KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KüLTUKKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Die Ungarnschlacht a...
49 downloads
778 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KüLTUKKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
Die Ungarnschlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Die Steppenreiter
D
ie Heimat der Ungarn lag im Osten, im fernen Rußland. Sie weideten ihre Herden im mittleren Wolgagebiet und waren einer der vielen Stämme der finnisch-ugrischen Völkergruppe diesseits des Uralgebirges. Nach Süden hin, in der Steppe am Rand des Kaspischen Meeres, standen die Jurten, die Lederzelte, ihrer Vettern, der Ostjaken und Wogulen. Die Lebensgebiete der Stämme aber waren nicht abgesteckt. In der Endlosigkeit des Graslandes flössen die Grenzen hin und her. Es gab ständig Kämpfe mit den Nachbarn, die mit ihren Herden in die Triften einbrachen, die andere für sich beanspruchten; man stritt immer um Weide und Wasser. Das erhielt die Hirten kampfbereit und angriffslustig. Viehraub und Überfälle auf die Lager schwächerer Horden galten als preiswürdige Taten, über die man beim Spiel der Saiteninstrumente, beim Gequak der Dudelsäcke oder unter dem Gekreisch der Knochenflöten am Lagerfeuer vielstrophige Lieder sang. In ständigem Kampf lagen die Ungarn vor allem mit den verhaßten Awaren. einem tartarischen, den Hunnen verwandten Volk, das seine Pferde- und Rinderherden am Don und am Asowschen. Meer züchtete und auf der Suche nach immer neuen Weiden tief 2
in der östlichen Steppe, bis an den Stromlauf der Wolga hinübertrieben, wo die Ungarn hausten. An der unteren Wolga wareii Nachbarn die Bulgaren — ein Mischvolk aus finnisch-ugrischen und slawischen Stämmen —, und auch sie standen mit den Ungarn auf Kriegsfuß. So strömten die Horden hin und her, die Suche nach Weide und Wasser lenkte ihre Züge; ihre Zeltstädte wanderten mit den Jahreszeiten, mit den Regengüssen oder der Dürre. Bald schlugen sie die runden Lederzelte am Ufer eines Flusses oder am Gestade eines Salzsees auf, bald wieder zogen sie im langsamen Weidetrott hinter den Herden drein — ohne Ziel und ohne besondere Absicht, angeführt vom Instinkt ihrer Tiere. Im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. war zweimal der Sturmlauf der Hunnen über das wilde Hirtenland weggebraust. Abgesplitterte Teile der seit dem Tode Attilas nach Asien zurückflutenden Hunnen vermischten sich mit den Ungarn, durchsetzten das Blut der Unterlegenen und ließen sie für lange Zeit schreckliche Nachfahren der Attila-Horden im Abendland werden. Die Völker der Steppe unterschieden sich zuletzt kaum noch von den Hunnen. Sie glaubten an Dämonen und führten in den Satteltaschen selbstgeschnitzte Götzenbilder mit sich und flehten zu ihnen um gutes Wetter, um Wasser oder Sieg. Verweigerten die Götzen ihre Hilfe, so züchtigte man sie rachsüchtig durch Rutenstreiche, spie sie an und beschimpfte sie. Gingen die Wünsche aber in Erfüllung, so wurden die Fetische mit goldgelber Butter bestrichen oder mit Kwaß — einem Getränk aus gegorener Stutenmilch — überschüttet. Die Ungarn und alle Stämme ringsum wurden von Fürsten oder Chanen beherrscht. Die Horden standen unter dem Befehl von ,Chaganen' — Häuptlingen von beinahe unbeschränkter Gewalt. Schamanen wirkten unter ihnen als Medizinmänner und Zauberer: schreckliche, mit Gesichtsmasken, Federn, Schminke und phantastischem Kopfputz ins übermenschliche erhobene Götzenpriester, die großen Einfluß besaßen. In den Tagen, in denen das schwer umstürmte Oströmische Reich von dem großen Kaiser Justinian regiert wurde, geschah es, daß in die Steppe der Hirtenvölker ein fremder Stamm siegreich 3
einbrach: turkmenische Kriegsscharen, vielleicht Vorfahren der späteren Türken. Sie trieben die Awaren aus dem Land, die Awaren stießen auf die Ungarn. So machten sich auch die Ungarn auf, wanderten mit Jurten und Herden westwärts und gerieten ins Weidegebiet der Bulgaren, denen sie fortan Tribut bezahlen mußten. Die Awaren hatten sich unterdessen, immer noch von der Türkenfurcht erfüllt, südwärts gewandt und dem Kaiser Justinian ihre Dienste angeboten. Im Jahre 558 zogen die awarischen Steppenreiter durch Südrußland in römisches Hoheitsgebiet und wurden Söldner in oströmischen Diensten. Der Kaiser warf sie an die bedrohte Donaugrenze, wo sie gegen Slawen und Bulgaren kämpften und schließlich als wehrhafter und räuberischer Haufe in der Provinz Pannonien angesiedelt wurden. Von hier aus beunruhigten ihre Raubzüge Jahrhunderte lang die Völker. Erst Karl der Große löschte ihren Namen aus der ferneren Geschichte. Die Reste des geschlagenen Volkes wanderten vermutlich zurück in den Osten. Gegen Ende des 9. Jahrhunderts wurden die Ungarn durch die oströmischen Kaiser in die gleiche Provinz Pannonien eingewiesen, die vor ihnen die Awaren innegehabt hatten. Sie zogen in den Tagen, da im Westen die Nachfahren Karls des Großen Europa in Bruderkämpfen entzweiten, in die Donau- und Theißebene und schlugen ihre Zeltstädte im weitausgedehnten Steppenland der Pußta auf. Das Abendland hatte erneut ein Reiter- und Räubervolk als gefährlichen Nachbarn erhalten. Aus dem gleichen Wetterwinkel Pannoniens und der Pußta, aus dem die Gewitter der Hunnen und Awaren Europa überfielen, werden schon bald die Ungarn ihre Sturmfronten hervorbrechen lassen.
