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Geert Mak
DIE BRÜCKE VON ISTANBUL Eine Reise zwischen Orient und Okzident Aus dem Niederländischen von Andreas Eck...
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Geert Mak
DIE BRÜCKE VON ISTANBUL Eine Reise zwischen Orient und Okzident Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Pantheon 2
Die niederländische Originalausgabe wurde im März 2007 unter dem Titel
»De brug« von der Stiftung CPNB im Rahmen der niederländischen Buchwoche veröffentlicht. Die niederländische Buchhandelsausgabe erscheint bei Uitgeverij Atlas, Amsterdam/Antwerpen.
Verlagsgruppe Random House FSODEU-o1oo
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Polten.
Zweite Auflage De brug © 2007 by Geert Mak Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München Satz: Ditta Ahmadi, Berlin Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany 2008 ISBN: 978-3-570-55040-3 www.pantheon-verlag. de
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»Auf der Brücke schließt man keine Freundschaften; Von der Brücke aus schaut man zu.« Sait Faik
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I
SCHWARZER WIND
A
uf der Brücke rechnet man nur in Millionen. »Gestern hab ich für zwanzig Millionen gefangen, lauter Sardinen.« »Drei Millionen für das schönste Foto Ihres Lebens!« »Zwei Tee, das macht dann eine halbe Million, vielen Dank.« »Ich steh’ hier schon seit dem frühen Morgen; vier Millionen, wann kommt endlich mal wieder Geld über die Brücke?« »Echtes Chanel, fünf Millionen!« Die hohe Stimme der Losverkäuferin schallt durch die Ladenpassage: »Wer spielt mit um hundert Milliarden? Wer spielt mit?« In dem Schaufenster hinter ihr warten Zeus-, Super-, Kral-2000-Magnum- und Blue-CompactPistolen auf Käufer, nicht zu vergessen die kleineren Damenpistolen, die elegante Geax und die Class-mini. Schon für zehn Raten zu je fünfundzwanzig Millionen hat man die Macht über Leben und Tod in der Tasche. Die Brücke bietet alles, was der Mensch so braucht: Kämme, Gesundheitssandalen, Zigaretten, tanzende Mädchenpuppen, Gucci-Tassen und Rolex-Uhren für lächerliche zwanzig Millionen, Nokia-Handys von fragwürdiger Herkunft, Regenschirme, mit üppigen Blumenwiesen bedruckt, Rasierpinsel, Kondome und endlos vorwärtsrobbende Infanteristen aus graugrünem Plastik, die alle zehn Sekunden eine Salve herunterrattern. Eine Million ist ungefähr einen halben Euro wert. Eigentlich ist es altes Geld aus der Zeit vor der großen Währungsreform, aber die Brücke hat ihre eigene Währung. Und den Fisch gibt es als Zugabe, als Geschenk der Brücke. Immer hängen Angeln über dem Geländer. Heute ist der Tag der dicken Sardinen. Es ist ein Rätsel, 5
woher sie so plötzlich kommen, aber unter der Brücke müssen sich gerade gewaltige Schwärme aufhalten – nächste Woche beißen dann wieder nur ein paar magere Fischlein an. Eine resolute Dame zieht Fisch um Fisch aus dem Wasser, während Ausflugsboote und rostige Schlepper unter der Brücke herbrummen und Straßenbahnen die Gehwege erzittern lassen. Früher war sie Krankenschwester, ist dann in Rente gegangen, arbeitet jetzt im Computerhandel. Seit zehn Jahren angelt sie hier schon, innerhalb weniger Stunden fischt sie das Abendessen für ihre Familie zusammen. »Für mich ist das eine Form von Meditation.« Sie zündet sich eine Zigarette an und reicht mir ihre riesige Angel. »Fühlen Sie mal, es entspannt.« In der Ferne schieben sich Tanker vorbei, rote Schüttgutfrachter auf dem Weg von der Krim nach Europa, weiße amerikanische Kreuzfahrtschiffe. So wie manche Regionen ein gutes Dutzend Wörter für Regen, Schnee oder Nebel kennen, so unterscheidet diese Stadt fast zwanzig Arten von Wind, und die Fischer haben jeder dieser Arten ihren eigenen Namen gegeben. Wenn der Angenehme Sturm, der Sturm der Amseln oder der Sturm der Kuckucke von Westen kommt, wird das Frühjahr mild und trocken. Östliche Winde wie der Fischsturm bringen mit ihrem Morgennebel in der Hitze des Sommers Abkühlung und zu allen Jahreszeiten Regen. Der Boreas, aus Nordost, treibt im Winter den Schnee in die Stadt. Jetzt warten alle auf die Frühjahrsstürme, die Stürme der Schwalben und der Schwäne. Die Stadt hat schon eine Tourismuskampagne gestartet. Drei Millionen Tulpen sind gepflanzt worden: Wo man hinschaut Tulpen, sogar oben auf den Hubtürmen der Brücke wiegen sie sich in der kalten Luft, dicke Blasen aus rotem und gelbem Kunststoff. Aber vorerst kommt das Wetter noch vom Schwarzen Meer, der Schwarze Wind weht und bringt mit schöner 6
Regelmäßigkeit heftige Schauer. Die Angler haben sich in Plastik, Segeltuch und alte Kunstdüngersäcke gehüllt. Fähren pendeln durchs Grau, Möwen fliegen vorbei, glänzend schwarze Schirme schaukeln über die Brücke, das andere Ufer versteckt sich in weißem Nebel. Am Nordkai werden die schweren Motoren der Prof. Dr. Aykut Barka und der Mehmet Akif Ersoy angelassen, ihre Schornsteine spucken fettigen, schwarzen Qualm, eine rasante Drehung, und die beiden Fährschiffe brausen davon. Auf den Fernsehschirmen der Cafés unter der Brücke schwimmen den lieben langen Tag Korallenfische hin und her, und sie bleiben heute auch die Einzigen, die den Kellnern Gesellschaft leisten. Alle haben in den Unterführungen vor und hinter der Brücke Schutz gesucht. Auf der Altstadtseite riecht es wie immer nach Bratfisch, aber kein Kunde lässt sich blicken. Die jungen Zigarettenverkäufer, übellaunig vom Nichtstun, spielen an diesem Vormittag verrückt. Jeder Ausländer, jeder Hinkende, der vorbeikommt, wird zur Zielscheibe ihrer Scherze. Der Parfümverkäufer hat sich im Windschutz eines vorstehenden Abflussrohrs an eine alte Mauer gedrückt: ein Mann in einem zu großen Jackett, die Taschen vollgestopft mit billigen Imitationen; eine von den Gestalten, um die man am liebsten einen Bogen macht, wenn man über die Brücke geht, mit denen man aber zufällig ins Gespräch kommt, weil es regnet und man ohnehin nichts anderes tun kann. Er erzählt von seinem Dorf, er erzählt wahrscheinlich immer von seinem Dorf »Es lag in den Bergen, es klebte am Hang, zwölf Häuser, Ziegen, Schafe, ein paar kleine Kartoffeläcker, Bohnen für die Armee, manchmal Tomaten für die Stadt, wir kamen gerade so über die Runden.« Schon mit sieben musste er arbeiten, im Sommer Schafe hüten, dann Brennholz sammeln, bis der erste Schnee fiel. »Spielzeug kannten wir nicht. Wir haben mit Steinen gespielt.« 7
Heute gibt es sein Dorf nicht mehr, die Familien, die es bewohnten, sind alle fortgezogen, sogar aus den offiziellen Statistiken hat man es gestrichen. Zu groß waren die Familien geworden, manchmal kamen auf jedes Haus zehn, fünfzehn Menschen, und so viele hungrige Mäuler konnte das Dorf nicht stopfen. »Ich werde nie vergessen, wie wir in einer Winternacht von einem Wolfsrudel überfallen worden sind, bestimmt zwanzig Schafe haben sie gerissen. Danach sind alle weggegangen, was hätten wir sonst machen sollen?« Was aus den zwölf Familien geworden ist, weiß der Parfümverkäufer auch nicht so genau, ja, die meisten sind nach Europa gegangen, einer in die Niederlande. Er selbst fand Gelegenheitsjobs in der Stadt: in einem Schießstand, einem Restaurant, einem Frisörladen. Er verkaufte Wasser, Obst, Fisch, Socken und Armbanduhren. Er heiratete, wurde geschieden; er wohnt in einem Gasthaus und lebt für die seltenen Sonntagnachmittage, an denen er mit seinem kleinen Sohn ein paar Stunden durch die Stadt spazieren darf. Die Brücke ist sein Los, daran ist nichts zu ändern. »Schule oder Studium, das hätte meine Familie nicht bezahlen können, sie war arm, so einfach war das. Ich kann meinen Verpflichtungen nachkommen, ich kann gerade eben für mich selbst sorgen, ich bin allein, deshalb.« Nachts lebt er nun wieder öfter in dem Dorf mit den zwölf Häusern, dann hört er die Stimmen des Morgens – Vögel, Schafe, den Wind, den Fluss; das Gras raschelt unter seinen Schritten, er spielt mit den Steinen. Jetzt wartet er wie eine nasse Katze darauf, dass der Regen aufhört: Morgen, sagt der Wetterbericht, denn dann kommt Schnee. Die Brücke ist kaum zu übersehen. Man fliegt auf die Stadt zu, auf diese zehn Millionen Seelen; auf ihre Villen und Wohntürme, die wie Wellen die Hügel überziehen; auf die 8
Meerengen und Buchten, die diese Stadt durchschneiden; auf die Hängebrücken zwischen Europa und Asien, über die sich die Konvois der Fernlaster schieben, Stoßstange an Stoßstange; auf die Schiffe, die zu Dutzenden vor den Hafeneinfahrten liegen und schon seit Ewigkeiten vor sich hin zu rosten scheinen; auf die verfallenen Bastionen und Stadtmauern des versunkenen Imperiums; auf die Blaue Moschee, über der immer weiße Vögel segeln, scharf abgehoben vom Abendhimmel. Und dann fällt der Blick unweigerlich auf die Brücke. Oder man stößt unerwartet auf die Brücke. Man geht die schmalen Straßen am Basar hinunter, vorbei an den Ständen mit Käselaiben und Oliven, an den Ladentischen, die überquellen von Gläsern mit Honig und eingemachten Früchten; an den Eisenwarenhandlungen, an den Läden mit Sägen, Öfen und Teekannen; an den Männern, die sich mit würdiger Miene hinter Kartons voller Kugelschreiber und Papiertaschentücher postiert haben; an den Metzgereien mit Würsten, Mägen und Ziegenköpfen in der Auslage; an den Losverkäufern, die Glück feilbieten. Oder man geht über den Kai mit den Fähranlegern, wird Teil der unüberschaubaren Menge, die morgens in die Stadt strömt; bahnt sich einen Weg durchs Gewimmel der Geschäftsleute, Lastträger, Sekretärinnen, Bäuerinnen, durch die Parade der Aktentaschen und abgetragenen Jacketts, begleitet vom Dröhnen der Motoren, dem Laufschritt der jungen Frauen, den Rufen der Verkäufer; Lichter tanzen auf dem Wasser, jeden Tag anders, rastlos; die Möwen schreien, und dann, wenn man um die Ecke biegt, hinter den Kiosken und Treppen, steht man auf einmal vor der Brücke. Eigentlich ist die Brücke gar nicht schön. Eine Betonkonstruktion, gut einen halben Kilometer lang, zwei Gehwege, vier Fahrstreifen und eine zweigleisige Straßenbahn breit, mit einem Hubteil in der Mitte und Unterführungen und Ladenpassagen neben und unter den 9
Rampen. Die Fahrbahn steigt zur Mitte hin sanft an, dort können die kleineren städtischen Schiffe problemlos durchfahren. Unter der Fahrbahn, dicht überm Wasser, liegt eine zweite Ebene mit einer langen Reihe von Restaurants und Teehäusern – als Fußgänger kann man also auch unten entlanggehen, dort ist es behaglicher, nur muss man auf halber Strecke, am Hubbrückenteil, ein paar zusätzliche Treppen auf und ab. Und vieles entgeht einem: die Weite, das Meer, die Nebel im Herbst, die Delphine, die manchmal aus einer fernen Woge auftauchen. Die Brücke überspannt ein vor Urzeiten versunkenes Flusstal, eine langgestreckte Meeresbucht, die wiederum die beiden ältesten Stadtviertel trennt und damit zugleich die beiden Mentalitäten der Stadt: Die Südseite ist konservativ und dem Osten zugewandt, der nördliche Teil, mit seinen jahrhundertealten Botschaftsgebäuden und Kaufmannspalästen, ist geprägt von der Denkweise des Westens und der Leichtigkeit des modernen Lebens. Ein beliebter Schriftsteller dieser Stadt – wir werden noch einigen anderen begegnen – hat die Häusermassen der beiden Stadtteile einmal mit den »weit ausgebreiteten Flügeln eines kleinen Vögelchens mit zerbrechlichem Leib« verglichen. Das ist noch immer ein treffendes Bild. Die Brücke ist dieser kleine Leib zwischen den beiden riesigen Flügeln. »Die Brücke ist klein, winzig, verletzlich, aber wenn man sie fortnimmt, brechen diese riesigen Flügel auf beiden Seiten ab, dann können sie sich nicht mehr bewegen, nicht mehr in die Luft erheben!« Ohne die Brücke wäre die Stadt nichts. Außerdem ist die Brücke selbst eine Stadt, aber man darf sie auch wieder nicht mit der Stadt verwechseln, die Brücke ist nicht die Stadt, und die Stadt ist nicht das Land, keinesfalls. Die Brücke ist vor allem sie selbst, einigen wir uns darauf. 10
Jetzt reckt und streckt sich die Brücke. Der Vormittag ist vorbeigeplätschert, der Regen hat aufgehört. Die Brückenbelegschaft hat sich um einen Schuhputzer erweitert und um einen Mann, der wie eine lebende Kleinanzeige wirkt; er möchte eine fast neue elektrische Bohrmaschine verkaufen. Dazu hat er sich auf dem Gehweg postiert, den Schlagbohrer vor seinen Füßen, den Bohrersatz lose daneben, und nun wartet er. Jeder wartet in dieser Stadt, immer, und manchmal hilft es sogar. In der Unterführung tauchen Männer mit einem neuen Spielzeug auf: Miniatur-Smarts, die zu fröhlicher Musik ihre Runden drehen und mit den winzigen Türen schlagen wie Vögel mit den Flügeln. Fünf Millionen. In einer Ecke warten drei glänzend neue Koffer auf große Abenteuer. Auf der Treppe hat sich ein alter Bettler niedergelassen. Wenn man ihn anspricht, hebt er den ausgezehrten Kopf und zeigt auf ein Metallplättchen an seiner Kehle. Darunter hat einmal seine Stimme gewohnt, die ist nun rausgeschnitten und fort für immer. Die Taschenspieler gehen in Stellung. Sie benutzen einen Stuhl, einen Packen Spielkarten und eine alte Zeitung. Ansonsten ist es das gleiche Prinzip wie überall: ein Mann, der Karten verteilt, um ihn herum drei oder vier Komplizen, die dem Publikum mit Händeklatschen und Freudentänzchen vorgaukeln, dass sie dauernd gewinnen, im äußeren Kreis ein paar Taschendiebe, die den arglosen Dörfler, wenn er sich unter die Umstehenden mischt, fachmännisch ausplündern, sofern ihn nicht schon das Spiel selbst von der Last seines Bargelds befreit. Nur dass die Männer auf der Brücke eine Kleinigkeit übersehen, die sie verrät: Sie stammen ganz offensichtlich alle aus derselben Gegend, vielleicht sogar aus derselben Familie, alle haben sie die gleichen ledernen Gesichter, alle tragen sie die gleichen erbärmlichen Regenmäntel über staksigen Beinen; da hilft auch kein Tänzchen. Im Jahr 1878 überquerte der italienische Schriftsteller 11
Edmondo de Amicis die Brücke – die Vorvorgängerin der heutigen – und richtete dabei den Blick auf den damals noch bretternen Brückenbelag oder besser gesagt auf das Gewimmel der Füße: »Alles Schuhzeug der ganzen Erde, von dem Adams bis zu den Stiefelchen der neuesten Pariser Mode, geht vorüber: die gelben Pantoffeln der Türken, die rothen der Armenier, die blauen der Griechen, die schwarzen der Israeliten, Sandalen, Stiefel aus Turkestan, albanesische Gamaschen, ausgeschnittene Schuhe, ›Gambari‹, in tausend Farben, wie sie die Hirten und Pferdeführer aus Kleinasien tragen, goldgestickte Pantoffeln, ›Alpargatas‹, auf spanische Weise gemacht, Stiefel von Atlas, von Stricken, von Lumpen, von Holz folgen sich so dichtgedrängt, daß, wenn man auf das eine Paar blickt, sich schon hundert andere dazwischen stellen.« Fast anderthalb Jahrhunderte später sehe ich einen endlosen Zug von Sportschuhen, die Händlern, Touristen, Spielern und Dieben gehören. Ich sehe die schwarzen Halbschuhe der Kellner. Die schmutzigen Slipper eines Lastträgers mit riesigem Gemüsekorb auf dem gebeugten Rücken. Die weißen Pumas des Straßenfotografen, dessen Revier die Brücke ist. Die spitzen Goldschuhe und Silbersandalen von zwei selbstbewussten Mädchen, die in modischen, türkis- und orangefarbenen Kleidern promenieren, um die Köpfe knallbunte Tücher gewickelt. Die nackten, braunen, von schwarzen Ölflecken bedeckten Füße eines Klebstoffschnüfflers. Die Holzschuhe zweier schwarz gewandeter Strenggläubiger. Die halbhohen Turnschuhe, in denen ein Mädchen – halblange Haare, Life-T-Shirt, Büchertasche über der Schulter – durchs Leben wirbelt. Die silbernen Pantöffelchen eines winzigen Karnevalsprinzleins, eines kleinen Jungen, der heute seine Beschneidung feiert. Die verschlissenen Salonschleicher des Parfümverkäufers. Edmondo de Amicis musste immer Acht geben, um nicht 12
umgestoßen zu werden, ein solches Gedränge herrschte auf der Brücke. »Da ist ein Wasserträger mit einem colossalen Schlauch auf dem Rücken, hier eine russische Dame zu Pferde, dann ein Fähnlein Kaiserlicher Soldaten, wie Zuaven gekleidet und anzusehen, als ob sie zu einer Belagerung auszögen; hier eine Schaar armenischer Lastträger, die zu zweien auf den Schultern lange Stangen tragen, an denen Ballen von Kaufmannsgütern hängen ...« Heute verteilt sich das Brückengedränge auf mehrere Spuren: die Straßenbahn für die Mittelklasse, die Autostraße für die Reichen, die Gehwege für die Verlierer, Abweichler und Touristen. Das Gehen ist langsamer geworden, es ist eher ein Trotten und Flanieren. Und die Angler sind Gestalten, die sich gar nicht vom Fleck rühren, undenkbar auf de Amicis beweglicher Brücke. Zu seiner Zeit wurde auf der Brücke kaum geangelt, es gab genug bessere Stellen dafür. Erst Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die Stadt wieder einmal von Massenarbeitslosigkeit heimgesucht wurde, entwickelte sich die Brücke zum beliebten Angelplatz. »Man konnte sich ins Teehaus setzen, mit Freunden um etwas Geld spielen«, erzählt einer der Angler der ersten Stunde, »aber auf die Dauer konnte sich das niemand leisten. Und so haben wir mit dem Angeln angefangen. Das kostete fast nichts, es brachte sogar noch was ein, und Sie sehen ja, wie gesund ich bin und dass ich zur Ruhe gekommen bin!« Er hat sich aus seinem Geschäft zurückgezogen, jetzt ist er immer auf der Brücke zu finden, und immer mit Baseballmütze und kariertem Hemd. Aber berufsmäßiger Fischer ist er nie geworden, und das gilt für die meisten Dauerangler auf der Brücke. Wenn man sie kennenlernt, stellt man fest, dass die meisten von ihnen Rentner oder Büroangestellte sind und dass die Brücke ihnen vor allem ein paar Stunden Erholung schenkt. »Jeden Tag angeln, das lehrt einen Geduld«, meint ein Bankangestellter. »Es ist ein Teil 13
meiner Lebensphilosophie geworden. Und immer dranbleiben, auch im November abends um acht, wenn der Regen einem die Knochen zerfrisst, o ja, auch das gehört dazu!« »Es ist pure Meditation«, glaubt eine Frau, die von ihren familiären Problemen erzählt. »Ich hatte dauernd Magenschmerzen von all dem Ärger, das Meer hat mir über alles hinweggeholfen.« Das alte spanische Ehepaar, das sein Lager immer bei den westlichen Hubtürmen aufschlägt, gehört zu den Ausnahmen. Die beiden angeln erst seit etwa drei Jahren und müssen davon leben. »Natürlich geht das«, sagt er, während er einen Eimer Wasser hochzieht. »In einer halbwegs anständigen Saison geht das sogar sehr gut. Nur in den Monaten, in denen wir fast nichts fangen, da sitzen wir wirklich in der Klemme.« Jeden Morgen geht es um sechs Uhr los, pro Tag verdienen sie zehn, fünfzehn Millionen. Er spult bedächtig eine neue Schnur ab, sie dreht eine Zigarette für ihn, das Hündchen der beiden wohnt in einer alten Tasche neben den Köderfischen. Die Seeluft hat ihre braune Haut gegerbt. »Ja, natürlich haben wir finanzielle Probleme. Ein Sohn unterstützt uns ein bisschen, ganz von sich aus, er kommt gut zurecht. Die anderen Kinder übrigens auch, sie haben alle drei studieren können. Aber wir bitten sie doch nicht um Geld!« Und dann erzählen sie von dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet sind, in Venedig, vor so vielen Jahren – sie war Fabrikarbeiterin, er Lastwagenfahrer ohne feste Anstellung –, und wie es dann weiterging: zuerst Spanien, schließlich die Brücke. Und immer noch ist da dieses Leuchten in ihren Augen, wenn sie sich ansehen. Alle professionellen Angler fangen zuerst ein paar Köderfische. Die werden der Länge nach durchgeschnitten, und dann beginnt die eigentliche Arbeit. »Aber so große Fische wie in der Zeit unserer Eltern, die fängt man nicht mehr«, sagen alle. »Die werden jetzt von den Trawlern weiter draußen weggefischt, und außerdem 14
ist das Meerwasser auch nicht gerade sauberer geworden.« Der Bankangestellte, der das Angeln von seinem Vater gelernt hat, beobachtet seit langem, dass die Fische Jahr für Jahr weniger werden: »Früher gab es hier so viele Fische, man hätte sie einfach mit dem Kescher holen können, von jeder Sorte, alles, was man sich vorstellen kann. Man brauchte auch kaum etwas dafür zu tun, es ging ganz ohne Köder. Noch vor zehn Jahren konnte man hier immer große Fische fangen, Blaubarsche und andere Schwergewichte. Heute beißen hauptsächlich Sardinen an, und man braucht schon eine gute Ausrüstung, wenn man noch was Vernünftiges fangen will.« Er greift unter den Proviantbehälter und zieht sein Handwerkszeug hervor: Angelschnüre und Haken in allen Varianten und Größen, Haken mit schweren Bleigewichten für starke Strömungen, ultradünne Schnüre fürs Grundfischen, Haken mit kleinen Federbüscheln, die weit ausgeworfen werden, Haken für Sardinen, Haken für Blaubarsche, Haken für Makrelen, Schnüre für schönes Wetter, schlechtes Wetter, Sturm, Regen, Sommer, Herbst. Unter den Daueranglern kennt man sich mehr oder weniger, einer hilft dem anderen, wenn ein Fisch am Haken Schwierigkeiten macht, und Neulingen erteilt man gute Ratschläge. »Aber wenn sie nichts auf die Reihe bekommen, tun sie uns den größten Gefallen, wenn sie wieder verschwinden.« Sie selbst stehen am liebsten ganz nah bei den Hubtürmen, da schießt hin und wieder noch ein fetter Brocken vorbei. Nur hält sich hier auch gern das Grüppchen zorniger Männer auf, verbitterte ehemalige Bauern, die in der Stadt gescheitert sind und die man besser nicht anspricht, weil sich dann gleich ihre ganze aufgestaute Wut entlädt. »Sie können sich nicht benehmen«, knurrt der Bankangestellte. »Auch nicht Frauen gegenüber. Nicht einmal, wenn die ein Kopftuch tragen. Die Stadt ist inzwischen voll von unzivilisierten Hinterwäldlern!« 15
Die abendliche Hauptverkehrszeit beginnt. Aus den Straßen der Nordseite strömen abgekämpfte Verkäuferinnen, Arbeiter und Büroangestellte zur Brücke. Sie müssen zu den Fähren oder trotten weiter zu einem der ärmlichen Viertel der Altstadt. Hinter den Minaretten färbt sich die Sonne rot. Der Fotograf wandert trübsinnig auf und ab, dick eingepackt gegen den Wind, die Kapuze hochgeschlagen, die abgenutzte Polaroidkamera in den frierenden Händen. Um ein Uhr heute Mittag hat er angefangen; fünf Stunden gestanden, zwei Kunden. »Ich kann mich jetzt nicht mehr mit euch unterhalten. Sechs Millionen, davon kann ich nicht leben. Ein paar Millionen muss ich noch verdienen.« Auf den Treppen an der Altstadtseite warten Dutzende von Menschen auf ihre Busse. Ein Mann spielt ein paar Melodien auf einer Laute, quengelnde Kinder klammern sich an ihre Mütter, neben ihnen stehen volle Körbe und Einkaufstaschen. Überall sitzen dicht gedrängt solche Familiengrüppchen. In der Nähe leuchtet die Reklame von Ramsey London auf. Ein riesiger blonder Mann in einem Sessel schaut uns prüfend an; er trägt einen leichten orangefarbenen Samtanzug und einen weißen Schal, im Hintergrund sieht man einen Bücherschrank und viel solides englisches Holz. Nun kommen auch die Kinder, die auf den Straßen Taschentücher und Pflaster verkaufen – ich schätze sie auf höchstens acht Jahre –, die Maroniverkäufer mit ihren Karren, die Träger mit Stoffballen und Körben, ein Mann mit einem Turm aus Brotringen auf dem Kopf, die Schuhputzer, die Spieler, eine böse alte Frau, die Verliebten. Die Taschendiebe haben sich über die Brücke verteilt. In aller Ruhe folgen sie den Passanten, schlendern ein Stückchen mit, gehen eine Idee zu nah an einem Touristenpärchen vorbei – »Excuse me!« –, und schon ist es wieder passiert, so rasch, wie ein Kormoran einen Fisch 16
aus dem Wasser holt, schneller noch. Es wirkt bedacht und vor allem dezent, dieses professionelle Erleichtern der wenigen Europäer und Amerikaner, die sich an den Vorfrühlingstagen auf die Brücke wagen. Die Ladenpassage im Untergeschoss hallt von den vielen Stimmen wider. Ein Schirmverkäufer, ein Mann, der Filzeinlegesohlen anpreist, ein Kugelschreiberverkäufer, ein Geldbörsenhändler, ein Batterienverkäufer, eine Bettlerin mit einem etwas zu elend aussehenden Kind und etwas zu vielen goldenen Ringen – alle rufen durcheinander. Sie werden noch übertönt von dem eisernen Optimismus der jungen Losverkäuferin: »Nehmen Sie Ihr Glück in die Hand. Ziehung am Samstag!« Dann wird in der Staatslotterie das große Los gezogen. »Neunzig hab ich verkauft, und ich komme noch auf hundert, da bin ich mir sicher«, sagt sie fröhlich. Auf dem Tischchen vor ihr herrscht peinliche Ordnung, die Losstapel, von Gummibändern zusammengehalten, sind sauber aufgereiht. Ihr geschwollenes linkes Auge schimmert grün und blau. »Heute muss es klappen.« Schräg gegenüber legt jetzt ein Buchhändler seine Ware auf ein paar Zeitungen aus: knapp zwei Dutzend abgegriffene Thriller und Romane, mehrere Fotobände mit Kaffeeflecken. Er lässt sich Zeit. Bis tief in die Nacht, wenn längst alle Rollläden heruntergelassen sind und nur noch das Gesindel vorbeikommt, wird er dort sitzen, ruhig abwarten und Zigaretten rauchen, eine nach der anderen. Draußen ist inzwischen der Sternwind aufgekommen. Das ist ein seltsames Naturphänomen in dieser Stadt: orkanartige Böen, die unerwartet vom Wasser her wehen. Plötzlich schäumen die Wellen zornig auf, die Fähren spucken noch mehr Qualm als sonst und halten nur mühsam Kurs, in den Straßencafés wird das Geschirr von den Tischen geblasen, Reklameschilder klappen um, Sand sticht in den Augen. Der Mann mit der Bohrmaschine macht sich aus dem Staub, die Schuhputzer packen ihre 17
Siebensachen zusammen, die Angler holen eilig ihre Schnüre ein, aber es ist schon zu spät. Oben auf den Hubtürmen beginnt es zu krachen, vor unseren Augen knicken die gigantischen Plastiktulpen der Reihe nach um. Wie angewurzelt schauen wir zu den leuchtend bunten Blasen hinauf, denn jetzt fliegen sie über die Brücke, die Biester sind regelrecht gefährlich, so groß sind sie, und der Fotograf, der Parfümverkäufer, das spanische Ehepaar, die Amerikaner, die Taschendiebe, die Angler, wir alle, die wir gerade auf der Brücke sind, müssen rennen, um nicht von einer dieser blödsinnigen Monstertulpen erschlagen zu werden. Dann legt sich der Wind.
