Kurt von Fischer
Die Passion Musik zwischen Kunst und Kirche
Bärenreiter Metzler
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Fischer, Kurt von: Die Passion: Musik zwischen Kunst und Kirche 1 Kurt von Fischer. Kassel; Basel ; London ; New York ; Prag : Bärenreiter; Stuttgart ; Weimar: Metzler, 1997 ISBN 3-7618-2011-9 märenreiter} ISBN 3-476-01530-0 <Metzler}
© 1997 Bärenreiter-Verlag Karl Vcitterle GmbH & Co. KG, Kassel Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und
J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar Einbflndgestaltung: )örg Richter, Bad Emstal-Sand, unter Verwendung des Gemäldes »Kreuzigung« (um 1590/1600> von EI Greco (Madrid, Museo dei Prado; Foto: Archiv für Kunst und Geschichte Berlin) Satz und Innengestaltung: Dr. Rainer Lorenz, Kassel Druck und Bindung: Thomas Müntzer, Bad Langensalza ISBN 3-7618-2011-9 märenreiter} ISBN 3-476-01530-0 <Metzler} Printed in Germany
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
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Die Anfänge der Passionsliturgie
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Der einstimmige Passionsgesang
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Von der lehrhaften zur mitleidsvollen Passion: Von der doctrina zur compassio 23 Vom Mitleid zur Imitation des Leidens Jesu: Die Anfänge der mehrstimmigen Passion 26 Systematik der älteren mehrstimmigen Passionskomposition
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Frohe Beispiele mehrstimmiger Passionen aus Deutschland, England, Italien und Spanien 33 Die erste Summa passionis
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Die Blüte der Passionskomposition im 16. Jahrhundert in katholischen Gebieten 40 und deren Weiterentwicklung bis zum 18. Jahrhundert Italien 40 Iberische Länder und Einflußgebiete 46 50 Deutschsprachige Gebiete Die Summa passionis in slawischen Ländern Frankreich 55
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Die evangelisch-protestantische Passion zur Zeit der Reformation
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Die Musik der responsorialen Passion des 16. Jahrhunderts im evangelischen Bereich 62 Motettisch durchkomponierte Passionsharmonien des 16. und frohen 17. Jahrhunderts evangelischer Provenienz 65 Die Passionen von Heinrich Schütz
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Anfänge der oratorischen Passion und Einflüsse pietistischer Frömmigkeit im 17. Jahrhundert 79
Die oratorisch-poetische Passion im 18. Jahrhundert
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Von der Kirche zur Schaubühne: Die Anfange des protestantischen Passionsoratoriums 97 Hamburger Passionen des Spätbarock
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Bürgerliche Passionsfrömmigkeit
Johann Sebastian Bachs für den Gottesdienst bestimmte Passionen Johannespassion 103 Matthäuspassion 104 Theologische Aspekte 109 Die Passionskomposition nach Bachs Tod und die Verabschiedung 112 des Passionsgesangs aus dem protestantischen Gottesdienst Die Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion Vorsichtige Neuanfange 114 Die Passion im 20. Jahrhundert
117
Historisierende und individualisierende Tendenzen in kriegerischen Zeiten 118 Passionen nach 1945 119 Engagiertes Komponieren 127 Von stammelnder und verstummender Frömmigkeit
13 9 Sachworterklärungen Literatur 141 Bildnachweis 143 Personenregister 144
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Vorbemerkung
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ie vorliegende Geschichte der Passion will ein Buch zum Lesen, zum Anschauen und vielleicht auch zum Mithören sein. Entstanden ist es aufgrund langjähriger wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Stoff, der in zahlreichen Aufsätzen und Vorlesungen immer wieder Gestaltung gefunden hat. Meine Arbeit geht davon aus, daß Vertonung und Vortrag der Texte vom Leiden und Sterben Jesu, wie sie einige Jahrzehnte nach den historischen Ereignissen der Passion in den vier Evangelien aufgezeichnet wurden, als rezeptionsgeschichtliche Vorgänge zu verstehen sind, die im Laufe der Jahrhunderte und bis heute eng mit dem Wandel theologischer, liturgischer, kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Anschauungen zusammenhängen. Aufzuzeigen sind aber auch Zusammenhänge zwischen Musik, allgemeiner Geschichte, Bildender Kunst und Literatur, die, vielfach nur andeutungsweise, als Denkanstöße für eine an geistesgeschichtlichen Fragen interessierte Leserschaft gedacht sind. Von hier aus ergab sich die Gestalt dieser Darstellung im Sinne eines knapp gefaßten Versuchs, die Geschichte der Passion in großen Linien nachzuzeichnen und, ohne Belastung durch allzuviele Details, mit zahlreichen Notenbeispielen und Abbildungen anschaulich zu machen. Auf Fußnoten wurde bewußt verzichtet. An ihre Stelle tritt im Anhang eine Liste der wenigen im Text direkt zitierten Arbeiten in alphabetischer Reihenfolge der Autoren. Anschließend folgt eine allgemeine Kurzbibliographie einiger lexikographischer und handbuchartiger Publikationen, in denen weiterführende Informationen sowohl sachlicher wie auch bibliographischer Art zu finden sind. Eine Liste mit Sachworterklärungen kann als Lesehilfe dienen. Schließlich sei mein Dank an Kollegen ausgesprochen, die mir in theologischen und kunsthistorischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite standen. Insbesondere gilt dieser Dank meinem Freund Robert Leuenberger, Honorarprofessor für praktische Theologie an der Universität Zürich, sowie Jutta Schmoll-Barthel, der überaus aktiven und einfallsreichen Lektorin des Bärenreiter-Verlages. Erlenbach-Zürich, im Frühjahr 1997
Kurt von Fischer
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Einleitung »Et homo factus est Crucifixus etiam pro nobis: Sub Pontio Pilato passus, et sepultus est« »Und ist Mensch geworden. Gekreuzigt wurde er sogar für uns: Unter Pontius Pilatus hat er den Tod erlitten und ist begraben worden.«
s
o lauten die Worte des im 4. Jahrhundert am Kirchenkonzil zu Nicäa formulierten Glaubensbekenntnisses, das sich auf die von den vier Evangelisten überlieferten Berichte vom Passionsgeschehen stützt. Damit ist dieser Text als zentrale und für alle christlichen Konfessionen von der Frühzeit bis zur Gegenwart verbindliche Glaubenswahrheit deklariert worden. So steht denn auch, zusammen mit dem österlichen Auferstehungsglauben, das Kreuz im Mittelpunkt allen theologischen Denkens. Besonders in der Westkirche hat sich im Verlaufe der Jahrhunderte eine Theologia eruds entwickelt, die sich, ausgehend von und mit der Passionsliturgie, auf Dichtung, bildende Kunst und Musik ausgewirkt hat. Zum theologisch-liturgischen Gedankenkreis tritt als weiteres Element die Volksfrömmigkeit, die für jede künstlerische Gestaltung des Passionsthemas von wesentlicher Bedeutung gewesen ist. Vordergründig sichtbar wird das Thema Passion in der bildenden Kunst, wo die Jesus- und Kreuzigungsbilder Zeugnis ablegen vom jeweiligen Passionsverständnis, wie es von Theologen und Kirche im Laufe der Jahrhunderte formuliert worden ist. Die bildlichen Darstellungen können deshalb oft als Orientierungshilfe dienen, wenn nach dem Wesen und nach den Wandlungen auch der Passionsmusik gefragt wird. Wenn die Mosaiken des frühchristlich-byzantinischen Ravenna des 5./6. Jahrhunderts den Körper des triumphierenden Christus in jugendlich kraftvoller Gestalt darstellen und wenn das Kreuz als Triumphkreuz, als Kreuz der Verklärung und ohne den Leib des Gekreuzigten erscheint (s. Abb. I, S. 10), so macht sich, fünf Jahrhunderte später, in den ekstatischen Bildern der Bamberger Apokalypse zwar eine spiritualistische Tendenz bemerkbar (s. Abb. VI, S. 17), doch bis zu den Portalen der großen romanischen Kirchen wie denen von Autun und Vezelay ist es immer noch der Herrscher Christus, der Pantokrator, und nicht der Gekreuzigte, der im Mittelpunkt der damaligen Bilderwelt steht. Kreuzesdarstellungen fehlen zwar auch in der Frühzeit nicht, man denke etwa an die Holztüren der im 5. Jahrhundert in Rom errichteten Kirche S. Sabina (s. Abb. 11, S. 11), doch erscheinen diese vor allem innerhalb kleinforrnatiger Bilderzyklen : Die Kreuzigung ist eine unter anderen Stationen im Leben Jesu.
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Abb. I Das Kreuz der Verklärung Ravenna, Kirche Sant' Apollinare in Classe, Mosaik des 6. Jahrhunderts in der Apsis der Kirche
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Mit der Gotik beginnen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts neue Bilder in den Mittelpunkt zu rücken. An die Stelle des Pantokrators tritt jetzt immer mehr der leidende Jesus, der Menschensohn. Solches wird etwa sichtbar am Beispiel der Kathedrale von Chartres: Das um 1150 geschaffene Hauptportal zeigt noch den majestätischen Christus im Kreise der vier Evangelistensymbole (s. Abb. 111, S. 12 oben); das sechzig Jahre später entstandene Portal des südlichen Querschiffes (s. Abb. IV, S. 12 unten) stellt zwar noch nicht den Gekreuzigten dar, wohl aber die Gestalt des richtenden Jesus Christus mit Wundmalen und, in der Hand der äußeren Figuren, mit MartelWerkzeugen (Peitsche und Speer).
Abb. 11 Kreuzigungsdarstellung um das Jahr 432 Rom, Holztür der Kirche Santa Sabina
In der Westkirche erfolgt der endgültige Wandel vom Pantokrator zum Schmerzensmann im 13. jahrhundert in Verbindung mit der gewaltigen Ausbreitung des Franziskaner-Ordens und dessen Theologie. Damit wird zugleich deutlich, weshalb in der Westkirche, im Gegensatz zur Ostkirche, der Karfreitag gegenüber Ostern immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. So ist es denn auch kein Zufall, wenn im ausgehenden 12. jahrhundert nun auch die ersten Passionsspiele mit ihren figürlichen Darstellungen der Leidensgeschichte neben die um fast zweihundert Jahrhunderte älteren Osterspiele getreten sind. Die Geschichte der jesus- und Christusbilder könnte hier weiter und bis in die Gegenwart hinein verfolgt werden: Überall sind engste Zusammenhänge zwischen Theologie, Volksfrömmigkeit, Geistes-, Sozial- und Kunstgeschichte erkennbar, welche bei den nun folgenden Besprechungen von in Musik gesetzten Passionstexten zur Vorsicht gegenüber absolut verstandenen stilistischen und ästhetischen Kriterien mahnen. Bezogen auf das Thema Passion ist in jedem Fall nach den theologischen, aber auch nach den historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründen zu fragen, welche hinter den jeweiligen Passions-Interpretationen stehen.
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Die Anfange der Passionsliturgie
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ie biblischen Passionsberichte, wie sie von der römisch-katholischen Liturgie und später auch von der evangelisch-lutherischen übernommen worden sind, finden sich in den Kapiteln 26/27 des Matthäus-, 14/15 des Markus-, 22/23 des Lukas- und in den Kapiteln 18/19 des Johannesevangeliums. In ihrer unterschiedlichen, jeweils auch durch Herkunft und Ziel publikum des Evangelisten bedingten Betrachtungsweise bestimmten Gestalt sind die vier Evangelien nicht gleichzeitig, jedoch, vielleicht mit Ausnahme des Markustextes, erst nach der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 entstanden. Als ältestes gilt das Evangelium nach Markus, auf das, sowie auf heute verlorene Quellen, Matthäus und Lukas zurückgehen. Die genannten drei Evangelisten werden unter dem Namen Synoptiker zusammengefaßt. Den jüngsten, von den übrigen Evangelisten vielfach unabhängigen Text überliefert das Johannesevangelium, das erst um das Jahr 100 entstanden sein dürfte. Mit Bezug auf die Passionsberichte stimmen alle vier Evangelisten relativ eng miteinander überein. Vom 5. Jahrhundert an wurden diese Berichte im Rahmen der Messe-Gottesdienste der Karwoche als Evangelienlektionen vorgetragen. Hierbei handelt es sich um die längsten, jeweils zwei Kapitel umfassenden Bibellesungen im Rahmen der Messe überhaupt. Konstitutives Element ist hierbei die Aufteilung der Texte in Erzählung und direkte Rede. Diese in allen vier Evangelienberichten erscheinende Gestalt dürfte, wie heute angenommen wird, auf liturgisches Brauchtum der frühchristlichen Gemeinden zurückzuführen sein; ja, es ist zu vermuten, daß die ersten Kurzfassungen der Passionstexte in der Liturgie geformt und innerhalb der Liturgie auch weiter ausgeformt worden sind. So ist auch die gesungene Passion schon von ihrer Entstehung her untrennbar mit liturgischen Funktionen verbunden, die ihrerseits wiederum in ihren Aussagen auf bestimmten theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Anschauungen beruhen. Das früheste bekannte Zeugnis liturgischer Passionslesungen stammt aus dem späten 4. Jahrhundert. Es ist der ausführliche Bericht einer Pilgerin namens Etheria (auch als Aegeria bekannt) über ihre Fahrt nach Jerusalem und die dort miterlebten christlichen Gottesdienste. Ihr Bericht läßt erkennen, daß Passionslesungen in der --_._--------
Oben: Abb. 111 Pantokrator mit Evangelistensymbolen Chartres, Porte Royal der Kathedrale (um IlsOl Unten: Abb. IV Christus als Weltenrichter mit Wundmalen, Maria und lünger Johannes, links und rechts außen Figur mit Speer und Peitsche (Marterwerkzeugel Chartres, Portal des südlichen Querschiffes der Kathedrale (um 12061
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Karwoche dort eine ganz wesentliche Rolle gespielt haben. Dabei ist die besondere Stellung Jerusalems in Betracht zu ziehen: Hier ist der historische Schauplatz der Geschehnisse, von denen die Evangelisten beziehungsweise deren Gewährsleute berichteten. Was in Jerusalem zur Zeit der Etheria in den Gottesdiensten der Christen vorging, ist deshalb unter dem Aspekt einer unmittelbaren Erinnerungsfeier an die Passion Jesu zu verstehen; hier lebten die Pilger und Mönche gewissermaßen das Leben und Sterben ihres Erlösers nach. So erklärt sich auch der Charakter der von Etheria beschriebenen Passionsgottesdienste: "Wenn man in Gethsemane angekommen ist, spricht man ein Gebet und einen Hymnus; dann liest man aus dem Evangelium die Stellen, da der Herr verhaftet worden ist. Beim Vortrag dieses Abschnitts entsteht ein solches Geschrei und Seufzen des ganzen in Tränen aufgelösten Volkes, daß man die Klagelaute fast bis in die Stadt hinein hören kann.« Zum Karfreitag berichtet Etheria: ,>Von der sechsten bis zur neunten Stunde [d.h. nach Markus die Zeit von Jesu Sterben am Kreuz] hören die Lesungen nicht auf«, wobei unter Lesungen kein gewöhnliches Lesen, sondern psalmodischer Sprechgesang, sogenannte Kantillation, wie sie im Vorderen Orient zur Tradition gehört, zu verstehen ist. Weiter heißt es bei Etheria: "Bei jeder Lektion und jedem Gebet sind alle Anwesenden in einem derartigen Zustand und stoßen solche Seufzer aus, daß es ganz außerordentlich ist; denn es gibt niemanden, der nicht während dieser drei Stunden in einer unglaublichen Weise darüber wehklagt, daß der Herr so viel für uns gelitten hat.« So gehört im Jerusalem des 4. Jahrhunderts eine engagierte Beteiligung am Passionsgeschehen mit zum Ritual. Eine ganz entscheidende Wandlung erfuhr das Passionsverständnis in der Westkirche. Mit Augustins auf den paulinischen Texten beruhender Theologie gewannen im ausgehenden 4. und S. Jahrhundert spiritualistische, aber auch schon dogmatische Züge die Oberhand über die affektiv erlebten Erinnerungen an das Passionsgeschehen. Für Augustin ist die Passion nicht bloß ein Gedenken an ein trauriges und beklagenswertes Ereignis, sondern ein ganz zentrales theologisches Faktum, das mit der Lehre von der Sündenvergebung durch Christus verbunden ist und für jeden Menschen Gültigkeit besitzt. Davon zeugt ein Abschnitt aus Augustins Sermo 218, der den besonderen Charakter der Passionstexte hervorhebt; gefordert ist eine feierliche Lesung mit der Begründung, daß durch Christi Blut unsere Sünden vergeben sind: "Cujus sanguine delicta nostra deleta sunt, solemniter legitur passio, solemniter celebratur« ("Durch Christi Blut sind unsere Schulden vergeben; deshalb soll die Passion würdig und feierlich gelesen und gefeiert werden«). So verstanden verlangt die Erinnerung an dieses Geschehen keine Aufforderung zum Mitleiden; vielmehr sind die Passionstexte als lehrhafte Aussagen, d.h. als doctrina, zu verstehen. Das Leiden jesu ist denn auch für Augustin göttlich gewollte Tatsache, es entzieht sich jeglichem Zugriff des Menschen. In diesem gewissermaßen objektivierenden Sinn ist nun auch die zur Zeit Papst Leos des Großen um die Mitte des 5. Jahrhunderts erfolgte Institutionalisierung der auf bestimmte Tage der Karwoche festgelegten Passionslesungen im Messe-Gottesdienst zu sehen; bedeutet doch Institutionalisierung immer auch Gewinnung objektivierender Distanz. Schon zur Lebenszeit Leos wurde die Lesung der Matthäuspassion auf den Palmsonntag und die der johannespassion auf den Karfreitag
festgelegt, eine Ordnung, die sich im römischen Ritus bis zum zweiten Vatikanischen Konzil (1960-1965) unverändert erhalten hat. Von den Kirchenvätern begründet wird die Zuordnung der johannespassion zum Karfreitag damit, daß johannes der einzige jünger gewesen sei, der unter dem Kreuz ausgeharrt habe. Voraussetzung für eine solche Deutung war, daß man damals und bis weit ins 20. jahrhundert hinein den Evangelisten johannes mit dem jünger johannes identifizierte. Erst in der Zeit vom 7. bis zum 10. jahrhundert beginnt sich dann der Brauch einzubürgern, die Lukaspassion am Mittwoch und die Passion nach Markus am Dienstag der Karwoche vorzutragen. Heute, seit dem zweiten Vatikanischen Konzil, werden in der römischen Kirche die Passionstexte der Synoptiker (Matthäus, Markus, Lukas) jährlich wechselweise am Palmsonntag, die Passion nach dem historisch zuletzt verfaßten Text des schon im Mittelalter als »Theologus« bezeichneten johannes immer noch am Karfreitag vorgetragen. Für die evangelischen Gottesdienste bildeten Matthäus- und johannespassion von der Reformationszeit an die wichtigsten Passionsberichte. Der liturgische Vortrag vollständiger Passionstexte ist an westkirchliche Riten gebunden. So wird es erklärlich, daß sich die Passion im Laufe der jahrhunderte nur im römisch-katholischen und im protestantisch-lutherischen Bereich musikalisch zu einer eigenen Gattung entwickeln konnte.
Der einstimmige Passionsgesang
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er Vortrag der Passion im Rahmen des römischen Messe-Gottesdienstes er folgte nach bestimmten traditionellen Lektionstönen, welche mittels differenzierter Tonhöhen die erzählenden von den in direkter Rede überlieferten Texten abhob. Diese Art des Vortrags geht letztlich auf Platons Rhetorik und Affektenlehre zurück: Die narrativen Texte des Evangelisten erklangen als Ausdruck der Mäßigkeit in mittlerer, die Reden jesu als Ausdruck der humilitas (Demut) in tiefer und die direkten Reden anderer singularer oder pluraler Personen und der als Turbae bezeichneten Volkschöre als Sinnbild der ira (Zorn) in hoher Lage. Dabei sprechen die bekannten römischen Liturgie-Vorschriften (ordines) des 9. bis 13.114. jahrhunderts stets nur von einem einzigen Liturgen, vom Diakonus, der sowohl die indirekten wie auch die direkten Reden der Passionsevangelien, wohl ohne besondere Affektgebärden, jedoch unter Berücksichtigung der in den Handschriften angedeuteten Tonhöhen und Tempovarianten vortrug (s_ Abb. V, S. 16). Diese schlichte, auf besonderen melodischen Formeln beruhende Art der Rezitation entspricht durchaus dem Passionsverständnis und der Passionsfrömmigkeit, wie sie in der Westkirche bis ins frühe und mittlere 12. jahrhundert vorherrschend waren und dem Leitsatz des Kirchenvaters Aurelius Augustinus entsprachen: »Lignum
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pendentis cathedra factum est docentis« (»Das Holz des am Kreuz Hängenden ist zur Lehrkanzel geworden«). Es ist dies dieselbe Haltung, die auch auf den frühen Kreuzigungsbildern zum Ausdruck kommt: Nicht der leidende, sondern der lebende, meist ohne Zeichen der Qual dargestellte Jesus erscheint am Kreuz (s. Abb. VII, S. 18). Vom 9. Jahrhundert an finden sich in den Passionstexten der Evangeliarien sogenannte litterae significativae, d.h. Buchstaben, welche für den Liturgen bestimmte Hinweise auf relative Tonhöhen und auf das Tempo des Vortrags enthalten:
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Abb. V Alls einem Evangeliar des I I. jahrhunderts der Bibliotheque municipale von Chartres: Matthäuspassion mit litterae signi{icativae: Zeile 4 mit Buchstaben s (sursum: hoch) zu den Worten des judas »Ave rabbi« (»Gegrüßt seist du Rabbi«) und c (cito: schneID zu den Worten des Evangeli· sten »Et osculatus est« (»und küßte ihn«); Zeile 5 mit Buchstaben 9 (graviter: schwer, würdevolD zu den jesllsworten »Amice ad qllod venisti?« (»Freund, wozu bist du gekommen?«)
Die Lektionstöne sind offenbar als bekannt vorausgesetzt bzw. mündlich überliefert und erst vom 10.111. Jahrhundert an, zumindest teilweise, in neumatischer, d.h. einer als Gedächtnisstütze dienenden, den melodischen Bewegungsablauf graphisch darstellenden Notation angedeutet, später dann auf Notenlinien aus notiert. Vereinheitlicht und in verwandelter Gestalt finden sich die litterae, zusätzlich zur präzisen Notation der Tonhöhen, bis in das 1930 erschienene Karwochenoffizium der Editio Vaticana: C für Chronista (Evangelist) hervorgegangen aus c für cito (schneID mit Rezitationston c; 5 für Synagoga (Versammlung) aus 5 für surswn (aufwärts, hoch) mit Rezitationston auf hohem und ein Kreuz für die Jesusworte aus t für trahere oder tenere (schleppen, festhalten) mit Rezitationston auf tiefem f (s. Abb. X, S. 21),
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Abb. VI
Pantokrator (Allherrscher) umgeben von den vier Evangelistensymbolen (Matthäus: Mensch, lohannes: Adler, Markus: Löwe, Lukas: Stierl Bamberg, Handschrift des frühen 11. Jahrhunderts (Bamberger Apokalypse)
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Abb. VII Gekreuzigter ohne Zeichen der Qual Lucca, Kirche S. Micheie (12. Jahrhundert!
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Abb. VIII Heiliger Franziskus, die blutenden Füße des Gekreuzigten umschlingend (13. Jahrhundert). Arezzo, Basiliea S. Francesco, gemalt von l'vIargaritone d'Arezzo
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Abb. IX Ölberggruppe aus dem Jahr 1509 aus der Werkstatt von Jörg Keller Münster im Oberwallis (Schweiz), Eingangshalle zur Pfarrkirche
Feria VI, in Parasceve.
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Abb. X Aus dem Karwochenoffizium der Editio Valicana, Paris, Tournai, Rom 1930 Ausschnitt aus der johannespassion. Ab Mitte Zeile I: »t Wen suchet ihr' C: Sie antworteten: S: Jesum von Nazareth«
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Gegenüber solch späterem Brauch zeigen die frühen Handschriften eine überaus . große, bisher wissenschaftlich erst teilweise erfaßte Vielfalt des Schriftbildes, je nach Orten, Kirchen, Klöstern und Orden wechselnd. Nicht zu berücksichtigen sind hier die entsprechenden Traditionen der Ostkirche, die einen zusammenhängenden liturgischen Vortrag ganzer Passionen nicht kennt. Die oben genannten Neurnierungen erscheinen bei Passionslektionen vom 10./11. Jahrhundert an, und zwar besonders dort, wo vom üblichen Lektionston abgewichen werden soll; so vor allem bei Jesu Worten am Kreuz und hier wiederum beim Ausruf des Gekreuzigten »Eli, Eli lamma sabacthani« (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«), ein Zitat aus dem 22. Psalm, das auch später immer wieder durch besondere Melodiebildung aus seiner melodischen Umgebung heraustritt: bescheiden noch, aber doch durch die dreimalige Dreiklangsfigur hervorgehoben in einer Handschrift des 1 1. Jahrhunderts aus Lucca: Beispiel I
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Zuweilen erscheinen die Kreuzesworte auch durch hohe Lage von den übrigen tief gesetzten Jesusworten abgehoben. Seltener, aber doch hier und dort nachzuweisen, ist die für die Frömmigkeit der älteren Zeit bezeichnende Differenzierung der Rezitationstöne der direkten Reden von Jüngern und Juden; so in französischen Handschriften des 12./13. Jahrhunderts: Im bedeutet hier levare mediocriter (d.h. in mittlerer Tonlage) für die Rezitation von Jüngerworten, Is heißt levare sursum (d.h. »höher hinauf« im Sinne von »schriller«) für die Worte der Juden. Während, mit Ausnahme der genannten und ähnlicher Beispiele die litterae noch durchaus im Sinne des Lehrhaften und zunächst keineswegs als Hinweise auf eine Rollenverteilung auf mehrere Sänger zu verstehen sind, deutet die Differenzierung von Jünger- und Judenturbae auf neue Tendenzen. Nach den bisher bekannten Quellen zu urteilen, erscheint die Notation eindeutiger Tonhöhen mittels auf Linien gesetzter Quadratnoten oder mittels Tonbuchstaben erstmals in französischen Handschriften des 12. Jahrhunderts aus Reims und Corbie. Hier ist der melodische Stimmumfang vom kleinen c bis zum eingestrichenen d' festgelegt. Zu den Jesusworten gehören die Rezitationstöne d und zu den Texten des Evangelisten das a und zu den Reden der übrigen Personen, zu den sogenannten Turbae (Schar, Menge) die hohen Töne bund d':
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Re - span - dir
Je - sumo et
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Tu es
Rex Ju - dae- a - rum?
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di - cis"
Bemerkenswert ist in diesem Beispiel der relativ kleine Tonumfang einer Oktave, der ohne Schwierigkeit von einem einzigen Sänger zu bewältigen ist. Sogar auf eine Sexte reduziert ist der Ambitus in einigen etwas späteren, aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden französischen Handschriften. Ähnlich wie schon die Iitterae signiftcativae unterscheiden sich auch die mehr oder weniger ausnotierten einstimmigen Passionen von Gegend zu Gegend und von Orden zu Orden. Von besonderer Bedeutung sind die in Deutschland vom 14. Jahrhundert an, von den Franziskanern offenbar schon früh verwendeten Passionstöne f (jesus) - c' (Evangelist) - f' (Turbae) geworden, die bis ins ausgehende 19. Jahrhundert neben den von Rom seit dem späten 16. Jahrhundert vereinheitlichten Tönen 9 (mit Kadenz auf fl für Jesus, c' und f' standen.
Von der lehrhaften zur mitleidsvollen Passion: Von der doctrina zur compassio Tm späten 12. und besonders dann im 13./14. Jahrhundert haben das lehrhafte lPassionsverständnis und mit ihm die bildhafte Darstellung der Leidensgeschichte Jesu entscheidende Wandlungen erfahren: Wandlungen, die im Sinne expressiver Steigerungen auch im Vortrag des Passionsgesanges zum Ausdruck gekommen sind und damit den alten lehrhaften Ton augustinischer Prägung überhöht haben. Musikalisch gehören hier hin die Aufteilung der Lektion auf mehrere Vortragende und, spätestens vom zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts an, die Mehrstimmigkeit. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Gründe für die sich durchaus im Rahmen der Liturgie bewegenden Veränderungen in der zeitgenössischen Theologie und Frömmigkeitsgeschichte zu suchen: in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts begründeten Kreuzestheologie des großen Kirchenlehrers Bernhard von Clairvaux, dessen Anschauungen wiederum in engem Zusammenhang mit den damaligen politischen Ereignissen zu sehen sind. Der von 1147 bis 1149 dauernde zweite Kreuzzug, der von Bernhard im Auftrage des damaligen Papstes nachdrücklich propagiert worden war, endete mit einer Katastrophe für das christliche Abendland; die bisherige Ecclesia triumphans wurde zur Ecclesia passiva, zur leidenden Kirche, und damit der Pantokrator Christus zum Schmerzensmann am Kreuz. Die Konsequenz, die sich für Bernhard daraus ergab: eine Leidensmystik, eine Versenkung in das Leiden und in das Blut Jesu, und damit auch eine neue Dimension des menschlichen Leidens schaffend.
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Von da her sind denn auch die Wandlungen zu verstehen, wie sie sich vom späten 12. Jahrhundert an besonders deutlich in der bildenden Kunst, in der Passionsdichtung und auch im Passionsgesang vollzogen haben. Insbesondere bei Bernhards Nachfolgern hat sich immer mehr ein Bedürfnis nach Schilderung der Schmerzen und Wunden des leidenden Jesus entwickelt. Von jetzt an erscheint denn auch nicht mehr der aller Qual enthobene Christus, sondern der Schmerzensmann Jesus. Die Kreuzigungsdarstellungen wandeln sich allmählich von der allerdings noch weiter fortbestehenden Darstellung des Jesuskreuzes mit Maria und Johannes zum vielfigurigen Passions- und Historienbild. Im ausgehenden 13. Jahrhundert ist nicht nur das franziskanische Stabat mater dolorosa entstanden, sondern auch die pseudobernhardinische Schrift mit dem vielsagenden Titel Liber de passione Christi et doloribus et planctibus matris eius (Das Buch von der Passion Christi und von den Schmerzen und Klagen seiner Mutter), Aus derselben Zeit stammt auch der Brauch, ein Kreuz auf den Altar zu stellen. Mit dem Wirken des Franz von Assisi und des volksverbundenen Franziskaner-Ordens ist das Bild des leidenden Jesus weit hinein ins Volk getragen worden. Ausdruck dieser neuen Frömmigkeit sind die berühmten Meditationes vitae Christi des Franziskaners Pseudo-Bonaventura (um 1300>. Besonders bemerkenswert sind hier die Kapitel 74 bis 85, in welchen Einzelheiten der Folterung und des Leidens Jesu dargestellt werden. So heißt es etwa: >>Die Blume allen Fleisches und der ganzen menschlichen Natur [d.h. Jesusl ist voller Flecken und Brüche; überall, von allen Teilen des Körpers fließt das königliche Blut. Es hängt der Herr mit dem abwärts ziehenden Gewicht seines Körpers am Kreuz, nur gehalten von den mit Nägeln durchbohrten Händen.« In dieser Passionsbeschreibung sind die Berichte aller vier Evangelien und damit auch die sieben Worte Jesu am Kreuz zu einer Summa passionis zusammengefaßt, wie sie vom 16. Jahrhundert an dann auch musikalisch bedeutsam werden wird. Aus alle dem wird deutlich, daß jetzt an die Stelle der älteren augustinischen doctrina und cOl1templatio ein neues Element, die compassio, das Mitleiden getreten ist. Von nun an heben alle Passionserzählungen die besonderen Umstände des Leidens Jesu in mitleiderweckender Weise hervor. Ausdruck solcher Geisteshaltung sind auch die sich eben zu dieser Zeit mehrenden Berichte von Kreuzesvisionen und von Stigmatisierungen. Zum Sinnbild wird der die blutenden Füße des Gekreuzigten umschlingende Franziskus von Assisi (s. Abb. VIII, S. 19), Dieselben Züge von Mitleid begegnen auch in den Gesängen der italienischen Laienbruderschaften, der Laudesi. Schuld an all den Qualen des Gekreuzigten aber sind die grausam verfolgten Juden, denen auch das Mißlingen des Kreuzzuges in die Schuhe geschoben wird: schlimme Folge der Fehldeutung des im Passionstext enthaltenen Bibelwortes »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«. Auch im Bereich der Passionsliturgie macht die neue affekthafte compassio ihr Recht gegenüber der lehrhaften contemplatio Augustins geltend. Deutlich wird das Streben nach ausdruckshafter Gestaltung des Passionsgesangs in den liturgischen Ordnungen, den ordines des 13. Jahrhunderts. So ist im großen ordo des Domes von Siena aus dem Jahre 121 5 beim Kyrie des Mittwochs der Karwoche die Rede vom »Schall des das Kyrie singenden und ihn spöttisch Anbetenden«. Nach demselben Ordo sind die Worte »mortem autem crucis« (Kreuzestod) »flebili voce« (mit »wei-
nender Stimme«) vorzutragen. Solche und ähnliche Formulierungen finden sich im späten 13. Jahrhundert in der berühmten, bis ins 15. und 16. Jahrhundert immer wieder abgeschriebenen und auch im Druck veröffentlichten Kirchenordnung des französischen Bischofs Durandus Mimatensis. Hier wird ausdrücklich für den Passionsvortrag eine "tristitia compassionis«, eine Traurigkeit des Mitleidens gefordert. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn Durandus für die Passionslesung eine neue, nach Personen und Situationen ausdruckshaft differenzierte Vortragsweise verlangt: einen sanften Ton für die Worte Jesu, dagegen eine laute und rauhe Stimme für die Turbae der "überaus gottlosen Juden« sowie einen schmerzensvollen Klagegesang der Frauen am Grabe. Als Grund für solche Steigerung des Ausdrucks wird genannt: "Um in den Seelen der Zuhörenden Devotion und zugleich Bitterkeit zu bewirken.« Um die Mitte des 13. Jahrhunderts finden sich die ersten Zeugnisse für eine Aufteilung der Passionslektion auf mehrere Sänger. Damit hebt sich die Gattung Passion nun noch deutlicher als bisher von den übrigen Evangelienlesungen ab. Ähnliche Vortragsweisen für die Weihnachts- und Dreikönigsliturgie sind erst aus dem 14. und 15. Jahrhundert bekannt. Als bisher frühestes Dokument eines auf verschiedene Sänger aufgeteilten Passionsrezitativs hat das in der Kirche Santa Sabina in Rom aufbewahrte Gros Livre der Dominikaner aus dem Jahre 1254 zu geIten. Hier findet sich ein modus legendi passion es (Schema der Passionslesung), bei dem drei Personen beteiligt sind: eine mittlere Stimme (vox media) mit Rezitationston ffür die Worte des Evangelisten, eine tiefe Stimme (vox inferior) auf c (mit Abstieg bis ins tiefe A) für die Jesusworte und eine höhere Stimme (vox superior) auf b für Turbae und übrige Einzelstimmen (Soliloquenten): Beispiel 3
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"Passion unseres Herrn Jesu Christi«; "Oie Könige ihrer Völker« (Lukaspassian); "Wohin sollen wir gehen L..J das Osterlamm zu bereiten?« (Markuspassion)
Es ist kaum ein Zufall, daß das erste bekannte Zeugnis dieser Art aus dem Kreis der Dominikaner, eines, wie die Franziskaner, im 13. Jahrhundert gegründeten Ordens stammt, dessen Passionstheologie auf compassio ausgerichtet war.
