Es ist ein Donnerstagmorgen im Oktober. Ein Passagierflugzeug steigt über dem Mittelmeer auf und läßt die Berge des Lib...
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Es ist ein Donnerstagmorgen im Oktober. Ein Passagierflugzeug steigt über dem Mittelmeer auf und läßt die Berge des Libanon hinter sich. In wenigen Minuten wird es sich aus der Todeszone der Raketen und Jagdmaschinen befreit haben. Der Oktoberkrieg von 1973 zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn hat begonnen. Einer der Passagiere der Maschine ist Eduard Claudius. In diesem Herbst war er in ein Land zurückgekehrt, das ihm als diplomatischem Vertreter der DDR schon einmal für Jahre Heimat war: Syrien. Claudius ist einer Faszination auf der Spur, der Faszination, die aus dem Zusammentreffen einer mehrtausendjährigen Geschichte und einer modernen Gegenwart an einem einzigen Ort entsteht. Er geht ihr als genauer Beobachter, sachkundiger Analytiker und intensiv erlebender Schriftsteller nach. Er besucht den nächtlichen Tempel des Baal und den riesigen Euphratdamm, er kennt sich aus in Beduinenzelten und Amtsstuben, porträtiert Bauern, Händler, Schriftsteller, Soldaten, Studenten und gibt einen Bericht von den dramatischen Ereignissen des Oktoberkrieges. Der Syrienreport von Claudius liefert so authentisches Material zum tieferen Verständnis der Entwicklung der arabischen Welt.
Eduard Claudius
SYRIEN Reise in sieben Vergangenheiten und eine Zukunft
Mitteldeutscher Verlag Halle/Saale
Am frühen Morgen stieg steil das Flugzeug über dem Meer hoch. Der Himmel war blau gekörnt. Die über dem Libanon aufgehende Sonne verwandelte die Tragflächen in gelblichgraue Schwingen. In wenigen Minuten würde die Gefahrenzone hinter uns liegen, und wenn wir die eigentliche Flughöhe erreicht hätten, bei etwa 12000 Metern, würde auch Zypern schon weit hinter uns liegen. Heimwärts! Eine Fracht von Frauen und Kindern, ja, ein ganzer Kindergarten, die Kleinen lärmig und lebhaft, als hätten sie die letzten zwei Tage schon vergessen; die Frauen ruhiger bereits als gestern und heute früh vor dem Start; die ganze buntgewirkte Fracht wurde heimwärts gebracht. Im Sitz vor mir beugt sich ein Siebenjähriger über die Flugkarte und sagte ein wenig wichtigtuerisch: »Mutti... Mutti... jetzt sind wir gleich über der türkischen Küste!« Was da tief unter uns mochte er wohl für die türkische Küste halten? Weit und breit nur Wasser und nochmals Wasser wie aus wellig erkaltetem Stahl. Der Siebenjährige sagte zu seiner schweigsamen, nachdenklichen Mutter: »Der Vati ist sicher schon im Büro, oder meinst du, er muß heute nicht arbeiten?« Die Frau antwortete etwas, ich verstand sie jedoch nicht. Von ihrem Kopf sah ich nur eine fadblonde Haarsträhne. Der Junge schwieg, schien sich wieder in die Flugkarte zu vertiefen. Es war ein Donnerstagmorgen, und Himmel und Wasser unter uns waren unbewegt. Kaum zu verstehen, daß seit Montag mittag 11.55 Uhr täglich Jagdbomber über die Stadt gekommen waren und ihre schlimme Last hatten fallen lassen. Die Frau vor mir hatte sich mit ihrem Jungen gegen 11.30 Uhr im hinteren, auf den Garten hinausgehenden Raum im oberen Stockwerk zum Frühstück gesetzt. Es schien trotz dieses drei Tage alten Krieges ein Spätmorgen wie jeder andere zu sein. Da aber erhob sich plötzlich ein Brausen, ein grelles Düsengetöse, und der Kleine hatte gesagt: »Mutti, das sind sicher die Migs!« Sie aßen weiter, wenn auch, wie die Frau später sagte, ihr der Bissen im Mund gequollen wäre, denn nicht Migs, sondern Phantoms waren gekommen, aber sie sei ruhig geblieben, um den Kleinen nicht zu 5
erschrecken. Und der Kleine habe immer weiter geredet, das seien die Migs, die seien besser als die Phantoms, und mit einemmal seien Lärm und Getöse ganz niedrig gewesen. »Und dann krachte es«, sagte die Frau, bleich im Büro bei den andern Frauen, »und es wackelte um uns herum, und staubig war alles, und ich sah nichts mehr. Da nahm ich den Kleinen, aber als ich ins vordere Zimmer kam, konnte ich bis auf die Straße sehen.« »Da war eine Rakete durchgesaust«, warf der Kleine ein. Und die Frau sagte: »Gott sei Dank war die Treppe noch heil.« Gestern war der Beschluß zur Evakuierung gefaßt worden. Im frühen Abenddämmern war der erste Konvoi nach Beirut abgegangen: über den Antilibanon, durch das Tal der Bekaa, den Libanon hinauf und wieder hinunter. Auf syrischer Seite weit und breit kein Licht. Im Mondschein fahl schimmerndes Dorfgemäuer, bizarr geklüftete Kalksteinfelsen, an denen entlang die Straße führt. Hier und da Panzersperren, in weite Soldatenmäntel gehüllte Straßenposten, Gewehre und Maschinenpistolen schußbereit. Unter Stahlhelmen forschende, aber nicht unfreundlich blickende Augen. Und da sagte der Kleine vor mir: »Mutti, jetzt, da ist die türkische Küste.« Ein grüngesprenkelter felsiger Saum ansteigender Berge, kahle Kuppen mit vergilbtem Buschgeflecht. Vielleicht war es wirklich die türkische Küste, die wir eben überflogen. Vor Jahren, während der Suezkrise, hatten wir beim Flug übers Mittelmeer ebenso sehnsüchtig auf die Küste Griechenlands gewartet. Wochenlang in Kairo festgenagelt, flogen wir mit der ersten, einer Schweizer Maschine zurück. Über dem Meer atmeten wir auf. Sollten Bedrohung und Bedrängnis denn nie ein Ende nehmen? Doch dann begann einer der Motoren zu qualmen, und kleine grünliche Flammen zuckten aus dem Rauch. Bis nach Athen noch eine halbe Stunde über dem Meer. Panik? Bleiche Gesichter, Versuche, beherrscht zu bleiben, ein Aufschrei: »Mein Gott!« Wunderbarerweise erloschen die Flammen, und mit drei Motoren ging es der Küste, dem Labyrinth der 6
griechischen Inseln entgegen. Wir landeten mit drei Motoren, eine Glanzleistung. Die Feuerwehr durfte sich wieder trollen. Ebenso der große Schwarm der Fluggäste, die kaum, daß wir den Transitraum erreicht hatten, auf andere Fluglinien umbuchten. Bloß weg von diesem Unglücksvogel! Er sollte repariert werden und in der Nacht nach Zürich weiterfliegen. Uns blieb nichts, als auszuharren und uns im Vertrauen darauf, daß auch die Flugzeugbesatzung nicht gern sterben würde, dem Unglücksvogel weiter anzuvertrauen. Nachts starteten wir. Unter uns Lichter. Die griechische Küste, dann die italienische. Allein in einem fast leeren Flugzeug. Wenige Wochen danach flogen wir wiederum, der Stadt entgegen, die uns auf Jahre hinaus Heimat sein sollte. Beklommen starrten wir durch die Bullaugen, als wir uns abermals den griechischen Inseln näherten. Der Himmel, zum Greifen nah mit seinem Sterngeflimmer, glänzte vor Stille. In der weitgeschwungenen Bucht unter uns erstreckte sich lichtsprühend Athen, der Hafen von Piräus. Gelbliche Schiffslichter, Autoscheinwerfer mit grellen, messerscharfen Strahlen. Athen, der Piräus, vorüber! Als die Maschine Kurs auf Zypern nahm – bis dahin nur ein Wort, ein Name für uns, Buchstaben auf einer Landkarte –, war es, als hätte das Herz neue Augen bekommen. Welche Welt lag da vor uns? Zypern – langgezogen, mit dunklen Schatten von Hügeln und Tälern – ruhte im sanft sich kräuselnden Meer. Und niemand bemerkte es. Eine Insel, schon vorüber. Unsere in den letzten Jahren schwach gewordenen Augen aber vermochten wieder zu sehen. Gewiß, sie wußten nicht, was alles auf sie wartete, nichts von der vor uns liegenden libanesischen Küste, von den früchtebeladenen Hängen, nichts von der Bekaa und von Baalbek. Und Damaskus im ersten Frühlingsgrün, diese Perle des Orients, wie,wird sie sich uns darbieten, wie wird sie uns empfangen? Basargassen, schlanke Minarette von Moscheen, die Oase voll Blumen und Palmen und Olivenhainen; werden wir uns dies erobern können? Unsere Augen ahnen nicht, daß sie in Antilibanon lehmgelb an Hängen 7
klebende Dörfer sehen werden, im Norden Hütten mit Dächern wie spitze Hüte, nur wenige Schritte von der Steppenwüste entfernt. Mauern aus Basaltgestein, wie von mächtigen Händen gewirkt, schützen am Dschebel-Druz felsbrockenartige schwermütige Hütten, an deren Wänden Kapitelle und Gesimse niedergerissener nabatäischer und hellenisch-römischer Bauten zu finden sind. Im Wüstenfrühling werden sie nach weidenden Kamelherden Ausschau halten, nach Gazellen, die sich unter ihnen verbergen; sie werden verzaubert sein von der kurz währenden Steppenblüte. Im rasenden Sommersandsturm werden sie, rotund wund gerieben, sehnsüchtig den Anblick der schwarzen Ziegenhaarzelte herbeisehnen, um sich zu bergen im Windschatten und zu rasten in der Gastfreundschaft der Nomaden. Von jener Osternacht in Palmyra, dem alten Tadmor, ahnen sie noch nichts, weder von dem scheinbar erstarrten Himmel über der arabischhellenischen Säulenpracht noch vom Tal der Gräber, das uns in jener Nacht an Vergänglichkeit und Sterben gemahnte. Und was wissen sie von Städten, die in ihren Gassen immer wieder brandschatzende, zerstörerische Eroberer dulden mußten und dennoch weniger vergänglich waren als diese? Über Straßen und Wege werden wir wandern und fahren, an den Ufern des Euphrats, wo Jahrtausende vor uns unzählige Heerhaufen kämpften und starben. In stillen Dörfern, die nicht mehr sind als grobgefügte Lehmhaufen, an Brunnen in Fruchtgärten werden wir ruhen, dem Klang von rieselndem Wasser und fremden Stimmen und Worten nachlauschen, und unser Herz wird uns sagen, an fremden Brunnen ruht es sich nicht schlechter als an heimischen. Und nach all den Jahren trotz etwas müde gewordenem Herzen, mit neugeschärften Augen werden wir auf dem Euphrathang stehen, hinter uns eine neue, eben erst besiedelte Stadt, zwar etwas unzugänglich noch und nicht ganz eingewohnt, doch ihre Häuser schon umrahmt von grünen, erst wenige Jahre alten Bäumen und Sträuchern und kleinen Beeten grellblühender Blumen. Vor uns schwingt sich der Damm bis 8
ans andere Ufer. Die Wasser beginnen sich aufzustauen, um in großen Energieblöcken ihre Kraft in Elektrizität umzuwandeln und schließlich, wieder befreit, unfruchtbaren Boden zu bewässern. Der Damm von einem Ufer zum andern wird verbinden, was über Jahrtausende hinweg getrennt war. Getrennt und doch geeint durch gleiches Klima und gleiches Schicksal: glühendheiße Sommer und aus den Taurusbergen niederrauschende Frühlingswasser, die im Flußtal die immer wieder mühselig kultivierte Erde mit Geröll und Schlamm überfluteten. Generation auf Generation, nomadisierende und seßhafte kleine und größere Völkerschaften lebten und starben jahrtausendelang in diesem Tal. Straße war es für die mächtigen östlichen Eroberer, die Assyrer und Babylonier, für die Meder und Perser, Straße auch für die alten Ägypter und für den großen Alexander, für Griechen und Römer. Was wird es in diesen Tagen erleben? Wessen Leben und Sterben? Wird der große Traum, der es geboren und geschaffen hat, dieser Traum von Wasser und Fruchtbarkeit, von weißblühenden Baumwollfeldern und Obstplantagen, von unendlichen Weizenfeldern, wird sich dieser große Traum gestalten lassen?
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Damaskus – ein wenig Geschichte und einige Geschichten
1. Dies ist die Last über Damaskus: Siehe, Damaskus wird keine Stadt mehr sein, sondern ein zerfallener Steinhaufe. 2. Die Städte Aroer werden verlassen sein, daß Herden daselbst weiden, die niemand scheuche. 3. Und es wird aus sein mit der Feste Ephraims; und das Königreich zu Damaskus und das übrige in Syrien wird sein wie die Herrlichkeit der Kinder Israel, spricht der Herr Zebaoth. Jesaja 17, 1–3
Jetzt im Herbst dachten wir an jenen Februar, an jene ruhelose Nacht der Verzauberung. Auf der Terrasse schlafend, hatten wir frühmorgens den Ruf des Muezzins gehört. Melodisch schwang sich der Ton der heiseren Stimme über die Häuser, übertönte den qualvollen Schrei eines Esels, den ersten Straßenlärm. An diesem Septembermorgen erschallt der gleiche Ruf: Allah ist groß, und Mohammed ist sein Prophet; doch heute blechern aus einem Lautsprecher, von einem Tonband, von den verschiedensten Moscheen tönt es heiser und knarrend. 10
Menschen werden aus dem Schlaf gerissen, wenden sich in der Kammer oder auf der Terrasse, wo auch immer sie die Nacht verbracht haben, gen Morgen, gen Mekka: Allah ist groß, und Mohammed ist sein Prophet! Der Bauer aus der Ghuta, aus den Gärten und Plantagen am Rande der Stadt, mit seinem Esel auf dem Weg zum Markt, hält einen Augenblick inne. Er breitet einen Sack oder seinen Rock am Straßenrand aus, verneigt sich immer wieder auf dem provisorischen Gebetsteppich: Allah ist groß, gebe er, daß ich am Abend mit leeren Packtaschen heimkomme. Gebe er, daß Zwiebeln und Tomaten oder die in diesem Jahr kleinen, aber dennoch süßen Feigen sich verwandeln in Piaster und Lira. Er soll Wasser geben, Regen in den wenigen Wochen bis zur Olivenernte, auf daß sie prall und fleischig werden. Wasser soll er geben, daß die Barada, jetzt ein Rinnsal, voll werde und Felder und Gärten tränke. Wasser! Wasser! So ist das Gebet in diesem Jahr! Auf den Matten in den uralten, windschiefen Hütten in Shuk, in den Werkstätten der Altstadt und in den Löchern, die als Werkstätten dienen, erheben sich Händler und Handwerker schlaftrunken und müde, auch sie beten sich in den Tag. In den modernen Häusern und Villen, in vornehmen Zimmern, in Wohnungen europäischen Stils – fängt dort der Tag auch auf traditionelle Art an? Beugt man sich vor dem alten Gott, gibt man ihm, was ihm gebührt: Ehre und Demut? Seine Gebote, gelten sie auch hier noch? Die Chauffeure von Hunderten von Taxis, Lastwagen und Bulldozern, die sich durch die alten Lehmgassen wühlen, beten auf ihre Art: Sie lassen die Motoren an, sie starten pneukreischend, und kaum haben sie einige hundert Meter zurückgelegt, hupen sie los, hupen und hupen! Ohne Sinn erscheint uns dieser bestialische Lärm, diese Freude am unaufhörlichen Getöse, und nun werden die wach, die sich dem Ruf des Muezzins verweigert haben. Und das Hupen steigert sich bis zum heißen Mittag, daß man meinen möchte, das sei der Charakter der einstmals stillen und geruhsamen Stadt: Lärm und Hupen, Hupen, Lärm und Geschrei von Hunderten Straßenhändlern. 11
Bestürzt steht man im wimmelnden Menschenstrom, steht ängstlich und verzagt am Rand der Abu Romania, der ehemals ersten und schönsten Villenstraße, und weiß nicht, wie man die nicht abreißende Autoschlange durchbrechen soll. An der oberen Straßenkreuzung gibt es eine Ampel, aber sie scheint nicht die Macht zu haben. Anders ist die Stadt. Aber wie ist sie, warum hat sie sich verändert, warum ist sie so fremd? Da trippelt wie einst ein einsamer Esel an den modernen Straßenkreuzern vorbei, ebensowenig wie in den vergangenen Tagen gelingt es ihm, die Autoschlange zu unterbrechen. Doch sein Herr, ein alter knorriger Bauer, hebt energisch seine Peitsche, teilt damit den Strom, dreht sein mageres Eselchen quer zur Straße und schiebt ihn auf den gegenüberliegenden Bürgersteig. Unbeeindruckt vom wütenden Gehupe, von kreischenden Bremsen und erhobenen Fäusten, bändigt er den halsstarrigen Esel. Hätte es das früher geben können? Kaum! Auf dem Bürgersteig angekommen, bleibt er mit dem Lasttier vor einem Hauseingang stehen und schreit seine Ware aus: Feigen und Äpfel, Zwiebeln und große Bündel Knoblauch, Rettiche und Gurken, Tomaten und Zucetti, den ganzen Reichtum der Ghuta. Langlebig ist das Lasttier des armen Bauern. Die großmächtigen Straßenkreuzer und Lastwagen können sich nicht mit ihm messen, ebensowenig die Handkarren. Nur die neuen Dreiradlastkarren mit kleinen Motoren sind ihm durch ihre Schnelligkeit überlegen. Sie übernehmen auf glatten Asphaltstraßen in den Dörfern immer mehr den Güter- und Personenverkehr. Wir hatten geglaubt, daß in der Stadt an der Barada bald keine Esel mehr trippeln und keine Kamele mehr erhaben dahinschaukeln würden. Aber der Esel scheint unersetzlich zu sein, obwohl Benzin so billig ist wie wohl nirgends sonst in der Welt. Sein Unterhalt ist noch billiger. Er ist mit dürrem Gras, mit Distelzeug zufrieden. Merkwürdig, kaum spürt man, wie sich die Straßen morgens beleben. Plötzlich ist da ein nicht mehr abreißender Strom von Menschen und Autos. Schüler und Schülerinnen der oberen Klassen in militärisch wirkender graugrüner Uniform, die vielen Angestellten aus Büros, 12
Lädchen, Garküchen und Obstsaftbuden. Dennoch scheinen die Bauern und Landarbeiter, die plötzlich die Trottoirs beleben, zu überwiegen. Alle tragen ihre heimische Tracht, Galabie und Kufis, das helle Kopftuch. Einst beherbergte die Stadt nur Handwerker, Kaufleute, Angestellte und Menschen, die ohne Arbeit zu leben vermochten. Haben sich die Bauern die Stadt erobert? Spendet sie ihnen Arbeit und Brot, ist sie ihnen Zuflucht geworden? Anscheinend sind sie auch Straßenhändler geworden, denn nun legen sie ihre billige Ware am Straßenrand aus, bieten an, was sie vielleicht gerade erst von einem Kaufmann auf Kredit erworben haben: Schnürsenkel oder Socken, Kämme und Nähzeug. Schuhputzjungen, kaum dem Kindesalter entwachsen, lassen sich an den Straßenecken, vor Kinos und Obstsaftbuden nieder. An der Sahlie, auch heute noch die erste der vielen Geschäftsstraßen, trotz vieler Neubauten immer noch von bestrickendem Reiz, rasseln die Rolläden hoch. Schaufensterglas wird spiegelblank geputzt, die Auslagen, Schuhe, Stoffe, Uhren, Porzellan, Schmuck, Fotoapparate, Herrenhemden, Damenunterwäsche, Waschmaschinen werden prüfend gemustert und abgestaubt. Alles in Ordnung! Der tagtägliche harte Kampf um den Käufer kann anfangen. Die Schatten sind nicht mehr flach und matt, sondern zeichnen Bäume und Menschen scharf und steil ab; europäisch gekleidete Menschen betreten die Bürgersteige: Beamte, ausländische Diplomaten. Unten an der Barada, wo die Sahlie den Fluß überquert und hochführt zum Bahnhof, taucht, wie es scheint, ein brennender Lastwagen auf. Weißer Qualm quillt schwer und träge hervor, und wir befürchten, daß er jeden Augenblick explodiert und die umliegenden Häuser in Schutt und Asche legt. Er kommt näher, und der von ihm ausgeschleuderte mächtige Nebelstrahl – so sehen wir es nun – hüllt Menschen und Häuser, Gärten und Autos, das ganze geschäftige Bild der geschäftigen Stadt ein. Und die Kinder. Wir erinnern uns, wie an heißen Sommertagen die städtischen Wasserspritzwagen durch die Straßen fuhren und wir in die kalten Strahlen sprangen und uns übersprühen ließen, ungeachtet der zu erwartenden mütterlichen Prügel. Hier rennen die Kinder in den Nebeldampf, tau13
chen auf und unter, ohne sich von dem Gestank der Desinfektionsmittel abschrecken zu lassen. Diese Desinfektionswagen führen zweimal in der Woche den Kampf gegen alles Ungeziefer: Fliegen und Mücken, Wespen und Wanzen. Damaskus hatte einmal den Ehrgeiz, die sauberste Stadt des Orients zu sein. Ob sie ihn über all die Ereignisse der letzten zehn bis fünfzehn Jahre bewahrt hat? Unter einem stahlgrauen Himmel stehen wir mittags auf dem Dachgarten eines Hauses unterhalb des Dschebel Qassun. Weit reicht der Blick über die bewegte Silhouette der Dächer, Türme und Türmchen. Wir erkennen die drei Minarette der Omaijadenmoschee, das Brautminarett, das Südwestminarett und das Jesusminarett, von dem nach islamischem Glauben Christus am Tag des Jüngsten Gerichts auf die Erde niedersteigen wird. Am südlichen Horizont sind die Hügel und Hänge der Drusenberge zu ahnen, in östlicher Richtung der Übergang der Ghuta in die Öde der Wüste. Die Wüste scheint vorgerückt, oder sollte es sein, daß die Stadt Grün und Blust der Ghuta gefressen hat? Damaskus! Barada, Abana der Bibel, Goldfluß der Türken! Damaskus, das sich immer noch für die älteste bewohnte Stadt der Welt hält. Seit jeher erscheint sie den Nomaden der Wüste, den Bauern in den Lehmdörfern, all denen, die sie sehnsüchtig aus der Ferne erschauen konnten, als das lebendig gewordene Paradies. Von Mohammed wird berichtet, er habe sich stets geweigert, seinen Fuß in die Stadt zu setzen, da er nicht schon auf Erden das Paradies betreten wollte. Auch wenn sie nicht die Älteste ist, so reicht der Ruhm ihrer glanzvollen Geschichte, ihr oft stürmisch-qualvolles Leben in Zeiten zurück, die nichts anderes hinterlassen haben als kümmerliche Mauerreste, Skulpturen-Fragmente von bestrickender Schönheit, verblaßte Inschriften in untergegangenen Sprachen. Immer von neuem mußte die Stadt an der Barada den verschiedensten Eroberern widerstehen, mußte sich unterwerfen und wieder befreien, von Assyrern und Babyloniern, von den Heeren Davids und Salomos, von den Ägyptern und den Seleukiden, von Römern und Osmanen. Franzosen und Engländer sind noch in frischester Erinnerung. 14
Hat diese alte Aramäerstadt ihre wirkliche Gestalt erst unter den moslemischen Omaijaden gefunden, von denen sie neuen Glanz und bis nach Spanien reichende politische Macht erhielt? Tamerlans Mongolenpferde hätten fast alles zertrampelt, was sich bis dahin an Kunst und Kultur gesammelt hatte, wenn nicht die Barada, die Ghuta, die Felshaufen des Libanon und der Lebenswille seiner Bewohner die Stadt in die Zukunft gerettet hätten. So konnten denn die Türken, die letzten großen Eroberer des Mittelalters, vom edlen heiligen Damaskus sprechen. Sie hielten die Stadt für den Anfang und das Ende der Erde. Und die Stadt am Dschebel Qassun ist immer noch der sehnsüchtige Traum aller in Zelten und Lehmhütten wohnenden Araber, der Traum derer, die am Persischen Golf, an den Hängen des Taurus, am Roten Meer oder an den Berghängen der Alauiten wohnen? Immer noch? Oder mehr denn je? Hat sich die Stadt neue Lorbeerkränze ums alte Haupt gewunden? Ist sie dabei, die alten Zeiten auf immer zu begraben und neue, glanzvollere zu beginnen? Ist sie nicht tatsächlich auch für uns ein immer wieder sehnsüchtig erschauter Traum von immerwährend sprudelndem Wasser und grünsprießenden Gärten? Auch unser Leben beruht auf dem vergangenen Mesopotamien und dem des »Fruchtbaren Halbmonds«. Wir zehren immer noch von den schöpferischen Gedanken der Menschen jener Zeit. Wie wir unser Leben ausdrücken in Gedanken und Schrift, ist auch von ihnen bestimmt worden. Sie gaben uns die Schrift, sie lehrten uns lesen. Bis vor kurzem reichte unser Blick nur bis ins siebte Jahrtausend vor der Zeitrechnung. Nur! Kurzsichtigkeit? Die jüngsten Ausgrabungen im Euphrattal ergaben, daß man die Geschichte dieser Landschaften um zweitausend Jahre früher ansetzen muß, Neolithikum und Mesolithikum sich früher auf den Weg gemacht haben. Soll man um ein oder zwei Jahrtausende streiten? Wie der Euphratdamm nicht nur den Weg in eine noch unerkannte Zukunft, sondern auch in eine bisher dunkle Vergangenheit eröffnet, ist überwältigend. Trat der Mensch mit dem ersten gezüchteten Weizen oder der ersten Gerste ins Licht, mit einer kleinen Lehmplastik, unbeholfen von unbe15
holfenen Händen und Sinnen geschaffen? Wurde er seßhaft mit der ersten grobgestampften Lehmwand für eine Hütte oder weil der im letzten Jahr geerntete Weizen ausgesät worden war und die Ernte abgewartet werden mußte? Mit bedrückender Langsamkeit bewegte sich der Mensch in die Geschichte, trat aus dem Dunkel ins Helle, aus der Gestaltlosigkeit ins Gestaltete, zögernd, als fürchtete er seine eigene Zukunft. Leicht sind wir geneigt, heutige Staaten und ihre Grenzen und die in ihnen lebenden Völkerschaften als seit jeher existierend anzusehen. Blättern wir aber in Schriftzeugnissen der Geschichte, müssen wir feststellen, daß dieses große Gebiet Mesopotamien, der fruchtbare Halbmond, trotz vieler kleiner, immer wieder neu entstehender und absterbender Staaten eine große, in sich ruhende Einheit bildete. Völkernamen tauchten auf, wurden verewigt im Stein und Ton, verwischten sich im Staub der Geschichte. Nichts von dem, was war, ist vergangen, und was ist, wird nicht vergehen. Welches ist die Grundlage dieser Einheit? Ist sie die Folge einer sich gleichartig entwickelnden materiellen und geistigen Kultur, stets erneuert durch anstürmende und einsickernde Einflüsse? Geschehnisse und Menschen lassen sich zum erstenmal um das Jahr 3000 erkennen. Stellen wir fest, daß die in den aneinandergrenzenden Gebieten aufeinanderfolgenden Großreiche die stets wechselnde Geschichte der nördlichen arabischen Halbinsel bestimmten. Namen von Herrschern, von Völkern, von Staaten – sie sind wie Schemen: Amoriter und Kanaaniter, Hethiter und Hyksos, Ägypter und Mitanier, Aramäer und Israeliten, Phöniker und Assyrer, Philister und Babylonier. Und welch eine Reihe von Namen großer, bezeugter Herrscher: Sargon von Akkad (um etwa 2350–2294), Hammurabi, der Babylonier, Thutmosis I., Ramses II., die Ägypter, Hattusilis III., der Hethiterkönig, fast nur bezeugt durch den Friedensschluß mit den Ägyptern. Um 1200 also gewinnt das bis dahin Nebelhafte, Gestaltlose Form und Realität. Aramäer, ein semitischer Volksstamm, besetzen in Syrien und Palästina dünnbesiedelte Gebiete, gründen mehrere »Kleinstaaten«. Um »die 16
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Zeit der Richter« vermischen sich die aus den Ägäischen Inseln eingedrungenen Seevölker, die aus der Bibel bekannten Philister, mit den im Küstenland lebenden Kanaanitern und werden der Nachwelt als Phönizier bleiben. Und die Aramäer müssen sich noch einmal der Großmacht Assyrien unter Tiglatpileser I. beugen. Nordsyrien wird für kurze Zeit assyrisch, aber die Aramäer werfen das fremde Joch ab, und auch Nordsyrien wird aramäisch. In Hebron residiert König David, unterwirft dann durch den Sieg über Sauls Sohn Esbaal auch Israel und macht Jerusalem zu seiner Hauptstadt. Im Nordosten besiegt er die Aramäer, und in der Bibel wird deutlich der Name Damaskus als Hauptstadt eines kleinen aramäischen Staates genannt. Unter Salomo macht sich Damaskus wieder selbständig. Die Stadt ist in die Geschichte eingetreten. Für die mesopotamischen Völker scheinen das östliche Mittelmeergebiet, die fruchtbaren Küstenebenen, die kühlen Berghänge immer von besonderer Anziehungskraft gewesen zu sein. Die Anstürme der Assyrier werden von denen der Neubabylonier abgelöst, und diese wiederum müssen sich den Persern unterwerfen. Langsam nähert sich Alexander der Große. Der Westen, die Griechen und Römer stehen vor den Toren. Umwälzungen und Entwicklungen deuten sich an, deren Umfang und Kraft nur wir Heutigen ermessen können. Der Osten und der Westen begegnen sich. Werden sie sich je verschmelzen, zu einer Einheit werden? Barada, Ghuta und Stadt unter dem Dschebel Qassun, wann hat deine Geschichte begonnen? Mit dem Auftauchen der Aramäer gewiß nicht. Sicher ist, daß die Oase schon im Neolithikum besiedelt war. Und sicher ist uns das zweite Jahrtausend. In den verschiedensten ägyptischen und assyrischen Inschriften, in der Genesis (14, 15) wird sie erwähnt. Wechselvoll kämpft sie bis zur Eroberung durch die Assyrier gegen Israel. Die heutigen Schlachten, sind sie Fortsetzungen vergangener? Werden auf den Golanhöhen in den Panzerkämpfen die Kämpfe mit Schwert und Schild und Lanze von einst fortgesetzt? Sind es die Vorväter beider 17
Seiten, die sich in ihren Söhnen immer noch bekriegen? Sicher nicht, obwohl Legenden von alten Siegen und Niederlagen in den Düsenlärm der Jagdbomber hineinrauschen. Großer Glanz wurde der Stadt erst gegeben durch den Einzug der Römer unter Pompejus. Gott Hadad der Aramäer mußte dem römischen Jupiter Damascenus weichen, das Fundament seines Tempels aber war stark genug, den des Jupiter zu tragen. Die Stadt gab sich römisch bis zum dritten Jahrhundert, schmückte sich mit einem Kranz nie gesehener, kostbarer Bauten. Doch Untergang und Untergang immer wieder. Nichts währt ewig. Eine christliche Basilika wird aus dem Gemäuer des Jupitertempels errichtet und in ihm angeblich das Haupt Johannes des Täufers aufbewahrt. Ist es nicht doch stets der gleiche Gott, hatte nicht Hadad sich in Jupiter verwandelt, und war nicht dieser zu Jesus geworden? Omaijadenkalif Al Walid befahl im Jahre 708, auf dem Grund aller alten Tempel eine Moschee zu bauen, die den Namen seines Geschlechts erhielt und heute noch steht trotz aller Kriegsstürme, Feuersbrünste und Sandorkane, die über die Stadt hinwegzogen. Diese Sucht der Herrscher, sich durch Bauten von großer Schönheit und Pracht der Nachwelt zu erhalten. Trauen sie den Nachrichten über Siege und Niederlagen in Kriegen nicht? Im Jahre 635 Einzug der Araber in die Stadt. Unter den Omaijaden erlebt sie ihren größten Glanz. Nabatäer, Römer, Christen – alle sind für Jahrhunderte vergessen. Von hier aus, von den Ufern der Barada, wird ein Weltreich regiert, vom Indus bis zu den Pyrenäen reicht die Hand der Omaijaden. Die Abbasiden indessen machen Bagdad zu ihrer Residenz. Damaskus dämmert bis zum 12. Jahrhundert dahin, immer nur Traum und Sehnsucht, wird erobert und wieder aufgegeben, die Barada aber bleibt, die Ghuta blüht wie eh und je. Dann die Kreuzfahrer, Europa steht abermals vor den Toren der Alten Welt, furchtbarer denn je, und die Kreuzfahrer hinterlassen nichts als die Ruinen einiger Kirchen und Burgen. Sie erobern Antiochia, sie nehmen Jerusalem, sie gründen ein »Königreich«, Damaskus, die uralte Schöne, wehrt sich. Saladin, der Feldherr des Seldschukenfürsten 18
Nureddin Zengi, kämpft gegen die Kreuzfahrer, setzt in Ägypten den letzten Fatimidenkalifen ab und erobert Damaskus. Neues Aufblühen, und auch die Mameluken und Mongolen vermögen nicht, die Grundsubstanz an Schönheit und Pracht zu zerstören. Und was von den Späteren, den Osmanen und Türken, hinzugefügt wurde, bewahrte und betonte den historischen Charakter der Stadt. Immer noch auf der Terrasse über der Stadt, am Mittag, unterhalb des Dschebel Qassun. Weit der Horizont rundum, ein Kranz gelblich ausglühenden Stahls. Minarette alter und neuer Moscheen bis an den südlichen Ghutarand, stumpfgraues Häusergemäuer aus Beton überwälzt die Olivenhaine. Der bläuliche Glast von verbranntem Benzin! Müde ölrauchfahnen aus den wenigen Fabrikschornsteinen. Stadt, was ist aus dir geworden? Gewimmel, Unrast, Menschen in jeder Gasse und Straße, auf jedem Platz, Frauen und Männer, Kinder, Kinder, Kinder. Und Autos und Lastwagen und Omnibusse und Gekreisch und Gehupe und Gedröhne und Geratter. Ein Inferno! Im nahen Baumgeäst Stare, gurrende Tauben, über den weiß strahlenden Hochhäusern aus Glas und Beton im Stadtzentrum ein einsamer Wuhan. Er kreist sich hoch, fliegt uns entgegen, läßt sich über uns hinweg den Dschebel Qassun hinauftragen. Das ärmliche Grün dürrer Kiefern hat sich den Berg ein wenig höher hinaufgequält. Hütten aus Beton und schütterem Gemäuer klammern sich ans Kalkgestein, immer höher hinauf. Bis zum Fernsehturm auf der Spitze? Die Luft dort ist kühler, reiner, es lebt sich freier. Nur darum? Ist der Baugrund nicht billiger als unten in der Stadt? Bestimmt! Wer lebt in den steil hochhastenden Gassen, wer steigt morgens frisch in die Stadt hinunter und quält sich abends müde und verbraucht hoch? Ein armer, grell aufheulender Motor in einem Gäßchen am Hang, ein Eselchen, angepflockt an einer Tür, starrt mitleidig auf das seltsame 19
Vehikel. Ein Auto, übervoll von Menschen, weigert sich plötzlich, weiter hinaufzufahren. Das Eselchen blinzelt verstehend. Witwe Sara, in den Fünfzigern, dunkle sanfte Augen im bräunlichen Bauerngesicht, gibt uns einen Kaffeenachmittag. Faisal sagt: »Es ist eine hohe Ehre für uns!« Sara ist Haushälterin in der Familie Faisals. Haushälterin? Welch ein böses Wort. Sie ist der gute Geist, freundlich zumeist, herrischer, wenn’s not tut. Faisal sagt: »Ohne sie, wie hätte die Familie da leben können?« Als er sie eines Tages in ein FREMDES Land mitnehmen wollte, wo er Dienst für den Staat tat, sagte sie: »In ein fremdes Land, nein. Die Familie ist hier!« Der Innenhof umsäumt von einer großen Mauer, die keinen Einblick läßt, nur wenige Quadratmeter Erde. Ein Weinstock rankt sich hoch, einige Kohl- und Salatpflanzen, zwei Tomatenstöcke, eine Zucettipflanze: Die karge Fruchtbarkeit des Dorfes wurde mitgenommen in die Stadt. An einem Betonpfeiler ist das Rohr einer Wasserleitung befestigt, blitzendes Naß sprudelt. Die Mauer um Hof und »Haus« ist Absperrung. Sie ist Intimität, Abwehr und Schutz, doch die Terrasse, auf der Sara steht – neben ihr die Nichte mit den Kindern – im schwarzen Kleid und Kopftuch, diese Terrasse, auf der die Sitzkissen auf dem bloßen Beton liegen, ist Öffnung, Empfang, Gastlichkeit. Kinder mit wunderschönen braunen Augen, prallbraun vor Sattheit, sonntäglich gekleidet, hüpfen wie kleine zierliche Heuschrecken um uns herum. Von Faisal lassen sie sich küssen, mich starren sie an, als sei ich von einem fremden Stern gefallen. Drei jüngere, kräftig gebaute Männer – beinahe soldatisch wirken sie – rücken die Kissen zurecht. Faisal sagt: »Sie wurden eingezogen und haben sich heute freigenommen.« Die drei rücken die Kissen mal so und mal so, einer sagt: »Machen Sie sich’s bequem, lehnen Sie sich ruhig an!« Die Schuhe ziehen wir aus – kein Loch im Strumpf? Nein! –, lassen uns nieder, hocken wie vorzeiten, als man noch keine Stühle kannte. »Ein Glas Wasser?« Das Wasser sprudelt und sprudelt, bis es kühl ist. »Um Gottes willen, wenn in jedem Haus das Wasser so lange läuft, wie weit reicht da die Barada?« 20
Andere Frauen, jung, mit Kindern an der Hand, mehrere junge Männer, wir sitzen uns im Kreis gegenüber. Keine Verlegenheit, wir trinken aus dem gleichen Glas, auch ich. Beinahe hastig erheben sich alle. Ein älterer Mann, ausgemergelt, graubärtig, in grober Bauernhose und -jacke, steigt die Stufen zur Terrasse hinauf. Dieser oder jener beugt sich über die knochige Hand, berührt die runzlige Haut mit den Lippen ohne jede Unterwürfigkeit, doch voller Ehrfurcht, Unterordnung. Der Patriarch, die oberste Autorität der Familie. Wiederum Wasser, dann Täßchen mit Beduinenkaffee: das schwarze Gebräu mit Kardamom gewürzt. Und immer wieder Obst, herrlich große weiße und bläuliche Weintrauben, Bananen aus dem Libanon, Äpfel und Birnen. Der Alte streicht mit den dünnen, knochigen Fingern das Gesträhn seines Schnurrbarts, blickt aus listig verkniffenen, aber ungemein gutmütigen Augen, fragt plötzlich: »Sind Sie allein hier?« Die anderen Stimmen, die Unruhe der Kinder verschlucken meine Antwort. »Und wie lange bleiben Sie bei uns?« Wie gut das tut! Auch sein Gast also bin ich, nicht nur der des Schriftstellerverbandes. Fragen nach Beruf, nach dem und jenem, nach der Schreiberei, nach dem Alter, indem er sagt: »Nun ja, Sie sind jünger als ich!« Was überlegt er? Faisal spricht auf ihn ein, und er sagt zu mir: »Jünger sehen Sie aus als ich, aber ...« Und Faisal sagt: »Er meint, du habest weniger als er arbeiten müssen, drum wirkst du jünger als er.« Weintrauben knacken zwischen den Zähnen, prall vor Fleisch, süßer Saft rinnt wie Labsal. Verwundert schüttelt der Alte den Kopf und sagt: »So lange allein hier im Land ...!« Die verschmitzten Augen zwinkern, und er setzt hinzu: »Ich werde Ihnen eine Frau besorgen, so um die Fünfzig herum.« Wie gelöst ist die Atmosphäre, wie freundschaftlich gutmütig das aufbrausende Gelächter. Wart nur, Alter! Ich sage: »Wissen Sie, grundsätzlich einverstanden, aber anstatt einer zu fünfzig, können Sie mir da nicht zwei zu fünfundzwanzig besorgen?« Die jungen Männer schlagen sich auf die Schenkel, lüstern blinkern die jungen Frauen unter 21
ihren Kopftüchern hervor. Der Alte sagt: »Einverstanden! Aber nur, wenn Sie mir eine abgeben!« Er hat gewonnen. Zufrieden schlägt auch er sich auf die dürren Schenkel. Ach, die Weintrauben! Die rotgolden schimmernden Äpfel, die Birnen, gelb wie reife Melonen, mit dem Geschmack von Ananas. Und dazu Arrak, verdünnt mit Wasser. Die Nargileh, die Wasserpfeife! So ein Nachmittag, was ist er ohne Nargileh? Sie erst gibt die letzte Geruhsamkeit, die Versenkung in sich selbst, mit ihr kann man sich retten auf Gedankeninseln, die niemandem sonst zugänglich sind. Ein massiger Dreißiger, pechschwarz das Haar, der Blick fest und dunkelbraun, zeigt auf seinen Hals, auf eine kleine Wunde, reißt das Hemd auf: Auf der rechten Brustseite glüht eine dunkelrote Narbe. »Von siebenundsechzig, von den Golanhöhen, durch die Lunge«, sagt Faisal. Der Dreißiger beschreibt mit heftigen Gebärden den Augenblick der Verwundung. Alle reden aufeinander ein. Keine Möglichkeit mehr, am Gespräch teilzunehmen, zu langwierig würde die Übersetzung sein. Alle jungen Männer, die rundherum sitzen, gehören zur Armeereserve; der eine oder andere ist im Augenblick im Dienst. Noch ruht der Krieg, noch ist Stille, wann gibt es Sturm? Aus den Betonpfeilern ragen Eisenstangen, verrostet und abgedreht. Das Haus, ein einstöckiger Bau mit drei oder vier Zimmern, so schätze ich, ist noch nicht fertig. Das Dach über der Terrasse fehlt. Kein Zement, nur schwarz zu kriegen, und kein Betoneisen, auch nur schwarz zu kriegen. Der Euphratdamm frißt alles in sich hinein. Zehntausende Tonnen und mehr. Die Betonpfeiler an den vier Ecken des Hauses und an der Terrasse sind tragendes Gerüst für dünne hineingemauerte Wände und für die Decke, alles billig und schnell hochzuziehen, ohne Fachleute fast und in mannigfaltiger Selbsthilfe. Wahrscheinlich war die ganze Großfamilie beteiligt. Faisal sagt: »Sie sind alle aus einem kleinen Dorf bei Malula, alle in den Häusern hier herum.« Und schon nehmen sie ihn wieder mit aufgeregten Sätzen in Beschlag. Wie sie gerade hierher gekommen sind? Vor zwei Jahren war der erste, 22
wie das so ist, ein Junger, in die Stadt gezogen, Handlanger, hat alles gemacht, was ein Ungelernter in der Stadt an Arbeit finden und tun kann, war sozusagen die Vorhut, die Speerspitze im Kampf ums Brot. Ein zweiter folgte, ein dritter, und jeder bereitete den Platz für den nächsten! Noch fanden Hochzeiten und Kindtaufe auf dem Dorf statt, und noch starb man dort. Warum war ihnen die heiße Stadt, das Hausen in kleinen Zimmern zu zweit und zu dritt lieber als die nächtliche Kühle auf den Hüttendächern in der Hochebene? Wer gab sich als erster nicht damit zufrieden, allein leben zu müssen, der junge Mann in der Stadt oder die junge Frau im Dorf? Die jungen Frauen folgten mit und ohne Kinder, da mußte man natürlich daran denken, ein Nest zu bauen. An diesem Hang ist die Erde billig, sie gibt nichts anderes her als wenig terrassierten Baugrund, einige elende Kiefern, etwas Gemüse. Gemeinsam kaufte man die erste Parzelle, gemeinsam baute man das erste Häuschen. Daß der neu erworbene Besitz nicht im Grundbuch eingetragen war, die Rechtmäßigkeit von Kauf und Verkauf kaum zu beweisen, wen störte das? Seltsam, daß die Trockenheit nun schon über Jahre dauert. Gärten liegen vergilbt, Obstplantagen verdorren. Nun ziehen auch die meisten Alten in die Stadt, nur wenige bleiben als Wache in den alten Hütten. Zur Saat und zur Ernte zieht die ganze Familie alljährlich ins Dorf. Ernährt die Erde nicht mehr die anwachsende Bevölkerung, sind zu viele hungrige Mäuler zu stopfen? Ist sie ausgelaugt, und gibt sie nichts weiter her als immer kleiner werdende Feigen, etwas Gemüse und Weintrauben, die auch immer weniger werden? Und Kunstdünger? Nicht genug! Und Wasser? Ohne Regen jahrelang, woher? Und so wächst das Viertel am Hang des Dschebel Qassun, dehnt sich nach Ost und West, klettert höher und höher, bis dem Wachsen der höchste Gipfel Einhalt gebietet. Was ist ein Hammel? Genügsam ist er, gibt würziges Fleisch, Wolle, aber das Fleisch, über offenem Holzkohlenfeuer gegrillt, ist mehr als ein Geschenk Allahs. Es ist ein kleines Zipfelchen des Paradieses! 23
Also gib dem Gast dieses Zipfelchen Paradies, da die Huris, die himmlischen, noch nicht auf die Erde gekommen sind. Der massige Dreißiger, der den Golanhöhen seine Narben verdankt, schnellt hoch, Faisal schnellt hoch, ebenso alle anderen. Ich bin nicht sehr sprachbegabt, und so verstehe ich nach all den Jahren nur Harouf – Hammel! »Er will einen schlachten«, sagt Faisal. Dümmlich starre ich. Warum nicht? »Wir müssen uns wehren!«, sagt Faisal. Ich denke, warum nicht, ziehe an der fast ausgegangenen Nargileh, lösche den Brand der Zunge mit Arrak und denke: Warum eigentlich wehren? Nur Sara steht da, ruhig lächelnd, die Hände genüßlich über den Leib gefaltet. Die Männer streiten und streiten, dann läßt sich einer nach dem andern wieder aufs Kissen sinken. Einer stürzt einen schweren Schluck Arrak hinunter. Ein anderer greift nach den Weinbeeren. Ein dritter zündet sich eine Zigarette an, und der Alte sagt: »Man soll einen Gast nicht nötigen!« Wie gern hätte ich mich nötigen lassen! Hammelfleisch hat den Ruch von Wüste, den Geschmack nach Steppenkräutern. Der brandige Rauch des Holzkohlenfeuers weckt die Sehnsucht nach dem Paradies. Faisal ist ein weitgereister Mann, er war in der Sowjetunion, er war in den USA, er war in vielen Ländern Europas. Arabien ist seine Heimat. Da kommt eines Tages, als er für kurze Zeit in der Stadt ist, am Stock humpelnd, da er eine schwere Operation am Oberschenkelknochen hinter sich hat, Sara zu ihm, in einer stillen Stunde, in der Dämmerung auf der Dachterrasse. Sie plärrt, sie weint, und dann schluchzt sie es heraus: Nur er könne helfen, nur er! Mord und Totschlag werde es geben, natürlich in der Familie, und nur er könne die Männer zur Vernunft bringen. Ja, einer der Jungen habe heiraten wollen, ein schönes Mädchen, die Nasira, er kenne sie ja, und die Hammel seien schon 24
geschlachtet gewesen, Gebäck gebacken, da sei einer der Alten gestorben, wie das eben so sei, und der Tod sei der Hochzeit im Wege gewesen. Zu alledem seien Hochzeitsfeier und Totenfeier angesetzt gewesen. Man habe sich geeinigt, die Hochzeit solle sein, kein Warten, das Gebäck könnte trocken werden. Geweinere und Geschluchze: Da sei der Hochzeitszug am Haus des Toten vorbeigezogen, da eben sei es danebengegangen. Die Angehörigen des Toten hätten sich beleidigt gefühlt um des Toten willen und um ihrer selbst willen, man habe also die Messer genommen. Geweinere und Geschluchze: Nein, bis jetzt sei nichts passiert, sie habe es noch verhindern können, aber wie lange noch? Auch Gewehre lägen schon bereit. Am nächsten Tag hatte er sich ins Besucherzimmer gesetzt, in den weichsten Sessel, in dem man bis an die Ohren versank, das eingegipste Bein auf einen Stuhl gelegt, die Krücke griffbereit. Und da kamen sie, einer nach dem andern, wie er sie »herbefohlen« hatte, alle Männer der Familie, die feisten und die hageren, mit abgekühltem Blut die einen, brennend wie die Wüstensonne am Mittag die andern. Da waren nicht genug Stühle, geschweige denn Sessel, und so ließen sich die Jungen auf die Teppiche nieder, die wenigen Alten unbehaglich in die wenigen Sessel. »›So, da seid ihr ja alle‹, hab’ ich angefangen«, sagte Faisal, »einen nach dem andern hab’ ich gemustert, und sie sind hin und her gerutscht, die Jungen auf dem Boden, die Alten in den Sesseln. Hab’ nach meinem Krückstock gegriffen und gesagt: ›Ich will nichts hören, nichts, von niemandem! Seid ihr erwachsene Männer? Wollt wohl wie Kinder Mord und Totschlag spielen? Schämt ihr euch nicht?‹ – Die Gesichter hättest du sehen sollen! Und dann hab’ ich gesagt: ›So, und nun umarmt euch, gebt euch den Bruderkuß, und eins will ich euch sagen‹, aber da brauchte ich nichts mehr zu sagen. Was für ein Bild! Wirklich, wie die Kinder! Sie umarmten sich, die Alten die Jungen, die Jungen die Alten, die Jungen die Jungen und die Alten die Alten. Da fuhr man sich durch Schnauzbarte, klopfte sich auf die Schulter.« Und Faisal setzte hinzu mit den wenigen Worten Deutsch, die er konnte, wenn er wollte: »Friede, Freude, Eierkuchen!« 25
Eine kleine Lehmhütte bei Shuk, was ist sie in ihrer jahrhundertealten Brüchigkeit gegen einen großen Bulldozer, was das ganze Gassengewirr gegen drei, vier, fünf Bulldozer? In eiserner Entschlossenheit stürmen sie an, ein gemächlicher, ja fast gemütlicher Sturm, sie rattern und fauchen, und schon von dem bestialischen Lärm allein scheinen die Hütten zusammenzufallen. Kinder johlen, Ratten flüchten entsetzt in abgelegenere Winkel, das ganze Geschmeiß von Kellerasseln, Schaben und Spinnen tobt. Gelbliche Staubschwaden wälzen sich über die niedrigen Dächer, ziehen schwerfällig bis zum Shuk hinüber, dessen Herz, die Hamedie, sich angstvoll zusammenzieht. Ein krummbeiniger Alter, weißbärtig, auf dem weißen Haar einen Tarbusch, die abgewetzte Türkenhose notdürftig über dem mageren Leib zusammengebunden, steht, auf seinen Stock gestützt, wie betäubt. Er schüttelt den Kopf, schlurft dem Shuk zu. Zwei hübsche schwarzhaarige Schülerinnen in uniformähnlicher Schulkleidung verhalten kurz, plappern fröhlich und hüpfen wie graue Spatzen davon. Ein älterer Schuhputzer bleibt stehen, setzt seinen Putzkasten ab, starrt und starrt, sieht dann bekümmert umher, als warte er auf Hilfe von irgendwoher. Nichts. Er zieht den Putzkasten an sich, geht, ein hungergetränktes Leben, weiter. Ein Ghutabauer treibt seinen mit Gemüse beladenen Esel zum Bahnhof. Schreie eines Händlers, der die auf seinem Karren durcheinandergewühlten billigen Kinderhemden anpreist. Verschleierte, unverschleierte Frauen, junge Männer in Uniform, andere in Hemd und Hose, lärmende, hupende Autos. Von einer Garküche her der schwerfettige Geruch von gegrilltem Hammelfleisch. In dem von Glaswänden abgeschirmten Grillraum dreht der Koch den an einer aufrecht stehenden Grillstange aufeinandergepreßten, in große Fleischbrocken zerteilten Hammel. Kein Holzkohlenfeuer, nicht mehr der bittere Ruch. Gasfeuer, nur noch Gasgrill gibt es. Fett quillt aus dem Fleisch, rinnt in dünnen schwerfälligen Tropfen in das Auffangbecken. Der Koch hackt Petersilie, Zwiebel, eingesäuerte und grüne Gurken, Paprika, rührt in einer Schüssel mit Knoblauch gewürztes Bohnenpüree. Das alles wird 26
mit Hammelfleischstückchen in Brotfladen gerollt. Wenn die Stunde da ist! Ramadan, der Fastenmonat, hat vor zwei Tagen angefangen. Keinen Bissen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, keinen Schluck Wasser. Was für ein Gott quält die Welt? Gesichter werden grau, müde und zerknittert, der Hunger, die trockene Zunge, die Kehle wie ausgebrannt. Und erst später Nachmittag, die Sonne noch über den Dächern, die Schatten fallen immer noch zu steil. Auch Abu Ahmad, unser Chauffeur, ein breitgebauter Tscherkesse mit fast rotem Haar und ewig rotschimmerndem Gesicht, hält den Ramadan ein. Am gestrigen Nachmittag, nach einer Fahrt durch Staub und Hitze, seufzte er bekümmert. »Abu Ahmad«, tröste ich ihn, »es wird nicht mehr lange dauern!« Er schaut zur Sonne über den Hügel, die bläulichen Hungerschatten unter seinen Augen werden tiefer. »Abu Ahmad«, sage ich, »wenn ich richtig informiert bin, gilt das Fastengebot für den Moslem nicht, wenn er auf Reisen ist.« Hoffnungsvoll schaut er auf, vielleicht verwundert, daß er gerade von mir diese Information erhält. »Werd’ den Mullah fragen«, sagt er, kommt dann heute früh mit seinem Wagen an, bekümmerter noch als gestern, und auf meine Frage sagt er: »Ach, das gilt nur für Reisen mit dem Kamel. Für Autos nicht, sagt der Mullah.« Tag für Tag wird sein Gesicht knittriger, sein Gemüt launenhafter, die Lippen rissiger, und nach wenigen Tagen wird auch das Auto seine Gereiztheit spüren. Die Stunde ist da! Vor der Garküche sammeln sich die Menschen, es wird Hammel gesäbelt, es wird Sauergemüse und manches andere Zeug in Fladen gerollt, diese wiederum in schneeweißes Papier, entgegengenommen, und – da kracht der Schuß. Der Fastentag ist beendet. Stille plötzlich, kein Autohupen mehr, keine Schreie von Händlern, die Bulldozer stehen da wie eingeschlafene urweltliche Ungetüme. Die Luft über den alten Gassen wird klarer, der Staub hat sich gelegt. Die Nacht wird rein sein, blauäugig wird der Himmel über der Stadt hängen. Man serviert uns den vor einer halben Stunde bestellten Kaffee. »Verstehen Sie«, sagt der Kellner, »wenn alle hungern und dursten, gerade hier an der Straße.« 27
Ein braunhäutiger Junge, fixe Augen im aufgeweckten Gesicht, in einer Hand einen Fladen, in der andern eine Schachtel Kaugummi, bleibt stehen, forschende Augen, aufmunternde Gebärde: »Kauf, Fremder, kauf ein Päckchen Kaugummi! Was macht’s dir schon aus. Die paar Piaster! Aber für mich ist es ein zusätzlicher Fladen.« Ein paar Piaster hingestreckt, Versuch zu lächeln, wobei ich die Gummipäckchen zurückweise. Er bleibt hartnäckig. Die Piaster zwischen den Fingern, hält er mir die Päckchen entgegen. Ich wehre ab. Wie böse plötzlich so ein Knabengesicht werden kann! Die Piaster scheppern vor mir auf den Tisch, er knurrt etwas, einen Fluch, eine Beschimpfung, und hüpft davon, einige Tische weiter. Ich bin erledigt für ihn. Er ein Bettler? Eine Beleidigung, ihm, einem kleinen Araber, Geld anzubieten! Immerzu beschwert von Gedanken: Wie erobert man sich eine solche Stadt? Nur, wie man sich auch das Leben erobert, indem man teilnimmt, sich hingibt bis zur Aufgabe? Wenn man sie nicht beschreiben müßte, wäre es dann einfacher, sie sichtbar zu machen in allen ihren Verästelungen, ihrem Leben hinter Mauern, Lädchen und Rolladen und in den Hunderten von kleinen Werkstätten? Im Westen, der Wüste zu, von wo einstmals eine unbefestigte Straße durch die Wüste bis nach Ammon führte, glänzt eine Asphaltstraße. Eine Autobahn zum neuen Flugplatz, zum Flughafengebäude, einer Symphonie aus Glas, Beton, Naturstein. Ein Flughafenhotel, genannt Casino. Neue, breite Straßenzüge nach Ost, nach West, nach Nord, nach Süd. Fertige, halbfertige Häuser, auf den Terrassen weht Wäsche wie weiße Fahnenfetzen. Baugruben, Baugruben und nochmals Baugruben. Still die Winkel hinter der Omaijadenmoschee, die Werkstätten von Tischlern, Polsterern, Blechschmieden und Pantinenmachern, klein wie eh und je, kaum Licht; Staub und vom Staub übergrautes Obst und Gemüse. Vor Altersschwäche ist ein Haus zusammengefallen. Zum Vorschein kommt ein herrlicher römischer Bogen auf wunderschönen Marmorsäulen. 28
An kleinen Tischen eines Straßencafés sitzen drei alte Männer, saugen an der Nargileh, trinken sparsame Schlucke Beduinenkaffee. Sie sitzen und sitzen, betrachten mich, der ich auch da sitze, geruhsam wie sie, und ich betrachte sie, die da ausruhen von der Last eines langen Lebens. Was betrachten sie noch? Ist dieser Ausschnitt Gasse im Shuk, dieser uralte Brunnen im Vorgarten nahebei, der kleine Fleischerladen mit dem hängenden fettglänzenden Hammel, die aus einem Garten überhängenden Weinreben, die lederlappige silbergraue Krone eines Baumes, ist das alles für sie der Wassertropfen, in dem sie ihr Leben lang das ganze Universum gesehen haben? Entdeckungen des Lebens. Führen sie erst zu Weisheit, wenn man am Rand des Grabes steht? Aber was ist Weisheit? Weisheit als Ergebnis von Nicht-mehr-Handeln, absterbender Leidenschaften, ein Synonym für »alt« also? Verzicht auf Emotionen, auf Macht über das Leben, die Menschen? Geruhsamkeit als echtester Ausdruck für Einfühlung und Mitleiden? Um den Mund eines der Alten spielt ein Lächeln. Bin ich die Ursache? Die Omaijadenmoschee, ihre unendliche Gebetshalle, der weite Hof, sie warten. Das Museum, die im Keller eingebaute uralte jüdische Synagoge, wundert sich, der römische Helm im ersten Stockwerk, das Schmuckgeschmeide einstmals schöner Frauen, einstmals gelebter Tändelei, Ohrgehänge und Halsketten, wie kommt es, daß ich schon Tage hier bin und sie immer noch nicht bewundert und all die Frauen angesehen habe, die sie einst zierten? Und Sukh Hamedie? Die Goldschmiede, die Schuster, die Bäcker, die vielen Textilienhändler mit Waren aus aller Welt, die Teppichhändler, ja, und die Buden mit tausenderlei Gewürzen, der unübersehbare Kitsch aus aller Herren Länder und die Zuckerbäcker mit den Zahnschmerz verursachenden Honigkuchen, Sesamgebäck und Pistazienplätzchen. Und die Freundfeinde, die Antiquitätenhändler, wie haben sie leben 29
können, ohne daß sie mich aufgefordert haben, schnell, sehr schnell zu kommen? Steil abfallendes Felsgeklüft, Gerinnsel von müdem Wasser, Häuschen, grün, gelb, blau; und blau wie an die Felsen geklebt: Malula! Im weiter werdenden Teil Gärten mit überpulverten Obstbäumen, schrumpfenden Flecken von Gemüsebeeten, wehender Wäsche. Aus behauenem Kalkstein gemauerte Häuser, ohne Dächer zumeist noch, starren gleichsam erwartungsvoll in den Himmel. Warten auch sie auf Regen? Steil erst fällt der Fels ins Tal, neigt sich sanfter, und die bunten, alten, gebrechlichen Hütten, zartem Geflecht von Nestern seltsamer Vögel ähnlich, können sich anklammern. Wann wurden die Fluchthöhlen in den südlichen Felsen gehauen, von wem? Wirklich nur, um sich zu verbergen nach panischer Flucht? Es führt kein Pfad zu ihnen. Lebt im Dorf noch die Erinnerung, ein Fetzen zumindest, an Flucht, Furcht vor Qual und Untergang? Und über den Hütten die Luft, schwefel- und ockerfarben, ist wie ein vergilbter Schleier. An der nördlichen Felswand in breit ausgefranster Nische ein Kloster, die Kirche, ein runder Kuppelbau, die Innenhöfe umgeben von den Mauern des Sanktuariums, der Zellen und Wohnräume, und um alles eine mächtige, zwei, drei Mann hohe Mauer. Alt wie das Dorf. Nur von der aufwärts führenden Asphaltstraße gibt es Pfade zu den Hütten auf den Hängen. Kein Geröllweg mehr zur Höhe, zum Kloster Mar Sarkis, nur wenige Meter hinter uns. Unten am fast ausgetrockneten Bachbett ist man dabei, die Straße neu zu asphaltieren. Beißender Teerrauch zieht träge zu uns hoch. Malula, das einzige Dorf Syriens, in dem heute noch Aramäisch gesprochen wird, das ist der erste Eindruck. Weder den Weg – Weg? – noch die neue Autobahn nach Aleppo nehmen wir, sondern die Straße, die durch ein enges Tal direkt auf die Hochebene, in die Felslandschaft des Kalamoun-Gebirges führt. Die Oktobersonne ist noch voller Glut, die Straße ist überstaubt, der 30