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II STURM DER GERÖSTETEN WALNÜSSE
er Tag des Sohlenverkäufers hat um halb sechs begonnen. Da war es noch dunkel. Er ist aufgestanden, während sein Zimmergenosse weiterschlief, hat in einem Frühlokal einen Teller Suppe bekommen, und nun steht er in der Unterführung und schwenkt seine Filzeinlegesohlen. Inzwischen ist es zehn Uhr. Die Kälte dringt durch seine rotbraune Jacke und die Wollmütze, aber am meisten machen ihm seine Zähne zu schaffen, schon seit Wochen ist sein Mund eine brennende Hölle. »Ich muss mir Antibiotika besorgen«, sagt er. »Aber erst muss ich einem Freund von mir Geld zurückzahlen, fünfundvierzig Millionen, und ich hab nur bis Freitag Zeit.« In diesen Tagen lebt er fast nur von altem Brot, aber er ist voller Optimismus. Heute gehen viele Soldaten über die Brücke, und die haben immer kalte und schmerzende Füße vom Wachestehen. Und es kommt noch mehr schlechtes Wetter. Bis jetzt hat er drei Paar verkauft, drei Millionen Umsatz. Mit ein bisschen Glück bringt er es heute auf zwölf Millionen. »Und ich rauche viel, das hilft immer sehr gegen den Hunger.« Es ist ein ruhiger Morgen. Auf der Brücke stehen etwa zwanzig Angler. Der Fotograf hat spät angefangen, gestern Abend hat er noch in einem anderen Stadtteil gearbeitet. Fünfzehn Millionen. Den Parfümverkäufer hat schon seit ein paar Tagen niemand mehr gesehen. Der Brückenpolizist – die Brücke hat einen eigenen Polizeiposten – macht freundlich seine Runde. »Es gibt nichts zu tun, heute ist kein Geld unterwegs.« Springt denn nie mal jemand übers Geländer? »Selbst das macht man auf anderen Brücken.« Ich kaufe ein paar Päckchen Marlleak bei Önder, einem der Zigarettenjungen. »Nichts zu tun?«, fragt er lachend. 19
»Alles, was Gott verboten hat, passiert hier: Raub, Taschendiebstahl, die Spieler da legen sich sogar gegenseitig um.« Wie Leute ausgeraubt werden, hat er in der Unterführung oft genug miterlebt. »Vier oder fünf Männer fangen zum Schein an zu kämpfen, auf einmal wird ein Tourist mit reingezogen, und der Rest ist dann einfach.« Jeder hat seine eigene Technik. »Es gibt tausend bewährte Methoden, in Istanbul an Geld zu kommen. Und diese Männer sind Spezialisten.« Aber auf dieses Hütchenspiel, darauf fällt doch niemand mehr rein? »Unterschätzt unsere Taschendiebe nicht, eure sind nicht halb so professionell wie unsere. Die hier sind die besten von Europa!« Die Fähren qualmen und werfen gischtende Bugwellen auf, immer tun sie so, als würden sie nach Odessa fahren oder nach Athen statt zum gegenüberliegenden Ufer, eine Viertelstunde entfernt. Der Himmel ist voller Nebelkrähen, auch in den Bäumen rund um den Palast sitzen überall welche, und in großen Schwärmen ziehen sie ihre Kreise über den verfallenen Mauern und vergessenen Kuppeln, über den letzten Gräbern der berühmten »Totenfelder«, die dort einmal lagen. In der Unterführung scherzt der Brückenpolizist mit Önder und seinen Freunden. Es gibt hier ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen, und dazu gehören alle möglichen Deals, bewusstes Wegsehen, Nicht-WissenWollen. Aber jetzt entsteht in einem Quergang plötzlich ein Tumult: Die Vorposten haben Polizisten einer Sondereinheit gesichtet, und alle suchen das Weite. Die Jungs in der Unterführung raffen mit einer schnellen Bewegung ihre ausgelegten Zigarettenpackungen, Handys und Spielsachen zusammen, ihre Taschen sind auf einmal prallvoll, während die Kartons, die als Ladentische dienten, leer und seltsam nutzlos auf dem Gehweg stehen. Den Blick zur Decke gerichtet, wartet man ab, bis die Uniformen vorüber sind. 20
Nur der Teebrüher bleibt gelassen. Er hat bloß ein verschlissenes englisches Jackett an, ist aber der Einzige, der nicht unter der Kälte leidet. Bei diesem Wetter erfreut er sich sogar einer gewissen Unverletzlichkeit – auch die Polizisten zählen ja zu seinen Abnehmern –, und außerdem kennt ihn jeder, er arbeitet hier schon seit vier Jahren. »Es sind gute Tage«, sagt er, während wir auf Tee warten. Aber glücklich ist er nicht. »Könnte ich in meinem Dorf an einem Tag fünf Millionen verdienen, ich würde morgen zurückgehen. Aber in meinem Leben tut sich nichts Wichtiges mehr, schon seit Jahren nicht.« Als sich die Aufregung gelegt hat, bekommen die Handyjungen, die in der Hektik ihren Tee verschüttet haben, neue Becher von ihm, denn mit dem Tee hier hat es etwas Besonderes auf sich: Bei Verlust durch Polizeieinsätze greift eine Art Garantie. Der Teebrüher, die Zigarettenjungen und der Sohlenmann leben auf einem zauberhaften Fleckchen Erde, aber davon haben sie nicht viel. »Es gibt Orte«, schreibt der russische Dichter Joseph Brodsky, »wo Geschichte unausweichlich ist, wie ein Autobahnunfall – Orte, wo die Geographie Geschichte provoziert. Ein solcher ist Istanbul alias Konstantinopel alias Byzanz.« Islambol, könnte man noch ergänzen. Und Haus der Glückseligkeit, Hohe Pforte, Haus des Kalifats, Tor zum Glück, Auge der Welt, Zufluchtsstätte des Universums. Die Griechen nannten den Ort auch einfach Polis, die Stadt: Es gab keine andere. Schon im siebten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hatten Griechen auf der strategisch günstig gelegenen Halbinsel zwischen Goldenem Horn und Marmarameer eine Kolonie gegründet, Byzantion. Fast tausend Jahre später beschloss der römische Kaiser Konstantin der Große, an dieser Stelle die neue Hauptstadt des Römischen Reiches zu schaffen. Dieses »Neu-Rom« – bald Konstantinoupolis genannt – 21
entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zur wichtigsten Hafenstadt Europas; es war eine Schatzkammer der Künste und des antiken Geistes, Nachfolgerin Roms und zugleich Herz des orthodoxen Christentums. Es war das Zentrum eines Imperiums, das in seiner Glanzzeit von den Alpen und vom Euphrat bis Gibraltar reichte. Im sechsten Jahrhundert ließ der römische Kaiser Justinian hier die Hagia Sophia bauen, ein Gotteshaus mit einer Kuppel, die zu schweben scheint und die außerdem die größte war, die die Welt je gesehen hatte – eine bautechnische Meisterleistung, die bis ins 19. Jahrhundert hinein unübertroffen bleiben sollte. Die byzantinische Währung war der Dollar des frühen Mittelalters – und auf diesem Spitzenplatz konnte sich der Solidus sieben Jahrhunderte lang behaupten. Die westeuropäischen Kreuzfahrer waren sprachlos, als sie eine Stadt der »reichen Paläste und stolzen Kirchen« betraten, wie es in einem Bericht aus dem Jahr 1203 heißt, eine Stadt, in deren prächtigen Straßen sich Kaufleute mit dem Aussehen von Prinzen drängten. Dabei hatte der Verfall des Byzantinischen Reiches damals schon begonnen. Von innen her wurde es durch die Gewalt- und Plünderungsorgien der christlichen Kreuzfahrer zerstört, von außen durch die Einfälle der sogenannten Türken, islamischer Krieger, die von Nomaden Zentralasiens abstammten und weithin wegen ihrer Schnelligkeit, Beweglichkeit und Disziplin gefürchtet waren. Der Tag, an dem die osmanischen Türken die Stadt eroberten, der 29. Mai 1453, galt vielen im christlichen Westen als »der letzte Tag der Welt«. Aus der Hagia Sophia wurde eine Moschee. In der Wahrnehmung dieser Geschehnisse klafft ein Riss zwischen beiden Kulturen: Bis heute spricht man im Westen vom »Fall von Konstantinopel«, während meine Bekannten auf der Brücke, wenn wir auf die Geschichte zu sprechen kommen, dasselbe Ereignis nie anders als die »Eroberung Istanbuls« 22
nennen. Blut floss in Strömen durch die Rinnsteine zum Goldenen Horn hinab; unzählige Jungen und Mädchen gerieten in Sklaverei, Häuser und Kirchen wurden bis zum letzten Nagel geplündert. Die Gebeine der heiligen Theodosia, die sieben Jahrhunderte lang als Schutzheilige der Stadt verehrt worden war, wurden aus ihrem goldenen Sarkophag geholt und auf die schlammigen Straßen geworfen. Nach einem Bericht des Venezianers Nicolo Barbara, der das Blutbad mit knapper Not überlebte, schaukelten in Ufernähe Hunderte von abgeschlagenen Köpfen auf dem Wasser, so wie in seiner Vaterstadt manchmal eine Ladung verfaulter Melonen die Kanäle blockierte. Sultan Mehmed II., der Anführer der Osmanen, war zur Zeit der Eroberung zweiundzwanzig Jahre alt. Er war für seine Grausamkeit berüchtigt: Als er in seinen geliebten Gärten eine der mit Sorgfalt herangezogenen Gurken vermisste, ließ er, um den Schuldigen zu finden, sämtlichen Gärtnergehilfen den Magen aufschneiden. Andererseits war er als Stratege unübertroffen, er beherrschte mehrere Sprachen und blickte weit über den Horizont seiner meisten Zeitgenossen hinaus. Als Staatslenker besaß er unerwartete Qualitäten. Innerhalb weniger Jahrzehnte erschuf er aus den Trümmern Konstantinopels eine neue imperiale Metropole. Aus einer geschlossenen Festungsstadt voll verblichenem Prunk wurde eine dynamische Hafen- und Handelsstadt, die Hauptstadt des Osmanischen Reiches, ein Zufluchtsort für spanische und portugiesische Juden und andere Verfolgte und das Herrschaftszentrum eines religiös inspirierten Weltreichs, das damals gerade im Entstehen war. »Ich kenne keinen Staat, der glücklicher ist als dieser; er erfreut sich aller Gaben Gottes«, schrieb der Venezianer Bailo 1528. »Er herrscht in Krieg und Frieden, er ist reich an Gold, Menschen, Schiffen und Gehorsam.« Schon zu 23
jener Zeit hatte die Stadt mindestens die Bevölkerungszahl von Paris erreicht. Eine Zeichnung von Melchior Lorich aus dem Jahr 1560 zeigt das Goldene Horn so voller Segel, Masten und Takelwerk, dass man kaum noch Wasser sieht. Alle Handelswege des Reiches führten zur Hauptstadt, von den Handelsstraßen Polens und Syriens bis zu den Seeverbindungen nach Venedig, Marseille und der Krim. Wenigstens einmal im Monat kam eine Karawane – manchmal mit zweitausend Kamelen und Mauleseln – aus Persien, der Zwischenstation einer Handelsverbindung, die bis nach China reichte. Die Osmanen legten Wert auf Ruhe und Beständigkeit. Den wenigen älteren Stadtansichten, die erhalten sind, ist kaum anzusehen, ob sie aus dem sechzehnten oder achtzehnten Jahrhundert stammen: Die Paläste, Tore, Minarette, Friedhöfe, Kaufleute, Hunde und Bettler sahen um 1750 fast genauso aus wie um 1550. Nur anhand der englischen, venezianischen und holländischen Schiffstypen sind die Gemälde, Stiche und Radierungen einigermaßen zu datieren. Alles andere erweckt den Eindruck von Dauerhaftigkeit und Kontinuität. In Wirklichkeit veränderte sich die Stadt jedoch unaufhörlich; an keinem anderen Ort der Welt wurde so eifrig abgebrochen, zerstört und wiederaufgebaut wie in Istanbul. Der französische Humanist und Wissenschaftler Pierre Gilles, der sich zwischen 1544 und 1547 an einer Bestandsaufnahme versuchte, konnte kaum noch Überreste der byzantinischen und römischen Stadt finden. Nach weniger als einem Jahrhundert osmanischer Abrissund Bautätigkeit waren so gut wie alle Foren, Säulenhallen und anderen architektonischen Wunderwerke aus der römischen Zeit verschwunden. »Tagaus, tagein fahren die Einwohner fort, die wenigen Überbleibsel der Antike zu beseitigen, zu zerstören und einzuebnen«, stellte er bedrückt fest. Und immer wieder gingen ganze Stadtviertel in Flammen 24
auf. In den meisten europäischen Großstädten war der Bau von ganz aus Holz bestehenden Häusern wegen der Brandgefahr längst verboten worden. Hier dagegen wohnten die meisten Familien in – gewöhnlich braunrot gestrichenen – Holzhäusern. Holz boten die Wälder rund um die Stadt im Überfluss, man konnte damit schnell und billig die schönsten Gebäude errichten, und außerdem überstanden Holzhäuser die Erdbeben besser als Steinhäuser. Die goldene Stadt hat nämlich einen Nachteil: Istanbul liegt unmittelbar an einer tektonischen Verwerfung, und Erdbeben kommen seit jeher häufig vor. Im Grunde blieb das alte Istambol die Summe der Dörfer, aus denen es entstanden war. Das Alltagsleben spielte sich größtenteils im heimischen Stadtviertel ab, innerhalb eines Dreiecks aus Haus, Markt und Moschee (oder Kirche, in den christlichen, und Synagoge, in den jüdischen Vierteln). Jedes Stadtviertel war von so besonderem Charakter – die einen islamisch, die anderen armenisch, jüdisch, griechisch oder westeuropäisch geprägt –, dass ausländische Besucher das Gefühl hatten, von einer Kultur in eine völlig andere zu wechseln, wenn sie nur die Tore zwischen verschiedenen Stadtteilen durchschritten. Die osmanische Gesellschaftsordnung beruhte auf dem Prinzip der scharfen Abgrenzung, auf religiösem wie auf weltlichem Gebiet. Innerhalb der jeweiligen Grenzen wurden die Regeln oft großzügig ausgelegt, aber jede Grenzüberschreitung hatte schwer wiegende Folgen. In den wohlhabenderen Häusern gab es strikt getrennte Bereiche für Öffentliches und Privates, für Männer und Frauen, für Familienangehörige und Gäste, für höheres und niederes Personal, für ältere und jüngere Kinder. Der Hausherr war unumschränkter Herrscher, er durfte vier Ehefrauen zugleich haben und so viele Sklavinnen, wie er wollte, aber es galt als höchst ungehörig, wenn er sich in die Angelegenheiten der Frauen einmischte, für die seine Mutter und seine erste Frau zuständig waren. 25
Manchmal lebten die Frauen in schönster Harmonie, oft vergiftete aber Eifersucht die Atmosphäre. »Die ständigen Spannungen in unserem Haus machten noch die schlichteste Zeremonie zu einem Ereignis, das beinahe körperlichen Schmerz verursachte«, schrieb zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Schriftstellerin Halide Edib, Tochter eines Kammerherrn des Sultans und eine der ersten türkischen Feministinnen, in ihren Erinnerungen. »Die Zimmer der Frauen lagen einander gegenüber, und mein Vater suchte sie abwechselnd auf ...« Klar gezogene Grenzen gab es in allen Bereichen: Die Moschee war für die religiöse Begegnung, das Kaffeehaus für weltliche Angelegenheiten da; es gab Ausgehtage für die muslimischen Frauen und Ausgehtage für die muslimischen Männer; das eine Ufer des Goldenen Horns war fürs gewöhnliche Volk, das andere für die Immigranten aus dem Westen; diese Viertel waren für Muslime, jenes war für die Griechen; hier lebten die Juden, dort die Armenier. So entstand eine Gesellschaft aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die zusammen arbeiteten und miteinander Geschäfte machten, ansonsten aber in ihren eigenen, durch Stadtviertel, Haus, Familie, Geschlecht, Rang und Stand definierten Sphären gefangen blieben. Als zum Beispiel 1873 die ersten Eisenbahnstrecken in Betrieb genommen wurden, konnten viele jüdische Bewerber dort keine Stelle bekommen, weil sie immer noch das Ladino oder Judäo-Spanisch ihrer Vorfahren sprachen, sich aber in der Sprache der Stadt, in der ihre Familien seit der Flucht aus Spanien vor dreihundert Jahren lebten, nicht verständigen konnten. Betrachten wir noch einmal mit Edmondo de Amicis’ Augen das Menschengewühl auf der Brücke des Jahres 1878: »Ehe wir uns rückwärts wenden, sind wir schon wieder von einer Schaar Perser umgeben, deren pyramidalförmige Pelzkappen wir anstaunen, und wenn 26
sie kaum vorüber sind, sehen wir einen Juden in langem, gelbem, an den Seiten offenem Gewände, eine rauhhaarige Zigeunerin, die ihr Kind in einem Sack auf dem Rücken trägt, einen katholischen Priester mit Brevier und Stab. Zwischen einer verwirrten Menge von Griechen, Türken, Armeniern reitet, laut: Platz! rufend, ein dicker Eunuche einer mit Blumen und Vögeln bemalten türkischen Equipage vorauf ...« De Amicis sah die Bewohner der vielleicht im höchsten Grade multikulturellen Stadt aller Zeiten an sich vorüberziehen, eine bizarre Mischung aus Europa und Asien, Okzident und Orient. Es berührte ihn aber ganz seltsam, »daß alle diese so verschiedenen Menschen sich begegnen und aneinander vorbeigehen, ohne sich gegenseitig anzusehen«, dass also die vielen Menschen und Kulturen einfach nebeneinanderher lebten. Die Toleranz der Stadt war im Grunde ein Wegschauen. Im Umgang mit fremden Welten fehlte ihr jegliche Neugier. Die Osmanen unterhielten keine ständigen Gesandtschaften in ausländischen Hauptstädten, dergleichen fanden sie nur teuer und unpraktisch. Jeder war willkommen, aber der Kontakt mit dem Anderen blieb etwas höchst Einseitiges. Die Hauptstadt der Welt war letztlich nur an sich selbst interessiert. Langsam lerne ich Stadt und Brücke näher kennen. Mein Dolmetscher ist ein Student, ein freundlicher, hoch aufgeschossener junger Mann mit Namen Mehmet Onur (onur bedeutet Ehre, Würde, Selbstachtung). Bessere Gesellschaft könnte man sich unter diesen Umständen nicht wünschen. An den Tischchen des Galata Cafés prallen täglich die Kulturen aufeinander. »Wir in Westeuropa sehen die Freiheit der Meinungsäußerung als wesentliches Grundrecht«, knurre ich, gereizt angesichts des neuesten Zeitungsberichts über einen türkischen Autor, der für 27
nichts und wieder nichts vor Gericht gezerrt wird. »Aber wenn jemand schreibt, die Mutter von Kemal Atatürk hätte Verhältnisse mit mehreren Männern gehabt«, protestiert Onur, »dann kann eine derartige Respektlosigkeit doch nicht ungestraft bleiben!?« »Das ist kein Fall für den Strafrichter«, erwidere ich. »Man kann dagegen schreiben. Gegen Worte geht man mit Worten an.« Onur schüttelt ungläubig den Kopf. Ganz in der Nähe der Ladenpassage, hinter den Arkaden eines großen Bürohauses, liegt ein kleiner Durchgang, in dem zwischen irgendwelchen Warenpaketen ein paar Hocker und Apfelsinenkisten stehen. Dort gehen Onur und ich regelmäßig hin, denn es ist der Rückzugsraum für den Sohlenverkäufer und seine Freunde; dort machen sie Pause, trinken ein Glas Tee, essen eine Sardine, rauchen eine Zigarette. »Wir reden meistens über alltägliche Dinge: Geldsorgen, die Nachrichten im Radio, die Polizei, das Wetter«, erzählt der Sohlenverkäufer. »Ein Sohn heiratet, die Eltern der Braut geben viel Geld aus, selbst hat man fast nichts, was macht man da – solche Fragen halt.« Das Tagesbudget des Sohlenmanns – er heißt Ali Özbağrıaçık – umfasst folgende Ausgaben: Morgensuppe eine Million, Zigaretten zwei Millionen, Tee eine Million, Abendessen an einer Bude zwei Millionen, Bett im Gasthaus drei Millionen. Seine Freunde sagen, er hätte einen letzten Posten vergessen: Vor dem Schlafengehen trinkt er eine Flasche Rotwein von der billigsten Sorte; »Hundetöter« nennt man den hier, viele Straßenhändler trinken ihn. Noch einmal zwei Millionen. Insgesamt also elf Millionen. Außerdem steckt er meistens noch seinem Sohn etwas zu. Seine Tagesumsätze schwanken zwischen zwölf und sechzehn Millionen. »Ich arbeite immer, auch am Wochenende. Wenn ich einen Tag freimache, nehme ich nicht so viel ein, wie ich zum Überleben brauche.« In der Welt der Brücke ist Kranksein ein Ding der Unmöglichkeit, und Krankenhäuser kommen darin erst 28
recht nicht vor. Körperliche Gebrechen bedeuten finanziell gesehen doppeltes Unglück: Zu den Kosten für Arzt und Medikamente kommt der Umsatzverlust. »Ich bin nie krank, Gott sei Dank«, behaupten alle Jungen auf der Brücke. Önder: »Alle, die ich kenne, haben zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel, wie könnte da einer für mich mit sorgen? Das sind die Tatsachen. Was ich sage, sind nichts als Tatsachen.« Alle Beschwerden, von faulendem Zahnfleisch bis hin zu Sodbrennen, werden deshalb mit Antibiotika unterdrückt. »Ich habe fast kein Haar mehr auf dem Kopf«, sagt der Sohlenmann. »Wenn mir am Kopf kalt wird, fangen die Zähne an weh zu tun. Und von da ziehen die Schmerzen in den Hals.« Auch diesem Übel wird er, sobald er wieder ein wenig Geld übrig hat, mit ein paar hellblauen Pillen abhelfen. Er ist Jahrgang 1951 und stammt aus Izmir, seine Familie ist immer arm gewesen, schon als kleiner Junge hat er Socken, Papiertaschentücher, Streichhölzer, Kugelschreiber und anderen Kleinkram verkauft. In den sechziger Jahren kam er als Arbeiter in einer Kleiderfabrik unter, das waren gute Jahre, jeden Sonntag frei, sogar Urlaub gab es. Er zieht einen Personalausweis von 1984 aus der Innentasche; das Foto darauf zeigt einen schönen Mann mit dunklem Schnurrbart und funkelnden Augen. »Zu der Zeit habe ich noch in der Fabrik gearbeitet, ich war verheiratet, drei Kinder, das Leben war ein Fest, ich hatte ein gutes Auskommen.« Zehn Jahre später holte ihn sein Bruder nach Istanbul, um mit ihm zusammen ein Bekleidungsgeschäft aufzumachen. Als sie ihr ganzes Geld in ihr kleines Unternehmen gesteckt hatten, stürzte die Wirtschaft wieder einmal in eine tiefe Krise. Die Brüder machten Bankrott, Ali konnte seine Familie nicht mehr ernähren, seine Frau beantragte die Scheidung, er zog in ein billiges Gasthauszimmer, das er sich mit einem anderen Mann teilt, und seit ein paar Jahren steht er Tag für Tag hier auf der Brücke. 29
»Ich habe keine Zukunft. Das ist das Einzige, woran ich nachts denken kann. Einundzwanzig Jahre lang habe ich einen festen Arbeitsplatz gehabt, wenn ich noch für drei Jahre eine feste Stelle finden würde, hätte ich Anspruch auf Rente. Aber wer nimmt einen Fünfundfünfzigjährigen?« In der ersten Zeit auf der Brücke waren sie zu sechst gewesen, sechs Straßenhändler, die Freundschaft geschlossen hatten und sich gegenseitig unterstützten. »Wir haben Sohlen verkauft, Spielzeug, Sonnenbrillen, Hüte, immer verschiedene Sachen. Wenn wir doch einmal alle das Gleiche verkauft haben, weil wir von irgendwas einen großen Posten ergattert hatten, dann haben wir das an verschiedenen Stellen der Brücke getan. Und wir haben uns gegenseitig mit Geld ausgeholfen, wenn einer krank wurde oder ausgeraubt worden war.« Fünf Jahre blieb dieser Bund bestehen, dann löste er sich auf. Zwei Männer kehrten in ihr Dorf zurück, zwei fanden anderswo eine Anstellung. Jetzt sind nur noch der Buchhändler und er übrig. »Wir sind immer noch Freunde, wir helfen uns immer.« Ich frage, wie der Ali von 1984 über den Ali von heute geurteilt hätte. Er schweigt. Dann sagt er zögernd: »Seitdem sind so viele Jahre vergangen, ganze Menschenleben. Man gewöhnt sich an sein Gesicht, ich bin immer noch derselbe Mann. Man denkt: Wenn ich noch drei Jahre in der Fabrik gearbeitet hätte, wenn ich nicht nach Istanbul gegangen wäre ... Und was meine jetzige Lage angeht: Sicher, meine Zähne und mein Hals tun ekelhaft weh, und ich kann mir keine Medikamente leisten, aber was kann ich schon machen? So oder so, niemand kann sein eigenes Schicksal bestimmen. Nur seine Würde, die darf man nie verlieren.« Wir kommen auf all den Wohlstand ringsum zu sprechen, die heitere Kulisse seiner Armut, die Welt der Werbung und der Hochglanzmagazine, mit der man auch auf der Brücke den ganzen Tag konfrontiert wird. Dem 30
Sohlenmann kommen die meisten der wohlhabenden, adrett gekleideten Menschen, die an ihm vorübergehen, wie Roboter vor. »Reiche Leute helfen uns nicht. Sie haben kein Gefühl. Dass auch mal reiche Leute zu mir kommen würden, um mir was abzukaufen, das erlebe ich nie. Nur arme Leute gönnen einem das bisschen Gewinn, für die gibt es noch Liebe und andere Gefühle.« Eines des meistverkauften türkischen Bücher des Frühjahrs 2006, Der Dritte Weltkrieg, spielt im Jahr 2010. In dem Thriller rächt sich die Türkei für die vielen Demütigungen, die sie in den letzten Jahren hinnehmen musste, und erklärt der »dekadenten« Europäischen Union den Krieg; zusammen mit Russland lässt Ankara seine Armeen auf Berlin, Wien und Paris marschieren. Kocht auch in ihm solcher Zorn? »Wut ändert nichts. Andere haben vielleicht einen Mercedes und eine schöne Frau, und ich hätte das alles auch gern, aber dazu wird es nicht kommen, das muss ich eben realistisch sehen. Ich versuche, mit den Tatsachen zu leben, wie sie sind. Deshalb mache ich mir auch keine Hoffnungen mehr.« Allerdings kann er sich nur schwer damit abfinden, dass er seinen Kindern nichts zustecken kann. Wenn sein jüngerer Sohn mit Schulkameraden ausgeht und alle anderen sich eine Flasche Cola kaufen, kann sein Junge das nicht. Das findet er schrecklich. »Ich will nicht, dass er in so eine Situation kommt. Deshalb leihe ich mir manchmal etwas.« Zu seinem älteren Sohn hat er kaum Kontakt. »Er kommt gut zurecht, habe ich gehört. Aber er redet nicht mehr mit mir, ja, wir waren auch schon so lange nicht mehr zusammen. Neulich habe ich ihn mit seinem Bruder gesehen, ein ganzes Stück entfernt, als ich mit meiner Ware vor der Unterführung stand. Meine Jungen. Sie sind nicht nähergekommen, sie haben kein Wort gesagt, haben mich nur angestarrt.« Allmählich habe ich das Gefühl, dass ich in die Welt unserer Großeltern und Urgroßeltern zurückgekehrt bin, 31
dass ich es mit einer Lebensweise zu tun habe, bei der sich alles um Familienbande, Ehre und persönliche Würde dreht, einer Gesellschaft, in der ein Mensch letztlich nur auf die Hilfe von Verwandten, Nachbarn und wenigen Freunden rechnen kann. »Übertreibt der Sohlenverkäufer?«, frage ich meinen Gefährten Onur. »O nein«, antwortet der. »Er schätzt seine Lage ganz realistisch ein. Wenn er nicht für sich sorgt, tut es niemand.« »Aber ob ihm seine Frau wirklich wegen des Geldes weggelaufen ist?« »Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass so etwas tatsächlich oft vorkommt. Wenn Ehen in die Brüche gehen, hat das hier häufig ökonomische Gründe. Wenn der Mann nicht mehr für die Frau und ihre Kinder sorgen kann, wer sorgt dann für sie? Solchen Frauen bleibt nichts anderes übrig, als zu ihrer Familie zurückzukehren.« Wir sprechen über Önder, dessen Vater keine Arbeit findet, so dass der Junge von seinem bisschen Zigarettenhandel zusammen mit einem Bruder eine achtköpfige Familie ernähren muss. Er ist von einer unverwüstlichen Fröhlichkeit, dabei steht er manchmal am Rand des Verhungerns. »Die Familie ist drauf und dran, ins Dorf der Mutter zurückzukehren, nur dort wird sich vielleicht noch jemand um sie kümmern.« Die Ökonomie der Brücke ist also eine Ökonomie der Cents und halben Cents, und schon nach wenigen Tagen kommt es mir manchmal so vor, als würde auch ich nichts anderes kennen. Eine halbe Stunde warten wir mit dem Sohlenmann auf ein Geschäft – drei Millionen, anderthalb Euro, so etwas kann man sich hier einfach nicht entgehen lassen. Die offiziellen Zahlen sagen genug: Für eine vierköpfige Familie liegt die sogenannte Armutsgrenze – die Minimalausgaben für alle Grundbedürfnisse – bei 1,818 Milliarden im Monat; die Hungergrenze – der Betrag, der mindestens für Ernährung verfügbar sein 32
muss, wenn es nicht zu Mangelerscheinungen kommen soll – bei 558 Millionen; der Nettomindestlohn aber liegt bei 380 Millionen. Davon kann eine türkische Durchschnittsfamilie genau zwanzig Tage überleben, und das auch nur, wenn sie keinen Cent für etwas anderes als Nahrungsmittel ausgibt. Von den Taschendieben und Anglern abgesehen, kenne ich auf der Brücke niemanden, dessen Einkommen über die Hungergrenze hinauskäme. Die meisten liegen weit darunter. Dazu kommt die ewige Ungewissheit. Stabilität kennt man hier nicht, selbst die allerkleinsten Schwankungen im Wirtschaftsleben der Stadt wirken sich sofort auf die Ökonomie der Brücke aus. Fragt man nach den Umständen, die diese Menschen hierhin gebracht haben, ergibt sich immer ein ähnliches Bild: ein armes Bergdorf, das lange, wenn auch nur unter großen Schwierigkeiten, der Zeit trotzen konnte; Familien, in denen es immer mehr Kinder gibt, weil sie dank verbesserter medizinischer Versorgung größere Überlebenschancen haben; steiniges Land, das so viele Hungrige einfach nicht mehr ernähren kann; Kinder, die schließlich in die Stadt abgeschoben werden. Das Heimatdorf des Teebrühers zum Beispiel gehört zur gleichen Kategorie wie das des Parfümverkäufers. Es liegt direkt an der iranischen Grenze. Seine Familie ist dort geblieben; er wohnt schon seit Jahren nicht mehr zu Hause, alle drei Monate reist er zu Frau und Kindern, vierundzwanzig Stunden hin, vierundzwanzig Stunden zurück. »Für sie arbeite ich hier, nur für sie. Wenn du in mein Dorf kämst, würdest du Augen machen. Wir sind doch Menschen wie andere auch, aber du würdest kaum glauben, wie die Menschen dort leben müssen. Wir haben alle gehungert, und wie!« Er zeigt auf die Männer ringsum: »Die Jungs hier, die stammen fast alle aus dem Landesinneren, aus der Südosttürkei. Da gibt es für unsereins einfach gar keine Möglichkeiten. Außer man 33
