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G. F. UNGER Ein Begriff für Western-Kenner G. F. UNGER ist der erfolgreichste WesternSchriftsteller deutscher Sprache. BASTEILÜBBE veröffentlicht in dieser Reihe exklusiv seine großen Taschenbuch-Bestseller.
Stunde der Vernichtung Die schöne Mary Stone sucht die verschollene Schwester und den Mann, der sie von zu Hause weglockte. US Marshal Pernel Wittacker jagt einen flüchtigen Armeezahlmeister. Beide führt das Schicksal nach Lucky Ben, dem Vorhof der Hölle …
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH
Band 43 399
1. Auflage: Februar 2004 Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher
ist ein Imprint der Verlagsgruppe Lübbe
Originalausgabe
All rights reserved
© 2004 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Lektorat: Will Platten
Titelillustration: Bosch / Bassols, Barcelona
Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg
Satz: Wildpanner, München
Druck und Verarbeitung:
AIT Trondheim, Norwegen
Printed in Norway
ISBN 3-404-43399-8
Sie finden uns im Internet unter
http://www.bastei.de
oder
http://www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Frage an einen der vielen G.F. Unger-Leser Was gefällt Ihnen an den Romanen von G.F. Unger besonders gut? So gut, dass Sie diesen Autor immer wieder lesen und seine Romane sogar sammeln? Antwort: In den Romanen von G.F. Unger findet immer wieder der Kampf des Einzelnen gegen das Schicksal statt. Menschen stehen zwischen Gut und Böse, müssen sich entscheiden und bewähren sich letztlich. Die Romane G.F. Ungers geben Mut. Das ist es wohl!
1
Der Blizzard dauert nun schon drei Nächte und drei Tage – und fast ebenso lange pokert Pernel Wittacker im Golden Hole Saloon. Was sollte er sonst auch tun? Sein Pferd konnte er unterbringen in einer großen Höhle, die als Mietstall eingerichtet ist. Doch schlafen wollte er dort nicht. Es stank ihm dort zu sehr, und die Ratten belästigten die Schläfer. Sonst gab es in diesem Goldgräbercamp in der Golden Hole Gulch kein Quartier. Deshalb sitzt er nun schon drei Nächte und fast drei Tage im Saloon und pokert. Golden Hole in der Golden Hole Gulch ist kaum mehr als ein Camp – und ein übles dazu. Die Männer, mit denen Pernel Wittacker pokert, gehören zu den verschiedensten Sorten. Es sind Minen- oder Claimbesitzer, der Boss einer Fracht- und Postlinie, ein Rindermann, der mit seinen Reitern eine Treibherde ins Goldland brachte und gut verkaufte – und ein Bursche, dem Pernel zutraut, dass er seinen Lebensunterhalt nur mit glücklichem Kartenspiel bestreitet. Es sind alles Pokerexperten, mit denen Wittacker spielt, und es ist auch kein irres Spiel mit Rieseneinsätzen – nein, es ist ein Spiel unter vernünftigen Männern, die sich die Zeit vertreiben
wollen, auf das Ende des tobenden Blizzards warten und denen der Saloon dazu gerade gut genug ist. Denn hier ist Wärme, gibt es Getränke und auch immer wieder Steaks, die von den Rindern des Herdenbosses stammen. Die Einsätze sind limitiert. Es darf nur bis zu zwanzig Dollar erhöht werden. Und wenn eine Runde lang nicht erhöht, sondern nur gehalten wird, müssen die Karten aufgedeckt werden. Es ist also ein seriöses Spiel – allerdings eines für Spieler mit genügend Geld. Und dennoch erwischt der Mann, den sie alle für einen Berufsspieler halten, eine Pechsträhne. Ja, es ist eine wirkliche Pechserie, denn er hat stets gute Karten, auf die auch jeder der anderen Männer bis in die Hölle und zurück halten und erhöhen würde, um den »Pott« in der Tischmitte möglichst hochzutreiben. Denn wer Poker spielt, der will Geld gewinnen, möglichst viel Geld. Gepokert wird nicht um die Ehre des Gewinnens – nein, beim Pokern versucht jeder mit möglichst guten Karten noch besser zu bluffen als die Mitspieler. Und so versucht auch jeder den Pott hochzutreiben, damit es sich richtig lohnt. Und das versucht der berufsmäßige Spieler einige Male mit eiskalter und gelassener Überzeugung. Er blufft nicht. Denn er hat stets gute Karten.
Und dennoch verliert er immer wieder. Hat er eine »Straße«, so schlägt ihn ein kleiner »Flush«, hat er ein »Full house«, so verliert er an einen »Vierling« – und sogar als er einen »Straight Flush« hat, wird er mit einem »Royal Flush« geschlagen und verliert eine irre Menge Geld. Nun muss man wissen, dass ein Straight Flush die zweithöchste Pokerkarte überhaupt ist, die nur von einem Royal Flush geschlagen werden kann. Mathematiker haben errechnet, dass es einen Royal Flush nur alle sechsoder siebenhunderttausend Spiele einmal gibt. Und dennoch hat der texanische Rindermann ausgerechnet einen in der Hand, als sich der Berufsspieler mit seinem Straight schon als Gewinner fühlt. Aber er gibt nicht auf, dieser Spieler. Sie beobachten ihn aufmerksam, und sie alle sind hartgesottene Spieler. Denn sie alle haben irgendwann und irgendwo schon mal »Haare lassen« müssen und dabei die Erbarmungslosigkeit dieses Spiels erfahren. Und einen berufsmäßigen Spieler klein zu machen – nun, dies bereitet jedem von ihnen im innersten Kern Freude. Doch sie zeigen nichts von ihren Gefühlen. Als sie das nächste Spiel machen, steigen die vier anderen Mitspieler nach und nach aus. Nur jener Spieler, der schon so sehr viel verlor, und
Pernel Wittacker bleiben im Spiel. Sie erhöhen abwechselnd. Dann hat der Spieler kein Geld mehr. Er hat kein Geld mehr, um zu halten und erst recht keines mehr, um zu erhöhen. Nach den Regeln muss er passen, aufgeben. Er ist aus dem Spiel. Pernel Wittacker wartet noch. Er sieht den Mann ruhig an. Dabei fragt er sich, ob der Spieler noch irgendwelche »Reserven« hat. Viele Spieler haben irgendwo in ihrer Kleidung eine letzte Reserve, einen Notpfennig. Der Mann sieht über den Tisch hinweg auf Pernel Wittacker. »Sie wollen weiterspielen, Mister?«, fragt er höflich in seinem Südstaatler-Tonfall. Sie alle hier am Spieltisch halten ihn für einen einstigen Konföderierten-Offizier, den der verlorene Krieg zum Spieler machte, weil es sonst keine andere Chance für ihn gab, sich »standesgemäß« zu ernähren und wie ein Gentleman zu leben. Er trägt auch hier in diesem armseligen und miesen Camp einen maßgeschneiderten Anzug und ein feines Seidenhemd. Er ließ sich am Spieltisch jeden Morgen und jeden Abend rasieren, wenn sie alle mal eine Pause einlegten, um zu essen oder sich die Beine zu vertreten. »Sicher.« Pernel Wittacker nickt. »Ich spiele weiter auf meine Karte. Sie können halten oder aufhören. Sie können sogar steigern, sodass ich
mir überlegen muss, ob ich noch halten und mitgehen soll. Das ist Poker, Mister. So sind die Regeln, nicht wahr?« Der Spieler nickt. Dann greift er zum noch halb vollen Glas und leert es mit drei Zügen. Es ist barbarischer Handelswhisky, also übles Zeug, in dem ein toter Hund gelegen haben muss. Aber der Spieler verzieht keine Miene. Er fragt: »Mister, wie viel Geld müsste ich denn auf den Tisch bringen, bis auch Sie nicht mehr können, sodass wir uns zum Aufdecken entschließen könnten?« Pernel Wittacker ist ein großer, hagerer, indianerhafter Bursche mit hellgrauen Augen. Er grinst leicht. Dann zählt er das Geld, das er noch vor sich liegen hat und zum Einsatz bringen könnte. »Noch siebenhundertachtzig Dollar«, sagt er. »Die müssten Sie noch bringen.« Es ist still im verräucherten Raum, der gar kein richtiger Saloon ist, sondern nur eine primitive Kneipe, in der man auch ein Essen bekommen kann und sogar einige Zimmer vermietet werden. Die Gesellschaft der übrigen Gäste ist bunt zusammengewürfelt. Es sind Goldgräber, Minenarbeiter, Frachtfahrer, Tramps – und vielleicht auch Banditen, dazu alle nur möglichen Sorten, die nicht so leicht zu erkennen sind – weggelaufene Lehrer zum Beispiel oder auch
Buchhalter, die irgendwo mit der Kasse ins Goldland türmten. Ehemänner, die es mit der »Kneifzange« daheim nicht mehr aushielten – vielleicht auch einstige Prediger. Der Spieler hat nun lange genug überlegt. Er hat seine fünf Pokerkarten vor sich auf dem Tisch liegen. Nun bringt er mit einer raschen Bewegung ein Messer zum Vorschein. Es ist ein spitzer Dolch. Er stößt ihn auf das kleine Kartenhäufchen nieder und heftet es auf dem Tisch fest. Denn es ist eine Regel des Pokerspiels, dass keiner der Spieler sich mit seinen Karten während des Spiels vom Tisch entfernen darf. Nun erhebt sich der Mann. Er deutet vor Pernel Wittacker eine Verbeugung an. »Wenn Sie noch einen Moment warten möchten …«, sagt er. »Ich hole etwas, auf das Sie mir gewiss Kredit geben werden – hier im Goldland mitten in der Wildnis, denke ich. Einen Moment, Mister! Ich muss nur auf mein Zimmer.« Nach diesen Worten geht er davon. Drüben in der anderen Ecke des Raumes führt eine recht primitive Treppe nach oben. Sie alle sehen ihm nach. Man kann über diese Treppe nach oben zu den wenigen Gastzimmern, die aber nur sehr primitive Kammern sind. Natürlich kann man auch über eine Außentreppe hinauf. Aber wer täte das schon in diesem orgelnden Blizzard?
Als er oben verschwunden ist, sagte eine Stimme heiser: »Was für Schätze hat der denn dort oben im Zimmer? Hat der vielleicht ’ne Goldkiste oben?« Der Sprecher verstummt mit einem Lachen. Doch eine andere Stimme meldet sich mit den Worten: »Ich weiß nur, dass er eine einmalig hübsche Honeybee dort oben bei sich hat, der keine andere im Umkreis von hundert oder noch mehr Meilen das Wasser reichen kann. Vielleicht sitzt sie auf seiner Geldkiste! Denn wer ließe hier in diesem Laden schon sein Vermögen unbewacht auf dem Zimmer?« Sie lachen durcheinander. Dann meldet sich die Stimme des Wirtes, der massig hinter dem Schanktisch steht. »Richtig, Jungs – hier ist jeder sein eigener Hüter. Für abhanden gekommene Dinge übernimmt das Haus keine Verantwortung.« Wieder ertönt brüllendes Gelächter. Und dann warten sie alle. Denn fast alle hier im Saloon sind sie an dem Ausgang des Pokerspiels interessiert. Es war ja für sie alle der Zeitvertreib, indes draußen der Blizzard tobte. Und das ist immer noch so. Sie sind jetzt sogar noch interessierter. Auch Pernel Wirtacker ist es. Denn er fragt sich, was dieser Spieler aus seinem Zimmer holen wird.
Hat er dort vielleicht eine goldene und mit Edelsteinen besetzte Uhr, anderen Schmuck – oder gar Geld? Er ruft sich noch einmal die Worte des Mannes in Erinnerung. Der Spieler hatte gesagt: »Ich hole etwas, auf das Sie mir gewiss Kredit geben werden – hier im Goldland mitten in der Wildnis, denke ich.« Pernel Wittacker bekommt eine leise Ahnung. Es ist wie ein Wittern, ein deutliches Spüren. Doch dann sagt ihm sein Verstand, dass so etwas gar nicht möglich ist, selbst hier nicht, mitten in der Wildnis der Black Hills, mitten im Indianerland und in einem solch primitiven Camp ohne Gesetz und Ordnung. Wie die anderen Männer am Pokertisch starrt auch er auf die Karten, die mit dem spitzen Dolch auf die Tischplatte geheftet sind, versucht auch er das Blatt zu erraten. Es muss ein sehr gutes Blatt sein, ein überrragendes sogar. Denn sonst würde dieser Spieler nicht mit allen Mitteln im Spiel bleiben wollen. Gewiss hängt seine ganze Existenz davon ab, diesen Pott zu gewinnen. Eine Menge Geld liegt da mitten auf dem Tisch. Denn bevor die anderen Mitspieler passten, versuchten sie es erst mit Bluff und boten und steigerten einige Runden mit. Der Spieler, dessen Namen Pernel Wittacker immer noch nicht kennt, obwohl sie nun schon
fast eine halbe Woche miteinander pokern, wird wahrscheinlich mittellos sein, wenn er dieses Spiel verliert. Und ein Spieler völlig mittellos im Winter und mitten im Goldland – nun, der kann eigentlich nur noch Bandit werden, denn Arbeit gibt es kaum um diese Jahreszeit. »Da kommt er! Oha, wen bringt er denn da mit?« Eine Stimme ruft es. Alle Köpfe wenden sich der Treppe zu, und alle Augen blicken nach oben. Ja, da kommt der Spieler. Doch er ist nicht allein. Er hat eine Frau bei sich. Jemand stößt einen scharfen Pfiff aus. Und eine heisere Stimme ruft: »Hoiii, Jungs – und die hat er die ganze Zeit auf dem Zimmer versteckt! Seht euch das an! Die ist von keiner anderen zu schlagen!« Der Rufer bekommt Beifall. Es tönen weitere Pfiffe. Rufe klingen durcheinander. Füße trampeln. Für die Gäste ist das alles ein riesiger Spaß, eine Abwechslung. Und der Blizzard draußen tobt und orgelt immer noch. Pernel Wittacker sieht auf das Mädchen, das der Spieler bringt. Er hat ihr am Fuß der Treppe seinen Arm angeboten wie ein Gentleman. Sie hat ihre Hand leicht auf diesem Arm liegen und nähert sich mit erhobenem Kopf.
Im Lampenschein leuchtet ihr Haar wie poliertes Rotgold. Und ihre Augen leuchten grün. Es sind leicht schräg gestellte Katzenaugen. Sie ist mittelgroß, trägt einen geteilten Rehlederrock und über der grünen Hemdbluse eine rehlederne Weste. Für dieses Land hier ist sie sehr zweckmäßig gekleidet. Der Spieler führt sie an den Pokertisch. Er sieht Pernel Wittacker an und sagt: »Dies ist Mary Stone. Sie gehört mir. Denn sie ist mir sehr verpflichtet. Ich habe einen Vertrag mit ihr, der sie dazu verpflichtet, alles zu tun, was ich von ihr verlange. Sie würde von mir zu Ihnen überwechseln, Mister, wenn ich diesen Vertrag für siebenhundertundachtzig Dollar an Sie verkaufe. Sind Sie interessiert?« Das ist es also. Alle hören es. Und alle halten sie den Atem an. Denn wahrscheinlich können sie es noch nicht glauben – sie alle, die diesen Saloon füllen. Und dennoch gibt es keinen Irrtum. Ein Spieler, dem das Geld ausging und der immer noch an seine Karten glaubt, setzt eine Frau, die er offenbar als seine Sklavin betrachtet. Das ist ungeheuerlich. Und es ist wahrscheinlich nur im Goldland mitten in den Black Hills möglich. Denn hier ist alles anders. Hier veränderten sich alle Maßstäbe der Moral. Hier verkaufen sich Frauen für ein paar Dollar – und warum sollte es diese da
nicht für siebenhundertundachtzig Dollar tun? Denn siebenhundertachtzig Dollar sind eine Menge Geld. So denkt Pernel Wittacker. Dabei sieht er diese Mary Stone an. Und dabei wird ihm klar, dass die junge Frau gewiss nicht zu jener Sorte gehört, die man für ein paar Dollar kaufen kann. Nein, ihre Abhängigkeit muss andere Ursachen haben. Ihr Vertrag mit dem Spieler hat gewiss eine andere Basis. Im Saloon ist es still. Es ist fast so, als hielten sie alle den Atem an. Und noch etwas wurde anders, obwohl sie es hier im Saloon vielleicht noch gar nicht begreifen. Es ist der Blizzard. Soeben orgelte und pfiff der Schneesturm noch, brüllte und tobte, lud Schnee oder taubeneigroße Hagelkörner ab. Jetzt ist es still, völlig still. Es ist, als gäbe es keine Geräusche mehr auf dieser Erde. Was geschah plötzlich mit dem Blizzard? Ist er gestorben? Oder holt er nur Atem wie ein grimmiger Winterriese, um sogleich aufs Neue loszubrüllen mit stärkerer Wildheit noch als zuvor? Pernel Wittacker sagt in die atemlose Stille: »Schwester, hat das alles seine Richtigkeit? Sind Sie tatsächlich ein Wertobjekt, das er …«
»Ja, es hat seine Richtigkeit«, unterbricht sie ihn. Ihre Stimme klingt ruhig und fest, ganz und gar kontrolliert. Es ist eine dunkle Stimme mit einem besonderen Timbre, das ganz und gar zu ihrer katzenhaften Rassigkeit passt. Sie ist eine Südstaatlerin, wahrscheinlich eine Texanerin. Dies hört man ein wenig. »Ich bin Mister John Jennison verpflichtet«, spricht sie weiter und deutet dabei auf den Spieler. »Meine Schuld trage ich jeden Tag mit zehn Dollar ab. Sie war soeben noch höher als siebenhundertachtzig Dollar, sehr viel höher. Ich mache also ein gutes Geschäft, wenn ich Ihnen, Mister, nur noch achtundsiebzig Tage zur Verfügung stehen müsste, sollten Sie die besseren Karten haben, was noch sehr zweifelhaft sein dürfte. Und damit es kein Missverständnis gibt! Mister John Jennison half mir in der Not. Ich schloss den Vertrag mit ihm aus freien Stücken. Ich bat ihn um diesen Vertrag. Nun?« Sie hat alles gesagt. Wahrscheinlich bat der Spieler John Jennison sie oben in ihrem Zimmer darum. Es bleibt immer noch still. Und immer noch richten sich alle Blicke auf Pernel Wittacker. Wird er annehmen? Jeder dieser Männer würde den Einsatz annehmen. In diesem Lande kommt auf mehr als hundert Männer vielleicht gerade eine Frau. Frauen sind hier fast so selten wie Rosen im
Schnee. Und wenn diese Frau da ihren Vertrag einhalten sollte, so könnte der Gewinner sie achtundsiebzig Tage lang bei sich haben. Heiliger Rauch! Manchem dieser Burschen wird ganz schwindlig bei dem Gedanken, denn manchmal denken sie Tag und Nacht an nichts anderes als an Frauen, die sie in der Einsamkeit der Berge auf ihren Claims oder in ihren Minen so sehr vermissen. Die Spannung im Raum löst sich, als sie Pernel Wittacker sagen hören: »Na gut, Ihr Einsatz gilt, John Jennison. Das war doch Ihr Name, ja? John Jennison?« Der Spieler nickt. Er nimmt wieder auf seinem Stuhl Platz. Auch Pernel Wittacker setzt sich. Die anderen Mitspieler am Tisch sind nur stumme Zeugen. Und um den Pokertisch bildet sich jetzt ein dichter Kreis. Keinen der anderen Gäste hält es noch auf seinem Platz. Sie drängen sich heran. Denn die Karten werden gleich aufgedeckt. Das Spiel wurde ausgereizt. Jeder der beiden Spieler hat eingesetzt, was er einsetzen konnte. Jeder glaubt an seine Karte. Wer wird die bessere Kombination haben? »Ich hab also gebracht«, murmelt John Jennison. »Wenn Sie weiter im Spiel bleiben wollen, dann erhöhen Sie. Aber das wäre gegen unsere Abmachung. Also zeigen Sie, was Sie haben.«
Er verstummt herausfordernd. Es ist, als müsste er sich Mut machen oder als glaubte er, auf diese Weise die Karten beeinflussen zu können. Er zieht mit einem Ruck den Dolch aus dem Kartenhäufchen, hält es jedoch mit zwei Fingern der anderen Hand auf dem Tisch fest. Er deckt nicht auf, sondern sieht fordernd auf Pernel Wittacker. Der dreht vier Könige und ein Ass um. Aber solch ein Vierling mit Ass ist zu schlagen. Es gibt noch einige bessere Kartenkombinationen. Alle Blicke richten sich auf den Spieler John Jennison. Was wird er für ein Blatt zeigen? Hat er einen Straight Flush oder gar einen Royal Flush? Wird an diesem Pokertisch vielleicht noch einmal ein Royal Flush aufgedeckt? Das wäre eine Sensation, aber solche Launen des Schicksals soll es ja geben. Der Spieler muss eine erstklassige Karte haben. Sonst hätte er nicht die Frau als Einsatz ins Spiel gebracht. Doch er starrt nur auf Pernel Wittackers vier Könige. Dabei schluckt er einmal mühsam, als müsste er einen Stein herunterwürgen. Er deckt nicht auf. Er erhebt sich und nickt Mary Stone zu. »Das war’s«, sagt er. »Ich habe dich an ihn verloren. Viel Glück, Mary.« Nach diesen Worten geht er zur Treppe. Sie alle sehen ihm nach. Er braucht seine Karten gar
nicht aufzudecken. Sie wissen, dass er verloren hat. Auf der vierten Treppenstufe hält er inne und spricht zu Mary Stone nieder: »Ich hole nur meine Siebensachen aus dem Zimmer. Es dauert nicht lange. Einen Moment nur, Mary.« Nach diesen Worten geht er weiter die Treppe hinauf. Die Blicke der Gäste richten sich wieder auf Mary Stone, auf Pernel Wittacker und auf das immer noch nicht aufgedeckte Kartenhäufchen. Jemand sagt: »He, was für ein Blatt hat er? Auf welches Blatt hat er alles gesetzt, was ein Mann nur setzen konnte?« Die Stimme verstummt gierig. Pernel Wittacker beugt sich über den Tisch. Er streckt die Hand aus und nimmt die fünf Karten. Aber er zeigt sie nicht. Er zerreißt sie in kleine Stückchen und wirft sie in die Luft. Sie fallen wie bunte Schneeflocken. Ein Stöhnen geht durch die Zuschauer. Jemand sagt in die Stille: »Hoiii, da seht ihr den letzten Gentleman! Der will uns nicht zeigen, wie sehr sein Gegenspieler ein Narr war. Verdammt, diese Honeybee hätte ich nur gesetzt, wenn ich einen Royal Flush in der Hand gehabt hätte – nur mit einem Royal Flush in der Hand. Und er konnte nicht mal vier Kings schlagen. He, was für ein Narr!« Der Sprecher bekommt Beifallsgemurmel. Die Spannung löst sich.
Und endlich wird sich jemand der Tatsache bewusst, dass draußen nicht mehr das Orgeln und Brüllen des Blizzards zu hören ist. Eine Stimme ruft: »Hört ihr noch was?« Sie lauschen. Dann brüllen sie durcheinander vor Freude und Erleichterung. »Der Blizzard ist tot!« Und dann drängen sie hinaus aus dem verräucherten Saloon, in dem die schlechte Luft zum Schneiden dick ist. Sie drängen hinaus wie Eingesperrte aus einem Kerker. Viele von ihnen wollen heim zu ihren Hütten, ihren Claims und Minen. Sie sind ja hier alle gewissermaßen vom Blizzard überrascht worden. Auch die anderen Pokerspieler, die mit Pernel Wittacker am Tisch saßen, drängen hinaus. Die Dunkelheit, die draußen herrschte, wurde heller. Nun sieht man, dass es noch keine Nacht war, sondern erst Abenddämmerung. Pernel Wittacker und Mary Stone sehen sich an. Sie sind allein. Niemand kümmert sich im Moment um sie. Die Tatsache, dass der Blizzard vorbei ist, beschäftigt die Leute jetzt vorrangig.
2 Sie betrachten sich forschend. Wittacker deutet auf einen Stuhl. »Wollen Sie sich nicht setzen, Mary Stone?« Er hat sich vorhin schon erhoben, als er die Spielkarten zerriss und die winzigen Schnipsel zerstreute. Er wartet, bis sie sich gesetzt hat. »Ich glaube«, murmelt er, »wir müssen wohl erst mal Klarheit schaffen zwischen uns, nicht wahr?« Sie nickt leicht und sieht ihn fest an. Ihr Blick irritiert ihn etwas, denn er ist sehr fest und ruhig, nicht so, als machte sie sich irgendwelche Sorgen. »Mein Name ist Wittacker«, sagt er, »Pernel Wittacker. Ich glaube, wir sind beide aus Texas.« »Ja«, nickt sie, »das glaube ich auch. Auch John Jennison stammt aus Texas.« Wieder schweigen sie. Dann beugt er sich vor. »Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?« Er fragt es zögernd. »Ich meine – hat er Sie gekauft als … ich meine, gehörten Sie ihm ganz und gar? Konnte er von Ihnen verlangen, was er wollte … ich meine – alles?« Um ihren vollen, vitalen Mund spielt ein Lächeln, ein weises und nachsichtig wirkendes Lächeln, so, als wäre ihr nichts mehr fremd auf
dieser Erde und als würde sie sich über seine Frage sogar auf eine etwas bittere Art amüsieren. »Alles«, nickt sie dann. »Er hat mich mit Haut und Haaren gekauft, Pernel Wittacker, jawohl. Und ich bot mich ihm sogar an. Er kaufte mich für viertausend Dollar. Dreitausend gab ich ihm in bar – und zweihundertzwanzig Dollar arbeitete ich bei ihm inzwischen ab. Sie haben mich mit allen Rechten und Pflichten übernommen, Pernel Wittacker.« In ihm »klingelt« plötzlich ein Alarmsignal. »Pflichten?« Ihre Augen werden schmal. Dann nickt sie. »Was denn sonst? Oder glauben Sie, ich zahlte einem Mann wie John Jennison dreitausend Dollar in bar und tausend Dollar in ›Naturalien‹ dafür, dass er mich beglückt? Zum Teufel, hat er Ihnen nicht gesagt, dass er mich nach Lucky Ben bringen soll? Das war unser Vertrag. Und das möchte ich doch gleich mal klären.« Sie erhebt sich mit einer raschen Bewegung und eilt davon. Mit hoch gerafften Röcken springt sie zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf. Er staunt, wie kraftvoll und geschmeidig sie sich bewegt, und er weiß schon jetzt, dass sie ganz gewiss wie ein Cowgirl reiten kann. Oben verschwindet sie. Er folgt ihr etwas langsamer, nachdem er seinen Spielgewinn einsteckte.
Oben hört er sie nach John Jennison rufen – und dann bitter fluchen. Er trifft sie auf dem Gang, der zur Außentür und der Außentreppe führt. Von diesem Gang führen ein halbes Dutzend Zimmertüren in die primitiven Schlafkammern. Aber Mary Stone ist jetzt bei der Hintertür. Sie öffnet diese und läuft hinaus auf den Treppenabsatz. Sie ruft in die hereinbrechende Nacht: »Jennison! Komm zurück, Jennison! Hörst du mich? Komm zurück, denn wir müssen noch etwas klären!« Aber sie erhält keine Antwort. John Jennison ist verschwunden. Langsam kommt sie in den Gang zurück und schließt hinter sich die Tür. Pernel Wittacker erwartet sie an der offenen Zimmertür. Drinnen brennt eine Öllampe. Die Kammer ist jämmerlich klein. Es gibt nur ein Bett, einen Hocker und einen kleinen Tisch. Für die Kleidungsstücke sind einige Nägel in die Bretterwand geschlagen. Das Fenster ist kaum groß genug, um einen Kopf nach außen schieben zu können. Jetzt ist es dick mit Eis gepanzert. Denn es ist kalt hier oben. Sie geht hinein und setzt sich auf den Schemel, faltet die Hände auf ihrem Schoß. Pernel Wittacker tritt hinter ihr ein und schließt die Tür. Er lehnt sich von innen dagegen und wartet. »Ich muss nach Lucky Ben«, sagt sie zu ihm. »So war der Vertrag zwischen ihm und mir. Wenn Sie mich nicht nach Lucky Ben bringen wollen,
Pernel – dann werden Sie vertragsbrüchig. Dann können Sie von mir nichts bekommen, gar nichts.« Er nickt leicht. Und er fragt sich, was diese Mary Stone so dringend in Lucky Ben zu suchen hat, dass sie dafür einen so mächtig hohen Preis zahlte und immer noch zahlen will. Ja, es muss etwas außergewöhnlich Wichtiges sein. Denn nur aus solch einem Grund wäre seiner Meinung nach ihr Handeln verständlich. Sie braucht einen Mann, der sie mitten im Winter durch die Berge nach Lucky Ben bringt. Dafür zahlte sie mit Geld und mit sich selbst. Der Spieler John Jennison schien ihr der richtige Mann zu sein. Doch sie gehört ihm nicht mehr. Er ist ihr deshalb auch nicht mehr verpflichtet. Sie gehört nun Pernel Wittacker, der jedoch mit seinen Rechten auch Pflichten übernahm, ohne Letzteres zu wissen. »Verdammt noch mal«, sagt er. »He, warum wollen Sie nach Lucky Ben, Mary? Das ist der böseste Ort in den ganzen Black Hills, und das will etwas heißen, denn in den Black Hills gibt es nur böse Orte, angefangen von Deadwood bis …« »Sie sollen dort für mich einen Mann töten«, unterbricht sie ihn. »Sie sollen mich nach Lucky Ben bringen, damit ich dort zusehen kann, wie Sie einen bestimmten Mann töten.« Da staunt er sie an.
Und er hebt die Hand und tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Schwester«, sagt er rau, »hast du am Ende einen Sprung in der Schüssel?« Sie zuckt zusammen, schluckt mühsam und bekommt sich beim nächsten Atemzug wieder unter Kontrolle. »Dieser Spieler Jennison hat dich reingelegt, Bruder«, sagt sie. »Er hätte gewinnen können, und du würdest nie erfahren haben, was für Bedingungen daran geknüpft sind, mich zu besitzen. Aber es ist nicht meine Schuld, dass du reingelegt wurdest und glaubtest, dir für siebenhundertachtzig Dollar eine Squaw kaufen zu können, mit der du alles machen kannst, was du willst. Nein, so ist es nicht! Aber das ist nicht mein Problem. Ich finde schon einen Mann, der das, was ich ihm geben will, mit dem Colt bezahlt – und der mich zuvor nach Lucky Ben bringt. Raus hier, Pernel Wittacker!« Er staunt. Und er will zuerst wütend werden. Dann aber spürt er, wie sehr sie in Not ist, sich einsam fühlt und verzweifeln möchte. Ihr Verhalten ist nichts anderes als Trotz, Stolz, der Wille, nichts zu zeigen von den Gefühlen im innersten Kern. Ja, er begreift es plötzlich und ahnt, wie sehr sie in Not ist und sich allein fühlt inmitten einer mitleidlosen Umwelt. Doch sie klagt nicht. Sie will
kämpfen mit ihren Mitteln, sich behaupten, ein bestimmtes Ziel erreichen. Er geht zum Bett, setzt sich und sagt ruhig: »Schwester, du solltest mir alles genau erzählen. Wenn ich dich nach Lucky Ben bringen und dort für dich einen Mann töten soll, dann muss ich schon ein wenig mehr wissen, nicht wahr?« Aber da schüttelt sie den Kopf. »Der Spieler wusste auch nicht mehr, und es genügte ihm.« »Der Spieler«, murmelt er, »wollte wahrscheinlich nur die dreitausend Dollar und eine begehrenswerte Frau. Der dachte vielleicht nie daran, mit dem Revolver für dich zu kämpfen gegen einen Mann, den er gar nicht kannte.« »Vielleicht«, murmelt sie, »aber ich hatte sein Wort. Und er war gewiss nicht schlecht. Zumindest früher war er mal ein Gentleman. Vielleicht hätte er sein Wort gehalten. Nun, wie ist es mit uns, Pernel Wittacker? Einerseits bin ich dir siebenhundertachtzig Dollar schuldig. Ich stehe dir dafür achtundsiebzig Tage zur Verfügung. Aber andererseits gilt dies nur, wenn du auch John Jennisons Vertrag mit mir erfüllst. Und nach diesem Vertrag musst du mich an seiner Stelle …« »Nein«, unterbricht er sie, »nein, Honey. Du bist sehr reizvoll. Ich würde mich sehr gern mit dir in dieses Bett hier legen. Aber …« Er verstummt ein wenig hilflos, hebt auch mit einer ebenso hilflos wirkenden Geste Schultern und Arme, lässt sie wieder sinken.
»Was muss dieser Mann in Lucky Ben dir angetan haben, dass du dich als Preis für deine Rache aussetzt?«, fragt er nach einer Weile, und er erwartet keine Antwort. Er sieht Mary Stone fast mitleidig an und schüttelt dann den Kopf. Er wendet sich zur Tür, öffnet sie und spricht über die Schulter zurück: »Ich schenke dir die siebenhundertachtzig Dollar. Ich habe genug Geld gewonnen, Geld und Goldstaub. Ich hab meine Taschen damit gefüllt, bevor ich dir hier auf dieses Zimmer folgte. Der ganze Tisch lag voll Geld und Gold. Und alles gehörte mir. Ich kann dir leicht siebenhundertachtzig Dollar oder achtundsiebzig Tage schenken.« Nach diesen Worten zieht er die Tür hinter sich zu. Als er die Treppe hinuntergeht, sieht er unten einige Kerle stehen. Sie starren zu ihm empor, und er sieht auf sie nieder, indes er Stufe um Stufe zu ihnen heruntersteigt. Sie grinsen, und einer sagt: »Wir wollten dich holen, Glücksjunge. Wir wollten dich zurück an den Spieltisch holen.« »Und wozu?« Er fragt es fast höflich und freundlich. Sie grinsen stärker. Ihr Sprecher sagt: »Du hast ein schönes Weib im Spiel gewonnen, Texas. Und wir wollen es dir abgewinnen. Nicht wahr, du spielst doch mit uns um dieses Honeygirl?«
Er gibt nicht sogleich Antwort. Erst sieht er sich die hartgesottenen Burschen noch einmal genauer an. Er kennt die Sorte. Sie ist übel. Diese drei Kerle gehören zum Abschaum der Grenze. Wahrscheinlich sind sie Banditen, Gold- und Claimräuber, die irgendwo Beute machen konnten und sich nun hier ein paar schöne Tage und Nächte verschaffen wollten bei Whisky, Karten und Frauen. Dann »sperrte« sie der Blizzard hier einige Tage und Nächte ein. Sie kamen jedoch nicht voll auf ihre Kosten. Schnaps bekamen sie – auch ein wenig Spaß beim Kartenspiel. Aber es fehlten die Frauen. In dieser Hinsicht wurden ihre Erwartungen enttäuscht. Sie sind immer noch angetrunken genug, um keinerlei Hemmungen zu haben. Soeben erlebten sie, wie ein Mann am Pokertisch eine Frau gewann. Denn so und nicht anders stellt sich die Sache für sie dar. Nun wollen sie die Frau im Spiel gewinnen. Dies scheint ihnen der einfachste Weg, nun in diesem miesen Nest Golden Hole zu einer Frau zu kommen, zu einer schönen Frau, die für sie sonst nirgendwo für Geld zu bekommen wäre. Sie sind verrückt nach einer Frau. Dieses Wollen hat sich in ihren Hirnen festgesetzt wie eine Sucht. Ja, sie gleichen Süchtigen.