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Sogar fünf Sänger sind in einer englischen, sich heute in Parma befindlichen Quelle des ausgehenden 13. Jahrhunderts genannt (s. Abb. XI, S. 27): Zeile 4 (prima vox) rezitiert auf hohem t das dem Priester vorgetragene »Dominus vobiscum« (»Der Herr sei mit euch,,), Zeile 4 und 6 seamda vox auf c' für die erzählenden Texte, Zeile 6/7 tertia vox auf tiefem e für die Worte Jesu, Zeile 7/8 quarta vox auf tiefem g für die Juden und hohem t für die Jünger-Turbae und schließlich eine quinta vox (nicht mehr auf Abb. XI) auf hohem d' und es' für die Worte Jesu am Kreuz. Demonstrativ unterscheidet die quarta vox mit ihrem den betreffenden Texten vorangestellten schrägen Kreuz die Juden-Turbae von den Stimmen der Jünger. Im 14. Jahrhundert, der Zeit der großen und verheerenden Pestepidemien, mehren sich die Belege für die von nun an allgemein gültige, der compassio verpflichtete Vortragsweise der Passionslektionen durch drei Sänger. Zudem wird es Brauch, die pluralen Turbae der Jünger und Juden zwar noch einstimmig, aber von mehreren Sängern unison vorzutragen (frühester bekannter Beleg: Breslau 1348l. Hier wird der im Sinne der compassio interpretierte Text, gewissermaßen realistisch, auf eine Mehrzahl von Personen übertragen.
Vom Mitleid zur Imitation des Leidens Jesu: Die Anfänge der mehrstimmigen Passion
S
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obald die Passionslesungen durch mehrere liturgische Sänger vorgetragen wer den, besteht im Prinzip die Möglichkeit eines mehrstimmigen Zusammenwirkens der Stimmen. Damit wird eine Dimension hör- und sichtbar, in welcher sich die Passion, von spätestens 1430 an, neuen klanglichen und stilistischen Einflüssen zu öffnen beginnt. Im Hintergrund des Phänomens Mehrstimmigkeit stehen bezüglich des Passionsvortrags wiederum theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Erscheinungen: »Keine andere Zeit hat sich angelegentlicher mit dem Leiden und Sterben Christi beschäftigt als das späte 14. und vor allem das 15. Jahrhundert." So hat es Kurt Ruh, ein Kenner der damaligen Situation, formuliert. Wenn bisher von compassio die Rede war, so tritt zu dieser nun das Bedürfnis nach bildhafter Nachahmung des Leidens Jesu, nach imitatio und sogar nach identificatio. Besonders deutlich erscheinen solche Züge im berühmtesten, der Mystik zuzuordnenden Buch des 15. Jahrhunderts, in der 1441 vollendeten Schrift des Thomas a Kempis De imitatione Christi (Von der Nachahmung Christil und in den Traktaten des 1493 gestorbenen deutschen Theologen Gabriel Biel. Als Bilddoku-
Abb. XI Aus Salesbury (England) stammende Handschrift des ausgehenden 13. Jahrhunderts (heute in der Biblioteca Palatina in Parma, MS 98): Anleitung zum Singen der Passion; ab Zeile 4 mit Bezeichnung der verschiedenen Stimmen
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ment besonders eindrucksvoll ist Albrecht Dürers Selbstbildnis als Schmerzensmann mit Marterwerkzeugen (s. Abb. XII, S. 291. fmitatio und identifieatio sind zugleich auch Konzepte der damaligen Volksfrömmigkeit: Das Volk beginnt sich intensiver am kirchlich-religiösen Leben zu beteiligen, es interessiert sich für die sakramentalen Geschehnisse und Geheimnisse. Beweggründe für diese Tendenzen sind nicht zuletzt die überaus schwierigen sozialen und politischen Verhältnisse, die indirekt eine Art von Solidarisierung mit dem leidenden Jesus anstreben. Besonders deutlich wird solches wiederum in der bildenden Kunst. So ist es kein Zufall, wenn eben zu dieser Zeit die Errichtung von Kreuzwegstationen (viae erucisl beginnt: Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wird auf dem Monte Sacro in Varallo (im oberitalienischen Val Sesial der sich im 16. und 17. Jahrhundert immer weiter ausdehnende Kreuzweg einer Jerusalemme traspot1ata begonnen, veranlaßt durch den Verlust der christlichen Stätten in Jerusalem selbst. Ebenfalls vom Bedürfnis der imitatio inspiriert sind die zu dieser Zeit in Deutschland aut1
Abb. XII Schmerzensmann Jesus mit Marterwerkzeugen Selbstporträt Albrecht Dürers <Metallstiftzeichnung). Kunsthalle Bremen
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Abendmahls (datiert 1536), wo nicht nur die Ordensbrüder als Jünger, sondern auch Dominicus als Abt bzw. als Jesus irn dominikanischen Mönchsgewand erscheinen (s. Abb. XVIII, 5. 69), Die Entwicklung der rnehrstirnmigen Passion ist, ganz allgemein, auch in Verbindung mit der Einführung der Polyphonie in die liturgischen Lektionen zu sehen; Beispiele hierzu finden sich vereinzelt schon im 12. und 13. Jahrhundert, wobei es sich bezeichnenderweise stets um Lektionen zu Freudenfesten wie Weihnachten, Dreikönigsfest oder Mariä Himmelfahrt handelt. Mehrstimmigkeit gilt per definitionern als festlicher Schmuck, wobei in den handschriftlichen Quellen solche Abschnitte oft ausdrücklich als »pulchrum Evangelium«, als »schönes Evangelium« bezeichnet sind. Mehrstimmiger Gesang wurde in einigen Klöstern (z.B. in Windesheim) überhaupt nur an Weihnachten geduldet. Welches sind nun aber die Gründe, die im 15. Jahrhundert nicht nur zur mehrstimmigen Passion, sondern auch zu polyphonen Lamentationen (liturgische Klagegesänge der Karwoche) geführt haben? Einmal ist hierfür sicherlich das genannte Bestreben nach Vergegenwärtigung und imitatio des Passionsgeschehens verantwortlich; zum anderen ist zu bedenken, daß die Passion, theologisch verstanden, nicht nur als trauriges Ereignis, sondern vielmehr als eine Verbindung von Trauer und Freude zu verstehen ist: als Trauer über den Tod Jesu, ais Freude über die Erlösertat des Christus. So heißt es schon in einem liturgischen Ordo aus Siena von 1215: »Die Sakramente [der Karwoche] versetzen uns teilweise in Trauer, teilweise erheben sie uns zur Freude.« Das ist offenbar auch der Grund, weshalb dort schon im 13. Jahrhundert Abschnitte der Gründonnerstags- und Karfreitagsliturgie mehrstimmig gesungen worden sind.
Systematik der älteren mehrstimmigen Passionskomposition
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Devor die frühesten Beispiele mehrstimmiger Passionsvertonungen besprochen Uwerden, ist es sinnvoll, eine knappe Systematik der Passionstypen vorzulegen, die zunächst im katholischen, nach der Reformation aber auch im evangelischlutherischen Gottesdienst anzutreffen sind. Hierbei soll zugleich auch die ältere von der Musikwissenschaft verwendete Terminologie durch eine der jeweiligen Kompositionsweise besser entsprechende ersetzt werden: Zwei Haupttypen, responsoriale und durchkomponierte Passion treten an die Stelle von Begriffen wie chorale, dramatische und motettische Passion. Responsorial heißt eine Passion, in welcher die einstimmigen Rezitationen des Evangelisten und allenfalls auch einzelner Personen den mehrstimmig vertonten
Abb. XIII Kreuzigung mit bevölkertem Kalvarienberg (Aufteilung in verschiedene Menschengruppen). Florenz, Kirche S. Maria Novella (Spanische Kapelle), Wandmalerei von Andrea di Bonaiuto (1366/1368)
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Abschnitten direkter Reden mehrerer Personen nach responsorialer Praxis einander gegenübergestellt sind; durchkomponiert heißt eine Passion, in welcher der gesamte Evangelienbericht, d.h. direkte und indirekte Reden mehrstimmig vertont sind. Damit wird ein Hineintragen von Stilbegriffen wie motettische Passion und von Angaben über das Verwenden präexistenten Materials wie Choralpassion in die Terminologie vermieden. Noch unglücklicher ist der Begriff dramatische Passion für Werke mit abwechselnden ein- und mehrstimmigen Partien; mit diesem wird eine moderne, der Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtete Interpretation in die Gattungsgeschichte hineingebracht, die der älteren, streng rituell gebundenen Passion fremd ist. Wird doch die Gestalt der responsorialen Passion allein durch den liturgischen Text und dessen theologische Interpretation bestimmt, was sowohl für den responsorialen wie auch für den durchkomponierten Typus gelten kann. In jedem Fall ist die Gattung Passion in ihren historischen und stilistischen Erscheinungsformen als eine in ihre Zeit hineingesprochene Aussage vom Leiden und Sterben jesu zu verstehen. Die responsoriale Passion läßt sich unterteilen in Werke, in denen nur die Jüngerund Volksturbae und die pluralen Soliloquenten (z.B. die falschen Zeugen) mehrstimmig vorzutragen sind (so besonders in schlichten Markus- und Lukaspassionen), und in solche, in denen auch die Partien der Einzelpersonen (Soliloquenten), zunächst noch ohne die Worte Jesu, mehrstimmig erscheinen; hierbei besteht die Möglichkeit, die Worte der Turbae und die der Einzelsänger mit gleicher oder ungleicher Stimmen zahl, aber stets mehrstimmig zu setzen. Ebenfalls vielstimmig vertont sind meist die als Überschrift funktionierenden Einleitungsworte, das sogenannte Exordium: »Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Matthaeum / Marcum / Lucam / johannem« sowie zuweilen auch das Schlußevangelium, d.h. diejenigen Worte des Evangelisten, die auf den Tod Jesu noch folgen. Die durchkomponierte Passion tritt in drei Gestalten auf: relativ selten als Vertonung eines vollständigen Textes eines der vier Evangelisten, sodann als verkürzte Fassung eines Passionsevangeliums und schließlich, von ganz besonderer Bedeutung für die Geschichte sowohl der katholischen wie der evangelischen Passion, als sogenannte Summa passionis (auch Passionsharmonie genannt), bei welcher Schriftstellen aus allen vier Evangelien unter besonderer Berücksichtigung der sieben Worte Jesu am Kreuz, die ja nicht in allen biblischen Berichten dieselben sind, zusammengestellt werden. Eine solche Textkombination erlaubt es allerdings nicht, diese Art der Passion im katholischen Messe-Gottesdienst der Karwoche zu verwenden; Passionsharmonien wurden aber häufig in Nebengottesdiensten und anläßlich von Karfreitagsfeiern aufgeführt.
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Frühe Beispiele mehrstimmiger Passionen aus Deutschland, England, Italien und Spanien
M
't der Aufteilung des Passionsrezitativs auf verschiedene Vortragende ergibt ich, zumindest potentiell, die Möglichkeit mehrstimmigen Gesangs, bei welchem die verschiedenen Sänger sich zu simultanem Musizieren zusammenfinden. Wenn auch schriftlich festgehaltene vielstimmige Passionsabschnitte erst seit dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts nachzuweisen sind, so ist es doch durchaus möglich, daß schon Jahrzehnte früher eine nicht notierte oder nicht erhaltene, nach gewissen Regeln improvisierte Mehrstimmigkeit einfachster Art zur Anwendung gekommen sein könnte, in welcher sich die drei liturgischen Sänger bei den Turbae-Abschnitten zur Dreistimmigkeit vereinigten. Solchem Vortrag kamen bestehenden sonders auf deutschem Gebiet die im Quint-Quart-Abstand f - c' Rezitationstöne entgegen. Einen Hinweis auf solche Praktiken gibt ein um 1450 verfaßter Traktat aus der Pfarrkirche von Füssen, in welchem beschrieben und mit Notenbeispielen gezeigt wird, wie die Turbae der Juden, und offenbar nur die der Juden, vorzutragen sind; hier heißt es: »Etwas zögere ich, ob dieser Gesang dem allmächtigen Gott und Erlöser sehr wohlgefallig sei, weil er zur Erinnerung an die ungläubigen, falschen, üblen, schlechten, schrecklichen Juden gemacht ist, die so geschrien haben in der heiligsten Passion; nämlich einer tief, einer hoch, ein anderer in der Mitte L .. l Auch wisset, daß wenn Jesus oder ein Apostel, Pilatus, Kaiphas oder die Magd des Hannas sprechen, was man kurzweg als Einzahl bezeichnet, dann ist stets mit einer Stimme vorzutragen. Aber wenn es zu dem fürchterlichen, lärmenden Ansturm und Tumult der Juden kommt, dann muß man gemeinsam fortfahren, und zwar im Zusammenklang«:
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Von diesem Text des genannten Traktats her ergibt sich eine direkte Verbindung zu den damaligen Judenverfolgungen und indirekt zu dem oben genannten, aus dem späten 13. Jahrhundert stammenden Text des Durandus Mimatensis, aber auch zu den späteren antisemitischen Aussagen Martin Luthers. Das dreistimmige Modell
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wurde durch Zufügung eines liegenden Basses schon um 1465 zur Vierstimmigkeit erweitert. Ein weiteres Zeugnis, das diese Tradition bestätigt, ist in Frankfurt nachzuweisen. Schließlich vererbte sich diese Vortragsweise, wie unten noch zu zeigen sein wird, auf den protestantisch-evangelischen Passionsgesang der Reformationszeit. Wesentlich kunstvoller, nicht nur auf die juden-Turbae beschränkt und schriftlich nun auch präzise festgehalten sind die wenigen mehrstimmigen Passionen, die aus England überliefert sind. Dies ist insofern bemerkenswert, als auch auf englischen Bilddarstellungen, offenbar früher als anderswo, eine relativ große Anzahl von Personen auf dem Kalvarienberg erscheint. Die frühesten Werke, eine anonyme Matthäus- und Lukaspassion, wurden vermutlich für die St. George's Chapel in Windsor, vielleicht schon um 1430 geschrieben. Mehrstimmig sind hier Exordium, alle Turbae und die Worte der Soliloquenten (ohne die jesusworte) in dreistimmigem Satz, wobei die bei den Unterstimmen im Note-gegen-Note-Satz, die Oberstimme in etwas bewegteren Notenwerten erklingen. Die hier, wie bis weit ins 17. jahrhundert üblich, nicht notierten einstimmigen Partien des Erzählers sind nach dem sogenannten Graduale Sarisburiense, dem liturgischen Gesangbuch der Engländer, im dort notierten Passionsrezitationston zu singen. Knapp sechs jahrzehnte später, um 1490, ist die älteste bisher bekannte nicht anonyme Passion zu datieren. Es ist dies die vierstimmige responsoriale Matthäuspassion von Richard Davy, die im berühmten Eton Choirbooh aufgezeichnet ist. Diese Komposition des später an der Kathedrale von Exeter als Organist wirkenden Musikers hat sich völlig vom improvisatorischen Stil der älteren Passionen gelöst und zeigt einen überaus kunstvollen motettischen Satz mit einer ruhigen, dem Sarumton, d.h. dem Rezitationston des Graduale Sarisburiense, folgenden Tenorstimme. Mehrstimmig sind Exordium und Turbae, nicht aber die Texte der Soliloquenten; dies mit einer bemerkenswerten Ausnahme: das theologisch zentrale Bekenntnis des Hauptmanns zum Gottessohn jesus >,vere filius Dei erat« (»Wahrlich, dieser war Gottes Sohn«), In England sind in der Folgezeit kaum mehr Passionsvertonungen nachzuweisen. Bekannt sind einzig die um 1607 vom Katholiken WiIliam Byrd für den römischen Ritus geschaffenen dreistimmigen Turbae zu einer johannespassion. Dieses fast völlige Fehlen englischer Passionen hängt, zumindest für das 16. jahrhundert, mit der kirchlichen Ablösung von Rom um 1531 und mit der Gründung der anglikanischen Kirche zusammen. Im 17. und 18. jahrhundert wirkten sich vermutlich dann die säkularen Strömungen der englischen Aufklärung negativ auf die Passionskomposition aus. Doch zurück zum 15. jahrhundert. Chronologisch noch vor der Passion von Richard Davy entstanden sind zwei Stücke, die vermutlich im oberitalienischen Ferrara für den Gebrauch der Familie d'Este um 1470/1480 aufgeschrieben wurden. Stil und Charakter dieser bei den Werke, einer Matthäus- und einer johannespassion, sind insofern als singulär zu bezeichnen, als sie zwar dem responsorialen Passionstyp zugehören, jedoch wohl nicht für gottesdienstliche, sondern für paraliturgische Zwecke eines Passionsspiels, wie es 1481 in Ferrara nachzuweisen ist, komponiert worden sind. Darauf weisen die einstimmig, zwar im Choralton,
jedoch in der Stimmlage der jeweils singenden Person ausnotierten Texte der Soliloquenten (ohne jesus) hin. Bemerkenswert ist auch die Unterscheidung von jünger- und judenturbae in der Matthäuspassion: diese wie auch die jüngerturbae in der johannespassion im dreistimmigen, nach Fauxbourdon-Manier in Sextakkorden verlaufenden Satz (Beispiel 5), jene sechsstimmig und bei der Frage »Numquid ego sum, Domine?« (»Herr, bin ich's?«) im achtstimmigen Kanon. BeispielS
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»la nicht auf das Fest«
Streng liturgisch responsoriale Passionen mit mehrstimmigen T urbae sind aus Italien erst aus den jahren 1527 und 1532 bei Francesco Corteccia in Florenz bekannt, wobei der Komponist selbst darauf hinweist, daß die Johannespassion von 1527 im Stile seines Lehrers Bernardo Pisano geschrieben sei, von welchem allerdings keine Passionen erhalten sind. Zu den ältesten Dokumenten, die auf mehrstimmig responsorialen Passionsgesang weisen, gehört der von Manfred Schuler wissenschaftlich ausgewertete Bericht des Johannes Burehart, Zeremonienmeister von Papst Alexander VI., einem gebürtigen Spanier: Spanische Geistliche waren es, die in den Jahren 1462 und 1506 Rom besuchten und in der Karwoche Passionen in einer vom römischen Gesang abweichenden Art vortrugen, wobei einzelne kurze Abschnitte nicht nur der Turbae, sondern auch der Worte Jesu und des Evangelisten mehrstimmig erklangen. Burchart berichtet, daß, nach Meinung von Zuhörern, »die Spanier die Passion besser als andere Sänger vorgetragen hätten«,
Die erste Summa passionis
C
hronologisch folgt zu Beginn des 16. Jahrhunderts das für die Zukunft wegweisende Modell der aus kurzgefaßten Texten aller vier Evangelisten zusammengestellten Summa passionis, eines für Karwochenfeiern außerhalb der Messe bestimmten Werkes, auf das hier etwas näher einzugehen ist. Weit herum bekannt, besonders auch im protestantischen Raum, wurde diese mehrstimmig durchkompo-
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nierte, motetten hafte Passion vor allem dadurch, daß sie in vierstimmiger Fassung im Jahre 1538 unter dem Namen des berühmten Jacobus Obrecht im Druck bei Georg Rhaw im lutherischen Wittenberg erschien und von da aus nicht nur weiterverbreitet, sondern auch weiterentwickelt wurde. Nun gibt es aber ältere handschriftliche Quellen, welche eindeutig zeigen, daß diese Passion nicht von Obrecht, sondern von einem französischen, in Paris und vorübergehend auch in Ferrara wirkenden Komponisten namens Antoine de Longueval stammt, der dieses Werk, wie Rainer Heyink gezeigt hat, für eine Karwochenfeier des für seine Musikkultur berühmten Hofes des Ercole d'Este I. in Ferrara schrieb. In ihrer ganzen Anlage entspricht diese Passion dem damals von Ercole gepflegten Frömmigkeitsstil, der sich in einem besonderen Interesse an geistlich zeremonieller Musik äußerte und in Verbindung mit den engen Beziehungen des Fürsten zum Dominikaner-Orden und insbesondere zu dessen berühmtem Ordensbruder Savonarola, dem Sittenprediger und Kritiker der damaligen römischen Kurie, zu sehen ist. Die ältesten zwei Sammelhandschriften, in denen das Werk überliefert ist, stammen aus der vermutlich direkt aus der ferrarensischen Originalquelle kopierten vatikanischen Capella Sistina (geschrieben zwischen 1503/04 und 1512) und aus Florenz (1515/1521), Im Exordium dieser Passion sind, im Gegensatz zu späteren Quellen, alle vier Evangelistennamen, je einer pro Stimme, genannt. Dabei ist bemerkenswert, daß die ältere, römische Handschrift in der obersten Stimme den Namen des dem biblischen Kanon nach ersten Evangelisten Matthäus und im Tenor den des Johannes nennt, während die aus Florenz stammende Quelle (s. Abb. XIV, S. 37) umgekehrt verfährt. Grund hierfür ist offenbar, daß Johannes als Stadtpatron von Florenz hier den ersten Platz beansprucht. Longuevals Werk ist nach motettischem Vorbild in drei Teile aufgeteilt: I. Teil: Exordium, Jesu Verrat durch Judas, Gefangennahme. 2. Teil: jesus vor Pilatus und Kreuzigung. 3. Teil: jesus am Kreuz und, theologisch zentral, die sieben Worte am Kreuz sowie die im Bibeltext nicht enthaltene Conclusio »Qui passus es pro nobis, miserere nobis. Amen« ("Der du für uns gelitten hast, erbarme dich unser. Amen«). Solche und ähnliche Zusammenstellungen von Evangelientexten sind zur Zeit Longuevals nichts Neues; sie gehen letztlich schon auf das späte zweite Jahrhundert zurück, da der altchristliche Apologet Tatian eine allerdings heute nicht mehr erhaltene Evangelienharmonie in syrischer Sprache verfaßte, ein Werk, das als Modell für alle späteren Textzusammenfassungen diente. Bekannt ist die im 6. Jahrhundert geschriebene Harmonie (Summa) des Victor da Capua. Doch schon ein jahrhundert früher hatte Augustin Passionslektionen nach allen vier Evangelien gefordert. Aus dem 14. Jahrhundert sind sodann Evangelienharmonien in italienischer Sprache bekannt. Zu größter Bedeutung gelangte die an Augustin und Victor anknüpfende lateinische Evangelienharmonie mit dem um 1420 entstandenen Monotessaron (d.h.: ein Buch aus vieren gemacht) des französischen Theologen Johannes Gerson. Zahlreich sind die Ausgaben dieses Werks nicht nur in Frankreich und Italien, sondern auch in Deutschland gewesen, wo das Monotessaron zudem ins Deutsche übersetzt worden ist. Gerson war höchste Autorität für die deutsche Theologie des 15./ 16. jahrhunderts. So enthält z.B. ein im Hinblick auf die
Abb. XIV Aus der Handschrift 11 I 232 (1515/1521 l der Biblioteca Nazionale Florenz: Passionsharmonie (Summa passionisl des Antoine de Longueval. Auf der linken Seite: Oberstimme <»Passio [... 1 secundum loannem«l, darunter: Tenorstimme (»secundum Mattheum«l, auf der rechten Seite: Altstimme ("secundum Lucam«l und Baß ("secundum Marcum«l
Liturgie interessantes, 1547 in Köln gedrucktes Bändchen eine Kurzfassung von Gersons Werk, das die hier zusammengefaßten Passionstexte auf die Gottesdienste von Gründonnerstag und Karfreitag ausrichtet: Für die Karfreitags-Matutin bestimmt sind die Texte, welche die Gefangennahme Jesu und das Verhör durch den Hohepriester umfassen; auf Terz und Sext verteilt sind die Texte des zweiten Pilatus-Verhörs bis zur Kreuzigung mit Einschluß der ersten zwei Worte Jesu am Kreuz; der Karfreitagsmesse zugeordnet sind schließlich die fünf letzten Worte Jesu und der Schluß des Passionsberichtes. Vergleicht man den von Longueval benutzten Text mit dem der Kölner Kurzfassung des Gersonschen Textes, so ergibt sich zwar keine wörtliche, wohl aber eine sinngemäße Übereinstimmung in der Textaufteilung sowie in der Zitierung aller sieben Worte Jesu am Kreuz, die ja im Bibeltext auf die vier Evangelien verteilt erscheinen. Wichtiger als solche schon von der Gliederung des Evangelientextes her zu erklärenden Gemeinsamkeiten ist die Tatsache, daß eben zur Zeit der Entstehung der Longueval-Passion um 1500 Gersons Monotessaron nicht nur als Lesebuch weit verbreitet war, sondern auch der Brauch bestand, Texte daraus in den Offiziums-Gottesdiensten zu verwenden. Analogien zurn Longueval-Text ergeben sich auch zu den oben genannten, im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert an Bedeutung gewinnenden Kreuzwegstationen, den sogenannten viae crtleiS. Der Begriff der via begegnet im Zusammenhang mit Passionstexten auch in geistlichen Wegleitungen; so z.B. in einem mit
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Vignetten des berühmten Urs Graf geschmückten Basler Druck von 1511 und 1516, in welchem der Text einer mit kirchenväterlichen Kommentaren versehenen Passionsharmonie in sechs viae aufgeteilt erscheint. Die zwei ersten viae (plana/flach und lapidosa/steinig) entsprechen inhaltlich in etwa dem Text des ersten LonguevalTeils; viae drei und vier (sentiosa/dornig und tOr1uosa/qualvolll dem zweiten und via fünf (angusta/in Ängsten) dem dritten Teil. Der sechste Weg (via gloriosa) ist der Kreuzabnahme und Grablegung zugeordnet ohne Analogie im komponierten Werk, das mit dem Tod Jesu endet. Selbst wenn die textlichen Übereinstimmungen nicht vollständig sind, handelt es sich doch zweifellos um die gleiche Art der Frömmigkeit, die all den genannten bildnerischen, textlichen und musikalischen Dokumenten zugrunde liegt. Mit dem um 1500 offenbar weitverbreiteten Brauch, Passionsharmonien zu lesen, ist jedenfalls die Grundlage für die durchkomponierte Summa passionis des Longueval-Typus gegeben. Wie aus der Knappheit des Textes zu schließen ist, darf angenommen werden, daß diese Gestalt des Passionsberichts eigens für eine motettisch durchkomponierte Fassung der Leidensgeschichte zusammengestellt worden ist. Eine Reihe von inhaltlich unbedeutenden Abweichungen gegenüber dem Wortlaut des Evangeliums ist durch Textkürzungen zu erklären. So findet sich z.B. der Anfang des dritten Teils »Orabat autem Jesus pro crucifigentibus se« (»Da betete aber Jesus für die ihn Kreuzigenden«) nirgends in dieser Formulierung im biblischen Passionsbericht. Hier stellt sich nun allerdings nochmals die Frage, bei welcher Gelegenheit die so überaus weitverbreitete Longueval-Passionsharmonie gesungen worden ist. Auf katholischem Gebiet kommt, wie schon erwähnt, ihres Mischtextes wegen ein Vortrag in einer der Karwochen-Messen nicht in Frage. Am ehesten bieten sich daher als Aufführungsgelegenheiten Karfreitags- oder Heiliggrabfeiem an. Im protestantischen Deutschland dagegen waren Aufführungen im Rahmen lutherischer Gottesdienste, sei dies nun ein Haupt- oder Vespergottesdienst, möglich. Im Hinblick darauf, daß im 16. Jahrhundert eine strenge Trennung des mehrstimmigen Repertoires von Katholiken und Protestanten kaum bestand, gehörte Longuevals Werk durchaus beiden Konfessionen an, wurde aber aus liturgischen Gründen vor allem im evangelischen Bereich wirksam. Mit der motettenartigen Aufteilung des verkürzten Passionstextes in drei Teile und der hier erstmals begegnenden Anfügung einer conc/usio wurde eine neue, künstlerisch in sich geschlossene Form und damit ein weiterwirkendes Modell einer durchkomponierten Passion geschaffen. Das bei aller Schlichtheit überaus kunstvolle Werk Longuevals ist für vier Stimmen bestimmt, wobei die Stimmenzahl im Verlaufe des Stückes variabel ist: Exordium, plurale Turbae und Conclusio meist vierstimmig im Note-gegen-NoteStil, erzählende Worte des Evangelisten in wechselnder Stimmenzahl, Soliloquenten meist in hoher Stimmlage zweistimmig und Jesusworte mit Ausnahmen (z.B. »Eli, eli lamma«) in tiefer Zweistimmigkeit. Für den rituellen, offenbar den Vorstellungen des Estensischen Fürsten entsprechenden Charakter sprechen die auf Textverständlichkeit ausgerichtete Deklamation und die stete Präsenz des liturgischen Passionstones f der meist in der Tenorstimme erklingt. Vereinzelte den Text ausdeutende rhetorische Figuren, wie z.B. der in absteigenden parallelen Sexten
verlaufende Satz zum Wort »occiderent« (»töteten«) oder das imitierend gestaffelte »Crucifige eum« (»Kreuzige ihn«) verraten den mit der zeitgenössischen Musiklehre eng vertrauten Komponisten: Beispiel6a
NB oe -
ci - de
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", J , " - ",=,~~:,
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-===~~~;->-===--==::-'--r=-... et
- runt lIt Je - sum da - 10
te - ne - rent, et
oc- ci
oe
ci
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Beispiel6b
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Die Blüte der Passionskomposition im 16. Jahrhundert in katholischen Gebieten und deren Weiterentwicklung bis zum 18. Jahrhundert
D
ie Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts hat sich auf die für die Gottesdienste bestimmten Passionskompositionen zunächst nur wenig ausgewirkt. Insbesondere die Lutheraner konnten sich, jedenfalls musikalisch, auf dieselben Vorbilder der vorreformatorischen Zeit berufen wie die Katholiken. So ist in beiden Konfessionen zunächst eine Weiterführung der bisherigen Praktiken, unter teilweiser Übersetzung der lateinischen Texte ins Deutsche, sowohl auf dem Gebiete der responsorialen wie auch der durchkomponierten Passion, der Summa passionis, zu beobachten. Erst mit der im Anschluß an das Tridentiner Konzil (1545-1563) erfolgten Gegenreformation beginnen sich allmählich die evangelisch-protestantischen von den katholischen Pass ions praktiken abzusondern. Im Gegensatz zum lutherischen Bereich hat es im reformiert-protestantischen Gottesdienst kaum mehrstimmige Passionslesungen gegeben.