geht in die Berge, zu den Terroristen. Wenn man das nicht will, hat man keine andere Wahl, als hierhin zu kommen und das Beste aus seiner Lage zu machen, dann verkauft man eben Tee oder handelt mit kopierten CDs und gestohlenen Handys oder dreht euch gepanschtes Parfüm an ... ja, nimm dich in Acht vor dem Mist, davon kann man blind werden. Glaubst du, wir tun das alles zu unserem Vergnügen?« Der Kellner des Galata Cafés: »Vor einem Monat ist mein Großvater gestorben. Der hat kaum gewusst, was Geld war. Er war über hundert, Hirte war er, sein ganzes Leben hat er mit seinen Schafen in den Bergen verbracht. Abgesehen von den letzten Jahren, da ist er nur noch in die Moschee zum Beten gegangen.« Er wohnte fünf Minuten von der irakischen Grenze entfernt. »Natürlich kennen wir uns aus in den Bergen, wir wissen, wo wir sicher sind und was wir tun müssen, wenn Krieg ist und die Flugzeuge kommen. Irgendwie überleben, das können wir schon, aber fürs tägliche Brot sorgen ...« 2004 ist er nach Istanbul gegangen, weil der Irakkrieg in seiner Region jeden Handel unmöglich machte. Fast jeder, der gerade erst in der großen Stadt angekommen ist, weiß von einem »Vetter« oder einem »Nachbarn aus dem Dorf« zu berichten, der ihm hilft. Und wenn man niemanden kennt, findet man zumindest Menschen aus der eigenen Region oder Stadt, die einem sagen, was man wissen muss, denn auch sie bilden eine Art Familie. Fragt man den Sohlenmann und den Buchhändler, warum sie befreundet sind, lachen sie erst leise vor sich hin – der Sohlenmann hat in seinem Leben vielleicht drei Bücher gelesen –, aber dann sagen sie: »Wir kommen ja beide aus Izmir, und unsere Kinder sind weit weg.« So überlebt man. An einem regnerischen Samstagnachmittag hält der Buchhändler, der alles sieht und hört, für Onur und mich eine kleine Vorlesung über die Soziologie der Brücke. Was 34
er beschreibt, ist eine Art ökonomische Segregation. Die Fisch Verkäufer beispielsweise stammen alle aus der Stadt Erzincan im Osten. Man kann auf der Brücke keinen Fisch verkaufen, wenn man nicht aus Erzincan kommt. Die meisten Berufsfischer sind aus Trabzon am Schwarzen Meer. Das Angelgerät wird aber von Immigranten aus Kastamonu verkauft, andere könnten in diesem Erwerbszweig nicht Fuß fassen. Und als Kurde wiederum braucht man gar nicht erst zu versuchen, einen Fischbratstand aufzumachen, denn darauf hat wieder eine andere Gruppe das Monopol. Der Zigarettenhandel dagegen steht Kurden offen. »Wir sind eine Familie«, sagen die Zigarettenjungen. »Wenn die Polizei Jagd auf uns macht, helfen wir uns immer gegenseitig, einer nimmt das Zeug vom andern mit oder versteckt es. Wenn wir das nicht machen würden, wären wir alle erledigt.« So gibt es zahllose, strikt voneinander getrennte kleine Migrantengemeinschaften mit engem Zusammenhalt, deren Grenzen durch ungeschriebene Gesetze festgelegt sind. Seit jeher war diese Stadt die Summe mehr oder weniger geschlossener Stadtdörfer, und die alten Abgrenzungen spielen unter der Oberfläche immer noch eine Rolle, besonders bei den Immigranten. Noch heute zählt die Stadt beispielsweise zwei armenische Krankenhäuser und achtzehn armenische Schulen. »Überall gibt es Immigrantenvereine, Grüppchen, von denen man noch nie im Leben gehört hat, und alle haben ihre eigenen Zeitschriften und Cafés«, sagt der Buchhändler. »Schließlich leben hier zehn Millionen Menschen, für alles findet sich ein Markt.« Auch politische Trennlinien sind zu erkennen – auf und unter der Brücke leben die Kurden und die türkischen Nationalisten konsequent nebeneinanderher. Der Buchhändler ist ein freisinniger Moslem, Alevit. Die Schirmverkäufer bilden eine kleine sozialistische Enklave. Der sympathische Mann, der seine Schirme in der 35
Ladenpassage feilbietet, gegenüber von der Losverkäuferin und dem Waffengeschäft, war einmal ein typischer Achtundsechzigerrebell. Er schwärmt von seinen Helden Che Guevara und Fidel Castro und erzählt, wie hart seine Genossen und er damals für eine bessere Welt gearbeitet hätten. Die Ziele waren die gleichen wie in Westeuropa: mehr Rechte für die Arbeiter, kostenlose ärztliche Versorgung, bessere Schulen, mehr Kultur. »Aber jetzt verschwindet der Sozialismus vor meinen Augen, das ist mein großer Kummer. Die Menschen fallen in alte Denkweisen zurück, in der Wirtschaft geht das Soziale verloren. Die gleichen jungen Leute, die früher Marxisten waren, sind heute Islamisten.« Auch er ist am Ende auf der Brücke gelandet. »Im Sommer Sonnenbrillen, im Winter Schirme, so geht das schon seit achtundzwanzig Jahren, ein Leben ist so schnell vorbei, aber was soll man machen?«
Orhan Pamuk, der mit dem Nobelpreis geehrte »Stadtschriftsteller«, hat einmal ein ernüchterndes Bild von der Durchschnittsexistenz in einem armen, undemokratischen, überwiegend islamischen Land entworfen. Die Menschen wüssten, dass sie zu einem schweren, kurzen, meist bedeutungslosen Leben verurteilt sind. Sie wüssten außerdem, dass ihre Armut zum Teil sogar auf eigene Dummheit und Unzulänglichkeit oder die ihrer Eltern oder Großeltern zurückzuführen sei. Ihre Verbitterung und Orientierungslosigkeit überschatte auch ihr Privatleben, ein Umstand, von dem in der Literatur, in Reiseberichten und politischen Analysen nur selten zu lesen sei. »Die westliche Welt hat kaum eine Vorstellung von diesem überwältigenden Gefühl der Demütigung, das die Mehrheit der Weltbevölkerung erfüllt«, schreibt Pamuk. »Mit diesem Gefühl müssen die Menschen fertig werden, ohne den Verstand zu verlieren, ohne der Verführung 36
durch Terroristen, nationalistische Extremisten oder Fundamentalisten zu erliegen.« Gibt es ein Entkommen? Fast jeder auf der Brücke hängt irgendwo zwischen zwei Welten in der Luft, und alle haben schon einmal mit dem Gedanken an den großen Sprung nach vorn gespielt. »Natürlich will ich nach Europa, das wollen wir alle, aber versuch mal dort hinzukommen!«, murrt der Teebrüher. »Wer denkt wohl nicht daran«, sagt der Sohlenmann. »Aber was besitze ich denn noch? Ich könnte ja nicht mal einen Pass bezahlen.« »Wenn ich hier nicht bleiben könnte, wüsste ich nicht, wo ich hinsollte«, meint der Kellner. »Bei all der Konkurrenz aus Asien kann man von normaler Fabrikarbeit nicht mehr leben.« Der Parfümverkäufer, verträumt: »Dort ist ein Land, hier ist ein Land, aber überall sind doch nur Menschen, ganz gewöhnliche Menschen, nur die Sprache ist anders.« Die Zigarettenjungen haben ein leuchtendes Vorbild vor Augen: einen Onkel von Önder, der es geschafft hat, nach Belgien zu gehen, viel Geld zu verdienen und zu guter Letzt eine blonde Frau zu heiraten. »Mein Gott, Europa, da würden wir gerne hin. Da ist Geld, da kann man tun, was man will, die Menschen haben Respekt voreinander.« Ich versuche das alles ein wenig zu relativieren, aber sie bleiben dabei, dass die Probleme in Europa nicht mit den Schwierigkeiten zu vergleichen sind, mit denen man hier zu kämpfen hat. »Luxus interessiert mich nicht«, erklärt Önder. »Das Leben der Reichen ist nicht besser als das der Armen. Ich will für meine Familie sorgen können. Und für mich selbst. Und natürlich will ich heiraten. Eine schöne Ausländerin. Eine blonde Belgierin ...« Noch ein Jahrzehnt Geduld, dann öffnen sich wahrscheinlich die Grenzen, wage ich zu prophezeien. »Ja Mann, dann bin ich alt! Vielleicht sogar tot!« Önder ist einer der wenigen, die wirklich einen Ausbruchsversuch unternommen haben. Eines Nachts 37
hatte er sich mit ein paar Freunden in einem Container mit europäischem Bestimmungsort versteckt. Sie hatten ihre Reise gut vorbereitet: Brot, Wasser, warme Kleider, Müllsäcke, die sie sich über den Kopf ziehen mussten, wenn sie zu einer Infrarot-Schleuse kamen, an alles hatten sie gedacht. Nur nicht an die Sache mit den Drogen. Einer der Jungen war ein drogenkrankes Nervenbündel. Als ihr Container durch die Schleuse rollte und alle mit angehaltenem Atem im Dunkeln saßen, den Sack überm Kopf, ausgerechnet in dem Moment bekam der jämmerliche Kerl einen Anfall. »Er fing an zu brüllen und zu zucken, ich sah das Unheil schon kommen, und da gingen auch schon die Türen auf, und überall waren Polizisten mit Hunden. Sie schleiften uns raus, schlugen uns grün und blau und riefen die ganze Zeit: Warum wollt ihr weg aus unserm Land? Ist unser Land vielleicht nicht schön genug?«« Fünfzehn war Önder damals. Die Jungen wurden zu ihren Familien zurückgeschickt, das war alles. »Später hat es einer von meinen Freunden noch mal versucht. Der ist dann so zusammengeschlagen worden, dass er kaum noch wiederzuerkennen war. Nein, das machen wir nicht mehr.« Auch der Schirmverkäufer hat vor Jahren einen Versuch unternommen. 1992 wollte er nach England auswandern, über eine Kusine, die dort lebte. Sein Aufenthalt in Europa dauerte genau drei Stunden. Er hatte sich Geld geliehen und davon ein Turkish-Airlines-Ticket nach London gekauft, aber in Heathrow wurde er festgehalten. »Ich hab geschrieen, dass man mich in der Türkei einsperren würde, dass ich ein Flüchtling wäre, dass ich das Geld für das Ticket nie zurückzahlen könnte!« Er wurde mit derselben Maschine zurückgeschickt. »Lös deine Probleme in deinem Land, nicht hier«, sagte man ihm. »Ich kam mir vor wie ein Stück Fleisch, das den Wölfen vorgeworfen wurde.« Noch jetzt, nach vierzehn Jahren, wird er beim Erzählen so wütend, als hätte sich die Geschichte erst vor 38
einem Monat abgespielt. »Ich habe noch lange schuften müssen für das Ticket. Wenn ich das Geld nicht hätte zurückzahlen können, das hätte ich nicht überlebt, wirklich nicht.« Immer noch träumt er von einem Prozess gegen England. »Ja, wieso denn nicht, gegen das ganze Land! Ich spreche kein Wort Englisch, ich hab kein Geld, aber irgendwann krieg ich sie!« Wie er das denn anstellen will? »Ich bring sie vor Gericht. Ja, von so was hab ich mal gelesen, das gibt es!«
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III STURM DER SCHWÄNE In meinem Bücherschrank steht ein einziger Band aus dem 17. Jahrhundert, eine in Leder gebundene niederländische Ausgabe der Reiseberichte von William Lithgow: Willem Lithgouws 19. Jaarige Lant-Reyse, gedruckt zu »Amsteldam achter d’Appelmarckt« im Jahre 1653, vor Zeiten von einem lieben Verwandten geerbt. Ich hatte es, offen gestanden, nie gelesen, es war mehr Schmuckstück als Buch. Erst bei meinen Spaziergängen über die Brücke kam mir der Gedanke, dass Lithgow, ein schottischer Seebär, der den gesamten Nahen Osten bereist hatte, auch das eine oder andere über Istanbul zu Papier gebracht haben könnte. Das hat er tatsächlich getan, aber es kommt noch besser: In Istanbul hatte er sich zusammen mit einem französischen Schiffsoffizier bemüht, »eine Christenseele« aus türkischer Sklaverei zu erlösen, um »Gott damit einen Dienst zu erweisen«. Diese Christenseele sollte allerdings eine »reine Magd oder Witwe« sein, und die beiden Herren verbringen auf dem »Weibermarkt« sehr viel Zeit damit, eine »fasernackende« Seele nach der anderen zu inspizieren. Die Preise für Jungfrauen übersteigen ihre finanziellen Möglichkeiten bei weitem, und so entscheiden sie sich am Ende für eine dalmatische Witwe zum Preis von sechsunddreißig Dukaten. Sie lassen sich mit ihr zum anderen Ufer übersetzen und mieten ein Zimmer für sie; die Freiheit winkt. Am nächsten Morgen jedoch muss Lithgow zu seiner großen Empörung feststellen, dass der »geile alte Bock«, der französische »Papist«, die ganze Nacht bei ihrer Witwe »gehaust« hat, ja dass er sogar beabsichtigt, sie weiterzuverkaufen. Lithgow droht, den französischen Gesandten einzuschalten, und so bekommt 40
er die Witwe schließlich doch noch frei; er verschafft ihr Arbeit in einer griechischen Taverne, erhält als Gegenleistung nach eigener Darstellung nichts als »Segenssprüche und Bezeugungen höchster Dankbarkeit« von ihr und setzt seine Reise befriedigt fort. Als echter Schotte rechnet er uns vor, dass die »nächtliche Hurerei« den Franzmann das hübsche Sümmchen von sechsunddreißig Dukaten gekostet hat. Zweieinhalb Jahrhunderte später versuchte der französische Schriftsteller Pierre Loti auf etwas subtilere Weise, eine Frauenseele vor türkischer Wollust zu retten, obwohl er natürlich das Gleiche im Sinn hatte wie sein Landsmann aus dem 17. Jahrhundert. In seinem Roman Aziyadeh (1879) schildert er ein Liebesabenteuer mit einer osmanischen Frau, das sich, wie Briefe und Tagebücher belegen, auch in Wirklichkeit ereignet hat. Als Marineoffizier war Loti auf seiner Fregatte nach Saloniki gekommen. Während er gedankenversunken durch die alten türkischen Viertel wandert, blickt er plötzlich in zwei große grüne Augen, die ihn beobachten, über einem weißen Schleier und hinter dicken Gitterstäben. Die Schöne erweist sich als achtzehnjähriges Mädchen, als vierte Frau an einen reichen Kaufmann verheiratet. Ein romantisches Liebesverhältnis bahnt sich an; ein paarmal kann Loti die junge Frau aus dem Harem herausschmuggeln, die beiden lieben sich auf den Kissen eines sanft schaukelnden Bootes zwischen französischen und deutschen Kriegsschiffen. Der Kaufmann siedelt nach Istanbul über, wo Loti seine Geliebte aufspüren kann – während er nach ihr sucht, erlebt er eine Reihe anderer Liebesabenteuer auf den großen Friedhöfen der Stadt –, und die Romanze geht weiter. Loti hat inzwischen eine kleine Wohnung; Aziyadeh, die in Wirklichkeit Hakidjeh hieß, kann sich nachts unbemerkt aus dem Harem entfernen, weil der Kaufmann ständig auf Reisen ist, und die beiden 41
verbringen ein paar glückliche Nächte miteinander. Im März 1877 kommt das unvermeidliche Ende: Loti muss die Stadt auf seinem Schiff verlassen. Die untröstliche Aziyadeh organisiert ein kleines Abschiedsfest. Sie ist schöner denn je: violettes Seidenjäckchen, darunter eine weite gelbe Seidenhose, ein Hemd aus Gaze mit eingewebten Silberfäden, dicke braune Zöpfe, rot geschminkte Lippen, bernsteinfarbene Arme, kein Schleier – alle halten sie für eine Armenierin. Am nächsten Morgen lässt sie alle Vorsicht außer Acht und begleitet Loti durch die Stadt bis zum Kai, um Abschied zu nehmen. Er besteigt das Beiboot, ihre Kutsche rattert davon. »Und es überkam mich das rasende Verlangen, diesem Wagen nachzulaufen, meine Liebste zurückzuhalten, meine Arme um sie zu schlingen, solange wir uns noch mit der ganzen Kraft unserer Seele liebten, und sie nicht mehr zu öffnen bis zur Stunde des Todes.« Seine Romanze verhalf Loti zu Weltruhm. Die wirkliche Aziyadeh wurde nach seiner Abreise verraten und von ihrem betrogenen Gatten weggesperrt. Nach einem Jahr starb sie vor Kummer, doch Loti erfuhr erst viel später von ihrem Tod. Ausreichend Stoff für einen weiteren Bestseller! In allen europäischen Berichten und Erzählungen erscheint das nördliche Ufer des Goldenen Horns als ein Zufluchtsort, eine bessere Welt. Im 14. Jahrhundert hatten nach einer Reihe militärischer und diplomatischer Scharmützel Kaufleute aus Genua das Recht erhalten, dort eine Handelsmission zu gründen. Wie ein Amphitheater lag der Freihafen mit seinen Häusern zwischen den Wiesen und Bäumen der Anhöhe, mit einem mächtigen Festungsturm an der Nordspitze. Galata hieß der Stadtteil, das gesamte Gebiet wurde Pera genannt, griechisch für »gegenüberliegend«. Die Genuesen durften schalten und walten wie auf eigenem Territorium. Als Nächste kamen die Venezianer, dann die Franzosen, Briten und 42
Niederländer. Im Laufe der Zeit entwickelten sich all diese Gesandtschaften zu regelrechten Höfen mit Pagen und Hofdamen, Landsitzen und Palästen: dem Palazzo di Venezia, dem Palais de France, dem British Palace, dem Palais d’Hollande. Mit ihrer Offenheit, die Kaufleute und Immigranten anlockte, mit ihrer Toleranz gegenüber Christen und anderen Minderheiten waren die Osmanen würdige Erben der kaiserlich-römischen Tradition. Zwar bekam die Stadt gleich nach der Eroberung 1453 einen neuen Namen, Islambol, »Wo der Islam üppig blüht«. Die Hagia Sophia wurde wie schon erwähnt in eine Moschee umgewandelt, ab 1517 trug der osmanische Sultan auch noch den Titel »Kalif aller Gläubigen«. Andererseits bezeichneten sich die Sultane als »Welteroberer«; und wollten ihre Hauptstadt zu einem »Zufluchtsort für die Welt« machen. Sie erkannten, dass eine imperiale Hauptstadt auch die Vielfalt des Imperiums widerspiegeln muss. 1477, also weniger als ein Vierteljahrhundert nach jenem »schwärzesten Tag der Geschichte«, ergab eine Volkszählung, dass über ein Drittel der Häuser in Istanbul wieder von Griechen bewohnt waren, ein Fünftel von Juden und ein Siebtel von anderen Nichtmuslimen. Mit einer Urkunde garantierte Mehmed II. den Christen und Juden vollständige Religionsfreiheit – nur das Läuten der Kirchenglocken blieb verboten. Seine Elitetruppe, die Janitscharen, rekrutierte der Sultan bewusst aus christlichen Familien. Die Jungen wurden schon früh den Eltern fortgenommen, beschnitten, zum Islam bekehrt und dann für die schwierigsten militärischen Aufgaben und die höchsten Ränge ausgebildet. Von diesen Zwangsbekehrungen abgesehen, wurden Minderheiten aber nie dazu gezwungen, den herrschenden Glauben anzunehmen, eine Ausnahmeerscheinung im damaligen Europa. Unumstritten waren diese Offenheit und Toleranz nicht. 43
Im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts entstand hier, wie bei den Christen in der Nordhälfte Europas, eine Bewegung für die Rückkehr zum »reinen« Glauben. Medina, nicht Rom sollte das große Vorbild für die Hauptstadt sein. In manchen Vierteln fanden fundamentalistische Prediger eine wachsende Anhängerschaft. Tanz, Seide, Kaffee, Tabak waren für sie des Teufels und folglich zu verbieten. Edmondo de Amicis behauptete, das Goldene Horn, diese aus einem Flusstal entstandene Bucht, sei in Wirklichkeit ein Ozean. »Nachrichten von europäischen Ereignissen, die lebendig, klar, genau, tausendfach besprochen in Galata und Pera circuliren, erklingen nur wie ein fernes Echo, verstümmelt und verworren, am anderen Ufer. Der Ruhm der größten Männer und der wichtigsten Dinge des Abendlandes steht vor diesem kleinen Gewässer wie vor einer unübersteiglichen Schranke still; hunderttausend Menschen überschreiten täglich diese Brücke, aber eine Idee, ein Gedanke nur alle zehn Jahre.« Für viele Einwohner der alten Stadt wiederum war Pera der Vorhof der Hölle, ein Ort, an dem kaum eine Frau verschleiert ging und kein anständiger Mensch sich nach Sonnenuntergang blicken ließ. »Geht ein Mann nach Pera, weiß man, was er dort sucht«, lautete ein Sprichwort. »Sie haben immer in Pera gelebt«, sollte Ende des 19. Jahrhunderts ein bedeutender türkischer Reformer dem französischen Botschafter vorhalten. »Sie haben den Geist des osmanischen Staates nicht wirklich kennengelernt, oder auch nur die Lebensbedingungen in Istanbul. Pera ist eine Landenge zwischen Europa und der islamischen Welt. Von dort aus sieht man Istanbul durch ein Fernglas.« Reiseberichte erwähnen immer wieder die Dunkelheit, in die sich das alte Istanbul nach Sonnenuntergang hüllte, während in Pera die Gaslaternen entzündet wurden, um bis Sonnenaufgang zu brennen. »Galata, so heißt diese Stadt. Tausend Becher Wein ein Fass dort hat«, beginnt ein 44
Verschen aus dem 19. Jahrhundert. Die unzähligen Straßenhunde feierten die ganze Nacht mit, kläfften und heulten, bis sich, wie ein Reisender im Jahr 1859 schrieb, »das Jaulen, Heulen, Bellen und Knurren zu einem einzigen einförmigen und anhaltenden Geräusch vermischten.« Und doch nahm in der alten Stadt das Interesse an der europäischen Seite zu; je mehr die früher so stabilen Stadtteilgemeinschaften sich auflösten, desto größer wurde diese Faszination. Im 19. Jahrhundert begannen viele Stadtbewohner aus der traditionellen osmanischen Selbstisolation auszubrechen. Pera, seit jeher das Revier alles Fremden und Neuen, wurde nun zum Vorposten des freien und modernen Lebens, das kommen sollte. Das Große und Kleine Totenfeld waren bald als Ort für Abendspaziergänge und riskante Rendezvous beliebt. Pierre Loti hatte dort sogar eine kleine Wohnung. Die Metropolitan Railway of Constantinople wurde gegründet und baute eine der ersten Untergrundbahnen – und die kürzeste – Europas: den sogenannten Tünel, eine Standseilbahnstrecke von gut einem halben Kilometer Länge zwischen der Brücke und der Grande Rue de Pera. Banken und Kaufhauspaläste schossen wie Pilze aus dem Boden, große neubarocke Bauwerke, wie sie in jenen Jahren überall in Europa errichtet wurden, hier aber beispiellose Aufregung verursachten. 1840 war Gérard de Nerval in Pera an den prachtvoll dekorierten Schaufenstern der dortigen Läden vorbeiflaniert: Juweliere, Geschäfte mit modischer Kleidung oder Dessous, Süßwarenhandlungen – kaum anders als in Paris. Als er ein Café betrat, fand er auf den Tischen Zeitungen mit Namen wie Journal de Constantinople, Echo de Smyrne, Portefolio Maltese, Courier d’Athènes und Moniteur Ottoman. Die Briten gründeten einen Cricketclub. Eine französische Theaterkompanie gastierte in der Stadt, andere Attraktionen waren ein 45
italienischer Zirkus und ein Mann, der sich aus einer Kanone schießen ließ. Mehr und mehr geriet das osmanische Bürgertum in den Bann des Neuen auf der anderen Seite des Goldenen Horns. Auf einmal pilgerten ganze osmanische Familien dorthin, nicht etwa aus einem religiösen Anlass, sondern nur, um von diesem faszinierenden anderen Leben zu kosten. Ein Schaufensterbummel in der Grande Rue de Pera glich beinah einem »Gang durch ein Museum der europäischen Kultur«, wie es der Stadthistoriker Ekrem Işım ausdrückte. Fast alle Reiseberichte erwähnen die riesige »halb türkische, halb europäische Menge«, die sich an jedem Nachmittag in der großen Geschäftsstraße Peras drängte. Selbst dem damaligen »modern« gesinnten Sultan ging all das irgendwann zu weit: Er erließ ein Dekret, das türkischen Frauen das Betreten europäischer Geschäfte verbot. Sie durften nur draußen vor den Schaufenstern stehen und träumen. Sklavenhandel gab es immer noch, aber der öffentliche Sklavenmarkt wurde 1847 geschlossen; der Sultan bezeichnete die Sklaverei als »beschämend« und »barbarisch«. Als er entdeckte, dass seine Lieblingsfrau einen heimlichen Geliebten hatte, wurde der Mann nicht, wie in früheren Zeiten geschehen, in einen Mörser gestopft und in die Luft geschossen, sondern lediglich aus der Stadt verbannt. »Modern« zu sein verlieh gesellschaftlichen Status, und die besser situierten Osmanen waren sehr darauf bedacht, beispielsweise in Pera europäisches Mobiliar zu kaufen. Oder ein Klavier – nicht um Schubert zu spielen, sondern in erster Linie, um sich von anderen abzuheben. Wir sind westlich und modern: Dafür stand das Klavier. Überhaupt musste alles, was zur Ausstaffierung des Hauses diente, aus dem Westen kommen. Die eigenen, traditionellen Erzeugnisse galten als altmodisch und unzeitgemäß und gerieten in Vergessenheit. Die Bürger dieser Stadt sehnten sich nach 46
dem ganz anderen, nur wussten sie selbst nicht, wonach genau. Es lag also nahe, den Ozean zwischen der alten und der modernen Stadt auch physisch zu überbrücken. Entsprechende Pläne gab es seit Jahrhunderten. In Archiven hat man sogar Briefe von Leonardo da Vinci und Michelangelo an den damaligen Sultan mit Vorschlägen für eine Brücke über das Goldene Horn entdeckt. Zunächst hielten die Osmanen einen Brückenbau aber nicht für notwendig. Ein Musterbeispiel für das, was einige Historiker »Ökonomie der Stagnation« nennen: Langsamkeit hatte – und hat – neben manchen Nachteilen ja auch offenkundige Vorteile. Die in einer eigenen Zunft zusammengeschlossenen Fährleute spielten eine besondere Rolle im Leben der Stadt. In der friedlichen Stille der Überfahrt wurden sie häufig – wenn auch nur für eine Viertelstunde – zu Vertrauten der Städter. Sie waren Stadtchronisten, Amateurphilosophen, Komplizen bei erotischen Eskapaden und fragwürdigen Abenteuern. Die Ruhe und Entspanntheit des Übersetzens war für alle eine Wohltat. Auch ohne Brücke war Istanbul ja städtisch genug. Insgesamt sind fünf Galatabrücken gebaut worden – sofern man nicht auch die schwimmende Brücke mitzählen will, die Sultan Mehmed II. 1453 während der Belagerung der Stadt weiter nordwestlich errichten ließ, nachdem Tausende von Sklaven und Soldaten mit Ochsengespannen achtzig Schiffe auf einer neu gebauten Straße über die Höhenzüge von Galata transportiert hatten, vom Bosporus bis ans Goldene Horn; die Ruderer waren dabei auf ihren Plätzen geblieben und hatten eifrig die Riemen bewegt. Fünf Brücken also: zwei hölzerne aus den Jahren 1845 und 1863, zwei eiserne von 1875 und 1912 und eine aus Beton von 1992. Die erste Fotografie einer Galatabrücke stammt aus dem Jahr 1855 oder 1856, von einem Engländer namens 47
Robertson. Wir sehen eine Schiffsbrücke; an beiden Enden sind die Umrisse einer ziemlich steilen Bogenkonstruktion zu erkennen, die kleineren Wasserfahrzeugen die Durchfahrt ermöglicht. Von Anfang an war diese »Brücke aus Booten« eine Stadt für sich. Den Zoll-Listen ist zu entnehmen, was sich in jenen Tagen auf ihr bewegte: beladene und unbeladene Pferde, Esel und Wasserbüffel, Kutschen und Einspänner, Lastträger, Sänften mit oder ohne Insassen, Schafe, Ziegen, Ochsenkarren und natürlich jede Menge Fußvolk. Im Oktober 1855, während des Krimkriegs, hat Lady Hornby, die Frau des britischen Konsuls, anschaulich das Treiben auf der mit englischen und französischen Soldaten überfüllten Brücke geschildert. Die Straßenverkäufer passten sich der Situation sofort an und riefen »Johnny!« oder »Dis donc!«. Wenn aber muslimische Damen in einer Kutsche vorbeifuhren, pflegten die Soldaten allzu dreist ins Innere des Gefährts zu spähen, und so mancher Eunuch ließ drohend seine Peitsche knallen. Nicht einmal zwanzig Jahre nach ihrer Fertigstellung war die erste Brücke morsch und verfallen. Die zweite Brücke von 1863 hielt kaum ein Jahrzehnt; schon 1872 wurde die nächste Brücke in Auftrag gegeben. Dabei handelte es sich um eine Konstruktion, die auf vierundzwanzig Pontons ruhte. Die mittleren Brückenteile ließen sich auf ihren schwimmenden Pfeilern zur Seite drehen, also wie Türflügel öffnen, so dass auch große Schiffe durchfahren konnten. Auf den Pontons standen Badekabinen, so sauber war damals das Wasser des Goldenen Horns. 1878 wurde unter der Brücke eine Art Straßenzeile mit Kaffeehäusern, Restaurants und Läden gebaut; so entstand eine Kombination aus Brücke und Ausgehboulevard, wie auch bei den späteren Galatabrücken. Oben herrschte ein unglaublicher Betrieb; die Gehwege waren schmal, Fuhrwerke und Kutschen hielten sich nicht, wie in anderen Teilen der Welt, entweder rechts oder links, 48
sondern fuhren kreuz und quer durcheinander, Lastträger, Gepäckträger und Straßenhändler bewegten sich im Zickzack zwischen ihnen hindurch, und in diesem Chaos versuchten sich unzählige Fußgänger einen Weg zu bahnen. Das war die Brücke, die de Amicis beschrieben hat, die von romantischen europäischen Malern verewigt wurde und die Virginia Woolfs Romanfigur Orlando eines frühen Morgens von ferne bewunderte: »... da war der Fluß; dort die Galata-Brücke; dort die grünbeturbanten Pilger ohne Augen oder Nasen, die um Almosen bettelten; dort die Paria-Hunde, die im Abfall wühlten; dort die verschleierten Frauen; dort die zahllosen Esel; dort Männer auf Pferden, die lange Stangen trugen.« Ich habe eine Kolumne des Stadtchronisten Refik Halid Karay gefunden, in der er seine Erinnerungen an die dritte Brücke aufzeichnet. »Zusammengezimmert aus Brettern und Treibholz« sei sie gewesen; die großen Nägel, mit denen die Holzschwellen befestigt waren, lösten sich alle naselang, und »zahlreiche Menschen stolperten über sie, stürzten, verletzten sich und wurden zu Krüppeln«. Für die Unterhaltung der Brücke war das Marineministerium zuständig, »aber dieses Ministerium war zu jener Zeit eine Brutstätte von Dieben«. Die Geländer waren zwar aus Eisen, aber so schief und locker, dass man besser daran tat, sich nicht mit seinem ganzen Gewicht anzulehnen. Eines Tages beugten sich etwa vierzig Menschen, größtenteils aus der Provinz, arglos über das Geländer, um die Fischer in den kleinen Booten zu beobachten. Als das Geländer plötzlich unter ihrem Gewicht nachgab, ertranken laut Karay ungefähr zwanzig Personen. »Doch in den Zeitungen stand nichts davon.« Unter der Brücke, auf dem Grund des Goldenen Horns, hatten sich die Überreste von tausend Jahren städtischen Lebens abgelagert. Über den Grund des Bosporus hat 49
Pamuk eine schwindelerregend-phantastische Geschichte geschrieben, aber auch die anderen Stadtschriftsteller wussten manches von den Schätzen des Meeresbodens zu erzählen. Dort unten lagen nicht nur – wie zu erwarten – Flaschen, Pistolen, Pickhaken, Harnische, verrottete Ruderboote, kaiserliche Münzen, Pilgerabzeichen und byzantinische Nachttöpfe, sondern beispielsweise auch eine städtische Fähre, die eines Morgens von der Bildfläche verschwunden war, anscheinend war sie nachts gekentert und wie ein Stein gesunken; später wurde sie gehoben. Und irgendwo im Schlamm musste auch die luxuriöse Kutsche des Schwiegersohns von Bürgermeister Mazhar Pasa stecken, die in einer anderen finsteren Nacht verschwand, weil sie auf der geöffneten Brücke in vollem Galopp ins Leere raste: Von Kutsche, Pferden, Kutscher und Schwiegersohn fand sich nie auch nur die kleinste Spur.
