Tag der Vergeltung
von G.F.Unger
Er muss das Ausschussloch vorne haben. Jeremy Lassiter erkennt es instinktiv. Das b...
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Tag der Vergeltung
von G.F.Unger
Er muss das Ausschussloch vorne haben. Jeremy Lassiter erkennt es instinktiv. Das bedeutet aber auch, dass der Fremde den Einschuss in den Rü cken bekam. Ein Flüchtling also, ein Mann, der verfolgt wird und seinen Verfolgern nur schwer angeschossen entkommen konnte. Aber er muss ein sehr erfahrener und auch harter Mann sein, der sich nach Indianerart ein Pferd stehlen und dies auch so reiten konnte. - Und er blieb trotz der sehr schweren Verwundung im Sattel. Doch nun ist er am Ende. Sein Blutverlust ist
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schlimm. Wahrscheinlich hält ihn noch der letzte Rest einer unglaublichen Energie aufrecht. Jeremy Lassiter holt eine Flasche mit Tequila aus seinem Gepäck. Er lässt ihn einen Schluck trin ken, und er versucht nicht, den Mann anzufassen oder ihn gar auf den Boden zu legen. Er weiß, dass der Fremde ohnehin gleich umfallen wird und das, was er zu sagen hat, stehend sagen will. Und da hört er es auch schon kurz und knapp: "Drei Mann verfolgen mich aus Canyon Station. - Drei! - Und sie werden auch dich töten, Freund - weil ich mit dir gesprochen habe. Reite schnell! Schüttle sie ab. Dein Pferd wird frisch sein. Reite zu John Bannack in Concho. Sag ihm, dass ich, Cash Callahan, nicht mehr kommen kann. Sag ihm, dass ich eine Spur fand in Canyon Station eine heiße Spur. Er wird dir die dreihundert Dol lar zahlen, die er mir versprochen hat. Reite!
Die Knie werden nun unter ihm weich. Er kann nicht mehr länger aufrecht bleiben. Jeremy Las
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siter fängt ihn auf und lässt ihn zu Boden gleiten. Aber als er ihn noch einmal aus der Tequilafla sche trinken lassen will, da erkennt er, dass es zu spät ist. Dieser Cash Callahan ist tot. Lassiter durchsucht ihn - und er findet keine Waffe bei ihm, auch sonst nichts. Die Kleidung des Mannes ist zerschlissen und staubig. Im Feu erschein betrachtet Lassiter die Hände des Toten. Es sind starke, lange und geschmeidige Hände. Es sind die Hände eines Revolvermannes, der zuletzt schwere Arbeit leisten musste. Denn die Innenflächen sind mit frischen Schwielen be deckt. Einige Atemzüge lang verharrt Lassiter, und er wiederholt in Gedanken jedes Wort, welches er diesen Cash Callahan sagen hörte. Lassiter wird sie nicht wieder vergessen.
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Er erhebt sich von der Seite des Toten, verharrt einige Sekunden, lauscht angespannt - und er kennt, dass es schon zu spät ist für eine Flucht. Cash Callahans Verfolger sind schon da. Das rote Feuerauge in der Nacht ist der Punkt für sie, den sie einschließen müssen. Jeremy Lassiter braucht nur einen kurzen Blick auf seinen Red zu werfen. Das Verhalten seines Wallachs sagt ihm genug. Er weiß deshalb die leisen Geräusche in der Runde richtig zu deuten. Langsam zieht er sich zurück, bis er mit dem Rü cken wieder an einem der roten Felsen lehnt. Er hält seinen Colt bereit und wartet. Jeremy Lassiter ist ein dunkler, indianerhafter Mann mit graugrünen Augen. Er ist erfahren in diesem Land - und er besitzt den Ruf eines Re volvermannes, der es nirgendwo lange aushält. Jetzt verharrt er völlig ruhig. Nach einer Weile kommt ein Reiter geradewegs
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auf das fast erloschene Feuer zugeritten. Dieser Reiter hält einen halben Steinwurf entfernt und ruft: "Hoi, Feuer!" Jeremy Lassiter rührt sich nicht.
Er wartet geduldig und hält den Colt bereit. Sein Pferd und das Tier des toten Callahan ste hen in der Nähe. Der Reiter hat die Tiere längst sehen müssen. Lassiter lauscht nach rechts und nach links. Er weiß zu gut, dass der Reiter ihn ablenken soll, indes die beiden anderen zu Fuß herangeschli chen kommen und das Camp vorsichtig wie zwei Wölfe umkreisen. Der Reiter kommt nun näher geritten. Er ist ein hagerer Mann, der sich nun etwas in den Steig bügeln aufstemmt, um über einige Büsche hin
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wegsehen zu können. "Hoi, hören Sie", sagt der Reiter. "Ich bin Depu ty Marshal. Ich sehe da das gestohlene Pferd und auch den Mann am Boden. Das ist gut! Damit ist alles erledigt. Sie können zum Vorschein kom men, Mister, wer Sie auch sein mögen." Aber Lassiter gibt keine Antwort. Bald schon hört er links neben sich ein Geräusch - und dann sieht er auch schon den schleichenden Mann zum Vorschein kommen. Leicht gebückt erscheint die dunkle Gestalt zwischen Büschen und großen Steinen. "Hier", sagt Lassiter ruhig und gleitet zu gleicher Zeit zur Seite. Es ist eine gedankenschnelle Be wegung. Und er sieht dabei in das Mündungsfeuer, erwi dert es, indes er der ersten Kugel entgeht, die dicht neben ihm gegen den Felsen klatscht und dabei zuvor durch sein über dem Gürtel aufge bauschtes Hemd fetzt.
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Er kann erkennen, dass er selbst besser getroffen hat, sieht es an der Art, wie der Mann zu Boden geht und dabei vor sich in den Boden schießt, weil ihm die Waffe zu schwer wird. Lassiter gleitet um den Felsen herum. Er hört den Ruf des Reiters: "Jube, er hat Stapp erledigt! Hölle, er schoss Stapp von den Beinen!" Lassiter gleitet um den Felsen herum und erklet tert diesen von hinten. Es ist ein großer Felsen, größer als ein großer Elefant. Oben liegen ein paar losgebrochene Stücke. Lassiter nimmt eines und wirft es in die Büsche. Sofort blitzt ein Mündungsfeuer auf. Der Mann dort in den Büschen feuert zweimal. Dann er wischt ihn Lassiter. Und dann gleitet er vom Felsen und macht sich auf den Weg. Er findet bald darauf die beiden anderen Sattelpferde, nimmt einem Tier das Las so vom Sattelhorn und läuft auf den Wagenweg,
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neben dem sein Feuer brannte. Als er das Lasso aufgespannt hat, hört er den Reiter kommen. Der Bursche hatte genug. Es genügte ihm, dass seine beiden Begleiter erledigt wurden. Er hat schnell begriffen, dass das Schicksal es schlecht mit ihnen meinte, als es Callahan an diesen Ort führte. Denn sie zupften sozusagen einen zweibeinigen Tiger am Schwanz. Das begriff der flüchtende Reiter schnell, sehr schnell. Deshalb will er fort, nichts als fort. Als sein Pferd gegen das ausgespannte Lasso rennt, überschlägt es sich und wirft den Reiter in den nächsten Busch. Es ist ein Dornenbusch, aus dem der Bursche nicht aus eigener Kraft heraus kommen kann.
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Lassiter zieht ihn an den Beinen heraus. Der Mann hat seinen Colt verloren, liegt keu chend auf dem Rücken und hat eine ganze Men ge Schmerzen. "Mann, ihr seid nicht die feinsten Gents", sagt Lassiter. "Ihr seid gewiss auch keine Deputies. Ich denke, dass ihr ganz miese Pilger seid. Also erzähl mir mal, mein Freund, warum ihr hinter ihm her wart - und warum ihr mich sofort umle gen wolltet, kaum dass ich 'Hier' sagte? Heraus mit der Sprache - oder ich werfe dich wieder in den Busch hinein." "Dann tu es doch, du Hundesohn", keucht der Mann und setzt sich langsam auf. Er stöhnt da bei, und es geht ihm gewiss wirklich sehr schlecht. Lassiter geht zum Pferd hin, welches sich inzwi schen erhoben hatte. Als er hinter sich den scharfen Atemzug des Mannes hört, wirbelt er herum. Er entgeht dem
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geworfenen Messer nur haarscharf. Das Messer fährt durch das Sattelleder des Pferdes und ver letzt das Tier schmerzvoll. Es wiehert auf und rast davon. Lassiter aber geht auf den Mann zu. Dieser scheint nur auf ihn zu warten. Er hat sich erho ben und blickt ihm lauernd und leicht vorgeneigt entgegen. Dann aber stößt er die Hand nach vorn. Lassiter fängt beide Kugeln des kleinen Derrin gers auf, den der Bursche, wie zuvor das Messer auch, aus dem Stiefel oder von sonst woher ge zaubert haben muss. Es ist ein Reflex, der Lassiter schießen lässt. Als das doppelte Mündungsfeuer vor ihm aufblitzt und die Kugeln ihn stoßen, da zieht und schießt er blitzschnell. Aber er bleibt auch nachher auf den Beinen. Die Kugeln konnten ihn nicht umlegen. Er war noch zu weit entfernt. Der Mann hätte noch etwas
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warten sollen. Die Kugeln eines Derringers ha ben eine geringe Ausgangsgeschwindigkeit. Doch es waren fast sechs Schritte, und wahr scheinlich war auch die Pulverladung zu schwach oder das Pulver zu schlecht. Lassiter bekam beide Kugeln ins Fleisch. Sie sit zen gar nicht tief - eine im Muskelfleisch des linken Oberschenkels, die andere in der rechten Hüfte. Sie durchschlug den Gürtel und verlor dabei schon eine Menge von ihrer Kraft. Er seufzt bitter. In was ist er da hineingeraten? Oh, er weiß, dass er diesen John Bannack in Concho danach fragen muss. Dieser Mann wird ihm vielleicht außer den dreihundert Dollar auch eine Aufklärung geben können. Es ist kein langer Weg bis Concho, nur etwa siebzig Meilen. Doch für einen verwundeten Mann, der nicht so im Sattel bleiben kann wie sonst, sind es selbst auf solch einem prächtigen Pferd wie Red zwei volle Tage.
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Jeremy Lassiter hat sich die beiden Kugeln selbst mit seinem Messer entfernt und die Wunden hef tig bluten lassen, bevor er eine Menge von sei nem Tequila hineingoss und sie dann verband. Nun glaubt er, dass sie sich nicht entzündet ha ben. Denn er müsste schon etwas davon merken. Es müsste bereits jener hackende Schmerz zu spüren sein, der in entzündeten Wunden bald schon zu hämmern beginnt. Es ist schon fast Abend, als er vom Hügelsattel aus auf die Häuser von Concho niederblickt. Der Ort wird von einem engen Bogen des Concho Creek eingeschlossen. Über den Creek führt eine Brücke. Dieser Brücke verdankt der Ort seine Existenz. Jeremy Lassiter war schon zwei- oder dreimal hier, doch stets nur auf der Durchreise und um sich auszurüsten. Als die Sonne im Westen schon fast untergegan gen ist und von Osten her die blauen Schatten
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der Nacht das Rot des Himmels fressen, da hält Lassiter vor dem großen Store an und liest den Namen John Bannack. Nun weiß er, dass er am Ziel ist. Er lässt seinen Red am Wassertrog stehen und geht hinein. Eine dralle Frau mexikanischer Abstammung er scheint aus einem Nebenraum und fragt nach seinen Wünschen. "Ich möchte zu Mister John Bannack", sagt Las siter ruhig. Sie betrachtet ihn im Lampenschein, entdeckt seine mitgenommene Kleidung und sieht in sein dunkles und hageres Indianergesicht, welches auch einem Comanchen gehören könnte. "Im Büro wird er sein", sagt sie. "Dort die Tür führt in den Anbau. Klopfen Sie nur an, Senor." Lassiter tut es. Er hört eine Stimme, öffnet, tritt ein und sieht John Bannack. Dieser steht an einem Wandschrank, dem er of
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fenbar eine Flasche entnahm, weil jene, die auf seinem Schreibtisch steht, bereits leer ist. Bannack ist ein bulliger, glatzköpfiger und voll bärtiger Mann, einer von jener Sorte, die ständig so wirkt, als wollte sie alles auf die Hörner neh men. Er hält seinen massigen Kopf etwas gesenkt, so dass er unter der Stirn hinweg auf sein Gegen über blicken muss. "Kann ich etwas für Sie tun?" So fragt er. Seine Stimme klingt rau. Lassiter schließt die Tür, nähert sich Bannack und sagt dann leise: "Ich bringe Grüße von Cash Callahan." Bannack, der mit der Flasche zu seinem Schreib tisch trat und sich dort das Glas voll schenken wollte, verharrt mitten in der Bewegung. Dann aber vollendet er sein Vorhaben, aber seine Hand zittert leicht.
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"Wollen Sie auch einen Schluck? Da steht ein Glas. Das ist bester Bourbon aus Kentucky. Na?" Lassiter holt sich ein Glas von einem Tischchen, tritt zu ihm und lässt sich eingießen. Jetzt zittert Bannacks Hand nicht mehr. Er hat sich wieder fest in der Hand und unter Kontrolle. "Cash Callahan ...", sagt Bannack und wirkt wie ein Mann, der erst nachdenken muss, um sich überhaupt an den Namen erinnern zu können. "Ich vertrete ihn gewissermaßen", erwidert Las siter. "Und warum kommt er nicht selbst?" "Er kann nicht - weil ein toter Mann nichts mehr kann, gar nichts mehr. Callahan schaffte es nur noch bis zu mir. Bevor er starb, redete er noch eine Weile. Und dann kamen auch schon die drei Burschen, die ihn so schlimm angeschossen und dann verfolgt hatten. Mister Bannack, bevor ich weiterspreche, bekomme ich dreihundert Dollar.
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Callahan versprach sie mir. Und dann möchte ich von Ihnen wissen, um was es geht. Ich möchte Ihre Version hören und mit Callahans Geschichte vergleichen. Übrigens - mein Name ist Lassiter, Jeremy Lassiter." "Der aus Laredo?" "Yes, der aus Laredo." John Bannack blickt Lassiter noch einmal scharf an, nickt dann. "Ja, Sie sehen wie ein Mann aus, der Lassiter sein könnte - der Revolvermann Je remy Lassiter, der ..." "Schon gut", murmelt Lassiter. "Ich weiß schon, wer ich bin und was andere Leute von mir halten. Ich weiß auch, dass es Leute gibt, die meinen Namen wie einen Fluch aussprechen. Aber kommen wir lieber zur Sache. Ich bin weit gerit ten und habe zwei Kugelwunden. Zuerst also die dreihundert Dollar, die Callahan mir in Ihrem Namen versprach." Er geht nach diesen Worten mit dem noch halb
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vollen Glas in der Hand zu einem Sessel und lässt sich darin nieder. John Bannack sieht, wie Lassiter bei jedem Schritt hinkt. Es entgeht ihm nicht, dass dieser hagere und indianerhafte Mann eine Menge hin ter sich haben muss. "Callahans Verfolger ...", beginnt Bannack. " ... die haben sich mit mir eingelassen", unter bricht ihn Lassiter. "Was glauben Sie woher ich die beiden Kugellöcher habe?" "Sind Sie mit Callahans Verfolgern zurechtge kommen?" John Bannack fragt es heiser. Und er fügt leiser, doch dafür eindringlicher hinzu: "Das ist doch wichtig, nicht wahr? Das ist ..." "Sie wollten mich töten wie Callahan, und sie gerieten an den falschen Mann", unterbricht ihn Lassiter abermals. Dann schweigen sie, sehen sich an. John Ban nack überlegt. Aber er füllt nochmals sein Glas,
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will auch das von Lassiter füllen. Dieser schüttelt den Kopf. "Nein, mehr als einen Whisky trinke ich nie." Bannack setzt sich. Aber er öffnet die Schreib tischlade, holt Geld heraus und zählt es auf den Schreibtischrand, so dass es Lassiter vom Sessel aus - wenn er sich nur weit genug vorbeugt und die Hand ausstreckt - nehmen kann. Doch Lassiter nimmt es noch nicht. "Jetzt erzählen Sie, Mister Bannack", sagt er. "Wenn Ihre Geschichte mit der von Callahan ü bereinstimmt, werde ich Ihnen sagen, was er mir sterbend noch mitteilte. Also?" Bannack nickt. "Dieses Land hier war nach dem Bürgerkrieg fast tot", beginnt er. "Die Schutztruppen waren abge zogen worden, um auf den Kriegsschauplätzen zu kämpfen. Und Apachen und Banditen wurden immer schlimmer. Ich kam nach dem Kriege her,
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eröffnete den Store, brachte eine Fracht- und Postlinie in Gang und machte in einigen großen Zeitungen im Osten Reklame. Ich wollte Men schen herlocken, Siedler, Farmer und auch Pfer de- und Rinderzüchter. In diesem Land rings um Concho und zu beiden Seiten des Creeks ist Platz für alle. Ich wollte Concho zum Mittelpunkt ma chen, und ich hoffte, dass in diesem Territorium ein neues County entstehen würde und Concho Countystadt werden könnte. Das waren meine Ziele." Er macht nun eine Pause, nippt am Whisky und denkt noch einmal nach. "Es ging eine Postkutsche verloren", sagt er dann. "Eine Kutsche mit Fahrer, Begleitmann und neun Passagieren verschwand spurlos. Apa chen oder Banditen, dies vermutete man. Aber man fand keine Spur - gar nichts. Die Kutsche, sechs Pferde und elf Menschen verschwanden spurlos. Einfach fort - in Luft aufgelöst - nicht mehr da. Keine Spur mehr. Nichts!" John Bannacks Worte wurden zuletzt mehr und
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mehr eine Art hilfloses Gestammel. In seine Stimme kam eine tiefe Ratlosigkeit. Und nachdem er eine kleine Pause gemacht hat, trinkt er wieder aus dem Whiskyglas. Aber er ist kein Mann, der schnell betrunken wird. "Wo sind sie geblieben?" So fragt er. "Und dann noch der Wagenzug?" "Welcher Wagenzug?" Dies fragt Lassiter merk würdig sanft. "Ein Wagenzug aus Santa Fe", spricht John Ban nack. "Zwölf Wagen mit Anhängern, richtige schwere Mervile-Doppelwagen. Zu jedem Wa gen gehörten zwei Mann und acht erstklassige Maultiere. Vierundzwanzig Mann und sechsund neunzig Maultiere also. Spurlos verschwunden. Einfach weg! Die Ladung bestand aus all den tausend Dingen, die man in diesem Land nötig hat, vom Knopf und der Nähnadel bis zum Kla vier. Ich habe ein Vermögen dafür bezahlen müssen - bar wegen des Skontos. Aber auch die ser Wagenzug kam niemals an. Und da habe ich
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diesen Cash Callahan ausgeschickt, eine Spur zu finden. Ich versprach ihm dreihundert Dollar Prämie und alle Spesen. Das ist alles, Lassiter alles, was ich Ihnen sagen kann." Lassiter nickt. Dann denkt er an die Worte, die der Sterbende ihm sagte. "Callahan fand eine heiße Spur", sagt er. "Als er zu mir kam mit dem Kugelloch im Rücken und einem großen Ausschussloch vorne auf der Brust, da ritt er waffenlos ein Pferd ohne Sattel, war abgerissen und zerschrammt. Er war ir gendwo geflüchtet mit viel Mühe. Er sagte mir, dass er die heiße Spur in Canyon Station fand. Das ist keine hundert Meilen von hier. Er war etwa dreißig Meilen von Canyon Station bis zu mir geritten. Bannack, des Rätsels Lösung - was die Postkutsche und den Wagenzug betrifft dürfte in Canyon Station zu finden sein. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Callahan fand eine heiße Spur in Canyon Station."
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Er erhebt sich und nimmt die dreihundert Dollar vom Tisch. "Meinen Sie, dass Sie sich dieses Geld verdient haben, Lassiter?" So fragt Bannack grimmig. "Das ist mehr Geld, als ein Cowboy in einem ganzen Jahr verdienen kann, Mister." "Ein Cowboy", murmelt Lassiter, "wäre gar nicht hergekommen. Den hätten Callahans Verfolger erledigt. Und ... Ach, was soll's!" Er wendet sich zum Gehen. Doch Bannack sagt schnell: "Moment, Lassiter!" Lassiter hält in der Bewegung inne und sieht ihn etwas schrägäugig an. Aber er sagt nichts. Er sieht ihn nur an, wartend, etwas spöttisch und mit einer Spur von Bitterkeit, die aus einem Wissen kommt, welches sich fol gerichtig bildete. "Machen Sie an Cash Callahans Stelle weiter",
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sagt John Bannack. "Ihr Name bürgt mir dafür, dass ich mich darauf verlassen könnte, dass Sie wirklich weitermachen. Helfen Sie mir - und hel fen Sie diesem Land - und nicht zuletzt jenen Menschen, die auf eine Aufklärung warten, auf eine Nachricht von den Verschollenen. Es sind insgesamt fünfunddreißig Menschen verschwun den. Und es ..." "Was zahlen Sie, Bannack?" Lassiters Stimme klingt kühl. John Bannack starrt ihn an und schluckt. "Ich bin bald pleite", sagt er dann. "Mein ganzes Bargeld steckt fast völlig in der Ladung des Wa genzuges. Meine Einnahmen hier im Store und durch die Postlinie sind gering. Es leben noch zu wenig Menschen im Land. Es muss erst der Auf schwung kommen. Aber ich könnte Ihnen noch mals dreihundert ..." "Tausend", sagt Lassiter. "Ich bin nicht billig. Ich finde für Sie heraus, wo und wie die Postkutsche und der Wagenzug verschwunden sind. Und Sie
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zahlen tausend Dollar." John Bannack zögert. Lassiter tritt nahe an ihn heran. "Ich bin kein Wohltäter", sagt er leise. "Das war ich früher mal, als ich noch jung und dumm war. Da wollte ich noch ..." Er bricht ab und macht eine verächtliche Hand bewegung. "Ich habe in dieser Sache schon töten müssen", murmelt er. "Und ich ahne, dass ich in ein böses Nest trete und noch eine Menge auf mich zu nehmen habe. Das kostet seinen Preis. Tausend Dollar!" John Bannack ist ein erfahrener Mann, der einst als junger Bursche als Maultiertreiber anfing. John Bannack nickt. "Gut, tausend Dollar", sagt er. "Ich werde sie zu
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sammenkratzen müssen und keine neuen Waren mehr für den Store kaufen können. Aber ich will wissen, was geschehen ist. Abgemacht!" Er hält Lassiter die Hand hin. Aber Lassiter schüttelt den Kopf. "Ich traue keinem mehr", sagt er, "und schon gar nicht dem Wort von Männern. Ich werde meine Arbeit tun - und Sie werden zahlen. Das ist al les." Er wendet sich zur Tür. Bannack sagt hinter ihm her: "In Canyon Station regieren die Carpenters, das wissen Sie doch wohl - oder? Dort in Canyon Station sind Sid, Paul und Jago Carpenter und deren Anhänger schaft. Ich habe mit ihnen einen Vertrag. Sie hal ten in Canyon Station frische Gespanne für mich bereit, wenn meine Postkutschen und Frachtwa gen kommen. Aber das ist für die Carpenters nur ein kleines Nebengeschäft."
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"Ich weiß", nickt Lassiter. "Ich kenne die Car penters."
Und damit geht er.
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Es ist zwei Tage später, als Lassiter aus dem Bett
steigt und auf die noch schlafende Manuela Al varez blickt, der das Hotel zur Hälfte gehört.
Sie öffnet plötzlich die Augen, so als hätte sie seinen Blick wie eine körperliche Berührung ge spürt. Er sagt nichts, sieht sie nur an.
"Du reitest fort", sagt sie nach einer Weile.
Er nickt und fährt in seine Hose.
"Und du kommst nicht wieder, Jeremy?"
"Warte nicht auf mich", sagt er. "Vielleicht
komme ich wieder, vielleicht auch nicht. Aber du
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solltest nicht auf mich warten. Das wäre dumm von dir." Ihre leicht schräggestellten Augen werden etwas schmaler, und ihre Nasenflügel vibrieren. "So, wäre das dumm von mir, Hombre?", fragt sie kehlig. Sie setzt sich langsam auf, zieht unter der Bett decke die Knie bis unter das Kinn und schlingt die Arme darum. "Dass du mich so schnell herumbekommen konntest", sagt sie - und nun schnurrt sie wie ei ne Katze -, "sollte dich nicht denken lassen, dass ich auf dich oder auf den nächsten Hombre war te, nur weil ich ohne Mann nicht auskommen kann. Du bist ein verdammter Narr, Se-or, ver stehst du? Ein verdammter Narr!" "Si, sicher." Er nickt und betrachtet Manuela Al varez ernst. Sie ist schön, voll erblüht, vielleicht schon eine
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Idee über die Grenze des Vollerblühten hinweg. Aber sie ist eine Frau, die in einem wilden Land ein Hotel führt und dabei stets auf die Hilfe und den Schutz von Männern angewiesen ist. Er bekommt einen weichen Ausdruck in seine graugrünen Augen. Dann sagt er: "Manuela, es wäre schlimm, wenn es dich nicht auf dieser Erde geben würde. Wirk lich! Du kannst einem verdammten Hundesohn eine Menge Wärme geben, Zärtlichkeit und Glück. Und das muss auch der Einsamste und Härteste dann und wann spüren können, will er bei allem, was hinter ihm liegt und auf ihn war tet, ein Mensch bleiben. Manuela, du bist wahr haftig so etwas wie ein Licht in dunkler Nacht, wie ein Feuer in einer Höhle, wenn draußen ein Blizzard tobt, wie ... Ah, ich kann es dir nicht besser sagen. Oha, es ist gut für eine verlorene Seele wie meine, dass es dich gibt. Aber würde ich bleiben, so kämen bald alle, die auf mich scharf sind. Es kämen die ruhmsüchtigen Narren, welche beweisen wollen, dass sie schneller sind als ich - und es kämen auch jene, die auf meiner
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Fährte sind, weil sie Freunde, Partner, Brüder, Söhne oder Väter rächen wollen. Nein, Manuela, ich kann nicht bleiben. Aber du warst gut zu mir. Du wirst gewiss wieder zu einem anderen Bur schen meiner Sorte gut sein. Was ist falsch dar an, dass du einem Verlorenen etwas Wärme gibst - hier drinnen?" Er deutet bei den beiden letzten Worten gegen seine Herzgegend. Und Manuela Alvarez, die doch eine hartgesot tene Wirtin in einem Grenzland sein will, hat plötzlich Tränen in den Augen. "O Jeremy", sagt sie und beginnt zu schluchzen. "O Jeremy, warum gerate ich immer nur an die falschen Männer? Aber ich danke dir für deine schönen Worte. Ich danke dir wahrhaftig von Herzen, weil sie mir sagen, dass du mich achtest und für gut hältst. O Jeremy ..." Sie kann nicht weiter. Nun weint sie richtig los, so selbständig und hartgesotten sie auch sonst sein mag.
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Und so lässt sie sich in die Kissen zurückfallen und zieht sich die Bettdecke über das Gesicht. Jeremy Lassiter zögert etwas. Er macht schon den Ansatz einer Bewegung, so als wollte er zur ihr gehen, sich auf dem Bettrand niederlassen und sie trösten. Doch er lässt es. Er wirft sich den Waffengurt um die Hüften, schnallt ihn zu, nimmt sein weni ges Gepäck auf und geht hinaus. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, weint Manuela noch stärker. Canyon Station ist kaum viel mehr als eine Sied lung. Der kleine Ort entstand aus einer Ranch, die drei Steinwürfe weit vom Wagenwege ent fernt mitten in der Mündung des Spanish Helmet Canyon liegt und diesen Zugang versperrt wie der Korken die Öffnung einer Flasche. Der Spanish Helmet Canyon gehört den Carpen ters, und er ist ein riesiger Corral mit nur einem
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einzigen Ein- und Ausgang. Es ist ein großer Ca nyon, fast zehn Meilen lang und bis zu einer Meile breit. Die Carpenters konnten sich damals keine besse re Weide aussuchen. Sie liegen mit ihrem Besitz zwar am Rande des Wagenweges und haben mit ihrer Siedlung den Nutzen davon, besitzen ihren Canyon jedoch ganz für sich. Niemand kann hin ein und über ihre Weide reiten und nicht in all die vielen Querschluchten, die vom Canyon aus gehen und überall vor Steilhängen enden. Dies alles weiß Jeremy Lassiter schon, als er den kleinen Ort bei Sonnenaufgang in Sicht bekommt und wenig später dann vom Wagenweg hinüber reitet, wie es ja wohl jeder Reiter tun würde, der in der Nähe eines Ortes die Nacht lieber nicht im Freien verbringen will, sondern ein gutes Essen an einem Tisch, einen Drink und vielleicht auch ein kleines Spiel machen möchte. Jeremy Lassiter weiß, dass sein Kommen noch längst nicht verdächtig sein kann.
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Doch er kennt die Carpenter-Sippe. Und er weiß, dass sie den Instinkt von Wölfen haben, diese Carpenters. Dieser Instinkt kann gewiss deutlich die Strö mungen von Feindschaft und Gefahr spüren. Er gibt sich da keinen Illusionen hin. Da sein Pferd nach dem Hundert-Meilen-Ritt sehr müde ist, bringt er es gleich in den Wagen hof und übergibt es einem Pferdeburschen. Er geht mit seinem wenigen Gepäck in das Gast haus, vor dem zum Pferdewechsel auch die Post kutschen halten. Als er eintritt, sieht er alle drei Carpenters, also Sid, Paul und Jago. Sie sitzen an einem runden Tisch und werden gerade von einem drallen Mädchen bedient, dem Paul Carpenter dabei ins Hinterteil kneift, so dass die dralle Schöne zuerst ein Quieken und dann lachend ein "O, du Schlimmer" hören lässt.
