Kröten, Käfer, Knutbälle: Gendesignte Hybridwesen, den Menschen zu Diensten. Lebendig, billig, biologisch abbaubar. Der...
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Kröten, Käfer, Knutbälle: Gendesignte Hybridwesen, den Menschen zu Diensten. Lebendig, billig, biologisch abbaubar. Der brave Konsument Aric Ekloppos, verliebt in die Weltkaiserin, entrinnt knapp einem unschönen Tod. Er trifft auf berühmte Talkmaster, verdrehte Politiker, stählerne Untergrundkämpfer und einen galaktischen Weltraumhai, der die ganze Erde verschlingen will … und einen verdammt guten Grund dafür hat. Schräge Ideen, schrille Figuren, scharfzüngiger Humor: »Symbiose« ist Biopunk à la Post.
Post [Uwe], der. Diplom-Physiker, Journalist, SoftwareEntwickler, Kurzfilmer, Autor unzähliger Geschichten der Genres Science Fiction und Fantasy, wohnhaft in Faustkeilwurfweite zum Neandertal. 2006 ausgezeichnet mit dem William-Voltz-Award für die Story »edead.com«. Nominiert für den Deutschen Science Fiction Preis wurden die längeren Erzählungen »Teufe 805« und zuletzt »Noware« (2009). Spätestens seitdem Helmuth W. Mommers extra das Attribut »postig« für Posts Erzählungen einführte, sinniert der Autor permanent darüber, wie er seinen schrägen Ruf verteidigen kann. Nach der bei BoD erhältlichen Fantasy-Comedy »Zweiland«und der Storysammlung »Zisch Zitro für alle!« war ein exzentrischer SFRoman wie »Symbiose« die logische Folge. Derzeit schraubt Post an seinem nächsten Roman, einer Weltraumdetektivkomödie für die ganze Familie. post-sf.de
Uwe Post SYMBIOSE
Eine Veröffentlichung des Atlantis-Verlages, Stolberg März 2009 © 2009 Atlantis Verlag Alle Rechte vorbehalten Druck: Schaltungsdienst Lange, Berlin Titelbild & Schriftzug: Ernst Wurdack Umschlagmontage: Timo Kümmel s/k/l: rydell ISBN 978-3-941258-11-2 Besuchen Sie uns im Internet: www. atlantis-verlag. de
Gott hat den Menschen erschaffen, weil er vom Affen enttäuscht war. Danach hat er auf weitere Experimente verzichtet. Mark Twain
Prolog
Wind rauscht durch einen Wald aus schlanken Bäumlingen. Dakstan, gewandet in seinen saubersten Umhang, verankert seinen drahtigen Körper mit dem hinteren Arm am nächsten Baumstamm. Er lässt den Blick schweifen, über die anderen Harnok hinweg. Einige schwanken im Wind, andere zittern aus Furcht. Dakstan murmelt eine Beschwörungsformel, um sich zu beruhigen. Dann hört er das Donnern. Erst fern, dann viel zu nah, überall. Der Waldboden vibriert, kreischt, zerfällt wie ein welkes Blatt. Strahlendes Weiß tritt in die entstandene Lücke, das Nichts heult, Dakstan kreischt unhörbar. Flackert das Sonnenlicht? Dakstan reißt den Blick von der weißen Lücke, sieht nach oben, klammert sich mit den beiden restlichen Armen an den Baum: Der blaue Himmel bekommt Runzeln, faltet sich zusammen, wird verdrängt von grauen Wolken, die aus einem Nichts jenseits der Atmosphäre herbei gesaugt werden. Besitzergreifend breiten die Wolken ihre Arme aus, verlieren den Kampf gegen das Blau, zerfasern und geben Ruhe. Der Wind lässt nach. Als Dakstan wieder geradeaus sieht, ist die weiße Lücke im Wald verschwunden. Stattdessen befindet sich jetzt wieder Erde dort, aber sie ist grau und fremd, ohne Bäume und in ihr gähnt
eine hohe, dunkle Öffnung, aus der es nach Kuchen riecht. Zwei Himmel sind einer geworden, zwei Erdböden zu einem neuen Lebensraum. Dakstan stellt fest, dass ihn jeder einzelne Muskel vor Anspannung schmerzt. Aber noch kann er sich nicht beruhigen. Ein riesiger, bräunlich glänzender, amorpher Körper schiebt sich aus der Höhle, bildet einen Tentakel und scheint die Umgebung erforschen zu wollen. Als das Wesen die gelb gekleideten Harnok bemerkt, verharrt es und fängt an, rhythmisch zu grunzen. Vorsichtig lässt Dakstan seinen Baum los. Er entspannt sich knarzend und geht langsam auf das Wesen zu, um es zu begrüßen. Die Verschmelzung ist beendet. Für dieses Mal.
1 Krönung
»Zur Krönung! Der Körper der Kaiserin! Für alle!« Die Rufe der Spamtauben hallten von den Wänden der Glasfassaden am Neurasia-Platz wider. Verlangen wallte in Aric hoch. PromiSym hatte sich frühzeitig die Rechte am Erscheinungsbild Tigas gesichert und bot die ihr nachempfundenen Erosyms zu horrenden Preisen an. »Auch günstige Ratenzahlung möglich«, gurrte eine hektisch flatternde Spamtaube direkt vor Arics Gesicht. Der junge Mann verscheuchte den schillernden Vogel mit einer unwilligen Handbewegung und suchte nach einer Stelle mit guter Sicht. Natürlich hätte er die Krönung gemütlich zuhause via Web3D verfolgen können, aber er hatte das untrügliche Gefühl, dass er heute Abend hautnah dabei sein musste, wenn die neue Kaiserin die Weltkrone aufgesetzt bekam. Ein paar Hunderttausend andere Weltbürger empfanden ähnlich. Die Regierung hatte offenbar nicht mit einem solchen Andrang gerechnet – selbst die breiten Straßen von Amsterdam 2.0 waren zu schmal, um die Schaulustigen zu bewältigen. Sonderzüge waren überfüllt wie sonst nur die stahlalten Vorortbahnen von Mumbai, Shanghai und Teheran. Alle wollten ihrer Kaiserin nahe sein, egal was es Körper und Konto kostete. Die johlende Menge schob sich um die nächste Ecke und erhaschte den ersten Blick auf die Projektionsfläche an der Arena, in der die Zeremonie stattfand. Aric legte den Kopf in den
Nacken, als ein Schwarm Warbirds schnatternd und erhaben vorbei glitt und einen Schweif goldenen Feuerwerks an den abendlichen Himmel spritzte. Dann sah er wieder zur Projektionsfläche. Die Kamera schwenkte über ein Feld aus goldenen und bunten Fahnen, die das Meer des Friedens bildeten, aus dem die Kaiserin auf den Thron steigen würde. In der Ecke der riesigen Bildfläche entfaltete sich eine Einblendung, die einen Blick hinter die Kulissen warf. Tiga trug eine weiße Toga mit blitzenden Sternen und winkte lachend in die Kamera. Sprechchöre »Ti-ga, Ti-ga« tönten über den Platz. Arics Blick fiel auf den unteren Rand der Projektion: 10. März 2134, das historische Datum, das die Zukunft nie vergessen wird – der Beginn der Regentschaft Tigas, der wahrhaft Goldenen. Ein Infostrauß baute sich langbeinig vor Aric auf, fixierte ihn mit schelmischem Blick. »Genieße auch du einen herrlichen Ruhestand an den Traumstränden auf Vyrroc. Ein Geschenk an deine eigene Zukunft kann kein schlechtes sein.« »Nein danke«, sagte Aric fröhlich, »aber hast du eine Swosh?« »Sehe ich aus wie ein Getränkeautomat? Ich rufe dir einen, wenn ich dir ein Beratungsgespräch vermitteln darf.« Aric grinste. »Einverstanden.« Der Strauß nickte zufrieden und winkte mit einem Stummelflügel. Diese Geste war rein symbolisch, denn der per Funk herbeigerufene Trinkuin kam von der anderen Seite. Er watschelte eilig heran und strahlte angenehme Kühle aus. Name und Aussehen des Symbionten erinnerten an einen Pinguin, aber Körpergröße und Werbelo-
gos waren die eines knallbunten Kühlschranks auf Füßen. »Was darfs sein?«, fragte der Trinkuin und ließ den Werbejingle von Swosh hören. Aric schnippte mit den Fingern. »Eine Swosh.« »Natürlich.« Der Symbiont öffnete das Ausgabefach an seinem Bauch, und eine glitzernde Flasche kam zum Vorschein. Aric griff zu, im gleichen Moment machte sein Geldbeutel Pingpingping. »Preise erhöht, wie?« »Aufgrund der erforderlichen Einsatzkapazitäten war eine Kostenanpassung unvermeidbar«, schnarrte der Trinkuin, klappte den Bauch zu und verschwand zwischen bunt gekleideten Körpern. Aric wurde mit der Menge weiter geschoben. Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche und empfand kurz darauf die dicht gedrängten Körper als warm und willkommen. Sogar, als ein unangenehm riechender Kerl neben ihm eine Klokröte rief und sich in den herbei geeilten Allesfresser übergab, kicherte Aric belustigt. Der Symbiont gluckerte davon, um dem nächsten Kunden zu Hilfe zu eilen. Eine Gruppe Vyrroc stand regungslos abseits an einem Hauseingang und beobachtete die Krönung und das bunte Treiben. Die Außerirdischen trugen passend zum Anlass bunte Schleifen an den Armen, hielten sich aber vornehm im Hintergrund, als würde sie die ganze Sache nichts angehen. »He«, machte Aric, als ihn jemand von hinten kräftig schob. Zahlreiche Körper nahmen ihm den Raum zum Atmen, aber das war erst der Anfang. Die nächste Einblendung erschien auf der Wandfläche. Eine der Zofen der neuen Kaiserin entblößte kurz ihren Oberkörper,
als sie ihr blaues Kleid richtete. Sofort wurde die Einblendung gezoomt und füllte, mehrfach in Zeitlupe wiederholt, die gesamte Bildfläche aus. Grölen und Klatschen wogten durch die Masse. Jemand stieß Aric kräftig von hinten an, er verlor seine Flasche Swosh. Mit einem »Macht ja nichts« bückte er sich mühevoll nach ihr, erhielt einen weiteren Stoß und verlor das Gleichgewicht. Er hielt sich an irgendjemandem fest, rutschte ab und lag plötzlich auf dem Bauch. Die Menge füllte lautstark die Lücke. Eine Welle aus feiernden Menschen schlug über ihm zusammen. Ein Stückchen weiter lag die Swosh-Flasche. Jemand zertrat das weiche Plastik. Arics Knochen teilten dieses Schicksal kurz darauf.
2 Frösche
Das Scallaway fiepte zufrieden, als Leop es auf seinem Kopf platzierte. Der einem Gecko ähnelnde, graue Symbiont klammerte sich mit winzigen Klauen an den schwarzen Haaren fest und fing an, mit seinen geschickten Lippen Schuppen abzukratzen und zu vertilgen. Leop genoss das sanfte Kraulen und wandte sich wieder seinem Rechenblatt zu. Sein Zeigefinger malte Gesten auf die graugrüne Oberfläche, bis der papierdünne Computer Tabellen und Grafiken anzeigte. Als Symbioniker am Heidelberger Biotools-Institut war Leop ununterbrochen damit beschäftigt, die Schöpfungsparameter geplanter Neuentwicklungen zu prüfen und zu optimieren. Leops momentane Aufgabe bestand darin, die Parameter eines Reinigungsegels dahingehend zu modifizieren, dass das Tier auch Schmutz unter Fingernägeln entfernen konnte. Allerdings war es kein leichtes Unterfangen, die Beißwerkzeuge entsprechend umzubauen. Leop schüttelte langsam den Kopf und ließ das Rechenblatt sinken. Heute fehlte es ihm einfach an Inspiration. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Ideen wie Bläschen in einem Glas Bier in ihm hochgestiegen waren, zu kreativem Schaum, den er nach Belieben abschöpfen konnte; doch das Getränk war schal geworden, stand zu lange sinnlos in einer einsamen Bar herum.
Früher waren ihm Gedanken abhanden gekommen, weil sie von neuen, besseren Ideen überrumpelt wurden, heute verursachte ihm ausbleibende Inspiration Bauchgrimmen, Sodbrennen und Verstopfung. Glücklicherweise bot das Wunder der Symbiose Abhilfe. Leop war froh, an den Segnungen der Gegenwart teilhaben zu können und streichelte seine Telefonschnecke, die hinter seiner Ohrmuschel wartete. Die Schnecke bildete sofort zwei Tentakel, schob den einen hinunter zu Leops Kehlkopf und den anderen in den Gehörgang. »Bestellhotline«, sagte Leop, und die Schnecke stellte über das Funknetz eine Verbindung her. »Was wünschen Sie, Herr Üller?« In Leops Ohr erklang eine warme Stimme, die wie eine spärlich angezogene Studentin klang, in Wirklichkeit aber eine festgewachsene Meerkatze mit direktem Anschluss an den Zentralrechner des nächsten Universalbringdienstes war. Leop war selbst am Design dieser Symbiontenart beteiligt gewesen. »Eine Packung Psyfrogs bitte.« »Mit Chili- oder Schokogeschmack?« »Pfefferminz, wenns geht.« »Ist schon unterwegs«, flötete die Meerkatze. »Darf ich Ihnen eine Probierkröte Sweetdream-Erdbeer beilegen?« Leop verzog das Gesicht. »Auf gar keinen Fall«, entgegnete er und tippte seine Telefonschnecke an, die daraufhin ihre Tentakel zurückzog. Süße Träume hatte Leop schon genug. Meist spielte darin seine Kollegin Mooha die Hauptrolle. Leop war kein Schuljunge, aber in Bezug auf Mooha benahm er sich wie einer. Verliebt wie mit Sechzehn. Sinnlos, chancenlos, zyklisch schmerzend
und in jedem Traum aufs neue erotisch. Vielleicht lag das Problem darin, dass Leop seine Pubertät hauptsächlich mit Psyfrogs verbracht hatte, wenn er nicht gerade im Web3D Vorlesungen über Symbionten-Design schwarzhörte. Seit seinen ersten Wachträumen, in denen er Einhörnern und Drachen begegnete, wusste er eines: Er wollte nicht nur Konsument sein. In ihm steckte ein Schöpfer. Dieses Ziel hatte er zweifellos erreicht, obwohl er weder Einhörner noch Drachen erschaffen durfte, denn die hatte Disney mit einem undurchdringlichen Stacheldrahtverhau aus Patenten umgeben. Deshalb bereiteten ihm nur blöde Reinigungsegel Kopfzerbrechen. Nachdenklich starrte Leop aus dem Fenster. Seine Wohnung befand sich in einem Altbau, der nur mit der nötigsten symbiontischen Ausstattung versehen war: Versorgungsstrang zum Muttersystem, luminiszierende Wandflechten, Moosteppich. Im Gegensatz zu modernen, vollsymbiontischen Wohnungen, gab es hier noch ein klassisches Glasfenster, bloß der alte Heizkörper war nicht mehr in Betrieb, weil Moos, Flechten und Klimawandel für ständig angenehme Temperaturen sorgten. Unten in der Seitenstraße spielten Kinder johlend Knutball. Dabei musste ein weiches, kugeliges Biotool irgendwie ins gegnerische Tor bugsiert werden, was gar nicht so einfach war, weil der Knutball ständig seine Beinchen ausfuhr und die Richtung nach Belieben wechselte. So ein Symbiont war überaus robust, bloß durfte man nicht mit Schuhen dagegen treten (weswegen die Kinder barfuß spielten) oder mit spitzen Gegenständen hantieren. Trotzdem hatten Knutbälle eine geringe
Lebenserwartung – aber die Spielzeug-Massenzucht konnte die Biotools zu sehr günstigen Preisen anbieten. Das Exemplar, um das die Kinder sich gerade balgten, hatte schon ziemlich viel mitgemacht, denn seine Farbe unterschied sich kaum von jener der staubigen Straße, wohingegen Knutbälle im Auslieferungszustand leuchtend weiß waren. Leop konnte sich gut daran erinnern, wie er selbst als Kind viel Zeit damit verbracht hatte, den Mädchen klarzumachen, dass der Knutball nicht zum Kuscheln gemacht war, dafür gab es schließlich Kleinhörner, Guckis und andere rosa Kuschelviecher … In diesem Moment zwitscherte die Wohnungstür. Sie öffnete sich von allein und ließ eine kleine, dürre Elfe herein, die eine bunte Schachtel unter dem Arm trug. Im gleichen Moment ging die Tür der Wohnung gegenüber auf. In der Öffnung erschien Frau Terpitsch, Leops Nachbarin. »Buntes Brot heute«, rief die alte Dame und gestikulierte mit dem Stielschwamm, den sie in der Rechten hielt, offenbar im Putzrausch. »Zweifellos«, entgegnete Leop, der es aufgegeben hatte, die Geheimsprache seiner Nachbarin zu entschlüsseln. »Der Alkoven, kann sein, von früher«, murmelte Frau Terpitsch, winkte ab und knallte ihre Wohnungstür donnernd zu. Leop zuckte mit den Schultern und ließ die Elfe herein. Lächelnd stellte der aus verschiedenen Affenarten entwickelte Symbiont das Päckchen vor Leop auf den Tisch. Das biotronisch gesteuerte Hirn der Elfe war nicht menschlich, aber darauf programmiert, so zu wirken. Außerdem besaß diese Symbiontenart ein Ortungssystem, optimiert für ihren einzigen Daseinszweck: Botengänge.
Nein. Leop verbesserte sich, als er den aufgemalten Schriftzug auf der Stirn der Elfe las: »Nimm mich! 20 Euro.« Dieser Symbiont verfügte also noch über eine zweite Funktion – offenbar betrieb der Botendienst eine Art Zuhältergeschäft, indem er den Kunden ermöglichte, die Elfe mal eben flachzulegen. Leop schüttelte den Kopf und wartete, bis die Elfe mit wippendem Schwanz über straffen Pomuskeln die Wohnung verlassen hatte. Für kurze Zeit schloss der Symbioniker die Augen, um sich zu entspannen. Dann öffnete er die Schachtel mit den Mini-Psyfrogs. Er ließ sich viel Zeit mit dem Aussuchen. Seine Wahl fiel schließlich auf ein rot-gelb-gestreiftes Exemplar. Vorsichtig nahm er den Symbionten aus der Packung und schloss den Deckel. Dann lehnte er sich zurück, schob sich den Psyfrog unter die Zunge und senkte die Lider.
3 Vyrroc
Selbst wer kein Wort der verschiedenen Vyrroc-Sprachen verstand, konnte kaum abstreiten, dass die fremdartigen Laute in Gedichten überaus angenehm klangen. Die Sprechwerkzeuge der beiden unterschiedlich großen Vyrroc-Rassen bestanden aus Hornplatten, die aneinander geschabt wurden. Das verband die Außerirdischen vom zweiten Planeten von Tau Ceti mit einheimischen Grashüpfern. Nicht nur das: Auch Vyrroc verfügten über ein Exoskelett aus einem Material, das Chitin ähnelte. Dieser graublaue, löchrige Panzer bedeckte aber nur die dünnen Beine und den Unterleib. Der sehnige Oberkörper ähnelte jenem eines überaus sportlichen Menschen, wohingegen der Kopf hauptsächlich aus Zähnen und Kauplatten bestand. Wegen der anderen Lichtverhältnissen auf der Heimatwelt der Außerirdischen trugen sie auf der Erde so gut wie immer dunkle Sonnenbrillen – je modischer, desto besser. Das war nur einer der Gründe, aufgrund derer sich Menschen und Vyrroc recht schnell angefreundet hatten. Der Hauptgrund war ein anderer: Mit importiertem Kram vom jeweils anderen Planeten ließen sich respektable Geschäfte machen – egal ob es sich um Chilischnaps und Baumwürstchen in die eine, oder um Miniatur-Eiffeltürme und Popstars in die andere Richtung handelte. Eine weltweite Imagekampagne, die auf Plakaten und in
Werbespots stets Menschen und Vyrroc in einträchtigem Miteinander zeigte, hatte jegliche Phobie im Keim erstickt. Rechte Populismus-Gurus, die Fremdenfeindlichkeit predigten, verschwanden spurlos und keiner vermisste sie. Weniger offensichtlich, aber mindestens so wichtig für das gegenseitige Verständnis, war ein umfangreicher Forscher-Austausch. Aniaa Karim, geboren in einem Stuttgarter Vorort, aufgewachsen im kapitaldemokratischen Dubai, der Weltraum-Metropole, war im Rahmen eines fünfjährigen Stipendiums auf Vyrroc gewesen, um Details der dortigen Biosphäre verstehen zu lernen. Inzwischen war sie zurück, schrieb ihr drittes Buch über ein kaum erforschtes Vyrroc-Baumvolk und beherbergte gerade eine chitinhaltige Studentin namens Pschist-i, die für zwei Jahre nach Tübingen gekommen war, um nähere Bekanntschaft mit Goethes Werk zu machen. »Möchtest du auch etwas Apfel?«, fragte Aniaa leise, legte ihre Notizen beiseite und gönnte der Kritzelmaus eine Pause. »Fichlich gechne«, machte Pschist-i und verzog die Mundplatten zu einem Gesichtsausdruck, der entfernt an menschliches Lächeln erinnerte. Grimassen waren wie Sprache: Ein falsches Detail, und man wurde leicht missverstanden. Da oft das eine nicht ohne das andere auskam, hatten die Menschen im Zeitalter der Internet-Aufklärung kleine Gesichter in ihre Texte eingefügt, um ihre Gefühle auszudrücken, selbst wenn sie im gleichen Augenblick einen völlig anderen Gesichtsausdruck trugen, den ihre Gesprächspartner freilich nicht sehen konnten. Die tatsächlich erlebte Emotion unterschied sich von jener, die der Kommunikationspartner durch die Grimasse wahrnehmen sollte. Etwa so zwiegespalten musste sich Pschist-i fühlen, wenn
sie lächelte, dachte Aniaa. Sie erinnerte sich sehr gut an ihre Schwierigkeiten, auf Vyrroc ein Mindestmaß an Freundlichkeit an den Tag zu legen, indem sie ständig die Nase rümpfte und die Augen zukniff. Das hatte ihr eine chronische Bindehautentzündung eingebracht, die sie nachhaltiger an die Distanz von zwölf Lichtjahren erinnerte, als es jeder astronomische Aufsatz gekonnt hätte. Aniaa stand auf, streckte sich und schlich auf Zehenspitzen in die Küche, um Schiut-e nicht zu wecken. Ihr Gast hatte kurz nach ihrer Ankunft auf der Erde ein Baby zur Welt gebracht und zog es vor, es hier aufwachsen zu lassen, statt es daheim einer der staatlichen Zuchtanstalten anzuvertrauen. Die Vyrroc hielten nicht viel davon, die Erziehung den Familien zu überlassen, die schließlich keinerlei Ausbildung für diese wichtige Aufgabe genossen hatten. Die Entwicklung des Nachwuchses derartiger Unsicherheit auszusetzen, war nach Ansicht der Vyrroc-Weisen in etwa so riskant, wie weltfremde Despoten mit Atombomben spielen zu lassen. Wie es sich für eine viele hundert Jahre alte Demokratie gehörte, durfte man natürlich auch auf Vyrroc anderer Meinung sein – was aber nichts an der Verpflichtung änderte, Kinder unmittelbar nach der Geburt in die nächste Zuchtanstalt zu verfrachten, es sei denn, die war knapp zwölf Lichtjahre entfernt. In der Küche nahm Aniaa einen leuchtend roten Apfel aus dem Regal und schleppte ihn mit beiden Händen nach nebenan. »Chöner Apfl«, summte Pschist-i und beugte sich über die kopfgroße Frucht. Mit ihren kräftigen Mundplatten biss sie ein Stück ab und hielt es Aniaa hin. Die nahm es dankbar entgegen
und hockte sich auf den Rand des Sessels, auf dem die Vyrroc saß. Sie genoss den Apfel und sah dabei zu, wie Pschist-i ein winziges Stück Fruchtfleisch löste und der Kritzelmaus hinwarf, die sich gierig auf den Leckerbissen stürzte. Es konnte nicht schaden, wenn sie sich vor der Fortsetzung des Diktats ordentlich stärkte. »Weißt du«, flüsterte Aniaa mit Blick auf das Baby, das in der Ecke des kleinen Zimmers in seinem Nest schlummerte, »wir werden noch eine richtige Familie.« »Chön«, summte Pschist-i, schmiegte sich an Aniaas warmen Körper und schabte genüsslich mit den Mundplatten. »Kommst du nachher mit zum Training?«, fragte Aniaa. »Du rennst su chnell«, entgegnete Pschist-i. Aniaa lachte. Ja, sie rannte sehr schnell: Das war ihre Leidenschaft. Im vergangenen Jahr hatte sie die Bezirksmeisterschaft über 400 Meter gewonnen und war beim Hürdenlauf auf dem zweiten Platz gelandet. »Ich möchte Techte lesen.« »Texte?« »Über die andechen.« Aniaa nickte langsam. Sie verstand nicht, warum sich Pschist-i ständig in verworrene Lyrik und Prosa über die Unterschiede zwischen den beiden unterschiedlich großen VyrrocRassen vertiefte. Pschist-i schien sich zu einer Erklärung verpflichtet zu fühlen: »Sie sind von Hass echfüllt und unseches Vetchauens unwüchdig.« »Sie behaupten dasselbe von euch, oder?«, sagte Aniaa vorsichtig. »Sie lügen.«
»Auch das behaupten sie von euch.« »Dann lügen sie echneut.« Manchmal fand Aniaa kaum einen Unterschied zwischen Vyrroc und Menschen. Es gab immer »wir« und »die anderen«. Vielleicht konnte es das eine nicht ohne das andere geben. Aus Sicht von Aniaa galt in Bezug auf Pschist-i das »wir«. Oder ein »wir zwei«. Meistens jedenfalls. Hätte sie Pschist-i noch mehr geliebt, wenn sie ein hundertprozentiges Alien wäre, absolut fremdartig, auf der Einstellscheibe des Daseins diametral gegenüber von den Erdenbewohnern? Die Debatte über »die anderen« Vyrroc war zwecklos. Aniaa seufzte, dann lockte sie die Kritzelmaus und bemühte sich, den Faden wiederzufinden. Wie war das noch mit der durch Mythen begründeten Furcht der Baum-Vyrroc vor Sternschnuppen?
4 Würmer
Kurz nach dem Start in die Steilkurve, der Wagen rotierte um die eigene Achse, schwerelos; auf dem Beifahrersitz eine Blondine mit dicken, roten Lippen, die sich anschickte, ihr Top abzulegen, so dass die üppigen Brüste … dann ein anderer Wagen, ein gewagtes Überholmanöver … beim Crash bohrte sich die Leitplanke mitten durch den Unterleib, eine Marmelade aus Eingeweiden tropfte auf die Straße. Arics Traum von Liebe und Autorennen in Wolken endete mit einem Erwachen aus Glühen, Stechen und beißendem Schmerz, begleitet vom Gefühl des Ertrinkens. Er versuchte spontan, wieder hinauf in die Wolken zu schweben, aber er trat Wasser und prallte an den Deckel, der seinen nassen Sarg nach oben begrenzte. »Bleiben Sie ruhig, Herr Ekloppos«, erklang plötzlich eine Stimme in seinem Ohr. »Sie befinden sich in einem Wassertank, um künstliche Schwerelosigkeit zu erzeugen. Dann können die chirurgischen Würmer besser ihre Knochen rekonstruieren. Atmen Sie normal, Sie haben es bald geschafft.« Aric erstarrte. Würmer! Die Erinnerung war wieder da. Stiefel, Schuhe, Beine, Körper … sie trampelten über ihn hinweg, stießen ihn, nahmen ihm die Luft zum Atmen, traten auf seine Hände, Arme, auf seinen Hals. Die Softdroge im Swosh-Drink hatte den vielleicht rettenden Panikanfall verhindert und ihm in
der Bewusstlosigkeit wunderschöne Träume beschert, bis ihn irgendwelche Retter – vermutlich rigorose Zwergpolizisten – aus der Menge gezogen hatten. Und jetzt schwebte Aric in einer Badewanne mit Deckel und wurde von chirurgischen Symbionten-Würmern zusammengeflickt. Genauso gut hätte er als Leiche in einer BiorecyclingAnlage enden können. Er hatte Glück gehabt. Das sagte ihm auch der Oberarzt, der ihm nach der Prozedur einen Zwanzig-Sekunden-Besuch abstattete. Aric schlief ein, und das nächste Erwachen war weniger schmerzhaft, aber genauso überraschend wie das erste. »Herr Aric Ekloppos, richtig?«, fragte ein ganz in Weiß gekleideter Kerl, dessen Haare inklusive Kinnbart modisch silbern gefärbt waren. »Würmer?«, blubberte Aric, nicht ganz Herr seiner Sinne. »Köstlich!«, grinste der weiße Mann. »Mein Name ist Kuuno, AA#1 Web3D News Amsterdam.« Erst jetzt sah Aric den kleinen Kameraffen auf der Schulter des Überraschungsgastes. Der Symbiont besaß Objektive an Stelle von Augen und hielt ihn fest im Visier. Der Bauch des Syms war mit einem Display ausgestattet, das als Teleprompter dienen konnte, im Moment aber nur ein AA#1-Logo zeigte. Kameraffen hatten als halbintelligente Aufnahmegeräte längst den Beruf des Kameramanns beim Fernsehen überflüssig gemacht – ein Web3D-Reporter musste nur noch einen der freilich recht teuren Syms bei sich haben, und er konnte jedes Ereignis aus beinahe beliebiger Perspektive aufnehmen. Dank eingebauter Netzwerk-Schnittstelle übertrugen die Kameraffen das Bild- und Tonmaterial direkt ans Aufnahmestudio, von wo
aus es nach wenigen Bearbeitungsschritten ins Web3D gelangte. »Oh«, machte Aric und sah sich unsicher um. Ein gutes Dutzend anderer Patienten lag Seite an Seite hier im Krankenlager und beäugte neugierig die Szene, ausgenommen die Bewusstlosen. »Die Krönung«, plauderte Kuuno, »war für die Kaiserin der Anfang und wäre für diesen Mann beinahe das Ende gewesen.« Der Affe hüpfte auf den Tisch neben Arics Bett und richtete seine Objektive auf den News-Mann. »Liebe Zuschauer«, sagte der zu dem Kameraffen, »dieser Mann wurde von einer entfesselten, begeisterten Menge aus Versehen beinahe zu Tode getrampelt, aber durch entschlossenes Eingreifen der Rettungskräfte ist er heute wieder wohlauf. Von einem Versagen der Sicherheitsvorkehrungen kann also keine Rede sein.« »Der letzte Satz wird rausgeschnitten«, piepste plötzlich der Affe. »Er könnte zum Nachdenken anregen.« Aric hatte nicht gewusst, dass die neueste Generation der Kameraffen über eingebaute Zensurmodule verfügte, die dem Ministerium für Meinungsschutz einiges an Arbeit abnahm. »Von mir aus«, winkte Kuuno ab und wandte sich an Aric. »An was können Sie sich noch erinnern?« Arics Verstand, immer noch wie betäubt, war kaum dazu in der Lage, eine vernünftige Antwort zu formulieren. Stattdessen lallte er: »Tiga. Tiga iss … so süß …« Dann erinnerte er sich an die Frage. »Swosh«, antwortete er. »Das ist der Hauptsponsor der Konkurrenz«, quiekte der Affe, »wird geändert in ZischZitro.« »Aha«, machte Kuuno, der offenbar nicht davon abzubringen war, den überforderten Aric zu interviewen. »Hier haben
wir einen großen Fan der kaiserlichen Hoheit. Würden Sie sagen, Aric, dass Sie in die Kaiserin verliebt sind?« »Hmmmm«, machte Aric verträumt, der Kameraffe zoomte auf sein entrücktes Gesicht. »Ein ganzer Planet liebt seine Kaiserin«, schwafelte Kuuno und schnippte mit den Fingern, damit der Affe seine Objektive auf ihn richtete, »aber dieser Mann, ja, dieser Mann ist durch den Tod gegangen und hat seine Gefühle bewahrt. Das ist wahre Liebe!« »Es reicht«, piepte der Affe, »unsere Zuschauer fangen an zu heulen, außerdem müssen wir Werbung zeigen.« »Ich bin sicher«, nickte Kuuno, »dass dies nicht das letzte Kapitel einer wunderbaren Liebesgeschichte ist.« »Und aus«, sagte der Affe. Kuuno legte Aric eine eiskalte Hand auf den Arm. »Sie sind ein Star«, sagte er. »Wir bringen Sie ganz groß raus. Talkshow, Plattenvertrag, Auftritt in wohltätigen Semipromi-Quizshows. Sie sind ein gemachter Mann.« »Schöööön«, hauchte Aric und verlor das Bewusstsein.
5 Meeting
Das Morgenmeeting begann mit der üblichen Geheimhaltungsparole, die alle teilnehmenden Symbioniker herunterbeteten. Punkt Nummer Eins der Tagesordnung war eine Fehlfunktion bei einem der Sorgenkinder: Die Reinigungsratten der 6. Generation machten Schwierigkeiten. Sie griffen Füße an. Dr. Paulu, Leops Chef, der Teamleiter des Heidelberger Symbiware-Instituts, das zum koreanischen Animax-Konzern gehörte, hatte das Treffen als dringlich eingestuft, und saß nun sichtlich überarbeitet am breiten Ende der zu einem Dreieck zusammengestellten Tische. Ferner waren vier Techniker aus Leops Team anwesend, sowie ein Vertreter des koreanischen Mutterkonzerns. Alle bis auf diesen starrten konzentriert ihre Fingernägel an, bis der ein weites, buntes Hemd tragende Chef die Stimme erhob. »Seitdem das Mustererkennungs-Modul auf bewegliche Objekte erweitert wurde, bekommen wir die Probleme nicht in den Griff«, erklärte Dr. Paulu. Misstrauisch erlaubte sich Leop einen kurzen Blick auf den schwarz gekleideten Vertreter der Mutterfirma, der still in der Ecke des Raumes saß und sich ununterbrochen Notizen machte, obwohl die Sitzung gerade erst begonnen hatte. »Herr Wronsk«, sprach Dr. Paulu Leops Nebenmann an, »wie ist der Stand der Dinge bezüglich der überarbeiteten
Anbindung der Neurointerfaces an die Funknetz-Einheit?« Wronsk stöhnte, als hätte ihm jemand vor den Solarplexus getreten. »Meine Leute arbeiten an der Implementierung von Reservekanälen.« »Also sind die Hauptkanäle nach wie vor blockiert?« »Blockiert, nein, das würde ich nicht sagen. Vielmehr …« Wronsk verstummte, weil der Koreaner sich erhoben hatte. Er erweckte dabei den Anschein, als hätte er die ganze Zeit gestanden. Die Bewegung, die gewöhnlich erforderlich ist, um vom sitzenden in den stehenden Zustand zu wechseln, hatte bei dem Asiaten anscheinend nicht stattgefunden. Er stand direkt neben dem Bildnis von Li Viley, dem Vater der Symbiose, der ihm griesgrämig über die Schulter linste. »Mein Herr«, sagte der Koreaner, »trifft es zu, dass ein Update der Firmware der fraglichen Einheiten derzeit nicht möglich ist?« Wronsk stöhnte erneut. »Nun«, antwortete er, wollte zu einer weitschweifigen Erklärung ausholen, wurde aber unterbrochen. »Ja oder nein?«, fragte der Koreaner. Wronsk sah von einem zum nächsten. »Ja«, sagte er dann mit belegter Stimme. Der Asiate nickte. »Gut. Dr. Paulu, wieviel kostet es, die betroffene Generation aus dem Verkehr zu ziehen?« »Aus dem …« Der Teamleiter wurde bleich. »Ich …« »Mehr oder weniger als eine Million pro Woche?« Paulu antwortete nicht. Der Asiate warf einen Blick in die Runde. »Das ist das Budget unserer Marketing-Abteilung. Es wird normalerweise benötigt, um die Existenz entlaufener Fehlzüchtungen zu vertuschen. Aber im Moment geht der Großteil dafür drauf, um den Image-
verlust aufzufangen, der von angeknabberten Füßen verursacht wird.« Peinlich berührtes Schweigen breitete sich im Raum aus, als hätte jemand einen fahren lassen. »Gut«, sagte der Koreaner. »Kommen wir zum nächsten Punkt der Agenda. Es geht dabei um eine Rekapitulation der Grundprinzipien Ihrer Arbeitsweise. Beginnen wir mit der Regelung von Arbeitsbeginn und -ende …« Vollkommen gerädert verließ Leop Stunden später den Saal. Er versuchte, sich im Kopf eine Todo-Liste anzulegen, aber sein knurrender Magen schob sich ständig auf Platz Eins. Ohne nachzudenken, wählte er den etwas längeren Weg zu seinem Büro, der an jenem vorbei führte, in dem Mooha arbeitete. Allerdings bekam er nicht die Gelegenheit, ihr einen extra freundlichen Mittagsgruß in Form eines kurzen Nickens durch die Bürotür zuzuwerfen, denn ihr Stuhl war leer. Leop blieb stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Er machte zwei Schritte rückwärts, um einen zweiten Blick in Moohas Büro zu werfen. Nicht nur ihr Stuhl war leer. Das galt auch für ihren Tisch. Ihr Arbeitsplatz wirkte wie ein Willkommensgruß für einen frisch eingestellten, neuen Mitarbeiter. Soviel zu der vagen Idee eines gemeinsamen Mittagessens. Leop spürte, wie sein Magen von Hunger auf Übelkeit schaltete. Dann fuhr er herum und stürmte ins übernächste Büro, in dem Leane arbeitete, die Personalsekretärin. Sie war gerade dabei, ihren Arbeitsplatz Richtung Kantine zu verlassen. »Leop«, sagte sie und gönnte ihm ein unverbindliches Lächeln, »kommst du mit zum Essen?« Leop schüttelte den Kopf. »Wo ist …« Er schluckte. Sein
Auftauchen war schlecht durchdacht. Genaugenommen ging es ihn nichts an, was mit Mooha war. Er würde sich lächerlich machen, wenn er nach ihr fragte. Leane war eine Frau, sie würde ihn durchschauen. Diese Gedanken waren langsamer als Leops Mundwerk. »Was ist mit Mooha?«, fragte es. Die Personalsekretärin starrte ihn aus modisch roten Augen an, ihr Lächeln verwandelte sich in die professionelle Tarnung einer Mitläuferin. »Sie kommt nicht mehr«, antwortete Leane. »Aber das geht uns nichts an.« Leop schoss das Blut in die Wangen. »Natürlich nicht. Ich dachte nur …« »Sei froh, dass du nichts mit dieser Sache zu tun hast. Perfekte Tarnung, aber in Wirklichkeit subversiv bis unter die Haut.« Leane zuckte mit den Schultern. »Ich weine einer antipolitischen Weltverräterin keine Träne nach.« »Keiner tut das«, schüttelte Leop den Kopf. »Na dann leckren Mittag«, schloss Leane im Plauderton und ließ ihn stehen. »Leckren Mittag«, sagte Leop mit belegter Stimme zu ihrem Rücken. Dann trottete er den Gang entlang zu seinem Büro. Es war nicht ungewöhnlich, dass Leute verschwanden. Meist waren es Verschwörungstheoretiker, die bei Politikern Korruption erkannt haben wollten, obwohl es sich um völlig legale Lobbyismus-Praktiken handelte. Es gab keine Skandale, denn wer einen Politiker diffamierte, wurde umgehend zu seiner eigenen Sicherheit vom Netz genommen, bevor er sich eines ernsthaften Verbrechens wie Meinungsschädigung schuldig machen konnte. Da das Web3D allgegenwärtig war, bedeutete
das Schutzhaft in einer gegen das Funknetz abgeschirmten, unterirdischen Internierungsanlage. In Anlehnung an einen uralten Film gab es ein geflügeltes Wort: Wenn Gerüchte über einen möglichen Lügenskandal aufkamen, wurden die »üblichen Journalisten« verhaftet. Leop wusste, dass die Reinigungsbots des Web3D effizient und schnell vorgingen. Aber vielleicht gab es noch eine Spur von Mooha auf ihrer Homesite. Sekunden später saß er an seinem Arbeitsplatz und entriss seine SD-Brillenschlange einem Putzergecko. Er setzte sich auf seinen Stuhl, klemmte die Schlange mit der Display-Seite vor die Augen und sah ein Eishörnchen vor sich, dass ihn mit der Stimme der Schlange darüber unterrichtete, dass die neueste Generation seiner Spezies auch exotische Eissorten wie Walnuss, Muskat und Kastanie produzieren konnte. Mit den Fingern am Schwanzende der Schlange steuerte Leop das Adressverzeichnis an und flüsterte »Mooha«. Dazu gab es aber keine Treffer in Heidelberg. Stöhnend ließ Leop sich gegen die Stuhllehne sinken. Was hatte er eigentlich erwartet? Dass Mooha ihn in ihrem Web3D-Home nur mit einem Nachthemd bekleidet empfangen würde und ihm erklärte, dass sie im 19. Tiefgeschoss der hiesigen Haftanlage saß und ihn erwartete, auf dass sie gemeinsam den Weg aller Verräter gehen konnten? Jemand knuffte Leop in die Seite. Ertappt riss er sich die Schlange vom Gesicht. »Was ist?« Es war sein Kollege Aro. »Hunger?« Aro war als einsilbiger Mensch bekannt, diesmal hatte er zwei Silben geredet und damit sein Tagespensum übererfüllt. »Nein. Das heißt …« Leop riss sich zusammen. »Ja. Doch.«
Aros Kopf zuckte Richtung Tür. Schwerfällig erhob sich Leop, entließ die Schlange wieder in die Behandlung durch den Putzergecko, der ihm die ganze Zeit ungeduldig vom Tisch aus zugesehen hatte und schloss sich Aro an. Wie sich herausstellte, wurden im Innenhof missratene Testratten gegrillt.
6 Schnecke
»Und hier ist wieder Raus damit, die Talkshow ohne Hemmungen. (Raus damit wird Ihnen präsentiert von Rattifix, dem lustigsten Züchter von knuddeligen Reinigungsratten, den ich kenne) Heute ist ein wahrer Romantiker und Held zu Gast – Aric!« Während den Zuschauern im Web3D ein jubelndes Auditorium vorgegaukelt wurde, schwangen sich Kameraffen von einer Gestellstange zur nächsten und richteten ihre Objektive auf Aric und den Moderator. »Ich bin Platt«, sagte der mit einem breiten Lächeln. Verborgene Lautsprecher im Studio gaben das Grölen und Kichern einer imaginären Zuschauermenge wieder, denn der Moderator hieß wirklich Platt und begann jede Sendung mit demselben Kalauer. Platt trug ein kanariengelbes Sakko und hatte seine sichtbaren Zähne rot überkronen lassen. Auf seinem silbernen Haarschopf saß eine Spamtaube, der auf dem Weg zwischen Realität und Web3D-Übertragung unterschiedliche Reklameschildchen in den Schnabel montiert wurden. Aric saß verträumt in seinem Sessel und hatte ein dümmliches Grinsen aufgesetzt, obwohl ihm Platt vor der Sendung dringend nahegelegt hatte, es doch bitte mit einem intelligenteren Gesichtsausdruck zu versuchen. »Aric, wie fühlst du dich in deinem zweiten Leben?«
Die Fragen waren vor der Sendung abgesprochen worden, aber trotz einer gehörigen Portion Beruhigungs-Psyfrogs, die man Aric verabreicht hatte, konnte er sich an die richtigen Antworten nicht mehr erinnern. »Das ist ein sehr bequemer Sessel, Platt«, sagte er und winkte dem Kameraffen, auf dessen Scheitel ein rotes Lämpchen blinkte. Platt war Profi und ließ sich nichts anmerken. Er war schon mit ganz anderen Gästen fertiggeworden, unter anderem mit zweien, die es auf sein Leben beziehungsweise auf sein Gemächt abgesehen hatten. »Dein Besuch bei den Krönungsfeierlichkeiten hat dein Leben verändert, oder?« Einfache Fragen, auf die es nur eine Antwort gab, waren das Patentrezept in dieser Situation. Aber Aric tat dem Moderator nicht den Gefallen, sich an die simplen Regeln der Kommunikation zu halten. »Ich wollte doch nur mein Swosh aufheben«, sagte Aric. »Und was geschah dann?«, hakte Platt nach. Aric zuckte mit den Schultern. »Bin hingefallen.« »Mit Füßen getreten, zertrampelt wie Schmutz, aber auf die Erniedrigung folgte die Rettung«, dramatisierte Platt. »Das hat sicher auch die Kaiserin sehr glücklich gemacht.« Aric sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Sieht Tiga uns jetzt zu?« Ein Regisseur hinter den Kulissen spielte Lacher aus dem Publikum ein. Platt grinste und zeigte seine roten Zähne. Einige davon blinkten hektisch. »Das würde mich nicht wundern«, meinte er. »Würde dir das gefallen?« »Oh ja«, strahlte Aric. »Ich liebe unsere Kaiserin.« »Das tun wir alle«, sagte Platt und breitete die Arme aus. »Was wünscht du dir für die Zukunft?«, fragte er dann.
Aric wurde rot. »Das sage ich lieber nicht.« Platt ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Das war zwar alles nicht abgesprochen, aber es war Zweck der Sendung, dass die Besucher im übertragenen Sinn ihre Hosen runterließen. Er lehnte sich vor, so dass die Spamtaube auf seinem Kopf ernsthafte Balance-Schwierigkeiten bekam. »Komm, wir sind doch unter uns«, sagte der Moderator leise. Ein Kameraffe hastete heran und landete auf Platts Schulter. Die Taube pickte nach dem Affen, aber der ließ sich nicht beirren und richtete seine Objektive auf Aric. Extreme Großaufnahme. Die Zuschauer im Web3D waren ganz nah dran, fast in ihm drin. »Ich …«, begann Aric, sah zu Boden, schluckte, dann: »Ich möchte gerne Kinder haben.« Er blickte dem Kameraffen, der wenige Handbreit vor ihm saß, in die Okulare. »Ich möchte Kinder haben. Mit dir, liebste Tiga!« Diese Worte schienen auch den Regisseur hinter den Kulissen dermaßen zu treffen, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis die simulierten Zuschauer laut losbrüllten, grölten, applaudierten und trampelten. »Aric, meine Damen und Herren«, rief Platt und zeigte mit der flachen Hand auf seinen Gast. Aric nickte, wippte nervös mit den Knien und suchte mit den Augen nach dem Kameraffen mit dem roten Licht, aber es gab keinen. Der Sender zeigte Werbung. »Das war großartig«, sagte Platt und reichte Aric die Rechte. Der ergriff die feuchte Pranke. Dann stand plötzlich eine Assistentin hinter ihm. »Kommen Sie bitte mit«, sagte sie. Aric erhob sich. »Wiedersehen«, sagte er zu Platt, dessen Taube gerade
davonflog, um sich nach Futter umzusehen. »Viel Glück weiterhin«, grinste der Moderator. Die Assistentin führte Aric in die Garderobe. »Sie haben sich gut geschlagen«, sagte sie, weil sie das immer tat. »Kann ich aufs Klo?«, fragte Aric. »Hier entlang«, zeigte die Assistentin. Unter gelbem Haar zeigte sie ein professionelles Lächeln, das sie vermutlich abends mit einem Hammer beseitigen musste. Aric erledigte sein dringendes Geschäft, dann betrat er die Garderobe. Dort stand neben der Assistentin ein Mann, den Aric noch nie gesehen hatte. In seinem blaubärtigen Gesicht stand ungläubiges Staunen, vermengt mit Bedauern und Geldgier. Eine Telefonschnecke klebte an seiner rechten Wange. »Wertester Herr Aric«, sagte er und streckte die Hand aus, »es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Mein Name ist Fork, ich bin der Programmchef.« »Guten Tag«, sagte Aric und schüttelte die Hand des Mannes. Sie klebte noch mehr als die von Platt. »Ich habe eine Überraschung für Sie. Ich habe hier eine Dame in der Schnecke, die mit Ihnen sprechen möchte.« Aric riss die Augen auf. »Tiga?« »Nicht ganz.« Der Programmchef sah aus, als hätte er plötzlich starke Kopfschmerzen. »Es handelt sich um Madame Dr. Kala. Sie ist Vorsitzende im Leipziger Systemausschuss.« Als Aric nicht reagierte, ergänzte er mit gehobenen Brauen: »Politikerin.« »Und sie möchte mit mir reden?«, fragte Aric und richtete den Zeigefinger auf den eigenen Bauch. Fork nickte, als könne er es auch nicht glauben, griff nach
der Schnecke und hielt sie Aric ans Gesicht. Sofort klammerte sich der Sym fest und schob einen Tentakel in Arics Ohr und einen anderen an seinen Kehlkopf. »Hallo?«, sagte Aric. »Hier Dr. Kala«, kroch eine angenehme Stimme in seinen Gehörgang. »Ich habe gerade deinen Auftritt im Web3D gesehen.« »Kennen Sie die Kaiserin?«, fragte Aric. Der Programmchef rollte mit den Augen, dann scheuchte er die immer noch lächelnde Assistentin aus der Garderobe. »Natürlich«, sagte Dr. Kala, »ich treffe sie gelegentlich bei wichtigen politischen Feierlichkeiten. Lieber Aric, ich kann dir nichts versprechen, aber vielleicht kann ich dir helfen, die Kaiserin zu treffen.« »Die Goldene Tiga treffen?« Aric strahlte übers ganze Gesicht. Der Programmchef begaffte ihn fassungslos. »Ja, vielleicht. Ich schlage vor, dass du mich in den nächsten Tagen auf einer Reise begleitest.« »Auf einer Reise?« »Ja. Ich möchte, dass dich viele Leute zu Gesicht bekommen. Ich sage es dir ganz offen: Ich möchte mit dir angeben.« »Das verstehe ich nicht.« Dr. Kala seufzte. »Das macht nichts. Es genügt, wenn ich es verstehe und du die Möglichkeit hast, mit etwas Glück der Kaiserin zu begegnen. Ich garantiere dir jedenfalls, dass es dir nicht schaden wird.« Arics Augen leuchteten, er zitterte am ganzen Körper, lief in der Garderobe auf und ab, wedelte mit den Armen, ständig verfolgt von den staunenden Blicken des Programmchefs. »Oh!
Oh ja! Was muss ich denn machen?« »Zunächst einmal gar nichts. Bitte warte beim Sender auf einen Fahrer, den ich dir schicke. Er wird dich in ein Hotel hier in Leipzig bringen, wo sich mein Sekretär um dich kümmern wird. Morgen werden wir beide uns dann sehen und alles weitere besprechen.« »Ich war aber noch nie in Leipzig!« »Die Stadt wird dir gefallen. Sie ist sehr … grün. Bis morgen.« Dr. Kala beendete das Gespräch, und die Schnecke fuhr ihre Tentakel ein. Aric nahm sie ab und reichte sie dem Programmchef, der sie zuerst unsicher beäugte und dann auf ein Regal legte, wo sich sofort ein Putzergecko auf sie stürzte. »Hör zu«, sagte Fork und sah Aric ernst an. »Ich gebe dir einen Tipp, obwohl du ihn sicher ignorieren wirst.« »Was denn?« »Lauf weg. So schnell du kannst.« »Warum?« »Weil du sonst so gut wie tot bist.« Aric machte den Mund auf. »Versteh ich nicht.« »Dann werde ich versuchen, es dir zu erklären. Politiker tun niemals etwas, weil sie nett sein wollen. Sie benutzen dich für ihre Zwecke. Und wenn sie damit fertig sind, lassen sie dich fallen. In den nächsten Müllschlucker, und der kaut ein bisschen auf dir herum, was recht unangenehm ist, falls du nicht das Glück hast, vorher getötet zu werden. Anschließend wirst du verdaut und spätestens dann bist du so richtig im Arsch.« Eine Falte erschien auf Arics Stirn. »Glaube ich nicht.« Er schüttelte den Kopf und setzte ein trotziges Gesicht auf. »Ich werde hier auf den Fahrer warten, den Madame Dr. Kala
schickt. Und dann werde ich Tiga sehen. Bestimmt.« Er verschränkte die Arme. Der Programmchef sah Aric traurig an. Jedes weitere Wort hätte seine Karriere gefährdet, und das war dieser armselige Verlierer nicht wert. Ohne noch etwas zu sagen, marschierte er hinaus.