Das Osmanische Reich zeigte zu allen Zeiten zwei Gesichter. Es hatte etwas Schläfriges, Lethargisches, aber immer wieder gab es auch Phasen von großer Dynamik. Im 17. und 18. Jahrhundert waren zum Beispiel die Vorkehrungen zur Versorgung der Istanbuler Bevölkerung ausgezeichnet, zumindest am Normalfall der damaligen Zeit gemessen. Für die Wasserversorgung nutzte man dankbar das vorzügliche römische und byzantinische System mit seinen Wassertürmen und Aquädukten; außerdem wurden – auch römischer Tradition entsprechend – große Getreidevorräte angelegt, um in Notlagen die Preise niedrig zu halten und möglichen Hungerrevolten vorzubeugen. Die osmanischen Staatsarchive, schreibt der französische Historiker Fernand Braudel, bieten Einblick in »die Funktionsweise einer vielseitigen, sorgfältigen, hochentwickelten autoritären Bürokratie, die in der Lage war, genaue Bevölkerungsstatistiken zu führen, die 50
Verwaltung zu vereinheitlichen, gewaltige Reserven an Gold und Silber anzulegen und systematisch den Balkan, die vorgeschobene Bastion des Reiches gegenüber Europa, durch die Ansiedlung von Nomaden zu kolonisieren ... All dies wirkt erstaunlich modern.« Zudem verstanden es die Osmanen ausgesprochen gut, sich veränderten Gegebenheiten anzupassen und neue Techniken zu entwickeln. Während ihrer Eroberungskriege im 15. Jahrhundert waren sie den Europäern im Kanonenbau und in der Miniertechnik weit voraus, und später gelang es ihnen – für ein Volk aus der Steppe bemerkenswert schnell –, eine schlagkräftige Flotte zu bauen. Doch immer wieder konnte plötzlich eine Phase der Erstarrung eintreten und der Erneuerungswille einer trotzigen Unbeweglichkeit Platz machen. Im 18. Jahrhundert wandten die osmanischen Kommandeure in den Kriegen mit westlichen Staaten noch genau die gleichen Taktiken an wie zweihundert Jahre zuvor, obwohl sich das Militärwesen rasant weiterentwickelt hatte. Es war nun einmal so, dass die Osmanen auch großen Wert auf Traditionen legten, auf Althergebrachtes, auf Ränge und Stände, auf Ruhe und Ordnung. Ende des 19. Jahrhunderts begann dann wieder eine dynamische Phase. Die Bevölkerungsstruktur der Stadt war der des damaligen Wien sehr ähnlich – ein soziales Gefüge von großer Vielfalt und in ständiger Bewegung, aber auch reich an Spannungen. Über viele Jahre hätte Istanbul nicht einmal als muslimische Stadt gelten können: Laut osmanischer Volkszählung von 1886 lebten in der Region Istanbul insgesamt mehr Christen (um genau zu sein: 444 294) als Muslime (384836). Wie es auch in Wien geschah, strömten jedoch immer mehr Menschen aus anderen Gebieten in die Stadt, verbitterte Immigranten, die das Gleichgewicht störten. So suchten nach Verfolgungen und Plünderungen mehr als eine Million Muslime vom Balkan und aus Südrussland 51
Zuflucht im Osmanischen Reich, und diese Menschen erinnerten sich noch sehr genau an die erlittenen Demütigungen. Viele von ihnen kamen nach Istanbul. Gleichzeitig drängten Zehntausende armer Bauern in die Stadt, häufig Kurden, die eine starke Abneigung gegen die christlichen Armenier der Städte hegten. Dazu kamen noch Tausende von Christen, die wiederum von den Muslimen aus Anatolien vertrieben worden waren. Das berühmte Handbook for Travellers in Turkey von 1878 vermerkt: »Immer werden acht oder neun Sprachen auf den Straßen gesprochen, und auf den Ladenschildern stehen fünf oder sechs. Die Rassen haben nichts Gemeinsames; außer beim Handel gibt es keine Beziehungen zwischen ihnen; jeder lebt in ständiger Furcht vor allen anderen.« Das Osmanische Imperium verfiel; besser gesagt: Die Anzeichen eines Verfalls, der schon seit Jahrhunderten im Gange war, wurden nun sichtbar und spürbar. Das lag nicht nur an der Selbstzufriedenheit der Eliten, obwohl es ihnen vielleicht möglich gewesen wäre, den Niedergang noch eine Zeitlang aufzuhalten, hätten sie mehr Neugier und Weltoffenheit besessen. Aber es gab noch andere Gründe. Das Reich besaß beispielsweise keinen freien Seeweg nach anderen Erdteilen; Marokko kontrollierte die Durchfahrt vom Mittelmeer in den Atlantik. Außerdem hatten die Osmanen spät und zu langsam Anschluss an die technologische Entwicklung des 19. Jahrhunderts gesucht. Und schließlich war im Osten ein neuer Rivale herangewachsen: Russland, das sich nun ebenfalls modernisierte. Doch die osmanischen Mächtigen reagierten, wie es bei Imperien im Auflösungsprozess häufig zu beobachten ist, mit Angstpolitik. Immer krampfhafter klammerten sie sich an ihre zerfallende Welt, überall sahen sie Feinde, überall glaubten sie Probleme mit Gewalt und militärischen Interventionen lösen zu können. Sultan Abdülhamid II. 52
(1876-1909), der in ständiger Furcht vor Mordanschlägen seiner Verwandten lebte, verschanzte sich in seinem Palast und herrschte in der Art eines Despoten, unterstützt durch ein Heer von Spionen, Zensoren und Denunzianten. Die Mauer der Zensur ließ keine unliebsame Nachricht durch. Über die Ermordung des Schahs von Persien berichteten die Zeitungen in Pera wie folgt: »Seine Majestät der Schah fühlte sich am Nachmittag unwohl. Sein entseelter Leib wurde nach Teheran überführt.« Als es dann schließlich zur Revolution kam, begann sie mit Aktionen von ein paar hundert jungen Armeniern, die auf ihre Weise auf das harte Regime des Sultans reagierten. Inspiriert von den frühen marxistischen und anarchistischen Gruppen in Europa und Russland, schlossen sie sich zu einer revolutionärnationalistischen Bewegung zusammen. Ihre Angriffe richteten sich zunächst vor allem auf »Verräter« aus der eigenen Volksgruppe; Armenier in Diensten des Sultans waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Bald verbreitete man aufrührerische Manifeste, es kam zu Demonstrationen und Schießereien, und die osmanischen Paschas begannen sich Sorgen zu machen: Seit 1453 hatten Christen in Istanbul keine offene Revolte mehr gewagt. Im Hinterland wurde die Repression verschärft; kurdische Milizen bekamen freie Hand für die Niederschlagung jeder vermeintlichen oder tatsächlichen armenischen Rebellion. Tausende von Armeniern wurden ermordet. 1895 marschierten etwa zweitausend mit Messern und Pistolen bewaffnete armenische Revolutionäre zum Sultanspalast und riefen die Parole »Freiheit oder Tod!«. Sie hofften auf Unterstützung durch die europäischen Staaten, auf den Einsatz europäischer Polizeikräfte in den armenischen Provinzen oder, wenn es dazu nicht kam, wenigstens auf den Beistand der europäischen Arbeiterklasse. Doch die Regierung ließ, wie man es 53
ausdrückte, »den Pöbel los«. Geschickt machte sie sich die Wut der muslimischen Bevölkerung zunutze; der Mob durfte ungestraft auf offener Straße Armenier erschlagen. Hunderte von Arbeitern und gerade erst Zugezogenen, noch leicht an ihrer Kleidung zu erkennen, waren die Opfer. Das Massaker dauerte zwei Tage, in einigen Vierteln zwei Wochen. Ein Jahr später ging das Morden von neuem los. Als Vorwand dienten diesmal eine Reihe von Bombenanschlägen armenischer Revolutionäre und eine Geiselnahme in der Zentrale der Osmanischen Bank in Galata. Louis Rambert, Angestellter dieser Bank, sah mit eigenen Augen, wie mehrere armenische Ruderer mit Knüppeln erschlagen wurden, was eine große Menschenmenge auf der Brücke mit sichtlichem Vergnügen beobachtete. »Alle armenischen Häuser und kleinen Läden werden angegriffen«, schrieb er in sein Tagebuch. »Leute dringen ein und plündern alles. Es spielt sich fast lautlos ab. Jeder Armenier, den sie auf der Straße antreffen, wird getötet.« Nach einem Tag wurden die Knüppel wieder brav bei den Polizeiwachen abgeliefert, offenbar auf höheren Befehl. Es hatte über sechstausend Todesopfer gegeben. Die Stadt, die immer ein Zufluchtsort für Minderheiten und Verfolgte gewesen war, hatte sich in ein Jagdrevier verwandelt. Zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren mussten Menschen aus der »Zufluchtsstätte des Universums« und dem »Tor zum Glück« fliehen. Dennoch war die Modernisierung der türkischen Gesellschaft nicht mehr aufzuhalten. Das alte, dörfliche, in sich gekehrte Istanbul zerfiel, die Städter witterten den nahenden Untergang und verhielten sich wie kultivierte Passagiere eines sinkenden Schiffs. Unauffällig und diszipliniert, aber entschlossen kletterten sie über die Reling zu dem glänzenden, modernen Traumgefährt hinüber, das inzwischen längsseits gegangen war. 54
Was sich hier vollzog, war ein spektakulärer kultureller Umbruch, ein Wandel der Mentalität, wie er nur selten vorkommt. Unter den Fußgängern auf der Brücke war um die Jahrhundertwende – man sieht es auf zeitgenössischen Fotos – europäische Kleidung schon die Regel und traditionelle die Ausnahme; der Turban hatte dem obligatorischen Fez Platz gemacht, die Männer hatten sich die Bärte abrasiert. Gleichzeitig kam das Osmanische, die Verwaltungs- und Literatursprache des Reiches, allmählich außer Gebrauch; Arabisch und Persisch waren nicht mehr die wichtigsten Fremdsprachen, das Französische gab den Ton an. Der Harem, wenige Jahrzehnte zuvor noch ein weit verbreitetes Phänomen, galt nun als kostspieliges und bizarres Relikt barbarischer Zeiten: Bei der Volkszählung von 1907 hatten nur noch 2,16 Prozent der verheirateten Männer in der Stadt mehr als eine Frau. Pierre Loti war 1877 mit seiner Affäre noch ein großes Risiko eingegangen, bei seiner Rückkehr im Jahr 1903 wurde er öffentlich geehrt. Der deutsche Orientalist Max Müller, der 1897 das hektische Treiben auf der Brücke beschrieb, stellte verwundert fest, dass zwischen den Männern viel mehr Frauen zu sehen waren, als er erwartet hatte. »Die orientalischen Frauen, in weiße, rote, blaue, grüne und violette Gewänder gekleidet, gehen in aller Ruhe und ohne Angst über die Brücke; ihr größter Reiz sind die schwarzen Augen, die hinter ihren durchscheinenden Gesichtsschleiern glänzen.« Revolutionär gesinnte Frauen zeigten sich sogar immer öfter ohne Kopftuch. Eine Karikatur in der Zeitschrift Hayal spiegelt diese Veränderungen wider. Zwei Frauen begegnen sich auf der Straße, die eine traditionell gekleidet, die andere modern. Die traditionell gekleidete fragt: »Meine Tochter, was ist das für ein Aufzug? Schämst du dich nicht?« Worauf die andere erwidert: »In diesem Zeitalter des Fortschritts müsstest du dich schämen!« 55
Mit der Vorstellung von »Modernität« war damals fast untrennbar die Idee der Nation verbunden; auch hier sprach man von nationalem Stolz, von nationalem Fortschritt. Zunächst, schreibt der britische Historiker und Istanbul-Experte Philip Mansel in seiner exzellenten Geschichte der Stadt, bildete der traditionelle Kosmopolitismus Istanbuls einen »heroischen Kontrast« zum »schrillen Nationalismus, der das politische, intellektuelle und emotionale Klima anderer europäischer Hauptstädte bestimmte«. Doch bald erlag auch in dieser Stadt die »liberale« und »moderne« Elite den Verlockungen nationalistischer Ideen. Mansel: »Die sozialen, ökonomischen und kulturellen Bande, durch das Zusammenleben in derselben Stadt geknüpft, konnten die emotionale Befriedigung und den Appell an Gerechtigkeitssinn, Solidarität und Opferbereitschaft, die der Nationalismus bot, nicht aufwiegen. Die Stadt war nicht genug: Viele ihrer Bewohner sehnten sich nach einem eigenen Staat.« Diese Sehnsucht äußerte sich zuerst bei den stark an Europa orientierten Armeniern. Seit 1889 traten aber auch nationalistische türkische Studenten und andere junge Angehörige der türkischen Elite in Aktion. Diese sogenannten Jungtürken hatten sich nach guter revolutionärer Tradition in Zellen organisiert, geheimen Verbindungen, deren Mitglieder sich überall im Bildungswesen, in der Armee und im öffentlichen Dienst eingenistet hatten. Ihre Anführer waren allerdings schon bald gezwungen, sich nach Ägypten abzusetzen. Im Juli 1908 brach in der Garnison von Saloniki eine Meuterei aus, die rasch auf die Truppen im ganzen Reich übergriff – viele Soldaten hatten seit Monaten keinen Sold mehr erhalten – und dem Sultan innerhalb weniger Wochen eine Reihe von Zugeständnissen abtrotzte. Die Zensur wurde abgeschafft, eine Amnestie für politische Gefangene erlassen und eine neue Verfassung 56
ausgearbeitet; für den Herbst wurden freie Wahlen angesetzt. Damit war, trotz allem noch unerwartet schnell, nach fünf Jahrhunderten das Ende des osmanischen Absolutismus besiegelt. Halide Edib Adikvan erinnerte sich, wie eine gewaltige Menschenmenge über die Brücke strömte, eine Masse, »die etwas Außergewöhnliches ausstrahlte, die lachte und weinte, von solch tiefen Empfindungen bewegt, dass man alle Mängel und alles Hässliche in der menschlichen Natur für einen Augenblick vollständig vergaß.« Als die Anführer der Jungtürken aus dem Exil zurückkehrten, bereiteten ihnen Zehntausende auf den Kais und auf der Brücke einen begeisterten Empfang. Von da an sollte die Macht mehr und mehr auf diese Gruppe übergehen. Gleichzeitig entstand eine Gegenbewegung. Ein gewisser »Blinder Ali«, ein fundamentalistischer Prediger, verdammte die moderne Verfassung. Er forderte die Einführung der Scharia, des heiligen islamischen Rechts; Cafés, Theater und Fotografie waren zu verbieten, und natürlich musste unbedingt Schluss sein mit der Bewegungsfreiheit der muslimischen Frauen außerhalb der eigenen vier Wände. Schließlich marschierte er an der Spitze einer großen Menschenmenge zum Yildiz-Palast. Tatsächlich zeigte sich der Sultan an einem Fenster, und Ali rief aus: »Wir wollen einen Hirten! Eine Herde kann ohne einen Hirten nicht leben!« Ali wanderte ins Gefängnis, doch seine Anhängerschaft wuchs weiter: traditionsbewusste Muslime, aber auch zahlreiche Beamte, Offiziere und andere Staatsdiener, die unter dem alten Regime ein angenehmes Leben gehabt hatten. In der Hagia Sophia fanden antirevolutionäre Versammlungen statt, bei denen die Einführung der religiösen Gesetze gefordert wurde: »Vorwärts! Wenn wir fallen, fallen wir als Märtyrer, gebt nicht nach!« Im April 1909 wurde auf der Brücke der Redakteur einer antirevolutionären Zeitung ermordet. Konservative 57
Soldaten meuterten, forderten die Absetzung der jungtürkischen Minister und Offiziere, die Einführung der Scharia und die Entfernung der muslimischen Frauen von der Straße. Ein niederländischer Journalist, Kees Valkenstein vom Algemeen Handelsblad, wurde zufällig Zeuge der Rebellion: »Meuterei? Genaues weiß niemand. Auf einmal viel Bewegung auf der Brücke. Gewehrschüsse. Da wird einem urplötzlich ein bisschen mulmig. Was hat man hier auch zu suchen, so nah am Geschehen. Von der Brücke kommt eine wilde – nein, verängstigte Horde fliehender Menschen. Panik greift um sich. Alle rennen fort, und man flüchtet mit. Nur fort von der Brücke.« Doch alle Versuche, die Revolution rückgängig zu machen, schlugen fehl. Noch im April 1909 wurde der Sultan abgesetzt und nach Saloniki verbannt; sein Bruder folgte ihm auf den Thron. Der Palastkomplex von Yildiz, das Regierungszentrum des Reiches, wurde geräumt, der Erste Eunuch zusammen mit den Anführern der Meuterei auf der Brücke gehängt. Die zweihundertdreizehn. Haremsdamen des Sultans wurden freigelassen und ihren Verwandten übergeben, die »geblendet waren von den bildschönen Gesichtern, den reizenden Manieren und der reichen Kleidung«. Das osmanische Parlament konnte nun wie eine normale demokratische Volksvertretung arbeiten. Die nach Zehntausenden zählenden herrenlosen Hunde der Stadt wurden eingesammelt und auf einer kleinen unbewohnten Insel im Marmarameer ausgesetzt. Zuerst konnte man sie von vorbeifahrenden Schiffen aus noch hoffnungsvoll am Ufer warten sehen. Aber bald war von See her nächtelang ein grässliches Jaulen zu hören. Die letzten Überlebenden zerrissen sich gegenseitig. Endlich war der Weg frei für Istanbul als moderne Metropole. Inzwischen war es höchste Zeit für eine neue Brücke. Jahrelang hatte der paranoide Sultan jede konkrete 58
Planung verhindert. Wenn unterhalb der neuen Brücke auch wieder Läden gebaut würden, könnten von dort aus, so fürchtete er, Rebellen auf seine Soldaten schießen. Erst nach dem Umsturz von 1908 wurden die Planungen konkret. Die neue Brücke sollte ein Muster an Modernität werden, darin war man sich einig, aber wie sah diese Modernität aus? Sollte es die französische sein, sollte sich die Brücke durch die Eleganz des Pont Alexandre III oder einer ähnlichen Seinebrücke auszeichnen? Oder war die Modernität Britanniens vorzuziehen, der Wiege der Demokratie? Oder hielt man sich am besten an die solide deutsche Modernität? Der französische Entwurf schied wegen seiner praktischen Nachteile rasch aus: Unter einer eleganten Seinebrücke hätten keine Geschäfte und Kaffeehäuser gebaut werden können. Die folgenden Verhandlungen gaben einen Vorgeschmack auf das politische Kräftespiel des neuen Jahrhunderts. Das galt vor allem für das Verhältnis zu den Briten. Das Osmanische Reich hatte seit jeher auf britische Unterstützung rechnen können, zum einen, weil es eine Gegenmacht zu Russland darstellte, zum anderen, weil man es brauchte, um die Verbindungswege zur Kolonie Indien zu sichern. Noch 1908 hatte eine jubelnde Menge auf der Brücke die Kutsche des britischen Botschafters ausgespannt und sie die steilen Straßen zu seiner Residenz hinaufgezogen. Kurzum: Eigentlich war damit zu rechnen, dass ein britisches Unternehmen den Zuschlag erhalten würde. Die britische Diplomatie hatte jedoch im Stillen eine Kehrtwendung vollzogen – einen strategischen Kurswechsel, der gewiss zum Untergang des Osmanischen Reiches beigetragen hat. Aus britischer Sicht war Russland kein Gegner mehr, sondern ein potentieller Verbündeter gegen Deutschland. Außerdem wuchs in London die Befürchtung, die vermeintlich von »Juden und Freimaurern« angezettelte türkische Revolution könne auf 59
die britischen Besitzungen im Mittleren Osten übergreifen. Und die britischen Botschafter in Istanbul schafften es dank ihrer Arroganz, das Verhältnis zur jungen osmanischen Demokratie mehr und mehr zu vergiften. So blieben die Deutschen übrig. Im Jahr 1910 begannen die Vereinigten Maschinenfabriken Augsburg-Nürnberg, noch heute unter der Abkürzung MAN bekannt, mit dem Bau der neuen Brücke. Am 14. April 1912 wurde sie mit der rituellen Schlachtung von zwei schwarzen Schafen eingeweiht. Die alte Brücke schleppte man zu einer mehrere Kilometer entfernten Stelle, an der sie, obwohl verrostet und verfallen, noch jahrelang Dienst tat, bis ein Wintersturm sie zertrümmerte.
Die vierte Brücke war ein völlig neues Phänomen in dieser stets chaotischen Stadt: ein schnurgerader Boulevard, eine Fahrbahndecke ohne Buckel und Löcher, helles Licht. »Ja, das ist eine andere Welt als die des malerischen Istanbul, das wir so lieben«, schrieb Ahmet İhsan in der Istanbul Postasι vom 5. April 1328 (1912 unserer Zeit). »Eine ungewöhnlich breite und ganz ebene Avenue, von Trottoirs für Fußgänger gesäumt, die für sich genommen schon so breit sind wie die alten Straßen Istanbuls, und mit einem prachtvollen Geländer im westlichen Stil an beiden Seiten und hohen elektrischen Straßenlaternen. Kurzum, eine europäische Straße im wahrsten Sinne des Wortes. Und darum gewinnt man den Eindruck unbeschreiblicher Weite. Wir gehen über das ebene Trottoir, das unsere Füße so gar nicht gewohnt sind. Wir fühlen uns glücklich. Wir lachen.« Noch im Herbst desselben Jahres war Istanbul eine Stadt im Krieg. Vier Balkanstaaten – Griechenland, Bulgarien, Serbien und Montenegro –, zum »Balkanbund« zusammengeschlossen, hatten gemeinsam den »kranken Mann am Bosporus« angegriffen, wie das Osmanische Reich genannt wurde. Fast mühelos hatte eine griechische 60
Armee Makedonien erobert und die Stadt Saloniki eingenommen. Sofort begannen die Griechen mit einer »Hellenisierungskampagne«: Moscheen wurden nach fünf Jahrhunderten wieder in Kirchen umgewandelt, Saloniki in Thessaloniki umgetauft und etwa vierhunderttausend Türken aus den neuen griechischen Gebieten vertrieben. Istanbul wurde von Flüchtlingen überschwemmt. Die Hagia Sophia verwandelte sich in ein Hospital für Cholerakranke. In der Grande Rue de Pera sah man Kamele als Last- und Zugtiere, weil sämtliche Pferde von der Armee beschlagnahmt worden waren. Die Griechen der Stadt, jahrhundertelang brave osmanische Untertanen, stolzierten nun nach jeder türkischen Niederlage lachend und siegessicher durch die Straßen Peras. Ihr Patriarch erklärte öffentlich, das Osmanische Imperium sei seiner »Rasse«, seiner Religion und seiner Nation fremd. Alles hielt den Atem an. Bis zum November 1912 hatten die Osmanen ihr gesamtes europäisches Territorium verloren, abgesehen von einem schmalen Streifen um Istanbul. Der bulgarische Zar träumte von einer Revanche für 1453 und von einer Hagia Sophia, die wieder als Kirche genutzt werden würde, und ließ angeblich schon seine Prunkkarossen und kaiserlichen Gewänder für einen triumphalen Einzug bereithalten. Doch weder dem Russischen Reich noch den anderen europäischen Mächten war an einer neuen byzantinischen Macht am Bosporus gelegen, zu groß war die strategische Bedeutung dieser Meerenge. Außerdem drohte die osmanische Regierung damit, erneut »den Pöbel loszulassen«, wenn die Bulgaren in die Stadt einmarschieren sollten, diesmal jedoch auf alle Christen. Zum letzten Mal verständigten sich die damaligen europäischen Großmächte auf ein gemeinsames Vorgehen. Britische, französische, deutsche und russische Kriegsschiffe, vierzehn insgesamt, gingen mit Erlaubnis der osmanischen Regierung im Bosporus vor Anker. Fast 61
dreitausend Marinesoldaten besetzten strategisch wichtige Punkte rund um Pera, um im Notfall die griechische und armenische Bevölkerung schützen zu können. Doch der bulgarische Angriff auf die Stadt hatte sich bald festgefahren; Anfang September wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. Die Jungtürken nutzten die Niederlage für einen Staatsstreich. Von da an war der Sultan kaum mehr als eine Marionette. Vorübergehend schien das Leben der Durchschnittsbürger wieder in vertraute Bahnen zurückzufinden. Der Ex-Offizier Irfan Orga beschreibt in seinen Jugenderinnerungen die fast märchenhafte Atmosphäre des Viertels hinter der großen Blauen Moschee, mit seinen umschlossenen Gärten hinter Holzhäusern, dem Gurren der Tauben, dem einzigartigen Licht und dem Rauschen des Marmarameers, das durch die geöffneten Fenster zu hören war. Als er fünf Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Wochen bei seinem Onkel und dessen Frau in einem Landhaus am Bosporus. Abends ruderte er mit seinem Onkel übers silberne Wasser, während Mutter und Tante in ihren leuchtend bunten Seidenkleidern unter der Magnolie Kaffee tranken; manchmal schwammen sie im Meer. Braungebrannt machte sich die Familie auf die Heimreise; als ihre Fähre an dem Landhaus vorbeifuhr, winkte sie fröhlich den Verwandten und Dienstboten zu, die sich in dem paradiesischen Garten versammelt hatten, »und keiner von uns ahnte, dass wir Abschied von einem Leben nahmen, das für immer der Vergangenheit angehören sollte«. Drei Monate später erschien in Irfan Orgas Viertel der städtische Ausrufer, von einem Mann mit großer Trommel begleitet: »Alle Männer der Jahrgänge 1880 bis 1885 haben sich bei der Einberufungsstelle zu melden ...« Es war November 1914, und das prodeutsche Regime der Jungtürken wollte im europäischen Krieg nicht länger 62
neutral bleiben. »Krieg mit Mütterchen Russland!«, stöhnte der machtlose Sultan. »Dabei reicht schon ihr Leichnam, um uns zu zerschmettern!« Der Mufti von Istanbul rief – wie seine christlichen Kollegen in Berlin, Paris, Petrograd und London – zum heiligen Krieg auf: »Wer in ihm den Tod findet, wird den Ruhm des Märtyrertums erlangen!« Einen Monat später war in der Stadt kaum noch Brot zu bekommen. Die Brücke lag in diesem Winter still und verlassen da. Gas- und Wasserversorgung gerieten häufig ins Stocken. Kaiser Wilhelm II. kam zu einem Staatsbesuch; auf den unruhigen Bildern der Wochenschaufilme sieht man ihn in voller Montur über die Brücke fahren, durch ein Spalier von Marinesoldaten und Matrosen.