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Aber dann ist sie vergessen, denn die Carpenters sehen den Ankömmling. Sid Carpenter deutet mit der Gabel auf Lassiter und sagt kauend: "Wen haben wir denn da? Kennt ihr diesen Pilger, Brüder?" Nun grinsen sie alle drei. Sie sind zwar Brüder, doch einander überhaupt nicht ähnlich. Sid hat ein Pferdegesicht, und weil seine Oberlippe et was zu kurz ist, zeigt er ständig seine langen Zähne. Seine gelben Augen sind schlau und wachsam. Er ist hager und dabei schwergewich tig, also ein großer, harter Bursche. Paul ist ein rothaariger Bulle, der alles mit seiner Kraft bewältigen zu können glaubt. Jago ist der Indianer von ihnen, ein dunkler, scharfgesichtiger, narbiger Bursche mit hellen Augen, der sich stets durch Kühnheit behauptet. "Komm, Lassiter - komm und setz dich zu uns", sagt Sid. "Und erzähle uns was von der großen und weiten Welt. Wir leben hier wie auf einer
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Insel. Du aber kommst weit herum. Woher kommst du denn jetzt? Du siehst staubig aus. Na, setz dich! He, Lily, bring noch was her!" Es sitzen noch ein paar Gäste an den anderen Ti schen, und sie alle verharrten still und sahen den Ankömmling mehr oder weniger offen und wachsam an. Doch nun entspannen sie sich. Die Bestecke klappern wieder lauter in den Tellern. Und einer der Esser schlürft besonders laut die Suppe. Alles entspannt sich also, weil ein Fremder, den die Carpenters an ihren Tisch bitten, keine Ge fahr sein kann. Lassiter streckt seine Füße aus und bekommt erst ein Bier. Er trinkt es in einem Zuge halb aus. Und die ganze Zeit betrachten ihn die drei Män ner aufmerksam, wobei sie jedoch kauen und das Essen nicht kalt werden lassen. Er erwidert ihre Blicke, und dabei spürt er ihr
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tastendes Misstrauen. Es versucht in ihn hinein zukriechen. Ja, so kommt es ihm wahrhaftig vor. Er weiß, dass diese drei gefährlichen Revolver männer jetzt auf die feinen Warnsignale ihrer Instinkte lauschen - und er ist sicher, dass sie sich davon leiten lassen. "Kommst du von Süden?", fragt ihn Jago plötz lich. "Nein, aus dem Norden", sagt er und bekommt den Teller Suppe vorgesetzt, die es als Vorspeise gibt. Das dralle Mädchen wirft ihm einen neugierigen Blick zu. Ihr warmer Körper berührt seine Schul ter. Er denkt einen Moment an Manuela Alvarez, die er vor zwei Tagen verließ. Plötzlich glaubt er, dass die Carpenters gewiss irgendwann in den nächsten Tagen herausbe kommen werden, dass er in Concho - also im Süden - war. Nun, bis dahin muss er also hier fertig sein. Viel
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leicht gelingt es ihm schon diese oder kommende Nacht. Er beginnt zu essen. "Was wäre, wenn ich aus dem Süden heraufgekommen wäre?", fragt er kauend. Und wieder strömt ihr scharfes Misstrauen gegen ihn. Nun prüfen sie, ob er mit ihnen herumtän delt, spielt. "Ach, es ist nichts, Jeremy Lassiter", murmelt Sid Carpenter schließlich. Sie senken wieder die Köpfe für einige Sekunden, scheinen sich ganz und gar auf das Essen zu konzentrieren. Doch Lassiter weiß, dass sie sich von ihm jetzt nicht in die Gesichter sehen lassen wollen, weil sie befürchten, er könnte dann ihre Gedanken lesen oder irgendwelche geheimen Strömungen spüren. Das Essen ist gut. Es ist Hammelfleisch, welches lange genug in Buttermilch gelegen hat. Wer dort drinnen in der Küche auch kochen mag, er ver
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steht sein Geschäft. Es bleibt eine Weile still am Tisch. "Und warum bist du nach Canyon Station ge kommen, Lassiter?" Jago fragt es ganz plötzlich, aber er murmelt es lässig, so wie nebenbei und gar nicht besonders brennend interessiert. Aber dies ist ein alter Trick. In den Augen der drei Carpenters erkennt er das kaum beherrschte Funkeln. "Ach", sagt Lassiter, "Johnny Starr ist hinter mir her wegen seines Bruders Jesse, der sich in Santa Fe mit mir anlegte und verlor. Jetzt will er seinen Bruder rächen. Ich wollte an einem neutralen Ort auf ihn warten. Und ihr seid doch neutral - o der?" Sie grinsen und nicken. Dann sagt Sid: "Hier gibt es niemanden, der gegen dich vor einer Jury aus sagen würde, du hättest zuerst gezogen. Hier nicht! Canyon City ist unsere Stadt, und es ist
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eine faire Stadt, solange jeder, der hier lebt, sei nen Unterhalt zahlt. Lassiter, als du vor mehr als einem Jahr mal hier durchrittest, verloren wir beim Pokern an dich. Ich denke, du wirst uns heute Revanche geben, nicht wahr?" Lassiter nickt. "Die könnt ihr haben", sagt er. Sie reden dann über alle möglichen Dinge. Er erzählt auch ein paar Neuigkeiten aus dem Nor den, denn er kam ja wirklich aus dem Norden, als Cash Callahan an sein Feuer gelangte und dann bei ihm starb. Als die Carpenters mit dem Essen fertig sind, verlassen sie ihn. Er nimmt sich reichlich Zeit, lässt sich dann sein Zimmer zeigen, wäscht und rasiert sich sorgfältig und untersucht seinen Colt. Auch jenen kleinen Derringer, mit dem einer der drei Killer ihm die beiden Kugeln verpasste, hat er bei sich und trägt ihn im Stiefelschaft verbor gen. Er hat die Waffe in Concho sorgfältig gela den. Eine Weile denkt er noch nach.
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Und er weiß eines mit völliger Sicherheit: Wenn die Carpenters etwas mit dem Verschwinden der Postkutsche und des Wagenzuges zu tun haben, dann sind gewiss längst alle Spuren gelöscht. Vielleicht gibt es jedoch im Canyon irgendwel che Hinweise. Wahrscheinlich fand Cash Calla han solche. Aber dann hatte er Pech. Wird es auch ihm, Lassiter, so ergehen? Denn er muss in den Canyon hinein. Eine andere Möglichkeit, mehr über die Carpenters herauszu bekommen, gibt es nicht. Doch die Carpenters haben eine hartgesottene und rücksichtslose Mannschaft. Die meisten ihrer Reiter sind Revolverhelden, die im Canyon eine sichere Zuflucht fanden. Jeremy Lassiter muss also in den Canyon hinein. Und dann?
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Er schüttelt sich einen Moment wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Nun, dann werden wir sehen! So denkt er kühl, denn auch er ist ein Mann, der sich durch Kühn heit behauptet und dem das Glück immer gut gewesen war. Verdammt, wann und wie soll er in den Canyon gelangen? Wollen die Carpenters vielleicht nur deshalb mit ihm spielen, weil sie ihn unter Kontrolle halten möchten? Er verspürt plötzlich ein ungutes Ge fühl. Doch dann geht er die Treppe hinunter. Die Bedienung aus dem Speisesaal lehnt nun hinter dem Anmeldepult. "Kann ich noch etwas für Sie tun?", fragt das Mädchen, welches einer der Carpenters Lily rief. Ihr Lächeln ist sehr lebendig. Sie will ihm gefal
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len. "Mädchen", sagt Lassiter und lächelt blitzend, "ich muss den Carpenters beim Poker Revanche geben. Sonst wüsste ich schon, was Sie für mich tun könnten, Lily." "Was denn?" Sie fragt es scheinbar dumm und naiv, doch in ihren Augen funkelt der Spott. "Sie könnten mein Händchen halten und mir Märchen erzählen, bis ich eingeschlafen bin." Er grinst und geht hinaus. Sie lacht schallend hinter ihm her, und sie ist gewiss kein Kind von Traurigkeit. Wie mag sie an diesen Ort gelangt sein? Und warum macht sie sich hier nützlich und lässt sich von den Car penters in den Hintern kneifen? Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, schwindet auch das Gefühl einer Vorah nung von Gefahr. Er macht sich auf den Weg zum Saloon, und er
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muss etwa hundert Schritte gehen, bis er zu den drei Lichtbahnen gelangt, die aus den beiden Fenstern und der Tür fallen. Und dann erlebt er die zweite Überraschung an diesem Abend. Die Erste war, dass er die Carpenters an einem Tisch beim Abendbrot traf. Nun sieht er Golden Ann. Ja, das ist wahrhaftig eine Überraschung. Sie steht neben dem Klavier, welches von einem hageren Burschen bearbeitet wird, und singt ein Lied. Golden Ann hier in diesem miesen Nest im Machtbereich der Carpenters? Was bedeutet das. Es muss etwas bedeuten. Denn Golden Ann ist eine Saloon Queen, eine Spielerin und Glücksjä gerin von Format. Golden Ann Willow hat es nicht nötig, in solchen Saloons ihr Geld zu ver dienen. Nein!
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Aber warum steht sie dann dort und singt? Es sind nur wenig mehr als ein Dutzend Gäste im Raum. Die Carpenters sind noch nicht da. Jeremy Lassiter geht zu Golden Ann hinüber, die jetzt ihr Lied beendet. Er bietet ihr den Arm und führt sie zu einem Tisch. Sie sagt noch nichts, sieht ihn nur an, lässt sich jedoch willig von ihm zum Tisch führen. Er be trachtet sie ebenfalls, und er erkennt ein paar fei ne Linien um ihre Mundwinkel, die vor einigen Monaten noch nicht vorhanden waren. "Es war im Opal Saloon von Denver", sagt er am Tisch zu ihr. "Mister Silverdollar hatte gerade sein neues Haus eingeweiht, in dem der Fußbo den mit Silberdollars gepflastert war. Du hast dort ein paar Lieder gesungen und dann beim Roulette die Kugel geworfen. Du warst die schönste Frau im schönsten Kleid - und dabei
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wären sogar einige Schauspielerinnen von der Ostküste für viel Geld angereist, um für Mister Silverdollar aufzutreten. Warum bist du hier ge landet, Ann?" Nachdem er zuvor scherzhaft sprach, stellt er die letzte Frage sehr ernst. Ihr Blick hält dem seinen nur kurze Zeit stand. Dann richtet er sich gewissermaßen nach innen, so als wollte er auf diese Art noch einmal die Bilder der Vergangenheit sehen. Und es sind keine guten Bilder. Denn ihr Mund wird herb. Die Linien um ihre Mundwinkel vertiefen sich. Dann sagt sie langsam und fast nachdenklich: "Ach, Jeremy, es gibt immer einmal einen Ab stieg, nachdem es lange genug aufwärts ging. Das ist so im Leben, nicht wahr? Ich kam vor einigen Monaten hier durch. Es hatte sich ge lohnt in Nogales. Obwohl jetzt so kurz nach dem Krieg hier im tiefsten Süden das Geld noch
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knapp ist, hatte ich mehr als achttausend Dollar in bar und für fast zehntausend Dollar Goldstaub in meinem Gepäck. Ich spielte in Nogales mit Geschäftsleuten, Ranchern und Minenleuten. Ich konnte zufrieden sein." Nun macht sie eine kleine Pause und streicht sich über die Stirn, schafft es jedoch nicht, die golde ne Haarsträhne zu bändigen, die ihr sofort wieder in die Stirn fällt. "Die Postkutsche wurde überfallen und ausge raubt", spricht sie dann schlicht weiter. "John Bannacks Post- und Frachtgesellschaft über nimmt jedoch keine Haftung, weil sie keine Ver sicherung findet, die ihr das Risiko abnehmen würde - auch nicht für hohe Prämien. Ich hatte also alles verloren, als ich hier in Canyon Station ankam vor langer Zeit." Und wieder macht sie eine Pause. Nun verändert sich ihr Gesicht, wird hart wie zu Anfang, bekommt den herben Zug um den Mund.
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"Ich wurde hier krank", sagt sie dann ruhig. "Sehr krank! Ich verlor innerhalb von zwei Wo chen dreißig Pfund an Gewicht. Und sie alle fürchteten sich davor, dass ich eine ansteckende Krankheit hatte. Typhus, verstehst du, Jeremy? Sie duldeten mich in einer Hütte etwas abseits des Ortes. Und ich hatte kein Geld. Ich war schrecklich entstellt. Ich lebte wie eine Aussätzi ge. Als ich nach Monaten wieder so weit gesund war, dass ich hätte fortreiten können, waren mei ne Schulden bei den Carpenters hoch geworden. Man hat mir in Canyon Station nichts geschenkt, denn hier bekommt niemals jemand etwas ge schenkt. Ich war in der Hand der Carpenters und ich bin es immer noch. Sie wollen nicht, dass ich von hier fortgehe. Verstehst du? Sie betrachten mich als ihr Eigentum. Ich soll mich für einen von ihnen entscheiden, soll meine Schulden auf diese Art bezahlen oder hier abarbeiten. Sie sind drei gierige Wölfe und mit gültigen Maßstäben nicht zu messen. So, jetzt weißt du, Jeremy, wa rum Golden Ann hier in diesem Drecknest lebt und im Canyon Saloon animiert. Jetzt weißt du es genau. Und was würdest du tun, wenn ich dich
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darum bäte, mir zu helfen?" Sie stellt die Frage sehr nüchtern. Es hört sich fast so an, als wollte sie Jeremy ein Geschäft vorschlagen. Er sieht sie nachdenklich an und sagt: "Ich würde dir helfen, Ann. Aber du müsstest mir etwas Zeit lassen. Ja, ich würde dich gegen den Willen der Carpenters von hier fortbringen. Kannst du noch so reiten wie früher?" Sie nickt wortlos. Sie hat offenbar einen Kloß im Hals, kann nichts sagen, muss nur mehrmals schlucken. Erst nach einer Weile sagt sie: "Jeremy, ich dan ke dir. Aber wenn du dich mit den Carpenters wegen mir anlegst, dann ..." "Wir werden sehen", murmelt er, "wir werden sehen, mein Goldmädchen." Sein Blick richtet sich auf die Tür. Dort kommen nun die drei Carpenter-Brüder herein, um Re
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vanche zu nehmen beim Poker. "Hoffentlich hast du auch genug Geld bei dir." Paul Carpenter grinst. "Denn mit ein paar Dollars in der Tasche kannst du uns keine Revanche ge ben. Und wir wollen welche. Uns hat außer dir noch nie jemand beim Poker schlagen können. Und nicht nur beim Poker. Wir gewinnen immer, mag es sein, was es will. Das wollen wir auch mal bei dir klarstellen. Also, Ann, gib du zuerst die Karten." +++ Immer wieder hat Jeremy Lassiter in dieser Nacht das Gefühl eines Unheils. Und er ahnt auch irgendwie, dass die Carpenter-Brüder dieses Spiel nicht so sehr mit ihm machen, um eine Re vanche beim Poker zu bekommen, sondern mehr deshalb, um mit ihm zusammensitzen zu können, ihn anzusehen und zu beobachten. Er spielt deshalb schlecht. Immer wieder verliert er. Denn er ist zu sehr darauf eingestellt, alles, was als Strömung von ihm ausgehen könnte, tief
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in sich verborgen zu halten und sich gewisser maßen zu verschließen - als zu versuchen, einen Bluff der Mitspieler zu erahnen. Ja, er spielt wahrhaftig schlecht - und in zwei Stunden hat er die dreihundert Dollar verloren, die John Bannack ihm gab, weil er sie Cash Cal lahan nicht mehr geben konnte. Er flucht in Gedanken. Dreihundert Dollar sind eine Menge Geld hier im Süden und zu dieser Zeit. Dreihundert Dollar kann ein guter Cowboy nicht in einem ganzen Jahr verdienen. Und er hat sie soeben binnen zwei Stunden ver loren. Die Carpenters aber wollen noch mehr. Sie sind noch nicht fertig mit ihm. Er muss nun mit seinem Geld weiterspielen, wel ches er schon bei sich hatte, bevor er nach Con cho zu John Bannack ritt. Dieses Geld hatte er sich in Denver und im Gold
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land von Colorado als Leibwächter eines Ge schäftsmannes verdient, der ständig seine vielen Minen und sonstigen Unternehmungen und Ge schäfte besuchte und oft genug sehr große Sum men Bargeld mit sich führen musste. Jeremy Lassiter hat noch mehr als fünfzehnhun dert Dollar bei sich, und obwohl er weiß, dass er sie in dieser Nacht verlieren wird, hört er nicht auf. Deshalb sagt er um Mitternacht: "Es ist nicht fair von euch, gegen einen müden und ausgebrannten Mann zu spielen. Das ist so, als wolltet ihr gegen einen Lahmen ein Wettrennen gewinnen. Also, ich habe euch jetzt meinen guten Willen gezeigt. Jetzt will ich erst einmal schlafen, versteht ihr? Ich will den Rest der Nacht und den ganzen kommenden Tag im Bett liegen. Ich habe tau send Jahre nicht geschlafen. Also, Freunde - bis morgen Abend nach dem Abendbrot!" Er erhebt sich, blickt noch eine Sekunde lang auf die drei Carpenter-Brüder nieder, nickt Golden Ann zu und dreht dann dem Tisch seinen Rücken
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zu. Er tritt an den Schanktisch und lässt sich eine Flasche Tequila geben. Als er sich damit zum Ausgang wendet, schwei gen die Carpenters immer noch. Aber nachdem er schon fast den Ausgang er reicht hat, fragt Sid Carpenter lässig hinter ihm her: "Du bist wohl wirklich sehr weit geritten, und so sah dein Gaul auch aus. Aber sag uns, seit wann du trinkst? Seit wann gehst du mit einer Flasche Feuerwasser ins Bett, Hombre?" Er hält inne, blickt nun über die Schulter und grinst. "Damit gurgle ich nur", sagt er. "Weißt du, ich habe auch noch zwei Kugellöcher im Leib. Und was ist besser als Agavenschnaps, äußerlich an gewendet gegen Entzündungen?" "Ja, ich sah schon, dass du leicht hinkst", mur melt Sid Carpenter. "Na, dann ruh dich mal
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schön aus bis morgen Abend." In Sid Carpenters Stimme ist ein merkwürdiger Beiklang, der schwer zu deuten ist. Doch es könnte auch eine Art Respekt sein, der da in sei ner Stimme hörbar wurde. Im Hotel hockt das dralle Mädchen, welches im Speiseraum bedient, hinter dem Anmeldepult und liest in einer alten Zeitung. Als sie ihm die Schlüssel gibt, sieht sie auch die Tequilaflasche unter seinem Arm. Nun wird ihr Lächeln etwas spöttisch-verächtlich. "Eine ganze Flasche als Schlaftrunk?", fragt sie. "O Mister, ich wüsste ein besseres Einschlafmit tel. Man muss sich zuvor nur richtig entspannen. Soll ich Ihnen dabei helfen?" Nun will er es aber genau wissen. "Wie?", fragt er trocken. Und dann kann er erkennen, wie sie erschrickt
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bei dem Gedanken, er könnte etwas von ihr ver langen, was sie im Ernst doch nicht geben möch te. Da tippt sie auf die Zeitung. "Da habe ich neulich von einem indischen Fakir gelesen, der Kranke hypnotisiert. Vielleicht könnte auch ich Ihnen einreden, dass Sie ..." "Schon gut", grinst er. "Sie können mir gewiss eine Menge einreden - wenn Sie neben mir im Bett liegen. Wollen Sie es mal versuchen?" Nun wird sie rot im Gesicht. Er sieht es im Lam penschein deutlich; ihr Gesicht wird sehr viel dunkler. Es ist ein recht hübsches Gesicht. Wenn sie ihre Haare auf eine geschicktere Art tragen würde und ihre Kleidung nicht zumindest um eine Nummer zu groß wäre, dann stünde ihr das sehr viel besser. Auch sind ihre Bewegungen et was zu trampelhaft. "Nein - nein", stottert sie, "das möchte ich lieber nicht versuchen, Mister Lassiter. Ich bin erst
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siebzehn Jahre." Er nickt. "Ich kenne ein paar junge Frauen in diesem Al ter", sagt er. "Eine wird bald ihr drittes Kind be kommen." Als er nun den Ausdruck von Schrecken in ihren Augen erkennt, lacht er leise und geht hinauf. Aber er macht sich so seine Gedanken über das Mädchen Lily, welches hier im Hotel bedient. Irgendwie erscheint sie ihm gar nicht so dumm und trampelhaft, wie sie sich gibt. Er zündet in seinem Zimmer kein Licht an, legt sich so angezogen, wie er ist, auf das Bett und trinkt nur einen einzigen Schluck aus der Fla sche. Er schläft sofort ein - aber er erwacht nach einer Stunde schon, so wie er es sich fest vorgenom men hat. Aber dies ist eine der Eigenschaften, die ihn dazu befähigen, ein Revolverkämpfer, Leib
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wächter, Scout, Jäger und dergleichen mehr zu sein. Ja, er trug da und dort in wilden Camps und Städten den Stern - und er hielt Ordnung in den großen Tingeltangels des Goldlandes; er schützte auch kleine Grenzorte für ein paar Dollars vor immer wiederkommenden Banditen. Nun erhebt er sich, öffnet das Fenster und klet tert hinaus. Er trägt keine Sporen mehr, so dass er sich leise bewegen kann. Vom Anbau des Hotels lässt er sich zu Boden nieder, federt den letzten Sprung geschmeidig ab und verharrt dann eine Weile bewegungslos und aufmerksam lauschend. Der kleine Ort ist recht still. Die Hinterseite des Hotels ist dunkel. Nur beim Saloon ist Licht auf dem Hof hinter den Gebäu den. Mond und Sterne leuchten, machen die Nacht
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ziemlich hell. Doch es gibt aber auch eine Menge Schatten, in denen man sich verbergen kann aber auch Gefahren verborgen sein oder lauern können. Als Jeremy Lassiter endlich glaubt, niemanden in der Nähe zu haben, macht er sich auf den Weg. Er nutzt die Schatten und alle Deckungsmöglich keiten aus. In dieser Beziehung kann er es mit einem Apachen glatt aufnehmen. Es dauert aber dennoch eine Weile, bis er endlich den Zaun erreicht hat, der den Canyon vom Ort absperrt. Es ist ein Stangenzaun, wie man ihn in dieser Art auch als Corralzaun benutzt. Er soll nur Rinder und Pferde einsperren. Menschen können sich leicht zwischen den Stangen hin durchbücken. Dies tut auch Lassiter. Er ist nun im Canyon drinnen und hält sich auf der Schattenseite. Es gibt hier am Rande des steilen Hanges eine Men ge großer Felsen, Steine und auch Gebüschgrup pen.
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Er arbeitet sich langsam vorwärts - und die ganze Zeit fragt er sich, ob es deshalb so leicht war, hier hereinzukommen, weil die Carpenters in ih rem Canyon nichts zu verbergen haben - oder weil er soeben nur Glück hatte, dass an der Stel le, wo er sich durch die Stangen bückte und in den Canyon eindrang, gerade kein Wächter war. Jeremy Lassiter weiß auch, dass er jetzt eine ge radezu unverschämte Menge Glück haben muss. Was ist zum Beispiel, wenn er sich auf der ver kehrten Seite des Canyons befindet? Dann müss te er hinüber auf die andere Seite. Und er könnte diese langen Strecken gar nicht in den wenigen Stunden zu Fuß schaffen. Der Canyon ist stellenweise bis zu einer Meile breit und zehn Meilen tief. Er wird auch immer wieder von Querschluchten durchbrochen. Es gibt tiefe Bergfalten da und dort. Mitten im Ca nyon fließt ein Creek wie die Hauptrippe in ei nem langen und gekrümmten Blatt. Als Lassiter die harte Schluchtmündung erreicht,
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verharrt er und lauscht eine Weile hinein. Doch es rührt sich nichts in jener Schlucht. Er wittert auch keinen Rauch oder irgendwelche Düfte. Er gleitet weiter, arbeitet sich weiter vor. Und dann hört er den Hund kommen. Verdammt, ein Hund! Der Gedanke ist wie ein scharfer Schrei in ihm. Zugleich aber auch hört er einen Reiter. Nun ist ihm alles klar. Ein Hund und ein Reiter kommen. Der Hund führt wahr scheinlich den Reiter auf seiner Spur - und der Reiter weiß wahrscheinlich noch gar nicht, in welch eine Gefahr ihn der Hund führt. Aber schießen darf Jeremy Lassiter nicht. Er darf keinen Lärm machen. Auch der Reiter darf nicht zum Revolver greifen und Schüsse abgeben. Die Hölle wäre los. Denn Canyon Station ist kaum weiter als eine Meile entfernt. Man würde jeden Schuss hören und nachsehen kommen.
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Jeremy Lassiter klettert auf einen Felsen. Es ist ein großer Klotz, größer noch als ein Elefant. Hier oben wachsen Büsche und sogar ein kleines Bäumchen. Lassiter legt sich hin wie ein Apache. Und dann braucht er nicht mehr lange zu warten. Der Hund kommt schnell. Er ist groß und schwarz, und er macht nicht viel Lärm. Er gibt nur kurz Laut, so dass der Reiter Bescheid weiß. Aber dann macht der Hund doch einen Fehler, so erfahren und so gut er auch abgerichtet sein mag. Jeremy Lassiter wirft vom Felsen einen faustgro ßen Stein zwischen einige etwas weiter entfernte Büsche. Sofort grollt der Hund böse und saust los, um dem Geräusch auf die Spur zu gehen. Als er weit genug weg ist, kommt der Reiter unter dem Fel sen vorbei, immer dem Hund nach, den er vor
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sich gewiss schattenhaft erkennen kann und des sen Lautgeben er ja immer wieder hört. Auch der Reiter hat seine ganze Aufmerksamkeit nach vorn gerichtet. Lassiter springt auf ihn nieder, landet hinter ihm auf dem Pferd und schlingt ihm den Arm von hinten um den Hals, so dass das Kinn des Man nes über der Armbeuge auf der äußeren Seite des Ellenbogens zu liegen kommt. Und dann drückt er zu und schlägt mit dem Re volver auf den Kopf des Mannes. Als er ihn loslässt, fällt der Mann vom Pferd. Und dann kommt auch schon der Hund wieder zurück. Nun erst wird klar, warum Lassiter nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist. Er springt vom Pferd und trifft den ihn anspringenden gro ßen Hund mit dem Fuß vor die Brust. Der mäch tige Fang schnappt ins Leere, denn Lassiter ist
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noch schneller.
Seine Faust trifft das Tier mitten auf die Stirn.
Und das hält auch ein großer Hund nicht aus.
Das Tier ist sofort betäubt.
Was nun?
Lassiter fesselt beide und schafft sie ein Stück
den steilen Hang hinauf zwischen Felsen und
Büsche.
Das Pferd wartet geduldig mit hängenden Zü geln.
Als Lassiter aufsitzt, fügt es sich geduldig; es spürt sofort, dass da ein Reiter auf seinen Rücken klettert, mit dem man sich besser von Anfang an einigt. Lassiter ist nun beritten.
Aber er hat nur noch wenig Zeit.
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Vorerst weiß er nur eines: Der Canyoneingang wurde von einem Reiter und einem scharfen Hund bewacht, welche immerzu am Stangenzaun patrouillierten. Der Hund ist dann auf die frische Fährte gestoßen und dieser gefolgt. Was bewachten Reiter und Hund? Nur die Rinder und Pferde der Carpenters hier in diesem Canyon? Oder ein Geheimnis, welches vor ihm schon Cash Callahan herausfinden konnte auf ähnliche Art? Der Canyon macht nach zwei Meilen eine schar fe Biegung. Die Hänge zu beiden Seite werden steiler und felsiger. Nun aber, nachdem er um die Biegung geritten ist, kommt er abermals an eine enge Schlucht mündung, die vom Canyon durchbrochen wird. Er hält einen Moment am Rand der Schatten
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grenze. Die Schlucht ist hell vom Mondschein. Wenn er an ihr vorbeireitet, wird er gewissermaßen in die Lichtbahn geraten, die von der Schlucht aus den Schatten der Felswand des Canyons teilt. Aber dann sieht er etwas. Es gibt keinen Irrtum. Er kann es vom Sattel aus im Mond- und Sternenlicht mühelos erkennen, obwohl er davon fast ein Dutzend Schritte ent fernt ist. Wagenfährten! Bisher sind nirgendwo solche Fährten gewesen. Er hat darauf geachtet und sich aus diesem Grunde oft der Schattengrenze genähert, von der aus er gute Sicht bekam auf den vom Mond- und Sternenlicht erhellten Teil des Canyons. Nun aber sind plötzlich Wagenfährten dort im Eingang der Schlucht. Wo kommen sie her?