Das neue Land . . . Welch ein herrliches Land bietet sich den berittenen Hirten, die von Herzog Almus und nach dessen Tod von Herzog Arpad angeführt werden! Umschlossen von ausgedehnten Gebirgszügen — den Karpaten im Norden und Osten, den Ausläufern der Alpen im Westen und
4
Der Einbruch der Ungarn aus dem Osten und ihre Haubzüge durch Europa
den Balkanbergen im Süden — breitet sich eine riesige Tiefebene aus. Eine Gebirgsschwelle, die aus dem Zuge der Ostalpen hervorstößt, teilt sie in zwei ungleiche Hälften. Vom Plattensee heraufkommend und den Strom überquerend, zieht diese Schwelle sich nach Nordosten hin. Hügel, die in ruhigen Wellen dahinfließen, fruchtbare Flußniederungen und grüne Flächen, die von geringem Waldwuchs durchsetzt sind, kennzeichnen die Landschaft, östlich des trennenden Gebirgszuges dehnt sich der größere Teil der ungarischen Tiefebene, das Alföld: eine unendliche, von saftigem Gras wogende Weite, in die manchmal steppenartige, sandige und steinige Strecken eingestreut sind. An den Ufern der großen Ströme Theiß und Donau, die hier fast genau nach Süden fließen, gibt es Sumpf- und Moorgebiete. Fast sechshundert Flüsse und Bäche bewässern das Heideund Grasland, das sich bäum- und strauchlos von Horizont zu Horizont dehnt. 5
Diese riesige Ebene — man wird sie später Ungarn nennen — ist wie geschaffen für Hirtenvölker, die mit ihren Herden das ganze Jahr in Bewegung sind. Wie sie in den Steppen des Ostens gelebt haben, so leben die Ungarn auch in der neuen Heimat meist in flüchtig eingerichteten Zelten aus Leder und Filz und in Erdhöhlen. Nur in den Lagern ihrer Fürsten gibt es hölzerne Hallen und Pferche, Blockhütten und Erdwälle, die sich in schützenden Ringen um die Niederlassung ziehen. Die Götzenpriester und ihr Zauberspuk bestimmen auch jetzt; noch das religiöse Leben der wandernden Stämme. Die letzten, Reste der christlichen Mission, die durch die Franken nach Pan-; nonien gebracht worden war, schwinden schnell dahin. Der Geist der Steppe, die ewige Unruhe und der Drang nach immer neuen, besseren Weidegründen, nach Beute und Raubfahrt ins Nachbarland, beherrscht das Leben. Die Ungarn überschreiten bald ihre. Grenzen, zerstören die Anfänge des Großmährischen Reiches, das sich im heutigen tschechischen Raum eben zu bilden beginnt, und streifen donauaufwärts, wo sich die Pioniergrenze des ,Wilden Ostens' Europas hinzieht. Langsam sind hier seit den Tagen Karls des Großen die zähen bayerischen Kolonisten über die Enns vorgedrungen, haben mit Pflug und Axt das ehemals von Römern, dann von Langobarden, und später von Awaren beherrschte Land der deutschen Ostmark, das heutige Österreich, in Besitz genommen. Wo die stämmigen, aus Balken oder Bruchsteinen gefügten Bauernkirchen sich auf Hügeln und Felsen erheben, wo einmal das Kreuz im Morgenlichte zu strahlen begonnen hat, wo die deutschen Freibauernhöfe und Adels-Wallburgen stehen, hat auch die höhere Kultur ihren Einzug gehalten. An der Enns stoßen Ost und West, Abendland und der Geist den Steppe aufeinander. Ein langer Kampf hebt an.
Bayrische Grenzwacht Seit uralten Tagen zieht vom Rhein her die Nibelungenstraßc entlang der Donau gen Passau und folgt dann dem weiter werdenden Tal des Stromes nach Melk, Mautern, Tulln und Wien und 6
verliert sich im Ungarland. Ihr ferneres Ziel ist das Goldene Byzanz. Schon die frühesten bayrischen Herzöge haben den Überschuß an Bauernsöhnen hinab ins neue Land geschickt, fromme Mönche aus Tegernsee gründeten in der Ostmark das Kloster St. Polten, von Salzburg aus wurden mehr als fünfundzwanzig Kirchen im Leithagebiet gebaut. Kremsmünster an der mittleren Donau, Iniriehen im Pustertal sind bayrische Marksteine der Ostkolonisation, Wegzeichen der Richtung, in der sich das Bayernvolk ausdehnt. Aber all diese verheißungsvollen Anfänge werden überschattet durch die Ereignisse in den letzten Jahrzehnten des Karolingerreiches, als Ludwig das Kind — ein später Nachfahre des großen Karl — die Krone trägt. Die wirkliche Reichsgewalt liegt eifer-, süchtig gehütet in den Händen der Fürsten. Es gibt keine starke Kaisergewalt mehr, die den Grenzmarken Schutz gewähren könnte. Die Gefahr im Osten ist drohend geworden. Die wilden Reiterscharen der Ungarn haben die Pannonische Mark überschwärmt, die Bauernhöfe am Plattensee und an der Leitha brennen, fluch-' tende Kolonnen ziehen westwärts, der Ennsgrenze entgegen. Im Herbst des Jahres 900 erscheinen zum erstenmal ungarische Kriegshaufen vor den Wallburgen an der Enns. Da der schwache König dem Reiche kein Helfer sein kann, rafft sich der tapfere bayrische Markgraf Luitpold zur Tat auf. Er' ruft durch Herolde den bayrischen Heerbann zuhauf, ruft die alten bayrischen Adelsgeschlechter, die Bischöfe und Äbte, die wehrhaften Bauern und die Bürgerschaften der kleinen Städte. So ziehen sie, gerüstet mit Schuppenpanzern, bemalten Schilden, auf schweren Rossen, mit Lanzen, Schwertern und wehenden Wimpeln donauabwärts — den Nibelungen nicht nur an Kampfmut, sondern auch im tragischen Schicksal gleichend. Rumpelnd fahren die Planwagen des Trosses hinterdrein, lang ist der Heerwurm> der sich den blauen Strom entlangzieht. Als sie vor Wien die Enge der waldigen Berge verlassen und sich die grüne Ebene des Marchfeldes vor ihnen dehnt, sehen sie ringsum auf den fernen Höhen und inmitten der Steppe Rauchsäulen aufsteigen, balliges grauschwarzes Gewölk, das sich in regelmäßigen Abständen in die klare Luft erhebt.
7
Sie traben auf das ferne Preßburg zu, aber als sie die Mitte des Marchfeldes erreicht haben, bricht das Unheil herein. Die weite Grasebene bedeckt sich mit dunklen Punkten, in langen Strichen ziehen ungarische Reitergeschwader heran. Pfeile verdunkeln das Licht, wie Schatten tauchen die Gespenster der Steppe ringsum auf, das bayrische Heer sieht sich inmitten eines Gewoges von flinken, kaum faßbaren Reitern. Und sie finden alle den Tod: es fällt Markgraf Luitpold, es fallen der tapfere Erzbischof von Salzburg, der wehrhafte Bischof von Freising und der von Säben; beinahe der gesamte bayrische Hochadel liegt am Abend dieses Unglückstages auf der Walstatt bei Preßburg. Für die Ungarn aber ist fortan der Weg nach dem Westen frei. Wie einst durch die Hunnen und Araber und später durch die Mongolen sieht sich das Abendland der Gefahr der Überfremdung anheimgegeben. Dieses Jahr 907 eröffnet eine lange Leidenszeit der deutschen Lande. Alle Bauern jenseits der Ennsgrenze flüchten, so weit sie noch können, nach Westen zurück ins Reich. Die Kette der Wallburgen und Wehrkirchen an der Enns ist durchbrochen; die Ungarn reiten durch reiches, entblößtes Bauernland. Selbst die Siege, die der junge Herzog Arnulf von Bayern, Sohn und Nachfolger Luitpolds, an der Rott und am Inn erringt, können die wilden Reiter nicht mehr aufhalten. Immer neue Scharen dringen zur Saatzeit oder nach der Ernte in die bayrischen Gaue, bald tauchen Ungarn auch im Schwäbischen und am Bodensee auf, einzelne Streifkorps wagen sich keck bis Burgund und Frankreich vor. In dieser Not, die zur allgemeinen Bedrängnis zu werden droht, überwinden die deutschen Stammesfürsten endlich ihre Uneinigkeit und wählen nach dem Ende der Karolingerherrschaft im Jahre 911 wieder einen gemeinsamen König: Konrad, den Herzog von Franken. Da es aber bald zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Königs- und Herzogsmacht kommt und der Frankenkönig wider den Bayernherzog auszieht, sucht der bayrische Herzog Arnulf den Rücken freizubekommen und wählt den Ausgleich mit den Ungarn. Man glaubt, daß er in diesen schweren Tagen eine, ungarische Häuptlingstochter zur Gemahlin genommen und sei-
8
nen Frieden mit den Räubern gemacht habe. Ein dünnes Rinnsal von Handel gräbt sich nun wieder seinen Weg donauab nach Byzanz. Nach dem Tode König Konrads wird Herzog Heinrich von Sachsen als Heinrich I. zum neuen deutschen König gewählt — Schwaben und Bayern bleiben der Wahl fern und weigern sich lange, den neuen Herrn im deutschen Hause anzuerkennen. Die bayrischen Beziehungen zu den Ungarn haben sich indes zunehmend verschlechtert, und so erhebt sich erneut die Sturmflut aus dem Osten. Die Jahrbücher von Passau und auch die der im Herzen bayrischer Landschaft gelegenen Bischofsstadt Freising bringen aus dieser Zeit dürre Notizen, daß die Ungarn im Lande gewesen seien; das Schweigen der sonst so fabulierfreudigen Mönche über alle weiteren Umstände läßt darauf schließen, daß es keine bayrischen Siege mehr gegeben hat. Hinter den wenigen Zeilen der Chroniken verbirgt sich eine stumme Masse von Leid, Demütigung, Niederlage und Verwüstung. Immer tiefer und ungehemmter stoßen die Steppenreiter aus der Pußta nach dem Westen vor. Kaum ein Jahr ist ohne Ungarnnot — Bayern, Schwaben, Thüringen, selbst Elsaß-Lothringen und Norditalien bleiben nicht verschont.