Das alles wird Pernel Wittacker innerhalb dieser wenigen Sekunden klar, indes er von der vorletzten Treppenstufe aus auf sie niederblickt. Ihre grinsenden Gesichter blicken zu ihm auf. Einer knurrt: »Also komm runter, Bruderherz! Oder glaubst du, dass du größer bist, nur weil du höher stehst?« Pernel Wittacker seufzt leise. Denn der Verdruss ist unausbleiblich. Gewiss, er könnte den drei Grenz- oder Goldwölfen sagen, dass ihn die Frau dort oben im Zimmer nichts mehr angeht, dass er sie gewissermaßen freigegeben hat und gar nicht mehr als Spielgewinn betrachtet. Doch dann wäre sie gewissermaßen vogelfrei. Er sieht über die drei grinsenden Kerle hinweg quer über den Raum zum Schanktisch hin. Der Wirt steht dort und starrt herüber. Der bullige Mann wirkt übermüdet, bleich und ganz so wie jemand, der sich eine Menge Sorgen macht und sich dennoch nicht in der Lage sieht, etwas dagegen zu tun. Er ist ausgebrannt nach drei langen Tagen und Nächten. Er, seine Frau und sein chinesischer Koch und Helfer haben die ganze Zeit die hier eingesperrten Gäste versorgt. Er starrt dumpf herüber. Von ihm ist kaum Hilfe zu erwarten. Pernel Wittacker seufzt zum zweiten Mal. Da hat er also wieder einmal Verdruss bekommen, und abermals liegt es daran, dass er
nicht davonschleichen kann, obwohl dies nur klug wäre. Denn ein Kampf wird ihm nichts einbringen, keine Ehre, keine Freude – nichts, gar nichts, nur Verdruss und wahrscheinlich körperliche Not. Aber er kann nicht anders. Und so sagt er fast freundlich: »Wisst ihr was, Jungs – ihr könnt zur Hölle gehen!« Die scheinbare Freundlichkeit seiner Stimme verblüfft sie etwas, und sie können deshalb die Herausforderung, die in seinen Worten liegt, nicht so schnell »schnappen«, wie sie es hätten tun können, wenn seine Stimme wild, böse und hart geklungen hätte. Als sie dann vor Freude aufheulen, weil sie glauben, nun auch den »Spaß« haben zu können, einen harten Burschen klein zu machen, haben sie schon einen wertvollen Sekundenbruchteil verloren. Denn er springt von der vorletzten Treppenstufe auf sie los und stößt gleich zwei von ihnen die Fäuste in die brüllenden und verzerrten Gesichter. Dann wirbelt er herum und trifft mit einem herumgezogenen linken Haken den dritten Mann auf die Leberpartie. Der Bursche stöhnt nur und legt sich auf die Treppe, krümmt sich auf den Stufen zusammen und kann für ein paar Sekunden nicht mehr mitmachen.
Die beiden anderen aber haben inzwischen verdaut, was zu verdauen war. Ihre Gesichter haben sich durch die beiden Geraden verändert und werden nie wieder so aussehen wie vorher. Doch es handelt sich um wirklich hartgebrannte Grenz- und Goldwölfe, die sich auch nicht durch den Schmerz gebrochener Nasenbeine vom Weiterkämpfen abhalten lassen. Im Gegenteil! Sie heulen auf und greifen Wittacker an. Nein, es ist kein Kampf unter Gentlemen. Grenzwölfe kämpfen nie wie Gentlemen – sie sind ja auch keine. Wenn Grenzwölfe kämpfen, dann wollen sie den Gegner auf dem schnellsten Weg vernichten. Dies gehört hier im Indianerland zur Selbsterhaltung. Es gibt hier keine Gnade, keine Schonung. Pernel Wittacker weiß es längst. Er nimmt den Kampf mit den Fäusten auf. Und dies ist sicherlich dumm. Denn ein anderer Mann an seiner Stelle hätte bei dieser Übermacht gewiss zum Colt gegriffen. Pernel Wittacker tut es nicht. Sie springen ihn also von zweiten Seiten an, prallen gegen ihn, und sie bekommen seine Fäuste und geben ihm ihre zu spüren. Sie gehen zu Boden, rollen übereinander, geben es sich im explosiven Ausbruch von Wildheit, Hass und den animalischen Wünschen nach Vernichtung. Sie reißen Bänke, Stühle und
Tische um und richten binnen weniger Sekunden ein heilloses Durcheinander an. Der Wirt hinter dem Schanktisch kommt endlich in Bewegung. Er greift unter den Schanktisch und bringt eine Schrotflinte mit abgesägten Läufen zum Vorschein. Dabei brüllt er: »Aufhören! Aufhören! Oder ich punktiere euch die Ärsche mit Blei!« Er stoßt noch eine Menge schlimmer Flüche aus, doch Flüche gehören zur Umgangssprache der Grenze. Vielleicht hätte der Wirt wirklich die Schrotflinte abgedrückt. Doch da greift der Dritte der Goldwölfe wieder ein. Er konnte inzwischen den wie ein Huftritt wirkenden Leberhaken verdauen. Er erhob sich und wartete nur darauf, dass sich die Chance bot, nach Pernel Wittacker zu treten. Denn Wittacker und die beiden anderen Männer rollen immer noch übereinander zwischen dem ganzen Wirrwarr von zerbrochenen Tischen, Stühlen und Bänken, Gläsern, Sägespänen und Dreck. Es ist gar nicht so einfach, an die drei Männer heranzukommen, Doch da gibt der dritte Mann des bösen Kleeblattes auch auf. Als er sieht, dass der Wirt mit der Schrotflinte schießen will, zieht er den Colt und drückt ab. Der Wirt bekommt die Kugel in die Schulter. Er zieht beide Hähne der Flinte durch, doch die
Ladungen gehen zu hoch. Sie fliegen nach oben in die Decke, zerhacken diese. Der Wirt aber fällt hinter dem Schanktisch um. Der Mann mit dem rauchenden Colt in der Hand aber brüllt: »Geht weg von ihm! Gebt ihn frei! Lasst ihn los! Dann geb ich ihm was Heißes! Ich leg ihn um! Aaah, weg von ihm, damit ich ihn umlegen kann!« Doch sie hören ihn gar nicht. Sie sind viel zu sehr ineinander verbissen und verkrallt. Als er ihnen zu nahe springt, tritt ihm Pernel Wittacker mit aller Kraft gegen das Knie. Er zertrümmert dieses Knie, und so fällt der Mann mit dem Colt wieder aus – diesmal noch länger als nach dem Leberhaken. Er denkt nicht mehr ans Schießen, lässt sogar den Colt fallen, hockt am Boden und hält sich das Knie, als könnte er auf diese Weise den mitleidlosen Schmerz lindern. Neben ihm aber zwischen den Trümmern der primitiven Salooneinrichtung, da wird nun deutlich, dass ein Bursche wie Pernel Wittacker auch mit zwei Gegnern zurechtkommen kann, selbst, wenn diese so hart und erfahren wie Grenzwölfe sind. Es gelingt ihm, sich zu lösen, loszureißen und endlich wieder auf die Beine zu kommen. Seine beiden Gegner schaffen dies jeweils nur kurzfristig. Denn so wie sie abwechselnd hochkommen, so schlägt er sie wieder von den Beinen, haut er sie um wie große Flaschen. Und
nach jedem Niederschlag sind sie ein wenig angeschlagener und kampfunfähiger. Nur ein wilder Trotz lässt sie immer wieder aufstehen. Denn sie sind gewöhnt, nur kämpfend unterzugehen und nicht aufzugeben, so lange sie sich noch rühren können. Und so wird die ganze Sache mehr und mehr zu einer Bestrafung für sie, weil sie nicht aufgeben wollen. Pernel Wittacker muss sie immer wieder umhauen. Er darf sie nicht hochkommen und stehend klare Köpfe bekommen lassen. Denn dann wird der Kampf noch lange dauern. Er schlägt also den einen fünfmal – und den anderen sechsmal von den Beinen, bis sie endlich genug haben und sich nicht mehr rühren. Nun ist es vorbei. Er keucht und atmet zitternd aus. Der Kampf hat ihm alles abverlangt, was er zu geben in der Lage war. Er beginnt nun die Schmerzen zu spüren. Die Welt scheint sich mit ihm zu drehen. Ihm wird dunkel vor Augen – aber nur für einen Moment. Dann kann er wieder sehen. Er schwankt zum Schanktisch und hält sich an der Ecke fest. Der Wirt erhebt sich soeben hinter dem Schanktisch, presst seine Hand stöhnend gegen seine Schulterwunde, versucht so, das herauslaufende Blut zurückzuhalten. Er sagt dabei knirschend: »Hast du’s den Hundesöhnen besorgt? Aaaah, hast du ihnen die Bumsköpfe eingeschlagen? Gut! Gut so! Sehr gut!
Diese Strolche gehören an ein Scheunentor genagelt. Mit den Ohren angenagelt. Oooh!« Ihm wird wieder schlecht, und er wäre gewiss abermals zu Boden gegangen, wenn nicht seine Frau und der Chinakoch aus dem Nebenraum gekommen wären. Sie nehmen ihn zwischen sich und führen ihn in die privaten Räume. Seine Frau flucht wie ein Mann. Sie hat auch fast eine Männerstimme. Pernel Wittacker hört sie rufen: »Dieses verdammte Mistland! Hier leben nur Wilde, Idioten und Affen! Hier hat man es überhaupt nicht mehr mit Menschen zu tun! Hier ist der letzte Dreck der Menschheit versammelt, der allerletzte Dreck!« Sie schimpft noch weiter, doch Pernel Wittacker hört nicht mehr hin. Er findet unter dem Schanktisch noch eine halb volle Flasche vom Privat-Whisky des Wirtes, öffnet sie und trinkt einen langen Schluck. Dann tritt er an die Spülwanne und taucht seine schmerzenden Hände hinein. Einige Gläser liegen noch in der Wanne. Er wirft sie hinaus, um mehr Platz zu haben und seine Hände besser bewegen zu können. Denn das ist jetzt seine Sorge. Wenn er sich die Hände zu sehr zerschlagen hat, sodass sie anschwellen, wird er sich bald nicht einmal mehr den Hosenschlitz zuknöpfen können. Er blickt zur Seite auf seine drei Gegner.
Aber die wurden von ihm richtig klein gemacht. Sogar der Mann mit dem kaputten Knie ist bewusstlos. Es war zu viel für ihn, zweimal einen solch höllischen Schmerz ertragen zu müssen. Auf der Treppe ist Bewegung. Er sieht Mary Stone. Sie kommt herunter und bahnt sich durch die Trümmer einen Weg zu ihm. Als sie neben ihm verhält und sie sich ansehen, erkennt er ihre zuckenden Lippen, ihre vibrierenden Nasenflügel – und das Hämmern der feinen Äderchen an ihrem Hals und an der Schläfe. »Ich hab zugehört und zugesehen«, sagt sie. »Ich hab alles mitbekommen. Warum haben Sie für mich gekämpft, Pernel? Sie hätten diesen Strolchen sagen können, dass …« »Schon gut«, murmelt er, »schon gut, Mary. Ich will nicht darüber reden. Manchmal tut ein Mann eben Dinge, die er später nicht erklären kann.« Sie nickt. »Gehen Sie nach oben«, sagt sie. »Ich besorge in der Küche zwei Eimer heißes Wasser, Tücher und einige andere notwendige Dinge. Gehen Sie nach oben, Pernel, und legen Sie sich aufs Bett. Denn wenn Sie das nicht tun und sich nicht von mir helfen lassen, dann sind Sie morgen steif und krank. Sie müssen sich doch fühlen, als wären Sie unter eine Stampede geraten. Und als Texanerin weiß ich, wie man einem
Menschen helfen kann, der unter eine Stampede geriet und dennoch am Leben ist.« Er sieht sie an. Und er glaubt ihr. Zugleich wird ihm klar, dass er seine körperliche Leistungsfähigkeit erhalten muss. Die drei Kerle könnten Freunde haben. Es könnte sein, dass es ihm wie einem verwundeten oder kranken Wolf erginge, vor dem sogar die Coyoten sich nicht mehr fürchten. Und so nickt er. »Ja, Schwester«, sagt er. »Es wäre wohl gut, wenn du etwas für mich tust.« Irgendwann gegen Morgen erwacht er, und er spürt Mary neben sich auf dem Bett. Ihr Körper wärmt ihn, und er ist zunächst etwas verwirrt und hält alles, was in seiner Erinnerung ist, für einen bösen Traum. Doch als er dann die Schmerzen überall an seinem Körper spürt, sobald er seine Muskeln nur ein wenig bewegt und anspannt, als er mit vorsichtigen Fingern sein Gesicht betastet und die Schwellungen fühlt, da weiß er schon bald, dass er keinen bösen Traum träumte. Er hat gekämpft. Dann nahm ihn Mary auf ihr Zimmer und sorgte für ihn. Sie wusch ihm das Blut ab, kühlte seine Wunden, rieb ihn mit hochprozentigem Schnaps ein und massierte seine Muskeln und Blutergüsse. Sie kümmerte sich um
seine Hände, tat alles, um seine körperliche Not zu lindern. Irgendwann ist er dann vor Erschöpfung eingeschlafen. Und jetzt spürt er ihren Körper neben sich, hört er sie atmen. Er fragt sich, was man dieser Frau einst angetan hat, um in ihr einen solchen Vergeltungswunsch entstehen zu lassen, für dessen Erfüllung sie sogar mit ihrem Körper zu bezahlen bereit ist. Er hört an ihrem Atem, dass nun auch sie erwacht ist. Und er hört sie fragen: »Bist du wach, Pernel?« »Ja, Mary, ich bin wach.« »Warum hast du für mich gekämpft? Du hast doch für mich gekämpft! Das ist völlig klar. Ich war dir aus diesem Zimmer bis zur Treppe gefolgt. Ich wollte noch einmal versuchen, dich umzustimmen. Und so hörte ich am oberen Treppenabsatz, wie sie unten zu dir sagten, dass sie mit dir um mich spielen wollten. Du hättest ihnen sagen können, dass ich dich nichts mehr anginge. Und dann wären sie heraufgekommen. Sie waren angetrunken und gierig. Der Saloon war leer. Alle, die hier eingesperrt wurden vom Blizzard, waren fort. Sie hätten mit mir gemacht, was sie gewollt hätten. Warum hast du für mich gekämpft, Pernel Wittacker?« »Vielleicht«, murmelt er, »weil ich ein Narr bin – vielleicht, weil wir beide aus Texas kommen.
Vielleicht, weil du mir sehr gefallen hast und ich nicht wollte, dass drei solche Dreckskerle dich erniedrigen. Dieses Golden Hole hier ist ein böses Nest. Aber es ist noch edel und gut gegen Lucky Ben, wo du hingebracht werden möchtest. In Lucky Ben ist die Filiale der Hölle. Und im vergangenen Winter fraßen einige Kerle dort sogar Menschenfleisch. Verstehst du?« Er spürt, wie sie neben ihm erzittert. »Ich weiß«, hört er sie sagen, »dass dort in Lucky Ben die Bösen leben. Doch ich muss hin. Bitte bring mich hin, Pernel Wittacker. Bitte! Von wem in diesem Land und an diesem Ort hier könnte ich mich sonst hinbringen lassen? Wem sonst könnte ich mich anvertrauen, wenn nicht dir? Und du sollst mich ja nur hinbringen, nichts anderes als hinbringen. Ich verlange ja gar nicht mehr, dass du an John Jennisons Stelle den Mann tötest, den ich tot sehen möchte. Ich verlange es nicht mehr. Ich will nur noch nach Lucky Ben. Hilf mir!« Ihre Stimme ist ein ernstes Bitten. Er möchte sie wieder fragen, wer der Mann ist, dessen Tod sie wünscht. Er möchte auch gern wissen, was dieser Mann ihr angetan hat. Doch er fragt nicht. Er spürt, dass es sinnlos ist. Sie wird ihm ihre Beweggründe nicht darlegen. Noch nicht. Er seufzt bitter.
»Was gestern Abend geschah«, murmelt er, »war gar nichts. Ein Mann, der mit dir nach Lucky Ben geht und dich dort beschützen will, der wird sich mit der ganzen wilden Horde dort herumschlagen – oder gar schießen müssen.« »Ja«, sagt sie. »Vielleicht wird das so sein. Ich glaube es fast. Doch ich will diesen Mann aus Dankbarkeit lieben. Bin ich nichts wert?« Er spürt ihre Nähe stark. So schlimm sein Körper auch geprügelt wurde und so krank er sich fühlt – er spürt dennoch die Ausstrahlung dieser Frau so stark wie niemals zuvor bei einer anderen. »O ja«, murmelt er, »du kannst einem Mann gewiss den Himmel auf Erden geben. Jeder Mann in diesem Land sehnt sich nach einer Frau, nach Liebe und Zärtlichkeit, Wärme und Glück. O ja, du bist gewiss eine Menge wert, Mary.« Sie liegt still neben ihm. Beide lauschen sie, und sie hören über sich auf dem Dach und draußen am Haus ein fortwährendes Plätschern, ein Rinnen und Tropfen. Es ist auch nicht mehr so kalt in dem unbeheizbaren Zimmer, wie es während der letzten Tage und Nächte war. »Tauwetter«, sagt er nach einer Weile. »Das Wetter ist umgeschlagen. Wir haben Warmluft aus dem Süden. Der Schnee des Blizzards schmilzt wie Butter in der Pfanne, und er sackt zusammen. Das ist gut. Denn wenn der Schnee beim nächsten Wetterumschwung zu frieren beginnt, werden alle
Wege wieder passierbar sein. Dann erst wird in diesem Land wieder einiger Verkehr möglich sein. So lange wirst auch du warten müssen, bis du versuchen kannst, nach Lucky Ben zu gelangen.« »Und du wirst mich hinbringen?« Sie rollt sich neben ihm halb herum, sodass sie sich etwas über ihm aufrichten und auf ihn nieder blicken kann. Die Nacht draußen ist klar und hell trotz des Wärmeeinbruchs, was gewiss eine Seltenheit ist. Durch das winzige Fenster des Dachgiebels fällt etwas Helligkeit. Sie können sich aus nächster Nähe ziemlich gut betrachten. »Und du wirst mich hinbringen?«, wiederholt sie. In ihrer Stimme ist ein Bitten, Flehen und Drängen. Ihre Ausstrahlung trifft ihn nun noch stärker. Es ist wirklich eine außergewöhnlich starke Kraft. »Und wenn ich es nicht will?« Sie berührt mit sanften Fingerspitzen seine von Faustschlägen geschwollene Wange. Von ihren Fingerspitzen scheint eine magische Kraft auszugehen, die Linderung bringt. »Ich finde bestimmt einen Mann – oder mehrere, die mich nach Lucky Ben bringen werden«, murmelt sie. »Doch ich würde mich lieber von dir hinbringen lassen, Pernel Wittacker. Ich schwöre dir, dass ich jetzt die Wahrheit sage und dir nichts vormache. Ich halte dich für einen Mann, der auch mir etwas geben könnte – ich
meine Zärtlichkeit und Wärme, etwas Glück und …« Sie bricht ab, beugt sich nieder und küsst ihn vorsichtig auf die zerschlagenen Lippen. Und er kann nicht anders. Er murmelt: »Nun gut, ich bringe dich nach Lucky Ben.« Später dann – als sie nebeneinander liegen, dem Rinnen und Plätschern des Tauwassers lauschen –, da fragt sie ihn: »Und was bist du sonst für ein Mann? Was treibst du in diesem Land? Du bist ein Texaner. Du bist gekleidet wie ein Reiter. Ich kann dich nicht einordnen in all die vielen Sorten – du siehst nicht aus wie ein Claimbesitzer oder ein Minenmann, also zum Beispiel ein Mineningenieur oder ein Minenbesitzer. Du bist auch kein Spieler wie John Jennison. Und ich halte dich nicht für einen Frachtfahrer oder Rindermann. Du bist kein Trapper und Jäger. Was für ein Bursche bist du, Pernel Wittacker?« Er gibt ihr nicht sogleich Antwort. Er liegt eine Weile bewegungslos und schweigt. Erst nach einer Weile wendet er den Kopf und sagt ruhig: »Ach, Mary, ich reite nur so umher. Ich reite eine Zickzackfährte.« »Und von was lebst du?« Wieder lässt er sie auf eine Antwort waren. Schließlich murmelt er: »Wenn man es genau nimmt, Mary, so lebe ich von meinem Colt.«
»Bist du ein Revolvermann?« Seine Antwort kommt zögernd. »Nun – genau besehen, stimmt das wohl im Kern. Ja, man kann mich wohl mit einer gewissen Berechtigung einen Revolvermann nennen. Bist du enttäuscht, Mary?« Sie schüttelt neben ihm auf dem Kissen den Kopf. »Wenn du ein wirklicher Revolvermann wärst«, spricht sie, »hättest du gegen diese drei betrunkenen Strolche nicht mit den Fäusten, sondern mit dem Colt gekämpft. Nein, du bist kein Revolvermann, der von seinem Colt lebt. Du bist auch auf keinen Fall ein Killer. Aber du bist ein Mann, wie ich wahrscheinlich bisher noch keinem begegnet bin. Was wolltest du hier in Golden Hole?« Er lacht leise, und als er dann antwortet, ist seine Antwort eine Überraschung für sie. Denn er sagt: »Ich war und bin unterwegs nach Lucky Ben. Ich hab etwas zu erledigen dort. Der Blizzard hielt mich hier fest.« »He«, haucht sie, »dann hätten wir ja ohnehin den gleichen Weg gehabt von Anfang an?« »So ist es«, murmelt er. »Und ich sage dir schon jetzt, dass ich nicht weiß und es ziemlich fraglich ist, ob ich dich in Lucky Ben werde beschützen können.« »Mir genügt es, wenn du mich hinbringst«, erwidert sie. »Wenn ich erst dort bin, werde ich weiter sehen.«
3 Drei Tage später können sie aufbrechen. Denn das Tauwetter schlägt um. In der Nacht zum dritten Tag ist der getaute und zusammengesunkene Schnee steinhart gefroren. Nach Lucky Ben gehen von Golden Hole aus keine Postkutschen. Man muss reiten oder im eigenen Wagen fahren. Sie reiten und haben ein Packpferd bei sich. Denn sie werden unter freiem Himmel übernachten müssen und brauchen dazu einige Ausrüstung. Verdruss bekommen sie keinen mehr in Golden Hole. Die drei Kerle, mit denen Pernel Wittacker kämpfte, sind verschwunden. Sie hören, dass sie mit jenem, dessen Kniescheibe ruiniert wurde, zu einem Arzt unterwegs seien, da es in Golden Hole keinen gibt. Mary Stone und Pernel Wittacker reiten los, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie verlassen die Schlucht und reiten tiefer in die Black Hills hinein. Mary Stone ist tatsächlich eine erstklassige Reiterin. Er stellt es befriedigt fest, denn es ist sehr schwer, auf diesem hartgefrorenen und vereisten Schnee zu reiten. Man muss das Pferd ganz besonders unter Kontrolle haben und ihm fortwährend Hilfen
geben. Gewiss, die Tiere haben Wintereisen, doch selbst damit geraten sie immer wieder ins Gleiten. Sie bleiben Stunde um Stunde im Sattel. Rechts und links des Weges, den nur Pernel Wittacker kennt – denn er ist ja unter dem harten Schnee verborgen – sind manchmal Camps, Siedlungen, Claims, Minen. Das Land ist nicht leer. Überall wird nach Gold gesucht. In den Minen, deren Stollen in die Berge führen, wird gearbeitet. Aber auch auf einigen Claims brennen Feuer, mit denen man den Boden auftaut, um aus ihm den goldhaltigen Dreck herauskratzen zu können. Viele Goldgräber sind zu dieser Arbeit gezwungen, weil sie sich sonst nicht durch den Winter bringen können. Sie brauchen jeden Tag einige Dollar in Goldstaub zu ihrem Lebensunterhalt. Und weil mancher Claim nur wenige Dollar Tagesausbeute bringt, müssen sie auch den Winter über harte Arbeit leisten. Als es Nachmittag ist, kommen sie in einen breiten Canyon. Eine mächtige Burreiche steht mitten im großen Canyonmaul. Ihr Holz ist eisenhart, und nur deshalb wurde sie noch nicht abgeholzt und als Feuerholz oder für einen anderen Zweck verwandt. Es ist ein gewaltiger Baum, dessen Äste sich wie Schlangenleiber krümmen. An einem der ausladenden Äste hängt ein menschlicher Körper.
Es ist ein Mann, den irgendwelche Leute am Hals aufhängten, bis er tot war. »Sieh nicht hin, Mary«, sagt Pernel Wittacker knapp. »Du sollst nicht hinsehen, sag ich dir! Zum Teufel, warum hörst du nicht auf mich?!« Aber sie schüttelt den Kopf und beißt die Zähne aufeinander. Ihr Blick ist starr auf den Gehenkten gerichtet, dem sie sich nähern. Sie müssen dicht an diesem Hängebaum vorbei. Plötzlich ruft Mary: »Das ist ja John Jennison! Pernel, das ist Jennison! Es gibt keinen Irrtum! Und man hat ihm ein Stück Pappe an einem Bindfaden an den Fuß gehängt. Pernel, was steht auf dieser Pappe geschrieben? Ich muss es wissen!« Er nickt ihr zu. »Reite vorbei! Reite weiter! Ich halte an und sehe nach.« Sie gehorcht. Er aber treibt sein Pferd mit dem Packtier hinter sich die paar Yard hinüber und hält dicht beim Gehenkten an. Er kann dann lesen, was man mit einer Patronenspitze auf das Pappstück geschrieben hat. Er war ein Claimräuber! Sonst steht nichts auf dem Pappstück. Wittacker sieht sich um. Doch nirgendwo ist etwas zu erkennen – nur ein paar Spuren von
Pferden, die von rechts kamen und wieder nach rechts wegführen. Jennison war verfolgt und eingeholt worden. Vielleicht hatten sie ihn auch schon in ihrer Mitte hergebracht zu diesem Baum, weil es der einzige Baum weit und breit ist, der auch noch am Weg steht, den alle kommen müssen. Sie haben ihn hier als Warnung aufgeknüpft. Es sollte sich herumsprechen, dass es offenbar in diesem Land Vigilanten gibt, die mit Goldräubern kurzen Prozess machen. Er reitet wieder an und ist bald bei Mary. »Sie haben ihn beim Claimraub erwischt«, sagt er zu Mary. »Er hatte offenbar kein Geld mehr – keinen einzigen Dollar, nachdem er an mich verlor. Er ritt einen Tag oder eine Nacht vor uns aus Golden Hole fort. Und er brauchte Reisegeld. Er wusste, dass er sonst umkommen würde. Er war kein Jäger und hätte jetzt auch keinerlei Arbeit gefunden. Er musste Bandit werden. Sie erwischten ihn und hängten ihn auf. Wahrscheinlich gibt es schon zu viele Banditen hier. Jetzt wehren sich die Goldgräber auf die böse Art. Dieses Land ist mitleidlos zu allen. Bedeutete er dir viel, Mary?« Sie hat Tränen in den Augen. Doch sie schüttelt den Kopf. »Er war wohl nur ein Spieler«, sagt sie, »der auch seine eigene Mutter als Einsatz in ein Spiel gebracht hätte. Aber ich mache mir Vorwürfe,
dass ich ihn dazu brachte, mit mir nach Lucky Ben zu reiten. Er würde noch leben, wenn …« »So darfst du nicht denken«, unterbricht er sie. »Solche Spekulationen sind sinnlos. Sie führen zu nichts.« Sie trocknet ihre Tränen und sieht ihn seltsam an. »Glaubst du an einen vorgezeichneten Weg, Pernel?« Ihre Stimme klingt hart bei dieser Frage. Er nickt: »Daran glaube ich. Aber ich glaube auch, dass man nicht aufgeben darf, solange man noch atmet. Denn nur auf diese Weise gelangt man bis zu dem Punkt der Unabänderlichkeit.« Sie erwidert nichts, nickt nur leicht. Dann fragt sie: »Wollen wir Jennison nicht abschneiden? Wir können ihn doch nicht hängen lassen und einfach unseres Weges reiten?« »Doch«, nickt er. »Denn es könnte sein, dass seine Henker beobachten, wer ihn abschneidet, um herauszufinden, wer noch zu der Bande der Claimräuber gehört. Denn sie sind mit Sicherheit gereizt wie Hornissen. Es muss sich um Vigilanten handeln, die jetzt aufräumen wollen im ganzen Land. Nein, ich schneide keinen Gehenkten ab. Überdies könnten wir ihn nirgendwo beerdigen. Der Schnee fror zu Eis. Wir haben keine Werkzeuge. Den gefrorenen Boden können wir nicht lockern. Reiten wir!« Sie starrt ihn seltsam an, so, als würde sie jetzt erst erkennen, wie hart er ist.