7 Shopping
»Klokröten mit extra Frühlingsfrische, zehn Prozent Rabatt, nur heute!«, tönte die Spamtaube. Aniaas Freundin Vita juchzte und zog ihr am Ärmel. »Perfekt, meiner Kröte geht gerade der Duft aus!« Aniaa seufzte, steckte sich ein Kraftkäferbonbon in den Mund und begleitete Vita in das bunt geschmückte Geschäft. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Vitas Klokröte noch vollkommen in Ordnung. Aber Aniaa kannte die Manie ihrer Freundin: Sie musste ständig neue Düfte ausprobieren, verfütterte kerngesunde Kröten an ihre Nachfolger und genoss roten Rosenduft oder Thymiangeruch, bis ihr eine dahergeflogene Spamtaube die nächste Marke schönredete. Spamtauben hatten sich als wirkungsvolles Marketinginstrument erwiesen und mit zum Durchbruch der SymbiontenTechnologie beigetragen. Die Tiere waren eines der ersten Biotools überhaupt gewesen – in der ersten Generation nicht viel mehr aus aufgemotzte Stadttauben, von denen es überall genug gab. Sie besaßen schon von vornherein eine gewisse Empfindlichkeit für Magnetfelder, so dass der Empfänger für die Übertragung neuer Werbebotschaften leicht verwirklicht werden konnte. Späteren Generationen hatten die BiotoolEntwickler schillerndes Gefieder, ein permanentes Lächeln und eine intensive Affinität zu Menschen eingepflanzt. Dies und ihr
ungehemmter Fortpflanzungstrieb hatten die Spamtaube zur allgegenwärtigen Plage des Symbiose-Zeitalters gemacht, die über das Funknetz permanent neue, penetrante Werbesprüche empfing und ungefragt hinausposaunte. Vita hüpfte von einem Krötenregal zum nächsten, ihr blonder, hüftlanger Haarzopf hinterher. Aniaa dagegen streichelte gelangweilt eine graublaue Edelkröte des Hochpreissegments, die kritisch zurück schielte. Der Sym verfügte über ein riesiges Maul, das Abfall und Fäkalien bereitwillig aufnahm und in den kugelrunden Körper leitete, wo das ganze Zeug in einem Miniatur-Biokraftwerk landete und aufbereitet wurde. An der Unterseite hatte die Kröte einen Anschluss für die Nabelschnur der Hausmutter, die die Flüssigkeit zur weiteren Verarbeitung ableitete. »Guck mal hier, wie süß!« Vita machte Aniaa auf ein spezielles Sonderangebot aufmerksam: Eine vergleichsweise teure Zimtduftkröte wurde inklusive Behausung mit buntem Klodeckel für 59 Plings angeboten. Aniaa fand die bunten Blumenmuster auf dem Krötenhaus mehr als kitschig, aber Vita schien sich spontan verliebt zu haben. Aniaa kratzte sich hinterm Ohr, woraufhin ihre Telefonschnecke sich wohlig wand. Vita war eine wissbegierige Studentin und eine liebe Freundin, die sich auch mal unter der Decke eng an Aniaa kuschelte, wenn sie bei ihr übernachtete, weil sie so lange zusammen gelernt hatten, dass sie müde wurden – nackt, zärtlich und unschuldig. Aber manchmal wünschte Aniaa Vita mehr Präsenz in der Wirklichkeit. Vita studierte nach zwei erfolglosen Semestern Exobiologie inzwischen Mikrohybridtechnik und hatte sich im Hauptstudi-
um auf Synthesebausteine spezialisiert. Das erklärte zum Teil ihre bemerkenswerte Affinität zu Klokröten. Deren Hybrid-Komponenten – halb Computer, halb Tier – eines Tages selbst zu designen, davon träumte Vita. »Was hältst du von der?«, fragte sie und hielt Aniaa die leuchtend rote, gemütlich vor sich hin brummelnde Zimtkröte unter die Nase. »Mit brandaktuellem Hybridsystem«, las Aniaa das Schild, das der Kröte um den Hals hing. »Automatische Deckelreinigung mit der Zunge.« Aniaa sah Vita an, dass sie ihre Kaufentscheidung schon getroffen hatte. »Sie ist ziemlich teuer«, brachte sie schwach hervor. Eine Spamtaube landete auf Vitas Schulter. »Für dich nur 54 Plings. Zwei Stück nur 89«, gurrte sie. »Aniaa!«, rief Vita und sah sie erwartungsvoll an. Aniaa schloss kurz die Augen, dann nickte sie. »Unser Glückstag«, freute sich Vita und marschierte samt Kröte und freundlich lächelnder Taube zur Kasse. Draußen vor dem Laden sortierten die Frauen ihre Einkäufe um, so dass sie alle in die Rucksäcke passten. Die neu erworbenen Kröten wankten samt ihrer Behausung an Leinen hinter ihnen her. »Ich komme noch mit zu dir«, sagte Vita. Das tat sie immer, denn Aniaas Wohnung lag ohnehin an ihrem Heimweg. »Dann spendiere ich uns einen Vyrroc-Nusstee«, entgegnete Aniaa, die das Ritual lieben gelernt hatte. »Du könntest mir noch einen Gefallen tun«, sagte Vita in einem ungewohnt verschwörerischen Tonfall.
»Was denn?«, erkundigte Aniaa sich im Gehen. »Du könntest mir deine alte Kröte überlassen, wo du sie doch heute ersetzt.« Aniaa fragte: »Machst du wieder Experimente?« Eifrig nickend versicherte Vita: »Keine Quälerei, weißt du ja. Ich lege das Tierchen schlafen und sehe mir dann die Schnittstellen an.« »Von mir aus«, zuckte Aniaa mit den Schultern. »Du bist eine echte Freundin«, rief Vita und drückte Aniaa einen Kuss auf die Wange. Aniaa war beinahe sicher, dass Vita in Wirklichkeit etwas anderes mit der Kröte im Schilde führte. Aber in der Vergangenheit hatte sie eine wichtige Lektion gelernt: Freundschaften waren wie Journalisten – ein falsches Wort, und sie verschwanden für immer.
8 Shrem
Immer wieder dieser Nu-Shrem-Sound. Leop hasste diese Nonmusic, war für ihn nichts anderes als der Ausdruck von Widerwillen. Ein Wunder, dass der Kulturausschuss diesen Schund nicht längst verboten hatte. Die meisten Stadt- und Kreiskulturreferenten machten Lokalen das Leben schwer, die Shrem spielten, indem sie ihnen unter Vorwänden die Konzession entzogen. In einem Heidelberger Vorort namens Schriesheim gab es noch eine Shrem-Disco namens Krach3, was vermutlich daran lag, dass der zuständige Lokalpolitiker vor kurzem spurlos verschwunden war und die Kandidaten für die Nachfolge zu sehr damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu kompromittieren. Missmutig starrte Leop das Glas Pilzbier an, das vor ihm stand. Außer ihm standen vor allem Vyrroc am langgezogenen, geschwungenen Tresen und schlürften das einzige hier erhältliche Getränk aus langen Strohhalmen. Dass Vyrroc den ShremSound mochten, wunderte Leop kaum. Dass sich zwielichtige Menschen hier einfanden, auch nicht. Nur dass er selbst hier war, das ging ihm zunehmend auf die Nerven. Er rief sich ins Gedächtnis, dass es um Mooha ging, die aus der Realität genauso getilgt schien wie aus dem Web3D. Aber es gab Leute, die sich darauf spezialisiert hatten, verschwundene Sites zu spei-
chern und an Neugierige zu verkaufen. Ein Geschäft am Rand der Legalität. »Hab dich noch nie hier gesehen«, schrie ihm plötzlich ein Vyrroc ins Ohr. Leop fuhr zusammen und sah sein Gegenüber an. Der Vyrroc – er gehörte zu der kleineren Rasse, die sich am ganzen Körper traditionell mit schwarzen Stoffschleifen schmückte – trug die obligatorische Sonnenbrille, die ihn im Zwielicht beinahe menschlich aussehen ließ. »Ich suche jemanden«, schrie Leop zurück. Der Vyrroc steckte seinen Strohhalm ins Glas und hob es hoch. Er warf Leop einen einladenden Blick zu, dann drehte er sich um und verließ den Tresen. Leop zögerte einen Moment, dann folgte er dem Außerirdischen. Er führte ihn zu einer Treppe, die nach unten führte. Sie gingen durch zwei Stahltüren, die den Krach von oben deutlich dämpften. Dafür hörte man hier unten im Keller Stöhnen und andere Geräusche, die aus Darkrooms kamen. Leop hatte eine ungefähre Vorstellung, was sich in diesen Zimmern abspielte, aber er schob den Gedanken beiseite. Er war nicht zu einem zweifelhaften Vergnügen hier. Als der Vyrroc ihn in einen leeren Kellerraum am Ende des Ganges führte und die Tür hinter ihnen schloss, zuckte Leop zusammen. Nur eine Schwarzlichtlampe beleuchtete Stahlstreben, an denen Ketten hingen, eine schwarze Liege und einen Tisch mit metallisch glänzenden Dildos verschiedener Größen und Formen. Leop drehte sich um und sah den Vyrroc misstrauisch an. Der Unterleibpanzer des Außerirdischen zeigte im Schwarzlicht ein symmetrisches Muster, das an die Adern von Blättern
erinnerte. Der Vyrroc nahm die Sonnenbrille ab – auch seine Facettenaugen leuchteten hell auf. »Also, wen suchst du?«, fragte er fast völlig akzentfrei. Leop zögerte. Genaugenommen hatte er den Gesprächspartner, den er gesucht hatte, wenngleich er unerwarteterweise von einem anderen Planeten stammte. »Eine Person ist verschwunden, und ihre Web3D-Homesite ebenfalls.« »Ich habe dein Schätzchen nicht gefuttert«, entgegnete der Vyrroc trocken. »Sehr witzig«, sagte Leop. »Wieso denkst du, dass es um eine Frau geht?« »Ihr Menschen seid Sklaven eurer Gefühle. Wenn ein Mann etwas sucht, ist es immer eine Frau. Es gibt ein Sprichwort bei mir zuhause. Willst du es hören?« »Nein«, versetzte Leop. »Warum sprichst du eigentlich so gut Deutsch?« Der Vyrroc hustete. Leop wusste, dass es sich dabei um eine Art Lachen handelte. »Eine einfache, wenngleich teure Operation an den hinteren Hornplatten«, sagte er und zeigte mit seiner Klauenhand auf seinen Mund. »Kurz: Man lässt sich eine Zunge einbauen.« »Davon habe ich noch nie gehört«, gab Leop zu. Menschen hatten große Schwierigkeiten, eine Vyrroc-Sprache zu sprechen. Die meisten behalfen sich mit einem Keramik-Gerät, das sich mit Hebeln bedienen ließ und den Klang der VyrrocHornplatten besser nachahmte als es Röcheln tief im Rachen, verkrampfte Lippen und schlackernde Zunge je könnten. »Vom Verbleib irgendwelcher Personen weiß ich jedenfalls nichts.«
Enttäuscht drehte Leop sich um und betrachtete die Gerätesammlung auf dem Tisch in der Ecke. »Möchtest du spielen?«, fragte der Vyrroc und hustete erneut. »Später, aber nur um Geld.« »Vielleicht habe ich eine Kopie der Homesite.« »Wirklich?« Leop sah auf. »Ich habe zufälligerweise Zugriff auf einen VerlustcacheServer.« »Was?« »Das ist ein Computer, der permanent Adresslisten durchsucht, bis eine Site nicht mehr antwortet. Dann kopiert er sofort alle Teile der Site, die noch in irgendwelchen Proxyservern im Web stecken, und speichert sie ab.« »Sowas funktioniert?« »Eingeschränkt. Aber vielleicht hast du Glück.« Der Vyrroc holte eine Plastikschachtel aus seinem Unterleibpanzer. Die meisten Vyrroc ließen sich praktische Aufbewahrungsnischen in ihre Chitinpanzer schneiden, um Gebrauchsgegenstände bei sich tragen zu können. »Nenn mir jetzt einen Namen und einen Ort.« »Mooha«, sagte Leop. »Heidelberg.« Er spürte, wie sein Herz klopfte. »Männer tun alles für Frauen, ausgenommen das richtige.« Der Vyrroc hustete. Das war offenbar das Sprichwort, von dem er zuvor gesprochen hatte. »Die Suche ist für dich kostenlos, die Daten auch.« »Wirklich?« »Wenn du mit mir spielst. Ansonsten kosten sie dich 10
Plings pro Gigabyte.« »Ich zahle.« »Schade«, sagte der Vyrroc und kratzte an seinem Plastikgerät herum. »Lohnt sich kaum. Es sind nur dreieinhalb Gig. Hast du einen Speicher bei dir?« »Sicher.« Leop tippte sich ans Ohr. Seine Universalschnecke, die über einen mehrere Teras umfassenden Funkspeicher verfügte, ging auf Empfang. »Der Zugriffscode lautet …« »Mooha«, sagte der Vyrroc. Leop wurde rot und war froh, dass der Vyrroc das wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte. Die Schnecke gab ein armseliges Piepsen von sich, als die Datenübertragung beendet war. Im gleichen Moment machte Leops elektronische Geldbörse, die in seiner Hosentasche steckte, 35 mal Pling. Das schmerzte, aber es war ein gutes Gefühl, Moohas Vermächtnis hinter dem rechten Ohr zu wissen.
9 Leipzig
Leipzig war in der Tat eine besonders grüne Stadt. Algenteppiche bedeckten die vorsymbiontischen Stein- und Betongebäude, durchzogen von Versorgungsadern und dicht bevölkert von Putzergeckos, Reinigungsratten, Botenelfen, Taxigreifen und den unvermeidlichen Spamtauben. Sogar die Straßenbahn wurde von Zugschweinen auf uralten Stahlschienen befördert. Aric gaffte. Amsterdam 2.0, seine Heimatstadt, war ein Konglomerat aus altmodischen Glas- und Betonbauten mit wimmelnden Symbionten darin. Leipzig dagegen war eine einzige Symbiose, aus der hier und da ein paar Steinmauern ragten. Auf eine davon hielt der Luftfisch zu, der Aric vom Fernsehsender in einem Amsterdamer Vorort abgeholt hatte. Der Fahrer hatte sich als wenig gesprächig erwiesen, möglicherweise handelte es sich nicht einmal um einen Menschen. Aric war sich nicht ganz sicher. Humanoide Luxus-Syms kannte er nur aus dem Web3D. Jedenfalls hatte der Fahrer nicht einmal das Gesicht verzogen, als Aric das Beförderungsmittel beim Einsteigen als »Furzzeug« bezeichnet hatte – eine nicht ganz unzutreffende, von Erbauern und Besitzern jedoch ungeliebte Bezeichnung. Die eleganten, silbernen Riesenfische bewegten sich in der Tat durch das Rückstoßprinzip vorwärts, und die erforderlichen Gase produzierten sie durch die Verdauung ihrer Spezialnahrung: Kraftkäfer, die als omnipräsente,
biochemische Energiespeicher die Luft bevölkerten wie Plankton den Ozean. Der Luftfisch zischte, als er sich in eine enge Kurve legte und Gas aus der Flugblase abließ. Dann landete der Sym auf einem großzügigen, mit Leuchtschlangen geschmückten Balkon. Die Oberseite des Fisches öffnete sich schmatzend, und der Fahrer warf Aric einen vielsagenden Blick zu. Hektisch befreite Aric sich von dem Haltegurt, stieg auf seinen Sitz, schwang sich aus dem Körper des Fisches und rutschte über die linke Flugblase auf den Balkon. »Willkommen«, sagte ein Sicherheitszwerg. »Bitte leg dich flach auf den Boden.« Aric nickte und ließ sich stöhnend auf den Rücken sinken. In den letzten Tagen hatte er seine Verletzungen kaum mehr gespürt, aber der stundenlange Flug steckte ihm tief in den Knochen. Der Zwerg tastete ihn von unten nach oben ab, durchsuchte alle Taschen, öffnete sogar Arics Hose und vergewisserte sich, dass sich nichts darin befand, was jemandem Schaden zufügen konnte. Als der Zwerg an Arics Kopf angekommen war, murmelte er: »Keine Schnecke.« »Nein, Herr Sicherheit«, entgegnete Aric. »Meine Schnecke ist weg. Seit dem Unfall. Bei der Krönung.« »Mir egal«, gab der Zwerg mit tiefer Stimme zurück und kniete sich auf Arics Oberkörper, um sein rechtes Ohr untersuchen zu können. Sein einziges Interesse galt der Sicherheit – nur darauf war sein hybrides Hirn programmiert. Die gedrungene, stabile und erstaunlich bewegliche Zwergform verfügte über einen günstigen, tief liegenden Schwerpunkt und hatte sich in
allen Sicherheitsbelangen seit Jahren bewährt, so dass man Experimente mit anderen Körperformaten unterlassen hatte. Wie die meisten menschenähnlichen Syms basierte die inzwischen fünfzehnte Generation der Sicherheitszwerge auf AffenGenen und verfügte über ein Hybridhirn mit fest verdrahteten Prioritätsschaltungen. Während die neuesten Generationen stets beim Personenschutz von Politikern zu finden waren, wurden die jeweils ausgemusterten, älteren Modelle dem allgemeinen Polizeidienst übergeben. »Du bis sauber«, stellte der Zwerg schließlich fest und stieg von Arics Brust. »Gut«, sagte ein Mann, den Aric bisher nicht bemerkt hatte. Er stand an der Balkontür und nickte freundlich. Wie alle Politiker trug er einen Pinguin-Anzug und auf jeder Gesichtsseite je eine Telefonschnecke. Es handelte sich um extrem teure, vergoldete Exemplare. »Mein Name ist Dr. Kinsel. Ich bin der persönliche Sekretär von Madame Systemausschussvorsitzende Dr. Kala. Komm mit mir hinein, ich werde dich ein paar Leuten vorstellen.« Er zeigte auf die Tür. Aric erhob sich mühevoll, warf dem Sicherheitszwerg einen letzten Blick zu, aber der wurde nicht erwidert. Dann betrat er zusammen mit Dr. Kinsel die Empore, die auf der Innenseite des ehrwürdigen Gemäuers lag. Von hier aus konnte man sich einen Überblick über die Festgesellschaft verschaffen, die sich größtenteils auf dem unteren Parkett bewegte. Aus Gründen der Gleichberechtigung trugen auch alle Frauen Anzug und Krawatte, so dass sie nicht auf den ersten Blick von ihren männlichen Kollegen zu unterscheiden waren. Aric erkannte auf Anhieb keinen der Politiker, aber von hier oben sahen sowieso
alle wie Pinguine aus. »Hier entlang«, sagte Kinsel und zeigte auf die Treppe. Sie gelangten ein halbes Stockwerk tiefer, wo sich eine Bar befand. Ein Infostrauß visierte Aric an und schnarrte: »Diese Genussmittel werden vom Lobbyverband Pro Bürgerwehr zur Verfügung gestellt.« »Ein paar Drogen?«, fragte Dr. Kinsel und zeigte auf die Bar. Aric staunte über das, was er sah. Wespenpfeifen kannte er nur aus Web3D-Serien, lila Psyfrogs hatte er sich noch nie leisten können und lebende Schnupfameisen waren ihm nicht geheuer. Er wählte ein Glas mit einer tiefblauen Flüssigkeit, die wie ZischBlu aussah, aber anscheinend keine Bläschen enthielt. »Ein Genießer, was?«, meinte Dr. Kinsel und lächelte weiterhin. »Ja«, sagte Aric in Ermangelung einer besseren Antwort und starrte unschlüssig in sein Glas. »Ah«, machte Kinsel und hielt einen Mann an, der gerade an die Bar trat, um sich eine Wespenpfeife abzuholen. »Darf ich vorstellen? Prominister Dr. Lundag, dies ist der Kurzzeitstar Aric.« »Nie gehört, angenehm«, entgegnete Lundag, grinste breit und schlug Aric auf die Schulter. »Frau Dr. Kala hat ihn eingeladen, um ein wenig für Stimmung zu sorgen.« »Wundervoll, ganz wundervoll«, lachte Lundag und zog an seiner Pfeife. Er musste niesen, und fortan schauten seine Augen in unterschiedliche Richtungen. »Sehr amüsant, schlaue Madame, diese Kala, wirklich wirklich wirklich. Absolut. Begeisternd. Mitreißend. Wir sehen uns auf Sylt, was? Hehe.«
Kichernd machte er sich auf dem Weg hinunter ins Parkett. Aric sah ihm hinterher. »Sylt?«, fragte er. »Nimm einen Schluck«, meinte Kinsel und zeigte auf das Glas in Arics Hand. Er tat wie geheißen und ertrug die weiteren Pinguin-Bekanntschaften mit großer Gelassenheit. Zwischendurch begrüßte ihn Madame Dr. Kala, die eine glaslose Modebrille mit rotem Rand sowie blonde Locken trug. Sie lächelte mit ihm gemeinsam für die zahllosen Kameraffen, die im Saal umher turnten. »Wir sehen uns später«, surrte Dr. Kala, nahm einen Schluck aus Arics Glas, leckte sich über die Lippen und wandte sich anderen Politikern zu. Kurz darauf begann Aric, Gespenster zu sehen.
10 Vakuumkäfer
»Die Sauerstoffversorgung kann durch Druckreservoire innerhalb der Skelett-Extension sichergestellt werden. Falls sich eine Wiederbefüllung der Reservoire als unwirtschaftlich erweist, käme dieses Konzept aber nur für Einmalverwendbare in Frage. Diese Option sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden, da Langlebigkeit aufgrund der Strahlungsexposition ohnehin kaum zu erwarten ist (siehe Zundter et al).« Leop runzelte die Stirn. Moohas Vermächtnis enthielt wörtlich zitierte Passagen aus einer Arbeit, die sie für das Symbiware-Institut angefertigt hatte. Mit einem Kraftkäferbonbon unter der Zunge las Leop weiter. »Die begrenzten Platzverhältnisse im Imago erlauben maximal die Unterbringung eines Hybridinterfaces Stufe 3a mit mechanischer Steuerungsausprägung. Die volle Kontrolle der Gliedmaßen durch eine Fernsteuerung, die von ExtendedMindAffen, Menschen oder anderen höheren Denkwesen beherrscht werden kann, ermöglicht eine manuelle Steuerung bei Mängeln der vorinstallierten Programmierung.« Leop schob seinen Scallaway auf die andere Seite der Stirn. Der Gecko fiepte leise und begann, die Hautschuppen zwischen den Haaren abzuweiden. Schließlich gelangte der Symbioniker zum Ende des Zitats. Moohas letzte Worte auf ihrer Web3D-Homesite hätten ironi-
scher kaum sein können: »Das wäre erstmal alles von der Starbug-Front. Bis bald, eure Moo.« Starbug! Eine schnelle Suche im Web3D ergab keine relevanten Treffer zu diesem Stichwort. Die Suchmaschine fragte kühl, ob nicht eher »Starbuck« gemeint war. Leop war sicher, dass Mooha besser nichts über ihre Tätigkeit hätte ausplaudern sollen. Sie hatte die Verschwiegenheitsparole offenbar nicht ernst genommen. Seitdem sich der Großteil der Bevölkerung damit abgefunden hatte, dass Sicherheit nur auf Kosten von persönlicher Freiheit möglich war, wurden verschwindende Texte, Leute oder Organisationen mit einem War-sicher-besser-für-alle-Schulterzucken quittiert. Starbug – ein Sternenkäfer? Ein Biotool-Raumschiff? Interstellare Raumfahrt war eine Erfindung der Vyrroc, und die legten Wert darauf, dass nicht jeder ihre filigranen Kosmosfalter nachbaute. Ein irdisches Raumfahrtprojekt! Die von Mooha entwickelten, kleineren Käfer sollten vielleicht Reparaturen am Raumfahrzeug durchführen, entweder autonom oder ferngesteuert, jedenfalls im luftleeren Raum. Leop suchte minutenlang im Web3D nach Hinweisen, die mit einem neuen Raumfahrtprojekt zusammenhingen. Es gab aber keine, abgesehen von Verschwörungstheorien über eine geplante Kampfflotte, die die Vernichtung der Vyrroc zum Ziel hatte. Wollte etwa der Animax-Konzern in eigener Sache eine neue Forschungsmission starten? Dann gab es keinen Grund für diese Geheimhaltung, da sich eine Weltraummission wunderbar zu Marketingzwecken ausschlachten ließ. Leop versuchte, die Verschwörungstheorien aus seinem
Denken zu verbannen. Aber sie hatten sich eingenistet wie unangenehme Wahrheiten. Sie wirkten plausibel. Es gab nur einen Ort, an dem echte Wahrheiten zu finden waren: Das PoliWeb. Das Web3D, zu dem nur Politiker Zugang hatten. Vorsichtig griff Leop nach seinem Scallaway und setzte ihn auf den Tisch. Es war an der Zeit, ein paar Kontakte zu aktivieren. Dazu brauchte Leop zunächst eine Einwegschnecke, weil damit getätigte Anrufe nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnten. Und wenn er sich schon unerlaubten Zugriff auf das PoliWeb verschaffte, konnte er bei der Gelegenheit Nachforschungen zum Verbleib von Mooha anstellen. Die Parallelwelt der Mächtigen, Privilegierten und assoziierten Schleimer ließ nur auf der Bühne Web3D Einblicke zu – und die waren einstudiert, rituell und irrelevant. Man musste dazugehören, um zu erfahren, was wirklich auf der Welt geschah. Oder man musste sich illegal Zugang verschaffen, die Nase durch dicke Mauern aus schalldichtem Beton bohren, vorbei an Stinkbomben und Stahlstreben, die eine eiskalte Zelle umschlossen, bevor man vom Erdboden verschluckt wurde, im Namen der Weltsicherheit. Wie Mooha. Leop erhob sich. Er würde sich das System zunutze machen. Und mit etwas Glück würde sich Mooha aus Dankbarkeit in ihn verlieben.
11 Spuk
Bräunliche Geister schwirrten um Aric herum, summten in seinen Ohren und übertönten das Reden und Lachen der Politiker. Die Party war in vollem Gange, die ersten Madames hatten der Reihe nach Krawatte, Sakko und Hemden abgelegt. Ein merkwürdiger Tanz war das, bei dem sich alle an den Händen hielten, im Kreis liefen, dem nächstbesten Partner etwas ins Ohr flüsterten und nach und nach die Kleider ablegten. Als die Geister einmal besonders nahe kamen, versuchte Aric, sie mit einer wischenden Handbewegung zu verscheuchen. Aber die bräunlichen Schemen blieben, schienen ihn zu verhöhnen. Hilfesuchend lief Aric zu einer Gruppe Politiker hinüber, die einen Kreis bildeten. Er drängte sich zwischen sie und prallte zurück: In der Mitte wand sich Dr. Kala, von oben bis unten nackt, in innigem Tanz mit einem Geist. Die Politiker lachten, es dröhnte in Arics Ohren. Sie kamen näher und entfernten sich wieder, und als Aric an sich hinunter sah, stand er ohne Hose da. Die Umstehenden grölten, er errötete, fing an zu schwanken. Übelkeit erfasste ihn; es schien, als verwandelten sich seine Organe in schäumende Kotze. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß er in einem Sessel, und Dr. Kinsel beugte sich über ihn. »Trinkst nicht so oft Steinfischcocktail, was?« »Nein«, brachte Aric hervor und hielt sich die Hand vor den
Mund. »Du hast Dr. Wieland vollgekotzt, aber der hat's nicht besser verdient«, sagte Kinsel zufrieden. »Das wollte ich nicht …« Aric identifizierte ein Gespenst zu seinen Füßen als Hose und schlüpfte grobmotorisch hinein. Dann versuchte er, sein aufgeknöpftes Hemd zu verschließen. Kinsel streichelte seine Schulter. »Wieland ist einer von der alten Sorte. Er kriegt manchmal moralische Anfälle. Ein Wunder, dass ihn noch keiner beseitigt hat. Macht hat er längst keine mehr, sein Unterausschuss hat vor einem Jahr das letzte Mal getagt, seitdem werden alle Termine immer kurzfristig abgesagt.« »Versteh ich nicht«, sagte Aric, gab sein Gefummel mit den Knöpfen auf und schluckte den Geschmack halb verwester Gespenster runter. »Ich werde es dir erklären«, sagte Kinsel lehrerhaft und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. Mit einer umfassenden Handbewegung fasste er die tanzenden und klönenden Politiker zusammen. »Macht ist wichtig. Irgendjemand muss sie besitzen, sonst entsteht ein Vakuum, das von unerwünschten Kräften gefüllt wird.« »Aha«, machte Aric und bemühte sich, den Erklärungen zu folgen. »Siehst du jene Spamtaube da drüben? Was fällt dir an ihr auf?« Das Fenster war offen, und auf dem Sims saß einer der grauen Vögel. Es dauerte einen Moment, bis Aric auffiel, was nicht stimmte. »Sie sagt gar nichts«, wunderte sich Aric. »Das Haus hat einen Spamschutz«, erklärte Kinsel.
»Einen …« »Das Haus befielt der Taube über Funk, still zu sein. Natürlich ist das nicht so einfach, wie es klingt. Man braucht einen geheimen Befehlsschlüssel dazu. Verstehst du?« Aric nickte langsam. »Man braucht einen Schlüssel.« »Genau, Aric. Und Macht bedeutet, die nötigen Schlüssel zu besitzen. Ja, das ist Macht.« Kinsel ballte die Faust. »Ich brauch noch was zu trinken«, sagte Aric. »Nochmal dasselbe?« Aric schüttelte eilig den Kopf, und Kinsel lachte. »Komm, wir besorgen dir was.« Er hielt Aric am Arm fest, als der versuchte, aufzustehen. »Du kannst mir vertrauen«, sagte Kinsel mit einer Freundlichkeit, auf der man sicher ausrutschte, wenn man nicht aufpasste. »Danke«, würgte Aric. »Du wirst es noch weit bringen.« »Wieso?« Kinsel zeigte vage auf Arics Unterleib. »Weil du einen verdammt großen Schlüssel hast.« Das nächste Getränk vertrug Aric deutlich besser. Allerdings spürte er ein intensives Kribbeln in seinem Geschlechtsteil. Kinsel wich nicht mehr von Arics Seite und stellte ihn der Reihe nach diversen Politikern, Lobbyisten und Konzernbossen vor. Mit der Zeit konnte Aric spüren, vom wem besonders viel Macht ausging und wer hier war, um welche abzuzapfen. Alles in allem war es ein Geben und Nehmen. Gelegentlich wurden komplizierte Gespräche geführt, die Aric nicht verstand. Einmal wurde er als Beweis für die Leistungsfähigkeit der Ordnungstruppen bezeichnet, einmal als Medienhebel und
einmal als Affenmagnet. In der Tat versuchten viele Politiker, sich mit ihm zusammen von den Kameraffen filmen zu lassen, die im großen Saal umher turnten und sich um die besten Plätze stritten. Nach und nach verabschiedeten sich einige Gäste, und Aric fragte sich, wie spät es war. »Du kannst in meinem kleinen Zimmer schlafen«, sagte Kinsel, als Aric ihn darauf ansprach. »Danke«, sagte Aric. »Da ist ja unser Freund«, ertönte plötzlich die Stimme von Madame Dr. Kala. Sie trug inzwischen wieder Hose und Hemd, aber offensichtlich waren es weder ihre eigenen noch hatte sie etwas darunter an. »Du hast dich gut um ihn gekümmert, was?«, fragte sie Dr. Kinsel. Der nickte nur. »Das solltest du auch. Ich habe das Gefühl, dass er eines Tages der Kaiserin sehr nahe stehen wird.« »Tiga?«, sagte Aric und riss die Augen auf. Kala schmiegte sich an ihn und nickte. »Ebenjene«, presste Kinsel hervor. »Ich mache dir einen Vorschlag, mein Junge«, sagte Kala in Arics Ohr. »Wir gehen gleich in mein Zimmer und schmieden einen Plan, wie du die Kaiserin kennenlernen kannst. Was hältst du davon?« »Überzeugende Strategie«, gab Kinsel zu, drehte sich um und verschwand zwischen tanzenden Pinguinen. Aric sah Dr. Kala mit großen Augen sprachlos an. »Komm«, sagte Kala und zog Aric vor den Objektiven der Kameraffen zu einer Seitentür, die in ein Treppenhaus führte. Moosteppiche bedeckten die Wände und Stufen. Drei Stock-
werke ging es nach unten. Am Eingang eines langen Gangs stand ein Sicherheitszwerg. »Das ist Aric«, sagte die Systemausschuss-Vorsitzende, »er ist heute Nacht Gast in meinem Raum.« Der Zwerg nickte zackig und trat zur Seite. Dr. Kalas Zimmer war ganz mit Moos bewachsen und wurde von Leuchtblüten erhellt. In einer Ecke stand ein breites, graugrünes Bett – gemacht aus Polstermoos, anschmiegsam, warm, weich. »Und wo schlafe ich?«, fragte Aric staunend. Statt zu antworten, entledigte Dr. Kala sich ihrer Kleidung. Aus dem Kribbeln in Arics Geschlechtsteil wurde ein Vibrieren, und für den Rest der Nacht übernahm sein Schlüssel gemeinsam mit der Politikerin die Macht über ihn.
12 Kontakt
Leop hatte seit einiger Zeit keine No-Go-Area mehr betreten. Es blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, wenn er ins Parallelweb wollte. Er wollte ungern in ein Regierungsbüro einbrechen. Offenbach war ein ganzes Stück von Heidelberg entfernt. Mit drei verschiedenen Taxigreifen hatte Leop den Weg zurückgelegt und dazu fast den halben Tag benötigt, weil er zwischen den Etappen so getan hatte, als würde er in Spielsalons seiner Sucht nachgehen. In einem hatte er nicht ganz zufällig eine Einwegschnecke gewonnen, im nächsten hatte er sie wieder verspielt, dafür aber ein paar altmodische Euro-Scheine gewonnen. Mit Garno telefoniert hatte er zwischendurch vom Greifen aus, während er sich an dem alten, unkomfortablen Sattel festgeklammert hatte. Leop kannte Garno aus seiner Zeit als Symbiontik-Lobbyist. Als Mittelsmann hatte er dafür gesorgt, dass die Firma ohne Verzögerung Genehmigungen für neue Versuchssymbionten erhielt. Irgendwann war Garno von der Bildfläche verschwunden, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen allerdings freiwillig. Jetzt lebte er in der No-Go-Area von Offenbach-Süd davon, Unberechtigten Zugang zum PoliWeb zu ermöglichen. Ein paar Jugendliche lungerten an der Straßenecke herum und brieten Reinigungsratten über einem offenen Feuer. Leop machte einen Bogen, und die Jungs verhöhnten ihn. Ob er
Hunger hätte, fragten sie, ob er heute schon gefickt worden war und ob er gegrillt werden wollte. Leop machte, dass er weiterkam. Er passierte eine Einfahrt, in der mehrere Leichen lagen, und Leop erhöhte erneut seine Geschwindigkeit. Dann stand er endlich vor dem Haus Nr. 31. Es besaß keine Tür, also trat Leop einfach ein. Verwester Abfall lag im Flur und stellte unter Beweis, dass Reinigungsratten hier keine große Lebenserwartung hatten. An der Wohnungstür klopfte Leop dreimal, bevor geöffnet wurde. Garno empfing Leop wie einen alten Feind. »Ich hab dir gesagt, du sollst nicht kommen.« »Es geht um eine Frau.« »Es geht immer um eine Frau. Es sei denn, es geht um Macht, Geld oder um zwei Frauen.« Garno sabberte. Er war ein alter, geiler Bock, und das, soweit Leop wusste, seit seiner Jugend und mit konstantem Eifer. Leop seufzte. Er hatte sich vorgenommen, Garno nichts von der Sache mit den Vakuumkäfern zu erzählen und zunächst nur nach Mooha zu suchen. Die Suche nach dem Raumfahrtprojekt wollte er dazwischen verstecken. Er wusste, dass Garno jede seiner Aktionen im Poliweb protokollieren würde, aber er hoffte, dass er sich nicht dafür interessieren würde, wenn es nur um eine verschwundene Frau ging. »Ich zahle dir was extra.« Garno kicherte. Er war ein alter Mann, der nicht von symbiontischer Medizin profitierte und deshalb auch so aussah. Tiefe Falten wirkten wie ein fraktales Puzzle, weiße Haarsträhnen, ungefärbt, verdeckten kaum eine fleckige Glatze. »Bist bescheuert, dich zu verlieben. Zahlst halt den Preis dafür.« Er zeigte auf den altmodischen Computer mit Flachbildschirm, der in einer
Ecke des düsteren Raumes auf einem niedrigen Tisch stand. »Danke«, sagte Leop und kniete sich vor den Schirm, denn auf dem einzigen Stuhl saß Garno. »Weißt du«, krächzte der alte Mann, »als ich klein war, hatte ich mehr Spielsachen als Freunde. Hinterher war es umgekehrt.« Mit Spielsachen waren vermutlich Frauen gemeint. Leop bemühte sich, nach Mooha zu suchen und gleichzeitig freundlich zu grunzen, als würde er Garno zuhören. Er rief die Liste der Vermisstenanzeigen auf und wurde schnell fündig. Mit voller Absicht speicherte er die Adresse der Anzeige als Lesezeichen. Falls Garno nachschauen würde, sollte er keinen Hinweis auf Leops Suche nach den Käfern finden. Zusätzlich änderte Leop seine Körperhaltung, um Garno den Blick auf den Schirm zu versperren. Dann wechselte er zur PoliWeb-Homesite der europäischen Raumfahrtorganisation. Das Politiker-Web3D war lange nicht so farbenfroh wie das gewöhnliche, und zum großen Teil nicht einmal dreidimensional. Zum Anlegen von Todeslisten genügten zwei Dimensionen vollauf. Es enthielt Informationen statt Werbung und Spielchen und war physikalisch vom Web3D getrennt, um jeglichen missbräuchlichen Kontakt zwischen beiden zu verhindern. Automatische Bots suchten permanent nach Brücken zwischen den beiden Welten und ätzten sie dank MasterBerechtigungen hinfort. Gleichzeitig schickten sie einen Trupp Ordnungszwerge los, um dafür zu sorgen, dass der Brückenbauer nie mehr Gelegenheit hatte, sein Tun zu wiederholen. Spätestens seit reale Web-Piraterie-Pranger in allen großen Städten aufgebaut worden waren, waren die Zugriffszahlen auf
die zugehörigen Live-Kameras gestiegen und die Versuche, Brücken zu bauen, im gleichen Maße zurückgegangen. Die meisten angeprangerten Piraten wurden nämlich erst von ihrem Schicksal erlöst, nachdem sie von schadhaften Reinigungsratten angeknabbert worden waren. »Dann gab es eine Zeit«, schwadronierte Garno weiter, während er immer wieder die Geldscheine zählte, die Leop ihm gegeben hatte, »da hatte ich Freunde und Spielsachen.« »Wunderbar«, murmelte Leop und kratzte sich am Kopf. Fieberhaft blätterte er durch Listen wissenschaftlicher Berichte, deren Titel deutlich länger waren als verständlich. Wahllos öffnete er einige der Dateien und verwarf sie wieder. Seine Zeit lief ab, und er musste noch nach Mooha suchen. Dann fiel ihm endlich etwas auf. In letzter Zeit gab es zahlreiche Artikel, in denen es um einen Asteroiden ging, den man auf den Namen »Shark«, also »Hai«, getauft hatte. Mit zitternden Fingern schob Leop seinen alten, unverwüstlichen Speicher-Stick in den Slot. Er brauchte drei Versuche, bis der Stecker richtig saß. »Heute langweilen mich Spielsachen, und über Freunde brauchen wir gar nicht zu reden, nicht wahr? Hast du deine Freundin gefunden?« Garnos Stimme klang spöttisch, aber Leop ignorierte das. »Gleich«, sagte er. »Gleich …« Wahllos übertrug Leop Artikel über den Shark auf seinem Speicherstick. Während die Transfers noch liefen, schaltete er zu der Vermisstenanzeige um. Er gab die Bearbeitungsnummer in die globale Suche ein. »Ich schalte dich gleich ab, mein Junge, bevor du dir noch Politpornos runterholst.« Garno stand auf und kam herüber. Hastig schloss Leop die Raumfahrt-Seiten, klickte wahllos auf
die ersten drei Treffer seiner Suche und speicherte sie ab. »Exodus-Pläne? Spinnst du?« Garno hatte Leop über die Schulter gesehen. Dann schubste er ihn vom Bildschirm weg, gleichzeitig schloss Leop das letzte geöffnete Fenster. »Mach dich auf den Heimweg«, zischte Garno, »und komm nie wieder her.« Plötzlich hielt der alte Mann eine schwarz-gelb geringelte Wurfschlange in der Hand. Die Schlange zischte, zeigte ihre Zähne. Leop wich zurück. »Das ist eine Nummer zu groß für dich«, sagte Garno. »Ich überlege gerade, wie ich deine Leiche los werde. Du solltest besser verschwunden sein, bevor's mir einfällt.« Leop drehte sich um und rannte aus der Wohnung. Draußen vor der Tür zuckte er zusammen. Der Speicherstick.
13 Gesundheit
Aniaa schlug die Beine übereinander und seufzte. Wie schon so oft in den letzten Stunden ließ sie den Blick durch das Wartezimmer des Vyrroc-Arztes schweifen. Pschist-i hatte es inzwischen bis ins Untersuchungszimmer geschafft. Aniaa bereute es keinen Moment, ihre Freundin begleitet zu haben. Es war wichtig, zu reden, und einander die Hand zu halten. Die anderen Patienten ertrugen die Warterei in der Praxis mit stoischer Geduld. Kaum einer sprach oder bewegte sich. Versunken in für Menschen unverständliche Meditation, hockten sie mit ihren geschmückten Unterleiben auf der schmalen Bank, dicht an dicht, fremde Körper ohne Scham berührend, wie es die meisten Menschen immer noch nicht konnten, ohne eine Mischung aus Ekel, Abneigung, Scham oder Angst vor ansteckendem Schicksal zu empfinden. Es gab viel zu wenig Vyrroc-Ärzte auf der Erde – ein Mangel, der künftig durch ein Austauschprogramm beseitigt werden sollte. Die Hauptschuld trug allerdings die monströse Bürokratie. In zahlreichen Lebensbereichen hatte die symbiontische Revolution einen erfrischenden Bürokratie-Abbau mit sich gebracht, weil Regierungen samt Ämtern und Verwaltungen von reichen Bio-Konzernen aufgekauft und dann wegoptimiert worden waren. Deshalb gab es keine redundanten Kreisverwaltungen mehr, die alle dasselbe taten, bloß an unterschiedlichen
Orten, und den Rest der Zeit Kaffee tranken. Geblieben waren Politiker, die den Bürgern gegenüber den beruhigenden Anschein erweckten, kompetent zu regieren, in Wirklichkeit aber nur davon ablenkten, dass sie lediglich für die Show zuständig waren, während die Entscheidungen andere trafen. Das System, nach dem Politik hauptsächlich als eine Art langweiliges, aber notwendiges Entertainment wahrgenommen wurde, hatte sich zur allgemeinen Zufriedenheit bewährt. Schließlich spielte es bei den Wahlen keine Rolle, was jemand leistete, sondern nur, was er zu leisten vorgab – den Unterschied konnte sowieso kein Außenstehender feststellen. Deshalb zeigten Politiker sich mit bekannten Leuten händeschüttelnd im Web3D, wie zum Beispiel mit dem glücklich grinsenden Südländer, der bei der Krönung der Kaiserin um ein Haar totgetrampelt worden wäre. Das brachte Sympathie, Stimmen und das Mandat für die nächste Legislaturperiode samt Freifahrkarte für ausschweifende Parallelwelt-Partys, während derer von Lobbyisten vorformulierte Gesetze verabschiedet wurden. Die Tatsache, dass sich jedermann mit diesem System arrangiert hatte, hatte einer von Aniaas Professoren während einer feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier als Moebiusband der Scheindemokratie bezeichnet. Aniaa merkte, dass sie sich Knoten in die Haare fummelte. Ausweichverhalten, genau wie die sinnlose Grübelei über die volle Praxis und dekadente Politiker. In Wirklichkeit hatte Aniaa Angst. Angst um Schiut-e, das Baby ihrer Freundin. Statt die Ergebnisse der Routineuntersuchung letzte Woche mit einer Botenelfe zu schicken, hatte der Arzt Pschist-i nochmal in die Praxis zitiert. Das konnte nichts gutes bedeuten. Die Auswir-
kungen der irdischen Umweltbedingungen auf neugeborene Vyrrocs war noch nicht eingehend untersucht worden. Vielleicht vertrugen sie die Luft nicht, oder die Moosteppiche oder die Äpfel. Endlich ging die Tür des Behandlungszimmers auf, und Pschist-i kam mit ihrem Baby heraus. Sofort sprang Aniaa auf, stolperte über das Bein ihrer Sitznachbarin, fing sich wieder und griff nach dem Arm ihrer Freundin. »Ncht hiech«, flüsterte die. Aniaa nickte, und zusammen eilten sie hinaus. »Shakshak, erhöhtes Vergnügen auch für sie«, gurrte eine Spamtaube, die sie vor der Tür erwartet hatte. Aniaa trat nach dem Vogel, verfehlte ihn aber. Vyrroc konnten nicht weinen. Aber Aniaa fühlte, was Pschist-i empfand, denn sie kannte sie lange genug. Zwischen ihnen herrschte eine emotionale Bindung, die des Öfteren schon Aniaas Glauben an die Nichtexistenz übernatürlicher Kräfte untergraben hatte. Deshalb übernahm sie einfach die Sache mit den Tränen. Draußen gingen die beiden Frauen den Weg entlang, der unter immergrünem Nutzahorn zu dem Platz hinüber führte, an dem sie wohnten. An diesem Vormittag herrschte wenig Verkehr, nur hier und da sauste ein Infostrauß vorbei, hastete eine Botenelfe mit einer Umhängetasche ihrem Ziel entgegen, rauschte ein niedrig fliegender Luftfisch über ihre Köpfe. Pschist-i transportierte ihr Baby in einer Trageschlinge vor dem Unterleib. Endlich fing sie zu sprechen an. »Drr Achzt weiß nihkt, wass es ist. Ech sakt, es ist nihkt gefächlich. Nuch eine … Achnomalie.« Aniaa wischte sich Tränen aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
Pschist-i blieb stehen und sah Aniaa durch ihre Sonnenbrille an. Dann hob sie die Hand und strich ihrer Freundin über die Haare. »Ech sakt, es sind weichteche Untechsuchungen notwendich. Zuch Sichecheit.« Aniaa nickte und sah zu Schiut-e hinunter, das neugierig durch seine riesige Baby-Sonnenbrille zurück starrte. »Ich hab Angst«, sagte Aniaa. »Untechsuchungen daheim«, ergänzte Pschist-i. Aniaa sah auf. Sie spürte eine ungekannte Kälte durch ihr Rückenmark ziehen. »Ihr müsst nach Vyrroc?« »Ja. Abech es wicht nicht lange dauen. Wich sind bald zuchück.« Wieder streichelte Pschist-i Aniaa. Ein Taxigreif schoss in geringer Höhe vorbei, und Schiut-e streckte das Ärmchen danach aus. Die kratzigen Laute erinnerten an einen alten Holzstuhl, aber für Aniaa klang es wie Kinderlachen, denn genau das war es. Dann setzten die drei ihren Weg fort, um die Reise zu organisieren.
14 Schatten
Die Jugendlichen waren damit beschäftigt, die Leichen aus der Einfahrt auf dem Gehsteig als Teilnehmer einer nekromantischen Seance zu drapieren. Dabei wirkten sie gelangweilt, als würden sie dergleichen jeden Tag veranstalten. Gegenden wie diese, mehr grau als grün, von der Symbiose vergessen, suchte man nur aus triftigem Grund auf. Und selbst dann verließ man sie schnellstmöglich wieder – oder blieb für immer, meist als Leiche. Leop lehnte an einer feuchtkalten Backsteinmauer, die nach Schimmel roch. Die Schatten des frühen Abends verbargen ihn vor den Jungs. Alten Strom gab es in diesem Stadtteil kaum, die meisten Laternen waren schon vor Jahren Zielübungen pubertierender Steinewerfer zum Opfer gefallen. Grünes Licht – Bioluminiszenz – fehlte der Gegend mangels dichtem Symbionten-Bewuchs. Offenbach-Süd war kein Ort, an dem man sich gerne aufhielt. Es sei denn, einem blieb keine Wahl. Dann nannte man es Zuhause. Der Symbioniker ärgerte sich so sehr über den vergessenen Speicherstick, dass er seine Wut am liebsten an den verwahrlosten Jugendlichen ausgelassen hätte. Statt die Reinigungsratten zu grillen, hätten sie sich von ihnen sauber lecken lassen sollen. Leop konnte nicht einfach zu Garno zurück. Er brauchte eine Idee, und er brauchte sie bald. Früher oder später würde Garno
den Speicherstick finden. Und dann würde er ihn sicher nicht per Elfenbote an seinen Besitzer zurückschicken. Die Jugendlichen hatten die Lust an ihrem Spiel verloren und trollten sich. Stille kehrte in die Seitenstraße ein, ein kühler Wind ließ Leop frösteln und bewegte die Kleidung der zu einer Art Gebetsrunde zusammengefügten Leichen. Es war an der Zeit, sich auf den Rückweg zu machen, oder eine Unterkunft zu finden. Aber Leop wollte nicht so leicht aufgeben. Konnte er den Alten irgendwie aus der Wohnung locken, und dann selbst hinein? Dann blieb immer noch die Tür. Garno würde sie sicher nicht unverschlossen lassen, damit sich ein Eindringling an seiner Hardware zu schaffen machte. Leop hatte das Gefühl, die rettende Idee sei ein Haar in seinem Mund, aber er schien es nicht zwischen die Finger zu bekommen, um es herauszuziehen. Wenn er wenigstens einen Frosch dabei gehabt hätte. Gut, er könnte sich per Telefonschnecke einen hierher bestellen, die Elfen störten sich vermutlich nicht an dem Gestank der Leichen … sie ließen so einiges mit sich anstellen, waren robust, genügsam, billig … Das war das Haar. Leop kitzelte seine Telefonschnecke, und sie machte sich gesprächsbereit. Schon während Leop eine kleine Schachtel Psyfrogs gemischt orderte, lief er nervös auf und ab. Es war ein Plan mit vielen Unsicherheiten. Aber wenigstens hatte er einen. Er rief sich ins Gedächtnis, wozu er das ganze machte. Die Daten auf dem Speicherstick. Mooha. Der Alte hatte Recht gehabt. Irgendwie ging immer alles um
eine Frau. Die Weltraum-Käfer und der geheimnisvolle Exodus-Plan waren Nebensache. Solange Leop vor Garnos Haus im Schatten auf das Eintreffen der Elfe wartete, spielte er sein Vorhaben im Geist durch. Als die Elfe auf leisen Füßen angelaufen kam, befeuchtete er seinen Daumen.