Im Frühjahr 1915 wurden in Istanbul plötzlich etwa zweitausendvierhundert prominente Armenier verhaftet und deportiert; niemand hat je wieder ein Lebenszeichen von ihnen erhalten. Wenig später machten Gerüchte über Massendeportationen und Massaker an anatolischen Armeniern die Runde. Bei Kriegsbeginn hatten die Jungtürken den armenischen Nationalisten ein Bündnis vorgeschlagen: Als Gegenleistung für einen bewaffneten Aufstand im russischen Teil Armeniens sollten die Armenier einen autonomen Staat unter türkischer Protektion erhalten. Die Armenier lehnten das Angebot ab und entschieden sich für eine Politik der Neutralität. Als türkische Truppen im Kaukasus eine schwere Niederlage erlitten, machte man dafür armenische Rebellen mitverantwortlich, die angeblich ihren eigenen »Volkskrieg« gegen das Osmanische Reich führten. Von da an betrachteten die Jungtürken alle Armenier als Verräter. Man müsse die Armenier »schwächen«, hieß es, um ihrem Streben nach Eigenstaatlichkeit ein für alle Mal ein Ende zu bereiten. 63
In dieser blutigen und chaotischen Zeit kamen auch Zehntausende von Kurden und Türken ums Leben, aber was im Jahr 1915 den Armeniern geschah, hat doch eine ganz andere Dimension. Insgesamt »verschwanden« etwa sieben- bis achthunderttausend armenische Männer, Frauen und Kinder – nach anderen Schätzungen sogar bis zu anderthalb Millionen. Sie wurden zum größten Teil in gewaltigen Kolonnen nach Syrien getrieben – damals noch eine osmanische Provinz –, und auf diesen grauenhaften Märschen durch die Wüste starben die allermeisten von ihnen an Seuchen und Auszehrung oder wurden einfach ermordet. Schon am 24. Mai 1915 veröffentlichten die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und Russlands gemeinsam eine Erklärung, in der von Massakern an Armeniern und der Ermordung der Bewohner von mindestens hundert armenischen Dörfern in der Umgebung der Stadt Van die Rede war. Vier Monate später, am 30. September, notierte der österreichische Interims-Botschafter nach einem Gespräch mit einem gutgelaunten türkischen Innenminister, es habe den Anschein, dass der Plan, die armenische Rasse auszurotten, zum größten Teil gelungen sei. Mustafa Kemal Pascha, der als Schöpfer des modernen türkischen Staates später den Ehrennamen Atatürk erhielt, war dagegen außer sich über diese »Schandtat«. Er hätte die Jungtürken, die für Tod und Vertreibung von »Millionen unserer christlichen Bürger« verantwortlich waren, am liebsten aufknüpfen lassen. Die Bevölkerungsstatistiken Istanbuls sprechen eine deutliche Sprache: Der armenische Anteil, 1914 noch 25 Prozent, war bis 1920 auf 8,5 Prozent gesunken. Zwei von drei Armeniern waren »verschwunden«. Im Oktober 1918 fielen die ersten Bomben auf die Stadt. Am 11. November mussten dann auch die stolzen Jungtürken den Krieg verloren geben. Britische Kriegsschiffe gingen im Bosporus vor Anker; im Frühjahr 64
1920 wurde die Stadt sogar von alliiertem Militär besetzt. Auf einem weißen Pferd, einem Geschenk der Griechen, ritt der französische General Franchet d’Esperey wie ein Triumphator in die Stadt, eine unmissverständliche Anspielung auf die Ereignisse von 1453, als Mehmed II. bei seinem Triumphzug ebenfalls einen Schimmel geritten hatte. Fast fünf Jahre lang sollte die Stadt nun unter fremder Verwaltung stehen. Die Griechen und andere Minderheiten wurden mehr und mehr als Kollaborateure angesehen; die Gegensätze zwischen dem neuen nationalistischen und dem alten multikulturellen Istanbul verschärften sich in dieser Zeit dramatisch.
Das alte Osmanische Reich wurde weitgehend unter den Siegern aufgeteilt. Der griechische König durfte seine Träume von einem neuen Byzanz verwirklichen und seinem Land das ausgeblutete Anatolien einverleiben, unter der Bedingung, dass er mit den »Räuberbanden« der Jungtürken abrechnete. Diese konnten jedoch unter der Führung Mustafa Kemal Paschas die griechische Invasionsarmee vernichtend schlagen. Am 29. Oktober 1923 riefen sie die Türkische Republik aus. Ihre Hauptstadt: Ankara. Nach mehr als eintausendfünfhundert Jahren wurde Istanbul plötzlich auf den zweiten Platz verwiesen. Vielleicht müsse sich das ganze Schwarze Meer in den Bosporus ergießen und alles überschwemmen, meinte Mustafa Kemal, um die Stadt von Schmutz, Heuchelei, Lügen und Amoralität zu reinigen. Die Grande Rue de Pera wurde gleich in İstiklâl Caddesi umbenannt: Unabhängigkeitsstraße. Die neue Regierung nahm eine Art Revolution von oben in Angriff. Ende 1925 wurden der Fez – »dieses Symbol der Unwissenheit, der Nachlässigkeit, des Fanatismus und der Abneigung gegen Zivilisation und Fortschritt« – und andere traditionelle Kleidungsstücke gesetzlich verboten. Statt des Fezes war nun etwa ein Hut zu tragen, »die 65
Kopfbedeckung, derer sich die gesamte zivilisierte Welt bedient«. Das war jedoch erst der Anfang eines einschneidenden Wandels. Einer der Schriftsteller dieser Stadt hatte seine türkischen Landsleute einmal mit den Worten »Ach, ihr Unseligen auf dem lautlosen Schiff nach Osten, die ihr nach Westen schaut!« beklagt. Dieser Zwiespalt wurde nun, zumindest offiziell, endgültig überwunden. Noch im Winter 1925 wurde der islamische Mondkalender durch den gregorianischen Kalender ersetzt. An die Stelle des jahrhundertealten osmanischen Rechtssystems – zu dem auch wesentliche Elemente des islamischen Rechts gehörten – trat das schweizerische Bürgerliche Gesetzbuch. Polygamie wurde für illegal erklärt. Die arabische Schrift wurde verboten, fortan war ausschließlich die lateinische zu verwenden. Der Sonntag ersetzte den Freitag als offiziellen Ruhetag. Die Frauen erhielten volles Stimmrecht, und alle Türken hatten einen eigenen Nachnamen zu wählen. Außerdem sollte die Türkei ein ethnisch »reines« Land werden. Während des ersten Weltkriegs hatte der Schweizer Anthropologe und Völkerkundler Georges Montandon die Theorie der »Homogenisierung der Nationalstaaten« entwickelt: Um zukünftige internationale Konflikte wegen nationaler Minderheiten zu vermeiden, sei es notwendig, Nationen durch großangelegte »Transplantationen« von Bevölkerungsteilen zu »entmischen« und von allen nicht der jeweiligen »Nation« zugehörigen Elementen zu »säubern«. Griechenland und die Türkei gehörten zu den ersten Ländern, die diese Theorie, unter dem Druck des Völkerbunds, in die Praxis umsetzten. In ihrem Friedensvertrag von 1923 vereinbarten sie einen »Bevölkerungsaustausch«, eine wechselseitige »ethnische Säuberung«: Etwa 1,3 Millionen Griechen und fast eine halbe Million Türken wurden vom einen Land ins andere zwangsumgesiedelt. Nur die 66
Griechen Istanbuls durften – vorläufig – bleiben. Doch der tiefste Einschnitt war wohl die Säkularisierung der türkischen Nation. Ein modernes Land konnte nach Auffassung Atatürks und seiner Mitstreiter nicht gleichzeitig ein religiöses Land sein. Die Koranschulen wurden aufgelöst, die Derwischorden verboten und ihre Klöster geschlossen, das Kalifat aufgehoben. Noch einmal bildete die Galatabrücke die Bühne für eine geschichtsträchtige Szene: Kurz vor seiner endgültigen Absetzung erhielt der letzte Sultan, der letzte Kalif, der letzte Thronerbe des osmanischen Herrscherhauses von einem britischen Polizisten ein Strafmandat, weil er auf der Brücke ein Automobil falsch überholt hatte. Der Strafzettel hängt noch heute in einem kleinen Rahmen irgendwo im Dolmabahçe-Palast, und das völlig zu Recht. Denn dieser kleine Vorfall symbolisierte wie kein anderer das definitive Ende des Imperiums. Und alles, was diese Stadt zu etwas Besonderem gemacht hatte, war verloren oder zu Grunde gegangen: der Handel, das Sultanat, der Hauptstadtstatus, die Dynamik der offenen, multikultutellen Metropole. Irfan Orga, der glückliche kleine Junge des Sommers 1914, hatte inzwischen innerhalb eines einzigen Jahres seinen Vater, seinen Onkel und sein Zuhause verloren. Er versuchte seinen Hunger mit Gras zu stillen.
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D
IV STURM DER AMSELN ie Brücke
Wenn niemand über die Brücke geht Ob die Brücke dann denkt? An den Idioten, der im Gehen ekstatisch mit einer Wäscheklammer vor seinen Augen fuchtelt An den Mann, der auf den Bänken beim Anleger von Üsküdar Sonnenbäder nimmt An das, was hinter dem Ufer von Üsküdar liegt Kastamonu, Sivas, Safranbolu ... Erzerum Hier sind in den Menschen große Ferngläser wie Rosen aufgeblüht. Hier rollen die Teigmacher mit riesigen Rollhölzern – Aus dem Teig ihres Inneren –
Durchsichtige, hauchdünne Träume von ihrem Heimatland. Blasse, dicke Süßwarenhändler mit rosigen Wangen, Gar nicht trübsinnig, wenn sie ihre Drops und Toffees auf den marmornen Ladentisch werfen, Bleiben hier nicht in dieser Stimmung, werden hier zu Dichtern Ihre Hände duften Nach dem Sesamnougat, der knistert, wenn er mit großen Messern geschnitten wird Schöne, große Menschen Wie die Janitscharen-Wachsfiguren im Militärmuseum Stehen hier Schulter an Schulter
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Mit guten Menschen, dick geworden von ihren Pasteten, mit schlechter Butter zubereitet, Und spähen nach dem Taucher.
Menschen, die ihre kleinen Finger ineinandergehakt haben. Menschen, die in ihren gelben Kleidern Die warmen Nächte gesehen haben in dem Dorf ohne Gänse Den klirrenden Frost und die Erdbeben, die Überschwemmungen und die Kriege; Menschen, die von magerer Buttermilch mit Schaum lebten, von Weizengrieß mit Steinchen; Die kleinen Finger ineinandergehakt ... Manchmal sinken sie zu Boden in einem plötzlichen Anfall von Epilepsie ... Woher kommen sie, wohin gehen sie? Die kleinen Finger ineinandergehakt ... Sie sind die Schlafwandler der Brücke.
Sie alle haben mit zwanzig, dreißig die Träume eines Greises geträumt; Froh sind sie, froher noch als die Angler selbst, wenn sie eine Makrele fangen, In den Booten dort unten, wo die Draufgänger von Istanbul sich sammeln; Sie liehen altbackene Sesambrötchen, zwei Stück für sechzig Para Bei ihnen liegt alles in tiefem Schlaf Heldenmut, Freundschaft, Zuneigung und Toleranz ... Alle Nöte und alles Verlangen.
Der Mann dort, mit dem scharf ausrasierten Nacken Den straff zurückgekämmten Haaren Den weiten Kleidern, dem goldenen Blick, der Blonde mit den langen Beinen,
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Wissen Sie, wer das ist? Nicht nur die Brücke kennt ihn, auch die alten Polizisten: – Mann, du schon wieder? fragen sie. Er zuckt zusammen, nimmt die Hände aus den Taschen, wirft sein« Kippe auf dem Boden – Ich geh ja schon, meine Herren, Jungs, sagt er. Das ist der berühmte Taschendieb İstavro aus Yedikule Und wirklich ein hübscher Kerl.
Ein anderer betrachtet nach zehn Uhr abends die Schiffe und ihre Lichter, und lacht.
Ach, wenn ihm jemand ein Ticket kaufen würde, wäre es keine Kunst, um die Welt zu reisen; Sein Nachbar denkt ans Bleiben, obwohl Weggehen das ist, was er will Nur ist bei ihm alles Schwindel, Tagtraum und Melancholie. Wenn aber jemand hier ist, um einen Freund zu suchen Sollte man ihm lieber aus dem Weg gehen ... Auf der Brücke schließt man keine Freundschaften; Von der Brücke aus schaut man zu. Sait Faik (Abasiyanik)
Den Lastträger hatte eine Frau um den Verstand gebracht. Er war Jahrgang 1929, allmächtiger Gott, der Älteste auf der Brücke; er hatte alles erlebt in seinem Leben. Und dann ließ er sich verhexen und war verloren. »Komm mit, er soll es dir selbst erzählen«, sagten die Zigarettenjungen und zeigten auf eine finstere Ecke hinter dem Busbahnhof Da saß der Mann auf einer Apfelsinenkiste und rauchte. Auf Trümmern der alten Stadtmauer hatte er seine Ware ausgelegt: eine blassgraue Herrenhose, einen weißen Damenpullover, eine blaue 71
Wollweste, eine abgetragene Windjacke. Umsatz: durchschnittlich acht Millionen am Tag. Er lebte wie ein afrikanischer Söldner, schlief in billigen Gasthäusern oder auf der Straße, immer eine Hand am Messer. Und nie wusste er, welches Unheil oder Glück der neue Tag bringen würde. Seine Ledermütze war sein kostbarster Besitz. »Geld ist nicht wichtig, betrachten Sie ihn als Geschenk«, hatte er zu der Frau gesagt, die voriges Jahr an einem kalten Herbstabend vor seinen Auslagen stehen geblieben war. Damals hatte er Schirme verkauft, unten an der Brücke, und an diesem Tag waren die Geschäfte so gut gegangen, dass er ihr einen Schirm geschenkt hatte, einfach so, nur um ihrer Augen willen und weil es so stark regnete. »Wie kann ich mich denn revanchieren?«, hatte sie gefragt. »Ein bisschen plaudern«, hatte er geantwortet, »einfach ein bisschen plaudern.« Sie waren in ein Café unter der Brücke gegangen, nur auf ein Gläschen. Und dann hatten sie sich ein Hotel gesucht. »Eine Frau lieben kann man immer, egal wie alt man ist.« Sechsundzwanzig Milliarden hatte er damals auf der Bank, eine Rücklage für seine letzten Jahre. »Ja, natürlich, ich wollte auch einmal so ein Leben haben.« Zwei Monate badete er mit ihr im Luxus von Hotels und Restaurants, dann war all das mühsam zusammengesparte Geld aufgebraucht. »Sie ist jetzt in eine andere Stadt gezogen. Fast sechzig war sie, aber sie hatte immer noch einen wundervollen jungen Körper, schöne Augen, ständig scharwenzelte ein Dutzend Männer um sie herum. Zu mir hat sie dann gesagt: Wer bist du denn schon? Du hast kein Geld, kein Zuhause, nichts!; Und ehrlich gesagt, sie hatte Recht.« Schon über ein halbes Jahrhundert arbeitet er auf der Brücke. »Als ich sechzehn war, starben meine Eltern. Im Dorf wollte niemand für mich sorgen, in der Armee habe ich Lesen und Schreiben gelernt, und dann bin ich hier 72
gelandet.« Er verkaufte Fisch und selbstgemachten Fruchtsaft, schleppte ein Vierteljahrhundert lang Lasten durch die Stadt. »Ich weiß nicht, was morgen sein wird. Krankheiten kenne ich nicht, die haben bis jetzt immer einen Bogen um mich gemacht. Fünf Jahre habe ich im Gefängnis gesessen, dreimal bin ich ausgebrochen. Nein, ich hab vor nichts mehr Angst. Weshalb sollte ich?« Er ist jetzt siebenundsiebzig, und wenn er jünger wäre, sagte er, hätte er sie bestimmt umgebracht. Der Frühling ist gekommen, aber auf der Brücke herrscht miese Stimmung, und es regnet und regnet. »Zieh dir doch die Kapuze hoch, du erkältest dich noch, Junge!«, mahnt der Sohlenmann, dabei ist sein eigener Mantel, ein altmodischer, kamelfarbener Überzieher, schon steif vor Nässe. Er ist jetzt auf Pflaster und rote Batterien in Mehrfachpacks umgestiegen, aber er wird sie einfach nicht los. Seine Traumkunden, die Soldaten auf Urlaub, auf die er gehofft hatte, sind ausgeblieben. Bei schönem Wetter, meint er, wollen die immer Batterien haben – wofür, weiß kein Mensch –, aber daraus wird nun nichts. Er lebt wieder von trockenem Brot, diese Woche hätte er seinem Jüngsten noch nicht einmal Geld für Cola geben können, das musste er sich vom Buchhändler leihen. Die junge Losverkäuferin ist noch ganz berauscht von der gestrigen Sensation: Der Hauptgewinn war auf ein Los gefallen, das ihr Kollege verkauft hatte, dreißig oder vierzig Meter weiter. Gestern war das Fernsehen da, und ihr Kollege hatte eine Milliarde als Prämie kassiert. Aber sie macht sich auch Sorgen. Sie lese keine Zeitungen, habe aber gehört, dass es überall Anschläge gegeben habe: Ein städtischer Bus sei mit Molotowcocktails in Brand gesetzt worden, mindestens zehn Tote; vor einer Parteizentrale sei eine Bombe explodiert; im Norden des Landes habe sich eine Frau in einer Moschee in die Luft gesprengt; am Schwarzen Meer hätten zwei junge Frauen eine Bombe zünden wollen, die aber zu früh explodiert sei; in einer 73
Burger-King-Filiale in einem höhergelegenen Stadtteil hätten zwei durchgedrehte Polizisten ein Mädchen als Geisel genommen; am Kai hier nebenan sei ein Sprengstoffanschlag auf eine Fähre verhindert worden. Sie ist nervös. Das dramatischste Ereignis in ihrem Leben war ein Bombenanschlag auf die Synagoge direkt neben ihrem Haus. Es hatte mehrere Todesopfer gegeben. Sie hatte einen lauten Knall gehört, die Hände auf die Ohren gepresst und die Augen geschlossen, »und danach war die ganze Welt verändert«. Riesige Staubwolken hatten in der Luft gehangen, die Familie musste ihr Haus wegen Einsturzgefahr sofort verlassen, ihr Bruder war durch die Explosion taub geworden. Nur wenige Sachen hatten sie retten können. »Wir wohnen jetzt in einer anderen Gegend, in unserem alten Viertel fühlen wir uns nicht mehr sicher.« Rund um die Brücke sind auch jetzt wieder Sondereinheiten der Polizei im Einsatz, auf den Gehwegen und in den Gängen sind »Zivile« unterwegs. Die Zigarettenjungen gucken in die Röhre, unter diesen Umständen können sie kein einziges Päckchen verkaufen. Sie alle arbeiten unter dem »Schutz« zweier »Chefs«, und die haben schon einige von ihnen entlassen, sogar die miesesten Jobs auf der Brücke kann man noch verlieren. »Das Geschäft ist kaputt, wir haben nichts mehr zu tun«, klagt Önder. »Nur morgens von sechs bis acht kann man noch was verkaufen, dann ist keine Polizei da. Ja, wir sind Kurden, also sind wir Terroristen.« Er hat noch ein anderes Problem: Man hat ihn erwischt, bevor er seine Ware verstecken konnte. Zweihundert Päckchen. Die ist er los, außerdem muss er pro Päckchen zehn Millionen Geldstrafe zahlen. Insgesamt also zwei Milliarden – oder drei Monate Gefängnis. Sein Vetter kommt zu uns; dem ist voriges Jahr auch so etwas passiert, nein, das Leben im Gefängnis sei kein Spaß. »Alle wollen einen schikanieren und ausnutzen. 74
Wenn man Geld hat, wird man respektiert. Man ist da mit richtigem Dreckspack zusammengesperrt, mit Männern, vor denen jeder Angst hat. Mit denen muss man dann gut Freund werden, und das geht nur mit Geld. Wenn ein Junge gerade erst reinkommt, einer mit Babyface, tja ... Und die Familie kann nichts für einen tun, nur Geld zählt. Wer keins hat, sitzt ganz schön in der Scheiße.« Önder seufzt, er wird noch einen Versuch unternehmen, die zwei Milliarden dem belgischen Onkel abzubetteln. Die finanzielle Belastung durch seine anderen Verwandten kann er einfach nicht mehr tragen, die werden in ihr Dorf zurück müssen. Ich hatte Önder nie anders als optimistisch erlebt, heute wirkt er zum ersten Mal niedergedrückt. »Jetzt stecken wir wirklich im Dreck. Wir haben doch keinen Abschluss und gar nichts. Die Polizisten fragen uns: ›Warum bleibt ihr denn hier? Geht doch zu den Terroristen!‹ Aber auch da würden wir kein Bein auf die Erde bekommen. Die Politischen haben alle ’ne gute Ausbildung, die können reden!« Der Teebrüher leidet auch schon unter der Überdosis Polizei auf der Brücke. Schon dreimal hat man sein Kärrchen und seine Kannen beschlagnahmt, und dass es sich beim zweiten und dritten Mal um geliehene Sachen handelte, macht die Sache noch schlimmer. Sein Umsatz ist auf die Hälfte zurückgegangen. »Ich kann mich gerade noch selbst über Wasser halten, nach Hause kann ich nichts mehr schicken.« Er arbeitet jetzt vorübergehend in einer improvisierten Teestube, einer mit Segeltuch abgetrennten und überdachten Lücke in der großen Mauer um den alten Basar. »Zu Hause leben sie jetzt von geliehenem Geld, was bleibt ihnen anderes übrig? Gestern hat mein Vater angerufen: ›Warum bezahlst du die Stromrechnung nicht? Nächste Woche drehen sie uns den Saft ab, dann sitzen wir im Dunkeln!‹« Seine einzige Hoffnung ist jetzt die Fernsehsendung Leuchttürme auf See. Dem Präsentator dieser 75
Überraschungsshow ist er nämlich auf der Brücke begegnet, und der fand seinen Fall interessant. In der Sendung wird Woche für Woche einer armen Familie aus der Klemme geholfen, und warum sollte das nicht einmal seine Familie sein? »Ich brauche doch bloß fünfzig Millionen für die Stromrechnung!« Unter der undichten Segeltuchplane berechnen die Teetrinker seine Chancen. Ende der Woche ist Vorsprechtermin. Auch der Kellner des Galata Cafés macht sich Sorgen wegen seiner Angehörigen zu Hause. Heute lässt sich kein Gast blicken, und so schildert er mir ausführlich die umwälzenden Veränderungen, die sich in seinem Dorf während der letzten Jahre vollzogen haben. Denn es sei ja nicht so, dass in dieser abgelegenen Welt nichts passieren würde, von wegen! Fürs Internet fehle der Jugend tatsächlich noch das Geld, das sei eine Frage der Zeit, aber allein schon die Handys hätten eine kleine Revolution in Gang gebracht. »Die Hirten dürften inzwischen alle eins haben. Bis vor kurzem hatten sie höchstens ein kleines Radio als Ablenkung, wenn sie wochenlang in den Bergen unterwegs waren. Oft hatten sie nicht mal Brot; wenn sie in die Stadt mussten, sind sie zu Fuß über die Schnellstraße gegangen, das Ärmlichste vom Ärmlichen, nicht mal Seife hatten sie. Sie wussten nichts von der Welt und nichts von ihrem eigenen Dorf. Heute telefonieren sie dreimal am Tag mit ihren Frauen.« Die Männer wissen jetzt über alles Bescheid, entscheiden bei allem mit. Die Verlierer bei alldem sind sie Frauen. So kommen wir auf die Frauen in seinem Dorf zu sprechen. Ihrem Leben sind immer noch starre Grenzen gesetzt. Verbotene Liebesbeziehungen sind eine ernste Sache, ein Vergehen, für das eine Frau sogar gesteinigt werden könne. Die meisten könnten nicht einmal lesen und schreiben. Wenn das Internet einmal da sei, würden sie davon auch wenig mitbekommen, und mit Büchern wüssten sie natürlich erst recht nichts anzufangen. Er 76
erwarte deshalb keine schnellen Veränderungen. »Ihr Geist ist erstarrt«, sagt er. »Aber im Satellitenfernsehen sehen sie jetzt schon Dinge, die sie sich früher nicht einmal hätten vorstellen können!« Ich frage ihn, ob er selbst sich verändert habe, seit er in der Stadt sein eigenes Leben lebt. Gewisse Traditionen wie Steinigung und Ehrenmorde lehne er inzwischen noch entschiedener ab, solche Exzesse finde er nur noch widerlich. Und es sei ihm bewusst geworden, wie wenig seine Kinder zu Hause an Bildung mitbekämen, weil seine Frau auch Analphabetin ist. Das sei ein Problem, das ihm immer mehr Sorgen bereite: Wie sollen sie so aufs Lernen vorbereitet werden, auf ein Leben im 21. Jahrhundert? »Natürlich kann eine Frau sich verändern«, sagt er, »das kann sogar diese Serviette hier. Aber wenn man eine Frau nicht zur Schule schickt, begreift sie das moderne Leben nicht.« Ich halte ihm entgegen, was ich hier viele Männer sagen höre: Das ist ihr Los, damit muss sie leben, zusammen mit dem Mann, den ihre Eltern ihr aussuchen. Der Kellner: »Ich sag dir was, von Mann zu Mann. Stell dir vor: Da ist so ein frisch verheiratetes Paar, sie mögen sich nicht, müssen aber zusammenbleiben. Sie sind sich gleichgültig, die Frau kann nicht lesen, sie kann keine Arbeit finden, das Einzige, was sie kann, ist, sich mit ihrem Mann streiten. Und zwischen ihnen sind dann die Kinder. Wenn in so einem Fall die Frau weggehen könnte, wenn das Paar sich scheiden lassen könnte, dann hätten die Kinder wahrscheinlich eine schönere Jugend. Glaub mir, dieses Festkleben an der Tradition, das bringt am Ende nur noch mehr Chaos.« Mit solchen Unterhaltungen verbringen wir die nassen, langweiligen Nachmittage. Allmählich durchschaue ich die Rang- und Standesunterschiede auf der Brücke. Da ist die Hierarchie des Mobiltelefons: Wer kann sich ein Handy 77
leisten und wer nicht? Das Handy vergrößert das Handelsnetz seines Besitzers um ein Vielfaches und damit die Aussicht auf Extraverdienste und vielleicht – wer weiß – den großen Glückstreffer. Viele der Zigarettenjungen haben eins, auch der Fotograf, die Losverkäuferin, der Parfümhändler und der Buchhändler. Der Sohlenmann und der alte Lastträger können nur davon träumen. Es gibt Unterschiede zwischen Arm und Reich, obwohl die auf der Brücke nur ziemlich schwer zu erkennen sind: Einige, von denen ich weiß, dass es ihnen gar nicht so schlecht geht, laufen in Lumpen herum, andere sehen trotz ihrer bitteren Armut immer recht gepflegt aus. Der Buchhändler zum Beispiel hat oft Geldsorgen, aber sein Gebiss ist in einem tadellosen Zustand. Die Frau, die immer wie ein Häufchen Elend auf der Treppe der Unterführung sitzt und bettelt, trägt verdächtig schöne Schuhe. Den Schirmverkäufer kann niemand so recht einschätzen. Er ist oft nicht da, vermutlich hat er in einem Unterführungssystem in der Nähe einen besseren Platz gefunden, aber auf der Brücke behaupten manche, er habe ein großes Geheimnis: Er sei reich. Er habe ein Haus am Meer, eine Frau mit eigenem Auto, studierende Kinder. »Er steht hier nur aus Langeweile, weil er nicht zu Hause sein will, bei seiner Frau«, behaupten die Lästermäuler. Selbstverständlich gibt es auch eine Hierarchie der natürlichen Autorität; hier steht der Fotograf an der Spitze – »Der kennt uns schon, seit wir Kinder waren« – und ganz unten die Junkies. »Abends kann das hier ein ganz übles Pflaster sein«, meint der Buchhändler. »Aber ich fürchte niemanden außer Gott.« Die meisten Probleme bereiten ihm die Jungs, die gerade aus dem Knast kommen und den halben Abend bei ihm herumhängen. »Diese Woche war auch wieder so einer da, der hatte im Gefängnis den Roman Papillon gelesen, und das Buch wollte er nun unbedingt von mir haben. Aber bezahlen wollte er nicht. Er hat mich bedroht, ich musste ihn fortprügeln.« Er zeigt 78