Als sie nach Anbruch der Nacht im Eis und Schnee der Berge das Camp aufschlagen und dicht nebeneinander am Feuer auf einer Schicht Tannenzweige unter den Decken liegen, hören sie im Canyon die Wölfe heulen. »Erzähl mir was von dir, Mary«, sagt er. »Kommst du direkt von Texas herauf?« »Ja«, erwidert sie. »Aus einer kleinen Stadt in Texas. Meine Eltern hatten eine kleine Ranch. Als mein Vater starb, verkauften wir die Ranch. Mit Mutter und Schwester zog ich in die Stadt. Wir kauften mit dem Erlös für die Ranch den dortigen Store. Wir Frauen kamen mit dem Store besser zurecht als mit einer Ranch. Nach zwei Jahren kauften wir noch das Hotel dazu. Ich führte dann das Hotel. Meine Schwester Judith hielt den Store in Gang. Unsere Mom half uns abwechselnd. Wir hatten aber auch noch einige Helfer.« Sie verstummt und lässt die Pause andauern. Er aber fragt: »Und was geschah dann?« »Ach«, sagt sie mit einer plötzlich heiseren Stimme, »ach, dann kam ein Mann in unsere Stadt …« »Und dann – was war dann?« Seine Stimme klingt gedehnt. »Er ging in den Store, um sich ein paar Zigarren zu kaufen. Das dauerte nur wenige Minuten – doch in diesen paar Minuten verliebte sich meine Schwester in ihn. Er sah gut aus. Und
er trat als erfolgreicher Geschäftsmann auf, als Generalvertreter einer Weltfirma. Judith lief mit ihm fort. Ja, es war ein Fortlaufen, sie hätte es nicht nötig gehabt. Wenn er um sie geworben und um ihre Hand angehalten härte, wie es normalerweise jeder junge Mann bei einem jungen Mädchen tut, hätte unsere Mutter gar nichts dagegen gehabt – und auch ich nicht. Aber er hatte sie irgendwie verhext, uns entfremdet. Sie wurde von Tag zu Tag anders und war ihm völlig hörig. Sie hatte keinen eigenen Willen mehr. Wir hielten es zuerst für abgöttische Liebe – aber als wir dann mehr und mehr erkannten, dass sie nur die Gebende und er der Nehmende war, dass er sie herumkommandierte und oft genug verächtlich behandelte, da machten wir uns Sorgen. Er hatte sie ganz einfach in seinem Bann. Und eines Tages war er mit ihr fort.« Wieder macht Mary eine Pause. Sie liegt still neben Pernel Wittacker unter der Decke. Er nimmt sie nun in den Arm, so, als fühlte er, dass dies notwendig wäre. »Und dann?« Er fragte es geduldig, doch zugleich auch beharrlich. Er spürt, dass sie in seinem Arm zittert und vibriert, dass es ihr fast unmöglich ist, jetzt noch weiter zu erzählen. Doch er lässt nicht locker: »Und dann?« »Er war ein Betrüger, ein Hochstapler, ein …« Ihr fehlen die Worte. Doch sie redet weiter und
sagt: »Judith half ihm bald bei seinen schmutzigen Geschäften. Die Opfer der beiden wurden noch leichter getäuscht dadurch, dass sie beide ein so schönes Paar waren. Sie fanden leicht überall gesellschaftlichen Anschluss und konnten ihre Betrügereien noch leichter ausführen. Aber bald wurden sie überall gesucht. Es gab Steckbriefe von ihnen. Sie mussten die zivilisierten Gegenden verlassen, also die Städte am Mississippi zwischen New Orleans und Saint Louis, Kansas City und andere. Und je mehr sie von Sheriffs, Marshals und Pinkerton-Detektiven gejagt wurden, umso weiter mussten sie nach Westen. Hier versagte dieser Bursche. Seine feinen Manieren nützten ihm nicht mehr viel. Im Westen war alles anders. Er wurde ein Spieler, denn seine schmutzigen Geschäfte mit üblen Tricks waren nicht mehr möglich. Er konnte zum Beispiel keinen billigen Schiffsfrachtraum für Baumwolle mehr anbieten und einen Vorschuss kassieren. Verstehst du, Pernel?« »Und ob«, sagt dieser. Mary aber spricht weiter: »Judith schrieb uns alles eines Tages in einem langen Brief. Sie schrieb, dass sie endlich aufgewacht sei, jedoch alles zu spät wäre für sie. Denn sie würde ja nun auch als Verbrecherin steckbrieflich gesucht. Er aber hätte auch als Spieler versagt und würde sie an Männer vermieten, die genug dafür zahlen konnten. Nun, nachdem meine Mutter diesen Brief
gelesen hatte, fiel sie tot um. Herzschlag. Ich selbst verkaufte alles, was wir hatten und machte mich auf den Weg, meine Schwester zu finden. Es wurde eine lange Fährte. Schon über ein Jahr suche ich sie. Der Mann, dem sie gehört, hat jetzt stets mehr als ein halbes Dutzend Mädchen. Sie arbeiten für ihn, indem sie sich für Geld anderen Männern hingeben. Er bereist mit ihnen alle Camps und Städte im Goldland, wo die Frauen knapp sind und man mit Goldstaub bezahlt. Aber in Lucky Ben hat er erstmals ein festes Haus bezogen. Ich will ihn tot sehen. Und ich will meine Schwester herausholen aus diesem Sumpf. Das ist alles, Pernel.« Er sagt nichts mehr. Doch er hält sie fester im Arm als zuvor. Was sie ihm erzählte, ist gewiss kein Einzelfall. In dieser Zeit und besonders hier im Westen gehen viele Mädchen und Frauen auf ähnliche Art vor die Hunde. Er kann Mary wenig trösten. Doch er weiß jetzt, warum sie nach Lucky Ben will. Ein Mann hat dort ein Bordell. In jeder dieser wilden Campstädte im Goldland gibt es ein Freudenhaus, oft sogar mehr als nur eines. Doch in dem Haus in Lucky Ben ist wahrscheinlich Mary Stones Schwester. »Ja«, sagt sie an seiner Seite, »wenn Judith sich inzwischen nicht das Leben nahm und nicht schon
längst unter der Erde ist, muss sie noch dort sein im allerletzten und allerübelsten Winkel der Welt. Sie schrieb zwar, dass sie sich mit Laudanum vergiften oder sich die Pulsadern aufschneiden wolle, weil sie dieses Leben nicht mehr ertragen könne – doch sie vermutete zugleich, dass sie zu feige wäre, so zu handeln. Denn sie hinge immer noch irgendwie an ihrem Leben und hätte im tiefsten Kern noch eine unbestimmbare Hoffnung auf Hilfe. Nun, ich bin diese Hoffnung. Ich weiß es. Ich habe ihr immer beigestanden. Sie war meine Schwester, die sich auf mich verlassen konnte.« Als sie am nächsten Morgen unterwegs sind, sehen sie von rechts einen Elch kommen, der das Tal nach Süden durchqueren will. Er hat es recht eilig. Doch das Laufen fällt ihm auf dem zu Eis gewordenen getauten Schnee sehr schwer. Pernel und Mary sehen dann schon bald, warum es der Elch so eilig hat. Es tauchen einige Indianer auf hageren Mustangs auf, die den Elch verfolgen. Doch ihre unbeschlagenen Pferde gleiten immer wieder aus. Sie können den Elch nicht einholen, denn dieser bewegt sich zwar auch unsicher, doch rascher als die Pferde auf dem Eis. Pernel Wittacker zieht sein Gewehr aus der Sattelhalfter. Vom Sattel aus zielt er auf den Elch und feuert zweimal kurz hintereinander. Seinen
Spencer-Karabiner repetiert er unwahrscheinlich schnell. Der Elch läuft noch einige Yards und fällt dann. Die Indianer halten an, starren herüber. Pernel Wittacker macht eine zum Elch weisende Handbewegung. Dann sagt er zu Mary: »Komm! Reiten wir weiter! Kümmere dich nicht um die Roten! Wenn sie schlau sind, dann begnügen sie sich mit dem Elch und wollen nicht uns.« Mary sagt nichts. Doch sie schluckt mühsam. Sie reiten weiter. Auch die Indianer setzen sich wieder in Bewegung. Es ist ein knappes Dutzend. Sie reiten zum Elch hinüber, den der Weiße erlegte. Pernel und Mary durchreiten das Tal und gelangen in einen neuen, wieder ansteigenden Canyon. Nun erst fragt Mary: »Und wenn du nicht den Elch erlegt hättest, Pernel?« »Dann hätten sie uns bald schon verfolgt, angegriffen und zu töten versucht«, erwidert er. »Sie hungern gewiss und haben Alte und Frauen mit Kindern zu versorgen. Sie hatten diesen Sommer und Herbst nicht viel Zeit für die Büffeljagd, denn sie führten Krieg gegen die Armee, die Goldgräber, Büffeljäger und Siedler. Sie hätten unsere Pferde und unsere gesamte Habe gewollt.«
Sie erschaudert bei seinen Worten. Am Abend dann, als sie am Feuer sitzen und sich Pfannkuchen mit Speck braten, der Kaffee schon duftet und die Kälte schon merklich zugenommen hat, da erhalten sie plötzlich Besuch. Es sind die Indianer. Sie tauchen plötzlich auf ihren hageren Mustangs auf, verharren am Feuer und starren auf das Paar. Einer von ihnen sagt kehlig in seiner SiouxSprache: »Hokahey, ich sehe dich, Südwind-Sohn. Was tust du mit dieser Squaw in unseren Bergen? Sollen wir auch dich totschlagen wie alle anderen Weißen?« »Lieber nicht, Wasserwolf«, erwidert Pernel Wittacker, den der Indianer »Südwind-Sohn« nannte, also ganz offensichtlich kennt. »Ich bin hier, um einige Weiße zu bestrafen und ihnen die Beute wieder abzunehmen, die sie einst machten. Und auch diese Squaw ist unterwegs, um Rache zu nehmen. Du siehst also, dass es bald in diesem Land einige Weiße weniger geben wird, wenn ihr uns reiten lasst. Denn sonst wird es einige Rote weniger geben. Das weiß du doch – oder?« Wasserwolf nickt langsam. »Ja«, sagt er, »ich kenne deinen schnellen Colt. Wir alle kennen ihn. Wir sind auch nur
gekommen, um dir einen Anteil am Fleisch zu bringen. Wir hatten gemeinsam eine gute Jagd.« Nach diesen Worten zieht er sein Pferd herum und reitet in die Nacht zurück. Einer seiner Krieger wirft einen großen Klumpen Fleisch neben dem Feuer auf den Boden. Dann sind sie alle fort. Mary starrt auf das blutige Stück Fleisch. Es wiegt gewiss mehrere Kilo und ist geradezu kostbar jetzt im Winter mitten im Goldland. »Sie brachten es«, erklärt ihr Wittacker, »um den erlegten Elch nicht als Geschenk ansehen zu müssen. Sie sehen es so, dass sie ihn mir vor den Gewehrlauf trieben und ich als ihr Jagdgefährte nur zu schießen brauchte. Das fordert ihr Stolz von ihnen. Wir können uns ein paar Elchsteaks braten.« »Und was sagte er noch, dieser Wilde? Er kannte dich! Ja, er kannte dich bestimmt. Was sagte er?« »Dass wir reiten können«, erwidert er ausweichend. Das Land steigt nun immer stetiger an. All diese Canyons führen hinauf in die Berge, und nur Pernel Wittacker kennt den Weg, der unter dem gefrorenen Schnee verborgen ist. Es gibt zwei Tage lang keine einzige Fährte von Menschen oder Pferden. Ein Wolfsrudel belagert sie eine ganze Nacht lang. Sie halten das Feuer in Gang.
Als dann der graue Morgen kommt, wagen die Wölfe einen Angriff. Sie sind vor Hunger und Gier fast verrückt. Als sie kommen, erlebt Mary Stone etwas, was sie vielleicht vorher schon ahnte, doch bisher noch niemals in dieser tödlichen Perfektion sah, nämlich einen wirklichen Revolvermann bei der »Arbeit«. Sie wunderte sich schon die ganze Nacht, warum Pernel Wittacker trotz der heulenden, knurrenden und raunzenden Wölfe so dicht bei ihrem Camp, fast sorglos und völlig ruhig wirkte. Nun begreift sie, warum das so war die ganze Nacht. Denn als das Rudel angreift, beginnt er mit dem Colt zu schießen. Es ist ja kein einfaches Schießen, sondern es sind blitzschnelle Schnappschüsse auf gleitende Schatten. Und dennoch trifft er immer wieder. Er hat nur sechs Kugeln im Colt. Dennoch tötet er zwei der Wölfe und verwundet drei weitere so schwer, dass sie nur noch wegkriechen können. Ihr Blutgeruch macht die anderen völlig verrückt. Sie fallen über die angeschossenen Artgenossen her und reißen sie in Stücke. Mary Stone möchte schreien, denn dieses geifernde Knurren und fetzende Schmatzen und Schlingen ist grausig. Sie hat aber glücklicherweise genug damit zu tun, die drei Pferde einigermaßen ruhig zu halten dicht an der Felswand, die ihnen Rückendeckung gibt. Pernel
Wittacker lädt indes seinen Colt neu und hat dabei sein Gewehr in Reichweite an einem großen Stein lehnen. Doch die Wölfe greifen nicht mehr an. Er hat ihr Rudel zu sehr dezimiert. Und überdies stillen sie den ärgsten Hunger an ihren Artgenossen. Als der Tag heller wird, verziehen sie sich. Nur ein paar Überreste und blutige Flecken im Schnee lassen erkennen, dass alles kein böser Traum, sondern Wirklichkeit war. Auch die Pferde haben sich inzwischen beruhigt. Mary und Pernel sehen sich an, bevor sie aufsitzen, um ihren Weg fortzusetzen. »Und in Lucky Ben«, sagt er, »sind zweibeinige Wölfe. Sie sind noch gieriger als die vierbeinigen. Denn was sie wollen, ist Gold, möglichst viel Gold. Dafür töten auch sie Artgenossen. Im letzten Winter herrschte in Lucky Ben große Hungersnot. Man erzählt sich im ganzen Goldland, dass man in Lucky Ben Menschenfleisch gegessen haben soll. Was also unterscheidet die zweibeinigen Wölfe von Lucky Ben von den vierbeinigen hier?« Er fragt es mit grimmiger Verachtung. Sie aber kann ihm keine Antwort geben. Sie muss nur immer schlucken. Aber sie schüttelt heftig den Kopf, so, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass er aufhören möge, in dieser Weise mit ihr zu reden.
Aber er sagt hart: »Du musst wissen, wohin du reitest, Mary. Ich muss dich darauf vorbereiten. Ich kann dich nicht blind in dieses Höllenloch reiten lassen.« »Aber meine Schwester ist dort vielleicht noch am Leben«, erwidert sie heiser und sitzt auf. »Was soll ich denn tun? Soll ich jetzt umkehren? Und wenn du so gut Bescheid weißt über dieses Höllenloch Lucky Ben, dann musst du schon dort gewesen sein, ja?« Er nickt. »Schon zweimal«, sagt er. »Doch ich hoffe, sie kennen mich dort noch nicht gut genug. Denn wenn sie dort erst wissen, wer ich bin und warum ich nun schon zum dritten Mal nach Lucky Ben komme, dann …« Er spricht nicht weiter, sondern reitet mit dem Packpferd an der Leine an. Mary kann ihm nur folgen. Und sie muss jetzt auf den Weg achten und dem Pferd viele Hilfen geben. Sie kann mit ihm nicht sprechen und ihm weitere Fragen stellen. Nur einmal im Verlauf des Tages ruft sie nach vorn: »Wann sind wir denn da?« »Heute am frühen Abend«, gibt er über die Schulter zurück.
4 Am frühen Abend sehen sie die Lichter von Lucky Ben in der Gulch aufleuchten, gelbe Lichter, die in der kalten Winternacht Wärme und Freundlichkeit versprechen und dieses Versprechen nicht halten. »Das ist es«, sagt er zu Mary. »In dieser Schlucht leben auch jetzt im Winter noch mehr als dreitausend Goldgräber und kaum mehr als hundert Frauen. Wenn die wilden Affen hier erst sehen, wie schön und reizvoll du bist, werden sie dir so lästig fallen wie Schmeißfliegen. Ich werde einige von ihnen erschießen müssen, denke ich.« Er verstummt bitter. Sie aber sagt ziemlich heftig: »Das brauchst du nicht, Pernel! Denn du hast getan, was ich von dir verlangt habe. Du brachtest mich nach Lucky Ben. Mehr wollte ich nicht. Von nun an brauchst du dich nicht mehr um mich zu kümmern. Ich kann in dieser Campstadt jetzt für mich allein sorgen. Wir sind quitt, ja?« In ihrer Stimme klingt eine metallische Härte. Er seufzt im Sattel. »Nein, ich kann dich hier nicht dir selbst überlassen«, erwidert er grob. »Das wäre so, als würfe ich ein Lamm in einen Raubtierkäfig. Weiter!« Er reitet wieder an.
Sie folgt ihm wortlos. Der Weg windet sich in vielen Kehren vom Pass in die Gulch hinunter. Sie brauchen noch länger als eine Stunde, bis sie endlich unten sind. Rechts und links von ihnen sind jetzt überall Hütten, die auf abgesteckten Claims stehen. In einigen brennen Lichter. Es gibt Waschanlagen längs des gefrorenen Creeks. Der harte Schnee knirscht unter den Pferdehufen. Die Hütten stehen immer dichter, je mehr sie sich der Stadt nähern. Die Hütten werden größer, sind dann schon kleine Häuser. Es gibt Schuppen, Werkstätten, Magazine, Läden, Lokale, Speiseküchen, Bratstände. Und es sind auch überall Menschen unterwegs, Reiter, Schlitten, Wagen, Fußgänger. Lichtbahnen fallen über die Fahrbahn, deren Schnee schmutzig und zertrampelt ist. Irgendwo grölen betrunkene Kehlen ein obszönes Lied. Gelächter dröhnt. In einiger Entfernung krachen Schüsse, aber es ist gewiss kein Revolverkampf im Gange. Man ballert nur aus Freude an der Knallerei in die Luft. Dies hört Pernel irgendwie. Pernel Wittacker hält plötzlich vor einem kleinen Haus an. Er drängt sein Pferd dicht an die Haustür und tritt vom Sattel aus mehrmals mit dem Fuß dagegen. Drinnen brennt eine Lampe. Nach einer Weile öffnet sich die Tür. Ein hagerer
Mann wird im herausfallenden Lichtschein erkennbar. Er fragt mürrisch: »Könnt ihr mich denn nicht mal eine einzige Nacht schlafen lassen? Ich hab die letzten drei Nächte gepokert und kein Auge zugetan. Na, was ist denn? Aaah, bist du das? Bist du wieder hier? Verdammt, wie gut sind denn deine Nerven?« Er blickt von Pernel Wittacker auf Mary, und da zuckt er überrascht zusammen und beugt sich danach weit vor, um auch gut genug sehen zu können. »Wen hast du denn da bei dir? He, du musst verrückt geworden sein, mein Junge, völlig verrückt! Wie kann ein Mann mit normalem Verstand nur solch ein Girl in dieses Loch hier bringen? He?« »Wir brauchen ein Quartier, Doc«, sagt Wittacker nur. »Ist irgendwo etwas frei – ein kleines Haus oder eine Hütte? Wir würden sie kaufen oder mieten. Weißt du was?« Der hagere Mann, den Pernel Wittacker einfach nur Doc nannte, steht einen Moment still da. Dann beginnt er zu hüsteln, so wie es Leute tun, die etwas mit der Lunge haben. Das Hüsteln wird zu einem heftigen Anfall. Wittacker wartet geduldig im Sattel. Und Mary Stone staunt noch darüber, wie gut Pernel sich hier auszukennen scheint. Schließlich sagt jener Doc: »Willst du mich der Lady nicht vorstellen?«
»Mary, dies ist Doc Barney Selby. Doc, dies ist Mary Stone. Und jetzt beantworte meine Frage.« Der Doc keucht, krächzt heiser. Dann wendet er sich wortlos ins Haus, aber er lässt die Tür offen. Er kommt auch bald wieder zum Vorschein und reicht Wittacker einen ziemlich großen Schlüssel. »Die zweite Gasse links«, sagt er. »Die dritte Tür rechts. Sie gehört Jack Slade. Der kommt erst im Frühjahr wieder – oder überhaupt nicht. Man weiß ja nicht, ob er mit seinem Gold durchgekommen ist. Seine Chancen standen nur eins zu zehn, nicht wahr? Ihr könnt dort einziehen. Er war ein ordentlicher Mann, auf den eine große Familie in Georgia wartete. Hoffentlich kam er heim mit seinem Gold.« Er bekommt wieder einen Hustenanfall, wendet sich zuckend ab und wirft hinter sich die Tür zu. Pernel und Mary reiten weiter. Sie fragt an seiner Seite: »Ist er wirklich Arzt?« »Wahrscheinlich«, erwidert Pernel. »Ja, gewiss war er mal Arzt. Aber so genau weiß man hier nie, was einer mal war. Vielleicht war er nur Sanitäter bei der Army. Jetzt ist er lungenkrank. Die trockene Luft hier in den Bergen tut ihm gut, sagt er. Doch wahrscheinlich flüchtete er nur vor dem Gesetz. Er versteht sich gut auf Schusswunden und Knochenbrüche. Und mehr wird von ihm hier kaum verlangt. Überdies ist er ein Spieler. Ich tat
ihm einmal einen Gefallen. Seitdem ist er mir verpflichtet.« Sie reden nichts mehr. Indes sie die Hauptstraße entlang reiten, blickt Mary nach rechts und links. Zu beiden Seiten sind nun Lokale. Es sind primitive Schuppen, zumeist Fuselkneipen und Spielhallen. Aber es gibt auch größere Tingeltangelhallen, aus denen Musik tönt. Plakate rechts und links der Eingänge zeigen leichtgeschürzte Tänzerinnen, und jeder kann lesen, dass er hier Tanzmädchen mieten kann. Sie biegen in die Gasse ein und halten bald vor der dritten Hütte rechts. Hinter der ziemlich großen Hütte gibt es sogar einen Stall für die Pferde. Das Fenster der benachbarten Hütte öffnet sich. Eine raue Stimme fragt laut: »He, Jack Slade, bist du das? Bist du zurückgekommen, Jack?« »Nein«, erwidert Wittacker. »Wir sind neu hier. Der Doc quartierte uns hier ein, bis Jack zurück ist. Der Doc hat uns den Schlüssel gegeben. Zufrieden, Nachbar?« »Sicher, sicher – wenn der Doc das gemacht hat, ist das schon in Ordnung! Hoi, wir sehen uns ja bei Tag. Willkommen im Höllenloch Lucky Ben!« Der Mann lacht hart und wirft dann das Fenster zu, um nicht zu viel Kälte in seine Hütte zu lassen. Wittacker schließt die Tür auf.
»Geh hinein, Mary«, sagt er. »Ich versorge indes die Pferde. Hoffentlich ist noch Futter im Stall.« Als sie mit dem späten Essen fertig sind, muss es schon fast Mitternacht sein. Sie sitzen sich an einem primitiven Tisch gegenüber und betrachten sich ernst. »Geh schlafen«, sagt er zu Mary. »Ich kann nicht schlafen – jetzt, wo ich meiner Schwester Judith so nahe bin«, murmelt sie. »Denn nahe bin ich ihr bestimmt, und sei es nur ihrem Grab, nicht wahr?« Er nickt langsam. »Ja, nahe bist du ihr, mag sie tot sein oder noch leben. Beschreib sie mir. Dann will ich sie suchen und mich nach ihr erkundigen. Jetzt gleich, damit du endlich Klarheit hast. Wie sieht sie aus? Und wie hieß der Mann, mit dem sie ging? Wie sieht dieser Mann aus? Beschreib ihn mir.« Sie starrt ihn an, nagt an ihrer Unterlippe. »Judith sah aus wie ein blonder und blauäugiger Engel«, beginnt sie dann. »Ja, wie ein Engel aus Milch und Blut mit goldenen Haaren. Und er … nun, er ist ein stets lächelnder Sieger, ein blonder Prinz wie aus dem Märchen, ein Königssohn aus einer Heldensage. Verstehst du? Und sein Name war damals bei uns Henry Shannighan. Aber er hat danach ein halbes Dutzend andere Namen benutzt. Ja, geh und suche
Judith. Ich werde bis zu deiner Rückkehr den Himmel anflehen, dass du sie lebend findest.« Er nickt und erhebt sich. Als er sich angekleidet hat für die kalte Nacht und zur Tür geht, holt sie ihn ein und dreht ihn herum. Sie küsst ihn mitten auf den Mund. »Ich danke dir, Pernel. Ich werde dir immer dankbar sein.« Er schüttelt den Kopf. »Du bist mir nichts schuldig. Du bist eine herrliche Frau, Mary. Ich wäre froh, wenn ich mir deine Liebe erringen könnte, die nicht auf Dankbarkeit gegründet sein dürfte. Doch das geht wohl nicht, weil ich dir helfen muss. Ich kann nicht anders. Ich muss dir helfen.« Nach diesen Worten schiebt er sie zur Seite, öffnet die Tür und tritt hinaus. Eine halbe Stunde später schlägt er den Klopfer gegen die solide Tür des Paradiesvogelkäfigs. Eine rote Laterne brennt über seinem Kopf, und als die Tür sich öffnet, sieht er einen riesenhaften Neger, der ihn von oben bis unten im roten Laternenschein mustert. »Wenn du mir hundert Dollar zeigen kannst«, sagt der Schwarze, »darfst du eintreten. Kennen wir uns nicht? Warst du nicht schon mal im vergangenen Herbst hier bei uns?«
»Du hast ein gutes Gedächtnis, Schneeball«, sagt Pernel Wittacker lässig und zeigt ihm eine Hand voll Zwanzigdollarstücke. Er gibt ihm eines. »Weil du mich nicht vergessen hast, Schneeball«, sagt er. »Dafür darfst du auch Schneeball zu mir sagen.« Der Schwarze grinst und prüft den Doppeladler, bevor er ihn verschwinden lässt. »Sonst hau ich jedem was auf die Birne, der mich Schneeball nennt – ohne ›Mister‹ davor.« In seinen Augen glitzert es hart. Er war einst ein Sklave, den sein Herr als Preiskämpfer hielt wie ein Rennpferd. Seine Narben sind unverkennbar. Denn man kämpft immer noch mit den blanken Fäusten und hat noch nichts von den Queensbury-Regeln gehört. Jetzt ist er kein Sklave mehr. Und er zeigt dies gern jedem Weißen. In der Diele brennt nur eine schwache Lampe. Doch in der Empfangs- und Unterhaltungshalle ist jene Beleuchtung, die alle Dinge weicher, romantischer und wärmer erscheinen lässt. Bei diesem Kerzenlicht wirken sogar die hässlichsten Mädchen schöner. Ihre Reispuderschminke fällt nicht so auf. Das Kerzenlicht ist wie ein Zauber. Eine füllige Frau, die früher einmal eine Schönheit war, was ihr auch jetzt noch anzusehen ist, nähert sich Wittacker. Sie lächelt ihn an, nickt dabei freundlich.
»Mein Freund, haben Sie besondere Wünsche?«, fragt sie. »Wir erfüllen hier fast alle Wünsche. Manche Gentlemen haben es eilig, andere wieder nicht. Zu welcher Sorte gehören Sie, mein Freund?« »Zur letzteren.« Er grinst. »Ich war schon mal hier im vergangenen Jahr. Schneeball erkannte mich wieder. Ist diese Judith noch da? Ich meine die Blonde, die wie ein Engel aussieht?« Die Augen der Frau werden für einen Moment hart und schmal. Aber dann lächelt sie wieder. »Ja, sie ist noch da«, sagt sie. »Soll ich sie Ihnen …« »Etwas später«, erwidert er und grinst erneut. »Erst möchte ich etwas trinken und vielleicht auch ein Spielchen machen. Ja, etwas später möchte ich Judith, wenn es sich machen lassen sollte.« »Sicher«, nickt die füllige Frau. »Für fünfzig Dollar lässt sich das machen. Unsere Gesellschafterinnen sind wirkliche Ladies. Sie werden zufrieden sein, Mister …« »Phildarlik, Pernel Phildarlik«, sagt er. Sie lacht und hält die Hand auf für das Geld. »Ihr Texaner habt doch manchmal merkwürdige Namen.« Er legt drei Zwanzigdollarstücke in eine Hand, die sich sofort fest um die Münzen schließt. »Bargeld ist selten in der Gulch«, sagt sie. »Kommen Sie von weither, Pernel?«
»Von sehr weit«, sagt er und nickt. Er lässt sie stehen und geht zum Spielsalon hinüber. Es ist kein sehr großer Raum, in dem es nur vier Spieltische gibt. An einem wird Roulette gespielt, am anderen gewürfelt. Und an den beiden restlichen Tischen sitzen Pokerspieler. Einer dieser Spieler fällt ihm sofort auf, denn auf ihn passt die Beschreibung, die Mary Stone ihm gab. Der Bursche ist blond, blauäugig und ein so genannter »schöner Mann«, einer, der stets blitzend und sieghaft lächelt. Auch jetzt strömt er strahlende Zuversicht aus, ganz so, als hätte er den Erfolg nur für sich allein gepachtet. Erst wenn man ihm nahe genug ist und schärfer hinsehen kann beim weichen Lampenlicht hier im Spielsaal, da erkennt man die harten Linien in seinem Gesicht, besonders um die Augen und Mundwinkel. Man erkennt auch die Hartlippigkeit seines Mundes und spürt die Mitleidlosigkeit eines zweibeinigen Wolfes. Dieser Bursche ist älter, als es auf den ersten Blick scheint. Er ist längst kein Sonnyboy mehr, sondern bereits ein narbiger, erfahrener Wolf. Selbst als er jetzt das Spiel verliert, verändert sich seine Sieghaftigkeit nicht. Er macht nur eine leichte Bewegung mit den Schultern, so, als schüttelte er etwas ab. Dann sieht er schräg zu Wittacker auf.
»Neu hier? Willkommen! Ich bin der Besitzer dieses Hauses. Mein Name ist Shannighan, Henry Shannighan. Wollen Sie mitspielen?« »Vielleicht eine Stunde zur Entspannung«, erwidert Wittacker und setzt sich auf den noch freien Stuhl. Er grinst und sieht sich in der Pokerrunde um. »In einer Stunde hab ich eine Verabredung«, fügt er hinzu, und er zuckt mit keiner Wimper, als er den Mann erkennt, dessentwegen er nach Lucky Ben gekommen ist. Bisher saß der Mann mit dem Rücken zu ihm und hatte seinen Hut weit zurückgeschoben. Nun aber, da Wittacker halb um den Tisch herumging, sieht er ihn mehr von vorn. Der Mann heißt Linnehart Robinson. Er hat eine sehr gute Beschreibung von ihm. Aber er sah ihn schon im vergangenen Jahr hier in Lucky Ben. Denn dieser Linnehart Robinson war einst Zahlmeister bei der Army, und zwar bei der Union, bevor er als Bandit Karriere machte. Pernel atmet langsam aus. Und er denkt, indes sie ihn alle aufmerksam betrachten und abzuschätzen versuchen: Das ist es also! Auf Anhieb fand ich sie beide – einen verdammten Mörder und den Mann, den Mary tot sehen will. Ist das ein Spiel des Schicksals? Abermals grinst er und verbirgt seine Gedanken und Empfindungen hinter diesem Grinsen.
Linnehart Robinson betrachtet ihn besonders aufmerksam und hat vibrierende Nasenflügel, so, als nähme er Witterung. Er fragt: »Waren Sie nicht schon mal hier, Mister …« »… Phildarlik«, unterbricht ihn Wittacker. »Pernel Phildarlik. Ja, ich war schon einige Male hier. Ich sah Sie auch schon, Mister. Damals hatten Sie zwei Freunde bei sich. Ich glaube, die hießen George Ballard und Jim Shane. Und Sie heißen Linnehart Robinson. Sie und Ihre beiden Freunde waren damals ziemlich betrunken. Wo sind sie denn jetzt?« »Wer?« Robinson fragt es etwas verblüfft. »Nun, Ihre beiden Freunde – Ballard und Shane. Es sah so aus, als wärt ihr drei unzertrennlich. Wo sind sie?« Aber Linnehart Robinson gibt darauf keine Antwort. Er nimmt die Karten auf, die inzwischen ausgeteilt wurden, und vertieft sich in sie. Nur manchmal wirft er über die Karten und seine beiden Hände einen Blick hinweg auf Wittacker. Das Spiel kommt in Gang. Die Nächte jetzt um diese Jahreszeit sind lang. Doch irgendwann kommt dann doch der graue Morgen. Der riesige schwarze Exsklave und Preiskämpfer Schneeball lässt Wittacker hinaus. »Na, warst du zufrieden, Texas?«
»Sehr«, grinst dieser. »Doch warum nennst du mich Texas?« »Texas – das heißt Freund, nicht wahr?«, gibt Schneeball zurück und fügt hinzu: »Als ich noch Sklave im Süden war, wurde mir jeden Tag so richtig klar gemacht, wie sehr die Texaner meine Freunde sind. Besonders dann waren die weißen Gentlemen meine Freunde, wenn sie auf mich gewettet und gewonnen hatten. Ja, Texas, dies ist der indianische Ausdruck für Freund. Ganz Texas ist voller Freunde. Sie kommen sogar bis hierher zu uns. Ich freue mich immer, wenn ich einem Freund begegne.« Seine Stimme ist voller Hohn. Er strömt Feindschaft aus. Wittacker sagt nichts. Er geht davon. Aber in seinem Kern schlägt eine Stimme Alarm. Er hat da ein Gefühl, das er gut kennt. Es ist das Ahnen einer noch im Verborgenen lauernden Gefahr. Aber sie ist da. Sein Instinkt wurde durch die sarkastischen Worte alarmiert. Und so geht er vorsichtig, späht wachsam nach rechts und links, hält manchmal an und lauscht. Der Paradiesvogelkäfig liegt am Ende einer Gasse, still und ruhig, sehr weit abseits der zumeist lärmenden Innenstadt. Aber diese Campstadt Lucky Ben ist jetzt fast überall still und ruhig. Denn es ist die Stunde zwischen Nacht und Morgen. In dieser Stunde
scheint es kein Leben zu geben in Lucky Ben. Das Babylon der Berge wirkt wie tot. Das Untier, das eine Nacht ziemlich heftig lebte, Begierden nachgab, lärmte und tobte, ist müde geworden. Und jene »andere« Stadt, die erst noch zum Leben erwachen muss, wenn die Handwerker und Geschäftsleute ihr Tagewerk beginnen, gibt es noch nicht. Er hört nichts, so sehr er auch lauscht. Zu sehen ist wenig, denn in diesem grauen Frühmorgen steigen jetzt sogar Nebel, ziehen durch die Gassen und Straßen. Er bewegt sich weiter, wird immer vorsichtiger. Sein Instinkt gibt ihm jetzt sehr deutliche Warnsignale. Als er die Hauptstraße erreicht, muss er sie schräg überqueren. Denn dort drüben ist die enge Mündung jener Gasse, in der das Haus steht, das Mary und er gemietet haben. Er gelangt bis mitten auf die Fahrbahn, auf der mehlig gewordener, mit brauner Erde vermischter Schnee knöchelhoch liegt. Und da holt ihn eine Stimme ein. Sie sagt halblaut: »He, Phildarlik!« Er verharrt, hat die Hand am Revolver. Und er weiß, dass er wahrscheinlich jetzt schon in der Falle sitzt. Auch die Stimme hat er bereits erkannt.
Es ist die Stimme jenes Linnehart Robinsons, mit dem er im Verlauf der vergangenen Nacht etwas länger als eine Stunde beim Poker saß und den er nach dessen beiden Freunden und Partnern George Ballard und Jim Shane fragte. »Was ist, Linnehart Robinson?« Er sieht ihn dann aus einer Hauslücke treten, sich ihm nähern. Bald kann er ihn als Linnehart Robinson auch erkennen, nicht nur als Gestalt. Doch Linnehart Robinson ist nicht allein. Mit ihm kommt noch ein anderer Mann zum Vorschein – und zwei weitere Männer kommen von der anderen Straßenseite herüber. Pernel Wittacker, der sich hier Pernel Phildarlik nennt, ist eingekeilt. Sie haben auf ihn gewartet. Sie konnten vermuten, dass er hier am sorglosesten sein würde. »Was ist, fragst du? Das werd ich dir gleich sagen.« Robinsons Stimme klingt böse. Er ist ganz offensichtlich angefüllt mit böser Wut. »Ich hab über dich nachgedacht«, spricht er weiter. »Die ganze Zeit hab ich über dich nachgedacht. Du nennst dich Pernel Phildarlik, und du warst zuvor schon zweimal in Lucky Ben. Und immer, wenn du wieder fort warst, war auch einer meiner beiden Freunde und Partner verschwunden – zuerst George Ballard und dann im vergangenen Herbst Jim Shane. Als du mich in
der vergangenen Nacht am Spieltisch so scheinheilig nach ihnen fragtest, da ›klingelte‹ es bei mir. Da konnte ich ganz stark etwas spüren. Nun, jetzt sag mir, wer du wirklich bist! Und sag mir auch, was du mit Ballard und Shane gemacht hast – und warum du hinter uns her warst! Auf der Stelle sagst du mir das jetzt!« Seine Stimme verstummt knirschend. Er ist angefüllt mit bösartiger Ungeduld. Dass seine beiden Freunde und Partner nacheinander spurlos verschwanden, hat ihn gewiss die ganzen Monate stark beunruhigt und fortwährend beschäftigt. Er ist wahrscheinlich Dutzenden von Möglichkeiten nachgegangen. Jetzt hat er wieder eine Möglichkeit gefunden, und vielleicht sagt sein Instinkt ihm, dass er diesmal die richtige Fährte fand. Pernel Wittacker schielt indes über seine Schultern nach hinten. Die beiden Männer, die von der anderen Straßenseite aus der Dunkelheit traten, verhalten etwa sechs Schritte hinter ihm. Doch sie weichen nun nach rechts und links etwas zur Seite, sodass ihre Kugeln, sollten sie ihn fehlen, nicht Linnehart Robinson und dessen Nebenmann treffen können. Er ist eingekeilt. Zwei Mann hat er genau vor sich, die beiden anderen sind nun halbrechts und halblinks hinter ihm. Er denkt einen Moment mit Bedauern an Mary Stone.