Die Chronik von St. Gallen erzählt Als das Frühjahr 926 herankommt, gelangt Kunde an den Bodensee, daß ein neuer Einfall der Ungarn erfolgt sei. Mit den ersten warmen Winden des März sind die wilden Reiterhorden wieder einmal ins Bauernland ob der Enns eingeritten. Der Brandschein der Gehöfte und Dörfer beleuchtet den Räubern die Straße zum Inn, den sie trotz der abgebrochenen Holzbrücken auf Furten überschreiten. Man hört, daß die Bischofsstadt Freising eingeschlossen sei und daß ein großer Haufe Ungarn nun vor Augsburg liege und es bestürme. Augsburg, das der römische Geschichtsschreiber Tacitus einst „die glanzvolle Koloniestadt der Provinz Rätien" genannt hat, das Sitz eines römischen Statthalters und der große Markt der keltischen und germanischen Stämme gewesen ist, hat in den Tagen der Völkerwanderung eine niedrige Mauer und einen Wallgraben 9
bekommen. Aber diese Befestigungen sind unterdessen verfallen — wer rechnet schon mitten im umhegten süddeutschen Raum mit den Angriffen fremder Völker! Jetzt vernimmt man in den Klöstern von St. Gallen und auf der Bodenseeinsel Reichenau, daß der Sturm immer näher rücke, daß aber der neue Bischof und Reichsfürst Ulrich von Augsburg den Ungarn Halt zu bieten suche und seine Stadt in Verteidigung setze. Trotzdem mehren sich gegen Mitte April die Unglücksbotschaften aus Schwaben und aus dem Unterallgäu: Die Steppenreiter sind nicht aufzuhalten. Weinbauern und Fischer vom Nordufer rudern über den Bodensee und melden, daß die gespenstischen Scharen sich drüben bereits bemerkbar machen. Da läßt Abt Engilbert von St. Gallen die Gefahr öffentlich von den Kanzeln verkünden, auf daß sich die hörigen Bauern und die Besitzer der Güter rings um das Kloster vorsehen. Im Klosterbereich — einer ausgedehnten Siedlung mit Gesindehäusern, Ställen, Werkstätten und Mönchswohnungen — werden Vorbereitungen zur Verteidigung getroffen. Abt Engilbert selbst legt einen Schuppenpanzer um, zieht Kutte und Stola darüber und gürtet sich mit dem Schwerte. Auch die Kräftigeren unter den Mönchen und Hörigen werden bewaffnet. In den Werkstätten werden Eschenspeere gefertigt, Schleudern geflochten, aus Lindenholz und ungegerbter Ochsenhaut Schilde hergestellt und aus Filz und Watte Behelfspanzer für die Bauern geschaffen. Da man nicht genug Eisen besitzt, geht man daran, Knüttel im Feuer zu härten und Stöcke zuzuspitzen oder auch nur Steine an Stielen zu befestigen. Sodann — als die Nachrichten alarmierender werden — läßt Abt Engilbert auf einem schmalen Berghalse im Walde eine Lichtung schlagen und den Zugang durch Gräben und Verhaue sperren. Dort wird eine Kapelle aus rohbehauenen Balken errichtet, in der die Mönche die Reliquienkreuze, die Kapseln mit den Totenverzeichnissen, die kostbaren Behälter mit den Buchrollen und die reichgeschmückten Buchbände, die Kelche, Kirchengeräte und den ganzen Schatz des Klosters aufbewahren. Nachdem dies alles geschehen ist, werden auch Vorkehrungen für eine Belagerung getroffen, indem man den Bauern befiehlt, Vorräte an Mehl, Butter, Eiern und Vieh in die Waldburg zu 10
schaffen. Dann bestimmt Abt Engilbert, daß die Mönche und die zum Kloster gehörigen Bauernfamilien sich in die Burg zu begeben hätten. Die Kranken, die Greise und die Kinder werden unter bewaffnetem Geleit an den Bodensee zur Wasserburg gebracht, die von Hörigen verteidigt werden soll. Die Späher auf der Höhe über St. Gallen melden schon am Abend des 28. April, daß sich der Horizont im Osten und Norden röte und daß deutlich erkennbare Brände am Himmel stünden. Am Morgen des 29. April kommen Flüchtlinge in Scharen herüber und berichten, daß die ungarischen Heiden dicht hinter ihnen seien. Der Klosterbering von St. Gallen ist fast menschenleer. Nur der alte Mönch Hitto, der Küster der St. Mangkirche und seine fromme Schwester Wiborada haben in einem Häuschen neben der Kirche die Türen und Fenster vermauern lassen und sind zurückgeblieben. Im Kloster selber, das einsam und verlassen daliegt, hat sich ein höchst einfältiger Bruder versteckt: Frater Heribald, der nicht zu überzeugen ist, daß ihm etwas geschehen könne. Am Mittag des 1. Mai tauchen die ersten Beiter unter dem Einfahrtstor des Klosters auf: es sind gelbhäutige und schwarzbärtige Gesellen mit gespannten Bogen und blanken Krummsäbeln, sie kauern geduckt in den Sätteln der schnaubenden Steppcnpferdchen. Als sie erkennen, daß die weitläufige Anlage leer ist, traben sie vorsichtig auf den Hof und springen von den Pferden. Der Hof füllt sich mit wilden Gestalten, lärmend und plündernd verteilen sie sich in das Kloster und die Wirtschaftsgebäude. Sie stoßen auch auf Bruder Heribald, den sie aber wegen seiner offenbaren Torheit glimpflich davonkommen lassen. Als sie entdecken, daß der Kirchenschatz davongetragen und daß außer einigen versilberten Leuchtern und vergoldeten Lichtkronen nichts zu gewinnen sei, schänden sie Gräber und Sarkophage und berauben die Toten ihrer Schätze. Es ist genug Geflügel, Vieh und Vorrat in den Kammern und Kellern zurückgeblieben, um den Beutezug zu feiern und den Tag prassend zu beschließen. Gegen Abend lohen riesige Feuer, ganze Ochsen drehen sich am Spieß. Die wilden Kerle reißen mit ihren Messern Fetze« halb11
1 garen Fleisches herunter und verschlingen es beinah roh. Den Bodenseewein trinken sie aus Helmen und Bronzekesseln, aus geweihten Schalen und heiligen Kelchen. Seltsame, fremdartige Gesänge steigen zum rotüberflammten Himmel empor, während viele von ihnen sich zu Waffenspielen und Schwerttänzen zusammenfinden. Den gefangenen Bruder Heribald zwingen sie, ein Lied in seiner Sprache zu singen. In seiner Herzensangst stimmt er den Chorgesang vom heiligen Kreuze an. Als die meisten Ungarn betrunken auf dem Stroh liegen, gelingt es Bruder Heribald, in den Wald zu entkommen. Glücklich erreicht er die Schar der Klosterbrüder auf dem Berge. Die Nacht ist durch die brennenden Gebäude im Tal taghell erleuchtet, so daß die Flüchtlinge sich in ihrer Bergstellung kaum zu regen wagen, aus Furcht entdeckt zu werden. Abt Engilbert läßt 6ich von Heribald berichten, was er erlebt und was die Ungarn angerichtet haben. „Es mißfiel mir sehr", erzählt daraufhin der einfältige Bruder, „ d a ß sie so ganz ohne Zucht waren. Ich sage euch, niemals vorher habe ich im Kloster des heiligen Gallus so grobe Leute ge J sehen; sie haben sich in der Kirche und im Kloster aufgeführt, als wären sie draußen auf der Wiese. Und als ich ihnen einmal mit der Hand ein Zeichen gab, damit sie an Gott denken und wenigstens in der Kirche leiser wirtschaften sollten, schlugen sie mich mit schweren Nackenstreichen. Doch das machten sie wieder gut, indem sie mir viel Wein brachten."