15 Hingabe
»Weißt du eigentlich, dass du in den letzten Monaten nur ein einziges Thema kanntest?«, fragte Vita. Aniaa rutschte auf dem Sitzmoos hin und her. »Wirklich?« »Nein«, seufzte Vita. »Gelegentlich hast du über etwas anderes geredet als über deine Pschist-i.« »Ja …«, nickte Aniaa. Sie wusste nicht so recht, was sie mit dem Vortrag ihrer Freundin anfangen sollte. »Über das Baby.« »Oh«, machte Aniaa. »So schlimm?« »Schlimmer«, versetzte Vita. »Ich habe schon auf die Einladung zu eurer Hochzeit gewartet. Menschen neigen zur Übertreibung, Aniaa. Du hast übertrieben. Freundinnen sollten Klartext reden, einander sowas sagen dürfen. Also: Du hast dein Leben einer Außerirdischen geschenkt.« Aniaa errötete. Nachdenklich sah sie zu der Ecke hinüber, in der das Nest des Babys gestanden hatte, bis Pschist-i gen Heimat aufgebrochen war. Dies war in der Tat das erste Mal seit vielen Monaten, dass Vita bei Aniaa zu Besuch war. Hatte sie sich wirklich derart auf ihre Vyrroc-Freundin konzentriert? Den Rest der Welt vergessen? Der Realität den Rücken zugekehrt? Die Zügel des Lebens schleifen gelassen? Sie hatte nichts davon bemerkt. Aber Ignoranz war vermutlich eine Begleiterscheinung von … Hingabe. Von Liebe. Und
Vita war einfach eifersüchtig, oder? Die Symbiose hatte Menschen und Natur zusammenrücken lassen. Die Landung der Vyrroc hatte viele Menschen dazu gebracht, ihren eigenen Standort im Universum zu überdenken. Das Resultat: Abgesehen von einigen Fundamentalisten, die die Vyrroc für die von ihrem jeweiligen Propheten vorhergesagte Bestrafung der Menschen hielten, hatten die meisten Leute einfach so weitergemacht wie bisher. Egal ob Spießer, Politiker oder Terroristen – keiner hatte die außerirdische Bekanntschaft zum Anlass genommen, das eigene Lebensmodell zu ändern. Bloß Werbeagenturen benutzten als Metapher für Exotik nun eben VyrrocBilder statt welche von Afrikanern, Asiaten oder massiv geschönten Südsee-Inselstränden. »Es tut mir Leid, wenn ich dich vernachlässigt …«, begann Aniaa, aber ihre Freundin unterbrach sie: »Erzähl das deiner Klokröte. Worte ändern die Vergangenheit nicht, es sei denn, du fummelst an den Druckvorlagen von Geschichtsbüchern rum. Das wäre alles andere als harmlos. Stell's dir vor.« Aniaa schüttelte langsam den Kopf und setzte ihren Körpergecko in ihren Nacken. »Wovon redest du eigentlich?« »Was wäre, wenn die Vyrroc bei weitem nicht so harmlos wären, wie es scheint? Wenn sie … gefräßige Monster sind, wie die Fehlzüchtungen der Konzerne, die irgendwo im Osten in der Wildnis leben sollen?« Das Gesicht verziehend, entgegnete Aniaa: »Pschist-i führt nichts im Schilde …« Vita machte eine wegwischende Handbewegung. »Kennst du Krieg der Welten? Denk es dir andersherum.« »Wir haben keinen Krieg mit den Vyrroc.«
»Sie vernichten uns auf subtilere Weise.« Aniaa runzelte die Stirn. »Rede Klartext. Das kannst du doch so gut.« Das saß. Vita schluckte. »Ich habe meine Vermutungen mehrfach überprüft«, sagte sie dann. »Zuletzt habe ich mir Biomaterial von Pschist-i besorgt.« »Wie das?« »Eure alte Klokröte.« Aniaa verzog das Gesicht. »Ich habe dasselbe gefunden wie in den meisten anderen Proben«, erklärte Vita. »Es war nicht das, was ich gesucht habe. Es war Zufall. Ich bin kein perfekter Forscher. Aber ich bin nicht blöd.« Aniaa sah ihre Freundin verständnislos an. »Was hast du gefunden?«
16 Elfe
»Nein«, sagte Leop, »diese Lieferung ist nicht für mich. Sie ist für den guten Garno, der hier wohnt. Aber ich bezahle.« Die Elfe nickte, und Leops Geldbörse plingte. »Warte«, sagte Leop plötzlich und beugte sich vor. »Du hast da was.« Mit seinem angefeuchteten Daumen wischte er der Elfe die 2 von der Stirn. Damit wurde ihr Zusatzangebot kostenlos und für Garno hoffentlich unwiderstehlich. Der affenhafte, aber unübersehbar weiblich-reizvolle Symbiont machte ein kaum hörbares Geräusch und huschte zur Wohnungstür. Leop zog die Schuhe aus, presste sich an die Wand und beobachtete den buschigen Schwanz der Elfe, der langsam hin und her pendelte. Er versuchte, die feuchte Kälte zu ignorieren, die seine Socken erfasste. Dann wurde die Tür geöffnet. Leop hörte undeutliches Murmeln, zweifellos Garnos Stimme. Jetzt kam der entscheidende Moment. Es klappte. Der buschige Schwanz verschwand nach innen. Auf Socken schob sich Leop lautlos zur Wohnungstür. Er streckte den Fuß aus und hinderte die Tür daran, ins Schloss zu fallen. Als er einen Moment abwartete, spürte er seinen Herzschlag, kam sich ertappt vor, erwartete die Strafe für seinen billigen Trick. Aber Garno war abgelenkt, beachtete nicht den fehlenden Türknall. Leop wagte es, durch die Türritze zu spähen. Er sah gerade noch, wie der Alte mit der Elfe in den Ne-
benraum verschwand. Dann schob er die Tür auf, lehnte sie an, machte zwei Schritte. Verdammt. Garno hatte die Tür zum Schlafzimmer nicht hinter sich geschlossen. Und Leop musste vorbei, um in den Wohnraum zu gelangen, in dem der Computer stand. Er verharrte. Lauschte. Hörte ein Grunzen, dann ein Quieken der Elfe. Leop sprang an der Tür vorbei, unsichtbar und lautlos, wie er hoffte. Umkurvte einen Stuhl und eine Kiste, stand vor dem Computer. Beugte sich hinunter. Der Speicherstick. Er zog ihn heraus, ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Der Rückweg war leicht. Garno machte einen furchtbaren Lärm, die Elfe übernahm die höheren Frequenzen. Leop konnte nicht anders, er musste einen Blick ins Schlafzimmer werfen. Und erstarrte. Die Elfe kauerte auf dem Bett, Garno stand ohne Hosen dahinter und bearbeitete das Hinterteil des Symbionten mit einer Hingabe, die er vermutlich sonst nur an den Tag legen würde, wenn er Leop erwischen und umbringen würde. Leop riss sich los und machte, dass er weg kam. An der Ecke zog er seine Schuhe wieder an, aber seine Füße waren für den Rest des Tages kalt und nass. Auf dem Weg zur nächsten größeren Kreuzung, an der es Taxigreifen gab, überlegte Leop, wer jene Sorte Elfen geschaffen hatte. Und ob er selbst für denselben kompromisslosen Konzern arbeitete. Falls ja, hatte der Missbrauch der Elfe seine Eignung für den Job deutlich untermauert. Benutze die Schwachen, denn sie können sich nicht wehren. Er schob den Gedanken beiseite. Syms waren keine Menschen, nicht einmal Tiere. Moralische Fragen waren ohne
Belang. Die Interessen der Menschen hatten immer Priorität. Als Leop einen Taxigreifen gefunden hatte, fing es zu regnen an.
17 Überfall
Aric erwachte, als sein Traum von einer heftigen Explosion zerrissen wurde. Er nahm die Hand von Dr. Kalas nacktem Hintern, als wäre der es, der brannte. Dabei war es nur das Gebäude. Durch die Fensteröffnung drang das Flackern oranger Flammen, die den Nachbarflügel des Komplexes verzehrten. Dr. Kala schrie, sprang stöhnend auf. Verlor das Gleichgewicht, fiel der Länge nach ins Bodenmoos. Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Sinne versagten, und sie fiel keuchend wieder hin. Aric kroch auf allen Vieren zum Fußende des Bettes, sank tief ins Moos ein und fand seine Hose nicht. »Sicherheit!«, schrie Dr. Kala, und im gleichen Moment stürmten zwei Zwerge in den Raum. Sie packten die torkelnde Politikerin wortlos an den Schultern und zogen sie Richtung Gang. Die Zwerge würdigten Aric keines Blickes. »Hallo Hose?«, brachte Aric hervor und rappelte sich hoch. Der Raum schien zu schwanken. Qualm drang durch die Fensteröffnung, deren Biomembran sich nun langsam schloss, wie bei schlechtem Wetter. Das Feuer war nicht mehr zu sehen. Aber es war noch da, ganz nah. Aric fand seine Hose und schlüpfte in das falsche Bein. Er spürte ungewohnte Wärme. Die Luft wurde stickig. Beißender
Qualm drang von irgendwoher in den Raum. »Dr. Kala!«, rief Aric und musste husten. Er taumelte Richtung Tür, als plötzlich die Leuchtblüten begannen, zu verblassen. »Gute … Nacht«, stammelte Aric, griff sich an die Stirn und schüttelte sich. Etwas lief falsch, aber er verstand nicht, was das war. Die Nacht war zum Schlafen da, sie sollte Träume spenden, nicht vibrieren, stinken, kreischen. Aric setzte sich in Bewegung, seine Augen brannten, er streckte die Hand vor, tastete, stolperte über irgendwas, stieß mit der Schulter an den Türrahmen. Endlich hatte er den Gang vor dem Zimmer erreicht. Kein Mensch und kein Sym war zu sehen. Alle Wesen, die dazu in der Lage waren, flohen vor dem Feuer, vor ihrer Vernichtung. Aric kam an einer Klokröte vorbei, die verzweifelt krächzte, weil ein Leitungsstrang sie mit der Bioware des Hauses verband. Einen Moment lang erwog Aric, dem Wesen zu helfen, indem er die Leitung durchtrennte. Aber er hatte nichts zum Schneiden, und es war ja nur ein Sym, man konnte für wenig Geld im Laden einen neuen kaufen. Hastig sprang Aric an der Kröte vorbei, eine Treppe hinunter. Schreie tönten von unten herauf, dann: Schüsse. Aric kam sich vor wie in einem alten Film. Ein spannendes Abenteuer, und er war mitten drin. Er hatte nicht erwartet, dass Abenteuer derart weh tun würden: Ihm schmerzten Schulter, Augen und Rachen, und er sah blitzende Sterne. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Aric die Treppe hinunter. Mitten in einem Sprung fiel ihm auf, dass er lediglich seine Hose trug, sonst aber keinerlei Kleidung. Draußen würde er sicher frieren.
Er musste Dr. Kala oder ihren Sekretär finden. Die hatten bestimmt andere Kleidung für ihn. Natürlich würde man zuerst Dr. Kala neu einkleiden, die bei der Flucht nicht einmal eine Hose getragen hatte. Aric musste lachen. Dann war er am unteren Ende des Treppenhauses angekommen. Er sah nach links, dann nach rechts. Ein schwarz gekleideter Mann rannte auf ihn zu. »Hallo«, sagte Aric. Der Mann blieb stehen. »Ich suche was zum Anziehen …«, begann Aric. Der Mann hob eine stählerne Schusswaffe und zielte auf Arics Kopf.
18 Anomalie
»Ich weiß nicht, was es ist«, schüttelte Vita den Kopf. »Ich habe sowas noch nie gesehen.« »Kannst du dich etwas klarer ausdrücken?« »Mikroben«, entgegnete Vita und malte einen unsichtbaren Kreis in die Luft. »So eine Art Bakterium, aber es hat viel zu viele Gene.« »Eine Lebensform von Vyrroc, hier eingeschleppt?« »Denkbar«, sagte Vita. »Allerdings habe ich keinerlei Dokumentation darüber gefunden. Es ist völlig unbekannt.« »Das kann doch nicht sein«, entgegnete Aniaa. Gedankenverloren streichelte sie einen Gecko, der auf ihrem Oberschenkel saß. »Ich frage mich …« »Was?« »Ob Pschist-i deshalb mit dem Baby nach Vyrroc muss.« Vita sah die Freundin verständnislos an. Aniaa setzte ihren Gecko zur Seite, woraufhin dieser auf Vitas Schoß sprang. »Der Arzt hat eine Anomalie bei dem Baby festgestellt. Nicht gefährlich, sagt er, aber zu weiteren Untersuchungen …« Aniaa erzählte Vita von dem Besuch in der Vyrroc-Praxis. Dabei musste sie an den Abschied von Pschist-i denken. So viele Tränen hatte sie nie zuvor vergossen, weder als ihre Mutter gestorben war noch als ihr erster Freund, Karul, sie wegen eines Web3DWerbemodels verlassen hatte.
Vita knetete mit den Fingern ihre Unterlippe. »Dann wissen auch die Vyrroc nicht, was es ist.« Aniaa schüttelte den Kopf. »Die Vyrroc haben die GenSequenzen so gut wie aller Lebensformen auf ihrem Planeten schon vor Jahrzehnten decodiert. Es kann nichts geben, das sie nicht kennen. Jeder Arzt hat Genware in seiner Praxis stehen, die alle Krankheitserreger oder genetische Schäden zweifelsfrei und exakt identifiziert.« »Tu nicht so, als seien die Vyrroc Götter. Sind sie nicht.« Vita machte eine Handbewegung, als wolle sie alle Engel aus dem Himmel fegen. Aniaas Gecko sprang ihr erschrocken vom Schoß und verschwand unter dem Moossofa. »Sie sind uns weit voraus, was die Wissenschaft angeht«, meinte Aniaa. »Wir holen den Vorsprung nur langsam auf.« »Trotzdem konnte Pschist-is Arzt die Anomalie nicht identifizieren«, gab Vita zu bedenken und knetete wieder ihre Lippe. »Vielleicht hat das Baby auch etwas ganz anderes.« »Wenn es noch hier wäre …« »… würdest du es nicht in deinem Labor untersuchen.« Aniaa hob warnend einen Finger. »Das hab ich doch gar nicht …« In diesem Moment meldete sich das Web3D mit einem flirrenden Gong. Vita sah zur Wand, deren Bioluminiszenz-Fläche den vertrauten Umriss von Geni de Vraam zeigte, der Nachrichtensprecherin für Sensationsneuigkeiten. Normalerweise schaltete sich das Web3D nicht von alleine an, deshalb runzelte Vita unwillig die Stirn. »Ich habe ihr das erlaubt«, sagte Aniaa entschuldigend, »wenn es wirklich wichtig ist«.
»Gerade eben«, begann Geni de Vraam an der Wand mit leicht niederländischem Akzent zu sprechen, »hat es in Frankfurt einen Anschlag gegeben. Bei der Explosion einer verseuchten Bombe wurde ein Krebsgift freigesetzt, das weite Gebiete der Biosphäre in Mitleidenschaft gezogen hat.« Das Bild wechselte und zeigte Aufnahmen von Luftfischen, die über der braun verfärbten Biozone schwebten. »Eine Gruppe von SteeldogAktivisten hat sich zu dem Attentat bekannt und behauptet, im Verwaltungsgebäude von Frankfurt eine Notstandsregierung eingerichtet zu haben.« Die Wand zeigte jetzt seitlich die Webseite der Steeldogs. »In einer so genannten RevolutionsCharta«, fuhr de Vraam geringschätzig fort, »wird die Retechnisierung verlangt, unter völliger Aufgabe der, so wörtlich, ekligen Biotechnologie.« Die zugehörigen Worte auf der SteeldogsWebseite blinkten. Vita spuckte auf den Boden. »Man sollte sie an Klokröten verfüttern«, sagte sie. Aniaa konnte nur auf die Wand starren. »Die Zahl der Opfer«, sprach die Moderatorin weiter, »ist noch nicht bekannt, dürfte aber in die Hunderte gehen. Wir melden uns in Kürze wieder mit ersten Stellungnahmen von Politikern.« Die Wand zeigte einen Werbespot mit der Sängerin Karla Gross, bevor er verblasste. »Die können doch nicht einfach eine Regierung bilden«, sagte Aniaa. Ihre Stimme schwankte, und ihr Blick klebte immer noch an der grün-braunen Wand. Noch bevor Vita antworten konnte, gongte die Wand erneut. Diesmal ging es um einen feigen Überfall auf ein Regierungsgebäude in Leipzig, bei dem eine ganze Reihe Politiker ums Leben
gekommen waren, die an einer Konferenz teilgenommen hatten.
19 Goldesel
Leop zitterte vor Kälte am ganzen Leib, als der Taxigreif ihn in Geislingen auf einer abgelegenen Taxistange absetzte. Der Bioluminiszenz der wenigen Häuser fehlte es an Kraft, um die Stadt der Dunkelheit zu entreißen. Die Geldbörse in Leops Hosentasche plingte, als der Greif die Flugkosten kassierte. Leop sah zu, wie der Vogel sich träge aufplusterte, um auf neue Kunden zu warten oder ein paar Stunden auszuruhen. Mit klappernden Zähnen stieg Leop die Stufen von der Taxistange hinunter auf den mit Gras bewachsenen Platz. Dort sah er sich um. Viel gab es nicht zu entdecken – um diese Zeit zeigte sich kein Mensch. Das Wurstgeschäft war geschlossen, der Laden für Putzergeckos, der sich daneben befand, ebenfalls. Nicht einmal Spamtauben nervten. Ab und zu hörte Leop das Rascheln von Reinigungsratten, die ausgediente Biotool-Reste einsammelten und der Wiederverwertung zuführten. Mit unsicheren Schritten, noch von der Haltung auf dem Taxigreifen verkrampft, ging Leop um die Obstbäume herum, deren Blätter und Äste in der Mitte des Platzes leise knisterten, als könnten sie die Stille nicht ertragen. Endlich konnte Leop eine Bewegung ausmachen: Ein Schemen löste sich aus einer schmalen Gasse, die neben einem altmodischen Cafe in unbekannte Regionen des lebendigen Biosystems der Stadt führte. Leop hielt die Luft an, als der
Schemen sich näherte. Von den glimmenden KraftkäferWolken und luminiszierenden Reklametafeln im Sparbetrieb kaum beleuchtet, baute sich ein Infostrauß vor Leop auf. »Guten Abend«, schnarrte der Strauß. »Willkommen auf dem Goetheplatz. Benötigst du eine Information?« Leop versuchte, sich zu entspannen. »Gibt es ein Hotel in der Nähe?« Der Strauß zögerte. Vermutlich leitete er die Anfrage gerade per Funknetz an das Hybridsystem der Stadt weiter, das ein Hotel mit freien Zimmern heraussuchte und parallel versuchte, Leop zu identifizieren. »Gasthaus Goldesel, Schillerstraße 21«, sagte der Strauß. »Diese Information ist kostenlos. Wenn ich dich dorthin führen soll, kostet das ein Pling.« Leop war zu müde, um sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden und bemooste Hausfassaden nach schlecht beleuchteten Schildern abzusuchen. »Zeig mir den Weg«, seufzte er. »Gerne«, entgegnete der Strauß und stelzte voran. »Informationen zu Einkaufsmöglichkeiten und Sehenswürdigkeiten unterwegs gebe ich ungefragt«, palaverte Leops Führer, während die beiden in eine Seitenstraße abbogen. »Geislingen ist eine Stadt, die zu besuchen sich vor allem tagsüber lohnt«, ergänzte er. »Kostet es extra, wenn du den Schnabel hältst?«, fragte Leop. »Ja«, gab der Strauß ungerührt zurück. »Als Ort, an dem sich Gäste von der Erde und von Vyrroc jederzeit wohlfühlen sollen, leistet sich Geislingen eine sehr große Anzahl ServiceSymbionten. Die Finanzierung erfolgt durch Einbeziehen der örtlichen Werbegemeinschaft.« »Dachte ich mir«, sagte Leop und bemerkte plötzlich einen
Trinkuin, der versuchte, auf eine Eiche zu klettern. »Was soll das denn?«, entfuhr es ihm. »Es handelt sich um einen biologischen Getränkeautomaten«, sagte der Infostrauß. »Schon gut«, murmelte Leop. Er war zu müde, um mit einem halbintelligenten Laufvogel über die Fehlfunktion eines seiner entfernten Verwandten zu diskutieren. Der Strauß bog um die nächste Ecke und hielt vor dem Gasthaus. »Hast du noch eine Frage?«, wollte der Strauß wissen, während Leops Geldbörse plingte. »Nein«, entgegnete Leop und zog die altmodische Glastür auf. Während der Infostrauß abzog, trat Leop erschöpft an die Rezeptionstheke. Dort erwartete ihn eine kleine Elfe, die auf der Theke geschlafen hatte, bis sie den Gast bemerkt hatte. »Willkommen im Gasthaus Goldesel«, grüßte die Elfe mit dünner Stimme. Ihr dünn behaartes Gesicht mit den langen Brauen und die Knopfaugen waren typische Eigenschaften der vorletzten Elfen-Generation. Der Animax-Konzern hatte die Produktion längst von Kurdistan nach Neujugoserbien verlagert und dort entscheidend optimiert, gerade was Haarwuchs und Augen betraf. Es hatte sich gezeigt, dass ausgerechnet diese unwesentlichen, aber menschenähnlichen Äußerlichkeiten die Akzeptanz beim Kunden deutlich erhöhten. Die Rezeptions-Elfe trug eine schwäbische Tracht in Kindergröße: Weiße Bluse, dunkelblaue Schürze, verziert mit bordeauxfarbenen Rüschen, dazu eine unpassend wirkende, schwarze Fliege um den Hals. »Ein Zimmer für diese Nacht, bitte«, sagte Leop. »Gerne«, sagte die Elfe, langte mit einer Hand hinter die
Theke und zauberte einen altmodischen Schlüssel hervor. »Wir haben viele Gäste, die eine klassische Unterbringung vorziehen«, entschuldigte sich die Elfe. »Bitte küsse den Identifikationsfrosch«, fügte sie hinzu und zeigte auf das kleine Biotool, das am Ende der Theke wartete. Leop zögerte. Er ärgerte sich über sich selbst. Es war Gesetz, dass jeder Gast, der in einem Hotel eine Nacht verbringt, eine Genprobe hinterließ. Eines der vielen Sicherheitsgesetze, die der Kriminalität den Garaus gemacht hatten, wie die Politiker nicht müde wurden zu betonen. Leop wollte eigentlich keine Spuren hinterlassen. Allerdings kam es auch nicht in Frage, den Weg bis nach Hause fortzusetzen. Er brauchte Schlaf, Wärme und etwas zu Essen. Er musste wohl oder übel seinen genetischen Fingerabdruck hinterlassen, selbst wenn das ein gewisses Risiko bedeutete. Seufzend beugte er sich hinunter und presste die Lippen leicht geöffnet auf das Maul des Frosches. Er wartete, bis die Zunge des Biotools in seinem Mund genug Speichel eingesammelt hatte und quakte. Dann richtete er sich auf und nickte der Elfe zu. Die lächelte zurück und führte Leop um eine Ecke, in ein Treppenhaus. Hier war es besonders kalt, weil die kahlen Steinwände kaum von Grün bedeckt waren. Es sah sogar so aus, als würde das Haus von innen mit Absicht möglichst frei von Ranken und Moos gehalten werden. Seltsame Vorlieben hatten diese Stammgäste. Die Elfe öffnete im ersten Stock eine Holztür mit der goldenen Nummer 11 und ließ Leop eintreten. Altmodischer Kunstfaser-Teppich bedeckte den Boden. Das schmale Bett bestand aus einem Holzgerüst mit Matratze und einer größeren Anzahl sauber gefalteter Decken.
»Frühstück gibt es von sechs bis neun Uhr«, sagte die Elfe. »Gute Nacht.« Sie schloss die Tür und Stille trat ein. Leop setzte sich auf das Bett, zog Jacke, Schuhe und die immer noch feuchten Socken aus, vermied es aber, mit bloßen Füßen den ekligen Teppichboden zu berühren. Umständlich entfaltete er die Decken, bis er einen unförmigen Berg produziert hatte und suchte auf der unkomfortablen Matratze nach einer bequemen Schlafposition. Er vergaß völlig, die hässliche Glaslampe, die tatsächlich noch mit Strom funktionierte, abzuschalten. Obwohl ihm immer noch furchtbar kalt war, und er sich sein warmes Moosbett wünschte, oder wenigstens einen beruhigenden Psyfrog, schlief er fast sofort ein. Den Speicherstick hielt er fest in seiner Hand. Er war der Faden, an dessen anderen Ende Mooha gefesselt war. Er musste nur ziehen, kräftig ziehen, dann würde er Mooha immer näher kommen, morgen, ja … morgen.
20 Myrion
»… streng zu verurteilen, und ich rufe, wie Dr. Karnoz bereits richtig sagt, im Namen auch und insbesondere der verunsicherten Bürger Deutschlands und ja, auch ganz Eurolands ausdrücklich dazu auf, …« Die Einblendung verriet, dass es sich bei dem gerade interviewten Politiker um Dr. Lesdrin handelte, den zweiten Vorsitzenden des Sicherheitskontrollausschusses. Aniaa betrachtete nachdenklich die Ecke, in der früher Schiut-es Nestchen gestanden hatte. Die Stelle war nach wie vor leer, wartete auf die glückliche Rückkehr ihres Bewohners. »Was wird noch alles passieren?«, murmelte sie. »Psst«, machte Vita. »… ein Weg, den wir gehen werden, den wir schon seit vielen Jahren mit großem Erfolg gehen.« Dr. Lesdrin sprach mit starren Zügen weiter: »Ich erinnere an die Bandenkriege, die während der Rohstoffkrise in den Zwanzigerjahren nicht nur zahllose Menschen das Leben gekostet haben, sondern auch die fest zementiert geglaubten Werte unserer Gesellschaft bedrohlich ins Wanken gebracht haben. Wir können heute stolz darauf sein, dass unsere Kinder Wörter wie Folter oder Mord nicht mehr in der Wirklichkeit, sondern nur im literaturhistorischen Kontext lernen müssen. Wer unser heutiges, bewährtes und für die Erde, Menschen, Tiere und Pflanzen gesundes Lebensmo-
dell in Frage stellt, bekennt sich zu einem Dasein als Störfaktor, der eliminiert wird. Daher wird zu unser aller Sicherheit jegliche denkbare Anstrengung des Sicherheitsapparates unternommen, um zu verhindern, dass Verwirrte, die uns einen falschen Weg weisen wollen, der ins Verderben führt, ausgetilgt werden. Sehr gerne erinnere ich an dieser Stelle – und damit möchte ich meine kurze Ansprache schließen – an einen Ausspruch unserer ersten Kaiserin Myrion, die anlässlich der Unterzeichnung des Erdrechts-Charta die unvergessenen Worte sagte: Die Symbiose rettet unser aller Leben, und damit das der Erde.« »Myrion«, flüsterte Aniaa. Ihre Popularität war heute noch größer als zu ihren Lebzeiten, und schon damals hatte sie mühelos Päpste und Popstars übertroffen. Die Erdrechts-Charta, die nach den Menschen und Tieren endlich auch der Erde elementare Rechte zugestand, insbesondere das Recht auf Leben und das auf körperliche Unversehrtheit, war ihr Lebenswerk. Vita sah nachdenklich zur warm luminiszierenden Decke hinauf. Dann nickte sie. »Ich fühle, dass das alles eine Bedeutung hat. Die Verbindung …« »Ja …«, murmelte Aniaa abwesend. Langsam ließ sich Vita vom Sofa hinab auf den mit Gras bedeckten Boden gleiten. Sie legte sich auf den Bauch, streichelte die Halme, schloss die Augen. Aniaa sah ihr dabei zu, bis ein Gecko auf Vitas Rücken sprang und sie beide lachen mussten. »Weißt du was?« Vita hatte sich aufgerichtet. Ihre nackten Zehen spielten mit dem Gras, und der Gecko huschte zu ihren Füßen, um zu sehen, was da vor sich ging.
»Was?« »Wir haben schon lange nicht mehr mit Gaia gesprochen.« »Das stimmt.« »Früher haben wir das öfter gemacht.« Aniaa sah ihre Freundin nachdenklich an. Die Seancen, in denen sie mit dem Geist der Erde gesprochen hatten, waren feste Rituale gewesen, seit sie sich beim Seminar über Grundlagen der Vyrroc-Ökosphäre kennengelernt hatten. Zuerst hatten sie nur gemeinsam über die wenigen Jungs im Studiengang Exobiologie gelästert, dann hatten sie zusammen für Klausuren und Prüfungen gelernt, und schließlich waren sie gemeinsam zu dem Gaia-Zirkel gestoßen, der jeden Donnerstagabend Seancen abhielt, um die Höchste Symbiose, die Vereinigung des Geistes von Menschen, Tieren und Erde, zu erforschen. Als der Zirkel mehr und mehr Teilnehmerinnen verloren hatte, die sich lieber mit den wenigen Jungs im Studiengang trafen, waren Vita und Aniaa dazu übergegangen, die Seancen alleine abzuhalten. In den letzten Monaten waren diese Abende allerdings selten geworden. Aniaa sog die Unterlippe zwischen die Zähne. Ebenfalls vor ein paar Monaten war Pschist-i in ihr Leben getreten. Hatte die Vyrroc-Frau zu viel ihrer Energie beansprucht? Auf Kosten ihrer Freundschaft zu Vita? Aniaa schob diese Gedanken beiseite, weil sie bitter nach Illoyalität schmeckten. »Worauf warten wir?«, sagte sie mit etwas künstlich klingender Fröhlichkeit, glitt hinunter auf den Grasboden und gesellte sich zu Vita, die schon damit anfing, ihr Kleid auszuziehen.
21 Elster
»Na da haben wir ja wieder Maria und Josef«, verkündete Frau Terpitsch. »Guten Tag auch«, entgegnete Leop und versuchte, sich an seiner Nachbarin vorbei zu drücken. »Alte Kante Hausdurchsuchung, ja ja«, nickte die weißhaarige, in einen blauen Kittel gehüllte Dame. »Hausdurchsuchung?« Leop hielt sich am Treppengeländer fest. Frau Terpitsch nickte, dann zauberte sie einen Laufschwamm aus ihrer Kitteltasche hervor und setzte ihn neben Leop auf den Handlauf. »Immer schön sauber, woll?«, ergänzte Frau Terpitsch und richtete ihre wässrigen Augen auf Leop. Ein Zwinkern später huschte Frau Terpitsch in ihre Wohnung und knallte die Tür zu. Unschlüssig betrachtete Leop den Laufschwamm, der eifrig den Handlauf wischte. War die Sicherheit auf Leop aufmerksam geworden? Hatte die Nachbarin etwas davon mitbekommen? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. Leop musste in seine Wohnung. Eine andere Option hatte er sowieso nicht, zumal er dringend auf die Toilette musste. Leop zitterte am ganzen Körper, als er seine Wohnung betrat. Er schlich hinein wie ein Einbrecher, schaute ängstlich in jede Ecke. Aber es sah alles noch so aus, wie er es zurückgelas-
sen hatte. Keine Spuren rüder Durchsuchung, keine Sicherheitszwerge, die ihn erwarteten und umgehend festnahmen. Als erstes entledigte Leop sich seiner schmutzigen Kleidung, dann benutzte er seine Klokröte, die gluckste, als würde sie sich über das Wiedersehen mit ihrem Besitzer und dessen Exkrementen freuen. Nach einer kurzen Dusche nahm Leop auf seinem antiken Holzstuhl Platz und setzte sich den Scallaway auf den Kopf. Während der Gecko emsig zwischen den Haaren umher turnte, schob Leop den Speicherstick in das mattschwarze Interface, das die Bioware des Hauses um einen der völlig veralteten USB-Anschlüsse erweiterte. Dann nahm er das Rechenblatt in die Hand und schob mit dem Zeigefinger DateiSymbole hin und her, bis er in der verschachtelten Systemstruktur die auf dem Stick gespeicherten Seiten fand. Das erste Dokument, das er öffnete, enthielt umfangreiche Tabellen und Formeln, die Leop nicht verstand. Vermutlich konnte nur ein Astronom damit zurecht kommen. Wegen der zahlreichen Abkürzungen und Fachausdrücke innerhalb der komplizierten Schachtelsätze erfasste Leop die Bedeutung des Dokumentes in keiner Weise. Frustriert öffnete er die nächste Datei, deren Inhalt so klang, als versuche ein Wissenschaftler krampfhaft, sich so verständlich auszudrücken, dass sogar ein Politiker ihn verstand. Verschachtelt und kompliziert waren die Formulierungen auch hier, aber wenigstens erklärten Fußnoten die meisten Fachausdrücke. Leop las über Beobachtungsreihen, Fehlerquellen und noch ausstehende unabhängige Messungen durch ein Teleskop in Chile. Die Zusammenfassung am Schluss des Textes aber war unmissverständlich: Der Asteroid, den man Shark getauft hatte,
besaß eine asphärische Form sowie ungewöhnliche Oberflächenstrukturen, mit denen die Astronomen nichts anzufangen wussten – und er befand sich auf genauem Kollisionskurs mit der Erde. Während Leop mit taubem Gefühl im Kopf ein weiteres Dokument überflog, in dem unterschiedliche Zerstörungsszenarios durchgespielt wurden, überlegte er, ob er noch irgendwo Psyfrogs hatte. Ein Tocktocktock-Geräusch ließ ihn zusammenfahren. Er wendete den Kopf Richtung Fenster. Draußen auf dem Sims saß eine Elster und klopfte mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Hastig stand Leop vom Stuhl auf, lief zum Fenster und öffnete. Die Elster hüpfte herein, öffnete mit dem Schnabel die längliche, grüne Kapsel an ihrem Bein, und ließ Leop das gefaltete, weiße Papier entnehmen. Botenelstern waren Biotools der ersten Generation, kaum modifiziert, fast noch Tiere. Die Symbiose-Ethiker, die gelegentlich im Web3D auftraten, zogen sie gerne als Beispiele heran, wenn es um die Frage ging, wo die Grenze zwischen schützenswertem Tier und vom Menschen erschaffenen Gerät zu ziehen war. Selten gab es kontroverse Diskussionen, da nur spirituell verblendete Esoteriker so realitätsfern waren, dass sie haltlose Argumentationsketten gegen die Biotechnologie herbeifabulierten. Leop schloss das Fenster, als die Elster schon längst wieder verschwunden war. Er entfaltete die Nachricht auf dem Weg zu seinem Stuhl. Statt sich zu setzen, hielt er sich nur an der Lehne fest. Immer wieder las er den einen Satz, drehte das Papier um, fand dort aber weder mehr Text noch einen Absender.
Langsam ließ er die Hand mit der Nachricht sinken. Dann hob er sie erneut dicht vor seine Augen: »Mooha ist tot, hör auf, nach ihr zu suchen.« Am ganzen Leib zitternd, machte Leop sich auf die Suche nach seinen Psyfrogs.
22 Gaia
Dichte Dämpfe, süßlicher Atem, Winde der Erde – sie verfestigten sich, brachten fühlbare Körper hervor, kondensiert aus Gaias Geist, geboren als Fleisch, schutzlos, nackt. Kein Geräusch, absolut still wie draußen im Weltall, aber warm; es fühlte sich an wie zuhause, im Körper der Mutter. Zwillinge schienen Aniaa und Vita zu sein. Extrakt ausgewählter, kaum unterschiedlicher Lebensaspekte des Ursprungskörpers, gezeugt in den feurigen Tiefen, dem Kern einer nach innen gekehrten Sonne. Kaum geboren, schon gestreichelt, liebkost, geliebt; vom pulsierenden Körpergewirr, das keinen Raum zum Atmen lässt. Aber sie mussten nicht atmen, denn die anderen Körper injizierten ihnen Luft, Flüssigkeit und Nahrung, nahmen ihre Abfälle entgegen, egal ob Kohlendioxyd, Schweiß, Urin oder Stuhl. Alles schwebte, bevölkerte eine wie im Tanz treibende Wolke aus Körpern, ja, ein Tanz: Die große Symbiose – der Tanz des Lebens. Es gab ein Ziel: Das Mehr, das Nieaufhören, das Immerwähren. Aber etwas fehlte. Aniaa spürte es wie den Phantomschmerz einer nie gekannten Extremität, aber die war unverzichtbar für die Ausführung jener korrekten Tanzschritte, die die Resonanzfrequenz der kosmischen Superstrings trafen, die Melodie des
Universums. Die Tanzschritte setzten Gelenke mit neun Freiheitsgraden voraus, und das Lied des Weltalls mitzusingen, erforderte einen zehndimensionalen Mund. Als der Mund kam, sein Rachen sich über die Tänzer stülpte, als Zähne blitzten, waren sie Plankton; eine nach Rastlosigkeit schmeckende Zwischenmahlzeit, die rasch verdaut sein würde, mäßig durchgekaut, lieblos heruntergeschlungen. Aniaa schrie, bis Vita ihr die Hand auf den Mund presste. Als sie losließ, sah Aniaa den Schock auch in ihren Augen. »Ich will nicht gefressen werden«, sagte sie. Vita strich über ihr Haar und wischte eine Träne fort, die Aniaas Auge verließ, bevor der gewitzte Gecko davon trinken konnte, der plötzlich heran gehuscht war. Enttäuscht hüpfte er auf Vitas Kopf und wartete dort auf eine neue Gelegenheit. Aniaas Pupillen waren geweitet, ihre Finger zuckten, ihr Körper bäumte sich auf. »Ruhig«, murmelte Vita. »Pssst. Ist ja nichts passiert.« »Gaia … wurde … aufgefressen«, brachte Aniaa hervor. »Atme ruhiger. Hier«, sagte Vita und legte der Freundin die flache Hand auf den Bauch. »Ein. Aus. Ein. Aus. Ja. So.« »Was war das nur?«, fragte Aniaa. »So etwas haben wir noch nie … in keiner Seance je … es war so …« »Real«, nickte Vita. Aniaa schloss die Augen. Da war wieder dieses Gefühl, dass etwas fehlte … und doch schien es nah zu sein … sie musste es nur ergreifen … »Au«, rief Vita. Sie befreite sich aus Aniaas Klammergriff. »Komm«, sagte sie und half der Freundin auf die Beine. Sie
zitterten beide, hielten sich aneinander fest, immer noch nackt, der Gecko klebte unbeeindruckt auf Vitas Stirn. »Früher haben uns ein paar Drogen nicht so umgehauen«, stellte Vita fest. Aniaa lachte. »Wir werden alt«, sagte sie. Darauf musste auch Vita lachen. Sie warf ihren Kopf nach hinten, und vor Schreck suchte der Gecko das Weite. »Tu mir einen Gefallen«, bat Aniaa und sah Vita in die Augen, strich ihr eine blonde Strähne zur Seite. »Keine Angst«, antwortete Vita leise. »Ich bleibe natürlich heute Nacht hier.« Aniaa nickte. Vita hatte ihre Gedanken gelesen. Sich immer noch gegenseitig stützend, gelegentlich kichernd, steuerten die beiden auf das Bett zu, lagen bald eng umschlungen im warmen Moos. Als Aniaa auf diese Weise daran erinnert wurde, welche Vorteile eine menschliche Frau gegenüber einer von Vyrroc hatte, entfuhr ihr ein sehr, sehr tiefer Seufzer.
23 Kortov
Dakstan knarzte, weil der Erzklumpen, den er gemeinsam mit drei anderen Harnok durchs Unterholz schleppte, das Gewicht eines mittelgroßen Mondes aufwies. Zwar hatte Dakstan noch nie einen Mond getragen, aber viel schwerer als dieser Klumpen konnte der nicht sein. Es war Festans Idee gewesen, das Jarak-Spiel mit neuen Regeln zu versehen, jetzt, wo die Vermittler gekommen waren. Laut Festan war es eine angemessene Willkommensgeste, die Vermittler in die Harnok-Rituale einzubinden. Vor der Vereinigung hatte das Jarak-Spiel immer auf einer Lichtung zwischen zwei Hannók stattgefunden. Die Bewohner jedes Hannók hatten je eine Mannschaft aus möglichst vielen, kräftigen Harnok nominiert. Aufgabe der Mannschaften war es, ein massives Spielgerät einmal um die Lichtung zu tragen. Es war durchaus erlaubt, die gegnerische Mannschaft dabei zu behindern. Dakstan kreischte, als zwei gegnerische Harnok vom nächsten Baum fielen und die Träger aus dem Gleichgewicht brachten. Unter dem Jubel der Angreifer verloren die Harnok den Halt, und der Erzbrocken landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. Dakstans Mannschaft begann, die Störenfriede ordentlich zu verprügeln. Arme flogen, Schnäbel schnappten nach scharfen Fingerkuppen. Schließlich traten die Gegner den
Rückzug an, wobei sie rituelle Verwünschungen heulten, die glücklicherweise ohne unmittelbare Wirkung blieben. Dakstan sprach seinen frustrierten Kameraden Mut zu, erinnerte sie daran, dass ihre Mitbewohner gerade dabei waren, mit den gegnerischen Trägern dasselbe anzustellen. Es war nicht mehr weit, behauptete Dakstan, und endlich nahmen die Harnok ihren Klumpen wieder auf. Festan! Er gewann die meisten Denkspiele und war zweifellos zu Recht seit langer Zeit der Lehrer von Dakstans Hannók . Auch die Lehrer der Nachbaransiedlungen hörten meist auf Festans Vorschläge. Deshalb hatten sie den geänderten Regeln des Jarak-Spiels zugestimmt. Statt den Erzklumpen um eine Lichtung zu tragen, war er nun vom gegnerischen Hannók bis zum eigenen zu schleppen – und zwar bis hinunter in die Höhle des Vermittlers, die ja unbedingt in das Spiel einbezogen werden sollten. Die schleimigen Bewohner der Welt, mit der jene der Harnok vor kurzem verschmolzen war, hatten sich als überaus denkfreudige Wesen erwiesen, die kaum körperliche Bedürfnisse hatten, dafür aber phantasievolle Geschichten über eine abstrakte Personengruppe zu erzählen wussten, die sie »Götter« nannten. Dakstans Hannók beherbergte im Keller einen der freundlichen Vermittler, der nun darauf wartete, einen Erzbrocken in den Nacken gelegt zu bekommen, bevor dasselbe mit seinem Artgenossen im Nachbarhannok geschah. Ein Kreischen! Dakstan keuchte. Die nächste Intervention. Die Gegner hatten wirklich eine erstaunliche Anzahl Störenfriede am Weg positioniert. Dakstan nahm sich vor, künftig eine Geheimroute einzuschlagen, statt den kürzesten, aber
vorhersehbaren Weg zu wählen. Irritiert schwenkte Dakstan sein Auge. Da war überhaupt niemand. Trotzdem war sein Kamerad zur Linken stehengeblieben. Er zeigte mit dem hinteren Arm schräg nach oben. Eine Metallkapsel donnerte über die Wipfel der Bäumlinge auf die Harnok zu, beschrieb eine flache Kurve abwärts und schnitt krachend durchs Unterholz. Mit einem Schrei ließen die Harnok ihren Erzklumpen fallen und sprangen in Deckung, um dem unerhörten Angriff auszuweichen. Als die Kapsel auf den weichen Boden prallte, wieder in die Höhe sprang, um schließlich in einer breiten Pfütze endgültig zu verharren, hatte Dakstan in Gedanken bereits eine halbe Rede formuliert, in der er bei Festan um eine Änderung am Jarak-Spiel nachsuchte. Dass Harnok dabei umkamen, war nicht Sinn der Sache. Das sahen sicher auch die Vermittler so, obwohl … Als die metallische Kapsel nichts weiter anstellte, als in der Pfütze zu verdrecken, musste Dakstan lachen. Seine Kameraden taten es ihm erleichtert gleich. Aber sie verstummten gleich wieder, denn eine Klappe öffnete sich an der Seite der Kapsel. Fassungslos sahen die Harkon zu, wie sich ein Lebewesen aus der Öffnung schob. Dakstan fand, dass das Wesen aussah wie eine imaginäre Kreuzung zwischen einem Vermittler und einem Harkon: Es besaß wie die Harkon mehrere Extremitäten und ging anscheinend aufrecht, war aber fleischig und unförmig wie ein Vermittler. Nachdem das Wesen vollständig aus der Kapsel geklettert
war und mitten in der Pfütze stand, richtete es seine schwarze Kleidung. Es machte ein Geräusch, das Dakstan nicht einordnen konnte, in Richtung der Kapsel und prompt kletterten drei kleinere, unbekleidete Wesen heraus, die eine Menge grauer Pakete bei sich trugen. Als Dakstan zu lachen anfing, erstarrte der schwarze Gast. Offenbar merkte er erst jetzt, dass er nicht nur von stummen Bäumlingen umgeben war. Dakstans Kollegen stimmten in das Lachen ein, bis der Besucher sich über die Körpermitte strich und etwas sagte, das für die Harnok wie eine würdevolle Beschwörungsformel klang: »Schön leicht hier.«
24 Steeldogs
»Ey, ich kenn den Kerl!«, rief eine Stimme aus dem dunklen Gang. Aric gaffte die auf ihn gerichtete Pistole an, als wolle er sie verschlucken. »Shit Politiker«, giftete der Kerl hinter der Pistole. »Nää«, kam wieder die Stimme aus dem Gang, diesmal mitsamt ihres Besitzers. Der Mann war ebenso schwarz gekleidet wie der mit der Pistole. Auch die Frisuren stimmten überein: Ihre Schädel waren fast kahl rasiert. »Ich kenn den aus 'ner Show.« »Na und?« »Mann, du kapierst das nicht. Er ist ne Medienfigur, Imagemacher für die Politiker.« Der vordere Mann zögerte. »Was redest du fürn Scheiß?«, quiekte er dann. »Wir nehmen ihn mit.« »Wat?« »Das ist ein Befehl. Und ich bin hier der Mission Leader, vergiss das nicht.« Langsam senkte sich der Lauf der Pistole. Arics Blick folgte ihm, bis er auf den Boden zeigte. Dann erst wagte er es, seinen Retter anzusehen. Abgesehen von der nichtssagenden Kleidung trug er ein eckiges, silbernes Schmuckstück an einem Band um
seinen Hals. Sein Kopf ruckte kurz in Richtung des dunklen Ganges. »Da lang«, befahl er und richtete seine eigene Pistole auf Aric. »Aber mir wird kalt«, sagte Aric und zeigte auf seine nackten Füße. »Lieber kalte Füße als tote Leiche.« Der Mann nickte seinem Kameraden zu, der mit den Schultern zuckte und dann die Treppe nach oben nahm. Aric merkte erst jetzt, dass er schon seit geraumer Zeit am ganzen Körper zitterte. Auf Zehenspitzen, den Blick abwechselnd auf den Boden und in den dunklen Gang vor ihm gerichtet, ging er los. »Wo … wohin gehen wir …?«, brachte er hervor. »Halt die Klappe und mach schneller«, zischte der Mann in Schwarz. Als Aric die Waffe im Rücken spürte, sprang er vorwärts, trat auf eine Kante, stürzte. Sein nackter Rücken klatschte gegen die kahle Wand. Schmerzen erfassten sein linkes Fußgelenk, und er wimmerte. Durch zugekniffene Augen sah er im Zwielicht kaum, wie sein Entführer sich zu ihm hinunter beugte. »Was bist du denn für eine Jammerfigur? Soll ich dich nicht lieber erschießen, damit du's endlich hinter dir hast?« »N … nein, ich …« Aric ächzte, rappelte sich hoch, lehnte sich gegen die Steinwand. »Ich …« »Los jetzt!« Aric biss die Zähne zusammen. Die Schmerzen im Fußgelenk waren ihm willkommen, sie lenkten ihn von der Kälte ab.
Ungelenk platschte er über eiskalte Bodenfliesen, durch schmutzige Pfützen, stützte sich immer wieder an der Wand ab; quälte sich durch den schmalen Verbindungsgang, den nur ein schwaches Glimmen an der Decke von totaler Schwärze unterschied. Nach einer leichten Kurve sah Aric mehr Licht: Ein Stück weiter endete der Gang an einer großen Tür. Aus einem Loch an der Decke schien kaltes Elektrolicht herab. »Leske!«, rief Arics Bewacher laut. »Ich habe eine Geisel, nehmt ihn gebührend in Empfang!« »Geisel?« fragte Aric. »Klappe und klettern. Da hoch.« Der Mann zeigte wütend auf eine Holzleiter, die nach oben führte. Aric gaffte, dann begann er zu klettern. Langsam begriff er, dass die schwarzen Männer sich an dieser Stelle Zugang zum Gebäude verschafft hatten, indem sie dieses einfache Loch gegraben hatten. Als Aric oben ankam und den Kopf heraus streckte, griffen ihm kräftige Hände unter die nackten Schultern und zogen ihn hoch, warfen ihn bäuchlings auf schmutziges Straßenpflaster, hielten ihn fest. Kälte sickerte in seinen Körper, und aus dem Zittern wurde unkontrolliertes Zucken. »Der Kerl ist eine Memme, aber vielleicht ganz nützlich«, hörte Aric die Stimme seines Entführers. »Wir nehmen ihn mit, bindet ihn gut fest und werft ihn in den Wagen.« »Jawohl, Mission Leader«, kam die zackige Antwort. Arics Glieder waren gefühllos, so dass er kaum merkte, dass man sie fesselte. Dann hob man ihn hoch, stieß ihn zu einem metallischen Kastenfahrzeug, wie Aric es aus uralten Filmen kannte, band ihm auch die Füße und schob ihn in eine Ecke der
Ladefläche. Eine Tür knallte, und er war allein. Schon einmal hatte Aric mit schmerzendem Fuß in der Kälte gelegen. Es war bei einem Fußballspiel passiert, kurz vor seinem zwölften Geburtstag. Er war umgeknickt, sein Knöchel geschwollen. Aber er spielte weiter, wollte keine Schwäche zeigen, damit Rian, Zack und Mali ihn nicht auslachten, für eine Memme hielten. Aric erinnerte sich deutlich daran, mit dem kaputten Fuß sogar ein Tor geschossen zu haben. Auf dem Heimweg war ihm sein Schuh viel zu eng, also zog er ihn aus. Eine Weile konnte er noch humpeln, dann musste er sich auf einen Blumenkübel setzen, direkt neben der Bushaltestelle. Für eine Fahrkarte hatte er kein Geld, und er traute sich nicht, den Fahrer zu bitten, ihn trotzdem mitzunehmen. Dann hatte es zu regnen begonnen. Aric versuchte mit aller Kraft, sich daran zu erinnern, wie er nach Hause gekommen war, aber es wollte ihm nicht mehr einfallen. Da war nur ein Gesicht mit einem Bart, sonst nichts; keine Stimme, keine Welt, keine Empfindungen. Abgesehen von einem Hämmern im Knöchel spürte Aric rein gar nichts mehr.
25 Sternenkäfer
Seinen ersten Psyfrog (einen roten mit hellblauen Karos) hatte Leop am Vorabend seines zwölften Geburtstages gelutscht, und zwar auf dem Abenteuerspielplatz hinter der Schule. »Das schmeckt aber komisch«, war seine erste Reaktion. Seine Schulfreunde Kal und Vitor kicherten. »Die sollen auch nicht schmecken«, sagte Kal. »Sondern wirken«, ergänzte Vitor und zeigte auf sein rechtes Ohr. »Hier.« »Und da«, grinste Kal und wies mit dem Zeigefinger auf Leops Schritt. Verlegen prüfte Leop den Sitz seines Pferdeschwanzes. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was sein Geschlechtsteil mit dem rot-blau gemusterten Minifrosch zu tun hatte, der unter seiner Zunge herumkletterte. »Nicht schlucken!«, warnte Kal und hielt die Papiertüte hoch, auf der ein entsprechender Hinweis angebracht war. Am Tag zuvor hatten Oleg und Vanessa Leop auf dem Heimweg aufgelauert, in eine verfallene Einfahrt gezerrt und dort so lange in den Magen getreten, bis er sich übergeben musste. Als die beiden längst mit seiner geliebten ZackmuhlJacke verschwunden waren, hatte er sich bebend und mit tödlichen Rachegelüsten heimwärts geschleppt. Mit dem Fröschlein unter der Zunge ergab sich eine ganz andere Sichtweise. Oleg, breit und muskulös, war von Vanessa überredet worden, den Überfall mit ihr durchzuziehen. Alleine
hätte sie Leop zwar auch ziemlich wehtun können, aber es wäre ihr schwergefallen, ihm die geliebte Heldenjacke wegzunehmen. Oleg wiederum war die ohnehin viel zu klein. Kurz darauf wurden Leop zwei Dinge klar: Der Frosch hatte wirklich irgendetwas mit seinem Pimmel zu tun, und Olegs Pimmel wiederum mit Vanessas Gier nach seiner ZackmuhlJacke. »Jetft verftehe iff«, brachte Leop hervor. Kal jubelte, Vitor grinste ein »Siehste« und klopfte ihm so kräftig auf den Rücken, dass Leop beinahe den Frosch verschluckt hätte. Ein wenig hatte er freilich übertrieben, denn alles hatte er noch nicht begriffen. Aber eines: Die bunten Frösche halfen ihm. Beim Begreifen. Sie verdrahteten kitzelnde Gehirnsektionen mit solchen, die nach Honig schmeckten, erhöhten die Datenrate auf dem Erinnerungshighway und pflanzten Hier-bin-ichFähnchen auf Bergen aus Erkenntnis. Leop kicherte. Er hatte im Web3D gesehen, dass es viele unterschiedlich gemusterte Psyfrog-Sorten gab. Es war wie ein Puzzle: Eine bestimmte Kombination aus den verschiedenen Sorten, und er würde auch den Rest verstehen. All die Dinge bezüglich Oleg, Vanessa, seiner Jacke, seinem … na ja, und dem Rest der Welt. Leop lachte lauthals, drehte sich um sich selbst, klatschte mit seinen Freunden ab, grölte immer lauter, ließ sich auch von einem dumpfen Schlag gegen sein Ohr nicht aufhalten, drehte sich, rotierte … Irgendwann ging ihm auf, dass er sich durch den Staub auf dem Boden des Spielplatzes wälzte. Er versuchte, aufzustehen, aber irgendwas stimmte mit oben und unten nicht. Kal sah jetzt
aus wie Oleg, versuchte ihn hochzuziehen, warf ihn aber in Wirklichkeit mit dem Gesicht in den Sand unter dem Klettergerüst, in dem sie immer Vyrroc-Raumschiff spielten und das Weltall nach verlorenen Schätzen durchsuchten. Als Leop merkte, dass er den Frosch verschluckt hatte, wurde ihm übel, und er musste sich übergeben. Danach lag er lange auf dem Rücken, beobachtete die Wolken und spürte Sonnenstrahlen in seiner Körpermitte brennen. Irgendwann erhob Leop sich, war wieder 31, hatte furchtbare Magenschmerzen, torkelte durch seine Wohnung und saß plötzlich auf dem Moosteppich, das Rechenblatt auf dem Schoß, wusste nicht wieso, navigierte wahllos durch unbekannte Dokumente, die er aus dem Politiker-Web geklaut hatte. Er fand eine Abbildung, die ihn stark an das Klettergerüst aus seiner Kindheit erinnerte, bloß mit riesigen Ballons oben drüber, die sich beim näheren Hinsehen als Konglomerat von Luftfischen mit stark vergrößerter Gasblase entpuppte. Ein Dr. Koflew zeichnete verantwortlich für diesen Bericht, aus dem hervorging, dass die Luftfische das Fahrzeug in eine Höhe von soundsoviel Kilometern heben würden, um dann tot herunterzufallen. Der Sternenkäfer sei dann aber hoch genug, um den Rückstoß komprimierter Gase nutzen zu können, um dem Schwerefeld der Erde zu entkommen. Ein von den Vyrroc spendierter, im Orbit wartender Photonentriebwerk-Schlepper sollte den Sternenkäfer dann aus dem Sonnensystem ziehen. An Bord die Kaiserin und die wichtigsten Politiker und Industriellen, auf der Flucht vor dem Schicksal, das der Erde bevorstand. Leop saß oben auf dem Klettergerüst, kreischte, damit Kal und Vitor sich festhielten, denn sie mussten gemeinsam fliehen,
bevor die Erde von einem Weltraumhai verschluckt wurde. Dummerweise wollte das Gerüst einfach nicht abheben, obwohl Leop versuchte, mit bloßen Händen sein Fundament auszubuddeln. »Lasst mich doch, ich muss …«, heulte er, als Kal und Vitor versuchten, ihn davon abzuhalten. Er wusste, wo sich der riesige Kosmovogelkäfer befand, und eine Armee von Fröschen in Raumanzügen empfahl ihm, sich dorthin zu begeben, er wisse schon, warum, oder er habe die Konsequenzen zu tragen, vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Zuckend sank Leop im Sand zu einem Häufchen Elend zusammen, vergrub den Kopf unter den Händen, um nicht den Hai sehen zu müssen, wie er die Welt verschlang, herunterwürgte in seinen Magen, wo kosmische Säuren alles Leben verdauten und als braune, multidimensionale Köttel ausschied. Als der stechende Schmerz in seinem Magen langsam verebbte, hörten Erinnerungen und Zukunftsvisionen auf, Tango zu tanzen, und Leop verlor dankbar das Bewusstsein.