Er hätte ihr noch eine Menge zu sagen. Denn er sprach in der vergangenen Nacht lange mit ihrer Schwester Judith. Er würde Mary Stone noch gern eine Weile beschützt haben in dieser bösen Campstadt. Doch nun ist alles vorbei. Linnehart Robinson will eine Antwort auf seine Fragen, und wenn er Robinson diese Antwort wahrheitsgemäß geben sollte, werden Robinson und seine drei Revolverschwinger zu schießen beginnen. Das ist völlig sicher. Also ist es wohl besser, erst gar nicht mehr zu reden, sondern gleich zu schießen. Als er mit seinen Gedanken so weit ist, zieht er den Colt. Aber es ist ja kein einfaches Ziehen, auch kein Herausschnappen – nein, es ist wie Zauberei. Der Colt ist plötzlich in seiner Hand, und der Schuss kracht aus der so unheimlich schnellen, gleitenden Bewegung heraus, die so schnell ist, dass man sie mit dem Auge auch bei Tageslicht kaum hätte erfassen können. Doch auch Linnehart Robinson und dessen drei Männer sind Revolverkünstler. Sie ziehen nicht viel langsamer. Die Colts erfüllen mit ihrem trockenen Krachen die graue Stunde zwischen der sterbenden Nacht und dem sich langsam erhellenden Morgen. Fünf Männer versuchen sich gegenseitig umzubringen, und von diesen fünf ist einer allein.
Hat solch ein Mann überhaupt Chancen? Er trifft Linnehart Robinson mit dem ersten Schuss, wirbelt geduckt herum und entgeht auf diese Weise gleich zwei Kugeln. Er feuert auf die Mündungsfeuer, die durch den Pulverrauch leuchten. Denn dieser Pulverrauch verbirgt die Gestalten der Männer ziemlich und lässt sie schemenhaft erscheinen. Er bleibt in Bewegung, denn er weiß, dass auch er von seinem eigenen Pulverrauch eingehüllt wird und seine Gegner ebenfalls auf das Mündungsfeuer zielen. Kugeln treffen ihn, stoßen ihn manchmal. Er schießt zurück – bis – ja, bis sein Colt leer ist. Und er weiß, dass diese wenigen Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkommen, indes er sich in rasender Tätigkeit befindet, wirklich nur wenige Sekunden sind. Dann verharrt er schwankend, mit dem leeren Colt in der Hand. Er kann nicht mehr schießen. Er ist ziemlich schwer angeschossen, wie er zunehmend an den einsetzenden Schmerzen spürt. Und er ist jetzt wehrlos. Sein Colt ist leer. Er musste mit vier Gegnern kämpfen, die – wenn sie jeder einen voll geladenen Colt besaßen – vierundzwanzig Kugeln auf ihn abfeuern konnten. Er hatte nur sechs Kugeln, die wie sechs Freunde für ihn zählten. Er wartet, seufzt und schnauft.
Aber es fällt kein einziger Schuss mehr. Linnehart Robinson liegt stöhnend im Schnee. Er kann nicht mehr kämpfen. Die erste Kugel aus Wittackers Colt traf ihn voll. Er krümmt sich vor Schmerz. Der Mann neben Linnehart Robinson liegt völlig still. Wahrscheinlich ist er tot. Wittacker sieht sich langsam nach den anderen um. Der Pulverrauch verzog sich indes. Und das Grau der sterbenden Nacht wurde etwas heller, fast schon ein Morgengrau. Seine beiden anderen Gegner kämpfen ebenfalls nicht mehr weiter. Sie können es nicht. Er hat sie ebenfalls so schlimm getroffen, dass sie aufgaben. Einer schwankt nun davon, hält sich weit vorgebeugt und drückt die Unterarme und Hände gegen seinen Leib. Er stöhnt laut. Der zweite Revolverschwinger kniet im Schnee. Er keucht und übergibt sich voller Not. Pernel Wittacker begreift, dass er vier Gegner niederkämpfte und selbst immer noch auf den Beinen stehen kann. Er kann es zuerst gar nicht glauben. Doch es ist so. Er konnte vier Gegner niederkämpfen. Gewiss, sie trafen ihn mit ihren Kugeln. Er wurde zumindest dreimal getroffen. Doch sie trafen ihn nicht gut genug. Seine Wunden schmerzen. Blut läuft aus ihnen. Doch er geht nicht zu Boden.
Er setzt sich in Bewegung. Sein Hirn hat endlich begriffen, auf was es jetzt in den nächsten Minuten ankommt. Er muss fort. Denn er muss davon ausgehen, dass die vier Burschen noch Freunde haben und wahrscheinlich zu der wilden Horde von Lucky Ben gehören. Er darf nicht zu viel Blut verlieren, weil ihn das noch hilfloser machen wird, als er es durch die Wunden allein schon ist. Also muss er schnellstens zu Mary Stone. Denn bis zu ihr kann er es vielleicht noch schaffen. Zu ihr ist der Weg sehr viel näher als zum Doc. Und so holt er alle noch verfügbare Energie aus seinem Kern und macht sich auf den Weg. Schritt für Schritt setzt er in den Schnee. Manchmal will sich alles um ihn drehen. Er kämpft dagegen an. Manchmal wird ihm schwarz vor Augen. Aber er fällt nicht um. Er muss zu Mary. Und er schafft es.
5 Sie muss drinnen in der Hütte auf jeden Schritt draußen gelauscht haben. Denn als er sich draußen keuchend gegen die Tür lehnt und mit der flachen Hand dagegen klatscht, öffnet sie sofort. Er verliert den Halt, taumelt vorwärts, fällt fast hinein – aber dann hält sie ihn, fängt ihn auf. Er reißt noch einmal seine letzte Kraft zusammen. »Oh, Mary«, sagt er mühsam, »sie haben mich ziemlich schlimm angeschossen. Ich war ein verdammter Narr, der glaubte, ein wenig herumspielen zu können. Aaah, bring mich auf ein Lager. Hilf mir, Mary.« »Sicher, ich helfe dir«, erwidert sie und muss dann alle Kraft aufbieten, um ihm zur Lagerstatt zu helfen. Sie weiß, dass sie ihn nicht aufs Bett heben könnte, sollte er vorher zu Boden gehen. Denn er ist ein Mann von hundertundachtzig Pfund. Sie aber könnte gewiss keine hundert Pfund heben und zum Bett tragen. Doch er schafft es tatsächlich. Als er endlich der Länge nach ausgestreckt auf dem Lager liegt, atmet er rasselnd aus. Dann verliert er das Bewusstsein. Mary Stone handelt schnell.
Sie öffnet ihm die Kleidung, zerschneidet sie sogar, um möglichst schnell nach seinen Wunden sehen zu können. Sie versucht die Blutungen zu stillen, so gut ihr das möglich ist. Dann macht sie sich auf den Weg zu jenem Doc Barney Selby, durch den sie diese große Hütte bekamen. Draußen ist es immer noch nicht Tag. Als sie zur Hauptstraße kommt, haben sich dort einige Menschen angesammelt. Man trägt offenbar die Opfer des Kampfes weg. Sie hört eine Stimme rufen: »Und ich sage euch, dass er ganz allein gegen vier Mann kämpfte, obwohl sie ihn eingekeilt hatten. Einer gegen vier! Er hat sie umgelegt und ist fortgegangen. Ich sah es durch das Fenster. Sie hatten ihn eingekeilt, und er nahm den Kampf an.« Sie hört nicht weiter zu, sondern beeilt sich. Denn nun hat sie Angst, dass man diesen Doc Barney Selby zu den anderen Verwundeten holen könnte. Sie will aber, dass er sich zuerst um Pernel bemüht. Oh, sie ist entschlossen, den Doc mit allen Mitteln zuerst zu Pernel zu bringen. Doch als sie das Haus erreicht, an dessen Tür Pernel vor etwa zwölf Stunden vom Sattel aus mit dem Fuß stieß, da pocht dort schon ein Mann gegen die Tür. Und ein zweiter Mann ist auch noch da, der sich ihr zuwendet. »He, wer kommt denn da?«
In diesem Moment öffnet sich die Tür. Doc Selby steckt seinen Kopf heraus. »Was wollt ihr?« »Komm schnell, Doc«, sagt einer der Männer. »Wir haben einen Toten und drei angeschossene Männer. Einer davon ist Linnehart Robinson. Hast du verstanden? Linnehart Robinson läuft das Blut nur so raus und …« »Ich komme, verdammt, ich komme!« Der Doc will sich ins Haus abwenden, da fällt sein Blick auf Mary Stone. »Wollen Sie auch zu mir? He, sind Sie nicht die Schöne, die gestern mit Pernel Phildarlik in unsere saubere Stadt kam?« »Er braucht Sie, Doc«, sagt Mary Stone. Die beiden anderen Männer starren sie im Morgengrauen an. »He«, sagt einer, »dieser Pernel Phildarlik soll verrecken. Oder etwa nicht, Doc?« Er fragt es hart und fügt dann hinzu: »Der richtete ja das Blutbad an. Der war es. Also, Doc, wohin gehen Sie zuerst?« »Zu Robinson«, erwidert Barney Selby. Er wendet sich wieder an Mary. »Vielleicht sehe ich später mal nach Phildarlik – später.« Sie will aufbegehren. Doch einer der Männer sagt: »Pass auf, Honey! Wenn du gleich so richtig böse werden solltest, dann wirst du mir besonders gut gefallen. Du
gehörst offenbar zu diesem Pernel Phildarlik, dessen Namen uns Linnehart Robinson vorhin noch nennen konnte. Du wirst bald schon verdammt allein sein auf dieser Erde, Honey. Du solltest dich schnell nach einem neuen Beschützer umsehen, der dir auch etwas bieten kann. Wie wär’s denn mit mir? Ich bin der prächtige Ringo Squade. Und du gefällst mir sehr. Ich besuch dich bald.« Sie hört nicht länger zu, sondern wendet sich ab und läuft zurück. Denn sie hat begriffen, dass sie keine Hilfe bekommen wird. Sie muss sich selbst um Pernels Wunden kümmern. Denn ohne ihn wird es ihr schlimm ergehen in dieser gesetzlosen Campstadt. Als sie atemlos wieder dort angelangt ist, von wo sie fortlief, um Hilfe zu holen, macht sie sich sofort an die Arbeit. Sie ist eine Frau, die über sich hinauswachsen kann in Schwierigkeiten. Jetzt kann sie das unter Beweis stellen. Sie klagt und weint nicht. Und sie weiß, was sie zu tun hat. Es ist am Nachmittag, als Pernel Phildarlik erwacht. Trotz seines Wundfiebers erkennt er Mary Stone an seinem Lager und erinnert sich auch an alles, was in der Nacht geschehen ist. Sie wäscht ihm das schwitzende Gesicht ab, lässt ihn einige Schlucke Tee trinken.
Dann lächelt sie auf ihn nieder, gibt sich Mühe, sich keine Sorge anmerken zu lassen. Er grinst verzerrt. Außer seinem Wundfieber leuchtet Trotz in seinen Augen. »Es wird schon wieder werden«, sagt er. »Was ist mit meinen Wunden?« »Die Kugel ist heraus«, sagt sie. »Das Ding steckte im Muskelfleisch des rechten Oberschenkels. Die Schulterwunde ist ein glatter Durchschuss. Und die Wunde an deiner Seite hab ich genäht, so gut ich es mit Nähnadel und Faden konnte. Ich hab die Wunden und danach auch die Verbände mit Schnaps begossen, sodass wir hoffen können, keine Entzündungen zu bekommen. Ich war auch beim Doc. Doch die Freunde deiner Gegner waren schon vor mir dort. Der Doc ging mit ihnen. Er versprach, auch zu dir zu kommen. Doch er kommt nicht. Vielleicht lassen sie ihn nicht zu dir. Ich müsste in einen Store gehen und dringend Einkäufe machen. Es fehlt uns an den nötigsten Dingen. Aber ich habe Angst, dich allein zu lassen. Du hast Feinde hier in Lucky Ben, Pernel. Du hast mir eine Menge über dich nicht gesagt. Hast du Judith gesehen?« Sie lässt ihn nochmals einige Schluck Tee trinken. Dann wartet sie geduldig. Er scheint zu überlegen. Und das macht sie etwas wütend.
Sie spricht herb: »In deiner blutigen Kleidung fand ich ein paar Dinge. Sie waren eingenäht, sodass man sie bei oberflächlicher Durchsuchung nicht bemerken konnte. Aber ich fand drei Dinge. Eine silberne Plakette, die dich zusammen mit einem Schriftstück als US Marshal ausweist. Und einige Haftbefehle. Einer lautet auf den Namen Linnehart Robinson. Du bist also ein US Marshal.« »Ja«, sagt er. »Und ich habe mit Judith gesprochen. Sie hat mir eine Menge erzählt. Ich musste fünfzig Dollar bezahlen, um mit Judith auf ein Zimmer gehen zu können. Sie ist eine Gefangene in diesem Paradiesvogelkäfig, wie alle anderen Mädchen dort auch. Auch wenn wir es wagen sollten, sie herauszuholen, dann haben wir es nicht nur mit diesem Henry Shannighan zu tun – nein, mit der ganzen wilden Horde hier. Denn er gehört dazu. Sie schützen sich gegenseitig.« Seine Stimme wurde heiser. Mary lässt ihn wieder trinken. »Gib mir meinen Colt«, verlangt er. »Ich muss ihn laden und unter der Bettdecke bereit haben. Das ist wichtig, Mary. Gib mir meinen Colt!« Sie nickt und reicht ihm die Waffe. »Er ist schon geladen«, spricht sie herb. »Und du kannst dich darauf verlassen, dass er nicht versagen wird.«
Er nimmt den Colt, betrachtet ihn und lässt ihn mit einer müden und schwach wirkenden Bewegung unter der Decke verschwinden. Mary fragt sich, ob er überhaupt kräftig genug sein wird, die Waffe zu halten und abzufeuern. »Geh einkaufen«, sagt er zu ihr. »Schaff Vorräte heran, sodass du in den nächsten Tagen nicht wieder hinaus musst. Ich hab eine gute Heilhaut. In ein paar Tagen bin ich wieder auf den Beinen.« Sie kann Letzteres nicht glauben und ist der Meinung, dass er ihr nur Mut machen will. Resignation will sie befallen wie ein lähmendes Gift, das mit dem Blutkreislauf bis in die letzte Faser ihres Körpers dringt. Doch dann kämpft sie dagegen an. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. Doch irgendwie wird es weitergehen. Irgendwie geht es immer weiter. Aber zum ersten Mal begreift sie richtig, in welch einer aussichtslosen Situation sie sich befinden. Er ist ein US Marshal auf Verbrecherjagd. Er hat gekämpft, musste töten und ist schlimm angeschossen. Dass er sie mitgenommen hat und sich hier für sie verantwortlich fühlt, belastet ihn noch zusätzlich. Und sie fand mit seiner Hilfe zwar ihre Schwester Judith und den Mann, den sie tot am
Boden sehen möchte – doch was nützt ihr das schon? Sie kann Judith nicht befreien und fortbringen. Sie kann nicht gegen die Bande der Bösen kämpfen. Der Mann, durch den Judith ins Unglück geriet, ist kein Einzelgänger, den man durch einen Revolvermann töten lassen könnte – nein, dies hier ist eine böse Horde von Townwölfen und Goldräubern. Marshal Pernel Phildarlik Wittacker hätte vielleicht zum dritten Mal einen gesuchten Mörder von ihr entführen und dem Gesetz übergeben können, so wie er es schon zweimal tat. Doch nun steckt er mächtig in der Klemme. Sie beide befinden sich in einer ausweglosen Situation. Mary Stone fürchtet sich davor, einkaufen zu gehen. Doch sie muss es tun. Es fehlt ihnen an allen Dingen. Und so nickt sie Pernel zu. »Es ist ja erst später Nachmittag«, sagt sie. »Noch wird es für eine Frau nicht so gefährlich sein wie in den Nächten, denke ich. Ja, ich werde mich beeilen.« Sie beugt sich über ihn und küsst ihn. Dann geht sie hinaus. Er hört, wie sie draußen abschließt.
Aber er weiß auch, dass das einfache Schloss an der Tür leicht mit einem Haken zu öffnen ist. Es hat keine Zuhaltungen. Er müsste aufstehen und den Querbalken vorlegen. Doch er ist zu schwach. Er kann nicht aufstehen. Vielleicht am nächsten oder übernächsten Tag, wenn sein Körper den Blutverlust ausgleichen konnte. Und er wird essen müssen. Aber Proviant muss Mary erst kaufen. Deshalb ist sie fort. Er wünscht ihr, dass sie unbehelligt bleibt. Aber das wird wahrscheinlich nicht der Fall sein. Denn die Wölfe von Lucky Ben wissen längst, dass Mary zu ihm gehört. Sie hat den Doc zu ihm holen wollen. Schon allein damit machte sie alles deutlich. Es ist kein weiter Weg zum Store. Mary verlässt die Gasse und überquert schräg die Fahrbahn der Gulch Street. Der mehlige Schnee ist noch erdiger als vorher. Auf der Fahrbahn und auf den Plankengehsteigen ist Leben und Treiben. Ja, es gibt überall vor fast allen Häusern, Läden und Lokalen Plankengehsteige. Fahrzeuge und Sattelpferde sind abgestellt. Ein Mann treibt ein halbes Dutzend Maultiere die Straße entlang. Die Tiere sind mit Brennholz beladen. Der Mann kommt von irgendwoher aus den Bergen, wo es
noch Holz gibt. In der näheren Umgebung ist längst schon alles kahlgeschlagen. Mary denkt daran, dass sie in ihrer Hütte nur noch wenig Holz haben. Sie werden welches brauchen. Sie ist versucht, den Maultiertreiber anzuhalten und ihn zu fragen, ob sie eine Maultierladung Holz bekommen könnte. Doch sie lässt es. Zuerst brauchen sie Proviant und einige andere Dinge. Sie beeilt sich. Inzwischen wurde sie auch als junge Frau erkannt. Überall halten die Männer inne. Pfiffe tönen. Jemand ruft: »Seht mal! Da läuft eine Honeymouse! Seht sie euch an! Habt ihr die schon mal gesehen?« Es wird noch mehr gerufen, aber sie hört gar nicht hin. Der Weg zum Store wird fast ein Spießrutenlaufen für sie. Und schon daran erkennt sie, was dies für eine Campstadt ist. Die Männer hier sind enthemmter, gieriger, primitiver. Sie halten sich in keiner Weise zurück. Immer mehr kann sie erkennen, dass Lucky Ben ein Camp ohne Gesetz ist, in dem die Bösen und Wilden das Sagen haben. Und weil es hier kaum gute und ehrenwerte Frauen gibt, sondern nur käufliche Dirnen – und diese auch noch in sehr geringer Zahl –, wird
Mary Stones Gang zum Store ein Spießrutenlaufen. Die Wilden hier überbieten sich in anzüglichen und eindeutig obszönen Reden. Ihr Gelächter wird zum Gegröle. Mary Stone möchte umkehren. Doch sie brauchen Proviant, Verbandzeug, Wundpuder, Alkohol und einige andere Dinge. Sie muss einkaufen. Deshalb geht sie weiter, hält ihr Kinn erhoben und blickt fest und spröde, kühl und abweisend. Man könnte glauben, dass sie sich absolut sicher fühlt, etwa so wie ein Dompteur im Raubtierkäfig. Doch in ihrem Kern ist nackte Angst. Was könnte sie tun, wenn einige Kerle sie greifen und sich mit ihr einige wilde Stunden verschaffen wollen? Nichts könnte sie tun, gar nichts. Sie wäre ihnen völlig schutzlos ausgeliefert. Als sie nach etwa hundert Schritten endlich den Store erreicht, da kommen ihr diese hundert Schritte auf der Hauptstraße wie hundert Meilen vor. Im Store hocken einige Kunden auf Kisten, Ballen und Fässern, lümmeln an den Wänden. Sie staunen die Eintretende an. Manche kauen eingelegte Gurken. Offenbar wurde soeben ein Salzgurkenfass geöffnet. Einer sagt kauend: »Kneift mich mal! Träum ich oder sehe ich einen Engel?«
»Aaaah«, machen drei andere Männer. Und einer rülpst laut und sagt dann: »Ja, mit der würde ich mal gern einige Tage und Nächte in meiner Hütte verbringen. Oho, wo kommt die denn plötzlich her? Hat die jemand hergezaubert?« Sie kümmert sich nicht um die Worte, tut so, als wäre sie furchtlos und völlig ruhig. Sie tritt an den Verkaufstisch, wo der Storehalter ebenso staunt wie seine männlichen Kunden. Mit ruhiger und fester Stimme gibt sie ihre Bestellung auf. Und weil der bullige und bärtige Storehalter sich nicht gleich bewegt, sondern noch staunt, sagt sie kühl: »Mister, wenn Sie ausgestaunt haben, könnten Sie sich mal bewegen. Ich bin ja schon gewöhnt in diesem Camp der Primitiven, dass hier eine normale Frau angestaunt wird wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Aber da Sie einen Store führen, sollte man doch annehmen, dass Sie nicht zu den Primitiven gehören. Wollen Sie mich endlich bedienen?« Er zuckt zusammen. »Sicher, sicher, schöne Miss«, sagt er. »Oder sind Sie keine Miss mehr und haben einen Mann hier? Wer ist es denn?« Sie gibt ihm keine Antwort. Aber dafür sagt einer der anderen Anwesenden: »Oh, die kenn ich! Die gehört zu dem Burschen, der in der vergangenen Nacht gegen vier Mann
kämpfte, einen seiner Gegner erschoss und die drei anderen böse verwunden konnte. Sie wollte den Doc zu dem Burschen holen. Hat es ihn schlimm erwischt? Oder warum sonst muss er dich allein einkaufen lassen?« Der Sprecher tritt aus dem Hintergrund. Mary Stone erinnert sich an ihn. Der Mann war mit einem Begleiter vor ihr bei Doc Barney Selby. Er hatte sich ihr als Beschützer angeboten und seinen Namen genannt. Sie erinnert sich auch an seinen Namen. Ringo Squade. »Du hast Glück, Mäuschen«, sagt er nun zu ihr, »dass ich zufällig hier bin, weil Sanders das Gurkenfass heute öffnen wollte. Salzgurken sind hier eine der wenigen Delikatessen. Nun, du stehst jetzt unter meinem Schutz. Ich bin der große King, dessen Colt dir Schutz geben kann. Du wirst es sehen. Also, Sanders, sie steht unter meinem Schutz. Sie wird bedient wie eine Queen. Und ihr anderen dämlichen Blödmänner werdet sie ebenfalls wie eine Lady behandeln. Denn sie ist zu schön und zu reizvoll für dieses Camp voller Affen. Sie hat sich nur hierher verirrt. Aber sie hat Glück, dass es mich gibt!« Er ist ein hagerer, braunhaariger und gelbäugiger Mann mit zwei Revolvern, deren helle Elfenbeingriffe sofort auffallen. Er ist ein Revolverheld, daran gibt es keinen Zweifel – und er ist einer von jener Sorte, die es genießt, gefürchtet zu sein. Burschen wie ihm ist
es zuzuschreiben, dass die Bösen in dieser Campstadt stärker sind als die Guten. Denn das ist stets so in solchen Camps. Mary Stone weiß das. Sie behält die Nerven. Denn sie will rasch bedient werden und auch möglichst unbelästigt wieder heimkommen. Und so nickt sie Ringo Squade zu und sagt ruhig: »Ich bin sehr froh, hier einen ritterlichen Beschützer zu finden. Ich nehme Ihre Hilfe natürlich gern an, Mister Ringo Squade. Das war doch der Name, den Sie mir in der vergangenen Nacht vor dem Hause des Doc nannten?« »Richtig, das war er«, erwidert Ringo und grinst zufrieden. »Und ich bin sehr stolz, dass du ihn dir so schön gemerkt hast, mein Augenstern. Du wirst zufrieden mit mir sein, wenn auch ich mit dir zufrieden bin. Denn ich – das musst du dir merken – bin hier einer der großen Bullen im Corral.« Er greift ihr mit dem Zeigefinger unters Kinn, hebt so ihr Gesicht etwas an und blickt auf sie nieder. Sie lässt es geschehen, und sie erkennt die harten Linien in seiner Lederhaut, das gierige Glitzern in seinen gelben Augen. Es sind dreieckig wirkende Augen, die denen eines Wüstenwolfes ähneln. »Wie schön«, sagt sie, »dass ich an einen großen Bullen geraten bin.« Sein Blick wird misstrauisch. Und sein Lächeln schwindet.
»Du wirst es schon noch richtig merken«, murmelt er und gibt sie frei. Er schlägt seine Hand bretthart auf den Ladentisch. »Bedienung – Bedienung!« Seine Stimme klirrt vor Ungeduld. Als sie sich auf den Rückweg machen, ist es schon sehr viel dunkler geworden. Die Tage sind um diese Jahreszeit ja sehr kurz. In vielen Häusern, Läden und Lokalen brennen schon die Lampen. Die Straße ist noch belebter. Von den Claims und Minen kommen die Männer nach Lucky Ben herein. Sie wollen Gesellschaft, Wärme, etwas Vergnügen, Feuerwasser, ein Spielchen. Und zuvor füllen sie sich an den Bratständen, in den Garküchen und Restaurants für eine lange Nacht die Mägen. Für viele ist dies die einzige warme Mahlzeit am Tag. Mary Stone geht schnell, zielbewusst. Auch diesmal werden ihr Worte und irgendwelche Redensarten nachgerufen. Pfiffe tönen. Aber obwohl es jetzt schon dunkler ist und man annehmen könnte, dass die rauen Burschen von Lucky Ben nun enthemmter sind, halten sie sich eher zurück. Ringo Squade muss ein sehr bekannter und gefürchteter Bursche sein in Lucky Ben. Und was vielleicht noch mehr zählt, ist gewiss die Tatsache, dass er hier eine Menge Freunde hat und zur so
genannten »Gilde« gehört, die in Lucky Ben herrscht. Sie erreichen die Gasse. Ringo Squade sagt: »Da habt ihr aber Glück gehabt, dass Doc Selby euch Jack Slades Hütte vermietete. Denn dieser Jack Slade – nun, der wird wohl nie wieder nach Lucky Ben zurückkommen – nein, das glaub ich nicht. Der hatte zu viel Gold bei sich, als er hier fortging. Aaah, da sind wir ja!« Sie haben in der Gasse die dritte Hütte auf der rechten Seite erreicht und halten an. Mary Stone ist mit Paketen beladen. Ringo Squade trägt einen ganzen Sack über der rechten Schulter. Seine linke Hand jedoch hat er frei. Sie befindet sich immer in der Nähe seines Colts. Obwohl er zwei Revolver trägt, ist seine Linke offenbar die schnellere Hand. Er will die Hüttentür öffnen. Doch sie ist verschlossen. Da wendet er sich an Mary. »In welcher Manteltasche ist der Schlüssel? Ich hole ihn mir schon raus. Du hast ja keine Hand frei.« »Doch«, sagt Mary und stellt die Pakete ab. »Ich kann Sie leider nicht hereinbitten, Mister Squade«, spricht sie. »Aber ich danke Ihnen sehr für Ihren Schutz und die Hilfe beim Tragen. Aber jetzt komme ich wieder allein zurecht.«
Er steht zwei Atemzüge lang starr und staunend da. Dann lacht er leise. »Oh, Honeygirl«, sagt er, »du glaubst doch nicht, mich hier abwimmeln zu können wie einen dummen Jungen, der sein erstes Mädchen nach der Sonntagsschule heimbringt. Mach die Tür auf! Oder ich trete sie ein. Ich bin mitgekommen, Honey, damit wir besser bekannt werden. Und das geht nur dort drinnen.« Sie bewegt sich nicht. »Nein«, sagt sie. Aber er lacht nur, wendet sich zur Tür und tritt kräftig zu. Er nimmt dabei nicht einmal den Sack von der Schulter. Mit dem dritten Tritt springt die Tür auf. Er lacht abermals laut und macht zu Mary gewandt eine einladende Bewegung. »Siehst du, wir brauchten gar keinen Schlüssel. Na, da geh schon voraus und zünde die Lampe an. Ich will vor allen Dingen diesen Pernel Phildarlik sehen, der mit Linnehart Robinson und drei rauen Jungens zurechtkommen konnte und dabei sogar noch am Leben blieb. Na, zeig mir mal den Wundermann!« Mary Stone seufzt bitter. In diesem Camp ist sie ganz einfach verloren. Ringo Squade verscheuchte zwar die Meute, indem er sich als ihr Beschützer aufspielte – doch nun soll sie dafür bezahlen.
Und er ist gewiss nicht nur mitgekommen, um sich mit ihr näher bekannt zu machen, wie er sich ausdrückte – nein, er will auch Pernel sehen. Vielleicht ist es nur das eifersüchtige Interesse eines Revolvermannes, vielleicht aber auch … Sie mag nicht weiter denken in dieser Richtung. Aber sie entschließt sich nun. Sie geht hinein, tritt drinnen an den primitiven Tisch, lädt die Sachen ab, die sie ja noch in einem Arm trägt und zündet die Öllampe an, deren Licht langsam den Raum erhellt, weil sie das Flämmchen erst höher drehen muss mit dem Docht. Aber dann reicht der Lichtschein auch bis in die Ecke, wo Pernel auf dem Lager liegt. Ringo Squade tritt langsam ein. Mit dem Fuß stößt er die Tür hinter sich zu. Er lässt den Sack von der Schulter auf den Boden gleiten und steht nun breitbeinig da, die geöffneten Hände hinter den Beingriffen der Revolver. »He, bist du wach?« Die Entfernung von ihm bis zu Wittacker beträgt fünf Schritte. Er ist sich nicht sicher, ob Wittacker die Augen geschlossen hat oder ihn zwischen Schlitzen hindurch beobachtet. »He, hörst du mich?« »Ich sehe und höre dich«, erwidert Wittacker mühsam. Ringo Squade tritt einen Schritt näher, beugt sich etwas vor.
»Dann will ich dir etwas sagen«, spricht er weiter. »Du bist zwar davongekommen. Du hast einen Kampf mit Linnehart Robinson und drei seiner harten Jungens überstanden – und das hat noch niemand geschafft –, aber du bist schon so gut wie tot. Ich werde dir deshalb die Sorge um deine Honey abnehmen. Bei mir wird sie es besser haben. Gegen diese Hütte ist mein Haus ein nobler Palast. Weißt du, Linnehart Robinson war nie mein Freund. Aber wir Großen in Lucky Ben helfen einander. Wir teilen uns auf diese Weise den Kuchen. Deshalb – und weil ich dieses Honeygirl für mich haben möchte – werde ich dir jetzt den Fangschuss geben.« Er schnappt beide Colts heraus – das heißt, er will es tun. Doch als seine Hände sich um die hellen Beingriffe schließen, feuert Pernel Wittacker durch die Bettdecke hindurch. Er trifft ihn voll. Aber der Rückstoß der Waffe ist so stark in seiner geschwächten Hand, dass ihm der schwere Colt unter der Bettdecke aus der Hand gestoßen wird. Er greift danach, findet ihn nicht sogleich. Vor Anstrengung wird ihm schwarz vor Augen. Er kann den Gegner einen Moment gar nicht mehr sehen. Als er dann die Waffe endlich wieder in den Händen hat – ja, diesmal in beiden Händen – und sich die dunklen Schatten vor seinen Augen wieder erhellen und er wieder sehen kann, da sieht
er Ringo Squade durch die Tür nach draußen schwanken. Ringo Squade bewegt sich wie ein volltrunkener Mann. Er muss schlimm getroffen sein, so schlimm, dass er nicht mehr kämpfen kann, sondern nur noch fort will. Pernel sagt mit heiserer Stimme: »Komm her, Mary! Komm her, nimm meinen Colt. Lauf ihm nach und töte ihn! Du musst es tun, denn sonst …« Seine Stimme versagt. Die Schwäche übermannt ihn. Er wird fast bewusstlos. Mary Stone läuft zu ihm. Der Pulverrauch beißt ihr in die Augen, als sie die Bettdecke zurückschlägt und seinen Colt nimmt. Sie erhebt sich damit, will zur offenen Tür laufen. Doch da endlich wird ihr klar, dass sie diesen Ringo Squade nicht wird töten können wie einen verwundet davonschleichenden Wolf. »Ich kann es nicht – nein, ich kann es nicht«, sagt sie heiser und sinkt dann bei Pernel Wittackers Lager auf die Knie. »Oh, Pernel, wie dumm war ich, als ich glaubte, hier in Lucky Ben bestehen zu können, als ich hoffte, meine Schwester nicht nur befreien, sondern auch noch rächen zu können mit Hilfe eines einzigen Revolvermannes. Wie naiv war ich! Und wie wenig wusste ich von einem gesetzlosen Camp wie diesem hier.«
Sie hat ein Schluchzen in der Stimme, obwohl sie sich bemüht, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Er legt mit einer schwachen Bewegung die Hand auf ihren Kopf. Dann murmelt er: »Leg den Querbalken vor. Dann kann niemand die Tür auftreten. Dann müssen sie schon mit einer Axt kommen oder einen Rammpfahl benutzen. Und dann koch mir etwas. Ich muss Nahrung bekommen, damit mein Körper Säfte erzeugen kann, die den Blutverlust wieder ausgleichen. Mary, wir haben nicht viel Zeit.«
6 In dieser Nacht hören sie, wie ihnen aus dem kleinen angebauten Stall die Pferde gestohlen werden. Sie können nichts dagegen tun. Die Pferdediebe sind leise, sehr leise. Dennoch hören sie natürlich genügend Geräusche, die ihnen verraten, was dort draußen geschieht. Man kann drei Pferde halt doch nicht völlig lautlos aus einem kleinen Stall führen. Sie verlieren über das, was sie hören, kein einziges Wort. Aber ihnen ist klar, dass die Banditen von Lucky Ben sie jetzt gewissermaßen festnageln, einkeilen – und dass es kein Entkommen mehr geben kann für sie. Was die Banditen noch davon abhält, hier in die Hütte einzudringen, ist wahrscheinlich Pernel Wittackers Colt, mit dem er nun schon fünf Männer der wilden Horde außer Gefecht setzte. Vielleicht aber auch möchten Linnehart Robinson und Ringo Squade persönlich Rache nehmen. Und da es ihnen jetzt gewiss nicht besser geht als Wittacker, hat dieser noch eine Gnadenfrist. So etwa stehen die Dinge. Mary Stone und Pernel Wittacker wissen es.