* Mehrere Tage warten und bangen die Leute hinter den Waldverhauen. Dann kommt die Botschaft, daß sich Konstanz innerhalb seiner Mauern verteidige, daß vor den Wällen aber alles ver-i brannt sei. Dem Kloster auf der Reichenau aber habe der Feind nichts anhaben können, da es der See beschirme, weil alle Schiffe rechtzeitig hinweggebracht worden seien. Zudem weiche die Hauptmacht der Ungarn langsam über den Rhein zurück, nachdem sie alles am Ufer zerstört und gemordet hätten. Endlich am 8. Mai wird offenbar, daß sich auch im Klosterbe^ reich von St. Gallen kein Feind mehr befindet. Unter Choralgesang
12
und mit ihren Waffen kehren Mönche und Bauern zurück. Sie finden den frommen Hitto in der St. Mangkirche erschlagen, die Leiche der Einsiedlerin Wiborada liegt in ihrer Zelle ausgestreckt. Das Kloster ist verwüstet und halb abgebrannt, aber die fleißigen Mönche säubern alles, bauen wieder auf und weihen die Räume neu. Am schlimmsten ist die drohende Hungersnot, weil kein Bauer wegen der herannahenden Feinde im April hatte pflügen und säen können. Man muß an befreundete Klöster um Hilfe schreiben. Dann sitzen die braven Mönche wieder an den Pulten und vervollständigen die Chroniken. In St. Gallen schreibt der Mönch Ekkehart IV. an seinem Geschichtswerk „Casus Sancti Galli", der Bruder Hartmann von Wasserburg berichtet vom gottseligen Leben und Sterben der Wiborada, und auf der Klosterinsel Reichenau verfaßt Mönch Herimann seine Chronik der Zeit.
König Heinrich der Städtegründer In denselben Jahren sind die ungarischen Raubscharen auch in den Norden des Reiches eingefallen; denn nach der Niederwerfung Mährens konnte niemand die Reitergeschwader aus der Pußta daran hindern, elbabwärts zur Saale und ins Vorland des Harzgebirges vorzustoßen. i Dort oben aber hat der sächsische Stamm begonnen, seine Marken nach Osten auszudehnen und die Slawen zurückzutreiben. Daj gibt es überall im dichten Urwald versteckte Wallburgen und Verhaue. Da sind die großen ,Königspfalzen', die Fronhöfe der Herzöge und jene befestigten Plätze, die noch aus Merowinger- oder Karolingertagen stammen. Je mehr Bauern gutes Ackerland hier im Osten unter den Pflug genommen haben, um so mehr feste Herzogshöfe sind gebaut worden. Doch ist vieles an Oker, Bodey Wipper und Unstrut bis zur Saale und Havel noch wildes, u m strittenes Land. Lange bevor die Ungarn gekommen sind, haben die Bauern böse Vorzeichen zu erkennen geglaubt. Das Brot hat geblutet, über die Brache sind Unmassen von Staren in wildem Zickzack geflogen, es hat Mißgeburten beim Vieh gegeben, Pest- und Sterbevögel sind 13
/
gesichtet worden, und eines Nachts steht eine feurige St&rnrute am Himmel. In den Jahrbüchern von Pöhlde ist all das angstvoll verzeichnet worden. Und wie das Frühjahr herankommt, fallen tatsächlich die Ungarn in großen Scharen über das Land her.
* Die Reiterhorden durchstreifen die Grenzmark, dringen bis ins nordwestdeutsche Herzogtum Sachsen vor und stecken Klöster und Bauerndörfer in Brand. In Herford schleppen sie eine Schar edler Frauen mit und führen sie, an ihren Haaren wie mit Zügeln verknüpft und an die Sattelknäufe gebunden, mit sich fort. Nur wenigen Bauern des Harzvorlandes gelingt es, ihre Weiber und Kinder in die umwallten Herzogspfalzen zu retten. Die Feste Werla füllt sich mehr und mehr. Ein weiter Ringwall ist aufgeschüttet, ein dichter Kranz von eingerammten und nach oben zugespitzten Pfählen sichert die Schanzen, überall arbeiten Bauern an der Abschrägung der Wälle, an der Vertiefung der Gräben. Ganz Werla ist ein Heerlager. Herzogliche Dienstmannen, Beamte. Hörige und Knechte, freie Heermänner und deren Familien drängen sich um Wagenburgen und Zelte. In der Mitte des umwallten Raumes liegt breit der Fronhof mit mehr als zwei Dutzend zugehörigen Gebäuden. An einem dieser Tage erscheint ein großer Reiterzug, mit Wagen, Pferdesänften und Karren vor Werla. Die schwerbewaffneten Männer sind abgehetzt: das ungarische Heer sei dicht hinter ihnen. Sie führen die Herzogin von Sachsen und Königin der Deutschen, Frau Mathildis, mit ihrem zwölfjährigen Sohne Otto mit sich. Kurz vor Einbruch der Nacht erscheint der neue deutsche König Heinrich I., Herzog von Sachsen, persönlich. Auch er ist mit Not den Teufelsreitern entgangen. Noch in der Nacht füllt sich der Umkreis von Werla mit dem Höllenspuk der Steppe, tausende Reiter bedecken Hügel und Täler, tosend schiebt sich der Sturm gegen Werla. Einen Tag und die darauffolgende Nacht wird erbittert gekämpft, Wolken von Brandpfeilen hüllen den seidigen Frühlingshimmel in gelb-schwarze Rauchwolken. Da geschieht es, daß bei einem Ausfall der Verteidiger einer der ungarischen Fürsten in 14
die Hände der Sachsen fällt. Triumphierend führen sie den Mann, der sich wie eine Wildkatze wehrt, hinter den Wall zurück. Die Ungarn nehmen Verhandlungen auf. Sie bieten Unmassen Goldes und Silbers für die Freigabe ihres Fürsten. Doch König Heinrich verschmäht die Schätze und fordert dafür: Freigabe der sächsischen Gefangenen sowie die Sicherung des Friedens. Gegen Entlassung seines Staatsgefangenen und Hingabe reicher Geschenke erhält der König endlich, was er begehrt. Für neun, Jahre wird Waffenstillstand geschlossen, freilich muß das Herzogtum Sachsen jedes Jahr den Frieden durch Tribute erkaufen. Als dieser Vertrag zustande gekommen ist, ziehen die Ungarn über die Saale ab und plündern nunmehr die Slawen der Lausitz aus.