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Sind die vielen Wagen bis zu dieser Stelle dort geflogen? Aber Wagen können nicht fliegen. Die Wagen fährten wurden verwischt. Aber schon im Schluchteingang machte man sich diese Mühe nicht mehr. Es sind viele Fährten. Er kann erkennen, dass dort gewiss ein Dutzend schwere und beladene Frachtwagen fuhren, gezogen von starken Ge spannen. Und vielleicht fuhr auch die Postkutsche in diese Schlucht hinein. Außer den Wagenfährten sind viele Hufspuren zu erkennen. Was für ein Leichtsinn der Carpenters und ihrer Reiter! Es hat ihnen genügt, die Fährten im Ca nyon getilgt zu haben. Dies war gewiss eine schwere und staubige Arbeit, denn man musste mit starken Zweigen Staub darüberfegen. Einige Minuten noch sitzt er still im Sattel und
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überdenkt die Möglichkeiten. Wenn der Verdacht sich bestätigen sollte, dann müsste er dort in der Schlucht auf den ver schwundenen Frachtwagenzug und wahrschein lich auch auf die schon zuvor verschollene Post kutsche stoßen. Und was ist mit den Menschen geschehen? Sie konnten sich nicht in Luft aufgelöst haben. Bedeutete das, dass sie tot sind? Ermordet von Banditen? Sind die drei Carpenter-Brüder Banditen oder mit solchen im Bunde? Ging es nur um die wert volle Fracht des Wagenzuges und um den Besitz der Menschen in der Postkutsche? Wollte man vielleicht auch Augenzeugen verschwinden las sen? Es ist eine unglaubliche Sache, die man im Land den Apachen in die Schuhe schob, weil es immer wieder vorkam, dass Apachen kleine Siedlungen,
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Postkutschen und auch Wagenzüge überfielen. Jeremy Lassiters Gedanken eilen tausend Yards in der Sekunde. Er muss in die Schlucht hinein. Er muss hinein in die Mausefalle, will er etwas herausfinden. Und so entschließt er sich. Er lässt das Pferd im Schritt gehen, und er muss nun im vollen Mondund Sternenlicht reiten, welches voll in die Schlucht fällt wie in eine Gasse, über der zur Mittagszeit die Sonne steht. +++ Die Schlucht wird immer schmaler, und endlich macht sie doch ein paar enge Windungen, so dass es Schatten gibt und er nicht mehr im hellen Mond- und Sternenlicht reiten muss. Er hält immer wieder an und lauscht.
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Im staubigen Boden der Schlucht sind viele Fährten. Auch nach den Wagen kamen viele Rei ter durch die Schlucht, es herrschte also ein stän diges Kommen und Gehen. Die Schlucht endet plötzlich in einem kleinen Kessel. Und nun sieht er alles, obwohl der Kessel nur zur Hälfte im Mondlicht liegt, während auf der ande ren Hälfte der Schatten des sie umgebenden Felswalles ist. Es sind steile Hänge. Vor Jeremy Lassiter sind einige Gebäude, nied rig und lang gestreckt. Dann ist etwas Großes zu erkennen. Weil er aus dem Goldland von Colorado kommt, weiß er sofort, was es ist. Er sieht eine Erzmühle. Es ist eine Kombination von Stampfwerk und Mühle, und es wird nicht von einem Wasserrad, sondern offenbar von Maultieren betrieben, die an langen Balken im Kreise wandern, von dem aus Übersetzungen
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nach dem Stampfwerk und der Mühle gehen. Es ist eine der primitiven Anlagen, aber Lassiter hat solche Dinge schon im Goldland gesehen. Er sieht auch die Wagen, erkennt sogar die Post kutsche dicht neben den Gebäuden. Nun endlich weiß er Bescheid. Denn es ist jetzt so leicht zu begreifen. Die drei Carpenter-Brüder haben da eine Goldund Silbermine in Betrieb. Für diese Mine besorgten sie sich nicht nur Ar beitskräfte, sondern auch einen ganzen Wagen zug voller für eine größere Anzahl von Men schen notwendiger Dinge, zum Beispiel Provi ant, Werkzeuge, Kleidung - Dinge, die für einen großen Store im Grenzland bestimmt waren und die die Carpenter-Brüder nicht erst kaufen muss ten. Jeremy Lassiter sitzt bewegungslos im Sattel.
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Und er denkt immer wieder: Verdammt noch mal! Oh, verdammt noch mal! Dann fällt ihm ein, dass auch Cash Callahan dies alles so gesehen haben musste. Und dann? Was geschah dann? Sie mussten ihn schon bald danach erwischt ha ben. Vielleicht hatte er sogar in der Mine arbei ten müssen. Denn seine Kleidung war abgeris sen, auch seine Hände arg zerschunden. Er war ohne Waffen und ritt auf einem Pferd ohne Sat tel. Ja, sie hatten ihn erwischt, und er war ihnen nach einiger Zeit irgendwie entkommen. Jeremy Las siter überlegt, ob er absitzen und sich anschlei chen soll. Er könnte dann sicherlich auch fest stellen, ob die Frachtfahrer und die einstigen Fahrgäste der Postkutsche noch leben und in der Mine arbeiten müssen. Aber er verzichtet dann auf dieses Wagnis. Die Nacht ist schon fast um. Er wird Mühe haben,
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unbemerkt in sein Zimmer im Hotel von Canyon Station gelangen zu können. Und dann? Nun, er wird verschwinden müssen. Irgendwie muss sich ein Weg finden, dass er von Canyon City fortkommen kann, ohne Verdacht zu erre gen. Eine Flucht hätte wenig Sinn. Denn dann brächte er die Gefangenen der Mine in Gefahr. Die Carpenter-Brüder könnten alle Menschen verschwinden lassen, alle Spuren verwischen, sollten sie in die Gefahr geraten, dass die Armee eine Patrouille in ihren Canyon schickt, um dort auf eine Anzeige hin nachzusehen. Nein, so geht es nicht. Er darf keinen Verdacht erregen. Aber kann er das schaffen? Er hat den Wächter und dessen Hund niederge schlagen, hat sie beide gefesselt, sich das Pferd ausgeliehen. Vielleicht hat eine Ablösung diesen Vorfall schon entdeckt und haben die Carpenters
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in Canyon Station bereits Vorkehrungen getrof fen? Er reitet aus der Schlucht, und er ist nicht hastig dabei. Wieder reitet er nur im Schritt, so sehr die Zeit auch drängen mag. Er hält einige Male an, um zu lauschen. Dann endlich erreicht er wieder die Schlucht mündung in den Canyon. Er bleibt nicht auf dieser Seite des Canyons, als er sich nach links wenden muss. Nein, er macht sich die Mühe, trotz Zeitnot und der verblassen den Gestirne, hinüber zur anderen Canyonseite zu reiten. Er findet da und dort Deckung, durch reitet auch den Creek und stößt zweimal auf ru hende Rinderrudel, welche unwillig muhen. Dann endlich wendet er sich drüben nach links. Es ist nicht mehr weit. In der weiten und offenen Canyonmündung kann er ein paar Lichter sehen. In Canyon Station sind also immer noch ein paar Menschen wach - oder schon wieder.
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Als er sein Pferd anhält und absitzt, steigen die Nebel. Die Nacht stirbt nun mit verblassenden Sternen. Der Mond verschwindet hinter fernen Bergen. Es wird kalt. Die Nebel steigen schnell, und sie werden bei Sonnenaufgang eine Menge Tau zurücklassen auf allen Dingen dieser Erde. Er lässt sein Pferd zurück. Nach einer Viertel stunde erreicht er den Stangenzaun. Noch einmal verhält er, lauscht und sichert er. Aber es ist nichts - gar nichts, was Gefahr bedeu ten könnte. Er macht sich auf den letzten Rest des Weges. Die steigenden Morgennebel helfen ihm, sich zu verbergen, und sie schlucken auch die wenigen schwachen Geräusche, die er dann und wann un vermeidlich machen muss. Die Nebel sind auch zwischen den Gebäuden von Canyon Station. Er kann nun wahrhaftig Hoffnung haben, es bis in sein Zimmer schaffen zu können.
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Als er an der Rückwand des Hotels entlang zu dem Vorbau gleitet, dessen Dach er erklettern müsste, um von diesem zu seinem Zimmerfens ter gelangen zu können, erlebt er eine besondere Überraschung. Ein Fenster, welches nur angelehnt war, wird lautlos geöffnet. Und aus dem dunklen Zimmer sagt eine bekannte Stimme leise: "Kommen Sie herein, Lassiter. Das ist Ihre einzige Chance. Schnell zu mir herein! Schnell!" Die Mädchenstimme drängt, und sie klingt me tallisch, so energisch ist sie. Aber er hat sie dennoch erkannt. Er überlegt nicht lange. Er klettert über die nur hüfthohe Fensterbank in ihr Zimmer hinein. Aber es ist nur eine kleine Kammer, kaum doppelt so breit wie ihr Bett und auch kaum doppelt so lang. Es ist nur die Schlafkammer eines Hotelmäd chens, welches auch als Nachtportier fungiert.
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Sie zieht hinter Lassiter den Vorhang zu. "Man weiß schon, dass Sie nicht auf Ihrem Zimmer sind", sagt sie schlicht. "Sie brauchen ein Alibi. Oder Sie sind reif wie Cash Callahan." Jeremy Lassiter staunt nicht lange. Aber er weiß nun, dass seine leise Ahnung kein Irrtum war. Dieses Mädchen Lily, welches sich so trampel haft benimmt und so quiekende Töne hören lässt, wenn einer der Carpenters sie in den Hintern kneift, ist in Wirklichkeit ein ganz anderer Mensch. Schon ihre Stimme klingt nicht mehr so dümm lich. Wahrscheinlich ist sie auch sehr viel älter als siebzehn. "Setzen Sie sich, damit ich Ihnen die Stiefel aus ziehen kann", sagt sie energisch. "Sie müssen sich in mein Bett legen." "He", sagt Jeremy Lassiter, "in #Ihr# Bett? Geht das denn? Und was wissen Sie von Callahan? Ich glaube, Sie müssen mir eine Menge erklären,
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nicht wahr?" "Im Bett", sagt sie, "im Bett, Mister. Denn wenn die Burschen meine Tür aufbrechen sollten, dann haben Sie nur eine einzige Chance - nämlich die, dass man wahrhaftig glaubt, Sie wären bei mir gewesen. Also ..." In ihre Stimme kam wieder das heftige und ener gische Drängen. Lassiter begreift endlich den Ernst seiner Lage. Und er beeilt sich. Als er sich dann in ihr Bett legt, ist er nur mit seiner Unterhose bekleidet. Verdammt noch mal, in was hat er sich jetzt ein gelassen? Es dauert nicht lange, da kommt sie neben ihn, und sie hat nur ein dünnes Nachthemd an. Er spürt die Wärme ihres Körpers - und er spürt na türlich auch dessen weiche Geschmeidigkeit.
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Vielleicht ist sie ein wenig zu drall, doch alles an ihr ist fest, gut geformt und richtig proportio niert. "Denken Sie nur nicht falsch von mir", hört er sie leise flüstern. "Ich will nur Ihr Leben retten - nur das Leben. Sonst will ich gar nichts. Kommen Sie nur nicht auf die Idee, mich anzufassen. Ich kann nichts dafür, dass das Bett so schmal ist." Obwohl er sich darüber klar ist, dass er sich in einer Klemme befindet, muss er doch leise la chen. Diese Lily, deren Nachnamen er noch gar nicht weiß, ist auf jeden Fall ein sehr bemerkenswertes Mädchen. Und sie spielt hier auch eine ganz be stimmte Rolle. "Schwester, erzähl mir alles von Anfang an", sagt er. "Was weißt du von Callahan, und warum bist du auf meiner Seite?" "Ich bin Pete Hogjaws Frau", sagt sie. "Und Pete Hogjaw war mit der Postkutsche zu mir unter
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wegs. Er ist von der Armee entlassen worden. Ich war zu der kleinen Siedlerstätte, die wir für zweihundert Dollar gekauft hatten, vorausgereist. Die Verkäufer wollten weg. Ich musste mich um das Vieh kümmern. Aber es wären ja nur wenige Tage gewesen, bis Pete kam. So dachte ich. Doch er kam nicht. Da nahm ich die Fährte auf." Er staunt. Sie war ein Mädchen, doch sie sprach jetzt wie ein erfahrener Scout. Er versteht zugleich auch ihre ganze Not und ihre Probleme. "Welche Fährte? Gab es denn eine Fährte?" So fragt er. Ihr warmer Körper liegt still neben ihm. Er spürt ihren Pulsschlag. Er hämmert stark. Sie macht sich also immer noch Sorgen um ihren Pete - und sie kämpft offenbar immer noch für ihn. Verdammt noch mal, was für ein großartiges Mädchen ist das?
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"Ja, es gab Fährten", sagt sie. "Die Postkutsche ging zwischen Mesa Creek und Canyon Station verloren. Mein Vater war ein so genannter 'fah render Händler'. Ich war viele Jahre mit ihm un terwegs. Ich kann Fährten lesen wie ein Scout. Irgendwie wurde mir klar, dass ich die Lösung in Canyon Station finden konnte. Also ritt ich zwei Stationen weiter nach Norden, verkaufte mein Pferd und nahm die nächste Postkutsche nach dem Süden. Als wir hier anhielten, um das Ge spann auszuwechseln, fragte ich um Arbeit. Sie konnten mich hier im Hotel gebrauchen. Und so spielte ich hier den dummen Trampel, den man jedoch für alle Arbeiten gebrauchen kann. Ich fand auch schon bald weitere Anhaltspunkte, denn ich belauschte nicht nur die CarpenterBrüder, sondern auch deren Männer. Hier in Ca nyon Station wissen alle von der Mine in der Schlucht - alle, also der Schmied, der Storehalter, der Stationsmann von Bannacks Post- und Frachtgesellschaft, der Saloonwirt - ah, alle Menschen hier. Denn sie gehören alle den Car penters. Sie stehen alle unter der Kontrolle dieser drei Brüder. Ich habe mir viele Dinge aus Bruchstücken zusammensetzen können. Ich ken
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ne sogar den Mann, der von meinem Pete die Uhr trägt. Ein anderer Mann stolziert manchmal mit Petes Revolvergurt und Revolver herum. Ich kenne die Waffe genau, denn sie war das beste Stück in der Kollektion meines Vaters. Als sie damals diesen Callahan fingen, der in den Cany on geschlichen war, da verprügelten sie ihn in der Scheune. Ich belauschte sie auch dort." Sie macht nun eine Pause. Jeremy Lassiter aber bewundert dieses Mädchen nun. Sie muss eine Kämpferin sein, mutig und verwe gen, entschlossen und schlau. Nach einigen Atemzügen hört er sie sagen: "Sie leben alle noch. Sie arbeiten in der Mine. Diese Mine muss sehr alt sein - noch aus der Spanierzeit. Jemand von den Carpenters stieß auf eine Goldader. Da schickten sie einige Männer hinein. Aber das Hangende war gefährlich. Es brach immer wieder herunter und verschüttete die Stol len. Sie hätten einige Wagenladungen Gruben
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holz herschaffen lassen müssen. Das dauerte ih nen zu lange. Sie wollten nicht warten. Deshalb räumten sie immer wieder die niedergebrochenen Massen weg und legten weiter die Goldader frei. Niemand mehr wollte in dem Todesstollen arbei ten - niemand von all den Leuten, die von den Carpenters hingeschickt wurden. Es gab Meute reien. Es wurde Blut vergossen. Und dann brach der ganze Stollen ein und verschüttete die Gold ader und alle Männer, die dort unter Zwang ar beiteten." Und wieder macht sie eine Pause. Wahrschein lich hat sie das, was sie sich aus vielem Beobach ten und Belauschen zusammenkombinierte, noch nie in so zusammenhängender Form erzählt. "Die Carpenters sind verrückt vor Goldfieber", sagt sie härter. "Sie wollten die Goldader ausbeu ten - doch sie hatten nicht nur keine Arbeitsskla ven mehr, sondern auch noch einen in der ganzen Länge niedergebrochenen und damit zugeschüt teten Stollen. Da schnappten sie mit ihren Leuten die Postkutsche. Das waren schon mal elf Ar beitskräfte. Aber sie brauchten noch mehr. Sie
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bekamen einen ganzen Wagenzug in ihre Hand, hatten somit nicht nur weitere Arbeitskräfte, sondern auch reichlich Proviant und Werkzeuge. Nun haben sie den zugeschütteten Stollen bald ausgeräumt und den Anfang der Goldader wieder erreicht. Bald wird wieder Gold gefördert wer den. Es hat einige Tote gegeben, die wegen Meu terei oder Fluchtversuchen erschossen wurden. Auspeitschungen sind üblich. Und wer nicht ar beitet, der bekommt nichts zu essen. Es muss schlimm sein dort in der Schlucht und in der Mi ne, so schlimm wie in der Hölle. Und mein Pete ist dabei." Als sie nun verstummt, geht ihr Atem heftig. Dann sagt sie: "Jeremy Lassiter, du musst von hier fortkommen können, um Hilfe zu holen. Der Überfall muss schlagartig geschehen. Sonst las sen die Carpenters den Stollen mit Hilfe von Sprengstoff einstürzen. Dann vernichten sie alle Zeugen, schütten sie einfach zu. Verstehst du?" O ja, das versteht Lassiter gut.
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Denn diese letzte Möglichkeit haben die Carpen ter-Brüder und ihre Handlanger immer noch, sollte man ihnen zu sehr auf die Schliche kom men. "Verdammt noch mal", sagt er, "ich weiß noch nicht, wie ich von hier weg kommen kann. Denn ... He, wieso wusstest du, Lily, dass ich herge kommen bin, um ..." "Ich hatte eine Ahnung", unterbricht sie ihn. "Und dann hörte ich dich aus dem Fenster klet tern, vom Schuppendach springen. Ich sah dei nen Schatten in Richtung Canyon verschwinden. Da hoffte ich, dass du ..." Sie kommt nicht weiter. Denn es klopft nun rau an die Tür. "He, Lily! Lily, hörst du mich? Wach auf, Lily!" "Das ist Jargo Carpenter", flüstert sie und gleitet aus dem Bett. Im Dunkeln zieht sie sich einen Morgenmantel an. Nur ganz undeutlich kann
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Lassiter das erkennen. Der Fenstervorhang lässt nur wenig Helligkeit des grauen Morgens durch schimmern. Nun klopft es noch stärker an die Tür. Aber da öffnet sie auch schon. Lichtschein fällt herein. Draußen sieht man die Rückseite des Anmeldepultes und ein Stück der kleinen Empfangsdiele. Jago Carpenter und dessen beiden Begleiter ha ben plötzlich ihre Revolver in der Hand, denn sie sahen an Lily vorbei und erkannten den Mann im Bett. "He, das ist ja der gute Lassiter", keucht Jago Carpenter, und er wirkt ganz so, als hätte er sich an einem zu großen Bissen verschluckt. Lassiter setzt sich langsam auf, zeigt seinen nackten Oberkörper. "He, Jago, du bist aber kein Gentleman", sagt er.
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"Warum machst du solch einen Lärm? Oder bist du eifersüchtig wegen Lily?" Jago Carpenter sagt noch nichts. Er kommt erst herein, hält den Revolver immer noch in der Hand und sieht Lassiters Sachen auf dem Stuhl. Auch Lassiters Colt liegt dort. Da steckt Jago Carpenter seine Waffe weg. "Ich dachte, du wärest ausgerissen, um nicht mit uns spielen zu müssen", murmelt er. "Ich habe an dein Zimmer geklopft, um noch einmal nach dir zu sehen. Doch du gabst keine Antwort. Zuerst dachte ich, dass du dich mit einer ganzen Flasche Tequila betrunken gemacht hättest. Ich hörte dich aber auch nicht schnarchen. Nun, das ist aber eine Überraschung, dich hier in Lilys Bett zu finden." Er verstummt gedehnt, und Lassiter weiß plötz lich instinktiv, dass Jago Carpenter nur so redet, um Zeit zu gewinnen, um ihn hinzuhalten, um sich von seiner Überraschung zu erholen.
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Plötzlich taucht ein Hund in der offenen Tür auf und zieht an der Leine einen Mann hinter sich her. In Lassiter ist nun ein heftiger Schrecken. Er möchte aus dem Bett springen und nach seinem Colt schnappen - oder in seinen rechten Stiefel langen, weil sich dort der kleine Derringer befin den muss. Die Stiefel stehen dicht beim Bett. Aber es ist nur ein kurzes Gefühl der Panik. Dann hat er sich unter Kontrolle und behält alles, was in ihm durcheinanderkam, tief unter seiner Oberfläche verborgen. Denn das alles hier ist eine Art Pokerspiel. Er muss bluffen und das Glück auf seiner Seite haben. Sonst wird er verlieren. Der Hund steht nun vor seinem Bett, zeigt seinen gefährlichen Fang, hechelt und knurrt leise.
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Jeremy Lassiter sagt ruhig: "Na, mein Freund, was willst du hier? Haben deine Chefs denn kei nen Anstand? Dann hab du wenigstens welchen und verschwinde wieder. Also, Beißer!" Und er streckt den nackten Arm aus und legt dem Hund die Hand auf die Stirn. Er kann dort die Beule fühlen, die er dem Tier vor einigen Stunden mit der geballten Faust zwi schen die Augen hämmerte. Da schnappt der gefährliche Fang auch schon zu - und der Hund starrt ihn dabei an. Er könnte im nächsten Sekundenbruchteil schon Lassiters Hand für immer ruinieren. Er stößt auch zuerst ein böses Knurren aus. Aber dann beißt er letztlich doch nicht zu. Seine scharfen Zähne kneifen nur. Sie dringen nicht ins Fleisch ein, brechen keine Knochen und zerfet zen keine Sehnen und Muskeln. Nein, das mächtige und gefährliche Tier hält in
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ne. Jago Carpenter starrt fast ungläubig auf die merkwürdige Szene. Dann sieht er den Mann an, der den Hund an der Leine hat. Auch der Mann starrt auf Lassiter - misstrauisch, wachsam und ungläubig zugleich. "Nun, Shayne?", fragt Jago Carpenter hart. Der Mann hält mit der einen Hand die Leine und damit den Hund. Mit der anderen Hand fährt er sich an den Kopf, um den er einen Verband trägt. Er berührt die Beule unter dem Verband mit vor sichtigen Fingerspitzen, so als könnte er dadurch besser überlegen und zu einer Entscheidung kommen. Dann schüttelt er leicht den Kopf, aber das schon bereitet ihm sichtlich Schmerzen. Er starrt Lassi ter noch einige Atemzüge lang an und sagt schließlich heiser und mit resignierender Bitter
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keit: "Nein, er kann es nicht gewesen sein. Wolfskiller hätte ihm sonst die Hand zu Salat gemacht. Nein, den hätte Wolfskiller kaputtma chen wollen." Aber Jago Carpenter sagt noch nichts, entschei det sich immer noch nicht. Er starrt immer noch auf Lassiter und den Hund, murmelt dann: "Viel leicht erkennt ihn Wolfskiller nun als Herrn an? Vielleicht ist Lassiter einer dieser seltenen Bur schen, denen auch der schärfste Hund nichts tut." "Dann hätte er Wolfskiller nicht niederschlagen müssen wie mich", sagt Shayne und zerrt an der Leine. Der Hund gibt nun Lassiters Rechte frei. Die Eindrücke seiner Zähne sind deutlich zu erken nen, doch es blutet nicht. Da gibt auch Jago Carpenter sich zufrieden. Als er an Lily Hogjaw vorbei zur Tür geht, sagt er: "Ich werde Paul sagen, dass du dich mit Las siter eingelassen hast. Das wird ihm nicht gefal
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len. Paul war scharf auf dich und wird nicht be greifen können, dass du dich so schnell ..." Er bricht ab mit seinen Worten. Sein Kopf ruckt herum, und er sagt über die Schulter: "Heute am Abend setzen wir das Po kerspiel fort, Lassiter." "Sicher", sagt dieser, "sicher, mein Bester. Heute Abend nehme ich euch das Geld ab." Und dann schließt Lily die Tür hinter ihm, lehnt sich von innen dagegen und bedeckt das Gesicht mit beiden Händen, um das Schluchzen unter drücken zu können. Jeremy Lassiter erhebt sich, fährt in seine Klei der. Noch in Strümpfen geht er zu Lily hin und nimmt sie brüderlich in die Arme. Sie weint im mer noch. Er streicht über ihr Haar. "Nicht weinen, Lily", sagt er leise. "Wir schaffen das schon. Du warst großartig. Wahrscheinlich hast du mich gerettet. Ich stehe tief in deiner
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Schuld. Du bist ein großartiges Mädchen." "Und Pete Hogjaw, der mein Mann ist, sitzt als Arbeitssklave irgendwo im Stollen der Mine mit all den anderen Unglücklichen", murmelt sie und schluchzt zwischendurch. Aber sie beruhigt sich allmählich. Schließlich murmelt sie gepresst und heiser, so als säße ihr ein Kloß im Halse: "Oh, es ist ja so schwer, hier durchzuhalten, den dummen Trampel zu spielen und fortwährend auf der Lauer zu sein. Denn sie lassen mich von hier nicht mehr weg. Paul Carpenter stellt jedem Mädchen und jeder Frau nach. Jetzt wird er ..." Sie spricht nicht weiter, denn was Paul Carpenter alles tun wird, dies erscheint ihr so viel zu sein, dass die Möglichkeiten ihre Vorstellungskraft fast übersteigen. Aber sie erzittert.
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Lassiter streicht nochmals über ihr Haar. Er kann ihr nicht anders Trost geben, auch nicht helfen. Seine Müdigkeit droht ihn nun auch zu erschla gen. Er ist den ganzen vergangenen Tag hart ge ritten und musste sich die Nacht zuerst beim Po ker und dann im Canyon und in der Schlucht gewissermaßen um die Ohren schlagen, wie man im Volksmund so sagt. Nun kann er nicht mehr. Auch sind ja seine bei den Wunden längst noch nicht verheilt. "Ich muss mich jetzt langlegen und einige Stun den schlafen, Lily", sagt er leise auf sie nieder. "Ich muss das tun, weil ich sonst nicht durchhal ten kann in der kommenden Nacht. Ich will ver suchen, mich von den Carpenters im Guten zu trennen und meiner Wege zu reiten. Wenn ich das schaffe, bringe ich auch Hilfe." Er verlässt sie und tritt hinaus. In der kleinen Empfangsdiele hockt ein Mann in einem Sessel, sieht ihn an und grinst zu ihm her.
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"Na, schon genug, Lassiter?", fragt der Mann, als Jeremy an ihm vorbei zur Treppe geht. Da fasst Lassiter zu. Er greift in das volle Lo ckenhaar des Burschen, reißt ihn daran hoch und gibt es ihm mit der harten Faust gleich dreimal in den Körper. Als er loslässt, fällt der Spötter um, sagt nichts mehr, keucht nur noch nach Luft und verdreht die Augen voller Not. "Quatsch mich nur nicht noch mal von der Seite an, Hombre", sagt Lassiter kalt und geht hinauf. Schon auf der Treppe bedauert er seinen wilden Ausbruch und nennt sich einen Dummkopf. Seine Nerven gingen soeben mit ihm durch. Als er in sein Zimmer kommt, entledigt er sich nur seiner Stiefel und des Revolvergurts. Er nimmt den Revolver in die Hand, als er sich der Länge nach auf dem Bauch ausstreckt.
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Er schläft sofort ein. Und es ist schon fast ein Wunder, dass er so lan ge noch auf den Beinen war und gegenüber Jago Carpenter und dem Hund die Nerven behielt. Was mag in dem Tier vorgegangen sein? Jago, der die Nachtwache hatte, trifft seine Brü der erst am frühen Vormittag beim Frühstück im Speiseraum des Hotels. Lily bedient sie, und sie wirkt heute blass, aber nicht ganz so trampelhaft wie sonst, denn sie kann ihre Rolle heute nicht so gut spielen. Als sie verschwunden ist, um scheinbar irgend welchen Arbeiten im benachbarten Hotel nach zugehen, beginnt Jago den Brüdern zu berichten. Er endet mit den Worten: "Es ist also völlig si cher, dass jemand aus Canyon Station im Canyon war. Dieser Jemand hat Shayne und den Hund ausgeschaltet, sich das Pferd geliehen und ist damit im Canyon herumgeritten. Jetzt frage ich euch, wohin er wohl ritt, was er wohl suchte -
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und wer es wohl gewesen sein mag? Na? Wollt ihr euch festlegen?" Sie starren ihn an, und sie sind alarmiert. Sie wollen aufspringen, etwas unternehmen. Doch er beruhigt sie durch eine Handbewegung. "Lassiter", stößt Paul Carpenter hervor. "Nur ein Bursche wie Lassiter wird mit einem Wächter wie Shayne und seinem Hund Wolfskiller fertig. He, warum hast du uns nicht geweckt? Warum sitzen wir hier auf unseren Hintern herum und schaufeln Eier und Speck in uns hinein?" "Langsam, langsam", beschwichtigt Jago. "Ich habe für alle Fälle Reiter ausgeschickt, die alle Wege sperren und nach Fährten suchen. Aber es fehlt niemand in Canyon Station. Auch Pferde werden nicht vermisst. Wenn ein Fremder kam und wieder verschwand, dann finden unsere Rei ter irgendwo Spuren oder Anhaltspunkte. Aber es war kein Fremder. Ihr tippt auf Lassiter? Das tat ich auch. Aber ratet mal, wo ich ihn fand! Ra tet mal!"
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Sie starren ihn erregt und bitter an, denn sie wol len jetzt nicht auch noch herumraten. Ihnen schmeckt das Frühstück nicht mehr. "Heraus damit, Jago", knurrt Sid Carpenter böse. "Ich fand ihn bei Lily im Bett - halb nackt. Und Shaynes Hund biss ihn nicht mal, obwohl er dem Tier seine Hand auf den Kopf legte. Aber hätte Shaynes Hund ihm nicht die Kehle durchzubei ßen versucht, wenn er ..." Paul Carpenter schüttelt den bulligen Kopf. "Da soll sich doch einer mit diesen Girls ausken nen! Ich kneife sie höchstens mal und denke, sie müsste sich erst an mich gewöhnen, und sie geht schon in der ersten Nacht mit diesem Jeremy ins Bett. Was ist denn an ihm so viel schöner als an mir? He?!" Er ist nun richtig in Wut gekommen. Aber sein Bruder Sid achtet nicht mehr auf ihn.
