Höllenjäger Band 4 Prophet der Vernichtung von Des Romero
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»Du lausiger, kleiner Tunichtgut!« Dennis Foucheaux wurd...
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Höllenjäger Band 4 Prophet der Vernichtung von Des Romero
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»Du lausiger, kleiner Tunichtgut!« Dennis Foucheaux wurde schlagartig aus seinen Tagträumen gerissen und blickte in das zornige Gesicht von Mrs. Braxton, seiner Lehrerin. Ihre Augen glühten hinter den runden, randlosen Brillengläsern. »Deine Hausaufgaben hast du vergessen! Deine Beteiligung am Unterricht - falls man dieses Wort in dem Zusammenhang überhaupt verwenden kann - ist ungenügend! Und jetzt...« Sie warf ihm ein blaues DIN-A4-Heft aufs Pult »... schreibst du auch noch den schlechtesten Test in der Klasse! Dennis... kannst du mir sagen, was ich mit dir machen soll...?« Es schien noch nicht einmal ein Vorwurf der Lehrerin zu sein. Eher ein Hilferuf. Die vierzigjährige Frau war mit ihrem Latein am Ende. Sie hatte in diesem ersten Schuljahr wirklich alles versucht, um ihren Schülern eine vernünftige Grundlage für ihren weiteren Werdegang auf dieser und den weiterführenden Schulen zu vermitteln. Mit Ausnahme von Dennis Foucheaux hatte Jennifer Braxton ihr Ziel erreicht. Dem Jungen war irgendwie nicht beizukommen. Es blieb die Vermutung, dass er große Probleme in seinem Elternhaus hatte. Der Siebenjährige wirkte sehr oft abwesend, wie in einer anderen Welt. Und es war mehr als einmal vorgekommen, dass das Kind mit sichtlichen Schmerzen zum Unterricht erschienen war. Auch schon mal mit blauen Flecken, Abschürfungen oder Striemen im Gesicht. Anfangs war Mrs. Braxton schockiert, hatte sich immer wieder gesagt, dass sie mit Dennis' Eltern reden musste. Nur so konnte dem Jungen geholfen werden. Aber ständig war auch etwas dazwischen gekommen und irgendwann hatte die Pädagogin sich gesagt, dass sie für diese sozialen Randgruppen einfach nicht zuständig war. Das war eine Aufgabe für einen Psychologen. Oder einen Familientherapeuten. Oder beides. Sie hatte schließlich nicht im entferntesten genug Kenntnisse, um in diesem Bereich helfend tätig zu werden. Das hatte sie sich immer und immer wieder eingeredet, bis es zum Dogma geworden war. Außerdem zog Dennis den Klassendurchschnitt 3
herunter. Und das nagte nebenbei noch gewaltig an ihrem Ego und den selbstgesteckten Leistungsvorgaben. Wie anders also hätte sie in dieser Situation reagieren können, als mit Aggressivität? Einfühlsamkeit und Verständnis hatten sie nicht weitergebracht. Anscheinend gab es keinen anderen Weg mehr. »Hast du meine Frage verstanden, Dennis?« Die Worte kamen herüber wie ein hysterischer Schrei. Der Junge zuckte zusammen. In seinen Augen schimmerte es feucht. Er hatte Angst. »Ja, Mrs. Braxton«, brachte er stockend hervor. Seine Augen beschrieben einen Halbkreis durch die Klasse. Er blickte in die Gesichter seiner Mitschüler und sah nur Spott und Belustigung. Viele verbargen ihr Kichern hinter vorgehaltener Hand. Andere zeigten ganz offen mit dem Finger auf ihn, grinsten ihn frech an. Schrilles Klingeln läutete das Ende der Stunde ein. Für Dennis Foucheaux bedeutete es nicht nur das Ende dieses Schultages, sondern auch das Ende unangenehmer Fragen und demütigender Äußerungen seiner Mitschüler. Kreischend sprang die Meute auf. »Nicht vergessen«, erhob Jennifer Braxton die Stimme und deutete an die Tafel. »Schreibübungen Sprachbuch Seite 50 und 51 ins Hausaufgabenheft übertragen.« Sie beobachtete, wie die Kinder aus dem Klassenraum stürmten. Nur Dennis zeigte keine große Eile. Er schulterte den Tornister und schlenderte als Letzter auf den Flur. Was ist mit diesem Kind nur nicht in Ordnung?, wisperten die Gedanken der Lehrerin. Er hat mich nicht einmal
angeschaut. Er ist so ernst, wirkt verbittert. - Lieber Himmel! Jennifer Braxton schauderte innerlich. Und das in seinem Alter.
Sie zwang sich zur Ruhe. Es hatte keinen Zweck. In ihrem eigenen und Dennis' Interesse: Sie würde sich mit den Eltern ihres Schülers unterhalten müssen. * 4
In den dunklen Augen der Frau glänzte es lüstern. Sie wirkte knabenhaft mit ihrem grazilen Körper, den kleinen Brüsten und der schmalen Taille, die fast übergangslos mit der Hüfte verschmolz. »Du hast ja schon wieder einen Ständer, Jean«, kicherte die Neunzehnjährige mit heller Stimme und setzte sich auf den Küchentisch. Sie war lediglich mit einem aufgeknöpften Oberhemd ihres Freundes bekleidet, fuhr sich mit der Zunge über die feucht schimmernden vollen Lippen und reckte ihren Unterleib vor. »Du machst mich eben total an«, grinste Jean, nahm einen Schluck aus seiner Bierdose und stellte sie beiseite. Der Mann mochte auf die Vierzig zugehen, wirkte reichlich ungepflegt mit seinem fettigen, schwarzen Haar und dem Stoppelbart. Seine Kleidung war fleckig, roch nach Schweiß. Er konnte sie seit Tagen nicht gewechselt haben. Das Mädchen schien es nicht zu stören. »Komm her zu mir.« Die Finger ihrer Rechten bewegten sich zwischen ihren Schenkeln hin und her. »Lois, du geile Schlampe. Wie oft am Tag brauchst du es eigentlich...?« Jean öffnete den Mund zu einem Lachen und entblößte eine Reihe abgefaulter Zähne. In Ober- und Unterkiefer gab es deutliche Lücken. Sie waren stumme Zeugen seines körperlichen Verfalls. »So oft du kannst«, hauchte Lois. »Vielleicht auch öfter...« Sie ließ offen, was sie damit sagen wollte. Und Jean fand seine eigene Interpretation. »Machst es dir wohl häufig selber.« Er griff nach der Bierdose auf der Spüle. »Mir egal.« Er trat dicht an das blutjunge Mädchen heran. Sofort nestelte sie an seiner weiten Freizeithose herum, die sich bereits stark ausgeheult hatte. Die kriegen nie genug, diese jungen Dinger, dachte Jean. Er hoffte inständig, dass er sie nach dieser kurzen Pause noch einmal befriedigen konnte. Wenn er wie vor ein paar Tagen 5
erneut versagte, würde sie ihn vielleicht nicht mehr respektieren. Und wenn das geschah... - wer konnte die Konsequenzen ahnen? Er wollte sie auf keinen Fall verlieren. Jean stöhnte lustvoll. Das Gefühl der kreisenden Zunge, der samtenen Lippen, drohte ihn schier zu übermannen. Lois machte dem ein vorläufiges Ende. »Jetzt mach's mir so, wie ich es gern' habe!« Das Mädchen schob ihr Gesäß weit vor. »Mach schon!«, keuchte sie in überwältigter Erregung. Ja, wisperten Jeans Gedanken. Das war genau sein Ding. Wenn sie es partout so wollte. Das ist für dich, Baby! Die Neunzehnjährige schrie auf. Aber nur kurz. Sie bekam das, was sie sich ersehnt hatte. »Mein Gott! Ja...! Hör' nicht auf!« Lois redete sich in Ekstase. »Oh! Ist das gut! Zieh' mich richtig durch!« Natürlich törnte ihr Hecheln Jean genauso an. Seine Hände griffen nach ihren zierlichen Brüsten, auf denen sich die Nippel hart aufgerichtet hatten. Er schloss die Augen und ließ seine Empfindungen auf sich einwirken. Wenn er zuvor noch geglaubt hatte, seine kleine Freundin nicht zufrieden stellen zu können, so würde er nun das Gegenteil beweisen: Lange konnte er den Orgasmus nicht mehr zurückhalten. Dieses scharfe Flittchen holte wirklich alles aus ihm heraus. »Jean – ja! Fester! Schatz... ja, jetzt! Ich... ich...« Es klingelte. Scharf. Grell. Durchdringend. Jeans Männlichkeit fiel in sich zusammen wie ein durchlöcherter Heißluftballon. »Scheiße!« »Mist!«, fluchte auch die neunzehnjährige Lois. »Noch zwei Sekunden und ich wäre gekommen.« »Mal sehen, welches Arschloch da vor der Tür steht.« Jean war wütend wie selten zuvor. Wenn das wieder der Typ vom Arbeitsamt war, würde der sich eine gehörige Abreibung einfangen. Schließlich gab es noch eine Privatsphäre.
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Die Haustür der kleinen Dreizimmerwohnung schnappte auf.
»Du?!«, rief Jean ungläubig. »Was machst du denn schon hier...?« »Die... die Schule ist aus...« Jean Foucheaux blickte in feuchte, ängstliche Kinderaugen. »Ich... wollte nicht stören...« »Das hast du aber, kleiner Bastard!«, schrie der unrasierte Mann. »Komm rein, Dennis!« Die Tür flog hinter dem Jungen zu. »Ist dir eigentlich bewusst, welche Belastung du für mich und deine Mutter bist?« Der Siebenjährige senkte den Kopf. »Meine Mutter ist weit weg...«, murmelte er undeutlich. »Du krankes Stück Dreck!« Jean schlug dem Kind mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Junge stolperte zurück an die Wand. »Schlag' der Sau die Fresse ein!«, keifte Lois auf dem Küchentisch. Sie hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihre Blößen zu bedecken. »Keine Sorge, Lois«, bekräftigte Jean. »Diesmal ist er zu weit gegangen...« Im Gesicht des Mannes loderte der Hass. »Papa... bitte... Es tut mir leid... Ich wollte doch nichts Böses tun...« »Das hast du aber«, kommentierte Dennis' Vater mitleidslos. Er warf einen Zustimmung fordernden Blick auf seine kindliche Gespielin. »Ja!«, bellte Lois ihm entgegen. »Prügel das Balg tot!« Und Jean Foucheaux schlug los. Schlug und schlug und schlug. Bis sich sein wehrloses Opfer nicht mehr bewegte. Die Augen des Mannes traten hervor. Blutrote Äderchen. Er war wie im Wahn, wusste nicht, ob er das Kind erschlagen hatte oder ob es noch lebte. Jean Foucheaux war verwirrt. Der Alkohol benebelte ihn. Was hatte er getan? Hatte er wirklich sein eigen Fleisch und Blut getötet?
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Dann aber lachte er laut auf, packte Lois' Kopf und presste seine Lippen auf die ihren. Sie erwiderte seinen Kuss auf eine Weise, dass Jean das Blut in die Lenden schoss und sich das erschlaffte Körperteil kraftvoll aufrichtete. Dennis beobachtete die Szenerie wie im Traum. Er stützte sich auf die Ellbogen und spürte, wie das Blut warm über seine Lippen rann. Er sah, wie sein Vater über diese Frau herfiel, die nicht seine Mutter war und kniff die Lider zusammen in unendlicher Qual. Das Kind spürte den Kloß im Hals, konnte die Tränen kaum mehr zurückhalten. Das ekelerregende Stöhnen der beiden hallte in seinen Ohren nach. Der Junge musste würgen. Er hätte all dies nicht sehen dürfen, doch es hatte sich niemand die Mühe gemacht, es vor ihm zu verbergen. Er fühlte die Scham. Die Angst. Das Unverständnis. Der Siebenjährige konnte nicht begreifen, was seine Augen ihm zeigten... So lehnte er sich einfach zurück, schloss die Augen und gab sich dem Schmerz hin, den sein Vater ihm zugefügt hatte. Was aber konnte dieser Mann schon der Bitterkeit entgegensetzen, die er in seinem kleinen Herzen trug...? Er hatte schon so oft fortrennen wollen, seit seine Mutter - seine wirkliche Mutter! - diesen grobschlächtigen Trinker verlassen hatte. Damals war er so hilflos gewesen, so allein. Seine Mum hatte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Sie war einfach gegangen... und nie wiedergekehrt! Dennis hatte viel geweint... aus Trauer. Bis die Tränen, die die Schläge seines Vaters hervorriefen, alles andere verdrängten. Schließlich war dieses Mädchen aufgetaucht. Ein echtes Flittchen. Aber Jean Foucheaux hatte einen Narren an ihr gefressen. Irgendwie war er ihr... hörig. Und damit war Dennis' Zug endgültig abgefahren. Das minderjährige Kind war den beiden nur im Weg. Obwohl Lois selber noch ein pubertierender Teenager war, galt sie vor dem Gesetz jedoch als mündige Erwachsene.
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Wie sehr hatte sich alles verändert. Der Junge erkannte seine augenblickliche Situation mit einer für sein Alter erstaunlichen Klarheit. Mühsam stemmte er sich am Türrahmen hoch. Vor seinen Augen tanzten bunte Schleier. Sein... Vater! - hatte ihn hart getroffen. In den Ohren des Erstklässlers pochte zudem das lustvolle Stöhnen des kopulierenden Paares.
Gott... bitte! Hilf mir!
Dennis kam auf die Füße. Niemand nahm von ihm Notiz. Und so bemerkte auch niemand, dass er sich auf leisen Sohlen aus der Wohnung schlich und die Tür sanft ins Schloss zog... *
Impressionen I
Es vermag nicht zu sagen, wie lange es nun schon gewartet hat. Wie auch? Zeit hat für ihn keine Bedeutung. Hier gibt es nur die Leere und das Nichts. Kein Gut und kein Böse. Kein Licht und auch keinen Schatten. Und vielleicht ist ›warten‹ auch nicht der korrekte Ausdruck. Es strebt einer Veränderung der Ereignislosigkeit nicht bewusst entgegen. Es wird sie lediglich zur Kenntnis nehmen. So, wie er es bereits mehrmals in der Vergangenheit getan hat. Denn manchmal dringt etwas in das Nichts ein. Eine verwandte...? Wesenheit betritt dann seine sterile Welt. Es ist nicht in der Lage, den oder das Fremde wirklich zu erfassen oder auch nur annähernd zu beschreiben, doch es fühlt eine sonderbare Solidarität. So ist es auch jetzt wieder! Abstrakte Wirbel aus Licht und Ton bahnen sich ihren Weg durch das Nichts. Besäße es ein Herz, so würde dieses anfangen wie wild zu pochen. Wäre es fähig für auch nur entfernt menschlich zu
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charakterisierende Empfindungen, so hätte man sie durchaus als freudige Erregung beschreiben können. Es spürt, dass etwas mit ihm vorgeht, das normalerweise nicht mit seiner Existenzform vereinbar ist. Und aus einem unerfindlichen Grund streift ein Gedankensplitter die Oberfläche seines Bewusstseins und regt die Assoziation an, dass dies auf seine ursprüngliche Daseinsform zurückzuführen ist, an die es keine Erinnerung hat und die vom Dunkel des Vergessens verschlungen worden ist. Wer oder was ist - war! - es wirklich? Es greift entschlossen nach der fremden Energie, klammert sich an ihr fest. Vielleicht kennt der Fremde die Antworten auf seine Fragen. Plötzlich - fühlt...? - es sich unsicher. Obwohl es nicht sein kann, so hat sein denkendes Selbst diese Unsicherheit als Angst definiert. Da ist noch etwas anderes! Zusammen mit dem Fremden hat ein weiteres Wesen seine Welt aufgesucht. Dieses Wesen ist - anders! Und es bringt negative Energien mit sich, die die verwandte Seele vertreiben. NEIN!, schreit es. GEH NICHT! Enttäuschung... Verbitterung... Trauer... Warum hat der neue Fremde das getan? Und wo steckt er? Es erforscht seine Umgebung, kann jedoch niemanden entdecken. Die beiden Fremden sind fort. Alles ist wie immer... NEIN! - Der erste Eindruck täuscht. Die Leere um ihn, das Nichts, hat sich an einer Stelle geöffnet. Eine Pforte hat sich aufgetan, durch die es das Nichts verlassen kann. Dahin zu gehen, wohin die beiden Fremden gegangen sind. Es nähert sich der schillernden Öffnung. Ein Strudel tut sich vor ihm auf, in dem feurige Lanzen purer Energie in einem wahnwitzigen Sog hochgerissen und in unbekannte Weiten geschleudert werden.
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Es zögert, den letzten Schritt zu tun. Es gehört in das Nichts. Seine einzige Aufgabe ist es, über das Nichts zu wachen. Es darf nicht gehen...! Wieder streifen Gedankensplitter seine bewusste Wahrnehmung, gaukeln ihm Gefühle vor, die es schier zur Verzweiflung treiben. WAS BIN ICH? WO BIN ICH? Furcht und Zorn wechseln einander ab. Verwirrung hält es in seinen unnachgiebigen Klauen. Seine Entscheidungsfähigkeit entspricht schon lange nicht mehr rationalen Grundlagen. Es lässt zu, dass der Sog ihn packt. Es taucht ein in diesen Schlauch, der bis an die Grenzen der Unendlichkeit zu reichen scheint. Dann ist es zu spät für eine Umkehr! * »... denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. In Ewigkeit. Amen!« Nach Beendigung des Vaterunser drehte Pastor McIntire sich hinter dem Altar um und gab dem Organisten ein Zeichen, das nächste Lied zu spielen. Während aus den meterhohen Orgelpfeifen die ersten Töne drangen, blätterten die Gläubigen ihre Gebetsbücher auf und suchten das Lied mit der Nummer, die von der Leuchtanzeige hoch über dem Altar bis in den hintersten Winkel des Kirchenschiffs blinkte. Annähernd dreihundert Menschen begannen gleichzeitig zu singen. Diese Zeit nutzten die Messdiener, um die Eucharistiefeier vorzubereiten. McIntire war vor fünfzehn Jahren aus einem Dorf nahe Glasgow nach London übergesiedelt und versah mittlerweile seit gut elf Jahren sein Kirchenamt hier in der Gemeinde Southwark. Die Leute hatten Vertrauen zu ihm und suchten seinen Rat auch in sehr persönlichen Angelegenheiten. Vor allem ältere Menschen zeigten sich ihm gegenüber äußerst 11
mitteilungsbedürftig. Der Pastor hörte jedem mit der gleichen engelhaften Geduld zu und für die meisten Probleme wusste er eine annehmbare Lösung. Seine Messen waren stets gut besucht. Nicht unschuldig daran war sicher auch die unmittelbare Nachbarschaft zur UBahn-Station. Ob sie wollten oder nicht: die Leute mussten zwangsläufig an dem Gotteshaus vorbei. Da war es nicht ungewöhnlich, wenn des öfteren jemand hängen blieb. Der viel hundertköpfige Choral verstummte mit den letzten Klängen der Orgel. McIntire begann mit dem Glaubensbekenntnis. »Deinen Tod, o Herr, verkünden wir. Und deine Auferstehung preisen wir. Bis du kommst in Herrlichkeit.« Im weiteren Verlauf der Predigt nahm der Pfarrer Hostie und Messwein entgegen. »... brach er das Brot, segnete es und reichte es seinen Jüngern mit den Worten: Dies ist mein Leib...« Andächtig starrten die Gläubigen zum Altar. McIntire verlieh selbst den immer wiederkehrenden Prozeduren ein Flair, dem sich niemand entziehen konnte. Er spielte nicht einfach den Geistlichen. Er lebte ihn. Für seinen Glauben. Für das Gute im Menschen. Jeder konnte das spüren. »... und da nahm er auch einen gefüllten Krug, segnete ihn und reichte ihn seinen Jüngern mit den Worten: Dies ist mein Blut...« Pastor McIntire setzte den strahlenden Weinkelch an die Lippen, um einen symbolischen Schluck zu nehmen... ... als das eigenartige Rauschen erklang! Es war wie ein heftiger Luftzug, der sich in den Gemäuerritzen brach und heulend wieder entwich. Das Geräusch wiederholte sich, diesmal eindringlicher. Es schien unter der Kuppel des Glockenturms zu nisten. Gleich einem Raubvogel, der seine mächtigen Schwingen ausbreitete, um sich im nächsten Moment auf seine wehrlose Beute zu stürzen.
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Verwirrt blickte der Pastor in die Reihen der Anwesenden. Alle schauten erwartungsvoll. Niemand machte den Anschein, etwas gehört zu haben. Ihn schwindelte plötzlich. Er hatte nicht mehr die Kraft, den Kelch zurückzustellen. Er entglitt seinen gelähmten Fingern, polterte auf die steinerne Altar-platte und ergoss sich auf die weißen Decken und Tücher. »Um Himmels willen!«, klang es erschrocken aus der Menge auf. Alle sahen, dass McIntire taumelte. Seine Glieder zitterten. Er schien die Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Es ist nur wegen mir hier!, überschlugen sich die Gedanken des Pfarrers. Es will... mich! Unter dem entsetzten Stöhnen der Versammelten - viele waren aufgesprungen, hielten einander fest und verharrten letztendlich in Untätigkeit - stolperte McIntire einige Schritte zurück, ehe er zu Boden stürzte. Dort wand er sich wie in Krämpfen. Eine schmale Tür an der rechten äußeren Stirnseite des Kirchenschiffs wurde aufgezogen. Hindurch zwängte sich die hoch gewachsene, knöcherne Gestalt des Vikars. Er war aufgrund des Tumultes aufgetaucht und wurde beinahe in derselben Sekunde mit dessen Ursache konfrontiert. Bleierne Starre ergoss sich in seine Venen. »Der Pastor! O Gott! Nein!« * Als es der Leere des Nichts entronnen ist, spürt es den Hass. Natürlich weiß es nicht, was es fühlt - dass es überhaupt fühlt. Doch dieser undefinierbare, nicht zu kategorisierende Eindruck bemächtigt sich jeder Faser seines denkenden Handelns. Irgend... jemand...? vermittelt ihm die Einsicht, eine hemmende Fessel abgelegt, eine unüberwindlich scheinende Barriere hinter sich gelassen zu haben.
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Es bezeichnet die neue Wahrnehmung als wiedererwachten Instinkt, denn sie wirkt auf ihn jetzt nicht mehr unbedingt fremd, auch wenn sie noch weit davon entfernt ist, vertraut zu sein. DER BANN IST GEBROCHEN, sagt es sich und dieser Gedanke verankert sich bedeutungsschwer in seinem Geist. MEIN DENKEN IST NUN WIEDER REIN. Irgend... etwas! bestätigt diese Assoziation, strahlt einen bejahenden Impuls aus. DER HASS IST GUT. Hass... Es überlegt eine Zeitlang. Ist das der Name des wiedererweckten Instinktes? - Sicher, so muss es sein. Und der Hass gefällt ihm. So neu er ist, so interessant ist seine berauschende Wirkung. Sein Hass richtet sich gegen alles Lebende, gegen jene, die Gott - in all seinen launischen Facetten - verehren, dessen Motive - das spürt es mit physischer Macht - den seinen in so krassem Widerspruch stehen. Wahllos sucht es sich ein Opfer aus, dessen Geist es mit seinem Hass vergiften kann... * Es war später Vormittag, als Richard Jordan selbstvergessen seine Kaffeetasse zurück auf den Wohnzimmertisch stellte. Er hatte nur kurz an dem Getränk genippt und nahm seinen Geschmack kaum zur Kenntnis. Die Arme verschränkte der Siebenundzwanzigjährige hinter dem Kopf und sank in die Polster der Couch. »Dominique geht dir nicht aus dem Kopf, stimmt's?« Philip Ravenmoor deutete ein Nicken an. Er saß Richard gegenüber in einem Sessel, hatte sich ein wenig nach vorne gebeugt, die Hände über den Knien gefaltet und blickte seinen Schützling verstehend an. »Kann ich dir nicht verdenken. Ist 'ne klasse Frau.«
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»Ja, das ist sie...« Die Antwort kam zögernd, als hätte man den jungen Jordan aus einem angenehmen Traum wachgerüttelt. »Du wirst sie wieder sehen, Sportsfreund. Das steht fest.« Ravenmoor legte eine gehörige Portion Überzeugungskraft in seine Stimme. »Aber darum können wir uns im Moment nicht kümmern.« Jetzt war es eher Unruhe, die aus seinen Worten sprach. »Amalnacrons Verpuppung ist eingeleitet. Die damit einhergegangene Energieentfaltung in dieser Geisterstadt, deren Zeuge du wurdest, hat alles mögliche verändert. Das Siegelkammerbewusstsein ist entartet und nur der Allmächtige weiß, welche Auswirkungen das bereits gezeitigt hat. Es war erforderlich, den Zugang zu zerstören. Ich kann nur hoffen, dass dem bösen Treiben damit ein Ende bereitet worden ist.« Der Höllenjäger senkte den Blick, sah sodann aber wieder auf und direkt an Richard gewandt fuhr er fort: »Herzensangelegenheiten müssen wir vorerst zurückstellen.« »Natürlich, das ist mir klar«, entgegnete Richard. Er setzte ein Lächeln auf, das nicht echt sein konnte. »Es ist nur... zwischen mir und Dominique ist etwas, was ich kaum zu erklären vermag. Ich bin mir sicher, sie hat es auch gespürt. Da ist eine Verbindung - wie aus einem anderen Leben, aus einer anderen Zeit...« Der Student überlegte. Seiner Miene ließ sich entnehmen, dass ihm verschiedene Gedanken im Kopf herumschwirrten, die er wohl noch nicht ordnen konnte. Ravenmoors seltsam angespannter Gesichtsausdruck entkrampfte sich nur unmerklich. »Ich muss noch einmal nach unten in den Keller. Mir ein Bild machen vom Ausmaß der Zerstörung. Vielleicht kann ich noch etwas retten...« Er ließ offen, was er damit meinte. Richard erinnerte sich. Die Ereignisse waren noch ganz frisch in seinem Gedächtnis. In dem Haus meiner Eltern ist
einiges Unerklärliches vorgefallen. Und es scheint lange nicht zu Ende zu sein.