26 Geheimprojekt
Die Augen dunkel umrandet, vornüber gebeugt, klammerte Aniaa sich an der schiefen, braunen Steinguttasse fest, die sie von ihrer Oma geerbt hatte. Bisweilen hob sie das Gefäß an die Lippen, um lautstark heißen Kaffee einzusaugen. Aniaa fühlte sich schuldig. Sie verweigerte der Behauptung ihres Körpers, die Nacht habe ihm ziemlich gut gefallen, den Respekt und strafte ihn mit verbrannten Lippen und Fingernägeln in den Schenkeln. Letzteres hatte sie allerdings aufgegeben, als es anfing zu bluten. Verkrampft hockte sie da und wusste nichts mit der Feststellung anzufangen, dass es Vita noch schlechter ging. Die hing nämlich seit einer halben Stunde über der nagelneuen Klokröte und kotzte sie voll. Die Vision von Gaia, hatte sie behauptet, sei ihr schlecht bekommen. Aniaa vermied es, an die Seance zurückzudenken. Es war ganz anders gewesen als früher – realer, schmerzhafter, tiefer. Auf eine intime Weise unheimlich, als würde ein Geheimbund in ihrer Gebärmutter verschwörerische Sitzungen abhalten. In diesem Moment gongte die Wand, und die Nachrichtensprecherin erschien. Das immer frische Gesicht von Geri den Vraam strahlte, als sie verkündete, dass die Sicherheitszwerge die Lage unter Kontrolle hatten. »Die selbsternannte Übergangsregierung wurde in einem von ihr besetzten Gebäude in
der Frankfurter Innenstadt eingeschlossen. Inzwischen konnte die Gruppe zur Freilassung einiger Geiseln bewegt werden. Die Auflösung der Situation wird für den heutigen Tag erwartet. Wir bringen jetzt weitere Interviews mit Politikern und anschließend eine Dokumentation über präsymbiontische Studentenaufstände.« »Aus«, sagte Aniaa. »Bist du sicher?«, fragte die Moderatorin mit einem Hauch Unzufriedenheit in der Stimme. »Ja«, bestätigte Aniaa und Geri den Vraam verblasste ohne ein weiteres Wort. Sie wurde ersetzt durch eine auf dem Bildschirm umher flatternde Eule, die einen riesigen Briefumschlag umklammerte. »Anzeigen«, sagte Aniaa. Als der Briefumschlag sich entfaltete und das Portrait einer Vyrroc zeigte, fuhr Aniaa zusammen. Ihr Herz klopfte heftig, aber die Aufregung ließ sogleich wieder nach. Es war nicht Pschist-i, sondern eine fremde Vyrroc – laut Einblendung hieß sie Kschikt-e. Trotzdem vermochten schon die ersten Buchstaben der Nachricht Aniaa zu fesseln. Liebe Aniaa. Tragödie. Hab wenig Zeit. Benutze fremdes Terminal. Darf nicht zurück. Schiut-e weggenommen. Ich Quarantäne. Und Kommunikationsverbot. Alles geheim. Werde schreiben wieder wenn ich kann. P Aniaa las die Zeilen wieder und wieder, graste mit ihren Augen den Bildschirm ab, verstand nichts, sah nur die einbuchstabige
Signatur, die das Gesicht von Pschist-i in ihren Geist projizierte. »Was ist denn mit dir los?«, fragte Vita, die plötzlich im Raum stand. Sie hustete, rieb sich mit einer Hand den Bauch und las die Zeilen auf der Wand. »Pschist-i kommt nicht mehr zurück«, antwortete Aniaa. Ihre Stimme klang spitz, an der Grenze zur Hysterie. »Liebes«, murmelte Vita kopfschüttelnd, »bist du denn sicher, dass sie diese Mail überhaupt geschrieben hat?« »Wer denn sonst?« Aniaa merkte, dass sie gekreischt hatte, und wiederholte betont ruhig: »Wer denn sonst.« Vita fing an, ihren blonden Zopf zu öffnen, während sie sich zu Aniaa setzte. »Und?« »Verstehst du nicht?« Aniaas Augen wurden feucht, und Vita ließ ihre Haare los, um einen Arm um ihre Freundin legen zu können. Mit der freien Hand verjagte sie einen durstigen Putzergecko, der Anstalten machte, Aniaa anzuspringen. Die schluchzte: »Diese Anomalie, die du gefunden hast. Dasselbe, was der Arzt gefunden hat, als er Schiut-e untersuchte. Es muss eine schreckliche Krankheit sein. Ansteckend, deshalb halten sie beide fest.« Aniaa sah Vita an, strich sich dunkle, von Tränen verklebte Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Was ist, wenn das eine tödliche, unbekannte Infektion ist? Wenn es eine Pandemie auslöst?« Vita verging das Lächeln. Hinter ihrer Stirn arbeitete es. Ihre Kiefer mahlten, ihre Finger griffen fester in Aniaas Fleisch. »Willst du es herausfinden?« »Wie denn?« »Du bist immerhin Exobiologin. Du kennst dich mit diesen Dingen aus.«
»Ich weiß gar nichts …« »Du warst in den letzten Semestern faul.« »Die Professoren …« Vita schüttelte den Kopf. »Gib nicht anderen die Schuld an deinem Versagen. Du hast dich seit Monaten nur um Pschist-i gekümmert und dein Studium vernachlässigt. Jetzt kannst du wirklich etwas für deine Vyrroc-Freundin tun.« Sie hob die Stimme. »Steh auf und tu endlich mal wieder etwas sinnvolles!« »Du bist so …« »Hart? Ja, mein Liebling. Aber dafür sind Freunde da. Wenn ich immer nur lieb zu dir wäre, und sagen würde: ach ja meine Süße, alles ist gut, würde ich dich belügen. Und Freunde belügt man nicht.« Vita holte tief Luft, setzte zu ihren entscheidenden Sätzen an. »Jetzt kannst du vielleicht wirklich etwas für Pschist-i tun. Etwas viel besseres, als mit ihr Goethe-Sekundärliteratur durchzukauen und nachts ihr Baby zu füttern. Steh auf und tu was sinnvolles!« »Ich schaff das nicht!« »Streich das letzte Wort.« Aniaa zog Rotze hoch, dann nickte sie. »Aber wo fange ich an?« »Ich habe diese Anomalie isoliert, aber nur oberflächlich analysiert. Wir untersuchen sie gemeinsam, du vergleichst sie mit allem, was du kennst.« »Brauchen wir dazu nicht mehr von dem Material?« Vita überlegte. »Ja«, nickte sie dann, »und ich glaube auch zu wissen, wo wir das finden.«
27 Eisengeneral
Dampf, Zischen, Dröhnen. Glühend heiße Röhren emittierten die Aura des Untiers, das die Menschheit einmal beinahe vernichtet hätte, und nur vorübergehend gebändigt war, um in Kürze erneut zuzuschlagen. Und diesmal endgültig. Stahl war in Arics Erinnerung immer eiskalt: Die Schneide eines Messers, die Klinke einer alten Tür. Das Metall, an das seine Entführer ihn gefesselt hatten, war hingegen heiß, feucht und rostbraun. Aric lag auf der Seite, die Beine ausgestreckt, den schmerzenden Fuß verkrampft still haltend. Die Arme hatte man hinter seinem Rücken zusammengebunden, wobei sie eine Reihe senkrecht verlaufender Röhren umschlangen, an die Aric sich nicht lehnen konnte, weil sie viel zu heiß und hart waren. In diesem Magen einer vibrierenden Maschine, die Menschen zerkaute, um ihre Überreste durch glühende Verdauungsröhren zu pressen und als kleine, dampfende Rostköttel auszuscheiden, empfand Aric nichts als Angst. Gelegentlich erinnerte ihn ein scharfer Schmerz im Fuß daran, dass er noch mehr Probleme hatte. Langsam aber sicher kam auch noch Harndrang hinzu. Es half alles nichts: Er musste auf sich aufmerksam machen. Die Halunken, die ihn verschleppt hatten, mussten sich um ihn kümmern. Sie waren für ihn verantwortlich. Aric spähte durch
die Lücken zwischen Dampfwolken, aber er sah keinen Menschen. Er versuchte, seinen Oberkörper ein Stück zu verschieben, um den Kopf so drehen zu können, dass er nach oben schauen konnte. Über ihm verlor sich die Halle in diffusem Nebel, nur schemenhaft konnte er Gitterstege erkennen, die miteinander über Treppen und Leitern verbunden waren. Er nahm eine Bewegung wahr, schräg über ihm, an der Grenze seines Sichtfeldes. Rhythmische Klänge legten die Vermutung nahe, dass ein Mann über den Metallboden schritt. Aric überlegte schon, ob er einfach »Hilfe« schreien sollte, da blieb der Mann stehen. Er schien auf eine andere Person getroffen zu sein, denn zwischen den Dampfgeräuschen und schmerzerfüllten Momenten der Unaufmerksamkeit konnte Aric zwei Stimmen hören: Eine tiefe und eine knarzige. »Was soll … Leutnant … steht unmittelbar bevor?« »Wie ich schon sagte«, wurde die tiefere Stimme lauter, »die Party, die wir geraidet haben, war so eine Art Goodbye … mindestens einhundert Politiker sind …« »… ist viel früher als …« Die knarzige Stimme war kaum zu verstehen, zumal die Männer jetzt auf und ab zu gehen schienen und das Metall der Stege lautstark knirschte. »Es … Zweifel. Die Liete wird … vakuiert …« Aric hielt die Luft an, um die tiefe Stimme besser zu verstehen. »… verlassen die Erde.« »… nicht viel Zeit … Aufbru …« »… können nicht einfach … so schnell … vorbereit …« »Es gibt keine andere Option.« »… ist noch …« »… wird auch die Kaiserin … Erde verlassen.«
»… hin …« »… Tiga.« Arics schnappte nach Luft, bemerkte kaum deren Geschmack nach kochendem Eisen. Er hörte, wie die Männer sich eilig entfernten. Tiga. Aric liebte die Kaiserin. Und die Kaiserin mochte auch ihn. Dr. Kala war drauf und dran gewesen, ihn zu ihr zu bringen. Das hatte sie doch gesagt, oder? Aric schmerzte der Kopf, direkt hinter den Augen. Er wusste von seiner Mutti, dass das kam, wenn man nicht genug trank. In seiner Kindheit hatte Aric oft vergessen, zu trinken. Wasser mochte er nicht, Milch bereitete ihm Magenschmerzen, und sonst gab es nur Bier im Haushalt. Aber Aric konnte jetzt nicht trinken, er musste urinieren. Der Gedanke an Getränke ließ seine Blase schmerzen. Tiga. Seine Kaiserin. Sie und die anderen Politiker hatten vor, die Erde zu verlassen – das hatte Aric der Unterhaltung der Männer entnommen. Die Vorstellung war schwer zu ertragen. So würde er Tiga nie begegnen. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wohin Tiga gehen wollte. Oder warum. Aric spürte, wie ein Gefühl des Verlustes in ihm aufstieg, das ihn an das Begräbnis seiner Mutti erinnerte. An ihrem Grab hatte er viel geweint, und monatelang war er jeden Nachmittag hingegangen, um frische Blumen hinzubringen. Bis der Friedhof die sterblichen Überreste verdaut hatte. Plötzlich setzte ein rhythmisches, ständig schneller werdendes Schnaufen und Donnern ein. Es erinnerte Aric an eine Dampflok, die er einmal als Kind in einem uralten Film gesehen hatte. Er stellte sich vor, auf den Schienen festgebunden zu sein,
und das stählerne Ungetüm fuhr auf ihn zu. Dabei nässte er sich ein.
28 Fäkalien
Aniaa rümpfte die Nase. »Ist das noch nicht genug?« Vita schüttelte den Kopf, entleerte den an einem Faden befestigten, bunt verzierten Becher in die schon halb gefüllte Glasflasche und ließ das kleine Gefäß dann wieder in den Schacht hinab, der hinunter zur Kanalisation führte. »Einen Becher noch«, sagte sie, während sie den Faden durch die Finger gleiten ließ. Konzentriert horchte sie auf das leise Platschen, das erklang, als der Becher auf Flüssigkeit traf. »Es stinkt fürchterlich«, schimpfte Aniaa und holte ein weißes Stofftaschentuch aus der Jackentasche, um es sich vors Gesicht zu halten. »Nun«, sagte Vita, die schon dabei war, den Becher wieder empor zu ziehen, »am schlimmsten riechen die menschlichen Fäkalien. Die der Symbionten sind in jeder Hinsicht optimiert.« »Man sollte uns Menschen auch optimieren.« »Du weißt genau, dass die Weltethikkommission das nicht erlaubt.« Demonstrativ hob sie den gefüllten Becher an zwei Fingern hoch, entleerte ihn in die Flasche und schraubte sie zu. Sie löste den Faden vom Becher und rollte ihn auf. »Mach den Becher sauber und steck ihn ein, bitte«, sagte sie zu Aniaa. »Na gut«, brachte die hervor, betrachtete unglücklich ihr Stofftaschentuch und wickelte den Becher darin ein. »Können wir ihn nicht einfach wegwerfen?«
»Es ist ein Geschenk von meinem Ex-Freund.« »Ein Grund mehr, ihn wegzuwerfen.« »Von mir aus.« Vita zuckte mit den Schultern. »Er hat mir drei davon geschenkt, weil er meinte, das Muster würde mich beruhigen.« »Hat es funktioniert?« »Nein. Hilf mir mal.« Gemeinsam schoben die Frauen den schweren Schachtdeckel wieder an Ort und Stelle. »Gehen wir«, sagte Vita dann. Sie hatten nur wenige Meter zurückzulegen, weil sie die Kanalisation ganz in der Nähe der Uni angezapft hatten. »Hoffentlich ist Rotweil nicht da«, murmelte Aniaa. Sie pustete eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich während der ungewohnten körperlichen Arbeit aus dem Zopf gelöst hatte. »Er wird uns heute nicht zu nahe kommen«, meinte Vita. »Wieso?« »Weil wir stinken.« »Oh.« Vita hatte Recht. Die Flasche mit der Probe aus der Kanalisation war vermutlich undicht. Zu allem Überfluss kam den Frauen soeben Professor Kumerlick entgegen, der beide aus unterschiedlichen Veranstaltungen persönlich kannte. »Mist«, entfuhr es Vita. »Guten, äh«, stotterte Aniaa, als der grauhaarige, in einen altmodischen Anzug gekleidete Herr nur noch wenige Meter entfernt war. Vita setzte ein besonders fröhliches Grinsen auf. »Einen wunderschönen guten Tag, Herr Professor! Tolles Wetter, was?« Und schon waren sie vorbei. Aniaa wagte einen Blick zurück.
»Er sieht uns nach«, zischte sie. »Weitergehen«, drängte Vita. Die Frauen bogen in einen Seitenweg ein, der mit leichter Neigung zum Kellereingang der MHT-Fakultät führte. Vor der Tür schöpften sie kurz Atem. Aniaa wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Oh nein«, entfuhr es Vita. Sie zeigte durch die Glastür, dann hüpfte sie zur Seite. Aniaa war nicht schnell genug: Rotweil hatte sie schon gesehen, lächelte wie ein Luftfisch mit Höhenkoller und kam in ihre Richtung. Gleichzeitig landete eine Spamtaube auf dem hölzernen Fakultätsschild, auf dem in klassischen Lettern »A.4.* MHT – Mikrohybridtechnik« stand. »Goldspan, der neue Duft für die dynamische Frau von heute«, gurrte die Taube. »Alle Männer werden sich nach Ihnen umdrehen und Ihnen Komplimente machen.« Vita holte aus, und die Taube flog auf. Sie landete außer Reichweite auf dem schmalen Vordach des Kellereingangs, der sich im gleichen Moment öffnete. »Was für seltener und gern gesehener Besuch«, säuselte Rotweil und entblößte eine Reihe glänzender Zähne. »Oh, Vita, du bist auch hier. Gleich eine zweifache Potenzierung der Glorie dieses Tages.« »Halt die Klappe«, sagte Vita und eilte an ihrem Kollegen vorbei. Der strich sich über die pechschwarzen Haare, verbeugte sich tief und ließ auch Aniaa vorbei. Es gelang den Frauen, Rotweil an der nächsten Treppe abzuhängen und ungestört das kleine Labor zu betreten, in dem Vita gelegentlich arbeitete. Schon eine Stunde später hatten sie dank Vitas Vorarbeiten die unbekannte Substanz isoliert: Makromoleküle, die eine
wässrige Lösung leicht trübten. »Das Zeug ist überall«, murmelte Vita. »Es kann nicht allein von Pschist-i oder ihrem Baby stammen.« »Natürlich nicht«, stimmte Vita zu. »Vielleicht stammt es nicht einmal von Vyrroc.« »Es könnte etwas ganz normales sein«, sprach die Hoffnung aus Aniaa. »Wir erkennen es bloß nicht. Wir sind nicht allwissend.« Langsam schüttelte Vita den Kopf und starrte das Becherglas an, in dem der fremdartige Stoff auf weitere Untersuchungen wartete. Der Stoff ertrug die Blicke mit stoischer Ruhe. Dann kam Rotweil hereingestürmt und begann einen gefühlt einstündigen Versuch, mindestens eine der beiden Frauen davon zu überzeugen, dass Pizzaessen mit ihm viel interessanter sei als Herumgepansche mit stinkendem Glibberzeugs.
29 Pizza
Als die Wirkung von Leops Psyfrog nachgelassen hatte, ließ er sich eine riesige Pizza kommen, schaffte nicht einmal die Hälfte, legte sich auf sein Moosbett und hörte Einschlafmusik. Harmonisches Gedudel umschmeichelte seine Ohren, setzte dazu an, Theta-Wellen zu induzieren, klimperte ein bisschen auf pulsierenden Schädellappen herum. Blöderweise kam nicht der Schlaf, sondern die Erinnerung. Luftfische, ein Sternenkäfer? Politiker-Exodus? Flucht vor einem Asteroiden, der die Form eines Hais hatte und die Erde vernichten würde? Leop schüttelte den Kopf. »Ich sollte die Frösche in Ruhe lassen«, murmelte er. Er hatte in letzter Zeit die Bodenhaftung verloren, seine Arbeit vernachlässigt, aufgrund unentschuldigter Abwesenheit seinen Job aufs Spiel gesetzt. Warum hatte er doch gleich mit dieser sinnlosen Suche angefangen? Ja, was suchte er eigentlich? Richtig. Mooha. Aber er hatte nicht sie gefunden, sondern undurchsichtige Dokumente über einen idiotischen Weltraumvogel. Eine Weile starrte Leop schlecht gelaunt die grüne Decke an. Dann stöhnte er, rollte sich an den Rand der Moosmatratze und griff nach seinem Rechenblatt. Widerwillig schaltete er es ein,
nahm sich vor, kein Wort zu glauben. Erneut überflog er Dokumente, mit denen er nichts anzufangen wusste. Zeichnungen, Formeln, Tabellen. Wahrscheinlichkeiten, Katastrophenszenarios in unterschiedlichen Abstufungen. Das letzte verklausulierte sein Resultat »Verlust 99,9%« in einem Satz, der über eine halbe Seite ging. Eines stand fest: Die Politiker nahmen die Sache ernst. Für gewöhnlich ignorierten sie die Erkenntnisse von Wissenschaftlern, diesmal aber nicht. Dafür gab es nur eine Erklärung: Ihre Existenz stand auf dem Spiel. Ihr Leben. Der Hai würde die Erde treffen. Und er war schwer genug, um einen größeren Schaden anzurichten als ein globaler Atomkrieg. Zerstören oder von seiner Bahn ablenken konnte man den Asteroiden nicht. Eine relevante Anzahl Raumschiffe besaß die Erde nicht, wozu auch. Für Tourismus, Studentenaustausch und Warentransport genügte die Photon-Flotte der Vyrroc. Die Politiker hatten erkannt, dass nur einige wenige Menschen gerettet werden konnten. Statt um die wenigen Plätze zum Beispiel eine Lotterie zu veranstalten, was für die Verlierer unerfreulich, aber im Grundsatz gerecht gewesen wäre, planten sie den Exodus der Elite. Dazu gehörten zum einen die Manager jener Konzerne, die dazu in der Lage waren, den Bau eines passenden Weltraumvogels zu finanzieren, sowie die aus Politiker-Sicht wichtigsten Menschen der Welt – sie selbst. Um die ganze Sache nicht unnötig zu verkomplizieren, hatte man davon abgesehen, die restliche Bevölkerung zu informieren. Wozu auch – sie konnten sowieso nicht mit, und irgendwann würden sie schon selbst merken, was auf sie zu kam. Offenbar bestand die zentrale Einheit der Politikerarche aus
einem riesigen, unter freiem Himmel gezüchteten Käfer-Panzer – eine gigantische biotechnologische Leistung. Es war ferner von selbsttragenden, ultraleichten Fraktalstrukturen die Rede, aber diesen Teil hielt Leop nicht für wichtig. Plötzlich begegneten sich in seinem Kopf zwei Gedanken, schüttelten einander die Hände und stellten fest, dass sie miteinander verwachsen waren. Sie waren eins, siamesische Ideen; zwinkerten Leops innerem Auge zu: Mooha war verschwunden, weil sie am Bau des Sternenkäfers beteiligt gewesen war … hatte etwas zuviel ausgeplaudert, war dann verschwunden … oder sie war gewissermaßen freiwillig verschwunden. Zu einer weiteren Schlussfolgerung gelangte Leop nicht, denn die Wohnungstür gongte. Er rappelte sich hoch, schlurfte zur Tür, das Rechenblatt noch in der Hand. Draußen standen sieben bewaffnete Sicherheitszwerge.
30 Rotweil
»Ich persönlich halte es ja für unentschuldbar, Aubergine nicht zu grillen, bevor man sie auf die Pizza legt«, erklärte Rotweil und lehnte sich zurück. »Du könntest dir eine Pizzeria wie diese gar nicht leisten, wenn deine Familie dich nicht mit Geld überhäufen würde«, versetzte Vita. Unzufrieden beobachtete sie Aniaa, die immer noch mit ihrer Pizza beschäftigt war und auch keine Anstalten machte, den Rest liegen zu lassen. »Ein wenig anders ist es schon«, widersprach Rotweil zufrieden. »Die großzügige Versorgung der Familien von Politikern beugt Machtmissbrauch und Korruption vor«, erklärte er, ohne rot zu werden. Vita griff nach dem Salzstreuer auf dem Tisch und warf Aniaa einen flehentlichen Blick zu. »If ftopf ja fon«, gab die mit vollem Mund zurück. »Keine Eile, Signorinas«, säuselte Rotweil, »ich bin sicher, es gibt noch Dessert und Grappa. Dieser Laden ist dermaßen altmodisch, dass wir den Wirt beleidigen würden, wenn wir sein Tiramisu verschmähen.« Seufzend sah Vita sich um. Das Ristorante »Vesuvio« sah in der Tat so aus, als hätte man es aus dem 20. Jahrhundert ins Jetzt transportiert, an der Symbiose vorbei, nicht aber an der Inflation.
Dunkle Holzregale, bestückt mit staubigen Weinflaschen, lächerliche Entenskulpturen und – das war das widersinnigste – Gummi-Topfpflanzen. Keine Symbionten weit und breit, weder Hygienegeckos noch Lampenkäfer. »War deine Mutter nicht mal … Ministerin oder so?«, ließ sich Aniaa vernehmen. »Vorsitzende vom Systemausschuss«, korrigierte Rotweil. »In Leipzig.« »Der Systemausschuss kümmert sich doch um den wissenschaftlichen Austausch mit Vyrroc, oder?« Rotweil zögerte, als ob er eine Falle witterte. »Unter anderem«, antwortete er vorsichtig. »Leipzig?«, fragte Aniaa. »War da nicht dieser Überfall?« Sie schob sich ein letztes Stück Pizza in den Mund. »Ja, aber die Sicherheitszwerge hatten die Sache natürlich im Griff. Mutter ist nichts passiert. Was man von den Steeldogs nicht behaupten kann«, grinste Rotweil und strich sich einen imaginären Fussel vom Revers. »Sie ist sicher eine starke Frau«, sagte Vita langsam. Aniaa sah sie staunend an und vergaß das Kauen. Rotweil hatte Vitas Stimmungsumschwung nicht bemerkt, oder er ignorierte ihn souverän. »Oh ja, das ist sie.« Vita lehnte sich vor und lächelte Rotweil dermaßen freundlich an, dass Aniaa sich ein Hüsteln nicht verkneifen konnte. Unbeirrt legte Vita ihre Hand auf die von Rotweil. »Ich frage mich, ob du es arrangieren könntest, dass ich diese wunderbare Frau einmal kennenlernen könnte. Ich bewundere sie sehr.« »Ich …« Rotweil kapitulierte. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Wunderbar«, sagte Vita. »Bestellst du uns jetzt Tiramisu? Aniaa ist mit ihrer Pizza fertig.« »Vita!«, rief Aniaa empört. »Wie ist eigentlich der Name deiner Mutter?«, fragte Vita ungerührt. Rotweil winkte dem Kellner, bevor er antwortete: »Dr. Kala.«
31 Aufbruch
Aric spürte, wie die Dampflok über seine Arme und Beine rollte. Ihr heißes Abwasser kochte seine Schenkel. Seine Hände hatten die Räder abgeschnitten, denn er spürte sie nicht mehr. »Kack und Shit«, schrie plötzlich eine Stimme, vielleicht vom Lokführer. »Kutschinski, antreeeten!« Durch Dampfschleier sah Aric, wie schwarze Stiefel neben ihm auf den Boden knallten. »Zu Befehl, Feldwebel!«, donnerte jemand oberhalb der Stiefel. »Was ist das für eine Figur hier?« »Keine Ahnung, Feldwebel, ein Gefangener vom LeipzigEinsatz, vermute ich?« »Shit Politiker«, fluchte der Feldwebel, der außerhalb von Arics Sichtfeld stand. »Er ist nass und stinkt, und dann diese Haare!« »Ja, Sir!« »Kümmern Sie sich darum, Kutschinski. Wir geben diese Position auf und können den Kerl nicht zurücklassen.« »Ja, Sir!« »Beeilen Sie sich, ich erwarte Sie noch vor dem Aufsitzen in meiner Stube zwecks angemessener Bestrafung.« »Bestrafung, Herr Feldwebel, Sir.« »Genau, Kutschinski, denn Sie sind ein beschissener Private und ihnen gehört der Arsch versohlt und gefickt, ist das klar?«
»Völlig klar, Sir!« Der Feldwebel entfernte sich, und unverständlich murmelnd löste Kutschinski Arics Fesseln. Dann fing er an, ihn auszuziehen, unterbrochen von »Igitt«, »Sauerei« und einem »Wow«. Aric nahm nicht einmal das Wasser wahr, das über seinem Körper entleert wurde. Seine Glieder verweigerten jede Bewegung, sein Kopf jedes Denken, denn die Dampflok hatte ihn getötet, und Tote konnten nicht denken. Als Aric das Bewusstsein wiedererlangte, verspürte er vor allem Hunger. Er lag in einem engen Verschlag, der unregelmäßig ruckelte. Kisten waren an den Wänden aufgereiht, und mühevoll öffnete Aric eine von ihnen. Er fand darin ordentlich verpackte Schokoriegel und stopfte einen nach dem anderen in sich hinein, bis ihm schlecht wurde. Eine andere Kiste enthielt Wasserflaschen, an denen Aric sich mangels Alternative ebenfalls bediente. Schließlich setzte er sich erschöpft auf eine schmale Kiste und rülpste. Jetzt erst fiel ihm auf, dass er in einer sauberen, dunkelgrauen Steeldog-Uniform steckte, seine Haare abgeschoren waren und der Verschlag, in dem er saß, Teil eines Fahrzeugs war, das sich leicht ruckelnd mit gleichmäßiger Geschwindigkeit vorwärts bewegte. Durch ein winziges Fensterchen konnte Aric hinaus in die Dunkelheit spähen. Abgesehen von wenigen, fernen Lichtern und der allgegenwärtigen Kraftkäfer-Wolke gab es nichts zu sehen. Mit der Zeit langweilte Aric sich. Er zog die schlecht passenden Stiefel aus, in die man seine Füße gesteckt hatte, und befingerte sein immer noch leicht schmerzendes Gelenk. Weil ihm warm war, zog er sich auch noch Jacke und Hose aus. Vage
erinnerte er sich an das Gespräch zweier Steeldogs, das er geträumt hatte. Das Wort »Ficken« hallte in seinem Kopf wider. Automatisch dachte er an die Nacht mit Dr. Kala und bekam eine Erektion. Er zögerte einen Moment, sah noch einmal aus dem winzigen Fensterchen, stellte fest, dass das Fahrzeug keine Anstalten machte, seine Fahrt zu beenden, und fing an zu masturbieren.
32 Kala
»Lass mich einfach reden«, sagte Vita leise zu Aniaa, die im Luftfisch neben ihr saß. »Ich wollte ja nicht einmal mit«, gab Aniaa zurück. »Du möchtest doch Pschist-i wiedersehen, oder?« »Was hat das mit dieser Dr. Kala zu tun?« Aniaa rutschte unzufrieden auf ihrem Sitz herum. Vita klopfte auf die kleine Tasche, die auf ihrem Schoß lag. »Denk dran, wir haben den Schlüssel«, antwortete sie. Aniaa verdrehte die Augen. »Wir haben …« »Meine Damen, wir sind gleich da«, mischte sich in diesem Moment Rotweil ein, der in der Reihe vor ihnen saß und aus der kleinen Fensteröffnung gesehen hatte. »Bitte wundert euch nicht, wenn wir nicht in Leipzig landen«, ergänzte der junge Mann. Er sah zwischen Vita und Aniaa hin und her, als könne er sich nicht entscheiden, welche der beiden Frauen er zuerst ins Bett zerren sollte. »Aufgrund des Überfalls der grässlichen Steeldogs befindet sich meine Mutter derzeit in einem Notquartier in der Nähe von Rostock. Zusammen mit vielen anderen Politikern.« Aniaa schüttelte sich. Sie hatte keine Lust, sich mit einer größeren Anzahl von Personen auseinanderzusetzen, die sie wie Menschen zweiter Klasse behandeln würden. Das einzig gute war, dass man sie nach Übergabe ihres Wissens und ihrer
Stoffprobe ziemlich schnell wieder heimschicken würde. Aniaa sehnte sich nach ihrer warmen, gemütlichen Wohnung, selbst wenn sie ohne Pschist-i furchtbar leer und einsam war. Der Luftfisch landete, die drei Passagiere stiegen aus und ließen die unvermeidliche Abtastung durch die Sicherheitszwerge ungeduldig über sich ergehen. »Mein Name ist Dr. Kinsel«, sagte ein ordentlich gekleideter Politiker mit einer goldenen Schnecke hinter jedem Ohr und lächelte unverbindlich. »Ah, Rotweil. Deine Mutter wird sich freuen, dich zu sehen. Lasst uns gleich zu ihr gehen.« Er zeigte auf eines der zahlreichen Membranzelte, die von innen heraus leuchteten. Während der Luftfisch hinter ihnen langsam wieder an Höhe gewann, um sich an den Kraftkäfern, die die Nachtluft bevölkerten, satt zu fressen, folgten Aniaa, Vita und Rotweil dem Politiker über matschige Wege zu Dr. Kalas Zelt. »Was ist das für eine Siedlung?«, flüsterte Aniaa. »Weiß ich auch nicht«, gab Vita zurück. »Ein Versteck? Angst vor weiteren Angriffen? Warum sitzen sie nicht in irgendeinem Regierungsgebäude in der nächsten Stadt?« Verstohlen zeigte Vita auf die beiden Männer, die vor ihnen gingen. »Hörst du, was sie sagen?«, fragte sie ihre Freundin. Die horchte angestrengt. »… kannst nicht einfach … mitbringen …« »… hier eigentlich vorgeht?« »Keiner weiß … nur Kurfgens.« »… nichts?« Plötzlich blieb Dr. Kinsel stehen. Er drehte sich zu Aniaa und Vita um, lächelte sein unverbindliches Politikerlächeln und
zeigte auf den Zelteingang. »Wir sind da. Bitte denkt daran, dass ihr euch nur hier befindet, weil dieser freundliche junge Mann es wünscht.« Dabei zeigte er auf Rotweil. »Er wird nach seinem Studium ein großartiger Politiker, da bin ich ganz sicher. Deshalb gehe ich davon aus, dass es kein Fehler war, zwei unbekannte Personen hierher zu bringen. Wenn ich mich irren sollte, was natürlich unwahrscheinlich ist, werde ich geeignete Maßnahmen ergreifen müssen.« »Schon gut«, sagte Rotweil. »Gehen wir.« Er schob die Zeltplane zur Seite und ließ Aniaa und Vita hinein treten, bevor er folgte. Leuchtkäfer, die an dünnen Fäden von der Decke hingen, verbreiteten einen orangen Schein im Inneren des Zeltes. Vita betastete nervös ihre Frisur. Dr. Kala steckte in einem PinguinAnzug und trug die blonden Haare kurz. Sie saß neben einem älteren Politiker an einem schmalen Tisch und erhob sich, als die Besucher eintraten. Sie schenkte ihrem Sohn ein ehrliches Lächeln und umarmte ihn. Dann begrüßte sie knapp die beiden Studentinnen. »Dies ist Dr. Kurfgens«, zeigte sie auf den glatzköpfigen Politiker, der am Tisch sitzengeblieben war. »Frau Dr. Kala«, begann Vita ohne Vorrede, »ich bin nicht hier, weil ich dich oder deinen Sohn besonders mag.« »Oh nein«, entfuhr es Aniaa, und sie schloss die Augen. Rotweil schüttelte grinsend den Kopf und ging zu einem niedrigen Regal neben dem Eingang, um sich einen Becher Wasser zu holen. »Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit«, entgegnete Dr. Kala, die einen Schritt rückwärts gemacht hatte.
Vita reagierte nicht darauf. »Ich möchte etwas wissen.« Langsam holte sie die kleine Flasche mit dem diffusen Stoff aus der Tasche. »Was ist das?« »Woher soll ich das wissen?« Dr. Kala war offenbar kurz davor, die Sicherheitszwerge zu verständigen. Aniaa zupfte Vita am Ärmel. »Dr. Kala«, sagte sie betont ruhig, »wir haben diesen unbekannten Stoff im symbiontischen Kreislauf von Tübingen gefunden. Leider wissen wir nicht, worum es sich dabei handelt, aber wir haben Hinweise darauf, dass er von Vyrroc stammt.« »Vyrroc«, echote Dr. Kala und runzelte die Stirn. »Rotweil hat uns erzählt, dass du gute Beziehungen nach Vyrroc hast. Vielleicht kannst du herausfinden, was es mit diesem Stoff auf sich hat. Die Vyrroc selbst scheinen irgendwas zu wissen, aber sie verraten es nicht.« »Wie soll ich …« »Mutti, es tut mir Leid, wenn ich …« Vita holte tief Luft. »Ich halte das für ein Gift.« Stille trat ein. Aniaa schloss die Augen. »Vita …« »Meine Damen«, mischte sich plötzlich Dr. Kurfgens ein, »ich drücke euch meinen Respekt für eure genauso hilfreichen wie zutreffenden Schlussfolgerungen aus.« »Wie bitte?«, machte Dr. Kala und drehte sich zu ihm um. Kurfgens hob die Hände und setzte sein tausendfach bewährtes Politikerlächeln auf. »Es ist wirklich Gift von Vyrroc.« »Aber …« Vita betastete aus Nervosität ihr Ohr. »Kurfgens! Was redest du da?« »Keine Sorge, es wird keinem Menschen schaden«, winkte
Kurfgens ab. »Das hätte derzeit auch wenig Sinn, oder?«, versetzte Dr. Kala. Vita sah verständnislos von einem zum anderen. Dr. Kurfgens bewegte sich langsam Richtung Zelteingang. Er legte die Finger seiner Hände aneinander und wippte auf den Zehenspitzen, als er sagte: »Es ist für den Hai. Die Vyrroc wollen nicht die nächsten sein, die von ihm verschlungen werden.«
33 Haiserfeld
»Frau Terpitsch wohnt gegenüber«, sagte Leop, lächelte unverbindlich und knallte die Tür zu. Er wusste freilich, dass die Sicherheitszwerge sich davon nicht lange aufhalten lassen würden. Mit dem Rechenblatt in der Hand stürzte Leop durch die Wohnung, sprang auf sein Moosbett, schob den Vorhang zur Seite, der das rückwärtige Glasfenster verbarg. Er steckte das Rechenblatt unters Hemd, wackelte am Schließhebel, der schon seit langer Zeit klemmte, zerrte energisch, während die Zwerge an der Wohnungstür lärmten. Er kniff die Augen zu, vertrieb den Druck, der auf ihnen lastete. Nachwirkungen der letzten Psyfrogs. Endlich gab der Hebel seine Gegenwehr auf, das Fenster sprang geräuschvoll auf. Unten, in der Seitengasse, war kein Mensch zu sehen. Aber Leops Weg führte nach oben. Er schwang sich nach draußen, zog den Vorhang hinter sich zu, hielt sich an der Notleiter fest, die aufs Dach führte. Ächzend zog er sich an den feuchten Sprossen hoch, stieg die wenigen Stufen hinauf und kraxelte über die Dachschräge zum First. Er klammerte sich an den Schornstein und kitzelte seine Telefonschnecke wach. »Taxigreif«, sagte er. »Sofort. Ja, ich zahle die Prioritätskosten. Auf dem Dach abholen. Ja, ich warte.« Fröstelnd kauerte Leop sich neben dem alten Schornstein und horchte auf sich nähernde Zwerge. Dumpfes Klopfen legte
die Vermutung nahe, dass die Sicherheitsleute dabei waren, die Wohnungstür einzuschlagen. Glücklicherweise war die Nachfrage nach Taxigreifen am späten Abend gering. So dauerte es nur Sekunden, bis die Schwingen eines Greifs die feuchte Luft aufmischten. Das Biotool hatte Leops Schnecke geortet und landete direkt neben dem Kunden. Unten gab es im gleichen Moment ungeheuren Lärm, aber die Sicherheitszwerge waren zu langsam für Leop. Der schwang sich auf den Greif. »Frankfurt«, befahl er, und das Biotool breitete die Schwingen aus, stürzte sich die Dachschräge hinunter und glitt mit schweren Flügelschlägen durch die Häuserschluchten von Heidelberg. Oben auf dem Berg leuchtete die Schlossruine, aber Leop sah nur nach vorn. Er holte sein Rechenblatt heraus und hielt es krampfhaft fest, damit es nicht im Flugwind davonsegelte. Mit zitternden Fingern aktivierte er das Blatt und rief die Landkarte auf. Natürlich würde ihn der Greif nicht bis an sein endgültiges Ziel bringen. »Frankfurt« hatte er nur genannt, um Richtung Norden zu starten. Er brauchte ein anderes Beförderungsmittel. Sein Blick fiel auf die alte Autobahn. Heutzutage nutzten nur Lastfüßler die kaum gewarteten Straßen. Diese Tools waren langsam, aber wurden weniger stark überwacht als Luftfische und Greife. »Korrektur«, sagte Leop dem Greif ins Ohr. »Raststätte Haiserfeld.« Der Greif bestätigte mit einem dünnen Krächzen. Leop hatte in den Minuten bis zu seinem Zwischenziel genug Gelegenheit, nass zu werden, zu frieren und sein bisheriges Zuhause nicht zu vermissen. Nichts hielt ihn in Heidelberg
angesichts der unglaublichen Bedrohung durch den Hai. Er ließ keine Freunde zurück, keine Dinge von Wert, nur einen Haufen aufdringlicher Sicherheitszwerge und eine verwirrte Nachbarin. Leop versuchte, sich einen Hai von der Größe eines Planeten vorzustellen, der seinen Hunger stillte, indem er Himmelskörper fraß. Eine völlig irreale Vorstellung. Anschein und Wirklichkeit … ein Spiel der Täuschung, eine Gleichung mit viel zu vielen Unbekannten. Leop war versessen darauf, den Schleier zu lüften. Und Mooha zu finden. Wenig später setzte der Greif ihn auf dem LastfüßlerParkplatz ab. Leops Geldbörse plingte, dann startete der Greif zu neuen Aufgaben. Frierend hastete Leop an den abgestellten, braunen Lastfüßlern vorbei, die knarzend mit den Füßen scharrten und betrat die altmodische Gaststätte, die voller Leute war. Aber eines fehlte: Lärm. Es gab nur eine Stimme, und die gehörte Geri de Vraam, die vom riesigen Wandbildschirm aus verkündete: »Die uns zugespielte Übertragung stammt laut Ortsbestimmung aus der Umgebung von Rostock. Aus Hamburg und Kiel wurden erste Ausschreitungen gemeldet. Wir melden uns wieder, sobald Stellungnahmen von Politikern …« »Sweetheart«, flötete ein ziemlich dicker Mann und hielt Leop am Arm fest. »Willst du vor deinem Tod nochmal richtig gefickt werden?« »Wiebittewas?«, machte Leop. »Na, wenn dieser Hai uns verschluckt, dann doch am besten mit einem Schwanz im Arsch, oder?« »Hai?« »Jüngelchen«, grunzte ein anderer Mann, der einen langen
Zopf trug, »was hast du die letzte Stunde gemacht?« »Nicht was ihr denkt«, rutschte es Leop raus. »Höhöö«, rasselte der Zopf, »dann wird's ja Zeit.« »Bin dabei«, grinste der dicke Mann. »Ich … bin sicher, dafür braucht ihr mich nicht«, sagte Leop, »ich ziehe Geri de Vraam vor.« In den nächsten Minuten erfuhr Leop, dass eine Studentin mit einer Telefonschnecke ein Gespräch an den Sender übertragen hatte, in dem bedeutende Politiker wie Dr. Kala und Dr. Kurfgens sich darüber unterhielten, dass die Erde in Kürze von einem Planetenhai verschluckt werden würde, und dass die Vyrroc ein Gift ins Biosystem der Erde gepflanzt hatten, das den Hai vernichten sollte, damit er nicht auch Vyrroc angriff. Langsam wurde Leop klar, dass zumindest die Vyrroc dem heran rasenden Himmelskörper zutrauten, mehr als ein großer Felsbrocken zu sein – und das vermutlich nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Form. Vom geplanten Exodus der Politiker mit dem großen Vogel war bislang noch keine Rede – dafür nahmen die Europäer es Vyrroc mehr als übel, dass sie mit irgendeinem Gift in der hiesigen Biosphäre herumpanschten. Vyrroc-Wohnlager brannten, und wer sich dem Mob entgegen stellte, bekam ebenfalls Ärger. Die Sicherheitszwerge waren überfordert von den unerwarteten Gewaltausbrüchen. Nachdem Leop sich eine matschige Kartoffelmahlzeit reingezwungen hatte, suchte er einen Fernfahrer, der ihn in seinem Lastfüßler mit Richtung Norden nahm. Erst im dritten Versuch fand er jemanden, der als Gegenleistung keinen Sex verlangte.
34 Kurfgens
»Ja, verschlungen«, sagte Kurfgens, als verkünde er geringfügige Einschränkungen bei der nächsten Rentenerhöhung. »Ich dachte«, versetzte Dr. Kala, »es gäbe bezüglich dieses Themenkomplexes ein Geheimhaltungsabkommen.« »Wenn der Himmel nicht bewölkt wäre«, antwortete Kurfgens, »würde ich Ihnen zeigen, dass man den Hai schon mit bloßem Auge sehen kann.« Aniaa zupfte am Ärmel ihrer Freundin. »Bei der Seance … habe ich ihn gesehen …«, stammelte sie. »Zähne, Schlund …« »Psst«, machte Vita. Dr. Kala seufzte, starrte den von der Zeltdecke baumelnden Leuchtkäfer an, als hielte er eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage bereit. »Kurfgens, Ihre Wiederwahl ist in ernsthafter Gefahr. Mit Ehrlichkeit kommt man nicht weit.« Der ältere Politiker strich sich lächelnd über die Glatze. »Ein wirklich komischer Scherz, Kala. Es wird freilich keine Wahl mehr geben. Morgen sind wir auf Sylt und besteigen den Käfer, um in eine ordnungspolitisch aufgeräumte Zukunft zu reisen. Ich war schon immer der Meinung, dass Bürger die Ausübung unserer Tätigkeit nur behindern.« Aniaa spürte, wie sich ein Gebiss um ihren Körper legte. Sie glaubte, sogar die mehrfachen Ersatz-Zahnreihen erkennen zu können, und die feinen Sägekanten, die ihre Existenz in kleine
Portionen zerlegen würden, die bald den Magen, dann den Darm durchlaufen würden … »Zusammenhangloses Gebrabbel«, ereiferte sich Vita. »Wovon redet der eigentlich?«, fragte sie Dr. Kala. »Erzählen Sie's ruhig«, munterte Kurfgens sie auf. Kala richtete ihren Pinguinanzug, bevor sie sprach. »Der Hai ist ein seltsam geformter Asteroid, der kommenden Freitag auf die Erde treffen wird.« Einen Moment lang sagte niemand etwas. Aniaa malte sich aus, wie sie als Sternenstaub ins Vakuum des Weltenraums ausgeschieden wurde. Ihre Knie zitterten, ihre Hände waren feucht. Ihr Magen kniff verdächtig. »Und was ist mit Sylt?«, fragte Vita, deren Stimme nicht die geringste Überraschung verriet. »Von dort«, erklärte Dr. Kala, »startet der Starbug, der die Regierung und einige andere wichtige Personen fort bringen wird. Aber keine Sorge, die Sicherheitskräfte hier auf der Erde werden …« Sie unterbrach sich, als Kurfgens anfing zu kichern. Kopfschüttelnd ließ sie ihren Satz halb im Raum baumeln, wo er den Leuchtkäfern Gesellschaft leistete. »Und das Gift?«, fragte Vita, als der kichernde Politiker sich beruhigt hatte. Auch Dr. Kala sah ihn herausfordernd an. »Nun«, hob Kurfgens schließlich die Hände, »offenbar glauben die Vyrroc, dass der Hai eine Art Lebewesen ist, das die Erde abweidet und anschließend Kurs auf ihren Heimatplaneten nimmt. Der Stoff, den sie in unser Ökosystem geschmuggelt haben, soll den Hai allerdings vorher töten. Damit wollen sie ihr eigenes Überleben sichern.« »So ein Unsinn«, versetzte Dr. Kala. »Einen Asteroiden kann
man nicht vergiften. Er schlägt ein, es gibt einen riesigen Krater, Tsunamis, Staub in der Atmosphäre, unvermeidbare Verluste an Menschenleben … Dagegen hilft keine milchige Flüssigkeit.« Sie zeigte auf die Flasche, die Vita immer noch in der Hand hielt. Kurfgens zuckte die Schultern. »Nun, in der Tat gibt es Gerüchte, laut denen auch die Vyrroc einen Exodus ihrer Bildungselite vorbereiten. Offenbar sind sie sich ihrer Sache nicht sicher.« Aniaa spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie konnte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn der Asteroid auf der Erde einschlug. Immer, wenn sie es versuchte, sah sie nur die Bilder von der Gaia-Seance: Zähne, einen Schlund, Unendlichkeit. »Sie haben also die herannahende Katastrophe geheimgehalten und für sich selbst eine Fluchtmöglichkeit erdacht?«, fragte Vita. »Ist das nicht … ziemlich feige?« »Wir sind Politiker, Schätzchen«, entgegnete Kurfgens. »Angesichts der Vernichtung der Erde wären wir dumm, wenn wir unsere Privilegien nicht nutzen würden.« Dr. Kala schüttelte den Kopf. »Du warst schon immer ein Zyniker, Kurfgens«, urteilte sie. »Überaus amüsant. Ich freue mich auf die Formulierungen in deinem Abschlussbericht. Sie werden wahrscheinlich mal wieder für größte Erheiterung sorgen.« »Ich werde mir Mühe geben«, grinste Kurfgens. »Und etwas Heiterkeit werden wir alle gebrauchen können«, ergänzte er, »wenn wir im Käfer zusammengepfercht auf dem Weg zu unseren neuen Aufgabengebieten …«
Plötzlich stürmte ein unbekannter Politiker ins Zelt. »Dr. Kala«, hechelte er, »wir müssen sofort aufbrechen. Irgendjemand hat eine Aussage von Dr. Kurfgens ins Web3D übertr …« Er unterbrach sich und starrte Aniaa und Vita an. Letztere machte einen Schritt rückwärts und befingerte ihr Ohr, hinter dem gerade eine Baby-Telefonschnecke hervor schaute. »Sicherheit!«, brüllte Kurfgens und stürzte sich auf Vita. Aber die Studentin war agiler. Mit einem Sprung war sie aus dem Zelt. Aniaa dagegen schaltete zu langsam – ein Vorhang aus Tränen blockierte ihre Wahrnehmung. Die Hände von Kurfgens und dem anderen Politiker schlossen sich fest um ihre Arme. »Vitaaaa!«, kreischte Aniaa, wollte sich losreißen, aber dazu fehlte ihr die Kraft. Sie hörte undefinierbare Rufe von draußen, dann brach sie schluchzend zusammen.
35 Sylt
Die vom Klimawandel aufgepeitschte Nordsee hatte von der Insel Sylt nicht viel übrig gelassen. Als die touristische Anziehungskraft auf das Minimum der betuchten Sensationsgaffer gesunken war, die sich die Reise leisten konnten, war die Bahnstrecke über den Hindenburgdamm stillgelegt worden. Ohne diese Verbindung zum Festland kam die Insel nicht mehr als Wohnort in Frage, daher hatte die Symbiose sie weitgehend ausgespart. Selbst die Dichte der Kraftkäferwolke ging hier annähernd gegen Null, so dass Sylt mit Luftfischen nicht erreichbar war – zumindest war der Rückweg unmöglich. Taxigreife verweigerten den Dienst ebenfalls, allerdings mit dem Verweis auf irgendwelche vertraglichen Vereinbarungen. Schlecht gelaunt stapfte Leop Üller über die glitschigen Betonschwellen, die den von Rost zerfressenen Schienenstrang nach Westen führten, wo die Sonne langsam hinter dichten Dunststreifen verschwand. Zu beiden Seiten der Dammkrone platschte die Nordsee. Wilde Möwen kreisten neugierig über dem einsamen Wanderer und bewiesen, dass die Symbiose nicht alle tierischen Ureinwohner der Gegend überrollt hatte. Das Nest des Weltraumkäfers war schon aus großer Entfernung zu sehen. Es befand sich ungefähr an der Stelle, wo früher der Abstellbahnhof von Westerland all die Züge bereitgehalten
hatte, mit denen die Lang- und Kurzurlauber am Abend zurück Richtung Heimat fahren wollten. Der Riesenkäfer – wirklich, wie ein Vogel sah er nicht aus – schlummerte, gefangengenommen von einem besonders hungrigen Schlupfwespenstamm, der ihn als lebende Nahrungsquelle für unzählige Nachkommen ausgewählt hatte; paralysiert und in einem dichten Netz von Fesseln fixiert, die an einem unübersichtlichen Skelettrahmen aufgehängt waren. Wie Maden hockten aufgedunsene Luftfische auf der Krone des Skeletts, und darüber flirrte eine dichte Wolke Kraftkäfer, verbreitete goldgelbe Helligkeit über dem von der Sonne verlassenen Startplatz. Um selbst nicht gesehen zu werden, verließ Leop den Schienenstrang, sobald die Breite des Damms es zuließ. Er kämpfte sich durch Gestrüpp und Müll, ewig haltbare Plastiktüten und Metallflaschen, die nicht einmal die Abfallratten zu entfernen für nötig gehalten hatten. Bis hierher hatte er einen einfachen Plan verfolgt, aber er verweigerte sich selbst die Anerkennung für seinen Erfolg. Würde der Käfer ohne ihn starten, wäre alles umsonst gewesen. Was den Startzeitpunkt anging, ließen die zum Bersten gefüllten Gasblasen der Luftfische kaum einen Zweifel daran, dass er nicht weit in der Zukunft lag. In seinem Versteck beobachtete Leop, wie vier Luftfische aus Richtung Süden angeflogen kamen, auf halber Höhe des Käferwamstes festmachten und – wenngleich unsichtbar für Leop – aller Wahrscheinlichkeit nach eine Reihe Politiker in ihre Arche pumpten. Ob es auf Bodenhöhe einen weiteren Zugang zum Käfer gab,
wusste Leop nicht. Die größere Anzahl Sicherheitszwerge, die dort Aufstellung bezogen hatten, legten die Vermutung jedoch nahe. An ihnen würde Leop kaum vorbei kommen, indem er sie an seine Nachbarin verwies. Die gute Frau Terpitsch. Mindestens 75, Faktotum des Hauses, bestens informiert über den Herrenbesuch von Fräulein Kogge, die das Maisonette bewohnte. Die meisten dieser Männer weckten nicht ihr Wohlgefallen, allerdings wusste Leop, dass es Fräulein Kogge hauptsächlich um Geld ging. In Zeiten williger Elfen-Symbionten leisteten sich nur wenige Herren teure Besuche bei einer richtigen Frau, allerdings hatte Leop es nicht für nötig gehalten, seine Nachbarin über diesen Sachverhalt aufzuklären. Jetzt waren sie sowieso alle miteinander dazu verdammt, einem kosmischen Hai als Futter zu dienen. Darauf deutete alles hin, obwohl Leops Verstand es nicht wahrhaben wollte, sondern als hanebüchenen Unsinn einordnete. Ein entfernter Donner lenkte Leop von den Gedanken an Frau Terpitsch und den Hai ab. Er beobachtete, wie weitere Luftfische an der Seite des Käfers festmachten, während die letzte Gruppe aufstieg, Kraftkäfer vertilgte, ihre Gasblasen füllte, um sich dann am Gerüst festzuklammern; bereit, den Sternenvogelkäferwasauchimmer bei seinem Jungfernflug zu unterstützen. Das Donnern kam von Osten. Leop hatte in diese Richtung keinen freien Blick, außerdem war es schon ziemlich dunkel. Er hatte keine Ahnung, was das Geräusch verursachte. Ein Gewitter klang anders, und von Blitzen war nichts zu sehen.