Bach ohne Wasser, und wie überall sind die Gärten grau, die Feigen klein, das Gemüse kläglich. In Steinbrüchen rechts und links der Straße wird Baugestein gebrochen, auf nachgebende Lastwagen geladen, die dann talwärts mächtige Staubwolken hinter sich herziehen. Weißgrau, alabasterfarben, bleigrau, ockergetönt ein Hauch auf Hütten, Feldern und Bäumen. Orangenbäume stehen wie trauernd mit ihren schlapp hängenden Blättern. Auf weiten Terrassen beiderseits der Straße im Bau befindliche Häuschen aus wunderbar exakt zurechtgehauenem Kalkstein. Sicherlich keine Bauernhäuser, eher Bungalows, Zuflucht für lärmmüde Damaszener, die sich’s leisten können. Hinter großen Körben mit Feldfrüchten hocken Männer in Galabien und Kufien und Frauen, in Schwarz gehüllt, wie trauernd. Einladende Gesten: Kauft Granatäpfel, kauft Feigen und Äpfel, kauft Orangen, auch wenn sie noch grün sind. Sie sind schon zuckrig, und auch Sonne hatten sie genug. In allen Gebärden ein Anflug von Resignation, von Ergebung in das Schicksal: Allah schickt keinen Regen. Wir sind die ewig Geschlagenen, die immerdar Durstenden. Arbeit und Mühe können uns nicht erlösen. Sollte alles nur Gleichgültigkei, der Ausdruck unendlicher Gleichgültigkeit sein? Auf der Hochebene Dörfer, ineinandergeschachtelt die Hütten und Gärten, aber getrennt durch weiße hohe Mauern und abweisende Häuserfronten ohne Fenster, mögliche Vorbilder für kubistische Gemälde. Unangebunden stehen Esel an den Mauern, Felle wie mottenzerfressen, die Ohren schlaff wie graue Lappen. Weißbraun gefleckte große Hunde japsen im Schatten, gleichgültig gegen den fremden Wagen, den aufgewirbelten Staub und das wilde Gehupe. Kurzer Halt vor einer Hütte. Der Chauffeur nimmt zwei, drei Körbe, springt ins Haus. Kamil, der Dolmetscher, ein kleiner flinker Mensch, Ethnograph von Beruf, sagt: »Auf dem Rückweg nimmt er Feigen und Äpfel mit. Er verkauft sie in der Stadt. Nicht viel, stimmt. Aber jeder Piaster ist was wert!« 31
Welch ein Blick über die vor uns liegende wellige Hochebene, über die Äcker, wie sie leer und braun und von wenigen Weingärten grüngefleckt vor uns liegen. Eine triste, graue Trockenheit von bedrückender Last. Über den steinigen abgeernteten Feldern flirrt die Mittagshitze. Eine schwarze Ziegenherde – dunkle Flecken auf den Äckern – scheint die Steinbrocken anzuknabbern, was sonst sollten sie nach der Ernte dort noch finden? Was nur drängt uns immer wieder die Erinnerung auf? Die gewünschte Flucht vor der heutigen Wirklichkeit? Die Sehnsucht nach Verklärung, die Sucht, Unwiederbringliches aus der Vergangenheit hervorzuholen zu immerwährendem Besitz? Schnaufend vor Anstrengung kamen Willi B. und ich in jenem Jahr vor der Klosterpforte der Sergiuskapelle an. Ehe wir hineingingen, sagte ich zu ihm: »Wenn wir in der unterirdischen Kapelle sind, vor dem Allerheiligsten, müssen wir uns bekreuzigen.« Damals war für Willi schon alles zuviel. Eine Herzattacke hatte ihn in Kairo umgeworfen. Von Asthma gequält, lachte er: »Bekreuzigen? Ich? Nie!« »Bist du ein höflicher Mensch oder nicht?« trieb ich ihn in die Enge. »Und du bekreuzigst dich auch?« fragte er. Der Pater mit seinem ungepflegten eisgrauen Bart empfing uns, die Augen gerötet vom steten Höhenwind oder von durchwachten Nächten. In seinem Büro stand eine halbleere Rotweinflasche, der Tisch war unaufgeräumt, die Aschenbecher randvoll von Stummeln, obwohl er nicht rauchte, und überall eine Staubschicht. Wir tranken Wein, vom Pater selbst geerntet und gekeltert. Dunkelrot. Nach Erde duftete er. Dies und das, wohin will der Freund, die Zeiten sind hart, wenig Gläubige kommen noch. Eine Frau trat ein, schmuddelig wie der Pater, ein ältliches eiferndes Gesicht, sah ihn böse an und sagte etwas auf arabisch. Er zuckte zusammen, schob das Glas weg, bat uns, ihm zu folgen. Holpernd ging es eine Treppe hinunter in den Innenhof, die Füße schwer vom Wein. Willi fragte: »Muß man sich wirklich bekreuzigen?« 32
Ich sah’s ihm an, er hatte sich in sein Schicksal gefügt. Aber auf der Treppe zur unterirdischen Kapelle ließ er mich vorangehen. Elektrisches Licht erhellte den kleinen, von griechischen Pfeilern mit Kapitellen geschmückten Raum. An der Stirnwand Ikonen, altersgelb, die Mutter Gottes mit dem Kind, einige Heilige. Der Pater trat in die Mitte des Raumes, bekreuzigte sich mit Gewohnheitsbewegungen. Ich schob Willi vor mir her, und als ich die Andeutung einer Armbewegung machte, erhob Willi seinen Arm ebenfalls, und als ich die Hand zur Stirn hob, tat er das gleiche, und so bekreuzigten wir uns, einer vom andern inspiriert. Willi flüsterte: »Hoffentlich gibt das keine Rüge vom ZK wegen opportunistischer Haltung!« »Wir sind allein«, beruhigte ich ihn, und es fiel uns schwer, einen Lachanfall zu unterdrücken. Der Pater sprach vom großen Wert der Ikonen, nannte ihn in Dollars. Mir schien, es würde nicht schwerfallen, ihm zum Verkauf des einen oder anderen Stückes zu bewegen. Oder sollten diese Stücke Kopien sein, die man an die Stelle der jahrhundertealten Originale gehängt hatte? Vor dem Klostertor sprudelte der uralte Brunnen, reich und unablässig spendete er kaltes, klares Wasser. Das Klostertor, niedrig und schmal wie ehedem, doch weit geöffnet. Auf der Galerie im Innenhof Kühle, Sauberkeit und Ordnung. Eine gut angezogene Frau saß strickend auf einer Bank. Abwesend blickte sie über uns hinweg, unser Gruß blieb ohne Antwort. Von der Galerie her sah uns ein Pater entgegen, schwarze Soutane, sehr gepflegt der adrett geschorene griese Bart. Kühles, aufgesetztes Lächeln begrüßte uns. Woher und wohin, und als er festgestellt haben mochte, wen er vor sich hatte, lud er uns in sein Arbeitszimmer ein. Kein überfüllter Aschenbecher, die Schlafstelle aufgeräumt, der Schreibtisch sauber und nirgends Staub. »Hier schläft immer der englische Botschafter in Ammon. Ein sehr kultivierter, gebildeter Mensch. Sehr kulturvoll. Jeden Monat besucht er uns!« 33
Tee wurde uns von einer Frau gebracht, er schmeckte nach Kräutern, doch nicht würzig und voll, sondern fade und abgestanden. Ich sagte: »Früher hab’ ich hier immer Wein getrunken!« Betroffen sein Blick, als ich hinzusetzte: »Wie geht es Pater Anastasius?« »Er ist zum Herrn eingegangen. Er gebe ihm die wohlverdiente Ruhe!« Salbungsvoll, undurchsichtig, eine gläserne Freundlichkeit. Was machte ihn so zurückhaltend, was läßt seine warmen Augen so kühl blicken? Die Kapelle ist von intimer Stimmung, einer überaus zarten Feierlichkeit. Sie war renoviert worden, der jahrhundertealte Putz ausgebessert und geweißt. Alle Ikonen noch vorhanden, matt leuchtendes Blau und Gold: ernst blickende Männer im Habitus der Heiligkeit, Frauengesichter von fast alltäglicher Realität, keines jedoch von arabischem Charakter. Griechisches Byzanz formte sie. Die Mutter Gottes, das Jesuskind im Arm, macht durch ihren forschenden Blick erschauern. Der Pater sagt: »Sehen Sie, wir haben hier den Zugang zum alten Baalheiligtum erschlossen!« Er zieht eine Bodenklappe hoch, ein dunkles Loch, trübe Schauerlichkeit. Er läßt die Klappe fallen. Enttäuscht sehe ich ihn an. Welche Vergangenheit soll dort unten wohl übriggeblieben sein vom Heiligtum Baals? Die Sucht, Heutiges durch Vergangenes zu erkennen, schmerzt. Malula, ein Tropfen Christentum neben andern, wie konnte es sich in diesem weiten Meer vom Arabertum bilden und halten? Oder sagt man besser Moslemtum? Eigene, innere Kraft? Toleranz der übermächtigen Mehrheit gegenüber der Minderheit? Toleranz, so sollte man meinen, ist die einzige Kraft, die dem Dogmatismus die Möglichkeit nimmt, Inhumanes auszuleben. Bleiben Erkenntnisse über den bizarren, verwickelten Verlauf der Geschichte immer wieder ohne Auswirkung auf unser Leben? Stets hatte Syrien starke Minderheiten religiöser oder ethnischer Art. Da und dort deckten sich Religion und Volkstum; und zuweilen fand man nur in der Religion Möglichkeit und Kraft, das Volkstum zu bewahren. Die christlichen Minderheiten Syriens entstammen der 34
gleichen Wurzel wie die Mehrheit, das Mohammedanertum. Und da fängt das Staunen an. In der Frühzeit des Christentums splitterten sich immer wieder Gruppen vom römischen Katholizismus ab, sie machten sich selbständig, vereinigten sich zuweilen auch wieder miteinander und vor allen Dingen zwischen dem 12. und 19. Jahrhundert mit der »Mutterkirche«. Ihre Selbständigkeit, auf verschiedenste Weise sich äußernd, gaben sie nicht auf. Eine Gruppe war abgefallen, weil sie sich ihre eigene nationale Liturgie, fußend auf der eigenen Sprache, bewahren wollte. Eine andere, die Nestorianer, leugnete die Heiligkeit Marias und wollte sie nur als Mutter des Menschen Jesus Christus anerkennen. Man glaubt förmlich, über die Jahrhunderte hinweg das pfäffische Gezänk zu hören, mit dem Beweis und Gegenbeweis geführt wurden. Ein Gewirr von Gruppen: Die Richtung der Griechisch-Orthodoxen ist im Nahen Osten durch vier voneinander unabhängige Patriarchate vertreten; neben armenischen Orthodoxen gibt es armenische Katholiken, griechische Katholiken, Melchiten, syrische Jakobiten, deren Liturgie in altsyrischer, also in aramäischer Sprache gehalten wird. Ein Gewirr, mehr noch ein Wirrwarr, nur zu erklären durch die Bewegtheit der Geschichte, die unaufhörliche Bewegung der vielen kleinen und großen Völkerschaften über Jahrtausende. Im Innenhof die Bank war leer. Die Frau brachte uns Wein. Kühle war, und man spürte den Wind, der über die Hochebene strich, ein kühles Streicheln. Ich frage den Padre: »Läßt sich heute noch feststellen, welches die Gründe für soviel Absplitterungen, soviel Drang nach Selbständigkeit im frühen Christentum sind?« »Sind Sie an theologischen Problemen interessiert?« fragt er ausweichend, widerwillig fast. »Sind es nur theologische Probleme?« »Ich verstehe Sie nicht ganz«, murrt er. »Mir erscheint es seltsam – Sie verstehen, ich bin kein Christ –, daß 35
schon zu Anfang einer neuen Religion Ketzertum und Zersplitterung aufkommen und Kämpfe sehr oft nicht mit geistigen, sondern auch mit andern Waffen ausgefochten werden.« Nicht mehr glatt ist sein Gesicht, plötzlich zerfurcht, fast gequält. In seiner Abgeschiedenheit, gab es da Anfechtungen? »In Christus sind wir alle eins«, sagt er dann. »Verstehen Sie mich nicht falsch.« »Falsch, falsch!« Woher kommt seine Gereiztheit? »Da, wo Geistiges sich in Gewalt umwandelt, Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt ... Glauben Sie, der Mensch ist ein schwaches, sündiges Wesen, seine Versuche, sich zu Gott zu erheben, sich gottähnlich zu fühlen und zu werden wie er, allwissend und allgegenwärtig zu sein, sind des Teufels, und alles Leid auf dieser Welt ist nicht Gottes, sondern des Teufels Gabe.« Wir tranken, und der Wein schien mir erdiger, nicht so gepflegt wie einst. Er ging mit mir zur Pforte, schloß sie hinter mir. Auch den Schlüssel hörte ich klirren. Pater Anastasius, der zu Gott eingegangene schmuddelige, so liebenswert verkommene alte Pater, war verbannt worden in diese Einöde auf dem Berg, da er der Fleischeslust nicht hatte widerstehen können. Aber ihm, diesem Nachfolger mit zerfurchter Seele und glattem Gesicht, welche Versuchung war ihm begegnet, und welchen Anfechtungen war er erlegen? Nur geistigen? Und immer sind sie die Gefährlicheren. Nur sie gefährden Bestand, Bestehendes, Verkalktes. Die Mittagshitze dringt wie Feuerschwaden in alle Poren ein. Die motorisierte Blechkiste, in der wir fahren, ist ein Marterinstrument, nicht weniger qualvoll als ein mittelalterliches Rad in irgendeinem Folterkeller. Das Geratter des Motors hackt ins erhitzte Hirn. Wo ist Kühle? Im Flirren der erhitzten Luft über den Feldern die Fata Morgana des kühlen Morgens: nackt am offenen Fenster, umspült von der Luft wie von einer weichen, kühlen Brause, vor dem Fenster eine unbebaute, 36
geröllübersäte Fläche, ein kahler grauer Giebel, auf der andern Seite der Straße die rundgeschwungene, elegante, vielstöckig in den Himmel ragende Fassade eines Neubaus, eines Hotels. Dunkelschattig im Frühlicht Fenster neben Fenster, Balkon neben Balkon, das Gewabe einer Wohnmaschine für ein oder zwei Nächte. Man richtet sich ein auf Dollars, Pfunde und Mark. Das Morgengebet der Chauffeure: Autohupen, Motorengeknatter, Pneugeknirsch. Von mir aus nicht einzusehen, lehnt sich trocken, ohne Zement aufgebautes Viereck an den Hotelgiebel. Blechfetzen schützen gegen die Nachtkühle – oder gegen Blicke? Was ist es? Wohnraum? Unterkunft für eine Nacht? Aber für wen? Aus der uns abgewandten Seite des Mauervierecks kommt ein Mann, fährt sich durchs Haar, klopft sich über die Kleidung, eine zementverstaubte Jacke, eine mit Flicken besetzte, viel zu groß erscheinende Hose, und geht dann über die freie Fläche dem Neubau zu. Wenig später kriecht ein kleines Mädchen aus dem Loch, angetan schon oder noch immer mit Röckchen und Blüschen, aber ohne Schuhe. Es wischt sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht, sieht aufmerksam zum frühen Himmel hoch, schüttet sich aus einem Blechkanister Wasser über die Händchen und fährt sich mit ihnen übers Gesicht. Ein Schluck noch, um den Mund auszuspülen, das Kätzchen hat sich geputzt. Nun fängt es an, einen kreisrunden Fleck, in dessen Mitte sich eine Feuerstelle befindet, vom Geröll zu säubern. Als es den Besen nimmt, ein Zweiggestrüpp, und mit rührend kindlichem Eifer das Stück Erde zu kehren anfängt, liegt in jeder Hantierung, in jeder Bewegung frühgewachsene Hausmütterlichkeit. Der Frühstückstisch, der Frühstückstisch! Aus wenigen Zweiglein, ein paar Brettstückchen facht es nun ein Feuerchen an, ebenso ärmlich wie es selbst. Und dann ruft es etwas in das Loch hinein. Eine Frau kriecht hervor, die Mutter, auch sie schon oder noch immer angetan mit Rock und Bluse. Sie sagt etwas zu dem Mädchen, geht hin und streichelt es zärtlich mit beiden Händen. Bauern, Beduinen oder aber Flüchtlinge aus dem Golangebiet? Vor uns eine von einer Windbö böse aufgewirbelte Staubwolke. Sie dreht sich 37
zierlich hoch, sinkt dann in sich zusammen. Vor uns dehnt sich weit im Mittagslicht die Hochebene. Kein Morgen mehr, keine Kühle, nur noch Feuerschwaden. Was bezaubert eigentlich so in diesem Land? Die Landschaft, vielfältig braun, karg bis zur ödheit, überquellend aber von Frucht und Segen auch, das von Sonne, Wind und wenigem Regen zerklüftete Felsgestein, die sich tief in die Erde fressenden Fluß- und Felswadis, was nur ist es? Ist es der gereichte kühle Trank? Das dargebotene Essen, kaum daß man eine Hütte betreten hat, sei sie auch noch so ärmlich? Der Ehrenplatz, die feierlich-schamhafte Zurückhaltung, mit der nach dem Wohin und Woher gefragt wird? Ist es diese Gastfreundschaft, von der man bis zur Wehrlosigkeit gefangengenommen wird? Im Begriff, uns von der Familie des Chauffeurs zu verabschieden, grüble ich darüber nach, grüble und grüble. Und auch, als wir über die Hochebene fahren, der Autobahn zu, läßt es mir keine Ruhe. Vor einer der Hütten im Dorf hielt der Chauffeur. Er entschuldigte sich: »Die Eltern, sie wohnen hier. Bitte, treten Sie ein.« Er sagt nicht: »Die Frau, die Kinder wohnen hier, ich habe sie eine Woche nicht gesehen, die heutige Fahrt am Sonntag hat verhindert, daß ich sie besuchen konnte.« Nein, die Eltern wohnen hier! Matt vom Wein des Paters, zerschlagen von der Hitze und dem Geratter des Wagens, dem Geholpre und der Schaukelei, steige ich steif aus. Kamil Ismail sagt: »Wir dürfen ihn nicht beleidigen!« Ich sage: »Warum soll ich ihn beleidigen?« »Eine Einladung nicht anzunehmen ist eine große Beleidigung«, sagt Kamil. Ein von hohen Mauern eingefaßter Innenhof, steinern trocken die Erde, ein bröckliger, sicherlich schon versiegter Brunnen. Eine junge Frau mit einem Kind an der Hand sieht uns entgegen, grüßt freundlich-verschämt, ohne näher zu kommen, und geht in einen der unteren Räume. Wir aber steigen eine steile Stiege hinauf, in einen allen Winden offenen Raum mit Tischchen und Sitzbänken an den Wänden. Schlafmatten 38
sind in Mauernischen aufgestapelt, an den Wänden aus Zeitungen ausgeschnittene Fotografien einer europäischen Berglandschaft, des Präsidenten und eines Tanks moderner Bauart. Wie kühl der Wind durch die Haare streicht! Ein Glas Wasser, eine Zigarette. Im Garten unten Geraune und Bewegung, die unsern Chauffeur hinuntertreiben. Er ist ein geschmeidig wirkender Mensch mit kleinem Schnurrbärtchen, einem offenen Gesicht und mit Händen, die nichts Bäuerliches an sich haben. Unten wird anscheinend ein Messer gewetzt. Ein kleiner Junge kommt die Treppe hinauf, schleppt schwer an einer Schüssel Obst. Wie zarthäutig der Kleine ist, wie sanft der Schmelz seiner braunen Augen. Kamil greift nach einer Feige und sagt: »Zum erstenmal esse ich frisch gepflückte Feigen.« Das Messerwetzen wird lauter. Kamil erhebt sich, sieht mich an. Ich sage: »Man muß es verhindern!« Ein grauhaariger Alter kommt herein, gebeugt und verschrumpelt, das Gesicht indessen rötlich-gesund, wenn auch vom Wind zerschorft, die Augen altersvergilbt. Die Hand ans Herz, der Händedruck Hornhaut über knochigen Fingern. Gutmütig einladendes Lächeln: »Seien Sie willkommen!« Der Vater! Der Sohn, das gewetzte Messer in der Hand, sagt von der Treppe her: »Wir werden einen Hammel schlachten. Geben Sie uns die Ehre, unser Gast zu sein!« Wie kann man sich wehren? Aber man muß sich wehren. Ein Hammel mag über hundert Pfund kosten, ein halber Monatslohn. Man muß sich wehren, und unser Chauffeur ergibt sich in sein Schicksal, kein guter Gastgeber zu sein. Oder war’s ihm nicht ernst mit seiner Einladung? Er schiebt uns nun Obst zu, reicht Zigaretten, und um nicht wiederum ungehörig zu sein, essen wir, rauchen und trinken Kaffee, gebracht von der jungen Frau, die, kaum daß wir die Täßchen entgegengenommen haben, wieder in den Innenhof hinabhuscht. Ich sage zum Vater: »Trocken in diesem Jahr!« »Die Brunnen sind noch nicht fertig«, antwortet still der Vater. »Wir müssen wohl hundert Meter oder tiefer bohren. Geben sie aber einmal Wasser, wird das Land grün!« 39
Die Fata Morgana der verwandelten Landschaft: eine Symphonie von Farben: ocker und orange und lehmgelb die Erde, stumpfgrün Fruchtbäume und Weinberge, vergilbtes Gold die Gerste zur Zeit der Ernte. Die blühende Landschaft nur ein Traum im heißen Mittag? »Drei Jahre hatten wir keinen Regen«, sagt der Alte, die Augen verhangen von Kümmernis. »Die Brunnen sind eingetrocknet. Ein einziger nur noch gibt dem Dorf Wasser.« Sandige Trockenheit mahlt zwischen den Zähnen, liegt rauh auf der Zunge, in der Kehle. »Im letzten Jahr mußte ich achtzehn Schafe verkaufen und in diesem Jahr wieder zweiundzwanzig.« Die Stimme des Alten klingt brüchig, tonlos, als erzähle er vom Tod von Kindern. Er lehnt sich vertraulich an mich. (Vertraulich rührt von Vertrauen, aber warum gerade zu mir, in dieser Stunde auf dem abgewetzten Sofa?) »Ohne die Söhne«, sagt er und sieht den von seiner Frau wieder heraufgekommenen Sohn an, »ohne sie –. Vier Söhne habe ich, gute Söhne. Sie arbeiten alle in der Stadt.« Sie leben noch nicht in der Stadt, sie arbeiten nur dort. Meint er, leben könne man nur im Dorf? Sieht er um sich her alles zerbröckeln, ist die Familie in dieser Hütte hier im Dorf, in dem alles gewachsen ist, was er gezeugt und geschaffen, gepflegt und großgezogen, ist das der einzige Halt noch? Die Schafe hat er verkauft, im Hof picken einige Hühner im harten Lehm. Die Erde ist vor Trockenheit grindig wie rostiges Eisen. Wind jagt den sandigen Rost auf den Feldern hoch und weht ihn in die Gärten. Als wir uns verabschieden, kommt eine alte Frau die Treppe empor. Schwarzes Kleid, schwarzer Schal über dem grauen Kopf, in würdevoller Kümmernis auch sie. Woher kenne ich sie? An wen erinnert sie mich, wie sie da herkommt, klein gearbeitet und eingeschrumpft? Nein, Großmutter war strenger in ihrer Festlichkeit, auch nicht so voll weiser Einfalt und nie von dieser gedämpften Freundlichkeit. An wen nur erinnert sie mich? Auch sie schiebt uns Weintrauben zu, reicht jedem von uns eine beson40
ders reife, platzende Feige. Und dazu ein vages, zurückhaltendes Lächeln, ein von warmer Freundlichkeit getränkter Blick. »Haben Sie Söhne?« fragt sie. »Einen Sohn habe ich und drei Töchter.« Das Zucken um ihren Mund, ist es Verwunderung oder, wie es sich gehört, Mitleid? Nur einen Sohn, welch eine Armut! Beim Abschied das welke Gefält ihrer Hand, ihre warmen Augen in dem Nest von Kümmernis. Sie lächelt mich tröstend an: »Ach, auch Töchter – es sind doch auch Kinder!« Die Feigen in den Körben erfüllen den Wagen mit dem Duft von Honig. Staub dringt durch alle Fensterritzen, färbt Haut und Kleidung mit einem schmutzigen, fahlen Rot, dringt ein in Nase, Ohren und Mund. Unser Chauffeur ist still, nachdenklich. Was werden ihm die drei Körbe Feigen einbringen? So viel, daß vom Erlös Fladen und Fleisch gekauft und vielleicht noch ein Teil der Miete bezahlt werden kann? Ist es ihm so möglich, das meiste des von ihm verdienten Bargelds beiseite zu legen? Sicherlich nicht, aber manches wird doch spürbar erleichtert. So belieferten Tausende und aber Tausende von Bauernburschen Damaskus mit allem, was rundum die Erde bietet. Frisch und knackig kommt Gemüse und Obst in die Küchen der Stadt, all das, was überquillt in den Körben und Körbchen, auf den fahrenden Händlertischen, in den Packtaschen der Esel. Gibt es aber Überfluß? Nicht in dem Maße wie vielleicht in anderen Jahren, aber in Mengen, die jeden Appetit auf Weintrauben, Feigen, Äpfel, Melonen, Birnen und Orangen, auf Pfirsiche und Mandarinen, auf Zwiebeln und Knoblauch, auf Zucceti und Tomaten, Gurken und Kohl und Blumenkohl stillen. Und dazu Kaktusfeigen mit rötlichf arbenem Fleisch, wenn die stachlige Haut abgezogen ist. Jetzt, Mitte September, tauchen sie zum erstenmal im Straßenbild auf. Die Verkäufer, zumeist elf- bis zwölfjährige Burschen, haben sie in Eimern an die Straßenecken gebracht, legen sie aus und überspritzen sie dauernd mit 41
frischem Wasser. Gelüstet es jemanden, die Zähne in das rötliche Fleisch zu schlagen, ziehen sie geschickt die stachlige Haut ab. Außerdem Walnüsse, süß-knackig, Pistaziennüsse, Erdnüsse. Früher führte nur eine schmale Asphaltstraße von Damaskus nach Aleppo. Sie war gesäumt mit den Wracks verunglückter Lastwagen und Personenautos aus aller Herren Ländern. Von dieser Straße nach etwa fünfzig Kilometern abbiegend, konnte man über eine Geröllstraße Malula erreichen. Schmal und holprig war sie. Ausweichen oder Überholen bedeutete stets ein lebensgefährliches Manöver. Nun aber fahren wir auf einer Asphaltstraße bis zur Autobahn. Und was für eine Autobahn: ein Schwung weitgeschweifter Kurven bis zur Ghuta hinunter! Überbreit fast, lädt sie den Chauffeur ein, immer wieder die Kurven zu schneiden, die Trennstriche zu überfahren und zuweilen auch auf der Gegenfahrbahn ins Ghutatal hinabzusausen. Wie dünne Watte wirkende Dunstschleier über der Stadt, spärliches Rauchgekräusel aus einem Fabrikschornstein. Schwarzverkohltes Gemäuer einer zerbombten kleinen Fabrik, ein Lager ausgeglühter, von Bomben getroffener Benzinfässer, feuerverharschte Erde. Von den nahen Kalksteinfelsen wie aus übergroßen Höhlen schwanken in ununterbrochener Folge übervolle Lastwagen quer durchs Gelände in die Stadt hinunter. Erste ärmliche Olivenhaine tauchen auf, staubüberwölkte Obstbaumgruppen und schlanke Palmen mit scheinbar verbrannten Wedelgipfeln trennen scharf Ghuta und Wüste. Wie einst ist die Einfahrt in die Stadt, doch mühsamer jetzt, auch gefährlicher, da sich Lastwagen, Taxis, Traktoren und Viehgefährte unterschiedlichster Art in die schmale Straße zur Stadt hineinzwängen. Unter den Olivenbäumen sind Militärlastwagen aufgefahren, Kanonen und Haubitzen und Luftabwehrgeschütze aller möglichen Kaliber. Und Tanks, schwere Ungeheuer. Ich frage: »Wozu so nah bei der Stadt der Aufmarsch?« Kamil sagt: »Sicher eine Truppenablösung an der Front!« Front! Tanks! Kanonen! Ich versuche alles wie lästiges Spinnweb wegzuwischen, den bedrückenden Anblick, die wie aufdringliches 42
Gewürm mich bedrängenden Gedanken. Krieg, Krieg immer noch auf den Golanhöhen, schlafend wohl, aber wann heult das Inferno los? Die Fassaden der Textilfabrik sind in den Jahren wettergrindig geworden, die Fenster blindgrau. Eine Tankstelle neben der andern, Autowerkstatt an Autowerkstatt, wildes Durcheinander von zerstoßenen Karossen, auseinandergenommenen Motoren und Getrieben, Gehämmere und Gekreische von Maschinen. Ach, und die absterbenden Gärten, die vom Öl- und Benzindunst erstickten Olivenhaine. Bestialisch schlägt das Gekreisch von Blech und Eisen auf uns ein. Die Nerven werden vom Lärm aufheulender Motoren, die sich im ersten Gang durch das Gewühle mühen, vom wilder werdenden Gehupe zerfetzt. Aneinandergezwängt Lastwagen und Mulokarren, Dreiradlastkarren und Taxis, Fahrräder und Handwagen – ein zusammengewachsenes Ungetüm aus Blech, Stahl und Staub schiebt sich der Stadt zu. Aber dann, fast in der Stadt, öffnet sich dem Blechwurm ein weiter Platz, der ihn auseinanderreißen und in alle vier Winde führende Straßen zerren will. Was dort einst stand, ist weggewalzt, weggesprengt, nach allen Himmelsrichtungen davongefahren worden: Hütten und Häuschen. Die vier breiten Boulevards sind schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen, hoch an den östlichen Rand des Dschebel Qassun, in die Stadtmitte zur Sallihiye, und eine andere, an deren Seiten die Häuschen mit ihrem Rest von Mauern wie abgeschnitten wirken, führt in die Altstadt, in den Shuk. Keine spießige Kleinlichkeit in Gedanken und Gefühlen, kein Geiz in der Verwendung von Material und Licht beim Bau der neuen Häuser links und rechts. Das ist gebaut für das nächste Jahrhundert, das noch nicht zu erblickende; das begrünt sich schon an den Straßenrändern mit Strauchwerk und kleinen Bäumen und Blumenbeeten, das benimmt uns einen Augenblick den Atem. Zu maßlos? Nicht angemessen den Jahren jetzt, da die Kanonen und die Luftabwehrraketen jeden Augenblick losheulen können? Zu zerstörerisch für das, was gewachsen ist über die Jahrhunderte hinweg, für den lehmfarbenen Zauber der Altstadt? 43
Wer wohnt in diesen großmächtigen Burgen? In der Prachtstraße von einst, in der Abu Romanie, hatten sich die Vornehmen, die Geldleute angesiedelt; und solche, die sich dafür hielten oder vorgaben, es zu sein. Die Steine vieler Häuser waren erstarrter Bauernschweiß, der Marmor aus Carrara für die Fußböden und Bäder war mit den Tränen der Bauersfrauen glatt poliert. Erschütternd bis in alle Tiefen: Über jeder Küche in diesen Villen war ein über eine Stiege zu erreichender Verschlag eingebaut von der Grundfläche der halben Küche und halb so hoch. Er dient dem »Dienstmädchen« oder der »Haushilfe« zur Behausung. Dennoch, war es für die Bauernmädchen oder die jungen Frauen aus den Flüchtlingslagern der Palästinenser nicht ein Nest, eine Zuflucht im eigenen Reich? Wer wohnt in diesen großmächtigen Wohnmaschinen, die sich vom Zentrum bis in die Vorstädte erstrecken und diese hinausziehen bis an den Rand der Wüste, bis an den Hang des Dschebel Qassun, bis nach Metze? Wer wohnt in diesen fünf- und sechsstöckigen Häusern mit Balkonen und Veranden? Auf den Balkonen flattern in der scharfen Sonne, im heftig wehenden Wind Wäsche, Kinderzeug, Mädchenhöschen, Arbeitshemden von Männern, die schweren schwarzen Blusen von Frauen, die gestern noch in Dörfern getragen wurden. Galabien und Kufien schaukeln schwer an Drähten, in ihrer entleerten Menschlichkeit phantastischen Puppen gleich. Und da hängen die bunten Burschenhemden, grellbunte Fahnen, in den Werkstätten der Stadt gefertigt nach italienischem Vorbild, keß getragen von schlanken jungen Burschen, Söhnen von Vätern, die gestern noch sich tief über die Erde beugten. Ach, und wie unsicher, wie verschämt-kokett, wie unbeholfen-elegant werden Levis’ und prallsitzende Hosen von Mädchen getragen, deren Vorbild die über die Straßen Beiruts, Roms oder Münchens flanierenden Mädchen sind. Und immer noch umbarmherzig die Bulldozer, lächerlich groß und ungetüm gegenüber den kleinen Hütten der Vorstadt, die sie vor sich niederwalzen. Ein Haufen Lehm das alte Leben, staubiges Gewölk weithin übers Zentrum. 44
Bebend wartet die Stadt, erschüttert von der harten Hand der Planer und ihrer Werkzeuge: Bulldozer, Kräne, Traktoren und Lastwagen, Pickel und Meißel. In welche Stille sich retten? Der Innenhof des Azempalastes ist voll von Geruhsamkeit und Schatten, von weicher Stille und dem zeitlosen Geplätscher des Brunnens. Dort zu träumen vom untergegangenen Leben, dem nie wiederkehrenden, von osmanischen Paschas und ihren Haremsfrauen, von Sklaven und Eunuchen, wie kann das die Nerven beruhigen? Oder soll man sich beruhigen lassen vom Gebetsgemurmel der Gläubigen in der Omaijadenmoschee, das klingt, als streiche man mit Eisenkämmen über uralte Gongs? Wie unendlich schon der Hof, kaum eingesäumt der Blick von den zierlichen Pfeilern und Spitzbogen, die wie eine unirdische luftige Stickerei wirken. Im ewig rinnenden Brunnenwasser säubert man sich vor dem Gang in die Gebetshalle. Gereinigt wird der Mund von jedem Fluch, ehe er zu Gott betet, gesäubert werden die Füße, ehe sie über die verblichene Pracht jahrhundertealter Teppiche gehen, ehe sie sich den verschiedenen Heiligtümern nähern, der Gebetsnische des Imams, der Predigtkanzel, dem Grabmal des Johannes. Gefesselt sind in diesem unendlichen farbfunkelnden Raum alle irdischen Gedanken. Laßt alles hinter euch, Gläubige, das Lärmen um Geschäft und Verdienst, laßt hinter euch, was euch drückt und peinigt! Allah ist groß, er ist gnädig und hat eine milde Hand. Gott Gadad, Gott Jupiter Damascenus, Gott und Christus, sein Sohn, Allah und sein Prophet Mohammed, alle sind gnädig immerdar! Die Unendlichkeit der weiten Halle – ist sie noch immer geprägt von den hochstrebenden korinthischen Säulen, von der Heiterkeit hellenischer Diesseitigkeit? Rosenglanz und Grün der kachelgeschmückten Wände – jede Kachel ein Gebet zu Allah –, lösen sie die Schwere jeder irdischen Qual? Leer und doch erfüllt die weite Halle von Andacht und Versenkung, von einer Ruhe, die fast einschläfernd wirkt und zu den Träumen von 45
Paradies und heiligen Huris führt. Nah bei der Predigtkanzel hocken etwa zwanzig Jungen, den aufgeschlagenen Koran in den Händen, nah bei ihnen der Mullah: zerfaltetes weises Gesicht, die Augen im Jenseitigen. Die Jungen murmeln und murmeln, der Ton ihrer Stimmen ist wie helles Glockengeläut. Im Garten des Museums eine andere Vergangenheit, nein, viele Vergangenheiten mit steinernen Zeugnissen, Statuen hethitischer, hellenischer und arabischer Kunst. Trotz des einsickernden Lärms ruht es sich besser als im abgelegensten Hotel. Wassergetränktes Grün von Buchsbaumhecken, sauber gepflegte Kieswege im Schatten uralter Bäume, im Geviert der Buchsbaumhecken Statuen aus Palmyra, aus Basalt und Kalkstein. Auf den ersten Blick: Läßt sich alles einordnen, ohne das an Literatur zu gebrauchen, was an Literatur vorhanden ist? Frage: Womit erobert man sich etwas? Nur mit dem Verstand, mit erworbenem Wissen? Oder mit dem Gefühl, mit »Erschütterung«? Ist sie noch möglich? Sich hinzugeben dem Gefält des Gewandes einer Statue ohne Kopf oder dem mächtig und fast menschlich blickenden Antlitz eines Basaltlöwen aus hethitischer Zeit, ist das »nützlich«? Gang durchs Museum: Wo sich heute versenken? Im Untergrund der Synagoge von Dura-Europos von 235 nach Christus, in dem die Fresken aus der biblischen Geschichte – Auszug der Juden aus Ägypten, Raub der Bundeslade durch die Philister – dort versenkend sich ausruhen? Aus Palmyra wurde ein Grabgewölbe original hier im Museum wieder aufgebaut. Erschütternd der wie gefroren scheinende Augenblick, in dem das Leben abgestorben und im Porträt festgehalten wurde: das Antlitz einer gleichmütigen Frau, das herrschsüchtig blickende eines Mannes, der Großkaufmann sein könnte, das Gesicht eines zarten und vertrauensvollen Kindes, von dem man einfach nicht annehmen will, daß kaum begonnenes Leben zu Ende war, ehe es überhaupt zur Reife gelangte. Und die Alabasterstatue des Königs Itur Schamagan aus der Mitte des 46
dritten Jahrtausends, die Tontafel mit dem aus dreißig Buchstaben bestehenden ersten Alphabet von 1400 vor Christus. Die goldene Totenmaske aus dem erst vor wenigen Jahren gefundenen »Schatz von Homs«, ein versilberter Maskenhelm, die vielen Bronzestatuetten, die römischen Gläser, die Tonkrüge und die Keramiken aus allen Epochen und die Tausende und aber Tausende von Münzen, unmöglich, alles in einem Gang zu erfassen, zu genießen. Und bei jedem Gang an den Vitrinen vorbei in den vergangenen Jahren immer etwas Neues, etwas anderes, Überraschendes! Dann dieser Schmuck! Phönikischer, hellenischer, römischer! Zum Dieb könnte man werden! Bleiben wir beim Schmuck. Laßt ihn uns genießen! Lassen wir uns von den Frauengesichtern, griechischen, römischen und arabischen, bezaubern, deren Konturen vor uns auftauchen. Wie ist uns das alles erhalten geblieben? Die Nachfahren jener Zeit – waren sie nicht so erbsüchtig wie wir? Wurde da nicht schon Jahre vor dem Absterben insgeheim gedacht: Diese Halskette da, die wird mir gehören, die Ohrringe, der Anhänger aus purem Gold, das werde ich mir unter den Nagel reißen! Die wundervolle Gürtelschnalle, die herrliche Kamee, wenn ich die erst trage –, Männerblicke noch und noch werden ruhen auf meinem Hals, auf meiner Brust, und diese Halskette auf meiner nackten Haut wird mich bei jedem leisen Geklirr erschauern lassen! Nein, was den Lebenden gehörte, blieb ihnen auch über den Tod hinaus. Mitgegeben wurde es ihnen ins andere Leben, und dadurch wurde es uns erhalten. So sind wir nicht angewiesen auf alle möglichen Statuen, wie etwa auf das Relief der Ichtar und Tyche aus Palmyra, auf dem man so überdeutlich den reichen Halsschmuck bewundern kann, wir haben die schönsten Stücke alter Handwerkskunst wahrhaftig vor uns. Nicht nur die Frauen vergangener Zeiten sind uns vorstellbar, sondern auch die hochbegabten Handwerker aller Vergangenheiten. Immer, wenn wir an den Orient dachten, sahen wir Goldarmreifen und Halsketten, sahen Ohrringe, Ringe und Broschen, gehämmert und ziseliert, poliert und gekerbt. Handwerkliche Meisterschaft, künstleri47
sches Empfinden entwickelten sich in erstaunlich kurzer, historisch meßbarer Zeit. Wie unbegreiflich schnell wuchs doch die Kenntnis von Werkstoffen, angefangen bei den einfachsten, Ton und Naturkiesel, dem ersten Glas, bis hin zu den kostbarsten Edelsteinen! Handwerkliches Können, künstlerische Ausdruckskraft scheinen schneller gewachsen zu sein als unsere zivilisatorischen und moralischen Fähigkeiten. Das in Ägypten erfundene Glas, hier hauptsächlich als Material für Kosmetikviolen und Fläschchen benutzt, in Phönikien aber zum erstenmal gebraucht zur Herstellung von Blumenvasen und Schmuckperlen. Natursteine von ausgefallener Form und Farbe, Bergkristall und Quarzgestein, Halbedel- und Edelsteine, all dieser Reichtum wird sehr früh schon – poliert, bearbeitet und unbearbeitet – für Schmuck und Amulette verwendet. Allein schön die vielen Arten von Kieselgestein mit den unterschiedlichsten Härtegraden zu durchbohren und damit brauchbar zu machen – welch eine Materialkenntnis mußte dazu erworben werden! Die mechanische Bewegung für den Bohrvorgang zu finden setzte mehr voraus als nur diese Kenntnis. Erstaunlich auch, wie früh schon in der menschlichen Geschichte Handelswege überallhin führten. Schmuckmaterial scheint eines der ersten Handelsobjekte und Tauschgüter gewesen zu sein: Perlen aus dem Persischen Golf gegen Türkise aus China, Bernstein von der Ostseeküste gegen Amethyste aus Afrika, Gold von der Sinaihalbinsel gegen Zedernholz aus dem Libanon. Etliche Zeugnisse liegen vor, bei vielen sind wir auf Vermutungen angewiesen, die Erde birgt noch vieles und gibt es nur widerwillig her. Basar! Shuk! Größer, vielfältiger, anmutiger, bizarrer, liebenswerter als ein modernes Warenhaus! Dieses Wiedersehen! Durch den großen Rundbogen hinein in den überdachten Shuk Hamadie, einstmals römische Prachtstraße zum Tempel des Jupiter Damescenus. Hinein in den heiseren, erbitterten Lärm der Händlerstimmen, in 48
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das Gewirr sich verrückt gebärdender Menschenleiber. Arme werden hochgerissen, schwenken Hosen, Hemden, irgend etwas, was verkaufbar sein könnte, Augen flehen, bitten, drohen, Preise werden geschrien, Waren angeboten, verschleudert. Ein verrücktes Getue! Sind das überhaupt Händler, die da entlang dem Trottoir stehen, einer neben dem andern, eine Kette fast bis hin zur Moschee? Und die Kinder, die umherhüpfen wie kleine Frösche – wer jagt sie hinein in den Lärm und in das erbitterte Gefecht um den Kunden? Nur der eigene Hunger oder der Wunsch nach der Kinokarte? Irgendwelches Spielzeug versuchen sie aufzudrängen: aus beschlagnahmtem Schmuggelgut stammende amerikanische Zigaretten oder ein Päckchen Kaugummi oder irgendein Fetzen Tuch oder ein Los für die morgige Ziehung der Lotterie; die Männer, ausgemergelte Gesichter mit hungrigen Augen, haben Hosen und Jacken über die Schulter geworfen, Teppiche auch der geringsten Fabrikqualität, Krawatten und Taschentücher; alles, was nur verkaufbar sein könnte, selten aber von echter Gebrauchsqualität ist, wird in den Strom von Menschen gehalten. »Billig! Billig! Heute noch!« Die Straßenhändler – wer sind sie? Landlose Bauern, von der Dürre in die Stadt getrieben? Flüchtlinge aus Palästina oder von den Golanhöhen? Da ein Laden, überquellend von blitzendem Glas, dort einer voll von Damaszener Messingwaren: langschnäblige Kaffeekannen, mit Suren ornamentierte Teller der verschiedensten Größen, buntgefärbte Glaslampen, henkellose Kaffeetäßchen für den berühmten Beduinenkaffee, hier ein Laden, platzend vor Hosen und Hosen. Sollte es tatsächlich etwas geben, was hier in diesem Warenhaus für das gesamte Land nicht zu finden wäre? Dieses Wiedersehen! In dem Laden, der einst die Hemden lieferte, immer noch dasselbe rundliche, verschmitzte Gesicht, unrasiert wie einst. Auch der Händler von falschen Antiquitäten erweckt den Anschein, als habe er sich seit damals nie erhoben. Mit der biederen Miene eines Verkäufers von Heiligenbildern sitzt er gelassen, mit schläfrigen Augen, dreht seine 49
mohammedanische Gebetskette, obwohl er Christ ist, sitzt da, als habe ihn nie noch werde ihn jemals ein Käufer interessieren. Die Ware da, nur zum Ansehen, Plunder, wenn man so will! Das Geschäft? Ach, mit etwas muß man ja seinen Tag verbringen. Doch taucht im Gewimmel ein Fremder auf, ein Ausländer, ein Deutscher, Pole, Engländer oder Amerikaner, wird er lebendig wie eine Schlange, die ihre Beute erspäht. Kaum bemerkbar öffnen sich die Augen zu einem kleinen Spalt, der Blick wird schärfer, er schätzt ab: Welche Nation? Gewieft? Naiv? Seine Kaufsucht nach irgendeinem Souvenir, einem alten, aber falschen Krug, einem römischen Glas aus Köln, ist sie schon genügend geweckt? Auf ihn! Vorsichtig, zart, wenn möglich, auf ihn. Mit jedem spricht er in seiner Sprache, Polnisch mit Polen, Englisch mit Amerikanern und Engländern, Deutsch mit Deutschen, gebrochen zwar, doch jeder Kunde fühlt sich heimatlich berührt. Eine erste Schranke ist niedergerissen, die des Mißtrauens, ein erster Schritt für den Verkauf ist getan. Im Vorbeischlendern an einem Stoffladen ein Wiedererkennen, eine einladende Handbewegung: wie einst nur auf einen Plausch, auf ein Täßchen Kaffee oder Tee, eine Zigarette: Sei willkommen, willkommen! Auf dem Korbhocker vor einem kleinen Tischchen: Freundschaftliches Lächeln ist wie eine warme Hand. »Wie geht es? Die Familie?« »Es geht! Und bei Ihnen, das Geschäft, die Familie?« »Inschallah, Allah sei Dank!« Hier im hinteren Raum ist das Tosen der Stimmen von draußen gedämpft, man sitzt und trinkt bittersüßen Kaffee mit Hela, raucht die obligatorische Zigarette geruhsam im Gewirr des unablässig dahinströmenden, vom Staub überwehten Menschenklumpens. »Wie lange bleiben Sie hier, Freund?« »Ein kleiner Besuch nur!« »Sei willkommen!« 50
Eine Bäuerin aus der Ghuta tritt ein, schwarz in schwarz, selbst die Augen funkeln fast schwarz. Stoff für ein Kleid: geblümt muß es sein, bunt, festlich, nein, nicht für mich, für die Tochter! Es ist Ramadan, und bald wird Beiram sein! Gerüche von Pistazien- und Sesamgebäck dringen bis hierher, von Honig und gebrannten Fruchtsäften. In welche Reiche kann man sich entführen lassen von ihnen! Einige Schritte weiter eine Garküche mit ausgehängten Hammelrücken und Fettschwänzen, dicht dabei eine andere, aber hier baumeln Hähnchen, gelblich glänzend, warten auf den Gasgrill, in dem sie goldfarbig gegrillt werden. Phantastischer Gedanke: Eines dieser Hähnchen – sieht es nicht wie ein alter, vergilbter Schmuck aus? Eines dieser Hähnchen sich also an den Hals hängen, im Dahingehen hineinbeißen und schlucken und kauen und immer wieder beißen und kauen und schlucken, bis nur noch das Knöchelgerippe herunterbaumelt. Fetttropfen fangen sich im Bart, sie gerinnen und machen das Haar kräuselig und glänzend, als sei es gepflegt von einer unirdischen Pomade. Da die Teppichläden. Vor ihnen auf Hockern ältere, sehr vornehm wirkende Händler mit Silberbärten und Tarbuschs. An den Wänden, hochgestapelt bis unter die Decke, Stücke aus Persien, der Türkei, aus den Kurdenbergen, aus Armenien und den Dörfern des Irak. Welch ein Genuß, all das auszubreiten, sich in Muster und Farben versenken zu können! Und Lädchen neben Lädchen bis hin zur Omaijadenmoschee. In Innenhöfen uralter Karawansereien aufgestapelt Kisten und Schachteln, Ballen und Fässer, Ware aus aller Herren Ländern, deren Namen bekannt und fremdartig zugleich klingen. Gibt es irgend etwas an Ware auf dieser Welt, was hier nicht zu finden wäre? Lädchen die ganze ehemalige römische Prachtstraße entlang bis zu den Säulen des Jupiter, unter denen sich Postkartenverkäufer, Parfümbudiken, Buchstände und auch, Allah sei’s geklagt, nahebei Toiletten etabliert haben. Und so wetteifern Uringerüche mit süßen orientalischen Parfümen, vermischen sich und dringen betäubend auf die Geruchsnerven ein. Allah, hilf! 51
Vor Jahren brannte in einer bösen Nacht der uralte Goldshuk ab. Das Lehmgemäuer der Lädchen und Werkstätten wurde von den Flammen pulvrig zermürbt, sank in sich zusammen. Doch die armenischen Goldschmiede, schon Generationen ansässig, wurden beileibe nicht arm. Aus den geschwärzten Lehmhaufen ragten die Stahltresore heraus, voll von Schmuck, Edelsteinen und Gold. Nah bei der alten Stadtmauer wurden neue Häuser hochgezogen. Die meisten Juweliere fanden in den Erdgeschossen Unterkunft, fingen von neuem an. Einer von ihnen aber blieb im alten Shuk, in einer Gasse nahbei. Georg, jung noch zu jener Zeit, Lieferant von römischem Glas, von assyrischen Siegeln und Schmucksteinen, fand hinter dem Verschlag eines kleinen Gewürzladens das Gemäuer einer alten Karawanserei. Sie war mit Gerumpel und Rattengezücht überfüllt. Halbverfallene Spitzbögen aus behauenen Steinen, abbröckelnder Putz und Gemäuer voll Schwamm, Ungeziefer über Ungeziefer und Schutt über Schutt, all das konnte ihn nicht hindern, sich hier einzunisten. Gut vorstellbar: das trotz tagtäglicher Rasur dunkelbärtige stille Gesicht mit den nachdenklichen Augen versonnen, die junge schmale Gestalt etwas gebeugt. So wird er sich alles angesehen haben. »Genau das brauche ich.« Das gesäuberte Bogengemäuer, die frischgekalkten Wände – nur nicht zu sauber, nicht zu frisch, denn das schadet dem Ansehen –, der abgetretene und holprige Steinfußboden, der Ruch der Jahrhunderte im Gemäuer, so muß es sein. Er mietet die ganze Karawanserei auf zwanzig Jahre, mietet sie zu einem unerhörten, dennoch sehr niedrigen Preis. In allen Räumen und Winkeln breitet er sich aus, nur sein Arbeitstisch bleibt klein. Platz muß er haben, viel Platz für das »Gerumpel«, das ihm nun gebracht wird: alte feingehämmerte Schnabelkaffeekannen, neue auf alt gemacht, Messingteller und Becken, einige Keramikplatten, blau und rötlich ornamentiert – aus der Moschee, nein, nicht von Lausejungen gestohlen, sondern »gefunden« –, und Keramikplatten, die er sich nach diesen alten Mustern machen läßt. Beduinensilberschmuck und Silbergehänge aus dem Hauran, römische Glasviolen, da und dort eine griechische Scherbe oder ein kostbares Stück phönikischen Glases. 52
Möbel werden herangeschleppt aus wurmstichigem Pappelholz, aus Zedern, im Libanon gefertigt, die berühmten Damaszener Intarsienarbeiten, vergilbt. Fetzen von uralten Handdrucken auf Baumwolle bringt man ihm, irakische und persische Handstickereien, darunter Kaschmirmuster aus den fernöstlichen Provinzen. Wie soll er selbst wissen, was man ihm alles herangeschleppt hat und was nun aufgestapelt ist bis unter die Decke. Doch irgendwie hockt er hier auch wie in einem Glashaus. Die andern Goldschmiede sehen ihn ein wenig scheel und herablassend an: Warum bleibt er nicht bei seinem Leisten? Ist er nicht ein guter Goldschmied? Stammt er nicht aus einer Familie, die berühmt wurde wegen ihres Könnens beim Entwerfen neuer Muster und wegen ihrer Fähigkeit, neue Bearbeitungstechniken zu erfinden? Beherrschten sie nicht armenische, türkische und arabische Techniken, Gold und Silber zu bearbeiten? Und die Kramladenbesitzer, die Antiquare schnauften: Was gibt er sich mit solchem Plunder ab? Schon wieder eine Konkurrenz! Sein Werktisch steht im kleinsten Raum der Karawanserei, im dunkelsten, und ist eigentlich nur Durchgang zu Toiletten und Waschraum. Fotografieren von Ausgrabungsstätten in Syrien und der Türkei an den Wänden, von gefundenen Kunstwerken aus Mari und Ugarit. Ein kleines Regal mit Büchern in englisch, französisch, deutsch, eine Auszeichnungsurkunde für seinen »Goldschmiedestand« auf der Damaszener Messe. Eine Serie Briefmarken mit ihm an seinem Werktisch als Motiv, vor Jahren von der syrischen Post herausgegeben, zeigt er nur seinen besten Freunden. Ansichtskarten aus München, Berlin, London und New York sind wie ein Blick in die Welt. Um einen echten uralten Messingteller mit herrlichen Schriftornamenten eine viereckige rohe Sitzbank, auf dem Tisch die Kaffeetäßchen, seine berühmte »Kramschachtel«, offen nur für Freunde. Mit etwas Wehmut denke ich: Womit hat das eigentlich angefangen? Wie kommt es, daß ich mich hier wie zu Hause fühle? Vor Jahren durch Zufall an seine alte Werkstätte geraten, fasziniert vom Geschick seiner Hände, dem hingebungsvollen Gesicht, wurde mir ein bitterböser Blick zugeworfen: ein Störenfried! Gold will er nicht 53
kaufen, wahrscheinlich kein Geld, und wieso stiehlt er mir die Zeit? Wohl um mich zu beschäftigen, reichte er mir eine Blechschachtel: »Suchen Sie nur, vielleicht finden Sie etwas!« Schmuckperlen aus allen Zeiten in Menge, Stempelsiegel, grünspanige byzantinische und arabische Messingmünzen, Rollsiegel, von denen ich zu jener Zeit kaum etwas verstand. Ich kramte, ich fand etwas, und er mit lässiger Handbewegung: »Nehmen Sie nur!« Ich setzte eine Halskette zusammen, deren Reiz und Schönheit in der Verschiedenheit der Perlen aus allen Zeiten, der assyrischen, hethitischen und phönikischen bestand. Georg sah mir zu, verwundert und betroffen, und nahm mir die Schachtel weg. Er holte eine kleine römische Viole, hauchzart und irisierend in Rosa und Grün, und sagte: »Ich schenke sie Ihnen, und wenn Sie wollen – dann und wann bekomme ich ein Stück.« Das war der Anfang einer kleinen römisch-syrischen Glassammlung. Er wies mich auf das und jenes hin, ich ihn auf jenes und das. Schmucksteine verschenkte er nicht mehr, auch an mich nicht. Langsam veränderte sich die Auslage, immer mehr kam er dazu, seinen ausländischen Kunden nicht nur seinen Goldschmuck anzubieten. Von ihm wurde ich angeregt, nicht nur bei ihm zu kramen, in den Shuks von Homs, Hama, Aleppo und Latakia stöberte ich in Blechkästen und Schubladen. Georg aber wurde zum »Geheimtip«. In Erinnerungen wie in einer Blechschachtel kramend, sitzen wir an seinem Messingtisch. Er sagt: »Wir hätten Ausgrabungen im Euphrattal besuchen können, aber ich muß morgen nach Istanbul. Eine Tagung von Archäologen. Morgen fliege ich.« Ich sage: »Viel ist nicht mehr in der Schachtel.« »Es wird immer weniger gebracht«, antwortet er. »Der Krieg. Glas gibt’s kaum noch, und wenn, ist es sehr teuer. Es kam aus dem Hauran, aber die Bombardements. Der Krieg, der Krieg!« Etwas finde ich doch noch in der Schachtel, lege mir alles beiseite, und er sagt: »Ja, nehmen Sie für Madame eine schöne Kette mit.« Eine Kundin, grauhaarig und zerfaltet, erfüllt plötzlich die Räume mit 54
ihrer kreischenden Stimme. Georg flüstert: »Eine amerikanische Diplomatenfrau aus Beirut.« Er spricht mit ihr englisch, und sie kramt und kramt, er bietet an, aber sie kramt unzufrieden weiter. Zuletzt packt er einige Webarbeiten ein, billiges Zeug, Mitbringsel für Ohio oder Colorado, und er sagt, als er sich wieder zu mir setzt: »Es ist ihr immer alles zu teuer. Sie sind sparsam geworden!« Wir sehen uns an, Spottfunken in den Blicken beide, und dann lachen wir heraus, lachen und lachen, daß es uns fast zerreißt. An einem Tag in jener vergangenen Zeit informierte man mich, in den nächsten Wochen werde ein eben gefundenes nabatäisches Grab geöffnet, ja, ein nabatäisches. Das war was! Ein hellenisches oder ein römisches – was ist das schon? Man lud mich ein, an der Öffnung teilzunehmen, sicherlich finde man interessante Dinge, Bronzen oder Scherben. Aber um Allahs willen, Schweigen! Großsprecherisch erzählte ich Georg von der fabelhaften Einladung, von der Möglichkeit, wirklich und sicherlich zu einem nicht zu teueren Preis an seltene und kostbare Dinge heranzukommen. Georg sah mich an, ein leises Lächeln um die Lippen, das immer offener, immer spöttir scher wurde, und zuletzt lachte er hell heraus. »Ach Freund, ach Freund«, sagte er, »glauben Sie, Gräber werden gefunden wie weggeworfene Töpfe? Dieses Grab da wird schon seit fünfzehn Jahren geöffnet, immer wieder das gleiche, nur werden immer wieder andere Bronzen gefunden und auch Scherben, aber alle stammen aus der gleichen Fälscherwerkstatt.« Ich ließ doch die Finger davon. Doch während eines Höflichkeitsbesuchs bei einem westlichen Diplomaten sah ich in einer Nische seines Empfangsraums eine Bronzestatuette, angestrahlt und hergerichtet wie in einem Museum, und nach dem Hinundher des Gesprächs flüsterte er vertraulich: »Nabatäisch, echt, ich war selbst dabei, nahe bei Basra. Aber bitte, sprechen Sie nicht darüber. Sie wissen ja, illegale Ausgrabungen.« Hier, an der alten Stadtmauer von Damaskus, auf dem von Menschen, 55
Eseln und Fahrrädern wimmelnden Platz denke ich an Wismar, an den Hafen. Ein Septembernachmittag, der Himmel schon früh bezogen von diesigem Gewölk, aufgeregte Schiffsbesatzungen, Kreischen von Kränen, von der Brücke unseres Schiffes ungeduldige Stimmen. Nah beim ausfahrbereiten Frachter ein dänischer Küstenschoner, aus dem auf bereitstehende Elektrokarren große Sackleinwandballen verladen werden. Die Elektroameisen krabbeln los, und die Ballen werden in unsern Frachter gehievt. Einige sind schon geplatzt. Zerknülltes Stoffzeug, Pullover, Röcke, synthetische Pelze, Unterwäsche und Socken und Anzüge und Kleider, der ganze Kram, bei Ausverkäufen von Warenhäusern des Nordens und Westens übriggeblieben, ist in große Säcke gepackt worden. Fracht für Beirut. In Tripolis werden die Löcher in den Packen größer. Was herausquillt, verschwindet auf unerklärliche Weise. Die Schauerleute gehen wie immer an Land, mit nacktem Oberkörper, ohne Taschen. In Benghasi wird eine besondere Lukenwache eingeteilt. Doch einige Ballen haben eine merkwürdige Eigenschaft: Sie werden dünner und dünner, und trotz Wache Tag und Nacht sind die klauenden Geister nicht zu fassen. Der Kapitän flucht, der Ladeoffizier schreit verzweifelt zu Allah um Hilfe, aber auch Allah hilft nicht. In Beirut wird gelöscht, was Europas Wohlstandsgesellschaft unverdaubar fand, woran es aber noch verdienen will. Die Shuks des Nahen und Mittleren Ostens sind letzte Stationen. Auch der Platz hier an der Stadtmauer von Damaskus gehört dazu. Kaum zu überschauen, was alles hier herumliegt. Dicht umstehen Männer und Frauen und Kinder die vielen Haufen von Wäsche und Kleidung, alles ausgebreitet auf Zelt- und PVC-Planen, auf Säcken und auf dem nackten Erdboden. Ein Durcheinander aus Herrenhosen der verschiedensten Größen, Farben und Formen, schwarze, grüne, gelbe, verstaubt und zerknittert. Ein grauhaariger Mann in abgetragener Jacke und verbeulten ausgefransten Hosen sucht sich aus dem Haufen eine Hose, breitet sie aus, 56
hält sie sich an. Zu groß, ach du Schreck, zu groß! Nein, es geht, es wird schon gehen. Was er zahlt, ist nicht feststellbar. Ein anderer wühlt, sich in das Stoffgeknautsch kniend, wühlt und zerrt und zieht, hebt hoch, wirft weg, einige Male und immer wieder, bis er sich enttäuscht erhebt und zu dem Haufen Frauenblusen geht, wo er sich erbittert in die Frauentraube stürzt. Beduininnen mit tätowierten Stammeszeichen in den Mundwinkeln, abgehärmte Bäuerinnen mit hochgeschlossenen blau-verwaschenen, bis zu den Füßen reichenden Kleidern, wieder andere Frauen, bunt und lustig mit Blusen und Röcken angetan, alle zerren und ziehen, betrachten und prüfen, werfen weg und suchen weiter, bis sie etwas gefunden haben. Aus den Kleidertaschen einige Piaster, hier, da hast du, Händler, noch viel zuviel für den Plunder. Und dazu das Schaitansgeschrei, die heiseren Stimmen aus ausgetrockneten Hälsen, das Autogehup. Ein Haufen Krawatten, einen wirren ausgetrockneten Schlangengeschling ähnlich, phantastisches Farbgefleck auf grauweißlichem Boden. Die ärmlichen und schäbig gekleideten Männer in verschossenen Hemden und Galabien, zerschlissenen und an den unteren Rändern abgewetzten Galabien, die jungen Burschen mit ihren schönen braunen Gesichtern und den hellwachen Augen, sie alle wühlen umher, halten sich die Krawatten vor die Brust, abschätzend, und einer ist dabei, der einen kleinen Taschenspiegel herauszieht und sich und seine Krawatte darin besieht. Wozu eigentlich eine Krawatte? Eine ewig ungelöste Frage. Und der Haufen der Damenhöschen, der Nylon-Hemdchen und Büstenhalter! Schamlos lächerlich, fast obszön, wie das durchsichtige, duftige, in eleganten europäischen Schlafzimmern beheimatete Stoffgewölk, dieses orangefarbene, gelbe, giftgrüne, bernsteinfarbene, in allen Farbnuancen verblichene Gewölk abschätzend an die Brust, an die in dicken Bauernröcken verpackten Hüften gehalten wird! Mit welchen Vorstellungen und welchem Verlangen? Mit welchen Gedanken an ungeahnte, nur erträumte Tändelei und Erfüllung? 57
Schreie von Händlern, von Käufern und Käuferinnen. Einen Augenblick lang eine erschreckende Vorstellung: Eine Meute um gelbgrüne, schon abgenagte Knochen raufender Hunde! Kamil sagt: »Flüchtlinge kaufen hier.« Flüchtlinge – Schrecklich, dieses Wort! Visionen: Brennende Häuser und Hütten. Erhobene Gewehrkolben, explodierende Raketen. Brandasche, hochgewirbelte gelbgrüne Schwefelschwaden. Vision dieser Zeit.
