Hans Blumenberg Ästhetische und metaphorologische Schriften Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp
Suhrkamp
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Hans Blumenberg Ästhetische und metaphorologische Schriften Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp
Suhrkamp
m /fzfy ν Ίρ/ί,>// ί (,\\\ Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1513 Erste Auflage 2001 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Hummer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 1 2
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06
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01
Inhalt I
Poetik
>Nachahmung der Natur<. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen (1957) . . . 9 Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (1964) .. 47 Sokrates und das >objet ambigu<. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes (1964) 74 Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes (1966) 112 Sprachsituation und immanente Poetik (1966) 120
II
Metapher
Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1957) Paradigma, grammatisch (1971) Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmeis (1976) Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit (1979) Im Fliegenglas (1989)
III
139 172 177 193 210
Rhetorik
Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem (1951) Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik. Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition. (1959) · · · Neoplatonismen und Pseudoplatonismen in der Kosmologie und Mechanik der frühen Neuzeit (1969) . . . Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (.1971) •··• _ Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik (1971)
253
266 291 327 406
Anselm Haverkamp: Die Technik der Rhetorik. Blumenbergs Projekt
435
Register
455
Nachweise
461
Ι Poetik
>Nachahmung der Natur< Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen
I. Fast zwei Jahrtausende lang schien es, als sei die abschließende und endgültige Antwort auf die Frage, was der Mensch in der Welt und an der Welt aus seiner Kraft und Fertigkeit leisten könne, von Aristoteles gegeben worden, als er formulierte, die >Kunst< sei Nachahmung der Natur, um damit den Begriff zu definieren, mit dem die Griechen das ins Reale wirkende Können des Menschen insgesamt erfaßten: den Begriff der τέχνη. Mit diesem Ausdruck bezeichne ten die Griechen mehr als das, was wir heute >Technik< nennen; sie verfügten hier über einen Inbegriff für alle Fertigkeiten des Menschen, werksetzend und gestaltend wirksam zu werden, der das >Künstliche< ebenso wie das > Künstlerische^ (worin wir heute so scharf unterscheiden) umfaßt. Nur in diesem weiten Sinne dürfen wir übersetzend den Ausdruck >Kunst< gebrauchen. >Kunst< nun besteht nach Aristoteles darin, einerseits zu vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag, andererseits (das Naturgegebene) nachzuahmen.1 Die Doppelbestimmung hängt mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs von >Natur< als produzierendem Prinzip (natura naturans) und produzierter Gestalt (natura naturata) eng zusammen. Es läßt sich aber leicht sehen, daß in dem Element der >Nachahmung< die übergreifende Komponente liegt: denn das Aufnehmen des von der Natur Liegengelassenen fügt sich doch der Vorzeichnung der Natur, setzt bei der Entelechie des Gegebenen an und vollstreckt sie.2 Dieses Einspringen der >Kunst< für die Natur geht so weit, daß Aristoteles sagen kann: wer ein Haus baut, tut nur genau das, was die Natur tun würde, wenn sie Häu-
i Physik II, 8; 199 a 15 -17: όλως τε ή τέχνη τα μέν επιτελεί ά ή φύσις αδυνατεί άπεργάσασ9αι, τα δέ μιμείται. 2 Vgl. die Formulierung.Politik IV, 17; i337 a I _ 2 : πάσα γαρ τέχνη και παιδεία τό προσλεϊπον βούλεται της φύσεως άναπληροΰν. 9