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Sid Carpenter stellt schlicht fest: "Wenn er bei Lily war, kann er nicht im Canyon gewesen sein. Und wenn ihm Shaynes Hund nicht an die Kehle ging, war er es auch nicht, der Shayne und den Hund zusammengeschlagen hat. Aber wer hätte diesen Shayne und seinen Wolfskiller sonst zu sammenschlagen können, wenn nicht Lassiter? Kennt ihr einen Mann in unserem Land auf zweihundert Meilen in der Runde, der dies schaf fen könnte?" Er schüttelt selbst den Kopf. Dann spricht er weiter: "Ich mach mir Sorgen. Unsere drei Jungens, die wir dem entflohenen Cash Callahan nachsandten, sind noch nicht zu rück. Ist er ihnen vielleicht entkommen? Oder gerieten sie selbst in Schwierigkeiten? Wir müs sen wohl mit beiden Möglichkeiten rechnen, kehren sie heute nicht zurück. Brüder, ich fürch te, wir könnten schnell in eine Klemme geraten. Und vielleicht müssen wir den verdammten Stol len wieder einstürzen lassen, obwohl wir ihn ge rade erst ausgeräumt haben, so dass er jetzt fast doppelt so hoch ist wie zuvor. Wir müssen noch
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heute die Postkutsche und mehr als die Hälfte der Frachtwagen verschwinden lassen, desgleichen auch die meisten Maultiergespanne. Doch ..." Er bricht nach dem ersten Wort des angefange nen Satzes ab und starrt eine Weile auf die Tür, durch die Lily verschwunden ist. "Diese Lily werden wir uns mal vornehmen müs sen", murmelt er. "Vielleicht ist sie gar kein ..." Er wirft einen Blick auf seinen Bruder Paul und sagt dann doch nicht "Trampeltier", obwohl er es schon zu sagen auf der Zunge hatte. "Ja, wir müssen uns Lily vornehmen", sagt auch Jago. "Es gibt Männer, die können mit Tieren und besonders mit Hunden alles machen. Viel leicht ist Lassiter solch ein Mann. Wir müssen uns Lily vornehmen. Sie wird hinter dem Hotel Wäsche waschen. Wir könnten mit ihr hinüber in den großen Schuppen gehen. Und dort ..." "Nein", sagt Paul Carpenter. "Dieses Girl ist harmlos."
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"Aber sie hatte Lassiter im Bett, und vielleicht verschaffte sie ihm ein Alibi. Wenn nicht, dann ging sie mit einem Burschen, den sie zuvor nur wenige Minuten kannte, einfach ins Bett. So harmlos ist dein Schwarm, Bruderherz. Nein, wir müssen sie uns vornehmen. Wir müssen! Oder willst du wegen einiger Gefühlsduseleien eine Million rasch gewonnenes Geld aufs Spiel set zen? Vergiss nicht, dass wir keinen Menschen freiwillig in diesen verdammten Todesstollen hineinbekommen, der immer wieder zusammen brechen kann. Vergiss nicht, dass wir ... Ach, was rede ich so lange über Selbstverständlichkei ten! Wir müssen sie uns einfach vornehmen." Jagos Stimme knirscht zum Schluss. Er berichtet dann auch noch, dass Lassiter offenbar die Ner ven verlor und den Mann in der Empfangshalle zusammenschlug, den Jago dort als Beobachter und Wächter postiert hatte. Sid und Paul hören schweigend zu. Aber sie es sen schon wieder. Sie kauen heftig, so als äßen sie Steine. Dann spülen sie mit viel Kaffee nach und erheben sie sich wie auf Kommando.
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Sie folgen Jago hinaus zu Lily, die draußen im Hof des Hotels beim Brunnen tatsächlich Wä sche wäscht. "Komm mal mit, Süße", sagt Jago. Sie richtet sich über dem Waschbrett auf, sieht sie an und erkennt eine Menge Unheil in diesen drei Carpenter-Gesichtern. Die Angst will in ihr eine Panik verursachen. Sie möchte fortlaufen und um Hilfe rufen. Sie denkt auch an Lassiter. Aber dessen Fenster ist geschlossen, halb ver deckt durch den Anbau. Selbst wenn er am Fens ter stünde, so könnte er nur wenig von den Din gen hier unten beim Brunnen erkennen. Und rufen will sie nicht. Sie beherrscht sich und folgt Jago.
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Hinter ihr gehen die beiden anderen Carpenters. Ihre Furcht ist nun so groß, dass es ihr fast den Atem verschlägt. Sie nimmt sich vor, nichts zu verraten. Denn sie will nicht nur Lassiter die Chance geben, Hilfe herbeizuschaffen. Sie will ihren Mann Pete ret ten. Und das kann sie nur, wenn sie Lassiters A libi nicht zweifelhaft werden lässt. +++ Als Lassiter erwacht, ist es Abend. Er wäscht und rasiert sich in aller Ruhe, obwohl ihm der Hunger den Magen nur so knurren lässt. Als er aus dem Fenster blickt, sieht er das Auf glühen einer Zigarette in der einsetzenden Dun kelheit. Das kann kein Zufall sein, dieser Mann dort im Hof. Er weiß, dass sie ihn bewachen. Er geht ruhig hinunter.
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In der Empfangshalle halten sich nun zwei hart gesichtige Burschen auf, die er für CarpenterLeute hält, nicht für Reisende oder Reiter, wel che nur eine Nacht hier im Hotel bleiben wollen. Sie betrachten ihn feindlich. Als er hinaus auf die Straße tritt und sich in Richtung zum Stall wendet, folgen sie ihm, hal ten jedoch einigen Abstand. Er besucht sein Pferd im Corral und tritt dicht an das Tier heran. Er kann noch einigermaßen gut erkennen, dass es gestriegelt wurde und offenbar auch gutes Futter erhielt. Er gibt dem Mexikaner, der zu ihm tritt und sagt, dass er sich viel Mühe mit dem Tier machte, ein Trinkgeld. Als er wieder auf dem Rückweg ist, kommt er an den beiden Männern vorbei. Sie lehnen an der Ausfahrt rechts und links an den Torpfosten.
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"Also gehen wir essen", sagt er zu ihnen. "Oder habt ihr keinen Hunger?" Sie schweigen. Erst als er sich zum Gehen wen det, murmelt einer: "Mit Ihnen reden wir nicht, Lassiter. Und uns werden Sie auch nicht so zu sammenschlagen können wie Shane. Wir sind darauf vorbereitet." "Und warum seid ihr meine Leibwache?" "Weil die Carpenter-Brüder auf das Pokerspiel nicht verzichten möchten", sagt der Mann. "Sie haben Angst, dass Sie kneifen wollen und auf Ihrem Pferd verschwinden." Lassiter sagt nichts mehr. Er geht weiter. Aber er hat kein gutes Gefühl. Glauben die Carpenter-Brüder wirklich nur, dass er sich um das Revanchespiel beim Poker drü cken will? Er erreicht den Eingang zum Speiseraum des Ho
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tels und tritt ein. Es sind nicht viele Gäste da. Die CarpenterBrüder fehlen heute. Als die Bedienung kommt, ist es nicht Lily, son dern eine ältere Frau, die sich schwerfällig be wegt. "Wo ist Lily?", fragt er. Die Augen der Frau sind unruhig. "Sie hat ihren freien Tag", sagt sie. "Aber sie wollte wohl auch weg von hier. Vielleicht nahm sie die Mittags postkutsche weiter nach Süden. Ich weiß nicht. Fragen Sie Paul Carpenter. Der ist für das Hotel verantwortlich." Die Frau wird immer unsicherer und stammelt zuletzt nur noch. Ihr Gesicht wird rot und wieder blass. Und die Furcht war die ganze Zeit in ihren Au gen und ist es immer noch.
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Jeremy Lassiter gibt seine Bestellung auf. Und dann wartet er, ist angefüllt von Sorge um Lily und überlegt, was er unternehmen kann. Ja, in ihm ist alles alarmiert. Es ist, als schrillten in ihm Alarmsignale. Er möchte am liebsten auf springen, etwas unternehmen. Aber er weiß, dass dies nichts nützen würde. Irgendwas ist mit Lily geschehen, aber er kann es gewiss nicht herausfinden, wenn er jetzt gegen die Übermacht der Carpenter-Brüder und deren Männer loslegt. Auch seine beiden Bewacher, die ihm schon zum Stall und zu den Corrals beim Wagenhof gefolgt waren, kamen inzwischen herein. Sie beobachten ihn und bekämen schnell Hilfe. Wahrscheinlich gehört der eine oder andere der Gäste ebenfalls zu Carpenters Leuten. Er sitzt in der Falle.
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Die Frau bringt ihm das Abendessen. Es ist reichlich und gut. Doch so hungrig er auch ist, er möchte lieber aufspringen, hinauslaufen und Lily suchen. Nur mühsam kann er sich zum scheinbar ent spannten Sitzen und Essen zwingen. Dann geht die Tür auf. Die Carpenter-Brüder kommen herein, zuerst Sid, dann Paul und in einem größeren Abstand hinterher Jago. Ihre Augen funkeln. Sie setzen sich wortlos zu ihm an den Tisch. Als die Frau aus der Küche gehumpelt kommt, schnippt Sid nur mit den Fingern. Sie weiß sofort Bescheid und verschwindet wieder. Die Carpenter-Brüder betrachten Lassiter. "Na, schmeckt es?", fragt Sid mit scheinbarer Freundlichkeit. "Prächtig." Lassiter grinst. "Und weil ich auch noch gut ausgeschlafen bin, werde ich euch heute
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beim Poker schlagen. Ihr werdet noch bedauern, von mir Revanche gefordert zu haben. Ich nehme euch das Geld ab. Wo ist denn Lily?" Er stellt die Frage nach Lily ganz beiläufig. Und er sieht Paul Carpenter dabei an. Der verzieht keine Miene. Aber Sid sagt: "Lily? Ach ja, Lily! Die ist weg." "Wohin? Und warum so plötzlich?" "Ach, sie wollte schon immer weg", mischt sich Jago ein. "Solch ein junges Mädchen möchte halt auf die Dauer doch nicht in einem Nest wie die sem bleiben. Vielleicht hast du sie in der vergan genen Nacht gewissermaßen aufgeweckt und in ihr das Verlangen nach der anderen Welt mäch tig werden lassen - nach großen Städten, vielen Menschen. Oder glaubtest du, es wäre etwas mehr als nur ein flüchtiges Abenteuer zwischen euch? War sie deine große Liebe?"
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Nun verhöhnt er Lassiter. Lassiter aber gibt sich keinen Illusionen mehr hin. Plötzlich weiß er, dass er jetzt und hier um sein Leben kämpfen muss. Will er hier davonkom men, so muss er kämpfen. Er darf nicht mehr auf ein Wunder hoffen. Nein! Sie haben Lily ir gendwie zum Reden gebracht und wissen genau Bescheid. Als er mit seinen Gedanken so weit ist, gibt es keinen Ausweg mehr. Und er ist auch kein Mann, dessen Gedanken jetzt in wild tastender Verzweiflung nach Mög lichkeiten suchen. Nein, die Karten sind gefallen. Er muss ausspielen und sehen, dass er mit seinen Trümpfen die gewiss besseren Karten des Geg ners schlagen kann - vielleicht durch Bluff.
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Sid Carpenter beugt sich plötzlich vor. Seine Hände sind unter dem Tisch verborgen. Er sagt: "Schon als wir uns an den Tisch setzten, nahm ich den Colt heraus und zielte von diesem Mo ment an unter dem Tisch auf deinen Bauch. Dies ist auch jetzt noch so. Wenn du Messer und Ga bel loslassen solltest, bekommst du es. Na, mein Bester, willst du vernünftig sein?" Das ist es also, denkt er. Sie haben mich. Sie wa ren von Anfang an darauf eingestellt. Ich Narr aber glaubte noch, sie wollten mich nur am Po kertisch ausplündern. Sie kamen auch erst herein, als ich schon aß, denn sie wollten, dass ich Mes ser und Gabel sichtbar auf dem Tisch in meinen Händen hielt. Nach diesen bitteren Gedanken muss er sich nun endlich entscheiden. Soll er sich kampflos ergeben? Aber dann wäre er nicht jener Jeremy Lassiter aus Laredo, nicht der Revolverkämpfer, dessen Kämpfe da und dort Legenden wurden.
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Als die ältliche Frau in der Tür von der Küche her erscheint und ihr humpelnder Gang schon hörbar wird, da ruft er überrascht: "Aber da ist ja Lily!" Und er schafft es wahrhaftig. Die Köpfe der Carpenters rucken überrascht her um. Er hat die hartgesottenen und eiskalten Burschen tatsächlich noch einmal für einen Sekunden bruchteil bluffen können. Er duckt sich zur Seite und wirft den Tisch dabei um. Dann rollt er über den Boden und bekommt den Revolver aus dem Holster. Indes schießt Sid Carpenter zweimal, trifft je doch nicht, weil er durch den umstürzenden Tisch behindert wird. Die Carpenter-Brüder bil den mit ihren Stühlen und dem Tisch ein Durch einander, aus dem sie sich erst lösen müssen. Doch es sind ja noch mehr Männer im Spiel als
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nur die drei Carpenters. Einer dieser Männer schleudert eine Flasche, in deren Öffnung eine brennende Kerze als Tischbeleuchtung steckt. Die Kerze geht natürlich aus und bricht aus der Öffnung. Doch die mit Sand gefüllte Flasche kommt wie die Kriegskeule eines Indianers. Lassiter bekommt sie von der Seite her auf Ohr und Schläfe. Er geht zu Boden und verliert für eine Weile das Bewusstsein. Er macht nicht mehr mit. Die Carpenters bekommen ihn leicht. Eine glücklich von einem ihrer Handlanger geworfene Flasche bringt den Revolvermann Jeremy Lassi ter, der im nächsten Sekundenbruchteil eine Höl le losgelassen hätte, nun völlig in die Gewalt der Carpenter-Brüder. Und als er bewegungslos am Boden liegt und sie seinen Revolver haben, da tritt Paul Carpenter wie ein wilder und vom Rausch des Hasses und
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der Wut völlig beherrschter Mann immer wieder bösartig zu, bis ihn seine Brüder wegdrängen. Jago sagt knurrend: "Hör auf, du Narr! Diese Li ly ist es nicht wert, dass du dich wegen ihr so blöd benimmst. Wir brauchen im Stollen jede Arbeitskraft. Und warum sollen wir Lassiters Kraft nicht nutzen? Oder willst du selbst in den verdammten Todesstollen gehen? Willst du unse re eigenen Männer hineinjagen?" Sein Kopf schmerzt schlimm, zumal er quer über dem Sattel eines trabenden Pferdes liegt, bäuch lings natürlich und überdies auch noch festge bunden, so dass er völlig hilflos ist. Mit Mühe kann er seinen Kopf etwas drehen und anheben. Er erkennt, dass die Carpenters mit ihm reiten. Wahrscheinlich befinden sie sich im Canyon und sind unterwegs zur Mine. Sein Kopf droht nach dieser Anstrengung zu bersten. Für einen Mo ment verliert er abermals die Besinnung.
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Als er wieder einigermaßen klar im Kopf ist, ruft er heiser: "He, lasst mich im Sattel sitzen! Habt ihr gehört? Lasst mich im Sattel sitzen!" Er hört Paul Carpenters fluchende Stimme sagen: "Verrecke, du Hundesohn, verrecke von mir aus!" Aber Sid und Jago Carpenter halten an. Sie lösen seine Fesseln, so dass er vom Pferd rutschen und wieder aufsitzen kann. Es ist sein eigenes Pferd, welches sie aus dem Corral holen ließen. Als er im Sattel sitzt und die Schmerzen im Kopf etwas nachlassen, hört er Jago Carpenter sagen: "Freund Lassiter, wir brauchen jede Arbeitskraft - jede! Da du ja schon alles ziemlich genau weißt, müssen wir dir nichts erklären. Ja, Lily wurde von uns zum Reden gebracht. Sie hat alles gesagt, was zu sagen war. Und anstatt dass Paul darüber froh ist, dass sie sich in Wirklichkeit doch nicht mit dir eingelassen hatte, sondern nur alles Bluff war, der dir ein Alibi verschaffen soll te, ist er immer noch böse auf dich. Oha, er hätte selbst so gerne ..."
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"Halt dein Maul, Jago!" Paul Carpenter grollt es böse und reitet entschlossen weiter. Seine Brüder lachen. Sie nehmen Lassiter in die Mitte. Dann folgen sie Paul Carpenter. Erst nach einer Weile sagt Sid zu Lassiter hinüber: "Ich denke, dass wir in einer guten Woche die Goldader he rausgehauen haben aus der Mine, höchstens zwei Wochen dauert es. Dann brechen wir von hier auf mit sechs starken Frachtwagen mit hochpro zentig goldhaltigem Erz. Das wird mehr als eine Tonne reines Gold ergeben. Verstehst du? Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit. Zwei Gefangene drohen uns. Da ist der Berg, der zusammenfallen wird, und da sind Burschen wie du, die Nachforschungen anstellen nach der ver schwundenen Postkutsche und dem verscholle nen Wagenzug. Du wirst in der Mine gute Arbeit leisten müssen, Lassiter. Sonst bekommst du nichts zu essen." Als er verstummt, weiß Jeremy Lassiter endgül
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tig Bescheid. Sie reiten nun schweigend das letzte Stück durch den Canyon, biegen dann in die Schlucht ein. Der Hufschlag ihrer Pferde hallt zwischen den Felswänden. Dann, als sie in den Schluchtkegel reiten, werden sie auch schon angerufen. Jago Carpenter stößt einen Erkennungsruf aus. Sie kommen unter einem Felsen vorbei, auf dem ein Mann steht, der eine schwere Schrotflinte in der Armbeuge hält. Sie reiten weiter auf die alten Steingebäude der Mine zu. Wieder zeigt sich ein bewaffneter Mann. Und auch dieser trägt außer dem Colt eine Schrotflin te. "Es ist hier alles in Ordnung", sagt der Mann. "Die Arbeiter sind in ihrer Unterkunft im Stollen.
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Wir haben hier nur die beiden Frauen draußen und natürlich das erledigte Mädel." "Die ist kein Mädel. Die ist eine Frau: Pete Hog jaw ist ihr Mann." "Hoii, Pete Hogjaw? Von dem ist sie die Frau? Oha, der ist immer noch gefährlich. Auf den müssen wir besonders achten. Wenn der erst er fährt, dass wir seine Frau da in ..." "Soll er es ruhig erfahren", sagt Jago Carpenter hart. "Dann wird er wissen, dass seine Frau aus baden muss, was er an Schwierigkeiten macht. Sagt es ihm, und er wird in Zukunft nicht mehr aufmucken." Sie reiten nun weiter, bis sie den Mineneingang erreichen. Es ist ein großes Loch, durch welches eine Postkutschefahren könnte. "Steig ab, geh hinein und mach dich bekannt dort drinnen", sagt Sid Carpenter hart zu Jeremy Las siter. "Euer Boss dort drinnen ist Derrek Papa jew, der einzige Mann von allen, der was von
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Minen versteht. Geh hin zu ihm und sag ihm, dass wir dich schicken, damit es schneller vor wärts geht. Um ein Zehntel mehr muss jetzt he rausgebracht werden. Ein Zehntel muss eure Leistung durch dich steigen. Sonst gibt es kein Essen. Hau ab, Lassiter!" Er sagt es zuletzt knirschend. Aber Paul Carpenter fügt hinzu: "Oder ich mache dir noch mal Beine, du Strohwitwentröster. Ich werde morgen Pete Hogjaw herausrufen und ihm sagen, dass ich seine Frau mit dir zusammen ..." "Halt dein Maul, Paul. Das wirst du nicht zu Pete Hogjaw sagen. Denn wir wollen, dass sie dort drinnen endlich wieder bis zur Goldader vorsto ßen, und nicht, dass sie sich den Schädel ein schlagen. Hau ab, Lassiter!" Dies stößt Jago hervor. Und Lassiter gehorcht. Er sitzt ab und geht hin ein in das dunkle Loch.
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Das Mond- und Sternenlicht reicht nicht weit. Doch nach einigen Schritten sieht er einen Licht schimmer. Er erreicht einen Eingang zu einer großen Kammer. Und aus diesem Raum heraus riecht er schon die Menschen. Jawohl, er kann den Geruch sofort wittern, denn dieser schlägt ihm wie eine Wolke entgegen. Mehr als zwei Dutzend Menschen schlafen dort in einem denkbar schlecht belüfteten, aus dem Berg herausgehauenen Raum. Menschen, die sich nicht richtig waschen und pflegen können, die in Schweiß und Staub harte Arbeit leisten müssen und am Ende ihrer Schicht gewiss völlig erledigt sind. Er kann sich das alles schon vorstellen. Und er gehört nun dazu. In ihm ist plötzlich das jäh und heiß aufschie ßende Gefühl von Panik. Er möchte auf den Ab sätzen herumwirbeln und wieder hinauslaufen.
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Etwas in ihm treibt ihn fast dazu, etwas Verzwei feltes, Wildes und deshalb Unsinniges zu tun. Und indes er noch verharrt und in sich den Sturm und das Durcheinander all der Gefühle und Ge danken zu ordnen versucht, hört er Geräusche. Der Berg arbeitet ständig. Dieses Knirschen, Seufzen, Pressen, Reißen, ja, es ist das Arbeiten des Berges. Über dem Stollen lasten Tausende von Tonnen. Die Felsschichten sind dünn und gewiss brüchig. Sie können die Kiesschichten darüber kaum tra gen. Überdies gibt es im Berg einige Quellen. Überall tropft Wasser aus dem Hangenden nie der, rinnt aus den Stößen, den Stollenwänden. Und fortwährend fallen Steine aus dem Hangen den, rieselt Kies nieder. Diese Mine befindet sich ständig in der Situation dicht vor dem Zusammenfall, dicht vor dem Ausbruch der Katastrophe.
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Und nun erst ahnt er richtig, warum die Carpen ters und deren Männer die Goldader nicht selbst ausbeuten, sondern sich Arbeitssklaven herbei schaffen, denen sie nur die Wahl ließen, entwe der unter lebensgefährlichen Bedingungen in der Höllenmine zu arbeiten und zu hoffen - oder zu verhungern in dem Loch. Ihm schaudert bei dem Gedanken, dass er bald schon tiefer in die Mine hinein muss, um dort zu arbeiten. Und das Knirschen und €chzen des Berges wird fortwährend um ihn sein. Die Furcht wird von nun an in seinem innersten Kern sitzen und ihn nicht wieder verlassen. Ja, wäre es dann nicht doch besser, einfach blindwütig hinauszustürmen und sich erschießen zu lassen? Vielleicht könnte er sogar an einen der Wächter herankommen, ihm die Waffe wegneh men und seinen allerletzten Kampf kämpfen? Doch dann atmet er langsam aus. Nun begreift er, was die gefangenen Arbeitsskla ven aufrecht erhält.
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Die Hoffnung!
Die Menschen hoffen bis zum letzten Atemzug.
Und deshalb geben sie sich nicht so schnell auf.
Er geht hinein in das stinkende Loch.
Eine Laterne brennt und verbreitet trüben Schein.
Der Raum ist nicht groß.
Es wird auch zugleich klar, warum sie hier alle
auf engstem Raum zusammengepfercht liegen, um für die nächste Schicht etwas Kraft zu sam meln. Dieser Raum hier ist gut ausgebaut mit Stem peln, Steinsäulen und Querträgern. Diese kleine Felsenkammer ist gut abgestützt. Man hat hierfür gewiss das meiste des zur Ver fügung stehenden Materials benutzt. Dieser Raum ist relativ sicher.
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Deshalb liegen sie hier bei schlechter Luft und in ihrem Gestank. Die meisten von ihnen tragen nur noch Lumpen, denn bei ihrer Arbeit verschleißt normale Klei dung schnell. Er hält nach einigen Schritten inne und sieht sich um. Es gibt kaum noch einen freien Platz, und er ist ja auch noch längst nicht müde, da er ja fast den ganzen Tag schlief. Er könnte gewiss jetzt auch nicht schlafen, wenn er schon am frühen Morgen und nicht erst am späten Nachmittag aufgestanden wäre. Es gibt auch einen schmalen Tisch und ein paar Bänke inmitten des Raumes. Er setzt sich auf eine der Bänke an den Tisch und betrachtet die im Maisstroh liegenden Schläfer. Es ist eine merkwürdige, aber sehr deprimieren de Situation.
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Einer der Schläfer richtet sich jetzt auf, wischt sich über das bärtige Gesicht und starrt ihn dann an. Im Laternenschein sieht Jeremy Lassiter in zwei gerötete Augen. An diesem Manne wirkt alles kantig, viereckig und auf gedrungene Art muskulös. "He, wer bist du denn?" So fragt der Mann hei ser, greift neben sich und hebt eine Flasche hoch. Es gluckert darin. Er öffnet die Flasche und trinkt. "Das ist gutes Wasser", sagt er. "Das Einzige, was in diesem Höllenloch gut ist, ist das Wasser. Wer bist du denn? Du bist unbewaffnet und hast gewaltige Beulen an der Schläfe. Bist du ein Neuer?" Lassiter nickt. Da trinkt der Mann wieder einen Schluck, ver schließt dann die Flasche sorgfältig und stellt sie hin.
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"Man muss die Flasche hier zumachen", sagt er. "Als ich es einmal vergaß, verlief sich eine Maus darin und ertrank. Ich erstickte fast beim Trin ken, als sie mir in die Kehle kam. Also, du bist ein Neuer? Ich bin Derrek Papajew, der Vor mann. Ich sorge dafür, dass wir unsere Stollen schaffen. Denn wenn wir es nicht schaffen, be kommen wir nichts zu essen. Dann verhungern wir hier in diesem Höllenloch. Wie hoch erhöht sich unser Soll durch dich? Hat Sid Carpenter dir das gesagt?" "Zehn Prozent", sagt Lassiter. Da beginnt Derrek Papajew schrecklich zu flu chen, und nun zeigt sich auch an seiner Ausspra che und seinen Flüchen, dass er aus Polen stammt. Erst nach einer Weile - nachdem einige andere Schläfer wach wurden und fluchend nach Ruhe verlangten - beruhigt er sich. "Wirst du arbeiten müssen wie Maultier, Mister", sagt er dann grollend. "Hält Sid Carpenter dich
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für erstklassigen Arbeiter. Müssen wir wegen dir sechzig Schleppschlitten voll mehr hinausschlei fen als bisher. Müssen wir auch beten, dass Dreck verfluchter nicht niederbrechen wird wie schon einmal. Haben wir schon unsere toten Vorgänger hier rausgeräumt und werden dann nach uns andere Leute uns rausräumen." Er flucht wieder schlimm. Nun richten sich auch andere Schläfer auf. Sie starren auf Lassiter. Eine Stimme sagt grollend: "Wegen dem müssen wir sechzig Schleppschlitten mehr von diesem Dreck rausschaffen? Heiliger Rauch, was muss das für ein Bulle sein, dass er dies schaffen kann. Oha, Junge, wehe dir, wenn du nicht ranhaust. Dann ... Ah, was quatsche ich hier herum? Diese Nacht ist kürzer als ein Kinderhemd und über dies auch noch sehr viel mehr besch ..." Er bricht nicht freiwillig ab, aber das Grollen des Berges lässt ihn verstummen und atemlos wer
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den. Auch von den Schläfern fahren welche in die Höhe. Angetrieben von ihrem Instinkt, der hier in der Mine schon so ausgeprägt ist, dass er sie bei Gefahr erwachen lässt, selbst aus dem tiefs ten Schlaf der Erschöpfung. Der Berg scheint zu wanken und auseinanderoder niederbrechen zu wollen wie die Sandburg eines Kindes. Der Boden schwankt. Jemand ruft heiser und bittend zugleich: "Du lie ber Vater im Himmel, lass den Stollen heil. Lass ihn nicht zusammenfallen, denn dann müssen wir noch einmal von vorne anfangen, bis wir zur Goldader gelangt sind. Aber wer von uns würde das überleben, wenn alles noch mal von vorne ..." Und wieder grollt der Berg. Auch Jeremy Lassiter zieht seinen Kopf ein.
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Obwohl der Raum hier gut abgestützt und gesi chert ist, rieselt auch hier da und dort etwas nie der. Man hört die Stempel knirschen. Draußen aber im Stollen poltern die losen Steine nieder, rieselt der Kies, plätschert das Wasser. Und dann krachen sogar auch einige große "Sargdeckel" nieder. Erst nach einer Weile beruhigt sich der Berg, wird es stiller in der Mine. Jeremy Lassiter lauscht auf das Gefühl der Furcht in seinem Innern. Ja, er fürchtet sich. Zugleich aber auch spürt er seinen Hass. Wenn er hier noch einmal davonkommen sollte, dann wird er die Carpenter-Brüder töten. Was hier geschieht, ist ein Verbrechen größten Aus maßes. Man könnte meinen, dass die CarpenterBrüder alles ins finsterste Mittelalter zurückver setzt haben und sich ganz und gar als selbstherr liche Despoten fühlen, die niemand zur Rechen
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schaft ziehen kann. "Leg dich lang", sagt Derrek Papajew zu ihm. "Und bleib die nächsten Tage in meiner Nähe. Denn du musst verdammt schnell lernen. Und arbeiten musst du, das die Schwarte nur so kracht." Lassiter streckt sich neben ihm auf dem Mais stroh aus. Es ist wieder ruhig im Raum. Die Schläfer atmen laut. Manche schnarchen, und einige reden manchmal im Schlaf. Sie alle hier sind eine Gemeinschaft der Verlore nen. Sie sind verloren in der Hölle. +++ Irgendwann gegen Ende der Nacht - es ist ein Rätsel, wie er es merkt - tönt Derrek Papajews heisere Stimme. "Aufstehen! Müsst ihr aufstehen! Müsst ihr ma
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lochen, wenn ihr wollt zu essen kriegen heute Abend. Hoch, hoch, ihr armen Scheißer!" Lassiter folgt ihm hinaus in den Stollen. Aus der Felswand des Stoßes kommt ein Wasserstrahl, der fast so dick ist wie ein Kinderarm und bald schon wieder in einer Spalte verrinnt. Sie stecken ihre Köpfe unter diesen Wasser strahl, und das ist ihre ganze Morgenwäsche. Dann gehen sie hinaus. Jawohl, hier draußen ist schon der graue Morgen. Sie werden erwartet. Man hat ein paar Planken über Holzblöcke gelegt und so einen großen Tisch hergestellt. Zwei Frauen füllen Teller und Tassen, schneiden Brot und Speck. In einer großen Pfanne sind ge bratene Eier, zwei andere Pfannen sind gefüllt mit Steaks. Das Essen ist wahrhaftig reichlich und gut.