Bis zum Tag von Riade ... König Heinrich und die Grenzbauern haben begriffen, daß der schwer bewegliche, meist zu F u ß kämpfende sächsische Heerbann — der sich erst nach Wochen sammelt — den rasch hereinstürmenden Ungarn nicht gewachsen ist. Die Tributzahlung ist vorläufig der einzige Ausweg aus der deutschen Not. Man gewinnt eine Atempause, die man nützen wird. Die vorhandenen Städte, Klöster und Pfalzen werden mit Mauern umgeben. Dann befiehlt König Heinrich, daß unter je neun freien Heermännern einer ausgewählt wird und künftig hinter den W ä l len neuerrichteter Burgplätze wohnen soll. Seine Aufgabe ist es, als berittener Gefolgsmann des Königs stets bereit zu sein, mit seinen Gefährten die Wallburg zu verteidigen: der Gewählte hat in der Burg die Quartiere für die Familien der acht übrigen Bauern instandzuhalten. Von aller Feldfrucht m u ß er von ihnen den dritten Teil in Empfang nehmen und hinter den Palisaden der neuen Wehranlagen für Kriegszeiten stapeln. Indem König Heinrich alle Gerichtstage und Märkte hinter die Wälle der festen Plätze verlegt und Straßen aushauen läßt, die aus dem weiten Bauernlande zu den Burgen führen, indem viele Handwerker und Kaufleute sich dort ansiedeln, wo gebaut wird und viele Menschen zusammenkommen, wachsen die Wallburgen bald zu kleinen Siedlungen auf, und die Bewohner der Burgen nennen sich 15
Bürger: Den neuen, berittenen Heerbann der Dienstmannen — jener Gefolgsleute, die zum Teil ohne freien Grundbesitz sind und nur ihr Roß, ihre Rüstung und ihre Waffen haben — übt König Heinrich auf den Planen ein und schmiedet sich ein Reiterheer, das er in den Grenzkriegen gegen die Böhmen und Havelslawen, in den Kämpfen unter den Wällen von Brennabor und Jahna, erprobt. Die Reitergefolgschaft lebt nach dem strengeren Hofrecht der herzoglichen Plätze, steht also unter minder freiem Recht als der ,Friling' — der freie Bauernkrieger. j Aber später werden die Berittenen durch verliehene Ländereien, die sie nutzen dürfen, entlohnt, sie werden Ritter, und als Vertreter der Herzogsgewalt oft zu Herren der Dörfer. Mit dieser Waffe in Händen schiebt Herr Heinrich die Marksteine Sachsens ostwärts voran, die neuen Marken legen sich künftig schützend vor die Altländer des Reiches. Acht Jahre lang bezahlt Sachsen den Ungarntribut. Als dann die Gesandten aus der Pußta wieder erscheinen, auch weiterhin die Abgaben zu fordern, wird ihnen noch vor Erreichen der Königspfalz die Antwort nach dem Brauch der Zeit sinnfällig vor Augen geführt: Ein Knecht wirft ihnen als Geschenk einen fetten Hund vor die Füße. Zornschnaubend ziehen die Gesandten ab. Was man erwarten mußte, tritt ein. Im Frühjahr 933 brechen ungeheure Scharen ungarischer Reiter über die Saale vor und beginnen die Marken zu verwüsten. Aber diesmal ist König Heinrich gerüstet; der neue Reiterheerbann steht bereit. Bei einem Ort namens Riade, an der Unstrut gelegen, hat Heinrich seine Krieger gesammelt. In stahlblitzenden Kolonnen, auf wuchtigen Rossen, gerüstet mit Schilden, Lanzen und Schwertern, durch stählerne Schuppen, die auf Lederwämser genäht sind, gegen die Pfeile der Ungarn geschützt, so warten die Ritter auf den, Zusammenstoß. Die Ungarn, die sich geteilt haben, rufen nun eilig ihre zerstreuten Scharen durch Rauchsignale zusammen und wälzen ihre überlegene Masse tobend das Unstruttal hinauf. Als die Ungarn hinter einer Biegung des Flußtales eine langausgedehnte Linie von schildbewehrten Bauernkriegern erkennen — ein ihnen vertrauter Anblick —, schwärmen sie aus und wollen nach ihrer Art die Bauern umkreisen und aus sicherer Ent16
St. Ulrich — Bischof und Reichsfürst, Verfechter der Reichsidee
fernung mit Pfeilen eindecken. Heulend und lärmend brausen sie näher, als sich jählings die Front der Fußkrieger öffnet und dahinter, aus einer Senke aufsteigend, ein blitzendes, wohlgepanzertes Reiterheer sich erhebt. König Heinrich, der die Heilige Lanze mit dem golden auf schwarzem Grund gestickten Banner des heiligen Michael voranträgt, zeigt mit dem blanken Schwerte auf den Feind. Tausende legen die Lanzen ein. In enggeschlossener Front donnernd und unwiderstehlich, wälzen sich die Gepanzerten gegen die wirren Haufen der Steppenleute. Das erste Ritterheer deutscher Geschichte erringt im ersten Ansturm einen leichten Sieg. Aufgelöst und weithin verfolgt, treiben zerzauste Kolonnen der Ungarn nach Osten zurück. . Fünf Jahre lang hat Sachsen Ruhe.
Sturm aui Augsburg In der folgenden Zeit richten die Ungarn ihre Plünderfahrten meist gegen Slawen und Balkanvölker, sie räubern in der unglücklichen Ostmark, stoßen immer wieder in kleinen Scharen in den, Kernraum des Reiches und selbst nach Norditalien vor — aber sie kehren bald wieder in ihre Heimat zurück. Im Reich ist inzwischen der kluge und ritterliche Sohn König Heinrichs als Otto I. seinem Vater nachgefolgt und hat sich in schweren Kämpfen gegen aufsässige Herzöge durchgesetzt. Selbst 6ein eigener Bruder Heinrich ist mehrmals wider ihn aufgestanden; später sind es Ottos Sohn Liudolf und der Schwiegersohn, Herzog Konrad, die sich der Reichsgewalt nicht beugen wollen. Nicht nur Ottos I. überlegene Persönlichkeit und sein Waffenglück stellen endlich die Einigkeit und Festigkeit der Herrschaft her; ihm kommt ein großer Mann zu Hilfe: es ist Bischof Ulrich von Augsburg, der Führer der geistlichen Fürsten im deutschen Räume. Bischof Ulrich von Augsburg ist der Sohn des reichbegüterten und angesehenen Grafen Hucpald und der Dietpirch, der Tochter des Markgrafen Burchard, ein Mann hochadeligen Geschlechts. Er ist im Kloster St. Gallen erzogen worden und hat noch den ehrwürdigen Abt Engilbert und den töricht-frommen Bruder Heribald "
18
I
gekannt. Später ist er Sekretär des großen Bischofs Adalbero von Augsburg gewesen und Verwalter auf den Gütern seiner Mutter. Im Jahre 923 hat ihm der deutsche König den Bischofsstab der Augsburger Diözese übergeben. Ulrich ist erfüllt von dem Gedanken des großen Bonifatius, der als Apostel Germaniens das Licht des Glaubens und der höheren Kultur nach dem Norden und Osten gebracht hat. Befreundet mit König Heinrich I., hat er erkannt, daß der Sieg des Christentums, der Triumph höherer Gesittung und die Stärke des Reichsgedankens eng miteinander verbunden sind. So arbeitet er unermüdlich an der Festigung der inneren Einheit und als Vermittler im Kampf der immer noch auseinanderstrebenden Reichsgewalten. König Heinrich I., der im Jahre 936 stirbt, ist eigentlich nur dem Namen nach Herr über die deutschen Lande gewesen und sein Lebtag vor allem Herzog von Sachsen geblieben; sein Sohn und Nachfolger Otto I. darf sich mit größerem Recht König der Deutschen nennen, seitdem Ulrich von Augsburg die Zwietracht im königlichen Hause und zwischen dem König und den deutschen Herzögen beigelegt und in den Stämmen das Bewußtsein der Schicksalsverbundenheit wachgerüttelt hat. Den Ungarn, die seit dem Jahre 954 das Reich von neuem heimsuchen, um sich endgültig hier niederzulassen, steht zum erstenmal ein in sich geschlossenes und von einem Herrscher geführtes Volk gegenüber. Im entscheidenden und letzten Augenblick ist die Versöhnung gelungen: schon im Jahre 955 fordert das Schicksal von den deutschen Stämmen die große abendländische Bewährung.