Das Grollen wurde deutlich lauter, und jetzt kapierten auch die Sicherheitszwerge, dass da etwas unerwartetes auf sie zu kam, wie ein Tsunami, aber offenbar vom Festland her. Hektisch trat Leop den Rückzug an. Er wollte nicht zufällig von neugierigen Zwergentrupps aufgestöbert werden, zumal er an dem störenden Geräusch völlig unschuldig war. Mehr als ein stacheliger Arm eines Brombeerstrauchs ritzte Leop die Haut, während er Richtung Hindenburgdamm eilte, um notfalls ins kühle Wasser zu fliehen, durch einen Strohhalm zu atmen, den er sicher zufällig in einer alten Getränktüte finden würde … Aber dazu kam es nicht. Als Leop freie Sicht auf den Damm hatte, sah er die konische, schwarze Wolke, deren spitzes, unteres Ende genau aus dem Schienenstrang zu kommen schien – oder besser: aus etwas, das sich darauf befand. Schon sirrten die Schienen, knirschte der verrostete Stahl, zischte und rumpelte die stählerne, über hundert Jahre alte Konstruktion heran. Ein schwarzes, fauchendes Ungetüm, mit Tender und drei, vier klappernden Güterwagen dahinter. Sicher verfeuerten sie keine Kohle, sondern egal was, Hauptsache es brannte, und das war in Zeiten der Symbiose sicher Biomaterial. Sie? Wer eigentlich? Leop musste nicht lange überlegen. Es gab nur eine Personengruppe, die auf die Idee kam, mit einer uralten Dampflok über den Hindenburgdamm zu brettern, um dem Exodus der Politiker Einhalt zu gebieten, mit dem nicht unerheblichen Risiko, dass die maroden Gleise einfach brachen und die Lok wie ein gestrandeter Wal im Watt verendete. Steeldogs.
Die Lok war heran. Weiße Ziffern, 050 irgendwas standen auf ihrem Schild, Ventile zischten, Stangen klapperten, Dampfwolken und der Gestank nach Ruß und Feuer marterten die Sinne. Leop duckte sich ins Gestrüpp. Der Zug donnerte vorbei, Güterwagen mit Schießscharten, mit einer eindeutigen Mission. Fast taten Leop die Zwerge Leid. Die Dampflok raste mitten in den Pulk, bremste mit blockierenden Rädern scharf ab, als offensichtlich war, dass die Weichen sie auf ein Abstellgleis führten, das immerhin nahe am Startplatz lag. Die Gunst der Stunde war auf Leops Seite. Niemand würde auf ihn achten, und wenn ihn kein Querschläger traf, würde er den Abend vielleicht überleben. Im Gegensatz zu dem Sternenkäfer, diesem Höhepunkt der Schaffenskraft der Symbiose, der nun nie seinen Jungfernflug erleben würde, sondern am Boden bleiben musste, als Nahrung für die Schlupfwespen, Steeldogs und ihre Dampflok, oder wer auch immer sich an dem reichhaltigen Leib gütlich tun wollte. Schüsse, Schreie. Die Sicherheitszwerge waren überrumpelt. Unsortiert stürmten sie den Zug, wurden niedergemäht, viele Körper schlugen zwischen den Schienen auf, aber sie brachten es dann aber doch irgendwie fertig, dass der erste Wagen in Flammen aufging. Als eine besonders motivierte Gruppe versuchte, das Zugende zu erreichen, schlug eine Salve Kugeln direkt vor Leop ein, nachdem sie einige Zwerge durchlöchert hatte. Die meisten von ihnen liefen trotzdem weiter, zähe Biotools, auf Überleben gegent, dennoch kurz darauf tot. Als der Ansturm der Zwerge gestoppt war, gingen die Steeldogs zum Angriff über. Mit Bajonetten gaben sie Zwergen den
Gnadenstoß, gingen selbst zu Boden, wenn sich eine neu formierte Gruppe Sicherheitskräfte auf sie stürzte, wurden niedergerissen von kraftvoll geschleuderten Schottersteinen, steinharten Fäusten, giftigen Pfeilen und messerscharfen Zähnen. Aber es war offensichtlich, dass die Steeldogs die stärkere der beiden Parteien war. Als die Gegenwehr der Zwerge nachließ, war die Schlacht entschieden. Die Steeldogs verteilten Gnadenbrot an ihre schwer verletzten Kameraden und machten sich grölend daran, den Käfer zu stürmen.
36 Progrome
Die Hamburger Speicherstadt, in vorsymbiontischer Zeit vielbesuchter Ort der Kultur und Symbol des Strukturwandels, war unter einem wild wuchernden Algenteppich verschwunden. Grünbraun, feucht, Manifestation marinen Lebens in fremden Gefilden, wuchsen die zähen Pflanzenstränge an roten Backsteinmauern hinauf, hatten viele davon längst zermürbt, zum Einsturz gebracht. Dies war die Heimat einer Vyrroc-Enklave, die in zweiter Generation auf der Erde weilte, abgenabelt von der Mutterwelt, aber auch auf der Erde nicht verwurzelt. Die Speicherstadt-Vyrroc hatten kein Interesse an Integration in die Menschenwelt, denn sie hätte ihnen nichts genutzt. Von Vyrroc importierte Symbionten, wie zum Beispiel die Algen, schufen an der Elbe einen Ausschnitt ihres Herkunftsplaneten, den die Hamburger geflissentlich ignorierten, oder, so sie das Wort überhaupt kannten, Ghetto nannten. Zku-u saß im dunklen, eingestürzten Dachfirst eines einst mit großartiger Fassade glänzenden Lagerhauses und beobachtete den sich nähernden Hai mit einer Teleskopröhre. Um ihn herum hatten sich junge Vyrroc geschart, die geduldig darauf warteten, selbst einen Blick auf das fremdartige Gebilde zu werfen. Aber als Zku-u das Fernrohr senkte, da tat er das nicht, um es an einen anderen Vyrroc weiterzugeben. Stattdessen richtete
er es auf die Innenstadt, wo Flammen die Stellen markierten, an der Menschen ihrer grenzenlosen Wut freien Lauf ließen. »Was passiert?«, fragte Kchn-e, die neben Zku-u stand und die fernen Feuersäulen betrachtete. »Die Menschen wollen nicht sterben«, antwortete der Vyrroc mit dem Teleskop. Er spielte in der Enklave die Rolle eines Lehrers, und er versäumte selten eine Gelegenheit, wenn die Kinder ihm ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. »Aber sie können den Hai nur sehen, im Web3D, oder am Himmel, sie können ihn nicht verbrennen.« »Und deshalb verbrennen sie die Stadt?« Zku-u überlegte, wie er diese Frage beantworten konnte. Er verstand es selbst nicht. Aber ihm war, als könne er menschliche Schreie hören. Verzweiflung, brennende Wut. Der tief verwurzelte Zerstörungstrieb der Menschen, vor allem der männlichen, war den Vyrroc durchaus ein Begriff. »Menschen«, erklärte Zku-u, »sind Zerstörungsmaschinen mit angelegter Bremse. Wenn diese Bremse gelöst wird, geschieht das, was ihr heute seht.« Ein Kreischen, hoch über ihm, ließ ihn aufsehen. Aber da war nichts. »Außerdem«, legte Zku-u seinen jungen Zuhörern dar, »mögen die Menschen es ganz und gar nicht, wenn man sie hintergeht. Wie wir heute erfahren haben, haben die Politiker die Menschen hintergangen.« »Also richtet sich die Gewalt gegen die Politiker?« »Gegen alles, was sie repräsentieren«, bestätigte Zku-u, »und die öffentliche Ordnung ist ein Teil davon.« »Wir haben sie auch hintergangen«, sagte Kchn-e.
»Wir?«, fragte ihr Lehrer. »Nicht wir. Unsere Familien auf der Heimatwelt. Sie haben dieses Gift hier ausgelegt. Sie haben uns zu einem vergifteten Köder gemacht, um ihr Überleben zu sichern.« Zku-u zögerte, zumal ein Pfeifen in der Luft seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Dann ein Lichtblitz, ein paar Häuser weiter. Kchn-e sprach weiter. »Sie haben uns hintergangen.« »Aber wir sind deswegen nicht wütend oder gewalttätig«, betonte Zku-u, der ein bisschen Menschlichkeit in Kchn-e zu sehen glaubte. »Wir sind nur traurig«, entgegnete die Schülerin. Dann explodierte eine brennende Flasche mit einem Blitz mitten in der Gruppe. Flüssige Flammen breiteten sich sofort aus, setzten die Algen in Brand. Die Vyrroc kreischten, sprangen geblendet umher, ziellos, Nahrung des immer hungrigen Feuers. Oben johlte ein Mensch auf einem Taxigreif, flog eine Kurve, warf eine weitere Flasche.
37 Futter
Der schwer bewaffnete Stoßtrupp Eins unter Führung von Eisengeneral Karsch trampelte durch die Innereien des Weltraumkäfers. Dessen mehrschichtige Hülle, ein gewachsenes und zurecht geschnitztes Konglomerat aus ultraleichten Chitinstrukturen, unregelmäßig geformt, dunkelbraun glänzend, fragil, lebendig, beherbergte Unterkünfte und Materiallager, wurde von Gängen durchzogen, die sich unvermittelt kreuzten, abbogen oder endeten. Schläuche durchzogen wie Adern das organische Gefährt, bildeten Nervenstränge zwischen einzelnen Abteilungen und einem unbekannten Gehirn. Die Steeldogs kamen nur langsam voran, weil der Boden keineswegs eben war, sondern voller Stolperfallen, die bei dem diffusen Licht kaum zu erkennen waren. »Mission Leader Dupke«, schrie der General, glatzköpfig, mit metallenen Beschlägen an der schwarzen Uniform, »sichern Sie diesen Bereich!« »Ja, Sir!« Dupke nahm Haltung an. Der General zeigte auf kleine Räume, die hier in großer Zahl vom Gang abzweigten. »Nehmen Sie sich ein paar Leute und sorgen Sie dafür, dass diese Zellen für Gefangene verwendet werden können. Ich werde Politiker, die wir aufgreifen, hierher bringen lassen.«
»Jawohl, Sir«, bestätigte Dupke zackig, so dass sein altes Handygehäuse, das um seinen Hals hing, wild herumbaumelte. Der General arbeitete sich mit seinem Trupp weiter nach oben. Es war offensichtlich, dass sich die wichtigsten Politiker in einer Art Zentrale befinden mussten, denn sie waren aus ihren Luftfischen über einen auf der Oberseite des Panzers liegenden Brückenzugang in den Käfer gestiegen, während die Steeldogs durch den Hintereingang eingedrungen waren. »Feldwebel«, sagte Dupke zu dem Mann direkt hinter ihm, »wir sind der Schabe in den Anus gekrochen, ist Ihnen das klar?« »Völlig«, entgegnete der Feldwebel verkniffen. »Ist Ihnen aufgefallen, dass wir uns immer noch in der Hülle des Käfers aufhalten?« »General?« Karsch zeigte nach oben. »Wir trippeln durch die Bauchnaht. Über uns ist der Wamst, und ich vermute, dass …« »… sich dort die Politiker aufhalten?« »Nein, Sie Idiot. Der Wamst enthält Antriebsgas. Die Hülle verleiht Stabilität gegen den Weltraum. Innereien braucht dieser Käfer nicht, er muss nur extrem leicht sein.« »Verstehe ich nicht, Sir!« »Deswegen bin ich der General, und Sie nur Feldwebel«, versetzte Karsch. Der Gang verzweigte sich in unregelmäßigen Abständen, jeweils symmetrisch nach links und rechts, führte aber auch immer weiter geradeaus, schräg aufwärts. Plötzlich stürzte sich ein Trupp Sicherheitszwerge auf die Eindringlinge. Sie kamen aus Seitengängen und direkt von vorne.
»Nicht schießen«, schrie Karsch und sprang hinter einen Vorsprung. Er hatte keine Lust, die Widerstandskraft der Hülle gegen Projektile zu testen. »Angriff, nur Bajonette!«, befahl er. Grölend stürzten die Steeldogs an ihm vorbei, die Waffen zum Stoß erhoben. Die Zwerge klettern geschickt an den Vorsprüngen der Wände hoch, stürzten sich mit kleinen Äxten auf die Eindringlinge. Blut spritzte, Schreie dröhnten, wurden tausendfach gebrochen an den unregelmäßigen Wänden. Ein Private torkelte mit gespaltenem Hinterkopf rückwärts an Karsch vorbei, gurgelte irgendwas und fiel hintenüber. Der Feldwebel schrie »Arschfickääään!« und hielt in jeder Faust eine Axt, drehte sich um sich selbst, erwischte einen Kameraden, trennte einem Zwerg den Kopf vom Rumpf. Ein Private der Steeldogs wurde von drei Zwergen gegen einen scharfen Vorsprung geschleudert, der ihm plötzlich vorne aus der Brust ragte. Blut floss in Rinnsalen den Gang hinunter, bildete kleine Pfützen an braunschwarzen Vorsprüngen, die quer über den Boden wuchsen. Der Gestank von Blut und Fleisch vermischte sich mit dem Röcheln der Sterbenden zu einer tödlich versalzenen Suppe. Als der Kampf vorbei war, übernahm der General wieder die Führung, leitete den dezimierten Trupp zügig weiter vorwärts. Er rechnete mit keinen weiteren Angriffen und behielt damit Recht. Unangefochten erreichten sie die Zentrale. Die obere Wölbung des geräumigen Saals war scheinbar durchsichtig, in Wirklichkeit aber vermutlich ein Biodisplay. Die Zentrale war voller Politiker und anderer teuer gekleideter Privilegierter, und
ein dünner Ring aus Sicherheitszwergen umgab eine kleine Personengruppe in der Mitte. Karsch gönnte sich ein Lächeln, als seine Steeldogs sich neben ihm aufbauten. Blutüberströmt aber siegreich. »Ich bin Eisengeneral Karsch!«, erklärte der Anführer der Eindringlinge. »Wir übernehmen jetzt das Kommando. Ich schlage vor, dass Sie den Zwergen befehlen, die Waffen niederzulegen. Nur dann kann ich für Ihre Sicherheit garantieren, Kaiserin.« Die Stille knirschte im Gehirn des Weltraumkäfers, als Bewegung in den Zwergenring in der Mitte geriet. Als Tiga vortrat, schien ein besonderer Glanz den Raum zu erfüllen. »Ihr seid gewalttätige Zerstörer des letzten Jahrhunderts«, sprach die Kaiserin. Ihr anthrazitfarbenes Kleid glitzerte. Ein hüftlanger Zopf hing über ihre linke Brust. »Die Gewalt hat mal wieder über die Vernunft gesiegt«, brachte Tiga bitter hervor. »Wir legen die Waffen nieder, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.« Mit einer Geste befahl sie den Sicherheitszwergen, ihre Äxte fallenzulassen. Die folgten der Anweisung mit unbewegten Gesichtern. »Sehr vernünftig«, lobte Karsch. »Feldwebel, bringen Sie diese Personen in ihre Zellen und die Zwerge an einen anderen Ort.« Leise fügte er hinzu: »Und mach letztere nieder.« »Sir!«, salutierte der Feldwebel und machte sich auf den Weg. »Keinem Politiker wird etwas geschehen«, betonte Karsch, während die Männer und Frauen in Pinguinkleidung an ihm vorbei geführt wurden. »Vorerst. Denn wer weiß«, lachte er, »vielleicht brauchen wir den einen oder anderen als Haifutter.«
38 Vita
Vita keuchte, gönnte sich einen Moment des Atemholens. Sie hatte keine Zeit gehabt, einen Plan für »danach« anzufertigen. Den spärlichen Sicherheitskräften des Politiker-Lagers war sie leicht entwischt, aber mittlerweile hatten die Zwerge Verstärkung angefordert. Vita hatte mehrere Luftfische gesehen, die über den Feldern Mecklenburgs schwebten. Aber im nachlassenden Tageslicht hatten sie Vita nicht entdeckt. Die Studentin betastete ihr linkes Ohr, aber die Schnecke war natürlich nicht mehr da. Hätte sie den Beweis ihres Tuns wirklich vernichten müssen? Gleich auf dem ersten Feld, auf dem Luftfischkälber grasten, hatte sie die Schnecke weggeworfen. Kälber waren Allesfresser. Die Schnecke existierte nicht mehr, und Vitas Verbindung zur Außenwelt war unterbrochen. Inzwischen verbreitete der Abend Kühle über den endlosen Feldern. Vita fror, und unweigerlich verlangte das Bild eines warmen Bettes Zugang zu ihrem Bewusstsein. In diesem Bett lag Aniaa, die sich an Vita klammern, sie wärmen und liebkosen wollte. Vita zweifelte nicht daran, dass die Politiker Aniaa mitnehmen würden, wenn sie ihren Weg nach Sylt fortsetzten. Sie würden sie irgendwo unterwegs bei einem Camp der Zwergensicherheit absetzen, um sie der Mittäterschaft anzuklagen. Zu einem Prozess würde es freilich nicht mehr kommen. Der Hai
würde das Verfahren vorher auf endgültige Art und Weise einstellen. Der kühle Wind trieb Vita Tränen in die Augen. Sie hatte ihre beste Freundin im Stich gelassen, und wenn die Sache mit dem Hai der Wahrheit entsprach, würde sie sie nie wiedersehen. Sie würden nicht wie in ihrer Seance gemeinsam verschlungen werden, konnten sich nicht gegenseitig Kraft schenken, wenn das Ende kam. Ein Blick nach oben, Richtung Hai, endete in einer dichten Wolkenschicht. Dahinter die Zähne. Vitas Verstand weigerte sich, daran zu glauben. Aber die Politiker nahmen den Hai ernst und flohen davor. Er war real, sonst hätten die Privilegierten keinen Finger gerührt. Das Ende versteckte sich vielleicht noch hinter den Wolken, aber es war unausweichlich. Vita fand, dass sie ihre Sache trotz allem gut gemacht hatte. Das Gift der Vyrroc spielte zwar keine Rolle für sie selbst, hatte sie aber auf die richtige Spur geführt. Sie hatte mit der Live-Schaltung ihrer Schnecke dafür gesorgt, dass die Welt alles erfuhr. Das mit den Vyrroc, das mit dem Hai, die Feigheit der Politiker. Aufklärung war wichtig. Gerade in einem Zeitalter, in dem sehr viele Personen gewaltiges Interesse am Gegenteil hatten. An Verschleierung. An Verfälschung. An Lügen. Vita versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, eine Nacht im Freien zu verbringen. Ihre Augen waren gut an die Dunkelheit gewöhnt, aber sie sah trotzdem so gut wie nichts. Das diffuse Glimmen der Kraftkäferwolke erhellte die Gegend nicht. Kein Licht verriet eine Behausung, nur das Rascheln der
wilden Gräser charakterisierte die Umgebung. Vita spürte kaum Müdigkeit. Sie nahm sich vor, so weit wie möglich zu laufen. Irgendwann musste sie auf eine Ansiedlung treffen, und spätestens am Morgen würde ein Taxigreif oder Luftfisch auf sie aufmerksam werden. Energisch schritt sie durch die feuchten Gräser, trat auf Wurzeln und unebenen Boden. Sie kam nur langsam voran und blieb erst stehen, als sie ein Schnauben hinter sich zu hören glaubte. Alarmiert starrte sie in die Dunkelheit, aber da war nichts. Vorsichtig und mit gespitzten Ohren bahnte sie sich weiter ihren Weg. Kurze Zeit später war sie sicher, dass sie nicht allein war. Ein Tier raschelte in der Nähe. Sie konnte seine Laute nicht einordnen, aber es schien sich zu nähern. Ein neugieriges Luftfischkalb? Nein, die waren nachts wie tags völlig passiv. Eine wilde Katze oder ein wilder Hund? Im Westen waren die ausgestorben, aber hier, in den entvölkerten Landstrichen … Vita erstarrte. Sie hatte nie wirklich an die Legenden geglaubt. An entlaufene Fehlzüchtungen, langlebig, robust – Alpha-Versionen von Lastfüßlern, zu groß geratene Klokröten, Testzüchtungen von Flugwalen. In diesem Moment riss die Bewölkung auf, und gefiltertes Mondlicht erhellte das Grasland. Bis auf einen großen, dunklen Fleck, der immer näher kam und dabei grunzte. Vita lachte erleichtert auf. Nur ein Wildschwein. Kein Monster. Sie zitterte trotzdem weiter. Der dunkle Fleck raschelte lauter, der Boden vibrierte unter seinen Schritten. Als Vita anfing um ihr Leben zu rennen, war es längst zu spät. Zwei
Sprünge, und es war über ihr. Mit einem Schrei warf Vita sich herum und sah in ein riesiges Maul mit scharfen Zähnen. Es war kein Wildschwein, das sie fraß.
39 Erett
Erett johlte, trat seinem Greifen in die Weichteile und zwang den Sym zu einer scharfen Kurve. Wenn du jung bist, und nie älter werden wirst, willst du einfach nur alles kaputt machen, denn es hätte keinen Sinn, etwas aufzubauen. Nichtstun, Stillhalten, tatenlos das Ende erwarten, war keine Option für einen von Hormonen durchweichten Biotool-Hacker mit Vorliebe für das Mixen feuriger Cocktails. Erett war 14, hatte letzten Monat zum ersten Mal beim Gotcha-Turnier auf dem Maschener Rangierbahnhof die Goldmedaille errungen und das Preisgeld in eine Orgie mit drei Erosyms investiert. Seitdem hatte sich sein Hormonspiegel wie ein Kunstspringer auf dem Zehnmeterturm verhalten, der sich nur ein wenig warm hüpft und mit seinem Sprung wartet, bis auch der letzte Tribünenplatz besetzt ist. Die Symhacker von der Harburger Gruppe hatten von dem Hai, dem Vyrroc-Gift und dem Politiker-Exodus gehört, als sie gerade ein ganzes Nest schlafender Taxigreifen übernommen hatten. Eine einfache Sache: Mit einer alten Gabel, einem Messer oder einem Korkenzieher an der richtigen Stelle in den Hals bohren, aber nicht zu tief, und schon war die Verbindung zwischen Greif und Taxizentrale gekappt. Die Tools gehorchten Befehlen, die ihnen Turnschuhe in der Seite und Fingernägel in der Halswunde gaben.
»Ey hey«, hatte Zecko, auf einem Greifenrücken balancierend, seine Ansprache begonnen, »der Hai ist am Himmel, die Aliens sind hier. Also, wen haun wir um?« Johlen war die Antwort gewesen, und die Jungs waren auf kreischenden Greifen gen Hamburg geflogen, wo sie eine wehrlose Siedlung der Vyrroc wussten. Die war jetzt eine Flammenhölle, und die Hacker konnten sich neuen Zielen zuwenden. Erett kitzelte seine Schnecke, als er Zeckos Stimme im Ohr hörte. »Ey Zecko, was ab?« »Heeeeey«, kam die Antwort, »Kestos Jungs haben im Norden einen Haufen Politiker in Fischen zu Boden gezwungen!« »Worauf warten wir noch!« »Heizen wir ihnen ein!« Erett ließ den Greif seine mit Hornspitzen besetzten Schuhsohlen spüren, das Biotool kreischte und schlug energisch mit den Flügeln. Zecko und die anderen waren dunkles Geflatter vor den orange leuchtenden Kraftkäfer-Wolken über Hamburg. Unten brannten zahlreiche Feuer, beißende Qualmsäulen standen über der Stadt. Erett zählte die Flaschen in seiner Tasche – nur noch zwei. Aber diese zwei würden Schaden anrichten, sie würden Feuer über die arroganten Politiker schütten. Schon aus großer Entfernung sah er drei Luftfische nebeneinander liegen, regungslos, mit leeren Flugblasen, einer brannte, erhellte die Szene flackernd. Plötzlich zischte irgendein Geschoss viel zu nah an Erett vorbei, intuitiv ruckte sein Kopf zur Seite, der Greif folgte, hielt auf den Boden zu, Erett verlor das Gleichgewicht, ächzte, schrie, klammerte sich an den Federn fest, riss sie aus.
Der Junge sah, dass Sicherheitszwerge sich mit einigen Menschen zwischen den beiden noch nicht brennenden Luftfischen verschanzt hatten. Er lachte, als Adrenalin ihn überflutete, griff an seinen Gürtel, nach einer Flasche, zog sie heraus, holte aus … Ein Schlag durchzuckte den Greif, er fing an zu trudeln, kurz vorm Ziel, ein Flügel hing kraftlos runter, Erett warf die Flasche von sich, versuchte, die anderen auch noch loszuwerden, dann war der harte Boden da. Erett hörte einen Schrei, und noch einen, und er wusste nicht genau, welcher sein eigener gewesen war. Zur Sicherheit schickte er noch einen hinterher. Tief holte er Luft, dann kam der Schmerz, denn der Greif lag auf seinem Unterleib, bewegungslos, verendet. Erett lachte, als er ganz in der Nähe eine Stichflamme sah, die einen weiteren Luftfisch in Brand setzte. Dann waren plötzlich Leute da, die aussahen wie im Web3D, mit dunklen Anzügen, roten Krawatten, grauen Hemden … nein, die Krawatten waren Blut, die Hemden und Gesichter voller Ruß und Dreck; und Zwerge waren auch dabei. Erett versuchte, den Greifen von sich zu schieben. Stimmengewirr: »Wir müssen weiter, hier …« »… nein, wir schaffen …« »Müssen …« »Beweg dich, Dr. Kala« Erett gab es auf, den schweren Greif zu bewegen. Seine Hand traf auf etwas Hartes: Seine letzte Flasche am Gürtel. Wieder lachte er auf, als er sie in die zitternde Hand nahm, die vorbei hastenden Politiker anvisierte, mit letzter Kraft warf …
Die Explosion versengte ihm die Haare, und er bekam keine Luft mehr. Todesschreie drangen in seine halb taube Ohren, mindestens einer gehörte einer Frau. Erett ließ sich auf den Rücken sinken, atmete, ignorierte den Schmerz im Unterleib, sammelte Kräfte. Dann war plötzlich jemand über ihm. Eine Frau, Schwärze und Verzweiflung im Gesicht, Trauer in den Augen, angesengte Haare, die in alle Richtungen standen. Einen Moment lang begegneten sich ihre Blicke, die Frau öffnete den Mund, schien etwas sagen zu wollen, aber sie hatte nicht genügend Kraft. Dann war der Moment vorbei, denn der Schmerz in Eretts Unterleib warf glühende Tentakel aus, und er musste plötzlich husten. Als der Junge sein Blut schmeckte, begriff er, dass etwas mit seinem Körper absolut nicht stimmte, und er suchte verzweifelt nach der Frau mit den traurigen Augen, dem einzigen Rettungsanker in seiner verlorenen Welt. Aber sie war nicht mehr da, und nach einem letzten, explosiven Hustenanfall vergingen Eretts Schmerzen.
40 Leop
Leop musste an das Bildnis von Li Viley denken, das in den meisten Büroräumen seiner alten Firma hing. Viley, halb Schweizer, halb Chinese, hatte vor vierzig Jahren die Ethiker ausgelacht, auf Gesetze geschissen und mit seinen exorbitanten Börsengewinnen einen kurz vor der Überflutung stehenden, mikronesischen Inselstaat gekauft. Dort, unter dem Mantel seiner eigenen Verfassung, die er schlicht und einfach Symbiose nannte, zog er die ersten Hybridtiere auf, stellte sprechende Papageien her – Kinderspielzeug nur, aber die neureichen Asiaten wollten plötzlich alle welche für ihre verwöhnten Kids haben, und nicht viel später explodierte das Interesse der Arabischen Emirate an den höchst nützlichen Hygienegeckos. Die auf Meerkatzenkörpern basierenden Sexspielzeuge, die den endgültigen Durchbruch auf der ganzen Welt brachten, ließ Viley von einer Tochterfirma produzieren, was er bis zu seinem Tod vehement abstritt – zum Beweis verklagte er die Meerkatzenfirma wegen Markenrechtsverletzung, was nach den Gesetzen der Publicity im Web3D die Verkäufe noch mehr ankurbelte. Nur in den USA gab es Schwierigkeiten, weil glückliche Meerkatzenbesitzer ständig Filmchen ins Web stellten, auf denen deutlich zu erkennen war, was die Biotools mit ihnen anstellten, und wieviel Spaß ihnen das anscheinend machte. Das daraufhin von Präsidentin Korman über Amerika geworfene Netz aus
Zensur und Web-Bürgerwehr schloss das Land nicht nur von der Symbiose, sondern damit auch vom biotechnischen Fortschritt aus, was es beim nächsten Versuch, einen Krisenherd im Nahen Osten zu befrieden, in Form eines Gegenangriffs, in dem blutsaugende Stabheuschrecken eine große Rolle spielten, deutlich zu spüren bekam. Li Viley hätte das hier erleben sollen. Die Ankunft der Vyrroc hatte er noch als Greis mitbekommen, der von einem Laufkäfer überallhin getragen wurde. Er starb mit dem sicheren Beweis für die Richtigkeit seiner Vision, denn auch die chitinhaltigen Aliens von Tau Ceti lebten in einer Symbiose mit genmanipulierten Lebewesen auf ihrer Welt, und das schon viel länger als die Menschen. Was hatte Viley immer gegen die Bionik gewettert – der umständliche Versuch, die Natur mit Eisen und Plastik nachzuahmen, sei alberne Geldverschwendung. Viel leichter sei es, die Natur nur ein wenig zu modifizieren, um ein gleichwertiges Resultat zu erreichen. Lebende Maschinen, biologisch abbaubar, ja sogar essbar, sollten dem Menschen dienen – nicht aufgrund irgendeiner hochkomplizierten und fehleranfälligen Programmierung, sondern weil es ihr Überleben sicherte. Li Viley hätte diesen Weltraumkäfer sicher geliebt, hätte seine Erhabenheit und jedes feine Detail bestaunt, so wie Leop es tat, als er durch den Darm des Riesenbiotools kletterte. Warum war er hier? Aus Selbsterhaltungstrieb? Flucht vor dem Hai? Egoismus also? Nein. Beziehungsweise: Ja. Denn Leop wusste eines ganz genau, es gab keinen Zweifel: Mooha ist hier. »Ha …llo?«, sprach ihn plötzlich jemand an. »Ist da jemand?«
Leop lugte vorsichtig um die Ecke, hinter der er gerade eine Nervenkreuzung bestaunt hatte. Da stand ein Steeldog, kurzgeschoren, typisch graue Uniform, aber augenscheinlich unbewaffnet. »Ja«, machte Leop unverbindlich. »Ja, ich bin hier. Ich habe … diesen Nervenknoten überprüft.« Der Steeldog kam näher und sah unschlüssig zwischen Leop und der Stelle, auf die er zeigte, hin und her. Breites Gesicht, das an den Teig eines Rosinenstutens erinnerte, bevor er in den Ofen der Erkenntnis geschoben wurde. »Nervenknoten«, echote der Uniformierte, sprach die Silben nach, ohne ihre Bedeutung zu kennen. »Exakt. Sie dienen der Verteilung und Verstärkung der Steuersignale. Ich prüfe ihre Einsatzbereitschaft«, erklärte Leop und erntete einen weiteren Rosinenstutenblick. Die Steeldogs hatten den Käfer übernommen, er selbst spielte seit einer Minute wenig überzeugend die Rolle eines technischen geschulten Mitglieds der Besatzung, und fand, er sollte seinem neuen Boss etwas Respekt erweisen. »Alles ist in bester Ordnung, Sir!«, ergänzte er daher. »Mein Name ist Leop Üller, Symbioniker. Ich gehe hier der mir befohlenen Arbeit nach.« »Aha.« Der Steeldog hielt ihm die Hand hin und grinste. »Hallo. Ich bin Aric. Aric Ekloppos.« Leop schüttelte dem Mann die schwitzige Pranke, dann wartete er unschlüssig. Er wollte sich schon verabschieden, um vorgeblich weitere Nervenknoten zu prüfen, aber in dem Moment tauchten zwei weitere Steeldogs in dem schwach illuminierten Darmgang auf, beladen mit je zwei toten, blutbesudelten Sicherheitszwergen. Die Männer waren offenbar auf dem Weg
zum Hinterausgang des Käfers, um die Leichen loszuwerden. »Ha …llo«, machte Aric. »Was? Wer ist das?«, fragte der eine der Steeldogs, verharrte kurz, um Luft zu schöpfen. Einen Moment lang schien es Leop, als beziehe sich die Frage nicht auf ihn, sondern auf Aric. »Das ist Herr Leop. Er prüft die …« Aric sah Leop hilfesuchend an. »Nervenknoten«, sagte Leop und zeigte auf das Gebilde neben ihm. »Hilf lieber tragen«, keifte der kantige Steeldog und ließ einen der Zwerge fallen. Aric sah zu dem toten Sym hinunter und wurde bleich. Sein Blick suchte erneut Hilfe bei Leop. Aber der war nicht mehr da.
41 Start
»Dein Name ist also Myrion«, sprach der General langsam, während er den Blick durch das Gehirn des Käfers schweifen ließ. Sechs unverletzte, zu allem bereite Leute seines Sturmtrupps hatten sich hinter ihm aufgebaut, sicherten die Stellung gegen die drei Zugänge, von denen die zwei äußeren nach oben führten und der mittlere jener war, durch den die Steeldogs eingedrungen waren. Bis auf ein gelegentliches Knacken, das irgendwo aus der Hülle des immer noch gefesselten Käfers herauf drang, war es still. Die nachgiebigen Sitzbänke, von denen aus die Politiker offenbar Abschied von der Erde hatten nehmen wollen, waren leer. Die luminiszierenden Bildschirme, die sich von der Decke bis an die Front des zentralen Saales hinunter zogen, zeigten schematisch die Legionen aufgepumpter Luftfische, die oberhalb des Käfers in dessen Haltegerüst klemmten. »Das ist mein Name«, kam die Antwort aus verborgenen Lautsprechern. Karsch rückte seinen Stahlhelm zurecht, dann zog er seine Pistole und zielte nach hinten, wo er den Treibgastank vermutete. »Also gut«, donnerte er, »du heißt wie die erste Kaiserin, aber du bist ein verdammter Käfer, den ich mit einem Zucken meines Zeigefingers in klitzekleine, stinkende Fetzen verwan-
deln kann, und deshalb gehe ich davon aus, dass du tust, was ich dir sage, ist das klar, shitnochmal, jaaa?« Die Steeldogs hinter dem General scharrten mit den Füßen. »Ich nehme Befehle nur von der Kaiserin entgegen«, antwortete Myrion ungerührt, »und deren Befehl lautet, um 23:00 Uhr den Startvorgang zu beginnen.« Der General holte tief Luft, seine Untergebenen hielten selbige an. »Also gut«, zischte Karsch. »Gut für uns alle, dass das zu meinen Absichten passt. Ich bin kein Unmensch. Aber ich habe einen Schwanz in der Hose, im Gegensatz zu deiner weichen Kaiserin, und deshalb werden wir demnächst eine Programmänderung vornehmen. Und ich bin sicher, dass die süße Tiga dir meine Befehle weiterleiten wird, wenn ich ihr ein Bajonett an den Hals halte.« Der Eisengeneral unterbrach seine Ansprache, als mehrere Steeldogs, angeführt von Mission Leader Dupke, aus dem zentralen Gang kamen. »Sir!«, machte Dupke Meldung, »die Gefangenen sind verstaut und bewacht, die Leichen aus dem Arschloch des Käfers geschmissen …« Ein paar Steeldogs kicherten. »Schnauze«, befahl Karsch mit spritzendem Speichel, »hier wird nur gelacht, wenn ich es befehle!« »Sir«, sagte Dupke, »der After des Käfers begann sich zu schließen, als wir die Zwerge rausgeworfen hatten. Sollen wir Gegenmaßnahmen ergreifen?« »Negativ, Mission Leader. Uhrenvergleich!« Dupke stülpte den Ärmel seiner Uniform hoch, und eine gewaltige Armbanduhr aus Titan zeigte sich darunter. »22-54-10,
Sir!« Karsch nickte. »Myrion«, rief er, »bring uns runter von dieser shit überwucherten Softie-Welt!« »Der Start verläuft nach Plan«, gab die Stimme des Käfers lapidar zurück. Der Eisengeneral steckte endlich seine Waffe weg, seine Truppe entspannte sich. »Jungs«, schrie er, »jetzt werden wir denen zeigen, wozu wir fähig sind!« Er ließ seinen Blick über seine Leute schweifen, hob seinen Stahlhelm hoch und winkte mit ihm. »Hurra!«, kreischte er dann. »Hurra!«, antworteten die Steeldogs. Kurz darauf entließen die Haltegestelle die Luftfische aus ihren Fesseln, sie schwebten nach oben wie längliche Luftballons, mit dem Käfer verbunden über unzerreißbare Seidenstränge, umwickelt mit Nervensträngen, deren Fasern Befehle Myrions an die Hybridgehirne der Luftfische übertrugen. Um Punkt 23 Uhr fielen die massiven Streben, die den Käfer am Boden hielten, einfach zur Seite, knallten auf die mit Leichnamen übersäten Rangiergleise des alten Bahnhofs von Westerland. Das widerstandsfähige, extrem leichte Biomaterial des Weltraumkäfers knarrte an allen Ecken und Enden, als die schwarze Hülle sich vom Erdboden erhob. Mit dem ablandigen Nordseewind driftete der Käfer nach Westen, schon mehrere Meter hoch gezogen von seinem Wasserstofftank, der den größten Teil seines Volumens ausmachte, und den Luftfischen, die schon während dieser ersten Etappe einen großen Teil der Kraftkäferwolke vertilgten, die über der Insel schwebte. Die Dampflok, noch rauchend und zischend, blieb unter dem
Käfer zurück, schien ihm hinterher zu schauen, pfiff ein letztes Lebewohl, ausgelöst von einem schwer verletzten Steeldog, der auf dem Führerstand verharrte. Myrion, der nach der ersten Weltkaiserin benannte Starbug, vielleicht eine Reinkarnation als erste Repräsentantin der Erde, legte sich in eine Kurve, zog in weiten Schleifen aufwärts, den Wolken und den kalten, hohen Schichten der Atmosphäre entgegen, von wo aus er schließlich in die Leere des Kosmos eintreten sollte. Oben, in der Zentrale, jubelten die Steeldogs, als sich auf dem Bildschirm die ersten Sterne im Tiefblau des Himmels abzeichneten, während irgendwo unten, in einer schmalen Zelle, Kaiserin Tiga in der Dunkelheit lächelte.
42 Kälber
Als Aniaa aufwachte, bemerkte sie zunächst den Geruch. Ein scharfer Gestank nach Fäkalien, Feuer und … ihre Finger spürten Haut, aber es war nicht ihre eigene. Und sie war kalt. Ein Schock durchzuckte Aniaa, und sie war auf einen Schlag hellwach, riss die Augen auf, sah ein blutiges Hemd, sprang auf die Beine. Sie torkelte, trat auf etwas oder jemand, suchte ihr Gleichgewicht. Sprang über einen Körper, strauchelte. Vor ihr lagen verkohlte Überreste eines Luftfisches, um sie herum verstreut Kleidungsstücke, Fleischfetzen, hybride Bauteile. Einige Meter weiter ragte ein verkrümmter Körper unter dem Leib eines verendeten Taxigreifen hervor. Aniaas Knie drohten einzuknicken. Sie ließ sich auf den staubigen Boden sinken, saß zwischen versengten Halmen in einem Stoppelfeld, um sich herum nichts als Leichen. Mit der Hand betastete die Studentin ihre Stirn, ihre verbrannten Haare. Sie musste nachdenken. Sie musste die Auswirkungen des Schocks beiseite drängen, vernünftig handeln. Sie tastete nach ihrer Telefonschnecke, aber die saß nicht an ihrem angestammten Ort hinter dem Ohr. Sie konnte den kleinen Sym nirgendwo in der Nähe entdecken. Es war sehr wahrscheinlich, dass die Schnecke während der Explosion fortgeschleudert worden war. Aniaa fragte sich, ob sie eine Chance hatte, den Sym zwischen den Resten des Luftfisches zu
finden. Sie schüttelte den Kopf. Abgestürzt, keine Verbindung zur Außenwelt. Wie in simplen Web3D-Rollenspielen. Um in den Spielen aus solchen Situationen heraus zu kommen, half eines: Nachdenken. Aniaa schloss die immer noch brennenden Augen und erinnerte sich. Die Politiker waren hastig aufgebrochen, nachdem Vita das Gespräch über den Hai ins Web3D übertragen hatte. Sie waren unterwegs nach Sylt gewesen, als ihr Luftfisch nördlich von Hamburg von einem aggressiven Mob in Brand gesetzt worden war. Nach der hektischen Notlandung war der Fisch explodiert, überall war Feuer gewesen … aber Aniaa hatte überlebt. Vorläufig. Wenn Dr. Kurfgens nicht gelogen hatte, würde Aniaas Gaia-Vision am kommenden Freitag Realität werden. Der Hai würde sie verschlingen. Sie, und die ganze Welt. Ob das Gift der Vyrroc den Angreifer vernichten würde, war unwichtig, jedenfalls für die Erde und ihre Bewohner. Aniaa dachte an Pschist-i. Wenn das Gift wirken würde, wäre Vyrroc gerettet. Es gab also Hoffnung, zumindest für Aniaas Freundin und ihr Baby. Das Leben zu dritt hatte sich angefühlt wie eine Familie. Da war ein unsichtbares Band gewesen, eine Zusammengehörigkeit, die unantastbar schien, unzerstörbar, dann doch zerschnitten worden war von einer Schere in der Hand des Schicksals. Aniaa glaubte nicht an das Schicksal. Sie wusste, dass der Zufall eine physikalische Tatsache war. Was die Menschen als Schicksal empfanden, war nichts anderes als die Gesamtheit unendlich vieler Zufälle, die gelegentlich den Eindruck erweck-
ten, von einem zielgerichteten Denken gesteuert zu werden – das Geschehen erschien einfach zu unwahrscheinlich. Dabei war es aufgrund der unendlichen Anzahl an Zufällen geradezu höchst wahrscheinlich, dass früher oder später auch völlig unglaubliche Dinge geschahen. Leider ließ sich daraus kein Optimismus ableiten, denn der Zufall tendierte zum Erschaffen von Unordnung. Alles eine Frage der Entropie. Überließ man die pulsierenden Versorgungsschläuche und Nervenstränge der Hausmutter sich selbst, verknoteten sie sich mit der Zeit und konnten gefährliche Stoffwechselstörungen verursachen. Niemals sortierten sie sich von alleine so, dass sie fein säuberlich parallel nebeneinander lagen. Man musste von Zeit zu Zeit selbst Hand anlegen. Als Aniaa am Ende dieser Gedankenkette angelangt war, hatte sie sich schon weit vom Absturzort entfernt. Sie erreichte eine weitläufige Weide, auf der Luftfisch-Kälber grasten. Die Syms mussten erst vor kurzem aus ihren Zuchtblasen geschlüpft sein und verbrachten hier die ersten Monate ihres Lebens, bevor sie ausgewachsen waren und den Menschen als fliegende Verkehrsmittel dienen konnten. Die Syms unterbrachen ihr Frühstück nicht, als Aniaa ihre Gruppe durchquerte – Neugier war kein Teil ihrer künstlichen DNS. Am anderen Ende der Weide erreichte Aniaa einen Industriekomplex: Alte Zweckbauten aus Betonelementen, überzogen mit einer dicken Schicht aus Energiealgen, durchzogen von Nervensträngen und Nährstoffadern. Kein Mensch war zu sehen, auch kein Sym. Als Aniaa sich dem Komplex näherte, erkannte sie, dass viele
Algen und Adern welk und vertrocknet waren. Nachdenklich betastete sie gelbliche Blätter und braune, sehnige Stränge. Von Feuer oder Zerstörung war hier nichts zu sehen, der Komplex war bislang vom wütenden Mob verschont geblieben. Was hatte das Absterben dieser Gebäudesymbionten verursacht? Aniaa fand den Vordereingang. Die Glastüren waren nicht abgeschlossen. Innen erwartete sie ein kahles Treppenhaus, in dem ihre Schritte laut hallten, obwohl sie versuchte, leise zu sein. Arcom – ein nichtssagendes Firmenschild hing neben der offen stehenden Tür im ersten Stock. »Ist jemand hier?«, rief Aniaa hinein. »Wir kümmern uns umgehend darum«, kam die leise Antwort. Aniaa runzelte die Stirn, dann trat sie ein. »Hallo?«, fragte sie laut und horchte, um herauszufinden, aus welcher Richtung die Antwort kam. »Leider ist Ihre Kundennummer unbekannt«, gab eine freundliche Stimme zurück. Sie kam aus einem Raum weiter vorne. Aniaa eilte den Gang hinunter, rief »ich müsste mal telefonieren«, bog um die Ecke … und prallte zurück. Unzählige zusammengesunkene Torsos von Meerkatzen ragten aus einem dichten Geflecht von Adern und Nervensträngen, das den Boden bedeckte. Einer der Torsos drehte sich zu Aniaa um. Langsam und stockend, als wären die Muskeln nicht für diese Bewegung konzipiert. »Willkommen bei Arcom, wie kann ich Ihnen helfen?«
43 Faro
Leop eilte einen Seitengang entlang, der, wie er hoffte, in den oberen Bereich der Hülle des Käfers führte. Der Hauptverbindungstunnel verlief auf der Bauchseite, vom – nun ja – Anus des Käfers, unterhalb des Wasserstofftanks, nach oben zum Kopfbereich. Die Seitengänge zweigten rippenbogenförmig in die linke und rechte Hälfte der Hülle ab, führten ebenfalls aufwärts, boten zahlreiche Nischen, in denen Biotools und andere Werkzeuge lagerten, und endeten an der äußersten Kante des Käferpanzers, wo sie in einen schmalen Seitengang führten. Der wiederum besaß in unregelmäßigen Abständen wenige Abzweigungen, die auf die Oberseite des Panzers führten. Leop verharrte in einer Nische, atmete durch – es war stickig im Körper des Käfers – und zog sein Rechenblatt aus dem Hemd. Hastig aktivierte er es, suchte nach einem Bauplan, der das Wegenetz einigermaßen wiedergab. Was sein Ziel war, hätte Leop nicht sagen können. Eine systematische Suche nach Mooha kam kaum in Frage, dazu war der Käfer zu unübersichtlich aufgebaut. Außerdem liefen zu viele Steeldogs herum, die Probleme machen konnten. Leop wischte sich den Schweiß von der Stirn, kratzte sich am Kopf, vermisste sein Scallaway und versuchte, sich auf die schematische Darstellung des Käferpanzers auf seinem Rechenblatt zu konzentrieren. Ein runder Bereich auf dem Rücken des Käfers zog Leops
Aufmerksamkeit auf sich. Er konnte sich nicht exakt orientieren, zumal die Schleifenkurve den ganzen Käfer schräg liegen ließ. Allerdings hatte Leop den Eindruck, dass die nächste Abzweigung ihn durchaus an den gewünschten Ort würde führen können. Zumindest war das ein zentraler Raum mit mehreren Fluchtmöglichkeiten, außerdem schien ein direkter Gang Richtung Zentrale zu existieren. Das meiste Interesse in Leop weckten allerdings gewisse Öffnungen im Rumpf, die in der Nähe seines Ziels eingezeichnet waren. Er meinte, solche Strukturen in Moohas Dokumenten gesehen zu haben. Er hörte ein Geräusch – vielleicht Stimmen – und steckte das Rechenblatt hastig weg. Um die Ecke, aus Richtung Kopf, kam ein Mann angelaufen, gekleidet in einen weißen Kittel, also vermutlich kein Politiker. Gleich vier Schnecken klammerten sich an den kahlen Schädel des Mannes, und in jeder Hand trug er ein Rechenblatt. Als er Leop sah, prallte er zurück. »Was? Wer?« »Leop Üller, Symbioniker«, ging Leop in die Offensive. »Ich kümmere mich um kritische Nervenknoten.« »Perfekt«, grinste der Mann, »kannst nach vorne gehen und dem Eisengeneral ein paar Hirnwindungen entknoten.« »Eisengeneral?« »Karsch oder so. Steeldog. Mitkommen«, winkte der Glatzköpfige und ging voraus – ausgerechnet in die Richtung, in die Leop sowieso wollte. »Faro ist mein Name, Astronom mein Beruf, und in Kürze sind wir Haifutter. Wollte schon immer mal einen Hai von innen sehen. Die Zähne sollen faszinierend sein.« Er blieb stehen, drehte sich zu Leop um und gestikulierte
mit den Fingern. »Mit klitzekleinen Sägen«, grinste er. »Und wenn ein Zahn abbricht, egal, dann kippt einfach der nächste in die leere Position.« »Wirklich?«, machte Leop. »Soll das heißen, die Steeldogs wollen den Hai angreifen?« »Bescheuert genug sehen sie dafür aus. Weitergehen.« Faro winkte und setzte den Weg fort, vorbei an massiv wirkenden Verstrebungen, hinter denen undurchdringliche, faserige Hüllenstruktur erkennbar war, einem schwarzen, zerknüllten und plattgepressten Spinnennetz nicht unähnlich. Leop riss sich von dem Anblick los und folgte Faro, der schon wieder gestikulierte. »Gut, wenn die Steeldogs gefressen werden, rülpst der Hai einmal gemütlich, es trifft keine falschen, aber was ist mit mir? Mit unseren lieben Politikern? Mit der Kaiserin?« »Tiga ist hier?« »Wer verlässt zuerst das sinkende Schiff?« »Wir sinken?« »Du hast keine Ahnung von Politik, oder?« Leop zuckte mit den Schultern. »Ich hoffe, mit Nervenknoten kennst du dich besser aus. Ich habe nämlich den Kollegen Trangulm seit Stunden nicht gesehen. Gut möglich, dass die Steeldogs ihn für einen Sicherheitszwerg gehalten und abgemurkst haben. Er ist ziemlich klein, der Trangulm. Aber er feierte großartige Partys. Hatte da immer die teuersten …« Faro blieb stehen, denn sie hatten das Observatorium erreicht. Große Bildschirme, die an den Wänden eingelassen waren, zeigten undeutlich eine Art Schmetterlingsform. Während Leop das Fernrohr bewunderte, das beweglich in der
oberen Außenhülle des Käfers befestigt war, griff Faro in eine Kiste, die auf einem Tresen zu seiner Rechten stand. Er hielt Leop etwas unter die Nase. »Frösche.« »Oh«, machte Leop. Der Astronom schob sich den blauroten Psyfrog zwischen die Lippen und ließ seine Augenlider dabei flattern. »Was ist das?«, fragte Leop. »Marke Kirligowsky. Aus Aserbaidschan, soweit ich weiß. Anregend für den Geist, Kreativität und Mut.« »Perfekt«, murmelte Leop und kapierte endlich, dass Faro von dem Frosch redete, nicht von dem Gebilde auf den Bildschirmen. »Bedien dich«, sagte Faro. Leop begutachtete die Auswahl Psyfrogs auf dem Tresen und pulte einen grasgrünen aus seiner Schachtel. Ein Zayfrish, zur leichten Stimmungsaufbesserung. Hoffte er. Langsam schob er das Wesen unter seine Zunge. »Was geschieht jetzt?«, fragte Leop, als er Faro zu einer Steuerkonsole begleitete. »Myrion«, sagte Faro, »wird der Rückstoß planmäßig zünden?« »Myrion?«, fragte Leop und sah sich nach allen Seiten um. »Nein«, sagte eine körperlose Frauenstimme. »Das vorgesehene Gewicht ist überschritten worden.« »Tja«, sagte Faro zu Leop, der sich fragte, wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte. »Sheepdolls, gekleidet in Wollpullover, wären kein Problem gewesen. Aber diese Steeldogs mit ihrem Tick für schwere Eisenuniformteile …« Faro schüttelte den Kopf. »Mal sehen, ob sie auf die Idee kommen, ein paar
überschüssige Politiker abzuwerfen.« Als Leop merkte, wie der Psyfrog zu wirken begann, lächelte er. »Oder Astronomen oder Kaiserinnen«, kicherte er. »Die Zündung wurde verzögert, um die Auftriebsphase auf Faktor 99 statt 97% auszudehnen«, erklärte die Stimme. »Spricht da … das Käferlein?«, fragte Leop und kam sich im gleichen Moment sehr dumm vor. Er verfluchte den Psyfrog und spuckte ihn aus. Glücklicherweise ignorierte Faro die Frage. »Myrion weiß, was sie tut.« Er drehte sich zu Leop um und zeigte nach unten. »Was jetzt passiert, ist folgendes: Sobald wir die Mindesthöhe erreicht haben, zündet Myrion das Doppelkammertriebwerk, die Luftfische bleiben zurück und wir reiten auf dem Käferfurz in den Orbit.« »Und dann …?« Mit einer Sehnsucht in den Augen, die nicht nur vom aserbaidschanischen Frosch herrührte, sah Faro auf den nächsten Bildschirm, der immer noch den verwaschenen Schmetterlingsflügel zeigte. »Dann wachsen uns Flügel.« Der Astronom drehte sich um und grinste Leop an. Eine Schnecke kroch ihm über die kahle Stirn, um sich ein freies Ohr zu suchen. Dann erstarb das Lächeln. »Aber vermutlich schaffen wir es nicht und explodieren vorher.«
44 Zelle
Aric erinnerte sich noch an die Krönung von Kaiserin Laguena vor zehn Jahren. Er selbst war damals 14 gewesen, und in der Schule hatten die Mädchen alle gekreischt, als Laguena im Finale der Auswahlschau mit 53% der Stimmen die etwas dümmliche, aber nicht so unnahbare Nyela auf Platz Zwei verwiesen hatte. Aric war daraufhin zwei Wochen lang mit Gleichgesinnten um die Häuser von Neu-Amsterdam gezogen und hatte alle Laguena-Wahlplakate verunstaltet, die sie gefunden hatten – sogar die auf den Trinkuinen. Dann waren die Schulprüfungen gekommen und er hatte andere Probleme gehabt. Beinahe hätte er nämlich bestanden und wäre auf die Hochschule versetzt worden. In dem Fall wäre es unausweichlich gewesen, dass er einen Beruf erlernt hätte und zu einem Arbeiter geworden wäre. Sicher, Arbeiter hatten mehr Geld als der Rest der Leute, aber auch viel weniger Zeit, es auszugeben. Auch ohne Hochschule hatte Aric einiges erreicht. Genaugenommen fast alles. Er war bei der Krönung dabei gewesen, war im Web3D in einer tollen Show interviewt worden, hatte mit einer Politikerin den … schmutzigsten Sex seines Lebens gehabt … und jetzt war er seinem Endziel ganz nah. Tiga. Er konnte sie von seiner Position aus nicht sehen, aber er
wusste, dass sie nur zwei Zellen weiter, hinter einem Vorsprung, in ihrer Ecke hockte, bewacht von dem Feldwebel-Steeldog, seinem Private Kutschinski und noch ein paar Kameraden. Ja, Kameraden: Aric hatte sich nicht nur an die Uniform und den kahlen Schädel gewöhnt, er mochte die Jungs. Vielleicht, weil sie den Politikern nichts getan hatten. Gut, die Zwerge hatten dran glauben müssen, aber das waren nur Biotools. Vor richtigen Menschen hatten die Steeldogs Respekt. Sie behandelten die Politiker und die Kaiserin ordentlich. Gut, sie hatten einige merkwürdige Vorlieben – für Eisen, Waffen und derbe Flüche; und soweit es den Feldwebel betraf, Schläge auf den Hintern seines Katschinski. Aric beobachtete, wie ein Kamerad vom Pissen zurückkam und seinen Posten wieder einnahm. Ihm kam eine Idee, von der ihm sofort warm wurde. Vorsichtig, um nicht den beschädigten Fuß zu belasten, stand er auf, machte einen Schritt über eine blutige Pfütze, und sprach den Feldwebel an: »Ich müsste mal.« Er besann sich, und fügte an: »Sir.« Der Feldwebel kaute auf irgendwas und nickte nur mit dem Kopf. Aric ging an ihm vorbei, sehr langsam, die Hände in den Taschen, nach unten blickend, scheinbar, um bloß nicht zu stolpern. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er an Tigas Zelle vorbei kam. Er warf einen langen Blick hinein, sein Unterleib fing zu kribbeln an, und dann … sah die Kaiserin ihm in die Augen. Schönheit, Erhabenheit, Schutzbedürfnis … Liebe. Aric schluckte, berührte mit den Fingern in den Hosentaschen seine gegen den engen Uniformstoff drückende Erektion,
hörte jemanden »Schub jetzt« rufen, verlor das Gleichgewicht, fiel prompt über eine der zahlreichen Erhebungen am Boden, fing sich, wurde von einem sitzenden Kameraden am Oberschenkel festgehalten … und fiel der Länge nach auf den Boden, der plötzlich zur Decke geworden war, oder umgekehrt, er hatte keine Ahnung und quiekte einfach, so laut er konnte.