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Aber es wäre ja auch dumm von den Carpenters, ihre Arbeitssklaven hungern zu lassen, so dass sie von Kräften kommen. Lassiter sieht die beiden Frauen an. Sie erwidern seinen Blick stumpf und freudlos. Er weiß deshalb, dass auch sie Gefangene sind. Wahrscheinlich saßen sie gerade in der geraubten Postkutsche. Er stellt sich neben Derrek Papajew, trinkt den schwarzen Kaffee und beginnt stehend von sei nem Teller zu essen. Der Tisch ist höher als normal. Man kann recht gut stehend von ihm es sen wie von einer Bar. Als sich eine der Frauen ihm nähert, um ihm die Kaffeetasse nachzufüllen, fragt er: "Was ist mit Lily? Ich bin Lassiter. Sagen Sie ihr, dass ich in der Mine bei den anderen Gefangenen bin. Was ist mit Lily? Haben sie ihr Schlimmes angetan?" In dem stumpfen Blick der Frau ist nun endlich ein Funkeln zu erkennen. "Diese Schufte", sagt
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sie. "Die haben die Kleine schlimm ..." Sie bricht ab, sieht an Lassiter vorbei. Der wendet den Kopf zur Seite. Er sieht einen blonden Mann herbeitreten. Er ist noch jung, gut gewachsen, mit blauen Augen und einem verwegenen Ge sicht. "Pete Hogjaw", sagt die Frau. "Sie haben Lily zu uns getan. Ja, sie haben nun auch Lily in ihrer Gewalt. Irgendwie fanden sie heraus, dass sie nach Canyon Station kam, um nachzuforschen. Sie wird in zwei oder drei Tagen so weit sein, dass sie mitarbeiten kann. Dann siehst du sie. Diese Schweine haben sie schlimm behandelt. Ich erinnere mich noch daran, Pete, wie du mir in der Postkutsche unterwegs von deiner jungen Frau erzählt hast. Euer Hochzeitsbild zeigtest du mir. Nun ist sie ebenfalls hier." Pete Hogjaw steht starr da. Er wirkt wie betäubt. Jäh brüllt er auf und will losstürmen. Doch Las siter stellt ihm ein Bein. Dann werfen sich auf Derrek Papajews Befehl auch schon andere Männer auf den Tobenden und halten ihn fest.
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Lassiter tritt an Pete Hogjaw heran. Er sagt: "Auf diese Art kannst du Lily nicht helfen - gar nicht. Ich werde dir noch erzählen, wie es kam, dass sie als Spionin erkannt wurde und nun hier eine Ge fangene ist." "Wer bist du überhaupt?" Dies fragt Pete Hogjaw schon deutlich ruhiger. Sie lassen ihn auch los. Und er senkt seine breiten Schultern. Man sieht ihm an, dass ihn nun nach seinem Anfall hilflo ser Wut eine bittere Resignation überkommt. Eine Männergruppe umgibt nun beide. Viele der Männer haben in der Nacht gar nicht richtig mitbekommen, dass ein Neuer bei ihnen ist. Sie wollen jetzt die Antwort auf Pete Hog jaws Fragen hören. Lassiter sagt: "Ich wurde ausgeschickt, um nach der verschwundenen Postkutsche und dem ver schollenen Wagenzug zu suchen. Wenn ich nicht bald nach Concho komme, wird man von dort aus gewiss die Armee alarmieren. Wir müssen
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vielleicht hier nur noch wenige Tage durchhal ten." Sie schweigen zu seinen Worten. Dann sagt eine müde Stimme: "Du Narr, wenn Gefahr droht, dass man uns finden könnte, dann brauchen die Carpenters nur den Stollen zu unse rem Grab werden zu lassen. Nein, auf diese Art kommen wir nicht frei. Wir müssen geradezu darum beten, dass niemand uns zu befreien ver sucht. Denn bis man bei uns wäre, würden wir erledigt sein, begraben unter tausend Tonnen Dreck. Verstehst du, Mann?" Lassiter schluckt mühsam und nickt. Er wendet sich ab und tritt wieder an den Tisch, um das Frühstück zu beenden. Auch die anderen Männer folgen seinem Beispiel. Denn die Arbeit ist hart. Sie würden zu viel von ihrer Substanz verbrauchen, äßen sie nicht genü gend.
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Pete Hogjaw steht nun neben Lassiter. Er sagt zu Derrek Papajew: "Derrek, ich will mit diesem Neuen arbeiten. Er soll mir dann und wann, wenn wir verschnaufen müssen, etwas von Lily erzählen." "Sicher, ihr arbeitet zusammen", sagt Derrek Pa pajew knurrig. Sie sind nun fast fertig mit dem Frühstück. Einen Moment verharren sie und blicken zu ihren Wächtern hin. Es sind nur vier Mann, doch sie halten starke Flinten, die man mit den neumodi schen Papp-Schrotpatronen laden kann. Mit solch einer Ladung kann man gar nicht vorbei schießen. Gefangene und Wächter betrachten sich einige Atemzüge lang wortlos. Wahrscheinlich ist dies schon eine Art morgend liches Ritual geworden. Bevor die Gefangenen in den Stollen gehen, starren sie zu den Wächtern hin.
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Und diese starren zurück. Auch Lassiter starrt auf die Handlanger der Car penters, und auch er spürt, wie aus ihm Hass strömt, böse Wut. Wenn er könnte, würde er die se Burschen töten. Von allen Gefangenen gehen sicherlich die glei chen Gefühle wie Ströme aus. Die Wächter spü ren das deutlich. Es ist wie ein heißer Atem, wie der körperliche Anprall einer Kraft. Und so wird auch schon einer von ihnen unge duldig. Er sagt hart, wobei er mit dem Gewehr eine unmissverständliche Bewegung macht: "Los, haut ab! Geht an eure Arbeit! Verschwin det im Loch! Sonst machen wir euch Beine! Geht schon!" "Du kannst uns mal kreuz und quer, du Dreck sack", sagt einer der Gefangenen hassvoll. Aber sie wenden sich alle schon, um an die Ar beit zu gehen. Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Wenn sie heute am späten Abend wieder
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etwas zu essen bekommen wollen, müssen sie vorerst ihr Soll - "Gedinge" sagt der Bergmann erfüllen. Sie alle kehren in die Hölle der Mine zurück, in den Bauch des Berges, der sie fortwährend warnt. Pete Hogjaw deutet auf einen Schleppschlitten, in dessen Kasten Schaufeln und Pickhacken lie gen. Am Schlitten sind Seile befestigt, deren Schlingen man sich um die Oberkörper legen kann. Der Stollen ist nun besser beleuchtet. In einigen Abständen brennen Kreosotlampen. Sie folgen, den Schlitten hinter sich herschleifend, anderen Männern, die das Gleiche tun. Und bald schon kommen ihnen die ersten gefüll ten Schleppschlitten entgegen. "Wir haben es zuerst mit Maultieren versucht", sagt Pete Hogjaw. "Doch Tiere werden hier ver rückt. Sie haben ganz einfach Angst. Ihr Instinkt
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versetzt sie sofort in Panik, kaum dass sie fünfzig Schritte weit hereingeführt werden. Die spielen so verrückt, dass sie sich in wilde Teufel ver wandeln. Es geht auch umso viele Ecken, dass wir es nicht mit langen Seilen von draußen durch Zug machen können. Wir müssen selbst ziehen wie die Mulis, denn wir dürfen nicht verrückt spielen wie diese. Wir dürfen das nicht, weil wir sonst verrecken. Und wer zu aufsässig wird, den holen sie heraus und peitschen ihn mit Bullpeit schen aus. Das Soll muss erfüllt werden. Sechs hundertsechzig solcher Schleppschlitten voll müssen jetzt schon herausgebracht werden. Sie kontrollieren genau, ob die Schlitten voll genug sind. Wenn ihnen einer zu wenig beladen er scheint, zählt er nicht. Hast du verstanden, Bru der?" "Genau", sagt Lassiter gepresst. Dann zieht er den Kopf ein, weil über ihm einige Steine losbrechen. Einer fällt ihm auf den Rü cken. Es schmerzt, und dann bekommt er eine Menge Kiesgeröll in den Nacken, als hätte ihm jemand eine Schaufel voll von oben draufgewor
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fen. Der Berg ächzt und knirscht wieder. Je tiefer sie in den Stollen kommen, umso feuch ter wird es. Überall rinnt Wasser aus Ritzen und Spalten. Der Boden ist fast so feucht wie ein fla ches Bachbett, ist glitschig. Die Schleppschlitten lassen sich zwar hier fast so leicht schleifen wie über Seife oder Schnee, doch finden dafür die Männer wenig festen Stand für ihre Füße zum Ziehen. Es geht nun um eine Ecke. Der Querschlag, in den sie eingebogen sind, ist bedeutend schmaler. Zwei Schleppschlitten im Gegenverkehr kom men gerade aneinander vorbei. Die Luft ist schlecht. Immer noch brennen in größeren Abständen die Öllampen. Sie flackern kaum, denn es gibt ja hier keinen Luftzug mehr. Zwischen den kleinen Lichtpunkten ist Dunkelheit. Man muss sich durchtasten, und wenn man hinauf zum Hangen
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den sehen will, so kann man dort kaum etwas erkennen. Endlich erreichen sie den Füllort der Schleppschlitten. Hier brennen vier Lampen, erhellen den Ort mit gespenstischem Licht und verbrau chen die kostbare Luft. Männer arbeiten keu chend. Ihre Schatten bewegen sich an den Fels wänden. Da die Beleuchtung hier stärker ist, kann Jeremy Lassiter nun über sich das Hangende sehen, aus dem fortwährend Steine und Kies fallen; Wasser tropft. Es ist hoch und unregelmäßig über ihm. Hier al so schon war der Stollen zusammengebrochen. Und als man ihn wieder ausräumte, hatte er an vielen Stellen doppelte Höhe. Sie räumen immer noch aus. Pete Hogjaw lehnt am nassen Stoß, ruht sich of fenbar aus. Sie müssen einen Moment warten, bis ihre Vorleute den Schlitten gefüllt haben.
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Pete Hogjaw sagt: "Wenn wir Glück haben, bricht das nicht alles wieder zu, bevor wir bei der Goldader sind und diese herausgeschlagen ha ben. Wir müssen bald bei der Goldader sein morgen vielleicht schon." Er macht einen tiefen Atemzug, der ihm jedoch gewiss nicht viel Sauerstoff in die Lungen bringt, und fragt dann: "Was ist mit Lily? Sag es mir schnell, damit ich etwas habe für die nächsten Stunden. Sag mir was über Lily." Und Jeremy Lassiter sagt ihm fast alles mit knappen Sätzen, sozusagen im Telegrammstil. Dann ist der Füllort frei für sie. Schnell bringen sie ihren Schleppschlitten in die günstigste Stel lung und fangen an. Sie laden Steine ein, manchmal große Brocken. Und dann schaufeln sie Kies und Sand in den Schlittenkasten. Sie arbeiten schnell, keuchend. Und immer schielen sie mit einem Auge nach oben. Als die
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nächsten Männer mit einem Schlitten angekeucht kommen, sind sie fertig und machen sich auf den Weg. Schon nach wenigen Yards ist Lassiter klar, dass alles, was bisher war, einem Kinderspiel gleicht gegen das, was sie jetzt leisten müssen. Der Schleppschlitten ist so schwer beladen, dass er auch auf Rädern nur schwer zu bewegen wäre. Sie aber müssen ihn schleifen, und auf dem nas sen und schlammigen Grunde finden sie nur we nig Halt. Sie rutschen immer wieder aus, fallen in den Dreck. Als sie den ersten Schlitten ins Freie bringen, sind sie dankbar für die frische Luft. Sie saugen ihre Lungen voll, so voll, dass ihnen schwindelig wird. Die Geröllhalde befindet sich gleich neben dem Eingang. Ein Wächter begutachtet, ob der Schlit ten voll genug ist. Dann dürfen sie ihn umkippen. Der Mann macht einen Strich in ein Buch. Er wird noch viele Striche machen. Sie aber kehren
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mit dem leeren Schlitten in die Hölle zurück, aus der sie kamen.
Jeremy Lassiter ist gewiss ein harter Mann, und er hat auch selbst nie daran zweifeln müssen. Aber als er am Abend nach dem Essen auf dem Maisstrohlager in der Felsenkammer liegt, mitten unter den anderen Gefangenen, da fühlt er sich ausgehöhlt und ausgebrannt, mürbe und bis ins Mark erschöpft. Seine Muskeln sind verkrampft. Lassiter dreht sich jetzt auf die andere Seite. Derrek Papajew liegt dort und sieht ihn im La ternenlicht an. "Du bist ein harter Mann", sagt Papajew. "Du hast durchgehalten, als hättest du nie etwas ande res getan, als in solchen Höllen zu arbeiten. Wir hatten heute zwei Ausfälle. Jim Quade wurde der Fuß von einem herunterfallenden Brocken zer quetscht. Sam Banner brach einfach zusammen und rührte sich nicht mehr. Das ist jetzt der sie
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bente Tote, seit wir hier in dieser Hölle leben." "Wer waren die anderen Toten?" "Aaah, ein Handelsreisender starb gleich am ers ten Tag." Jeremy Lassiter denkt: Wenn ich hier jemals he rauskomme, werde ich die Carpenters töten. Ich muss sie töten. Ja, ich muss es tun, wenn es auf dieser Erde Gerechtigkeit geben sollte. Ich muss es tun, weil ein Mensch es für alle anderen tun muss. Und keiner soll mir kommen, mir vorwer fen, dass ich mir anmaße, Richter und Henker zu sein - keiner soll es mir vorwerfen. Er rollt sich wieder auf den Rücken. Doch dann fällt ihm noch etwas anderes ein. Er rollt sich abermals auf die Seite. "Der Tote?", fragt er. "Wo und wie wird er bestattet?" Derrek Papajew grinst schief.
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"In eine Decke gewickelt draußen unter der Hal de", sagt er dann. "Und die Wächter überzeugen sich ganz genau, ob er auch wirklich tot ist. Auf solche Tricks fallen die nicht rein. Die würden einen Austausch merken. Nein, Mister, musst du dir schon bessere Sachen einfallen lassen, willst du hier aus diesem Loch entkommen. Die ma chen keine Fehler." "Dann habt ihr alle also gar keine Hoffnung mehr?" Lassiter fragt es ungläubig. Papajew zuckt unschlüssig mit den Schultern. "Vielleicht - ja, vielleicht eine schwache Chance, wenn wir den Querschlag richtig ausgeräumt ha ben und bei der Goldader sein werden. Wenn dahinter nichts heruntergekommen ist, dann ..." Er verstummt. Lassiter aber rollt sich dichter an ihn heran. "Was ist dann?"
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"Die Wetterführung", sagt Papajew ernst. "Wir haben keine Wetterführung mehr in Mine, nicht wahr? Wurde zugesperrt durch Bruch. Wenn Bruch fortgeräumt ist und wir haben wieder Wet terführung - also Luftzug, Mister! -, dann gibt es irgendwo ein Loch. Nicht wahr? Vielleicht kann man finden Loch dieses, kann hinauskriechen durch Loch dieses. Ha?" Lassiter lässt sich zurück auf den Rücken sinken. Und nun weiß er das große Geheimnis der Ge fangenen, weiß auch endlich, warum sie noch nicht aufgeben und sich so sehr mühen. Sie hoffen - wenn erst der Luftzug wieder durch die Mine weht-, den Lufteinzugsschacht zu fin den. Vielleicht sind es mehrere Kamine. Doch die Hoffnung ist nur gering. Vielleicht kennen die Carpenters auch alle diese Stollen. Er schließt die Augen und schläft ein. Denn die Erschöpfung kommt wie ein Hammer.
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+++ Am nächsten Tag - es ist schon Nachmittag - ha ben sie den Anfang der Goldader erreicht. Sie melden noch nichts nach draußen, sondern räumen weiter aus. Denn sie sind immer noch der Meinung, dass dieser Querschlagstollen nie mals auf seiner ganzen Länge zusammengebro chen sein kann. Jeremy Lassiter sah noch niemals eine Goldader. Jetzt bekommt er mehr und mehr davon zu se hen. Wie ein erstarrtes Blitzbündel ist sie im Gestein zu erkennen. Irgendwann in jener Zeit, da es noch kein Leben gab auf dieser Erde, rann das flüssige Metall in Spalten und Risse, erkaltete dann. Und je mehr Spalten und Risse vorhanden waren, umso mehr verästelte sich solch eine Goldader.
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So ungefähr erklärt es sich Lassiter mit seinem Laienverstand. Sie alle sehen sich die Goldader an, und keiner ist unter ihnen, der nicht mal von Gold und Reichtum träumte. Aber dann holt die Wirklichkeit sie alle wieder in die Angst zurück, erinnert sie furchtbar wieder an das erbärmliche Dasein. Irgendwo im Hauptstollen brechen nur einige Tonnen Gestein nieder, erschlagen zwei Mann mit ihrer Wucht, zerschmettern und begraben sie unter sich mitsamt ihrem Schlitten. Und dann rauscht das Wasser mit schenkeldi ckem Strahl in den Stollen. Der Berg grollt, ächzt und knirscht noch lauter als bisher. Aus dem Stolleneingang fließt Wasser fast wie ein Creek. Als sie die beiden Toten geborgen haben, verhar ren sie vor dem Mineneingang. Die Sonne ist
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schon hinter den Felswänden verschwunden. Sie wird in etwa einer guten Stunde den Himmel zu röten beginnen. Es ist so schön, hier draußen bei Luft und Licht zu sein, die Wärme des klaren Tages zu spüren und all die Dinge zu wittern, die da sind auf die ser Welt. Um bunte Kakteenblüten, deren süßer Duft herü berkommt, schwirren Kolibris wie bunte Edel steine. Sie aber versammeln sich vor den schussbereiten Schrotflinten der Wächter und starren auf die beiden Toten. "Geht wieder hinein", sagt einer der Wächter. "Ihr seid noch nicht fertig. Und ihr bekommt kein Essen, wenn ..." "Aaah, geh du doch rein!" Einer der Gefangenen brüllt es. Und plötzlich verliert er die Kontrolle über sich.
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Er brüllt auf, hat Schaum vor dem Mund und stürmt vorwärts, geradewegs auf die Wächter zu. Unterwegs hebt er einen Knüppel auf, der von einem zerbrochenen Schlitten stammt und ein Stück der Kufe war. Mit dieser Waffe stürmt er einfach los. Der Wächter, auf den er zustürmt, lässt ihn bis auf drei Schritte herankommen. Dann drückt er ab. Die Wächter ducken sich, warten lauernd. "Macht nur einen Schritt, nur #einen# Schritt", ruft einer. "Dann erledigen wir euch, ihr Narren!" Sie verharren, blicken auf den Toten, der drüben liegt. Dann sehen sie auf die beiden von den Steinen Erschlagenen. Manche von ihnen atmen zitternd aus. Manche schluchzen.
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Drei Tote gibt es also heute - drei Tote. Wie viele wird es morgen geben? Aber sie wollen raus aus der Mine. Sie wollen überleben. Und so wenden sie schon und gehen zurück in die Hölle. Vielleicht können sie den Querstollen noch ein Stück weiter leerbekommen und erreichen bald das Niederbruchende. Und wenn sie dann einen Luftzug spüren ... Als sie sich am nächsten Morgen zum Frühstück vor der Mine versammeln und der heiße Kaffee ihnen dabei hilft, munter zu werden und die Morgenkühle zu ertragen, da kommen die drei Carpenters herangeritten. Vom Pferd aus sagt Sid Carpenter zu Derrek Pa pajew: "He, ihr müsst doch nun bald an der Goldader sein. Ihr werdet bald auf die Toten sto ßen, die dort erschlagen wurden. Und damit ihr
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nicht glaubt, ihr könntet uns hinhalten, werden wir jetzt selbst nachsehen gehen. Ihr bleibt alle hier draußen - alle!" Die drei Carpenters sitzen nun ab. Sie haben Re genhäute mitgebracht und ziehen diese Umhänge über. Dann verschwinden sie in der Mine. Aber sie bleiben nicht lange drinnen. Sie kom men bald schon wieder herausgestolpert. Unmöglich konnten sie in der kurzen Zeit schon dort bei der Goldader gewesen sein. Die Gefangenen beginnen zu lachen. Es wird ein wildes Hohngelächter. Ja, das ist ihre Rache. Sie lachen ihre Verachtung heraus. Sie zeigen den Carpenters, was sie von ihnen halten. Und einen Moment sieht es so aus, als würden die Carpenters den Hohn nicht ertragen, als wür
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den sie zu den Waffen greifen und schießen und auch ihren Männern den Befehl geben, die Schrotflinten abzudrücken. "Dann müsst ihr das Gold doch noch selbst raus holen!", brüllt eine schrille Stimme. Und dann wird es still. Der zerlumpte Haufen der Gefangenen, von dem ein feuchter Modergestank ausgeht, starrt auf seine Peiniger. Der böse, wilde Hass strömt von ihnen hinüber zu den drei Carpenter-Brüdern und deren Männern. "Wir haben es gar nicht nötig, dort drinnen he rumzukriechen", sagt Paul Carpenter plötzlich. "Wir haben euch dafür. Also haut ab! Und wenn ihr heute im Verlauf des Tages kein Gold he rausbringt, dann legen wir einen von euch um. Wir lassen uns nicht von euch betrügen. Uns könnt ihr nichts vormachen. Ihr müsst schon eine Weile bei der Goldadersein." "Dann geht doch nachsehen", ruft jemand. "Dann kommt doch mit! Es bricht immer wieder neues
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Gestein nieder. Wir kommen nur langsam vor wärts. Wenn ihr das nicht glaubt, dann seht es euch an!" Jeremy Lassiter tritt einen Schritt vor. Er deutet auf Sid Carpenter. "Wir beide können allein hineingehen. Dann zeig ich's dir, Carpenter. Dann wirst du es sehen. Also komm! Gehen wir!" Aber Sid Carpenter schüttelt den Kopf. "Auch du hast ein großes Maul", sagt er. "Nun gut, wenn ihr uns heute kein Gold zeigen könnt, legen wir dich zuerst um. So!" Er schnappt seinen Colt heraus und feuert einen Schuss ab. Die Kugel fährt zwischen Lassiters Füßen in den Erdboden. Einen Moment schwankt die Gruppe der Gefan genen wie ein einheitlicher Körper, so als wären sie alle ein zusammengehörendes System, wel
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ches sich in Bewegung setzen will, um im nächs ten Augenblick schon brüllend vorwärts zu stür men. Doch dann ruft Derrek Papajews Stimme: "Ge hen wir, Männer! Müssen wir gehen, ehe es gro ßes Unglück gibt. Gehen wir in Berg zurück! Berg ist besser zu uns als Hundesöhne!" +++ Im Verlauf des Vormittags noch stoßen sie auf die Toten, welche damals freiwillig im Auftrag der Carpenter-Brüder hier arbeiten und die Gold ader herausschlagen sollten. Es sind fünf Männer, die erschlagen wurden. Sie lassen sich von den Wächtern Zeltplanen geben, hüllen die Überreste dieser Unglücklichen damit ein und schaffen sie hinaus. So sehr sie hoffen, Waffen bei den Toten zu fin den, so groß ist ihre Enttäuschung, denn außer einigen Messern finden sie nichts.
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Doch vielleicht wären Schusswaffen ohnehin unbrauchbar gewesen, schon allein durch die lange Feuchtigkeit unter dem niedergebrochenen Gestein. Die Hälfte von ihnen bricht nun auf Derrek Papa jews Befehl die Goldader aus dem Stoß, während die andere Hälfte den Stollen weiter ausräumt. Als sie schließlich aus der Mine trotten und sich rings um den hohen Tisch versammeln, um ihr Abendessen einzunehmen, da ist es schon dun kel. Aber auch heute brennen Feuer, leuchten Laternen, beleuchten die Szene mit rotem und gelblichem Licht. Dieses Licht mildert das Aus sehen der Verlorenen. Die Carpenter-Brüder sind auch wieder da. Sid Carpenter sagt: "Jetzt habt ihr es leichter, nicht wahr? Jetzt braucht ihr nur noch das Gold loszubrechen, keine Steine, kein Geröll und Kies mehr. Jetzt kommt nur noch Golderz heraus, habt ihr verstanden? Und je mehr ihr euch beeilt, um so früher seid ihr frei und braucht nicht mehr in
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den Berg hinein. Denn wir werden nobel zu euch sein, sehr nobel!" "Ihr werdet uns wahrscheinlich umlegen, weil wir euch an den Galgen bringen können durch unsere Aussage. Ihr werdet uns nicht als Zeugen am Leben lassen. Carpenter, warum versuchst du uns zu belügen? Glaubst du denn, wir sind da im Loch närrisch geworden, dass wir dir auch nur ein Wort glauben?!" Jeremy Lassiter spricht diese Worte hart. "Dich könnte ich jetzt schon umlegen, Lassiter", sagt Sid Carpenter hart. "Du wirst jetzt gar nicht mehr so sehr benötigt. Die schwere Schleppar beit ist getan. Das Gold können auch die Zahmen unter euch rausholen. Also ..." Er spricht nicht weiter, denn es kommt nun je mand von den Hütten herübergelaufen. Zuerst sieht man nur die laufende Gestalt, dann erkennt man im Feuerschein, dass es eine Frau ist. Da aber die beiden anderen Frauen hier den
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Tisch gedeckt haben und alle Teller und Tassen füllen aus den mitgebrachten Pfannen, Kesseln und Töpfen, kann es sich nur um Lily Hogjaw handeln. Und sie ist es wirklich. Ihre Stimme klingt schrill, als sie immer wieder ruft: "Pete! O Pete, mein Guter! Ich bin hier! Ich bin hier, Pete!" Da läuft auch Pete los. Dabei brüllt er: "Lily - o Lily!" Obwohl er zwischen den Wächtern und auch den Carpenter-Brüdern hindurchlaufen muss, lassen diese ihn gewähren. Sie alle sehen nun im Laternen- und Feuerschein, wie das Paar sich umarmt, wie es sich küsst und sich festhält, so als wollte es sich nie wieder los lassen. Nach einer Weile aber ruft Paul Carpenter grol lend: "He, jetzt ist Schluss! Wie lange wollt ihr
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uns noch eure Liebe zeigen? Schluss der Vorstel lung! Zurück, Pete Hogjaw! Zurück zu den ande ren mit dir! Und auch dir werd ich gleich Beine machen, du gelbhaarige Hexe!" Sie löst sich von Pete, der ihr Mann ist. Sie sieht zu den Carpenter-Brüdern auf, die auf ihren Pferden sitzen und aus dieser stolzen Pose despo tenhaft alles übersehen und beobachten. Lily ruft laut und bittend: "Lasst mich mit in die Mine zu meinem Mann. Bitte, lasst mich bei ihm sein. Ich will auch ar beiten wie ein Mann. Ich will in der Mine harte Arbeit leisten, wenn ihr mich bei meinem Mann sein lasst. Bitte, Mister Carpenter!" Sie richtet ihre Bitte an Sid Carpenter, denn die ser ist der bestimmende Mann der drei Brüder. Doch Sid schüttelt den Kopf. "Wir haben keinen Grund, dich bevorzugt zu be handeln", sagt er. "Denn du wolltest uns reinle gen mit Lassiter. Wir haben dir wohl noch nicht
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genug gegeben, dass du schon wieder solche Wünsche hast? Glaubst du denn, es wäre so schön dort drinnen in dem Loch bei deinem Pe te? Scher dich zurück! Los, du sollst zurück ..." Paul Carpenter reitet vor, beugt sich aus dem Sattel und greift mit der Hand in ihr Haar. Er reißt sie dann von Pete weg. Dieser brüllt auf, greift in den Stiefelschaft und bringt eines der Messer hervor, welches man bei den verschütteten Toten fand. Doch da schießt Jago Carpenter blitzschnell! Er trifft Pete Hogjaw voll. Als dieser fällt, schreit Lily gellend. Doch Paul Carpenter hat sie nun zu sich auf das Pferd gezo gen. Er reitet mit ihr fort. Die Gefangenen stehen starr. Nein, diesmal rühren sie sich nicht. Sie sind ge bannt von dem Ungeheuerlichen, dem Furchtba ren. Sie wissen auch, dass die Wächter nun
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gleich mit den Schrotflinten schießen würden, sollten sie sich bewegen und diese Bewegung wie der Anfang eines Angriffes aussehen. Es sind böse Sekunden. Sid Carpenters Stimme klingt trocken zu ihnen herüber. "Ihr habt nun mal die mieseren Karten. Findet euch damit ab! Schickt euch darein. Ihr könnt nur das Beste aus der Situation machen, wenn ihr gehorcht und uns nützlich seid. Also worauf wartet ihr noch? Stopft euch voll, und geht zurück ins Loch! Habt ihr verstanden?!" Sie gehorchen. Ja, sie wenden sich ab, versammeln sich wieder um den hohen Tisch, um den sie stehend essen können. Und dann stopfen sie wirklich alles in sich hinein und würgen es wütend herunter. Jeder von ihnen denkt nur an das Überleben und einige von ihnen zugleich auch an Rache.