mir seine Geheimwaffe: ein paar blitzende Messerchen an seinem Schlüsselanhänger. »Ich habe noch scharfe Sinne.« Sein Freund, der Sohlenmann, war einmal in eine Schießerei unter Spielern geraten. Einer der Männer war tot zusammengebrochen, der Sohlenmann hatte einen Schuss in den Oberschenkel abbekommen, »ein Souvenir von der Brücke«. Mit den Junkies hat er nie Schwierigkeiten: »Ich kenne die Kinder, und sie kennen mich. Wenn man sie schlägt, schlagen sie zurück. Wenn man sie in Ruhe lässt, tun sie einem auch nichts. Abgesehen von ein paar Klebstoffschnüfflern, die sind wirklich reif fürs Irrenhaus, deren Hirne sind einfach kaputt.« Auch unter den Zigarettenjungen wird viel geschnüffelt, vor allem im Winter, weil es gegen die Kälte hilft. Vor ein paar Tagen erst musste einer von ihnen nach Hause gebracht werden, der mal eben fünf Tuben hintereinander ausgedrückt hatte und nur noch torkeln konnte. Önder ist ganz vom Schnüffeln abgekommen, aber er meint, eins müsse man zugeben: »Klebstoff macht einen schön warm, man vergisst Frost und Regen, man fühlt sich einfach gut.« Vor einiger Zeit hatte er mir die beste Schnüffelmethode beschrieben – »Der gelbe Sohlenkleber ist der beste, aber der kostet mindestens eine Million« – und mich gleich darauf eindringlich gewarnt: »Pass bloß auf! Es macht einen sofort süchtig, ein einziges Mal reicht schon.« Ich hatte ihn nach seinen eigenen Erfahrungen gefragt. Lachend zeigte er mir einen Schnitt in seiner Schulter: Erst letzte Woche hätten ihn Klebstoffschnüffler überfallen, aber er habe nur ein bisschen Blut verloren. Sein Geld hätten sie nicht erwischt. »Habt ihr sehr unter der Kriminalität hier zu leiden?« Jetzt lachte er noch lauter: »Ach was. Die Kriminellen, das sind meistens wir selber.« 79
Immer sprechen die Älteren von der Zukunft. Auf die Zukunft sind sie stolz, an die Zukunft denken sie voller Optimismus, die Zukunft wird alles ins Lot bringen. Nicht mehr für sie selbst, diese Hoffnung haben die meisten längst aufgegeben, aber für ihr vergrößertes, verästeltes, verlängertes Selbst. Fast alle haben irgendwo Kinder, und fast alle diese Kinder steigen auf der sozialen Leiter höher als sie. In der Politik konnte der Schirmverkäufer seine Ideale nicht verwirklicht sehen, in seiner privaten Welt hatte er mehr Glück: Alle seine Kinder haben studiert. Das Gleiche gilt für den Buchhändler, das spanische Ehepaar, sogar für den Sohlenmann. Allein diese vier zusammen haben jetzt – dank Stipendien und staatlicher Universitäten – mindestens ein Dutzend gut ausgebildeter Kinder, wie Millionen andere Verlierer auf der ganzen Welt, die heutzutage hervorragend ausgebildete Nachkommen haben. In gewisser Weise leben die Menschen auf der Brücke also immer noch in einem Dorf, in einer Gemeinschaft mit eisernem Zusammenhalt, deren Kern die Familie bildet, einem System, das ihr Überleben sichert, Unterstützung bei Krankheit und anderen Katastrophen bietet, Gewissheit in turbulenten Zeiten, Hilfe im Alter, Schutz vor einer bösen Welt. Für wen oder was arbeitet die Losverkäuferin? Ganz bestimmt nicht für sich persönlich. Wenn man sich etwas länger mit ihr unterhält, sagt sie es einem: »Für ein eigenes Haus für die Familie.« Warum will der Sohlenmann in seinem Alter noch auswandern? »Um eine Zukunft für meine Söhne aufzubauen.« Eine Handvoll neuer Titel aus der Heftchenromanreihe, die in den meisten Kiosken ausliegt: Heldenkind, Bombe, Erste Liebe. Bis hierhin noch nichts Außergewöhnliches. Aber dann: Wenn die Blätter vergilben – der Umschlag zeigt einen ergrauten Vater, dem eine rebellische Tochter ohne Kopftuch gegenübersteht; Drei Ratschläge – eine alte Frau bricht ein Brot, und das darin versteckte Geld kommt 80
zum Vorschein; Eine zerstörte Familie – ein Kind verlässt mit dem Koffer in der Hand das Haus. »Tradition« und »Ehre« heißen die Fäden, mit denen ein ganzes Paket von Vorstellungen, Gefühlen und Werten verschnürt ist. Das Türkische hat sogar ein besonderes Wort für Familienehre, und alle Konflikte, die mit ihr zusammenhängen, wiegen emotional noch schwerer als gewöhnliche Ehrensachen, vor allem, wenn es um das Verhalten von Frauen geht. Daher auch die strenge Prüfung potentieller Schwiegersöhne und -töchter, die man am liebsten im Kreis der eigenen Verwandtschaft aussucht, um auf Nummer sicher zu gehen. Daher auch eine Lebenseinstellung, die dem »Eigenen« immer Vorrang vor der Integration in eine fremde Umgebung und der Anpassung an eine veränderte Situation gibt. Eine Schwachstelle im Geflecht der familiären Bande wäre ein Risiko, das man nicht eingehen darf, ein unnötiges Aufsspielsetzen der einzigen Lebensversicherung, auf die man sich verlassen kann. Einer der Angler wollte sich immer wieder mit mir unterhalten, dieses Buchprojekt gefiel ihm. »Jeder auf der Brücke hat ein Geheimnis, stimmt’s?«, sagte er eines Nachmittags. »Na ja, ich auch.« Und dann vertraute er mir an, er sei »so wie dieser Parfümhändler in der Passage, der mit der Perücke. Du verstehst schon.« Und dann erzählte er mir tausendundeine Geschichte. Von Familienvätern mit drei, vier Kindern, die immer ein Doppelleben führten. Von Männern, die in gewissen Etablissements ihren eigenen Söhnen begegneten. »In der Stadt gibt es jede Menge Bars und Klubs, mehr als genug Möglichkeiten, aber keiner traut sich. Es ist eine idiotische Welt, mit so viel Heimlichtuerei und Scham und Ratlosigkeit. Arme Männer. Arme Frauen. Alle spielen Theater.« In der traditionellen Familie haben Abweichler keinen Platz, Jungen und Mädchen, die anders sein wollen, die 81
sich modern kleiden, die sich die Werte einer neuen Welt zu eigen machen und gleichzeitig, wie jedes Kind, Söhne und Töchter ihrer Eltern bleiben möchten. In »Ehrenkulturen« wie dieser gehört man der Gemeinschaft entweder ganz oder gar nicht an; auf dem Mittelweg lauern unbekannte Gefahren und Leiden. Fast wöchentlich berichten die Zeitungen von Ehrenmorden, zwischen dreißig und fünfzig pro Jahr. Sogenannte Jungfrauenselbstmorde kommen auch immer häufiger vor: Um Schwierigkeiten mit der Justiz zu vermeiden, werden Mädchen gezwungen, die »Familienehre« durch Selbstmord zu retten. In einer einzigen kleinen Stadt im Südosten, Batman, haben sich allein im ersten Halbjahr 2006 nicht weniger als sechsunddreißig Frauen das Leben genommen. In der improvisierten Teestube spricht man kopfschüttelnd über diese Fälle, fast niemand würde so weit gehen, für die meisten sind Ehrenmorde ein Zeichen von Rückständigkeit und Versagen – und selbst eine Schande. Aber alle kennen solche Geschichten. Zum Beispiel die eines Bauernmädchens, das sich mit einem Jungen aus dem Dorf verlobt hatte. Vor kurzem war sie in die Stadt gezogen und hatte sich in einen anderen verliebt. Ein Dorfbewohner sah sie in der Stadt mit diesem anderen zusammen, folgte ihr, nahm seine Pistole und erschoss sie. Dabei ging es nicht um Moral, sondern um Ehre, und das ist ein feiner, aber wesentlicher Unterschied. Die Familie hatte sich in diesem Fall auf das Dorf ausgedehnt, und die Schande, dass Vater und Brüder die Kontrolle über das Mädchen verloren hatten, war ein Fleck auf der Ehre der gesamten Gemeinschaft, ja eine lebensgefährliche Krankheit, die mit allen Mitteln bekämpft werden musste. »Auf der Brücke gelten nicht viele Gesetze«, sagt der Buchhändler, »aber an eine Regel versuche ich mich immer zu halten, im eigenen Interesse: Beherrsche deine Hand – also stiehl nicht –, beherrsche deinen Mund und 82
beherrsche deinen Schwanz.« Aber sogar der sanfte Buchhändler hat einmal wegen einer Ehrensache ein paar Wochen im Gefängnis verbracht; mehr möchte er darüber nicht sagen. Die Vergangenheit, wird oft gesagt, ist ein anderes Land, ein fremder Kontinent. Man könnte das auch umdrehen: Ein anderes Land, das ist unsere Vergangenheit. Was unsere Vorfahren bewegte, was ihr Handeln bestimmte, ist für uns heutige, säkular gesinnte Westeuropäer oft nur noch schwer nachvollziehbar. Bei vielen Konflikten spielten religiöse Überzeugungen eine große, wenn nicht entscheidende Rolle; man braucht nur zwei, drei Generationen zurückzugehen, um das bestätigt zu finden. Wegen »Ehrensachen« wurden auf jenem anderen Kontinent, der Europa früher war, nicht selten regelrechte Familienkriege geführt, und auch das ist noch gar nicht so lange her. In dieser Stadt, auf dieser Brücke, kommt die »Ehre« noch zu ihrem Recht. Immer wird der Sohlenverkäufer mir Tee spendieren – weil ich Gast seines Landes bin –, auch wenn es ihn den Ertrag eines halben Vormittags Frieren kostet; niemals wird er einen Cent von mir annehmen, auch wenn ihm schmerzhaft der Magen knurrt. Wenn der Parfümhändler in den leuchtendsten Farben die Karriere seines Sohnes schildert, hält er sich vermutlich nicht ganz an die Wahrheit, aber niemand würde das unmoralisch finden: Es ist eben seine Art, Ehre und Status zu wahren, soweit das überhaupt noch möglich ist, und deshalb wird es respektiert. Obwohl ziemlich viele der Brückenleute an der Hungergrenze leben, betteln auffallend wenige. Denn wer bettelt, ist ganz unten angekommen, für ihn gibt es kein Zurück mehr: Er hat seine Selbstachtung verkauft und damit seine Seele. Solche Denkmuster spielen auch in der politischen Sphäre eine große Rolle und schlagen sich in der Berichterstattung und den Kommentaren der Zeitungen 83
nieder. Ehre, Religion, Politik, Geschichte – die Übergänge sind hier fließend. Niemals an der Einheit der ruhmreichen türkischen Nation zweifeln – auch wenn man nur allzu gut weiß, auf welch gewaltsame Art sie in manchen Fällen zustande gebracht wurde, ja gerade deshalb: niemals zweifeln. »Ehre« rettet die eigene Kultur, wenn sie zwischen Ost und West zerrieben zu werden droht. »Ehre« rettet das nationale Selbstbild, immer wenn es in Frage gestellt wird. Wer es wagt, das »Verschwinden« von Hunderttausenden Armeniern als Völkermord zu bezeichnen, läuft Gefahr, einen Prozess angehängt zu bekommen. Eine Ehrensache. Vermeide Begriffe wie Kurden oder Kurdistan, warnt mein Gefährte Onur, sprich lieber von der »Südosttürkei«. Eine Frage der Ehre. Im Jahr 2005 wurden zweiundzwanzig türkische Verleger, siebenundvierzig Autoren und neunundvierzig Bücher wegen solcher Fragen vor Gericht gebracht, und auch die Übersetzer sind vogelfrei. Ehre! Im gleichen Jahr hat der türkische Ministerpräsident neunundfünfzig Anzeigen gegen Schriftsteller und Journalisten wegen »Verletzung seiner Rechte und Freiheiten« erstattet – in einundzwanzig Fällen wurden die Autoren verurteilt. Ehre! In der Unterführung spreche ich mit dem blinden Flötenspieler, der übrigens nur eine dunkle Sonnenbrille trägt und außerhalb der Arbeitszeit still die Zeitung liest. Vor langer Zeit sei er Polizist gewesen, aber eines Tages mit seinem Vorgesetzten wegen eines Fußballspiels der Dorfjugend aneinandergeraten. Seitdem hat er keine feste Anstellung mehr gehabt. Und seine Kinder hat er schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen oder gesprochen, seit seiner Scheidung. »Wir sind wegen moralischer Fragen geschieden worden, will ich mal sagen.« In diesen zwei Jahrzehnten hat er immer in Hotels gewohnt. Angeblich ist er der Letzte, der noch der türkischen Flöte die Treue hält; die Hirten in den Bergen würden ja heute 84
nur noch Walkman hören. »Freunde hab ich reichlich, hier: mein Adressbuch, proppenvoll.« Er sagt, dass er jetzt glücklich sei, dass er das Trinken aufgegeben habe, nichts bereue und nur in Frieden leben wolle. »Manchmal denke ich: Ich müsste diese Frau doch noch kaltmachen. Aber ich bin fünfundsechzig, und ich will nicht im Gefängnis enden.« Einmal hat er auf sie geschossen und sie verletzt, »aber leider hab ich’s nicht geschafft, sie umzubringen«. Mit einem Messer klappte es auch nicht. Wenn er so sein Leben überdenke, meint er, müsste er eigentlich mindestens sechs oder sieben Leute umlegen. »In Nordeuropa macht man das nicht, in Frankreich und Amerika auch nicht, ich weiß. Aber wir wollen gewisse Dinge eben nicht vergessen.« Nicht einmal zu den Hochzeiten seiner Töchter hat man ihn eingeladen. »Sie hatten einfach Angst, dass ich ihre Mutter erschießen würde. Und sie hatten Recht, durch diese Schande hätte ich auch ihre Ehe in Gefahr gebracht. Das wollte ich ihnen nicht antun.« Natürlich sind bei alldem Gefühle wie Hass und Zuneigung beteiligt, aber man trennt sie säuberlich von der Vorstellung der Ehre, wie ein Kaufmann Gefühlsleben und Geschäft auseinanderhält. »Ehre« hat einen sozialen Geldwert, sie ist ein Dollar oder ein Euro oder eine Million auf dem Sparkonto des menschlichen Glücks. Wie der Kurswert von Valuta wird »Ehre« von einem Komplex messbarer und nicht messbarer Faktoren bestimmt: Vermögen, Ausbildung und Zukunftsperspektiven spielen eine Rolle, aber auch Respekt und Vertrauen, die sich jemand erworben hat. »Ehre« ist im Lauf der Jahrhunderte eine enge Verbindung mit den unterschiedlichsten religiösen Traditionen eingegangen, aber religiösen Ursprungs ist sie nicht. Die »Ehrenkulturen« der türkischen und arabischen Gesellschaften gab es schon lange bevor Mohammed und der Koran auf der Weltbühne erschienen sind. 85
Ehrenkulturen sind deshalb auch keineswegs auf den Islam beschränkt: Ehrenmorde – weltweit schätzungsweise etwa fünftausend Fälle pro Jahr – kommen auch unter Nichtmuslimen immer wieder vor, in so unterschiedlichen Ländern wie der Türkei, Brasilien, Indien, Ecuador, Pakistan, Ägypten, Jordanien, Marokko und Uganda. Die mittelalterliche und viktorianische »Ritterlichkeit« in Westeuropa, der französische und polnische Patriotismus, die deutsche »Nibelungentreue«, die noch das Verhalten vieler Wehrmachtsoffiziere bestimmte, die engen Anstandsnormen des niederländischen Bürgertums, das unerschütterlich elitäre Denken der britischen Upper Class und die Verhaltenskodizes der Londoner Jugendgangs – all das waren oder sind Ausdrucksformen teilweise gewalttätiger Ehrenkulturen. Seit etwa einem Dreivierteljahrhundert ist die Vorstellung der Ehre mehr und mehr aus dem rational bestimmten westlichen Denken verbannt worden. Die entsprechenden Emotionen kennen wir durchaus noch – nach dem 11. September 2001 zum Beispiel mussten die Amerikaner einfach zurückschlagen; wen oder welches Land der Schlag treffen würde, war dabei eher zweitrangig –, aber wir können sie oft nicht mehr verstandesmäßig erklären oder rechtfertigen. Wir denken in Kategorien der Schuld und Moral und bemühen uns dabei um Nuancierung. Geht es um »Ehre«, gibt es dagegen immer nur Schwarz oder Weiß: Jungfrau oder Hure, Dazugehören oder Ausgestoßensein – eine völlig andere Gedankenwelt als die des liberalen Westens mit ihrer Vorliebe für subtile Unterscheidungen und sorgfältige Analyse, ihrer ewigen Ambivalenz und ihren Kompromissen. Deshalb fällt es uns in der Nordhälfte Europas so schwer, Gesellschaften zu verstehen, in denen »Ehre« und »Respekt« noch von großer Bedeutung sind. 86
Während ich meine Zeit in der Teestube und im Galata Café verbrachte, lief ganz in der Nähe in mindestens vier Kinos der türkische Actionfilm Das Tal der Wölfe – neben Bambi der beliebteste Film des Jahres und außerdem einer der größten Kassenschlager der türkischen Filmgeschichte. In diesem Streifen zieht ein türkischer Held in den Kampf gegen das Unrecht und die Demütigungen, unter denen seine irakischen Glaubensgenossen leiden; alle Gräuel der jüngeren Vergangenheit werden noch einmal nachgespielt, allerdings mit einem kräftigen Schuss Antisemitismus, ansonsten handelt es sich einfach um einen Rambo-Film mit umgekehrten Vorzeichen: Die Bösen sind diesmal die properen blauäugigen Amerikaner, während die bärtigen Kämpfer und die Kopftuchmädchen heldenhaft für das Gute streiten. Befriedigt seufzt der ganze Saal, wenn der übelste Schurke endlich das Messer zwischen die Rippen bekommt und mit langgezogenem Todesröcheln den Geist aufgibt. Das gleiche Publikum wird vermutlich schon in einer der nächsten Wochen wieder die Taten des echten Rambo bejubeln. Was diesen Erfolgsfilm als türkisches Phänomen so interessant macht, ist eher etwas anderes. Die große Vaterfigur in der Geschichte ist nämlich nicht mehr eine Art Atatürk, ein nationalistischer Held, sondern ein Scheich, ein würdiger religiöser Lehrer. Die implizite Aussage ist unmissverständlich: Nicht mehr der säkulare Staat kann die Welt am besten vor Chaos und Ungerechtigkeit bewahren, sondern der Islam. In jenen Wochen wurde eine wahnwitzige Polemik zwischen Ost und West ausgetragen. Eine dänische Zeitung hatte zwölf Karikaturen des Propheten Mohammed abgedruckt. Schon das Abbilden des Propheten an sich ist in der muslimischen Welt tabu, und als man in Pakistan, Indonesien, Malaysia und den arabischen Ländern von den Vorgängen in Jütland erfuhr, 87
brach ein regelrechter Karikaturenkrieg aus. Es war ein typischer Internetzwischenfall, wie wir ihn wohl noch öfter erleben werden. Bevor das World Wide Web die Welt in ein Dorf verwandelt hat, wäre ein solcher Nadelstich – mehr war es jedenfalls aus westlicher Sicht nicht – unbemerkt geblieben, doch nun kam es sofort zu einem heftigen Kurzschluss zwischen völlig verschiedenen Gedankenwelten. Auf der einen Seite standen die Propheten des westlichen Individualismus und Verfechter des Prinzips der absoluten menschlichen Freiheit, das in seiner konsequentesten Form das vermeintliche »Recht auf Beleidigung« einschließt. Auf der Gegenseite wüteten die in der agrarischen Kultur verwurzelten Traditionalisten, für die nur Gemeinschaft, Familie und vor allem Ehre zählen. In vielen Ländern gab es – meist von den herrschenden Regimes orchestrierte – Demonstrationen und Krawalle; Flaggen wurden verbrannt, Karikaturisten mussten untertauchen, das Ganze wurde von ohrenbetäubendem Medienlärm begleitet, und bei Straßenkämpfen starben mehr als hundert Menschen, über achthundert wurden verletzt. Auf der Brücke ist man viel zu sehr von eigenen Problemen in Anspruch genommen, um aufmerksam die Nachrichten aus aller Welt zu verfolgen – Önder war der Einzige, der von der Ermordung des niederländischen Filmemachers Theo van Gogh gehört hatte –, aber der Karikaturenstreit brachte die Gemüter in Aufruhr, auch in den Unterführungen und unter den undichten Planen. »Idioten, Irre, diese Zeichner«, schimpfte Önder. »Sie haben kein Recht dazu, das ist unser Glaube, den müssen sie respektieren.« »Alle Kriege fangen mit solchen Provokationen an«, brummte der Kellner. »Wir sehen das alles im Fernsehen, wir hören und sehen alles«, sagte der Sohlenmann. »Und wir sind sehr wütend. Ich bin ein Mensch, Sie sind ein Mensch. Gott hat uns den Koran und die Bibel gegeben, also müssen wir uns gegenseitig 88
respektieren. Wenn den Christen so etwas passieren würde, die ganze Welt würde sich aufregen!« Allmählich begann ich zu ahnen, dass hinter diesem Karikaturenstreit etwas anderes stecken könnte, als ich zunächst gedacht hatte; das galt zumindest für die Menschen auf der Brücke. Im Grunde war es kein religiöser Konflikt. In all den Wochen habe ich nie ein böses Wort über Christen und andere Nichtmuslime zu hören bekommen, was natürlich auch einfach durch Höflichkeit zu erklären sein könnte, aber ich glaube das nicht. Hier ging es nämlich gar nicht um verletzte religiöse Gefühle, wie wir sie im Westen kennen. Hier ging es vor allem um verletzten Stolz. Und wer so arm wie eine Kirchenmaus ist, für den gehören Stolz und »Ehre« zu den letzten Kostbarkeiten, an die er sein Herz hängen kann. Meine Gesprächspartner waren alle keine Fundamentalisten, bis auf Önder vielleicht, obwohl auch er mit beiden Beinen auf der Erde stand. Als Einziger vertrat er die Ansicht, Theo van Gogh sei zu Recht umgebracht worden: »Pech für ihn, aber er hatte den Tod verdient. Er hat den Islam beleidigt.« Als ich den anderen in der Teestube von dem Mord erzählte, reagierten sie schockiert: »Nur Gott gibt einem Menschen das Leben«, meinte der Sohlenmann, »nur Gott darf ein Leben nehmen.« Er und sein Freund, der Buchhändler, sprachen sogar voller Verachtung von all den frommen Bartträgern, die den ganzen Tag in den Teehäusern große Reden hielten und nie einen Finger für ihre armen Mitmenschen krumm machten. »Ich erfülle die Gebote, das kann niemand leugnen«, erklärte der Sohlenmann. »Ich gehe nie mehr in die Moschee, aber die Tauben dort füttere ich.« Der Kellner sagte, er empfinde sich nur deshalb als Moslem, weil er so erzogen worden sei. »Ich glaube, dass es einen Gott gibt und dass die Religionen nur verschiedene Bilder von ihm entwerfen. Und heilige Bücher über ihn geschrieben 89
haben, jede zu ihrem Vorteil.« Der Teebrüher lachte laut auf, als ich ihn fragte, ob er sich an das Fastengebot halte: »Für mich ist jeden Tag Ramadan!« Aber alle ohne Ausnahme waren doch auf irgendeine Weise gläubig und fühlten sich durch die Karikaturen wirklich beleidigt. Auffällig war das Selektive an ihrer Empörung: Als im Irak am ersten Tag des Ramadan ein sunnitischer Selbstmordattentäter eine schiitische Moschee in die Luft sprengte, krähte kein Hahn danach. Zorn über ein paar Karikaturen, aber nicht über den Tod von fünfundzwanzig Glaubensbrüdern, die am heiligsten Tag des Jahres in ihrem eigenen Gebetshaus ermordet werden. Immer ist es der Westen, nie der Osten. Religion ist für meine Bekannten auf der Brücke also nicht nur ein Glaube, der Trost spendet oder Gnade verheißt, sondern vor allem ein Gefühl, das sie verbindet, besonders in ihrem komplizierten Verhältnis zum reichen Westen. »In meinem Dorf wimmelt es von Leuten, die überhaupt nichts über den Islam wissen, aber trotzdem wären sie bereit, für ihn zu sterben«, sagte der Kellner. Er selbst würde ohne Religion den Boden unter den Füßen verlieren, er würde zerbrechen, und das gilt auch für den Sohlenmann und den Buchhändler. Zumindest so wie die Dinge bei ihnen jetzt liegen. Nicht weil sie so religiös wären – alle drei bezeichnen sich als »Humanisten« oder als »wissenschaftlich religiös« –, sondern weil Religion, wie der Kellner es ausdrückte, »nah an ihrer Seele« liegt und »in sie überfließt«. Wer ihren Gott verhöhnt, beleidigt also keine Institution und verletzt kein religiöses Gefühl, nein, der trifft sie dort, wo ihr Selbstwertgefühl sitzt, das letzte Bollwerk gegen grenzenlose Demütigung. Jeden Freitag löste sich Önder für einige Zeit von dem Grüppchen der Zigarettenverkäufer. Dann ging er in die benachbarte Moschee, um zu beten und einen Augenblick einfach nur still dazusitzen. Das erste Mal war er mehr 90
zufällig dort gelandet, und die friedliche Stimmung hatte ihn gleich in ihren Bann gezogen. »Wenn ich bete, bin ich so entspannt. Auf einmal ist die ganze Unruhe weg. Auf einmal ist Frieden.« Ich durfte ihn einmal begleiten. Ich solle doch auch Moslem werden, meinte er. »Es ist die beste Religion, und du kommst dann auch ins Paradies!« Wir wuschen uns am Springbrunnen auf dem Innenhof, und er machte mich flüsternd mit Önders Kleinem Katechismus bekannt. »Es hilft wirklich. Wenn ich hier hinkomme und bete, hilft mir das bei meinen Problemen.« Hilft Beten auch, ins Paradies zu kommen? »Natürlich. Ich weiß nicht, wie es mir gehen wird, aber ich erfülle wenigstens die Gebote.« Wie sieht denn das Paradies aus? »Es ist schöner als alles, was du in der Welt gesehen hast, es ist unvorstellbar.« Wer kommt dorthin? »Ihr Christen kommt nicht ins Paradies. Und wenn man Moslem ist und die Gebote nicht erfüllt hat, kommt man auch in die Hölle, aber nur für einige Zeit.« Soll man deshalb auch Krieg gegen die Ungläubigen fuhren, wie manche es fordern? »Es wird einen Kampf geben, aber ohne Gewalt. Es geht um den Glauben, um Gedanken. Die muss man respektieren. Jeder Mensch sündigt auf seine Art und tut auf seine Art Gutes. Nur wenn der Respekt nicht mehr da ist, ja, dann ...« Der Sprechgesang des Muezzins wehte wieder blechern verzerrt von den Lautsprechern des Minaretts herab. »Allahu akbar ...« Als ich Önder bat, mir die Formeln zu übersetzen, schüttelte er den Kopf Er habe sie auch nie verstanden. »Das ist alles Arabisch, keiner hier versteht das. Wir beten in einer fremden Sprache.« Ich musste daran denken, was V. S. Naipaul einmal nach einer Rundreise durch vier nichtarabische muslimische Länder geschrieben hat: Jeder Moslem, der kein Araber ist, sei ein Bekehrter. In gewissem Sinne gilt das auch für die 91
moderne Türkei. Naipaul meint, das Weltbild jedes zum Islam Bekehrten ändere sich von Grund auf; seine Religion sei arabisch, seine heiligen Stätten lägen auf arabischem Boden, er müsse die eigene Geschichte vergessen und irgendwie seinen Platz in der arabischen Geschichte finden, ob er wolle oder nicht. Dieser Zwang zur Abkehr von allem Eigenen habe in manchen Gesellschaften eine tiefe Verwirrung hervorgerufen, die teilweise auch nach tausend Jahren noch nicht überwunden sei. Über uns spannte sich die gewaltige geflieste Kuppel mit ihren unzähligen Ornamenten.