* Als der Frühling des Jahres 955 Föhnwolken von den Alpenbergen herantrieb und die Sonne den letzten Schnee von den blühenden Wiesen des bayrischen und schwäbischen Landes schmolz, kam böse Kunde über den Innfluß. Bauernfamilien mit Planwagen, Rossen und Viehherden brachten Nachricht, daß die wilden Ungarn wieder einmal unterwegs seien. Nach den Aussagen der vertriebenen Bauern der Ostmark waren gewaltige Reitermassen donauaufwärts im Anmarsch, fluteten über Dörfer und Verschanzungen hinweg und schienen den Weltunter19
gang nach Bayern zu tragen. Ängstlich schrieb der Mönch Gerhard in seine Chronik des heiligen Ulrich, die Ungarn hätten geprahlt: „Niemand kann uns diesmal besiegen, wenn uns nicht die Erde verschlingt oder der Himmel über uns zusammenstürzt." In Passau, Regensburg und Freising, hinter deren Mauern und Schanzen das Landvolk Schutz gesucht hatte, scharten sich die furchtsamen Menschen um die Flüchtlinge aus dem Osten und hörten erschreckt von den Untaten der Ungarn. Überall im Bayernland und auch im Schwäbischen läuteten die Kirchenglocken zu Gebet und Zusammenrottung. Die Bauern bauten fieberhaft an Dornverhauen und Verstecken tief in den bewaldeten Hügeln, in den Flußauen oder auf den Kuppen von Bergen; dorthin wurden das Vieh und die nötigste Habe gebracht. Auf den Gipfeln und Berghöhen spähten Tag und Nacht Wachtposten in die Runde. Die Städter verbesserten eifrig die verfallenen Mauern. Ein Unglück war es, daß eben jetzt der berufene Führer der Bayern — Herzog Heinrich — schwer krank in Regensburg lag. Wer sollte helfen? Als der Sommer ins Land kam und die Bauern eben die Ernte einfuhren, rötete sich der Himmel im Osten, fliehende Reiter sprengten über die Straßen, und es ging die Schreckenskunde durchs Land: Die Ungarn sind da! Sengend und brennend wälzte sich das Heer an den Wällen Regensburgs und Freisings vorbei gegen die reiche Stadt Augsburg. Die Ungarn überschritten den Lech an den Furten, verbrannten die außerhalb der Mauern stehende Kirche der heiligen Afra und begannen die Stadt einzuschließen. Augsburg besaß nur noch Reste der Ziegeltürme aus Römerzeiten und niedrige Mauern, sein Hauptschutz bestand aus Wassergräben, Erdwällen, Weidenschirmen und Palisaden. Aber es hatte Bischof Ulrich in seiner Mitte — einen von Mut und unerschütterlichem Gottvertrauen erfüllten Mann, der rechtzeitig die Ritterschaft des Bistums an sich gezogen und die Bürger zu den Waffen gerufen hatte. Vor dem Lechtor ballten sich gleich in den ersten Tagen der Belagerung die ungarischen Horden zusammen und versuchten, in die Stadt einzudringen. Da öffneten sich die Torflügel! Bischof Ul20
Ungarnschlacht — Buchmalerei aus dem Kloster St. Gallen (um 925)
rieh ritt im Priestergewand ohne Waffe und Wehr inmitten der Ritterschaft hervor. Während die Linke die Zügel hielt, schwang die Rechte beschwörend das goldstrahlende Kreuz. Die verzweifelt kämpfenden Ritter warfen die Belagerer zurück, die Ungarn begannen die Flucht, ihr Unterführer stürzte tödlich getroffen vom Pferd. Unversehrt von Pfeilen und Schleudersteinen, kehrte der Bischof mit seinen Mannen hinter die schützenden Wälle zurück. Dort herrschte Verzweiflung und Not. Weinendes Volk lag auf den Knien; Frauen und Kinder füllten klagend die Kirchen; jedermann glaubte, daß die Stadt — von allen verlassen — nicht lange werde widerstehen können. Aber der Bischof machte ihnen durch seine Predigt Mut. Er berief sich auf das Wort der Heiligen Schrift: ,,Und ob ich schon wandere in finsterem Tale, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist ja bei mir, o Gott!" Inzwischen trafen immer neue Massen von Ungarn in der Lechebene ein und umschlossen mit Verschanzungen, bunten, bewimpelten Zelten und Laubhütten die Stadt. So weit der Blick von den Mauern reichte, sah man weidende Rosse, wehende Roßschweife auf Lanzen, bezopfte Köpfe, rauchende Lagerfeuer und schreiende, phantastisch bekleidete Horden. Mit Schrecken bemerkten die Belagerten, daß die Ungarn diesmal begannen, aus umgehauenen Bäumen Belagerungsmaschinen, Schleudern, Rammen und Widder zu bauen; daß sie riesige Weidenschirme flochten und nahe heranschoben und im Schutze dieser Schilde ihre Pfeilschützen dicht unter den Wällen aufstellten. Mit geschwungenen Ledergeißeln jagten die Häuptlinge ihre Krieger in den Kampf. Kurz ehe die Ungarn mit dem Generalsturm auf Augsburg beginnen wollten — es waren die ersten Augusttage — geschah es, daß ein verräterischer Ritter, Herr Perechtold, der Sohn des Pfalzgrafen Annulf von der Reisenburg, bei Nacht in das Lager der Ungarn Einlaß begehrte und ihnen Mitteilung machte, daß König Otto mit großer Streitmacht auf heimlichen Wegen heranrücke. Mit dieser Judastat rächte sich Herr Perechtold dafür, daß man seine Familie einst bei der Verteilung der Ämter zurückgesetzt hatte. Diese Kunde veranlaßte den Führer der Ungarn, die Belagerung Augsburgs zu lockern und die Hauptmacht seiner Reiter in einen Hinterhalt zu legen. 22
Auigebot der deutschen Nation König Otto I. war im Sommer 955 von einem Gerichtstag in Franken nach seinem Stammlande Sachsen heimgekehrt, als er von ungarischen Gesandten aufgesucht und mit Geschenken und Beteuerungen der Freundschaft überschüttet wurde. Freundlich hatte er diese Boten entlassen; doch kaum waren sie verschwunden, als Eilkuriere seines Bruders Heinrich, des Herzogs von Bayern, anlangten und die Königsmacht zu Hilfe riefen. Die Ungarn hätten Bayern überfallen und dächten gewiß, daß sie, wie in vergangenen Tagen, ungestraft einen Teil Deutschlands plündern könnten, ohne daß die anderen Gaue zu Hilfe kämen. Aber die Verhältnisse hatten sich gewandelt. Der Gedanke des deutschen Königtums, die Idee der Einheit und Zusammengehörigkeit, war lebendig geworden. Der König galt im Bewußtsein der Menschen als der Wahrer des Rechts und Schützer des Friedens im Reiche. Bischof Ulrich von Augsburg und seiner bedrängten Stadt kam es nun zugute, daß er den Gedanken des christlichen Abendlandes und des deutschen Reiches so tatkräftig gefördert hatte. Sogleich schickte König Otto Kühigsboten an die Herzöge in Franken, Schwaben, Lothringen, Bayern und Böhmen, an die Kirchenfürsten und Markgrafen, und befahl ihnen, sich mit ihrem Heerbann an der Donau einzufinden. Er selber führte einen sächsischen Reiterschwarm — nur den schnell erreichbaren Teil der sächsischen Wehrkraft, der gerüstet hinter den Burgwällen lag — ins Feld. An der Donau stießen die Aufgebote ganz Deutschlands zu ihm; in Eilmärschen wandte sich der König der bedrohten Stadt zu.