45 Flügel
»Wir haben die Fluchtgeschwindigkeit erreicht«, sagte Faro und löste den Gurt, der ihn während der Beschleunigungsphase in seinem Sessel fixiert hatte. Leop tat es dem Astronomen gleich und schüttelte die Auswirkungen des Schubs ab. Obwohl keinerlei Vibration vom Boden ausging, schloss er auf Zehenspitzen zu dem glatzköpfigen Wissenschaftler auf, der vor einem der Bildschirme stand. »Flügel«, hauchte Faro. »Wunderschön«, stimmte Leop zu. »Aber woher kommen die?« »Fachidiot«, fluchte Faro, winkte ab und wankte zu dem Tresen mit den Fröschen. Er überlegte es sich anders und bog scharf links ab, wo ein Trinksack an der Wand hing. Er saugte zweimal kräftig an dessen Warze und wischte sich über den feuchten Mund. »Kümmerst dich bloß um deine … Nervenknoten, was, Leop? Bloß nicht zur Seite schauen, Tunnelblick …« Leop hätte sich gern verteidigt, allerdings gab es keine bessere Erklärung für seine Ahnungslosigkeit als der von Faro unterstellte Tunnelblick. Daher zuckte er nur mit den Schultern. »Den Gesamtüberblick haben andere. Wenn ich mich darum kümmern würde, müsste ich meine eigene Arbeit vernachlässigen.«
»Und was machst du dann hier?«, versetzte Faro, winkte dann aber wieder ab. »Mein Ohrgeräusch bringt mich um«, murmelte er zusammenhanglos, um dann zu ergänzen: »Ach nein, das macht ja der Hai. Winzige Sägen an den Zähnen, weißt du?« »Ja«, entgegnete Leop. »Sägen. Klar. Was ist mit den Flügeln? Erklärst du mir das?« »Vyrroc«, seufzte Faro. »Einige Sachen haben sie drauf. Und man weiß bei ihnen nie, woran man ist. Sie sind nicht böse oder gut. Sowas gibt's sowieso nur in Geschichten. In einfachen Geschichten. In Märchen, Kinderkram, simplen Krimis. Wo war ich?« »Vyrroc«, half Leop. »Genau. Komisches Volk. Oder Völker, besser gesagt. Verseuchen unsere Ökosphäre, wie einige von uns seit gestern wissen, um den Hai zu vergiften, gleichzeitig schenken sie uns die Flügel, die unser Käfer braucht, um zum Vogel zu werden … Nun, du kannst den Leuten nur vor den Kopf gucken, nicht hinein. Niemand kann das, auch nicht die Psychokerls, die es behaupten. Und die meisten versuchen es nicht einmal. Sie wollen nur das Gesicht sehen, und nicht das dahinter. Tja, und unsere Freunde von Tau Ceti sind da nicht anders als wir Menschen.« Die Schmetterlingsflügel, auf die das Teleskop offenbar fixiert war, stammten also von den Vyrroc. »Aber«, begann Leop, wurde jedoch unterbrochen. »Die berechnete Rendezvous-Bahn ist erreicht«, sagte Myrions körperlose Stimme. Leop korrigierte sich: Myrion hatte einen Körper, und zwar einen ziemlich beeindruckenden. Er
vermutete, dass es der ersten Kaiserin durchaus gefallen hätte, als Weltraumkäfer, Sternenvogel … was auch immer … wiedergeboren worden zu sein. »Allerdings sind die Schub-Reserven dafür zu 78% aufgebraucht worden«, fuhr Myrion fort und brachte es fertig, ein wenig unglücklich zu klingen. »Was bedeutet das?«, wollte Leop wissen. »Nichts«, sagte Faro. »Die Reserven waren für die Navigation im freien Raum gedacht. Um irgendeinen sinnvollen Kurs einzuschlagen, nachdem der Hai …« Der Astronom kratzte sich am Schädel, erwischte eine Schnecke und zischte einen Fluch. »Wir brauchen die Reserven natürlich nicht, wenn wir nur auf Kollisionskurs mit dem Hai gehen.« »Und die Flügel?« »Ja, die Flügel.« »Was ist damit?«, hakte Leop ungeduldig nach. »Was soll damit sein?«, fragte Faro. »Wir fliegen hin, sie klinken sich ein, und der Photonensegelschlepper der Vyrroc beschleunigt uns sanft aber mit tödlicher Effizienz in den Schlund des Hais, weil die Steeldogs genau das befehlen werden.« »Und … dagegen können wir nichts tun?« »Was bist du für ein Wissenschaftler, hm?«, fragte Faro mit zu Schlitzen verengten Augen. »Wo bleibt deine Neugier? Der Weltraum ist erforscht, wir kennen jeden Stern, die meisten Planeten in der Umgebung von gut 30 Parsec, jedenfalls deren wichtigsten physikalische Parameter, bis auf die Einschaltquoten des dortigen Fernsehprogramms, wenn's denn überhaupt welche gibt in den ganzen Steinwüsten, Methannebeln und
Lavaseen. Aber den Hai, Leop …« Er tippte dem Symbioniker mit dem Zeigefinger auf die Brust, »aber den Hai kennen wir noch nicht. Und genau das werden wir ändern. Wir werden ihn ausmessen, spektroskopieren …« Faro hüpfte in die Höhe, zeigte auf sein Teleskop. »Und dann werden wir den Vyrroc verraten, wie man ihn in die Sonne lenken kann.« »Das soll funktionieren?«, fragte Leop, aber Faro winkte nur ab und stellte für die nächsten Stunden das Reden komplett ein, um sich seinen Messinstrumenten zu widmen. Bis auf einen kurzen Besuch einer Streife Steeldogs geschah nichts, wenn man davon absah, dass das Flügelpaar auf dem Bildschirm immer größer wurde. Dabei wurde ein Loch in der Mitte erkennbar, auf das Myrion offenbar zusteuerte. Leop spazierte nervös immer im Kreis um den Sockel des Teleskops und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Sollte er seine Suche nach Mooha fortsetzen? Hier oben war er vorläufig sicher. Unten, in der Hülle, könnten gewaltbereite Steeldogs nach seinem Fahrschein fragen. Andererseits lief ihm die Zeit davon. Wie lange würde es dauern, bis die Photonenflügel der Vyrroc an Myrion befestigt waren? Wie lange dauerte der Flug bis zum Hai? Dann war sowieso alles zuende. Leop legte sich fest: Zuerst Mooha, dann das Ende. Ja, auf keinen Fall anders herum. Zur Not musste er Risiken eingehen. Die waren jetzt ohnehin relativ. Wer das Nirwana vor Augen hatte, konnte genausogut um sein Leben spielen. »Es ist soweit«, sagte Faro in die Stille hinein. Leop sah auf den Bildschirm, aber der war leer. Dafür geriet die Umgebung in Bewegung.
»Schnall dich lieber wieder an«, murmelte Faro und meinte sich vermutlich selbst. Mit offenem Mund starrte Leop nach oben. An sechs Stellen stülpte sich die Käferhülle nach innen, als würde etwas von außen eindringen. Strukturen, die viel weicher waren als sie aussahen, nahmen die sechs Basissäulen der Photonenflügel auf, hielten sie fest, verfestigten sich, verwuchsen mit dem Vyrroc-Geschenk. Das Teleskop ragte durch die Öffnung in der Mitte des Flügelpaars, konnte weiter das Weltall beobachten. Praktisch gleichzeitig schwankte der Boden, kippte leicht nach hinten. Leop beugte sich vornüber, um nicht zu fallen. Aber schon glichen die unsichtbaren Muskeln der Außenhülle den Kippwinkel an, so dass die Schwerkraft wieder in die richtige Richtung wies – scheinbar natürlich nur, denn jetzt sorgte die Beschleunigung durch die Flügel für Bodenhaftung. Der Weltraumkäfer, der jetzt flügge geworden war, glitt mit dem Rücken voraus seinem neuen Ziel entgegen. »Wir fliegen«, säuselte Faro. »Ist das nicht wunderbar?«
46 Tekrashokk
Aniaa wusste nichts zu entgegnen. Sie hatte noch nie ein Callcenter von innen gesehen. Schon gar keines, in dem die meisten Agentsyms tot waren. »Ich … müsste mal telefonieren«, wiederholte Aniaa. Das Gesicht der noch lebenden Meerkatze zeigte keine Regung. »Sie haben das falsche Kennwort genannt.« »Ich habe gar keins«, entgegnete Aniaa. »Einen Moment, ich verbinde Sie mit unserer InkassoAbteilung«, erklärte die Meerkatze mit ausgesuchter Freundlichkeit. Aniaa fragte sich, ob der Sym überhaupt mit ihr redete oder mit einem für sie unhörbaren Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung. Sie sah sich im Raum um, aber es gab kein für sie nutzbares Telefon – die Syms waren Telefone, und zwar mit eingebauter Kundenbetreuung. Ihre Leitungen führten direkt vom hybriden Gehirn in das Nervengewirr am Boden, von da aus zu den Wurzelsträngen im Erdboden, die das ganze Land vernetzten. »Was ist hier passiert?«, fragte Aniaa. »Vielen Dank für das Gespräch, auf Wiedersehen«, säuselte die Meerkatze, dann kippte der Torso vornüber und regte sich nicht mehr. Aniaa verharrte einen Moment, dann drehte sie sich langsam um. Ihr Blick fiel auf eine Tür gegenüber. Auf Augenhöhe
klebte ein Symbol, das eine stilisierte Frau darstellte. Dankbar betrat Aniaa die Toilette. Die Klokröte lebte noch und gluckste dankbar, als Aniaa ihr Geschäft verrichtete. Über dem klassischen Waschbecken hing ein Spiegel, der Aniaa einen gehörigen Schock versetzte. Ihre Haare waren versengt, standen in alle Richtungen. Ihre Bluse war blutig, schmutzig und zerrissen, ihr Gesicht zerkratzt und dreckig. Sie zog sich aus, wusch sich so gut es ging, trank direkt aus dem Wasserhahn. Als nächstes musste sie sich um Nahrung bemühen. Sie wagte es nicht, die abgestorbenen Syms des Gebäudes anzutasten. Vielleicht hatte irgendein Stoff, der durch die Versorgungsleitungen floss, sie vergiftet. Eine ganze Weile verbrachte Aniaa damit, ihre Haare mit bloßen Händen zu ordnen. Schließlich konnte sie den Anblick nicht mehr ertragen und verließ das Gebäude. Draußen stutzte sie. Ein paar Meter vor dem Eingang lag ein offener Koffer, inmitten verstreuter Kleidungsstücke. War der Koffer vorhin schon hier gewesen? Aniaa erinnerte sich nicht. Sie kniete sich auf den Boden und untersuchte die Klamotten. Augenscheinlich unbeschädigt, nur kalt und klamm. Sie mussten schon die ganze Nacht hier liegen. Aniaa durchwühlte die Kleidungsstücke, hielt sich ein TShirt vor die Brust. Die Sachen hatten ungefähr die richtige Größe. Die Studentin sah sich in alle Richtungen um, aber es war kein Mensch zu sehen. Kurz entschlossen warf sie ihre eigene Kleidung von sich, wählte weiße Unterwäsche, eine dicke, schwarze Stoffhose und ein T-Shirt mit einem bunten Logo einer Vyrroc-Band namens Tekrashokk. Sie fand sogar ein
Band, mit dem sie die Reste ihrer Haare zu einem kläglichen Zopf binden konnte. Sie fummelte ihre Geldbörse, die wie eine rosa Flunder aussah, aus der Tasche ihrer alten Hose und steckte sie in die neue. Sie hatte keine Ahnung, ob das Sym noch funktionierte, aber sie wollte lieber nicht darauf verzichten. Schließlich folgte Aniaa der Straße, die vom Firmenkomplex weg führte, augenscheinlich Richtung Stadt – welcher Stadt auch immer. Weitere Firmengebäude säumten die Straße, vereinzelt lagen verendete Syms herum. Als sich menschliche Leichen hinzu gesellten, verlangsamte Aniaa ihre Schritte. Als sie einen qualmenden Scheiterhaufen erreichte, der offensichtlich aus den Überresten von Vyrroc bestand, blieb sie fassungslos stehen. Zertretene Sonnenbrillen bildeten einen Ring um den Scheiterhaufen, als habe eine exzentrische Gottheit ein neumodisches Opferritual befohlen. Eine Menge Leute hatte anscheinend eine sehr drastische Meinung zu dem Versuch der Vyrroc, ein Gift gegen den Hai ins Biosystem der Erde einzuschleusen. Gab es eine Erklärung für diesen Gewaltausbruch? Zerstörten Menschen die Gegenwart, weil es keine Zukunft mehr gab? Wenn das Blut kochte, ging jede Fähigkeit zur Differenzierung verloren. Die Vyrroc, deren verkohlte Reste vor Aniaa lagen, hatten sehr wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung von dem Gift gehabt, das einige von ihnen in sich getragen hatten. Vermutlich waren sie nicht einmal mit dem Vorgehen ihrer Regierung einverstanden, das sie zu Transportbehältern für einen Chemiewaffenangriff gegen einen vermeintlich lebendigen Asteroiden machte.
»Tussi!«, grölte jemand. Aniaa fuhr herum. Eine Gruppe Jugendlicher näherte sich feixend. Die Mädchen und Jungen waren mit improvisierten Waffen ausgestattet; einige schienen sogar verkohlte Knochen als Keulen zu verwenden. »Trauerst um deine Freunde, was?« Aniaa schluckte. »Wie … kommt ihr darauf, dass ich …« War sie gerade drauf und dran, ihre Sympathie für die Vyrroc zu verleugnen? Was war wichtiger, Loyalität oder ihr Leben? Ein blondes Mädchen zeigte mit einem Unterschenkelknochen auf Aniaa. »Dein T-Shirt«, sagte sie und spuckte aus. »Das ist eine Käfer-Combo. Nu Shrem.« Aniaa sah an sich hinunter. Sie fragte sich, ob die Jugendlichen verständnisvoll nicken würde, wenn sie erklären würde, dass sie das Shirt nur trug, weil ihre eigene Kleidung verbrannt war, als sie in Begleitung von Politikern … Sie drehte sich um und rannte los.
47 Hai
»Ich vermute, dass die Politiker sich gehörig in die Hose machen«, kicherte Faro und justierte ein Analyseprogramm, das Spektren des Hais auf einen Bildschirm warf. »Wieso?«, fragte Leop abwesend. »Ha«, machte Faro. »Nennen sich Doktor. Wofür?« »Soweit ich weiß«, entgegnete Leop, »wird das h.c. der Einfachheit halber weggelassen. Die Politiker sind Ehrendoktoren.« »Falsch, die Titel sind gekauft. Hat mit Ehre nichts zu tun. Schon gar nicht mit Wissenschaft.« »Du bist aber Doktor, oder?« »Ja, natürlich, Universität Tübingen, 2130, Photometrische Untersuchungen, die dich jetzt nicht interessieren. Oder sonst jemanden.« »Ist mir eine Ehre, echter Doktor Faro«, grinste Leop. »Nenn mich nicht so«, kreischte der Astronom und hätte sich die Haare gerauft, wenn er noch welche gehabt hätte, »klingt als wäre ich Politiker!« »Die sich also in die Hosen …« »Ja! Natürlich! Sie wollten fliehen, wie die Ratten, nach ihnen die Sintflut, der Hai, die Vernichtung, Apokalypse. Nach ein paar Generationen hätten sie vielleicht wieder vorbei geschaut, als Götter vom Himmel, die den tumben Ureinwohnern die Gnade einer Regierung erweisen.«
Leop zeigte auf das riesige Bild des Hais. »Stattdessen fliegen wir genau auf den Schlund des Monsters zu«, sagte er. »Natürlich«, nickte Faro, »die Steeldogs sind nicht die Sorte Leute, die vor irgendwas wegrennen. Wenn's irgendwo nach Ärger riecht, sind sie schon so gut wie da.« »Sie wollen den Hai vernichten, oder?« Faro lachte hell auf. »Nichts leichter als das, schließlich haben sie Kanonen …« »Kanonen?« Leop riss die Augen auf. »Lange Stahlrohre, die tödliche Projektile durch die Gegend schießen.« Faro gestikulierte. Er überlegte einen Moment, dann ergänzte er: »Wie Penisse.« »Ich weiß, was eine Kanone ist«, versetzte Leop, »aber ich wusste nicht, dass die Steeldogs welche mitgebracht haben.« »Was ich nicht weiß, ist, wie sie die Kanonen abfeuern wollen, ohne die Hülle unseres Käfers zu durchlöchern. Vielleicht haben sie in der Schule nicht aufgepasst, als erklärt wurde, woraus der Weltraum besteht.« »Vakuum«, antwortete Leop automatisch. »Nichts«, sagte Faro. »Und ab und zu ein Wasserstoff-Atom. Unwirtliche Gegend. Schlimmer als Amerika.« »Schade, dass wir den Hai nur von vorn sehen«, meinte Leop, dessen Blick auf die hektisch wechselnden Bildschirminhalte geheftet war. »Interessante Strukturen.« »Mit diesen speziellen Spektren kenne ich mich nicht aus«, sagte Faro, »und den Kollegen Ramatow habe ich seit dem Überfall nicht mehr gesehen.« »Fragen wir Myrion?«, schlug Leop vor. Auch er hatte wenig Ahnung von den Diagrammen, die er zu sehen bekam, aber er
wusste, dass Fachleute daraus so gut wie alles ablesen konnten. »Natürlich«, nickte Faro. »Myrion, Schatz, bist du so lieb und erklärst uns, was du uns hier zeigst?« »Selbstverständlich«, meldete sich die körperlose Stimme der ersten Kaiserin. »Das Reflektionsspektrum zeigt Signaturen von Wassereis sowie unterschiedlicher Eiweiß- und Fettverbindungen. Für die genaue Klassifizierung reicht die Auflösung der Spektren leider nicht aus.« »Eiweiß«, murmelte Leop. »Fett?«, schrie Faro gleichzeitig neben Leops Ohr, so dass der zusammenzuckte. »Willst du damit sagen, das Mistvieh ist organisch?« »Ja«, bestätigte Myrion. »Ich weise darauf hin, dass mir eine Arbeit des südafrikanischen Astrophysikers Lee Warwick vorliegt, der aufgrund seiner Beobachtungen bereits vor einem Jahr einen solchen Verdacht äußerte.« »Natürlich hat man ihn ignoriert«, schüttelte Leop den Kopf. »Kaltgestellt«, korrigierte Faro. »Die Politiker interessieren sich nur für die Flucht, und nicht, wovor sie eigentlich davonlaufen … fliegen.« »Mit anderen Worten …«, begann Leop, hielt dann aber inne. » … wir werden wirklich gefressen«, vervollständigte Faro den Satz. »Im wahrsten Sinne des Wortes.« »Aber im Weltraum leben keine verfluchten Haie«, rief Leop und schlug mit der Faust auf ein Bedienpult. »Vergiss nicht, wo wir uns gerade befinden«, sagte Faro. »In einem Käfer, der durch den Weltraum fliegt. Und er lebt, könnte man sagen. Jedenfalls gewinne ich den Eindruck, wenn ich mit Myrion spreche. Immerhin jagt mir ihre Stimme einen
warmen Schauer über den Rücken.« »Wir …« Leops Gedanken rasten. Etwas Entscheidendes war die ganze Zeit übersehen worden. Wenn der Hai lebte, ein Bewusstsein hatte, dann konnte man mit ihm sprechen, ihn darauf hinweisen, dass sein Futter andere Pläne hatte, als gefressen und verdaut zu werden. »Wir müssen versuchen, Kontakt aufzunehmen!« »Was meinst du damit?«, wunderte sich Faro. »Funk! Wir müssen auf allen Frequenzen funken, und wenn eine Antwort eintrifft, müssen wir sie analysieren, wir …« »Das ist schon längst passiert«, winkte Faro ab. »Wie bitte?« »Natürlich. Kurz nach der Entdeckung des Hais. Es ist eine Standardprozedur. Die Vyrroc sind ähnlich überraschend aufgetaucht, und es war ein Institut in Dubai, das als erstes auf die Idee kam, dem unbekannten Himmelskörper eine nette Botschaft zu schicken. Seitdem …« Leop unterbrach den Astronomen. »Das heißt, jemand hat schon mit dem Hai gesprochen?« »So würde ich das nicht nennen«, verneinte Faro. »Es sei denn, du bezeichnest ein 'Hallo?' – 'Fressen!' – 'Wie bitte?' – 'Freeesseeen!' als gehobene Plauderei.« Leop schüttelte langsam den Kopf. Er glaubte nicht, was er hörte. »Er hat nicht wörtlich 'Fressen' geantwortet.« »Nein«, schüttelte Faro den Kopf, »aber binär codierte Bilder, die wie Pacman aussahen. Kennst du Pacman?« »Vage«, sagte Leop. »Haben wir noch Frösche?« Faro seufzte. »Ein paar von den ganz üblen Sorten.« »Perfekt«, antwortete Leop und leckte sich über die Lippen.
48 Flucht
Die Gang johlte und nahm die Verfolgung auf. Es waren ein halbes Dutzend Neo-Urmenschen, die improvisierte Keulen schwangen und den Eindruck erweckten, als seien sie auf der Jagd nach Abendessen. Der einzige Unterschied zur Urzeit war, dass auch Frauen zu den Jägern gehörten – der Emanzipation sei dank. Aniaa rannte um ihr Leben. Ihre Sohlen klatschten auf den alten Asphalt. Ein Schwarm Spamtauben stieg vor ihr hoch und spulte mehrstimmig Jingles über eine Aktionswoche in einem Matratzen-Outlet ab. Jemand warf etwas nach ihr, traf aber nicht. »Käferficker!«, schrie jemand. Aniaas Füße berührten die Straße kaum, als sie ihr Tempo steigerte. Adrenalin strömte durch ihre Adern, sie wurde noch schneller. »Wir grillen dich!«, »Bleib stehen!«, »Wir kriegen dich ja doch!« Aniaa sprang über einen toten Infostrauß, wich einem blutigen Knutball aus, zählte im Kopf automatisch die Sekunden bis zur nächsten Hürde, als befände sie sich auf der Tartanbahn. Sie war Bezirksmeisterin im 400-Meter-Lauf. Niemand würde sie einholen. Dass Aniaa Turnschuhe trug, war mehr oder weniger Zufall. Sie hatte es nicht eingesehen, für das Essen mit Rotweil etwas hübsches anzuziehen, und seitdem hatte sie zwar den Rest der Kleidung gewechselt, aber die Schuhe nicht.
Die Straße war übersichtlich und eben. Allerdings konnte Aniaa nur hoffen, dass ihre Verfolger aufgaben, bevor ihr die Kraft ausging. Sie hatte seit einem halben Tag nichts gegessen, und die Jugendlichen kannten sich in ihrer Stadt besser aus als sie. Sie setzte über einen undefinierbaren Müllhaufen hinweg und umkurvte eine umgekippte Plakatwand. An einer Ecke wagte Aniaa einen Blick nach hinten. Nur noch drei Verfolger. Dem Rest war vermutlich die Luft ausgegangen, oder sie suchten sich ein leichteres Opfer, vielleicht den Knutball. »Käferschlampe«, rief einer der Verfolger, aber es klang etwas kurzatmig. Aniaa genehmigte sich ein Lächeln, während sie sich vorstellte, dass die Zielgerade hinter der nächsten Kurve lag. Plötzlich tauchte ein Trupp Sicherheitszwerge aus einer Seitenstraße auf. »Halt!«, donnerte einer der Zwerge. »Im Namen des …« Aniaa lief einen Bogen um den Trupp herum. Hoffentlich beurteilten die Zwerge ihre Verfolger als Aggressoren. Tatsächlich kümmerten sich die Syms nicht um sie. Grölen und Kreischen. Aniaa sah über die Schulter nach hinten. Ihre Verfolger hatten sich auf die Zwerge gestürzt. Aber sie selbst gönnte sich nur eine Verringerung der Geschwindigkeit. Sie hatte leichtes Seitenstechen, ihr Herz klopfte viel zu laut. Sternchen blinkten in ihrem Sichtfeld. Es wurde wirklich langsam Zeit für Frühstück. Früher hatte sie jeden Morgen mit Pschist-i Müsli und Obst geschlemmt, wegen der langen Gespräche Vorlesungen verpasst. Es war ihr egal gewesen.
Sie wischte die Gedanken beiseite. Die Vergangenheit zählte nicht. Sie musste sich um das Jetzt kümmern. Minuten später erreichte Aniaa das Stadtzentrum. Unzählige Menschen waren auf der Straße, räumten Trümmer beiseite, schleppten Beutegut von Plünderungen durch die Gegend. Sicherheitszwerge zeigten Präsenz, Schwärme von Reinigungsratten trugen Bioabfälle davon. »Das Biobistro Hansen hat auch heute für Sie geöffnet«, gurrte eine Spamtaube, die auf einem niedrigen Zaun saß. Aniaa seufzte. Das Bistro befand sich direkt hinter der Taube. Ohne lange zu überlegen, betrat Aniaa den Laden, der sich in einem alten Steingebäude niedergelassen hatte. Alle Tische waren besetzt, und die Studentin brauchte eine Weile, bis sie es wagte, ein älteres Paar zu fragen, ob sie sich dazu gesellen durfte. Der dickliche Mann warf ihr einen unwilligen Blick zu, aber seine Frau räumte sofort ihre Handtasche vom unbesetzten Stuhl. »Sie sehen ja furchtbar aus«, sagte sie. »Kommen Sie, kommen Sie.« »Danke«, erwiderte Aniaa und setzte sich. »Schlimme Sache, nicht?«, plapperte die Frau. »Rosa«, sagte der Mann und schüttelte den Kopf. »Nu lass das Mädel erstmal essen, bevor du sie zutextest.« Aniaa brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass Rosa der Vorname der Frau sein musste. Rosa schob Aniaa ihren Teller hin. »Etwas Obst und Brot?« »Sehr gerne«, sagte Aniaa und brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. »Ich hab's ja immer gesagt«, erklärte Rosa und strich sich durch ihre grauen Locken. Falten umschlossen ihre Lippen wie
Jahresringe. »Das geht nicht gut aus.« »Rosa«, murrte der Mann und klopfte mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Ich habe nicht alles mitbekommen«, sagte Aniaa zwischen zwei Bissen. »Was ist denn vergangene Nacht passiert?« Der Mann schnaubte. »Zusammenbruch«, sagte er, und bei dem einen Wort blieb es. Statt fortzufahren, lehnte er sich zurück und faltete die Hände auf seinem Bauch. Seine blauen Augen zuckten unter den buschigen Brauen hin und her. »Ich weiß nicht, was schlimmer war«, sagte Rosa. »Die Sache mit dem Hai oder die mit dem Gift.« Sie winkte der Bedienung, einem jungen Mann, der furchtbar schwitzte und sichtlich überfordert war. Gewöhnlich machte ein Infostrauß den Job, aber der war offenbar nicht mehr in Betrieb. »Der Hai«, sagte Aniaa. »Das Gift bringt uns nicht um.« »Aber dem Hai kann man derzeit nicht verdeutlichen, was man von ihm hält. Den Vyrroc schon.« Aniaa nickte. »Ich dachte immer, wir wären etwas weiter. Wie leben im 22. Jahrhundert. Wir sind doch nicht wehrlos.« Rosa schüttelte den Kopf. »Doch, sind wir. Die meisten jedenfalls. Nur die Privilegierten nicht. Sind ja nicht nur die Politiker, die einfach abhauen. Inzwischen ist rausgekommen, dass sich Milliardäre und Konzernchefs heimlich nach Vyrroc verzogen haben. Oder in einem der Weltraumhotels abwarten, was passiert.« Sie nickte Aniaa zu. »Bestell mal schnell.« Die verschwitzte Bedienung war neben Aniaa aufgetaucht, und sie orderte Müsli mit Obst und Tee. Dann fiel ihr etwas ein. »Rosa«, sagte sie, »würden Sie mir Ihre Schnecke leihen? Meine ist mir letzte Nacht abhanden
gekommen.« Der Mann fing an zu kichern. Rosa verzog das Gesicht, dann antwortete sie: »Ich kann Ihnen gerne meine Schnecke geben, aber davon haben Sie nichts. Das Netz funktioniert nicht mehr.« Aniaa starrte Rosa an. Sie musste mit Vita sprechen. Sie musste wissen, ob sie in Ordnung war. Ohne sie … fehlte etwas. Aniaa nahm sich vor, ihre Freundin zu finden. Gleich nach dem Frühstück.
49 Schlund
Leop nahm die Ereignisse durch einen Schleier wahr, den ihm eine halbe Schachtel Psyfrogs über die Wahrnehmung gelegt hatte. Sein Verstand war dankbar für die Tatsache, nichts mit dem Geschehen auf der anderen Seite des Schleiers zu tun zu haben. Während seines Studiums musste Leop im Rahmen eines Praktikums das Betriebssystem eines Infostrauß erweitern. Der Sym wohnte eine Woche lang in seinem Wohnheimzimmer, während Leop versuchte, der Bioware des Wesens Poker beizubringen. Die schwierigste Aufgabe war dabei, den Systemfilter zu umgehen, der unwahre sowie unklare Aussagen automatisch verwarf. Er erinnerte sich noch genau an einen Dialog zwischen ihm selbst und dem Sym, dessen Spielkarten zwischen den Schwungfedern klemmten. »Ich erhöhe um 12,37 Chips«, sagte der Strauß. Der Einsatz erschien augenblicklich auf dem kleinen Tischbildschirm, der über Funk mit dem Hybridgehirn des Syms verbunden war. »So geht das nicht«, schimpfte Leop. »Du, du musst … so tun, als hättest du … sagen wir …« Leop gestikulierte wild. »Mindestens zwei Könige.« »Die habe ich aber nicht«, entgegne der Strauß. Leop schlug sich die Hand vor die Stirn. »Außerdem musst du spüren, was für Karten ich haben könnte.«
»Dafür habe ich kein Wahrnehmungsorgan«, erklärte der Strauß. »Sei doch mal etwas empathisch«, rief Leop und warf seine Karten auf den Tisch. »Du steigst aus, der Pot gehört also mir«, meinte der Strauß ungerührt. »Dies verursacht soeben eine zehnprozentige Glückshormonausschüttung.« Leop seufzte. »Ich weiß, die hab ich selbst programmiert.« Der Strauß schien in sich hinein zu horchen. »Ich würde mich jetzt gerne paaren«, sagte er. Leop kicherte. »Das kannst du nicht, du bist ein Sym.« Der Infostrauß brachte es fertig, enttäuscht auszusehen. Dann zog er sich das Federkleid aus, räkelte sich auf dem Sofa und sah plötzlich aus wie Mooha. Leop starrte, rieb sich die Augen, und dann waren da ganz viele Zähne und ein Feuerwerk. Sein Körper vibrierte, rotes Feuer schoss in den Schlund des Hais. Wo die Zunge hätte sein müssen, waren Ringe aus Feuer. Als würde jemand Steinchen in einen Teich werfen, bloß bestand der Teich aus Flammen. Die Wellen setzten sich fort bis in Leops Leib; er spürte Wärme, Kälte, Wärme … dann schien sein Ich zu zersplittern. Er war der Strauß, der auf die zweite Nachkommastelle errechnet hatte, wieviele Chips er einsetzen musste, er war Mooha auf dem Sofa, er war Faro, der mit dem Kopf in einen Bildschirm zu kriechen schien, er war der Eisengeneral, der mit Schaum vor dem Mund Befehle brüllte, und dazwischen den Hai verfluchte; er war die Flüche, die nicht durch das Vakuum dringen konnten und den Hai nicht erreichten, er war ein Steeldog-Soldat,
der tief im Innern das Starbugs Privilegierte bewachte, und nicht sehen konnte, was draußen geschah. Er war ein Milliardär, der am Tag zuvor eine Abschiedsorgie auf einer Segelyacht vor Santorini gefeiert hatte, er war eine der Elfen, die dabei verbraucht wurden, er war eine Vyrroc, die ohne ihre Sonnenbrille hilflos geblendet eine Flammenwand anstarrte, die sie vollständig umschloss. Er war Kaiserin Tiga, die Wahrhaft Goldene, die in ihrer Zelle die Worte der Politiker ignorierte, die auf sie einredeten, Pläne schmieden wollten, die Hoffnung auf eine angenehme Zukunft – auf irgendeine Zukunft – nicht aufgeben wollten. Und er war Myrion, zählte mechanisch die Anzahl der Raketen, die Steeldogs in weltraumdichten, von Mooha entworfenen Käferanzügen von der Oberseite des Starbugs aus in den Schlund des Hais schossen, zählte, wieviele davon verschwanden, ohne zu explodieren, maß pausenlos die Entfernung zum Schlund, zu den Zähnen, berechnete den Zeitpunkt des Aufpralls, erhielt schwankende Werte, wiederholte die Berechnung. Und Leop war Li Viley, der Vater der Symbiose, der in seinem Grab lag und darauf wartete, vom Hai verschlungen zu werden, um mit seiner Schöpfung endgültig vereint zu werden. Er war Faro, der sich fragte, warum er Leop war, und er war wieder Myrion, die eigenmächtig die Stellung der Flügel änderte, um die Kollision zu verhindern, aber der Schlund war immer da, unausweichlich. Schließlich war Leop der Hai, und er war hungrig, und er war unendlich mal unendlich groß. Dann flog der Hai durch das Observatorium, war wieder Leop, was schade war, weil der Hai sich vermutlich nicht viel aus
dem Aufprall an der Wand gemacht hatte. Leop schon. Sein Körper fühlte sich an, als bestehe er ausschließlich aus zermalmten Organen, in denen Knochensplitter steckten. Millisekunden später stieß er mit Faro zusammen, biss sich auf die Zunge, schmeckte Blut, schluckte, spürte dank des Schleiers keinen Schmerz und hoffte, dass die Wirkung der Psyfrogs noch ein wenig anhielt, damit er von seinem Tod nichts mitbekam. Donnern schwappte gelangweilt hinter einem Deich. Aus irgendeinem Grund war Leop der Infostrauß, und fragte sich, ob es sich lohnte, noch eine Runde zu spielen. Er nahm seine Karten auf. Die erste war Herz As, die zweite Pik As, die dritte Karo As. Als er gerade die vierte ansehen wollte, gab es einen tödlichen Knall, und der Deich brach. Schade eigentlich.
50 Schildkröte
»In Buchholz ist eine Zwergenfabrik in Flammen aufgegangen und in Hamburg eine Vyrroc-Enklave«, zählte Rosa auf. »Ghetto«, brummte ihr Mann und ließ seine Augen zur Decke wandern. »Danach war das Bild weg, und die Hausmutter sagte, sie versucht, die Verbindung wiederherzustellen.« Rosas Gesicht wurde grau. »Mit einer so verzweifelten Stimme hat sie noch nie gesprochen.« »Einbildung.« »Aber sie hat es wieder und wieder gesagt!« Aniaa befummelte ihre verschmorten Haare und nahm einen tiefen Schluck heißen Tee. Das Gebräu schmeckte fürchterlich – kein Vergleich mit dem feinen Narbusch-Tee von Vyrroc, den Pschist-i und sie so oft gemeinsam genossen hatten. Unzufrieden zwang Aniaa sich zum Nachdenken und nahm sich vor, den Zustand ihrer Haare vorläufig außen vor zu lassen. Niemand schien willens oder in der Lage zu sein, etwas gegen den Hai zu unternehmen. Die Politiker wollten die Erde ihrem Schicksal überlassen. Eigentlich waren sie kein großer Verlust. Mit der Erde selbst sah die Sache anders aus. Vita war aus dem Zeltlager der Politiker vor Rostock spurlos verschwunden. Vielleicht war sie nicht weit gekommen, aber freiwillig wäre sie nicht in der Gegend geblieben. Aniaa hatte keine Ahnung, wo
sie Vita suchen sollte, deshalb war es umso katastrophaler, dass das Netz nicht mehr funktionierte. Jahrzehntelang waren alle Menschen über ihre Schnecke-Syms mit allen anderen verbunden gewesen. Jeder war selbstverständlich jederzeit erreichbar gewesen. Es kostete Aniaa Mühe, darüber nachzudenken, wie sie Vita finden konnte, ohne dass vor ihrem geistigen Auge automatisch ihre Schnecke erschien. Man musste verrückt sein, um nicht so zu denken. »Vielleicht ist das Netz nicht völlig ausgefallen«, murmelte Aniaa. Sie hob den Kopf. »Rosa? Gibt es hier in der Stadt jemanden, der sich gut mit dem Netz auskennt?« Die ältere Frau schüttelte langsam den Kopf. »Hm«, machte ihr Mann und sah versonnen zur Decke, an der Geckos scheinbar ziellos umher liefen, »Schildkröten-Ede.« »Schildkröten-Ede?«, fragte Aniaa. »Schlauer Bastelkopp isser.« »Ach was«, winkte Rosa ab. »Der ist doch verrückt.« Aniaa grinste. »Perfekt. Wo finde ich ihn?« Es stellte sich heraus, dass Ede auf einer alten Eisenbahnbrücke wohnte, die nicht weit entfernt lag. Aniaa kletterte mühevoll den Abhang zum alten Bahndamm hinauf, der sich durch die ganze Südstadt von Neumünster zog. Auf der Brücke lagen keine Gleise mehr, dafür wuchs dort ein Konglomerat aus Formsträuchern, um deren rote Beeren sich wilde Vögel und gezüchtete Syms zankten. Die Sträucher bildeten einen Vorhof und eine dahinter liegende Wohnhöhle. Als Aniaa einen schüchternen Blick hinein warf, tippte ihr plötzlich jemand von hinten gegen den Oberschenkel. »Besuch komma weiblich«, krächzte eine Stimme von unten.
Aniaa drehte sich langsam um. Auf dem Boden hinter ihr kauerte ein Männlein, das unzählige Schildkrötenpanzer auf dem Rücken trug. Funkelnde Augen fixierten sie aus einem ledrigen Gesicht. Aniaa fragte sich ernsthaft, ob es sich bei Ede um einen Menschen handelte oder um einen Haufen missratener Schildkröten-Syms. »Du … du bist Ede, oder?«, sagte Aniaa. »Kommst du zu mir runter Fragezeichen?«, krächzte das Wesen. »Ich möchte ungern Määännchen machen Punkt.« Ungelenk kniete Aniaa sich auf den torfigen Boden und befand sich damit ungefähr auf Augenhöhe mit Ede, der sie neugierig musterte. Sie hoffte, das Glänzen in seinen Augen war nicht die Wollust, für die sie es hielt. »Ich habe gehört, dass du dich mit dem Netz auskennst«, begann Aniaa tapfer. »Fäh«, spuckte Ede aus. »Primitive Technik aus dem letzten Jahrhundert Komma unsichere Verbindungen plus leicht zu überwachen oder abzuhören Punkt. Noch blöder sind nur die Politiker Komma weil sie diese Möglichkeiten nicht nutzen Punkt. Mit einer ordentlichen Geheimpolizei wäre das alles nicht passiert Punkt.« »Das mit dem Hai?«, runzelte Aniaa die Stirn. Edes Angewohnheit, Satzzeichen laut auszusprechen, brachte sie durcheinander. »Dummerchen Punkt. Das Netz Punkt. Man hätte es durch eine vernünftige Technik ersetzt Punkt.« »Durch welche denn?«, ging Aniaa auf ihn ein. Sie hoffte, auf diese Weise die Sympathie des SchildkrötenWesens zu gewinnen.
»Geht dich gar nichts an«, versetzte Ede. »Wann sagst du endlich Komma was du willst Fragezeichen. Dann kannst du verschwinden Punkt Punkt Punkt.« »Ich suche eine Freundin. Wir haben uns verloren, und ich muss sie unbedingt …« Sie schluckte. »Wiedersehen. Bevor …« »Ist das alles Fragezeichen?« Ede brachte einen sehnigen Arm zu Vorschein und wischte mit der Handfläche über einen seiner Panzer. Aniaa nickte. »Hast du ihren Code in deiner Schnecke gespeichert Fragezeichen?« »Ja«, nickte Aniaa, schüttelte dann aber traurig den Kopf. »Aber ich habe meine Schnecke verloren.« »Glückskind«, versetzte Ede rau, »erlöst von der veralteten Technik Punkt. Niemand kann dich finden Punkt. Aber wenn deine Freundin ihre Schnecke noch hat Pünktchenpünktchenpünktchen … ist sie hübsch Fragezeichen?« Aniaa zögerte einen Moment. »Ja. Ja, sie ist sehr hübsch.« »Natürlich ist sie das«, krächzte Ede. Langsam drehte er sich um und kroch von Aniaa weg. Neben einem Formstrauch, in dem mehrere Eidechsen saßen und sich sonnten, verharrte Ede. »Das Netz stellt keine Verbindungen mehr her Punkt«, sagte er. »Aber die meisten Zugangspunkte funktionieren noch Punkt. Wenn die Schnecke deiner Freundin lebt Komma können wir sie finden Punkt. Da du deine aber verlegt hast Pünktchen …« Er warf Aniaa einen latent frauenfeindlichen Blick zu, bevor er fortfuhr: »Muss ich erst ihren Code rausfinden Punkt. Ich hoffe Komma an den Namen plus Wohnort und Geburtsdatum deiner hübschen Freundin kannst du dich erinnern Fragezei-
chen?« Aniaas Augen leuchteten, als sie nickte.
51 Erwachen
Leop wachte auf und stellte fest, dass er noch lebte. Tote empfanden keine Schmerzen, oder? Erstaunt meldeten Leops Finger, dass er auf einem weichen Untergrund lag, der sich wie Sand anfühlte. Im Starbug gab es aber keinen Sand. Bestand der Magen des Hais aus Sand? Und wenn ja, warum enthielt er außerdem … Luft? Luft, die nach Meer roch? Leops Neugier war stärker als seine Schmerzen. Er versuchte, sich aufzurichten. Sein ganzer Körper protestierte, sein Kopf fiel nicht von seinem Hals. Staunen ist eine wichtige Reaktion des Geistes. Es leitet aus der Wahrnehmung unbekannter Parameter höchste Aufmerksamkeit ab. Je nach Assoziation ergibt sich daraus eine von zwei starken Gefühlsregungen: Angst oder Neugier. Manchmal beides gleichzeitig. Leop lag an einem Strand. Das schwarze Meer, das in sanften Wellen über den ockerfarbenen Sand rollte, bestand nicht aus Wasser, sondern aus gekrümmtem Raum. Der Horizont begann wenige Meter oder Kilometer vom Ufer entfernt und bestand aus Sternenhimmel. Der Himmel wurde eingerahmt von einer Reihe Zähne, die quer über das ganze Firmament reichten und offensichtlich dazu in der Lage waren, abgesehen vom Starbug auch Raum und Zeit zu zerteilen. Die graue Innenseite des Haimauls schien einen Lichtschein zu verbreiten, der die Szene
diffus beleuchtete: Den Strand, die Menschen, und den Weltraumkäfer. Myrion lag rücklings im Sand, wirkte wie eine kläglich verendete Schabe unter einem gigantischen Küchentisch, dessen Rand mit Zähnen besetzt war. Steeldogs und Zwerge waren in kaum glaubwürdiger Eintracht damit beschäftigt, Verletzte aus dem stark beschädigten Rumpf des Käfers zu tragen. Eine Anzahl Politiker und anderer Reisender lag um Leop herum am Strand und versuchte genau wie er, zu begreifen, was geschehen war. »Er hat uns gefressen«, sagte eine blonde Politikerin, die Leop noch nie gesehen hatte. »Er hat uns wirklich gefressen.« »Das habe ich gemerkt, Dr. Kala«, stöhnte ein Politiker, der neben der Frau hockte und aus einer Wunde an der Stirn blutete. »Haben Sie … haben Sie mitbekommen, was passiert ist?«, krächzte Leop. Dr. Kala griff nach der roten Brille, die in ihren Schoß lag und setzte sie auf. »Sie sind keiner von den Eisenkerlen«, sagte sie. »Gehören Sie zur Besatzung?« »Ja«, log Leop. »Ich bin für die Nervenknoten zuständig. Leop Üller ist mein Name. Ich meine … war. Ich war für die Nervenknoten zuständig.« »Ich bin Systemausschussvorsitzende Dr. Kala, und der gebrechliche Herr an meiner Seite ist mein Sekretär Dr. Kinsel.« »Gebrechlich?«, fragte Kinsel unzufrieden. »Angenehm«, brachte Leop hervor und ließ erneut den Blick über den Strand schweifen. Nicht weit entfernt bewachte ein Trupp grimmiger Steeldogs eine kleine Gruppe Politiker. Ein
paar Zwerge leisteten Verletzten Erste Hilfe. Einige Steeldogs platschten unschlüssig an der Wasserkante auf und ab. Faro war nirgendwo zu sehen. »Netter Strandurlaub, was?«, rief Dr. Kinsel den Steeldogs zu, aber die ignorierten ihn. »Wir waren im Rumpf des Käfers eingesperrt und haben überhaupt nichts gesehen«, sagte Dr. Kala. »Und Sie?« Sie sah Leop erwartungsvoll an. Der zuckte mit den Schultern. »Nicht viel. Ich war im Observatorium. Ich habe gesehen, wie die Steeldogs aus allen Rohren geschossen haben. Ohne Wirkung.« Er starrte nach oben, dann beschrieb er einen Bogen mit dem Zeigefinger. »Ich denke, wir sind gegen einen Zahn gestoßen und dann abgestürzt.« Frustriert schüttelte er den Kopf. »Wir haben den Hai nicht aufhalten können. Dass das mit Gewalt nicht funktioniert, war zu erwarten. Ein Ding wie das hier fliegt nicht durch die Galaxis, um sich von ein paar Boden-Luft-Raketen aufhalten zu lassen.« »Ich kann es immer noch nicht glauben«, murmelte Dr. Kala. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen und starrte die gigantische Zahnreihe am Himmel an. Es war unmöglich zu schätzen, wie weit sie entfernt war. »Du hast noch nie viel für die Realität übrig gehabt«, versetzte Dr. Kinsel. »Was geschieht wohl als nächstes?«, fragte Dr. Kala. »Was schon?«, entgegnete Kinsel. »Der Hai klappt das Maul zu und schluckt uns runter.« »Das wäre schon geschehen, wenn …« Leop zögerte. Zum ersten Mal hatte er die Kraft aufgebracht, nach hinten zu schauen, wo sich an einem irdischen Strand Palmen, Promenade,
Bars und Hotels befinden würden. »… er einen Rachen hätte. Stattdessen sind da … Blasen?«, fragte Leop. Dr. Kala folgte seinem Blick. »Sehen Sie nicht hin«, empfahl sie. »Schlecht für die Psyche. Schauen Sie sich lieber die Zähne an. Oder das Meer. Hübsche kleine Wellen, oder?« Kala kicherte und fing an, ihre Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Leop sah zu, wie ihre Zehen mit dem Sand spielten. Ein angenehm normaler Anblick. Er riss sich los, drehte seinen schmerzenden Körper und sah wieder zu den Blasen, landeinwärts. Wie Seifenschaum, nur größer, viel größer. Ein halbes Dutzend glitzernder, konvexer Glasblasen reihte sich ohne Ordnung aneinander, reichte quer durch das Maul des Hais und begrenzte den Strand nach hinten. »Was ist das nur?«, entfuhr es Leop. Er massierte sich die Nierengegend, zog sein Hemd aus der Hose und verzog das Gesicht, als er eine riesige, blaurote Verfärbung vorfand. »Sieht gut aus«, konstatierte Dr. Kinsel. »Ja, hübsch, nicht?«, sagte Dr. Kala und meinte offenbar ihre Zehen. Kinsel schüttelte den Kopf. Eines war Leop klar: Diese Politiker waren keine große Hilfe. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihnen zu beschäftigen. Im Grunde waren sie immer noch Gefangene der Steeldogs, und selbst wenn sie das nicht gewesen wären, wären sie nicht dazu in der Lage gewesen, das weitere Vorgehen vernünftig zu planen. Leop wog seine Möglichkeiten ab. Das Meer war nicht viel mehr als die Grenze zum Vakuum. Keine Ahnung, warum es wie Wasser roch – vielleicht eine Illusion. Der Strand endete vermutlich in beiden Richtungen seitlich innen am Maul des
Hais; bestenfalls gab es dort die riesigen Zähne aus der Nähe zu begutachten. Wirklich interessant waren die Blasen. Es war unmöglich zu sehen, was sich hinter den flirrenden, glänzenden Wänden befand. Der Hai hatte dort etwas zu verbergen. Mühevoll kam Leop auf die Beine. »Was haben Sie vor, Mann?«, zischte Dr. Kinsel. »Wollen Sie Ärger mit den Hunden riskieren?« »Das ist kein Risiko«, versetzte Leop und warf einen verächtlichen Blick auf Kinsel hinab. »Nicht im Schlund eines Hais.« »Der Sand ist wirklich warm«, sagte Dr. Kala. »Versuchen Sie es auch!« »Nein danke«, murrte Kinsel. »Meine Strümpfe riechen sicher nicht gut.« »Ach was«, fiel Madame Dr. Kala über ihn her und versuchte, ihm die Schuhe auszuziehen. »Neiiin! Hilfe! So helfen Sie mir doch! Lassen Sie! Ich bitte Sie! Hilfeee!« Leop entfernte sich ein paar Schritte. Als zwei Steeldogs auf die balgenden Politiker aufmerksam wurden, war Leop nicht mehr in der Nähe. Ohne Eile marschierte er den Strand hinauf. Langsam näherte er sich den Blasen. Er spiegelte sich darin, sah filigrane Wellen über die Flächen ziehen. Plötzlich ein Ruf hinter seinem Rücken. Jemand hatte ihn gesehen. Leop bückte sich und füllte seine Hand mit Sand. Er warf ihn ohne viel Kraft gegen die glitzernde Oberfläche. Der Sand verschwand. Etwas in der Art hatte er erwartet.