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V STURM DER WINDMÜHLEN
stanbul gehört zu einem klassischen Stadttypus, wie ihn Amsterdam um die Mitte des 19. Jahrhunderts repräsentierte: Die Armen hausen im alten Kern, die Mittelklasse wohnt um dieses Zentrum herum, wobei der Wohlstand mit der Entfernung zunimmt, und der Reichtum – davon gibt es nämlich auch hier jede Menge – residiert im Grünen, auf den Inseln oder in den Luxusvierteln am anderen Ufer des Bosporus. Damit entspricht die Stadt einem alten Muster. Schon seit der Frühzeit Konstantinopels waren die Höhenlagen für die Reichen reserviert. Von deren Häusern und Palästen flossen ständig Urin und Kot hangabwärts – die Stadt besaß keine Kanalisation –, bis sie im Meer verschwanden. Dem topographischen entsprach das soziale Gefälle: Je tiefer am Hang ein Haus stand, desto mehr Unrat sammelte sich dort an, und desto bescheidener war der Status seiner Bewohner. Wer am Fuß der Hügel wohnte, lebte also immer im Dreck der Reichen, damit musste er sich abfinden. In solchen Vierteln sind die Unterkünfte des Sohlenmanns, des alten Lastträgers und des blinden Flötenspielers; auch die meisten Zigarettenjungen leben dort. An einem dieser alten Unratbäche, hinter den Straßen der Klempner, Pumpenmacher und Elektriker, wohnt der Buchhändler. Drei Betontreppen hoch, eine abgeschabte Tür, dahinter ein Arbeitszimmer, das mit Ware und kostbaren Erinnerungsstücken vollgestopft ist. Da sieht man alte Spielzeugautos, Kugelschreibersets, Fläschchen, Modelleisenbahnwagen, eine Handvoll CDs, einen hellblauen Plastikwohnwagen, einen Kalender von 1994, eine Gedichtsammlung von Nâzim Hıkmet, ein rotes Schutzblech von einem Kinderrad. 94
Er lebt allein. Vor zehn Jahren sind seine Frau und sein zehnjähriger Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er hat noch eine Tochter, aber die studiert in einer anderen Stadt. Am meisten verdient er an Restposten, beschlagnahmter Ware, die er dem Staat abkauft. Zwölftausend von diesen Schutzblechen hat er in einem Lagerhaus deponiert. Er zeigt mir einen Gürtel aus durchsichtigem Plastik mit einem winzigen Bärchen daran: Davon hat er zwanzigtausend auf Lager. Alte Fotos laufen auch hervorragend. Ein Liebhaber sammelt jede Art von Fotos, auf denen ein Kind mit irgendeinem Spielzeug zu sehen ist. Sehr guter Kunde. Der Buchhändler hat ein schmales Gesicht, einen kleinen Schnurrbart, lebendige Augen. »Ich rede nicht viel«, sagt er. »Ich konkurriere nicht mit den anderen. Wenn sie schließen, mache ich auf, immer von halb sechs bis neun. Ich führe keine gewöhnlichen Bücher, am liebsten verkaufe ich Fotobände und Lyrik. Ich habe meine Spezialkunden, die mich immer finden. Studenten, sogar ein Professor. Hier, dieses Buch über Holland zum Beispiel.« Er reicht mir ein fleckiges Reisebuch aus den achtziger Jahren. Ein Schränkchen mit drei Brettern enthält seine Bibliothek. Türkische Titel, aber auch Pablo Neruda, Alexander Puschkin, Majakowski, Knut Hamsun, er lässt die Namen genüsslich auf der Zunge zergehen. »Ich habe alles von ihnen gelernt – wie die Menschen sind, wie man sie zu nehmen hat.« Als der Autofahrer, der seine Frau und seinen Sohn überfahren hatte, nur zwanzig Tage Gefängnis bekam, hatte ihn das so verbittert, dass er sich weigerte, seine Steuern zu zahlen. Das blieb nicht ohne Konsequenzen. »Ich hatte nie mit der Justiz zu tun gehabt. Aber als sie durch seine Schuld starben und er kaum bestraft wurde, hatte ich keine Achtung mehr vor dem Gesetz.« Sein Bruder bezahlte schließlich seine Schulden und holte ihn 95
aus dem Gefängnis. »Nach dem Tod meiner Frau bin ich einfach durchgedreht, drei Jahre lang bin ich vor allem davongelaufen.« Er hat nicht wieder geheiratet, er wollte nicht, daß seine Tochter eine Stiefmutter bekam. »Meine Frau ist gestorben, sie war alles für mich, ein Teil meines Körpers war sie. Ich und meine Tochter, das ist nun mein Leben, und so soll es bleiben.«
Durch den Buchhändler habe ich die »Stadtschriftsteller« kennengelernt. In meiner eigenen Stadt, Amsterdam, gab es eine ganze Reihe solcher Chronisten: Justus van Maurik, Henri Knap, Simon Carmiggelt, Henk Hofland, Martin Bril. Diese Journalisten und Schriftsteller hatten den Finger am Puls ihrer Stadt; sie entdeckten das Bedeutsame im Unscheinbaren, registrierten über viele Jahre jede noch so kleine Veränderung in Sprache und Verhalten, lernten vom Humor der Straße, fanden sich blind in den Fluren des Rathauses zurecht, schienen alle Kriminellen, Verlierer und Saufbrüder zu kennen und hatten ihre Nasen, Ohren und Augen überall. Auch Istanbul hat solche Schriftsteller hervorgebracht, genau den gleichen Schlag. Ahmet Rasim beispielsweise schrieb fast täglich kleine Artikel, in denen er seine Beobachtungen, Klagen oder Loblieder mit einer kleinen Dosis Gift und Galle zu würzen pflegte; sie kamen später unter dem Titel »Stadtbriefe« als Buch heraus. Diese halb journalistische, halb literarische Textgattung war eine Pariser Erfindung, und wie bei den Amsterdamern ist auch bei Rasim und anderen Istanbulern der Einfluss rebellischer französischer Schriftsteller nicht zu übersehen; mit Emile Zola und Victor Hugo etwa verbindet sie ihr Interesse am Leben der Straße. Rasim hat aber in Istanbul eine ganz eigene Tradition, ja eine Dynastie von Stadtschriftstellern begründet, die schließlich Autoren von internationalem Rang wie Elif Shafak und Orhan Pamuk hervorbringen sollte. 96
Fast all diese Autoren haben hin und wieder auch über die Galatabrücke geschrieben. In den dreißiger Jahren verfasste Nâzim Hıkmet böse Artikel über die langen Wartezeiten vor der Brücke, wenn sie für durchfahrende Schiffe geöffnet war: »Ich stand um 6.20 auf der Brücke ... Nieselregen, scheußlicher Nebel, es war noch dämmerig ... Eine Menschenmenge, Männer, Frauen und Kinder, wartete am Karaköy-Ufer ... Und am Eminönü-Ufer stand auch so eine Menge ... Wenn in Istanbul die Arbeit um sieben Uhr beginnt, kann die Brücke nicht bis halb sieben offen bleiben, und schon gar nicht bis kurz vor sieben!« Oktay Akbal schilderte 1944 die morgendliche Stoßzeit: »Jedes Trottoir hat seine eigenen Fußgänger: Die Seeleute wählen fast immer das linke, während die kleinen Händler und Handwerker und die einfachen Beamten auf dem rechten gehen. Die Fabrikarbeiterinnen sind ausgesprochen launenhaft, nie können sie sich festlegen, den einen Tag gehen sie auf dem rechten, am nächsten Tag wieder auf dem linken Trottoir.« Stadtchronisten schilderten in den fünfziger und sechziger Jahren die gewaltigen Schiffsbrände auf dem Bosporus, wenn Öltanker nach Kollisionen explodierten und das ganze Meer in Flammen zu stehen schien – auf der Brücke beobachtete man das Schauspiel mit angehaltenem Atem, einmal wäre ein brennender Tanker fast auf die Brücke zugetrieben. Rıfat Ιlgaz schrieb Gedichte über den mühevollen Kampf eines Straßenverkäufers ums tägliche Brot: »Soll er vielleicht Steine fressen? Das kannst du doch nicht machen, Galatabrücke?« Yaşar Kemal berichtete 1952 von einem spektakulären Zustrom von Blaubarschen an der Brücke. Man hätte über die Fischerboote vom einen Ufer zum anderen gehen können, eine Brücke brauchte man dafür nicht. Für die Ärmeren war es ein Fest, das eine ganze Woche dauerte. »Lang lebe der Blaubarsch! Du bringst Freude in jedes 97
Haus! Lang lebe der Blaubarsch! Mögest du einmal dafür belohnt werden, Blaubarsch. Das hast du gutgemacht!« Und dann war da noch Reşat Ekrem Koçu mit seiner Istanbul-Enzyklopädie, einem gigantischen, unvollendeten Werk, das von 1958 bis 1973 in zahlreichen Einzelheften erschien. Die großformatigen Ausgaben – die ursprüngliche in Heftchenform wie die spätere gebundene – haben inzwischen Kultstatus erlangt und sind fast nirgendwo mehr zu bekommen; erst nach vielen Mühen konnten Onur und ich einen Blick in einen der Bände werfen. Es war, als würden wir ein Kuriositätenkabinett betreten, mit einer faszinierenden Sammlung von Witzen, unglaublichen Geschichten und Fakten, deren Zusammenstellung die Steckenpferde dieser Chronisten verrät, und all das nimmt Tausende von Seiten ein. Die Artikel handeln zum Beispiel von Stadtvierteln, Gebäuden, Fischkuttern, Fuhrwerken, Cafés, Läden, Lagerhäusern und Bordellen. Kocu und seine Mitautoren trafen sich fast täglich in einer Kneipe, und der Geist dieser Männerriege prägt die ganze Enzyklopädie. So fanden wir auf S. 5894 einen detailreichen Erfahrungsbericht aus den wichtigsten Bordellen von Galata:»... und direkt neben mir, nah an meinem Ohr, war ein Schnarchen zu hören ... ich drehte leicht den Kopf, um besser sehen zu können ... was für eine Visage! Das ganze Rouge war davon abgeblättert, und die Haut war nun von violetter Farbe ... und dann die Haare! Und diese Zähne im weit geöffneten Mund ... knallgelb und am Zahnfleisch von Algen bewachsen ...« Die Herren stürzten sich auch begierig auf jeden Mordfall; man liest von »Junggesellenzimmern«, in denen »üble Burschen« und »hübsche junge Weinkellner« zusammenkamen, und in einen der Bände schmuggelte Koçu das Stichwort: »der 14- bis 15-jährige talentierte Akrobat, den ich 1955 oder 1956 kennengelernt habe«. Den Abbruch der vierten Brücke in den neunziger Jahren haben er und seine Freunde nicht mehr erlebt. Ihr Projekt 98
ist, zweifellos zu ihrem großen Kummer, nicht über den Buchstaben G hinausgelangt, und weil das Wort für Brücke im Türkischen mit K anfängt, werden wir nie erfahren, was dieser illustre Kreis über unsere Brücke zu sagen gewusst hätte. Eine neue Generation von Stadtchronisten strömte zur alten Brücke, die »mit ihrem Achttausendtonnenleib achtzig Jahre lang Last und Elend von Istanbul getragen« hatte, als neben ihr die heutige, moderne Brücke errichtet wurde. Can Yücel sprach in einem Gedicht vom »Zoo der Geschichte«, der die Brücke überquert habe. Der Stadtchronist der Zeitung Cumhuriyet (Republik) sah, wie die Angler ihre Siebensachen zusammenpackten und die alte Brücke einsam zurückließen, nachdem sie in der Nacht rohe Makrele gegessen und »Mutuk«-Wein getrunken hatten: »Der Geruch von Fisch und Wein hängt noch in der unbewegten Morgenluft, während die Sonne die Passagen der Brücke bescheint.« Er sprach mit den letzten Tricktrackspielern im Kaffeehaus, Meister Ali, Onkel Hüseyin und Großvater Mehmet. »Schau, auf dem Foto hier sind wir alle zusammen. Alles ist auf dem Foto drauf, die abgegriffenen Steine, die vergilbten Würfel, die Stühle, die nach Herbst riechen, die Tische, die nach Winter riechen, die Wasserrohre, die so alt sind wie wir...« Die Brücke, schrieb er, sei ein Schiff, das schnell Wasser aufnehme und bald in den Wellen verschwinden werde. »Hinter ihr liegt schon die neue Brücke, das riesige Maul aufgesperrt, zum Zuschnappen bereit.« Von den heutigen Brückenbewohnern kennen nur der alte Lastträger und der Straßenfotograf noch die vorige Brücke. Der Lastträger hat sich nie an die neue gewöhnt: »Die alte Brücke war mein Leben, das war etwas ganz anderes. Immer Geschäfte, immer was los. Damals konnte ich mir jeden Tag eine große Flasche Raki leisten, es gab reichlich Fische, und immer schien die Sonne. Und heute? Vergiss es.« Auch der Fotograf wird melancholisch, wenn 99
man die alte Brücke erwähnt: »Auf der war wirklich etwas los, alles wurde da verkauft, es war einfach phantastisch. Als die Brücke gebaut wurde, hatten wir eine Million Einwohner; als ich als Fotograf angefangen habe, hatten wir vier Millionen, jetzt sind wir bei über zehn. Wir sind eine Riesenstadt geworden. Alles ist vorbei!« Und nun ist die Zeit für den Sturm der Windmühlen gekommen, für die Stürme der Schwarzen und Roten Pflaumen und für den Meltemi, fröhliche Sommerwinde, die alle üblen Dämpfe und trüben Gedanken vertreiben. Die Sonne versengt die Steine, das Straßengewühl wird ruhiger, träger; langsam sinkt der Staub auf die Stadt. Die Schwalben haben die Möwen abgelöst. Überall sausen sie durch die Luft, zwischen den Minaretten der großen Moschee, den Straßenbahnen und Taxis, den Laternenpfählen auf der Brücke. Bei den Hubtürmen steht neuerdings ein Kondomverkäufer; aufregende Bilder von Frauen in geblümten Badeanzügen werben für seine Ware. Die kontemplativ veranlagten Angler des Winters und Frühjahrs sind verschwunden. Mindestens dreihundert hektische Nachfolger ziehen Sardinen aus dem Wasser, füllen Einmachgläser mit sterbenden Fischen. Jeder Meter ist besetzt, es herrscht ein immenser Lärm, Angelplätze werden zum Kaufangeboten, und dauernd kommt es zu kleinen Streitereien, wenn sich Angeln verhaken und Schnüre sich ineinander verheddern. Ein professioneller Angler hat hier eigentlich nichts verloren. »Ihre Angeln sind zu kurz, sie haben keine Ahnung, wie man’s macht, Amateure«, meckert der alte Spanier. Er ist seit fünf Uhr morgens bei der Arbeit, und inzwischen hat er schon die seltsamsten Dinge erlebt: Ein Pärchen hat die ganze Nacht vor seinen Angeln geschlafen. Reiche Leute haben ihm dreißig Millionen geboten, dafür sollte er den ganzen Tag mit ihrem eigenen Gerät angeln, und sie wollten dann zu 100
Hause mit der Beute angeben. Ein siebzehnjähriges Mädchen behauptete, obdachlos zu sein, was nach Ansicht unseres alten Freundes undenkbar war, denn für dieses Mädchen hätte sicher jeder einen Schlafplatz gehabt. Der Fotograf ist glänzend gelaunt. Er hat endlich seine große Investition tätigen können und die alte Polaroid durch eine ausgezeichnete Digitalkamera ersetzt, die mit einem kleinen Taschendrucker verbunden ist. Stolz führt er das Wunderwerk vor: Dreimal zieht der summende Apparat das Fotopapier durch, erst gelb, dann rot, dann blau, und fertig ist unser Bild! Gestern hatte er elf Kunden, und an denen hat er vierundvierzig Millionen verdient, weil er ja nun seine Tarife erhöhen konnte. Auch dem Sohlenmann geht es nicht schlecht. Er hat eine Anstellung in einem Quergang der Unterführung gefunden, als Wächter der Damentoiletten. In den Herrentoiletten sitzt ein anderer Mann mit einer besonderen Kasse, aber die Frauentoiletten darf kein Mann betreten. Hier trägt unser Freund die Verantwortung, sitzt den ganzen Tag geduldig auf einem Hocker neben dem Eingang und wartet auf ein paar Millionen von den Damen. Sein Bein macht ihm immer noch zu schaffen, aber er spart jetzt für einen Arztbesuch. Seine Kleider sehen besser aus, er hat öfter Kontakt zu seinen Kindern, und all das tut ihm gut. Trotzdem gefällt ihm seine neue Stelle nicht besonders, gesteht er uns. Vielleicht kann er ja eine feste Anstellung bekommen, als Putzer zum Beispiel, und irgendwann als Kassierer. Aber so ein Karrieresprung ist nicht leicht zu schaffen. Und vor allem vermisst er seine Freiheit. Der alte Lastträger sitzt bedrückt hinter seinem Stapel abgetragener Hosen und Westen. Hat er heute schon etwas verkauft? »Nichts. Überhaupt nichts. Ich bin eben ein alter Mann.« Wieder kommt er auf seinen großen Fehltritt zu sprechen – wie ihm das nur passieren konnte. »Verliebtheit bringt einen Mann um den Verstand, das war’s ganz einfach. Das Gehirn geht flöten.« 101
Die Zigarettenjungen in der Unterführung schwatzen und lärmen wie immer, aber Önders Fröhlichkeit ist verflogen. Er kann seine Geldstrafe beim besten Willen nicht bezahlen, und die Polizei hat ihn auf dem Kieker, so dass er nur gelegentlich ein paar Päckchen verkaufen kann. Seine Familie kehrt nun tatsächlich ins Dorf zurück, noch diese Woche. »Hier wird es nichts mehr.« Er selbst will nach Izmir: »Da gibt’s viele Touristen, da kann ich sicher was finden, in einem Café oder Restaurant.« Auch der Parfümverkäufer und der Teebrüher haben die Brücke verlassen. Der Teebrüher hat sein Geschäft aufgegeben, angeblich arbeitet er jetzt in einer Tankstelle. Der Parfümverkäufer hat sich einfach in Luft aufgelöst, er wurde nicht mehr gesehen. Aber der blinde Flötist spielt und ist bester Laune. Er hat wieder eine Freundin, eine Japanerin. »Sie macht nicht viel her, aber wir haben’s gut zusammen.« Wovon reden die Männer auf der Brücke, wenn ein sanfter Wind weht, wenn die Mädchen freundlich lächeln, wenn sie Pause machen, weil gerade kein Geld vorbeikommt? Sie reden über das, was die Zeitung schreibt, diskutieren lang und breit über die Angelegenheiten der Stadt. Sie besprechen Neuigkeiten wie die, dass ein paar Kurden die alte Börse von Istanbul gleich hinter der Brücke zu einem Luxushotel umbauen wollen. Sie bewerten die Fische, die heute übers Geländer gezogen werden. Sie empören sich über einen Touristen in einer schamlos kurzen Hose. Sie schmieden Pläne für eine gemeinsame Fahrt zum kleinen Hafen von Ortaköy, wo sie auf Mädchenjagd gehen wollen. Sie lachen über einen ihrer Kumpel, der ein paar Brocken Englisch kann und immer wieder Ausländerinnen anspricht, sie aber doch nie ins Bett kriegt, weil er so picklig ist. Sie reden von »offenen« und »geschlossenen« Mädchen, Mädchen ohne und Mädchen mit Kopftuch – ein Unterschied, der in der Praxis allerdings keine große Rolle spielt, wie sie mir 102
versichern. Untereinander geben sie mit ihren Erfolgen bei den »geschlossenen« Mädchen an. Schwer rumzukriegen? »Ach was, bei denen ist es am einfachsten! Es gibt Mädchen, die total vermummt sind, aber mit Jungs alles machen, was sie wollen.« Mir wurde bald klar, dass »offen« und »geschlossen« hier relative Begriffe sind. Eine Frau kann sich einer religiösen Tradition entsprechend kleiden und gleichzeitig »aufgeschlossen« sein, und umgekehrt. Ich habe tief verschleierte Mädchen – besser gesagt Gestalten – über die Brücke gehen sehen, die lachend mit einer Freundin in kurzem Rock und bauchfreiem Pulli schwatzten. Ich sah ein Kopftuchmädchen, zärtlich angeschmiegt an einen Jungen mit Ringen in der Nase und Tätowierungen auf dem Arm. Ich sah Moslempunks und Islam-fashionistas in farbenprächtigen, eng geschnittenen Kostümen, deren Röcke bis zum Oberschenkel geschlitzt waren, mit raffiniertem Make-up und knallbunten Kopftüchern. »Es ist wahr, dass sie in Pera Schleier tragen«, schrieb die unternehmungslustige Botschaftergattin Lady Mary Montagu 1718 an eine Freundin, »doch sind diese von solcher Art, dass sie die Schönheit einer Frau erst richtig zur Geltung bringen.« Das gilt mit Einschränkungen noch heute. Im Code der Brücke kann das Kopftuch für vieles stehen: für Religiosität oder ganz einfach für den Wunsch, nicht belästigt zu werden, für Keuschheit, für Sensibilität; für Vergangenheit oder Zukunft. Der Schal ist die Kompromisslösung und sehr anpassungsfähig, er kann weltlich-neutral um den Hals gelegt werden oder aber elegant übers Haar, was religiös und politisch am korrektesten ist. »Mit Schal kann man immer verhandeln«, sagen Frauen, die ich danach frage. Die Wirtschaft – mit Ausnahme des religiösen Sektors – hält nicht viel vom Kopftuch, im öffentlichen Dienst ist es mal mehr, mal weniger akzeptiert, je nachdem welche 103
politischen Kräfte gerade dominieren. Nach jedem Machtwechsel sind Frauen bald entweder »offener« oder »geschlossener«. Vor einiger Zeit wurde die Frau des Notenbankchefs zur Trendsetterin: Immer war sie »offen« gewesen, aber seit die gemäßigten Moslems am Ruder sind, ist sie »geschlossen«. Auf der Straße das gleiche Muster: Immer waren die Frauen dieser Stadt recht »offen«, heute wächst die Zahl derer, die sich »schließen«. Noch sind viel mehr »offene« als »geschlossene« Frauen auf der Brücke unterwegs, aber sie werden häufiger belästigt. Je mehr ihre Umgebung sich »schließt«, desto größer die Gefahr, zur Zielscheibe für Beleidigungen und Zudringlichkeiten von religiösen Extremisten und irgendwelchen Idioten zu werden.
An einem Nachmittag treffen Onur und ich zwischen den Anglern eine Frau mittleren Alters, eine pensionierte Oberschwester, die aus familiären Gründen nach Istanbul umgezogen ist. Hin und wieder angelt sie selbst, zusammen mit einem ehemaligen Polizisten, aber an diesem Tag ist sie nur auf und ab gegangen und hat wütend aufs Meer hinausgestarrt. Warum? »Wegen einer meiner Töchter. Gott sei Dank habe ich ihr ein Studium ermöglichen können, aber wie es so kommt, sie ist dann einem Kanadier begegnet, einem Geschäftsmann, der in die Türkei kam, und ist fortgezogen. Sie wohnt jetzt seit vier Jahren dort drüben, sie hat ein Kind, meine Enkelin, aber die habe ich nie gesehen.« Vor zwei Tagen hatte ihre Tochter angerufen, das kleine Mädchen hatte einen Unfall gehabt, es war noch bewusstlos. »Und jetzt möchte ich hin, aber versuch als Moslem mal ein Visum zu bekommen! Ich habe den Kanadiern eine wunderbare, kluge, gut erzogene Tochter gegeben. Sie arbeitet, sie ist auf niemanden angewiesen, sie ist bildschön, einfach ein Glück für dieses Land. Also warum tun sie mir das an?« Sie erzählt, dass sie die mittlere von drei Schwestern ist; 104
sie hat in verschiedenen Dorfkliniken gearbeitet, und nun lebt sie allein. Die stockkonservative Einstellung ihres ExMannes hatte sie nicht mehr ertragen können. Wegen seines kanadischen Schwiegersohns hatte er wie ein Besessener getobt. »Sogar mit einem Kriminellen könnt ich mich abfinden, wenn er nur Türke war!«, hatte er gebrüllt. Er stammt aus Anatolien, sie selbst aus dem europäischen Teil Istanbuls. Mit der Hand einer erfahrenen Lehrerin zeichnet sie eine kleine Karte. »Dort beginnt eine rohe Türkei, ein anderes Land. Aber hier leben noch viele alte Immigrantenfamilien vom Balkan, die Männer sind moderner, die Frauen sind freier. Und ich hatte Gott sei Dank meine Ausbildung. ›Ich kann tun, was ich will‹, habe ich gesagt, ›du kannst mich nicht hindern.‹ So haben wir uns dann getrennt.« Ihre ältere Schwester habe auch einen solchen Mann am Hals. Aber diese Schwester sei weicher als sie, und der Mann sei ein richtiges Ekel. »Unsere Eltern haben uns trotz all ihrer schönen Ansichten nicht vor dieser Art von Männern bewahren können.« Ihre Mutter starb, als die Schwestern noch nicht erwachsen waren, deshalb sei dann alles so gekommen, meint sie. »Wir mussten plötzlich für uns selbst entscheiden, wir hatten nicht die Zeit, unsere Männer in Ruhe kennenzulernen, wie es damals üblich war. Kaum waren wir ihnen begegnet, haben wir geheiratet, und das war’s.« Ein paar Tage später sprechen wir wieder mit ihr, diesmal hat sie ihre ältere Schwester mitgebracht, eine Frau um die fünfzig, die wie Meryl Streep aussieht. Diese Schwester darf nicht ohne die Erlaubnis ihres Mannes ausgehen, schon dass sie mit uns spricht, ist eine unverzeihliche Sünde; eine Zeitlang hatte sie ihm sogar verheimlicht, dass sie arbeitete. »Nachher werde ich ihm sagen: ›Ich bin noch ein bisschen mit meiner Schwester durch die Stadt gegangen, wir haben ein paar Einkäufe gemacht.‹ Ich bin ehrlich gesagt nicht sehr mutig.« 105
Nach ihrer Heirat hatte er keine Ruhe gegeben, bis sie ihre Stelle aufgab. »Ich war schwanger, ich wusste, dass ich es bei diesem Mann nur schwer aushalten würde, aber das Kind brauchte einen Vater. Und nun habe ich drei Töchter. Warum? Ich weiß es nicht, es ist eben so gekommen.« Sie erzählt von dreißig Jahren Trunksucht und Unfrieden. »Meine Töchter und ich haben uns unsere eigene Welt geschaffen, ich hab die Mädchen unter meine Fittiche genommen. Und Gott sei Dank, so etwas wird ihnen nicht passieren, sie sind aus alldem raus!« »Wir kommen aus einer so ganz anderen Welt als diese Barbaren«, sagt die pensionierte Oberschwester. »Unsere Mutter war Demokratin, unser Vater Sozialist. Ich erinnere mich, dass unsere Mutter manchmal weite Reisen unternommen hat, um irgendwo die Führer ihrer Partei reden zu hören. Nie hat mein Vater ihr Steine in den Weg gelegt. Bei unseren Männern wäre an so etwas gar nicht zu denken: ›Unsere politische Meinung muss dieselbe sein.‹ Weißt du noch, das Theater damals, als meine Tochter den Kanadier geheiratet hat?« Ihre Schwester: »Ich wollte unbedingt zur Hochzeit. Und mein Mann hat gebrüllt: ›Wenn du da hingehst, ist das das Ende unserer Ehe! Ein Ausländer! Eine Schande!‹ Aber Allah ist groß, und Er sieht alles. Unsere Töchter sind jetzt auch alle mit Ausländern verheiratet oder verlobt. Die eine geht mit einem Deutschen, die andere hat eine holländische Schwiegermutter, und meine Älteste heiratet demnächst einen Dänen.« Die Jüngere: »Gut, wir sind Sozialistinnen, unsere Männer sind Nationalisten, aber das wäre an sich nicht so schlimm. Auf Außenstehende wirken sie modern. Aber zu Hause erwarten sie von ihren Frauen bedingungslose Unterwerfung. Eine andere politische Meinung zu haben, ist unmöglich, Kritik ist undenkbar.« Die Ältere: »›Ich bin der König der Familie‹, ruft mein Mann immer. Wenn unsere Männer Religiöse wären, 106
müssten wir jetzt Kopftücher tragen. Heute wechseln die Männer schon mal die Partei, dann muss man sich anpassen, sogar in der Kleidung. Das kommt vor.« Die Jüngere: »Als du wieder angefangen hast zu arbeiten, heimlich, hast du ihm immer gesagt, du würdest mich besuchen. Weißt du noch, wie er mich mal angerufen hat, um dich zu kontrollieren? Völlig betrunken war er da.« Die Ältere: »Gott sei Dank brach die Leitung zusammen.« Und nach einer kurzen Pause: »Wissen Sie, letzten Endes hängt alles von den Müttern ab. Unsere Männer sind von ihren Müttern erzogen worden, und für die gilt noch, dass wir Frauen bedingungslos zu gehorchen haben. Ich habe meine Töchter so erzogen, wie unsere Eltern uns erzogen haben, als Humanisten, die andere Menschen respektieren. Meine Töchter und ich haben wie in einem Vogelkäfig gelebt, aber ich wollte, dass sie eine Ausbildung bekommen und die Welt sehen. Und das habe ich geschafft. Sie sind raus aus dem Käfig, und dieses Vögelchen hier fliegt auch bald.« Die Jüngere: »Das musst du aber auch wirklich wollen. Du bist viel zu gut zu ihm, du nimmst ihn immer noch in Schutz. Wenn ich dich besuche, streite ich mich mit deinem Mann, statt dass du selbst mal was sagst.« Wir sprechen über die Religion, über die Stellung der Frau im Islam, über die Frage, ob sich ihre religiösen Gefühle mit ihrem Streben nach Emanzipation vereinbaren lassen. »Natürlich herrschen im Islam die Männer«, sagt die Oberschwester. »Aber der blinde Gehorsam und die bedingungslose Unterwerfung, die gehören nicht dazu. Wenn der Koran Frauen etwas verbietet, ist es auch für Männer verboten.« Die Ältere: »Ich liebe meine Religion, jeden Abend bete ich für meine Töchter und für meine Rettung, ich lege mich nie schlafen, ohne gebetet zu haben.« Sie verweisen auf die Frau des Propheten selbst, eine richtige Geschäftsfrau, »frei wie ein Vogel in der Luft«. Und die 107
Regel, nach der ein Mann vier Frauen heiraten durfte, sei als Reaktion auf eine Notsituation entstanden: Wegen der vielen Kriege habe in jener Zeit großer Männermangel geherrscht. Nein, der Glaube helfe ihnen. »Als mein Mann mich damals bei meiner Schwester erreichen wollte, während ich bei der Arbeit war, und das kaputte Telefon mich gerettet hat, das war ein Zeichen, Allah hat mir geholfen!«
Im Jahr 1749 beschrieb ein junger irischer Adliger, Lord Charlemont, in seinem Reisetagebuch die schockierte Reaktion von Haremsfrauen, als eine westliche Besucherin ihnen von den Freiheiten der Frauen in anderen Teilen der Welt berichtete. Es war, als hörten sie von der Nacktheit der Indianer oder der freien Liebe auf Tahiti. »Solche Sitten schienen bei ihnen eher Abscheu und Entsetzen hervorzurufen als auch nur das geringste neidvolle Verlangen.« Zweihundertfünfzig Jahre später klingt die Kritik vieler muslimischer Frauen am Westen noch wie ein Echo der Vorwürfe, mit denen die Haremsdamen ihren Widerwillen zum Ausdruck brachten. Pornographisch sei der Westen, dekadent; viel ist von moralischem Verfall die Rede, von einer »ehrlosen« Freiheit, die Frauen nur erniedrige. Im Sommer 2006 wurden unter dem Titel What Women Want die Ergebnisse des neuesten Gallup World Poll veröffentlicht, einer breit angelegten Umfrage unter Frauen mit achttausend Interviews in acht muslimischen Ländern. Sie zeigten, dass die Frage des Geschlechterverhältnisses, zumindest im privaten Bereich, für die meisten Musliminnen keinen sehr hohen Stellenwert hatte. Aus ihrer Sicht gab es viel Wichtigeres. Was sie sich wünschten, waren gleiches Wahlrecht, unbegrenzte Aufstiegschancen und, vor allem anderen, Arbeit außer Haus. Als größte Probleme innerhalb der islamischen Welt nannten sie den Mangel an Einigkeit 108
unter den muslimischen Ländern, die Korruption und den gewalttätigen Extremismus. Das auffälligste Ergebnis der Untersuchung war, dass eine überwältigende Mehrheit voller Überzeugung die »moralischen und geistigen Werte« ihrer eigenen Gesellschaft bejahte. Und mindestens ebenso interessant: Schleier und Burka, im Westen allgemein als Symbole der Unterdrückung von Frauen betrachtet, wurden laut Gallup von den muslimischen Frauen selbst nirgendwo als schwerwiegendes Problem genannt. Die Oberschwester, mit der ich während meiner letzten Wochen in der Stadt oft sprach, hatte manches gesagt, das in die gleiche Richtung ging. »Ökonomische Unabhängigkeit ist für unser Leben das Allerwichtigste. Und dazu gehört eine gute Ausbildung. Was nützt es, wenn man immer nur versucht, Frauen ihre Situation bewusst zu machen. Die meisten Frauen, ob Muslimin oder nicht, wissen doch selbst sehr gut, in welcher Lage sie sind. Natürlich ist das wichtig, aber was soll eine Frau ohne Geld machen? Frauen mit eigenem Einkommen haben gut reden, die brauchen sich dem Druck nicht zu beugen. Aber alle anderen sind Sklavinnen, sonst nichts.« Ich war zum Tee bei Elif Shafak eingeladen, die ihr Schriftstellerinnendasein in Istanbul mit einer wissenschaftlichen Karriere in den Vereinigten Staaten verbindet. Sie war hochschwanger. An diesem Tag musste sie ständig telefonieren, da bei der gerade veranstalteten Hetzjagd auf Schriftsteller und Journalisten, die angeblich »das Türkentum verunglimpfen«, nun auch sie ins Fadenkreuz geraten war. Diesmal übertrafen die Nationalisten sich selbst: Eigentlich klagten sie gar nicht Shafak an, sondern eine ihrer Romanfiguren, die über eine andere Romanfigur, eine Amerikanerin mit armenischstämmigem Vater, gesagt hatte: »Was wird dieses unschuldige Lamm seinen Freunden erzählen, wenn es groß ist? ... Ich bin die Enkeltochter von 109
Überlebenden des Genozids, die 1915 alle ihre Verwandten durch türkische Schlächter verloren ...« Das war das Thema des Tages, aber dann sprachen wir doch hauptsächlich von den bemerkenswerten Ergebnissen des Gallup World Poll. Natürlich habe der Islam frauenfeindliche Züge, sagte Shafak, und sie seien mit der Modernisierung und Säkularisierung der Türkei nicht verschwunden. »In der Türkei war die Modernisierung zunächst und vor allem ein Umgestaltungsprojekt der Elite.« Und diese zum größten Teil männliche Elite sollte das gesellschaftliche Leben und auch die, wie Shafak es nannte, »nationale Erzählung« dauerhaft prägen. In diesem Zusammenhang mahnte sie mich zur Vorsicht gegenüber der Welt der Brücke: »Denken Sie daran, das ist und bleibt eine Männerkultur, und was man dort erzählt, wird immer eine männliche Geschichte sein, sogar wenn sie von der Unterdrückung von Frauen handelt. Wenn Männer nicht unterdrücken, wollen sie retten, den Helden spielen.« So kamen wir zwangsläufig auf Pierre Loti zu sprechen, den pathologischen Verführer, der zugleich Frauenretter sein wollte. »Man könnte vielleicht wirklich von einem Loti-Komplex sprechen«, meinte Shafak. Lotis Verhalten empfand sie als Ausdruck eines alten westlichen Überlegenheitsgefühls. »Muslimische Frauen erwecken bei Männern im Westen immer wieder Mitleid, in allen politischen Lagern, bei strenggläubigen Christen genau wie bei Linksliberalen oder Feministen. Sie sehen die muslimischen Frauen als wandelnde Kopftücher, als eine homogene Gruppe von Unterdrückten, die sich nur befreien können, indem sie westliche Wertvorstellungen übernehmen. Immer wollen sie die Frauen retten, als ob Frauen sich nicht selbst retten könnten, als ob sie nicht längst schon damit angefangen hätten.« Die Oberschwester hatte noch eine zweite, jüngere 110
Schwester, und mit ihr brauchten wir keine geheimen Verabredungen zu treffen. Sie erwies sich als gläubige Muslimin, tief verschleiert, versicherte uns aber wiederholt, sie lebe ein modernes Leben, mit einem guten Mann und drei wunderbaren Kindern. Religion sei eine Bereicherung, meinte sie, und nichts, das sie einenge. »Uns geht es sehr gut, Allah ist groß. Unseren Töchtern lassen wir ihre Freiheit, sie tragen kein Kopftuch wie ich, und sie können heiraten, wen sie wollen. Aber sie müssen schon ihre Grenzen kennen, vor allem, was Sex, Drogen und das Internet angeht.« Mit ihrer ältesten Schwester hat sie sich überworfen: Sie hält sie für egoistisch, mit ihren ewigen Scheidungsdrohungen, die sie doch nie wahrmache. »In einer Ehe sind Spannungen normal. Immer haben die Männer eine Vormachtstellung, in der ganzen Welt. Mein Mann und ich haben eine gemeinsame Basis gesucht. Gut, vor allem ich habe mich darum bemüht. Ich musste ihm vieles erklären. Und manchmal steckt man eben auch zurück, wegen der Kinder. Das Wichtigste im Eheleben sind doch Liebe, Vernunft und Respekt. Ja, mein Kopftuch gehört auch dazu. Es ist ein Beweis der Liebe.« Unsere Fragen zu ihrer Kleidung fand sie einfach unsinnig. Das habe nichts mit ihrem Charakter zu tun. »Bevor ich geheiratet habe, war ich genau wie meine Schwestern. Ich habe Miniröcke getragen und alles getan, wozu ich Lust hatte. Und ich bin immer noch dieselbe. Ich habe mich dann eben anders entschieden ... na ja, man teilt nun einmal sein Leben mit jemandem ... es war ein Ausdruck des Respekts. Ich habe das nie als Einschränkung oder als eine Form von Unterdrückung empfunden. Im Gegenteil, das ist meine Freiheit, mein demokratisches Recht.« Dann kam sie noch einmal auf ihre Töchter zurück; sie seien beide emanzipierte Mädchen, betonte sie. Und das sei auch ihr Werk. »Ich habe ihre Persönlichkeit geformt, ja, sie sind nun frei.« 111
Später erzählten die beiden älteren Schwestern die Geschichte von einem wunderbaren Mädchen. Sie war klug, unabhängig, die Einzige der Schwestern, die es mit ihrem Vater aufnehmen konnte. Sie hatte langes, blondes Haar, lange Beine, trug enge Jeans; sie war frei, die Freieste von allen. Dieses Mädchen war ihre jüngere Schwester. Als sie zehn war, starb ihre Mutter, mit neunzehn heiratete sie. Ihr Mann war wesentlich älter, aber er versprach ihr alles, was sie wollte. Er hatte Geld, ein schönes Haus an der Küste; hätte sie sich noch mehr wünschen können? Sie heiratete ihn und saß in der Klemme. Fünfmal täglich beten, Ausgehverbot, im Haus die Schwiegermutter, die alle terrorisierte. »Die alte Schreckschraube wollte ihr sogar noch den Sex verbieten: ›Er ist mein Sohn, du ermüdest ihn zu sehr!‹« Ihr Vater unternahm einen Rettungsversuch, das Paar zog um, der Vater starb. »Von da an bekam sie keine Unterstützung von außen mehr, sie hatte keine Arbeit, sie war finanziell vollkommen abhängig. Wir konnten ihr auch nicht helfen, wir waren voll und ganz mit unseren eigenen Problemen beschäftigt.« Die Ältere: »Er wurde gewalttätig, sie verfiel in Depressionen, trotzdem haben sie drei Kinder in die Welt gesetzt. Uns warf sie vor, dass wir sie zu dieser Ehe überredet hätten, und damit hatte sie sogar Recht. Sie liebte nämlich eigentlich einen anderen, einen jungen Mann, der noch keine Stelle hatte, der außerdem noch seinen Wehrdienst ableisten musste. Aber als sich dieser seriöse ältere Herr vorstellte, dachten wir, der wäre doch die ideale Partie. Und unser Vater dachte genauso. Es ist eine Tragödie. Wenn unsere Schwester Arbeit gehabt hätte, wäre sie heute wahrscheinlich längst geschieden. Und ohne das Kopftuch hätte sie es natürlich viel leichter gehabt, eine Stelle zu finden. So wirken all diese Voreingenommenheiten und Vorurteile wunderbar zusammen.« 112
Die Jüngere: »Sie sagt nun, sie wäre glücklich, aber das redet sie sich um ihrer Kinder willen ein. Für ihre Kinder versucht sie glücklich zu sein, das ist das Einzige, was ihr bleibt, mit aller Kraft versuchen, glücklich zu sein. Diese Wut, die in ihr steckt, die bricht einem das Herz.«
In der Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1992 – die neue Brücke war schon fertiggestellt – war auf der alten zu allem Überfluss noch ein Feuer ausgebrochen, und danach schien sie aus der Geschichte verschwunden zu sein. Und doch gibt es sie noch. An einem Nachmittag erzählte uns der Fotograf, dass man das Ungetüm einfach an eine andere Stelle des Goldenen Horns geschleppt habe, ein paar Kilometer weiter nordwestlich, und dass es da bis heute vor sich hin roste. Wir beschlossen, uns sofort auf den Weg dorthin zu machen. Es war ein langer Fußmarsch, erst am Fischmarkt vorbei, dann an Wiesen entlang, auf denen sich, wie es hieß, nachts viel Unerlaubtes abspielt und tagsüber alle möglichen Leute die unterschiedlichsten Räusche ausschlafen, dann an kleinen Blechfabriken vorüber, an winzigen Läden, die Astscheren oder Drillbohrer verkaufen, und an Flächen voll verrosteter Schrottteile und Eisenrohre. Wir sahen angelnde Familienväter, Säufer und junge Pärchen; im Wasser Dutzende kleiner Boote, aus Metall, aus Holz, morsch oder nagelneu, einzelne Bretter, einen algenüberwucherten Hundekadaver, unzählige leere Flaschen. Die alte Brücke hatte noch ein kurzes zweites Leben als Fußgängerbrücke zwischen zwei Vororten gehabt, aber nun lag sie verlassen da, ersetzt durch eine moderne Konstruktion ein Stück dahinter. Sie war jetzt immer geöffnet, einsam schaukelten die Mittelstücke neben den beiden riesigen Hauptteilen. Mir war ganz seltsam zumute, als würde ich einen aufgebahrten Toten betrachten. Vereinigte Maschinenfabriken Augsburg-Nürnberg. Alle 113
charakteristischen Züge erkannte ich wieder: die Treppen, die Geländer, die eleganten Laternen. Was ich auf unzähligen alten Fotografien gesehen hatte, lag dort auf einmal vor mir. Auf den Treppen knirschten Injektionsnadeln unter unseren Sohlen, hier gab es also noch eine gewisse Art von Nachtleben. Die anderen Teile der Brücke waren abgesperrt, zugeschweißt, unzugänglich: die Restaurants der Stadtchronisten, das Kaffeehaus, in dem Meister Ali, Onkel Hüseyin und Großvater Mehmet Tag für Tag Tricktrack gespielt hatten, die Stege, auf denen die Habenichtse das Kommen des Blaubarschs bejubelten, die Trottoirs der Verkäuferinnen, der Laternenpfahl, neben dem der letzte Sultan sein Strafmandat kassiert hatte. Am Abend kehrten wir zurück. Auf der Brücke hatten alle schon zusammengepackt und Feierabend gemacht, außer dem Buchhändler. Nie habe ich gesehen, dass ein Student sich für eins seiner Bücher interessiert hätte. Da saß er nun in dem verlassenen, zugigen Gang hinter seiner Auslage, auf acht alten Zeitungen; das war sein ganzer Laden.