* Auf den Ausläufern der Zusamhöhen. links des Lechflusses, hat König Otto das Lager aufgeschlagen. Schnell sind Baumsperren und niedrige Erdwälle aufgeführt, die Zufahrtswege werden von Bewaffneten bewacht, hinter der Umwallung sind Hunderte von Planwagen aufgefahren, die Proviant, Waffen und Gerät mitführen. Troßleute, Krämer und Weinschenken, fahrendes Volk und Gaukler hausen unter den Kriegern. Die W affenmänner der 23
verschiedenen Stämme haben ihre eigenen Quartiere rings um die Prunkzelte ihrer Herzöge; Banner wehen, und geweihte Feldzeichen stehen aufgerichtet vor den Zelten der Anführer. An langen Stangen sind die Streitrosse angekoppelt und werden von Pferdejungen gefüttert und getränkt. Die Küchen rauchen, in riesigen Eisenkesseln brodelt die Suppe. Das Lager wartet auf Nachricht von Augsburg. Gegen Abend kehren die ausgesandten Späher zurück und melden, daß das Herannahen des deutschen Heeres auch den Ungarnfürsten bekannt geworden sei und daß man vor Augsburg in Eile die Jurten abbreche und die Rosse zusammentreibe; die Ungarn strebten mit dem größten Teil ihres Heeres durch die angrenzende, dicht bewaldete Hügellandschaft heran. Nur ein geringer Trupp halte die Belagerung aufrecht. Als König Otto vernimmt, daß die Ungarn aufgebrochen seien, weiß er, daß die Entscheidung bevorsteht. In der Nacht zum 9. August erreicht Graf Diepold, der Bruder Bischof Ulrichs, den königlichen Heerbann und bestätigt die Nachricht vom Herannahen des Feindes. Für den 9. August wird allgemeines Gebet und Fasten befohlen. Die Ritter aller deutschen Stämme schwören sich mit feierlichen Eiden gegenseitigen Beistand und treue Waffenbrüderschaft zu. Mit dem ersten Lichtstrahl des 10. August bricht das Heer auf, es ist der Sankt-Laurentius-Tag. Trompeten schmettern, Trommeln rollen, und die Banner der acht Heerhaufen wehen. König Otto führt seine Scharen über steile Hügel und schweren Lehmboden, immer die Wälder entlang, um das freie Land zu vermeiden, das den schnellen Ungarnreitern überraschende Angriffe ermöglichen würde. Die ersten drei Treffen werden von den Bayern gebildet, die ihr eigenes Land verteidigen. Ein Hauptmann des kranken Herzogs führt sie an. Die vierte Schar sind die Franken, denen ihr Herzog Konrad voranreitet; die fünfte Welle ist die auserlesene sächsische Garde. König Otto selbst, klein und dunkelhaarig, in goldumkröntem Helm, trägt das heilige Banner mit dem auf schwarzem Grunde gestickten Bilde des Erzengels Michael. Rings um die Reichsfahne und die Heilige Lanze hält sich der ,Fahnenhaufe', der die Aufgabe hat, den König und seine Feldzeichen zu schirmen. 24
Die Heilige Lanze — Feldzeichen Ottos I. in der Lechfeld-Schlaclit
Die sechste und siebente Woge der Bitterschaft - wird von den Schwaben unter Führung ihres Herzogs Burchard gebildet, dann folgen als achter und letzter Haufe die Böhmen mit ihren kräftigen Steppanzern und spitzen Helmen. Dahinter folgt die endlose Kolonne der Wagen, der Küchen, Viehherden, Bauern und Troßleute.
Schlacht aui dem LediSeld am 10. August 955 ... So ziehen sie durch die Hügel und erreichen den Rand des Lechfeldes, wo sie die Ungarn vermuten. Aber die Ebene ist leergefegt. Die Ungarn haben ihre Reitermassen in einem Bogen über den Lech geführt, umgehen das Heer und stoßen nun jählings aus den dichten Wäldern auf den Troß und die Böhmen, die letzten Haufen in der auseinandergezogenen Marschordnung. Schreiend fahren die Bauern und Knechte auseinander, die völlig überraschten Böhmen ergeben sich oder laufen davon. Die Steppenreiter werfen sich triumphierend auf die Küchenwagen, auf die Weinfuder und Gepäckkarren, um sie zu plündern. Die Kunde vom Überfall auf die Nachhut ist inzwischen die riesige Kolonne entlanggelaufen und hat den Kern des Heeres erreicht. Eilends sendet König Otto den Bedrängten Herzog Konrad mit den Franken zu Hilfe. , Während sich der Kampf die Hügelkette entlang über dem Lechfeld entfaltet, versammelt König Otto die Anführer der übrigen Scharen, ermutigt sie durch eine flammende Ansprache, die später der Mönch Heribert von Reichenau aufgezeichnet hat. Als er eben das heilige Banner ergreifen will, kommt Nachricht, daß die Hauptmasse der Ungarn unter der Hügelkette herumschwenke, um sich in die Flanke des deutschen Heerbanns zu werfen. Da befiehlt der König eine Wendung und führt seine Ritter bergab wider die Ungarn. Er selber schwingt das Reichsbanner und sprengt voran. Unter Choralgesängen und Angriffsrufen stürzt die Ritterschaft die Hänge herab — eine Front von Bannern, Männern und Rossen. Unten schäumt schrill kreischend und durcheinanderquirlend, von 26
Drachenfahnen überflattert, die Sturmflut Asiens — die Ungarn. Dem Rammstoß der Gepanzerten leisten die Steppenleute nicht lange Widerstand. Bald löst sich die dicht geknäuelte Menge auf, zerbricht in Blöcke, viele flüchten in die Ufergebüsche des hochgehenden Lechflusses, andere verteilen sich auf die umliegenden Dörfer und suchen dort rasche Beute zu erraffen, viele werfen sich in die lehmgelben Wasser des Lech und streben dem rettenden Ostufer zu. Die Hauptmasse des zerschlagenen Ungarnheeres wendet sich gegen Augsburg zurück. Entsetzen erfaßt die Bewohner. Doch die Horden donnern an den Wällen vorbei und werfen sich kopflos in die überschwemmten Lechfurten. Tausende ertrinken. Da öffnen sich die Tore Augsburgs und die Verteidiger der Stadt stürmen, die Reste des ungarischen Lagers. In den Kämpfen auf dem Lechfeld ist Graf Diepold gefallen!. Den jungen Konrad, Herzog von Franken, trifft ein Pfeil in die Kehle, als er sich nach getaner Schwertarbeit den schützenden Helm abnimmt, den Schweiß zu trocknen. Im Lager von Augsburg erbeuten die Deutschen unübersehbare Raubschätze. Tagelang geht die Jagd auf die Geschlagenen fort. Von den umliegenden Dörfern ziehen die Bauern mit Äxten und Dreschflegeln heran und werfen sich den Fliehenden in den Weg. Drei ungarische Herzöge werden gefangen und zu Regensburg öffentlich gehängt. An einer Innfähre bei Marktl lauern bayerische Bauern einem Ungarnfürsten mit seinem Gefolge auf un,d schlagen ihn tot. Nur wenige aus dem Heer der Pußta erreichen die Heimat wieder.