Italien
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Ein eigentliches Aufblühen der liturgisch responsorialen Passion in ihren verschiedensten Varianten ist vor allem in Italien um die Mitte des 16. Jahrhunderts zu beobachten. Diese kreative Aktivität dauerte auch in den unmittelbar auf das Konzil folgenden Jahren und Jahrzehnten bis gegen 1610 fort. Geographischer Schwerpunkt war, wie Arnold Schmitz gezeigt hat, vor allem der lombardischvenezianische Raum, wo mehrere Passionen sogar im Druck erschienen sind, dann aber auch Florenz und Rom mit seiner päpstlichen Kapelle. Im 17. und 18. Jahrhundert schufen zahllose als Domkapellmeister und Kirchensänger wirkende Musiker Turba-Sätze von gewöhnlich einfachster und daher auch liturgiekonformer Faktur, wobei vom 17. Jahrhundert an Generalbaßbegleitungen und, besonders in Neapel, sogar konzertante Instrumente Eingang in die responsoriale Passion fanden. Anhand von wenigen ausgewählten Einzelwerken sei auf einzelne Passionstypen etwas näher eingegangen. Als Ausgangspunkt diene das Exordium der 1532 komponierten Matthäuspassion von Francesco Corteccia:
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Der Satz in der für die Passion üblichen F-Tonart (auch C) ist fast durchgehend syllabisch und von größter Schlichtheit; der liturgische Rezitationston c' für Exordium und Narratio liegt in der Altstimme. Eine Erweiterung erfährt die Passion um 1540 durch die Einführung mehrstimmiger Vertonung auch der Jesusworte. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, sämtliche direkten Reden polyphon auszuarbeiten und diese damit von den indirekten Reden abzuheben. Wichtig ist hierbei, daß die Worte Jesu in weihevoll ruhigen Notenwerten vertont sind: Eine Sakralisierungstendenz wird bemerkbar, die auch in den bildlichen Christus-Darstellungen der Hochrenaissance und des Manierismus zum Ausdruck kommt (s. Abb. XIX, S. 70). Die ersten bisher bekannten Passionen dieser Art stammen von Gasparo Alberti (ca. I 480--ca. 1560), Sänger und später Maestro di cappella am Dom von Bergamo: BeispielS ~" tl
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Zum selben Passionstypus gehören die Werke zweier Benediktinermönche des Klosters Monte Cassino (Paulus Ferrarensis um 1565 und Placido Falconio um 1580), wo zudem der ganze Schluß des Passionstextes nach Johannes 19, 25ff (»Stabant autem juxta crucem« / »Es standen aber bei dem Kreuze«) und damit auch die Worte, die von Jesu Tod berichten, mehrstimmig vertont sind, eine Besonderheit, die vermutlich mit der spezifisch monastischen (d.h. klösterlichen) Haltung und einer Leidens- und Kreuzesmystik der beiden Komponisten zusammenhängt. Hinzu kommen neue affektive und den Text illustrierende Ausdrucksmomente, wie sie im weltlichen und geistlichen Madrigal des 16. Jahrhunderts vorgebildet sind.
4I
Einen Höhepunkt hinsichtlich rhetorischer Expressivität und Differenziertheit der Faktur stellt die responsoriale Johannespassion des Paolo Aretino (1508-1586) dar. Das Werk des aus Arezzo stammenden Musikers, möglicherweise eines Schülers von Corteccia, wurde 1583 für den Großherzog der Toscana, Francesco de' Medici, geschrieben und vermutlich in einem Karfreitagsgottesdienst des Florentiner Hofes aufgeführt. Nur so läßt sich der elitäre, deutlich madrigalistische Züge tragende Stil des Werkes erklären - und dies noch zwanzig Jahre nach Abschluß des Tridentiner Konzils, welches sich grundsätzlich gegen eine Vermischung von geistlicher und weltlicher Musik im Gottesdienst ausgesprochen hatte. Alle direkten Reden sind mehrstimmig gesetzt: die Worte Jesu meist dreistimmig, die der übrigen Soliloquenten zwei- bis vierstimmig, die Turbae, ganz im Sinne der Volksmenge, fünf- bis siebenstimmig. Eine ähnliche Vielfalt zeigt sich auch im tonartlichen Bereich. So stehen die Jesusworte meist in d (Moll oder Dur), die für die Johannespassion typischen vielen Pilatusworte in C. Der liturgische Rezitationston ist in den mehrstimmigen Sätzen meist nur angedeutet. Auffallend sind die Schlußklänge der einzelnen Abschnitte, wo sehr oft die Terz (bzw. die Dezime) in der Oberstimme erklingt, eine Erscheinung, die in der zeitgenössisch italienischen weltlichen Mehrstimmigkeit öfters zu beobachten ist. Ebenso der madrigalistisch rhetorischen und nicht der liturgischen Praxis zugehörig ist die gleich zu Beginn des Werkes zu beobachtende Steigerung der Stimmenzahl bei der Wiederholung der Jesus-Frage »Quem quaeritis?« (»Wen suchet ihr?«) vom drei- zum vierstimmigen und vom fünf- zum sechsstimmigen Satz der antwortenden Turba »Jesum Nazarenum«: Beispiel 9'1
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42
Den dramatischen Gegensatz zu diesen ruhigen lesusworten soll das folgende siebenstimmige T urba-Beispiel zeigen: Beispiel 10
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Einen besonderen Typus der mehrstimmigen Passion vertreten die um die Jahrhundertmitte in dieser Gestalt nur in Italien anzutreffenden, nach einem einzelnen Evangelium durchkomponierten, d.h. alle direkten und indirekten Reden umfassenden Passionen. Solche vom Text her durchaus ins Hochamt der Karwoche passenden und in diesem Sinne liturgischen Kompositionen finden sich nur bei den beiden in ObeTitalien wirkenden Ultramontani lan Nasco (71510-1561) und dem hochbedeutenden Cypriano de Rore (1516-1565) sowie bei dem gebürtigen Venezianer Vincenzo Ruffo (15087-1587), dessen Johannespassion um 1565/1570 wohl nach dem Vorbild der beiden anderen Komponisten entstanden sein dürfte. Nascos Passion fand um 1550 ihren Weg nach Spanien (Valencia); Rores Werk ist, kaum zufallig, zur sei ben Zeit in Ferrara, dem Entstehungsort schon der LonguevalPassion, komponiert worden und 1557 in der mit königlicher Lizenz ausgestatteten Pariser Offizin von Adrien Le Roy und Robert Ballard in einer Prachtausgabe erschienen. Alle drei genannten Werke sind, unter Differenzierung der Stimmenzahl von Soliloquenten, lesusworten und der erzählenden Abschnitte, weitgehend in syllabischem, auf Textverständlichkeit angelegtem akkordischem Satz geschrieben, der insbesondere bei Ruffo zweifellos mit den Reformen des Tridentiner Konzils zusammenhängt, das u.a. eine bessere Verständlichkeit der vertonten Texte forderte; das folgende Beispiel zeigt einen Ausschnitt aus Rores Passion:
43
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44
Von der syllabisch-akkordischen Schreibweise der genannten Werke führt der Weg gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu den schlichten, aus der Frühzeit bekannten und zu den streng liturgischen Sätzen späterer responsorialer Passionen, die als sogenannte punti della passiona die Karwochenlektionen der folgenden Jahrhunderte beherrschen. Damit und mit dem Verschwinden auch der Summa passionis, in Italien schon unmittelbar nach deren Entstehung, trat die Vertonung liturgischer Passionen gegenüber dem seit dem späten 17 Jahrhundert aufkommenden, nicht liturgischen Passionsoratorium in den Hintergrund und verlor an Interesse für die Komponisten. Trotzdem ist die Zahl der in Kathedral- und Klosterarchiven vorhandenen und immer noch zu entdeckenden responsorialen Passionen zumindest quantitativ bedeutend. Dabei handelt es sich einerseits um das Weiterbestehen älterer Kompositionspraktiken, andererseits um zwei- bis vierstimmige Turbae, die von nun an mit einer Generalbaßbegleitung versehen sind. Unter dem Einfluß der neapolitanischen Oratorien erscheinen nun auch in diesen an sich schlichten Sätzen konzertante Instrumente; bevorzugt werden zwei Violinen. Noch näher an die oratorische Praxis rücken Werke, welche, wiederum mit Neapel in Verbindung, die bisher choraliter gesungenen Texte zwischen den Turbae durch vom Komponisten neu erfundene, instrumental begleitete Rezitative im damals modemen monodischen Stil ersetzen und daher als eine Art oratorische Passionen zu bezeichnen sind (s. Beispiel 12l. Ob solche, sich durchwegs streng an den liturgischen Text
haltende Stücke in den Messe-Gottesdiensten der Karwoche aufgeführt worden sind, ist nicht mit Sicherheit nachzuweisen, ist aber, insbesondere für Neapel, keineswegs auszuschließen. Als bedeutendstes und vermutlich auch frühestes Werk dieser Art, stilistisch in der Tradition von Carissimis Oratorien stehend, gilt Alessandro Scarlattis um 1680 entstandene johannespassion für Vokalsoli, Turbachor, zwei Violinen, Violetta (Viola) und Basso continuo. Die Streichinstrumente sind als selbständige Stimmen in den Turbae, im Exordium und in der Conclusio, vor allem aber auch bei den stets mit Largo bezeichneten jesusworten eingesetzt. Damit wird die Tradition des schon im 16. jahrhundert üblichen, weihevoll sakralen Vortrags der vox Christi unter Verwendung neuer Stilmittel fortgeführt: Beispiel 12
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Bemerkenswert in diesem Werk ist die durch gleiche Tonart und Largo-Überschrift von Exordium (»Passio Domini nostri r. .. 1<<1 und Conclusio (»Videbunt in quem transfixerunt«, »Sie sahen, in welchen sie gestochen haben«, joh. 19, 37) realisierte formale Geschlossenheit, welche es heute erlaubt, diese Passion auch außerhalb einer liturgischen Feier aufzuführen. Scarlattis Passionstyp hat bei weiteren, vor allem als Oratorienkomponisten bekannten Meistern der neapolitanischen Schule bis hin zu Giovanni Paisiello 0741-1816) eine Weiterführung erfahren. Trotz Annäherung an den Oratorienstil fand in Italien jedoch, im Gegensatz zur protestantisch-evangelischen Passion Deutschlands, keine Mischung von oratorischer Passion und dem bibelfremde Texte miteinschließenden Passionsoratorium statt. Hierbei ist jedoch festzuhalten, daß die genannten italienischen, vermutlich liturgischen Werke an Bekanntheit weit hinter den nicht liturgischen, vom Bibeltext mehr oder weniger losgelösten Passionsoratorien zurückstanden. Besonders ist in diesem Zusammenhang Pietro Metastasios von zahlreichen bedeutenden Komponisten - auch von Paisiello vertonten Dichtung La passione di Gesu Christo (1730) zu nennen.
45
Iberische Länder und Eintlußgebiete
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Eine zentrale Rolle hat der Passionsgesang in Spanien und Portugal sowie in den von diesen Ländern im 16. Jahrhundert missionierten überseeischen Gebieten gespielt. Auffallend ist allein schon die enorme Zahl der mit ganz wenigen Ausnahmen nur handschriftlich überlieferten und trotz der verdienstvollen Arbeiten von JoseVicente Gonzalez-Valle noch längst nicht vollständig erschlossenen Quellen, die vom 16./17. Jahrhundert an z.T. bis hin zum zweiten Vatikanischen Konzil im 20. Jahrhundert in mehr oder weniger unveränderter oder auch in umgearbeiteter Gestalt im Gebrauch gewesen sind. Die große Bedeutung der Passionsrituale, die nicht zuletzt in der Bewahrung jahrhundertealter Traditionen, aber auch in der Vielfalt der Gesangstypen zum Ausdruck kommt, hängt offenbar mit einer spezifisch iberischen Passions- und Leidensfrömmigkeit zusammen. Die hier von mystisch leidenschaftlichen Kräften geleiteten Gefühle der compassio und imitatio äußern sich in allen Künsten, besonders deutlich in den Bildwerken: Man denke an die hoch expressiven und ekstatischen Gemälde eines EI Greco (s. Abb. XX, S. 71), aber auch an die auf die Passionsbruderschaften des ausgehenden 15. und 16. Jahrhunderts zurückgehenden und bis heute fortlebenden Karwochenprozessionen mit ihren realistischen Darstellungen der Leiden Jesu. Ihren profiliertesten Ausdruck fand das spanische Frömmigkeitsideal unter dem Regiment des im Escorial residierenden Königs Philipp 11. Wie sich iberische Passionsmentalität auch heute noch ganz konkret mit den Leiden und sozialen Mißständen der Bevölkerung verbinden kann, zeigen die riesigen, meist anonymen Kreuzwegstationen und Passionsaltäre, die sich in mexikanischen, mittel- und südamerikanischen Gebieten finden (s. Abb. XXVII, S. 123). Die spätestens seit dem 13./14. Jahrhundert überlieferten Rezitationstöne der liturgischen Passionsgesänge der iberischen Länder unterscheiden sich sowohl von denen Italiens wie auch von denen Frankreichs und Deutschlands. Zudem sind die Passionstöne in Aragon und Kastilien voneinander verschieden. Von der spezifisch iberischen Praxis, bei welcher nur einzelne kürzere Abschnitte sowohl der Turbatexte, der Narratio als auch der Jesusworte mehrstimmig erklangen, war oben die Rede. Diese Art des responsorialen Vortrags wurde in Italien schon früh als fremd empfunden und daher als »more hispano« bezeichnet; in den iberischen Gebieten hielt er sich vielerorts bis ins 19./20. Jahrhundert. Bei aller Vielfalt der oft von Quelle zu Quelle wechselnden, vielfach auch nachträglich eingetragenen oder abgeänderten Sätze und daher wohl auf lokalen Traditionen beruhenden Textauswahl der meist dreistimmigen Abschnitte fällt auf, daß es immer wieder deren drei sind, die ausnahmslos, in wechselnder Verbindung mit andern, mehrstimmig gesetzt sind: Exordium, die die Verleugnung des Petrus abschließenden Worte »Et egressus fo ras, flevit amare« (»Und ging hinaus und weinte bitterlich«) sowie die den Passionsbericht beendenden Texte. Auf diese Weise sind Anfang und Schluß der Lektion hervorgehoben; daß zusätzlich das »Egressus foras« stets mehrstimmig erklingt, hängt vermutlich damit zusammen, daß diese das 26. Kapitel des Matthäusevangeliums abschließenden Worte der altspanischen Liturgie den Schluß
der Gründonnerstags-Messe gebildet haben. Das folgende Beispiel stammt aus einer mexikanischen Handschrift der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts:
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Durch polyphonen Satz ausgezeichnet sind unter den lesusworten meistens das »Tristis est anima mea usque ad mortem« (»Meine Seele ist betrübt bis an den Tod«) sowie die verba Christi am Kreuz. Neben den Passionen »more hispano« finden sich schon vom frühen 16. Jahrhundert an Werke, welche nach italienischem Vorbild nur die Turbae mit oder ohne die Partien der Soliloquenten mehrstimmig vertonen; so die vier frühesten schriftlich belegten Passionen Spaniens, welche mit großer Wahrscheinlichkeit von Juan de Anchieta (1462-IS23) für Isabella von Kastilien in akkordisch syllabisch deklamiertem Stil und unter Verwendung des Passionstones von Toledo geschrieben sind: Beispiel 14
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47
schichtlich ein Zufall, daß Victoria mit dem klassischen Vertreter der gegenreformatorischen Vokal polyphonie, Giovanni Pierluigi da Palestrina, persönlich bekannt war und sein zweites Messebuch dem militantesten Vertreter der Gegenreformation, König Philipp I!., gewidmet hat. Die folgenden zwei Beispiele, Vertonungen desselben Textes "Vere filius Dei erat iste« ("Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen
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Von großer Bedeutung in Spanien, vermutlich ausschließlich in Aragon, wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Einfluß der in Oberitalien gepflegten mehrstimmig, nach einem einzigen der vier Evangelisten durchkomponierten Passion, Den entscheidenden Anstoß gab hier offenbar Ferdinand von Aragon, der als Vtzeregent in Valencia ein kulturelles Zentrum geschaffen hatte, Kurz vor 1550 hat er, vielleicht vermittelt durch seinen Vetter Ercole 11. von Ferrara, eine Kopie der durchkomponierten Matthäuspassion des in Oberitalien wirkenden Jan Nasco der Kathedrale von Valencia als »cosa rara« übergeben. In Spanien wurde das Werk, von dem mehrere Kopien erhalten sind, umgearbeitet. Um liturgisch verwendet
werden zu können, wurden die bei Nasco dreistimmigen Worte Jesu und die zweistimmigen Reden der Soliloquenten weggelassen und einstimmig choraliter vorgetragen; zudem sind die bei Nasco dreistimmigen Turbae der Jünger dem sechsstimmigen Satz der übrigen Turbae angeglichen. Gleichgeblieben dagegen sind die vierstimmig durchkomponierten Partien des Evangelisten. Diese für Spanien damals neue, im aragonesischen Raum gepflegte Art des Passionsvortrags wurde in der Folge auch von anderen spanischen Komponisten gepflegt, so u.a. vom damals bekannten, von 1551-1569 als Kapellmeister der Kathedrale von Huesca (nördlich von Zaragoza) wirkenden Juan de 010r6n und von Juan Bautista Comes (1582-1643), der, in Valencia geboren, an der dortigen Kathedrale als vicemaestro, später als maestro tätig war. Liturgischen Wegleitungen ist zu entnehmen, daß die Sänger des Evangelistenberichtes auf der Kanzel, diejenigen der Turbae unten im Kirchenschiff plaziert waren. Daß diese klanglich reiche Art des Passionsvortrags auch auf Kritik gestoßen ist, ergibt sich aus einem von Philipp 11. anläßlich eines Passionsgottesdienstes in Zaragoza ausgesprochenen Verbots derartiger Aufführungen. Trotzdem hielt sich, zumindest im aragonesischen Raum, dieser Brauch auch in den folgenden Jahrzehnten. Ähnlich wie in Italien wurden vom 17 Jahrhundert an auch Generalbaßinstrumente zum Passionsgesang beigezogen. Offenbar ohne Wirkung blieb in den iberischen Ländern und Kolonien die Longuevalsche Passionsharmonie, von der sich einzig im Kathedralarchiv von Toledo eine um 1530 zu datierende Kopie befindet, in welcher der Name »Jesus« im Text konsequent wegradiert ist. Sucht man nach einem Grund für diese Merkwürdigkeit, bieten sich zwei völlig gegensätzliche Erklärungen an: Entweder war eine Ausführung des Namens Jesus in besonderem Prunk, etwa in Gold geplant, aber nicht realisiert worden, oder es stammte die Kopie aus einem jüdisch-christlichen Kreis, für den es nicht erlaubt war, den Namen Gottes bzw. Jesu auszusprechen bzw. auszuschreiben. Eine gewisse rezeptionsgeschichtliche Parallele besteht insofern zu Nascos Passion, als beide Werke von franco-f1ämischen Komponisten stammen, deren Passionswerke von Oberitalien nach Spanien weitergegeben worden sind. Überblickt man die bisher bekannt gewordenen spanischen Quellen zur mehrstimmigen Passion, so zeigt sich bei aller Strenge der katholisch liturgischen Rituale eine beträchtliche Vielfalt der Typen, die selbst unter Berücksichtigung des »More hispano« als eine Musik innerhalb eines »concierto pan-europeo« (Howard Mayer Brown) zu bezeichnen und damit auf dem Hintergrund des Weltreiches Kaiser Karls V. zu verstehen ist. Analog zur spanischen Passion verläuft deren Geschichte in Portugal, obwohl dieses Land erst 1580 und nur während sechzig Jahren unter spanischer Herrschaft stand. Dies zeigt sich u.a. in einer responsorialen Passion des späten 16. Jahrhunderts aus der Universitätsstadt Coimbra, in welcher nicht die Turbae, sondern, neben Exordium und Schlußevangelium, nur einzelne Jesusworte und das »Emisit spiritum« (»Er gab den Geist auf«) der Narratio mehrstimmig vertont sind. Ungewohnt ist hier der im motettischen Stil gehaltene Beginn des Exordiums, welcher dieser Passion ein ganz besonderes Gewicht verleiht:
49
Beispiel 17
Von der Zeit der Unabhängigkeit von Spanien an scheint nach den wenigen bisher bekannten Quellen der italienische Einfluß in Portugal vorgeherrscht zu haben, wobei ausnahmsweise auch der Passionstypus mit durchkomponiertem Evangelistenbericht noch um 1800 begegnet. Daß auch die bisher nur teilweise erforschten Passionen des 16. bis 18. Jahrhunderts aus den riesigen Überseegebieten (Mexiko, Mittel- und Südamerika, Philippinen) spanischen bzw. portugiesischen Praktiken folgten und sehr oft von Komponisten spanischer oder portugiesischer Herkunft stammen, ist aufgrund der politischen Verhältnisse fast selbstverständlich. Ein besonders ausdrucksstarkes Beispiel aus Mexiko ist oben gezeigt worden (s. Beispiel 13, S. 47l.
Deutschsprachige Gebiete
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Einen bedeutenden Anteil an den dem römisch-katholischen Ritus folgenden Passionen hatten auch die nicht zum Protestantismus übergetretenen deutschsprachigen Gebiete. Möglicherweise hängt es mit den durch die Reformation entstandenen konfessionellen Wirren zusammen, daß bisher keine responsoriale Passion mit mehrstimmigen Turbae aus der Zeit vor 1574 bekannt geworden ist. Auch die wenigen aus deutsch-katholischen Gebieten erhaltenen Kopien der Longuevalschen Passionsharmonie (Quellen aus Köln und München) stammen aus der zweiten Jahrhunderthälfte. Die einzig bisher bekannte Neuvertonung von Longuevals Text im deutsch-katholischen Raum stammt vom Aachener Domkapellmeister niederländischer Herkunft lohannes Mangon (1525-1578). Die mit Abstand wichtigsten Beiträge zur Passionskomposition des 16. Jahrhunderts auf deutschem Gebiet hat - wie wäre es anders zu erwarten - der hochbedeutende, aus Mons im Hennegau stammende Orlando di Lasso geliefert. Von ihm sind vier responsoriale, für die bayerische Hofkapelle geschriebene Passionen, eine zu jedem Evangelium, bekannt. Davon im Druck erschienen ist einzig das älteste dieser Werke, eine Matthäuspassion, und diese gleich in zwei verschiedenen Ausgaben: München 1575 und Paris 1586. Es ist dies zugleich auch das musikalisch reichste der vier Werke: Turbae für fünf und sechs Stimmen, Soliloquenten (ohne Jesusworte!l für zwei oder drei Stimmen. Der liturgische Bezug ist sichergestellt durch die Tonart F und durch den zumindest andeutungsweise stets vorhan-
denen Cantus firmus. Die Worte der Soliloquenten sind als Bicinien oder Tricinien, ähnlich wie bei Rore und Aretino, motettisch-imitatorisch angelegt, die Turbasätze vorwiegend in einem raffiniert durchbrochenen akkordischen Stil: Beispiel 18
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Dominierender Ton der Oberstimmen ist das t, der liturgische Rezitationston von Turbae und Soliloquenten. Die in diesem Beispiel typische aufsteigende Bewegung bei der Stimmen ist charakteristisch für die Frageformel. Und nun noch ein Beispiel für einen Turba-Satz: »Crucifigatur« (»Laß ihn kreuzigen«) aus Lassos Matthäuspassion, auch hier herrscht eindeutig der Rezitationston f Beispiel 19
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Im Gegensatz zur Matthäuspassion sind die anderen drei Werke, komponiert 1580/1582, in einem einfacheren, nach der Liturgie hin gestrafften Stil geschrieben. Gegenüber der älteren Matthäuspassion sind hier die Anlehnungen an den Lektionston deutlicher; nicht im Bibeltext vorhandene Textwiederholungen sind auffallendeIWeise vermieden. Solches läßt sich aus den in Lassos Spätwerk ganz allgemein zu beobachtenden gegenreformatorischen Tendenzen des Münchener Hofes erklären. In dieselbe Richtung weist auch, daß Lasso, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Paolo Aretino, die Jesusworte nie mehrstimmig vertont hat; diese wurden auf tiefem f einstimmig und schmucklos als Ausdruck liturgischer Würde gesungen. Lassos Passionen dienten offensichtlich als Modelle damaliger und späterer responsorialer Passionsvertonungen. Darauf weisen handschriftliche Eintragungen, welche zeigen, daß die 5ätze der Matthäuspassion auch zu Texten der Lukas- und der Johannespassion gesungen worden sind (s. Abb. XV). Aber auch weit über Lassos Lebenszeit hinaus wurden seine Passionen noch gepflegt: noch 1741 in München und 1745 im Kloster Weingarten, hier unter Beifügung von Orgel- und Violenstimmen.
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52
Abb. XV Erste Turba aus Orlando di Lassos Matthäuspassion in einem Druck von 1575 (Adamus Berg, Patrocinum l11usices Orlandi di Lasso) mit handschriftlichen Eintragungen zum Vortrag von Turba-Texten aus anderen Passionen
Die Summa passionis in slawischen Ländern Ähnlich wie Lassos responsoriale Passionen, aber in weit höherem und geographisch übergreifenderem Maße, hat auch Longuevals im frühen 16. Jahrhundert geschaffene Summa passionis als Vorbild und Modell gedient, und dies nicht nur in lutherischen, sondern auch in böhmischen, später in polnischen Gebieten. Zwei bedeutende, zeitweise in Prag, der damaligen habsburgisch-kaiserlichen Residenz, wirkende Musiker, Jacobus Gallus und Jakob Regnart, haben denselben Text wie den von Longueval verwendeten benützt. Die drei Passionsharmonien von Gallus, für vier, sechs und acht Stimmen, sind in der großen zwischen 1586 und 1590 gedruckten Motettensammlung Opus musicum eingegliedert, die achtstimmige, wohl schon um 1580 komponierte Summa passionis von Regnart ist dagegen nur in einer Breslauer Sammelhandschrift erhalten. Daß diese Summae für Offiziumsgottesdienste und nicht für Messefeiern bestimmt waren, geht aus deren Eingliederung in große, nach Stimmenzahl geordneten Motettensammlungen hervor. Die unterschiedlichen Stimmenzahlen der drei Werke von Gallus lassen vermuten, daß diese ursprünglich für unterschiedliche Örtlichkeiten und Gelegenheiten bestimmt waren. Wenn auch keine präzisen Daten zur Entstehungsgeschichte dieser Passionsharmonien eruiert werden können, so läßt sich doch eine Reihe von Hypothesen aufstellen: Grundsätzlich gesehen, läuft die Verbindung LonguevalGallus geographisch über Schlesien. Da sich Gallus zwischen 1575 und 1578 längere Zeit in Breslau aufgehalten hat, ist zu vermuten, daß er dort auch die Bekanntschaft mit dem älteren Werk gemacht haben dürfte und vielleicht sogar die vierstimmige Passion Longuevals zur Sechsstimmigkeit erweiterte, um dann zum gleichen Text sein eigenes Werk in einer vergleichbaren Satztechnik zu schreiben. Die vierstimmig (mit fünfter ad libitum-Stimme) komponierte Passion ist vermutlich für klösterlichen Gebrauch bestimmt: Gallus' Biographie folgend, am ehesten für Kremsier oder Olmütz, wo er sich zwischen 1579 und 1585 aufhielt. Das große doppelchörige Werk schließlich dürfte, nach dem Vorbild von Regnarts ebenfalls achtstimmiger Passion, um 1586, bald nach des Komponisten Niederlassung in Prag, für die unter kaiserlichem Protektorat stehende Kirche S. Johann in Vado, wo Gallus Kantor war, geschrieben worden sein. Hier stand ihm einer der für die böhmische Kultur des 16. lahrhunderts so eminent wichtigen, aus Laien bestehenden Chöre einer Literatenbruderschaft zur Verfügung, Chorvereinigungen, denen die nach venezianischem Vorbild geschaffene doppelchörige, dem Stil nach modernste der drei Passionen durchaus angemessen war. Das folgende Beispiel zeigt den Beginn des dritten Teils dieser Passionsmotette, der mit Worten beginnt, die, wie schon bei Longueval, nicht dem Bibeltext entnommen sind: "Orabat autem Jesus pro crucifigentibus se, dicens: L . .]« ("Da aber betete Jesus für die ihn Kreuzigenden und sagte: L .. 1«); erst dann folgten lesu Worte, wie sie im Lukasevangelium stehen: "Pater, dimitte illis« (,,vater vergib ihnen«) (s. Beispiel 20,
S. 54). Hier ist nun noch die Frage zu stellen, wie Gallus dazu kam, zur Zeit der Gegenreformation und dazu noch im kaiserlichen Prag, einen Text zu vertonen, der zwar in keiner Weise konfessionell, sondern durchaus biblisch geprägt ist, doch
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164
Tertia pars
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spätestens von den dreißiger lahren an und seit seiner Drucklegung durch den Luther nahestehenden Wittenberger Georg Rhaw im Jahre 1538 fast ausschließlich in Quellen protestantischer Herkunft erscheint. Auf das im 16. Jahrhundert nur teilweise nach katholisch-protestantischen Gesichtspunkten voneinander abgegrenzte Repertoire war schon früher hinzuweisen. Hierzu kommt im Falle Gallus, daß dieser gute Beziehungen sowohl zu katholischen wie zu hussitischen Persönlichkeiten pflegte. Schließlich ist eine beiden Konfessionen gemeinsame Jesus-Frömmigkeit zu beachten, die in dieser im vorreformatorischen Italien entstandenen, von evangelisch gesinnten Deutschen übernommenen und mit Gallus und Regnart nun wiederum in katholische Lande zurückgekehrten Passionsharmonie ihren Ausdruck findet. Am deutlichsten belegt dies die in die Conclusio von Gallus' achtstimmigem Werk eingeschobene Anrufung »Jesu Christe«. In diesem Zusammenhang bedeutsam ist die erst seit kurzem bekanntgewordene Existenz tschechischsprachiger Passionsharmonien aus der Zeit um 1570/1600, eine Erscheinung, die im Zusammenhang mit der Übersetzung zahlloser ursprünglich lateinischer Kirchenlieder für die böhmischhussitischen Gesangbücher zu sehen ist. Es handelt sich um Fragmente von drei verschiedenen Passionsharmonien; zwei davon sind als erweiterte Fassungen des Longueval-Textes zu bezeichnen, wobei nicht nur die bei Gallus erwähnte Anrufung lesu, sondern auch für die hussitische Laienfrömmigkeit charakteristische Attribute wie »lieber Jesus« oder »traurige Mutter« erscheinen. Ein drittes Stück, von dem nur Altus- und Tenorstimmbuch erhalten sind, ist ein Werk des böhmischen Komponisten lohannes Stephanides. Hier ist der Text nicht von Longueval, sondern von Balthasar Resinarius übernommen, dessen lateinische Passionsharmonie 1543/44 bei Rhaw in Wittenberg erschienen war. Resinarius, selbst ein Böhme von Geburt, wirkte als lutherischer Bischof im nahe bei Prag gelegenen Böhmisch-Leipa. Wenn auch die zuletzt genannten Zeugnisse tschechisch textierter Passionen nicht zum engeren Kreis der katholischen Passionen gehören, so wird doch hier etwas von dem sichtbar, was man heute als liberal, ja als ökumenisch bezeichnen würde und das damals das Resultat eines knapp bis zur Schlacht am Weißen Berge (1620) dauernden konfessionellen Burgfriedens war.
Frankreich Schließlich ist zu fragen, welche Bedeutung der mehrstimmigen Passion in Frankreich zukam. Zunächst ist festzustellen, daß hier die Beiträge zu dieser Gattung, ähnlich wie in England (vgl. oben S. 34), wenig zahlreich sind. Bekannt wurden aus dem 16. lahrhundert bisher lediglich zwei beim Verleger Attaingnant 1535 veröffentlichte Werke: eine responsoriale Johannespassion des vielseitigen C1audin de Sermisy und eine anonyme Matthäuspassion. Es sind dies die ersten Drucke von Passionen überhaupt. Sermisys Werk mit seinem in der Oberstimme verzierten liturgischen Rezitationston könnte dem aus Frankreich gebürtigen, aber in Italien wirkenden lachetus de Mantua als Vorbild für dessen Johannespassion gedient haben.
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Zwei weitere Franzosen haben ihre Passionen in Italien geschrieben. Der eine von ihnen ist der schon mehrfach genannte Antoine de Longueval, der andere Charles d' ArgentiI, päpstlicher Sänger, der seine zwei Passionen in Rom schrieb. Zwei weitere, schon oben genannte überaus wichtige Werke nichtfranzösischer Komponisten sind in Paris bei Le Roy et Ballard, dem Inhaber königlicher Druckprivilegien, erschienen: Cypriano de Rores Johannespassion (1557) und Orlando di Lassos Matthäuspassion (1586l. Auch in den folgenden Jahrhunderten sind kaum mehrstimmige Passionen komponiert worden. Welches die Gründe für diese offensichtliche Zurückhaltung, um nicht zu sagen Abstinenz der französischen Komponisten der Gattung Passion gegenüber waren, bedarf noch der Klärung, könnte jedoch, zumindest für das 16. Jahrhundert, mit den Einflüssen des der mehrstimmigen liturgischen Musik skeptisch gegenüberstehenden Calvinismus und mit den bis zu dem den beiden Konfessionen gleiche Rechte zubilligenden Edikt von Nantes (1598) dauernden Glaubenswirren zusammenhängen. Daß trotzdem autochthon französische und zwei ausländische Werke im Druck erscheinen konnten, weist darauf hin, daß die mehrstimmige Passion, gewissermaßen als Repräsentationsstück, zumindest am Königshofe gepflegt worden ist.
Die evangelisch-protestantische Passion zur Zeit der Reformation
D
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en Ausgangspunkt für jede Betrachtung der Passion im deutschen evangelischen Bereich des 16. Jahrhunderts bildet Martin Luthers Kreuzestheologie: "Christi leyden mus nit mit worten und scheyn, sondern mit dem leben und wahrhafftig gehandelt werden.« Mit diesem Satz wird deutlich, in welcher Weise das Kreuz für Luther einen die Nachfolge Christi fordernden "Sitz im Leben« beansprucht. Das heißt zugleich, daß sich, mit Blick auf Kultus, Kunst und Musik, Kreuz und Passion in keinen noch so frommen und schönen Ritus einfangen lassen. Insbesondere verwirft der Reformator auch die klösterlich affektive Jesusminne, d.h. die sentimentale Jesusliebe, für welche die Betrachtung des Leidens Jesu eine Art von geistigem Genuß bedeutet. Solches "Genießen« hat Luther wohl auch in einer allzu prächtigen Musikalisierung der Passion gesehen; ist für ihn das Kreuz doch "nichts als Schimpf und Not, Tod und all das, was uns Christus in seinem Leiden gezeigt hat«. Und so werden auch mittelalterliche compassio und identificatio mit dem Gekreuzigten von Luther abgelehnt: "Du möchtest selbst mitleidend handeln? Aber Christus leidet mit dir, und du, Mensch, möchtest mit ihm und nicht mit dir selbst Mitleid haben?« Bezugnehmend auf diesen und
ähnliche Sätze ist oft auf Luthers Zurückhaltung gegenüber der Passionsmusik velWiesen worden. Bekannt ist insbesondere seine Äußerung in seinem Traktat Deutsche Messe von 1526: »Das Fasten, den Palm[sonnltag und die KalWoche lassen wir bleiben [wie sie sindl; nicht daß wir jemanden zum Fasten zwingen, sondern daß die Passion und die Evangelien, so wie sie für diese Jahreszeit geordnet sind, bleiben sollen; jedoch nicht so, daß man das Hungertuch [Fasten tuch, das den Altar verhülltl, Palmenschießen [einander Palmzweige zuwerfenl, Bilder [Heiligenbilderl zudecken und was der Gaukelei mehr ist, beibehalten soll, auch nicht das Vier-Passionen-Singen oder acht Stunden am Karfreitag über die Passion predigen. Die Karwoche soll vielmehr wie andere Wochen sein L .. l Denn es soll ja alles um des Wortes und des Sakramentes willen unter den Christen geschehen im Gottesdienst« (Originaltext s. Abb. XVI, S. 59>' Das hier kritisierte "Vier-Passionen-Singen«, das neben anderem KalWochenbrauchtum genannt wird, meint wohl kaum den liturgischen Gesang der nach altem vorreformatorischem Brauch auf bestimmte Tage festgelegten Passionsevangelien, sondern sehr wahrscheinlich den musikalischen Vortrag einer Passiansharmanie, d.h. einer mehrstimmigen, aus allen vier Evangelien zusammengestellten Kurzfassung des Passionstextes. Hierzu findet sich eine aufschlußreiche Bemerkung in der von Luthers Freund Johannes Bugenhagen redigierten Kirchenordnung von 1529. Dort, wie auch in Lübeck, ist für den Frühgottesdienst des Karfreitags nicht das Singen, sondern das Vorlesen einer Passionsharmonie in deutscher Sprache, verfaßt von Bugenhagen selbst, vorgesehen: »Solches ist dem Volke nütze, mehr denn daß man die Passion laut sang [... l und die Laien verstanden es nicht.« Offenbar geht es Bugenhagen um die Verständlichkeit des Textes. Aus Luthers weiteren Äußerungen und anderen Verordnungen der Reformationszeit ergibt sich, daß die Passionslesung in erster Linie ein zur Dankbarkeit aufforderndes Lehrstück sein soll. Damit wird theologisch eine gewisse Rückverbindung zum kirchenväterlichen, insbesondere zum Augustinischen Passionsverständnis sichtbar. Ähnlich wie schon Gersons Manotessaron ist auch Bugenhagens erstmals 1526 in Wittenberg in deutscher Sprache erschienene Passionsharmonie zu einem Volksbuch geworden. In der großen Beliebtheit solcher Evangelien- und Passionskompilationen äußert sich eine Frömmigkeit, die mit erklären hilft, weshalb, trotz aller Einwände Luthers, das »Vier-Passionen-Singen« im evangelischen Raum immer wieder gepflegt worden ist. Überblickt man die lutherischen Kirchenordnungen, so fallt auf, daß in den Verzeichnissen der Kirchenfesttage sowohl Palmsonntag wie auch der Karfreitag zuweilen fehlen; dies offenbar entsprechend Luthers Satz »die KalWoche soll gleich wie andere Wochen sein«, was nun aber keinesfalls heißen soll, daß in der KalWoche keine Passionen gesungen worden wären. Vielmehr läßt sich folgendes feststellen: Der Vortrag einer Passion nach einem einzelnen Evangelisten beschränkt sich nicht ausschließlich auf Palmsonntag und die Tage der KalWoche. Schon an Laetare und Judicare, d.h. an den zwei dem Palmsonntag vorangehenden Sonntagen, wurden an einigen Orten Passionen gesungen; hierbei hatte die mehrstimmige, die sogenannte figurale Passion und insbesondere die Passionsharmonie ihren Platz gewöhnlich nicht im Hauptgottesdienst, sondern in der Mette, d.h. im Früh-
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Abb. XVI Aus dem Druck von Luthers Deutscher Messe (Wittenberg 1526, folio G 111 mit dem den Passionsgesang betreffenden Text)
gottesdienst oder in der Vesper, wobei der Text lateinisch oder deutsch sein konnte, vermutlich je nach dem Bildungsstand einer städtischen oder ländlichen Gemeinde. Ein gutes Beispiel für diese Praktiken liefert die weit verbreitete und bis ins 17 jahrhundert immer wieder aufgelegte, erstmals 1553 in Nürnberg gedruckte und für die Lüneburger Kirche bestimmte Psalmodia hoc est cantica sacra veteris ecclesia selecta
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Abb. XVII Lucas Lossius: Erste Seite der H;ston'o pass;on;s in gotischer Choral notation Ausgabe Wittenberg 1595 (Erstausgabe Nürnberg 1553)
dem Evangelio Matthaei kurtz gezogen und nach den Personen ausgeteilet, wie man sie in christlichen Versammlungen pfleget die Marterwoche über zu singen.« Der liturgische Ort dieses Stückes (es ist eine durch mehrstimmiges Exordium und Conclusio erweiterte responsoriale Matthäuspassion mit schlichten vierstimmigen Turbael ist hier nicht eindeutig festgelegt. Im Anschluß daran folgt im Keuchenthaler Gesangbuch sodann eine Reihe von für das evangelische Gemeindeverständnis bezeichnender Liedpassionen, d.h. von Passionen in strophisch gegliederter und gereimter Liedform. Als erste erscheint hier die in der Tradition Bugenhagens stehende Historia des Leidens Christi aus den lIier Evangelien zusammengezogen durch Sebald Heiden, deren einzelne Liedstrophen nach der Melodie »0 Mensch, bewein dein Sünde groß« zu singen sind. Der früheste Nachweis von Sebald Heydens einstimmiger Liedpassion findet sich in einem Nürnberger Einzeldruck, der zu Beginn der 1530er Jahre zu datieren sein dürfte. Die in Versen gedruckte Passionsharmonie ist hier um zwei Liedstrophen erweitert: »0 Mensch, bewein dein Sünde groß« und >,Laßt uns doch Christo dankbar sein«. Es ist dies die erste mit Sicherheit nachweisbare Passions-Conclusio, die, dem reformatorischen Gedankengut folgend, das Longuevalsche »Qui passus es pro nobis, miserere nobis« zur Gratiorum actio, d.h. zur Danksagung umformt. Dieselbe Liedpassion findet sich auch in dem in Zürich vermutlich schon um 1533/34 gedruckten Konstanzer Gesangbuch, dem Nüw Gsangbüchle. Im Zusammenhang mit der Liedpassion ist noch ein weiteres Gesangsstück zu nennen, dessen Inhalt unmittelbar mit dem Passionstext zusammenhängt, nämlich mit dem Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund«, welches, gleich wie der letzte Teil von Passionsharmonien, die sieben Worte Jesu am Kreuz enthält. Der Text, der 1537 in Michael Vehes Ein Nelll Gesangbüchlein Geistlicher Lieder, dem ältesten katholischen Gesangbuch, erstmals gedruckt vorliegt, stammt von Georg Witze!, der sich nach seiner Priesterweihe zu Luther bekannte, aber schon nach wenigen Jahren in den Schoß der Alten Kirche zurückkehrte. Das genannte Lied ist, wie so viele andere kirchenmusikalische Werke, Gemeingut beider Konfessionen geworden. Im Titel einiger Passionen erscheint der Begriff historia, der im evangelischen Bereich des 16. und 17. Jahrhunderts sehr oft in Verbindung nicht nur mit Weihnachts- und Osterlektionen, sondern auch mit Passionen begegnet. Historia heißt nach Luther nicht bloß Geschichte, sondern, theologisch konkret, Heilsgeschichte, und zwar allgemein verständliche Heilsgeschichte, die zumindest in städtischen Gemeinden durchaus auch lateinisch gesungen werden konnte.
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Die Musik der responsorialen Passion des 16. Jahrhunderts im evangelischen Bereich Am Anfang des reformatorischen Passionsgesangs stehen die Walter-Passionen, genannt nach Luthers Freund und Mitarbeiter Johannes Walter, Kantor und Begründer der lutherisch-evangelischen Kirchenmusik. Bei diesen ab 1530 nachzuweisenden Passionslektionen handelt es sich nicht um eigentliche Kompositionen, sondern vielmehr um Modelle, d.h. um schematisierte Klangfolgen, die von Walter nach vorreformatorischen Vorbildern geschaffen worden sind. Dies ergibt sich deutlich aus einem Vergleich von Walters Turbasätzen mit dem oben genannten Traktat der Klosterkirche Füssen aus der Mitte des 15. jahrhunderts (s. Beispiel 4, 5.33): Beispiel 21
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Sie schrien aber noch mehr lind 'pm ehen:
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In beiden Fällen geht es um responsoriale Passionen mit beinahe gleichem Passionston F und klanglich gleicher Art der Kadenzbildung im mehrstimmigen Satz. Neu bei Walter ist die Erweiterung des dreistimmigen Satzes zur Vierstimmigkeit durch Zufügung einer Oberstimme; neu auch die in eindeutiger Notation festgehaltene Rhythmik. Die Modellhaftigkeit der Walterschen Passion erweist sich daran, daß diese in verschiedensten Fassungen, Überarbeitungen und Erweiterungen, u.a. auch durch Choralsätze, nicht nur im 16. und 17, sondern noch im 18., ja sogar noch im 19. und 20. jahrhundert Verwendung fand. Eine besonders wichtige Quelle hierfür ist der von Heinrich Grimm, Kantor in Magdeburg und Braunschweig, stammende, in zwei Auflagen von 1629 und 1636 erschienene Druck der Matthäuspassion. Auch aus skandinavischen Ländern und aus Böhmen sind Beispiele in dänischer, schwedischer und tschechischer Sprache bekannt; ja, selbst die konfessionelle Grenze hat das Waltersche Modell zuweilen zu überschreiten vermocht. An wichtigsten Überlieferungsarten der Walterschen Passion sind im 16. jahrhundert vor allem zwei zu nennen: Entweder werden nur die Turbae der jünger und juden oder zusätzlich auch Exordium und Conclusio mehrstimmig gesetzt. In diesen zwei Gestalten sind vor allem Matthäus- und johannespassion, seltener auch Markus- und Lukaspassion bekannt. Im Gottesdienst wurden Evangelistenbericht und zuweilen auch die direkten Reden der Einzelpersonen, die jesusworte inbegriffen, vom Pfarrer vorgetragen, Turbae sowie Exordium und Conclusio von der Kantorei oder einem Schülerchor. Wenn auch die Rezitationstöne der vorreformatorischen Praxis (fc'-f) folgen, so ist
doch zu bemerken, daß die zwar immer noch nicht mensurale Notation nun durch Melodieführung und durch Verlängerungszeichen dem deutschen Textrhythmus und den Sprachakzenten entspricht, wie dies Luther gefordert hat: »Es muß beides, Text LInd Noten, Akzent LInd Weise und Gebärde aus rechter Muttersprach und Stimme kommen.« BeispieJ 12a
Mein Va· ler, ists nkhL möglich. daß dieser Kelch von mir __ ge he,
ich trin-kc ihn denn.
Im folgenden Beispiel aus derselben Quelle ist, im Sinn einer rhetorischen Figur, die Kreuzesüberschrift durch doppelte Notenwerte ausgezeichnet: Beispiel 22b
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Die seit 1550/1560 nachweisbare Zufügung mehrstimmiger Rahmenchöre findet ihre Entsprechung in der zeitgenössischen Predigtform, deren Teile als exordium, corpus
Historien des Leidens unsers Herren Jesu Christi durch die vier ElJangeJisten beschrieben Auch dieses Modell wurde bis ins späte 17. Jahrhundert überliefert. Eine musikalisch tiefgreifende Überarbeitung des Walterschen Modells erfolgte im schon genannten Keuchenthaler Gesangbuch. Hier sind die bisher im schlichten Note-gegen-Note-Stil stehenden Turbae satztechnisch zum Teil ganz wesentlich aufgelockert:
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laß ihn kreu
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Bemerkenswert ist nicht nur der fugierte Einsatz der Singstimmen, sondern auch die der dramatischen Steigerung dienende Textwiederholung von »laß ihn kreuzigen". An weiteren Namen von Bearbeitern der responsorialen Walter-Passion zwischen 1570 und 1620 sind u.a. zu nennen: Jakob Meiland, der noch Singknabe der Sächsischen Hofkapelle unter Walter gewesen war, Melchior Vulpius, Kantor in Weimar, und der längere Zeit in Wolfenbüttel wirkende Thomas Mancinus, dessen Johannespassion noch I 682 im Neu Leipziger Gesangbuch weiter überliefert wurde, sowie Samuel Besler und Siegfried Harnisch. In der für die Dresdener Hofkapelle vor 1561 komponierten und 1621 durch Samuel Besler in Breslau edierten Johannespassion von Antonio Scandello liegt ein Werk besonderer Art vor: Zurn erstenmal sind in einer deutschsprachigen Passion nicht nur die Turbae, sondern alle direkten Reden einzelner Personen, die Worte Jesu inbegriffen, mehrstimmig vertont. Offensichtlich besteht hier eine direkte Verbindung zur italienisch-katholischen Passion: Der in Bergamo 1517 geborene Scandello wirkte am dortigen Dom, Santa Maria Maggiore, von 1541-1547 als Zinkenist, d.h. zur selben Zeit, da Gasparo Alberti (s. Beispiel 8, S. 41) dort Kapellmeister war, der vermutlich als erster die Jesusworte mit in die Mehrstimmigkeit aufgenommen hatte. 1549 übersiedelte Scandello nach Dresden, wo er zum Luthertum übertrat und Mitglied der damals unter Walters Leitung stehenden Hofkapelle wurde. Scandellos Passion stellt ein weiteres Beweisstück für die damaligen engen kirchenmusikalischen Beziehungen dar, die zwischen den Konfessionen bestanden. Bemerkenswert im Hinblick auf spätere Aufführungspraktiken ist, daß für Scandellos Passion in den Jahren 1561 und 1571 im östlich von Dresden gelegenen Zittau eigens eine besondere Bühne in der Kirche aufgestellt werden mußte, offenbar im Hinblick auf die relativ große Zahl von Einzelsängern. Außer den Turbae und allen direkten Reden sind in Scandellos Passion auch Exordium und Conclusio, ganz nach Walterschem Muster, vierstimmig vertont. Für die Turbae setzt der Komponist in damaliger Madrigalmanier fünf Stimmen ein. Von diesen unterscheidet sich die Vierstimmigkeit der Jesusworte und die Zwei- oder Dreistimmigkeit der übrigen Personen, wobei, je nach Rolle, Unterschiede in der Stimmlage bestehen. Die musikalische Satzstruktur ist zwar noch deutlich akkordisch, jedoch, besonders in den Kadenzen, polyphon gelockert. Im Schlußakkord steht oft die Dezime in der Oberstimme, was zweifellos auf italienischen Einfluß weist und Scandello in die Nähe des oben genannten Paolo Aretino rückt (s. Beispiel 9, S. 42). Der Verständlichkeit des Textes dient eine auf den Sprachrhythmus ausgerichtete Deklamation: Beispiel 24
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Scandellos Passion steht trotz ihres deutschen Textes den zeitgenössischen italienischen Werken nahe. Ähnlich wie bei Aretino tritt auch hier der liturgische Passionston in den mehrstimmigen Sätzen zurück, behält aber durch die b-Vorzeichnung noch eine lose Verbindung zur traditionellen Tonart F. Das Werk ist nicht ohne Nachfolge geblieben. Dies zeigen die 1588 datierte, in Wittenberg komponierte johannespassion des Bartholomäus Gesius, Kantor in Frankfurt an der Oder, sowie die 1610 für den Rat der Stadt Delitzsch (Bezirk Leipzig) geschriebene und später dem Kurfürsten von Sachsen überreichte Markuspassion von Ambrosius Beber, der, wohl zum erstenmal, vom traditionellen Passionston F abweicht und ein g-dorisch mit Rezitationston b verwendet.
Motettisch durchkomponierte Passionsharmonien des 16. und frühen 17 Jahrhunderts evangelischer Provenienz Neben der responsorialen Passion hat die Longuevalsche durchkomponierte Summa passionis im evangelischen Bereich eine bedeutende Verbreitung erfahren, sowohl durch Weitertradierung von Longuevals Werk als auch durch Neukompositionen des Summa-Textes. Die erste auf deutsch-lutherischem Gebiet entstandene Passionsharmonie stammt von dem in Leipzig tätigen johannes Galliculus. Sein als Markuspassion bezeichnetes Werk, das von Longueval den lateinischen Text übernommen hat, steht, wie auch dieses, in den Selectae harmoniae f. . .l de Passione Domini des Wittenberger Druckers Georg Rhaw von 1538 und ist zweifellos von Longuevals in dieser Quelle als Matthäuspassion bezeichneten und jacobus Obrecht zugewiesenen Summa angeregt worden. Daß bei Galliculus das Werk als Markuspassion deklariert ist, mag damit zusammenhängen, daß die beiden im Rhaw-Druck unmittelbar aufeinander folgenden Passionen für verschiedene Tage der Karwoche Verwendung fanden. Mit dem Text kann die Verschiedenheit der Bezeichnung jedenfalls nicht zusammenhängen, da dieser in bei den Werken, abgesehen von der Evangelistenbezeichnung, identisch ist. Überdies ist der Markustext in dieser Summa der mit bloß drei Versen am wenigsten vertretene Text. Vergleicht man die Satzweise der beiden Werke miteinander, so fällt trotz mancher Ähnlichkeiten auf, daß der Deutsche Galliculus im Gegensatz zur italianisierenden, auf Wohlklänge ausgerichteten Kontrapunktik des Longueval die Einzelstimmen vermehrt als Gegenstimmen zum choralen Cantus firmus setzt. Zwei Beispiele mögen sowohl Ähnlichkeit als auch Verschiedenheit der beiden Stücke andeuten:
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»Der du für uns gelitten hast [erbarme dich unserl«
Der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden gleichtextigen Passionsharmonien besteht in deren Rezeption: Während das Longuevalsche Werk über einen Zeitraum von über zweihundert Jahren, zuerst im katholischen, dann aber vor allem im evangelischen Raum eine außergewöhnliche Verbreitung fand, ist von der Passion des Galliculus außer dem Rhaw-Druck von 1538 bisher keine andere Quelle bekannt. Diesem Druck kommt insofern besondere Bedeutung zu, als es sich, abgesehen von einem französischen Sammeldruck von 1535, hier um die ersten gedruckten Passionen handelt, denen überdies besonderes Gewicht durch das Vorwort des Humanisten Philipp Melanchthon zukommt, in welchem es heißt, »daß es also nützlich ist, Christi Aussagen L . .l durch Gesang zu feiern und vor allem zur Geschichte seines Todes die Musik heranzuziehen.« An dieser Stelle sei nun nochmals auf das oben erwähnte »Vier-PassionenSingen« in Luthers Deutscher Messe zurückgekommen. Wenn auch Longuevals Passionsharmonie schon in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts entstand, ist doch kaum anzunehmen, daß sich der oben auf S. 57 zitierte Text des Reformators von 1526 auf dieses Werk bezog. Von der Summa des Galliculus dagegen ist zu vermuten, daß sie einige Jahre nach 1526, jedoch in Kenntnis von Longuevals Werk geschrieben wurde. Aus dem Kontext von Luthers »Vier-Passionen-Singen« kann man schließen, daß es sich dabei um einen älteren Brauch handelt, der vom Reformator, ähnlich wie das »Hungertuch« und das »Palmenschießen« verworfen worden ist. Vermutlich hat Luther später seine Meinung zumindest über das »VierPassionen-Singen« geändert, und dies möglicherweise in Anerkennung von Kunstwerken, wie sie ihm unterdessen von Longueval (damals unter dem Namen Obrecht) und bei dem zum Luther-Kreis gehörigen Galliculus vorlagen. Der von beiden Komponisten vertonte Text in lateinischer Sprache ist auch im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert weiterhin in Musik gesetzt worden, so von Paulus Bucenus (1578), Kantor in Riga, und vom schon oben genannten Bartholomäus Gesius (1613). Beide Passionen sind nun sechsstimmig, was insofern von Bedeutung ist, als auch die sechsstimmige, vielleicht von Jacobus Gallus bearbeite-
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te Fassung von Longuevals Passion aus ostdeutschen Gebieten zu stammen scheint. Ebenfalls sechsstimmig, jetzt aber in deutscher Sprache vertont, ist eine 1594 im damals protestantischen Graz gedruckte Passionsharmonie von Johannes Herold. In Deutschland begegnet neben den Summae mit Longuevalschem Text ein weiterer motettisch durchkomponierter Passionstyp, der offenbar als spezifisch lutherisch-evangelisch anzusprechen ist. Das sind Werke, die einen stark verkürzten Text nach dem Evangelisten Johannes sowie im letzten Abschnitt des Werkes auch die aus allen vier Evangelien zusammengetragenen sieben Worte Jesu am Kreuz vertonen. Es sind dies zwei in zeitgenössischen Drucken vorliegende Passionen von Balthasar Resinarius (Wittenberg 1543) und Joachim a Burck (Wittenberg 1563) sowie die zwei nur handschriftlich erhaltenen Passionen von Ludwig Daser (1574) und Leonhard Lechner (1594) und schließlich die Johannespassion von Christoph Demantius (Freiberg-Sachsen 1631), Daß es sich bei allen diesen auch musikalisch bedeutenden Stücken um Johannespassionen handelt, hängt mit der liturgischen Verwendbarkeit in der Karwoche, möglicherweise aber auch mit der Bedeutung des Johannesevangeliums für die lutherisch-paulinische Theologie zusammen: Nicht so sehr Jesu Leiden als vielmehr die österliche Heimkehr des Gottessohnes steht im Mittelpunkt des Johanneischen Berichtes; das Passionsgeschehen ist die hierzu notwendige Durchgangsstation. So fehlt im Gegensatz zur Matthäuspassion bezeichnenderweise u.a. das Gebet Jesu in Gethsemane. Schon früh wurde Johannes als der Theologus, d.h. als der Denker unter den Evangelisten bezeichnet, und auch das seit dem Mittelalter für Johannes verwendete Adlersymbol spielt nicht etwa auf den Höhenflug des Adlers, sondern auf dessen Scharfblick an. Die frühe, vierstimmige lateinische Passion des Resinarius (JS43) ist das erste Werk, das nicht, wie Longuevals Summa, in drei, sondern in fünf Teile unterteilt ist, wobei im fünften Teil, wie in Longuevals drittem Teil, alle sieben Worte Jesu am Kreuz vertont sind. Bemerkenswert ist, daß anstelle des sonst als Titel dienenden Exordiums der Schluß des 26. Verses aus dem 11. Kapitel des ersten Korintherbriefes (vgl. auch Johannesevangelium 21, 23) tritt: »Mortem Domini annuntiabitis donec veniet« (>>Den Tod des Herrn verkündet ihr, bis er wiederkommt«). Auch die Conc1usio ist neu, weder Erbarmungsruf wie bei Longueval, noch Danksagung wie bei Walter, sondern rhetorisch-historische, auf das Exordium zurückrundende Confirmatio nach johannes 19,35: »Et qui vidit, testimonium perhibuit, et scimus, quia verum est testimonium ejus. Amen« (»Und der dieses sah, der hat es bezeugt und wir wissen es, weil sein Zeugnis wahr ist«), Chronologisch und stilistisch gesehen folgt 1568, d.h. fünfundzwanzig jahre nach Resinarius die ausschließlich den /ohanneischen Text und das traditionelle Exordium (»Höret das Leiden«) verwendende und stark verkürzende Passion von /oachim a Burck. Sie schließt sich an die motettische Satztechnik des Resinarius an. Daß aber Verbindungslinien auch zu Longueval zurückführen, zeigt das Vorwort dieses als Sonderdruck erschienenen und dem Domkapitel von Magdeburg gewidmeten Werkes; da heißt es: »Also habe ich jetzt die Deutsche PASSION in vier Stimmen bracht I und obwohl der berümbte Musicus jacobus Obrecht [lies Longuevall vor der zeit die lateinische Passion aus trefflichem geiste gesetzet I die
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Abb. XIX Gekreuzigter mit Marien, lohannes und San Girolamo (Kirchenvater Hieronymusl von la co po Bassano (1662/63>' Treviso, Museo Civico
Abb, XX Gekreuzigter mit Maria, Maria Magdalena, lohannes und Engeln von EI Greco (1596/ 1600), Madrid, Museo dei Prado
Abb. XXI Aus Bachs Autograph der Matthäuspassion: Der Text des Rezitativs »Da versammelten sich die Hohenpriester« ist mit roter Tinte geschrieben.
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auch allenthalb gesungen wird / So hat ich doch gute Hoffnunge / Es werde auch diese meine arbeit / so ich an die PASSION gelegt / Schulen und Kirchen im deutschen Lande angenehm sein.« In der Conclusio des Burckschen Werkes äußert sich der spezifisch lutherische Gedanke von der glaubenschaffenden Kraft der Passion: "Wir glauben, lieber Herr: mehre unsern Glauben. Amen.« Wörtlich denselben Text hat 1631, d.h. mehr als sechzig Jahre später, noch einmal Christoph Demantius vertont. Doch zuvor ist auf zwei Johannespassionen des ausgehenden 16. Jahrhunderts einzugehen, die, obwohl sie in ihrer Entstehung zwanzig Jahre auseinander liegen und die eine lateinisch, die andere deutsch textiert ist, eng zusammengehören. Die beiden Komponisten, Ludwig Daser und der um zwanzig Jahre jüngere Leonhard Lechner, standen als zeitweilige Mitglieder der Bayerischen Hofkapelle in direkter Verbindung mit Orlando di Lasso, und beide starben als zum Protestantismus Konvertierte oder doch als Sympathisanten des neuen Glaubens in Stuttgart. Beide Passionen sind nach dem Vorbild des Resinarius in fünf Teile gegliedert. Anders als bei den älteren Meistern ist die Conclusio wiederum mit derjenigen Longuevals identisch, wobei Lechner anstelle des »Amen« die Anrufung »0 Jesu« setzt und damit wohl seiner persönlichen Frömmigkeit Ausdruck verleiht. Lechners bedeutendes, 1593 geschaffenes Werk geht in seiner kunstvollen Polyphonie weit über die älteren Passionen hinaus, und doch bewahrt der Komponist feste Bindungen an die Tradition, indem der chorale Passionston als Gerüst des mehrstimmigen Satzes fungiert. Im folgenden Beispiel ist es das tiefe f der Jesusfrage, das a-c im Sopran und Tenor der erzählenden Worte und das höhere f der Turba »Jesus von Nazareth«. Schon der originale Titel des Werkes weist auf die Bedeutung des Passionstones: Historia der Passion L . .l nach dem alten lateinischen Kirchenchoral mit vier Stimmen componiert. Charakteristisch sind überdies tonmalerisch-madrigalistische Tonfiguren, wie sie z.B. zu den Worten »Wen suchet ihr?« erscheinen:
Beispiel 26
"Wen
su
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ihr?" ____
73
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Das folgende Beispiel zeigt den Beginn der Conclusio, die mit ihrer schlichten Oberstimmenmelodie und der Chromatik zu dem Wort »gelitten hast« für Lechners Stil charakteristisch ist: Beispiel 27
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Einen Schritt weiter tat, fast vierzig Jahre später, Christoph Demantius mit seiner Johannespassion von 1631, einem Werk des 64jährigen, in welchem er nicht nur die Vierstimmigkeit der bisherigen Passion dieses Typs zur Sechsstimmigkeit, sondern auch die klanglich expressive Dimension, vielleicht angeregt von C1audio Monteverdi, durch auffallende melodische und harmonische Fortschreitungen erweitert,
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Die Passionen von Heinrich Schütz A Is letzte schöpferische Frucht des alten responsorialen Passionsmodells sind /""\.die drei von Heinrich Schütz 1665/66 komponierten Passionen nach Matthäus, Lukas und Johannes zu betrachten. Sie sind für dieselbe Dresdener Hofkirche geschrieben, für die hundert Jahre früher schon Scandello seine Passion komponiert und für deren Neubau-Einweihung, nun als katholische Kirche, Johann Sebastian Bach möglicherweise seine h-MolI-Messe bestimmt hat. Im Gegensatz nicht nur zur katholischen Liturgie, sondern auch zu den meisten evangelischen Kirchen wurde hier zu Schützens Zeit am Palmsonntag die Lukas- und nicht die Matthäuspassion gesungen. Diese war für den Passionssonntag Judica (eine Woche vor Palmsonntag) bestimmt. Am traditionellen Tag, dem Karfreitag, erklang die Johannespassion (s. Abb. XXII, S. 78l. Die von Schütz nicht vertonte Markuspassion ist in einer zeitgenössischen Handschrift durch das Werk des in Dresden wirkenden Italieners Marco Gioseppe Peranda belegt. Zu Schützens Passionswerken zu zählen sind auch die vor 1657 entstandenen Die Sieben Wane / unsers lieben Erlösers und Seeligmachers / jESU CHRiSTI /50 er am Stamm des Heiligen Creutzes gesprochen / gantz beweglich gesetzt / von Henn Heinrich Schützen / ChurSächsischen Capellmei5ters. Es ist dies eine Gattung, deren Text sowohl mit dem dritten Teil einer Summa passionis als auch mit dem beiden Konfessionen zugehörigen Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund« zusammenhängt. Während Schützens Komposition, ähnlich wie seine Weihnachts- und Auferstehungshistorie, im damals modernen monodischen, d.h. vokal deklamierenden und instrumental begleiteten Stil mit Generalbaß und konzertierenden Instrumenten geschrieben ist, zeigen die drei Passionen einen für ihre Zeit eigenartig nach rückwärts gewandten Stil, was zweifellos mit deren liturgischer Funktion und insbesondere mit dem damals in Dresden gepflegten a cappella-Satz zusammenhängt: Trotz spätem Entstehungsdatum - Schütz war zu dieser Zeit (1665/66) um die achtzig Jahre alt - fehlen sowohl Generalbaß als auch konzertierende Instrumente. Das Rezitativ des Evangelisten, zwar nicht streng im Choralton des 16./17. Jahrhunderts geschrieben, knüpft in Melodieführung und nicht mensurierter, d.h. nicht präzise notierter Rhythmik an diesen an, wobei an einzelnen bedeutsamen TextsteIlen rhetorisch bedingte Abweichungen vom üblichen Rezitationston erfolgen; so beispielsweise zu den Worten »gekreuziget« und »beugeten«: Beispiel
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und beu-ge-ten die Knie vor ihm, ver·spotteten ihn
75
Einstimmig singt nicht nur der Evangelist, sondern singen auch die SoJiloquenten in personenbezogener Stimmlage; Mehrstimmigkeit für Einzelpersonen, wie im 16. Jahrhundert, ist jetzt nicht mehr möglich: Beispiel 29 Magd:
~8?=. - c=- -u -~.. IFt~==Und es trat zu ihm ei-ne Magd und sprach:
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Evangelist:
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Er leugnete aber
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Und du, du warest auch mit dem Je-su
Petms: • I . _,
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Dieses Beispiel zeigt die Verbindung von personengebundenem Charakter und Affekt: Die Ancilla (Magd) singt mit Hochbetonung des Wörtchens "auch" im Sopran, Petrus in Tenorlage mit Wiederholung und wechselnder Betonung des Pronomens "ich«. An die Tradition knüpft die Baßlage der Jesusworte an, wobei hier auch der weite melodische Bogen und die Fermaten an die Waltersche Passion erinnern (s. Beispiel 22b, S, 63): Beispiel 30 Jesus:
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Für die das rein Liturgisch-Funktionale überhöhende Individualität des Komponisten spricht überdies, daß die drei Passionen drei verschiedene Tonarten verwenden: die Lukaspassion das traditionelle F-Iydisch, die Matthäuspassion g-dorisch und die Johannespassion e-phrygisch. Aber auch in der Melodieführung unterscheiden sich die drei Werke: Beispiel 31 a
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Dem liturgischen Ton am nächsten kommt die Lukaspassion, stark affektiv gestaltet ist die Matthäuspassion, in ruhig meditativen Zweitongruppen bewegt sich das Rezitativ der johannespassion. Dem entspricht auch die jeweilige Conclusio: Die Lukaspassion schließt lehrhaft mit dem Choral »Wer Gottes Marter in Ehren hat«, die Matthäuspassion mit dem auf das vorreformatorisch lateinische »Laus tibi« zurückgehenden Text »Ehre sei dir Christe, der du littest Not«, an dessen seit 1527 im evangelischen Gottesdienst verwendete Melodie sich Schütz deutlich anlehnt und die er im mehrstimmigen Satz ausdrucksstark verdichtet. Die johannespassion bringt als Beschluß, gebetsartig verinnerlicht, den Choral »0 hilf Christe, Gottes Sohn«. Die Turbae, fast ausnahmslos auf vierstimmigen a cappella-Satz beschränkt, sind in einem mit vielen motivischen Imitationen versehenen motettischen Satz komponiert, wobei vom musikalischen Figurenrepertoire bzw. der Tonmalerei, wie sie der Schütz-Schüler Christoph Bernhard beschrieben hat, im Dienste der Textausdeutung reicher Gebrauch gemacht wird. Davon vermittle der Abschluß des breit ausgearbeiteten »Kreuzige«-Chors der johannespassion einen Eindruck: Beispiel 32 Johwl/I"spassion
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Hinter den Passionen des Komponisten Schütz wird stets auch der Theologe Schütz sicht- und hörbar, der Musiker, der den Bibeltext sprachhaft, und d.h. zugleich auch predigthaft gestaltet. Noch einmal verwendet Schütz in höchster Vollendung, aber schon zu einer Zeit, da neue Passionstypen erscheinen, das responsoriale Modell unter Verzicht zwar nicht auf rhetorisch-musikalische Textausdeutung, wohl aber auf oratorischmonodische Züge opernhafter Provenienz. Was Schütz, zehn bis zwanzig jahre frü-
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Abb. XXII Aus der unter Aufsicht des Komponisten angefertigten Handschrift der lohannespassion von Heinrich Schütz, Weißen fels 1665 (heute in der Herzog August Bibliothek WolfenbütteD
her, an oratorischen Elementen in den Sieben Wonen verwendet hatte, nimmt er ganz bewußt in eine ältere Tradition zurück, in eine Tradition freilich, die der Komponist mit neuer schöpferischer Kraft erfüllt und überhöht.
Anfänge der oratorischen Passion und Einflüsse pietistischer Frömmigkeit im 17 Jahrhundert
O
hne daß die älteren Passionstypen aus dem liturgischen Repertoire ganz verschwunden wären, erscheint im Laufe des 17 Jahrhunderts eine neue, im Gefolge des um 1600 in Italien erfolgten Stilwandels stehende Art der Passionsvertonung. Es ist dies die oratorische, auch als konzertant zu bezeichnende Passion, in welcher die an den Choralton anknüpfenden einstimmigen Partien ersetzt sind durch neukomponierte, sich an die alten Rezitationstöne nur noch lose anschließende oder durch völlig frei konzipierte Rezitative, die sich an den Vorbildem von Oper, Oratorium und Kantate orientieren. Immer mehr löst sich damit auch musikalisch die evangelisch-lutherische Passion von der katholischen. Während diese mit wenigen Ausnahmen als responsoriale Passion weiterbesteht, öffnet sich jene den neuen Stileinflüssen und tritt damit in eine überaus kreative Phase, die sozusagen ungebrochen bis zu den Passionen Johann Sebastian Bachs führt. Abgesehen von der Neugestaltung des Generalbaß-begleiteten Rezitativs und dem Einbezug obligater, oft konzertanter Instrumente sind es im wesentlichen drei weitere Elemente, welche die Entwicklung des oratorischen Passionstyps bestimmen: - Einfügung von evangelischen Gemeindeliedern: Über schon früher bestehende liturgische Gemeindepraktiken hinaus werden Choräle nun mehr und mehr vom Komponisten selbst an bestimmten Stellen vorgeschrieben und formal ins Gesamtwerk integriert. - Zentrales neues Element ist die Einfügung von nicht dem biblischen Passionsbericht zugehörigen Texten, die als Ariosi und Arien vertont sind. - Ausbau von Exordium und Conclusio zu kleineren oder größeren Rahmenchören. Theologie- und frömmigkeitsgeschichtlich sind die genannten Veränderungen des Stils und der Struktur von Passionen vor dem Hintergrund einer Wandlung der lutherischen Strenggläubigkeit (Orthodoxie) zu sehen. Diese Entwicklung hängt, zumindest indirekt, mit dem Aufkommen des Pietismus und später, im 18. Jahrhundert, schließlich sogar mit der Aufklärung zusammen, für die der Pietismus mit seinen betont individualisierenden Zügen als Wegbereiter gewirkt hat. Aber auch die histo-
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risch-politische Situation ist hier zu bedenken: War doch die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland vom Dreißigjährigen Krieg tief überschattet, dessen Leiden und Nöte auch auf das geistliche Leben der Bevölkerung nicht ohne Rückwirkung bleiben konnten. Vorsichtig ausgedrückt läßt sich vielleicht sagen, daß durch die leidvollen kriegerischen Ereignisse und Erfahrungen eine Bereitschaft für neue und persönlich erlebte Frömmigkeit geschaffen worden ist, die dann schließlich in den pietistischen Organisationen, den um I 670 gegründeten Collegia pietatis des Philipp Jakob Spener, theologisch fester umrissene Gestalt gewannen. Im Pietismus erscheint ein neuer und zugleich uralter Frömmigkeitstyp, der, in teilweisem Gegensatz zur lutherischen Orthodoxie, verinnerlichte und persönliche Erfahrungen vermittelt. Vorbereitet scheint er schon in Predigten und im Erbauungslied des vorangehenden 16. Jahrhunderts auf Der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts versteht sich als eine Art von Lebens- und Liebesgemeinschaft gläubig frommer Christen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die geistliche Bekehrung als Folge einer persönlichen Erfahrung der Liebe Gottes. Auf diese Weise ist der Pietismus auch durch eine Aktivierung des Laien und durch individuelle, nicht notwendigerweise an Vertreter der offiziellen Kirche gebundene Seelsorge gekennzeichnet. Die Pflege der frommen Einzelseele wird in Anlehnung sowohl an mystisches wie auch an puritanisches Gedankengut zu einer Aufgabe jedes Einzelnen. Damit verlieren nun aber zugleich der liturgisch traditionelle Gottesdienst und mit ihm auch die dort gepflegten kunstmusikalischen Formen an Bedeutung, wird doch der Beschäftigung mit dem eigenen lnnern immer größeres Gewicht zugemessen. Es ist wohl kein Zufall, wenn nun neben die reformatorischen »WirLieder« ("Wir glauben all an einen Gott«, »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«) immer häufiger »Ich-Lieder« (»Ich singe dir mit Herz und Mund«, »Wenn mich die Sünden kränken«) treten. Pointiert könnte man sagen, daß »mein Heiland« gegenüber »unserem Heiland« im 17./18. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung gewinnt: »Aus Liebe will mein Heiland sterben«. So wird auch verständlich, weshalb man zwar von pietistischen Einflüssen, nicht aber von pietistischen Passionskompositionen im Sinne von Liturgie sprechen kann. Viele der bis zu Johann Sebastian Bach erschienenen Passionstexte sind zwar von einer affekthaft persönlichen Frömmigkeit bestimmt, in ihrem Gesamtzusammenhang aber noch durchaus im Rahmen des orthodox lutherischen Gottesdienstes zu sehen. Im Gegensatz dazu sind zumindest größere Passionsaufführungen innerhalb der nicht eben kunstfreundlichen pietistischen Versammlungen nicht denkbar. Was hier zum Phänomen des Pietismus gesagt worden ist, muß als sehr vereinfachte Darstellung überaus vielschichtiger Sachverhalte verstanden werden. Insbesondere ist zu beachten, daß das Verhältnis Pietismus-lutherische Orthodoxie in den verschiedenen Teilen Deutschlands ein je eigenes gewesen ist. So wandten sich z.B. in Württemberg vor allem bürgerliche und bäuerliche Kreise dem Pietismus zu, während in Norddeutschland die pietistische Frömmigkeit vorwiegend im adeligen und gebildeten Milieu zuhause war. Dies erklärt vielleicht auch, weshalb die neuen, künstlerisch ausgearbeiteten Passionstypen oratorischer Richtung insbesondere in norddeutschen Landen zu finden sind. An einigen ausgewählten, in chronologischer Ordnung zu besprechenden Bei-
spielen soll im folgenden gezeigt werden, wie sich, zunächst noch durchaus im kirchlich-liturgischen Rahmen, die Gattung Passion auf dem Hintergrund der skizzierten geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Entwicklung allmählich gewandelt hat. Als erstes Beispiel eines zum Oratorischen neigenden, fünfundzwanzig Jahre vor Schütz komponierten Werkes ist die 1641 wohl noch im Schleswig-Holsteinischen entstandene und 1643 in Hamburg erweiterte und überarbeitete Johannespassion von Thomas Seile etwas ausführlicher zu beschreiben. Thomas Seile, wahrscheinlich Schüler des Thomaskantors Seth Calvisius, war seit Herbst 1641 Kirchenmusikdirektor in Hamburg. Wie Rudolf Gerber im Vorwort zu seiner Erstausgabe von Seiles Passion in der Fassung von 1643 feststellt, spiegelt sich in diesem Werk etwas von der Spannung "zwischen orthodox-kirchlicher Gebundenheit und frühpietistischer Gefühlsbetontheit innerhalb der evangelisch-lutherischen Glaubensgemeinschaft«. Während sich in Mitteldeutschland noch lange der Waltersche Passionstypus, der ja auch in Dresden bei Schütz nachwirkt, gehalten hat, wurde Seiles neuer Wirkungsort Hamburg zum Ausgangspunkt des neuen Passionsstils. Damit erklärt sich, weshalb der Schnittpunkt zwischen alt und neu ziemlich genau zwischen den beiden Fassungen von Seiles Johannespassion liegt. Zum stark verkürzten Bibeltext nach Johannes treten in der jüngeren Fassung drei als Intermedien bezeichnete große Stücke, deren Texte nicht dem Passionsbericht, wohl aber der biblischen Passionsthematik entnommen sind. Ebenfalls nur in der jüngeren Fassung ist die vokale Besetzung durch konzertante Instrumente (Violinen, Flöten, Cornetti, Posaunen, Gamben, Fagotte) erweitert. Im Vorwort jedoch schreibt Seile, das Werk könne durchaus auch ohne Intermedien, d.h. auf den biblischen Passionstext reduziert, und auch ohne konzertante Instrumente, d.h. als responsoriale Passion traditionell liturgischer Art aufgeführt werden. Seiles Passion besteht aus drei Teilen, die zwar nicht wörtlich, wohl aber inhaltlich Longuevals Dreiteiligkeit entsprechen: I. Teil: Sechsstimmiges Exordium ("Höret das Leiden L .. l aus dem Evangelisten Johannes«), im Wechselspiel vorgetragen von vokalen Solostimmen und instrumental verstärktem Chor; Rezitative und Turbae tragen die Erzählung von der Gefangennahme lesu bis zur Gerichtsszene vor dem Hohenpriester vor; als Abschluß folgt das erste doppe1chörige Intermedium für drei Solostimmen mit konzertanter Violine, fünfstimmigem Chor mit Instrumenten (Violinen, Fagotte) und Generalbaß. Der Text ist dem Propheten Jesaja, Kap. S3, Verse 4 und 5 entnommen: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit«. Es ist dies derselbe Text, den zwölf Jahre früher auch Demantius in einer auf die Passion folgenden Motette, d.h. hier noch außerhalb der Passion selbst, vertont hatte. 2. Teil: Dieser umfaßt die Gerichtsszenen am Hofe des Pilatus, gefolgt vom zweiten Intermedium, einer Vertonung der Verse 1-25 des klassischen Passionspsalmes 22 (»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen«). Schon Joachim a Burck hatte diesen Psalm in Musik gesetzt und mit Passio überschrieben. Der 3. Teil schließlich umfaßt die Kreuzigung in der Version des lohannes. Im Anschluß an die knappe Conclusio, "Wir glauben, lieber Herr, mehre unsern
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Glauben. Amen« folgt als Schlußchor eine Choralmotette über »0 Lamm Gottes unschuldig«; auch hier wieder mit Bezug auf ein älteres Werk, auf Scandellos Passion, in die, zumindest in einer der Quellen, dieser Choral als Gemeindelied eingeschoben ist. Was bei Scandello und anderen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts noch variable gottesdienstliche Zutat war, erscheint bei Seile nun als obligater Bestandteil des Werkes. Wie schon in der Tenorstimme des doppelchörigen Exordiums sind bei Seile die vom Generalbaß gestützten Rezitative noch an den liturgischen Passionston gebunden: c' für den Evangelisten, f für die Jesusworte und f' für die Soliloquenten: Beispiel 33a Fagott!
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Völlig neu und für die oratorische Passion bezeichnend sind die den Rezitativen nach damaliger Manier zugefügten konzertierenden Instrumente, welche der Cha· rakterisierung der entsprechenden Personen dienen: Die zwei Fagotte der Evangelistenpartie beleben den Text der Erzählung, zwei Violinen überhöhen und verklären die Worte Jesu und zwei Cornetti (kleine Crifflochhörner aus Holz) und Posaunen verdeutlichen die Macht des römischen Statthalters Pilatus, Eine musikalische Bereicherung des Textes erreicht Seile durch tonmalerisch rhetorische Figuren; so im folgenden Beispiel 33e durch den absteigenden Baßgang zu den Worten ~ff~~:
~
Beispiel 33e
a - ber - ging her - aus
und im Beispiel 33f durch die emphatische Wiederholung des Wortes "ich«: Beispiel 33f Viol.1
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Damals seltene, vom Komponisten vorgeschriebene Angaben zu Tonstärke und Tempo steigern die im Text gegebenen Affekte, so das "Forte, Presto« zur Turba "Weg, weg mit ihm«. Seiles Passion ist von ihrer Faktur her gesehen zwar ein moderneres Stück als Schützens Passionen, jedoch ebenso wie diese ein mit der reformatorischen Tradition der responsorialen Walterschen Werke noch deutlich verbundene liturgische Komposition. So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß Seile schon 1636 eine Matthäuspassion geschrieben hatte, welche unter Zufügung von zwei Violinen und Generalbaß zur Jesus- und zur Evangelistenpartie in ihren mehrstimmigen Turbasätzen auf Heinrich Grimms Fassung (1629) des Walterschen Modells zurückgegriffen hat.
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts folgen weitere Kompositionen, die sich in ihrer Anlage immer mehr auf den oratorischen Passionstyp des 18. Jahrhunderts zubewegen. Hauptmerkmal dieser Werke sind Einschübe, welche den biblischen Text kommentieren. Diese meist solistischen Zusätze nehmen innerhalb des Gesamttextes ganz bestimmte Positionen ein: bei der Verleugnung des Petrus, bei Jesu Gang nach Golgotha und beim Tod Jesu; es sind dies alles Stationen, die im Sinne meditativen Verweilens Anlaß zu persönlichen Gedanken geben. Eines der ersten Stücke, das derartige Einschübe aufweist, ist die von Johann Sebastiani, Kantor an der Königsberger Kathedrale und kurfürstlich brandenburgischer Kapellmeister, 1663 geschriebene und 1672 veröffentlichte Matthäuspassion. Neben den zwei, die Teile I und 2 (Matthäus 26 und 27) einleitenden, rein instrumentalen und als Symphoniae bezeichneten Stücke erscheinen hier sieben von einer Singstimme solistisch, mit derselben Violenbegleitung wie die Rezitative, vorzutragende Choräle, welche, mit Ausnahme eines Liedes, dem reformatorischen Repertoire (meist mit vorreformatorischer Melodie) entnommen sind: u.a. ,,0 Welt, ich muß dich lassen«, "Vater unser im Himmelreich«, ,,0 Lamm Gottes unschuldig«. Besonders bedeutungsvoll für die damalige frömmigkeitsgeschichtliche Situation ist das Lied ,,0 Traurigkeit, 0 Herzeleid«, das sich unmittelbar an das Rezitativ "Und wälzet einen großen Stein vor die Tür des Grabes, und ging davon« anschließt: Beispiel 34 "
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Die anonyme Melodie ist zum erstenmal 1628 in Mainz nachzuweisen; der um 1650 dazugekommene Text stammt vom Opitz-Schüler und Holsteinischen Pfarrer /ohann Rist (1607-1667). Besonders charakteristisch für die neue pietistische Haltung ist der Text der letzten Strophe:
o /esu, der mein Hilf und Ruh, ich bitte dich mit Tränen: Hilf, daß ich mich bis ins Grab nach dir möge sehnen. Daß hier alle Choräle von einer Solostimme vorzutragen sind, ist bezeichnend für die neue gedankliche Ausrichtung; das Titelblatt des Werkes sagt es: »zur erweckung mehrer Devotion« (s. Abb. XXIII, S. 87l. Einen Schritt weiter geht Christian Flor in seiner Matthäuspassion. Das leider nicht vollständig erhaltene Werk ist 1667 in Lüneburg, d.h. nicht allzuweit von Hamburg entstanden. Die Rezitationstöne benutzen, wie bei Seile, immer noch den traditionellen, hier allerdings um eine Terz nach unten transponierten, aber unbegleiteten Passionston. In den Turbae fallen affektive Wiederholungen gewichtiger Worte auf: »Barrabam«, »Kreuzigen«. Besonders bemerkenswert jedoch sind die eingefügten Stücke. So folgt auf die Abendmahlsszene ein kleines geistliches Konzert, d.h. ein betrachtendes Stück für Singstimme und selbständig geführten Baß mit dem im I. Kapitel des /ohannesbriefes Vers 7 stehenden Text »Das Blut /esu Christi, des Sohnes Gottes«. Acht Stücke sind, ähnlich wie bei Sebastiani, solistische GeneralbaßChoräle, wobei Flor nun aber die einzelnen Stücke mit kleinen instrumentalen Vorspielen versieht. Im folgenden Beispiel ist die affektive Steigerung des Textes durch musikalische und deklamatorische Mittel bemerkenswert: eine seufzerartig absteigende Sekundkette im instrumentalen Vorspiel und mehrfach von Pausen durchsetzte Wiederholung der Exklamation »0«, bevor dann mit Auftakt zu Takt 9 die Choralmelodie einsetzt: Beispiel 35
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Abb. XXIII
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Titelblatt der Matthäuspassion von lohannes Sebastiani, komponiert 1663, veröffentlicht in Königsberg 1672
87
Ganz neuartig bei Flor ist die Gethsemaneszene gestaltet. Zwischen die Rezitative der Verse 29-50 von Kap. 26 des Matthäusevangeliums sind jeweils nach den Worten Jesu kurze, als Symphonia bezeichnete instrumentale Zwischenspiele eingeschoben, welche den Text meditativ unterbrechen. Alle genannten Eigenheiten zeigen, daß Flors Passion als Frühform der oratorischen Passion zu bezeichnen ist Sebastianis und Flors Passionen wie auch die meisten noch zu nennenden größeren Werke sind Matthäuspassionen. Selbstverständlich wurden in der zweiten Hälfte des 17 Jahrhunderts, schon allein aus liturgischen Gründen, auch die Passionsberichte der anderen drei Evangelisten vertont. Aber es ist wohl kein Zufall, daß besonders repräsentative Werke, im Gegensatz zur Zeit vor 1650, nicht mehr den Johannes-, sondern den Matthäustext zu bevorzugen scheinen. Ist doch dieser, anders als der Johannestext, stärker auf die Leidensthematik ausgerichtet: Bei Johannes fehlt nicht nur der Text zur Einsetzung des Abendmahls, welcher hier, schon in Kap. 13, durch die Fußwaschung ersetzt ist, sondern auch die für die Komponisten des späten 17 und 18. Jahrhunderts so zentrale Gethsemaneszene (Matthäus 26, 36-46). Daß gerade Lüneburg, wo einige Jahre später auch der junge Bach vorübergehend weilte, eine Pflegestätte der Passion war, zeigt ein Flors Passion ähnliches Stück, eine Matthäuspassion des dortigen Kantors Friedrich Funcke von 1670. Dreizehn Jahre später schrieb derselbe Komponist auch eine Lukaspassion, von der allerdings nur das Textbuch erhalten ist Bemerkenswert ist, daß hier die Jesusworte, abweichend vom Evangelientext, in gereimte Verse umgesetzt sind. Damit ist nun aber schon ein Schritt von der oratorischen Passion in Richtung des nicht mehr streng liturgischen Passions-Oratorium getan. Innerhalb der immer noch liturgischen Passion folgt 1673 eine in Lübeck im Druck erschienene Mauhäuspassion von Johann Theile, während kurzer Zeit Schüler von Heinrich Schütz. Im selben Jahr, da seine Passion im Druck erschienen war, wurde er Kapellmeister (nicht Kantor!) in Gottorf (bei Schleswig), wo er seine ersten Opern oder opernähnlichen Stücke schrieb. Die Neigung zur Bühnenkomposition mag sich darin äußern, daß Theile die beiden Teile seiner Passion, im Sinne von oratorischen Szenen, mit Actus I und Actus II bezeichnet hat. Ähnlich wie bei Sebastiani sind die noch lose an den liturgischen FTon anschließenden Rezitative des Evangelisten von zwei meist in regelmäßigen Achteln verlaufenden Gamben und Baß begleitet. Davon abgehoben, vergleichbar mit Seiles Johannesund ein halbes Jahrhundert später mit Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion, sind die Jesusworte, welche von zwei Viole da braccio klanglich überhöht werden. Gegenüber den Werken anderer Komponisten sind die poetischen Einschübe auf vier reduziert. Vom frömmigkeitsgeschichtlichen Standpunkt aus gesehen ist jedoch bemerkenswert, daß es sich dabei in drei Fällen um Texte der mitbetenden und mitleidenden 6nzelseele handelt, so in dem als Aria übJerschriebenen Generalbaßlied des Petrus »Ach, wo soll ich mich hinwenden« im Anschluß an den Rezitativtext »und weinet bitterlich«:
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Beispiel 36
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Noch ganz refonnatorisch gedacht ist der als gratiarum actio, d.h. als Danksagung zu verstehende, vollstimmige Schlußchoral »Habe Dank, 0 Gottes Sohn, für dein Leiden, Spott und Hohn«. 1m Vorwort zu seinem Werk macht Theile eine für die damalige Situation des Passionsgesangs interessante Bemerkung: »Alldieweilen aber an ettlichen Orten [zurl Fastenzeit die Instrumental-Music nicht gebräuchlich, als habe hiebey fügen wollen, wie dieses Werckchen ohne Instrumenta kan gebrauchet werden, wie folget: der Evangeliste kan choraliter seinen gantzen Text also allein fort singen« (hier folgt ein Notenbeispiel mit Rezitationston g für den Evangelisten und diR für die Jesuswortel. Zu den Arien schreibt Theile: diese »sind einfältig von mir dazu gesetzt worden; ohne Instrumente können [an] deren Stelle teutsche KirchenPsalmen treten«. Damit ist Theiles Komposition chronologisch nicht nur nach vorn mit der oratorischen, sondern auch zurück mit der responsorialen Passion verbunden. Daß die Entwicklung der Gattung mehrschichtig und nicht unbedingt zielstrebig linear verlief, zeigen auch die um 1700 entstandenen Passionen von Johann Georg Kühnhausen, Kantor in Celle, und dem vielgereisten Johann Valentin Meder. So verzichtet Kühnhausen auf über das Generalbaßfundament hinausgehende Instrumente. Beibehalten ist die F-Tonart der Rezitative, die noch durchaus als freie Bearbeitungen des alten Passionston zu verstehen sind, wobei jedoch zuweilen, als modernere Elemente, Tempoangaben affektiver Art erscheinen, so z.B. Adagio beim Jesuswort »Meine Seele ist betrübt bis in den Tod« und Allegro zur JudasFrage »Was wollt ihr mir geben«. Auch tonmalerische Figuren treten auf, so im folgenden Beispiel, das auch im Hinblick auf Bachs Matthäuspassion bemerkenswert ist: Beispiel 37 ";1>
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Als durchaus liturgisches Element zu werten ist, daß alle in den Passionstext eingeschobenen Texte entweder Kirchenlieder oder Bibelzitate sind. Auffallend ist schließlich, daß das ganze Werk durch fünf Choralstrophen von »Jesu, meines Lebens Leben« gegliedert ist, ein »Ich-Lied«, dessen Text und Melodie aus der Mitte des I 7. Jahrhunderts stammt Ungefähr gleichzeitig mit Kühnhausens Werk entstand die Matthäuspassion von Valentin Meder, einem Komponisten, der über Hamburg und Kopenhagen schließlich als Kantor und Kapellmeister in die baltischen Länder nach Danzig gelangte, wo schon 1664 eine Matthäuspassion von Thomas Strutius nachzuweisen ist, welche eine Jesus-Arie enthält. Meders 1984 neuedierte Matthäuspassion steht stellvertretend für andere, leider nicht erhaltene Stücke derselben Gattung. Im Gegensatz zu Kühnhausens Komposition handelt es sich hierbei um ein ausgesprochen modemes Werk, in welchem, trotz Beibehaltung der traditionellen FTonart, die Beschäftigung des Komponisten mit der Oper zu spüren ist. So erscheint im Anschluß an Jesu Gebet im Garten Gethsemane ein dem Ombra-Typ zugehöriges Instrumentalstück mit der Überschrift Somnus discipulorum <Schlaf der Jünger); der Begriff Ombra bzw. Ombra-Szene entstand in der venezianischen Oper kurz vor der Mitte des 17. Jahrhunderts; er wurde zur Bezeichnung von Szenen düsteren Inhalts verwendet: Beispiel 38
Sinfonia Somllus discipulorum Flauto
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Tremolo
Tremolo
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Opernhaft und gegenüber Kühnhausen durch die Sechzehntel-Figur zum Wort »Hahn« gesteigert wirkt auch das folgende Rezitativ (vgl. auch Beispiel 37):
90
Beispiel 39 "
Evangelist:
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Ähnlich wie schon bei Theile, nur differenzierter im Gebrauch des musikalischen Materials, sind die Worte Jesu stets von zwei Violinen begleitet.
Die oratorisch-poetische Passion im 18. Jahrhundert
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ie bisher genannten evangelisch-protestantischen Passionen von Seile bis zu Meder haben verschiedene Arten der Texterweiterung und einen unterschiedlichen Umgang mit dem traditionellen Rezitationston gezeigt. Was jetzt noch zur großen oratorischen Passion, wie sie dann in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts bei Johann Sebastian Bach anzutreffen ist, fehlt, sind drei schon gegen Ende des vorangehenden Jahrhunderts zumindest in Ansätzen vorhandene Bemente: - von Chor und Instrumenten vorzutragende Choräle oder eigentliche Eingangsund Schlußchöre, die an die Stelle eines knappen und überschriftsartigen Exordiums und einer schlichten Conclusio treten; - Rezitative oratorien- oder sogar opernhafter Art, die vom alten Passionston ganz losgelöst sind; - große da capo-Arien und -Duette, welche durch die Mitwirkung von obligaten Instrumenten konzertanten Charakter gewinnen. Von solchen Passionen schreibt der berühmte Musiktheoretiker und Komponist Johann Mattheson in seinem großen Traktat Der vollkommene Capellmeister (1739), daß sie nach oratorischer Weise »poetisch«, d.h. »nach der rechten oratorischen Weise« abgefaßt seien. So gesehen könnte man diesen ausgewachsenen Typus der oratorischen Passion auch als poetische Passion bezeichnen. Zu den unmittelbar vorbachschen Werken dieser Art gehören vor allem zwei bedeutende, in letzter Zeit auch durch Einspielungen wieder bekannt gewordene Stücke: eine irrtümlich Händel zugeschriebene Johannespassion und die von Johann Sebastian Bach teilweise eigenhändig kopierte Markuspassion des Hamburger Opernkomponisten Reinhard
91
92
Keiser. Wenn auch hier nur auf diese zwei Werke eingegangen wird, so darf darüber nicht vergessen werden, daß die Produktion von Passionen für den liturgischen Gebrauch, seien diese konservativer oder fortschrittlicher Art, im ausgehenden 17. und frühen 18. jahrhundert ungemein reich gewesen sein muß. Sind doch aus der Zeit von 1676 bis 1721 mindestens sechsundvierzig Textbücher zu oratorischen Passionen erhalten, deren Komponisten unbekannt geblieben sind, und johann Philipp Krieger, Kapellmeister am Sächsischen Hof, soll zwischen 1685 und 1722 nicht weniger als dreizehn, bis heute leider verschollene Passionen geschrieben haben. Wie umfangreich das Repertoire mitteldeutscher, mehr konservativ orientierter Werke gewesen sein muß, darüber orientiert die Arbeit von Werner Braun, Die mitteldeutsche Choralpassion im 18. Jahrhundert. Die oft immer noch Händel zugeschriebene johannespassion von angeblich 1704 ist, wie Hans joachim Marx nachgewiesen hat, sicherlich nicht Händels Werk. Sie ist vielmehr mit großer Wahrscheinlichkeit eine um 1700 nach Texten von Heinrich Postel geschriebene Passion von Christian Ritter, Hofkapellmeister in Halle, Dresden, Stockholm und ab 1700 in Hamburg tätig. Die offenbar unvollständig überlieferte Passion, die in der erhaltenen Abschrift nicht wie üblich mit Kap. 18 des johannestextes, sondern erst mit Kap. 19, d.h. mit der Geißelung jesu am Hofe des Pilatus beginnt, dort also, wo üblicherweise der zweite, auf die Predigt folgende Teil der Passion einsetzt, enthält keine Choräle, wohl aber einen Schlußchor, der sowohl textlich wie auch musikalisch auf Bachs vorletztes Stück von dessen johannespassion »Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine« vorausweist (s. Beispiel 40, S. 93). Ohne damit behaupten zu wollen, daß Bach das Rittersche Werk gekannt hätte, darf man doch sagen, daß sowohl das musikalische Material als auch das ästhetische Klima der beiden Chorstücke einander nicht unähnlich sind. Ein anderes Beispiel mag zugleich Ähnlichkeit und Verschiedenheit der beiden Kompositionen zeigen (s. Beispiel 41, S. 94). Beiden Stücken gemeinsam ist das im barocken Figurenmaterial begründete absteigende Motiv zu den Worten »Es ist vollbracht«. Was aber bei Ritter in einem Accompagnato-Rezitativ mit mehrfacher Wortwiederholung etwas manieristisch gestaltet ist, wird von Bach auf Rezitativ und Arie aufgeteilt. Dadurch bleibt der Bibeltext in seiner ganzen Kargheit im Rezitativ streng bewahrt und erst anschließend in der Arie auskomponiert. Chronologisch näher bei Bach steht Keisers 1720, vielleicht aber schon 1717, d.h. nur wenige jahre vor Bachs johannespassion (1724) komponierte Markuspassion. Nicht nur, daß Bach das Werk mit Sicherheit gekannt und studiert hat, auch biographisch gibt es zwischen den bei den Werken, bzw. deren Komponisten, indirekte Bezüge: Elf jahre älter als Bach, in Weißenfels, nicht allzuweit von Leipzig entfernt geboren, besuchte Keiser die Thomasschule. Damit stand er seiner Herkunft nach zunächst noch in der mitteldeutschen Kantorentradition, um sich dann freilich schon bald in Braunschweig und Hamburg der Opernkomposition zuzuwenden. Sein damaliger Librettist war ebenderselbe Postel, der auch die poetischen Texte zu Ritters johannespassion verfaßt hatte. Keisers Markuspassion ist zweifellos für gottesdienstlichen Gebrauch geschrie-
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93
Beispiel 41 a Ritter
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jeweils ein enger Zusammenhang zwischen Rezitativ- und Arientext, so z.B. die Arie »0 süßes Kreuz« im Anschluß an das Rezitativ "L . .l daß er ihm das Kreuz nachtrüge«. Die Rezitative haben bei Keiser gegenüber Ritter an Prägnanz gewonnen und sich zudem deutlich dem Oratoriums- und Opemrezitativ angenähert. Wie schon bei Seile und Theile sind die Jesusworte stets von Streichern begleitet. Im folgenden Beispiel ist die Nähe zu Bach unüberhörbar; es ist ein Ausschnitt aus der Gethsemane-Szene, wie sie vom Evangelisten Markus erzählt und von Matthäus übernommen worden ist, ein Beispiel, das nicht nur zu Bach, sondern auch rückwärts auf Meder weist (vgl. auch Beispiel 38): Beispiel 42a Keiser
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Von Keiser aus müßte eine Geschichte der Passion unmittelbar zur Darstellung von Johann Sebastian Bachs Passionen weiter geführt werden. Doch ist zuvor, um Bachs Stellung deutlicher hervortreten zu lassen, ein Blick auf das Passionsoratorium des frühen 18. Jahrhunderts und auf die Passionskomposition von Bachs bedeutendem Zeitgenossen Georg Philipp Telemann sowie von Bachs Sohn earl Philipp Emanuel zu werfen. Erst von hier aus ist dann zu Johann Sebastian Bachs Passionen in einem besonderen Kapitel zurückzukehren. Auf diese Weise soll gezeigt werden, daß zwar keineswegs alle Wege zielgerichtet auf den großen Meister hinführen, daß aber Bachs Passionen ohne die ihnen vorangegangenen theologischen, liturgischen und musikalischen Traditionen nicht denkbar sind. Zu bedenken ist aber auch, daß, rückschauend auf die Rezeptionsgeschichte, die Johannesund die Matthäuspassion des Thomaskantors, nachdem sie fast hundert Jahre vergessen waren, vom zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als überragende Monumente abendländischer Musik alle anderen Passionskompositionen in den Hintergrund gedrängt haben. Dabei wurde vielfach vergessen, daß auch Bachs Passionen, trotz ihres außergewöhnlichen Umfangs, liturgische, für den Gottesdienst bestimmte Werke sind.
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Von der Kirche zur Schaubühne: Die Anfänge des protestantischen Passionsoratoriums
D
en entscheidenden Bruch mit der liturgischen Passion brachte ein rasch schulemachendes Passionslibretto, das 1704 von Reinhard Keiser vertont und ein Jahr später in Hamburg zur Vesperzeit am Montag und Mittwoch der Karwoche erstmals aufgeführt worden ist: Der blutige und sterbende Heiland. Der Text stammt vom Hamburger Dichter Christian Friedrich Hunold, bekannt unter dem Pseudonym Menantes. Die Aufführung auf einer Schaubühne in der Kirche erweckte den Protest der kirchlichen Behörden; das Werk hätte »die Zuhörer und Zuschauer mehr geärgert, als erbaut«; obwohl der Autor, wie er im Vorwort bemerkt, »gemeinet, dieses Leiden Uesul L. .l bey dieser heiligen Zeit nachdrücklicher vorzustellen, wenn man es durchaus in Versen und sonder [d.h. ohnel Evangelisten gleich wie die ltaliänische so genannte Oratorien abfaßte«. Es handelt sich bei diesem Werk um das erste große deutsche Passionsoratorium, in welchem, wie es im Vorwort heißt, die Evangelistenpartie ganz aufgegeben ist und auch Choräle fehlen. Der Bibeltext erscheint bloß noch als eine Art von Erläuterung für den Leser oder als szenische Anmerkung, z.B. »Jesu schweigt«. Textlich besteht dieses Passionsoratorium aus einem Wechsel von Rezitativen, Arien und Duetten, die verschiedenen, im Evangelientext nicht vorkommenden Personen
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18. Jahrhundert zu Recht schreibt, steht im Vordergrund von kirchlichen Kantatenund Passionstexten die betrachtende Auslegung biblischer Texte und nicht, wie bei Menantes und in den auf ihn foigenden Passionsoratorien, die dramatische Handlung. Der berühmteste und am meisten vertonte Passionstext nicht liturgischer Art stammt vom Hamburger Dichter Heinrich Brackes: Der für die Sünden der V\4;>Jt gemarterte und sterbende Jesus. Dieser Text wurde von nicht weniger als sechs bekannten Komponisten vertont, zuerst von Keiser (1714), dann von Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Johann Mattheson und Gottfried Heinrich Stöizl, zuletzt noch 1750 von Johann Friedrich Fasch. Auch Johann Sebastian Bach hat einige Texte der Brackes-Passion in seine Johannespassion aufgenommen, so Z.B. das Arioso »Betrachte meine Seele«. Obwohl Brackes' Dichtung, im Gegensatz zu der von Hunold-Menantes, wieder zum Bibeltext zurückkehrt, diesen allerdings in gereimte Verse versetzt, und auch Choräle enthält, stieß das Werk bei den kirchlichen Behörden auf Ablehnung. Daß die Brackes-Passion zu ihrer Zeit eher als Oratorium denn als kirchlich-oratorische Passion verstanden wurde, geht auch daraus hervor, daß zur Aufführung der Passion mit Telemanns Musik von 1716 in einem Frankfurter Konzertsaal Eintrittsgeld erhoben und Textbücher verkauft wurden. Mit seiner engen Bibelbezogenheit steht die Brackes-Passion zwischen oratorischer Passion und Passionsoratorium und ist, um hier den Begriff Matthesons besonders sinnvoll zu verwenden, als poetische Passion zu bezeichnen: »In Neben-Kirchen sind die Passionen poetisch abgefaßt, und nach der rechten oratorischen Weise.« Von Brackes' Passion, von wem auch immer komponiert, ist bekannt, daß sie in Hamburger Nebenkirchen aufgeführt wurde mit dem Ziel, »andächtige Frömmigkeit zu erwecken«. Das folgende Beispiel soll einen Eindruck von Händels Vertonung des Brackeschen Textes vermitteln: Beispiel 43 '~
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Hamburger Passionen des Spätbarock
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is ins späte 18. Jahrhundert hinein blieb die oratorische Passion, wie sie in Keisers Markuspassion vorliegt, als kirchenmusikalisches Werk in Hamburg erhalten. Es war Georg Philipp Telemann, der als Leiter der Musik an den fünf Hauptkirchen Hamburgs diese Tradition während mehr als vierzig Jahren aufrecht erhalten hat. Für die Karwochengottesdienste schrieb er (nach Hans Hörner) zwischen 1722 und 1767 sechsundvierzig Passionen, von denen noch dreiundzwanzig nachzuweisen sind und eine davon, die Johannespassion von 1745, sogar zu Lebzeiten des Komponisten im Druck erschienen ist. Charakteristisch für Telemanns Passionen ist, daß, wie schon bei Brackes, neben den traditionell biblischen Soliloquenten und den Turbae zuweilen weitere Figuren und Stimmen auftreten, so z.B. in der Markuspassion von 1759 nicht nur die Tochter Zion, sondern auch der Sünder und sogar die Stimme Gottes, welche nach Jesu Tod Versöhnung verkündet. Von besonderem Interesse ist die Johannespassion von 1745, deren Arien- und Ariosotexte von Joachim Johann Daniel Zimmermann, Archidiakon an der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen, stammen und dessen theologische Anschauungen denen Telemanns vermutlich nahestanden. Dichter und Komponist waren
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keine radikalen Orthodoxen, sie pflegten Kontakte mit aufklärerischen Kreisen und standen damit in einer damals weit verbreiteten Spannung zwischen alter und neuer Religiosität und Frömmigkeit: Der liturgische Text der Rezitative und Turbae verbindet sich mit gefühlsbetonten, dem pietistisch-aufklärerischen Gedankengut nahestehenden Arien und Ariosi. Im Sinne gottesdienstlicher Einbindung bilden Choräle gewöhnlich Anfang und Schluß von Telemanns Passionen. Auf eine aufklärerische, schon von Zeitgenossen kritisch betrachtete Stelle machte Wolfgang Hirschmann aufmerksam: Nach dem Rezitativ "und neigete das Haupt und verschied« folgt ein an dieser Stelle zunächst schockierender, theologisch aber im Hinblick auf Ostern zu verstehender munterer Chor im 6/8-Takt mit folgender simpler Melodie: Beispiel 44
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Er - lö - ser,
du
hast es voll-bracht, du
hast es voll-bracht,
Solch liedhaft natürliche Art der Melodiebildung ist Merkmal einer Musik, die vom Geiste der Aufklärung berührt ist und sogar innerhalb der ja keineswegs heiteren Thematik der Passion nicht ganz vergessen lassen soll, daß der gesellschaftliche Endzweck von Kunst und Musik darin besteht, ästhetisches Vergnügen zu bereiten. In ähnlicher Art komponiert ist die folgende Arie aus Telemanns Lukaspassion von 1744: Beispiel 45
Wie sich ein winz' -ges Lüft-chen regt, wie sich ein Blatt des Baums be-wegt,
so
zit - tertund be - bet ein bö - ses Ge-wis - sen,ein bö
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fj .h I)'g:J •
ses Ge -
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Der übermäßige Sekundschritt auf der Wiederholung des Wortes "böses« ist als barocke rhetorische Figur ("böses« Intervall für "böse«) zu verstehen. Insgesamt also erweist sich Telemann als zwischen Barock und Aufklärung stehender Komponist. Telemanns Nachfolger in Hamburg und zugleich sein Patenkind war Johann Sebastian Bachs Sohn, der zu seiner Zeit hochberühmte Carl Philipp Emanuel Bach. Im Anschluß an seinen Vorgänger hat er von 1768-1788 für jedes Jahr eine gottesdienstliche Passion geschrieben. Wenn auch fast alles musikalische Material heute verloren ist, so läßt sich doch anhand des von Everett Eugene Helm zusammenge-
stellten Werkkataloges nachweisen, daß in allen diesen Werken nur die Vertonungen der lyrischen nichtbiblischen Texte von Bach selbst stammen. Für eine seiner Matthäuspassionen benutzte er für Turbae und Choräle Tonsätze seines Vaters, für andere Passionen Turbae und Rezitative von Telemann. Dieses collageartige Verfahren zeigt mit aller Deutlichkeit, daß die gottesdienstlich-oratorische Passion an ein Ende gelangt war. Das Interesse an geistlicher Musik verschob sich von der liturgischen Komposition zur freien religiösen Kunst des Oratoriums. Vor einigen Jahren glaubte man, eine vollständige Passion von Carl Philipp Emanuel Bach aufgefunden zu haben: eine oratorische Markuspassion mit Chorälen, irregulär in vier statt in zwei Teile unterteilt. Die Zuweisung an Bach ist jedoch mehr als problematisch. Als Autor kommt möglicherweise der im Magdeburger Bezirk wirkende Johann Friedrich Fasch in Frage, der das Werk in der Schloßkirche von Zerbst an vier aufeinanderfolgenden gottesdienstlichen Feiern zur Aufführung gebracht haben dürfte.
Bürgerliche Passionsfrömmigkeit
U
m sich ein Bild von den überaus bedeutsamen Wandlungen der bürgerlichen Passionsfrömmigkeit um die Mitte des 18. Jahrhunderts machen zu können, ist das zu seiner Zeit nach der Brackes-Passion berühmteste Passionslibretto Der Tod Jesu von Carl Wilhelm Ramler und dessen Vertonung durch Carl Heinrich Graun, dem damaligen "Lieblingssänger der Nation« (so Friedrich Reichardt 1779), kurz zu betrachten. Das als "Passions Cantate« bezeichnete Stück wurde am 26. März 1755 in der Berliner Oper uraufgeführt. Die Wirkung des Stückes kann nur mit derjenigen des Händelschen Messias in England verglichen werden. Wenn auch andere Komponisten wie Telemann und Johann Christoph Bach denselben Text vertonten, so war es doch Grauns Musik, die sich durchsetzte und bis 1884 (!) alljährlich am Karfreitag in Berlin zu hören war. Dies ist um so bemerkenswerter, als bald nach 1755, zunächst mit Ausnahme von Hamburg, die Aufführungen oratorischer Passionen zurückgingen und bald ganz verschwanden. Der Text des mit Gotthold Ephraim Lessing befreundeten Ramler basiert auf der biblischen Passionsgeschichte, trägt aber deutliche Züge der keineswegs antireligiösen deutschen Aufklärung im Sinne einer Verwirklichung des Natürlichen und einer undogmatischen Freiheit auch in der Religion. So wird Jesus in Ramlers Dichtung in der mit Largo überschriebenen und als Accompagnato-Rezitativ vertonten Gethsemaneszene als "Bester aller Menschenkinder« bezeichnet. Sehr typisch für eine solche Haltung ist auch der mit dem Gekreuzigten in Verbindung gebrachte Begriff der Tugend: "An seiner Tugend kennt ihr ihn«, und deshalb, so heißt es weiter: "Schmach, Folter, Todesangst vergiß er.« Einige Jahrzehnte später
I0 I
ist derselbe Gedanke vom Theologen und Philosophen Friedlich Schleiermacher weitergeführt worden: »Indem er [jesusl hier und dort [vom Kreuz ausl einzelne von den Seinigen erblickte, freute er sich auch, daß es ihm gelungen war, diesen ihre Freiheit zu erhalten.« Gleich zu Beginn von Grauns Werk steht zwar ein Choral mit der bekannten Melodie ,,0 Haupt voll Blut und Wunden«, doch der Text lautet anders, er richtet sich an die "Verfolger seiner Seele« und schließt mit der Frage »Habt ihr ihn schon erwürgt?«. Damit wird der hier musikalisch schlichte, harmonisch völlig spannungslose Choral zum frommen Signet für eine fromme Geschichte. Von Grauns Tod Jesu nahmen die Passionsoratorien des späten 18. und 19. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt, und so ist es auch zu erklären, weshalb der bekannte Musikschriftsteller Johann Friedlich Rochlitz in seinen 1824-1832 erschienenen Aufsätzen auch Johann Sebastian Bachs Passionen als Oratorien bezeichnet hat.
Johann Sebastian Bachs für den Gottesdienst bestimmte Passionen
D
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aß johann Sebastian Bachs Passionen, von denen die johannes- und Matthäuspassion vollständig erhalten sind, sowohl kompositorisch wie auch rezeptionsgeschichtlich allerhöchste Bedeutung zukommt, ist unbestritten. Im Rahmen einer Geschichte der Passion kann es aber nicht um ohnehin unzweifelhafte künstlerische Qualifikationen und auch nicht um analytische Gestaltanalysen gehen, sondern vielmehr darum, den Standort von Bachs Passionen innerhalb der Gattung, im besonderen der Gattung Oratorische Passion zu bestimmen, was im vorliegenden Fall heißen muß, diese Stücke als betont gottesdienstlich-liturgische Werke in ihrem Zusammenhang mit der theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Situation in Deutschland um 1720/1730 und insbesondere im damaligen, noch der lutherischen Orthodoxie verpflichteten Leipzig zu sehen. Für Einzeldarstellungen von Bachs zwei großen Passionen sei auf die neuesten, durchaus leserfreundlichen Publikationen von Alfred Dürr für die johannespassion und von Emil Platen für die Matthäuspassion verwiesen. Für die Beurteilung von Bachs Passionen ist es von Bedeutung zu wissen, daß in Leipzig, anders als in Hamburg, bis 1720 ausschließlich das schlichte vororatorisch responsoriale, d.h. das sich auf den Bibeltext beschränkende, mit der lutherischorthodoxen Tradition zusammengehörende Waltersche Modell Verwendung gefunden hat, so z.B. in einer Überarbeitung des an der Leipziger Kirche St. Nicolai tätigen Kantors Gottfried Vopelius. Erst zwei Jahre vor Bachs Amtsantritt in Leipzig hatte, unter dem Einfluß der italienischen Kantate, die oratorische Passion neuen
Stils in den dortigen Kirchen Einzug gehalten: Für die Karfreitagsvesper des Jahres 1721 schrieb johann Kuhnau, Bachs unmittelbarer Vorgänger als Thomaskantor und Director musices an den Leipziger Hauptkirchen, eine oratorische Markuspassion. Philipp Spitta, der das heute verlorene Werk noch gekannt hat, berichtet, daß neben Rezitativen und Arien zwanzig vierstimmige Choräle gestanden haben, eine Zahl, die wesentlich höher ist als die in den zeitgenössischen Hamburger Passionen und die damit auf die Bedeutung des Chorals in Bachs Passionen vorausweist. Daß Bach sich aber auch mit der hamburgischen Tradition auseinandergesetzt hat, zeigt sein schon oben erwähntes Interesse an Keisers Markuspassion. Wenn man dem Bach-Nekrolog Lorenz Mizlers folgen will, so hätte Bach fünf Passionen geschrieben, von denen drei sicherlich echt sind: johannes-, Matthäusund Markuspassion. Eine für den Karfreitag 1730 bestimmte Lukaspassion ist nachgewiesenermaßen nicht von Bach, und von der Markuspassion, die am Karfreitag 1731 aufgeführt worden ist, sind der von Picander, dem Librettisten der Matthäuspassion, stammende Text und einige aus anderen Werken Bachs rekonstruierbare Musiknummem erhalten. Auch hier fallt die große Zahl von sechzehn Chorälen auf. Neuerdings ist das Werk in einer Rekonstruktion von Otto Büsing in Verbindung mit dem von Walter jens neu übertragenen Bibeltext nach Markus erschienen. Wenn der Nekrolog nun gar von fünf Passionen spricht, so könnte neben den vier genannten Werken vielleicht auch Bachs Kopie von Keisers Passion oder aber auch eine bis heute verlorene Passionsmusik al1S der späten Weimarer oder Köthener Zeit (etwa zwischen 1714 und 1722), möglicherweise ein Passionsoratorium, gemeint sein. Ohne weiter auf Einzelheiten einzugehen, sind den folgenden Betrachtungen von Bachs zwei vollständig erhaltenen Passionen einige kurz zu kommentierende Daten voranzustellen, welche zeigen sollen, daß diese für den Komponisten selbst zentralen und auch in ihrem Umfang außergewöhnlichen Werke immer wieder Umarbeitungen unterzogen worden sind.
Johannespassion Von diesem Werk gibt es vier Fassungen: 1724, 1725, 1728 (oder 1732) und 1749. Die erste Fassung wurde im Vespergottesdienst des Karfreitags 1724 in einer der Leipziger Hauptkirchen erstmals aufgeführt. Vor und nach der wie üblich in zwei Teile gegliederten Passion (mit Predigt zwischen den beiden Teilen) sang die Gemeinde Choräle, welche besonders gut die Kontinuität der deutschen Passionstradition zu demonstrieren vermögen: Vor dem ersten Passionsteil war es das bis auf die Passionsharmonien des 16. jahrhunderts zurückweisende Lied der sieben Kreuzesworte »Da jesus an dem Kreuze stund«; nach dem Schluß des zweiten Teils erklang das schon im 17. Jahrhundert als mehr oder weniger fester Bestandteil von Passionsgottesdiensten geltende ,,0 Traurigkeit, 0 Herzeleid«. Die zweite Fassung der johannespassion von 1725 bringt gegenüber der ersten wesentliche Ände-
103
rungen, so vor allem den Ersatz des eröffnenden Chores »Herr, unser Herrscher« durch den später in der zweiten Fassung der Matthäuspassion stehenden figurierten Choral ,,0 Mensch, bewein dein Sünde groß", ein Satz, der möglicherweise schon aus Bachs Weimarer Zeit stammt. Die dritte und vierte Fassung gehen im wesentlichen wieder auf die erste zurück, wobei Bach bis zuletzt, d.h. bis ein Jahr vor seinem Tod, immer wieder kleinere Änderungen, vor allem auch an der Instrumentation, angebracht hat. Das Gerüst für die Johannespassion - bedeutsam für Bachs Theologie und Frömmigkeit - bilden Bibeltexte und Choräle. Ob er selbst, u.a. auf Brockes' Passionsdichtung zurückgreifend, an der Textzusammenstellung beteiligt war, ist umstritten.
Matthäuspassion Während die Johannespassion ein von Bach immer wieder überarbeitetes Werk, gewissermaßen ein work in progress, darstellt, ist die Matthäuspassion mit ihren zwei Fassungen als formal und harmonisch in sich geschlossener Komplex zu verstehen. Die erste Fassung wurde erstmals in der Karfreitagsvesper des Jahres 1729 oder vielleicht schon 1727 aufgeführt; die zweite erklang 1736, wobei die auffälligste Neuerung der zweiten Version darin besteht, daß der schlichte Choralsatz »Jesum laß ich nicht von mir« am Ende des ersten Teils durch die große, aus der zweiten Fassung der Johannespassion übernommene Choralbearbeitung von ,,0 Mensch, bewein dein Sünde groß« ersetzt ist. Auch textlich bildet die Matthäuspassion, im Gegensatz zur Johannespassion, eine Einheit, geschaffen vom Dichter Christian Friedrich Henrici (genannt Picander; s. Abb. XXIV, S. 105). Wie Elke Axmacher gezeigt hat, geht fast die Hälfte der frei gedichteten Texte auf Passionspredigten des Rostocker Pastors und Superintendenten Heinrich Müller zurück. Veröffentlicht wurden diese schon 1688 in Frankfurt, in 5. Auflage noch 1720. In Bachs Bibliothek waren Müllers theologische Schriften und Predigten reichlich vertreten; und so ist es nicht ausgeschlossen, daß Picander von Bach auf die die Passion betreffenden Texte aufmerksam gemacht worden ist. Hier zwei vergleichende Beispiele:
104
Müller I. Am Abend / da der Tag kühle worden war / kam die Sünde der Menschen erstlich ans Licht / am Abend nimmt sie Christus wieder mit sich ins Grab / daß ihr nicht mehr gedacht werde. Um die Vesper-Zeit karn das Taublein Noah zum Kasten / [... 1
Am Abend kam die Taube wieder, Und trug ein Oel-Blatt in dem Munde.
2. Er hat alles wohl gemacht / die Blinden macht er sehend.
Er hat uns allen wohlgethan, Den Blinden gab er das Gesicht,
Am Abend da es kühle war, Ward Adams Fallen offenbar, Am Abend drücket ihn der Heyland nieder.
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D.C.po.
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Abb, XXIV Aus dem Erstdruck von Henricis (Picandersl Textbuch zu Bachs Matthäuspassion
Frömmigkeits- und theologiegeschichtlich von besonderem Interesse ist, daß sich Müllers Predigten in streng lutherischer Tradition bewegen, sich in vielem sogar auf die reformatorischen Schriften von Luthers Freund Bugenhagen stützen und damit durchaus orthodoxes Gut vermitteln, daß demgegenüber in Picanders Texten aber gewisse Schwerpunktverschiebungen in Richtung pietistisch-aufklärerischer und vermenschlichender Bibeltextvermittlung stattgefunden haben. Texte wie z.B. die am Anfang des zweiten Teils der Matthäuspassion erscheinende Arie »Geduld, Geduld, wenn mich die falschen Zeugen stechen« oder, im Schlußchor, der eigenartige Text vom »ängstlichen Gewissen« als einem >,bequemen Ruhekissen und der Seelen Ruhestatt« zeigen, daß hier ein neues Passionsverständnis sich anbahnt. Bachs besondere Leistung, ganz abgesehen von seiner alle anderen überragenden Größe als Komponist, besteht geistes- und frömmigkeitsgeschichtlich darin, daß er in seinen Passionen dem Bibeltext im Sinne lutherisch-orthodoxen Gedankengutes ein für seine Zeit keineswegs mehr selbstverständliches Gewicht zugemessen hat, das sich, symbolisch sichtbar, darin äußert, daß er den biblischen Rezitativtext in der Matthäuspassion mit roter Tinte notiert hat (s. Abb. XXI, S.72). Daß mit solcher Hervorhebung des Evangelientextes ein biblizistischer Zug erkennbar wird, liegt durchaus auf der Linie damaliger Bibelkommentare, die jedes einzelne Bibelwort als unmittelbar göttliche Offenbarung verstanden haben wollten. Von da her erklären sich auch zahlensymbolische Phänomene, die allerdings
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nicht überbewertet werden sollten. Als wohl über alle Zweifel erhabenes Beispiel sei die Abendmahlsszene der Matthäuspassion genannt, wo die Worte »Herr, bin ich's?« elf- und nicht zwölfmal gesprochen werden: Der unmittelbar betroffene Judas stellt die Frage »Herr, bin ich's?« nicht. Mit dieser Eigenart steht Bach in einer langen Tradition, die mindestens bis zu Johann Theile zurückzuverfolgen ist. Daß theologisches Denken sich in Bachs Musik in musikalische Strukturen umgesetzt hat, darüber kann kein Zweifel bestehen, Zu Recht hat Friedhelm Krummacher festgestellt, daß Bach in seinen Kantaten und Passionen »die definitive Lösung der Aufgabe gelang, welche schon Generationen zuvor beschäftigt hatte, nämlich die Verbindung einheitlicher Satzgestaltung mit der Verarbeitung des Chorals in seiner zeilenweise wechselnden Melodik und den versweise wechselnden textlichen Bildern«. Von zentraler Bedeutung für Bachs Passionen ist die dominierende Rolle, die der evangelische Choral sowohl als Einzelstück als auch in den großen Chorkompositionen und zuweilen sogar kombiniert mit Arien spielt. Damit ist die zwar nicht real, aber doch innerlich mitsingende Gemeinde angesprochen. Als repräsentatives Beispiel sei die schon erwähnte, sowohl in der zweiten Fassung der Johannespassion als auch in der Version 1736 der Matthäuspassion erscheinende Choralbearbeitung von »0 Mensch, bewein dein Sünde groß« etwas eingehender besprochen. Hier zunächst der Text:
o Mensch, bewein dein Sünde groß, darum Christus seins Vaters Schoß äußert und kam auf Erden; von einer Jungfrau rein und zart für uns er hie geboren ward, er wollt der Mittler werden. Den Toten er das Leben gab und legt darbei all Krankheit ab, bis sich die Zeit herd range, daß er für uns geopfert würd, trüg unsrer Sünden schwere Bürd wohl an dem Kreuze lange. Mit Bezug auf die musikalische Textverarbeitung läßt sich die Form des Stückes wie folgt darstellen: Orchester
Einleitung AI
lw.spiel A2
lw.spiel
17T
2T
7T
lw.spiel
C
4T
Choralverse
1-3
4-6
7-11
12
Textinhalt
Mensch
Weihnacht
Leben
Sünde
Opfer
Kreuz
Sünde
106
B
1m Orchester erklingen durch das ganze Stück hindurch, gewissermaßen als gesamtthematischer Hintergrund, Klage- und Beweinungsfiguren, die den Grund-
affekt des Stückes bestimmen und die in den ersten 17 Takten als instrumentales Vorspiel erscheinen:
Daß den in Terzen und Sexten geführten Flöten- bzw. Oboenmotiven textbezogene Bedeutung im Sinne von Klage und Kreuz zukommt, ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Rezitativ »Ja freilich will in uns das Fleisch und Blut zum Kreuz gezwungen sein«, wo ebenfalls zwei Flöten in Terz- und Sextparallelen erklingen: Beispiel 47
• Ja, frei-lieh will in
uns das Fleisch und Blut
zum Kreuz
Menschliche Sünde und Kreuz gehören - durchaus im Sinne lutherischer Theologie - in beiden Stücken zusammen. Formal folgt Bachs Stück dem zugrundeliegenden Choral, dessen zwölf Zeilen in 3+3+6 Verse gegliedert sind. Besonders hervorgehoben durch ein viertaktiges Zwischenspiel wird überdies die letzte, auf das zentrale Thema der Passion, auf das Kreuz hinweisende Choralzeile »wohl an dem Kreuze lange«. Der Vokalpart gliedert sich in zwei Schichten: in den die traditionelle Choralmelodie aus dem Jahr 1525 nur leicht verzierenden Sopran Beispiel 48"
la o
Mensch be
wein
dein
Sün -
af·
de ..... groß; _ _
und in die übrigen drei tieferen Stimmen, welche den Choraltext in überaus kunstvoller Weise mittels bestimmter musikalischer Figuren interpretieren; so wird
107
in der ersten Zeile das Wort »bewein« im Baß wiederholt und durch Klagemotive und Pausen verdeutlicht: Beispiel 48b
'I be -
be - wein,
wein,
p
le S L::!
0
Mensch,
be
-
I~p wein
In der dritten Zeile erscheint im Baß zu den Worten »und kam auf Erden« eine über eine Dezime sich erstreckende, das Absteigen auf Erden zum Ausdruck bringende, von oben nach unten führende Skalenfigur: Beispiel 49a
"'): ,jlU;
P äu -
qo ßeTt
gp und
le r ( J F] J kam_
auf_
Er
Ir den.
Sehr bezeichnend ist, daß in der vierten Choralzeile, obgleich diese melodisch mit der ersten Zeile identisch ist, die Beweinungsmotive in den Unterstimmen fehlen, weil hier im Text nicht von Beweinen, sondern von Weihnachten die Rede ist: ,,von einer Jungfrau rein und zart«. Die zu Notenbeispiel 48b analoge Zeile heißt nun im Baß: Beispiel 49b
'): #11 11 ,
P p D von
ei - ner
IGJ Fl Er Jung
frau_
rein_
J und
13 zart,
Schließlich sei auf die letzte Choralzeile »wohl an dem Kreuze lange« hingewiesen. Im Gegensatz zu allen übrigen Versen setzt die Choralmelodie des Soprans erst drei Takte nach den Unterstimmen ein. Der musikalische Kommentarcharakter der tieferen Stimmen tritt damit besonders deutlich hervor: klagender Halbtonschritt verbunden mit einem expressiven suspirium, d.h. einer ausdrucksvollen Pause in Alt und Tenor sowie auffällige Oktavsprünge mit anschließend absteigender und dann unvermittelt um eine Septime hinaufspringender Melodielinie im Baß auf das Wort »lange«: Beispiel 50
ge,
108
Das Intervall der Oktave weist auf die allumfassende Bedeutung des Kreuzes; die ab-, auf- und wieder absteigende Melodielinie des Basses in den Takten 2 und 3 ist als sogenannter Chiasmus, d.h. als ein die Kreuzform nachbildendes Zeichen zu verstehen.