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Bauern, Beduinen und die Aluitenberge
Ein schwarzes Asphaltband ist das Tal hinauf über die bizarren Berghänge, die Hochebene gelegt, umschlingt in kühnen Kurven die Hangkuppen: Schwarz auf Braun, Ocker, Orangengelb, schwarzes, schnurgerades Band auf der lehmgrauen Hochebene; die neue Autobahn. Wie großzügig und kühn gedacht, wie modern konstruiert! Keine osmanische Schlampigkeit mehr, kein arabischer Bukra und Badenbukra – morgen und übermorgen –, nein, heute und hier, in diesen Anfangstagen des September, gejagt vom herrischen Wüstenwind, zieht uns der beizende Geruch einer Asphaltfabrik entgegen. Fettigschwarzes Gewölk schwelt hoch in die grünlichgraue, ungemein sauber wirkende Luft über den Bergen. Ein struppiger, knochiger Esel knabbert am Rand der Autobahn den Asphalt an – so scheint es –, ungerührt vom Fauchen und Donnern der Motoren, vom warnenden Hupen, von den aufheulenden Sirenen der Polizeiautos. Auf der weit bis an den Horizont sich hinziehenden zweiten Trasse ein einzelner, ein mächtiger Bulldozer; ein Fahrer mit dem Staubtuch auf dem Kopf, zwei Arbeiter, gehüllt in Galabien und Kufien, bewegen sich wie im Zeitlupentempo in einer schrecklich erscheinenden Einsamkeit. Zwei Lastwagen, auch sie mächtig und übergroß, kippen Kies vor den Bulldozer, der sie wie kleine Pickel vor sich herschiebt und glättet. Lächerlich, zu glauben, dieser Bulldozer, dieser Fahrer, diese zwei 59
Arbeiter würden jemals das schon fertige Stück Autobahn bei Homs erreichen. Zwei lautlose Kamele schaukeln schwerfällig einigen mit magerem Grün umzäunten Häusern zu. Auf einem Handtuchfetzen Gartenland reißt ein Bauer mit einem Einscharpflug, vor den ein entsetzlich knochiges Kamel gespannt ist, die Erde auf. Immer noch der Einscharpflug, immer noch das Kamel, die Kuh oder ein Pferd als Zugkraft? Und der Bauer, stöhnt er immer noch wie überall in den vergangenen Jahrhunderten, unter seiner Arbeitslast, unter diesem Joch aus rückständiger Arbeitsweise, feudalen Lasten, Gewohnheiten und Rechtlosigkeit? Die Bodenreform, was hat sie gegeben? Erde? Recht? Erleichterung? Die Bodenreform, hat sie dem trockenen Boden endlich genügend Wasser und durch dieses erst mühelosere Tage und leichtere Nächte? Der feudale Besitz rührte aus der Zeit der Osmanen, der Türken her. Als sie das Land besetzten an den Hängen des Taurus vom Euphrat bis ans Rote Meer, von der Mittelmeerküste bis weit in den heutigen Irak hinein, als sie sich zu Erben machten arabischer Vergangenheit, beliehen sie ihre vornehmsten und Verdienstesten Gefolgsleute mit großen Ländereien. Von 1000 bis 300000 Hektar, in allen Größenordnungen wurde Boden verschenkt. Als Zugaben: die Gerichtsbarkeit, das Recht der ersten Nacht, das Recht auf die Hälfte der Ernte, das Recht auf schonungsloseste Ausbeutung. Was geerntet wurde, reichte für den feudalen Herrn. Aber der Bauer? Da das wenige nicht reichte, lohnte es da zu arbeiten? Das Land verödete. Drei, vier Millionen fanden ein kärgliches Auskommen. Das Land aber hätte die drei-, vierfache Einwohnerzahl ernähren können. War es nicht einst eine der Kornkammern Roms gewesen? Kanal- und Bewässerungssysteme waren zu jener Zeit entstanden, heute noch nutzbar und bewunderungswürdig, verschlammt aber und verfallen in vielen Jahrhunderten Schlamperei unter osmanischem Druck und Ausbeutung. 60
Vielfalt und oft sehr unterschiedliche klimatische Bedingungen begünstigten die Zersetzung historisch gewachsener Strukturen. Im Ghesirigebiet zwischen Euphrat und Kabour bis zur irakischen Grenze findet man äußerst fruchtbaren Getreide- und Baumwollboden. Man vergleicht ihn zuweilen mit dem der Ukraine, wenn die Bewässerung sich stabilisieren ließe. Noch ist es dem Kabour gestattet, zuviel Wasser davon in den Euphrat zu tragen. Allein dieses Gebiet wäre imstande, einen großen Agrarüberschuß zu bringen. Im Süden des Landes, also in den Drusenbergen, im Hauran und auf den Golanhöhen, ist die Erde von Basaltgestein übersät. Im Regenschatten des Libanon liegend, ist genügend Wasser vorhanden, aber Bodengestaltung und rückständige mittelalterliche Bearbeitung verhindern eine schnelle Weiterentwicklung der Produktion. Nur an der Küste des Mittelmeeres, von der türkischen Grenze bis nach Tartous, in den anliegenden Aluitenbergen, im Ghabgebiet zwischen diesen Bergen und dem Wüstensaum, eingeschlossen also das ganze Orontesgebiet mit Homs und Hama, diesen uralten Städten aus der Römerzeit, hier nur sind heute schon alle natürlichen Gegebenheiten vorhanden, die regelmäßig gleichgroße Ernten garantieren. Einzelne Oasen in der Wüste, Palmyra, die alte arabisch-römische Wüstenstadt, fruchtbar einst und blühend nicht nur durch seinen weitreichenden Handel, versteppte in den Jahrhunderten der osmanischen Herrschaft immer mehr. Wo früher 100000 zu leben vermochten, vegetierten nur noch einige zehntausend Menschen. Im Jahre 1958, während der kurzen Zeit der Einheit mit Ägypten, wurde von der damaligen bürgerlichen nationalliberalen Koalition eine Bodenreform verkündet. Sie stützte sich im wesentlichen auf das ägyptische Muster, betraf jedoch nur den großen feudalen Bodenbesitz. Der mittlere Landbesitz wurde kaum betroffen, seine Vorrechte blieben erhalten, und da die Besitzer als Entschädigung auf vierzig Jahre laufende Schuldverschreibungen des Staates bekamen, jährlich zu 1 1/2 % zu verzinsen, vermochten sie mit dem verbliebenen Hektarumfang, 89 ha bewässertem und dreihundert unbewässertem Boden, zusätzlich für die Frau 40 und jedes Kind 4, mit diesem ansehnlichen 61
Boden vermochten sie ihre gesellschaftliche Position zu erhalten. Wurde der bisher unbewässerte Boden irrigisiert und bewässert, durfte er nicht weiter enteignet werden. Die Besitzer konnten nur ihre innen verbliebene Finanzkraft und den ihnen gelassenen Maschinenpark einsetzen, um auf eine moderne Art zu wirtschaften. Bestimmte politische Entwicklungen, die Ergreifung der politischen Macht durch die sozialistische arabische Baathpartei, machten es möglich, im Jahre 1963 die Bodenreform zu erweitern und zu vertiefen. Vor uns, im Glast des frühen Mittags aus der Ebene ein rundkuppiger Kegel: die Zitadelle von Homs, bewohnt schon seit Urzeiten, bewehrt schon von den Römern. Immer noch die gleiche, die Stadt teilende, links am Marktplatz nach Hama abbiegende Hauptstraße, immer noch die Cafés an ihr, das große Kino mit den grellroten Plakaten und – immer noch? – der gleiche Film? Breit ist die Straße, in der Mitte mit Bäumen bewachsene Trennstreifen und bis zum Stadtausgang von einer Großzügigkeit, die alles an Hütten niederriß, was ihr im Weg war. Aus dem Hotelfenster für den Blick verwirrend das Gewimmel auf dem Platz vor dem Shukeingang: Obstbuden, Autobusse mit betrüblichem Farbgemisch, mit angebufften Karossen und zerbeultem Blech, niedergedrückten Radfedern. Hin und her flitzende Radfahrer, im Gewimmel dahintrippelnde Esel. In der Mitte des Platzes hocken Männer mit langstieligen Schaufeln, mit Pickeln und andern Werkzeugen, hocken geduldig, in ihr Schicksal, auf Arbeit zu warten, ergeben wie in etwas Unabänderliches. Ein Mann, angetan mit Hose, Hemd und Jacke, bleibt inmitten einer der Gruppen stehen, zeigt auf den und jenen. Die Arbeiter erheben sich aus ihrer Hocke, schultern Schaufel, Hacke und Pickel und gehen im Gänsemarsch hinter dem davoneilenden Mann her. Für diesen Tag sind Fladen und Fleisch, die Zwiebel und die Tomate gesichert. Ein hungriger, ausgemergelter Hund treibt sich zwischen den Buden herum, schnappt nach Abfall, nach Verfaultem. Ein in Lumpen gehüll62
ter Bettler tappt von Stand zu Stand, offen die Hand. Es ist Ramadan, die Gaben fließen, welk gewordenes Obst, ein paar Piaster, ein Fladen. Gilt auch der Ramadan für den Bettler? Hält er nicht immer den Ramadan? Der Mouhafez, der von der Regierung ernannte Gouverneur also, residiert in einem sachlich, sehr modern wirkenden, von einem Polizeiposten gesicherten Gebäude. Eine große Eingangshalle, eine mächtige, sehr saubere Treppe, im ersten Stockwerk Büro neben Büro. In seinem Vorzimmer haben wir kaum Zeit, den angebotenen Kaffee zu trinken. Hinter dem Schreibtisch an der Stirnseite des großen länglichen Raumes ein breitschultriger Mann mit kühlen Augen im rundlichen Gesicht. Schwere Fäuste auf der Tischplatte, weißes Hemd, eine Krawatte, das Gesicht sehr scharf ausrasiert. Über ihm an der Wand die Fotografie des Präsidenten. Kamil hat sich schon daran gewöhnt, uns und unser Anliegen zu erklären, unkontrollierbar, ob sachlich oder aber orientalisch übertrieben. Immer aber ist zu spüren, auch hier, wie die Blicke ein wenig wärmer, die Gesichter aufgeschlossener werden. Ein Schriftsteller hier in unserm Land? Journalisten sind nicht erwünscht, zuviel schlechte Erfahrungen mit Unverständnis, europäischer Überheblichkeit haben Zurückhaltung empfohlen. Aber ein Schriftsteller ...! Homs also, die »Stadt der schwarzen Steine«, wie sie genannt wird, da alle Bauten aus Basalt erbaut sind, ist die drittgrößte Stadt des Landes. Fast, so könnte man sagen, liegt sie im Knotenpunkt aller Verkehrswege. Die Süd-Nord-Tangente wird hier vom Kreuzbalken der neuen Straße Horns-Palmyra und Homs-Tartous geteilt. Die Wüste trifft sich in dieser Stadt mit dem Mittelmeer. Mit Zurückhaltung und doch mit Stolz sagt der Mouhafez: »Wir sind dabei, uns zu einer modernen Industriestadt zu entwickeln.« Die wichtigsten Betriebe: eine Ölraffinerie und eine ölpumpstation; eine Düngemittelfabrik; Zucker-, Farben- und Textilf abriken unterschiedlichster Größe. (Und in der Nähe, in einer kleinen Stadt, eine Arrakfabrik, deren Produkt berühmt ist für seine Qualität, seinen Duft, seine Milde.) 63
Der Mouhafez sagt: »Bleiben Sie einige Wochen hier. Nirgendwo in unserm Land können Sie auf solch einem kleinen Fleck das ganze Land kennenlernen. Die Wüste reicht fast bis an den östlichen Rand der Stadt, und im Westen können Sie Ihre Wochenenden besser und schöner als in jedem europäischen Erholungsort verbringen. Da gibt es den wunderbaren Kattineh-Stausee, da gibt es die im Sommer so schattigen Restaurants am Orontes.« Unglaublich, wie warm er geworden ist, dieser kühle Gouverneur mit den breiten Schultern und dem ausrasierten rundlichen Gesicht. »Und die Ölraffinerie müssen Sie besuchen, unbedingt, ja!« setzt er hinzu. Wie können er und ich ahnen, daß schon in wenigen Wochen der israelitische Bombensturz über sie hinwegrasen und zerstören wird, was mühevoll in manchen Jahren aufgebaut wurde. Auf der zum Ausgang führenden breiten Treppe sagt Kamil: »Er war in der bürgerlichen Republik verfolgt. Er hat jahrelang im Hafen von Beirut als Lastträger gearbeitet!« Mit flachen Dächern die einstöckigen Häuser des Dorfes; im Nachmittagslicht ragt der Turm einer christlichen Kirche und nahbei das Minarett einer Moschee in den Himmelsglast. Auf der Kuppe des Hügels kleine, weiße, Bungalows ähnliche Villen. Christen und Moslems wohnen im Dorf, sehr selten im Bereich der Nord-Süd-Trasse. Warum nur wirkt das Dorf gepflegter? Oder scheint es mir nur so? Wegen des Wassers, hergeführt vom Kanalsystem des Orontes auf die Obstplantagen, die Zwiebel- und Gemüsefelder? Nicht nur grün getupft sind sie, sondern tiefgrün liegen sie wie ein breites Band rund um das Dorf. Tiefbraune Kinder mit hellen hemdähnlichen Galabien umringen den Wagen. Neugierig erstaunte, verschmitzte Blicke, Gekreisch heller Stimmen, und als wir aussteigen, stieben sie auseinander wie eine junge Hühnerschar. Männer in Galabien erheben sich aus dem Schatten einer Hausmauer, schreiten gemächlich heran, so, als hätten sie uns erwartet. Gesunde, kräftige Männer, nun am frühen Nachmittag schon und immer noch 64
im Schatten? Ist die Ernte schon eingebracht? Oder bringen nicht die Männer sie in die Scheuer? Eine Einladung natürlich: »Nur auf einen Kaffee ... oder einen Tee ... oder einen Arrak!« Im Innenhof sind Frauen dabei, irgendwelches Gemüse zum Trocknen vorzubereiten. In sehr flachen, uralten großen verzinnten Messingtellern trocknet rötlichbraunes Tomatenpüree; rissig ist es schon, aber ehe nicht die Sonne jeden Tropfen Feuchtigkeit verdampft hat, ist es nicht haltbar. Knoblauchzöpfe hängen in Zitronen- und Orangenbäumen, knochenweiße mächtige Bündel, rötliche Zöpfe scharfer Paprikaschoten baumeln drohend hin und her. Apfelgroße und goldgelbe Zwiebeln liegen ringsumher ausgebreitet, auch sie preisgegeben der Sonne. Die beiden Frauen haben abgearbeitete Hände, zerfaltete, jedoch ungemein gutmütige Gesichter, sie sind kaum befangen, ja, die jüngere gibt uns ein freundlich einladendes Lächeln. Das Geviert des Hofes ist umgeben vom Gemäuer niedriger, aber neuer Hütten. Das Anwesen dient also einer ganzen Großfamilie als Wohnung. Die uralten Hütten mit Dächern wie spitze Hüte stehen wohl noch, werden aber nur noch als Abstellräume oder Viehställe gebraucht. Stille im Hof, ein Windwehen von der Wüste her, voll Kühle schon. In den Bäumen und Weinreben Blätterrascheln. Der Raum, in den man uns führt, ist violett getüncht, ist kühl und sauber. Matratzen und Bettzeug, wie überall in Regalen an den Wänden hochgestapelt. Einige Fotografien, aus einer Zeitung ausgeschnitten das hügelige, von Panzern befahrene Schlachtfeld. Die Golanhöhen? Eine Schüssel mit kleinen lilafarbenen, sehr süßen Feigen, ein Strohkorb mit Äpfeln, Weintrauben und Nüssen. »Kaffee oder Tee? Zigaretten oder gar eine Nargileh?« Ich frage: »Das Obst ..., alles aus dem eigenen Garten?« Der Bauer, ein guter, kräftig gewachsener Dreißiger, nickt stolz. Und fragt: »Woher und wohin, die Arbeit und die Familie?« Eine halbe Stunde Geruhsamkeit, Sätze, die dahinplätschern wie Bachgewässer. Die Äpfel krachen zwischen unseren Zähnen. 65
Der Charakter eines Staates, wird er sichtbar im Sichgeben seiner Vertreter, seiner Funktionäre also? Der Mouhafez in Homs, breitschultrig, rundlich, mit schweren Fäusten und seiner Vergangenheit als Lastträger im Hafen von Beirut, macht er die Stärke dieses Staates deutlich? Eine seiner – wievielten? – Seiten? Mouchtar, der »Dorfvorsitzende«, wenn man so will, wird vom Dorf gewählt, und er vertritt die Interessen der Dorfbewohner gegenüber den Autoritäten des Staates. Selbst sicherlich als Funktionär anzusehen, ist er doch kein Funktionär etwa vom Charakter des Mouhafez. Er kann ohne die Autorität der Dorfwahl, ohne die stete Zustimmung der Bevölkerung kaum irgend etwas tun. Ohne ihn zuerst zu besuchen, ist es zum Beispiel keinem Fremden möglich, irgend etwas vom Dorf und von seinen Bewohnern zu erfahren. Man ist ein Eindringling in den Gassen, von den Hunden mit wildem Gekläff umjagt. Und dieser hier, in diesem Dorf, das wir besuchen, ist wie ein Bilderbuchmouchtar, ein in seiner Einfachheit vornehm wirkender Vater: hochgewachsen, in einer sauberen schwarzen Galabie, unter der grauweißen viereckig gewürfelten Kufie das Gesicht glatt rasiert. Der Empfangssalon, auch sein Büro, so scheint es, sind nicht mit Liegeoder Hockmatten ausgelegt, sondern bequeme Sessel, einige Stühle stehen umher, kleine Tischchen für die Kaffee- oder Teetassen, die Aschenbecher. Er wirkt aufgeschlossen, von stiller Offenheit, keinerlei gemachte Autorität, die sich aus der Funktion allein herleitet. Andächtig, von freundlicher Zurückhaltung, mit gewisser Vertraulichkeit empfängt er einen eben eingetretenen Bauern. Das ihm gereichte Papier liest er, holt aus der Schublade eines kleinen Möbels einen Stempel hervor, drückt ihn auf das Papier, signiert dann, und ohne uns weiter zu beachten, unterhält er sich mit dem Bauern. Kamil Ismail sagt: »Er hat ein Führungszeugnis unterschrieben. Für den Sohn des Bauern ist es. Ohne seine Unterschrift ist es nicht gültig.« »Aber es ist doch ein polizeiliches Dokument?« »Ohne seine Unterschrift hat es keine Gültigkeit!« Könnte das eine Kontrolle der polizeilichen Charakterisierung sein, 66
eine demokratische sozusagen? Sicher ist, daß die demokratische Wahl des Mouchtars eine Autorität gewährt, die von großer Wirksamkeit ist. Auch den Funktionären des Staates gegenüber? Die Dorfgassen sind hartgefahren und staubig. Wohin nur? Man muß ihn gewähren lassen, diesen freundlichen Mouchtar. Will er uns etwas zeigen, oder sollen wir gezeigt werden? Hinter weißlich getünchten Mauern viel neue und auch noch im Bau befindliche Häuser, alle aus behauenen Kalk- oder Basaltsteinen gemauert. Die Fenster sind nicht mehr klein, sind den Gassen zugewandt und gewähren jedoch nicht den gleichen Schutz gegen Sonne und Wind wie die Löcher in den alten Lehmhütten. Viel Grün von Bäumen ragt über die Mauern, Weinreben strecken sich bis in die Gassen hinab, also ein Dorf mit viel Wasser, obwohl die Steppe schon einige Kilometer östlich anfängt. Vor einer Villa – ja, einer Villa hält das Auto. Nicht mehr umfriedet und vor neugierigen Blicken durch eine hohe Mauer geschützt, steht sie in einem Garten inmitten einer wuchernden Wildnis dunkelrot und grellgelb blühender Blumen. Große, funkelnde Fenster wie freundliche Augen. Ein Kunststeinweg bis zum Haus, eine einladend wirkende Treppe, eine weitgeöffnete Haustür. »Treten Sie ein!« lächelt der Mouchtar. »Machen Sie dem Hausherrn eine Freude.« Durch einen langen Gang bis auf eine Terrasse. Ein Blick über Obstbäumchen hinaus bis zu gelblichen Hügelhängen jenseits der Gärten. Der Mouchtar bewegt sich, als sei er zu Hause, er sei der Gastgeber und nicht der hagere, aber sehr muskulöse, mit Hose und Hemd und städtischen Schuhen angetane Mann, der glatt wirkt, kaum bäuerlich. Seine flinken, schlauen Augen huschen prüfend an uns auf und ab. Der Mouchtar sagt: »Er hat acht Hektar Land, alles zu bewässern. Aus der Bodenreform.« Kamil Ismail setzt hinzu: »Ein reicher Mann ..., ein Neureicher!« Und da kommen, wie herbeigezaubert, Flaschen auf den Tisch: Courvoisier, Finest Scotch Whisky Ballantines, goldfunkelnder herber 67
Martini, tiefroter Cinzano. Ich frage: »Es soll hier im Dorf ein sehr guter Arrak gebrannt werden?« Die gleiche Heinzelmännchenzauberei, Anisduft entströmt der Flasche. Nichts Besseres gibt es als diesen ungewässerten und ungeeisten Schnaps für einen unruhigen Magen. Und wieder der fruchtige Reichtum der Gärten: Melonen, Weintrauben, so groß wie starke Männerdaumen, Granatäpfel, streifig rot und die Kerncbittersüß, und Feigen, die hier, aus diesem Garten, nicht klein sind, sondern groß und wie Honig schmecken. Der »reiche« Mann sagt nach einer Weile: »Wollen Sie nicht mein Haus ansehen?« Wir fühlen uns nun genügend betrachtet. Wir wollen! Das Haus wirkt noch unfertig, es riecht nach Kalk, Zement und Farbe. Aus dem alten Haus – oder der Hütte? – sind versessene Stühle und Liegen und Sessel mitgenommen worden, Tische ohne Glanz und Truhen mit kostbaren Intarsien. Alle Böden aber sind mit Marmorplatten ausgelegt, knochenweißem Marmor in den Stuben, und in den Bädern – ja, zwei Bäder hat das Haus – ist er grünlich gestreift, während die Wände mit italienischen Keramikplatten belegt sind. Mein Staunen ist dem Bauern wie goldgelber Honig. Solch eine Bodenreform, die acht Hektar bewässerten Boden gegeben hat, alles rund um das Haus gelegen, hat es in sich. Im Garten tuckert ein Dieselmotor, jagt in ununterbrochenem Rhythmus einen armdicken Strahl Wasser in ein großes Zementbecken, von wo aus schmale Rinnen das Wasser in alle Ecken des Gartens schleudern. Die Erde ist dunkel und schwer von Nässe, alle Bäume und auch die Weinreben tragen tiefgrünes Laub. Wie schwer wird es sein, sich des reichlich schießenden Unkrauts zu erwehren! Stallgebäude gibt es nicht, also sicherlich keine Ziegen oder Schafe, keinen Esel und auch wohl keine Kuh. Ein viereckiger turmähnlicher Betonkasten mit wenigen kleinen Fenstern im Erdgeschoß, im oberen Teil eine Anzahl Schlupflöcher, in die und aus denen Tauben herausund hineinschlüpfen, steht abseits des Hauses. Der Bauer öffnet eine 68
Metalltür; durchdringender Hühnerdunggeruch schlägt uns entgegen: der Hühnerstall. Ein großes Volk schneeweißer Hühner mit paprikaroten Kämmen pickt in den Futtertrögen, scharrt im Sand, gackert und kräht. Der Bauer sagt: »Es sind siebzig Stück, es sollen fünfhundert werden. Nur Zuchthühner. Sie kriegen nur Gerste und Mais und Grünzeug ... Das Land braucht viel Eier, und man verdient gut daran!« Ein mächtiger, bis an die Decke reichender und fast die ganze Hinterwand des Raums bedeckender Teppichknüpfrahmen gibt dem Raum den Charakter einer Werkstatt. Aber hier wird auch geschlafen, gewohnt, hier werden auch die Gäste empfangen. Auf dem Rahmen ist ein halbfertiger Teppich in Arbeit. Ein armenisches Muster, frischgrünes Blumengerank, rötliche Blüten, eingerahmt von stilisiert wirkenden Blumenblättern. Das Wollmaterial ist mit Anilinfarben gefärbt, Naturfarben werden schon Jahrzehnte nicht mehr gebraucht. Eine uralte, ausgemergelte Frau in Schwarz sitzt uns gegenüber, beschaut uns mit verwunderten Vogelblicken, gibt ihrer Enkelin, einer etwa dreißigjährigen Frau, ihre Anweisungen. Mit scheuer Zurückhaltung serviert sie uns Kaffee, stellt Obst auf die Tischchen, huscht hin und her mit leichten, verwirrt wirkenden Schritten. Wie überall das Bettzeug in den Regalen an den Wänden, in zwei alten, geschnitzten Zedernholztruhen. Ein Kruzifix ist billigste Fabrikarbeit, die Bilder der Mutter Gottes mit dem Jesuskind und Christus mit dem durchpfeilten Herz nicht von besserer Qualität. Die verblichene Fotografie eines alten Mannes mit einem struppigen Bart, die eines jüngeren in Uniform, ein Hochzeitsbild der uns bedienenden jungen Frau mit eben diesem Mann in Uniform. Ob wir Christen seien? Die alte Frau sieht uns erwartungsvoll an. In Arabien erwartet man von Europäern, daß sie Christen sind. Immer haben wir es so gehalten, daß wir uns als Christen ausgaben. Die Religion des Atheismus gibt es noch nicht. Wir nicken bejahend, dem zufriedenen Gesicht der Großmutter sehen wir an, wie sehr wir das Richtige getroffen haben. Und Kinder? Und eine Frau? 69
Die eintretende Frau, auch in Schwarz, schrickt überrascht zurück. Als sie aber den Mouchtar erblickt, reicht sie uns herzlich die Hand. Mit dem Mouchtar spricht sie kurz, der antwortet ebenso abgehackt, aber lächelnd. Also kein Streit. Kamil Ismail sagt: »Sie ist böse, weil wir uns nicht angemeldet haben. Sie hätte doch, so sagt sie, etwas zum Abendessen machen können, vielleicht ein Huhn grillen, etwas Salat ...« Gott sei Dank bleibt es jedoch beim Kaffee, beim Obst, bei Zigaretten, obwohl Nikotin und Koffein das Herz schon in rasenden Galopp gebracht haben. Was macht einen Menschen geneigt, Grenzen der Fremdheit zu überwinden, uns sein Wohlwollen zuzuwenden, uns aufzunehmen in die Wärme seiner Häuslichkeit? Ein gutes Gespräch? Ja, das sicherlich. Verständnis für sein Leben? Ja, das auch! Sind wir aber bereit, seine Arbeit zu achten, seine Tüchtigkeit und seine Energie bei der Überwindung von Schwierigkeiten, so nähert er sich uns unvorstellbar schnell und nah. Bewundernd stehe ich vor dem halbfertigen Teppich, versunken in die Zeichnung von Blumen, Blattgerank und Farben. Ich höre die Stimme der Frau, sicherlich die Tochter der Alten und die Mutter der Jungen, weich, ein wenig heiser, aber freundlich und warm. Schon über hundert Jahre lebt die Familie hier im Dorf. Oder schon länger? Aber diese Zeit ist verbürgt. Und seit dieser Zeit knüpfen die Frauen der Familie schon Teppiche. Technik und Fertigkeiten wurden immer von den Müttern auf die Töchter weitergegeben. Zu jener Zeit seien eines Tages armenische Flüchtlinge im Dorf aufgetaucht. Einen von ihnen hätten sie aufgenommen in die Familie, und von ihm hätten sie dann das Knüpfen gelernt. Früher hätten noch Frauen anderer Familien auch geknüpft, aber es seien immer weniger geworden. Die Arbeit sei mühevoll, verlange Geduld und gute Augen – vom Verständnis für Farbe und Linien spricht sie nicht –, und so seien es immer weniger Frauen geworden, die sich damit etwas Geld verdient hätten. Der Knüpfrahmen wächst vor mir hoch hinaus, wird breiter und 70
breiter. Welche Geduld, welche Ausdauer und Energie werden verlangt, um sich Tag für Tag vor diesen Rahmen zu setzen, dem Muster gemäße Wollfäden auszusuchen und zu knüpfen und zu knüpfen. Man spricht von 40000 Knoten, die für einen Quadratmeter guten Teppich geknüpft werden müssen. Vierzigtausend! Die junge Frau setzt sich vor den Knüpfrahmen, sehr selbstsicher plötzlich, ohne aber überheblich zu wirken. Ihr immer noch junges Gesicht wird plötzlich streng, ihre Augen schärfen sich. Und nun erst sehe ich, wie dünnknochig ihre Hände sind, wie hart ihre Finger und wie zäh die Nervenstränge auf ihren Handrücken. Über das schon fertige Stück befestigt sie das Musterblatt des zu knüpfenden Teppichs, nicht größer als ein Bogen Briefpapier. Die Linien des Musters sind kaum erkennbar. Aus einem auf der rechten Seite hängenden Beutel zerrt sie vielfarbige Wollfäden hervor, und für uns kaum zu verfolgen, legt sie in ungemeiner Geschwindigkeit Faden um Faden um die Schußfäden, jeder mustergerecht in der Farbe, und der Teppich wächst Millimeter und Millimeter, Farbflecke runden sich zu einem Tupfen, der Teil einer roten Blüte, die wächst und wächst, und plötzlich Teil einer größeren strahlenden, wie lebendig wirkenden Blume wird. Faszinierend die Finger, das Gesicht, die Augen. Und dann, nachdem sie einen zwanzig Zentimeter langen und einen Zentimeter breiten Streifen geknüpft hat, nimmt sie eine schwere, ungemein scharfe Schere und schneidet das geknüpfte Stück auf die richtige Höhe. Erwartungsvoll, fast schelmisch lächelnd, sieht sie mich an. Ich sage, fast flüsternd: »Schön ... schön!« Und setze dann hinzu: »Und wie wird die Arbeit bezahlt?« Die junge Frau nimmt ein schweres Eisenstück, klopft hart und energisch die geknüpften Knoten zusammen und sagt leise: »Je nach Muster ..., zwischen dreißig und vierzig Pfund! Ja, ein Quadratmeter wird so bezahlt!« Für einen Quadratmeter benötigt man 40000 Knoten, vielleicht weniger, vielleicht mehr, je nach Muster, und für einen Teppich, der ein Maß von zwei mal drei Metern hat, benötigt man 240000 Knoten. Eine solche Summe von Hand- und Fingerbewegungen ist unvorstellbar, ist 71
aber notwendig und wird auch erreicht. In wieviel Stunden, Tagen oder Monaten? Für vierzigtausend Knoten werden 30 bis 40 Pfund bezahlt. Der Hof ist rings von Stallgebäuden, von einigen Wohnhütten mit flachen Dächern und. einem zweistöckigen, verfallen wirkenden, länglichen Haus eingeschlossen. Einstmals Eigentum eines Feudalen, dient alles nun der Genossenschaft. In den Hütten wohnen sicherlich noch die ehemaligen Landarbeiter, die Stallgebäude, morsch und alt, können kaum noch dem Vieh genügen. Ist es möglich, daß einst der Feudale in dem zweistöckigen Haus gewohnt hat? Wohl kaum! Sein Verwalter mag hier gehaust haben, aber er selbst? Auf einer wackligen Treppe steigen wir ins zweite Stockwerk. Männer sehen uns entgegen, verschiedenartig angetan, der eine mit einer Türkenhose und einem Hemd, der andere mit einer Galabie, wiederum ein anderer mit einer vertragenen Militäruniform. Sonnverbrannte Gesichter, helle, wache Augen, breite, verarbeitete Hände. Der Vorstand der Genossenschaft des Dorfes von Muscherfe, eines Dorfes nah bei Homs. Ein Hufeisen von Tischen im Büro, überladen von Papieren, Schnellhefter, losen Papieren, und die Regale an den Wänden vollgepackt mit ungeordnetem Papierzeug. An einem der Tische sitzt eine jüngere, schwarzhaarige, sehr gepflegte Frau in Hosen und Bluse, bestürzend städtisch wirkend mit ihrer Zigarette und dem Täßchen Kaffee vor sich, beugt sich über irgendwelche Papiere, gönnt uns kaum einen Blick. Die Buchhalterin! Eine von einem Bauern hingehaltene Zigarettenschachtel, die Hand eines anderen mit einem Tabakbeutel und Papier. Ich drehe mir eine Zigarette. Verwunderte Blicke: Ein Ausländer, der Zigaretten drehen kann? Ich habe gewonnen. Kamil Ismail sagt: »Fragen Sie. Sie sollen fragen, was Sie nur fragen wollen!« Ewig zu fragen, fragen zu müssen ist nicht immer angenehm; lästig dieser Fremde da, dieser Neugierige auf alles und jedes. Wie gut wäre 72
es, Stunden und Stunden, ja selbst Tage zu sitzen, teilzuhaben an dem Leben und langsam, unmerklich in das Leben eindringen zu können. Immer mundfauler werde ich nach diesem harten Tag. Doch das sprudelt da heraus aus den Bauern wie aus einer eben erst geöffneten Schleuse. Einstmals gehörte das nun unter die Bauern aufgeteilte Land einer libanesischen Familie: Georg Tabet & Frère. Achttausend Hektar, die Hälfte zu bewässern, bearbeitet von 712 Familien, auf der Basis halb und halb. Einer der Bauern sagt: »Ganz primitiv mußten wir es bearbeiten. Vor den Handpflug wurden Kühe oder auch Kamele gespannt ..., aber jetzt ...« Ein neuer Schwall aus der Schleuse: »Heute hat die Genossenschaft fünf Traktoren, mehrere mehrscharige Pflüge, einige Anhänger und einen Mähdrescher.« Wird das Land gemeinschaftlich bearbeitet? Kamil Ismail übersetzt, aber entweder scheint er meine Frage nicht verstanden zu haben, oder aber der Gedanke, Land zusammenzuwerfen und gemeinsam zu bebauen, erscheint so absurd, daß die Bauern im Augenblick keine Antwort finden. Und was Kamil Ismail dann übersetzt, hat keinen Sinn für mich, und die immer wieder hingeworfenen Sätze verwirren ihn mehr und mehr. Er schwimmt, und jetzt, obwohl er ausgezeichnet deutsch spricht, fehlen ihm selbst die Worte. Einer der jüngeren Männer in der Militäruniform sagt: »Sie meinen, die Maschinen gehören der Genossenschaft und können von ihnen gemietet werden.« Lächelnd über meine Verwunderung, dreht er seine Zigarette weiter. »Ich bin Agrartechniker, ich habe in der DDR studiert!« Und einen herrlichen sächsischen Akzent angenommen! Aber das sage ich nicht. Immer schwieriger wird es, den Wirrwarr der verschiedensten auf uns eindringenden Meinungen zu klären. Also zuerst einmal – so stellt es sich allmählich für mich heraus –, die Genossenschaft, mit Unterstützung des Staates gegründet, beschränkt sich im wesentlichen auf die 73
Lieferung von Saatgut und Zuchtvieh, auf die Abnahme der Agrarprodukte, auf die Gewährung von Krediten. Also keine Genossenschaft in unserm Sinne, sondern von der Art etwa der Raiffeisengenossenschaft aus der Frühzeit. Die erste Bodenreform fand schon, auch hier, im Jahre 1958 statt. Georg Tabet & Frère reservierten sich einmal einige Hundert bewässerten und dazu noch dreihundert Hektar unbewässerten Boden, ideal für die Anlage von Obstplantagen und Zuckerrübenbau. Umfangreich war die Familie, und so mancher Hektar ließ sich so noch ergattern. Bisherige landlose Bauern erhielten Land, auch die Landarbeiter, aber sie mußten ihren Boden bezahlen beziehungsweise mit jährlich 1 1/2 % verzinsen. Ob sie immer die besten Ackerstücke erhielten, auch die am leichtesten zu bewässernden, die richtigen und genügenden Wasseranteile ist sehr fraglich. Die meisten Bewohner des Dorfes waren Landarbeiter, Land zu erhalten war eine Erleichterung, die neue Bedrängnisse mit sich brachte. Auf alte Art pflügen, säen und ernten, die unermeßlichen Flächen, wie war das möglich? Wie ließ sich das Wasser gerecht verteilen? Und in den Jahren, da der Himmel nicht gnädig war und wochenlang – was sage ich? wochenlang? – Monate und Monate der Himmel wie heißes Blei über der Erde lag, schweflich gelb die Luft, die Erde rissig verbrannt, was war zu tun, daß jeder Tropfen Wasser gerecht verteilt wurde? Das Land war ja nicht mehr in wenigen großen Stücken zu bearbeiten, ein Gefleck von Fetzen war da, und jeder, der Land erhalten hatte, besaß einen Einscharpflug, wenn es weit ging, auch Zugkräfte, aber ... aber ... Wie war das alles zu machen? Und das ganze Getier, die Ziegen, die Schafe, die Kühe und die Hühner, die Esel und das ganze Taubengewimmel, wie ließ sich alles nutzbringend pflegen, großfüttern und dann auch verkaufen? Und die Ernte, die Weintrauben, die Gerste, die Zuckerrüben, die Kartoffeln, das Obst, das Gemüse, der ganze hart erarbeitete Reichtum, wie ließ er sich an den Mann bringen ohne großen Aufwand und zu guten Preisen? Allein mit dem Wägelchen auf den Markt zockeln? In früheren Zeiten, 74
da war das alles so einfach gewesen. Einige Hühner, ein paar Täubchen, etwas Obst aus dem eigenen Garten, das erste frühe Gemüse im jungen Jahr waren schnell an den Mann gebracht. Aber jetzt, wie ließ sich das machen? Die Zeit reichte kaum für die anfallende Arbeit, geschweige, um Verkaufsreisen zu machen. Das erhaltene Land konnte einem schon heiß machen! Genossenschaften wurden gegründet, von staatlicher Seite unterstützt und mit staatlichen Mitteln ausgestattet. Saatgut zu erhalten, Düngemittel und auch, wenn notwendig, Kredite war nun einfacher. Die geldlose Zeit zwischen Saat und Ernte ließ sich nun leichter überbrükken, die Sorge, wohin mit der Ernte und zu welchem Preis, lastete nicht mehr so schwer. Aber da war noch der Einscharpflug, da war immer noch das Zugvieh! Aber Maschinen kaufen, jeder für sich, wie war das möglich? Unsinn das auf den ersten Blick. Die Genossenschaft brachte auch die ersten Traktoren, Mehrscharpflüge und Erntemaschinen ins Dorf. Und die Genossenschaft schloß auch Verträge mit der Zuckerfabrik in Homs, mit der Arrakdestillerie nah beim Dorf. Es war schon so viel und so gut, daß sich die Genossenschaft um diese Dinge kümmerte. Die Blicke der Bauern sind fragend kühl: Alles verstanden? Ich frage: »Und warum nicht alles gemeinsam bearbeiten?« Die Blicke treffen sich, verwundert ironisch. Ich sage: »Wirft man die Armut aller in einen gemeinsamen Topf, wird da Reichtum draus?« Einer der Bauern sagt: »Unsere Produktion hat sich verdoppelt. Die Preise haben sich erhöht, und sie sind gesichert.« Stark gesüßter Tee wird nun gereicht. Ich sage: »Viele einzelne Fäden lassen sich ohne große Anstrengung zerreißen; werden sie aber zu einem Seil gedreht, wer kann es noch zerreißen?« Ein Tabakbeutel wird mir gereicht. Wir trinken den süßen Tee. Der Himmel glüht sich aus. Am westlichen Horizont ziehen Rauchschwaden wie graue Trauerfahnen über den orangefarbenen Schleier 75
der untergehenden Sonne. Ziegen- und Schafherden trippeln den heimatlichen Hürden zu, hochbeladene Esel schwanken über die Pfade. Ein junges Mädchen kommt uns entgegen, verhüllt, als sie uns im Wagen sieht, mit ihrem Kopftuch das Gesicht. Über einem kleinen Dorf nahbei ziehen Herdfeuerwölkchen über die Dächer. Schwarze Zelte am Weg, der zur Stadt führt: Beduinen, die zu Anfang des Sommers an den Rand der Steppe, in die Nähe von Wasser und abgeernteten Feldern gezogen sind. Kamil Ismail sagt: »Wollen wir anhalten?« »Aber keinen Hammel!« wehre ich ab. Abu Ahmad stöhnt gierig: »Ach, einen Hammel!« Ein Fladen, hergerichtet schon am Morgen oder noch in der Nacht, gefüllt mit Fleisch und Gemüse, liegt griffbereit für den Augenblick, da der Schuß für die Erlösung von Hunger und Durst ertönt. Morgens, wenn wir losfahren, ist er ruhig, ausgeruht und satt noch, seine Laune aber schon gedämpft von der Aussicht, daß mit jeder Stunde die Gedärme unruhiger, Zunge und Hals trockener werden. Mit der stärker brennenden Hitze schwillt sein Gesicht rot an, kaum noch kommt ein Wort von seinen Lippen, und wenn wir rauchen, schnuppert er wie ein unruhiger, Meute witternder Hund. Folgen wir einer Einladung zu Tee oder Kaffee, bleibt er erbittert im Wagen sitzen oder schleicht in den Schatten einer Mauer. Die Aussicht auf einen mit Reis gedünsteten Hammel – so kann ich mir vorstellen – kann ihn nun, in der letzten Stunde des Fastens vor Sonnenuntergang, zu freudigen, wahnsinnsähnlichen Ausbrüchen führen. Scharf bremst er vor dem Zelt. Im aufkommenden Abendwind flattern schwerfällig die schwarzen Ziegenhaarbahnen. Aus dem abgeteilten Frauengemach starren neugierige, schwarzglänzende Augen. Im Männerzelt erhebt sich ein jüngerer Mann von den Sitzkissen, er ist rundlich, sauber rasiert und trägt einen herrlichen hellgelbfarbenen Kamelhaarburnus. Freundlich blickende Augen, sehr gepflegte Hände. »Willkommen ...! Willkommen ...!« Der Druck seiner Hand ist fest und offen. Kamil Ismail entledigt sich der wie jede Gewohnheit lästigen Vorstel76
lung, spricht über den Zweck der Reise. Über unsere Bitte, unseren Besuch nicht als zu lästig zu empfinden, lächelt der junge Scheich. Und das ausgeglühte Kameldungfeuer wird angefacht, rundschnäbelige Kaffeekannen werden in die Glut gestellt, und ehe noch die Täßchen gefüllt werden, sagt der junge Scheich: »Wir werden einen Hammel schlachten. Tun Sie uns die Ehre an, bleiben Sie!« Es ist nicht angenehm, ablehnen zu müssen. Abu Ahmad schnaubt verächtlich. Aber kann man Schriftsteller warten lassen? »Aber Sie müssen wiederkommen!« sagt der Scheich. »In einigen Wochen wandern wir in die Wüste. Kommen Sie zu uns, bleiben Sie mit uns die Weidezeit über in der Wüste!« Welch eine Aussicht! Das Weidegebiet des Stammes liegt zwischen Palmyra und Deir-ez-Zoor. Eine Aussicht, die mehr verheißt als eine Tasse Kaffee, einen Hammel, ein freundschaftliches Gespräch am Abendfeuer. Und dabei gequält von der Erinnerung! Zur gleichen Jahreszeit, kurz vor der Weidewanderung, vor Jahren am Rand der Ghuta waren wir eingeladen zu einem Kamelfohlenessen. Ein Abend wie dieser, grüngolden verglühend der Himmel, die ersten Sterne, matt wohl noch, aber bald würden sie den Abend an den Himmel genagelt haben und Nacht würde sein. Was als Gastgeschenk mitnehmen? Whisky, Kognak, für die Frauen Likör und die Kinder Bonbons? Vielleicht auch für die Frauen Parfüm? Doch ist für die Moslems Alkoholgenuß nicht verboten? Sind Beduinen Moslems? In den Zelten ringsum glühten die Feuer. Hundegehetze und Gebelfer umstürmte uns, in den Zelten ringsum Schatten von Menschen. Windleuchten erhellten das große Zelt des Scheichs. Er war ein alter, ehrwürdiger Greis, griesfarben der Bart, die Augen müde, sehr weise. Im Wind bauscht sich sein Burnus. Sein Lächeln ist zurückhaltend, fast nur eine Andeutung. Eine Frau mit einer Schüssel tritt herzu, die abgearbeiteten Hände bieten eine Schüssel Joghurt aus Schafsmilch an. Alles an der Frau ist abgetragen, der lange, weite, buntbestickte Rock verschlissen, die 77
Bluse, schwarz und weit flatternd, ohne Glanz. Das einst wohl liebliche Gesicht wirkt hart, verarbeitet wie die Hände, die Augen glanzlos wie die Bluse. Der harsche, ewig über die Wüste jagende Wind, im Sommer heiß und im Winter an den Tagen kühl, in den Nächten kalt, hat das Gesicht zu Leder werden lassen. Auf dem Joghurt lag ein Hauch von Sand, jeder Schluck knirschte zwischen den Zähnen. Wüstenleben, was ist das? Ach, jede Romantisierung ist lächerlich, verbietet sich vor der Achtung vor diesem harten, jährlich sich im Wetterrhythmus wiederholenden Leben: die Zelte abbrechen, zusammenpacken, auf die Esel laden oder auch die Kamele, die Schafe auf dem Marsch zu andern Weidegründen zusammenhalten, nach Tagen die Zelte abladen, auseinanderschlagen, aufstellen, alles häusliche Zeug, die Betten, die Töpfe, das unumgänglich Notwendige zum Gebrauch bereitstellen, die Milchschafe oder Kamele melken, Joghurt kochen, Käse machen, und dann ist die Weide leer, wieder den Rhythmus von vorn beginnen. Nomadenleben! Der beeindruckend ehrwürdige Scheich bringt immer wieder die Linke ans Herz: Willkommen! Seien Sie willkommen! Den Anblick unserer Frauen vermied er. Auch die aus dem abendlichen Dunkel auftauchenden Männer taten so, als gäbe es keine Frauen. Wie eine festgefügte, uralte Zeremonie ging nun alles vor sich: In einer eisernen Pfanne wurde Kaffee geröstet, in einem Holzmörser von wunderschöner Schnitzarbeit zerstampft in einem Rhythmus, der ringsum bekanntgab: Das Wasser wird gleich kochen, der Kaffee sich mit dem kräutergesättigten Geruch der Hammel und Kamele ringsum mischen. Doch noch ist es nicht soweit! Aus der großen Kaffeekanne wird die schon eingekochte Brühe in eine kleinere geschüttet und diese wiederum eine Weile gekocht, bis sie, mit Kardamom gewürzt, tiefschwarz serviert werden kann. In kleinen Schlucken, nur in kleinen Schlucken darf sie geschlürft werden! Unsere Frauen machen einen ersten Versuch der Verführung: Zum Kaffee einen Kognak? Oder einen Whisky? 78
Die Alten ringsum wehren’sich: Keinen Alkohol ...! Man ist es nicht gewohnt. (Wie schnell Gewohnheiten sich verändern können, erfahren wir nach kurzer Zeit.) Aber diese Flasche hier? Kein Alkohol, nein, nur etwas wird hinzugetan, um den Fruchtsaft zu konservieren; er kommt aus unserm Land, und man nennt ihn Likör! Eine Probe? Nur eine Probe! Die Alterskühle der Männer taut weg. Nur eine Probe! Um die Barte der Greise ein genießerisches Lächeln, ein Schmatzen: Allahs Paradies auf die Erde, in die Wüste niedergeholt. Nur einen kleinen Zipfel erhaschen! Trinken wir! Ein magerer Sichelmond über den Bergen, das kühle gehämmerte Blau des Himmels, in den Bäuchen der nah bei uns wiederkäuenden Kamele ein Kollern wie von schweren Steinen, melancholisch das Malmen von Gebissen, gesättigt die Luft vom Duft des Wüstenwermuts, der schweren, fettigen Geruchsschwaden des im Frauenzelt siedenden Kamelfohlens. Der Kirschlikör klebt auf Zunge und Gaumen. Die Falten um Mund und Augen der Alten werden weicher. Der Scheich kneift die Augen zusammen, verstohlen seine Blicke, hin irrend über unsere Frauen. Ein arabisches Wort fällt, ein Satz, für uns unverständlich, in seinem Sinn aber klar und eindeutig: Diese Frauen da, blond, knapp die Blusen und Röcke, ungeniert die Blicke, oh ... oh ... oh ... Einer der Alten schlägt dem Scheich mit der Hand auf den Schenkel. Halbnackte und mit langen verschlissenen Hemden angetane Kinder, fettig verfilzt die Köpfe, gierig die großen unschuldig wirkenden Augen, huschen zwischen den Hockenden hin und her. Hier ein Klaps auf den nackten Hintern, dort einer hinters Ohr. Sie schmatzen die süßen Bonbons, sie lesen halbfertige Kippen auf, rauchen ungeniert. Unbemerkt fast haben sich Frauen und Mädchen genähert, junge Frauen und alte, neugierig die jungen, die alten von steifer Zurückhaltung. Unsere Frauen reichen unter mißbilligenden Blicken der Männer eine Likörflasche hinüber. Sie wandert von Hand zu Hand, sie ist, ehe man sich’s versieht, geleert. Einige der Frauen huschen hinter uns ins 79
Männerzelt. Verstohlen schiebe ich eine Schachtel Zigaretten hinter mich. Der Scheich räuspert sich mißbilligend. Die Frauen rauchen ungerührt. Ein mächtiger Messingteller, das weißglänzende Fleisch auf einem Haufen dampfenden Reis, in dem Pistazienkerne mitgekocht sind, die Augen des Tieres weit geöffnet, glänzend polierte Kiesel. Ist es nicht Sitte, dem Gast die besten Stücke zu reichen? Und gelten nicht die Augen des Tieres als die zartesten, die besten Stücke? Der Scheich rollt mit der Hand eine fettige Kugel Reis, schiebt sie sich in den Mund. Das Gastmahl hat angefangen. Ein Stück Fleisch vom Hals, feinfasrig und weißlich, wird mir in den Mund gestopft. Am Körper des Tieres nun alle Hände, reißend, zerrend, die Finger wie Krallen. Ein Schluck Wasser, aus der Joghurtschüssel ein gelblicher Happen, die Pistazienkerne knacken zwischen den Zähnen mit einem sanften Knall. Ächzen, Schlucken, das Knochenknacken zwischen Hundezähnen. Der Scheich stopft einem kleinen Jungen, wohl seinem Enkel, Fleischstücke in den Mund. Der Junge schmatzt, schluckt, er ist nicht satt zu kriegen. Ach, es ist weniger ein Gastmahl für uns als für den Stamm eine Gelegenheit, sich ausschweifend vollzuschlagen. Eine Trommel gongte auf, dumpf und weich, und einige Hunde fingen an zu knurren. Wohl wurde noch weitergegessen, aber alle Aufmerksamkeit galt nun den beiden Männern, die im Feuerschein umherschritten, ihre Schritte dann schneller werden ließen und sich plötzlich, Schwerter in den Rechten, voreinander aufstellten, die Schwerter schwangen, drohend und feindselig, gemildert jedoch durch eine bestechende Eleganz und fast tänzerisch wirkende Schritte. Ein uralter Schwertertanz! Hinter uns die Frauen atmeten erregt, stießen schrille, anfeuernde Trillerschreie aus, und die funkelnden, kreisenden Schwerter, die beiden Männer in ihren wehenden Galabien, der Klang der immer wilder tönenden Trommel, machten, daß selbst das Essen vergessen wurde. Frauen erhoben sich, umringen die beiden Tänzer, und einen Augenblick lang hat es den Anschein, als wollten 80
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sie den Männern die Schwerter entreißen und selbst den Tanz fortsetzen. Aber dann brachen die Männer plötzlich ab, ein anderer Rhythmus wurde vom Gong gegeben, und die Frauen bildeten einen großen Kreis, legten sich gegenseitig die Arme um die Schulter und setzten nun Schritt neben Schritt, fast bedächtig, in einer gewissen Feierlichkeit. Eine Flöte gesellte sich zur Trommel, schrill klang sie und jagte die Füße zu schnellerem Schritt. Die Frauen aber hinter uns im dunklen Hintergrund des Zeltes fingen an zu kreischen, zu lachen, balgten wohl auch um eine Zigarette oder einen Schluck aus der Flasche. Ich hörte den Scheich schimpfen, irgendeinen Befehl rufen, und ein Mann mit wilder Mähne und einem Gesicht wie aus tiefdunklem Knorrenholz stürzte mit einer Peitsche herbei und schlug wie wild in den weiblichen Knäuel ein. Doch welche Wirkung! Keine! Der Knäuel stiebt auseinander, knäult sich wieder mit Kreischen und Lachen, und keine Peitsche hilft mehr. Einer der Alten seufzt bekümmert: »Ach, in dieser Nacht ... Der Stamm wird wachsen ... ja, wachsen ...!« Doch dies alles – Kamelfohlenbraten, der immer noch auf der Zunge zu spürende bittere Geschmack des Beduinenkaffees, die wilden Tänze der Männer, die zarteren, beschwingteren der Frauen in der Nacht – nur eine rosarote Erinnerung, verklärtes Abbild einer falsch gesehenen, harten, mühevollen Welt voll Arbeit, Hunger und Entbehrung? Was aber treibt mich, dem jungen Beduinenscheich zuzusagen, einige Zeit mit ihm zu ziehen? Die Faszination durch die bis in unsere Zeit hineinragende Vergangenheit? Die herbe, kräftige Schönheit der Frauen, trotz Lumpen und harten Händen und vom Wüstenwind verwitterten Gesichtern deutlich sichtbar? Der zurückhaltende Stolz der Männer, alle schlank und doch kräftig, ihre großzügige Gastfreundschaft, die ohne Rückhalt ist und kleinliche Gedanken? Was nur? Was nur? Am Abend in eine andere Welt geworfen, aus dem Anfang der Zeitenwende in das heutige Jahrhundert. Schmerzend der Gegensatz: einige 81
zwanzig Männer, alle gut und europäisch angetan, glatt rasiert die Gesichter, kluge, hellwache Augen, manche der Männer rundlich und weich, andere hager und streng, als seien sie Söhne der Beduinen in den Zelten. Zwei Frauen, beide noch glatt und schön, wohlgepflegt und mit feurigem Glanz in den Augen, schienen sich in diesem Männerkreis unbehaglich, fremd zu fühlen. Schriftsteller! Doch jeder von ihnen hat einen bürgerlichen Beruf: Lehrer und Professor, Angestellte von Staat und Stadt, ein Agrotechniker, einige Journalisten und Zeitungsredakteure. Tage später in Aleppo ein ähnlicher Kreis. Unverdient bestaunt, doch mit gedämpfter Herzlichkeit werden wir aufgenommen. Zögernde Kenntnisnahme vom Zweck und Sinn der Reise, dann plötzlich ein Schwall von Fragen: Was schreiben Sie? Für wen schreiben Sie? Wie schreiben Sie? Sitzen Sie täglich am Schreibtisch, hauptberuflich sozusagen, im Auftrag auch? Und wer gibt Ihnen den Auftrag? Was verdienen Sie, und können Sie von diesem Verdienst ohne eine andere Arbeit leben? Was verstehen Sie unter sozialistischem Realismus? Inwieweit fühlen Sie sich durch diese Methode beengt? Wie kommen Sie zu Ihrem Stoff? Nehmen Sie ihn aus dem Leben, oder denken Sie sich Handlung und Menschen aus? Schreiben Sie auch über die Liebe? Was halten Sie von der Liebe? Wie sehen sie die Rolle der Frau in der Familie, in der Gesellschaft, in der Liebe? In diesem Schwall sich überstürzender Fragen ist fast keine Luft mehr zu bekommen. Und eine der Frauen, die etwas üppige schwarzhaarige Dreißigerin mit den verschwärmten Augen, fragt: »Sind Sie auch der Meinung, daß nur die Liebeslyrik in der arabischen Literatur Tradition und Berechtigung hat?« Nun bin ich nicht mehr die Zitrone, die ausgepreßt wird. Kamil Ismail vermag nur mit Mühe das entstandene »Streitgespräch« zu übersetzen. Da fällt: Plunder alter! Sentimentalitäten! Geschmacklosigkeiten! Schlafzimmerpoesie! Haremserinnerungen! Wo geraten wir da hin! 82
Hilfesuchend blickt die Dame zu mir. Wie kann ich sie da schützen? Kamil Ismail verzagt, oder will er nicht mehr übersetzen? Die üppige, verschwärmte Dreißigerin schnüffelt verschnupft das Naschen, sie funkelt mit den Blicken umher, als wolle sie alles, was sich da an Männergrobheit äußert, verbrennen, in Asche zerstäuben. Nicht auch die Männer dazu? Doch was ist Liebeslyrik ohne die Verursacher und die Adressaten? Die Stimme der andern Dame ist scharf geworden, ihre tief rot gefärbten, schönen, prallen Lippen verziehen sich verächtlich. Kamil Ismail sagt: »Sie war mit zwei andern Schriftstellern am Euphratdamm, eingeladen von den Gewerkschaften. Sie haben vor den Arbeitern Liebeslyrik gelesen. Aber diese hätten nach einer Weile den Saal verlassen. Ignoranten, so hat sie sie bezeichnet.« »Vielleicht waren sie zu müde für die Liebe«, sage ich. »Oder aber auch nur zu müde für die Lyrik über die Liebe!« Versteht die Dame Deutsch? Nein, sie muß den ironischen Ton meiner Stimme gehört haben. Ihre Blicke sind wie Feuerflammen, ihr schöner, üppiger Mund ist viel zu schön, um sich so verächtlich zu verziehen, er wird häßlich vor Verachtung. Wenn sie es nur wüßte! Die Straße zur Küste – wer schon mag über sie zu den Wassern gezogen sein, erst über die Ebene, dann durch den Sumpf des Ghab, die Aluitenhänge hinauf bis zu den höchsten Kuppen, hinab wieder durch die Olivenwälder an die Küstenebene? Alle alten Völker und ihre kriegerischen Könige aus dem Osten, die Araber aus der Wüste, die Kreuzfahrer, und wer alles noch? –, die Straße zur Küste fährt sich selbst in den Bergkurven weich wie auf Gummi. Auf den gartenähnlichen Feldern am Orontes werden Zwiebeln geerntet, dicke, goldgelbe orangenähnliche Knollen, werden zu großen Haufen gesammelt, dort dann in netzartige Säcke verpackt. Sack nach Sack auf die Lastwagen, übervoll schaukeln diese dann zum Hafen von Tartous. In den Dörfern an der Straße zieht Baustaub durch die Gassen. Einfache, gradlinige Häuser aus weißem Kalkstein, später dann aus sprödem 83
bläulichgrauen Basalt gemauert, die Gärten schon grünlich bewachsen von Küchengemüse und noch kleinen Fruchtbäumen, wachsen empor, lassen ahnen, wie in wenigen Jahren die Dörfer aussehen werden. Ein uraltes Bewässerungsrad aus Holz, aus römischer Zeit stammend, schöpft Wasser aus einem Fluß, schöpft und schöpft seit Jahrhunderten, unermüdlich, unermüdlich. Tiefgrün rundumher die Felder, üppig sprießend das Unkraut; nur das Wildgras hat holzigbraune Spitzen. Zwischen der Hochebene von Hama und den Aluitenbergen liegt das Sumpfgebiet des Orontes, das Ghab, schon für Sargon ein Hindernis auf seinem Eroberungszug an die Mittelmeerküste. In den zwanziger Jahren wurde es drainiert, der Orontes in ein Bett gezwängt, die Malaria ausgerottet, und so gilt es heute als eines der fruchtbarsten Gebiete Syriens. Die Baumwollfelder, Gerste und Weizen sind schon abgeerntet, und Schafs- und Rinderherden treiben weidend über die Stoppeln. An den östlichen Hängen der Hochebene, den westlichen der Aluiten, sind kleine Dörfchen entstanden, weißlich strahlend ist das Gemäuer in der untergehenden Sonne. Sind sie aber auch wohnlich genug? Sehr eng stehen die Häuschen beieinander, kaum gibt es Platz für kleine Hausgärten, für ein paar Beete, einige Fruchtbäume und Weinstöcke. In der Niederung dunstet die Luft glasig feucht, macht das Atmen beschwerlich, treibt den Schweiß aus den Poren. Auf den Wassergräben gründelt Geflügel, zahme und wilde Enten, Wasserhähnchen und Sumpfvögel. Welch ein Gewimmel muß einst hier gewesen sein, als alles noch unberührt und wild dahinwucherte, Gestrüpp und Gesträuch das Moor überfilzte! Auf den Hügeln entlang der Niederung liegt das niedergestürzte Gemäuer uralter, aufgelassener Dörfer. Türmchen an Minaretts stechen wie Zeigefinger in den Himmel. Die wuchtigen Mauern antiker, von Stürmen und Erdbeben und zahllosen Kriegen zerstörter Festungen beeindrucken immer noch durch ihre zu ahnende einstige Größe. Hellenistische, römische, byzantinische oder Schöpfungen der Kreuzfahrer? Die Nachfolgenden haben immer auf den Trümmern der Vorhergehenden gebaut und gelebt. Irgendwo weiter nördlich muß 84
Apamea liegen, das hellenistische, dann byzantinische Zentrum der Gegend. Weit der Blick über das Tal: wie blank polierte Metallscheiben große viereckige Fischteiche, an jedem eine kleine Wachhütte, ein morsch wirkender Kahn. Bestürzend, wie klein die Felder scheinen, in die der fruchtbar gemachte Acker aufgeteilt ist. Die dünne Rauchfahne eines Feuers, der ratternde Lärm eines Traktors, der wie ein kleiner Käfer über das Land kriecht. Die jenseitigen buschigen Hügel der Aluiten locken; die kalkfarbenen, hochgestellten Felsberge scheinen Gemäuer urweltlicher Festungen zu sein. Kühle, kleine Wasserläufe stürzen die Hänge hinab, winden sich durch Gestrüpp und Wiesenflecken: Sie locken mit Frische, Kühle und Geruhsamkeit. An einem Bach, von menschlicher Hand in viele Rinnsale geteilt, liegt ein Restaurant, und über die Rinnsale verteilt, stehen kleine, etwas wacklige Holztischchen. Streckt man die Füße unter den Tisch, kann man sie, wenn man will oder Lust hat, in das kalt sprudelnde Wasser halten: Welch ein Genuß! Von den nahen, steilen Felshängen rinnen andere Wasserläufe, und einen Augenblick lang ist man geneigt, anzunehmen, sich in einer von den Felsen und den hochkronigen Bäumen gebildeten Grotte zu befinden, in der unaufhörlich Duschbrausen niederstürzen. Und diese Kühle beim kühlen Trunk Arrak, bei einem Bier, das man aus einer Flasche, die im Rinnsal gelegen hat, wohlig ächzend trinkt. Und könnte man nicht auch, wenn man Lust dazu verspürt, sich lang in eines der Rinnsale legen, das Bier oder das Arrakglas in der Hand, und sich überströmen lassen von Kälte und Kühle und Wasser? Welch ein Bild: Keiner der Gäste sitzt an einem Tisch, in den kleinen Kanälen liegt einer am andern, und jeder läßt Hitze und Verschwitztheit aus der Haut, aus dem Leib spülen, stundenlang, stundenlang! Abu Ahmad kühlt sich das verschwitzte, rotglühende Gesicht, indem er Wasser in die gehöhlten Hände laufen läßt und es genießerisch über den Kopf schüttet. Jeden Tropfen Kühle saugt er hastig atmend in sich 85
hinein, denn kein Tropfen darf über die Lippen. So kann man sich mit solch einem Durst die Qualen der Höllen vorstellen. In den mächtig über uns gewölbten Baumkronen, im nahen Buschgeäst Vogellärm, unvorstellbar laut in dieser Stille, Tiergeraschel und Geschleife und Gehusch in den grünlichen Schatten: Welch ein Leben in dieser Kühle! Abu Ahmad prustet: »Hier zu leben, an diesem Bach, das wäre wie im Paradies zu leben oder in der Heimat, im Kaukasus.« Er ist Tscherkesse, vor Generationen, auf der Flucht vor zaristischer Pression und Unterdrückung, ist seine Familie hier in dieses Land gewandert. Kamil Ismail sagt: »Nur die Huris fehlen ...« »Muß man suchen!« murrt Abu Ahmad. Der Wirt kommt und serviert auf Holzkohle gegrilltes Kebab, einiges an Salaten, ein paar Vorspeisen. Abu Ahmad wendet sich, geht zum Wagen, legt sich unter einen Busch. Ehe wir aber noch zum Fleisch greifen können, heulen am Himmel Düsen auf, Kondensstreifen ziehen ein wirr verschlungenes Muster auf die blaue Wölbung, und dann knallen dumpf und schwer Explosionen auf. Die weißlichen Kondensstreifen werden an den westlichen Horizont, über das Meer gezogen, von dort wiederum zurück über die Berge. Von einem nahen Hügel aus sehen wir nichts anderes als dieses auf den Himmel gemalte Streifenmuster, hören immer wieder die Explosionen von Luftabwehrraketen, die dünneren der Bordgeschütze. Ein Luftkampf! Kamil Ismail sagt: »Sie werden versuchen, den Ölhafen von Banias oder den neuen Hafen von Tartous anzugreifen.« »Oder die Pipeline«, sagt Abu Ahmad. An unserm Tisch ist der Kebab kalt geworden. Das kalte fade Hammelfett klebt auf den Lippen, das Fleisch quillt und quillt. In der Höhe vermehren sich die Detonationen. Losgefahren war ich ohne einen Gedanken an den Krieg, der da schlief wie ein müde gewordenes Ungeheuer, um nun, ausgeruht und wieder frisch, sich mit feuriger Lohe über das Land zu stürzen. Ohne einen 86
Gedanken an den Krieg war ich durch die alte Stadt an der Barada flaniert, hatte an die Hellenen, die Römer, die Kreuzfahrer und die Araber gedacht, jedoch nicht an die nur wenige Kilometer entfernten Schützengräben und Artilleriestellungen. Im friedlichen Gewühl der sich friedlich gebenden Menschen war ich, wie in eine Woge von Freundschaft und Herzlichkeit eingehüllt, dahingegangen. Kein Gedanke an Krieg, an Artilleriefeuer, an Bombardements, an Tote, Verwundete, an Flüchtlinge und Heimatlose. Nun erst, bei diesem Luftkampf über der Küste, wußte ich, wie schwer Krieg und Unsicherheit auf dem Lande lasten mußten, wie sehr das Land und die Menschen verändert waren. Keiner der alten vertrauten Züge war mehr zu erkennen gewesen – die fast kindliche Sorglosigkeit der Menschen, die heitere Gelassenheit der Städte und des Lebens in Hütten und Häusern, die oft in Exaltiertheit überschäumende Lebenslust – nichts mehr war da. Maske waren Beherrschung und Sorglosigkeit, zu nah jedes menschliche Schicksal im Land verknüpft mit der Bedrohung an der südlichen Grenze. Auf die Höhe gekommen, wieder in die Täler nieder, in kurzen heftigen Kurven durch uralte Olivenhaine, an den verfallenen Terrassen an den Hängen nieder, über den Asphalt, unter dem möglicherweise noch der Schotter römischer Landstraßen zu finden wäre, der dampfte und dampfte, lag dann nach langer, mühevoller Fahrt unwahrscheinlich sanft das Meer unter uns. Glasig gewordenes Blau, mit wie erstarrt wirkenden, weit geschwungenen Wellenriffeln bedeckt, auf ihnen wie festgenagelt nußschalengroße Boote und muschelähnliche Schiffe: das ungekonnt gemalte, fast ohne Perspektive sich ans Uferlose verlierende, aber ungemein anrührende Bild eines naiven Malers. Silbriggrauer Schaum die runden Ölbaumkronen, behäbiger Traum der Kindheit: Jesus unter dem Ölbaum; die Palmwedel der Osterprozession; die Nacht im Garten von Gethsemane. Und nur wenige hundert Meter weiter lenkt ein in einen blauen Overall und eine Kufie gekleideter Bursche einen Traktor über einen Feldweg. 87
In der Küstenebene, zwischen Ufer und Felsen windet sich die Straße dem Norden zu. Die am Morgen erst angegriffene Stadt Banias mit Ölhafen und übermächtigen silberblinkenden Tanks auf den Hügeln, mit einem einst nutzlos, nun in große Rohre gefesselten Fluß, ist verschlafen wie einst, ist immer noch, als läge sie weitab von jedem menschlichen Geschehen. Ruinen aus allen Jahrhunderten auf den Bergkuppen, zerschüttertes, von Erdbeben und Kriegen niedergerissenes Gemäuer zerstörter Dörfer auf schmalen Plateaus. Obstplantagen, Baumwollfelder, Zuckerrüben auf schmalen, langgestreckten Äckern, Häuschen und Hütten hinter sattem Gartengrün. Tartous, das Ziel: die neue großmächtige Einfahrtstraße eingesäumt von den Mauern der Obstgärten, durch die sie geführt wurde, erhellt von Lichtern aus hohen Peitschenmasten und den gelblichen, matten Elektrobirnen aus den Häusern. Einige sind von der Straße durchgeschnitten worden, sichtbar sind vergilbte Innenmauern, erinnern an Häuser in zerbombten Städten. Autos quälen sich durch schmale Gassen dem Meer zu, und auch hier, wo sich einst eine holprige Gasse entlang dem Meer zog, ist eine herrliche Strandstraße gebaut worden mit Ufermauern und einem Geklüft mächtiger Felssteine: Schutz gegen Sturm und Wellen. Auch hier haben Schrapper, Krane und Dumper Altes zum Vorschein gebracht, die bisher hinter Häuschen und Hütten verbaute Stadtmauer, den Rest eines feudalen Hauses aus dem Mittelalter. Ach, immer wieder das Vergangene, die Alten, dahergekommen aus allen Windrichtungen, und was wohl, als sie hier an den Ufern standen, mochten sie erblickt haben? Die gleiche Küste, die gleichen Wasser des Meers? Die Babylonier, als sie sich vom unteren Euphrattal durch die Wüste, über Palmyra und durch die Steppe bis hierher durchgemüht hatten, stürzten sie nieder, getroffen vom unwahrscheinlichen Blau der See? Die Mediner, die Hethiter, die Aramäer, die semitischen Völker aus der Wüste, verloren sie die Sprache angesichts der mächtig anstürmenden Kühle des Meers? Die Seevölker aus Kreta und von Zypern, die Hellenen und die Römer, erstarrten sie, als sie Fuß gefaßt hatten an der Küste, im Anblick der mächtigen Felsberge und dem Wissen von der unendlichen 88