ser sozusagen >wachsen< ließe.3 Natur und >Kunst< sind strukturgleich: die immanenten Wesenszüge der einen Sphäre können für die der anderen eingesetzt werden. Es ist also sachlich begründet, wenn die Tradition die aristotelische Definition auf die Formel ars imitatur naturam verkürzt hat, wie schon Aristoteles selbst sie in Gebrauch nimmt.4 Worin nun aber kann der aktuelle Sinn dessen liegen, daß wir den Voraussetzungen und geschichtlichen Wandlungen dieser Formel nachgehen sollten? Besteht der Mensch der Neuzeit nicht seit langem darauf, ein >schöpferisches< Wesen zu sein, und hat er nicht der Natur die Konstruktion schroff entgegengestellt? Und seit der Parmigianino 1523 sein Selbstbildnis aus dem entstellenden Konvexspiegel malte - also das Natürliche im Künstlichen nicht sich bewahren und steigern, sondern sich brechen und transformieren ließ5 -, ist im Kunstwerk die Signatur des schaffenden Menschen als des um seine Potenz Wissenden immer schärfer artikuliert worden. Als Selbsterprobung und Bezeugung seiner genuinen Seinsmächtigkeit ist die Kunst dem neuzeitlichen Menschen erst zur eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens6 geworden, und an der Frage nach der Verbindlichkeit der Natur für das Kunstwerk hat sich das Bewußtsein der Absolutheit dieses Tuns wesentlich kondensiert. Die Ausmessung des Spielraums der artistischen Freiheit, die Entdeckung der Unendlichkeit des Möglichen gegenüber der Endlichkeit des Faktischen, die Lösung des Naturbezuges durch die historische Selbstvergegenständlichung des Kunstprozesses, innerhalb dessen sich Kunst immer wieder an
3 Physik II, 8; 199 a 12-15. Die Natur ist sozusagen autotechnisch, vergleichbar dem Arzt, der sein Können auf sich selbst anwendet (199 b 30-32). Zurückgewiesen wird die Unterstellung, daß solche Autotechnizität mit einsichtiger Absicht identisch sei (199b 26-28). Aristoteles stellt jene uns (zumindest hypothetisch) unausweichliche Ursituation, in der noch nichts ist oder auch nur etwas von bestimmter Spezifität noch nicht ist, gar nicht vor. Da alles seiner Spezifität nach immer schon da ist, existiert der Moment, in dem etwas allererst >ausgedacht< und aus der Vorstellung in die Realität überführt werden müßte, für Aristoteles nicht. Das Denken denkt prinzipiell dem Seienden nur nach. 4 Physik II, 2; 194a 21 f. Meteor. IV, 3; 381 b 3-7. 5 Vgl. Katalog der Ausstellung »Der Triumph des europäischen Manierismus« (Amsterdam, Rijksmuseum 195 5) Nr. 88. 6 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Vorwort an Richard Wagner (Ges. Werke, Musarion-Ausg. III, 20). 10
und aus Kunst generiert7 - das sind Grundvorgänge, die nichts mehr mit der aristotelischen Formel zu tun zu haben scheinen. Es ist oft gesagt und gezeigt worden, daß die Welt, in der wir leben, eine Welt bewußter, ja pathetischer Überbietung, Entmachtung und Entstaltung der Natur, eines tiefen Ungenügens am Gegebenen ist. Mag erst André Breton für den Surrealismus die >ontologische< Formel gegeben haben, daß das Nichtseiende genau so >wirklich< (intense) sei wie das Seiende, so ist doch dies der exakte Ausdruck für die Möglichkeit des modernen Kunstwillens insgesamt, für die terra incognita, deren Unbetretenheit die Geister anlockt. Das Werk bezieht sich nicht hindeutend und präsentierend auf ein anderes, ihm vorgehendes Sein, sondern es ist originär in seinem Seinsanteil an der Welt des Menschen. Ein neues Bild ist ein einmaliges Ereignis, eine Geburt, die das Weltbild, wie es der Menschengeist erfaßt, um eine neue Form bereichert.* Das Neue zu sehen und hervorzubringen, ist nicht mehr eine Sache triebhafter >Neugier< im Sinne der mittelalterlichen curiositas, sondern es ist zum metaphysischen Bedürfnis geworden: der Mensch sucht das Bild zu bewahrheiten, das er von sich selbst hat. Nicht weil Not erfinderisch macht, ist >Erfindung< der signifikative Akt in der modernen Welt; und nicht, weil unsere Wirklichkeit so mit technischen Strukturen durchsetzt ist, tauchen sie in den Kunstwerken der Zeit abbildlich auf - hier ist vielmehr die prägende Kraft des homogenen Impulses zu verspüren, der auf Artikulation eines radikalen Selbstverständnisses des Menschen drängt. Woher aber die
7 Vgl. W. Hofmann in: Studium Generale VIII, 9 (1955). Schon Kant hat das Moment der Nachahmung verschoben auf das fortzeugende Verhältnis von Kunst zu Kunst, während die Natur durch das Medium des >Genies< die letztlich produktive Urinstanz der Kunst ist, aber in einem Sinne, der nicht Nachahmung, sondern Hervorbringung durch Freiheit impliziert (Kritik der Urteilskraft I, 1, 2, § 43 u. 46). Genie ist dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen; indem es aber als die Natur im Subjekte verstanden werden muß, ist hier eine letzte formale Verbindlichkeit der Natur supponiert, die keinen Erklärungswert mehr hat. Exemplarisch sichtbar ist nur noch der historische Prozeß, in dem das Produkt eines Genies zum Beispiel wird der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird, so daß Kunst Schule macht - und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab (§ 49). 8 Henri Matisse, zit. b. W. Haftmann, Malerei im 20. Jahrhundert. München 1954. S. 113. 11
Gewalt und Mächtigkeit, mit der dieses Selbstverständnis sich zu verstehen geben will? Eben diese Frage wird man nicht zureichend beantworten können, wenn man nicht ins Auge faßt, wogegen sich der neuzeitliche Begriff des Menschen von sich selbst durchzusetzen hatte. Das vehemente Pathos, mit dem das Attribut des Schöpferischen dem Subjekt hinzugewonnen worden ist, wurde angesichts der überwältigenden Geltung des Axioms von der >Nachahmung der Natur< aufgeboten. Diese Auseinandersetzung ist noch nicht abgeschlossen, während schon neue Formeln zu triumphieren scheinen. Aber es ist nicht nur eine politische Weisheit, daß sich der Besiegte für den Sieger im Augenblick des Sieges aus dem Feind in eine Hypothek verwandelt. Läßt ein Widerstand nach, gegen den alle Kräfte aufgeboten werden mußten, so tragen die mobilisierten Energien leicht über die erstrebte Position hinaus.
II. Ich versuche zunächst, den geschichtlichen Raum genauer zu bestimmen, in dem sich diese Auseinandersetzung abspielt. Ungreifbar, wie die >Anfänge< nun einmal bei allem Geschichtlichen sind, ist der terminus a quo, den ich wähle, schon eine Gestalt ausgeprägter Frühreife unseres Problems: ich meine die Figur des Idiota in den drei Dialogen des Nikolaus von Cues aus dem Jahre 1450. Zur Charakterisierung dieser Dialogfigur genügt es nicht, das neue Selbstbewußtsein des >Laien< im 15. Jahrhundert, wie es sich hier reflektiert, soziologisch aus dem Gegensatz gegen den Kleriker herzuleiten. Der Cusaner konfrontiert seinen Idiota sowohl mit dem Philosophen als dem Vertreter der Scholastik wie auch mit dem Rhetor als dem Repräsentanten des humanistischen Typus.9 Sicher ist der cusanische >Laie< mitbestimmt durch den Gegensatz der Mystik und der Devotio moderna gegen den Schul- und Bildungshochmut der Zeit. Aber die Ironie des Tones, in dem dieser illiteratus den Leuchten der Wissenschaft begegnet, der gleichsam demokratische Stil, in dem er ohne Rücksicht auf die Ungleichheit der Voraussetzungen mitzureden beansprucht, haben doch noch 9 Vgl. die Einführung des Vf. zu den Idiota-Dialogen in: Nikolaus von Cues, Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Bremen 1957 (Slg. Dieterich) S. 231 ff. Der hier herangezogene Text ebd. S. 272. 12
ein anderes Fundament: es deutet sich eine neue Prägung des Menschen an, der sich selbst aus dem heraus versteht und seine Geltung rechtfertigt, was er tut und kann - aus seiner >Leistung<, würden wir sagen. Der historisch keineswegs selbstverständliche Verbund von Leistung und Selbstbewußtsein ist an dem cusanischen Idiota greifbar, und zwar gerade in der Hinsicht, die uns hier beschäftigt. Im zweiten Kapitel des Dialoges »De mente« führt der >Laie< seinen Gesprächspartnern, dem Philosophen und dem Rhetor, vor, was sein eigenes Handwerk, die ihren Mann nur bescheiden nährende und im öffentlichen Kurs so niedrig notierte Löffelschnitzerei, ihm selbst für sein Selbstverständnis und seine Selbstwertung bedeutet. Zwar ist auch diese >Kunst< Nachahmung, aber nicht Nachahmung der Natur, sondern Nachahmung der ars infinita Gottes selbst, und zwar insofern diese originär, urzeugend, schöpferisch ist, nicht aber insofern sie faktisch diese Welt geschaffen hat. Coclear extra mentis nostrae ideam non habet exemplar. Der Löffel, kein Hochprodukt gerade der Kunst, ist doch etwas absolut Neues, ein in der Natur nicht vorgegebenes Eidos, und der schlichte >Laie< ist der Mann, der das hervorbringt: non enim in hoc imitor figuram cuiuscunque rei naturalis. Die Formen von Löffeln, Töpfen, Tellern, die der >Laie< herstellt, sind rein technische Formen, und es ist von der Freude über diesen Sachverhalt bis zu seiner Akzentuierung am Produkt selbst als Grundzug des modernen industrial design kein Sprung mehr nötig. Der Mensch blickt nicht mehr auf die Natur, den Kosmos, um seinen Rang im Seienden abzulesen, sondern auf die Dingwelt, die sola humana arte entstanden ist.10 Wichtig an unserer Stelle ist weiter, daß sich der Idiota mit io Es ist für den >mittelalterlichen< Aspekt des Cusaners überaus charakteristisch, daß in der hier besprochenen Aussage des Idiota noch ein versteckter Bezug auf die Doppeldefinition der >Kunst< bei Aristoteles enthalten ist: ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae arti similior. Es wird unterstellt, daß die beiden Teile der aristotelischen Definition eine generelle Differenz implizieren (statt einer spezifischen) und daß sie alternativ gelten; da also der Idiota nicht eine ars imitatoria für die seine halten kann, bleibt ihm nur übrig, an die ars perfectoria anzuknüpfen, da ihm eine dritte Möglichkeit terminologisch gar nicht zugänglich ist, obwohl die zuvor gegebene Darstellung dessen, was er tut, überhaupt keinen sachlichen Anhalt dafür bietet, daß er etwas von der Natur unvollendet Liegengelassenes aufnimmt und >vollendet<, es sei denn das Material, das er verwendet. Hier zeigt sich, wie die Geschichte des menschlichen Geistes durch Definitionen (und das heißt: durch den Anspruch auf Endgültigkeit) kanalisiert werden kann. 13
seiner >Leistung< ausdrücklich absetzt gegen das, was Maler und Bildhauer zustande bringen, die doch ihre exemplaria a rebus hernähmen - non tarnen ego, ich aber nicht! Es ist von unschätzbarer signifikativer Bedeutung, daß hier das ganze Pathos des schöpferisch-originären Menschen und der Bruch mit dem Nachahmungsprinzip beim technischen, nicht beim künstlerischen Menschen hervortreten. Diese Differenz wird hier wohl zum ersten Male positiv betont, und darin liegt wesentlich der Wert des Zeugnisses, wenn man sich gegenwärtig hält, wie fast ausschließlich sich in der Folge die Bezeugung des Schöpferischen auf bildende Künste und Poesie konzentriert: daß dort der Autor von sich selbst und seiner schaffenden Spontaneität zu sprechen beginnt, gehört seit dem Ende des Mittelalters geradezu zur Erscheinungsform der Kunst. Die Geschichte des technischen Geistes dagegen ist überaus arm an solchen Selbstzeugnissen ihrer Träger. Das ist nicht nur ein typologisches Phänomen, das den nüchternen Mann der Konstruktion charakterisiert. Es ist auch nicht nur ein soziologisches Phänomen der öffentlichen Wertung und Aufmerksamkeit, die sich erst mit der Beachtung der artes mechanicae durch die französische »Enzyklopädie« der geistigen Ursprungssphäre des technischen Produkts zuwenden. Es ist vor allem ein Phänomen der Sprachlosigkeit der Technik. Für den Dichter und Künstler war schon in der Antike ein Arsenal von Kategorien und Metaphern, bis ins Anekdotische hinab, bereitgestellt worden, das zumindest in der Negation zu sagen gestattete, wie sich der schöpferische Prozeß neuerdings verstanden wissen wollte. Für die herankommende technische Welt stand keine Sprache zur Verfügung, und es versammelten sich hier wohl auch kaum die Menschen, die sie hätten schaffen können. Das hat schließlich zu dem erst heute - da die technische Sphäre erstrangig gesellschaftsfähig geworden ist - kraß auffallenden Sachverhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer Welt am stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagen wissen, was sie tun. Autobiographien von großen Erfindern sind - im Gegensatz zur raffiniert gesteigerten Selbstdeutung des modernen Künstlers - von oft rührender Ohnmacht der Sprache dem Phänomen gegenüber, das sie verständlich machen wollen. Nur ein Beispiel: Orville Wright hat der Erfindung der ersten Flugmaschine die typische Stilisierung gegeben, daß die Brüder Wright sechs Jahre vor ihrem ersten Flug in Kitty Hawk ein Buch H
über Ornithologie in die Hand bekommen hätten und ihnen dabei aufgestoßen sei, warum der Vogel eine Fähigkeit besitzen sollte, die der Mensch nicht durch maßstäbliche Nachbildung der physischen Mechanismen sich aneignen könnte.11 Das ist noch genau der Topos, den Leonardo da Vinci vier Jahrhunderte zuvor gebraucht hatte12 - er freilich, und selbst noch Lilienthal13, mit Recht, da sie wirklich eine homomorphe Konstruktion erstrebten. Der Hiatus liegt zwischen Lilienthal und Wright: die Flugmaschine ist gerade dadurch wirkliche Erfindung, daß sie sich von der alten Traumvorstellung der Nachahmung des Vogelflugs freimacht und das Problem mit einem neuen Prinzip löst. Die Voraussetzung des Explosionsmotors (der seinerseits eine wirkliche Erfindung repräsentiert) ist dabei noch nicht einmal so wesentlich und charakteristisch wie die Verwendung der Luftschraube, denn rotierende Elemente sind von reiner Technizität, also weder von imitatio noch von perfectio herzuleiten, weil der Natur rotierende Organe fremd sein müssen. Ist es etwa zu kühn, wenn man behauptet, daß das Flugzeug so in der Immanenz des technischen Prozesses darinsteht, daß es auch dann zu dem Tage von Kitty Hawk gekommen wäre, hätte nie ein Vogel die Lüfte belebt? Aber die Berufung auf den schon vorhandenen und das Fluggeschäft gottgegebenerweise ausübenden Vogel hat gar nicht so sehr die Funktion einer genetischen Erklärung. Sie ist vielmehr der Ausdruck für das mehr oder weniger bestimmte Gefühl der Illegitimität dessen, was der Mensch da für sich beansprucht. Der Topos der Naturnachahmung ist eine Deckung gegenüber dem Unverstandenen der menschlichen Ursprünglichkeit, die als metaphysische Gewaltsamkeit vermeint ist. Solche Topoi fungieren in unserer Welt, wie in modernen Kunstausstellungen die naturalistischen Titel unter abstrakten Bildern stehen. Das Unformulierbare ist das Unvertretbare. Das Paradies war: für alles einen Namen zu wissen und durch den Namen sich geheuer zu machen. Wo das λόγον διii How we invented the Airplane. In: Harper's Magazine, 1953 Juni. 12 Tagebücher und Aufzeichnungen. Dt. v. Th. Lücke. Zürich 1952. S. 307: Du mußt die Flügel eines Vogels samt den Brustmuskeln, den Bewegern dieser Flügel, anatomisch untersuchen. Und du mußt das gleiche auch beim Menschen tun, um darzulegen, welche Möglichkeit im Menschen steckt, wenn er sich durch Flügelschlagen in der Luft halten will. Hier kommt neben der ars imitatoria auch in unmittelbarem Zusammenhang die ars perfectoria zur Geltung, also der ganze Aristoteles. 13 Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. 2. Aufl. München 1910. 15
δόναι (in seinem Doppelsinn!) versagt, neigen wir dazu, von >Dämonie< der Sache zu sprechen, wie die vielgebrauchte >Dämonie der Technik< für unsere Thematik belegt. Eine solche Problematik wie die der modernen Technik ist dadurch gekennzeichnet, daß wir zwar ein >Problem< empfinden, es zu formulieren aber in unausgesetzter Verlegenheit sind. Diese Verlegenheit eben soll hier auf die Geltung der Formel von der >Kunst< als Nachahmung der Natur zurückgeführt werden, indem ich zu zeigen versuche, daß und weshalb diese Idee unsere metaphysische Tradition derart beherrscht hat, daß für die Konzeption des authentischen Menschenwerkes kein Spielraum