Theologische Aspekte An diesem den ersten Teil der Matthäuspassion beschließenden Stück wird deutlich, wie Bach das traditionelle, im Choral zur Sprache kommende Gemeindebewußtsein mit figural bedeutenden und den Text predigthaft explizierenden Elementen verbindet. Hierbei sind die den Text interpretierenden Motive der Unterstimmen in zweifacher Richtung zu verstehen: einmal als Ausdruck einer im Luthertum begründeten und auch für Bach gültigen, ja zentralen Kreuzestheologie und andererseits als affektive Werte, die zumindest teilweise vom Gedankengut des Pietismus gespeist sein dürften. Ein weiteres Beispiel, das mit seinem als eine Art Meditation über Jesu Tod zu verstehenden Dialog zwischen Solostimme und Choral sowohl theologisch als auch musikiilisch als eines der zentralen Stücke in Bachs Johannespassion zu bezeichnen ist: die Baßarie »Mein teurer Heiland laß dich fragen«, die vom vierstimmigen Choral »Jesu, der du warest tot« kontrapunktiert wird. Ohne den Choral würde man von der Musik her an den eigenartig gelösten und säkularen Ton der oben in Beispiel 45 (S. 100) zitierten Gethsemane-Arie Telemanns erinnert; der 12/8-Takt des Adagios, als viermal drei Achtel gelesen, kann als eine Art von Menuett gedeutet und damit als Hinweis auf den Text des Auferstehungs-Chorals »Jesu, der du warest tot, lebest nun ohn' Ende« verstanden werden: Beispiel 51 :\
'):#11
i
"
tr
P Cr DDr
'\
Cl
Mein teu - rer Hei-land, lass
Dia D dich fra - gen,
WIe aber erklärt sich gegenüber dem milden Charakter dieses Chores der dramatische Ton der Johannespassion in den Gerichtsszenen? Die Ausführlichkeit der Erzählung vom Prozeß um Jesus hängt damit zusammen, daß der Evangelist den Gegensatz zweier Welten, einer dies- und einer jenseitigen, herausarbeiten möchte, dem Wort Jesu entsprechend: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (joh. 18,36). Rezitativisch vorgetragen bringt dieser Text Bachs Absicht deutlich zum Ausdruck:
109
Beispiel 52 ,.;
Jesus: ... ..
tT
..
..
Mein Reich ist nicht von die-ser Welt, 11 OJ
....
-,..,
... . a - ber
nun ist rri'ein Reich nicht von dan - nen.
11 OJ
I~
-Dreiklang und Oktave, Figuren der plenitudo, d.h. der Fülle, und zweimal melodischer Hochton e' auf dem Wort »Reich«. Zum Schluß dieser knappen Ausführungen zu Bachs Passionen folge nun noch ein Wort zur Charakterisierung der zwei vollständig erhaltenen Werke, wobei, neben den entstehungsgeschichtlichen und musikalischen Fragen, dem theologisch-frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekt noch einmal Bedeutung zu schenken ist. Gerade hier aber ist Vorsicht geboten. Alfred Dürr formuliert dies so: »Eine Bibelkritik im heutigen Sinne war der Bachzeit fremd. Vielmehr pflegte man den Evangelistenbericht gleichsam synoptisch zu hören, also mit dem Bericht des johannes zugleich auch den der übrigen Evangelisten [den Synoptikern im engeren Sinne des Wortes] mitzudenken.« Und doch treten gerade in Bachs zwei Werken die Unterschiede zwischen johanneischer Erlösungstheologie und synoptischer, das Leiden betonender Theologie auch in den frei gedichteten Texten deutlich hervor. Anfangs- und Schlußchor lassen dies erkennen: In der Matthäuspassion beginnt das Werk mit einem großen zweichörig dialogisierenden Klagechor, zu welchem als dritte Schicht noch der das Leiden jesu thematisierende Choral ,,0 Lamm Gottes unschuldig« als cantus firmus des Soprans tritt. Die johannespassion dagegen beginnt, entsprechend ihrem auf das kommende Gottesreich ausgerichteten Text, mit einem auf Psalm 8 anspielenden, die Herrlichkeiten Gottes preisenden Chor (»Herr unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist«), der sich in reichen jubelfiguren ergeht:
lID
Beispiel 53
Herr
Herr
Herr
scher, un - ser
Herr
scher, un - ser
Analog verhalten sich die beiden Schlußchöre: »WIr setzen uns mit Tränen nieder" in der Matthäuspassion und "Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine« in der johannespassion, wo nun aber nicht die Tränen, sondern die "Gebeine, die ich nun weiter nicht [!] beweine" das letzte Wort haben. Obwohl beide Chöre in dorisch c-Moll und im 3/4-Takt stehen, ist ihr Charakter doch grundverschieden. Das auftakt/ose Stück der Matthäuspassion wirkt eher schwer und traurig, während der Chor der johannespassion mit seinem Auftakt und folgender Betonung der Takt-Eins locker und fast tänzerisch erscheint. Zudem, und dies ist entscheidend, folgt im Anschluß an den großen Chor der johannespassion noch der Es-Dur-Choral »Ach Herr, laß dein lieb Engelein«, der in seiner letzten Zeile »ich will dich preisen ewiglich« die alte reformatorische gratiarum actio (Danksagung) aufnimmt. Eigenartig an diesem Choralschluß ist der ausgesprochen weiche zwischendominantische Septakkord auf dem ich-Pronomen, der vielleicht als Chiffre für pietistisches Gedankengut zu verstehen ist. In diesem gebetsartig stillen Choral kommt der auch inhaltlich nach vom offene, auf Erlösung und Auferstehung ausgerichtete Charakter von Bachs johannespassion zum Ausdruck.
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Die Passionskomposition nach Bachs Tod und die Verabschiedung des Passionsgesangs aus dem protestantischen Gottesdienst
D
I 12
ie noch durchaus als liturgische Feier verstandene Leipziger Aufführung von Bachs Johannespassion am Karfreitag 1749 war nicht nur zu Lebzeiten des Komponisten, sondern auf achtzig Jahre hinaus überhaupt die letzte Aufführung einer Passion des großen Thomaskantors, bis dann, unter völlig anderen Bedingungen, am 11. März 1829 die allerdings stark gekürzte Matthäuspassion unter der Leitung Felix Mendelssohn Bartholdys in Berlin von neuem erklang. Schon 1766 hatten die Kirchenbehörden in Leipzig verfügt, daß der liturgische Vortrag einer Passion nur noch als Lesung zu erfolgen habe, während sich die Gemeinde mit dem Singen von Pass ions liedern am Gottesdienst beteiligen sollte. Wenn sich auch der musikalische Vortrag der Passionslektionen in anderen Städten - und nicht nur in Hamburg - noch einige Jahre länger hielt und deshalb Passionen von Kantoren wie z.B. dem Bach-Schüler Gottfried August Homilius in Dresden vertont wurden, so verschwand jedenfalls mit der Jahrhundertwende die Passion als musikalische Gattung mit ganz wenigen Ausnahmen aus dem protestantischen Gottesdienst. Anders im katholischen Raum, wo die über Jahrhunderte tradierte responsoriallateinische Passion ihren festen Platz in den Karwochenmessen ungebrochen bis zum zweiten Vatikanischen Konzil 0960-1965) behielt, wobei das kompositorische Interesse an den meist bescheidenen Turbasätzen nicht eben groß war. Zur weiteren Entwicklung der gottesdienstlichen Passion auf deutsch-evangelischem Gebiet hat sich der 1769 geborene Musikschriftsteller Johann Friedrich Rochlitz geäußert, der als Knabe noch unter Bachs zweitem Nachfolger als Thomaskantor, dem Komponisten einiger Passionsmusiken Johann Friedrich Doles, gesungen hatte. In seinem Aufsatz von 1832 über Sebastian Bachs große Passion nach dem Evangelisten Johannes schreibt er rückblickend auf die ?:eit nach Bachs Tod: "Vor den Ansichten, Raisonnements und Maximen« der damals führenden Ästhetiker »konnte ein mit Musik singender Evangelist, L.. l konnte die gesamte bisherige Fassung und Anordnung der musikalischen Passionsfeier keine Gnade finden. Die deutschen Direktoren (Doles auch) legten Bachs und ihre eigenen Oratorien ähnlicher Form leise bei Seite und griffen nach dem, was nun, jenen Ansichten, Raisonnements und Maximen Gemäßes neu aufkam L .. l Was dies Neue war? Ich brauche nur das in Dichtung und Musik ausgezeichnetste aller dieser Werke zu nennen L .. l nämlich Ramlers und Grauns Tod !esu.«
Mit diesen Worten umschreibt Rochlitz nicht nur den Übergang von der liturgischen Passion zur nicht mehr liturgischen Passionskantate und zum Passionsoratorium, d.h. zu Werken, die sich nicht mehr wörtlich des sakralen Bibeltextes, sondern dichterisch freier Bibelparaphrasen bedienten, sondern auch den grundlegenden Wechsel von einem älteren zu einem nun modern aufgeklärten Frömmigkeitstypus. Charakteristisch für die neuen Passionswerke sind Der Fremdling auf Golgotha von Johann Christoph Bach (1776), Christus am Ölberg von Ludwig van Beethoven (803) oder Louis Spohrs Des Heilands letzte Stunden 0834/35). Es ist der leidende Mensch Jesus, der im Sinne einer neuen liberalen Theologie im Mittelpunkt eines menschlichen Dramas steht und dessen Gesangspartie bezeichnenderweise nun nicht mehr von einer in der liturgischen Passion üblichen Baß-, sondern von einer Tenorstimme vorgetragen wird. Gleichzeitig mit solcher Distanzierung vom alten Passionsritual vollzog sich im protestantischen Raum ein Abbau von Kantoreifunktionen und die allmähliche Übernahme der Passionsmusiken durch neu gegründete bürgerliche Chorvereinigungen. Auch im katholischen Bereich lassen sich, hier freilich unter Beibehaltung der streng liturgischen Passionslesungen, Spuren einer für das 19. Jahrhundert bezeichnenden gefühlsbetonten Jesus-Frömmigkeit erkennen (s. Abb. XXV, S. 121).
Die Wiederentdeckung von Bachs Matthäuspassion Als entscheidendes Ereignis in der Geschichte der Passion und zugleich der Passionsrezeption durch ein teilweise neues Publikum hat die bis heute nachwirkende Wiederaufführung von Bachs Matthäuspassion durch Felix Mendelssohn Bartholdy zur Passionszeit 1829 zu gelten. Das Werk erklang in einem Wohltätigkeitskonzert im Rahmen von Karl Friedrich Zelters Berliner Sing-Akademie in stark verkürzter, ungefähr auf die Hälfte der Gesamtdauer reduzierter Gestalt: Sechs von fünfzehn Chorälen und sechzehn von dreiundzwanzig Solostücken wurden gestrichen. Die sich daraus ergebende Konzentration auf die rezitativischen und chorischen Bibeltexte führte zu einer gegenüber der Originalfassung wesentlich verstärkten Dramatisierung des Werkes. Das Publikum bestand aus der damaligen geistigen Elite Berlins; u.a. waren anwesend: der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher, der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel und der Dichter Heinrich Heine. Die Wirkung des Werkes war, wie Fanny Mendelssohn berichtet, gewaltig: Die Aufführung verwandelte den Saal »in den Anblick einer Kirchen L.. l Die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte in der Versammlung, man hörte nur einzelne Äußerungen des tief erregten Gefühls.« Entsprechend waren auch die Rezensionen: »Mit tiefem Sinne und ächt religiösen Gefühlen sind die Choräle L.. l in den Text des Evangeliums verwebt L .. l Unter den Soli's steht die einfach ausdrucksvolle Declamation der Recitation des erzählenden Evangelisten L . .l nächst der würdevollen Behandlung des sprechenden Erlösers oben an.«
I 13
Dreieinhalb Jahre später folgte in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung die Rezension einer Aufführung derselben Matthäuspassion in Königsberg: »Die ausgesprochenen Urtheile über dieses Werk waren sehr verschieden. Manche Verehrer Seb. Bachs gaben selbst zu, daß er höher als Contrapunctist und Fugen-Componist, denn als Melodiker und Gesangs-Componist stehe. Die trockenen Worte des Evangelii in Music zu setzen, ist gewiß an sich schon eine schwere Aufgabe L . .1 Doch scheint Bachs Behandlung des Textes verfehlt, sie ist nicht episch, nicht dramatisch, sondern ein Gemisch von Beydem L .. I Daß sich das Volk mit Chorälen anschließt, nach Art der griechischen Chöre, ist schon recht. Die Recitative haben wenig Modulation und ermüden L .. I Manche, die nur in verba magistri schwärmen, wollten in ihrem Leben nichts Herrlicheres gehört haben. Andere wieder, und darunter - leicht erklärlich - viele Musiker von Profession [.. .1 nannten das ganze Werk veralteten Trödel, der in die Rumpelkammer gehöre [.. .1 Ein Theil der Zuhörer lief schon in der ersten Hälfte zur Kirche hinaus.« Aus diesen zum Teil extrem kontroversen Beurteilungen desselben Werkes, auf die Hans Besch schon vor vielen Jahren aufmerksam gemacht hat, wird deutlich, daß die Rezeptionsgeschichte einer Komposition, selbst wenn sie aus der Feder eines Komponisten vom Format eines Johann Sebastian Bach stammt, wesentlich vom religiösen Klima des Aufführungsortes und dem anwesenden Publikum mitbestimmt wird. Es ist durchaus denkbar, daß die in Berlin ausgelösten positiven Reaktionen auf Bachs Werk mit der damals in Berlin verbreiteten pietistischen Frömmigkeit, die kritischen Töne aus Königsberg hingegen mit der dort noch durchaus virulenten bibelkritischen Aufklärung zusammenhängen. Bezeichnend ist, daß beide Rezensionen, jede in ihrer Art, deutlichen Bezug auf die Textdeklamation, und das heißt hier offenbar primär auf die Rezitation der Bibeltexte nehmen. Mit der Loslösung der Bachschen Passion von ihrer ursprünglichen liturgischen Bestimmung und ihrer Überführung in den Konzertsaal oder in einen zum Konzertsaal höherer Weihe umfunktionierten Kirchenraum erfolgte bald auch die Entkonfessionalisierung dieser Musik. Von nun an war Bachs geistliche Musik Gemeingut beider Konfessionen, ja Gemeingut der Kultur auch im säkularen Sinne.
Vorsichtige Neuanfänge
1 14
Auf dem Hintergrund eines neuen Interesses an älterer, geistlicher, durch ihr Alter gewissermaßen sakralisierter Musik ist auch die Rückbesinnung auf Passionen des 16. Jahrhunderts, im Katholizismus in Verbindung mit der restaurativen Bewegung des Caecilianismus, zu sehen: Kurz vor und nach 1850 wurden Ausgaben der Passionen von Tomis Luis de Victoria und Orlando di Lasso, aber auch vereinzelter Stücke aus dem evangelischen Bereich publiziert, mit dem Zweck, diese Werke auch liturgisch zu verwenden. Denn gegen den Einsatz Bachscher Passionen im Gottesdienst sprach nicht nur deren außergewöhnliche Länge, sondern auch die Diskrepanz zwischen dem damals praktizierten schlichten Gemeindegesang einer-
seits und der überaus anspruchsvollen Musik Bachs mit ihren oft schwer verständlichen barocken textlichen Formulierungen andererseits. Dabei ist nicht zu vergessen, daß es in der Regel dieselben Menschen waren, die Bachs Musik im Konzert und im Gottesdienst einfache Gemeindechoräle sangen. In diesem Dilemma erwies sich die Musik des kurz vor der Jahrhundertmitte für die Praxis neu entdeckten Heinrich Schütz als hilfreich. Verglichen mit den hochbarocken kunstvollen Werken des Thomaskantors waren die geistlichen Stücke und insbesondere gerade auch die Passionen von Schütz mit ihrer knappen, den Text unmittelbar verständlich machenden Deklamation für gottesdienstliche Zwecke geeigneter. Seit 1885 erschien die vom Bach-Biographen Philipp Spitta betreute erste große SchützAusgabe, und ein Jahr später publizierte Friedrich Spitta, der Bruder Philipps, im Anschluß an die erste Wiederaufführung der Matthäuspassion einen vielbeachteten Aufsatz über die Passionen von Schütz. Zum Kreis um die Brüder Spitta gehörte der trotz seiner katholischen Herkunft dem Protestantismus zugetane Komponist Heinrich von Herzogenberg, der 1896 ein gewichtiges Werk veröffentlichte, dessen biblische Texte vom Theologen Friedrich Spitta zusammengestellt worden waren: Die Passion, Kirchenoratorium jiir Gründonnerstag und Karfreitag. Ohne sich musikalisch einem älteren Stil anzuschließen, war es Herzogenbergs Anliegen, die konzerthafte Trennung von Ausführenden und Aufnehmenden im Gemeindegottesdienst wenigstens im Prinzip aufzuheben, indem alle Anwesenden sich zu einer »musikalischen Feierstunde« vereinigen sollten. Ganz neu waren solche Bestrebungen einer Reliturgisierung der gottesdienstlichen Musik nicht. Schon ein halbes Jahrhundert vor Herzogenberg hatte der bedeutende preußische Diplomat, Archäologe und Theologe Christian Carl Josias von Bunsen zusammen mit dem katholischen Musiker Sigismund Neukomm eine Karwochenliturgie unter dem Titel Die heilige Leidensgeschichte und die stille Woche geschaffen, in ähnlich ökumenischer Zusammenarbeit also wie Herzogenberg und Spitta, welche ihrerseits die Ideen einer 1885 erschienenen Denkschrift über die Einjiihrung von Oratorien mit Gemeindebeteiligung des Theologen und Gründers des evangelischen Diakonievereins, Friedrich Zimmer, übernommen hatten. In Herzogenbergs musikalisch vielgestaltiger, Solostimmen, Chor und instrumentale Abschnitte umfassender Passion ist die Gemeindebeteiligung bei sechs Chorälen vorgeschrieben, wobei jeweils die von einem auskomponierten Orgelsatz begleiteten, der Gemeinde vertrauten Melodien zu singen sind. Originell, in ihrer Wirkung jedoch nicht unbedingt überzeugend sind die Texte der Rezitative vertont: Im ersten, für den Gründonnerstag bestimmten Teil der Passion sind sie auf die Melodie des Abendmahlliedes »Schmücke dich, 0 liebe Seele«, im Karfreitagsteil auf den Passionschoral »0 Haupt voll Blut und Wunden« zu singen (s. Beispiel 54, S. 116). Zu diesem Verfahren schreibt der Komponist, seine Stellung zwischen Schütz und Bach bezeichnend: »Der Evangelist in meinem Werke ist nun ebenso weit davon entfernt, nur ein unbeteiligter Lektor zu sein, wie er es in den alten Mysterien bis in die Zeit von H. Schütz war - als andererseits durch überempfindsamen Vortrag der Erzählung dem lyrischen Erguß der darauf folgenden Einzel- und Chorgesänge das Beste oft schon vorwegzunehmen ~ wie dies in den Bachschen Passionen meiner Ansicht nach an vielen Stellen unleugbar geschieht.«
I 15
Beispiel 54
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Mit dieser Kritik läßt sich Herzogenberg der im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzenden neuen liturgischen Bewegung zuordnen. Ganz wesentlich für die religionsgeschichtliche Stellung von Herzogenbergs Passion ist der von Friedrich Spitta zusammengestellte Text, der, außer einigen zur Abendmahlsthematik gehörenden Worten aus der dem Neuen Testament nahestehenden, aus dem zweiten Jahrhundert stammenden Lehre der zwölf Apostel, sich streng auf Bibelworte, nicht nur des Neuen, sondern auch des Alten Testaments, und auf Choräle beschränkt. Das Grundgerüst bildet hierbei das Johannesevangelium, das im Gegensatz zur im Vordergrund der barocken Passion stehenden Leidensthematik die Dankbarkeit für die Erlösertat Jesu in das Zentrum rückt. Dazu schreibt Spitta: »Der Ausdruck hiefür wird vornehmlich in der Darstellung der Leidensgeschichte bei Johannes gegeben, in der sich derjenige Jesus zeigt, der im Unterliegen siegt.« Wenn auch Herzogenbergs Passion, die in ihrer Klangwelt dem Stil von Brahms nicht allzu fern steht, kaum unmittelbar liturgische noch musikalische Folgen zeitigte, so wurde das Werk in Leipzig doch während rund zwanzig Jahren regelmäßig zur Aufführung gebracht. Daß gegen Ende des 19. Jahrhunderts hin Reliturgisierungstendenzen auch auf dem Gebiete des italienischen Passionsoratoriums begegnen, zeigt das zu seiner Zeit berühmte, 1897 komponierte Erstlingswerk des Lorenzo Perosi: Trilogia Sacra: La Passione di Cristo secondo S. Marco. Ähnlich wie Herzogenberg hatte sich auch Perosi mit italienischer Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts und sogar mit dem Schaffen von Heinrich Schütz befaßt, wobei sich in seinem instrumentalen Satz, merkwürdig konträr zum übrigen Konzept, auch Wagnersche Klangelemente bemerkbar machen. Um so mehr fällt deshalb auf, daß Perosis Markuspassion, neben kurzen Zitaten aus der katholischen Karwochenliturgie, ausschließlich den biblischen Passionstext nach Markus verwendet. Perosis mit »Storico« (Erzähler der Historial bezeichnete Evangelistenpartien bewegen sich stilistisch zwischen oratorischem und choralem Ton. Zwischen Passion, Passionsmotette und Passionsoratorium stehen die Vertonungen der Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz, unter denen besonders Joseph Haydns 1785 in zwei Fassungen für Streichquartett und für Orchester und 1792/93 von Joseph Friebert für Chor und Orchester bearbeitetes Werk herausragt. Bemerkens-
wert ist, daß es sich hier um eine Auftragskomposition für einen Karfreitagsgottesdienst, also um liturgische Musik, für eine Kirche in Cadiz handelt. Fast hundert Jahre später, 1878179, schrieb Franz Liszt in Rom ein Stück für Chor, Solostimmen und Orgel oder Klavier mit dem Titel Via eruds, ein Zyklus, der in vierzehn Abschnitten die Kreuzwegstationen musikalisch zur Darstellung bringt und von Liszt als eine für die Frömmigkeit des älter gewordenen Komponisten bezeichnende Art von Prozessionsmusik gedacht war. Von diesem Werk her lassen sich Verbindungslinien nicht nur zu Haydns Komposition, sondern zurück bis zu den Monti sacri des 15. Jahrhunderts (s. oben S. 28) ziehen.
Die Passion im 20. Jahrhundert ..
U
berblickt man die Vertonungen der Passionsberichte im 20. Jahrhundert, so fällt zunächst zweierlei auf: eine von den zwanziger und dann wieder von den späten vierziger Jahren an zu beobachtende Vermehrung von Passionskompositionen und eine Rückkehr von den poetisch-dramatischen Texten zum strengen Bibeltext. Es ist wohl nicht abwegig, diese beiden Tendenzen im Zusammenhang mit den politischen und kriegerischen Katastrophen zu sehen. Ähnlich wie schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges werden in den Bibeltexten und insbesondere auch in der Passionsgeschichte persönliche und kollektiv geistige Rückhalte gesucht, die in Deutschland in den damaligen liturgischen Bewegungen zum Ausdruck kamen. Im katholischen Raum bedeutet dies zunächst Weiterführung der Tradition, d.h. die Passionslektion im Messe-Gottesdienst lateinisch responsorial vorzutragen, dann aber, zum Teil schon kurz vor und mit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1960-1965), zur Volkssprachlichkeit der Texte überzugehen. Frühe Beispiele im Rahmen der katholisch-deutschsprachigen Liturgie bilden die ausdrücklich für den Gottesdienst bestimmten mehrstimmig durchkomponierten a cappella-Passionen von Joseph Ahrens aus den Jahren 1950 und 1961 und vor allem dann die rasch Anerkennung findenden deutschsprachig responsorialen Passionen von Hermann Schroeder (1964 und 1965), von denen das Beispiel 55 (5. 1(8) einen Eindruck vermitteln soll. Zahlreiche andere Kirchenmusiker und Domkapellmeister folgten mit Passionen ähnlicher, zum Teil auch stärker modernisierender Stilrichtung. Mit dem Konzil wird auch eine Änderung der liturgischen Ordnung vollzogen: Beibehalten ist nur der Vortrag der Johannespassion am Karfreitag; die anderen drei Passionen erklingen seither in dreijährigem Turnus am Palmsonntag.
117
Beispiel 55
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PilalUs:
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Evangelist:
J J I
0
J j J Fr
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Tellor
Kreu - zi - ge ihn, kreu - zi - ge ihn! Baß
Kreu - zi - ge ihn, kreu - zi - ge ihn!
Historisierende und individualisierende Tendenzen in kriegerischen Zeiten
I 18
Auf evangelisch-lutherischem Gebiet beginnt mit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine neue, überaus kreative Zeit für die Passionskomposition. Die schon auf das späte 19. Jahrhundert zurückgehende Schütz-Renaissance verband sich mit den liturgischen Interessen einer neuen, immer wieder mehr an Schütz als an Bach sich orientierenden Gemeinschaftsmusik und mit den Bestrebungen der Orgelbewegung der zwanziger Jahre. Als erstes Werk ist in diesem Rahmen die 1926 entstandene Passionsmusik nach dem Evangelisten Markus des damals als Theorielehrer am Leipziger Konservatorium wirkenden Kurt Thomas zu nennen. Wie schon sein Lehrer Amold Mendelssohn hat sich Thomas von der Spätromantik abgesetzt; sein Vorbild war, neben Schützens Werk, die Johannespassion von Leonhard Lechner (593). Der in fünf Abschnitte gegliederte Bibeltext ist den Kapiteln 14 und 15 des Markusevangeliums entnommen. Dazu treten Exordium und Conc1usio sowie zwei Choralstrophen aus Liedern des 16./17. Jahrhunderts: »Jesu, deine Passion will ich jetzt bedenken« und »Wir danken dir, Herr Jesu Christ«. Das Werk ist für gemischten a cappella-Doppelchor geschrieben. Sowohl die Texte des Evangelisten als auch diejenigen Jesu und der Soliloquenten sind wie in den Passionen des 16. Jahrhunderts mehrstimmig gesetzt. Sechs Jahre nach der Passion von Thomas, vom gleichen Frömmigkeitstypus geprägt, erschien die Choral-Passion op. 7 des Günter Ramin-Orgelschülers Hugo DistIer, komponiert 1932 für fünfstimmigen a cappella-Chor und zwei Vorsänger (Evangelist und Jesus). Der Text ist in der Art der Passionsharmonie allen vier
Evangelien entnommen; mitangeregt könnte das Werk von der damals unter dem Namen Obrecht veröffentlichten Longueval-Passion sein (s. oben S. 35ffJ. Wie DistIer allerdings im Nachwort schreibt, war für ihn »der packende Eindruck, den das erstmalige Miterleben der in Lübeck L .. 1 am Karfreitag [19321 zur Aufführung gelangenden Matthäuspassion von Heinrich Schütz bestimmend«. Musikalisch ist das in sieben Abschnitte aufgeteilte und von acht Choralstrophen des schon von Thomas verwendeten Liedes »Jesu, deine Passion« durchsetzte Werk mit seiner vorbachsehen Diatonik auch den Chören der damals restaurativen Laienbewegung durchaus zugänglich. Im Gegensatz zu Thomas sind, im Anklang an Schütz, die Reden der Einze\personen und des Evangelisten einstimmig vertont und daher auch Wort für Wort verständlich. Mehrstimmig sind, abgesehen von den Choralstrophen, nur die durch überaus plastische Deklamation und meist rasche Tempi gekennzeichneten Turbae (s. Beispiel 56, S. 120). Es fällt auf, mit welcher Ausführlichkeit und Intensität die im Jahre 1932 gewiß nicht nur biblisch, sondern, unmittelbar vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wohl auch politisch verstandene Turba »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« gestaltet ist. .
Passionen nach 1945 Neben zahlreichen meist überaus schlichten, für den gottesdienstlichen Gebrauch komponierten Passionen der Nachkriegszeit folgt in der Linie Thomas-Distler als herausragende Komposition Ernst Peppings 1949/50 entstandene Matthäuspassion. Das bedeutende Werk ist als »Passionsbericht«, d.h. als Historia im alten biblisch-reformatorischen Sinn bezeichnet. Pepping galt zur Zeit der Entstehung seines repräsentativen Werkes als führender Vertreter der damaligen evangelischen Kirchenmusik in Deutschland. In ihrer Anlage ist diese Passion der Tradition verbunden, in Satz- und Klangstil übertriffi: sie die Werke ihrer Vorgänger ganz wesentlich an Komplexität. Insbesondere gegenüber DistIer wirkt Peppings Passion mit ihren klanglichen Raffinements, ihrer postwagnerschen Harmonik und expressiven Deklamation extravertierter und entfernt sich damit, zumindest vom Standpunkt eines strengen Liturgieverständnisses her gesehen, von gemeindegottesdienstlicher Funktion. Der Text folgt dem Matthäus-Bericht vom Verrat des Judas (Matth. 26, 14-16) bis zum Tode Jesu (Matth. 27, 50), ist aber durch zusätzliche, als Kommentare zu verstehende Worte des Alten und Neuen Testaments ergänzt. Dem Exordium »Höre die Passion« vorangestellt ist eine Motette über den schon in Passionen des 16. und 17. Jahrhunderts oft erscheinenden, gewissermaßen klassischen Text aus Jesaja 53 »Fürwahr, er trug unsere Krankheit«. Auch die Conc1usio ist in die Passionstradition eingebunden, indem sie auf die schon von Longueval verwendete Bitte »Herr Christe, erbarm dich unser« zurückgreift, diese aber nun, theologisch überzeugend, mit dem Text aus Johannes 1 »Im Anfang war das Wort« verbindet. Schließlich ist, wiederum nach altem Vorbild - man denke an die Passion von SeIle -, ein Intermedium zwischen die beiden Passionsteile einge-
1 19
Beispiel 56
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Abb,
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Titelvignette aus dem Passionar Canlus ecclesiaslicllS sacrae hisloriae passiollis. Campoduni (Kempten) 1847
122
Abb. XXVI Gemälde des äthiopischen Malers Gebre Kristos Desta (1963), im Privatbesitz des Künstlers
Abb. XXVII
SLrtll Station aus The Stations of the Cross IKreuzwegstationen) to Latin America (1982/ 83) von Charles Michael Tracy (USA)
Holzgestützte. mit Acryl und Ölfarbe bemalte Riesentafeln vom Format 2,5 x 1,4m
123
124
Abb. XXVIII
Kruzifix, Holzskulptur des Kenyaner Künstlers Samuel Wanjau (19771
fügt, das im Sinne eines Ruhepunktes Texte der nach österlichen )esus-Präsenz motettisch vertont: »Bleibe bei uns« (Luk. 24, 29) und »Ich bin bei euch« (Matth. 28,2m. Jeder Chor hat eine eigene Aufgabe: Der erste trägt votwiegend den biblischen Passionsbericht mit seinen direkten und indirekten Reden vor, während der zweite Chor, neben stellenweiser Beteiligung am Bericht, deutende und theologisch ergänzende Funktionen übernimmt. So ist in der Abendmahlsszene nach Matthäus 26 der in der protestantischen Abendmahlsfeier vetwendete Text »Unser Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward« (1. Korintherbrief 11, 23) eingefügt. Eindrucksvoll auch, wie im Abschnitt Golgatha der Passionsbericht von den mehrfach wiederholten Worten aus dem Credo »Crucifixus etiam pro nobis« kontrapunktiert ist: Beispiel 57 poco animato
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Neben den in der a cappella-Tradition stehenden Passionen gibt es eine andere Entwicklungslinie, die sich an Johann Sebastian Bach und an das Passionsoratorium des 19. Jahrhunderts anschließt. Hierzu gehört vor allem Golgatha, ein
125
126
großes, 1945-1948 unmittelbar nach Kriegsende komponiertes Werk des Genfers Frank Martin für Soli, Chor und Orchester. Das Stück wurde, angeregt durch Rembrandts Radierung Die drei Kreuze (s. Abb. XXIX, S. 127), nicht als Kirchenmusik, wohl aber als »Vorstellung des Dramas der Passion« nach Texten aus den vier Evangelien verfaßt. Anstelle von Arien und Chorälen verwendet Martin Texte des Kirchenvaters Augustin, die als kontemplative Ruhepunkte erscheinen. Bezeichnend für die gläubig christozentrische Haltung des Komponisten ist, daß er sein Oratorium mit dem Auferstehungstext »Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?« (I. Korintherbrief 15, 55) abschließt. Dreißig jahre vor Martin hatte schon einmal ein in Genf wirkender Musiker, der Graubündner Otto Barblan, eine oratorienhafte Passion geschrieben. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß Martin als junger Mann eine Aufführung dieses bis heute nicht veröffentlichten Werkes gehört haben könnte. In den Nachkriegsjahren sind weitere Passionen für größere vokal-instrumentale Besetzungen entstanden, so 1953 die johannespassion in Form eines sinfonischen Konzertes des Ostdeutschen Herbert Collum und eine für Chor und Orchester, aber ohne Solisten 1970/71 komponierte Markuspassion des Schweizers Adolf Brunner. Es ist wohl kaum ein Zufall, wenn sich unter den um und nach 1950 geschriebenen Passionen, so z.B. derjenigen von Hans Friedrich Micheelsen (1951) und Eberhard Wenzel (1967), auffallend viele Markuspassionen befinden; war doch nun auch in kirchenmusikalischen Kreisen die den Theologen längst bekannte Tatsache vertraut geworden, daß das Markusevangelium den ältesten Text vermittelt, auf den sich Matthäus und Lukas gestützt haben. Als eigenständiges kleineres Werk ist hier ferner die 1964 komponierte johannespassion von johannes Weyrauch zu nennen. Schließlich ist 1992 auch die alte Historia nochmals aufgetaucht, allerdings nicht als reine Passionshistorie, sondern als Histon"e vom Leben und Sterben unseres Herrn jesus Christus von Edison Denissow (+ 19961. Der in russischer Sprache verfaßte siebenteilige Zyklus enthält als letzte drei Stücke Der Garten Gethsemane, Golgotha und Auferstehung. Schon zehn jahre früher war im russischen, damals noch sowjetischen Bereich ein eindrucksvolles Passionsstück entstanden: Sieben Worte für Violoncello, Bajan (Akkordeon) und Streicher der in geistlicher Musik stark engagierten Sofia Gubaidulina, ein Werk, dem ein mottohaftes Zitat aus Heinrich Schütz' Die sieben Worte jesu Christi am Kreuz zugrunde liegt. Einen Sonderfall stellt die 1959 komponierte, betont katholische Passion nach Texten der heiligen Schrift und der Liturgie für Soli, Chor, Sprechchor und Orchester des Distler- und Blacher-Schülers Max Baumann dar. Die sechs Teile, Einzug, Abendmahl, Gethsemane, Pilatus, Golgatha und Agnus Dei stellen von den Texten aus gesehen eine Art Passionsharmonie dar, in welcher auch liturgische Stücke wie Antiphon, Hymne und, wie wenige Jahre später bei Penderecki, auch das Stabat mater mit einbezogen sind. Daß der Textverständlichkeit großes Gewicht beigemessen ist, zeigen die »immer leise und sanft, aber eindringlich« zu sprechenden /esusworte. Mit alledem und der Verwendung kirchentonartlicher Wendungen wird hier eine Art von Reliturgisierung der Passion vollzogen.
