Seewölfe 96 1
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Seewölfe 96 1
Kelly Kevin 1.
Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht. Etwas anderes als Luft schien über der winzigen Urwaldlichtung zu lasten, ein schwarzes, zähflüssiges Wabern, das mit dem heraufdämmernden Morgen grau wurde und sich wie klebriger Leim über die Haut legte. Ein unsichtbares Gewicht drückte auf die Männer, die im Schlaf der Erschöpfung lagen. Es erschwerte das Atmen, aber es waren nicht diese mühsamen Atemzüge, die den Seewolf weckten. Philip Hasard Killigrew fühlte den rauhen Stein des Felsblocks im Rücken, an den er sich gelehnt hatte. Und er fühlte noch etwas anderes: eine leichte Bewegung an seiner Brust. Reglos verharrte er, ohne den Rhythmus seiner Atemzüge auch nur im geringsten zu ändern. Wenige Tage in der Fieberhölle von Guayana hatten ihn gelehrt, wie man den hundertfältigen Gefahren des Urwalds begegnet. Vorsichtig öffnete er die Augen. Graue Dunkelheit. Zwischen Baumriesen, Schlinggewächsen und toten Stämmen erinnerte die Luft an regloses, schmutziges Wasser. Behutsam senkte Hasard den Kopf —und brauchte seine ganze Beherrschung, um nicht zusammenzuzucken. Quer über seine Brust ringelte sich eine dünne, schillernde Schlange. Der flache Reptilienkopf bewegte sich, unruhig und suchend. Der schlanke Leib leuchtete zinnoberrot, hatte winzige schwarze Punkte und schwarze, grünlich gesäumte Streifen. Selbst im grauen Morgenlicht war die Schönheit des Farbenspiels zu erkennen, doch Hasard hätte gern darauf verzichtet, eine wenn auch noch so schöne Giftnatter aus der Nähe zu bewundern. Sein Mund wurde trocken. Immer noch rührte er sich nicht, aber er konnte nicht verhindern, daß sein Herz gegen die Rippen trommelte. Die Natter richtete den Kopf auf, als spüre sie das dumpfe Pochen. Lautlos glitt der schimmernde Schlangenleib weiter, bewegte sich über die Fetzen von Hasards
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Hemd, berührte kühl und glatt seine nackte Haut, und ein eisiges Prickeln lief über seinen Körper. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder. Jetzt nur keine Panik, keine unbedachte Bewegung! Hasard hatte noch nie eine solche Schlange gesehen, aber er hatte genug über diese buntschillernden Biester gehört, um zu wissen, daß sie giftig waren und angriffslustig wurden, wenn irgendetwas sie erschreckte. Hasard hatte nicht vor. das Tier zu erschrecken. Aber dicht neben ihm schliefen Ferris Tucker und Big Old Shane, lag Edwin Carberry mit seiner Donnerstimme, und wenn der erst einmal wach wurde... Behutsam löste Hasard seine Hand von dem feuchten Felsen. Inch um Inch bewegte er sie aufwärts und spreizte Daumen und Zeigefinger zu einer offenen Klammer. Der Schweiß, im tropischen Urwald ohnehin ein Dauerbegleiter, rann in Bächen über sein Gesicht und brannte in den Augen. Nur noch wie durch einen Schleier sah er den sacht schwingenden Kopf der Natter und seine eigene Hand, die sich unendlich langsam auf das Tier zuschob. Er grub die Zähne in die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Für den Bruchteil einer Sekunde konzentrierten sich alle seine Nerven und Sinne, dann zuckte seine Rechte blitzartig vor. Knapp unter dem flachen Kopf bekam er die Natter zu fassen, riß sie von sich weg und sprang keuchend auf die Beine. Der Schlangenleib zuckte und peitschte, weit öffnete sich der. Rachen mit den spitzen Giftzähnen. Hasards Faust preßte sich zusammen. Mit geschlossenen Augen drückte er zu, bis der Reptilienkörper erschlaffte. Dann erst schleuderte er die Natter mit einer angeekelten Bewegung von sich: „He, was ...“ Dan O’Flynn war es, der als erster aus dem Schlaf schreckte und blindlings hochtaumelte. Hinter und neben ihm richteten sich die anderen Männer auf, ächzten, blinzelten und versuchten, die
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bleierne Schwere aus den Gliedern zu schütteln. Sie starrten den Seewolf an, dann die buntschillernde, jetzt leblose Schlange, dann wieder Hasard, und seine zusammengepreßten Lippen verrieten ihnen deutlich, was passiert war. „Himmel, Arsch und Kabelgarn“, stöhnte Ed Carberry ergriffen. „Du sagst es. Ich hätte das Biest fast am Hals gehabt.“ Hasard rieb sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und lächelte verzerrt. „Wir müßten was gegen diese verdammte Brut unternehmen“, knurrte der Profos. „Und was? Unsere Wachen können nicht auf die Spanier und auch noch auf Schlangen aufpassen. Die Biester sieht und hört man ja nicht. Wir müssen so schnell wie möglich aus dieser stinkenden Hölle heraus und zurück auf die gute alte ,Isabella’ - das ist es!“ Ja, das war es. Die Männer nickten zustimmend, aber Hasard wußte selbst, daß es leichter gesagt als getan war. Die „Isabella“ saß auf einer Untiefe vor der Teufelsinsel fest und wurde von Spaniern bewacht. Zwar hatten sie den Dons eine vernichtende Niederlage beigebracht, hatten zwei Galeonen mit Brandsätzen vernichtet und heillose Verwirrung gestiftet, aber inzwischen war der anfängliche Triumph über diesen Teilerfolg längst verflogen. Sie hatten sich erneut in den Urwald zurückziehen müssen, in eine Hölle, die ihnen mit mörderischer Hitze, Fieber, Schlangen und hundert anderen Gefahren zusetzte. Sie waren erschöpft, am Ende ihrer Kraft, und mußten ständig damit rechnen, von den rachedurstigen Spaniern aufgespürt zu werden. Wenn sie auch jetzt, nach dem heimlichen Besuch Dan O’Flynns und Hasards an Bord der „Isabella“, über ein Boot, ein paar Pistolen, einen Beutel mit Perlen und einige Werkzeuge verfügten - von einer ausreichenden Ausrüstung und Bewaffnung konnte noch lange nicht die Rede sein. Trotzdem kannten sie alle nur ein einziges Ziel: die Teufelsinsel. Hasard dachte nicht
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daran, die „Isabella“ aufzugeben. So wenig wie Ben Brighton daran dachte, Tucker, Carberry, Dan, Big Old Shane oder einer der anderen. Selbst Bill, der fünfzehnjährige Schiffsjunge, brannte darauf, es den Dons zu zeigen. Und Dans Vater, der alte Donegal Daniel O’Flynn, der wegen seines Holzbeins am meisten unter dem schrecklichen Marsch durch die Fieberhölle gelitten hatte, bewies seine wiedererwachten Lebensgeister, indem er die Spanier mit Flüchen belegte, bei denen selbst der eisenharte Profos nur noch staunen konnte. Jetzt allerdings war der zähe alte Mann zu sehr mit seinen schmerzenden Gliedern beschäftigt, um noch zu fluchen. Hasard ließ die Wachen ablösen und sah nach Smoky, dem der Kutscher ein Stück Blei aus der Schulter geholt hatte und dem es jetzt schon etwas besser ging. Bill, Blacky, Stenmark und der hagere Gary Andrews hatten Früchte gesucht, die zugleich den Durst löschten. Mit den ersten Sonnenstrahlen begann der Dschungel zu dampfen. Im weißen, erstickenden Dunst kauerten die Seewölfe auf der Lichtung und berieten ihre nächsten Schritte. Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, streichelte gedankenverloren den Griff der mächtigen Axt, die er schon während der Gefangenschaft auf der Teufelsinsel an sich gebracht hatte. Ohne ein solches Ding an seinem Gürtel hätte er sich nur als halber Mensch gefühlt. Er war froh, daß er die Axt hatte, aber das konnte ihn nicht darüber hinwegtäuschen, daß es mit ihrer Bewaffnung ziemlich trübe aussah. „Wir können die ,Isabella’ nicht unter den Augen der Dons wieder flottmachen“, sagte er. „Und mit den paar Pistolen und Messern können wir nicht die Teufelsinsel leerräumen und einen Krieg mit Cayenne anfangen.“ „Aber der schwarze Segler wird uns suchen“, erklärte Bill mit funkelnden Augen. Hasard nickte grimmig. Ja, der schwarze Segler würde sie suchen, nachdem die „Isabella“ nicht an dem vereinbarten
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Treffpunkt zwischen Paramaribo und Cayenne erschienen war. Siri-Tong und Thorfin Njal würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Aber auch der Wikinger und die Rote Korsarin konnten nicht hellsehen. „Suchen und finden, das sind zwei Paar Schuhe“, knurrte Ed Carberry. „Sollen wir hier vielleicht Wurzeln schlagen, was, wie? Sollen wir warten, bis diese spanischen Rübenschweine die alte ‚Isabella’ in die Luft sprengen, bevor wir ihnen die Haut in Streifen von ihren Affenärschen ... Ah, du verlauster Decksaffe!“ Der letzte Fluch galt Arwenack, dem Schimpansen, der sich wie auf ein Stichwort aus dem grünen Himmel der Baumwipfel auf Carberrys Schulter herabgehangelt hatte. Jetzt sprang er keckernd auf den Boden und rettete sich zu seinem besonderen Liebling Dan O’Flynn. Hasard grinste leicht. Der Schimpanse hatte sich tagelang allein auf der „Isabella“ versteckt, bis er und Dan ihn bei ihrem heimlichen Besuch von Bord geholt hatten. Und der Seewolf mußte zugeben, daß er das Maskottchen der Crew vermißt hatte. „Wir sollten herausfinden, was die Spanier vorhaben“, schlug Ben Brighton, der Bootsmann, in seiner ruhigen Art vor. Hasard nickte. „Richtig, Ben. Da sie uns immer noch suchen, müßte es uns gelingen, auf eins ihrer Lager zu stoßen. Wenn wir ihre Pläne kennen, können wir sie durchkreuzen und uns darauf einstellen. Allerdings müßten wir dafür etwas beweglicher sein“, fügte er hinzu, wobei er unwillkürlich nach dem breiten, massiven Halseisen tastete, unter dem die aufgeschürfte Haut bei jeder Bewegung wie Feuer brannte. Auch die anderen trugen noch diese Erinnerungsstücke an die mörderische Gefangenschaft auf der Teufelsinsel. Von den Ketten hatte sie Ferris Tucker mit der Axt befreit, doch die Halseisen waren nicht so leicht zu lösen. Welche Qual es war, sich mit diesen Dingern schnell bewegen zu müssen, hatten Hasard und Dan bei ihrem Ausflug auf die „Isabella“ zur Genüge erfahren.
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„Diese niederträchtigen Kakerlaken“, knirschte Carberry. „Diese Rübenschweine! Diese dreimal um die Rahnock gewickelten Klabautermänner ...“ Er stockte abrupt. Denn neben ihm war Big Old Shane aufgestanden und griff in seiner bedächtigen Art nach dem Beutel mit den Werkzeugen, den Hasard von der „Isabella“ mitgebracht hatte. Der Hüne suchte darin herum, kratzte seinen grauen Bart und blickte dann Hasard an: „Wenn ich es richtig sehe, willst du dieses Himmelfahrtskommando ja wohl anführen, was?“ „Und ob du das richtig siehst“, erwiderte der Seewolf. „Na, dann setz dich mal! Das kriegen wir schon. Wozu ist man schließlich Schmied auf Arwenack gewesen - was, wie?“ Carberry blähte die Nasenflügel. Fing jetzt auch schon dieser Graubart an, sich über ihn lustig zu machen, indem er seine Sprüche klaute? Der Profos murmelte etwas von Haut und Streifen und Affenarsch, aber dann sah er fasziniert zu, wie Big Old Shane mit seinen riesigen, aber ungeheuer geschickten Pranken das Schloß von Hasards Halseisen untersuchte. Der hünenhafte Schmied nickte ein paarmal. Schließlich wählte er einige Nägel verschiedener Größe als Werkzeuge aus. Einmal holte er kurz Luft, und dann bogen seine kräftigen Finger die stabilen Nägel zu Haken zurecht, als beständen sie aus Wachs statt aus Eisen. Was dann folgte, war ein Geduldsspiel. In mühseliger Arbeit knackte Big Old Shane das Schloß des Halseisens. Die anderen sahen zu: fasziniert, brennend vor Ungeduld. Jedesmal, wenn einer der Haken abrutschte, zuckten sie zusammen, fluchten unterdrückt. Ihre Nerven wurden auf eine harte Probe gestellt, aber sie würden noch feststellen, daß bei dem Delinquenten mehr als nur die Nerven strapaziert wurde. Das Halseisen lag eng an, und es scheuerte empfindlich auf der ohnehin zerfetzten Haut, wenn Shane seine nicht eben schmalen Finger dahinter schieben mußte. Abrutschende Nagelspitzen hinterließen Kratzer, ein paarmal hatte Hasard das
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Gefühl, im nächsten Moment zu ersticken. Sein Blick glitt über die Gesichter der Männer, die in stummer Spannung verharrten, und er fragte sich, warum, zum Teufel, Ed Carberry nicht für ein bißchen Unterhaltung sorgte mit einigen saftigen Verwünschungen gegen die Spanier, die ihnen diese Teufelsdinger angelegt hatten. „Jetzt“, brummte Big Old Shane nach einer Weile. Das Wort wurde von einem Ruck begleitet, der Hasard fast den Kopf abriß, aber dafür schepperte das Halseisen neben ihm auf den Felsen. Erleichtert atmete er auf, tastete über die zerschundene Haut an der Kehle und zog rasch die Finger zurück, weil es höllisch brannte. Mit einem grimmigen Lächeln wickelte er sich einen Fetzen Tuch um den Hals. Als Verband war das zwar völlig ungeeignet, aber es würde wenigstens das Schlimmste verhüten: daß Insekten ihre Eier in den Wunden ablegten und sich diese gräßlichen Maden bildeten, die die Haut anfraßen und schlimme Entzündungen verursachten. „Und jetzt?“ fragte Big Old Shane mit einem tiefen Atemzug. Hasard sah in die Runde. Er blickte in abgezehrte Gesichter, eingesunkene, fiebrig glänzende Augen. Eigentlich war jeder seiner Männer reif für eine lange Erholungspause. Eigentlich! Aber sie hatten ja keine Wahl, wenn sie in dieser Hölle nicht elend verrecken wollten. „Ben und Dan“, sagte Hasard knapp. „Ferris, Ed Carberry, Matt Davies, Batuti ...“ Und damit war klar, wer an dem kitzligen Stoßtrupp-Unternehmen teilnehmen würde. * Der „Eilige Drache über den Wassern“ lag mit aufgegeiten Segeln auf der Höhe zwischen Paramaribo und Cayenne. Wie schwarzes Filigran hoben sich Masten und Stangen im Morgengrauen ab. Die See war ruhig, im Osten über der Kimm lag gleich dem Widerschein einer Feuersbrunst die Glut der aufgehenden Sonne.
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Siri-Tong stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Ihre rote Bluse leuchtete im brennenden Rot des erwachenden Morgens. Die leichte Brise griff in ihr langes schwarzes Haar, hob es an und ließ es wie ein dunkles Vlies um ihre Schultern fließen. Massig und dunkel ragte neben ihr die Hünengestalt des Wikingers auf. Thorfin Njals Bart wehte, der Wind strich über die zottigen Felle, die seine Hüften, den Rücken und den mächtigen Brustkasten bedeckten. Nicht einmal hier in den Tropen trennte sich der Riese aus dem Norden von seiner Fellkleidung. Genauso wenig, wie er sich je von dem Kupferhelm trennte, dessen Beulen und Kratzer nur zu deutlich bewiesen, wie oft er seinen Träger schon vor einem gespaltenen Schädel bewahrt hatte. „Es ist sinnlos, glaube ich.“ Die Stimme ertönte aus dem Halbdunkel. Thorfin Njal verengte die Augen, die Rote Korsarin fuhr leicht zusammen. Nicht, weil sie die dunkle Gestalt hinter sich nicht vermutet hatten, sondern weil es höchst ungewöhnlich war, daß der Boston-Mann in einer solchen Situation den Mund auftat. „Es ist sinnlos“, wiederholte er leise. „Jetzt kommen sie nicht mehr.“ Siri-Tong blähte die Nasenflügel und sog die frische, feuchte Luft ein. Ihre schrägen Augen schimmerten, als sie noch einmal die verschwimmende Linie der Kimm absuchte. „Sie werden kommen“, beharrte sie. „Nein, Siri-Tong.“ Der Wikinger formtedie Worte tief in der Kehle und wandte sich mit einer bedächtigen Bewegung um. „Sie sind vorausgesegelt, Siri-Tong! Wenn sie auf dem Weg bis hierher in irgendeinen Schlamassel geraten wären, hätten wir es bemerkt, schließlich haben wir Augen im Kopf. Nein, sie kommen nicht mehr. Sie sind schon weiter im Süden.“ „Sie wären rechtzeitig zurückgekehrt“, protestierte die Rote Korsarin. Der Wikinger zuckte mit den mächtigen Schultern. „Sie wären rechtzeitig zurückgekehrt, wenn sie es gekonnt hätten. Wahrscheinlich sind sie weitergesegelt und
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dann in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Im Süden ...“ „Cayenne“, murmelte die Rote Korsarin. „Ja, Cayenne. Und ein Haufen Spanier!“ Für einen Moment blieb es still. Siri-Tong starrte nach Süden. In ihren dunklen Mandelaugen entfachten die Reflexe der aufsteigenden Sonne ein seltsames Feuer. Sie spürte den Wikinger hinter sich. Ohne daß ein Wort fiel, wußte sie, daß er längst die gleiche Entscheidung getroffen hatte wie sie selber. „Nach Süden“, sagte sie. „Thorfin, laß alles Zeug setzen auf dem verdammten Kahn!“ Der Wikinger lächelte. Für ein paar Sekunden starrte auch er in den seltsamen, irisierenden Dunst zwischen Himmel und Wasser. Dann wölbte sich sein Brustkasten unter einem tiefen Atemzug, und seine Stimme dröhnte über die Decks wie leibhaftiges Donnergrollen. „Alle Mann an Deck! An die Brassen und Fallen! Setzt Fock und Großsegel! Setzt die Toppsegel!“ Er lächelte immer noch, während es auf dem schwarzen Segler schlagartig lebendig wurde. Für ein paar Atemzüge schienen sich die Blicke des Wikingers und der jungen Frau ineinander zu verbeißen. „Nach Süden“, brummte Thorfin Njal, der die Rote Korsarin besser als jeder andere kannte. „Wir werden sie schon finden.“ 2. Der Stoßtrupp brach in der Abenddämmerung auf. Big Old Shane übernahm das Kommando bei den Zurückbleibenden. Die wenigen Messer und Pistolen hatten sie sich geteilt. Auch die Männer in ihrem Versteck brauchten Waffen, da sie jederzeit damit rechnen mußten, von den Spaniern aufgespürt zu werden. Oder sich gegen andere Gefahren verteidigen zu müssen, fügte Hasard in Gedanken hinzu. Kaimane in dem nahen Fluß, Jaguare, Giftspinnen, Schlangen, die mörderischen Buschmeister ...