Sandwüste im Osten? Sie erstarrten und lösten sich von der Bedrohung, sie überwanden Berge und Wüsten weit, weit nach Osten. Nah beim Hotel der alte, nun aber wunderbar adrett wiederhergestellte Fischereihafen, voll von Booten und kleinen, schnellen Motorbooten, die zur Insel Ruad fahren. Fischer sind dabei, die Netze zu richten, die Boote vorzubereiten für den nächtlichen Fang. Junge Burschen bringen Benzinkanister, in grelle Tücher verpackte Brotfladen, schleppen Netze herbei und fischschuppig glänzende Holzkisten. Ein Alter, auf der Kaimauer hockend, sieht ihnen nachdenklich zu. An was, an wen, an welche Zeit denkt er? Über das abendliche Meer fällt die nächtliche Stille. Fern, wie aufgetuscht auf das Grün des Horizonts, die dunstige Rauchfahne eines Frachters, Lichter aus Bullaugen und von den Masten schwimmen daher wie seltsame, unbekannte Sternbilder. Fand der Luftkampf am heutigen hellen Mittag, über diesem friedlichen Meer, über diesen Bergen statt, die nun schattig verdämmern? Heftig kommt der Tag aus der Wüste daher, die Sonne stürzt sich früh auf die Landschaft. Die Dämmerung ist kurz, läßt dem schlaftrunkenen Morgen kaum Zeit, zu gähnen und sich zu recken. Ruad, die uralte Inselfestung, liegt im unbewegten Meer, Turmspitzen und Festungsmauern von Sonnenpfeilen bekränzt, wenige Fenster blinkern im Frühlicht wie ferne Signale. Zwischen Festland und Insel flitzen kleine Motorboote hin und her, auf einem Schaumkranz schießen sie dahin. Die Insel mit ihren verwitterten Mauern ragt steil aus dem Meer auf; sie hat etwas Vergessenes an sich, etwas Übriggebliebenes aus Zeiten voller Kämpfe und Untergang. Vor niedrigen Fassaden mit verschossenen Inschriften stehen vergessene, farblose Stühle und weinbefleckte Metalltische. Der erste schwarze, bittere Frühkaffee wird getrunken. Unter weit ausgespannten Sonnensegeln sind die am frühen Morgen heimgekehrten Fischer dabei, beschädigte Netze auszubessern. Auf müden Gesichtern ein Hauch von Versunkenheit. Am Ende einer Gasse der Turm einer Moschee; Abu Ahmad macht sich 89
auf, sein Morgengebet zu verrichten. Die Nacht war kurz für ihn, voller Anstrengung und Mühe, den Hunger zu stillen. In der Moschee sucht er Kraft, den heutigen Tag zu durchstehen. Über niedrig hingeduckte Hütten an schmalen Gassen türmen sich Festungsmauern hoch, erbaut aus haardicht zusammengesetzten Kalksteinquadern. Die Jahrhunderte, die Herbstregenstürme und die sengende Sonne, Salzwinde und die oft bis hierher reichenden Sandstürme aus der Wüste haben ihnen kaum etwas antun können. Wenige Menschen nur holpern über das Kopfsteinpflaster in den Gassen, alle ärmlich gekleidet und so, als sei es jetzt im späten September schon kalt. Ihre Bewegungen, auch die der Kinder, sind von gespensterhafter Langsamkeit und Stille, die Blicke scheu wie die von Tieren, die aus ihren Höhlen ans Licht kommen und eine seltsame fremde Welt erblikken. Alles, die Hütten, die uralten Festungsmauern, die Menschen, all dies wirkt bedrückend erstarrt, fast wie aus durchsichtigem Eis. Und dazu die gläserne Stille, die sich wie Gespinst aus Zeitlosigkeit auf alles gelegt hat. Hinter schief stehenden Tischchen, auch sie wie vor Ewigkeiten roh gezimmert, sitzen Männer mit grauen, hageren Gesichtern, hocken junge Burschen, kaum lebendiger als die abgelebten, verstaubten Männer. Mir ist, als würde ich aus blinden Augen uralter Steinskulpturen angestarrt, gleichgültig, ohne menschliche Regung. Ihre Augen wirken wie kleine Muscheln, die blind geworden sind und grau vor Alter. Einige Lädchen gibt es, in denen etwas Gemüse, einiges Obst, und ein paar Fetzen Fleisch verkauft werden. Andere wiederum sind wie von kleinen und großen Muscheln überfüllt. Auf Gestellen an den Wänden, auf Kisten und Kistchen sind irgendwelche Türmchen, Tellerchen, Schalen und Kistchen, mit Muscheln beklebt, aufgestellt. Ein verzweifelt zweckloses, sinnloses Erinnerungszeug. Wozu taugt das Zeug? Wer kauft es? Ich stocke vor einem Laden, trete ein, komme mir vor, als trete ich in eine Welt von verwirrender Lächerlichkeit. Ein Mann, mit einem roten Tarbusch und vertragenem Zeug bekleidet, starrt an mir vorbei. 90
Machen ihn meine belustigten Blicke mürrisch? Meine Frage, französisch getan, wird nicht beantwortet. Hat er sie nicht gehört? Stumpf der Blick, über mich hinweg auf die Wand gerichtet, so sitzt er da, als störe ich ihn in irgendwelchen Gebeten. Mühselig krame ich einige Brocken Englisch zusammen. Er bleibt unbeweglich. Im Kramen finde ich eine handtellergroße Muschel, frage wiederum, nun Englisch, nach dem Preis. Sicherlich nimmt er nun an, ich sei ein Amerikaner oder ein westlicher Tourist, denn sein Preis ist so unverschämt, daß ich laut lachend das Stück wieder weglege und gehe. Das andere, das billige Zeug, für wen ist es gemacht? Sicherlich auch für die Touristen von diesem oder jenem Kontinent. Ein Erinnerungsstück für Tante Ida oder Onkel Albert, auf das gute Vertiko zu stellen: Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe! Von der Insel Ruad, ja, von der phönizischen Küste (das Wort Phönizien zu gebrauchen läßt einen gebildet erscheinen!), ist es nicht wunderbar, und alles Handarbeit, ja! Tante Ida und Onkel Albert, oder wer sonst beschenkt wurde, bewundern gebührend, stellen es an sichtbarer Stelle im Wohnzimmer hin, mit süßsaurer Miene vielleicht, aber ein Geschenk nicht beachten? ... Aber dann, nach einigen Wochen, wird es heruntergenommen vom Schrank, vom Vertiko oder Regal und wandert zu allem andern Gerumpel. Kamil Ismail sitzt immer noch am Hafen auf einem der versessenen Stühle, Abu Ahmad sieht den Netze flickenden Fischern zu und hänselt, nun, da er sein Morgengebet verrichtet, die Fischerjungen, die den Alten helfen. Während wir im Boot davonfahren, dem Festland zu, habe ich den irrsinnigen Wunsch, diese ganze in der prallen Vormittagssonne glänzende Insel in die Hand zu nehmen, sie wegzutragen, so klein wirkt sie. Kamil Ismail stammt aus einem Dorf in den Bergen, denen wir entgegenfahren. Von hier aus ist er ausgezogen als kleiner Dorf junge, ist nach Leipzig gefahren und hat dort, wie schon einmal gesagt, sein Diplom als Ethnologe gemacht. Er spricht ein gutes, wenn auch leicht gefärbtes 91
sächsisches Deutsch. Er ist unruhig schon seit gestern, wird nun, je näher wir den Bergen kommen, nervöser und nervöser. Ist das Dorf allein die Ursache? Verstreut auf den kalkfarbenen, grünbebuschten Hängen liegen Dörfer und Weiler und einsame Hütten. Alle machen den Anschein, als stammten sie aus längst untergegangenen Zeiten. Viereckig ineinander geschachtelt die Hütten, aus Kalksteinen alle errichtet, sehen sie mächtigen, grob zurechtgehauenen Felskuben ähnlich. Die Terrassen auf den Hängen und die Stützmauern sind verfallen, ärmliche Feigenbäume, Maulbeergestrauch und borstiges Stoppelgestrüpp abgesichelten Getreides sind herbstlich braun. Wovon nur leben hier die Menschen? Kamil Ismail fragt: »Haben Sie schon einmal Matetee getrunken?« Ich verneine, und er fährt fort: »Matetee ist das Getränk der Aluiten. In den letzten fünfzig Jahren waren Tausende und aber Tausende in Südamerika, die Männer oft allein, aber auch mit den Familien, und sie haben diese Gewohnheit mitgebracht.« Höher in die Berge windet sich die Straße, sie wird schmaler, und die Asphaltdecke ist, je höher wir kommen, immer mehr von Rissen und Löchern bedeckt. Die winterlichen Frostwinde, das die Straße oft meterhoch bedeckende Eis, die Frühjahrs- und Herbststürme zerschlagen Asphalt- und Gerölldecke. Auf einem Hügelkamm ist eine Gruppe Straßenbauarbeiter dabei, eine neue Schotterunterlage zu legen. Näher gekommen, erkennen wir Frauen, die in kleinen Körben das Schottergestein auf den Köpfen herbeitragen. Steil gereckt, eine hinter der anderen, in bunten langen Röcken und an den Knöcheln zusammengebundenen Hosen, geben sie ein phantastisches Bild. Kamil Ismail sagt: »Die Straße wird in gemeinnütziger Arbeit der Dorfbewohner repariert. Ganze Straßen wurden so schon hier im Gebirge gebaut, auch Wasserleitungen. Das Volk ist nicht mehr so apathisch, so gleichgültig gegenüber den allgemeinen Interessen.« Ich wage nicht zu fotografieren. Man liebt nicht, als exotische Bildbeispiele zu dienen. Alles Überkommene, alles Alte wird, so be92
fürchtet man, von Böswilligkeit und fremder Neugier als Zurückgebliebenheit gedeutet und mißbraucht. »Also arbeiten sie umsonst?« frage ich. »Einige Piaster verdienen sie schon, und selbst weniges ist für sie viel! Bargeld ist wie Gold! Die Erde ist arm, sie gibt wenig her!« Gibt sie wirklich wenig her? Oder wird sie zuwenig gepflegt, nicht stark genug gezwungen, Frucht zu tragen? Kamil Ismail aber, so als wolle er einen bei mir hinterlassenen Eindruck schlechter oder nicht richtiger Art verwischen, beteuert: »Natürlich ist heutigentags alles besser als früher. Jeder Bauer kann bei der Genossenschaft Kredit bekommen in angemessenem Rahmen, und der Verkauf seiner Produkte ist auch gesichert.« Und dann lacht er heraus, und ich starre ihn verdutzt an. »Wissen Sie«, fährt er fort, »da gibt es natürlich Dinge ... Vor ein paar Jahren erhielt ein Bauer aus unserm Dorf einen Kredit von über tausend Pfund. Vielleicht verstand er nicht, was ein Kredit zum Unterschied von einem Geschenk ist. Jedenfalls machte er sich mit seiner Familie in die Stadt, nach Tartous, auf und kaufte ein. Für die Töchter Kleider, natürlich billiges Zeug, für die Frau und die Söhne was zum Anziehen, und als er am Abend heimkam, sah die ganze Familie aus wie zum Ramadan geputzt. Er hatte noch etwas Geld übrig, setzte sich in der Dorfkneipe zu den andern an den Spieltisch ... Na, und das Restgeld war auch flöten.« Im Dorf, zu dem der Heimatweiler Kamils gehört, in einem Gartenrestaurant unter breitkronigen Bäumen, rasten wir. Coca Cola? Bier? Fruchtsaft? Oder frisches, klares Quellwasser, eben erst aus dem Brunnen geschöpft und dann noch geeist? Ja, frisches Quellwasser, aus der Wasserleitung geronnen und im Eisschrank gekühlt. Die Zähne schmerzen vor Kälte, Zunge und Zähne und Kehle werden weit und klar, der erhitzte Kopf leichter, und die Zigarette schmeckt auch nicht mehr, als sei sie aus Stroh. Junge Männer setzen sich rund um uns an den Tisch, sie lächeln vertraulich, schwatzen mit Kamil, der immer wieder zur Terrasse auf93
blickt, wo sich hinter einem Fenstervorhang etwas bewegt, was nicht auszumachen ist. Ein Mädchenkopf? Der Wirt kommt herbei, ein älterer, nervig wirkender Mann mit kühlen Augen. Kamil erhebt sich, begrüßt ihn fast ehrfurchtsvoll, wie etwa einen älteren Verwandten, und auch wir werden von dem Wirt begrüßt, als gehörten wir zur Verwandtschaft. Hinter der Fenstergardine nun deutlich ein Mädchenkopf. Der Wirt kommt mit Zigaretten, mit Arrak, und während wir dabei sind, uns die Zigaretten anzuzünden^ geht Kamil gemessen die Treppe hinauf, verschwindet wortlos hinter einer Tür. Im Auto dann, auf der Fahrt zu dem höher auf dem Hang gelegenen Weiler, sagt Kamil Ismail: »Der Wirt, das ist mein zukünftiger Schwiegervater. Wir sind zum Essen eingeladen.« »Und das Mädchen hinter der Fenstergardine die Braut«, sage ich. Er lacht und wischt sich über die Lippen. Das Haus seines Vaters liegt auf der höchsten, zerklüfteten Kuppe des Berges. Steinig kahl ist er, wie abgeweidet von übergroßen Tieren. Ärmliche Feigenbäumchen und verkrüppelte Obstgehölze haben sich unter dem ewig wehenden Wind krummgeduckt. Bis auf die Höhe, bis zum Haus des Alten zu gelangen ist ihnen nicht mehr gelungen. Steingeröll und große Kalksteinbrocken übersäen die Hänge, zwischen ihnen liegen die stoppelig gelben schmalen Streifen der Gerstenfelder; ein Hauch von Unfruchtbarkeit, von Zerfall und Alter schwebt über dem ganzen Land. Oder macht nur der Herbst das Land so melancholisch? Im Frühling, wenn alles sich begrünt unter den vom Mittelmeer herüberziehenden, von den Bergen gemolkenen Regenwolken, wird da die Heiterkeit früherer, längstvergessener hellenistischer Zeiten wiederkehren? Die verfallenen Stützmauern der Terrassen, schief stehendes Basaltgemäuer alter Hütten, sind die Sinnbilder des heutigen Lebens? Ist alles, was hier Hellenen, Römer, Araber und Byzantiner und Aluiten kultiviert, terrassiert, bewässert und gepflegt haben, unwiederbringlich untergegangen? Der steile Hang jagt uns das Blut durch die Adern. 94
Kamil Ismail sagt: »Der Alte schafft es nicht mehr. Er ist über Siebzig. Wir Kinder sind alle ausgeflogen!« Er lebt nach seinem Studium in Damaskus, der älteste Bruder ist schon zwanzig Jahre in der Armee als Ausbilder, und ein anderer liegt schon seit Jahren in den Schützengräben der Golanhöhen. Am Pfad steht eine niedrige Hütte, grob aus Basaltsteinen zusammengefügt, das Fenster ein viereckiges, mit zerfetztem Tuch behängtes Loch, und durch die Tür vermag man nur gebückt in die Hütte zu gelangen. Dünne Steinplatten, auf Holzsparren gelegt, schützen den einzigen Raum vor Regen, Kälte und Sonne. Kamil Ismail sagt: »In dieser Hütte sind wir aufgewachsen. Als mein Vater nach vielen Jahren aus Argentinien zurückkam, hatte er so viel gespart, daß er uns ein neues Haus hat bauen können.« Mühselig noch einige treppenartige Steigen den Berg hinauf; das Haus liegt vor uns: einstöckig, mit großen hellen Fenstern in den aus sauber zurechtgehauenen Kalksteinen erbauten Mauern. Vor der ganzen Front liegt eine Terrasse, offen dem kühlen Wind im Sommer, vor der Sonne geschützt von dichtgerankten Weinreben. Im Winter wird sie mit groben Matten abgedeckt. Unter der Terrasse in einem viereckigen, offenen Verschlag stehen eine Kuh, eine Ziege und ein Esel. Lebten sie nicht in früheren Jahren im Winter mit der Familie im gleichen Haus? Ein weißgelb gefleckter Hund springt freudig jaulend an Kamil Ismail hoch. Auf der Terrasse erwartet uns ein Greis, angetan mit einer sauberen Türkenhose, mit einem weit im Wind sich blähenden Hemd; dicht sträubt sich über dem braungebrannten knochigen Gesicht ein Schopf weißer Haare, und auch sein mächtiger Schnurrbart ist schneeweiß. Über einer schmalen, kräftigen Nase leuchten unwahrscheinlich helle und lebendige Augen auf, als er seinen Sohn erblickt. In der Unbewegtheit seiner Statur das einzig Lebende: die warmen, strahlenden Augen. Seinen Sohn begrüßt er sehr zurückhaltend, mir streckt er die Hand entgegen, und nachdem er mit ihm einige Worte gewechselt hat, sagt 95
er zu mir auf spanisch: »Señor, Señor, la casa ... la casa es vuestra ...!« Gebrochen nur spricht er die sicherlich schon Jahre nicht gebrauchte Sprache, und als ich mich, nicht minder gebrochen sprechend, bedanke, legt er mir den Arm um die Schulter und führt mich zu einem auf dem Boden liegenden Sitzkissen. Kamil kommt aus dem Haus mit seiner Mutter, auch sie weißhaarig, krummrückig, von mürber Zittrigkeit. Nur mühsam vermag sie ihre Erregung zu verbergen. Sie reicht ein Glas, füllt es aus einem Krug mit Wasser, und Kamil sagt: »Das beste Wasser weit und breit. Es kommt aus einer Quelle im Tal.« Das Wasser ist auf der Zunge und den Zähnen wie Eis: ein Gottesgeschenk. Kamil sagt: »Alle im Dorf unten und auch hier oben im Weiler bekommen aus der gleichen Leitung ihr Wasser. Die Leitung wurde in freiwilliger Arbeit von den Männern und auch den Frauen gebaut. Da drüben, sehen Sie da, das ist unser alter Brunnen. Er ist über dreißig Meter tief.« Ein Schacht, dunkel wie die Vergangenheit, das runde Steingemäuer verfallen, modrig feucht der aufsteigende Geruch: wie die Vergangenheit? Was alles haben die Bewohner dieser Hütte mit dem Umzug in dieses neue Haus nach Jahren eines verzweifelten, ärmlichen Lebens, nach jahrelanger Sklavenarbeit des Mannes im fremden Land, nach dem Bau der gemeinsamen Wasserleitung hinter sich gelassen? Können wir das je ermessen? Von diesen Küsten aus, die einst als die phönizischen bekannt waren, zogen ihre einstigen Bewohner schon vor Jahrtausenden über die Meere. Berühmte Schiffsbauer waren sie, noch berühmtere Segler, und ihre für die Zeit unerhörte Abenteuersucht – oder war es nicht mehr als Flucht aus der Armut, nicht mehr als Habsucht nach fremden Schätzen, was sie auf die Meere trieb? – führte sie weiter als nur an die nahen Küsten: Auf die griechischen Inseln, Kreta und Zypern kamen sie, an die italienische Küste und nach Sardinien und Sizilien und Malorca. Sie erreichten Gibraltar und segelten die Küste Westafrikas entlang, gründeten Faktoreien und Niederlassungen auch an der 96
nordafrikanischen Küste. Sie waren berühmte Produzenten von Seide und PurpurfarbStoff, das Glas ihrer Werkstätten war kostbarstes Gut an den damaligen Königshöfen. Das Holz ihrer Zedern brachte man von Mesopotamien bis an den Nil für den Bau von Schiffen. Die Karawanenlasten von ostasiatischen Gewürzen, von Gold und Schmucksteinen aus der bekannten und der zur Zeit noch unbekannten Welt wurden in ihren Lagerhäusern gestapelt, ehe sie ihren Weg fanden bis in alle nördlichen, südlichen und westlichen Länder. Sie waren Seefahrer und Abenteurer von der Größe des homerischen Odysseus, Händler und Kaufleute, die nie ihren Homer gefunden hatten. Das alles waren sie, nur eins waren sie nie: Krieger, Eroberer und Plünderer fremder Küsten. Und dieser späte Nachfahre der alten Phönizier, der da im kühlen Bergwind sitzt, er war weder ein toller Segler, ein Abenteurer von homerischen Ausmaßen noch ein Kaufmann, der eigene Produkte und fremde Schätze in seinen Niederlassungen zu verkaufen hatte. Ein armer Bauer auf ärmlichem Bergland war er, das ihm nicht genug Brot gab, um die Mäuler der Kinder zu stopfen, die aufgesperrt wurden wie die Schnäbel hungriger Spatzen. Ferne Küsten, reiche Landschaften, fruchtbare Plantagen, die harte arbeitsame Hände brauchten, wo waren sie? Und so wie er hatten schon Generationen armer Aluitenbauern über die Meere geschaut. Vor ihm hatte der Hunger die Bauernsöhne übers Meer an die südamerikanische Küste getrieben, nach Brasilien und Argentinien. Diese wiederum hatten den Weg gebahnt für Freunde und Nachbarn. In den dreißiger Jahren machte sich dieser Greis auf der kühlen Terrasse auf in die großmächtigen Plantagen und Farmen des fremden Kontinents, jung noch und fähig, Tag und Nacht zu arbeiten. Schon die Reisekosten zu »besorgen«, wieviel Bettelei und Sorgen, und sie zurückerstatten, wieviel Schweiß muß es ihn gekostet haben. Und allein übers Meer zu gehen, allein in der schmutzigen Landarbeiterhütte in der Pampa zu leben, ohne frauliche Wärme und das Zwitschergeläut der Kinder, war das nicht schwerer gewesen als die Arbeit von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang? Nur der Traum von einem neuen Haus 97
gaukelte durch den Schlaf, von einigen guten, bewässerbaren Stücken Land ließ alles ertragen, alles! Und nach Jahren, was hatte er in den Händen? Nach einigen Jahren, so gibt er zu bedenken, hat er nicht mehr im Geldbeutel als für den Zement und die Steine für die Wände und das Dach, für den wenigen Lohn, den er den beim Bau helfenden Nachbarn geben muß. Wie schwer es ihm fällt, sich in der einstmals fremden Sprache auszudrücken, aber sie zu gebrauchen, bedeutet, die Erinnerung an die Jugend hervorzuholen aus dem dunklen Loch der Vergangenheit, noch einmal den Hauch der fernen Welt zu spüren. Mühsam die Worte, die Sätze hervorsprudelnd, sagt er immer nur das eine: Sieh, Fremder, der du auf diesen Berg gekommen bist, auch ich war einmal fern und weit. Und als ich ihn bewundernd anblicke, lächelt er stolz und zufrieden vor sich hin. Die Mutter Kamils, die zur Greisin gewordene junge Frau, bringt eine Kanne mit heißem Wasser, die Tassen und die Silberröhrchen, mit denen Matetee getrunken wird, gibt in jede Tasse eine halbe Handvoll Tee, Zucker dazu und überschüttet alles mit dem heißen Wasser. Muß ihr nicht der Matetee schmecken trotz Zucker wie bittere Galle, sie immer wieder erinnern an die einsamen Jahre ohne Mann, mit den Kindern allein auf diesen Berghöhen und dem kärglichen Land, mit Ziege und Kuh und Hühnern und dem Hund in dem Loch von Basalthütte? In großen Mengen wird Matetee eingeführt, in den Aluitenbergen ist er das Sinnbild von Auswanderung und Heimkehr, in seinem süßbitteren Geschmack spürt man die süße Bitterkeit der südamerikanischen Tage – und auch der endlosen Zeit im Loch der Hütte. Wir saugen ihn mit versilberten Originalröhrchen, die mit zauberhaften, an die indianische Kunst erinnernden Ornamenten verziert sind; wir schlürfen das dickliche, weißbräunliche Gebräu, bis uns der Schweiß über Stirn und Wangen rinnt. Nachfüllen, Zucker drüber und schlürfen und schlürfen. Kamil Ismail sagt: »Zehn Tassen oder auch mehr muß man trinken, dann erst spürt man die Wirkung.« 98
Die Braut Kamils ist ein achtzehnjähriges Mädchen mit schwarzem, auf die Schulter fallendem Haar, sie hat den Scharm ihrer frischen Jugend in den dunklen Augen, das ebenmäßige Gesicht mit den schönen, vollen Lippen ist voll von Erwartung, zeigt keinerlei Verlegenheit oder Unbeholfenheit. Wir sitzen auf der Terrasse des Schwiegervaters vor einem Haus, das auch erst in den letzten Jahren erbaut wurde. Mit dem Blick auf die jenseitigen Hänge, in das Tal hinunter, schattige Kühle auf allen Seiten, mit fließendem Wasser und Elektrizität versehen, mit seinen saubergefügten Mauern und den großen Fenstern ist es ein Schmuckstück seltener Art in dieser Gegend. Das Mädchen bewegt sich entgegen aller arabischen Tradition, die auch heute noch verlangt, daß die Frauen des Hauses sich keinem männlichen Gast des Hauses zeigen, ungezwungen und mit schelmischer Sicherheit. Sie deckt in unserm Beisein den Tisch, sie reicht uns den Aperitif – Whisky, Kognak, Arrak oder Fruchtsaft? –, ja, selbst als ich ohne sie nicht trinken will, leert sie ein Glas Whisky. Ihre verarbeiteten Hände, sehr gepflegt jedoch sind sie, passen weder zu dem zarten Gesicht, noch zu der grazilen Gestalt. Kamil Ismail ist stolz. Das Mädchen entspricht sicherlich seiner Vorstellung von weiblicher Emanzipation, und seine Verliebtheit verbirgt er hinter gekünstelter Lebendigkeit. Zuweilen aber streicht er ihr verstohlen über den Arm, gibt ihr einen verdeckten, erwartungsvollen Blick, der auch heutigentags kaum in der Öffentlichkeit statthaft ist. »Sie müssen sehr auf ihn aufpassen«, scherze ich, bewegt von der heiteren, liebevollen Atmosphäre, und Kamil muß es übersetzen. An der schelmischen Verlegenheit des Mädchen spüre ich, daß er richtig übersetzt. »Wissen Sie, ich würde ihn, wenn ich mit ihm verheiratet bin, nicht nach Leipzig fahren lassen. Kamil, bitte sagen Sie ihr, was Goethe über die Leipziger Mädchen sagte.« Auch das übersetzte er, spielt ein wenig den Galan, und das Mädchen sagt: »Wenn er fährt, nicht ohne mich!«
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Stunden später sagt Kamil: »Schon lange wären wir verheiratet... aber in Damaskus eine Wohnung zu finden, das ist, wie von Allah ein Sondergeschenk zu erhalten.« »Aber es wird doch soviel gebaut!« Er zuckt nur mit der Schulter. Nach seinem Studium erhielt er im Ministerium für Kultur eine Anstellung. Das Anfangsgehalt? Es reichte, um sich allein durchzuschlagen, für die Schlafstelle in der Wohnung eines Freundes, für die Fladen in der Garküche am Mittag und Abend. Aber um zu heiraten ...? Schon ein Glück, daß er dem Brautvater für das Mädchen keinerlei Geld bezahlen muß. Nun sucht er schon seit Monaten eine kleine Wohnung, getrieben von seiner Furcht, zu verlieren, was er sich an vorstellbarem Glück erobert hat. Ein kleines Zimmer, eine Kochnische würden reichen für das kleine Glück. »Nicht nur eine Liege haben, nicht mehr in einer Garküche einen Fladen essen müssen ... Allah gebe uns eine Chance!« Da findet er auch eines Tages ein Zimmer oder was man dafür halten kann, auch eine Kochnische ist dabei, nicht allzu teuer, aber die Miete muß für ein Jahr im voraus bezahlt werden. Woher den Haufen Geld nehmen? Wo es zusammenkratzen, um hinzugehen und zu sagen: Hier, da ist das Geld. Wann kann ich einziehen? So ist die Situation am heutigen Septembertag: Das Geld muß beschafft werden, und wenn er es dann dem Hausbesitzer hingelegt hat, wird er seiner Braut einen Brief schreiben: Bereite die Hochzeit vor. Wir haben ein Nest! Nun ja, damit haben die Sorgen jedoch noch nicht aufgehört! Man wird sich behelfen müssen, aber ein Bett muß schon sein, zwei Stühle müssen sein, einige Töpfe auch, denn wer will nur von Fladen allein leben wollen? Vielleicht wird der Schwiegervater ein barmherziges Herz haben (Allah gebe es!), und der ältere Bruder, nun schon seit zwanzig Jahren in der Armee, wohl mit einer Schar Kinder gesegnet, wird einem auch unter die Arme greifen und bei den ersten Gehversuchen unterstützen. Der 100
Schwiegervater ist ja um ein weniges besser gepolstert als die meisten der Dorfbewohner. Sicherlich, er hat schon auf den Brautpreis , die Sicherheit für die Tochter, entgegen allen Gewohnheiten und Sitten seit eh und je verzichtet. Das war schon mehr als Hilfe für das große lebenslange Abenteuer. Und spätestens nach zwölf Monaten muß doch das erste Kind dasein, Zeugnis für Liebe und Fruchtbarkeit. Und mit ihm werden neue Sorgen kommen trotz aller Freuden. Nichts unter der Sonne gibt es, was nicht seinen Schatten hätte. Die Braut erscheint, mit der Küchenarbeit, mit allem fertig, was zu einem Gastmahl gehört. Bekleidet mit einer hauchdünnen Bluse und einer engen Hose, stockert sie auf hohen Stöckelschuhen daher. Sie ist kein Dorfmädchen mehr. Die Stadt, wenn auch erst mit ihrer Mode, hat Einzug in die Berge gehalten. Ohne dörfliche Befangenheit reicht sie dem Gast das frischeste Wasser für den Arrak, serviert ihm das zarteste Stück Hühnerleber, das grätenloseste Fischfilet, reicht ihm Homos, eine mit Olivenöl und Grünzeug garnierte Kichererbsenpaste, empfiehlt Salat und Zwiebelchen. Ihre Blicke aber, zärtlich und offen, sind für Kamil; ihre scheinbar absichtslosen Zärtlichkeiten, ein leichtes Anlehnen an seine Schulter, das zage Berühren der Hände, alle verstohlene Koketterie gilt nur ihm. Sagt sie etwas, ist ihre Stimme wie Taubengurren. Kamil nimmt ihre Worte schweigend hin, nur seine Augen sprechen mehr als zulässig. Auch mich läßt er aus diesem Gespräch. Wozu braucht er mich? Allein ist er mit ihr auf der Terrasse am Hang, ganz allein trotz Schwiegervater, ausländischem Gast und den Freunden aus dem Dorf. Der gegrillte Fisch hat noch den Geschmack nach Meer und Salz, er schmilzt auf der Zunge, dazu die eben erst aus dem Garten genommenen Zwiebelchen, das in Zitronensaft verrührte Knoblauchmus, fingerdick über das nußweiße Fischfleisch gestrichen, all das ist Labsal für Zunge und Gaumen. Die Braut drängt: »Sie müssen noch einen Fisch nehmen!« Verzweifelt bettle ich um Erbarmen. 101
Unnachsichtig sagt die Braut: »Nur einen Fisch noch! Für einen Mann wie Sie, was ist das schon?« Kamil Ismail wird es schwer haben, ihr zu widerstehen, sehr schwer. Auf der Terrasse am Meer ist Windkühle, ist die Stille der Nacht, unterbrochen vom Stimmengemurmel und Gelächterfetzen. Auf den Ufermauern sitzen einige junge Burschen, durch das Dunkel klingt ihr Lachen scherbelig. Auf den Wellen schaukelnd Lichter von Fischerbooten. Ein Moped rattert daher, gräßlich zerhackt der Motor die friedliche Stille. Die Burschen halten den Fahrer an, auch ein junger Bursche, Gestreite hin und her, und dann setzen sich drei der jungen Burschen hinter den Fahrer. Alles geht natürlich unter Gejohle und Gelächter vor sich, und auch als das Moped aufheulend losrast, ist das Geheule der Burschen lauter als das des Motors. Zugegeben, die neue, schnurgerade Strandstraße eignet sich ausgezeichnet als nächtliche Rennbahn. Kein Esel, aus einer Seitengasse dahertrottend, hemmt oder verhindert den rasenden Lauf, kein streunender Hund oder daherschlendernder Bürger gerät in Gefahr. In der Ferne stirbt das Motorheulen, wird wieder lebendig, nähert sich, und dann ist das Moped mit seiner Last wieder da. Die Reifen knirschen und rauchen, wiederum Gejohle. Streit, anfeuernde Schreie. Drei andere Burschen klemmen sich hinter den Fahrer. Wie schnell das neue Fahrzeug ist, wurde ausprobiert, auch daß es ausdauernd ist und vier Fahrgäste duldet, aber ... Da ist doch der durch den Bordstein scharf begrenzte Bürgersteig. Ob dieses Vehikel aus Suhl auch das schafft? Nur mit dem Fahrer da hinauf ist weiter nichts für solch ein tolles Ding. Mit allen vier Burschen da hinauf, das ist was! So also los, einen kleinen Anlauf genommen, heran an den Bordstein, hinauf auf den Bürgersteig, wenn notwendig mit ein wenig Hilfe, indem man die Füße auf den Boden stützt und schiebt und schiebt. Warum nur heult der Motor so? Ist es nicht absolut normal, daß ein solches Vehikel es auch mit vier Mann schafft, auf den Bordstein zu kommen? 102
Also ein neuer Anlauf! Einer der Burschen, weichherziger als die andern, erbarmt sich, steigt ab und schiebt – er versucht es wenigstens –, und das Ding ist auf dem Bürgersteig. Hurra! Und um ganz sicher zu sein, ein neuer Versuch, und dieser gelingt auch. Ein tolles Fahrzeug also! Eine königliche Unterhaltung am nächtlichen Mittelmeerufer. Verwunderlich, daß keiner der Hotelgäste oder Anwohner an dieser nächtlichen Unterhaltung teilnimmt! Den Blick von den Bergkuppen aus nach Westen, dem Meer zu, dem dunstigen Horizont, wie sehr müssen ihn die Aluiten lieben! Da ruhen die Wasser schläfrig am Morgen, da gleißen sie am Mittag wie blankgeriebenes Silber, und am Abend spiegeln sie den dunstigen Hauch der untergehenden Sonne. Und der Blick von den Hügeln zu den Bergschroffen im Osten, auch er lockt in die Weite, in die Steppe, in die Wüste bis zum Euphrat hin. Jedes Dorf ist auf einer der vielen Kuppen angesiedelt, und auch das, dem wir entgegenfahren, scheint dem Himmel entgegenwachsen zu wollen. Doch sind es nicht nur die freien Blicke noch Ost und West, die Mensch und Tier in die Höhe treiben, sondern vielleicht die Kühle im Sommer, die stets vom Meer her wehenden Winde, die das Leben auch am Tag angenehm machen? Auf dem kleinen Marktplatz, um die Bäume und über die vor dem Cafe stehenden Tische weht Frische. Wind spielt in den Kronen der Bäume, in den dicklappigen Blättern, und Wind weht Staub über die Tischchen, an denen im Schatten auf Hockern Männer sitzen, Tricktrackbretter zwischen sich, Männer mit und ohne Barte, die uns und unseren Wagen ohne großes Erstaunen betrachten. Monsieur de S., ein langjähriger Bekannter, einst Diplomat eines kleinen europäischen Staates, hat sich in diesem Dorf niedergelassen. Warum? Nun, wir werden sehen! Erstaunen der Männer: Kennen wir nicht, nie von ihm gehört! Hin und her, zögernd beschreiben wir ihn, seine frühere Tätigkeit, sein Herkommen, und alle Männer atmen auf: »Ja, das 103
hätten Sie direkt sagen sollen! Sie meinen Louis! Dort oben wohnt er, dort in dem Haus zuhöchst auf dem Berg ... Nein, da kommt er ja gerade!« Ein altes, klappriges Vehikel von Auto biegt in den Platz ein und hält bei uns an. Louis de S., weißhaarig, immer noch schmal und straff, neben sich eine junge, üppige schwarzhaarige Frau und ein bezaubernd süßes Kind, starrt uns an. Plötzlich ein heller Schein in den Augen, echt wirkendes, freundschaftliches Erstaunen und Wiedererkennen: Son Exellence le Ambassadeur (ade natürlich!), in kurzer Hose, einem weit offenen leichten Sommerhemd, zerfurcht das Gesicht, aber heiter und natürlich, als hätten wir uns erst gestern das letzte Mal gesehen. Nicht immer wurden uns die Tage auf dem diplomatischen Parkett leicht gemacht. Recht besehen, verging kaum ein Tag, ohne daß man uns nicht irgendeinen Tort angetan hätte. Auf Cocktails und Empfängen wurden wir geschnitten, ironisch auch wohl nach Status und Anerkennung gefragt, es wurde intrigiert und verleumdet, und gab es schon einmal ein Gespräch mit einem westlichen Diplomaten, verlief es frostig höflich. Vorsichtig tastete man sich an uns heran, um festzustellen, wes Geistes Kind »diese da« sind. Das konnte man oder mußte es auch nach Hause melden: Dieser nicht anerkannte Vertreter dieses nicht anerkannten Landes ist kein Berufsdiplomat, will Schriftsteller sein ... er ist ... er bewegt sich selbstbewußt ... seine Meinung über ... sein Einfluß ist nicht bedeutend, aber man muß damit rechnen, daß er auf hiesiger Seite steigt. Bei dem Cocktail zu Ehren von ... am gestrigen Abend stellten wir fest, daß er sich längere Zeit mit dem stellvertretenden Außenminister unterhielt. So oder ähnlich wird man sicherlich nach Hause berichtet haben. Mit Louis – nennen wir ihn so, wenn es auch etwas allzusehr vertraulich klingt – war es anders. Er kam aus irgendeinem ostasiatischen Land, Indien mochte es sein oder Burma, aber er kannte auch China und Hongkong und Thailand und Indochina, war, wie man so sagt, ein wirklich weitgereister Mann. Natürlich sprach er mehrere Sprachen, er flog sein eigenes kleines Sportflugzeug, neben seinem Dienst104
wagen fuhr er einen durch die Stadt donnernden Sportwagen, dessen Lärm und Geratter alle Gassenjungen begeisterte. Kaum, daß er in seinem gemieteten alten arabischen Palast warm geworden war, in seiner Residenz, die einen Hauch von uraltem Orient hatte, war er schon im Gespräch aller weiblichen und männlichen Klatschbasen: Er ist mit einer indischen Prinzessin verheiratet, hält sie aber abgeschlossen wie in einem Harem; junge syrische Mädchen, getarnt als Angestellte, dienten der Prinzessin und auch ihm ..., Sie verstehen! Hahaha ... Seine ganze Art, sich zu geben – ungezwungen war er und ohne Rücksicht auf diplomatischen Status und seine Gepflogenheiten –, provozierte echte und falsche Nachrichten, umgab ihn mit einem Hauch von Abenteuertum. Zugleich war er von herzlicher Offenheit, stets hilfsbereit, und obwohl er, wie gerüchteweise verlautete, aus einer europäischen Pflanzerfamilie mit unermeßlichem Kolonialbesitz stammte, gab er sich sehr demokratisch, und uns gegenüber war er von einer einfachen, aber echten Herzlichkeit. Einer Einladung folgend zu einem Frühstück zu zweit in seinem Palast, trafen wir ihn an, wie er dabei war, eine uralte, mit herrlichen Schnitzereien verzierte Innentür zu renovieren. Einen kleinen Pinsel in der Hand, mehrere Töpfchen mit den verschiedensten Farben vor sich, die tief versunken wirkenden Augen verborgen hinter einer Brille, hockte er vor der Tür und pinselte, während wir ihm verblüfft zusahen, Strich für Strich die uralten Farbornamente nach. Zu jener Zeit war ich noch nie in einem noch bewohnten und noch bewohnbaren arabischen Palast gewesen, hatte noch nie einen Innenhof dieser Art gesehen. Was sich mir nun bot, faszinierte mich und machte mich sprachlos: Inmitten des mit Marmor ausgelegten Hofes sprudelte in einem vieleckigen Becken, auch dieses aus Marmor erbaut und mit fast abstrakt wirkenden Ornamenten verziert, durchsichtig klares, kühles Wasser, das den Hof mit Kühle überströmte. Neben dem Brunnen stand ein uralter Orangenbaum, an einer Mauer, die jeden Einblick vom Nachbarhaus verwehrte, rankte Wein hoch; Hocker standen umher, an den Wänden der Innengebäude lagen Sitz- und Liegekissen; die Tür, an der Louis pinselte, führte in den Palast, dessen 105
Tiefe und Räumlichkeiten nicht bestimmbar waren; alle Türen zu den Räumen, rings um den Hof angeordnet, standen weit offen; um die Räume im oberen Stockwerk zog sich eine Balustrade entlang. Verstohlen ich: Waren das die Haremsräume? Hausten hier die »Dienerinnen«? Hinter den holzgitterverblendeten Fenstern, spielte sich da das ruchlose Leben ab? »Cher ami«, sagte Louis, und als wir im Palast waren, in dem dämmrigen Empfangsraum, über dem eine Decke hing aus buntfarben bemaltem Holz, auch sie bedürftig einer Renovation, in ihrer Vergilbtheit jedoch von schwebender Leichtigkeit, sagte Louis: »Das Gold und das Lila, das Grün und das Rot der Bemalung, wirkt es nicht wie Seide und Gold auf das Holz gestickt?« Auch hier wie im Hof rings um die Mauern Sitzkissen, vor ihnen kleine Messing- oder Holztischchen, ebenfalls mit herrlichen Intarsien eingelegt. Hier saß und sitzt man zu Tee und Kaffee, hier wurden Gastmäler in verschwenderischer Fülle auch liegend – wie herrlich diese uralte römische Sitte! – über Stunden und Stunden eingenommen. In den Regalen an den Wänden und auch in den Nischen, die als Türen und Fenster mit geschnitzten Rahmen ausgebildet waren, standen Kunstwerke jeder Art: ein herrliches rundbäuchiges Stück arabischer Keramik, auf grünlicher Emailglasur arabische Schriftzeichen in geometrischen Mustern; eine Parfümviole; römisches Glas und griechische Tonware; und all das, was er in Ostasien zusammengetragen und hierher gebracht hatte: Buddhabronzen der verschiedensten Provinenzen, aus den verschiedensten Jahrhunderten, Keramiken und Holzplastiken. Und als Glanzstück der ein wenig wahllos zusammengetragenen Sammlung ein vollständiges, außerordentlich gut erhaltenes skytisches Pferdegeschirr, Trensen und Halftermetallteile feuervergoldet. Meine Sprachlosigkeit schmeichelte Louis. Hatte er mich darum eingeladen? Er legte freundschaftlich seinen Arm um meine Schulter, er führte mich in einen andern Raum, in dem Teppich auf Teppich lag, jedes Stück alt, von vergilbter Pracht: persische, armenische, solche aus den kurdischen Bergen und auch zwei chinesische Seidenteppiche. Und nachdem ich alles bewundert hatte, nicht nur aus Höflichkeit, bei Gott 106
nicht, führte er mich in den Hof zurück, an den rieselnden Marmorbrunnen, wo der Frühstückstisch aufgebaut war. Wir aßen kleine, eben erst auf Holzkohle gebrutzelte Hammelfleischstückchen, Hühnerherzchen und Hahnenkämmchen, wir aßen Oliven und gesäuerte Gurken, eben erst gebackene Gerstenfladen und tranken Bier aus Holland, Belgien und Dänemark. Über Monate hinweg trafen wir uns einmal in der Woche in seinem und einmal in unserm Haus zu einem kleinen Männerfrühstück, das dann und wann auch bis zum Nachmittag ausgedehnt wurde. Er erhielt von seiner Regierung mehrmalige Rügen, da er mit einem Diplomaten eines nicht anerkannten Staates, eines kommunistischen dazu, so enge Beziehungen unterhielt. Doch das störte ihn wenig, wir trafen uns weiter, bis er auf eine für uns geheimnisvolle, fast abenteuerliche Weise verschwand. Auf einer Fahrt nach Beirut wurde er auf libanesischer Seite verhaftet, nach wenigen Tagen schon wegen Waffenschmuggel zum Tode verurteilt, doch auf Grund einer Intervention seiner Regierung kam er wieder frei. Er nahm seine Möbel aus dem arabischen Palast in Shuk und zog sich zurück in die Drusenberge. Wir hatten uns bis zum heutigen Tag nie mehr gesehen. Die diesigen Bergtäler bis zu den Meerufern, die letzten Vogelschreie in der abendlichen Dämmerung, Hundegeheul auf den jenseitigen Hügeln: ein Abend wie aus Seide. So nun, nach all den Jahren auf einer Gasthausterrasse bei einem Essen am Abend, seine junge Frau neben sich mit dem Kind im Arm, er in den Sechzigern, sie nur wenig über zwanzig, da sagte er in seiner Nachdenklichkeit: »In Arne, in den Drusenbergen, sah ich sie schon als 15jähriges Mädchen, und ich wußte, eines Tages werde ich sie heiraten. Französisch brachte ich ihr bei, und was ich so wußte über Kunst und Literatur.« Und ich dachte: ›Und was noch?‹ Doch interessierte es mich wenig, was mit dem Mädchen gewesen war. Die junge Frau hörte Louis sehr kühl zu, fast ein wenig ironisch, sagte etwas auf arabisch, und er ver107
stummte. Seine Selbstsicherheit verging, ich aber, um ihm zu helfen, fragte: »Louis, hören Sie! Damals, als Sie verhaftet wurden, gab es die seltsamsten Gerüchte. Natürlich auch solche, die für Sie nicht sehr schmeichelhaft waren: Ein internationaler Spion! Ein Abenteurer! Sie waren abwechslungsweise ein russischer, ein amerikanischer, ein englischer, ein französischer oder auch ein Nasserspion! Was aber war wirklich geschehen?« Er lachte sehr herzlich. Ich spürte, daß er seiner Diplomatenkarriere kaum nachtrauerte, sehr froh aber war, daß ich ihn aus seiner Verlegenheit gerettet hatte. »Ach, eine simple Geschichte!« Es schien ihn wirklich zu belustigen, was einst gewesen war. »Zu verdanken hatte ich sie nur meiner Gutmütigkeit. Mein Chauffeur sollte eines Tages nach Beirut, sollte irgend etwas erledigen. Am Tag vorher kam er und bat darum, für einen Bekannten einen Koffer mitnehmen zu dürfen. Nun, warum nicht! In der Nacht aber überlegte ich mir, auch mitfahren zu können, und so fuhren wir los, und als wir an der Grenze waren, ging alles vor sich wie gewöhnlich: Paß, Wagenpapiere und Wagenkontrolle, ohne daß wir aussteigen mußten. Wir waren abgefertigt, ja, schon einige zehn Meter gefahren, als wir angehalten wurden, auszusteigen und den Kofferraum zu öffnen. Vermögen Sie sich mein Gesicht vorzustellen, als ich die Bescherung sah? Maschinenpistolen, Revolver und Munition. Da nützte es nichts, zu betonen, ich habe nichts damit zu tun, es sei eine Provokation. Ich schwieg also, schwieg auch, als man mich verhaftete und abführte, in eine Zelle sperrte und dann zum Tode verurteilte. Auch als meine Regierung intervenierte und man mich wieder freiließ, blieb ich still. Ich löste mein Dienstverhältnis, ging aber nicht mehr nach Damaskus zurück, sondern nach Arne, in die Drusenberge. Europa war mir verhaßt, dieses ganze Europa mit seiner verlogenen Zivilisation. Ein Haus mietete ich mir, ein großes Stück Land nahm ich in Pacht, ich pflanzte Obstbäume jeder Art, und es gelang mir auch, die Nachbarn zu bewegen, Obstplantagen anzulegen nach modernen Erkenntnissen. Und jetzt mache ich hier Versuche mit dem Anbau von Erdbeeren ...« 108
»Sehen Sie, wie naiv er ist, immer noch?« warf die junge Frau ein. Er sprach arabisch mit ihr, wiederum verlegen geworden, und man sah, daß er es nicht leicht mit ihr hatte. »Erdbeeren ... Erdbeeren ...«, höhnte sie, und ich nahm an einem alle Tage stattfindenden Streit statt: »Wer braucht hier Erdbeeren, und vor allen Dingen fragen Sie ihn einmal, was oder wieviel er schon damit verdient hat. Nur sein Geld verschleudert er, sonst nichts! Aber er hat ja genug davon!« »Sehen Sie«, sagte Louis, »so ist das Leben! Sie war einmal eine Bäuerin und ist zu einer Kapitalistin geworden, zu einem Bourgeois, und ich, der ich einmal ein Großbourgeois war, hab’ mich zu einem Bauern gemausert!« »Du ein Bauer?« lachte die junge Frau heraus, und da lachte auch er, und gemeinsam sahen sie das immer müder werdende Kind an, das, durch das Lachen geweckt, den Arm des Vaters suchte. »Überall schleppt er das Kind mit«, sagte die Mutter, wieder böse geworden, »in jedes Restaurant, ans Meer, wenn er zum Baden fährt oder in seinem Boot hinaussegelt. Und jetzt will er dem armen Kind auch noch Wasserski beibringen!« Sie gebrauchten nun wieder die arabische Sprache, sie zänkelten hin und her mit keifenden Stimmen, bis er Wein einschenkte, das Glas hob und sagte: »Ich bin sehr froh, daß Sie uns besucht haben!« Meine Fragen behielt ich bei mir. Die junge Frau sagte: »Waren Sie schon einmal in Paris oder Brüssel, in Frankfurt oder Köln?« »Wie Madam fragen kann!« sagte er. »Ich möchte auch einmal Europa sehen«, fuhr die Frau fort, in irgendwelche Vorstellungen verloren, die Frau, die einmal in den Drusenbergen gelebt hatte, dann hierher gezogen war, an diese milde, freundliche Küste mit dem Blick übers Meer, wurde nach Europa hinübergelockt. Die Bewohner aller Epochen dieser Küste, die frühen Phönizier, die östlichen Eroberer, all die Seevölker, die Araber und die Aluiten, war für sie die ferne europäische Küste immer schon die Verlockung? Verwirrende Sehnsüchte und Träume von Milde und Reichtum, von 109
einem leichten Leben geisterten durch die Abende der Jahrhunderte? Immer wieder und immer wieder? »Doch er will nicht mitkommen«, beklagt sich die junge Frau. »Und wie kann man da allein, nur mit dem Kind nach Europa reisen?« »Nach Europa, ich?« sagt Louis, und ich spüre das Unabänderliche seines Entschlusses im Ton seiner Stimme. »Nie mehr! ... Nie mehr ..! Es widert mich an!« »Aber ich fahre eines Tages«, sagt die junge Frau, »mit dem Kind!« Je mehr wir nach Norden kommen, um so schneller verändert sich die Landschaft, wird herber den Bergen zu, während die Küste gleichmäßig mild und lieblich bleibt. Die Küstenebene verbreitert sich, der kultivierte und kultivierbare Boden, ein schwerer schwarzer Acker, trägt Baumwollgrün, weiß gefleckt, trägt wie Bartgewächs wirkendes grüngraues Erdnußgestrüpp, und auf den abgeernteten Getreidefeldern sind Traktoren dabei, zu pflügen und zu eggen. Auf mit Grün vollgeladenen Hängern sitzen Frauen und Kinder, warten auf den Abend, der sie in die Berge bringt. Sanft wachsen die Hügel an, auf Kuppen kräuseln sich vereinzelt Rauchschwaden. Ernteschwer geht der späte Nachmittag dem Abend zu. Kamil Ismail sagt: »Die Frauen und die Kinder aus den Dörfern verdingen sich für die Erdnußernte hier auf den Feldern. Das abgeerntete Grün erhalten sie als Zugabe. Es ist Winterfutter für das Vieh!« Mächtige Hallen am Weg, ein Ensemble viereckiger Kisten, dem Wind weit geöffnet durch große Tore und Schlitze unter den Dächern. An den Fenstern, an der Mauer entlang in der Sortierhalle sind Frauen und Mädchen dabei, auf Tische ausgeschüttete Erdnüsse zu sortieren. Die kleinen, verschrumpelten in die Körbe rechts: aus ihnen wird Öl gepreßt. Die größeren, die gesunden, goldfarben sehen sie aus und wie große satte Raupen, sie kommen in die Kisten links, von hier aus in Säcke, werden in andere Hallen transportiert und aufgestapelt zu mächtigen Haufen. Sie warten hier auf die Schiffe, die sie in alle Welt transportieren. 110
Die Frauen und Mädchen, gestern wohl noch Bäuerinnen in den Dörfern, haben fixe Hände und geschickte Finger, sie haben lustige, neugierige Augen, schnell kichernde Herzen: Diese Fremden, was wohl kann sie da interessieren? Doch nicht nur die Erdnüsse! Nein, ihr Interesse gilt – – – ... Verstohlen wird eine Haarlocke aus dem Auge gestrichen, mit den Fingern durchs Haar gefahren, man rückt sich zurecht, wagt einen Blick unter schweren schwarzen Wimpern her. Aber ach, sie gehen schon, die Fremden! Dumm sind sie, kalt sind sie, diese Europäer! Das alte Ugarit, abseits der heutigen Straße gelegen, ist ein Gewirr verfallener Lehmmauern. Die ehemaligen Stadttore und die Mauern des »Königpalastes« sind aus mächtigen Feldsteinquadern erbaut, sind als einziges noch dem Verfall entgangen. Unansehnlich wirkt alles, seit Jahren befreit von Sand und Erde, sind die Lehmmauern auch nichts anderes als zerbröckelnde Erde, Sand und Staub, preisgegeben jedem Regen und Wind. »Zu Staub sollst du werden ...« Trauer, Resignation über allem. Und das wirkliche Ugarit, wo und wie stellt es sich heute noch dar? Am Straßenrand hocken Bauern im vergilbten Glast des späten Nachmittags, genießen die müde Sonne, die Geruhsamkeit des Feierabends. Falten durchschneiden wie Schnitte die rauhgebeizte Haut der verwitterten gleichmütigen Gesichter; ihre ruhenden Fäuste wirken wie aus Holz geschnitzt, sind voll Beulen und Schwielen; am Rand der Felder ein Haufen müde gewordene Arbeiter; ein in sich ruhendes, gelassenes Genießen des zu erwartenden Abends, der Nacht, der Stille über den grünen Hügeln. Ein Bild, uralt, gemalt mit sanfter grünlichgrauer Farbe, voll vom Schmelz des Friedens der Felder. Die Augen der Männer sind voll freundlicher Zurückhaltung. Man gibt sich hierzulande den Fremden gegenüber gelassen, ja, zuweilen sehr verschlossen. »Chahin Bey?« In ihren Augen glimmen mißtrauische Funken. »Ja, das ganze gehörte ihm. Dort bis zu den Hügeln und auf der Seite bis zu 111
den Bergen überm Tal. Ihm und seiner Familie gehörte es.« »Und das Dorf, wo liegt es?« Karger werden ihre Worte: »Dort ..., da führt der Weg durch die Felder.« »Und der Mouchtar, wo ist er zu finden?« »Sein Haus liegt am Weg zum Dorf.« Ihre Augen schauen gelassen, sie sind ohne Neugierde, aber deutlich ist zu spüren, wie ihr Mißtrauen wächst. Ich frage: »Wo ist jetzt Chahin Bey?« Unschlüssig zucken sie mit den Achseln. Einer sagt: »Er soll in der Türkei leben, seine ganze Familie soll dort leben. Kennen Sie ihn?« Wir kennen ihn oder besser, wir kannten ihn. Chahin Bey war ein massiger, rundbäuchiger Mann mit kleinen wäßrigen, ungemein gutmütig wirkenden Augen im runden, fetten Gesicht, er war einst Eigentümer des ganzen Landes ringsumher, der grünen Hügel, der Obstplantagen auf den Hängen, der Felder in den Tälern mit ihrem schweren, fruchtbaren Boden. Aber er ist tot. »Nein ... nein ...!« beteuern die Bauern, »er ist nicht tot, er lebt in der Türkei.« Wir wissen es besser. Tage vor seinem Ende begegneten wir ihm; asthmatisch schnaufend, in bitterer Angst wartete er auf seinen Tod. Mit seiner fistelnden Stimme keifte er erbittert: »Alles haben sie mir genommen, alles!« »Er ist tot«, sage ich noch einmal. Was ist in ihren unbewegten Gesichtern, in ihren Augen, die uns noch mißtrauischer beobachten? Haben sie Furcht, er könnte auftauchen eines Tages wie ein Gespenst aus schwerer Vergangenheit und diese mit sich zurückbringen? Die Bodenreform hat sie von seiner Herrschaft befreit, hat ihm alles genommen: das fruchtbare Land im Tal und die überreichen Ernten, wenn das Frühjahr genügend Regen mit sich brachte; die Hänge mit Orangen- und Zitronenbäumen, mit Mandeln und Oliven und Feigen. Sein Paradies hat man ihm genommen. Dahin war nicht nur die verlorene Macht über Fäuste und Seelen, auf immer waren auch die herrlichen 112
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Tage voll Blüten im Frühjahr, die ernteschweren, fruchtbeladenen des späten Sommers und Herbstes dahin. Noch erinnern wir uns des Ostersonntags jenes Jahres; unverwischbar ist er in uns eingegraben. Über den holprigen Weg zum Dorf, über die Knüppelbrücke des Baches waren wir bis vor sein Haus gefahren. Wir kletterten eine Steintreppe hinauf. Auf einer schattigen Terrasse mit dem Blick fast bis ans Meer saß er, eine Luftbüchse in der Hand; er lachte einladend, ließ sich aber von unserer Ankunft nicht stören. Auf der gegenüberliegenden Bachseite, am Fuße eines Felsens stand ein mächtiger, uralter Baum, dessen dichte Krone bis zur Terrasse herüberragte. Vögel zwitscherten im Geäst, der weiche Schuß aus dem Luftgewehr beunruhigte sie nicht. Verwundert sahen sie dem getroffenen Fiederflausch nach, wie er hinuntersegelte ins Bachbett. Chahin Bey schoß wieder, ein anderer Vogel, der noch vor Sekunden im Gezweig gezwitschert hatte, fiel hinunter. Ich sah, wie ein Junge aus der Haustür stürzte, ins Bachbett kletterte und die beiden Vögel holte. Nach einer Weile brachte sie der Junge auf einem Holzbrett, garniert die am Rost gebratenen Vögel mit frischen Gurken, Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. An jenem Ostermorgen lächelte Chahin Bey: »Sehen Sie, so sitze ich hier am Morgen, wenn ich nicht auf die Felder reite. Ich schieße einen Vogel nach dem andern, und der Junge da bringt sie in die Küche. Er hat sonst nichts zu tun, er hat ein Leben wie ›un Dieu en France‹. Stimmt es nicht?« »Und die Vögel, merken die nichts?« hatte ich an jenem Tag gefragt und hatte gedacht: Und die Menschen ... die Bauern ... ein Leben wie ein Gott in Frankreich? ... Das verloren geglaubte Bild der Landschaft taucht aus dem Brunnen der Vergangenheit auf: der einstmals rieselnde, aber in diesem Jahr trockene Bach, der holprige Weg ins Dorf, eingesäumt von wildwachsenden Feuerrosen, Oleander und Kakteen. Doch, etwas hat sich verändert! Mitten in den Feldern, einige hundert Meter vom Weg entfernt ist ein neues Haus entstanden, weiter dem Dorf zu noch eins und noch eins. Alle sind von einfacher, glatter, 113
zurechtgehauener und geschliffener Kalksteinschönheit. Im Grün und Rot und Lila der Bäume und Blumen der Gärten wirken sie wie aus einer anderen schöneren Welt hierhergesetzt. Und der Mouchtar mit breitbackigem, sehr energischem Gesicht, mit schweren Händen und angetan mit von Arbeit vertragener Hose und Hemd, mit kühl prüfenden Augen hört uns skeptisch zu: Wir waren schon einmal im Dorf vor zehn oder mehr Jahren, an einem Ostertag, und damals war noch Chahin Bey da, und nun wollen wir sehen, wie das alles ist ohne ihn; er solle nicht böse sein, wenn wir ihm seine Zeit stehlen, und auch nicht böse über unsere Neugierde, aber es interessiere uns wirklich, was sich für die Dorfbewohner verändert habe. Und da lächelt er, zeigt starke, weiße Zähne und zeigt ohne Worte auf die neuen Häuser und die Felder. Dann fragt er: »Sehen Sie noch Chahin Bey auf seinem Pferd? Nein! Und wissen Sie, wie das war, wenn er auf seinem Pferd angeritten kam? Wir waren mehr zu Boden gedrückt als sein Pferd, das unter seiner Last zusammenzubrechen schien. Wir haben jetzt unser Land, wir arbeiten, aber jetzt für uns. In diesem Jahr hat es wenig Regen gegeben ..., das ist nicht einfach für uns, aber wir hoffen auf das nächste Jahr!« Und dann setzen wir uns in den Wagen, fahren den Landweg hinauf ins Dorf, fahren über die immer noch bestehende Knüppelbrücke, um eine Kurve herum bis vor ein Haus, das wie eine Festung wirkt, wenn auch wie eine verfallene, von der Zeit zerstörte Festung. Das Dorf vor uns klettert immer noch steil am Hang bis zur höchsten Kuppe empor, Hütte über Hütte, die Dächer der Hütten wie Terrassen, alle Schlafplätze den ganzen Sommer über. Viehzeug trottet durch die engen Gassen, Esel und Hunde und Hühner. Nur der Dreschplatz des Dorfes liegt leer am Fuß des Hanges. Auf diesem Festplatz fand die Hochzeit an jenem Ostertag statt, da wurde die Nacht über getanzt rund um ein mächtiges Feuer, und die wildmelancholischen Klänge des Dabcas, der Rhythmus von Flöte und Trommel verfingen sich in der Buschwildnis, im Gemäuer der Hütten. Auch Chahin Bey tanzte mit seinem mächtigen Wanst, mit seiner asthmatisch verfetteten Brust um das Feuer, und kamen ihm die 114
Musiker, Bakschisch heischend, nah, nahm er einen Geldschein, spuckte auf ihn und klebte ihn dem Musiker auf die Stirn. Schnaufend und schwitzend, mit fistelnder Stimme hüpfte er umher. Mir war nicht ganz klar, ob er uns beweisen wollte, wie »volksnah« er war, oder ob ihn eine wilde Lebenslust trieb, sich zwischen die Bauern und Bäuerinnen zu mischen. Ich sage zu dem Mouchtar: »Drei Tage war ich damals im Dorf.« »Ich weiß«, nickt er, da aber plötzlich aus dem Haus ein Haufen Kinder, Mädchen und Jungen, herausstürzt, lärmig und mit grellen Vogelstimmen umherhetzten und sich dann um uns und unsern Fotoapparat gruppierten, achte ich nicht auf seine Worte. Gefangen war ich auch nicht vom Anblick der Kinder. Die Bilder der Vergangenheit erfüllten mich, dieser Nachmittag im obersten Haus des Dorfes im geruhsamen Schatten mit dem Alten, dem damaligen Mouchtar, war in mir. Wir tranken Tee und rauchten Zigaretten, und noch höre ich jeden Laut dieser alten müden Stimme, von all den vielen Worten aber ist mir nur ein Satz, ein Vorwurf fast, geblieben: »Und Sie, ein Mann aus dem Sozialismus, wie kommt es, daß Sie Gast des Mannes da unten sind?« Schwer war es, ihm alles mit diplomatischen Kniffen oder gar Notwendigkeiten zu erklären, sicherlich noch schwerer, die auch mich immer wieder bedrängende Frage zu beantworten: Warum? Dieses Drohnendasein in seinen schmutzigen Verästelungen, in seinen geschmacklosen Lebensäußerungen, ist es wert, zur Kenntnis genommen, studiert zu werden wie das seltsame Gehabe von Insekten? Erweitert sich der Gesichtskreis? Was theoretische Erkenntnis war, wird es untermauert durch Anschauung? Eins wußte ich, es war eine einmalige Gelegenheit, Fremdes, Untergehendes zu sehen, obwohl alles getan wurde von Chahin Bey, einen dichten Schleier nicht nur über sein privates, sondern auch über sein geschäftliches Leben zu ziehen. Ironisch frotzelnd, wurde zuweilen von seinen Freunden auf seine jungen Haushaltsgehilfinnen, alles junge Mädchen aus dem Dorf, verwiesen, die ihm nicht nur die Speisen bereitet hatten, sondern auch auf manche Kinder im Dorf, die ihm verteufelt ähnlich seien; und auf manches andere, was sich 115
mehr als nur als Frotzelei anhörte. Wie dem auch sein mochte, das wenige, was ich sah, öffnete mir Ausblicke und brachte mir Erkenntnisse, die auf eine andere Art nicht so schnell zu gewinnen waren, waren. Ich sage zu dem Mouchtar: »Ganz oben auf der Kuppe, dort lebte ein Alter in seinem Haus, mit dem ich einen ganzen Nachmittag verbrachte. Es war ein schöner Nachmittag. Lebt er noch?« »Ich weiß«, sagte der Mouchtar, »er war mein Vater. Er ist schon einige Jahre tot.« »Es war ein interessanter, ein kluger Mann!« »In jenem Jahr war ich nicht im Dorf«, sagte der Mouchtar, »ich machte meinen Militärdienst. Aber als ich zurückkam, erzählte mir mein Vater von dem Fremden, dem Deutschen, der bei ihm gewesen war. Oft hat er von Ihnen erzählt!« »Auch ich hab’ oft an ihn gedacht«, sage ich. Zum erstenmal lächelte der Mouchtar sehr freundschaftlich, ja, er legte mir den Arm auf die Schulter und schüttelte mich hin und her. Im Lärm der Kinderstimmen sahen wir über die Hütten bis zur Kuppe hinauf, beide von unsern guten Gedanken an den alten toten Mann gefangen. »Hat sich wirklich für die Menschen nach der Bodenreform im Dorf etwas verändert?« War es für ihn eine überflüssige, vielleicht sogar lächerliche Frage? Vielleicht auch mochte er sie als eine empfinden, aus Unverständnis, sogar aus Arroganz geboren? Sein Blick wanderte über die Hütten, den Hang hinauf, und auch ihm konnte es scheinen, daß sich nichts verändert hatte: Krumm und baufällig standen die Hütten da, eng die Gassen, verblichen die Farben der Hauswände, uralt und blind die kleinen Fensterlöcher. Nichts hatte sich verändert hier, an diesem Hang, in diesem Dorf. Die neuen Häuser im Tal? Sein Blick blieb auf der fröhlichen Kinderschar haften, aber er blieb still. Er war kein Mensch, der übereilt urteilte, enthusiastisch Zukünftiges für Heutiges ausgab, ich sah es deutlich. Und er war auch kein Mensch, der kritische Fragen übelnahm, sie als unziemlich empfand. 116
»Alles ist nicht so einfach«, sagte er dann sehr zögernd. »Allah hat vom Paradies im Jenseits gesprochen, nicht von einem in dieser Welt. Ach, wenn ich alles so sehe ...« Vermochte er sich nicht auszudrücken, oder aber wollte er es nicht? Und wiederum sahen wir gemeinsam die Kinderschar an, die schwarzen wuscheligen Köpfe der Jungen und Mädchen, die beiden sie behütenden Dorfmädchen, die lächelnd in der Tür standen, die einst als »Dienstboteneingang« gedient hatte. Es war das Haus, in dem einst Chahin Bey gewohnt hatte, ich mußte es mir in Erinnerung rufen. Waren einst nicht die Dorfkinder scheu um dieses Haus gegangen, immer gewärtig der fistelnd scheltenden Stimme des Bey? Waren ihre kindlichen Gemüter nicht beeindruckt und geformt worden von den Erzählungen der Eltern an den Abenden über die vielfältigen Lasten und Bedrückungen, die ihnen zu tragen aufgegeben waren? Und nun? Und nun? Wir sind immer sehr leicht geneigt, Veränderungen nur am ökonomischen Nutzen zu messen, an mehr Essen, an mehr Geld. Was es aber bedeutet, keine Last mehr zu spüren, die Menschliches niederdrückt, rechnen wir kaum je ein in die Qualität der Veränderung. Ist es aber nicht minder wichtig, ja sicherlich wichtiger? Und wäre das einzige Ergebnis der Bodenreform nur gewesen, daß diese Kinder hier im Haus, in dieser alten Festung der Unterdrückung herumtollen, so wäre es fast genug! Aber das ist ja nicht das einzige Ergebnis der großen Reform des Landes, die immer noch andauert. Gern wäre ich ins Haus gegangen, auf die Terrasse, von der aus einst Chahin Bey die Vögel geschossen hatte, in die Zimmer, von ihm und seiner Frau bewohnt, nicht gar zivilisiert, wie ich wußte, aber ich wagte nicht, um Erlaubnis zu bitten.