Doch als es nach dieser langen Nacht endlich Tag wird, da tun sie beide so, als gäbe es keine Gefahr. Mary bereitet das Frühstück. Wittackers Wundfieber ist etwas abgeklungen. Seine Wunden haben sich offensichtlich nicht entzündet. Mary füttert ihn, und sie sehen sich immer wieder an und erleben etwas, das sonst nur Liebende, die sich schon lange kennen, einander schenken können. Es ist ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen. Dabei ist ihnen klar, dass sie in der kommenden Nacht vielleicht schon ausgeräuchert werden. Irgendwann einmal sagt Mary: »Weißt du, Pernel, was das Schlimme ist?« »O ja«, erwidert er. »Das Erschreckende ist, dass hier in der Gulch mehr als dreitausend Menschen leben. Aber sie sind wie eine Hammelherde ohne Leithammel, in die sich Wölfe einschlichen. Diese Hammelherde kämpft nicht. Sie lässt es geschehen, dass mitten in ihr immer wieder Artgenossen getötet und gefressen werden. Es gibt hier keine Gemeinschaft, keinen Zusammenhalt – nichts. Ein paar Dutzend Böse, die sich einig sind, können dreitausend Hammel scheren, töten, ausnehmen, fressen. Ja, das ist erschreckend. Wir hier in der Hütte sind so allein wie auf einer einsamen Insel. Ohne Hilfe! Ja, so ist das. Doch du hast eine Chance, Mary. Wenn ich mich hier fortschleichen könnte, würdest du eine
Chance bekommen. Du bist zu reizvoll. Dich lassen sie leben.« Sie zuckt zusammen bei seinen Worten. Denn sie weiß sofort, was dies für ein Leben sein würde. Sie braucht nur an ihre Schwester Judith zu denken. Und so wie Judith würde es ihr gewiss auch ergehen. Zumindest aber würde sie einem der wichtigsten Anführer der bösen Horde gehören, vielleicht jenem Henry Shannighan. Sie fragt sich, ob Henry Shannighan schon weiß, dass Judiths ältere Schwester nach Lucky Ben gekommen ist. Oh, sie hat sich alles hier ganz anders vorgestellt. Sie glaubte, dass Henry Shannighan auch hier nur ein Einzelgänger sein würde, ein Spieler und Zuhälter wie in vielen anderen Städten auch, ein Mann, der spielte und Judith vermietete. Sie hat geglaubt, es würde genügen, einen Revolvermann zu finden und Henry Shannighan von diesem Mann abschießen zu lassen. Doch in dieser Campstadt ist alles anders. Hier ist Henry Shannighan kein Einzelgänger. Hier ist er einer der Bosse jener Horde des Bösen. Hier müsste man die ganze Horde klein machen. Und das kann kein einzelner Mann, auch nicht ein Mann wie Pernel Phildarlik Wittacker, der US Marshal. Es klopft an die Tür ihrer Hütte. Pernel nimmt den Colt in die Hand und hält ihn auf seinem Lager bereit. Er ist jetzt schon etwas
kräftiger. Nun kann er die Waffe fester halten mit einer Hand. Sie sieht es mit einem schnellen Blick, und sie freut sich darüber. Vielleicht ist er einer dieser Männer, die aus einer besonderen Substanz gemacht zu sein scheinen, weil sie sich so wunderbar schnell von Krankheiten und Verwundungen erholen wie Wüstenwölfe. Sie sieht ihn fragend an. Er nickt ihr zu, und sie versteht sein Nicken. Sie geht zur Tür und fragt dort laut genug: »Wer ist dort draußen?« »Aaah, ich bin es nur, ich, Doc Selby, Doc Barney Selby. Sollte ich nicht mal nachsehen kommen?« Wieder blickt sie fragend auf Pernel. Dieser nickt abermals. Da nimmt sie den Querbalken ab und öffnet die Tür. Es ist tatsächlich nur der hagere und schwindsüchtige Barney Selby. Er ist allein und hat seine schwarze Tasche bei sich. Langsam tritt er ein. Sein Lächeln wirkt etwas maskenhaft. In seinen Augen hinter dem Kneifer funkelt es. »Na, wie geht’s denn?« Er geht schnurgerade zu Pernel Wittackers Lager, hält jäh an und blickt auf ihn nieder. »He, Wittacker, hast du einen Colt in der Hand?« »Sicher, Selby«, nickt Wittacker.
»Traust du auch mir nicht?« »Nein, Doc. Du kommst sehr, sehr spät. Warum kommst du überhaupt? Haben sie dich geschickt, weil sie wissen wollen, wie schlimm es mich erwischt hat und ob ich überhaupt aufstehen und richtig kämpfen kann?« »Vielleicht ist es tatsächlich so.« Selby grinst auf ihn nieder, »vielleicht will ich auch endlich mal nach deinen Wunden sehen. Weißt du, sie ließen mich die ganze Zeit nicht von ihren Verwundeten weg. Diesem Linnehart Robinson und auch diesem Ringo Squade, den Burschen geht es wirklich schlecht. Sie standen auf der Kippe zur Hölle. Ich musste um ihr Leben kämpfen. Sonst hätten mich die harten Jungens auch zur Hölle geschickt. Und ich will dir ganz ehrlich sagen, Freund Wittacker, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich gekommen bin.« »Dann sag ihn endlich, Selby. Denn es wird gewiss ein mieser Grund sein. Sonst würdest du nicht so lange herumdrucksen.« Selby setzt sich auf den Rand des Lagers und öffnet die Tasche. Er greift sehr langsam hinein und holt alles, was er für eine Untersuchung und die Behandlung der Wunden braucht, auch sehr langsam heraus. Er weiß zu gut, dass Wittacker unter der Bettdecke den Colt schussbereit hält, weil er niemandem mehr vertraut – ausgenommen Mary Stone.
Diese hat inzwischen den Querbalken wieder vorgelegt, die Tür also gesichert. Sie tritt hinzu und hilft dem Doc, Wittackers Verbände abzunehmen. Der Doc schnalzt anerkennend mit der Zunge. »Besser hätte ich’s auch nicht machen können. Auch die Wunde ist richtig zusammengenäht. Es war ein guter Gedanke, Schnaps auf die Verbände zu gießen. Es hat sich nichts entzündet. Seht ihr, ihr habt mich eigentlich gar nicht gebraucht.« »Dann kannst du ja gleich wieder verschwinden«, erwidert Wittacker grob. »Oh, ich hab da noch was anderes«, murmelt Doc Barney Selby. »Wisst ihr, einige wichtige Männer hier in Lucky Ben nehmen mir übel, dass ich euch Jack Slades Haus vermietet habe. Sie wollen, dass ich euch kündige. Und ich stecke da ziemlich in der Klemme, wisst ihr?« Er wirkt zerknirscht. »Ich soll euch rauswerfen«, spricht er weiter. »Wenn ich das nicht schaffe, räuchern sie euch hier aus. Sie wollen deinen Skalp, Wittacker. Sie müssen sich deinen Skalp holen, weil sie sonst befürchten müssen, dass sich andere Männer um dich scharen, dich zu ihrem Anführer wählen und ein Vigilantenkomitee gründen. Denn solche Vigilantenaufgebote gibt es schon da und dort im Goldland. Sie räumen mit ihren Hängepartien gnadenlos auf. Es macht ihnen nichts aus, dass sie neben Schuldigen auch so manchen Unschuldigen
erledigen, nur weil auch bei ihnen so mancher Bursche seine persönlichen Interessen …« »Schon gut«, unterbricht ihn Wittacker. »Du willst uns also raus werfen.« »Ich will nicht – ich muss! Denn wenn ich es nicht tue, wird diese Hütte in der kommenden Nacht entweder brennen oder in die Luft fliegen. Es gibt Sprengstoff genug in Lucky Ben. Jede Mine braucht Sprengpatronen. Was glaubst du, wie ihr hier zur Hölle saust, wenn sie an allen vier Ecken solche Dinger hochgehen lassen. Ihr könnt euch doch gar nicht verteidigen. Diese Hütte ist eine Mausefalle. Natürlich wär’s ihnen lieber, wenn es nicht so viel Krach gäbe. Denn die Goldgräber warten nur auf einen Anführer. Dann brechen sie los. Bisher konnte die böse Horde hier stets alle möglichen Anführer der Hammelherde abschießen, vertreiben, verschwinden lassen. Sie schaffen das auch mit euch. Also, ihr müsst raus hier. Ich kann dir nicht mehr helfen, Wittacker. Und ich glaube, ich habe meine Schuld bei dir längst abgetragen.« Er wendet sich an Mary, blickt sie mit hinter Brillengläsern funkelnden Augen an und sagt: »Ihr Name ist Mary Stone. Ja, ich hab ihn mir gemerkt, als Wittacker sie damals vor meiner Haustür vorstellte. Mary Stone. Und Wittacker war im Paradiesvogelkäfig und mietete sich eine gewisse Judith Stone, die Ihnen bis auf die Haar- und Augenfarbe sehr ähnlich sieht. Nun, sind Sie
Judith Stones Schwester? Kamen Sie her, weil Sie Ihre Schwester suchten?« Mary Stone staunt. Aber Pernel Wittacker sagt: »Mary, du darfst dich nicht wundern. Die Bande hat ihre Augen und Ohren überall. Die bekommt es früher oder später ohnehin heraus. Oder hast du es ihnen schon gesagt, Doc? Gehörst du vielleicht sogar zu ihnen? Hast du mir nur geholfen, George Ballard und Jim Shane zu entführen und dem Gesetz auszuliefern, weil dadurch Plätze in der Rangordnung innerhalb der bösen Horde freiwurden? Doc, ich trau dir jetzt eine Menge zu. Die alten Zeiten sind vorbei, nicht wahr? Sie wollten dich vor langer Zeit mal in Kansas als Pferdedieb hängen. Ich verhinderte das, übergab dich dem Gesetz und musste dann erfahren, dass du aus dem Gefängnis ausbrechen konntest, bevor es zur Verhandlung gegen dich kam. Du bist mir immer noch was schuldig, Doc.« »Nicht mehr«, sagt dieser herb. »Denn inzwischen hab ich eine Menge für dich getan, sodass wir längst quitt sind. Ich hätte der bösen Horde schon damals verraten können, dass du ein US Marshal bist. Du hättest niemals George Ballard und später dann Jim Shane mitten aus ihrem Rudel in dieser Stadt rausholen können, ohne mein Schweigen. Wir sind längst quitt. Aber ich will Mary Stone bei mir aufnehmen. Ich will den rauen Burschen ihren Namen verschweigen
und ihnen klarmachen, dass ich eine Assistentin brauche, eine Krankenschwester. Ich werde auf sie achten. Mehr kann ich nicht tun. Du aber musst für dich selbst sorgen, Wittacker. Ich kann dir nicht länger helfen.« Er packt seine Siebensachen wieder in die Tasche, schließt sie, erhebt sich und sieht Mary Stone an. »Komm zu mir, Mary«, spricht er. »Das ist deine einzige Chance. Ich, der Doc, kann dich beschützen. Denn sie alle hier fürchten sich davor, mal angeschossen oder krank zu werden. Dann brauchen sie mich. Ich kann dich schützen, weil ich eine Menge Freunde habe. Also, du weißt, wo mein Haus ist.« Nach diesen Worten geht er zur Tür. Mary nimmt den Querbalken ab und lässt ihn hinaus. Hinter ihm sichert sie die Tür sofort wieder. Dann kommt sie zu Wittacker, blickt auf diesen nieder. »Was sollen wir tun?« Sie fragt es langsam und ahnungsvoll. Er antwortet nicht sogleich. Er sieht sie erst noch eine Weile prüfend an, so, als müsste er sich erst noch davon überzeugen, was er ihr zumuten könnte. Schließlich sagt er: »Der Doc gehört zur bösen Horde. Er half mir gewiss nicht nur aus Dankbarkeit, indem er den Banditen verschwieg,
dass ich ein US Marshal bin. Gewiss, er hat mir sein Leben zu verdanken. Aber das zählt bei diesen zweibeinigen Wölfen nicht viel. Er wollte wahrscheinlich nur einige Konkurrenten aus dem Weg geräumt haben. George Ballard, Jim Shane und Linnehart Robinson standen hier gewiss ganz oben in der Rangordnung der bösen Horde. Sie waren vor zwei Jahren noch Soldaten. Robinson war Zahlmeister. Die beiden anderen hatten den Rang von Sergeanten. Sie gingen mit einem Geldtransport durch, der für ein Indianerreservat bestimmt war. Weil der Indianeragent das Geld vor Anbruch des Winters nicht bekam, konnte er für seine Schützlinge wenig tun. Damals verhungerten viele Frauen und Kinder. Die Krieger aber brachen aus und gingen auf den Kriegspfad. Sie überfielen Siedler, Wagenzüge, raubten und plünderten aus Not und Wut. Sie fühlten sich verraten. Das alles hatten die drei Deserteure auf dem Gewissen, auch einige Morde an Soldaten und dem Offizier des Kommandos, zu dem sie gehörten. Die Bundesregierung setzte Marshals auf das Kleeblatt an. Ich fand die Fährte und holte Ballard und Shane nacheinander hier aus der Mitte ihrer Kumpane und brachte sie zur Army. Sie waren längst schon in Abwesenheit verurteilt worden und wurden sofort aufgeknüpft. Ich war unterwegs, um nun auch Linnehart Robinson zu schnappen, als ich dir begegnete, Mary. Nun weißt du alles von mir. Ich kann dir
nicht mehr helfen. Denn der Doc wird mich bald verraten, wenn er das nicht schon getan hat. Ich muss mich hier rausschleichen wie ein Fuchs aus einem belagerten Bau. Ich weiß nicht, wie ich das schaffen kann. Nur eines weiß ich, Mary!« »Ja?«, fragt sie etwas schrill. »Dass du nicht länger bei mir bleiben kannst, wenn du nicht mit mir sterben willst. Du musst das Angebot des Doc annehmen. Natürlich wirst du dafür bezahlen müssen. Das ist klar. Aber wenn du eine winzige Chance behalten möchtest, deine Schwester wiederzusehen, musst du dich vorerst in dein Schicksal fügen. Erinnerst du dich an den Gehenkten unterwegs, den toten Goldräuber, der am Riesenbaum hing und dem man ein Pappschild ans Bein gebunden hatte?« Sie schluckt mühsam und nickt schließlich. »Ja, an diesen Gehenkten unterwegs erinnere ich mich, Pernel. Was ist mit ihm?« »Er wurde von Vigilanten gehenkt. Das sollte dir Hoffnung machen. Überall in den Black Hills, in den wilden und bösen Camps wie Lucky Ben, da bilden sich früher oder später Vigilantenkomitees. Oder die Hammelherde wandelt sich in einer Stunde des Zornes zu einer Riesenkraft, die wie ein losbrechendes Element auf alles Böse losstürmt und keine Gnade mehr kennt. So wird es auch hier kommen, weil die böse Horde von Lucky Ben eines Tages den Bogen überspannt. Verstehst du? Dann werdet ihr
hier frei werden. Das allein ist eure Chance, deine, die von Judith – und von vielen, vielen anderen Menschen. Glaub mir.« Sie nickt langsam. »Und ich soll dich verlassen?«, fragt sie. »Ich soll dich im Stich lassen, um meine eigene Haut zu retten? Ich soll mich diesem schwindsüchtigen Doc ausliefern?« Er nickt. »Was bleibt dir übrig? Er kann dich vor der übrigen Bande schützen. Er kann dich davor bewahren, bald im Paradiesvogelkäfig zu landen – vielleicht im Nebenzimmer deiner Schwester Judith. Dann kannst du dir die Männer nicht mehr aussuchen, und du hast nur noch die Wahl zwischen Selbstmord und …« »Nein!« Sie kreischt es fast. Und sie stampft mit dem Fuß auf, beginnt dann im Raum umher zu wandern. »Dies ist ein Höllenloch!« Sie ruft es wild. »Dies ist eine Stadt wie jene, die einst von Gott vernichtet wurde!« »Ja«, sagt er. »Und vielleicht wird auch sie vernichtet.« Sie steht nun vor einem der beiden kleinen Fenster, durch das nur ein wenig Helligkeit eindringen kann. Plötzlich sagt sie überrascht: »Es fällt Schnee! Er fällt sehr dicht! Hörst du den Schneesturm, Pernel! Ein Schneesturm ist da!«
»Sicher«, erwidert er, »der kann hier in diesem Land sehr schnell kommen. Auf einmal ist ein Blizzard da. Aber diesmal ist es ein harmloser Schneesturm, kein orgelnder Blaueis-Winterriese. Er könnte eine kümmerliche Chance sein für mich. Ich könnte mich vielleicht fortschleichen. Nur müsstest du die Wand da zum Stall durchbrechen. Da brauchte ich nicht durch die Vordertür, sondern könnte hinten hinaus. Nimm das Beil dort neben dem Herd. Du musst die Schneide zwischen zwei Bretter drücken und dann …« »Du brauchst mir nicht zu erklären, wie ich Bretter aus der Wand lösen muss«, unterbricht sie ihn. »Ich bin auf einer Ranch aufgewachsen, wo man oft genug irgendwelche Schuppen, Schutzdächer und Corrals bauen musste. Aber du glaubst doch nicht, dass ich dich allein in den Schneesturm schleichen lasse?« »Du hast keine andere Wahl. Es ist sogar so, dass du mir helfen wirst, wenn du die Bande vorn ablenkst, wenn ich nach hinten hinaus verschwinde. Ich kann dort draußen für mich schon sorgen. Aber für dich nicht. Dazu bin ich noch nicht wieder in der Lage. Und wahrscheinlich werden sie mich erwischen. Meine Chance ist gering. Deine ist besser. Du wirst irgendwie davonkommen. Dreck kann man abwaschen. Und was du erleben wirst, wird dir eines Tages nur noch wie ein böser Traum vorkommen. Deine Erinnerungen werden
verblassen. Also mach mir ein Loch in die Wand zum Stall, ja?« Sie steht immer noch am Fenster, blickt ungläubig hinaus. Der Schnee wirbelt so dicht, dass kaum noch Helligkeit in die Hütte einfallen kann. Sie vermag von ihrem Platz aus nur noch undeutlich die Gestalt des Marshals auf dem Lager zu erkennen. Oh, sie fühlt sich so hilflos! Ihr Verstand sagt ihr jedoch, dass Pernel Wittacker in seinem Zustand wirklich nichts mehr für sie tun kann. Sie muss sich allein helfen. Dort draußen im wirbelnden Schnee wäre sie nicht einmal eine Hilfe, sondern nur eine Belastung für ihn. »Du kannst ja noch gar nicht aufstehen«, sagt sie trotzig. »Du brauchst meine Hilfe. Ich muss mit dir gehen, dich stützen.« »Bis heute Abend werde ich kräftiger sein«, erwidert er ernst. »Ich werde mich in irgendeinem Loch verkriechen, vielleicht in einer alten Mine. Doch die böse Horde wird mich suchen. Wenn sie mich finden, gibt es einen Kampf, der nur mit meinem Tod enden kann. Sie sind zu sehr in der Überzahl. Gib es auf, bei mir bleiben zu wollen, Mary. Doc Barney Selby ist nicht so schlimm wie der Tod, selbst wenn er ein noch schlimmerer Schuft sein sollte, als ich ohnehin schon glaube.« Sie sagt nichts mehr.
Aber nach einer Weile bewegt sie sich und beginnt an der Wand zum Stall zu arbeiten. Manchmal, wenn sie innehält, um zu verschnaufen, da hört er sie leise weinen. Doch er kann ihr nicht helfen. Er wird sich selbst kaum helfen können. Sie müssen sich trennen. Jeder muss auf seine Art für sich selbst sorgen. Und Mary hat die größeren Chancen zum Überleben. Denn sie ist eine reizvolle Frau. Er aber ist ein Revolvermann, der den Stern eines US Marshals in der Kleidung verbirgt. Der Doc wird ihn verraten, wenn er es nicht schon getan hat. Der Schneesturm draußen ist nun stärker zu hören. Es ist fast schon ein Orgeln und Brüllen. Der starke Schneefall ist vielleicht ein Wink des Schicksals, das einen Mann wie Pernel Phildarlik Wittacker nicht so schnell untergehen lassen will.
7 Als der kurze Tag vorbei ist, erhebt er sich, kleidet sich an und nimmt das Gepäck, das Mary ihm zu einer Art Rucksack zusammenpackte und mit Tragegurten versah. So kann er sich den Sack wie einen Tornister umhängen und wird seine Arme frei haben. Einen Arm und die Hand braucht er für einen starken Knüppel, auf den er sich stützen kann. Die andere Hand wird er für den Revolver freihaben müssen. Sie stehen dann voreinander. Mary sagt: »Pernel, ich glaube, ich liebe dich. Ja, ich bin mir nun sehr sicher. Ich liebe dich, Pernel! Und was soll nun aus uns werden?« »Das wird sich finden«, erwidert er. »Jeder von uns muss ums Überleben kämpfen, jeder auf seine Weise. Du könntest mir nicht helfen dort draußen, Mary. Du musst deine Waffen als Frau einsetzen. Ich kann dir keinen anderen Rat geben, obwohl es mich schmerzt und ich mir schon viele Stunden das Hirn zermartert habe. Doch es gibt keinen anderen Weg. Du musst dich dem Doc ausliefern. Sonst gehörst du bald der bösen Horde. Mary, ich bin sicher, dass ich dich liebe. Doch ich kann dir keinen anderen Rat geben, so sehr mir auch das Herz blutet wie von einem Lanzenstich.«
Als er verstummt, hört er ihr Weinen durch den Schneesturm, der die Hütte umfaucht. Er sagt hart: »Keinen großen Abschied, Mary! Keinen Kuss! Kein Wort mehr! Ich gehe, sobald du die Vordertür aufgemacht hast. Ich denke, sie werden schon dicht neben der Tür an der Hauswand lauern. Also los!« Seine Stimme klingt nun fast brutal. Er kann nicht anders. Und sie hat sich plötzlich fest unter Kontrolle. »Geh nur«, sagt sie. »Sobald du durch dieses Loch in den Stall gekrochen bist, werde ich die Vordertür öffnen.« Er wendet sich ab. Nein, sie umarmen und küssen sich nicht. Sie nehmen nicht wie ein Liebespaar Abschied, denn sie wissen zu gut, dass dann alles noch viel schwerer sein würde und sie sich dann wahrscheinlich gar nicht mehr trennen könnten. Er verschwindet mühsam, denn er kann sich nur ungelenk bewegen. Wahrscheinlich werden bald schon seine Wunden wieder aufbrechen und zu bluten beginnen. Sie wartet noch einige Atemzüge lang. Dann wirft sie sich den Mantel um, bindet das große Tuch um den Kopf und geht zur Tür. Sie nimmt den Querbalken weg und öffnet. Zwei Männer schieben sich herein im Flockenwirbel. Sie halten Revolver schussbereit. Einer ruft böse: »Verdammt, warum ist das hier so
dunkel wie im Bauch einer Kuh? He, Revolvermann, schieß nur nicht! Sonst wirst du mit einer Sprengladung in die Luft geblasen! Wir sind nur gekommen, dich zu Linnehart Robinson und Ringo Squade zu bringen. Die werden sich freuen, dich zu sehen.« »Er ist nicht mehr hier«, sagt Mary Stone zu ihnen. »Ihr könnt die Hütte durchsuchen. Wartet, ich zünde die Lampe an. Macht die Tür zu. Er ist schon eine ganze Weile fort. Und mich müsst ihr zum Doc bringen. Der Doc will mich, habt ihr verstanden?« Sie scheinen ihre letzten Worte gar nicht zu hören, denn sie fluchen laut und böse. Aber sie warten, bis die Lampe brennt. Indes kommen noch weitere Männer herein. Es sind nun fünf. Sie sind froh, sich etwas in der Hütte aufwärmen zu können. Sie finden schnell heraus, durch welches Loch er entkommen ist. Und sie sind offensichtlich besorgt, dass ihre Bosse ihnen die Hölle heißmachen und ihnen dies hier als Versagen ankreiden werden. Sie folgen Wittacker durch das Schlupfloch, das sie in den kleinen Stall führt und von dort aus wieder in den Schneesturm entlässt. Selbst Mary ist sicher, dass sie Wittacker im Moment nicht finden werden. Sie sieht sich um, als noch jemand durch die Tür kommt. Es ist der Doc.
Er schließt die Tür hinter sich, zerrt den Schal von der unteren Gesichtshälfte und zeigt ihr so sein ganzes Gesicht. Seine Brillengläser sind beschlagen, und er nimmt deshalb die Brille ab und holt ein Taschentuch aus der Manteltasche. Seine Augen wirken jetzt stumpf und glanzlos. Sie begreift, dass er sehr kurzsichtig sein muss. Denn nur hinter der Brille funkeln seine Augen. Sie denkt: Wenn ich ihm die Brille aus der Hand schlage, ist er gewiss hilflos. Dann könnte ich ihn mit einem Holzscheit erschlagen. Diese Gedanken machen ihr plötzlich wieder Mut. Ihre Furcht wird erträglicher. Der Doc ist kaum größer als sie, auch nicht sehr viel schwerer. Er wiegt sicherlich kaum mehr als hundertzwanzig Pfund. Nein, sie hat plötzlich keine Furcht mehr vor ihm. Aber das ändert sich wieder etwas, als er die Brille aufsetzt. Nun funkeln seine Augen wieder. Er kann sehen und wirkt nicht mehr wie ein blinder Maulwurf. »Nun, mein Täubchen«, sagt er. »Wir werden uns schon arrangieren. Ich verlange ja nicht zu viel. Doch deine Dankbarkeit wirst du mir schon zeigen müssen. Ich rette dich vor dem Rudel. Henry Shannighan hätte dich zuerst haben wollen. Doch mir nimmt dich keiner weg. Denn ich bin – und das wirst du noch merken – ein wichtiger
Mann unserer Vereinigung, ein sehr wichtiger Mann.« Jeder Schritt, den Pernel Wittacker durch den allmählich tiefer werdenden Schnee macht, wird mehr und mehr zu einer Qual, zu einem verzweifelten Kampf. Der Sturm bläst den Schnee in die Gulch hinein, als wollte er sie damit anfüllen und jedes Leben ersticken. Er weiß nicht wohin. Doch er muss sich in Sicherheit bringen, ein Versteck finden, sich verkriechen in einem Loch wie ein angeschossener Wolf. Er setzt Schritt für Schritt, hält manchmal an, um zu verschnaufen. Der wirbelnde Schnee lässt keine weite Sicht zu. Dieser Schnee bedeckt seine Kleidung, verwandelt ihn mehr und mehr in einen Schneemann. Manchmal sieht er schwach ein Licht blinzeln. Er weiß dann, dass er in der Nähe einer Hütte ist, die zu einem Claim gehört oder es sich gar um das Unterkunftshaus einer Mine handelt. Überall in der Gulch sind gewiss solche Lichter. Nur der wirbelnde Schneefall versperrt ihm die Sicht. Wäre es eine klare Nacht, würde er diese Lichter und Feuer hundertfach in der Gulch erkennen. Er hat bald schon kein Gefühl mehr, ob er sich noch auf dem von Radfurchen geprägten Gulchweg befindet. Der Schnee hat längst alles
zugedeckt, auch die letzten Furchen im verharschten Altschnee. Er hält sich etwas rechts und bewegt sich immer langsamer und mühsamer. Immer öfter hält er an, um zu verschnaufen. Unter seiner Kleidung ist ihm warm. Sein geschwächter Körper ist in Schweiß gebadet. Und aus seinen aufbrechenden Wunden rinnt Blut, macht die Verbände feucht. Er begreift mit Bitterkeit, dass er nicht mehr länger unterwegs sein darf. Er muss endlich ein Loch finden, in das er kriechen kann. Als er endlich die steil aufsteigende Felswand erreicht, seufzt er erleichtert, denn er weiß, dass es die Wand der Schlucht ist, in der sich viele Minenlöcher befinden. Viele dieser Minen sind aufgegeben, weil sie nicht genügend Gewinn abwarfen. Es ist seine Absicht, sich in solch einer alten Mine zu verkriechen. Drinnen im Berg wird es gewiss auch etwas wärmer sein. Wieder einmal sieht er ein Licht im dichten Schneefall. Es muss ganz nahe sein, nur wenige Schritte. Er hält dicht neben der Felswand an und überlegt. Das Licht gehört zu einer Hütte oder einem Minengebäude, das nur wenige Schritte von der Schluchtwand entfernt steht. Dort gibt es Menschen. Dort ist Wärme – und vielleicht auch Hilfe. Er braucht sich nicht in einem Minenstollen zu verkriechen.
Er steht da und überlegt. Soll er an die Tür klopfen, andere Menschen um Hilfe bitten, sich ihnen gewissermaßen ausliefern? Der Gedanke ist verlockend. Denn es ist ja so hoffnungsvoll, sich in der Not an andere Menschen zu wenden und um Hilfe zu bitten. Doch für Pernel Phildarlik Wittacker ist der Moment der Versuchung nur kurz. Dann besiegt er die Versuchung. Nein, er kann jetzt keinem Menschen vertrauen. Die Banditen der Gulch, diese Claimräuber und Goldwölfe, haben gewiss überall ihre Spione. Denn sonst könnten sie ja gar nicht wissen, wo sich Überfälle lohnen, welcher Goldgräber auf seinem Claim fündig wurde und wo in all den Hütten Gold versteckt wird. Das Nachrichtensystem der Banditen in der Gulch muss perfekt sein. Und so wagt er es nicht, dort bei dem Licht im Schneesturm an die Tür des Hauses zu klopfen. Er geht weiter und weiter, hält sich dicht an der Schluchtwand und versucht zu schätzen, wie weit er schon gegangen ist. Ist es eine Meile – oder gar zwei? Aber mehr als zwei Meilen ist er bestimmt nicht gegangen, wahrscheinlich kaum mehr als eine. Der Weg kommt ihm nur so unendlich lang vor, weil er sich mit seinem angeschossenen Bein mit Hilfe des Knüppels nur mühsam bewegt.
Er verliert dann mehr und mehr das Gefühl für Zeit und Entfernung. Seine Kräfte lassen nun immer mehr nach. Er begreift dumpf, dass er keine hundert Schritte mehr machen kann. Und so nimmt er sich vor, den ersten Stolleneingang als Schlupfloch zu benutzen. Er erreicht ein solches Minenloch, hält inne und blickt in die Runde. Durch den dichten Schneefall ist nichts zu erkennen, kein Licht, kein Gebäude, gar nichts. Auch aus dem Loch leuchtet nichts. Es handelt sich also wahrscheinlich um eine verlassene Mine. Er geht hinein, und er erkennt sofort trotz seiner Not, dass es sich um eine ziemlich große Mine handeln muss. Denn es gibt eine »Wetterführung«, also einen Luftschacht. Er spürt den Luftzug deutlich. Nach einem Dutzend Schritten hält er an, nimmt mühsam seinen Rucksack ab, öffnet ihn und holt die Laterne heraus, die Mary ihm mit anderen notwendigen Dingen einpackte. Als er sie angezündet hat, hängt er sich den Rucksack wieder um und geht weiter. Ja, die Mine ist verlassen. Er erkennt es an vielen Zeichen. Alle Fußspuren im Staub des Stollens sind alt und fast schon zugedeckt, da ja ständig neuer Staub aus dem Hangenden rieselt. Nur die vielen Spuren von kleinen Tieren – Mäusen, Ratten und ähnlichen Lebewesen – sind frisch.
Als er einen Querschlag erreicht, biegt er nach rechts ab und schafft es noch einige Schritte bis zu einer Nische, in der einiges Gerümpel liegt. Es handelt sich um unbrauchbares Grubenholz, zwei verrottete Erzwagen und einige ramponierte Gezähekisten. Er hockt sich nieder, nimmt den Rucksack ab und rollt bald darauf die beiden Decken aus, die Mary ihm mitgab. Oh, es tut ihm so gut, sich auszustrecken und ausruhen zu können. Er scheint in bodenlose Tiefen zu sinken, und er schläft ein. Seine Erschöpfung reicht bis in seinen tiefsten Kern, und er wird sehr lange schlafen und ausruhen müssen, um neue Kraft zu sammeln. Mary Stone folgt dem Doc durch den wirbelnden Schneesturm. Aber sie können sich in der Gasse nicht verirren, auch später nicht, als sie die Gulch Street überqueren und bald schon in den Schutz der Häuser gelangen. Er lässt Mary dann vor sich in sein Haus, schließt hinter ihnen ab. Eine Lampe brennt. Er geht hin und dreht die Flamme etwas höher, sodass die Helligkeit sich im Raum ausbreitet. Dann wendet er sich Mary Stone zu und sieht sie an.
Sie beide sind mit Schnee bedeckt, der zu tauen beginnen wird, wenn sie sich ihrer Mäntel nicht entledigen. Sie tun es wie auf ein stillschweigendes Kommando. Der Doc muss dann seine beschlagene Brille putzen. Sein Blick wirkt ohne Brille wieder stumpf, glanzlos, ohne jede Schärfe. Mary denkt abermals: Wenn ich ihm die Brille wegnehme, ist er fast blind. Dann könnte ich ihn erschlagen mit einem Holzscheit. Jawohl, dann ist er in meiner Hand. Er soll es nur nicht wagen, zu viel von mir zu verlangen. Dann erschlage ich ihn wirklich. Sie ist bestürzt über die Gnadenlosigkeit ihres Denkens. Doch wahrscheinlich hat sie sich nur den Lebensumständen der Gulch angepasst. Die Menschen in Lucky Ben denken sicherlich alle mehr oder weniger brutal. Der Doc setzt seine Brille wieder auf. »Du bist schön, Mary«, sagt er mit etwas heiser klingender Stimme. »Du bist ein ganz besonderes Exemplar der Gattung Weib. Ich weiß das zu beurteilen. Denn ich bin Arzt. Ich bin sehr froh, solch ein weibliches Wesen bei mir zu haben, sehr, sehr glücklich und stolz. Du wirst dich an mich gewöhnen. Ich werde dir Zeit lassen. Denn ich möchte nicht deinen Hass und deine Verachtung – nein, im Gegenteil. Doch du solltest begreifen, dass ich nicht sehr lange warten will, bis du dich
mit mir abfinden kannst. Nicht sehr lange. Ich bin ein ziemlich mickrig aussehender Bursche. Doch hier in meinem Schädel ist der Ausgleich. Hier ist mehr drin als bei jedem anderen Mann. Ich sag dir das, damit du nachzudenken beginnst, bei wem es dir hier in Lucky Ben sonst besser gehen könnte. Und wenn wir uns gut verstehen sollten, dann werde ich sogar Judith aus diesem Haus fortholen. Ja, dann werde ich Henry Shannighan einen Vorschlag machen, den er ganz einfach akzeptieren muss. Denk darüber nach, Mary. Sei nett zu mir. Verwöhne mich. Dann wirst du es nicht zu bereuen haben.« Damit hat er alles gesagt. Es klopft an die Tür. Er geht hin und öffnet. Ein schneebedeckter Mann tritt ein. Aber er bleibt gleich bei der Tür stehen, die der Doc wieder schließt, weil der Blizzard sonst zu viel Schnee hereinwirbelt. Und weil es bei geschlossener Tür auch wieder stiller im Haus ist, hört Mary den Mann sagen: »Wir suchen ihn überall. Ich habe all unsere Jungens alarmiert. Wir suchen ihn jetzt mit mehr als drei Dutzend Burschen. Aber wenn er sich in einer der alten Minen verkroch oder gar bei den Goldgräbern Unterschlupf finden konnte, dann …« »Ihr müsst ihn finden! Ihr müsst ihn finden! Er hat schon zu viele von uns ausgeschaltet. Wenn er davonkommt, haben die Goldgräber und
Minenleute bald einen Anführer, wie sie nie zuvor einen besaßen. Dann könnte es sein, dass die Hammelherde uns vernichtet wie eine – Stampede. Dann erleben wir hier in Lucky Ben die Stunde der Vernichtung. Wir müssen ihn finden! Wenn nur der verdammte Schneesturm aufhören würde! Ich möchte stündlich Meldung haben.« Sie hört das alles, und sie begreift in diesen Sekunden, dass der Doc einer der führenden Männer der Banditen, Goldwölfe, Claimräuber und bösen Horde sein muss oder wie man die Gesetzlosen auch nennen mag. Dass er Pernel Wittacker nicht verriet, ja ihn sogar deckte und zusah, wie Wittacker George Ballard und Jim Shane entführte, dann noch mal zurück in die Gulch kam und den großen Revolverkampf mit Linnehart Robinson und seinen Freunden austrug – nun, dies war diesem Doc wahrscheinlich gerade recht. Wittacker räumte ihm gewiss Konkurrenten in der Rangordnung aus dem Wege. Der Doc stieg dadurch nur noch weiter auf als einer der Banditenbosse. So und nicht anders muss es sein. Mary Stone begreift es. Und wieder denkt sie: Wenn ich ihm die Brille wegnehme … Als Pernel Wittacker sich niederlegte, löschte er vor dem Einschlafen die Laterne.
Nun brennt sie wieder – aber als er sie genauer ansieht, da erkennt er, dass es eine andere Laterne ist. Seine steht noch unangezündet daneben. Er hat Besuch bekommen. Zwei Männer hocken neben ihm und blicken auf ihn nieder. Er tastet unter der Decke nach seinem Colt, den er griffbereit neben sich gelegt hat. Die Waffe ist noch da. Er erkennt daran, dass die beiden Männer nicht seine Feinde sein können und nicht zu der bösen Horde der Lucky Ben Gulch gehören. Denn diese Banditen hätten ihm die Waffe fortgenommen, als er noch schlief. Er blickt zu den beiden Männern auf, und er fragt sich, wie lange er wohl geschlafen hat. Es muss sehr lange gewesen sein. Denn er fühlt sich erholt, kräftiger als zu jenem Zeitpunkt, da er die Hütte verließ und in den Schneesturm ging. Einer der beiden Männer nickt ihm zu. »Keine Sorge«, sagt er. »Wir kamen nur zufällig hier in die Mine. Wir suchten Holz, und in den alten Stollen findet man noch manchmal was. Das Holz wird immer knapper in der Gulch. Und jetzt nach dem Schneesturm muss man es fast mit Gold aufwiegen, um sich ein Essen kochen zu können. Wir wussten, dass hier in der Nische noch Holz liegen musste. Aber wir fanden dich. Du bist doch der Bursche, der vor einigen Tagen den großen Revolverkampf austrug und gleich vier
dieser Goldwölfe von den Beinen schoss? Ich sah dich vorher im Paradiesvogelkäfig.« Wittacker nickt. Sie grinsen und staunen. »Ist der Schneesturm schon vorbei?« Sie nicken. »Es war kein richtiger Blizzard«, antwortet einer. »Dieser Schneesturm dauerte nur eine Nacht und den halben Tag. Wir haben jetzt Nachmittag. Es schneit nur ganz leicht. Der Schnee draußen reicht kaum über die Knie. Geht es dir gut?« »Das weiß ich noch nicht«, erwidert er und setzt sich langsam auf. »Hunger habe ich«, murmelt er. Er greift in seinen Rucksack und holt Proviant heraus. Sein Hunger ist wirklich schlimm. Er schneidet sich ein Stück Rauchfleisch ab. Dazu isst er Fladenbrot, das Mary ihm gebacken hat im primitiven Herd ihrer Hütte. Die beiden Besucher sehen ihm zu. »Ich kann euch nichts anbieten«, sagt er. »Mein Proviant muss solange reichen, bis ich wieder gesund bin. Das seht ihr doch ein?« Sie nicken. Dann fragt einer: »Und wenn du gesund bist, Bruder – was dann?« Er zuckt leicht mit den Schultern. Kauend sieht er sie an.
»Was sollte ich denn eurer Meinung nach tun? Allein gegen die ganze Horde kämpfen, die euch das Fell abzieht – euch allen, he?« Sie wirken jetzt wie Männer, denen die Scham die Röte ins Gesicht treibt. Man kann es nur nicht sehen, aber wahrscheinlich wurden ihre Gesichter wirklich dunkler. Die Beleuchtung ist zu schlecht. Doch sie schütteln die Köpfe. »Nein, das kannst auch du nicht, Bruder«, sagt einer. »Und dennoch wärst du der Mann, auf den wir alle gewartet haben. Gewiss, es haben schon einige harte Männer versucht, uns zu vereinen. Wir hatten schon einige Male Anführer. Doch sie wurden schon bald abgeschossen wie Leithammel. Es könnte wieder so kommen, solltest du …« Er verstummt unschlüssig. Wahrscheinlich glaubt er, schon zu viel gesagt zu haben. »Aber es geht so nicht weiter«, sagt der andere. »Immer wieder werden Goldgräber in ihren Hütten auf ihren Claims überfallen. Man findet schnell die Goldverstecke. Auch unterwegs ist es gefährlich. Vor zwei Tagen erschlugen sie Pecos Charly. Er trug einen kleinen Nugget an der Uhrkette. Der Nugget war keine zehn Dollar wert, so klein war er. Aber sie haben ihn wegen dieses Goldkrümels erschlagen. Wir alle sitzen hier in der Gulch wie eine Hammelherde in einem Corral. Und die Wölfe sind unter uns. Dabei ist viel Gold in der Gulch. Seitdem die Goldgräber wissen, dass kaum einer mit seiner Goldausbeute aus den
Bergen in zivilisiertere Gegenden entkommen kann, wagt sich keiner mehr hinaus. Sie verstecken das Gold und tun so, als arbeiteten sie auf ihren Claims oder in den Minen ohne Gewinn, als langte das, was sie herausholen an Gold aus dem Dreck, gerade zum Leben und ein paar Drinks. Aber es gärt unter der Hammelherde. Sie fürchtet sich und wird zugleich auch böse und trotzig sein. Es könnte sein, dass sie sich in eine Flut verwandelt. Aaah, wenn wir einen Anführer hätten, würden wir ein Vigilantenkomitee gründen und aufräumen.« Nach dieser Rede verstummt er etwas atemlos. Denn er hat sich in Rage geredet. Nun schweigen sie beide und betrachten Wittacker, der immer noch kaut. Er hat das Rauchfleisch und das Fladenbrot gegessen und kaut nun Trockenobst, also Apfelringe, Trockenpflaumen und derlei Zeug. Sie begreifen, dass er seinen Blutverlust ausgleichen muss und sein Körper gierig nach Säften verlangt. Er sagt zu ihnen: »Wenn ihr anderen Männern sagt, dass ihr mich hier gefunden habt, so werden die Banditen bald wissen, wo ich bin. Ihr habt vorhin doch selbst gesagt, dass es Verräter unter euch gibt. Oder habe ich das falsch verstanden?« Sie schütteln die Köpfe. »Es ist schon so«, sagt einer. »Doch wir haben einige Freunde, auf die man sich verlassen kann
wie auf eigene Brüder. Selbst denen werden wir vorerst nichts verraten. Wenn du aber ein besseres Quartier möchtest, dann komm mit uns in unsere Hütte. Da brauchtest du nicht in einem solchen Loch zu hocken. Sieh, die Mäuse oder Ratten haben schon deinen Rucksack angefressen, um an deinen Proviant zu kommen. Draußen muss es jetzt fast schon dunkel sein. Und es fällt immer noch etwas Schnee. Komm mit, Kamerad.« Er überlegt. Dann nickt er. »Sicher, da ihr mich nun schon mal gefunden habt, ist es mir schon lieber, bei euch gesund zu werden und nicht hier in diesem Loch. Ja, ich komme mit euch.« Sie sind sichtlich zufrieden. »Aber versprecht euch nur nicht von mir, was ich nicht halten kann«, warnt er sie. Sie murmeln nur zustimmend und beruhigend zugleich. Dann helfen sie ihm. Und der Weg ist nicht weit. Als sie den Minenstollen verlassen, ist es draußen schon fast dunkel. Schnee fällt leise und mäßig in die mächtige Schlucht, die man hier in den Black Hills »Lucky Ben Gulch« nennt, weil hier einmal ein gewisser Ben Henderson als erster Gold fand und sich fortan Lucky Ben – Glücklicher Ben – nennen ließ. Nach kaum mehr als zweihundert Schritten erreichen sie eine größere Hütte am Creek.
»Sie steht auf unseren Claims«, sagt einer der beiden Männer. Wittacker kennt nun ihre Namen. Sie nannten sie, bevor sie mit ihm die Mine verließen. Einer heißt Sam Kenneth, der andere Tate Brown. Er muss ihnen vertrauen, sich auf sie verlassen. Er hat keine andere Wahl. Denn sie haben ihn nun einmal durch Zufall entdeckt. Es hätten auch andere Männer, Banditen, sein können, die ihn aufstöberten. Der kurze Weg strengte ihn schon wieder zu sehr an. Und das ist kein Wunder. Was er soeben gegessen hat, muss sich in seinem Körper erst noch in Säfte und Kräfte verwandeln und seinen Substanzverlust ausgleichen. Als er in der Hütte auf einem Lager ruht, weiß er, dass er diesen beiden Männern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.
8
Dass der Schneesturm nicht zum Blizzard wird, ist Mary Stones Glück. Denn wäre sie mit dem Doc einige Tage und Nächte allein in dem Haus geblieben, so hätte er ihr gewiss bald keine Zeit mehr gelassen, sich an ihn zu gewöhnen. Er hätte von ihr alles verlangt, was ein Mann von einer Frau verlangen kann. Doch weil der Schneesturm schon bald nachlässt, kommt das Leben und Treiben in Lucky Ben und in der Gulch rasch wieder in Gang. Der Doc bekommt zu tun. Immer wieder braucht man seine Hilfe als Arzt. Aber er hat auch noch eine Menge andere Dinge zu erledigen. Er ist ja einer der Bosse der bösen Horde. Mary Stone weiß nicht, wo er sein Hauptquartier als Banditenboss hat. Vielleicht sind es die Hinterzimmer einiger Saloons und Spielhallen. Vielleicht ist sogar der Paradiesvogelkäfig das Hauptquartier der Banditen. Hier zum Haus des Doc kommen stets nur irgendwelche Männer mit Meldungen. Sie erstatten zumeist an der Tür Bericht und bekommen Befehle. Dies alles muss für Zuschauer sehr harmlos wirken, denn zu einem Arzt kommen
stets viele Menschen. Dies ist nur selbstverständlich. Auch in der zweiten Nacht ist Mary Stone allein. Der Doc hat jetzt einfach keine Zeit für sie. Und weil sie so allein ist und die ihr aufgetragene Hausarbeit längst erledigt hat, kommt sie auf eine Idee. Sie probiert Kleidungsstücke des Doc an, die tatsächlich ihre Formen verbergen. Sie zieht auch einen weiten Mantel über, verbirgt die Haare unter einem großen Hut und wickelt sich einen Schal mehrmals um den Hals, sodass sie ihn übers Kinn bis zur Nase ziehen kann. Wenn sie sich jetzt wie ein Mann bewegte, könnte sie sich gewiss auf die Straße wagen, ohne gleich erkannt zu werden. Und sie wagt es. Der Schnee fällt immer noch. Es ist dunkel. Nur die Lichtbahnen der Lampen erhellen die Gulch Street. Sie weicht den Lichtbahnen aus, überquert also mehrmals schräg die Fahrbahn. Sie lässt sich mit dem Strom der Männer treiben, deren durstige Kehlen sie nach Lucky Ben trieben. Niemand erkennt sie. Es ist kalt genug, dass ihre Vermummung glaubhaft wirkt. Sie gibt sich auch alle Mühe, wie ein Mann dahinzustapfen. Manchmal hält sie inne und blickt durch die Fenster in die Lokale. Aber sie hält sich nicht lange auf.
Was sie sucht, ist ein bestimmtes Haus: der Paradiesvogelkäfig. Und sie muss lange suchen, bis sie ihn findet. Dann steht sie davor und blickt auf die rote Laterne vor der Tür. Sie denkt an Judith, ihre jüngere Schwester, und sie blickt auf die vielen Fenster und fragt sich, hinter welchem dieser Fenster Judith wohl lebt. Sie tritt etwas zur Seite, als einige Männer sich ihr von hinten nähern. Sie drängen sich in der engen Gasse an ihr vorbei. Einer stößt sie mit der Schulter grob aus dem Weg, dreht sich nach zwei Schritten um und fragt: »Nun, Kleiner, warum stehst du hier herum? Kein Geld? Keinen Goldstaub für ein Vergnügen? Oder bist du ein Milchbart, der sich noch nicht zu den Honeybees traut?« Er wartet nicht auf Antwort, lacht nur schallend über seine Worte und geht mit den anderen weiter. Mary Stone atmet langsam aus. Sie folgt der Gruppe, um einen Blick durch die sich öffnende Tür werfen zu können. Sie sieht auch den riesigen Neger und dann einen Moment in die für hiesige Verhältnisse noble Empfangsdiele. In ihr ist das verzweifelte Verlangen, vorzustürmen und nach Judith zu rufen. Sie wünscht sich in diesem Moment, dass sie ein Riese wäre, den niemand aufhalten könnte. Dann würde sie in dieses Haus stürmen und Judith befreien.
Und Henry Shannighan würde sie töten. Jawohl, das würde sie gewiss tun. Ihr Hass auf den Mann, dem die Schwester vertraute, mit dem sie damals fortging von daheim und der sie dann so grausam enttäuschte – dieser Hass in ihr ist stark. Aber sie kommt sich so hilflos vor, indes sie in der Gasse steht und sich die Tür des Paradiesvogelkäfigs wieder schließt. Es wird dunkler in der Gasse, weil nur noch das Licht der roten Laterne vorhanden ist hier unten vor der Tür. Sie tritt einige Schritte zurück, starrt hinauf zu den Fenstern. In fast allen Zimmern brennt gedämpftes Licht. Es schimmert durch die Vorhänge. Wieder fragt sie sich, in welchem der Zimmer oder Kammern dort oben wohl Judith sein mag. Aber es kann keine Antwort für sie geben. Sie müsste nachsehen. Und das kann sie nicht. Im Lichtschein einer Lampe würde man sie trotz ihrer Verkleidung sofort als Frau erkennen. Sie hätte keine Chance, drinnen bei Licht für einen jungen Mann gehalten zu werden. Sie geht abermals auf das Haus zu. Die Gasse endet vor der Tür mit der roten Laterne. Aber man kann nach rechts und nach links um das große Haus mit all den Nebengebäuden herumgehen. Rechts gibt es sogar eine Einfahrt in
den Hof, und hier sind einige Wagen und auch Sattelpferde abgestellt. Es gibt einen halb offenen Schuppen. Mary Stone geht in diesen Hof hinein. Und hier sieht sie die Möglichkeit, auf die sie insgeheim hoffte. Es gibt eine Außentreppe zum Balkon, der oben um das ganze Haus verläuft. Von diesem Balkon aus muss sie in jedes Zimmer blicken können. Mary Stone zögert keine Sekunde. Sie geht hinauf, leise und leichtfüßig. Auf der Treppe liegt Schnee. Sie erreicht das erste Fenster, beugt sich vor und späht durch einen Spalt des lässig zugezogenen Vorhanges ins Zimmer hinein. Was sie sieht, lässt sie zusammenzucken. Sie geht schnell weiter. Denn sie will ja nicht zusehen bei dem, was da drinnen getrieben wird. Sie möchte einzig und allein ihre Schwester finden. Und dazu genügt ein kurzer Blick. So ähnlich wie am ersten, ist es auch am zweiten, dritten und vierten Fenster. Sie kann von der einen oder anderen Seite stets durch einen Schlitz oder eine größere Lücke der lässig zugezogenen Vorhänge blicken. Obwohl sie jedes Mal hofft, endlich ihre Schwester Judith zu finden, wünscht sie sich zugleich auch, dass ihr bei Judith solch ein Anblick erspart bliebe.
Als sie auf dem umlaufenden Balkon die Ecke des Hauses erreicht hat, zögert sie nicht eine Sekunde. Sie biegt um die Hausecke, um auch auf der Südseite des Hauses alle Zimmer zu kontrollieren. Denn die Chance, nun endlich Judith zu finden, wird mit jedem weiteren Zimmer größer. In einem dieser Zimmer muss sie sein. Doch als sie um die Hausecke biegt, rennt sie gewissermaßen in eine Faust, die in ihre Magenpartie rammt. Es ist ein für eine Frau fürchterlicher Schlag. Sie verbeugt sich, fällt auf die Knie, hält sich die Arme vor den Magen und kann einen leisen Schrei nicht unterdrücken. Der Schläger aber, der böse geknurrt hat: »Du verdammter Spanner!«, stößt einen überraschten Ruf aus und staunt: »Aaah, das ist ja ein Mädchen!« Als sie erwacht, liegt sie auf einem Bett. Und ein Mann steht am Fußende. Sie ist bald wach genug, um ihn zu erkennen und ihre Magenschmerzen zu vergessen. Ja, es ist Henry Shannighan, an den damals in Texas ihre kleine Schwester Judith so sehr glaubte, dass sie mit ihm ging. Ja, sie erkennt ihn sofort wieder. Er hat sich in den zwei Jahren nur wenig verändert, wurde nur etwas schwerer und massiger.
Er lacht leise und benimmt sich so, als könnte er nur mühsam ein brüllendes Gelächter zurückhalten und müsste sich beherrschen, sich nicht umhertanzend auf die Schenkel zu schlagen. Er schüttelt sich nur so vor Spaß. »Au«, stöhnt er, »du hast es also doch geschafft, Judith und mich zu finden. Doch was nun, schöne Mary, was nun, große Schwester?« Er wird jäh ernst und verlässt das Fußende des Bettes, kommt an die Seite und setzt sich auf die Bettkante. »Du hast mich damals in Texas von Anfang an nicht gemocht«, sagt er. »Du warst misstrauisch wie ein Reh, dem sich ein Wolf im Schafspelz nähert. Dabei hätte ich damals dich noch viel lieber gehabt als Judith. Doch ich musste mich mit Judith bescheiden. Sie war Wachs in meinen Händen. Ich konnte sie formen nach meinen Wünschen. Sie tat alles, was ich verlangte. Du hättest das nie getan. Nun, was soll ich jetzt mit dir machen? Soll ich dich laufen lassen und dir vielleicht sogar Judith mitgeben? Oder soll ich dich neben Judith im Nachbarzimmer einquartieren und arbeiten lassen als Gesellschafterin einsamer Männer, die sich nach dem Lachen einer schönen Frau sehnen? He, was soll ich mit dir tun, nachdem du dich hier eingeschlichen hast?« Sie hat immer noch starke Magenschmerzen. Der harte Faustschlag traf sie wie ein Huftritt.
Doch sie erhebt sich langsam, schwingt die Beine nach der anderen Seite vom Bett. Als sie steht, muss sie sich an der Wand abstützen. Ihr wird für einen Moment schwarz vor Augen. Doch dann wendet sie sich Henry Shannighan zu, der immer noch auf der anderen Seite des Bettes auf der Kante hockt und sie belustigt beobachtet. »Ich stehe unter dem Schutz von Doc Selby«, sagt sie. »Ich gehöre ihm. Glaubst du, du verdammter Strolch, dass du mich ihm wegnehmen kannst?« Er zuckt zusammen wie von einem Schlag ins Gesicht getroffen. Nun erhebt er sich schnell. Seine Stimme knirscht vor Wut. »Pass auf, Baby«, sagt er kehlig. »Du darfst hier nicht frech werden. In diesem Haus gibt es zwei Dutzend Mädchen, die für mich springen, wenn ich nur mit den Fingern schnippe. Die bekämen was aufs Maul, wenn sie mich einen Strolch nennen würden, dass sie es zwei Wochen lang nicht mehr aufmachen könnten. Glaubst du denn, ich hätte nicht gewusst, dass der Doc dich in sein Haus nahm? In Lucky Ben bleibt mir nichts verborgen. Ich erfuhr bald schon, mit wem dieser Pernel Phildarlik in unsere Stadt kam. Ja, ich glaube, dass ich dich dem Doc wegnehmen kann – einfach so …« Er schnippt mit den Fingern bei seinen letzten vier Worten und grinst blitzend.
Dann geht er zur Tür, öffnet sie und winkt Mary Stone. »Komm mit«, sagt er. »Der Doc ist im Haus. Ich werde dir zeigen, wie leicht es ist, dich ihm wegzunehmen. Du kannst zusehen. Der Doc hält sich für größer, als er ist. Er glaubt, einige Plätze aufgerückt zu sein, weil hier ein paar wichtige Bullen für eine Weile nicht mitmachen können. Doch – aaah, komm schon!« Er fordert es ungeduldig. Und sie gehorcht. Sie folgt ihm von der oberen Etage die Treppe hinunter in die Empfangsdiele. Von hier aus begeben sie sich nicht in die große Empfangs- und Vergnügungshalle, in der die männlichen Gäste mit den Mädchen die ersten Kontakte knüpfen können, sondern durch eine unscheinbare Tür in die Nebenräume des Erdgeschosses. In einem Raum sind einige Männer versammelt. Einer davon ist Doc Barney Selby. Er zuckt nicht einmal zusammen, als er Mary Stone erkennt in seiner eigenen Kleidung. Mary merkt daran, dass er schon von ihrem Verschwinden aus seinem Hause und ihrer Gefangennahme weiß. Die Männer sitzen an einem großen Tisch, auf dem eine selbstgefertigte Landkarte liegt. Es ist auch für Mary leicht zu erkennen, dass dies die genaue Karte der Lucky Ben Gulch ist, in der alle Claims, Minen, Wasserläufe, Goldvorkommen und sonstigen Landmarken eingezeichnet sind.
Henry Shannighan und Mary platzen wahrscheinlich in eine Beratung hinein. Denn die anderen Männer wirken ungehalten über die Störung. Henry Shannighan tritt an den Tisch und sieht über ihn hinweg auf den Doc nieder. Er grinst auf seine sieghafte Art und sagt: »Das wollen wir gleich mal klären, Doc. Diese verkleidete Schöne behauptet, sie gehöre dir, Doc. Aber ich sagte ihr, dass ich sie dir einfach so wegnehmen könne. Du musst wissen, Doc, dass ich sie schon sehr viel früher kannte als du. Sie ist …« »Ich weiß schon, wer sie ist«, unterbricht ihn der Doc. »Ich weiß auch, warum sie in dieses Camp kam. Ich weiß eine Menge. Glaubst du wirklich, dass du sie mir wegnehmen könntest, Shannighan?« »Sicher«, sagt dieser grinsend. »Dies hier ist mein Laden. Und nicht nur hier bin ich der Boss. Es wird überhaupt endlich Zeit, das wir mal klarstellen, wer hier in Lucky Ben und in der Gulch unter uns allen das Sagen hat. Was wärt ihr alle ohne mich und meine Mädchen? Wer versorgt uns denn mit all den guten Tipps, wo etwas zu holen ist? Wer hat denn den besten Kopf von uns allen und ist allein in der Lage, weiterhin alle Gruppen unserer Gilde einig und schlagkräftig zu halten?« »Du kannst sie mir nicht wegnehmen. Sie gehört mir. Sie kann gehen, und ich möchte auch
ihre Schwester von dir haben. Nenne mir den Preis, Shannighan.« »Du Narr«, sagt dieser. »Du bist übergeschnappt. Du überschätzt dich innerhalb unserer Gilde. Du bist nur ein wichtiges Mitglied, mehr nicht.« Er wendet sich an Mary Stone, fasst sie am Handgelenk und zieht sie mit sich. Aber Mary Stone tritt ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein. Er jault auf, denn der Tritt schmerzt ihn höllisch. Er holt aus, um Mary zu schlagen. Doch da ruft der Doc, der immer noch am Tisch vor der ausgebreiteten Karte sitzt: »Halt, Shannighan! Lass sie los! Oder ich bring dich um!« Da lässt er sie knurrend los und greift unter die Jacke nach dem Revolver im Schulterholster. Doch der Doc bringt unter dem Tisch einen kurzläufigen Revolver zum Vorschein. Es ist ein Colt-Taschenrevolver vom Kaliber einunddreißig mit nur zwölf Zentimeter langem Lauf. Es ist die Waffe der Wells-Fargo-Detektive, weil sie sich so gut in der Kleidung verbergen lässt und dennoch Durchschlagskraft genug besitzt, einen Mann von den Beinen zu holen – was bei dem noch kleineren Derringer nicht so leicht möglich ist. Nun, der Doc feuert zweimal, bevor Henry Shannighan seinen Colt aus dem Schulterholster
heraus hat. Er schießt dann nur in die Dielen. Dann fällt er. Der Doc aber erhebt sich nicht einmal vom Stuhl. Er sieht sich mit dem noch rauchenden Colt in der Hand um. Aber niemand bewegt sich. Die Männer starren ihn nur ungläubig an. Einer sagt: »Heiliger Rauch, Doc – dass du dazu fähig bist, das ist aber eine Überraschung.« »Wenn mir solch ein Bluffer etwas wegnehmen will, was mir gehört …« Der Doc beendet den Satz nicht. Er sieht sich noch einmal um, blickt jedem der Männer ins Gesicht. »Ich denke«, sagt er, »dass wir auf ihn verzichten können. Er war hier doch nur eine Art Hahn, der umherstolzierte und die ganze Arbeit von Schneeball und Tina Sonora machen ließ. Wir können den Laden hier weiter wie bisher laufen lassen und den Gewinn unter uns teilen. Gut so?« Sie nicken. Die Tür geht auf. Der riesenhafte Neger, der sich von Fremden Mister Schneeball nennen lässt, und die füllige Frau, die in der Halle die Gäste empfängt, kommen herein. Sie sehen Henry Shannighan am Boden liegen und verharren. Der Doc bleibt kühl. »Ihr habt jetzt mehrere Bosse – uns alle, die wir zur Gilde gehören. Für euch ändert sich nichts. Dieses Haus wird weitergeführt wie bisher.
Der Unterschied ist nur der, dass Shannighan nicht mehr da ist. Ihr werdet uns jeden Monat Bericht erstatten und Ausgaben und Einnahmen sehr genau abrechnen. Nehmt ihn mit! Er war nur ein größenwahnsinniger Hahn, der sich für einen Tiger hielt.« Der riesenhafte Neger starrt auf den schmächtigen Doc. Dessen Augen funkeln hinter der Brille und scheinen eine hypnotische Kraft zu bekommen. »Und wenn du ihn hinausgeschafft hast, Schneeball«, spricht der Doc schließlich, »dann holt ihr Judith herunter. Sie wird mit mir und ihrer Schwester Mary gehen und in meinem Haus leben. Judith kommt mit mir. Verstanden?« Schneeball und Tina Sonora nicken. Dann schafft Schneeball den toten Shannighan hinaus. Obwohl Shannighan ein großer und schwergewichtiger Mann ist, hebt der riesige Schwarze ihn mit Leichtigkeit und trägt ihn wie einen Zwerg. Die Spannung im Raum löst sich etwas. Der Pulverrauch aber brennt noch in den Augen und Nasen. Einer der Männer geht zum Fenster, öffnet es und löst auch den Fensterladen. Hier unten hat jedes Fenster einen starken Laden, den man von innen öffnen kann. Der Mann stößt ihn auf und lässt die frische Schneeluft in den Raum. Die Männer schweigen immer noch.
Aber sie sehen den schmächtigen Doc an und begreifen in diesen Minuten, dass sich jetzt in der Lucky Ben Gulch eine Menge geändert hat. Bisher waren sie eine Gilde, die sich aus mehreren Interessengruppen zusammensetzte. Da waren die Anführer der Spieler und Kartenausteiler, die Spitzel und Spione, die Claimräuber – und schließlich die Banditen auf den Wegen. Sie alle hatten sich zusammengefunden zu einer Gilde, die den Goldgräbern und Minenleuten die möglichen Anführer abschoss oder aus dem Lande jagte. Nun aber wird ihnen allen klar, dass der Doc das Kommando übernahm. Ein paar wichtige Männer schieden aus. Es waren George Ballard und Jim Shane, die spurlos verschwanden. Dann fielen Linnehart Robinson und Ringo Squade aus. Linnehart Robinson harte sogar noch drei Revolverschwinger bei sich, als er diesen Pernel Phildarlik umzubringen versuchte. Die Reihen der Anführer der bösen Horde haben sich gelichtet. Und der Doc hat sich Platz um Platz vorgeschoben. Sie starren ihn an, indes sich der Pulverrauch mit der frischen Luft vermischt und sie alle wieder mehr und mehr zu denken beginnen. Dann starren sie auf Mary Stone.
Sie ist schön, das sehen sie trotz der Männerkleidung, die ihr etwas zu groß ist. Auch Mary Stone blickt auf den Doc. Dessen schmächtige Gestalt wirkt nun federnd wie eine Florettklinge. Er sagt: »Ihr werdet sehen, dass wir nun noch viel besser ins Geschäft kommen. Jetzt werdet ihr in mir eine Art Generalstabschef haben, der eine Strategie ausarbeiten und mit eurer Hilfe durchführen wird. Es ist viel Gold in der Gulch, sehr viel Gold. Sie haben es versteckt, weil sie sich fürchten, damit die Heimreise anzutreten. Und wenn erst der Schnee weg ist, wenn es Frühling sein wird, dann holen sie noch mehr Gold aus der Erde. Wir werden es bekommen. Alles! Ich verspreche es euch. Das ganze Gold der Gulch werden wir bekommen auf diese und jene Art. Vertraut mir.« Seine Stimme hat einen beschwörenden Klang. Er strömt eine starke Kraft aus, die gar nicht zu seiner Erscheinung passt. Denn er ist ein schmächtiger Bursche. Nur seine Augen hinter der Brille funkeln. Mary, die ihn beobachtet, denkt wieder: Er überzeugt sie, macht sich jetzt zu ihrem Anführer. Er verspricht ihnen Gold und generalstabsmäßige Planung. Er hat sie auch dadurch beeindruckt, dass er einen Mann töten konnte, der sie wahrscheinlich alle bisher geblufft hat und deshalb von ihnen für größer gehalten wurde, als er war.
Ja, er wird jetzt der alleinige Anführer der Bösen in der Lucky Ben Gulch. Und er holt Judith hier heraus. Ich muss ihm ja jetzt sogar wirklich dankbar sein. Sie wendet den Kopf, als wieder die Tür geöffnet wird. Die füllige Tina Sonora bringt Judith herein. Judith trägt nur einen Mantel über dem Flitterkleid. Sie starrt in die Runde, weiß offensichtlich noch nicht, was geschehen ist. Und endlich erkennt sie Mary in der Männerkleidung. Sie zuckt zusammen und macht eine Bewegung, als wollte sie die Flucht ergreifen. »Judith! Schwester!« Mary Stone sagt es ruhig und fest. Da verharrt Judith mitten im Ansatz ihrer Bewegung. »Ich bring euch in mein Haus«, sagt der Doc zu ihr und Mary. Und zu den Männern gewandt, spricht er trocken: »Nun, wir haben ja alles vorhin besprochen. Es ändert sich nichts. Wir machen weiter nach Plan. Die Goldgräber werden ihn zu ihrem Anführer wählen. Es wird Zusammenkünfte geben. Darauf müssen wir achten, nur darauf! Denn es hat keinen Sinn, jeden Winkel in der Gulch nach ihm abzusuchen. Es ist alles besprochen. Gehen wir!«
Seine beiden letzten Worte galten Mary und Judith Stone. Mary tritt zu ihrer Schwester und nimmt sie bei der Hand. »Habt ihr keine Stiefel für sie?«, fragt sie die füllige Frau. »Sie kann doch mit diesen dünnen Schuhen nicht durch den Schnee.« »Ja, wir haben Stiefel für sie – draußen in der Diele«, nickt Tina Sonora. Und sie fügt hinzu: »Ich habe Judith immer so gut behandelt wie ich nur konnte. Nicht wahr, Judith?« Diese nickt nur schwach. Sie wirkt, als wäre sie soeben aus einem Traum erwacht und könnte noch gar nicht an die Wirklichkeit glauben. Sie folgt Mary dann fast wie eine Schlafwandlerin. Als sie das Haus verlassen, übernimmt der Doc die Führung. Sie folgen ihm. Judith trägt zu große Stiefel. Sie stapft mühsam durch den Schnee. Doch sie gehen nicht allein mit dem Doc. Dieser hat noch zwei Leibwächter bei sich. Mary Stone ist so froh, Judith endlich aus diesem Haus herausgeholt zu haben. Henry Shannighan ist tot. Eigentlich könnte Mary Stone zufrieden sein, denn alles, was sie sich vorgenommen hat, was sie erreichen wollte und wofür sie anfangs einen Spieler wie diesen John Jennison anwarb und bezahlte und später dann Pernel Wittacker haben wollte, ging in Erfüllung.
Judith ist frei. Und Shannighan ist tot. Doch nun ist sie dem Doc verpflichtet. Und sie wird bezahlen müssen mit sich selbst. Das erwartet der Doc bestimmt. Dies ist ihr klar. Doch ohne Brille ist der Doc hilflos. Sie fürchtet sich nicht. Nur wenn sie an Pernel denkt, spürt sie Furcht und sorgt sich sehr.
9
Pernel Wittacker erholt sich unwahrscheinlich schnell. Die Hütte seiner beiden Gastgeber ist zweiräumig, sodass er sich im Schlafraum aufhalten kann, wenn die beiden Goldgräber Besuch bekommen. Tate Brown und Sam Kenneth besitzen sechs Claims, weil sie zu ihren eigenen noch vier benachbarte hinzukaufen konnten. Sie haben eine große Waschanlage am Creek, zu der auch andere Goldgräber ihre goldhaltige Erde oder den Creeksand bringen. Doch jetzt ruht die Arbeit überall. Die Waschanlage ist mit Schnee bedeckt. Manchmal kommen Männer zu Besuch in die große Hütte und reden über belanglose Dinge. Aber dann beginnen sie doch zu fragen: »He, wann brechen wir auf mit hundert Mann? Wann nehmen wir alle unser Gold aus den Verstecken und machen uns auf den Weg nach Haus?« Seine beiden Gastgeber geben dann sehr ausweichende Antworten. Sie wirken unschlüssig, fast ängstlich. Aber Pernel erklären sie das so: »Wenn auch nur ein Spitzel unter unseren Freunden und Bekannten ist, der den Banditen melden kann,
dass wir etwas in Gang bringen wollen, dann sprengen sie uns mitsamt dieser Hütte in die Luft. Nein, wir müssen erst ganz sicher sein und sehr sorgfältig überlegen, wen wir ins Vertrauen ziehen wollen. Pernel, du hast das Kommando. Du musst uns sagen, was wir machen sollen. Dann werden wir es tun. Denn du bist der Mann, der schon ganz allein diese Bande empfindlich schwächen könnte. Sag uns nur Bescheid.« Er nickt nur, sagt jedoch nichts. Und es vergehen weitere Tage und Nächte. Tate Brown und Sam Kenneth sind in diesen Tagen und Nächten immerzu unterwegs. Sie gehen in die Stadt, besuchen Nachbarn und hören sich um. Wenn sie dann heimkommen, ist ihre Überzeugung, dass die böse Horde gar nicht mehr nach Pernel Wittacker sucht, stärker geworden. Tate Brown spricht es eines Tages dann klar aus. »Sie suchen dich nicht mehr, Pernel. Dein Bart ist jetzt schon sehr gewachsen. Wenn du dich etwas verkleidest, könnten sie dich nicht mal erkennen. Natürlich lungern da und dort ihre Spione herum, horchen die Girls im Paradiesvogelkäfig alle Goldgräber aus, die sich bei ihnen betrinken. Doch …« »Das bringt mich auf eine Idee«, unterbricht ihn Pernel Wittacker. Sie sehen ihn erwartungsvoll an.
Er aber sagt: »Die suchen mich bestimmt immer noch. Sie warten nur darauf, dass ihr Goldgräber und Minenleute euch versammelt, also eine Zusammenkunft habt. Denn sie rechnen sich aus, dass ich die Goldgräber gegen sie führen will. Also muss es zumindest eine verschwiegene Zusammenkunft geben. Darauf warten sie. Denn das wird ihnen nicht verborgen bleiben. Wir müssen ihnen gleich von Anfang an einen solchen Schlag versetzen können, dass wir die erste Runde gewinnen. Ich hab einen Plan. Einer von euch muss sich im Paradiesvogelkäfig betrinken und einem Mädchen gegenüber mit seinem versteckten Gold prahlen. Dann werden die Banditen hier zu dieser Hütte kommen. Und wenn wir erst einige von ihnen haben …« Er erklärt ihnen die Sache, so wie er sie sich denkt. Sie beginnen gemeinsam zu planen und kommen endlich zu dem Entschluss, dass der erste und einfachste Plan immer noch der beste ist. Warum sollten sie die ganze Sache unnötig komplizieren? Als sie fast schon fertig sind mit ihrer Beratung, kommen einige Nachbarn zu Besuch. Pernel Wittacker verschwindet schnell in die Schlafkammer seiner beiden Gastgeber. Er kann dort jedes Wort der Neuigkeiten hören, die sich zwischen dem vergangenen Abend und dem Tagesanbruch ereignet haben.
Die Goldwölfe und Claimräuber waren in dieser vergangenen Nacht besonders aktiv. Es gab einige Überfälle. Zumeist Goldgräber, die allein auf ihren Claims in Hütten hausten, wurden überfallen. Einen dieser Goldgräber – er war in der Gulch als ein besonders harter Bursche bekannt, der sich vor nichts fürchtete – haben die Banditen gemartert. Wahrscheinlich verriet er ihnen dann das Versteck seiner bisherigen Goldausbeute. Doch auch ihn ließen sie tot zurück. Ein Minenarbeiter, der im Spielsalon Glück hatte und einige hundert Dollar gewann, wurde auf dem Heimweg überfallen. Am anderen Ende der Gulch ging kurz nach Mitternacht eine größere Hütte in die Luft. Sie wurde mit ihren Bewohnern ganz einfach in die Luft gesprengt – vielleicht aus Rache oder weil man ihre Bewohner für Männer hielt, die vielleicht Widerstand organisieren und ein Vigilantenkomitee bilden wollten. Denn vor solchen Vigilantenkomitees haben die Goldwölfe und Claimräuber Angst. Es kommen an diesem Tag noch weitere solcher Nachrichten, und immer werden Tate Brown und Sam Kenneth mehr oder weniger versteckt dazu aufgefordert von ihren Besuchern, die Dinge doch endlich zu beeinflussen, etwas zu unternehmen, in Gang zu bringen, ein Vigilantenkomitee zu gründen.
Doch sie lehnen stets ab. Einmal sagt Tate Brown sogar deutlich: »Wir sind doch nicht verrückt! Wenn wir zwei Dutzend unserer Freunde und Nachbarn zusammenholen würden, könnten wir sicher sein, dass sich zumindest ein Spitzel der Goldwölfe unter ihnen befindet, ja, ein Spion oder Nachrichtenzuträger, aus welchen Gründen auch immer. Sie haben gewiss viele Goldgräber in der Hand, die sonst verhungern würden in diesem Winter, weil ihre Claims nicht genug abwarfen und sie die Zeit bis zum Frühling sonst nicht überbrücken könnten. Wer kann denn schon das teure Brennholz kaufen, um den Erdboden aufzutauen? Dieses Holz wäre teurer als der Gewinn an Goldstaub auf den schlechten Claims. Nein, wir legen uns nicht mit den Banditen an. Wir wollen nicht in die Luft gesprengt oder abgeschossen werden. Wir sind ganz friedlich und verhalten uns still.« Es wird dann langsam Abend. Als der letzte Besucher gegangen ist, kommt Pernel Wittacker wieder aus der Schlafkammer in die Wohnküche der Hütte. »Ihr habt das gut gemacht«, sagt er. »Und mir hat dieser Tag der Ruhe sehr gut getan. Ich bin fast gesund. Also, ich denke, wir machen es so, wie wir es besprochen haben. Und wir machen es diese Nacht schon. Denn jede weitere Nacht, die wir zögern und warten, kostet einigen
Goldgräbern oder Minenleuten das Leben. Also, fangen wir an.« Sie betrachten ihn noch einmal prüfend, und er weiß, warum sie das tun. Denn nun müssen sie ihm endgültig vertrauen. Es ist eine letzte Prüfung, und die Welt hier in der Gulch ist so, dass eigentlich kein Mensch einem anderen trauen kann. Aber dann bewegen sie sich. Sie überzeugen sich erst, ob die Vorhänge vor den kleinen Hüttenfenstern auch sorgfältig zugezogen sind. Dann nehmen sie mit dicken Handschuhen das Ofenrohr ab, fassen den Ofen an und heben ihn ein Stück zur Seite. Der Ofen stand auf einer Steinplatte. Sie heben diese Platte hoch. Darunter ist ein Loch. Aus diesem Loch holen sie ein halbes Dutzend Lederbeutel. In jedem der Beutel ist ein Kilo Goldstaub. »Das ist ganz schön, nicht wahr?«, fragt Tate Brown. Pernel Wittacker nickt. Und er weiß, dass sich auf vielen Claims und deren Hütten solche kleinen Goldschätze befinden, irgendwo versteckt und ängstlich verschwiegen. Tate Brown und Sam Kenneth werfen die sechs Kilo Goldstaub in ein leeres Mehlfass und schütten aus einem anderen Mehlfass genügend Mehl nach.
Dann geht Sam Kenneth hinaus in den angebauten Werkzeug- und Geräteschuppen. Er kommt mit einem Ding zurück, das sich als Wolfsfalle erweist. Er hat einige Mühe, sie in das Loch hineinzubekommen und dann darinnen zu spannen. Es ist eine ziemlich gefährliche Sache für ihn, denn die Einrastung der Falle löst sich beim geringsten Antippen. Er nimmt dann Unterarme und Hände sehr langsam und vorsichtig heraus. Sie legen die Platte über das Loch und stellen den rauchenden Ofen wieder auf, setzen das Abzugsrohr ein. »Und jetzt gehen wir nach Lucky Ben«, sagt Tate Brown. »Wir besaufen uns scheinbar und besuchen die Mädchen im Paradiesvogelkäfig. Wir werden alles so tun wie besprochen. Gut so?« Pernel Wittacker nickt. Mary Stone kann nicht froh werden, obwohl sie jetzt ihre Schwester bei sich hat. Denn Judith ist nicht mehr die kleine Schwester von damals. Judith wird gewiss Jahre brauchen, bis sie vergessen kann, was alles sie erlebte. Judith hat sich sehr verändert. Unter allen Sorgen ist es für Mary die größte, dass Judith eine Trinkerin geworden ist. Oh, Mary begreift sehr wohl, dass Judith ihr Leben zuletzt nur noch in betrunkenem Zustand ertragen konnte, dass sie sich immer wieder mit Alkohol betäuben musste. Deshalb lässt sie es in
diesen Tagen und Nächten zu, dass Judith sich immerzu betrinkt. Sie versucht nur immer wieder, Judith das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben und sie dazu zu bringen, ihr Quantum an Alkohol herabzusetzen und sich mit weniger zu begnügen. Sie sprechen nicht viel. Worte würden auch nichts helfen. Im Gegenteil, sie würden in Judith all die Wunden noch weiter aufreißen und erneut bluten lassen. Denn Judiths Seele ist voller Wunden. Doch Mary tut mit Judith mehrmals etwas Symbolhaftes, und sie hofft, dass es Judith mehr helfen kann als tausend Worte und Mitgefühl. Der Doc besitzt in seinem Haus eine Badewanne, die sich auf bestimmt sehr abenteuerlichen und gewiss sehr wunderlichen Wegen bis in diese Campstadt Lucky Ben verirrt hat. Obwohl sie eine Menge Feuerholz brauchen, macht Mary jeden Tag genügend heißes Wasser. Und dann seift sie Judith von Kopf bis Fuß ab, dass der Schaum sie einhüllt wie ein weißer Mantel. Sie hat das Gefühl, dass Judith diese Bäder auch als seelische Reinigung empfindet und wahrhaftig glaubt, nicht mehr ganz so beschmutzt zu sein von den Dingen, zu denen sie von Henry Shannighan gezwungen wurde.
Mary Stone sorgt auch für den Haushalt des Doc. Doch sie sieht ihn selten. Der Doc hat eine Menge zu tun. Er muss ja nicht nur Krankenbesuche machen und in seinem kleinen Behandlungszimmer Sprechstunden abhalten – nein, er ist ja jetzt mehr und mehr der Boss der Goldwölfe geworden und muss seine Fäden zu einem starken Netz knüpfen. Einmal sagt er zu Mary: »So ist das im Leben, mein schönes Mädchen. Oft genug leidet man an Mangel und wünscht sich tausend Dinge. Und dann lebt man plötzlich im Überfluss und kann gar nicht alles auskosten, was sich einem bietet. Aaah, ich muss nur noch ein paar Dinge besser unter Kontrolle bekommen. Ich muss mir nur noch einige zuverlässige Burschen heranziehen und eine Weile die Ausführung meiner Befehle überwachen. Bald schon wird meine Organisation wie geschmiert laufen. Dann wird es leicht sein für mich, da und dort an den Fäden zu ziehen und die Puppen tanzen zu lassen. Dann habe ich Zeit für dich. Im Frühling, wenn die Postkutschen wieder fahren – kannst du deine Schwester Judith heimschicken nach Texas. Du wirst ihr einen kleinen Laden kaufen können. Ich sorge dafür. Denn ich weiß, du wirst es mir danken, sobald ich Zeit für dich habe und bei dir meine Entspannung und mein Glück finden möchte. Nicht wahr, mein schönes Mädchen? Hast du dich schon ein wenig an mich gewöhnt? Stört es dich nicht mehr so
sehr, dass ich nicht stattlich aussehe? Hast du schon ein wenig begreifen können, dass es bei einem Mann zuerst auf seinen Verstand ankommt und nicht auf sein gutes Aussehen?« Sie nickt, und sie ist froh, dass er nur kam, um seine Wäsche und die Kleidung zu wechseln und einige Patienten abzufertigen. Dann muss er auch schon wieder fort. Als er seinen Mantel anzieht, fragt sie ihn endlich nach langem Zögern: »Pernel Wittacker – habt ihr immer noch keine Spur von ihm? Wisst ihr immer noch nicht, wohin er verschwand? Oder hast du ihn schon erledigen lassen und sagst es mir nur nicht?« Er ist schon bei der Tür. Doch er hält dort inne und wendet sich ihr zu. »Er hält sich irgendwo versteckt«, erwidert er. »Offenbar heilt er erst noch in diesem Versteck seine Verwundungen aus. Wir haben die ganze Gulch von einem Ende zum anderen fest unter Kontrolle. Wir haben den Daumen am Puls der Gulch auf zwanzig Meilen bis zu ihrem Ende. Uns entgeht nichts. Sobald er aktiv wird, werden wir es erfahren. Er kann ohne die Hilfe der Goldgräber nichts gegen uns unternehmen, will er uns vernichten. Sobald er versucht, ein Aufgebot zu sammeln, erfahren wir das. Mary, vergiss ihn. Er hat verloren. Das Leben geht weiter. Der neue Mann für dich bin ich. Und ich werde dich auf Händen tragen und dir jeden Wunsch von den
Augen ablesen. Ich weiß, du bist noch nicht voll auf meiner Seite. Aber du hast keine andere Wahl. Sei klug und ergib dich endlich auch mit deinem Herzen und deiner Seele.« Nach diesen Worten geht er. Draußen wurde es dunkel. Die Nacht kommt schnell. Und in dieser Nacht wird eine Stunde anbrechen, die man später als die »Stunde der Vernichtung« bezeichnen wird in der Geschichte der Lucky Ben Gulch. Es ist kurz nach Mitternacht, als Pernel Wittacker seine beiden Gastgeber aus der Stadt zurückkommen hört. Sie singen laut genug, und dieser zweistimmige Gesang ist der von Betrunkenen. Sie grölen ein anstößiges Lied – und jedes andere Lied wäre verdächtig. Sie müssen sich betrunken und enthemmt darstellen. Nur dann werden die Goldwölfe sie vielleicht unterschätzen und leichtsinnig agieren. Pernel Wittacker hält sich in der dunklen Schlafkammer bereit. Er hat seinen Colt im Hosenbund stecken, und er wird ihn rechtzeitig herausnehmen. Dann wird die Tür geöffnet. Tate Brown kommt singend herein, um am Tisch die Lampe anzuzünden.
Sam Kenneth steht noch draußen. Er ruft trunken: »Warte noch, Papapartner! Ich muss erst noch mal all das Gesöff rauslassen, was wir in uns geschüttet haben! He, wenn ich es nicht rauslasse, läuft es mir aus den Ohren!« Er lacht nach diesen Worten, und auch er spielt seine Rolle als enthemmter Betrunkener gut. Dann aber geht es schnell. Er kommt nicht allein in die Hütte. Es drängen sich auch noch andere Männer durch die Tür. Offenbar stoßen und schieben sie ihn. Es ist ein heftiges Keuchen und Scharren zu hören. Eine heisere Stimme knurrt drohend: »Wenn ihr das Maul aufmacht, seid ihr schnell für immer alle! Habt ihr verstanden, ihr zwei Saufköpfe?!« »Hehehe«, beginnt Tate Brown, der am Tisch die Lampe angezündet hat. »Ihr seid doch nicht etwa Banditen, Goldwölfe? Aaah, da seid ihr aber falsch bei uns! Wir haben den letzten Krümel Gold heute versoffen, den allerletzten sogar. He …« Er kommt nicht weiter, und er sprach die Worte nicht so flüssig, wie sie hier niedergeschrieben sind. Er lallte trunken. Nun bekommt er eine Faust klatschend ins Gesicht. Er geht zu Boden, flucht dort böse und keucht dann, sich dabei wieder mühsam erhebend: »Ihr seid ja verrückt. Hier bei uns …« Wieder wird er von einem klatschenden Faustschlag unterbrochen. Nun bleibt er liegen.
Sam Kenneth meldet sich mit schüchterner Stimme: »Tate, sie haben uns. Verstehst du, Tate, sie haben uns. Und wir wissen ja, was sie mit all den anderen Burschen machten, bei denen sie Gold vermuteten. Wollen wir uns auch so zurichten lassen? Oder wollen wir nicht lieber klein beigeben und gesund bleiben? Was ist schon ein wenig Gold gegen heile Knochen?« Die Eingedrungenen kichern belustigt. Eine Stimme sagt fast gönnerhaft: »Nun, ihr zwei Goldhamster, ihr seid anscheinend etwas klüger als die anderen. Ja, wir bekommen auf jeden Fall heraus, wo ihr eure Schätze versteckt habt. Es ist nur eine Frage der Zeit. Also seid willig und stimmt uns gütig. Na, wollt ihr oder wollt ihr nicht?« »Oh, wir wollen«, ächzt Tate Brown und rappelt sich wieder scheinbar mühsam vom Boden der Hütte auf. »Es bleibt uns wohl nichts übrig, Sam, nicht wahr?« »Nein, Tate, nein. Wir müssen ihnen unser Gold geben. Und dabei wartet daheim Rosy auf mich. Ich hab ihr versprochen …« »Erzähl uns hier keine langen Geschichten«, wird er unterbrochen. Offenbar stößt ihm der Sprecher eine Revolvermündung in die Seite, denn Sam Kenneth lässt einen Schmerzenslaut hören. Tate Brown aber ruft: »Erschießt ihn nur nicht! Unser Gold liegt unter der Steinplatte dort, auf der wir den Ofen stehen haben. Ihr müsst den
Ofen wegheben und die Platte herausnehmen. Soll ich …« »Nein, Bruder – du nicht«, unterbricht ihn einer der Banditen. »Es ist unter euch Narren oft üblich, einen geladenen Colt bei eurem Gold liegen zu haben. Und manchmal glauben diese Narren, dass sie uns diesen Colt blitzschnell unter die Nase halten könnten, wenn wir ihnen gestatten, uns das Gold aus dem Versteck zu reichen. Nein, wir machen das schon lieber selbst.« Pernel Wittacker in der dunklen Kammer weiß nun, dass es jetzt bald Zeit zum Eingreifen ist. Er zieht den Colt aus dem Hosenbund. Die Tür der Kammer steht ohnehin offen. Er braucht nur einen einzigen Schritt zu machen, um im Türrechteck aufzutauchen mit seinem so sicheren Colt, auf den Tate Brown und Sam Kenneth sich jetzt verlassen müssen. Er kann von seinem Standort aus schräg durch die Tür den Ofen sehen, und nun sieht er auch die Banditen, jedenfalls zwei von ihnen. Er weiß noch nicht, wie viele es sind, vermutet aber drei. Einer wird an der Tür stehen mit schussbereitem Colt und alle Bewegungen im Raum überwachen. Zwei nehmen nun das Ofenrohr ab, heben dann den Ofen zur Seite – und einer kniet dann nieder, um die Steinplatte vom Loch zu nehmen. Sie sind natürlich maskiert. Sie banden sich nicht etwa ihre Halstücher oder Wollschals vor die Gesichter, o nein. Sie tragen ehemalige
Zuckersäckchen als Masken, in die sie Löcher schnitten. Ihre weiten Mäntel verbergen ihre Statur fast völlig. Sie haben sich also gut getarnt. Der kniende Mann greift nun in das Loch, um das Gold darin zu ertasten und zu ergreifen. Und da geschieht es auch schon. Denn die Wolfsfalle schnappt zu und macht den vor dem Loch hockenden Banditen kampfunfähig. Pernel Wittacker springt vor, erscheint im Türrechteck und feuert sofort auf den Banditen, der mit dem Rücken an der Eingangstür lehnt und noch gar nicht richtig begreift, was das Gebrüll des knienden Partners zu bedeuten hat. Der dritte Bandit, der den Ofen mit fortheben half, schnappt brüllend nach dem Colt. Sein Gebrüll ist anders, nicht schmerzvoll und voller Schrecken, sondern voller Wut. Denn er begriff die Sache inzwischen. Aber er bekommt den Colt zwar noch heraus, doch damit nicht mehr zum Schuss. Eine Kugel trifft seinen Unterarm. Er lässt die Waffe fallen wie jener Bursche an der Haustür. Sam Kenneth und Tate Brown sind inzwischen ebenfalls tätig geworden. Sie wirken nicht mehr wie Betrunkene, als sie sich daran machen, die Dinge endgültig zu klären. Aber das ist nicht mehr sehr schwer. Denn zwei angeschossene und ein durch eine zuschnappende Wolfsfalle verletzter Bandit können keine großen Schwierigkeiten mehr machen.
Zum ersten Male gerieten hier in der Lucky Ben Gulch drei der Goldwölfe in eine Falle und konnten überwältigt werden. Zum ersten Mal bekommen nun die Goldgräber drei Banditen lebend in die Hände. Zuerst holen Tate Brown und Sam Kenneth ein Dutzend Nachbarn zusammen. Es sind die nächsten Nachbarn, und die meisten hörten ohnehin schon die Schüsse in der Hütte. Die Wohnküche der Hütte ist bis auf den letzten Quadratzoll gefüllt, als sie alle versammelt sind. »Es ist ganz einfach«, sagt Pernel Wittacker. »Wir haben drei Goldwölfe überwältigt. Wir haben sie lebend. Und sie werden uns gewiss die Namen ihrer Bosse verraten. Wir werden in den nächsten Minuten eine Menge Namen hören und Beschreibungen bekommen. Wir werden bald wissen, wer hier unter uns die Spitzel und Spione sind, wer in Lucky Ben und anderswo die Befehle gibt – und wer zu den Goldwölfen gehört in Lucky Ben und in der ganzen Gulch.« Er macht eine kleine Pause, betrachtet die Gefangenen hart und spricht dann weiter: »Ich bin Pernel Phildarlik Wittacker, US Marshal. Doch meine Befugnisse gelten hier in diesem Lande nicht. Es ist Indianerland. Es wurde laut Friedensvertrag den Indianern garantiert. Weiße halten sich hier widerrechtlich auf. Deshalb gilt
hier auch nicht das Gesetz unserer Verfassung, auch nicht das Gesetz der Territorienverwaltung. Hier ist Indianerland. Ich befand mich sogar damals, als ich zwei gesuchte Verbrecher aus Lucky Ben entführte, außerhalb der Legalität. Versteht ihr? Und so ist es notwendig, dass wir jetzt ein Vigilantenkomitee gründen, ein Goldgräbergericht einsetzen und auf diese Weise für Ordnung sorgen. Denn wenn wir das nicht tun, lösen wir nur die Banditen durch neue Gesetzlosigkeit ab. Versteht ihr? Diese Gefangenen müssen als Kronzeugen vor einem Goldgräberuntersuchungsausschuss anerkannt werden. Sie müssen die Chance aller Kronzeugen erhalten. Nur dann werden sie aussagen und wird alles in Bewegung kommen. Wollen wir es auf diese Art machen?« Sie stimmen sofort zu. Den aus der Stadt nach einer durchzechten Nacht heimkehrenden Goldgräbern und Minenarbeitern bietet sich bald dicht am Gulchweg ein ungewöhnliches Bild. Zwei große Feuer leuchten. An einigen Stangen hängen brennende Laternen. Schlitten und Wagen sind zusammengefahren zu einer Arena. Unter dem Himmel einer allmählich sterbenden Nacht findet das erste Goldgräbergericht in der Lucky Ben Gulch statt.
Es gibt einen Richter, zwölf Geschworene, einen Ankläger und drei Verteidiger. Es wird die Form gewahrt – und doch geht alles sehr schnell, denn es ist ein Goldgräbergericht, das nicht lange herumtändelt. Die aus der Stadt heimkehrenden Goldgräber sammeln sich erst zu Dutzenden. Aber nach und nach werden es hundert, zweihundert – und es spricht sich überall in der großen Schlucht herum, dass etwas in Gang gekommen ist. Der Feuerschein erregt Aufmerksamkeit. Reiter sind unterwegs. Und so strömen sie aus allen Richtungen herbei, sogar aus den schmalen Seiten- und Querschluchten der mächtigen Gulch. Die Stunde der Vernichtung hat ihren Anfang genommen.
10
Doc Barney Selby erhält die Nachricht sehr schnell. Sein Nachrichtensystem ist ja inzwischen noch verbessert worden. Als er von dem Goldgräbergericht hört, begreift er sofort die große Gefahr. Er eilt in den Paradiesvogelkäfig, in dessen Hinterzimmer jetzt das Hauptquartier der Goldwölfe ist. Denn dieses Haus wird logischerweise von vielen Männern besucht, und der Eingang wird dennoch gut bewacht. Es kommt niemand an Mr Schneeball vorbei, den man nicht hereinlassen will. Im Hinterzimmer des Vogelkäfigs sind schon einige besorgte Leitwölfe versammelt. Sie starren den Doc an. Elroy Higgins, der die Gilde der Spieler, Kartenausteiler und Saloon-Rauswerfer führt, sagt: »Nun, Doc, jetzt wird es gefährlich! Jetzt haben sie einen Anführer, der sie mächtig wild macht und dennoch unter Kontrolle hält. Was nun?« »Es ist dieser Pernel Wittacker«, erwidert der Doc kühl. »Wir kennen ihn alle unter seinen beiden Vornamen Pernel Phildarlik. Er ist US Marshal, doch das hat hier nichts zu bedeuten.
Hier in diesem Land ist er nur ein Revolvermann unter vielen. Wir werden noch vor Ende der Nacht einige Scharfschützen mit Büffelgewehren ausschicken. Es sollen große Feuer brennen, auch eine Menge Laternen. Wir werden die ganze Versammlung mit einigen Schüssen durcheinanderjagen. Versteht ihr? Weit reichende Büffelgewehre feuern aus der Nacht auf das so genannte Goldgräbergericht und jagen es auseinander. Es wäre gut, wenn wir auch die drei Gefangenen unschädlich machten, bevor sie Namen verraten. Versteht ihr? Also bringt eure harten Jungens in Trab. Es geht ums Ganze! Wenn wir nicht wollen, dass sie uns aus der Gulch jagen, dann müssen wir zuschlagen, bevor sie zu einer vereinten Kraft werden können, bevor die vielen hundert Unentschlossenen sich besinnen. Los, Männer!« Ja, er bringt sie in Gang, versetzt sie in Tätigkeit. Sie begreifen, dass sie sofort hart zuschlagen müssen, wollen sie die große Herde weiterhin beherrschen. Die Männer eilen hinaus. Jeder von ihnen hat einige Dutzend williger Burschen zur Verfügung – Revolverschwinger aus dem Süden, desertierte Soldaten, Banditen und Geächtete, die in dieses Land flüchteten, weil es hier kein Gesetz gibt, einstige Goldgräber und Minenarbeiter, denen die Arbeit zu hart und zu mühsam war, Büffeljäger und Indianerkiller, die gut durch den Winter
kommen wollen und Bosse brauchen, bei denen sie bleiben und etwas verdienen konnten. Die böse Horde setzt sich aus all diesen Männern zusammen. Und sie alle lebten die ganze Zeit wie mehr oder weniger gut getarnte Wölfe inmitten einer Schafherde. Nun müssen sie einen Aufruhr der Herde im Keim ersticken. Bald schon sind einige von ihnen unterwegs. Es sind die kaltblütigsten, die verwegensten. Zumeist handelt es sich um einstige Büffeljäger, denn diese mussten lernen, auf große Entfernung mit Sharpsbüchsen Büffel zu fällen, Schuss um Schuss, ohne die Herde in Stampede zu versetzen. Ein geschickter Büffeljäger kann fünfzig und mehr Tiere abknallen aus großer Entfernung, ohne die Herde zu erschrecken. Jetzt werden sie aus großer Entfernung mitten in eine Versammlung hineinschießen. Die drei gefangenen Goldwölfe, von denen zwei durch Kugeln und einer durch die Wolfsfalle verwundet wurden, sind willige Kronzeugen. Sie fürchten sich vor einer Hängepartie, und weil sie schmerzhafte Verletzungen erlitten, ist ihr anfänglicher Widerstand nicht stark. Nun wechseln sie sich ab in ihren Aussagen und Bekenntnissen. Es ist so, als wollte jeder von ihnen zum wertvollsten Kronzeugen werden.
Sie stehen auf einem Wagen. Ihnen gegenüber auf einem anderen Wagen sitzen der Richter, der Ankläger und die Verteidiger. Auf einem dritten Wagen hocken die Geschworenen. Um die Wagen aber haben sich bereits mehr als fünfhundert Goldgräber und Minenleute geschart. Und fast an die hundert Reiter umgeben die Versammlung. Noch niemals war hier in der Lucky Ben Gulch eine solche Menge Leute versammelt. Einer der drei verletzten Goldwölfe ruft heiser: »Ja, das Hauptquartier der Goldwölfe ist im Paradiesvogelkäfig! Dort treffen sich die Anführer und besprechen alle Vorhaben, machen die Pläne! Die Honeys aber müssen euch aushorchen und alles, was sie von euch hören, sofort melden. Überall unter euch sind Spitzel und Spione. Big Bill Mannen zum Beispiel, der so schön singen kann wie ein Opernsänger, verriet uns erst vergangene Woche, dass Kirby Jennaways Claim mehr abwarf als jeder andere und Kirby viel Gold in seiner Hütte versteckt hatte. Sie holten sich Jennaways Gold. Und …« »Und alle Rouletttische in Carsons Spielhalle arbeiten mit Bremsmagneten!« Das ruft einer der beiden anderen Gefangenen dazwischen. Und weil der Dritte nicht als weniger guter Kronzeuge gelten will, brüllt er laut genug, dass es auch die Reiter im äußersten Kreis der Versammlung hören können: »Linnehart Robinson
und Ringo Squade gehörten zu den Anführern. Doch nachdem sie so schlimm angeschossen wurden, trugen Henry Shannighan und der Doc aus, wer der erste Leitwolf sein soll. Der Doc hat Henry Shannighan erschossen und wurde damit zum Big Boss. Versteht ihr, der Doc ist der oberste Goldwolf in der Gulch! Was wollt ihr denn noch wissen? Namen! Oha, ich werd euch jetzt mehr als ein Dutzend Namen nennen. Da ist Frank Millard – und die Brüder …« Er kreischt mehr und mehr, nimmt sich kaum Zeit zum Luftholen. Und er wird von seinen beiden Kumpanen unterstützt. Sie überbieten sich immer mehr mit wichtigen Angaben. Denn sie wollen ihren Hals retten. Die Versammlung aber schweigt. Sie ist so still, dass die Stille drohender wirkt als wütendes Gebrüll und böse Flüche. Diese Stille lässt Unheil erwarten. Der Atem von drohender Gewalt weht aus dieser Stille wie die Eiseskälte aus einer Gletscherspalte. Die drei verwundeten Gefangenen spüren das deutlich. Sie glauben, dass sie um ihr Leben reden müssen, und so reden sie, kreischen sie, heiser und hastig, verzweifelt und voller Angst. Nein, sie haben nichts mehr von harten und mitleidlosen Burschen an sich. Sie sind keine Goldwölfe mehr, die gnadenlos mit ihren Opfern sind.
Aber dann wird die ganze Sache jäh unterbrochen. Irgendwo in der Nacht krachen mehr als ein halbes Dutzend weit reichender Büffelgewehre. Die Entfernung beträgt mehr als zweihundert Yards. Aber die Schützen in der Nacht – sie stehen oder knien gewiss auf einigen Hüttendächern, sodass sie freies Schussfeld haben – treffen dennoch gut, zu gut. Ihre Ziele sind ja gut vom Feuer- und Laternenschein angeleuchtet und sitzen oder stehen überdies erhöht auf den Wagen. Es trifft fast zu gleicher Zeit die drei Kronzeugen. Es trifft den Richter, den Ankläger – aber auch die Anwälte und einige der Geschworenen. Die Büffelgewehre feuern weiter. Man sieht nun ihre Mündungsfeuer in der sterbenden Nacht aufleuchten. Ja, die Schützen hocken auf Hüttendächern. Sie schießen, um zu töten. Und sie wollen die ganze Versammlung auseinander jagen und die maßgeblichen Männer töten. Es ist der brutale Versuch, eine Menge zu zerschlagen, sie auseinander zu treiben und aufzulösen. Aber es gelingt nicht. Die ganze Sache wurde schon zu groß. Und der brutale Versuch von Gewalt, Terror und Mord bewirkt nun das Gegenteil.
Die Wut der Menge wird stärker als ihre Furcht. Zwar laufen sie alle auseinander, werfen sich auch zu Boden und suchen nach Deckungen – doch zugleich auch bricht die Wut der Menge los. Die Stunde der Vernichtung ist da! Zuerst sind es die Reiter, die sich wie auf Kommando sammeln und dorthin reiten, wo die Mündungsfeuer der schweren Gewehre aufleuchteten und das Krachen der Schüsse ertönte. Sie greifen an, obwohl sie gar keinen Anführer haben und keiner sie zu diesem Angriff aufruft. Nein, sie handeln spontan, jeder für sich und aus eigenem Antrieb. Und so werden sie zu einer starken Kraft, zu einem Vigilantenaufgebot. Ja, die Stunde der Vernichtung ist gekommen! Bis zur Stadt ist es nur wenig mehr als eine Meile. Pernel Wittacker kann so schnell kein Pferd bekommen. Erst einer der letzten Reiter hält auf seinen Zuruf hin an und lässt ihn hinter sich aufsitzen. Sie sind die letzten Reiter, die in Lucky Ben ankommen. Vor ihnen krachten schon eine Weile viele Schüsse. Die vorderen Reiter jagen die heimtückischen Schützen vor sich her.
Als Wittacker und der andere Mann, auf dessen Pferd sie ja beide sitzen, die ersten Häuser von Lucky Ben erreichen, leuchtet schon Feuerschein da und dort. Und hinter ihnen kommen die ersten Goldgräber und Minenleute angelaufen. Sie keuchen zwar, aber sie sind gewiss nicht aufzuhalten. Immer mehr kommen. Der meilenlange Laufschritt hat ihren Zorn nicht abgekühlt. Wittacker springt vor der Gasse, die zum Paradiesvogelkäfig führt, vom Pferd und läuft hinein. Vor sich sieht er Feuerschein. Männer kommen ihm entgegen. »Du kommst zu spät, Bruder«, sagt einer dieser Männer. »Wir wollten den Honeygirls gar nichts tun – aber wir haben den ganzen Laden in Stücke geschlagen und den guten Schnaps angezündet. Nun gibt es wirklich Feuerwasser!« Andere Männer, die herbeikommen, hören die letzten Worte. Sie lachen grimmig. Einer ruft: »Die machen uns nicht mehr betrunken, um uns dann auszuhorchen, wo wir unser Gold versteckt haben – die nicht mehr, diese falschen Honigbienen!« Sie sitzen nun auf, denn sie haben ihre Pferde hier in der Gasse zurückgelassen. Pernel Wittacker aber geht weiter auf das große Haus zu. Es war bis jetzt das größte und nobelste Haus in der ganzen Gulch.
Nun wird es niederbrennen. Denn niemand versucht den Brand zu löschen. Das wäre wahrscheinlich auch sinnlos. Es gibt keine Feuerwehr, keine Eimerkette oder gar Wasserspritze. Das große Amüsierhaus ist zum Untergang verurteilt. Die Wut der Goldgräber war nicht mehr zu besänftigen. Im Schnaps- und Weinkeller des Hauses lagern gewiss einige Wagenladungen dieser Getränke. Denn für gutes Geld bekam man bisher im Paradiesvogelkäfig auch in dieser Hinsicht das Beste in der Gulch. Solch ein Schnapslager ist nicht mehr zu löschen. Das Haus ist verloren. Das Feuer wird sich vom Keller hoch fressen. Als Pernel Wittacker den kleinen Vorhof beim Eingang erreicht, sieht er die Mädchen des Hauses bei völlig ungewohnter Tätigkeit. Sie retten ihre Siebensachen, versuchen herauszuholen, was noch nicht zerstört wurde. Auch das andere Personal des Hauses hilft dabei. Die Flammen schlagen schon aus den Kellerfenstern. Pernel Wittacker hält eines der Mädchen fest. »He, wo ist Judith, Judith Stone?« Das Mädchen verzerrt ihr geschminktes Gesicht zu einer Fratze. Dann tritt sie ihm gegen die Schienbeine.
»Lass mich los, du Narr! Was geht mich diese Judith an, die was Besseres war als wir? Die wurde vom Doc hier rausgeholt! Die … aaah, lass mich los! Ich muss meine Siebensachen haben! Oder willst du sie mir aus dem Haus retten?« Wieder tritt sie nach seinen Schienbeinen und verflucht ihn dabei, weil er ein Mann ist und weil alle Männer der letzte Dreck auf der Erde sind und überhaupt das ganze Leben ein verdammter Mist ist. Er lässt sie los. Und weil sie zu sehr zerrte, um freizukommen, fällt sie in den schmutzigen Schnee. Sie flucht noch böser, springt auf in ihrem dünnen Kleidchen und läuft heulend ins Haus, aus dem soeben zwei der Mädchen ein Messingbett schleppen. Ihm tun diese Mädchen Leid. Gewiss, sie sind keine Ladies, sondern können sich erschreckend schnell in keifende und fluchende Ungeheuer verwandeln. Doch sie haben es gewiss nicht leicht. Pernel Wittacker möchte umkehren. Denn er hat ja soeben gehört, dass Judith offenbar vom Doc selbst hier herausgeholt wurde. Dies wieder sagt ihm, dass der Doc etwas für Mary Stone zu tun bereit war. Doch als er sich abwenden will, sieht er die füllige Tina Sonora, der die Mädchen unterstanden, mit dem riesigen Neger Schneeball herauskommen.
Sie bieten beide einen seltsamen Anblick. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als müsste Tina Sonora einen Betrunkenen stützen und führen. Sie ist ja selbst eine sehr massige Person mit gut zweihundert Pfund Lebendgewicht. Aber der riesige Schwarze liegt halb auf ihr, erdrückt sie fast. Sie schleppt ihn mit äußerster Anstrengung heraus und die drei Stufen herunter. Dann kann sie nicht mehr. Sie lässt ihn mit letzter Kraft zu Boden gleiten und kann nicht verhindern, dass er ihr zuletzt aus den Armen rutscht und unsanft am Boden landet. Sie fällt neben ihm auf die Knie und bettet seinen Kopf in ihrem Schoß, sodass er nun etwas höher liegt. Sie hält seine Hände und blickt auf ihn nieder. Durch Puder und Schminke furchen sich Tränen. Auch Wittacker kniet nieder. Er braucht nicht zu fragen, was mit Schneeball ist. Denn er kann es sehen. Der riesenhafte Schwarze, der wie ein Zerberus den Eingang des Paradiesvogelkäfigs bewachte, bekam zumindest eine volle Ladung Indianerschrot in den Leib, vielleicht sogar zwei Ladungen. Dass er noch lebt, ist ein Wunder. Er sieht nun zu Wittacker empor. »Du hast das in Gang gebracht, da wette ich«, sagt er mühsam. Dann schließt er seine Augen für immer. Es gibt keinen Zweifel.
Tina Sonora aber sagt weinend: »Hast du gehört, was er noch sagte? Hast du’s gehört? Er wird dich noch aus der Hölle verfluchen. Warum nur bist du hergekommen nach Lucky Ben, um hier Stunk zu machen? Warum nur? Konntest du nicht fortbleiben von unserem Paradies?« »Nein«, sagt Wittacker, »das konnte ich nicht.« Er erhebt sich und geht davon. In der ganzen Goldgräberstadt ist es laut. Überall krachen Schüsse, brüllen Männer. Die Stunde der Vernichtung ist noch längst nicht um – weder hier in Lucky Ben noch in der Schlucht. Überall wird aufgeräumt mit den Bösen, mit der wilden Horde der Goldwölfe und allen, die dazu gehören. Oh, es hat sich vor allen Dingen in letzter Zeit herumgesprochen, wer alles zu den Bösen gehören könnte. Und man hat sich Namen gemerkt, Gesichter. Man hat Gerüchte gehört. Durch die drei gefangenen Banditen, die zu Kronzeugen wurden, hat sich vieles, was man vermutete, bestätigt. Nun wird aufgeräumt. Die Goldgräber und Minenleute sind keine geduldige Herde mehr, in welcher sich kaum jemand um den anderen kümmerte und es auch keine Anführer gab. Jetzt befinden sie sich wie eine Herde in Stampede. Pernel Wittacker bedauert diese Entwicklung. Er hat gehofft, alles unter Kontrolle bringen zu können.
Doch die heimtückischen Gewehrschützen haben mit ihren Schüssen alles verändert. Sie haben die Stampede entfacht, das Pulverfass zum Explodieren gebracht. Durch diese Schüsse wurde die weitere Entwicklung unaufhaltsam. Pernel Wittacker weiß, dass jetzt in dieser letzten Nachtstunde auch Unschuldige leiden müssen. Das kann gar nicht anders sein, wenn die Herde losbricht. An diesem Tag werden neben vielen Schuldigen auch Unschuldige vernichtet. Und das war immer so in der Geschichte der Menschheit. Jeder Krieg lässt Unschuldige leiden, und oft werden jene, die für das Töten verantwortlich sind, noch mit Orden und Ehren belohnt. Pernel Wittacker eilt die Straße entlang. Denn er will zum Doc. Mary und Judith Stone müssen in seinem Haus sein. Und der Doc selbst, das sagten die drei Kronzeugen, soll der Anführer und oberste Boss der Goldwölfe der Lucky Ben Gulch sein.
11
Als der Doc ins Haus kommt, verharrt er einen Moment und lauscht. Aber noch ist in Lucky Ben nichts zu hören. Die Nacht ist fast schon vorbei. Draußen erscheint schon der erste graue Schimmer am Himmel. Und noch krachen keine Schüsse in der Gulch. Noch ist die Menge der Goldgräber und Minenleute nicht wie eine Stampede über das Camp gekommen. Der Doc braucht nicht lange zu überlegen. Er weiß, dass seine Zeit hier vorbei ist. Er hat es schon gewusst, als er die Gewehrschützen losschickte. Selbst wenn die Goldgräberversammlung noch einmal auseinanderlaufen sollte, wird sich zumindest ein Vigilantenkomitee bilden. Es wurden einige Banditen erwischt, die in ihrer Furcht vor dem Hängen genügend Namen nannten. Und jeder weitere Goldwolf, der nun in die Hände von Vigilanten fällt, wird weitere Namen nennen. Lucky Ben und die ganze Lucky Ben Gulch ist verloren für die Goldwölfe. Er weiß es mit untrüglicher Sicherheit.
Aber er hofft, dass er sich einen Aufschub verschafft hat und noch entkommen kann. Wenn er sich beeilt, wird er noch vor Tagesanbruch fort sein. Sein Schlitten steht hinter dem Haus. Auch das Pferd hat sich im Stall ausgeruht. Er kann in fünf Minuten anspannen. Doch erst muss er sein Gold und das Bargeld aus dem Versteck holen. Und dann ist da noch Mary Stone. Er verharrt und denkt nach. Aber so sehr er die Sache auch überdenkt, er kommt immer wieder zu dem Entschluss, Mary mitzunehmen. Doch was wird aus Judith? Ohne Judith wird sie nicht mitkommen wollen! Aber er will nicht mit zwei Frauen die Flucht ergreifen. Doch wenn er Mary behalten will, wird er es müssen. Was heißt »behalten«? Bis jetzt hat er sie noch gar nicht besessen. Er hat ihr bisher die Chance gelassen, sich an ihn zu gewöhnen. Er geht zu der Tür einer Kammer, hinter der Judith schläft. Er lauscht an der Tür. Dann geht er zu seinem eigenen Schlafzimmer, das er die letzten Tage und Nächte nur stundenweise benutzte. Mary Stone erhebt sich gerade, als er die Tür öffnet. Eine Lampe leuchtet schwach. Mary Stone sieht ihn schweigend an. Er erkennt im Lampenschein in ihren Augen ein wachsames Funkeln.
»Nein«, sagt er, »auch heute nicht. Es kommt etwas dazwischen, nicht wahr? Du kriegst immer wieder einen Aufschub. Und der ist dir nur recht. Ich weiß es. Aber ich will, dass du mich liebst, richtig liebst wie eine Frau einen Mann lieben sollte. Zieh dich an! Reisefertig! Wir müssen binnen zehn Minuten weg. Ich hol nur unser Gold und Geld aus dem Versteck. Hast du mich verstanden? Wir müssen fort. Du und ich.« »Und Judith?« Er macht eine weitausholende Handbewegung. »Sie wird das Haus bekommen, dieses Haus hier. Und wir lassen ihr genügend Mittel zurück, dass sie nach Texas reisen und sich einen Store kaufen kann. Was soll ich sonst noch tun? Sag es mir! Ich werde es versuchen. Doch du musst mit mir kommen.« Sie nickt langsam. Und sie sieht ihm an, dass er jetzt noch viel gefährlicher ist als in jener Nacht, da er Henry Shannighan erschoss. Sie alle haben sich in diesem schmächtigen Mann getäuscht. Er ist gefährlich. Und er hat es eilig. Er wird keine Worte mehr verschwenden. Sie begreift, dass er auf der Flucht ist. In seinem hinter den scharfen Gläsern funkelnden Blick erkennt sie alles – und was sie nicht in diesem Blick lesen kann, spürt sie. Sie nickt.
»Ja, ich beeile mich«, sagt sie. »Wir würden Judith ohnehin nicht wachbekommen, denn ich gab ihr das Mittel, das du ihr verordnet hast, damit sie traumlos schläft. Ich werd ihr einige Zeilen schreiben.« »Sicher«, sagt er. »Das kannst du. Wir werden ihr dreitausend Dollar zurücklassen, dreitausend Dollar in Gold und Dollars. Aber schnell jetzt!« Er geht in die Ecke des Raumes, kniet dort nieder und nimmt mit Hilfe eines starken Messers, das er aus dem Stiefel holt, die Bodenbretter heraus. Sie kleidet sich indes an, macht sich fertig für eine Reise durch den Winter. Dabei sieht sie, wie er viele Goldbeutel herausholt und in zwei Reisetaschen packt. Auch einen schwer und dick mit Geld gefüllten Gürtel nimmt er aus dem Versteck und legt ihn sich unter Mantel und Jacke um die schmalen Hüften. Sie sieht, dass er zwei Revolver in den Schulterholstern trägt und erinnert sich, wie schnell er Henry Shannighan töten konnte mit einer dieser Waffen. Aus einer Kassette entnimmt er einiges Geld. Dazu legt er noch zwei der vielen mit Goldstaub und Nuggets gefüllten Beutel. »Das ist es«, sagt er. »Leg es zusammen mit dem Brief deiner Schwester unters Kopfkissen. Ich spann indes draußen den Schlitten an. Beeil
dich, Mary! Du wirst es nicht bedauern, mit mir gegangen zu sein. Mit diesem Vermögen können wir unter ganz anderen Bedingungen neu beginnen – in San Francisco zum Beispiel, wo ich eine ganze Klinik bauen könnte.« Er hebt die beiden schweren Reisetaschen hoch und geht hinaus. Die Taschen sind so schwer, dass er sie kaum tragen kann und sogar zu befürchten ist, dass die Griffe ausreißen. Es müssen an die hundert Pfund Gold sein, die er da fortschleppt. Dazu kommt all das Geld. Sie schätzt seine Beute auf mehr als hunderttausend Dollar, und das wäre gewiss für so manche Frau Geld genug, sich an ihn zu binden. Denn hunderttausend Dollar sind zu dieser Zeit eine gewaltige Summe. Ein fleißiger Minenarbeiter verdient kaum mehr als tausend Dollar im Jahr und müsste demnach hundert Jahre für dieses Vermögen arbeiten. Aber es ist geraubtes Geld. Als Arzt hätte er gewiss nicht mehr als zwei- oder dreitausend Dollar sparen können. Er ist ein Wolf, der mit seiner Beute die Flucht ergreifen will und sein Rudel verlässt, hinter dem jetzt viele Jäger her sind. Doch was kann sie im Moment schon tun? Sie muss mit ihm gehen. Dann kann er Judith auch nichts antun, um sie, Mary, vielleicht zu erpressen. Ja, sie traut ihm eine Menge zu. Wenn
er erst begreift, dass sie ihn verabscheut, dann wird er sie hassen. Sie fürchtet sich vor dem Moment, da er erkennen wird, wie wenig sie für ihn empfindet und sich nur in ihr Los schickte, weil er ein Banditenboss war. Doch das ist er jetzt nicht mehr. Der Weg bis zum Haus des Doc kommt Pernel Wittacker sehr weit vor. Er kümmert sich um nichts anderes mehr, hat nur noch dieses eine Ziel. Überall auf der Gulch Street ist die Hölle los. Denn die Stunde der Vernichtung ist längst noch nicht vorbei. Überall in die Tingeltangel, in die Spielhallen und Hotels und Pensionen, wo man die Angehörigen der bösen Horde zu finden hofft – und auch findet, aufstöbert und aus den Betten holt –, da sind die Goldgräber und Minenleute eingedrungen. Ja, es ist schrecklich in Lucky Ben. Die Stadt ist ein Ungeheuer geworden, in dem Menschen gejagt und vernichtet werden. Die große Herde der so genannten Guten und Reinen ist böse geworden. Auch sie begeht Unrecht, schwelgt rachsüchtig in einer Orgie von Gewalt, ist entfesselt, enthemmt. Wieder einmal erweist es sich, dass auch die Guten und Reinen nicht gut und rein sind, geraten sie als große Herde in Stampede.
Dann begehen sie Unrecht wie die Bösen, unterscheiden sich nicht mehr von ihnen. Doch Pernel Wittacker kann jetzt nicht darüber nachdenken und zu ergründen versuchen, warum die Menschen so sind. Er erreicht endlich das Haus des Doc. Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Im Haus brennen Lampen, und alles sieht nach einem raschen Aufbruch aus. Pernel Wittacker weiß sofort, dass er zu spät kommt. Der Doc ist weg. Dass er die Scharfschützen mit den weit reichenden Büffelgewehren ausschickte, um die Goldgräberversammlung und das Goldgräbergericht zu sprengen, geschah nur deshalb, um sich einen Vorsprung verschaffen zu können. Dass auf diese Art die große Menge der Goldgräber und Minenleute in wilde Wut versetzt und die Stunde der Vernichtung ausgelöst hat, dies war dem Doc wahrscheinlich sogar eine willkommene Ablenkung. Pernel Wittacker läuft durch alle Räume, hat noch eine schwache Hoffnung, dass die beiden Schwestern vom Doc zurückgelassen wurden. Doch er findet nur Judith schlafend in der kleinen Kammer. Er versucht sie an der Schulter wachzurütteln, doch es gelingt ihm nicht. Er ahnt, dass man ihr ein Schlafmittel gab. Nun läuft er hinten aus dem Haus. Der Stall ist leer. Auch der Schlitten ist fort.
Als er wieder quer durch das Haus nach vorn auf die Straße läuft, sind dort Männer. »Wo ist der Doc?«, ruft einer wild. »Wir wollen ihn hängen! Wo ist der Hundesohn, der uns bisher alle so gemein täuschen konnte?! Er soll der Anführer der Goldwölfe sein! Er soll der Oberwolf sein! Wo ist der Hundesohn?« Auch die anderen Männer brüllen los. Ihre Zahl wächst noch an, denn es kommen immer mehr angelaufen. »Er ist fort«, brüllt Pernel Wittacker zurück und drängt sich durch die immer dichter werdende Traube. »Es ist nur eine kranke Patientin in einem der Zimmer. Sie schläft, weil man ihr ein Schlafmittel gab. Der Doc ist weg!« Er hat sich durch die Ansammlung gedrängt und steht mitten auf der Fahrbahn, als ein Reiter kommt und anhält. »Leih mir dein Pferd, Kamerad«, sagt Wittacker. Der Reiter zögert und starrt im grauen Morgen auf ihn nieder. »Leih mir den Gaul«, fordert Wittacker nochmals. »Ich will den Doc einholen.« »He, du bist doch dieser …«, beginnt der Reiter. Doch er spricht nicht weiter. Er schwingt sich aus dem Sattel und reicht Wittacker die Zügelenden.
»Na los, Marshal«, sagt er. »Ich bin einer von Sam Kenneths und Tate Browns Nachbarn. Viel Glück, Marshal.« Pernel Wittacker sitzt auf und reitet an. Der Doc kann kaum mehr als eine Meile Vorsprung haben. Mary Stone möchte etwas tun, denn sie weiß, dass sie mit jeder Meile, die sie sich von Lucky Ben und damit auch von Pernel Wittacker entfernen, abhängiger wird von Barney Selby. Aber sie kennt seine Gefährlichkeit. Sie hat ja sehen können, wie er Henry Shannighan getötet hat, und Shannighan war gewiss ein gefährlicher Bursche. Mary Stone weiß, dass sie nicht den geringsten Fehler machen darf. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, Barney Selby gleich beim ersten Versuch die Brille von der Nase zu schlagen, dann hat sie für immer verloren. Er würde sie töten. Und so zögert sie immer wieder, obwohl sie neben ihm im Schlitten sitzt. Er hält die Zügel mit der Rechten. In der Linken hat er die Peitsche, und er hält sie halb erhoben, treibt das Pferd an. Da Mary Stone links von Selby sitzt, müsste sie über den Unterarm hinweg nach seiner Brille schlagen. Seine Bewegungen mit der Peitsche jedoch sind unregelmäßig. Es geht Mary wie einem
Preiskämpfer, der über die Deckung des Gegners hinweg einen Treffer landen will. Ja, sie zögert, wartet, dass er die Peitsche einmal aus der Hand legt und den Peitschenstock in die Hülse am Schlitten steckt. Es wird langsam grauer Morgen. Das Pferd trabt stetig auf dem festgefrorenen und von vielen Hufen fest gestampften Schnee. Der Schlitten ist leicht. Sie haben nur wenig Gepäck unter einer Zeltplane im Schlittenkasten hinter sich. Immer wieder blickt Mary Stone sich um. Aber sie sieht nichts. Nun sind sie schon ein großes Stück aus der Gulch heraus. Der Wagenweg führt über eine kleine Ebene. Vor ihnen sind Hügelketten. Der Weg nach Osten zu senkt sich stetig, und hinter den Hügelketten wird das Land weiter abfallen. Als sie sich wieder einmal umblickt, sagt Barney Selby heiser neben ihr: »Na, ist immer noch nichts zu sehen? Keine Verfolger? Wenn jetzt nicht bald welche auftauchen, können wir hoffen. Dann sind wir vielleicht entkommen, weil sie uns vergessen haben in dem Durcheinander. Ja, dann können wir hoffen!« Er ruft es schon irgendwie zufrieden und wie ein Mann, der davongekommen zu sein glaubt. Aber Mary entdeckt plötzlich hinter sich im grauen Morgen einen Reiter.
Ja, es ist ein Reiter, der vorerst nur schwer zu erkennen ist vor dem Hintergrund der dunklen Berge und der Nacht im Westen. Doch er kommt näher. Es ist ein Reiter, ein Verfolger. Mary Stone schluckt einmal. Dann sagt sie mit ruhiger Stimme: »Ich kann noch nichts erkennen, gar nichts. Ich glaube, dass wir entkommen sind. Du solltest das Pferd langsamer laufen lassen. Sonst müssen wir bald eine längere Rast einlegen. Und unser Weg ist noch weit, nicht wahr?« »Das kann ich dir genau sagen«, erwidert er. »Wir fahren bis nach Pierre und nehmen uns dort Luxuskabinen auf einem Dampfschiff. So einfach ist das, wenn wir erst mal am Missouri sind. Der ist jetzt auch noch nicht so zugefroren, dass keine Dampfschiffe mehr fahren könnten. Dir wird es bald sehr viel besser gehen als jetzt.« Sie erwidert nichts, sieht sich nur wieder scheinbar sorglos um. Der Reiter ist näher gekommen, ist auf dem hellen Schnee jetzt sehr gut zu erkennen. Sie glaubt mit Sicherheit, dass es Pernel Wittacker ist. Denn sie sind beide lange genug gemeinsam geritten. Sie kennt deshalb seine ganze Art, wie er im Sattel sitzt. Aber auch ohne diese Ähnlichkeit wäre sie fest davon überzeugt, dass es Pernel Wittacker ist. Sie wüsste nicht zu erklären, warum
sie so sicher ist. Das untrügliche Wissen ist ganz einfach vorhanden. Als sie sich wieder nach vorn wendet, steckt der Doc gerade das Ende des Peitschenstockes in den Halter. Er muss sich dabei etwas zur Seite drehen, und bevor er sich wieder nach vorn wendet, blickt er über die Schulter zurück. Er stößt sofort einen wilden, bösen und fauchend klingenden Laut aus, dem ein gemeiner Fluch folgt. Und dann handelt er. Zuerst hält er das Pferd und damit auch den Schlitten an. Dann springt er vom Schlittensitz und greift unter die Zeltplane im Schlittenkasten. Dabei flucht er unaufhörlich. Er bringt ein Gewehr zum Vorschein. Es ist ein Spencer-Karabiner, ein siebenschüssiges Repetiergewehr also, mit dem ein guter Schütze auf zweihundert Yards noch recht gut treffen kann. Der Doc zögert keine Sekunde. Er stellt sich breitbeinig fest auf den harten Schnee, legt an, zielt kurz und drückt ab. Und der Reiter fällt vom Pferd, als würde er von einer Riesenfaust gestoßen. Es ist ein unwahrscheinlich sicherer und schneller Schuss, und wenn es sich nicht um einen zufälligen Glückstreffer handelt, dann ist der Doc mit dem
Gewehr ein Meisterschütze. Es kann nicht anders sein. Als Mary Stone den Reiter vom Pferd fallen sieht, stößt sie einen wilden Schrei aus. Der Doc wendet sich ihr zu, will etwas sagen – grinsend und gewiss nicht freundlich. Denn er muss begriffen haben, dass sie den Reiter lange schon gesehen hat und ihm das verschwieg. Sie aber handelt nun endlich. Sie wirft sich vom Wagen gegen den Doc und schlägt ihm die Brille von der Nase. Sie hat Glück, denn er ist auf den Angriff nicht vorbereitet. Er verliert die Brille, brüllt böse auf, weil ihm sofort klar wird, wie sehr er ohne Brille verloren ist. Er versucht Mary Stone festzuhalten, doch er erwischt nur ihren Mantelärmel. Sie schlüpft blitzschnell aus dem offenen Mantel und bringt sich mit einigen Sprüngen in Sicherheit. Er lässt den Mantel fallen. In der Rechten hielt er die ganze Zeit das Gewehr. Er bringt es in Hüftanschlag und starrt blind wie ein Maulwurf in die Richtung, in der er Mary Stone vermutet. Aber wahrscheinlich kann er sie gar nicht sehen. Er ist so kurzsichtig, dass er einen mit Schnee bedeckten Busch ohne Brille für Mary hält. Denn er schießt auf diesen Busch. Mary gleitet einige Schritte nach links. Vielleicht sieht er undeutlich ihren Schatten,
vielleicht hört er aber auch nur den knirschenden Schnee unter ihren Füßen – jedenfalls feuert er sofort in ihre Richtung, und die Kugel fliegt ziemlich dicht an Mary vorbei. Diese verharrt sofort, sinkt in die Hocke, macht sich so klein wie möglich. Sie begreift, dass sie sich nicht bewegen darf. Sie hört ihn sagen: »Ich krieg dich schon noch. Bestimmt erwische ich dich gleich, du falsches Biest. Du verdammte …« Er verflucht sie. Und dann geht er in die Hocke und sucht nach seiner Brille. Mary Stone kann sich erinnern, dass die Brille – es handelt sich ja nur um einen Kneifer ohne Bügel – sehr weit flog. Denn sie schlug heftig zu. Sie glaubt nicht, dass er die Brille in seiner Reichweite am Boden findet. Also muss er sich bewegen und eine größere Fläche rechts vom Schlitten absuchen. Aber wird er sich so viel Zeit nehmen? Sie legt die Hände trichterförmig an den Mund und ruft zur Seite gewandt, damit er ihren genauen Standort nicht so leicht erraten kann: »Gleich ist er hier! Er ist aufgestanden und kommt. Du hast ihn nur verwundet. Er kommt und wird dich töten, bevor du ihn überhaupt sehen kannst. Und hinter ihm sind noch mehr Reiter. Sie kommen. Sie werden dich hängen. Denn du bist
der Anführer der bösen Horde. Sie haben dich gleich!« In ihrer Stimme ist der Klang schonungsloser Härte und wilden Triumphs. Sie sieht ihn zusammenzucken. »Du lügst!«, brüllt er, und seine Hand sucht immer verzweifelter nach der Brille. Er schiebt sich ein Stück weiter, und sein wildes Umhertasten mit der freien Hand wird immer nervöser. Sie ruft wieder: »Komm ruhig näher, Pernel! Du hast ihn! Er hat die Brille verloren. Er kann dich nicht sehen! Wenn du ihn in Reichweite des Colts hast, dann schieß auf ihn. Er ist blind wie ein Uhu in der Sonne!« Doc Barney Selby stößt einen fast kreischenden Fluch aus. Er gibt es auf, weiter nach der Brille zu suchen. Dafür schießt er dorthin, wo er nach dem Klang der Stimme Mary Stone vermutet. Dann tastet er nach dem Schlitten. Als er herausgefunden hat, in welcher Richrung das Seitenbrett verläuft, kennt er auch die Richtung des Wagenweges. Er schießt in diese Richtung. »Du triffst ihn nicht! Du triffst ihn nicht! Und er kommt näher, immer näher. Gleich hat er dich. Er ist nur an der Schulter verwundet. Komm Pernel! Oh, komm nur näher!« Es gelingt Mary, ihrer Stimme einen jubelnden Klang zu geben.
Und da zerbricht Selby. Obwohl er seiner im Schnee liegenden Brille sehr nahe kam, sodass er sie im nächsten Moment schon ertasten könnte, gibt er auf. Er klettert in den Schlitten, findet die Zügel, nimmt sie, zieht sie straff und treibt das Pferd an. Blind fährt er davon. Er kann die Fährte im Schnee, die den Wagenweg kennzeichnet, gewiss nicht erkennen. Er muss sich darauf verlassen, dass sein Schlittenpferd auf dieser Fährte bleibt. Aber er will fort, nichts wie fort. Mit ihm fährt aber auch sein Banditenschatz, seine gesamte Beute als einer der Anführer der Goldwölfe. Mary Stone möchte ihm nachlaufen, möchte die schwere Reisetasche aus dem Schlitten reißen. Doch sie weiß, dass sie ihm so nahe nicht kommen darf. Auf zwei oder drei Yards kann er sie vielleicht doch gut genug erkennen. Und er ist schnell mit dem Colt, unheimlich schnell sogar. Sie läuft zu Pernel Wittacker. Als sie bei ihm kniet, schlägt er gerade wieder die Augen auf. Er fiel sehr hart. Sie sieht nach seiner Wunde, und es ist eine Streifwunde an der Schläfe. Es ist keine besonders schlimme Wunde, und doch wirkte die Kugel wie eine Kriegskeule. Sie kann erkennen, dass in seinem Blick noch keine Erinnerung ist. Die kehrt erst allmählich wieder zurück. Er hat gewiss eine
Gehirnerschütterung. Das Blut läuft ihm aus der Wunde. Wahrscheinlich wird ihm immer wieder schwarz vor Augen. Sie sagt zu ihm: »Pernel, es ist alles gut! Ich fang jetzt das Pferd ein und bring dich nach Lucky Ben zurück. Es ist alles gut, Pernel. Verstehst du?« »Der Doc …«, sagt er heiser. »Was ist mit dem Doc?« »Ich schlug ihm die Brille von der Nase. Er ist so gut wie blind. Er wird umkommen – irgendwo. Er wird nicht ungeschoren davonkommen.« Sie sagt nichts von den Goldsäckchen im Schlitten und von dem prallen Geldgürtel, der um die Lenden des Flüchtlings liegt. Sie will nur noch Pernel Wittacker zurückbringen. Denn mit seiner Gehirnerschütterung gehört er ins Bett. Und sie weiß auch, dass alles gut wird zwischen ihnen. Sie ist völlig sicher, dass sie zusammenbleiben werden. Der Doc fährt noch etwa drei bis vier Meilen. Und weil man ihn bis dahin immer noch nicht eingeholt hat, hält er endlich an. Nun nimmt er sich die Zeit, in seinem Gepäck nach der alten Reservebrille zu suchen. Sie ist schwächer als die verlorene Brille, und dennoch wird sie ihm wieder einigermaßen das Sehen erlauben.
Er findet das Brillenetui in seiner Arzttasche. Als er die Brille aufgesetzt hat, vermag er wirklich wieder einigermaßen zu sehen. Nur mit der Fernsicht kann er nicht zufrieden sein. Aber er braucht keine Brille mehr für die Ferne. Denn er ist nicht mehr allein. Reiter kamen leise. Es sind Reiter, die auf unbeschlagenen, hageren Mustangs sitzen und ziemlich verhungert wirken. Ja, es sind Indianer. Pernel Wittacker und Mary Stone hätten die Indianer wiedererkannt. Denn es handelt sich um jenen Wasserwolf, der hinter dem Elch her war. Es sind die gleichen Indianer. Dass sie jetzt nicht weiter östlich in der tieferen Region auf der Jagd sind, hat gute Gründe. Denn das Wild wurde knapp. Wasserwolf kam auf die Idee, einige abgelegene Minen oder Claims der Weißen zu suchen und dort Beute zu machen. Denn die Weißen haben sich gewiss gute Wintervorräte angelegt. Er weiß noch nicht, dass er bald im Besitz einer Menge Gold sein wird, für das er seinem Dorf bei den fahrenden Händlern viele Dinge – wenn auch zu Überpreisen – wird kaufen können. Aber er wird es in einer Minute wissen. Denn er ist es, der dem Doc die Lanze in die Brust stößt.
Um die gleiche Zeit etwa treffen Mary Stone und Pernel Wittacker in Lucky Ben ein. Die Stunde der Vernichtung ist hier vorbei. Judith schläft immer noch im Haus des Doc, als sie es erreichen und an ihr Bett treten. »Er hat ihr dreitausend Dollar zurückgelassen«, sagt Mary. »Und das ist diese Horde ihr gewiss schuldig – mehr als schuldig, nicht wahr?« Pernel Wittacker schüttelt den Kopf. »Ich hab eine Ranch in Texas«, sagt er. »Gute Leute verwalten sie für mich. Aber sie sind schon alt. Ich hätte meinen Job als Marshal nicht mehr länger ausüben können. Es wird höchste Zeit, heimzukehren. Wir nehmen Judith mit. Und alles sonst mit ihr wird sich ergeben. Gut so?« ENDE