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P
VI FISCHSTURM
lötzlich stand bei einem der Hubtürme ein junger Mann, den wir noch nicht kannten. Er kam vom Land und hatte gerade seinen Wehrdienst hinter sich gebracht, es war sein erster Tag auf der Brücke. Seit sieben Uhr morgens wartete er hinter seiner Personenwaage auf Kunden. Wir waren die ersten, um elf Uhr. Eine halbe Million. Er war zweiundzwanzig, er hatte acht jüngere Geschwister, sein Vater war vor einem halben Jahr gestorben, und nun wollte die Familie in Istanbul ihr Glück versuchen. Aber auch hier gab es keine Arbeit. Sämtliche Textilbetriebe wanderten jetzt nach China ab. Nur eine Schwester hatte eine Anstellung gefunden, die Familie lebte von dreihundertfünfzig Millionen im Monat. Hunger? Er zuckte mit den Schultern. »Allah hilft uns. Wir haben nichts anderes.« Vor noch nicht allzu langer Zeit hätten er und seine Geschwister rasch Arbeit in den großen Fabriken rund um die Stadt gefunden, in genau den Zweigen des verarbeitenden Gewerbes, die Westeuropa Ende des vergangenen Jahrhunderts zum größten Teil abgestoßen hat: einfache Arbeit in der Textilindustrie, in bestimmten Sparten der metallverarbeitenden Industrie, in der Montage von billigen Massenprodukten. Heute konkurrieren die Menschen hier mit chinesischen Bauern, und diesen Kampf können sie, wie es aussieht, nur verlieren. Die türkische Wirtschaft wächst rasant, auf der anderen Seite des Bosporus entsteht eine Stadt, so dynamisch wie Barcelona oder Tel Aviv, aber sie könnten wieder einmal den Anschluss verpassen. In einer neuen Metropole pflegen die Lebenshaltungskosten in die Höhe zu schnellen, egal wie arm der Rest des Landes ist. 115
»Im Dorf konnte uns niemand helfen. Da gab es gar nichts.« Der junge Mann hatte einen offenen Blick, er strahlte Ruhe aus. Die Brücke vibrierte wie immer, Straßenbahnen donnerten vorbei. Zwei Stunden später war er verschwunden. Wir haben ihn nicht wiedergesehen. Es war die Zeit des Fischsturms, der in der Regel Ende Oktober kommt und früher immer riesige Thunfischschwärme in den Bosporus getrieben hat, doch das war einmal. Die Störche waren wieder über die Stadt gezogen, von Europa in Richtung Süden. Das alte spanische Ehepaar stand fröstelnd im Regen. Beide rauchten, ihr Hund lag in seiner Tasche, von einem Stück Segeltuch geschützt. Sie besaßen keine Regensachen, die alte Dame trug eine Wollweste, die sich vollsaugte, aber sie störte sich nicht daran. Eigentlich hatten sie mit ihrem eigenen kleinen Boot zu einem besseren Angelplatz fahren wollen, der Außenborder war aber nicht angesprungen. Jetzt war sie auf den Gedanken gekommen, sich als Fremdenführerin zu verdingen: »Was heißt ›anderthalb Stunden‹ auf Englisch?« Im Vorraum der Toiletten, beim Sohlenmann, war es dunstig und warm. Der Fernseher dort machte jede Verständigung unmöglich. Sein Freund, der Buchhändler, war in eine winzige Bruchbude umgezogen; die Miete für seine alte Wohnung hatte er nicht mehr aufbringen können, und er wusste auch nicht, wovon er nun das Studium seiner Tochter finanzieren sollte. Önder war spurlos verschwunden. Ob man ihn eingesperrt hatte oder ob er zu den Stränden von Izmir aufgebrochen war, wusste niemand. Vielleicht begegne ich ihm ja in zwanzig Jahren zufällig auf irgendeinem Flugplatz, wenn er ein erfolgreicher Unternehmer geworden ist. Mit sauberen oder dunklen Geschäften – in ihm ist beides angelegt. Der alte Lastträger stimmte ein Lied an: »Was ich will, bekomm ich nicht, trotzdem klag ich nie.« Dann murmelte 116
er trübsinnig, er sei »ein Halbmann« geworden. »Der türkischen Wirtschaft geht es schlecht«, sagte er, während er seine Waren – zwei Hosen und anderthalb Schuhe – zum wiederholten Male umordnete. »Wir kriegen wieder eine Militärdiktatur, wartet’s nur ab!« Wir hatten inzwischen einen – nicht sehr folgenschweren – Bombenanschlag erlebt. Weil die Brücke eine Stadt im Kleinen ist, hatte man damit rechnen müssen, dass früher oder später auch hier etwas passieren würde. Als dann an einem sonnigen Morgen der dumpfe Knall ertönte, wussten alle sofort, was das zu bedeuten hatte. Von den Treppen und Fähranlegern her waren Schreie zu hören, und wenige Sekunden später war der Kai bis auf ein paar Verletzte leer. Vor einiger Zeit hatte es schon einmal einen Anschlag gegeben, in einem Restaurant neben dem Galata Café. Diesmal war ein Müllcontainer neben den Treppen des Busbahnhofs in die Luft geflogen, auf denen zu anderen Tageszeiten wartende Familien sitzen. Die Sache war noch einigermaßen glimpflich abgegangen. Drei Verletzte hatten ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, und um die Mittagszeit packten die Bombenexperten und Fernsehteams schon wieder ihre Sachen zusammen. Ich stand hinter dem Absperrband und schaute zu, neben dem Kameramann eines Lokalsenders. »Wir stecken wieder mal in der Scheiße«, brummte er. »Unter der Oberfläche, die ihr Europäer unbedingt umwühlen müsst, gibt es so viele Spannungen – was das angeht, ist es hier kaum anders als im Irak. Und hier kann auch alles im Chaos enden. Aber das begreift ihr im Westen einfach nicht.« Der Ramadan kam, und an den Abenden erinnerte die Atmosphäre auf der Brücke an Nikolaus oder Weihnachten: die gleiche Feststimmung, die gleiche Gemütlichkeit, das gleiche Verlangen nach Wärme, die gleiche Vorfreude auf gutes Essen. Die Stimme der jungen Losverkäuferin klang wie immer fröhlich. Ein paar 117
zappelige Drogensüchtige bestürmten ihren kleinen Stand, um ein letztes Los zu ergattern. Sie hielt sich tapfer. »Es ist ihre einzige Hoffnung. Ich kenne sie.« Bei ihr lief es in diesen Tagen nicht schlecht, von den großen Losen hatte sie nur wenige verkauft, aber die kleinen Rubbellose gingen sehr gut. Sie flüsterte uns zu: »Ich habe neue Tabletten bekommen, die helfen wirklich, gegen die Wut in mir.« Die meisten Menschen auf der Brücke, auch die »Humanisten«, hielten sich strikt an die Vorschriften des Ramadan. Vor Sonnenuntergang durfte nicht gegessen werden, aber wenn dann das Signal für das Fastenbrechen gegeben wurde, verwandelte sich die Brücke in einen großen, schnappenden Mund. Überall wurden aus irgendwelchen Behältnissen Mahlzeiten hervorgezaubert, Kellner und Laufburschen rannten hin und her, an allen Ecken und Enden schaufelten Straßenverkäufer, Schuhputzer und Taschendiebe Essen in sich hinein, und in jedem Laden konnte man Inhaber und Personal gemeinsam speisen sehen. Für kurze Zeit schwieg die Brücke und kaute nur. Es war ein Fest, das noch in der farblosen Welt der alten Brückenfotos stattzufinden schien, von denen ich nun so viele kannte und die sich mit allen Einzelheiten meiner Netzhaut eingeprägt hatten. So leblos, wie die alte Brücke dort draußen lag, so heimatlos können manchmal die Bewohner der jetzigen wirken. Lissabon gibt sich lustvoll seiner saudade. hin, hier hat man hüzün, jene ganz eigene Spielart kollektiver Melancholie, der sich die Bewohner dieser Stadt gern überlassen und die bei aller Modernität kaum noch aus ihr wegzudenken ist. Man sieht es an den Farben: Die Menschen auf der heutigen Brücke tragen, bis auf wenige leuchtende Ausnahmen, Schwarz, Braun und Grau. Von dem kräftigen Grün, Orange, Rot, Gold, Gelb, Blau und Türkis, von all den aufregenden Farben, die Edmondo de Amicis 1878 auf der Brücke gesehen hatte, ist fast nichts geblieben. Orhan 118
Pamuk beschreibt diesen Mangel an Farbe als »schwarzweiße Atmosphäre« Istanbuls und meint, die Wahrnehmung der Stadt durch ihre heutigen Bewohner werde von einem »Schwarzweißgefühl« bestimmt; ihre Unscheinbarkeit sei Ausdruck der Bescheidenheit, die zu ihrer tiefen Wehmut gehöre. Wehmut ist eine Art süßer Trauer, und Trauer ist ein Gefühl des Verlusts, auch und nicht zuletzt des Verlusts von Gewissheiten. An Gewissheiten hatte einmal kein Mangel geherrscht. Sie verdankten sich der erstaunlichen Kontinuität in der Geschichte der größten und wichtigsten Stadt Europas, der römischen Kaiserstadt Konstantinopel, in der eine Dynastie von zweiundneunzig Herrschern mehr als tausend Jahre lang regierte. Ein vergleichbares Maß an Kontinuität kennzeichnete später die osmanische Epoche mit ihrer scheinbaren Ruhe, mit ihrer Sattheit, mit dem Reichtum der Paläste und Sommervillen, in denen alles den Anschein von Sicherheit und Unveränderlichkeit erweckte. Dennoch wurde die Stadt, die 1453 noch wie selbstverständlich als die »Königin der Städte« bezeichnet worden war, für den Westen in den Jahrhunderten danach zu einem abgelegenen Ort, blühend und dynamisch zwar, aber trotzdem weitab und zweitrangig. So wurde sie irgendwann auch von ihren Einwohnern wahrgenommen – obwohl die Fahrtzeiten etwa nach Wien oder Marseille allmählich von Wochen auf Tage und schließlich auf Stunden schrumpften. Und während Westeuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Wunder eines weit verbreiteten Wohlstands erlebte, versank das stolze Istanbul immer tiefer in Isolation und Vergessenheit. Zunehmende Unsicherheit unterminierte das Selbstbewusstsein seiner Bewohner; das Denken erstarrte in der Beschwörung von »Ehre«, »Stolz« und »Nation«, während zugleich alles relativiert und in Frage gestellt zu werden schien. 119
Die Brücke hat in den letzten anderthalb Jahrhunderten nicht weniger als viermal ihre Gestalt gewechselt. Das alte Istanbul verfiel, seine Holzhäuser vermoderten oder gingen in Flammen auf, und wahllos in die Stadtlandschaft gesetzte Betonkästen überwucherten große Teile der alten Viertel. Von der gewaltigen osmanischen Hauptstadt des 16. und 17. Jahrhunderts ist kein einziges hölzernes Wohnhaus erhalten geblieben. Im Jahr 1854 hatte Theophile Gautier am Ufer des Bosporus vom Wasser aus eine endlose Reihe von Sommerresidenzen gesehen, apfelgrün gestrichen, von Platanen beschattet, eine anmutiger als die andere. Gut ein Jahrhundert später sollte der jugendliche Orhan Pamuk erleben, wie diese hölzernen Villen der Reihe nach in Rauch aufgingen. Seine Freunde und er pflegten dann in überfüllten Autos zum Bosporusufer hinunterzufahren, um sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen, und während sie Kassetten mit Creedence Clearwater Revival hörten, Tee und Bier tranken und Käse-Schinken-Toast aßen, sahen sie wieder eines der letzten Zeugnisse osmanischet Herrlichkeit zum Teufel gehen. Die Stadt verlor mehr und mehr ihren kosmopolitischen Charakter. Im September 1955, als der Zypernkonflikt die Türkei und Griechenland an den Rand eines Krieges brachte, wurde zum letzten Mal »der Pöbel losgelassen«. In den Straßen von Pera plünderten grölende Horden jedes »nichttürkische« Geschäft; Kühlschränke – damals ein Zeichen großen Wohlstands – wurden die abschüssigen Straßen hinuntergeschleift, die großen runden Käselaibe aus den griechischen Lebensmittelläden rollten hinterher, und als alles vorbei war, glänzten in diesem Viertel nur noch die Glasscherben, mit denen alles übersät war. In den folgenden Jahren verließen mehr Griechen die Stadt als in den Jahrhunderten seit 1453. Von der halben Million Griechen, die 1914 hier gelebt hatten, waren 2006 kaum fünftausend übrig. Die letzte 120
griechische Zeitung Istanbuls, Apoyevmatinί (Nachmittagszeitung), hat nach Auskunft ihres betagten und unbezahlten Chefredakteurs noch genau fünfhundertzwanzig Abonnenten.
»Nichts bleibt, was es ist, nicht einmal unser Herz«, dichtet Ahmet Muhip Diranas. »Doch wie kann eine Stadt, mit Jahrhunderten gemästet/Schneller noch als ein Menschenleben/von jetzt bis gleich vergehen?« Istanbul ist seit jeher eine Stadt des Kommens und Gehens gewesen, eine pragmatisch denkende Stadt, zu deren Eigenschaften – um einen Ausdruck Joseph Brodskys zu gebrauchen – »eine gewisse Verantwortungslosigkeit gegenüber der Vergangenheit« zählt, eine Stadt mit Wegwerfhäusern und Wegwerfvierteln. Im 20. Jahrhundert wurde dieser Drang zu ständiger Veränderung und Anpassung zu einer Tugend erhoben. In weniger als hundert Jahren hat sich das traditionsbewusste, multiethnische, multireligiöse osmanische Imperium in einen modernen, säkularen Nationalstaat verwandelt, und die Stadt verwandelte sich mit. Vorangetrieben wurde dieser Prozess von einer Elite, die um jeden Preis Anschluss an die Kultur des Westens suchte und am liebsten jede Erinnerung an die orientalischen Wurzeln ausgelöscht hätte. Ob ihr »Umgestaltungsprojekt« auf allen Gebieten verwirklicht worden ist, dieses Projekt einer modernen Türkei, darüber kann man streiten, aber der Ehrgeiz und die Anpassungsfähigkeit der Stadt wie des Landes können nur Staunen erwecken. Heute ist Istanbul für die Länder um das Schwarze Meer wieder »die Stadt«, das Entwicklungspotential ist gewaltig, und wenn die Türkei irgendwann der Europäischen Union beitritt, könnte Istanbul durchaus zu einem neuen Byzanz werden, zu der Metropole Südosteuropas und des Nahen Ostens. Das Ergebnis der radikalen Modernisierung dürfte freilich eine 121
Stadt sein, die weitgehend von ihrer eigenen Geschichte abgeschnitten ist. Elif Shafak sprach in diesem Zusammenhang von einem »kollektiven Gedächtnisverlust« als Folge einer Lebenseinstellung, die soziale Veränderungen erleichtert, gleichzeitig aber die Entstehung von historischem Bewusstsein verhindert habe, ganz zu schweigen von der Fähigkeit zu kritischer Rückschau. Pamuk wiederum schreibt, in seiner »Unentschlossenheit«, die ihn »sowohl zum Subjekt als auch zum Objekt westlicher Blicke« mache und ihn die Stadt »mal von innen, mal von außen sehen« lasse, habe er »die unterschiedlichsten, widersprüchlichsten Gedanken« über Istanbul: »Ich gehöre nicht ganz hierher und bin auch nicht ganz fremd.« So unterscheidet sich auch die Armut in dieser Stadt von der Armut anderer Weltstädte. Zahllose Relikte des alten Istanbul, von Palästen bis zu den letzten morschen Überresten einst wunderschöner Villen, erinnern die Einwohner ja Tag für Tag an den kläglichen Zerfall eines – wie man auch darüber urteilen mag – beeindruckenden Imperiums und einer einzigartigen Kultur. Wer auf den Reichtum und die Vielgestaltigkeit der osmanischen Kultur verweist, wird oft schief angesehen: Das sei »rechts«, meint Links, es sei »nicht modern«, meint Rechts; man tut es einfach nicht, finden fast alle. Diskussion beendet. Historische Denkmäler werden hier, von wenigen offiziellen Monumenten abgesehen, nicht gepflegt. Sie sind Erinnerungen an schmerzliche Wahrheiten, sie können nur wehmütig stimmen, und so lebt man heute einfach mitten unter ihnen, so gut es eben geht, ohne ihnen weiter Beachtung zu schenken. Es war ein später Sonntagnachmittag, es dämmerte schon. Der Schwarze Wind blies wieder, das Thermometer stieg gerade noch über den Gefrierpunkt. Die Zeitungen kündigten dicke Schneewolken an, die von Deutschland 122
und vom Balkan her unterwegs waren. Kalte Böen fegten durch die Rinnsteine des alten Griechenviertels, jagten die steilen Straßen hinauf und hinab, um die Ruinen eleganter Herrenhäuser, um schiefhängende Erker und beschlagene Fenster mit halb heruntergerissenen Gardinen, an einem Bäcker ohne Kundschaft und an weinenden Kleinkindern vorbei, um Straßenecken mit spärlich erleuchteten Kuchen- und Seifenläden. Mädchen übten sich im Seilspringen oder spielten komplizierte Gummitwistspiele. Über das Kopfsteinpflaster holperten ein paar Jungen auf Rollschuhen hinter mir her: »Hello! Hello!« Ich hatte schon Abschied genommen. Die junge Losverkäuferin hatte mir ein Los geschenkt, der Sohlenmann und der Buchhändler hatten mich umarmt. Auf der Brücke war fast niemand mehr, sogar der Sohlenmann hockte schon zu Hause. Die einzige Angel, die noch ausgeworfen wurde, war die des Bankers, aber für den gehörte die Kälte einfach zu seinem Sport. Die anderen sahen fern, saßen im Kaffeehaus oder lagen im Bett, und sie träumten ihre Träume: die Oberschwester von einem Visum, um ihre Enkelin besuchen zu können; der Buchhändler von einer guten Partie für seine Tochter; der Kellner von einer Profifußballerkarriere für seinen Sohn; der Parfümverkäufer von den Wiesen um das Dorf seiner Jugend; der blinde Flötenspieler von einem Mord an seiner Ex-Frau; der Teebrüher von zweitausend Dollar, mit denen er einen Lastwagen kaufen und in seinem Dorf eine kleine Transport- und Schmuggelfirma aufziehen könnte; der Schirmverkäufer von einer Klage gegen England; der Sohlenmann von einer fröhlichen Mahlzeit mit all seinen Kindern; die älteste der drei Schwestern von einer Ehescheidung; der Brückenpolizist von einem Fernsehkurs, einem Zeugnis, einer höheren Besoldungsgruppe und seiner Pension; die Losverkäuferin von schönen Aussichten für ihre kleine Schwester, die vielleicht im Backgroundchor einer Fernsehshow 123
auftreten durfte – noch war der Mann mit der Trommel weit weg. Es wurde kälter. An den Wäscheleinen über den schmalen Straßen flatterten bunte Kleidungsstücke. Rauch kroch durch das Viertel, überall wurde Holz aus Ruinen und Abrisshäusern herbeigeschleppt, Männer sägten und hackten, Späne flogen, im Dunkel der Kellerwohnungen glühten die Feuer der kleinen Stahlblechöfen. Während die Dämmerung sich ausbreitete, verwandelte sich der Regen allmählich in nassen Schnee, und dann fielen die Flocken, weiß und feierlich; selbst die fliegenden Seelen über der Blauen Moschee entschwanden dem Blick.
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DANK
eine Arbeit in Istanbul wäre nicht denkbar gewesen ohne die Unterstützung durch Bernard Bouwman und Elif Shafak, die Kameradschaft und den unermüdlichen Eifer meines Dolmetschers Mehmet Onur Zor, der mich täglich begleitet hat, und die Offenheit und das Vertrauen, mit denen mir meine Gesprächspartner auf der Brücke begegnet sind: Ali Özbağriaçik (der Sohlenmann), Mehmet İnce (der Buchhändler), Önder Karabuga (der Zigarettenjunge), Ömer İhtiyar (der alte Lastträger), Ayhan und Fatma (das alte spanische Ehepaar) – und all die anderen. In den Niederlanden haben Hanneke van der Heijden und Margreet Dorleijn bereitwillig auch die merkwürdigsten Texte von Istanbuler Stadtchronisten für mich übersetzt. Alle Übersetzungen aus türkischen Artikeln und Gedichten, auch wenn aus bereits veröffentlichten Sammlungen entnommen, stammen von ihnen. Mein Verleger Emile Brugman hat diesem Projekt immer wieder neue Impulse gegeben. Rene van Stipriaan hat das Manuskript redigiert und zahlreiche Verbesserungen vorgeschlagen. Allen Genannten danke ich von Herzen. Die Wind- und Sturmnamen habe ich dem Buch von John Freely entnommen, der sie wiederum in der Fischerkneipe Nazmi in Bebek erfragt hatte. Das Bild von der Brücke als Vogelleib ist von dem Stadtchronisten Nâzim Hıkmet. Das Gedicht »Die Brücke« (»Köprü«) von Sait Faik 125
(Abasiyanik), dem das Motto entnommen ist, stammt aus der Sammlung Şimdisevişme vakti (»Nun ist es Zeit, sich zu lieben«), Istanbul 1963. Elif Shafak ist inzwischen freigesprochen worden. Aus Rücksicht auf einige meiner Gesprächspartner wurden in manchen Fällen Namen und andere Angaben zur Person geändert.
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