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Der Regen, das Wasser und die hellen Lampen
Deir-Ez-Zoor, weit westlich am Euphrat, fast an der irakischen Grenze gelegen, hatte und hat immer noch nur ein einziges gutes Hotel. In der Empfangshalle sitzt immer noch der gleiche Besitzer wie einst, weit von sich gestreckt die nackten Füße sitzt er da, als hätte er sich in diesen vergangenen Jahren nie von diesem Stuhl erhoben, die Zigarette zwischen den Fingern der linken Hand, schaut gleichmütig den ankommenden Gästen entgegen. Kein freundlicher Herr, bei Allah nicht, und auch sein Hotel ist wie einst nicht sehr empfangsfreudig. Stören wir seine Ruhe? Belästigen wir ihn mit Forderungen, die unangemessen sind? Wasser, welche Kostbarkeit, und sie, diese Europäer, lassen es in der Dusche laufen, als rinne es aus unversiegbaren Quellen; ihnen geboten als kostbares kühles Trinkwasser, wird verächtlich oder ängstlich abgelehnt. Versteh es Allah, wenn er will, aber ein normaler Sterblicher ... Vor Jahren waren wir ebenfalls hier angekommen, aber nicht auf der Straße, die von Aleppo am Euphrat entlang führt, sondern aus der Wüste, von Palmyra her, die Haut verkrustet von Sand und Schweiß, die Zunge wie ein trockenes Stück Werg im Hals. Früh am Morgen waren wir an einem Julitag von Damaskus aus losgefahren in einem Buick, waren natürlicherweise schon nach Stunden in die brennende Sonne geraten, vorbeigefahren an den alten Wüstenschlössern Qusr al-Hayr al Gharbi und Qusr al Huyr al Chargi über eine zermürbende 118
Steppenpiste, und gegen Mittag hatte es der Motor nicht mehr tun wollen. In der Hitze, in diesem heißen, vom heißen Sand gesättigten Wind, das hält vielleicht ein Esel, ein Kamel oder ein Mensch aus. Ich aber, ein feinnerviger Motor, bin weder Esel, Kamel noch Mensch. Japsend hatten wir im Wagenschatten gelegen, bis erste Abendkühle aufgekommen war und der Motor wieder mitspielte. Vor Palmyra, in den ersten bebauten Feldern, tuckerte ein Dieselmotor, pumpte einen dicken Wasserstrahl in die Bewässerungsgräben. Ein Geräusch wie aus dem Paradies! Nackt stürzten wir uns in das Naß. Der armdicke, nach Schwefel riechende Wasserstrahl schlug uns wie ein übermächtiger Strick. Spät am Abend erst kamen wir in Palmyra an, in dem nah bei den Ruinen liegenden Hotel. Am frühen Morgen, als wir wieder losfuhren, gegen Deir-Ez-Zoor zu, ohne Karte, mit leichtsinnigem: »Es wird schon gehen!«, sah man uns an, als seien wir aus irgendeinem Irrenhaus entsprungen und man sähe uns nie wieder. Die Sonne knallte Hitzewellen auf das Wagendach, der Wind jagte den feinen rötlichen Sandstaub durch alle Ritzen, und er drang in alle »sieben Öffnungen« des Körpers ein, und der Cognac, den wir schon am frühen Morgen unserm sinkenden Mut zuführten, hitzte uns und das Auto höllisch heiß ein. Einmal verloren wir die Piste, fanden wieder eine andere ostwärts führende, wir trafen auf fahlgelbe Kamelknochen, wir gerieten in ein Sandloch, versanken und wühlten uns wieder heraus, wir fuhren weiter und weiter, und es schien uns, als bestünde diese Erde nur aus Sand und Sand, einem wogenden rötlichgrauen, erstarrten Meer. Und Sonne war, steil und scharf schlug sie auf uns nieder. Das wenige Wasser in den Flaschen war wie gekocht, wir im Wagen wie gedünstet, und sahen wir einer den andern an in die rot entzündeten Augen, erblickten wir Furcht, Unsicherheit, wachsende Furcht. Meter um Meter nur kamen wir vorwärts, versanken wiederum und wühlten uns aus dem Sand und fuhren weiter. Aus der Ebene fern am Horizont tauchten am späten Nachmittag Kalkfelsen, hochgesteilt wie Türme von urweltlichen Burgen, auf. Wir hofften, das Schlimmste hinter uns zu haben. Doch nun, da die Wüste sich zur Steppe wandelte, der Boden steiniger wurde 119
und jeder Stein wie ein scharfes Messer war, ging’s auf die Reifen los. Der erste mußte gewechselt werden, und wir fuhren so vorsichtig weiter, als sei zu befürchten, alle vier Reifen könnten platzen. Das Wasser im Motor kochte, jedes Stück Metall, an das unsere Haut von Händen und Armen geriet, brannte wie Feuer. Als wir von der Piste auf eine Asphaltstraße kamen, war es wie ein Weg ins Paradies. Asphalt in der Wüste? Seltsam! Sollte die Stadt, dieses Wunder am Rand der Wüste, am Fluß, die Stadt mit dem seltsamen Namen Deir-Ez-Zoor, schon so nah sein? Die letzten hundert Meter in die Stadt fuhren wir, als sei Dynamit auf die Straße gelegt. Aber wir waren gut angekommen in diesem Hotel am Euphrat, und der Wirt saß da wie heute, in seinen abgelatschten Sandalen, der ausgebeulten Hose, die Zigarette im Mundwinkel, unrasiert schon seit Tagen, und sah uns mißmutig an. »Bier! ... Bier! ... Bier! ...« »Es gibt kein Bier«, sagte er. »Dann Mineralwasser oder Fruchtsaft!« »Es gibt kein Mineralwasser, und es gibt auch keinen Fruchtsaft!« Aus der Stadt ließen wir eine Kiste Bier und eine Kiste Mineralwasser holen. Als wir duschen wollten, sagte der Wirt, es gäbe kein Wasser und sei nicht möglich, zu baden oder zu duschen, und er zeigte auf den lehmgelb dahinfließenden Fluß. Wir kontrollierten den Duschraum. Es lief Wasser, nicht viel, aber es würde genügen, uns den Sand aus den Poren zu waschen. Als wir uns eingeseift hatten, versiegte das Wasser, und wir spülten Seife und Sand und Schweiß mit der Kiste Mineralwasser ab. Der Wirt knurrte, als er uns sah: »Das ist eine ganze Wochenration Wasser, die Sie gebraucht haben!« Wir aber, in den sauberen Hemden und erfrischt, lachten nur. Und damals fragte ich, und jetzt wiederum in dem Hotel, in reichlich Wasser gereinigt, keinen Schweiß mehr in den Poren, frage ich mich ebenfalls: Warum nur habe ich diese Reise unternommen? War es mir nicht genug, was ich wußte, und warum trieb es mich, mitzuteilen, was aus 120
Vergleichen zwischen einstmals Geschehenem und dem Heutigen gewonnen werden kann? Oder war es nur die alte Besessenheit, ohne sichtbaren Sinn und Zweck eine neue Landschaft, neue Gesichter, das bizarre Leben von Shuk und Zelt zu sehen und damit das Gefühl zu gewinnen, immer wieder den eigenen Lebensbereich, den als zu eng empfundenen Rahmen gesprengt zu haben? War es von Wichtigkeit, erfahren zu haben, ob immer noch der gleiche Wirt in der Hotelhalle saß, ob es Bier oder Mineralwasser geben würde, ob die Stadt sich näher an den Rand der Wüste ausgedehnt habe, ein paar Häuser mehr oder minder hoch erbaut worden sind? War das alles von Belang, lohnte es sich, das alles darum auf sich zu nehmen? Vom Balkon des Hotels aus hatte ich einst den Blick auf das uneingefaßte, vom Hochwasser und von der Hitze zerfressene Ufer des Euphrats (nur ein Nebenarm ist’s), am Abend auf in schwarze Tuchhüllen eingewickelte Frauengestalten. In der Dämmerung glichen sie übergroßen, aus den Bäumen niedergestiegenen Fledermäuse.n, die sich anschickten, mit allem, was sie anhatten, in das Wasser zu steigen. Zaghaft tapsten sie in den Fluß, bis das Wasser ihnen bis an die Brust reichte, tauchten bis an den Hals unter, schüttelten sich und spritzten sich auch wohl mit zaghafter, fast verschämter Lust gegenseitig das Wasser ins Gesicht. Nach einer Weile kehrten sie ans Ufer zurück, stellten sich in den abendlichen Wind, der weit die schwarzen Hüllen bauschte. Sie ließen sich trocknen, um sich dann wiederum je nach Lust oder Mut oder Zeit noch einmal in das Wasser zu begeben. Von all dem heutigentags nichts mehr! Das Ufer ist von einer Steinmauer eingefaßt, das einstmals wild wachsende Gebüsch ist ausgerissen, und die am Ufer entlangführende schmale Straße ist zu einer breiten, von hohen Bogenlampen eingesäumten Avenue geworden. Autos sausen wild hupend hin und her, knatternde Mopeds und dahinflitzende Fahrräder sehen seltsamen Insekten ähnlich. Frauen sitzen auf den Gepäckträgern, nicht unähnlich denen, die einstmals hier vom Ufer ins Wasser stiegen, aber es werden die Töchter sein oder gar die Enkelinnen. 121
Heute vom Balkon des Hotels aus: ein junger Mann, ein Student vielleicht oder ein junger Angestellter, in einer in der Dunkelheit hellleuchtenden Hose und einem im Wind sich bauschenden Hemd, neben sich ein Mädchen, auch in heller Hose und leichter Bluse, auch sie möglicherweise eine Studentin oder eine Bankangestellte, und dieser junge Mann legt seinen Arm um die Schulter des Mädchens und zieht es an sich und ... Nein, er küßt das Mädchen nicht, hier auf der offenen Straße unter den Blicken der Dunkelheit, nein, so weit sind wir noch nicht. Da muß sich noch mehr verändern, mehr noch aus dem Weg geräumt werden an verkrusteten Anschauungen, Sitten und Gebräuchen. Einmal wird der Tochter dieses jungen Mädchens geschehen, was heute noch nicht möglich ist: Am Abend, mitten auf der Uferstraße, unter den helleuchtenden Bogenlampen wird sie von einem jungen Mann geküßt werden, und sie wird ihn küssen. Oder sollten es nicht Tradition und verkrustete moralische Anschauungen sein, die es verhindern, sondern tiefsitzende Gefühle von Scham, Zurückhaltung, einer Liebesauffassung, die ihre Wurzel im kargen, entbehrungsreichen Leben der Beduinen hat? Wie dem auch sei, dieses junge, unbeholfene Liebespaar unter den neugierigen Augen der Dunkelheit war für mich ein Zeichen der Befreiung aus Zwang und uralten Traditionen. Ein Ethnologe, ein Sammler von Volkskunst, Rechtsanwalt zugleich, was ist er in dieser Stadt am Rand des Lebens, wie hat er sich zurechtgefunden? Hat er je einmal den Versuch gemacht, auszubrechen aus dem traditionsverharschten Milieu der Stadt, hinaufzuziehen in eine weitere Welt? Kamil sagt: »Er ist bekannt in ganz Syrien. Eine Sammlung an kostbaren Gegenständen soll er haben wie kein anderes Museum in der Stadt.« »Hat er denn ein Museum?« »Sein Haus soll ein Museum sein, so sagt man. Ich habe es noch nicht gesehen. Für morgen nachmittag habe ich uns angemeldet.« Ein Bürgerhaus vom Anfang des Jahrhunderts in einer engen Gasse mit 122
engen, hohen Fenstern, einer weit geöffneten Haustür, ein Treppenhaus mit ausgetretenen Steinstufen, mit verblichenen Wänden, von denen der Putz fällt. Eine Wohnung mit sehr hohen Zimmern, mit Fenstern, die von Läden und staubigen Portieren verdunkelt sind, notdürftig erhellt von müden Leuchtern. Muffig riecht die Luft, nach Staub und abgestandenem Leben. Der »Ethnologe« – nennen wir ihn so – ist ein alter, hagerer Mann mit dem Gesicht eines resignierenden Eiferers, mit schmalen Händen und dünnen, knochigen Fingern, seine Augen sind schwerlidrig, von verblichenem wäßrigem Grün. Akten liegen auf seinem Schreibtisch, aber nicht ein Stück an Volkskunst. Trennt er Liebhaberei und Beruf? Er ist beredsam wie Menschen, die viel allein sind, die aber jede selten sich bietende Gelegenheit nutzen. »– – ich kenne den Kulturattaché von ... Ja, den von auch ..., und ich war in Paris, in Berlin und Warschau und auch in Prag ..., und ich werde in diesem Jahr nach Europa oder den USA reisen ...« Versucht er, dem Provinzialismus seines Lebens eine Fahne von Welt und Weite voranzutragen, mir zu zeigen: Auch ich bin nicht irgendwer vom äußersten Ende der Welt mit einem Leben, noch abgestandener als Luft und Moral dieses Nestes? Rührend, wie seine dünnen, knochigen Finger zittern vor Eifer, sich seine schwerlidrigen Augen röten. So resigniert, wie ich glaubte, scheint er nicht zu sein. Hofft er immer noch, irgendwo in der weiten Welt für seine Arbeiten ein Echo zu finden? An den Wänden des Zimmers, Wohn- und Besuchszimmer zugleich, undeutlich nur zu erkennen und kaum zu klassifizieren im gelblichen Licht der schwachen Birnen, hängen alte Schwerter, Säbel und Dolche. Sicherlich kostbare Stücke, möglicherweise zufällig gefunden. »Ich zeige Ihnen alles andere, was ich in den andern Zimmern habe«, sagt er, als er meine interessierten Blicke bemerkt. Er wird sehr warm, sehr freundschaftlich, er richtet sich an meinem Interesse auf, ja, er wird straff und feurig. Und sein Museum? ... Noch jetzt, da ich das hier niederschreibe! sehr beklommen, fast beschämt ob meiner Unfähigkeit, ein angemessenes Bild zu entwerfen, all das zu zeichnen, was an geschmacklosen, an 123
wunderschönen einmaligen kleinen Stücken, an Plunder und an Wertvollem vorhanden war. An den Wänden der anderen Zimmer waren Glasvitrinen aufgebaut, die Scheiben blind vor Alter und Staub, und Regale, notdürftig zusammengenagelt, füllten Lücken aus. In und auf ihnen lagen kleine und kleinste Gegenstände, Vasen und Väschen, Tellerchen und Krügchen, irgendwelche Metallflaschen, deren Gebrauchszweck kaum festzustellen und Alter unbestimmbar waren. Zwischen all dem »Kram« standen, ich sah es deutlich, zwei römische Glasviolen von berückender Schönheit, standen da, stolz und fremd und elegant und vielleicht beschämt ob der Nachbarschaft, in die sie eingezwungen waren. In einem andern Schrank, auch inmitten von nicht zu bestimmenden Stücken stand eine Tonplastik, die von Dura-Europos oder von Mari stammen mochte. In einem andern mit Inflationsscheinen aus aller Welt austapezierten Schrank war eine Münzsammlung ausgelegt, sorgfältig auf schwarzem Samt glänzte stumpf Münze auf Münze, griechische und römische, arabische und türkische, und anzunehmen war, daß kostbare Stücke, einmalige sogar, in diesem Schrank verdämmerten. Und Kram und Kram, unvorstellbar albern gestapelt oder gelagert, Kram aus Holz, Stoff, Ton, Metall, sinnverwirrend in phantastischer Unordnung. Im nächsten Raum waren Feldbestellungsmaschinen aufgebaut, ein Holzpflug und eine Eisenpflugschar, urtümliche Hacken und Schaufeln standen umher, Webrahmen verschiedenster Größen. In einer Ecke war sozusagen ein Kaffeeherstellungsraum geschaffen worden: Beduinenkaffeemörser, mit wunderbaren Schnitzereien und Messingknöpfen verziert, um sie herum Schnabelkannen verschiedenster Größe und Herkunft, auch sie mit Ornamenten verziert. Zum Dieb könnte man werden. Und was alles er aus den Schubladen hervorkramte, gesammelt alles ohne Sinn und System! Ein Packen Ansichtskarten aus allen, ja, aus allen Städten der Welt, Hunderte und Hunderte waren es und aber Hunderte und noch mehr. Ich mußte prüfen: Buenos Aires? Bitte schön! Casablanca? Hier! Stockholm? Sehen Sie! Leipzig? Auch da! 124
Aus einer alten Zigarrenschachtel kramte er Abzeichen von politischen Parteien aus allen Ländern hervor, ein phantastisches Durcheinander einer unvorstellbaren Sammelwut. Und Silbergürtelschnallen, Arbeiten aus dem Hauran und solche aus dem Damaszener Shuk kramte er hervor. Ohrgehänge, ebenfalls aus altersdunklem Silber, waren so schwer, daß sie an normalen Ohren kaum getragen werden konnten. Wer aber mochte sie getragen haben, wer nur? Gürtel aus Metall, Gürtel aus Stoffstickereien, Halsketten aus Keramik und schwerem Silber, ebensolche Armringe ... und ... und ... Unmöglich, alles zu sehen, alles zu beschreiben, was hervorgekramt und gezeigt wurde. Überwältigt, ja niedergeschmettert von der Überfülle, war ich bereit, den »Ethnologen« als einen Sammler von unvorstellbaren Ausmaßen anzusehen. Und ich sagte es ihm, und er strahlte. Ich aber hatte nie auf solch kleinem Raum eine solche Überfülle und Unordnung gesehen, weder im Shuk von Damaskus, Aleppo oder Beirut noch in dem wilden Durcheinander in der Kairoer Altstadt. Beim Kaffee dann reichte er mir eine kleine Broschüre, kaum einen Bogen stark, in arabischer Sprache natürlich. Sie war mit Fotografien illustriert, die ihm von irgendeinem Reisebüro der DDR zur Verfügung gestellt worden war, Ansichtskarten zum Teil: der Dom von Erfurt; der Dresdener Zwinger; der Alexanderplatz; das Goethehaus in Weimar; eine Straßenszene aus Potsdam, Rostock und Leipzig. Dazu die Fotografie eines Kulturattaches der DDR: ein rührender Versuch der Dankbarkeit für eine Einladung in die DDR. »Ich habe die Broschüre selbst drucken lassen«, sagte er stolz, »es hat mich fast tausend Pfund gekostet.« Kaum finde ich ein Wort der Anerkennung, der Bewunderung, des Dankes für die eingeschriebene Widmung, mit der er mir die Broschüre überreicht. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen?« fragt er. »Am Euphrat gibt es ein sehr gutes Restaurant. Aber vorher fahren wir in einige Dörfer, die ich kenne. Einverstanden?« 125
Auf der andern Uferseite des Euphrats, an der Straße, die den Chabur hinauf bis nach Kamischlie führt, ein Dorf, kleine niedriggeduckte Lehmhütten, eingefriedet von zerbröckelnden Lehmmauern; vor einer Hütte steht eine Bäuerin, nicht mehr jung ist sie, jedoch immer noch von herbem Liebreiz, und sie ist dabei, die abendlichen Fladen zu backen. Immer noch wie vor Jahrtausenden werden die Fladen in den gleichen Öfen gebacken. Auf der Erde, rundbäuchig, in der Form eines großen Bierfasses etwa ist der Ofen aus Lehm gebaut. Oben hat er ein mehr als tellergroßes Loch, durch das die Feuerung unterhalten wird. Geht sie je aus? Sicherlich wird der Ofen nie kalt werden, denn zweimal täglich werden Fladen gebacken, für den Hausgebrauch natürlich, und morgens und abends liegt über den Hütten der Geruch von Gerste und Weizen. Frisch gebacken, sind die Fladen knusprig und knackig zwischen den Zähnen, sind ein Leckerbissen von urtümlicher Art, aufbewahrt aber bis zum nächsten Tag oder noch länger, werden sie wie Pergament oder Pappmaché. Auf einem tellergroßen Lederkissen, mit ungemein geschickten, kaum zu verfolgenden Handbewegungen, formt die Frau, unter meinen Blicken lächelnd, aus faustgroßen Teigklumpen die Fladen. Mit einer schnellen Handbewegung, aus dem Gelenk kommendem Schwung klatscht sie den Teig, indem sie weit durch das Loch in den Ofen hinabreicht, an die heiße Innenwand. Nach Minuten nur bräunt sich der Fladen, wirft große Blasen, und die Frau reißt ihn heraus, ehe er schwarz wird, und wirft ihn in einen Korb am Boden. Freundlich lächelnd, reicht sie mir einen der Fladen mit einer Geste, die mehr ist als nur formale Höflichkeit. Das Gebäck kracht zwischen den Zähnen, schmeichelt der Zunge und dem Gaumen mit dem Geschmack von Weizen und Gerste. Der Ethnologe sagt: »Sie ist sehr nett zu Ihnen. Im allgemeinen, besonders hier in den Dörfern, ist man nicht sehr zutraulich.« Kinder haben sich gesammelt, Mädchen und Frauen schauen von den Höfen zu uns her, junge Männer kommen herbei; sie laden uns ein, in eines der Gehöfte einzutreten. 126
Der Ethnologe sagt: »Es sind alles Beduinen, erst seit ein oder zwei Generationen hier seßhaft. Man sieht es dem Zustand der Felder an. Und jetzt, seitdem die alten Eigentümer enteignet sind, wird es immer schlimmer. Es fehlt ihnen die lenkende und auch die harte Hand.« Kamil versucht meinen fragenden Blicken auszuweichen. Schämt er sich, vor Stunden noch den Ethnologen angepriesen, über Gebühr ihn gelobt, ja, bewundert zu haben? Während sie, für mich unverständlich, arabisch miteinander sprachen, wurde er aber immer kühler. Mit mir spricht der Ethnologe französisch. Kamil hat also unser Gespräch nicht in der Hand, kann nicht verschweigen, was ihm möglicherweise unangenehm, selbst peinlich ist zu übersetzen. Zugleich aber versteht er genügend Französisch, um ermessen zu können, wie außerhalb jeder »Linie« die Meinungen des Ethnologen sind. Mit irgendeiner Floskel versuche ich über die unangenehme Situation hinwegzukommen. Doch der Ethnologe beharrt: »Sehen Sie, die Mentalität des Beduinen ist geprägt durch ein den Umständen angemessenes ›savoir-vivre‹. Er ist ein Viehzüchter und wird es bleiben. Nichts tuend, vielleicht sogar träumend, ist er gewöhnt, hinter den Herden herzuziehen, die Frauen arbeiten zu lassen und sich, wenn er irgendwo Schatten findet, hockend Kühlung zu suchen.« Ist es nur die uralte Verachtung des Seßhaften gegenüber den Nomaden, der Neid des Angebundenen gegenüber den Umherstreifenden, den Ungebundenen? »Das Land braucht Arbeit, harte Arbeit«, beteuert der Ethnologe, »und wie können das die Frauen leisten?« Froh bin ich, in einen der Höfe entwischen zu können, in den Kreis von Bauern, junge Männer zumeist mit braungebrannten knochigen Gesichtern, zu den Frauen, gezeichnet von Arbeit und den unzähligen, jährlich wiederkehrenden Geburten. Um uns herum tollt unbeeindruckt ein Haufen Kinder, kaum etwas am Leib, ungewaschen und zerzaust, aber mit bezaubernden schwarzen, samtglänzenden Augen. Wasser wird gereicht, kühles, etwas dumpf schmeckendes Wasser. Der Ethnologe spricht und spricht, die Männer lachen, die Frauen verstek127
ken verschämt die Gesichter hinter den Händen. Eine kleine gelöste, lustige Stunde. Jäh aber schrecken alle zusammen. Ein hagerer, düster wirkender Mann in Galabie, einer schmutzigen Kufie und nackten, schmutzigen Füßen taucht wie ein Schatten auf, stellt sich vor uns hin und starrt uns böse an. Der Mouchtar! Ein ärmlicher, bedrohlich wirkender Mouchtar! Der Ethnologe erklärt unser Woher und Wohin. Der Mann bleibt ungerührt, seine stechenden Augen bekommen einen bösen Glanz. Er nimmt einem Bauern den Becher mit Wasser aus den Händen, reicht ihn uns, ehe wir ihn jedoch entgegennehmen können, schüttet er das Wasser aus und wirft den Becher zu Boden. Einmal und sicherlich auch noch heute eine nur mit dem Messer und Blut abwaschbare Beleidigung. Doch wir haben keine Messer und sind auch nicht bereit, etwas abzuwaschen. Die Frauen huschen verschreckt in die Höfe und Hütten, die Männer starren verlegen zu Boden. Wir gehen langsam, ohne uns groß zu verabschieden, zum Auto, steigen ein und fahren unter dem Gekläff der Hunde davon. »Beduinen«, knurrt gehässig der Ethnologe. Kamil aber sagt: »Wir haben den Mouchtar beleidigt. Wir hätten ihn zuerst in seiner Hütte besuchen sollen!« Das Euphrattal, all das fruchtbare Land, kultiviert und bebaut seit Jahrtausenden, was waren Fluß und Landschaft den in der syrischen Wüste umherziehenden Beduinen? Ein Zipfel vom Paradies? Sicherlich mehr! Bei jeder Reise durchs Tal war mir, als reise ich trotz der vielen Bewässerungskanäle und Pumpstationen durch eine unvorstellbare archaische, kaum von menschlicher Hand berührte Landschaft. Das weißgefleckte Grün der Baumwollfelder, das fahle Gold von Gerste und Weizen, die wenigen auf den Hängen angepflanzten Feigenbäume, die Gemüsebeete um die Dörfer herum, all das konnte den Eindruck nicht verwischen oder gar aufheben. 128
Das Geheimnis der sich in den Jahrtausenden entwickelnden Zivilisation von der Steinzeit bis in die von Eisen und Bronze, läßt sie sich finden in der Frische der aus der Wüste immer wieder einströmenden Stämme? Zu gleicher Zeit aber haben sie das Ungezähmte der Landschaft bewahrt bis in die heutige Zeit? Diese Wüstenstämme, fanden sie Technik von Ackerbau und Zucht von Getreide und Vieh schon vor, oder trugen sie ihren Teil an Kulturbegabung bei? Wo lassen sich Erkenntnisse und Aufhellung finden? Dura-Europos, das alte Mari gibt trotz aller Grabungen für Deutungen dieser Art etwas her, Kunstwerke unvorstellbarer Schönheit und Größe, Bemühungen um erste Erkenntnisse um Mensch und Erde wurden gefunden. Mythen wuchsen aus Dunkel und Dämmerung, doch wann wurde das erste Korn bewußt in den Boden gelegt und auf die Ernte gewartet? Und durch die Jahrtausende hindurch in nassen Wintern immer wieder aus dem Taurus die niederströmenden Fluten; sie rissen Felder und Kultur hinweg. Nur die stets wachsenden Teils standen spitzkegelig aus den Wassern, bewahrten Kultur und Hoffnung. Die Sonne aber, die Sonne in den heißen Sommern, war sie nicht mörderischer, und die heißen Winde aus der Wüste, staubten sie die Saat und die Frucht auf den Lehmhängen nicht ein und verbrannten sie, so daß nichts anderes in menschlicher Hand blieb als tiefbraunes Stroh und der Hunger im nächsten Winter? Die Wasser des Euphrats waren Schicksal, der heiße Wüstenwind und die glutig niederbrennende Sommersonne waren unbezwingbares Schicksal, so schien es, auf ewige Zeit. Anzunehmen ist, daß in all den Jahrtausenden Träume von einem gebändigten Fluß in den Dörfern gegeistert haben, von einem zahmen, segensvollen Fluß, der dem sein Wasser und zu der Zeit gibt, da er es braucht. Auch Äcker werden durch die Bauern- und Beduinenträume gespukt haben, solche, die dreimal jährlich Frucht geben, Wälder und Obstpflanzungen, die selbst im heißesten Sommer Schatten gewähren. Wer bändigt den Fluß und wie? Ist er nicht zu gewaltig, zu ungebärdig schon seit ewigen Zeiten, ist nicht einmal das Flußtal zu breit, um durch 129
einen Damm gebändigt zu werden, an einer andern Stelle nicht zu eng, um mit Gewinn für Boden und Bauern die Wasser zu stauen? Und mit welchen Mitteln? Mit Hacke und Schaufel, mit Lehm und Sand Dämme und Kanäle bauen? Lächerlich! Doch gibt es nicht die Legende von den Damm im südlichen Land, im Jemen, auch nur geschaffen mit primitivstem Werkzeug? Doch dieser Fluß, dieses Tal ist etwas anderes. Gewaltiger ist er als jeder andere Fluß auf der Halbinsel. Nichts und niemand ist fähig, den jahrhundertealten Traum zu verwirklichen. Doch dieses Jahrhundert, größer und zukunftsträchtiger als jedes andere vor ihm, gab auch die Fähigkeit, Bauvorhaben solcher Größe zu realisieren. Aus vielen Ländern dieser Erde kamen Nachrichten von gestauten Wassern, gefesselten Naturgewalten, aus vielen Ländern auf allen Kontinenten. Aber ein kleines Land wie dieses kleine Syria antiqua, gefangen immer noch in seiner osmanischen Schläfrigkeit, ohne eine nennenswerte Industrie und mit einer Landwirtschaft, in der bis vor einigen Jahrzehnten nur Hacke und Hakenpflug, Esel und Kamel als Zugkräfte bekannt waren, wie war ein solch kleines, ohnmächtiges Land fähig, ein solch grandioses Projekt in Angriff zu nehmen? Wohl gab es Untersuchungen junger Wissenschaftler im Anfang dieses Jahrhunderts über Niederschläge im Land, in den Aluitenbergen und im Euphrattal, in der Steppe und Wüste, über den Wasserhaushalt von Wüste und Bergen, im gesamten »fruchtbaren Halbmond«. Die bekannteste Arbeit dieser Art ist die von Nazim Mousli, Professor an der Universität Damaskus: LE PROBLEME DE L’EAU EN SYRIE. Sachkundig, fußend auf vielen Einzeluntersuchungen, stellt er fest, daß nur 2 % der syrischen Erde mehr als 1000 mm Regenwasser pro Jahr, 8 % mehr als 500 mm, 38 % etwa 100 bis 250 mm und 21 % weniger als 100 mm Regen erhalten. Die mit 38 % bezeichneten von jährlich mit 250 mm Regen bedachten Gebiete bezeichnet er als Steppe; sie bildet die große Reserve an Erde, die mit Bewässerungskanälen erschlossen werden kann und muß. Dieses Jahrhundert ist die Zeit der realisierbaren Träume, Projektmacher seriöser, aber auch solche unseriöser Art treten auf: Riegeln wir den Euphrat ab, da, wo er eng ist und die hohen Felsen an beiden Ufern 130
ihn zu ungeahnter Kraft zusammenballen. Hier erst bekommt er genug Kraft, mächtige Turbinen zu treiben und das Land zu erleuchten. Andere Stimmen: Zu nah an der irakischen Grenze ist es, wir werden dem Nachbarstaat, dem freundschaftlich verbundenen Irak, zuviel Fruchtbarkeit wegnehmen. Andere Stellen wurden vorgeschlagen, wiederum andere über Jahre hinweg. Experten aus den verschiedensten Ländern wurden zu Rate gezogen. Man bedachte Vorschläge und Angebote und auch, Allah sei’s geklagt, nicht gar freundschaftliche Bedingungen, die, wenn man so will, schon den Charakter von politischen Repressionen – zu gegebener Zeit natürlich – annehmen konnten. Wieviel Intrigen wurden gewoben, was alles wurde hinter den Kulissen versucht zu schieben, zu bestechen, und wievielerlei Einfluß wirkte nicht nur durch Überzeugung! Das Land aber blieb dunkel, Träume von Wasser und Fruchtbarkeit wurden zu Alpträumen. Auch im Land selbst gab’s verschiedenerlei Interessen: Schichten, die bisher im Besitz von Wasser und Motoren waren, fanden ihre Vorrechte, die nun in Frage gestellt werden sollten, bedroht. Was soll’s mit den »Allgemeininteressen des Landes«? Wer ist das Land, die Allgemeinheit? Und wir, im Besitz unserer einmal – auf ewig? – erworbenen Rechte, was sollen wir tun, was soll aus uns werden? Doch dann, nach einem jahrzehntelangen Auf und Ab, nach manchem Wechsel in der Staatsführung und der staatsführenden Schichten, nach einer gewissen Stabilisierung der inneren Lage wurde die Sowjetunion beauftragt, alle schon ausgearbeiteten Pläne zu überprüfen und die Frage des Standortes neu zu überdenken. Und wievielerlei andere Probleme mußten gelöst werden: Elektrizität in unvorstellbaren Mengen wird das Baugeschehen schon benötigen, ehe auch nur ein Watt vom Damm selbst geliefert wird. Eisen und Zement, Bauholz, die Turbinen, all das muß vom Mittelmeer, von Tartous herbeigeschafft werden. Der Hafen ist zu klein. Wie es an den Euphrat schaffen? Auf Camions über schmale Straßen? Lächerlich! Eine Eisenbahn muß her, eine, die von Tartous über Aleppo zum Euphrat bis nach Kamischli an der nördlichen Grenze zum Irak führt. 131
Vor Jahren lag in der Nähe von Rakka ein kleines Dorf am Fluß, Tabka, bewohnt von Bauern und ehemaligen Beduinen. Rakka selbst, diese uralte, seit altersher eine kleine, aber bedeutungsvolle Stadt, den Assyrern, den Babyloniern, dieses Rakka, auch den westlichen Heeren, den Hellenen, den Römern und selbst den Kreuzrittern nicht minder Ziel und Durchgangsstation, wurde aus seiner jahrtausendealten Geruhsamkeit, aus seiner osmanischen Schläfrigkeit gerissen. Wohl sollte der Damm bei Tabka gebaut werden, doch Rakka verjüngte sich plötzlich: Da waren doch die Gebiets Verwaltungen und fühlten sich auch aus dem Schlaf gerissen, und da waren vielerlei kleine handwerkliche Betriebe, die für den Damm, den »Sadd el Furat«, dasein müssen mit ihrer ganzen Kapazität. Da führt die einzige, zudem erst vor Jahren neu erbaute Brücke über den Fluß, sie wird in die ersten zu bewässernden 60000 Hektar Neuland führen. Aber Tabka ... Tabka wird zu Lehmhaufen werden, und schon nach Wochen wird nichts mehr an das alte Dorf erinnern. Welch ein Blick über das Tal, über den Fluß, über den Damm! Wir stehen im obersten Stockwerk eines der neu erbauten Häuser der neuen Stadt, Gelblichgrau im weißlichen Morgenlicht, sanften Höckern ruhender Kamelherden gleich, liegen die jenseitigen Uferhügel. Werden sie einmal zottig grün sein und werden im Schatten von Bäumen und in kühlen Gartenwinkeln Mädchen und Jungen daherschlendern? Lohnt es, für solch einen Blick eine solche Reise zu unternehmen, eine Reise voll Mühen, Hitze, Durst bei tagelangen Fahrten im Auto? Es lohnt! Über den weit hingeschwungenen Damm – noch ist er unfertig zerfranst – ragen Kräne hoch von einer Mächtigkeit, die an urweltliche Ungetüme denken lassen. Urweltliche Ungetüme? Alles, was wir aus mythischen Erinnerungen oder von Funden über ihre Größe wissen, wird hier überboten. Werden ihre eleganten, fast fragil wirkenden Arme über den Damm, über die verschiedensten Baustellen geschwenkt, so hat man einen Augenblick das Gefühl, sie reichten bis zu den jenseitigen Höhen, sie vermöchten dort Kuppen und Felsschroffen 132
wegzuwischen, als seien sie aus Pappmaché. Ja, als sich einer der Arme zu uns hin dreht, ziehen wir den Kopf ein. Noch ist der Damm nicht fertig aufgeschüttet, doch Fahrwege winden sich an den beiden Flanken hoch, führen zu den Turbinenhäusern, zur östlichen Seite des Damms, wo immer noch aus mächtigen Stahlrohren Sandschlamm aufgeschlemmt wird. Übergroße Lastwagen, für uns aber nicht größer als Handkarren, fahren und fahren. Was alles solch ein Bau schluckt! Eisen und Holz, Kies und Zement, Maschinen und Maschinchen, Erde und Schlamm, Holzbretter und Kanthölzer. Im Flußbett, am Fuß des Dammes, an einem noch aus den Wassern herausragenden, wie angenagt wirkenden Hügel tuckern Motoren, armdicke Wasserstrahlen, gejagt vom mächtigen Atüdruck, bauen die Lehmkiesmassen des Hügels ab, Pumpen von unvorstellbarer Kraft drücken sie in mächtige Röhren, die bis zur andern Seite des Dammes reichen. Hier wird die Schlemmasse, Lehm und Kies und Wasser entlang der Flanke verteilt und durch unaufhörlich hin und her walzende Bulldozer festgedrückt. Unaufhörlich, Tag und Nacht rattern und fauchen die Motoren, die Pumpen, die übergroßen Lastwagen. Keine Eselsschreie mehr in der neuen Stadt, Kamele werden kaum einmal über die asphaltierten Straßen schaukeln. Für alle in der Stadt aber, für die Arbeiter und ihre Frauen aus den Dörfern, für die Ingenieure und die vielen sowjetischen Techniker und Arbeiter und für die vielen Kinder ist der Lärm kaum nervenzerreißend, er hat für sie einen Rhythmus, der mitreißt, fortführt in die Zukunft. Welch ein Blick! Über die Dammkrone wird man bald die jenseitigen, weich und dunstig im Nachmittagslicht liegenden Berghügel erreichen können. Sie verträumen ihre letzten diesjährigen Tage der Abgeschlossenheit. Im nächsten Jahr ... Schroff da und dort immer noch ein Grat, eine wie vom Horizont abgebrochene Felszacke, doch nichts Karstiges, nichts Verwittertes haben die Berge an sich. Werden sie im nächsten Jahr schon grüne Flecke haben, die sich jährlich verbreitern, und werden sie Weide bieten den Nomadenherden, die aus der südlichen 133
Steppe im späten Frühjahr vor der kommenden Hitze flüchten wollen? Vor Stunden im Büro des Gewerkschaftsvorsitzenden: Zwei Beduinen, einer von ihnen alt und ehrwürdig wie eine Gestalt aus verflossenen Jahrhunderten, der andere, jung, straff, hat eine schwere Mauser am Gürtel hängen; beide angetan mit schwarzgefärbten, ungemein dürftig wirkenden Kamelhaarmänteln, treten unbefangen ein. Für uns einen scharfen Blick, für den Vorsitzenden und seinen Sekretär eine knappe Handbewegung zum Herzen. Eine kurze Unterhaltung: Kamil sagt: »Sie wollen auf das jenseitige Ufer, über den Damm natürlich. Sie sind von den Weideplätzen auf einem Moped gekommen und wollen nun über den Damm fahren. Aber es ist verboten, erst wenn die Dammkrone aufgeschüttet und die Asphaltstraße fertig ist, kann man hinüber. Sie wollen aber schon in diesem Jahr feststellen, ob sie im nächsten Jahr mit den Herden über den Damm in die neu bewässerten Gebiete ziehen können.« »Sie planen also«, sage ich ironisch. Mit Händedruck werden sie verabschiedet. Kamil sagt: »Sie dürfen über den unfertigen Damm, aber nur in Begleitung fahren.« Welch ein Blick von dieser Terrasse aus! Im weiten Tal vor dem Damm fangen schon die Wasser an, sich zu sammeln, bilden da und dort Tümpel, vereinigen sich auch wohl schon und werden im Herbst, wenn die Regenwasser aus den Taurusbergen kommen, steigen und steigen, bis sie vor dem Damm einen See bilden, dessen Ausmaß heute grob zu bestimmen ist: etwa achtzig Kilometer lang, zwischen zwei und vierzig Kilometer breit. Alle Dörfer werden weithin, die Felder und die Teils, übriggebliebene Zeugnisse vergangenen menschlichen Lebens, immer noch und für immer unerschlossen, all das Leben wird vom See bedeckt sein. Die ersten Wohnsiedlungen, Weiler und Dörfer sind schon, nicht immer freiwillig und nicht sehr erfreut, von den Bewohnern geräumt worden. Manche sind angesiedelt worden in den Neulandgebieten, andere sollten in den Nordosten des Landes, an die irakische Grenze, in das immer größer werdende Erdölfördergebiet umgesiedelt werden. 134
Doch ist es nicht Kurdengebiet, und haben diese nicht andere Lebensgewohnheiten, und läßt sich überhaupt mit ihnen leben? Muß man da nicht alte, gewohnte Lebensart aufgeben? Und mit öl leben, mit einer Luft, die vielleicht geschwängert ist von Gas? So war da und dort am Morgen ein Dorf über Nacht verlassen worden Land am Rande der Wüste oder am zukünftigen Ufersaum angekauft worden, und ohne erst den Staat oder die Umsiedlungsbehörde zu fragen, bepackte man Esel und Kamele, Autos und Lastkarren und zog dahin, wo man die eigene Zukunft sah. Die Hänge am Flußbett reichen herauf bis zur eben entstandenen, großartig angelegten Uferstraße, sind schon bewachsen mit noch kärglich wirkenden Kiefern, deren grünliche Tupfen jedoch auf eine fast spielerische Art das Lehmbraun beleben. Zwei ältere Männer, beide in langen Galabien und schwarz-weiß gewürfelten Kufien, sind dabei, jedes einzelne Bäumchen zu begießen. Das erste Wasser also aus dem sich anstauenden See, und auch die Haushalte werden schon versorgt. Im öffentlichen Schwimmbecken tummeln sich Kinder. Keine Sparsamkeit mehr mit Wasser für Gärten und Blumenanlagen vor den Häusern und Hütten, die an traditionelle Bauweise erinnern. Erstaunlich, wie gleichzeitig mit dem Bau der neuen Stadt, mit den Wohnungen für zwölftausend Arbeiter schon Parkanlagen an den Straßen, große Rondells an Kreuzungen, viereckige Ruheflächen zwischen Häusern angelegt worden sind. Und wie großzügig dazu! Uralte Erfahrung mit künstlicher Bewässerung, ein kultiviertes Gefühl für Linie und Form, für Farben von Gesträuch und Blumen geben allem einen Hauch von Leichtigkeit, zeigen liebevolle Verbundenheit mit der Natur. Ungemein kraß dagegen der große Gegensatz zwischen schon gepflegter Natur, dem Farbengepräng von Blumen und Gebüsch und dem hektischen, wilden Durcheinander des Lebens in den Straßen. Vom Bahnhof her das ununterbrochene Rollen von Lastwagen, übervoll beladen, die Unmenge der hin und her flitzenden Taxis, Kleinbusse, Dreiradautos und Personenwagen, alle übervoll beladen, die vielen auf 135
den Gehwegen dahineilenden Menschen, das Hupen und Kreischen von Bremsen scheint niemand die Nerven zu zerreißen. Nur uns, nur uns! Zu Fuß zum Damm? Kamil schaut mich bestürzt an und sagt: »Wir werden schon müde sein, ehe wir noch ankommen.« Unser uns beigegebener Führer, ein schmaler, zurückhaltender Mensch – sehr müde wirkt er und auf eine bedauernswerte Art angegriffen –, lächelt blaß: »Und der Schmutz dazu, der Staub, das Durcheinander! Als Fußgänger ist man verloren. Wir würden Stunden und Stunden brauchen. Der Damm ist über zwei Kilometer lang!« Dann also nicht! Abu Ahmed schnauft. Fürchtet er um seinen Mercedes? Mit ihm von der Uferhöhe herab den Fahrweg hinunter bis zur Turbinenhalle, den zerfahrenen Fahrweg um den östlichen Hang des Dammes herum bis auf die andere Seite des Flusses? Abu Ahmed ergibt sich in das Schicksal, das auf den Mercedes wartet. Der Mercedes fährt an dem Kontrollposten vorbei, den steilen Weg zur im Bau befindlichen Turbinenhalle hinunter. Die Schleusenmauer ist schon errichtet, für uns aber ist nicht klar ersichtlich, ob da, wo wir uns befinden, einmal der Schaltraum für Turbinen und Schleusen sein wird. Der Turbinenraum wird sicher unter uns sein, aber was einmal da über uns? Kamil murmelt etwas vor sich hin, arabisch natürlich, und ich frage: »Ist was?« »Schrecklich!« sagt er und schaut an der Betonbewehrung hoch. Schon vom Zusehen kann einem schwindlig werden. Ich begreife ihn. Dieses Durcheinander von Eisen und Schalungen zu durchschauen, irgendeinen Sinn zu erkennen ist für einen Laien kaum möglich. Wir können uns wohl schon betonierte Wände vorstellen, aus der Bewehrung der Dicke der Mauern und ihre Höhe. Mögen die Naturgewalten auch noch so mächtig, die Wasser noch so stürmisch und von zerstörerischer Kraft sein, hier werden ihnen stärkere Kräfte entgegengestellt. Arbeiter, in Overalls und mit Schutzhelmen versehen, hängen hoch 136
über uns im Eisengeflecht, erscheinen uns wie kleine Zwerge. Nah bei uns, auf der Decke des Turbinensaals bewegen sich gutgenährte, kräftige Gestalten, braungebrannt und mit sauber ausrasierten Schnurrbärten. Schutzhelme zu tragen in dieser Hitze eine Last sicherlich, auch wenn sie getragen werden, als gehörten die zu einem lustigen Kostüm, ins Genick geschoben, schräg aufs linke oder rechte Ohr gesetzt. Vor zwei oder auch drei Jahren, da sind sie alle in Galabien und mit schwarzweißen oder auch weißen Kopftüchern durch die Dörfer oder auf die Felder gegangen, oder aber in irgendwelchen Dorf Werkstätten haben sie notdürftig bäuerliches Feldgerät repariert. Und nun tragen sie Overalls und Schutzhelme und feste Schuhe: mehr als eine Revolution! Auch ihr Gehabe ist anders geworden, sicherer, freier. Und gar ihr Lachen, ihre Reden! Ein uns zutiefst bewegendes Bild: Nicht weit von uns, nur einige Meter entfernt, kabbeln sich drei Arbeiter, wohl lachend und in freundschaftlicher Verbundenheit, doch unter dieser Maske von Ironie und Frotzelei spürt man den Ernst. Einer von ihnen trägt noch seine weiße Kufie, ist auch noch ohne Overall, also wohl noch nicht lange hier, während die andern beiden mehr als nur ihre Lehrzeit hinter sich haben. Sie zerren an dem Kopftuch des dritten, reden auf ihn ein, wie gesagt, mit Ironie und freundschaftlicher Bissigkeit. Keiner von ihnen ahnt wohl, welch eine symbolhafte Bedeutung dieser Augenblick in sich birgt. »Schluß mit dem«, schreit einer der beiden »Fortgeschrittenen« auf den »Rückständigen« ein. »Das ist für das Dorf, für den Acker ... Aber hier?!« Die »Fortgeschrittenen« zerren an dem Tuch, aber der »Rückschrittliche« wehrt sich, wohl lachend, aber erbittert. Fürchtet er, etwas Unwiederbringliches zu verlieren, mehr als nur das Dorf, und steht ihm dieses, festgefügt in seine Tradition und Geschichte, zur Seite? »Laßt mich«, sagt er plötzlich böse. Wird es Streit geben, ernsthaften Streit? Jäh wechseln hier oft die Stimmungen in dieser Hitze, unter der brennenden Sonne. Für eine zugefügte Beleidigung zuckt schnell das Messer auf. 137
»Welch gute Freunde sie sind«, sagt Abu Ahmed gutmütig. »Er soll doch schon den Tuchfetzen hergeben!« Die beiden »Fortgeschrittenen« haben nun, so scheint es, die Kabbelei gewonnen. Sie haben das Tuch an sich gebracht, sie stülpen dem Neuen einen Schutzhelm über, stecken ihm das Kopftuch in die Jackentasche. Dann zerren sie ihn zu der Eisenbewehrung. Sie beugen sich zu dem zu verknotenden Eisengeflecht nieder, und einer zeigt dem Neuen, wie um jeden Kreuzungspunkt der Eisenstangen ein Draht geschlungen wird. Herumgelegt den Draht, fix und fixer, den Draht zusammenziehen und auf zu der nächsten Drahtkreuzung. Der Neue schnauft, seine Finger sind noch ungelenk, doch morgen wird es schon besser gehen. Die beiden »Fortgeschrittenen« zwinkern sich und dann auch uns zu. In dieser erregten Atmosphäre der Arbeit, in diesem Gelärme von Schreien und Eisengeklirr, dem Rattern von Motoren und den gellenden Zurufen in arabischer und russischer Sprache den Wunsch zu äußern, irgendeinen der Arbeiter sprechen zu dürfen, ist es nicht eine Zumutung? Jedem der uns messenden Blicke sieht man an: Keine Zeit, Fremdling, stör nicht! Faulenzer, Studierer, Beobachter! In der Reparaturwerkstatt stört man, so nehme ich an, am wenigsten. Alle Maschinen, Betonmischer, Autos, Hebekräne, alles, was auf solch einer überdimensionalen Baustelle gebraucht wird, sind Lebewesen besonders empfindlicher Art. Natürlich also, daß sie immer wieder auf Herz und Nieren geprüft und ihre Anfälligkeit für alle Arten von Störungen behoben werden müssen. Wird ein besonders empfindlicher Teil müde, muß man ihn austauschen. Die Reparaturwerkstatt befindet sich im östlichen Flußtal, fast am Fuß des Dammes. Sie zu erreichen mit dem Wagen ist nicht möglich. Den Damm hinunterklettern über tief ausgefahrene, staubige und hartkrustige Lehmwege, unten angekommen über ein Gewirr von Eisenteilen, Motorwracks, durch ein Spalier neugieriger Blicke und auch, wir spüren es deutlich, ironischer Zurufe. Die »Frühstücksbude« ist zugleich das Büro des die Werkstatt leitenden 138
Ingenieurs: junges, aber ungemein stilles, reifes Gesicht. Holzbänke an den Wänden, der kleine Schreibtisch, an den Wänden Karten der einzelnen Phasen des Baues und auch eine Zeichnung des Dammes, wie er einmal aussehen wird. Dazu Fotografien von Arbeitern, solche von der Golanfront, herausgeschnitten aus Zeitungen, und die des Präsidenten. Arbeiter, manche noch sehr bäuerlich wirkend, sammeln sich um uns. Schüchtern, linkisch fast, aber mit orientalischer Herzlichkeit die Begrüßung. Sie zucken zurück, als Kamel ihnen etwas in arabischer Sprache erklärt. Zu mir sagt er: »Das Gewöhnliche, Sie verstehen! Nur darf ich Sie nicht allzusehr herausstreichen. Von Vietnam habe ich ihnen erzählt und auch von Spanien.« Immer wieder habe ich das gleiche Gefühl von schamlosem Hineindrängen in fremdes Leben, in privates und auch, wenn man so will, in öffentliches. Ist man dazu berechtigt aus dem einzigen Grund, es weiterzugeben, für andere Erkenntnisse zu gewinnen, die über die Möglichkeit des einzelnen hinausgehen? Wie schwer schon, ein Gespräch anzufangen und mit wem und wie! Ein junger Mann, auf der Bank zusammengesunken unter dem Plan des Dammes, lächelt verlegen, als mein Blick auf ihn fällt. Er rutscht hin und her, als sich ihm die Gesichter seiner Kollegen auch zuwenden, verlegener noch als unter meinen Blicken. »Wie heißt er?« frage ich unbeholfen, gehemmt. »Hamad el Mosa«, antwortet der junge Ingenieur. »Verheiratet?« »Ja, und schon drei Kinder!« Wortkarg, ungelockert, schwerfällig, ach, wie schwer! »Hat er seine Frau gekauft?« frage ich. »Und was hat er bezahlt? Man muß doch noch immer die Frau kaufen?« »Nein ... nein ...«, wehrt er sich, plötzlich ohne Scheu, »ich mußte nichts bezahlen. Ich hatte ja auch nichts, keinen Piaster.« »Und?« ermunterte ich ihn. »Wir haben getauscht«, lacht er plötzlich pfiffig heraus. »Meine Schwester gegen deine Schwester, so war das. Einen Freund 139
hatte ich im Dorf, der hatte eine Schwester, und ich hatte auch eine Schwester. Geld hatten wir beide nicht, aber wir hatten beide Schwestern, und da machten wir es so: meine Schwester gegen deine Schwester.« Alle schmunzelten über das gute, pfiffige Geschäft, bei dem die Tradition das Nachsehen hat. Unvorstellbar, daß die beiden Mädchen einverstanden gewesen wären, wenn nicht jeweils schon vorher Einverständnis vorhanden gewesen wäre. Und doch sind es nur ärmliche Geschäftsleute, sie wären, wenn man so will, ohne die Arbeit hier betrogen. Das ärmliche, stickige Leben im Dorf, hätte es nicht »das Geschäft« erst zu einem wirklichen, harten werden lassen? Die Frauen wären Produktionsinstrumente geworden: Kinder jedes Jahr und das ganze Jahr über Tag für Tag auf die Äcker von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Hamad el Mosa, Sohn eines Bauern im Euphrattal, nicht weit vom Damm das Dorf, hielt er, was im Dorf an Motoren und Eisenzeug vorhanden war, in den letzten Jahren in Schuß. Der Vater besaß, so sagt er, zehn Hektar bewässerten Boden, also nicht wenig, aber die Bewässerung kann, obwohl sie unumgänglich bei diesem Boden für Baumwolle und Rüben war, zur Plage und Last führen. Einmal, in einer Zeit, an die er sich nicht mehr erinnert, gab es auf den Äckern noch keine Bewässerungsanlagen. Er hat immer schon mit Wasser gelebt. Wie alles gehandhabt wurde, die Wasserverteilung, die Bezahlung, und wie es eigentlich dazu kam, daß sie im Dorf Wasser erhielten, weiß er aus eigener Kenntnis nicht. Die Alten im Dorf erzählten, eines Tages sei ein Mann aus der Stadt ins Dorf gekommen, ein »Kaufmann« aus Aleppo, und er habe nicht nur dem Vater, sondern allen im Dorf ein Angebot gemacht: Ich installiere am Fluß Pumpen und Motoren, auf meine Kosten selbstverständlich, ihr grabt euch die Gräben auf eure Äcker, und da habt ihr Wasser. Ich liefere euch auch Saatgut für die Baumwollfelder, ich nehme euch die Ernte ab, ich fahre sie selbst in die Stadt auf den Großmarkt, so daß ihr nichts anderes mehr zu tun habt, als zu säen, zu bewässern, zu pflegen, zu ernten. Das ist die einzige Sorge, die ihr euch machen müßt. Zu zahlen, nein, zu zahlen habt ihr nichts. 140
Nein, nichts ist zu zahlen. Bringen zum Beispiel 1000 qm Acker 250 Kilo Baumwolle, so teilen wir, ihr die Hälfte und ich die Hälfte. Ein gutes Geschäft doch! Für jeden von uns 125 Kilo. Bewässert ihr gut, pflegt ihr die Saat gut, so kann es doch auch mehr werden, was geerntet wird, also bleibt euch auch mehr. Gezahlt wurden pro Kilo 55 bis 60 Piaster, also brachten 1000 qm zwischen 55 und 60 Pfund. So war das, und so wurde es auch mit allen anderen Produkten gehalten. Hamads Stimme ist monoton, während er all das erklärt, und beim Erzählen versucht er wohl selbst die vergangene Realität des Lebens zu erfassen. Oder bringt er zum erstenmal in Worte, was er bis dahin wohl gewußt, aber nie so deutlich ausgesprochen hat? Und heute? Na, nun, er weiß es nicht so genau. Einen »Kaufmann« gibt es jedenfalls nicht mehr. Da gibt es jetzt die Genossenschaft, und die verwaltet die Pumpen und Motoren, sie liefert Saatgut und Düngemittel, und sie nimmt auch die Ernte ab. Natürlich alles nicht auf der Basis fifty-fifty, nein, mehr als zwanzig Prozent der Ernte »werden wir« nicht an Unkosten haben. Zu hören ist deutlich: werden wir – und so ist er also immer noch im Dorf, ist beteiligt am Leben dort trotz Damm und Reparaturwerkstatt. Und ich frage: »Und die Frau und die Kinder, leben sie noch im Dorf?« Er verneint, und einer seiner Kollegen, ein sicherlich noch unbeweibter, sagt anzüglich: »Er kann doch nachts nicht allein unter einer Decke liegen. In vier Jahren hat er drei Kinder zuwege gebracht, und seine Frau ... nun, ja ...« Spöttisches Gelächter, gutmütiges Gepoltere. »Unten in der Stadt wohnen wir«, sagt Hamad el Mosa, ungerührt von Spott und Anzüglichkeit, »zwei Zimmer in einem Häuschen haben wir, eine kleine Terrasse und auch einen kleinen Garten.« Nicht weit von den großen Wohnmaschinen der eigentlichen Stadt in der Nähe des Damms sind einstöckige, buntfarben gestrichene Hütten aufgebaut worden. Sie wahrscheinlich entsprechen eher dem Lebensgefühl der aus den Dörfern gekommenen Dammarbeiter als die 141
Betonkolosse. Die kleinen Gärtchen um die Hütten bringen einen Hauch von Dorf, auf wenigen Quadratmetern Erde lassen sich einige Weinreben, etwas Gemüse, Zwiebeln und Knoblauch anpflanzen. Die Trennung vom vertrauten Dorf, von der heimatlichen Erde fällt nicht so schwer. »Und Ihre Frau, die doch nicht mehr auf den Acker muß, hat es sicherlich leichter als früher?« frage ich. Hamad sagt: »Sie hat ihren kleinen Garten, sie pflegt Blumen und die Kinder ... Sie hat die schönsten Blumen im ganzen Viertel ...!« Und der anzügliche Kollege lacht: »Und am Abend, da ist sie nicht mehr so müde ...« Mit Hamad und seiner Familie, was wird mit ihnen geschehen, wenn einmal der Bau des Dammes abgeschlossen ist? Lange wird es nicht mehr dauern, ein Jahr vielleicht oder auch zwei, und die Turbinen werden voll erdröhnen, an den Schalttafeln von Pumpen und Überlaufreglern werden vollausgebildete Ingenieure stehen. Kein Platz also für ihn, der den ersten Schritt getan hat vom Bauer zum Arbeiter? Und an den Pumpwerken am nördlichen Ufer, die das Wasser hinauf pressen auf die Hochebene, auf diese 60000 ha, die als erste, zur Probe sozusagen, bewässert werden und die Antwort werden geben müssen auf die Frage: Was wächst? Wie wächst es? Was muß man dem Land noch mehr geben als Wasser? – auch da wird sich sicherlich kein Platz finden lassen. Und auf dieser uns endlos erscheinenden Fläche, der wir nun entgegenfahren, dieser Fläche aus kalkiggelbem und braunem Steppenacker, wird sie einmal Heimat sein können für Hamad? Nach den Jahren der Arbeit auf dem Damm, da wird er sicherlich nicht mehr nur fragen: Was verdiene ich? Gibt es für Frau und Kinder genügend Wohnraum? Er wird fragen: Welch eine Arbeit könnt ihr mir geben? Was ich kann? Einen Traktor kann ich fahren zum Beispiel, einen Motor kann ich reparieren, und wenn es sich als notwendig erweisen sollte, werde ich auch ein Schweißgerät bedienen können. Und noch mehr kann ich! Die Erde verstehe ich, weiß, was Saat und Frucht 142
brauchen, und da bin ich kein einfacher Traktorist, sondern einer, der weiß, wie Pflug und Egge und Saatmaschine einzusetzen sind, um der Erde zu entreißen, was sie ungepflegt nicht hergeben will. So also wird er seinen Platz finden, einen, der ihm lieb ist und der auch seinen Söhnen und Töchtern mehr gibt als nur Wasser und Brot. Nach Irrgängen durch manche Flure in manch falsches Zimmer geraten – sieht man uns nicht gern in die ersten Plantagen, zu den ersten arbeitenden Pumpstationen fahren? –, stießen wir auf den »richtigen Mann«. Ein gemütlich wirkender, sich freundlich, doch zugleich flink und wendig gebender Mann in den Dreißigern sitzt hinter einem Schreibtisch und schaut uns entgegen, als hätten wir schon mehr als nur einige Täßchen Kaffee mit ihm getrunken. Ein Agroingenieur, der kaum den Eindruck macht von Plantagen und harter Arbeit auf Versuchsäckern. An den Zimmerwänden, was so üblich ist: die Fotografie des Präsidenten, einige Zeitungsausschnitte mit Ansichten der Kampffronten an den Golanhöhen, Aktenregale und ein Panzerschrank. Und übergroß hinter ihm eine Karte, auf der Damm und Stausee und all die einmal bewässerten Flächen aufgezeichnet sind. Die Karte eines mächtigen Generalstabes! Der See, gefüllt und riesig sich hinstreckend, gleicht einer mächtigen, satt ruhenden Eidechse; der fertige Damm mit E-Werk und Überlauf gleicht Kopf und Maul und Vorderfüßen; langgelagert der Körper und der Schwanz über das ganze Tal, bis zum Taurus hinauf. Wird er sich aber je einmal füllen bis zur Dammkrone, seine vorausberechneten 80 Kilometer Länge und die Breite von 20 bis 40 Kilometer, wird er diese ganze Ausdehnung je erreichen? Wohl ist er schon abgesperrt, doch Wasser ist immer noch rar, und der Taurus hat auch nicht mehr Regen bekommen in den vergangenen Jahren als Wüste und Steppe. Und was wird der Herbst bringen, der Winter? Wieder nur einen fadgrauen Himmel über den Bergen, und aus der Wüste, werden da wiederum nur dörrende Winde kommen und 143