blieb. Das schöpferische Selbstbewußtsein, das an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit aufbrach, fand sich ontologisch unartikulierbar: als die Malerei nach ihrer >Theorie< zu suchen begann, assimilierte sie sich die aristotelische Poetik; der schöpferische >Einfall< metaphorisierte sich als entusiasmo und in den Ausdrücken einer säkularisierten illuminatio. Verlegenheit der Artikulation angesichts des Übergewichts der metaphysischen imitaizo-Tradition und der Renaissancegestus der Rebellion gehören zusammen. Das ontologisch fraglos Gewordene bildet eine Zone der Legitimität, in der sich neue Verständnisweisen nur gewaltsam durchsetzen können. Man denke an den >Ausbrüch< des Originalgenies noch im 18. Jahrhundert, der im Idealismus sozusagen systematisch aufgefangen wurde. Erst im historischen Nachhinein sieht man, was der Versuch des Cusaners hätte bedeuten können, mit der Ironie seines löffelschnitzenden Idiota die bestürzende Idee vom Menschen als einem seinsoriginären Wesen so zu formulieren, daß sie als notwendige Konsequenz und legitime Explikation der theologischen Auffassung vom Menschen als dem gottgewollten Ebenbild Gottes, als dem (in der Hermetik vorformulierten) alter deus, hervortrat. An seiner geschichtlichen Wirksamkeit gemessen, ist dieser Versuch, die Neuzeit gleichsam als immanentes Produkt des Mittelalters heranzuführen - ein Unternehmen, innerhalb dessen die metaphysische Legitimierung des Attributs des Schöpferischen für den Menschen nur eine Komponente darstellt -, nicht gelungen. Wir haben den Idiota des Cusaners als historisches Indiz, nicht als geschichtsbildende Energie zu betrachten. Denn das Fazit der neuzeitlichen Geistesgeschichte ist der Antagonismus von Konstruktion und Organismus, von Kunst und Natur, von Gestaltungswillen und Gestaltgegebenheit, von Arbeit und Bestand. Das 16
menschliche Schaffen sieht seinen Wirkungsraum sich durch das Gegebene benommen. Nietzsche hat auch diesen Sachverhalt am schärfsten formuliert, wenn er im »Zarathustra« sagen läßt, daß Wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, der muß ein Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferischen Hier ist der Nihilismus funktional dem seinsoriginären Anspruch des Menschen zugeordnet; aber sogleich ist zu fragen, ob nicht das, was hier wie ein Seinsgesetz ausgesprochen ist, vielmehr die geschichtliche Situation kennzeichnet, in der der Mensch seine schöpferische Freiheit durch eine bestimmte (eben die hier näher zu ergründende) metaphysische Tradition verstellt findet. Der Antinaturalismus des 19. Jahrhunderts ist getragen von diesem Gefühl der Beengung der authentischen Produktivität des Menschen durch einen lästigen Bedingungshorizont. Das neue Pathos der Arbeit richtet sich gegen die Natur: Comte prägt den Ausdruck >Antinatur<, Marx und Engels sprechen von >Antiphysis<. Die Natur hat nicht nur ihre exemplarische Verbindlichkeit verloren und ist zum Objekt nivelliert worden, dessen theoretische und praktische Bemeisterung seine Bedeutung ausschöpft; sie ist vielmehr so etwas wie die Gegeninstanz des technischen und künstlerischen Willens geworden. Ihre Wirkung auf die emotionelle Empfänglichkeit des Menschen erweckt Mißtrauen: das In-sich-Beruhende, Ausreifende, Zu-sich-Zurückkehrende der Natur hat den Charakter der Versuchung für die Eindeutigkeit des menschlichen Werkwillens angenommen.15 In unserem Jahrhundert hat sich dazu die Erfah14 Gesammelte Werke. Musarion-Ausg. XIII, 149; ich zitiere nach dem etwas abweichenden Selbstzitat Nietzsches in »Ecce Homo« (Werke XXI, 277). 15 Niemand hätte das greifbarer verbildlichen können als Bert Brecht, der in einer seiner »Geschichten vom Herrn Keuner«, betitelt »Herr K. und die Natur«, sagen läßt: Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen .,. Der Irrealis ist wie eine versteckte Fußangel in der QuasiIdylle, die sich nun entfaltet, wo der besondere Grad von Realität< des Naturgebildes gegenüber der bloßen Relativität des Gebrauchsgegenstandes gefeiert wird, das beruhigend Selbständige, von mir Absehende der Bäume, ja es wird schließlich die Hoffnung ausgesprochen, es möchte an diesen Bäumen etwas Unverwertbares, nicht Materialhaftes sein. Aber diese scharfsichtige Phänomenologie eines untergründigen Naturbedürfnisses endet mit einem Ordnungsruf, dessen Stilisierung auf Beiläufigkeit - der Nachsatz ist in Klammern gesetzt und beginnt: Herr K. sagte auch... - nur paideutische Taktik ist: £5 ist nötig für uns, von der Natur einen sparsamen Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit in der Natur weilend, gerät man leicht in einen krankhaften Zustand, etwas wie Fieber befällt einen. Ohne Arbeit in der Natur zu 17
rung eingestellt, daß das natürliche Material einerseits, die physische Ausstattung des Menschen andererseits auf eine lästige Weise den Anforderungen nicht gewachsen sind, die das technische Werk an sie stellt. Eine eigentümliche Trägheit enthüllt sich als Qualität des Organischen; das Konzept, sie zu überwinden, ist zuerst in der Idee der organischen Konstruktion des »Arbeiters« von Ernst Jünger rücksichtslos entwickelt worden. Das ist, in Andeutungen, der terminus ad quem des geschichtlichen Prozesses, dessen metaphysischen terminus a quo wir hier betrachten wollen. Die metaphysische Exklusivität des Naturbegriffes hat, wie sich näherhin zeigen wird, den legitimen Spielraum des authentisch menschlichen Werks eliminiert, oder richtiger: unvorgesehen gelassen; am Ende des gewaltsamen Gegenzuges ist der Natur selbst durch den absoluten Anspruch des Werkes in Technik und Kunst ihr Geltungsbereich bestritten. Und nicht zufällig hat die Kunst in der Philosophie seit dem Idealismus überall dort, wo man nach dem, was >Sein< ist, glaubt fragen zu können, eben den exemplarischen Rang eingenommen, den in der Antike und der von ihr abhängigen Metaphysik die Natur innehatte. Vielleicht hat sich vor dem Leser unsere These nun so weit präzisiert, daß ohne Zumutung eines Gedankensprunges formuliert werden kann, das neuzeitliche Pathos der authentisch menschlichen Hervorbringung in Kunst und Technik entspringe der Widersetzlichkeit gegen die metaphysische Tradition der Identität von Sein und Natur und die Bestimmung des Menschenwerkes als >Nachahmung der Natur< sei die genaue Konsequenz dieser Identität gewesen. Hier wird nun freilich eine gründlichere Untersuchung der historischen Basis unumgänglich.
III. Es lohnt sich, mit einem Blick in das zehnte Buch der platonischen »Politeia« zu beginnen. Bekanntlich führt Plato hier seine Polemik gegen die Dichtung und darstellende Kunst überhaupt, und zwar mit einer Argumentation, die nicht so sehr auf deren negative Wirweilen, perhorresziert denn auch den Zeitgenossen (nicht nur den marxistischer Observanz, wenn es ihn gibt); der moderne Arbeitsgarten zeigt das genauso wie die diversen Formen der Begleitung der vorgeblich Naturbedürftigen durch technisches Gerät, das den Natureindruck neutralisiert. 18
kungen abgestellt ist, als vielmehr ihre Herkunft, ihren ontologischen Fundierungszusammenhang ins Auge faßt. Daß die Kunst die Natur nachahmt, ist dabei nicht nur eine Feststellung, sondern schon der entscheidende Einwand. Um diesen Einwand besonders scharf zu profilieren, wählt Plato als Paradigma zwei elementare Gebrauchsgegenstände (σκεύη), Bett und Tisch. Der Handwerker (δημιουργός) stellt sie her, der Maler (ζωγράφος) stellt sie nur dar. Der Handwerker ist aber nicht auch der >Erfinder< von Bett und Tisch, denn kein Handwerker bringt deren Idee als solche hervor.16 Hier haben wir eine Definition von Erfindung in der Negation vorausgesetzt: sie ist das Hervorbringen der Idee selbst. Woher aber nimmt der Handwerker die Ideen von Bett und Tisch, da er sie doch nicht selbst hervorbringt und auch nicht derartige Grundge stalten in der gegebenen Realität vorfindet? Die Antwort darauf lautet: es gibt in der Ideenwelt