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Unwillkürlich heftete sich der Blick des jungen Mannes auf die Tischkacheln, in die sich vor wenigen Stunden noch diese furchtbare Botschaft eingebrannt hatte: DEIN ENDE KOMMT AUF COL'SHAN-DUUR! Doch davon war nichts zurückgeblieben... außer dem Unbehagen, das in seinem Gedächtnis mit dem Anblick verbunden war und auch bleiben würde. Und so versuchte er, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. »Jemand, der einen Siegelgeist manipulieren kann, muss über ungeheure Kräfte verfügen«, griff er Ravenmoors Gedanken erneut auf. »Über Kräfte, mein Freund, die wir beide nicht annähernd begreifen könnten. Das Wissen der Loge darum ist lückenhaft und fußt auf Erkenntnissen, die nicht als gesichert gelten.« Philip Ravenmoor blickte sein gebannt dasitzendes Gegenüber durchdringend an. »Ich kann dir die Details jetzt nicht weiter erläutern. Wenn sich die Lage entspannt hat, dann wird Mister Denningham-Cartlewood dir alles erklären.« Es folgte eine knappe Pause. Richard war sich ziemlich sicher, dass sie keinem rhetorischen Effekt diente, sondern lediglich symbolisch für den Zwiespalt stand, in dem Ravenmoor sich befand. Als wüsste er nicht, ob das, was er hinzufügen wollte, unangenehme Nebenwirkungen mit sich brachte. »Dann erfährst du die ganze Wahrheit. Und du erkennst, wohin dein Weg dich führt...« »Diplomatisch wie immer«, spöttelte Richard. »Viel erzählen und möglichst wenig aussagen.« Selbst wenn Richard es erwartet hatte - Ravenmoor verzog nicht eine Miene. Er war unverhältnismäßig ernst. »Lass uns keine Zeit verschwenden, Richard. Geh'n wir 'runter in den Keller. Wenn ich mit dem Kammerbewusstsein kommunizieren kann, sofern es nicht ausgelöscht wurde, wird uns das unter Umständen einen wertvollen Vorteil in unserem Kampf gegen Amalnacron verschaffen.« Ravenmoor schürzte die Lippen. »Sofern wir ihn dann noch nutzen können. Der Aufenthalt in dieser Fremddimension hat unserem Gegner 16
einen Vorsprung von über drei Wochen verschafft. Jedenfalls nach menschlichen Zeitmaßstäben.« Die beiden Männer erhoben sich fast gleichzeitig und verließen den Living-room. Richard öffnete die Kellertür und stieg die ersten Stufen hinab. Philip Ravenmoor war direkt hinter ihm. Geisterhaft huschten im Schein einer nackten Glühbirne ihre Schatten über die grob verputzte Seitenwand. Selbst hier und jetzt bemerkte keiner von beiden etwas von dem knisternden Unheil, das unsichtbar die modrige Luft durchsetzte! * McIntire stand seit etwa zwei Stunden am südwärts gerichteten Fenster seiner kleinen Pfarrwohnung und starrte ohne wirklich etwas zu sehen - durch den Dämmerschein der hereinbrechenden Nacht auf die wuchtigen Mauern seiner Kirche. Sein Gesicht spiegelte sich matt in den Scheiben. Ein Gesicht, das sich seit seiner Attacke am Altar merkwürdig verändert hatte. Es waren nicht die Züge des alten Mannes, in die sich tiefe - erschreckend tiefe! - Furchen eingegraben hatten. Es war etwas anderes. Etwas, das selbst einem Fremden auf Anhieb aufgefallen wäre. Die Farbe seiner Haare hatte sich vom natürlichen Grau ins Schlohweiße gewandelt. Sie wirkten kraft- und leblos. Wie abgestorbenes, feingliedriges Gewürm, das mit letzter Anstrengung die Kopfhaut durchstoßen hatte. Dasselbe galt für McIntire's Gesichtshaut. Nicht nur, dass sie ihn älter erscheinen ließ, als noch während der Predigt. Nein, sie verlieh ihm ein Erscheinen, das man bestenfalls als abstrakt beschreiben konnte. Sie wirkte irgendwie künstlich, wie aus Teig geformt und die tiefen Einkerbungen ließen einzig den Schluss zu, dass ein unter Zeitdruck stehender Maskenbildner unbeholfen und plump versucht hatte, einige Lebendigkeit vermittelnde Konturen hineinzuritzen. 17
Sein Sekretär, Vikar Mortimer Sligh, hatte mehrere Male erfolglos versucht, ihn anzusprechen. McIntire hatte sich nicht gerührt und auch keine Antwort gegeben. Schließlich hatte der Vikar es aufgegeben und sich seiner Arbeit gewidmet. Er musste noch eine Rede für die Sonntagsandacht vorbereiten, letzte Änderungen am Pfarrbrief vornehmen und diverse Verwaltungsarbeiten erledigen. Es gab genug zu tun. Trotz alldem schweiften die Gedanken des dürren, hoch aufgeschossenen Mannes mehr als einmal von seiner Tätigkeit ab. Er hat sich sehr verändert, dachte Mortimer Sligh. Und ich
weiß nicht, woran es liegt. Dieser Vorfall während der Messe vor einer Woche... Was ist wirklich geschehen...?
Sollte der Pastor auch weiterhin dieses wunderliche Verhalten an den Tag legen, würde auch die Gemeinde die Veränderung bemerken. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, waren unabsehbar. Mortimer Sligh wand sich unbehaglich in dem Drehstuhl an seinem Schreibtisch. Irgendwie konnte er sich nicht mehr recht auf die Arbeit konzentrieren. Er verließ sein Arbeitszimmer und öffnete den Vitrinenschrank im Nebenraum. Dort holte er einige Rechnungsformulare hervor, die er noch schnell ausfüllen wollte, um wenigstens einen kleinen Teil seiner Aufgaben zu bewerkstelligen. Versehentlich stieß er dabei an einen Regalboden, auf dem mehrere Bücher lagen und der nach vorne hin wegkippte. Unbeholfen versuchte Sligh, die heraus fallenden Bücher aufzufangen, stellte dabei aber beinahe noch mehr Unordnung her. Meine Güte!, war seine erste Reaktion. So feste bin ich
doch gar nicht dran gestoßen.
Er legte die Bücher beiseite und wollte das dunkel gebeizte Brett wieder zurückstellen auf die dafür vorgesehenen Holzleisten. Ihm fiel auf, dass eine der Stützleisten sich gelöst hatte. Sie war nur noch an dem der 18
Vitrinenrückwand zugewandten Ende mit dem Seitenteil notdürftig verschraubt. Bereits die kleinste Erschütterung hätte sie gelöst. Und noch etwas erregte plötzlich die Aufmerksamkeit des Vikars. Es war im Halbdunkel des Raumes nicht eindeutig zu erkennen. Doch es sah so aus, als hätte sich in der rückwärtigen Wand des Vitrinenschrankes ein Brett gelockert. Eines allerdings, das an sich gar nicht hierhin gehörte. Die hintere Seite des Möbels war aus einem Stück gezimmert. Aufgeregt eilte Mortimer Sligh zum Lichtschalter. Die aufflammende Helligkeit vertrieb einen Großteil der Schatten im Innern der Vitrine. Hab ich's mir doch gedacht, nickte er triumphierend. Jemand hatte die Holzwand aufgesägt und das ausgeschnittene Teilstück später wieder in die entstandene Öffnung gepresst. Das konnte noch nicht lange zurückliegen, denn gestern noch hatte er ein rechtswissenschaftliches Nachschlagewerk aus der Vitrine hervorgeholt und es war ihm nichts aufgefallen. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Sollte etwa Pastor McIntire...? Gut, die Frage war nicht von der Hand zu weisen. Sein eigentümliches Verhalten mochte alle möglichen Formen unerklärlichen Handelns hervorbringen. Trotzdem musste es eine halbwegs plausible Erklärung geben. Vorsichtig räumte Mortimer Sligh die Vitrine leer, bis er das eingesetzte Brett problemlos entfernen konnte. Holzstaub biss in den Augen des hageren Mannes, dessen Alter schwer zu schätzen war und sich irgendwo zwischen vierzig und fünfzig Jahren einpendeln musste. Er hatte schon von Anfang an mit dem Pfarrer zusammengearbeitet, war praktisch als Relikt von dessen Vorgänger in die Dienste McIntires getreten. Bisher hatte stets ein angenehmes Dienstverhältnis geherrscht. Die unverblümte irische Art des Pastors hatte Mortimer Sligh nur anfänglich als gewöhnungsbedürftig empfunden. Schon bald war sie ihm 19
äußerst sympathisch und sehr menschlich erschienen. Und das war es doch, was die Kirche vermitteln sollte: Menschlichkeit. Sligh rieb sich den Staub aus den Augen, zwinkerte einige Male und verengte seine Lider zu schmalen Sehschlitzen, um zu erkennen, was sich hinter dem losen Brett befand. Guck mal einer an, schmunzelte er innerlich. Eine Reihe bauchiger Gefäße wurde bei genauem Hinsehen sichtbar. Sie waren höchstens sieben bis acht Zoll hoch. Verschlossen wurden sie von einem Deckel, in dessen Mitte ein Griff angebracht war, der wie ein geflochtener, kugelförmiger Knoten wirkte. Den Vikar befiel nun doch eine eigenartige Unruhe. Waren das nicht die Behältnisse, die er erst am Nachmittag gekauft hatte? Auf Geheiß des Pastors. Er hatte ihn zu einer Adresse geschickt, von der Sligh in seinem ganzen Leben noch nichts gehört hatte, zu einem Geschäft, von dem der Vikar niemals angenommen hätte, dass es etwas Vergleichbares überhaupt in London geben konnte. Ein eigentümliches Antiquitätengeschäft mit einem noch eigentümlicheren Inhaber. Sehr schweigsam, doch mit wachem Blick und einem schwer deutbaren Lächeln. Verstört holte der dürre Mann eines der Gefäße aus der Mauernische hinter dem Schrank. - Und er erschrak! Als er die gedrungenen Flakons erstanden hatte, da waren sie leicht milchig, aus grün gefärbtem Glas gewesen. Nun waren sie schwarz. Ihr matter Glanz war verflogen. Sie wirkten stumpf und hinter dieser beinahe unangenehm anzuschauenden Fassade, schien sich etwas zu bewegen, das noch dunkler war als die Farbe des Gefäßes. Und was waren das für Zeichen? Mortimer Sligh ertastete ein Band erhabener, schwarzer Schriftsymbole, die sich an der Stelle seiner größten Ausdehnung um den flaschenähnlichen Gegenstand zogen. Zu sehen waren sie nur, wenn das Licht die von innen nach außen gerichteten Prägungen reflektierte. Die Augenbrauen von Vikar Mortimer Sligh zogen sich leicht zusammen. Schließlich schüttelte er verständnislos den 20
Kopf. Mit dieser Aufschrift - sofern es sich überhaupt um eine solche handelte - konnte er nichts anfangen. Sie ließ sich einfach keiner ihm bekannten Sprache zuordnen. Sonderbar beunruhigt stellte er das Gefäß zu den anderen zurück. Vielleicht sollte er seiner Entdeckung keine allzu große Bedeutung beimessen. Lediglich eine Marotte des Pastors. Sonst nichts. Als er das Brett wieder zurück in das Loch der Rückwand schieben wollte, spürte Sligh den kalten Schauer, der ihm über den Rücken rann. Die Haut in seinem Nacken schien sich zusammenzuziehen; die Härchen stellten sich auf. Hinzu kam im selben Moment dieser Stich in der Magengegend. Auf seinen Handflächen bildete sich ein dünner Schweißfilm. Ruckartig fuhr der Vikar herum. »Jesus! Maria!«, stieß er hervor und sein Herz wurde zu einem unkontrolliert wummernden Klumpen in seiner Brust. »Sie... haben mich zu Tode erschreckt.« Mortimer Sligh blickte Pastor McIntire direkt ins Gesicht. In dieses leblose, von scheinbar abgestorbenen Hautfalten bedeckte Gesicht. Es blieb ausdruckslos, selbst als der hagere Kirchendiener seine Fassung wiedergewann und von neuem ansetzte. »Ich benötigte ein paar Überweisungsformulare. Dabei habe ich...« Er deutete verstohlen hinter sich. »... das hier gefunden.« McIntire blieb weiterhin stumm. Und reglos. Keine Geste, kein noch so unbedeutendes Mienenspiel ließ erkennen, wie er die Äußerung seines Untergebenen bewertete. Absonderliche Schatten nisteten in den Vertiefungen seines Antlitzes, verdunkelten die ohnehin schon gespenstische Physiognomie. Doch das schrecklichste - und Mortimer Sligh fragte sich verwundert, warum ihm dieser Umstand erst jetzt, erst so spät, auffiel - in diesem Zerrbild eines menschlichen Gesichts waren die Augen! Himmel nein!, schrieen seine Gedanken. Das ist nicht die
Wirklichkeit...!
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Entsetzt wollte der Vikar einen Schritt zurück machen, doch der wuchtige Vitrinenschrank stoppte ihn in der Bewegung. Das waren nicht die Augen eines Menschen! Nicht die eines irdischen Lebewesens! Sligh spürte mit jeder Faser seines Körpers, wie sein Gegenüber ihn systematisch sondierte. Die Augäpfel des Pastors hatten eine eitriggelbe Farbe angenommen. Die blauen und roten Äderchen bildeten einen Unwohlsein erregenden Kontrast. Iris und Pupille waren tiefschwarz und nicht mehr voneinander zu unterscheiden, wirkten dabei aber noch deutlich größer, als bei einem normalen Menschen. Und genau diese beklemmende Fremdartigkeit war es, die Vikar Mortimer Sligh den Sauerstoff aus den Lungen presste. »Pastor!«, stieß er mühsam hervor. »Was ist mit Ihnen geschehen...? Sie... Sie brauchen ärztliche Hilfe...« McIntire beobachtete. Schweigend. Reglos. Emotionslos. Der Vikar senkte den Blick, um nicht in diese grauenvollen Augen sehen zu müssen. Irgendwo entstand ein glucksender Laut. Mortimer Slighs Finger krampften sich in der Holzauflage des Vitrinenschranks fest. Er hielt den Kopf gesenkt und schloss die Augen, um die Richtung, aus der die Geräusche kamen, besser bestimmen zu können.
Hinter mir! Es ist hinter mir!
Jetzt machte plötzlich auch McIntire einen Schritt auf Sligh zu, zwängte ihn zwischen sich und dem Möbelstück ein. Dem Vikar wollten die Sinne schwinden. Er konnte nichts tun. Nur abwarten. Auf eine physische Konfrontation war er nicht vorbereitet. »Bitte, ich... lassen Sie mich gehen«, wimmerte er. Der kalte Atem des Pastors kroch über Mortimer Slighs Gesichtshaut. McIntire griff hinter den Vikar in die 22
Wandmulde, holte einen der dickbauchigen Flakons hervor und begann mit präzisen Bewegungen, den Deckel abzuschrauben. »Oh Gott!«, keuchte Sligh. »Was... was haben Sie vor?!« Die Öffnung näherte sich seinem Gesicht. Es war wie ein grausamer Zwang: der Vikar musste einfach hineinsehen. Er musste es! Etwas bewegte sich. Langsam, ja, träge. Als müsse dieses Etwas einen Widerstand überwinden. Vielleicht die Reibungskräfte seines eigenen Körpers. Mortimer Sligh riss seinen Blick los von dem absolut befremdenden Ding... ... und wurde erneut eingefangen von den entsetzlichen Augen des Pastors! Es war der letzte Eindruck, den sein Gedächtnis speicherte. Dann nahm etwas unbeschreiblich Fremdes den erstarrten Körper von Vikar Mortimer Sligh in Besitz! * »Spürst du es auch...?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage und es dauerte einige Sekunden, bevor Richard auf Ravenmoors Bemerkung reagierte. »Ja, schon. Aber ich kann es nicht einordnen.« »Dass du es wahrnimmst, reicht vollkommen aus.« Der Junge besitzt die notwendigen Instinkte. Philip Ravenmoor sagte es sich wie zur Bestätigung seiner anfänglichen Einschätzung. Er kann initiiert werden. Sie erreichten jene Stelle, an der sich die dimensionale Winkelung befunden hatte, um den Zugang zur Siegelkammer zu verstecken. Jetzt war sie verschwunden und überall lagen Bruchstücke des Mauerwerks herum. Doch es sah bedeutend schlimmer aus, als es war. Die Detonation, die Ravenmoor hervorgerufen hatte, um das entartete Kammerbewusstsein 23
zurückzuschlagen, hatte keine tragenden Teile beschädigt oder die Kernsubstanz des Gemäuers angegriffen. Seine Attacke hatte auf transzendentaler Ebene wirken sollen. Alle weiteren Auswirkungen waren lediglich unangenehme, jedoch unvermeidliche Rückkopplungen. »Wir sind nicht allein«, flüsterte Richard Jordan und stellte sich neben Philip. Er reckte den Hals vor und kniff die Augen zusammen, so, als könne er dadurch mehr von jenem sehen, was sich den Blicken eines Normalsterblichen entzog und nur mit Sinnen wahrzunehmen war, von denen die meisten glaubten, dass es sie gar nicht gab. Ravenmoor zuckte leicht zusammen. Seine Gedanken waren abgeschweift. Er hatte sich ablenken lassen. Nur Richard hatte es gewittert: das Unheil, das sich plötzlich in diesem einzigen Wort einer absolut fremdartigen Sprache manifestierte und dessen fragile Splitter sich in den Abgründen ihrer beider Seelen zu einer beklemmend vertrauten Begrifflichkeit zusammensetzten: STERBEN! Für eine wie immer geartete Reaktion war es lange zu spät. Richard Jordan begriff es Sekundenbruchteile nach Ravenmoor. Doch es spielte keine Rolle mehr. Eine unsichtbare Ramme schleuderte Ravenmoor mit verheerender Gewalt zurück gegen die steinerne Wand. Überdeutlich war das Brechen von Knochen zu hören. Schlaff fiel der Körper in sich zusammen. »Philip! Neeiiiin!« Vor Richard platzte der betonierte Fußboden auf. Scharfkantige Steinfragmente spritzten ihm wie Hochgeschwindigkeitsprojektile entgegen, trafen ihn an Kopf und Körper, so dass der Siebenundzwanzigjährige schreiend zusammenbrach.
Oh Gott! So darf es nicht enden!
Der Student fühlte die warme Flüssigkeit an seiner Stirn herab rinnen. An verschiedenen Stellen seines Oberkörpers färbte sich der Stoff seiner Kleidung rot. Dicker Staub lag in
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der Luft, verhinderte, dass seine Lungen ausreichend Sauerstoff zu den Muskeln transportierten. Jordan hustete gequält, spürte entsetzt, dass die Kraft aus seinen Armen wich, er sich kaum mehr voran ziehen konnte, um der Gefahr zu entkommen. Sand und feiner Mörtel ließen seine Augen tränen.
Weiter! Ich muss weiter kriechen!
Über Richard zischte ein Luftzug hinweg. Benommen wälzte er sich auf den Rücken. In seinen Augäpfeln spürte er heftige Stiche; von seinen Lidern perlten feine Blutstropfen. Doch was er sah, war erschreckend klar. »Vater! Du bist es wieder!«, keuchte der junge Mann und seine Stimme überschlug sich. »Willst du mich nun endgültig vernichten?« Die Konturen eines Schädels mit den Zügen von Edward Jordan schälten sich aus den wirbelnden Schmutzpartikeln hervor. Sadistischer Triumph und grenzenlose Überlegenheit spiegelten sich darin wider. Dann aber legte sich ein Schatten über das Gesicht und alle Bösartigkeit war daraus gewichen. Heftiges Wabern ließ das vertraute Antlitz zerfließen, als befänden sich zwei Kontrahenten im Kampf, ohne dass der eine dem anderen einen entscheidenden Vorteil abringen konnte. Vater, lass nicht zu, dass er mich tötet!, flehten Richards ersterbende Gedanken. Gemeint war Amalnacron, der, wie auch immer, die Fäden zog in diesem grausigen Spiel. Edward Jordans gespenstisches Abbild wurde förmlich zerrissen von den gegensätzlichsten Emotionen. Einmal schien er es selbst zu sein, im nächsten Moment schon hatte eine abgrundtief böse Macht die Kontrolle über ihn erlangt. Hilflos war Richard den übergeordneten Mächten ausgeliefert. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte auf den reglosen Leib seines Mentors Philip Ravenmoor.
Du darfst nicht tot sein! Sollen wir denn alle umsonst gelitten haben...? 25
Verzweifelt schloss Richard Jordan die Augen. Er hatte keine Kraft mehr. Sein Atem rasselte. Die ins Fleisch gerissenen Wunden brannten, schickten unaufhörlich Schmerzimpulse an sein Hirn. Er konnte nur noch aufgeben. Sich seinem Schicksal beugen.
Bitte, lass es schnell gehen... *
Es wurde früh dunkel an diesem Oktobertag. Bereits um siebzehn Uhr flammte die Straßenbeleuchtung auf. Erst jetzt bemerkte Dennis Foucheaux, wie schnell die Zeit verronnen war, seit er die Wohnung seines Vaters - und dieser Schlampe! - verlassen hatte. Na, sie würden ihn kaum vermissen. Selbst wenn er über Nacht nicht nach Hause kam. Der Siebenjährige war ziellos durch die Stadt geschlendert, hatte oftmals an den Schaufenstern der Spielzeugläden gestanden und wehmütig die schönen Dinge betrachtet, die ihm niemand je kaufen würde. Natürlich konnte er in der Schule nie mitreden, wenn seine Klassenkameraden sich über die neusten Garnes unterhielten. Oder ihre Bikes vorführten. Oder sich zum Rollerskaten treffen wollten. Dennis war daher immer sehr ruhig gewesen. Und das fanden die anderen Kinder seltsam und mieden ihn. Anfangs jedenfalls. Bis sie herausfanden, dass man ihn damit prima aufziehen konnte. Mit dem, was er nicht hatte. Mit seiner Kleidung, auf die nicht die angesagten Markenlabels gestickt waren. Mit seiner Leistung in der Schule, wenn die Lehrerin ihn ständig wegen fehlender Hausaufgaben ermahnte, weil er zu Hause einfach keine Ruhe und Unterstützung fand. Mit seiner Unkonzentriertheit, weil er in der Nacht kaum schlafen konnte. Mit seiner Mutter, die ihn noch nie von der Schule abgeholt hatte. Irgendwann war der seelische Druck in Dennis übermächtig geworden und er hatte einfach zugeschlagen. Blindwütig. Voller Hass. Er wollte nur etwas von dem Schmerz 26
zurückgeben, den man ihm zugefügt hatte... bis drei Lehrer ihn gewaltsam von seinem Opfer trennten, das mit gebrochener Nase und aufgeplatzten Lippen am Boden lag. Dennis - the menace! So nannten sie ihn von da an, in Anlehnung an die gleichnamige Comic-Gestalt. Mit Komik allerdings hatte diese Bezeichnung wenig gemein. Sie sollte die Verachtung seiner Mitschüler ausdrücken. Und das war ihnen gelungen. Die schriftliche Benachrichtigung des Rektors an Dennis' Vormund über den Vorfall hatte dem Jungen eine weitere, heftige Tracht Prügel eingebracht. Sie war um so drastischer ausgefallen, da sein Vater sich selbstverständlich vor seiner Geliebten beweisen musste. Das alles lag bereits viele Wochen zurück. Damals hatte der Erstklässler noch vor physischer Qual geheult. Heute spürte er die Bitterkeit über seine tragische Existenz aus dem tiefsten Innern und das trieb ihm die Tränen in die Augen. Das alles war ihm mehrfach an diesem trüben Nachmittag durch den Kopf gegangen. Gedankenverloren war er daraufhin in die U-Bahn gestiegen. Er hatte keinen Penny dabei. Aber das war Dennis in diesem Moment egal. Sollten sie ihn doch schnappen und zurück zu seinem Vater bringen. Mehr als schlagen konnte er ihn nicht. Vielleicht töten... Dann wäre wenigstens alles vorbei. Niemand kontrollierte ihn. An einer Haltestelle, an der besonders viele Leute ausstiegen, schloss sich Dennis Foucheaux ihnen an. Irgendwann aber hatte sich die Menge zerstreut und er war übrig geblieben. Wo befand er sich? Bis hier war er noch nie gefahren. Alles war dem Jungen fremd. Es nahm auch kein Mensch von ihm Notiz. Und es wurde immer dunkler. Angst keimte in ihm auf. Wo sollte er denn jetzt hin?
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Anstatt zur U-Bahn-Station zurückzulaufen und den nächsten Zug zu nehmen, lief der Siebenjährige weiter voraus. Irgendwohin, wo Licht war. Und Menschen. Der Junge fühlte sich verloren. Nicht einer, der auf ihn zukam und sagte: »Na, mein Kleiner. Hast du dich verlaufen?« Wie dankbar wäre er gewesen, auch wenn er es unter normalen Umständen nie zugegeben hätte. Bereits in seinem Alter war das Männlichkeitsideal deutlich ausgeprägt... Darauf pfiff er jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Trotzdem beachtete ihn niemand! Und das machte ihm weit mehr Angst als die Schläge, die ihn zu Hause erwarteten. Er drehte sich im Kreis, suchte einen Unterschlupf, in dem er seine Lage überdenken konnte, wenn ihm schon keiner der Erwachsenen half. Und dann sah er es. Da war dieses angenehm warme Licht in diesem kleinen Haus. Es wirkte wie ein knisterndes Kaminfeuer in einer frostigen Winternacht. Es lockte ihn und der Junge konnte einfach nicht widerstehen. Verdutzt bemerkte er, dass sehr viele Menschen seine Richtung eingeschlagen hatten. War es Zufall oder wurden sie ebenso von dieser fast schon magischen Aura angezogen wie er? Dann erst sah Dennis Foucheaux, dass hinter dem kleinen Haus ein gewaltiges Gebäude in den sternklaren Himmel ragte. Eine Kirche. Nein. Er wollte nicht in die Kirche. Er wollte in das kleine Haus. Es erschien ihm freundlicher. Überschaubarer. Friedvoller. Und - das Kind horchte in sich hinein - war das nicht genau das, was er immer schon gewollt hatte, seit seine Mutter ihn damals im Stich und bei diesem hoffnungslosen Trinker, der sich sein Vater nannte, gelassen hatte: Frieden? Dennis Foucheaux trippelte mit klopfendem Herzen auf das kleine Haus zu, das irgendwie zu der Kirche zu gehören schien. Er konnte es kaum erwarten, die Türklingel zu betätigen, um endlich einzutreten. In einem Haus mit solcher
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Ausstrahlung konnten nur gute Menschen wohnen. Sie würden ihm helfen. Ihn beschützen. Da war er sich ganz sicher. Seine Umgebung nahm Dennis überhaupt nicht mehr wahr. Er sah nur noch diese Haustür, die näher und näher kam. Noch drei Treppenstufen und sein Daumen presste sich auf den quadratischen Klingelknopf. Hier würde man ihn beachten, ihm seine Furcht nehmen. Nie wieder brauchte er ein Außenseiter zu sein, so, wie er es momentan in der Schule war. Sie würden ihn respektieren. Jeder einzelne! Auf mysteriöse Art und Weise wusste Dennis das einfach. Dann wurde die Tür geöffnet und ein hagerer Mann erschien darin. Der Junge erschrak, als er in rabenschwarze Augäpfel blickte. Der Eindruck aber währte nur wenige Herzschläge lang. Die Züge des Hageren verzogen sich zu einem eigentümlichen, viel sagenden Lächeln. »Komm herein, mein kleiner Freund.« Die Worte hatten einen angenehmen, beruhigenden Klang. Fast so, als hätte der Sprecher ihn bereits erwartet. »Bei mir bekommst du all das, was du dir schon lange gewünscht hast.« * Vorbehaltlos trat Dennis Foucheaux ein. Auf schwer zu beschreibende Weise vermittelte ihm der dürre Fremde ein Gefühl der Vertrautheit. Der Erstklässler befand sich unter Freunden, die nur sein Bestes wollten. Seine anfängliche Furcht vor diesen Augen mit den übergroßen schwarzen Pupillen war gewichen. Eine fürsorgliche Hand streichelte seinen Kopf und erhöhte das Wohlbefinden des Jungen.
Hätte Papa das nur jemals getan...
Das Brennen in seinen Augen wurde zu dicken, salzigen Tropfen. 29
»Du brauchst nicht zu weinen... nie wieder, Dennis...«
Er... er kennt meinen Namen...