Trockenheit und Trockenheit? Im kommenden Herbst und Winter, werden sich endlich genügend Regenwolken an den Gipfeln des Taurus stauen und sich melken lassen? Die volle Funktion von Damm und Elektrizitätswerk hängen jetzt nur von einem ab: von Regen und Regen im Herbst, Winter und Frühjahr. Und dann, wenn der See gefüllt ist, und die Eidechse sich erstreckt vom Damm bis nah an die türkische Grenze, was wird dann sein? Unser uns gutgesonnener Agroingenieur lächelt freundlich: »Dieser Euphratbogen war einmal der nördlichste Teil des Fruchtbaren Halbmondes. Doch nur wenige Kilometer breit reichte die eigentliche Fruchtbarkeit, eingeengt war sie von Wüste und trockenen Höhenzügen, aber nun ...! Sehen Sie!« Eine Ziffer: achthunderttausend Hektar bewässerbare und zu bewässernde Erde. Vorstellbar ist das kaum. Natürlich ist diese unermeßliche Fläche nicht zusammenhängend, sie erstreckt sich auch nicht gleichmäßig entlang dem ganzen Flusse. Im Südosten, von Abu Kemal bis Deir-Ez-Zoor, entlang dem Euphrat und nördlich am Kabur, gleicht der zu bewässernde Flecken zwei mächtigen Lungenflügeln. Ist hier das entscheidende Gebiet des ganzen Projektes? Sagen wir, eines der entscheidenden. 70000 ha werden es, nicht mehr, aber dieser schwere Boden soll dem der Ukraine ähneln, er gab bisher schon mehr an Frucht, Getreide und Baumwolle, als die meisten vergleichbaren Flächen im Land. Das Meskene-Aleppo-Bassin, am südlichen Seeufer gelegen, hat eine unvergleichlich günstigere Verkehrslage, hat die mächtige Industrieund Geschäftsstadt Aleppo als nahes Hinterland und wird sich sicherlich am schnellsten entwickeln und die aufgewandte Mühe lohnen. Doch das erste Versuchsgebiet, zu dem wir unterwegs sind, ruht wie ein mächtiges Dreieck auf dem Fluß zwischen Tabka und Rakka und reicht mit seinem spitzesten Winkel bis an die türkische Grenze. Dieses spitzwinklige Dreieck stellt das große Versuchsgebiet dar. Dorthin wollen wir, um einen ersten, wenn auch möglicherweise sehr vagen Eindruck von dem zu bekommen, was einmal sein wird. Der Landrower schüttelt uns unbarmherzig zusammen; nach wenigen 144
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Stunden wird nichts mehr anderes von uns übrig sein als durcheinandergeschüttelte Knochen, vertrocknete Haut, ein bemitleidenswerter Anblick. Überweht von bräunlichem Staub, triefend vor Schweiß schon zu Anfang der Fahrt auf der Dammkrone, die bald eine Brücke sein wird zwischen beiden Ufern, hält es schwer, Gleichmut zu bewahren und anzunehmen, noch mehr Staub, und noch mehr Gerüttel in der Hitze seien zu ertragen. Und der Agroingenieur sagt: »Für euch Europäer ...« Was aber will er wirklich sagen? Verwöhnt sind wir, nicht fähig, irgendwelchen Widrigkeiten zu begegnen, die außerhalb von Gewohnheit und Hergebrachtem liegen. Wird er das, ein wenig ironisch und möglicherweise wirklich sagen? Die Piste windet sich von der Dammkrone aus die Hänge hinauf, sie teilt sich auf der Hochebene in mehrere in die verschiedensten Richtungen, in einer gläsernen Ferne sich verlierende Pfade. Trostlos kahl ist die geröllübersäte Erde, bräunlichgrau, ockerfarben der Hitzeschleier am Horizont. Lehmhütten stehen nicht weit vom Weg, von bröckelnden Lehmmauern eingefaßt, in den Höfen dämmert staubüberpudertes Baumgrün; im Schatten dösende, reglose Hunde, ein Esel und ein paar Ziegen. Eine Frau, eingehüllt in dunkle Tücher, bewegt sich wie ein grauer Schatten: Das scheint das gesamte Leben zu sein zwischen den Mauern, in den Hütten, in der weiten Ebene. Unser Agroingenieur sagt: »Vielleicht sind Sie der letzte Ausländer, der diese Hütten sieht. Sie werden demnächst abgebrochen und die Bewohner in schöne, neu errichtete Häuser nordwestlich von hier umgesiedelt. Sie werden dort Wasser haben für sich und das Vieh. Und trotzdem wollen sie ihr Dorf nicht verlassen.« »Wovon nur haben die Menschen hier gelebt?« frage ich beklommen, erschüttert von der scheinbaren Unmöglichkeit, in dieser Mondlandschaft irgend etwas zu finden, Getreide oder Gemüse oder Bäume oder nur die Anzeichen von Brunnen, was das Leben ermöglicht. Woher wurde auf dieser Hochebene das Wasser genommen? Stieg man täglich den stundenweiten Weg hinunter nun zum Fluß? Getreide, wuchs es 145
je auf diesen Geröllhalden? Gemüse und Salat, verdorrte jedes Grün nicht schon, ehe es noch seine ersten zarten Spitzen aus dem Boden zu zwängen vermochte? Obst, wuchs es je hier in den Gärten, und der Saft von Aprikosen und Pfirsichen, rann er je über lechzende Kinderzungen? »Wasser mußte vom Fluß unten geholt werden«, sagte der Ingenieur, »und das Vieh, die Ziegen und Schafe trieben sie auch hin. Kühe kannten sie kaum. Und Futter ..., was sich so im Frühjahr auf der Steppe fand!« Für uns, die wir sozusagen von Nässe vollgetränkt sind, sind da all die Träume von Wasser vorstellbar, die Tag und Nacht durch die Träume der Menschen hier gegeistert sind? Alpträume müssen es gewesen sein zwischen den Lehmmauern der Hütten, die Herz und Seele schwermütig und ergeben gemacht haben. Und dann plötzlich die schnurgerade Linie eines Kanals. Er ist noch ohne Wasser, anscheinend noch nicht benutzt, obwohl er schon zur Pumpstation am Flußufer führt. Die Pumpstation ein Betonklotz, wuchtig in die öde Umgebung gestellt, umgeben von aufgeschütteten Erdmassen. Eine schmale Betonbrücke führt über den Kanal. Einige junge Männer sehen uns entgegen, als kämen wir aus einer andern Welt, für sie auf immer untergegangen. Sie sind kräftig gebaut, sie haben gute, intelligente Gesichter und wache Augen. Zuerst in die Kühle eines Raumes zu einem Glas Tee, zu einem ersten Ausruhen nach dieser Stunde Autofahrt, die anstrengender war als eine zehnstündige Überlandreise. Die jungen Männer lächeln mit verschorften Lippen, ihre Augen sind abwesend, versunken ihre Gedanken in etwas, woran wir nicht teilhaben. Ist es die Landschaft, diese braune, weit im grauen Hitzeglast sich verlierende Hochebene voll öder Trockenheit und rundköpfigen Gerölls, die sie so still, so von ergebener Ruhe sein laßt? Der Motoren- und Pumpenraum tief unten in dem häßlichen Beton146
klotz muß natürlich gezeigt werden. Die Kühle ist wie eine Hand mit knöchernen, kalten Fingern, sie läßt uns erschauern, und die Stille, die erwartungsvolle Ruhe, sie wirkt wie alles erfroren. Schweigend geht einer der jungen Männer an eine der Pumpen, zeigt auf das kleine Fabrikschildchen an der Pumpe und am Motor: das aus der DDR, jenes aus der Bundesrepublik. Sein freundliches Lächeln scheint zu sagen: Sieh her, die beiden Teile haben hier gewirkt, und das ist nun ein Ganzes geworden. Soll ich mit ihm diskutieren? Er scheint auf einen der Knöpfe an den Schalttafeln drücken zu wollen, läßt aber dann die Hand sinken und sagt: »In einigen Wochen werden wir sie anlassen ...« Und da weiß ich: Nicht die öde Landschaft über uns, sondern die Pumpen und die Motoren bestimmen die Stille und die Ruhe der Männer, die ungeduldige Erwartung, die in ihren Augen liegt. In wenigen Monaten, so sehe ich, wird sich alles hier verändert haben. Diese eben erst niedergesunkene Männerhand wird sich erheben, ein Finger wird auf einen Knopf drücken, stumpf summend werden die Motoren zu arbeiten anfangen, und die Pumpen werden stampfen und stampfen. Möglich, daß die Männer dann hinaufeilen und sich an den Kanal stellen und dem herausschießenden Wasser zuschauen, aufatmen, als sei eine zentnerschwere Last von ihren Herzen genommen, und Bilder von unvorstellbarem Grün sehen, Bilder von Gärten und Feldern. Wieder an der Sonne, im heißer werdenden Wind auf der Brücke. (Wird der Wind einmal besänftigt sein durch Wälder und grüne Felder?) Ein ratternder Traktor mit einem Hänger, übervoll mit grünem Zeug beladen, obenauf ein Mann in einer Galabie, die Kufie über das Gesicht gezogen, eine junge Frau, dem Wind das Gesicht entgegengestreckt, kommt dahergeschaukelt. »Sie kommen vom Zentrum des Gebietes, daher, wo schon Baumwolle und das erste Getreide angebaut wird«, sagt der Ingenieur. Fata Morgana der Zukunft: Auf schaukelnden Traktorenanhängern sitzen Bauern und Bäuerinnen. Esel als Zugkraft werden nicht mehr 147
gebraucht werden und auch keine Holzpflüge. Was aber wird sie dann peinigen und auslaugen? Noch wird die Sonne die langen Monate über brutal am Himmel glühen, der Wind noch nicht weich sein. Bis dünnstämmige und schmalkronige Wälder Schatten gewähren, werden Zeiten und Zeiten vergehen. Aber sie werden vergehen. Auf der Suche nach Brücken über Kanälchen und Gräben, die noch ohne Wasser sind, jagen wir quer über die Hochebene. Der Landrower hüpft und bockt hoch wie ein mächtiger Ziegenbock. Eine Staubfahne, der wir nicht enteilen können, legt sich erstickend auf die Brust. Aus dem graugrünen Glast vor uns tauchen viereckige, aneinandergereihte Betonhäuschen auf, alle einstöckig und niedrig mit kleinen Fenstern und einer schmalen Tür aus Holz. Ein neues, ein Musterdorf! Ist es schon bewohnt, ist es überhaupt bewohnbar? Düster und lähmend wirkt es in seiner Gleichförmigkeit. Wie an einem Lineal aneinandergereiht, nur wenige Meter voneinander entfernt stehen die Hütten, kalte graue, niedrige Kisten mit ihren flachen Dächern. Kahl und ohne Grün noch die Wände, von schmerzender Öde das helle Betongrau, ohne Gärten alle noch, stehen sie an den »Gassen«. Wie gesagt, eine Hütte neben der anderen, Gasse hinter Gasse, ein bedrückender Anblick. Ein einziger um eine Hütte streunender Hund, einige Hühner, ein Traktor, der einen ungepflegten Eindruck macht, all das verstärkt den Eindruck von Düsterkeit. Aus einer Hütte kommt ein Mann, sieht uns an, geht dann wieder in die Hütte zurück. Zwei Kinder, die hinausdrängen, werden wieder hineingezerrt. Sinnbild der neuen Zeit? Das kann nicht sein! Nur Verirrungen von Architekten, die für Dorf und Menschen nur ein Reißbrettleben gefunden haben? In maßloser Einfallslosigkeit sind ohne Beziehung zu Tradition und zu dem einfachen Bauernleben nur schnurgerade Linien für Hütten und Gassen gefunden worden, kleine Wohnmaschinen, Karnickelställen ähnlich, wurden erbaut, aber für wen? Für Bauern? Gehört höfliches Schweigen zu den besten Eigenschaften des Gastes? Ich glaube nicht, schweige aber dennoch, wende mich ab von den Hütten und erblicke eine Reihe bungalowähnlicher Gebäude, die in jedem Feriendorf stehen könnten. Mit viel Sinn für Symmetrie selbst 148
in der Abwechslung der Anordnung, von Terrassen eingesäumt, so stehen großfenstrige Bauten, mit an alte arabische Tradition erinnernden Bögen und Pfeilern geschmückt. »Hübsch, nicht wahr?« fragt der Ingenieur. Seine Stimme klingt verlegen. Ich schweige zuviel, wirklich, man sollte daherreden können: Gott, wie hübsch ... Ich kann es nicht. »Ist das Dorf nicht bewohnt?« frage ich. »Noch nicht«, antwortet er und setzt hinzu: »Die Bauern wollen nicht in die Hütten ziehen, seltsamerweise ... »Seltsamerweise?« Er glaubt kaum an das, was er sagt. Er übt aber die ihm notwendig erscheinende Zurückhaltung, hält die Spielregeln ein, die davon reden, daß man das eigene Nest nicht beschmutzen solle vor dem fremden Gast. Hat es hier Auseinandersetzungen gegeben über den Charakter von Dorf und Hütten? In diesem Land, wer verstünde da nicht, daß man nicht in kahlen Wohnmaschinen ohne Gärten, Grün und Schatten leben will, nicht kann? Doch etwas zu sagen hat keinen Sinn. Ich strebe dem Landrower zu und denke: ›Wie modern und wie schön muß das alles auf dem Reißbrett ausgesehen haben, und wie leicht hat sich jeder Einwand erledigen lassen!‹ Ein großer grüner Teppich, gefleckt von braunen und weißen Ornamenten, so liegt das erste schon einige Jahre bestehende Versuchsfeld vor uns, Baumwollfelder, schnurgerade ausgerichtet die Reihen, die Büsche übervoll von weißen, schneeigen Fruchtflocken, kaum verunkrautet, ein wohltuender Anblick von Ordnung, Planung, Pflege. »Von einer dänischen UNO-Expertengruppe angelegt«, erklärt der Ingenieur. Auf der unermeßlichen Fläche arbeiten die verschiedensten Gruppen der UNO. Italiener haben die Bewässerungsanlagen geplant, den Ausbau geleitet, Franzosen und Jugoslawen sind beteiligt. Doch die an unserem Weg liegende Versuchsplantage wird von Arabern geleitet. Kritische Stimmen hatten oft nicht sehr freundlich schon bei der Ausarbeitung des Gesamtplanes darauf hingewiesen, daß die Bewässerung solch großer Gebiete nicht voraussehbare Folgen für das Land mit 149
sich bringen könne. Der Boden sei überreich gesättigt von Mineralien aller Art, die dauernde Bewässerung könne sie an die Oberfläche spülen und den Anbau traditioneller Fruchtarten, Gerste und Baumwolle, Obst jeder Art, Gemüse und Salate, auf die Dauer verunmöglichen. Der Boden werde versalzen, und möglich, daß dem ganzen Projekt der Erfolg versagt bleibe. Nur düstere, aus politischen Interessen gegebene Prognosen unfreundlicher oder gar feindlicher ehemaliger feudaler Kräfte? Vorsichtig frage ich: »Ist nicht zu befürchten, daß durch die Bewässerung im Boden Salze und Mineralien gelöst werden, die keine oder nur kleine Ernten zulassen? Ich meine, auf die Dauer?« Der Ingenieur lächelt nicht gar zuversichtlich. Kamil sieht mich, so scheint mir, strafend an. Bin ich lästig mit meinen Fragen? »Bis jetzt«, so fängt er zögernd an, »hat sich beim Anbau von Baumwolle nichts Nachteiliges bemerkbar gemacht. Alle anderen Fruchtarten ... Nun, Sie werden sehen! Auf diesem Neuland muß man Versuche machen, muß anpflanzen und säen und pflegen, und das Ergebnis wird zeigen, ob Befürchtungen berechtigt sind oder nicht und was man tun oder lassen muß, um eventuelle nachteilige Folgen abzuwenden.« Weit und grün erstrecken sich die Felder der Versuchsplantage. Sie sind geteilt durch befahrbare Wege und Pfade, durch schmale Kanäle, in denen Wasser strömt und schäumt, klares, durchsichtiges Wasser mit einem Hauch von frischer Kühle. Ein berückender Anblick. Dunkel das Grün der Pfirsichbäume, das der Aprikosen silbrig schimmernd inmitten der weiten Tomatenpflanzungen. Die Erde ist rötlichbraun, da, wo sie frisch bewässert ist, klumpigschwer und fett. An den Kanälen wachsen dunkelgrüne Kiefern, und lustig sind die grün und gelb und violett blühenden Blumen unter dem Filigran des Gezweigs anzusehen. Rund um die einstöckigen, niedrigen Verwaltungsgebäude liegen einige kleinere Werkstätten, ein Hühnerstall, stehen Anhänger und zwei sehr gepflegt aussehende Traktoren, einige Pflugscharen und Eggen. Vor den Gebäuden sind Blumenrabatten angelegt, freundlich strahlen Grün 150
und Farben. Aber läßt sich in diesen Betongebäuden arbeiten, wohnen und schlafen in den heißen Sommermonaten? Die erste Cola, das erste Schälchen Kaffee lindern Durst und Körperhitze. Dann aber spüren wir heiß die durch die Fenster strömende Luft. An den Wänden wie überall der Präsident, Frontbilder, Regale, nicht sehr aufgeräumt, und natürlich ein großer Plan der gesamten Plantage. Kaum verständlich sind die Zeichen für Bäume, für Tomaten, für Pfirsiche und Aprikosen, Melonen und Obst. Der Direktor, ein junger, schwarzhaariger und sehr dunkelhäutiger Mann, der den Eindruck erweckt, als habe er noch nie einen Spaten oder eine Hacke in der Hand gehabt, lächelt. »Der diesjährige Anbauplan«, sagt er. Er ist Ägypter, hat auch in Kairo studiert, dann in der Heimat als Zweiter Direktor einer Obstplantage gearbeitet, ist nun schon zwei Jahre hier. Mit Familie natürlich, mit Frau und zwei Kindern. Wohl fühlen? Aber warum nicht? Wir sind doch hier ..., ja, auch in diesem Land sind wir zu Hause! Haben wir die Unterschiede der verschiedenen arabischen Völker, ihre Divergenzen und Widersprüche oft als zu groß angesehen? Tatsache ist, daß Techniker, Lehrer und Agrofachleute kaum noch Grenzen zwischen den verschiedensten arabischen Ländern kennen. Syrien »produziert« viel mehr Fachleute, als das Land in seinem jetzigen Zustand gebrauchen kann. Zahlen werden genannt, die erstaunen lassen. In aller Welt, von den USA bis nach Westdeutschland arbeiten etwa 3500 Ärzte. Man findet es in gewissem Sinn als nicht normal. Daß Ärzte, Baufachleute, Pädagogen in anderen arabischen Staaten, in Saudiarabien, in Kuweit, im Jemen oder in den nordafrikanischen arabischen Ländern, arbeiten, wird als natürlich, als ein Akt der Solidarität angesehen. Man findet es nicht unnatürlich, wenn im eigenen Land Libanesen, Ägypter oder Jordanier arbeiten. Ist es nur die gemeinsame Geschichte und Religion seit Jahrhunderten, die eine arabische Solidarität finden lassen über alle politischen Divergenzen hinaus und dem heutigen Leben der Völker eine neue Qualität geben? 151
Erstaunlich auch, wie offen, wie vorurteilslos man allen ausländischen, den westeuropäischen und auch den Experten aus den sozialistischen Ländern gegenübertritt, wie freundschaftlich man sie empfängt und behandelt und ihre Hilfe ohne jede Minderwertigkeitskomplexe entgegennimmt. Nach einer gewissen Zeit der Abgeschlossenheit des Landes gegenüber allen westlichen oder UNO-Experten ist heutigentags ihre Hilfe erwünscht, jedes Mißtrauen scheint abgebaut. Erst der starke Beduinenkaffee, dieses ungezuckerte Gebräu aus Kaffee und Kardamom, hat unsern Durst gestillt. Wird die Wirkung dieses Konzentrats nicht aufgehoben durch Coca-Cola und Fruchtsäfte jeder Art? Jedenfalls, als wir nach draußen auf den Hof kommen, rinnt wiederum der Schweiß. Zu allen Erläuterungen, die uns von dem Direktor gegeben worden sind, setzt der Ingenieur hinzu: »So legen wir alle unsere Erfahrungen zusammen. Die Landwirtschaft in den arabischen Ländern ist sehr vielfältig, und so kann einer vom andern lernen.« Will er uns beweisen, daß nicht etwa Mangel an intellektueller Kraft, an technischem Wissen im eigenen Land die Ursache für die Tätigkeit so vieler »Ausländer« ist? Schwer durchschaubar und sicherlich auch nicht so einfach, wie es den Anschein hat. Vor dem unübersehbaren Grün der Plantage, dem Geflirre der Luft sind wir einen Augenblick von der Gewalt der Sonne wie gelähmt. Bestürzend, wie das Wasser, wenn seine Zufuhr auf den nahen Flecken Erde gestoppt wird, im Nu versickert, und nur wenige Minuten vergehen, bis der Glanz des Wassers verblaßt, der Acker karstig und rissig wird. Ein junger Bauer in Galabie und Kufie, neben ihm seine junge Frau, auch im traditionellen Gewand, beide sicherlich aus einem Dorf am Euphrat stammend, sind dabei, die Tomaten zu bewässern. Aus dem meterbreiten, übervollen Graben wird das Wasser in die Furchen entlang den Stauden geleitet; hier umspült es jede einzelne Pflanze und wird so lange stehen gelassen, bis sich Pflanze und Erde gesättigt haben. Wie eh und je aber lockert das Bauernpaar mit einer Hacke den Boden um die Pflanzen. 152
»Wie oft wird am Tag bewässert?« frage ich. »Am Morgen und am Abend«, antwortet der Direktor, »und immer wieder muß gehackt werden. Man muß die Erde streicheln, daß sie etwas hergibt.« »Immer noch eine schwere Arbeit«, stelle ich fest. »Ja, hier bei den Tomaten«, gibt der Direktor zu, »aber zwischen den Pfirsich- und Aprikosenbäumen können wir schon mit an den Traktor angehängten Eggen durch.« »Auch zweimal am Tag?« »Meistens!« »Gibt es schon prüfbare Ergebnisse beim Obstanbau?« Er lächelt und sagt ironisch verweisend: »Geduld muß man haben, viel Geduld. Noch lassen sich keine endgültigen Schlüsse ziehen. Die Bäume wachsen normal, zwei Ernten haben wir eingebracht, kein anderes Obst als anderswo. Vielleicht etwas größer, das Aroma stärker. Erst in Jahren werden wir feststellen können, was mit der Erde sein wird.« Das wogende Grün der Bäume scheint sich in der Unendlichkeit vor uns zu verlieren. Was der Direktor, der Ingenieur, was Kamil Ismail sehen, weiß ich nicht. Unbewegt sehen sie über die Plantage hinweg. Ich aber ... Bei solch einer Gelegenheit, darf man sich da nur von Hoffen und Wünschen bewegen lassen?
Tagebuchseiten Freitag, 5. Oktober 1973 Nach diesen zehn Tagen ununterbrochener Reise, nach Hitze, Staub und Schweiß ein Vergnügen, sich in den Morgen zu Rekeln. Viel wird es nicht zu tun geben. Der Freitag ist ein Sonntag, für mich aber ein erster einer Reihe von Faulenzertagen. Dusche, rasieren: Der Bart wird immer weißer. Das leichteste Hemd heraussuchen, eine helle Hose, leichte Schuhe. Mit Baumwollweiß läßt sich die Sonne leichter ertragen. 153
Einen Kaffee müßte man ans Bett gebracht bekommen. Doch von wem? Da lobe ich mir Indien: Im ersten Morgengrauen ein Klopfen an der Zimmertür, ein Schatten huscht ins Zimmer, eine Kanne, gefüllt mit tief schwarzem, starkem Teesud, eine Kanne mit heißem Wasser, eine Tasse und Zucker: Spül dir, Fremder, den faden Nachtgeschmack aus dem Mund, schluck hinunter alle schweren oder auch die leichten Träume, schlaf dann weiter, wenn du willst, bis in den Mittag hinein. Wie immer der Portier an der Rezeption freundlich kühl. Gestern erst habe ich bemerkt, daß er irgendwie gehbehindert ist, den ganzen Tag aber stehen und stehen muß. Erregt unterhält er sich mit einem Etagenkellner. Ausländische Gäste stehen umher, unruhig, scheint mir, einige gehen auch auf die Straße, und ich bemerke, wie sie in den Himmel schauen. Doch ein Gewitter oder gar Regen wird’s kaum in dieser Jahreszeit geben. Etagenkellner bringen einen Haufen Koffer aus dem Lift, stellen sie aneinandergereiht in die Empfangshalle. Wie immer das Frühstück: fades Weißbrot, das im Mund quillt und quillt, gelbliche Eisschrankbutter, zu süße Marmelade und Kochkäse, Kaffee, tiefschwarz gesotten, auch mit viel Milch vermischt fast ungenießbar. Zu tun heute? Um elf Uhr kam Dr. A. S., Sekretär des Schriftstellerverbandes, der erste und bisher einzige Syrier, der sich mit einer Dissertation über ein Spezialthema der arabischen Literatur einen sowjetischen wissenschaftlichen Grad erworben hat. Er ist freundlich, hilfsbereit, regelt alles auf eine lässige Art. Mit ihm wurde der letzte Reiseabschnitt besprochen: Homs, in die Wüste zu unserm jungen Scheich, dann noch einmal nach Palmyra. Während wir sprachen, genieße ich wiederum die Verzauberung der Vergangenheit: korinthische Säulenschäfte, die Skulpturen, die tiefe Melancholie des Tales der Gräber. Ob die neuen Ausgrabungen mehr Licht auf das alte Zenobiareich geworfen haben? Und die Anfänge erster Besiedlungen der Oase, werden sie deutlicher ans Licht treten? Noch vor der Reise in der nächsten Woche einiges Material nachlesen: das Forum und seine Bedeutung als Zentrum des öffentlichen Lebens, des weltweiten Handels; läßt sich je feststellen, welche Stücke im 154
Theater des Diokletian gespielt wurden? Griechische Dramatik? Verlorengegangene Mysteriumspiele? Dr. A. S. war pünktlich wie ein Deutscher, ruhig wie ein Engländer und einsilbig wie ein alter Beduine, doch ungewöhnlich ernst. Er sagte: »Heute morgen sind unsere Truppen auf den Golanhöhen und die ägyptischen am Suezkanal in den Kampf eingetreten.« »Und?« Mehr konnte ich nicht sagen. »Die feindlichen Linien sind durchbrochen, aber die Kämpfe sind hart!« Als er ging, dachte ich, obwohl wir den ganzen Ablauf der Reise besprochen hatten: Keine Reise mehr zu den Beduinen, keine nach Palmyra. Ist das Buch in Gefahr? Und eine andere tiefere Sorge: Was wird sein, wenn die erste Überraschung bei den Israelis überwunden ist? Konaitra, seit 67 besetzt, wird sicherlich stark ausgebaut sein. Die Ebene liegt weit offen vor der besetzten Stadt, die Ebene, die Ghuta, Damaskus? Die moralischen Folgen des Siebentagekrieges, dieser tiefsten und schmerzlichsten Niederlage der Araber in den letzten dreißig Jahren, sind sie überwunden? Das Trauma von der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee, wird es sich nun in den rauchenden Flammen der Raketen und dann im eigenen Sieg auflösen? Jedem Araber schien die glorreiche Geschichte, die ruhmreiche Vergangenheit mit siegreichen Kämpfen und Vormärschen in Länder, deren Namen man nur wie von Legenden geprägt kannte, durch die steten Niederlagen bei den Kämpfen gegen Israel beschmutzt. Und dazu die Vertreibung der Palästinenser, das Elend in den Flüchtlingslagern, das Beharren auf einer Heimkehr. Ist ein Sieg notwendig, um ein Verhältnis der Nachbarschaft mit Israel zu gewinnen, seine Integration in den arabischen Nahen Osten zu gewährleisten? Der böse Fieberwahn des »InsMeer-Jagens«, wird er helleren Augen weichen? Auf der Straße waren am Morgen die Autos wie jeden Tag, lärmig und tempobesessen, die Menschen trotz des Sonntags eilig oder geruhsam, 155
laut oder leise. Der Düsenlärm eines einzelnen Flugzeuges, das niedrig über die Stadt jagt, macht die Menschen nicht unruhiger. Ich versuche das südliche Kanonengedonner zu hören. Doch die Ohren machen nicht mehr mit. Und dazu die Oktobersonne, mild am heutigen Morgen, mit freundlichem Licht über den Häusern. Die Abu Romanie, einstmals die Prachtstraße der Stadt, friedlich und grünbäumig wie eh und je: ein Relikt aus einer Zeit, da man nicht an Kanonen, Tanks und Flugzeuge dachte, nur an Zinsen aus angelegtem Kapital, an nicht endendes Wachstum von Konten und festem Besitz. An der Ecke das frühere Konsulat, das jetzige Kulturzentrum: das Haus mit den kühlen Abenden, bis in den Schlaf vom Nachthimmel überstirnt, mit Morgenstunden von grünfarbener Freundlichkeit. Es wirkt zerschlissen, nun am Sonntag schläfrig und still. Im Büro nun die Bibliothek, im früheren Besuchersalon der Arbeitsraum des Leiters, das Wartezimmer ein kleiner Leseraum. Das Schlafzimmer ein Büro, das Kinderzimmer ein Büro, das Eßzimmer ein Büro. Alle Läden sind heruntergelassen, dämmrigund air-conditionier-gekühlt ist die Luft. Die Terrassen – oh, welche Abende, welche Nächte! – sind verstaubt und ungenutzt. Wie wandert man durch das Gehäuse der eigenen Vergangenheit? Sind Schmerz und Melancholie unabwendbar, ist die Erinnerung an Glück, an Fröhlichkeit und den letzten Hauch, den späten der Jugend, ein Gespenst? Nein, um Christi willen, kein Gespenst, kein Gespenst! Vor dem Mittagessen bei Dr. N. H. ein Spaziergang mit Taher durch die Stadt, dann durch die im Abriß begriffene Altstadt. Anders nun die Gesichter der Händler, der kindlichen Schuhputzer? Nein, ich sehe sie anders: Konaitra und die Golanhöhen sehe ich nun in ihnen. Taher hat in Karl-Marx-Stadt Maschineningenieur studiert, ein Marokkaner aus den Berberbergen, der mit Sybille, einem Mädchen aus Brandenburg, und einem wunderbar hübschen Sohn, Amin, in Damaskus im Exil lebt. Er hat dünnknochige Hände und Finger, ein schmales, 156
knochiges Gesicht; Sybille ist schlank und blond wie nur ein deutsches Mädchen, und ihr Sohn ist tiefbraun und mit dunklen Augen wie sein Vater. Taher sagt: »Auch Marokkaner kämpfen auf den Golanhöhen. Sie weigerten sich, zur Reserve zu gehören, und kämpfen nun in der vordersten Linie.« Er sagt: »Der König hat sie geschickt, um sich innenpolitisch mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen. So hat er nun ein Alibi und kann darauf verweisen, daß die arabische Sache auch die entscheidende Grundlage seiner Politik ist. Doch die Soldaten und die Offiziere, die hier gekämpft haben, sind, wenn sie zurückkehren, nicht mehr die gleichen.« Worauf hofft er? Auf die jungen Offiziere, die Soldaten? Stellt sich im Verlaufe der Ereignisse der letzten Jahrzehnte immer mehr heraus, daß nur Armeen Machtinstrumente sind und daß nur, wenn demokratische Bewegungen Einfluß bei jungen Offizieren gewinnen, Aussichten auf revolutionäre Ereignisse bestehen? Taher hat einen nervösen, forschen Schritt, und er macht mich müde. Nun, am Mittag wird die Hitze drückender, und es fällt mir schwer, seinen Schritt mitzuhalten. Er sagt, ehe wir uns trennen: »Wenn ich von der Golanfront Neues höre, rufe ich an. Bist du bei Nashad?« Nashad ist Augenarzt, Professor an der Universität, und übt dazu eine Privatpraxis aus. Er hat in der DDR studiert und auch seinen Facharzt gemacht. Klein, von nervösem, quicklebendigem Wesen, witzig ist er und steckt voll von stets herausbrechendem Gelächter. Er gereicht uns zur Ehre. Ami, seine Frau aus Karl-Marx-Stadt, ihre beiden Kinder im Arm, sagt: »Die Privatpraxis ist sein Hobby. Meistens verbietet er seiner Sekretärin, eine Rechnung zu stellen. Da es hauptsächlich Bauern aus der Ghuta sind, bringen sie mir Bohnen, Feigen, Melonen, alles, was es gerade auf ihren Feldern gibt, um sich zu revanchieren. Aber können wir nur von Bohnen und Gemüse leben?« 157
Bedauert sie, daß er keine Rechnungen stellt? Bekannte und tüchtige Ärzte hier im Land werden, wenn sie neben ihrer Tätigkeit an öffentlichen Institutionen eine Praxis betreiben, schnell reich. Reich zu sein ist nicht unangenehm, aber ich glaube, Ami, eine ehemalige Krankenschwester, bedauert nicht, daß Nashad keine Rechnungen stellt. Ami spricht sehr gut arabisch, ihre beiden Kinder lernen zu gleicher Zeit Deutsch und Arabisch, und Ami, resolut, allem, was einer deutschen Frau hier begegnen kann an Fremdem, Unbekanntem und Unbequemem, gewachsen, genießt im ganzen Clan der H.s ein Ansehen wie kein anderes Mitglied der Familie. Nashad ist aufgekratzt, blödelt mit den Kindern, zerstört, wie Ami sagt, »jeden Ansatz einer Erziehung« und fragt immer wieder: »War niemand hier?« Wir essen hastig, fast unlustig, ohne Genuß. Nashad sprudelt: »Die ersten Frontstellungen sind durchbrochen. Unsere Truppen sind im Vormarsch ... Alles läuft!« Wir trinken milchigen, tiefgekühlten Arrak, trinken mehr als ein Glas und auch ohne viel Wasser, und ich frage: »Nashad, ehrlich, ganz unter uns, wird es ein Krieg sein aller arabischen Staaten?« »Was denn sonst? Was glaubst du? Die irakische Armee ist im Anmarsch, aus Saudiarabien kommen Truppen ... Dieses Mal wird alles anders sein!« Amis skeptisches Lächeln läßt keine Antwort zu. Sie erhebt sich, geht nervös hin und her, zwingt sich, wieder Platz zu nehmen, und sagt dann: »Ob man verdunkeln muß? Stell doch einmal die Nachrichten an!« Woran denkt sie? Sie hat als Kind die Bombardements von Chemnitz erlebt. Um 17 Uhr im Hotel die Verabredung mit S. J., einem Freund von Faissal. Das Hotel ist wie leergefegt, keine Koffer mehr in der Halle, bis auf wenige Dauergäste sind alle andern abgereist. Der Portier, der Kassierer, der Maître de Hotel und ein Kellner glucken in der Loge. 158
Das leergefegte Hotel wirkt gespenstisch. Ich frage: »Was Neues?« »Alles geht gut«, antwortet der Portier, »wir kommen vorwärts.« »Wie weit sind die Truppen?« Er zuckt die Achsel und fragt: »Sie reisen nicht ab?« »Warum soll ich abreisen?« frage ich. Alle lächeln freundlich und warm. Auf den Straßen Autohupen, die gleichen lärmigen aufreizenden Geräusche wie an jedem Tag. S. J. kommt nicht, aber der Kulturattaché ruft an, ich solle im Hotel bleiben, nur wenige Minuten und er sei da. Der Kellner bringt das eiskalte Bier und sagt: »Alles, alles geht gut.« Befremdlich, daß keinerlei Aufregung herrscht und die in früheren Zeiten bei den geringsten Geschehnissen ausbrechende Hysterie ausbleibt. Etwas hat sich verändert, aber was? Auch der Kulturattaché macht einen ruhigen Eindruck; Kunststück, er ist Rostocker und sein Mecklenburger Naturell ist nicht schnell aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er informiert kurz, jedoch nichts, was ich nicht schon wüßte: schwere Kämpfe, bis jetzt keine konkreten Informationen. Es sind Luftangriffe zu erwarten. Bis auf weiteres solle ich im Hotel bleiben. Doch noch vor dem Nachtessen, kurz vor der kurzen Abenddämmerung verlasse ich das Hotel. Die Nacht wird die Stadt in Dunkelheit betten, alles wird sicherlich ohne Licht sein und wohl auch der Verkehr ruhiger. Irrtum: Lärm, Gehupe, Staub. Die Ausfallstraße nach Aleppo ist wie eine Rennbahn. In der abendlichen Kühle Kinder auf den Straßen, die Häuserterrassen voller Menschen. Der Taxichauffeur, ein magerer, bäuerlicher Mensch, sagt: »Wir kommen vorwärts!« Woher aber kommt die Zuversicht, der Glaube entgegen aller bisherigen Erfahrungen an den Sieg? Das Licht in der Wohnung von Ami ist dämmrig, die Kinder schlafen schon, still ist alles, und in der Stille klingt die Stimme Amis wie verlo159
ren: »Nashad ist ins Hospital gerufen worden. Die Verluste sollen schwer sein. Er wird heute nicht nach Hause kommen.« Schweigend trinken wir Arrak, wechseln dann nach einiger Zeit einige Worte, wir essen kaum etwas. Ob sie in der Nacht die Stadt angreifen werden? Wohl kaum! Ami fängt an, Klebestreifen über die Fenster zu ziehen, und ich spüre, wie schwer es ihr fällt, ihre Erregung zu verbergen. Als ich gehe, sagt sie: »Rufen Sie morgen früh an auf jeden Fall. Und wenn Sie nicht im Hotel bleiben wollen, ziehen Sie zu uns.« Gerührt lächle ich und sage beruhigend: »Es wird wohl nicht so schlimm werden!« Doch so zuversichtlich, wie ich mich gab, war ich nicht. Hätte ich die Nacht in ihrer Wohnung bleiben sollen, beruhigend sicherlich für sie mit den beiden kleinen Kindern wäre es gewesen. Doch unter den hiesigen Verhältnissen, der nach außen strengen Moral, wäre es nicht ihrem Ruf schädlich gewesen? Das Hotel ist verdunkelt. Die Kellner sind dabei, über die letzten Fensterscheiben Klebestreifen zu ziehen. Der Nachtportier, ein rundlicher, gewitzter Vierziger mit schweren, fast weißen Augenbrauen, sagt, als er mir den Schlüssel reicht: »Keine Sorge ... keine Sorge ...« Sehe ich so sorgenvoll aus? Samstag, 5. Oktober Früh schon allein im Hotelrestaurant. Die Kellner stehen umher, sie hören Nachrichten, wie in aller Welt diskutieren sie, ungetrübt von Sachkenntnis, die Frontlage. »Nichts Neues«, sagt einer von ihnen. Klingt es tröstlich, so, als erwarte er, wenn es Neues gebe, es nur Schlechtes sein könne? Das Frühstück ist wie immer, mir aber schmeckt es fader als gewöhnlich, kaum daß ich es berühre: ein wenig Fladenbrot, ein wenig Butter, eine Tasse Kaffee, der einem Gebräu aus Ruß ähnlich sieht. Halb hungrig in den Tag, am Mittag werde ich mich vollstopfen, mich müde 160
und dösig ins Bett legen, am Abend dann noch einmal den Bauch vollschlagen, so daß die Nacht unruhig auch ohne zu erwartende Bombardements sein wird. Arrak wird ein wenig helfen und den Hauch von Weintrauben und Anis herbeizaubern. Der Kulturattaché taucht auf, geschäftig, jedoch ruhig, doch viel weiß er auch nicht: Die Ägypter haben die erste Verteidigungslinie am Suezkanal durchbrochen, die Israelis, anscheinend überrascht, ziehen sich zurück. Geringer Fortschritt der Syrier. Ihre Meldungen seien sehr vorsichtig. Die Israelis befinden sich in einer gewissen Zwangslage: zuerst gegen die Ägypter oder die Syrier? Die Operationen der Syrier, sollten sie genügend stark vorgetragen werden, können gefährlicher werden. Also ist wohl mit Truppenkonzentrationen und mit Gegenangriffen auf den Golanhöhen zu rechnen. Und mit Luftangriffen. Beschluß der Botschaft: Alle Bürger, die noch in Hotels wohnen, ziehen noch am Morgen in Wohnungen um, wo sie immer zu erreichen sind; diese Wohnungen stehen im Augenblick leer, da ihre Inhaber in Urlaub sind. Kein Ausgang in die Stadt oder besser nur in den dringendsten Fällen nach vorheriger Abmeldung in der Botschaft. Ich packe, ich rufe Ami an: Ihre Stimme klingt müde, ich höre das lärmige Gespiel der Kinder. Ami sagt: »Nashad ist seit gestern noch nicht zu Hause gewesen. Er hat viel zu tun.« (Wie das klingt: Er hat viel zu tun! Ich sehe zerschossene Gesichter, Augenhöhlen, blutend und zerrissen.) Ich verspreche, im Laufe des Tages zu kommen. Ich kann es nicht mit Gewißheit sagen, glaube aber, daß ich kommen kann. Tahers Stimme aber klingt munter. Wir verabreden uns in einem Restaurant in der Rue Bagdad gegen elf. Die Vorschrift einzuhalten, in der Wohnung zu bleiben, halte ich für überflüssig (für mich, meine ich, für jeden Schriftsteller). Der wenige Kram ist schnell gepackt. Die leere Wohnung ist durch ihre Leere bestürzend unwohnlich. Nur die Küche ist im Gebrauch. Ein Spezialist, dessen Frau und Kinder seit Wochen schon in der Heimat sind, haust in zwei andern Zimmern der Wohnung. Er ist von beruhigen161
dem Gleichmut, von freundschaftlicher Kameradschaft: Nehmen Sie nur von meinem Brot, hier ist Käse und Wurst, trinken Sie auch nur von meinem Bier. Auf der Terrasse sammeln sich, als sie unsere Stimmen hören, alle Katzen der Umgegend, schwarze, schwarzrot gefleckte, kleine und große und solche, die eher Wildkatzen gleichen als zahmen Haustieren. Der Spezialist füttert sie mit ein wenig Wärme, ein wenig Fürsorge, so ist, glaube ich, für ihn das Alleinsein besser zu ertragen. Meinen Koffer öffne ich nur, packe nicht aus. Eine Wäscherei muß ich suchen, noch heute. Auf der Rue Bagdad der Fluß des Lebens wie immer: hupende Autos, mit Gemüse und Obst in die Stadt gekommene Ghutabauern, eilig dahinstrebende Männer und Frauen, einige Kinder, wie immer dabei, sich Frühstück zu besorgen, die vorbeirasenden Linienomnibusse überfüllt. Alles wie an jedem andern Tag. Außer: Jugendliche, Studenten wohl und Oberschüler, angetan mit graugrünen Uniformen, Gewehre und auch Maschinenpistolen umgehängt, gehen in Gruppen eilig dem Stadtzentrum zu. Taher wirkt, als seien die Geschehnisse für ihn ein Aufpulverungsmittel. Sein tiefdunkles, marokkanisches, knochiges Gesicht ist nervös gerötet, seine Hände bleiben nicht still. Er will keinen Kaffee, trinkt aber dann doch ein Schälchen, drängt zum Aufbruch: Man muß die Stadt sehen, die Menschen, den Shuk. »Du wirst sehen, die Menschen sind anders, als du sie erwartet hast.« An der Post vorbei, über den Bahnhofsplatz zum Shuk. Wirklich, wie unvorstellbar gefaßt sich das Leben gibt, trotz einer etwas nervösen Gehetztheit, mit der sich die Menschen bewegen. Im alten Viertel am Place de Canon rattern und walzen die schweren Bulldozer. Der Strom der Taxis, der Omnibusse, der Privatautos – nicht abreißend. Am und im Shuk Hamadie quirliges, beängstigendes Gedränge, das gellende Geschrei der Händler, der Limonadenverkäufer, so, als geschehe nichts anderes heute als an allen andern Tagen. Im Schatten einer Gassenecke verhalten wir; der von den vielen uner162
müdlichen Füßen aufgewirbelte Staub flirrt wie ein dünner Schleier in der Luft. Taher sagt: »Eigentlich hat der Kampf noch nicht angefangen. Immer noch werden Truppen an die Front herangeführt. Eine irakische Armee ist im Anmarsch. Unsere Marokkaner halten sich gut. Es gibt viele Verwundete. Du wirst sehen, alles geht gut.« Seine, wie mir scheint, naive Zuversicht bedrückt mich. Zweifel, sind sie in einem solchen Augenblick zulässig? Läßt sich je mit Zweifel auch nur ein Schritt vorwärts tun? Wer will abwägen, wer will Antwort geben, ob Zweifel oder unkritische, einschläfernde Zuversicht positiver sind? Ami, als sie mir in der Flurtür ihrer Wohnung gegenübersteht, ist bleich, unausgeschlafen, aber gefaßt. »Nashad hat vor einer halben Stunde angerufen. Er kommt auch heute nicht nach Hause. Wir haben ihm Wäsche bringen müssen.« Durch schmale Rollädenritzen kommt streifiges Licht. Eine schmalgliedrige, wie ein Mädchen wirkende junge Frau, umschattet die großen dunklen Augen, und ein junger hochgewachsener Mann sind dabei, die Schränke im Wohnzimmer umzustellen. Warum nur? Porzellan und Glas und Vasen stehen umher, einiges ist schon in große Körbe gepackt. Die junge, wie ein Mädchen wirkende Frau ist die Schwester Nashads; sie hat ein feines, stilles Lächeln, warmstrahlende Augen, langes tiefschwarzes Haar. Sie wirkt wie eine in die Stadt und Zivilisation verschlagene Beduinin. Der junge Mann ist der Verlobte ihrer Schwester, Student noch, ist von merklicher kühler Zurückhaltung. Der prüfende Blick der jungen Frau macht mich unsicher. Ich versuche zu helfen, aber ich komme mir deplaziert vor, eingedrungen in fremde Häuslichkeit und fremde Sorge. Bei einem einfachen Reisgericht mit Hammelfleisch und Salat wird kaum ein Wort gewechselt. Dann und wann ein arabischer Satz, der Versuch eines Lächelns, da aber weder Ilham, die junge Frau, noch der junge Mann französisch sprechen, Ami aber kaum die Ruhe hat, zu übersetzen, komme ich mir wie ausgeschlossen vor. 163
Ami sagt: »Legen Sie sich doch nach dem Essen hin. Oder besser noch, holen Sie Ihren Koffer und bleiben Sie hier.« Wie allein mag sie sich vorkommen, nur mit den Kindern in der großen Wohnung. Ich erkläre, warum es nicht geht, und daß ich hier in ihrer Wohnung sitze, verletzt schon die Disziplin. Sie nickt und fragt: »Werden die Frauen und Kinder evakuiert?« Und setzt hinzu: »Man sagt, die sowjetische Botschaft habe schon gestern die Frauen und Kinder nach Hause geflogen.« Als ich gehe, verspreche ich ihr, am morgigen Sonntag wiederzukommen. Ilham scheint etwas sagen zu wollen, bleibt dann aber still. Am Abend, in der jäh niederstürzenden Dämmerung auf der Terrasse höre ich den Geschützdonner der Front. Bier trinke ich, rauche und denke an die Tage in Kairo, die Nächte auf der Dachterrasse. 1956 sah ich den Feuerschein der am Rande der Stadt liegenden, von englischen Flugzeugen bombardierten Petrollager. 1958 fuhr ich als letzter aus Beirut über die Grenze nach Damaskus, und als ich die Grenzstation hinter mir hatte, ging sie in Flammen auf, und in der Stadt fingen die Barrikadenkämpfe an. Und nun, in diesen Tagen, wiederum das Klirren der Fenster, der ferne Geschützdonner, der klare Nachthimmel. Doch kaum anzunehmen, daß Nachtangriffe auf die Stadt geflogen werden. Drohend nah liegt die Front, die Ghuta und die Stadt offen zwischen den Golanhöhen und dem Monte Cassioun. Unerträglich nah! In der Nacht, nach Jahren wieder Spanien im Traum. Der Graben vor Teruel im Januar, in vorderster Linie auf Wache. Geräusche, einige Feuerstöße in die Nacht. Am Morgen fanden wir nah bei den Gräben zwei junge Marokkaner wie Statuen aus gelblichbraunem Marmor. Die Wunden sind schon verharscht, das Blut fast getrocknet. Schweißüberströmt erwacht, auch die Dusche macht nicht frisch. Sonntag, 7. Oktober Gefrühstückt, Notizen geordnet, Gestriges nachgetragen. Der Plan für das Buch wird rund. Eine einzige Befürchtung: Das Buch könnte zu 164
subjektiv, zu persönlich werden. Mißbrauchen wir aber nicht immer wieder das schöne und gute Wort als Gegensatz zu Gemeinschaft? Angst aber habe ich, daß zuviel von persönlicher Sympathie einfließen könne und dadurch das Buch an Wirkung verliert. Doch bin ich ein kalter Wissenschaftler oder gar ein kühler Fakten Sammelnder und nur diese wiedergebender Journalist? Was ist eine Reportage? Gibt es »sie« überhaupt? Noch vor Mittag ein kleiner Spaziergang in die Stadt, in einem nahen Straßencafé ein Kaffee, ein Glas Wasser, eine Zigarette. Beunruhigt aber immer noch, da ich für meine Fragen keine Antworten finde. Weniger Autos als gestern, der Strom der Menschen auch dünner. Doch die Bauern mit ihren vollgeladenen zahlreichen Eseln wie jeden Tag. Am Abend zum Empfang in die Botschaft. Viel Routine, kaum Feierlichkeit, keine offizielle Begrüßung mit Toast usw. wie bei solchen Gelegenheiten in sozialistischen Ländern. Der Botschafter gibt sich neutral und glatt, fast unpersönlich. Gruppen von Botschaftsangestellten stehen umher, tuscheln und geben sich den Anschein, als sei jedes gewechselte Wort tiefstes diplomatisches Geheimnis. Die Atmosphäre schon zu Anfang des Empfangs langweilig: Wie geht es? Tres enchante ... Oh, sehr gut ... Und taucht der jeweilige einheimische »Partner« auf, nimmt man Kurs auf vorsichtige Fragen: Wie ist die Lage an der Front? Und am Suezkanal? ... Nur wenig offizielle Persönlichkeiten des Gastlandes, die Lage ... man verstehe ... Doch das diplomatische Korps, soweit noch in der Hauptstadt anwesend, ist vollständig vertreten. Anders als in früheren Jahren! Es gehört nicht nur zur diplomatischen Pflicht, sondern zum guten Ton, den Einladungen der Botschaft der DDR zu folgen und gute Beziehungen zu pflegen. In früheren Jahren ... Du lieber Himmel! Wie wurde gezittert und gebangt, ob der oder jener Minister, ob der Botschafter dieses oder jenes Landes, mit dem keine Beziehung bestand, oder sein Sekretär der Einladung gefolgt sei. Sorgfältig wurde es registriert, an die Zentrale gemeldet, die Anwesenheit jeder »Persönlichkeit« als großer Erfolg, als 165
ein Schritt auf dem Weg zur Anerkennung gewertet. Beim Cocktail oder beim Empfang war man konziliant, man versuchte sich wendig zu geben, gut gelaunt und sicher, lachte und redete, und war der Empfang beendet, glättete man die Zunge mit einem Wodka und gutem Cognac. An diesem Abend aber war man eingezwängt in die dunklen Protokollanzüge, in Festkleider, die eine Andeutung von verschämtem Dekollete hatten, eingezwängt in Steifheit und Anerkennung. Wie üblich zogen sich die Frauen, Anhängsel nur ihrer Männer, in eine Ecke zurück, saßen gluckend wie eh und je: Madame ... Oh, die Kinder ... Welches Strickmuster meinen Sie? ... Ihr Herr Gemahl, wie fühlt er sich? ... Ach nein, zu dem Schneider gehe ich nicht mehr. Inmitten eines Männerkreises eine schon verblühte, sehr männlich wirkende Frau, grell, fast kreischend die Stimme: »Das Schwerste dieser Kämpfe haben wir schon hinter uns, Konaitra ist eingeschlossen! und wenn alles gut geht, können unsere Panzer morgen ungehindert über die Hügel rollen.« Das sprudelt und sprudelt ... Betroffen überlege ich, während ich mich davonmache. Sollte Konaitra wirklich eingeschlossen sein, wird der morgige Tag wie aus Feuer und Flammen sein. Die Überraschung der Israelis wird überwunden sein, alle Vorbereitungen für einen ersten Gegenschlag abgeschlossen. Und dann? Erstaunlich, daß keinerlei Luftangriffe auf die Stadt geführt werden. Die gegnerische Armee kann doch nicht so gelähmt sein! Oder sollten die Schläge am Suez und auf den Golanhöhen so hart gewesen sein? Bagdasch, der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Syriens, steht zurückhaltend in einer Ecke des Raums, das tiefbraune Kurdengesicht zerknittert und alt. Die Zeit, die Zeit und dann diese Zeit. Er erkennt mich, einige Worte der Begrüßung, doch dann kommt der sowjetische Botschafter hinzu, und ich gehe. Maurice ist auch da. Er ist Mitglied der Leitung der KPS, spricht ausgezeichnet Deutsch. In den Jahren der Einheit zwischen Ägypten und Syrien mußte er das Land verlassen, lebte in Berlin, und daß er 166
so gut Deutsch spricht, deutet darauf hin, daß er länger als nur einige Monate in der DDR gelebt hat. Meinem Versuch, mit ihm über die Lage an der Front zu sprechen, weicht er aus: Oh, alles geht gut ... Wir haben nicht mehr 67 ...! Einige Worte da, andere dort, Gesichter, an die ich mich vage erinnere. Der vietnamesische Botschafter lächelt, seine Freundlichkeit ist warm und herzlich. Seine Augen aber spähen umher: Wo ist etwas zu erfahren? Müde! Da ich nur Gast bin, keinerlei Pflichten habe, muß ich meine müden Beine nicht mehr strapazieren und kann mich in eine Ecke setzen. Die Nacht auf der Terrasse ist fast frostkalt, der Himmel von schmerzlicher Klarheit und so, wie er über den spanischen Städten war und Bomben erwarten ließ. Die Fenster klirren immer wieder. Der südliche Horizont wird von aufblitzenden Feuermessern durchschnitten. Morgen muß ich mir in der Bibliothek des Kulturzentrums Bücher holen. Ohne zu lesen, werden die nun folgenden Nächte und auch die Tage kaum erträglich sein. Montag, 8. Oktober Mürrisches, wenn auch gutes Frühstück, wenige gleichgültige Worte mit dem Nachbar, der auch die Wohnung nicht verlassen darf. Etwas in Reinschrift zu bringen hat keinen Sinn. Notizen, Aufzeichnungen und schnell hingeworfene Gedankenstützen nachzulesen oder gar zu ergänzen oder ins reine zu bringen erscheint mir zu mühevoll. Die Straßen sind seltsam verändert: mehr Nervosität, aber allgemeines Bemühen, sie zu unterdrücken. Verstohlen wird da und dort der Himmel zwischen den Straßenschluchten abgesucht. Gibt es Nachrichten, nicht die offiziellen meine ich, sondern solche, die sich von Mund zu Mund schneller verbreiten als alle, die vom Rundfunk oder Fernsehen kommen, auch als echter, wahrhaftiger angesehen werden? Die Donnerschläge der Front werden vom Straßenlärm verschluckt. Über dem 167
Monte Cassiuon erscheinen zwei Mig, stürzen sich der Front entgegen. Die Menschen ducken sich, wie niedergedrückt vom Brausen der Düsen. Im Kulturzentrum verwundert man sich, gibt mir aber einige Bücher, und nach einigen Worten hin und her gehe ich. Das Haus macht mich traurig. Über der Abu Romanie der grüngraue Himmel, gläsern durchsichtig, von bestürzender Frische. Er ist erfüllt von Flugzeuglärm, ohne daß sich irgendwelche Apparate ausmachen lassen. Die Menschen stehen vor den Häusern, auf den Terrassen, strecken die Köpfe dem Lärm entgegen ohne jede Unruhe. Deutlich dann zu unterscheiden zweierlei Düsenlärm: der tiefe, orgelnde der Mig, der hellere, pfeifende der Phantom. An der Rue Malki angekommen, erblicke ich über dem Antilibanon zwei sich weit umkreisende Apparate, ein Luftkampf. Die Luftabwehr nagelt helle Explosivwölkchen an den Himmel. Nur noch einige hundert Meter von der Wohnung entfernt, werde ich von einem heranbrausenden höllischen Lärm niedergedrückt und an eine Hausmauer gejagt. In einem Hauseingang stehen junge Burschen und rufen mir etwas zu. Ehe ich aber noch die wenigen Schritte zu dem fragwürdigen Schutz tun kann, sehe ich tief über den Häusern, über der Straßenschlucht zwei tief und pfeilschnell dahinbrausende Apparate, höre im gleichen Augenblick die Explosion von Raketen, sehe schwärzlichgrau gefärbte Wolken emporquellen, die schnell weißlich und dünn werden, dann schweflich gelb über den Häusern hängen. Die Straße ist plötzlich wie leergefegt, doch weiter als bis zum nächsten Hauseingang ist niemand geflüchtet. Ich sehe auf die Uhr: 11.40. Stille plötzlich, und dann wie aus tausend Rohren ein Krachen auf allen Hängen der Raketenabwehr. Aus Richtung Hermon saust eine Zweierstaffel heran, niedrig und wie bekränzt von Explosivwolken. Ein einzelner Feuerschweif zischt ihnen entgegen, schwankt hin und her, als taumele er, findet dann aber, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, seine Richtung, und in einer feuriglohenden Explosion stürzt eines der beiden Flugzeuge ab. Das andere dreht 168
bei, wird von den Explosivwolken der Abwehr verfolgt. Auf einer Terrasse steht ein Mann und klatscht begeistert Beifall. Beim Mittagessen in der Botschaft die Nachrichtenbörse: Das Luftfahrtministerium ist getroffen, das sowjetische Kulturzentrum ebenfalls, der Radiosender ist still, und einige zehn Meter vom Kulturzentrum entfernt gab es einen Volltreffer. Ein norwegischer UNO-Offizier und seine Familie sind tot. In der Wohnung eines unserer Experten saß die Frau mit ihrem Sohn in einem hinteren Zimmer, dabei, eine Kleinigkeit zu frühstücken, als ein Krachen zu hören war, das Haus, wie von einer mächtigen Faust geschüttelt, hin und her schwankte und die Vorderseite des Hauses zusammenfiel. Die Frau befand sich plötzlich in einem Zimmer mit nur drei Wänden, sah sich der offen vor ihr liegenden Straße gegenüber. Sie kam in der Botschaft an, kalküberstaubt, kaum fähig zu sprechen, aber der Sohn sagte: »Eine Rakete war das!« Seltsam belanglos klang seine Stimme, sein Leipziger Dialekt. Doch niemand im Speisesaal scheint der Appetit vergangen. Ein wenig hastiger als gewöhnlich wird wohl gekaut, ein wenig schneller geschluckt, doch echte Aufregung? Kaum! Glaubt man nicht an den Ernst dieses Krieges? Vor der Haustür angekommen, neuer Luftalarm. Brausen über der Stadt, aber keine Flugzeuge zu sehen. Wie alle andern Bewohner gehe ich in den Keller, obwohl er keine Sicherheit bietet. Zwei alte Leutchen, Araber, ungemein beruhigende Leutchen, versuchen uns die besten Sessel ihres Empfangszimmers anzubieten. Mehr Frauen und Kinder aus den oberen Stockwerken sammeln sich, zumeist Bürger der DDR. Eine jüngere Frau, zwei kleine Kinder an den Händen, zittert vor Aufregung, stammelt: »Auch das noch ... Mein Gott, warum bringt man uns nicht weg? ...« Kein angenehmes Bild, die Furcht dieser Frau, aber welche Erinnerungen mögen in ihr wach geworden sein? Wer von uns verfügt nicht über Bilder, alle wohl blaß geworden, von Bombardements, von zusammengebrochenen Mauern, von Schutt, Asche und Rauch? Und so weiß auch 169
jeder, wie wenig Schutz die Betondecken über uns und die Keller bieten. Was nützt es da, sich Gedanken zu machen? Die Frau fährt mich an: »Sie lachen, ja! Sie haben keine Kinder bei sich. Und gewöhnt sind Sie das auch!« Lachen, ich? Und gewöhnt? Ich bin überzeugt, nicht gelacht zu haben, denn was wohl mag es da zu lachen geben? Die beiden Alten sehen aus dunklen Vogelaugen still umher. Die Luft im Keller ist stickig und verbraucht. Ich gehe an die Luft, stelle mich zu zwei jungen Burschen in einen Hauseingang. Über dem Luftfahrtministerium und der Abu Romanie schwelen immer noch Brandwolken. Das Brausen der Flugzeuge, das Geknatter von Maschinengewehren, die dumpfen Explosionen kommen vom Flugplatz her. (Vor einer Stunde hörte ich, ein Angriff auf den Flugplatz sei abgewehrt und drei Phantoms seien abgeschossen worden. Doch die Ölraffinerie in Homs sei zum größten Teil zerstört, die Öllager in Banias getroffen, eine große Anzahl Toter zu beklagen.)