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Hasards Hand tastete unwillkürlich nach der Pistole in seinem Gürtel. Mit einer ganz ähnlichen Gebärde schloß der rothaarige Ferris Tucker die Finger um den Stiel seiner riesigen Axt. Dan O’Flynn und Ben Brighton hatten ebenfalls Pistolen, Ed Carberry benutzte ein langes, schmales Messer, das ihm überhaupt nicht gefiel. Batuti, der riesige Gambia-Neger, kämpfte sonst mit einem mächtigen Morgenstern, doch der war auf der „Isabella“ zurückgeblieben. Der schwarze Herkules behalf sich: ein scharfkantiger, kindskopfgroßer Stein, geknüpft in ein Netz aus zähen Lianen, würde ihm die gleichen Dienste leisten. Und Matt Davies brauchte keine Waffe. Bei ihm genügte es, wenn er den Stahlhaken seiner Armprothese etwas nachschliff. Hasard hatte die Spitze, als die Männer einen der halbüberwucherten Wildpfade einschlugen, die sich durch den Urwald wanden. Sie würden dem Fluß folgen. Denn niemand, auch die Spanier nicht, entfernte sich im Urwald weit von den Flußläufen, da sie die einzige sichere Orientierungsmöglichkeit boten. Hasards Blick bohrte sich in das schattenhafte Halbdunkel. Dan O’Flynn, der von allen Seewölfen die schärfsten Augen hatte, war dicht neben ihm. Noch gingen sie rasch und traten fest auf, denn das Geräusch ihrer Schritte würde die Schlangen verscheuchen. Hoffentlich, dachte Hasard. Hinter ihm fluchte Ed Carberry leise und ausdauernd, weil irgendein Insekt ihn gestochen hatte. Die Biester schwirrten zu Myriaden herum, der ganze Wald schien zu summen. Carberry bückte sich, um die Stichstelle mit angefeuchtetem Lehm zuzuschmieren. Sie hatten Stunden damit zugebracht, ihre zerfetzte Kleidung soweit in Ordnung zu bringen, daß sie möglichst vollständig die Haut bedeckte. Ganz hatte sich das nicht bewerkstelligen lassen, und in einem ständigen stummen Kampf mußten sie sich der Insekten erwehren und die bereits vorhandenen Stiche abdecken, damit sie
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nicht wieder zu großen, eiternden Wunden wurden. Ein paar umgestürzte Baumriesen versperrten den Weg. Schlingpflanzen wucherten, große rötlich-weiße Blüten schwammen bleich und fremdartig im Schatten. Hasard machte eine Bewegung, um den ersten der toten Stämme zu überklettern, da: packte ihn Dan O’Flynn plötzlich am Arm. „Da!“ flüsterte er. „Auf dem Stamm!“ Hasard starrte in die Richtung, die er wies und zuckte zusammen. Eine handtellergroße Spinne bewegte sich auf der rauhen Rinde. Sie vollführte blitzartige, fast springende Bewegungen. Jetzt verharrte das Biest wieder. Der braungefärbte Körper hob sich kaum noch von dem Baumstamm ab. „Eine Wolfsspinne“, sagte Ben Brighton leise. „Die Spanier auf der Teufelsinsel hatten eine Heidenangst vor diesen Spinnen.“ „Hab ich auch gehört“, sagte Dan. „Man kann einen Arm oder ein Bein verlieren, wenn man gebissen wird.“ „Spinne tot!“ erklärte Batuti. Und ehe ihn jemand als Lügner hinstellen konnte, schlug er blitzschnell mit dem lianenumwickelten Stein zu. Der braune Leib der Spinne wurde zerquetscht. Batuti grinste und zeigte seine prachtvollen weißen Zähne. Einer nach dem anderen überkletterten die Seewölfe die toten Baumstämme, aber jetzt waren sie noch vorsichtiger als vorher. Minuten später erreichten sie eine Lichtung im Dschungel. Überwachsene Felsen ragten zwischen den Baumriesen hoch. In unmittelbarer Nähe gurgelte bereits das Wasser des Flusses. Ein eigentümlich strenger Geruch hing in der Luft, und Batuti war der erste, der ihn erkannte. „Leopard“, flüsterte er. „Verdammich!“ Hasard biß sich auf die Lippen. „Hier gibt’s keine Leoparden. Nur Jaguare ...“ „Nur?“ flüsterte Ed Carberry verbiestert. „Sie weichen den Menschen aus. Jedenfalls solange sie sich nicht angegriffen fühlen.“ Hasard kniff die
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Augen zusammen. Sein Blick glitt über die Lichtung, tastete die Waldsäume ab - und dann sah er plötzlich etwas ganz anderes als einen Jaguar. „Spanier“, sagte er leise. „Himmel, Arsch!“ Es War Carberry, der das fast unhörbar wisperte. Die Seewölfe rührten sich nicht. Noch standen sie gut gedeckt im Schatten, und jetzt sahen auch die anderen die Gestalten, die sich vom Fluß her durch das Dickicht gezwängt hatten. Spanische Soldaten. Schweißbedeckte, erschöpfte Gestalten, ein kleiner Trupp. Auf der Lichtung verharrten sie und unterhielten sich murmelnd. Ben und Hasard, die beide perfekt Spanisch sprachen, konnten jedes Wort verstehen. „Ein Wahnsinn, sage ich euch!“ „Als ob es noch Sinn hätte, die verdammten Engländer zu suchen. Die sind doch längst von den Kaimanen gefressen worden.” „Oder von den Piranhas. Oder sie sind vom Buschmeister gebissen, die Pythons haben ihnen die Knochen gebrochen, die Maden fressen sie ...“ Der dritte Mann schien gar nicht genug davon zu kriegen, die verschiedenen Scheußlichkeiten aufzuzählen, die der Urwald zu bieten hatte. Aber seiner gepreßten Stimme war anzuhören, daß er lediglich seine eigene Angst betäuben wollte. Dabei hatte er bei der Aufzählung aller Gefahren sogar noch eine vergessen, wie er wenig später am eigenen Leib erfahren sollte. Jäh und unvermittelt ertönte das Fauchen. Von dem überwucherten Felsen löste sich ein schlanker, schwarz und gelb gefleckter Leib, grüne Raub-tierlichter glommen. Mit einem gewaltigen Satz schnellte der Jaguar auf die schreckensstarren Spanier zu - und der Mann, der sich eben noch ausgemalt hatte, was den Seewölfen alles zugestoßen sein konnte, stieß einen schrillen Schrei aus. Instinktiv warf er sich zur Seite. Ein Prankenhieb streifte seine Schulter und schleuderte ihn zurück. Geschmeidig landete der Jaguar auf dem Boden, drehte
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sich fauchend um die eigene Achse und schnellte von neuem vorwärts. Ein mörderischer Prankenhieb schleuderte den zweiten Spanier ins Dickicht, aber da hatten die anderen bereits ihre Pistolen gezogen. Peitschend entluden sich die Waffen. Das Raubtier zuckte unter den Einschlägen und bäumte sich auf. Wieder fielen Schüsse. Während eine der Kugeln den Schädel des Jaguars zerschmetterte, rappelte sich der Mann, dem der Prankenhieb die Brust aufgerissen hatte, schreiend auf und floh durch die Büsche. Der Körper des Jaguars zuckte noch ein paarmal, bevor er verendete. Immer noch war das Geschrei des Flüchtenden zu hören. Der Mann war in Panik und vermutlich halb wahnsinnig vor Schmerzen und Angst. Seine Kameraden folgten ihm hastig, auch der Mann, den es an der Schulter erwischt hatte. Er taumelte, umklammerte seinen Arm mit der Hand und er war gerade im Dickicht verschwunden, als am Fluß die erschrockenen Stimmen der anderen aufgellten. . „Nicht, Juan! Vorsicht! Der Baumstamm! Der Baumstamm!“ Wasser spritzte. Das Geschrei des Verletzten erstarb in einem dumpfen Gurgeln. Dann war da nur noch ein jähes, brodelndes Geräusch, als werde das Wasser von einem unsichtbaren Sturm aufgewühlt. „Madre de Dios!“ rief einer der Spanier mit überkippender Stimme. Hasard schluckte. Er wußte, was geschehen war. Vermutlich hatten die Spanier ihr Lager auf der anderen Flußseite. Der Verletzte mußte den Wasserlauf unvorsichtig überquert haben, in panischer Hast, von Entsetzen gejagt. Der Baumstamm, den er benutzt hatte, war umgekippt, er selbst ins Wasser gefallen, und dann … „Piranhas“, sagte Ben Brighton, als habe er Hasards Gedanken gelesen. Der Seewolf nickte. Ja, Piranhas. Diese kleinen, gierigen Räuber lauerten im Schlamm der Flüsse. Das Blut des
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verletzten Mannes mußte sie sofort angelockt haben. Und wenn sie erst einmal ihre mörderischen Zähne in eine Beute schlugen, dann dauerte es Sekunden, bis nur. noch ein Skelett übrigblieb. Minutenlang verharrten die Spanier schweigend. „Zurück ins Lager!“ befahl dann einer von ihnen mit belegter Stimme. „Aber vorsichtig! Der Himmel mag wissen, ob der Stamm jetzt noch unser Gewicht trägt.“ Gemurmel. Dann Stille — die atemlose Stille, die den Versuch der Spanier begleitete, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Nichts geschah. Kein neuer Schrei, kein neues Opfer, das ins Wasser klatschte. Hasard atmete tief durch und wandte sich zu den anderen um. „Na also“, sagte er trocken. „Die Burschen werden uns ganz freiwillig in ihr Lager führen. Wir brauchen ihnen nur noch zu folgen.“ * Eine gute Stunde später glommen die Campfeuer der Spanier durch die Dunkelheit. Sie hatten ihr Lager auf einem felsigen Plateau in der Nähe des Ufers aufgeschlagen, in respektvoller Entfernung vom Wasser. Die kleinen Feuer bildeten einen Kreis um das große Zelt des Capitans und die primitiven Unterkünfte der Soldaten. Die Flammen sollten Raubtiere und Insekten vertreiben. Gegen die zahllosen Schlangen konnten sie nichts ausrichten. Die Gesichter der Wachen, die mit ihren Musketen patrouillierten, waren von Angst gezeichnet. Auch die Pferde in dem primitiven Seilgeviert am Ufer scharrten und schnaubten unruhig. An der Küste oder im freien Gelände hätte ihr Verhalten die Menschen vor drohenden Gefahren warnen können, aber hier im Urwald, in einer Umgebung voller ständiger Gefahren, versagte dieses Alarmsystem. Die spanischen Wachen wirkten äußerst nervös, und sie wurden noch nervöser, als
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sie erfuhren, was dem Suchtrupp zugestoßen war. Einen zweiten Trupp würde der Capitan während der Nacht bestimmt nicht auf die Beine bringen. Hasard grinste, während er sich vorsichtig zurückzog. Immerhin war es eine gewisse Genugtuung, zu sehen, wie wenig Spaß den Spaniern die Jagd auf die Flüchtlinge bereitete. Lautlos richtete sich Hasard im Schatten eines mächtigen Baumstamms auf, und die anderen sahen ihm gespannt entgegen. „Etwa zwanzig Mann, schätze ich“, berichtete er flüsternd. „Wir warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat, dann werden Ben und ich versuchen, an das Zelt des Capitans heranzukommen.“ Dans Augen funkelten. „Und hinterher werden wir ihre Pferde auseinandertreiben, ihnen irgendeine hübsche Überraschung bereiten und ...“ „Wir werden nichts dergleichen tun“, sagte Hasard trocken; „Und warum?“ „Weil wir sie sonst am Hals haben“, knurrte Carberry. „Und weil sie dann wissen, daß uns doch noch nicht die Kaimane gefressen haben. Du wirst dich gefälligst ruhig halten, wenn du nicht willst, daß ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten ...“ „Ph!“ zischte Dan. Und Carberry verzichtete darauf, seinen Lieblingsspruch zu Ende zu bringen, weil es sowieso nur ein halber Spaß war, wenn er nicht mit voller Lungenkraft brüllen durfte. Zehn Minuten später brachen sie auf. Hasard und Ben hatten ihre Pläne im letzten Augenblick geändert und beschlossen, sich doch besser zu trennen. Der Seewolf wollte sich um das Zelt des Capitan kümmern, Ben Brighton versuchte, sich so nah wie möglich an die Soldaten heranzupirschen, die an den Feuern kauerten und sich leise unterhielten. Dan O’Flynn ließ in aufgeregtem Flüsterton eine ganze Breitseite von Argumenten los, um ebenfalls mitzudürfen. Aber Hasard erklärte ihm,
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daß auch bei der Rückendeckung jemand sein müsse, der Spanisch sprach – und das konnte Dan noch von der Zeit her, als er mit einigen anderen auf der „Tortuga“ als Rudersklave geschuftet hatte. Dan, Ferris Tucker, Carberry, Matt und Batuti übernahmen es, die Aktion zu sichern. Hasard und Ben Brighton pirscht n sich dicht am Waldsaum entlang und umrundeten das Lager. Etwa in Höhe des großen Zeltes trennten sie sich. Ben schlich weiter, um die Gespräche der Soldaten am Feuer zu belauschen, Hasard ließ sich auf Knie und Ellenbogen nieder und robbte vorsichtig über die freie, nur von feuchtem Gras bewachsene Fläche zwischen den Zelten. Kerzen brannten in der Behausung des Capitans und zeichneten die Schatten von Männern auf die ausgeblichene Leinwand. Jemand gähnte verhalten, dann erklangen spanische Stimmen. „ ... haben eigentlich recht, Capitan. Ich sehe auch nicht recht ein, daß wir hier herumkriechen und unser Leben riskieren, nur um diese Engländer wieder einzufangen. Warum überlassen wir sie nicht den Kaimanen; den Jaguaren, den Schlangen?“ „Dir scheint die Vorstellung, die diese Kerle gegeben haben, immer noch nicht zu genügen, Pedro.“ Die Stimme des Capitans klang scharf und befehlsgewohnt. „Das ist kein Alligatorenfutter. Wer es schafft, von der Teufelsinsel zu fliehen, der wird auch mit dem Urwald fertig. Und vergiß nicht die beiden Galeonen, Pedro! Sie liegen auf dem Meeresgrund! Versenkt von -den Kerlen, die du für zu schlapp hältst, um mit ein bißchen Viehzeug fertig zu werden.“ Pedro sog die Luft durch die Zähne. Ein scharfer Atemzug, der erkennen ließ, was er persönlich von dem „bißchen Viehzeug“ hielt. „Aber was sollen die Burschen denn noch groß anrichten?“ fragte er beharrlich. „Ohne ihren Kahn sind sie verloren. Und wir haben doch schon Schiffe angefordert, die die ,Isabella’ wieder flottmachen und in Sicherheit bringen sollen.“
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Hasard hielt den Atem an. Schiffe angefordert, klang es in ihm nach. Schiffe, um die „Isabella“ wieder flottzumachen! Der Seewolf biß die Zähne zusammen, daß es knirschte. Wenn das zutraf, was er da gehört hatte, wenn es so weit kam, dann war die „Isabella“ verloren. Es durfte einfach nicht wahr werden. Die „Isabella“ aufgeben, das würden sie nur im äußersten Notfall, nur dann, wenn es überhaupt keine andere Möglichkeit zum Überleben gab. Sicher, sie konnten irgendwo an der Küste ein anderes Schiff kapern. Aber kein anderes Schiff war mit der „Isabella“ zu vergleichen. Sie würden auf jeden Fall darum kämpfen, sie würden jede noch so kleine Chance nutzen, und sie würden es schnell tun müssen. „Diese Kerle sind auch ohne ihr Schiff noch gefährlich“, sagte der spanische Capitan. „Wir müssen sie finden. Wir müssen ...“ Hasard hatte genug gehört. Vorsichtig zog er sich zurück. Er blieb im Schutz eines der kleineren, primitiveren Zelte, aus dem rhythmische Schnarchtöne drangen. Erst unmittelbar daneben richtete er sich auf, wollte mit ein paar raschen Schritten zum Waldsaum hinüberhuschen — und schien im nächsten Moment zu Stein zu erstarren. Fünf, sechs Yards von ihm entfernt stand ein spanischer Soldat, der offenbar gerade nach den Pferden gesehen hatte. Beim Anblick des schwarzhaarigen, blauäugigen Riesen wurden die Augen des Burschen rund wie Teller. Er riß den Mund auf. Holte Luft, um zu schreien — und Hasard wußte verdammt genau, daß er ihn nicht mehr daran hindern konnte... * Jäh und schrill zerriß der Schrei die Stille. Ein Schrei, der unvermittelt abbrach und zu einem dumpfen Gurgeln wurde, denn da hatte Hasard dem Mann bereits die Faust ans Kinn geschmettert. Mit verdrehten Augen klappte der Spanier zusammen. Hasard sprang über ihn weg, aber er war
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sich nur zu klar darüber, daß der eine Schrei genügt hatte, um das Lager zu wecken. Die Männer, die sich am Feuer unterhalten hatten, sprangen auf, wie von Giftnattern gebissen. Der Capitan riß fast sein Zelt um, als er durch den Eingang stürmte. Spanische Befehle flogen hin und her, Flüche erklangen. Hasard blieb geduckt stehen, mit zusammengekniffenen Augen. Es wäre einfach gewesen, zu den anderen zu stoßen und einfach im Urwald zu verschwinden, aber noch befand sich Ben Brighton auf der anderen Seite des Lagers. Hasard mußte wissen, wohin sich Ben Brighton wandte. Oder ob er überhaupt noch Gelegenheit erhielt, sich irgendwohin zu wenden. Ganz kurz nur war jenseits der Feuer Bewegung zu sehen — und einer der Spanier stieß einen schrillen Schrei aus. „Da ist er! Da! Da ist einer von den Kerlen!“ Auch ohne seine Spanisch-Kenntnisse hätte Ben Brighton verstanden, was die Stunde geschlagen hatte. Er schnellte hoch, warf sich herum, und stürmte in Richtung Ufer. Fünf, sechs Spanier nahmen die Verfolgung auf. Ben Brighton wandte sich nach rechts, wischte dicht vor den Kerlen vorbei, aber es waren noch genug andere da, um ihm den Weg abzuschneiden. „Nicht schießen!“ brüllte der Capitan. „Ich will ihn lebend! Nicht schießen!“ Sehr freundlich, dachte Hasard, während er bereits geduckt quer durch das Lager raste. Er mußte zu Ben. Und die anderen hatten ebenfalls begriffen und würden ihnen eine Gasse freikämpfen. Schon hörte er huschende Schritte, das Knacken von Ästen. Auch die Spanier hörten es, die auf jener Seite des Camps aus ihren Zelten krochen. Fassungslos und erschrocken starrten sie ins Halbdunkel. Im nächsten Moment hatten sie das Gefühl, als habe die Hölle selber ihre sämtlichen Teufel ausgespuckt, um sie zu vernichten. „Arwenack!“ dröhnte es aus der Schwärze. „Ar-we-nack! Ar-we-nack!“ Wie Donner rollte der alte Schlachtruf der „Isabella“-Crew über das Lager. Gestalten
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brachen aus dem Dickicht, wilde, entfesselte Gestalten, die Messer und Pistolen schwangen. Eine riesige Axt glänzte im Mondlicht. Weiße, gebleckte Zähne schimmerten aus einem kohlschwarzen Gesicht. Die Spanier hatten das Gefühl, von einer halben Armee angegriffen zu werden, und selbst Hasard fragte sich für einen Moment, wie um alles in der Welt ein Grüppchen von fünf Männern ein solches Gebrüll zuwege bringen konnte. Na ja: wo der Profos dabei war, Ferris Tucker, der schwarze Herkules Batuti, dessen Stimme es notfalls mit den Löwen seiner afrikanischen Heimat aufnahm... Die ersten Spanier flohen. Diejenigen, die Ben Brighton den Fluchtweg abschneiden wollten, waren für einen Augenblick verwirrt. Ihre Köpfe flogen herum. Sie wollte sehen, wer oder was da ins Lager eindrang gleich einem Gewittersturm, aber stattdessen sahen sie einen großen, breitschultrigen Mann mit flatterndem schwarzem Haar und eisblauen Augen, der mitten im Camp plötzlich aus dem Boden zu wachsen schien und unmittelbar vor ihnen emporschnellte wie ein Kastenteufel. Hasard stieß einen wilden Kampfschrei aus. Mit einem letzten Sprung brach er die Front seiner Gegner auf, griff sich die beiden nächstbesten Spanier und donnerte ihre Schädel gegeneinander. Klaglos kippten sie um. Drei andere griffen zu ihren Pistolen, der letzte Mann versuchte mit zitternden Fingern, die Muskete hochzubringen. Bisher war kein Schuß gefallen. Die Spanier brauchten ein bißchen Zeit, um den Schock abzuschütteln, und die Seewölfe sparten, soweit sie überhaupt Schußwaffen hatten, die Munition für den Notfall. Noch dachte keiner von ihnen daran, diesen Kampf gegen eine Übermacht als echten Notfall zu betrachten. Am anderen Ende des Lagers mischte sich donnerndes „Arwenack“-Gebrüll mit ersten Schmerzensschreien. Hasard trat einem der Spanier die Beine unter dem
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Körper weg und entriß dem MusketenMann die lange, unhandliche Waffe. Die beiden anderen Soldaten schafften es sogar noch, ihre Pistolen zu ziehen. Aber sie konzentrierten sich zu sehr auf den schwarzhaarigen Teufel, der da so plötzlich aufgetaucht war, und sie hatten Ben Brighton in ihrem Rücken glatt vergessen. Der Bootsmann schlug zweimal kurz und trocken mit dem Kolben der Pistole zu. Das war zuviel für die spanischen Schädel. Hasard grinste wild. „Achtung!“ schrie Ben. Der Seewolf wirbelte herum, um zu sehen, was von hinten auf ihn zu rückte. Spanier! Sieben, acht Männer unter der Führung des Capitans – entschlossen, diese lächerlichen zwei Engländer lebend zu überwältigen. Der Capitan hielt ein Schießeisen von gewaltigen Ausmaßen in den Fäusten. Oder besser, er hatte es in den Fäusten gehalten. Denn bevor er dazu kam, irgendjemanden damit zu bedrohen, wurde es ihm schon von Urgewalten aus den Fingern gerissen. Hasard benutzte die Muskete als Keule. Außer der Pistole erwischte er auch gleich noch einen Soldaten an der Schläfe und einen zweiten mit leicht gebremster Wucht seitlich am Hals. Beide verloren schlagartig die Lust an dem Kampf. Der Capitan taumelte, schrie und schlenkerte seine lädierten Hände. Mörderischer Schmerz raste durch seine Arme. Er sah nur noch roten Nebel, und aus diesem Nebel heraus zuckte etwas auf seine Stirn zu, das er nicht mehr zu erkennen vermochte. Es war der Kolben von Ben Brightons Pistole. Der Capitan legte sich schlafen. So konnte er seine Leute auch nicht mehr mit sämtlichen Strafen der Hölle bedrohen. Und die restlichen fünf Soldaten dachten nicht mehr daran, ihre Knochen zu riskieren, um diese beiden wie leibhaftige Tiger kämpfenden Engländer lebendig zu fangen. Finger krallten sich um Pistolenkolben und Säbelgriffe.
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Jetzt wurde es kritisch, aber jetzt war es wenigstens für diese fünf Angreifer fast zu spät. Denn inzwischen hatten die restlichen Seewölfe mit den Spaniern aufgeräumt, die auf der anderen Seite des Lagers verschlafen aus ihren Zelten gekrochen waren. Wie eine Horde entfesselter Teufel stürmten sie in Richtung Ufer, allen voran Batuti mit gebleckten Zähnen und wild rollenden Augen, und auch diesmal wurden die Spanier für eine entscheidende Sekunde von heillosem Schrecken gelähmt. Hasard und Ben schnappten sich je einen der Kerle. Zwei begingen den Fehler, sich den Angreifern mit gezogenen Pistolen entgegenzuwerfen. Dabei gerieten sie in die Bahn von Batutis Ersatz-Morgenstern. Ein einziger Schuß. fiel, aber der Anblick des riesigen, wahrhaft furchterregenden Negers ließ den Schützen in die Landschaft zielen. Wirkungslos fetzte die Kugel durch Blätter und Ranken, dann räumte der lianenumwickelte Stein unter den Spaniern auf. Der letzte, der noch stehen konnte, raste wie vom Leibhaftigen gehetzt davon. Er raste dorthin, wo sich inzwischen der Rest der Spanier zum Angriff gesammelt hatte. Die Soldaten feuerten. Blindlings! Als ersten trafen .sie ihren eigenen Kameraden, der aufheulend zusammenbrach, aber die Seewölfe wußten, daß das nicht so bleiben würde. Jetzt waren sie es, die laufen mußten. „Feuer!“ zischte Hasard. Er, Ben Brighton und Dan O’Flynn schossen auf die Verfolger, brachten sie dazu, sich in panischem Schrecken zu Boden zu werfen, und hetzten weiter. Sie wußten, daß sie jetzt um ihr Leben liefen. Nach ein paar Schritten schwenkten sie vom Ufer ab, sprangen auf das etwas höher liegende Plateau und nahmen den Weg quer durch das Lager. Musketen und Pistolen krachten, aber jetzt versperrten die Zelte das Schußfeld der Spanier. Nur ein einziges Mal mußten die Seewölfe noch ein Stück freies Gelände überqueren. Ben, Dan und Hasard hatten ihre Waffen
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nachgeladen. Sie feuerten auf schattenhafte Gestalten zwischen den Felsen, ließen sich fallen, als die Schüsse der Spanier peitschten, und rollten über den steinigen Boden. Dan O’Flynn stieß einen Fluch aus und stolperte. Hasard packte ihn am Arm und riß ihn wieder hoch. Die beiden waren die letzten, die in den Schutz des Dickichts tauchten. Minuten später glitten sie lautlos durch den grünen Schatten. Die einbrechende Dunkelheit schützte sie. Und die Spanier zeigten wenig Lust, die Verfolgung aufzunehmen. Ihre Stimmen klangen vom Lager herüber, aufgeregte Stimmen, und Hasard hätte jede Wette gehalten, daß das große Spektakel bestimmt nicht mit einem heldenhaften Beschluß enden würde. Er behielt recht. Niemand verfolgte sie. Auf dem Rückweg zu ihrem Versteck hatten sie bereits Gelegenheit, ungestört über die neue Lage nachzudenken, und das waren reichlich düstere Gedanken. 3. „Gei auf Fock und Großsegel! Fier weg Besan!“ Die Stimme der Roten Korsarin schnitt scharf durch die Stille und hallte über das dunkle Wasser. Querab hob sich die Küste Guayanas als unregelmäßige schwarze Linie vom glutroten Widerschein der versunkenen Sonne ab. Cayenne war nicht mehr weit, aber es hatte keinen Sinn, bei Nacht weiterzusuchen. Die Mondnächte waren hell in den Tropen, doch unter Land lagen die Schatten wie schwarze Nebelbänke. Siri-Tong wollte nicht riskieren, in der Dunkelheit an der „Isabella“ vorbeizusegeln. Das große Schiff verlangsamte seine Fahrt, die letzten Segel wurden festgelascht. „Fallen Anker!“ ertönte das Kommando. Die Ankertrosse rauschte aus, wenig später lag der schwarze Segler sicher auf Reede. Siri-Tong sog tief die Luft ein. Ihre Nasenflügel bebten, in den dunklen, leicht
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schräggestellten Augen glänzte das letzte Licht. Sie starrte zur Küste hinüber, die allmählich mit Wasser und Himmel verschwamm. Bald würde der rote Widerschein verlöschen, der Himmel sich in eine tiefschwarze Kuppel voller glitzernder Brillanten verwandeln und das Mondlicht die Umgebung mit fahlen Schleiern verhüllen. Siri-Tong grub die kleinen, scharfen Zähne in .die Unterlippe. Ungeduld ließ ihre Nerven vibrieren. Ungeduld - und das Bewußtsein, daß dieses ganze Unternehmen ohnehin nur eine hauchdünne Erfolgschance bot. Daß die Seewölfe mit der „Isabella“ in Schwierigkeiten steckten, stand fest. Schwierigkeiten aber lauerten hauptsächlich an der Küste: stark befestigte spanische Siedlungen, Galeonen und Karavellen, die diese Siedlungen schützten, schwer bewaffnete Geleitzüge, die die Schiffe mit Gold-, Silber- oder Gewürzladungen zu Verbänden zusammenfaßten und nach Spanien oder dem Sammelpunkt Havanna brachten. Siri-Tong und der Wikinger nahmen an, daß die „Isabella“ in eine spanische Falle geraten sei. Wie sollten sie die Galeone finden? Allzu dicht an die Küste durften sie sich nicht heranwagen, denn der schwarze Segler war ein zu auffälliges Schiff, das bei den Spaniern sofort Verdacht erregt hätte. Zu weit draußen zu segeln, war erst recht sinnlos. Die Stimmung an Bord war auf den Nullpunkt gesunken. Immer wieder begannen die Männer zu murren. Vielleicht hätten sie ihrem Ärger längst offen Luft gemacht, wenn da nicht die unerschütterliche, stets wachsame Anwesenheit von Eike, Olig, Arne und dem Stör gewesen wäre, die genau wie der Boston-Mann in der allgemeinen Unruhe wie Felsen in der Brandung wirkten. Siri-Tong preßte die Lippen zusammen. Ihr Blick glitt über die Gesichter, die im Halbdunkel nur noch verschwommenen Ovalen glichen. „Arne, du übernimmst das Kommando über die erste Wache! Thorfin, BostonMann - ihr kommt in meine Kammer!“
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Die Rote Korsarin wandte sich so heftig ab, daß das lange Haar flog. Thorfin Njal grinste leicht. Er wußte, was in der jungen Frau vorging. Und auch ihm riß ja allmählich der Geduldsfaden. Sein kräftiger Kiefer mahlte, als er wenig später neben dem schweigsamen Boston-Mann auf die Kapitänskammer zuschritt. Siri-Tong wartete bereits. Sie hatte sämtliche Karten, über die sie verfügten, im Licht der blakenden Lampe auf dem Tisch ausgebreitet. Nachdenklich betrachtete sie ein Blatt Papier, auf dem sie etwas aufgezeichnet hatte. „Der Küstenabschnitt, den wir in den vergangenen drei Stunden passiert haben“, sagte sie. „Es muß uns gelingen, die Stelle auf einer der Karten zu finden. Wenn wir sie haben, wissen wir wenigstens, was zwischen hier und Cayenne noch kommt.“ „Und dann können wir uns einen Platz suchen, um erst mal das Schiff zu verstecken.“ Der Wikinger nickte verstehend. „Nur bringt uns das der ‚Isabella’ nicht näher.“ Die Rote Korsarin schüttelte ihre Mähne zurecht. „Doch“, sagte sie. „Weil ich nämlich nach Cayenne gehe.“ Für einen Moment blieb es still. Der Boston-Mann vollführte eine Bewegung, bei der sein großer goldener Ohrring klimperte. Thorfin Njal kratzte sich mit allen fünf Fingern an seinem Kupferhelm. Er versuchte erst gar nicht, Widerspruch anzumelden. Erstens, weil er Siri-Tongs Talent kannte, ihren Kopf durchzusetzen, und zweitens, weil auch er wußte, daß sie die Sache anders anpacken mußten, als sie es bisher versucht hatten. „Hm“, brummte er. „Sicher, wenn der ‚Isabella’ irgendwo in dieser Gegend etwas zugestoßen ist, wird man in Cayenne natürlich davon wissen. Also werden wir uns dort erkundigen.“ „Ich komme mit“, sagte der Boston-Mann. „Ha!“ knurrte der Wikinger. Glaubst du vielleicht, ich lege mich an Bord auf die faule Haut, während ...“ „Du kannst nicht mitkommen, Thorfin“, sagte Siri-Tong sanft. „Ein Wikinger in
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einer spanischen Siedlung - die Leute würden zusammenlaufen. Der BostonMann geht notfalls als Spanier durch. Und Frauen laufen in Städten wie Cayenne in allen Schattierungen herum. Da müßte schon eine Meerjungfrau mit Schuppenschwanz erscheinen, um aufzufallen.“ Thorfin Njal grinste und kratzte eichzeitig heftiger an dem Kupferhelm herum, was den Widerstreit seiner Gefühle spiegelte. Auch in diesem Punkt, wußte er, hatte die Rote Korsarin recht. Wikinger in Cayenne waren ein Ding der Unmöglichkeit. Und die anderen rauen Kerle? Gut, es gab viele darunter, die sich für die Rote Korsarin hätten in Stücke hacken lassen. Aber man sich voll und ganz auf sie verlassen konnte, wenn Rum, Musik und willige Mädchen lockten, war entschieden zu bezweifeln. „Gut“, brummte der Wikinger. „Das ist ja soweit ganz schön. Aber wir können mit unserem Drachen nicht in den Hafen von Cayenne segeln und ...“ „Wir versuchen es auf dem Landweg. Irgendeine Tarnung werden wir ohnehin brauchen. Vielleicht können wir uns einen Frachtwagen schnappen, irgendeine kleinere Handelskarawane überfallen.“ „Genau das“, sagte der Wikinger. „Als Händler werdet ihr bestimmt keinen Verdacht erregen. Und auf diese Weise können wir auch gleich die Frauenkleider herschaffen, die du brauchst.“ Der Boston-Mann nickte beifällig. Thorfin Njal grinste breit. Erst mit leichter Verspätung fiel ihm auf, daß Siri-Tong ihn anstarrte, als habe er von ihr verlangt, nackt auf einem Kamel in Cayenne einzureiten. „Frauenkleider?“ wiederholte die Rote Korsarin. „Sagtest du Frauenkleider, Thorfin?“ „Sicher, wir ...“ „Ich soll Weiberröcke anziehen? Ich?“ Der Wikinger seufzte. „Nun hör mal zu! Wir ...“ „Nein!“ fauchte Siri-Tong. Ihre Augen sprühten Funken, und als sie den Kopf schüttelte, schien die schwarze Mähne zu knistern. „Nein, nein, nein! Ich denke nicht
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daran! Nicht in hundert Jahren kriegst du mich dazu, in einem dreimal verdammten, albernen Weiberrock zu steigen! Ich gehe nach Cayenne, wie ich bin!“ „Aber du kannst nicht in Hosen nach Cayenne gehen“, sagte Thorfin geduldig. „Das mußt du doch einsehen! Zehn nackte Wikinger würden weniger Aufsehen erregen als eine einzige Frau in einer Verkleidung, die ...“ „Verkleidung? Hast du Verkleidung gesagt?“ Siri-Tongs Augen sprühten nicht mehr, sondern schleuderten Blitze. Sie atmete so heftig, daß die Knöpfe ihrer roten Bluse in ernsthafte Gefahr gerieten. „Sehe ich vielleicht verkleidet aus, du verrückt gewordener nordischer Steinzeitmensch? Verkleidet sind die albernen Weibsbilder, die in Röcken herumlaufen, mit denen sie an jedem verdammten Belegnagel hängenbleiben und keinen ordentlichen Schritt tun können, ohne sich auf die Säume zu treten. Soll ich mir vielleicht den Degen ans Dingsda hängen, ans Strumpfband oder wie das heißt? Oder soll ich mit einer Hutnadel pieken, wenn mir jemand krummkommt?“ Sie schüttelte den Kopf und atmete tief aus. „Und wenn ganz Cayenne sich auf den Kopf stellt – ich ziehe keine Weiberröcke an. Basta!“ „So“, knurrte der Wikinger. Er hatte schweigend zugehört, weil es ein hoffnungsloses Unterfangen war, die Rote Korsarin unterbrechen zu wollen, wenn sie in Fahrt war. Aber auf seiner breiten Stirn hatten sich tiefe Unmutsfalten gebildet, sein mächtiger Brustkasten hob sich unter einem tiefen Atemzug, und dann war er es, der loslegte. „So!“ wiederholte er. „So ist das! Madame zieht keine Weiberröcke an! Die ganze verdammte Gegend wimmelt von Spaniern, jeder verdammte Don kennt die Beschreibung der Roten Korsarin, aber Madame zieht keine Weiberröcke an! Der Seewolf und seine Männer stecken in wer weiß welcher Klemme, sind vielleicht in Gefangenschaft geraten, werden vielleicht morgen schon abgemurkst, aber Madame zieht keine Weiberröcke an! Madame geht
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in Hosen nach Cayenne! Damit sie innerhalb der ersten fünf Minuten von den Spaniern geschnappt wird, was? Damit sie schneller im Jenseits landet, als irgendjemand denken kann! Vielleicht sind die Dons großzügig und spendieren dir einen hübschen Grabstein. Da kannst du es ja dann einmeißeln lassen: Madame starb in Hosen!“ Er holte Atem. Es klang sehr nach dumpfem Donnergrollen. Siri-Tong schluckte erschrocken. „Aber…“ begann sie, schon merklich kleinlauter. „Tu, was du willst! Aber du mußt dich schon entscheiden. Wenn du auf deinem großen Auftritt als Rote Korsarin in Cayenne bestehst, wirst du bestimmt nichts über die ‚Isabella’ erfahren!“ Zur Bekräftigung seiner Worte ließ der Wikinger die Faust auf den Tisch fallen. Die Seekarten gerieten durcheinander, der Krach erinnerte entfernt an einen Kanonenschuß. Siri-Tong preßte die Lippen zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und schleuderte Blicke, die einen Vulkan hätten einfrieren können. Aber sie wußte, daß Thorfin Njal recht hatte. Ihre nächsten Worte bewiesen es. „Na schön“, sagte sie gepreßt. „An mir soll es nicht scheitern. Schaff mir den verdammten Weiberrock her, und ich werde ihn anziehen.“ * Zwei Stunden später lief der schwarze Segler in eine versteckte Bucht nördlich von Cayenne. Unter Führung des Boston-Mannes gingen ein paar Männer der Crew an Land. In einem halbstündigen Marsch erreichten sie eine der Handelsstraßen, die ins Landesinnere führten, und diesmal meinte es die Vorsehung gut mit ihnen. Die kleine Karawane aus Maultieren und einem hochbeladenen Frachtwagen, die Cayenne zustrebte, war leichte Beute. Zwei Frauen verkrochen sich kreischend unter der Wagenplane, als sie sich plötzlich umringt sahen.
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Die beiden Männer auf den Maultieren waren vom Anblick der wilden, verwegenen Gestalten wie gelähmt und wehrten sich nicht. Sie wurden bleich, als Hilo und der vierschrötige Juan ihre Säbel zogen, aber der Boston-Mann stoppte die beiden mit einem scharfen Zuruf. „Fesselt sie! Hier wird niemand niedergemetzelt, der sich ergeben hat. Wir bringen sie an Bord, klar?“ Juan knurrte etwas Unverständliches, aber er wußte, daß es nicht ratsam war, sich mit dem Boston-Mann anzulegen. Die beiden Spanier atmeten erleichtert auf, auch die Frauen wagten sich jetzt unter der Plane hervor. Sie zitterten an allen Gliedern. Die Aussicht, auf ein Piratenschiff gebracht zu werden, erschien ihnen offenbar als der Gipfel aller Schrecken. Daran konnte auch die Versicherung des Boston-Mannes nichts ändern, sie hätten nichts zu befürchten und man werde sie bald wieder freilassen. Maultiere und Wagen wurden so dicht an die Bucht herangebracht, wie es der Pfad zuließ. Die jüngere der beiden Frauen riß die Augen auf, als der Boston-Mann sie bat, ein paar von ihren Kleidungsstücken leihweise zur Verfügung zu stellen. Für eine Frau an Bord, fügte er hinzu. Da wurde die spanische Lady eifrig, weil sie in dieser Frau ein armes verschlepptes Opfer vermutete. Siri-Tong stand mit funkelnden Augen auf dem Achterdeck, als die Händler an Bord gebracht wurden. Die beiden Spanier vergaßen einen Teil ihrer Angst und kriegten das gewisse Flimmern im Blick, das der Anblick der Roten Korsarin bei fast allen Männern auslöste. Auf die beiden Frauen wirkte die schlanke, straffe Gestalt mit der flatternden schwarzen Mähne, den knappsitzenden Schifferhosen und der roten Bluse einschüchternd. Sie hielten sich an den Händen und preßten sich aneinander wie aufgescheuchte Hühner. Der Anblick des rotbärtigen, in Felle gekleideten Wikingers brachte sie vollends an den Rand einer Ohnmacht.
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Thorfin Njal hatte seine liebe Mühe, ihnen auseinanderzusetzen, was man von ihnen wollte. Siri-Tong hörte schweigend zu. Sie hatte nicht gewußt, daß dieses Gebirge von Kerl soviel Zartgefühl entwickeln konnte, und ihre eisige Miene verriet deutlich, was sie davon hielt, um zwei Weiber in Röcken einen solchen Schmus zu machen. „Kommst du heute nacht noch zu einem Ende, Thorfin?“ fragte sie schließlich gefährlich leise. Der Wikinger grinste. „Aber klar doch! Senorita Agnessa wird dich in eine echte, eh, Landratte verwandeln.“ Beinahe hätte er Dame gesagt, aber er bremste sich, weil er sich nicht gern die Augen auskratzen lassen wollte. „Ihre Kleider dürften dir ungefähr passen“, fuhr er fort. „Und dann, eh, solltest du dein Haar ein bißchen in Locken legen. Zur Tarnung ...“ „Locken? Bist du verrückt?“ „Zur Tarnung!“ wiederholte der Wikinger beschwörend. Siri-Tong warf ihm einen wahrhaft vernichtenden Blick zu, aber diesmal verzichtete sie darauf, ihre Meinung deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Es ging um den Seewolf. Um den Mann, den sie liebte. Um einen wichtigen Verbündeten, wie sie sich selbst einzureden versuchte - und da durfte auch im allgemeinen Interesse kein Opfer zu groß sein. Cookie, der schmierige Koch, sperrte Mund und Nase auf, als er wenig später vorsichtig ein Becken mit glühenden Kohlen in Siri-Tongs Kammer schleppte und die Rote Korsarin in Gesellschaft einer kreidebleichen spanischen Senorita vorfand. Siri-Tongs Blick war so mörderisch, daß dem Koch fast das Kohlenbecken aus der Hand fiel und er schleunigst das Weite suchte. Die Rote Korsarin knallte die Tür zu. Mit verschränkten Armen beobachtete sie, wie die arme Agnessa eine lange Lockenschere in die Glut schob - mit einem Gesicht, als treffe sie die Vorbereitungen für ihre eigene Hinrichtung. Fünf Minuten später war es soweit. Agnessas Finger zitterten, als sie die
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Brennschere aus der Glut nahm und darauf wartete, daß sich das Metall etwas abkühlte. Siri-Tong runzelte die Stirn. Ihr erschien das Ding wie ein äußerst sinnreich konstruiertes Folterwerkzeug. Und damit bearbeiteten Spanierinnen ihre Haare? „Wenn du mich mit dem Ding verbrennst, lasse ich dich kielholen“, versprach sie. Die bedauernswerte Agnessa wurde noch etwas bleicher, obwohl -oder gerade weil sie nicht die geringste Ahnung hatte, was kielholen bedeutete. „Wenn - wenn Sie sich vielleicht setzen würden?“ stammelte sie. Siri-Tong setzte sich. Agnessa stand der Schweiß auf der Stirn, Das Schiff schaukelte in der Dünung. Ihre Finger zitterten. Die rätselhafte Drohung mit dem Kielholen rumorte in ihrem Kopf, und in den nächsten Minuten hatte sie das Gefühl, mit Siri-Tongs schwarzer Mähne einen Kampf auf Leben und Tod auszufechten. Nach einer Viertelstunde fand sie fast schon Spaß an der Sache. Schwesterlich teilte sie ihre eigenen Haarnadeln, um der Frisur den letzten Schliff zu geben. Das Haar wurde in der Mitte gescheitelt und an den Seiten zurückgenommen. Eine Flut weicher Wellen fiel in den Nacken, und als die Rote Korsarin einen Blick in einen Handspiegel riskierte, starrte sie in ein sanftes Madonnengesicht. „Heiliges Kanonenrohr“, murmelte sie erschüttert. Agnessa strahlte, stolz auf ihr Werk, aber das änderte sich, als Siri-Tong ihr einen wilden Blick zuschleuderte. „Raus!“ zischte die Korsarin. „In die verdammten Röcke kann ich allein steigen.“ Agnessa suchte das Weite. Siri-Tong stieg aus den Schifferhosen, schleuderte die Bluse in die Ecke und begann, die diversen Röcke und Unterröcke zu sortieren, die idiotischerweise alle gleichzeitig getragen werden mußten. Eine Hose, stellte sie fest, war auch dabei: ein knielanges Kuriosum mit Rüschen und Bändchen und Schleifchen. Mit Todesverachtung stieg sie hinein,
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schnappte sich das Mieder und warf es zwei Minuten später der roten Bluse hinterher, weil ihrer Meinung nach zwei kräftige Männer nötig gewesen wären, um es zuzuschnüren. Als letztes folgte das Kleid: dunkelrote Seide, ebenfalls mit lächerlich vielen Rüschen und Schleifen. In der Taille saß es wie angegossen. Obenherum spannte es bedrohlich. Und es ließ entschieden mehr sehen, als zwei offene Blusenknöpfe es taten. Jetzt, da sie allein war, warf Siri-Tong einen etwas ausgiebigeren Blick in den Handspiegel. War sie das wirklich selbst? Eben noch hatte sie ausgesehen wie eine exotische Madonna mit Mord im Blick, jetzt trat auch in ihre Augen ein weicherer Ausdruck. Sie lächelte. „Du würdest staunen, Seewolf“, flüsterte sie. Und im nächsten Moment begannen ihre Augen wieder zu funkeln, weil sie sich dabei ertappte, daß sie sich nur zu sehr wünschte, Philip Hasard Killigrew wäre da und könnte sie sehen. Mit einer wilden Bewegung wandte sie sich ab und stieß die Tür auf. Mondlicht fiel auf das Deck. Siri-Tongs Pfirsichhaut schimmerte und hob sich hell und sanft vom dunklen Glanz der Seide ab. Das Haar umspielte ihr rassiges Gesicht in weichen Wellen und untermalte den geheimnisvollen exotischen Zauber ihrer Züge. Die Männer auf der Kuhl hatten das Gefühl, einen Traum zu erleben. Tiefe, andächtige Stille breitete sich aus. Eine Stille, die Siri-Tong erst bewußt wurde, als sich der Wikinger heftig an seinem Kupferhelm kratzte. Ihre Augen blitzten auf. Mit einer heftigen Bewegung stemmte sie die Fäuste in die Hüften, warf den Kopf zurück und verstreute Haarnadeln. „Was steht ihr da und glotzt?“ fauchte sie. „Das ist ein Schiff und kein Schmierentheater. Boston-Mann, wieso, in drei Teufels Namen, ist das Boot noch nicht abgefiert? Bewegt ihr euch jetzt, oder soll ich euch Beine machen?“ -
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Der Boston-Mann flitzte. In die Männer kam schlagartig Bewegung. Thorfin Njal kratzte immer noch ausdauernd an seinem Kupferhelm. „O verdammt“, flüsterte er. Und das war im Moment der einzige Kommentar, der ihm einfiel. 4. Auf dem Weg nach Cayenne war der Boston-Mann noch schweigsamer als sonst. Das lag an der Anwesenheit der verwandelten Frau an seiner Seite. Siri-Tong war durchaus nicht schweigsam. Sie zischte Flüche und Verwünschungen. Ihrer Meinung nach war es heller Wahnsinn, ein Unternehmen wie diese Fahrt mit Planwagen und störrischen Maultieren über miserable Straßen in Röcken zu bewerkstelligen. Was, zum Teufel, machten diese Weiber mit ihren Röcken, wenn sie zum Beispiel auf einem Maultier reiten wollten? Oder beschränkten sie sich etwa darauf, im Wagen zu sitzen und sich spazieren fahren zu lassen? Der Boston-Mann, an den diese Fragen gerichtet waren, zuckte nur mit den Schultern, und Siri-Tong schüttelte sich wütend die letzten Haarnadeln aus der Frisur. Als sie Cayenne erreichten, gaben ihr die wirr auf die Schultern fallende Lockenflut und das düstere Rot der Seide schon wieder die wilde, ungebändigte Schönheit, die ihrem Wesen entsprach. Männer drehten sich auf der Straße um. Bewundernde Blicke folgten der kleinen Karawane. Die spanischen Wachtposten kontrollierten nur flüchtig die Ladung. Einer der Soldaten trat mit glitzernden Augen an den Wagen heran. „Meine Verehrung, Senorita! Sie müssen von weither angereist sein. Bestimmt wären Sie mir sonst schon einmal aufgefallen - eh ...` Er verhaspelte sich nach diesem Ausbruch spanischer Grandezza und schluckte. Siri-Tong lächelte hoheitsvoll. Unter normalen Umständen hätte sie diesem
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langen, dürren Typ mit dem traurigen Pferdegesicht nur soviel Aufmerksamkeit geschenkt, wie nötig gewesen wäre, um ihn aus dem Weg zu scheuchen. Aber jetzt waren die Umstände nicht normal. Der Mann gehörte zu den spanischen Soldaten, und Soldaten waren im allgemeinen gut informiert. Die Rote Korsarin lächelte weiter. „Ja, wir waren lange unterwegs“, bestätigte sie in perfektem Spanisch. „Jetzt suchen wir eine Herberge. Könnten Sie uns vielleicht einen Rat geben, Senor?“ Der Soldat schluckte den Köder so glatt wie einen Löffel Honig. „Aber gern, Senorita! In der ,Reina de Cayenne` finden Sie alles, was Sie brauchen. Auch Vergnügen und Entspannung nach der langen Fahrt, Senorita.“ Er zeigte seine gelben, schadhaften Zähne und blinzelte vertraulich. „Es wäre mir eine Ehre, Sie und Ihren - eh, hmm ...“ Sein Blick suchte den Boston-Mann, der hinter dem Wagen stand und den anderen Soldaten zusah. Siri-Tong dachte an das, was sie verabredet hatten: daß der BostonMann ihren eifersüchtigen Liebhaber spielen sollte, um einen Grund zu haben, sich in ihrer Nähe herumzutreiben. „ ….Begleiter“, half sie dem stotternden Spanier auf die Sprünge. Dann gab sie sich innerlich einen Stoß, damit ihr die nächsten Worte glatt über die Lippen gingen. „Ich bin eine schwache Frau und auf Schutz angewiesen, Senor. Aber Sie - Sie können doch sicher nicht einfach Ihren Posten verlassen, oder?“ Der Spanier strahlte, was sein Pferdegesicht auch nicht schöner werden ließ. „Oh, ich bin hier nur zufällig vorbeigekommen. Mein Name ist Esteban Jerez. Ich tue sonst Dienst auf der Teufelsinsel.“ Siri-Tong überwand sich zu einem leichten Erzittern. „Wie schaurig!“ „Oh, es ist nur ein Name, Senorita. In den letzten Tagen war dort allerdings wirklich der Teufel los. Eine Meuterei gefangener Engländer! Wahre Bestien!“ Die Rote Korsarin hielt den Atem an.
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Gefangene Engländer? Wahre Bestien, die es fertigbrachten, noch in der Gefangenschaft der Spanier den Teufel loszulassen? Siri-Tongs Herzschlag beschleunigte sich, sie fühlte die jähe Erregung bis in die Fingerspitzen, aber sie wußte, daß sie hier und jetzt nicht zu viele Fragen stellen durfte, wenn sie keinen Verdacht erregen wollte. „Ich wußte gleich, daß Sie ein Mann sind, der ein aufregendes Leben führte, Senor“, sagte sie. „Sie müssen mir von sich erzählen! Von Ihren Abenteuern, von der Teufelsinsel ...“ Der spanische Soldat fühlte sich plötzlich, als schwebe er auf Wolken. Nie hatte sich eine so traumhaft schöne Frau für ihn interessiert. Nie hatte irgendjemand an dem stumpfsinnigen Leben, das er führte, auch nur das Geringste aufregend gefunden. Er atmete tief durch, reckte die Schultern und begann, sich als Held zu fühlen. „Mit dem größten Vergnügen, Senorita“, sagte er galant. „Ich bringe Sie und Ihren — eh, hmm — Begleiter zur Herberge. Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen.“ * In der Nähe der Küste endete der Urwald so unvermittelt, daß er eine undurchdringliche schwarze Wand bildete. Ein paar Felsen schoben sich terrassenförmig über den schmalen, im Mondlicht silbern schimmernden Strandstreifen, der die Bucht säumte. Die dünne Erdschicht bot nur Gestrüpp und jungen Palmen Nahrung. Wenn sie eine gewisse Höhe erreicht hatten, stürzten sie um und bildeten ein undurchdringliches Gewirr aus toten Stämmen. Zu beiden Seiten der Bucht stieß der Urwald keilförmig vor, als habe es die Natur darauf angelegt, hier einen Sichtschutz zu schaffen. Die Seewölfe hatten Stunden gebraucht, um diesen Platz zu finden. Dan O’Flynns Idee war es gewesen. Wenn die Spanier ohnehin im Dschungel nach ihnen suchten,
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hatte er gemeint, könne man ja genauso gut an die Küste zurückkehren. Hasard war der gleichen Ansicht gewesen. Vor allem, da ihm durch das belauschte Gespräch im Camp der Spanier klargeworden war, daß sie nicht mehr lange zögern durften, wenn sie etwas unternehmen wollten, um sich die „Isabella“ zurückzuholen. Es würde hart auf hart gehen und ein wahres Höllenkommando werden: ein Höllenkommando, über dessen genauen Ablauf nicht einmal der Seewolf irgendeine Vorstellung hatte. Fest stand, daß die Männer dringend eine ungestörte Nacht brauchten, eine Nacht ohne Insekten, Schlangen, Kaimane und dampfende Urwald-Schwüle. Hier in dieser winzigen, geschützten Bucht waren sie vorerst sicher. Es sei denn, daß sich eine spanische Galeone den Platz als Ankergrund aussuchte, dachte Hasard grimmig. Die konnten sie da in vielleicht entern und dazu benutzen, die „Isabella“ wieder zu besetzen. Wunschträume! Für eine spanische Galeone gab es nicht den geringsten Grund, eine einsame Bucht anzulaufen, statt den Hafen von Cayenne. Hasard Augen zusammen und suchte den Horizont ab, einen dunklen, verschwommenen Horizont, verborgen hinter nebligem Mondlicht. Dabei war der Himmel klar. Wie Brillanten auf schwarzem Samt glitzerten die Sterne, spiegelten sich im Wasser und brachen sich zu funkelnden Lichtpfeilen. Nur dort draußen, dieser seltsame Dunst. Wolken? Ja, es mußten Wolken sein, die über dem Horizont die Sterne verbargen. Wolken, die am Tag vermutlich dünn und gelblich ausgesehen hätten. Hasard furchte die Stirn und sog witternd die Luft ein. Das Wetter in diesem Teil der Welt war ihm nicht mehr fremd, seit er damals unter Kapitän Drake schon einmal Kap Horn gerundet hatte. Er spürte, daß sich da etwas zusammenbraute und ein Wetterumschwung bevorstand. Seine Haltung hatte sich gespannt, als Ben
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Brighton, Ferris Tucker und Ed Carberry neben ihn traten. Auch sie starrten nach Osten und wußten diese seltsamen Dunstgebilde richtig zu deuten - mit dem Instinkt der erfahrenen, von allen Salzwassern der Meere getränkten Seefahrer. Ben Brighton rieb sich mit dem Handrücken über die wuchernden Bartstoppeln in seinem Gesicht: Ed Carberry kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und schob sein Rammkinn vor. „Verdammt!“ sagte er. „Wenn das keinen Sturm gibt, ziehe ich mir selbst die Haut ab!“ „Von deinem verdammten Affenarsch?“ fragte Dan O’Flynn aus dem Hintergrund vorwitzig. „Ha! Willst du frech werden, du Rübenschwein? Soll ich dir final einen Zierknoten in den Hals drehen?“ „Still!“ mahnte Hasard. Der Profos senkte die Stimme. „Von diesem nachgemachten Hering laß ich mich doch nicht verarschen!“ zischelte er empört. „Es sieht wirklich nach Sturm aus“, sagte Ben Brighton nachdenklich: „Nach einem saftigen Sturm! Wenn in dieser Gegend das Wetter erst einmal umschlägt ...“ Er sprach nicht weiter. Inzwischen waren auch die anderen Seewölfe herangekommen, und Dan schlug wohlweislich einen Bogen um den wütenden Profos. „Mist“, murmelte Stenmark. -“Wenn wir tatsächlich Sturm kriegen, und das Wetter erwischt die ‚Isabella’ auf der Untiefe ...“ Auch er ließ das Ende seines Satzes in der Luft hängen. Er brauchte auch gar nicht weiterzusprechen. Denn auch der letzte der Männer wußte, daß die „Isabella“ verloren war, wenn sie dort, wo sie jetzt unverrückbar festsaß, in einen schweren Sturm geriet. „Kkkrrch!“ stieß Batuti hervor. Womit er wohl das Geräusch von brechenden Spanten und wegknickenden Masten andeuten wollte. .,Müssen machen Spanier kaputt, bevor Sturm ‚Isabella’
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kaputtmacht! Köpfe einschlagen! Krach, bumm!“ „Krach, bumm!“ höhnte Stenmark erbittert. „Und dann den Sand unter dem Kiel mit Schaufeln wegbuddeln, was?“ Batuti tippte mit dem Zeigefinger an seine schwarze Stirn. „Nix buddeln! Du blöd im Schädel! Sturm macht vielleicht Wasser unter Kiel von altes ,Isabella’. Klar?“ Hasard hatte gerade das gleiche sagen wollen, wenn auch in etwas anderen Worten. Jetzt grinste er über die sprachlosen Gesichter, mit denen seine Männer den riesigen Gambia-Neger anstarrten. Stenmark sah reichlich verdattert aus. Blacky und Smoky seufzten andächtig. Und Donegal Daniel O’Flynn junior stieß einen schrillen Pfiff aus und hüpfte hoch, um Batuti mit Schwung auf die Schultern klopfen zu können. „Nix buddeln!“ Dans Stimme überschlug sich fast. „Sturm macht Wasser unter Kiel von altes „Isabella’! Ha! Altes ‚Isabella’ vielleicht freikommen und ...“ „Jetzt ist er ganz übergeschnappt“, brummte der alte O’Flynn. Dan ließ sich nicht stören. Seine Augen funkelten, als er Hasard ansah. „Batuti hat recht! Er hat sogar verdammt recht! Wenn der Sturm das Wasser steigen läßt, könnte die Isabella freikommen. Wir brauchen nur noch an Bord zu gehen! Es ist die Einfachheit selber!“ „Sicher“, sagte Hasard trocken. „Wir gehen an Bord, warten auf den Sturm, der vielleicht heute, vielleicht morgen oder vielleicht gar nicht einsetzt, und halten uns inzwischen die Dons vom Leibe. Die Einfachheit selber!“ Dan schluckte. Diesmal fehlte selbst ihm die passende Erwiderung. Und in den Gesichtern der Seewölfe, über die eben noch ein Aufleuchten der Erleichterung geglitten war, malte sich die Erkenntnis, daß die Sache nicht die Einfachheit selber war, sondern im Gegenteil ein äußerst kritisches und riskantes Unternehmen. Hasard faßte, die Schwierigkeiten mit leidenschaftsloser Stimme zusammen. „Es gibt nur eine einzige Chance für uns, und zwar die, bereits an Bord der ‚Isabella’
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zu sein, wenn der Sturm losbricht. Da wir diesen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit voraussagen können, werden wir bei Nacht und Nebel an Bord gehen müssen, lautlos die Wachen ausschalten, uns verstecken und auf irgendeine Weise die Dons über die wahren Verhältnisse täuschen. Da uns das nur für eine gewisse Zeit gelingen kann, müssen wir unter Umständen auch noch kämpfen. Wenn der Sturm ganz ausbleibt, was ohne weiteres möglich ist, haben wir keine Chance mehr. Wenn die Spanier uns vorzeitig entdecken, können wir nur noch beten, daß die Schiffe, die sie angefordert haben. nicht schneller als der Sturm da sind. Dann können sie uns nämlich in aller Ruhe in Fetzen schießen. Dazu ist es nicht einmal nötig, daß wir außergewöhnliches Pech haben. Alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Spanier uns schnappen, es sei denn, daß wir unverschämtes Glück haben.“ Für einen Moment blieb es still. Ferris Tucker fuhr sich mit allen fünf Fingern durch sein rotes Haar. Bill, der Schiffsjunge, sah mit leuchtenden Augen von einem zum anderen. Er hatte noch die ganze Bedenkenlosigkeit des halbwüchsigen Jungen. Die „Isabella“ unter den Augen der verhaßten Dons im Sturm zu entführen, das war ein Abenteuer ganz nach seinem Geschmack. Daß es zur Katastrophe geraten konnte, darüber dachte er im voraus nicht viel nach. Flüchtig glitt Hasards Blick über das Gesicht des Jungen, und er stellte fest, daß Bill immer mehr dem vorwitzigen, tatendurstigen Bürschchen zu gleichen begann, das Dan O’Flynn vor ein paar Jahren gewesen war. Die anderen dagegen nahmen die Dinge nicht so leicht. Sie wußten, daß es Dummheit gewesen wäre, sie leicht zu nehmen. Ed Carberry schob sein Rammkinn vor und knirschte mit den Zähnen. „Noch einmal ergebe ich mich den Dons nicht freiwillig, das schwöre ich!“ stieß er hervor. „Ein zweites Mal legen die mir kein Eisen an, nicht, solange ich lebe. Aber bevor ich abkratze, wird es noch eine
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Menge von diesen verlausten spanischen Affenärschen erwischen“, fügte er hinzu, als versuche er noch im Nachhinein, seinen Worten etwas von ihrem düsteren Ernst zu nehmen. Hasard nickte nur. Nein, ein zweites Mal würden sie sich nicht ergeben, und wenn noch so viele spanische Schiffe ihre Stückpforten öffneten, um die manövrierunfähige „Isabella“ in Fetzen zu schießen. Sie würden sich schon deshalb nicht ergeben, weil es ganz sicher keine zweite Chance gab, von der Teufelsinsel zu entkommen. Ganz davon abgesehen, daß die Spanier diesmal bestimmt kurzen Prozeß mit ihnen machen würden. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen und sah von einem zum anderen. „Wir haben die Wahl“, sagte er. „Entweder das Unmögliche versuchen — oder die ‚Isabella’ aufgeben und gegen eine bessere Überlebenschance eintauschen. Es ist eine Entscheidung, die ich nicht allein treffen kann und will. Also?“ Ein kurzes Schweigen entstand. Hasards eigene Meinung stand längst fest. Aber er wußte, wenn er sie gesagt hätte, wäre die Crew sofort wie ein Mann hinter ihm gewesen. Und das wollte er nicht, nicht in dieser Sache, bei der sie dem Teufel nicht nur den Schwanz langziehen, sondern ihm geradewegs ins Maul greifen würden. „Die ‚Isabella’ aufgeben?“ fragte Dan ungläubig. „Bist du verrückt geworden — ich meine, ist das dein Ernst?“ „Unfug!“ brummte Stenmark. „So’n Blödsinn!“ sagte Matt Davies. „Wir geben doch die ‚Isabella’ nicht auf! Nie!“ „Batuti nix dumm im Kopf. Batuti nicht weg von ,Isabella`.“ „Ben?“ fragte Hasard ernst. Der Bootsmann preßte die Lippen zusammen. Er war von all diesen Männern vielleicht der Besonnenste, derjenige, der auch schon einmal zur Vorsicht riet, zum Nachgeben, statt zum Drauflosstürmen. Aber jetzt hatte er die Hände geballt, und auch in seinem Gesicht stand eiserne Entschlossenheit.
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„Sollen wir das beste Schiff, das je „in England gebaut wurde, den Spaniern schenken?“ fragte er. „Sollen wir zulassen, daß sich die Geschütze der ,Isabella` vielleicht demnächst auf unsere Landsleute. richten? Und daß morgen in Cayenne erzählt wird, wir hätten uns in den Urwald verkrochen, wie—wie ...“ „... wie eine Bande verdammter, verlauster Affen“, vollendete Carberry treffsicher. „Nein. Wir holen uns die ‚Isabella’ zurück. Oder ist etwa jemand anderer Meinung?“ Es war deutlich zu sehen, daß niemand anderer Meinung war. Hasard hob rasch die Hand, um zu verhindern, daß die Crew in einen donnernden Schlachtruf ausbrach. Das Ergebnis war, daß Bill und Dan im Duett ihr „Arwenack“ schmetterten. Laut genug war es immer noch, und für einen Moment löste sich die Spannung in gedämpftem und dennoch befreiendem Gelächter. Hasard warf das lange schwarze Haar zurück. Seine Augen schimmerten wie blaues Eis im Mondlicht. „Gut“, sagte er ruhig. „Und jetzt zum praktischen Teil der Angelegenheit. Wir werden nicht mit dem einen Boot auskommen, das wir haben. Wir brauchen weitere Boote, Vorräte, Frischwasser, nach Möglichkeit noch ein paar Waffen.“ Es dauerte nicht mehr lange, bis auch die Einzelheiten geklärt waren. Hasard hatte bei dem heimlichen Besuch an Bord der „Isabella“ einen Beutel Perlen aus dem gut getarnten Schatzversteck geholt. Und es gab Fischer an der Küste von Guayana, Indios, die auf die Spanier alles andere als gut zu sprechen waren. Es mußte gelingen, irgendwo Perlen gegen die benötigten Boote und Ausrüstungsgegenstände einzutauschen. Ben Brighton stellte einen Trupp zusammen. Gleich am frühen Morgen sollten sie aufbrechen. Frühestens in der folgenden Nacht. nach Einbruch der Dunkelheit, konnten sie dann ihr verwegenes Unternehmen starten. Bis dahin würde das Warten das Schlimmste sein.
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Um dieselbe Zeit war die Rote Korsarin nahe daran, zu dem Dolch zu greifen, den sie unter dem Rock trug. Sie schäumte vor Wut. Ihre eigene Idee war es gewesen, den verräucherten Schankraum der Herberge mit der frischeren Nachtluft zu vertauschen. Aber sie hatte dabei vergessen, daß sie hier nicht die Rote Korsarin war, sondern als Geliebte oder Partnerin eines hergelaufenen Händlers galt, auf jeden Fall als leichtsinniges Frauenzimmer. Oder nicht einmal das! Denn Frauen dieses Schlages verstanden sich zu wehren, bei denen hätte sich ein schmieriger Kerl wie dieser Esteban Jerez bestimmt nicht so aufgeplustert, ohne binnen einer Viertelstunde auf sein mickriges Maß zurechtgestutzt zu werden. Aber Siri-Tong hatte sich nun einmal bei der ersten Begegnung auf die Rolle der schwachen Frau festgelegt, und jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen angetrunkenen, pferdegesichtigen Widerling anzuhimmeln. Immerhin, sie hatte schon einiges von ihm erfahren. Sie wußte inzwischen, daß die „Isabella“ auf einer Untiefe festsaß und der Seewolf und seine Männer von der Teufelsinsel geflohen waren und sogar noch mit einer unheimlichen, den Spaniern unbekannten Waffe zwei Galeonen zu den Fischen geschickt hatten. In den Schilderungen des Soldaten nahmen die Seewölfe die Dimension blutgieriger, unbezwinglicher Teufel an. Es schien ihn sehr zu befriedigen, daß diese Bande von Teufeln vor ihrer Flucht noch eine bittere Lektion hatte schlucken müssen. Mit sichtlichem Vergnügen berichtete er über die Auspeitschungen, Schikanen und sadistischen Quälereien. Siri-Tong erstickte fast an dem Wunsch, sich den Dolch zu schnappen und diesen widerlichen Kerl scheibchenweise zu verhackstücken. Stattdessen bemühte sie sich geduldig, ihn weiter auszuhorchen, duldete seinen Arm
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um ihre Taille, ohne ihm die Augen auszukratzen und beschränkte sich auf geziertes Zurückweichen, als er sich erdreistete, ihr Ohrläppchen zu küssen. Sie hatte immer noch nicht herausgefunden, wohin die Seewölfe geflohen waren, und der Soldat wußte auch nicht genau, warum die „Isabella“ festsaß und wie man sie wieder flottkriegen konnte. Aber er hatte die Möglichkeit, das alles herauszufinden, und Siri-Tong mußte ihn irgendwie dazu bewegen, es für sie zu tun. Die richtige Idee fiel ihr ein, als es Esteban nunmehr danach gelüstete, zum Nahkampf überzugehen. Ungeschickt zog er sie an sich, seine Hände betatschten ihren Rücken. Alkoholdunst schlug ihr entgegen, als er sich zu ihr beugte. „Zur Hölle mit diesem verdammten Seewolf“, flüsterte er. „Was interessierst du dich für diesen Kerl, Täubchen, wenn du mich hast?“ „Seewolf?“ fragte Siri-Tong. „Hast du Seewolf gesagt?“ „Klar“, brummte er, wobei er sie auf den Mund küssen wollte und ihren Hals traf, als sie den Kopf abwendete. Auch das gefiel ihm. Seine Lippen wanderten, und Siri-Tong dachte angestrengt daran, daß sie keine Wahl hatte, wenn sie dem Seewolf helfen wollte. „Oh“, seufzte sie. „Und was geschieht jetzt mit all den Schätzen, den Perlen und Edelsteinen?“ Esteban löste schwer atmend seine feuchten Lippen von Siri-Tongs Hals. Er hatte sich noch nicht so weit vergessen, daß Worte wie Schätze, Perlen und Edelsteine an seinen Ohren vorbeigegangen wären. „Hä?“ fragte er verständnislos. „Aber jeder weiß doch, daß das Schiff dieses - dieses sogenannten Seewolfs alle möglichen Schätze enthält!“ Siri-Tong seufzte wieder. Es fiel ihr unendlich schwer, angesichts dieses häßlichen, gierigen Pferdegesichts einen träumerischen Ausdruck in ihre Augen zu zwingen, aber sie schaffte es. „Perlen, Edelsteine! Wenn wir auch nur einen
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Bruchteil davon hätten, wären wir alle Sorgen los. Und das alles wird jetzt nach Spanien geschickt, wo sie sowieso schon genug davon haben.“ Esteban schluckte verblüfft. „Aber - aber von dem Zeugs ist doch überhaupt nichts gefunden worden“, stammelte er. „Nicht? Willst du sagen, all die Schätze liegen immer noch im Bauch eines gestrandeten Schiffs? Einfach so? Unbewacht?“ „Unbewacht nicht gerade. Das heißt, ich weiß es nicht genau. Ein paar Leute werden sicher aufpassen.“ „Ach, Esteban! Laß uns ein Stück im Mondschein spazieren gehen, bitte!“ „Hm, wenn du meinst.“ Siri-Tong nickte, lächelte und hängte sich bei ihm ein. Solange sie in dieser Haltung durch die nächtlichen Straßen schlenderten, konnte der Spanier sie wenigstens nicht betatschen. Offenbar war er jetzt zu der Ansicht gelangt, daß er eine Frau vor sich hatte, bei der man erst ein bißchen turteln mußte, ehe man aktiv werden konnte. Esteban versuchte verzweifelt, galant zu plaudern, und SiriTong lenkte sein Interesse geschickt immer wieder auf die Schätze an Bord der „Isabella“. Wenn sie ihn dazu bringen konnte, den Köder zu schlucken, würde er gar nicht anders können, als auf eigene Faust Ermittlungen über die „Isabella“ anzustellen. Nach einer halben Stunde hatte sie ihm so eingeheizt, daß er tatsächlich glaubte, er brauche nur noch die Hand auszustrecken, um unermeßlich reich zu werden. In seiner Phantasie wälzte er sich bereits mit Siri-Tong im Lotterbett eines Palastes. Er hing begierig an ihren Lippen, als sie ihm auseinandersetzte, was er noch alles in Erfahrung bringen müsse, damit man an die Verwirklichung des Plans gehen könne:Der Spanier nickte nur. Dann griff er mit beiden Händen nach SiriTongs Körper, entschlossen, einen Vorgeschmack der herrlichen Zeiten zu genießen, denen er entgegensah, aber
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genau in diesem Moment trat der BostonMann auf den Plan. Er hatte die Rote Korsarin keine Sekunde aus den Augen gelassen. Jetzt zog er sich ein Stück in die Schwärze einer Gasse zurück und begann, den Namen zu rufen, den sie benutzte. „Juanita! Juanita, du verdammte Hure! Wenn du mich betrogen hast, schieße ich dich mitsamt deinem Kerl über den Haufen. Juanita! Juanita, du Miststück!“ Die Wut, die in Siri-Tongs Augen aufblitzte, war durchaus nicht gespielt. Tarnung hin oder her, es blieb eine Unverschämtheit, sie „Miststück“ und „verdammte Hure“ zu nennen. „Schnell weg!“ flüsterte sie. „Wir treffen uns morgen mittag an, derselben Stelle, einverstanden?“ „Aber ...“ „Der Kerl ist fähig und schießt uns wirklich über den Haufen. Ich will nicht, daß er unsere Pläne stört, verstehst du? Ich muß verschwinden!“ Noch einmal nahm sie ihre ganze Beherrschung zusammen und überwand sich dazu, sich mit einem Kuß zu verabschieden, einem langen, leidenschaftlichen Kuß, der sich dem Kerl ins Gedächtnis brennen und ihn bei der Stange halten sollte, auch wenn der Alkoholnebel in seinem Hirn verflogen war. Siri-Tong legte sich mächtig ins Zeug und ließ einen atemlosen, halb betäubten Esteban Jerez zurück, als sie sich von ihm löste und in die Dunkelheit der Gasse hastete. Erst als sie außer Hörweite war, machte sie ihren wahren Gefühlen Luft – mit einem Wort, das eine schwache Frau ganz sicher nicht einmal gekannt hätte! 5. Boote lagen auf dem schmalen weißen Strandstreifen, einfache, offene Fischerboote, ausgebleicht von der Sonne. Ein Dutzend Hütten schmiegten sich in ein Halbrund aus hohen, schlanken Palmen, deren Federwipfel im leichten Wind tanzten. Netze trockneten in der Sonne,
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zwischen den Hütten bewegten sich die Schatten spielender Kinder. Ben Brighton wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war mit von der Partie, weil man sich, wenn überhaupt, nur auf Spanisch mit den Indios würde verständigen können. Neben ihm starrte Ed Carberry mit zusammengekniffenen Augen aufs Meer hinaus, wo sich die dünnen gelblichen Wolken immer höher über den Horizont schoben. Der Himmel hatte sich verändert und zeigte ein eigentümlich stählernes Blau. Opalisierende Schleier schienen über dem Wasser zu liegen. Die Männer beobachteten mißtrauisch die Entwicklung und registrierten jede noch so winzige Veränderung. Denn wenn sich das Sturmtief schneller aufbaute, als sie erwarteten, wenn das Wetter zu früh losbrach, dann konnten sie die hilflos festsitzende „Isabella“ abschreiben. „Vorwärts“, sagte Ben Brighton. Außer ihm und dem Profos setzten sich Ferris Tucker und Big Old Shane in Bewegung, Blacky und Batuti, Stenmark, Al Conroy, Jeff Bowie und Matt Davies. Die kräftigsten Kerle der Crew, die die mörderischen Strapazen des Urwaldmarsches am besten überstanden hatten, denn es würde keine Kleinigkeit werden, die drei benötigten Boote durch den Dschungel zurückzuschleppen. Ben Brighton ging voran. Er war überzeugt davon, daß die Indios sie schon vorher bemerkt hatten. Denn kaum hatten sie ihre Absicht offenbart, sich der kleinen Ansiedlung zu nähern, da verschwanden die ,Kinder blitzschnell in den Hütten, glitten braunhäutige Gestalten nach allen Seiten davon und legte sich eine lähmende Stille über das Fischerdorf. Irgendwo erklang ein knapper, kehliger Ruf, dann traten drei Männer langsam und zögernd aus dem Schatten. Es waren friedliche Fischer, braune, kräftig gewachsene Männer, in deren Haltung ein natürlicher Stolz lag und deren Augen doch Furcht zeigten, die Furcht einer Rasse, die es gelernt hatte, von fremden weißen Eindringlingen nichts Gutes zu
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erwarten. Schweigend standen sie da. Ben Brighton hob beide Hände zu einer Gebärde des Friedens, die überall verstanden wurde. „Amigos — Freunde“, sagte er mit einer Geste, die die Gruppe der erschöpften, abgekämpften Männer hinter ihm einschloß. Der älteste der drei Indios ließ den Blick über die Männer gleiten, prüfte ihre Gesichter und sah dann wieder Ben Brighton an. „Ingles?“ fragte er nach einem langen Schweigen. „Ingles“, bestätigte Brighton. „Engländer. Wir brauchen Boote.“ Das Gesicht des Fischers verschloß sich. Zorn und Erbitterung malten sich auf den Zügen seiner Begleiter. Sie waren es offenbar gewohnt, daß sich die weißen Männer nahmen, was sie haben wollten und nur mit Tod und Verderben bezahlten. Ben Brighton lächelte, als er nach dem kleinen Lederbeutel in seiner Tasche griff. „Wir brauchen auch Vorräte. Ein Wasserfaß, wenn ihr es habt, vielleicht Waffen. Wir möchten diese Dinge gegen Perlen eintauschen.“ Der Fischer senkte verächtlich die Mundwinkel. „Perla de vidrio!“ Er spie die Worte förmlich aus. „Nein“, sagte der Bootsmann ernst. „Keine Glasperlen.“ Er öffnete den Beutel und ließ ein paar von den herrlichen, sanft schimmernden Kugeln auf seine Handfläche rollen. Der Fischer starrte die Perlen an und sah dann wieder Ben Brighton in die Augen. „Seid unsere Gäste, Ingles“, sagte er in seinem kehligen Spanisch. „Unsere Hütten sind die euren. Der Gast, der in Frieden kommt, bringt Glück in das Haus, dessen Schwelle er überschreitet.“ Ben bedankte sich und erklärte, daß sie buchstäblich keine Minute zu verlieren hätten, daß sie von den Spaniern gejagt würden, und ihre Kameraden nicht länger als unbedingt nötig warten lassen wollten. Der Fischer nickte verstehend. Auf ein paar knappe Worte in seiner
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Landessprache hin wurde es im Dorf wieder lebendig. Es dauerte kaum länger als eine Viertelstunde, bis die Seewölfe alles hatten, was sie benötigten. Die Fischer weigerten sich, eine Bezahlung anzunehmen, aber nach längerem Palaver akzeptierten sie schließlich einige Perlen als Geschenk. Ihr Wortführer berührte mit der Hand eins der Boote, die mit Tragegriffen aus geflochtenen Seilen versehen worden waren. „Unsere guten Wünsche sind mit euch“, sagte er leise. „Aber laßt euch warnen! Wenn ihr heute nacht aufs Meer fahrt, so achtet, daß ihr schnell zurückkehrt. Wenn die Sonne wieder aufgeht, werden die Wassergötter zürnen. Fordert nicht ihre Rache heraus! Sie vernichten den, der ihnen trotzt.“ Wenn die Sonne wieder aufgeht, wiederholte Ben Brighton in Gedanken. Daß die Wassergötter zürnten, mußte bedeuten, daß um diese Zeit der Sturm losbrechen würde. Die Indio-Fischer kannten das Wetter in ihrer Heimat, auf ihre Voraussage konnte man sich zweifellos verlassen. Die Seewölfe wußten, daß sie Zeit hatten und auf jeden Fall nicht zu spät kommen würden. In der Nacht wollten sie aufbrechen und versuchen, sich an Bord der „Isabella“ zu schleichen. Wenn am frühen Morgen der Sturm losbrach, paßte das wie bestellt in ihre Pläne. Schlagartig hatte sich ihre Stimmung gehoben. Daran änderte auch die Gewißheit nichts, daß der Rückweg mit den schweren Booten und dem Rest der Ausrüstung eine Plackerei werden würde, gegen die sich der schweißtreibende Marsch bis zum Fischerdorf wie das Paradies ausnahm. * Um die Mittagszeit schien in den engen Gassen von Cayenne die Luft zu kochen. Siri-Tong und der Boston-Mann hatten die Nacht in der Herberge verbracht. Dem
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angetrunkenen Wirt, der sich „zufällig“ in das Zimmer der schönen Fremden verirrt hatte, war das schlecht bekommen. Die Rote Korsarin kochte ohnehin vor Wut, und der arme Wirt bezog, sozusagen stellvertretend für den Soldaten Esteban Jerez, eine Tracht Prügel mit der flachen Klinge des Degens, die er im Leben nicht mehr vergessen würde. Zähneknirschend hatte sich Siri-Tong am Morgen wieder in das Kleid der Spanierin gezwängt. Die Zeit bis zu dem Treffen verbrachten sie und der Boston-Mann damit, wenigstens der Form halber den Planwagen in einen Verkaufsstand zu verwandeln und ihre Waren anzubieten. Ziemlich verständnislos hörte die Rote Korsarin zu, wie der sonst so schweigsame Boston-Mann waschecht auf Spanisch feilschte. Der Gedanke, daß er das vielleicht tat, um die Besitztümer dieser Zierpuppe Agnessa nicht zu verschleudern, ließ Siri-Tongs Mandelaugen bedrohlich funkeln. Esteban Jerez wartete bereits an der verabredeten Stelle, als die Korsarin erschien. Das Pferdegesicht des Spaniers wirkte blaß und unschlüssig. Kein Zweifel, er war ein feiger Waschlappen. Aber Siri-Tong flog trotzdem in seine Arme und beglückte ihn mit einem heißen Kuß, um seine Bereitschaft zu Heldentaten rasch wieder anzuheizen. „Nun?“ flüsterte sie mit gespielter Erregung. „Hast du alles für uns herausgefunden, Liebster?“ Der Spanier hatte innerlich schon wieder den Podest erklommen, auf den sie ihn manövriert hatte. Unmöglich, sich einer solchen Frau gegenüber unentschlossen zu zeigen, etwa gar so kleinliche Ängste zuzugeben wie die, erwischt, gefoltert, gevierteilt oder gehenkt zu werden. Esteban Jerez holte tief Atem und sprudelte hervor, was er, eigentlich recht mühelos, herausgebracht hatte. Die Spanier wollten die „Isabella“ wieder flottmachen und nach Havanna schleppen. Sie hätten noch nie vorher einen Segler dieser Bauart gesehen, vor allem das
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Ruderhaus auf dem Achterdeck interessierte sie mächtig. Ganz davon abgesehen, daß jede Verstärkung ihrer Flotte ohnehin sehr wichtig für sie sei. Sie hätten Schiffe angefordert, um die „Isabella“ von der Untiefe herunterzuholen. Aber so lange, meinte der Soldat, würde man wahrscheinlich, gar nicht warten müssen. Denn noch am selben Abend werde ein Geschwader von Kriegsgaleonen den Hafen anlaufen, um auf ein starkes Geleit zu warten, das von Süden heransegele. „Du siehst, daß wir uns beeilen müssen“, schloß Esteban etwas atemlos. „Was wir tun wollen, müssen wir heute nacht tun. Morgen kann es zu spät sein!“ Morgen kann es zu spät sein! Die Worte schienen in Siri-Tongs Kopf nachzuhallen wie eherne Glockenschläge. Sie preßte die Lippen zusammen und brachte energisch Ordnung in ihre wirbelnden Gedanken. Dieser pferdegesichtige Narr von einem Spanier hatte recht. Wenn sie handeln wollten, durften sie jetzt nicht mehr warten. Denn Siri-Tong kannte den Seewolf. Ausgeschlossen, daß er und seine Crew die „Isabella“ aufgaben. Ganz sicher waren sie noch in der Nähe und hatten Mittel und Wege gefunden, ebenfalls in Erfahrung zu bringen, was die Rote Korsarin jetzt wußte. Und genauso sicher würden sie nicht einfach hinnehmen, daß ihr Schiff den Spaniern in die Hände fiel, sondern mit allen Mitteln darum kämpfen. Das hieß, daß sie noch heute nacht versuchen würden, die „Isabella“ wieder zurückzuerobern. Aber heute nacht lag bereits das Geschwader der spanischen Kriegsgaleonen im Hafen von Cayenne. Ein Geschwader, gegen das die „Isabella“ keine Chance hatte, jedenfalls nicht unter den augenblicklichen Bedingungen, nicht in einer Lage, in der das Schiff erst flottgemacht und dann vermutlich auch noch gegen die Spanier von der Teufelsinsel verteidigt werden mußte. Es sei denn, daß dem spanischen Geschwader
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etwas zustieß, dachte Siri-Tong mit einem wilden Lächeln. Und den Galeonen würde etwas zustoßen! „Du hörst mir gar nicht zu“, maulte Esteban Jerez. „Soll — soll ich es nun wirklich versuchen oder . „Natürlich! Versuch es“, sagte Siri-Tong, obwohl sie überhaupt nicht zugehört hatte. „Und du wirst bei mir bleiben, wenn ich es schaffe? Du wirst diesen Kerl mit seinem verdammten Ohrring zum Teufel schicken? Schwörst du das?“ „Ich schwöre! Aber nun muß ich wirklich gehen. Wenn er zu früh etwas merkt, bringt er uns beide um.“ „Ja, sicher. Warte auf mich heute abend, ja?“ „Bestimmt, Esteban! Sei vorsichtig!“ Diesmal entzog sich Siri-Tong dem ungeschickten Zugriff des Spaniers, bevor er erneut versuchen konnte, sie zu küssen. Rasch eilte sie davon, und als sie wenig später wieder auf den Boston-Mann stieß, hatte sie Esteban Jerez und seine verschwommenen Pläne bereits vergessen. Siri-Tongs Entschluß war schnell gefaßt. Es gab keine Wahl mehr. Sie mußten handeln und so rasch wie möglich wieder an Bord des schwarzen Seglers zurückkehren, um das Schiff gefechtsklar machen zu lassen. Denn spätestens im Morgengrauen würden sie den Hafen von Cayenne angreifen und mit allen Rohren unter Feuer nehmen. 6. Die Nacht war finster, in der tintigen Schwärze ließen sich nur Umrisse erkennen. Drückende Schwüle trieb den Männern den Schweiß aus allen Poren und schien selbst die Geräusche zu dämpfen. Sand knirschte, als die Boote ins Wasser geschoben wurden. Die See war nur leicht bewegt und schien sich wie unter tiefen Atemzügen zu heben. Es war stetes Glucksen und Gurgeln, das die vorsichtigen Riemenschläge übertönte. Die Seewölfe waren schweigsam. Philip Hasard Killigrew stand aufrecht im vordersten Boot und spähte mit
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zusammengekniffenen Augen voraus, um den Kurs festzulegen. Auch Dan O’Flynn spähte. Aber er konzentrierte sich mehr auf die nähere Umgebung, um alles, was eventuell auf dem Wasser schwamm, rechtzeitig zu bemerken. Ihre Bewaffnung war inzwischen etwas besser geworden. Bei den Fischern hatten sie ein paar von den mächtigen, gebogenen Haumessern eingetauscht, die die Indios benutzten, wenn sie sich einen Weg durch den dichten Urwald schlagen mußten. Vor allem Ed Carberry war froh, daß er endlich wieder eine Waffe hatte, die sich in seinen mächtigen Fäusten nicht wie ein Spielzeug ausnahm. Das schmale, stilettartige. Messer, mit dem er sich vorher beholfen hatte, steckte in Bob Greys Gürtel, und für den schlanken, wendigen Mann, dessen Stärke in der Schnelligkeit lag, war es genau richtig. Im mittleren Boot kauerte der hünenhafte Batuti und streichelte seinen selbstgebastelten Morgenstern. An den Riemen lösten sie sich ab. Hasard hatte die Einteilung so vorgenommen, daß die kräftigsten Kerle wie Batuti, Ferris Tucker, Big Old Shane oder Carberry zunächst noch als Feuerreserve für. den Notfall geschont wurden. Der Kutscher pullte mit finsterer Miene vor sich hin. Er wußte schon jetzt, daß er mal wieder nicht dabei sein würde, wenn im entscheidenden Moment die Fetzen flogen. Er war Koch und Feldscher auf der „Isabella“ und verstand eine Menge von der Wundbehandlung. Das war erst kürzlich von ihm wieder unter Beweis gestellt worden, als er Smoky das Stück Blei aus der Schulter geholt hatte. Er war schlichtweg unersetzbar. Die entsprechenden Argumente leuchteten ihm zwar ein, aber das hinderte ihn nicht, jedesmal von neuem mit seinem Schicksal zu hadern, wenn er aus der vordersten Linie zurückgezogen wurde. Der fünfzehnjährige Bill teilte dieses Schicksal mit ihm, doch er war trotzdem Feuer und Flamme für das nächtliche Abenteuer. Seine Augen leuchteten. Er legte sich in die Riemen, als gelte es, eine
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Wettfahrt mit einem Schnellsegler zu gewinnen. Sein Gesicht spiegelte so viel Tatendurst, daß Ed Carberry ihn immer mißtrauischer beäugte. „Verdammt“, brummte der Profos schließlich. „Du ziehst ein Gesicht, als wolltest du die ‚Isabella’ im Alleingang entern, Bürschchen!“ „Ich?“ fragte Bill unschuldig. „Ja, du, verdammich! Jetzt hör mir mal gut zu und sperr deine Rübenschwein-Ohren auf! Du wirst nachher genau da bleiben, wo man dich hinstellt, verstanden? Ich wickle deine Haut streifenweise um die Großrah, wenn du dir nur die geringste Eigenmächtigkeit leistest, kapiert? „Zerschneidest du sie erst?“ erkundigte sich Bill respektlos. „Jawohl, du Wanze! Und wenn du auch noch frech wirst, kannst du die Kokosnüsse demnächst direkt im Magen kauen. Dahin schlag ich dir dann nämlich die Zähne.“ Bill grinste. Seine gute Laune war nicht kleinzukriegen, schon gar nicht von den blutrünstigen Sprüchen des Profos’, die er inzwischen genau einzuschätzen wußte. Aber dann wurde er doch etwas nachdenklich, als die mächtige Pranke Big Old Shanes auf seine Schulter krachte. „Das ist eine verdammt ernste Sache, Junge“, brummte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Du wirst dich gefälligst daran halten. Sonst nehme ich mir nämlich vor, was Ed noch von dir übrigläßt.“ „Und ich leg die Reste unters Hackmesser“, knurrte der Kutscher. ,.Keine Angst, ich werde schon auf den Jungen aufpassen.“ „Auf mich braucht keiner aufzupassen!“ brauste Bill auf. „Ich bin ...“ „Wie wär’s, wenn ihr noch ein paar Salutschüsse abgäbet?“ tönte Hasards leise Stimme herüber. „Falls irgendwelche Spanier in der Nähe sind, könnten sie uns am Ende noch überhören.“ Sofort senkte sich Stille herab. Eine gespenstische Stille, die nur noch vom Glucksen der Wellen unterbrochen wurde, vom Geräusch der eintauchenden Riemen und ab und zu einer halblauten Anweisung, wenn der Kurs geändert wurde.
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Der Weg war diesmal wesentlich weiter als die Strecke, die Hasard und Dan bei ihrem ersten Unternehmen zurückgelegt hatten. Mittlerweile war auch der letzte Stern hinter den Wolken verschwunden. Aber der Seewolf verfügte über ein hervorragendes Orientierungsvermögen, und niemand zweifelte daran, daß sie die Teufelsinsel finden würden. Eine knappe Stunde später war es soweit. Sand knirschte unter dem Kiel des vordersten Bootes. Für ein paar Sekunden hielt Hasard den Atem an, lauschte und prüfte Strand und Klippen sorgfältig mit den Augen. Dann gab er den anderen ein Zeichen. Vorsichtig glitten die Männer ins seichte Wasser. So geräuschlos wie möglich zogen sie die Boote auf den Strand und versteckten sie zwischen den Klippen. Niemand wollte daran glauben, daß sie sie noch einmal brauchen würden, aber sie konnten einen Fehlschlag nicht ausschließen. Nach dem vernichtenden Schlag, den Hasard und Dan den Spaniern mit der Versenkung der beiden Galeonen zugefügt hatten, wurde die „Isabella“ bestimmt wesentlich schärfer bewacht als vorher. Noch war es fraglich, ob sie es überhaupt schaffen würden, an Bord zu gelangen. Wenn sie offen hätten kämpfen können, das Schiff stürmen und die Posten ausschalten, hätte niemand am Erfolg gezweifelt. Aber so, unter dem Zwang. lautlos und heimlich an Bord zu gehen und sich zu verstecken, bis der Sturm losbrach und die „Isabella“ vielleicht von der Untiefe freikam, das war nicht so nach ihrem Geschmack. „Ed und Shane bleiben hier“, ordnete Hasard leise an. „Außerdem Smoky und der Kutscher. Es ist besser, die Boote vorerst noch nicht unbewacht zu lassen. Wenn wir auf der ‚Isabella’ Herr der Lage sind, schicke ich jemanden zurück, damit die Vorräte und das Wasserfaß transportiert werden können. Ed, du übernimmst das Kommando! Wenn ihr Schwierigkeiten habt, bereinigt sie gefälligst lautlos, klar?“
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„Klar“, brummte Carberry. „Wenn es irgendein verdammter Don schafft, die Schnauze aufzureißen, bevor ich ihm eine reinhaue, kannst du mir meinetwegen persönlich die Haut abziehen.“ „Ich werd’s mir merken. Also los! Wer sich von jetzt an noch muckst, der kann auf der ‚Isabella’ gleich freiwillig in die Vorpiek marschieren und die nächsten drei Tage dort verbringen.“ Schweigend setzten sich die Männer in Bewegung. In der Finsternis bestand die Hauptschwierigkeit darin, nicht über Hindernisse zu stolpern, aber da hatten die Seewölfe schon ganz andere Dinge gemeistert. Sie konnten nicht nur kämpfen und wie rasende Teufel unter ihren Feinden aufräumen, sie konnten sich auch, wenn es nottat, so diszipliniert benehmen, als würden sie allesamt von unsichtbaren Fäden gelenkt. Kein Wort fiel, kein Fluch wurde laut, nicht einmal ein heftiger Atemzug. Bei jedem Schritt prüften die Männer den Boden, auf den sie traten. An keinem Stein hielten sie sich fest, ohne sicher zu sein, daß er sich nicht unter ihrem Griff lösen würde. Auf diese Weise brauchten sie ziemlich lange, um die Insel zu überqueren, aber als sie endlich die Silhouette der „Isabella“ sahen, waren sie sicher, daß kein Wachtposten vorzeitig Verdacht geschöpft hatte. Wieder teilten sie sich. Diesmal blieb die Hauptstreitmacht zurück, um das Unternehmen abzudecken. Hasard, Ben Brighton, Ferris Tucker und Dan O’Flynn pirschten sich näher an die „Isabella“ heran. Jetzt konnten sie auch das Wrack der spanischen Galeone sehen, die an jenem schwarzen Tag ebenfalls auf Grund gelaufen war. Und noch etwas sahen sie: das Wasser stand diesmal wesentlich höher als bei dem Besuch, den Hasard und Dan an Bord unternommen hatten. „Schaut euch das an“, flüsterte Ferris Tucker. „Wenn jetzt noch der Sturm losbricht - verdammt, ich möchte
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schwören, daß die ‚Isabella’ dann aufschwimmt.“ Hasard nickte nur. Aus schmalen Augen beobachtete er das unruhig flackernde Licht auf der Kuhl der „Isabella“ und die Gestalten, die da im Halbkreis zusammenhockten. Sie würfelten offenbar, und ah und zu ließen sie eine Flasche kreisen. Mit irgendeiner Gefahr schienen sie nicht ernsthaft zu rechnen, aber trotzdem würde es äußerst schwierig sein, nahe genug an sie heranzukommen; um sie lautlos zu überwältigen. „Eh!“ zischte Dan O’Flynn in diesem Augenblick. Hasard wandte den Kopf. Dans Augen funkelten. „Können wir nicht eine spanische Uniform gebrauchen?“ fragte er flüsternd. „Um die Kerle da zu täuschen, meine ich?“ „Kannst du mir erklären, woher du eine spanische Uniform nehmen willst?” fragte Hasard ungehalten. Dan grinste breit. Er hatte nun einmal die schärfsten Augen von allen, und das stellte er jetzt wieder unter Beweis. „Da drüben steht eine“, flüsterte er mit einer Geste auf die nächste Felsengruppe. „Im Moment steckt der Besitzer noch drin. Aber das können wir ja schnell ändern, oder?“ * Der Soldat Esteban Jerez war überzeugt davon, daß er dicht vor der großen Wende seines Lebens stand. Die „Isabella“ mit ihren Schätzen lag fast zum Greifen nahe vor ihm. Auch die schöne schwarzhaarige Frau mit den Mandelaugen und den herrlichen Brüsten erschien ihm zum Greifen nahe, obwohl sie drüben in Cayenne war. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, daß er alles von ihr haben könne wenn ihr gemeinsamer Plan Erfolg hätte. Oder nein: der Plan stammte von ihr. Esteban spielte nur die Rolle des ausführenden Organs und hatte das Risiko zu tragen. Das wußte er zwar, aber erstens war er der Ansicht, daß eine Frau wie diese Juanita das Recht
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hatte, Ansprüche an einen Mann zu stellen, und zweitens hätte seine eigene Gier nach Gold und Edelsteinen durchaus gereicht, um ihn zur Tat zu treiben. Eigentlich, dachte er, war die Sache die Einfachheit selber. Ein Glücksfall! Ein unwahrscheinlicher Glücksfall, wie er einem nur einmal im Leben begegnete! Die Idioten auf der Teufelsinsel schienen die einzigen zu sein, die nichts von den versteckten Reichtümern auf der „Isabella“ wußten. Niemand würde die Schätze vermissen, also würde nach ihrem Verschwinden auch niemand auf die Idee verfallen, jemanden dafür aufhängen zu wollen. Und die Wachen an Bord? Esteban Jerez grinste geringschätzig. Er kannte die Männer, schließlich waren es seine Kameraden. Denen brauchte er nur ein Wörtchen zu flüstern, und sie würden sich überschlagen, um ihm beim Plündern des Schiffs zu helfen. Esteban Jerez zog triumphierend die Lippen von seinen langen Pferdezähnen. Er starrte zu dem festliegenden Schiff hinüber. Mit einem tiefen Atemzug wollte er sich in Bewegung setzen - und bemerkte nicht den lautlosen Schatten, der sich hinter ihm aufrichtete. Er spürte nur, daß plötzlich sein Schädel explodierte, und dann hatte er das Gefühl, als stürze er kopfüber in einen bodenlosen schwarzen Brunnenschacht. * Schweigend umstanden Hasard, Ferris, Ben und Dan den Bewußtlosen, dem sie bereits in aller Eile die Uniform vom Körper gezerrt hatten. Gefesselt war er ebenfalls. Sie hätten ihn knebeln und liegenlassen können, aber sie hofften, noch ein paar Einzelheiten über die Bewachung der „Isabella“ von ihm zu erfahren. Der Bursche regte sich schwach. In seinen nicht gerade sauberen, reichlich durchlöcherten Unterhosen bot er einen jämmerlichen Anblick. Seine Lider flatterten, und noch ehe er es schaffte, die
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Augen aufzureißen, verzerrte sich sein Gesicht vor Angst. „Gracia!“ wimmerte er. „Gnade! Gnade! Ich kann nichts dafür! Das Weib hat mich angestiftet! Ich wollte nichts stehlen, ich schwöre es.“ Hasard runzelte die Stirn. Der Kerl hatte Dreck am Stecken, begriff er. Und jetzt glaubte er sich erwischt und versuchte, sich zu rechtfertigen. Aber was, zum Teufel, hat er hier stehlen wollen? Was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Spanier doch ohnehin schon von der „Isabella“ heruntergeholt. Und von den geschickt verborgenen Schätzen konnte niemand etwas ahnen. Wirklich nicht? Hasards eisblaue Augen verdunkelten sich. Irgendwo ganz tief in seinem Gehirn begann sich etwas wie eine Ahnung zu regen. „Was wolltest du stehlen?“ wiederholte er die Frage laut und auf Spanisch. Dabei schüttelte er den Kerl, bis er sicher war, daß der Bursche ihn nur noch sehr verschwommen sehen konnte. Der Soldat ergab sich ins anscheinend Unabwendbare. Er schluchzte f ast. „Die Schätze“, flüsterte er. „Das Weib ist Schuld! Das verdammte Weibsbild, diese Händlerin, die in Cayenne aufgetaucht ist und mir die Ohren vollgetönt hat von den versteckten Perlen und Edelsteinen. Aber ich wollte nicht stehlen, ich schwöre! Ich wollte — wollte nur mal nachsehen, ich ...“ Der Mann verstummte und schnappte nach Luft. Hasard lockerte seinen Griff, weil ihm bewußt wurde, daß er sein Opfer fast erwürgte. Er hatte nicht einmal gemerkt, daß sich seine Hand immer fester um die Kehle des anderen schloß, denn seine Gedanken führten in diesen Sekunden einen verrückten Tanz auf. „Beschreib die Frau!“ stieß er hervor. „Beschreib sie!“ Stotternd und stammelnd befolgte der Soldat die Aufforderung. Er war kaum mehr Herr seiner Sinne, aber Siri-Tongs Bild hatte sich so tief in sein Gedächtnis gebrannt, daß er sie wahrscheinlich auch in Jahren nicht
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vergessen würde. Es war schon grotesk, welche schwärmerischen Worte er selbst in dieser Situation noch fand, um ihre hervorstechendsten Merkmale zu beschreiben. Merkmale, die nicht nur der Seewolf, sondern auch Ben, Ferris und Dan sofort erkannten. Weiberröcke oder nicht, es gab nur eine Frau, die Mandelaugen, langes schwarzes Haar und eine solche Figur hatte und zugleich wußte, was von den Spaniern unentdeckt im Bauch der „Isabella“ verborgen war. Die Rote Korsarin! Sie war in der Nähe. Sie hatte offenbar das äußerste riskiert, um sie zu finden, und diesen ahnungslosen Spanier eingespannt, um Informationen über die „Isabella“ zu erhalten. Siri-Tong war in Cayenne, knüpfte ihre Fäden, und wo sie auftauchte, konnte natürlich Thorfin Njal mit dem schwarzen Segler und dessen Crew nicht weit sein. Die Seewölfe wechselten Blicke. Blicke voll jäher Erregung - und Erleichterung. Denn sie alle wußten, daß die Anwesenheit des schwarzen Seglers die Erfolgsaussichten ihres Unternehmens wesentlich verbesserten. Hasard atmete tief, konzentrierte sich wieder auf den zitternden Spanier und fuhr fort, ihn auszuholen. Allmählich begriff der Mann, daß da etwas nicht stimmen konnte. Seine Gehirnzellen funktionierten wieder, wenn auch langsam. Das Bild vor seinen Augen klärte sich. Er sah, daß die Männer keine spanischen Uniformen trugen, sondern abenteuerlich zusammengeflickte Lumpen. Er sah das brandrote Haar von Ferris Tucker, das blonde von Dan O’Flynn und das dunkelblonde von Ben Brighton. Kein Spanier auf der Teufelsinsel hatte rotes oder blondes Haar. Und keiner hatte diese eisblauen Augen, deren Blick Esteban Jerez wie ein Messer unter die Haut ging. „Caramba“, flüsterte der spanische Soldat. Und das war für lange Zeit sein letztes Wort, denn die Seewölfe verpaßten ihm in aller Eile einen soliden Knebel.
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„So“, murmelte Hasard. „Und jetzt wird einer von uns ...“ „Ich!“ sagte Dan O’Flynn mit einem eindeutig triumphierenden Grinsen. Er hatte recht. Esteban Jerez war lang und dürr, die Uniform entsprechend. Der schmale, drahtige Dan O’Flynn war der einzige, der sich vielleicht hineinzwängen konnte, also würde er es sein, der im Alleingang an Bord der „Isabella“ marschierte. Einigermaßen Spanisch sprach er, das hatte er während der Gefangenschaft auf der „Tortuga“ und noch später gelernt. Trotzdem zögerte Hasard, ausgerechnet Dan den gefährlichsten Part der ganzen Sache übernehmen zu lassen, aber er wußte, daß er keine Wahl hatte. Dan wußte es auch. Schließlich war er es gewesen, der den Spanier entdeckt hatte. Als er mit fliegenden Fingern die Überreste seiner Kleidung abstreifte und in die Uniform schlüpfte, neigte er zu der Ansicht, daß es vielleicht doch so etwas wie Gerechtigkeit auf der Welt gab. 7. Leises Plätschern begleitete das Boot, das sich aus dem tiefen Schatten der Klippen löste. Siri-Tong stand neben dem Wikinger an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und spähte zur Küste hinüber. Sie hatte genau zwei Minuten gebraucht, um sich die verschiedenen Röcke, Überröcke, Unterröcke und spitzenverzierten Wäschestücke vom Körper zu zerren, und eine weitere Minute, um wieder in ihre gewohnte Kleidung zu schlüpfen. Nur noch die wilde Lockenpracht erinnerte an das hinter ihr liegende Abenteuer. Und der dritte Blusenknopf von oben, der jetzt ebenfalls offenstand, weil er abgesprungen war, als Siri-Tong vor ihrem Aufbruch die Bluse wutentbrannt und entsprechend vehement ausgezogen hatte. Jetzt War das Gesicht der roten Korsarin blaß und unbewegt, die Haltung gespannt wie eine geschmeidige Stahlsaite. Der
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Wikinger stand wie ein Baum neben ihr. Stimmen klangen über die Decks, das Schiff war erfüllt von den Geräuschen fieberhafter Tätigkeit. Die Männer, die auf der Kuhl erschienen, um dem Boot entgegenzusehen, hatten entzündete Augen und rieben sich erschöpft den Schweiß aus den Gesichtern. Die ganze Nacht hatten sie geschuftet wie die Irren: Segelkartuschen genäht, Kugeln und Stangenkugeln gemannt, genügend Pulvervorräte an Deck geschafft, unermüdlich an den Geschützen exerziert. Im Vorderkastell waren die Gestelle zum Abschießen der fremdartigen Raketen klariert worden, von denen sich immer noch eine Unzahl an Bord befand. Diese handlichen, mit keinem Mittel zu löschenden Brandsätze waren die stärkste Waffe des schwarzen Seglers — und die furchtbarste, mörderisch in ihrer Wirkung. Aber wo es galt, mit einem einzigen Schiff eine stark befestigte spanische Siedlung und ein ganzes Geschwader schwerbestückter Kriegsgaleonen anzugreifen, da war jedes Mittel recht. Siri-Tong beobachtete, wie der BostonMann das Boot an die Jakobsleiter heranpullte und aufenterte. Minuten später standen er, Thorfin Njal und die Rote Korsarin wieder in der Kapitänskammer, und der Boston-Mann berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte. Tatsächlich war am frühen Abend das spanische Geschwader in den Hafen von Cayenne eingelaufen. Der Boston-Mann grinste verwegen, als er mit ein paar Strichen aufzeichnete, wie die Galeonen im Hafenbecken verteilt lagen — entgegenkommenderweise genau so, daß der schwarze Segler nur schnurgerade in die Einfahrt zu laufen brauchte, um Backbordund Steuerbordkanonen gleichzeitig einsetzen zu können. Auch die Lage der Befestigungen hatte sich der Boston-Mann eingeprägt. Er zeichnete sie ebenfalls auf, und Siri-Tong und der Wikinger stießen fast mit den Köpfen zusammen, als sie sich über die Skizze beugten.
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Die Rote Korsarin lächelte. Etwa so, wie man sich das Lächeln einer Tigerin vorstellen mochte, die schon dabei ist, ihre Beute zu verdauen. „Das schießen wir alles mit Leichtigkeit in Fetzen“, sagte sie kategorisch. „Die Galeonen werden Kleinholz. Und mit den Befestigungsanlagen können die Dons dann vielleicht ihre Straßen pflastern.“ „Hm!“ Der Wikinger kratzte an seinem Kupferhelm, runzelte die Stirn und grinste gleichzeitig. Und das tat er nur, wenn er bei einer äußerst heiklen, gefährlichen Angelegenheit sehr große Lust verspürte, sich mitten hineinzustürzen. Der Boston-Mann hatte Planwagen und Maultiere getreulich wieder mitgebracht. Die Händler hatten keine Chance, ihre Landsleute jetzt noch zu warnen, dafür war der Weg zu weit. Sie wurden an Land gesetzt, mit dem dringenden Rat, sich nicht nach Cayenne zu wenden, da man dort in nächster Zeit allenfalls noch Verbandszeug gewinnbringend verkaufen könne. In allerletzter Minute hätte es fast doch noch Mord und Totschlag gegeben. Agnessa, der ahnungslose Engel, bot nämlich der Roten Korsarin an, das fatale Kleid zu behalten – und nur eilige Flucht rettete sie vor Siri-Tongs Krallen. Eine knappe Stunde später lief der schwarze Segler aus der Bucht und pirschte sich im Schutz der Dunkelheit auf die Reede von Cayenne zu. Die spanische Siedlung schlief. Sie fühlte sich sicher im Schutz ihrer starken Befestigungen, doppelt sicher, seit das Geschwader der Kriegsgaleonen im Hafen lag. Noch ahnte niemand das Verhängnis, das sich lautlos näherte. * Auch den spanischen Wachtposten auf der „Isabella“ näherte sich das Verhängnis, aber durchaus nicht lautlos. Dan O’Flynn platschte mit völliger Selbstverständlichkeit durch den Schlick vor der Sandbank. Die Wellen der auflaufenden Flut spülten um seine Stiefel.
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Er blickte zum Himmel, .gähnte wie jemand, der unterwegs ist, weil er sich langweilt, und stellte noch einmal fest, daß das Wasser tatsächlich schon wesentlich höher stand als gewöhnlich. Die Wachtposten hatten nur einmal kurz zu ihm herübergesehen, kümmerten sich jedoch nicht weiter um ihn. Sie waren zu dritt. Da Wachen normalerweise in Zweiergruppen gingen, vermutete Dan, daß der dritte Spanier an Bord lediglich seine Zeit totschlug. Also würde es auch nicht auffallen, wenn sich ein vierter Mann dazugesellte, und Dan fühlte sich einigermaßen sicher, als er an der Jakobsleiter aufenterte. „Buena Noche“, brummelte er in den nicht vorhandenen Bart. Einer der Posten wandte uninteressiert den Kopf. Glanz auf den Augen, stellte Dan fest. Das lag sicher nicht an der blakenden Öllampe, die die Gesichter nur verschwommen erkennen ließ, sondern an der Rumflasche. „Hast du ‘ne Buddel dabei?“ fragte jemand begierig. Dan schüttelte den Kopf und gähnte wieder. „Scheißinsel“; sagte er. Das Spanisch, das er sich auf der „Tortuga“ und später angeeignet hatte, beschränkte sich auf seemännische Kommandos, die Flüche, mit denen brutale Aufseher die Rudersklaven bedacht hatten, und den Sprachschatz einseitiger Unterhaltung über Weiber, Suff und Prügeleien an Land. In einer anderen Umgebung als dieser wäre er damit kaum sehr weit gelangt. Aber für die drei angetrunkenen Soldaten mußte es reichen. Die Würfel klapperten. Das Spiel schien gerade spannend zu werden, denn die drei Männer stierten gebannt auf die umgedrehte Pütz, die sie als Tisch benutzten. Dan schlenderte zur Nagelbank. Noch einmal überzeugte er sich, daß er nicht beobachtet wurde, dann schnappte er sich einen handlichen Belegnagel und verbarg ihn hinter dem Rücken.
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„Habt ihr’s bald hinter euch?“ erkundigte er sich beiläufig. Die Frage war wichtig, äußerst. wichtig. Denn von dem Rhythmus. der Wachablösungen hing es ab, wie schnell die Spanier auf der Insel Verdacht schöpfen würden. „Blöde Frage“, brummte einer der Soldaten. „Noch den halben Törn, zwei Stunden. Wolltest du uns nachher zu ‘ner Buddel einladen, oder was?“ „Blödmann“, sagte Dan. Eine längere Erklärung für seine Neugier hätte er sich erst zurechtlegen müssen. Allzu viele Fragen durfte er nicht mehr stellen, aber das war auch gar nicht nötig. Der Fall lag klar. Alle vier Stunden Wachablösung - das bedeutete, daß sie noch genau zwei Stunden Zeit hatten, um sich auf der „Isabella“ so einzurichten, daß sie auch die nächsten Posten lautlos ausschalten konnten. Zwei Stunden reichten, aber sie ließen auch nicht viel Zeit übrig. Was wiederum bedeutete, daß er, Dan, jetzt umgehend handeln mußte. „Trink, Kamerad!` brummte einer der Soldaten. Dabei hielt er die Rumflasche hoch, ohne hinzusehen. Dan griff mit der Linken zu. Erneut klapperten die Würfel. Einer der Spanier stieß einen Laut des Triumphes aus, die anderen fluchten. Dan hob die Flasche und nahm gleichzeitig die Rechte vom Rücken. Schade um das schöne Gesöff, dachte er. Und dann ließ er die Buddel, mit Wucht auf den Schädel des edlen Spenders krachen. Der zweite Spanier kriegte den Belegnagel auf den Kopf. Der dritte, der auf der anderen Seite der Pütz kauerte, kriegte große Augen. Dan grinste ihn an und glitt einen Schritt zur Seite. „Wa ... Arrr!“ stieß der Soldat hervor. Eigentlich sollte es eine Frage werden, die mit „Was“ anfing, aber Dans Stiefelspitze war dazwischengeraten. Sie knallte dem Spanier ans Kinn, und der Bursche legte sich lang an Deck. Sein Gesicht spiegelte
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immer noch die Überraschung. Dan fand, daß er wie ein erstauntes Baby aussah. Wider Erwarten war die Rumflasche härter gewesen als der spanische Schädel. Dan grinste, als er sie entkorkte und einen tiefen Schluck nahm. Und noch einen. Den dritten verkniff er sich mit Rücksicht auf die anderen. Wobei er sich äußerst edelmütig fühlte. Mit zwei Schritten stand er am BackbordSchanzkleid und winkte. Daß er mit einer Flasche winkte, war vor dem Hintergrund der blakenden Öllampe nicht zu übersehen. Die Seewölfe hatten sich so nah wie möglich an die Sandbank herangepirscht, um Dan Rückendeckung zu geben, Rückendeckung, die er zum Glück nicht benötigt hatte. Hasard atmete erleichtert auf. Ferris Tuckers entzückter Seufzer bezog sich mehr auf die Buddel. Prompt bekam er einen Dämpfer. „Du sagst den anderen Bescheid“, ordnete der Seewolf an. „Dann gehst. du mit Blacky und Batuti zurück und siehst zu, daß die Ausrüstung über die Insel geschafft wird. Klar?“ „Aye, aye!“ Tucker grinste. Die Rumflasche lockte ihn ganz erheblich, aber immerhin wußte er, daß Hasard und Ben Brighton die letzten waren, die sie allein lenzen würden. Lautlos huschte Ferris Tucker zurück zu den Felsen, zwischen denen sich die Hauptstreitmacht der Seewölfe verborgen hielt. Ein paar geflüsterte Worte klärten die Lage. Blacky, Batuti und der hünenhafte Schiffszimmermann brachen zur anderen Seite der Insel auf, wo vier Mann zur Verteidigung von Booten und Ausrüstung zurückgeblieben waren: Ed Carberry und Big Old Shane, weil die beiden notfalls eine Armee ersetzen konnten, der Kutscher und Smoky Mit seiner verletzten Schulter, weil der Seewolf sie aus der vordersten Schußlinie hatte heraushalten wollen. Der kleine Bill war mitten unter den anderen sicherer als an einem Platz, wo sein Ungestüm vielleicht Unheil anrichten konnte, wenn es kritisch wurde.
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Aber auf diesen Gedanken kam er natürlich nicht. Seine Augen glänzten, sein Gesicht war vor Eifer gerötet. Der Seewolf hatte ihn mit an die vorderste Front genommen. Wenn es Kampf gegeben hätte, wäre er, Bill, mittendrin gewesen. Und jetzt, als er mit den anderen in weitem Bogen auf die Sandbank zuschlich, bedauerte er im Grunde seines Herzens fast, daß alles so glatt gegangen war. Hasard und Ben waren bereits an Bord. Die anderen enterten an der dem Land abgewandten Seite auf. Sie mußten durchs Wasser waten, wurden naß bis zu den Hüften, aber es gab niemanden, den das gestört hätte. Als sie sich in den tiefen Schatten des Achterkastells duckten, schliefen die spanischen Wachtposten immer noch. Sie waren gefesselt und geknebelt. Einem von ihnen fehlte die Uniform, und Hasard lächelte, als er Bill zu sich winkte. „Zieh das an, Junge! Falls wir hier beobachtet werden, darf niemand auf die Idee verfallen, daß die Wachen pennen.“ Bills Gesicht strahlte auf. Wohl selten hatte sich jemand so schnell umgezogen, wie er das jetzt schaffte. Mit glänzenden Augen hockte er sich neben Dan an den Platz, wo vorher - die Spanier gesessen hatten, und für die nächste Stunde fühlte er sich sämtlichen drohenden Gefahren zum Trotz im siebenten Himmel. Die Seewölfe sahen zu, daß sie sich versteckten. Hasard hatte die Rumflasche für diejenigen reserviert, die das schwere Wasserfaß und den Rest der Vorräte schleppen mußten. Immer wieder spähte er zu der Insel hinüber. Alles war still und schien in tiefem Schlaf zu liegen, aber das konnte täuschen. Esteban Jerez hatte es bewiesen, der jetzt mit den anderen Spaniern in der Vorpiek lag. Und die Reaktion der Wachtposten auf Dans Erscheinen ließ ebenfalls keinen Zweifel daran, daß man mit Leuten rechnen mußte, die sich aus purer Langeweile in der Nähe der „Isabella“ herumtrieben. Hasard war erleichtert, als der Rest seiner Männer wie aus dem Nichts auftauchte. Minuten später waren auch sie an Bord.
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Zur Freude von Ferris Tucker kreiste die Rumflasche. Viel war nicht mehr darin, und viel Zeit zur Erholung blieb ihnen auch nicht. Jeden Augenblick mußte die Ablösung für die spanischen Wachen auftauchen, und Hasard beeilte sich, den größten Teil der Männer unter Deck zu scheuchen. Ferris Tucker nahm die leere Rumbuddel mit, nachdem er als seine erste Arbeit an Bord die gebrochene Ruderkette repariert hatte, durch die sie bei ihrem Seegefecht gegen die spanische Übermacht steuerlos geworden waren. Was er mit der Flasche wollte, war klar: sie würde dem gleichen Zweck dienen wie all die anderen leeren Flaschen, die an Bord der „Isabella“ gesammelt würden und für die sich der rothaarige Schiffszimmermann eine ganz besondere Verwendung ausgetüftelt hatte. Sie wurden mit Pulver, Nägeln und Blei gefüllt, mit kurzen Lunten gezündet und dann einfach geworfen. Wenn diese Dinger explodierten, war die Wirkung unter den ahnungslosen Gegnern jedesmal verheerend. Noch hofften die Seewölfe, daß es ihnen gelingen würde, im Sturm mit der „Isabella“ unbemerkt das Weite zu suchen. Aber verlassen konnten sie sich nicht darauf. Wenn sie Pech hatten und die Spanier vorzeitig Verdacht schöpften, würden sie sich zu wehren wissen. Hasard ahnte, daß die Männer unter Deck bereits dabei waren, eine ganze Menge von Ferris Tuckers Flaschenbomben zu basteln. * „Sie kommen“, sagte Dan O’Flynn leise. Hasard hob den Kopf und riskierte einen vorsichtigen Blick über das Schanzkleid. Ja, sie kamen: zwei unlustig einherstolpernde Gestalten mit einer tanzenden Lampe. Nicht eben eilig folgten sie dem Weg, der von den Felsen herunterführte, und schlurften durch den Sand. Einer fluchte erbittert: das Wasser stand höher als sonst, und er kriegte nasse Füße. Etwas flotter als vorher marschierten sie auf die Jakobsleiter zu.
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Hasard hoffte, daß sie nicht warten würden, bis ihre vermeintlichen Kameraden ihnen entgegenkamen. Nein, offenbar nicht. Der erste Spanier enterte auf, seine Stiefel verursachten kratzende Geräusche. Dan und Bill hatten die Öllampe so gestellt, daß sie nicht ihre Gesichter beleuchtete. Links und rechts von der Jakobsleiter kauerten Hasard, Carberry, Matt Davies und Big Old Shane im Schutz des Schanzkleides und warteten darauf, daß ihr Opfer an Bord sprang. „Pennt ihr?“ murrte der Spanier. „Wohl zuviel gesoffen, was? Oder wollt ihr uns noch Gesellschaft lei ...“ Weiter gelangte er nicht. Matt Davies knallte ihm wuchtig seinen Stahlhaken auf den Schädel. Der Spanier sackte lautlos zusammen. Und Matt, der im selben Augenblick seinen eigenen Fehler erkannte, produzierte rasch ein krächzendes Husten, um die Erklärung dafür nachzuliefern, daß der Bewußtlose mitten im Satz verstummt war. Ed Carberry zog den Spanier leise zur Seite. Hasard durchbohrte Matt Davies mit einem Blick, und der zog schuldbewußt den Kopf zwischen die Schultern. „Wohl verschluckt, was?“ fragte der zweite Wachtposten erheitert. „Hrrr!“ krächzte Matt undeutlich. Der Spanier nahm es als Zustimmung. Sein Kopf erschien über dem Schanzkleid. Da er seinen Kameraden zu sehen erwartete, würde er zweifellos etwas früher stutzig werden als der andere, und deshalb richtete sich Big Old Shane blitzartig zu seiner vollen Größe auf. „He!“ brachte der Spanier noch heraus. Dann hatte er das Gefühl, als falle ihm der Himmel auf den Kopf. Er war zu schnell bewußtlos, um noch zu merken, daß es lediglich die Faust des Schmieds von Arwenack gewesen war. „Fesseln, knebeln, ab in die Vorpiek !“ befahl Ed Carberry. Hasard grinste. „Moment noch! Dem Klotz von Kerl da müssen wir die Uniform ausziehen. Er hat deine Figur, Ed.“
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„Die halbe Portion? Außerdem haben wir schon zwei Mann, die Wache schieben für den Fall ...“ „ ... für den Fall, daß die Spanier uns beobachten”, ergänzte Hasard sanft. „Und die Dons würden sich sehr wundern, wenn ihr Herkules plötzlich auf die Maße unseres kleinen Bill geschrumpft wäre.“ „Eh — ja ...“ Der Profos kratzte sich verlegen sein Rammkinn. „Affenarsch und Seemannsscheiße!“ fluchte er dann los. „Was hockt ihr noch da herum? Wollt ihr dem Kerl endlich die Klamotten abpellen, oder soll ich das vielleicht tun, was, wie?“ Er verstummte, weil Blacky und Stenmark schon dabei waren, den großgewachsenen Spanier zu entkleiden. Daß er Carberrys Statur hatte, stimmte tatsächlich nur annähernd. Der Profos war ein Riese von einem Mann, hatte Schultern so breit wie ein Rahsegel und einen Brustkasten wie ein Bierfaß, und er schaffte es nur unter Ächzen und Stöhnen und natürlich einer ellenlangen Kette von Flüchen, sich in die Uniform zu zwängen. Ein paar Minuten später gingen er und Dan O’Flynn gut sichtbar Wache, während die anderen Seewölfe nicht einmal eine Haarspitze über das Schanzkleid hoben. Im Bauch der „Isabella“ war eine Gruppe wie besessen dabei, die Flaschenbomben mit der verheerenden Ladung herzustellen. Geschütze wurden klariert, Kugeln gemannt, Segeltuchkartuschen vorbereitet —und das alles leise, unauffällig, teilweise in Hockstellung. Die Männer richteten sich darauf ein, das Schiff notfalls mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie schufteten, keuchten, der Schweiß rann ihnen in Bächen über die Gesichter, und die Hitze dieser Anstrengung war es, die Hasard wenig später die leichte Abkühlung sofort bemerken ließ. Wind trocknete die Schweißperlen in seinem Gesicht. Es briste auf, kein Zweifel! Auch die anderen an Deck spürten es, und für einen Moment verharrten sie reglos, mit angehaltenem Atem, während die Brise zunehmend frischer wurde. „Mann!“ flüsterte Stenmark andächtig.
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Dan O’Flynn hätte fast einen Jubelschrei ausgestoßen, aber gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß jubelnde spanische Wachtposten auf der „Isabella“ nicht recht ins Bild paßten. Er beschränkte sich darauf, die Nase in den Wind zu halten und mit funkelnden Augen in die unergründliche Schwärze der Wolken zu starren, die für die Seewölfe durchaus nicht bedrohlich wirkten, sondern im Gegenteil höchst verheißungsvoll. Die Männer schufteten weiter. Von See drückte das Wasser herein. Eine Stunde später begann der Rumpf der „Isabella“ auf dem Sand zu scheuern. Wieder unterbrachen die Seewölfe die Arbeit und hielten den Atem an. „Ich glaube, wir haben Glück“, sagte Ben Brighton leise. „Die Flut steigt ungewöhnlich hoch.“ Stenmark spuckte abergläubisch über die Schulter. Fast hätte er den Profos getroffen, aber der drohte ausnahmsweise nicht damit, dem Schuldigen die Haut vom Hintern zu ziehen. Er war selber abergläubisch, was er damit zeigte, daß er dreimal gegen das Holz des Achterkastells klopfte. Das Knirschen des Schiffsrumpfs schien ihm zu antworten. Etwas wie ein leises Beben lief durch die Bordwand. Die nächste anrollende Woge rüttelte an der „Isabella“, wühlte unter dem schrägliegenden Rumpf und drückte gegen die Bordwand. Langsam, nur um eine Winzigkeit hob sich das Schiff, und diesmal begleiteten mindestens fünf, sechs Männer den Vorgang mit andächtigem Stöhnen. Eine Stunde später hatte sich die „Isabella“ einigermaßen aufgerichtet. Mehr allerdings tat sich nicht. Immer noch lagen sie auf der Untiefe fest. Freikommen würden sie erst, wenn am Morgen der Sturm losbrach. Wenn er losbrach! Hasard witterte in die kräftige Brise und starrte immer wieder zum Himmel, dessen Schwärze jetzt etwas Bedrohliches hatte. Er glaubte nicht daran, daß sie noch lange zu warten brauchten. Die einheimischen
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Fischer kannten das Wetter genau. Und auch sie hatten den Sturm für den frühen Morgen vorausgesagt. „He!“ zischte Dan O’Flynn plötzlich. „Da ist jemand!“ „Wo, zum Teufel? Ich seh nichts!“ Es war Carberry, der das sagte. Er hatte nicht Dans scharfe Augen, aber es dauerte nicht lange, bis auch er und die anderen die beiden Gestalten sahen, die sich von den Felsen her näherten. Spanier! Zwei Männer in Uniform! Sie marschierten zielstrebig auf die „Isabella“ zu und erweckten ganz und gar nicht den Eindruck, als ob sie nur aus Langeweile auf der Insel spazieren gingen. 8. „Himmel, Kreuz und Haifischkotze“, stieß Carberry durch die zusammengebissenen Zähne. „Himmel, Arsch!“ fluchte Stenmark. „... und Wolkenbruch!“ Blacky verschaffte sich ebenfalls Luft. Besser wurde dadurch nichts. Die Spanier marschierten weiter auf die „Isabella“ zu, und sie sahen immer noch so aus, als ob sie etwas ganz Bestimmtes vorhätten. Carberrys zusammengepreßter Kiefer erinnerte an einen Amboß. Er starrte die Kerle an, als könne er sie mit seinen Blicken harpunieren. „Köpfe ‘runter“, sagte Hasard leise. „Ed, wenn sie was von dir wollen, sagst du einfach ,Marche a Verstanden?“ „Und was heißt das?“ flüsterte der Profos. „Geh zum Teufel!“ Carberry schluckte. „He, Mann! Ich werde ja wohl noch fragen dürfen, was ich den Kerlen an den Kopf werfen soll, oder? Dir scheinen allmählich die Nerven zu flattern, was, wie?“ Hasard grinste. Dan kriegte einen puterroten Kopf, weil er das Lachen unterdrücken mußte. „Geh zum Teufel!“ Er kicherte. „Genau das ist es doch, was du den Dons sagen sollst! Marche a Diablo! Hättest du besser spanisch gelernt, wüßtest du das!“
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„Marche a Diablo, du Wanze!“ fauchte der Profos. „Wenn wir erst mal von dieser verdammten Sandbank herunter sind, wickle ich dich um den Großmast. Oder ich sag Will Thorne, er soll dir dein Schandmaul mit der Lieknadel zunähen, damit du endlich mal deine Klappe hältst, du Affen …“ „Ruhe!“ sagte Hasard nur. Der Profos verstummte. Es wurde auch Zeit. Die beiden Spanier blieben in einiger Entfernung von der „Isabella“ stehen, weil sie sich keine nassen Füße holen wollten. „Manuel!“ brüllte einer von ihnen durch die hohlen Hände. Die Seewölfe hatten keine Ahnung, welcher der beiden Wachtposten Manuel hieß. Da es wenig sinnvoll war, den Männern dort unten schon jetzt mitzuteilen, sie möchten sich zum Teufel scheren, übernahm Dan die Antwort. „Que?“ schrie er zurück. „Manuel meine ich, diesen verrückten Riesenaffen! He, Manuel!“ „Den „verrückten Riesenaffen“, verstand Carberry nicht, deshalb war er auch nicht beleidigt. „Marche a Diablo!“ grollte er trotzdem im Brustton der Überzeugung. „Bastardo! Jijo de puta!“ Der Spanier war im Fluchen auch nicht unbegabt. „Du sollst ins Lager kommen, verdammt noch mal! Es gibt Sturm. Der Capitan braucht dich, um irgendetwas zu reparieren, sagt er.“ Hasard biß die Zähne zusammen. Das durfte doch nicht wahr sein! Mußte ausgerechnet dieser Manuel über besondere handwerkliche Fähigkeiten verfügen, die man jetzt brauchte? Auf alles Mögliche waren sie gefaßt gewesen, aber das da hätte kaum vertrackter sein können. „Entert auf und trinkt erst mal ‘nen Schluck Rum, Amigos!“ rief Dan geistesgegenwärtig. Dabei winkte er auffordernd und nutzte die Gelegenheit, um Carberry im Flüsterton zu erklären, welch hoher Wertschätzung er sich bei dem spanischen Capitan erfreue. „Scheiß auf den Rum!“ fauchte der Wortführer der Soldaten. „Beweg jetzt
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endlich deine Knochen, Manuel! Wird’s bald?“ „Marche a Diablo!“ wiederholte Ed Carberry mit Todesverachtung seinen einzigen spanischen Satz. „Manuel! Der Capitan wird dich auspeitschen, vierteilen, an den Füßen aufhängen!“ „Na, meinetwegen, du verlauster Sohn einer schwanzlosen Steppensau“, brummte Carberry fast unhörbar. „Ich komm ja schon. Reiß ruhig weiter die Schnauze auf, damit ich dir besser was ‘reinschlagen kann, du abgetakelter Kakerlake, du dreimal um den Großmast gewickeltes Bilgengespenst, du ...“ „Fluch auf Spanisch oder halt die Klappe!“ zischte Hasard, als der Profos an ihm vorbeistampfte. „Caramba!“ gab Carberry zum besten. Dann hielt er wirklich die Klappe, weil er nur diesen einen spanischen Fluch kannte. Was er tat, was das einzige, was jetzt vielleicht noch helfen konnte: der Versuch, nahe genug an die beiden Spanier heranzukommen, um auch sie lautlos zu überwältigen. Viel würde auch das nichts nutzen. Sie gewannen Zeit, das war alles. Schon die Wachtposten, die Manuel und der zweite Mann abgelöst hatten, waren nicht ins spanische Lager zurückgekehrt. Wenn jetzt auch diese beiden ausblieben, samt dem fabelhaften Manuel, mußten die Dons einfach mißtrauisch werden. Hasard biß die Zähne zusammen und widerstand der Versuchung, über das Schanzkleid zu spähen, um mitzukriegen, was geschah. Ed Carberry war über die Jakobsleiter abgeentert. Er drückte das Rammkinn auf die Brust, als er sich umwandte. In dem flackernden, unruhigen Licht der Öllampe war es durchaus möglich, daß die Kerle ihn nicht erkannten. Das dachte er wenigstens. Aber er hatte vergessen, daß er’ eben doch noch etwas größer und breiter gebaut war als der „Riesenaffe“ Manuel. „He!“ zischte einer der Spanier. „Das ist er doch gar nicht!“ „Caramba! Ciele, infierno y diablo!“
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Ed Carberry verstand weder die Flüche noch ihren Anlaß, aber er verstand die Wut und den Schrecken in der Stimme des Spaniers. In dieser Tonlage wurde in jeder Sprache geflucht. Außerdem griff der Soldat mit einer bezeichnenden Bewegung zu seiner Pistole. Der eisenharte Profos explodierte förmlich. Mit einem einzigen Satz sprang er auf die verblüfften Spanier zu. Ehe sie auch nur halbwegs begriffen, hatte er sie schon gepackt und donnerte ihre Schädel gegeneinander. Es gab ein auffallend hohles Geräusch, die Burschen verdrehten die Augen und fielen schlaff in den Sand, als Carberry losließ. „So, ihr verlausten Hurensöhne“, sagte er laut und zufrieden. Im selben Augenblick schnellte am Fuß der Felsen ein dritter Mann hoch, warf sich mit einem erschrockenen Schrei herum und sauste wie ein geölter Blitz über den Pfad davon. Einen Moment stand Ed Carberry wie erstarrt. Dann hob er binnen einer halben Minute mindestens ein Dutzend völlig neuer Flüche aus der Taufe, aber das konnte den Lauf der Dinge nun auch nicht mehr aufhalten. * Zwanzig Minuten später pirschte sich der aufgescheuchte Capitan mit einem Aufklärungstrupp über den Pfad zum Strand. In der tintenschwarzen Nacht war die „Isabella“ nur als Schattenriß vor der bewegten See zu erkennen. Kein Licht war an Bord zu sehen, keine Haarspitze von den beiden Wachtposten und den Soldaten, die den hünenhaften Manuel hatten abholen sollen. Das Schiff schien verlassen und wirkte geradezu unheimlich, aber der Capitan war um die Lösung des Problems nicht lange verlegen. Er schickte einfach zwei Mann zum Nachsehen an Bord. Die Kerle sahen aus, als ob sie Bauchschmerzen hätten, aber sie mußten
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wohl oder übel aufentern. Undurchdringlicher Schatten verschluckte sie. Nichts passierte, jedenfalls nichts, das sieht- oder hörbar gewesen wäre. Der Capitan nahm das als gutes Zeichen. Fünf Minuten lang! Dann wurde ihm klar, daß etwas nicht stimmen konnte. Er wies seinen Sargento an, nach den beiden Männern zu rufen. Der Erfolg blieb aus, und deswegen schickte der Capitan gleich sechs Soldaten los. Die Burschen wollten nicht recht. Erst als der Capitan die Pistole zog, bequemten sie sich. Auf halbem Wege zögerten sie noch einmal - und die Waffe des Capitans entlud sich donnernd. Sand spritzte. Die sechs Männer sprangen. Sie kannten ihren Vorgesetzten. Was sie auf der „Isabella“ erwartete, wußten sie nicht, aber eine Kugel in den Hinterkopf war auf jeden Fall tödlich. Die Soldaten enterten über die Jakobsleiter auf. Alle sechs waren der Panik nahe. Sie erwarteten jeden Augenblick irgendeinen höllischen Dämon zu sehen, und in dieser Stimmung äußerster Wachsamkeit und Fluchtbereitschaft waren sie nicht mehr so leicht zu überrumpeln. Zwei Mann schwangen sich über das Schanzkleid und verschwanden. Der dritte fuhr mit einem irren Aufschrei zurück, trat seinem Hintermann auf die Finger und fiel von der Jakobsleiter. Unten landete er im Schlick, rollte blitzartig herum und sprang auf, während seine Kameraden ebenfalls überstürzt den Rückzug antraten. Was der Bursche brüllte, konnten die Seewölfe nicht verstehen. Aber der Reaktion der restlichen Soldaten nach brüllte er bestimmt nichts von Engländern, sondern eher von Gespenstern, Wassermännern oder dem leibhaftigen Satan. Der Capitan wußte nicht recht, ob er an den leibhaftigen Satan glauben sollte. Oder vielmehr: er glaubte sehr wohl an ihn, aber er sah nicht ein, wieso sich der
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Satan ausgerechnet das Schiff des Seewolfs zum Domizil ausgesucht haben sollte. Dagegen sah er noch sehr lebhaft vor sich, welche Hölle diese elenden Engländer bei ihrer letzten Stippvisite auf der Teufelsinsel losgelassen hatten. Wenn sie an Bord waren, mit dieser unheimlichen Waffe, die kein Mensch je vorher gesehen hatte... Der Capitan dachte an seine Haut. Vor allem an die Löcher, die das regnende Feuer, von dem die Augenzeugen erzählt hatten, vielleicht hineinbrennen würde. Als erstes befahl er den strategischen Rückzug zwischen die Felsen, als zweites schickte er einen Kurier los, um sämtliche Streitkräfte auf der Insel zum Großangriff zu mobilisieren. Und beide Befehle wurden an Bord der „Isabella“ sehr genau verstanden. * „Caramba“, knirschte der Profos. „Donnerwetter heißt das“, sagte Dan O’Flynn. „Jetzt kannst du wieder englisch fluchen.“ „Ich kann fluchen, wie ich will, du Wanze! Wenn’s mir paßt, fluche ich auf Schwedisch oder ...“ „Ha! Als ob du Schwedisch könntest.“ „Askslag!“ fauchte Carberry. „Död och djävul!“ Das hatte er von Stenmark gelernt, der sich eins grinste. Hasard grinste auch. Daß die allgemeine Lage keinen Anlaß dazu“ bot, wußte er genau wie die anderen, aber so leicht verging ihnen das Lachen denn doch nicht. Galgenhumor, dachte der Seewolf mit einem Blick in die feixenden Gesichter. Was jetzt kam, war ein höllisches Spiel um den höchsten Einsatz. Ein Spiel, das am Ende weder sie noch die Spanier entscheiden würden, sondern die Natur in Gestalt des Sturms, der allein die „Isabella“ aus ihrer aussichtslosen Lage befreien konnte. „Sollen wir den Kerlen schon mal eins verplätten?“ erkundigte sich Al Conroy, der Stückmeister.
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Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne, überlegte und witterte in den Wind. Sie konnten Zeit gewinnen, wenn sie den Spaniern Gelegenheit gaben, erst mal ausgiebig zu beraten, wer sich wohl auf der „Isabella“ verschanzt hatte: Meergeister, der Satan oder der Seewolf. Andererseits war Andres Catalina, der Inselkommandant, nicht der Mann, der sich lange überlegte, ob er Engländer oder Gespenster zusammenschießen ließ. Vielleicht würde es doch mehr Zeit einbringen, wenn man den Capitan und seine Leute zu Paaren trieb, damit sie dem Kommandanten nicht sofort Bericht erstatten konnten. „Gut“, sagte Hasard. „Verplätten wir ihm eins!“ Und mit leiser, scharfer Stimme: „Klar bei Backbordkanonen! Stückpforten auf! Fertigmachen zum Feuern!“ Die Stückpforten der „Isabella“ öffneten sich von einer Sekunde zur anderen — wie aus heiterem Himmel. Für die Spanier zwischen den Felsen war es ein gespenstischer Anblick. Ein paar Männer bekreuzigten sich. Der Capitan zuckte zusammen und schnellte hoch wie ein Kastenteufel. Aber er konnte sich nicht schnell genug entscheiden, in welche Richtung er laufen sollte. Eine Sekunde danach war es zum Laufen zu spät. An der Backbordseite der „Isabella“ blühten rotglühende Feuerblumen auf. Acht Siebzehnpfünder-Culverinen spuckten Tod und Verderben. Pfeifend und orgelnd flogen die Kugeln durch die Luft und krachten in die Felsen. Unter den Spaniern, denen ohnehin die Angst im Nacken saß, brach Panik aus. Sie reagierten so, wie Hasard erwartet hatte — mit kopfloser Flucht nach allen Seiten. Der Capitan rannte besonders schnell. Er nahm den Pfad, der hinauf in die Felsen führte. Unglücklicherweise rannte er genau der anrückenden Verstärkung in die Arme. Zehn Minuten später griffen die Spanier mit allem an, was sie hatten. Die Kanonen der „Isabella“ spuckten Feuer. Flaschenbomben explodierten am Strand und stifteten heilloses Chaos.
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Immer neue Wellen von Angreifern wehrten die Seewölfe ab, sie verteidigten ihr Schiff wie eine Festung, aber sie wußten nur zu gut, daß diese Festung nicht uneinnehmbar war. Zwei Stunden dauerte es, bis die Spanier ein Dutzend schwerer Geschützte in Stellung gebracht hatten. Jetzt wurde es ernst. Denn jetzt lief alles auf die Frage hinaus, wer was zuerst in Fetzen schießen würde: die Dons die „Isabella“ oder die Seewölfe die Kanonen der Dons. „Feuer!“ gellte Hasards Stimme durch den Kampflärm. Und dann, in der Sekunde, die zwischen seinem Befehl und dem Krachen der Waffen verstrich, stutzte er jählings. Die Luft schien zu zittern. Zuerst glaubte er, sich geirrt zu haben. Das Brüllen der Culverinen, die Einschläge der Kugeln, das wilde Geschrei verschluckten jedes andere Geräusch. Eine der spanischen Kanonen stürzte polternd die Klippen hinunter. Zwei andere spuckten ihre todbringende Ladung aus, ohne die „Isabella“ zu treffen. Für die Dauer eines Atemzugs wurde es verhältnismäßig still – und jetzt war der Seewolf sicher, daß er sich nicht verhört hatte. Gewaltiger Kanonendonner rollte über die See. Drüben in Cayenne mußte in diesem Augenblick die Hölle los sein, und Philip Hasard Killigrew hegte nicht den geringsten Zweifel darüber, wer es war, der diese Hölle entfesselt hatte. Der schwärze Segler! Thorfin Njal und die Rote Korsarin! Jetzt brauchte nur noch der Sturm loszubrechen. 9. Dem schwarzen Segler war es tatsächlich gelungen, sich unbemerkt bis auf die Reede von Cayenne zu pirschen. Siri-Tong kannte das Wetter in diesem Teil der Welt ebenso gut wie der Seewolf. Auch sie wußte, daß ein knüppeldicker Sturm bevorstand und daß er wahrscheinlich in den frühen
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Morgenstunden losbrechen würde. Sie und der Wikinger waren entschlossen, mit den tobenden Elementen ein Bündnis zu schließen, und genau darauf war ihr Zeitplan abgestellt. Mit dem ersten Morgengrauen lief der schwarze Segler in die Hafeneinfahrt. Die Stückpforten waren bereits geöffnet, die Kanonen feuerbereit. Spannung schien fast greifbar in der Luft zu knistern. Noch hob sich das Schiff mit seinem schwarzen Rumpf und den schwarzen Segeln kaum von der Umgebung ab. Auf dem Achterkastell kniff Siri-Tong die Augen zusammen und überzeugte sich mit einem raschen Rundblick, daß die spanischen Galeonen immer noch genauso im Hafen verteilt waren, wie der Boston-Mann es aufgezeichnet hatte. Je etwa die Hälfte des Geschwaders an Backbord und Steuerbord! Eine offene Einladung! Siri-Tong lächelte leicht, in ihren schwarzen Mandelaugen entzündeten die herüberschimmernden Lichter von Cayenne flirrende Reflexe. „Jetzt“, sagte sie leise. „Na dann“, brummte der Wikinger, und im nächsten Moment dröhnte seine Donnerstimme durch die Stille. „Steuerbord-Kanonen Feuer! BackbordKanonen Feuer!“ Es war, als breche in der Stille der Nacht von einer Sekunde zur anderen die Hölle aus. Donnernd entluden sich die Geschütze des schwarzen Seglers, die Decksplanken erzitterten unter den Füßen der Männer. Jählings wurden die spanischen Galeonen von der Gewalt der Einschläge durchgerüttelt. Masten splitterten weg, Tauwerk brach, Rahen wurden geknickt wie Streichhölzer. Eine der Galeonen erwischte einen Volltreffer unter der Wasserlinie und begann sich sofort zu neigen. Geschrei gellte. Bei den Spaniern herrschte Zustand. Nur wenige von den schwerbewaffneten Kriegsgaleonen waren völlig unbeschädigt geblieben. Noch ehe die Spanier auch nur begriffen, was da über sie hereinbrach, ließ Thorfin Njal
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schon die beiden nächsten Breitseiten abfeuern. Siri-Tong kommandierte im Vorderkastell die kleine Spezial-Truppe, die sie persönlich mit der Funktion der Gestelle zum Abschießen der Brandsätze vertraut gemacht hatte. Es gab keine Wahl, kein Zögern. Wenn überhaupt eine Situation den Einsatz dieser fürchterlichen Waffe rechtfertigte, dann war es diese. Mit steinerner Miene gab Siri-Tong den Befehl zum Feuern, und die ersten kleinen Raketen flogen durch die Luken, die speziell für diesen Zweck im Vorschiff angebracht waren. Zischend senkten sie sich auf die spanischen Galeonen nieder. Ein Teil verschwand im Wasser, aber die meisten trafen, platzten auf und entfalteten sich zu gespenstischen Feuerblumen, die alles ringsum mit einem strahlenden, flimmernden Glutregen übergossen. Wo dieses furchtbare Feuer auftraf, bildeten sich glimmende Nester und schlugen Flammen hoch, die sich wie mit gierigen Zungen weiterfraßen. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei brandete über das Wasser des Hafens. Das Geschwader war am Abend eingelaufen, die Männer, die Wache hatten, konnten noch nichts von dieser fremden, unheimlichen Waffe gehört haben. Für sie war es das leibhaftige Höllenfeuer, das da über sie hereinbrach — und nur die wenigsten von den Offizieren hatten überhaupt noch den Nerv, zurückschießen zu lassen. Eine Breitseite wühlte in beruhigender Entfernung von dem schwarzen Segler das Wasser auf, eine zweite traf fast eine der Galeonen auf der gegenüberliegenden Hafenseite. Befehle wurden geschrien und gingen im Kanonendonner unter. Der schwarze Segler feuerte erneut. Vierundzwanzig Geschütze brüllten auf und spuckten Tod und Verderben. Gleichzeitig ließ Siri-Tong ein halbes Dutzend weiterer Brandsätze auf die Reise schicken, und jetzt erwischte das unlöschbare Feuer auch die letzten Galeonen.
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Der Hafen von Cayenne war nur noch ein Inferno aus Flammen und brennenden, zum Teil bereits sinkenden Schiffen. Ein kampffähiges spanisches Geschwader gab es nicht mehr. Als die ersten Befestigungen das Feuer erwiderten, könnte sich Thorfin Njal voll darauf konzentrieren, sie in Trümmer zu legen. In der Stadt brach Panik aus, obwohl nur ein einziger Brandsatz zwischen den Häusern gelandet war, und auch der nur zufällig. Siri-Tong und der Wikinger wollten die verhaßten Dons treffen, nicht ein Blutbad unter Frauen und Kindern anrichten. Die Stadt zu stürmen, die spanischen Soldaten zu Paaren zu treiben, die Befestigung dem Erdboden gleich zu machen, soweit sie es nicht schon waren — das war etwas anderes. Siri-Tongs Augen funkelten. Der Wikinger ballte die Hände und rollte mit den Augen, wie es vielleicht seine Vorfahren getan hatten, wenn sie mit ihren Langschiffen wie die Wölfe über unbekannte Küsten hergefallen waren. Die ganze Crew war Feuer und Flamme und brüllte vor Begeisterung. In jeder anderen Nacht als dieser wäre in Cayenne vermutlich kein Stein auf dem anderen geblieben. In dieser Nacht war es die See selber, die in das Geschehen eingriff. Noch bevor Thorfin und die Rote Korsarin eine Entscheidung treffen konnten, fegte die erste Sturmbö heran, eine Sturmbö, die fauchend in die Flammen fuhr, unter deren Gewalt sich das Feuer rasend schnell ausbreitete, die den ganzen Hafen in eine lodernde Hölle verwandelte. Bei den Spaniern versuchte nur noch jeder, das eigene Leben zu retten. Ein paar Geschützmannschaften innerhalb der Befestigungen hätten noch schießen können, aber sie sahen kein Ziel mehr, sahen nur noch Feuer und gigantische Rauchwolken, die sich auf sie zuwälzten. Der Wind fiel jetzt mit bösartiger Schärfe ein und gewann rasch an Gewalt. Wellenberge türmten sich auf, ihre Kämme brachen sich gischtend, und auch für den schwarzen Segler wurde es kritisch.
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Wenn er nicht rasch das Feld räumte, Würde der Sturm ihn in den Hafen drücken, mitten hinein in das flammende Inferno. „An die Brassen und Fallen!“ dröhnte Thorfin Njals Stimme durch den Höllenlärm. „Klar zum Anluven! Ruder hart über!“ Der schwarze Segler drehte seinen Bug an den Wind. Kommandos schallten, die Segel blähten sich knatternd. Langsam, schwer gegen den Sturm kämpfend, nahm das Schiff die Hafeneinfahrt und lief in die offene See hinaus. Achteraus ließen sie ein unvorstellbares Chaos zurück. * Es war, als lasse die erste fauchende Sturmbö den bedrohlich gewordenen Angriff der Spanier stocken. Ein einziges Geschütz feuerte noch, aus einer Position, in der es von den Backbordkanonen der „Isabella“ nicht zu erwischen war. Aber auch die Spanier hatten in dieser Position nicht viel mehr tun können, als dem Gegner das Bugspriet wegzurasieren. Al Conroy jagte mit der Drehbasse Schuß auf Schuß in die Felsen, damit die Dons erst gar nicht auf den Gedanken verfielen, ihre Kanone weiter nach vorn zu bringen. Längst wagte sich kein Spanier mehr auf Musketenschußweite heran, aus Furcht vor den mörderischen Flaschenbomben. Die nächste Sturmbö trieb die Soldaten noch weiter zurück und jagte sie in den Schutz der Felsen. Brecher spülten über den Strand, Gischt hüllte Tote und Verwundete ein und schwemmte das Blut weg. Sand rieb unter dem Kiel der „Isabella“. Wanten und Pardunen ächzten, der Wind heulte durch das Rigg. Und immer noch rollte der ferne Kanonendonner über die aufgewühlte See. Die Spanier starrten dorthin, wo der glutrote Widerschein über Cayenne die Nacht erhellte. Die Stadt brannte. So sah es jedenfalls aus. Cayenne in Flammen, ein Sturm, der mit
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wachsender Gewalt heranheulte, der binnen kurzem alles davonwirbeln würde, was sich ihm in den Weg stellte — für den Kommandanten war das einfach zuviel. Er begriff überhaupt nichts mehr. Er sah nur, daß alles um ihn zusammenbrach, und er hatte nicht mehr den Nerv, noch einmal alle Kräfte zum letzten, vielleicht entscheidenden Angriff zu sammeln. Seine Befehle konnten die Seewölfe im Heulen des Sturms nicht hören, aber sie sahen, daß sich die Spanier in panischer Hast zurückzogen. Hasard grinste hart. Sein schwarzes Haar flatterte, die eisblauen Augen funkelten. Er wußte, daß das Wasser stieg. Er fühlte es unter dem Rumpf der „Isabella“ mahlen und arbeiten. Brecher klatschten gegen die Bordwand und ließen die Planken erzittern. Der Druck von Wind und See begann das Schiff zu heben. Minuten noch! Bis jetzt hatten sie alle Hände voll zu tun gehabt, um den wilden Angriff der Spanier abzuwehren. Nun drohte ein anderer Angriff. Der Sturm, der die „Isabella“ befreien sollte, konnte sie später auch in die Tiefe ziehen. Mühelos übertönte Hasards Stimme das Heulen und Tosen: „Fahrt die Kanonen und Drehbassen fest! Ben, laß Manntaue spannen! Ferris, Luken verschalken! Klar bei Brassen und Fallen! Himmel, Arsch, holt endlich die verdammte Blindenrah ein oder laßt sie in die Tiefe fahren, bevor sie uns gleich die Fock zerfetzt! Weg mit dem Bugspriet, in drei Teufels Namen!“ „Aye, aye, Sir!“ brüllte Ben Brighton durch das Orgeln und Tosen. „Aye, aye!“ tönte es vom Vorschiff, wo drei Männer an der zerfetzten Blinde arbeiteten. „Klar bei Ruder! Pete, verdammt noch mal, wo ...“ Pete Ballie hatte längst seinen Platz im Ruderhaus eingenommen und zeigte klar. Hasard grinste, als zeige er dem Wetter die Zähne. .Die „Isabella“ ruckte, hob sich mit einer anrollenden Woge, senkte sich wieder. Der Winddruck wurde bedrohlich. Wenn er jetzt in die Segel fuhr, würde er
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die „Isabella“ von der Sandbank wegreißen. Wenn sie noch lange warteten, konnte es sein, daß eine der nächsten Böen das Schiff flachlegte. „An die Brassen lind Fallen!“ Hasards Stimme peitschte. Im düsteren Grau der Morgendämmerung sah er Dan O’Flynn wie der Blitz in den Großmars entern. Der Seewolf hielt den Atem an und fluchte in sich hinein. Aber Dan hatte recht. Wenn der schwarze Segler Cayenne in Trümmer gelegt hatte, mochte es leicht sein, daß jetzt spanische Kriegsgaleonen trotz des Wetters die See zwischen dem Festland und der Teufelsinsel verunsicherten. Sie brauchten den Ausguck. Auch wenn der Sturm die Masten durchrüttelte und die Segeltuchverkleidung der Plattform knattern ließ. Eine neue Bö! Die „Isabella“ neigte sich bedrohlich. Eine mächtige Woge hob den Kiel an, und Hasard atmete tief. „Heißt Fock und Großsegel! Ruder hart steuerbord!“ Knatternd entfalten sich die Segel. Der Wind fuhr in das Tuch und spannte es zum Zerreißen. Pete Ballie legte Ruder. Wie ein gewaltiger Mahlstrom knirschte es unter dem Kiel. Dann schien eine unsichtbare Gigantenfaust die „Isabella“ zu packen und von der Sandbank zu schleudern, „Anluven!“ peitschte Hasards Stimme. Die Männer schwitzten und schufteten. Für einen Moment schoß das Schiff wie ein rasendes Seeungeheuer dahin, als es vor dem Wind lief, beim Anluven krachten die Rahen, als wollten sie zerbrechen. Hasard biß die Zähne zusammen, als die heulenden Sturmböen über den neuen Bug einfielen und die „Isabella“ bedrohlich nach Backbord krängte. Wanten und Pardunen schrillten. Das Schiff richtete sich auf und rauschte mit Steuerbordhalsen aus der gefährlichen Nähe der Teufelsinsel. „Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars so gellend, als sei er noch
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einmal in den längst überwundenen Stimmbruch zurückgefallen. Und donnernd brauste die Antwort der Crew über die Decks, mischte sich mit dem Orgeln und Heulen des Windes. „Arwenack! Ar-we-nack ! Ar -wenack !“ * Die Teufelsinsel versank achteraus. „Deck!“ brüllte Dan O’Flynn. „Mastspitzen Steuerbord voraus!“ Hasard spähte aus zusammengekniffenen Augen in das gestaltlose Grau des Morgens. Der Sturm tobte und nahm ständig an Heftigkeit zu. Rasch rückten die Mastspitzen näher, ein dunkler Schatten tanzte in den tobenden Elementen, und noch ehe Hasard zum Spektiv greifen konnte, schallte schon wieder Dans Stimme. „Es ist der schwarze Segler! Es sind Thorfin und die Rote Korsarin!“ Der Seewolf grinste. Rasch schloß die „Isabella“ zu dem schwarzen Segler auf und schaffte es sogar, in wenigen hundert Yards Abstand an ihm vorbeizuziehen. Hasard sah schattenhaft die Gestalt der Roten Korsarin, die ihm zuwinkte. Er glaubte sogar, das gewaltige Triumphgebrüll des Wikingers zu hören, das den Sturm übertönte. Eine Woge hob die „Isabella“ empor. Der zerfetzte Bugspriet schien geradewegs in den verhangenen Himmel zu zielen. Der schwarze Segler verschwand in einem gewaltigen Wellental - und erst sehr viel später sahen sie ihn wieder. Die beiden Schiffe ritten einen Sturm ab, der es in sich hatte, der den Männern das letzte an Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer abverlangte. Einen vollen Tag tobten die entfesselten Elemente. Aber dann, zwölf Stunden später, flaute der Sturm so plötzlich ab, wie er losgebrochen war. Weit achteraus konnten die Seewölfe das Schiff Thorfins und der Roten Korsarin erkennen. Die Wolken rissen auf, die
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Sonne erschien. Ein blauer, strahlender Himmel wölbte sich über der flaschengrünen See, und der Wind stand günstig.
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Mit schäumender Bugwelle pflügten die „Isabella“ und der schwarze Segler durch das Meer nach Süden, dem Äquator entgegen ...
ENDE