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Lassiter gehört dazu. Auch er sieht Pete Hogjaw dort am Boden lie gen, beleuchtet von Feuerschein und einer Later ne. Vielleicht - wenn Lily nicht gerannt gekommen wäre - hätte Sid Carpenter ihn erschossen. Aber so ist alles anders gekommen. Und als ob die Carpenters nun genug hätten vom wilden Ausbruch der Gewalt, wenden auch Sid und Jago Carpenter ihre Pferde und folgen ihrem Bruder Paul. Drüben bei den Steinhäusern hört man Lily schreien. Es gibt keine Chance für sie, ihre Bewacher zu überrumpeln. Und sie bekommen auch keine Hil fe. Die nächsten Tage vergehen ohne besondere Zwischenfälle.
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Sie brechen das Adergold heraus und arbeiten sich immer noch durch den Niederbruch vor, räumen den Stollen aus. Da sie ja noch nicht das Ende der Goldader erreicht haben, haben die Carpenters nichts dagegen, dass immer noch Steine und Geröll herausgeschafft werden. Sie lagern aber auch viel im Hauptstollen ab. Von den beiden Frauen, die ihnen immer wieder das Essen bringen und sie beim Stehtisch bedie nen, erfahren sie, dass Lily Hogjaw wahrschein lich den Verstand verloren hat. Denn sie würde wirres Zeug reden und Paul Carpenter mit Pete anreden. Sie würde manchmal lachen und singen wie ein Kind und behaupten, alle Engel des Himmels wären bei ihr. Das also hören sie in Bruchstücken von den Frauen. Aber ihr Hass auf die Carpenters kann dadurch nicht größer werden, als er schon ist. Vielleicht aber auch nehmen sie an Lily und Pete
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Hogjaws Schicksal auch nicht so großen Anteil mehr, weil sie selbst jeder für sich zu sehr darauf ausgerichtet sind, überleben zu können. Sie sind zwar dort in der Mine eine Gemeinschaft, eine Partnerschaft - doch jeder wird letztlich sein ei genes Überleben an erste Stelle stellen. Die Goldader ist gewaltig. Das fast pure Gold lässt sich mühelos herausbrechen. Und selbst dort, wo das Gold fein verästelt ist, lässt sich das Erz mühelos davon trennen. Man braucht nur einen großen Brocken in die Hand zu nehmen und mit einem Hammer dagegen zu schlagen. Dann bricht alles auseinander. Einige der Wächter, die beiden Frauen und auch Lily sitzen jeden Tag im Schatten der Felswand und sortieren das Gold, schlagen Erzstücke aus einander und holen pure Goldbrocken heraus. Lily wirkt stets geistesabwesend. Es ist eine gewaltige Goldader. Jeden Tag wer den dreißig, vierzig oder gar fünfzig Kilo fast reines Gold gewonnen aus all den Brocken, die man aus der Mine bringt!
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Und auch die Carpenters sind fast immer da. Sie helfen mit beim Goldgewinnen, arbeiten mit Hämmern wie die Frauen und Wächter. Das Goldfieber hat sogar die Verlorenen der Mi ne erfasst. +++ Irgendwann nach einigen Tagen, die sie gar nicht mehr zählen, verliert der Berg über ihnen die Geduld. Irgendwann schließlich macht er wahr, was er immerzu durch sein Knirschen und €chzen ankündigte. Es bricht abermals alles zusammen. In diesen Sekunden erschlägt es ein halbes Dut zend Männer im Stollen. Ein paar der Gefangenen können aus der Mine entkommen, denn sie sind mit Golderz unter wegs nach draußen.
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Aber einige Männer werden eingeschlossen am Füllort, der sich nun schon fast am Ende der Goldader befindet. Als der Staub sich verzieht und das Grollen des Berges etwas nachlässt, zündet jemand die erlo schene Öllampe wieder an. Das Flämmchen beleuchtet die glänzende Gold ader, den Felsen, der vor Nässe glänzt, und dann die Gesichter der Überlebenden. Papajew ist da. Er hat die Lampe wiederange zündet. Dann ist Paco Ballone, der einstige Fahrer der Postkutsche, dabei. Und weil er und sein einsti ger Begleitmann Raul Loke ein Team bildeten, ist auch dieser Raul Loke hier dabei. Halb unter niedergegangenem Geröll finden sie noch zwei Männer. Einer ist der einstige Wagen boss Herb Starbuck. - Der andere ist Jeremy Las siter.
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Fünf Männer sind eingeschlossen, können nicht mehr heraus. Sie hocken beim Schein des Flämmchens beiein ander. Die anderen Öllampen zünden sie nicht an, denn sie würden ihren Sauerstoff noch mehr verbrauchen. Die Luft ist stickig. Zum Glück gab es nicht viel Staub, weil die Feuchtigkeit zu sehr im Berg ist. Eine Weile schweigen sie. Dann sagt Papajew ruhig: "War ich schon zwei mal verschüttet in meiner Heimat. Dort holten wir Kohlen heraus. Kam ich zweimal schon frei, wird es vielleicht beim dritten Mal auch gehen, nicht wahr?" Er macht eine Pause. Seine Worte sollten den anderen Mut machen. Doch sie waren gewiss nur ein schwacher Trost. Die Männer schweigen noch eine Weile, lau schen. Und der Berg lässt sie immerzu begreifen, dass dies noch nicht alles ist. Es wird gewiss bald
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noch mehr niederbrechen, überall, wo Stollen und Querschläger die alte Mine aushöhlten. Lassiter sagt langsam: "Da kam eine Menge her unter. Auf einer langen Strecke brach alles ein. Ich glaube nicht, dass man uns rausholen wird. Denn das dauert den Carpenters zu lange. Sie müssen befürchten, dass jemand hinter ihren Menschenraub kommt. Sie werden sich mit der bisherigen Ausbeute begnügen. Von der Gold ader ist ohnehin nicht mehr viel da. Die haben wir abgebaut und hinausgeschafft. Nein, sie ho len uns nicht raus." "Wir würden auch ersticken und verhungern, bis sie bei uns wären", sagt Paco Ballone, der Fah rer. Dann blicken sie auf Papajew, denn dieser ist ein erfahrener Bergmann. Er ist der Mann, auf den sie hier in diesem Loch hören müssen. Und Papajew erhebt sich plötzlich, nimmt die Lampe und geht dorthin, wo der alte Niederbruch von ihnen noch nicht weiter ausgeräumt worden
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ist. Er stellt die Lampe auf einen Stein, der mitten aus dem Geröll ragt. Und dann hockt er sich in einiger Entfernung nieder und wartet. "Nicht bewegen", sagt er einmal, als Lassiter sich erheben will. Zwei- oder dreimal jedoch bewegt er sich dann und stellt die Lampe stets an einen anderen Platz. Und schließlich sehen sie es auch. Oben muss ein Luftzug sein. Jawohl, das Flämmchen wird in Richtung zum Geröll gezo gen. "Vielleicht wir müssen zwei Wochen räumen", sagt Papajew. "Vielleicht auch nur zwei Tage. Wollen wir?" Sie bewegen sich nun.
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Das flackernde Flämmchen hat ihnen Mut ge macht. Irgendwie war etwas verändert worden im Berg. Vielleicht können sie doch noch bis zum Ende des Niederbruchs arbeiten und den neuen Bruch hinter sich lassen. Vielleicht finden sie ein ande res Loch und brauchen nicht umzukommen hier in dieser Hölle. Nach Stunden haben sie es geschafft. Sie be kommen frische Luft. Nun zünden sie noch eine zweite Lampe an und arbeiten weiter. Zwischen durch ruhen sie aus, aber das Arbeiten des Ge birges über ihren Köpfen jagt sie immer wieder hoch. Denn es ist mit Sicherheit nur eine Frage der Zeit, bis auch hier alles zu Bruch geht und die ganze Mine mit allen Stollen und Querschlä gen zusammenfällt. Sie können die Stunden nicht zählen, die sie da mit verbringen, Steine und Geröll fortzuräumen. Aber ihrer Erschöpfung und ihrem Hunger nach
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müssen fast schon zwei Tage und Nächte ver gangen sein. Ein Glück nur, dass sie überall Wasser haben. Denn es rinnt aus vielen Ritzen und Spalten und verschwindet irgendwo. Papajew ist es, der einen großen Stein ganz oben unter dem Hangenden herauslöst und nach unten reicht. Nun ist die frische Luft noch besser spürbar. Das Flämmchen der Öllampe flackert jetzt stärker. Papajew stößt ein zufriedenes Seufzen aus und reißt den zweiten Stein heraus. "Das ist es", schnauft er dann. "Der heiligen Jungfrau sei Dank. Ersticken werden wir nicht. Nein! Werden wir nicht ersticken in diesem Loch." Er verschwindet nun durch das Loch. Die ande ren folgen ihm.
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Und der Berg über ihnen grollt und knirscht wie der. Irgendwo hinter ihnen geht ein neuer Bruch nieder. Sie befinden sich nun in der Fortsetzung des Querstollens. Die Luft ist gut, sogar sehr gut. Es muss irgendwo einen Luftschacht geben. Er muss sogar sehr nahe sein. Aber wird dieser Schacht oder Kamin groß ge nug sein, um Menschen durchklettern zu lassen? Das ist die Frage, die sich alle immer wieder stel len, indem sie sich vorarbeiten, immer weiter und weiter. Der Stollen wird immer enger, niedriger. Und immer häufiger müssen sie niedergegangene Brocken wegräumen. Sie bewegen sich auf Hän den und Knien vorwärts, stoßen sich oft die Köp fe und Rücken. Aber die Luft ist immer noch gut, ja, sogar deut lich besser. Es muss einen Luftkamin geben. Und irgendwo
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müssen große Spalten sein, so dass eine viel leicht ganz von selbst entstandene Wetterführung auch nach dem Niederbruch noch möglich war. Eine Weile liegen sie alle keuchend der Länge nach da. Die beiden Grubenlampen verbreiten nur mäßiges Licht, aber diese Helligkeit reicht aus, um erkennen zu lassen, in welcher Enge sie auf den Bäuchen kriechen. Doch der Berg über ihnen knirscht und grollt hier nicht so schlimm wie weiter zurück. Es scheint hier festere Schichten zu geben, die nicht so morsch sind und die gewaltigen Druckmassen besser aufhalten können. Paco Ballone, der einstige Fahrer der Postkut sche, sagt heiser und kaum verständlich: "Ami gos, ich kann bald nicht mehr. Ich bin am Ende. Wenn es jetzt nicht bald herausgeht aus dieser Hölle, dann verrecke ich. Wartet noch etwas. Lasst mich noch etwas verschnaufen. Es tut so gut, einfach auf der Schnauze zu liegen und zu atmen."
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Auch den anderen Männern geht es nicht viel anders. Sie möchten ebenso liegen und ausruhen wie Paco Ballone. Doch dann hören sie weit hinter sich zurück, wie das Gebirge abermals niederwuchtet. Vielleicht ist jetzt der Hauptstollen endlich zusammenge fallen. Der ganze Berg erzittert wie bei einem Erdbeben. Die Angst treibt die fünf Männer weiter. Sie kriechen vorwärts. Und ihre einzige Sorge ist nur noch: Wird das Ausgangsloch groß genug sein? Derrek Papajew kriecht ihnen immer weiter vor aus. Sein Abstand wird immer größer zu ihnen. Lassiter ist der zweite Mann, und er sieht das Licht vor sich plötzlich verschwinden. Aber dann sieht er es über sich. Papajew ist in einem engen Schacht hochgeklet tert. Steine fallen, Kies rieselt, Wasser tropft.
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Von oben dringt Papajews keuchende Stimme: "Hier geht es heraus! Heraus geht es, Männer. Ist es glatt und glitschig jedoch! Müsst ihr aufpassen mächtig! Alles glatt und glitschig - aaah!" Papajew kommt nun niedergerutscht, so als wäre dieser Luftkamin mit Schmierseife ausgestri chen. Er fängt sich erst wieder dicht über Lassi ters Kopf, flucht nochmals und klettert wieder nach oben. Die Öllampe jedoch fiel dicht neben Lassiter zu Boden. Sie erlosch. Er nimmt sie und reicht sie zurück zu den Ge fährten, damit man sie an der zweiten Lampe an zünden möge. Nun kann er über sich das helle Loch erkennen. Dort muss der Himmel über dem Luftkamin sein. Manchmal wird dieses helle Loch zugedeckt von Papajew, der keuchend nach oben klettert.
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Lassiter folgt ihm nun, und er nimmt es in Kauf, dass der Mann über ihm nochmals abrutscht und auf ihn niederwuchtet. Er will raus, nichts als raus. Nun merkt er erst, wie kraftlos und ausgebrannt er ist. Normalerweise wäre er in diesem engen Schacht leicht hinaufgekommen, denn es hängt davon ab, wie fest man sich gegen die Wände stemmen kann. Doch ein ausgebrannter Mann, der auch auf ebe nem Boden nur mühsam gehen könnte und wahr scheinlich stolpern und taumeln würde, hat es schwer in diesem Kamin. Als er fast schon oben ist, wollen ihm die Kräfte versagen, und er droht abzurutschen. Aber dann packt ihn Papajew am Kragen. Denn Papajew liegt schon draußen auf dem Bauch und beugt sich weit in das Loch herunter. Papajew verhindert sein Abrutschen in letzter Sekunde. Und Lassiter weiß genau, indes er bald neben
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Papajew auf dem Bauch liegt und vor Not nur so keucht, dass er es beim zweiten Mal nicht mehr geschafft hätte, in diesem engen und glitschigen Kamin hochzukommen. Er hat seine Kraft restlos verbraucht. Sie liegen eine Weile keuchend nebeneinander, haben keinen einzigen Blick für die Umgebung. Ihnen ist schwarz vor Augen und schwindelig. Sie erholen sich nur langsam. Dann fällt ihnen ein, dass sie noch nichts von den drei anderen Männern hörten und auch noch kei ner von diesen Leidensgefährten bisher im Schacht auch nur hoch genug kam, dass sie seine Geräusche hören konnten. Sie ahnen schon, dass nur sie allein es schafften, den Luftkamin zu bezwingen. Sie kommen zu der Erkenntnis, dass den drei anderen Männern die Kraft fehlt und sie hier vergebens auf sie warten. Lassiter kriecht ein Stück vorwärts, bis er sich wieder über der Öffnung des Luftkamins befin
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det. Er beugt sich weit mit dem Oberkörper nie der. Papajew legt sich hinter ihm quer über seine Beine. Und dann ruft Lassiter hinunter: "Hoiii, hört ihr mich?" Er vernimmt eine schwache Antwort. "Ja, wir hören dich gut", tönt es dann, und es muss die Stimme des einstigen Wagenbosses Herb Starbuck sein. "Wir schaffen es nicht", brüllt Herb Starbuck heiser und mit letzter Kraft. "Ihr müsst ein Seil besorgen, sonst kommen wir hier nie wieder heraus! Ihr müsst uns herauszie hen! Wir warten! Wir warten auf euch! Bringt uns Hilfe mit einem Seil! Holt uns heraus aus der Hölle, bevor wir verloren sind!" Die Stimme verstummt. Dafür hört Lassiter, wie jemand dort unten einen schlimmen Hustenanfall durchmacht. Aber es gibt nichts mehr zu sagen.
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Als er neben Papajew hockt, erklärt er diesem die Sache. Papajew nickt. "Dachte ich mir das schon", sagt er. "Müssen wir sie herausholen mit Seil. Na schön, holen wir sie eben heraus mit Seil. Du bist Akrobat wie ich, Lassiter. Besorgen wir also Seil. Irgendwo wir werden Seil finden." Er grinst dabei. Sein schmieriges und zerschun denes Gesicht verzerrt sich. +++ Sie kamen irgendwo auf einer Schluchtterrasse heraus, und es ist nicht die gleiche Schlucht, die vom Canyon zur Mine führt. Sie müssen einen Abstieg suchen, und als sie unten sind auf der Schluchtsohle, sind sie auch schon wieder so sehr erschöpft, dass sie ausruhen müssen. Es wird ihnen klar, dass sie den drei anderen Ge fährten wahrscheinlich erst nach vielen Stunden werden Hilfe bringen können - wenn überhaupt.
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Diese Erkenntnis treibt sie an. Der Tag geht dem Ende zu, und das ist ihnen nur recht. Sie gelangen durch die enge Schlucht zum gro ßen Canyon. Als sie sich nach links wenden und eine halbe Meile gegangen sind, bekommen sie die Lichter von Canyon Station in Sicht. Denn inzwischen ist es Abend geworfen, kam die Nacht in den Canyon. Sie halten an. "Das ist es also", murmelt Lassiter und erschrickt über den kalten Hass in seiner Stimme. "Man muss es klein machen, richtig klein ma chen für alle Zeiten", sagt Papajew fast feierlich. Dann hören sie den Reiter kommen. Er kommt aus der gleichen Richtung wie sie, al so aus dem Canyon. Da sie an der Schlucht, die zum Mineneingang führt, schon vorbei sind,
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kann es sein, dass der Reiter von der Mine kommt. "Den packen wir uns", murmelt Lassiter. "Ich reiße ihn vom Pferd. Achte darauf, dass uns das Tier nicht durchgeht. Er benutzt bestimmt den Reitweg von der Mine zum Ort. Hier ist der rich tige Platz." Sie ducken sich rechts und links des schmalen Pfades hinter dichtes Buschwerk. Aber dann beginnt schon wieder ihre Pechsträh ne. Das Pferd wittert sie, noch bevor der Reiter zwi schen ihnen ist. Sie stinken ja auch fürchterlich. Für das Tier ist es eine völlig neuartige Witte rung. Wahrscheinlich erschrickt es vor diesem Geruch. Vielleicht ist es ein Tier, welches auch bei Indianern, Wölfen und Pumas so reagiert, also auf jeden fremden Geruch. Es wiehert plötzlich scharf und schnaubt dann unwillig.
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Und der Reiter ist ein erfahrener Mann. Er hält an. Wahrscheinlich greift er nach dem Colt. Lassiter gleitet durch das Buschwerk vorwärts. Dann sieht er undeutlich die Silhouette von Rei ter und Pferd links neben sich. Er weiß, dass der Reiter schießen wird, sobald er auch nur einen gleitenden Schatten ahnen, ge schweige denn richtig erkennen kann. Der Reiter muss mit Apachen, einem Puma oder einem Da vongekommenen aus der Mine rechnen. Und so wird er nicht erst lange überlegen. Aber ein Mann wie Jeremy Lassiter hat immer noch einen Trick im €rmel. Er stößt nun einen Pumaschrei aus, jäh und scharf. Dieser Schrei eines Pumaweibchens ist eine erschreckende Sache. Dieses "Yyyyyyyyyyyaaaaaaaah" kann einem die Na ckenhaare sträuben.
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Ein Pferd aber macht in solch einem Schrecken vor allen Dingen eines: Es bockt, überschlägt sich fast, keilt aus wie verrückt. Denn es muss ja befürchten, dass die Raubkatze auf seinem Rü cken landet. Dies befürchtet es einfach aus dem Instinkt heraus. Und so macht es auch dieses Tier. Der Reiter aber fällt Lassiter fast bis vor die Fü ße. Doch das große Pech dabei ist, dass er den schussbereiten Colt abdrückt, wahrscheinlich reflexhaft vor Schrecken. Dann trifft ihn Lassiter mit der Stiefelspitze un ters Kinn, so dass der Mann nicht mehr schießen kann. Indes kämpft Papajew, der im Umgang mit Pfer den gewiss nicht so erfahren ist wie Lassiter, mit dem durchgehenden Pferd. Lassiter beeilt sich, ihm zu Hilfe zu kommen.
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Er wundert sich dabei, wie kraftlos und langsam er sich bewegt. Und so ist es eigentlich erstaun lich, dass er den Reiter, der ihm vor die Füße rollte, richtig und hart genug treffen konnte. Fast wie ein Wunder jedoch wäre es, wenn die beiden Männer das Pferd unter Kontrolle be kommen könnten. Sie schaffen es nicht, denn das Tier ist wie ver rückt. Es schleift sie durch einige Dornenbüsche, obwohl sie beide an seinem Kopf hängen wie Klammeraffen. Sie können sich - kraftlos, wie sie sind nicht mehr lange halten. Das Tier ist ge wiss stärker. Aber bevor er loslässt, kann Lassiter noch das Lasso vom Sattelhorn greifen. Es ist nur lose da rübergehängt und nicht mit dem Ende daran be festigt. Als sie beide über den Boden rollen und der Gaul wiehernd davonsaust, hat Lassiter wenigstens das Lasso.
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Lange können sie nicht liegen bleiben. In Lassiters Hirn sind schon bald Warnsignale, und er bekämpft die Erschöpfung, richtet sich auf und kriecht zu Papajew hin. "Hier ist das Lasso", krächzt er. "Kannst du sie allein damit herausholen? Wenn du ziehst und sie nicht völlig kraftlos sind, müsste das doch gehen." "Sicher", schnauft der Mann, der erst vor weni gen Jahren aus Polen einwanderte. "Sicher, ich bekomme sie heraus. Und du, Lassiter? Was du wirst tun ohne mich?" "Der Schuss wurde gehört. Sie kommen nachse hen. - Ich werde sie mit dem Revolver des Man nes aufhalten. Denn sonst erwischen sie dich, bevor du in der Seitenschlucht bist und hochklet tern kannst zum Loch des Luftkamins. Los, lauf, Papajew! Ich weiß nicht, wie viele kommen und ob ich sie aufhalten kann. Nimm und lauf!" Da fragt Papajew nichts mehr. Er nimmt das
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Lasso. "Du bist in Ordnung, Lassiter", keucht er. Dann läuft er auch schon, so gut er es bei seiner Schwäche tun kann. Lassiter aber hält sich ebenfalls nicht lange auf. Er sucht den Colt des Mannes, findet diesen schnell und holt sich auch den Waffengurt, findet in dessen Taschen alles, was er zum Nachladen des Revolvers benötigt. Er hat reichlich Zeit, die leergeschossene Kammer zu füllen, so dass er nun wieder sechs Kugeln zur Verfügung haben wird. Und jede Kugel kann wichtig werden. - An einer einzigen Kugel kann eine Menge scheitern. Er wandert nun den Pfad entlang weiter auf die Lichter von Canyon Station zu. Wer wird angeritten kommen, um nach der Ursa che des Schusses zu forschen? Werden es viele
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Reiter sein? Er fragt sich, wie er es mit einem einzigen Colt und sechs Kugeln darin wohl anstellen soll, mit den drei Carpenter-Brüdern und deren Männern fertig werden zu können. Denn eigentlich müsste er erst mal tüchtig essen, ein Bad nehmen und dann einmal um die Uhr schlafen. Dann erst wäre er halbwegs wieder ein kampffä higer Mann. Es waren in der Zwischenzeit zwei Tage und zwei Nächte vergangen, die er ohne Nahrung und bei verzweifelter Tätigkeit in der Mine zubrachte - und das auch noch im Anschluss an eine volle Schicht von fast vierzehn Stunden. Was alles ha ben die Carpenter-Brüder indessen in Gang ge bracht? Sind sie mit dem Gold überhaupt noch in Canyon Station?
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Er hält im Schatten eines großen Felsens an,
lehnt sich dagegen und wartet.
Er hat hier gute Deckung, ist dem Ort schon
recht nahe und kann weit genug in der Mond-
und Sternennacht sehen.
Nur der Felsen und ein paar Büsche geben Schat ten.
Jeremy Lassiter braucht nicht lange zu warten.
Dann kommen sie.
Es sind zwei Mann, zwei Reiter auf dem schma len Pfad, der in den Canyon führt vom Ort her, in
dem das Hauptquartier der Carpenter-Brüder ist.
Und noch ein Lebewesen ist dabei.
Es ist ein Hund.
Er läuft vor den Reitern her.
Jeremy Lassiter tritt hinaus aus dem Schatten,
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zeigt sich auf dem Pfad. Er will sich von dem Hund nicht irgendwo auf stöbern lassen. In der Mine hat er gewiss eine Menge von seiner ursprünglichen Witterung ver loren. Er riecht stickig, modrig, feucht, nach schmierigem Steinstaub, Kies und nassem Lehm. Seine Kleidung ist faulig geworden. Der Hund wird ihn vielleicht gar nicht an der Witterung erkennen. Es kann nur der gleiche Hund sein, den er schon einmal niederschlug und der ihn dann später in Lily Hogjaws Bett nicht als Feind betrachtete, weil er ihn als Herrn anerkannte. Der Hund springt knurrend auf ihn zu, etwa ei nen Steinwurf weit von den beiden Reitern. "He, Amigo!" Er ruft es scharf dem Hund entge gen, und als dieser ihn anspringt, schiebt er ihm den rechten Unterarm in den offenen Fang. Dabei ruft er nochmals: "He, alter Junge, kennst
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du mich nicht mehr?" Das Tier beißt nicht zu. Nein, im letzten Moment erkennt es den Mann und erinnert sich, dass er ihn schon als Herrn anerkannt hat. Die Witterung ist zwar anders, doch die Stimme unverkennbar. Und dann endlich ist in dieser neuen Witterung auch ein Rest von der alten erkennbar. Die Gerü che der Mine können nicht ganz den Männer schweiß überdecken. Die Reiter kamen indes auf ein Dutzend Schritte heran. Sie wurden weniger wachsam, weil sich der Hund nicht mehr böse benimmt. "He, wer bist du?" Dies fragt einer der Reiter. "Wer hat hier im Canyon geschossen? Wer bist du? Wo kommst du her? Antworte!" Aber Lassiter braucht gar nicht zu antworten. Der andere Reiter erkennt ihn nämlich endlich.
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Und dieser Reiter sagt: "Das ist ja Lassiter! Hey, der hat mich schon mal mit dieser dämlichen Tö le reingelegt, weil sie ihm aus der Hand frisst, statt ihn zu beißen! Das ist Lassiter aus der Mi ne!" Als er es gerufen hat, verharren sie noch eine Sekunde. Dann ziehen sie ihre Revolver. Aber er schlägt sie glatt. Sie haben gar keine Chance gegen ihn. Und er gibt ihnen auch keine. Die Bitterkeit ist zu groß in ihm. Denn er kommt aus der Hölle des Berges, mitten aus der Teufelsmine. Er will nicht nur überleben, sondern Papajew und den noch Eingeschlossenen zu einer echten Chance verhelfen. Er kann nicht Schonung üben. Denn bald werden ihn die Carpenter-Brüder mit
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ihren Männern jagen. Er fängt eines der Pferde ein, schwingt sich in den Sattel und ist froh, nicht länger mehr laufen zu müssen. Der Hund hockt nun bei seinem toten Herrn und winselt kläglich. Für das Tier war dieser Herr weder schlecht noch böse, sondern ein Wesen, dem es sich unterwarf und diente. Für Lassiter hat der Hund keinen Blick mehr. Also reitet Lassiter hinüber zu den Hängen des Canyons, die im Mondschatten liegen. Er taucht unter zwischen Felsen und Büschen, sucht sich seinen Weg und nähert sich Canyon Station im Schritt. Er weiß, dass auch diese Schüsse in Canyon Sta tion gehört wurden. Nun aber hat er etwas Zeit gewonnen, denn man wird auf die Rückkehr der Reiter warten, wird glauben, dass sie es waren, die da im Canyon schossen.
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Erst nach einer Weile werden sich die CarpenterBrüder Sorgen zu machen beginnen. Doch dann will Lassiter schon nicht mehr im Canyon sein. Er will raus aus der Mausefalle. Im Sattelhalfter des Pferdes steckt ein SpencerGewehr. Er zieht es heraus und untersucht, ob es geladen ist. Als er in die Satteltasche greift, um dort nach Patronen zu suchen für das Gewehr - denn für diese Spencer-Karabiner gibt es fertige Patronen -, findet er außer einem Päckchen solcher Muni tion auch noch etwas anderes. Es ist ein Stück Brot, ein großer Kanten, etwa so groß wie zwei geballte Männerfäuste, die man mit den Knöcheln gegeneinander legt. Noch nie im Leben schmeckte ihm ein Stück al tes Brot so gut. Und noch niemals im Leben spürte er so deut lich, wie von seinem Magen aus neue Säfte zu strömen beginnen.
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Dieses Stück Brot hilft ihm sehr. Er kaut es sehr sorgfältig, indes er sich im Schatten der Cany onwand hält und dem Stangenzaun nähert. Weit, weit hinter sich hört er den Hund heulen. Der Hund ist nicht mehr gegen mich - schon zweimal, denkt er. Und dennoch trauert und klagt er jetzt. Sein Herr taugte nichts, gar nichts und dennoch wurde er von seinem Hund geliebt. Er hat nun den Stangenzaun erreicht, und weil es hier kein Gatter gibt, muss er absitzen und die oberste Stange herunternehmen. Über die untere Stange muss er die Hufe des Pferdes nacheinan der heben, denn er will keinen Anlauf nehmen und mit dem Tier springen. Es ist gar nicht so einfach, in der Nacht ein Pferd über ein nur knie hohes Hindernis zu bringen. Dann sitzt er auf und reitet nach Norden zu in einem Halbkreis um die Stadt herum, der im Westen der Stadt enden wird.
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Die Nacht ist noch sehr jung. Er kaut immer noch an seinem Brot, und es geht ihm nun schon sehr viel besser. Natürlich ist er immer noch ein ausgebrannter und erschöpfter Mann - doch er wird gewiss nicht vor Schwäche aus dem Sattel fallen. Endlich schwenkt er ein und reitet von Westen her auf die Lichter des Ortes zu. Er kreuzt den Wagenweg und hält dann im Schatten von Bäu men und Felsen an. Nachdem er abgesessen ist, verharrt er einige Atemzüge lang und überlegt. Schließlich zieht er das Gewehr aus dem Sattel halfter und macht sich auf den Weg. Er wird kämpfen müssen, nichts anderes als kämpfen. Und am besten wäre es, würde es ihm gelingen, die drei Carpenters zu erledigen. Ob sie noch beim Abendbrot sitzen? Wenn sie dort schon fertig sind, befinden sie sich vielleicht im Saloon.
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Er muss es versuchen und sie mitten aus ihrem Rudel herausschießen. Denn dann wird das Ru del nicht mehr für die Carpenter-Brüder kämp fen, sondern nur noch untereinander um das Gold. Ja, dies wäre die Möglichkeit. So glaubt er. Und so macht er sich zuerst auf den Weg zur Hinterseite des Gasthauses, in dem er einst von Lily ein Zimmer zugewiesen bekam. Er kommt am Wagenhof vorbei, hält inne und sieht sich die Sache an. Ja, er kann aus den dunklen Schatten der halb offenen Schmiede alles gut übersehen, denn die Nacht ist strahlend hell, so hell, wie eine Arizo nanacht nur sein kann. Später wird es empfindlich kalt werden, doch noch ist viel Wärme des heißen Tages im Boden. Sogar die Gebäude strömen noch Wärme aus. Er kann sich das Leben und Treiben im Wagen
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hof ungestört ansehen. Und es ist wahrhaftig ein "Leben und Treiben", wie man so sagt, wenn irgendwo etwas im Gang ist, etwas geschieht und betriebsam ist. Hier im Wagenhof stehen sechs Frachtwagen. Wahrscheinlich stammen sie von dem ver schwundenen Wagenzug, dessen Wagenboss hoffentlich jetzt von Papajew mit Hilfe des Las sos aus dem Luftkamin gezogen wird, indes Las siter hier lauernd beobachtet. Bei den Frachtwagen sind Männer, die noch da bei sind, die Ausrüstung zu vervollständigen, also die Wasserfässer zu füllen, Proviant und Ausrüstung einzuladen und dergleichen Arbeiten zu verrichten. Dicht bei den Wagen befinden sich die Maultiere in einem Corral. Eine Stimme ruft: "Also holt die Biester heraus, und schirrt sie an! Spannt sie an!"
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Für Jeremy Lassiter ist alles völlig klar. Die Carpenters haben schon alles nach hier ge bracht. Wahrscheinlich wollen sie bald schon aufbrechen. Sie warteten gewiss nur noch die letzte Postkutsche ab und bereiteten dann den Aufbruch vor. Lassiter gleitet weiter. Niemand sieht ihn. Er er reicht die Hintertür des Gasthauses, öffnet sie und gleitet hinein. In der Küche klappert Geschirr. Die ältliche Frau, deren Gang so unbeholfen ist, wäscht si cherlich das Geschirr ab. Wahrscheinlich kommt Lassiter zu spät. Er gleitet wie ein Schatten an der offenen Kü chentür vorbei, sieht den Rücken der Frau bei der Abwaschwanne. Dann ist er vorbei und erreicht die angelehnte Tür zum Gastraum. Es riecht noch nach Essen, und weil er von dem Kanten Brot noch längst nicht satt wurde, läuft
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ihm das Wasser im Munde zusammen, und er verspürt das scharfe Verlangen nach einem safti gen Steak und anderen nahrhaften Dingen. Als er mit dem Gewehrlauf die Tür etwas weiter aufstößt, ist der Gastraum leer bis auf einen Mann. Dieser Mann sitzt am Tisch der Carpenters und isst. Der Mann ist Paul Carpenter. Und wahrscheinlich isst er jetzt erst sein Abend brot weil die Brüder einander ablösen und er draußen nach dem Rechten sah, indes Sid und Jago Carpenter hier aßen. Ja, so ähnlich muss es sein. Paul Carpenter kann Lassiter nicht sehen. Erst muss er sich wenden oder den Kopf um fast neunzig Grad drehen. Aber er hält plötzlich mit dem Kauen inne, hebt
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den Kopf und schnüffelt hörbar. Lassiter weiß sofort Bescheid. Als er die Tür etwas aufstieß, entstand ein klei ner Lufthauch. Aber es ist nicht so sehr der Luft hauch, der Paul Carpenter alarmiert. Nein, es ist Lassiters Gestank. Dieser modrige, faulige Gestank aus der nassen Mine ist für Paul Carpenter unverkennbar. "Sicher, du kannst dich umdrehen und deine Waffe ziehen, Paul", murmelt Lassiter. "Sieh mir ruhig in die Augen, wenn ich dich zur Hölle schicke. Also los, Hombre!" In Jeremy Lassiters Stimme kommt ein knir schender, unerbittlicher Klang. Paul Carpenter wendet zuerst langsam den Kopf. Seine Augen werden schmal. Dann grinst er er hebt sich langsam und wendet sich Lassiter zu.
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"Du siehst prächtig aus, Lassiter", sagt er heiser. "Und du stinkst zehn Meilen gegen den Wind. Bald wirst du unter der Erde weiterstinken." Damit hat er alles gesagt. Denn inzwischen sah er, dass Lassiter den Re volver im Holster hat und auch das Gewehr mit der Mündung nach unten neben sich am Bein entlang gesenkt hält. Paul Carpenter weiß genau, dass er nicht kneifen kann. Denn Lassiter will ihn töten. Er spürt es instinktiv und erkennt es in Lassiters Blick. Also zieht er. Und er zieht so schnell wie noch nie in seinem Leben. Dabei gleitet er überdies auch noch zur Seite, will sich wegducken von einer zu erwartenden Kugel. Aber es gelingt ihm beides nicht.
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Er kann Lassiter nicht schlagen, obwohl dieser gar nicht zum Revolver greift. Lassiter hebt den Gewehrlauf und drückt ab. Und dieser Kugel entkommt Paul Carpenter selbst mit seiner schnellen Bewegung nicht. Er taumelt rückwärts und fällt über den Tisch. Er ist schon tot, bevor er vom Tisch mitsamt dem Geschirr und den Resten seines Abendbrotes zu Boden fällt. In der Küche kreischt die alte Frau. Jeremy Lassiter aber verschwendet keine Sekun de. Er eilt an dem Tisch vorbei und greift sich von der darauf noch verbliebenen Schüssel eine gebratene Hammelkeule. Er beißt hinein, noch bevor er den Durchgang zum Hotel erreicht hat, und er kaut schon, als er im Gang verschwindet. Der Kampf ist nun in Gang gekommen und nicht mehr aufzuhalten. Die beiden Schüsse müssen die Carpenter
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Brüder und deren Männer alarmiert haben. Nun geht es ums Überleben. Als er in die Hoteldiele kommt, steht dort schon ein Carpenter-Mann mit schussbereitem Revol ver, starrt in den dunklen Gang und wartet nur noch deshalb, weil er nicht sicher ist, wer durch den Gang vom Speiseraum herüberkommt. Lassiter wirft den mit zwei Bissen abgenagten Knochen fort, hebt das Gewehr und schießt den Mann von den Beinen, bevor dieser seinerseits abdrücken kann. Der Bursche drückt im Fallen doch noch ab, doch er schießt vor sich in den Boden. Nun darf Lassiter keinen Fehler mehr machen. Er kann nicht vorn aus dem Hotel laufen. Denn dann würde er gewiss allen Burschen in die Ar me laufen, die nun schon unterwegs sind. Er erinnert sich daran, wie gut er aus seinem Zimmer auf den Anbau und von diesem zu Bo den gekommen war, als er sich auf den Weg
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machte, um das Geheimnis der verschwundenen Postkutsche und des verschollenen Wagenzuges zu erforschen. Er springt die Treppe hinauf. Und da beginnt mal wieder eine Pechsträhne für ihn. Der Mann, den er von den Beinen schoss, regt sich noch einmal. Er lässt den Revolverkolben am Boden, hebt nur den Lauf der Waffe. Er liegt auch sehr günstig. Die Kugel erwischt Lassiter von hinten im Oberschenkel. Er fällt bäuchlings auf die Treppe, stößt sich an einem Stufenrand das Kinn, so als hätte ihm jemand einen Schlag versetzt. Er ist immer noch sehr schwach und entkräftet, sehr viel langsamer und unbeholfener als sonst. Mühsam rappelt er sich hoch. Der Mann unten in der Diele liegt wieder auf dem Gesicht. Wahr scheinlich war es die letzte Kugel, die er jemals abfeuern konnte.
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Lassiter hinkt nach oben. Und er weiß, dass er mit dem angeschossenen Bein nicht über das Anbaudach klettern und von da zu Boden springen kann. Was soll er tun? Er hat den Gang erreicht und hastet darauf ent lang. Hinkend und keuchend. Als sich eine Tür öffnet, hebt er wieder das Ge wehr, welches er durchgeladen hatte auf dem Weg zur Treppe. Er sieht Golden Ann Willow. Ja, das da ist Golden Ann, die hier bei den Car penter-Brüdern auch eine Art Gefangene war und vielleicht noch immer ist. "Bist du das, Jeremy?" So fragt sie. Und weil er sich ihr noch zwei Schritte nähert, erkennt sie ihn trotz des schwachen Lichtes im Gang und ob wohl er so verändert aussieht, so schmutzig und
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zerlumpt, abgekämpft und bärtig. Sie erkennt ihn dennoch - vielleicht nur an den im Lampenschein so grünlich leuchtenden Au gen. "Komm schnell herein", sagt sie. "Komm schnell!" Er zögert nur leicht. Aber es ist ihm klar, dass er sich die Beinwunde behandeln lassen muss. Bald wird ihm das Blut aus dem Stiefellaufen. Und dann können sie ihn allein durch die Blut spur finden. Er folgt ihr ins Zimmer. Es ist ein großes und nobles Zimmer. Wenigstens das gaben ihr die Carpenters hier. Er schafft es bis zu einem der beiden bequemen Sessel.
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"Herrgott, wo kommst du her?", fragt Golden Ann Willow voller Schrecken. "Aus der Hölle", knirscht er. "Und dorthin habe ich in dieser Nacht schon ein paar Schufte ge schickt. Paul Carpenter ist auch dabei. Willst du mir immer noch helfen, oder soll ich lieber ge hen? Du brauchst mir nur die Tür dort aufzuma chen. Dann ist es leicht für uns beide. Also?" Sie nagt an der Unterlippe, hält den Kopf ge senkt. Sie betrachtet ihn und riecht auch den Mi nengestank. Draußen brüllt jemand: "Er hat nach Paul Car penter auch Charly Mills erschossen. Er muss hinten aus dem Hotel hinausgerannt sein. Hinter dem Hotel!" Lassiter grinst. "Na?", fragt er nochmals. "Bleib", sagt Ann Willow zu ihm. "Es war ein guter Trick, die Treppe hochzulaufen, solange
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dies niemand sah. Das glaubt keiner von ihnen. Also bleib, damit ich dir helfen kann." "Und warum willst du mir helfen?" Sie kniet nieder, zieht ihm die Stiefel aus, welche ohnehin kaum noch zusammenhalten. Dann blickt sie auf das zerlumpte, schmierige und nun auch noch vom Blut feuchte Hosenbein. Aber plötzlich sieht sie auf zu ihm, genau in sei ne Augen hinein. Sie spürt ganz stark, dass er immer noch von ihr eine klare Antwort haben möchte. "Warum?" So wiederholt sie seine Frage. "Wa rum ich dir helfen will? Aaah, es gibt mehr als einen Grund. Auch du wolltest mir helfen. Du wolltest mich fortbringen von hier. Und du hät test es getan, würdest du nicht selbst in eine böse Klemme gekommen sein. Aber es gibt auch noch andere Gründe. Vielleicht erkläre ich sie dir spä ter. Jetzt haben wir andere Dinge zu tun. Du musst dich ausziehen. Deine Kleidung riecht zu
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stark nach der Mine. Wenn jemand in dieses Zimmer kommen sollte und ich dich unter das Bett schicken muss, dann kann er dich riechen. Du musst dich ausziehen. Wir müssen dich wa schen. Je früher deine Kleidung aus diesem Zimmer kommt, umso weniger kann sich der Ge ruch hier festsetzen. Also hilf mir noch einmal." Er nickt sofort. Dass er sich jetzt nackend aus ziehen muss, passt ihm nicht. Dies hat nichts mit Scham zu tun. Aber wenn die Carpenters ihn hier aufstöbern sollten, wird er womöglich sogar nackt vor ihnen stehen. Und dennoch muss er sich seiner stinkenden Kleidung entledigen. Das sieht er ein. Hoffentlich kann Ann Willow ihm neue ver schaffen. Sein Bein blutet immer noch. Er muss auf dem Sessel weit nach vorn rutschen, um nicht zu dicht bei der Wunde zu sitzen. Der Schmerz lässt ihn mit den Zähnen knirschen.
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Mühsam erhebt er sich. Mit Anns Hilfe entledigt er sich der Kleidung, steht nackt mit seinem gan zen hageren, mager gewordenen Körper vor ihr. Sie breitet eine Wolldecke über ihr Bett. "Lege dich auf den Bauch - ich werde dich wa schen und nach deiner Wunde sehen." Er schafft es mit ihrer Hilfe. Indes sie dann mit seiner Wiederherstellung be schäftigt sind, hören sie durch das Fenster die vielen Rufe im Ort, all die Geräusche und auch die Pfiffe. Sie suchen immer noch nach ihm. Und sie sind offenbar immer noch der Meinung, dass er vom Ort weggeflüchtet ist. Aber wenn sie das Pferd finden, auf dem er ge kommen ist, werden sie sich fragen, wohin er zu Fuß geflüchtet sein kann.
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Ann Willow muss sich beeilen. Es könnte sein, dass er nur wenig mehr als eine halbe Stunde Zeit hat, da sie ihn hier in diesem Zimmer finden. Ann Willow versorgt zuerst die Wunde. Dann bringt sie seine Sachen fort, kommt mit anderen Kleidungsstücken zurück. "Ich machte den Tausch in einem entfernt gelegenen Zim mer", sagt sie. "Einer von den CarpenterHandlangern wohnt dort. Ich tat deine alten Sa chen in seinen Schrank und holte mir dafür seine Reservekleidung. Der Mann hat etwa deine Fi gur. Also dies hätten wir. Jetzt brauche ich nicht mehr hinaus. Und auch den Geruch werden wir aus dem Zimmer bekommen." Jeremy Lassiter hört das alles wie aus weiter Ferne. Er gleicht einem Schwimmer, der in dunkle Tiefen sinkt und dabei das Bewusstsein verliert. Er kann nicht länger mehr wach bleiben. Selbst
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die Schmerzen in seinem Bein können das nicht bewirken, auch nicht, als Ann die Wunde mit Whisky begießt und es höllisch zu brennen be ginnt. Lassiter wird bewusstlos. Er hat zu viel geben müssen und sich fast selbst verbraucht. Herrgott, wie soll ich ihn wach bekommen, sollte dies in der nächsten halben Stunde notwendig sein?, fragt sie sich. +++ Gegen Mitternacht treffen sich die beiden Carpenter-Brüder Sid und Jago im Saloon. Sie müs sen sich selbst bedienen, denn sie haben auch den Keeper, der unter Pauls Aufsicht hier arbei tete, zum Suchen losgeschickt. Sie haben jeden Mann mobilisiert. Nun trinken sie einen scharfen Schluck. Dann sehen sie sich an.
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"Wir haben drei Mann im Canyon und außer Paul noch einen weiteren Mann hier verloren", murmelt Jago. "Das sind vier Mann. Bald haben wir nicht mehr genug übrig, um die sechs Wagen vorwärts bringen zu können. Dann müssen wir die Dinger womöglich noch selbst fahren. Ver dammt, warum ist Ann nicht hier? Wenigstens sie könnte doch hier im Saloon sein - oder?" Sid Carpenter grinst ohne Freundlichkeit. "Sie wird auf unsere Einladung warten. Sie wird sich reisefertig gemacht haben und nur darauf warten, dass einer von uns kommt, um sie zu ho len." Aber Jago schüttelt leicht den Kopf. "Ich glau be", sagt er, "sie mag keinen von uns. Sie war für uns das schönste Weib auf zweihundert Meilen in der Runde. Jeder von uns hätte sie gern be kommen, sogar Paul, obwohl dieser auch hinter Lily her war. Aber hinter welchem Weib war der nicht her? Verdammt, ich sag dir, es war Lassi ter, der unseren Paul gekillt hat. Es war Lassiter! Und wir finden ihn nicht. Wir verschwenden hier
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unsere Zeit. Die Stunden vergehen. Wir wollten schon vor zwei oder drei Stunden losfahren. Ich sage dir, wir können hier nicht länger verweilen. Wir müssen endlich weg. Morgen Mittag kommt wieder eine Postkutsche durch, oder es kommen Fremde vorbeigeritten. Ich fühlte mich während der letzten Tage ohnehin so ungemütlich wie auf einem Pulverfass. Ich spüre es immer stärker, dieses Gefühl eines nahenden Unheils. Mann, Bruder, wir müssen weg, nichts wie weg! Hast du verstanden?" "Und Pauls Killer? Was soll mit dem Burschen geschehen, der unseren Paul ins Jenseits schick te? He, es ist Lassiter! Und der wird uns noch jede Menge €rger machen." Sid Carpenter sagt es knirschend. Aber da lacht sein so indianerhafter Bruder Jago grimmig und wild. "Er wird uns folgen wie ein hungriger Wolf einer Schafherde. Verstehst du? Wahrscheinlich ist er allein. Irgendwie hat nur er es geschafft, aus der zusammengebrochenen Mine zu entkommen. Er
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wird nach Paul dich und mich zu erwischen ver suchen. Für ihn ist der Tag der Vergeltung an gebrochen. Er will sie alle rächen - alle! Aber wir werden ihn erwarten. Dort draußen in dem wil den Land kennen auch wir ein paar Tricks. Er muss auf unserer Fährte kommen. Und es gibt viele Gelegenheiten, ihn in einem Hinterhalt zu erwarten. Was ist also falsch daran, wenn wir jetzt aufbrechen? Er läuft uns nicht fort. Irgend wo dort draußen packen wir ihn. Er wird uns in die Revolver geritten oder geschlichen kommen. Also, Bruder?" Sid Carpenter nickt nachdenklich. "Ja, es ist vielleicht besser, ihn nicht länger zu suchen, sondern auf ihn zu warten. Wir sind ü berzeugt, dass es sich um Lassiter handelt. Und nur deshalb glaube ich, dass er uns auch folgt auch allein. Bei jedem anderen würde ich an nehmen, dass er sich erst Hilfe beschafft. Nun gut, brechen wir auf - sofort! Was ist mit Golden Ann? Willst du sie mitnehmen?" "Du nicht, Bruder Sidney?"
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"Nein, ich nicht. Jetzt nicht mehr. Wenn sie jetzt einen von uns nehmen würde, so wie wir es bis her stets hofften, dann täte sie es, weil wir Milli onäre wurden. Jetzt ist es zu spät. Wir können uns bald in der ganzen Welt die schönsten Frau en kaufen. Verstehst du, Bruder Jago?" Dieser nickt. "Ja, jetzt wird alles anders", sagt er. "Aber ich will mich doch noch von ihr verabschieden. Ich will ihr sagen, dass sie ganz Canyon Station für sich behalten kann. Wir schenken es ihr. Viel leicht macht sie eines Tages aus dieser miesen Siedlung eine große Stadt. Und überdies haben wir hier im Canyon mehr als dreitausend Rinder. Ich will nobel zu ihr sein und schenke ihr das alles ohne Gegengabe." Er macht einige Schritte zur Tür. Dort wendet er sich, blickt über die Schulter und sieht, dass Sid sich noch einen Schluck ein schenkt.
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"Weißt du, Sid", sagt er, "wir haben doch Golden Ann eigentlich stets respektiert. Sie hat sich mit keinem von uns eingelassen. Das war eigentlich klug von ihr, nicht wahr?" Damit geht er hinaus. Sein Bruder Sid folgt ihm bald darauf und bringt wieder Leben in den Ort. Seine Befehle klingen durch die Nacht. "Los, Jungens! Wir brechen auf! Es geht los!" Auch Ann hört die Rufe auf der Straße. Sie hat nun beide Fenster offen, lässt frische Luft ins Zimmer. Die Öllampe hat sie zwar noch ange zündet, doch das Flämmchen sehr klein gedreht, so dass im Zimmer nur wenig Helligkeit herrscht. Lassiter liegt noch immer in ihrem Bett. Sie konnte ihn nicht wach bekommen und auch nicht bewegen. Lassiter wiegt bei aller Hagerkeit im
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mer noch um die neunzig Kilo. Dieses Gewicht kann eine Frau nicht heben. Aber sie hat ihn unter dem Bettzeug sozusagen "begraben" und über das Fußende des Bettge stells einige von ihren Kleidern gehängt. Ein Koffer, dessen Deckel hochgeklappt ist, steht auf einem Stuhl und verbirgt ebenfalls eine Menge vom Bett dahinter. Als es an ihre Tür klopft, holt sie nur noch ein mal tief Atem. Dann ruft sie mit ruhiger Stimme: "Es ist offen!" Jago Carpenter tritt ein. "Ich bin gleich fertig", sagt sie. "Ich packe nur noch den Koffer da voll. Denn der hat doch ge wiss Platz auf einem der Wagen. Und dann muss ich mir noch Hosen anziehen. Denn ich will nicht gefahren werden, sondern lieber reiten. Ihr braucht mir kein ganz zahmes Pferd zu geben. Ich kann fast so gut reiten wie ein Cowboy." Er staunt - und er begreift zugleich, dass sie mit
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ihnen und dem Gold ziehen will. Er staunt über die Selbstverständlichkeit, mit der sie annimmt, es stünde ihrer Absicht nichts im Wege. Irgendwie ärgert ihn das. Er glaubt, dass sie mit ihnen will, weil sie nun sechs Wagenladungen Golderz besitzen, das Mil lionen wert ist. Und vorher war ihr keiner der drei CarpenterBrüder gut genug. Da hat sie mit ihnen irgendwie gespielt, hat sie hingehalten und jeden, der sie bedrängte, um Zeit gebeten, weil sie ganz sicher sein wollte, nur dem zu gehören, den sie auch wirklich am meisten liebte. Er erinnert sich daran, dass sein Bruder Paul nun tot ist und er jetzt eine Menge anderer Sorgen hat. Und so klingt seine Stimme etwas barscher und kühler als gewollt, als er zu ihr sagt: "Es ist zu spät für dich, Ann - viel zu spät. Du hättest dich früher für einen von uns entscheiden müssen, so
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wie wir es immer gehofft hatten. Jetzt ist Paul tot. Und jetzt haben wir auch eine solche Menge Gold, dass sich alles dadurch ändert. Du kannst Canyon Station haben. Wir schenken dir Canyon Station, weil du uns ein paar Monate deiner Zeit geopfert hast." Sie steht still da, und sie hat Angst davor, dass Lassiter im Bett zu laut atmen oder gar seufzen könnte. Sie hat eine schreckliche Angst davor, dass Jago Carpenter noch ein paar Schritte weiter in das Zimmer hereinkommen könnte. Deshalb steht sie starr und steif da. Er aber fasst es anders auf. "Stolz warst du ja schon immer", sagt er. "Das hat uns allen imponiert. Und auch jetzt bittest du nicht. Auch jetzt benutzt du nicht die Gelegen heit, dich mir an den Hals zu werfen. Von hun dert Frauen würden es mehr als neunzig tun, des sen bin ich sicher - oder?" "Ihr wisst nicht viel von Frauen, ihr Carpenters", murmelt sie. "Ihr wisst nur etwas über Flittchen.
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Nun, ich bedanke mich für Canyon Station - und für meine Freiheit. Sie ist mir wichtiger als euer Gold. Leb wohl, Jago." Dieser will nun doch einige Schritte zu ihr ma chen. Doch dann tönt unten Sid Carpenters Stimme: "Hoii, Jago! Komm endlich! Sag ihr, dass ich ihr Glück wünsche. Und wenn sie Lassiter sehen sollte, dann soll sie ihm ausrichten, dass wir auf ihn warten - irgendwo unterwegs." Jago nickt ihr zu. "Du hast es gehört, Ann." "Yes, Sir", sagt sie herb. Er zögert noch eine Sekunde. Dann geht er wortlos. Und als er die Tür hinter sich geschlossen hat, stöhnt Lassiter im Bett laut genug, dass Jago es hätte hören können, wäre er noch im Zimmer geblieben.
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Ann geht nacheinander zu beiden Fenstern, schließt sie. Dann setzt sie sich in einen der Sessel. Sie fühlt sich plötzlich schwach und erschöpft. Als Lassiter erwacht, sind zwölf Stunden ver gangen. Es ist zwölf Uhr mittags. Der Hunger in seinen Eingeweiden ist schlimmer und böser als der leichte Schmerz seiner Wunde. Als er sich aufsetzt, wird er sich zugleich auch seiner Nacktheit bewusst. Er erinnert sich an Golden Ann Willow, und dann weiß er, dass er in ihrem Bett liegt, dass er lange geschlafen hat und dass ihn die Carpenter-Brüder und deren Männer offenbar nicht aufspüren konnten in Anns Zimmer. Neben sich auf dem Stuhl sieht er die Kleidungs stücke, die nur darauf warten, von ihm angezo gen zu werden.
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Er hat gerade erst das Unterzeug an, als Ann he reinkommt. Sie bringt etwas zu essen. Er sieht, dass es eine große Terrine Fleischsuppe mit Reis ist. "Du bist ein Engel", sagt er heiser. Seine Stimme kommt ihm fremd vor. "Werde ich immer noch gesucht? Es ist so still." "Die Carpenters sind fort", sagt sie ernst und stellt das Essen auf den kleinen runden Tisch. "Sie sind fort mit sechs Frachtwagen voll Gold, mit ihrem toten Bruder Paul und mit allen Män nern. Sie wollen Paul Carpenter unterwegs ir gendwo begraben. Sie hatten es zuletzt sehr eilig, von hier fortzukommen. Wahrscheinlich hoffen sie sogar, dass du sie verfolgst und ihnen ins of fene Messer rennst." Er nickt, denkt darüber nach, indes er in die Ho sen fährt und dann zum Tisch hinkt, auf dem das Essen wartet.
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Erst nach einigen Löffeln Suppe und ständigem Nachdenken fragt er: "Habt ihr ... He, wer ist denn überhaupt noch hier in Canyon Station, nachdem die Carpenters mit ihrem Rudel fort sind? Wer ist noch hier?" Sie setzt sich zu ihm an den Tisch und beobach tet einen Augenblick, wie es ihm schmeckt. "Außer mir ist noch Mary Dunn hier, die alte Frau aus dem Hotel. Und auch Lily und die bei den anderen Frauen sind wieder da, die zuletzt bei der Mine arbeiteten. Lily ist immer noch ver stört. Die Frauen erzählten mir, was sich alles ereignet hat. Vor drei oder vier Stunden kamen vier erschöpfte und fast verhungerte Männer aus dem Canyon. Es sind Papajew, Loke, Ballone und Starbuck. Wir haben für sie getan, was wir konnten. Aber ..." "Ich weiß", murmelt er zwischen zwei Löffeln, "die brauchen noch länger Ruhe als ich. Aber ich bin sehr froh, dass es Papajew gelungen ist, sie aus dem Luftkamin zu ziehen."
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Er isst weiter. Sie beobachtet ihn. Dann sagt sie: "Die Carpenter-Brüder haben nur ein einziges Pferd zurückgelassen. Nur ein einzi ges Reittier - sonst kein anderes Tier, welches man reiten könnte, nicht mal einen kleinen Maulesel. Weißt du, was dies zu bedeuten hat?" Er nickt. "Genau! Sie wollen mich nicht noch kostbare Stunden suchen müssen. Sie wollen, dass ich ih nen folge. Deshalb das Pferd. Es ist eine Einla dung. Sie wollen mich, und ich will sie. Wenn wir uns wieder sehen, wird das ein Tag der Ver geltung. Sie wollen ihren Bruder rächen, ich aber will von ihnen für alle jene Männer Genugtuung fordern, die in der Hölle leiden und sterben mussten. Es wird ein Tag der Vergeltung, von welcher Seite man es auch sehen mag." Er macht eine Pause.
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Wenn ich die Terrine leergegessen habe, mache ich mich auf den Weg. Ann, willst du für meine Ausrüstung sorgen. Sie nickt. "Aber dein Bein", sagt sie, "wird dir unterwegs Schwierigkeiten machen." "Sicher", grinst er, "doch es werden die gerings ten Schwierigkeiten sein. Die anderen sind grö ßer. Wenn ich fort bin, schreibst du einen Brief an John Bannack in Concho. Du schilderst ihm alles, was hier geschah. Wenn ich nicht zurück kommen kann, soll er dir die tausend Dollar ge ben, die er mir versprochen hat, wenn ich die verschwundene Postkutsche und den verschwun denen Wagenzug finde." " ... wenn du nicht zurückkommen kannst", murmelt sie. "Willst du das?" Er betrachtet sie ernst. "Wir wären ein feines Paar", sagt er. "Oder wa rum hast du mir sonst geholfen? Nur aus Mitleid
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oder weil du die Carpenters nicht mochtest trotz ihres Goldes? He, warum?" Sie nickt. "Ja, ich glaube, wir wären ein feines Paar. Wir könnten es probieren. Also komm zu rück, wenn du kannst. Ich werde hier sein. Wir vier Frauen werden Canyon Station in Gang hal ten. Und um Lily Hogjaw kümmere ich mich be sonders. Sie wird wieder in Ordnung kommen mit der Zeit. Irgendwann wird die Welt auch für sie wieder schöner. Sollen dir die Männer nach kommen, sobald wir hier von irgendwoher Pfer de bekommen können? Sollen sie ..." "Nein", sagt er. "Für dieses Spiel, welches die Carpenters und ich dort draußen in der Wildnis spielen werden, sind sie nicht geeignet. Nicht einmal der Postbegleiter Raul Loke wäre das. Weißt du, da muss man ein wenig Indianer sein. Und ich bin zu einem Viertel ein Comanche. Stört dich das? Meine Großmutter war eine Comanche Squaw. Und sie wird mir helfen mit ih rem Erbe, darauf wette ich." +++
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Als Jeremy Lassiter losreitet, steht auch Lily bei den vier anderen Frauen. Und auch sie winkt dem Reiter nach. Lassiter sieht nicht mehr zurück. Das Pferd ist nur durchschnittlich. Aber es ist natürlich leicht für ihn, den Wagenzug, der nur etwa zwölf Stunden Vorsprung hat, in zwei Ta gen einzuholen trotz seines verwundeten Beines. Die Wagenfährte ist klar und deutlich zu erken nen. Sechs schwere Frachtwagen hinterlassen eine deutliche Spur. Als es Abend wird, erreicht Lassiter ein frisches Grab, und er glaubt, dass man Paul Carpenter am frühen Morgen bei Sonnenaufgang hier bestattet hat, als die Gespanne der schweren Wagen eine Weile verschnaufen mussten und die Männer sich das Frühstück bereiteten. Außer den beiden Carpenter-Brüdern sind noch acht weitere Männer dabei, also sechs Fahrer und
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zwei weitere Reiter. Und jeder Fahrer hat sein Pferd hinten am Wagen angebunden. Dies alles findet Lassiter nach und nach heraus, indes er immer wieder neu die Spuren prüft. Er kann dies hier besonders gut, weil sie alle ne beneinander am Grab standen und ihre Abdrücke unverwischt zurückließen. Plötzlich wundert er sich darüber, dass er die Fußspuren der Männer so deutlich sehen kann. Er hat mit einemmal das Gefühl, etwas überse hen zu haben. Aber was? Sein Blick schweift scharf in die Runde, und er ist bereit, auch die geringste Kleinigkeit zu be achten. Liegt vielleicht ein zurückgelassener Schütze irgendwo im Hinterhalt? Wird er schon über den Lauf einer Büffelflinte hinweg anvisiert?