Nachdem es am Himmel still geworden ist, die Straßen sich beleben und langsam auch das Autohupen wieder ertönt, folge ich dem Strom der Menschen zu den Brandplätzen. Doch alles ist abgesperrt, keine Show heute. Keinerlei Aufregung aber unter den Menschen, keinerlei Hysterie. Seltsam und verwunderlich, wie sehr das Volk verändert ist. Wäre das in früheren Jahren geschehen, so glaube ich, welch ein Geschrei, welch eine schreiende Empörung hätte sich Luft gemacht, wie exaltiert hätte sich der Haufen gebärdet. Hier aber Ruhe, Gefaßtheit, eine finstere Sicherheit. Junge bewaffnete Burschen haben die Absperrung und die Sicherung der Straßen übernommen. Sehr höflich, aber unnachsichtig halten sie die Schaulustigen in Schach. Einer kauderwelscht mit mir Französisch, schickt mich freundlich in eine Seitenstraße, wo ich weitergeleitet werde, oder besser, wo ich mich vom Strom der Menschen weitertreiben lasse. 170
Im Shuk wird gehandelt und gefeilscht wie immer, nicht um eine Nuance leiser als an andern Tagen ist der Lärm. Eine hier zufällig niedersausende Rakete ... Unvorstellbar die Wirkung! Am Place des Canon schiebt sich der Bulldozer wie jeden Tag durch die Lehmhaufen der Hütten. Alle Pumpen in den Baugruben arbeiten. Die Taxifahrer aus Beirut vor dem Hotel Semimaris schreien sich die Kehlen heiser. Vor der Post hat ein junger Bursche an der Mauer ein rohgezeichnetes Plakat aufgehängt: Ein Amerikaner, greulich anzusehen mit seiner Maschinenpistole und dem »zionistischen« Gesicht. Der Bursche hält den Vorübergehenden ein Luftgewehr hin: Schießt auf ihn! Zehn Piaster!
Dienstag, 9. Oktober Die Schuhputzer, Kinder zumeist noch, halten ihre Bürsten in den Händen, zeigen gelangweilt auf meine verstaubten Schuhe. Doch mir ist nicht nach Schuhputzen zumute. Die Stromversorgung ist noch nicht ausgefallen. Doch lesen? Die ganze Nacht klirren die Fenster, dumpf und bedrohlich tönt der ferne Geschützlärm die ganze Nacht über. Als Begleitmusik beim Frühstück ein erster Fliegeralarm, das Geschieße der Flak und Raketen. Vom offenen Küchenfenster aus sehe ich Arbeiter sich auf einer nahen Baustelle aufrichten und mir nicht zugängliche Geschehnisse am Himmel beobachten. Es hat keinen Sinn, in den Keller zu gehen noch sich beim Frühstück zu beeilen. Erwarte ich nichts Besonderes? Sehe ich fatalistisch allem entgegen, was sich ereignen könnte? Bin ich so abgebrüht, oder haben mich die Jahre so ungerührt, so ledern gemacht? In den Nachrichten auch nichts Außergewöhnliches, weder vom Radio Libanon noch vom Damaszener Sender. Die deutschsprachigen Sendungen scheinen nicht mehr ausgestrahlt zu werden. Sollte das Radiogebäude wirklich getroffen sein? Als einziges bleibt mir, in die Botschaft zu gehen, zu versuchen, dort 171
Näheres zu erfahren über die Lage. Mit Ami sollte ich telefonieren, mit Taher ebenfalls, denn er ist sicherlich ausgezeichnet informiert. Auf dem Weg ein kurzer Besuch bei Viktor. Er ist der einzige, der noch aus den Zeiten des Anfangs in den fünfziger Jahren übriggeblieben ist, Übersetzer und Dolmetscher, Mädchen für alles. Er macht einen gelassenen Eindruck, doch seine fetten Finger zittern, und mir ist, als schwabbele auch sein fettlicher Bauch vor Aufregung. Die Frau ist von den Ereignissen in Beirut überrascht worden, die beiden Söhne, Studenten, sind in der Stadt bei irgendwelchen Milizformationen eingesetzt, und wäre nicht die Tochter im Haus, eben erst aus der DDR zurückgekehrt nach Beendigung ihres Studiums, würde Viktor sich nicht so gelassen geben. Er redet und redet, ein Gemisch von Deutsch und Französisch, und immer wieder stellt er die Frage, ob er nicht doch mit seiner Familie nach Bludan, einem Kurort in den Bergen, gehen soll. Denn was die nächsten Tage bringen werden, so seufzt er, das weiß nur Allah. So nebenbei, während ich schon dabei bin, zu gehen, sagt er: »Es geht nicht gut ..., nein! Die Unsrigen haben zurückgehen müssen, und die Israelis sind im Vormarsch. Aber heute sind die Iraker gekommen.« In der Botschaft ist niemand zu sprechen. Sitzungen und Besprechungen. Dem sehr zuvorkommenden Wesen der Telefonistin, die auch den Portierdienst versieht, ist anzumerken, daß mehr als nur irgendwelche gleichgültigen Probleme zur Debatte stehen. Amis Stimme klingt matt, verzerrt, sie ist kaum zu verstehen. Sie ladet mich zum Mittagessen ein. Ich verspreche ihr, am Abend zu kommen. Nashad ist seit Freitag nicht zu Hause gewesen. Sie hat ihm wiederum Wäsche bringen lassen. Drei Tage habe er kaum geschlafen, die Verluste seien schwer, aber es werde schon gehen. Also bis heute abend. Taher ist unterwegs. Sibylles Stimme klingt klein und furchtsam. Es sei nun einmal so, klagt sie, er müsse seine Nase immer vorn haben, 172
er müsse alles wissen, mehr als alle andern sozusagen; da könne man nichts machen. Wann ich wieder anrufe, will sie wissen, oder ob ich nicht kommen wolle, mit ihr einen Kaffee trinken. Ich verspreche, in zwei Stunden wieder anzurufen, dann werde man weitersehen. Ich melde mich in der Botschaft ab; ins Museum müsse ich, glaube aber kaum, daß ich bis dorthin komme. Die Rue Malki, der untere Teil, da wo das Luftfahrtministerium liegt, ist immer noch abgesperrt. Auch die Abu Romanie darf nicht passiert werden. Ich nehme den Weg ins Stadtzentrum. Düsenlärm tost ununterbrochen über den Häusern, doch seltsamerweise sind keine Flugzeuge zu sehen. Über den Dächern kreisen einige Wuhane, auch sie nicht sehr beunruhigt. Als ich am Hotel Omayad angekommen bin, heulen wiederum die Sirenen. Die Menschen aber bleiben ruhig, kaum daß sie in die Hauseingänge gehen. Fatalismus? Ergebenheit in Geschehnisse, deren Lauf nicht zu beeinflussen ist? Oder ist etwas in den Massen gewachsen, was bis dahin nicht vorhanden war, ruhige Sicherheit und eine Entschlossenheit zu jedem Opfer? Hat die stets fortschreitende Industrialisierung in den letzten Jahren den historisch gewachsenen Charakter des Volkes verändert? Taumelt man nicht mehr von einer Stimmung in die andere, waren Fatalismus und Ergebung in das Schicksal, deren Wurzel nicht zum wenigsten in der moslemischen Religion lagen, geschmolzen in den Feuern der Ereignisse? Tief über den Häusern zwei Mig-Maschinen. Die Menschen winken, nicken sich zufrieden zu. Sollten wirklich am gestrigen Tag, wie die offiziellen Nachrichten heute durchgegeben haben, an der Front und im Hinterland 17 feindliche Maschinen abgeschossen worden sein? Durch Raketenabschuß natürlich. Von den Sam-7-Raketen wird geflüstert wie von einer Geheimwaffe. Doch die Erfahrungen mit Kriegsmeldungen machen skeptisch. Sie haben sicherlich auch nicht den Zweck, ein wahrheitsgemäßes Bild der Kriegslage, der Siege und Niederlagen und vor allen Dingen nicht der eigenen Verluste auszudrücken. 173
Aber der Himmel ist wirklich am heutigen Tage wie leer gefegt, kein einziges Flugzeug hat sich bis jetzt gezeigt. Beim Mittagessen in der Botschaft sind nur wenige Gäste. Immer noch Sitzungen, Besprechungen, höchstwahrscheinlich, so denke ich, wird die Evakuierung der Frauen und Kinder beschlossen, vielleicht sogar schon vorbereitet werden. Im Foyer sitzen einige im Land tätige Experten. Sie geben sich ruhig und gemessen, und einer sagt: »Die Israelis sollen die Front bei Konaitra durchbrochen haben.« Klingt das anerkennend? Der Faszination des Erfolges ist schwer zu widerstehen. Sind es nur Gerüchte? Oder nimmt man Möglichkeiten der nächsten Tage vorweg, kalkuliert sie ein, um heutige Beschlüsse zu rechtfertigen? Nehmen die Israelis wirklich die letzten Golanhöhen vor Konaitra, so liegt die weite flache Ebene bis zur Hauptstadt offen vor ihnen. Eine neue Front aufzubauen wird ungemein schwer, fast unmöglich sein. Wird Damaskus ein heutiges Madrid oder Leningrad werden? Eine der wesentlichen Voraussetzungen ist gegeben: die moralisch feste, unerschütterliche Haltung des Volkes. Bis jetzt auch sind genügend Verbindungen zu Nachschubquellen im Ausland vorhanden. Wie lange aber noch? Der Hafen von Tartous, einer der entscheidensten Einfuhrhäfen, soll fast bis zur Zerstörung bombardiert sein, also wohl als Waffeneinfuhrplatz unbrauchbar gemacht werden. Eine Luftbrücke zu errichten ist möglich, wird sie aber ausreichend sein können? So sitze ich, rauche, höre kühle, teilnahmslose Stimmen. Bei einer formlosen Zusammenkunft wird allen Bürgern um zwei Uhr der Beschluß der Evakuierung bekanntgegeben. Alle Frauen und Kinder werden nach Beirut gefahren in botschaftseigenen PKW, gefahren von den Selbstfahrern. Hinzu kommen alle Bürger, die nur vorübergehend als Experten oder sonst dienstlich im Lande sind. Um 5 Uhr fährt der erste Wagen des Konvois, als Probe sozusagen; geht alles gut, um 6 Uhr der zweite und so fort, bis alle in Beirut sind. Wer und wann mit welchem Wagen fährt, wird noch bekanntgegeben. 174
Um acht früh am morgigen Tag werden alle mit einem Sonderflugzeug nach Berlin gebracht werden. Die Männer fahren mit den letzten beiden Wagen. Sich der Evakuierung zu widersetzen ist sinnlos. Held spielen zu wollen und zu verlangen, hier im Land bleiben zu können, um die Geschehnisse aus nächster Nähe zu beobachten, wäre lächerlich. Obwohl dem eigentlichen Krieg, den aktuellen Kampfhandlungen kaum eine längere Dauer zuzumessen ist, bin ich überzeugt, daß die noch ausstehende Reise zu den Beduinen und nach Palmyra in den nächsten Wochen nicht möglich sein wird. Wozu also noch hier in der Stadt »herumlungern«, eingeengt von Vorschriften und Verboten? Das Buch wird auch so geschrieben werden können. Hoffe ich! Der Koffer ist gepackt, Zahnbürste und Toilettenkram verstaut. Von Viktor aus rufe ich Ami an, verabschiede mich von ihr. Nashad ist noch keine Stunde zu Hause gewesen seit der ersten Stunde des Krieges. Versuche, mich zuversichtlich zu geben und ihr etwas Mut zu machen, klingen hölzern. Taher ist zu Hause, er will direkt kommen, um sich zu verabschieden. Viktor ist gerührt und sentimental. »Wir werden uns bald sehen«, sagt er, »ich bin sicher!« Doch es ist so dahergesagt. Mir selbst ist, als sei dies nun ein endgültiger Abschied von der Stadt. So, natürlicherweise, hatte ich es mir vor Wochen nicht vorgestellt. Taher, Sibylle und ihr kleiner Sohn, dieser braunhäutige Irrwisch, wir sitzen auf der Terrasse am späten Nachmittag, im schrägen Licht der Sonne, die über dem Antilibanon steht. Taher gibt sich optimistisch, unvernünftig fast, aber ich habe das Gefühl, er will Sibylle nicht beunruhigen. Wir trinken Arrak, wir lachen auch, und es ist gut, daß Amin, der Irrwisch, es zu keinem ernsthaften Gespräch kommen läßt. Taher ist, so sehe ich, froh darüber. Als sie gehen, ist mir, als seien wir gerade am Anfang einer guten Freundschaft gestanden, Taher und ich. Die Dörfer auf den Hängen des Antilibanon sind dunkel, fahl glänzen 175
die weißen Kuben der Hütten im weißlichen Licht des Himmels. Felshänge und bizarr geformte burgähnliche Kuppen der Berge geben das Gefühl von Bedrohung und Gefahr, die unmittelbar nun auf uns niederstürzen könnte. Ein tiefvermummter Wachtposten, das Gewehr schußbereit in den Händen, hält uns an, kontrolliert die Wagenpapiere. Kühl, aber freundlich ist er. Die Kontrolle an den Grenzstellen ist unkonventionell, dauert nur Minuten. In der Beeka, im Tal und auf den Höhen schimmern die Dörfer vor Licht und Geborgenheit.
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Die Nacht im Tempel des Baal
Ein ungenannter Autor schrieb in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts über Palmyra: »Die Ruinen sind ein Durcheinander, kaum, daß man die großartige einstige Anlage der Stadt noch erkennen kann. Ein Trümmerhaufen ist diese Stadt, und sie wird wohl eines Tages im Sand der Wüste und verwittert von Sonne und dem Frost der Winternächte versinken. Die heutige Araberstadt ist ein elendes Nest voll Schmutz und zurückgeblieben, wie nur eine Stadt sein kann, die abseits der zivilisierten Welt liegt. Vermummte Frauen huschen durch die Gassen, alle schwarz gekleidet, und die Männer hocken vor schmutzigen Cafés, gelangweilt und trübselig, und es ist anzunehmen, daß sie Langeweile und Stumpfsinn mit Haschisch betäuben.« War es je so? Wohl kaum, denn als wir vor Jahrzehnten immer wieder die Stadt besuchten, schien sie uns anders, freundlicher, weder geprägt vom Stumpfsinn noch von Düsterkeit oder gar elegischer Trauer. Ja, abgeschieden war sie, weit abseits lag sie jeder befahrbaren Straße. Eine Piste führte von Damaskus über Quaritaine, einstmals eine römische Festung, durch die Steppe an den zerfallenen arabischen Festungen Qasr al-Hayr und Qasr al Hayr al Charqi nach Palmyra. An der ausgefahrenen Piste zerplatzten Autoreifen, zuweilen ein ausgeschlachtetes Autowrack, kaum aber gebleichte Kamelknochen. In den Monaten, da die Wüste befahrbar ist, etwa von April bis Oktober, schaukelten übermächtige Lastwagen, kamen von Beirut und fuhren bis Deir177
Ez-Zoor am Euphrat oder gar weiter in den Irak. Heiß war der Wind, Beduinenzelte standen da und dort an den Karsthängen, die Herden scharten sich um den bitteren dumpfigen Rest im Versiegen begriffener Wassertümpel. Karstfelsen glühen sandigbraune, rostrote, schwefelgelbliche Feuerglut aus. Unsere Vorstellung von Wüste ist geprägt von den unendlichen Sanddünen der Sahara, von öder, weithin lebloser Stille, in der nur das Rieseln des vom Wind hochgejagten Sandes zu hören ist, von gelblichweißen Kamelknochen, die im Sand verdorrt sind. Doch in der syrischen »Wüste« gibt es kaum lose rieselnden Sand, den jedes Windchen hochjagen kann; lehmigschwer ist der Boden, im Frühling von lila- und rotfarbenen Teppichflecken kurzblühender Steppenblumen bedeckt. Leicht läßt sich vorstellen, daß auf diesen verkarsteten Ebenen mit dünner, struppiger Steppennarbe einst fruchtbares Land war, bewässert von mehr Regen, als heutigentags fällt, und von Wadis, die nicht nur in wenigen Frühlingstagen stürmische Wasserläufe waren. War Syrien einstmals nicht eine der Kornkammern der Mittelmeerwelt, gehörte das Land nicht auch zum »fruchtbaren Halbmond«? Nun aber mußten wir nicht mehr auf der Piste fahren. Das Auto rast Palmyra zu auf einer Asphaltstraße, die, fast schnurgerade angelegt, von Homs bis in die alte Stadt führt. Nicht mehr lange wird es dauern, und sie wird auch Deir-Ez-Zoor erreicht haben. An erntereifen Gerstenfeldern nah bei Homs vorbei, an neu angelegten Obstplantagen, die vielleicht schon im nächsten Jahr die erste Ernte bringen, über ein trockenes, aber karggrünes Wadi, über die Steppe rast das Auto, bis wir das Tal der Gräber erreicht haben. Und hier das große, nie, trotz mancher Reise, gesehene Wunder: Der blaugraue Glanz eines Sees erstreckt sich südlich in einer Senke, Anfang und Ende und das jenseitige Ufer verlieren sich im Glast des Horizonts. »Ein See!« sagt Kamil Ismail. Eine Fata Morgana, eine unglaubliche, nie gesehene Fata Morgana! Kamil Ismail sagt: »Was glauben Sie, wie es im letzten Winter geregnet hat. Man erinnert sich an kein Jahr, in dem soviel Regen gefallen ist. Selbst Schnee gab’s.« 178
Verblichen die Trauer der verwitterten Grabtürme im Tal der Gräber, die Resignation des Sterbens und Vergehens. Was nur hat der unbekannte Schreiber einstmals gesehen? Neue einstöckige, sauber verputzte Häuser an allen Gassen und auch die alten, hinter hohen Mauern in kühlen Gärten verborgenen Häuser machen keinen verfallenen Eindruck. Nichts ist erstarrt in Leblosigkeit, gemächliche Ruhe liegt über Gassen und in den Fenstern, und die vor den Cafes sitzenden Männer erinnern kaum an Langeweile und Trübseligkeit. Und schwarz vermummte Frauen? Keine Schleier, kein Huschen, da und dort ein Mädchen in prallsitzenden Hosen, einem leichten Blüschen. Was nur hat der Schreiber von einst hier gesehen? Oder sollte sich alles so schnell, so umwerfend verändert haben? Gab es das unter uralten, hohen Bäumen, im Schatten von mächtigen, lederblättrigen Kronen eingerichtete Abendcafe, gab es das nicht? An kleinen Tischchen sitzen Männer, rauchen die Nargileh, trinken Kaffee oder Fruchtsaft, essen Kebab und Meze, Vorspeisen der verschiedensten Art, wir aber, Kamil und ich und sein Freund, ein in der nahen Kaserne stationierter Soldat, wir trinken nicht sehr verdünnten Arrak. »Stumpfsinnig dieses Nest«, sage ich. »Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?« Der Freund lächelt, antwortet dann: »Waren Sie schon einmal zur Jagd in der Steppe? Braucht man mehr als die Jagd?« Braucht man wirklich nicht mehr? Ist es ein unglaubliches Erlebnis, in einem Jeep über die Steppe zu jagen, kreuz und quer dem Federwild nach oder den Gazellen, die schneller als der Wind zu fliegen scheinen und doch dem Jeep und der Kugel nicht gewachsen sind? Noch einmal spüre ich den heftig schlagenden Fahrtwind, die wilden Kurven des Wagens, werde hochgestoßen von den verrückten Sprüngen des hartgefederten Autos. Und am Abend dann das nach Kamelmist und Wüstenwermut duftende schwelende Feuer! Und die Stille, der klagende Schreie eines Wüstenkiebitzes und der Himmel rund und hochgehämmert. 179
»Aber dann«, sage ich lächelnd, »wenn man in die Gassen zurückkommt? Solch eine klägliche Nacht in der armen Stadt?« »Arme Stadt?« sagt er verwundert. »Diese Menschen sind doch nicht arm. Die Oase gibt ihnen mehr und besseres Olivenöl als irgendeine andere Landschaft in Syrien, mehr und aromatischeres Gemüse und auch mancherlei Obst. Nein, arm sind sie nicht, und gutes Geld läßt sich auch in den Phosphatminen einige Kilometer entfernt verdienen. Nein, arm sind sie nicht, sondern bescheiden, sind karg in ihren Bedürfnissen wie die Steppe.« Rötliches Licht von in den Baumzweigen aufgehängten Lampen flammt auf, taucht Gesichter und die über die Tische gebeugten Gestalten der Gäste in rötlichen Schimmer. Der weißliche Arrak im Glas glänzt opalen. Und dann der Blick über die Trümmer, über das tonnenschwere Durcheinander von Quadern und Säulen, zerbröckelt unter glühender Sonne in Jahrtausenden, in der winterlichen Kühle und dahingestürzt im Erdbeben des 10. Jahrhunderts. Einsam ragen die korinthischen Säulen der Prachtstraße aus verwittertem Kalkgestein, die aus Porphyr und Granit, gebrochen in den Steinbrüchen der Ägypter, zurechtgehauen und geschliffen und poliert und dann übers Meer transportiert, die Hunderte Kilometer durch die Steppe bis hierher in die Oase. Aber wie? Aber wie? Auf der niedrigen Terrasse der kleinen Hütte, an der nördlichen Wand des Baaltempels angebaut wie ein Nest, sitzen wir in der abendlichen Wüstenkühle. Fast unmöglich, sich der Trauer zu erwehren bei der Erinnerung an die verwitterten Grabtürme im Tal der Gräber, beim Anblick des mächtigen Vierecks der Tempelanlage, der steil aufragenden Säulen, der Quadern der Umfassungsmauern, der Schwere und des Leichten, des schon Vergangenen und des noch Andauernden. Wappnen wir uns mit Nüchternheit! Kamil Ismail sagt: »Trinken wir noch einen Arrak, er hält nüchtern!« Der Himmel wie grünlichgestreifter Marmor; die alte Araberburg ballt 180
sich zu einem schweren schwarzen Brocken Dunkelheit, bedrohlich vor dem hellen Streifen Horizont. Kamil sagt: »Noch ein Glas Nüchternheit?« Aus welchen Brunnenschächten das Wasser für den Arrak kommt, ist unergründlich, kühl jedoch, eisig fast, und der Arrak läßt den Himmel zu einem weithin sich wölbenden Beduinenzelt werden. »Kamil, lieber Freund«, sage ich, »dieser Arrak gibt keine Nüchternheit. Ich sehe hier in der Oase schweifende Jäger, vor Jahrtausenden, als es diese Stadt noch nicht gab. In Erdlöchern hausten sie und zerrissen mit scharfen Zähnen halbgares Fleisch.« »Das haben Sie vor zwei Stunden im Museum gesehen«, lächelt er und setzt hinzu: »Etwas zu romantisch, diese dort aufgebaute Höhle, sie erweckt den Wunsch, in jenen Zeiten gelebt zu haben.« »Warum nicht«, sage ich, »die Frau dort sah so gesund, so prall aus.« »Sicher eine Araberin schon in jener Zeit«, lacht Kamil und setzt hinzu: »Ich lege mich, ich will schlafen ...« Versuchen wir nüchtern zu bleiben oder wieder zu werden! In den umliegenden Berghöhlen fand man Spuren der ersten Oasenbewohner, und erst im Neolithikum wurden Bedingungen für Seßhaftigkeit, Beginn menschlicher Ordnung, geschaffen. An der großen Oasenquelle – reich strömte sie und gibt auch heute noch am Tag 5000 cbm Wasser von schwefliger, wohliger Wärme – bauten die Menschen die ersten Hütten, hier gewöhnten sie die ersten Wildtiere, Hunde, Schafe, Ziegen und Kamele, an Haus und Hof, hier fanden sie die ersten Methoden des Anbaus von Getreide und anderem eßbaren Zeug. Eine Dauersiedlung entstand, dorf ähnlich sicher schon, eine sich dann Stadt nennende Oasensiedlung. Nachrichten von ihr finden wir auf einer in Mari gefundenen Tafel aus der Zeit des Hamourabi, also aus dem 19. Jahrhundert vor der Zeitenwende. In den assyrischen Annalen des TaglarPhalasarl., im elften Jahrhundert, wird davon gesprochen, daß er gegen die in der Oase wohnenden Aramäer zog und vor den Aramäern, welches Volk machte sich die Oase Untertan oder sie bewohnbar? Die Aramäer fanden den Gott Bei vor, Gott der Kanaanäer und wandelten 181
ihn zum Gott Baal. Babylonisch war er in seinem Ursprung, wurde jedoch der erste, der gewaltigste im Pantheon der Götter von Palmyra, und er war auch, so ist es bezeugt, die Manifestation babylonischer Zivilisation im ganzen Orient. Aramäer und Araber, Nomaden der Wüste noch, und die zu Stadtbewohnern gewordenen Beherrscher des ganzen Nahen Ostens, sie fanden sich zum friedlichen Nebeneinander, zu beiderseitigem Nutzen in der Oase zusammen. Wer hätte für die Aramäer bessere Führer für ihre Karawanen sein können als die Beduinen der Wüste, wer hätte den Karawanen der Kaufleute von Palmyra bessere Beschützer sein können als sie, die Wüste und Steppe und auch die räuberischen Nomaden besser kannten als nur irgendwer? Wenig schriftliche Zeugnisse liegen uns aus der Frühzeit vor, aus der Zeit vor der Dynastie der Selenkiden. Der Einfluß des biblischen Salomo reichte bis in die Oase, aber wie stark und wie lange er währte, wissen wir nicht. In allen semitischen Sprachen wurde die Stadt, wie heutigentags noch von den Arabern, Tudmor genannt. Erst Griechen und Römer nannten sie Palmyra – die Stadt der Palmen, ein Hinweis darauf, welcherart eine der Grundlagen des Reichtums der Oase war. Römischen Druck vermochte die Stadt sich erst wieder zu entziehen, als der Bürgerkrieg die Weltmacht bewegungsunfähig gemacht hatte. Selbst eine gewisse Unabhängigkeit errang sich der Stadtstaat, gab diese dann aber zum Nutzen seines weitreichenden Handels wieder auf, stellte sich unter den Schutz Roms, als diese die Griechen in der Herrschaft über den Nahen Osten ablösten. Wer also in der Stadt die herrschende Schicht war, läßt sich deutlich erkennen. Die Römer benötigten für ihre Auseinandersetzungen mit den Persern das heutige Syrien als Aufmarschbasis, sie verlangten von Palmyra nur eins: Loyalität. Und die Kaufleute von Palmyra waren bereit, loyal zu sein, sie wollten nur eins: Sie wollten ihren Handel ausüben, sie wollten scheffeln und reich sein. Was galt ihnen die Unabhängigkeit? Sie allein waren fähig, zwischen den Fronten hin und her zu ziehen, zu handeln und wahrscheinlich auch mehr als nur einfache Spionage182
dienste auszuüben. Sie brachten persiche Ware durch die Wüste über die Grenzen hinweg, Ware aus Indien und aus den südlichen arabischen Ländern, Gold und Silber, Myrthe und Weihrauch, Seide und andere Luxusstoffe, alles, was das luxuriöse Leben der reichen Römer verlangte. War es da wichtig, ob alle Straßen von Anatolien bis zum Euphrat, vom Taurus bis nach Jerusalem und bis zum Roten Meer von den Römern kontrolliert wurden? Die Straße des Diokletian, war sie nicht die sicherste im ganzen Gebiet? Schnell also war man bereit, sich zu arrangieren, man gab Wohlverhalten gegen Sicherheit. Bald auch war man nicht nur einfacher Benutzer. Wachsende Wirtschaftsmacht bot die Möglichkeit, die Karawanenwege durch die Wüste bis zum Euphrat selbst zu schützen mit eigenen kamelberittenen Truppen, und welchen kriegerischen Ruf sie genossen, mag daraus hervorgehen, daß vornehme Stadtbewohner, sicher Offiziere dieser Truppen, an der Zerstörung des Tempels von Jerusalem teilnahmen. Wurden zu dieser Zeit noch die südlichen Pistenwege von den arabischen Nabatäern beschützt und beherrscht, so waren schon Jahrzehnte später die Kaufherren von Palmyra die Meister aller Transitwege auf der Halbinsel. Sie hatten ihre Warendepots in den südlichen arabischen Staaten, am Roten Meer und am Persischen Golf, am Euphrat und am Mittelmeer. Da sammelte sich der Reichtum in Truhen und Verstecken. Durfte er aber nur gezeigt werden durch kostbare Kleidung, durch Schmuck von bewunderungswürdiger Schönheit für schöne Frauen, durch ein Leben in Sattheit und Luxus? Mitnichten! Den Göttern mußte gegeben werden, was ihnen gebührte: Großartige Tempel auf den Fundamenten älterer, den reich gewordenen Göttern nicht mehr genügende Heimstätten mußten errichtet werden; dem eigenen wachsenden Anspruch an das Leben und dem eigenen Ansehen zu dienen mußte der Stadt ein reiches Aussehen gegeben werden, Kolonnaden, säulengeschmückte Prachtstraßen, zu messen nur an den großen Vorbildern Roms und Athens. Benötigte man für den inneren Handel und die Käufer aus der Wüste nichts Besseres als nur kleine Budiken und Stände? Kaufläden 183
mußten her, in denen Glanz und Vielfalt der Ware vorteilhaft zur Geltung kamen, und entlang der Prachtstraße mußten sie liegen. Und für sich selbst, der man reich war und es sich leisten konnte, mußten Häuser her mit großen saalähnlichen Zimmern, mit Wasserleitungen und Bädern und Abwässeranlagen, die den in Rom gesehenen entsprachen. Daß man da bis zu Hadrians Zeiten tributpflichtig war, wem tat es weh? Ausgezeichnete Beziehungen hatte man mit der Weltmacht, nahm teil an der Macht, und als der Kaiser ihnen den Status einer »Freien Stadt« gab und das Recht, sich selbst zu regieren, die eigenen Staaten zu verwalten, gab der Senat der Stadt ihr den Namen »Adriana Palmyra«. In wenigen Jahrzehnten wurde so die Stadt zu einem Zentrum des westlichen Mittelmeerhandels. Keinerlei Konkurrenz mehr störte Geschäft und Gewinn, weit reichten die Beziehungen, und bewaffnete, palmyraeigene Dschunken fand man selbst im Indischen Ozean, und die Produkte der märchenhaften Reiche im Fernen Osten fanden ihren Weg bis ans Mittelmeer. Als aber die Sassaniden ihre Macht bis an den unteren Euphrat und Tigris ausdehnten, schränkten sie die Bewegungsfreiheit der Kaufleute aus Palmyra ein. Die zentrale Wüstenpiste verlor ihre Bedeutung für den Handel zwischen Okzizent und Orient, und Palmyra lief Gefahr, zur Bedeutungslosigkeit herabzusinken. Die bis dahin reich gefüllten Lager der Prachtstraße, übervoll von Produkten Asiens und des Mittelmeers, Griechenlands, Phöniziens und Ägyptens, drohten sich zu leeren, zu veröden die Straßen und die Gemäuer und die Stadt zu einem gespenstischen Denkmal seiner einzigen Größe zu werden. Aus der Frühzeit menschlicher Geschichte sind uns die Namen einiger großer Frauen überliefert, unter ihnen die von griechischen Hetären, die Dichterinnen und Genossinnen nicht nur des nächtlichen Beilagers von Kriegshelden, Kaufleuten und Philosophen waren, sondern auch Teilnehmerinnen an Disputen, Geschäften und Regierungsangelegenheiten. Die Legende der Königin von Saba geistert durch die Bibel. 184
Kleopatra, die schöne Ägypterin, Geliebte zweier römischer Kaiser, verlor trotz Liebe und Intrige Thron und Leben. Zenobia jedoch, Kaiserin von Palmyra, für eine ganze Zeit Beherrscherin Syriens, Eroberin von Ägypten und Kleinasien, genießt nicht den Ruf einer großen Geliebten, ihre Geschichte entbehrt auch jeden Schimmers von Legende, und doch wurde sie selbst legendenhaft durch die Größe ihrer Auseinandersetzung mit den Römern und ihrem Ende in Rom. Sie sich vorzustellen fällt nicht schwer, obwohl es weder ein gemaltes authentisches Bildnis noch eine erhaltene Skulptur von ihr gibt. In diesen nächtlichen »Stunden der Nichtnüchternheit«, erschauernd unter dem immer kühler werdenden Wüstenwind, gewinnt sie Gestalt und Reife. War sie schön? Sicherlich nach den herkömmlichen arabischen Begriffen: schwer und reif von Gestalt, in dem fülligen Gesicht den wissenden Blick einer Frau, deren Vorfahren noch vor Generationen in der Wüste in Ziegenhaarzelten und von räuberischen Kriegszügen gelebt haben und die nicht nur von den Gefahren großer, weitreichender Geschäfte, sondern auch noch in der Blüte der Macht von Tod und Untergang weiß. Reich geschmückt seh ich sie unter den Kolonnaden wandeln, auf dem Forum in Erwartung rückkehrender Karawanen auf dem Ehrensitz thronen. Ihr Herkommen ist dunkel, ihre Familie unbekannt, daß sie aber durch ihre Heirat in die königliche Familie der Odinait allein an Bedeutung gewonnen haben soll, ist undenkbar. In den großen Auseinandersetzungen des dritten Jahrhunderts zwischen Römern und Sassaniden gewann das Königshaus von Tudmor große Bedeutung, und die Geschichte berichtet, daß Odinait, der Gemahl Zenobias, zweimal auf seinen Kriegszügen den sassanidischen König Sapor verfolgte, ihn einschloß in seiner Stadt Stesiphon und den römischen Kaiser Valerian befreite. Zum Dank wurde er zum »Correkteur« des Orients ernannt, er aber, Odinait, bis dahin »König von Palmyra«, greift zum traditionellen Titel der Könige von Babylon, er nennt sich von nun an König der Könige.
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als Selbstherrlichkeit eines kleinen, im Verhältnis zur Macht römischer Kaiser bedeutungslosen Provinzfürsten? Und haben sie sich seiner entledigt, oder aber werfen die Umstände seiner Nachfolge Licht auf die Art seines für uns unbekannten Todes? Sein jüngster Sohn wurde sein Erbe und Nachfolger entgegen aller Gepflogenheiten, doch schon nach kurzer Zeit war zu spüren, wer wirklich die Macht in den Händen hatte. Und die fraulichen Hände, die der Mutter Zenobia, waren sie beteiligt am möglichen Mord durch Gift oder Schwert? In ihrem sicherlich schönen Frauenkopf, waren da die Gedanken an Herrschaft und Macht geboren worden? Sicher darf man sein: Diese arabische Zenobia war eine große Kennerin von Geschichte und Politik, von Wirtschaft und Geschäft, nicht nur Arabiens. Sie, die Tochter aus Kaufmannsgeschlecht – so darf man wohl annehmen –, besaß einen Blick, der reichte von Indien bis nach Rom, von den hellenistischen Siedlungen am Schwarzen Meer bis nach Ägypten. Während ihrer durch den Namen des Sohnes getarnten Herrschaft festigte sie die Macht Palmyras in Syrien, sie eroberte im Jahre 271 Ägypten, und Kleinasien nahm sie bis zum Bosporus. Wahballat und Zenobia, Sohn und Mutter, nahmen den Titel Kaiser und Kaiserin an. Jedoch nur einen Kaiser gab es, und er war eine Kaiserin. Doch der Triumph Palmyras war ein Triumph gegen und, wenn er sich wiederholen sollte, einer über Rom. Länger ließ sich von der Metropole des Weltreiches aus dem Wachsen und der Ausbreitung einer eigenständigen Macht am Rand des Weltreichs nicht mehr zusehen. Aurelian marschierte mit einer unter seinem eigenen Kommando stehenden Armee in Kleinasien ein, und Zabda, der General der Zenobia, mußte auch Ägypten räumen. Nach zwei vernichtenden Niederlagen bei Antiochia und Homs mußten sich die Truppen der Zenobia bis hinter die Mauern Palmyras zurückziehen. Nach langer Belagerung fiel die Stadt; Zenobia ergriff die Flucht zu den Sassaniden, den Feinden der Römer natürlich, aber ehe sie noch den Euphrat erreicht hatte, inmitten einer Kamelkavalkade selbst auf einem Kamel reitend, fiel sie in die Hände der Römer. 186
Im Jahre 274 feierte Aurelian seinen Sieg, und in seinem Triumphzug schritt als Beute Zenobia mit, Gefangene nun auf Lebenszeit. In Homs starben, wer weiß auf welche Art, die Berater der Kaiserin, unter ihnen der Philosoph Longin. Und sie selbst? Vage nur, legendenhaft wird berichtet, sie habe ihre Tage in einem Palast des Tivoli nah bei Rom beschlossen. Doch was sie in ihren letzten Jahren, in ihren Tagen und Nächten getan und gedacht hat, ist nirgendwo vermerkt. Hat sie je bedauert, nach der Macht gegriffen zu haben und durch sie dieses schmähliche Ende gefunden zu haben? War ihr je bewußt geworden, ihr, der Tochter – nehmen wir es an – aus einem großen Kaufmannsgeschlecht der Stadt, um wieviel reicher und geruhsamer sie hätte leben und um wieviel ehrenvoller sie hätte sterben können als Kaufmannstochter? Im Grab der »Drei Brüder«, in das wir am gestrigen Tag über eine Treppe niedergestiegen sind, sagt Khaled Assad, Direktor des Departements für Antiquitäten, ein noch jüngerer, energisch wirkender, rundgesichtiger Mann: »Die Gräberstadt in den Berghängen haben wir erst angeritzt, und das auch nur zufällig. Wir sind überzeugt, daß alle umliegenden Hänge Gräber bergen, die größer sind und reicher geschmückt und uns mehr Einblick geben in das vergangene Leben als die uns bisher zugänglichen.« »Und warum gräbt man sie nicht aus?« Er betrachtet mich verwundert. Ist soviel Naivität zu begreifen? Denkt er so? Doch um etwas zu erfahren, muß man unwissend tun, muß dem Wissenden zu verstehen geben, wie sehr man auf seine Klugheit angewiesen ist, und da selbst der Klügste noch Schmeicheleien erliegt, erreicht man, was man will. Im gesamten Orient wurden in den letzten Jahrhunderten die meisten antiken Stätten von Europäern entdeckt, auch Palmyra, und es wurde wie alle andern angegraben; leicht zu findende Stücke alter Kunst wurden »ausgeführt« und in europäische Museen gebracht. 1793 wird die europäische Welt durch die Publikationen der Engländer H. Dawkins und R. Wood »Die Ruinen von Palmyra« zum erstenmal auf die 187
alte Stadt in der Wüste hingewiesen. Große Aufmerksamkeit wird ihrer Arbeit nicht geschenkt. Nicht besser erging es den Ergebnissen einer deutschen Mission, die in einem Rapport von M. Sobernheim über die Inskriptionen von Palmyra publiziert wurden. In der ottomanischen Epoche des Nahen Ostens war die Stadt, die moderne und auch die antike, fast vollständig in Vergessenheit geraten. Die Stadt war zu einem am Rand der Zivilisation liegenden, schläfrig wirkenden Ort herabgesunken, ohne Interesse anscheinend für ökonomische und kulturelle Belange des Staates; ausgeräubert wurden die Ruinenstätten von Beduinen, und es wurde durch wilde Grabungen versucht, Reichtümer zu finden. Erst nach der Unabhängigkeit Syriens im Jahre 1945, nach dem Erwachen eines neuen nationalen Bewußtseins, dem Suchen nach historischen Fundamenten für neue nationale Gegebenheiten, schenkte man der Stadt mehr Aufmerksamkeit. Systematisch wurde versucht, eigene syrische archäologische Kader zu entwickeln, die staatlichen Budgets wurden jährlich erhöht, Ausgrabungen organisiert und restauriert, was auf Grund beschränkter Mittel nur möglich war. Die einschlägige Welt auf allen Kontinenten reagierte mit Aufmerksamkeit. In den letzten Jahrzehnten fanden sich in der alten Stadt archäologische Arbeitsgruppen aus den verschiedensten Ländern ein. Und da sah man, daß diese alte vergessene Stadt nicht nur ein Trümmerhaufen war, nicht verschlafen und öde am Rande der zivilisierten Welt lag und nicht interessant darum war, weil sie Licht warf auf Vergangenes, sondern daß sie fest und geschäftig in der Gegenwart stand. Das einfache Leben des einfachen Volkes hatte den Untergang des Zenobiareiches, eine nur einige Jahrhunderte währende byzantische Epoche, hatte die Araberstürme und auch die der Mongolen überdauert; Olivenhaine gab es wie eh und je, Palmen wuchsen in den Gärten und Gemüse und Obst. Khaled ibn al Valid, ein General der Moslemheere, soll, verzweifelt über den Widerstand Palmyras, als er glaubte, die Stadt auf seinem Rückmarsch aus dem Irak im Vorübergehen nehmen zu können, voll 188
Wut geschrien haben: »Bewohner von Tadmur, und wenn ihr euch in den Wolken versteckt, bei Allah, ich werde euch herunterholen und besiegen.« Doch er siegte nicht, er mußte seinen Weg zum Jarmuk fortsetzen, die Stadt in seinem Rücken ungebrochen. In der Epoche der Omaijaden, einer der glanzvollsten Syriens, war die Stadt wiederum ein Handelszentrum von bedeutendem Ausmaß, als Produzent von Olivenöl, Baumwolle und Datteln spielte sie eine gewichtige Rolle. Das natürlich stärkte das Selbstbewußtsein der Stadt, und möglich ist, daß Träume von zenobischem Ausmaß seine Bewohner bewegt haben. Der letzte der Omaijaden, Marman II., empört über die Erhebung zweier Wüstenstämme und mit ihnen vereint die Stadt, stürmte die Mauern und »ließ die ganze Bevölkerung über die Klinge springen«. Bachar ibn Burd, ein abbasidischer Dichter jener Zeit, schrieb warnend, wohl im Hinblick darauf, daß sich die Stadt mit den Wüstenstämmen verbündet hatte: »Als die Pferde der Qais in die Stadt einritten, war es für diese der Untergang!« Doch die Dattelbäume wuchsen immer noch, Oliven und Getreide und Baumwolle ebenso, und so auch wuchs die Stadt aus den Trümmern. Zu günstig lag sie im Schnittpunkt vieler Wüstenhandelswege, zuviel Wasser floß aus Brunnen und Quellen, als daß sie endgültig hätte zu Wüste und Schutt werden können, Heimstatt für Hyänen und Wüstenkiebitze und durchziehende Beduinen. In der gestrigen Mittagstunde im »Grab der drei Brüder« sagte Khaled Assad: »Keine Stadt in Syrien hat wohl in seiner Geschichte so viel Eroberungen erdulden müssen, ist so oft bis auf die Grundmauern zerstört worden, keine andere lebt zudem so nah der Wüste, ist so eingeschlossen von Sand und Karst, geschlagen so im Sommer von bestialischer Hitze und im Winter von einer Kühle, die uns bis ins Mark kriecht. Und trotzdem ... Sehen Sie selbst!« Ach, ich denke an die dummen Europäer, verständnislos gegenüber 189
Geruhsamkeit und Gelassenheit, ich denke an den, der sich von leeren Straßen, von dahinhuschenden Frauen, von der Siesta pflegenden Männern beeindrucken ließ. Khaled Assad sagt: »Dieses Leben am Rand der Wüste macht gelassen, widerstandsfähig und genügsam.« Schwer scheint es für Europäer zu verstehen zu sein, daß Genügsamkeit eine Tugend sein kann, eine Eigenschaft, die möglicherweise mehr bietet als stets sich ausweitende Anforderungen an das Leben. Keiner der Europäer war wohl in einem der uralten Innenhöfe, deren Schatten und Stille wie Geschenke Gottes sind, die nicht schläfrig, sondern nachdenklich und geruhsam machen. Keiner ist wohl je durch die hinter dicken Lehmmauern verborgenen Oliven- und Dattelhaine gegangen, hat in ihrer schattigen Fruchtbarkeit geruht und sich gefühlt wie in einem kleinen Zipfel des Paradieses. Und verstanden sie nichts von Ökonomie, ihrer eigentlichen Domäne? Wie schnell hätten sie rechnen können, wieviel Reichtum die Oase jedem seiner 15000 Bewohner gibt: 2000 ha sind bewachsen mit Oliven- und Palmenbäumen, auf 4000 ha fruchtbarem, oft vom Wasser getränktem Boden wachsen Getreide und Baumwolle. Und die Oase ist nicht in den Händen weniger feudaler Familien. Zu diesem Reichtum von Gärten und Äckern kommt der Handel mit den Beduinen, der Verkauf von Olivenöl, Baumwolle und Datteln in die Städte im Westen des Landes. Doch Khaled Assad lebt für die untergegangene Stadt, lebt dafür, sie wieder ans Licht zu bringen in ihrer ganzen verschütteten Schönheit. Er sieht mehr und tiefer unter die Erde, für ihn ist der Untergrund von Häusern und Hütten, von Tempeln, Bädern und Gräbern voller Zeugnisse eines einst stolzen Lebens. Wie wohl mag er sich als moderner Syrier zu den untergegangenen Völkern, den Kanaanitern, den Aramäern und den stets sich mit ihnen vermischenden Beduinen-Arabern der Wüste, verhalten? Betrachtet er sich und das heutige Syrien als legitime Erben? Und was wohl mag er als Erbe ansehen? Vage Nachrichten von vergangener 190
Größe einstiger Kleinstaaten, verstreut über das ganze jetzige Land? Und immer noch groß anmutenden Reste einstiger Städtearchitektur, Plastiken und Mosaiken, stärken sie das Bewußtsein von auch heute noch zu erfüllenden Aufgaben? Literatur ist kaum hinterlassen worden, oder besser, bis jetzt nicht gefunden worden. Anzunehmen ist aber sicherlich, daß sie reich war und nicht nur ihren Ausdruck in den Zelten der Beduinen und in den Hütten der Dörfer erzählten Märchen und Erzählungen, den rezitierten Gedichten und gesungenen Liedern gefunden hat. Die Literatur der Griechen und Römer mag wohl befruchtend auf die im Land gewachsene gewirkt haben, denn trotzdem in den herrschenden Kreisen des Stadtstaates Griechisch, Römisch, Persisch und auch die Sprachen der südarabischen Staaten bekannt oder auch gesprochen worden waren, so hatte sich in wenigen Jahrhunderten eine eigene palmyrische Sprache herausgebildet, provinziell sicherlich und nicht minder dem Untergang geweiht als alle anderen damalig gesprochenen Sprachen, als die Moslemstürme im 7. Jahrhundert über das Land gebraust waren. Von da an wurde die arabische Sprache die einzige, die einheitliche, vorherrschende Sprache des Landes. Im westlichen Schiff des Grabes »Der drei Brüder« vor einem verblichenen Medaillon mit Freskenmalerei sagt Khaled Assad: »Achilles ist hier ein Sinnbild der menschlichen Seele. Der Seele ist das irdische Leben, ein Kleid, das sie im Tod zerreißt, um frei davongehen zu können!« Ist hier wirklich Eigenes im Gewand griechischer Mythologie gesagt? In der gestalteten Szene wird Odysseus dargestellt, wie er Achilles unter den Töchtern des Lykomedes, König von Skyros, findet: Um ihn vor seinem vorausgesagten Schicksal, dem Tod in den Kämpfen vor Troja, zu behüten, das Schicksal zu betrügen, hat man ihn in das Gewand eines jungen Mädchens gekleidet. Der Anblick des waffenstarrenden Odysseus, seine Erzählungen von Krieg und Ruhm erwecken seinen männlichen Sinn, er zerreißt die Mädchenkleider, nimmt die Ringe aus den Ohren, und wir wissen, er wird seinem Schicksal nicht entgehen. Ist hier wirklich Eigenes, das Grundgefühl des Lebens in der Oase, 191
umgeben von Steppe und Wüste, gestaltet, die Befreiung von irdischer Mühe und Not durch den Tod? Widerspricht dem jedoch nicht die große Lust am Diesseitigen, am heiteren, sinnlich gelösten und erfüllten Leben in allen Gesichtern auf Porträts und Plastiken? Im »Grab der drei Brüder«, ähnlich eher einer Kapelle in seiner T-Form und großzügigen räumlichen Gestaltung, sind alle Porträtbüsten entfernt, verblichene Fresken und das Grabmonument eines der drei Brüder sind erhalten geblieben. Deutlich erkennbar sind uralte Merkmale orientalischer Kunst auf Gewändern und Schmuck, und selbst in den Gesichtern der Porträtierten ist der orientalische Charakter festgehalten. Erbaut im 2. Jahrhundert, wie gesagt, in T-Form tief aus dem Fels herausgehauen, dürfte der Raum einst nicht nur als Grabstätte gedient haben. Man hat das Gefühl, Tische seien hier aufgestellt gewesen, große alljährlich wiederkehrende Gastmähler zu Ehren der Toten abgehalten worden, und nicht nur »besucht« habe man die Toten, sondern auch immer wieder mit ihnen gelebt. Sterben und Tod müssen die Menschen auf eine unvorstellbar intensive Art beschäftigt haben, die Wirklichkeit des Sterbens und das zu erwartende Leben nach dem Tod. Noch tief verhaftet dem großen Mysterium der Natur, dem Zeugen, Werden, Wachsen, Reifen und dem Vergehen, hilflos und ohne Wissen um das »Nachher«, wurde auf jede Art versucht, sich an das Diesseitige zu klammern und das irdische Leben ins Jenseitige mitzunehmen. Sind anders die großen Grabtürme im »Tal der Gräber« zu erklären, die in die Berghänge geschichteten Gräber für ganze Generationen von Familien, alle sorgfältig geschmückt mit den Porträtplastiken der Verstorbenen, von Kindern, Frauen und Männern in jedem Alter? Immer wieder hat man beim Anblick der unvorstellbar stolzen Gesichter das Gefühl, wie schwer es diesen Reichen, den Kaufleuten, den Gebietern über Land und Menschen gefallen sein muß, den Reichtum, das luxuriöse Leben zu verlassen auf Nimmerwiederkehr. Und dann die bohrenden Fragen: Wie läßt sich das Leben bannen? Wie die Erinnerung an die eigene Persönlichkeit bei den Nachkommenden nachklingen lassen in Zeiten, die nicht enden wollen? 192
Stolz geprägte Gesichter sind verschattet von Resignation, von Ergebenheit in das Unabwendbare; selbst die Gesichter schöner Frauen tragen den Hauch irdischen Leids, in den Augen das Wissen um den Tod. Leicht ist man geneigt, alles, was im antiken Orient in all den Jahrhunderten hellenistischer und römischer Herrschaft an Bauten, an Kunstwerken und Malerei geschaffen wurde, zurückzuführen auf römische und griechische Schöpferkraft. In ihr sehen europäische Augen Vorbild, Anstoß und Formung, finden in ihr geistige Bewältigung und endgültige Realisierung von einer bis dahin nicht erreichten Größe. Liegen aber nur im Griechischen oder im Römischen Ursprung und Formung antiker und auch europäischer Kultur und Kunst? Auf dem Zenit römischer Weltherrschaft findet man auf dem römischen Kaiserthron Philipp den Araber. Sollte er allein als Araber in Rom geherrscht und gelebt und nicht auch alle seine Klienten, Politiker, Kaufleute und Künstler nachgezogen haben? In der heiteren, ewig strahlenden Sonne Syriens, die Nächte kühl von den aus der Wüste und den von Hermon niederströmenden Schneewinden, hat sich römisches Leben nicht nur »touristisch« erholt. Hier, in der »Provinza arabica« des römischen Reiches fand man einen Lebensstil vor, der leicht anzunehmen war und den man sich zu eigen machen konnte. Anders ist auch wohl kaum der verzweifelte Kampf zu erklären, die große Erbitterung, mit der Rom immer wieder um diese Gebiete gekämpft hat. So also trotz aller griechisch-römischen Grundlagen sind die großen baukünstlerischen Schöpfungen im Nahen Osten von syrisch-arabischem Einfluß geformt. Mehr noch als von der Zivilisation darf man von Kunst und Wissenschaft annehmen, daß griechische und römisches Erbe auf eine neue Art ihren Ausdruck fanden. Den Plan der Gestaltung von Palmyra findet man während der griechisch-römischen Epoche immer wieder in allen andern syrischen Städten, in Damaskus, in Bosra, in Antiochien und Latakia. Als Pompejus, römischer General, im Jahre 64 vor Christus in Syrien einmarschierte, fand er von hellenistischorientalischer Kunst geprägte Städte vor wie Antiochia, Damaskus und 193
andere. Dank syrischer Architekten, unter ihnen der bekannteste, Abul Dur al-Dimachqui, wurden während der Epoche des Trajan die größten Objekte römischer Städtebaukunst verwirklicht, unter ihnen das Forum des Trajan. Juvenal (140 nach Christus) sprach aus, was Rom über die Merkmale römisch-arabischer Beziehungen dachte: Der Orontes mündet in den Tiber, und er führt die Tradition, die Sprache und die Kunst mit sich. Leicht sind in den Ruinen Roms die Zeugnisse syrischen Einflusses zu finden, im Forum des Trajan, in den Thermen des Caracalla, in den Palästen der vielen syrischen Familien des Severus, im Palast Philipp des Arabers, in allen Bauten der gesamten Zeit, als Syrien den römischen und auch den päpstlichen Thron innehatte. Die leblose Stille über den Ruinen des Baaltempels wird von einem knarrenden Laut unterbrochen. Ein Tor in der Umfassungsmauer öffnet sich, wird wieder geschlossen; Quietschen von Wagenrädern, das Trapp-Trapp von Tierhufen, die müde Stimme eines Mannes. Gespenstisch, wie aus untergegangener Zeit emporgekommen, bewegt sich ein zweirädriger Karren, gezogen von einem knochigen Eselchen und begleitet von einem Mann ohne Kopfbedeckung, zu uns her. Er führt das Tierchen zu einem der ehemaligen Tempeltore, entschirrt es, läßt es dann stehen wie einen leblosen Gegenstand. Er selbst kommt hinüber zu unserer Hütte, klopft kaum hörbar ans Tor, und der alte Mann, der Hauswächter, schlurft herbei und öffnet ihm. Schweigsam gehen sie nebeneinander in den Innenhof. Der Fuhrmann, oder was er sein mag, setzt sich auf den Brunnenrand. Der alte Mann bringt ihm nach einer Weile in einer übergroßen Tasse ein Getränk, heißen Tee wohl, ich höre überdeutlich das durstige, behagliche Schlürfen des Mannes. Neben mir höre ich Kamil Ismail sagen: »Eine Tasse Tee würde auch uns gut tun. Der Arrak ..., in den Mengen vertrage ich ihn nicht.« Ich nicke zustimmend. Der Himmel hat sich stählern verfärbt, umkränzt sich mit einem rosig schimmernden Horizont. Über den Hügeln, die das Tal des Todes umgeben, lastet schwer die Nacht. 194
Der alte Mann in seiner verwaschenen, abgetragenen Galabie, auch er ohne Kopfbedeckung, bringt uns den dampfenden Tee und sagt: »Zucker habe ich leider keinen. Er ist mir ausgegangen.« Der Tee labt die ausgetrocknete Zunge, kühlt den Gaumen, der brennt, als habe man ihn mit einem Feuerwisch geputzt. Auch der Fuhrmann kommt zu uns auf die Terrasse hinauf, und beide, der Alte und er, hocken sich auf den Zementboden. Der Alte sagt: »Er ist mein Sohn!« Der Sohn, ein Mann in den Dreißigern, das knochige Gesicht tief dunkel verwittert, mit angegrautem Haar schon, wirkt bestürzend abwesend, mich jedoch betrachtet er, als sei ich irgendwie vom Himmel niedergefallen. Kamil fragt etwas, der Alte antwortet, und ihre monoton gemurmelten Gesprächsfetzen übersetzt Kamel erst nach einer ganzen Weile: »Der Sohn bringt sich und den Alten mit seinem Eselchen durchs Leben. Er fährt Limonade, da und dort einen Sack Zement und anderes, was transportiert werden muß. Sie leben allein in dieser Hütte.« »Ohne Familie?« frage ich. »Allein«, antwortet Kamil und setzt dann hinzu: »Der Alte erinnert sich noch an die Zeiten, als das ganze weite Tempelgelände voller Hütten stand, an die zwanzig waren es wohl. Da war Leben hier. Aber sie sind alle abgebrochen worden, und die Bewohner leben jetzt in der Stadt.« Ehe ich noch zu einer Frage komme, unterhalten sie sich schon wieder; die Stimme des Alten ist streng und kalt, die Kamils klingt uninteressiert, während der Sohn stumm bleibt. Seinen Tee schlürft er in kleinen Schlückchen, so, als zelebriere er ein Gebet. »Unter der Erde soll noch vieles verborgen sein, erzählt der Alte. Reste von Tempeln, die älter sind als die Fundamente des Baaltempels. Von einem Gott Madad spricht er«, übersetzt Kamil. »Vor kurzem habe man bei einem Grabenschnitt einen Friedhof gefunden aus uralter, ganz uralter Zeit. Er weiß nicht, aus welcher Zeit. Man hat den Graben wieder zugeschüttet, hat alles umzäunt, damit die Gräber nicht bestohlen werden.« Mächtig umrahmt die hohe Umfassungsmauer das weite Viereck, in 195
dessen Mitte der eigentliche Baalstempel liegt. Mauern und Trümmer schimmern im heller werdenden Nachtlicht wie matt gewordene Goldquader. An einigen Stellen haben die Fundamente nachgegeben, schräg neigen sich die Mauern, und wären sie nicht von Betonstreben gestützt worden, würden auch sie in Trümmern am Boden liegen. Eine der ehemaligen Pforten, unter deren Überdachung das Eselchen steht, steht schief da, als hätte eine mächtige Hand versucht, sie niederzudrücken, aber die Kraft habe nicht gereicht. Der eigentliche Tempel aber trotz seiner Massigkeit wirkt inmitten der Trümmer zierlich und leicht, und die korinthischen Säulen aus Kalkstein stehen schlank und schwerelos, umflort von dem nun gegen Morgen grünlich werdenden Nachtlicht. Welch einen Eindruck, sicherlich erhebend zu der Größe des Gottes, muß dieses Heiligtum in der Blüte der palmyrischen Herrschaft gemacht haben! Prozessionen werden den Hof durchzogen haben, die Opfertiere herbeiführend, und vor dem eigentlichen Heiligtum werden die Gläubigen erstarrt sein, angerührt von der Größe des Gottes, der sich für sie in der Gewalt der Mauern, in der Schönheit von Säulen und Kapitellen verkörperte. Für die Beduinen aus der Wüste, für die aus allen Himmelsrichtungen heimkehrenden Karawanen waren Ankunft und Heimkehr erst verwirklicht, wenn Opfergaben – Schafe und Kamele und andres Getier und all die Früchte der Gärten – gnädig entgegengenommen waren. Sicher ist auch, daß die Priesterschaft von den heimgebrachten Produkten fremder Welten, von Gold und Silber, an Myrrhe, Weihrauch, Seide und Purpur, ihren Teil bekam. Eine Inschrift in palmyrischer Sprache wurde auf dem Pferdestall für eine aufgestellte, aber verlorengegangene Statue gefunden, aus der deutlich das Jahr der Gründung des Tempels ersichtlich ist. Diese Statue ist die des Leshamsh, Sohn des Taibol, Sohn des Shokaibel der Beni-Komara, er hat diesen Tempel den Göttern Baals, Yarhibol und Aglibol, gewidmet am 6. Tage des April 343 (32 nach Christus). Die Statue wurde ihm zu Ehren von seinen Söhnen errichtet. Auf niedergebrochenen Quadern, die einst über dem Hauptportal 196
lagen, sind im verwitterten Gestein religiöse Szenen zu erkennen, der Gott Aglibol und Malagbel, der erstere in militärischer Uniform, vor ihnen die Opfertiere, beladen mit Früchten. In einer anderen Szene ist Gott Baal, auf einem Kamel reitend, dargestellt; hinter ihm schreiten verschleierte Frauen, und anzunehmen ist, daß Schleier und wallende Gewänder nicht nur religiöse Gewänder sind. Soll man glauben, daß der Schleier nicht erst ein Attribut arabischer Frauen nachmoslemischer Zeit ist? Heutigentags liegt das Innere des Tempels offen da, preisgegeben den Jahreszeiten. Anzunehmen ist, daß es einst abgedeckt war mit Holzgebälk. In den beiden Nischen, beide überdeckt von großen, aus einem Stück Stein gehauenen Quadern, waren Bildnisse und Statuen der Götterdreiheit des palmyrischen Pantheons aufgestellt, die von Baal, Yarhibol und Aglibol. Diese Nischen sind typisch syrische Tabernakel ohne Vorbilder bei Griechen und Römer. Diese stellten ihre Götterbildnisse oder Statuen einfach auf Piedestale. Beeindruckend die über den Nischen liegenden, aus einem mächtigen Stein gehauenen Decken! Mit ausgereiftem Kunstverstand, mit feinem Geschmack sind die Bildnisse der sieben Planeten dargestellt: im Zentrum Jupiter, das Sinnbild Baals, um ihn herumgruppiert die zwölf Zeichen des Zodiakus. Die Decke über der gegenüberliegenden Nische ist ebenfalls mit einem einzigen mächtigen Stein abgedeckt; in Kassettenform ist er gestaltet, die mit Linien geometrischer Art geschmückt ist, mit Vierecken, Triangeln und überreich mit Blumenornamenten. Diese Art des Flächenschmucks ist arabischer und byzantinischer Herkunft, verständlich wohl, da der Tempel im 5. bis 6. Jahrhundert christlichem Kult gedient hatte. Im 12. Jahrhundert dann verwandelte man ihn in eine moslemische Moschee, die sich bis 1929 erhielt. Und tief unter diesen Zeugnissen entwickelter religiöser Glaubenswelt liegen noch die Fundamente des ursprünglichen syrischen Gottes Kadad, verschlossen jedem Zugriff, jedem räuberischen oder pflegerischen Spaten.