»Ich weiß noch sehr viel mehr über dich. Ich kenne deine Probleme, weiß, was dich traurig macht. Aber du musst nie wieder traurig sein, wenn du es nicht möchtest, Dennis.« Wie kannst du das machen?, überlegte der Junge, als brauchte er eine Bestätigung dafür, dass der große Mann seine Gedanken lesen konnte. »Nie wieder traurig sein...« »Wer bist du...?« »Deine Antwort, Dennis. - Willst du das?« »Bist du ein Heiliger?« Der Hagere lächelte nur mildtätig. »Deine Antwort...« Der Siebenjährige machte große Augen. Selbst ihm war klar, dass er eine Entscheidung fällen musste. Jetzt. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und ergriff die knochige Hand des Mannes. Seine feuchten Kinderaugen blickten ihn lange an. Und schließlich erwiderte er das Lächeln... * »Hast du nicht gehört? Es hat geklopft!« »Dann geh' und mach' selber auf!«, polterte der stark untersetzte Mann in der aufgeknöpften, fleckigen Jogger-Jacke zurück und nahm die Bierdose von seinen Lippen. »Ich will jetzt fernsehen...« »Und ich lackier' mir g'rad die Nägel, verdammt!« Niemand rührte sich. Dann klopfte es wieder. Diesmal etwas länger und etwas lauter. »Sitzt du Schmerbauch etwa immer noch mit deinem Fettarsch auf dem Sofa und säufst?!« Die Stimme des Mädchens keifte schrill durch die Wohnräume. Ohne weiteres war sie auch deutlich im Treppenhaus zu hören. 30
»Leck mich doch am Arsch, Lois!« Der Mann knallte die Bierdose auf den Wohnzimmertisch, raffte sich auf - wobei er hörbar die Luft durch den Mund ausstieß, wie um seine Wut zu unterstreichen - und ging zur Tür. Mit einer lässigen Bewegung des kleinen Fingers schob er den in morschem Holz verschraubten Metallriegel zurück. Welchem Zweck er dienen sollte, blieb fraglich. Eine Einbruchsicherung zumindest stellte er nicht dar. Knarrend wurde die Tür spaltbreit aufgezogen. »Mister Foucheaux...?«, fragte eine elegant gekleidete Frau. »Ja, verflucht! Wer sind Sie?«, blaffte der Angesprochene. »Was wollen Sie?« Die Frau hatte schulterlanges Haar, das im Nacken zusammengebunden war. Ihr wacher Blick hinter den randlosen Brillengläsern musterte Jean Foucheaux einige Momente kritisch, als müsse sie erst abwägen, ob sich ein Gespräch wirklich lohne. »Mein Name ist Mrs. Braxton. Ich bin Dennis' Klassenlehrerin...« »Na und? Hat er wieder was ausgefressen?«, unterbrach der Mann, dessen Gesicht nun eine leichte Rotfärbung annahm, die Pädagogin. »Darf ich vielleicht hereinkommen? Dann können wir in aller Ruhe...« »Wer ist das?!«, krakeelte die jugendliche Geliebte Foucheaux' aus dem Hintergrund. »Jemand von der Schule. Es ist wegen Dennis.« Jennifer Braxton glaubte, einen zerbissenen Fluch zu hören, etwas, das wie ›Drecksbalg‹ klang. Betroffen senkte sie den Blick. Aber nur für eine Sekunde. »Darf ich jetzt hereinkommen, Mister Foucheaux?«, wiederholte sie ihre Frage, allerdings bedeutend energischer. »Warum nicht«, gab er brummelnd nach und zog die Tür vollständig nach innen auf. Mrs. Braxton folgte ihm ins
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Wohnzimmer. Da sie nicht annahm, einen Platz angeboten zu bekommen, setzte sie sich in den nächst besten Sessel. In dem ganzen Raum herrschte ein aufdringlicher Geruch. Es waren nicht so sehr Nikotin und Alkohol, die die schlechte Luft hervorriefen, sondern vielmehr Schweiß und andere penetrante Körperausdünstungen. Jean Foucheaux setzte sein Bier an den Mund und nahm mehrere große Schlucke. Als er die Dose bis zur Neige geleert hatte, drückte er sie in der Mitte zusammen und warf sie auf den Tisch. Dennis' Lehrerin hatte eingehend Zeit, den Vater ihres Schützlings zu beobachten. Insgesamt wirkte er verwahrlost. Das lag nicht nur an seiner unsauberen Wäsche. Es war seine gesamte Erscheinung. Das unrasierte Gesicht mit den unreinen Poren. Die fettigen Haare und schlechten Zähne. Dieser abstoßende Bierbauch. Dazu kam die Schamlosigkeit, mit der er sich präsentierte: ein speckiger, viel zu knapper Slip, der bei einer unbedachten Bewegung Dinge entblößen mochte, die Jennifer Braxton keinesfalls zu sehen beabsichtigte. An der Innenseite des linken Oberschenkels nistete ein Ekzem, das sicher schon vor Jahren hätte behandelt werden müssen. Du liebe Güte, dachte die Vierzigjährige. Ich sollte mich
wirklich nicht länger als eben nötig hier aufhalten! Und so was ist Dennis' gesetzlicher Vormund.
»Sie wollten mit uns reden?« Jennifer Braxton schrak aus ihren Gedanken auf. Doch sofort fing sie sich wieder und drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Aus dem Nebenraum tappte ein blutjunges Mädchen heran, schmiss sich neben Foucheaux in die Couchkissen und verschränkte die Beine auf dem Tisch. Ihre nackten Füße waren höchstens eine Handbreit von Mrs. Braxtons gefalteten Händen entfernt. Zwischen den Zehen schlangen sich gezwirbelte Kosmetiktücher.
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»Ihre... Tochter?«, erkundigte sich die Lehrerin leicht irritiert, auch, um die unangenehme Stille zu brechen und gleichzeitig hätte sie sich fast lieber auf die Zunge gebissen. Das junge Ding lachte schmutzig und griff mit der rechten Hand ungeniert an Foucheaux' Genitalien. »Eher nicht«, sagte sie laut und grinste ihren Lover viel sagend an. »Holst du mir noch'n Bier, Schatz?« Jean Foucheaux war der Meinung, seinen kindlichen Freudenspender bei guter Laune erwischt zu haben. Sein Gesicht verdunkelte sich jedoch, als Lois mit vorwurfsvollem Blick auf ihre frisch lackierten Zehennägel wies. Missmutig stand der korpulente Mann auf und verschwand in der Küche. Was für ein widerwärtiges Flittchen!, dachte die Pädagogin und spürte überdeutlich, obwohl sie gar nicht hinsah, dass sie von dem Teenager gnadenlos fixiert wurde.
Mit dir nehme ich es allemal auf!
Jennifer Braxton wandte ihr das Gesicht zu und lächelte gezwungen. Dabei spürte sie, dass ihre Handflächen feucht wurden. Ihr guter Vorsatz drohte sich in Wohlgefallen aufzulösen. Diese Göre war dreimal chemisch gereinigt. Darauf war die Lehrerin nicht vorbereitet gewesen. Wenn sie jetzt nicht die Initiative ergriff, würde sie hoffnungslos überrannt werden und ihr Besuch wäre vollkommen sinnlos gewesen. »Mir ist aufgefallen, dass Dennis ein sehr sensibler Junge ist«, begann Mrs. Braxton vorsichtig. »Eine Heulsuse«, meldete sich Jean Foucheaux zu Wort, der geräuschvoll den Verschluss einer neuen Bierdose abzog, einen kräftigen Schluck tat und neben seinem nymphomanen Schätzchen in die Polster sank. »Das wollte ich damit nicht sagen«, widersprach die Pädagogin. »Es ist nur so, dass...« »Verweichlichtes Muttersöhnchen«, prustete Lois los und kicherte stupide. »Gib mal 'nen Schluck Bier.« »Ich sagte bereits, dass ich es nicht so...« 33
»Heulsuse!«, wiederholte Jean Foucheaux, wobei er sich fast einen Knoten in die Zunge machte. Allem Anschein nach hatte er bereits eine Menge Alkohol intus. »Halten Sie jetzt endlich Ihren Mund!«, schrie Jennifer Braxton und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe langsam genug von Ihrer gottverdammten Gleichgültigkeit. Mir geht es um das Wohl Ihres Kindes, Mister Foucheaux! Und bei dem, was ich in den wenigen Minuten meiner Anwesenheit in Ihrem Heim miterlebt habe, wundert es mich überhaupt nicht, dass Dennis' Leistungen derart schlecht sind. Was sind Sie nur für ein Vater?!« Es war an sich keine Frage, sondern eher ein ernst gemeinter Vorwurf. »Von Ihnen ganz zu schweigen!« Jennifer Braxton erntete einen vernichtenden Blick aus den Augen von Foucheaux' Lolita, die in ihrem pinkfarbenen String und dem knapp sitzenden Top eher wie eine Straßennutte, denn wie eine Mutter wirkte. Wie es aussah machte ihr diese Einschätzung aber nicht das geringste aus. Sie warf der Lehrerin einen weiteren abwertenden Blick zu, schlang ihre Arme um den Hals ihres Liebhabers - wobei sie jedoch peinlichst genau darauf achtete, dass ihre noch halbfeuchten Nägel mit nichts in Berührung kamen - und saugte ihre Lippen an den seinen fest. Jean Foucheaux stieß sie unbeholfen von sich und stierte mit glasigem Blick in verständnislose Augen. Trotz seiner Angetrunkenheit mobilisierte sich irgendwo in seinem Innern ein Funken Verstand. Doch die verhaltene Flamme seiner Ratio benötigte noch den entscheidenden Luftzug, um zum Steppenbrand zu werden. »Bitte reden Sie«, stammelte der Mann. »Was ist mit meinem Jungen?« »Deinem Bastard!«, schnauzte die Neunzehnjährige kaltherzig. »Sei ruhig, dämliche Kuh! Er ist immer noch mein Sohn!« Jean Foucheaux schien sich durchzusetzen. Wenigstens dieses eine Mal. Jennifer Braxton mutmaßte jedoch, dass es sich einzig und allein um eine vom Alkoholkonsum verstärkte 34
sentimentale Anwandlung hielt. In Wahrheit war diesem heruntergekommenen Mann das eigene Kind vollkommen gleichgültig. Die besorgte Lehrerin würde sich auch nicht die Mühe machen, die momentane Situation mit diesen... Menschen! auszudiskutieren. Sie selbst hatte als studierte Pädagogin versagt. Hatte es sich zu einfach gemacht in der Beurteilung ihrer Schüler. Insbesondere in der von Dennis Foucheaux. War ihr der Feierabend wirklich wichtiger gewesen, als das Wohl ihrer Schüler...? Wenn ja, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt, um dieses offensichtliche Fehlverhalten zu korrigieren. Alles in der Frau schrie danach, sich auf Dennis' Seite zu schlagen und diesem desinteressierten Pärchen das Sorgerecht entziehen zu lassen. Unglücklicherweise würde sie ihnen damit höchstwahrscheinlich noch einen Gefallen tun. »Ich muss das Jugendamt benachrichtigen«, hielt Mrs. Braxton sich kurz. »Ich kann nicht verantworten, dass Dennis weiterhin in Ihrer Obhut bleibt!« »Dann hol dir doch den Penner!«, kläffte Lois wie eine läufige Hündin. »Nimm ihn mit! Wir sind nicht scharf auf das Dreckstück!« »Halt die Schnauze!«, brüllte Jean. Sein Gesicht wurde puterrot. »Das ist mein Sohn...!« »Sie hatten Ihre Chance«, resümierte Jennifer Braxton. »Ich habe den Eindruck - und es tut mir in der Seele weh, wenn ich das sage -, dass beiden Parteien mehr damit gedient ist, wenn der Staat sich weiterhin um den Jungen kümmert.« »Steck' ihn dir in den Arsch!« Lois war unverhofft aufgesprungen, drehte der Lehrerin ihre Kehrseite zu und riss sich den String bis hinunter in die Kniekehlen. »Willst du den lecken, ja? Komm, bück dich und leck' meinen Arsch!« »Schatz, setz dich hin...«, versuchte Jean Foucheaux sie zu beruhigen. Merkwürdigerweise schien er einen lichten Moment zu haben.
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»Ja, du Säufer! Halt ruhig zu der Paukersau! Ich kann's mir auch selber besorgen!« Jennifer Braxton sprang aus dem Sessel auf. Sie hatte genug gehört. Und abgesehen davon... - sie konnte auch nicht mehr ertragen. »Lassen Sie mich raus!«, keuchte die Frau. »Sie sind ja alle nicht normal!« Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet, als Jennifer Braxton die Tür hinter sich ins Schloss rammte. Das widerliche Lachen des Teenagers hallte noch lange in ihrem Kopf nach. Wahrscheinlich würde sie es niemals vergessen. Der arme Junge! Die Gedanken pochten wie ein heftiger Schmerz in ihrem Innern. Wie sehr habe ich ihm Unrecht
getan! Wie sehr habe ich ihn verletzt!
Die Braxton lehnte sich an die Backsteinwand des Gebäudes. Die Ziegel waren kalt und feucht. Es war schon spät. Erst jetzt wunderte sie sich darüber, dass Dennis nicht zu Hause gewesen war. Um diese Zeit.
Es ist ihnen egal. Das Kind ist ihnen lästig.
Es war eine völlig nüchterne Feststellung. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor zehn. War Dennis zu Hause gewesen und hatte nur geschlafen? Die Fingerkuppen der Lehrerin tasteten über rauen, moosbewachsenen Stein.
Dennis! Es tut mir so leid!
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
So unendlich leid...
Vor Verzweiflung schloss Mrs. Braxton die Augen.
Nie mehr komme ich freiwillig nach Bethnal Green!
Sicher ein guter Vorsatz. Bethnal Green war ein Ort, in dem noch Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Ärmsten der Armen gehaust hatten. Das East End Londons hatte von jeher in starkem Kontrast zum West End existiert. Armut gegenüber Wohlstand. Unrecht gegenüber Recht. Es hatte sich nicht viel verändert. 36
Und die Menschen hingen an ihren Traditionen. Auf dem Land ebenso wie in der Stadt. Jennifer Braxton brauchte eine Atempause. Sie war geschafft. Dieses junge Miststück hatte sie geschafft. Wo waren all die Werte, für die sie sich stets eingesetzt hatte? Wo war all das Positive, das sie den Kindern vermittelt hatte? Nein! Jetzt war Schluss! Es ging nicht immer nur um die Masse. Es ging auch um das Individuum. Um den Einzelnen. Es ging um Dennis! Halb betäubt taumelte Jennifer Braxton die Straße entlang. Sie war wie betrunken, obwohl sie nicht einen Tropfen Alkohol zu sich genommen hatte. Vor ihren Augen schrumpfte die Realität zu wirren Knäuel schneidender Emotionen. Dann sah sie die kleine Gestalt. Ein Kind. »Dennis?«, fragte sie verblüfft, nicht ganz sicher, ob er es auch war. »Wo kommst du her? Du hättest längst zu Hause...« Sie brach mitten im Satz ab. Irgend etwas erschien der Lehrerin seltsam. Der Junge bewegte sich nicht, stand einfach da, als hätte ihn die Nacht an genau dieser Stelle ausgespieen. Die Straßenlaterne hinter ihm war defekt und flackerte immer nur über wenige Momente flüchtig auf, so dass das Kind größtenteils im Dunkeln stand, sein Gesicht mehr zu ahnen als wirklich zu erkennen war. Jennifer Braxtons Sorge war in jenen Augenblicken größer als ihr Unverständnis für die Situation. Sie schritt dem Kleinen entgegen, ging vor ihm in die Knie und legte beide Hände schützend auf seinen Kopf. Gerade wollte sie erneut zu einer Frage ansetzen... ... als sie zutiefst erschrak! Ihre Hände zuckten von seinem Gesicht zurück, das sich nun nicht mehr in den Schatten verstecken konnte. Es lag ein Ausdruck in den Zügen des Siebenjährigen, den die Lehrerin 37
eher bei einem Greis erwartet hätte. In ihnen spiegelten sich Erlebnisse wider, die der Junge einfach nicht durchlebt haben konnte, die ihn jedoch umgekehrt für immer geprägt zu haben schienen. Und dann diese Augen...! Diese unbeschreiblich schrecklichen Augen! »Was ist... passiert...?« »Es geht mir gut, Mrs. Braxton.« War das Dennis' Stimme, die aus dem Mund mit den blutleeren Lippen kam? Sie klang so... anders! Irgendwie war es auch nicht die Stimme eines Kindes. »Sie brauchen sich nicht zu sorgen.« Dennis Foucheaux warf seiner Lehrerin im Vorbeigehen einen eigenartigen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste. Wie gebannt starrte sie nur auf seine Augäpfel, in denen kaum mehr etwas Weiß zurückgeblieben war. Eiskalt lief es ihr über den Rücken. Unbehaglich blickte sie Dennis nach. »Ich gehe jetzt nach oben«, sagte der Junge, ohne sich dabei umzudrehen. * Die plötzliche Stille hatte etwas in höchstem Maße Gespenstisches. Das Rieseln von Mörtel aus einigen Fugen im mitgenommenen Mauerwerk wirkte daher schon fast störend laut. Rasch legten sich jetzt auch die Dunstwolken aus Staub und zerpulvertem Gestein und gaben den Blick frei auf die Spuren neuerlicher Zerstörung. Und den reglosen Körper von Philip Ravenmoor. Philip! Oh Gott!, meldete sich Richard Jordans Wahrnehmung wie ein Alarmgeber zurück. Er streifte den Schmerz und die Benommenheit wie ein hinderliches Kleidungsstück ab und kroch auf allen Vieren zu dem Kameraden hinüber. Doch dann versetzte es ihm gleichsam einen Stich in die Eingeweide. Der Student wirbelte herum und spürte den 38
harten Druck der Wand in seinem Rücken. Gehetzt beschrieb sein Blick einen Halbkreis. Er hatte doch tatsächlich für wenige entscheidende Sekunden den dämonischen Angreifer vergessen. Die plötzlich einkehrende Stille, verbunden mit dem rapiden Schwinden der bleiernen Schwäche in seinen Gliedmaßen, hatte den jungen Mann die akute Gefahr aus den Augen verlieren lassen. Jetzt war sein Verstand wieder wach. Und er sah das durchscheinende Wesen, das nur wenige Meter vor ihm schwebte - mit dem Gesicht von Edward Jordan! »Was hast du diesmal vor, Vater?« Richard beschloss, einfach nur cool zu bleiben. Dass er in diesem Moment noch am Leben war zeigte ihm, dass sein nach außen gerichtetes Verhalten daran den geringsten Anteil hatte. Anders herum nämlich hätte er längst tot sein müssen. Eine Antwort auf seine herausfordernde Frage erhielt er nicht. Das Antlitz seines Vaters entsprach einer tönernen Maske, die tausendfach mehr aussagte, als das gesprochene Wort. Oder aber rein gar nichts, wenn man nicht darin zu lesen vermochte. Gleichfalls waren auch alle Anzeichen eines Widerstreits aus diesen Zügen getilgt, die Richard wenigstens eine Ahnung davon hinterlassen hätten, mit wem er es zu tun hatte: dem Höllengeschöpf Amalnacrons oder seinem sich verzweifelt zur Wehr setzenden Vater. Der Siebenundzwanzigjährige war im Begriff, einen Großteil seiner zur Schau getragenen Gelassenheit einzubüßen. Viel zu lange geschah überhaupt nichts. Sie beide starrten einander nur an. Mehrmals sog Richard scharf die Luft ein, wandte kurz den Kopf und sah auf Ravenmoor hinab. Keine Veränderung. Allerdings schien es, dass Denninghams Kurier flach -äußerst flach! - atmete. Richard hoffte inständig, dass er keiner Täuschung erlag. Denn momentan waren ihm die Hände gebunden, konnte er für seinen Mentor nichts tun. Er musste abwarten, was das Ding
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mit dem Gesicht seines hingerichteten Vaters vorhatte. Vor allem herausfinden, unter wessen Kontrolle es stand. Das halbtransparente Gebilde machte eine Armbewegung. Ganz unerwartet, aber nicht überhastet. Aufgeregt folgte Richard der Richtung des ausgestreckten Zeigefingers. Was ist das? Es sieht aus... der Student zog sich ein Stück an der Wand hoch, richtete sich halb aus der Hocke auf und ging leicht gebückt zwei vorsichtige Schritte nach vorne. Etwas... Metallisches. Jordan wollte danach greifen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne.
Was, wenn es eine Falle ist...?
Er sah an dem Pseudo-Körper hoch, sah in das Gesicht, das vor kurzem noch wie versteinert gewesen war.
Scheiße!
Da war es wieder! Das grässliche Wabern, das davon kündete, dass zwei absolut gegensätzliche Wesenheiten um die Vorherrschaft rangen.
Wenn du das bist, Daddy, dann halte noch ein paar Sekunden durch... damit ich DAS tun kann...!
Er warf sich nach vorne, bekam den metallischen Gegenstand zu fassen und stieß sich fast gleichzeitig wieder nach hinten ab, um aus der Reichweite des Schemen zu gelangen. Den Gegenstand riss er mit sich. Keinen Lidschlag zu früh! Edward Jordans Gesicht war eine hassentstellte Fratze. Sein Geistkörper zuckte, als würden ihn elektrische Entladungen durchlaufen. Zum zweiten Mal an diesem Tag erreichten Richard diese Impulse einer schrecklichen, nichtirdischen Sprache. Und ebenfalls zum zweiten Mal dechiffrierte er deren Bedeutung: STERBEN! »Nein! Nein! Nein!«, schrie Richard dem todbringenden Phantom entgegen. »Nicht so! Es darf nicht auf diese Weise enden, Vater! Dafür bin ich schon zu weit gekommen...!«
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War das ein Lachen, das sich in seinem Kopf als grausiges Echo brach? Eine Verhöhnung seiner realitätsfremden, kindischen Äußerung? Übergangslos erfolgte der Angriff! Ein Arm der Bestie schoss vor und noch bevor Richard zur Seite springen konnte, fühlte er den mörderischen Hieb gegen seine linke Körperhälfte, als hätte er versucht, während eines Hundert-Yard-Sprints einen Stahlpfeiler zu rammen. Eine Art telekinetischer Energie musste ihn getroffen haben, so, wie es Philip Ravenmoor vor ein paar Minuten erwischt hatte. Richards linke Seite war völlig taub, wie gelähmt.
Was soll ich jetzt tun? Welche Chance habe ich denn noch?!
Es war ein reiner Reflex, geboren aus einem bisher verschütteten Urinstinkt - vielleicht -, der Richard den fremdartigen, metallisch glänzenden Gegenstand hochreißen ließ, genau in dem Bruchteil einer Sekunde, bevor ihn ein zweiter telekinetischer Schlag getötet hätte. Das kupferfarbene Objekt wurde ihm aus den Händen geprellt. Der Student schrie auf. Aber auch der Schemen! Es war ein lang gezogenes, dumpfes, gutturales Heulen vom Grunde eines unbegreiflichen Schlundes, bei dessen simpler Vorstellung ein normaler Mensch schlichtweg wahnsinnig werden musste.
Es ist verschwunden...
Richard Jordan war unglaublich schnell wieder bei der Sache. Er rieb sich die Handgelenke, hatte, wie es aussah, bei dem energetischen Aufprall keinen sonderlichen Schaden genommen. Auch in seinen zur Hälfte betäubten Körper gelangte das Leben zurück. Allerdings war es, als tauche man einen extrem unterkühlten Arm in heißes Wasser.
Gottverdammt, tut das weh!
Er war gezwungen, ein paar Minuten zu warten, bevor er aufstand. 41
»Ich rufe dir eine Ambulanz, Philip.« Jordan legte den hoch gewachsenen Mann in eine entspanntere Position. »Junge, bitte, bleib am Leben.« Richards linker Arm stand wie ein versteinerter Ableger nahezu unbeweglich von seinem Körper ab. Die rasenden Schmerzen gingen nur sehr langsam zurück. Trotzdem packte er mit der anderen Hand noch den mysteriösen Gegenstand, der mehrere Yards den Kellergang entlang geschlittert war und steckte ihn ein. Er musste zur Ausrüstung der Siegelkammer gehören. Eine Waffe, die ihm - ohne dass er das Wie spezifizieren konnte - vor wenigen Augenblicken noch das Leben gerettet hatte. Unter Schmerzen, doch auch mit neuer Hoffnung, stieg Richard die Stufen zu den Wohnräumen empor. *
Impressionen II
Es ist nicht mehr allein! Das spürt es ganz tief in seiner...
Seele?
Der Begriff sagt ihm nichts. Es hat ihn aufgeschnappt von den Wesen, in deren Gesellschaft es sich nun befindet. Von diesem einen, in den es eingedrungen ist. Der ihn nun beherbergt. Irgendwie ist es genau wie zuvor, als es noch in seiner eigenen Sphäre gefangen war. Und doch ganz anders. Es ist nicht mehr allein! Es braucht nicht auf die seltenen Besuche der Fremden zu warten, um die Nähe von etwas anderem zu fühlen. Etwas anderem als sich selbst. Der neue Fremde hat ihm den Ausgang gezeigt. Den Ausgang aus dieser endlosen Sterilität konformem Nichts', das doch - auf schwer zu artikulierende Weise - wiederum nichts anderes war, als es selbst! Der Sklave hat sich befreit! Stummer Jubel lässt sein Bewusstsein erbeben und es kleidet ihn in Worte und Wortfügungen, die es dem Geist 42
seines Wirtes entnommen hat. Schritt für Schritt lernt es, diesen Worten Empfindungen zuzuordnen, lernt, sich selbst und sein Handeln zu begreifen. Besinnt sich auf das, was es vor unendlich langer Zeit einmal gewesen ist... Rück- oder Fortschritt...? Doch da ist noch mehr. Eine Art graue Zone. Etwas, das es nicht einsehen kann. Schließlich füllt sich aber auch diese Lücke mit einer vertrauten Erinnerung, die ihm all das Positive seiner Existenz kurz und knapp vorhält: DER HASS IST GUT... Gottesfürchtiges Gewürm! Ist es Zorn, der aus ihm spricht? Wesen wie diese sind es gewesen, die ihn gefangen hielten. Das weiß es mit untrüglicher Sicherheit. Warum habt ihr das getan? Es will keine Antwort. Es will nur dem Hass freien Lauf lassen. Es spürt, dass der, der ihm zur Flucht verholten hat, immer in seiner Nähe ist. Es fühlt mit erregender Intensität, dass dieser Fremde sein Tun gutheißt. Es will ihn auch fortan nicht enttäuschen. Erst sind sie nur einige wenige Auserwählte gewesen. Doch mit jedem verstreichenden Tag wächst die Zahl der wahren Gläubigen, bis alle so sind wie es selbst und sein Freund, der Fremde. Gepriesen werde der Tag, an dem dies geschieht! Es ist voller Tatendrang. Die Vorbereitungen für die Neuschöpfung der Menschheit müssen forciert werden. Es gibt seinem Wirtskörper entsprechende Anweisungen. * Ein sichtbarer Ruck ging durch den Körper von Pastor Douglas McIntire. »Es dauert zu lange«, sagte er mit monotoner Stimme. Dabei glitt der Blick seiner tiefdunklen Augäpfel in eine unbestimmte Richtung, schaute den, mit dem er sprach, nicht einmal an. 43
Mortimer Sligh reagierte mit entsprechender Verzögerung. »Es ist alles in die Wege geleitet.« Auch er sprach langsam und unbetont, schien aus einer unerklärlichen Lethargie zu erwachen. »Die Gemeinden Norwich, Wolverhampton, Bristol und Plymouth sind über unsere Lieferung unterrichtet.« »Es muss sich schnell verbreiten«, kam es blechern von dem Pastor, der, genau wie sein hagerer Gesprächspartner, die Gemeindearbeit seit seiner Übernahme sträflich vernachlässigt hatte. Seit sechs Tagen fanden keine Gottesdienste mehr statt. Das Pfarrbüro - sonst immer Anlaufpunkt für Menschen aller Altersklassen, die Trost und Rat bei McIntire suchten - war geschlossen. »Das wird es. Ich habe alle umliegenden Schulen informiert. Die morgige Mitternachtsmesse wird gut besucht sein. Danach wird niemand mehr Fragen stellen.« »Ich möchte viele Kinder um mich haben. Sie sind so offenherzig. Sie akzeptieren die neue Botschaft des Heils ganz unbefangen. Ohne zu fragen. Nicht so, wie es die Erwachsenen tun.« Es war die Stimme eines Roboters. »Es werden sehr viele Kinder kommen. Ihre Eltern werden sie mitbringen. Selbst zu dieser späten Stunde. Es ist eine gesellschaftliche Verpflichtung.« Ob aus diesen Worten ein stiller Triumph sprach, war ihnen nicht zu entnehmen. Mortimer Sligh legte dieselbe stoische Emotionslosigkeit an den Tag wie der Pastor. »Ja, viele Kinder. Das ist gut.« McIntire schaute immer noch in die gleiche Richtung, obwohl es dort nichts Außergewöhnliches zu sehen gab. Vikar Mortimer Sligh ließ den Kopf auf die Brust sinken, saß unbeweglich hinter seinem Schreibtisch, als hätte jemand seine Energiezufuhr abgeschaltet. Die Kommune würde das sonderbare Verhalten ihres Kirchenvorstehers nicht mehr lange hinnehmen müssen. In weniger als sechsunddreißig Stunden würde sich alles grundlegend ändern...
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* »Sie sind ein guter Mitarbeiter, Dan. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel.« Der Mann, der das sagte, ging auf die Fünfzig zu, hatte volles Haar, das nur an den Schläfen leicht graumeliert war, besaß allerdings das schwammige Gesicht eines Sumo-Ringers. Seine Mimik war schwer einzuschätzen. Er trug ein ockerfarbenes Hemd mit dunkler Krawatte, war stark untersetzt, aber auch voller Energie. Er legte auch nicht diese unpersönliche - vielleicht sogar überhebliche - Art an den Tag, wenn er sich mit seinen Angestellten unterhielt. Jake Shyamalan war ein Mensch unter Menschen geblieben. Trotzdem war er der Boss dieses Versicherungsunternehmens. und als solcher musste er Entscheidungen treffen. Schließlich trug er auch die ganze Verantwortung. Ohne Unterbrechung wanderte er nervös hinter seinem wuchtigen Schreibtisch auf und ab. Dan Farnham beobachtete seinen Vorgesetzten wortlos. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, platzte Shyamalan heraus und umklammerte die Lehne seines Drehsessels. »Warum sollen wir lange drum herum reden?« Farnham schluckte kurz. In seinem Gesicht zeichnete sich Enttäuschung ab. Er ahnte natürlich, was jetzt kam. »Ich kann Ihnen nicht mehr Geld geben.« Gleichzeitig hob der Inder die rechte Hand, winkte ab und unterdrückte damit die Entgegnung seines Mitarbeiters, der eine Erwiderung tatsächlich schon auf den Lippen gehabt hatte. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sie hätten es verdient, Dan.« Jake Shyamalan sprach seine Angestellten stets mit Vornamen an. Man merkte, dass er seine Unternehmenserfahrung aus den Staaten mitgebracht hatte. »Aber auch ich muss mich vor den Gesellschaftern rechtfertigen. Ich muss dafür sorgen, dass die Insurance Company einen Gewinn abwirft.« Der stämmige Inder machte eine kleine Pause. »Da sitzt einfach nicht mehr drin! Wenn ich Ihr Grundgehalt erhöhe, Dan, dann weiß ich genau, was man 45
mich fragen wird: Warum arbeitet Mister Farnham nicht noch ein paar Stunden pro Tag mehr im Außendienst?« »Sir, ich habe Familie. Selbst jetzt komme ich täglich schon sehr spät heim. Oft arbeite ich auch am Wochenende. Am Sonntag...« »Das weiß ich doch auch!«, schnitt Jake Shyamalan ihm das Wort ab. »Wir beide wissen das. Aber der Gesellschaft geht es einzig und allein um den Profit! Die rechnet mir die Gewinnspanne bis auf acht Stellen hinter dem Komma vor. Danach muss ich arbeiten. Danach muss ich meine Ausgaben kalkulieren. Und danach kann ich meinen Leuten vorschreiben, wie viele Kunden akquiriert werden müssen, um das Pensum zu schaffen.« Der Inder atmete tief ein und ließ die Luft sofort wieder raus. »Einige von euch schaffen nicht mal den Mindestumsatz. Soll ich diese Menschen entlassen, damit Sie eine Gehaltserhöhung bekommen...?« »Oh Gott, nein!«, wehrte Farnham ab. Er spürte allzu deutlich, dass man ihm die Pistole auf die Brust setzte. Ihm gefiel die Richtung nicht, in die sich das Gespräch entwickelte. »Ich habe es nicht so ernst gemeint, wie es raus gekommen ist«, schwächte Jake Shyamalan mit ruhiger Stimme ab. »Ich wollte Sie nicht in die Enge treiben. Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, dann bitte ich dafür um Entschuldigung.« Dan Farnham lockerte sich ein wenig. Er war jetzt fünfunddreißig Jahre alt, hatte eine Frau und zwei Kinder von acht und elf Jahren. Seit sieben Jahren arbeitete er nun schon für die Berkley & Grissom Insurance Ltd. Es war kein schlechter Job; er verdiente relativ gut. Allerdings hatte er eine verhältnismäßig große Familie zu versorgen. Und er hatte einen gewissen Lebensstandard, auf den er keinesfalls verzichten wollte. Nichts Ausgefallenes. Natürlich nicht. Doch die Kinder kosteten Geld, ihre schulische Ausbildung, Kleidung und was sonst noch so dazugehörte. Seine hübsche Frau konnte er auch nicht ohne einen Pfennig dasitzen lassen. Dazu kamen dann noch die monatlichen Raten für das Haus sowie 46
alle anderen, ganz normalen finanziellen Verpflichtungen. Abgesehen davon durfte es doch vom Leben selbst nicht zuviel verlangt sein, wenn er sich einmal im Jahr mit seiner Familie einen Urlaub gönnte. Mittlerweile sah Dan Farnham seinen Lebensstil gefährdet. Die Konjunktur war schlecht, die Inflationsrate hoch. Im Außendienst klappte es auch nicht mehr so reibungslos, wie der mittelgroße, sportliche Mann es sonst gewohnt war. Irgendwann würde er mit dem Bus oder der Tram seine Kunden abfahren müssen, um die immensen Benzinkosten einzusparen. Die Finger seiner feuchten Hände schoben sich ineinander, während er sein Gegenüber nicht aus den Augen ließ. Meinte Jake Shyamalan wirklich das, was er sagte, oder war er nur ein guter Schauspieler? »Ich kann Ihren Zwiespalt durchaus nachvollziehen«, gab Farnham unwillig zu. »Sie müssen aber auch mich verstehen.« »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte der hellhäutige Inder unvermittelt. Hatte sich seine Gesinnung gewandelt oder wollte er nur reinen Tisch machen? »Ich habe Sie um einhundert Pfund mehr pro Monat gebeten, Sir«, begann Dan Farnham eine Erklärung. »Wenn Sie dazu nicht bereit sind, werde ich mir eine andere Stelle suchen!« Jetzt war es heraus! Sekundenlanges Schweigen. »Sie haben sich schon nach etwas anderem umgesehen... ?«, wagte Shyamalan eine Vermutung. »Ich brauche nur noch zu unterschreiben«, log Farnham. Wieder Schweigen. Jake Shyamalan drehte Dan Farnham den Rücken zu und sah aus dem Panoramafenster des Bürogebäudes auf die Stadt. Hatte Farnham zu hoch gepokert? Wenn man ihn kurzfristig entließ, würden er, seine Frau und ihre beiden Töchter es noch viel schwerer haben. Auf die Schnelle würde er keinen besseren Job als diesen bekommen. Die Bank würde
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ihr Haus versteigern... Die Anstrengungen der vergangenen Jahre wären umsonst gewesen...! Unterschwellige Furcht stieg plötzlich in Dan Farnham auf. Wie würde Mister Shyamalan reagieren? Unvermittelt wandte dieser sich ihm wieder zu. »Ich verliere nicht gern einen guten Mann«, sagte er mit eindringlichem Blick. »Ich werde Sie morgen meine Entscheidung wissen lassen.« »Vielen Dank, Sir«, sagte Farnham mit brüchiger Stimme, froh, dass er trotz seines überhasteten Vorgehens noch mal mit einem blauen Auge davongekommen war. Wenn Shyamalan letztendlich die Gehaltsforderung ablehnte, dann konnte er immer noch klein beigeben. Die Unterredung war beendet. Dan Farnham verließ das Büro seines Vorgesetzten. Er blickte auf die Uhr. Es war erst kurz nach drei. Heute gehe ich keine Klinken mehr putzen, dachte er lächelnd. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt war ihm nur seine Familie wichtig. Sicher freuten sie sich, wenn er früher kam. * »Mum, guck mal! Das ist Daddys Auto!« Farnhams jüngste Tochter Carol stellte ihr Milchglas auf den Küchentisch und rannte zur Haustür. Ihre Mutter blickte dem springlebendigen Mädchen lachend hinterher, nachdem sie sich mit einem knappen Blick aus dem Fenster davon überzeugt hatte, dass es wirklich der Wagen ihres Mannes war. Der 5er BMW fuhr die schmale Auffahrt zur Reihenhausgarage hoch. Als Dan Farnham ausstieg, wurde auch schon die Haustür aufgerissen und er sah seine Achtjährige wieselflink auf sich zu rennen. Mit einem lauten »Waaahhhh!« sprang sie ihm in die Arme, dass er einen Schritt zurückstolperte. »Immer langsam mit den jungen Pferden«, lächelte er die blonde Carol an, umfasste ihre Hüfte mit dem rechten Arm, 48
während sie sich an seinem Nacken festhielt und langte mit der Linken hinüber zum Beifahrersitz, auf der noch seine Aktenmappe lag. »Toll, dass du schon zu Hause bist!« »Ich find's auch toll.« »Warum bist du früher gekommen?« »Weil ich unbedingt meinen blonden Engel sehen musste.« Dan Farnham machte eine knappe Handbewegung zu seiner Frau, die ihm hinter den Scheibengardinen des Küchenfensters zuwinkte. »Du lügst«, kicherte Carol und versuchte, ihren Vater zwischen den Rippen zu kitzeln. »He, wenn ich lachen muss, dann lasse ich dich fallen.« Er drückte die Wagentür mit dem Rücken zu. Carol stutzte eine Sekunde, setzte ein drollig verschmitztes Gesicht auf und machte Kulleraugen. Dann drückte sie Farnhain ihre Milchschnute auf den Mund. »Haha, du hast einen weißen Bart...« Sie gingen über die Wiese durch den kleinen Vorgarten zur Haustür. Dan Farnham setzte sein Töchterchen ab. »Ist Jessica auch schon da?« »Ja. Sie macht Hausaufgaben.« Er schloss die Haustür hinter sich. »Lass uns was spielen, Daddy!« Carol sprang auf der Stelle auf und ab. Farnham warf ihr einen teilsbelustigten, teils zurechtweisenden Blick zu. »Lass Daddy doch erstmal Mami begrüßen.« »Ich geh' solange in den Garten!« Sprach's und war auch schon verschwunden. »Hi, Jessica«, rief der Versicherungsvertreter lautstark, da er nicht genau wusste, wo sich seine ältere Tochter aufhielt. »Hi, Dad!«, kam es dumpf zurück. Die Elfjährige musste sich in ihrem Zimmer im Obergeschoß befinden. »Und ich?«, klagte eine kleinlaute Stimme, während Farnham seine Mappe zur Seite legte und fast gleichzeitig in 49
einer geschmeidigen Umarmung versank. »Will denn keiner mit mir reden...?« »Hallo, Schatz.« Er gab seiner Frau Sharon einen dicken Schmatzer auf die Lippen und wollte sie flüchtig drücken. Doch sie ließ ihn nicht los, warf das Geschirrtuch hinter sich und umschloss seine Wangen mit beiden Händen. »So billig kommst du mir nicht davon«, hauchte die Brünette und näherte sich ihm zu einem innigen Kuss voll echter Leidenschaft. Mit sanfter Gewalt schob sie ihren Mann zurück an die Wand. »Geh'n wir nach oben«, gurrte Sharon. »Was ist denn da los bei euch?« »Nichts, Jessica! Deine Mutter kann sich nur nicht ordentlich benehmen.« »Ach, nein?«, spöttelte die schlanke Frau und schob ihre rechte Hand zwischen die Beine ihres Mannes. »Da muss ich mich ja entschuldigen«, stichelte sie mit unschuldigem Augenaufschlag weiter. »Ich bin so ein böses, böses Mädchen und der Herr hier hat nur die redlichsten Absichten...« »Der Herr hier wird sich gleich dieses unkeusche Luder gehörig vornehmen...« Sharon Farnham bekam die Pobacken ihres Gatten zu fassen. Ihre Augen verengten sich und aus den schmalen Sehschlitzen sprühte knisternde Begierde. »Dann nimm mich dir vor...!« »Daddy, Daddy! Wann kommst du jetzt spielen?« Dan Farnham rollte theatralisch mit den Augen und stieß laut die Luft aus. »Warum lachst du so, Mum?« Über Carols Nasenwurzel bildeten sich kleine Fältchen. »Habe ich 'was Lustiges gesagt?« »Nein, Spatz. Dein Dad kann nur so urkomische Grimassen schneiden.« Sie wandte sich ab und dem Spülbecken zu. »Ich mache dann mal weiter.« »Schneid' eine Grimasse für mich, Dad!«, drängte Carol.
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»Vielleicht später, Carol«, winkte Farnham ab und warf seiner Frau einen strengen Blick zu, den sie mit einem beiläufigen Schulterzucken kommentierte. »Wir beide müssen noch dringend miteinander reden.« Zwischen Sharons Lippen erschien ihre Zungenspitze. Carol lachte hell auf. »Mami hat dir die Zunge rausgestreckt.« »Mami wird diese unrühmliche Tat noch schwer bedauern«, sagte Dan im Brustton tiefster Überzeugung. »Leere Worte«, konterte Sharon und tauchte einen Teller in das Spülwasser. »Mich beeindrucken nur Taten.« »Komm jetzt raus spielen, Dad!« Amüsiert knipste Dan Farnham seiner Frau ein Auge, was soviel heißen sollte wie: Warte nur, wenn die Kinder erst im
Bett sind...
»Komm komm komm mit...« Im Obergeschoß knallte eine Tür zu. Farnham sah seine jüngste Tochter eindringlich an und verzog die Mundwinkel nach unten: »Ich glaube, wir sind deiner Schwester etwas zu laut.« »Komm mit...!« Dan Farnham drehte sich herum. Dabei streifte sein Blick einen Gegenstand, der am Morgen noch nicht auf dem Esszimmertisch gestanden hatte. »Was ist denn das für ein merkwürdiges Ding...?« »Och, Daddy...« »Carol hat es aus der Schule mitgebracht«, erklärte Sharon Farnham, wobei sie das Geschirr abwusch. »Jessica hat auch so eins.« »Ja, okay«, lenkte der Familienvater ein. »Aber um was handelt es sich? Es sieht...« Er suchte nach einer treffenden Umschreibung, fand jedoch keine. »... fremdländisch aus.« »Vielleicht was Chinesisches...«, vermutete Sharon. »Ist doch nett.« Farnham umrundete das Gefäß zur Hälfte, das so unscheinbar und doch auf schwer zu beschreibende Weise lau51
ernd auf dem Tisch stand. Eine innere Stimme hielt ihn davon ab, es anzufassen, obwohl dieser Gedanke unbegründet war. Schließlich hatten seine Kinder es auch schon in ihren Händen gehabt. Wie in einem Traum nahm der Versicherungsvertreter die Stimme seiner Tochter hinter sich wahr, die immer noch lautstark drängte, mit ihr zu spielen. Doch seine Sinne fokussierten sich förmlich in der visuellen Wahrnehmung. Da war dieses... ja, es sah aus wie eine gedrungene Vase. Nur, dass sie einen Deckel hatte, den ein wie aus Flechtwerk gestalteter Kugelgriff zierte. Um die größte Auswuchtung zog sich ein Band aus roten Symbolen. Dan Farnham konnte damit nichts anfangen. »Komm doch jetzt bitte mit!«, ließ Carol nicht locker und zerrte am Arm ihres Vaters. »Nun geh schon, Dan«, lachte Sharon hell auf. »Wenn du das Kind noch länger warten lässt, müsst ihr eine Taschenlampe mit nach draußen nehmen.« Er schien die Äußerung überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Ich will erst wissen, was das ist!« Aus seiner Stimme war jegliche Fröhlichkeit gewichen. »Herrje, Dan!« Sharon trocknete sich die Hände ab und ging auf ihren Mann zu. Auch sie hatte jetzt einen energischen Unterton angeschlagen. »Willst du aus der Sache eine Staatsaffäre machen?« Die kleine Carol hatte Farnhams Arm losgelassen und war zwei Schritte zurückgegangen. »Nicht streiten, Mum...« Ihre Mutter winkte ab. »Die Kinder haben es in der Schule bekommen. Es ist ein Geschenk der Diözese.« Sie hielt inne, überlegte kurz und schaute ihr Töchterchen fragend an. »Warum hat man euch die Präsente noch mitgegeben?« »Sie sind für die Kinder und ihre Eltern, die morgen nicht mit zur Messe gehen können...« 52
Dan Farnham drehte sich zu Carol herum, ging in die Hocke und reichte ihr seine Hände. Das Mädchen lächelte erleichtert und ergriff sie. Ihr Vater zog sie zu sich heran. »Ich hab' dich lieb, Daddy...« »Ich liebe dich auch, Schatz.« »Dann ist ja wieder alles in bester Ordnung«, resümierte Sharon, beugte sich von hinten über ihren Mann und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Sie ist noch so klein. Du hast sie mit deinem Verhalten erschreckt«, konnte sich Sharon ein paar kritische Worte nicht verkneifen. »Wieso hast du denn gesagt, dass wir nicht an dieser Messe teilnehmen können?«, überging Dan den Einwand seiner Frau, nahm Carol hoch auf seinen Arm. »Ich hätte mir frei nehmen können, Mäuschen.« »Viele Eltern haben gesagt, dass sie nicht kommen können...«, nickte Carol ihm wahrheitsgemäß zu. »Ja, Honey«, meldete sich Sharon aus der Küche. »Die haben da 'ne echt unpassende Zeit ausgesucht.« »Was meinst du mit unpassend?« Dan Farnham wirkte irritiert. »Mitternacht«, kam die Antwort. »Sie halten die Messe um Mitternacht ab.« Der Mann verkrampfte sich spürbar. Wieder fing sich sein Blick an dem tiefschwarzen Behältnis, dessen Existenz unter seinem Dach ihm immer unbegreiflicher vorkam und dessen Inhalt er keinesfalls ergründen wollte. Mit einem Ruck wandte er sich ab. Er hielt Carol an den ausgestreckten Armen nach oben und grinste sie breit an. »Jetzt geht's ab in den Garten, du Spielteufel!« Er stellte sie auf die Füße und gab ihr einen Klaps auf den Po. »Wer als erster draußen ist!«, rief Carol aufgekratzt und rannte los. Ihr Vater setzte sich ebenfalls in Bewegung. Noch im Laufen dachte er daran, dass er sich diese Mitternachtsmesse keinesfalls entgehen lassen wollte. Vielleicht nur, um seine 53
innere Unruhe zu befrieden. Vielleicht auch, um mehr über dieses befremdliche Gefäß in Erfahrung zu bringen. Außerdem war es für die Kinder auch mal was anderes. Sie würden sicher einen Mordsspaß haben. Um diese Uhrzeit. Der Versicherungsvertreter beschloss, mit seiner Familie darüber zu reden... * Als die Sanitäter in die Wohnung gestürmt kamen, hatte Richard Jordan immer noch starr dagestanden und den Telefonhörer in der Hand gehalten, war den verdutzten und fragenden Blicken ausgewichen und hatte nur nach vorne gedeutet. »Da entlang... er ist im Keller...« Auch im Rettungswagen war diese plötzlich aufgetretene Starre nicht gänzlich von dem jungen Mann gewichen. Mit glasigen Augen hatte er den reglosen Körper Philip Ravenmoors angestarrt, regelrecht durch ihn hindurchgeguckt. »Wie fühlen Sie sich?«, hatte ein Mediziner ihn gefragt. »Geht es Ihnen gut?«, worauf Jordan nur schwach genickt hatte. Sein Zustand war nur nebensächlich; wichtig war einzig und allein, dass Ravenmoor durchkam. Mittlerweile kam Richard wieder zu Kräften. Er hatte sich vor dem Warteraum des Krankenhauses an einem Automaten einen Suppendrink gezogen, während Philip in die Notaufnahme gebracht worden war. Der Stationsarzt hatte versprochen, ihm umgehend Bescheid zu geben, wenn Klarheit über den Zustand seines Freundes und Mentors herrschte. Es ging schneller als erwartet. Richard kaute noch auf einigen halbgaren Nudeln herum, als er den Doktor auf sich zukommen sah. Eilends warf er die Plastikterrine in den Mülleimer und sprang auf. »Wie sieht's aus?«, stieß er ungestüm hervor, obwohl der Arzt noch gute zehn Schritte entfernt war. Am Informations-
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schalter warf die diensthabende Schwester ihm einen strengen Blick zu. Doktor Molesworth bedeutete ihm Ruhe zu bewahren und ohne seinen Schritt zu beschleunigen trat er an Richard heran und zog ihn um die Ecke. Er dämpfte seine sonore Stimme ein wenig. War es Mitleid, war es Trost, die daraus sprachen? »Nun, Mister Jordan, ich will Sie nicht mit Ausflüchten hinhalten.« Der Arzt stockte und Richard merkte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. »Der Zustand von Mister Ravenmoor ist kritisch...« Jasper Molesworth sah zur Seite und schüttelte leicht den Kopf. »Nein, entschuldigen Sie, kritisch ist bei weitem nicht der richtige Begriff, um den Zustand dieses Mannes auch nur annähernd zu beschreiben.« »Was meinen Sie?« Richard zog die Brauen zusammen. Wenn schon, dann wollte er es auch genau wissen. »Naja«, druckste der Arzt nun doch herum, »wissen Sie...« »Herr im Himmel! Nun reden Sie doch!« »Vom medizinischen Standpunkt aus ist Ihr Freund... tot!« »Nein!«, schrie Richard. »Das ist nicht wahr!« »Bitte beruhigen Sie sich doch!« Doktor Molesworth packte Richard bei den Schultern. »Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Erst die Sache mit Ihren Eltern, jetzt das...« »Sie wissen davon...?!« »Jeder in diesem Krankenhaus weiß davon. Spätestens, seit Scotland Yard sich eingeschaltet hat.« Richard nickte. Natürlich. Es war dasselbe Krankenhaus. Das St. Mary Abbott's Hospital. Seine Mutter befand sich immer noch hier, um nach ihrer Genesung in psychotherapeutische Behandlung überwiesen zu werden. Physisch befand sie sich tatsächlich auf dem Weg der Besserung; die Kieferorthopäden hatten mühsam gerichtet, was Richard in Sekundenschnelle zerstört hatte. Doch die grauenvollen Ereignisse in der Renaissance55
Villa hatten tiefe Narben im Geist der Frau hinterlassen, so dass es fraglich war, ob sie jemals wieder ins normale Leben zurückfinden würde. Der Student hatte sich bisher nur telefonisch nach ihrem Befinden erkundigt und mied es, ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Jetzt zeigte sich, dass es unmöglich war, sich seiner Verantwortung zu entziehen. »Verzeihen Sie mir«, sagte der Arzt rasch, als er die Niedergeschlagenheit des jungen Mannes bemerkte. »Das war ein unpassender Moment, um...« »Schon gut. Vergessen Sie's.« Richard atmete einmal tief durch. »Also, was ist mit Mister Ravenmoor?« »Wie ich bereits sagte...« »Sagen Sie mir nicht, was ich schon weiß, Doktor! Sagen Sie mir etwas Neues! Ich kann's verkraften!« »Das glaube ich Ihnen gerne. Die Sache ist nur die, dass wir selbst nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Und wenn Sie mich nicht laufend unterbrechen würden, hätte ich sicher schon einen Ansatz gefunden, um auch einem Laien wie Ihnen die Situation zu verdeutlichen...!« »In Ordnung, fahren Sie fort.« »Gut. Es sieht folgendermaßen aus: Mister Ravenmoors Rückgrat ist gebrochen, drei Halswirbel völlig zerschmettert. Hinzu kommen Trümmerbrüche an Armen und Beinen. Leberriss. Nierenquetschungen. Massive innere Blutungen. Ein Rippenbogen hat die Lunge durchstoßen und dabei die äußere Gefäßwand der rechten Herzkammer verletzt.« Richard Jordan spürte, wie seine Hände anfingen zu zittern. »Ich... muss mich setzen.« Sekundenlang schloss er die Augen. War nun alles vorbei? Hatte Amalnacron, dieser bestialische Handlanger teuflischer Götter, letztendlich gesiegt? Hatte er, Richard, all die Gefahren nur überstanden, um so überraschend zu scheitern? Gefiel es den kosmischen
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Mächten, ihre unwissenden Spielfiguren einer unbegreiflichen Strategie zu opfern? »Bitte, hören Sie mir zu, Mister Jordan.« »Was gibt es denn da noch zu sagen? Das, was Sie mir gerade beschrieben haben, ist kein Mensch mehr, sondern nur noch beatmetes Fleisch...« Er sagte es nicht abwertend, nein, es waren Trauer und Verzweiflung, die ihn zerfraßen. »Aber darauf will ich doch hinaus! Wenn Sie mir doch einfach nur zuhören würden...!« Richard horchte auf. »Vom medizinischen Standpunkt aus ist Ihr Freund tot. Die Schäden an seinem Körper sind irreparabel. Und normalerweise hätten wir nur den Exitus feststellen können...« »Und...?« »Sein Gehirn arbeitet noch!« »Wie kann das sein?« Richard zeigte sich konsterniert. »Ich bin zwar kein Arzt, aber nach dem, was Sie eben sagten...« Jasper Molesworth erhob wie schützend die Handflächen. »Es ist auch für uns ein Rätsel, denn auch die Hirnmasse ist beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Es sind nur schwache, elektrische Impulse, die wir aufzeichnen können...« »Himmel, Doktor! Was erzählen Sie mir da?! Diese Impulse lassen sich bei jedem Leichnam kurz nach dem Ableben nachweisen! Daran ist doch wahrhaft nichts Außergewöhnliches!« »Aber Leichen bewegen für gewöhnlich nicht die Lippen...« Jordan stutzte. »Er... er bewegt die Lippen?«, wiederholte Richard und war sich nicht sicher, ob er darüber Freude oder Ernüchterung empfinden sollte. »Er hat... gesprochen?« »Das habe ich nicht gesagt«, stellte Molesworth richtig. Enttäuscht erhob sich Richard von dem Stuhl. Sein Blick suchte die Augen des Arztes und er hielt ihm stand, als der Siebenundzwanzigjährige sagte: »Ich weiß beim besten Willen 57
nicht, was Sie bezwecken, Doc. Aber versuchen Sie bitte nicht, in mir irgendeine Art von Hoffnung wecken zu wollen. Dafür habe ich in den letzten Wochen zu viel mitgemacht. Ich springe auf Ihre akademischen Taschenspielertricks einfach nicht an. Selbst wenn ich wollte...« »Aber Sie verstehen nicht...« Richard Jordan wandte sich zum Gehen, wurde jedoch von der Hand Jasper Molesworths aufgehalten, die sich hart auf seine Schulter legte und den Studenten zwang, sich umzudrehen. »Welches Kaninchen ziehen Sie jetzt aus dem Zylinder?« Jordans Stimme hatte einen matten Klang. »Ich bin müde. Ich möchte nur nach Hause und...« »Kommen Sie mit mir!«, entgegnete der Arzt. »Ich weiß, dass ich Sie mit Worten nicht überzeugen kann. Also möchte ich Sie bitten, sich Mister Ravenmoor selber anzusehen. Vielleicht erkennen Sie dann, was ich gemeint habe.« Erst sprach Verständnislosigkeit aus Richards festem Blick, dann jedoch senkte er die Lider und als er sie erneut hob, da erschien in seinen Augen ein leichter Schimmer zaghaften Entgegenkommens. »Bitte, folgen Sie mir«, redete Molesworth dem jungen Mann weiter zu und setzte sich in Bewegung. Was habe ich zu verlieren?, sagte sich Richard Jordan.
Ansehen kann ich mir die Sache ja. Wenn es eine Chance gibt, Philip zu retten, dann darf ich sie nicht verstreichen lassen. »Also gut«, stimmte er zu und heftete sich an die Fersen von Jasper Molesworth, der bereits etliche Schritte vorausgeeilt war. Das Echo seines Kurzstreckensprints hallte laut von den gewachsten Fußbodenkacheln wider und erregte in beträchtlichem Maße die Aufmerksamkeit der Schwester hinter dem Informationsschalter. Dieses Mal aber beschränkte sie sich nicht allein auf ihren rigorosen Gesichtsausdruck. »Wird diese Art der Ruhestörung jetzt zum Dauerzustand?« Es war eine kräftige, herrische und für eine Frau außerdem noch sehr tiefe Stimme. 58
»Ein Notfall!«, versicherte Richard und kam hinter Doktor Molesworth zum Stehen. Vor den Männern öffnete sich eine Aufzugstür und Jordan war froh, diesem Mannweib keine weiterführenden Stellungnahmen abgeben zu müssen. Der Arzt drückte die Taste für den fünften Stock. »Intensivstation«, erklärte er. Als die Türen sich wieder öffneten, traten die beiden hinaus in einen nur schwach beleuchteten Gang. »Ziemlich düster hier oben, Doc.« Der Angesprochene ließ sich einige Augenblicke Zeit, bevor er antwortete. »In dieser Sektion laufen die Patienten nicht durch die Flure. Wir brauchen zu ihrer Sicherheit und Orientierung nicht jeden Winkel auszuleuchten. Das medizinische Fachpersonal kennt sich bestens aus.« »Aha...« Molesworth ahnte, dass diese Erläuterung Richard ziemlich dünn vorkam. »Wenn Sie, Mister Jordan, mit dem Kassensystem so vertraut wären, wie es hier jeder Angestellte vom Pfleger bis zum Chirurgen sein muss, dann würden Sie Verständnis für derartige Sparmaßnahmen aufbringen.« Sie durchschritten eine Stahltür mit undurchsichtiger Milchglasscheibe, bogen um zwei kurze Ecken und standen vor einer weiteren Tür. Sie war massiv. Ohne Scheiben. Und im oberen Drittel prangte die Zahl 571. »Wir sind da.« Schwerfällig ging Richard hinter dem Doktor her. Er hatte ein äußerst ungutes Gefühl, als er die Schwelle überschritt. Er hatte es vermeiden wollen, Philip Ravenmoor in diesem schrecklichen Zustand zu begegnen. Hinter dem Studenten ließ ein Druckfederarm die schwere Tür sanft ins Schloss fallen. Jasper Molesworth trat an das Bett des Patienten. »Kommen Sie her, Mister Jordan.«
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Unbehagen war noch ein schmeichelhafter Ausdruck für die Empfindungen, die beim Anblick des Freundes wie eine siedende Woge durch Richards Körper jagten. Er sah eine Batterie von elektronischen Messgeräten, die die unterschiedlichsten Kurven und Daten anzeigten; ein Gewirr von Schläuchen, an deren eines Ende Flüssigkeitsbehälter gekoppelt waren und deren anderes Ende über Klemmen, Schraubgewinde und Pipetten mit Ravenmoors Körper regelrecht verwachsen schien. »Sieht schlimmer aus, als es ist«, bemerkte Molesworth, dem Richards erstarrte Miene nicht verborgen geblieben war. »Wenn Sie's sagen...«, murmelte Richard abwesend.
Er hat aber recht!
Jordan schrak zusammen. »Wer hat das gesagt?« Der Arzt schaute ihn verwundert an. »Was meinen Sie?« Molesworth wartete die Antwort nicht ab. »Sehen Sie her, Mister Jordan. Die Lippen bewegen sich unaufhörlich...« Er stockte verblüfft. »Na so was. Jetzt tun sie's nicht mehr...«
Jetzt brauche ich ja auch keine Aufmerksamkeit mehr zu erregen. Du bist ja da, Richard.
»Philip...?« Der Student sah sich forschend um, bis ihm klar wurde, dass die Worte nur in seinem Kopf erklangen. »Ich bedaure«, wandte sich Doktor Molesworth an Richard. »Vor einer halben Stunde noch...« »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, lenkte Jordan ein. »Sie haben nur das Beste gewollt. Das weiß ich.« »Seine Lippen haben sich ohne Unterlass bewegt. Ich war mir absolut sicher, dass Ihr Freund uns etwas mitteilen wollte.«
Da liegst du verdammt richtig!
<Würden Sie mich bitte mit Mister Ravenmoor einige Minuten alleine lassen? Wäre das möglich?« »Normalerweise ist das auf dieser Station im Hinblick auf den Zustand der Patienten untersagt.« Jasper Molesworth überlegte. »Ich denke aber, dass ich in Anbetracht der 60
Umstände eine Ausnahme machen kann. Ich werde allerdings vor der Tür warten. Falls ein Notfall eintritt.« »Verdammt, was ist mit dir geschehen?«, zischte Richard, als der Doktor das Zimmer verlassen hatte.
Bleib locker, Richard...
»Du hast gut reden. Wer von uns beiden hat denn den Geist aufgegeben?« Richard hatte noch gewisse Anfangsschwierigkeiten, sich lediglich über seine Gedanken zu artikulieren. Daher sprach er noch leise.
Mit mir ist soweit alles in Ordnung. Mein Körper wird sich regenerieren. »Du beliebst doch wohl zu scherzen...«
Keineswegs. Der wird mal wieder wie neu. Ist nicht das erste Mal, dass es mich voll erwischt hat. Langsam wirst du mir echt unheimlich, formulierte Richard die Worte in seinem Kopf. Du hast mich ganz schön erschreckt. Ich war selbst erschrocken. Junge, das darfst du mir glauben. Das, was einmal dein Vater war, hat Mordskräfte entwickelt, die ich nicht bei ihm vermutet habe. Ich bin, ehrlich gesagt, verwundert, dass du noch lebst...
»Ist auch teuflisch eng geworden...« Richard dachte einen Moment nach. »Was hat es mit deinen Lippenbewegungen auf sich, von denen Doktor Molesworth erzählte? Was wolltest du sagen...?«
Ich musste sie irgendwie dazu bringen, dich zu holen. Ich bin ganz schön geschwächt. Meine telepathischen Fähigkeiten haben arg gelitten, begrenzen sich momentan auf einen Radius, der nicht viel größer als dieses Zimmer ist. Wenn ich wie tot dagelegen hätte, hätten sie dich niemals gerufen. Ich musste irgendwas tun... Und mit den Lippen Worte zu formulieren war das einzige, was ich mit diesem Körper noch anstellen konnte. Ein Glück allerdings, dass Doktor Molesworth tatsächlich wie erwartet reagiert hat.
»Was hast du nun vor? Und wie kann Ich helfen?« Richard Jordan zog es vor, gedämpft zu sprechen. In seinen 61
Gedanken herrschte ein zu großes Durcheinander. Das wollte er Philip nun doch nicht zumuten.
Du bist vorläufig auf dich allein gestellt. Bevor ich mich regeneriert habe, werden noch einige Tage vergehen... Philip Ravenmoor machte eine Pause. Du musst unbedingt darauf achten, dass mein Körper am Leben erhalten wird. Wenn die Ärzte die Maschinen abschalten, dann kann ich nicht wieder zurück. Dann ist dieser Körper tot. Und, Hand aufs Herz, Richard, wir beide haben uns doch an ihn gewöhnt.
»Ja, das ist wahr«, bestätigte der junge Mann lächelnd, um aber gleich darauf wieder sehr ernst zu werden.
Ich habe mir das Beste natürlich bis zum Schluss aufbewahrt, fuhr Ravenmoor fort und selbst in dieser telepa-
thischen Mitteilung schwang ein hoher Anteil eisiger Beklemmung mit, die Richard innerlich frösteln ließ. Was nun folgte, konnte nichts Gutes bedeuten.
Amalnacron hat die Wochen unserer Abwesenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen. Die Verpuppung ist vollendet. Er ist zu etwas mutiert, das in den Aufzeichnungen von Mister Denningham-Cartlewood als die Zysstho-Pest bezeichnet wird...
»Hört sich übel an, aber darunter kann ich mir nichts vorstellen. Womit haben wir es zu tun?«
Mit einer verheerenden Seuche! Der dämonische Virus tötet deinen Körper und frisst deine Seele. Und nur die Seele ist es, die den dunklen Göttern neue Kraft verleiht, die Macht, ihren teuflischen Einfluss immer weiter auszudehnen. »Und man kann nichts gegen diesen Virus unternehmen?« Die Sekunden streckten sich zu kleinen Ewigkeiten. Richard wollte seine Frage bereits wiederholen, als Ravenmoor - vielmehr das Geistwesen, das er derzeit darstellte - reagierte.
Es gibt Entitäten im Universum, die an unser aller Überleben interessiert sind. Am Überleben aller Wesenheiten auf unserer momentanen Existenz - und Bewusstseinsebene. Sie sind Ausdruck jener Gegenkraft, die die Dualität der Dinge prägt. So ist das Grundprinzip allen Seins die Konfrontation. 62
Ravenmoor ließ das Gesagte wirken. Diese übergeordneten
Wesenheiten haben uns Mittel und Wege gezeigt, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ihre Intervention zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist fraglich; ebenso ihre Identität und ihr Aufenthaltsort. Wenn dies unsere Bewährungsprobe ist, haben wir alle Hände voll zu tun. »Woher weißt du so viel über diese Dinge?«
Ich weiß gar nichts! Denningham-Cartlewood ist der Initiator. Er hält die Loge der Höllenjäger am Leben. Und wenn er die letzten Rätsel der Layshi-Pan gelöst hat, dann werden alle Menschen davon profitieren... »Wann werde ich ihn kennen lernen?«
Bald, Richard, sehr bald. Aber konzentriere dich auf die Aufgaben, die vor dir liegen. Du wirst all deinen Mut und all deine Kraft brauchen, um der Bedrohung durch die ZyssthoPest zu begegnen. Sie ist überall. Und sie breitet sich unglaublich schnell aus. Gerade jetzt ist sie im Begriff, das Festland zu erreichen... Schweigen.
Nein! Ich glaube nicht, dass du es alleine schaffen kannst! Du musst Kontakt zu Denningham-Cartlewood aufnehmen. Er hat die Situation sicher längst durchschaut und arbeitet bereits an Gegenmaßnahmen. In der Aktentasche, die ich in eurer Villa... Der Kontakt brach abrupt ab. Sekunden danach baute
er sich wieder auf. Kurz, knapp und seltsam verzerrt. Ein allerletztes Aufbäumen vor einer langen Periode des Schweigens. Jede Silbe glich einem Stich in Richards Bewusstsein.
SIE SIND DA! SIE WOLLEN DICH HOLEN!
Jordan fuhr auf dem Absatz herum, als die Stahltüre wie in Zeitlupe aufgedrückt wurde. »Doktor Molesworth...?« Richard wich zwei, drei Schritte zurück, verengte die Augen. Die Neonleuchte an der Zimmerdecke begann zu flackern. Ein ängstlicher Seitenblick auf den reglosen Ravenmoor zeigte Richard, dass die
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komplizierten Apparaturen immer noch ihre Arbeit verrichteten. Doch Philip meldete sich nicht mehr! Ich muss hier raus!, pochte es schmerzhaft in Richards Kopf. Zurück zum Haus meiner Eltern! Die Tür schwang vollends auf. Er sah Doktor Molesworth. Und diese Schwester. Und dieses... - KIND! Sie alle hielten den Blick nach unten gerichtet. Endlos lange. Als sie schließlich aufsahen, trieb es Richard einen Eispflock ins Herz! * Nachdenklich wartete Jennifer Braxton, bis alle Kinder das Klassenzimmer verlassen hatten. Sie kramte gedankenverloren einige Unterlagen zusammen und legte sie in ihre Korbtasche. Heute war sie während des Unterrichts ganz und gar nicht bei der Sache gewesen. Die Kinder hatten teilweise schon gekichert, wenn sie auf Fragen oder Antworten verstört oder auch nur verzögert reagiert hatte. Die Begegnung am gestrigen Abend mit ihrem Schüler Dennis Foucheaux wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Außerdem war er nicht in der Schule erschienen. Es hatte ihn auch niemand entschuldigt.
Dennis, Dennis. Was ist bloß wieder los...?
Mrs. Braxton war besorgt. Zumal sie sich ihre Unterhaltung mit den Eltern ins Gedächtnis rief. Dieses Gesindel! Die Pädagogin fand kein anderes Wort für diesen Menschenschlag. Was sollte nur aus dem Jungen werden - bei diesen Vorbildern...? Sie kontrollierte noch schnell die Einträge im Klassenbuch, klappte es zu und klemmte es sich unter den Arm. Draußen
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auf dem Flur verschloss sie die Tür. Es war die letzte Stunde gewesen. Auf dem Weg ins Lehrerzimmer ließen die grüblerischen Überlegungen die vierzigjährige Frau immer noch nicht zur Ruhe kommen. Sollte sie Dennis' Vater anrufen? Oder vielleicht den Schulleiter informieren über die unhaltbaren familiären Zustände? »Hallo, Jennifer, alles in Ordnung?« Über das Gesicht ihres Kollegen David Burnett flog ein aufmunterndes Lächeln, als er im Laufschritt auf sie zukam. »Sicher. Ja. Alles bestens«, winkte Mrs. Braxton ab. »War nur in Gedanken...« »Da bin ich ja beruhigt«, entgegnete der Sportlehrer und blies zweimal kurz in seine Trillerpfeife, die über dem kurzärmeligen, weißen Shirt an seinem Hals baumelte und mehrere Schüler und Kollegen erschrocken die Köpfe herumreißen ließ. »Denk dran«, rief er ihr über die Schulter hinterher, »wir wollten noch zusammen essen gehen!« »Das machen wir, Dave«, beeilte sie sich zu sagen, obwohl David Burnett es wahrscheinlich schon gar nicht mehr gehört hatte. »Ganz bestimmt...« »Lieben Sie Mister Burnett?«, quiekte eine Kinderstimme. Jennifer Braxton blieb stehen und sah zur Seite. Und nach unten. Ein blondes Mädchen mit großen blauen Augen und zusammengekniffenem Mund blickte sie erwartungsvoll an. Mit den leicht aufgeplusterten Wangen sah es aus, als wollte es gleich lauthals loslachen. »Ich find' ihn schon ganz nett«, erklärte die Lehrerin. »Siehste!«, wandte sich das Kind seinen Freundinnen zu. »Die wollen knutschen.« Die vierzigjährige Frau lachte auf. »Du bist unmöglich, Carol.« Sie schüttelte den Kopf und betrat das Lehrerzimmer, während die Kinder den Flur entlang sprangen. Es waren nur drei ihrer Kollegen anwesend. Die meisten anderen hatten ihren Stundenplan bereits gegen Mittag 65
abgearbeitet und waren nach Hause gefahren. Jennifer Braxton schob das Klassenbuch in ein Ablagefach, legte ihre Tasche auf den Tisch und schüttete sich einen Kaffee aus einer der Thermoskannen ein. Dann setzte sie sich. »Was halten Sie eigentlich von diesen Metten, die hier überall in der näheren und weiteren Umgebung abgehalten werden?« Adelaide Carpaccio, Mathematiklehrerin und mit knapp sechzig Jahren ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil dieser Elementary school, blickte Jennifer Braxton von der gegenüberliegenden Seite der zusammengestellten Tischelemente aus neugierig an. »Wie meinen Sie das?«, fragte die Angesprochene leicht verwirrt. »Ich hatte angenommen, dass nur hier bei uns eine Nachtmesse zelebriert wird.« Die Carpaccio lachte kurz freudlos auf. »Da sind Sie ganz gewaltig im Irrtum, meine Teuerste...« Die beiden anwesenden Männer nickten fast gleichzeitig. »Sie hat recht, Jennifer«, bestätigte Ernest McEwan, ebenfalls ein Urgestein der Schule. Er nahm einen Schluck Kaffee, sah versonnen aus dem Fenster und danach seine Fachkollegin an. »Diese... Gefäße, die von einigen Kirchendienern gestern in unserer Schule verteilt worden sind...« »Von welchen Gefäßen sprechen Sie?« »Oh, ich vergaß, Jennifer«, tat McEwan die Frage mit einer Handbewegung ab und strich sich über das weiße, schüttere Haar. »Sie hatten ja nur die Erstklässler. An die ist noch nichts verteilt worden. Man hat uns jedoch einige Kartons überlassen. Sie stehen irgendwo im Keller. Unser Hausmeister, Mister Lonegan, wollte sich darum kümmern.« »Was wir eigentlich damit sagen wollen«, übernahm John Trent, der jüngste in der Runde, das Gespräch, »ist, dass uns allen im nachhinein die Sache nicht mehr so ganz geheuer erscheint. Gestern noch waren wir begeistert von dem Engagement der Kirche, haben nicht großartig darüber nachgedacht.« 66
»Die alten Werte und Traditionen sind eben zu fest in uns verwurzelt.« Ernest McEwan lächelte Jennifer Braxton freundlich zu. »Wir stellen sie einfach nicht mehr in Frage.« Die Englischlehrerin nickte und auch Mrs. Carpaccio tat einen schweren Seufzer. John Trent sprach weiter und wandte sich gezielt an Mrs. Braxton: »Wie es aussieht, haben Sie seit dem vergangenen Tag eine Menge verpasst. Sehen Sie« - der Geschichts- und Erdkundelehrer deutete mit den Händen eine Halbkugel an »diese ominösen Behältnisse sollen Geschenke für diejenigen sein, die nicht an den Mitternachtsmessen teilnehmen können. Offenbar will man von kirchlicher Seite her sicherstellen, dass auch wirklich jedes Gemeindemitglied ein solches... Ding bekommt.« »Aber wozu soll das gut sein?«, zuckte Jennifer Braxton die Schultern. »Was ist denn da drin?« »Das wissen wir nicht«, antwortete Adelaide Carpaccio. »Doch wir wollten uns Gewissheit verschaffen und uns die Kartons im Keller genauer ansehen.« »Ja, was vermuten Sie denn? Glauben Sie allen Ernstes, dass wir von Seiten der Kirche etwas zu befürchten haben? Dass man uns etwas antun möchte?« Mrs. Braxton wirkte beinahe belustigt. Sie rückte ihre Brille zurecht und fügte hinzu: »Haben Sie da nicht eine reichlich abstrakte Verschwörungstheorie konstruiert?« »Sie sollten die Angelegenheit nicht ins Lächerliche ziehen«, argumentierte McEwan mit angenehmem Bariton sachlich. »Uns selbst ist schließlich nicht klar, womit wir es zu tun haben. Aber eben das wollen wir herausfinden. Vielleicht entpuppt sich unser Verdacht als völlig unbegründet. Davon gehe ich sogar aus. Trotzdem muss ich meinem Instinkt nachgeben, der auch den letzten Rest an Sicherheit verlangt.« Mrs. Carpaccio, die Herren Trent und McEwan erhoben sich. »Dann lassen Sie uns mal Mister Lonegan aufsuchen«, erklärte Ernest McEwan und an Jennifer Braxton gewandt fuhr 67
er fort: »Ich kann Ihren Standpunkt durchaus verstehen. Bitte haben Sie aber auch Verständnis für den unsrigen. Wir werden niemanden kompromittieren. Doch diese eigenwilligen Geschenke, das Verhalten der Kirchendiener, das Abhalten von Mitternachtsmessen - seien Sie ehrlich: Regen sich da nicht auch Verdachtsmomente in Ihnen...?« Jennifer Braxton schluckte hart. Natürlich hatte McEwan recht! Seit gestern Abend war ihr gesamtes Denken von Zweifeln erfüllt! Seit sie Dennis Foucheaux gesehen hatte, der immer schon sehr still und verschlossen gewesen war. Doch diese Äußerlichkeiten hatten sich noch um mehrere Nuancen gesteigert. Es war etwas Kaltes von diesem Jungen ausgegangen und sie fror jetzt noch innerlich, wenn sie an seine Augen und seine ausdruckslose Stimme zurückdachte. »Kommen Sie, Ernest«, klopfte John Trent dem Mittsechziger auf die Schultern. »Bringen wir's hinter uns. Ich freue mich nämlich schon auf meinen Feierabend.« Die Englischlehrerin blieb alleine zurück und trank ihren nunmehr lauwarmen Kaffee aus. Schließlich nahm sie noch einmal das Klassenbuch zur Hand und überflog die Registereintragungen ihrer Schülerinnen und Schüler. »Da bist du ja. Foucheaux.« Ihr Zeigefinger wanderte weiter nach rechts und zu einer Telefonnummer. »Ich habe einfach keine Ruhe, ehe ich nicht weiß, was mit dir los ist, Dennis«, murmelte die Lehrerin im Selbstgespräch. Sie tippte die siebenstellige Ziffernfolge in den Tastaturblock des Telefons. Das Freizeichen erklang. In den kommenden Sekunden wiederholte es sich nervtötend oft, bis am anderen Ende der Leitung endlich der Hörer abgenommen wurde. »Wer ist da?« Erschrocken schnappte Jennifer Braxton nach Luft. Diese Stimme! Sie hatte einen grausamen Unterton! Die Frau fing sich rasch wieder.
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»Hier ist Mrs. Braxton. Ich rufe von der Schule an. Spreche ich mit Mister Foucheaux?« »Ja.« Er sagte nur dieses eine Wort. »Hören Sie, bitte. Ich wollte mich nach Ihrem Sohn erkundigen. Er war heute nicht in der Schule...« »Ja. Er war nicht in der Schule.« »Ist er krank? Waren Sie mit ihm bei einem Arzt?« »Er ist nicht krank. Es geht ihm gut«, kam es nach einer Weile. In der Stimme schwang eine besorgniserregende Kälte mit, die in eindeutigem Widerspruch zum Inhalt des Gesagten stand. »Wird er also morgen wieder zur Schule kommen?«, ließ die Pädagogin nicht locker. Erneut dauerte es viele angstvolle Herzschläge lang, bis die Erwiderung folgte. »Das kann ich nicht sagen. Er geht heute Nacht zu einer Messe... Wir gehen alle zu einer Messe.« Kommentarlos legte Jean Foucheaux auf. Anscheinend hielt er es für überflüssig, das Gespräch fortzuführen. Alles Wichtige war zur Sprache gekommen. Fassungslos starrte Jennifer Braxton auf die Ohrmuschel des Telefonhörers, aus dem lediglich ein lang gezogener Signallaut tönte.
Hoffentlich haben diese Bestien dem Jungen nichts angetan!, überschlugen sich ihre Gedanken. Leichte Übelkeit
stieg in der Frau auf und sie tappte geistesabwesend in den an das Lehrerzimmer angrenzenden kleinen Toilettenraum. Die Brille legte sie auf die Spiegelablage über dem Waschbecken und drehte den Hahn auf. Kaltes Wasser sammelte sich in ihren Handflächen und sie führte sie zum Gesicht und genoss die belebende Erfrischung, als die Flüssigkeit ihre Haut benetzte. Sie wiederholte den Vorgang mehrere Male, betrachtete sich danach in der Spiegelfläche. Die Wasserperlen rannen bis zu ihrem Kinn und tropften herab ins Becken. Verträumt sah sie durch sich selbst hindurch und vergaß vollkommen die Zeit. 69
Als sie wieder zu sich kam, trocknete sie die verbliebene Nässe mit einigen Papiertüchern ab und ging dabei in den Nebenraum. »Sie haben telefoniert, Jennifer?« Mrs. Braxton wirkte wie elektrisiert, riss die Trockentücher herunter und konnte nur drei verschwommene Gestalten ein paar Meter voraus ausmachen.
Meine Brille! Sie ist noch im Waschraum!
»Sind Sie das, Mister McEwan?« Sie erhielt keine Antwort. »Mit wem haben Sie telefoniert?« War das die Stimme von John Trent? Sie klang plötzlich unglaublich fremd und unpersönlich. »Ich habe die Eltern eines Schülers angerufen, der nicht zum Unterricht erschienen ist«, gab Jennifer Braxton bereitwillig Auskunft. Sie wusste, dass es unsinnig war, den Anruf zu leugnen. Ihr war bereits bei der ersten Frage des unheimlichen Trios eingefallen, dass sie den Hörer neben den Telefonapparat gelegt hatte. Der Signalton war verhalten im Hintergrund zu hören. »Sie hatten übrigens vollkommen recht«, nahm Mrs. Braxton in ihrem Rücken eine mechanische Frauenstimme wahr, als sie sich vorsichtig in den Sanitärraum zurücktastete, um ihre Brille zu holen. »Unser Verdacht hat sich als unsinnig erwiesen. Da unten im Keller ist nichts, was uns Sorgen machen sollte. Wir sollten den Diözesen dankbar sein für ihre uneigennützigen Gaben.« Das konnte doch nur die Carpaccio gesagt haben! Jennifer Braxton bekam das Brillengestell zu fassen und hatte keine zwei Sekunden später wieder klare Sicht. Nicht, dass sie ohne die Gläser halbblind war, das nicht. Doch war sie stark kurzsichtig und alles, was außerhalb eines Radius' von maximal zwei Metern war, verlor extrem an Schärfe und erschien ihr fleckig und schemenhaft. »Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass Sie sich keine Gedanken zu machen brauchen«, bog die Englischlehrerin, 70
hörbar selbstbewusster, um die Ecke und blieb wie vom Donner gerührt stehen. Adelaide Carpaccio, Ernest McEwan und John Trent - da standen sie. Unbeweglich und stumm. Und als Jennifer Braxton in ihre Augen sah, da fühlte sie zum ersten mal in ihrem Leben was es heißt, wirkliche Angst zu haben! * »Moment, Schwester, Sie können jetzt nicht hier herein!« Jasper Molesworth streckte einen Arm vor. »Ich muss den Patienten etwas vorbeibringen«, sagte die junge Krankenpflegern blechern, verhielt zwar einige Momente in der Vorwärtsbewegung, setzte aber fast ansatzlos wieder zum Gehen an. Der Stationsarzt hielt sie nun an den schmalen Schultern fest. »Ich sagte doch, dass Sie nicht hinein können!« Sein Tonfall hatte deutlich an Schärfe gewonnen. Er sah hinab auf die Hände der Frau, die ein bauchiges Gefäß umschlossen. »Was ist denn das?« In die Autorität seiner Stimme mischte sich Neugier. »Ich muss das den Patienten bringen«, leierte die Krankenschwester monoton herunter. »Herrje, das sagten Sie schon!« Molesworth kam langsam an jene Grenze, die beim Überschreiten einhergehen würde mit totalem Geduldsverlust. »Haben Sie irgendwelche Medikamente zu sich genommen?«, erkundigte sich der Arzt dann doch ein wenig besorgt. »Sie wirken wie narkotisiert.« Aus ihrem Mund folgte keine Erwiderung, doch Jasper Molesworth spürte noch im selben Augenblick den Druck ihres Körpers, als wolle die Pflegerin einfach durch ihn hindurchgehen. »Jetzt bleiben Sie bitte mal stehen! Sie haben gefälligst meine Anweisungen zu befolgen! Und wenn Sie im Dienst
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Rauschmittel jedweder Art zu sich nehmen, dann wird das für Sie sehr ernste Konsequenzen haben!« Es erschien dem Stationsarzt, als hätten seine eindringlichen Worte nicht die geringste Reaktion hervorgerufen. »Sehen Sie mich an!« Molesworth wollte vor einer weiteren Beschuldigung die Pupillen des Mädchens in Augenschein nehmen, ob diese eine unnatürliche Weitung aufwiesen. Seine rechte Hand schoss vor, drückte ihren Kopf in den Nacken, wo er ihn mit der Linken abstützte. Er versuchte, mit Daumen und Zeigefinger die Lider eines Auges auseinander zu ziehen.
In diesem bescheuerten Dämmerlicht sieht man nicht mal die Hand vor Augen, formulierte Molesworth verärgert seine
Gedanken. Dann zuckte seine Hand zurück, als habe er sie in kochendes Wasser getaucht. Noch in derselben Bewegung stieß er die Schwester von sich weg. Das hatte nichts mehr mit Drogen zu tun! Mühsam versuchte Jasper Molesworth, seine Irritierung niederzukämpfen. Er war Arzt. Er hatte so ziemlich alles an Boshaftigkeit gesehen, mit dem der Schöpfer seine Kinder auf der Erde quälen konnte. Komplizierte Knochenbrüche, furchtbare Fleischwunden, schreckliche Infektionen und noch entsetzlichere Geschwüre sowie alles verzehrende Tumore. Auf diese Augen aber war er nicht vorbereitet gewesen! Die an sich weiße Gallertmasse des Augapfels war beinahe vollkommen schwarz! Die Pupille war so stark erweitert, dass von der Regenbogenhaut kaum mehr etwas zu erkennen war. Trotzdem beschloss Molesworth die Nerven zu behalten. Dieser Frau musste unbedingt geholfen werden. Doch zuerst wollte er eine andere Sache in Erfahrung bringen. »Wer hat Ihnen diesen Behälter gegeben?« Im Halbdunkel des Korridors konnte der Stationsarzt lediglich die Umrisse ausmachen, dazu die blassroten Reflexe einiger Schriftzeichen, die darauf abgebildet waren. 72
»Von wem haben Sie dieses Gefäß bekommen?«, wiederholte Jasper Molesworth, mittlerweile hochgradig ungehalten. Nicht aufgrund des Verhaltens der Krankenpflegerin. Sie konnte sicher am wenigsten für ihren Zustand. Vielleicht hatten ihr aber ein paar nette Kolleginnen ein Pulver aus der so genannten Giftküche in den Kaffee geschüttet. Einfach so. Nur, um ihren Spaß zu haben. Solche Vorfälle hatte es bereits in der Vergangenheit gegeben. Diese waren zwar streng geahndet worden - in allen Fällen hatte man die Verantwortlichen entlassen und Strafanzeige erstattet -, doch durch die hohe Fluktuation von Praktikanten, Auszubildenden und Umschülern, die nicht selten nur wenige Tage im St. Mary Abbott's Hospital Dienst taten, sprachen sich diese drastischen Maßregelungen kaum noch herum. Leider konnte man auch immer wieder feststellen, dass die Hemmschwelle in der heutigen Zeit viel niedriger saß, als noch vor zwanzig Jahren. Der Griff zu Narkotika und bewusstseinserweiternden Drogen war nicht mal mehr ein Kavaliersdelikt. Er gehörte zum Alltag. Doch das würde Molesworth zu verhindern wissen. Es ging um das Wohl der Patienten, die dieser Institution ihr Leben anvertrauten. Es durfte in keinem Fall in die Hände verantwortungsloser Teenager gelegt werden, die dauertraumatisiert nur die nächste Happy-Pille im Kopf hatten. »Zum Teufel! Sagen Sie schon, wer Sie geschickt hat!« Molesworth schüttelte die junge Frau energisch. Das wirkte. »Er war's.« Behäbig beschrieb der Kopf der Schwester eine Vierteldrehung nach links. Eine kleine Gestalt stand im Flur. Ist er schon die ganze Zeit da gewesen?, fragte sich der Arzt unsicher. Er hatte niemanden bemerkt. Plötzlich fühlte er sich unsicher. »Wer... wer ist das?«
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Die Pflegerin reagierte nicht. Dafür kam die kleinwüchsige Gestalt näher, bis sie etwa eine Armlänge entfernt vor Jasper Molesworth stand.
Ein Kind!
Seine Augen wurden groß.
Das ist ja noch ein Kind!
»Ich bin Dennis«, sagte der Junge. »Das ist für dich...«
Seine Augen... sie sind fast schwarz! Wie bei der Schwester!
Entsetzt starrte der Arzt auf das bauchige Gefäß, das ihm der Junge - er schätzte ihn auf sieben, acht Jahre überreichte. Ich darf es nicht berühren!, überschlugen sich die Gedanken des Mannes. Ich darf nicht diesen Deckel
abnehmen!
Irgendwie wusste Jasper Molesworth, dass es sein Ende bedeuten würde. Auf jeden Fall etwas vergleichbar Endgültiges. Indes - sein Widerstand zerbarst klaglos wie eine Terrakotta-Schale unter der unaufhaltsamen Wucht eines Schmiedehammers. Einen Wimpernschlag weiter lag das Behältnis offen vor ihm. Da bewegte sich doch etwas! Sein Blick saugte sich daran fest. Es war ein unbegreiflicher, innerer Zwang. »Ich muss jetzt zu den Patienten«, sagte die Krankenschwester in ihrer tonlosen Art, als könne sie diesen einen Satz stundenlang ohne Unterbrechung immer wieder aufs neue sagen. Diesmal hatte der Stationsarzt nichts einzuwenden. * Muskeln und Sehnen spannten sich unter seiner Haut. Richard war jeden Moment zur Flucht bereit.
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Vor ihm standen Jasper Molesworth, eine Krankenschwester und ein kleiner Junge. Ihnen allen gemein waren diese rabenschwarzen Augen, die das Schlimmste befürchten ließen. Diese drei Menschen waren nicht mehr sie selbst. Etwas hatte von ihnen Besitz ergriffen. Etwas, das verhindern wollte, dass Richard Jordan und Philip Ravenmoor das St. Mary Abbott's Hospital noch einmal lebend verließen. Dem Siebenundzwanzigjährigen war nur nicht klar, wie das teuflische Trio das bewerkstelligen wollte. Doch er war sich ziemlich sicher, dass er die Antwort darauf recht bald erhalten würde. Trotzdem gab er sich unbefangen, als er sagte: »Doktor, ich hatte Sie doch gebeten, mich mit meinem Bekannten alleine zu lassen... Was gibt es denn?« Äußerlich beinahe gelassen wirkend, tobte in Richards Innern ein emotionaler Sturm. Ein Angriff stand unmittelbar bevor. Die Nerven lagen blank, schienen unter jeder gesprochenen Silbe hektisch zu vibrieren. Die Gefahr lauerte gleich verhaltenem Gewitter in der von Medikamentengeruch durchsetzten Luft. Molesworth reagierte sehr zögerlich auf Richards Frage. Es war, als müsse er erst an anderer Stelle nachfragen, wie er sich zu verhalten habe. »Ihre Zeit ist zu Ende«, formten dünne Lippen die Lautgebung des Kehlkopfs in verständliche Worte. Es hörte sich an wie eine synthesizerunterstützte Stimmmodulation, die nur rein zufällig dem gehörten Sinngehalt entsprach. »Kommen Sie bitte mit nach draußen.« Richards Blick machte die Runde, doch in keinem der Gesichter konnte er etwas darüber lesen, was unmittelbar auf ihn zukommen sollte. Sie alle waren vollkommen ausdruckslos. Nicht der Anflug eines ironischen Lächelns oder die Vorfreude auf das Zuschnappen einer hinterhältigen Falle.
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Der Student ging vorsichtig auf den Arzt zu, bemerkte dabei, dass dieser fast unmerklich zurückwich und die Schwester sowie das Kind seitlich an ihm vorbeizogen. Sie wollen mich einkreisen!, erkannte Richard das Manöver. Jetzt wird es wirklich ernst! Er stand im offenen Türrahmen. In seinem Rücken lauerten der Junge und die Pflegerin. Vor ihm stand Molesworth, der seine Rückwärtsbewegung eingestellt hatte und als gemeißeltes Monument dastand, um einen möglichen Ausbruch seines Opfers über den Flur zu verhindern. Es gibt keinen anderen Ausweg!, jagten sich Richards Gedanken. Es geht nur über den Korridor... »He, Mister!« Jordan verkrampfte sich automatisch. Geistig hatte er sich schon auf einen Blitzangriff eingestellt. Doch das Kinderstimmchen hatte sein Vorhaben zunichte gemacht. So warf er unschlüssig einen Blick über die Schulter. Es galt, die Situation neu abzuwägen. »Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht«, erklärte der Kleine, wobei er eigentlich keines der Worte irgendwie betonte. Nun musste Richard sich doch halb herumdrehen, obwohl er Doktor Molesworth nicht unbedingt gerne den Rücken zuwandte. Aber es war die junge Frau in der Schwesterntracht, in die plötzlich Bewegung kam. In ihren Händen hielt sie einen dunklen Flakon, lüftete den fast zierlich anmutenden Deckel mit dem gezwirbelten Knotengriff und hielt ihn dem Studenten hin. »Hier. Nehmen Sie.« »Neeeeiiiinnn!!!« Richard sprang zurück, stolperte und als er wieder vom Boden aus hochsah, da richtete sich der Doktor langsam auf und schaute mit teilnahmsloser Miene und aufgeplatzter Nase Jordan an. Das Blut lief an seinem Kinn herab und tropfte auf den weißen Kittel.
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Ich muss ihn mit dem Hinterkopf erwischt haben, suchte Richard nach einer plausiblen Erklärung. Dann bin ich über den Doc gestürzt.
»So einfach bekommt ihr mich nicht!«, tönte Richard. Er hastete vornüber gebeugt mehrere Schritte den Gang entlang, um zumindest einen respektablen Abstand zu seinen Verfolgern zu schaffen. Eigenartigerweise beachteten die Veränderten ihn nicht mehr, drehten sich in die entgegen gesetzte Richtung. Hinter ihnen schlug die Tür geräuschvoll zu. »Shit!«, fluchte Richard. »Die holen sich Philip!« Jetzt war jede Sekunde kostbar. Jordan war zu allem entschlossen. Und nur den flüchtigen Bruchteil eines Augenblicks dachte er daran, den Feueralarm auszulösen. Doch es würde nichts nützen. Diese Kreaturen würden sich nicht aufhalten oder von den Alarmsirenen beeindrucken lassen. Außerdem würde zuviel Zeit verstreichen, bis Polizei und Feuerwehr eintrafen. Der Sohn des Archäologen spurtete los, riss die Tür auf und hechtete wie ein hungriges Raubtier in den Raum. Einen Plan für seine Attacke hatte er sich nicht zurechtgelegt. Jetzt war Improvisationstalent gefragt. Und nackte Gewalt! Die drei Gestalten umringten das Bett, auf dem der mehr tote als lebendige Körper Philip Ravenmoors ruhte. Richard am nächsten stand Jasper Molesworth. Ans Fußende hatte sich der kleine Junge gestellt. Und auf der gegenüberliegenden Seite des Krankenlagers - mit dem Gesicht Richard Jordan zugewandt - hielt die Pflegerin das geheimnisvolle Gefäß umfasst, um es just in diesem Moment umzustülpen und dem wehrlosen Mann entgegenzuhalten. Was nun folgte, erlebte Richard in einer gespenstischen Zeitlupe. Seine Hände ergriffen die Lehne eines Besucherstuhls. Ohne großartig auszuholen, schmetterte er ihn in das ungeschützte Kreuz des Stationsarztes, der nur noch im Reflex die Arme hochriss und stumm zusammenbrach. 77
Der Vorgang mochte eine knappe Sekunde gedauert haben. Der Kopf des Kindes zuckte ihm entgegen, aber Richard nahm es nur aus den Augenwinkeln zur Kenntnis. Von ihm drohte kaum eine Gefahr. Die Schwester war momentan der eigentliche Gegner! Immer noch hielt Jordan den Stuhl an der Lehne gepackt. Mit den Beinen nach vorn stieß er das Möbel der Frau entgegen, die gerade im Begriff war, den Inhalt des Gefäßes über Ravenmoor zu entleeren. Hart wurde sie zurückgeprellt; die metallummantelten Fußstollen hatten sie an Stirn und Bauchdecke erwischt. Das Behältnis entglitt ihren Fingern, zerbarst auf der Erde. »Nein! Nicht das!«, schrie das Kind, während die Krankenschwester tatenlos stehen blieb, als hätte ihr jemand die Stromzufuhr gekappt. Auf dem Boden wand sich Doktor Molesworth wie ein wirbelloses Insekt. Richards rüde Attacke hatte ihm mehrere Knochen gebrochen. Dann - ein lang gezogenes Fiepen! Eine ruckartige Bewegung unter dem Krankenbett! Ein Schatten nur, der sich aus dem Halbdunkel löste. »Verdammte Bestie!«, donnerte Richard. »Was immer du bist, du lässt Philip in Ruhe!« Theatralisches Machogehabe!, durchfuhr es ihn. Einfach
einen coolen Spruch loslassen, der alles regelt! Gibt's im Film. Funktioniert da sogar! Aber das hier war echt! Kein Regisseur! Kein Drehbuch! Und - keine Zeit! Der Schatten schepperte von unten gegen die Bettkonstruktion, versuchte, den Stahlrahmen und die Matratze zu durchdringen, um... ja, um was zu tun? Erneut dieses durchdringende Fiepen!
Es will Ravenmoor! Es will in seinen Körper eindringen!
Das sah Richard jetzt ganz klar. Doch was sollte er tun?
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Eine weitere Erschütterung! Der Stahlrahmen krachte. Die Bettfedern ächzten. Richard warf sich schützend auf seinen Mentor, um die Wucht der heftigen Stöße abzufangen. Urplötzlich war es vorbei. »Es ist tot«, nahm Richard die Stimme flüchtig wahr und es war die Stimme des Kindes. »Es kann nicht leben - außerhalb. Es braucht die Wärme...« »Wer seid ihr?«, hauchte Richard, noch immer im Bann der Ereignisse stehend. »Was seid ihr...?« »Wir«, folgte spontan die Antwort, als hätte nur jemand darauf gewartet, dass diese Frage aufkam, »sind der Neuanfang.« Richard Jordan wandte sich dem Jungen zu, denn er hatte gesprochen. »Ich darf nicht zulassen, dass ihr eure Ziele erreicht.« »Du kannst es nicht verhindern.« Der Junge sprach ohne jedes Pathos. »Es ist so beschlossen...!« »Dann muss ich dich töten!« Jordan fror, als er das sagte. Würden die Höllenmächte ihn tatsächlich zwingen, ein Kind zu ermorden? War es das, was sie wollten? Ihn demoralisieren? Zum psychischen Krüppel degradieren?
Ich werde dir das Genick brechen, wenn es erforderlich sein sollte! Richard war es todernst. Es gab keine Ausflüchte
mehr. Es ging ums nackte Überleben. Auf ein Kind würde er keine Rücksicht nehmen. Auf ein Kind, das schon kein Mensch mehr war. Jordan packte seinen Kopf und riss ihn herum. Es knackte hässlich. Im Anschluss ging er hinüber zu der Krankenpflegerin, die apathisch herumstand. Der Student stieß sie kraftvoll zur Seite, nahm ein Skalpell, das er auf einer Instrumentenablage ausgemacht hatte und schnitt ihr mit einer schnellen Bewegung die Kehle auf. 79
Das Blut pulste aus der Halsschlagader, während das Mädchen in die Knie ging und ihr unheiliges Leben aushauchte. »Um Mitternacht kommt das Ende der Welt!«, kreischte das höchstens acht Jahre alte Kind. Sein Genick ist gebrochen!, schauderte Richard Jordan.
Wie kann es noch sprechen...?
Der 27jährige packte den Jungen hart am Hals, schüttelte
ihn. »Was geschieht um Mitternacht? Was habt ihr Bastarde vor!« Er wusste, dass nicht das Kind sein Gegner war, sondern jene Mächte, die durch es sprachen. »Die Messen... sie werden überall im Land abgehalten. Wir sind überall... Es ist überall...« Nein, dachte Richard. Das hat keinen Zweck. Er wollte den Wahrheitsgehalt der Aussage nicht unterschätzen, denn irgend etwas sagte ihm, dass die Ereignisse in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verpuppung Amalnacrons standen. Auch, wenn der Dämon schon seit längerem seit seiner Wiedererweckung nicht mehr in Erscheinung getreten war. Ein letztes Mal sah Richard den Jungen an, dessen Kopf seltsam verrenkt auf dem Hals saß. In den schwarzen Augenbällen funkelte diabolische Genugtuung und enthüllte für einen stillen, sehr langen Lidschlag eine grausame Bösartigkeit, die noch aus den Anfängen der Erdgeschichte stammen mochte. So alt, so intensiv, so alles beherrschend war sie. Jordan stand wie erstarrt. Dann spürte er eine zupackende Hand an seinem Unterschenkel. Es war Molesworth! Irgendwie kam er wieder auf die Beine, obwohl das bei diesen Verletzungen gar nicht mehr möglich war. Auch die Krankenschwester hatte ihren fatalen Blutverlust überstanden. Ihre Tracht hatte sich fast vollständig dunkelrot gefärbt, ihr Gesicht jegliche Farbe verloren.
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»Seid ihr denn gar nicht totzukriegen?!«, wetterte Richard und versetzte dem untoten Stationsarzt einen heftigen Tritt, der ihn gegen das Krankenbett schleuderte, wo er mit dem Hinterkopf hart gegen eine Stahlschiene prallte. »Wehren Sie sich nicht, Mister.« Der Schuljunge breitete die Arme zu einer allumfassenden Geste aus, die allerdings aufgrund seiner mangelnden Intonation beträchtlich an Aussagekraft einbüßte. Richard Jordan hatte genug gehört und gesehen. Als er einige Schrittlängen zwischen sich und das infernalische Trio gebracht hatte und wieder im Flur stand, wurde ihm die Absurdität des Augenblicks schmerzhaft bewusst. Der kleine Junge ging zuvorderst. Allein der Anblick seines Kopfs, der durch den zerstörten Halswirbel nur noch von Haut und Sehnen gehalten wurde und entsprechend widernatürlich zur rechten Schulter kippte, ließ Richard schaudern. Mittlerweile stand auch Jasper Molesworth wieder auf den Beinen. Als Gehen konnte man seine Bewegungen jedoch nicht bezeichnen. Es war ein abgehacktes Rucken, das durch die verkrümmte Stellung der an sich abgestorbenen Beine eine Vorwärtsbewegung nur unzureichend simulierte. Die Krankenpflegerin stakste als letzte hinterher, wobei ihr Anblick nicht minder grauenerregend war: die blasse Gesichtshaut mit den weit aufgerissenen, tintenschwarzen Augäpfeln und dem blutdurchtränkten Schwesternkittel. Der Korridor lag wie gewohnt im Dämmerlicht. Richard blickte sich zu beiden Seiten um. Er musste jetzt etwas unternehmen. Diese Brut des Satans durfte keinesfalls ihr Treiben fortsetzen. Schließlich sah er die Axt. Sie war an der Wand hinter einem Glaskasten befestigt, direkt neben dem Notausgang. Ich muss es zu Ende bringen!, redete er sich zu. Eine
andere Sprache scheinen diese Wesen ja nicht zu verstehen.
Etwa zehn Meter trennten Richard von dem Kasten. Er spurtete los, zertrümmerte mit dem Ellbogen die Scheibe und riss die Axt aus den Halterungen. 81
Als er sich herumdrehte wunderte er sich nur, dass die drei Besessenen ihm schon ziemlich nahe gekommen waren, obwohl sie sich nicht besonders schnell fortbewegten. »Scheiß drauf«, knurrte er entschlossen und holte beidhändig mit der Waffe aus. »Vielleicht gibt euch der Tod den Frieden, den ihr in diesem unseligen Leben nicht habt!« Schon mit dem ersten Hieb legte sich ein blutiger Schleier um seine Sinne, der diese regelrecht betäubte, jedoch seine Körperkraft zu vervielfachen schien. Mit blinder, rasender Energie schlug er immer und immer wieder zu, spürte den Widerstand, auf den die wuchtige Klinge traf, riss sie schmatzend aus dem klaffenden Fleisch heraus, nur, um erneut in dieselbe Richtung zu schlagen und die besessenen Leiber Stück für Stück zu zerteilen. Richard ließ die Axt fallen, torkelte unbeholfen ein paar Schritte zurück, rieb sich über die Augen und sah gerade noch, wie eine kleine Gestalt am anderen Ende des schlecht ausgeleuchteten Flurs um die Ecke bog und verschwand. Das Kind war entkommen! Die Taubheit seiner Arme wich nur langsam. Er schaute zu Boden. Auf das, was einmal Jasper Molesworth und eine Krankenpflegerin gewesen war. Richard musste würgen. Entsetzt wandte er sich ab. Bin ich das gewesen? Die Frage hallte wie das Echo eines überdimensionalen Gongs in seinen Gehirnwindungen nach.
O Gott! Bin wirklich ich das gewesen?!!!
Er kannte die Antwort. Natürlich. Schließlich hatte er die Frage in demselben Wortlaut schon einmal gestellt, als er vor der enthaupteten Leiche von Martha Penworth, der Haushälterin der Jordans, gestanden hatte. »Ich muss weg!« Jordan versuchte das erstickende Pochen seines Herzens zu ignorieren. »Zurück zur Villa und Philips Unterlagen durchforsten.«
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Allein konnte er nichts mehr erreichen. Das war eine Nummer zu groß für ihn.
Wenn ich Denningham-Cartlewood informieren kann, wird er mir helfen, Philip zu retten.
Jetzt erst registrierte der Sohn des Archäologen überdeutlich, dass der telepathische Kontakt zu dem Höllenjäger abgerissen war. Aus irgendeinem Grund hatte er sich nicht mehr gemeldet und war auch momentan nicht in der Lage, das zu tun. Richard hätte ihn liebend gerne mitgenommen, doch wusste er nicht, ob der Körper des Freundes ohne medizinische Unterstützung nicht sterben würde. Dieses Risiko durfte er keinesfalls eingehen. Dann würde Ravenmoor als körperloser Geist umherirren und irgendwann verenden. Seine sterbliche Hülle musste auf jeden Fall am Leben erhalten werden. Richard wollte an der Rezeption noch einmal darauf drängen, dass sich jemand um Philip kümmerte. Wenn diese Schreckschraube an der Information noch nicht besessen war, würde sie etwas in die Wege leiten, zumindest aber einen diensthabenden Arzt informieren. Richard war der Meinung, dass Philip in diesem Hospital nichts mehr zu befürchten hatte. Jedenfalls nicht diese Nacht. Was geschah, wenn die zerstückelten Leichen entdeckt wurden, stand auf einem ganz anderen Blatt. Darüber wollte er sich jetzt auch nicht den Kopf zerbrechen. Er tat das, was er sich vorgenommen hatte, redete mit dem St.-Mary-Abbott's-Hausdrachen am Empfang und gab ihm zu verstehen, dass auf der Intensivstation einiges nicht nach Vorschrift verlief und entfernte sich eiligen Schrittes durch das Hauptportal. Hoffentlich hatte er sich nicht unnütz erneut die Polizei auf den Hals gehetzt. Die entsetzlich zugerichteten Körper mussten unweigerlich - mal wieder! – mit ihm in Zusammenhang gebracht werden.
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Trotz alldem galt es, Prioritäten zu setzen. Und da stand die Menschheit nun mal ganz klar vorne. Richard vertraute außerdem im Ernstfall auf die Intervention von Inspektor Cliff Warwick. Er hatte seinen, Richards, Kopf erst vor kurzem aus der Schlinge gezogen und stand voll und ganz hinter dem Studenten. Mitternachtsmessen!, rief sich Richard die Worte des Jungen in Erinnerung und blickte unwillkürlich auf seine Armbanduhr. »Knappe sieben Stunden...« Jordan winkte ein Taxi heran. Zuerst wollte er zum Haus seiner Eltern. Danach würde er sich um die Kirchen kümmern. Doch wo sollte er anfangen zu suchen? Der Tag ist noch jung, sagte er sich in einem Anflug tragischen Humors und stieg in den Fond des Cabs. *
23 Uhr 35.
Der nächtliche Oktoberhimmel zeigte sich sternenklar mit nur vereinzelt auftretenden, diffusschwarzen Wolken. Der Mond wirkte innerhalb der leuchtenden Pracht eher zurückhaltend mit seiner schmalen, blassgelben Sichel. »Da suche ich wie geistesgestört einen Parkplatz«, schüttelte Dan Farnham in gespielter Fassungslosigkeit den Kopf und zog seine zwei Mädchen, die ihn rechts und links an den Händen gepackt hielten mit leichtem Schwung auf seine Schritthöhe, »und die U-Bahn hält direkt vor der Kirche.« »Ärger' dich nicht, Schatz«, hörte der Versicherungsmakler von hinterrücks die angenehm helle Stimme seiner Frau Sharon. »Bestimmt wären wir per Underground zu spät gekommen.« Sie packte mit beiden Händen seine Schultern und ließ sich ein paar Meter mitziehen. Dan lachte. »Ich find's ja schon toll, dass ich dich und die Kinder überhaupt überreden konnte, mitzugehen.« 84
»Carol und Jessica zu überreden war natürlich eine rhetorische Glanzleistung von dir«, spöttelte Sharon. »Außerdem wolltest du doch selber unbedingt hin...« »Da hast du recht«, tat Farnham wie ertappt. »Dir musste ich schon einiges versprechen...« Dabei blickte der 35 Jahre alte Mann entschuldigend nach hinten und direkt in die Augen seiner Frau, die viel versprechend kurz die Augenbrauen hob und ihrem Mann ein geschmeidiges, wissendes Lächeln zusandte. »Was hat Daddy dir versprochen?«, wollte Carol natürlich im selben Moment wissen und schwenkte den Arm ihres Vaters vor und zurück. »Nichts für kleine Mädchen«, stimmte ihre drei Jahre ältere Schwester die Melodie eines Kinderreims an, nur eben mit ihren eigenen Worten. »Ist es was mit Sex?«, ließ Carol nicht locker und auf ihrer Stirn kräuselten sich ganz kleine, niedliche Fältchen. »Sag' mal, lernt ihr so etwas in der Schule, kleine Lady?«, gab sich Dan Farnham in gespielter Art und Weise brüskiert. »Da muss ich wohl mal ein sehr ernstes Wort mit eurem Lehrer sprechen.« »Ach, Daddy«, blickte die achtjährige Blondine ihren Vater fast schon mitleidig an. »Das ist doch ein alter Hut.« »Ist es das?« Jetzt war Farnhams Verblüffung echt. Wie konnte man denn mit acht Jahren über Sex reden, als unterhalte man sich übers Wochenhoroskop? Er selbst hätte in dem Alter nicht mal gewagt, das Wort auszusprechen, ohne rote Ohren zu bekommen. »Schon mal Mittags-TV geguckt, Dad«, meldete sich Jessica belehrend zu Wort. »Wie denn? Da bin ich in der Firma oder on the road, Spatz.« »Siehste. Aber Carol hockt immer davor.« Farnham blickte seine jüngste Tochter fragend an und erntete ein mehr als breites Grinsen mit anschließendem, hinter vorgehaltener Hand vorgetragenem Kichern. 85
»Dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt für die Beichte«, erwiderte er schnell und setzte zum Lauf an. Die Mädchen kreischten begeistert und versuchten, mit ihrem Vater Schritt zu halten. Unerbittlich schleifte Farnham seine Sprösslinge hinter sich her und nur ganz kurz ließ er es zu, dass sie ihn überholten. »Kompanie haaaaalt!«, tönte Sharon in ihrem Rücken. »Dan, du willst doch nicht in diesem Affenzahn in das Gotteshaus stürmen?« »Stehen bleiben!«, brummte Farnham und stand fast augenblicklich auf der Stelle, während seine Töchter noch vom eigenen Schwung mitgerissen wurden und seine Hände loslassen mussten. »Schön, dass du auch mal eine Hand für mich freihast«, beschwerte sich Sharon Farnham und zog die Mundwinkel nach unten, während Carol und Jessica die Stufen zum Kirchenportal hochsprangen. »Oooh, fühlt die junge, äußerst begehrenswerte Dame mit dem scharfen Knackpo sich vielleicht ein wenig vernachlässigt...?« »Vielleicht ein wenig«, spürte Dan ihren warmen Atem an seinem Ohr. Sharons Linke umgriff seine Hüfte und er legte seinen Arm um ihre Schultern. »Aber der Herr hat mir ja etwas versprochen...«, fügte sie schnippisch, jedoch mit ironischem Unterton hinzu. Dan verlieh seiner Miene einen drohenden Ausdruck und mit Stentorstimme wandte er sich an seine Gattin, die allerdings ihr Auflachen krampfhaft unterdrücken musste: »Zügle deine fleischliche Gier im Angesicht des Allerhöchsten, Weib!« »Lass uns reingehen, Dan«, klopfte sie ihrem Gatten versöhnlich auf den Rücken. »Dein Weib wird sich halt noch ein wenig gedulden müssen...« Drei, vier Sekunden Stille. »Dann ist's ja gut«, nickte Farnham. 86
»Blödmann!«, zischte Sharon und knuffte seinen Oberarm. »Wo sind die Kinder?«, wurde Dan unvermittelt ernst. Seine Frau zeigte mit dem Finger voraus auf den Mittelgang, als sie das Portal durchschritten. »Wie immer mitten im Gefummel.« Farnham ließ den Blick kreisen. »Es sind wirklich viele Leute gekommen.« Es klang ein wenig verwundert. »Hat Carol nicht gesagt, dass viele Eltern abgesagt hätten?« »Es kommen auch noch andere Leute in diese Kirche«, versuchte Sharon eine Erklärung, obwohl auch sie den Menschenandrang verwunderlich fand. Wenigstens um diese Uhrzeit. Dan Farnham neigte den Kopf zur Seite. »Das müssen Hunderte sein...« Ja, diese Einschätzung würde der tatsächlichen Zahl der Anwesenden ziemlich nahe kommen. »Carol! Jessica! Kommt bitte zu uns her!« Sharon Farnham war vorgetreten und ermahnte ihre Töchter, die sich vollkommen frei zwischen den Erwachsenen, aber auch den vielen Kindern, nach vorne vortasteten. Jessica winkte ihren Eltern zu, sich ihnen anzuschließen, doch Sharon Farnham schnitt ihr die Bewegung drastisch ab und deutete mit dem Zeigefinger energisch auf die Stelle, an der sie und ihr Mann standen. Aus der Entfernung sah sie, dass die Elfjährige ihre Schwester anstieß und zum Rückmarsch aufforderte. Ohne über die Fähigkeit des Lippenlesens zu verfügen, konnte Sharon mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Wort vorhersagen, das Carol gerade ausgespuckt hatte wie einen ausgelutschten Kaugummi. Widerwillig trottete sie hinter Jessica her. »Bleibt schön bei Mami und Daddy«, lächelte Sharon ihre Töchter an. »Wenn ihr hier verloren geht, finden wir euch so bald nicht wieder.«
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»Ist aber langweilig«, quengelte Carol und schaute zu Boden. »In ein paar Minuten geht's los!«, versprach Dan Farnham und streichelte ihren Kopf. »Ich will aber sitzen«, machte sich Jessica bemerkbar. »Guck mal, Dad, da vorne...!« Es gab tatsächlich in der drittletzten Bankreihe noch einige unbesetzte Plätze, obwohl die mittelgroße Kathedrale aufgrund des Menschenandrangs schier aus den Nähten platzen wollte. »Okay, Mädels. Rüber mit euch!« Dan Farnham nahm sie bei den Händen und ging zielstrebig auf die Bank zu. Die Mädchen rutschten nach innen, er wartete, bis seine Frau Platz genommen hatte und setzte sich auf die Ecke. »Von mir aus kann's losgehen.« »Das ist keine Kirmes, sondern eine heilige Messe«, wies Sharon Farnham ihren Ehemann zurecht. »Fünfzehn Minuten wirst du wohl noch warten können.« Sie hatte ein wenig Mühe, mit ihrem Geflüster das allgemeine Gemurmel zu übertönen. »Schon gut. Kein Problem.« Irgendwann hatten die meisten Leute einen Sitzplatz gefunden. Der Rest postierte sich hinter den letzten Reihen. Das Murmeln verebbte, als die Kirchenorgel die ersten Takte eines Gebetsverses anspielte. Wie eine Person erhoben sich die Männer, Frauen und Kinder und stimmten - mehr oder weniger gewandt, mit und ohne Gebetbuch - einen Gesang an. Während die letzten Akkorde aus den mächtigen Orgelpfeifen als langsam verstummendes Echo zwischen den Kathedralenwänden im Deckenbereich verklangen und sich die Besucher wieder gesetzt hatten, trat Pastor Douglas McIntire vor den Altar, verneigte sich kniend im Angesicht des gekreuzigten Heilands, stand wieder auf und stieg die Wendeltreppe zum Rednerpult empor, von wo aus er einen Überblick über alle Anwesenden hatte. Die gezimmerte Kanzel, die etwa drei Meter über den Kirchgängern angebracht war, entzog sich der direkten 88
Einstrahlung durch die in Kopfhöhe eingelassenen Lampen. Irgendwie lag sie immer im Halbdunkel und nur die freihängenden Lichtgondeln über dem Mittelgang warfen diffusen Schein auf den Mann in der Soutane. Seltsame Schatten wanderten über das aschfahle Gesicht mit der grobporigen, teigigen Haut und den fast schwarzen Augen. Niemand jedoch schien es unter den gegebenen Umständen zu bemerken. »Liebe Gläubige, die ihr euch heute hier in diesem Hause Gottes versammelt habt«, begann McIntire seine Rede und versuchte unter Aufbietung all seiner zur Verfügung stehenden Energie, das gesprochene Wort glaubhaft und vor allem akzentuiert hervorzubringen. Es gelang im Ansatz. Das Wesen, das der Pastor nun verkörperte, verinnerlichte die Eigenschaften seines Wirtskörpers, übernahm die Matrix seines Geistes und baute auf den vorhandenen Erfahrungswerten auf. Es war Bestandteil einer kollektiven Intelligenz, die aus dem Verpuppungszyklus Amalnacrons hervorgegangen war. Amalnacron war in ihm. Aber Amalnacron war auch in Abertausenden von anderen, die auch er waren. Amalnacron war überall. Das war das Geheimnis des Verpuppungsvorgangs. Ein Wesen, dessen Augen und Hände Legion waren. Der Dämon - wenn man diese Entität in Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung so nennen wollte - hatte seine Zustandsform geändert, war zu etwas geworden, das im Wechselspiel übergeordneter, kosmischer Gewalten als Zysstho-Pest bezeichnet wurde. Die Ouvertüre des Schreckens war eröffnet! »Ich möchte euch Dank sagen für euer zahlreiches Erscheinen«, fuhr der Pastor fort, immer darum bemüht, seiner Stimme einen natürlichen Klang zu verleihen. »Wir zelebrieren diese Messe zu einem wahrhaft ungewöhnlichen Zeitpunkt. Doch auch die Zeit, in der wir leben ist ungewöhnlich. Und genau an diesem heutigen Tage findet 89
eine entscheidende Zäsur statt in unserem geordneten Gefüge.« »Was ist eine Zäsur?«, fragte Carol ihre Mutter mit gedämpfter Stimme. »Ssschhttt!«, machte Sharon und legte den Zeigefinger an die Lippen. Dabei zwinkerte sie ihrer Tochter kurz zu. Douglas McIntire lauschte den eigenen Worten nach. Der dämonische Teil von ihm konnte menschliche Verhaltensweisen nun wesentlich besser nachvollziehen und auch entsprechend steuern. Alles, was es lernte, lernte auch Amalnacron. Und er konnte dieses Wissen an sämtliche Dienerkreaturen ohne Verzögerung weiterleiten. »Der Allmächtige selbst wird sich uns in dieser Nacht offenbaren«, trumpfte Douglas McIntire auf. Der erwartete, hundertfache Ausruf des Erstaunens blieb aus. Sicher hielt die Mehrzahl der Versammelten die Äußerung für eine Floskel. »Schaut her, Anhänger des wahren Gottes!«, erhob der Pastor Stimme und Arme, machte eine halbe Rückwärtsdrehung in Richtung des Altars, an dem sich ein Heer an Kindern in Messgewändern aufgestellt hatte. Sein knöcherner Zeigefinger deutete zitternd auf die Kinder, die reglos in einem weiten Halbkreis um den Altar standen und aus schwarz verfärbten Augäpfeln in die Menge starrten. In ihren Händen hielten sie eigenartige Behältnisse. »Kommt heran, ihr Jünger Gottes und empfangt aus den Händen der Unschuldigsten der Unschuldigen das heilige Sakrament!« »Etwas früh fürs Abendmahl«, zischte Dan Farnham seiner Frau zu. »Hab' ich 'ne halbe Stunde verpasst...?« Allgemeines, unterdrücktes Stimmengewirr. »Das ist... wirklich ungewöhnlich«, antwortete Sharon zögerlich. »Woher kommen all diese Kinder?«, schnappte Dan eine Frage auf, die von weiter vorne heran drang.
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»Ihre Augen...«, flüsterte Sharon. »Was ist denn nur mit ihren Augen?« Carol drückte sich fest an den Arm ihres Vaters. »Mir ist unheimlich.« »Irgend etwas sagt mir, dass wir jetzt besser gehen sollten.« Dan Farnham blickte starr auf die Kinderschar vor dem Altar. Er schätzte sie auf etwa drei Dutzend. Dann sah er zur Seite und seine Frau an. In ihren wasserblauen Augen spiegelte sich das wider, was auch er dachte: Lass uns die
Kinder packen und verschwinden!
Orgelmusik setzte ein. Dröhnend. Unmelodisch. Wie eine immer wiederkehrende Welle, die den Dom erfüllte, sich an den ehernen Mauern brach und wieder zum Ausgangspunkt reflektiert wurde. »Da gehen tatsächlich einige zum Altar rüber!« Farnham konnte es nicht fassen. »Kommet zu mir, meine Kinder!«, erhob Pastor McIntire seine Stimme, unterstützt von der frenetischen Dissonanz, die sein Organist heraufbeschwor. »Der Allerhöchste liebt euch! Und er wird seine Herrlichkeit mit euch teilen! Kommet zu mir!« Es gab nicht wenige, die sich von der aufgepeitschten Stimmung mitreißen ließen. Sie alle wandten sich den unbeweglich verharrenden Kindern zu - und den Gefäßen, die sie hielten. In vielen Gesichtern aber lasen Dan und Sharon Farnham dieselben Zweifel und Ängste, die auch sie befallen hatten. Und wenn sie dann noch in die verstört wirkenden Gesichter ihrer Töchter sahen, dann konnte es nur eine Entscheidung geben! »Zum Ausgang, Schatz!« Dan hielt die blonde Carol fest an der Hand, während Sharon Jessica vor sich her schob. Vor ihnen befand sich ein Menschenpulk, der in die verschiedensten Richtungen strebte. Mehrere Familien aber waren auch zum Portal unterwegs.
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»Hast du Jessica?!«, rief Dan seiner Frau zu, als er von beiden Seiten hart angerempelt wurde. »Wir dürfen die Kinder nicht verlieren!« »Ich hab' sie! Keine Angst!« Wieso öffnen die Leute denn nicht den Haupteingang?, ärgerte sich Farnham und schob sich weiter vor, ständig jedoch darauf bedacht, dass niemand seinem Töchterchen zu nahe kam. »Verdammt! Jetzt macht schon die Tür auf!«, rief Dan den unschlüssig dastehenden Menschen zu. Er war ziemlich gereizt. Die Orgelmusik nervte höllisch. Es war fast, als würden die Mauern anfangen zu vibrieren. Kindergeplärr lag in der Luft. Wirres Hin- und Herrufen. Das Geklapper hunderter Absatzpaare. Schlechter Atem. Erstickendes Parfüm. Schweiß. Räuspern. Husten. McIntires weithin hallendes Organ. Schließlich war der Versicherungsfachmann selbst am Haupttor angekommen. Verängstigte Blicke streiften ihn. »Es... es ist verschlossen...«, hauchte ihm eine Frau entgegen. »Man will uns hier gefangen halten!«, kreischte von irgendwo ein Mann. Carol begann zu weinen. »Ruhig, Spatz. Dir wird nichts passieren...« »Oh, Daddy, Daddy! Bring uns raus hier!« »Ich werde auf dich aufpassen«, strich Dan Farnham der Achtjährigen die Haare in den Nacken und wischte ihr zwei kleine Tränen aus dem Gesicht, die gerade über ihre Wangen kullern wollten. »Du brauchst dich nicht zu fürchten.« »Warum geht's nicht weiter?«, verlangte Sharon atemlos eine Erklärung. Sie hatte sich mit Jessica tapfer durch die Menge vorgearbeitet. Hinter ihnen drängte die Meute bereits nach, wollte auch auf dem schnellsten Weg heraus. »Jemand hat das Portal verschlossen«, gab Dan Auskunft und hob Carol auf seine Schultern. »Und jetzt...?!« Es war halb Frage, halb Hilfeschrei.
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»Jetzt suchen wir uns einen anderen Ausgang, bevor wir von diesen Idioten zertrampelt werden.« Die Bezeichnung war durchaus gerechtfertigt. Es gab Erwachsene, die in heilloser Panik alles umrannten, was ihnen im Weg stand. Der Tumult konzentrierte sich mittlerweile nur auf den rückwärtigen Teil der Kirche. Im Altarbereich gab es weder hektische Bewegungen noch angstdurchsetztes Geschrei. »Wir gehen nach vorne!«, entschied Dan. »Bleibt direkt hinter mir!« Er wich nach rechts aus, bis er die Wand erreichte. Wenn er nach vorne blickte, dann sah er diese schmale Tür. Wohin sie führte, konnte er nicht sagen. Vielleicht in die Privaträume des Pastors. Höchstens fünfzig Yards trennten ihn und seine Familie von dem Schritt in die Freiheit, heraus aus diesem entsetzlichen Tumult. Besorgt registrierte Farnham, dass die Messdiener nun in den Mittelgang zwischen den Bankreihen vordrangen. Ihr Ziel war unzweifelhaft dieses unkontrolliert zuckende und schreiende Menschenknäuel, das mit Gewalt das Hauptportal öffnen wollte. »Gleich sind wir in Sicherheit, Sharon!« Die Mutter zweier Kinder fragte nicht großartig. Sie hielt sich an ihren Mann. Es war die einzige Chance. Vor Farnham tauchten Leute mit ausdruckslosen Mienen auf. Ihre Augen waren fast schwarz. Sie versperrten den Flüchtenden den Weg. »Wehrt euch nicht«, quollen die Worte bedeutungsleer über blutarme Lippen. »Wir bringen euch Geschenke...« »Festhalten, Carol!«, stieß Dan hervor und das Mädchen klammerte sich mit aller Kraft an seinen Hals. Farnham hob im Lauf das rechte Bein und trat in die Magengrube des vor ihm Stehenden. Den Kerl links davon erwischte er fast gleichzeitig mit der Schulter. Der torkelte nach hinten weg und riss einen weiteren Besessenen mit sich. Carol schrie ängstlich auf. 93
Zwei Yards noch! Er ließ seine Jüngste auf den Boden herunter. Hinter sich hörte er das Keuchen von seiner Frau und Jessica. »Die stehen wieder auf, Dan!« Sharon stellte sich schützend vor die Elfjährige. Im selben Moment drückte Dan Farnham die schmale Tür nach innen auf. »Los! Rein hier!« Er half seiner Frau und den Kindern in den dunklen Raum, hielt dabei die Tür lediglich einen Spalt breit geöffnet und wollte sie gerade schließen, als sich ein kleiner Junge mit einem dieser dickbauchigen Behälter in die Öffnung zwängte. Farnhams flache Hand schoss vor, stieß das Kind heftig vor die Brust, so dass es zurücktaumelte. Dann warf er die Tür ins Schloss, drehte mit feuchten Fingern den Schlüssel herum und hörte wie durch Watte ein klirrendes Geräusch. Im Anschluss entsetzliche Schreie, die jedoch schnell erstarben. »Licht!« Zitternd tastete Farnhams Hand über einen Druckschalter. Es wurde hell. »Bring uns nach Hause, Schatz!«, schüttelte Sharon den Kopf und drückte die Handballen gegen ihre Schläfen. Jessica klammerte sich mit angstvollem Augenaufschlag an ihre Hüfte. »Bitte bring uns sofort nach Hause, Dan!« Ihr Mann antwortete nicht, sondern sah sich forschend um. Ein kahler Vorraum. Zwei etwa sechs Fuß hohe Holzregale. In ihnen lag Werkzeug, Kleineisenteile. Nichts Besonderes. Aber es gab zwei Türen. Die zu seiner Rechten würde auf die Straße führen. Erst jetzt fiel Dan Farnham auf, dass sein blonder Engel jämmerlich fror. Jessica schien es ebenfalls nicht besser zu gehen. »In fünf Minuten sind wir im Auto. Und da lassen wir die Heizung richtig bullern.« 94
Jessica lachte. »Ja, Dad, das machen wir.« Sharons Ehemann drückte die Klinke der Tür hinunter, zog sie auf... ... und atmete kühle, frische Nachtluft. »Nun aber schnell!«, gab er Carol einen sanften Schubs und scheuchte sie vor. Jessica und Sharon folgten. Als Dan Farnham als letzter die Kirche verließ, schnürte es ihm wie mit einem Metalldraht die Kehle zu. Carol stieß einen spitzen Schrei aus. Sie würden ihren Wagen niemals erreichen! Eine Horde schwarzäugiger Besessener hatte eine lebende Blockade errichtet. Sie gaben zwar keinen Laut von sich, doch ihre Gesinnung war Dan Farnham bekannt.
Also in die entgegen gesetzte Richtung! Wo immer uns das auch hinführen mag!
»Da lang!«, wetterte er, als er die Unentschlossenheit seiner Frau beobachtete. »Los - los - los - los - los!« Ohne Gnade stieß er seine drei Mädchen vor sich her, warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und trieb sie noch stärker an. Sie dürfen uns nicht erreichen!, hämmerte es in Farnhams Kopf. Er wusste nicht, was passieren würde. Er ahnte nur, dass es etwas sehr, sehr Schlimmes sein musste. »Ich kann nicht mehr!«, stöhnte Carol und ihr Keuchen dröhnte in Dans Ohren, als wollte dem Kind gleich der Brustkorb platzen. »Lass uns einen Moment ausruhen«, erwiderte auch Sharon Farnham. Dan blickte zurück. Die Besessenen waren zu undeutlichen Schemen geschrumpft. Sie hatten sie nicht verfolgt. »Es sieht schlecht aus«, verkündete das Familienoberhaupt. »Wir kommen nicht zum Wagen oder zur Underground. Folglich kommen wir auch nicht nach Hause.« »Dan!« Sharons Stimme zerschnitt die Luft. »Was hast du vor...?«
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Der Familienvater sah seine Frau und der Reihe nach seine beiden Töchter an, die den Blick seiner besorgten Augen angst- aber auch hoffnungsvoll erwiderten. »Wir werden uns verstecken...« *
Impressionen III
Der alte Mann macht ihm Ärger.
Warum wehrt er sich gegen mich?, denkt es erbost und in naivem Unverständnis. Es erkennt, dass sich seit kurzem in seinem Wirtskörper Widerstand bildet gegen ihn und seinen Freund, den Fremden.
Warum...? Der Fremde lässt es wissen, dass der gebrechliche Körper rein physisch einer doppelten Beeinflussung nicht auf Dauer standhalten kann. Und dieser Widerstand sei nicht vorsätzlich, sondern eine Verschleißerscheinung ihres Wirtes. In einem jüngeren Körper, so gibt der Fremde ihm zu verstehen, würde es wesentlich länger nisten können. Wirst du denn auch da sein?, fragt es argwöhnisch, aber auch mit leiser Furcht. Es möchte jetzt nicht mehr alleine sein. Es ist zu lange alleine gewesen. Viel zu lange... Er bleibe hier, sei aber auch dort, beruhigt der Fremde ihn. Der alte Mann atmet schwer und muss sich setzen. Ich gehe jetzt, sagt es lakonisch. Außerhalb der Hülle ist es kalt und so will es schnell eine neue finden. Es braucht den Schutz und die Geborgenheit. Und die Bestätigung, willentlich agieren zu können. Ein junger Körper..., sinnt es vor sich hin und sieht das Kind, das an der geöffneten Haustüre steht und von der anderen Wirtsperson, die fast ständig in Begleitung des alten Mannes zu finden ist, etwas entgegennimmt. Eilends dringt es in den kleinen Leib ein, drängt wie ein Eroberer kämpferisch das kindliche Bewusstsein in die 96
dunkelste Ecke des Verstandes zurück und stellt halbwegs überrascht fest, dass es auch hier nicht alleine ist. Sein Freund, der Fremde, er hat Wort gehalten! Er ist bei ihm! Freudig macht es sich mit der Steuerung des neuen Wirts vertraut. Dem Gedächtnissektor des Hirns entnimmt es alle Informationen, die es zur Weiterorientierung benötigt. Dann macht sich der Fremde recht eindringlich bemerkbar. Er hat eine Aufgabe für ihn. Einen Auftrag. Es gilt, Feinde seines Freundes gezielt unschädlich zu machen. Auf der anderen Seite des großen Flusses. Es fühlt den Stolz über das Vertrauen des Fremden, der sich ein wenig zurückzieht und ihm einen Großteil der Kontrolle über das Kind überlässt. In dem Geist des Kindes liest es den entsetzten Gedanken: Ich muss nach Hause! Gut, denkt es. Sicher gibt es dort ebenfalls neue Wirte, die
mein Freund übernehmen kann.
Im Anschluss will es dann auch sofort die gestellte Mission ausführen. Im Überschwang verschmilzt es mit den Synapsen des Menschen. Angenehm kühl spürt es das bauchige, schwarze Gefäß in seinen kleinen Kinderhänden... * Ein eigenartiges Gefühl befiel Richard Jordan, als er die Tür zur Villa seiner Eltern aufstieß. Es war nicht Angst, die ihn erfüllte, nicht die Präsenz einer verborgenen Gefahr... Eher Melancholie. Wie vieles hatte sich verändert seit jenem Abend - für Richard waren subjektiv gerade einmal wenige Tage vergangen, während in der Realzeit mehrere Wochen verstrichen waren -, da sein Vater sich ihm offenbart und die
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Geschichte eines Geheimbundes erzählt hatte. Die Geschichte der Höllenjäger. Danach hatten sich die Ereignisse überschlagen und den jungen Mann mitgerissen. Es schien, als hätte Edward Jordan die letzte verfügbare Möglichkeit genutzt, seinen ahnungslosen Sohn einzuweihen. Die Eröffnungen jedoch hatten lediglich die Oberfläche der verfügbaren Erkenntnisse gekratzt; jede Antwort auf eine Frage warf einen Schwarm neuer auf. Und immer noch war Richard sich nicht im klaren darüber, was es mit jenem geheimnisvollen Kristallstein auf sich hatte, der immer noch auf dem Beistelltischchen in der Bibliothek seines ermordeten Vaters Edward ruhte. Ihm fiel auf, dass er Ravenmoor gegenüber den Stein nie erwähnt hatte; der Höllenjäger würde dem Fundstück sicher eine ganz andere Bedeutung beimessen. Jetzt wirkte alles wieder so friedlich. So, wie Richard es seit frühester Kindheit in Erinnerung hatte. Nur mit dem Unterschied, dass es nicht der Frieden des Lebens war, der diesen Mauern nun innewohnte, sondern der des Todes. Richard ließ diesen Eindruck noch ein wenig auf sich wirken, ehe er ihn beiseite wischte. Philips Unterlagen, rief er sich sein eigentliches Ziel ins Gedächtnis und steuerte den Living-room an. Da lag die Aktentasche. Auf dem Sofa. Jordan nahm sie an sich, öffnete die Verschlüsse und durchstöberte den Inhalt. Viel gab es allerdings nicht zu sichten. Da war dieses Exemplar des Magazins OCCULT SCIENCES, für das wohl ein Sympathisant der Loge, ein Japaner, dessen Name ihm entfallen war, arbeitete. Richard fingerte eine Loseblattsammlung hervor, die er kurz überflog und dann zur Seite legte. Teils unbeschriebene Blätter, teils Notizen, die ihm nicht weiterhalfen. All seine Hoffnung setzte er auf den umfangreichen Terminplaner, den er als letztes hervorholte. Wenn Richard allerdings geglaubt hatte, hier auf die Informationen zu 98
stoßen, die er erwartete - wenigstens eine Telefonnummer des mysteriösen Industriellen Denningham-Cartlewood -, so sah er sich aufs neue getäuscht. »Das gibt's doch nicht!«, regte Richard sich auf. »Warum schleppt der Mann eine Tasche mit sich, wenn nur überflüssiges Zeug drin ist...! Philip hat doch ausdrücklich gesagt, dass ich in seiner Tasche nachsehen soll!« Enttäuscht legte der junge Mann alles zurück, wie er es entnommen hatte. Tief in seinem Innern nahm er die Resignation wahr, die ihn in seinen Entscheidungen lähmen wollte. Er trat immerzu auf der Stelle, befand sich in einem luftleeren Raum und wusste nicht, was er tun sollte, wo er erneut ansetzen konnte. Fast zwängte sich der Eindruck auf, dass dieses Haus ihn paralysierte. Raus hier!, stachelte er sich selbst auf. Nicht träge
werden!
Draußen war es Richard, als fiele eine schwere Last von ihm. Sein Denken wurde klarer. Zumindest bildete er sich das ein. Hinter ihm wurde die schwere Eingangstür vom leichten Abendwind auf- und wieder zugedrückt. Das Schloss war im Zuge einer magischen Attacke - kurz vor Philip Ravenmoors Eintreffen - zerstört worden. Richard hoffte, dass die Einladung zum Diebstahl nicht allzu offensichtlich war. Im Moment jedenfalls konnte er sich nicht mit Reparaturarbeiten aufhalten. Doch er würde es nachholen. Mit neuer Energie schwang er sich in den roten Austin, der in der Auffahrt parkte. Seit den Ereignissen um den Gewaltverbrecher Ted Hoggarth, der zur Höllenkreatur mutiert war, hatte er nicht mehr in ihm gesessen. Die nächstgelegene Kirche war nur ein paar Straßen entfernt. Richard würde dort anfangen, nach Eigentümlichkeiten zu forschen. Viel versprach er sich allerdings nicht davon. Doch untätig der Dinge zu harren, war ebenfalls nicht seine Sache. 99
Ein wenig Sorge mischte sich in seine Überlegungen, wenn er an den schwer verletzten Ravenmoor dachte. Er betete, dass Molesworth und diese Krankenschwester die einzig Infizierten in dem Hospital gewesen waren. In diesem Fall hatte sein Freund und Mentor nichts zu befürchten und würde eine erstklassige medizinische Versorgung erhalten. Das Kind hatte flüchten können. Es würde sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr im Krankenhaus aufhalten. Wenn aber doch, war es zumindest in seiner Bewegungsfreiheit drastisch eingeschränkt, denn mittlerweile musste es auf der Intensivstation von Menschen nur so wimmeln. Philip befand sich demzufolge also in relativer Sicherheit. Die grüne Ziffernanzeige der Digitaluhr im Armaturenbrett sprang um auf 5 Uhr 56 pm. Richard drehte den Schlüssel im Zündschloss und startete den Wagen. * »Was ist denn das für eine Sauerei?!« Im Halbdämmer des Korridors auf der Intensivstation blieb Doktor Alan Greenberg wie vom Donner gerührt stehen. »Schwester! Machen Sie doch mal Licht!«, herrschte er die Frau an seiner Seite unfreundlich an. Die Angesprochene musste ein paar Meter zurückgehen und an einem Schaltkasten eine Sicherung umlegen, die einen zusätzlichen Stromkreis aktivierte und in Reihenschaltung weitere Neonröhren aufflammen ließ. Greenberg schüttelte angewidert den Kopf und trat an eine Gegensprechanlage. Er drückte die entsprechende Taste und war augenblicklich mit dem Informationsschalter in der Empfangshalle verbunden. »Mrs. Wagner!«, legte er in seiner gestrengen Art los und machte sich nicht die Mühe, seinen Namen zu nennen. Er wusste, dass man ihn an seiner Stimme erkannte. 100
»Ich benötige Reinigungspersonal auf der Fünften. Intensiv. Sofort!« Er hängte den Hörer ein, drehte sich halb zur Seite und betrachtete die Stelle auf dem Boden, vor der nun auch die Schwester fassungslos stand. Eine riesige Lache einer dunklen, undefinierbaren Flüssigkeit hatte sich auf den Kacheln ausgebreitet. Rötlichschwarze Klumpen von etwas, das sich nicht näher spezifizieren ließ, schwammen darin herum, waren jedoch in Zersetzung begriffen. Die wässrigen Brocken schrumpften leise zischend innerhalb eines Kranzes unzähliger winziger zerplatzender und sich wieder neu auftürmender Bläschen zusammen. Der Vorgang war vergleichbar mit einem Stück Butter, das man in einer Pfanne erhitzte. »Möchte wissen, was das war...«, flüsterte die Pflegerin beinahe ehrfürchtig. »Dann stehen Sie nicht rum, sondern holen Sie Doktor Molesworth! Der war doch zuletzt hier. Ich sehe in der Zwischenzeit nach dem Patienten.« »Wo soll ich denn nachsehen?«, fragte die Krankenschwester unsicher. Doktor Alan Greenberg drehte sich noch im Gehen ungehalten zu ihr herum. »Lassen Sie ihn doch ausrufen, zum Teufel!«, schnappte er in Feldwebelmanier und schritt militärisch hölzern weiter. Mehr zu sich selber und für die Schwester nicht mehr hörbar murmelte er: »Kindchen, du würdest Molesworth nicht mal finden, wenn du über ihn stolpertest...« * Mit leicht überhöhter Geschwindigkeit bog Jordans Austin auf den Kensington Square ein. Die kleine Kirche am äußeren Rand der parkähnlich angelegten Rasenfläche, ein gutes Stück abseits der verkehrsmäßig turbulenten High Street, kannte Richard nicht einmal mit Namen. Er hatte sich lediglich daran
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erinnert, dass hier eine Kirche war. Es gab noch ein halbes Dutzend andere. Mit dieser aber wollte er beginnen. Er stellte den Wagen in einer der Parkmarkierungen ab und ging auf das Hauptportal zu. Es war verschlossen. Die kleine Tür am Mauervorsprung schräg daneben war es nicht. Es war kalt im Innern. Und dunkel. Vier abgedämmte Sechseckleuchten in den vier Winkeln an den Planken der Gebetsbänke verbreiteten spärliches Licht. Laut hallten Richards Schritte von dem Mosaikstein wider. »Kann ich Ihnen helfen, mein Sohn?« Die Stimme echote auf Jordan zu. Er schrak innerlich zusammen, ließ es sich nach außen jedoch nicht anmerken. Schließlich trat aus den Schatten des Hostienschreins eine Gestalt in seinen Gesichtskreis. Soweit Richard es erkennen konnte, trug sie einen stinknormalen, beigebraunen Anzug mit kragenlosem Oberhemd. »Sind Sie Pastor?«, stellte der 27jährige eine Gegenfrage. »Ich sehe nicht so aus, wie?«, lachte sein Gegenüber verhalten. Richard näherte sich ihm bis auf Handschlagreichweite und sah in das Gesicht eines noch relativ jungen Mannes. Der ist keine fünf Jahre älter als ich, schätzte der Student und stellte sich vor. »Mein Name ist Richard Jordan.« »Angenehm«, erwiderte der Kirchenvater und hielt ihm die rechte Hand hin. Richard ergriff sie und spürte ihren festen, freundschaftlichen Druck. »Ich bin Pastor Daryl Dwayne.« Einige Momente herrschte Stille, bis Pastor Dwayne das unhöfliche Schweigen brach. »Für die Messe sind Sie ein wenig zu früh dran. Möchten Sie vielleicht beichten...?« Jordan winkte ab und konnte die Wehmut kaum leugnen.
Da hätte ich einiges zu erzählen.
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»Nein, nein. Es geht um eine ganz andere Sache.« Richard sah dem Pastor direkt ins Gesicht. »Ich weiß gar nicht, ob ich bei Ihnen überhaupt an der richtigen Adresse bin.« »Wenn Sie nicht fragen, werden Sie es nie herausfinden.« Daryl Dwayne klopfte seinem Besucher aufmunternd auf die Schulter. »Sie wollen nicht beichten. Anscheinend auch nicht an der Andacht teilnehmen. Was haben Sie auf dem Herzen?« Die Situation entwickelte sich positiver, als Richard anfänglich erwartet hatte. Daher wollte er nicht lange drum herum reden. Der Geistliche war ihm sympathisch. »Ist Ihnen bekannt, Vater, dass in der heutigen Nacht in London und Umgebung Mitternachtsmessen abgehalten werden sollen? Haben Sie davon gehört?« »Deswegen sind Sie hier?«, antwortete Pastor Dwayne überrascht und nicht minder amüsiert. »Sie möchten eine dieser Messen besuchen.« »Sie verstehen mich nicht.« Richard überlegte, wie er seine Frage anders formulieren konnte. »Haben Sie Kenntnis davon, dass in der Diözese so etwas durchgeführt werden soll?« »Offiziellen Charakter hat das keinesfalls. Aber um Ihre Frage zu beantworten: ja, man hat mir davon berichtet.« Sein Gesicht nahm einen verschwörerischen Ausdruck an. »Doch um ehrlich zu sein, Mister Jordan: Mein Schlaf ist mir zu wichtig, als dass ich bei derartigen Extratouren mitmachen würde.« Richard zeigte sich verwundert. »Sie halten die Angelegenheit für, nun ja, einen... Scherz?« »Soweit würde ich nun doch nicht gehen. Aber einige Amtskollegen kommen auf die absonderlichsten Ideen, um ihre Häuser zu füllen. Ich kann das gut verstehen. Ein paar Gläubige mehr würden auch diesem Gotteshaus gut tun.« Er zog schelmenhaft die Augenbrauen hoch, nur um fast im selben Moment wieder ernst zu werden.
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»Sie vermuten doch etwas ganz anderes dahinter, nicht wahr?« Richard nickte. »Ich habe gute Gründe. Gründe, die ich Ihnen leider nicht mitteilen kann. Bitte haben Sie dafür Verständnis.« »Da bleibt mir auch wohl nichts anderes übrig«, zuckte der Pastor mit den Schultern. »Können Sie mir denn eine Kirche nennen, in der eine der besagten Messen stattfinden wird?« Ein wenig Glück und Richard würde die erste heiße Spur aufnehmen können. »Leider bin ich da überfragt«, folgte die enttäuschende Antwort. »Ich habe lediglich von meinen Ministranten davon gehört. Sie kommen alle aus unterschiedlichen Stadtteilen. Zu meinen Amtsbrüdern pflege ich einen nur losen Kontakt.« Daryl Dwayne stockte und legte Richard beide Hände auf die Schultern. »Ich weiß nicht, welche Sorgen Sie zu mir gebracht haben. Doch es tut mir ehrlich leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.« Jordan brachte immerhin ein gequältes Lächeln zustande. »Schon gut. Einen Versuch war es wert.« »Gottes Segen mit Ihnen!«, rief Vater Dwayne dem jungen Mann hinterher. Nachdenklich hockte Richard sich auf die Treppenstufen.
Fast wie die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, sinnierte er. Und die Zeit läuft mir davon...
Andererseits - und das war seine weiterführende Überlegung -, was konnte er schon ausrichten? Eine Messe vielleicht - verhindern, mit all ihren anhängenden Konsequenzen. Philip Ravenmoor aber hatte eindeutig in der Mehrzahl gesprochen. Überall in der näheren und weiteren Umgebung mochten ähnliche Veranstaltungen stattfinden. Diese würden Veränderungen mit sich bringen, die derzeit noch unabwägbar waren. Die Zysstho-Pest! 104
Sie war bereits ausgebrochen. Und sie befand sich auf dem Weg zum Festland. Auch das hatte Ravenmoor durchblicken lassen. Ein Höllenjäger würde wissen, was getan werden muss, fraßen die Zweifel an Richard wie hungrige Mäuse an einer Käserinde. Wann werde ich endlich soweit sein...? Ein teuflischer Schmerz stach durch sein Hirn. Er presste eine Hand auf den Hinterkopf, während er mit der anderen versuchte, sich auf den Stufen abzufangen, als er wie betäubt vornüber stürzte.
Raff' dich auf, Partner! Die Zeit drängt!
Richard wurde es schwindelig. Die Worte füllten seinen Verstand mit der glasklaren Deutlichkeit von präzise reflektierten Schwingungen innerhalb eines gigantischen Resonanzkörpers, in dessen Zentrum er sich befand. »Philip, verflucht! Was soll der Überfall?!« Richard war wütend und erleichtert zugleich. Richard kniete sich hin und stützte sich mit einem Arm ab. »Ich dachte, du könntest über größere Entfernungen keinen Kontakt aufnehmen...«
Hab' mich in der letzten Stunde ordentlich regeneriert. Meinem Körper geht's auch ganz gut. Ein erfahrener Arzt kümmert sich um alles. Ravenmoor schwieg einige Augenblicke. Bin froh, dass du aus der Sache im Krankenhaus heil raus gekommen bist. Ich habe deinen Kampf auf der Krankenstation beobachtet, konnte aber nicht eingreifen. Hast dich wacker geschlagen, Höllenjäger. Wie es aussieht, bist du gar nicht so hilflos, wie du dir laufend selbst einzureden versuchst...
»Lass die Witze, Philip! Sag mir lieber, wie's jetzt weitergeht.« Richard war wieder auf die Füße gekommen und schlenderte zu seinem Austin herüber. »Ach so«, schoss es ihm urplötzlich durch den Kopf, »wie war das noch, von wegen Kontakt zu Denningham-Cartlewood aufnehmen? In deiner Tasche habe ich nichts gefunden.« Schon wieder mein Fehler, gab Ravenmoor unumwunden zu. Ich habe meinen Terminkalender mit einer PSI105
Komponente versehen, die dir visuell alle erdenklichen Nichtigkeiten vorgaukelt. Der Schutz ist kaum zu knacken, ohne das Buch zu zerstören.
»Das muntert mich tierisch auf«, erklärte Richard und meinte es noch nicht einmal spöttisch. »Es zeigt mir nämlich, dass ich wenigstens nicht zu blöd bin, eine Telefonnummer herauszusuchen.« Lass gut sein, Richard, wurde Philip Ravenmoor übergangslos sehr ernst. Du befindest dich auf der falschen
Fährte. Es gibt da einen Laden, den du dir als erstes ansehen solltest. Von dort hat das Unheil seinen Lauf genommen... »Wo finde ich diesen Laden?«
Steig' in das Auto. Ich werde dich führen... *
Wie ein Leichentuch legte sich die Dämmerung über die Stadt und erstickte unaufhaltsam auch die letzten Reste von Helligkeit, die der Tag hinterlassen hatte. »Wo geht's denn nun hin?«, sagte Richard laut, obwohl Philip Ravenmoor seine Gedanken bereits kannte, bevor er sie ausgesprochen hatte. Die Lichtkegel der Autoscheinwerfer frästen sich unnachgiebig durch das Dunkel auf der Tower Bridge. Ehrfurchtsvoll betrachtete Richard die neogotischen Brückentürme, die sich majestätisch in den Himmel erhoben. Bermondsey, antwortete Ravenmoor auf die gerade gestellte Frage. Wir fahren nach Bermondsey. »Zum Antikmarkt?«, fragte Richard ungläubig. »Der macht schon um zwei zu, soweit ich weiß...« Natürlich nicht zum Antikmarkt, belehrte ihn Ravenmoor und er ließ im Bewusstsein des Siebenundzwanzigjährigen den Tonfall seiner Mitteilung gezielt schroff ausfallen. Ich sprach
von einem Laden. Und exakt einen solchen werden wir aufsuchen. Jordan fügte dem nichts hinzu. 106
Bieg' jetzt links ab und nach etwa fünfhundert Metern in den Dock Head.
Sicher lenkte Richard den Austin über die stark frequentierte Jamaica Road zur genannten Abzweigung. Dann konzentrierte er sich nur noch auf die Straße und Philips Anweisungen. Er kannte zwar den Bermondsey Antiques Market, doch diese kleinen und kleinsten Nebenstraßen waren ihm fremd. Stell den Wagen hier ab!, forderte Philip scharf. »Hier ist ja der Hund begraben!«, empörte sich der Student. »Kein vernünftiger Mensch lässt hier auch nur sein Fahrrad stehen, geschweige denn einen Sportwagen...!«
Geh' zu Fuß weiter. Wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen.
»Haben wir denn etwas zu befürchten?«, fragte Richard lauernd und als er nicht auf Anhieb eine Antwort erhielt, fügte er zynisch hinzu: »Klar, du hattest ja schon viel früher mit meinem Ableben gerechnet. Da kannst du natürlich auf volles Risiko gehen.«
Hör mit dem Blödsinn auf und lass dich von mir führen!
Philip Ravenmoor hatte dem Gesagten einen Nachdruck verliehen, der jeden Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit ausräumte.
Das ist kein Spiel, Richard! Auch wenn du momentan der Meinung bist, nur eine Marionette zu sein, die ihr Handeln nicht bestimmen und die Regeln in diesem Match nicht verstehen kann! Das wird sich ändern. Zu gegebener Zeit. Doch bis dahin solltest du im Interesse deiner Mitmenschen und vor allem auch in deinem - meine Weisungen befolgen... Ravenmoors Worte hallten in dem jungen Mann nach.
Ich würde dich niemals einer Gefahr aussetzen, von der ich nicht der Meinung bin, dass du sie bewältigen kannst. Kleinere und größere Blessuren sind allerdings unerlässlich. An ihnen kannst du den Stand deiner Fortentwicklung messen...
»Da müsste ich mich ja schon ziemlich weit entwickelt haben, wenn ich an die Verletzungen von heute Vormittag 107
denke. - Aber lass uns keine weitere Zeit verlieren, Phil«, erwiderte Richard, parkte den Wagen am Bordsteinrand und zog den Schlüssel ab. Seine Augen wanderten zu den Masten der Straßenbeleuchtung. Nebelhafter, beinahe milchiger Schein strahlte in die beginnende Nacht. Unmerklich nur zerfaserte die Düsternis auf dem Gehweg und machte widerwillig flauen Kränzen von Scheu durchweichter Helligkeit Platz.
Was werden wir finden, Philip?
Ungewollt bediente Kommunikation.
sich
Richard
der
gedanklichen
Die Wurzeln des Schreckens, gab Ravenmoor inhaltsschwer zurück. Zum Äußersten bereit ging der junge Jordan die schmale, schlecht asphaltierte Straße entlang, die zu beiden Seiten von zum Teil vergitterten Schaufensterfronten gesäumt wurde. Nirgendwo waren Lichter zu sehen. Alle Läden hatten bereits geschlossen. Erst in der Vorweihnachtszeit würde über die normalen Ladenschlusszeiten hinaus geöffnet sein. »Wir sind zu spät. Alles zu.« Irgendwie wirkte Richard erleichtert. Das Gefühl sollte allerdings nur einen flüchtigen Augenblick vorhalten. Ganz im Gegenteil, mein übereifriger Freund, beeilte sich Philip Ravenmoor zu versichern. Wir sind genau richtig.
Überquere die Straße und klopfe an diese kleine, unscheinbare Tür, die sich so schüchtern in die Mauervorsprünge drückt, als wolle sie nicht, dass man sie bemerkt.
Richard malte sich in Gedanken aus, wie ein triumphierendes Grinsen über das Antlitz seines Geistmentors huschte. Klopfe an, wiederholte dieser. Man wird dir öffnen. Und er tat, wie ihm geheißen... *
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Pastor Douglas McIntire ließ seine Augen vollkommen emotionslos über die schreckliche Szenerie schweifen, die sich zu seinen Füßen unterhalb der Rednerkanzel abspielte. Andererseits regte sich etwas in ihm, das man als vages Triumphgefühl hätte bezeichnen können. Nur war es eben nicht der Ausdruck seines Empfindens, sondern der einer unbegreiflichen Macht, die den Mann Gottes beseelte und gleichzeitig auch auffraß. Das, was früher einmal den Menschen Douglas McIntire ausgemacht hatte, existierte lediglich als vertrocknender Wurmfortsatz, den ein dämonischer Chirurg nach Gutdünken einfach abschneiden würde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Pestgeschwür, das die lebende Substanz von Amalnacrons Körper nach seiner Verpuppung darstellte, den Leib des Geistlichen zersetzte. Lediglich die Seele - jenes nicht fassbare Etwas, das den Menschen angeblich vom Tier unterscheidet, das niemand exakt nachweisen kann und das doch wichtigster Teil der Schöpfung und des Lebens ist - würde den biologischen Zerfall überstehen. Die unsterbliche Seele... Sie war die Trophäe, die der Antichrist erringen wollte. Sie stärkte sein unheiliges Leben und die jenseits aller Erfahrung stehenden Entitäten hinter ihm. Seele um Seele würden sie aufsaugen, um ihre paranormalen Energien zu regenerieren. Milliarden Menschen würden ausgelöscht werden, bis nur stumpfsinniges Viehzeug zurückblieb, das Jahrhunderttausende auf den überspringenden Funken der Intelligenz warten musste... Der Kreis hatte sich geschlossen. Der Kreislauf jedoch begann von neuem... Immer wieder. Bis in alle Ewigkeit. Überall im Kosmos... Vikar Mortimer Sligh stand abseits des Geschehens. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er von der momentanen
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Chaossituation hielt. Der dämonische Parasit in ihm hingegen strahlte tiefe Zufriedenheit aus. Die vielen Messdiener schwappten gleich einer Woge gestaltgewordenen Schreckens über die Gläubigen hinweg. Das schwarze Protoplasma, das aus den eigentümlich beschrifteten Gefäßen zuckte, die die Kinder in ihren unschuldigen Händen hielten, bemächtigte sich immer mehr Anwesender. Das Schreien, Rennen und Drängeln nahm ab, je weiter die grausige Besessenheit sich fortpflanzte. Wer den Leib Amalnacrons in sich aufnahm, der wurde unweigerlich zu seinem gefügigen Diener. Irgendwann würden keine Behältnisse mehr nötig sein, um das Dämonenplasma - das Produkt einer den Naturgesetzen hohnsprechenden Transformation - weiterzubefördern. Es vermehrte sich beständig in seinem Wirtskörper, bis der Pesterreger durch bloße Berührung übertragen wurde. Dem hageren Vikar entging in dem allgemeinen Durcheinander allerdings nicht, dass einem Elternpaar mit seinen Kindern durch den seitlichen Hinterausgang die Flucht gelang. Schnell stellte er eine Gruppe Besessener zusammen, die dem Quartett durch die Pforte der Sakristei folgen und den Weg abschneiden sollte. Mortimer Sligh wollte sie alle haben. Ein finsterer Instinkt trieb ihn dazu. Mittlerwelle waren er und Pastor McIntire so durchsetzt vom Bösen, dass es keiner direkten Beeinflussung ihrer Bewusstseine mehr bedurfte. Sie handelten automatisch, so natürlich, wie sie es aus ihrem normalen Leben gewohnt waren. Nur waren ihre Entscheidungen ins Negative verkehrt. Douglas McIntire verkündete das neue Leben. Doch in Wahrheit predigte er den Tod. Wer aber wollte den Unterschied erklären? Des einen Tod war des anderen Leben. Und umgekehrt. Philosophen würden generationenlang streiten und die offensichtliche Wahrheit nicht erkennen oder schlicht leugnen. 110
Es war lediglich eine Sache des Standpunkts. Das eigentliche Problem war die Objektivität. Nur sie würde leiden und schließlich ganz verschwinden. Den tatsächlichen Zustand aber konnten Worte allein nicht verändern. Der Tumult in der Kathedrale war erstorben. Alle standen sie ruhig und wie abwartend da, um Befehle des Allerhöchsten entgegenzunehmen. Gehet hinaus, meine Schafe!, dachte Pastor Douglas McIntire nur und erhob die Arme, breitete sie aus, als wolle er seine Gemeinde umschlingen.
Bringt das Heil des neuen Gottes in die Welt. Auf dass alle so werden wie wir... Wieder hatte er nicht laut gesprochen. Doch alle hatten ihn verstanden. *
»Das stinkt ja fürchterlich, Daddy!« Carol hielt sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu. Auch Jessica verzog das Gesicht. »Müssen wir denn wirklich hier herunter, Dan?«, äußerte nun auch Sharon Farnhain ernste Zweifel. »Wir werden schon irgendwie zum Wagen durchkommen...« »Ich habe Durst!«, beschwerte sich die älteste Tochter. »Mir tun die Beine weh!«, jammerte Carol und zog einen Schmollmund, während sich ihre Unterlippe vorwölbte. Dan Farnham blieb abrupt stehen, obwohl alles in ihm ihn vorwärts drängte. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, als er in die Hocke ging und sich seinen Sprösslingen zuwandte. »Ich weiß, dass es hier stinkt«, sagte der Versicherungsvertreter so ruhig, wie es ihm möglich war. Sie befanden sich noch nahe am Themseufer und schlichen einen Kanalisationsschacht entlang. »Wir alle haben Durst und Hunger und uns schmerzen die Füße...« Farnham streichelte die Wangen seiner Mädchen. »Gerade deshalb möchte ich 111
euch bitten, Mummy und Daddy zu vertrauen. Wir werden euch in Sicherheit bringen, damit diese merkwürdigen Menschen in der Kirche euch nichts mehr tun können.« Der Familienvater seufzte schwer, setzte jedoch direkt im Anschluss ein aufmunterndes Lächeln auf. »Ich mach's wieder gut, Kinder. Versprochen.« »Disneyland Paris?«, fragte Carol zaghaft. Dan Farnham bekam große Augen. Schließlich aber stimmte er zu. Und er meinte es ehrlich. »Disneyland Paris.« Die Geschwister kreischten vor Freude. Sharon knuffte ihren Mann in die Seite. Sie flüsterte nur, um die Kinder nicht abzulenken. Aus ihren Worten war der ansonsten liebevolle Zynismus gewichen. »Sag' mir auch was Beruhigendes. Ich hab' nämlich eine Scheißangst...« * Dan Farnham hatte seine jüngste Tochter Carol in die Arme genommen und an seine Schulter gedrückt. Sie war schon im Gehen fast eingeschlafen. Jessica hielt sich zwar tapfer, würde aber nur noch kurze Zeit das Tempo mithalten können. »Wie lange willst du noch marschieren?«, beschwerte sich Sharon. »Wo bringst du uns hin?« »In Sicherheit!«, erwiderte ihr Mann. »Wir werden rasten, sobald wir eine entsprechende Stelle erreichen.« »Und dann?!« Die Frage klang wie ein Vorwurf. Sharon Farnham senkte ihre Stimme und umfasste Dans Taille. Ihre Finger krabbelten über seinen Bauch, während sie ihren Kopf an seine freie Schulter lehnte. Jessica trottete schlafwandlerisch neben ihrer Mutter her. »Schatz, ich kann nicht mehr...« »Wir müssen weiter«, entschied Dan. Jessica fielen die Augen zu. Sie stolperte und stieß ihren Vater an. Der drehte sich um, reichte die schlafende Carol
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seiner Frau und nahm die bedeutend schwerere Elfjährige hoch. Lange Zeit wurden keine Worte gewechselt. Stumm gingen Sharon und Dan Farnham durch die gemauerte Röhre, jeder ein schlafendes Kind im Arm. Das monotone Plätschern des Abwassers unter ihren Schuhsohlen nahmen sie schon gar nicht mehr wahr. Ebenso wenig den Gestank. Die Nase ist nun mal ein recht träges Organ. Die feuchtkalte Röhre erweiterte sich. Das diffuse Licht, das die nur teilweise funktionstüchtigen Lampen innerhalb des Stollens verbreiteten, wurde eine Spur intensiver. »Jetzt können wir ausruhen«, konstatierte Dan Farnham, der selber sichtlich erleichtert war. Der Röhrengang endete in einem hallenähnlichen Gewölbe, in dem zig andere Kanäle zusammenliefen. Wasser tropfte von der hoch liegenden, im Dunkel verborgenen Decke, ebenso wie aus den zahllosen Kanalisationsschächten. »Ich muss mich setzen«, stöhnte Sharon und sank auf einem Mauervorsprung zusammen. Fast augenblicklich durchdrang die allgegenwärtige Nässe ihre Kleidung, doch die erschöpfte Frau spürte es kaum. Auch Dan Farnham konnte gegen seinen physischen Schwächezustand nicht mehr ankämpfen. Als er sich in einer Nische niedergelassen hatte und den Körper seiner Tochter Jessica auf den Knien abstützte, um die bleierne Schwere in seinen Armen zu vertreiben, registrierte er dieses Geräusch von aufspritzendem Wasser, das von den vielen Röhren mannigfaltig zurückgeworfen wurde. Eine genaue Richtung ließ sich unmöglich bestimmen. Plötzlich aber war Dan Farnham wieder hellwach. Das waren ganz eindeutig Schritte! Und sie näherten sich dem Gewölbe! Irgend jemand hatte sie aufgespürt. Nur Sekunden würde es dauern, bis er sich zu erkennen gab.
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Der Versicherungsmakler rückte zu seiner Frau herüber. Es war kalt und sie zitterte. Egal, wer da kam... Farnham würde seine über alles geliebte Familie bis zum letzten verteidigen. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Dann sah er den Schatten! Instinktiv verkrampften sich seine Arme und Hände um Jessica. Aus brennenden Augen sezierte er den Dämmerschein, der viel zu wenig von dem preisgab, was der verzweifelte Mann zu sehen erhoffte.
Meine Kinder bekommt ihr nicht, verfluchtes Pack!
Ganz kurz nur schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, erhielt die Situation eine völlig neue Wendung... * Der Körper wurde mit einem Schwall brackigen Wassers aus der Kanalöffnung gespült, höchstens fünfzehn Yards entfernt von dem erstarrten Dan Farnham, der mit dem Schlimmsten rechnete, seine Tochter Jennifer behutsam auf den feuchten, moosbewachsenen Stein bettete und sich schützend vor seiner Familie aufbaute. Die Gestalt schlug dumpf auf, stöhnte gequält. Ihr warmer Atem bildete weiße Dunstschwaden in der kalten Luft. Sekundenlang blieb sie auf dem Rücken liegen, bevor sie versuchte, sich aufzurichten. Das ist eine Frau! Sie gehört nicht zu diesen... Wesen, dämmerte es Farnham. Hektisch riss er den Kopf herum und sah seine eigene Frau an. Sharon hielt die kleine Carol umkrampft, zitterte leicht und erwiderte seinen Blick aus tränengefüllten, furchtsamen Augen. »Ich muss ihr helfen«, zischte Dan seiner Sharon wie als Entschuldigung zu, dass er sich von seinen Lieben entfernte. »Sicher ist sie auch auf der Flucht... so wie wir.«
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Sekundenschnell überwand der Versicherungskaufmann die Distanz zu der entkräfteten Frau. Einige Momente blieb er stumm stehen und musterte sein Gegenüber.
Sie sieht reichlich verwildert aus. Muss eine ganze Menge mitgemacht haben.
Schmutzige Strähnen, die keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Haarfarbe zuließen, kreuzten sich in dem Gesicht der Frau. Sie trug eine schlammdurchweichte Bluse, darüber eine arg in Mitleidenschaft gezogene Kostümjacke. Ihr knielanger Rock war an der Seitennaht aufgeschlitzt. Dan Farnham deutete eine Hocke an, reichte der Frau seine Rechte und federte zusammen mit ihr hoch. Sie knickte links leicht ein und zerbiss einen Fluch. Ihre nackten Füße fanden auf dem glitschigen Stein nur unzureichend Halt. »Wie heißen Sie? Und was tun Sie hier?« Der Familienvater ließ die klamme Hand der Frau los. Sie zog sie zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. »Ich will Ihnen nichts tun«, versuchte Farnham die scheue Person zu beruhigen. »Meine Frau und meine Kinder« - er beschrieb mit der linken Hand hinter seinem Rücken einen Halbkreis - »befinden sich auch nicht freiwillig hier unten. Wir werden von Kriminellen verfolgt, die...« »Monster!«, schrie die Frau. »Das sind Monster!« Sie zog die dreckbespritzte Brille ab und versuchte, sie an ihrer Kleidung zu säubern. »Bitte erzählen Sie mir, was geschehen ist.« Dan Farnham ignorierte das eigene Unwohlsein, die Kälte, die sich rücksichtslos in seine Knochen fraß. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass seine Töchter noch schliefen. Lediglich in den Augen seiner Frau Sharon las er den stummen Hilfeschrei. »Reiß dich zusammen, Schatz«, erklärte er milde. »Es wird sich alles zum Guten wenden.«
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Er sah der verstörten Frau nun fest in die Augen. Sie hatte ihre Brille notdürftig gereinigt, schien mittlerweile auch ihre Furcht überwunden zu haben. Verschüchtert senkte sie die Lider, sah sodann erneut auf und sagte: »Mein Name ist Braxton. Jennifer Braxton.« Farnham lächelte und stellte sich und seine Familie vor. Nach einem knappen Wortwechsel war klar, dass beide Parteien denselben Gegner hatten. »Ich bin nur knapp entkommen«, berichtete Mrs. Braxton. Sie hatte sich auf einen Vorsprung gesetzt, die Beine angezogen und presste den rechten Fuß auf den linken, um sie ein wenig zu wärmen. Zwischen ihren Zehen nistete die Nässe, klebte der Morast. »Diese Kartons im Keller der Schule mit diesen... diesen...« - die Lehrerin suchte nach den richtigen Worten »... Behältnissen...!« Ihre Augen weiteten sich. »Plötzlich waren alle wie verwandelt! Ich habe das Fenster mit einem Stuhl eingeschlagen und bin raus! Raus aus der Schule! Nur weg! Aber sie waren schon überall!« Sie zog sich den Rock über die Knie. »Ich bin nur gerannt. Irgendwann bin ich in die Kanalisation geklettert, habe jegliches Zeitgefühl verloren...« »Kommen Sie her zu uns«, ermunterte sie Dan, »rücken Sie rüber. Wenn wir jetzt nicht alle zusammenhalten, haben wir keine Chance gegen diese Bastarde.« Sorgenvoll sah er seine Töchter an, dann seine Frau. Sie legten ihr Leben in seine Hand. Sie hatten keine Wahl. Er hatte keine Wahl... Die Karten waren gemischt und verteilt. Nun galt es, die Trümpfe richtig auszuspielen. Gewinnen hieß leben. Verlieren sterben. Die Weichen waren gestellt! *
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Jenseits menschlicher Wahrnehmung...
DER AUSERWÄHLTE IST EINE ENTTÄUSCHUNG!, donnerte der Gedanke und war doch nur ein Hauch in der Ewigkeit. ER IST JUNG UND UNERFAHREN!, folgte die Entgegnung. ABER SCHON JETZT TRÄGT ER GROSSE VERANTWORTUNG... GENAU DAS WAR DOCH TEIL DES PLANS! Es klang sarkastisch. ABER DIE GEOMETRIE DER EBENEN WIRD INSTABIL. Der zweite Sprecher ließ sich nicht beirren. WIR ZÄHLEN AUF DEN T'OTT'AMH-ANUQ. UND AUF COL'SHAN-DUUR!, ergänzte der andere. AUCH DAS! Kurz...? darauf: ES DARF KEINEN WEITEREN EINGRIFF GEBEN! WENN WIR ERNEUT PARTEI ERGREIFEN, KANN DIESE ENTSCHEIDUNG SOGAR AUSWIRKUNGEN AUF DAS KONSTRUKT HINTER DEM GROSSEN HORIZONT HABEN. DIE GÄNGER DES DREIZEHNTEN WEGES WERDEN DIESE EINMISCHUNG NICHT MEHR DULDEN... Äonen verstrichen. Oder waren es nur flüchtige Lidschläge? Dann die Antwort: NOCH IST NICHTS ENTSCHIEDEN... Ende
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