»He! Du da, zurück zu den anderen! Halt, oder ich schieße!« Die Stimme näherte sich. Leop hielt die Luft an und machte einen schnellen Schritt vorwärts.
52 Kreise
Aric hatte noch keine Zeit gehabt, den Strand zu begutachten. Unmittelbar nach der Bruchlandung des Käfers hatte ihn der Feldwebel so lange angeschrien, bis er anderen Steeldogs dabei geholfen hatte, Kisten mit Essfisch nach draußen zu tragen. Einfach war das nicht gewesen, weil der Käfer schräg im Sand lag, und demzufolge in keinem Gang unten unten war. Mit offenem Mund stand Aric an der Wasserkante und fragte sich, warum sie so unecht aussah. Es gab keine Muscheln, wie an der Nordsee in der Nähe von Amsterdam 2.0, aber Aric hatte gehört, dass es durchaus Gegenden auf der Erde gab, wo keine Muscheln lebten. Andererseits befand Aric sich nicht mehr auf der Erde, ob das aber als Begründung für die Abwesenheit der Muscheln genügte, vermochte er nicht mit Sicherheit zu sagen. Seine Verwirrung wuchs, als er darüber nachdachte, dass ein Hai sich normalerweise in einem Meer befand und nicht umgekehrt. Unschlüssig bückte Aric sich, um sich Schmutz und Blut – glücklicherweise nicht sein eigenes – von den Händen zu waschen. Als er die Wasseroberfläche berührte, zuckte seine Hand sofort zurück – das Wasser fühlte sich keineswegs nass an, vielmehr schien es aus Glas zu bestehen, dass zwar flüssig war, aber doch kalt und hart und undurchdringlich. Probeweise trat er mit dem linken Stiefel ins Wasser, woraufhin dessen Oberflä-
che nachgab wie eine dünne Eisschicht. Aric entfuhr ein Ächzen, als sein Fuß tief einsank, obwohl das Wasser nur einen Fingerbreit über dem Sandstrand schwappte. Eilig zog er den Fuß hoch, hüpfte weg vom falschen Wasser. Nach einem letzten, verständnislosen Blick auf die sanften Wellen und den sternenübersäten Horizont richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Treiben am Strand. Ein Dutzend Steeldogs bewachte eine kleine Gruppe Politiker, unter denen sich auch die Kaiserin befand. Weitere Politiker und Privilegierte saßen oder standen im Sand und schienen die Situation genausowenig zu begreifen wie Aric. Der Eisengeneral stand mit dem Feldwebel und zwei anderen Unteroffizieren in der Nähe des Stapels mit den Nahrungmittel-Kisten und war in eine Beratung vertieft. Jenseits des Strandes befanden sich rundliche Glaswände. Aric mochte solche Spiegel: Sie verzerrten die eigene Figur, ließen sie dicker oder dünner, länger oder kürzer erscheinen. Er ging geradeaus auf die Spiegelwand zu. Auf halbem Weg schallte der »Antreten«-Befehl des Feldwebels über den Strand. Aric blieb unschlüssig stehen. Einerseits wäre er gerne zu den Spiegeln gegangen, andererseits war er eindeutig ein Steeldog, allein schon die Uniform ließ daran keinen Zweifel. Er bezweifelte, dass es seine Gesamtsituation verbessern würde, wenn er sie ausziehen würde. Also lief er wie seine Kameraden durch den ockerfarbenen Sand zum Feldwebel, wo bereits einige Steeldogs in drei Reihen Aufstellung bezogen hatten. Er hinkte immer noch ein wenig; sein Fuß war nach wie vor lädiert, und auch seine restlichen Körperteile schmerzten.
»Stillgestanden!«, brüllte der Feldwebel. Ruhe kehrte ein, und selbst die verletzten Steeldogs bissen die Zähne zusammen und standen regungslos. Eisengeneral Karsch baute sich neben dem Feldwebel auf und strich sich über die schwarze Uniform. »Rühren«, sagte er. Er ließ einen Moment verstreichen, dann erhob er die Stimme: »Männer! Der Angreifer konnte noch nicht vernichtet werden, stattdessen hat er uns die Zunge rausgestreckt. Da die Politik keine Lösung anbieten kann, kümmern wir uns weiterhin alleine um die Angelegenheit und lassen die nutzlosen Pinguine hier zurück. Kaiserin Tiga wird uns jedoch als Geisel begleiten. Wir dringen zum Herz oder Hirn dieses Wesens vor und werden es von innen zerstören. Lasst uns unseren Stahl in den Lebensnerv des Hais stoßen! Lasst ihn uns vernichten, die Erde retten! Seid ihr Helden oder Hunde?« »Hunde!«, schrien alle Steeldogs bis auf Aric, der das Ritual nicht kannte. Ein Kamerad rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. »Feldwebel«, sagte Karsch, »fertigmachen zum Abmarsch.« »Jawoll, Herr General.« Der Feldwebel teilte Gruppen ein, die einen Teil der Nahrungmittelkisten zu schleppen hatten. Andere trugen Raketenwerfer und Maschinengewehre. Aric hob mit einem Kameraden namens Grohl eine schwere Kiste an, während er neidisch dabei zusah, wie andere, im Gegensatz zu ihm bewaffnete Steeldogs die Kaiserin in die Mitte nahmen. »Männer«, rief der Feldwebel und zeigte Richtung Meer, »die Erde befindet sich auf 12 Uhr. Wir marschieren genau entgegengesetzt, Richtung sechs Uhr. Wir durchdringen die Spiegel-
wand und orientieren uns dann neu. Vorwärts, Marsch!« Der Trupp setzte sich in Bewegung. Feldwebel und General stapften seitlich vorneweg durch den Sand, daneben neun Männer mit Gewehren. Dahinter folgte die Kaiserin mit ihren Bewachern. Die Träger bildeten den Schluss. Aric wagte einen kurzen Blick nach hinten: Die meisten Politiker hatten sich zu ihnen herum gedreht, einige applaudierten höhnisch. Viele saßen apathisch im Sand, einige lagen bewegungslos und wurden mechanisch von Sicherheitszwergen versorgt. Zügig näherten sich die Steeldogs der Spiegelwand. Der Feldwebel hielt die Gruppe an, dann ließ er drei Kameraden vortreten. Aric hörte die lautstarken Befehle auch am hinteren Ende des Zuges. »Auf drei schlagt ihr den Spiegel ein«, befahl der Feldwebel den Männern, die mit erhobenen Gewehrkolben vor der Wand Aufstellung bezogen. Aric fragte sich, was für ein Gefühl es war, einer in die Breite gezogenen Kopie von sich selbst den Gewehrkolben in den Wamst zu rammen, und nichts dabei zu spüren. Er musste bei dem Gedanken grinsen und reckte den Hals, um besser sehen zu können. »Eins … zwei … drei!«, zählte der Feldwebel, und die Steeldogs schlugen zu. Ihre Waffen drangen durch den Spiegel wie durch Luft. Einer der Kameraden verlor das Gleichgewicht, fiel hin und verschwand mit dem Oberkörper hinter der vermeintlichen Wand. Erstaunte Ausrufe entfuhren den Steeldogs, und einige sahen ziemlich verdattert drein. »Umso besser«, urteilte der General. »Vorwärts, Feldwebel!« »Jawohl. Männer, wir marschieren ohne Form weiter. Hinter
dem Spiegel sammeln wir uns. Marsch!« Der Feldwebel zeigte mit seiner erhobenen Maschinenpistole nach vorn und wartete, bis die ersten Reihen Steeldogs hinter der Wand verschwunden waren. Dann schüttelte er den Kopf und trat selbst hindurch. Aric klopfte das Herz, als er sich mit Kamerad Grohl und ihrer Kiste der Wand näherte. Die beiden Träger vor ihnen verschwanden, wie in einem dieser komischen Filme im Web3D, die Aric nie so ganz verstand. Er fing Grohls entschlossenen Blick auf, streckte seinem eigenen, verzerrten Spiegelbild die Zunge raus. Dann waren sie durch. Einen Meter hinter dem Spiegel folgte noch einer. Millionen verzerrte Arics sprangen zwischen den gekrümmten Flächen hin und her, verursachten ihm Schwindel, wenn er länger hinsah. Der Feldwebel stand im Zwischenraum und winkte Aric und Grohl weiter. Hinter der zweiten Spiegelwand standen die anderen Steeldogs und begafften einen blauen Himmel, antike Tempel aus weißem Marmor, sowie ein Rudel aufrecht gehende, in graue Tücher gehüllte Hunde, die die Neuankömmlinge begrüßten, indem sie in roten Bauchläden eifrig mit silbernen Ringen spielten.
53 Tripods
Leop ließ sich seitlich auf den Boden fallen, für den Fall, dass der Steeldog ihm eine Kugel hinterher schickte. Einen Moment lang sah er ein Panoptikum von Fratzen, die seinem eigenen Gesicht verdammt ähnlich sahen. Dann robbte er vorwärts, durchdrang eine zweite Seifenblasenoberfläche, in der Hoffnung, dass danach keine dritte folgte. Das war nicht der Fall. Der Geruch von warmem Kuchen drang in Leops Nase. Graublauer Schleim klebte vor ihm auf dem Boden. Leop schüttelte sich, rappelte sich hoch. Er schwankte, weil er sich plötzlich leicht fühlte, als befände er sich in einem Luftfisch, der zum Landeanflug ansetzt. Ein, zwei Schritte weiter hielt Leop sich an einem Holzpfahl fest. Er befand sich auf einer Anhöhe, die ihm einen grandiosen Ausblick erlaubte. Unermesslich weit erstreckte sich vor ihm eine Landschaft, in der zarte, schlanke Bäume in einen grauen Himmel wuchsen. Dazwischen standen, in einiger Entfernung, einzelne Pyramiden aus grauem Stein, die deutlich höher waren als breit. Grabmäler oder Wohnhäuser? Raketenstartrampen oder Tempel? Gewächse oder Fördertürme? Leop musste sich mit Gewalt daran erinnern, dass er sich im Inneren eines Weltraumhais befand, der den Starbug verschlungen hatte und drauf und dran war, mit der Erde dasselbe
zu machen – wie auch immer er das anstellen wollte, da er deutlich kleiner als ein Planet war. Leop sah an dem Pfahl hoch, an dem er sich festhielt. Weiter oben hatte jemand eine mit schlanken Zeichen beschriftete Platte befestigt. Leop sah über die Schulter nach hinten, wo die silbrige Spiegelwand das Sichtfeld füllte. Vielleicht sollte das Schild davor warnen, die Wand unbedacht zu durchschreiten. »Sie verlassen den Sektor verringerter Schwerkraft«, mochte darauf stehen. Leop war sicher, dass Wesen, die durch die Wand nach außen liefen, dort mehr wogen, als sie gewohnt waren. Ihm selbst bereitete die umgekehrte Umstellung wenig Probleme. Leop versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er hatte eine künstliche Spiegelwand durchschritten und befand sich jetzt in einem Sektor, der rein geometrisch überhaupt nicht in den Hai passte. Geschweige denn gemeinsam mit jenen Gegenden, die sich mutmaßlich hinter den anderen Blasen befanden, die vom Strand aus sichtbar waren. Der Hai hatte Geschosse in Raumspalten verschwinden lassen, seine Zähne schienen den Raum zerschneiden zu können. Kaum verwunderlich, dass er selbst eine Vielzahl von Raumblasen enthielt, die ein größeres Volumen besaßen als er selbst. »Was ist dieser Hai bloß?«, entfuhr es Leop. Er schüttelte den Kopf. Er würde es nicht herausfinden, wenn er sich an einem Schild festhielt. Außerdem brauchte er früher oder später etwas zu trinken und zu essen. Er würde zum Strand zurückkehren müssen, denn er konnte kaum hoffen, hier etwas zu finden, das für ihn gefahrlos genießbar war. Er sollte seine Zeit nutzen und sich auf den Weg machen. Vorher allerdings ging er noch
einmal zur Spiegelwand zurück und erleichterte seine Blase. Der Urinstrahl durchdrang den Übergang lautlos. Leop musste grinsen, als er sich den Anblick vergegenwärtigte, den sein Tun von der anderen Seite aus bieten musste. Er richtete seine schmutzige Kleidung, dann schritt er leichtfüßig das sanfte Gefälle hinab. Am Fuß eines der Bäume blieb er stehen, um die graue Rinde zu betasten. Enttäuscht musste er feststellen, dass sie sich in keiner Weise ungewöhnlich anfühlte. Plötzlich eine Bewegung. Leop fuhr herum, sein Herz schlug heftig. Adrenalinausstoß. Wo Bäume waren, waren auch andere Lebewesen. Fremdartige Bäume – fremdartige Lebewesen. Eine Gestalt verharrte neben dem nächsten Baum. Leop versuchte, sein Gehirn dazu zu überreden, das Wesen als solches wahrzunehmen. Es wirkte wie eine in einen gelben Sari gehüllte Gottesanbeterin, allerdings ohne Facettenaugen und beängstigende Kieferwerkzeuge. Der dürre Körper stand auf drei hohen Beinen, besaß drei Arme mit je drei Gelenken und endete in einem vorspringenden Schnabel, auf dem eine Antenne prangte, die leicht hin und her schwang, als suche sie die Position für den besten Empfang. Leop schluckte, als das Wesen sich in Bewegung setzte und näher kam. In einigen Schritten Entfernung verharrte es erneut. »Guten Tag«, entschloss sich Leop zu sagen. Er hoffte, dass seine Stimme für das Wesen so freundlich klang, wie er die Worte gemeint hatte. Der Dreibeiner quiekte mehrfach und hüpfte dabei leicht auf und ab. »Was gibt es da zu lachen?«, fragte Leop. Es beruhigte ihn, seine eigene Stimme zu hören – wenigstens etwas bekanntes in
all der Fremdartigkeit. »Sie kennen auch görne lachen«, sagte das Wesen und quiekte erneut. Leop klappte den Mund auf. »Das ist unmöglich. Du …« Ihm fiel auf, dass der Fremde ihn gesiezt hatte, daher korrigierte er sich: »Woher können Sie Deutsch?« »Kommö Sie«, entgegnete das Wesen einfach und winkte mit dem rechten Arm. Dann lief es los, in Richtung der nächsten Pyramide. Leop folgte und konnte den Blick nicht von den drei Beinen abwenden, die in einem angeborenen Walzerschritt den Boden zu streicheln schienen. »Sie sind nöcht der irste Zweiboiner Ihrer Art. Der hier ankommöt«, sagte das Wesen. »Sie werd mein Name önteressiere, ör lautet Dakstan.« »Mein Name lautet Leop.« »Bitteschen«, sagte Dakstan. Er verdrehte seine Antenne, deren oberes Ende bei genauem Hinsehen in eine Art Auge zu münden schien. Es schien sowohl eine eingeschränkte Rundumsicht zu ermöglichen als auch dreidimensionale Wahrnehmung, indem die Antenne hin und her schwang. Die Pyramide, der sie sich näherten, erwies sich als Wohngebäude. An der Seite gab es einen schmalen Eingang, der in das Sockelgeschoss des Bauwerks führte. Feine, geschnitzte Muster, an denen Leops Auge sich nicht festhalten konnte, bedeckten die Baumstämme, die offenbar das Gerüst der Pyramide bildeten. Das Gewimmel der Dreibeiner, die sich in dem Gemeinschaftsraum aufhielten, erinnerte an einen Termitenhaufen, als Dakstan mit Leop eintrat und einige unverständliche Worte krächzte. Leops Blick fand keine Verankerung an dem fremdar-
tigen Rauminhalt; daher blieb er an dem einzigen Ding hängen, das ihm vertraut war: Einem Menschen. Einem dicklichen, mit kunstvollem Musterbart geschmückten Privilegierten, der in der Mitte auf einem hohen Stuhl saß, als hätte er göttliche Macht über die dreibeinigen Ureinwohner. »Ein Mensch!«, rief der Mann und grinste übers ganze Gesicht – sein Kunstbart verwandelte seine Mimik in ein lebendiges Wesen. Leop trat näher und ergriff die Hand, die der Mann ihm hinhielt. »Guten Tag … Leop ist mein Name.« »Kortov. Ich bin Milliardär.« »Ich nicht. Wie kommen Sie hierher?«, fragte Leop. »Privatraumschiff. Früher war ich Billionär. Jetzt nicht mehr. Har. Wir müssen feiern.« Leop beäugte die saubere Kleidung des Milliardärs misstrauisch. »Sie sind geradewegs dem Hai in den Schlund geflogen?« »Haben Sie was anderes gemacht?« »Ich hatte zumindest etwas anderes vor.« »Ach was, feiern wir erstmal. Sie müssen das hiesige PsyfrogAnalogon probieren. Die Viecher schmecken etwas torfig, aber sie wirken auf den Geist wie Zinsen.« Kortov hielt Leop einen roten, verdrillten Tannenzapfen hin. »Zinsen?«, fragte Leop, während er nach dem Zapfen griff und ihn von allen Seiten anschaute. »Herr Kortov ist erstös Elömänt der Vereinigung«, mischte sich Dakstan ein. Leop zeigte auf den Dreibeiner. »Woher kann der so gut Deutsch?« »Ich hatte ein Lernhörnchen mit einem Sprachkurs dabei«,
entgegnete Kortov aufgeräumt. »Die Harnok lernen schnell.« »Harnok?«, fragte Leop verzweifelt. Er hatte den Eindruck, dass pro Zeiteinheit mehr Fragen aufkamen als beantwortet werden konnten. »So nennen sich die Dreibeiner. Ihre Bäume und Pyramiden bezeichnen sie leider mit demselben Begriff, das irritiert anfangs etwas. Ich denke, es ist eine Frage der Betonung der Vokale.« Kortov lutschte ein wenig an einem Tannenzapfen. Leop kam nicht umhin, das obszön zu finden. Er versuchte, zielgerichtet zu denken, aber das lebendige Gewusel um ihn herum lenkte ihn zu sehr ab. Er kniff die Augen zu, bis bunte Blitze durch sein Sichtfeld schossen. Schließlich fasste er einen Entschluss. »Kortov«, sagte er, während ein zweiter Harnok anfing, Dakstan mit Grashalmen zu füttern. »Der Hai wird die Erde vernichten, wenn wir nichts unternehmen.« Der Milliardär betastete seinen Kunstbart, war offenbar unzufrieden und griff hinter sich, wo er einen voluminösen Rucksack abgestellt hatte. »Wissen Sie«, sagte er, »ich denke nicht, dass wir daran etwas ändern … ah, da ist er ja.« Kortov hielt einen Rasierfisch in der Hand und hielt ihn sich an die Wange. Das Biotool begann augenblicklich, geometrische Muster herzustellen, indem er selektiv Barthaare fraß. Die Harnok begannen zu hüpfen und zu quieken. Sie lachten, verstand Leop mit einem Mal. Sie lachten über den breiten Menschen, der sich Muster in den Bart fressen ließ und ihre Tannenzapfen konsumierte. Leop schüttelte langsam den Kopf. »Warum können wir nichts daran ändern?«, nahm er den Faden wieder auf. »Junger Mann«, entgegnete Kortov mit hoch erhobenem Kinn, »ich habe nichts von können gesagt. Wir sollten nichts
dagegen tun.« »Wie … wie bitte?«, fragte Leop. »Es ist schwer zu erklären«, meinte Kortov. »Aber es ist schon in Ordnung, was der Hai tut.« Er grinste, als er Leops fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte und zeigte nach unten. »Wie gesagt, es ist schwer zu erklären. Sie sollten eine der Schnecken fragen.«
54 Tiga
Aric sah aus einigen Metern Entfernung dabei zu, wie der General auf die hundehaften Priester einredete, mit dem Erfolg, dass jene energisch in ihren Bauchläden spielten. »Mangelnde extraterrestrische Kommmunikationsexpertise«, flüsterte Grohl. »Ahso?«, machte Aric, weil er nicht wusste, wovon Grohl redete. »Vermutlich können sie nicht sprechen«, erklärte der Steeldog. »Wachhunde können das«, sagte Aric. Grohl schüttelte den Kopf. Wortlos fuhr er fort, an einem Grashalm zu knabbern, den er ausgerupft hatte. Aric blinzelte zum Himmel hinauf. Die Sonne steckte hinter einer grauen Wolke, was die Temperatur erträglich machte. Aric glaubte nicht, dass er sich noch in dem Hai befand. Er wusste nicht viel über Haie, geschweige denn Weltraumhaie, aber er war sicher: Es sollten sich keine antiken Tempel mit hundeförmigen Priestern darin befinden. Auf irgendeine Weise hatte der Spiegel alle Steeldogs auf einen anderen Planeten transportiert. Es war weder die Erde noch Vyrroc, und von anderen hatte Aric noch nie gehört. Aber warum sollte es nicht noch weitere geben? Wer das bezweifelte, konnte nur ein außergewöhnlich dummer Mensch sein, fand Aric.
Er setzte sich auf einen grauen Felsen, um seinen lädierten Fuß zu entlasten. Dann trank er einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und sah zur spiegelnden Wand zurück. Sie schien sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken. Ihr oberes Ende war nicht zu erkennen, aber es musste eines geben, weil Himmel und Wolken ungehindert Richtung 12 Uhr drifteten, ohne sich zu spiegeln. »Aaaantreten!«, schrie der Feldwebel und unterbrach Arics Überlegungen. Mit erkennbarer Müdigkeit nahmen die Steeldogs Formation ein. Der General stülpte sich seinen Stahlhelm über den blanken Schädel und wartete mit hinter dem Rücken verschränkten Armen, bis der Feldwebel die Gruppe stillstehen ließ. Arics Blick fiel auf die Hundepriester, die ein Stück abseits standen. Sie sahen herüber, aber ihre Gesichter verrieten keine Regung. »Männer!«, begann der General. »Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain und sind auf eine fremde Rasse gestoßen, die unsere Sprache nicht versteht. Wir wissen nicht, ob die Einheimischen uns Hinweise geben können, wie der Hai vernichtet werden kann. Ich habe daher entschieden, dass ein Trupp von sechs Mann zum Strand zurück geht und einen Politiker herbeischafft, der sich für schlau genug hält, mit den Hunden zu reden. Außerdem wird ein Spähtrupp weiter Richtung 6 Uhr vordringen, um die Gegend aufzuklären. Der Rest kann von mir aus ausruhen.« Einige Steeldogs flüsterten erleichtert. »Freiwillige für die Spähtrupps vortreten!«, rief der Feldwebel. Aric duckte sich. Erleichtert stellte er fest, dass sich genug
Kameraden für die Mission fanden. »Der Rest durchzählen von eins bis vier«, befahl der Feldwebel. »Jeder tritt entsprechend zur Wache an.« Arics Zahl war eine Zwei. Es lohnte sich nicht, während der ersten Wache zu schlafen, also setzte er sich auf seinen Felsen, vertilgte eine Portion salzigen Essfisch und beobachtete das Geschehen, aber es gab nicht viel interessantes zu sehen. Der General hatte es aufgegeben, mit den Einheimischen sprechen zu wollen, und die Hundepriester hielten Abstand zum Lager der Steeldogs. Einige der Wesen liefen zum nächstgelegenen Tempel und kehrten etwas später zurück. Vielleicht waren es auch andere Exemplare, Aric vermochte sie nicht voneinander zu unterscheiden. Möglicherweise boten die verschlungenen Ringmuster auf ihren Umhängen Anhaltspunkte, aber Aric hatte keine Lust, sich damit näher auseinanderzusetzen. Während es langsam dunkel wurde, bauten einige Kameraden Zelte auf und beschallten das Lager mit krächzender Musik aus Plastik-Konserven. Plötzlich setzte Unruhe ein. Aric konnte wegen der Dämmerung nicht viel erkennen, deshalb ging er zu dem Platz zwischen den drei großen Zelten, wo man mehrere Lampen aufgestellt hatte. Im gelblichen Lichtschein erkannte Aric seinen Kameraden Grohl. »Was ist passiert?«, fragte er. Grohl zeigte mit dem Kinn Richtung Spiegelwand. »Der Trupp, der zum Strand sollte, ist schon wieder da.« »Es ist ja auch nicht allzu weit«, sagte Aric. »Aber sie haben den Strand nicht gefunden.« »Verstehe ich nicht.«
»Ausnahmsweise bist du damit nicht der einzige«, versetzte Grohl. »Der Strand war nicht mehr da. Da war eine schneebedeckte Tundra.« Verständnislos sah Aric Richtung 12 Uhr, aber er konnte im Dunkeln nicht einmal den Spiegel sehen. »Eine Tundra?« »Ja. Sie haben noch eine Weile gesucht, aber da war nur Schnee, kein Sand, kein Starbug und keine Politiker. Dann wurde ihnen kalt und sie kamen zurück.« Jemand tippte Aric auf die Schulter. Er fuhr herum. »Du«, sagte ein Steeldog mit Bartzopf. »Zweite Wache, 'kay?« »Ich … äh, ja.« »Dann übernimm die Position vom Gefreiten Ullborg.« Der Kerl zeigte zu einer Personengruppe, die etwas abseits bei ein paar von Sträuchern überwucherten Felsen stand. »Ullbock?«, fragte Aric. »So ungefähr«, grinste der Bärtige. »Los jetzt.« Aric zögerte. »Jawohl«, murmelte er dann, hielt die Hand an die Stirn, wie er es von den anderen Steeldogs abgeschaut hatte, und machte sich auf den Weg. Drei Steeldogs standen neben den Felsen und sahen ihm ungeduldig entgegen. »Wurde auch Zeit«, murrte einer. »Ich soll den Gefreiten Ullbock ablösen«, sagte Aric. Zwei der Steeldogs kicherten, der dritte winkte nur ab, murmelte etwas in einer Sprache, die Aric nicht kannte, und verschwand. »Wie heißt du?« »Ekloppos«, nannte Aric seinen Nachnamen, wie es unter den Steeldogs üblich war. »Und ihr?«, setzte er schnell hinzu. »Herrak«, sagte der größere der Kameraden.
»Jeckel«, stellte sich der andere vor. »Und was machen wir hier?«, fragte Aric die beiden zurückgebliebenen Kameraden. »Na was schon«, blaffte Herrak und zeigte nach unten. »Wir bewachen die Kaiserin.« Aric machte den Mund auf. An einem der Felsen lehnte Tiga. Sie war mit mehreren Schnüren ans Gestrüpp gefesselt, trug lediglich Unterwäsche und schien zu schlafen. »Tiga«, entfuhr es Aric. »Findest du sie auch so geil?«, sabberte Jeckel. Aric ächzte. Herrak schlug ihm auf die Schulter. »Klar findet er sie geil. Tun wir alle.« Jeckel kicherte. »Was meinste, machen wir sie nackig?« »Hat der Feldwebel verboten«, murrte Herrak. »Spielverderber, der. Nur im Auge behalten sollen wir sie.« »Bah«, machte Jeckel. Sie setzten sich im Halbkreis um die Kaiserin hin und sahen sie schweigend an. Ihr Kopf lag seitlich auf dem Felsen. Einige ihrer langen, blonden Haaren hatten sich im Gestrüpp verfangen. Ihr Gesicht schien friedlich zu lächeln, und ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem langsamen Rhythmus. Aric fühlte sich wohl und genoss die Sekunden, die sich unbemerkt zu Minuten summierten. »Geile Tittchen, wat?«, hauchte Jeckel eine Weile später. »Und erst der Arsch!« Er beugte sich langsam vor, in der Dunkelheit kaum erkennbar. »Uuh«, machte Jeckel. »Mann.« Er atmete schwer, dann schien er zu einem Entschluss zu kommen. »Ich geh jetzt da mal gemütlich hintern Busch«, flüsterte er.
Aric brauchte einen Moment, bis er begriff. Da war Jeckel schon außer Sichtweite. Er horchte, aber er hörte nichts. Er sah zu Herrak, dessen Kopf auf seiner Brust ruhte. »Hallo?«, sagte Aric. Jemand bewegte sich, aber er konnte nicht sagen, wer. Aric fing an zu schwitzen. Er tastete nach der Seitentasche seiner Hose und versuchte, dabei kein Geräusch zu machen. Er erinnerte sich an einen alten Film. Genaugenommen kam dieselbe Szene in vielen alten Filmen vor. Der Held zog geschickt ein Messer hervor. Dann schlich er zu der Gefangenen. Es war von größter Wichtigkeit, ihr vorsichtig eine Hand auf den Mund zu legen, damit sie nicht vor Schreck das ganze Lager weckte. Der Held flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr, an die Aric sich allerdings nicht erinnerte. »Ganz ruhig«, kam der Sache vermutlich ziemlich nahe. Jegliches Zittern der Hände musste unterdrückt werden. Helden schafften das immer, indem sie tief Luft holten. Aric fand, das könnte etwas zu laut sein und ließ es bleiben. Dann horchte der Held noch einmal, meinte, ein fernes Geräusch zu hören, vielleicht ein Stöhnen, vielleicht war es auch nur der Wind, der um heruntergelassene Hosen strich. Die Klinge durchschnitt die Schnüre, machte dabei Geräusche, die Aric aus den Filmen weniger laut in Erinnerung hatte. Niemand würde es je beweisen können, aber in solchen Situationen ging die innere Uhr anders. Jeckel würde behaupten, niemals länger als eine Minute zum Pinkeln zu brauchen. Herrak würde beschwören, höchstens für eine Sekunde eingeschlafen zu sein. Und Aric war absolut sicher, erst mit der letzten Schnur fertig zu werden, wenn das große THE END
eingeblendet wurde. Eine scheinbare Ewigkeit später schlich, lief, rannte Aric mit der Kaiserin an der Hand durch die Nacht geradewegs auf die Spiegelwand zu. Noch zehn Schritte, sechs, drei … ein Geräusch von hinten … dann sahen sie ihre schemenhaften Spiegelbildern in die Augen. Ohne zu zögern, sprangen sie hindurch, verharrten in der schmalen Zwischenwelt, in der Tigas nackte Haut in einem unerklärlichen Sturm von Spiegelbildern das ganze Universum umfloss. Hier war es aus irgendeinem Grund nicht dunkel, dafür ungemein windig, und die Blicke von Aric und der Kaiserin kreuzten sich zum ersten Mal. Regen peitschte in Böen aus der Spiegelwand gegenüber, hinter der Aric die Tundra wusste. »Reden können wir später«, hauchte der ungemein attraktive Held, dann zog er die Gerettete den Weg zwischen den Spiegeln entlang. Sie hinterließen Spuren im Matsch, von Stiefeln und nackten Füßen. Aric zog Tiga den schmalen Weg entlang, wurde erst Minuten später langsamer, als er merkte, dass die Kaiserin nicht mehr konnte. Er sah zurück, aber der Weg war leicht gekrümmt, so dass er den Blick von den wabernden Spiegelungen abwenden musste. »Weiter«, entschied Aric. Die Kaiserin gehorchte. Sie mussten nicht mehr weit laufen. Sie erreichten einen dreieckigen Platz, der Weg teilte sich. Auch vor ihnen erhob sich eine Spiegelwand, vor der grauer Sand lag. »Halt noch etwas durch«, sagte der Held, entschied sich für den linken Weg. An der nächsten Dreieckskreuzung ging auch Aric die Luft aus. Es regnete nicht mehr, der Boden war trocken. Wind hatte
Laub auf den Platz zwischen drei Spiegeln geweht. Im Sand wuchsen sogar einzelne Grashalme. Aric ergriff Tigas Hand, dann steckte er ruckartig den Kopf durch die Spiegelwand. Er machte einen großen Schritt, zog die Kaiserin hinter sich her … der Held und die Gerettete standen Hand in Hand im Paradies, zwischen blühenden Bäumen und Strahlen einer Frühlingssonne, die bunte, zwitschernde Vögel streichelte. Aric fand, es war jetzt definitiv der richtige Zeitpunkt für die großen Buchstaben THE END.
55 Götter
»Es war keineswegs die Rede von unseren Schnecken«, lachte Kortov, als Leop sich hinters Ohr griff. »Sondern?«, fragte Leop. Kortov nahm einen neuen Tannenzapfen aus einem Korb und zeigte damit auf Dakstan. »Es gibt nicht nur dreibeinige, sondern auch Schnecken-Harnok.« Der Tripod brach in krachendes Gelächter aus. Leop wartete geduldig, bis sich der Harnok beruhigt hatte. »Kannst du oder können deine Schnecken mir erklären, was es mit dem Hai auf sich hat?«, fragte er dann. Langsam bekam er Kopfschmerzen – vielleicht wegen der geringeren Schwerkraft, die ihm das Blut zu Kopf steigen ließ, vielleicht wegen des Kuchengeruchs oder einfach nur wegen Kortov. »Komm mit mür«, sagte Dakstan. Leop betrachtete unschlüssig den Tannenzapfen in seiner Hand, dann warf er ihn Kortov auf den Schoß. »Bewahren Sie ihn für mich auf. Ich hole ihn mit Zinseszins wieder ab.« Kortov machte »höhö« und sah Leop hinterher, der Dakstan folgte. An den drei Innenwänden der Pyramide schraubte sich eine Treppe nach oben, aber Dakstan bog scharf rechts ab und kletterte eine Leiter hinunter, die in eine unterirdische Sektion führte. Leop seufzte, dann machte er sich ebenfalls an den Abstieg. Die Sprossen der hölzernen Leiter lagen nach menschlichen Maßstäben zu nah beieinander, aber irgendwann kam
Leop unten an, indem er gelegentlich Sprossen ausließ. Der Stollen, in dem er sich wiederfand, war mit weiß bemalten Holzstämmen abgestützt, die über und über von Schnitzereien bedeckt waren. Beleuchtet wurde der Gang von luminiszierenden Pflanzen an der Decke. »Wohin gehen wir?«, fragte Leop, erleichtert, das unübersichtliche Gewusel im Erdgeschoss hinter sich gelassen zu haben. »Zur söligen Erleuchtung«, entgegnete Dakstan. Leop schüttelte den Kopf. »Soll das heißen, die Schnecken sind eure Götter oder sowas?« »Nöin«, machte Dakstan, während sie dem abschüssigen Gang folgten, »aber sie sind ihre Vermittler. Früher hatten wir nicht sö etwas wiü … Götter. Wir hatten nur die Bäume und önsere Hauser und vermehrtön uns.« »Die Schnecken sind Missionare, die euch den Glauben an Götter beigebracht haben? Brauchtet ihr denn welche? Götter, meine ich?« »Wür sind auch ohne sie gut zurecht gekommen«, meinte Dakstan. »Öber die Vöermittler machön ihre Sache ganz gut. Müt jenön Göttern.« Leop schüttelte den Kopf. »Woran habt ihr denn vorher geglaubt?« »An uns«, sagte Dakstan und klang kein bisschen arrogant. »Die Götter beantwörten allerdöngs Fragen, die wür vorher nicht hattön.« Leop vermutete, dass diese Fragen seinen eigenen ähnelten. »Was sind das für Fragen?« »Wir sind dö.« Dakstan blieb stehen und zeigte mit seinen
äußeren Armen nach unten. Leop folgte seinem Blick und machte einen Schritt rückwärts. Das änderte allerdings nichts daran, dass er auf etwas weichem stand, von dem er befürchtete, dass es ein riesiger Schneckenleib war. »Uha«, machte Leop. »Kann dieser … Vermittler auch Deutsch?« »Aber natürläsch«, quäkte eine Stimme, deren Ursprung Leop nicht ausmachen konnte. »M … mein Name ist Leop Üller«, sagte Leop. »Ich hoffe, ich stehe nicht an einer unpassenden Stelle.« »Nää«, kam es zurück, »sähr rücksächtsvoll, dass du frägst. Einän Namän habe ich leidär nicht. Värmutlich intäressieren däch aber ohnehän Antwortän auf deine Fragän weitaus mehr.« Leop holte tief Luft. »Was ist der Hai?« »Die endgültigä Symbiosä.« Die Schnecke schwieg. Dakstan fügte mit seiner hinteren Hand den Holzstämmen eine weitere Schnitzerei hinzu. Ein Werkzeug benötigte er nicht dazu; seine Fingerspitzen waren hart genug. »Einä gutä Antwort, odär?«, krächzte der Vermittler und klang ein bisschen stolz. »Kannst du mir noch etwas mehr erzählen?«, seufzte Leop. Er glaubte, nach und nach alle Puzzlestücke in der Hand gehalten zu haben, aber um sie zusammenzusetzen, fehlten ein scharfes Messer, ein Vorschlaghammer und ein großer Eimer Kleister. »Vor langär Zeit erschien an unseräm Himmel ein Stärn, der immär größer wurde. Übär den Zusammenprall weiß ich nächt viel, dänn ich war damals noch nicht von dän Göttern mit Leben beschänkt. Dann war unserä Welt plötzlich kleiner und
es gab einän falschen Himmel und silberne Blasen, die in anderä Welten führten. Wir bedankten uns bei den Göttern, die uns diesen Stern geschickt hattän. Dann, wieder eine Zeit spätär, wurdä unsere Welt eins mit einer anderen.« »Mit ünserer«, warf Dakstan ein. »Ja. Und äs ist jätzt eine Symbiose.« »Symbiose bedeutet geben und nehmen«, sagte Leop und betastete die Schnitzereien in der Wand. Die Linien schienen kein Ende zu kennen, waren verknotet und verschlungen, sie umschlossen kunstvolle Muster, die möglicherweise Schriftzeichen darstellten. »War gebän den Harkon den Glauben an die Götter, und sie geben uns ihre Körper, damit ihre Seelän den Göttern zurückgegeben wird.« Leop riss die Augen auf und starrte Dakstan an. »Ihr verfüttert euresgleichen an diese … Schnecken?« »Unsere Toten, jö«, sagte der Harkon. »Das ist also eure Symbiose«, murmelte Leop. »Und als nächstes wird meine Heimat dem Hai hinzugefügt.« »Es werden immer mähr«, ließ sich die Schnecke erneut vernehmen. »Einäs Tages wärden es alle sein.« »Unmöglich!«, entfuhr es Leop. »Ich glaube fest döran«, sagte Dakstan. »Wer hat sich das ausgedacht? Wer hat diesen … Hai konstruiert?« Leop fröstelte. Er fühlte sich verdammt klein im Vergleich zu der Idee, alle Völker der Galaxis, vielleicht sogar des Universums, in einer künstlichen Welt vereinigen zu wollen, um … ja, warum eigentlich? »Und wozu?«, sprach Leop seine Frage laut aus.
»Die Göttär rätten uns vor dem Untärgang.« Leop schüttelte den Kopf. »Deine Götter sind nicht meine«, sagte er. »Ich kenne genaugenommen überhaupt keine Götter. Ich glaube nicht an etwas, das ich nicht sehen oder anfassen kann.« Es klang wie die Ansprache eines überzeugten Atheisten, und Leop hatte den Eindruck, dass es genau das war – und er fühlte sich auf irgendeine bittere Art schuldig, die ihm den Magen rotieren ließ. Schneller, als das der Kuchengeruch ohnehin schon tat. Er drehte sich um, wäre auf dem Schneckenleib beinahe ausgerutscht und eilte, gefolgt von Dakstan, zurück an die Oberfläche.
56 Vögel
Die Buchstaben erschienen nicht, dafür entzog die Kaiserin ihm ihre Hand. Enttäuschung erfasste Aric, als er erkannte, dass die Realität einer jener anstrengenden Filme war, die erst mit dem Tod der Hauptperson endeten. Dieser Film war noch nicht zuende, sondern forderte weitere Entscheidungen und Handlungen von der müden, geschundenen Hauptperson. Aric wünschte sich, nur eine Nebenfigur zu sein, die in einer lustigen Szene auftrat, verschwand und nichts mehr mit der Geschichte zu tun hatte. Tiga ging ein paar Schritte bis zu einem Baum, an dem kleine, rote Äpfel wuchsen. Als die Kaiserin anfing, die Äpfel zu streicheln, entfuhr Aric ein unwilliges Brummen. Er hasste Entscheidungen, und er hasste Konfrontationen. Noch mehr hasste er nur die Realität. Langsam ging Aric zu Tiga, die es fertigbrachte, auch halbnackt und schmutzig wie eine Kaiserin zu wirken. Krampfhaft überlegte er, was er weiter sagen sollte. Er wühlte in seinen Erinnerungen nach Szenen aus der Casting-Show, aus der Tiga als Siegerin hervorgegangen war. Worüber hatten sich die Kandidatinnen hinter den Kulissen unterhalten? Über Frisuren, Schönheitsgeckos, Kleider. Verdrossen blieb Aric neben Tiga stehen und starrte den Ap-
fel an, den sie immer noch betastete. Grün-rote Vögel flitzten quer durchs Unterholz. Plötzlich sah die Kaiserin ihm ins Gesicht. »Danke«, sagte sie. »Du hast mich vor den Terroristen gerettet.« Aric schoss das Blut ins Gesicht. »Äh … das ist … das war … das war doch selbstver … äh.« Er holte Luft. »Selbstverständlich. Ich würde dir ja eine Jacke oder sowas geben, aber ich musste meine ganzen Sachen zurücklassen. Ich könnte dir mein T-Shirt geben, wenn du willst. Ich heiße übrigens Aric. Wie du heißt, weiß ich ja.« Aric stockte, als ihm bewusst wurde, dass er soeben die Kaiserin geduzt hatte. Tiga schenkte ihm ein Lächeln. »Dein T-Shirt stinkt«, sagte sie. »Hab ich gar nicht gemerkt«, entfuhr es Aric. »Du kannst es mir trotzdem geben«, meinte Tiga. »Oh, gut. Ja, sicher.« Aric zog sich das schweißnasse, graue Kleidungsstück über den Kopf und reichte es der Kaiserin, die es sich überstreifte. Enttäuscht sah Aric dabei zu, wie nackte Haut verschwand. Als er seinen eigenen, behaarten Bauch betrachtete, fühlte er sich minderwertig. Er nahm sich vor, seine Hose auf keinen Fall herauszurücken. Aber die Kaiserin bat ihn gar nicht darum. »So«, sagte sie. »Wir haben keine andere Wahl, als diese Äpfel zu probieren, richtig?« »Sie sehen genießbar aus«, meinte Aric. Tiga hielt den Ast fest, zog am Apfel und pflückte ihn. »Probier du zuerst.« Sie hielt Aric die Frucht hin. Der biss ohne zu zögern hinein. »Fmeckt gut«, kaute er. »Prima«, lachte Tiga und suchte sich ebenfalls einen Apfel
aus. Aric schluckte. »Es könnte sein, … ich meine … du solltest warten, bis … also, einfach noch etwas warten. Ob es mir gut geht.« Tiga wirkte enttäuscht, aber dann stimmte sie zu. Sie drehte sich um ihre Achse und erforschte die Umgebung mit ihren Blicken. Aric vermied es, Tigas Hintern anzustarren, den sein T-Shirt trotz seiner Größe kaum verbarg. Also versuchte er, die unterschiedlichen Vogelrassen zu zählen, die ohne Angst oder Respekt um die Menschen herum flatterten. Die meisten der Tiere ähnelten Finken; ihr Gefieder war grün, weiß und rot gemustert. Aric hielt bei sieben verschiedenen Rassen inne, weil auf einem Ast vor ihm mehrere Vögel in einer Reihe saßen und ihn anstarrten. Mehr noch: Sie schienen über ihn zu tratschen. »Redet nicht schlecht über mich, ja?«, sagte Aric grinsend. »Lass uns doch den Spaß«, zwitscherten die Vögel. Aric gaffte, dann bedachte er den Apfelrest in seiner Hand mit einem kritischen Blick. »Ihr seid ganz schön groß«, meinten die Vögel, »ihr könnt nicht fliegen, oder?« »N …nein«, antwortete Aric tonlos, »können wir nicht.« »Mit wem sprichst du?«, mischte Tiga sich ein. »Gib ihr eine von den roten Früchten«, riefen die Vögel mit hoher Stimme. Aric schüttelte den Kopf. »Kapier ich nicht.« »Du bist ziemlich dumm«, kam die prompte Antwort. »Die Früchte enthalten hybride Neuronen, die durch deine Adern ins Gehirn wandern.«
»Hybride …?« »Du hast doch ein Gehirn, oder?«, kicherten die Vögel. Die Kaiserin baute sich zwischen Aric und den Tieren auf. »Aric! Was ist los?« »Iss auch einen Apfel.« »Warum?« »Wenn du dann auch die Vögel sprechen hörst, bin ich nicht verrückt.« Er zeigte auf die schnatternden, bunten Federbälle auf dem Ast. Mit großen Augen starrte Tiga die Tiere an. Dann pflückte sie einen Apfel und aß ihn. Währenddessen näherte Aric sich seinen kleinen Gesprächspartnern und versuchte, ihre Schnäbel im Auge zu behalten. »Ihr seid zur richtigen Zeit gekommen«, plapperten die Vögel. »Hörst du jetzt auch, was sie sagen?«, fragte Aric die Kaiserin. »So schnell geht das auch wieder nicht«, redeten die Vögel dazwischen. Aric hatte keine entsprechende Schnabelbewegung bemerkt. Die Tiere schienen sich nur im Rhythmus der Sprache bewegt zu haben. Er fixierte das rot-weiße Tier, das ganz rechts auf dem Ast saß. Der Vogel erwiderte seinen Blick. »Wie heißt du«, fragte Aric. »Wir sind der spätnachmittägliche Schwarm.« »Versteh ich nicht«, schüttelte Aric den Kopf und kratzte sich unter der Achsel. »Die Schwärme ändern über den Tag ihre Zusammensetzung. So können wir schnell Informationen austauschen. Schon
während des frühmorgendlichen Schwarms weiß dann jeder Vogel auf der Welt, dass ihr hier seid.« »Wie macht ihr das?«, mischte Tiga sich ein, die jetzt offenbar auch die Vogelstimmen hören konnte. »Die hybriden Neuronen verankern sich an euren Hörnerven«, kam die Antwort. »Und an den Sehnerven übrigens auch.« »Das heißt, dass ihr uns Dinge sehen lassen könnt, die nicht real sind?«, fragte Tiga. »Warum sollten wir das tun? Nein, wir zeigen euch nur ein reales Ereignis. Ja, ein großes Ereignis sogar!« Einige der Vögel flogen auf, dafür landeten andere auf dem Ast, schabten mit den Schnäbeln an der Rinde und plusterten sich auf. »Wie die Erde verschlungen wird«, murmelte Tiga tonlos, und Aric sah sie erschrocken an. »Das können wir euch auch zeigen«, entgegneten die Vögel, »aber das haben wir nicht gemeint.« »Was denn sonst?«, fragte Aric. »Es gibt doch nichts wichtigeres … schlimmeres …« »Ihr werdet es sehen. Aber setzt euch besser und lehnt euch an einen Baum. Ihr habt offenbar keine Füße, die euch festhalten, wenn ihr das Gleichgewicht verliert.« Bunte Blitze fuhren durch Arics Blickfeld, und er ließ sich auf den weichen Boden plumpsen. Die Kaiserin saß neben ihm, und er konnte ihren Körper spüren, als die Bäume und Büsche der Umgebung erzitterten, verblassten und beiseite geschoben wurden. Gleichzeitig wurde es still. Da waren schlangenhafte Tänzer vor einer schwarzen Wand; sie wanden sich, schwebten, schwangen hin und her wie Ähren
im Wind. Arics Blick ging spazieren zwischen den Tänzern, die einem komplizierten Takt folgten, dessen Struktur sich nicht in ein, zwei oder drei Dimensionen beschreiben ließ. Dann erkannte Aric die Tänzer: Es waren Menschen, die hin und her liefen, schrien, die Arme ausstreckten, in den Himmel, in den Aric gerne hinauf gesehen hätte; aber obwohl er sich wand, den Kopf drehte, änderte sich sein Blickfeld nicht. Die Menschen rannten über ein Feld, hinauf auf einen Hügel, der schon überfüllt war von Familien, einzelnen Leuten und einigen Syms. Viele hatten Waffen dabei – hölzerne Knüppel oder Stangen aus Metall. Andere trugen Taschen mit ihrem Hab und Gut; und Aric hörte Rufe und Schreie der Verzweiflung, als er wie ein Vogel über die Köpfe der Menschen flog. Dann, endlich, sah er den Himmel. Er war schwarz, flimmerte, und wurde eingerahmt von Reihen weißer Zähne, die Aric nur zu gut kannte. Der Hai hatte die Erde erreicht, und niemand würde ihn davon abhalten, seinen Hunger zu stillen. Als die Zähne die Atmosphäre anritzten, den Planeten zerschnitten und die Menschen in den Rachen des Hais gesogen wurden, konnte Aric es nicht mehr ertragen. Er kniff die Augen zu, so fest er konnte, aber die Bilder blieben. Tränen liefen über sein Gesicht, er schrie, spürte Tigas zitternden Körper ganz nah und versuchte, sich vorzustellen, wie er die Kaiserin vögelte, damit bloß diese Bilder verschwanden.
57 Zähne
Als die zigdimensionalen Sägekanten der Schneidezähne die Erde aus ihrer Existenzebene bissen, war in Deutschland gerade die Sonne untergegangen. Aniaa stand auf einem Wartehäuschen einer aufgegeben Haltestelle an einer überwucherten Landstraße. Hinter ihr, im Osten, lag ein Waldstück. Vor ihr war der Himmel orange verfärbt, und senkrecht über ihr gähnte das Maul des Hais. Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen. Seit Tagen hatte Aniaa mit niemandem ein Wort gesprochen. Sie erinnerte sich genau an ihren letzten Satz: »Trotzdem Danke.« Sie hatte ihn an Schildkröten-Ede gerichtet, nachdem er ihr mitgeteilt hatte, dass Vitas Schnecke seit ihrer Flucht aus dem Lager bei Rostock inaktiv war. Der Klang ihrer Stimme hatte damals nach Tränen geklungen, aber die hatte sie sich nicht erlaubt. Es war keine Zeit für flennende Mädchen. Mut war gefragt. Eine kleine Portion davon hatte Aniaa nach langer Suche irgendwo in ihren Innereien entdeckt, und daraufhin hatte sie beschlossen, dem Hai eine aufs Maul zu hauen. Bewaffnet mit einer Stahlröhre, an der früher einmal ein Fahrplan angebracht gewesen war, stand Aniaa auf dem Dach des Wartehäuschens. Breitbeinig, nicht unähnlich einer Amazone aus einem Fantasy-Film im Web3D. »Trotzdem Danke« waren keine angemessenen letzten Worte
im Angesicht des Hais, der die Erde zum Abendessen vertilgte. Aniaa hatte den Nachmittag damit verbracht, alle Schimpfwörter zu sammeln, die ihr einfielen. Akribisch hatte sie alle auf das Dach gekritzelt, um im entscheidenden Moment gewappnet zu sein. Entschlossen hielt Aniaa die Metallstange vor sich, hob den Blick, sah in den schwarzen Rachen des Hais. Wind kam auf, und ein fernes Grollen drang an Aniaas Ohr. Sie holte tief Luft, denn der Moment der Flüche war gekommen. Ein Windstoß nahm ihr den Atem, ihr wurde plötzlich schwindlig. Mit der Metallstange suchte sie Halt, fand keinen, ging in die Knie, platschte mit den Händen auf das Dach, das plötzlich schräg zu stehen schien. Sie rutschte, hielt sich krampfhaft fest. Der Wind steigerte sich zum Orkan, pfiff in ihren Ohren, wehte ihr Haare ins Gesicht, in die Augen. Jetzt nur nicht vom Dach fallen und den Hals brechen, denn wer würde sonst den Hai unflätig beschimpfen? Wütend warf Aniaa den Kopf in den Nacken, sah in der Schwärze über sich plötzlich tanzende Schemen. Die Metallstange entglitt ihr, klirrte auf die Straße. Das Wartehäuschen knarrte, der Wind zerrte mit kalten Fingern an Aniaas Jacke. Dann erkannte sie die Schemen, ihren Tanz. Es war der Tanz von Gaia, der Rhythmus des Lebens, der großen Symbiose. Sie hatte diese Schritte, dieses Umeinander und Ineinander schon einmal gesehen. Damals, bei der Seance mit Vita. Der Geist der Erde begrüßte den Hai – und es war eine freudige Begrüßung! Ungläubig sah Aniaa, wie der Hai Gaia umarmte, liebkoste, fein
säuberlich aus der endlichen Realität schnitt und in eine andere hinunterschluckte. Unten wurde zu Links und Vorn zu Unten. Aniaa klammerte sich verzweifelt an die Dachkante, der Wind trieb ihr Tränen in die Augen, plötzlich hing sie nur noch an den Fingern an der Kante des Daches, wollte nicht loslassen, die Heimat nicht zurücklassen, denn es würde kein Zurück mehr geben. Dann ein heftiger Windstoß, kreischend, brutal – Aniaa fiel, fiel lange, klatschte ins Gestrüpp, verhedderte sich, machte sich frei. Die Zähne verschwanden gerade am westlichen Horizont. Und endlich fing Aniaa an zu schreien. »Verfickte Weltraumscheiße, Missgeburt aus kaltem Staub, toter Dämon, stinkende … stinkende … Fressmaschine, hirntote Pestratteeee!!!« Mehr fiel Aniaa auf die Schnelle nicht ein, und sie japste immer noch nach Luft, als plötzlich die Sterne leuchteten, wo gerade noch der Schlund des Hais gewesen war. Es herrschte eine Stille, deren Struktur nicht in drei Dimensionen zu erfassen war. Irgendwo knackten Zweige, Aniaa schreckte hoch. Eine Spamtaube saß auf dem Dach des Wartehäuschens und sah zu ihr herunter. »Frische Landtomaten vom Dasselhof, hundert Meter rechts«, gurrte die Taube. Aniaa rappelte sich hoch. Der Boden fühlte sich wieder so waagerecht an wie zuvor. Vom Hai war nichts zu sehen. War er einfach durch die Erde hindurch geflogen? War er ein Hirngespinst, ein albernes Hologramm? Ein wahnsinniges Kunstprojekt, ein Scherz der Politiker? Eine gigantische Werbeaktion? Aniaa hob ihre Metallstange auf. Man konnte nie wissen.