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Von der einst reichen Stadt ist verwitterter Stein geblieben, ein Gewirr von Trümmern sind die Tempel, die Prachtstraße, die an ihr liegenden Shukbudiken, ist die große Stadtmauer. Die wenigen noch nicht gestürzten Säulen aus Porphyr, Granit und Kalkstein aber sind mehr als nur verwitterte Zeugnisse einstiger Schönheit und Größe. Ihre Verwitterung unterstreicht den einstigen Glanz der Stadt und beflügelt die Phantasie. In den letzten Jahren ist angefangen worden, das Forum freizulegen, Mittelpunkt einst des gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Lebens. Unter den Kolonnaden glaubt man, gestützt auf Phantasie und ausschweifende Gedanken, das einstige Gewirr lebendigen Lebens zu erblicken. Vielfältig, bunt, erregend muß einst die Ankunft einer Karawane gewesen sein, die aus Ländern wiederkehrte, von denen man keinerlei Vorstellung, basierend auf konkretem Wissen, hatte. Zeugnis für ihr wirkliches Bestehen gaben nur die herbeigebrachte Ware, die Erzählungen der Heimgekehrten oder zuweilen auch die Ankunft eines der fremden Bewohner, der sich mit der Karawane fortgewagt hatte. Voraus reitende Boten haben sicherlich die bevorstehende Ankunft der Karawane gemeldet. Alles, was sich nur von Geschäft und Arbeit freimachen konnte, eilte herbei aufs Forum: die auf neue Ware wartenden Geschäftsleute, die Zolleinnehmer, die Eigentümer der Karawane, und annehmen darf man auch, daß sich die mit Karawanenhandel und Geldgeschäften verbundenen höchsten Spitzen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens einfanden. Darf man glauben, daß einst auch die »königliche Dame« Zenobia, reich geschmückt, umgeben von weiblichem und männlichem Gefolge, unter Gefolge, unter den Kolonnaden erschien? Das ganze braunhäutige, wirrhaarige Gewirbel von kleinen Kinderkörpern, von dahinstolpernden Beinchen, winkenden Ärmchen wird zu sehen sein, hat sich müssen fortjagen lassen, und nur die frechsten haben ihren Platz auf den höchsten Pfeilern der Kolonnaden gefunden. Kamen die Frauen der Karawanenbegleiter offenen Gesichts, ihre Freude zu zeigen, daß die leeren Nächte nun ein Ende haben? Die 198
Mädchen, eben erst mannbar, erhofften sie sich mehr von der Ankunft der Karawane als den Anblick der Ware? Da war ein Vater mitgezogen oder der Bruder in die Lande an den fernen Küsten. Durst war ihr Teil gewesen in der Wüste, ihr Hunger war gestillt worden oft von nur wenigen Datteln. Oh, ihre trockenen Lippen werden wir netzen mit dem Labsal unserer Küsse und ihren Hunger stillen mit am offenen Feuer gerösteten Hammeln und Hühnern. Und dazu sicherlich auch auf den Wüstenpisten die Überfälle räuberischer Banden, die Kämpfe mit Messer, Schwert und Lanze. Wunden mußten sie hinnehmen und oft wahrscheinlich auch das Leben hingeben; rotes Leben floß in den grauen Sand. Nun aber ist die Karawane angekommen, auf Kamelen und Eseln werden die Männer herbeireiten, alle Nöte und Sorgen erlöschen, oder aber ... Leid wird aufflammen, wird die kommenden Tage und Nächte im Schmerz verbrennen. Jauchzen und Freudentriller erfüllen die Luft, durchgellen die Kolonnaden, erscheinen die Meharisten, Bewacher, Hüter und Führer der Karawanen, als erste sozusagen, erscheinen sie hoch auf den Kamelen, bewaffnet mit Lanze, Schwert und Bogen, sind sie das Zeichen, stolzes Abbild für die Überwindung aller Gefahren. Ohne getrieben zu werden, eilen die Kamele, gejagt von der Ungeduld ihrer Reiter, vom Geruch der Ställe, den reichbeschickten Futterkrippen zu. Im Forum wird’s gemessener zugegangen sein, »vornehmer« sozusagen, denn anzunehmen ist, daß gewöhnliches Volk, Krethi und Plethi, kaum Platz gefunden hat. Die Ehrensitze für die Vornehmsten des Staates, im Schatten der Kolonnaden aufgebaut, von König und Königin benutzt, umringt von Beamten und Militärs des Hofes, zu römischer Zeit auch wohl von dem Statthalter und seinen Offizieren, waren sicherlich reich geschmückt, und ihnen galten die ersten Grüße der Meharisten. Wurden hier auch die ersten Geschenke niedergelegt? Und nun der Trott der Lastkamele, eines hinter dem andern daherwiegend, vollgeladen fast über Gebühr; die gesamte Karawane ordnet sich zum letzten Mal, ehe sie von den Besitzern der Tiere und Ware ausein199
andergerissen wird, durchzieht in prächtigem Zug den weiten Platz. Freudengetriller, das Schwenken von Tüchern, von Blumen und Kränzen! Erkennende Zurufe, im Staub und Gewirr das Glänzen der Waffen und Frauengeschmeide. Ja, er ist heimgekehrt! Die Nacht wird reich sein. Baal muß man opfern am morgigen Tag und auch Apoll, dem Gott der Liebenden. In die Stille des Morgens das leise Klirren von Ketten, eine morgenmürrische Stimme, Gehüstele und Gekrächze, um Hals und Kehle freizumachen von der Nacht, antreiberisches Hü und Hott: Der grieshaarige und allein lebende Sohn unseres Hausmeisters schirrt seinen Esel an das Wägelchen. Er treibt ihn an, und ergeben trappt er hinter ihm aus dem Tor, das ebenso mürrisch knarrt wie seine Stimme. Die Kühle des Morgens macht, nun im Mai, immer noch frösteln. Wind ist noch schläfrig matt, lind streicht er über die Terrasse, und Ismail und der Chauffeur und ich, wir haben es schwer, Schlaf und Traum abzuschütteln. Das kalte Brunnenwasser vereist die Zähne, ah, und womit nur läßt sich der klebrige Arrakgeschmack löschen? In der Stille des Innenhofs hört man den Wind in den Baumkronen, Vogelzirpen dazu und das Klirren von Kaffeetäßchen im Haus. Auf dem Brunnenrand steht die Teeschale des Sohnes, ausgelaugtes Teezeug schwimmt in brauner Brühe. Wie oft ist mit dem gleichen, ausgelaugten, an Baumrinde erinnernden Rest schon »Tee« bereitet worden? »Gehen Sie hinauf auf die Terrasse«, sagt der Alte, Kaffeetäßchen in der Hand, und steigt die steile Treppe hinauf. Oben angekommen, hält er das Gesicht der Sonne entgegen und sagt: »Hier ist es schon warm.« Schweigen zwischen uns; schlürfend genießen wir die süße Hitze des Kaffees. Rosig umwölkt ist der östliche Horizont, und die Sonne jäh und heftig Gewölk und Dunst durchbrechend, brennt ihr erstes Licht an den Himmel. Die kalkgrauen Säulen vergolden sich mit Sonnenflirren, doch der leere, weite, von unendlicher Öde erfüllte weite Platz macht schauern. Was nur wird werden aus Platz und Trümmer? Mehr noch als bisher 200
wird man in den kommenden Jahren die untergegangene Vergangenheit ans Licht holen, wird richtige, aber auch falsche Schlüsse aus Funden ziehen, wird sicherlich aber mehr wissen als bisher von der alten Stadt, von Leben, Liebe und Geschäften. Trümmer von Säulen wird man zusammenfügen, wird sie aufrichten und mühsam versuchen, Andeutungen einstiger Größe von Bauwerken zu vermitteln. Wozu aber? Vor Tagen sagte ein Minister in seinem Damaszener Büro: »Ein großes Hotel werden wir in den nächsten Jahren erbauen nah der großen Quelle, und wir werden Palmyra dem internationalen Tourismus öffnen. Verhandlungen mit verschiedenen europäischen Reisebüros sind schon im Gange. Wir haben ja eine Menge zu bieten: Palmyra, Apamea, die Mittelmeerküste, und vergessen Sie nicht, sämtliche Ufer des sich nun füllenden Euphratsees. Man hat auch vorgeschlagen, bestimmte ›Sensationen‹ für die Touristen zu schaffen. In Palmyra oder auch an anderen sehr besuchten Orten sollte man, so schlug man vor, Beduinenzelte aufschlagen, in oder vor ihnen Folkloretruppen auftreten lassen oder aber die Beduinen selbst mit ihren alten Tänzen und Gebräuchen. Aber mir erscheint das ein wenig geschmacklos, doch wovon lebt der internationale Tourismus? Doch von manchen Geschmacklosigkeiten!« Ironisch verstört, ging ich an jenem Tag auf die Straße, nun aber, da wir uns ins Auto setzten und durch das Tor über den Fahrweg zur Asphaltstraße fuhren, über eine dem Tourismus erwartende Vergangenheit, war ich ohne Verstörtheit. Ironisch denke ich: Und was muß man den Touristen noch bieten? Syrische Frauen sind keine Italienierinnen. Also Beduinenkaffee und Schaschlyk in illuminierten schwarzen Zelten, dargeboten von fleckig tätowierten Beduininnen. Und auch Bauchtänze schwarzhaariger, praller Mädchen? Doch Beduininnen tanzen keine Bauchtänze, also wird man Mädchen aus Ägypten oder der Türkei einführen müssen. Und als wir durch das Tal der Gräber davonfuhren, Homs zu, hörte ich grellgeschminktes Lachen, hörte bewunderndes Ah und Oh über 201
den Ruinen, sah rötlichen Fackellichterschein über den Trümmern flackern, während die stolze, unnahbare Wucht des Baaltempels von grellen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Und ich dachte: Ob man nicht auch Tempelmädchen engagieren sollte, Eigentum des Gottes Baal und des Apoll und der Touristen? »Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Kamil Ismail. Wohl fühlen? »In Homs werden wir dann gut frühstücken«, sagte er, verstummte dann aber vor meinem Schweigen.
Aus dem Tagebuch Rolladen Freitag, 17. Mai Noch im Halbschlaf höre ich den Lärm der Kinder, beide von ausgelassener Lärmigkeit trotz der beschwichtigenden Stimme Amis. Sie kreischen, sie tollen umher, liebenswert ungeniert. Doch für Ami wird ihre Ausgelassenheit keine reine Freude sein. Auf der Straße der erste Autolärm, erste Stimmen; ein Händler ist dabei, die Rolläden seiner Budiken hochzuziehen. Trotz aller liebevollen Gastfreundschaft befinde ich mich in keiner guten Stimmung. Palmyra war anstrengend, ermüdend und auch – enttäuschend. War es richtig, zurückzukehren, das Programm des abgebrochenen ersten Besuches im letzten Jahr noch zu erfüllen? Ami wartet mit dem Frühstück auf mich. Kaffee, Tee, Käse, Wurst, Joghurt, Fladen und Weißbrot, und ... und ... Eine erste lukullische Stunde. Sie fragt: »War es für Sie von großem Nutzen, noch einmal Palmyra zu besuchen?« War es das? 202
Bei der Ankunft auf dem Flugplatz kein bekanntes Gesicht, nicht das des Kulturattachés, der angeblich kein Telegramm erhalten hat, und auch nicht das von Dr. A. S., dem Sekretär des Schriftstellerverbandes. Und Nashad? Doch keinerlei Enttäuschung, ein bis zu einem gewissen Grad »Gefühl der Freiheit«, der Ungebundenheit beherrscht mich. Ein ganz gewöhnlicher Reisender bin ich, der sich in die Schlange vor dem Schalter des Zolls, dem der Grenzpolizei stellt, der versucht, die Sanitätskontrolle zu umgehen, da er seinen Gesundheitspaß hat auf dem Tisch liegenlassen, was ihm auch gelingt, der auf seinen Koffer wartet und mit dem dann, da er leicht ist und mit wenig nur gefüllt, gemütlich dem Ausgang zuschlendert. Nashad und Ami anrufen, jetzt in der Nacht? Ich werde ins Hotel fahren, am Morgen dann mich mit ihnen, mit Taher, mit dem Kulturattaché und dem Schriftstellerverband in Verbindung setzen. Doch dann am Ausgang Taher, bei ihm Ilham, die Schwester, und Walid, ein Cousin Nashads. Er ist ein junger Student, aus Westdeutschland nach den Münchener Ereignissen während der Olympiade ausgewiesen, spricht ein gutes, fast akzentfreies Deutsch, wie ich es bis jetzt von keinem Araber habe sprechen hören. Sein außergewöhnlich reicher Wortschatz beruht auf seiner großen Kenntnis deutscher Literatur. Die brüderliche Umarmung Tahers, der warme Händedruck Ilhams und Walids geben Wärme und Vertrautheit. Taher lacht: »Eine ganze Wohnung hast du zu deiner Verfügung. Ein Glücksvogel bist du! Ami und Nashad sind in Amman. Nashad konnte zum erstenmal nach zwanzig Jahren Emigration in seine Heimat fahren.« Trotz aller mir entgegengebrachten Wärme, des freundschaftlichen Vertrauens ist mir nicht gar wohl. Allein in der fremden Wohnung? Taher, wild den Wagen der Stadt zujagend, lacht: »Du bist unser aller Gast! Ich bin dein Chauffeur, Ilham ist unsere Haushälterin und Walid unser Clownhaus ... nein, Hausclown!« Die Wohnung wirkte nicht leer, auch nicht bewohnt, alle Schränke standen wieder an ihrem Platz, und die Schutzstreifen an den Fenstern 203
waren entfernt. Festlich gedeckt war der Tisch, und ehe ich mich noch setzen konnte, schenkte Ilham uns allen Arrak ein, und wir tranken uns zu. Taher ging und kam bald darauf zurück mit einem mächtigen Tablett mit Meze, mit Schaschlyk und Hühnchen. Wir aßen und tranken die Nacht über, wir scherzten und lachten, und in unserer Ausgelassenheit waren unsere Scherze zuweilen nicht druckreif. »Bauchtänzerinnen auch noch?!« lachte Taher, als ich bemerkte, nur diese fehlten noch, und Ilham sagte: »Morgen ... morgen ... zum Mittagessen bringe ich Ihnen acht Mädchen, alle unsere Verwandten, und unter ihnen ist eine großartige Tänzerin. Sie werden sehen!« Und wir tranken und lachten, und wir tranken bis zum Morgen, und am Mittag kam Ilham, brachte das Essen und die Mädchen. Gequirl war und Gelächter, und für mich waren die Mädchen eine blumige Augenweide und ich für sie ein seltener Vogel. Sie gaben sich ohne Scheu, waren nicht weniger ausgelassen als wir, obwohl sie, alle Studentinnen, wie Taher sagte, bei ihrem Jahresexamen seien. »Du solltest sie erst sehen, wenn sie normal sind!« Arabisch und Englisch und Deutsch wurde gesprochen, und es tat wohl, jedes der Mädchen bemüht zu sehen, sich mit mir in deutsch zu verständigen. Mein Französisch war hier für die Katz, die Jugend lernt zumeist Englisch oder Deutsch. Am Nachmittag füllte sich das Empfangszimmer. Alle H.s kamen, gereifte, wohlsituierte Männer mit grauen Haaren und sich über den Bäuchen wölbenden, zu engen Hosen, junge Burschen, die versuchten, ihre Neugierde zu verbergen. Und immer wieder die Beteuerung: Sie sind unser aller Gast, der Gast der ganzen Familie. Arrak, Whisky, Bier, Tee, Kaffee und Kaffee und Zigaretten. Wie war das auszuhalten ohne die Gefahr eines Infarkts? Taher murrte, er wollte mit mir in die Stadt. Ami sagt während unseres gemächlichen, geruhsamen Frühstücks: »Für Nashad war es wie ein großes Fest, wieder in seine Heimat zu können. Wie eine Demonstration war der Empfang, nur die Fahne 204
fehlte. Seine ganze Verwandtschaft war an der Grenze. Sie werden ihn nicht wiedererkennen, so rund und feist hat er sich anfressen müssen!« Ami, unruhiger dann, fängt an, einige gefüllte Schüsseln aufzutragen: dicke Bohnen, mit der Schale gekocht, in einer Essig-Öl-Soße mit viel Knoblauch zubereitet; Homos, gestampfte Kichererbsen also, mit vielerlei Gewürzen bedacht und mit unraffiniertem Olivenöl beträufelt, Reste eines Huhns, viel Joghurt und dazu Fladen. »Gleich werden die ersten Gäste kommen«, sagt sie, »und sie sind wie die Beduinen, früh schon essen sie warm, Bohnen und Homos.« Seit sie wieder zurück ist, eher heimgekommen als Nashad, reißt der Strom der Besucher nicht ab. Früh schon klingelt es an der Korridortür, und der Strom beginnt: eines der Mädchen, ein Onkel oder der Vater Nashads, ein stiller, feinnerviger Mann, oder der »Pascha«, feist und rundbäuchig, oder Ilham, die wohl, nachdem sie ihre beiden Söhne für die Schule fertig gemacht hat, es allein in ihrer Wohnung nicht aushält. Ihr Mann arbeitet als Brückenbauingenieur in Saudiarabien, um, wie Ami sagt, schneller zu Geld zu kommen, als es in Syrien möglich ist. Doch nie werden die beiden zu etwas kommen, setzt sie hinzu. Sechs Jahre waren sie in Libyen, beide haben gearbeitet, aber als sie zurückkamen, hatten sie nicht mehr als vorher. Zwei- oder auch dreimal im Jahr kommt Naim auf Urlaub, so auch in den nächsten Tagen. Ilham ist von nervöser Erwartung, mitten im Lachen erstarrt sie und schaut über uns hinweg. Als erster am Morgen kommt Taher. Wohl wirkt er munter, ist aber unausgeschlafen und füllt sich der Raum mit Gästen, zwinkert er mir zu und sagt zu Ami: »In deinem Hotel ist’s kaum auszuhalten. Wann kommt Nashad zurück?« Ami lächelt, ebenso unausgeschlafen wie wir, und sagt: »Dann wird’s nur um so schlimmer. Die ganze Familie und alle seine Freunde wollen doch wissen, was los war!« Die vielen immer wieder neuen Gesichter machen mir zu schaffen, kaum, daß ich noch auseinanderhalten kann, wer nur Freund oder ein 205
Mitglied der Familie ist. Und mehr noch macht mir die dauernde Trinkerei zu schaffen: Kaffee und Arrak, Bier und Whisky. Und die Zigaretten! Bedrohlich tuckert zuweilen die Maschine in der Brust. Taher blinzelt mir zu, und wir gehen, und auf der Straße ist der Lärm nicht geringer als in dem Empfangszimmer bei Ami, wir fahren einige hundert Meter mit dem Wagen, und Taher sagt: »Wir müssen einen Höflichkeitsbesuch machen.« Er klingelt an einer Haustür, und als geöffnet wird, steht Ilham da und ladet uns mit herzlichem Lachen ein. Taher aber bricht in ein satanisches Gelächter aus. Über mein verdutztes Gesicht wahrscheinlich. Taher, beim Arrak in dem kühlen, dämmrigen, mit Regalen voll Büchern ausgestattetem Raum, sagt: »Frag nur Ilham! Was du willst, frage, sie ist eine kluge Frau. Frage sie alles, was du über arabische Frauen willst. Ich nehme an, du hast in dieser Beziehung große Lükken.« »Sicherlich die gleichen wie du«, antworte ich, »denn du kennst doch nur die Frauen aus Karl-Marx-Stadt und Brandenburg!« Schwer würde es sein, mit Ilham über einen Übersetzer mit ins Gespräch zu kommen, keine Vertrautheit, keinerlei Offenheit würde aufkommen. Und über arabische Frauen etwas zu erfahren – Allgemeines würde es sein, kaum mehr als die Oberfläche würde angeritzt – hat im Augenblick keinerlei Interesse. Über Ilham möchte ich etwas wissen, über den Grund, der dazu führt, daß sie Jahre und Jahre allein mit den beiden Söhnen lebt, dreimal im Jahr für kurze Zeit eine verheiratete Frau ist. Doch zu fragen: Ist es nur das Geld, fürs Alter Geruhsamkeit und Sicherheit in Aussicht zu haben, lohnt es da, das junge Leben verstreichen zu lassen? Sind solche Fragen schicklich? Doch muß man viel fragen? Der bitter verzogene Mund, die Resignation in ihren Augen beim allgemeinen Gelächter sprechen zu deutlich. Taher hat zu tun, ohne daß er sagt, was es ist, und ich, wohl neugierig, verkneife mir jede allzu offensichtliche Neugierde. Er ist in einer der marokkanischen Freiheitsbewegungen organisiert und arbeitet für 206
diese. Vor einigen Tagen sagte er, eigentlich habe er verreisen müssen, habe aber gebeten, seine Reise verschieben zu dürfen. Sibylle, seine Frau, sagt manchmal: »Er fährt weg, ich weiß nicht, wohin, und ich weiß auch nicht, wann er zurückkommt oder ob ich ihn je noch einmal sehe.« Verwunderlich, daß immer ein leichter Schleier von Furcht über ihr liegt, ein Ausdruck der Ergebenheit in den Augen? Dr. A. S., Sekretär im Schriftstellerverband, ist wie stets von zurückhaltender, aber echter Herzlichkeit. Wir reden von Klosterheide, von der LPG in Lindow, vom dortigen Plattenwerk. Mächtigen Eindruck müssen auf ihn die in der veralteten Bude produzierten Kunststoffboote gemacht haben. Und dann sagt er: »Ihre beabsichtigte Reise an die Front werden Sie nicht machen können. Vorgestern wurde ein kleiner Konvoi ausländischer Journalisten beschossen. Zum Glück ist nichts passiert. Doch die Gefahr ist zu groß.« Wir führen sozusagen das Abschlußgespräch meiner Reise. Dr. A. S. entschuldigt sich und den Verband, falls alles nicht so geklappt habe, wie ich es mir vorstellte. Doch was soll nicht geklappt haben? Daß der Gouverneur von Latakia hinter seinem Schreibtisch wie auf einem Thron saß und mich behandelte wie einen lästigen Bittsteller, nur weil ich von ihm die Erlaubnis haben wollte, den Hafen zu besuchen? Lächerlich! Oder daß der verantwortliche Gewerkschaftsfunktionär am Euphratdamm schwerfällig, ungeschickt und auch ein wenig unwillig trotz höchster Empfehlungen den Besuch bei den Arbeitern organisierte? Noch lächerlicher! Wie gut waren beide Reisen, mit welch großer Mühe waren sie organisiert worden, und wie schwer muß es manchmal Kamil Ismail gefallen sein, meine »dummen« Fragen zu beantworten. Oder Abu Ahmad, der tscherkessische Chauffeur, nicht mehr der Jüngste, mit welcher Ruhe und Gelassenheit hat er alle Strapazen der Reise während des Ramadans auf sich genommen! Um abzulenken, frage ich: »Und die Verhandlungen, sind sie bald abgeschlossen?« Kissinger ist ein Außenpendelminister zwischen Damaskus und Jerusa207
lern. Heute wird er wieder hier erwartet. Die Gegensätze sind zu groß, die Standpunkte verhärtet, und sie werden auch wohl kaum von den immer noch tagtäglich zu hörenden Kanonaden aufgeweicht. Keine syrische Regierung kann es sich leisten, die Golanhöhen, uraltes syrisches Siedlungsgebiet, einst zur römischen Provinz Arabica gehörend, aufzugeben. Sie würde am nächsten Tag gestürzt sein. Der Versuch der israelischen Regierung, durch die Schaffung von besiedelten Grenzwehrdörfern nicht mehr zu korrigierende Realitäten herzustellen, wird scheitern müssen. Als einziges Ergebnis nur Menschen auf der Flucht, neues Unglück, neue Not, neuer Haß. Dr. A. S. sagt plötzlich bitter: »Europa ist kaum noch zu verstehen. Warum lernt es nicht aus historischen Erfahrungen? Aus seinen eigenen, aus denen der letzten Jahrhunderte? Klingt für Deutschland die These von der Auserwähltheit des jüdischen Volkes nicht entlarvend und bedrückend? Wir haben die Mongolenstürme überdauert, wir haben die Kreuzritter nicht nur besiegt, ihre Reste wurden assimiliert. Europa muß verstehen, daß es die Sünden der eigenen Vergangenheit, die Ausrottung fast des gesamten jüdischen Volkes in Europa nicht auf unsere Schultern abwälzen kann. Und warum wollen die Europäer nicht begreifen, daß die arabische Welt vor einem neuen Abschnitt ihrer Geschichte, vor einer neuen Renaissance steht? In zwanzig Jahren ...« Und fast übergangslos setzt er hinzu: »Unsere Soldaten sind gute Soldaten, sie waren und sie sind tapfer und mutig, und sie lernen immer mehr mit modernen Waffen umgehen.« Warum sprach er nur von Mut, von der Tapferkeit der Soldaten und nicht vom strategischen Können der militärischen Führung? Warum nur? Ist der plötzliche Rückzug der syrischen Armee nach den ersten Anfangserfolgen, nach der mißglückten Einkreisung und Einnahme Konaitras immer noch ein Diskussionsthema? Vor dem Hotel »Omayad« die schwarzen grellackierten Straßenkreuzer der Begleitung Kissingers, einige Militärposten, doch kaum Polizei. Die Passanten gehen vorüber, werfen den Autos, der Militärpolizei, den schläfrig wirkenden Polizisten gleichgültige Blicke zu. Kaum Gaffer. 208
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Taher, den ich vor Minuten getroffen habe, sagt: »Sieh dir die Menschen an! Unvorstellbar die Gelassenheit, mit der sie all das hier zur Kenntnis nehmen!« Am Abend der ganze Haufen jungen Volkes wieder bei Ami. Sie scheint übermüdet, kaum noch fähig, sich aufrecht zu halten. Das jugendliche Gelächter, das Geschnatter, die vom Tonbandapparat herkommende Musik zerren an den Nerven. Auf dem Tisch Platten und Plättchen mir irgendwelchen Salaten und Vorspeisen und Arrak und Arrak. Jeder bedient sich selbst, doch alles wiederum herzurichten nach solch einem Tag muß für Ami mehr als nur Arbeit gewesen sein. Neben mir ein Dreißiger, groß, feist, schwarz, ein Cousin Nashads, mit Schultern wie ein Lastträger, ißt, als habe er eben erst den Ramadan beendet. Wolid sagt: »Heute hat er erst viermal zu Mittag gegessen!« Hänselnd ich: »Mit den Schultern ... ein guter Partisan könnte er werden!« Entsetzt hebt der Bursche die Pranken. Gebrochen deutsch sprechend, sprudelt er hervor: »Nein ... nein ... nie, viel Furcht ich. Grenzenlos Furcht ... Ich Student, kein Kämpfer ... Ich gestörtes Verhältnis zur Umwelt ...« Noch immer studiert er, aber er »weiß nicht, warum nicht Diplom gemacht«. Die patriarchalische Gesellschaft Arabiens – so sagt er in seinem unsäglich gebrochenen Deutsch – habe ihn fertig machen ...! Vater Geld, Vater Macht, Vater Unterdrücker. Er zeigt auf seinen massigen Schädel und sagt: »Ich hier klug, ich verstehen, ich viel klug, auch ich denken, aber niemand will denken ...! Einmal ich mit Ihnen sprechen ... Sie verstehen ... gebrochenes Naturell ich ...« Schwarze Augen im Gesicht eines faunischen Clowns funkeln mich an; der massige Kopf mit den feisten Wangen, die schweren runden Schultern lassen erahnen, wie fett und wuchtig er einmal sein wird. Und plötzlich erhebt er sich, schreit irgend etwas auf arabisch, doch alle winken entsetzt ab. Er aber läßt sich nicht beschwichtigen, er läßt sich auch nicht zurückhalten. Grimassenschneidend schreit er: »Ich singen indisches Lied!« Und er plärrt los in der Manier eines schnulzi209
gen Schlagersängers, zieht die Klänge zum Gotterbarmen, aber mit etwas Phantasie vermag man indisches Tongut herauszuhören. Und er bricht ab, er singt »Bangladesh«, Griechisch, Italienisch, Spanisch. Eine großartige Nummer! Dann sagt er: »Deutsch ich nicht können ... Sie singen Deutsch ...! Jalla! Deutsches Volkslied, Heideröslein ... ja ... singen, Jalla!« Alles drängt und stürmt auf mich ein, von Ausgelassenheit und Arrak übervoll, versuche ich einige Töne eines untergegangenen Liedes zu finden, den fast vergessenen Text auch, den wir einst in der Jugendzeit aus wildem Protest gegen die zum Kitsch gewordenen Volkslieder sangen oder besser gröhlten. »Zur Sommerszeit, zur Winterszeit, wenn’s stürmt und schneit, dann schnall’ ich ihr die Schlittschuh an, küß’ ihr die Knie, küß’ ihr die rechte, rechte Brust! Junge, wenn das so schön schaukeln tut, ei, das tut gut!« Der Panzer meiner Seriosität, immer schon recht zerschlissen, ist nun vollständig zerschlissen. Von Wolid wird im allgemeinen Gelächter übersetzt, ob richtig, wer weiß es. Und dann geht die Tür, eines der Mädchen erscheint, tuschelt mit Ilham, und sie, bleich und rot plötzlich, schreit heraus: »Naim ... Naim ...« Sonnabend, den 18. Mai Naim, der Mann Ilhams, in der Nacht angekommen, früh nun schon unterwegs, überbringt die Einladung zum Mittagessen. Er ist ein schmaler, sehr dunkel wirkender Mann mit habichtscharfer Nase, mit Augen von sonderbarer Kühle, und würde er nicht einen sehr modern geschnittenen hellgrauen Anzug, ein hypermodernes Hemd mit Krawatte tragen, dürfte man ruhig vermuten, er sei eben erst aus der Steppe, aus einem Beduinenzelt gekommen. 210
Sein Händedruck ist schlaff, betont unfreundlich, kaum, daß er ein Wort der Begrüßung über die Lippen bringt. Wirklich, ein Beduine! Früh schon am Morgen trinkt er Whisky, und das und der moderne Habitus unterscheiden ihn als einziges von einem Beduinen. Ami ist froh, aus dem Haus zu können, nicht mehr am heutigen Tag genötigt zu sein, Gäste zu empfangen und zu bedienen. Früh am Morgen rief Nashad aus Amman an, und morgen werden wir, Ami und ich, ihn abholen. Den Tag aber und die Nacht bis morgen zu überstehen fällt ihr sicherlich nicht leicht. Ehe wir zur Wohnung Naims hinaufgehen, sagt sie: »Als wenn sie nicht allein sein könnten!« Doch ihr und Nashad wird es nicht anders gehen. Sind wir am morgigen Mittag von der Grenze zurückgekommen, sind alle zu Nashads Eltern eingeladen, die das Willkommensmahl richten wollen: Für Nashad und Ami, für Naim und Ilham, und da ich, wie die Einladung lautete, gewissermaßen auch zur Familie gehöre, gilt auch die Einladung für mich. In der Küche Ilhams, einem kleinen Raum mit kleinem Balkon, mit von einigen einander nachfolgenden Mietsparteien abgewetzten Möbeln, Spüleinrichtungen und von Zeit und Gebrauch zerblaßtem Porzellan und Emailgeschirr, sind die Mädchen, einige fünf etwa, dabei, die traditionellen Grillgerichte vorzubereiten: Hammelfleisch, in Stückchen zurechtgeschnitten für den Spieß, ebensolches gehackt, Kalbfleisch, dessen sanftes, zartes Rot sich seltsam schüchtern ausnimmt neben der kräftigen Farbe des Hammelfleisches, und Hühnchen und Hähnchen, geteilt und ungeteilt. Alles Fleisch bis auf das schon gehackte wird in eine Beize aus Weißwein, Zitronensaft mit viel Zwiebelstückchen, mit Knoblauch und rotem gemahlenem Pfeffer gelegt. Er färbt die Beize fadrot, fast unappetitlich anzusehen, wenn man nicht um ihre köstliche Wirkung wüßte. Und dazu Grünzeug, Salat und Gurken und Tomaten. Die Vorspeisen, alle schon zubereitet, werden aus einer Garküche geholt. 211
Geschnattere und Gekichere, ein wirres Durcheinander, in dem kein ordnender Sinn oder gar eine gewohnte Ordnung und Erfahrung zu erkennen ist. Und in diesem Durcheinander, in dem Gelärme der jungen lustigen Stimmen sitzt Naim, bedächtig das Whiskyglas in der Hand, die dunklen Augen in dem schmalen Beduinengesicht ein wenig freundlicher als am Morgen. Er sagt: »Mein Harem!« Doch sein Lächeln ist naiv, fast puritanisch streng, und als er auf eines der Mädchen zeigt, ein üppiges, schwarzhaariges Ding, und sagt: »Meine Favoritin!«, zeigt ihm Ilham das schwere große Küchenmesser, das in den schräg hereinfallenden Sonnenstrahlen funkelt, während ihre vorgebliche oder auch echte Eifersucht in ihren Augen glitzert wie blankes Metall. Wolid übersetzt, und Naim, der wohl sieht, daß auch bei einer Übersetzung ein Gespräch, eine Verbindung zustande kommen kann, wird Zusehens freundlicher, drängt zu trinken, reicht Zigaretten, kann sich kaum genug tun, seine Gastfreundschaft zu zeigen. Währenddem klettern seine beiden Söhne, schmale, zartgliedrige Acht- und Zehnjährige, wie Äffchen auf ihm herum, das von ihm aus Beirut mitgebrachte hypermoderne Spielzeug – ferngelenkte Panzer, ferngelenkte Flugzeuge, und fast hätte ich gesagt, ferngelenkte Maschinenpistolen und Raketen – in den Händen, ohne zu wissen, was damit anfangen. Ach, Naim, ihr Vater, ist wahrscheinlich für sie, was einst die wilden Beduinenkrieger waren, wenn sie von ihren Raubzügen heimkehrten, übervoll bepackt mit geplündertem Gut. Wärmer noch wird Naim, als ich ihn nach seiner Arbeit frage, nach diesem Land Saudiarabien, in dem der Alkohol verboten und zu einer Schmuggelware geworden ist, das hier, in dieser alten Stadt an der Barada etwas von dem an sich hat, was Amerika in früherer Zeit für ärmliche europäische Dorfbewohner hatte: goldglitzernde, Reichtum versprechende Ferne. Er ist Brückenbauingenieur, arbeitet an irgendeiner Trasse in der Wüste, die ohne Sinn – so sagt er – erbaut scheint. Alle technischen Kräfte sind Ausländer, alle Arbeiter Beduinen. Spielend lernen sie, mit 212
modernen Maschinen umzugehen, arbeiten zuverlässig und verständnisvoll für Planung und Organisation, sind also, insgesamt gesehen, intelligente, äußerst befähigte Arbeiter. Nur einen Fehler haben sie: Besitzen sie nach einigen Wochen Arbeit etwas Geld, kehren sie zurück in die Zelte, rekeln sich an den Kamelmistfeuern, leben, um nicht zu sagen: prassen, bis sie nicht einen Piaster mehr in der Tasche haben. Dann erst kehren sie an die Arbeitsstelle zurück. Lächelnd erzählt Naim, warm und von Sympathie bewegt und so, als beneide er die Beduinen um ihre Unbekümmertheit, um die Zelte und den Rauch der Kamelmistfeuer. Wolid aber sagt zu ihm: »Du lebst doch auch nicht anders! Nur, daß deine Ansprüche an das Leben so hoch sind, daß du nur zwei-, dreimal im Jahr ins Zelt zurückkehren kannst!« Holzkohlengeruch, Duft von gebratenem, ein wenig angesenktem Fleisch und der Geruch von Knoblauch zieht über die Veranda, auf der die Mädchen den Grill aufgebaut haben. Ein Schlingen, Stopfen, Kauen, ein immerwährendes Nachspülen mit Arrak. Angenagte Hühnerknochen fliegen über die Brüstung, im Garten unten warten schon die halbwilden, streunenden Straßenkatzen. Ilham, erhitzt und ihre Hitze mit Arrak kühlend, sitzt plötzlich neben mir und sagt: »Meinen Mann, finden Sie ihn gut?« Wolid übersetzt lachend, und ich, nicht minder lachend, sage: »Kommt es darauf an, daß ich ihn gut finde? Sie muß ihn gut finden, nur sie!« Was nur spiegelt sich in ihrem Gesicht? Stolz, eine Mischung aus Erbitterung und Resignation und der Bitternis der Stunden allein? Und dann, überraschend für mich, sagt Wolid: »Ilham schreibt Gedichte, und ich glaube, keine schlechten.« Ilham aber greift zu ihrem Glas, stürzt den Arrak hinunter und fordert mich auf: »Trinken Sie mit mir ...« Wir lassen uns auf der Terrassenbrüstung nieder, auf dem Boden hocken die Mädchen auf den warmen Platten, wir stopfen in uns hinein, was heiß und dampfend vom Grill her gereicht wird. Es ist heller Mittag, aber es scheint, als würde der Tag schon zu Ende gehen, so 213
müde klingt das maßlose Gelächter. Naim aber sitzt auf seinem Stuhl, trinkt und stopft sich die gereichten Bissen wie angewidert in den Mund. Ilham und Wolid tauchen gegen Abend bei Ami auf. Meine Furcht: wiederum ein Gelage, wiederum Gelächter und Ausgelassenheit, denn kaum denkbar, daß wir allein bleiben, still und ruhig den Abend verbringen werden. Ilham scheint unsicher, lächelt zage, und als Wolid einige Bogen Papier aus der Tasche zieht, wird sie auf eine verschämte Art bis unter die Haarwurzeln rot, schimpft auf Wolid ein, ohne daß dieser sich jedoch aus der Ruhe bringen läßt. Nun erst sehe ich plötzlich die ganze Familie, die ihre Wurzeln spinnetzartig über die ganze Halbinsel verwoben, in jedes Land versenkt hat. All diese Jungen und die Alten, die sich in dieser Stadt um Nashad gesammelt haben, sind mehr als versprengte Splitter eines größeren Clans. Alle Nachfahren einer ehemals beduinischen, in den Zelten Jordaniens und Palästinas lebenden Familie, haben sie doch schon vor Jahrzehnten die ersten Schritte ins moderne Leben getan. Die Väter der jüngsten Generation wurden Kaufleute, lebten in einem Mischmasch von Tradition und moderner Zivilisation, ihre Frauen herrschten noch in Küchen, Wohn- und Schlafzimmer, die jüngste Generation, diese Wolids, die Mädchen, sie sitzen nun in den Hörsälen, sie studieren Sprachen und Geisteswissenschaften, Medizin und Naturwissenschaften. Sie geben sich aufgeklärt und großzügig gegenüber alter Moral und Sitte, doch das ist, so sehe ich es, Tünche, ist Spielerei von Kindern, die nicht verstehen, welch ungemein bitterer Ernst sich hinter ihrem Gespiele verbirgt. Wolid, in unsere Ruhe und Stille, rezitiert plötzlich, wohl ein Gedicht Ilhams, auf arabisch rezitiert er. Wohlklang von A-Lauten, weiche gutturale Klänge erinnern an Flöte, und der Rhythmus erinnert an den von harten Trommeln. So mag es getönt haben in den Zelten, an Abenden an den Kamelfeuern unter dem Steppenhimmel. Mir versucht Wolid dann eine Rohübersetzung zu geben: 214
An Saleh Von nun an wehre ich mich zu schweigen. Schweigen ist Heucheln, ist Schmeichelei und Unterwerfung. Der sanfte Strom des Lebens soll mich nicht mehr, nie mehr tragen. Nie mehr werde ich mich unterwerfen. Saleh, ich widerstehe und widerstehe. Umherwandernd auf den Weiden des Herrn, so sehe ich dich. Ein Kind noch unter uns Kindern des Herrn, küßt du in seinem verletzenden Schweigen seine Hände. Umherwandernd auf den Äckern des Herrn, so sehe ich dich. Tröstlich deine kindlichen Hände an der Wunde, deren Blut in meinen Augen brennt und mit denen du mit Hacke und Spaten mütterlich Erde und Pflanze pflegst. Du, Saleh, säst, du pflegst, wer aber erntet? Die Nacht ist lang, Wellen und Wellen von Dunkelheit. Die Visionen von Saleh sind wilde, die Macht erhellende Blitze, zerreißen graue, entehrende Vorhänge. Salehs Schrei unter Schlägen pflanzt Groll ins Herz, will Rache. Und der Herr weiß nicht, was Hunger bedeutet, weiß nicht, 215
was die bittere Suche nach dem Bissen fürs gekränkte Herz ist. Er ist krank vor Übersättigung. Naim ist fast unhörbar eingetreten, setzt sich, schüttet sich Whisky ein, hält seine beiden Söhne wie besitzergreifend in den Armen. Die aber starren bewundernd ihre Mutter an. Naim nimmt einen der Bögen an sich, liest mit kraus werdender Stirn, wirft das Papier verächtlich auf das Tischchen und sagt zu mir: »Das Elend unserer Zeit. Eine Frau sollte sich nur um die Kinder kümmern, um den Haushalt, um den Mann. Alles andere ist von Übel.« Nun erst habe ich begriffen, warum Ilham erträgt, Monate und Monate all die Jahre über so allein zu leben. Wind der roten Revolution, Befrei mich von den Fesseln der Sklaverei, von meiner Selbstliebe, von den heidnischen Lehren meiner Großväter. Wind der roten Revolution, Befrei mich von den Legenden, gesungen von meiner ungeduldigen Sehnsucht, und von allen Zweifeln auf meinem Pfad. Wind der roten Revolution, Töte in mir die Angst vor dem Unbekannten, vor den herkömmlichen Gebräuchen. Entwurzele die Unwissenheit meines Gemüts. Wind der roten Revolution, Befrei mich von der fraulichen Gewohnheit der Trauertriller, entfache das glimmende Feuer von Logik und Denken.
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Sonntag, 19. Mai Dieses Viertel an der Ausfallstraße zur jordanischen Grenze, die niedrigen Wohnhütten, alle angenagt von der Zeit und dem Wetter, die kleinen Werkstätten, dunkel, schmutzig, ölverschmiert, zwischendurch da und dort eine größere Fabrik, wie diese Ausfallstraße den Stadtabfall, Autowracks, ausgeschlachtete Lastwagen, Eimer und Gerumpel von unvorstellbarem Ausmaß, am Straßengraben aufgehäuft, wie sie den Zivilisationsdreck bis unter die uralten Olivenbäume und die Obstplantagen rücksichtslos verstreut hat, ist niederschmetternd. Vor einer neuen, aber schon zerschlissen wirkenden Kühlschrankfabrik häufen sich weißlichgraue Blechabfälle, halbfertige, wahrscheinlich verpfuschte Gehäuse; ein phantastisch irrsinnig anmutendes Durcheinander. Die kleinen Hütten an der Straße stehen schief und wetterzerfressen, umrankt jedoch von gräulichem eingestaubtem Grün, dünnem Weinrebengeflecht, von ledrig wirkenden Bäumchen. Tankstellen und Autowerkstätten verbreiten schwere öldünste. Nah bei ihnen Garküchen, kleine Cafes mit Cola, Fruchtwasser und Kaffeeausschank, Ruhestätte für eine kleine Rast. Der ununterbrochene Strom von Lastwagen und Personenautos, die Lastwagen beängstigend überladen, die Personenwagen, Taxis zumeist, mit Menschen und Gepäck vollgestopft, wälzt sich der Grenze zu, unaufhaltsam in einer schweren Wolke von Staub, öldunst und aufgewirbeltem Sand. Nur wenige Kilometer noch, und sie wird nah an der Front der Golanhöhen vorüberführen. Bald dann die ersten Feldlager, in Dörfern in Hütten und leeren Häusern installiert, Tanks, getarnt noch mit Zeltplanen, Geschütze, eingegraben bis zu den Rohren, und auf den sanft sich aus der Ebene hochwölbenden Hügeln Radarstellungen, Raketenabschußbasen. Ein sehr tiefer Graben durchschneidet die Ebene, wohl vor der Stadt die letzte Auffangstellung. Der Gipfel des Hermon, schneekuppig unter dem am Morgen schon heißen Himmel, ist umkränzt von weißlich grauen Explosivwolken. 217
Mehr als nur der tägliche, alltägliche gegenseitige Beschuß? Nun, in den letzten Tagen vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandes, versuchen beide Seiten noch, günstigere Stellungen zu erobern. Oder ist das Gebell der Maschinengewehre, das dumpfe Dröhnen der Kanonen nur notwendige Begleitmusik für die täglichen Gespräche Kissingers in Jerusalem und Damaskus? Eilig hat’s der Chauffeur nicht, eher hat’s den Anschein, als mache er sich das Vergnügen, uns eine sehr exklusive Landschaft zu zeigen, Bilder, die für gewöhnlich nur im Fernsehen oder im Kino angeboten werden. Er ist ein rundköpfiger, gemütlicher – wie Ami sagt – echter Damaszener Chauffeur, und während er spricht, gebraucht er auch zur Unterstreichung seiner Worte die Hände: »Dort, sehen Sie! Tanks fahren der Front zu ...! Dort über dem Dorf die Wölkchen, es sind Geschoßeinschläge! Und hier oben, ja, dort links, das sind Raketenstellungen ... Manchmal schlagen die israelischen Geschosse nah hier an der Straße ein, fliegen auch wohl darüber weg ... Sehen Sie dort auf dem Acker die Krater? ... Vor drei Tagen waren sie noch nicht.« Und in der schweren Wolke von Staub und Ängstlichkeit wälzt sich der Strom von Lastwagen und Personenautos der Grenze zu. Wenn jede Grenzstelle bis zu einem gewissen Grade die gleiche Atmosphäre hat – ein Gemisch von Ängstlichkeit und Mißtrauen –, dann ist diese Kontrollstelle an der jordanischen Grenze etwas Außergewöhnliches, zeichnet sich aus durch Nonchalance und Gemütlichkeit, eine vor aller Welt sich darbietende Durchsichtigkeit von Paß- und Gepäckkontrolle. Ohne Gitter und Fenster sind die Abfertigungsschalter, hinter ihnen sitzen Uniformierte mit offenen Hemden, aufgekrempelten Ärmeln, mit Mienen, als erfüllten sie eine ihnen lästige Pflicht, unumgänglich wohl, aber nichtsdestoweniger fast peinlich für alle Beteiligten. Der Chauffeur ist wie ein Reiseleiter, er jagt die jungen Burschen weg, die uns mit Gebäck und Kaugummi bedrängen, er besorgt Cola und Fruchtlimonade, er bittet uns in das Büro des kommandierenden 218
Grenzoffiziers, als gehöre es ihm, und als wir ablehnen, ist er ehrlich besorgt: »Man sollte keine Einladung ablehnen! Man macht es jedermann leichter.« Wer ist jedermann, was macht man sich leichter? Jeden Augenblick muß Nashad ankommen, er wird umsteigen in unser Taxi, und wir werden direkt losfahren, und ich – so bin ich sicher – werde nie mehr hierher kommen. In Nashads feist gewordenen Wangen, in seinem leicht gerundeten Bäuchlein ruhen zartes Hammelfleisch, eine Menge Hühnchen, Leberchen, gebraten, und sicherlich eine Unzahl Schüsselchen Vorspeisen. Sein Gesicht glänzt vor Wohlbehagen. Als er mich sieht, schreit er: »Ich wußte doch gar nicht, daß du da bist! Da wäre ich doch eher gekommen. Hat man auch richtig für dich gesorgt? Ach, sicher ... ich kenn’ doch die Mädchen!« »Die Mädchen haben keinen Bauchtanz für mich gemacht«, beschwere ich mich. »Ami, wenn die Mädchen so faul waren, so hättest du doch einspringen können!« Sie sitzt im Fond neben ihm, ruhig zum erstenmal nach Tagen anscheinend, lächelt ruhig, ein wenig pfiffig, belebt sich unter Nashads sprühendem Witz. Beide sind offensichtlich froh, daß Nashad zurück ist, und so wird es also nicht ganz so ungefährlich gewesen sein, nach fast zwanzig Jahren Emigration wieder die Heimat besucht zu haben. Gemächlich trödeln wir Damaskus zu. Ohne sich aufzudrängen, wirft der Chauffeur zuweilen ein Wort ein in unser Gespräch, auch einen Satz. Über den Golanhöhen liegt immer noch der Geschützdonner, während der Hermon sich etwas ruhiger gibt als am Morgen. Die Truppen ruhen sich von den Nachtkämpfen für die der kommenden Nacht aus. »Morgen oder übermorgen wird sicher Schluß sein«, sagt der Chauffeur, doch wie um ihm zu widersprechen, schlägt im gleichen Augenblick nicht weit von der Straße, einige hundert Meter entfernt, im Acker eine israelische Granate ein. Explosionsgewölk pulvert auf. Der Chauf219
feur zuckt zusammen, bleich plötzlich gibt er Gas, und fuhren wir bis jetzt nur achtzig Stundenkilometer, so bringt er jetzt den Wagen auf 100, auf 120, dann auf 140 Stundenkilometer Geschwindigkeit. Nervös blickt er seitlich in die Felder, als erwarte er weitere Einschläge. Nashad aber sagt: »Mir scheint, bei dem Tempo ist es gefährlicher, hier im Wagen zu sitzen als draußen in der Grabenstellung.« Erst kurz vor der Stadt drosselt der Chauffeur das Tempo. Die Straßen sind wie immer, lärmig, staubig und heiß. Seltsam, daß vor einer Stunde, nur einige vierzig Kilometer entfernt, nah bei uns eine Granate eingeschlagen haben soll, und noch seltsamer, daß mir ist, als sei es die letzte dieses Krieges gewesen. Wohl ist für Nashad kein Kalb geschlachtet worden, er ist ja auch kein heimkehrender verlorener Sohn, doch in der Pracht des gedeckten Tisches, im schimmernden Glas und Porzellan, in der Vielfalt der Gerichte, in der reichen Festlichkeit der Tafel ist die Erleichterung der Eltern zu spüren über die glückliche Heimkehr des Sohnes. Also nicht ungefährlich war diese Reise, denn man hätte ihn, von dem bekannt ist über die ganze Halbinsel, daß er Mitglied der Regionalleitung der regierenden Partei in Syrien ist, durch die Verweigerung des Ausreisevisums aus dem Haschemitenstaat dort festnageln können. Verständlich so Freude und Festlichkeit. Auch für Naim ist die Festlichkeit gedacht, doch er sitzt auf dem Rand eines Sessels, reserviert und ungerührt, und erst, als er das Jackett ausgezogen, die Krawatte weggelegt, mehr als nur ein Glas getrunken hat, wird er umgänglicher. Mir schenkt er nach, als wolle er mich vollaufen lassen, für Ilham jedoch hat er kaum einen Blick. Sie aber bewegt sich selbstsicher, anscheinend also ein kleiner – oder ein großer? – Ehekrieg. Naim beobachtet das Herrichten der Tafel, seine Lippen, dann und wann umspielt von einem ironischen Lächeln, verkneifen sich zu einem Strich. Nashads Mutter ist eine schwere, reife Frau von gewinnender Mütterlichkeit, aufgeregt wohl ein wenig, aber trotzdem die ruhigste, die sicherste im Zimmer. Acht Kinder hat sie geboren, und alle, bis auf zwei 220
junge Mädchen, leben irgendwo in der Welt; in Dresden ein Sohn, nahe Herrn, bewahren Sie bitte Ihre Ruhe. Im Augenblick kommen wir nicht und wer weiß, wo sich der Rest umhertreibt. Die Mutter scheint es zu genießen, einige Kinder und Enkel um sich herum zu haben, vereint hier an der festlichen Tafel. So also stopfen wir, immer wieder gedrängt, und trinken und trinken, sprechen Arabisch und Deutsch, witzeln und lachen, und Ami sagt: »Und wenn wir platzen ..., die Schüsseln müssen geleert werden.« Doch es ist nicht zu schaffen! Stets wird nachgefüllt, immer wieder kommen Stücke Huhn und Hammel auf den Tisch, gegrillt oder in scharfer Soße schwimmend, und Bier und Arrak und Whisky scheinen aus großen Fässern zu laufen. Es ist zum Verzweifeln. Schwerer, traumgetränkter Nachmittagsschlaf. Ein einsames Flugzeug am Rand des Himmels über einer friedlichen Insel im weiten Meer. Das Flugzeug rast dahin, doch wie festgenagelt liegt die Insel unter dem Blick aus dem Bullauge. Die Stewardeß, seltsamerweise in einer fremdlichen Uniform, die sehr militärisch wirkt, obwohl sie ein Dekolleté eines Abendkleides hat, meldet sich auf englisch: »Meine Damen und Herrn, bewahren Sie bitte Ihre Ruhe. Im Augenblick kommen wir nicht weiter, doch es wird nicht lange dauern, und wir haben die Insel unter uns passiert.« Doch das Flugzeug – sagte ich, daß es eine IL 62 der Interflug war, in das ich eingestiegen? – ruht in der bleiernen Luft unter einem bleiernen Himmel, bewegungslos wie die Insel unter uns im Meer. Die Klingel an Nashads Wohnungstür schrillt immerfort, und am frühen und am späten Abend reißt der Strom der Besucher nicht ab: Männer mit grauen Haaren, junge, sich straff haltende mit klugen, intelligenten Gesichtern, Kollegen von Nashad, die schnatternden Mädchen, Männer auch, die sich zurückhaltend und überlegt geben, Funktionäre der Partei. Und fast gegen Mitternacht ein Mann in den Vierzigern, schwer, massig 221
Kopf und Schulter, drohend kühl die Augen; die breiten Hände, Pranken eines ungemein starken Menschen, ruhen auf den Schenkeln, die Linke geschlossen, die Rechte leicht geöffnet, wie griffbereit. In meine Benommenheit die Stimmen wie durch Watte von fern her, und unter meinem Blick immerzu die rechte Hand des Mannes, griffbereit leicht geöffnet. Und als er sich einmal zurückrückt im Sessel, verschiebt sich seine Jacke, und auf seiner rechten Hüfte erkenne ich eine schwere großkalibrige Pistole. Ami hat meinen Blick bemerkt und lächelt mir beruhigend zu. Nashad aber sagt: »Ein Feeddin ...« Und ich denke: Kein kleiner wohl, ein großer Feeddin ... ein ganz großer ...! Und nun erst scheint mich der große Feeddin bemerkt zu haben oder bemerken zu wollen? Und in meiner verwunderten Benommenheit seine anklagende Stimme, nun wieder wie von weither. Wer wohl hat euch das Recht gegeben, so zu urteilen? Einfach so zu urteilen? Eure Selbstherrlichkeit und eure Selbstgefälligkeit ... seht ihr nicht selbst, wie morsch, wie sie nur Gipsmaske vor euren ängstlichen Gesichtern sind? Terroristen? Frauen und Kinder und Flugzeuge ... Und unsere Kinder, unsere Frauen, unsere Häuser, unser Land ..., all das kümmert euch nicht! Wer redet von Heimstatt, von Auserwähltheit, und wer ist wirklich auserwählt? Urteilt, urteilt, wie es euch einfällt und es eure europäische Borniertheit zuläßt ... Es ist schon bedeutungslos, was ihr denkt, wie ihr handelt, denn von Gefühl kann man bei euch nicht sprechen, höchstens von Sentimentalität, Ruhekissen für den Sessel vor dem Fernsehapparat. Billigt uns nichts zu, kein Recht auf unser Land und auf ein einfaches Leben ... Wir werden es uns nehmen, beides, und wenn nicht heute ... Jahrzehnte liegen vor uns ... vielleicht auch Jahrhunderte ... Am Morgen wird der Koffer vorbereitet. Die Wäsche, die Socken, all das Sommerzeug wird kaum mehr benötigt. Also hinein, ohne auf Ordnung zu achten. Das Flugzeug wird in der kommenden Nacht 222
starten, über den Antilibanon dem Meer zurasen, über die still und ruhig liegende Insel Zypern, und dann Kurs nehmen nach Norden. Und es wird nicht still liegen unter einem bleiernem Himmel, sondern in nur wenigen Stunden landen.
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Abbildungen
1 Damaskus Mädchen in altsyrischer Kleidung 2 Damaskus 3 Damaskus Schülerinnen 4 Damaskus Altstadt 5 Damaskus Unterirdische Ananias-Kapelle 6 Der Muezzin ruft zum Gebet 7/8 Gebet 9 Damaskus Lesende in Omaijadenmoschee 10 Damaskus Omaijadenmoschee Kuppelbau, in dem der Kopf des „Johannes des Täufers“ liegen soll 11 Damaskus Blick von Omaijadenmoschee auf den Shuk 12 Damaskus Shuk 13 Damaskus 14 Damaskus Messermacher 15 Damaskus 16 Damaskus 17 Damaskus Omaijadenmoschee 18 Damaskus Omaijadenmoschee 19 Damaskus Omaijadenmoschee, sogenannte Schatzkammer 20 Damaskus Nationalmuseum 21 Damaskus Der Azem-Palast 225
22/23 Damaskus Moschee, Tekkije genannt 24 Syrisches Dorf 25 Moderne Landwirtschaftstechnik 26 Schülerinnen 27 Wasserverkäufer 28 Syrische Landschaft 29-31 Damaskus Grundsteinlegung eines Sportplatzes 32 Elektrifizierung des Landes 33 Elfenbeinkopf, 2. Jahrtausend 34 Statuette aus dem Ischtarat-Tempel, 3. Jahrtausend 35 Alabasterstatue des Iku-Schamagan, 3. Jahrtausend 36 Emaillierte Stangengläser, 14. Jahrhundert 37 Gläserne Moschee-Ampel, 14. Jahrhundert 38 Münzen, Herrscher von Palmyra Wahballat und seine regierende Mutter Zenobia darstellend 272 u. Z. Großes Tempelportal von Palmyra (Detail) 39 Relief, den Wettergott Aphlad darstellend, 1. Jahrhundert n. Z. 40 Palmyra Anlage des Bel-Heiligtums und seiner Umgebung 41 Palmyra Blick vom Tempel zur Südweststrecke des Hofes 42 Palmyra Relief, die Göttin Aschtar darstellend 43 Statue einer wasserspeienden Göttin, 1800 v. u. Z. 44 Reliefbüste aus einem Grab, ein Ehepaar darstellend 45 Schalenbodenfragment, Sitzender mit zwei Bechern, 12.-14. Jahrhundert 46 Schildbüste einer vornehmen Dame, 2. Jahrhundert 47 Palmyra · Sogenannter Triumphbogen an der großen Säulenstraße 48 Helm mit Maske, 1. Jahrhundert 49 Tadmur/Palmyra Der Tempel des Bei 50 Mittelsyrien Ruinenstätte Hösn Soleiman 51 Tor in der Umfassungsmauer des Zeus-Heiligtums von Hösn Soleiman, 2. Jahrhundert 52 Kirche von Qalb Loze, 6. Jahrhundert 53 Sergios-Basilika von Rusafa, 5. und 6. Jahrhundert 54 Römisches Theater von Bosra, 2. Jahrhundert 226
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Hama · Wasserräder Basaltrelief vom Tell Halaf mit der Darstellung eines von Wellen umgebenen Fischmenschen, 9. Jahrhundert v. u. Z. 57 Basaltrelief vom Teil Halaf, Geflügelter Skorpionmensch, 9. Jahrhundert v. u. Z. 58 Bemalte Keramik vom Teil Halaf, 4. Jahrtausend 59 Aleppo Zitadelle 60 Empfangshalle eines alten arabischen Palastes 61 – 63 Aleppo-Zimmer, 16. Jahrhundert 64 Dorfbewohner 65 Autor vor dem Tempel des Baal in Palmyra 66 Damaskus Blick auf das Saladin-Mausoleum (Vordergrund) 67 Alt-Damaskus Innenhof 68 Hama-Wasserräder 69 Latakia Kleine Garküche 70 Auf einem Druschplatz am Abend 71 Dorfschöne 72 Wasserholende Mädchen 73/74 Dorf 75 Bauer 76 Mädchen in Phantasiekleid 77 Landschaft 78 Malula 79 Bauernhaus mit Balkon 80 Insel Arnad 81 Mädchen 82-86 Damaskus 87 Damaskus Textilarbeiterinnen 88 Damaskus Eingang zum Shuk 89 Damaskus Im Shuk 90/91 Damaskus 92 Euphrat-Staudamm 93/94 Malula 95 Dorfmädchen 227
96 97 98 99 100 101 102 103
Mattenflechterinnen Alter Bauer Auf dem Lande Syrische Armee beim Bau von Eisenbahnanlagen Kraftwerk Homs Zerstörtes Kraftwerk Homs Euphrat-Staudamm Transparent, das die Freundschaft zwischen den Völkern der Sowjetunion und der Syrischen Arabischen Republik würdigt 104/105 Euphrat-Staudamm 106 Bäuerinnen auf dem Weg zum Markt 107 Zitadelle von Aleppo 108 Bauer 109-111 Malula 112 Burg »Crac des chevaliers«, 12. Jahrhundert
Die Fotos stellten zur Verfügung Thomas Billhardt 55, 59, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 95, 109, 110, 111 Eduard Claudius 34, 60, 65, 75, 76, 96, 97, 106, 107 Dr. Horst Kiengel 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 35, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54 Jochen Moll 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 66, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 77, 78, 79, 80, 82 Siegfried Thienel 3, 15, 16, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 64, 67, 81, 83, 92, 93, 94, 100, 101, 102, 103, 104, 108 Hans Ullrich 68, 98, 99 Staatliche Museen zu Berlin 36, 37, 38, 45, 56, 57, 58, 61, 62, 63 ADN 112 Die Abbildungen 33, 35, 39, 40, 41, 42 entnahmen wir dem Titel Horst Kiengel „Syria antiqua“ mit freundlicher Genehmigung des Verlages Edition Leipzig.
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© Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) – 1975 Lizenz-Nr. 444-300/29/75 · 7002 Printed in the German Democratic Republic Schutzumschlag: Günter Jacobi unter Verwendung der Fotos von Siegfried Thienel (Vorderseite) und Dr. Horst Kiengel (Rückseite) Gesamtausstattung: Günter Jacobi Satz: Druckerei Neues Deutschland Druck und Binderei: Karl-Marx-Werk, Pößneck V15/30 Best.-Nr. 6380563 EVP 25,– Mark