Abb. XXIX Rembrandt, Die drei Kreuze Radierung, welche Frank Martin zu seinem Passionsoratorium Colgotha angeregt hat.
Engagiertes Komponieren Einen anderen Typus als die genannten Werke stellen die Passio secundum Lucam des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki und die Jesuspassion des Deutschen Oskar Gottlieb Blarr dar. Bei beiden Stücken handelt es sich um umfangreiche vokal-instrumentale Werke, für welche die Frage nach Frömmigkeit im alten Sinne des Wortes kaum noch relevant ist. Vielmehr sind es von persönlichem Engagement getragene theologische und vor allem nun auch politische Probleme, die in diesen Werken ihren Niederschlag finden. Pendereckis 1963/1965 geschaffene Passion ist trotz ihres lateinischen Textes kein liturgisches, wohl aber ein ausgesprochen geistliches Werk, in welchem die schrecklichen Erfahrungen Polens während der vierziger Jahre zum Ausdruck kommen: Das Leiden Jesu erscheint vor dem Hintergrund des Holocaust und der Gräber von Katyn; das »miserere mei« ist das Leitmotiv dieses Werkes. Die Texte sind nicht nur den Passionskapiteln 22 und 23 des Lukasevangeliums und einzel-
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»Auf dich, Herr, hoffe ich: Herr, wahrer Gott In deine Hände befehle ich meinen Geist.«
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nen Versen anderer Evangelienberichte, sondern, ähnlich wie bei Baumann, auch der römisch-katholischen Liturgie entnommen. Wesentlich ist hierbei, daß die Vielfalt der gesungenen und z.T. auch rezitierten Texte mit ihren verschiedenen Kompositionsweisen zu einern Ganzen von großer Ausdruckskraft zusammengefaßt ist. Das kurz vor Schluß zwischen Jesu Anrede am Kreuz an die Mutter und dem Bericht von der plötzlichen Finsternis und vorn Erdbeben eingeschobene Stabat mater, das zuerst komponierte Stück des Werkes, beansprucht mit seinem Marien-Passionstext ein besonderes Gewicht. Musikalisch beruft sich Pendereckis Passion, trotz ihrer damals jedenfalls in Polen als avantgardistisch geltenden Zwölftonreihen, Geräuscheffekte und Klangclustern, auch auf ältere Form- und Kompositionspraktiken wie Aria und Passacaglia sowie auf chorale Elemente und, als Hommage an Bach, auf das BACHMotiv. Überraschend wirkt in diesem modernen Werk der E-Dur-Schluß (s. Beispiel 58, S. 128fJ Eindrucksvoll und von oft realistischer Wirkung sind die reiche, von Bläsern und Schlagzeug dominierte Instrumentation und die drei auch als Sprechchöre eingesetzten Vokalgruppen (Beispiel 59, S. 13]). Während Penderecki mit seiner berühmt gewordenen Passion den Typus eines im römisch-katholischen Polen der frühen sechziger Jahre verwurzelten Werkes repräsentiert, geht zwanzig Jahre später der Penderecki-Schüler evangelischer Konfession, Oskar Gottlieb Blarr, mit seiner jesus-Passion theologisch und religionspolitisch ganz andere Wege. Ausgangspunkt für dieses Werk war, wie der Komponist schreibt, die ihn erschreckende Feststellung, daß »die unglaublich schöne und große Komposition J. S. Bachs über den Matthäustext - ohne es zu wollen - auch Antijudaismus in die Seelen der Hörer transportiert«. B1arr begab sich 1981/82 für längere Zeit nach Israel, wo er sich mit der Juden-Christen-Moslem-Problematik konfrontiert sah. Dort erlebte er »die Jesus-Geschichte als gerade erst geschehene«. So entstanden in den frühen achtziger Jahren die Oratorischen Szenen in drei Teilen unter dem Titel jesus-Passion: Einzug in jerusalem, jesus in Gethsemane, Kreuzigung. Die Texte sind vorwiegend dem Alten, aber selbstverständlich auch dem Neuen Testament (unter Ausschluß der die den Tod Jesu fordernden Juden belastenden Gerichtsszenen), aber auch dem Talmud und moderner jüdischer und christlichpietistischer Lyrik entnommen. Analog dazu beschränkt sich die Musik nicht auf westeuropäisches Musikgut, sondern verarbeitet auch jüdisches und moslemisches Material. Das für Soli, gemischten Chor, Kinderchor und großes Orchester komponierte, vielschichtige Werk läßt in seiner Klanglichkeit Beziehungen zu Pendereckis Passion erkennen.
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»Andern hat er geholfen«
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Von stammelnder und verstummender Frömmigkeit
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Die letzten beiden zu besprechenden Werke, Gerd Zachers Passionsmusik nach Lukas: 700 000 Tage später von 1968 und Arvo Pärts Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem von 1982 (revidiert 1985), stellen grundsätzliche Fragen: Ist es heute überhaupt noch möglich, Passionen zu komponieren? Kann die biblische Leidensgeschichte jesu noch Stoff für musikalische Formulierungen sein? Mauricio Kagel hat im Bach-jahr 1985 seine persönliche Konsequenz aus dieser Frage in kritischer Weise gezogen, indem er in Ansehung der ungeheuren Verehrung, welche Bachs Passionen im Konzertleben genießen, eine Sanct Bach-Passion komponierte, in welcher der Evangelientext durch den von Lorenz Mizler 1754 veröffentlichten Bach-Nekrolog von Carl Philipp Emanuel Bach und Friedrich Agricola ersetzt ist. Auch der Film hat sich mit der Passion beschäftigt. So das Rockmusical Jesus Christ Superstar, ein Streifen, dem es, bei allen eindrücklichen Partien, gerade in den Passionsszenen jedoch nicht gelungen ist, Trivialitäten und Sentimentalitäten zu vermeiden. Erweckt heute nicht überhaupt jede kunstvolle Passionsverarbeitung, bei aller Glaubwürdigkeit der Gesinnung des Regisseurs oder Komponisten, den leisen Verdacht einer ästhetischen Verbrämung des biblischen Passionsgeschehens, wobei dann Luthers Satz als Warnung auftauchen mag, die Passion >>Dit mit worten und scheyn, sondern mit dem leben wahrhafftig zu handeln«? Auf diese Problematik machten zwei im Bach-jahr 1985 ausgestrahlte Filme des deutsch-schweizerischen Fernsehens aufmerksam: ein Passionsgottesdienst im Münster Allerheiligen zu Schaffhausen, in welchem die stark verkürzte johannespassion von Bach mit anstelle der Arien eingeschobenen Textlesungen der kritischen Theologin Dorothee Sölle aufgeführt wurde, und ebenfalls eine johannespassion in der Regie von Werner Düggelin, die, weit entfernt von anderen jesusund Bibelfilmen, in die Slums von Neapel führt, wo Kinder die Passionsgeschichte darstellen, um damit zum Ausdruck zu bringen, »daß jesus gestorben ist, um Zeugnis davon abzulegen, daß in dieser Welt nicht alles in Ordnung sei«; so die Worte des inzwischen zum Verstummen gebrachten Brasilianers Leonardo Boff, dem populären Vertreter der für das soziale Engagement der Christen in Lateinamerika eintretenden Befreiungstheologie. . . In den oben genannten Passionen verstummt, was früher frommer Kult war, es schweigt oder es schreit. Auch in der bildenden Kunst der Gegenwart gibt es schreiende und schweigende Passionsdarstellungen: der rote jesus am Kreuz auf dem Bilde Golgatha (963) des äthiopischen Künstlers Gebre Kristos Desta (s. Abb. XXVI, S. 122) und die riesigen textlosen Tafeln des vierzehnteiligen, nach Lateinamerika weisenden Kreuzweges des Amerikaners Charles Michael Tracy (1982/83; s. Abb. XXVII, S. 123). Die chronologische Übereinstimmung dieser Werke mit den Passionen von Zacher und Pärt ist auffallend und kann als bildlicher Ausdruck dafür verstanden werden, was die zum Schluß zu besprechenden zwei Passionen in Musik aussagen wollen.
Zachers Passionsmusik wurde als gottesdienstliche Veranstaltung im März 1969 in der Lutherkirche zu HamburglWellingsbüttel uraufgeführt (s. Beispiele 60 und 61, S. 134 und 135). Der Titel 700000 Tage später zielt auf Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens im Zeitablauf. Dazu schreibt der Komponist in der im Programmheft veröffentlichten Einführung: "Zunächst liegt der Text in der überlieferten Weise dem Ablauf der ganzen Komposition zugrunde, er taucht aber nur gelegentlich an die Oberfläche der ausgesprochenen Verständlichkeit. Der Ablauf des Textes bildet sozusagen den Weg, den die Musik nimmt. Auf diesem Weg werden einzelne Stationen plötzlich deutlich bewußt L . .l Eine weitere Behandlungsart des Textes ergibt sich aus der Fähigkeit der Musik, zeitlich Auseinanderliegendes einander näher zu bringen L . .l In der Passion, die wir heute singen, findet man den Verrat gleichzeitig mit dem Treuebekenntnis, die Verspottung gleichzeitig mit dem Lobgesang, den Barrabasschrei gleichzeitig mit dem Bachchoral, alles, was man vor 700 000 Tagen vielleicht ähnlich hätte hören können, gleichzeitig mit dem, was wir heute äußern.« Aus diesem Konzept ergibt sich zwangsläufig eine "Musik für Chor«, die sich, nicht ungewohnt für die Avantgarde der späten sechziger Jahre - man denke etwa an die Werke des Theologen-Komponisten Dieter Schnebel -, von allem unterscheidet, was bisher an Passionsvertonungen bekannt war. Zacher formuliert es so: "Wer es heute, 700 000 Tage später, unternimmt, eine Passionsmusik zu verfassen, der wird zunächst einmal völlig verstummen. Wenn er dann die Sprache wiederfindet, wird es eine andere Sprache sein als er bisher kannte. Er wird sie noch nicht sprechen oder singen können, sondern vorerst nur stammeln.« Schon die Notation ist ungewohnt: meist verbal den musikalischen Vollzug nur andeutend und dem Interpreten sehr viele Freiheiten lassend. Statt einer Partitur existieren nur Stimmhefte, "die bloß zur Hälfte vom Komponisten ausgearbeitet sind, zur andern lediglich Anweisungen enthalten, wie der einzelne seine Partie klanglich auszuarbeiten und zu realisieren hat« (s. Beispiel 61, S. 135). Damit besteht eine gewisse Analogie zu Chafles Michael Tracys Kreuzwegtafeln (s. Abb. XXVII, S. 123). Ein Live-Mitschnitt vom 26. Juni 1971 aus Hannover (Hoppe+Weng Verlagsgesellschaft) vermittelt einen Eindruck dieser bei jeder Aufführung variablen Passion, bei der neben zwei im Hintergrund erklingenden Choralstücken (Bachs "Wenn ich einmal soll scheiden« und das Spiritual "Were you there, when they crucified hirn?«) gesprochen, geflüstert, geschrien, gelacht, aber auch geschwiegen wird. Zachers Passion ist, bei allen den Interpreten zugestandenen Freiheiten, ein nicht nur formal, sondern auch theologisch streng durchdachtes Werk. Dies wird u.a. im letzten Abschnitt deutlich, wo die seit der Mitte des 5. Jahrhunderts (Konzil zu Chalcedon) zum Dogma erhobene und bis heute von der Kirche gelehrte Doppelnatur Christi (,>vere deus, vere homo« - »wahrer Gott, wahrer Mensch«) zu verbalbildhaftem Ausdruck gebracht ist: das durch Stammeln und Gebärdensprache Gehörloser angedeutete Bekenntnis des römischen Hauptmanns zur Gottessohnschaft Christi als Hinweis auf die Unverfügbarkeit Gottes und die Hervorhebung des Wortes LEIB im Text von der Grablegung (Luk. 23, 52) als Chiffre für die menschliche Natur Jesu.
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Beispiel 60
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1~ 135
Daß diese Passion zumindest indirekt auch mit der südamerikanischen Befreiungstheologie zu tun hat, davon zeugt Zachers Gewohnheit, dem Chor, aber niemals dem Publikum, vor einer Aufführung den Text der chilenischen Legendas dei Cristo Negro vorzulesen: »Wenn mir einzelne Choristen daraufhin sagten, nun könnten sie nicht mehr singen, waren sie bestens vorbereitet, vor das Publikum zu treten« (s. auch Abb. XXVIlI, S. 124). Bei solcher »subversiven Erinnerung an das Leiden Jesu« (Johann Baptist Metz) ist zugleich auch befreiende Erinnerung in diesem Werk präsent; so lautet denn die Conclusio, verbunden mit der Aufforderung zu bedenken, was dieser Satz heute bedeuten kann: Laß ja uns Sündern Deine Pein den Eingang in das Leben sein. Bezeichnend für Zachers musikalische Reflexion ist, daß diese zwei Zeilen realiter gar nicht erklingen, sondern von den Beteiligten in ihrem Innem bewegt werden sollen. Zum Verständnis dieses Werkes ist wichtig, daß Zacher es als kritisches . Gegenstück zu Pärts extrovertierter Passion konzipiert hat. Einen extremen Kontrast zu Zachers Passionsmusik bildet, so scheint es zunächst, Arvo Pärts lateinische Johannespassion für Soli, Chor, Orgel und vier solistisch besetzte Instrumente Moline, Oboe, Violoncello, Fagott) von 1982/1985. Für den in Estland lutherisch aufgewachsenen, sich später zur russisch-orthodoxen Kirche bekennenden Komponisten ist »Stille immer vollkommener als Musik« und ideale Polyphonie »unaufhörliches Gebet«. Kompositionstechnische Grundlage von Pärts Passion bilden eine einfache, von der Gregorianik angeregte Melodik in stufenweiser und symmetrischer Auf- und Abwärtsbewegung sowie eine zwar auf Dreiklängen beruhende, jedoch nicht im traditionellen Sinn tonal-funktionale Klanglichkeit: Beispiel 62 7
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Abgesehen vom Exordium und der von Pärt vermutlich einem Gesangbuch entnommenen Conclusio der Longueval-Passion (,>Qui passus est pro nobis, miserere nobis. Amen«) folgt der Text Wort für Wort der lateinischen Bibelübersetzung (Vulgata). Welche Bedeutung Pärt der Textautorität zuweist, geht daraus hervor, daß die einzelnen Versnummern der Kapitel 18 und 19 des Johannesevangeliums jeweils sorgfaltig, Nummer für Nummer, in die Partitur eingetragen sind. Eine zentrale Rolle spielt auch die objektivierend distanzierte Textdeklamation. Diese erfolgt durchwegs syllabisch. Die Evangelistenpartien erklingen, von gewissen textbedingten Ausnahmen abgesehen, in regelmäßigen Viertelnoten, wobei die ersten und letzten Silben von Sätzen und Satzteilen zu längeren Noten gedehnt sind. Jedes Wort ist vom folgenden durch einen Divisionsstrich getrennt, wobei die Zahl der metrischen Einheiten pro »Takt« im Notentext vermerkt ist; Interpunktionen sind durch Pausen wiedergegeben: Beispiel 63
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»Da Jesus dieses gesprochen hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach IKidron)"
Von der Viertelbewegung der Worte des Evangelisten unterscheidet sich die Deklamation der in regelmäßigen Halben vorzutragenden Worte des Pilatus und der in punktierten Halben zu singenden Jesusworte. Ausnahmen davon bilden, im Sinne lediglich angedeuteter Expressivität, Jesu Worte arn Kreuz (s. Beispiel 64,
S. 138). Die Instrumente sind gewöhnlich in gegenläufiger Bewegung, bald simultan, bald alternierend zur Singstimme eingesetzt. Wie in den Passionen des 16. Jahrhunderts sind nicht nur die Turbae, sondern, mit Ausnahme von Jesus und Pilatus, auch die übrigen Soliloquenten (Petrus, Ancilla) stets vierstimmig gesetzt. Mit der solistischen Vertonung der Jesus- und auch der Pilatusworte findet der im Johannesevangelium besonders hervorgehobene Dialog der die zwei Welten (Diesseits und Jenseits) vertretenden Prozeßkontrahenten in Pärts Werk eine Entsprechung. Die Narratio des Evangelisten wird von Solisten wechselweise von einer bis zu vier Stimmen vorgetragen; die Turbae sind einem kleinen Chor anvertraut. Pärts Passion ist ein Sonderfall. Verglichen mit anderen Werken ähnlichen Umfangs wirkt sie als eine Art von musique pauvre, als eine armselig, im Sinne von
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Beispiel 64
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..Spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe [das ist dein Sohnl !. .. l spricht er: Mich dürstet.«
schmucklos gestaltete Musik, die einen Teil ihrer Faszination jedoch gerade dieser kunstvollen Ärmlichkeit verdankt. In einer kargen musikalischen Sprache erzählt sie die Geschichte vom Leiden und Sterben des Mannes von Nazareth. Damit schafft sie Distanz und Nähe zugleich: ein im tiefsten Sinne des Wortes liturgisches, wenn auch im Gottesdienst nicht leicht aufführbares Werk. Zachers und Pärts Passionen signalisieren Grenzwerte heutiger Passionskomposition. Beide Werke vermitteln in ihrer Gegensätzlichkeit etwas von dem, was der Philosoph Cusanus im 15. fahrhundert als »coincidentia oppositorum«, als »Zusammenfallen der Gegensätze« bezeichnet hat. Und so bleibt die Vertonung der biblischen Passionstexte auch für die Zukunft ein immer wieder neu zu lösendes Problem.
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Sachworterklärungen cantus firmus - die einem mehrstimmigen Satz zugrunde gelegte Melodie, die einem schon zuvor bestehenden geistlichen oder weltlichen Repertoire entnommen ist chora/iter - wie ein Choral, d.h. einstimmig Choralton - einem Choral zugrundeliegende Tonart und Melodie Conclusio - Abschluß; in der Passion: der auf den erzählenden Hauptteil folgende, nicht unmittelbar dem Bibeltext entnommene Schluß doctrina - Lehre, Unterweisung in einer überlieferten Lehre Exordium - Einleitungsstück zu einer Rede; in der Passion: die Überschrift (»Passio Domini nostri 1...1«, »Das Leiden unseres Herrn L .. l«) figuraliter - mehrstimmig (im Gegensatz zu einstimmig) Figuren - mittels bestimmter Tonfolgen dargestellte Worte oder Abbildungen (Tonsymbole) Generalbaß - Instrumentale Baßstimme, auf der eine akkordische Begleitung aufgebaut ist gratiarum actio - Danksagung; in der protestantisch-evangelischen Passion als Conclusio dem erzählenden Text angefügt Historia - Geschichte, Heilsgeschichte; mit Bezug auf die Passion: die Leidensgeschichte Jesu als Heilsgeschichte identificatio - Identifikation (mit dem leidenden Jesus) imitatio - Nachahmung (des leidenden Jesus) Intermedium - instrumentales oder vokal-instrumentales Zwischenspiel, eingefügt zwischen den verschiedenen Teilen der Passion Monodie - um das Jahr 1600 aufkommender Stil: instrumentalbegleiteter Gesang motettisch - nach Art einer Motette, d.h. mehrstimmig, meist chorisch vokal Narratio - erzählender Teil einer Passion (im Gegensatz zu Partien mit direkter Rede) oratorische Passion - Passion mit Stilelementen eines Oratoriums (Generalbaß und ariose Elementel, jedoch unter Beibehaltung des Bibeltextes Orthodoxie - konfessionelle Strenggläubigkeit Passionsharmonie - aus allen vier Evangelien zusammengestellter und stark verkürzter biblischer Text der Leidensgeschichte, in welchem die Sieben Worte Jesu am Kreuz von besonderer Bedeutung sind Passionsoratorium - Oratorium, in welchem das Passionsgeschehen, nicht aber notwendigerweise der biblische Passionstext im Mittelpunkt steht Passionston - traditionelle Tonart mit festgelegten melodischen Formeln, in welcher der Passionstext vorgetragen wird
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Pietismus - im 17. Jahrhundert einsetzende Glaubensbewegung, für welche das persönlich fromme Leben im Mittelpunkt steht
poetische Passion - Begriff des 18. Jahrhunderts: nach oratorischer Weise komponierter biblischer Passionsbericht mit neu gedichteten poetischen Texten (Arien, Ariosi), welche hier größeres Gewicht beanspruchen als in der oratorischen Passion punti della passione - kurze und schlichte mehrstimmige Abschnitte für die direkten Reden der Volksmenge (Turbae) in den italienischen Passionen responsoriale Passion - im Wechsel von ein- und mehrstimmigem Gesang vorgetragene Passion Rezitationston - Tonart und Melodik, wie sie zum Vortrag einer Passion verwendet werden Soliloquenten - die in der Passion auftretenden Einzelpersonen, gewöhnlich unter Ausschluß von Jesus, der eine Sonderstellung einnimmt Summa passionis - gleichbedeutend mit Passionsharmonie (s. oben) Synoptiker - die Verfasser der drei ersten Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas), denen gegenüber der etwa dreißig Jahre später schreibende Johannes eine Sonderstellung einnimmt Turba - Menschenmenge, Chor einer Menge von Personen (jünger, Juden)
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Literatur Zitierte Literatur Axmacher, Elke: »Aus Liebe will mein Heiland sterben«, Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert. Beiträge zur theologischen Bachforschung, Neuhausen-Stuttgart 1984 Besch, Hans: J. S. Bach, Frömmigkeit und Glaube, Kassel 1949 Braun, Werner: Die mitteldeutsche Choralpassion im achtzehnten Jahrhundert, Berlin 1960 Brown, Howard M.: Musica para la pasion de Criste de Anchieta y otros: Musica espanola hacia 1500 en un concierto pan-europeo, in: Kongreßbericht der 1II. Semana de Musica Espanola, Madrid 1988, S. 223-248 Dürr, Alfred: Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, Entstehung, Überlieferung, Werkeinführung, München/Kassel 1988 Gonzalez-Valle, Jose-Vicente: Die Tradition des liturgischen Passionsgesangs in Spanien, Dissertation München 1974; in spanischer Sprache: Monumentos de la musica espanola, Bd. XLIX (1992) Helm, Everett Eugene: Thematic Catalogue of the Works of Carl Philipp Emanuel Bach, New Haven/London 1989 Heyink, Rainer: Die Passionsmotette von Antoine de Longueval, Herkunft, Zuschreibung und Überlieferung, in: Archiv für Musikwissenschaft XLVII (1990), S.217-244 Hirschmann, Wolfgang: Bemerkungen zur Johannespassion 1745 von G. Ph. Telemann, in: Magdeburger Telemann-Studien XIII, Magdeburg-Oschersleben 1994, S. 36-66 Hörner, Hans: G. Ph. Telemanns Passionsmusiken, Kiel 1933 Krummacher, Friedhelm: Die Tradition in Bachs vokalen Choralbearbeitungen, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969, S. 47 Marx, Hans Joachim: » ••• eines weltberühmten Mannes gewisse Passion«. Zur Herkunft der Händel zugeschriebenen Johannes-Passion, in: Musica 41 (\987), S.311-316 PIaten, Emil: Johann Sebastian Bach: Die Matthäuspassion. Entstehung, Werkbeschreibung, Rezeption, Kassel 21997 Rochlitz, Johann Friedrich: Johann Sebastian Bachs große Passionsmusik nach dem Evangelisten Johannes, in: Für Freunde der Tonkunst, Bd. 4, Leipzig 1832, S. 43 Off. Roth, Elisabeth: Der volkreiche Kalvarienberg, Berlin 1958 Ruh, Kurt: Zur Theologie der mittelalterlichen Passionstraktate, in: Theologische Zeitschrift VI (950), S. 20
141
Schleiermacher, Friedrich: Predigten II (Neue Ausgabe 1843), S. 410 Schmitz, Amold: Oberitalienische Figuralpassion des 16. Jahrhunderts, Mainz 1955 Schuler, Manfred: Spanische Musikeinflüsse in Rom um 1500, in: Anuario musical XXV (1971), S. 27-36
Allgemeine Literatur zur Passion Lexika, Handbücher Die Musik in Geschichte und Gegenwart, I. Auflage, Bd. 10 (962), Artikel Passion, Sp. 886-933 Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Auflage, Sachteil, Bd. 7(997) Handbuch der deutschen evangelischen Kirchenmusik, nach den Quellen herausgegeben von Konrad Ameln, Christhard Mahrenholz und Wtlhelm Thomas unter Mitarbeit von Carl Gerhardt. I. Band: Der Altargesang, 3. Teil: Die biblischen Historien, Die einstimmigen Weisen; 4. Teil: Die biblischen Historien, Die mehrstimmigen Sätze, Göttingen 1974 Handbuch der musikalischen Gattungen, Bd. 10: Oratorium und Passion, hrsg. von Günther Massenkeil, Laaber (in Vorbereitung) The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 14 (980), Artikel Passion, S. 276-286 The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Neue, ergänzte Ausgabe (in Vorbereitung)
Geschichte der Passion Fischer, Kurt von: Die Passion von ihren Anfangen bis ins 16. Jahrhundert, in: Gattungen der Musik in Einzeldarstellungen, Gedenkschrift Leo Schrade, Bem und München 1973, S. 574-620 Gerber, Rudolf: Die deutsche Passion von Luther bis Bach, in: Jahrbuch der Luther-Gesellschaft XllI (831), S. 131ff. Kade, Otto: Die Ältere Passionskomposition bis zum Jahr 1631, Gütersloh 1893 (Reprint Hildesheim 1970) SmalIman, Basi1: The Background of Passion Music. J. S. Bach and his Predecessors, London 1957, New York 21970
142
Ikonographie Brehier, Louis: Lart chretien, Paris 1928 Schiller, Gertrud: Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968 Weber, Hans-Ruedi: Und kreuzigten ihn, Göttingen 1979
Bildnachweis Archiv für Kunst und Geschichte (AKG) Berlin : Abb. XIX, Abb. XX und Umschlag (UI) Bärenreiter-Archiv: Abb. Xl, Abb. XIV, Abb. XV, Abb. XVI, Abb. XXI, Abb. XXIII und Abb. XXIV Staatsbibliothek Bamberg, Msc. BibI. 140, fol. 10v: Abb. VI Bildarchiv Foto Marburg: Abb. I, Abb. III, Abb. IV, Abb. XII und Abb. XXIX Verlag B. Schott's Söhne, Mainz: Beispiel 58 und Beispiel 59 Privatbesitz Dr. Hans-Ruedi Weber, Le Vaud/Schweiz: Abb. 11, Abb. XXVI und Abb. XXVIII Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.11.1 Aug. 20, fol. I v: Abb. XXII Gerd Zacher: Beispiel 60 und Beispiel 61 Aus dem Besitz des Autors: Abb. V, Abb. VII, Abb. VIII, Abb. IX, Abb. X, Abb. XlII, Abb. XVII, Abb. XVIII und Abb. XXV
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Personenregister Ahrens, joseph 117 Alberti, Gasparo 41 Anchieta, juan de 47f. Aretino, Paolo 42f, 51f, 64 d'Arezzo, Margaritone 19 d'Argentil, Charles 56 Bach, Carl Philipp Emanuel 96, 100f Bach, johann Christoph 101, 113 Bach, johann Sebastian 72, 79, 88, 89, 91 ff., 98, 102ff., 113ff., 130, 132 Barblan, Otto 126 Bassano, jacopo 70 Baumann, Max 126, 130 Beber, Ambrosius 65 Beethoven, Ludwig van 113 Besler, Samuel 64 Blarr, Oskar Gottlieb 127, 130 Bonaiuto, Andrea di 31 Brockes, Heinrich 98 Brunner, Adolf 126 Bucenus, Paulus 67 Bunsen, Christian Carl josias von 115 Burck, joachim a 68 Byrd, William 34 Collum, Herbert 126 Comes, juan Bautista 49 Corteccia, Francesco 35,40f.
144
Daser, Ludwig 68, 73 Davy, Richard 34f. Demantius, Christoph 68, 73f. Denissow, Edison 126 Desta, Gebre Kristos 122, 132 DistIer, Hugo 118ff. Doles, johann Friedrich 112 Dürer, Albrecht 28f
EI Greco 46, 71 Falconio, Placido 41 Fasch, Johann Friedrich 98, 100 Ferrarensis, Paulus 41 Ror, Christian 86f., 93 Funcke, Friedrich 88 Galliculus, johannes 65ff. Gallus, jacobus 53ff., 67f. Gesius, Bartholomäus 65, 67 Graun, Carl Heinrich 101f., 112 Gubaidulina, Sofia 126 Guerrero, Francisco 47f. Händel, Georg Friedrich 98f. Harnisch, Siegfried 64 Haydn, joseph 116 Herold, johannes 68 Herzogenberg, Heinrich von 115f. Heyden, Sebald 61 Homilius, Gottfried August 112 Kagel, Mauricio 130 Keiser, Reinhard 91 ff., 98f, 103 Krieger, johann Philipp 92 Kuhnau, johann 103 Kühnhausen, Georg 89f Lasso, Orlando di SOff., 56, 114 Lechner, Leonhard 68, 73f., 118 Liszt, Franz 117 Longueval, Antoine de 36ff., 43, 49f., 53f., 56, 59, 61, 65ff., 119, 137 Lossius, Lucas 59f. Luther, Martin 56ff., 67, 132 Mancinus, Thomas 64
Mangon, Johannes 50 Mantua, Jachetus de 55 Martin, Frank 125f Mattheson, Johann 98 Meder, Johann Valentin 89ff., 95 Meiland, Jakob 64 Menantes (Hunold, Christian Friedrich) 97f. Micheelsen, Hans Friedrich 126 Nasco, Jan 43,48f. Neukomm, Sigismund 115 Obrecht, Jacobus 36 010r6n, Juan de 49 Paisiello, Giovanni 45 Pärt, Arvo 13 0, 13 6ff. Penderecki, Krzysztof I26ff. Pepping, Ernst 119, 125 Peranda, Marco Gioseppe 75 Perosi, Lorenzo 116 Ramler, Carl Wilhelm 101 f, 112 Regnart, Jakob 53 Rembrandt 126f. Resinarius, Balthasar 68, 73 Ritter, Christian 92ff. Rore, Cypriano de 43f., 51, 56 Ruffo, V1ncenzo 43
Scandello, Antonio 64f., 75, 82 Scarlatti, Alessandro 45 Schroeder, Hermann 117 Schütz, Heinrich 75ff., 84, 115f., 118f. Sebastiani, Johann 85ff., 93 Selle, Thomas 81 ff., 86, 88, 91 Sermisy, Claudin de 55 Sogliani, Giovanni Antonio 28f., 69 Spitta. Friedrich 115f. Spohr, Louis 113 Stölzl, Gottfried Heinrich 98 Strutius, Thomas 90f. Telemann, Georg Philipp 96, 98ff., 109 Theile, Johann 88f, 91 Thomas, Kurt 118f. Tracy, Charles Michael 123, 132f. V1ctoria, Tomas Luis de 47, 114 Vopelius, Gottfried 102 Vulpius, Melchior 64 Walter, Johannes 62ff., 68, 76, 81, 84, 102 Wanjau, Samuel 124 Wenzel, Eberhard 126 Weyrauch, Johannes 126 Zacher, Gerd 130ff., 138