Die Taube flatterte an ihr vorbei und verschwand hinter ihr. Aniaa traute der Ruhe nicht. Zögerlich setzte das Zirpen von Grillen ein, und ein vorwitziges Rotkehlchen gab sein hektisches Abendlied zum Besten. Augenblick. Etwas stimmte nicht. Die Taube. Aniaa fuhr herum. Der nervtötende Sym war keineswegs im Wald verschwunden. Sondern im Nichts. Da war eine schwarze Wand, in der Dämmerung kaum auszumachen – und der Schatten eines anderen Menschen. Aniaa verengte die Augen, drehte den Kopf, machte einen Schritt zur Seite. Ein schemenhaftes Spiegelbild machte die Bewegung mit. Die Metallstange ausgestreckt, ging Aniaa auf die Wand zu. Sterne spiegelten sich auf der Fläche, und sie selbst tat es auch. Jetzt, wo Aniaa direkt davor stand, erkannte sie die Krümmung in der Wand, die wie eine umgekehrte, überdimensionale Salatschüssel über dem Wald lag. Aniaa klopfte mit der Stange gegen die Wand. Die Stange drang einfach hindurch, als wäre da gar nichts. Spätestens jetzt wusste Aniaa, dass der Hai keineswegs spurlos an der Erde vorbei geflogen war. Und sie bezweifelte, dass die Biobomben der Vyrroc den Hai in irgendeiner Weise beeinträchtigen würden.
58 Verschmelzung
Als Aric keuchend seinen großen, erschlaffenden Penis aus Tiga zog, war er enttäuschter als müde. Es war keine Offenbarung gewesen, mit der Kaiserin der Welt zu vögeln. Am Ende hatte er gehofft, eine abstrakte Offenbarung, ein einzigartiges, besonderes Gefühl würde eintreten, wenn er sie so brutal fickte wie er konnte. Aber der Sex war nicht anders gewesen als mit der nächstbesten Elfe. Die Nacht mit Dr. Kala behielt den Spitzenplatz in Arics privater Sexparade. »Das war interessant«, sagte der spätnachmittägliche Schwarm. Aric wurde rot und zog sich hastig die Hose hoch. »Was ist?«, blaffte er. »Ist dieses Verhalten typisch für euch?« Immer noch leicht zitternd von der Anstrengung des Aktes, hielt Aric sich an einem massiven Ast fest und sah die Vögel unfreundlich an, die einen Meter entfernt im Baum saßen. »Nein«, sagte Aric mit einem Seitenblick auf Tiga, die ihre Haare mit den Fingern kämmte, »manchmal machen wir es … äh, anders. Manchmal sitzt die Frau auf dem Mann. Zum Beispiel.« »Interessant«, antworteten die Vögel, »aber das haben wir nicht gemeint. Wir möchten wissen, ob noch mehr von euch so
desinteressiert am Schicksal eurer Artgenossen sind.« »Desinteressiert?«, fragte Aric und gaffte von einem Vogel zum nächsten. Die Vögel gafften zurück. »Ja. Vorhin habt ihr das Ereignis unbedingt sehen wollen, aber als es soweit war, habt ihr es vorgezogen, euch fortzupflanzen. Hattet ihr eine Hormonausschüttung angesichts des freudigen Geschehens?« »Ich … ahm …« Aric sah Hilfe suchend zu Tiga. Die stand auf, stemmte die Hände in die Hüften und setzte zu einer Ansprache an, als habe sich ihr Amsterdamer Hofstaat in Federbälle verwandelt. »Freudiges Geschehen? Die Erde wird von diesem … Horror-Hai abgeweidet, und ihr redet von einem freudigen Ereignis? Es sind Millionen Menschen zu Tode gekommen, von den Tieren und der Erde selbst ganz abgesehen. Und ihr zwitschert hier rum und …« Die Kaiserin unterbrach sich, weil die Vögel zu einem lauten Geschnatter anhoben. »Die lachen uns aus«, sagte Tiga fassungslos zu Aric. Der erwartete einen gewalttätigen Wutausbruch der Kaiserin, aber wenn sie sich zu so etwas hätte hinreißen lassen, hätte sie nie die Castingshow gewonnen. Als sich der spätnachmittägliche Schwarm beruhigt hatte, sagte er: »Ihr seid ziemlich dumm. Ihr habt nicht verstanden, was geschieht.« »Doch«, versetzte Tiga, »Katastrophe. Vernichtung. Tod.« »Niemand ist gestorben«, behaupteten die Vögel. »Es sei denn, eure Leute haben sich aus Dummheit gegenseitig umgebracht. Das wäre möglich. Immerhin scheint logisches Handeln nicht eure Stärke zu sein.« Tiga verrenkte sich. »Mist«, zischte sie und sah Aric böse an,
»es läuft mir die Beine runter.« Aric wurde einige Zentimeter kleiner. »Konntest du ihn nicht vorher rausziehen? Nur Schweine kommen in einer Frau.« Aric fragte sich, ob er Tiga darauf hinweisen sollte, dass Politiker wie Dr. Kala diese Meinung nicht teilten, aber er biss die Zähne aufeinander. Unzufrieden wünschte er sich, es nicht mit Tiga getrieben zu haben und verfluchte sich im gleichen Moment, weil genau das wochenlang sein größter Wunsch gewesen war. Sein größter Wunsch war der Wunsch eines Schweins gewesen. Tiga wandte funkelte die Vögel sarkastisch an. »Erklärt uns bitte alles«, sagte sie. »Wir sind dumm. Drückt euch also einfach aus.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das geht jetzt nicht«, flöteten die Vögel. »Wieso nicht?« »Keine Zeit.« »Müsst ihr eure Schwärme durchmischen oder was? »Nicht ganz. Die Verschmelzung steht bevor.« Tiga hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Wovon redet ihr eigentlich?« »Von der Vereinigung mit der Nachbarwelt.« Einige der Vögel flogen auf, andere hüpften nervös hin und her. Aric hörte plötzlich ein hohes Pfeifen, dann kam ein fernes Donnern hinzu. Irritiert sah er zum Himmel, konnte aber nichts erkennen. »Das Omega fasst nur sechs Welten«, riefen die Vögel. »Gerade kommt eine siebte hinzu – eure. Deshalb müssen zwei andere verschmelzen, die schon länger hier sind. Für unsere ist
es das erste Mal. Der nächtliche Schwarm glaubt davon zwar kein Wort, aber er wird es schon sehen.« Die Stimmen wurden leiser, als immer mehr Vögel aufflogen und zwischen den Bäumen verschwanden. »Das Omega?«, rief Tiga und sah sich nach allen Seiten um. »Was ist das?« Der Boden vibrierte, der Lärm nahm zu. Das Donnern war jetzt überall, irgendwo schien jemand zu kreischen. Aric klammerte sich an den Baumstamm. »Tiga!«, schrie er, »was ist das?« »Woher soll ich das wissen?«, gab die Kaiserin zurück. Der Boden tat sich auf, ein weißes Nichts drängte Bäume beiseite, glänzte, war plötzlich ein hoher, schlanker Holzpfahl. Aric wich zurück, dann fiel sein Blick auf den Himmel. Wolken verschoben sich, als seien sie auf ein Gummituch gemalt, das von Planetenhänden auseinandergezogen wurde. Aric hatte kein Problem damit, sich Planetenhände vorzustellen, es gab ja auch Planetenhaie. Er rechnete damit, dass diese Hände gleich aus dem Himmel nach ihm greifen würden, um ihn wie die Wolken zu Spaghetti zu verarbeiten. Als das Donnern zu Kreischen wurde, presste Aric sich die Hände auf die Ohren. Er sah, wie Tiga auf dem Boden saß und den Kopf im Schoß vergrub. Dann riss der Himmel, aber es kam keine Hand daraus hervor, nur ein zweiter Himmel. Er fügte dem alten Blau einen Streifen metallisches Grau hinzu, der sich schnell ausbreitete, ausfranste und zerfloss. Zwei Himmel vermischten sich wie die Farbe aus zwei umgekippten Töpfen. »Aufhören!!!« Arics Blick fiel auf Tiga, die den Himmel, die Bäume und den
Hai anbrüllte, aber sie war nur die Kaiserin der aufgefressenen Erde, nicht die des Hais oder dieser Waldvogelschwarmwelt. Wind kam auf, zerrte an Tigas T-Shirt und ließ Aric frösteln, der immer noch einen freien Oberkörper hatte. Immer mehr von diesen schlanken, dünnen Bäumen tauchten aus dem Nichts aus. Wenigstens eines verstand Aric jetzt: Diese Welt verschmolz mit einer aus einer anderen Blase. Es war nicht die mit den Hunden mit den Bauchläden, sondern eine, die Aric noch nicht kannte. Immerhin war es daher unwahrscheinlich, dass die Steeldogs plötzlich auftauchten. Wieder ein Knall, Aric fuhr zusammen, denn hinter den Bäumen erschien plötzlich eine hohe Pyramide aus dem Nichts, und plötzlich roch es nach Kuchen. Fassungslos atmete Aric tief ein. Der Wind ließ nach, es wurde für einen Moment still, als die Welt abzuwarten schien, ob die Vereinigung vollzogen war. Als Millionen Vogelstimmen den Wald erfüllten, wusste Aric, dass es vorbei war. Der Schwarm – vielleicht jetzt schon der vom frühen Abend – begrüßte die neue Welt. Aric kniete neben der zusammengekrümmt am Boden kauernden Tiga nieder. »Es hat aufgehört«, murmelte er und berührte ihr Haar. »Glaube ich.« Die Kaiserin schnappte nach Luft, zog Schnodder hoch, dann rieb sie sich die Angst aus dem Gesicht. »Vorerst«, sagte sie. »Wieso?«, machte Aric. »Warum riecht es nach Kuchen?«, fragte die Kaiserin. »Und was ist das da?« »Eine Art Pyramide«, zuckte Aric mit den Schultern. »Vielleicht backen die gerade Kuchen.«
Tiga schnaubte. »Wir werden sehen.« »Willst du etwa dorthin gehen?« Die Kaiserin warf Aric einen traurigen Blick zu. »Was denn sonst? Willst du für den Rest aller Zeiten hier rumsitzen?« Aric blieb die Antwort schuldig. Trotz des langweiligen Sex fand er den Gedanken nicht unangenehm. Ächzend erhob sich Tiga, wischte sich die Hände an Arics TShirt ab. »Wo kommt ihr denn her?« Tiga fuhr herum, während Aric noch nach den Vögeln suchten, die gesprochen hatten. »Von der Erde«, sagte Tiga, und nun begriff auch Aric, dass sie nicht mit dem Schwarm sprach. Er drehte sich um und sah einen Mann und ein dreibeiniges Etwas, die sich ihnen näherten. Automatisch wich Aric zurück. »Das dachte ich mir«, antwortete der Mann, blieb vor Tiga stehen und verbeugte sich. »Es ist mir eine Ehre, Kaiserin.« Aric klappte den Mund auf, den er kannte den Mann, der seiner Kaiserin huldigte: »Mein Name ist Leop Üller. Wir sind im gleichen Käfer geflogen.«
59 Reich
»Ich bin Aric. Und du bist der … mit den … Dings«, brachte Aric hervor. »Nervenknoten«, half Leop. »Ihr kennt euch?«, mischte sich der frühabendliche Schwarm ein. »Ein erneuter Beweis für unsere These, dass selbst die unwahrscheinlichsten Ereignisse häufiger eintreten als erwartet.« »Hast du eine Hose für mich?«, fragte die Kaiserin. »Meine klebt vor Schmutz an meinen Beinen …« Leop deutete unbestimmt nach hinten. »Das hier ist übrigens Dakstan. Er und seine Leute wohnen in diesen dreiseitigen Pyramiden. Sie nennen sich Harnok.« »Sag ihnen, sie sollen Äpfel essen«, zwitscherten die Vögel in Arics und Tigas Köpfen. »Wenn sie Gehirne haben.« »Ihr sollt Äpfel essen«, plapperte Aric und zeigte auf die Früchte am nächsten Baum. »Was ist eigentlich passiert?« »Du hast jedenfalls kein Gehirn«, ereiferten sich die Vögel, »oder es ist kaputt.« »Mein Gehirn ist nicht kaputt!«, blaffte Aric die bunten Federbälle auf dem nächstbesten Ast an. »Mit wem redet der?«, fragte Leop die Kaiserin. »Mit dem frühabendlichen Schwarm«, sagte Tiga, wies mit dem Kinn zu den Vögeln und verschränkte die Arme vor der
Brust. »Man muss die hiesigen Äpfel gegessen haben, um sie verstehen zu können.« »Ich kapier das nicht«, brummte Aric unzufrieden. »Darf üch?«, mischte Dakstan sich ein. »Öffenbar haben wir die Verschmelzung zweier Welten erlebt. Mit unserer ist das schön einmal passiert. Und hüer wohnen düse Vögül?« Er zeigte mit drei Armen auf den Ast vor ihm. »Das dürfte der Wahrheit nahe kommen«, meinte Tiga. »Ja, klingt plausibel«, meinte Leop und pflückte einen Apfel. »Sieht genießbar aus.« »Wir haben auch welche gegessen und es geht uns gut«, sagte Aric. Leop sah ihn zweifelnd an und biss in den Apfel. Der Harnok trat vor und verbeugte sich. »Ich müchte euch allö in unsere Wohnpyramide einladen. Ihr wördet dort einön weiteren Mänschlichen vorfindön.« »Und was für einen«, entfuhr es Leop. »Er hat vielleicht sogar eine Hose übrig, allerdings dürfte sie dir ein paar Nummern zu groß sein, kaiserliche Hoheit.« »Ich kann mit einer Schere umgehen«, versetzte Tiga. Der Trupp setzte sich in Bewegung. »Besitzt diese … Pyramide sanitäre Anlagen?«, fragte Tiga. »Das habe ich noch nicht herausgefunden«, sagte Leop. »Benutzt ihr euren Guano nicht als Dünger?« Leop blieb stehen und sah sich um. »Wer hat das gesagt?« »Der Apfel«, antwortete Aric. Die Kaiserin versetzte ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen. »Der Schwarm«, korrigierte sie. »Die Vögel hier. Die Äpfel enthalten … was weiß ich, irgendwas. So dass wir sie hören
können.« »Hybride Neuronen«, warf der Schwarm entnervt ein. »Bemerkenswert«, gab Leop zu und starrte den halben Apfel in seiner Hand an. Er pflückte einen weiteren und reichte ihn Dakstan, der die Frucht mit seinem Antennenauge untersuchte und dann anfing, sie mit seinen Mundwerkzeugen zu zerlegen. Leop sah ihm dabei zu. »Ein symbiontischer Schwarm. Langsam verstehe ich …« Nachdenklich sah er zu der Pyramide hinüber, unter der er den eigenwilligen Schneckenpriester wusste. Jede einzelne Welt hier im Hai lebte in einer Symbiose. Gelegentlich verschmolzen zwei Welten und bildeten neue Symbiosen. Leop vermutete, dass das alles kein Zufall war. Es steckte ein Plan dahinter. Er konnte nach wie vor nicht glauben, was der Göttervermittler behauptet hatte: Dass der Hai nach und nach alles Leben in sich aufnehmen sollte, alle Zivilisationen, um sie vor dem Untergang zu retten. Vor welchem Untergang? Vor der Zerstörung durch sich selbst? Vor einem unbekannten Feind? Einem Wahnsinnigen, einem galaktischen Schlächter? Dem Teufel? Er schüttelte den Kopf. Es musste eine andere Erklärung geben. Langsam schaffte er es, die richtigen Fragen zu formulieren. Fehlte nur jemand, der sie beantworten konnte – und wollte. Als Leop, Aric, Tiga und Dakstan die Pyramide erreichten, fanden sie unerwarteten Besuch vor. Kortov stand inmitten einer Gruppe von Politikern, die an ihren Pinguinanzügen leicht zu erkennen waren. Nur eine Frau war unter ihnen, und die war barfuß. »Wo kommen die denn her?«, fragte Leop unglücklich. Ihm
entging, dass Aric versuchte, sich hinter Tiga zu verstecken. »Kaiserin!«, rief einer der Politiker und breitete seine Arme aus. »Mein Name ist Dr. Kinsel. Sicher kennt Ihr mich von einigen wichtigen Ansprachen. Was bin ich froh, dass es Euch gut geht. Tretet näher, damit wir Euch in unsere Pläne einweihen können.« »Dakstan«, sagte Leop, »diese Leute sind nicht willkommen.« »Natürlich sind sie das«, entgegnete der Harnok empört, »jedör ist uns willkommen!« »Noch jemand, dem Kleidung abhanden gekommen ist«, sagte Tiga und zeigte auf das Paar nackter Frauenfüße. »Hihi«, alberte Dr. Kala und tänzelte Richtung Aric, der jetzt hinter Dakstan Schutz suchte, dem nicht wusste, wie ihm geschah. »Sie hat ihre Schuhe ins Meer geworfen«, verzog Kinsel das Gesicht. Dann wandte er sich an Kortov. »Haben Sie Ersatzkleidung dabei?«, fragte er. »Ich werde sehen, was sich machen lässt«, gab der Milliardär zurück. Kinsel klopfte ihm auf die Schulter und grinste. »Sowas lobe ich mir. Ein Mann großer Worte.« »Konntet ihr nicht an eurem Strand bleiben?«, schnappte Leop. »Ihr werdet hier nicht gebraucht.« »Oh doch«, widersprach Kinsel. »Diese Welt befindet sich in furchtbarer Unordnung. Es gibt praktisch keine herrschende Klasse, keine Privilegierten, keine Regierung!« »Und das wollt ihr jetzt ändern?«, runzelte Leop die Stirn. »Oh ja«, bestätigte Kinsel eifrig. »Wir fühlen uns hier wohl, das Klima ist angenehm. Wir werden in Kürze Wahlen abhalten
und unser Dr. Kortov hier wird sie natürlich erdrutschartig gewinnen.« Dr. Kala hatte Aric erwischt und kraulte seine Brusthaare. Tiga sah kritisch dabei zu. »Interessant«, meldete sich Dakstan zu Wort. »Wir wollten ohnehün mal Korruption als Gesellschaftsform ausprobieren. Hatten wür noch nücht.« Leop hielt sich eine Hand vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Präsident wollte ich immer schonmal sein«, erklärte Kortov gemütlich und faltete die Hände vor seinem pompösen Bauch. »Was genau bedeutet Korruption?«, fragte der frühabendliche Schwarm. »Ihr solltet schnellstens das Geld erfinden«, antwortete Leop Richtung Himmel, wo eine größere Gruppe Vögel kreiste. »Mit wem spricht er?«, fragte Dr. Kinsel irritiert. »Iss einen Apfel«, riefen Tiga, Leop und Dakstan wie aus einem Mund. »Hilfe!«, heulte Aric. »Zu mir, Dr. Kala«, befahl Dr. Kinsel. »Sie ist ein bisschen durcheinander«, erklärte er. »Verständlich, finde ich. Wir sollten uns alle in Ruhe zusammensetzen und …« »Danke, nein«, schüttelte Leop den Kopf. »Ihr alle scheint eine Sache zu vergessen.« »Den Wahlkampf?«, fragte Kortov. »Äpfel essen!«, rief der Schwarm. »Sanitäre Anlagen«, versetzte Kaiserin Tiga und griff nach Dr. Kalas Arm, damit sie von Arics Hose abließ.
»Die Erde«, sagte Leop. »Sie wurde gerade eben vom Hai verschlungen. Sie ist hier irgendwo. Oder ein Teil davon. Die Leute. Die Menschen. Findet ihr nicht, dass wir nach ihnen sehen sollten?« Schweigen trat ein. »Wozu?«, fragte Dr. Kinsel. Leop sah ihm in die Augen, aber da war nichts als Zynismus. Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und machte sich auf den Weg zur Spiegelwand. »Bleibt doch wenigstens zum Abendessen«, sagte Dakstan und klang irgendwie weinerlich. Leop musste zugeben, dass ihm der Magen knurrte. Er zögerte, dann drehte er sich wieder um. Kinsels triumphierendes Grinsen hätte er am liebsten mit der Faust bearbeitet. Aber er würde ohnehin nicht länger bleiben als unbedingt nötig. Er musste dringend auf die Suche gehen.
60 Omega
Linien bildeten Knoten, fesselten eine Figur, die an einen Dirigenten erinnerte, bloß mit vier Taktstöcken. Weiter unten rankten sich Schlingen um stilisierte Gesichter, die möglicherweise den Chor des Dirigenten darstellten. Oder etwas völlig anderes. Leop musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung von außerirdischen Kunstwerken hatte. »Wrüm faszinären dich die Inschriften?« Leop zögerte. Er fühlte sich beobachtet, aber da waren keine Augen. Da war bloß der Körper, und Leop stand darauf. Diesmal hatte er seine Schuhe ausgezogen. Das erschien ihm angemessen, obwohl er weder an die Götter des Vermittlers glaubte noch wusste, wer sie waren. »Die Muster sind mir vollkommen fremd«, antwortete Leop und ließ seine Fingerkuppen weiter über die Schnitzereien gleiten. »Üst Neugier bestümmend für deinesgleichön?« »Ich denke schon«, meinte Leop. »Sie ist ein starker Antrieb für uns Menschen.« »Das ist bei dön Harnok ebenso.« »Wieviele Völker leben noch in dieser Welt?« »Meinst dü intelligänte oder gläubige?« »Alle.« »Noch zwöi. Du büst ihnen vermütlich noch nicht begegnet.
Dü Prstar ziehen kältere Gegenden vor, und die Rupa sünd fast verschwundän.« »Wohin?« »Ich weiß ös nicht.« Leop zögerte, dann lenkte er das Gespräch mit der Riesenschnecke in eine andere Richtung. »Was hast du gemeint, als du gesagt hast, der Hai enthalte eines Tages alles?« »Warüm sagst dü immör Hai?« »Weil dieses Ding so aussieht wie ein … Wassertier auf der Erde, das so genannt wird.« »So nännst du es nach seinöm Aussehen, nücht nach seinär Bedeutung.« »Die kenne ich nicht«, entgegnete Leop eine Spur schärfer, als er beabsichtigt hatte. »Ich dänke, dass in eurär Sprache die richtigö Bezeichnung Omega lautön würde.« »Omega?« »Odör Zett. Ich bün mir nicht sichör.« Leop ließ seinen Blick durch die düstere Höhle schweifen. Der Kuchengeruch, den die riesige Schnecke abzusondern schien, war nicht unangenehm. Aber lange hielt Leop es nicht mehr aus. Er brauchte Antworten, aber er war noch immer nicht bei den richtigen Fragen angekommen. Er überlegte kurz, dann erklärte er: »Zett ist der letzte Buchstabe unseres Alphabets. Omega ist der letzte Buchstabe … eines anderen, älteren Alphabets. Das Omega symbolisiert elektrischen Widerstand. Und ich habe mal gehört vom … Omegapunkt. Das ist so etwas wie … das Ende. Ich weiß es nicht.« »Das ist ös. Das Omegapunkt-Konzäpt besagt, dass allös Le-
ben in einöm äußerst langen Vektor existieren kann. Und dieser Vektor kann das Ende jedes Sterns überleben. Du weißt, dass das Universum immer größer wird, und immör weniger Sterne leuchtän werden?« »Ja, aber erst in unzähligen Milliarden Jahren.« »Richtög«, machte der Vermittler. »Aber Lebön auf Planeten wird schon langö zuvor unmöglich sein. Daher habön die Göttär das Omega geschaffen. Es bietet dem Leben eine Heimat, unendlüch lange.« Leop schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben.« »Der Vektor däs Omega ist äußerst lang, abär nicht unendlich. Deshalb müssen die gesammeltön Welten verschmelzen. Am Endä steht die göttlüche Symbiose.« Auch wenn Leop diese Geschichte nicht verstand – in gewisser Weise kam das Gespräch dem Kern der Sache näher. »Heißt das«, fragte er, »dass der Hai – das Omega – die Erde und alle Menschen in sich aufgenommen hat? Dass sie sich unbeschadet irgendwo hier befinden?« Der Vermittler schwieg, während Leop ungeduldig von einer Seite des Gewölbes zur anderen tigerte. Er erwartete jeden Augenblick, dass die Riesenschnecke ihn bat, ihn an einer juckenden Stelle zu kratzen. »Weitgöhend unbeschadet, vermüte ich.« Der Vermittler machte erneut eine Pause. »Dem Vektor wurde deinö Welt hinzügefügt. Im Großön und Ganzen.« Im Großen und Ganzen war also alles wie zuvor. Die Erde und ihre Bewohner existierten noch, wenngleich man kaum behaupten konnte, dass es sich um einen Planeten handelte, der um eine Sonne kreiste. Zeit, umzudenken. Vermutlich würde
die Weltraumfahrt gewissen Einschränkungen unterliegen, aber auf Raumschiffe konnte man verzichten, wenn die nächste Welt bloß hinter einer silbernen Wand lag. Leop gönnte sich ein Lächeln. »Danke, namenloser Vermittler göttlichen Wissens«, sagte er. »Ich glaube, ich habe jetzt verstanden. Nicht alles, aber für den Anfang genug.« »Die Götter freuen süch.« »Ich mich auch«, lachte Leop und widerstand der Versuchung, sich hinzuknien und den Schneckenleib zu streicheln. Stattdessen machte er sich auf den Rückweg. Oben angekommen, schlüpfte er in seine Schuhe, ignorierte die ausschweifende Party, die die Politiker gemeinsam mit einem Haufen Harnok veranstalteten, griff nach seinem gepackten Rucksack und lief aus der Pyramide. Die Sonne dieser Welt war fast untergegangen, kühle Dämmerung und Abendstille hießen Leop willkommen. Ein »Hallo« ließ Leop herumfahren. Da stand der Steeldog, den er vorhin mit der Kaiserin praktisch in flagranti erwischt hatte. Inzwischen trug Aric allerdings einen Pinguinanzug, nur ohne Sakko und Krawatte. »Keine Steeldog-Uniform mehr?«, fragte Leop. »Eigentlich war ich nie einer von denen«, entgegnete Aric. »Versteh das alles auch nicht. Sie haben mich entführt, und dann irgendwie vergessen. Dann war ich einer von ihnen.« Leop grinste und zeigte vage nach hinten. »Und was war das mit der Kaiserin?« Die Frage ließ Aric rot anlaufen. »Ich habe sie befreit. Die Steeldogs hatten sie auch entführt.« »Aha«, machte Leop, obwohl er nicht alles begriff. »Und
dann?« Aric verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Dann waren wir plötzlich hier, und die ganzen komischen Politiker … äh …« »Waren auch hier«, half Leop. »Hör zu, Aric, ich verschwinde.« Er zeigte auf seinen Rucksack. »Ich will einige der anderen Welten erforschen.« Ein Lächeln huschte über Arics schräges Gesicht. »Das ist ne richtig gute Idee«, sagte er. »Hey, ich könnte mitkommen und … und …« Er zuckte mit den Schultern. Leop fand Aric nicht besonders sympathisch, aber es gab hier eine ganze Reihe Leute, deren Gegenwart er weitaus mehr verabscheute. Ein Mensch wäre sicher kein schlechter Begleiter. Zu zweit war man immer stärker. »Gut«, sagte Leop. »Wahnsinn!«, rief Aric und machte einen Satz. Er legte Leop einen Arm um die Schultern. »Welche Richtung?« »Moment, ich …« »Wohin geht ihr?« Leop und Aric drehten sich um. »Kaiserin«, grinste Leop und deutete eine Verbeugung an. »Haben die Politiker dich abgesetzt?« »Schlimmer«, schnaubte Tiga, die inzwischen ein sauberes, grünes Kleid trug. »Sie wollen mich mit Kortov verheiraten.« Leop prustete los, während Aric empört ausrief: »Niemals! Wir retten dich vor ihm und nehmen dich mit!« Leop blieb das Lachen im Hals stecken. »Moment«, sagte er, aber es war zu spät. Tiga sah Aric zweifelnd an, dann seufzte sie. »Na gut. Besser als dieser Kortov. Verschwinden wir, bevor …«
»Werde ich eigentlich auch mal gefragt?«, empörte sich Leop. »Nein«, versetzte Tiga und streckte ihm die Zunge raus. »Kommt, Jungs. Gehen wir. Wohin eigentlich?«
61 Pr-akyoc
»Ich weiß, ich bin nur eine Gewinnerin einer pompösen Castingshow, habe keinerlei Macht oder Befugnis.« Tiga blieb keuchend stehen. »Aber ich beantrage trotzdem eine Pause.« »Nein«, entgegnete Leop entschieden und drehte sich zu ihr um. »Diese Welt ist ungesund. Wir bleiben nicht länger als unbedingt nötig.« »Und wie lange ist das?«, fragte Tiga stöhnend. »So lange, bis wir einen Übergang in eine andere Welt gefunden haben.« Tiga lehnte sich an einen Felsen, wischte sich Staub und Schweiß von der Stirn. »Es war nicht meine Idee, diese hier zu durchqueren! Hätte ich bloß nicht abgedankt. Kortov war vielleicht gar keine so üble Alternative … ich hätte ihn auf Diät setzen können.« »Wir konnten nicht die ganze Zeit diese Gänge zwischen den Blasen entlang laufen.« »Ich mochte die vielen Spiegelbilder«, mischte sich Aric ein, der auf einem hohen Felsbrocken stand und die Umgebung beobachtete. Leop schloss die Augen und rekapitulierte. Sie hatten die von Politikern verseuchte Welt der Harnok und Vogelschwärme verlassen, einen Blick in eine benachbarte Schneewüste geworfen und es vorgezogen, zwischen den spiegelnden Blasenwän-
den weiterzugehen, bis sie eine Kreuzung und damit den Zugang zu einer dritten Blase fanden. Blase, Welt … Leop wusste nicht recht, welcher Begriff besser passte. Von außen betrachtet befand sich jede Welt in einer vergleichsweise kleinen Blase, die man in wenigen Minuten umrunden konnte. Betrat man die betreffende Welt, war sie unermesslich groß, dafür stand man vor einer rundlichen Silberblase, die wiederum einen ähnlichen Umfang hatte wie die Welt zuvor von außen. Vermutlich gab es einen Haufen eleganter Gleichungen, die diese Geometrie beschrieben, aber Leop war weder willens noch in der Lage, sie aufzustellen. Man konnte entweder im Außenbereich zwischen den Spiegelwänden umher laufen, oder innerhalb einer Welt eine andere Silberblase suchen, um von dort Zugang zu ganz anderen Welten zu erhalten. Tiga hatte von Anfang an bezweifelt, dass ihnen diese Felsenwelt freundlich gesonnen war. Gefährliche Lebewesen hatten sie zwar nicht zu Gesicht bekommen, aber keiner der drei Menschen wurde das Gefühl los, dass sie beobachtet wurden und die hiesigen Bewohner nur auf die beste Gelegenheit warteten, sie zu steinigen. Glücklicherweise tönte Aric in diesem Moment: »Da! Ich sehe was!« »Eine Silberblase, hoffe ich?«, seufzte Tiga. »Ja! Sie ist gar nicht weit! Au, mein Fuß.« Aric war vom Felsen gesprungen und auf seinem lädierten Fuß gelandet. »Alles in Ordnung?«, fragte Leop. »Ja«, zischte Aric. »Lass uns gehen. Ich will hier weg.«
Leop nickte. Er war selbst mit der Entscheidung, diese Welt zu durchqueren, nicht glücklich. Immerhin kamen sie jetzt vielleicht doch ohne Steinigung davon. Eilig liefen die Menschen durch Felssplitter und Geröll, bis sie die spiegelnde Wand vor sich sahen. Leop konnte nur hoffen, dass dieser Übergang näher an die Erde führte. Laut Tiga hatte der nachmittägliche Vogelschwarm behauptet, es gäbe nur sechs Welten im Omega. Nach Leops Zählung konnte das nicht stimmen, aber auch Vogelschwärme mochten sich irren. Auf jeden Fall musste die Anzahl der Welten im Hai endlich sein, denn auch die Größe des ominösen Vektors, von dem der Vermittler gesprochen hatte, war endlich. Je mehr Welten sie aufsuchten, umso wahrscheinlicher war es, dass sie die Erde fanden. Der Wind schien einen fernen Schrei heranzutragen. Leop, Tiga und Aric sahen sich nicht um, bevor sie die Grenze überschritten, den schmalen Weg zwischen den Welten kreuzten und in die Blase gegenüber eintauchten. Unvermittelt schlossen sie die Augen. Weiß. Aric brabbelte undeutlich, Tiga entfuhr ein tiefer Seufzer. »Was ist das?«, hauchte Leop. Er drehte den Kopf nach links, aber sein Blick blieb an nichts hängen. Er sah nach unten, aber der Boden war einfach nur weiß. »Hier bleibe ich nicht«, sagte Tiga entschieden. »Wa … da!«, machte Aric. Seine Stimme zitterte, als er mit dem Finger in die weiße Ferne wies. »Was?« Leop verengte die Augen zu Schlitzen. Ja, da war etwas. Ein dunkler Punkt, oder mehrere. Vielleicht eine weitere
Spiegelblase in großer Entfernung? »Worauf wartet ihr?«, fragte Tiga und trat den Rückzug an. »Wir bleiben hier«, sagte Leop fest. »Seht ihr nicht, dass diese Welt etwas besonderes ist? Vielleicht erfahren wir hier …« »Das sind Leute«, sagte Aric, der sich ein paar Schritte entfernt hatte. Leop fröstelte. »Leute?« »Ich bin müde«, beschwerte sich Tiga. »Sie bewegen sich«, meinte Aric. Unschlüssig sah Leop zu Tiga, die drauf und dran war, durch die Spiegelwand zu schlüpfen. »Wenn ich Unrecht habe, danke ich ab«, sagte Leop. »Aber vorher gehen wir zu diesen Leuten da.« Tiga sah unzufrieden in die Ferne. »Von mir aus. Mir egal.« »Es ist dir nicht egal«, sagte Aric. »Ich kenn dich doch.« »Was soll das heißen … du kennst mich?« »Ich kenne dich«, nickte Aric. »Ich habe jede Folge gesehen. Von der Show. Alles.« Leop sah, wie Tigas Gesichtszüge entgleisten. Sonst war sie schlagfertig, jetzt fehlten ihr die Worte. »Und ich war bei deiner Krönung. Ich bin da fast totgetrampelt worden, aber ich war da. Weil ich dich nämlich liebe.« Seine Stimme überschlug sich, die Worte färbten das allgegenwärtige Weiß einen Moment lang quietschbunt. Leop griff nach Arics Arm, der unkontrolliert zitterte. »Ruhig«, flüsterte Leop, weil ihm nichts besseres einfiel. »Ganz ruhig.« In Tigas Gesicht arbeitete es. Sie sah Aric in die Augen, bis der den Blick senkte.
»Gut«, durchbrach Tiga schließlich die Stille. »Gehen wir.« Sie schritt voran, und die beiden Männer folgten ihr. Nach einigen Schritten erkannten sie, dass der Punkt in der Ferne tatsächlich eine Personengruppe war. Mindestens drei Leute standen oder saßen dort und bewegten sich kaum. »Die … die kenn ich doch«, flüsterte Aric plötzlich, nachdem sie sich schweigend genähert hatten. »Woher?«, fragte Leop, der sich darüber ärgerte, dass Aric offenbar über weitaus schärfere Augen verfügte als er. »Da, wo wir zuerst waren. Die Steeldogs, meine ich. Da waren diese Hundepriester. Mit Bauchläden.« »Bauchläden?«, fragte Leop verständnislos. »Ja«, nickte Aric. »Hab ich auch nicht kapiert. Sie hatten Bauchläden mit bunten Perlen drin, damit haben sie ständig gespielt.« Für Leop klang das kaum glaubhaft, und Tiga hatte gar nicht zugehört. »Guck … da …«, stotterte Aric. Aber Leop musste gar nicht fragen. Auch er sah die Frau, die zwischen den Hunden auf dem weißen Boden saß. »Hey!«, rief Tiga und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte die volle Aufmerksamkeit der Gruppe. »Wunderbar«, murmelte Leop. »Aber …« Die Frau erhob sich. Ihre Haare schienen angesengt zu sein, aber ihre Augen leuchteten. »Bist du … sind Sie …« »Sie ist es«, sagte Leop und blieb stehen. Sofort baute sich einer der drei Hunde vor ihm auf und begann, hektisch Perlen in seinem Bauchladen hin und her zu schieben.
Verständnislos sah Leop dabei zu. »Vermutlich sagt er sowas wie: Herzlich willkommen, Versuchskaninchen«, seufzte die Frau. »Mein Name ist Aniaa Karim, und wer seid ihr?« Leop und Aric stellten sich vor, während die Hunde leise knurrten. Vielleicht nannten auch sie ihre Namen. »Was sind das für … Wesen?«, fragte Leop Aniaa. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, sind sie Wissenschaftler. Sie kommunizieren mit diesen Perlen. Ziemlich ungewohnt. Sprechen können sie nicht.« »Und was machst du hier?«, fragte Tiga. »Ich warte auf … jemanden.« Sie lächelte schüchtern. »Leider habe ich nicht damit gerechnet, dass es so lange dauert. Ich hab mir nichts zu essen mitgebracht.« Leop nahm den Rucksack ab. »Kein Problem«, meinte er. Er spürte, wie die Blicke der in weiße Umhänge gekleideten Hunde auf ihm ruhten. Leise spielten sie mit ihren Perlen, vielleicht lästerten sie über ihn. »Auf wen wartet man in einer weißen Welt?«, hakte Tiga nach. Aniaa holte tief Luft, dann machte sie eine umfassende Geste. »Auf die Welt, für die dieser Raum geschaffen wurde.« »Vyrroc?«, fragte Tiga scharfsinnig. »Woher …« Aniaa unterbrach sich und lächelte. »Na, es ist nicht schwer zu erraten. Vyrroc ist der nächstgelegene besiedelte Planet, von der Erde aus gesehen. Er wird als nächster verschlungen.« »Und du wartest … auf jemanden von Vyrroc?« »Eine Freundin.«
Leop reichte Aniaa eine Frucht, die wie eine braune, schrumpelige Gurke aussah. »Frisch aus der Vorratskammer der Harnok«, erklärte Leop. »Keine Ahnung, wie das Ding heißt, schmeckt aber gut und ist nahrhaft.« Dankbar nahm Aniaa die Gurke entgegen und biss hinein. Ein Hund tippte Aric auf den Arm. »Wohaaa!«, machte Aric. »Leop, guck dir das an!« Alle sahen auf das Bild, das der Hund mit seinen Perlen erstellt hatte. Es sah aus wie Pac-Man. »Sag mal …«, entfuhr es Leop, »das Bild kenn ich doch! Habt ihr uns das geschickt?« Röchelnd lachten die Hundepriester, spielten eifrig mit ihren Perlen und entfernten sich ein Stück von den Menschen. »Die gehen mir auf die Nerven«, presste Leop hervor. »Ich finde sie amüsant«, lachte Tiga. »Sie haben mir erklärt, dass sie den Vyrroc eine andere Botschaft übermittelt haben«, sagte Aniaa. »Pac-Man?« Aric staunte mit hemmungslos offenem Mund. »Eine andere Botschaft?« »Glaube ich verstanden zu haben, ja.« Aniaa zuckte mit den Schultern und biss erneut in ihre Schrumpelgurke. »Sie haben mit ihren Perlen etwas gezeichnet, das wie ein Vyrroc aussah. Und den Hai, und einen Planeten, und das Pr-akyoc. Und so weiter.« Als Tiga und Leop den gleichen Gesichtsausdruck zeigten wie Aric, nickte Aniaa. »Das Pr-akyoc ist ein bestimmtes Symbol in der rituellen Vyrroc-Bildsprache. Man kann es nicht übersetzen, aber es steckt eine Art Erlösungsglauben im Zusammenhang mit der Symbiose dahinter.«
Leop nickte. »In Kanada gibt … gab es auch so eine Sekte.« »Gibt«, korrigierte Aniaa und lächelte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sie noch gibt.« »Die Hunde haben den Vyrroc ein Symbol der Erlösung geschickt? Und uns Pac-Man?«, fragte die Kaiserin. »Scheint so«, murmelte Leop und beäugte die Hundepriester, die den Eindruck erweckten, als heckten sie den nächsten Streich aus. »Während sich auf der Erde Angst ausbreitete, glauben die Vyrroc – zumindest gläubige Vyrroc – jetzt an die Erlösung durch den Hai?« »Das ist das Experiment der Perlenschieber«, nickte Leop und zeigte unfreundlich auf die Hundepriester. Plötzlich schrie Aniaa: »Es geht los!« Ihre Stimme überschlug sich, sie sprang hoch, zeigte in die Ferne. »Tatsächlich«, meinte Tiga. Leop sah in die gleiche Richtung. Eine Bergkette erschien am Horizont, als wäre sie schon die ganze Zeit da gewesen, nur hinter weißem Nebel verborgen. Dämmerung fiel über das endlose Weiß. »Hoffentlich erscheint so ein Berg nicht genau hier«, murmelte Leop. »Was? Was?«, stieß Aric hervor. »Schlimmer«, rief Tiga, die eilig auf eine Betonbrüstung kletterte, die direkt vor ihr aufgetaucht war. »Was – ist – das?!«, schrie Aric und hüpfte auf einem Bein, weil der Boden plötzlich grau und voller Käfer war. »Willkommen auf Vyrroc«, lachte Aniaa und kletterte zu Tiga. Aus dem Nichts erschienen graue, rundliche Gebäude, ge-
schmückt mit Fahnen, verbunden durch schmale Brücken aus Beton, auf denen zahllose Vyrroc standen, lärmten und – tanzten! Ja, sie tanzten, waren angekommen im Vektor, in der Erlösung, der Symbiose, im Pr-akyoc, im ewigen Leben, dem Omega … »Ich werde jetzt sofort wahnsinnig«, verkündete Leop und wischte sich eine verirrte Träne ab, während er sich an der Brüstung festhielt, auf der die beiden Frauen saßen. Aric klammerte sich an einen Pfahl wie ein Ertrinkender, wich den Käfern aus, die nichts anderes waren als Allzweck-Symbionten, die Infrastruktur von Vyrroc. Leop genoss die Aussicht, das pulsierende Leben, die Ankunft, die Vereinigung, die schräge Vyrroc-Architektur. Er nahm die Eindrücke in sich auf, bekam gar nicht mit, dass Aniaa sich einen der krabbelnden Symbionten schnappte, ans Ohr hielt und versuchte, ein Telefongespräch zu führen. Vyrroc liefen vorbei, schüttelten Leop, Tiga und auch Aric die Hand, begrüßten sie, hießen sie willkommen, einige sogar auf Deutsch, wenngleich kaum verständlich vor Lärm und Chaos. »Sie kommen!«, rief Aniaa plötzlich, »so ein Zufall, es ist gar nicht weit!« Sie tanzte mit sich selbst auf der schmalen Brüstung, während Aric und Tiga sich gegenseitig festhielten, um nicht den Verstand zu verlieren. Tapfer nahmen sie die Grüße der Vyrroc entgegen, warfen Leop gelegentlich verzweifelte Blicke zu, brachten aber irgendwann ein halbwegs erleichtertes Lächeln zustande. Ein Trupp mit bunten Fahnen zog vorbei, darauf war ein kompliziertes
Symbol gemalt – vermutlich das ominöse Pr-akyoc. Minuten später saßen die Menschen übermüdet auf ihrer Brüstung, planlos, kraftlos, überfordert von den Eindrücken der Vyrroc-Symbiose mit ihren scheinbar unendlich vielen Käferbeinen. »Was nun?«, fragte Tiga. »Wir finden die Erde«, antwortete Leop mit aller Selbstsicherheit, die ihm noch blieb. »Wir …« »Aniaa!«, rief eine unbekannte Stimme. Die Angesprochene sprang auf, stürmte auf die Brücke, einer Vyrroc entgegen, die ein Baby bei sich hatte. Fassungslos beobachteten die Menschen eine Wiedersehensfreude, die sie noch nie zuvor erlebt hatten, weil keiner von ihnen je eine so enge Beziehung eingegangen war. Aniaa und die Vyrroc drückten sich aneinander, dass der Panzer knackte. Schließlich näherten sie sich Hand in Hand, Aniaas Gesicht war nass, glänzte und leuchtete. »Ich bin Pschist-i«, stellte die Vyrroc-Frau sich vor. »Ich bin Aniaas Fcheundin.« »Freut mich, äh, dich kennenzulernen«, sagte Aric und sah unsicher zu Tiga. Die nickte, begrüßte Pschist-i ebenfalls. »Ist das dein Baby?« »Ja«, antwortete Pschist-i, und Aniaa schmiegte sich an ihren löchrigen Panzer. »Sein Name icht Schiut-e. Es wuchde auf der Echde gebo'en.« »Was für eine Zusammenkunft!« Tiga strahlte mit Aniaa um die Wette und sah in diesem Moment wieder wie die Kaiserin aus. Leop schüttelte Pschist-i die Hand. »Ein erstaunliches Treffen«, sagte er kopfschüttelnd und versuchte, sich an das richtige
Begrüßungsritual zu erinnern. Dann wandte die Vyrroc sich Aniaa zu. »Gehen wir jetcht nach hause?«. »Würde ich auch gerne«, sagte Leop mit belegter Stimme. »Hm«, meinte Aniaa und deutete mit dem Finger, »das müsste ungefähr da lang gehen.«
62 Mooha
»Man nennt ech Kzacht«, erklärte Pschist-i freundlich, als sie mit den befreundeten Menschen von einem überdimensionalen Tausendfüßler durch die Stadt Nschech-te-schecht getragen wurde. »Erinnert mich an eine Achterbahn«, lachte Tiga und jauchzte. Aric hielt sich krampfhaft an der knochigen Griffstange fest, als der Kzacht um eine enge Kurve bog und viel zu schnell steil bergab in einen Tunnel lief. »Ist das wirklich die richtige Richtung?«, stöhnte Leop, der hinter Aniaa saß. Er wollte es vermeiden, mit dem ungewohnten Transportmittel unnötige Umwege zu machen. »Auf jeden Fall«, rief Aniaa, um das Rauschen der Luft und das Klappern der Beine zu übertönen. »An der nächsten Station steigen wir aus.« »Gut. Sehr gut.« Leop nickte und presste die Lippen aufeinander. Er wusste die Blicke zahlreicher Vyrroc-Fahrgäste auf sich und wollte keine lächerliche Figur abgeben. Dankbar holte er Luft, als das Kzacht langsamer wurde und neben einem Bahnsteig verharrte. Aniaa hüpfte von dem Symbionten herunter, die anderen taten es ihr gleich. Vyrroc grüßten freundlich, indem sie die Gesichter verzogen. Sie nahmen in aller Ruhe die freien Plätze
ein. Mit leicht zitternden Knien beobachtete Leop, wie sich das Kzacht erneut in Bewegung setzte und schnell an Tempo gewann. Schließlich verschwanden auch die letzten Beine hinter einer scharfen Kurve. »Ob man eine Kzacht-Linie zwischen dieser und unserer Welt einrichten könnte?«, fragte Tiga. »Großartige Idee«, nickte Leop und sah misstrauisch den symbiontischen Käfern zu, die überall auf dem Boden umher rannten. »Ja«, rief Aric, »dann könnten wir immer mal hierher kommen, und … und …« Er zuckte mit den Schultern. Leop vermutete Ironie, aber die kannte er gar nicht von Aric. »Wohin jetzt?«, fragte Tiga Aniaa. Die strich sich durch die Haare und sah sich unschlüssig um. »Wir fragen einfach die Vyrroc hier, ob sie in der Nähe eine Silberblase gesehen haben.« Sie machte einen Schritt auf eine Gruppe Vyrroc zu, die blaue Wimpel an ihren Exoskeletten trugen und vermutlich auf einen Kzacht in die andere Richtung warteten. »Chwech … k … äh …« Die Vyrroc sahen sie verständnislos an. »Lass mich das machen«, sagte Pschist-i freundlich. Sie unterhielt sich kurz und krachend mit ihren Landsleuten. Dann zeigte sie nach links. »Hich entlang. In Küchze wechden sichech Wegweisech aufchestellt.« Die Vyrroc ging mit ihrem Baby vorweg, die Menschen folgten ihr. Sie kletterten eine steile schiefe Ebene hinauf, durchquerten eine Nische zwischen zwei hohen Gebäuden, gingen um eine
Ecke – und standen auf einem bunt geschmückten Platz, in dessen Mitte sich eine silberne Spiegelwölbung erhob. Pr-akyoc-Fähnchen hingen an den Häuserwänden, mit Girlanden behängte Vyrroc standen um den Übergang herum, unterhielten sich mit Menschen, boten ihnen Getränke und Imbisse an. Sogar bunte Reiseführer meinte Leop sehen zu können. »Menschen!«, freute sich Aric. »Hoffentlich wollen die nicht alle ein Autogramm«, murmelte Tiga. »Kommt!«, rief Aniaa, die mit Pschist-i an der Hand auf den Platz lief. Tiga folgte eilig und mit gesenktem Blick, Aric und Leop ebenfalls. Vor der Spiegelwand blieb Aniaa stehen und drehte sich noch einmal um. »Jetzt gehen wir wirklich nach Hause«, sagte sie. Ihr Gesicht zeigte Freude, Erleichterung und noch etwas, aber das konnte Leop nicht einordnen. Zwei, drei Schritte später standen die vier Menschen und die Vyrroc auf der Erde. Vier, fünf Stunden danach stand Leop allein vor einem Bürogebäude mitten in Heidelberg. Über ihm prangte das Animax-Logo, auf dem Spamtauben saßen und ihm die neuesten Werbeslogans entgegenschleuderten. Leops Hand zitterte, als er die gläserne Eingangstür aufstieß. Er durchquerte die Halle, erreichte den Mitarbeiter-Zugang. Ertappte sich dabei, wie er zwei Treppenstufen auf einmal nahm. Erstaunlich war, dass scheinbar nichts darauf hindeutete, dass die Erde nun Teil eines ominösen Vektors war. Die Men-
schen schienen weiterzumachen wie bisher. Und doch fühlte sich die Welt anders an, jetzt, wo sie unterwegs zum Omegapunkt war, jener Unendlichkeit, von der ein gewisser Schneckenpriester behauptet hatte, sie sei die Rettung durch die Götter. Leop war auf dem Weg zu seinem persönlichen Omegapunkt. Jede Reise musste ein Ziel haben, ein Ende. Selbst, wenn dort nur die nächste Reise ihren Anfang nehmen würde. Mit klopfendem Herzen schlich Leop den Gang entlang, ignorierte die irritierten Blicke seiner Kollegen. Immerhin sah er so aus, als hätte er sich seit Tagen nicht gewaschen, und möglicherweise roch er auch so. Leop merkte, dass er immer langsamer wurde. Warum hatte er Angst vor dem Blick um die Ecke, den Schritt durch jene Bürotür direkt vor ihm? Angst vor einem leeren Stuhl? Oder Angst vor … Leop schüttelte den Kopf, schluckte, machte den letzten Schritt. Der Stuhl war nicht leer. Mooha sah auf. Staunen eroberte ihre Züge, als sie Leop erkannte. »Leop!« Sie stand auf und sah ihn von oben bis unten an. »Was hast du gemacht?« »Oh, nichts weiter. Bin bloß in einem Käfer geflogen, und der wurde von einem Hai verschluckt.« Leop grinste. »Soll ich's dir beim Mittagessen erzählen?«