Nach dem Sturm Ulrich von Augsburg läßt die übriggebliebenen Vorratshäuser öffnen und gewährt den ausgeplünderten und ihres Viehs beraubten Landleuten Hilfe. Dann baut er die Dorfkirchen und Gehöfte neu auf. Der Stadt Augsburg läßt er stärkere Mauern und Tore geben und errichtet die niedergebrannte Kirche der heiligen Afra neu, soviel es die Mittel zulassen. Das dankbare Volk umgibt den Bischof und Landesvater mit 27
wunderbaren Legenden und Geschichten. Nach seinem am 4. Juli 973 erfolgten Tode wendet sich die Verehrung vor allem dem heiligmäßigen Priester zu. über den großen Sieg auf dem Lechfelde jubeln alle deutschen Stämme, von Burgund bis Sachsen. Nach einem Jahrhundert der Ungarnstürme ist endlich das friedliche Bauernland von der Beunruhigung und Gefahr befreit. Wie in früheren Tagen ziehen wieder die bayrischen Bauernsöhne mit ihren jungen Frauen, mit Karren und Viehherden donauabwärts und über die Ennsgrenze. in die vom Ungarnschreck erlöste Ostmark. Mit dem Pfluge gewinnen die Bauern der Kultur wieder, was die Hufe der Krielgspferde verwüstet haben. Mit den Bauernkolonisten wandern tapfere Mönche als Missionare ostwärts. Der alte Wahrspruch erfüllt sich: Wo das Reich sein Banner aufpflanzt, steht auch das Kreuz, und wo das Kreuzbanner weht, wacht die Reichsmacht. In Passau regiert in den Jahren 972—991 Bischof Pilgrim. Priester und Mönche seiner Diözese wagen sich nach Ungarn hinein. Ein inneres Gären bewegt die Menschen der Pußta; es ist eine gefährliche Arbeit, als Missionar unter den wilden Steppenleuten zu wirken. Aber schließlich setzen sich die Könige einer neuen Generation durch. Es ist Arpads Urenkel Geisa (972—997) und vor allem Stephan der Heilige (997—1038), die den Schamanen, dem Zauberspuk und dem Heidenwesen den Kampf ansagen und sich der Taufe beugen. Stephan der Heilige nimmt den Titel einesi Königs an und erhält vom Papst eine Krone zugesandt (1001). Nun gleitet das Schicksal Ungarns in ruhigere Bahnen. Das gesetzlose Reiterland wird in 72 Komitate oder Gespanschaften eingeteilt und an Prälaten und Magnaten übergeben, die es im Namen des erblichen Königstums aus Arpads Geschlecht regieren. Ungarn wandelt sein Gesicht und wird fortan aus einem feindlichen Nachbarn des christlichen Abendlandes zur vorgeschobenen Bastion im Osten, zum Wellenbrecher und Wächter vor den Toren des Westens. Viel Wirkung geht von dem Sieg über die Ungarn auch für das deutsche Königstum aus, das noch in den Tagen Herrn Heinrich I. auf schwankendem Boden erbaut gewesen. 28
St. Ulrich in Augsburg — Die Grabkirche des großen Bischofi
Eine große gemeinsame Tat aller deutschen Stämme ist unter Führung des Königs Otto I. vollbracht. Ihm, dem Retter und Wahrer des Reiches, trägt man Verehrung und Huldigung entgegen. Die Deutschen nennen ihn fortan Otto den Großen; wenige Jahre später holt er sich die Kaiserkrone in Rom und begründet das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation" (962). Die Gefühle ganz Deutschlands drückt die dichtende Nonne Roswitha von Gandersheim aus: „Als den Größten der Könige preist ihn das Land, Das er für immer von der Ungarnnot befreit hat. Er schirmt die Grenzen und hält die Unruhe nieder: Kaiser Otto den Großen nennt ihn das Volk . . . "
Wellenbrecher im Osten Jahrhunderte gehen dahin, Ungarn ist christlich geworden und hat sich dem europäischen Kulturkreis eingefügt. Da wächst eine neue, riesenhafte Gefahr aus der Tiefe des Ostens heran: die T ü r ken — ein wildes, asiatisches Eroberervolk — überschreiten bei Gallipoli die Meerengen und beginnen über den Balkan gegen den Donauraum vorzudringen. Zuerst nehmen die Griechen und Serben die Hauptlast der Abwehr auf sich, dann aber heben die ungarischen Könige das Kreuzbanner auf und tragen es gegen die Eroberer. In der Schlacht von Nikopolis gegen Ende des 14. Jahrhunderts sterben Taüsende ungarischer Ritter im Kampf gegen die Türken. Auch das 15. Jahrhundert ist angefüllt mit Leiden und Heldentaten in der Abwehr des Halbmonds: In der Ungarnchronik dieses Jahrhunderts stehen verzeichnet der 20. Oktober 1448, an dem der ungarische Nationalheld Johann Hunnyady auf dem Amselfeld geschlagen wird, und der 14. Juli 1456, an dem derselbe Hunnyady mit einem ungarischen Kreuzfahrerheer vor Belgrad einen glanzvollen Sieg erringt. Auch im 16. Jahrhundert hält Ungarn Wache vor den Pforten des Abendlandes. Auf dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 darf ein Gesandter der ungarischen Stände, Hieronymus Baibus, in einer Rede von Ruhm und Tragik dieser Kämpfe künden: 30
„Wer hat denn die Türken aufgehalten, als sie wie die Wilden vorwärtsstürmten? — Die Ungarn! — Wer hat ihrer Raserei Einhalt geboten? — Die Ungarn! — Wer hat die ganze Übermacht und den ersten Stoß der Barbaren ausgehalten? — Die Ungarn! — Wer hat die anderen Länder der Christenheit vor der Überflutung bewahrt? — Die Ungarn! Nun aber'" — so fährt Hieronymus Baibus traurig fort — „ist das Königreich Ungarn am Rande seiner Kräfte angelangt. Seine Menschen haben so schwere Schläge und Verluste hinnehmen müssen, daß Ungarn nicht länger Widerstand leisten kann, wenn es nicht schleunige Hilfe aus dem Westen erhält . . .' ; Diese Hilfe wird Ungarn nicht zuteil; denn das Europa dieser Zeit ist in das Schicksal schwerer Glaiibenskämpfe verstrickt und hält vergeblich Reichstag um Reichstag. Allein stehen die Ungarn unter ihrem jugendlichen König Ludwig IL — dem letzten aus dem Geschlechte Arpads — am 29. August 1526 auf dem Felde von Mohacs gegen die gewaltige Übermacht Soleimans des Prächtigen. Der König und fast der gesamte Hochadel werden erschlagen, Ungarn verfällt für mehr als ein Jahrhundert dem Verhängnis, Kampffeld zwischen den Türken und den Deutschen zu werden, bis endlich das Haus Habsburg das Erbe antritt und in den Tagen des Prinzen Eugen ganz Ungarn wieder befreit und dem Reiche des Doppeladlers anschließt.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bild auf Umschlagseite 2: Otto der Große (Reiterstandbild von Magdeburg) Abbildung Seite 2: Königssiegel Heinrichs I.
L u x - L e s e b o g e n 195 ( G e s c h i c h t e ) H e f t p r e i s 2 5 Pfg. Natur-und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth