber meditieren, was Dunkelheit eigentlich ist. Sie gehört zu den größten Geheimnissen des Daseins. Und euer Leben ist zu sehr in Dunkelheit verstrickt, als daß ihr es euch leisten könntet, nicht darüber nachzudenken. Man muß sich über das Wesen der Dunkelheit klarwerden, denn sie ist aus dem gleichen Stoff gemacht wie Schlaf, aus dem gleichen Stoff wie Tod, aus dem gleichen Stoff wie Unwissenheit. Die erste Einsicht, die du gewinnst, wenn du dich in das Wesen der Dunkelheit vertiefst, ist die Tatsache, daß Dunkelheit gar nicht existiert: sie ist da, ohne daß sie existiert. Sie ist geheimnisvoller als Licht - sie hat keinerlei Existenz. Vielmehr im Gegenteil: sie ist nichts anderes als die Abwesenheit von Licht. Es gibt nirgendwo Dunkelheit: sie ist nirgends zu finden, sie ist nichts als eine Abwesenheit. Für sich genommen existiert sie nicht, sie hat keine Existenz »an-und-für-sich« - sie ist nichts weiter als abwesendes Licht. Wo Licht ist, gibt es keine Dunkelheit. Wo kein Licht ist, herrscht Dunkelheit. Dunkelheit ist die Abwesenheit von Licht, nicht die Abwesenheit von irgend etwas: Licht kann daher kommen und gehen - Dunkelheit dagegen bleibt. Sie ist nicht, und doch besteht sie. Licht kannst du herstellen, Licht kannst du vernichten, aber Dunkelheit kannst du weder herstellen noch vernichten: sie ist immer da, ohne überhaupt dazusein. Das zweite, was sich feststellen läßt, wenn man das Wesen der Dunkelheit betrachtet, ist die Tatsache, daß man ihr - da sie schließlich keine positive Existenz hat - auch nichts antun kann. Und versuchst du es trotzdem, dann ziehst du den kürzeren. Dunkelheit läßt sich nicht besiegen - wie könntest du etwas besiegen, das gar nicht da ist? Und wenn du dich geschlagen geben mußt, denkst du: »Da sieht man, wie mächtig sie ist, sie hat mich besiegt.« Das ist absurd! Die Dunkelheit ist machtlos; wie sollte etwas Macht besitzen, das gar nicht da ist? Deine Niederlage beweist nicht die Macht der Dunkelheit, sondern deine Dummheit. Dich überhaupt mit ihr anzulegen - das war dumm von dir. Wie willst du gegen etwas kämpfen, das gar nicht da ist? Und vergeßt nicht: ihr habt schon mit vielen Dingen gekämpft, die es gar nicht gibt, die genau wie Dunkelheit sind. Alle Moral ist nichts anderes als ein Kampf gegen die Dunkelheit - das macht sie so töricht. Alle Moral ist ausnahmslos ein Kampf mit der Dunkelheit, ein Kampf mit etwas, was es an sich nicht gibt: Der Haß ist nichts Wirkliches - er ist nur die Abwesenheit der Liebe. Die Wut ist nichts Wirkliches - sie ist nur die Abwesenheit des Mitgefühls. Die Unwissenheit ist nichts Wirkliches - sie ist nur die Abwesenheit der Buddhaschaft, der Erleuchtung. Der Sex ist nichts Wirkliches - er ist nur die Abwesenheit der Transzendenz. Alle Moral ist ein Kampf mit Schatten. Ein Moralist kann seinen Kampf nie gewinnen, es ist nicht möglich. Am Ende muß er die Waffen strecken und sich eingestehen, daß seine ganze Mühe unsinnig war. Und das ist auch der Unterschied zwischen Religion und Moral: Moral versucht, mit der Dunkelheit zu kämpfen, und Religion versucht, das Licht zu erwecken, das im Innern verborgen ist. Sie kümmert sich nicht erst um die Dunkelheit, sie versucht von vornherein, das innere Licht zu finden. Sobald dies Licht leuchtet, verschwindet die Dunkelheit von ganz allein. Bei Licht brauchst du nichts gegen die Dunkelheit zu unternehmen - sie ist einfach nicht mehr da. Das ist also das zweite: daß man nichts direkt gegen die Dunkelheit unternehmen kann. Wenn du etwas an der Dunkelheit ändern willst, dann bringe Licht hinein. Schalte das Licht aus, und Dunkelheit tritt ein; schalte das Licht an, und die Dunkelheit ist wie weggeblasen - aber du kannst die Dunkelheit weder an- noch ausschalten: du kannst sie nirgends herholen und nirgends hintreiben. Wenn du etwas mit der Dunkelheit anfangen willst, dann mußt du den Umweg über das Licht wählen, es geht nur indirekt. Kämpfe nie mit Dingen, die es nicht gibt. Der Verstand möchte gern kämpfen, aber das ist eine gefährliche Versuchung. Du verschwendest nur deine Energie und verzettelst dein Leben. Laß dich nicht vom Verstand verführen. Prüfe ganz einfach, ob etwas wirklich existiert, oder ob es nur die Abwesenheit von etwas anderem ist, dann kämpfe nicht damit, sondern finde heraus, was es ist, das fehlt. Dann bist du auf der richtigen Spur. Das dritte, was es über die Dunkelheit zu wissen gilt, ist: daß sie millionenfach in deine Existenz hineinverwoben ist. Sobald du wütend wirst, verschwindet dein inneres Licht. Ja, du wirst überhaupt nur wütend, weil das Licht verschwunden ist, weil die Dunkelheit hereingebrochen ist. Du kannst nur wütend werden, wenn du unbewußt bist; bewußt kannst du nicht wütend sein. Probiere es aus: entweder du verlierst deine Bewußtheit, und die Wut übermannt dich, oder aber du bleibst bewußt, und es kann keine Wut aufkommen. Du kannst einfach nicht bewußt wütend sein. Was hat das zu bedeuten? Das bedeutet, daß das Bewußtsein seiner Natur nach wie Licht ist, und daß das Wesen von Wut der Dunkelheit gleicht. Zusammen können sie nicht existieren. Wo Licht ist, kann nicht zugleich Dunkelheit herrschen. Wenn du bewußt bist, kannst du nicht wütend sein. Ständig kommen Leute zu mir und fragen, wie sie ihre Wut abstellen können. Sie stellen die falsche Frage - und wenn du falsch fragst, ist es sehr schwierig, die richtige Antwort zu bekommen. Stellt erst die richtigen Fragen. Fragt nicht, wie ihr die Dunkelheit vertreiben könnt, eure Angste und seelischen Qualen; analysiert, wie sie funktionieren, wo sie überhaupt herkommen. Sie sind nur da, weil ihr nicht genügend bewußt seid. Fragt also vielmehr: wie ihr ständig bewußter werden könnt. Wenn du fragst, wie du die Wut abstellen sollst, fällst du irgendeinem Moralisten zum Opfer. Wenn du aber fragst, wie du bewußter werden kannst, so daß die Wut aufhört, so daß die Wollust aufhört, die Gier aufhört, dann bist du auf der richtigen Spur, dann wird deine Suche religiös. Moral ist Falschgeld, mit dem die Menschen getäuscht werden; sie hat nichts mit Religion zu tun. Religion hat nichts mit Moralität zu schaffen - weil Religion nichts mit Finsternis zu tun hat. Sie ist eine positive Anstrengung, euch
aufzuwecken. Sie fragt nicht nach deinem Charakter; was du tust, hat nichts zu bedeuten, und du kannst es nicht ändern. Du kannst es übertünchen, aber ändern kannst du es nicht. Du kannst es in den schönsten Farben darstellen und ausmalen, aber ändern kannst du es nicht. Es gibt nur eine Verwandlung, nur eine Revolution, und diese Revolution kommt nicht aus der Besorgnis um deinen Charakter, deine Wandlungen und Taten, sondern aus der Suche nach dem, was du bist. Sein ist ein positives Phänomen; sobald deine wahre Natur erweckt ist, wach und bewußt ist, verschwindet plötzlich alle Dunkelheit - dein Wesen ist wie das Licht. Und viertens - und danach können wir auf die Verse eingehen - müßt ihr verstehen, daß Schlaf nichts anderes als Dunkelheit ist. Es ist nicht Zufall, daß man bei Licht nicht schlafen kann, es ist ganz natürlich. Dunkelheit und Schlaf sind verwandt; darum schläft es sich leichter bei Nacht. Wenn überall Dunkelheit herrscht, ist die richtige Atmosphäre hergestellt, in der man leicht einschlafen kann. Und was geschieht im Schlaf? Man verliert nach und nach sein Bewußtsein. Dann kommt eine Zwischenzeit, in der man träumt: im Träumen ist man halb bewußt, halb unbewußt, irgendwo dazwischen, auf der Schwelle zur völligen Unbewußtheit. Auf dem Weg dorthin kommen Träume auf. Träume bedeuten nichts anderes, als daß man halb wach ist und halb schläft. Darum fühlt man sich, wenn man die ganze Nacht geträumt hat, morgens erschöpft. Und auch, wenn man die ganze Nacht vom Träumen abgehalten wurde, fühlt man sich hinterher erschöpft. Träume erfüllen nämlich einen bestimmten Zweck. In deinen wachen Stunden sammelt sich vieles an: Gedanken, Gefühle, unabgeschlossene Dinge bleiben im Geist hängen. Du hast auf der Straße eine schöne Frau gesehen, und warst auf einmal scharf auf sie. Aber du bist ein Mann von Charakter, der weiß, was sich gehört, zivilisiert und wohlerzogen, und so hast du das Verlangen verdrängt, du hast es dir nicht einmal eingestanden und bist deinen Geschäften nachgegangen. Ein unerfüllter Wunsch ist in dir hängengeblieben. Er muß erfüllt werden, sonst kannst du nicht tief und fest schlafen. Es wird dich immer wieder zurückzerren und sagen: »Steh auf! Diese Frau war wirklich schön, ihr Körper war attraktiv. Und was machst du Dummkopf? Du liegst hier und tust nichts! Aufgestanden! Suche sie, dir ist eine scharfe Sache durch die Lappen gegangen!« Hängengebliebene Wünsche lassen dich nicht schlafen. Also produziert der Geist einen Traum: du gehst wieder auf der Straße entlang und die schöne Frau geht vorbei. Aber diesmal bist du allein, unbewacht von der Zivilisation. Du kannst deine guten Manieren vergessen, kein Anstand ist erforderlich. Jetzt bist du in deiner ureigenen Welt, in die kein Polizist eindringen kann, in der kein Richter zu Gericht sitzt. Du bist einfach allein, nicht einmal ein Zeuge ist anwesend. Jetzt kannst du deiner Wollust freien Lauf lassen: du hast einen sexuellen Traum. Dieser Traum erfüllt den hängengebliebenen Wunsch, und danach fällst du in Schlaf. Aber wenn du ununterbrochen träumst, dann fühlst du dich genauso erschöpft. In den U. S. A. gibt es viele sogenannte Schlaflabors, und man hat dort folgende Entdeckung gemacht: wenn jemand drei Wochen lang am Träumen gehindert wird, wird er verrückt. Man kann jemanden immer wieder aufwecken, sobald er zu träumen anfängt: denn es gibt sichtbare Zeichen dafür, wann jemand zu träumen beginnt. Vor allem seine Augenlider fangen zu zucken an - das bedeutet, daß er einen Traum sieht. Sieht er keinen Traum, dann ruhen seine Augenlider, nur beim Träumen arbeiten die Augen mit. Weckt man ihn also die ganze Nacht lang immer dann auf, wenn er zu träumen anfängt, dann wird er binnen drei Wochen verrückt. Schlaf scheint nicht so wichtig zu sein wie Träumen. Weckt man jemanden immer dann auf, wenn er gerade nicht träumt, dann fühlt er sich zwar hinterher müde, aber er wird nicht verrückt. Was bedeutet das? Das heißt, daß Träume unentbehrlich für uns sind, wir sind so unwirklich, unser ganzes Dasein ist eine solche Illusion - das, was die Hindus Maya nennen - daß Träumen eine Lebensnotwendigkeit ist. Du kannst ohne Träume nicht leben: Träume sind deine Nahrung, Träume sind deine Stärke, ohne Träume drehst du durch. Träume sind ein Ventil für Wahnsinn, und erst, wenn das Ventil seine Arbeit getan hat, kannst du in Schlaf versinken. Vom Wachzustand also fällst du ins Träumen und aus dem Träumen fällst du in Schlaf. Nacht für Nacht hat der normale Mensch acht Traumzyklen, und jeweils zwischen zwei Traumzyklen hat er ein paar Augenblicke von Tiefschlaf. Und in diesem Tiefschlaf verschwindet alles Bewußtsein, dann wird es vollkommen dunkel. Man bleibt aber trotzdem noch der Grenze nah: denn im Notfall wacht man auf. Brennt das Haus, dann taucht man blitzschnell wieder zum wachen Bewußtsein auf. Oder, wenn eine Mutter ihr Kind schreien hört, kommt sie, so schnell sie kann, zum Wachzustand zurück. Das bedeutet also, daß man sich nie weit von der Grenze entfernt; man ist zwar in tiefer Dunkelheit, aber man bleibt der Grenze nahe. Im Tod fällt man bis zum Mittelpunkt. Der Tod und der Schlaf sind Brüder, sie sind aus gleichem Stoff. Im Schlaf fällst du jeden Tag in die Dunkelheit, in völlige Dunkelheit; das heißt, du wirst vollkommen unbewußt. Du gehst zum genauen Gegenpol des Buddhabewußtseins. Ein Buddha ist restlos erwacht; und du fällst Nacht für Nacht in einen völlig blinden Zustand, in völlige Finsternis. In der Bhagavadgita sagt Krishna zu Arjuna: »Auch wenn alle fest schlafen, bleibt der Yogi noch wach.« Das heißt nicht, daß er nie schläft. Er schläft zwar, aber nur körperlich; nur der Körper ruht - Träume hat er nicht; denn er hat keine Wünsche, und demnach auch keine unerfüllten Wünsche. Und sein Schlaf ist nicht wie der eure - selbst in der tiefsten Ruhe bleibt sein Bewußtsein hell, brennt sein Bewußtsein wie eine Flamme. Jede Nacht fällst du beim Einschlafen in tiefe Unbewußtheit, in ein Koma. Im Tod fällst du in ein noch tieferes Koma. Beide Zustände sind wie Finsternis, und darum hast du Angst vor ihr: sie erinnert dich an den Tod. Und es gibt Leute, die sich auch vor dem Schlaf fürchten, denn auch der Schlaf ist eine Art Tod. Mir sind viele Menschen begegnet, die
nicht schlafen können, obwohl sie schlafen wollen. Als ich mir ihre geistige Verfassung näher ansah, erkannte ich, daß sie im Grunde Angst hatten. Sie sagen, daß sie gerne schlafen möchten, weil sie müde sind: aber tief drinnen fürchten sie sich vor dem Schlaf, und dadurch entsteht das ganze Problem. Neunzig Prozent aller Schlaflosigkeit ist auf die Angst vor dem Schlaf zurückzuführen. Wer Angst vor der Dunkelheit hat, hat auch Angst vor dem Schlaf. Und diese Angst wiederum ist nichts anderes als die Angst vor dem Tod. Wenn du verstanden hast, daß dies alles nur Erscheinungsformen der Dunkelheit sind, deine wahre Natur aber wie das Licht ist, verändert sich das Bild: dann gibt es füi dich keinen Schlaf mehr, sondern nur noch Ruhe. Dann gibt es für dich keinen Tod mehr, sondern nur einen Wechsel der Kleider, einen Körper-Austausch. Aber dahin kommst du nur, wenn du die innere Flamme, deine Natur, erkannt hast - den inneren Kern deines Wesens. Und jetzt können wir auf Tilopa eingehen. Die Finsternis von Jahrtausenden Kann nichts gegen die glühende Sonne ausrichten; Die langen Zeitalter des Samsara Können das helle Licht des Geistes nicht verdecken. Diejenigen, die erwacht sind, haben erkannt, daß ... Die Finsternis von Jahrtausenden nichts gegen Die glühende Sonne ausrichten kann. Du magst seit Millionen von Leben in Finsternis herumgewandert sein, aber das kann dein inneres Licht nicht zerstören, denn Dunkelheit kann nicht aggressiv sein. Sie ist es einfach nicht: etwas, das es nicht gibt - wie kann das aggressiv sein? Die Dunkelheit kann das Licht nicht zerstören. Wie könnte sie auch? Selbst die allerkleinste Flamme kann von der Dunkelheit nicht gelöscht werden, die Dunkelheit kann nicht über sie herfallen, kann nicht mit ihr kämpfen - wie könnte Dunkelheit eine Flamme zerstören? Wie könnte Dunkelheit eine Flamme verhüllen? Es ist unmöglich, das hat es nie gegeben, denn das kann es nicht geben. Aber die Menschen denken immer nur in Begriffen von Kampf: sie sehen in der Dunkelheit den Gegner des Lichts. Das ist absurd! - Die Dunkelheit kann nicht gegen das Licht sein. Wie kann eine Abwesenheit gegen etwas sein, wovon es die Abwesenheit ist? Die Dunkelheit kann nicht gegen das Licht sein - es findet kein Kampf statt. Sie ist nichts als die Abwesenheit, die pure Abwesenheit, bloße Ohnmacht - Ihr aber sagt ständig Dinge wie: »Was konnte ich anderes tun? Die Wut überwältigte mich einfach.« Aber das ist gar nicht möglich. »Ich wurde von Habgier überwältigt« - das ist unmöglich. Habgier kann nicht angreifen, Wut kann nicht angreifen: sie sind ihrer Natur nach Dunkelheit - und dein Wesen ist Licht: die bloße Möglichkeit des Angriffs ist also ausgeschlossen. Wenn die Wut hochkommt, beweist das nur, daß deine innere Flamme völlig in Vergessenheit geraten ist, daß du sie ganz und gar aus dem Blick verloren hast, daß du nicht weißt, daß es sie gibt. Diese Vergeßlichkeit kann dich blind machen, aber keine Dunkelheit der Welt. Die eigentliche Dunkelheit ist deine eigene Vergeßlichkeit. Und mit deiner Vergeßlichkeit öffnest du dein Haus für Wut, Gier, Wollust, Haß und Eifersucht. - Nur: angreifen tun sie dich nicht. Vergiß es nicht: zuerst mußt du sie einladen, erst dann können sie kommen. Sie kommen aufgrund deiner Einladung - sie können nicht angreifen, sie kommen als geladene Gäste. Du magst dich nicht erinnern, sie je eingeladen zu haben, das kannst du leicht vergessen haben, weil du alles mögliche vergessen kannst. Vergeßlichkeit ist die wahre Dunkelheit. Und aus Vergeßlichkeit geschieht alles mögliche. Du bist wie ein Trunkenbold, du hast völlig vergessen, wer du bist, wohin du gehst, und weswegen. Ohne Orientierung tappst du im Dunkeln herum, wie ein Betrunkener. Deshalb bestehen alle religiösen Lehren auf einer Forderung: daß man sich darauf besinnt, wer man ist. Vergeßlichkeit ist die Krankheit, und Selbsterinnerung ist das einzige Heilmittel. Versuche, dich deiner selbst zu erinnern! Aber du sagst: »Ich kenne mich doch und erinnere mich, wer ich bin. Wovon redest du überhaupt?« Mach einmal folgendes Experiment. Lege deine Armbanduhr vor dich hin und sieh auf den Sekundenzeiger. Denke dabei nur an eines: »Ich blicke auf diesen Sekundenzeiger.« Du wirst dich nicht einmal drei Sekunden lang daran erinnern können. Du wirst es immer wieder vergessen - etwas so Einfaches: »Ich blicke auf diesen Zeiger und will nicht vergessen, daß ich blicke.« Du wirst es vergessen, viele Male vergessen - alles mögliche wird dir in den Sinn kommen: du hast eine Verabredung, und nur dadurch, daß du auf diese Uhr blickst, kommt dir die Assoziation: »Um fünf Uhr bin ich mit meinem Freund verabredet.« Plötzlich schiebt sich dieser Gedanke dazwischen, und du hast vergessen, was du tust. Oder vielleicht mußt du an die Schweiz denken, indem du auf die Uhr blickst, weil sie in der Schweiz hergestellt wurde. Nur indem du auf die Uhr blickst, mag dir der Gedanke kommen, »Wie dumm von mir! Was verschwende ich hier meine Zeit?« Aber du wirst nicht in der Lage sein, dich auch nur drei Sekunden lang daran zu erinnern, daß du auf den Sekundenzeiger blickst, der immer weiter tickt. Wenn du es eine Minute lang fertigbringst, dir deiner selbst bewußt zu bleiben, dann verspreche ich dir, dich zum Buddha zu machen. Bloß eine Minute lang, sechzig Sekunden - das wird reichen. Jetzt denkst du: »So billig? So leicht?« - so leicht ist es nicht. Du weißt nur nicht, wie tief deine Vergeßlichkeit geht. Du wirst es nicht eine Minute lang durchhalten können, dich an dich selbst zu erinnern, ohne daß ein einziger Gedanke störend dazwischenfunkt.
Das ist die wahre Dunkelheit. Wenn du dich erinnerst, wirst du hell. Wenn du dich vergißt, wirst du dunkel. Und in der Dunkelheit kommen natürlich alle möglichen Diebe, überfallen dich alle möglichen Räuber, fällst du in alle möglichen Gruben. Selbsterinnerung ist der Schlüssel. Versuche, dich mehr und mehr an dich zu erinnern, denn je mehr du dich bemühst, deiner selbst bewußt zu bleiben, desto mehr gewinnst du deine Mitte, desto mehr gelangst du zu dir selbst. Dein wandernder Geist fällt auf dich selbst zurück. Sonst bist du ewig nach irgendwohin unterwegs: in deinem Kopf entstehen ständig neue Wünsche, du jagst ständig deinen Phantasien und Wünschen nach - in alle Richtungen gleichzeitig. Darum bist du zersplittert, uneins mit dir selbst, und deine Flamme, die innere Flamme, flackert wie ein Blatt im Sturmwind. Wenn deine innere Flamme zu flackern aufhört, geht plötzlich in dir eine Verwandlung vor sich, eine Transformation: ein neues Wesen wird geboren, ein Lichtwesen. So wie du jetzt bist, ist dein Wesen dunkel. Du bist nichts als Abwesenheit von etwas, das möglich ist. In Wirklichkeit gibt es dich noch gar nicht, du bist noch nicht geboren. Du hast viele Geburten und viele Tode hinter dir, aber du wurdest noch nicht wirklich geboren. Deine wirkliche Geburt steht noch bevor, und ihr Merkmal wird sein: dein inneres Wesen hat sich von Vergeßlichkeit zu Selbsterinnerung verwandelt. Ich gebe euch keine Disziplin; ich sage euch nicht, das eine zu tun und das andere zu lassen. Meine Disziplin ist sehr leicht, meine Disziplin ist: tu was du willst - aber tue es, ohne dich zu vergessen. Vergiß nicht, daß du tust, was du gerade tust. Wenn du gehst, erinnere dich, daß du gehst. Du brauchst es nicht in Worte zu fassen, denn Worte werden nicht helfen: sie werden dich nur wieder ablenken. Du brauchst nicht beim Gehen zu sagen: »Ich gehe«. Denn wenn du sagst, »ich gehe, ich gehe«, dann wird dieses »Ich-gehe« zu einer Form von Vergeßlichkeit, und du wirst dich nicht mehr an dein wirkliches Gehen erinnern. Sei einfach völlig bei der Sache; nicht nötig, es in Worte zu fassen. Ich mache Worte, weil ich muß, weil ich zu euch spreche. Aber wenn du gehst, brauchst du dich nur an die Tatsache selbst zu erinnern, an das Gehen: jeder Schritt muß voll bewußt getan werden. Und wenn du ißt, dann iß. Ich mache keine Vorschriften, was du essen und was du nicht essen sollst. Iß, was du willst, aber erinnere dich daran, daß du ißt. Und dann wirst du bald feststellen, daß du so manches nicht mehr tun kannst ... Wenn du mit Selbstbesinnung ißt, dann bringst du es nicht mehr fertig, Fleisch zu essen, es ist nicht möglich, etwas dermaßen Gewaltsames zu tun, wenn du dich erinnerst. Es ist unmöglich, jemanden Schaden zuzufügen, wenn du dir deiner bewußt bist. Denn wenn du dich an dich selbst erinnerst, dann erkennst du plötzlich überall das gleiche Licht: die gleiche Flamme leuchtet überall, in jedem Körper, in jeder Form. Je mehr du dein eigenes Wesen erkennst, desto durchscheinender werden dir die anderen Wesen. Wie kannst du töten, um zu essen? Das geht einfach nicht mehr. Nicht, daß es eine Frage der Ideologie wäre - wenn es aus Ideologie geschieht, ist es falsch. Wenn du nur aus Prinzip kein Dieb bist, dann ist deine Ehrlichkeit unecht. Du bist dann trotzdem ein Dieb, nur auf unmerkliche Weise. Wenn du aus Prinzip gewaltlos bist, dann versteckt sich hinter deiner Gewaltlosigkeit immer noch Gewalt. Nein, Religion hat nichts mit angelerntem Verhalten zu tun. Moralisches Verhalten läßt sich einstudieren, und darum führt Moral auch zur Heuchelei. Moral setzt dir falsche Gesichter auf. Religion bringt dein unverfälschtes Wesen zum Vorschein, sie läßt sich nicht einstudieren. Wie läßt sich das >Sein< üben? Du wirst ganz einfach bewußter, und die Dinge ändern sich. Du wirst einfach lichthafter, und die Dunkelheit verschwindet. Die Finsternis von Jahrtausenden Kann nichts gegen die glühende Sonne ausrichten; Seit Millionen von Leben, Jahrtausende über Jahrtausende, hast du in der Dunkelheit gelebt. Aber du brauchst dich deswegen weder depremiert noch hoffnungslos zu fühlen, denn selbst wenn du Millionen von Leben in der Dunkelheit verbracht hast - du kannst in genau diesem Augenblick zu Licht gelangen. Stellt euch ein Haus vor, das seit hundert Jahren verschlossen geblieben ist, dunkel, und du gehst hinein und zündest ein Licht an. Wird die Dunkelheit etwa sagen: »Ich bin hundert Jahre alt und dieses Licht ist erst ein Baby?« Wird die Dunkelheit sagen: »Ich werde nicht weichen, laß dein Licht erst hundert Jahre brennen, dann will ich gern gehen?" Nein, selbst eine Babyflamme genügt, um uralte Dunkelheit zu verscheuchen. Warum? Immerhin muß sich doch die Dunkelheit in hundert Jahren sehr tief eingebürgert haben! Aber nein, Dunkelheit hat kein Sein, sie kann keine Wurzeln schlagen. Sie hatte einfach auf das Licht gewartet - im Augenblick, wo das Licht hereinkommt, verschwindet die Finsternis. Sie kann sich nicht wehren, weil sie keine positive Existenz besitzt. Es kommen Leute zu mir, die sagen: »Du lehrst, daß plötzliche Erleuchtung möglich sei. Was ist dann mit unseren früheren Leben und unseren vergangenen Karmas?« Gar nichts ist. Sie haben die Natur der Finsternis. Ob du gemordet hast, ein Dieb gewesen bist, ein Räuber, oder gar ein Hitler, ein Dschingis-Khan, oder sonst wer, und sei es der größte Verbrecher, es macht nicht den geringsten Unterschied. Sobald du dir deiner selbst bewußt wirst, verschwindet der ganze Spuk der Vergangenheit augenblicklich. Keinen Augenblick hält er es länger aus. Du hast gemordet - aber jetzt kannst du nicht mehr morden; du hast gemordet, weil du dir nicht bewußt warst, wer du warst: du hast nicht gewußt, was du tatest. Als Jesus am Kreuz sagte: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun,« meinte er damit nichts anderes als dies: »Diese Leute sind keine Wesen des Lichts, sie sind sich nicht bewußt, wer sie sind. Sie handeln in völliger Selbstvergessenheit, sie tasten und stolpern im Finstern herum. Vergib ihnen, sie sind ganz einfach nicht verantwortlich für das, was sie tun.« Wie kann jemand verantwortlich gemacht werden, wenn er nicht weiß, wer er ist? Wenn ein Trinker jemanden tötet, wird ihm selbst vor Gericht vergeben, wenn bewiesen werden kann, daß er die Tat in
völliger Unzurechnungsfähigkeit begangen hat. Warum? Weil man ihn für sein Trinken verantwortlich machen kann, aber nicht für den Mord. Wenn ein Wahnsinniger jemanden tötet, kann er nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil er nicht er selbst ist. Verantwortlichkeit bedeutet Selbsterkenntnis. Es ist ganz gleich, was du getan hast - du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen, glaub es mir! Es ist dir passiert, weil du nicht wußtest, was du tatest. Zünde dein inneres Licht an - suche danach, du wirst es finden, es ist wirklich da - und plötzlich verschwindet die ganze Vergangenheit, als wäre alles ein Traum gewesen. Und wirklich, es war ein Traum, denn du warst nicht bewußt. Alle »Karmas« sind im Traum geschehen - sie sind »aus dem gleichen Stoff, aus dem die Träume sind«. Du brauchst nicht darauf zu warten, daß sich deine Karmas erfüllen. Wenn du das tust, dann kannst du Ewigkeiten warten. Und selbst dann wirst du nie aus dem Samsara, dem Weltrad, herauskommen, weil du nicht einfach Ewigkeiten herumsitzen kannst: Du wirst neue Taten begehen und der Teufelskreis wird sich immer wieder von neuem wiederholen. Du wirst weiter und weiter im Kreise herumgehen, du wirst weiter blinde Taten begehen, und deine neuen Taten ziehen wieder zukünftige Taten nach sich - und wann wird es je ein Ende nehmen? Nein, du brauchst nicht zu warten. Werde einfach bewußt, und plötzlich fallen alle Karmas von dir ab. In einem einzigen Augenblick restloser Bewußtheit verschwindet die ganze Vergangenheit, fällt sie in Schutt und Asche. Dies ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des Ostens. Die Christen finden sie unbegreiflich. Sie bestehen unerbittlich auf dem Gedanken des »Jüngsten Gerichts« - daß jeder am Ende nach seinen Taten gerichtet werden muß. Also irrt sich Jesus, wenn er sagt: »Herr, vergib diesen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Aber auch die Juden können diesen Punkt nicht verstehen, und die Mohammedaner ebensowenig. Die Hindus sind wirklich ein sehr mutiges Volk, denn sie sind zum Kern dieses Problems vorgedrungen: daß es nicht auf das Handeln ankommt, sondern auf das Sein. Sobald du dein inneres Sein, dein inneres Licht erkannt hast, gehörst du nicht mehr dieser Welt an, und dann ist alles, was in der Vergangenheit geschehen ist, wie im Traum geschehen. Darum sehen die Hindus diese ganze Welt als Traum an - ausgenommen du selbst: nur du, der Träumer, ist kein Traum. Aber alles andere ist Traum. Seht nur die Schönheit dieser Wahrheit! Nur der Träumer ist kein Traum, denn das ginge nicht - sonst könnte der Traum nicht existieren. Jedenfalls etwas - der Träumende - muß etwas Reales sein. Tagsüber bist du wach und tust alles mögliche: du gehst ins Büro, du gehst zum Markt, du arbeitest auf einem Bauernhof, du tust tausenderlei Dinge. Nachts dann, wenn du schläfst, vergißt du alles. Die Tageswelt verschwindet eine neue Welt beginnt, die Welt des Traumes. Heute sagen die Wissenschaftler, daß auf das Träumen ebensoviel Zeit verwendet werden muß, wie auf das Wachen. Wachstunden und Traumstunden müssen sich genau die Waage halten. Wenn von sechzig Jahren zwanzig Jahre auf die Arbeit der Wachzeit gehen, müssen zwanzig Jahre auf das Träumen gehen. Die gleiche Zeit - ganz genau die gleiche Zeit muß für das Träumen reserviert werden. Die Träume sind also genauso wirklich wie die wachen Stunden. Nachts träumst du und vergißt die Tageswelt. Und im Tiefschlaf vergißt du sowohl die Tageswelt, wie auch die Traumwelt. Morgens dann tritt die Tageswelt wieder in Erscheinung, und du vergißt sowohl deine Traumwelt als deinen Schlaf. Aber eines bleibt immer gleich - DU. Wer ist es, der sich an die Träume erinnert? Wer ist es, der am Morgen sagt: »Letzte Nacht habe ich geträumt ...«? Wer ist es, der am Morgen sagt: »Letzte Nacht habe ich ganz tief und traumlos geschlafen?« Wer? Es muß also einen Zeugen geben, der abseits steht, der immer daneben steht und ständig zuschaut. Die wachen Stunden kommen, die Träume kommen, der Schlaf kommt - und einer steht daneben und schaut immer nur zu. Nur dieser Eine ist wirklich, denn er ist in allen Zuständen zugegen. Alles andere kommt und geht, aber dieser Eine ist immer anwesend, er ist das einzig Bleibende in Dir. Diesem Zeugen bleibe auf der Spur. Werde immer wachsamer, werde immer mehr zum Zeugen. Statt ein Mitspieler in der Welt zu sein, werde lieber zum Zeugen, zum Zuschauer. Alles übrige ist ein Traum - nur der Träumer ist wirklich. Es muß ihn geben, wie sonst sind Träume möglich? Er ist die Voraussetzung; Illusionen sind nur möglich, weil es ihn gibt. Und wenn du dich erst einmal an diese innere Instanz erinnerst, fängst du zu lachen an. Was war das für ein Leben, als du dich nicht an dich erinnert hast? Du warst ein Betrunkener, der vom einen Zustand zum andern torkelte, ohne zu wissen, warum, ziellos taumelnd. Aber: Die Finsternis von Jahrtausenden Kann nichts gegen die glühende Sonne ausrichten; Die langen Zeitalter des Samsara ... die vielen, vielen Jahrtausende, die Aeonen dieser Welt - die »Kalpas«, Können das helle Licht des Geistes nicht verdecken. Es ist immer da, es ist dein wirkliches Wesen.
Obwohl wir Worte brauchen, um die Leere zu erklären, Ist doch die Leere selbst nicht sagbar. Wir sagen zwar: »Bewußtsein ist ein helles Licht«, Doch läßt es sich mit Worten und Symbolen nicht erfassen. Es ist gut, wenn man folgendes versteht. Es gibt drei Möglichkeiten, sich der Wirklichkeit zu stellen. Die eine ist der empirische Weg, der Weg des wissenschaftlichen Geistes - das Experiment mit der objektiven Welt: nichts zu akzeptieren, was nicht durch das Experiment bewiesen wurde. Dann gibt es den zweiten Weg, den des logischen Verstandes. Er experimentiert nicht - er denkt nur, er argumentiert, findet das Für und Wider heraus und kommt allein durch Denkprozesse, durch Verstandesarbeit, zu endgültigen Schlüssen. Und dann gibt es schließlich noch den dritten Weg - den metaphorischen, den Weg der Dichtung und der Religion. Diese drei Zugangsmöglichkeiten gibt es - drei Dimensionen, durch die man Zugang zur Wirklichkeit sucht. Die Wissenschaft kann über die Welt der Objekte nicht hinausgehen, ihr Prinzip selbst legt ihr diese Schranke auf. Die Wissenschaft kann nicht über das Außerliche hinausgehen, denn nur das Außere läßt sich experimentell überprüfen. Philosophie und Logik dagegen können nicht über das Subjektive hinausgelangen, denn alle reine Gedankenarbeit muß in den Schranken des Subjekts bleiben. Wissenschaft ist objektiv, Logik und Philosophie sind subjektiv. Die Religion geht über beides hinaus, die Dichtung geht über beides hinaus: sie bilden die goldene Brücke, die das Objekt mit dem Subjekt verbindet. Aber alles wird dann zum Chaos - wie kann es auch anders sein? - alles wird kreativ. Ja, ohne Chaos kann es gar keine Kreativität geben. Aber alles wird dabei ununterscheidbar, Scheidelinien lösen sich auf. Ich kann es auch so sagen: Wissenschaft ist der Weg des Tageslichts, des hellen Mittags: alles ist klar, deutlich, mit Trennlinien versehen, das Andere steht sichtbar vor dir. Die Logik ist der Weg der Nacht - man tastet im Dunkeln herum nur mit dem Verstand, ohne jede experimentelle Unterstützung, durch bloßes Denken. Und Dichtung und Religion sind Wege des Zwielichts, sie liegen in der Mitte: Der Tag ist nicht mehr, die Helligkeit des Mittags ist verschwunden, die Dinge sind nicht so deutlich und klar. Die Nacht ist noch nicht hereingebrochen, die Dunkelheit hat noch nicht alles eingehüllt. Helligkeit und Dunkelheit begegnen sich, ein sanftes Grau herrscht vor, weder Weiß noch Schwarz - Grenzen treffen sich und verschwimmen, alles wird ununterscheidbar, alles wird zu allem. Das ist der metaphorische Weg. Darum spricht die Dichtung in Metaphern. Und die Religion, die höchste Dichtung, spricht ebenfalls in Metaphern. Vergeßt aber nicht, daß man diese Metaphern nicht wörtlich nehmen darf, sonst geht man am Wesentlichen vorbei. Wenn ich vom »inneren Licht« spreche, ist das eine Metapher. Damit wird etwas angedeutet - aber nicht bezeichnet, nicht definiert. Etwas, das wie Licht ist, also nicht wirklich, sondern nur metaphorisch. Und das Problem entsteht dadurch, daß sich Religion metaphorisch ausdrücken muß, daß sie sich gar nicht anders ausdrücken kann. Es geht nicht anders. Wenn ich eine andere Welt besucht habe und dort Blumen gesehen habe, die es auf diesem Planeten nicht gibt, und euch ein Bild von diesen Blumen übermitteln will - was bleibt mir anderes übrig, als in Gleichnissen und Metaphern zu sprechen? Ich kann sagen »wie Rosen« - aber es sind keine Rosen; sonst könnte ich das »wie« weglassen und gleich »Rosen« sagen. Aber es sind keine Rosen, sie sind von anderer Art. Das »Wie« ist die Brücke zwischen meiner Kenntnis der anderen Welt und eurer Kenntnis dieser Welt. Gleichnisse und Metaphern sind also notwendig. Rosen kennt ihr - jene Blumen aus der andern Welt kennt ihr nicht. Ich aber kenne die Blumen der andern Welt, und ich versuche, euch ein Bild von jener andern Welt zu vermitteln - also vergleiche ich sie mit Rosen. Wenn ihr selbst in der andern Welt ankommt und keine Rosen dort findet, dann seid mir bitte nicht böse. Stellt mich nicht vor Gericht - ich habe es nie wörtlich gemeint. Es kann helfen, sich das Flair von Rosen vorzustellen aber das ist nur ein Wink, ein Fingerzeig: ein Finger, der auf den Mond zeigt. Klammert euch nicht an den Finger; der Finger hat nichts damit zu tun - schaut auf den Mond und vergeßt den Finger. Das ist der Sinn einer Metapher; klammert euch nicht an Metaphern. Viele Leute fischen völlig im Trüben, nur weil sie das nicht unterscheiden können. Sie klammern sich an die Metapher. Ich rede von einem »inneren Licht« und prompt kommt jemand ein paar Tage später zu mir und verkündet, er habe das innere Licht gesehen. Diese Leute finden tatsächlich Rosen in der anderen Welt, auch wenn es dort gar keine gibt. Weil sie die metaphorische Ausdrucksweise nicht verstehen, verlieren sich viele Leute in purer Phantasie. P. D. Ouspensky hatte hierfür immer einen festen Ausdruck parat - er nannte es »Imaginazione«. Sobald ihm jemand von inneren Erlebnissen berichtete - »die Kundalini steigt auf«; »ich habe in meinem Kopf ein Licht aufleuchten sehen«; »meine Chakras öffnen sich«, fiel er ihm sofort ins Wort und erklärte: »Imaginazione«. Also fragten ihn die Leute: was ist das, »Imaginazione«? Dann antwortete Ouspensky: »Krankhafte Einbildung«, und verlor kein weiteres Wort darüber. Er kommentierte nur kurz angebunden: »Also wieder ein Opfer.« Die Religion spricht in Metaphern, anders kann sie nicht sprechen, denn Religion spricht von der »anderen« Welt, vom »Jenseitigen«. Sie versucht, Vergleichbares in dieser Welt zu finden, sie benutzt irrelevante Worte, aber irgendwie sind diese irrelevanten Worte die einzig verfügbaren Worte, also muß man sie benutzen. Dichtung ist leicht zu verstehen, aber Religion nicht. Weil man bei der Dichtung von vornherein weiß, daß es sich um Einbildung handelt, gibt es da kein Problem. Wissenschaft zu verstehen, macht auch keine Schwierigkeiten, weil man weiß, es ist keine Einbildung, sondern empirisches Faktenwissen. Dichtung ist nicht schwer zu verstehen, denn du weißt, es ist Dichtung, nur Dichtung, und Schluß - es ist Einbildung. Wunderbar! Großartig! Du kannst sie genießen sie ist nicht Wahrheit. Aber was soll man mit der Religion anfangen? - denn Religion ist die höchste Form der Dichtung, und sie ist nicht
Einbildung! Ich sage euch, sie ist empirisch, so empirisch wie die Wissenschaft - aber sie kann sich nicht wissenschaftlich ausdrücken, die Wissenschaftssprache ist zu objektiv. Und philosophisch kann sie sich auch nicht ausdrücken, das wäre zu subjektiv. Sie muß eine Sprache sprechen, die zu keinem der beiden Bereiche gehört, eine Sprache, die zwischen Subjektivität und Objektivität eine Brücke schlägt - die Sprache der Dichtung. Alle Religion ist höchste Dichtung, ist die eigentliche Dichtung. Es gibt keinen größeren Dichter als Buddha. Sicher hat er kein einziges Gedicht geschrieben. Ich bin hier, bei euch: ich bin ein Dichter. Ich habe noch kein einziges Gedicht verfaßt, noch nicht einmal einen Haiku, aber ich spreche unentwegt in Metaphern, ich versuche, ununterbrochen den Abgrund zu überbrücken, der zwischen Wissenschaft und Philosophie aufgerissen ist. Ich versuche euch das Gefühl des Ungeteilten, des Heilen, des Heiligen zu geben. Die Wissenschaft ist nur halb, die Philosophie ist nur halb - also was tun? Wie soll man euch das Gefühl vom Einen geben? Wenn man sich immer tiefer in Philosophie hineinbegibt, dann kommt man dahin, wo Shankara anlangte, der sagte: «Die Welt ist eine Illusion, es gibt sie nicht - es gibt nur das Bewußtsein.« Das ist zu einseitig. Wer sich an die Wissenschaftler hält, der kommt an den Punkt, wohin Marx gelangte - Marx und Shankara sind polare Gegensätze und Marx sagt: »Es gibt kein Bewußtsein - es gibt nur die materielle Welt.« Ich dagegen weiß: beide haben recht und beide haben unrecht. Recht insofern, als sie beide die halbe Wahrheit sagen. Und Unrecht, weil sie die andere Hälfte abstreiten. Wie soll ich es also bloß anfangen, über die ganze Wahrheit zu sprechen? Die Dichtersprache ist der einzige Weg; metaphorische Sprache ist der einzige Ausweg. Behaftet das im Gedächtnis. Obwohl wir Worte brauchen, um die Leere zu erklären, Ist doch die Leere selbst nicht sagbar. Und so sagen alle Weisen immer wieder: »Was wir euch sagen mögen - es läßt sich nicht sagen. Es läßt sich nicht ausdrücken, und doch wollen wir es versuchen.« Sie betonen diesen Umstand immer wieder, weil sonst nämlich die Gefahr besteht, daß ihr sie wörtlich nehmt. Die Leere ist leer in dem Sinne, daß nichts mehr von dir übrigbleibt. Aber in einem andern Sinne ist die Leere nicht leer, denn das Ganze steigt in sie hinab und so ist diese >Leere< das Vollkommenste, das Erfüllteste, was es gibt. Was soll man da machen? Sagt man »Leere«, dann denkt der Verstand sofort, daß nichts da ist. Warum sich dann anstrengen? Und sagt man, daß es das Vollkommenste überhaupt ist, dann schaltet der Verstand sofort auf Ehrgeiz um: wie komme ich da hin, wie werde ich so ein vollkommenes Wesen? Das Ego hat sich eingeschaltet. Damit du das Ego fallen läßt, wird soviel Wert auf den Aspekt der »Leere« gelegt. Aber um dir auch klar zu machen, daß diese Leere nicht wirklich ein Vakuum ist, wird hinzugefügt, daß sie vom Ganzen erfüllt ist. Wenn du nicht bist, dringt das All in dich ein. Wenn der Tropfen verschwindet, wird er zum Meer. Wir sagen zwar: »Bewußtsein ist ein helles Licht«, Doch läßt es sich mit Worten und Symbolen nicht erfassen. Laßt euch nicht von der Metapher täuschen, bildet euch jetzt kein inneres Licht ein. Das ist leicht passiert! Imaginazione! Du schließt einfach die Augen und erblickst ein Licht: du bist ein so geübter Träumer, du kannst sovieles träumen, warum also nicht auch Licht? Du kannst mit deiner Einbildungskraft erschaffen, was du willst, du brauchst nur ein wenig Ausdauer. Du kannst dir Frauen so schön vorstellen, daß dir keine Frau im Leben mehr gut genug ist und immer unterm Strich bleibt. Du kannst dir eine ganze Welt von Erlebnissen im Innern zusammenphantasieren! Hinter jedem deiner Sinne steckt ein Einbildungsmechanismus. In der Hypnose machen sich diese Einbildungsmechanismen vollkommen selbstständig. Der Verstand wird dabei völlig lahmgelegt, er kann sich nicht mehr einschalten. Hypnose ist nichts weiter als ein Schlaf der Ratio, des Zweiflers; ohne ihn hat die Einbildungskraft freien Lauf. Jetzt gibt es keine Bremse mehr, sondern nur noch das Gaspedal - immer schneller, immer weiter - eine Bremse gibt es nicht. In Hypnose kann man sich alles mögliche einbilden. Wenn man jemandem, der in Hypnose liegt, eine Zwiebel in die Hand gibt und sagt: »Das ist ein köstlicher Apfel, wirklich saftig!«, dann ißt er die Zwiebel und sagt: »Köstlich! So einen saftigen Apfel hab ich noch nie gegessen.« Und gibt man ihm einen Apfel, und nennt ihn eine Zwiebel, laufen seine Augen von Tränen über und er sagt: »Die ist aber scharf!« - und dabei ißt er einen Apfel. Was geht da vor sich? Der Zweifler ist ausgeschaltet, in der Hypnose geht der Zweifler schlafen. Die Phantasie produziert ohne jede Kontrolle. Und das gleiche Problem gibt es für die Religion. Religion braucht Vertrauen. Vertrauen bedeutet den Verlust der Fähigkeit zu zweifeln, nicht anders als bei der Hypnose. Wenn also Leute zu euch sagen: »Dieser Bhagwan Shree Rajneesh hat euch ja hypnotisiert!«, dann haben sie in gewissem Sinne recht: wer mir vertraut, ist wie hypnotisiert; bei vollem Bewußtsein habt ihr euren Verstand über Bord geworfen - jetzt entfaltet die Einbildung ihr volles Potential, jetzt seid ihr in einer gefährlichen Situation. Wenn du deiner Phantasie freien Lauf läßt, kannst du dir alles mögliche vorstellen: daß die Kundalini aufsteigt, daß sich die Chakras öffnen - deiner Einbildung sind keine Grenzen gesetzt; und alle diese Dinge geschehen dir wirklich. Und sie sind schön - aber nicht wahr. Wenn du also jemandem vertraust, dann mußt du gerade in deinem Vertrauen deine Phantasie im Auge behalten. Vertraue - aber sei kein Opfer deiner Einbildung. Alles, was ich hier sage, ist metaphorisch gemeint. Und vergeßt vor allem nicht: alle Erfahrungen sind Einbildung. Alle Erfahrungen, sage ich -
ohne Ausnahme. Die einzige Wahrheit ist der Erfahrende. Ganz gleich also, was du erlebst - gib nicht viel drauf und gib nicht damit an. Vergiß nie, daß alles Erlebte illusorisch ist - daß nur der, der es erlebt, wirklich ist. Achte auf den Zeugen; widme deine ganze Aufmerksamkeit dem Zeugen, und nicht dem, was er erlebt. So schön es auch sein mag, alles Erleben ist traumartig - man muß über alles das hinaus. Religion ist also poetisch, und man kann nur metaphorisch von ihr sprechen. Der Jünger lebt in tiefem Vertrauen, er kann leicht ein Opfer seiner Einbildungskraft werden - man muß also sehr, sehr scharf aufpassen. Hab Vertrauen, hör die Metaphern an, aber vergiß nicht, daß es Metaphern sind. Vertraue - viele Dinge geschehen dann, aber erinnere dich: alles ist Einbildung, nur du nicht. Und du mußt an einen Punkt kommen, wo es keine Erfahrung mehr gibt, wo nur noch der Erfahrende dasitzt, wie zu Hause, in vollkommener Stille, weit und breit zeigt sich keine Erfahrung, kein Gegenstand, kein Licht, keine aufgehenden Blüten, nein - nichts von alledem. Lin Chi saß in seinem Kloster - einem kleinen Kloster oben auf einem Berg. Er saß unter einem Baum neben einem Felsblock, und jemand fragte ihn: »Wie ist das, wenn man die Höchste Einsicht erlangt hat?« Und Lin Chi sagte: »Ich sitze hier für mich allein. Wolken ziehen vorbei, und ich schaue ihnen zu; und Jahreszeiten kommen, und ich schau zu; und manchmal kommen Besucher, und ich schau zu. Und ich sitze hier für mich allein.« Am Ende bleibt nur der Zeuge, das Bewußtsein, und schaut allem zu. Alle Erfahrungen verschwinden, und nur der Hintergrund, vor dem sich alles abspielt, bleibt. Du bleibst; alles andere verliert sich. Das dürft ihr nicht vergessen: denn ihr vertraut mir und ich spreche in Bildern - und da kann euch die Einbildungskraft mitreißen. »Imaginazione« hütet euch vor dieser Krankheit. Wir sagen zwar: »Bewußtsein ist ein helles Licht«, Doch läßt es sich mit Worten und Symbolen nicht erfassen. Bewußtsein ist in seinem Wesen leer, Und doch umfaßt und hält es alle Dinge. Diese Behauptungen sehen widersprüchlich aus: erst heißt es, das Bewußtsein ist leer, und schon im nächsten Atemzug soll es alles enthalten, was es gibt. Wozu diese Widersprüche? Das ist nun mal das Wesen aller religiösen Erfahrung. Ich kann nur Bilder benutzen - und zugleich muß ich euch warnen, diesen Bildern nicht zum Opfer zu fallen. Sein Wesenskern ist leer, aber es enthält alle Dinge. Erst wenn du vollkommen leer bist, wirst du erfüllt. Erst wenn du nicht mehr da bist, wirst du zum ersten mal da sein. Jesus sagt: «Wer sich verliert, der findet. Halte an dir selber fest, und du verlierst. Stirb, dann wirst du wiedergeboren. Lösch dich völlig aus, Und du wirst ewig, zur Ewigkeit selbst.« Dies sind alles Metaphern - aber wenn du Vertrauen hast, wenn du voller Liebe bist, wenn du deinem Herzen erlaubst, sich mir ganz und gar zu öffnen, dann wirst du verstehen. Es ist nicht intellektuell, es geht von Herz zu Herz. Es ist Energie, die von einem Herzen zum andern überspringt. Ich bin hier, und ich versuche, zu dir zu sprechen, aber das ist nebensächlich. Das Wesentliche ist, daß ich in dich einströmen kann, wenn du offen bist. Wenn meine Worte nur so viel erreichen, daß du dich mehr und mehr öffnest, dann haben sie ihren Zweck erfüllt. Ich will dir nichts Bestimmtes sagen, ich versuche nur, dich mehr zu öffnen - das reicht schon. Dann kann ich in dich einströmen und solange du nicht von mir gekostet hast, kannst du nicht verstehen, wovon ich spreche.
Der Gesang geht weiter: Tu nichts mit dem Körper entspanne dich nur, Verschließe fest den Mund und sei nun still. Entleere deinen Geist und denk an nichts. Laß deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhn. Kein Geben und Nehmen: der Geist ruht, Mahamudra ist wie ein Geist, der sich an nichts mehr klammert. Wenn du dich darin übst, erreichst du bald die Buddhaschaft.
IV. WIE EIN HOHLER BAMBUS 14. Februar 1975 Entspannung ist erst möglich, wenn man verstanden hat, was es heißt, beschäftigt zu sein - und zwar bis in die geheimsten Winkel. Selbst wenn du dich entspannen möchtest, kannst du es nicht, solange du nicht beobachtet, geprüft und begriffen hast, was passiert, wenn du beschäftigt bist. Denn Beschäftigt-sein ist kein einfaches Phänomen. Viele Menschen möchten sich gerne entspannen, können es aber nicht. Entspannung ist wie das Aufblühen einer Blume: es läßt sich nicht erzwingen. Du mußt das ganze Phänomen verstehen - warum du so geschäftig bist, warum du dich so sehr mit Beschäftigungen eindeckst, warum du so besessen davon bist. Merkt euch zwei Wörter: das eine ist »Handeln«, das andere ist »Beschäftigung«. Handeln ist nicht Beschäftigung, und Beschäftigung ist nicht Handeln. Das sind zwei diametral entgegengesetzte Dimensionen. Handeln entspricht der Situation: du handelst, du gehst auf die gegebenen Umstände ein. Beschäftigung nimmt keine Rücksicht auf das, was die gegebene Situation erfordert. Du bist innerlich so unruhig, daß du die Situation nur zum Vorwand nimmst, um dich zu beschäftigen. Handeln kannst du aus einer ruhigen Geistesverfassung. Es gibt auf der Welt nichts Schöneres. Beschäftigung kommt aus einer ruhelosen Verfassung. Es gibt nichts Häßlicheres. Handeln nenne ich dein Tun, wenn es relevant ist. Beschäftigung ist irrelevant. Handeln kommt aus dem Moment - spontan. Beschäftigung ist eine Bürde der Vergangenheit. Sie ist keine Erwiderung auf den gegenwärtigen Augenblick, sondern ein Trick, alle angestaute Unruhe der Vergangenheit im gegenwärtigen Augenblick loszulassen. Handeln ist kreativ. Beschäftigung ist ausgesprochen destruktiv - sie zerstört dich und sie zerstört andere. Seht den feinen Unterschied. Wenn du zum Beispiel hungrig bist, dann ißt du; das ist Handeln. Aber wenn du nicht hungrig bist und trotzdem immerzu ißt, dann ist das Beschäftigung. Solches Essen ist gewalttätig - du zerstörst Nahrung, du mahlst mit den Zähnen und zerstörst Nahrung. Das erleichtert dich ein bißchen von deiner inneren Unruhe. Du ißt nicht aus Hunger, sondern einfach aus einem inneren Zwang heraus, einem Drang nach Gewalttätigkeit. In der Tierwelt wird Gewalt mit Händen und Maul assoziiert - mit Klauen und Zähnen. Das sind die beiden Waffen in der Tierwelt. Beim Essen arbeiten beide zusammen: mit den Händen greifst du die Nahrung, und mit dem Mund ißt du sie - das setzt Aggression frei. Aber wenn es ohne Hunger geschieht, ist es keine Handlung, sondern etwas Krankhaftes. Es ist eine hektische Beschäftigung. Natürlich kann man nicht ununterbrochen essen, sonst platzt man ja. Also haben die Leute Tricks entwickelt: »Pan« oder Kaugummi zu kauen, oder Zigaretten zu rauchen - unechte Nahrungsmittel, ohne jeden Nährwert - aber sie erfüllen ihren Zweck als Blitzableiter der Gewalt. Jemand sitzt und kaut Kaugummi - was tut er wirklich? Er bringt jemanden um. Wenn er in seine unbewußten Gedanken blicken könnte, sähe er, daß sie voll von Mord und Totschlag sind. Dabei kaut er nur harmlos seinen Kaugummi - eine denkbar unschuldige Tätigkeit. Er tut niemandem etwas zuleide - aber er schadet sich selber enorm, weil er sich nicht im geringsten darüber im klaren ist, was er wirklich tut. Was tut jemand, der raucht? Scheinbar etwas sehr Harmloses: den Rauch einatmen und ausatmen, eine Art krankhaftes Atem-Yoga, Paranayama, oder eine Art verweltlichte Transzendentale Meditation. Er schafft sich eine Art Mandala: er holt den Rauch ein und stößt ihn wieder aus - dadurch entsteht ein Mandala, eine kreisförmige Bewegung. Das Rauchen wird zu einer Art Sing-Sang. Das beschwichtigt, man wird ein bißchen gelöster. Wenn du dich mit jemandem unterhältst, und dein Gesprächspartner fängt an, nach seinen Zigaretten zu suchen, dann ist das fast ein hundertprozentiges sicheres Zeichen, daß er sich gelangweilt fühlt, daß du jetzt das Gespräch beenden solltest. Er wäre dich jetzt gerne los, aber er kann dir das nicht so grob sagen, das wäre unhöflich. Stattdessen sucht er nach einer Zigarette. Er sagt damit: »Schluß jetzt, ich hab genug.« In der Tierwelt hätte er dich angegriffen, aber das kann er nicht - er ist ein zivilisierter Mensch. Stattdessen fällt er über die Zigaretten her, er fängt an zu rauchen. Jetzt hat er sich von dir freigemacht, jetzt hat er sich in den rhythmischen Zyklus seines Rauch-Sing-Sangs zurückgezogen. Das beruhigt. Aber solche Beschäftigungen zeigen nur, daß du getrieben wirst. Du kannst nicht bei dir selber bleiben, du kannst nicht stillbleiben, du erträgst es nicht, unbeschäftigt zu sein. Durch deine Geschäftigkeit hast du ein ständiges Ventil für den Wahnsinn in dir, deinen Irrsinn. Handeln ist etwas Herrliches, Handeln ist ein spontanes Eingehen auf die Umstände das Leben erfordert spontanes Antworten. Jeden Augenblick mußt du handeln, aber dies Handeln kommt aus dem gegebenen Augenblick. Du bist hungrig und kümmerst dich um Nahrung. Du bist durstig und gehst zum Brunnen. Du bist müde und legst dich schlafen. Du handelst ganz aus der Situation heraus - so wie sie ist. Handeln ist spontan und total. Geschäftigkeit ist niemals spontan, sie kommt immer aus der Vergangenheit. Sie mag sich über Jahre hin aufgestaut haben: jetzt ergießt sie sich in die Gegenwart - ohne jeden Bezug dazu. Aber der Verstand ist nie um schlaue Erklärungen verlegen, wenn es darum geht, solche Geschäftigkeit zu rationalisieren. Der Verstand findet immer Mittel und Wege, nachzuweisen, daß es sich nicht um eine sinnlose Beschäftigung handelt, sondern um eine notwendige Handlung. Du kannst zum Beispiel aus heiterem Himmel in Wut geraten. Alle um dich herum sind sich sofort im klaren, daß es völlig unnötig ist, daß die Situation nicht das geringste damit zu tun hat, daß dein Verhalten einfach unnötig ist - nur, daß du das nicht merkst. Alle anderen denken: »Was macht er bloß? Das war doch wirklich nicht nötig. Warum wird er so wütend?« Aber du bist nicht um Rationalisierungen verlegen. Du kannst begründen, daß dein Benehmen notwendig
war. Mit solchen Rationalisierungen drückst du dich davor, deinem inneren Wahnsinn ins Auge zu sehen. Das sind die Schutzmittel, die Gurdjieff immer »Puffer« nannte. Mit Hilfe von Rationalisierungen baust du dir eine Pufferzone auf, die dich davor bewahrt, die wirkliche Situation eingestehen zu müssen. Puffer dienen dazu, den Schock zu absorbieren, der zwischen zwei Eisenbahnwaggons entsteht, wenn der Zug plötzlich anhält; die Fahrgäste würden sonst zu stark durcheinandergerüttelt. Deine Beschäftigungen haben nie etwas mit der realen Situation zu tun, aber die Puffer deiner Rationalisierungen bewahren dich davor, das zu erkennen. >Puffer< blenden dich - und so kannst du dich weiterhin in Ruhe mit Unsinn beschäftigen. Wenn du so beschäftigt bist, kannst du dich nicht entspannen. Wie denn auch? Deine Beschäftigung ist so zwanghaft, du mußt etwas tun, ganz gleich, was es ist. Es gibt überall auf der Welt Narren, die sagen: »Tu lieber was, statt die Hände in den Schoß zu legen«. Und dann gibt es die ganz großen Narren, die sogar ein Sprichwort ausgedacht haben, das auf der ganzen Welt bekannt ist: »Nichtstun ist des Teufels Werkstatt«. Absolut nicht. Nichtstun ist die Werkstatt Gottes. Ein leerer Geist ist das Allerschönste auf der Welt, das Reinste, was es gibt. Wie sollte denn ein leerer Kopf als Werkstatt für den Teufel dienen? In ein leeres Bewußtsein kann der Teufel unmöglich eindringen. Der Teufel kann sich nur in einem Bewußtsein breitmachen, in dem es zugeht wie in einem Ameisenhaufen. Dann fällt es dem Teufel leicht, dich vor seinen Karren zu spannen, dann kann er die Mittel und Wege und Methoden zeigen, wie du dich noch mehr beschäftigen kannst. Der Teufel sagt nie: »Entspanne dich«. Er sagt: »Was verschwendest du deine Zeit, Mensch, tu doch was! Rühre dich! Das Leben läuft dir weg - du mußt etwas tun!« Aber alle großen Lehrmeister, alle Meister, die die Wahrheit des Lebens verwirklicht haben, haben erkannt, daß es das leere Bewußtsein ist, was in dir den Raum schafft, in den das Göttliche eindringen kann. Beschäftigung, nicht der leere Geist, dient den Zwecken des Teufels. Was soll denn der Teufel mit einem leeren Geist anfangen? Er wird nicht einmal wagen, ihm nahe zu kommen, weil ihn die Leere einfach töten würde. Aber wenn du von einem tiefen Drang, einem wahnsinnigen Beschäftigungsdrang getrieben wirst, dann hat dich der Teufel leicht in der Hand, dann kann er dich gängeln - dann gibt er unangefochten den Ton an. Ich möchte euch ausdrücklich sagen, daß dieses Sprichwort grundfalsch ist. Der Teufel muß es selber ausgedacht haben ... Hütet euch vor dieser Besessenheit, ständig etwas tun zu müssen. Und hüten könnt ihr euch nur, indem ihr euer eigenes Leben im Auge behaltet. Denn wenn ich dir etwas sage, oder auch Tilopa, hilft dir das nicht viel weiter - du selbst mußt diese Sinnlosigkeit deiner Beschäftigungsmanie begreifen, mußt erkennen, daß sie nicht nötig ist. Die Frage ist - warum gibst du ihr nach? Auf meinen Reisen habe ich beobachtet, wie die Leute unentwegt dieselbe Handlung wiederholen. Bin ich zum Beispiel mit einem Reisenden 24 Stunden im gleichen Eisenbahnabteil, dann muß ich mit ansehen, wie er dieselbe Zeitung immer wieder von vorne liest, weil er sonst nichts zu tun findet. Wenn man in einem Abteil eingeschlossen ist, kann man nicht viele Ablenkungen finden, also muß man dieselbe Zeitung immer wieder lesen, und ich sehe mir das an: Was macht der Mann bloß? Eine Zeitung ist weder eine Bhagavad-Gita, noch eine Bibel. Die Gita kann man viele Male lesen, und jedesmal kommt eine neue Bedeutung für dich zum Vorschein. Aber eine Zeitung ist keine Gita; du liest sie und wirfst sie dann weg. Sie war es nicht einmal wert, überhaupt gelesen zu werden, aber die Leute kommen keinen Tag ohne Zeitung aus. Sie lesen sie sogar mehrmals. Warum nur? Ist es ein natürliches Bedürfnis? Nein - sie sind nervös und getriebn; sie können nicht stillbleiben, sie müssen >etwas tun<. Stillzuhalten ist ihnen ein Graus. Das wäre für sie der Tod. Sie müssen irgend etwas machen. Auf meinen Reisen hatte ich viele Jahre lang unzählige Gelegenheiten, Leute zu beobachten, ohne, daß sie es wußten. Denn manchmal war nur ein einziger Mensch mit mir im Abteil, und der machte dann alle möglichen Anstalten, um mich in ein Gespräch hineinzuziehen, aber ich sagte nie mehr als Ja oder Nein, bis er aufgab. Und dann beobachtete ich ihn einfach - ein sehr amüsantes Experiment, das mich nichts kostete. Ich beobachtete ihn: Er machte den Koffer auf - und ich konnte deutlich erkennen, daß es dafür gar keinen Grund gab dann guckte er hinein, und machte ihn wieder zu. Dann drehte er ein Fenster auf, und dann machte er es wieder zu. Dann ging er wieder zu seiner Zeitung zurück, dann rauchte er, dann machte er wieder den Koffer auf, packte darin die Sachen um und ging wieder zum Fenster, sah hinaus ... Was tat er da bloß? Und warum? Ein innerer Drang, etwas, das in ihm flackert, ein fiebriger Geisteszustand hat ihn in der Gewalt. Er muß ganz einfach was tun, sonst fühlt er sich verloren. Er muß ein sehr beschäftigtes Leben führen, und nun muß er sich eine kleine Weile entspannen - aber das kann er nicht, er kann die alte Gewohnheit nicht abstellen. Von Aurangzeb, einem Moghul-Kaiser, heißt es, daß er seinen Vater im hohen Alter einsperrte. Aurangzebs Vater, Shah Jehan, war der Erbauer des Taj Mahal. Aurangzeb stieß ihn vom Thron und sperrte ihn ein. Und Aurangzeb schreibt in seiner Autobiographie, daß Shah Jehan sich nach ein paar Tagen völlig damit abgefunden hatte, eingesperrt zu leben, denn es fehlte an keinem Luxus. Es war ein Palast, und Shah Jehan lebte genau wie zuvor: es war alles andere als ein Gefängnis. Wirklich, alles war da, was er brauchte. Nur eines fehlte: und das war Beschäftigung. Er hatte nichts zu tun. Also sagte er zu seinem Sohn: »Es ist ja alles schön und gut und du hast wirklich für alles gesorgt. Aber bitte tu mir noch einen Gefallen und ich werde dir ewig dankbar sein. Schicke mir dreißig Knaben. Ich möchte sie unterrichten.« Aurangzeb traute seinen Ohren nicht. »Was könnte meinen Vater dazu treiben, daß er dreißig Knaben unterrichten will?« Er hatte vorher nie irgendeine Neigung verraten, Lehrer zu spielen. Er hatte sich nie im geringsten für Erziehung interessiert. Was ging in ihm vor? Aber Aurangzeb erfüllte ihm den Wunsch. Dreißig Knaben wurden
geschickt und alles war in Ordnung. Jetzt durfte er wieder Kaiser sein - Kaiser über dreißig kleine Jungen. Geht hin und seht euch einmal eine Grundschule an: der Lehrer ist fast wie ein Kaiser. Er kann den Kleinen befehlen, sich zu setzen, und alle setzen sich. Er kann ihnen befehlen, aufzustehen, und alle stehen auf. Und in dem Zimmer, wo er seine dreißig Knaben unterrichtete, stellte er die originalgetreue Situation seines Hofes wieder für sich her - nichts als die alte Droge und die alte Sucht, andere Leute zu kommandieren. Die Psychologen haben den Verdacht, daß Lehrer in Wirklichkeit Politiker sind. Natürlich ohne das nötige Selbstbewußtsein, das man in der Politik mitbringen muß: also gehen sie stattdessen in die Schulen und werden dort zu Präsidenten, Premierministern, Kaisern. Kleine Kinder! - Sie können also nach Herzenslust Befehle austeilen und ihren Willen durchsetzen. Und die Psychologen haben ebenfalls den Verdacht, daß Lehrer einen Hang zum Sadismus besitzen, daß es ihnen Spaß macht, andere zu quälen. Und kann man dafür einen besseren Ort finden, als eine Grundschule? Dort darf man unschuldige Kinder quälen - man darf sie sogar zu ihrem eigenen Besten quälen, man will ja nur ihr Bestes. Geht hin und seht es euch an! Ich habe mir Grundschulen angesehen, darüber gelesen und Lehrer beobachtet. Und was die Psychologen vermuten, dessen bin ich mir vollkommen sicher: Lehrer sind Folterknechte. Und unschuldigere Opfer lassen sich nicht finden: völlig ausgeliefert, ohne Waffen, ohne sich irgendwie verteidigen zu können; schwach und hilflos - und der Lehrer baut sich auf vor ihnen wie ein Kaiser. Aurangzeb schreibt in seiner Autobiographie: »Mein Vater möchte aus purer Gewohnheit immer noch so tun, als wäre er der Kaiser. Mag er es tun und sich selbst zum Narren halten, er tut niemandem etwas zuleide. Man schicke ihm dreißig Knaben oder dreihundert, was immer er verlangt. Man lasse ihm seine >madersa<-seine kleine Schule - und ich wünsche ihm Glück.« Beschäftigung ist Tun - ohne Sinn. Beobachte dich selbst; blicke in dich hinein - neunzig Prozent deiner Energie wird mit sinnloser Beschäftigung verschwendet. Und weil das so ist, fehlt dir alle Energie, wenn der Augenblick zum Handeln da ist. Jemand, der entspannt ist, ist frei von dieser Getriebenheit, und die Energie sammelt sich langsam in seinem Innern an. Er bewahrt seine Energie, sie bewahrt sich von selbst, und wenn der Augenblick zum Handeln da ist, geht er mit Haut und Haaren darin auf. Handeln ist also etwas Totales. Beschäftigung ist immer halbherzig, denn wie kann man sich selber restlos zum Narren halten? Trotz allem weißt du im Grunde, daß dein Tun sinnlos ist. Du weißt es ja selbst, daß du dich aus irgendwelchen fiebrigen Motiven beschäftigst - Motiven, die dir selber nicht klar sind, die sehr ungreifbar sind. Du kannst deine Beschäftigungen wechseln, aber solange sie nicht Handlungen werden, nützt dir das nichts. Es kommen Leute zu mir und sagen: »Ich möchte gern mit dem Rauchen aufhören«. Darauf antworte ich: »Warum? Das ist doch eine wunderbare Transzendentale Meditation, mach nur weiter. Wenn du damit aufhörst, fängst du nur etwas anderes an - denn die Krankheit läßt sich nicht damit heilen, daß man die Symptome verändert. Du wirst nur zu Kaugummi übergehen, oder zu gefährlicheren Dingen. Rauchen und Kaugummi-Kauen sind noch die unschuldigsten Auswege, denn immerhin kaust du den Gummi selber. Du magst zwar ein Narr sein, aber wenigstens bist du nicht gewalttätig; du tust niemandem anderen etwas zuleide. Wenn du also mit dem Rauchen oder Kauen aufhörst, was willst du dann tun? Dein Mund braucht Beschäftigung, er hat den Drang nach Gewalt. Du wirst zu reden anfangen, ununterbrochen zu reden: Plapperdiplapperdiplapperdiplapp! Und das ist gefährlicher!« Erst neulich kam Mulla Nasrudins Frau zu mir. Sie kommt sehr selten her, aber wenn sie kommt, ist mir augenblicklich klar, daß eine schwere Krise ausgebrochen ist. Also fragte ich: »Was ist los?« Sie brauchte dreißig Minuten, und tausende von Worten um mir klarzumachen: Mulla Nasrudin spricht im Schlaf. »Was schlägst du vor - was soll ich tun? Er redet so viel, es ist unmöglich im gleichen Zimmer mit ihm zu schlafen. Er schreit rum und sagt so häßliche Sachen.« Ich antwortete: »Da kannst du gar nichts tun. Oder - du gibst ihm eine Chance, auch einmal zu Wort zu kommen, wenn ihr beide wach seid.« Die Leute reden und reden, sie lassen keinen anderen zu Wort kommen. Reden ist das gleiche wie Rauchen. Wenn du 24 Stunden am Tage redest ... und das tust du wirklich: du redest, solange du wach bist, und wenn dein Körper müde ist und du in Schlaf fällst, redest du immer noch weiter. Es ist wie beim Rauchen, denn es ist das gleiche Symptom: Der Mund braucht Bewegung. Und der Mund ist der Ursprung aller Beschäftigungen. Deine allererste Beschäftigung im Leben ging von ihm aus. Das Kind wird geboren und fängt an, an der Mutterbrust zu saugen. Das ist die erste Beschäftigung - und der Ursprung aller anderen Beschäftigungen. Und Rauchen ist nichts anderes als Saugen an der Mutterbrust: warme Milch strömt ein; beim Rauchen ist es warmer Rauch; und die Zigarette zwischen deinen Lippen fühlt sich genauso an, wie die Mutterbrust, wie der Nippel. Wenn du nicht Rauchen darfst, dann kaust du Kaugummi, dann tust du dies und jenes, redest ununterbrochen - und das ist gefährlicher, weil du dann deinen eigenen Schmutz anderen Leuten ins Gehirn wirfst. Wie lange kannst du den Mund halten? Die Psychologen sagen, daß du nach drei Wochen Schweigen anfängst, mit dir selber zu reden. Dann fängst du nämlich an, dich in zwei Personen zu spalten. In den, der redet, und in den, der zuhört. Und nach drei Monaten ohne Reden bist du endgültig reif für das Irrenhaus, denn dann ist es dir egal, ob noch jemand anders da ist oder nicht. Du wirst nicht nur reden, sondern dir selbst Antwort geben - jetzt bist du perfekt, brauchst du niemand anders mehr, und das ist es, was den Idioten ausmacht. Ein Idiot ist jemand, der ganz in sich verschlossen ist. Er ist der Sprecher und der Zuhörer. Er ist der Schauspieler und der Zuschauer - alles spielt sich in ihm selbst ab, seine ganze Welt liegt in ihm selbst beschlossen. Er hat sich in viele Rollen aufgeteilt und völlig aufgesplittert. Darum haben die Leute so viel Angst vor der Stille - sie wissen, daß sie den Verstand verlieren können. Und wenn man vor der Stille Angst hat, heißt das nichts anderes, als daß man von einem kranken, fiebernden, panischen Bewußtsein besessen wird, das ständig um Beschäftigung bettelt. Beschäftigung ist eine Flucht vor sich selbst. Wenn du handelst, bist du anwesend. Wenn du beschäftigt bist, bist du
vor dir selber davongelaufen - es ist eine Droge. Mit einer Beschäftigung kannst du dich vergessen, und wenn du dich vergißt, hast du keine Sorgen, nichts quält dich, nichts macht dir Angst. Deshalb mußt du dafür sorgen, daß du dich ununterbrochen beschäftigst, daß du immer alles mögliche zu tun hast, und nie in einen Zustand kommst, wo das NichtTun in dir heranreifen und erblühen könnte. Handeln ist gut. Beschäftigung ist Krankheit. Finde den Unterschied in dir selbst heraus: Was ist Beschäftigung und was ist Handeln? Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist, daß du dich mehr auf das Handeln einstellst, so daß deine Energie dorthin fließt, und daß du die Augen besser aufhältst, besser aufpaßt, wenn du dich wieder bei einer Beschäftigung ertappst. Wenn du darauf aufmerksam wirst, läßt die Beschäftigung von alleine nach, du verschleuderst deine Energie nicht, sie steht dir zum Handeln zur Verfügung. Handeln geschieht aus dem Augenblick heraus. Es ist nicht vorfabriziert, es ist nicht fix-und-fertig. Es läßt dir keine Möglichkeit zur Vorbereitung, zu Proben. Handeln ist immer so neu und taufrisch wie der lichte Morgen. Und einer, der nur handelt, ist ebenfalls immer frisch und jung. Und wenn der Körper alt wird: die Frische bleibt. Und wenn der Körper stirbt: seine Jugend nicht. Und wenn der Körper vermodert und verfault: er bleibt gesund - denn Gott liebt das Frische. Gott ist immer für das Neue und Frische. Laß immer mehr von Beschäftigungen ab. Aber wie sollst du die Sache angehen? Selbst daraus kannst du eine neue Manie machen. Genau das geschieht in den Klöstern mit den Mönchen: sie werden von der Vorstellung geplagt, daß sie sich von Geschäftigkeit freimachen sollen. Emsig und beflissen sind sie damit beschäftigt, sich davon frei zu machen: durch Gebete, Meditationen, Yoga, durch dies und das, jetzt ist auch daraus eine Beschäftigung geworden. So also geht es nicht; so kommt die Geschäftigkeit nur durch die Hintertür zurück. Beobachte genau! Finde den Unterschied zwischen Handeln und Beschäftigung heraus. Und wenn dir die Gier nach Beschäftigung wieder in den Fingern kribbelt - wirklich, man muß es eine Besessenheit nennen, denn die Beschäftigung sitzt wie ein Dämon auf dir; und sie ist tatsächlich einer, sie ist ein seelenloses Phantom aus der Vergangenheit - wenn du also erneut von Beschäftigung besessen bist und fühlst, wie du fieberst, dann sei wachsam, sieh genau zu. Mehr kannst du nicht tun. Behalte es im Auge. Selbst, wenn es stärker ist als du, tue es mit vollem Bewußtsein. Rauche, aber rauche sehr langsam, mit vollem Bewußtsein, so daß du sehen kannst, was du machst. Wenn du dich beim Rauchen beobachten kannst, dann wird dir plötzlich eines Tages die Zigarette aus den Fingern fallen. Denn jetzt hat sich dir diese Absurdität in ihrem ganzen Ausmaß gezeigt. Rauchen ist dumm; es ist einfach dumm, idiotisch ! Wenn du das erkennst, fällt es von allein ab. Du kannst nicht absichtlich damit aufhören, denn das >Aufhören< wäre wieder eine Beschäftigung. Darum sage ich, daß es von alleine abfällt. So, wie ein totes Blatt vom Baum fällt, so fällt diese Gewohnheit von dir ab. Wenn du das Rauchen fallenläßt, wirst du es in anderer Form wieder auferstehen lassen. Es hat dann nur die Form gewechselt. Laß die Dinge von alleine fallen, wirf sie nicht ab. Laß deine Zwangsgewohnheiten von allein verschwinden, zwinge sie nicht dazu - denn schon die bloße Anstrengung, sie loszuwerden, ist nur eine andere Form von Zwangsneurose. Paß auf, sei wach, sei bewußt - und du wirst auf ein wirklich verwunderliches Phänomen stoßen: wenn etwas von sich aus abfällt- im Augenblick, wo es reif ist - dann läßt es keine Spur in dir zurück. Wenn du es mit Zwang tust, dann bleibt eine Narbe, dann bleibt eine Spur zurück. Dann wirst du dich immer wieder brüsten, wie du dreißig Jahre lang geraucht hast und es dann aufgegeben hast! Jetzt ist das Rauchen zur Prahlerei geworden: indem du darüber redest, machst du im Grunde wieder das gleiche. - Du rauchst zwar nicht mehr, aber jetzt redest du laufend darüber, daß du das Rauchen aufgegeben hast. Deine Lippen sind erneut beschäftigt, dein Mund läuft auf Hochtouren, deine Gewalttätigkeit hat ein anderes Ventil gefunden. Wer wirklich versteht, worum es geht, von dem fällt jede Beschäftigung ab. Und dann rühmt man sich auch nicht mehr, daß man etwas aufgegeben hat. Es hat sich selber aufgegeben. Du warst es nicht. Das Ego kann sich dadurch nicht bestärkt fühlen. Und so wird mehr und mehr Handeln möglich. Zögere nicht, total zu handeln, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt, laß sie nicht verstreichen - handle! Handle mehr und mehr und laß alle Geschäftigkeit von sich aus verschwinden. Nach und nach wirst du eine Verwandlung fühlen. Das braucht Zeit, das braucht Reifung: aber es eilt ja nicht. Laß uns jetzt mit unserem Text beginnen. Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur. Verschließe fest den Mund und sei nun still. Entleere deinen Geist und denk an nichts. »Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur«. Jetzt wirst du verstehen, was Entspannung heißt. Sie bedeutet, daß du keinen Drang nach Beschäftigung in dir verspürst. Entspannung heißt nicht, wie ein toter Mann dazuliegen. Das kannst du auch gar nicht - du kannst dich höchstens totstellen. Denn wie kannst du wie ein Toter daliegen? Du lebst, du kannst es nur vortäuschen. Entspannung tritt ein, wenn aller Drang nach Geschäftigkeit schwindet. Die Energie ist zu Hause, sie läuft nicht in alle Richtungen davon. Sollte die Situation es erfordern, dann kannst du handeln, aber du suchst nicht nach einem Vorwand. Du bist mit dir selbst im Reinen. Entspannung heißt, bei sich zu sein. Ich las vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel: »Du mußt dich entspannen!« Einfach absurd! Der Befehl ist mit Entspannung unvereinbar. Solche Bücher lassen sich wirklich nur in Amerika verkaufen. Das »muß« drückt die Geschäftigkeit, das Zwanghafte aus. Hinter jedem »muß« versteckt sich Zwanghaftigkeit. Handlungen gibt es, aber hinter ihnen steht kein Muß, das Muß führt sonst zum Wahnsinn. »Du mußt
entspannen« - Entspannung ist zur fixen Idee geworden. Du mußt diese oder jene Stellung einnehmen, du mußt dich hinlegen, mußt deinem Körper von den Zehen bis zum Kopf Entspannung befehlen, den Zehen befehlen: »Entspannt euch!«, und dann langsam durch den Körper aufwärts wandern ... Warum das Muß? Entspannung tritt erst dadurch ein, daß es kein Muß gibt. Entspannung geht nicht nur den Körper, sie geht auch nicht nur den Geist etwas an, sie ist eine Sache des ganzen Organismus. Du bist mechanisch beschäftigt - natürlich übermüdet, zerstreut, vertrocknet, erfroren. Deine Lebensenergie bewegt sich nicht. Nichts als Blocks und Blocks und wieder Blocks. Und was du auch tust, das tust du wie ein Wahnsinniger. Dabei entsteht natürlich die Sehnsucht nach Entspannung. Kein Wunder, daß Monat für Monat zahllose Bücher auf den Markt kommen, die einem beibringen wollen, wie man sich entspannt. Aber ich habe noch nie gesehen, daß jemand durch die Lektüre eines solchen Buches Entspannung gefunden hätte. Im Gegenteil, man wird noch hektischer dadurch, weil die bisher gewohnte Aktivität einfach ausgekuppelt wird. Die alte Besessenheit nach Geschäftigkeit ist nach wie vor da, die Krankheit ist da, aber indem man sich einfach hinlegt, gibt man vor, entspannt zu sein. Im Inneren herrscht heller Aufruhr, wartet ein Vulkan auf den Ausbruch, aber man entspannt sich entsprechend der Anleitung des Buches »Wie entspanne ich mich?« Es gibt kein Buch, das dir helfen kann, dich zu entspannen. Es sei denn, du lernst in deinem inneren Wesen zu lesen wie in einem Buch, aber dann ist Entspannung kein Muß. Entspannung ist eine Abwesenheit - die Abwesenheit von Geschäftigkeit, nicht von Handeln. Man braucht also nicht in den Himalaja zu gehen. Das haben schon manche versucht: um sich zu entspannen, gehen sie in den Himalaja. Wozu erst in den Himalaja gehen? Es geht nicht darum, das Handeln aufzugeben, denn wenn du das Handeln aufgibst, gibst du das Leben auf, dann bist du gestorben, nicht entspannt. Im Himalaja also wirst du nur leblose Weise finden, entspannt sind sie nicht. Sie sind vor dem Leben, vor dem Handeln davongelaufen. Auf diese feine Unterscheidung kommt es genau an, ihr müßt sie verstehen: die Geschäftigkeit muß aufhören, aber nicht das Handeln. Beides zusammen wäre leicht - du könntest beides fallen lassen und dich im Himalaja verkriechen: das wäre leicht. Oder das andere Extrem, das auch leicht ist: sich weiterhin zu beschäftigen und sich dann jeden Morgen oder Abend zur Entspannung zu zwingen. Ihr versteht nicht, wie kompliziert der Mechanismus des menschlichen Geistes funktioniert. Entspannung ist ein Zustand, er läßt sich nicht herbeizwingen. Du räumst einfach alle Hindernisse aus dem Weg, läßt alle Negativität fallen, und dann kommt sie, dann sprudelt sie von allein hervor. Was tust du, wenn du nachts schlafen gehst? Tust du wirklich etwas? Wenn ja, dann leidest du sicherlich an Schlaflosigkeit, findest du nie Schlaf. Was tust du denn schon? Du legst dich einfach hin und schläfst ein. Du brauchst nichts zu tun. Wenn du etwas tust, wird Schlaf unmöglich. Aber zum Einschlafen ist eigentlich nur eines notwendig: daß du aufhörst, an das zu denken, was du tagsüber getan hast. Das ist alles! Wenn der Kopf aufhört, sich zu beschäftigen, dann entspannt sich dein Geist und schläft ein. Wenn du etwas tust, um einzuschlafen, wird dir das schlecht bekommen, dann kannst du erst recht nicht schlafen. Du brauchst wirklich nichts zu tun. Tilopa sagt: »Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur.« Tu nicht das Geringste! Keine Yoga-Stellung ist nötig, keine Verrenkungen und Verschränkungen des Körpers sind notwendig. »Tu nichts!« - Nichts ist erforderlich als die Abwesenheit allen Tuns. Und wie erreicht man das? Das erreicht man durch Verständnis. Verstehen ist die einzige Disziplin. Werde dir darüber klar, was deine Beschäftigungen sind, und im Augenblick, wo dir bewußt wird, was du tust, hören sie mittendrin plötzlich auf. Sobald du verstehst, warum du etwas tust, hört es auf. Und dieses Aufhören ist es, was Tilopa meint, wenn er sagt: Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur. Was ist Entspannung? Sie ist der Zustand deiner Energie, in dem sie sich nirgendwohin bewegt, weder in die Zukunft, noch in die Vergangenheit - sie ist einfach da, in dir. Du bist eingetaucht in den stillen Teich deiner eigenen Energie, von ihrer Wärme eingehüllt. Dieser Moment ist alles. Es gibt keinen anderen Augenblick. Die Zeit bleibt stehen - nun breitet sich Entspannung aus. Solange es noch Zeit gibt, ist keine Entspannung möglich. Die Uhr bleibt einfach stehen; es gibt keine Zeit mehr. Du fragst nach nichts anderem, du genießt nur. Die gewöhnlichsten Dinge lassen sich genießen, weil sie wirklich schön sind. Oder besser, nichts ist ungewöhnlich. Wenn Gott offenbar ist, sind alle Dinge außergewöhnlich. Die Leute kommen zu mir und fragen: »Glaubst du an Gott?« Ich antworte: »Ja, denn alles ist so außergewöhnlich. Wie könnte das so sein, wenn nicht alles von tiefstem Bewußtsein erfüllt wäre?« In den kleinsten Dingen: Du gehst auf dem Rasen, wenn sich die Tautropfen noch nicht verflüchtigt haben, und gehst vollkommen im Augenblick auf - du spürst die Berührung des Rasens, jeden Grashalm, die Kühle der Tautropfen, den Morgenwind, die Sonne, die aufgeht. Was mehr brauchst du, um glücklich zu sein? Ist mehr Glück möglich? Oder du liegst nachts auf deinem kühlen Bett und spürst, wie sich das anfühlt; du fühlst, wie das Bett langsam wärmer wird, du bist von der Dunkelheit zugedeckt, von der Stille der Nacht. Mit geschlossenen Augen fühlst du tief in dich hinein. Was mehr brauchst du? Es ist mehr, als du fassen kannst; tiefe Dankbarkeit steigt auf. Das ist Entspannung. Entspannung bedeutet: dieser Augenblick ist mehr als genug, mehr als man gehofft hat, mehr, als man verdient hat. Nichts bleibt zu wünschen übrig, du hast mehr als genug, mehr als du dir hast träumen lassen. In diesem Zustand strebt deine Energie nirgendwohin. Sie wird zu einem reglosen See. In deiner eigenen Energie löst du dich auf. Dieser Augenblick ist Entspannung. Entspannung ist weder Sache des Körpers noch des Geistes, Entspannung ist etwas Ganzes.
Darum sagen die Buddhas immer wieder: »Werde wunschlos«. Denn sie wissen, daß du dich nicht entspannen kannst, solange du nicht wunschlos bist. Sie sagen immer wieder: »Begrabe die Toten«, denn wenn du dich zu sehr mit der Vergangenheit abgibst, kannst du dich nicht entspannen. Immer wieder sagen sie: »Genieße den jetzigen Augenblick«. Jesus sagt: »Sieh die Lilien auf dem Feld, sie brauchen nicht zu arbeiten, und sie sind doch schöner, als König Salomo in seinem Glanz. Ihr Parfum ist erlesener als das des König Salomos. Seht euch die Lilien an!« Was sagt Jesus damit? Er sagt damit: »Entspanne dich! Du brauchst dich nicht so anzustrengen - wirklich, es ist für alles gesorgt.« Jesus sagt: »Wenn Gott sich um die Vögel des Himmels kümmert und um die wilden Tiere, um die Bäume und Pflanzen, was sorgt ihr euch dann? Wird er sich nicht auch um euch kümmern?« Das ist Entspannung. Warum macht ihr euch so viele Sorgen um die Zukunft? Betrachtet die Lilien, schaut auf die Lilien, und werdet wie die Lilien - dann könnt ihr entspannen. Entspannung ist keine Pose; Entspannung ist eine völlige Umpolung deiner Energie. Energie kennt zwei Dimensionen. In der einen ist sie motiviert, nach einem Ziel unterwegs; dann ist dieser Augenblick nichts als ein Mittel, und das Ziel liegt anderswo, in weiter Ferne. Das ist die eine Dimension eurer Energie, das ist die Dimension der Geschäftigkeit, sie ist zielorientiert. Alles ist nur ein Mittel; irgendwie mußt du es für dein Ziel einsetzen, den Zielpunkt, an dem du dich endlich entspannen kannst. Aber für diesen Typ von Energie kommt es nie zur Erfüllung, weil dieser Typ von Energie jeden Augenblick notgedrungen zu einem Mittel für ein Ziel umformen muß, das in der Zukunft liegt. Das Ziel bleibt immer am Horizont. Du rennst und rennst, aber der Horizont bleibt immer gleich weit weg. Nein - es gibt noch eine andere Dimension der Energie: in dieser Dimension ist sie Lebensfreude um ihrer selbstwillen. Das Ziel ist Hier und Jetzt, und nicht irgendwo anders. Ja - du selbst bist das Ziel. Es gibt in Wirklichkeit keine andere Erfüllung als diesen Augenblick - betrachte die Lilien des Feldes! Wenn du selbst das Ziel bist, und das Ziel nicht in der Zukunft liegt, wenn es nichts zu erreichen gibt, und du dich nur noch des Lebens freust, dann hast du es schon erreicht, dann ist die Erfüllung da. Das ist Entspannung - absichtslose Energie. Für mich gibt es also zwei Typen von Menschen: Die Ziel-Sucher und die Lebenskünstler. Die Ziel-Sucher, das sind die Verrückten; sie werden nach und nach verrückt, und sie selbst sind an ihrem Wahnsinn schuld. Dieser Wahnsinn entwickelt seine eigene Gesetzmäßigkeit: nach und nach versinken sie immer tiefer darin, bis sie schließlich ganz verlorengegangen sind. Der andere Menschentyp ist nicht auf Ziele aus - er sucht überhaupt nicht, er feiert nur. Und das ist meine Lehre - so müßt ihr sein: gehört zu den Lebenskünstlern, feiert! Anlaß gibt es mehr als genug: die Blumen blühen, die Vögel singen, die Sonne steht am Himmel - Anlaß genug zu feiern! Und du atmest, und du bist am Leben, und du hast Bewußtsein - Grund zum Feiern! Dann entspannst du dich plötzlich, dann wirst du ganz locker, alle Gequältheit ist verflogen. Die ganze Energie der Qual wird zu Dankbarkeit - das ist Andacht. Beten ist nichts anderes als das: ein Herz, das in tiefer Dankbarkeit schlägt. Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur. Nichts bleibt mehr zu tun. Du brauchst bloß die Bewegung der Energie zu verstehen, die absichtslose Bewegung der Energie. Sie fließt, aber nicht auf ein Ziel zu, sondern als Fest, wie im Tanz. Sie bewegt sich, nicht weil sie ein Ziel erreichen will, sondern sie bewegt sich, weil sie von sich aus überquillt. Ein Kind tanzt und springt und rennt herum, und du fragst: »Wo willst du hin?« - es will nirgendwohin. »Was für eine dumme Frage«, denkt es. Kinder halten die Erwachsenen immer für dumm. Was für eine unsinnige Frage - >wo willst du hin?< Muß man denn irgendwohin wollen? Ein Kind kann auf deine Frage einfach nicht antworten, weil sie unsinnig ist. Es will nirgendwohin. Es zuckt mit den Schultern und sagt: »Nirgendwohin«. Dann fragt der Zielorientierte: »Und warum rennst du dann so?« Weil uns eine Beschäftigung nur dann relevant vorkommt, wenn sie irgendwohin führt. Und ich sage euch, man kann nirgendwohin gehen: es gibt nur das Hier; die ganze Existenz kommt in diesem Augenblick zum Höhepunkt, drängt sich in diesem Augenblick zusammen. Die ganze Schöpfung ergießt sich in diesen Augenblick. Alles, was es gibt, sprudelt in diesem Augenblick, es ist Hier, Jetzt. Ein Kind genießt einfach seine Energie. Es hat sie im Überfluß. Es rennt, nicht weil es irgendwo ankommen muß, sondern weil es nicht weiß, wohin vor Energie; es muß rennen. Handle ohne Absicht, aus schierem Überfluß an Energie! Verschenke deine Energie, aber mach keine Geschäfte damit, mach keine Tauschgeschäfte. Gib, weil du hast, gib nicht, um wiederzubekommen - denn das macht dich nur unglücklich. Alle Händler kommen in die Hölle. Wenn du die größten Händler und Geschäftemacher kennenlernen willst, mußt du in die Hölle gehen. Der Himmel ist nicht für Händler, der Himmel ist für die, die feiern können. Die christliche Theologie hat jahrhundertelang immer wieder die Frage gestellt: »Was tun die Engel im Himmel?« Diese Frage muß für zielorientierte Leute sehr beunruhigend sein, was die Engel wohl im Himmel tun?! Es scheint dort nichts zu tun zu geben, es gibt keine Ziele. Jemand fragte Meister Eckhart: »Was tun die Engel im Himmel?« und er antwortete: »Was für ein Dummkopf du bist! Der Himmel ist ein Ort zum Feiern. Nichts tun sie. Sie feiern einfach - die ganze Pracht und Herrlichkeit des Himmels, seine Poesie und seinen Blütensegen feiern sie. Sie singen und tanzen und feiern.« Aber ich kann mir nicht denken, daß der Fragesteller mit der Antwort von Meister Eckhart zufrieden war, denn sinnvoll ist für uns nur das, was irgendwo hinführt und zweckdienlich ist. Vergeßt also nicht, Beschäftigung ist zielorientiert, Handeln nicht. Handeln kommt aus einem Überfluß an Energie; Handeln kommt aus dem Augenblick, es ist keine Erwiderung, unvorbereitet und ungeübt. Du begegnest dem ganzen Dasein, es fordert dich heraus, und deine Antwort kommt einfach. Die Vögel singen, und du beginnst zu singen - es ist
keine Beschäftigung. Plötzlich passiert es. Plötzlich merkst du, daß es geschieht, daß du angefangen hast zu summen das ist Handeln. Und wenn du dich mehr und mehr auf Handeln einläßt, und dich immer weniger mit Beschäftigungen beschäftigst, wird sich dein Leben ändern: es wird zu einer einzigen, tiefen Entspannung. Dann »tust« du etwas, aber bleibst dabei entspannt. Ein Buddha ist nie müde. Warum? Weil er nichts von dem, was er tut, wirklich tut. Was immer er hat, das gibt er, das fließt über. Tu nichts mit dem Körper - entspanne dich nur. Verschließe fest den Mund und sei nun still. Der Mund spielt wirklich eine große Rolle, denn das ist der Ort, wo sich dein erstes Tun abspielte; es waren deine Lippen, die sich zuallererst beschäftigten. Vom Mund aus begann alle Beschäftigung: mit ihm hast du eingeatmet, geschrieen, nach der Brust deiner Mutter gesucht. Und dein Mund ist seitdem in hektischer Bewegung geblieben. Darum rät Tilopa: »Verstehe den Unterschied zwischen Beschäftigung und Handeln, entspanne dich und ... verschließe fest den Mund.« Jedesmal, wenn du dich zum Meditieren hinsetzt, wenn du still sein willst, mußt du als erstes den Mund fest verschließen. Wenn du den Mund vollkommen geschlossen hältst, berührt deine Zunge das Dach des Mundes: beide Lippen sind vollkommen geschlossen, und die Zunge berührt den Gaumen. Schließe den Mund also völlig - aber das kann erst geschehen, wenn du all das befolgt hast, was ich gesagt habe, nicht eher. Nichts leichter als das! Den Mund zu verschließen ist keine übergroße Anstrengung. Du kannst dich hinsetzen wie eine Statue mit völlig geschlossenem Mund - aber das bringt nicht deine Geschäftigkeit zum Stillstand. Tief im Inneren gehen die Gedanken weiter, das kannst du daran merken, daß du unmerkliche Schwingungen in den Lippen spürst. Andere mögen sie nicht wahrnehmen, diese Schwingungen sind zu subtil. Aber während du denkst, zittern deine Lippen leicht - ein kaum wahrnehmbares Zittern. Bei wirklicher Entspanntheit hört auch dieses Zittern auf. Du redest nicht im Inneren weiter und beschäftigst dich mit nichts mehr. Verschließe fest den Mund und sei still ... und dann höre zu denken auf. Aber wie machst du das? Gedanken kommen und gehen. Laß sie kommen und gehen, das ist nicht das Problem. Du darfst dich nicht einfangen lassen; du bleibst auf Abstand, unberührt. Du siehst ihnen bloß zu, wie sie kommen und gehen, aber sie gehen dich nichts an. Verschließe den Mund und du wirst ungestört bleiben. Nach und nach hören die Gedanken von alleine auf - sie brauchen deine Mithilfe, um dazusein. Wenn du sie unterstützt, dann kommen sie; wenn du mit ihnen kämpfst, dann kommen sie auch - beides sind Formen der Mithilfe: die eine positiv, die andere negativ. Beides sind Formen von Beschäftigung. Also beobachte nur. Aber es ist sehr nützlich, dabei den Mund fest zu schließen. Als erstes also - und das habe ich durch Beobachtung vieler Leute entdeckt - ist es gut, wenn du gähnst: mach den Mund so weit auf, wie es geht, spanne ihn so weit auseinander wie nur möglich, gähne so herzhaft, daß es sogar wehtut, und wiederhole das zwei- bis dreimal. Das macht es dem Mund leichter möglich, für längere Zeit geschlossen zu bleiben. Und als nächstes: rede zwei bis drei Minuten lang lauter Unsinn, nichts als Kauderwelsch. Was immer dir durch den Kopf geht, sprich es laut aus, und amüsiere dich dran. Dann schließe den Mund. Es ist immer leichter, vom entgegengesetzten Pol her anzufangen. Wenn du deine Hand entspannen willst, machst du sie am besten erst so fest wie möglich zur Faust; balle sie und spanne sie so sehr wie möglich an, fange also mit dem Gegenteil an - und dann lasse locker. Das führt zu einer tieferen Entspannung des Nervensystems. Schneide Grimassen, verzerre dein Gesicht, als wäre es aus Gummi, gähne und rede ein paar Minuten lang nichts als Unsinn - und dann: Mund zu. Nach dieser Anspannung lassen sich Lippen und Mund tiefer entspannen. Verschließe den Mund und mach dich ganz zum Beobachter. Bald wird Stille über dich kommen. Es gibt zwei Arten von Stille. Das eine ist die Stille, die du dir selber aufzwingst. Diese Stille ist nicht sehr anmutig, sie ist eine Form von Gewalt; es ist eine Art Vergewaltigung des Geistes, eine Selbstaggression. Dann gibt es die andere Form der Stille - die Stille, die dich überkommt, so wie der Abend kommt. Sie senkt sich auf dich herab, sie hüllt dich ein. Alles, was du deinerseits tun kannst, ist, dich für sie bereit zu machen, empfänglich zu werden: und dann kommt sie. Verschließe den Mund, schau unbeteiligt zu, mach dich nicht absichtlich still. Wenn du es absichtlich tust, dann kannst du vielleicht ein paar Sekunden Stille herbeizwingen, aber das sind wertlose Sekunden Stille - in dir rumort es weiter. Versuche also nicht, »still zu sein«. Bereite nur die Situation vor: bestelle den Boden, säe die Saat und warte ab. Entleere deinen Geist und denk an nichts Was kannst du tun, um deinen Geist zu entleeren? Die Gedanken kommen, und du beobachtest. Und beim Beobachten mußt du in einer ganz bestimmten Verfassung sein. Beim Beobachten mußt du passiv sein, nicht aktiv. Da gibt es sehr feine Unterschiede, und du mußt jeden Schritt genau verstehen, sonst kannst du jederzeit danebentreten. Wenn du auch nur einen kleinen Schritt verfehlst, ändert das den ganzen Vorgang entscheidend. Beobachte; aber beobachte passiv, nicht aktiv.
Was ist der Unterschied? Du wartest zum Beispiel auf deine Freundin oder deinen Freund - du hältst aktiv Ausschau. Sobald jetzt jemand an deine Tür kommt, springst du auf, um zu sehen, ob es der ist, den du erwartest. Dann genügt es schon, daß ein paar Blätter rascheln, und du glaubst, die Freundin ist da. Bei jedem Anlaß springst du auf; du bist gespannt und aktiv. Nein, das ist nicht die richtige Verfassung. Wenn du zu eifrig und zu aktiv bist, bringt dich das nicht zu Tilopas Schweigen, nicht zu meinem Schweigen. Nein. Sei passiv; so, wie du am Ufer eines Flusses sitzt, der dahinströmt - du siehst ihm einfach zu. Ohne Eifer, ohne Drang, ohne Eile. Niemand zwingt dich. Selbst wenn du woanders hinschaust, ist nichts verloren. Du schaust nur zu, du beobachtest nur. Eigentlich paßt das Wort »Beobachten« hier gar nicht. Denn »Beobachtung« erinnert an Tätigkeit. Du blickst einfach nur, ohne die kleinste Absicht. Du sitzt einfach am Ufer des Flusses: du blickst hinaus und der Fluß fließt vorbei. Oder du blickst zum Himmel hinauf, wo die Wolken treiben; du schaust untätig hin. Es ist unsagbar wichtig, diese Passivität genau zu verstehen: denn ihr seid so rastlos und geschäftig, daß selbst, wenn ihr einmal passiv seid, euer Eifer gleich wieder eine aktive Erwartung daraus macht. Und dann ist alles umsonst. Dann hat sich die Geschäftigkeit wieder von der Hintertür eingeschlichen. Bleibe ein passiver Zuschauer. Entleere deinen Geist und denk an nichts. Bei solcher Passivität entleert sich dein Geist automatisch. Die kleinen Wellen und Ausläufer deiner Aktivität, die Wellen, die deine Gedanken schlagen, legen sich nach und nach, bis die ganze Oberfläche deines Bewußtseins spiegelglatt ist. Du wirst zum stillen See. Laß deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhn. Dies ist eine von Tilopas speziellen Methoden. Jeder Meister hat seine eigene spezielle Methode, durch die er zur höchsten Einsicht gelangt ist, und mit der er anderen helfen möchte. Dies ist Tilopas Spezialität: Laß deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhn. Bambus ist innen völlig hohl. Wenn du ruhst, dann fühle dich genau wie ein Bambus: innerlich völlig hohl und leer. Und das entspricht auch der Wirklichkeit: dein Körper ist genau wie ein Bambus: innen leer. Deine Haut, deine Knochen, dein Blut - all das gehört zum Bambus, der hohl ist. Wenn du mit völlig stillem Mund dasitzt, untätig: die Zunge rührt an den Gaumen und zittert nicht von Gedanken, sondern ist still; du beobachtest passiv, ohne auf irgendetwas Besonderes zu warten - dann fühl dich wie ein hohler Bambus, und ganz unversehens wird sich eine unendliche Energie in dich ergießen, das Unbekannte wird dich erfüllen, das Geheimnisvolle, das Göttliche. Ein hohler Bambus wird zur Flöte, und das Göttliche fängt an, auf ihm zu spielen. Bist du erst leer, dann gibt es keine Schranke mehr, die das Göttliche davon abhält, dich zu durchfluten. Versuche es einmal: es ist einer der schönsten Meditationen, die es gibt - die Meditation, ein hohles Bambusrohr zu werden. Du brauchst nichts anderes zu tun, als einfach zum Bambus zu werden - und alles andere folgt von selbst. Plötzlich spürst du, wie sich etwas in deinen Hohlraum ergießt. Du bist wie ein Schoß, und neues Leben dringt in dich ein, ein Samenkorn fällt auf dich herab. Und schließlich kommt ein Augenblick, wo auch der Bambus vollkommen verschwindet. Laß deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhn. Laß deinen Körper ruhen. Verlange nicht nach spirituellen Dingen, verlange nicht nach dem Paradies, verlange nicht einmal nach Gott. Gott läßt sich nicht begehren - wenn du ohne Wunsch bist, dann kommt er zu dir. Die letzte Befreiung läßt sich nicht begehren, die Begierde selbst ist die Fessel. Sobald du ohne Begierde bist, bist du frei. Die Buddhaschaft läßt sich nicht begehren, weil das Begehren das Hindernis ist. Wenn die Schranke fällt, explodiert auf einmal der Buddha in dir. Wenn du leer bist, ist nur noch freier Raum da - das Samenkorn springt auf. Laß deinen Körper leicht wie einen hohlen Bambus ruhn. Kein Geben und Nehmen: der Geist ruht. Es gibt nichts zu geben, und nichts zu empfangen. Alles ist vollkommen okay, so wie es ist. Geben und Nehmen sind nicht mehr notwendig: so wie du bist, bist du absolut vollkommen. Diese östliche Lehre ist im Westen völlig falsch verstanden worden. Man fragt sich dort: »Das nennt sich Religiosität? Wie sollen die Menschen vorwärts kommen? Dann haben sie ja kein Motiv mehr, nach Höherem zu streben. Dann geben sie sich ja keine Mühe mehr, ihren Charakter zu verbessern, ihre schlechten Angewohnheiten in gute umzuwandeln. So hat der Teufel mit ihnen leichtes Spiel.« Im Westen ist das Motto: verbessere dich! Egal, ob es um diese oder jene Welt geht, Hauptsache du wirst noch besser. Wie verbessert man sich ? Wie kann man größer und wichtiger werden? Im Osten gehen wir den Dingen etwas tiefer auf den Grund. Wir haben eingesehen, daß gerade dieser Eifer, etwas zu werden, die eigentliche Schranke ist - denn du trägst bereits deine wahre Natur in dir. Du brauchst nichts zu werden. Du brauchst nur einzusehen, wer du bist, das ist alles. Du brauchst nur zu erkennen, wer sich in dir verbirgt. Wenn du
dich verbesserst, ganz gleich auf welchem Gebiet, bringt dir das nur Angst und Sorge: schon mit dem bloßen Wunsch nach Verbesserung bist du auf dem Holzweg. Dann wird sofort die Zukunft wichtig, wird das Ziel wichtig, werden Ideale wichtig - und dein ganzes Denken wird mit einem Schlag vom Verlangen gelenkt. Wenn du es begehrst, verfehlst du es. Laß die Begierde fallen, werde zu einem spiegelglatten See reiner Wunschlosigkeit - und plötzlich siehst du mit Erstaunen, daß es da ist, unerwartet. Und du wirst lachen, bis dir der Bauch wackelt - so, wie Bodhidharma gelacht hat. Und die Anhänger Bodhidharmas sagen sogar: wenn du zu lachen aufhörst, kannst du ihn immer noch schallend Weiterlachen hören. Er hat nie zu lachen aufgehört. Er lacht seitdem ununterbrochen. Er mußte lachen, weil er den ungeheuren Witz verstand: »Wer hat mir denn diesen Bären aufgebunden? Ich bin ja längst das, was ich immer sein wollte! Was für ein Wahnsinns-Rätsel - man ist schon längst, was man werden will! Da kann man lange tüfteln! Wie kann man das werden, was man schon ist?« Bodhidharma sah die Narrenfalle und fing zu lachen an ... Bodhidharma lebte genau zur selben Zeit wie Tilopa. Gut möglich, daß sie sich gekannt haben - wenn auch nicht persönlich - aber trotzdem, sie müssen sich gekannt haben. Sie sind vom gleichen Kaliber. Kein Geben und Nehmen: der Geist ruht. Mahamudra ist wie ein Geist, der sich an nichts mehr klammert. Wenn du dich an nichts mehr klammerst, bist du am Ziel. Leere in deiner Hand - du bist zu Hause angekommen. Mahamudra ist wie ein Geist, der sich an nichts mehr klammert. Wenn du dich darin übst, erreichst du bald die Buddhaschaft. Was also mußt du üben? Mach dich immer leichter und gelassener. Sei immer mehr im Hier und Jetzt. Handle mehr und mehr und beschäftige dich immer weniger. Werde immer hohler - leer und passiv. Sei mehr und mehr Zuschauer unbeteiligt, erwartungslos, wunschlos. Sei glücklich und zufrieden mit dir. Und feiere! Und dann, irgendwann - es kann jeden Augenblick so weit sein - bist du reif: deine Zeit ist gekommen, und du erblühst zum Buddha.
Der Gesang geht weiter: Kein Üben von Mantras und Paramitas, Kein Unterricht in Sutras und Geboten, Kein Wissen aus Schulen und Schriften, Führt zur Erkenntnis der Eingeborenen Wahrheit. Denn wenn der Geist nach etwas strebt, Erfüllt von Sehnsucht nach dem Ziel, Verhüllt er damit nur das Licht, Wer sich an Tantrische Gebote hält und dennoch urteilt, Begeht Verrat am Geist des Samaya. Gib alles Tun und Wünschen auf, Laß die Gedanken steigen und verebben, Wie Meereswellen. Wer die Vergänglichkeit niemals vergißt, Noch das Prinzip der Urteilslosigkeit, Der richtet sich nach Tantrischem Gebot. Wer alles Sehnen aufgibt, Sich nicht an dieses oder jenes heftet, Erkennt den wahren Sinn der Schriften.
V. DIE EINGEBORENE WAHRHEIT 15. Februar 1975 Die Tantrische Einstellung ist Tilopas innerste Natur. Ihr müßt erst verstehen lernen, was die tantrische Einstellung ist, bevor ihr verstehen könnt, was Tilopa zu sagen versucht. Ein paar Dinge also über die tantrische Einstellung: Erstens - es ist überhaupt keine Einstellung, denn Tantra sieht das Leben ohne jede Einschränkung. Tantra hat keine bestimmte >Weltanschauung<, um auf die Welt zu schauen. Es hat keine Konzepte, es ist keine Philosophie. Es ist nicht einmal eine Religion, es hat auch keine Theologie. Tantra mißtraut Worten, Theorien, Lehrmeinungen. Es will das Leben so sehen, wie es ist, ohne dazwischengeschobene Vorstellungen, denn sie verzerren alles nur. Die Einbildung projiziert dann etwas hinein, dein eigener Geist mischt sich dann in alles ein - und du bist nicht mehr in der Lage, das zu erkennen, was ist. Tantra umgeht alles Denken. Es begegnet dem Leben von Angesicht zu Angesicht, ohne zu denken: »das ist gut« oder »das ist schlecht«, es stellt sich einfach nur dem, was ist. Man kann also nicht ohne weiteres von einer Einstellung sprechen - denn es handelt sich eigentlich um eine Nicht-Einstellung. Und zweitens darf man nicht vergessen, daß Tilopa ein einziges >Ja!< ist. Ein unbegrenztes Ja. In seinem Wortschatz kommt >Nein< nicht vor, es kennt keine Negation. Er verneint nichts, denn mit dem Nein fängt der Kampf an, mit dem Nein wirst du zum Ego. Sobald du Nein zu irgendetwas sagst, bist du schon ein Ego. Der Kampf hat begonnen, jetzt bist du im Krieg. Tantra liebt, und zwar bedingungslos. Er sagt niemals Nein - zu nichts und niemanden, egal, was es ist, denn alles gehört zum Ganzen, und das Ganze kann nicht existieren, wenn irgendetwas fehlt. Es heißt, wenn auch nur ein Wassertropfen fehlte, müßte das ganze Dasein dürsten. Du pflückst im Garten eine Blume, und du hast etwas aus dem ganzen Dasein herausgerissen. Du tust einer Blume weh, und du hast damit tausend Sterne verletzt. Denn alles ist mit ihnen verwoben. Das All existiert als ein Ganzes, als ein organisches Ganzes. Das All existiert nicht als ein Mechanismus - alles ist mit allem verwandt. Und so sagt Tantra bedingungslos Ja. Es hat nie eine andere Sicht des Lebens gegeben, bei der ohne jede Bedingung Ja gesagt wird - einfach Ja. Das Nein verschwindet: bis in die Wurzeln deines Daseins ist kein Nein mehr zu finden. Und wie könnte man ohne ein Nein noch kämpfen? Oder gar Krieg führen? Du treibst einfach. Du löst dich auf und vermischst dich mit allem. Du wirst eins. Alle Grenzen sind verschwunden. Das Nein errichtet die Grenze. Nein ist die Grenze, die du um dich gezogen hast. Sobald du Nein sagst, passe genau auf: es verschließt sich etwas in dir. Sobald du Ja sagst, öffnet sich dein Wesen. Der wahre Atheist ist einer, der grundsätzlich Nein zum Leben sagt. Daß er Nein zu Gott sagt, ist nur ein Zeichen dafür. Du magst an Gott glauben, aber wenn du sonst im Leben zu irgendetwas Nein sagst, dann ist dein Glaube nichts wert, dein Gott ist Hokus-Pokus. Nur ein totales Ja schafft einen wirklichen Gott, offenbart den wirklichen Gott. Wenn du das Dasein uneingeschränkt bejahst, verändert sich das ganze Dasein im Handumdrehen. Dann gibt es keine Felsen mehr, keine Bäume mehr, keine Menschen, Flüsse und Berge - plötzlich ist alles eins geworden, und diese Einheit ist Gott. Der wahre Theist ist einer, der alles bejaht, nicht nur Gott. Der Verstand ist nämlich sehr gerissen - er kann zu Gott Ja und zur Welt Nein sagen. Das ist es, was gewöhnlich geschieht. Millionen von Menschen haben ihr ganzes Leben so verfehlt. Sie sagen Ja zu Gott und sagen Nein zum Leben. Sie gehen sogar so weit, daß sie glauben, man könne unmöglich Ja zu Gott sagen, wenn man nicht Nein zum Leben sagt. Sie sitzen zwischen zwei Stühlen: sie verneinen die Welt, damit sie sich zu Gott hinwenden können. Aber eine Hinwendung, die auf einer Absage beruht, ist überhaupt keine. Sie ist verlogen. Sie ist Heuchelei. Wie kannst du einen Schöpfer bejahen, ohne seine Schöpfung zu akzeptieren? Wenn du Nein zur Schöpfung sagst, wie kannst du dann Ja zum Schöpfer sagen? Beides ist eins. Der Schöpfer und die Schöpfung sind nicht zweierlei: der Schöpfer ist die Schöpfung. Ja, es gibt nicht die geringste Trennlinie zwischen Schöpfer und Schöpfung. Alles ist ein ununterbrochener Schöpfungsprozeß. Der eine Aspekt des Schöpfungsprozesses ist der Schöpfer, der andere Aspekt ist die Schöpfung; es sind nur zwei Pole ein und derselben Sache. Tantra sagt: wenn du Ja sagst, dann sag einfach nur Ja; setze es nicht gegen irgendein Nein. Aber genau das haben alle Religionen getan: sie sagen Nein zur Welt und Ja zu Gott: und sie sagen ihr Nein mit Nachdruck, damit ihr Ja umso mehr strahlt. Viele sogenannte Heilige haben gebetet: »Herr, dich preisen wir, aber nicht deine Welt.« Ein merkwürdiges Lob! Ist das wahre Hingabe? Ihr wählt aus, ihr schneidet das Dasein entzwei. Ihr stellt euch höher als Gott. Ihr sagt: »Hiermit bin ich einverstanden, damit aber nicht.« So entsteht alle Weltabkehr. Wer der Welt den Rücken kehrt, ist nicht religiös. Aus der Sicht des Tantra ist einer, der sich von der Welt abkehrt, ein Egoist. Erst hat er weltliche Güter angehäuft, und war dabei völlig auf die Welt ausgerichtet. Jetzt entsagt er der Welt, seine Augen hat er aber immer noch auf die Welt gerichtet und bleibt Egoist. Das Ego kennt Schliche und Wege, sich zu holen, was es braucht; es kommt wieder zurück, auf Umwegen. Immer wieder kommt es zurück - mit neuer Maske, anders getarnt. Es geschah einmal, daß Mulla Nasrudin mich in meinem Heimatdorf besuchte. Damals lebte er in Neu-Delhi, der Hauptstadt, und er war so stolz auf seine Hauptstadt, daß er für alles übrige praktisch blind war. Ich zeigte ihm die kleine Festung in meinem Dorf, und er rief aus: »Was! Das nennst du eine Festung? Du solltest einmal das Red Fort in Neu-Delhi sehen. Das hier ist nichts dagegen!« Ich führte ihn an den Fluß und er sagte: »Was, das nennst du einen
Fluß? Ich hab in meinem ganzen Leben keinen so armseligen und dünnen Fluß gesehen!« Und so ging es weiter. Dann kam die Vollmondnacht. Ich hoffte, daß ihn wenigstens der Vollmond zufriedenstellen würde, und er nicht mehr auf dem armen kleinen Dorf herumhacken würde. Aber nein, ich hatte mich getäuscht. Ich führte ihn zum Fluß. Es war ein zauberhafter, stiller Abend, und dann stieg der Mond auf - riesig groß, einfach überwältigend. Ich wandte mich zu Nasrudin: »Sieh mal! Was für ein großer Mond!« Er sah hin, zuckte mit den Schultern und sagte: »Nicht schlecht für so ein winziges Dorf.« So arbeitet der Verstand: er ist hartnäckig, er windet sich in Spiralen und kommt immer aufs gleiche zurück. Du magst dieser Welt entsagen, ohne die geringste Ahnung von einer anderen Welt zu haben; du bleibst nur zu sehr von dieser Welt. Wer das überprüfen will, kann zu den indischen Mönchen gehen, den Sadhus: sie bleiben sehr weltlich, sehr der Welt verhaftet. Sie haben allem entsagt, aber ihr ganzes Augenmerk ist auf die Welt gerichtet, der ihre Absage gilt, ihr Blickpunkt ist vom Ego bestimmt, egozentrisch. Sie bilden sich zwar ein, daß sie mit ihrer Weltabkehr Gott näherkommen, aber da täuschen sie sich. Niemand hat jemals das Göttliche verwirklicht, der irgendeinen Teil des Daseins ausgeklammert hat. Das ist die Sicht von Tantra; Tantra sagt: Sag Ja. Sag Ja zu allem. Du brauchst nicht zu kämpfen, du brauchst nicht einmal zu schwimmen - laß dich einfach von der Strömung tragen. Der Fluß bewegt sich von allein, er fließt ganz von selbst, und alles Wasser erreicht schließlich das Meer. Stör den Fluß nicht, hör auf, den Fluß anzutreiben - mehr braucht's nicht. Geh einfach mit. Dieses Mitgehen, dieses Treibenlassen, Sich-Tragen-Lassen - das ist Tantra. Wenn du Ja sagen kannst, gibst du alles in Gottes Hand. Wenn du Ja sagen kannst, worüber wolltest du dich dann beschweren? Wie kannst du dann unglücklich sein? Dann ist alles so, wie es sein soll. Du kämpfst nicht, du lehnst nichts ab - du nimmst alles an. Und mach dir klar, daß dieses Mitnehmen etwas anderes ist als das übliche Sich-Abfinden. Gewöhnlicherweise akzeptiert ein Mensch eine Situation, wenn ihm nichts anderes übrigbleibt. Das ist ein ohnmächtiges Akzeptieren, das führt zu nichts. Ohnmacht führt zu nichts. Jemand findet sich mit einer Situation ab, in der er sich hilflos fühlt: »Es läßt sich nichts machen, also was tun? Finde dich wenigstens damit ab, sonst verlierst du auch noch das Gesicht.« Das tantrische Akzeptieren ist nicht von dieser Art. Es kommt aus einer Überfülle, aus tiefster Zufriedenheit - nicht aus Hoffnungslosigkeit, Frustration, Hilflosigkeit. Es kommt, wenn du nicht mehr Nein sagst; plötzlich steigt es in dir auf. Dein ganzes Wesen wird eine einzige Zufriedenheit. Diese Bejahung hat ihre eigene Schönheit. Sie ist nicht erzwungen, du machst keine Pflichtübung daraus. Wenn du sie einstudierst, wird sie verlogen, wird sie zu Heuchelei. Wenn du eine Charakterübung daraus machst, spaltest du dich; äußerlich nimmst du alles hin; tief drinnen herrscht Aufruhr, Verneinung, Verleugnung. Tief drinnen brodelt es und kann jederzeit explodieren. Nur an der Oberfläche gibst du vor, daß alles in Ordnung ist. Tantrisches Akzeptieren ist total, es spaltet dich nicht. Alle Religionen der Welt, außer Tantra, haben zu Persönlichkeitsspaltung geführt. Alle Religionen der Welt, außer Tantra, haben zu Schizophrenie geführt. Sie spalten euch. Sie teilen euch in Gut und Böse auf. Und sie erklären, daß das Gute gestärkt und das Böse besiegt werden muß, daß man sich vom Teufel abwenden und Gott zuwenden muß. Sie erzeugen Zwist und Kampf in euch, und ihr fühlt euch auswegslos schuldig: denn wie kannst du etwas in dir besiegen, das von Natur aus eins mit dir ist? Man kann es schlecht nennen und es noch so sehr verfluchen, das macht keinen Unterschied. Wie kannst du es zerstören? Du hast es nicht erschaffen. Du hast es einfach so vorgefunden - es ist von Natur aus vorgegeben. Die Wut, der Sex, die Habgier es ist alles schon da, du hast es nicht erfunden. Das sind die Gegebenheiten des Lebens, nicht anders als Augen und Hände. Du kannst ihnen üble Schimpfnamen geben, du kannst sie häßlich oder schön oder sonst etwas nennen, aber du schaffst sie damit nicht aus der Welt. Nichts kann aus der Welt geschafft werden, nichts kann zerstört werden. Tantra sagt, daß Umwandlung möglich ist aber Zerstörung? - Nein. Und zur Umwandlung kommt es, wenn du dein gesamtes Wesen akzeptierst. Dann findet plötzlich alles seinen natürlichen Platz; dann wird auch die Wut verarbeitet und die Habgier. Dein ganzes Wesen ordnet sich neu, ohne daß du versuchst, irgendeinen Teil deiner Natur zu verdrängen. Wenn du dich akzeptierst und Ja sagst, geschieht eine Umordnung, und statt der Mißtöne, die vorher in dir herrschten, wird jetzt eine Melodie, eine Musik in dir geboren, eine Harmonie ist entstanden. Zwischen Lärm und Harmonie - was ist da der Unterschied? Es sind die gleichen Klangquellen, auf neue Weise arrangiert. Lärm hat keinen Mittelpunkt. Wenn ein Wahnsinniger Klavier spielt, spielt er auf den gleichen Tasten wie ein Pianist; die Noten sind die gleichen wie in der Musik, aber der Mittelpunkt fehlt. Musik entsteht, wenn du dem Lärm einen Mittelpunkt zu geben vermagst; alles richtet sich nach dem Mittelpunkt aus und wird organisch. Wenn ein Irrer Klavier spielt, dann ist jeder Ton abgespalten, für sich; die Noten bilden einen Kuddelmuddel, keine Melodie. Und wenn ein Pianist auf dem gleichen Klavier mit der gleichen Anzahl von Fingern spielt, ist alles wie verwandelt: jetzt folgen die Töne einer bestimmten Regel, die gleichen Noten haben sich zu einer organischen Einheit verbunden, jetzt haben sie ihren Mittelpunkt gewonnen; jetzt sind sie kein wirrer Haufen mehr, sondern sind zu einer Familie geworden; eine unmerkliche Zuneigung verbindet sie miteinander - jetzt gehören sie zusammen. Und das ist die ganze Kunst: alle Töne zu einem liebevollen Gebilde zusammenzufügen, so daß Harmonie zwischen ihnen entsteht. Tantra sagt, daß du so, wie du bist, nur aus Lärm bestehst. Daran ist nichts auszusetzen - nur hast du keinen Mittelpunkt. Hast du erst einmal deinen Mittelpunkt gefunden, gewinnt alles eine Ordnung und wird schön. Wenn Gurdjieff böse wird, ist das etwas Schönes. Wenn du böse wirst, ist es etwas Häßliches. Wut ist weder häßlich noch schön. Wenn Jesus wütend wird, ist das reine Musik - auch wenn es Wut ist. Wenn Jesus zur Peitsche greift und die Geldwechsler aus dem Tempel jagt, dann hat das seine eigene verborgene Schönheit, die selbst Buddha fehlt: Buddha
scheint einseitig daneben. Es scheint, daß bei ihm das Spiel des Zorns nicht vorkommt; die Spannung, das Salz des >Zorns des Gerechten< fehlt ihm. Buddha schmeckt nicht so gut wie Jesus. Jesus enthält eine Prise Salz, er kann zornig werden - selbst der Zorn hat in der Gesamtheit seines Wesens seinen Platz; er hat nichts abgewiesen, er hat alles zugelassen. Aber Tilopa ist einfach unvergleichlich. Selbst Jesus ist nichts dagegen ... Die tantrischen Meister sind wie wilde Blumen, sie enthalten alles. Ihr habt sicher Darstellungen von Bodhidharma gesehen; wenn nicht, seht sie euch einmal an: so wild, daß du nicht einschlafen kannst, wenn du allein in der Nacht vor seinem Bild meditierst; sein Bild wird dich verfolgen. Es heißt von ihm, er brauchte nur jemand ins Gesicht zu sehen, und der arme Mensch litt für den Rest seines Lebens an Alpträumen. Sein bloßer Blick war so wildwütig, daß es die Menschen gruselte. Wenn Tilopa oder Bodhidharma sprachen, heißt es, dann klang ihre Stimme wie das Brüllen von Löwen, wie Gewitterwolken, wie ein gewaltiger Wasserfall, wild und tosend. Aber wenn ihr ein wenig Geduld habt und euch nicht zu schnell ein Urteil bildet, dann könnt ihr in ihnen das allertiefste Mitgefühl, eine unendliche Liebe entdecken: dann werdet ihr ihre Musik, ihre Melodie heraushören. Und dann plötzlich geht euch die Erkenntnis auf, daß sie alles in sich aufgenommen haben, daß sie sich vor nichts verschlossen haben. Selbst der animalischen Wildheit nicht. Ein Löwe ist herrlich, selbst seine Blutrünstigkeit hat ihre Schönheit. Wenn du sie ihm nimmst, dann bleibt nur ein ausgestopfter Löwe übrig - leblos. Tantra sagt, daß alles aufgenommen werden muß - alles! denkt daran: ohne Bedingung. Man muß den Sex ganz in sich aufnehmen, dann wird aus ihm eine unbändige Kraft. Ein Buddha, ein Tilopa, ein Jesus - sie haben eine so ungeheuer magnetische Ausstrahlung: woher kommt sie? Sie haben den Sex völlig in sich aufgenommen und umgeformt. Sex ist menschlicher Magnetismus. Aus heiterem Himmel fällst du in den Abgrund ihrer Liebe hinein. Du brauchst nur ihren Weg zu kreuzen, und du wirst in eine vollkommen andere Welt hineingezogen. Es reißt dich aus deiner altbekannten Welt fort - etwas völlig Neues zieht dich in seinen Bann, etwas, wovon du nicht einmal geträumt hast. Und was ist das für eine Kraft? Es ist die gleiche Energie - Sexenergie, nur umgewandelt. Jetzt ist daraus eine magnetische Kraft geworden, Charisma. Buddhas Energie ist umgewandelter Zorn; aus Zorn ist Mitgefühl geworden. Und wenn Jesus zur Peitsche greift, dann geschieht es aus Mitgefühl. Und wenn er mit seiner Feuerzunge redet, dann aus dem gleichen Mitgefühl heraus. Vergiß nicht: Tantra akzeptiert dich in deiner Totalität. Wenn du zu mir kommst, dann akzeptiere ich dich in deiner Totalität. Ich bin nicht dazu hier, dich irgendeine Form der Absage zu lehren. Ich bin hier, um dir zu helfen, dich umzugestalten, ein Zentrum zu finden für all deine Energien, sie von einem Mittelpunkt her neu zu organisieren. Und ich sage euch, daß ihr nur umso reicher seid, wenn ihr auch die Wut mit aufnehmt, daß ihr umso reicher seid, wenn ihr den Sex mit aufnehmt, daß ihr umso reicher seid, wenn ihr die Eifersucht und den Haß mit einbezieht - das sind die Gewürze des Lebens, das gibt dir dein Aroma. Du wirst nicht fad und farblos werden, sondern viele Geschmacksnuancen bieten - ganz ohne Salz geht es nicht. Und ohne Zorn - genau in der richtigen Dosis - auch nicht. Nur wenn der Zorn dich überwältigt, wird er häßlich. Wenn du nur Salz ißt, mußt du sterben. Salz ist nur in einer bestimmten Proportion sinnvoll - aber in dieser Proportion wird es gebraucht, wird es unbedingt gebraucht. Vergiß das nicht. Unterwegs begegnen dir viele Menschen, die dich gern verkrüppeln möchten, die dich beschneiden, zersplittern wollen. Sie sagen: »Diese Hand da ist schlecht, schneide sie ab!« - »Reiß dir dies üble Auge aus!« - »Wut ist etwas Schlimmes; Haß ist etwas Böses; Sex etwas Verdorbenes!« Sie schneiden dich in lauter Stücke und wenn sie endlich fort sind, bleibst du gelähmt zurück, als Krüppel. Du hast kein Leben mehr. Auf diese Weise ist die gesamte Welt gelähmt und verkrüppelt worden. Wenn Tantra nicht zum Fundament menschlichen Geistes gemacht wird, kann der Mensch nie vollständig zum Menschen werden - denn keine andere religiöse Vision der Welt akzeptiert den Menschen in seiner Ganzheit. Aber dies Akzeptieren - das darf nie vergessen werden - kommt aus übervollem Herzen, nicht aus Ohnmacht. Man lebt sein Leben, man folgt seinem Weg: jedes einzelne Stadium muß gelebt werden, und jede Geschmacksnuance muß gekostet werden. Selbst Irrwege, selbst Verwirrungen haben ihren Sinn, denn wenn du nie vom Weg abkommst, wird deine Erleuchtung nicht wie ein Regenbogen sein, wirst du nie einfach und natürlich. Du magst ein Einfaltspinsel sein, aber nie und nimmer einfach - und ein Einfaltspinsel ist nicht einfach. Zur Einfachheit kommt man nur durch eine tiefe und komplexe Erfahrung. Ein Einfaltspinsel ist lediglich ein Mensch ohne jede Erfahrung. Er mag ein Idiot sein, aber kein Weiser. Ein Weiser hat alle Sünden des Lebens kennengelernt, hat zu nichts Nein gesagt, hat nie etwas eine Sünde genannt, hat alles angenommen, hat alles geschehen lassen. Er ist mit jeder Welle mitgegangen, hat sich treiben lassen, hat sich verirrt, ist bis in die tiefsten Abgründe der Hölle gefallen. Nietzsche sagt irgendwo: »Wenn ein Baum an den Himmel rühren will, müssen seine Wurzeln bis in die Tiefen der Hölle dringen.« Er hat recht. Wenn du wirklich in den Himmel hineinblühen willst, müssen sich deine Wurzeln durch die Erde bis zur tiefsten Hölle wühlen. Wenn aus einem Sünder ein Weiser wird, hat dieser Weise eine besondere Schönheit. Wenn ein Weiser nichts als weise ist, ohne je ein Sünder gewesen zu sein, dann ist er nur ein Tropf, dann hat er nichts vom Leben mitbekommen. Und es kommt keine Tugend zustande, wenn nicht Verfehlung und Verwirrung vorausgegangen sind. Es gibt ein herrliches Gleichnis, das Jesus mehrmals erzählt. Ein Vater hatte zwei Söhne. Der Jüngere bat um sein Erbteil, ging damit fort, verschleuderte es in der Stadt mit Wein, Weib und Gesang, und endete als Bettler. Der andere Sohn blieb beim Vater, arbeitete hart auf dessen Gütern und sammelte viel Reichtum an. Und dann eines Tages erhielten sie von dem ersten Sohn, dem Bettler, den sie verschollen glaubten, die Nachricht: »Vater - ich komme nach
Hause zurück; ich war ein Dummkopf, ich habe mein Erbteil verschleudert. Vergib mir. Jetzt weiß ich nicht mehr wohin, nimm mich auf, ich komme heim.« Und der Vater sagte zu seinem Hausstand: »Diese Gelegenheit müssen wir feiern! Schlachtet das fetteste Schaf, bereitet die köstlichsten Gerichte, verteilt Süßigkeiten im ganzen Dorf, sucht den ältesten Wein für ihn heraus. Das wird ein Fest - mein Sohn, der vom Weg abgekommen war, kommt heim!« Einige Leute aus dem Dorf traten hinter den anderen Sohn und raunten ihm zu: »Sieh nur, wie ungerecht! Du bist bei deinem Vater geblieben, du hast ihm wie ein Sklave gedient, bist nie vorn rechten Weg abgekommen, hast nie etwas gegen ihn getan - aber hat dein Vater je ein solches Fest für dich gefeiert? Noch nie! Und jetzt kommt dieser Vagabund, dieser Bettler, der das Geld deines Vaters verplempert und in Sünde gelebt hat, wieder heim. Siehst du nicht, wie ungerecht das ist? - Dein Vater feiert es auch noch! Geh im Dorf herum und überzeuge dich: Süßigkeiten werden verteilt, da wird alles für ein großes Fest vorbereitet.« Natürlich machte das den älteren Sohn ausgesprochen wütend. Er ging tiefbetrübt zu seinem Vater und fragte: »Potzblitz! Was für eine Gerechtigkeit ist das? Für mich hast du kein Karnickel geschlachtet, mir hast du nie etwas gegeben. Und jetzt kommt dieser Herumtreiber zurück, nachdem er das ganze Vermögen, das du ihm anvertraut hattest, verjubelt hat, und noch dazu auf die übelste Weise. Und du feierst noch!« Der Vater sagte: »Ja. Denn du bist immer bei mir geblieben, also bestand kein Anlaß. Aber seine Rückkehr muß gefeiert werden: er war verloren, er ist das verlorene Schaf, das wiedergefunden wurde.« Diese Geschichte ist von den Christen nicht in ihrer vollen Tragweite verstanden worden. Sie besagt nämlich genau das, was auch ich sage, was auch Tantra sagt - es ist eine tantrische Geschichte. Sie gibt dir zu verstehen, daß das Dasein dir nie ein Freudenfest bereiten wird, wenn du immer nur auf dem rechten Weg bleibst. Dann bleibst du ein Einfaltspinsel, dann macht dich das Leben nicht reicher. Dann hast du kein Salz. Du magst nahrhaft sein, aber bist trotzdem fade. Du magst sehr einfach sein, brav, aber deiner Bravheit fehlt die Vielschichtigkeit einer komplexen Harmonie. Du bestehst aus einem einzigen Ton, nicht aus Millionen Tönen, die eine Melodie bilden. Du bist eine gerade Linie, ohne Krümmung und Winkel. Aus Kurven und Winkeln entsteht Schönheit, sie verleihen dem Leben das Geheimnisvolle, seine Tiefe. Du bleibst flach in deiner blassen Heiligkeit, du hast keine Tiefe. Das ist der Grund, warum Tantra alles gutheißt. Selbst Sünde ist schön, weil Sünde deiner Seele Tiefe gibt. Selbst Irrwege sind schön, weil du umso reicher zurückkommst. Diese Welt ist dazu da, daß du dich tief in sie hineinbegibst, dich vollkommen in ihr verlierst - und dann: die Rückkehr ... Die Leute fragen: »Warum gibt es diese Welt überhaupt, wenn Gott gegen sie ist? Warum wirft er uns in sie hinein, in diese Welt der Sünden, der Verbrechen, der Karmas? Warum wirft er uns da hinein? Er könnte uns mit einem Wort erlösen.« Aber das ist nicht möglich. Dann fehlte euch alle Tiefe, ihr bleibt oberflächlich. Ihr müßt in die entferntesten Winkel der Welt geworfen werden, und euch von da zurückarbeiten. Dieses Zurückkommen bringt etwas - und dieses »etwas« ist die Kristallisation deines Wesens. Tantra akzeptiert alles, lebt alles. Darum könnte sich Tantra nirgends zur geltenden Ideologie entwickeln. Tantra blieb immer eine Randerscheinung, ein Weg, der irgendwo an der Grenze entlanglief, außerhalb der Gesellschaft, der Zivilisation: denn die Zivilisation entscheidet sich immer für das Oberflächliche - für das >Gute<, aber Flache. Zivilisation bedeutet die Leugnung, die Verneinung vieler Dinge. Die Zivilisation ist nie mutig genug, alles hinzunehmen, alles zu akzeptieren, was das Leben mit sich bringt. Zu nichts gehört mehr Mut auf der Welt, als alles anzunehmen, was das Leben dir gibt. Und das ist es, wozu ich euch verhelfen will: alles anzunehmen, was das Leben euch gibt, und zwar in tiefer Demut, wie ein Geschenk. Und wenn ich das sage, dann schließe ich auch die Dinge ein, von denen man euch eingeschärft hat, daß ihr sie als falsch und sündig verdammen müßt. Nimm den Sex voll und ganz an, und du wirst aufblühen; es wird sich daraus die Blüte der Freiheit von aller Sexualität entfalten; eine neue Reinheit, eine neue Unschuld wird daraus entstehen: Jungfräulichkeit wird daraus hervorgehen - aber als ein Transzendieren, nicht als Verdrängung. Durch Erfahrung überschreitest du Grenzen. Indem du in den dunklen Gassen des Lebens herumwanderst, schärfen sich deine Augen, und du beginnst, selbst im Dunkeln den Lichtschimmer zu erkennen. Was heißt es schon, das Licht bei Tage zu sehen? Wie schön ist es aber, wenn du schon in dunkelster Nacht mit Augen, die von der Dunkelheit geschärft sind, den verborgenen Tag erkennen kannst. Wenn du in dunkelster Nacht den Morgen sehen kannst, dann weißt du, was Schönheit ist, dann bist du zu Hause. Wenn du im Untersten das Oberste sehen kannst, wenn du selbst aus der Hölle noch einen Himmel machen kannst, dann, dann hast du die Kunst des Lebens ausgelernt. Und Tantra will euch zu Lebenskünstlern machen - nicht zu Weltentsagern, sondern zu großen Ja-Sagern. Akzeptiert alles - und nach und nach werdet ihr merken, wie die Wünsche nachlassen, je mehr ihr alles akzeptiert. Wenn du alles akzeptierst, was willst du dann noch wünschen? Was immer gerade der Augenblick bringt - du akzeptierst es. Dann suchst du dich nicht mehr in anderen Richtungen. Du lebst alles - Augenblick für Augenblick - in tiefer Hinnahme. Du wächst, aber keinem Ziel entgegen und ohne Verlangen, irgendwo anzukommen, irgendwie anders zu sein oder irgendein anderer zu sein. Tantra sagt: »Sei du selbst« - und das ist das einzige, was du je verwirklichen kannst. Mit der Bejahung fallen alle Wünsche weg! Mit der Bejahung entsteht von ganz allein die Wunschlosigkeit. Ohne Absicht und ohne Zwang. Du brauchst dir deine Wünsche nicht wegzuoperieren - sie verschwinden allein dadurch, daß du zu allem Ja sagst. Und wenn plötzlich der Augenblick kommt, wo du total bejahst und alle Wünsche verschwunden sind, dann ist mit einem Schlag die Erleuchtung da. Plötzlich, ohne daß du das geringste dazu tust, geschieht es. Es ist das größte Geschenk, das diese Schöpfung für dich bereithält.
Das ist die tantrische Lebenseinstellung: Es gibt kein anderes Leben als dieses, und es gibt keine andere Welt als diese. Eben diese Samsara ist das Nirwana. Du brauchst nur ein wenig einsichtsvoller zu werden - nimm die Dinge mehr so, wie sie sind, sei mehr wie ein Kind, sei nicht so egoistisch. Und jetzt zu den Versen Tilopas. Kein Üben von Mantras und Paramitas, Kein Unterricht in Sutras und Geboten, Kein Wissen aus Schulen und Schriften, Führt zur Erkenntnis der Eingeborenen Wahrheit. Keine Veden helfen und keine Bibeln. Mantras zu praktizieren hilft nichts - im Gegenteil, es schadet. Was ist ein Mantra wirklich? Was tut man, wenn man ein Mantra singt? Was tut Maharishi Mahesh Yogi, wenn er den Leuten Transzendentale Meditation< beibringt? Er verordnet, ein bestimmtes Wort oder ein bestimmtes Mantra immerzu lautlos zu wiederholen: Ram, Ram, Ram; Aum, Aum, Aum, irgendein beliebiges Wort - dein eigener Name tut's auch. Selbst wenn du nur »H20, H220, H20« wiederholst, genügt das - denn es kommt nicht auf den Klang oder das Wort an; worauf es ankommt, ist die ständige Wiederholung. Schon allein die ständige Wiederholung löst etwas aus. Und was? Wenn du ein bestimmtes Wort immerzu wiederholst, entsteht dadurch in dir ein Rhythmus. Ram, Ram, Ram - ein Rhythmus wird geschaffen, und zwar ein sehr monotoner Rhythmus. Die Monotonie, unentwegt das gleiche Wort zu wiederholen, macht schläfrig. Es ist Hypnose, in diesem Fall Selbst-Hypnose. Ein Mantra zu wiederholen ist autohypnotisch. Man wird betrunken durch die eigene monotone Mantrawiederholung. Das ist in Ordnung, daran ist nichts verkehrt; es verhilft zu einem gesunden Schlaf, sehr erfrischend. Wenn man müde ist, kann das ein hilfreicher Trick sein. Man fühlt sich erfrischt danach, frischer sogar als man sich nach einem gewöhnlichen Schlaf fühlt, weil gewöhnlicher Schlaf nicht in solche Tiefen reicht wie ein Mantra-Schlaf. Beim gewöhnlichen Schlaf setzen sich die Gedanken als Träume fort, ein ständiger Störfaktor. Aber wenn du ein bestimmtes Mantra ununterbrochen wiederholst, erfüllt dich das Mantra ganz und läßt nichts neben sich gelten. Das verhilft dir zu einem sehr, sehr tiefen Schlaf. Im Yoga kennen wir ein spezielles Wort dafür. Im Sanskrit heißt Schlaf »nidra«, und der Schlaf, der durch MantraWiederholung veranlaßt wird, heißt »tandra«. Es ist eine tiefere Form von Schlaf, aber immer noch Schlaf; Yogatandra, Schlaf, der durch Yoga, durch Mantra-Sing-Sang entsteht. Bei Schlafstörungen kann TM nützlich sein. Das scheint auch der Grund, warum Maharishis Einfluß in Amerika ziemlich groß ist - es gibt kein schlafgestörteres Land als Amerika. Unmengen an Beruhigungsmitteln, an Schlaftabletten werden dort konsumiert. Die Leute haben die natürliche Fähigkeit zu schlafen verlernt: daher der Einfluß von TM. In Indien kümmert sich kein Mensch um Transzendentale Meditation, weil die Leute hier bereits so fest schlafen, daß es schwer fällt, sie überhaupt aufzuwecken. Durch ein Mantra kommt man in einen unmerklichen Schlaf, und das ist soweit in Ordnung - wenn es das ist, was man sucht. Aber glaubt nicht, daß es sich um Meditation handelt, sonst fallt ihr einem Betrug zum Opfer. Verwechselt es nicht mit Meditation - TM ist ein geistiges Beruhigungsmittel. Und es ist genauso chemisch wie nur irgendein Beruhigungsmittel, denn durch den Klang wird dein biochemisches System verändert. Klang gehört dem chemischen Körperorganismus an. Durch eine bestimmte Art von Musik, fühlt man sich körperlich ausgesprochen erfrischt. Die Musik »berieselt« dich, reinigt dich, als hättest du eine Dusche genommen. Klänge verändern deine Körperchemie. Es gibt bestimmte Arten von Musik, durch die du sehr leidenschaftlich und sexuell wirst; kaum hörst du die ersten Klänge, verändert sich schon deine Körperchemie. Ein Mantra bewirkt mit Hilfe eines einzigen Lautes eine innere Musik. Das Wesentliche dabei ist die Monotonie. Und man braucht gar nicht erst Maharishi Mahesh Yogi um Rat zu fragen - jede Mutter der Welt weiß das. Sobald das Kind unruhig wird, summt sie ein Wiegenlied. Wiegenlieder sind Mantras: ein, zwei oder drei Wörter, selbst bedeutungslose: auf Bedeutung kommt es überhaupt nicht an. Sie sitzt neben dem Kind, oder legt das Kind an ihr Herz - auch das, das Schlagen des Herzens, ist eine monotone Musik; wenn also das Kind ruhelos ist, legt die Mutter es ans Herz, und der Herzschlag wird zum Mantra. Und das Kind läßt sich einlullen, es fällt in Schlaf. Oder, wenn das Kind etwas älter geworden ist und sich nicht mehr so leicht einlullen läßt, dann singt sie ihm ein Wiegenlied. Dabei wiederholt sie einfach nur zwei oder drei Wörter, monotone, einfache Wörter. Monotonie verhilft dem Kind zum Einschlafen; das ist so weit gut. Es ist ein besseres Beruhigungsmittel als jede chemische Tablette, aber es ist ein Beruhigungsmittel, eine Droge - eine subtile Klang-Droge, die auf die Körperchemie einwirkt. Wenn du also nicht schlafen kannst, wenn du unter einer gewissen Schlaflosigkeit leidest, dann hilft ein Mantra - aber bilde dir nicht ein, das sei schon Meditation. Ein Mantra hilft dir, dich mehr und mehr anzupassen, aber nicht, dich zu verändern. Und die gesamte Gesellschaft will nichts anderes von dir, als daß du dich mehr und mehr anpaßt. Zu diesem Zweck dient ihr auch die Religion und die Moral, oder Mantras und Yoga. Die Gesellschaft hat selbst die Psychoanalyse vor ihren Wagen gespannt, einschließlich aller Formen von Psychiatrie: nichts als Mittel, dich in den Schranken der angepaßten Gesellschaft zurückzuhalten. Die Gesellschaft kennt kein anderes Ziel, als angepaßte Individuen zu produzieren. Aber wenn die gesamte Gesellschaft krankhaft ist, dann ist es nicht gut, sich ihr anzupassen. Wenn die gesamte Gesellschaft wahnsinnig ist, dann bedeutet Anpassung, daß du ebenfalls wahnsinnig wirst. Jemand stellte Sigmund Freud einmal die Frage: »Was genau tun Sie eigentlich in der Psychoanalyse, und was kommt
dabei heraus?« Er antwortete: - und Freud war ein ungewöhnlich aufrichtiger Mensch - »Alles, was wir bestenfalls erreichen können, ist dies: wir machen aus hysterisch unglücklichen Menschen normal unglückliche Menschen. Mehr nicht: hysterisch Unglückliche werden zu normal Unglücklichen. Wir bringen sie auf das normale Ausmaß von Unglück zurück, mit dem jeder lebt. Sie waren ein wenig zu weit gegangen, sie hatten ihr Unglück übersteigert, waren neurotisch geworden. Wir holen sie in die normale Neurose der Menschheit zurück.« Und anderswo sagt Freud: »Der Mensch kann niemals glücklich sein. Der Mensch kann nur entweder neurotisch unglücklich sein oder normal unglücklich, aber glücklich kann er niemals sein.« Für die gewöhnliche Menschheit scheint seine Diagnose völlig zuzutreffen, aber er ist sich nicht der Existenz eines Buddhas oder eines Tilopas bewußt; er weiß nichts von jenen, die einen restlos beseligten Seins-Zustand verwirklicht haben. Und das ist nur natürlich: denn ein Buddha kann niemals in der Praxis eines Freud zur Behandlung erscheinen wozu auch? Zu Freud kommen nur Hysteriker, nur sie werden von ihm behandelt. In seiner vierzigjährigen Erfahrung mit Patienten ist ihm nicht ein einziger Mensch begegnet, der glücklich gewesen wäre. Also hat er recht - empirisch recht. Seine Erfahrung hat ihm gezeigt, daß es nur zweierlei Menschen gibt, die normal Unglücklichen und die hysterisch Unglücklichen. Und alles, was er tun kann, beschränkt sich darauf, dich angepaßter zu machen. Mantras, Psychoanalyse, Religion, Moral, Kirche, Gebete - alles Mittel, euch gefügig zu machen. Und wirkliche Religion beginnt erst dann, wenn du die Reise zu einer tiefgreifenden Veränderung antrittst; wenn es dir nicht mehr um die Anpassung an die Gesellschaft geht, sondern um den Einklang mit dem Kosmos. Um dich mit der Gesellschaft in Einklang zu bringen, mußt du fallen. Oft genug kommt es vor, daß einem Wahnsinnigen überhaupt nichts fehlt; er hat lediglich eine nicht zu bändigende Energie und kann sich daher der Gesellschaft nicht anpassen, er bricht aus dem Gehege. Ein Wahnsinniger ist zu individualistisch. Er hat zuviel Begabung in irgendeiner Richtung und kann sich daher nicht in die Gesellschaft fügen. Vergeßt nicht, daß alle Genies Anpassungsschwierigkeiten mit der Gesellschaft hatten, daß von hundert Genies fast achtzig mit dem Irrenhaus Bekanntschaft machten. Das ist unvermeidlich, weil sie die Grenzen der Gesellschaft überschreiten. Ein Genie schäumt über von Energie - das kann die gewöhnliche Gesellschaft nicht zulassen. Die gewöhnliche Gesellschaft drückt dich nieder wie ein Briefbeschwerer; sie gestattet dir nicht, aufzufliegen. Ein genialer Mensch wirft den Briefbeschwerer ab, er will auffliegen und sich in den fernsten Himmel schwingen. Sobald du die Grenzen, die die Gesellschaft gezogen hat, überschreitest, bist du wahnsinnig. Und die gesamte Gesellschaft ist hinter dir her, um dich zu »rehabilitieren«. Für Tantra geht es nicht um Anpassung oder Wiederanpassung; das ist völlig wertlos. Das Ziel ist Veränderung. Aber wie? Jedenfalls nicht mit Tricks, die der Anpassung dienen - und dazu gehören Mantras. Wenn du unter Schlafstörungen leidest, dann versuche nicht, durch Mantras den Schlaf wiederzufinden. Versuche im Gegenteil herauszubekommen, woher die Unruhe kommt, die deine Schlaflosigkeit auslöst. Vielleicht bist du zu unzufrieden, vielleicht bist du zu ehrgeizig. Dein Ehrgeiz läßt dich nicht schlafen, ruhelos wälzt du dich im Bett, ein Opfer deiner Wunschvorstellungen, die Gedanken jagen sich. Natürlich kannst du so nicht schlafen. Und jetzt hast du zwei Möglichkeiten: die eine heißt Mantra, die andere Tantra. Mantra sagt: Kümmere dich nicht um Ursachen - wiederhole einfach nur ein Mantra und schlaf ein. Wie billig! Sich nicht um Ursachen zu kümmern, einfach nur ein Mantra zu wiederholen - eine Viertelstunde am Morgen, eine Viertelstunde am Abend - und dann einzuschlafen. Du magst dich gesund und erholt fühlen, aber selbst wenn - was ist damit gewonnen? Es gibt eine Menge von gesunden Leuten, die herrlich fest schlafen, aber nichts ist mit ihnen geschehen - zur höchsten Blüte sind sie nicht gekommen. Gesundheit an sich ist gut, aber sie kann nicht das Ziel sein. Schlafen ist gut, aber es darf nicht das Ziel sein. Tantra dagegen sagt: geh deiner Unruhe auf den Grund. Ein Minister der indischen Regierung besuchte mich des öfteren. Er war ständig um seinen Schlaf besorgt und sagte jedesmal: »Gib mir doch bitte eine Methode, mit der ich einschlafen kann.« Und jedesmal gab ich zur Antwort: »Ein Politiker kann nicht schlafen, das ist ausgeschlossen. Ein Politiker soll nicht schlafen, das wird nicht von ihm erwartet. Und das ist gut so, also werde ich dir auch keine Methode zum Einschlafen geben. Geh besser zu Maharishi Mahesh Yogi, der wird dir eine Methode verpassen, ohne weiter nach den Gründen zu fragen.« Und das tat er dann auch. Nach drei Monaten kam er wieder. Er sagte: »Du hast mir einen guten Tip gegeben, es hat funktioniert! Jetzt ist alles gut, jetzt kann ich schlafen.« Und ich sagte zu ihm: »Solltest du das Gefühl haben, daß Schlaf nicht alles ist, daß du vielmehr das Bedürfnis hast, aufzuwachen, dann komm zu mir. Jetzt kannst du zwar schlafen - aber was bedeutet das schon? Du bleibst nach wie vor der alte. Morgens geht deine Ehrgeiz-Maschine wieder los. Du magst dir einbilden, daß etwas Gutes geschehen ist, aber in Wirklichkeit ist nur eines geschehen: jetzt weißt du noch weniger, was für Gründe es hatte; durch das Mantra sind sie in die tiefsten Schichten des Unbewußten verdrängt worden, und damit ist die Möglichkeit, ein neuer Mensch zu werden, in weite Ferne gerückt.« Ich kann euch nicht zu einem besseren Schlaf verhelfen. Ich möchte euch zu einem besseren Aufwachen verhelfen, zu größerer Bewußtheit. Ein Politiker ist unentwegt auf der Jagd nach etwas, steckt immerzu in Kampf und Wettbewerb. Angestachelt von Neid will er immer höher in der Machthierarchie aufsteigen. Und am Ende kommt nichts dabei heraus. Mulla Nasrudin war sein Leben lang in der Politik und schaffte es bis zur Spitze. Da fragte ich ihn: »Was hast du erreicht?« Er sagte: »Im Vertrauen gesagt - ich bin der größte Kletterer der Welt. Das ist meine Stärke: niemand kann besser Leitern klettern als ich.« Aber selbst wenn du auf der höchsten Sprosse der Leiter angelangt bist - was dann? Eure Premierminister, Kanzler und Präsidenten sind oben angekommen, sie sind die größten Kletterer - aber Klettern ist nicht Leben. Und immer nur eine
lange Leiter nach der anderen hinaufzuklettern, was hat das für einen Sinn? Ehrgeiz führt zu Unruhe. Mir kommt es darauf an, daß ihr euren Ehrgeiz versteht. Gier führt zu Ruhelosigkeit. Mir kommt es darauf an, daß ihr eure Gier versteht. Das ist der Weg des Tantra. Und wenn die Ursache verschwindet, hast du dich verändert. Die Krankheit ist nur ein Symptom - halte dich nicht damit auf, es zu verstecken. Laß es dasein, das ist nur gut so, denn es stößt dich mit der Nase drauf, daß irgend etwas nicht stimmt. Wenn du nicht schlafen kannst, ist das gut, denn das gibt dir zu verstehen, daß irgend etwas an deiner ganzen Lebensweise nicht in Ordnung ist. Ich werde dir zu keinem besseren Schlaf verhelfen. Ich sage nur: versuche zu verstehen, was los ist, dies ist nur das Symptom. Und das Symptom ist ein Freund, kein Feind. Es zeigt nur, daß tief in deinem Unterbewußtsein Strömungen existieren, die dich am Schlafen hindern. Die mußt du verstehen, einbeziehen, durcharbeiten, transzendieren. Danach kannst du dann tief schlafen. Nicht, weil du die Symptome tief ins Unterbewußte verdrängt hast, sondern weil die Krankheit verschwunden ist. Und zugleich kommt auch eine völlig neue Bewußtheit in deinen Schlaf. Dann kannst du tief schlafen und dennoch wachsein. Dein Schlaf ist nicht mehr Hypnose, nicht mehr wie ein Rausch, der durch eine Droge zustande kommt. Denn alle Mantras sind Drogen - sehr versteckte, aber doch Drogen. Werde nicht drogenabhängig. Tilopa sagt: Kein Üben von Mantras und Paramitas, Kein Unterricht in Sutras und Geboten, Kein Wissen aus Schulen und Schriften, Führt zur Erkenntnis der Eingeborenen Wahrheit. Paramita ist ein buddhistisches Wort; es bedeutet Mitgefühl, Dienst am Mitmenschen. Das, was die christlichen Missionare in der ganzen Welt ausüben, ist »paramita« - Diene! Hilf! Erbarme dich! Hab Mitleid! Aber Tilopa sagt, daß dadurch nichts gewonnen ist. Das ist auch meine Beobachtung. Ich kenne viele Sozialreformer, große Diener des Volkes; sie haben ihr ganzes Leben geopfert, um andere aus dem Schmutz zu ziehen - aber das hat sie nicht zu neuen Menschen gemacht. Das kann auch nicht geschehen, denn aus dem Dienst an den Menschen, dem Dienst an der Gesellschaft wird eine Beschäftigung; sie füllen ihre Zeit damit aus. Stellt euch einmal vor, daß die Gesellschaft wie durch ein Wunder mit einem Schlag verändert würde, und daß kein einziger Bettler übrig blieb, dessen man sich annehmen könnte, kein Armer, für den man sich aufopfern könnte, keine Kranken und keine Krankenhäuser, keine Wahnsinnigen; wenn das plötzlich geschähe - könnt ihr euch vorstellen, was dann aus euren großen Wohltätern der Gesellschaft würde? Sie müßten Selbstmord begehen! Wenn sie niemanden mehr finden können, dem sie sich aufopfern können, was sollen sie dann tun? Sie wären hoffnungslos verloren. Was würde aus den christlichen Missionaren? Wenn es niemanden mehr gäbe, der bekehrt und mit List und Tücke auf den rechten Weg gebracht werden muß - was soll dann aus ihnen werden? Angenommen, alle Menschen sind schon Christen: wohin sollen sie dann auf große Mission gehen? Sie können sich nur noch aufhängen. Wenn die Revolution wirklich stattfände, was sollte dann aus den Revolutionären werden? Was bliebe noch für sie zu tun übrig? Plötzlich arbeitslos, ohne Job, würden sie zu Gott beten: »Gib uns bloß die alte Gesellschaft zurück - wir brauchen die Aussätzigen, um ihnen zu dienen, wir brauchen das Proletariat, um es zu befreien.« Du kannst dich entweder mit deinen eigenen Angelegenheiten beschäftigen, oder dich mit anderen Menschen beschäftigen - worauf es dem Verstand ankommt, ist Beschäftigung. Dein Verstand ist darauf angewiesen, daß du dich selbst mit etwas anderem beschäftigst, daß du irgendwie vor deiner angeborenen wahren Natur, deiner eingeborenen Wahrheit fliehst. Und Tilopa sagt, daß beides Fluchtwege sind. Die frohe Botschaft des Tantra heißt: diene nicht andern, sondern allererst dir selbst - bedingungslos. Wie kannst du andern dienen, ehe du nicht dein eigenes inneres Wesen erfahren hast? Sei dir absolut selbst der Nächste! Wenn dein eigenes inneres Licht brennt, magst du fähig sein, deinem Nächsten zu helfen - sonst richtet deine Nächstenliebe nur Schaden an. Und es liegt genau an den vielen Revolutionären, den vielen Sozial-Reformern, den vielen selbsternannten Dienern der Menschheit, daß so viel Schaden in der Welt angerichtet wird. Sie sind zerstörerisch, sie stiften Chaos. Das ist nicht verwunderlich, denn sie haben angefangen, anderen zu helfen, bevor sie ihre eigene innere Wahrheit erkannt haben. Wenn in dir ein Licht brennt, kannst du es mit anderen teilen. Aber wenn kein Licht in dir ist, wie willst du es dann mit anderen teilen? Wie willst du etwas teilen, das du gar nicht hast? Ein Mann kam eimal zu Buddha - er muß ein sehr bedeutender Revolutionär gewesen sein, eine Art Marcuse - und er stellte ihm die Frage: »Sag mir, wie ich andern dienen kann. Mein Herz ist voller Mitgefühl und ich möchte gern, daß alle Menschen glücklich sind.« Buddha sah ihn an. Es heißt, daß er traurig wurde. Der Anblick des Mannes machte Buddha traurig. Der Mann fragte: »Warum wirst du so traurig?« Buddha antwortete: »Dein Wunsch ist schwer zu erfüllen, denn du selbst scheinst nicht glücklich zu sein, und doch siehst du es als deine Mission an, andere glücklich zu machen. Wie kannst du etwas geben, das du selbst nicht hast?« Erst sei! Und wenn du bist, dann ist es keine Mission mehr. Bist du erst einmal glückselig, dann läufst du nicht andern hinterher, um sie glücklich zu machen: dein bloßes Sein ist schon eine Hilfe, wo immer du bist. Du machst keinen Beruf daraus. So wie du bist, hilfst du schon, gleich wo du bist. Sitzt du unter einem Baum, hilfst du dem Baum. Nicht bewußt, nicht aufgrund einer Anstrengung deinerseits, sondern einfach nur, indem du dem Baum nahebist, erwidert er deine Liebe, und dein inneres Wesen fließt in den Baum, und der Baum fließt in dich . . . du hast einen Baum erweckt.
Eines Tages wird dieser Baum zum Buddha werden, und du hast deine Rolle dabei gespielt, du hast das deinige dazu getan. Und wenn dieser Baum zum Buddha geworden ist und das ganze Universum mit ihm feiert, dann feierst auch du - du hast dem Baum ein Stück von dir selbst gegeben, du hast mit ihm geteilt. Du sitzt an einem Fluß und teilst mit ihm. Du ziehst herum, und einfach dadurch, daß du durch die Welt ziehst, bringst du deine Liebe zum Ausdruck. Aber zu tun gibt es nichts. Wenn du etwas tust, stimmt etwas nicht. Wie kannst du Liebe »tun«? Liebe ist kein Tun, sie ist ein Zustand. Du liebst, du leuchtest, deine Türen stehen offen. Und jetzt steht es jedem frei, hereinzukommen und dein inneres Heiligtum zu betreten. Und wenn jemand sein eigenes Licht an deinem Licht entzünden will - du bist gern bereit. Laufe keinem Menschen nach, um ihm zu helfen. Wenn du es tust, dann ist eines sicher: daß du dazu nicht der richtige bist. Wenn du anfängst, »Gutes« zu tun, dann ist eines sicher: daß du nur Schaden anrichtest. Dann steckst du deine Nase nur in die Angelegenheiten anderer. Laß sie sein, wer sie sind. Es ist schon genug Mitgefühl, wenn du sie in Ruhe läßt. Versuche nicht, sie zu ändern. Du weißt nicht, was du tust. Nur einer, der erleuchtet ist, kann helfen. Seine Hilfe strömt spontan. Wie eine Blume, die sich geöffnet hat: der Wind trägt ihren Duft davon und breitet ihn über die ganze Erde aus. Ganz unmerklich und indirekt, ohne irgendjemanden direkt zu treffen. Ein wirklicher Meister versucht nie, irgendjemanden direkt zu verändern. Er ist wie ein unmerklicher Duft, er hüllt dich ein. Wenn du offen bist, wird sein Hauch in dich eindringen. Bist du verschlossen, dann wartet er an deiner Tür. Er klopft noch nicht einmal an, denn das könnte ja deinen Schlaf stören. Es ist dein Schlaf, es steht dir völlig frei, solange zu schlafen, wie du willst, niemand hat das Recht, dich aufzuwecken. Wenn ich erwacht bin und wünsche, daß ihr auch aufwacht, dann ist das meine Sache, nicht eure. Wenn du fest schläfst und süße Träume träumst, wer bin denn ich, dich dabei zu stören? Ich warte. Ich hülle dich ein wie ein Duft. Und wenn dieser Duft dich einfängt, und wenn dieser Duft dich zum Aufwachen bringt, dann ist es in Ordnung. Aber es ist keine direkte Einmischung; es ist etwas sehr Indirektes. Und vergeßt das nie: nur wer absolut indirekt vorgeht, kann überhaupt etwas ausrichten. Direkte Hilfe ist Sache des Politikers. Kein Unterricht in Sutras und Geboten, Kein Wissen aus Schulen und Schriften Führt zur Erkenntnis der Eingeborenen Wahrheit. Warum? Weil sie schon vorhanden ist. Sie muß dir nicht erst gegeben werden. Du suchst nach etwas, das du schon längst in dir hast, in seiner ganzen Schönheit und Vollendung. Es braucht nichts getan zu werden. Etwas zu tun ist völlig zwecklos. Du brauchst nur nach Hause zurückzukehren. Der Gast ist schon da, aber der Hausherr ist außer Hause - er ist nicht daheim. Durch deine Wunschziele bewegst du dich immer weiter weg, unentwegt weiter weg. Du bist dann hinter einem großen Haus oder einem dicken Wagen her, hinter diesem und jenem, und gehst immer weiter von zu Hause weg. Du hast einfach keine Zeit, nach Hause zu kommen. Meditation ist nichts anderes als Heimkehr, als eine kleine Ruhepause im eigenen Inneren. Meditation hat nichts mit der Monotonie eines Mantras, nicht einmal etwas mit Gebet zu tun - sie ist nichts weiter als ein Nachhausekommen und Ausruhen. Nirgends hinzugehen - das ist Meditation; einfach da zu sein, wo du bist; es gibt kein anders»wo«, du bist nur da, wo du bist, du brauchst nur soviel Raum, wie du einnimmst. Wünsche führen dich auf lange Reisen in Zeit und Raum - Wünsche bringen dich nie zu deinem eigenen Haus. Sie ziehen dich immer nur woanders hin. Denn wenn der Geist nach etwas strebt, Erfüllt von Sehnsucht nach dem Ziel, Verhüllt er damit nur das Licht. Auf diese Weise verirrst du dich immer wieder: du gehst nach außen, du suchst da draußen herum, und so gehst du immer wieder fehl; was du suchst, entwischt dir, weil du es suchst. Von dir aus brauchst du nichts zu tun - das Göttliche hat schon alles gegeben, was es zu geben hat. Du kommst nicht als Bettler auf die Welt, sondern als Kaiser. Du brauchst nur einen Blick nach innen zu werfen. Wenn du einmal für ein paar Augenblicke nirgends hinwillst, wunschlos bist, nicht an die Zukunft denkst, nicht an die Vergangenheit denkst, einfach im Hier und Jetzt bist plötzlich ist es da, es war schon immer da, und du mußt laut lachen. Als Lin Chi gefragt wurde, was er tat, als er erleuchtet wurde, was er als Allererstes tat, da antwortete er: »Was sollte ich tun? Ich lachte und bat um eine Tasse Tee. Ich mußte ganz einfach lachen! Was hatte ich nur getan? Nach etwas gesucht, das schon lange da war!« Alle Buddhas haben erst gelacht und dann um eine Tasse Tee gebeten - was sonst? Alles ist schon da. Du warst völlig umsonst hierhin und dorthin gerannt; müde geworden, bist du nach Hause zurückgekehrt. Eine Tasse Tee ist da genau das Richtige. Denn wenn der Geist nach etwas strebt, Erfüllt von Sehnsucht nach dem Ziel, Verhüllt er damit nur das Licht. Dein Suchen erzeugt Rauch um die Flamme. Du rennst immer im Kreise herum, du wirbelst eine Menge Staub auf, du erzeugst viel Rauch - es ist deine eigene Anstrengung, die den Staub aufwirbelt, die den Rauch erzeugt, die die Flamme
verhüllt. Verhalte dich ein bißchen ruhig, dann setzt sich der Staub wieder. Und wenn du nicht zu hastig rennst, dich nicht heißläufst, dann erzeugst du keinen Rauch. Nach und nach setzt sich alles, und das innere Licht kommt zum Vorschein. Das ist das Allerwichtigste im Tantra: daß du schon vollendet bist. Keine andere Religion geht von dieser Voraussetzung aus. Sie alle sagen, daß du es erst erreichen mußt, sie sagen, daß du dich aufmachen mußt, daß du kämpfen mußt, daß du vieles unternehmen mußt und der Weg steil ist, und daß nur ganz, ganz selten jemand ans Ziel gelangt, weil es so entfernt ist; Millionen von Leben muß man sich abquälen, vorher kommt man nicht an. Vollendung will verdient sein. Und Tantra zufolge ist genau das der Grund, warum du nicht ans Ziel gelangst; denn es gibt gar nichts zu erreichen, du brauchst bloß einzusehen, daß du schon am Ziel bist. Tantra bietet dir Erleuchtung sofort, hier und jetzt - ohne Zeitaufwand und Aufschub. Tantra sagt: ruh dich aus, das Ausruhen wird dir helfen, denn durch deine Unruhe wirbelst du überall nur Staub auf, und wenn du es so eilig hast, kannst du nichts hören. Wenn jemand sagt: »Ruh dich aus!«, dann sagst du: »Ich hab keine Zeit zum Ausruhen. Ich habe ein Ziel vor mir, und dieses Ziel ist weit entfernt. Wenn ich mich jetzt ausruhe, komm ich nie an.« Tantra sagt, daß du nie ankommst, weil du so rennst. Tantra sagt, daß du nie ankommst, weil du es so eilig hast. Wer sich an Tantrische Gebote hält und dennoch urteilt, Begeht Verrat am Geist des Samaya. Gib alles Tun und alles Wünschen auf, Laß die Gedanken steigen und verebben, Wie Meereswellen. Wer die Vergänglichkeit niemals vergißt, Noch das Prinzip der Urteilslosigkeit, Der richtet sich nach Tantrischem Gebot. Sehr, sehr einfach. Aber ihr seid zu kompliziert, zu verwirrt im Innern; eigentlich ist alles sehr, sehr einfach. Gib alles Tun und alles Wünschen auf, Laß die Gedanken steigen und verebben, Wie Meereswellen. Was tun? Geh ans Meer, setz dich einfach ans Ufer, an den Strand, und schau hinaus. Die Wellen steigen und sinken, ein ewiges Fluten und Verebben. Das Meer geht durch viele Stimmungen. Was kannst du anders tun, als dazusitzen und zuzuschauen? Genauso ist es mit den Gedanken. Der Geist ist wie das Meer - Wellen steigen und fallen; manchmal herrscht Flut, und du bist aufgeregt, und manchmal ist Ebbe, und du fühlst dich ruhiger. Und es ist wirklich so. Das ganze Bewußtsein ist wie ein Ozean. Und dein Geist gehört nicht dir: dein Bewußtsein ist Teil des kollektiven Bewußtseins; rings herum bist du vom Ozean des Bewußtseins umgeben. Ihr seid Fische im Bewußtsein, wie die Fische im Meer - drinnen und draußen, links und rechts, oben und unten ist nichts wie Bewußtsein, das Meer und seine Wellen. Wer bist du, es aufzuwühlen? Und wer bist du, die Wogen zu glätten und es zum Schweigen zu bringen? Wie willst du das anstellen? Wenn also jemand zu eifrig daran interessiert ist, seinen Geist zur Ruhe zu bringen, macht er es sich damit nur noch schwerer. Es ist nämlich nicht möglich. Und wenn du das Unmögliche versuchst, frustriert es dich. Dann findest du tausend und einen Grund, warum es nicht passiert. Dabei kann es einfach nicht passieren! Tantra sagt: »Paß auf! Du hast nichts damit zu schaffen, daß die Gedanken kommen und gehen; sie kommen von sich aus und gehen von sich aus. Warum läßt du dich auf sie ein? Wer bist du, 01 auf die Wogen zu gießen? Sie gehören nicht zu dir; sie gehören zu dem unendlichen Meer, das dich umgibt. Sie waren da, als du nicht warst. Und bist du eines Tages nicht mehr da - sie werden bleiben. Heute bestätigt es auch die Wissenschaft: jeder Gedanke ist eine Welle. Wie die Wellen, auf denen das Radio Gedanken überträgt. Sie dringen durch Wände und Berge und durch eure Körper hindurch, nichts hindert sie. Etwas wird in New York gesendet, und du kannst es hier hören. Jetzt vermuten die Wissenschaftler sogar, daß wir bald in der Lage sein werden, auch Gedanken aus der Vergangenheit aufzufangen, denn Gedanken vergehen nie. Es mag möglich sein, daß eines Tages aufgefangen wird, wie Tilopa zu Naropa sagt: »Weil du es bist, Naropa, weil du so voll Vertrauen bist, werde ich dir sagen, was sich nicht sagen läßt.« Es ist möglich, denn Gedanken sterben nicht. Dieser Gedanke Tilopas muß irgendwo einen Stern umkreisen. Wenn wir ihn auffangen könnten - und die Wissenschaft mag eines Tages dazu imstande sein: denn wenn ein Gedanke in New York gesendet wird, braucht er etwas Zeit, um in Poona anzukommen; ein paar Sekunden nur, aber immerhin Zeit; er bewegt sich fort, und zwar immer weiter; er verläßt die Erde und bewegt sich weiter fort, in ein paar tausend Jahren kommt er bei irgendwelchen fernen Sternen an - und wenn wir ihn dort abfangen können, könnt ihr ihn erneut hören. Du bist umgeben von einem Meer von Gedanken; es existiert ohne dich. Sei also nur Zeuge. Deshalb sagt Tantra: Akzeptiere die Gedanken. Kommt Flut - herrlich! Kommt Ebbe - schön. Stolze hohe Wellen, die nach dem Himmel greifen; ungeheure Energie - sieh nur! Dann glättet sich das Meer, aller Sturm hat sich gelegt, und der Mond spiegelt sich - sieh das schöne Schauspiel!
Und wenn es dir gelingt, nur zuzuschauen, wirst du völlig still. Die Gedanken mögen weiter an den Strand rollen, auf die Felsen fallen und versprühen, aber du wirst still und ruhig bleiben, sie können dir nichts anhaben. Das wahre Problem ist also nicht, daß Gedanken da sind, sondern daß sie dir etwas anhaben können. Kämpfe nicht mit Gedanken, werde einfach ihr Augenzeuge, und du wirst von ihnen nicht berührt. Und so wird die Stille reichhaltiger sein - denkt daran, Tantra ist immer für das Reichere. Es ist möglich, ein totes Schweigen zu erzwingen, ein Schweigen, das du auf dem Friedhof findest. Du kannst über deinen Geist einen solchen Willen ausüben, daß dein gesamtes Nervensystem lahmgelegt wird. Dann kommen auch keine Gedanken mehr, denn für ihren Empfang brauchst du ein sehr feingestimmtes Nervensystem. Das Meer der Gedanken wird dich umgeben, aber du wirst dafür nicht empfänglich sein, deine Empfänglichkeit ist verloren gegangen. Das ist das Schicksal vieler Fakire, sogenannter Yogis. Sie tun nichts anderes, als ihr Nervensystem immer weiter abzustumpfen. Sie fasten, damit ihr Hirn keine Nahrung erhält. Beim Fasten kann die Energie nicht ins Hirn geleitet werden, weil der Körper sie dringlicher braucht. Sie leben so, daß sie mit der Zeit ihr ganzes Hirnsystem außer Betrieb setzen, sie lassen es lahm und stumpf werden. Sie sitzen in immer gleicher Pose und wiederholen monotone Mantras. Wer jahrelang ein bestimmtes Mantra wiederholt, stumpft damit natürlich sein Nervensystem ab, alle Vitalität geht verloren, weil keine neuen Empfindungen hereingelassen werden. So ein Mensch ist in Wirklichkeit nicht still geworden, so ein Mensch ist langsam verdummt. Und er bekommt den dümmlichen Gesichtsausdruck, den man auf den Gesichtern vieler Yogis findet. Statt Intelligenz findest du dort Abgestumpftheit und Leblosigkeit, etwas wie Versteinerung ist eingetreten. Diese Yogis haben keine Stille gefunden sie haben ihr Hirn verloren, sie haben sich vollkommen gefühllos gemacht, sie sind tot. In ihnen geht nicht das Geringste vor, denn dazu wird ein sehr empfindliches Nervensystem gebraucht - sehr anfällig, sehr feinfühlig, sehr empfänglich. Das also muß das Kriterium sein: wenn das Gesicht eines Yogis vor Intelligenz, Wachheit und Empfindsamkeit strahlt, wenn etwas in ihm zu Blüte gelangt ist und er sich erfüllt hat - dann ist wirklich Stille eingetreten. Alle andere Stille ist die Stille abgestumpfter Menschen. Idioten können absolut still sein, denn sie können nicht denken - aber was für eine Stille ist das? Ein Idiot ist kein Yogi. Ein Idiot wird einfach so geboren, daß sein Hirn nicht funktioniert. Man kann sein eigenes Hirn durch Fasten und Yoga-Positionen auf dasselbe Niveau reduzieren. Man kann stundenlang auf dem Kopf stehen - das genügt schon. »Shirashan ist ein perfektes Mittel dafür. Du stehst stundenlang auf dem Kopf, und das tötet dein Nervensystem, denn dein Hirn funktioniert nur so lange, wie eine sehr begrenzte Menge an Energie und Blut zu ihm dringt. Mehr können die hochempfindlichen, feinen und anfälligen Nerven nicht ertragen. Ihr könnt euch das nicht vorstellen, weil die Nerven mit bloßem Auge nicht sichtbar sind. Euch scheint ein Haar schon sehr dünn, aber das ist nichts im Vergleich dazu; bündelt man 10000 Nerven zusammen, dann haben sie die Dicke eines Haares. Wenn also zu viel Blut ins Hirn dringt, werden sie ganz einfach durch die Wucht des Ansturms zerstört. Es ist wie bei einer Sturmflut. Ein solches Gehirn hat sich nur im Menschen entwickelt: denn nur der Mensch steht auf den Füßen, und so kann das Blut nicht zum Hirn steigen, das geht gegen die Schwerkraft. Die Schwerkraft zieht das Blut immer nach unten, und nur eine sehr geringe Menge dringt zum Kopf. Nur so kann dieses hochempfindliche System existieren. Tiere können es nicht entwickeln, weil sie auf allen Vieren gehen und ihr Hirn auf derselben Ebene bleibt wie ihr Körper. Wenn du auf dem Kopf stehst, wenn du Shirshasan praktizierst, dann mag es eine Minute lang gesund sein, oder selbst eine Sekunde genügt schon, weil es dann nur zu einem kurzen Erfrischungsbad kommt; das Blut kommt gerade eben im Hirn an, aber du bist schon wieder in deiner normalen Position. Das reinigt. Aber wenn du den Kopfstand minutenlang oder stundenlang übst, dann ruiniert er dein ganzes Hirnsystem. Die Flut ist zu stark, das Hirn kann sie nicht verkraften. Und die Yogis haben viele Wege gefunden, das Hirn zu zerstören. Ist es erst einmal zerstört, dann kannst du das Meer nicht sehen - aber das Meer ist da, das Meer der Gedanken ist da. Es ist genau, wie wenn dein Radio nicht mehr funktioniert. Glaub nicht, daß deshalb die Sendewellen aufhören, durch dein Zimmer zu gehen, sie kommen weiter wie zuvor, aber dein Empfangsgerät funktioniert nicht mehr. Schalte das Radio an, sobald es repariert ist - und sofort empfängt es die Wellen. Das Hirn ist genau wie ein Empfangsgerät: wenn du es zerstörst, dann bist du still, aber das ist nicht die Stille des Tantra. Und diese Stille lehre ich nicht. Das ist Totenstille. Sie ist gut für den Kirchhof, sie gibt dir nichts - du hättest nur dein Leben vertan. Du hättest ein sehr feines Instrument zerstört, das so empfänglich werden kann, daß es dir dazu verhilft, die gesamte Schöpfung zu feiern. Was du brauchst, ist größere Empfindlichkeit, was du brauchst, ist mehr Poesie. Mehr Leben, mehr Schönheit, mehr an Allem. Und was ist der Weg? Geh in das tantrische Schweigen hinein. Beobachte die Wellen, und je mehr du hineinsiehst, desto mehr erkennst du ihre Schönheit. Je mehr du beobachtest, desto deutlicher kommen die feinen Nuancen der Gedanken zum Vorschein. Und es ist ein herrliches Schauspiel - aber du mußt Zeuge bleiben, mußt auf dem Strand sitzen bleiben; dort sitzt du, oder legst dich in die Sonne, und läßt das Meer seine eigene Arbeit tun - einmischen tust du dich jedenfalls nicht. Wenn du dich nicht einmischst, hört das Meer mit der Zeit auf, nach dir zu greifen. Es donnert und tobt um dich herum, aber ohne zu dir durchzudringen. Für sich genommen ist es herrlich, aber es muß von dir getrennt bleiben, die Distanz bleibt gewahrt. Dieser Abstand ist die wahre Meditation, ist wirkliche Stille. Die Welt geht weiter und weiter, aber du bleibst unberührt; du bleibst in der Welt, aber die Welt ist nicht in dir. Du gehst durch die Welt hindurch, unberührt, unangefochten. Du bleibst jungfräulich. Gleich, was du tust, was dir zustößt - es beeindruckt dich nicht:
deine Unberührtheit bleibt absolut, deine Unschuld bleibt uneingeschränkt, deine Reinheit unzerstört. Wer sich an Tantrische Gebote hält und dennoch urteilt, Begeht Verrat am Geist des Samaya. Und, sagt Tilopa, vergiß nicht: wenn du den tantrischen Weg wählst, dich nach der tantrischen Lehre richtest, dann urteile nicht. Wenn du urteilst, bist du ein tantrischer Philosoph, aber kein wahrer Tantriker. Urteile nicht. Sag nicht, das eine sei gut und das andere schlecht. Laß jedes Urteil fallen. Nimm alles so hin, wie es ist. Gib alles Tun und alles Wünschen auf. Ruhe in dir, komm nach Hause zurück. Laß die Gedanken steigen und verebben, Wie Meereswellen. Wer die Vergänglichkeit niemals vergißt, Noch das Prinzip der Urteilslosigkeit, Der richtet sich nach Tantrischem Gebot. Wer nie gegen das Prinzip der Urteilslosigkeit verstößt, wer nie urteilt, ist mit Sicherheit auf dem richtigen Weg. Und ... wer nie vergißt, daß alles vergänglich ist. Das ist einer der schönsten Aspekte von Tantra. Tantra sagt, bleibe heimatlos, baue dir nirgends ein Nest, identifiziere dich nicht, hänge dein Herz an nichts. Bleibe heimatlos, denn in der Heimatlosigkeit wirst du deine wahre Heimat finden. Wenn du es dir unterwegs hier und da bequem machst, wirst du die Heimat nie finden. Hänge dich an niemanden und an nichts, an keine Beziehung. Genieße es, aber klebe nicht daran fest. Seine Freude daran zu haben ist nicht das Problem, aber wenn du erst einmal anfängst, dich festzuklammern - sobald Gedanken an Besitz und Dauer auftauchen - hörst du zu fließen auf, kommt es zum Stau. Verweile nirgends, und du verweilst in dir selbst. Hefte dich an nichts, nur so bleibst du in dir selbst. Zwei Prinzipien sind also grundlegend: vergiß nie die Vergänglichkeit, und vergiß nicht das Prinzip der Urteilslosigkeit. Wer alles Sehnen aufgibt, Sich nicht an dieses oder jenes heftet, Erkennt den wahren Sinn der Schriften. Durch Heilige Schriften kommt niemand zur Wahrheit. Aber wenn du zur Wahrheit gelangst, wirst du die Schriften verstehen. Schriften sind nichts als Zeugnisse, sie geben Zeugnis. Du kannst aus ihnen die Wahrheit nicht lernen, aber sobald du selbst die Wahrheit weißt, werden sie dich bezeugen. Alle Schriften der Welt bestätigen dir dann: Ja, du bist zur Wahrheit gelangt. So ist die Wahrheit beschaffen!< Schriften stammen von Menschen, die die Wahrheit verwirklicht haben. Welcher Sprache und welcher Symbole sie sich auch bedienen, was immer ihre Metaphern sein mögen - sobald du zur Wahrheit gelangst, offenbaren sich dir alle Metaphern, alle Symbole, alle Sprachen. Ich werde manchmal gefragt: »Was machst du hier eigentlich? Manchmal sprichst du über Tantra und Tilopa, manchmal über Yoga und Patanjali, dann über Lao Tse und Chuang Tse, die Taoisten und das Tao, und dann wechselst du einfach zu Heraklit über oder zu Jesus. Was hat das zu bedeuten?« Ich spreche von ein und derselben Sache. Ich rede nie von etwas anderem. Ob Heraklit oder Tilopa oder Buddha oder Jesus, das macht überhaupt keinen Unterschied für mich. Ich spreche aus mir selber. Sie dienen mir nur als Vorwände - denn sobald du angelangt bist, gehen alle Schriften der Welt in Erfüllung. Dann gibt es keine Hindu-Schriften; kein altes Testament und kein neues Testament mehr; denn plötzlich wirst du zur Erfüllung aller Schriften überhaupt. Ich bin ein Christ, ein Hindu, ein Jude, ein Mohammedaner - weil ich niemand bin. Und die Wahrheit ist, einmal erkannt, jenseits aller Schriften. Alle Schriften deuten in ihre Richtung, denn Schriften sind nichts als Finger, die zum Mond deuten; es mag Millionen von Fingern geben, aber der Mond bleibt ein und derselbe. Sobald du die Wahrheit erkannt hast, kennst du alle Schriften. Schriften machen euch zu Sektierern: Du bist Christ, weil du auf die Bibel pochst; du bist Mohammedaner, weil du auf dem Koran bestehst; du bist Hindu, weil du dich an die Gita hältst - aber mit Religion hat diese Haltung nichts zu tun. Religiosität geschieht nur, wenn du die Wahrheit selbst verwirklicht hast; wenn du dich an nichts mehr klammerst, und alle Schriften anfangen dir wie Schatten zu folgen. Dann folgst du niemandem, und alle Schriften folgen dir, sie heften sich an deine Fersen. Und alle Schriften sind gleich, denn sie sprechen vom Gleichen. Ihre Metaphern unterscheiden sich natürlich, sie sprechen verschiedene Sprachen, aber die Erfahrung ist die gleiche. Buddha sagt: »Wo du das Meer auch kostest, es ist überall salzig.« Ob du vom Koran kostest, oder von der Bibel, oder von der Torah, oder vom Talmud - der Geschmack ist immer der gleiche. Schriften können dich nicht führen. Im Gegenteil, ohne dich sind sie tot. Wenn du zur Wahrheit gelangst, dann plötzlich gewinnen sie alle neues Leben. Du erweckst sie wieder zum Leben, durch dich werden sie wiedergeboren.
Das ist genau das, was ich jetzt tue: ich verhelfe Tilopa zur Wiedergeburt. Jahrhundertelang war er tot. Niemand hat über ihn gesprochen, niemand hat ihn wieder zum Leben erweckt. Ich schenke ihm die Wiedergeburt. Solange ich da bin, wird er wieder atmen. Ihr könnt ihm begegnen, falls ihr dazu bereit seid. Er ist wieder ganz nahe. Wenn du empfänglich bist, kannst du seine Fußstapfen ertasten. Er hat wieder Fleisch und Blut bekommen. Durch mich kommen alle Schriften neu zur Welt. Durch mich
Der Gesang vom Mahamudra geht weiter: Im Mahamudra verbrennen all deine Sünden; Im Mahamudra wirst du Aus dem Gefängnis dieser Welt entlassen. Es ist die hellste Flamme des Dharma. Die das nicht glauben, sind Narren, Die sich in Elend und Sorgen ewig wälzen. Verlaß dich, um zur Freiheit zu gelangen, Auf die Hilfe eines Guru. Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, Ist die Befreiung nah. Alle Dinge dieser Welt sind sinnlos Und nichts als Keime neuer Leiden. Kleine Lehren predigen Taten Folge nur einer Lehre, die groß ist.
VI. DIE GROSSE LEHRE 16. Februar 1975 Tantra glaubt nicht an eine allmähliche Entwicklung der Seele, sondern an plötzliche Erleuchtung. Yoga glaubt an allmählichen Fortschritt: Zentimeter für Zentimeter, Schritt für Schritt, schreitest du dem Endziel entgegen. Yoga führt genau Buch: jede Sünde, die du begangen hast, mußt du durch eine tugendhafte Tat ausgleichen. Dein Konto muß restlos aufgehen. Solange du nicht deine Rechnung mit der Welt beglichen hast, kannst du nicht erleuchtet werden. Es ist eine mathematische Vorstellung, sie ist wissenschaftlich, und der Verstand kann sagen: natürlich, das leuchtet ein. Du hast Sünden begangen - wer soll für sie büßen? Du hast sie begangen, also mußt du sie büßen. Und nur durch Buße, nur durch Sühne kannst du dich befreien. Waren deine Taten böse, mußt du sie ausgleichen, mußt du für sie zahlen, und zwar mit guten Taten. Wenn das Gleichgewicht völlig hergestellt ist, wird schließlich auch die Befreiung möglich. Wenn nicht, mußt du immer wieder zur Erde zurückgeworfen werden, mußt wiedergeboren werden, weitermachen, weiterwachsen. Das ist der ganze Gedanke der Seelenwanderung, der Wiedergeburt. Tantra sagt genau das Gegenteil. Tantra geht die Sache sehr, sehr poetisch an, überhaupt nicht rechnerisch. Und Tantra glaubt an Liebe, nicht an Mathematik: Tantra glaubt an plötzliche Erleuchtung. Tantra zufolge sind Lehren, die sich mit Taten abgeben, beschränkt und unwichtig; große Lehren zeigen dir nicht, was und wie man handeln muß, sondern wie und was du sein mußt. Es gibt Millionen Taten, und wenn du für sie alle büßen müßtest, dann ist es schier unmöglich, je freizukommen. Du hast Millionen von Leben gelebt; und in jedem Leben hast du Millionen von Taten begangen. Mußt du für alle diese Taten zahlen und leiden, und jede böse Tat mit einer guten wettmachen, dann brauchst du dazu wieder Millionen von Jahren. Und in der Zwischenzeit, das bringen die Komplikationen des Lebens so mit sich, mußt du wieder unzählige neue Handlungen begehen. Wo also soll die Kette enden? Es scheint unmöglich. Die Befreiung wird also praktisch unmöglich - sie kann nicht stattfinden. Wenn das der einzige Weg ist, daß du dich Zentimeter für Zentimeter vorarbeiten mußt, dann scheint das Konzept vom langsamen Wachstum ein Traum zu sein. Wer die Haltung des Yoga versteht, muß alle Hoffnung begraben. Tantra ist eine große Hoffnung. Tantra ist wie eine Oase in einer verwüsteten Welt. Tantra sagt, daß es sich gar nicht um Taten dreht: Taten sind irrelevant; du hast sie begangen, weil du unwissend warst, sie kamen aus deiner Blindheit. Tantra sagt sogar, daß du nicht für sie verantwortlich bist. Wenn überhaupt jemand verantwortlich gemacht werden kann, dann ist es das Ganze - das man auch Gott nennen mag - dann mag also Gott verantwortlich sein, aber nicht du. Tantra sagt: Diese Verantwortung überhaupt zu übernehmen, ist reiner Egoismus. Zu sagen: »Ich muß es ausgleichen, ich muß Gutes tun, ich muß mich langsam und schrittweise selber befreien«, zeugt erst recht von einer egoistischen, egozentrischen Einstellung. Warum hältst du dich für verantwortlich? Wenn es überhaupt irgendwo eine verantwortliche Instanz geben sollte, dann wäre sie beim Göttlichen selber zu suchen, beim Ganzen. Du hast dich nicht selber geschaffen, du hast dir nicht selber das Leben geschenkt - du bist geboren worden, du bist geschaffen worden. Also ist dein Schöpfer verantwortlich, nicht du. Und du hast alles, was du getan hast, in Unwissenheit getan, dir war nicht bewußt, was du tatest, du warst völlig betrunken vor Unwissenheit; du hast im Dunkeln herumgetappt, bist im Dunkeln mit anderen zusammengestoßen, bist im Dunkeln über Dinge gestolpert und dabei sind Unfälle passiert. Tantra sagt nun, daß nichts anderes nötig ist als Bewußtheit. Es ist nicht so, als müßten Millionen von Taten verantwortet werden; nur eines mußt du ändern, und das ist: bleibe nicht in Unwissenheit, werde bewußt. Sobald du bewußt wirst, lichtet sich das Dunkel. Die Dunkelheit erscheint dann wie ein Traum, wie ein Alptraum. Sie sieht plötzlich unwirklich aus. Und sie war auch nie Wirklichkeit, denn wenn du tief unbewußt bist, gibt es nur Träume, aber keine Wirklichkeit. Du hast geträumt, daß du liebst. Aber du kannst nicht lieben. Als einen, der zur Liebe fähig ist, gibt es dich gar nicht. Du bist noch gar nicht da, du hast keinen Mittelpunkt. Wie könntest du da lieben? Du glaubst nur, daß du liebst, und dann wird dein Liebesleben, und alles, was du im Namen der Liebe tust, zu einem einzigen Traum. Wenn du aufwachst aus diesem Traum, sagst du einfach nur: »Wie sollte ich auch zur Liebe fähig gewesen sein? Unmöglich! Ich war ja von Anfang an überhaupt nicht da. Es gab mich in Wirklichkeit gar nicht.« Was hat es für einen Sinn zu sagen: >Ich bin<, wenn man gar nicht bewußt bist? Es ist bedeutungslos. Du schläfst tief und fest, so tief, daß du gar nicht da bist. Jemand, der fest schläft, der zu Hause im Koma liegt - ist er wirklich da? Man kann nichts darüber sagen. Ob er da ist oder nicht, macht keinen Unterschied - er liegt im Koma. Wenn Diebe kommen und das ganze Haus ausräumen, kann man dann den verantwortlich machen, der bewußtlos ist, der im Koma liegt? Stellt man ihn etwa zur Rede, verurteilt man ihn etwa - »Einbrecher waren da, und du, was hast du getan?« Wie kann man jemand verantwortlich machen, der bewußtlos im Koma liegt? Tantra sagt, daß du alle deine Leben hindurch im Koma gelegen hast - und folglich nicht verantwortlich bist. Das ist die erste Fessel, von der dich Tantra befreit. Und damit ändern sich auch eine Menge anderer Dinge. Zum Beispiel brauchst du jetzt nicht mehr Millionen von Jahren abzuwarten - die Tür kann in diesem Augenblick schon aufgehen. Es ist keine Frage allmählichen Wachstums mehr, es ist ein plötzliches Erwachen - und so muß es auch sein. Wenn du fest schläfst und jemand versucht, dich wachzurütteln, ist das ein allmählicher Vorgang? Oder etwas Plötzliches? Ist etwa das normale Aufwachen ein allmählicher Vorgang? Ist es so, daß du erst ein kleines bißchen wach wirst, und dann ein bißchen mehr, und dann wieder ein bißchen mehr - zehn Prozent, zwanzig Prozent, dreißig Prozent, fünfzig Prozent - spielt es sich so ab? Nein. Entweder du wachst auf oder du schläfst weiter: es gibt dabei keine
allmählichen Schritte. Wenn du die Stimme gehört hast, die dich beim Namen ruft, wachst du auf, und nicht nur zu zehn Prozent. Deine Augen mögen noch geschlossen sein, aber sobald dir bewußt ist, daß jemand nach dir ruft, bist du schon wach. Es ist kein stufenweiser Vorgang, es ist ein plötzlicher Sprung. Bei hundert Grad Hitze macht das Wasser einen Sprung und wird zu Dampf. Gibt es dabei eine stufenweise Veränderung? Wird das Wasser zu zehn, dann zwanzig, dann dreißig Prozent Dampf? Nein. Entweder es ist Wasser oder es ist Dampf, es gibt kein Mittelding zwischen beiden, nichts, das beides zugleich ist. Tritt bei einem Sterbenden der Tod nach und nach ein, in einem allmählichen Prozeß? Kannst du behaupten, daß er halb tot und halb lebendig ist? Was hieße das? Wie kann jemand halb lebendig sein? Entweder, er ist tot, oder er ist es nicht. Halb lebendig heißt, daß er nicht tot ist. Wenn du jemanden liebst, liebst du dann zehn, zwanzig oder dreißig Prozent? Entweder du liebst oder du liebst nicht. Ist es möglich, auf Raten zu lieben? Ich sehe keine Möglichkeit. Liebe, Leben, Tod - sie alle geschehen plötzlich. Wenn ein Kind geboren wird, ist es entweder schon geboren oder noch nicht geboren. Und das gleiche gilt von der Erleuchtung, denn das ist die allerletzte Geburt, der allerletzte Tod, das allerletzte Leben, die allerletzte Liebe - in der Erleuchtung kommt alles zu einem letzten Höhepunkt. Und auch sie geschieht plötzlich. Tantra sagt, richte dein Augenmerk nicht auf das, was getan wurde, richte es auf den Menschen, der es getan hat. Im Yoga liegt der Angelpunkt in den Handlungen. Im Tantra jedoch dreht sich alles um die Menschen, um das Bewußtsein, um dich. Wenn du unwissend bist, sagt Tantra, kannst du nicht anders als verkehrt handeln. Selbst wenn du dir Mühe gibst, einen guten Charakter zu haben, wird dein >Gut-Sein< zu einer Art von Sünde - denn wie kann ein unwissender Mensch, einer, der fest schläft, gut sein? Wie kann aus Unwissenheit, aus Unbewußtheit gutes Handeln entstehen? Unmöglich! Dein guter Charakter muß eine Maske sein; dahinter verbirgt sich das wirkliche Gesicht, das wirkliche Gesicht des Lasters. Du magst von Liebe reden, aber lieben kannst du nicht - im Gegenteil: du haßt. Du magst von Nächstenliebe reden, aber deine Nächstenliebe kann nichts anderes als ein Deckmantel für deine Wut sein, für deine Habgier, deine Eifersucht. Deine Liebe ist giftig. Tief im Kern deiner Liebe steckt der Wurm des Hasses und frißt sie ständig auf. Deine Liebe ist wie eine eiternde Wunde. Sie ist nicht wie eine Blume - wie könnte sie auch? Und diejenigen, die von euch Liebe erwarten, sind Narren, sie erwarten das Unmögliche. Und wer ästhetisches Verhalten von euch verlangt, ist ein Narr, er verlangt etwas Unmögliches. Eure Sittlichkeit ist nichts anderes als eine Art Unsittlichkeit. Seht euch eure sogenannten Moralisten, eure sogenannten Heiligen an. Nehmt sie unter die Lupe und beobachtet sie, und ihr werdet entdecken, daß ihre Gesichter nichts anderes sind als die Gesichter der Heuchelei, als Charaktermasken. Sie sagen das eine und tun das andere. Was sie wirklich tun, verbergen sie nicht nur vor euch: sie sind so gerissene Betrüger geworden, daß sie es sogar vor sich selber verbergen. Solange Unwissenheit herrscht, ist Sünde das Natürliche. Mit der Erleuchtung kommt das Gute von allein. Ein Buddha kann sich nicht vergehen; du dagegen kannst nichts anders tun, als >sündigen<. Sünde und Tugend kommen nicht aus deiner Entscheidung. Du tust diese Dinge nicht - sie sind Schatten deines Seins. Bist du erwacht, dann schwindet der Schatten, dann füllt er sich mit Licht. Von jetzt an kann dein Schatten niemandem mehr schaden, das ist nicht mehr möglich; er atmet das Unbekannte, das Unsterbliche. Er fällt auf andere als eine Wohltat, anders kann er gar nicht. Selbst wenn ein Buddha mit dir böse wird, ist es reine Nächstenliebe - anders ist es nicht möglich. Eure Nächstenliebe ist unecht; aber bei einem Buddha ist nicht einmal der Zorn wirklicher Zorn. Du kannst deine >Sünde<, deinen natürlichen Schatten, nicht ändern, was du auch anstellst - du magst ihn ausschmücken, du magst einen Tempel darüber erbauen, du magst ihn verstecken oder du magst ihn veredeln - es hilft alles nichts; tief drinnen bleibt alles, wie es ist. Denn die Frage ist nicht, was du tust, sondern was du bist. Mach dir klar, worauf die Betonung liegt: Nur wenn du diesen Unterschied verstehen kannst - und davon hängt alles ab - wird dir Tantra zugänglich. Tantra ist eine große Lehre. Sie hat nichts mit deinen Handlungen zu tun, sie lehrt dich nur zu sein. Es kommt darauf an, wer du bist. Schläfst du einen Schlaraffenschlaf? Oder bist du hellwach? Wer bist du - bist du wirklich da, bewußt da, oder gehst du herum wie betäubt? Bist du ein Schlafwandler? Oder bist du wach, bist du mit allen Sinnen in der Gegenwart, gleich, was du tust? Bist du in allem, was gerade mit dir vorgeht, voll gegenwärtig? Nein. Es passieren Dinge, von denen du nicht weißt >warum<, nicht weißt >woher<, aus welchem Bereich des Unbewußten du getrieben wirst - der Trieb beherrscht dich einfach, du stehst unter seinem Zwang. Mit einer solchen Handlung - und die Gesellschaft mag sagen, was sie will, mag von moralisch oder unmoralisch, von Sünde oder Tugend reden - gibt sich Tantra gar nicht erst ab. Tantra sieht auf dich, auf den genauen Kern deines Wesens, von wo die Handlung aufsteigt. Aus dem Gift deiner Unwissenheit kann kein Leben kommen, sondern nur Tod. Aus deiner Dunkelheit kann nur Dunkelheit geboren werden, das ist das Selbstverständlichste von der Welt. Was also tun? Sollen wir uns nun bemühen, unsere Handlungsweise zu ändern? Sollen wir versuchen, moralischer, tugendhafter und respektabler zu werden? Oder sollen wir versuchen, unsern Wesenskern zu ändern? Und das Wesen läßt sich ändern. Man braucht nicht erst unendlich viele Leben abzuwarten. Wenn du in einem einzigen Auflodern verstehst, wenn du deine ganze Kraft, deine ganze Energie, dein ganzes Sein aufbringst, um es zu verstehen, dann flammt in dieser totalen Hingabe plötzlich eine Klarheit in dir auf; wie ein Blitz schießt aus deinem Wesenskern eine Flamme hoch, und plötzlich liegt deine ganze Vergangenheit und deine ganze Zukunft deutlich sichtbar vor dir du verstehst, was geschehen ist, du verstehst, was geschieht, du verstehst, was geschehen wird. Mit einem Schlag wird
alles klar. Es ist so, wie wenn bei völliger Dunkelheit jemand plötzlich ein Licht ansteckt - auf einmal ist alles klar. Tantra geht es darum, dein inneres Licht anzuzünden. Und Tantra sagt auch, daß die Vergangenheit ganz einfach gelöscht wird, sobald das Licht brennt. Als hätte sie nie zu dir gehört. Nicht abzustreiten natürlich, daß sie sich abgespielt hat, aber sie ist wie im Traum geschehen, während du fest geschlafen hast. Sicher, sie ist geschehen - vieles ist deinetwegen geschehen, Gutes und Böses, aber es geschah alles unbewußt, du warst nicht verantwortlich. Plötzlich ist alles, was zur Vergangenheit gehört, Staub und Asche, und ein junges und unberührtes Wesen steigt auf - das ist plötzliche Erleuchtung. Yoga findet großen Anklang bei den Leuten, weil es so geschäftsmäßig aussieht. Es gibt keine Schwierigkeiten, Patanjali zu verstehen, weil er in eure Denkweise paßt, ins logische Denken, ins mathematische Kalkül. Tilopa dagegen ist schwer zu begreifen, aber Tilopa ist unnachahmlich. Patanjalis Denkweise ist ganz gewöhnlich. Darum war Patanjalis Einfluß so groß und konnte sich auch zu allen Zeiten halten. Menschen wie Tilopa verschwinden einfach, ohne im Denken der Menschen eine Spur zu hinterlassen, weil es einfach keine Brücke gibt zwischen ihnen und uns. Patanjali mag ein Geistesriese sein, aber er gehört immer noch zur gleichen Dimension wie ihr. Du magst ein sehr unbedeutender Denker sein, und Patanjali ein ganz überragender Denker, aber ihr beide gehört zur selben Dimension. Wenn du dich ein wenig anstrengst, kannst du Patanjali verstehen; wenn du dich nur ein bißchen anstrengst, dann kannst du Patanjali anwenden. Du brauchst dich nur ein wenig zu bemühen, nicht mehr. Aber um Tilopa zu verstehen, mußt du dich auf eine vollkommen unbekannte Dimension einlassen. Um Tilopa zu verstehen, mußt du durch das Chaos hindurch. Er wird dir all deine Vorstellungen zertrümmern, deine ganze Mathematik, deine ganze Logik, deine ganze Philosophie. Er macht dich ganz einfach dem Erdboden gleich. Er gibt sich nicht eher zufrieden, als bis du restlos verbrannt bist und sich ein neues Wesen aus deiner Asche erhebt. Bei Patanjali wirst du umgemodelt, er verbessert dich Schritt um Schritt - und das geht unendlich weiter so, du kannst dich Leben für Leben weiter verbessern. Bei Tilopa kannst du im Bruchteil einer Sekunde das höchste Ziel erreichen. Bei ihm geht es nicht um ein »Besser«, er denkt nicht in Abstufungen. Stell dir vor, du stehst oben auf einem Berg: du kannst den Weg nach unten über die Stufen nehmen, die eine nach der anderen ins Tal führen, oder umgekehrt vom Tal zum Berg hinauf - aber es geht stufenweise. Bei Tilopa springst du einfach in den Abgrund, da gibt es keine Stufen; oder du breitest einfach deine Schwingen aus und fängst zu fliegen an. Bei Patanjali kommst du im Ochsenkarren vorwärts - sehr gemächlich, sicher und langsam, ohne Angst vor Unfällen, der Ochsenkarren läßt sich immer zügeln. Du kannst jederzeit absteigen. Du kannst jederzeit anhalten. Alles bleibt in deiner Gewalt, du bist der Herr und Meister. Und die Richtung ist horizontal: ein Ochsenkarren geht von A nach B, von B nach C, von C nach D, aber die Dimension bleibt die gleiche, die Ebene verändert sich nicht. Bei Tilopa verändert sich die Richtung: sie wird zur Vertikalen; nicht mehr von A nach B, von B nach C, sondern aufwärts wie ein Flugzeug. Nicht wie ein Ochsenkarren, der sich vorwärtsbewegt, sondern im Senkrechtstart. Mit Tilopa verläßt du die Dimension der Zeit. Mit Patanjali bewegst du dich innerhalb der Zeit. Mit Tilopa bist du in der Dimension der Ewigkeit. Es mag euch noch nicht aufgefallen sein, aber inerhalb der letzten zehn oder zwölf Jahre ist ein Wunder geschehen. Die neue Raumfahrt hat unser altes Zeitgefüge völlig gesprengt. Ein Raumschiff kann sich nämlich binnen Sekunden um die Erde bewegen, kann den vollen Kreis beschreiben. Das theoretische Problem dabei mag euch entgangen sein. Wenn ein Raumfahrzeug Poona verläßt und die Erde umkreist, dann ist irgendwo bereits Montag und irgendwo anders immer noch Samstag, so daß das Raumschiff also am Sonntag losfliegt, dann in den Sonnabend kommt, dann zum Montag überspringt und am Sonntag wieder in Poona ankommt. Damit kommt unser ganzes Zeitkonzept durcheinander. Das ganze wird absurd ! Die Reise geht am sechzehnten los, geht dann in den siebzehnten hinein und kommt über den fünfzehnten wieder am sechzehnten an, am gleichen Datum. Und das kann heute in vierundzwanzig Stunden viele Male geschehen. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß du in der Zeit rückwärts gehen kannst, vom Sonntag zum Sonnabend, vom sechzehnten zum fünfzehnten. Du kannst nach vorn in den siebzehnten hinein, vom Samstag in den Montag und am selben Datum zurückkommen. Geschwindigkeit, verbunden mit einer veränderten Dimension, der Vertikalen, macht Zeit irrelevant. Zeit ist nur für den Ochsenkarren relevant, in einer Ochsenkarrenwelt. Tilopa ist ein vertikaler Geist, sein Bewußtsein ist vertikal. Das ist der Unterschied zwischen Tantra und Yoga: Yoga ist horizontal, Tantra vertikal. Yoga braucht zur Reise Millionen von Leben, Tantra eine Sekunde. Tantra sagt, es kommt auf Zeit nicht an, laß sie außer acht. Tantra besitzt eine Technik, eine Methode - Tantra nennt es eine Nicht-Methode, eine Nicht-Technik - mit deren Hilfe du plötzlich alles aufgeben und den Sprung in den Abgrund wagen kannst. Yoga ist Mühe, Tantra ist Mühelosigkeit. Wenn du dich anstrengst, dann kämpfst du mit deiner winzigen Energie und deinem winzigen Ego gegen das Ganze. Dazu brauchst du Millionen von Jahren. Und selbst dann scheint es völlig ausgeschlossen, daß du je erleuchtet wirst. Es ist töricht, es mit dem Ganzen aufnehmen zu wollen: schließlich bist du doch selbst ein Teil davon. Das ist, als kämpfe die Welle mit dem Meer, als kämpfe ein Blatt mit dem Baum, oder deine eigene Hand mit deinem eigenen Körper. Mit wem kämpfst du denn? Yoga heißt Anstrengung, äußerste Anstrengung. Und Yoga ist ein Weg, bei dem man gegen die Strömung kämpft, sich gegen die Strömung wirft. Daher muß man im Yoga alles, was natürlich ist, fallenlassen. Und nichts Unnatürliches bleibt im Yoga unversucht. Yoga ist der Weg des Unnatürlichen: kämpfe gegen den Fluß und schwimme gegen die Strömung! Natürlich, das ist eine Herausforderung, und diese Herausforderung kann man genießen. Aber wer ist es, der den Genuß dabei hat? Dein Ego.
Es ist sehr schwierig, einen Yogi zu finden, der kein Egoist wäre; das ist nicht so leicht, das ist höchst selten. Einen Yogi zu finden, der nicht egoistisch ist, wäre geradezu ein Wunder. Und zwar deshalb, weil durch all die Anstrengungen, durch den ganzen Kampf, das Ego aufgebaut wird. Man mag Yogis voller Demut finden, aber wenn man nur ein wenig tiefer blickt, findet man in ihrer Demut ein äußerst feines Ego versteckt, das subtilste, das man sich denken kann. Sie mögen sagen: »Wir sind weniger wert, als der Staub an deinen Füßen.« Aber schau in ihre Augen sie sind eitel auf ihre Demut. Sie sagen: »Niemand ist demütiger als ich. Ich bin der demütigste Mensch, den es gibt.« Und das ist es genau, was Ego bedeutet. Gegen die Natur anzugehen, stärkt das Ego - denn das ist eine Herausforderung: darum lieben die Menschen Herausforderungen so. Ein Leben ohne Herausforderung wird stumpf, weil das Ego ungesättigt bleibt. Das Ego braucht Nahrung, und eine Herausforderung gibt Nahrung - also hungern die Menschen nach Herausforderungen. Wenn es keine Herausforderungen gibt, dann stellen sie selbst welche her; sie bauen sich Hürden auf, damit sie mit diesen Hürden kämpfen können. Tantra ist der natürliche Weg: dort wird Gelöstheit und Natürlichkeit angestrebt. Du brauchst nicht mit dem Strom zu kämpfen; laß dich einfach von ihm tragen, treibe dahin. Der Fluß fließt zum Meer, warum also kämpfen? Gehe mit dem Fluß, werde eins mit dem Fluß, gib dich hin. »Hingabe« ist das Schlüsselwort des Tantra; »Wille« ist das Schlüsselwort des Yoga. Yoga ist der Weg des Willens, Tantra der Weg der Selbst-Aufgabe. Tantra ist auch der Weg der Liebe - Liebe ist Selbst-Aufgabe. Wer das erst einmal verstanden hat, dem werden die Worte Tilopas ganz klar, kristallklar. Im Tantra muß man die andere Dimension verstehen, die vertikale Dimension, die Dimension der Selbst-Aufgabe, des Nicht-Kämpfens, der offenen und natürlichen und entspannten Seins-Weise. Mit Chuang Tsus Worten: »Leicht ist richtig!« Für Yoga ist »schwierig« richtig. Für Tantra ist das Leichte richtig. Entspanne dich, fühle dich wohl in deiner Haut, nichts drängt. Das Ganze selbst nimmt dich von sich aus mit. Du brauchst dir keine individuelle Mühe zu geben, niemand erwartet von dir, daß du vor deiner Zeit ankommst; du kommst an, wenn die Zeit reif ist - du wartest einfach. Das Ganze bewegt sich - warum hast du es so eilig? Willst du vor anderen ankommen? Es gibt über Buddha eine schöne Geschichte: er kam am Himmelstor an. Natürlich wurde er schon erwartet, sie machten das Tor auf, sie hießen ihn willkommen, aber er drehte dem Tor den Rücken, blickte auf Samsara, auf die Welt zurück - Millionen von Seelen, die sich auf dem gleichen Weg abquälten, voller Elend und Leid, in der Hoffnung, das Himmelstor und die ewige Seeligkeit zu erreichen. Der Torhüter sagte: »Bitte komm herein! Wir erwarten dich schon.« Und Buddha sagte: »Wie kann ich hereinkommen, wenn andere noch nicht angekommen sind? Es scheint nicht die richtige Zeit dafür zu sein. Wie kann ich hereinkommen, wenn die ganze Welt noch draußen bleiben muß? Ich muß warten. Es wäre so, als ob meine Hand schon durch die Tür gegangen ist, aber meine Füße noch nicht angekommen sind. Ich muß warten. Die Hand für sich kann nicht hereinkommen.« Dies ist eine der tiefsten Einsichten im Tantra. Tantra sagt, daß niemand isoliert erleuchtet werden kann. Wir sind Teile voneinander, wir sind Glieder desselben Körpers, wir sind ein Ganzes! Ein einzelner mag zu einem Gipfel, zu einer großen Welle werden - aber er bleibt mit all den kleinen Wellen ringsherum verbunden. Die Welle ist nicht allein, sie bleibt eins mit dem Meer, und mit allen Wellen darin. Wie kann eine Welle allein zur Erleuchtung gelangen? In dieser schönen Geschichte heißt es dann, daß Buddha noch heute wartet. Er muß warten, denn niemand ist eine Insel, wir bilden alle zusammen einen Kontinent, wir sind eins. Ich mag ein wenig weiter gekommen sein als ihr, aber ich kann nicht von euch getrennt sein. Und jetzt weiß ich es im Grunde meines Herzens, jetzt ist es nicht mehr nur irgendeine Geschichte für mich: Ich warte auf euch. Jetzt ist es nicht einfach nur ein Gleichnis für mich, jetzt weiß ich, daß es keine individuelle Erleuchtung gibt. Einzelne können ein wenig voraus sein, das ist alles, aber sie bleiben mit dem Ganzen verbunden. Und wenn ein Erleuchteter sich nicht bewußt ist, daß er mit den anderen verknüpft ist, eins mit den anderen ist, wer soll es dann wissen? Wir bewegen uns wie ein Wesen, und Tantra sagt: »Beeile dich also nicht, und streng dich nicht an, stoße andere nicht beiseite, versuche nicht, der erste in der Schlange zu sein - sei locker und natürlich. Alles bewegt sich auf Erleuchtung zu. Sie kommt unweigerlich. Mach also keine Quälerei daraus.« Wenn du so viel begreifen kannst, bist du ihr schon ein ganzes Stück näher gekommen: denn dann bist du entspannt. Sonst gehörst du zu den »religiösen« Menschen, die sich unglaublich verkrampfen. Selbst gewöhnliche weltliche Menschen sind nicht so verkrampft wie die religiösen Menschen. Gewöhnliche Menschen sind hinter weltlichen Zielen her. Natürlich verkrampfen sie sich dabei, aber nicht annähernd so schlimm, wie die »religiösen« Menschen; denn sie sind auf eine andere Welt aus, und die ist sehr weit weg, unsichtbar, und sie wissen nie ganz genau, ob es jene Welt überhaupt gibt. Und damit halsen sie sich eine neue Sorge auf: vielleicht geht ihnen diese Welt durch die Lappen, und die andere existiert gar nicht! Sie sind immer und ewig verquält, ständig verstört. Hüte dich vor dieser Art von >Religiosität<. Für mich ist ein religiöser Mensch gelassen und natürlich. Er macht sich keine Gedanken, weder um diese, noch um jene Welt. Er macht sich überhaupt keine Gedanken, er lebt sein Leben und hat seine Freude daran. Dieser Augenblick ist ihm der einzige: der nächste Augenblick sorgt schon für sich selber. Wenn der nächste Augenblick kommt, empfängt er ihn mit Freude und Begeisterung. Ein religiöser Mensch ist nicht zielorientiert. Das Ziel mag zwar »Gott« heißen - aber das läuft auf das gleiche hinaus. Tantra ist wirklich schön. Tantra ist die allerhöchste Einsicht, das oberste Prinzip. Wenn Tantra dir nichts sagt, dann ist Yoga für dich das Richtige. Wenn du Tantra verstehen kannst, dann brauchst du dich nicht um kleinliche Lehren zu kümmern. Wenn ein großes Schiff bereitsteht, warum sich dann mit kleinen Booten abgeben?
Im Buddhismus gibt es zwei Sekten. Die Namen der Sekten sind sehr aufschlußreich. Die eine heißt »Hinayana« - das kleine Fahrzeug. Ihr Weg ist Yoga - ein kleines Boot: du kannst nur allein darin sitzen, es ist kein Platz für andere da so winzig ist es. Der Yogi geht seinen Weg allein. Hinayana bedeutet das ganz kleine Fahrzeug. Und dann gibt es die andere buddhistische Sekte, die den Namen »Mahayana« trägt: das große Boot, das große Fahrzeug. Millionen können darin Platz finden, es kann die ganze Welt fassen. Mahayana ist der Weg des Tantra und Hinayana der Weg des Yoga. Tilopa ist eine Mahayaniker, einer, der auf das große Fahrzeug vertraut, auf das große Prinzip. Kleine Boote sind für Egoisten, die niemand sonst in ihrem Boot dulden, die nur allein sein können; große Verdammer, die andere geringschätzig ansehen: »Was, du willst es dorthin schaffen? Du wirst es nie schaffen, das ist viel zu schwer, nur auserlesene Menschen können das.« Sie werden dich nicht in ihr Boot lassen. »Mahayana« nimmt alle Menschen in tiefer Liebe auf. Jeder darf hinein. Es gibt nicht die geringsten Bedingungen. Immer wieder werde ich gefragt: »Warum gibst du jedem Hinz und Kunz dein Sannyas?,, Das ist noch nie vorgekommen, daß Sannyas in dieser Weise gegeben wurde. Die Tatsache, daß ich Sannyas bedingungslos gebe, ist einmalig in der Geschichte der Menschheit. Sannyas war immer nur Sache der großen Egoisten, der Scheinheiligen, der Verdammer, der Vergifter, denen nichts recht ist, für die alle anderen im Irrtum sind, für die das ganze Leben nur aus Sünde besteht, in deren Augen ständig zu lesen ist: >Ich stehe Gott näher als du. Du bist auf ewig verdammt, du gehörst in die Hölle.< Das sind die großen >Sannyasins< - sie haben der Welt entsagt, der Welt aus Sünde, Gift und Dreck, in der du weiterlebst. Bis zum heutigen Tag waren nur große Egoisten Sannyasins. Es ist das erste Mal, daß allen Zutritt gestattet ist. Ich habe die Tür aufgemacht. Ich bin sogar soweit gegangen, daß ich die Tür ganz aus den Angeln gehoben habe, so daß sie jetzt nicht mehr geschlossen werden kann. Jetzt ist jeder willkommen. Warum? Weil meine Haltung von Tantra bestimmt ist, nicht von Yoga. Ich spreche zwar auch über Patanjali - aber nur für diejenigen, die Tantra nicht begreifen können; an sich aber ist meine Haltung tantrisch. Jeder ist willkommen. Wenn Gott dich in der Welt willkommen heißt, wer bin denn ich ...? Wenn das All dich am Leben erhält und die Existenz dich toleriert, und nicht nur toleriert, sondern dir Lebenskraft schenkt, wer bin denn ich ...? Selbst wenn du dich versündigst, sagt die Existenz noch lange nicht: »So, jetzt reichts, jetzt bekommst du keine Energie mehr. Jetzt wird dir der Hahn abgedreht. Schluß! Du richtest zuviel Unsinn an.« Nein - der Saft fließt weiter. Energiekrisen gibt es nicht; die Existenz versorgt dich in jeder Lage. Folgende Begebenheit: ein islamischer Mystiker, Junnaid, beschwerte sich einmal bei Gott über einen seiner Nachbarn: »Dieser Mann ist ein solcher Schurke und macht soviel Arger im ganzen Dorf, daß die Leute zu mir kommen und mich bitten, dich zu bitten, ob du sie von ihm befreien kannst.« Und daraufhin hörte Junnaid eine Stimme antworten: »Wenn ich ihn akzeptieren kann, wer seid denn ihr, ihn abzulehnen?« Und Junnaid fügte in seiner Autobiographie hinzu: »Nie wieder habe ich Gott so etwas gefragt, denn ich sah plötzlich meine Dummheit ein. Wenn er diesem Mann das Leben geschenkt hat, wenn er ihn immer noch am Leben erhält, und nicht nur das, sondern ihn sogar prächtig gedeihen läßt, wer bin denn ich ...?« Die Schöpfung gibt dir dein Leben ohne Bedingung. Ich gebe dir Sannyas ohne Bedingung. Wenn die Schöpfung eine so grenzenlose Hoffnung in dich setzt, daß du sie mit nichts enttäuschen kannst, wer bin denn ich ...? Tantra ist für alle da. Es ist nicht nur für die wenigen Auserwählten. Es wurde nur deshalb zum Weg der wenigen Auserwählten, weil nicht alle begriffen, worum es im Tantra geht. Aber im Grunde ist Tantra nicht der Weg der Auserwählten - es ist für alle da; es ist für jeden da, der bereit ist, den Sprung zu wagen. Versucht jetzt, diese Sutras zu verstehen: Im Mahamudra verbrennen all deine Sünden; Sünden brauchen nicht durch gute Taten aufgewogen zu werden. Im Mahamudra verbrennen all deine Sünden; Immer wieder dieses Mahamudra - was bedeutet es? Was geschieht da? Mahamudra ist ein Zustand von Sein, in dem du nicht mehr vom All getrennt bist. Mahamudra ist wie ein tiefer sexueller Orgasmus mit dem Ganzen. Wenn zwei Liebende in tiefem Orgasmus sind, verschmelzen sie ineinander; dann hört die Frau auf, Frau zu sein, und der Mann, ein Mann zu sein. Sie bilden einen Kreis, in dem Yin und Yang ineinander übergehen; es ist ein Zusammentreffen im Innersten, ein Auflösen, ein völliges Vergessen aller Identität. Das ist es, was die Liebe so anziehend macht. Dieser Zustand wird »Mudra« genannt, dieser Zustand einer tiefen orgasmischen Vereinigung heißt. »Mudra«. Und die letzte Stufe, des Orgasmus mit dem Ganzen, wird »Maha Mudra« genannt: der große Orgasmus. Was geschieht beim sexuellen Orgasmus? Das muß man genau verstehen, weil man nur so den Schlüssel zum allerletzten Orgasmus bekommt. Was geschieht? Wenn zwei Liebende zusammen sind .. . und vergeßt nie: zwei Liebende. Nicht Ehemann und Ehefrau - denn unter Verheirateten kommt es praktisch nie dazu. Denn Mann und Frau entwickeln in der Ehe immer festgelegte Rollen, sie hören auf zu fließen, sich ineinander aufzulösen. »Ehemann« wird zur Rolle, »Ehefrau« wird zur Rolle: jeder spielt die seine. Die Frau hat als »Ehefrau« ihre Rolle zu spielen, ob es ihr gefällt oder nicht, und der Mann spielt den »Ehemann«. Das ganze ist eine rechtliche Regelung. Einmal fragte ich Mulla Nasrudin: »Nasrudin, wie lange bist du schon verheiratet?« Er sagte: »Ein Vierteljahrhundert!« - »Also fünfundzwanzig Jahre?« - »Ja, aber wenn du meine Frau siehst, verstehst du, warum es ein
Vierteljahrhundert ist.« Verheiratete Männer und Frauen werden zu gesellschaftlichen Einrichtungen. Ehe ist eine Institution und keine Beziehung. Sie ist eine Institution, etwas Erzwungenes - nicht um der Liebe willen, sondern aus anderen Gründen: aus wirtschaftlichen Gründen - Sicherheit, Ordnung, Kinder, Gesellschaft, Kultur, Religion - aus allen möglichen Gründen, nur nicht aus Liebe. Zwischen Mann und Frau kommt es praktisch nie zum Orgasmus - es sei denn, sie lieben sich. Das ist möglich: man kann auch als Ehemann oder Ehefrau noch Liebhaber sein; man kann seine eigene Frau lieben. Aber dann ist es etwas völlig anderes. Dann hat es nichts mit der Ehe zu tun, dann spielt die Institution keine Rolle. Im Osten, wo die Ehe seit Tausenden von Jahren die Grundlage der Gesellschaft ist, haben die Menschen vollkommen vergessen, was Orgasmus ist. Im Westen sind einige wenige Frauen in den letzten paar Jahrzehnten darauf gekommen, daß der Orgasmus etwas ist, das die Mühe lohnt. Aber die meisten Frauen haben total vergessen, daß in ihren Körpern die Möglichkeit zum Orgasmus steckt. Das ist eine der größten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit. Und wenn die Frau nicht zum Orgasmus kommt, dann kann es der Mann im Grunde auch nicht, denn Orgasmus ist ein Verschmelzen von beiden. Nur wenn zwei Menschen ineinander aufgehen, kommt es zum Orgasmus. Es ist also nicht möglich, daß der eine zum Orgasmus kommt und der andere nicht. Entladung, Ejakulation ist möglich; es kann dich vom sexuellen Druck befreien, aber das ist kein Orgasmus. Was ist Orgasmus überhaupt? Orgasmus ist ein Zustand, in dem sich dein Körper nicht mehr wie Materie anfühlt; er vibriert wie Energie, wie Elektrizität. Er pulsiert aus unermeßlichen Tiefen her, aus der Wurzel des Seins, und man vergißt vollkommen, daß er stofflich ist. Der Körper wird ein elektrisches Phänomen - und er ist tatsächlich ein elektrisches Phänomen. Die moderne Physik sagt, daß es keine Materie gibt, daß alle Materie nur Schein ist; daß im Grunde, an der Wurzel der Existenz, nichts als Elektrizität existiert, also keine Materie. Im Orgasmus dringst du zu diesem tiefsten Kern deines Körpers vor, wo alle Materie aufhört und nur noch Energiequellen übrigbleiben; du wirst zu einer tanzenden, vibrierenden Energie. Plötzlich verlierst du alle Grenzen - es ist einfach ein Pulsieren, ein substanzloses Pulsieren. Und dein Partner pulsiert mit dir. Und nach und nach, je mehr sie sich lieben und sich gegenseitig hingeben, desto mehr geben sie sich diesem Augenblick des Pulsierens, des Vibrierens, der Auflösung in reine Energie hin, verlieren sie alle Furcht davor - obwohl es wie ein Tod ist. Wenn der Körper seine Grenzen verliert, wenn der Körper sich wie in Dunst auflöst, wenn der Körper seine Substanz verliert, wenn nur Energie zurückbleibt, nichts als ein kaum spürbarer Rhythmus, dann siehst du, daß es dich nicht gibt. Nur in tiefer Liebe kommst du an diesen Punkt. Liebe ist wie Tod: was stirbt, ist dein materielles Bild von dir, du stirbst als das, was du für deinen Körper hältst; du stirbst als Körper und wirst zu Energie, zu Lebensenergie. Und wenn Mann und Frau, oder die Liebenden, oder die Partner, zu einem vibrierendem Rhythmus werden, dann vereinigen sich die Pulsschläge ihrer Herzen und ihrer Körper, dann werden sie zu einer einzigen Harmonie, zum Orgasmus, und beide sind nicht mehr. Das ist die Bedeutung des Symbols von Yin und Yang: das Yin dringt in das Yang ein, und das Yang in das Yin; der Mann dringt in die Frau und die Frau in den Mann ein. Jetzt bilden sie einen Kreis und pulsieren gemeinsam, werden zu einem gemeinsamen Rhythmus. Ihre Herzen sind nicht mehr getrennt, ihre Herzschläge fallen zusammen; sie sind zu einer Melodie, zu Harmonie geworden. Es gibt keine größere Musik als diese; alle anderen Formen der Musik sind nur schwache Echos, sind Schatten im Vergleich dazu. Diese Schwingung von Zwei-in-Einem ist Orgasmus. Wenn das gleiche, nicht mit einem anderen Menschen, sondern mit der ganzen Schöpfung eintritt, dann ist es »mahamudra«, dann ist es der »Große Orgasmus«. Er ist möglich. Ich möchte euch gern sagen, was ihr tun könnt, damit Mahamudra, der Große Orgasmus, möglich wird. In Indonesien gibt es einen sehr ungewöhnlichen Mann namens Bapak Subuh. Er ist unabsichtlich auf eine Methode gestoßen, die als >Lathihan< bekannt ist. Er stieß zufällig darauf, aber>Latihan< ist eine der ältesten Tantratechniken. Es ist nichts Neues. Latihan ist der erste Schritt zum Mahamudra. Du läßt dabei den Körper vibrieren, du läßt ihn zu Energie werden, zu etwas Nicht-Stofflichem, etwas Nicht-Materiellem. Du erlaubst dem Körper, sich aufzulösen, seine Grenzen zu verlieren. Bapak Subuh ist Mohammedaner, aber seine Bewegung heißt >Subud<. Das ist ein buddhistisches Wort: »Subud« ist aus drei Silben zusammengesetzt: »Su«-»bu«-»dha«. »Su« steht für »sushila«, »bu« für Buddha, »dha« für >dharma<; >Subud< bedeutet sushila-buddhadharma: das Gesetz der großen Tugend, das uns von Buddha überbracht worden ist; Buddhas Gesetz der großen Tugend. Es ist genau das, was Tilopa »die Große Lehre« nennt. Latihan geht sehr einfach. Es ist der erste Schritt. Man muß entspannt da stehen, gelöst und natürlich. Es ist gut, wenn du allein stehst, damit dich niemand stören kann. Schließe dich ein und steh allein. Wenn du jemanden finden kannst, der schon die ersten Schritte in den Latihan getan hat, dann kann dir seine Gegenwart nützen: seine bloße Gegenwart wirkt wie ein Katalysator, der dich öffnet. Jemand, der schon etwas fortgeschritten ist, kann dich sehr leicht öffnen. Sonst aber kannst du dich auch selbst öffnen, es dauert nur etwas länger, das ist alles. Also ist es gut, wenn du dir von jemand helfen läßt. Wenn der, der dich öffnen soll, neben dir steht und mit dem Latihan beginnt, stehst du einfach da und seine Energie ruft ein Echo in dir hervor, seine Energiequellen hüllen dich ein, wie ein feiner Duft - plötzlich spürst du ihre Musik. Es ist, wie wenn du einem guten Sänger oder einem guten Musiker zuhörst, und mit dem Fuß den Takt zu schlagen beginnst, oder anfängst, den Rhythmus auf der Stuhllehne mitzuklopfen, oder einfach nur spürst, wie die Wellen durch dich hindurchgehen: genauso kommt eine tiefe Energie aus ihm und füllt den ganzen Raum mit ihrer Bewegung, und der Raum gewinnt eine ganz neue Atmosphäre. Du darfst nichts tun; du mußt einfach nur da sein, gelöst und natürlich, mußt einfach nur warten, daß etwas geschieht. Und wenn sich dein Körper zu bewegen anfängt, mußt du es zulassen,
mußt du mitgehen und es zulassen. Das Mitgehen darf nicht zum Eingreifen werden, darf nicht zur Absicht werden. Es muß beim bloßen Zulassen bleiben. Dein Körper fängt plötzlich an, sich zu bewegen, wie von außen gelenkt, wie wenn eine große Energie dich von oben erfaßt hat, als ob eine Wolke herabgestiegen und dich eingehüllt hat - und jetzt hat diese Wolke von dir Besitz ergriffen, die Wolke dringt in deinen Körper ein und dein Körper wird von sanften Bewegungen erfaßt. Deine Hände heben sich wie von selbst, du machst kaum spürbare Bewegungen, du beginnst sanft zu tanzen, mit langsamen, weichen Bewegungen. Es hat deinen ganzen Körper erfaßt. Wenn du etwas über automatisches Schreiben weißt, dann fällt es dir leicht, nachzuvollziehen, was im Latihan geschieht. Beim automatischen Schreiben nimmst du einen Stift zur Hand, schließt die Augen und wartest - plötzlich fühlst du, wie deine Hand zuckt: deine Hand gehört dir praktisch nicht mehr, so als wäre etwas in sie eingedrungen. Du darfst nichts tun, denn wenn du etwas tust, kommt es nicht von anderswo her: dann ist es von dir. Du darfst es nur zulassen. Gelöst und natürlich: Tilopas Worte sind genau richtig, es läßt sich nicht besser sagen. Du wartest gelöst und natürlich mit dem Stift, die Augen geschlossen; wenn der Ruck kommt und die Hand sich zu bewegen beginnt, mußt du es zulassen, das ist alles. Du darfst dich nicht sperren, denn sperren kannst du dich. Deine Energie ist sehr fein und anfangs kaum zu spüren. Es wäre leicht, sie zum Stillstand zu bringen, denn es ist keine aggressive Energie. Wenn du sie nicht zuläßt, kommt sie nicht. Wenn du zweifelst, passiert nichts. Der Zweifel verschließt deine Hand. Zweifeln heißt: es nicht zulassen, dagegen angehen. Deshalb ist Vertrauen so wichtig - shraddha. Vertrau einfach und mache deine Hand ganz locker, dann fängt sie nach und nach an, sich zu bewegen. Sie kritzelt auf das Papier - laß es zu. Dann stellt plötzlich jemand eine Frage, oder du stellst die Frage selbst. Laß diese Frage ganz ungezwungen auf dich einwirken, ohne Dringlichkeit, ohne Nachdruck. Stelle die Frage nur und warte. Und plötzlich findest du die Antwort geschrieben. Von zehn Leuten haben mindestens drei die Gabe, automatisch zu schreiben. Dreißig Prozent der Menschen sind sich nicht bewußt, daß sie diese Antenne besitzen. Und sie könnte zu einer großen Kraft in deinem Leben werden. Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen, aber was im einzelnen passiert, ist nicht weiter interessant. Die tiefste Erklärung, die ich für die wahre halte, ist die, daß dein eigenes höchstes Zentrum sich deines untersten Zentrums bemächtigt; daß der höchste Gipfel deines Bewußtseins sich deines niedrigsten Bewußtseins bemächtigt. Du fragst und dein eigenes innerstes Wesen antwortet. Es ist niemand sonst da - nur dein innerstes Wesen, das dir unbekannt ist, das dir weit überlegen ist. Dein innerstes Wesen ist deine höchste Entfaltungsmöglichkeit. Es ist, als ob die Blüte sich des Samens bemächtigt und antwortet. Der Same weiß es nicht - aber es ist als ob sich die Blüte, deine zukünftige Vollendung, deiner Gegenwart bemächtigt und antwortet. Als ob dein allerhöchstes Vermögen für einen Augenblick die Gegenwart übernimmt und für dich antwortet oder als ob die Zukunft sich der Vergangenheit bemächtigt, oder das Unbekannte des Bekannten, das Formlose der Form. - Als Metaphern, aber ich glaube ihr ahnt, was sie bedeuten. So, als ob sich dein reifes Alter deiner unmündigen Kindheit bemächtigt und für dich antwortet. Das gleiche geschieht beim Latihan mit dem ganzen Körper. Beim automatischen Schreiben ist es nur die Hand, wenn du sie locker und natürlich läßt. Beim Latihan ist der ganze Körper locker und natürlich, und du wartest und gehst mit, und plötzlich fühlst du den inneren Drang: die Hand hebt sich wie von selbst, wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Laß es zu. Dann beginnt das Bein sich zu bewegen, du machst eine Drehung, und langsam beginnt ein süßer Tanz; sehr ungeordnet, ohne einem bestimmten Rhythmus zu folgen, ohne Steuerung - und trotzdem findet die Bewegung nach und nach ihren eigenen Rhythmus. Dann hört sie auf, chaotisch zu sein, findet ihre eigene Ordnung, ihre eigene Disziplin, ohne daß du sie erzwingst. Es ist dein höchstes Potential, das sich deiner untersten Form, des Körpers, bemächtigt und sie bewegt. Latihan ist der erste Schritt, und nach und nach wird es sich so schön anfühlen, daß du das Gefühl hast, mit dem Kosmos zu verschmelzen. Aber das ist nur der erste Schritt. Es fehlt nämlich etwas im >Subud<. Der erste Schritt ist zwar schon wunderbar genug, aber er ist nicht der letzte, und ich möchte, daß ihr es vollständig tut. Fang an mit dem Latihan-Tanzen, mindestens dreißig Minuten lang, am besten wären sechzig Minuten ; dehnt es langsam von dreißig auf sechzig Minuten aus. Nach sechzig Minuten ist dein Körper bis in jede Pore, bis in jede Zelle gereinigt; es ist eine Katharsis, die dich völlig erneuert, die allen Schmutz fortbrennt. Das ist die Bedeutung von Tilopas Worten: Im Mahamudra verbrennen all deine Sünden; Die Vergangenheit wird ins Feuer geworfen. Es ist eine Neugeburt, eine Wiedergeburt. Du spürst, wie dich eine große Energie überschwemmt, von innen und von außen. Und der Tanz ist nicht nur an der Außenseite; bald hast du dich eingestimmt und wirst auch einen inneren Tanz spüren, nicht nur dein Körper tanzt, sondern im Innersten tanzt deine Energie auch. Beides geht ineinander über, und ein Pulsieren setzt ein, und du fühlst, daß du in den Pulsschlag des Universums eingehst - du hast den universellen Rhythmus gefunden. Das geht dreißig bis sechzig Minuten lang. Beginne mit dreißig, und höre mit sechzig auf. Zwischen diesen beiden Grenzpunkten wirst du deine eigene Spanne finden. Und die findest du von ganz allein. Wenn du nach etwa vierzig Minuten den Rhythmus gefunden hast, dann ist das dein Zeitraum; wenn es schon nach zwanzig Minuten geschieht, dann ist das die richtige Zeit für dich. Meditiere dann aber trotzdem weiter: wenn du schon nach zehn Minuten eingestimmt bist, mach weiter, bis zwanzig Minuten um sind. Verdoppele den Zeitraum, riskiere nichts, so daß du am Ende wirklich durch und durch gereinigt bist. Und schließe mit einem Gebet ab. Wenn du vollkommen gereinigt bist, und dein Körper sich frisch fühlt, als hättest du eine Energie-Dusche genommen,
wenn dein ganzer Körper sich wie ein Ganzes anfühlt, und du das Gefühl deiner Erdschwere verloren hast, wenn sich dein Körper eher wie eine Energie, eine Bewegung, ein substanzloser Strom anfühlt - dann bist du bereit. Dann knie zur Erde nieder. Sich hinzuknieen ist etwas Großartiges; laß dich auf die Knie fallen wie es die Sufis tun, oder die Moslems, wenn sie in der Moschee beten. Das ist die beste Gebetsstellung. Erhebe dann beide Hände mit geschlossenen Augen zum Himmel und fühle dich wie ein leeres Gefäß, wie ein hohler Bambus, oder wie ein Tonkrug. Dein Kopf ist die Offnung des Kruges, und die Energie prasselt gewaltig auf deinen Kopf nieder, als stündest du unter einem Wasserfall. Und du stehst tatsächlich unter einem Wasserfall. Nach dem Latihan spürst du es: es ist wie ein Wasserfall, nicht wie eine sanfte Dusche. Der Strom wird immer stärker, je nachdem, wie offen du bist; er fällt mit immer größerer Gewalt, und dein Körper wird zu zittern und zu beben anfangen, wie ein Blatt im Sturm. Wer einmal unter einem Wasserfall gestanden hat, kennt das Gefühl. Wer es noch nie probiert hat, der sollte es tun. Das gleiche Gefühl stellt sich nach dem Latihan ein. Fühle dich innen hohl und leer, ein einziger Hohlraum - und die Energie füllt dich an, füllt dich bis zum Rand. Gestatte ihr, so tief wie möglich in dich einzuströmen, so daß sie in die äußerste Zone deines Körpers, deines Geistes und deiner Seele dringen kann. Und wenn du so davon erfüllt bist, daß der ganze Körper vibriert, dann beuge dich nieder, dann beuge deinen Kopf zur Erde und gieße die Energie in die Erde. Nimm sie vom Himmel und gib sie an die Erde zurück, und sei nur ein hohler Baum zwischen Himmel und Erde. Das mußt du siebenmal wiederholen. Nimm vom Himmel und gieße in die Erde, küsse die Erde und gieße dich vollkommen aus - mache dich vollkommen leer. Gieße dich so rückhaltslos aus, wie du dich gefüllt hast. Entleere dich vollständig. Dann erhebe die Hände erneut, fülle dich und gieße dich wieder aus. Siebenmal mußt du es wiederholen, denn die Energie durchdringt jedesmal ein anderes Chakra des Körpers, ein anderes Energie-Zentrum; jedesmal dringt sie tiefer in dich ein. Tust du es weniger als siebenmal, dann fühlst du dich hinterher ruhelos, weil die Energie irgendwo auf halbem Wege hängen geblieben ist. Nein, alle sieben Chakras deines Körpers müssen durchdrungen werden, erst dadurch wirst du vollkommen hohl, zu einem leeren Durchgangskanal. Die Energie strömt vom Himmel und geht in die Erde: du bist »geerdet« - du leitest lediglich die Energie zur Erde. Genau wie bei der Elektrizität. Auch Elektrizität muß geerdet werden. Die Energie kommt aus dem Himmel und verschwindet in die Erde, du bist geerdet, wirst zu einem Gefäß, zu einem hohlen Bambus, der die Energie weiterleitet. Siebenmal - wenn du willst, auch mehr, aber auf keinen Fall weniger. Dann ist es ein vollständiges Mahamudra. Wenn du es jeden Tag tust, dann kommt binnen drei Monaten irgendwann ein Tag, wo du das Gefühl hast, daß es dich nicht mehr gibt. Nichts als Energie im gleichen Pulsschlag mit dem Universum - niemand ist da, das Ego ist völlig verlorengegangen, der Handelnde ist verschwunden. Was bleibt, ist das Universum. Was bleibt, bist du - die Welle, die im Meer pulsiert - das ist Mahamudra. Das ist der endgültige Orgasmus, der beglückendste Bewußtseinszustand, den es gibt. Es ist genau wie bei zwei Liebenden, aber millionenfach stärker. Das gleiche Phänomen multipliziert mit Millionen denn jetzt ist es ein Liebesakt mit dem All. Darum wird Tantra auch das Yoga des Sex genannt: Tantra ist als der Weg der Liebe bekannt. Im Mahamudra verbrennen all deine Sünden; Im Mahamudra wirst du Aus dem Gefängnis dieser Welt entlassen. Es ist die hellste Flamme des Dharma. Die das nicht glauben, sind Narren, Die sich in Elend und Sorgen ewig wälzen. Und Tilopa spricht völlig klar. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Er sagt: »Die das nicht glauben, sind Narren.« Warum nennt er sie Narren? Er nennt sie nicht Sünder, er nennt sie nicht Atheisten, er nennt sie einfach Narren. Denn wer es nicht für möglich hält, dem entgeht das größte Glück, das das Leben zu geben hat, der ist ganz einfach ein Narr! Denn es kann nicht geschehen, solange du kein Vertrauen hast. Wenn du nicht so viel Vertrauen aufbringen kannst, dich vollkommen auszuliefern, kann es nie geschehen. Alles Glück, alle Glücksmomente geschehen nur, wenn du dich auslieferst. Selbst der Tod kann großartig werden, wenn du dich ihm auslieferst. Was soll man erst vom Leben sagen? Wenn du dich ihm auslieferst, kann es natürlich keinen größeren Segen, keine größere Wohltat als das Leben geben. Du läßt dir die höchste Gabe entgehen - weil du nicht vertrauen kannst. Wenn du etwas lernen möchtest, dann lerne zu vertrauen - mehr brauchst du nicht. Wenn es dir schlecht geht, kann dir nur eines helfen - lerne zu vertrauen. Wenn du keinen Sinn im Leben erkennst, wenn dir alles sinnlos vorkommt, dann hilft nur eins - lerne vertrauen. Vertrauen schenkt Sinn, denn Vertrauen macht dich bereit, dem Ganzen zu erlauben, zu dir zu kommen. Die das nicht glauben, sind Narren, Die sich in Elend und Sorgen ewig wälzen. Verlaß dich, um zur Freiheit zu gelangen,
Auf die Hilfe eines Guru. Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, Ist die Befreiung nah. Warum soll man sich an einen Guru halten? Warum sich einem Meister anvertrauen? Weil das Unbekannte so weit von dir entfernt ist. Es ist nichts als ein Traum, allerhöchstens eine Hoffnung, ein Wunschgedanke. Ihr hört mir zu; ich mag von Glückseligkeit reden, aber diese Glückseligkeit bleibt für euch nur ein Wort. Ihr mögt euch noch so sehr danach sehnen, aber ihr wißt nicht, was es ist. Sie ist unendlich weit entfernt. Jeder von euch steckt tief in Unglück und Qualen. In eurem Mißgeschick, euren Schwierigkeiten fangt ihr dann an, auf Glückseligkeit zu hoffen, auf sie zu warten, sie herbeizuwünschen, aber das wird nichts helfen - was ihr braucht, ist eine echte Kostprobe. Wer kann sie dir geben? Nur wer den Geschmack kennt, kann ihn dir vermitteln. So ein Mensch kann dein Katalysator sein. Er tut nichts dazu, seine Gegenwart genügt, und das Unbekannte fängt an, dir entgegenzuströmen. Er ist wie ein Fenster. Sind deine Türen verschlossen? - Seine Türen nicht. Sind deine Fenster verschlossen? Weißt du noch, wie man sie öffnen kann? Seine Fenster sind nicht verschlossen. Durch sein Fenster kannst du einen Blick auf den Himmel werfen; durch ihn bekommst du einen Ahnungsschimmer. Ein Meister, ein Guru, ist nur ein Fenster. Durch ihn mußt du hindurchschauen, durch ihn bekommst du die erste Kostprobe - dann bist du in der Lage, deine Fenster selbst zu öffnen. Sonst sind es alles nur leere Worte. Du kannst Tilopa lesen, aber bevor du Tilopa darin nicht findest, wird nichts mit dir geschehen. Dann bist du beim Lesen voller Zweifel - Vielleicht ist dieser Mann verrückt? Vielleicht halluziniert er? Träumt er? Ist er ein Philosoph, ein Poet, ein Träumer? Wie soll denn das alles möglich sein? Du sollst glückselig sein können? Du kennst doch nur Elend und Leiden, dir ist nur Gift begegnet. An Elixiere glaubst du nicht. Du hast nie davon gekostet, wie kannst du es also glauben? Ein Meister ist nichts als eine personifizierte Offenbarung der totalen Glückseligkeit. Sie lebt in ihm, sie pulsiert in seinen Adern. Wenn du dem Meister vertraust, können seine Schwingungen auch zu dir durchdringen. Ein Meister ist kein Lehrer, er bringt dir nichts bei. Ein Meister kümmert sich nicht um Lehrmeinungen und Prinzipien - ein Meister ist eine Gegenwart. Wenn du ihm vertraust, steht er dir zur Verfügung. Ein Meister ist eine Offnung zum Göttlichen. Durch ihn kannst du deinen ersten Blick auf das Göttliche werfen. Danach kannst du dich selbst dorthin auf den Weg machen. Verlaß dich, um zur Freiheit zu gelangen, Auf die Hilfe eines Guru. Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, Ist die Befreiung nah. Ein Meister kann dir die Befreiung nicht geben, aber er kann dich bis an die Schwelle führen, er kann dir die Verwirklichung, die Reife nicht geben; die mußt du dir selber erwerben: denn was dir der eine schenkt, kann dir der andere wieder nehmen. Nur das, was wirklich dein ist, kann dein sein. Ein Meister kann es dir nicht geben. Er kann dir nur seinen Segen geben - aber dieser Segen ist von entscheidender Bedeutung. Durch ihn kannst du in deine eigene Zukunft sehen. Durch ihn wirst du dir deines eigenen Schicksals bewußt.Durch ihn rücken die entferntesten Gipfel näher. Durch ihn beginnst du dich zu entfalten, wie ein Same, der aufbricht und zum Himmel strebt. Sein Segen ist wie Regen auf deine Saat. Im Osten ist der Segen eines Meisters von äußerster Bedeutung. Der Westen ist diesem Phänomen gegenüber vollkommen blind geblieben. Der Westen kennt nur Lehrer, keine Meister. Lehrer sind Menschen, die euch über die Wahrheit belehren wollen. Ein Meister ist einer, der dir eine Kostprobe von der Wahrheit gibt. Ein Lehrer weiß im allgemeinen nicht, wovon er spricht: was er weiß, hat er von anderen, nicht aus sich. Such dir einen Meister - Lehrer gibt es genug, Meister sind rar. Und wie kannst du dir einen Meister suchen? Setz dich einfach in Bewegung. Sobald du Gerüchte hörst, daß jemand zur Erleuchtung gelangt sei, geh hin und halte dich zur Verfügung. Denk nicht erst lange darüber nach, sei wie ein Liebender - einen Meister findet man durch das Herz. Einen Lehrer findet man durch Abwägen und Urteilen - man hört ihm zu, und man wird durch seine Logik, seine Argumente überzeugt. Einen Meister mußt du essen, einen Meister mußt du trinken. Zuhören bringt nichts, denn er ist ein lebendiges Phänomen - eine Energie, die zur Verfügung steht. Wenn du ihn trinkst und ißt, wird dir bewußt, daß es eine völlig ungeahnte Dimension des Daseins gibt. Es gehört große Empfänglichkeit, eine ausgesprochen feminine Empfangsbereitschaft dazu, den Meister zu finden. Und wenn du offen bist und einem lebendigen Meister begegnest, geht dir plötzlich ein inneres Licht auf. Du brauchst von dir aus nichts zu tun - sei nur verfügbar. Es ist ein so starkes Energiephänomen, daß ganz einfach schon dadurch, daß du offen bist, etwas in dir einrastet. Plötzlich schnappt die Tür ins Schloß. Es ist eine Sache der Liebe. Du kannst keinem anderen beweisen, daß »ich den Meister gefunden habe«. Es gibt keinen Beweis. Versuch es erst gar nicht, denn jeder kann es dir widerlegen. Du hast ihn gefunden, und du weißt es; du hast davon gekostet, und du weißt es. Du weißt es im Herzen, du bist dir völlig sicher. Tilopa sagt: Verlaß dich, um zur Freiheit zu gelangen,
Auf die Hilfe eines Guru. Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, Ist die Befreiung nah. Schon das Wort »Guru« ist sehr bedeutungsvoll. Das Wort »Meister« enthält längst nicht so viel Sinn. Einen Meister nennen wir eher jemanden, der etwas gemeistert zu haben scheint, der nach langer Schulung und Disziplin zur völligen Beherrschung eines Metiers gelangt ist: er ist Meister seines Faches. Ein »Guru« ist etwas völlig anderes. Das Wort »Guru« bezeichnet einen, der sehr, sehr schwer ist, schwer wie eine Regenwolke, die nur auf deinen Durst wartet, um sich zu ergießen. Oder wie eine stark duftende Blume, die nur darauf wartet, daß du an ihr riechst, damit sie dich bezaubern kann. Das Wort »Guru« bedeutet, schwer, sehr schwer zu sein, geladen mit Energie, mit dem Unbekannten, schwer vom Göttlichen, schwer wie eine Frau, die ein Kind trägt. Ein Meister ist schwanger von Gott. Darum setzen wir im Osten den »Guru« mit Gott selber gleich. Dem Westen ist das unbegreiflich, weil man dort unter »Gott« den »Schöpfer der Welt« versteht. Uns hier ist der Schöpfer nicht so wichtig. Wir nennen den Guru »Gott«. Warum? Weil er schwanger vom Göttlichen ist: er ist mit Göttlichkeit geladen, jeden Augenblick bereit, niederzuregnen. Dazu ist nur dein Durst nötig - der Durst der Erde. Er hat in Wirklichkeit nichts »gemeistert«, er hat keine Schulung hinter sich, er beherrscht keine Disziplin; es gibt keine Kunst, die er gemeistert hätte. Nein: er hat das Leben in seiner Totalität gelebt; nicht als Disziplin, sondern gelöst und natürlich. Er hat sich zu nichts gezwungen, er hat sich von den Winden treiben lassen, er hat der Natur ihren eigenen Lauf gelassen. Und durch Millionen von Erfahrungen des Leidens und des Schmerzes und des Glücks und der Seligkeit ist er gereift, ist er herangewachsen. Ein Guru ist eine reife Frucht, die darauf wartet, vom Baum zu fallen - reif und schwer. Wenn du bereit bist, sie aufzufangen, kann sie in dich hineinfallen. Der Guru ist ein Phänomen, das es nur im Osten gibt. Der Westen ist bis heute daran vorbeigegangen, man kann es sich dort kaum vorstellen: »Warum hingehen und sich vor einem Guru verbeugen? Warum seinen Kopf zu seinen Füßen legen? Wie erniedrigend !« Aber wenn du etwas aufnehmen willst, mußt du dich beugen. Er ist schwer, er kann herabregnen: aber dann mußt du dich niederbeugen, sonst wirst du nicht in der Lage sein, es in Empfang zu nehmen. Wenn ein Jünger sich in restlosem Vertrauen zu den Füßen seines Meisters niederbeugt, dann geschieht etwas, das nicht mit bloßem Auge sichtbar ist. Eine Energie strömt vom Meister auf den Jünger über. Etwas Unsichtbares spielt sich ab. Wenn du das wahrnehmen kannst, dann kannst du es sogar sehen, dann kannst du sehen, wie sich die Aura des Meisters wie ein Regenbogen in den Jünger ergießt. Du kannst es tatsächlich sehen. Der Meister ist schwer von göttlicher Energie. Und seine Energie ist jetzt unendlich groß, er kann sie an unendlich viele Jünger weitergeben. Er kann allein mit Millionen von Jüngern arbeiten. Er erschöpft sich nie, denn jetzt ist er mit dem All verbunden, er hat zur Quelle des Ganzen zurückgefunden. Durch ihn kannst du auch den Sprung in den Abgrund tun. Sich Gott hinzugeben ist schwierig, denn du weißt nicht, wo Gott ist. Er hat noch keinem Menschen seine Adresse gegeben. Aber einen Guru kann man ausfindig machen. Wenn du mich fragst, was ein Guru ist, dann antworte ich dir: ein Guru ist die Adresse Gottes. Wenn dein Geist seinen Segen empfängt, Ist die Befreiung nah. Dann kannst du sicher sein, daß er dich als Jünger angenommen hat. Wenn du die Segnungen des Meisters spürst, sie auf dich niederregnen spürst wie Blüten, dann kannst du sicher sein, daß die Befreiung nicht mehr weit ist. Es geschah, daß einer von Buddhas Jüngern, Sariputta, sich eines Tages zu Buddhas Füßen niederbeugte. Plötzlich spürte er, wie ihn eine große Energie durchflutete. Er fühlte eine plötzliche Verwandlung, eine totale Veränderung seines Geistes, als würde er zerstört und wieder neu geschaffen. Er schrie auf: »Nein! Warte noch ein bißchen!« Die versammelte Schar von Buddhas Jüngern wußte nichts damit anzufangen. Niemand verstand, was vor sich ging. Sariputta sagte: »Warte noch ein wenig, nicht so schnell!« Buddha fragte: »Aber warum?« Er antwortete: »Weil dann diese Füße für mich verloren sind. Warte noch etwas. Die Befreiung kommt bald, aber ich möchte lieber noch etwas länger bei dir bleiben. Schicke mich noch nicht so bald weg.« Denn wen der Meister gesegnet hat, dessen Befreiung ist nah: das ist die letzte Station. Man muß sich vom Meister verabschieden. Darum sagte Sariputta: »Warte!« Er wurde bald danach erleuchtet. Buddha schickte ihn fort: »Jetzt geh. Ich habe lange genug gewartet. Jetzt geh und verbreite, was ich dir gegeben habe, geh und gib es andern weiter.« Sariputta mußte gehen, aber er weinte heftig. Jemand fragte: »Du bist jetzt erleuchtet und weinst?« Er antwortete: »Ja, ich bin erleuchtet - aber ich verzichte gern auf die Seligkeit der Erleuchtung, wenn Buddha mir dafür gestattet, zu seinen Füßen zu leben.« Seine Dankbarkeit war grenzenlos: - und dann sagte Sariputta noch, daß er sich jeden Morgen in die Richtung verbeugen werde, in der Buddha sich aufhielt. Später wurde er immer wieder gefragt, was er da mache, vor wem er sich denn verbeuge. Und seine Antwort war: »Buddha hält sich gerade im Süden auf.« Als seine letzten Tage gekommen waren, erkundigte sich Sariputta, wo sich Buddha gerade aufhielt, denn er wollte sich selbst im Sterben noch in die Richtung verbeugen, wo Buddha war. Und er starb mit einer Verbeugung in die Richtung, wo Buddha sich aufhielt. Wer diese Energie empfängt, der hat damit den letzten Segen vom Meister bekommen; seine Befreiung ist nah und er
muß Abschied nehmen. Wenn bei den Zen-Buddhisten Japans ein Schüler zu einem Meister kommt, bringt er seine Schlafmatte. Er entrollt sie vor dem Meister, setzt sich darauf, hört dem Meister zu, kommt jeden Tag, befolgt alles, was er ihm sagt, und seine Matte bleibt an Ort und Stelle liegen - die ganze Zeit, jahrelang. Dann, an dem Tag, an dem er den letzten Segen bekommt, rollt er seine Matte wieder zusammen, nimmt sie unter den Arm, verbeugt sich und verläßt den Meister. Diese Matte ist symbolisch. Sobald ein Jünger seine Matte wieder zusammenrollt, wissen die anderen, daß er den Segen erhalten hat. Das ist das Abschiedssignal. Alle Dinge dieser Welt sind sinnlos Und nichts als Keime neuer Leiden. Kleine Lehren predigen Taten Folge nur einer Lehre, die groß ist. Tantra ist die Große Lehre. Kleine Lehren wollen dir beibringen, was du zu tun und zu lassen hast. Sie geben dir »Zehn Gebote«: Tu dies, lasse das - kleinliche Lehren! Eine große Lehre gibt dir keine Gebote, sie kümmert sich nicht um das, was du tust. Sie kümmert sich um das, was du bist - um dein Sein, dein Zentrum, dein Bewußtsein. Nur das ist wichtig. Tilopa sagt: Alle Dinge dieser Welt sind sinnlos Und nichts als Keime neuer Leiden. Kleine Lehren predigen Taten Folge nur einer Lehre, die groß ist. In dieser Welt ist alles nur der Keim erneuten Leidens. Aber ein Strahl von Licht dringt in die Welt, sobald ein Mensch erleuchtet wird. In dieser Welt ist alles nur eine Saat von neuem Leid, aber ein Lichtstrahl kommt von oben, wenn ein Mensch erleuchtet wird. Folge diesem Lichtstrahl, und du wirst zur Urquelle des Strahls gelangen, zur Sonne selbst. Und paß auf, sagt Tilopa, daß du nicht Opfer von kleinen Lehren wirst. Das passiert vielen. Viele Leute kommen zu mir und sagen: »Wir sind Vegetarier. Bringt uns das der Erleuchtung näher?« Eine sehr beschränkte Lehre! Sie sagen: »Abends essen wir nie - kommen wir so zur Erleuchtung?« Eine sehr kleine Lehre. Oder sie sagen: »Wir leben sexuell enthaltsam«. Eine sehr kleine Lehre. Sie tun viele Dinge, aber an eines rühren sie nicht - an ihr Sein. Sie basteln an ihrem Charakter herum, sie wollen so weise wie möglich erscheinen, aber das ist alles nichts als Dekoration. Jede von außen auferlegte Disziplin ist nichts als Dekoration. Disziplin kann nur von innen heraus kommen. Sie muß vom Mittelpunkt her nach außen dringen, zur Peripherie. Sie kann nicht von der Peripherie her dem Mittelpunkt aufgezwungen werden. Die Große Lehre ist: Du bist bereits der, der du bist; erkenne das. Du bist schon das Ziel; sei dir dessen bewußt. In genau diesem Augenblick kann sich dein Schicksal erfüllen. Worauf wartest du? Glaub nicht an ein allmähliches Voranschreiten - spring zu, nimm dir ein Herz. Nur wer Mut hat, kann der Großen Lehre von Tantra folgen. Wer furchtsam ist und zurückschreckt, wer Angst vor dem Sterben hat, wem davor graut, sich selber zu verlieren, wer vor der Selbstaufgabe zurückschreckt, der wird ein Opfer kleiner Lehren. Denn mit kleinen Lehren kann man fertig werden: etwas Bestimmtes nicht zu essen, etwas Bestimmtes nicht zu tun - das läßt sich machen, dabei verliert man nicht die Kontrolle. Die Große Lehre ist: sich aufzugeben, auszuliefern, alle Kontrolle aufzugeben und sich vom Ganzen davontragen zu lassen - ganz gleich, wohin es trägt. Schwimme nicht gegen die Strömung. Werde selbst der Fluß - und der Fluß ist schon unterwegs zum Meer. Das ist die Große Lehre.
Der Gesang geht weiter: Der königliche Blick geht über alle Dualität hinaus. Die königliche Methode überwindet alle Ablenkungen, Der Weg der Nicht-Methode ist der Weg aller Buddhas, Wer diesen Pfad betritt, erreicht die Buddhaschaft. Vergänglich ist die Welt Substanzlos wie Phantome und Träume. Entsage ihr und verlaß die Deinen. Zerschneide die Bande von Lust und Haß Und meditiere in Wäldern und Bergen. Wenn du ohne Mühe Gelöst und natürlich bleiben kannst, Hast du das Mahamudra bald erreicht Und trägst den Nicht-Sieg davon.
VII. DER WEGLOSE WEG 17. Februar 1975 Es gibt zwei Wege; der eine ist der Weg des Kriegers, des Kämpfers; der andere ist der Weg des Königs - der >Königliche Weg<. Yoga ist der erste, Tantra der zweite. Ihr müßt also zuerst verstehen, was der Weg eines Kämpfers, eines Kriegers ist, denn nur dann könnt ihr verstehen, was Tilopa mit dem >Königlichen Weg< meint. Ein Soldat muß sich Zentimeter um Zentimeter vorkämpfen; ein Kämpfer muß Gewalt anwenden, aggressiv sein. Der Feind muß besiegt oder vernichtet werden. Yoga verursacht einen Zwiespalt in dir. Er gibt dir klare Unterscheidungen zwischen >Richtig< und >Falsch<, zwischen >Gut< und >Böse<, zwischen dem >Göttlichen< und dem >Teuflischen<. Praktisch alle Religionen - außer Tantra - folgen dem Beispiel des Yoga. Sie teilen die Wirklichkeit in zwei Hälften und stellen einen inneren Konflikt her; und mit diesem Konflikt arbeiten sie. Wenn du zum Beispiel voller Haß bist, dann mußt du, wenn du den Weg des Kriegers gehst, den Haß in dir vernichten. Du hast Wut, Habgier, Sex und tausend andere Triebe - der Weg des Kriegers gebietet, alles zu vernichten, was falsch, was negativ ist, und all das zu züchten, was richtig und positiv ist. Der Haß muß vernichtet, die Liebe entfaltet werden. Wut muß ausgemerzt und Nächstenliebe kultiviert werden. Der Sex muß verschwinden, damit an seine Stelle >Brahmacharya<, die reine Enthaltsamkeit, treten kann. Yoga trennt dich wie ein Schwert in zwei Teile: das Richtige und das Falsche. Und das Richtige muß über das Falsche siegen. Was sollst du also machen? Die Wut ist nun einmal da - was mußt du also tun, wenn es nach Yoga geht? Yoga sagt, du sollst es dir zur Regel machen, Nächstenliebe zu praktizieren, also das Gegenteil zu entwickeln. Laß es dir so in Fleisch und Blut übergehen, daß du wie ein Roboter funktionierst - daher wird es der Weg des Kriegers genannt. Überall und zu allen Zeiten wurden die Soldaten zu einem Roboterdasein abgerichtet. Sie müssen sich mechanische Gewohnheiten aneignen. Eine Angewohnheit funktioniert ohne Bewußtheit, man braucht dabei keine Aufmerksamkeit, sie arbeitet ohne dich. Wenn du irgendwelche Angewohnheiten hast - und jeder hat seine eigenen - dann kannst du das an dir selbst beobachten. Beobachte einmal, wie jemand eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche zieht - das geschieht meist völlig unbewußt. Wie ein Roboter greift er in die Tasche. Wenn er sich innerlich unruhig fühlt, fährt seine Hand sofort in die Tasche, holt sich eine Zigarette, und schon raucht er. Und dann wirft er nach ein paar Zügen den Zigarettenstummel weg; und bei all diesen Gesten braucht er sich nicht im geringsten bewußt gewesen zu sein. Einem Soldaten bringen wir bei, wie ein Automat zu leben. Ein Soldat hat zu gehorchen und den Befehl auszuführen. Bewußt darf er nicht sein. Wenn man ihm befiehlt, eine Rechtswendung zu machen, dann macht er sie. Er darf nicht erst überlegen, ob er die Wendung machen will oder nicht. Denn wenn er erst einmal zu überlegen anfängt, dann wird es unmöglich, weiterhin Kriege auf der Welt zu führen. Denken wird nicht gebraucht, und Bewußtsein erst recht nicht. Er darf nur so viel Bewußtsein haben, daß er gerade noch Befehle ausführen kann, mehr nicht. Ein MinimalBewußtsein: der Befehl wird gegeben und noch im gleichen Augenblick automatisch ausgeführt. Nicht, daß er die Linkswendung auf den Befehl hin macht - nein: er hört den Befehl und hat ihn schon ausgeführt. Nicht er wendet sich nach links, die Gewohnheit tut es. Es ist wie bei einem Lichtschalter: das Licht überlegt sich nicht erst, ob es an- oder ausgehen soll - du drückst den Schalter, und das Licht geht an. Bei dem Befehl: »Linksum«, wird der Mann nach links geschaltet. William James berichtet, daß er einmal in einem Cafe saß, als ein Veteran, ein alter, seit zwanzig Jahren entlassener Soldat vorbeikam, mit einem Eimer voller Eier. William James spielte ihm einen Streich und rief plötzlich: »Stillgestanden!« - mit lauter Kasernenhofstimme. Der arme Alte war sofort in »Hab-acht-Stellung.« Der Eimer fiel zu Boden und kein Ei war mehr heil. Wütend kam er angelaufen und beschwerte sich: »Was soll der Unfug?!« Aber William James antwortete: »Sie hätten ja nicht zu folgen brauchen. Jedem steht es frei, »Stillgestanden«! zu rufen. Wer zwingt sie denn, es zu tun? Wer hat ihnen denn befohlen, es auszuführen? Warum sind Sie nicht weitergegangen?« Der alte Mann antwortete: »Das ist nicht möglich - es geht automatisch. Ich bin zwar schon seit zwanzig Jahren nicht mehr beim Militär, aber die Gewohnheit sitzt viel zu tief. Jahrelanges Exerzieren hatte einen konditionierten Reflex geschaffen. Dieser Ausdruck »konditionierter Reflex« paßt genau. Ein russischer Psychologe, Pavlov, hat ihn geprägt. Damit ist das Automatische ausgedrückt. Es ist genauso, wie wenn dir jemand etwas ins Auge wirft, und du nicht erst überlegst, ob du das Augenlid schließen willst, es geht von allein zu. Eine Fliege kommt und das Auge schließt sich: du brauchst nicht erst zu denken, das ist nicht nötig - es passiert von selbst. Es steckt dir im Körper, es steckt dir im Blut, es steckt dir in den Knochen. Es passiert von allein. Du brauchst nichts dazu zu tun. Ein Soldat wird dazu konditioniert, ebenso automatisch zu funktionieren. Er lebt aus konditionierten Reflexen heraus. Und das gleiche geschieht im Yoga. Wenn du zum Beispiel wütend wirst, gilt im Yoga die Regel: »Du darfst nicht wütend werden, sondern mußt dir angewöhnen, nachsichtig und mitfühlend zu sein, kultiviere genau das Gegenteil von deinem Impuls.« Deine Energie gewöhnt sich dann allmählich daran, mit Mitgefühl zu reagieren. Wenn du mit viel Ausdauer daran weiter arbeitest, verschwindet am Ende alle Wut und es bleibt nur noch das Mitgefühl. Aber dann bist du leblos, nicht lebendig; ein Roboter, aber kein Mensch mehr. Dein Mitgefühl kommt dann aus deinem anerzogenen Verhaltensmuster und nicht aus einer echten Herzensregung. Du kannst dir eine schlechte Gewohnheit zulegen, du kannst dir eine gute Gewohnheit zulegen. Der eine mag sich das Rauchen zur Gewohnheit machen, der andere das Nicht-Rauchen; der eine mag nicht-vegetarisch leben, der andere nur vegetarisch. Beide aber kultivieren sie
Gewohnheiten - und wenn man genau hinsieht, dann gleichen sie sich wie ein Ei dem andern - denn beide leben durch Gewohnheiten. Diesen Punkt müßt ihr euch ganz genau vor Augen führen, denn es ist sehr einfach, sich eine gute Gewohnheit anzuerziehen, aber sehr schwer, gut zu werden. Eine gute Gewohnheit ist ein billiger Ersatz, leicht zu beschaffen. Heute entwickelt man - vor allem in Rußland - eine neue Form der Therapie: die Therapie der konditionierten Reflexe. Man geht dort davon aus, daß die Menschen von ihren Gewohnheiten fest geprägt sind. Wie kann einer, der seit zwanzig Jahren Raucher ist, das Rauchen aufgeben? Man mag ihm klarzumachen versuchen, daß es ungesund ist, die Ärzte mögen ihm sogar sagen, daß er in Lebensgefahr ist, daß er ein Krebs-Kandidat ist, aber was läßt sich gegen eine zwanzigjährige Angewohnheit schon ausrichten? Sie ist inzwischen tief verwurzelt, sie hat sich dem Körper tief eingeprägt, sein Metabolismus hat sich darauf eingestellt. Selbst wenn er wollte, selbst wenn er nichts inniger wünscht, wenn er aufrichtig davon abkommen will, ist es schwierig - denn es hängt nicht davon ab, wie aufrichtig man dabei ist. Zwanzig Jahre ständige Gewohnheit - es ist so gut wie unmöglich. Was also tun? In Rußland heißt es heute, daß man auch gar nichts zu tun braucht, daß man einem solchen Raucher auch gar nichts klarzumachen braucht. Sie haben dort eine neue Therapie entwickelt: der Mann fängt zu rauchen an und sofort gibt man ihm einen elektrischen Schock. Der Schock, der Schmerz, verbindet sich mit dem Rauchen, beides wird miteinander assoziiert. Man steckt ihn sieben Tage ins Krankenhaus, und jedesmal, wenn er sich eine Zigarette ansteckt, bekommt er automatisch im gleichen Augenblick einen Schock. Nach sieben Tagen ist die Gewohnheit gebrochen. Wenn man ihn danach zum Rauchen überreden will, beginnt er zu zittern. Sobald er die Zigarette in seinen Fingern spürt, fängt sein ganzer Körper zu zittern an, weil er sich an den Schock erinnert. Es heißt, daß dieser Mensch nie wieder eine Zigarette anrührt. Die Gewohnheit ist durch gezielte Schock-Therapie gebrochen worden; Schock-Therapie mag von alten Gewohnheiten befreien, aber ein Buddha wird man dadurch nicht. Und selbst, wenn man einen Menschen durch Schock-Therapie von allen Gewohnheiten erlöst, wird er dadurch zum Buddha? Erleuchtet? Weil er doch keine schlechten Gewohnheiten mehr hat? Nein. Er wird jetzt nicht einmal mehr ein menschliches Wesen sein. Er wird zum Automaten. Er wird sich vor den Dingen fürchten, er wird wie gelähmt sein, denn man hat ihm eine neue Gewohnheit beigebracht: die Angst. Genau das ist die >Hölle<, alle Religionen haben die Hölle als Schocktherapie benutzt. Die Hölle ist nirgends zu finden, ebenso-wenig wie der Himmel. Beides sind Tricks, alte psychotherapeutische Hilfsmittel. Die Hölle wird so furchtbar ausgemalt, daß einen von Kindesbeinen an das Grauen verfolgt. Das bloße Wort »Hölle« genügt dann schon, um die Haare zu Berge stehen zu lassen. Und mit so einem einfachen Trick werden unerwünschte Gewohnheiten unterdrückt. Und der »Himmel« ist genauso ein Trick: mit ihm werden gewünschte Gewohnheiten erzielt: man verheißt dir alles erdenkliche Glück, alle Schönheit und ewiges Leben, wenn du den guten Verhaltensmustern folgst: alles, was dir die Gesellschaft als >gut< hinstellt, mußt du befolgen. Der >Himmel< existiert, damit du auf den >positiven< Weg gebracht wirst, und die »Hölle«, damit du vor der negativen Richtung bewahrt wirst. Tantra ist die einzige Religion, die sich keiner solcher konditionierter Reflexe bedient hat - denn Tantra will, daß du in die Dimension kristallklarer Wachheit aufsteigst, und nicht, daß du ein roboterhafter Automat wirst. Für den, der Tantra richtig versteht, bedeutet Gewohnheit das wahre Übel; für ihn gibt es also keine guten Angewohnheiten - sondern Angewohnheiten als solche sind schlecht. Und man muß so bewußt werden, daß alle Angewohnheiten verschwinden. Man lebt dann nur von Moment zu Moment, mit voller Bewußtheit, nicht durch Gewohnheiten. Wer ohne Gewohnheiten leben kann, ist auf dem Königlichen Weg. Warum Königlich? Ein Soldat muß gehorchen, aber ein König nicht. Der König steht oben, er gibt Befehle; niemand hat ihm zu befehlen. Ein König kämpft nicht; nur Soldaten kämpfen. Ein König ist kein Krieger. Ein König führt, wie sonst kein Mensch, ein Leben in Muße. Das Ganze ist eine Metapher. Ein Soldat hat zu folgen, ein König lebt entspannt und natürlich. Er hat niemanden über sich. Tantra sagt, es gibt niemanden über dir. Wem müßtest du denn folgen? Wer darf dir vorschreiben, wie du zu leben hast? Wer darf sich denn als Muster und Beispiel für dich aufspielen? Niemand. Lebe ein gelassenes, natürliches und gelöstes Leben - und achte nur auf eines: sei bewußt. Durch Kampf kannst du zwar gute Gewohnheiten züchten, aber das sind dann Gewohnheiten, keine natürlichen Eigenschaften. Man sagt von Gewohnheiten, daß sie unsere zweite Natur sind; das mag sein - aber vergeßt nicht das Wörtchen »zweite«. Naturgegeben sind sie nicht. Sie können noch so natürlich aussehen, aber sie sind es nicht. Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen wirklicher Nächstenliebe und angelernter Nächstenliebe? Wirkliche Nächstenliebe ist eine lebendige Antwort - eine bestimmte Situation ruft spontan eine Antwort hervor. Wirkliche Nächstenliebe ist immer frisch; es geschieht etwas, und dein Herz öffnet sich dafür. Ein Kind fällt hin, und du rennst, um ihm aufzuhelfen - das ist eine lebendige Antwort. Falsche Nächstenliebe, künstlich gezüchtete Nächstenliebe, ist nur Reaktion, ein bedingter Reflex. Diese beiden Wörter sagen sehr, sehr viel aus: >Antwort< und >Reaktion<. Antwort ist eine lebendige Resonanz der Situation; Reaktion ist nichts als eine eingefleischte Gewohnheit. Du eilst zu Hilfe, aber nur, weil du es dir schon lange angewöhnt hast, zu helfen, wenn jemand hinfällt, nicht etwa, weil es von Herzen kommt. Jemand ertrinkt im Fluß, und du rennst und springst hinterher, um zu helfen, denn es gehört sich so. Du hast dir das Helfen zur Selbstverständlichkeit gemacht, aber bist innerlich unbeteiligt. Du hältst dich raus, du bist nicht mit dem Herzen dabei - es war keine lebendige Antwort. Du hast nicht diesem Menschen geantwortet - diesem Menschen, der da ertrinkt, in diesem Fluß. Du bist nicht auf diesen Augenblick eingegangen, du hast nur eine Ideologie befolgt. Einer Ideologie zu folgen ist bequem: hilf allen Menschen, sei ein Diener der Menschheit, stell deine Nächstenliebe unter Beweis! - du hast eine Ideologie und an diese Ideologie kannst du dich jederzeit halten. Dein Tun wird von der
Vergangenheit bestimmt - ein totgeborenes Kind. Nur wenn dein Handeln aus der Situation kommt, wenn du voll bewußt auf sie eingehst, geschieht etwas wahrhaft Schönes in dir. Wenn du ideologisch reagierst, aus alten Verhaltensmustern heraus, dann gewinnst du nichts dabei. Allenfalls bläst sich dein Ego noch ein bißchen mehr auf - aber das ist alles andere als ein Gewinn. Du magst dich dann brüsten, daß du einen Ertrinkenden aus dem Fluß geholt hast, du kannst dich auf den Markt stellen und rufen: »Seht, ich habe schon wieder einem Menschen das Leben gerettet!« Dein Ego mag noch ein bißchen größer werden, du hast schließlich eine gute Tat vollbracht - aber ein Gewinn ist es nicht. Du hast dir eine einmalige Gelegenheit entgehen lassen, spontan zu sein, spontan Mitgefühl zu empfinden. Wärest du auf die Situation eingegangen, wäre etwas zur Blüte gelangt. Du hättest ein gewisses Schweigen, eine Stille voller Segen gefühlt. Wann immer dein Herz sich regt, blüht im Inneren etwas auf. Wann immer du mechanisch reagierst, regt sich in dir nichts; dann bist du wie eine Leiche, dann handelst du roboterhaft. Eine Reaktion ist häßlich, eine lebendige Antwort ist schön. Reaktionen gehören immer der Vergangenheit an, Reaktionen gehören nie dem Ganzen an. Eine lebendige Antwort kommt aus dem Ganzen: Du, das ganze Du, alles was dazu gehört, springt in den Fluß. Du denkst nicht darüber nach. Der Sprung kommt einfach aus der Situation selbst. Wenn du dein Leben in spontaner Antwort lebst, wirst du eines Tages zum Buddha. Wenn dein Leben aus Reaktionen besteht, aus toten Gewohnheiten, dann magst du wie ein Buddha aussehen, aber du wirst nie einer werden. Du hast eine Buddha-Fassade, aber inwendig bist du abgestorben. Gewohnheit tötet das Leben ab. Gewohnheit ist lebensfeindlich. Du stehst jeden Morgen aus Gewohnheit früh auf. Du stehst Punkt fünf Uhr auf. Ich kenne viele Inder, die es so halten. Denn die indische Überlieferung lehrt, daß der >Brahmamuhurt< - der Moment just vor Sonnenaufgang - der heiligste, der bedeutungsvollste Augenblick des Tages ist. Und das stimmt auch - aber man kann keine Gewohnheit daraus machen, denn das Heilige spürst du nur bei einer lebendigen Erwiderung. Die Leute stehen also um fünf Uhr auf, aber auf ihren Gesichtern ist keine Spur von Leuchten zu entdecken, keine wahre Vorfreude auf die aufgehende Sonne. Ringsherum wacht alles Leben auf; die gesamte Erde erwartet die Sonne, die Sterne verblassen. Alles wird bewußter! Die Erde hat ausgeschlafen, die Bäume haben geruht, die Vögel machen sich zum ersten Flug bereit. Alles wartet. Ein neuer Tag beginnt; ein neues Freudenfest. Wenn dein frühes Aufstehen eine Antwort darauf ist, dann wachst du auf wie ein Vogel - summend, singend. Dein Schritt ist beschwingt. Du tust es nicht aus Gewohnheit: du stehst nicht auf, weil du mußt, weil es geschrieben steht, weil du ein frommer Hindu bist, der sich an Sitte und Brauch hält. Wenn du es aus frommer Tradition tust, dann hörst du die Vögel nicht zwitschern, denn die Vögel werden in den Heiligen Schriften nicht erwähnt. Dann siehst du auch nicht die Sonne aufgehen; darum geht es dir auch gar nicht: du gehorchst einer abgestorbenen Vorschrift. Du tust es vermutlich sogar sehr widerwillig und verärgert, du bist erst spät ins Bett gekommen und es schmeckt dir gar nicht, jetzt so früh aufstehen zu müssen. Am liebsten hättest du noch ein wenig geschlafen. Du bist unausgeschlafen, du bist noch müde. Oder du hast eine schlechte Nacht gehabt, du hast schwer geträumt und fühlst dich jetzt wie gerädert - ein bißchen mehr Schlaf hätte dir sicher gut getan. Aber nein - es ist Vorschrift, und von Kindesbeinen an ist es dir so eingetrichtert worden ... Als ich ein Kind war, legte mein Großvater sehr großen Wert auf das Frühaufstehen. Gewöhnlich zerrte er mich gegen drei Uhr morgens aus dem Bett. Später hatte ich dann immer eine starke Abneigung gegen frühes Aufstehen. Er zerrte mich regelrecht heraus und ich fluchte innerlich, aber ich konnte nichts dagegen tun und mußte mit ihm einen Spaziergang machen - verschlafen stolperte ich neben ihm her. Er hatte alles zerstört, was daran schön war. Später konnte ich ihm dann nie verzeihen, wenn ich frühmorgens zu Fuß unterwegs sein mußte. Er hatte mir die ganze Sache vergällt, denn jahrelang hatte er mich mitgezerrt. Und dabei wollte er mir damit etwas Gutes antun, er glaubte, daß er mir damit zu einer guten Lebensweise verhalf. Aber so läßt sich das nicht machen. Halb im Schlaf zerrte er mich mit; und dabei war es ein sehr schöner Weg. Aber der Morgen konnte noch so herrlich sein, für mich war alles zerstört, mein Großvater schaffte es, daß es mich anwiderte. Erst sehr viel später gelang es mir, die frühen Morgenstunden wieder zu genießen, ohne an ihn erinnert zu werden. Meistens drängte sich sein Bild auf. Noch lange nach seinem Tod waren meine Morgenstunden von der Erinnerung an ihn überschattet. Wenn du es zu einer Gewohnheit machst, wenn du dich zum Frühaufstehen zwingst, dann wird der Morgen bedrückend. Dann ist es besser, sich wieder schlafen zu legen. Sei Spontan! Manchmal ist dir nicht danach zumute was ist daran verkehrt, wenn du liegenbleibst? Es ist keine Sünde. Wenn dir nach Schlaf zumute ist, dann ist der Schlaf etwas Schönes, so schön wie ein Morgen nur immer sein kann, so schön wie der schönste Sonnenaufgang, denn der Schlaf ist nicht weniger Teil des Göttlichen Plans als die Sonne. Wenn dir danach ist, den ganzen Tag auszuruhen, ist es in Ordnung! Das ist genau die Botschaft von Tantra: geh den königlichen Weg - lebe wie ein König, nicht wie ein Soldat. Niemand steht über dir und hat dir Befehle zu geben. Man darf sich keinen festgelegten Lebensstil zulegen. Das ist der königliche Weg. Du mußt von Augenblick zu Augenblick leben, jeden Moment für sich genießen - die Spontaneität bestimmt die Richtung. Und warum sich um den nächsten Tag sorgen? - dieser Augenblick ist genug. Lebe ihn! Lebe ihn in seiner ganzen Fülle. Geh auf ihn ein, aber reagiere nicht. »Keine Gewohnheiten« - das muß das Motto sein. Ich sage nicht, daß du in einem Chaos leben sollst - nur lebe nicht aus Gewohnheiten heraus. Durch eine rein spontane Lebensweise kann sich durchaus ein gewisser Lebensrhythmus herausbilden - aber er wird nicht aufgezwungen sein. Wenn du jeden Tag den Morgen genießt und aus reinem Vergnügen früh aufstehst, nicht aus Gewohnheit, dann kannst du dein ganzes Leben lang früh aufstehen, ohne daß es je zur Gewohnheit wird. Du zwingst dich nie dazu, es geschieht
einfach. Es ist schön, du genießt es, du liebst es. Wenn es aus Liebe geschieht, ist es kein Lebensstil, keine Gewohnheit, keine Disziplin, kein Produkt von Zucht und Ordnung. Je weniger Gewohnheiten du hast, desto lebendiger bist du. Hast du überhaupt keine Gewohnheiten, bist du endgültig frei. Gewohnheiten kleben an dir wie eine tote Kruste, sie kapseln dich ein, sie verschließen dich; du steckst in ihnen drin, wie der Same in der harten Schale. Sei flexibel. Yoga lehrt dich, das Gegenteil von allem Schlechten zu kultivieren: kämpfe gegen das Übel und verfechte das Gute. Wenn Aggression in dir ist, dann töte diesen Hang zur Gewalt in dir ab undwerde gewaltlos; gewöhne dir Gewaltlosigkeit an. Tu immer das Gegenteil und zwinge dich, das zur Regel zu machen. Das ist der Weg des Soldaten eine kleine Lehre. Tantra ist die große Lehre: die allerhöchste. Was besagt sie? Tantra sagt: Laß es nicht erst zum Konflikt kommen. Akzeptiere beide Seiten und durch dein Akzeptieren gehst du über sie beide hinaus; das ist dann kein Sieg, sondern ein Transzendieren. Im Yoga gibt es Siege, im Tantra nicht. Im Tantra gibt es nur ein Hintersichlassen. Du wirst also nicht >gewaltlos< statt >gewalttätig<, sondern läßt einfach beides hinter dir. Du wirst etwas Drittes, du wirst zum Zeugen zum unbeteiligten Zuschauer. Ich saß einmal in einem Fleischerladen. Der Fleischer war ein braver Mann und ich besuchte ihn ab und zu. Es war Abend, und er wollte gerade den Laden schließen, als ein Mann hereinkam und nach einem Huhn fragte. Und ich kannte die Lage: eben gerade hatte mir der Fleischer gesagt, daß alles verkauft sei, bis auf ein Huhn. Er war also hocherfreut und ging nach hinten, holte das Huhn, warf es auf die Waage und sagte: »Das macht fünf Rupien.« - Der Mann sagte: »Gut - aber wir feiern ein Fest und erwarten viele Gäste, und dies Huhn ist mir etwas zu klein. Haben Sie kein größeres da?« Ich wußte, daß er jetzt keine Hühner mehr da hatte; dieses war das letzte. Der Fleischer überlegte etwas, nahm das Huhn wieder von der Waage und ging wieder nach hinten, wartete ein paar Momente lang und kam dann wieder herein, warf das Huhn auf die Waage - das gleiche Huhn - und sagte: »Das hier macht sieben Rupien«. Darauf sagte der Kunde: »Wissen Sie was? Ich nehme beide.« Jetzt war der Fleischer in der Klemme. Und Tantra treibt die ganze Schöpfung in die. gleiche Klemme - Tantra sagt: »Ich nehm beide.« Es gibt nicht zwei. Haß ist nichts anderes als ein anderer Aspekt der Liebe. Und Wut ist nichts als ein anderer Aspekt des Mitgefühls. Und Gewalttätigkeit ist nur ein anderes Gesicht der Gewaltlosigkeit. Tantra sagt: »Wissen Sie was? Ich nehm beide. Beide sind mir recht.« Und durch dieses Akzeptieren geschieht plötzlich ein Sprung - denn sie sind nicht wirklich zwei. Gewalt und Gewaltlosigkeit sind nicht zweierlei. Wut und Mitgefühl sind nicht zweierlei. Liebe und Haß sind nicht zweierlei. Das ist euch zwar aus eigener Erfahrung irgendwie klar, aber bei eurer Unbewußtheit könnt ihr diese Tatsache im konkreten Fall nicht wirklich erkennen. Eure Liebe schlägt binnen Sekunden in Haß um. Wie wäre das möglich, wenn Haß und Liebe zweierlei sind? Es dauert nicht einmal eine Sekunde: jetzt liebst du jemanden und im nächsten Augenblick haßt du denselben schon - ein und denselben Menschen. Morgens liebst du ihn, nachmittags haßt du ihn, abends liebst du ihn dann wieder. Dieses Wechselspiel von Liebe und Haß geht endlos weiter. Mit »Liebe« und »Haß« ist dies Spiel noch nicht einmal richtig bezeichnet: »Liebeshaß«, »Wutsympathie« - sie sind eines, sie sind nicht voneinander zu trennen. Darum kann Liebe zu Haß und Haß zu Liebe werden, kann Wut zu Sympathie, Sympathie zu Wut werden. Tantra sagt, daß Zweiteilung das Werk deines Verstandes ist, der damit die Voraussetzung für den Konflikt schafft. Erst machst du die Zweiteilung, und das führt dann zum Konflikt, und schließlich weißt du nicht mehr ein noch aus. Und du steckst wirklich in der Klemme, weil keiner deiner Siege je endgültig sein kann, er kann machen, was er will. Es ist immer nur eine Pause zum Luftholen. Du kannst deine Wut hinunterschlucken und rücksichtsvoll handeln, aber du weißt sehr wohl, daß du sie ins Unbewußte verdrängt hast, daß sie noch da ist, daß sie jeden Augenblick, wenn du nicht aufpaßt, wieder an die Oberfläche steigen kann. Also muß man sie ständig zurückstoßen. Ständig negative Regungen unterdrücken zu müssen, ist etwas so Häßliches man kann dadurch sein ganzes Leben verderben. Wann willst du das Göttliche genießen? Dafür bleibt dann weder Zeit noch Raum. Du kämpfst gegen die Wut, gegen die Gier, gegen Sex und Eifersucht, gegen tausend-und-eine Sache und von diesen tausend Feinden bist du umzingelt. Du mußt ständig auf der Hut sein, du kannst dich nie entspannen. Wie soll man da locker und natürlich bleiben? Du lebst verkrampft, bist ständig unter Druck, immer kampfbereit, immer in Angst. Yogis fürchten sich sogar vor dem Schlafen, weil man im Schlaf nicht auf dem Posten sein kann. Während des Schlafs steigt alles, was unterdrückt wurde, zur Oberfläche. Solange sie wach waren, mögen sie den Sex in Schach gehalten haben, aber beim Träumen wird das unmöglich - schöne Frauen kommen in Hülle und Fülle angetänzelt. Und der Yogi ist hilflos. Diese schönen Frauen kommen nicht etwa aus irgendeinem Himmel, wie es in den hinduistischen Mythen heißt; kein Gott hatte sie geschickt. Was kümmert sich Gott um den Yogi! Um einen harmlosen Yogi, der niemand etwas zuleide tut, der einfach nur mit geschlossenen Augen im Himalaja sitzt und mit seinem eigenen Schatten kämpft was für ein Interesse sollte Gott an ihm haben? Warum sollte er sich die Mühe machen, ihm »apsaras« - schöne Frauen - auf den Hals zu schicken? Um ihn vom guten Weg abzubringen? Wozu? Keiner schickt sie. Keiner braucht sie zu schicken - der Yogi schafft sie sich in seinen eigenen Träumen. Alles, was du unterdrückst, kommt in deinen Träumen wieder hoch. Was der Yogi verleugnet hat, erfüllen ihm seine Träume. Und die Träume gehören genauso gut zu dir wie die wachen Stunden. Es macht also keinen Unterschied, ob du eine Frau im Wachen oder im Träumen liebst; das kann gar keinen Unterschied machen, denn es geht nicht um eine
Frau, sondern um dich, um das, was du bist. Ob du nun ein Bild liebst, ein Traum-Bild, oder eine wirkliche Frau - es spielt tatsächlich keine Rolle, denn auch die wirkliche Frau ist nur ein Bild im Inneren. Die wirkliche Frau lernst du ohnehin nie kennen, du kennst nur ihr Bild. Ich bin da. Wie wollt ihr wissen, ob ich wirklich da bin? Vielleicht ist es nur ein Traum, vielleicht träumt ihr nur, daß ich hier bin. Was ist der Unterschied, ob ihr mich nur im Traum oder in Wirklichkeit seht? Und wie wollt ihr den Unterschied erkennen? Was ist das Kriterium? Denn ob ich hier bin oder nicht, das macht keinen Unterschied - ihr seht mich nur innerhalb eures Geistes. In beiden Fällen - ob Traum, ob Wirklichkeit - nehmen eure Augen die Strahlen auf, und der Geist interpretiert, daß da »jemand ist«. Ihr habt nie einen Menschen so gesehen, wie er tatsächlich ist, und das ist auch nicht möglich. Darum nennen die Hindus alles Sichtbare >Maya, - diese ganze Welt der Illusion. Tilopa sagt: »Vergänglich, geisterhaft, traumhaft wie ein Phantom ist diese Welt.« Warum? Weil es zwischen Traum und Wirklichkeit keinen Unterschied gibt. In beiden Fällen bleibst du in deinem Geist eingesperrt. Ihr könnt nichts als Bilder sehen, niemals die Wirklichkeit - das ist nicht möglich, denn die Wirklichkeit kannst du erst erkennen, wenn du wirklich geworden bist. Du bist ein geisterhaftes Phänomen, ein Schatten - wie könntest du die Wirklichkeit erkennen? Schatten können nur Schatten erkennen. Die Wirklichkeit kannst du erst erkennen, wenn sich dein Denken aufgelöst hat. Dein Denken macht alles unwirklich. Dein Denken projiziert, erfindet, färbt und deutet - alles wird verzerrt. Daher soviel Nachdruck, dies ständige Insistieren, daß es darum geht, das Denken aufzugeben. Tantra sagt: kämpfe nicht. Wenn du kämpfst, kannst du viele Leben lang weiterkämpfen, ohne daß etwas dabei herauskommt; denn schon der erste Schritt war falsch - dort, wo du zwei gesehen hattest, war in Wirklichkeit nur Eines. Und wenn der erste Schritt schon in die falsche Richtung geht, kommst du nie ans Ziel. Dann wird die ganze Reise eine einzige Irrfahrt sein. Der erste Schritt muß absolut stimmen, sonst kommst du nie ans Ziel. Und was ist dieser absolut richtige Schritt? Tantra sagt: daß man, das Eine, im Geteilten, das Eine, in der Vielfalt erkennt. Sobald du die Einheit in der Dualität erkennst, hast du begonnen zu transzendieren. Das ist der königliche Weg. Laß uns jetzt näher auf den Text eingehen: Der königliche Blick geht über alle Dualität hinaus. Darüber hinausgehen; nicht siegen - transzendieren! Das ist ein sehr schönes Wort. Was ist damit gesagt? Es ist wie mit einem kleinen Jungen und seinen Spielsachen. Wenn du ihm sagst, er soll sie wegtun, wird er wütend. Selbst wenn er ins Bett geht, nimmt er sein Spielzeug mit, und die Mutter kann es ihm erst wegnehmen, wenn er eingeschlafen ist. Morgens fragt er als erstes, wo sein Spielzeug ist, wer es ihm weggenommen hat. Und wenn er träumt, träumt er von seinen Spielsachen. Und dann eines Tages vergißt er seine Spielsachen urplötzlich. Ein paar Tage bleiben sie noch in der Ecke des Kinderzimmers liegen, dann werden sie weggepackt oder weggeworfen; nie wieder fragt er danach. Was ist geschehen? Er ist darüber hinausgewachsen, er ist reifer geworden. Und zwar ohne jeden Kampf, ohne jeden Sieg. Es ist nicht so, daß er das Verlangen nach seinen Spielsachen bekämpft und überwunden hätte. Nein - eines Tages erkennt er plötzlich, daß das ja alles Kinderkram ist. Jetzt ist er kein Kind mehr. Eines Tages erkennt er plötzlich die Spielsachen als Spielsachen, und daß sie mit dem wirklichen Leben nichts zu tun haben. Jetzt ist er für das wirkliche Leben bereit. Er wendet sich vom Spielzeug ab. Auch in seinen Träumen kommen sie nicht mehr vor. Und in seinen Gedanken auch nicht. Und wenn er ein anderes Kind mit Spielsachen sieht, lacht er nur noch. Sein Lachen ist wissend überlegen. Er wird sagen: »Das ist eben noch ein Kind, kindisch - spielt mit Spielsachen.« Er hat das längst hinter sich. Transzendenz vollzieht sich nur spontan. Man kann sie nicht künstlich herbeiführen. Man wird einfach reifer. Du siehst einfach die ganze Absurdität einer bestimmten Sache ein ... und läßt sie hinter dir. Ein junger Mann kam einmal zu mir und hatte ein großes Problem. Er hat eine sehr schöne Frau, nur ist ihre Nase eine Idee zu lang. Das beunruhigte ihn sehr, und er fragte: »Was soll ich nur machen?« Mit Gesichtschirurgie hatten sie es schon versucht; die Nase war dadurch noch etwas häßlicher geworden; denn wenn man etwas, das vollkommen in Ordnung ist, ausbessern will, dann richtet man damit erst den Schaden an. Er war jetzt also erst recht besorgt und fragte mich, was er tun solle. Ich gab ihm das Beispiel mit dem Spielzeug und sagte: »Eines Tages wirst du das hinter dir lassen müssen. Was du da machst, ist einfach kindisch - warum bist du so auf die Nase fixiert? Die Nase ist ein so kleiner Teil vom Ganzen und deine Frau ist so schön und ein so lieber Mensch - warum machst du sie traurig wegen ihrer Nase?« Denn er hatte sie mit seiner Empfindlichkeit inzwischen angesteckt. Die Nase war ihnen zum Lebensproblem schlechthin geworden. Aber alle Probleme sind so! Glaub ja nicht, daß dein Problem bedeutender wäre - alle Probleme sind genau das. Alle Probleme stammen aus kindischen, unreifen Einstellungen: sie gedeihen nur im Klima der Unreife. Die Nase deprimierte ihn so sehr, daß er seiner Frau nicht einmal ins Gesicht blicken mochte - der Anblick der Nase war ihm schier unerträglich. Aber so leicht kann man der Wirklichkeit nicht entkommen. Wenn du wegen der Nase nicht hinsiehst, mußt du trotzdem an die Nase denken. Du magst ihr noch so sehr aus dem Weg gehen - da ist sie trotzdem. So entstehen fixe Ideen. Also riet ich ihm, auf die Nase seiner Frau zu meditieren. Er protestierte: »Was? Ich ertrage ja nicht einmal ihren Anblick!« Aber ich sagte ihm: »Es wird helfen - meditiere einfach auf die Nase. In alten Zeiten meditierten die Menschen auf die eigene Nasenspitze - warum also nicht auf die Nasenspitze deiner Frau meditieren? Wunderbar!
Versuch's mal!« Er sagte: »Und was soll dabei herauskommen?« »Versuch es erstmal«, sagte ich, »und nach ein paar Monaten kannst du mir dann selbst berichten, was es gebracht hat. Setz dich jeden Tag vor deine Frau hin und meditiere auf die Spitze ihrer Nase.« Eines Tages kam er angerannt und sagte: »Was hab ich bloß für Dummheiten gemacht! Es ist plötzlich wie weggeblasen. Der ganze Schwachsinn ist mir mit einem Mal klar geworden. Jetzt bin ich drüber weg, jetzt gibt es da kein Problem mehr.« Es war also kein Sieg, denn in Wirklichkeit gibt es keinen Feind zu besiegen; niemand hat einen Feind. Das ist es, was Tantra sagt. Das ganze Leben liebt dich zutiefst. Niemand muß zerstört, niemand muß besiegt werden, niemand will dir übel mitspielen, weder Feind noch Teufel. Das ganze Leben liebt dich. Von allen Seiten fließt dir Liebe entgegen. Und selbst in dir hast du keine Feinde - das sind Erfindungen der Priester, die den Kampf inszeniert haben, die ein Schlachtfeld aus dir gemacht haben. Sie flüstern dir ein: »Kämpfe gegen dies, denn es ist schlecht! Kämpfe gegen das es ist böse! Und das Heer von Feinden, das sich die Priester ausgedacht haben, ist so mächtig, daß du von ihm umzingelt bist und jeden Kontakt mit der großartigen Schönheit des Lebens verloren hast. Ich sage euch: die Wut ist nicht euer Feind, die Gier ist nicht euer Feind; und ebensowenig ist die Nächstenliebe oder die Gewaltlosigkeit euer Freund - denn solange es um Freund oder Feind geht, bleibt es bei der Dualität. Blicke einfach auf die Gesamtheit deines Wesens, und du wirst finden, daß es ungeteilt ist. Wenn der Feind zum Freund, und der Freund zum Feind geworden ist, dann hat sich die Dualität aufgelöst. Plötzlich hast du sie hinter dir, plötzlich bist du aufgewacht. Und ich sage euch - es ist ein plötzliches Aufwachen. Solange du kämpfst, mußt du um jeden Zentimeter kämpfen. Transzendenz dagegen hat nichts mit Kampf zu tun. Es ist der Weg der Könige - der königliche Weg. In Tilopas Worten: Der königliche Blick geht über alle Dualität hinaus. Geht über die Dualität hinaus! Ihr braucht nur zu beobachten, und ihr werdet sehen: es gibt keine Dualität. Bodhidharma kam nach China. Bodhidharma ist einer der funkelndsten Brillanten in der Geschichte der Menschheit. Der Kaiser kam ihn besuchen und sagte zu ihm: »Manchmal fühle ich mich verstört. Manchmal bin ich so verspannt, daß es eine Qual ist!« Bodhidharma sah ihn an und sagte: »Komm morgen früh um vier Uhr her, und bring all deine Angste und Spannungen mit. Vergiß das nicht - du darfst nicht allein kommen. Du mußt sie alle mitbringen.« Der König sah sich daraufhin diesen Bodhidharma noch einmal genauer an: er sah ziemlich unheimlich aus, dieser Bursche; sein Anblick konnte einen zu Tode erschrecken. Er anwortete: »Hab ich richtig verstanden? Wie meinst du das?« Bodhidharma sagte: »Wenn du diese Dinge nicht mitbringst, wie kann ich dir helfen, sie loszuwerden? Bring sie alle her, und wir werden schon mit ihnen fertig werden.« Der König dachte, »Ich geh besser nicht hin. Vier Uhr morgens - da ist es ja noch dunkel, und dieser Mann scheint etwas verrückt zu sein. Er könnte dir mit seinem riesigen Stock eins überbraten. Und wie denkt er sich das wohl, mir so helfen zu wollen?« Er konnte die ganze Nacht lang nicht schlafen; Bodhidharma geisterte ihm im Kopf herum ... aber als der Morgen kam, war er doch so weit, hinzugehen - wer weiß, vielleicht konnte ihm dieser Bodhidharma wirklich helfen. Also ging er hin - widerwillig, voller Zweifel, aber er kam. Und das erste, was Bodhidharma ihn fragte - er saß da vor dem Tempel mit seinem Stock, wie ein Walddämon in der Morgendämmerung - und fragte: »So - du bist also gekommen? Und wo ist das übrige Gesindel, von dem du geredet hast?« Der König sagte: »Du sprichst in Rätseln; es handelt sich schließlich nicht um Dinge, die ich mitbringen kann - sie sind alle in mir.« Bodhidharma sagte: »Okay - innen oder außen, das ist gehupft wie gesprungen. Dinge sind Dinge. Setz dich jetzt hin, schließ die Augen und versuch, das Gesindel da drinnen zu finden. Fang sie; sag mir, wenn du einen an der Gurgel hast; und da, sieh dir nur meinen Prügel an. Ich werd's ihnen schon zeigen!« Der König schloß die Augen - was blieb ihm auch anderes übrig? Er schloß also die Augen: ein bißchen verängstigt suchte er sein ganzes Inneres ab. Er wartete, aber je gründlicher er suchte, desto klarer wurde ihm, daß da gar nichts war - keine Angst, keine Qual, keine Spannung. Er geriet in tiefe Meditation. Stunden vergingen, die Sonne ging auf, und auf seinem Gesicht breitete sich eine ungeheure Stille aus. Endlich sagte Bodhidharma zu ihm: »Jetzt öffne die Augen. Genug ist genug. Wo ist denn nun dies Gesindel? Hast du einen von ihnen einfangen können?« Der König lachte, verbeugte sich, berührte Bodhidharmas Füße und sagte: »Ja, wirklich, du hast es ihnen gezeigt, ich konnte nicht einen einzigen von ihnen finden - und jetzt weiß ich, was es damit auf sich hat. Es hat sie von Anfang an nie gegeben. Es gab sie nur, weil ich nie in mich hineingegangen bin und nach ihnen geforscht habe. Es konnte sie geben, weil ich nie in mir anwesend war. Jetzt weiß ich's - und du hast das Wunder vollbracht.« Und das ist der ganze Trick. Das ist Transzendieren: man löst das Problem nicht, sondern sieht nach, ob es da überhaupt ein wirkliches Problem gibt. Erst schafft ihr Probleme und dann versucht ihr, die Lösung zu finden. Erst erzeugt ihr die Frage, und dann sucht ihr die ganze Welt nach der Antwort ab. Ich sage euch aus eigener Erfahrung: die Frage verschwindet, wenn du sie beobachtest, im Auge behältst. Eine Antwort ist gar nicht notwendig. Wenn du die
Frage beobachtest, verschwindet die Frage - und das ist Transzendenz. Es ist keine Lösung, weil es gar keine Frage zu lösen gibt. Du leidest an gar nichts. Beobachte dein Inneres, und du wirst kein Leiden finden, also ist auch keine Medizin nötig. Jeder Mensch ist so, wie er sein muß. Jeder Mensch ist ein geborener König. Nichts fehlt. An dir braucht nichts verbessert zu werden. Und die Menschen, die dich verbessern wollen, zerstören dich nur: sie sind die wahren Verbrecher. Und es gibt sie scharenweise, und sie lauern dir auf wie die Katze der Maus: sobald du ihnen zu nahe kommst, springen sie dich an und machen sich ans Werk, dich zu verbessern. Es gibt viele Weltverbesserer - nur ihretwegen ist die Welt so übel dran - es gibt viel zu viele Leute, die sich berufen fühlen, andere Menschen zu bessern. Gestatte keinem, einen »besseren Menschen« aus dir zu machen. Du bist schon komplett. Du bist nicht nur das Alpha, sondern auch das Omega. Dir fehlt nichts, du bist vollkommen. Auch wenn du dir unvollkommen vorkommst - Tantra sagt, daß du vollkommen bist. Es mag sehr fremd klingen, daß deine Unvollkommenheit vollkommen sein soll, daß dir nichts fehlt. Und wirklich, du erscheinst nicht deshalb unvollkommen, weil du es bist, sondern weil du immer vollkommener wirst. Das klingt absurd, unlogisch, weil Perfektion für uns ein Zustand ist, in dem kein Weiterwachsen möglich ist, der das Ende allen Wachstums bedeutet aber diese Art von Perfektion ist etwas Totes. Gott wächst immer weiter. Die Vollkommenheit Gottes bedeutet nicht, daß er nicht weiter wächst. Er ist vollkommen, weil ihm nichts fehlt, er schreitet von Vollendung zu Vollendung weiter, sein Wachstum endet nicht. Gott ist Evolution. Er entwickelt sich nicht aus der Unvollkommenheit zur Vollendung, sondern von Vollendung zu größerer Vollendung und immer größerer Vollendung. Vollendung ohne jede Zukunft ist tot. Vollendung, die eine Zukunft hat, die für weiteres Wachstum offen ist, die in Bewegung bleibt, scheint unvollkommen zu sein. Aber das ist es gerade, was ich euch sagen will: seid unvollkommen und wachst weiter, denn so macht es das Leben auch. Und versuche nicht, perfekt zu sein, sonst hörst du zu wachsen auf. Dann magst du zwar aussehen wie eine Buddha-Statue, aber dann bist du auch so versteinert und leblos wie sie. Und weil das so ist - weil Vollkommenes noch weiter wächst - fühlst du dich unvollkommen. Laß die Dinge, wie sie sind. Erlaube dir zu sein, wie du bist. Das ist der königliche Weg. Der königliche Blick geht über alle Dualität hinaus. Die königliche Methode überwindet alle Ablenkungen. Oft wirst du abgelenkt sein, immer wieder wirst du deine Bewußtheit verlieren. Du meditierst, du sitzt in Meditation, und ein Gedanke taucht auf - und schon hast du dich vergessen; du folgst dem Gedanken, du hast dich von ihm einfangen lassen. Im Tantra muß nur eines überwunden werden - und das sind Ablenkungen. Aber wie? Da hilft nur eines: ein unbeteiligter Beobachter zu bleiben, sobald ein Gedanke auftaucht. Schau ihn dir an, beobachte ihn, erlaube ihm, vor deinem inneren Auge vorbeizuziehen, aber halte dich auf keinen Fall daran fest, nimm weder für noch gegen ihn Stellung. Laß ihn so schlecht sein, wie er will - dir kommt zum Beispiel der Gedanke, jemanden umzubringen - aber du stößt diesen Gedanken nicht von dir, du sagst nicht: »Weg mit diesem üblen Gedanken!« Sobald du zu einem Gedanken Stellung beziehst, bist du ihm bereits verfallen, hast du dich ablenken lassen. Jetzt führt dich dieser eine Gedanke zum nächsten, von Pontius zu Pilatus. Und wenn ein guter Gedanke kommt, ein großherziger Gedanke, dann sagt nicht: »Ah, wie schön: was bin ich doch für ein guter Mensch! Ich habe so edle Regungen, ich würde gern die ganze Welt erretten. Ich möchte allen zu ihrem Glück verhelfen.« Enthalte dich jeder Stellungnahme. Ob gut oder schlecht, du bleibst unbeteiligter Zeuge. Trotzdem - anfangs wirst du dich viele Male ablenken lassen. Was also tun? Bist du abgelenkt, dann sei eben abgelenkt. Mach dir deshalb nicht zu große Sorgen, sonst wird aus dieser Sorge wieder eine Besessenheit. Sei ruhig abgelenkt! Ein paar Minuten lang werden deine Gedanken herumwandern, und dann plötzlich erinnerst du dich: »Ich bin schon wieder ganz woanders.« Und damit ist es okay, und du kommst wieder zurück. Fühl dich nicht deprimiert. Red dir nicht ein, daß es schlimm ist, denn damit hast du wieder den Dualismus hergestellt: gut und schlecht. Abgelenkt? - Okay! Du akzeptierst es und kommst wieder zurück. Mach dir deine Abgelenktheit nicht zum Vorwurf. Das ist ein Punkt, von dem Krishnamurti immer wieder spricht. Er drückt es sehr paradox aus. Er sagt, wenn du unaufmerksam bist, sei wenigstens aufmerksam unaufmerksam. Das ist okay. Plötzlich siehst du, wie sehr deine Gedanken wandern, du merkst es und kommst nach Hause zurück. Krishnamurti ist nicht verstanden worden; und der Grund ist, daß er dem königlichen Weg folgt. Wäre er ein Yogi, hätte er sich leicht verständlich machen können. Darum besteht er auch immer darauf, daß es keine Methode gibt, denn auf dem königlichen Weg gibt es keine Methode. Unermüdlich wiederholt er, daß es keine Technik gibt - auf dem königlichen Weg gibt es keine. Er sagt immer wieder, daß auch keine Heilige Schrift helfen kann - der königliche Weg kennt keine Schriften. Abgelenkt? - Im gleichen Augenblick, wo du es merkst, im Augenblick, wo du darauf aufmerksam wirst, daß du unaufmerksam warst, kommst du einfach zurück! Das ist alles. Mach kein Problem daraus. Nenne es nicht schlecht, fühl dich nicht deprimiert und frustriert, daß du schon wieder abgelenkt warst. Was ist Schlimmes dabei, abgelenkt zu sein? - Genieße auch das. Wenn du deine Abgelenktheit genießen kannst, wird sie immer weniger auftreten, aber das ist kein »Sieg«. Statt deinen Hang zur Abgelenktheit tief ins Unbewußte zu verdrängen, hast du sie einfach auch zugelassen. Auch sie ist okay. Das ist die Einstellung von Tantra: alles ist gut und heilig. Selbst Ablenkungen; irgendwie erfüllen sie einen Zweck. Es braucht dir nicht bewußt zu sein, wozu sie gut sein sollen, aber zu irgend etwas sind sie gut. Erst wenn du alles gutheißen kannst, was geschieht, bist du auf dem königlichen Weg. Wenn du dich mit irgend etwas anlegst, ganz
gleich, was es ist, dann bist du vom königlichen Weg abgefallen und bist zu einem ganz gewöhnlichen Soldaten geworden, zu einem Krieger. Der königliche Blick geht über alle Dualität hinaus. Die königliche Methode überwindet alle Ablenkungen. Der Weg der Nicht-Methode ist der Weg aller Buddhas. Nichts braucht eingeübt zu werden - weil Einstudieren zu Gewohnheiten führt. Es geht darum, bewußter zu werden, nicht geübter. Das Schöne entsteht durch Spontaneität, nicht durch Ubung. Man kann die Liebe einüben, man kann sich darin schulen lassen. In Amerika denkt man bereits daran, Kurse für Liebes-Training einzurichten, weil mehr und mehr Menschen sogar vergessen haben, wie man liebt. Es ist wirklich seltsam! Nicht einmal Vögel - kein Tier und kein Baum fragt andere, wie man liebt, sie brauchen nicht erst eine Schule zu besuchen, um lieben zu können. Und wieviele Menschen kommen nicht zu mir ... ... Erst vor ein paar Tagen bekam ich einen Brief von einem jungen Mann. Er fragte: »Ich verstehe, was du sagst, aber wie soll man lieben? Wie geht man dabei vor? Wie nähert man sich einer Frau?« Es klingt lächerlich, aber wir haben alle Natürlichkeit verloren, alle natürliche Unbefangenheit ist völlig verschollen. Nicht einmal Liebe ist ohne Training möglich. Und wenn du die Liebe trainierst, wirst du völlig abstoßend, denn dann ist jede deiner Gesten eingeübt. Nichts ist mehr echt, alles ist Schauspielerei. Dann gibt es kein authentisches Leben mehr, sondern nur noch Theater. Schauspieler produzieren Liebe, sie stellen Liebe zur Schau; aber ist euch schon aufgefallen, daß Schauspieler die größten Versager in der Liebe sind? Ihre Liebesaffairen enden fast immer in einem Fiasko. Eigentlich dürfte das nicht so sein, schließlich praktizieren sie 24 Stunden am Tag Liebe. Mit ständig wechselnden Frauen, in ewig neuen >Stories<, auf tausend verschiedene Weisen praktizieren sie Liebe; sie sind Profis in Sachen Liebe, und wenn sie sich selbst verlieben, müßten sie es besser können als alle anderen - aber sobald sie sich verlieben, sind sie Versager. Das Liebesleben von Schauspielern und Schauspielerinnen ist immer ein Fehlschlag. Woran liegt das? An der Routine - sie haben es zuviel praktiziert. - Jetzt kann das Herz nicht mehr dabei sein. Sie machen nichts als impotente Gesten: wenn sie sich küssen, ist es kein Kuß, sondern nur das Zusammentreffen von Lippen. Nur Lippen treffen sich, aber es findet kein Austausch von innerer Energie statt. Ihre Lippen sind verschlossen, sind kalt. Und wenn Lippen verschlossen und kalt sind, kann keine Energie aus ihnen strömen, der Kuß wird abstoßend und unhygienisch. Jetzt ist der Kuß nichts als eine Übertragung von Millionen Bakterien und Krankheitserregern, mehr nicht. Ein Kuß ist etwas Abstoßendes, wenn er keine innere Energie enthält. Man kann eine Frau oder einen Mann umarmen und es treffen sich nur Knochen: Körper stoßen zusammen, ohne daß ein Funke überspringt. Die Energie fehlt. Man macht nur impotente Gesten. Selbst im Sex, beim Liebesspiel, bleibt es nur bei den äußeren Gesten der Liebe, aber das ist dann eher Gymnastik, und kaum noch Liebe zu nennen. Vergeßt nicht: Routine tötet ab. Das Leben ist, wenn du es nicht probst, lebendiger. Wenn es in jede Richtung strömen kann, ohne vorgegebene Muster, ohne den Zügel der Disziplin, dann findet es seine eigene Ordnung und Disziplin. Der Weg der Nicht-Methode ist der Weg aller Buddhas. Wer diesen Pfad betritt, erreicht die Buddhaschaft. Was muß man also tun? Wenn Nicht-Methode der Weg ist, was bleibt dann zu tun? Dann kann man nur noch spontan leben. Woher kommt aber die Angst? Warum hast du solche Angst davor, spontan zu leben? Sicher, es können Gefahren auftauchen, man muß auf alles mögliche gefaßt sein - aber das ist herrlich: Das Leben ist nicht wie ein Gleis, auf dem ewig Züge hin- und herfahren, schwitzend und schnaufend. Das Leben ist wie ein Fluß: es bahnt sich seinen eigenen Weg. Es ist kein Kanal. Ein Kanal taugt nichts - er macht das Leben zur Routine. Gefahren gehören dazu, aber Gefahr ist Leben; ohne Gefahr geht es nicht. Nur Tote sind außer Gefahr. Und darum sterben die Menschen schon vor dem Tod. Eure Häuser sind wie Gräber. Euch liegt zuviel an Sicherheit. Und zuviel Sicherheitsdenken tötet ab, denn das Leben ist unsicher. Es ist so! Daran läßt sich nichts ändern, kein Mensch kann es sicher machen. Alle Sicherheiten sind falsch, alle Sicherheiten sind eingebildet. Heute liebt dich eine Frau. Morgen - wer weiß? Wie kannst du sicher sein, was morgen ist? Du kannst zwar vor Gericht eine legale Bindung eingehen und registrieren lassen, daß sie auch morgen deine Frau bleiben muß. Und vielleicht bleibt sie auch deine Frau aufgrund dieser legalen Bindung, aber ihre Liebe kann trotzdem verfliegen. Liebe kennt keine Legalität. Und wenn die Liebe fort ist, aber die Frau trotzdem deine Frau bleibt und du ihr Mann, dann ist zwischen euch praktisch alles abgestorben. Wir schaffen die Ehe aus Sicherheitsgründen. Wir schaffen die Gesellschaft aus Sicherheitsgründen. Aus Sicherheitsgründen bewegen wir uns immerzu auf dem gleichen Gleis. Das Leben wächst wild, und Gott ist das Wildeste, was es gibt. Er wird nie eure Häuser betreten, sie sind zu eng. Und auf euren eingefahrenen Gleisen werdet ihr ihm nie begegnen. Er ist wild. Das dürft ihr nicht vergessen: für Tantra ist das Leben wild. Man muß alle Gefahren, alle Risiken durchleben - und das ist herrlich, denn nur so können Abenteuer geschehen. Versucht nicht, euer Leben in ein festes Korsett zu zwängen. Laßt ihm freien Lauf. Nehmt es, wie es ist; laßt alle Dualität hinter euch, indem ihr alles annehmt, laßt das Leben laufen, wie es will - und ihr werdet ankommen, ihr werdet mit Sicherheit ankommen. Und wenn ich sage >mit
Sicherheit<, dann nicht um euch sicher zu machen - sondern weil es eine Tatsache ist. Darum sage ich es. Aber das hat mit der Sicherheit, eurer Sicherheit, nichts zu tun. Wer wild lebt, kommt immer an. Vergänglich ist die Welt Substanzlos wie Phantome und Träume. Entsage ihr und verlaß die Deinen. Zerschneide die Bande von Lust und Haß Und meditiere in Wäldern und Bergen. Wenn du ohne Mühe Gelöst und natürlich bleiben kannst, Hast du das Mahamudra bald erreicht, Und trägst den Nicht-Sieg davon Über das Unbesiegbare. Diese Sutras müßt ihr sehr tief verstehen, denn sie lassen sich leicht mißverstehen. Diese Sutra Tilopas ist sehr häufig mißverstanden worden. Und alle Kommentatoren sind am Wesentlichen vorbeigegangen. Und zwar aus einem bestimmten Grund. Diese Sutra sagt: »Vergänglich ist die Welt« - diese Welt ist aus dem Stoff, aus dem die Träume sind. Zwischen Traum und Welt besteht kein Unterschied. Ob du gehst oder schläfst - du lebst in einer selbstgemachten Traumwelt. Macht euch klar, daß es nicht nur eine Welt gibt- es gibt so viele Welten, wie es Menschen gibt; jeder lebt in seiner eigenen Welt. Manchmal prallen unsere Welten mit viel Lärm aufeinander, manchmal verschmelzen sie ineinander, aber wir alle bleiben in der eigenen Welt eingeschlossen. Vergänglich ist die Welt Vom eigenen Geist erschaffen. Substanzlos wie Phantome und Träume. Auch die Physiker sagen das: die Welt hat keine Substanz, die Welt ist substanzlos. In den letzten 30 oder 40 Jahren ist das Wort Materie vollkommen aus dem Vokabular der Physiker verschwunden. Vor 70, 75 Jahren erklärte Nietzsche, »Gott ist tot«. Und er sagte das, um zu betonen, daß es nur noch Materie gibt. Und noch nicht einmal ein Jahrhundert später, ja, schon - 25 Jahre nach Nietzsches Tod, er starb 1900 - kamen die Physiker zu der Einsicht, daß wir zwar von Gott nichts wissen, daß aber eines sicher ist: die Materie ist tot. An dir ist nichts materiell, du bestehst aus Wellen kreuz und quer schießende Schwingungen schaffen die Illusion der Materie. Genau wie im Kino: auf der Leinwand ist nichts als das Wechselspiel elektrischen Lichts zu sehen, und das schafft das ganze Traumwerk. Und heute gibt es sogar dreidimensionale Filme, wodurch die Illusion noch perfekter wird. Und genau wie mit dem Film auf der Leinwand ist es mit der ganzen Welt, das Ganze ist ein rein elektrisches Phänomen - außer dir, denn nur du bist wirklich, nur der innere Zeuge, der Seher ist wirklich, aber alles andere ist Traum. Und Buddhaschaft bedeutet, alle diese Träume hinter sich zu lassen, so daß es am Ende nichts mehr zu sehen gibt - nur der Seher sitzt da in unendlicher Stille. Es gibt nichts, nicht ein Ding zu sehen, nur der Seher bleibt - jetzt hast du die Buddhaschaft erlangt, bist zur Realität vorgedrungen. Vergänglich ist die Welt Substanzlos wie Phantome und Träume. Entsage ihr und verlaß die Deinen. Diese Worte- »Entsage ihr und verlaß die Deinen« sind mißverstanden worden. Und zwar aus einem triftigen Grund: alle Kommentatoren glaubten an Weltabkehr und meinten daher, daß Tilopa sagt, woran sie selber glauben. Tilopa kann das aber nicht so gemeint haben, weil es allem, was er sonst sagt, ins Gesicht schlägt. Wenn alles Traum ist, was gibt es da noch zu entsagen? Man kann nur einer Wirklichkeit >entsagen<, aber keinem Traum - das wäre einfach lächerlich. Man kann einer substantiellen Welt >entsagen<, aber keiner Phantomwelt. Steigst du etwa morgens auf das Dach deines Hauses, um aller Welt lauthals zu verkünden: »Ich habe meinen Träumen entsagt! Heute Nacht habe ich viele Träume gehabt, aber ich habe mich von ihnen losgesagt!« man wird dich nur auslachen, man wird dich für verrückt halten - kein Mensch >entsagt< seinen Träumen. Man wacht einfach auf; man braucht ihnen nicht zu entsagen. Ein Zen-Meister wachte eines Morgens auf und fragte einen seiner Schüler: »Ich hatte heute Nacht einen Traum. Kannst du mir ihn deuten, mir seinen Sinn erklären?« Der Schüler antwortete: »Warte! Ich bringe dir erst eine Tasse Tee.« Der Meister nahm die Tasse Tee entgegen und fing an: »Und nun zu dem Traum .. .« Der Schüler sagte: »Vergiß ihn, denn ein Traum ist ein Traum und braucht keine Deutung. Eine Tasse Tee ist Deutung genug: Wach auf!« Der Meister antwortet: »Getroffen, ganz genau! Wenn du meinen Traum gedeutet hättest, hätte ich dich jetzt aus dem Kloster geworfen, denn nur Narren deuten Träume. Dein Glück, daß du es nicht getan hast, sonst hätte ich dich endgültig hinausgeworfen und keines Blickes mehr gewürdigt.«
Nach einem Traum brauchst du eine Tasse Tee, und dann Schluß damit. Diese Geschichte hätte Freud und Jung und Adler schwer getroffen, denn sie verschwendeten ihr ganzes Leben damit, anderen ihre Träume zu deuten. Einen Traum muß man hinter sich lassen. Die einfache Erkenntnis, daß es ein Traum war - und schon bist du darüber weg. Das ist mit >Entsagung< gemeint. Tilopa wurde nur mißverstanden, weil die Welt von Weltentsagern und Weltverdammern wimmelt. Sie glaubten alle, er spräche ihre Sprache. Aber das tut er nicht. Alles, was er sagt, ist: »Erkenne, daß die Welt vergänglich ist, und damit hast du ihr entsagt.« »Entsage ihr«, heißt in seiner Sprache, »Erkenne, daß sie ein Traum ist.« »Laß die Deinen hinter dir« - ist mißverstanden worden als: »Verlaß deine Familie, deine Verwandten, deine Mutter, deinen Vater, deine Kinder.« Nein, das ist es nicht, was er sagt; er kann es nicht sagen, das ist für einen Tilopa unmöglich. Was er sagt, ist, daß du deiner inneren Bindung an andere Menschen entsagen sollst. Du darfst keinen Menschen für deine Frau halten, denn dieses »dein« ist ein Phantom, ein Traum. Du darfst nicht sagen, »Dies Kind ist mein Sohn«; dieses >mein< ist ein Traum. Niemand ist >dein<, niemand kann >dein< sein. Entsage dieser Illusion, daß du jemanden besitzen könntest - ob Mann, ob Frau, ob Freund, ob Feind. Gib all diese Einstellungen auf. Brich alle Brücken von >mein< und >dein< ab. Laß diese Worte einfach fallen. Wenn du sie fallen läßt, hast du mit einem Schlag all den Deinen entsagt - jetzt gehört niemand dir. Das heißt aber nicht, daß du ausreißt, daß du vor Frau und Kind davonläufst, denn wenn du davonläufst, bedeutet das nur, daß du sie für gegenständlich hältst. Wenn du davonrennst, zeigt das, daß du sie immer noch für dein Eigentum ansiehst: warum sonst rennst du davon? Ein Hindu-Sannyasin, Swami Ramteerth, zog sich, von einer Amerika-Reise heimgekehrt, in den Himalaja zurück; dort kam ihn seine Frau besuchen. Das brachte ihn etwas durcheinander. Sein Schüler, namens Sardar Poorn Singh, ein sehr scharfsichtiger Mensch, saß neben ihm. Er sah zu und spürte, daß der Meister verwirrt war. Sobald die Frau fort war, warf Ramteerth plötzlich seine orangefarbene Kleidung weg. Poorn Singh fragte: »Was ist denn passiert? Ich habe dich beobachtet, du warst ein wenig verwirrt. Ich fand, du warst nicht du selbst.« Ramteerth antwortete: »Genau deshalb werfe ich mein Sannyas-Gewand weg. Ich habe genug Frauen gekannt, und es hat mich nie durcheinander gebracht. Und an dieser Frau ist gar nichts Besonderes - außer daß sie meine Frau ist. Dies >meine< ist also immer noch da. Ich habe es nicht verdient, dieses Gewand zu tragen. Ich habe nur die Frau aufgegeben, aber nicht das >mein<. An der Frau liegt es also nicht; keine einzige Frau hat mich je aus der Fassung gebracht. Ich bin auf der ganzen Welt herumgezogen, und jetzt kommt meine Frau daher, eine Frau, die so gewöhnlich ist wie jede andere, und plötzlich bin ich außer Fassung. Die Brücke ist noch nicht abgebrochen.« Er starb in gewöhnlicher Kleidung, er trug nie wieder orange. Er sagte: »Ich hab es nicht verdient.« Ein Tilopa kann unmöglich sagen, daß du deine Frau und deine Kinder und deine Verwandten aufgeben sollst. Ganz bestimmt nicht. Er sagt lediglich, daß ihr die Brücken von >mein< und >dein< abbrechen sollt, daß ihr sie fallen lassen sollt - aber das hat nur etwas mit dir selbst zu tun, und nichts mit deiner Frau. Wenn sie dich weiterhin als >ihren< Mann ansieht, dann ist das ihr Problem, nicht deins. Wenn dein Sohn dich für >seinen< Vater hält, dann ist das sein Problem; er ist noch ein Kind, er muß erst erwachsen werden. Ich sage euch: Tilopa meint die Abkehr von den inneren Träumen und Brücken, den inneren Welten. Und meditiere in Wäldern und Bergen. Und auch hier sagt er nicht etwa, daß ihr in die Berge und Wälder davonlaufen sollt. So ist es aber immer verstanden worden. Und viele haben Frau und Kind einfach im Stich gelassen und sind in die Berge gegangen. Das war vollkommen verkehrt. Tilopa sagt etwas viel Tieferes. So oberflächlich ist es nicht gemeint, denn man kann in die Berge gehen, ohne je den Jahrmarkt der Welt hinter sich gelassen zu haben. Das Problem steckt im Denken. Du kannst im Himalaja sitzen und trotzdem an den Marktplatz denken, an deine Frau und die Kinder, und wie es ihnen wohl ergehen mag. Es heißt, daß ein Mann einmal von seiner Frau und den Kindern und der ganzen Familie Abschied nahm, und zu Tilopa kam, um als sein Jünger eingeweiht zu werden. Tilopa lebte in einem Tempel außerhalb der Stadt. Der Mann kam. Als er eintrat, war er mit Tilopa allein. Tilopa blickte rechts und links an ihm vorbei und sagte: »Da bist du also, schön. Aber was soll der Haufen Leute?« Der Mann sah sich ebenfalls um, weil er niemanden sah. Tilopa sagte: »Sieh dich nicht um, blick nach innen - dort wimmelt es von andern.« Und der Mann schloß die Augen und sah die Menge: da stand immer noch seine Frau und weinte, die Kinder heulten oder blickten traurig drein. Alle standen sie noch da. Sie waren bis an den Stadtrand mitgekommen: die Freunde, die Familie, die anderen - und sie waren alle noch da. Tilopa sagte: »Geh hinaus und laß all die Leute draußen zurück. Ich weihe einzelne Menschen ein, keine Menschenmenge.« Nein, Tilopa kann nicht wollen, daß du der Welt den Rücken kehrst und in die Berge gehst. So töricht ist er nicht. Das kann er nicht meinen - er ist ein Erwachter. Was er sagt ist: wenn du die Träume, die Brücken, die Bindungen aufgibst nicht die Familie - wenn du deinen festen Vorstellungen entsagst, dann findest du dich plötzlich in Wäldern und Bergen wieder. Du magst auf dem Marktplatz sitzen - aber der Markt ist verschwunden. Du magst in deinem Haus sitzen, aber das Haus ist verschwunden. Plötzlich bist du in den Bergen, in den Wäldern. Plötzlich bist du allein, nur du bist noch da und sonst niemand. Du kannst in der Menge sein und bist doch allein, du kannst allein sein und doch in der Menge. Du kannst in der Welt sein, ohne weltlich zu sein. Du kannst in der Welt sein, aber innen gehörst du zu den Bergen und Wäldern.
Es ist eine innere Dimension. Es gibt innere Berge und innere Wälder; Tilopa kann nicht die äußeren Berge und Wälder gemeint haben, denn auch sie sind Traum. Der Himalaja ist genauso ein Traum wie der Marktplatz von Poona, denn der Himalaja ist ein ebenso äußerliches Phänomen wie der Marktplatz. Auch die Wälder sind Traum. Du mußt in die inneren Wälder gehen - dort findest du die Wirklichkeit. Du mußt tiefer und tiefer in dich hineingehen, und wenn du in die Tiefe deines Wesens gelangst, findest du dort den wahren Himalaja, findest du dort die wahren Wälder deines Wesens, die Gipfel und Schluchten deines Wesens, die Höhen und Tiefen deines Wesens. Das meint Tilopa. Wenn du ohne Mühe Gelöst und natürlich bleiben kannst ... Und er muß dies meinen, denn ihm geht es um Unbefangenheit, um Gelassenheit. Frau und Kinder sitzenzulassen ist weder natürlich noch gelassen. Wer Frau und Kinder und Freunde und der Welt zurückläßt, kann nicht gelöst sein. Die schiere Anstrengung, sich von all dem zu lösen, versetzt ihn in Spannung. Natürlichsein bedeutet, dort zu sein, wo du bist. Natürlichsein bedeutet, dort zu sein, wo du dich gerade befindest. Wenn du ein Ehemann bist - gut; wenn du eine Ehefrau bist - schön; wenn du eine Mutter bist - großartig; dann soll es so sein. Akzeptiere, wo und was du auch sein magst, ganz gleich, was geschieht - nur dann kannst du gelöst und natürlich leben, sonst nicht. Eure sogenannten Mönche, Sadhus, Weltentsager - in einem Wort: Feiglinge - sitzen in ihren Klöstern, aber von einem gelösten und natürlichen Leben kann keine Rede sein. Ihr Leben ist Kampf, sie tun sich Gewalt an, sie stemmen sich gegen den Strom der Natur. Mag sein, daß es für ein paar wenige Menschen das Natürliche ist; ich sage daher nicht, daß du dich zwingen sollst, auf dem Marktplatz zu leben, denn das wäre ja nur das entgegengesetzte Extrem: du würdest dieselbe Dummheit begehen. Es mag Leute geben, für die es vollkommen natürlich ist, im Kloster zu leben; und die sollen auch im Kloster leben. Für ein paar Menschen mag es das Natürlichste von der Welt sein, sich in die Berge zurückzuziehen; sie müssen ganz einfach dort leben. Das, worauf es wirklich ankommt, ist, natürlich und gelöst zu bleiben. An diesen Prüfstein haltet euch. Fühlst du dich auf dem Markt natürlich und wohl, wunderbar. Auch der Markt ist göttlich. Fühlst du dich im Himalaja gelöst und natürlich, großartig! Nichts ist dagegen zu sagen. Merk dir nur eines: sei gelöst und natürlich. Spann dich nicht an, versuch nicht, Spannungen in dir herzustellen. Sei gelassen, dann ... Hast du das Mahaniudra bald erreicht ... Sei locker und natürlich, und bald kommt es zu einer orgasmischen Vereinigung mit der Schöpfung. Und trägst den Nicht-Sieg davon. Du wirst erlangen, was nicht zu erlangen ist. Warum? Warum muß man sagen, daß es nicht zu erlangen ist? Weil man kein Ziel daraus machen kann. Es bleibt für einen ziel-orientierten Verstand unerreichbar. Durch Ehrgeiz kommt man ihm keinen Schritt näher. Es gibt hier viele Leute, die diesen Ehrgeiz besitzen. Sie sind verkrampft, weil sie sich etwas zum Ziel gemacht haben, was nicht zum Ziel gemacht werden kann. Es kann einem nur geschehen! - Erreichen kannst du es nicht. Du kannst nicht die Hand danach ausstrecken - es kommt auf dich zu. Du kannst dich nur passiv verhalten, locker und natürlich bleiben, auf die rechte Zeit warten, denn alles kommt zu seiner Zeit. Es geschieht, wenn die Zeit reif ist. Wozu die Hast? Wenn du in Eile bist, verkrampfst du dich, bist du gespannt vor Erwartung. Und darum sagt Tilopa: »Und trägst den Nicht-Sieg davon.« Es ist kein Sieg, kein Ziel. Du kannst daraus keine Zielscheibe machen, nach der du deinen Pfeil abschießt. Nein. Der Geist, der einen Pfeil auf ein Ziel anlegt, ist ein gespannter Geist. Es tritt plötzlich ein - sobald du bereit bist. Nicht einmal die Fußtritte sind vernehmbar. Plötzlich kommt es. Du hast gar keine Zeit, sein Nahen wahrzunehmen. Die Knospe ist aufgegangen - plötzlich siehst du die offene Blüte, und ihr Duft erfüllt dich.
Der Gesang geht weiter: Schlag einem Baum die Wurzeln ab, und seine Blätter welken; Schlag deinem Geist die Wurzeln ab, und das Rad der Welt zerfällt. Jedes beliebige Licht vertreibt in einem Augenblick Die Dunkelheit ganzer Zeitalter. Das starke Feuer des Geistes verbrennt mit einem Blitz Den Schleier der Unwissenheit. Wer sich an den Geist klammert, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits davon ist. Wer sich bemüht, das Dharma einzuüben, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits aller Übung ist. Wer wissen will, was jenseits von Geist und Übung ist Durchhaut mit einem Schlag die Wurzeln seines Geistes, Und starrt mit nacktem Blick. So wirst du frei von aller Unterscheidung Und ruhst in dir.
VIII. WAHL IST KNECHTSCHAFT 18. Februar 1975 Wahl ist Knechtschaft, Nicht-Wahl Freiheit. Im selben Moment, wo du für etwas bist, gehst du der Welt auf den Leim. Wenn du der Versuchung widerstehen kannst, wenn du ohne zu wählen bewußt bleiben kannst, verschwindet der Leim von allein, denn wenn du für nichts bist, produzierst du keinen Klebstoff - der Leim wird nämlich durch dein Wählen produziert. Dieses Wort »wählen« muß also gründlich verstanden werden, denn nur aus diesem Verständnis heraus kann in dir die Freiheit aufblühen, nicht zu wählen. Was hindert dich daran, wahllos zu sein? Wie kommt es, daß du, sobald du einen Menschen oder ein Ding siehst, eine unsichtbare Welle empfängst, die in dir Zu- oder Abneigung auslöst, ohne daß es dir überhaupt bewußt wird, daß du eine Wahl getroffen hast? Eine Frau geht vorbei, und in dir sagt eine Stimme: wie schön! Von Wählen ist keine Rede, aber die Auswahl ist schon getroffen, denn von einer Frau zu sagen, daß sie schön ist, bedeutet: die würde ich mir aussuchen. Du hast also tief drinnen eine Wahl getroffen; du bist schon in der Falle. Der Same ist auf die Erde gefallen; bald beginnt er zu keimen, Schößlinge zu treiben, zum Baum zu werden. Wer sagt, »dieses Auto ist toll«, hat eine Wahl getroffen. Es mag dir völlig unklar bleiben, daß du eine Wahl getroffen hast, daß du diesen Wagen gerne hättest, aber jetzt hat sich eine Fantasie in deine Gedanken gemischt, ein Wunsch ist entstanden. Wenn du etwas schön nennst, dann meinst du, daß du es gerne hättest. Wenn du etwas häßlich nennst, dann willst du damit sagen, daß du es nicht haben willst. Wählen ist untergründig, und man muß scharf aufpassen, wenn man es erkennen will. Sobald du etwas sagst, mußt du dir im Klaren sein, daß die Worte nicht einfach nur Worte sind, sondern daß sie gleichzeitig etwas über unbewußte Vorgänge in dir aussagen. Urteile nicht: >dies ist schön, das ist häßlich. Triff keine Unterscheidungen. Enthalte dich! Die Dinge sind weder gut noch schlecht. Eigenschaften wie >gut< und >schlecht< werden erst von dir ins Spiel gebracht. Die Dinge an sich sind weder häßlich noch schön; sie existieren einfach so, wie sie sind - daß sie schön oder häßlich sind, kommt von dir, das ist deine Deutung. Was meinst du, wenn du sagst, daß etwas schön ist? Gibt es für Schönheit irgendwelche Maßstäbe? Kannst du beweisen, daß etwas schön ist? Gleich' neben dir mag einer stehen und denken: »Wie häßlich!« - also ist es nichts Objektives; niemand kann beweisen, daß irgendetwas schön ist. Über die Asthetik sind Tausende und Abertausende von Büchern geschrieben worden, und Intellektuelle, Denker und Philosophen haben sich in Mühe und Schweiß den Kopf darüber zerbrochen, wie man Schönheit definieren könnte, aber es ist ihnen bis heute nicht gelungen. Sie haben großartige Bücher geschrieben, große Abhandlungen verfaßt, und sie gehen im Kreise herum, immer wieder um die Sache herum, und niemandem ist es je gelungen, genau auszumachen, was Schönheit ist. Nein, es scheint unmöglich und zwar deshalb, weil es so etwas wie Schönheit oder Häßlichkeit gar nicht gibt, - es kommt immer auf deine Interpretation an. Erst nennt ihr irgendetwas schön - das meine ich, wenn ich sage, daß ihr erst den Leim aufstreicht, und dann an ihm festklebt - erst hältst du ein Gesicht für schön: das ist deine Erfindung, das ist lediglich deine Einbildung, die Deutung deiner Vorstellungswelt, aber existentiell ist sie nicht, sondern rein psychologisch - und dann gehst du dir selber auf den Leim. Erst trägst du den Leim auf, dann klebst du daran fest, und dann schreist du um Hilfe, schreist nach Leuten, die dich losmachen sollen. Du brauchst nichts zu tun, sagt Tantra. Du brauchst nur den ganzen Trick zu durchschauen - du selbst hast ihn erfunden. Was willst du damit sagen, wenn du etwas häßlich nennst? Wenn es den Menschen nicht gäbe, könnte dann irgendetwas auf der Welt häßlich oder schön sein? Es sind Bäume da, selbstverständlich, und sie blühen; natürlich gibt es nach wie vor den Regen, und den Sommer, die Jahreszeiten wechseln - aber so etwas wie »schön und häßlich« gibt es nicht, das verschwindet mit dem Menschen und seinem dualistischen Geist. Die Sonne geht auf, und in der Nacht füllt sich der Himmel mit Sternen - aber nichts ist weder schön noch häßlich. Es war nur der Mensch, der Lärm um Nichts gemacht hatte. Jetzt gibt es ihn nicht mehr, und mit ihm sind alle Interpretationen dahin, denn was soll jetzt noch gut, was soll jetzt noch schlecht sein? Die Natur weiß nichts von Gut und Böse. Und vergeßt nicht, Tantra hält es mit der Natur, es ist der natürliche, der unbefangene Weg. Tantra will dich zu den tiefsten Erscheinungen der Natur und des Lebens hinführen. Es will dir dabei helfen, dich von deinem Geist freizumachen, denn es ist der Geist, der Unterscheidungen erzeugt, es ist der Geist, der sagt, daß das eine erwünscht und das andere verwerflich ist. An das eine klammerst du dich, und vor dem anderen fliehst du. Schau dir das Ganze an. Ein einziger Blick - das genügt schon. Du brauchst keiner Disziplin zu folgen: du brauchst nur die Gesamtsituation zu überblicken. Der Mond ist schön. Wieso? Weil uns seit Jahrhunderten eingetrichtert wurde, daß der Mond schön sei; jahrhundertelang haben die Poeten den Mond besungen, jahrhundertelang haben es die Menschen geglaubt - jetzt steckt es uns im Blut. Sicher, es gibt da einiges, was mit dem Mond zu tun hat: er ist sehr besänftigend, er gibt dir das Gefühl von Beruhigung, und das zarte Licht des Mondes verleiht der gesamten Natur etwas Geheimnisvolles; der Mond hypnotisiert irgendwie, man fühlt sich schläfrig und dennoch wach, die Dinge scheinen schöner; er verleiht der Welt etwas Traumhaftes - darum nennt man die Irren auch >Lunatiker<. Das Wort >lunatisch< kommt von dem Wort >Luna<, Mond. Sie sind irre geworden, mondsüchtig. Der Mond verursacht eine Art von Wahnsinn, eine Art Verrücktheit, eine Neurose. Das mag mit dem Wasser in deinem Körper zu tun haben, denn auch das Meer mit seinen Gezeiten wird vom Mond beeinflußt. Dein Körper ist zu 90 Prozent Meerwasser. Die Psychologen sagen, daß unser Körper deshalb vom Mond beeinflußt wird, weil der Körper
immer noch zum Meer gehört. Der Mensch ist vom Meer auf die Erde gekommen; das erste Leben entstand im Meer. Wenn das ganze Meer unter dem Einfluß des Mondes steht, dann wirkt sich das natürlich auch auf alle Geschöpfe des Meeres aus, und damit auch auf den Menschen, denn auch er entstammt dem Meer. Er hat einen langen, langen Weg hinter sich, aber das macht keinen Unterschied; der Körper reagiert noch immer in der gleichen Weise - und zu 90 Prozent besteht er aus Wasser, nicht nur Wasser, sondern Meereswasser; er enthält genau dieselben Chemikalien, den gleichen Salzgehalt. Im Mutterleib schwimmt das Kind neun Monate lang in Meereswasser; das Fruchtwasser ist dem Merreswasser gleich. Frauen haben daher während der Schwangerschaft ein größeres Bedürfnis nach Salz, sie essen mehr davon. Diese größere Dosis an Salz wird für ihre Fruchtblase gebraucht, um den nötigen Salzspiegel zu erhalten. Und das Kind geht durch alle Entwicklungsphasen der Menschheit hindurch. Anfangs ist es wie ein Fisch, es treibt im Ozean des Mutterleibes. Innerhalb von neun Monaten durchläuft es nach und nach Millionen von Jahren. Die Physiologen haben festgestellt, daß er alle Stadien des Lebens in neun Monaten durchmacht. Es ist also gut möglich, daß der Mond uns beeinflußt, aber so etwas wie Schönheit gibt es nicht - unsere Reaktion ist rein chemisch bedingt. Manche Augen kommen dir bestimmt schön vor. Was geschieht wirklich? Diese Augen müssen eine Eigenschaft haben, eine chemische oder elektrische Eigenschaft, sie müssen eine bestimmte Energie freisetzen - und das wirkt sich in dir aus. Von bestimmten Augen sagt ihr, sie seien hypnotisch, wie zum Beispiel die Augen Adolf Hitlers. Sobald du von solchen angeblickt wirst, passiert etwas in dir, und du sagst, daß diese Augen sehr schön seien. Aber was meinst du mit Schönheit? Daß sie dich berühren! Wenn ihr also etwas schön nennt, dann sagt ihr in Wirklichkeit damit nicht, daß es schön ist, sondern daß ihr auf angenehme Weise davon berührt werdet - mehr nicht. Und wenn ihr etwas häßlich nennt, dann sagt ihr damit, daß ihr unangenehm berührt seid. Man wird entweder angezogen oder abgestoßen. Wenn man angezogen wird, nennt man es schön, wenn man abgestoßen wird, nennt man es häßlich. Aber das spielt sich in dir ab. Es hat mit dem Objekt nichts zu tun, denn der gleiche Gegenstand kann einen anderen anziehen. Das ist eine alltägliche Sache; die Leute wundern sich immer über andere Leute. Sie sagen: »Kaum zu glauben, daß dieser Mann sich in diese Frau verliebt hat!« Keiner kann es fassen, wo die Frau doch so häßlich ist! Aber für diesen Mann ist diese Frau geradezu das Urbild der Schönheit. Was soll man da sagen? Es kann eben keinen objektiven Maßstab geben - und es gibt auch keinen. Tantra sagt: Vergiß nicht, daß dir dein Kopf einen Streich spielt, sobald du dich für etwas entscheidest, sobald du für oder gegen etwas bist. Nenne kein Ding schön! Sag einfach: »Ich finde das angenehm«, dann gehst du immer nur von dir selbst aus. Sobald du die Wirkung auf den Gegenstand selbst projizierst, dann hast du ein unlösbares Problem am Hals, denn schon der erste Schritt war verkehrt, du hast nicht an der Wurzel angesetzt. Die Wurzel bist du. Wenn du also eine Wirkung spürst, bedeutet das, daß dein Gemüt auf eine bestimmte Weise beeinflußt worden ist. Und diese Berührung, dieser Einfluß lockt dich in die Falle, und du läßt dich in eine bestimmte Richtung drängen. Erst schaffst du dir einen >schönen< Mann, und dann fängst du an, hinter ihm herzulaufen, ihn zu jagen. Wenn du dann erst ein paar Tage mit deinem >schönen< Mann oder deiner >schönen< Frau zusammengelebt hast, brechen alle Phantasien zusammen. Plötzlich fallen dir die Schuppen von den Augen, als hätte dir die Frau verheimlicht, daß sie ganz gewöhnlich aussieht. Und für dich war sie eine Venus oder Julia, für dich war er ein Apollo oder ein Romeo - aber jetzt plötzlich, nach ein paar Tagen, sind diese Träume verflogen und die Frau oder der Mann ist auf einmal ganz gewöhnlich; du fühlst dich angeödet und schiebst die Schuld auf den anderen; er hat dich betrogen. Niemand hat dich getäuscht, und nichts ist von dem Mann oder der Frau abgefallen; gefallen ist nur der Schleier deiner Phantasie. Denn Phantasien lassen sich nicht ewig halten. Du kannst von ihnen träumen, aber du kannst sie nicht lange aufrecht erhalten. Phantasien sind Phantasien! Wenn du also wirklich willst, daß deine Phantasie länger anhält, dann mußt du so weit wie möglich davonlaufen, sobald du eine schöne Frau siehst. Dann kannst du sie für den Rest deines Lebens für die schönste Frau der Welt halten. Dann kommt deine Phantasie niemals mit der Wirklichkeit in Kontakt. Nichts kann sie zerstören. Du kannst auf ewig um dieser schönen Frau willen seufzen und singen und weinen und dir die Haare raufen - nur komm ihr ja nicht zu nahe! Je näher du dich heranwagst, desto mehr enthüllt sich die Wirklichkeit, die objektive Wirklichkeit. Und sobald dein Traum mit der objektiven Realität zusammenstößt, kannst du dir ausrechnen, wer dabei den Kürzeren zieht: dein Traum. Objektive Wirklichkeit ist unbesiegbar. Das ist die Situation. Und Tantra sagt, wach auf: niemand täuscht dich, außer du selbst. Die Frau hat nicht versucht, sich als schön auszugeben, sie hat die Phantasie nicht um sich her gewoben, sondern du hast sie darin eingesponnen; du hast daran geglaubt, und jetzt weißt du nicht, was du tun sollst, weil du deine Phantasie nicht der Wirklichkeit gegenüber durchhalten kannst. Ein Traum muß zerbrechen - genau das macht ihn zum Traum. Im Osten haben die Hindus für die Wahrheit ein Kriterium entwickelt: sie sagen, Wahrheit ist das, was ewig dauert, immer und ewig; und Unwahrheit ist alles das, was nur einen Moment dauert. Einen anderen Unterschied gibt es nicht. Das Momentane ist das Unwahre, und das Ewigwährende ist die Wahrheit. Und Leben währt ewig; das Dasein ist ewig. Der Geist ist etwas Flüchtiges - somit bleibt alles momentan, was der Geist ins Leben bringt; der Geist färbt das Leben so oder so, er interpretiert es. Kaum ist die Interpretation fertig, hat man es sich schon wieder anders überlegt. Die Interpretation läßt sich nicht halten, weil der Geist unfähig ist, in einer gleichbleibenden Lage auch nur zwei Sekunden lang die gleiche Interpretation beizubehalten. Der Geist ändert sich ständig, er ist ewig in Fluß. Er ist immer schon woanders - noch bevor du zu Ende gedacht hast, daß dieser Mann schön ist, sind die Gedanken schon woanders. Jetzt
verliebst du dich in etwas, was gar nicht mehr da ist, nicht einmal in deinem eigenen Kopf. Tantra sagt: Begreife den Mechanismus des Geistes und schlage ihm die Wurzeln ab. Triff keine Wahl, denn wenn du wählst, identifizierst du dich. Ganz gleich worauf deine Wahl fällt, du wirst in gewisser Weise eins damit. Wenn du einen Wagen liebst, wirst du in gewisser Weise eins mit deinem Wagen. Er rückt dir immer näher. Wird er gestohlen, dann wird ein Stück von dir gestohlen. Wenn etwas mit dem Wagen nicht stimmt, dann stimmt auch mit dir etwas nicht. Wenn du dich in ein Haus verliebst, wirst du eins mit dem Haus. Liebe bedeutet Identifikation; die Annäherung ist wie bei zwei Kerzen: wenn man sie immer näher aneinander hält, werden sie schließlich zu einer Flamme. In der gemeinsamen Hitze verschmelzen sie. Das ist Identifikation. Zwei Flammen, die sich immer näher kommen, bis sie eins werden. Und sobald du dich mit etwas identifizierst, hast du deine Seele verkauft. Das bedeutet, seine Seele an die Welt zu verlieren. Man hat sich mit tausend verschiedenen Dingen identifiziert, und mit jedem Ding hat sich ein Stück von dir verdinglicht. Wahl führt zu Identifikation. Identifikation führt zu einem hypnotischen Zustand. Gurdjieff will seinen Schülern nur das eine beibringen: sich nicht zu identifizieren. Seine ganze Schule, all seine Techniken, Methoden und Lehrsituationen basieren auf einem einzigen Prinzip, und dieses Prinzip heißt: identifiziere dich nicht. Zum Beispiel: du weinst. Wenn du weinst, wirst du eins mit dem Weinen. Da ist niemand, der dem Weinen zuschaut, niemand, der es sieht, der wach und bewußt daneben steht. Du hast dich ins Weinen verloren. Du bist zu Tränen, zu geröteten und geschwollenen Augen geworden, und dein Gemüt ist aufgewühlt. Lehrer wie Gurdjieff, die darauf bestehen, sich nicht zu identifizieren, sagen nun: weine nur, daran ist nichts verkehrt, aber stehe neben dir und schau es dir an - sei nicht identifiziert. Und das ist eine großartige Erfahrung, wenn du neben dir stehen kannst. Weine, laß den Körper sich ausweinen, laß die Tränen fließen, halte nichts zurück, denn mit Unterdrückung ist niemandem gedient aber stelle dich trotzdem neben dich und schaue zu. Das ist durchaus machbar - denn dein inneres Sein ist ein Zuschauer, es ist nie am Tun beteiligt. Wann immer du glaubst, dein Tun sei Ausdruck deiner innersten Natur, handelt es sich um eine Identifikation. Dein Innerstes ist niemals tätig. Du kannst zu Fuß um die ganze Welt gehen - dein inneres Sein hat nicht einen Schritt getan. Du kannst Tausende von Träumen haben - dein inneres Sein hat niemals einen Traum. Alle Bewegung bleibt an der Oberfläche. Tief am Grunde deines Wesens gibt es keine Bewegung. Alle Bewegung bleibt am Rand - genau wie beim Rad, das sich an der Peripherie dreht, aber in der Mitte, wo die Nabe ist, stillsteht. Im Mittelpunkt bleibt alles, wie es ist, und das Rad rotiert um das Zentrum. Beobachte dein Verhalten, deine Handlungen, deine Identifikationen, und du gewinnst Abstand; nach und nach entsteht ein Abstand - der Beobachter und der Ausführende werden zwei. Du kannst dich selber lachen sehen, du kannst dich selber weinen sehen, du kannst dir selber zusehen, wie du herumgehst, ißt, liebst; du kannst viele Dinge tun, an allem teilnehmen, was um dich herum passiert, und doch der Zuschauer bleiben. Du greifst nicht zu und wirst eins mit dem, was du gerade siehst. Hier liegt das Problem. Was immer geschieht, du beziehst es auf dich. Wenn du Hunger spürst, sagst du: »Ich bin hungrig« - und schon bist du mit dem Hunger identifiziert. Aber sieh genau in dich hinein: bist du der Hunger, oder geschieht der Hunger? Bist du Hunger, oder bist du dir bloß bewußt, daß der Körper Hunger verspürt? Du kannst nicht der Hunger sein, denn was würde aus dir, sobald der Hunger gestillt ist? Wenn du nur gegessen hast und der Bauch voll ist und du bist satt, wo bist du dann - wenn du wirklich Hunger bist? Verdampft? Nein, denn inzwischen bist du zur Sattheit geworden. Noch bevor der Hunger verschwunden ist, hast du schon die neue Identifikation hergestellt: du wirst zur Sattheit. Du warst einmal ein Kind und dachtest, daß du ein Kind bist; wer bist du jetzt, wo du doch kein Kind mehr bist? Jetzt bist du ein junger Mensch, oder du bist alt geworden - wer bist du jetzt? Wieder hast du dich identifiziert, mit deiner Jugend oder mit deinem Alter. Dein innerstes Sein ist genau wie ein Spiegel. Was immer sich davor stellt, spiegelt es wider, es ist ganz einfach nur Zeuge. Ob es Krankheit ist oder Gesundheit, Hunger oder Sattheit, Sommer oder Winter, Kindheit oder Alter, Geburt oder Tod - was auch immer geschieht, es geschieht vor dem Spiegel, es geschieht nie dem Spiegel selbst. Das ist Nicht-Identifikation; das heißt, die Wurzeln abzuschlagen, die eigentliche Wurzel - werdet zum Spiegel. Und für mich ist das die Bedeutung von Sannyas; zum Spiegel zu werden. Nicht zu einem hochempfindlichen Film - denn das wäre Identifikation. Was immer vor die Linse der Kamera kommt, der Film nimmt es sofort auf, verbindet sich damit. Werdet zum Spiegel. Die Dinge kommen und gehen, aber der Spiegel bleibt leer, frei, klar. Das ist das >Nicht-Selbst< Tilopas. Der Spiegel hat kein Selbst, womit man sich identifizieren kann. Er wirft einfach ein Bild zurück. Er reagiert nicht, er gibt nur ein Echo. Er sagt nicht, >die ist schön, das ist häßlich.< Wenn eine häßliche Frau vor ihm steht, ist er ebenso zufrieden, wie wenn es eine schöne Frau wäre. Er kennt keine Unterschiede. Er spiegelt wider, was da ist, ohne jede Deutung. Er sagt nicht, »mach, daß du fortkommst, du bringst mich zu sehr durcheinander«, oder, »komm etwas näher, du bist so schön.« Der Spiegel sagt nichts. Der Spiegel beobachtet bloß, ohne die leiseste Unterscheidung zu machen, er weiß weder von Freund noch Feind. Für den Spiegel gibt es keine Unterschiede. Und wenn jemand vorübergeht, klammert sich der Spiegel nicht an ihn. Ein Spiegel hat keine Vergangenheit. Er träumt nicht deinem Bild nach, wenn du an ihm vorbeigegangen bist. Er heftet sich nicht noch eine kleine Weile an deinen Schatten. Nein, dein Spiegel macht keinen Versuch, das Spiegelbild zu halten, das ihn noch eben ausfüllte. Nein, du bist weitergegangen, die Spiegelung ist vorbei; nicht eine Sekunde lang hält sie der Spiegel zurück.
So ist der Geist eines Buddhas. Du trittst vor ihn, er ist erfüllt von dir; du gehst weg, du bist fort. Nicht einmal eine Erinnerung zuckt auf. Ein Spiegel hat keine Vergangenheit: ein Buddha auch nicht. Ein Spiegel hat keine Zukunft: ein Buddha auch nicht. Der Spiegel wartet nicht auf das, was als nächstes kommt: »Wer ist der nächste? Wen werde ich gleich widerspiegeln? Ich möchte lieber, daß X und nicht Y kommt.« Der Spiegel hat keine Wahl, er bleibt wahllos. Versucht diese Metapher vom Spiegel zu verstehen, denn das ist die wirkliche Lage des inneren Bewußtseins. Identifiziert euch nicht mit den Dingen, die um euch herum geschehen. Verliert eure Mitte nicht. Bleibt in eurem Wesen verwurzelt. Laufend geschehen Dinge, laufend werden neue Dinge geschehen, aber wenn du in deiner spiegelgleichen Bewußtheit bleibst, wird nichts mehr so sein wie zuvor - dann hat sich das Ganze geändert. Du bleibst unberührt, unschuldig, rein. Nichts kann dich beflecken, absolut nichts, denn nichts bleibt zurück. Du spiegelst einfach wider; einen Moment lang ist jemand da, und dann ist alles wieder fort. Deine Leere bleibt unberührt. Selbst während der Spiegel jemanden spiegelt, geschieht nichts mit dem Spiegel selber. Der Spiegel ändert sich nicht im geringsten; der Spiegel bleibt der gleiche. Das bedeutet, die Wurzel abzuschlagen. Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen kämpfen immer nur mit den Symptomen; sie kämpfen nie mit der wirklichen Wurzel des Ubels, sondern nur mit seinen Erscheinungsformen. Zum Beispiel hast du Fieber, hohes Fieber, über 40 Grad. Jetzt kannst du folgendes tun: du kannst hergehen und eine Dusche nehmen, dich ordentlich kalt abduschen; damit wird der Körper abgekühlt, das Fieber wird sinken. - Aber du bekämpfst damit nur das Symptom, denn die Temperatur ist nicht die Krankheit. Die Temperatur ist nur ein Anzeichen dafür, daß irgendetwas im Körper nicht stimmt. Der Körper ist in Aufruhr, und darum ist die Temperatur angestiegen; der Körper steckt in einer Krise, eine Art Krieg geht im Innern des Körpers vor sich, eine Armee von Bakterien kämpft gegen eine andere, und dadurch ist die Körpertemperatur gestiegen. Du fühlst dich heiß - diese Hitze ist aber nicht das Problem, sondern nur das Symptom. Diese Hitze ist ein sehr, sehr guter Freund, diese Hitze zeigt ganz einfach an, daß du etwas tun sollst, daß da eine Krise ist - und wenn du nur am Symptom herumkurierst, bringst du den Patienten um. Ihm Eis auf den Kopf zu legen, hilft nicht. Eine kalte Dusche hilft ebenfalls nicht. Es schadet, denn die Kühle an der Oberfläche täuscht nur. Wie aber will man mit einer kalten Dusche den inneren Aufruhr, den inneren Kampf der Bakterien beenden? - Sie werden weiter kämpfen und dich am Ende töten. Nur Narren kurieren immer nur an den Symptomen herum. Der Weise forscht nach der Ursache, der eigentlichen Ursache. Er will nicht den Körper abkühlen, sondern an die Wurzel des Problems herankommen: warum wird der Körper heiß? Und wenn etwas an der Wurzel verändert wird, wenn die Ursache behoben wird, wenn sie behandelt wird, dann sinkt die Temperatur von allein. Die Temperatur ist nicht das Problem. Aber im Leben gibt es mehr Narren als Weise. In der medizinischen Wissenschaft haben wir dazugelernt, aber im Leben immer noch nicht. Im Leben machen wir die alten Dummheiten weiter. Wenn du Wut in dir aufsteigen fühlst, fängst du an, sie zu bekämpfen. Wut ist nichts anderes als eine Temperatur; genau das ist sie - eine Temperatur, ein Fieber. Wenn du wirklich wütend wirst, erhitzt sich dein Körper. Aber das zeigt nur, daß bestimmte chemische Wirkstoffe in deinen Blutkreislauf einströmen. Aber auch das ist nicht die Ursache. Diese Wirkstoffe werden aus einem ganz bestimmten Grund freigesetzt - weil du eine Situation hergestellt hast, in der es um Kampf oder Flucht geht. Wenn ein Tier sich in einer Gefahrensituation befindet, hat es zwei Möglichkeiten. Die eine ist: zu kämpfen; die andere: zu fliehen. Für beide Möglichkeiten braucht das Blut bestimmte Gifte, denn in einer Kampfsituation braucht man mehr Energie als gewöhnlich. Wenn du kämpfst, muß dein Blut schneller zirkulieren als gewöhnlich. Wenn du kämpfst, brauchst du Kraftreserven, die für den Notfall eingesetzt werden können, und der Körper hat Kraftreserven. Er sammelt Gifte und Hormone und andere Stoffe in seinen Drüsen an, und stößt sie im Notfall in den Blutkreislauf ab. Das ist der Grund, warum du bei Wut fast dreimal so stark wirst wie gewöhnlich. Wenn du in dir Wut erzeugen kannst, dann werden Dinge möglich, die dir sonst niemals gelingen würden : du kannst einen großen Felsblock werfen, den du normalerweise nicht einmal bewegen kannst. Beim Kämpfen ist so etwas notwendig. Und die Natur sorgt vor. Oder, wenn du fliehen und davonrennen mußt - auch dann wird mehr Energie benötigt, denn der Feind wird dich verfolgen und hetzen. Zwar hat sich alles geändert, der Mensch hat die Zivilisation geschaffen - eine Gesellschaft, eine Kultur, in der animalische Situationen nicht mehr auftauchen. Aber tief im Körper steckt das gleiche Programm. Sobald du in eine Situation gerätst, in der du spürst, daß jemand aggressiv gegen dich wird, daß dich gleich jemand schlägt, dann schaltet sich sofort der Körper ein: er schickt bestimmte Giftstoffe in dein Blut, deine Temperatur steigt an, du siehst rot, dein Gesicht läuft rot an - du bist bereit zu kämpfen oder zu fliehen. Aber das ist noch nicht die wirkliche Ursache, sondern schon die Hilfsreaktion des Körpers. Die Wut im Gesicht, die Wut im Körper ist nicht das Eigentliche; sie ist eine Folge deiner Vorstellungen, sie wird durch deine Interpretation ausgelöst. Es kann auch sein, daß du dir alles nur eingebildet hast. Du gehst nachts im Dunkeln durch eine einsame Straße und siehst einen Laternenpfahl und denkst, es sei ein Geist. Sofort löst der Körper eine Reaktion im Blut aus, er stellt sich auf den Kampf mit dem Gespenst ein - oder auf die Flucht. Deine Vorstellungskraft hat den Mast als Gespenst gedeutet - und der Körper hat sofort reagiert. Du hältst jemanden für einen Feind - der Körper reagiert dementsprechend. Du hältst jemanden für einen Freund - der Körper reagiert dementsprechend. Die eigentliche Ursache ist also im Gehirn zu suchen, in deinen Interpretationen. Buddha sagt, sieh die ganze Welt als deinen Freund an. Warum? Jesus sagt: vergib selbst deinen Feinden - und nicht nur das: liebe sie sogar! Warum? Buddha und Jesus versuchen, eure Interpretationen zu ändern. Aber Tilopa geht noch weiter. Er sagt, selbst wenn du die ganze Welt für deinen Freund hältst, denkst du doch immer noch in Begriffen von Freundschaft und Feindschaft. Selbst wenn du deinen Feind liebst, ist er für dich immer noch dein Feind. Du liebst ihn nur, weil Jesus es gesagt hat.
Damit bist du natürlich besser dran als der Durchschnittsmensch, der seinen Feind haßt, denn du wirst weniger unter Wut leiden. Aber Tilopa sagt, daß schon der Gedanke an Feindschaft oder Freundschaft zu einer Teilung führt. Du bist bereits in die Falle gegangen. Niemand ist dein Freund und niemand ist dein Feind. Das ist die höchste Lehre von allen. Manchmal übertrifft Tilopa selbst Buddha und Jesus. Das liegt vielleicht daran, daß Buddha zu den Massen sprach, während Tilopa nur zu Naropa spricht. Wenn du zu einem Jünger sprichst, der schon sehr weit vorangeschritten ist, dann kannst du ihm die höchsten Früchte herunterholen. Wenn du aber zu den Massen sprichst, mußt du einen Kompromiß schließen. Fünfzehn Jahre lang habe ich ununterbrochen zu den Massen gesprochen, aber schließlich hatte ich immer mehr das Gefühl, daß ich damit aufhören müßte. Ich sprach zu Tausenden von Menschen. Aber wenn du zu zwanzigtausend Menschen sprichst, mußt du einen Kompromiß machen, mußt du dich auf ihre Ebene begeben, sonst ist es vollkommen unmöglich für sie, etwas zu verstehen. Als ich das sah, hörte ich damit auf. Jetzt möchte ich nur noch zu den Naropas sprechen. Es mag euch nicht bewußt sein, aber schon ein einziger Neuer, der hier ankommt - man braucht es mir gar nicht erst zu sagen - verändert die ganze Atmosphäre. Er zieht das Niveau herunter, und plötzlich spüre ich, daß ich einen Kompromiß machen muß. Je höher ihr kommt, desto höher steigt eure Energie, und desto höhere Lehren können euch vermittelt werden. Und schließlich kommt der Augenblick, in dem Naropa vollendet ist, und Tilopa schweigt. Dann braucht nichts mehr gesagt zu werden, denn selbst das Sprechen ist schon ein Kompromiß. Dann genügt das Schweigen, dann ist Schweigen genug; dann ist es schon genug, einfach nur beisammen zu sitzen. Dann sitzen Meister und Jünger zusammen und tun nichts, sie sind nur beisammen - und nur so kommt es zu der letzten und höchsten Einsicht. Es kommt also auf die Jünger an. Es hängt von euch ab, wieviel ihr mir erlaubt, euch zu geben. Was ich euch bringe, ist nicht nur für eure Erkenntnis gedacht - das natürlich auch - aber es hängt von euch ab, wieviel ich überhaupt auf die Erde bringen kann, denn ihr seid die Zwischenträger. In dieser Beziehung hatte es Jesus nicht leicht mit seinen Jüngern, denn sie waren nicht sehr weit; sie waren ganz gewöhnliche Leute. Jesus, obwohl er etwas vollkommen Neues anfangen will, muß nun aber Kompromisse schließen mit Dummheiten. Noch am Abend bevor er gefangen genommen wird, fragen ihn seine Jünger: »Meister, sage uns: Im Reich Gottes wirst du selbstverständlich zur Rechten Gottes sitzen, rechts vom Thron, aber wir zwölf, in welcher Reihenfolge werden wir sitzen? Was ist die Rangfolge? Wer wird dir am nächsten sitzen und wer kommt dann?« Jesus steht kurz vor dem Tod und diese törichten Jünger fragen ihn völlig absurde Dinge. Sie sind um die Hierarchie im Reich Gottes besorgt, und wer Jesus am nächsten sein darf. Soviel können sie natürlich vorhersehen: daß Jesus zur Rechten Gottes sitzen wird - aber dann, wer wird Jesus zur Rechten sitzen? Kindische Egos. Und mit diesen Leuten muß sich Jesus auf einen Kompromiß einlassen. Kein Wunder, daß die Lehren von Jesus sich nicht bis in solche Höhen aufschwingen konnten; für Buddha war das ein Leichtes, denn er spricht nicht zu solchen Kindsköpfen, sein ganzes Leben lang stellte ihm kein Mensch eine so dumme Frage. Und dennoch - kein Vergleich mit Tilopa. Tilopa hat nie zu den Massen gesprochen. Er suchte sich einen einzelnen Mann, eine einzelne, hochentwickelte Seele, Naropa, und sagte: »Um deinetwillen, Naropa, werde ich dir Dinge sagen, die nicht gesagt werden können; um deinetwillen, und weil du so tief vertraust, muß ich es tun.« Und darum konnte sich seine Lehre bis in die fernsten Himmel hochschwingen. Jetzt versucht, dies Sutra zu verstehen. Schlag einem Baum die Wurzeln ab, und seine Blätter welken; Schlag deinem Geist die Wurzeln ab, Und das Rad der Welt zerfällt. Jedes beliebige Licht vertreibt in einem Augenblick Die Dunkelheit ganzer Zeitalter. Das starke Feuer des Geistes verbrennt mit einem Blitz Den Schleier der Unwissenheit. >Schlag einem Baum die Wurzeln ab, und seine Blätter welken;< Aber normalerweise versuchen die Leute, die Blätter zu beschneiden. Nur geht es so nicht; die Wurzel wird auf diese Weise nicht absterben. Im Gegenteil, je mehr Laub beschnitten wird, desto üppiger wuchert es nach. Für ein Blatt wachsen drei nach, denn wenn man die Blätter stutzt, regt das die Wurzeln an, um den Baum zu schützen. Jeder Gärtner weiß daher, wie man einen Baum üppiger und dichter machen kann - man braucht ihn nur öfters zu beschneiden. Er wird dadurch immer üppiger, die Wurzeln fühlen sich herausgefordert; du schneidest ein Blatt ab, und die Wurzeln schicken drei nach, um dem Körper des Baumes Schutz zu leisten, denn das Laub ist die Außenhaut des Baumes. Das Laub ist nicht nur dazu da, damit ihr eure Freude daran habt, um den Anblick zu genießen und in seinem Schatten zu sitzen; nein, Blätter bilden die Körperoberfläche des Baumes. Durch seine Blätter nimmt der Baum Sonnenstrahlen auf, durch seine Blätter verdunstet Feuchtigkeit, durch seine Blätter ist der Baum in Kontakt mit dem Kosmos. Das Laub ist die Haut des Baumes. Schneide ein Blatt ab, und die Wurzeln fühlen sich herausgefordert: sie schicken drei nach. Sie wachen jetzt erst recht auf, sie dürfen nicht mehr schläfrig bleiben. Der Baum wird angegriffen: er muß verteidigt werden. Und im Leben ist es nicht anders, denn das Leben ist auch ein Baum. Es hat Wurzeln und Blätter. Wenn du die Wut beschneidest, werden sich drei Blätter an ihre Stelle setzen: du wirst
dreimal so wütend werden. Beschneidest du den Sex, wirst du zum Sex-Besessenen. Beschneide, was du willst, und siehe da, es kommt dreifach gestärkt zurück. Und dann sagt der Verstand: »Du mußt noch mehr wegschneiden, es war nicht genug.« Dann schneidest du noch mehr weg, und noch mehr kommt nach - du steckst in einem Teufelskreis. Der Verstand hört nicht auf zu fordern: »Es reicht immer noch nicht, du mußt wieder schneiden«. Aber genau deshalb kommen so viele Blätter nach. Du kannst alle Zweige wegnehmen, aber das wird keinen Unterschied machen, weil der Lebensnerv des Baumes in der Wurzel sitzt, und nicht in seinen Blättern. Tantra sagt: versuch nicht, die Blätter zu beschneiden - Wut, Habgier, Sex - gib dich nicht erst damit ab; es ist einfach Dummheit. Geh gleich an die Wurzel und schlage sie durch, dann verdorrt der Baum von allein, ohne daß du nachhelfen mußt. Die Blätter werden verschwinden, die Zweige und Äste werden verschwinden - du brauchst ihn nur an der Wurzel durchzuhauen. Identifikation ist die Wurzel; alles andere ist nichts als Blätterwerk. Identifikation mit der Gier, Identifikation mit der Wut, Identifikation mit dem Sex - das ist die Wurzel. Und denk daran: es bleibt sich gleich, ob du nun mit Habgier, Sex oder gar Meditation identifiziert bist. Liebe, Moksha, Gott - das macht keinen Unterschied, es ist und bleibt Identifikation. Identifikation ist die Wurzel, alles andere folgt wie die Blätter. Laß die Blätter in Ruhe, beschneide sie nicht, an ihnen liegt es nicht. Das ist es auch genau, warum Tantra nichts davon hält, am Charakter herumzuverbessern. Das mag zu einer guten äußeren Form führen - wenn man einen Baum beschneidet, kann man ihm jede beliebige Form geben - aber der Baum bleibt unverändert derselbe. Charakter ist nichts als äußere Form - aber du bleibst derselbe, es tritt keine qualitative Veränderung ein. Tantra geht in die Tiefe und verlangt: schlage die Wurzel durch! Tantra ist deswegen sehr mißverstanden worden. Denn Tantra sagt: wenn du habgierig bist, sei habgierig; kümmere dich nicht um deine Habgier. Wenn du sexuell bist, dann sei sexuell, du brauchst dich kein bißchen darum zu scheren. Solche Lehren kann aber keine Gesellschaft dulden - was sagen diese Leute da? Sie stiften Verwirrung! Sie werden noch die gesamte Ruhe und Ordnung zum Einsturz bringen. Keiner begreift freilich, daß nichts außer Tantra den Geist der Gesellschaft wirklich verändern kann, und daß nur Tantra die wahre Ordnung, die natürliche Blüte der inneren Disziplin hervorbringt - einen anderen Weg gibt es nicht. Aber es ist eine sehr tiefgreifende Veränderung - man muß die Wurzel durchschlagen. Beobachte deine Habgier, beobachte den Sex, beobachte die Wut, die Herrschsucht, den Neid. Nur eines darfst du nicht vergessen: identifiziere dich nicht, beobachte nur. Schau nur zu, werde zum Zaungast. Mit der Zeit wächst in dir die Eigenschaft des unbeteiligten Zuschauers. Nach und nach wirst du ein besserer Beobachter; du wirst fähig sein, deine Habgier bis in die feinsten Nuancen zu studieren. Du wirst in der Lage sein zu erkennen, wie subtil das Ego funktioniert, mit wie versteckten Mitteln es arbeitet. Es ist kein grober Klotz. Es fädelt seine Sache sehr vorsichtig ein und ist kaum zu packen. Je mehr du beobachtest, desto scharfsichtiger werden deine Augen, desto mehr nehmen sie wahr, desto mehr siehst du und um so tiefer dringst du, und umso größer wird der Abstand zwischen dir und allem, was du tust. Abstand hilft, denn ohne Abstand ist keine Wahrnehmung möglich. Wie kannst du etwas erkennen, das dir zu dicht vor Augen steht? Wenn du zu nahe an den Spiegel herangehst, kannst du dein Spiegelbild nicht sehen. Wenn deine Augen den Spiegel berühren, wie kannst du dann sehen? Ohne Abstand geht es nicht. Und nur durch Zuschauen gewinnst du diesen Abstand. Versuch es, und du wirst sehen. Geh in den Sex hinein; nichts ist verkehrt daran. Nur: bleibe Zuschauer. Beobachte alle Bewegungen deines Körpers; beobachte, wie deine Energie ein- und ausfließt, beobachte, wie deine Energie abwärts fließt; beobachte den Orgasmus, was genau passiert - wie sich zwei Körper in einem einzigen Rhythmus bewegen; wie das Herz schlägt, wie es schneller und schneller wird, wie es sich einen Moment lang fast überschlägt, wie wahnsinnig. Beobachte die Wärme des Körpers, das beschleunigte Blut in deinen Adern. Beobachte deinen Atem, wie wild und chaotisch er wird. Beobachte den Punkt, wo deine Willkür aufhört und alles unwillkürlich wird. Beobachte den Punkt, von dem aus du noch zurück könntest, und nach dem es kein Zurück mehr gibt. Der Körper wird so automatisch, daß du alle Kontrolle verlierst. Genau im Augenblick vor der Ejakulation verlierst du alle Kontrolle, und der Körper macht sich selbstständig. Beobachte es: die willkürlichen Bewegungen und den unwillkürlichen Prozeß. Den Augenblick, wo du noch in Kontrolle warst und noch zurückgekonnt hättest, wo der Rückweg noch offen war, und den Augenblick, in dem du nicht mehr zurück kannst, wo der Rückzug versperrt ist - jetzt hat sich der Körper vollends deiner bemächtigt und du bist außer Kontrolle. Beobachte alles - und es gibt tausend Dinge zu beobachten. Alles ist so vielschichtig, aber nichts ist so vielschichtig wie der Sex, denn du bist als Ganzes, als Körper und als Geist, daran beteiligt - nur der Beobachter ist nicht beteiligt, weil er immer außerhalb bleibt. Der >Seher< ist ein Außenseiter. Seiner ganzen Natur nach kann der >Seher< nie dazu gehören. Suche diesen Seher, und du findest dich auf der Höhe eines Berges; alles spielt sich im Tal ab, aber das betrifft dich nicht. Du schaust nur. Was geht es dich an? Es ist, als geschähe es einem andern. Und dasselbe gilt für die Habgier und für die Wut; alles ist vielschichtig. Und du hast deine Freude dabei, es genau zu beobachten: das Negative, das Positive, all die verschiedenen Gefühle. Du erinnerst dich immer nur an eines: daß du der unbeteiligte Zuschauer bleiben mußt; dann ist die Identifikation gebrochen, dann ist die Wurzel durchgehauen. Und ist sie erst einmal abgeschnitten, ist dir erst einmal klar, daß du nicht der Handelnde bist, dann ändert sich alles mit einem Schlag. Und diese Anderung ist etwas Plötzliches, von Allmählichkeit kann keine Rede mehr sein. Schlag einem Baum die Wurzeln ab,
Und seine Blätter welken; Schlag deinem Geist die Wurzeln ab, Und das Rad der Welt zerfällt. Im gleichen Augenblick, in dem du dem Geist die Wurzel abschlägst, deine Identifikation mit ihm löst, bricht das Weltenrad auseinander, zerfällt die ganze Welt wie ein Kartenhaus. Nur ein kleiner Windstoß an Bewußtsein, und das ganze Haus fällt in sich zusammen. Plötzlich bist du hier, aber nicht mehr in der Welt - du hast sie hinter dir gelassen. Du kannst genauso weiterleben wie zuvor, die alten Dinge weitermachen - aber nichts ist mehr wie zuvor, weil du nicht mehr der Alte bist. Du bist ein vollkommen neues Wesen - neu geboren. Die Hindus nennen es dwji - >zweimal geboren<. Ein Mensch, der dahin gelangt ist, ist >zweimal geboren<, er hat eine zweite Geburt erlebt. Und das ist die Geburt der Seele. Das ist es, was Jesus mit Wiederauferstehung meint. Wiederauferstehung ist nicht die Wiederauferstehung des Fleisches; es ist eine Neugeburt: die Geburt des Bewußtseins. Schlag einem Baum die Wurzeln ab, Und seine Blätter welken; Schlag deinem Geist die Wurzeln ab, Und das Rad der Welt zerfällt. Jedes beliebige Licht vertreibt in einem Augenblick Die Dunkelheit ganzer Zeitalter. Macht euch also keine Gedanken darüber, wie wohl die Dunkelheit von vielen, vielen Millionen Leben durch ein plötzliches Licht vertrieben werden kann. Das Licht vertreibt die Dunkelheit deshalb, weil Dunkelheit keine Dichte, keine Substanz hat. Ob sie eine Sekunde oder tausend Jahre alt ist, macht keinen Unterschied. Abwesenheit kann weder zu- noch abnehmen, Abwesenheit bleibt sich immer gleich. Licht ist substantiell, es hat positive Existenz - Dunkelheit ist nur ein Fehlen von Licht. Es wird hell - und die Dunkelheit ist nicht mehr da. Die Dunkelheit wird in Wirklichkeit nicht einmal vertrieben, denn da gibt es überhaupt nichts zu vertreiben. Es ist ja nicht so, daß du das Licht anzündest und damit die Dunkelheit auslöschst. Da gibt es gar nichts auszulöschen. Es war ja gar nichts da - es fehlte nur das Licht. Es wird Licht - und das Dunkle ist nicht mehr. Das starke Feuer des Geistes verbrennt mit einem Blitz Den Schleier der Unwissenheit. Die Buddhisten benutzen das Wort »Geist« in zweierlei Sinn. Um es zu veranschaulichen: Geist mit einem kleinen »g« und Geist mit einem großen »G«. Wenn sie vom Geist mit großem »G« sprechen, meinen sie den Seher, das Bewußtsein. Wenn sie vom Geist mit kleinem »g« sprechen, meinen sie das, was beobachtet wird. Und beides ist Geist - darum benutzen sie für beides das gleiche Wort - nur mit dem bewußten kleinen Unterschied. Als Geist mit großem »G« bist du der Zeuge, der Zuschauer, der Seher, mit kleinem »g« dagegen das, was der >Seher< sieht: Gedanken, Gefühle, Wut, Gier, alles mögliche. Warum dasselbe Wort benutzen, warum Verwirrung stiften? Aus einem ganz bestimmten Grund: wenn der Geist mit dem großen »G« auftritt, verschluckt er ganz einfach den Geist mit dem kleinen »g«. So, wie die Flüsse im Meer aufgehen, wird die kleinere Energie von der größeren absorbiert. Gier, Wut, Eifersucht - das waren Energien, die nach außen strebten, zentrifugale Kräfte. Und plötzlich, wenn sich der große Geist erhebt, wenn da plötzlich der Seher sitzt und schweigend zuschaut, ändern alle Flüsse ihren Kurs. Sie suchten die Peripherie, strebten nach außen - jetzt plötzlich kehren sie um, jetzt streben sie der Mitte zu. Mit zentripedaler Kraft strömen sie in den großen Geist ein - alles geht in ihm auf. Deshalb umfaßt das gleiche Wort beides. Das starke Feuer des Geistes verbrennt mit einem Blitz Den Schleier der Unwissenheit. In einem einzigen Augenblick wird alles Unwissen verbrannt - das ist plötzliche Erleuchtung. Wer sich an den Geist klammert, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits davon ist. Wenn du dich an den kleinen Geist klammerst, an dein Denken und deine Gefühle, bleibst du blind für alles, was jenseits dieses kleinen Geistes liegt - für den großen Geist - denn wie sollte das möglich sein? Wenn du dich festklammerst, klebt dein Bewußtsein an dem, woran du dich klammerst. Wie kannst du das Subjekt erkennen, wenn du dich an das Objekt klammerst? Du mußt dein Klammern aufgeben. Wer sich an den Geist klammert, ist identifiziert, er Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits davon ist.
Wer sich bemüht, das Dharma einzuüben, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits aller Übung ist. Alles Üben ist Sache des kleinen Geistes. Alles Tun kommt aus dem kleinen Geist. Das unbeteiligte Schauen ist das einzige, was über den kleinen Geist hinausgeht. Merkt es euch. Bleibe also auch noch während du eine Meditationstechnik anwendest, immer Beobachter, schaue ständig zu, was passiert. Du wirbelst gerade in einer Derwisch-Meditation im Kreise herum? - dreh dich, dreh dich so schnell du nur kannst, aber bleib innen Zeuge und schau zu, wie sich der Körper dreht. Der Körper dreht sich immer schneller und schneller, und je schneller er wirbelt, desto eindringlicher erkennst du, daß sich in der Mitte des Wirbels nichts regt. Du stehst still, der Körper dreht sich wie ein Rad, und du stehst genau in der Mitte still. Je schneller sich der Körper bewegt, desto klarer wird dir, daß du dich tatsächlich nicht bewegst - und plötzlich siehst du den Abstand. Es ist gleich, was du tust, selbst Meditation - ich mache also keine Ausnahme - klammere dich nicht daran fest, denn schließlich mußt du irgendwann auch von der Meditation lassen, mußt du diesen letzten Krückstock wegwerfen. Meditation ist erst dann wirklich Meditation, wenn du keine Technik mehr dazu brauchst. Wenn die Meditation perfekt ist, brauchst du nicht mehr zu meditieren. Verlier es also nie aus dem Gedächtnis, daß Meditation nur als Brücke dient; man überquert sie, man baut sich kein Haus auf ihr. Du benützt sie und gehst weiter. Meditation ist nur eine Brücke; auch das mußt du beachten, denn sonst kommst du vielleicht von deiner Identifikation mit Wut und Habgier los, aber stattdessen hast du dich mit Meditation und Menschenliebe identifiziert. Dann bist du wieder in der gleichen Falle, dann hast du dich durch die Hintertür ins gleiche Haus zurückgeschlichen. Mulla Nasrudin kam einmal in die Kneipe der kleinen Stadt - schon so betrunken, daß der Barmann zu ihm sagte: »Mach, daß du rauskommst. Du bist ja sternhagelblau, du bekommst keinen Tropfen, geh nach Haus.« Aber Mulla ließ sich nicht abwimmeln, und so mußte der Barmann ihn hinauswerfen. Lange suchte er nach einer anderen Kneipe. Schließlich kam er in dieselbe Kneipe zurück - durch eine andere Tür. Der Barmann kam ihm verdächtig bekannt vor, aber trotzdem bestellte er. Der Mann sagte: »Ich hab dir ein für allemal gesagt, heute abend ist Schluß, heute kriegst du nichts von mir. Raus jetzt.« Und weil er so widerspenstig war, mußten sie Nasrudin erneut rauswerfen. Wieder wanderte er herum, auf der Suche nach einer Bar. Aber es gab nur eine Kneipe in dieser Stadt. Also ging er durch eine dritte Tür wieder hinein, sah den Barmann - allzu vertraut! - und sagte: »Verdammt noch mal - gehören dir denn alle Kneipen in diesem Kaff?« So spielt es sich ab. Du wirst durch die eine Tür hinausgeworfen und kommst durch die nächste wieder herein. Erst warst du mit deiner Wut, mit deiner Wollust identifiziert; jetzt identifizierst du dich mit deiner Meditation. Es ist das gleiche - das Kaff hat nur eine Kneipe. Sieh zu, daß du nicht immer wieder in dieselbe Kneipe kommst. Egal, durch welche Tür du eintrittst - du findest immer den gleichen Besitzer- und das ist der >Seher,. Vergiß es nicht - sonst verschwendest du nur unnötig Energie. Du legst riesige Entfernungen zurück, nur um in die gleiche Falle zu gehen. Wer sich an den Geist klammert, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits davon ist. Was ist jenseits vom Geist? Du. Was ist jenseits vom kleinen Geist? Der große Geist: Bewußtheit. Was ist jenseits vom kleinen Geist? >Sat-Chit-Ananda< - Wahrheit, Bewußtheit, Glückseligkeit. Wer sich bemüht, das Dharma einzuüben, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits aller Übung ist. Und welche Ubungen du auch machst - praktische Übungen, merk dir das, können dich nicht dahin führen, gelöst und natürlich zu sein, weil Ubung bedeutet, daß man etwas praktiziert, was es nicht gibt. Üben ist immer nur etwas Künstliches. Die Natur läßt sich nicht üben; das ist nicht nötig; es ist schon alles da. Du lernst etwas, was es gar nicht gibt. Wie willst du etwas lernen, was schon da ist? Wie willst du die Natur erlernen? Das Tao? Es ist ja schon da! Du bist hineingeboren worden. Du brauchst dir nicht erst einen Lehrer zu suchen, der es dir beibringt - und das ist der Unterschied zwischen einem Lehrer und einem Meister. Ein Lehrer ist jemand, der dir etwas beibringt; ein Meister ist jemand, der dir hilft, alles zu verlernen, was du bereits gelernt hast. Ein Meister ist dazu da, dir beim Verlernen zu helfen. Ein Meister ist dazu da, dir einen Geschmack von dem zu geben, was sich nicht üben läßt. Es ist schon da, aber durch dein erlerntes Wissen hast du es verloren. Durch Verlernen kannst du es zurückgewinnen. Die Wahrheit ist keine Entdeckung, sondern eine Wiederentdekkung. Es gab sie schon von Anfang an. Sie war da bei deiner Geburt, sie war mit dir, als du in diese Welt geboren wurdest. Denn du bist die Wahrheit. Anders ist es nicht möglich. Sie ist nichts Äußerliches, sie ist in dich hineinverwoben, sie ist dein ureigenes Wesen. Solange du also Ubungen machst, sagt Tilopa, kannst du nicht erkennen, was jenseits aller Ubung ist. Mach dir immer wieder klar, daß alles, was du ausübst, zum kleinen Geist gehört, zur Peripherie, und daß du es hinter dir lassen mußt. Aber wie? Lebe ruhig weiter, daran ist nichts verkehrt, aber sei wachsam; meditiere, aber sei auf der Hut - denn im höchsten Wortsinn heißt Meditation Wachsamkeit, reines Schauen.
Alle Meditationstechniken können hilfreich sein, aber Meditation im eigentlichen Sinne sind sie nicht. Sie tasten alle im Dunkeln. Eines Tages plötzlich - du bist gerade mit irgendetwas beschäftigt - erwacht in dir der >Seher<. Eines Tages, mitten in der Dynamischen Meditation oder der Kundalini Meditation oder beim Derwisch-Wirbeln, geht plötzlich die Meditation von allein weiter, ohne daß du noch mit ihr identifiziert bist. Du stehst schweigend daneben und schaust zu - das ist der Tag, wo es zur wirklichen Meditation kommt. Von dem Tag an ist die Methode weder Hilfe noch Hindernis. Du kannst sie genießen, wenn du magst, wie eine Körpergymnastik, sie verleiht eine gewisse Vitalität, aber jetzt ist sie nicht mehr notwendig - jetzt hat die wirkliche Meditation eingesetzt. Meditieren heißt zuschauen. Meditieren heißt, zum >Seher< werden. Meditation hat mit Methode nicht das geringste zu tun. Das wird euch ziemlich verwirren, weil ich euch laufend neue Techniken empfehle. Aber im eigentlichen Sinne ist Meditation keine Technik; Meditation ist Einsicht, ist Bewußtheit. Aber diese Techniken sind deshalb nötig, weil ihr von jener tiefsten Erkenntnis weit entfernt seid; sie liegt tief in euch selbst verborgen, aber ist euch dennoch sehr, sehr fern. Du könntest sie in diesem Augenblick erreichen, aber du kannst es deshalb nicht, weil dein Geist nicht in diesem Augenblick bleiben kann, weil er zum nächsten weiterwandert. Es ist in diesem Augenblick möglich und zugleich unmöglich. Und Übungsmethoden sind nur dazu da, diese Lücke zu überbrücken, dir über diese Entfernung hinwegzuhelfen. Anfangs also sind Techniken für dich Meditationen; am Ende lachst du nur darüber: Meditation hat nichts mit Technik zu tun. Meditation ist eine vollkommen andere Seinsdimension - sie ist an nichts gebunden. Aber sie kann erst am Ende zustandekommen; bildet euch also nicht ein, daß sie schon zu Beginn eintritt. Sonst schließt sich die Lücke nie. Das ist das Problem mit Krishnamurti, und das ist das Problem mit Maharishi Mahesh Yogi - sie stellen die beiden entgegengesetzten Extreme dar. Mahesh Yogi hält Techniken für Meditation. Ihm zufolge bist du schon in Meditation, wenn du dich nur erst in einer Technik heimisch fühlst - ob in transzendentaler Meditation oder sonst irgendeiner Technik. Das ist richtig und unrichtig. Richtig, weil der Anfänger sich zunächst auf eine bestimmte Technik einstimmen muß, denn sein Auffassungsvermögen ist noch nicht reif, das Höhere zu verstehen. Als erste Annäherung verstanden, ist eine Technik gewissermaßen Meditation. Es ist genau wie mit einem kleinen Kind, das das Alphabet lernt - wir sagen dem Kind, daß du >A< brauchst, wenn du >Affe< sagst; der Affe steht für das A. Das A wird mit dem Affen assoziiert, und so fängt das Kind zu lernen an. Zwischen einem A und einem Affen besteht nicht die geringste Verbindung. Das A ließe sich durch tausend andere Dinge darstellen, und wäre doch mit keinem davon identisch. Aber das Kind muß irgendein Bild vor Augen sehen, und ihm sagt der Affe mehr als das A - den Affen kann es begreifen, das A nicht. Und durch den Affen kann es das A verstehen - aber mit dem Affen fängt es nur an, mit ihm hört es nicht auf. Maharishi Yogi hat also für den Anfang recht: Methoden bringen dich auf den richtigen Weg; wenn du vom Maharishi Yogi nicht wieder loskommst, bist du verloren. Man muß über ihn hinaus, er ist eine Grundschule. Gut für den Anfang, aber man kann schließlich nicht ewig in den Kinderschuhen steckenbleiben. Die Grundschule ist nicht die Universität, die Grundschule ist nicht das Universum; man muß sie verlassen. Es ist eine kindliche Vorstellung, daß Meditation etwas mit Technik und Methode zu tun hat. Dann ist da Krishnamurti am anderen Extrem: er sagt, daß es überhaupt keine Techniken, keine Meditationsmethoden gibt; daß ihr euch nicht mit Techniken herumschlagen sollt, daß Meditation ganz einfach Bewußtheit ist, wahlloses Bewußtsein. Und recht hat er! - Aber er will euch zur Universität zulassen, ohne daß ihr durch die Grundschule gegangen seid. Er kann euch gefährlich werden, weil er vom Allerhöchsten spricht. Ihr könnt es nicht verstehen, in eurem gegenwärtigen Bewußtseinszustand ist das nicht möglich. Ihr würdet wahnsinnig werden. Wenn ihr euch auf Krishnamurti einlaßt, seid ihr verloren, denn intellektuell werdet ihr verstehen, daß er recht hat, aber in eurem Sein spürt ihr dabei nicht die geringste Veränderung. Viele, die Krishnamurti folgen, sind schon zu mir gekommen und sagen, daß sie intellektuell alles verstehen: »Natürlich hat er recht, es gibt keine Techniken, und Meditation ist Bewußtheit - aber was sollen wir tun?« Und ich sage ihnen, daß man in dem Augenblick, wo man danach fragt, was man tun soll, zu erkennen gibt, daß man eine Methode braucht: »Was soll ich tun?« - Man fragt nach dem Wie, fragt nach einer Technik. Krishnamurti verweigert jede Hilfe. Dann ist man besser bei Maharishi Yogi aufgehoben. Die einen also stecken bei Krishnamurti in der Sackgasse, und die anderen bei Maharishi Mahesh Yogi. Ich bin weder noch. Oder aber: Ich bin beide. Aber das heißt, daß ich euch sehr verwirre. Alle beide sind durchschaubar, ihre Standpunkte sind klar begrenzt. Bei ihnen gibt es keine Verständnisprobleme. Aber bei mir gibt es welche, denn ich rede ständig vom Anfang, ohne je zuzulassen, daß ihr das Ende vergeßt. Oder ich rede ständig vom Ende und helfe euch gleichzeitig, beim ABC anzufangen. Das verwirrt euch, ihr wundert euch, was das wohl zu bedeuten hat - einerseits sagt er, daß Meditation nichts als Bewußtheit ist, und andererseits gibt es Gruppen und Meditationen! Ihr müßt durch sie hindurch; nur dann kommt es zur Meditation - die nichts weiter ist als reines Verstehen. Oder ihr wendet ein, »wenn sich alles um Techniken dreht, warum besteht er dann immer wieder darauf, daß man alle Techniken hinter sich lassen, fallen lassen soll?« Ihr fragt euch, warum etwas, das so tief geht, das mit soviel Mühe und Kraftanstrengung erworben worden ist, wieder fallengelassen werden soll. Ihr klammert euch an die ersten Schritte. Aber das lasse ich nicht zu. Wenn ihr erst einmal auf die Beine gekommen seid, dann stoße ich euch voran, bis ihr den letzten Schritt getan habt. Das ist das Problem. Wer zu mir kommt, muß sich diesem Problem stellen, muß sich damit auseinandersetzen und es verstehen. Ich erscheine widersprüchlich. Ich bin es. Ich bin ein Paradox - weil ich euch gleichzeitig den Anfang und
das Ende zu geben versuche, den ersten und den letzten Schritt. Tilopa spricht vom Allerhöchsten. Er sagt: Wer sich bemüht, das Dharma einzuüben, Erkennt die Wahrheit nicht, die jenseits aller Übung ist. Wer wissen will, was jenseits von Geist und Übung ist, der darf sich an nichts anklammern, der ... Durchhaut mit einem Schlag die Wurzeln seines Geistes, Und starrt mit nacktem Blick. Und das nenne ich: >sehen<: mit nacktem Blick zu starren. Ein nackter Blick ist alles, was man braucht, und die Wurzel ist abgehauen. Dies nackte Starren ist wie ein scharfes Schwert. So wirst du frei von aller Unterscheidung Und ruhst in dir. Gelöst, natürlich, mit bloßem Auge nach innen schauen: - Das ist das letzte Wort. Aber du mußt behutsam vorgehen, denn der Intellekt ist ein sehr feiner Mechanismus. Wenn du zu sehr in Eile bist und eine zu große Dosis von Tilopa schluckst, dann ist es möglich, daß du sie nicht verkraften und verdauen kannst. Gehe langsam voran; nimm immer nur soviel auf, wie du verdauen und verkraften kannst. Und so auch mit mir: Ich sage viele Dinge, weil ihr viele seid, und ich zeige mich auf vielen Ebenen, weil ihr viele seid. Aber nimm nur das an, was dich nähren kann, was du auch verdauen kannst. Erst vorgestern kam ein Sannyasin zu mir - ein aufrichtig Suchender, den es verwirrte, was ich über Yoga und Tantra gesagt hatte, nämlich daß Tantra die höhere Lehre sei, daß es dem Yoga überlegen sei; er hat nun seit zwei Jahren Hatha-Yoga praktiziert und fühlt sich dabei wohl. Aber jetzt plötzlich wußte er nicht mehr, was er davon halten sollte. Laßt euch nicht so einfach verwirren. Wenn dir Yoga zusagt, dann folge deiner natürlichen Neigung. Laß dich nicht durch mich verwirren. Ich kann verwirrend sein, aber folge einfach deiner natürlichen Neigung - gelöst und natürlich. Wenn du dich wohl fühlst dabei, dann ist es gut für dich. Warum sich den Kopf zerbrechen, ob es das Höhere oder das Niedere ist? Laß es das Niedere sein! Aber jetzt mischt sich das Ego ein und sagt: »Wenn es das Niedere ist, warum gebe ich mich dann damit ab?« Solche Fragen führen zu nichts. Folge dem, was für dich richtig ist. Und was tut es schon, wenn es das Niedrige ist? Der Augenblick wird kommen, wo du durch das Niedere zum Höheren aufsteigst. Die Treppe hat zwei Enden: am einen ist die niedrigste Stufe, am anderen Ende die höchste. Genauso sind Yoga und Tantra keine Gegensätze, sondern sie ergänzen sich. Yoga ist die erste Stufe, die Grundstufe, von der du ausgehen mußt. Nur darf man sich nicht darauf festlegen. Es kommt der Augenblick, wo man über Yoga hinaus muß, und sich auf Tantra einlassen muß. Und schließlich und endlich muß man die ganze Treppe hinter sich lassen - beides, Yoga und Tantra. Wenn du in dir allein bist, tief in dir ruhst, ist alles vergessen. Schaut mich an: ich bin weder ein Yogi noch ein Tantriker. Ich mache nichts, weder Übungen noch Nicht-Übungen. Ich klammere mich weder an Methoden noch an Nicht-Methoden. Ich bin einfach hier, in mir ruhend, und tue nicht das geringste. Für mich gibt es jetzt keine Treppe mehr, der Weg ist verschwunden: nichts bewegt sich; alles ist restlos still. Wenn man nach Hause zurückkehrt, gibt es nichts mehr zu tun; man vergißt einfach alles und ruht - Gott ist die absolute Muße. Denkt daran, wenn ich das eine Mal über Tantra und das andere Mal über Yoga spreche; denn vielen unter euch ist mit dem einen geholfen, und vielen mit dem anderen. Ihr aber haltet euch am besten nur an eure eigene Neigung: folgt eurem eigenen Gefühl. Ich bin dazu da, jedem einzelnen von euch dabei zu helfen, du selbst zu sein, und nicht, um dich von dir abzubringen. Aber ich muß die unterschiedlichsten Dinge sagen, weil ich den verschiedensten Menschen helfen muß. Was sollst du also tun? Höre einfach zu, und sobald du etwas findest, das dir bekommt, das du verdauen kannst, dann kaue es gut durch und verdaue es. Laß es dir in Fleisch und Blut übergehen, laß es zum Mark deiner Knochen werden - aber folge deiner natürlichen Neigung. Und noch etwas: wenn ich über Tantra spreche, dann bin ich ganz und gar davon erfüllt - denn so bin ich nun mal; ich kann nicht parteiisch sein, ich muß in allem, was ich tue, total sein. Wenn ich von Tantra spreche, dann gehe ich vollkommen darin auf, dann ist nichts anderes mehr wichtig, nur noch Tantra gilt. Das mag euch einen falschen Eindruck geben. Ich vergleiche nicht kritisch, das interessiert mich nicht; Tantra ist für mich das Größte - die allerhöchste Blüte. Wenn ich mich ungeteilt Tantra zuwende, dann ist es wirklich so. Wenn ich dann über Yoga spreche, passiert wieder das gleiche, denn ich bin ungeteilt. Es hat also gar nichts mit Tantra oder Yoga zu tun sondern mit der Totalität, die ich in alles hineintrage. Wenn ich mich dem Yoga und Patanjali zuwende, werde ich wieder sagen, daß das das Allerhöchste sei. Laßt euch also nicht ablenken; vergeßt nie, daß es meine Intensität ist, daß es das ist, was ich von mir hineinlege. Wenn du das nicht vergißt, dann kann ich dir helfen. Dann kann dich nichts mehr verwirren - nicht einmal mein paradoxes Wesen.
Der Gesang geht weiter: Man sollte weder geben noch nehmen, Sondern natürlich bleiben - denn Mahamudra Liegt jenseits von Hinnahme und Weigerung. Weil alaya nicht geboren wird, Kann niemand es hindern oder beflecken; Wer im Ungeborenen Reich verweilt, Dem löst sich aller Schein ins Dharmata auf, Und Eigenwille und Stolz verschwinden im Nichts.
XI. WEITER UND IMMER WEITER 19. Februar 1975 Der gewöhnliche Mensch möchte sich mehr und mehr von der Welt aneignen; mehr aus jeder Richtung, egal woher, mehr auf jeder Ebene. Der gewöhnliche Mensch ist nur aufs Nehmen aus. Er ist ein Bettler, und seine Bettelei ist von Natur aus nicht zu befriedigen. Sie ist unersättlich. Je mehr man bekommt, desto größer werden die Wünsche - »je mehr man hat, je mehr man will.« Es wird zur Besessenheit, zur Gier. Sie ist kein echter Trieb der Natur, sondern du bist wie besessen und wirst immer unzufriedener, weil dir nichts gut genug ist. Den Geist der ständig nach mehr fragt, kann nichts befriedigen. Das »Mehr« ist wie ein Fieber, ungesund, es kennt einfach kein Ende. Der gewöhnliche Mensch verschlingt immer nur - metaphorisch gesprochen - und zwar nicht nur Dinge, sondern auch Menschen. Der Ehemann will seine Frau so restlos und total in seiner Gewalt haben, daß er sie in gewisser Weise verschlingt; am liebsten würde er sie auffressen und sich ganz einverleiben. Die gewöhnliche Einstellung ist kannibalisch. Und die Frau will das gleiche: den Mann mit Haut und Haar verschlingen, ohne Rest. Eheleute töten einander. Und Freunde auch. Eltern tun es ihren Kindern an, Kinder ihren Eltern; alle Beziehungen der gewöhnlichen Menschen laufen darauf hinaus, den anderen vollkommen zu verschlingen. Es ist eine Art Kannibalismus. Und dann gibt es die besonderen Menschen, das genaue Gegenteil der gewöhnlichen Menschen. Und genau an den gewöhnlichen Menschen liegt es, daß der >besondere< Mensch auftreten mußte. Er ist das Produkt der Religionen. Sie alle fordern: »Spende, teile, opfere!« Alle Religionen lehren im Grunde, daß du nicht nehmen darfst, sondern im Gegenteil geben sollst. Sie predigen Opferbereitschaft. Und sie predigen das, um einen >besonderen< Charakter zu züchten. Dem gewöhnlichen Menschen geht es immer schlecht, weil sein Verlangen nach >mehr< unerfüllbar ist. Man findet ihn immer nur deprimiert und traurig. Der >besondere< Mensch, den die Religionen gezüchtet haben, scheint immer glücklich, man sieht ihn immer fröhlich, denn er verlangt nicht nach >mehr<; im Gegenteil, er gibt immer nur - aber tief drinnen ist immer noch die gewöhnliche Einstellung. Seine Fröhlichkeit kommt nicht aus dem Wurzelboden seiner Natur. Sie kann nur Oberfläche sein. Er hat sich völlig verdreht und genau zum Gegenteil des gewöhnlichen Menschen gemacht. Er steht auf dem Kopf; er übt >Shirshasan<; aber er ist und bleibt der gleiche. Es ist lediglich ein neues Verlangen in ihm entstanden, nämlich das, andern immer mehr und mehr und mehr zu geben. Und auch das ist unersättlich. Er mag fröhlich sein, aber tief im Kern seiner Fröhlichkeit spürt man eine gewisse Traurigkeit. Diesen Zug von Traurigkeit findet man in allen religiösen Menschen. Guten Mutes, versteht sich, denn sie geben ja immer, aber traurig, daß sie nicht mehr geben können; fröhlich, weil sie alles teilen, aber traurig, weil es nicht genug ist. Nichts ist je genug. Es gibt also zwei Arten von Elend: das gewöhnliche Elend - und dafür sind weit und breit genügend Beispiele zu finden, die ganze Erde ist voll von Menschen, die nach mehr fragen, und nie zufrieden sind. Dann gibt es das andere Elend, das mit dem fröhlichen Gesicht. Das findet man bei Priestern und Mönchen, in Ashrams und Klöstern - Menschen, die immer zu lächeln scheinen; doch ihr Lächeln verbirgt eine gewisse Traurigkeit. Wenn du tiefer blickst, wirst du erkennen, daß sie ebenfalls unzufrieden sind - denn niemand kann ewig geben, soviel hat keiner! Das sind die beiden Menschentypen, die sich überall antreffen lassen. Der religiöse Mensch ist das Produkt des Christentums, des Judentums, des Islams, des Hinduismus. Sein Geist steht über dem gewöhnlichen Geist, aber er kann nicht das letzte Wort haben, wenn es um Bewußtsein geht. Es ist gut, auf die religiöse Art und Weise unzufrieden zu sein. Es ist besser, wie ein Kaiser elend zu sein, als hilflos wie ein Bettler. Ein steinreicher Mann lag im Sterben und hatte mich zu sich gerufen, er wollte mich beim Sterben in seiner Nähe haben. Ich war bei ihm. Im letzten Augenblick öffnete er die Augen und sprach seinen Sohn an. Was er sagte, hatte ihn schon lange beschäftigt, er hatte mir schon oft sein Weh geklagt; er machte sich Sorgen um seinen Sohn, weil er ein Verschwender war und Luxus liebte. Und dieser alte Mann war sehr religiös. Sein letztes Wort an seinen Sohn war: »Hör zu, Geld ist nicht alles, und du kannst nicht alles für Geld kaufen. Es gibt Werte, die höher sind als das Geld, und Geld allein macht niemanden glücklich.« Der Sohn hörte sich das an und sagte: »Du magst recht haben, aber wer Geld hat, kann sich die Art seiner Traurigkeit selber aussuchen.« Du kannst vielleicht kein Glück damit erwerben, aber du kannst dir deine eigene Traurigkeit aussuchen. Du kannst auf deine Weise elend sein. Ein armer Mensch kann sich sein Elend nicht aussuchen; ein Reicher kann sich aussuchen, auf welche Art er unglücklich sein will. Das ist der ganze Unterschied. Er sucht sich sein eigenes Elend aus, und das gibt ihm eine gewisse Freiheit. Dem armen Mann fällt sein Elend als Schicksal zu. Er hat keine Wahl. Der religiöse Mensch hat sein Elend selbst gewählt, darum ist er etwas fröhlicher; der unreligiöse Mensch erleidet sein Elend, weil er es sich nicht anders aussuchen konnte. Beide leben sie in der gleichen Welt des »Mehr«. Aber der religiöse Mensch lebt wie ein Kaiser, er teilt aus, er gibt, er ist barmherzig. Der Buddhismus, der Jainismus und der Taoismus - sie haben eine dritte Art von Denken geschaffen, das weder gewöhnlich noch besonders ist, das, um es genau zu sagen, überhaupt kein Denken mehr ist. Wenn man es benennen will, nennt man es besser >Nicht-Geist<. Versucht, diese Unterscheidung zu verstehen. Einerseits ist da der gewöhnliche und der besondere Geist, ein Gegensatzpaar, das aber zur selben Dimension des »Mehr« gehört. Und andererseits der >Nicht-Geist<, der vom Buddhismus, Taoismus und Jainismus entwickelt wurde. Was ist dieser
>Nicht-Geist - Es ist der dritte Zugang zur Wirklichkeit. Der Buddhismus und der Jainismus predigen nicht Barmherzigkeit, sie predigen Unbeteiligtheit. Sie sagen nicht: »Gib!« - denn Geben ist eine Form von Nehmen, es gehört zum gleichen Kreis. Wenn du nimmst, dann nimmst du von einem andern, und wenn du gibst, dann gibst du an einen anderen. Es gehört zum gleichen Kreis. Die Dimension ändert sich nicht, sondern nur die Richtung. Der Buddhismus predigt Teilnahmslosigkeit, Freiheit von Besitz. Der Schwerpunkt liegt auf Besitzlosigkeit, nicht auf Geben. Du brauchst gar nicht erst zu besitzen. Das ist alles. Versuch erst gar nicht, Menschen oder Dinge zu besitzen; steig einfach aus der Welt des Eigentums aus. Es geht also nicht um Geben oder Nehmen, weil beides zur Welt des Eigentums gehört. Schließlich kannst du nur das geben, was dir auch gehört. Wie kannst du etwas geben, das dir nicht gehört? Du kannst nur etwas geben, das du zuvor erworben hast, das du zuvor irgendwoher genommen hast - wie sonst kannst du es geben? Du kommst in die Welt mit leeren Händen, ohne etwas zu besitzen. Du gehst aus der Welt mit leeren Händen. In der Welt kannst du nur auf einer von diesen beiden Seiten sein: entweder auf der Seite derjenigen, die mehr und mehr und mehr verlangen, die sich immer mehr nehmen und sich immer mehr einverleiben wollen, die immer fetter werden; oder zu denen, die immer mehr und mehr geben, und dabei immer dünner und dünner und dünner werden. Buddha sagt: besitze nicht, sei weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Bleibe einfach in einem Zustand der Besitzlosigkeit. Dieser Mensch, dieser dritte Typ, den ich den Mann des Nicht-Geistes nenne, ist nicht ganz so fröhlich und heiter wie der >besondere< Mensch. Er ist stiller, ruhiger, schweigsamer. Er strahlt tiefe Zufriedenheit aus - aber keinen Frohsinn. Er lächelt nicht einmal. Man findet nicht eine einzige Statue Buddhas oder Mahavirs, die sie lächelnd zeigt. Nein, sie sind nicht fröhlich. Sie sind nicht heiter. Sie sind selbstverständlich auch nicht unglücklich, aber fröhlich sind sie nicht sie sind einfach aus der Welt von Glück und Unglück ausgestiegen. Sie ruhen in sich, sie sind den Dingen und der Welt gegenüber einfach gleichgültig; sie erheben keine Ansprüche, sie stehen unbeeindruckt über den Dingen. Das ist die Bedeutung von >Anashakti< - Losgelöstheit, Teilnahmslosigkeit. So ein Mensch ist in eine Aura der Stille gehüllt man kann diese Stille spüren. Tilopa aber geht über alle drei hinaus. Tilopa übersteigt sie allesamt - und nun wird es schwierig, für ihn auch noch ein Schubfach zu finden. Der gewöhnliche Mensch fragt nach mehr, der >besondere< Mensch will immer mehr geben; der Mann des >Nicht-Geistes< bleibt gleichgültig, unbeeindruckt, er gibt nicht und er nimmt nicht - was soll man also über Tilopas Geist sagen? Tilopa gehört zum vierten Typus, und der vierte ist der letzte und höchste, höher hinaus geht es nicht. Er ist nicht einmal mehr ein >Nicht-Geist<, er ist überhaupt kein Geist mehr, denn selbst im Nicht-Geist ist der Geist noch negativ vorhanden. Der Schwerpunkt liegt immer noch auf der Gleichgültigkeit gegenüber der Welt der Dinge, und damit ist der Blick immer noch auf die Dinge gerichtet: bleibe gleichgültig, unberührt! Du besitzt nichts, aber du mußt darauf achten, nicht zu besitzen; du mußt Abstand halten. Du mußt sehr auf der Hut sein, daß du dir unterwegs nichts aneignest. Seht es ganz klar: der Akzent liegt hier immer noch auf den Dingen - »Bleibe der Welt gegenüber gleichgültig!« Tilopa dagegen sagt, daß der Akzent ganz einfach auf deinem eigenen Selbst liegen muß, nicht auf den Dingen. Bleib ganz bei dir, sei der Welt gegenüber nicht einmal gleichgültig, denn selbst diese Gleichgültigkeit ist immer noch ein unmerkliches Band mit der Welt. Der Blick darf grundsätzlich gar nicht erst auf >das Andere< gerichtet sein. Wendet euer Leben vollkommen nach innen. Kümmert euch um die Welt nicht, um die Dinge, seid ihnen gegenüber nicht einmal gleichgültig. Weder verlangst du nach mehr, noch versuchst du, mehr zu geben, und mach dir auch nicht die Mühe, gleichgültig gegen die Welt zu sein. Lebe so, als wäre die Welt einfach gar nicht da. Du bleibst in deiner Mitte, ruhst in dir und tust nichts. Deine Blickrichtung hat sich völlig umgekehrt, um 180 Grad. Es ist, als wäre die ganze Welt verschwunden. Es gibt nichts zu geben, nichts zu nehmen, nichts, wogegen man gleichgültig sein könnte. Nur du bist. Du lebst in deiner Bewußtheit, und das ist für dich die ganze Welt. Etwas anderes gibt es nicht. Das ist die Dimension jenseits des Geistes. Und jenseits des Nicht-Geistes. Das ist die allerhöchste Form des Bewußtseins. Darüber hinaus gibt es nichts mehr. Und ich möchte euch gerne sagen: Gebt euch nicht eher zufrieden, als bis ihr das erreicht habt. Warum? Weil der Mensch mit dem gewöhnlichen Geist in Unglück lebt. Er fragt nach mehr, und das kann nie erfüllt werden, also gibt es keinen Ausweg aus dem Elend, es wird nur immer größer. Und der Mensch mit dem besonderen Geist, den die Religionen fordern, ist fröhlich, aber innerlich traurig. Selbst in seiner Fröhlichkeit fühlt er eine Unterströmung von Trauer. Sein Lächeln scheint etwas mühsam, als ob es nicht von selbst geschieht; er scheint zu posieren, so wie man vorm Photografen eine gekünstelte Pose einnimmt. Das ist zwar besser als das erste, denn wenigstens kannst du lächeln - es geht zwar nicht tief, aber das Lächeln ist wenigstens da. Aber lange kann das auch nicht dauern, denn bald ist alles erschöpft, was du zu geben hast, und dann, ja dann verschwindet der lächelnde Frohsinn. Gern würdest du mehr geben, aber nun bist du in derselben mißlichen Lage wie der erste, der gewöhnliche Mensch. Der zweite Menschentyp mag ein wenig länger dazu brauchen, um sein Elend zu erkennen und zu verstehen, aber das Elend kommt unweigerlich. Die Fröhlichkeit, die in Moscheen, Tempeln und Klöstern produziert wird, kann nicht sehr tief gehen, kann kein Dauerzustand bleiben. Sie kann nicht ewig weitergehen. Früher oder später büßt ihr sie ein. Sie ist von vornherein kurzlebig. Warum ist sie kurzlebig? Weil du an einen Punkt gelangst, an dem du dich einfach erschöpft hast und nichts mehr geben kannst. Daher finden sich diese beiden Menschentypen mit Kompromissen ab. Der gewöhnliche und besondere Geist sind aus dem gleichen Stoff gemacht; beide finden sich mit Kompromissen ab. Und diese Kompromisse könnt ihr überall sehen.
Jemand eignet sich erst so viel an, wie er kann, und dann beginnt er, Spenden zu machen. Oder er verdient 100 Rupien und spendet 10 Prozent davon; anders geht es nicht. Gibst du die 100 Rupien ganz weg, dann bleibt dir nichts mehr zum Spenden, also mußt du dir immer mehr aneignen, und das kannst du dann teilweise verschenken. Für Mohammedaner gilt, daß man ein Fünftel seines Einkommens als Almosen verteilen soll. Gib ein Fünftel deines Gewinns an die Armen. Warum? Weil man auf diese Weise einen Kompromiß schließen kann. Weil sonst nichts für Almosen bliebe. Also erst Raffen und dann Austeilen. Raffe, um zu verteilen, sei reich, damit du barmherzig sein kannst, beute aus, damit du helfen kannst. Das ist absurd. Aber es ist der einzig mögliche Weg: das ist die Brücke zwischen der gewöhnlichen und der >besonderen< Denkweise. So macht sich selbst der gewöhnlich denkende Mensch ständig vor, daß er den Menschen helfen wird, sobald er nur selber genug hat. Und er tut es natürlich auch; wenn er genug hat, spendet er Geld an ein Krankenhaus, oder an ein Krebsforschungsinstitut, oder an eine Bibliothek, oder an eine Universität. Erst beutet er aus, dann spendet er, erst schröpft er euch, und dann hilft er euch. Wohltäter und Räuber unterscheidet nichts. Sie sind in Wirklichkeit identisch. Mit der rechten Hand rauben sie und mit der Linken helfen sie; sie sind Kinder desselben Geistes. Der dritte Mensch, der Mensch des Nicht-Geistes, ist in einer besseren Lage als die beiden ersten. Sein Schweigen dauert an, aber er ist nicht glückselig, er fühlt kein himmlisches Glück - er ist nicht unglücklich, er ist nicht elend, aber sein Zustand ist von Negativität geprägt. Er ist wie jemand, der nicht krank ist, weil die Arzte nichts an ihm feststellen können, und der nicht gesund ist, weil er sich nicht sonderlich wohlfühlt. Er ist weder gesund noch krank, er ist einfach in der Mitte. Er ist nicht elend, er ist nicht glücklich, er ist ganz einfach gleichgültig. Und Gleichgültigkeit mag dir Stille geben, aber Stille ist nicht genug. Sie ist schön, sie ist gut, aber zufrieden kannst du mit ihr nicht sein; früher oder später langweilt sie dich. Das ist es, was geschieht, wenn du dich in die Berge verziehst. Das Stadtleben hatte dich angeödet - ob in Bombay, in London oder in New York - du hattest den Lärm satt, den Verkehr und das ganze Wahnsinnskarussell, und so hast du dich in die Berge geflüchtet. Aber nach ein paar Tagen - drei, vier, fünf, höchstens sieben Tagen, fängst du an, dich in dieser Stille zu langweilen. Die Berge schweigen, die Bäume schweigen, das Tal schweigt - nirgendwo Abwechslung. Du sehnst dich nach dem Stadtleben zurück: nach dem Club, dem Kino, den Freunden. Stille ist nicht genug, denn Stille hat etwas vom Tod, nichts vom Leben. Sie tut gut, aber als Urlaub, als Ausflug: es ist gut, einmal für ein paar Tage deinem überhitzten Leben zu entkommen, für eine kleine Weile stillzusein. Es wird dich erquicken, aber es darf kein Dauerzustand werden. Bald reicht es dir, bald hast du das Gefühl, daß es damit nicht getan ist, daß du so keine Nahrung findest. Stille schützt dich vor Unglück und vor Glück, Stille ist ein negativer Zustand. Der vierte Zustand auf den Tilopa hinweist - das, was nicht gesagt werden kann, und was er dennoch zu sagen versucht, weil es für Naropa ist, um seines Vertrauens und seiner Liebe und seiner Zuversicht willen - ist ein seliger Zustand, still und selig, er ist erfüllt von Positivität. Es ist nicht einfach nur Stille. Es ist kein Produkt der Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, im Gegenteil, es kommt aus der tiefsten Erfahrung deines eigenen Selbst. Es ist nicht durch Entsagung erzwungen worden, es ist die Blüte deines gelösten und natürlichen Daseins. Der Unterschied ist äußerst fein. Aber wenn ihr versucht, diese Unterschiede zu verstehen, wenn ihr über sie meditiert, wird euer ganzer Lebensweg klar vor euch liegen und ihr werdet leicht vorwärtskommen. Gebt euch niemals vor dieser vierten Dimension zufrieden; denn selbst wenn ihr euch vorher zufriedengebt, so kommt doch früher oder später die Unzufriedenheit hoch. Solange du noch nicht Satchitananda erreicht hast - die absolute Wahrheit, die absolute Bewußtheit, die absolute Glückseligkeit - solange bist du noch nicht zu Hause angekommen, solange bist du noch unterwegs. Okay, manchmal ruhst du dich am Wegrand aus, aber richte dich dort nicht wie zu Hause ein. Die Reise muß weitergehen; du mußt dich wieder von neuem aufraffen und weiterziehen. Geh vom ersten Zustand des Geistes zum zweiten, vom zweiten zum dritten, und vom dritten aus geh weiter - zum Jenseits. Wenn du dich im ersten Geisteszustand befindest, sowie 99 Prozent der Menschheit, dann kann dir die jüdische Denkweise helfen, oder die mohammedanische, oder die christliche. Sie führen dich aus der gewöhnlichen Falle des Elends heraus. So weit, so gut. Aber du bist immer noch unterwegs, glaub also nicht, daß du schon angekommen bist. Jetzt mußt du auch das hinter dir lassen, mußt über jene Fröhlichkeit voller Trauer hinaus, über das Bündnis zwischen Geben und Nehmen, über die Wohltätigkeit. Wer bist du, daß du dir anmaßt, zu geben? Was hast du denn zu geben? Wer bist du, daß du helfen willst? Nicht einmal dir selber kannst du helfen, wie willst du also anderen helfen? Dein eigenes Licht brennt noch nicht, und du willst anderen heimleuchten? Du wirst sie eher abschrecken - dein eigenes Interesse ist dunkel. Du kannst nicht helfen, du kannst nicht geben, du hast nichts zu geben. Jetzt kann dir der Buddhismus, der Jainismus, der Taoismus - können dir Lao Tse, Mahavir und Siddharta Gautama weiterhelfen; aber Tilopa sagt, finde dich nicht einmal mit Gleichmut ab, mit ihrem Schweigen, ihrem Abseitsstehen, ihrer Erdenferne, denn natürlich ist das immer noch nicht, du bist immer noch indirekt an die Welt gebunden. Tilopa kann dir darüber hinweghelfen, er kann dich zur innersten Mitte deines Seins führen. Er kann dir helfen, deine Mitte zu finden, in dir selber zu wurzeln, gänzlich weltvergessen - nicht einmal die Vergessenheit bleibt. Alles hat sich aufgelöst, nur du bleibst in deiner Kristallklarheit, in deiner völligen Unschuld - als wäre die Welt nie geschaffen worden, als wäre sie nie gewesen. In diesem vierten Zustand von Bewußtheit kommst du an den Punkt, wo du nie geboren wurdest, zur absoluten Quelle des Seins; nicht einmal der erste Schritt in die Welt wurde hier je getan; anders gesagt, du bist beim letzten angelangt, du hast den letzten Schritt getan. Das ist es, was die Zen-Leute das >ursprüngliche Gesicht( nennen. Zen-Meister tragen ihren Schülern auf: »Geh und suche das Gesicht, das du hattest, bevor du geboren wurdest«; oder: »Geh und suche das Gesicht, das du haben wirst,
wenn du gestorben bist« - dein Gesicht, als es die Welt noch nicht gab, oder wenn sieverschwunden sein wird - du gelangst zu deiner ursprünglichen Reinheit. Das ist es, was wir >Natur< nennen. Jetzt versucht Tilopa zu verstehen: Man sollte weder geben noch nehmen, Sondern natürlich bleiben - denn Mahamudra Liegt jenseits von Hinnahme und Weigerung. Man sollte weder geben noch nehmen, denn wenn du gibst, hast du dich aus dir selbst hinausbegeben, und wenn du nimmst ebenfalls. Beides sind Ablenkungen, beides führt doch zum »anderen«; du mischst dich ein, deine Energie fließt nach außen. Ob du gibst oder nimmst, bleibt sich gleich - der andere ist ins Spiel gekommen, deine Augen sind auf ihn gerichtet, und wenn man die Augen auf den anderen richtet, vergißt man sich selbst. Das ist es, was euch allen zugestoßen ist. Ihr könnt euch an euch selbst nicht erinnern, weil eure Augen wie gebannt, ja, wie gelähmt auf den anderen starren. Ganz gleich, was du tust, du tust es für den anderen, was immer du bist, du bist es für den anderen. Selbst wenn du der Welt den Rücken zukehrst, geht es im Geiste weiter: »Was halten die Leute wohl von mir?« Du kannst dich im Himalaja verkriechen, aber während du dort sitzt, denkst du: »Jetzt werden die Leute glauben, daß aus mir ein großer Weiser geworden ist, daß ich der Welt entsagt habe; es steht bestimmt etwas über mich in den Zeitungen.« Und dann wartest du auf einen einsamen Wanderer, auf einen, der ankommt und dir Nachrichten darüber gibt, was man in der Welt so alles über dich sagt. Du kennst dein eigenes Gesicht nicht, du hältst dich nur an das, was die andern über dich denken. Jemand sagt, daß du schön bist, und du fängst an, dich für schön zu halten. Jemand sagt, daß du häßlich bist, und dann fühlst du dich verletzt, du trägst es wie eine Wunde mit dir herum, dieses Wort »häßlich« - und es hat dich häßlich gemacht. Du bist nichts als eine Ansammlung der Meinungen anderer, aber, wer du bist, weißt du nicht. Du weißt nur, was andere von dir glauben. Und das ist seltsam, denn jene anderen, die zu wissen glauben, was du bist, kennen sich selbst nicht - sie kennen sich nur auf dem Umweg über dich. Was für ein schönes Spiel! Ich kenne mich durch dich, und du kennst dich durch mich, und keiner von uns beiden weiß, wer er selber ist. Der andere ist uns zu wichtig geworden, und deine gesamte Energie wird vom »anderen« in Beschlag genommen. Ununterbrochen denkst du an andere, nimmst etwas von ihnen, gibst ihnen etwas. Tilopa sagt, man soll weder geben noch nehmen. Was sagt er damit? Soll das heißen, daß man nicht mit anderen teilen soll? Wenn du es so verstehst, dann mißverstehst du ihn. Was er sagt, ist, daß man sich nicht um Geben oder Nehmen Gedanken machen soll. Wenn du ganz selbstverständlich geben kannst, wunderbar; aber dann bleibt kein Gedankenrest zurück, keine Erinnerung daran, daß du etwas gegeben hast. Und genau das ist der Unterschied zwischen Geben und Teilen. Jemand, der gibt, weiß, daß er gegeben hat, und möchte gerne, daß du ihm eine Quittung darüber ausstellst, auf der steht, »Jawohl, das und das hast du mir gegeben.« Er möchte Dank von dir, will, daß du ihm dankbar bist. Aber das ist kein Geschenk; es ist nur ein Kuhhandel. Genau genommen möchte er, daß du ihm etwas zurückgibst, und sei es auch nur deine Dankbarkeit, das reicht schon. Aber irgend etwas muß es sein. Es ist ein Geschäft: man gibt, um etwas zu bekommen. Tilopa sagt nicht, daß du nicht mit anderen teilen sollst, er sagt nur, daß du weder auf Geben noch Nehmen achten sollst. Wenn du hast, und dir von ganz allein nach Geben zumute ist, dann gib. Aber es muß aus vollem Herzen geschehen, als Geschenk. Das ist der Unterschied zwischen einem Geschenk und dem gewöhnlichen Geben. Ein Geschenk ist kein Tauschgeschäft - nichts wird zurückerwartet, absolut nichts; nicht einmal eine Anerkennung, nicht ein zustimmendes Kopfnicken - nein, nicht das Geringste. Selbst wenn der Schenkende nicht einmal ein Dankeschön bekommt, kränkt ihn das nicht. Ja, schon ein einfaches Dankeschön macht ihn verlegen, weil er nicht einmal das erwartet hatte. Im Gegenteil, er fühlt sich dir gegenüber dankbar, daß du sein Geschenk angenommen hast. Du hättest es zurückweisen können, das war durchaus möglich. Du hättest nein sagen können aber wie nett von dir, daß du nicht nein gesagt hast. Du hast es angenommen - das ist genug. Er ist dir dankbar. Jemand, der dir ein Geschenk macht, fühlt sich immer dankbar, daß du es akzeptiert hast, du hättest es ja zurückweisen können. Mehr wollte er nicht. Tilopa sagt nicht, daß du nicht geben sollst, oder daß du nicht nehmen sollst, denn ohne Geben und Nehmen kann kein Leben bestehen. Selbst Tilopa muß atmen, selbst Tilopa muß um seine Nahrung betteln, selbst Tilopa muß zum Fluß gehen, um zu trinken. Tilopa hat Durst, er braucht Wasser. Tilopa ist hungrig, er braucht etwas zu essen; Tilopa erstickt fast in einem geschlossenen Zimmer, er kommt nach draußen und schöpft frische Luft. Jeden Moment nimmt er das Leben zu sich - ohne Nehmen kannst du nicht leben. Es gibt Leute, die es versucht haben; aber das sind unnatürliche Wesen, das sind die größten Egoisten, die es gibt. Egoisten versuchen immerzu, von allem unabhängig zu sein. Egoisten versuchen immer so zu leben, als brauchten sie von niemandem etwas. Das ist dumm und absurd. Tilopa ist weit von dieser Einstellung entfernt. Er ist ein ausgesprochen natürlicher Mensch, man kann keinen natürlicheren finden. Und wenn du die Natur wirklich verstehst, dann stößt du auf die überraschende Tatsache, auf die sehr weitreichende, grundlegende Tatsache, daß niemand abhängig und niemand unabhängig ist - daß alles ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit ist. Niemand kann von sich behaupten: »Ich bin unabhängig« - das wäre pure Dummheit. Du könnstest keinen einzigen Augenblick in deiner »Unabhängigkeit« überleben. Und niemand ist absolut abhängig. Es gibt überhaupt keine echte Polarität zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Jemand, der abhängig scheint, ist zugleich unabhängig, und jemand, der unabhängig wirkt, ist dennoch abhängig. Leben ist wechselseitige Abhängigkeit. Alle nehmen gemeinsam daran teil. Selbst der Kaiser hängt von seinen Sklaven ab, und selbst die Sklaven sind nicht vom Kaiser abhängig - sie haben wenigstens die Freiheit zum Selbstmord; soviel Unabhängigkeit haben sie.
Auf dieser Welt gibt es nichts Absolutes. Das Leben existiert in Relationen. Tilopa weiß das. Er empfiehlt den natürlichen Weg - wie sollte er es also nicht wissen? Er weiß: das Leben ist ein Geben und Nehmen. Du teilst mit andern, aber du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen, du darfst keinen Gedanken darauf verschwenden du brauchst es nur geschehen zu lassen. Wenn man es einfach geschehen läßt, ändert sich das Bild total: dann bittest du nie um mehr, als das, was du bekommst, und du hast auch nicht den Wunsch, mehr zu geben, als du zu geben hast; du nimmst, was auf ganz natürliche Weise genommen werden kann, und gibst nur das, was auf ganz natürliche Weise gegeben werden kann. Du fühlst dich niemanden verpflichtet, und verpflichtest deinerseits auch keine anderen. Du weißt einfach, daß alles voneinander abhängt. Wir existieren miteinander, wir sind Glieder eines Körpers. Das Bewußtsein ist ein unendlicher Ozean, niemand ist eine Insel. Wir begegnen uns und tauchen ineinander ein. Grenzen gibt es nicht. Alle Grenzen sind unecht. Tilopa weiß das. Was also meint er? Man sollte weder geben noch nehmen, Sondern natürlich bleiben Sobald du glaubst, daß du »genommen« hast, wirst du unnatürlich. Nehmen an sich ist in Ordnung, aber sobald es dir wie »Nehmen« vorkommt, hast du deine Natürlichkeit verloren. Geben ist etwas Wunderbares, aber sobald es dir bewußt wird, daß du etwas »gegeben« hast, wird es abstoßend, hast du die Natürlichkeit dafür eingebüßt. Du gibst ganz einfach, weil du nicht anders kannst; du hast, also mußt du geben. Du nimmst, weil du nicht anders kannst; du bist Teil des Ganzen. Aber indem du beim Geben und Nehmen natürlich bleibst, kommt kein unnatürliches Ego zustande - das ist der wesentliche Punkt, den du verstehen mußt. Dein Nehmen ist nicht Bereicherung, dein Geben ist nicht Verzicht. Du bleibst einfach natürlich. Was dir über den Weg kommt, das genießt du. Wenn du zuviel hast - und jedes >Zuviel< wird immer zur Last - dann teilst du mit anderen. Das Leben sorgt für Ausgleich, du bleibst einfach natürlich. Kein Horten und kein Verzicht; keine Besitzgier und keine Besitzlosigkeit. Schaut auf die Vögel, auf die Tiere: sie geben nicht, sie nehmen nicht. Alle freuen sie sich am Ganzen, jeder schöpft aus dem Ganzen, jeder gibt an das Ganze zurück. Vögel und Bäume und Tiere - sie alle leben natürlich. Der Mensch ist das einzige unnatürliche Lebewesen - und deshalb ist Religion notwendig. Tiere brauchen keine Religion, Vögel brauchen keine Religion - weil sie nicht unnatürlich sind. Nur der Mensch braucht Religion. Und je unnatürlicher der Mensch wird, desto größer die Notwendigkeit der Religion. Merkt es euch: je unnatürlicher, je technologischer eine Gesellschaft wird, desto mehr spürt sie das Bedürfnis nach Religion. Ich werde oft gefragt, warum ausgerechnet in Amerika ein so großer Hunger nach Religion ausgebrochen ist, warum Amerika so aufgerüttelt ist, so sehr nach Gott sucht. Der Grund ist, daß Amerika heute das unnatürlichste Land der Welt ist, das Land mit der höchstentwickelten Technologie. Eine Technokratie ist dort entstanden, durch die alles unnatürlich geworden ist. Euer Innerstes dürstet danach, von der Technologie befreit zu werden. Euer Innerstes dürstet danach, natürlich zu sein, aber eure gesamte Gesellschaft ist heute unnatürlich, überkultiviert, überzivilisiert entfremdet. Wenn eine Gesellschaft überzüchtet wird, dann entsteht Religion, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Auf unmerkliche Weise wird das Gleichgewicht wieder hergestellt. Ein Naturvolk braucht das nicht. Lao Tse sagt: »Die Alten berichten, daß es einmal eine Zeit gab, in der die Menschen noch natürlich waren, und es keine Religion gab. Als die Menschen noch natürlich waren, dachten sie weder an Himmel noch Hölle. Als die Menschen noch natürlich waren, dachten sie an keine moralischen Vorschriften. Als die Leute noch natürlich waren, gab es weder Gesetz noch Sittenkodex.« Und Lao Tse sagt weiter, daß es an den Gesetzen liegt, wenn Menschen zu Verbrechern werden, und daß es an der Moral liegt, wenn die Menschen unmoralisch sind - und an der Kultur, die überhand genommen hat ... Und China hat sich mit Kultur übersättigt; kein anderes Land der Welt hat je so viel Kultur gekannt. Konfuzius entwickelte einen hochkomplizierten Lehrplan, wie man einen Menschen kultivieren müsse - 300 Regeln zur Disziplinierung. Und plötzlich trat Lao Tse auf den Plan, um das Gleichgewicht herzustellen, denn dieser Konfuzius hätte die gesamte Gesellschaft zur Strecke gebracht mit seinen 300 Regeln. Er ging einfach zu weit. Man kann einen Menschen so sehr kultivieren, daß er am Ende ganz verschwindet, daß er am Ende kein Mensch mehr ist! Und schon bricht Lao Tse ins Gehege, verwüstet all die schönen Regeln und verkündet, daß die einzige, die goldene Regel die ist, daß es keine Regeln gibt. Das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Lao Tse ist Religion, Konfuzius ist Kultur. Religion ist so nötig wie Medizin, sie ist ein Heilmittel. Wenn du krank bist, brauchst du Medizin; je mehr Krankheit, desto mehr Medizin natürlich. Eine Gesellschaft erkrankt, wenn sie den Kontakt mit dem Natürlichen verloren hat; ein Mensch wird krank, wenn das Natürliche verschollen ist. Und Tilopa geht es einzig und allein um das Natürliche, um das Ungezwungene. Und vergeßt nicht, daß das Natürliche mit der Ungezwungenheit Hand in Hand gehen muß - denn du kannst dich auch dazu zwingen, natürlich zu sein, und dann wirst du vor lauter Anstrengung schon verkrampft. Auf diese Weise entstehen Modephilosophien, die das gesunde Leben predigen. Mir sind viele Gesundheitsapostel begegnet, die aus einer ursprünglichen natürlichen Wahrheit etwas vollkommen Abwegiges gemacht haben. Zum Beispiel ist es gut, sich organisch zu ernähren; das ist vollkommen in Ordnung. Aber wenn man es zu wichtig nimmt, und so fanatisch wird, daß man keinen Augenblick mehr an etwas anderes als organische Nahrung denkt, und daß ja nichts Anorganisches in den Körper dringen darf, dann hat man es zu weitgetrieben.
Ich kenne Leute, die an natürliche Therapie glauben, sogenannte Naturopathen, und sie sind durch ihre Naturopathie so unnatürlich geworden, daß man sich nur wundern kann. So ist es aber. Sobald sich dein Denken verspannt, ist alle Natürlichkeit schon dahin. Das Wort »gelöst«, darf keinen Augenblick lang vergessen werden, sonst wirst du zum Gesundheitsapostel, zum Spinner. Dann suchst du dir irgendeine Halbwahrheit aus und überspannst sie so, daß alles, was daran natürlich ist, ins Gegenteil verkehrt wird. Gelöst und natürlich ist Tilopa, und das ist seine ganze Lehre. Er kann unmöglich sagen, daß du weder geben noch nehmen sollst. Aber er sagt es. Also muß er etwas anderes damit meinen. Man sollte weder geben noch nehmen, Sondern natürlich bleiben Hier liegt der Schlüssel: Natürlich bleiben. Und wenn es sich trifft daß du gibst, ohne unnatürlich zu werden wunderbar! Wenn es sich ganz natürlich ergibt, daß du irgend etwas bekommst und es natürlich entgegennimmst - kein Problem. Aber mach kein Glaubensbekenntnis daraus. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. ... - denn Mahamudra Liegt jenseits von Hinnahme und Weigerung. Lao Tse lehrt Hinnahme. Und Tilopa lehrt etwas, das jenseits von Hinnahme oder Weigerung liegt. Tilopa ist wirklich einer der ganz großen Meister. Wenn du etwas ablehnst, wirst du unnatürlich. Das ist leicht einzusehen. Du schäumst innerlich vor Wut, aber du lehnst die Wut aus moralischen Gründen als >schlecht< ab, und außerdem könnte sie dich in Schwierigkeiten bringen, sie könnte zu Konflikten und Gewaltsamkeit führen. Es ist nämlich nicht leicht, mit der Wut zu leben, denn wer mit der Wut leben will, kann mit niemandem sonst leben. Wut bringt dich in Schwierigkeiten, und außerdem zupfen dich die Moralprediger am Armel und flüstern dir zu: »Zeig's nicht, weg mit der Wut, laß sie nicht hoch, reiß dich zusammen!« Und so unterdrückst du die Wut lieber. Das ist der Moment, wo du unnatürlich wirst, denn alles, was du hast, hast du von der Natur bekommen - wer bist du, es von dir zu weisen? Wie darf der eine Teil deines Geistes sich zum Meister über den anderen Teil des Geistes aufwerfen? Und beide Teile gehören zum gleichen Ganzen! Es ist also unmöglich. Natürlich bleibt es dir überlassen, ob du dir dieses Theater weiter vorspielen willst. Aber die Rolle der Wut kümmert sich nicht um die andere Rolle, die Rolle des Schulmeisters; die Wut wartet nur den richtigen Augenblick ab, um doch auszubrechen. Das alles kann also der Rolle, die die Wut spielt, oder der Sex, oder die Habgier, nichts anhaben. Du kämpfst immer weiter, verschwendest deine Kraft damit, flickst dich auf tausendfache Weise immer neu zusammen und bleibst doch gespalten, bleibst im Konflikt, bleibst fragmentarisch. Sobald du etwas ablehnst, wirst du unnatürlich. Lehne nichts ab. Natürlich meinst du jetzt, du müßtest akzeptieren: »Aha, nicht ablehnen, sondern hinnehmen«. Und jetzt wird die Sache sehr subtil: Tilopa sagt, daß selbst im Akzeptieren eine Weigerung verborgen liegt, denn wenn man sagt: »Ja, ich akzeptiere es«, dann hat man es tief drinnen bereits abgelehnt. Warum sonst sagt man überhaupt: >Ich akzeptiere Warum muß man es überhaupt erst sagen? Von >Akzeptieren< zu sprechen wird erst vor dem Hintergrund der Ablehnung sinnvoll; anders ergibt das Wort >akzeptieren< keinen Sinn. Die Leute kommen zu mir und sagen: »Ja, wir akzeptieren dich«. Ich sehe ihre Gesichter, höre was sie sagen, und sie wissen nicht, was sie da tun: sie haben mich bereits abgelehnt. Sie zwingen sich dazu, mich zu akzeptieren, und in einer bestimmten Ecke ihres Hirns sitzt schon die Weigerung. Selbst wenn sie Ja sagen, steckt darin ein Nein. Es steckt im Ja selbst. Das Ja ist nur ein Deckmantel, oberflächlicher Stuck. Im Innern sehe ich ihr Nein frisch und munter um sich schlagen, aber nach außen hin bekunden sie Zustimmung. - Sie haben mich bereits abgelehnt. Wie kann man ohne Ablehnung akzeptieren? Wie läßt sich dann noch sagen: »Ich akzeptiere?« und wie kann man ohne Kampf von Kapitulation sprechen? Wer diesen Punkt versteht, fügt sich von selbst, ohne Ablehnung und Zustimmung, ohne Kampf oder Kapitulation; in ihm ereignet sich eine restlose Selbstaufgabe .. . »Denn Mahamudra ist jenseits von Hinnahme und Weigerung.« Und wenn du einfach natürlich bleibst, wenn du weder etwas ablehnst noch etwas akzeptierst, weder kämpfst noch kapitulierst, weder Ja noch Nein sagst, sondern den Dingen ihren Lauf läßt, dann geschieht alles so, wie es eben geschieht, und du mischst dich nicht mit deinen Vorlieben ein. Was immer geschieht, das nimmst du als geschehen zur Kenntnis; du modelst nicht daran herum, du läßt alles so, wie es ist. Dir geht es nicht darum, dich zu bessern, du bist einfach der, der du bist. Das ist sehr, sehr hart für deinen Verstand, denn der Verstand ist ein großer Weltverbesserer. Dein Verstand will dir immer weismachen: »Du kannst höher hinaus! Eines Tages kommst du ganz groß raus! Wenn du nur hier und da noch ein bißchen putzt, dann wirst du reines Gold. Verbessere, verändere, verwandle, veredle dich!« Dein ganzes Denken hat nur ein Leitmotiv: »Mehr ist möglich, immer noch mehr - also vorwärts!« so entsteht Ablehnung. Du lehnst bestimmte Seiten von dir ab, und steckst dann in der Klemme. Denn diese abgelehnte Seite gehört organisch zu dir, du kannst sie nicht einfach hinauswerfen. Du kannst den Körper zerstückeln, aber nicht dein Sein. Denn das Sein ist und bleibt immer das Ganze. Wie kannst du das Sein in Stücke schneiden? Es gibt kein Schwert der Welt, mit dem man das Sein zerteilen kann. Wenn deine Augen nicht so wollen, wie du willst, kannst du sie dir ausreißen; wenn deine Hand ein Verbrechen
begeht, kannst du sie dir abhauen; wenn dich deine Beine zur Sünde bringen, kannst du sie amputieren - denn dein Körper ist nicht du, er ist bereits von dir getrennt, du kannst also an ihm herumschneiden - aber wie willst du dein Bewußtsein zerstückeln! Wie willst du dein innerstes Wesen spalten? Es hat keine Substanz, in die du hineinschneiden kannst. Es ist wie Leere, und Leere läßt sich nicht zerteilen. Dein Schwert mag mittendurch gehen, aber sie bleibt ungeteilt. Wenn du dich zu hart dabei anstrengst, zerbrichst du höchstens das Schwert, aber die Leere bleibt ungeteilt; sie läßt sich nicht zerteilen. Dein innerster Seins-Kern hat das Wesen der Leere. Es ist ein Nicht-Selbst, es ist nicht substantiell. Es existiert, aber es ist nicht Materie. Du kannst es nicht in Stücke schneiden, es ist einfach unmöglich. Lehne also nichts ab; aber dann schaltet sich sofort der Verstand ein und sagt: »Okay, dann akzeptieren wir eben alles.« Der Verstand läßt dich einfach nicht in Ruhe. Er heftet sich an deine Fersen, wohin du gehst, wie ein Schatten, und flüstert dir ins Ohr: »Okay, ich bin ja nur bei dir, um dir zu helfen, ich bin ein Schutzengel. Wann immer du in Not bist, werde ich dir helfen. Lehne nichts ab - natürlich, richtig! Tilopa hat recht: Nimm alles an!« Und wenn du auf diese Einflüsterungen hörst, bist du wieder in der gleichen Falle. Ablehnung und Zustimmung sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Tilopa sagt:... »denn Mahamudra ist jenseits von Hinnahme und Weigerung.« Stimme nicht zu, und lehne nicht ab. Es gibt tatsächlich nichts zu tun. Du wirst nicht aufgefordert, irgend etwas zu tun. Tilopa will nichts von dir, als daß du gelöst und natürlich bleibst; sei du selbst und laß die Dinge geschehen. Die ganze Welt geht ohne dich weiter: Die Flüsse strömen zum Meer, die Sterne ziehen ihre Kreise, die Sonne geht am Morgen auf, die Jahreszeiten wechseln, die Bäume wachsen und blühen und sterben wieder, und das Weltall geht ohne dich weiter. Kannst du dich nicht gelöst und natürlich dem Ganzen überlassen und mit ihm gehen? Das ist Sannyas für mich. Die Leute kommen zu mir und sagen: »Gib uns eine genau umrissene Disziplin. Du gibst uns Sannyas und dann sagst du uns kein Wort darüber, wie wir leben sollen. Was verlangst du von uns, was für eine Lebensweise?« Ich erwarte nichts. Ich möchte, daß du gelöst und natürlich bist. Sei wer du bist, und laß die Dinge geschehen - ganz gleich, was kommt, ganz gleich, bedingungslos: Gut und Schlecht, Glück und Unglück, Leben und Tod - was immer geschieht, laß es geschehen. Vertritt ihm nicht den Weg. DU bleibst gelassen. Die ganze Schöpfung läuft weiter und läuft so reibungslos - warum machst du dir also Sorgen um dich selbst? Nichts braucht verbessert zu werden, absolut nichts. Du bleibst einfach gelöst und natürlich, und alles wird von sich aus besser. Die Dinge verändern sich dann ganz von selber, und am Ende bist du nicht wiederzuerkennen. Aber diese Veränderung ist nicht dein Werk. Denn wenn du es selbst versuchst, dann machst du es wie Münchhausen: du willst dich am eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen. Töricht! Versuch es gar nicht erst. Das ist, wie wenn ein Hund seinem eigenen Schwanz nachjagt. Manchmal sieht man an einem Wintermorgen einen Hund still in der Sonne sitzen; plötzlich entdeckt er seinen Schwanz neben sich - wie einladend! Wie soll der arme Hund auch wissen, daß der Schwanz zu ihm gehört? Und euch ergeht es kein bißchen besser; ihr sitzt mit ihm im gleichen Boot. Die Versuchung ist unwiderstehlich, der Schwanz sieht so saftig aus, laßt ihn uns verspeisen. Das Spiel geht los - zunächst sehr langsam und vorsichtig, um den Schwanz ja nicht zu erschrecken, aber was der Hund auch tut, der Schwanz entfernt sich jedesmal einfach von selbst. Und dann wird es immer hektischer; jetzt fühlt sich der Hund herausgefordert: »Was bildet sich dieser Schwanz eigentlich ein?« Das kann er sich nicht bieten lassen, und er macht einen großen Satz, und je größer der Satz, desto weiter weg springt der Schwanz. Das kann einen armen Hund schon um den Verstand bringen. Und dasselbe Spiel treiben alle spirituellen Sucher mit sich selber. Sie wollen ihren eigenen Schwanz an einem Wintermorgen im hellsten Sonnenschein fangen; wo doch alles so schön sein könnte, wenn sie bloß ihren Schwanz zufrieden lassen würden! Laßt ihn in Ruhe! Seid natürlich und gelöst - denn wer hat schon je seinen eigenen Schwanz gefangen? Du springst; der Schwanz springt mit, und dann fühlst du dich frustriert. Und dann kommst du zu mir und sagst: »Die Kundalini ist immer noch nicht aufgestiegen. Was soll ich machen?« Du jagst deinen eigenen Schwanz und verpaßt dabei den herrlichen Morgen. Du hättest friedlich mit deinem Schwanz in der Sonne liegen können; es kommen viele Fliegen von sich aus vorbeigeflogen und bieten dir ein gutes Frühstück - aber stattdessen jagst du den Schwanz und damit auch die Fliegen, und vor lauter Schreck fliegen sie weg. Und so ist auch noch dein Frühstück futsch. Warte doch ab! Du brauchst nur zu wissen, daß du nichts verbessern kannst, die Dinge sind bereits vollkommen, so wie sie sind. Du brauchst nur zu genießen. Alles steht zum Fest bereit, es fehlt an nichts. Laß dich nicht in absurde Beschäftigungen verwickeln - und spirituelle Selbstvervollkommnung ist eine der absurdesten. ... natürlich bleiben - denn Mahamudra Liegt jenseits von Hinnahme und Weigerung. Weil a 1 a y a nicht geboren wird, ... Alaya ist ein buddhistisches Wort, es bedeutet Heimstätte, die innere Heimstätte, die innere Leere, den inneren Himmel. Weil a l a y a nicht geboren wird, Kann niemand es hindern oder beflecken; Macht euch also keine Gedanken! Da euer innerstes Wesen nie geboren wird, kann es auch nicht sterben; da es nie geboren wird, kann niemand es behindern oder beflecken. Es ist todlos! Und da das Ganze dir das Leben geschenkt hat,
da dein Leben aus dem Ganzen kommt, wie will da der Teil das Ganze verbessern? Aus der Quelle kommt alles, was ist. Laß die Quelle Sorge tragen - und die Quelle fließt ewig. Du stellst dich unnötigerweise in den Weg und fängst an, den Fluß anzutreiben, der schon von selbst zum Meer fließt . . . aber niemand kann ihn hindern oder beschmutzen. Deine innere Reinheit ist absolut! Du kannst sie nicht beschmutzen. Das ist der Wesenskern von Tantra. Alle anderen Religionen sagen, daß es erreicht werden muß - Tantra sagt, daß es schon erreicht ist. Alle Religionen sagen, daß du hart dafür arbeiten mußt - Tantra sagt, daß du es gerade deshalb verfehlst, weil du so hart dafür arbeitest. Bitte, entspannt euch ein bißchen; wenn ihr euch einfach entspannt, erreicht ihr das Unerreichbare. Dann ... Kann niemand es hindern oder beflecken; Ihr habt tausend Dinge getan - aber ihr braucht euch über eure Taten, über eure >Karmas<, keine Gedanken zu machen, denn keine Handlung, die ihr begangen habt, kann euer innerstes Wesen beschmutzen oder beflecken. Das ist der wahre Kern des Märchens von der unbefleckten Geburt von Jesus. - Nicht, daß Maria, seine Mutter, tatsächlich Jungfrau gewesen wäre; dahinter steckt eine tantrische Vorstellung. Auf seinen Reisen in Indien begegnete Jesus vielen »Tantrikas« - und er wurde mit der Tatsache bekannt, daß »Unberührtheit« etwas Unzerstörbares ist, daß jedes Kind aus einer reinen Jungfrau geboren wird. Die christlichen Theologen haben sich den Kopf darüber zerbrochen, wie es sich wohl beweisen ließe, daß Jesus tatsächlich von einer Jungfrau geboren wurde. Aber das braucht nicht bewiesen zu werden! - jedes Kind wird immer und überall aus einer Jungfrau geboren, weil Jungfräulichkeit etwas ist, das nicht befleckt werden kann. Wie könnte Jungfräulichkeit befleckt werden? Zwei Menschen in tiefer Vereinigung, Mann und Frau, Liebende, die gemeinsam in einem tiefen sexuellen Orgasmus versinken - wie könnte deren Jungfräulichkeit »befleckt« werden? Der innerste Kern bleibt Zuschauer, beteiligt sich nicht. Die Körper vereinen sich, die Energien mischen sich, und dadurch entsteht ein Augenblick von Glückseligkeit; aber das innerste Wesen bleibt unberührt, bleibt unbeteiligter Zeuge. Diese Jungfräulichkeit ist unberührbar. Aber im Westen macht man sich Gedanken darüber, wie man beweisen kann, daß Jesus von einer Jungfrau geboren wurde. Ich sage euch, es hat niemals auch nur ein einziges Kind gegeben, das nicht von einer jungfräulichen Mutter geboren wurde. Alle Kinder stammen aus einer unbefleckten Empfängnis. Jeden Augenblick, gleich, was du tust, bleibst du draußen. Keine Handlung läßt eine Narbe zurück - unmöglich. Und wenn du dich erst einmal genug gelöst hast, um das zu erkennen, dann kümmerst du dich nicht mehr darum, was du zu tun oder zu lassen hast. Dann läßt du den Dingen ihren eigenen Lauf. Dann treibst du einfach wie eine weiße Wolke dahin, ohne besonderes Ziel, einfach aus Freude am Dahintreiben. So dahinzuziehen ist ein solcher Genuß! ...niemand kann es hindern oder beflecken. Wer im Ungeborenen Reich verweilt, Dem löst sich aller Schein ins Dharmata auf. >Dharmata< bedeutet, daß alles seine spezifische elementare Natur hat. Wenn du in deiner inneren Heimat bleibst, wird sich alles nach und nach in seine natürlichen Elemente auflösen. Nur du bist der Störenfried. Wenn du in deinem inneren Wesen verharrst, imAlaya, im inneren Himmel, in jener absoluten Reinheit, dann kommen genau wie im Himmel die Wolken gezogen und verschwinden, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Handlungen kommen und gehen, Gedanken kommen und gehen, viele Dinge geschehen, aber innen drin, tief in dir, geschieht nichts. Dort bist du einfach nur. Dort ist reine Existenz. Keine Handlung reicht bis dorthin, kein Gedanke dringt bis dahin vor. Wenn du gelöst und natürlich in jener inneren Heimat verweilst, dann siehst du zu, wie nach und nach alle Elemente zu ihrer eigenen Natur zurückfinden. Der Körper ist aus fünf Elementen zusammengesetzt. Die Erde findet nach und nach zur Erde zurück; die Luft zur Luft, das Feuer zum Feuer. Das ist es, was geschieht, wenn du stirbst: alle Elemente kehren zur Ruhe zurück. Dharmata bedeutet die elementare Natur aller Dinge - alles kehrt in seine Heimat zurück. Du kehrst in deine Heimat zurück, und alles andere auch: jedes, wo es hingehört. Nichts stört die Ruhe mehr. Es gibt zwei Arten zu leben, und zwei Arten zu sterben. Die eine Art zu leben ist die Allerweltsart: sich in alles hineinzuverwickeln, und den inneren Himmel ganz zu vergessen. Und der andere Weg ist, innen zu ruhen und die elementaren Kräfte sich selbst zu überlassen. Wenn der Körper Hunger verspürt, wird er sich von allein das Nötige suchen. Einer, der erleuchtet ist, bleibt in seiner inneren Heimat. Der Körper fühlt den Hunger, aber er schaut zu. Der Körper macht sich auf, um Nahrung zu finden - er schaut zu. Der Körper findet Nahrung - er schaut zu. Der Körper beginnt zu essen - er schaut zu. Der Körper nimmt die Nahrung auf, fühlt sich gesättigt - er schaut zu. Er hört nie auf zu schauen. Er ist kein >Tuer< mehr. Er tut nichts, er ist nicht mehr tätig. Der Körper verspürt Durst, und er schaut zu. Der Körper steht auf und setzt sich in Bewegung - das sind elementare Kräfte, die sich von allein bewegen. Unnötig zu sagen: »Ich bin durstig« - denn du bist es nicht! Ihr bringt alles durcheinander. Der Körper ist durstig, und der Körper folgt seinen eigenen Gesetzen. Er wird sich zum Wasser bewegen, wo immer es ist. Wer innen bleibt, wird erkennen, daß alles von allein geschieht. Selbst Bäume finden ihre Wasserquelle ohne jedes Ego und ohne zu denken. Die Wurzeln machen sich auf und suchen nach der Wasserquelle, und manchmal wandern sie mehr als fünfzig Meter weit, um an Wasser heranzukommen. Das ist eines der erstaunlichsten Phänomene der Botanik,
und die Botaniker können es einfach nicht erklären. Da ist ein Baum, und hundert Fuß nördlich von ihm ist eine Wasserquelle, eine kleine unterirdische Quelle. Woher weiß der Baum, daß die Wurzeln nach Norden gehen müssen, nicht nach Süden? Und das Wasser ist dreißig Meter entfernt, er kann es also nicht einmal erraten; und denken kann der Baum nicht, er hat weder Geist noch Ego. Aber durch elementare Kräfte getrieben, setzen sich die Wurzeln nach Norden in Bewegung, und eines Tages erreicht der Baum die Quelle. Der Baum streckt sich dem Himmel entgegen ... In den Dschungeln Afrikas wachsen die Bäume in unerhörte Höhen, sie können nicht anders, denn der Wald ist so dicht, daß die Bäume nicht an die Sonne dringen können, nicht an Luft und Licht herankommen, wenn sie sich nicht strecken. Und so wachsen sie höher und höher hinauf und bahnen sich ihren Weg. Selbst Bäume können ihre Wasserquellen finden - warum macht ihr euch also Gedanken? Das meint Jesus mit seinen Worten: »Seht doch die Lilien auf dem Felde, sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch haben sie alles, was sie brauchen.« Wenn du in deiner inneren Heimat sitzt, fangen deine elementaren Kräfte an, sich in ihrer kristallklaren Natur zu äußern. Misch dich nicht ein. Der Körper spürt Hunger, der Körper bewegt sich von selbst - und es ist herrlich anzusehen, wie der Körper sich von allein bewegt. Es ist wirklich eine der großartigsten Erfahrungen, den eigenständigen Bewegungen seines Körpers zuzusehen, wie er sich von selbst etwas zu essen oder zu trinken sucht. Oder wie er nach Liebe dürstet und sich dorthin begibt, wo er diesen Durst stillen kann. Du bleibst zu Hause in deinem Innern, und erkennst plötzlich, daß Handlungen nichts mit dir zu tun haben: du bist kein Handelnder, du bist einfach nur Zuschauer. Hast du dies erkannt, dann hast du das Unerreichbare erreicht. Hast du dies erkannt, dann hast du alles erkannt, was es zu erkennen gibt. Wer im Ungeborenen Reich verweilt, Dem löst sich aller Schein ins Dharmata auf, Und Eigenwille und Stolz verschwinden im Nichts. Und wenn du siehst, daß die Dinge von allein geschehen, wie kann sich dann aus ihnen ein Ego, ein Stolz ansammeln? Wie kannst du von »Ich« sprechen, wenn der Hunger für sich selber sorgt, sich selber stillt, von selbst zu Sättigung wird; wenn das Leben sich selber überlassen ist, sich selbst erfüllt, von selbst zu Tod und Ruhe kommt? Wer bist du denn, daß du sagst: »Ich bin«? Der Stolz, das Selbst, der Eigenwille lösen sich auf. Dann tust du nicht das geringste, dann willst du nicht das geringste - du sitzt einfach in deinem innersten Wesenskern ... und das Gras wächst von allein ... alles geschieht von allein. Nicht leicht, das zu verstehen, denn ihr seid dazu erzogen worden, etwas zu tun; man hat euch eingeprägt, daß es auf das Tun ankommt, daß man unentwegt auf der Hut und in Bewegung und im Kampf sein muß. Ihr seid von einem Milieu erzogen worden, das euch einredet, daß man für sein Leben kämpfen muß, denn sonst ist man verloren und verkauft, sonst wird nichts aus einem. Ihr seid mit dem Gift des Ehrgeizes aufgewachsen. Und besonders im Westen, wo es dafür einen ausgesprochen unsinnigen Ausdruck gibt, den Ausdruck »Willenskraft«. Er ist einfach absurd. So etwas wie »Willenskraft« gibt es überhaupt nicht - ein Traum, ein Phantom. >Wille< ist völlig überflüssig. Die Dinge geschehen ganz von selbst, das ist ihre Natur. Es geschah, daß der Meister von Lin Chi starb. Der Meister war ein wohlbekannter Mann, aber Lin Chi war noch bekannter als der Meister: der Meister, ein verschwiegener Mensch, war nur durch Lin Chi zu Ruhm gelangt. Der Meister starb also - durch Lin Chi wußte man, daß er erleuchtet war - und Tausende von Menschen kamen zusammen, um ihm das letzte Lebewohl zu sagen und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Und sie sahen Lin Chi weinen und schluchzen, und seine Tränen flossen wie bei einem kleinen Kind, dessen Mutter gestorben ist. Die Leute konnten es nicht fassen, weil sie glaubten, daß er erleuchtet wäre - und trotzdem weinte er wie ein Kind? So etwas kann schließlich nur ein unwissender Mensch tun. Aber wenn ein Mensch erleuchtet ist und selber schon gelehrt hat, daß das innerste Wesen unsterblich und ewig ist und niemals stirbt - warum weint er dann? Einige eng Vertraute von Lin Chi kamen zu ihm und sagten: »Das sieht aber nicht gut aus - was sollen die Leute von dir denken? Es geht bereits ein Gerücht um, die Leute fangen an sich zu fragen, ob sie sich etwa getäuscht haben, wenn sie dich für erleuchtet halten. Dein ganzer Ruf steht auf dem Spiel. Hör besser auf zu weinen! Und einer wie du braucht doch nicht zu weinen!« Lin Chi antwortete: »Was soll ich denn machen? Die Tränen kommen einfach. Das ist ihr Dharmata. Und wer bin ich, sie zurückzuhalten? Ich lehne sie nicht ab und ich heiße sie nicht willkommen - ich bleibe in mir. Jetzt fließen die Tränen und das läßt sich nicht ändern. Wenn mein Ruf auf dem Spiel steht, bitte sehr. Wenn die Leute mich nicht mehr für erleuchtet halten, dann ist das ihre Sache. Aber was kann ich tun? Ich habe »den Tuer« längst hinter mir gelassen. Es gibt ihn nicht mehr. Es geschieht von allein. Diese Augen weinen und vergießen ihre Tränen von sich aus, denn es wird ihnen nie wieder vergönnt sein, den Meister zu sehen. Und er war ihre Nahrung, von diesem Anblick ernährten sie sich. Ich weiß sehr wohl, daß die Seele unsterblich ist, niemand stirbt je, aber wie soll ich das diesen Augen beibringen? Sie hören nicht, sie haben keine Ohren. Was soll ich ihnen sagen? Wie soll ich ihnen beibringen, daß sie nicht zu weinen brauchen, weil doch das Leben ewig ist? Und wer bin ich? Das ist doch ihre Sache. Wenn ihnen nach Weinen zumute ist, dann weinen sie.« >Gelöst und natürlich bleiben< bedeutet: Die Dinge geschehen, du tust sie nicht. Der Eigenwille kann so nicht überleben; wenn er weder ja noch nein sagt, löst er sich auf. Die bloße Vorstellung einer »Willenskraft« wird leer und
kraftlos, sie vertrocknet einfach. Und aller Stolz wird zu Dunst. Es ist nicht leicht, einen Erleuchteten zu begreifen. Da helfen keine Theorien. Was soll man von Lin Chi halten? Er sagt: »Ich weiß - aber die Augen weinen nun mal; laßt sie weinen, hinterher fühlen sie sich erleichtert. Und sie werden diesen Mann nie wiedersehen, dieser Körper wird bald verbrannt sein und er war ihre ganze Augenweide, sie kannten nichts Schöneres als diesen Mann, sie kannten keine größere Anmut. Sie haben sich zu lange an der Form und dem Körper dieses Mannes gelabt. Jetzt fühlen sie Durst und Hunger; jetzt spüren sie, daß sie allen Boden unter den Füßen verlieren - und müssen weinen!« Ein natürlicher Mensch ruht einfach in sich und läßt den Dingen ihren eigenen Lauf. Er tut nichts. Und nur dann, sagt Tilopa, tritt Mahamudra in Erscheinung, nur dann geschieht der letzte, der absolute letzte Orgasmus mit dem All. Dann hält dich nichts mehr vom Ganzen getrennt. Dann ist dein innerer Himmel eins geworden mit dem äußeren Himmel. Dann sind sie nicht mehr zwei getrennte Himmel, jetzt ist da nur ein Himmel.
Der Gesang endet: Die höchste Einsicht Verläßt die Welt von Diesem und Jenem. Das höchste Handeln Vereinigt große Schöpferkraft mit Ungebundenheit. Die höchste Vollendung Erkennt das So-Sein ohne Hoffnung. Im Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist Abstürzt wie ein Wasserfall; Dann, auf halbem Wege, strömt er dahin, Langsam und sacht wie der Ganges. Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer, Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen.
X. DIE HÖCHSTE EINSICHT 20. Februar 1975 Jeder Mensch wird in Freiheit geboren, aber er stirbt in Knechtschaft. Am Anfang ist das Leben völlig gelöst und natürlich, aber dann mischt sich die Gesellschaft ein mit ihren Maßregeln und Vorschriften, mit ihrer Moral, ihrer Disziplin und all ihren Schulungsprozessen; und alle Gelöstheit, alle Natürlichkeit geht verloren, alle Spontaneität. Man beginnt, sich eine Art Rüstung anzulegen. Man wird immer steifer. Die innere Weichheit ist nicht mehr zu erkennen. In den Außenzonen seines Wesens errichtet man Festungsmauern, um sich zu verteidigen, um Verletzungen abzufangen, um zu reagieren, und mit der Sicherheit und Geborgenheit geht alle Bewegungsfreiheit verloren. Du fängst an, in den Augen der anderen zu lesen, ob sie dich gutheißen, ob sie dich ablehnen, ob sie dich verdammen - was die andern denken, gewinnt immer mehr Gewicht. Die »andern« werden zum einzig gültigen Maßstab, und du fängst an, andere nachzuahmen und ihrem Beispiel zu folgen, denn schließlich mußt du mit ihnen leben. Und ein Kind ist sehr weich, man kann es in alle möglichen Formen pressen; und die Gesellschaft zögert nicht lange Eltern, Lehrer, Schule machen nach und nach einen >Charakter< aus ihm, aber kein individuelles Wesen. Es lernt alle Regeln, und wird entweder Konformist - was eine Form von Knechtschaft ist - oder zum Rebellen, was aber auch nur eine andere Form von Knechtschaft ist. Wenn ein Konformist aus ihm wird, linientreu, spießig, dann ist das Knechtschaft; aber wenn er reagiert, zum Hippie wird, zum anderen Extrem geht, befindet er sich genauso in Knechtschaft - weil eine Reaktion immer auf das angewiesen ist, wogegen sie sich richtet. Du kannst bis ans andere Ende der Welt gehen, aber unterbewußt rebellierst du immer noch gegen die alten Regeln. Die anderen mögen sie befolgen, du magst dich gegen sie auflehnen; aber der Blickpunkt - die Regeln - ist der gleiche. Reaktionäre oder Revolutionäre - sie alle sitzen im gleichen Boot. Sie mögen Rücken an Rücken sitzen und sich aneinander wundreiben, aber es ist das gleiche Boot. Ein religiöser Mensch ist weder ein Reaktionär noch ein Revolutionär. Ein religiöser Mensch bleibt einfach gelöst und natürlich. Er ist weder für noch gegen irgendetwas, er ist einfach er selbst; er kennt keine Regeln, die er befolgen oder verneinen müßte: er hat einfach gar keine Regeln. Ein religiöser Mensch ist vogelfrei, er trägt keinen Panzer aus Angewohnheiten oder Verhaltensmustern. Er ist kein kultiviertes Wesen - was nicht heißt, daß er unzivilisiert oder primitiv wäre, vielmehr stellt er die höchste Möglichkeit jeder Zivilisation und Kultur dar - aber er ist kein höfliches und zivilisiertes Mitglied der Gesellschaft. Sein Bewußtsein ist in einem Maße gereift, daß er ohne Regeln auskommt, daß er allen Regeln entwachsen ist. Er sagt die Wahrheit, nicht weil es sich gehört, die Wahrheit zu sagen, sondern ganz einfach, weil er natürlich und entspannt ist, weil dadurch die Wahrheit von allein zum Vorschein kommt. Er hat Mitgefühl, nicht weil das Gebot lautet: >Liebe deinen Nächsten!< Nein. Wer natürlich und gelöst lebt, fühlt mit allem mit, was um ihn her geschieht - er braucht sich nicht im geringsten dazu zu zwingen. Es ergibt sich ganz natürlich aus einem gereiften Bewußtsein. Er ist weder gegen noch für die Gesellschaft - er ist einfach über sie hinausgegangen. Er ist wieder zu einem Kind geworden; ein Kind in einer absolut unbekannten Welt, ein Kind in einer neuen Dimension neugeboren. Jedes Kind wird natürlich und gelöst geboren; dann meldet die Gesellschaft ihre Ansprüche an. Sie muß es, aus ganz bestimmten Gründen - daran ist nichts verkehrt. Sich selbst überlassen, könnte das Kind niemals wachsen, könnte es nie spirituell werden; es würde zum Tier werden. Die Gesellschaft muß sich einmischen; durch die Gesellschaft muß jeder durch - sie ist unentbehrlich. Nur darf man eins nicht vergessen: die Gesellschaft ist eine Schleuse, eine Passage. Man darf sich nicht in ihr häuslich niederlassen; das ist das einzige, was man nicht vergessen darf. Erst, füge dich der Gesellschaft, und dann wachse über sie hinaus; lerne ihre Regeln, und dann verlerne sie wieder. Du kommst ohne Regeln nicht aus, weil du mit den andern leben mußt; du bist nicht allein. Solange ein Kind im Mutterleib ist, sind keine Regeln nötig - es ist dort absolut allein. Die Regeln kommen erst, wenn du mit >dem anderen< in Berührung kommst. Regeln kommen aus Beziehungen - denn wenn du nicht allein bist, mußt du auch an die andern denken und Rücksicht auf sie nehmen. Im Mutterleib ist das Kind allein. Ohne Regeln, ohne Moral, ohne Disziplin ohne Ordnung. Sobald es jedoch geboren wird, - schon mit dem ersten Atemzug - ist es ein soziales Wesen. Wenn das Kind nicht sofort schreit, versuchen die Arzte, das Atmen mit Gewalt anzuregen, denn wenn es nicht atmet, stirbt es nach ein paar Minuten. Es muß schreien, damit der Atemkanal eröffnet wird, der Schrei legt die Atemwege frei. Es muß zum Atmen gezwungen werden - schon der erste Atemzug ist also ein sozialer Akt. Die andern stehen bereit, das Modeln beginnt. Aber daran ist nichts verkehrt. Das muß sein - nur muß es so geschehen, daß das Kind niemals seine Bewußtheit verliert, daß es sich niemals mit den gesellschaftlichen Normen identifiziert, sondern tief im Innern seine Freiheit bewahrt und weiß, daß die Vorschriften zwar befolgt werden müssen, aber noch nicht das Leben selber sind. Und auch weiß, daß es etwas von andern zu lernen gibt. Eine natürliche Gesellschaft wird jedem Kind klarmachen: »Diese Regeln sind gut, es gibt auch andere, und unsere gelten nicht absolut. Und niemand erwartet von dir, daß du dich ewig an sie hältst - eines Tages mußt du sie hinter dir lassen.« Nur die Gesellschaft ist gut, die ihren Mitgliedern sowohl zu Zivilisation als auch zu Transzendenz verhilft. Eine solche Gesellschaft ist religiös, spirituell. Wenn sie nicht zur Transzendenz erzieht, bleibt sie rein materialistisch und politisch, dann ist sie ohne Religiosität. Bis zu einem gewissen Grad mußt du auf andere hören, aber dann mußt du lernen, auf dich selbst zu hören. Du mußt am Ende zu deinem ursprünglichen, natürlichen Zustand zurückkehren. Werde, bevor du stirbst, wieder zu einem unschuldigen Kind - gelöst und natürlich. Denn mit dem Tod trittst du wieder in die Dimension des Alleinseins ein.
Genau wie im Mutterleib wirst du im Tod wieder ins Reich des Alleinseins eintauchen. Dort wirst du keine Gesellschaft finden. Und dein ganzes Leben hindurch mußt du dir Räume schaffen, Momente, die wie Oasen in der Wüste sind, in denen du einfach die Augen schließt und die Gesellschaft hinter dir läßt, in denen du in dich selber, in deinen eigenen Mutterleib hineingehst. - Das ist es, was Meditation bedeutet. Du läßt Gesellschaft Gesellschaft sein, schließt die Augen und bist allein. Hier gibt es keine Regeln, hier brauchst du weder Charakter, noch Moral, weder Wort, noch Sprache. Du kannst in dir gelöst und natürlich sein. Wachse in diese Gelöstheit, in diese Natürlichkeit hinein. Nach außen hin mag Disziplin notwendig sein - innen bleibst du ungezähmt. Wer innen ungezähmt bleiben und trotzdem die gesellschaftlichen Spielregeln beachten kann, der erreicht bald den Punkt, wo er alles einfach hinter sich läßt. Bevor wir in die Sutras gehen, eine kleine Geschichte. Es ist eine Sufi-Geschichte. Ein alter und ein junger Mann waren mit einem Esel unterwegs. Beide gingen neben dem Esel her. Sie näherten sich einer Stadt. Schulkinder kamen vorbei, kicherten und lachten und sagten: »Seht mal diese Idioten. Sie haben einen gesunden Esel und gehen zu Fuß. Wenigstens der Alte könnte auf ihm reiten!« Der Alte und der Junge hörten es und berieten sich: »Was sollen wir tun? Sollen wir uns so verspotten lassen, wo wir doch gleich in der Stadt sind? Wir tun besser, was sie sagen.« Also stieg der Alte auf und der Junge ging hinterher. Kurz darauf begegneten sie einer anderen Gruppe von Leuten, die auf sie zeigten und sagten: »Seht! Der Alte sitzt auf dem Esel und der arme Junge muß laufen. Wie absurd. Der Alte könnte weiß Gott zu Fuß gehen und den Jungen reiten lassen.« Also wechselten die beiden ihre Rollen. Der Alte ging jetzt zu Fuß und der Junge saß auf dem Rücken des Esels. Bald meinte wieder eine andere Gruppe: »Seht mal, diese Trottel. Wie hochnäsig der Junge daherreitet. Der Alte, vermutlich sein Vater oder Lehrer, geht zu Fuß, während der Junge reitet. Das verstößt gegen jede Regel!« Was tun? Sie taten also das einzige, was noch übrigblieb: Sie setzten sich beide zugleich auf den Esel und ritten so weiter. Und wieder kamen Gruppen, und die Leute sagten: »Schaut her, diese beiden, wie grausam! Der arme Esel bricht fast zusammen - zwei Menschen auf einem Esel!« Sie berieten sich von neuem, als sie eben auf eine Brücke kamen, die über einen Fluß führte. Sie waren jetzt am Stadtrand angelangt, und so dachten sie: »Wir verhalten uns besser so, wie die Leute dieser Stadt es für richtig halten, sonst glauben sie, wir sind Dorftrottel.« Also suchten sie sich eine lange Bambusstange, hängten den Esel mit gebundenen Vorder- und Hinterbeinen daran auf, und schulterten sie. Der Esel rebellierte, wie alle Esel, man kann einen störrischen Esel nicht so leicht zwingen. Er versuchte zu entkommen, denn er gab nichts auf die Normen der Gesellschaft und kümmerte sich nicht darum, was andere sagten. Aber die beiden waren schließlich stärker, und er mußte sich in sein Schicksal fügen. Genau in der Mitte der Brücke kam ein Menschenhaufen vorbei, der sie schnell umringt hatte und alle sagten: »Seht doch bloß diese Dummköpfe an! Hat man je so etwas gesehen? Ein Esel ist dazu da, daß man auf ihm reitet und nicht, daß man ihn auf den Schultern trägt! Seid ihr denn verrückt?« Sie hörten sich das an, und immer mehr Leute blieben stehen. Der Esel wehrte sich noch mehr, riß sich los, fiel in den Fluß und ertrank. Die beiden liefen zum Fluß hinunter - aber zu spät. Sie setzten sich neben den toten Esel hin, und der alte Mann sagte: »Jetzt hör mir gut zu ...!!« Dies ist keine gewöhnliche Geschichte, der Alte war nämlich ein Sufi-Meister, ein Erleuchteter, und der Junge war sein Jünger, dem der Meister eine Lehre erteilen wollte. Sufis stellen in so einem Fall immer eine Situation her. Ohne eine entsprechende Situation, sagen die Sufis, kann die Lehre nicht sehr tiefgehen. Das ganze war also nur eine Situation für den Jünger. Der Alte sagte also: »Schau her, wenn du zu sehr auf das hörst, was andere sagen, dann bist du bald so tot wie dieser Esel. Kümmere dich nicht darum, was andere sagen, denn es gibt Millionen von andern und jeder hat seinen eigenen Kopf und jeder sagt etwas anderes; jeder hat seine eigenen Ansichten, und wenn du auf die Meinungen anderer hörst, dann bist du erledigt.« Hör auf niemanden, bleib immer nur du selbst. Geh einfach an den andern vorbei, bleib unbeteiligt. Wenn du immer nur auf das hörst, was andere sagen, dann stößt dich jeder in eine andere Richtung. Dann findest du nie dein eigenes Inneres. Jeder ist exzentrisch. Dieses Wort ist sehr schön: es bedeutet >außerhalb des Zentrums<, und wir wenden es auf Verrückte an. Aber jeder ist exzentrisch, ohne Mitte; und die ganze Welt ist dir dabei behilflich, deine Mitte zu verlieren, denn jeder schubst dich von hinten an. Deine Mutter schubst dich nach Norden, dein Vater nach Süden, dein Onkel in eine andere Richtung und dein Bruder hierhin und deine Frau natürlich wieder woanders hin - jeder will dich in eine andere Richtung drängen. Und bald kommt der Augenblick, wo du dich nirgends wiederfindest. Du siehst dich auf der Kreuzung all dieser Richtungen stehen, wirst gleichzeitig nach Norden, Süden, Westen und Osten gedrängt und stehst wie gelähmt. Nach und nach lebst du nur noch so: ohne Mitte, exzentrisch. Das ist die Lage. Und wenn du unentwegt auf andere hörst und nicht auf deine innere Mitte, dann wird es so bleiben. Meditation ist nur dazu da, diese Mitte zu finden, aus der Ex-Zentrik zum eigenen Zentrum zu finden. Hör auf deine innere Stimme, horch auf dein Gefühl und richte dich nach ihm. Nach und nach kannst du dann über die Meinungen anderer lachen, oder sie dir schlicht egal sein lassen. Und wenn du erst einmal in deiner Mitte verankert bist, dann gewinnst du eine große innere Stärke. Dann tanzt du keinem andern nach der Flöte, dann kann dich niemand mehr manipulieren. Es wird einfach niemand wagen. Wenn du in deiner Mitte ruhst, strahlst du eine solche Kraft aus, daß jeder, der mit seiner Meinung daherkommt, sie einfach vergißt, sobald er in deiner Nähe ist. Jeder, der mit der Absicht kommt, dich irgendwohin zu drängen, vergißt einfach, weswegen er zu dir gekommen ist. Er fühlt sich vielmehr
umgekehrt schon durch deine bloße Nähe von dir überwältigt. So kann sogar ein einzelner Mann so machtvoll werden, daß es der gesamten Gesellschaft, der ganzen Geschichte nicht gelingt, ihn auch nur einen Zentimeter von sich selber abzubringen. Buddha lebte so, Jesus lebte so. Ihr könnt einen Jesus töten, aber ihr könnt ihn nicht von sich selber abbringen. Ihr könnt seinen Körper vernichten, aber ihn nicht einen Zentimeter von seinem Weg abdrängen. Dabei ist er weder unerbittlich noch hartnäckig - nein, er hat ganz einfach seine Mitte gefunden und weiß, was für ihn das Richtige ist, wo er seine Seligkeit findet. Er hat sie schon gefunden, ihr könnt ihn also nicht mit neuen Ködern verlocken; kein noch so gerissener Werbeagent kann ihn zu neuen Zielen verführen. Er hat seine Heimat gefunden. Er kann dir in aller Ruhe zuhören, aber beeinflussen kannst du ihn nicht. Er hat seine Mitte. Seine Mitte zu finden ist das Wichtigste auf dem Weg zu einem natürlichen und gelösten Dasein. Wenn du nämlich deine Mitte nicht hast, aber gelöst und natürlich bist, dann führt dich jeder x-Beliebige an der Nase herum. Das ist genau der Grund, warum man den Kindern ihre Gelöstheit und Natürlichkeit nicht läßt. Dazu sind sie noch nicht reif genug. Wenn sie so natürlich und unbefangen blieben und so in die Welt entlassen würden, dann wäre ihr Leben eine Katastrophe. Darum sage ich auch, daß die Gesellschaft durchaus eine nützliche Aufgabe erfüllt: sie gewährt den Kindern Schutz, gibt ihnen ein Gehäuse, die Schutzburg, die sie brauchen in ihrer Verwundbarkeit; ihre Wehrlosigkeit könnte jederzeit von jedem mißbraucht werden. Wie sollten sie in der Masse der Menschen ihren Weg finden können, wenn sie keinen Charakterpanzer mitbekämen. Aber wenn sich dein ganzes Leben nur noch in diesem Charakterpanzer abspielt, dann bist du verloren. Du darfst kein Gefangener in deiner eigenen Burg werden, du mußt der Burgherr bleiben und die Burg beliebig verlassen können. Sonst hat sie mit Schutz nichts mehr zu tun. Sonst wird sie zum Verließ. Du mußt in der Lage bleiben, deinen Charakter abzustreifen. Du mußt fähig sein, deine Prinzipien beiseite zu legen. Du mußt fähig sein, auf eine nie dagewesene Situation völlig unvorbereitet einzugehen. Verlierst du diese Fähigkeit, dann wirst du starr, dann verkrampft sich deine Gelöstheit. Wenn du diese Fähigkeit verlierst, dann wirst du unnatürlich, dann hörst du auf, flexibel zu sein. Beweglichkeit ist Jugend, Steifheit ist Alter; je beweglicher, desto jünger, je steifer, desto älter. Der Tod ist absolute Starre. Leben ist absolute Beweglichkeit und Gelöstheit. Macht euch das klar und versucht dann, Tilopa zu verstehen. Er schließt mit den Worten: Die höchste Einsicht Verläßt die Welt von Diesem und Jenem. Das höchste Handeln Vereinigt große Schöpferkraft mit Ungebundenheit. Die höchste Vollendung Erkennt das So-Sein ohne Hoffnung. Sehr, sehr tiefgründige Worte. Die höchste Einsicht Verläßt die Welt von Diesem und Jenem. Wissen befaßt sich immer entweder mit diesem oder mit jenem. Verstehen ist keines von beidem. Wissen weiß nur von Dualität: der gute Mensch weiß, was »das Gute« ist; ein anderer ist böse und weiß, was »das Böse« ist; aber jeder kennt nur eine Hälfte, bleibt bruchstückhaft. Der Gute ist nicht vollständig, weil er das Schlechte nicht kennt. Sein Gutes ist armselig, ihm fehlt die Einsicht, die aus dem Schlechten kommt. Der Schlechte ist auch nur halb: seine Schlechtigkeit ist armselig, ihn hat nie das Wissen vom Guten erfüllt. Aber das Leben ist beides zusammengenommen. Ein Mensch von wahrer Erkenntnis ist weder gut noch böse, er versteht beides. Und indem er beides versteht, läßt er beides hinter sich. Der Weise ist weder gut noch böse. Für ihn gibt es keine Kategorie, es gibt kein Schubfach für ihn, man kann ihn nicht definieren. Er entzieht sich, er läßt sich nicht greifen. Und was immer man über ihn sagt, kann nur halb wahr sein, kann ihn niemals ganz fassen. Ein Weiser mag Freunde und Anhänger haben, die ihn für einen Gott halten, weil sie nur die gute Seite sehen. Oder mag Feinde und Verfolger haben, die ihn für den Teufel in Person halten, weil sie nur seine schlechte Seite sehen. Aber wer den Weisen wirklich kennt, sieht, daß er keines von beidem ist - oder beides zusammengenommen; so oder so - es kommt auf dasselbe hinaus. Wenn du beides zugleich bist - gut und böse - dann bist du weder-noch, denn es hebt sich gegenseitig auf, die beiden Pole setzen sich gegenseitig außer Kraft, und was bleibt, ist Leere. Diese Vorstellung geht dem westlichen Geist schwer ein, denn das westliche Denken hat zwischen Gott und Teufel einen absoluten Trennstrich gezogen. Alles Schlechte wird dem Teufel zugeschoben, und alles Gute geht auf Gottes Konto. Die Territorien sind scharf abgegrenzt, Himmel und Hölle deutlich geschieden. Daher sehen die christlichen Heiligen ein bißchen blaß neben den tantrischen Weisen aus, sehr blutarm. Nichts als gut und einfältig; sie wissen nichts von der Kehrseite des Lebens. Darum haben sie auch immer eine solche Angst vor der anderen Seite, sie zittern unentwegt vor Angst. Ein christlicher Heiliger betet ständig zu Gott, ihn vor dem Ubel zu bewahren. Das Ubel lauert gleich um die Ecke. Sie haben sich vor ihm versteckt, und wenn man sich vor etwas versteckt, dann denkt man ständig daran. Man zittert und hat Angst.