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Obwohl er sich diesem Ort sehr vorsichtig näher te und erst eine Weile die Umgebung sorgfältig beobachtete und überprüfte von einem nahen Hügel aus, verspürt er einen Moment Unsicher heit, Sorge. Aber es rührt sich nichts. Es fällt kein Schuss. Und dennoch beunruhigt ihn etwas. Er hat nun mehr und mehr das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Aber was? Noch einmal sieht er sich die Stiefelabdrücke an, prägt sie sich ein. Dann beginnt er umherzusuchen wie ein Spür hund. Und er findet endlich einen Anhalts Punkt für die Warnung seines Instinktes. Er sieht einen Fußabdruck.
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Es ist eine Spur. Diesmal ist es kein Stiefel, sondern ein Mokas sin, ein Apachenstiefel gewissermaßen. Er sieht nur diesen einen Abdruck, und er weiß, dass man ihn auszulöschen vergaß. Diesen Ab druck hat man übersehen. Und er weiß auch, warum. Hier auf dieser trockenen Ebene liegen viele ver dorrte Sagebüsche herum, die von ihren Stielen und Wurzeln brachen. Der Wind treibt sie manchmal wie leichte Bälle umher. Solch ein vertrockneter und federleichter Busch hat vielleicht auf der Spur gelegen. Und deshalb ist sie nicht gelöscht worden. Diese Spur ist genauso frisch wie die Fußabdrü cke der zehn Männer, die am Grab standen. Jeremy Lassiter weiß Bescheid.
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Die Carpenter-Brüder haben nicht acht, sondern neun Männer bei sich. Sie sind nicht nur zehn Mann alle zusammen, sondern elf. Aber er, Lassiter, soll nur mit zehn Mann rech nen. Deshalb standen sie alle beisammen am Grab und hinterließen die deutlichen Fußspuren. Der elfte Mann muss ein Indianer sein - viel leicht auch ein Halbblut. Und dieser Mann wird irgendwo in einem Hin terhalt auf ihn warten. Aber wo? Nun, gewiss nicht heute an diesem Tag, sondern erst, wenn er den Wagenzug einge holt hat, wenn sie wissen, dass er in der Nähe ist und sie vielleicht schon beobachtet. Dann wird dieser Indianer aus dem Wagen springen und auf ihn warten. So ähnlich wird es sein. Und nicht nur diesen Trick werden die Carpen
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ter-Brüder im €rmel haben. Jeremy Lassiter grinst schief. Dann reitet er weiter. Am nächsten Abend sieht er das Feuer in der Nacht - und er sieht es nicht von Osten her, son dern von Westen, weil er bereits einen großen Halbkreis ritt. Das Feuer brennt unten am San Pedro River und zwar noch jenseits des Flusses, also am Ost ufer. Er selbst hat den Fluss schon weiter oberhalb durchfurtet und wäre fast im Treibsand stecken geblieben. Er kann die sechs Wagen gut erkennen. Sie sind in U-Form aufgestellt. Die offene Seite ist dem Uferrand zugewandt. Er sieht und zählt auch die Männer. Am nächsten Morgen müssen die Wagen das
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ziemlich steile Ufer hinunter. Dies hier ist keine der bekannten Furten, die von Reitern, Herden und Wagenzügen benutzt wer den. Der Wagenzug hält sich immer noch allen Wegen und Pfaden fern. Der Flussübergang wird hier nicht so einfach, aber sicherlich doch zu schaffen sein. Sonst wä ren die Carpenter-Brüder nicht an dieser Stelle. Wo mag der Indianer sein? Lassiter überlegt, was zu tun ist. Einen Moment ist er versucht, hinüberzuschleichen und etwas zu wagen. Er könnte versuchen, die Maultiere und Pferde aus dem Seilcorral zu treiben, so dass die ser Wagenzug bewegungsunfähig wird. Aber er verwirft den Gedanken schnell wieder. Denn es wäre Dummheit, sich allein in die greif bare Nähe einer solchen Übermacht zu begeben. Sie warten dort drüben vielleicht nur auf ihn.
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Nein, solche waghalsigen Kunststücke darf er nicht machen. Dann haben sie ihn bald schon erledigt, und all das, was er sich vornahm, kann von ihm nicht ausgeführt werden. Denn er will Vergeltung. Plötzlich hat er ein merkwürdiges Gefühl im Na cken. Er versucht erst gar nicht es zu deuten, sondern handelt instinktiv. Er rollt zur Seite, schnellt dann auf. Und der Mann, der auf seinem Rücken landen wollte, stößt das Messer in den Erdboden und kommt um einen Sekundenbruchteil zu spät auf die Beine, obwohl er nicht weniger schnell ist als Lassiter. Lassiter trifft ihn mit der Stiefelspitze zwischen die Rippen. Es ist ein gnadenloser Tritt, aber es geht ja auch ums Leben, ums nackte Überleben. Dann wirft er sich auf den sich krümmenden
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Mann, erwischt die Messerhand am Handgelenk mit beiden Händen und kugelt dem Manne im selben Moment auch schon den Arm aus. Schließlich reißt er ihn hoch, stemmt ihn hoch über den Kopf und wirft ihn hinunter. Der Körper überschlägt sich mitten auf dem Steilhang, schlägt nochmals auf und liegt dann still. Von oben rutscht nun Erdreich nach, sandi ges, kiesiges Zeug, welches der fallende Körper selbst ins Rutschen brachte, weil er einen schon halb entwurzelten Busch gänzlich losriss. Es sind einige Wagenladungen trockenes, sandi ges Zeug, welche da ins Rutschen kommen. Sie decken den leblosen Körper dort unten zu. Im Mond- und Sternenlicht sieht es Lassiter. Selbst wenn er es wollte, könnte er den Mann nicht mehr retten. Mit seinen bloßen Händen würde er das Zeug gar nicht so schnell fortschau feln können. Er setzt sich keuchend. Dieser blitzschnelle und
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unwahrscheinlich gewaltige Kraftausbruch hat sein verletztes Bein doch sehr mitgenommen. Der Schmerz ist in seiner ganzen Seite. Die Wunde ist wieder aufgebrochen und blutet. Und dennoch ist ein grimmiges Gefühl der Ge nugtuung in ihm. Der Trick, den sich die Carpenter-Brüder da aus gedacht hatten, brachte keinen Erfolg. Er lebt noch. Am anderen Ufer hat sich nichts geändert. Lassiter erhebt sich, geht zu seinem Pferd, sitzt auf und beginnt das Pferd des anderen Mannes zu suchen. Er kann ein zweites Tier gewiss gut gebrauchen. Wahrscheinlich wird es sogar besser sein als seines. Er glaubt nicht, dass der Mann zu Fuß über den Fluss kam. Wahrscheinlich ist er dem Wagenzug vorausgeritten und hat sich hier auf die Lauer gelegt, wohl wissend, dass Lassiter einen weiten Bogen schlagen und dem Wagen zug hier am Fluss den Weg verlegen würde. Las siter findet dann etwas später zwischen zwei ro
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ten Felsen das versteckte Pferd des Mannes. Es ist ein prächtiges Tier, sehr viel besser als je nes, welches er bisher ritt. Nun ist er eventuellen Verfolgern überlegen. Denn selbst wenn das Tier den anderen Pferden nur gleichwertig ist, so kann er doch für einige Meilen immer wieder auf das zweite Tier über wechseln. Dies muss schließlich den Ausschlag geben. Er steigt endlich ab und zieht sich die Hose aus, um nach dem Verband zu sehen. Er wird ihn er neuern müssen. Hoffentlich entzündet sich die Wunde nicht. Er muss den neuen Verband mit Whisky tränken, von dem er eine ganze Flasche dabei hat. Golden Ann Willow hat an alles gedacht, als sie für ihn die Ausrüstung zusammenpackte. +++ Als am nächsten Morgen am anderen Ufer das
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Camp abgebrochen wird und sechs Wagen sich zu einer Schlange formieren, liegt er mit seinem Spencer-Gewehr und der großkalibrigen Büffel flinte des Mannes, der ihn töten wollte und des sen Namen er nicht kennt, auf der Lauer. Er hat die schwere Sharps-Büffelflinte gut aufge stützt. Die Entfernung beträgt etwas mehr als dreihundert Yards. Das verstellbare Visier hat er genau eingestellt, und er hofft, dass er schon mit dem ersten Schuss treffen wird, obwohl das Ge wehr von ihm bis jetzt noch völlig unerprobt ist. Der erste Wagen kommt nun das steile Ufer her unter. Er kann die beiden Carpenter-Brüder und die anderen beiden Reiter erkennen. Sie lassen ihre Lassos am Wagen befestigt und lassen mit Hilfe ihrer Pferde nicht zu, dass der erste Wagen zu schnell wird auf dem steilen Hang. Jeremy Lassiters erste Kugel fällt das vordere linke Maultier. Es stürzt im Geschirr - und dann kommt auch schon alles dort drüben durcheinan der.
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Als er die zweite Patrone einlegt, weiß er, dass die Sharpsbüchse genau schießt. Und auch Muni tion war genug in der Satteltasche. Wagen und Maultiergespann sind dort drüben schon in größter Gefahr. Der Wagen holt schnell das Gespann ein, welches ja durch das gestürzte Vordertier behindert wird. Es entsteht dort auf dem Steilhang ein unbe schreibliches Durcheinander. Sogar die vier Rei ter können es mit Hilfe strammgehaltener Lassos und mit der Kraft ihrer vier Pferde nicht verhin dern - im Gegenteil, sie müssen ihre Lassos lö sen, weil sie sonst selbst in Gefahr kommen. Eine gewaltige Staubwolke verbirgt eine Menge von all dem Durcheinander. Aber dann krachen Wagen und Maultiere unten auf. Als der erste Reiter aus der Staubwolke kommt, schießt Lassiter ihn aus dem Sattel. Dann muss er das einschüssige Büffelgewehr abermals nachladen.
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Als er fertig ist, findet er kein Ziel mehr. Gewiss, er könnte dort drüben noch weitere Maultiere töten. Doch das würde die anderen Wagen nicht in Gefahr bringen. Denn die befin den sich nicht auf dem Steilhang zum Fluss ab wärts. Es wäre ein Maultiermorden ohne Sinn. Und so lässt er es. Als der leichte Wind den Staub fortgeblasen hat, sieht er die Reiter. Die Carpenter-Brüder haben ihre Männer sämt lich in die Sättel gebracht. Jeder Fahrer hat ja zumindest ein Sattelpferd hinten am Wagen an gebunden. Sie sind insgesamt immer noch acht Mann, denn auch ein Fahrer fehlt. Vier Reiter reiten stromauf - und vier stromab.
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Sie sind versessen darauf, außer Schussweite zu gelangen und dann über den Fluss zu kommen. Sie wollen ihn dann in die Zange nehmen. Er grinst, denn er denkt daran, dass er ja nun zwei Pferde hat. Die Carpenter-Brüder aber haben einen ihrer Wagen mit einer Tonne Golderz verloren. Und wenn dieses Golderz pro Gramm nur einen hal ben Dollar wert sein sollte, so liegen dort gewis sermaßen eine halbe Million Dollar in Staub und Sand zwischen einem zerborstenen Wagen und sterbenden Maultieren, bilden mit diesen Dingen ein böses Durcheinander, in dem auch noch der Fahrer liegt. Lassiter ist zufrieden mit seinem ersten Schlag. Er erreicht die Pferde, sitzt auf und macht sich auf den Weg. An diesem Tag noch reitet er tief in die Santa Catalinas hinein und sucht sich nach Anbruch
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der Dunkelheit einen sicheren Platz. Er wird schon seit Stunden nicht mehr verfolgt, denn die Carpenters gaben auf, sobald sie herausfanden, dass er zwei Pferde bei sich hat, die er beliebig wechseln kann. Lassiter braucht die Nachtruhe nötig, denn sein Bein schmerzt nun höllisch. Er hat es überan strengt. Die Wunde hämmert nun etwas, und er macht sich die größten Sorgen, dass sie sich ent zünden könnte und er bald eine Blutvergiftung bekommen wird. Er erneuert den Verband, gießt Whisky in die Wunde und macht auch den Ver band damit feucht. Trotz der Schmerzen und einem leichten Fieber schläft er bald schon ein. Gegessen hat er vom kalten Proviant. In der Nacht erwacht er mehrmals, und immer wieder stellt er mit Sorge fest, dass die Bein wunde immer noch hämmert und das Desinfizie ren mit dem hochprozentigen Whisky offenbar nicht viel geholfen hat und auch nicht helfen wird.
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Er kann die Wunde nur mit Hilfe des Rasierspie gels betrachten. Als es Tag wird. tut er es und erschrickt. Er begreift, dass er sich die Wunde ausbrennen muss, will er nicht binnen weniger Tage an Blut vergiftung sterben. Denn dann wird er den Brand in der Wunde und im Bein haben. Er flucht bitter und knirscht mit den Zähnen. Was jetzt kommen wird, ist schlimm, das weiß er. Er macht ein Feuer, erhitzt sein Messer. Dann brennt er mit Hilfe des Rasierspiegels die Wunde aus. Er knirscht und stöhnt dabei. Die Tränen schießen ihm in die Augen, und er bekommt manchmal vor Schmerz keine Luft. Lassiter macht sich fünfmal das Messer glühend. Dann erst glaubt er, alles getan zu haben, um sich und das Bein zu retten. Er ist in Schweiß gebadet, und vor seinen Augen flimmert es, wird ihm manchmal schwarz.
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Später dann liegt er stöhnend auf der Decke. Und wenn die Carpenter-Brüder seiner Fährte gefolgt wären - sie würden ihn jetzt abschießen können wie einen kranken Wolf, der sich im Ge büsch verkroch. Zwei Tage später sieht er die fünf Wagen durch den White Wolf Canyon fahren. Es sind noch acht Mann. Die Carpenter-Brüder verloren am San Pedro River einen Wagen voll Golderz und drei Männer. Im Canyon ist es trocken und staubig. Der Creek führt kein Wasser. Die Wagen müssen hinterein ander fahren. Sie wirbeln eine Menge Staub auf. Die beiden Carpenter-Brüder reiten vorne, er kunden das Gelände und sind vielleicht darauf vorbereitet, dass er sie wieder mit Schüssen aus dem Hinterhalt aufhalten will. Ihr noch verbliebener Reiter reitet am Schluss. Er verschwindet immer wieder im Staub.
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Jeremy Lassiter überdenkt noch einmal alles. Dann reitet er hinunter und hält sich dabei in der Deckung eines Arroyos und unten in einer Schlucht, in die der Arroyo übergeht. Als der Mann sich einmal umwendet und zu rückblicken will, ist Lassiter schon dicht bei ihm. Er lässt das Pferd einen schnellen Sprung ma chen und benutzt das schwere Büffelgewehr wie eine lange Keule. Er trifft ihn unbarmherzig, er hat keine Wahl. Der Mann fällt lautlos vom Pferd. Lassiter, der sein Reservepferd sattellos freige lassen hat, nimmt sich dieses Tier, denn es ist sehr viel besser als das freigelassene Reserve pferd. Er bleibt im Staub etwas zurück, so dass man ihn vom Wagen her - wenn der Fahrer zurückblicken sollte - nicht erkennen kann.
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Aber nach einer Viertelstunde etwa reitet er vor wärts und taucht bald neben dem Wagen auf, das ledige Pferd immer noch neben sich führend. Der Fahrer blickt ihn mit dem ersten Blick gleichgültig an. Dann aber erkennt er ihn im wirbelnden Staub, öffnet den Mund zum Schrei und greift zugleich auch nach der Schrotflinte, die griffbereit neben ihm in einem Ständer steckt. Lassiter lässt ihn schreien, denn solch ein Schrei kann auch dem Achtergespann gelten. Aber als der Mann den Doppellauf auf ihn rich tet, kommt er ihm mit einem Revolverschuss zu vor. Dann reitet er nach vorn zu den beiden Füh rungstieren und stößt den Schrei eines angreifen den Pumaweibchens aus. Und auch die beiden Führungstiere reagieren nicht anders als das Pferd damals. Sie brechen nach der anderen Seite aus. Das ganze Gespann ist von einer Sekunde zur anderen verrückt und
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gerät sofort in Panik. Sie rennen mit dem Wagen auf den trockenen Creek zu. Jeremy Lassiter aber ist jetzt auf der Flucht. Er will sich von den Carpenter-Brüdern und de ren vier Fahrern, die sich schnell beritten machen können, noch nicht stellen lassen - noch nicht. Denn der Tag der Vergeltung hat noch nicht be gonnen. Dies jetzt war immer noch ein Vorgeplänkel. Als er aus dem Staub heraus ist und sich um blickt, sieht er die beiden Carpenter-Brüder hin ter sich. Aber sie verfolgen ihn nur eine knappe Meile weit. Dann geben sie auf. Sie sehen ein, dass sie den Abstand zu ihm nicht verkürzen können. Sie
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möchten sich von ihm nicht so weit von ihren mit kostbarer Ladung gefüllten Wagen fortlo cken lassen. Sie haben im Vorbeireiten den letz ten Wagen in den trockenen Creek rasen und dort umkippen sehen. +++ Es geht Jeremy Lassiter nicht gut. Sein Bein schmerzt wie die Hölle, und das Reiten ist ihm eine schreckliche Qual. Vielleicht macht er deshalb den Fehler, den Wa genzug nicht noch einmal zu beobachten. Ja, es ist ein schlimmer Fehler, doch er kann nicht an ders. Er muss sich erst einmal einen Platz su chen, an dem er ein oder zwei Tage rasten und seine Wunde pflegen kann. Nur einen einzigen Trost hat er. Die Schmerzen in seiner Wunde sind die Folgen des erbar mungslosen Ausbrennens und nicht mehr einer Entzündung und Blutvergiftung. Aber dennoch wurde die Wunde durch das Ausbrennen größer und schmerzhafter.
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Er findet an diesem Tag noch einen guten Platz bei einer Quelle, an dem er rasten und sich erho len kann. Vierundzwanzig Stunden später geht es ihm bes ser, doch er lagert noch weitere zwölf Stunden und bricht dann auf. Sein Bein ist nun sehr viel besser. Er wird jetzt wieder lange Strecken im Sattel bleiben können, ohne unter zu starken Schmerzen zu leiden. Sein Ziel ist völlig klar. Er kennt das Land gut genug, und er hat längst begriffen, dass die Carpenter-Brüder mit ihrer großen Beute nach California wollen. Und um das zu können, müssen sie durch die Santa Catalinas und über den Santa-Cruz-Pass zum Santa Cruz River hinunter, durch das Gila River-Land hinüber zum Colorado. Dann können sie sich entscheiden, ob sie mit
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Flussbooten den Colorado hinunterfahren oder weiter nach Westen trecken sollen. Sie müssen über den Santa-Cruz-Pass. Er kennt den Pass gut genug. Dort wird er oder will er ihnen den Rest geben. Dort am Santa-Cruz-Pass soll der Tag der Ver geltung sein. Er muss sich nun sogar etwas beeilen, will er vor dem Wagenzug den Pass erreichen. Denn er hat sechsunddreißig Stunden gerastet. Die Wagen werden inzwischen mehr als vierzig Meilen ge fahren sein. Dies allein ist schon in diesem rauen Land ein Zwölf-Stunden-Ritt für ihn. Oh, er kennt die Ge fahr ganz genau! Er weiß, dass die CarpenterBrüder immer noch einen überzähligen Mann haben, selbst wenn sie mit fünf Wagen kommen. Dieser überzählige Mann könnte vorausgeritten sein, um den so wichtigen Pass freizuhalten.
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Doch er muss es riskieren. +++ Zwei Tage später sieht er das Camp in der Nacht. Das Feuer brennt dicht neben dem engen Wa genweg, und er zählt nur vier Wagen. Also ist jener Wagen, dessen Gespann er wild machte, im trockenen Creek irgendwie zerbro chen. Vielleicht hat man seine Ladung zum größ ten Teil auf die vier anderen Wagen verteilt. Er hat den Carpenter-Brüdern nun doch schon böse eingeheizt. Doch als er nun weiter nach Westen reitet, um noch in dieser Nacht den Passaufgang zu errei chen, da weiß er, dass am nächsten Tag alles restlos ausgetragen werden wird, was auszutra gen ist. Dann wird der Tag der Vergeltung sein.
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Er ist hungrig, müde und ausgebrannt, als er ge gen Mitternacht den Canyon erreicht, der bald schon eine enge Schlucht wird, von der aus sich dann der schmale Passeinschnitt windet. Die Nacht ist wieder mond- und sternenhell. Alle aufragenden Dinge werfen Schatten. Lassiter zögert. Er hat immer noch sein Reserve pferd bei sich. Jetzt möchte er das Tier freigeben. Doch aus irgendeinem Gefühl heraus behält er es an den langen Zügeln neben sich, obwohl er da durch eine Hand weniger hat. Sein einziges Tier könnte er notfalls auch mit den Schenkeln len ken. Er reitet in den Canyon, folgt diesem und hält schließlich an, als der anfangs breite Creek im mer enger wird. Der Creek wird rechts von ei nem Wasserfall geboren. In die Schlucht geht es dann etwas steiler hinauf. Die Achtergespanne werden hier alle Kräfte brauchen, zumal die Wa gen wahrscheinlich sehr viel schwerer beladen wurden.
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Lassiter hält an. Die Schluchtwände sind hier schon so eng, dass nur noch wenig Silberlicht vom Himmel hereinfallen kann. Der Weg ist schmal. Im Gegenverkehr könnten zwei Wagen züge einander kaum passieren. Lassiter wittert regelrecht hinauf. Er sendet sei nen Instinkt voraus, konzentriert sich mit all sei nen Nerven auf irgendwelches Erahnen. Nun, er hat ein ungutes Gefühl, doch nichts warnt ihn vor einer unmittelbaren Gefahr. Er reitet weiter, immer weiter, verlässt die Schlucht, reitet über eine vom Mondlicht über flutete Terrasse und ist bereit, in Sekundenbruch teilen auf das geringste Geräusch oder Zeichen zu reagieren. Aber nichts rührt sich, gar nichts. Es fällt kein Schuss. Und so hält er an, sitzt ab und hinkt, gebückt und
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aufmerksam im Mondlicht den Boden prüfend, umher. Er findet nichts gar nichts, was darauf schließen lassen könnte, dass hier auch nur ein einziger Reiter in den vergangenen Tagen herübergeritten kam. Lassiter sitzt wieder auf, reitet weiter hinauf lässt die Windungen des Wagenweges hinter sich. Und als er oben auf dem Passsattel ist, da glaubt er fast schon, allein zu sein mit seinen beiden Pferden. Wenn nur nicht das merkwürdige Gefühl in ihm wäre. Es ist eine Unruhe, doch noch kein Warn signal. Er sitzt ab im Schatten einiger Felsen. Und auch jetzt macht er sich erst noch einmal auf die Su che nach irgendwelchen Spuren oder Zeichen. Er findet keine Anhaltspunkte, die darauf schlie ßen lassen, dass er nicht allein hier oben ist. Also
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macht er es sich bequem. Sein Bein schmerzt wieder schlimm. Es tut gut, sich auszustrecken und nicht mehr im Sattel sitzen zu müssen. Er isst und trinkt etwas, macht jedoch kein Feuer, begnügt sich mit einer kalten Mahlzeit. Und dann hört er das Geräusch. Plötzlich warnt ihn sein Instinkt. Er hat den Colt neben sich liegen, nimmt ihn in die Hand. Und dann hört er Jago Carpenters Stimme neben sich sagen: "Ich habe dich, Bruderherz. Ich hätte dich schon umlegen können wie einen dummen Hammel, aber dann würdest du nicht gewusst haben, dass einer von uns Carpenters dich noch erwischt hat. Du hast verloren, Amigo. Und das musste ich dir sagen. Jetzt ..." Lassiter bewegt sich doch noch. Und er bewegt sich schnell.
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Er spürt den Einschlag der Kugel, sieht auch das Mündungsfeuer keine drei Schritte entfernt. Er rollt weiter, sieht nochmals das Mündungs feuer und weiß nicht, ob er zum zweiten Male getroffen wird. Er schießt nun selbst liegend schräg nach oben, blickt zum dritten Mal in das Mündungsfeuer und wundert sich, dass er nicht noch ein weiteres Mal getroffen wird. Aber dann in es aus. Jago Carpenter kommt einen schleifenden Schritt näher, fällt vor ihm auf die Knie und bemüht sich, den Colt zu halten und auf ihn zu richten. Aber das schafft er nicht. Und so sagt er nur noch mühsam: "Du Hunde sohn bist mit dem Teufel verbündet. Der Teufel will uns Carpenters vernichten." Die letzten Worte haucht er mühsam.
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Dann fällt er. Am nächsten Vormittag führt Sid Carpenter die vier Wagen die Kehren des Passanstieges hinauf. Die Achtergespanne können nur mühsam he rumkommen, und manchmal ist zwischen den Wagenrädern und dem Rand des Steilabfalles keine Handbreit fester Weg mehr. Als von oben das Büffelgewehr zu feuern be ginnt und das Lasttier des vordersten Wagens es ist das rechte Tier - in den Abgrund stürzt, da bei das ganze Gespann und schließlich auch den Wagen mitreißt, da weiß Sid Carpenter, dass der Tag der Vergeltung gekommen ist und es keinen Aufschub oder Rückweg mehr gibt. Lassiter ist dort oben und schießt. Und sein Bruder wird gewiss schon tot sein. Denn sonst würde Lassiter nicht schießen kön nen. Sid Carpenter blickt sich nicht mehr nach den
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Wagen um. Das braucht er nicht, denn er hört alles - die wilden Schreie seiner Männer, die Schreie der Maultiere - und dann das Krachen der Wagen, die über den Rand kippen oder am Steilhang aufschlagen, bevor sie tausend Fuß in die Tiefe fallen und mit Tausenden Tonnen Stei nen und Geröll abwärts gleiten in irgendwelche Abgründe. Sid Carpenter will das alles nicht sehen. Er weiß, dass er verloren hat. Das ganze Gold ist weg. - Seine Männer werden sich wahrscheinlich gar nicht retten können. Und sein Bruder Jago, der ein solch schlauer Indianer sein wollte, liegt gewiss tot dort oben auf der Passhöhe. Immer wieder hört Sid Carpenter das Krachen der Büffelbüchse. Aber er wird nicht getroffen. Ihm gilt noch keine Kugel. Erst als er oben ist, blickt er zurück.
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Von seinem ganzen Wagenzug ist nichts mehr zu
sehen.
Da sieht Sid Carpenter wieder nach vorn.
Mitten auf dem Trail liegt sein Bruder Jago.
Und dahinter, etwas seitlich davon an einem Fel sen, lehnt Lassiter.
Aber Lassiter ist verwundet. Sid Carpenter sieht es. Lassiter muss an einem Felsen lehnen, um überhaupt stehen zu können. Also hat Jago ihn doch irgendwie schlimm er wischt.
Dennoch konnte Lassiter den Wagenzug vernich ten.
Sid Carpenter sitzt ab, geht zu seinem toten Bru der und kniet bei diesem nieder.
Aber er kann für Jago nichts mehr tun -gar nichts
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mehr. Und so erhebt er sich und geht vorwärts. Nach dem dritten Schritt zieht er den Colt und beginnt zu schießen. Er trifft nicht, obwohl er zweimal abdrücken kann, bevor er Lassiters Mündungs feuer sieht. Die Kugel hält ihn auf. Er fällt auf die Knie wie wenige Stunden zuvor sein Bruder auch. Dann stirbt er kniend. "Du Hundesohn", sagt er noch mühsam. Lassiter sieht ihn dann zur Seite fallen. Und er denkt mühsam: Das war es also. Es ist vorbei. Aber auch ich bin am Ende. Ich kann nicht zu Golden Ann zurückkehren. Nein, das schaffe ich nicht. Es wäre schön geworden mit ihr. Aber man muss wohl immer den vollen Preis zahlen und bekommt nichts geschenkt. Nicht mal den Tag der Vergeltung - nicht mal den. Er setzt sich.
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Der Felsen, an dem er anlehnt, ist rot von Blut.
Ende
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