Ein Tilopa weiß nichts von Angst und Zittern, und er würde nicht einmal im Traum Gott um Schutz anflehen; er ist geschützt. Und was ist sein Schutz? Erkenntnis ist sein Schutz. Er hat alles durchlebt, er ist dem Bösen bis in die entferntesten Schlupfwinkel nachgestiegen, er hat das Göttliche voll gelebt und jetzt weiß er einfach, daß beide nur zwei Seiten einer Medaille sind. Jetzt macht er sich weder über das Gute noch das Böse Gedanken. Jetzt lebt er ein einfaches Leben, gelöst und natürlich, ohne vorgefaßte Vorstellungen. Ein Tilopa ist nicht voraussagbar. Ein St. Augustinus ist voraussagbar, genau wie alle anderen Heiligen, aber ein tantrischer Weiser ist es nicht. Es ist nicht möglich - du kannst nie und nimmer wissen, was kommt. Denn er geht auf jeden Augenblick ohne Voraussetzung ein, niemand kann wissen, wie. Er selbst weiß es nicht. Das ist das Schöne daran - denn wenn du deine Zukunft im voraus weißt, dann hörst du auf, ein freier Mensch zu sein, dann hältst du dich an bestimmte Prinzipien und hast einen vorfabrizierten Charakter; du reagierst bloß, aber kannst nicht spontan auf den Augenblick eingehen. Niemand kann sagen, was ein Tilopa in einer bestimmten Situation tun würde. Es kommt völlig auf die Situation an: sie allein bestimmt sein Verhalten. Er hat weder Vorlieben noch Abneigungen - weder Dieses noch Jenes. Er agiert, er reagiert nicht. Er reagiert nicht aus der Vergangenheit heraus, er reagiert nicht aus seinen Zukunftsvorstellungen heraus, aus seinen persönlichen Idealen. Nein. Er handelt hier und jetzt, seine Antwort wird total sein; keiner kann vorhersagen, was geschehen wird. Durch Erkenntnis wird die Dualität transzendiert. Es heißt, daß Tilopa einmal eine Zeitlang in einer Höhle lebte, wo ihn ein Reisender, ein >spiritueller Tourist<, besuchen kam. Tilopa nahm gerade sein Essen zu sich und benutzte als Schale einen menschlichen Schädel. Dem Besucher grauste. Es war gespenstisch! Schließlich war er gekommen, um einen Weisen zu sehen, dieser Mensch aber schien eher so etwas wie ein Schwarzmagier zu sein. Aß aus einem Schädel und genoß es sichtlich! Und neben ihm ein Hund, der aus der gleichen Schale fraß. Und nun lud ihn Tilopa auch noch ein, an diesem Essen teilzunehmen. »Komm, setz dich«, sagte Tilopa, »schön, daß du im richtigen Augenblick kommst, das ist nämlich alles, was ich habe. Wenn ich es aufgegessen habe, dann gibt es für die nächsten vierundzwanzig Stunden nichts mehr. Erst morgen kommt vielleicht wieder jemand mit Essen vorbei. Komm also und iß mit uns.« Der Mann fühlte sich angeekelt. Aus einem Schädel zu essen, aus dem noch ein Hund mitfraß? Er sagte: »Das ist ja widerlich!« Tilopa antwortete: »Dann mach, daß du fortkommst, so schnell du kannst, lauf und schau dich nicht um, denn wenn das so ist, dann ist Tilopa nicht der Richtige für dich. Was zierst du dich vor diesem Schädel? Wie lange trägst du deinen eigenen schon auf den Schultern, was ist also verkehrt daran, wenn ich aus einem esse? Ein Schädel ist das Sauberste, was es gibt. Warum fühlst du dich nicht von deinem eigenen angeekelt, da drin in deinem Kopf? Dein ganzes Denken, all deine schönen Vorstellungen und deine Moral und dein guter Charakter und deine Heiligkeit - all das steckt in deinem Schädel. Ich esse lediglich aus diesem hier - während du Himmel und Hölle und all deine Götter und dein ganzes Brahma in den deinen hineinpferchst. Sie müssen mittlerweile völlig verdreckt sein - das sollte dich anekeln. Und du bist ja selbst in deinem Schädel - was ekelt dich also daran?« Der Mann versuchte auszuweichen und abzulenken: »Ich meine ja nicht den Schädel, sondern den Hund.« Und Tilopa lachte: »Du selbst warst ein Hund in deinem letzten Leben; jeder muß durch alle Stadien durch. Was ist verkehrt daran, ein Hund zu sein? Und wo liegt der Unterschied zwischen dir und einem Hund? Die gleiche Gier, der gleiche Sex, die gleiche Wut, die gleiche Gewalttätigkeit und Aggression, die gleiche Angst - warum tust du so, als ob du etwas Besseres wärst?« Tilopa ist nicht leicht zu verstehen, denn für ihn haben >schön< und >häßlich< keinen Sinn. Reinheit und Unreinheit bedeuten ihm nichts; >gut< und >böse< sind inhaltslose Begriffe für ihn. Sein Verständnis umfaßt das Ganze. Wissen ist einseitig, Erkenntnis ist umfassend. Und wenn du das Ganze ins Auge faßt, fallen alle Unterscheidungen. Was ist schön und was ist häßlich? Was ist gut und was ist schlecht? Alle Unterscheidungen werden einfach hinfällig, wenn man sie aus der Vogelperspektive des Ganzen sieht - alle Grenzen schwinden. Wie wenn man aus dem Flugzeug blickt: Wo ist dann Pakistan und wo ist Indien? Und wo ist England und wo ist Deutschland? Alle Grenzen gehen verloren, die ganze Erde wird eins. Und wenn du noch höher steigst, mit einem Raumschiff zum Mond fliegst, und von da auf die winzige Erde heruntersiehst, wo ist dann Rußland und wo Amerika? Und wer ist dann Kommunist und wer Kapitalist? Wer ist Hindu und wer Mohammedaner? Je höher du aufsteigst, desto weniger Unterscheidungen - und Erkenntnis ist das Allerhöchste, jenseits davon gibt es nichts mehr. Vom höchsten Gipfel aus wird alles zu allem andern. Die Dinge verschmelzen ineinander, verfließen und werden eins. Grenzen verlieren sich ... ein grenzenloser Ozean, ohne Ursprung ... Unendlichkeit. Die höchste Einsicht Verläßt die Welt von Diesem und Jenem. Das höchste Handeln Vereinigt große Schöpferkraft mit Ungebundenheit. Tilopa sagt: sei gelöst und natürlich. Aber damit meint er nicht: sei faul und leg dich aufs Ohr. Im Gegenteil, wenn du gelöst und natürlich lebst, nehmen deine Energien immer mehr zu. Du wirst ungeahnt schöpferisch. Das hat mit >Tätigkeit< nichts zu tun - sondern jetzt handelst du. Alle Beschäftigungen aus Besessenheit mögen verflogen sein, werden verflogen sein, und stattdessen stehen dir ungeheure Kräfte zur Verfügung, Schöpferkräfte. Du tust tausend
Dinge, nicht aus Besessenheit, sondern weil du so angefüllt bist mit Energie, daß du kreativ werden mußt. Kreativität stellt sich von selbst bei einem Menschen ein, der natürlich und gelöst lebt. Gleich, was er tut - es ist ein schöpferischer Akt. Was er auch anrührt, wird zu einem Kunstwerk. Was man auch sagt, wird zu Posie. Jede Bewegung wird ästhetisch. Beobachte, wie ein Buddha geht: sogar sein Gang ist schöpferisch. Selbst im Gehen schafft er einen Rhythmus, selbst mit seinem Gang erzeugt er eine bestimmte Atmosphäre, eine gewisse Aura. Wenn ein Buddha seine Hand hebt, ändert er damit sofort die Atmosphäre um sich herum. Aber er tut diese Dinge nicht, sie geschehen von selbst. Er ist nicht der Handelnde. Ruhig in sich wurzelnd; abgeklärt; gesammelt; innerlich eins, angefüllt von ungeheurer Energie, die überquillt, die nach allen Seiten überströmt, wird jeder seiner Augenblicke zu einem Augenblick der Schöpfung, der kosmischen Schöpferkraft. Denkt daran. Denkt deswegen daran, weil es so leicht falsch verstanden werden kann. Man könnte denken: »Aha, man braucht also nichts zu tun«, und daraus wird dann: »man braucht nicht zu handeln«. Aber Handeln ist etwas vollkommen anderes als bloße Beschäftigung! Bloße Beschäftigung ist pathologisch. Geht in ein Irrenhaus, da könnt ihr Leute sehen, die ständig beschäftigt sind. Jeder Irre ist mit irgendetwas beschäftigt, weil das der einzige Weg ist, sich zu vergessen. Jemand mag sich dreitausend mal am Tag die Hände waschen, weil er an Sauberkeit glaubt, und wenn man ihn daran hindert, könnte er sich selbst nicht ausstehen. Es wäre ihm unerträglich. Also flüchtet er sich in diese Beschäftigung. Politiker, Leute, die auf Macht und Reichtum aus sind, sind alle wahnsinnig. Niemand kann sie zum Stillstand bringen, weil sie dann nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Dann würden sie auf sich selbst zurückgeworfen, und das wäre unerträglich. Ein Freund erzählte mir, daß er einmal mit seiner Frau zu einer Party gehen wollte. Sie schlossen ihren kleinen Jungen - ein sehr schönes Kind, unternehmungslustig wie alle Kinder - in sein Zimmer ein und sagten ihm: »Wenn du schön brav bleibst und keinen Krach machst, dann kannst du dir wünschen, was du willst. Und in einer Stunde sind wir zurück.« Der Kleine ließ sich ködern: er durfte sich wünschen, was er wollte?! Also benahm er sich wirklich gut. Er ging so weit, daß er überhaupt nichts tat, sich nur still in die Ecke stellte und dachte: »Alles, was ich machen würde, könnte ja ... Niemand weiß schließlich, was brav ist, und wer kennt sich schon aus mit diesen Erwachsenen und ihren Vorstellungen - was ist für sie >falsch< und was >richtig Und außerdem ändern sie immer ihre Meinung.« Also stand er mit geschlossenen Augen in der Ecke seines Zimmers, als meditiere er. Nach einer Stunde machten sie die Tür auf und fanden ihn steif in der Ecke stehn. Er machte die Augen auf und sah sie an, und sie fragten: »Nun, warst du schön brav?« Er antwortete: »Ja, ich war so brav, daß ich mich nicht mehr leiden mag.« Was zu viel ist, ist zu viel. Leute, die sich zu sehr beschäftigen, haben vor sich selber Angst. Beschäftigung ist eine Art Selbstflucht. Man kann sich damit betäuben. Sie ist ein Rauschmittel, sie alkoholisiert. Du mußt aufhören, dich zu beschäftigen: es ist pathologisch, du bist krank. Das heißt aber nicht, daß du aufhören sollst, zu handeln. Handeln ist etwas Schönes. Was ist Handeln? Handeln ist Antworten: wenn es notwendig wird, handelst du; wenn es nicht notwendig ist, entspannst du dich. Bisher tust du noch immer Dinge, die nicht notwendig sind; so wie du jetzt bist, kannst du dich nicht entspannen, wenn du es willst. Ein Mann des Handelns - handelt; und sobald die Situation vorbei ist, entspannt er sich. Ich spreche zu euch. Sprechen kann entweder Beschäftigung oder Handeln sein. Es gibt Leute, die einfach nicht den Mund halten können: immerzu sind sie am Reden. Selbst wenn man ihnen den Mund knebeln würde, würde das keinen Unterschied machen. Innen plappern sie weiter, können sie nicht aufhören. Das ist Beschäftigung: fieberhafte Besessenheit. Ihr sitzt hier und ich spreche zu euch. Nicht einmal ich selber weiß, was ich euch als nächstes sagen werde. Bevor dieser Satz eben nicht beendet war, wußte ich selbst nicht einmal, was er bringen würde. Ihr seid hier nicht die einzigen Zuhörer - ich bin selbst auch einer. Erst wenn ich etwas gesagt habe, weiß ich, daß ich es gesagt habe. Weder ihr noch ich könnt vorhersehen, was ich sagen werde. Nicht einmal der nächste Satz ist absehbar; es ist jedesmal eure Situation, die ihn herausfordert. Was ich also sage, ist nicht nur meine Verantwortung, vergeßt das nicht: ihr seid ebenfalls verantwortlich. Es ist fiftyfifty: ihr stellt die Situation her, und ich handle ihr entsprechend. Wenn sich in meinen Zuhörern etwas verändert, ändern sich meine Worte. Es hängt ganz von euch ab: nichts ist vorformuliert. Ich weiß nicht, was kommt, und darum ist es auch für mich schön. Es ist ein spontanes Antworten, ein freier Akt. Sobald ihr fort seid, sitze ich wieder in meiner inneren Heimstatt und kein einziges Wort zieht über meinen inneren Himmel. Worte kommen nur euretwegen. Es geschieht daher immer wieder, daß jemand sagt: »Eigentlich wollte ich gerade eine Frage stellen, aber du hast die schon beantwortet.« Jeden Tag geschieht das. Es geschieht in diesem Augenblick. Wenn du eine bestimmte Frage hast, dann hüllt dich diese Frage in eine bestimmte Aura, du kommst bereits von deiner Frage erfüllt her. Was kann ich also anderes tun als antworten? Deine Frage stellt ganz einfach die Situation her, und ich muß darauf eingehen. Auf diese Weise lösen sich viele eurer Fragen von allein auf. Wenn Fragen bleiben, die sich nicht aufgelöst haben, dann ist der Grund irgendwo in dir zu suchen. Du mußt sie vergessen haben, während du hier warst; am Morgen ging sie dir noch im Kopf herum, aber als du diesen Raum betratest, hattest du sie einfach vergessen. Oder aber du hattest mehrere Fragen und wußtest nicht genau, welche du wirklich stellen solltest; du warst verwirrt, verschwommen, vernebelt. Wenn du dir deiner Frage sicher bist, bleibt die Antwort nicht aus. Ich brauche nichts von mir aus zu tun; es geschieht einfach. Ihr schafft die Fragesituation, ich treibe einfach in sie hinein. Das muß ich, denn ich habe euch von mir aus nichts zu sagen. Wenn ich euch etwas zu sagen hätte, dann würdet
ihr dabei völlig unwichtig, dann könntet ihr noch so viele Fragen haben, für mich wäre das dann egal: ich wäre voll von meinem Konzept, von meinem festen Anliegen, und müßte es an euch loswerden. Ihr bräuchtet nicht einmal dazusein, ich müßte es trotzdem loswerden. Der Indische Rundfunk lud mich früher häufig zu Sendungen ein, aber für mich war das äußerst schwierig, weil es so unpersönlich war: zu niemandem sprechen?! Ich wehrte ab: »Das ist nicht das Richtige für mich. Es wäre eine zu große Anstrengung, ich wüßte gar nicht, was ich tun sollte - es ist ja gar niemand da.« Die Antwort war: »Das läßt sich arrangieren; wir schicken ein paar Leute vom Personal, die können dabeisitzen.« Daraufhin sagte ich ihnen: »Aber ihr dürft mir nicht das Thema vorschreiben, denn das Thema hängt von den Leuten ab, die dabeisitzen. Es wäre völlig unsinnig, über irgendein x-beliebiges Thema zu sprechen, während lebendige Leute vor mir sitzen, die nichts mit diesem Thema zu tun haben, über das ich sprechen soll. Das wäre ein totes Publikum.« Indem du hier bist, bringst du deine Fragen mit, schaffst du eine bestimmte Situation, und die Antwort treibt dir zu. Es ist etwas Persönliches. Schließlich hörte ich auf, im Indischen Rundfunk zu sprechen. Ich teilte ihnen mit: »Das ist nichts für mich, das ist einfach unmöglich. Ich kann nicht zu Maschinen sprechen: sie schaffen keine lebendige Situation, in die ich einströmen kann. Ich kann nur zu Menschen sprechen.« Aus dem gleichen Grund habe ich auch nie ein Buch geschrieben. Ich kann es nicht! - für wen denn? Wer wird es lesen? Solange ich denjenigen, der es lesen wird, nicht kenne - solange niemand die Situation dafür herstellt - kann ich nicht schreiben. Für wen denn auch? Ich schreibe nur Briefe, denn dann weiß ich, daß ich an jemanden schreibe. Dieser >jemand< mag irgendwo in den U. S. A. leben, das ist egal, denn sobald ich ihm einen Brief schreibe, wird daraus etwas Persönliches: das Gegenüber ist da. Während ich schreibe, hilft er mir beim Schreiben. Ohne ihn ist es nicht möglich; es ist ein Dialog. Das verstehe ich unter Handeln. Sobald ihr fort seid, verschwindet auch augenblicklich alle Sprache aus mir. Es kommen keine Worte mehr, sie werden nicht gebraucht. Und so muß es auch sein. Solange du läufst, benutzt du deine Beine, aber sitzt du auf einem Stuhl, wozu dann noch die Beine bewegen? Das wäre Wahnsinn! Wenn ein Dialog stattfindet, muß man reden; wenn es die Situation erfordert, muß man handeln - aber das laß besser das Ganze entscheiden. Du darfst nicht der entscheidende Faktor sein, du darfst keine Entscheidung treffen. So kann es zu keinen Karmas kommen, so gehst du unberührt und frisch von Augenblick zu Augenblick. Die Vergangenheit stirbt jeden Augenblick von allein, und die Zukunft wird neu geboren, und du begegnest ihr so taufrisch wie ein Neugeborenes. Das höchste Handeln Vereinigt große Schöpferkraft mit Ungebundenheit. Alles Handeln geschieht von allein; du bleibst ungebunden. Du hast nicht das Gefühl - >das habe ich getan<. Ich habe nicht das Gefühl, dies gesagt zu haben. Ich sehe nur, daß es gesagt worden ist; es ist von selbst geschehen. Das Ganze hat es getan; aber weder bin ich das Ganze, noch seid ihr es. Das Ganze ist beides - und keines von beiden; und das Ganze ist überall und das Ganze lenkt alles. Du bist es nicht, der es tut. Viel geschieht durch dich, aber du bist nicht der Schöpfer. Das Ganze bleibt der Schöpfer, ihr seid lediglich Werkzeuge, Medien des Ganzen. Du bist ein hohles Bambusrohr in den Händen, an den Lippen des Ganzen, und wirst zur Flöte, und ein Lied wird geboren. Woher dieses Lied? Kommt es aus dem hohlen Bambus, das ihr »Flöte« nennt? Nein. Von den Lippen des Ganzen? Nein. Woher also kommt es? Alles ist daran beteiligt: der hohle Bambus, die Lippen des Ganzen, der Musiker - sie alle haben mitgewirkt; auch der Zuhörer. Alle gemeinsam bringen sie das Lied hervor. Jede Kleinigkeit spielt eine Rolle. Eine bescheidene Rose neben dieser Veranda, und diese Veranda ist nicht mehr die gleiche, denn die Rose hat ihre eigene Aura, ihr eigenes Sein. Sie übt ihren Einfluß aus: sie beeinflußt euer Verständnis, sie beeinflußt mit, was durch mich gesagt wird. Das Ganze wirkt, nicht das Einzelne. Viel geschieht, aber niemand tut es. >... große Schöpferkraft mit Ungebundenheit.< Und wenn dein Tun nicht von dir kommt, wie kann es dich dann binden? Wenn du auch nur das Geringste >tust<, hast du dich schon gebunden und sagst: »Das habe ich getan!« Du möchtest jeden gern wissen lassen, daß du dieses und jenes getan hast. Dieses Ego ist die Schranke vor der höchsten Erkenntnis. Mach Schluß mit dem >Macher<, und laß die Dinge von sich aus geschehen. Das meint Tilopa mit »gelöst und natürlich« sein. Die höchste Vollendung Erkennt das So-Sein ohne Hoffnung. Dies ist etwas sehr Tiefes, sehr subtil und schwer zu fassen. Tilopa sagt: »Was ist höchste Vollendung? Nichts anderes, als zu erkennen, daß alles vollendet ist, so wie es ist - ohne Hoffnung. Jenes Innere, jener Innenraum ist vollendet. Absolut - ohne Hoffnung.« Warum bringt Tilopa dieses Wort »Hoffnung« ins Spiel? Weil mit der Hoffnung automatisch die Zukunft auftritt; mit der Hoffnung kommt die Sehnsucht; mit der Hoffnung kommt der Wunsch nach Verbesserung; mit der Hoffnung kommt die Gier nach mehr; mit der Hoffnung kommt die Unzufriedenheit; und natürlich bringt die Hoffnung die Enttäuschung gleich mit.
Er will aber nicht sagen, daß ihr hoffnungslos werden sollt; denn selbst die Hoffnungslosigkeit hängt noch von der Hoffnung ab. Er sagt, beides sind nur Erscheinungsformen der Hoffnung. Und dieser Punkt ist für das westliche Verständnis ein großes Problem; denn auch Buddha drückt sich ähnlich aus, und deshalb hat sich in der westlichen Philosophie die Ansicht eingebürgert, daß diese Asiaten lauter Pessimisten sind. Das sind sie keineswegs. Sie sind weder Pessimisten noch Optimisten. Und genau das bedeutet »ohne Hoffnung«. Wenn jemand voller Hoffnung ist, nennen wir ihn einen Optimisten, und sagen von ihm, daß er an der schwärzesten Wolke noch einen Silberrand entdeckt, daß er in der dunkelsten Nacht noch den neuen Morgen heraufkommen sieht: kurz - ein Optimist. Und sein Gegenteil ist der Pessimist. Der sieht selbst bei einem noch so hellen Silberrand die schwärzeste Wolke, und erwähnst du den Morgen, dann sagt er: »Jeder Morgen endet mit einem Abend.« Aber vergeßt nicht: sie mögen Gegensätze sein, in Wirklichkeit jedoch sind sie nicht voneinander getrennt; ihre Blickrichtung ist verschieden, aber sie haben die gleiche Gesinnung. Ob du dich auf den Silberrand konzentrierst, oder auf die dunkle Wolke, du siehst immer nur den einen Aspekt; du scheidest die Dinge, du wählst aus, du siehst nie das Ganze. Buddha, Tilopa, ich selbst - wir sind weder Optimisten noch Pessimisten. Wir lassen einfach die Hoffnung fallen. Die Hoffnung bringt gleich beide mit ins Haus: den Optimisten und den Pessimisten. Wir werfen einfach die Münze der Hoffnung fort, und mit ihr verschwinden ihre beiden Seiten. Es ist eine vollkommen ungewohnte Dimension, die ihr nur schwer verstehen könnt. Tilopa sieht das So-Sein der Dinge; er bezieht nicht Stellung. Er sieht den Morgen zusammen mit dem Abend, er sieht die Dornen zusammen mit der Blüte, er sieht Leid und Genuß zusammen, er sieht Geburt und Tod zusammen. Er hat keine Vorliebe mehr. Er ist weder ein Pessimist noch ein Optimist. Er lebt ohne Hoffnung. Und es ist wirklich herrlich, in dieser Dimension zu leben, ohne Hoffnung zu leben. Aber die bloße Formulierung »ohne Hoffnung« läßt euch schon das Herz tiefer sinken, weil es so pessimistisch klingt. Aber das liegt an der Sprache, und was Tilopa sagt, liegt jenseits von Sprache. Seine Worte sind: »Die höchste Vollendung ist es, das So-Sein ohne Hoffnung zu erkennen.« Du erkennst dich einfach so, wie du bist, in deinem ganzen So-Sein, und dann bist du das einfach! Keine Verbesserungen sind notwendig, keine Veränderung, kein Fortschritt, kein Wachstum - alles nicht nötig. Nichts ist daran zu ändern. Alles ist so, wie es ist. Wenn du dem auf den Grund gehst - daß alles so ist, wie es ist dann verschwinden plötzlich alle Blüten und alle Dornen; Tage und Nächte verschwinden, Sommer und Winter verschwinden. Nichts bleibt - weil du dich an nichts mehr klammerst. Und hast du erst einmal ganz akzeptiert, wie du bist, wie alles ist, dann gibt es kein Problem mehr, keine Frage, es gibt nichts zu lösen - du bist eben das. Und ein Jubel steigt auf, kein Jubel der Hoffnung, sondern der Jubel, der aus überschäumender Energie kommt. Du beginnst zu blühen, du blühst einfach auf, nicht um irgendeiner Zukunft willen, sondern weil du gar nicht anders kannst. Wenn man das So-Sein der Dinge erkennt, ist die Blütezeit gekommen: und das Blühen geht weiter und immer weiter, der Jubel hat keinen ersichtlichen Grund und hört nicht auf. Warum bin ich glücklich? Was habe ich, das ihr nicht habt? Warum bin ich heiter und ruhig? Habe ich etwas erreicht, das ihr auch erreichen müßt? Habe ich etwas erlangt, was ihr auch erlangen müßt? Nein. Ich habe mich einfach in das So-Sein der Dinge gefügt. Was immer ich bin - gut, schlecht, moralisch oder unmoralisch - was ich auch sein mag, ich habe mich einfach in das So-Sein entspannt. Ich habe alle Anstrengungen aufgegeben, mich zu bessern, ich habe alle Zukunft aufgegeben. Ich habe die Hoffnung aufgegeben. Und mit dem Aufgeben der Hoffnung ist alles verschwunden. Ganz einfach still; denn jetzt, ohne Hoffnung, weiß ich nicht mehr, wie ich noch Störungen hervorrufen könnte. Ohne jede Hoffnung - wie kannst du da noch Verwirrung in dein Dasein bringen. Vergiß nicht: alle Anstrengungen führen dich zu einem Punkt, wo du alle Anstrengungen aufgibst und spielerisch wirst. Die ganze Suche führt dich an einen Punkt, wo du einfach nur noch mit den Schultern zuckst, dich unter einen Baum setzt und es dir bequem machst. Die Reise endet in deinem innersten So-Sein - und das steht dir jederzeit offen. Du mußt also nur ein wenig bewußter werden. Was ist verkehrt an Dir? Ich habe Millionen von Menschen gesehen, und nicht ein einziger war unter ihnen, dem wirklich etwas gefehlt hätte - es war höchstens Einbildung. Ihr seid große Erfinder, ihr erzeugt Krankheiten, Fehler, Probleme, hinter denen ihr dann herjagen könnt: wie wollt ihr sie lösen? Erst stellt ihr sie selber her, dann jagt ihr sie. Warum setzt ihr sie erst in die Welt? Mach ganz einfach Schluß mit Hoffnungen und Wunschgedanken; sieh einfach deine Wirklichkeit, das, was du jetzt schon bist - und Punkt. Das kann innerhalb eines Lidschlags geschehen, dazu ist keine Zeit nötig. Wenn du glaubst, daß dazu Zeit notwendig ist, daß du nur schrittweise dahin kommen kannst, dann liegt es an deinen alten Vorstellungen, die dir einreden wollen: »Dazu brauchst du aber viel Zeit.« In Wirklichkeit ist absolut keine Zeit notwendig. Die höchste Vollendung Erkennt das So-Sein ... . erkennt, daß alles, was erreicht werden muß, schon eine innere Gegebenheit ist. Das ist die Bedeutung von So-Sein, von Immanenz: daß alles, was erreicht werden soll, schon in dir da ist. Du wurdest vollendet geboren, es geht gar nicht anders, denn du kommst aus der Vollkommenheit. Das bedeuten die Worte Jesu: »Mein Vater und ich sind eins.« Was will er damit sagen? Er sagt damit, daß du gar nichts anderes sein kannst als das Ganze, denn das Ganze hat dich hervorgebracht! Schöpfe eine Handvoll Wasser aus dem Meer und koste davon: es schmeckt überall gleich. In einem einzigen Tropfen
Meereswasser findest du die gesamte Chemie des Meeres. Hast du auch nur einen Tropfen Meereswasser ganz verstanden, hast du alle Meere verstanden, vergangene, gegenwärtige oder zukünftige: denn ein Tropfen ist das Meer im Kleinen. Und du bist das Ganze im Kleinen. Wenn du tiefer in dich gehst und dies erkennst, kommt urplötzlich ein Gelächter in dir hoch, du mußt einfach loslachen! Was hast du nur gesucht? Der Sucher war der Gesuchte! Der Reisende selbst war das Ziel. Das ist die allerhöchste Vollendung: zu erkennen, wer du bist, die eigene Vollkommenheit zu erkennen ... ohne Hoffnung. Denn bleibt auch nur ein Rest von Hoffnung zurück, stiftet er neue Unzufriedenheit. Dann fängst du von neuem an zu denken, daß mehr möglich wäre. Hoffnung erzeugt ständig neue Träume: »Es ist noch mehr möglich; es ist schon alles gut so, wie es ist, aber ...« Es kommen Leute zu mir und sagen: »Es geht sehr gut voran mit dem Medititeren, aber kannst du uns nicht eine andere Technik nennen, damit wir noch mehr wachsen können?« Manchmal sagen sogar welche: »Alles geht ausgezeichnet!« Und dann: »Aber was jetzt?« Da regt sich die Hoffnung. Wenn alles ausgezeichnet geht, warum dann die Frage: »Und jetzt?« Als alles schief ging, hast du auch gefragt: »Und jetzt?« Nun, wo alles gut geht, fragst du wieder: »Und wie geht's weiter?« Jetzt höre endlich zu hoffen auf! Erst vor kurzem kam jemand zu mir und sagte: »Im Augenblick geht alles fantastisch - aber wer weiß, was morgen ist!« Warum an Morgen denken, wenn heute alles in Ordnung ist? Könnt ihr denn nie ohne Probleme leben? Im Augenblick geht alles blendend, aber du machst dir schon Gedanken, ob es morgen wohl auch noch so sein wird. Wenn das Heute gut ist - wo kommt denn das Morgen her? Es wird aus dem Heute geboren; wo liegt also das Problem? Wenn das Heute heiter ist, wird das Morgen noch heiterer sein: es wird gezeugt vom Heute. Aber vor lauter Sorge kannst du dir das Heute vermiesen. Und dann ist das Morgen da und du findest dich in deiner Frustration bestätigt: »Ich hab's ja gleich gesagt, es mußte ja so kommen!« Und es liegt allein an dir. Von sich aus wäre es nicht so gekommen. Hättest du die Zukunft aus dem Spiel gelassen, dann wäre das nicht passiert. Das ist der Selbstzerstörungstrieb des Verstandes. Und in gewissem Sinn liegt darin sogar eine Selbst-Bestätigung. So kann der Kopf nämlich immer behaupten: »Ich hab dich ja gewarnt, aber du wolltest ja nicht auf mich hören.« Dann meinst du, »das stimmt. Mein Verstand hat mich gewarnt, und ich hab nicht auf ihn gehört.« Aber gerade die Warnung war der Auslöser. Vieles passiert auf diese Weise ... Wenn du zum Beispiel zum Astrologen oder zur >jyotishi<, zur Handleserin, gehst, und sie dir etwas prophezeien, was dann später eintritt, dann glaubst du, daß sie die Zukunft vorausgesehen haben. Dabei ist es genau umgekehrt gelaufen: deine Vorstellungskraft macht aus der Prophezeiung eine fixe Idee und sorgt dafür, daß sie sich auch erfüllt. Wenn dir jemand sagt, daß du am 13. März des kommenden Jahres sterben wirst, dann kann er sehr wohl recht haben ... nicht, weil er die Zukunft weiß, sondern weil er die Zukunft vorher festgelegt hat. Jetzt geht dir der 13. März nicht wieder aus dem Kopf, er verfolgt dich bis in den Schlaf hinein, bis in deine Träume, bis in deine Liebesnächte. Vierundzwanzig Stunden am Tag: »Und am 13. März werde ich sterben.« Es wird zur Selbst-Hypnose, zum Mantra. Es geht dir wie ein Mühlstein im Kopf herum; je näher der 13. März rückt, desto mehr drehst du durch. Und dann erfüllt es sich: der 13. März ist da... Ein deutscher Handleser prophezeite einmal seinen eigenen Tod. Er hatte schon vielen Menschen den Tod vorausgesagt und es war immer so eingetreten, also mußte an seinen Vorhersagen etwas dran sein. Wie sonst war das möglich? Er war alt und ein paar Freunde schlugen ihm vor, er solle doch seinen eigenen Tod vorhersagen. Also las er seine Hände und sah in den Tabellen nach und tat alles, was dazugehört - alles Hokuspokus - und entschied, daß sein Tod an dem und dem Tag um sechs Uhr morgens eintreten würde. Und von da an wartete er. Sechs Uhr kam heran, um fünf Uhr machte er sich bereit und setzte sich neben die Uhr. Mit jeder Minute kam der Tod näher. Und dann kam der letzte Augenblick - noch eine Sekunde - jetzt war der Zeiger auf sechs! Aber er lebte ja immer noch - wie war das möglich? Die Zeit war um, der Zeiger stand auf sechs - da sprang er aus dem Fenster. Wie sonst konnte sich die Prophezeiung erfüllen? Und so starb er genau zur vorbestimmten Zeit. Der Verstand hat einen Selbsterfüllungsmechanismus. Hüte dich vor ihm. Du bist zufrieden, aber er sagt: »Schön, es geht dir gut - aber was wird morgen?« Und schon hat er diesen Augenblick zerstört und das Morgen heraufbeschworen. Jetzt kommt das Morgen aus diesem Gedanken, und nicht aus dem glücklichen Zustand, in dem du eben noch warst. Erwarte nichts - weder im Guten noch im Bösen. Laß alle Hoffnung fahren. Bleib hier - im Moment, mit dem Moment, beim Moment, für den Moment. Es gibt keinen anderen Moment als diesen. Und was geschehen soll, wird aus diesem Moment heraus geschehen, wozu sich also Gedanken machen? Wenn dieser Augenblick schön ist, wie kann der nächste dann häßlich sein? Wo soll er herkommen? Was jetzt ist, wird wachsen, wird schöner werden - wie kann es anders sein? Unnötig, sich den Kopf zu zerbrechen. Und wenn dir das gelingt, ganz bei deiner angeborenen Vollendung zu bleiben ... aber leider muß ich mich in Worten ausdrücken, und so lauft ihr Gefahr, mich falsch zu verstehen. Wenn ich euch also sage, bei eurer inneren Vollendung zu bleiben, dann werdet ihr vielleicht denken, daß ihr euch durchaus nicht immer vollendet vorkommt ... gut, dann bleibt bei eurer Unvollkommenheit. Auch Unvollkommenheit ist vollkommen! Nichts ist daran verkehrt, bleib dabei. Laß dich nicht von diesem Moment abbringen; hier und jetzt ist das ganze Dasein. Was immer erreicht werden muß, muß hier und jetzt erreicht werden. Sei, was immer grade der Fall sein mag - wenn du dir unvollkommen vorkommst, völlig in Ordnung, dann sei unvollkommen! Das bist du eben, das ist dein So-Sein. Du fühlst dich sexuell erregt wunderbar, dann fühl dich so. So bist du, so hat dich Gott gewollt. Traurig? Wunderbar, sei traurig; aber laß dich nicht vom jetzigen Augenblick abbringen. Bleib im Augenblick, und nach und nach wirst du spüren, wie sich die Unvollkommenheit in Vollkommenheit auflöst,
daß der Sex innere Ekstase geworden ist, daß die Wut in Mitgefühl umgeschlagen ist. Wenn du jetzt, in diesem Augenblick, restlos dasein kannst, gibt es kein Problem mehr. Das ist höchste Vollendung. Sie ist ohne Hoffnung, und Hoffnung ist auch nicht nötig: so vollkommen ist alles. Hoffnung ist ein ungesunder Zustand: zu hoffen bedeutet immer, daß etwas mit dir nicht stimmt. Eben darum hoffst du ja - auf die Wendung, auf das Gegenteil. Du bist traurig und hoffst auf Freude. Es ist deine Hoffnung, die dich traurig macht. Du fühlst dich abstoßend und hoffst, eine anziehende Persönlichkeit zu werden; es ist deine Hoffnung, die dich abstoßend nennt. Zeig mir deine Hoffnung, und ich sage dir, wer du bist - denn deine Hoffnung verrät augenblicklich, wer du bist - genau das Gegenteil. Laß alle Hoffnung fahren und sei. Probier es aus, einfach nur zu sein, und es wird so kommen, wie Tilopa sagt: Im Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist Abstürzt wie ein Wasserfall; Dann, auf halbem Wege, strömt er dahin, Langsam und sacht wie der Ganges. Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer, Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen. Wenn du im Hier und Jetzt aufgehst, wird sich dein erstes Satori ereignen, der erste Blitz der Erleuchtung. Und so spielt es sich in dir ab: »Im Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist abstürzt wie ein Wasserfall«; denn dein Geist fängt an zu schmelzen. So wie er jetzt ist, gleicht er einem vereisten Gletscher. Bist du gelöst, natürlich, treu dem Augenblick, authentisch im Hier und Jetzt, dann fängt der Geist an zu schmelzen. Du hast ihn der Energie der Sonne ausgesetzt. Allein dadurch, daß du im Hier und Jetzt bist, ballt sich in dir eine unermeßliche Energie; dadurch, daß du weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit gehst, sammelt sich eine große, eine ungeheure Energie in dir, und eben diese Energie bringt deinen Geist zum Schmelzen. Energie ist Feuer, Energie ist Sonnenkraft. Wenn du nirgends hinstrebst, wenn du vollkommen im Hier und Jetzt ruhst, dringt nichts nach außen, sammelt sich deine ganze Energie in dir an - kein bißchen geht verloren. Denn Energie verlierst du nur durch Wünschen und Hoffen. Das Leck heißt Zukunft; das Leck in deiner Energie heißt Motivation »Tu etwas, sei etwas, hab etwas! Was verschwendest du deine Zeit damit, untätig herumzusitzen? Auf! Los! Ran! - und du verlierst deine Kraft. Wenn du einfach hier bist, wohin soll dann deine Energie abwandern? Die Energie sammelt sich in dir, strömt in dich zurück; - ein Kreis von Feuer bildet sich - und der Gletscher, dein Geist, beginnt zu schmelzen. Am Anfang spürt der Yogi, wie sein Geist Abstürzt wie ein Wasserfall; Alles stürzt zusammen. Dein gesamter Geist bricht zusammen, fällt und fällt und fällt - das kann einen schon in Panik versetzen. Wenn sich das erste Satori nähert, brauchst du unbedingt den Meister, mußt du dich ihm ganz und gar anvertrauen - denn wer sonst sollte dich ermuntern: »Hab keine Angst, herrlich - laß dich fallen.« Schon das Wort >fallen< weckt Angst, denn >fallen< heißt: in einen Abgrund stürzen, den Boden unter den Füßen verlieren, vom Unbekannten verschluckt zu werden. Es erinnert an Tod - man bekommt Angst. Ihr seid sicher schon einmal im Gebirge auf einen hohen Gipfel geklettert, und habt von da aus ins Tal hinuntergesehen - Schwindel und Übelkeit. Die Angst überwältigt dich, als wäre der Abgrund dein Tod, als könntest du jeden Augenblick abstürzen. Wenn der Geist schmilzt, fällt alles, alles, sage ich. Deine Liebe, dein Ich, dein Habenwollen, deine Wut, dein Haß - alles, woraus du bisher bestanden hast, löst sich plötzlich auf und fällt - wie wenn ein Haus zusammenbricht; ein einziges Chaos, kein Stein mehr auf dem andern, alle Ordnung zerstört. Irgendwie hast du dich bisher zusammenhalten können; irgendwie hast du dich durch erzwungene Disziplin, durch Kontrolle im Sattel gehalten. Jetzt, wo du gelöst und natürlich wirst, fällt alles zusammen. Vieles, das du bislang unterdrückt hattest, kommt nach oben, steigt ans Tageslicht. Nichts als Chaos weit und breit; du wirst wie ein Wahnsinniger sein. Die erste Phase ist wirklich schwer durchzustehen. Denn alles, was dir die Gesellschaft aufgeprägt hat, fällt; alles Angelernte, alles, was du selber aus dir gemacht hast, fällt. All deine Gewohnheiten, all deine Orientierungen - alle Wege fallen einfach weg. Deine Identität löst sich einfach in Luft auf, du weißt nicht mehr, wer du bist. Bislang wußtest du genau, wer du warst, kanntest deinen Namen und deine Herkunft, deinen Status, dein Prestige, dein Ansehen, dieses und jenes: all das wußtest du. Jetzt plötzlich schmilzt es zusammen, deine Identität ist weg. Vieles hast du gewußt, jetzt weißt du nichts mehr. Die Wege der Welt waren dir vertraut - jetzt sind sie fortgefallen, und du weißt absolut nicht mehr, woran du bist. Genau das geschah mit Sokrates. Das war sein erstes Satori, als er sagte: »Jetzt weiß ich nur noch eines: daß ich nichts weiß. Nur noch ein Wissen bleibt mir: daß ich unwissend bin.« Das ist das erste Satori. Die Sufis haben einen besonderen Ausdruck für jemanden, der in dieses Stadium kommt: sie nennen ihn »mast« - >den Verrückten<. Er starrt dich an, ohne dich zu sehen. Er streift in der Gegend herum, ohne zu wissen, wohin. Er redet Unsinn. Er kann kein Wort sinnvoll an das andere fügen - erst kommt ein Wort, dann eine Pause, dann wieder ein Wort, völlig ohne Zusammenhang; er redet wirres Zeug. Er widerspricht sich in allem, auf ihn ist kein Verlaß. Für diese Phase braucht man den Schutz einer Mysterienschule, wo sich andere deiner annehmen können. Aus diesem
Grund wurden Ashrams gegründet - denn ein Mensch in diesem Zustand darf nicht in die Gesellschaft gelassen werden, sonst wird er für wahnsinnig gehalten und hinter Gitter gesteckt, oder ins Irrenhaus eingewiesen. Dort wird er dann behandelt - man will ihn wieder »zu sich« bringen, wieder in den Normalzustand zurückholen - und dabei ist es eine Wachstumsexplosion! Er hat alle Fesseln der Gesellschaft gesprengt und ist zu einem Chaos geworden. Daher bestehe ich so sehr auf chaotischen Meditationstechniken. Sie verhelfen euch zu diesem ersten Satori. Ihr könnt nicht gleich von Anfang an still sitzen; ihr könnt euch das zwar weismachen, aber nicht wirklich still dasitzen; das ist nicht möglich. Das kann erst im zweiten Satori geschehen - im ersten Satori seid ihr chaotisch und dynamisch. Da müßt ihr euren Energien freien Lauf lassen, damit ihr von all den Zwangsjacken, die euch einschnüren, freiwerdet, damit alle Ketten gesprengt werden. Zum ersten Mal wirst du zum Außenseiter, bist du nicht mehr Mitglied der Gesellschaft. Eine Schule, eine Kommune ist notwendig, wo man sich deiner annimmt. Ein Meister ist notwendig, der zu dir sagen kann: »Hab keine Angst«, der dir sagt: »Fall nur zu, laß es geschehen; klammere dich an nichts, das zögert den Moment nur noch weiter hinaus - laß dich fallen!« Je eher du fällst, desto eher verschwindet der Wahnzustand. Wenn du dich sträubst, kann sich der Wahnsinn lange halten. Es gibt in den Irrenhäusern der ganzen Welt Tausende von Wahnsinnigen, die in Wirklichkeit nicht wahnsinnig sind, die einen Meister gebraucht hätten, statt einen Psychotherapeuten. Sie haben ihr erstes Satori erreicht, aber jede Psychotherapie legt es darauf an, sie mit Gewalt zurückzuholen, sie wieder >normal< zu machen. Sie sind weiter als ihr, sie haben einen Punkt der Reife erreicht, aber dieses Reifestadium ist so fremdartig - unweigerlich, denn es ist das erste Satori - daß ihr ihnen ein Schuldgefühl gebt. Ihr nennt sie wahnsinnig! - Und so versuchen sie es geheimzuhalten und sich festzuklammern, und je länger sie zögern, ganz loszulassen, desto länger dauert der Wahnsinn. Erst in jüngster Zeit sind einige wenige Psychologen, vor allem R. D. Laing, aber auch andere, darauf aufmerksam geworden, daß es unter den Irren einige gibt, die nicht unter die normale Bewußtseinsgrenze gesunken sind, sondern über das Normalbewußtsein hinausgewachsen sind. Im Westen haben das nur einige wenige, sehr einfühlsame Leute festgestellt, aber der Osten hat das immer schon gewußt, und der Osten hat die Irren noch nie unterdrückt. Das allererste, was man im Osten tut, wenn jemand verrückt wird, ist, ihn in einen Ashram zu bringen, in dem viele Menschen in der Gegenwart eines lebenden Meisters an ihrem Bewußtsein arbeiten. Das Wichtigste ist, ihm zum Satori durchzuhelfen. Wahnsinnige sind im Osten seit je respektiert worden. Im Westen hat man sie einfach verdammt; man behandelt sie gewaltsam mit elektrischen Schocks oder Insulin, selbst unter der Gefahr, daß das Hirn dabei zerstört wird. Und jetzt fängt man sogar mit Hirn-Chirurgie an. Man operiert ihr Gehirn und entfernt Teile daraus. Damit werden sie natürlich >normal<, aber stumpfsinnig, idiotisch, ohne eine Spur von Intelligenz. Sie sind nicht mehr wahnsinnig, sie tun keinem mehr etwas zuleide; sie fügen sich willig in die schweigende Mehrheit des Volkes - aber man hat sie umgebracht, ohne zu ahnen, daß sie den Punkt erreicht hatten, wo der Mensch zum Übermenschen wird. Aber das Chaos muß freilich durchgestanden und überwunden werden. Mit der Liebe eines Meisters, mit einer Ashram-Kommune von liebevollen Menschen, geht das schnell vorüber; hier nimmt es jeder leicht und hilft mit, und man erreicht ohne Schwierigkeit die zweite Stufe. Das Chaos muß sein, denn all deine Ordnung war dir aufgezwungen worden und hat mit wirklicher Ordnung nichts zu tun. Alle Disziplin ist von außen aufgenötigt, ist nicht deine eigene innere Disziplin. Bevor sich die innere zeigt, muß die ältere verschwinden und dazwischen entsteht eine Lücke. Diese Lücke ist Wahnsinn. Man fühlt sich nach unten fortgerissen, wie ein Wasserfall in den Abgrund, bodenlos ... >Auf halbem Wege< - wenn man diesen Punkt hinter sich hat, wenn das erste Satori gut durchlebt worden ist, bildet sich allmählich eine neue Ordnung aus, und diese Ordnung kommt von innen her, sie stammt aus deinem eigenen Sein. Diese Ordnung hat nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun, sie stammt nicht mehr von andern, sie ist nicht mehr das alte Gefängnis. Die neue Ordnung, die jetzt entsteht, hat etwas mit Freiheit zu tun. Ganz natürlich stellt sich jetzt eine Disziplin ein - deine eigene. Niemand fordert, niemand verlangt von dir: «Tu dies, tu das!« - du tust einfach das Richtige. Dann, auf halbem Wege, strömt er dahin, Langsam und sacht wie der Ganges. Der stürzende und tosende Wasserfall ist fort, das Chaos ist vorbei. Das ist das zweite Satori. Du wirst wie der Ganges, dein Geist fließt sacht dahin, langsam, ohne jedes Geräusch. Du gehst wie ein Bräutigam, still und anmutig. Dein ganzes Wesen ist umgeben von einem vollkommen neuen Zauber - von Eleganz und Charme. Dies ist der zweite Zustand - der Zustand, den alle Statuen Buddhas widerspiegeln; denn der dritte Zustand läßt sich nicht darstellen, nur der zweite oder der erste. Seht euch einmal Buddha-Statuen, oder die Standbilder der Teerthankaras der Jainas an: ihre Eleganz, ihre Anmut, die unmerkliche Rundheit ihrer Glieder, ihre feminine Körperlichkeit. Sie sehen eher weiblich als männlich aus; sie haben etwas Rundes an sich, die Linien des Körpers sind weich. Das weist darauf hin, daß ihr inneres Wesen sehr behutsam und sanft geworden ist; es ist keine Spur von Aggressivität mehr in ihnen. Zen-Meister wie Bodhidharma, Rinzai, Bokoju sind dagegen im ersten Zustand abgebildet worden. Daher ihr wildwütiger Ausdruck. Sie sehen aus wie brüllende Löwen, als wollten sie dich umbringen. Ihre Augen, wenn du genau hinsiehst, sind Vulkane, aus denen dir flammende Blicke entgegenschießen, so daß du erschrickst. Daß sie in der ersten Satori-Phase abgebildet wurden, hat seinen Grund. Denn die Zen-Leute wissen, daß dort das eigentliche Problem liegt.
Und wenn du Bodhidharma in dem Zustand kennst, dann bist du eher bereit, deine Angst aufzugeben, wenn du soweit bist: >Wenn sogar Bodhidharma ...!< Wenn du jedoch nichts anderes als Buddhas und Teerthankaras gesehen hast in ihrer stillen Geschmeidigkeit, in ihrer weiblichen Anmut, dann erschrickst du, wenn dich diese Wildheit überkommt, wenn du dich zum Löwen werden fühlst - wenn du wie ein Löwe zu brüllen anfängst, zum tosenden Wasserfall wirst. Aus diesem Grund also hat man im Zen-Buddhismus eher den wilden als den sanften Zustand abgebildet. Natürlich stehen auch in ihren Tempeln Buddha-Statuen, aber das ist der nächste Zustand. Und der ist kein Problem; wenn du still geworden bist, gibt es kein Problem mehr. In Indien hat man zuviel Gewicht auf den zweiten Zustand gelegt, und daraus ist eine Barriere geworden, denn man sollte von Anfang an wissen, was einen zuerst erwartet. Ein Buddha ist bereits angekommen. Auch du kannst zum Buddha werden, aber in der Kluft zwischen dir und einem Buddha geschieht etwas anderes - und zwar der totale Wahnsinn. Was geschieht, wenn du den Wahnsinn ganz akzeptierst, ihn völlig zuläßt? - Dann erlischt er von selbst. Und mit ihm die alte Ordnung, die dir die Gesellschaft auferlegt hatte. Sie löst sich in Dunst auf, alles alte Wissen ist fort, alles, was du aus den Heiligen Schriften wußtest, existiert nicht mehr. Es existiert ein Bild von einem Zen-Mönch, der alle Schriften verbrennt - es ist eines der berühmtesten Zen-Bilder - es stellt die erste Phase dar. Man verbrennt alle Schriften, man wirft alles Wissen über Bord; alles, was man dir beigebracht hat, ist morsches Gerümpel. Jetzt steigt deine eigene Weisheit auf, du brauchst dir keine mehr von andern zu borgen. Nur braucht es dazu ein bißchen Zeit, so wie ein Samenkorn Zeit braucht, um aufzukeimen. Wenn es dir gelingt, diesen chaotischen Zustand heil durchzustehen, dann folgt der zweite Zustand völlig mühelos von sich aus, ganz von allein. Du wirst still, der Aufruhr hat sich gelegt, du bist wie der Ganges, der aus dem Gebirge in die Ebene tritt. In den Bergen hatte er sich wie ein Löwe gebärdet, war von hohen Klippen in die Tiefe gesprungen mit Brausen und Tosen. Und dann erreicht er die Ebenen und läßt die Berge hinter sich. Jetzt ändert sich das Terrain, jetzt geht alles schweigsam zu. So sacht fließt er, daß du nicht einmal erkennen kannst, ob er überhaupt fließt. Alles bewegt sich so langsam, als ob es sich gar nicht bewegt - völlig entspannt. Erreiche die höchste Vollendung, die eingeborene Vollendung - ohne Hoffnung. Kein Ziel vor dir, ohne Eile, ohne Hast. Du kostest jeden Moment zur Neige aus ... Langsam und sacht wie der Ganges. Diese zweite Phase ist reine Stille, ist Heiterkeit, Seelenruhe, innere Sammlung und Entspannung, Einkehr-Heimkehr. Und dann: Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer, Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen. Dann erreicht er still fließend plötzlich das Meer, wird eins mit ihm - geht ein in die endlosen Weiten, grenzenlos. Jetzt ist der Geist kein Fluß mehr, jetzt ist er nicht mehr individuell begrenzt, jetzt gibt es kein Ego mehr. Selbst in der zweiten Phase ist das Ego noch unendlich fein vorhanden. Die Hindus unterscheiden zwischen zwei Dimensionen des Ich. Die eine nennen sie >Ahamkar<, das Ego - das, was ihr habt; die zweite ist >Asmita< - das >bin<, ohne das >ich<; das was vom >ich bin< bleibt, wenn das >ich< fortfällt: das einfache >bin<. Das ist >Asmita<. Es ist ein sehr, sehr stilles Ego, das niemand zu spüren bekommt, es ist rein passiv, nicht mehr aggressiv. Es läßt keine Spur zurück, aber existiert dennoch, insofern man noch spürt, daß man da ist. Darum wird es das >zweite Satori< genannt: der Ganges fließt in aller Stille, ganz in sich versunken, in völligem Frieden, aber noch ist er. Er ist >Asmita<, >Bin-heit<. Das >Ich< ist gefallen, und damit der ganze Wahnsinn des Ich; das aggressive, das wildblütige Ich ist nicht mehr da, ihm folgt eine stille >Istigkeit<, denn der Fluß hat immer noch zwei Ufer, hat immer noch Grenzen. Er ist immer noch getrennt vom Meer, er bewahrt sich noch seine Individualität. Wenn das Ego fällt, fällt die Persönlichkeit, aber nicht die Individualität. Persönlichkeit ist nur die Außenschale der Individualität. Individualität ist das Innere der Persönlichkeit. Persönlichkeit ist für andere da, sie ist die Schaufensterauslage. Sie ist jetzt abgefallen, das war das Ego. Aber das innere Gefühl, daß >ich bin<, oder vielmehr nur >bin<, gehört nicht zur Schaufensterauslage, niemand kann es sehen. Es mischt sich in kein anderes Leben ein, es steckt seine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer. Es bewegt sich lediglich, aber ist immer noch da - denn der Ganges existiert noch als individuelles Wesen. Am Ende geht aber auch die Individualität verloren. Dafür haben die Hindus ein drittes Wort: Atma. >Ahamkar< ist das Ego, die >Ichheit<, das >bin< ist nur sein Schatten, der Schwerpunkt ist das >ich<; dann kommt der zweite Zustand, >Asmita<: Das Ich ist fort, jetzt herrscht nur noch das >bin<, es wirft keinen Schatten. Und schließlich das >Atma<: jetzt ist auch das >bin< verschwunden. Das ist es, was Tilopa das Nicht-Selbst nennt. Du bist, aber ohne jedes Selbst; du bist, aber ohne jede Grenze. Der Fluß hat sich im Meer aufgelöst, der Fluß ist zum Meer geworden, eins mit ihm. Alle Individualität ist verloren, alle Grenzen sind fort, aber das Sein existiert - als ein Nicht-Sein. Es ist eine unendliche Leere daraus geworden. Es ist wie der Himmel. Das Ego war wie eine schwarze Wolkenwand, die den ganzen Himmel bedeckte. Das Bin-Gefühl, Asmita, war wie weiße Wolken am Himmel. Und das Atma ist wie der wolkenlose Himmel - nur der Himmel bleibt. Am Ende ist er ein großes, unendliches Meer,
Wo das Licht von Sohn und Mutter in eins verschmelzen. Wo du zurückkommst zum Ursprung, zur Mutter; der Kreis hat sich geschlossen. Du bist nach Haus zurückgekehrt, hast dich in die ursprüngliche Quelle aufgelöst. Der Ganges ist wieder zu Gangotri geworden, der Fluß ist heimgekehrt zu seinem Ursprung: der Kreis hat sich geschlossen. Jetzt bist du, aber in einem so völlig anderen Sinn, daß es besser ist zu sagen: du bist nicht. Es gibt keinen widersprüchlicheren Zustand, er läßt sich mit Worten kaum noch ausdrücken. Man muß ihn selber gekostet haben. Dies ist es, was Tilopa Mahamudra nennt, den großen Orgasmus, den allerletzten Orgasmus, den allerhöchsten Orgasmus. Du bist dorthin zurückgekehrt, wovon du ausgegangen bist. Die Reise ist vorüber, und nicht nur die Reise, sondern der Reisende selbst ist nicht mehr. Nicht nur der Weg ist zu Ende, sondern auch das Ziel ist nicht mehr. Jetzt existiert nichts, und alles ist. Merkt euch diese Unterscheidung. Ein Tisch existiert, ein Haus existiert - aber Gott ist. Denn ein Tisch kann nichtexistent werden, aber Gott nicht. Es ist also nicht richtig zu sagen, daß Gott existiert; das Göttliche ist einfach. Es kann nicht in die Nicht-Existenz eingehen. Es ist reine Istigkeit. Es ist Mahamudra. Alles was existiert, ist verschwunden, nur das Seiende bleibt. Der Körper ist verschwunden, denn er hatte eine Form. Der Geist ist verschwunden, denn er hatte Existenz. Der Weg ist verschwunden, denn er existierte. Das Ziel ist verschwunden. Alles, was existiert, verschwindet. Was bleibt, ist das unberührte Ist ... ein leerer Spiegel, ein leerer Himmel, ein leeres Sein. Das ist es, was Tilopa Mahamudra nennt. Es ist das Höchste, das Letzte, darüber-hinaus gibt es nichts. Jenseits von allem - es ist das Jenseits schlechthin. Vergiß nicht diese drei Phasen; du mußt durch sie hindurch. Erst Chaos - alles geht drunter und drüber; du bist mit nichts mehr identifiziert, alle Bezüge haben sich gelockert und aufgelöst, du bist vollkommen wahnsinnig. Schau dabei zu, wehre dich nicht, geh hindurch, ohne Angst, und wenn ich hier bin, brauchst du dich nicht zu fürchten. Ich weiß, daß es vorbeigeht, ich weiß, daß es immer vorbeigeht, ich kann es euch versichern. Bevor es nicht vorbei ist, kann die Anmut, die Eleganz, das Schweigen eines Buddha nicht aufkommen. Laß es vorüberziehen. Es wird ein Alptraum sein, selbstverständlich, aber laß ihn vorüberziehen. Nach diesem Alptraum wird deine gesamte Vergangenheit bereinigt sein. Es ist eine ungeheure Katharsis. Deine gesamte Vergangenheit geht durch ein Feuer, aber du wirst zu reinem Gold. Dann kommt die zweite Phase. Die erste mußt du durchstehen, denn du könntest leicht Angst bekommen und davonrennen; aber auch die zweite hat eine gewisse Gefahr, nur von völlig anderer Art, alles andere als eine >Gefahr<. Die erste Phase muß durchgestanden werden; du mußt dir im klaren sein, daß sie vorübergeht; sie geht vorüber, nur Zeit und Vertrauen sind notwendig. Die zweite birgt eine andere Art von Gefahr: daß du dich an sie klammern möchtest, weil sie so schön ist. Man möchte in diesem Zustand für immer und ewig verweilen. Während der innere Fluß ruhig und heiter dahin-fließt, möchte man an seinen Ufern rasten. Man möchte nirgendwo anders hin, es ist so schön hier. In gewisser Hinsicht ist das eine größere Gefahr. In der ersten Phase gibt dir der Meister die Gewißheit, daß sie vorbeigeht. In der zweiten zwingt dich der Meister dazu, nicht hängen zu bleiben. Denn wenn du hängenbleibst, wirst du niemals erfahren, was Mahamudra ist. Es gibt viele '
Menschen, die sich an den zweiten Zustand klammern, die dort hängen bleiben. Und zwar deswegen, weil sie sich zu wohlfühlen. Und wirklich - es ist unbeschreiblich schön - man möchte sich auf ewig darin verlieben, das geschieht ganz von allein. Aber bleib bewußt. Mach dir klar, daß auch das nur ein Durchgangsstadium ist. Paß auf, daß du nicht ins Stocken gerätst. Wenn du in der ersten Phase deine Furcht im Auge behalten kannst, und in der zweiten deine Lust ... denk dran, Furcht und Lust sind nur zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Furcht möchte vor etwas davonrennen, die Lust möchte sich an etwas klammern. Aber es ist beides das gleiche. Beobachte die Furcht, beobachte die Lust, und fließe weiter mit dem Strom. Versuch nicht, ihn anzuhalten. Du kannst ins Stocken kommen, aber dann hört der Ganges auf, ein fließendes Wasser zu sein und wird zum stehenden Tümpel. Er mag noch so schön sein, bald wird er absterben, Schmutz wird sich in ihm ansammeln, er wird austrocknen, und bald ist alles wieder verloren, was bereits gewonnen war. Halte nicht an, geh weiter. Der Strom muß ewig weiter - vergiß das nicht - es ist eine endlose Reise, es geht immer weiter. Das mußt du zulassen. Ohne auf das Ziel zu hoffen, ohne danach zu fragen, ohne Wunsch und Absicht - laß es einfach geschehen. Denn am Ende kommt die dritte Gefahr, wenn der Ganges sich ins Meer ergießt. Und das ist die letzte Gefahr, denn jetzt verlierst du dich vollends. Das ist der endgültige Tod. Es erscheint wie der endgültige Tod. Selbst der Ganges erzittert, es schaudert ihn, bevor er sich ins Meer fallen läßt. Selbst der Ganges blickt zurück, denkt an vergangene Tage, gibt sich alten Erinnerungen hin, gedenkt der herrlichen Zeiten in der Ebene und seiner ungestümen Kraftakte zwischen Bergen und Gletschern. Im letzten Moment, kurz bevor er sich ins Meer ergießt, hält der Ganges noch ein wenig zurück. Er möchte noch einmal rückwärts schauen, seine Erinnerungen und schönen Erlebnisse an sich vorbeiziehen lassen. Und auch dies Zögern mußt du beobachten. Gib dich ihm nicht hin. Wenn der Ozean erreicht ist, laß los: tauch ein, lös dich auf, verschmilz mit ihm. Erst in diesem Augenblick kannst du vom Meister Abschied nehmen, niemals zuvor. Nimm Abschied vom Meister und werde zum Ozean. Aber bis zu diesem Augenblick brauchst du die Hand von einem, der sich auskennt.
Der Verstand zieht es vor, der allzu engen Beziehung mit dem Meister aus dem Weg zu gehen; das wird zur Schranke, wenn es darum geht, Sannyas zu nehmen. Du möchtest dich nicht gern binden. Du möchtest wohl lernen, aber hingeben möchtest du dich nicht. Aber so kannst du nicht lernen, so geht es nicht. Du kannst nicht von außen lernen. Du mußt den inneren Tempel, das Sein des Meisters, betreten. Du mußt dich ihm ausliefern. Anders kannst du nicht wachsen. Wenn du dich nicht auslieferst, kannst du dir zwar hier und dort ein wenig >Wissen< zusammenlesen, kannst du ein paar Informationen aufschnappen - aber helfen kann das nicht; es ist eher ein überflüssiger Ballast. Ein tiefer Seelenbund ist notwendig, ja eine rückhaltlose Bereitschaft, denn das, worum es geht, geschieht nicht draußen auf der Peripherie, kann nicht geschehen, solange du nur als flüchtiger Besucher hereinschaust, der ein bißchen dazulernen will; denn was soll aus dir werden, wenn das erste Satori kommt? Was wird aus dir, wenn du wahnsinnig wirst? Und du verlierst nichts, wenn du dich einem Meister überantwortest, weil du gar nichts zu verlieren hast. Indem du dich rückhaltlos verfügbar machst, gewinnst du nur. Verlieren kannst du nichts, weil du gar nichts hast, was du verlieren könntest. Und du brauchst vor nichts Angst zu haben. Und trotzdem, trotzdem möchte man der Schlauere sein, möchte man lernen zu wachsen, ohne zu riskieren. Das ist noch nie vorgekommen, weil es nicht möglich ist. Wenn du also wirklich, wahrhaftig und aufrichtig auf der Suche bist, dann such dir einen, dem du dich bedenkenlos anvertrauen kannst. Auf dich allein gestellt bist du schon viele Leben lang herumgewandert, und du wirst weiterwandern, solange du keine Hilfe annimmst; denn ohne sie ist die höchste Vollendung nicht möglich. Faß dir ein Herz und springe.