für Tisch und Bett genau so Ideen wie für die schon vorhandenen Weltdinge.17 Der Handwerker hat diese Ideen als etwas ihm Vorgegebenes im geistigen Blick, wenn er solche Zeugdinge herstellt; der Maler aber blickt nicht auf die Idee selbst, sondern auf das ihr schon Nachgebildete. Ihm dies zum Vorwurf zu machen, daraus eine Kritik der nachbildenden Künste abzuleiten, impliziert nun aber notwendig die Prämisse, daß Nachahmung etwa Negatives ist. Zwar gebraucht Plato den Ausdruck >Nachahmung< durcheinander und füreinander mit dem der >Teilhabe<, oft für ein und denselben Sachverhalt; aber es ist doch deutlich zu erkennen, daß μέ9εξις άη positives Vorzeichen hat, indem es die Beziehung des realen Dinges zu der Eigentlichkeit seiner Idee betont, während μίμησις eher die Negativität der Differenz zwischen Urbild und Abbild, den Defekt des phänomenalen gegenüber dem idealen Sein akzentuiert.18 Nachahmung heißt eben: das Nachgeahmte selbst nicht sein.19 Kunst ist also nur ein Seinsderivat, im Beispiel des abgebildeten technischen Gegenstandes sogar 16 596 Β: ού γάρ που την ίδέαν αυτήν δημιουργεί ουδείς των δημιουργών. 17 59^ Β: άλλα ίδέαιγέ που περί ταύτα τα σκεύη ... ι8 Aristoteles läßt allerdings nur eine nominale Differenz zu: Metaph. 1,6; 987b 10-13. F u r ihn ist aber auch die Ambivalenz des Sachverhaltes, dem Plato gerecht zu werden hat, nicht mehr aktuell. 19 So deutlich bei Demokrit, fr. 39 Diels: αγαθόν ή είναι χρεών ή μιμεισθαι. Selbst in der Ableitung menschlicher Leistungen vom tierischen bei Demo krit (Weben, Stopfen, Hausbau, Gesang: fr. 154 Diels) durch Nachahmung kommt der Vorrang dessen, der etwas von Natur besitzt, gegenüber der Armut dessen, der es nur übernimmt, klar heraus. 19
erst >an dritter Stelle vom eigentlich Seienden entfernt stehend<.20 Der Handwerker mag mit dem Bedürfnis entschuldigt sein, dem sein Werk Genüge tun will - womit aber kann der Maler sich rechtfertigen? Diesen negativen Aspekt der Ideenmimesis hat die weitere Geschichte des Piatonismus so verstärkt, daß schließlich schon die erste Nachahmung, die Begründung des sichtbaren Kosmos durch den Weltdemiurgen, ein negatives Vorzeichen bekommen mußte. Diese neuplatonische Einseitigkeit muß man im Auge behalten, wenn man das Motiv verstehen will, das gerade den spätmittelalterlichen Piatonismus an der Überwindung der Mimesis-Formel für das Kunstwerk so stark beteiligt sein ließ: daß >Nachahmung der Natur< eine die Würde des Menschenwerks in Frage stellende Bestimmung sein könnte, ist von der aristotelischen Tradition her (die sie sich vor allem zu eigen gemacht hatte) niemals verstanden worden bzw. auch nur verstehbar geworden. Für Plato selbst freilich muß dem mit der Methexis-Vorstellung verbundenen positiven Aspekt wohl noch der Vorrang gegeben werden. Es läßt sich das leicht verstehen, wenn man die ursprüngliche Frontstellung der sokratisch-platonischen Ideenlehre gegen die Sopbistik bedenkt. In der griechischen Sophistik ist der Gedanke der absoluten Setzung, der im Vorgegebenen unbegründeten 9έσις, zuerst gedacht worden.21 Aber dieser Vorstellung fehlt noch alles, was einmal den Begriff des >Schöpferischen< qualifizieren sollte. Staat, Sprache, Sitte sind hier zwar durch menschliche Setzung entstanden und menschlicher τέχνη unterworfen, und die >Geschichte< wird zum erstenmal in der sophistischen Rhetorik als Produkt menschlichen Machens begriffen - aber dieser Leistung kommt doch nichts Auszeichnendes zu, vielmehr ist ihr techni schem Zug Ausdruck einer Bedürftigkeit des Menschen, eines Mangels an natürlicher Mitgift, an vorfindlicher Ordnungsstruktur. Auch fehlte es der Sophistik an einem Begriff des geistigen Subjekts, dem eine solche metaphysische >Auszeichnung< hätte zugeschrieben werden können. >Setzung< ist zwar Kontrastbegriff zu >Natur<, aber gerade dadurch gerät sie in die Nähe der bloßen τύχη, in der dieser Gegensatz generell ausgedrückt ist. Was mußte geschehen, um der hier zum erstenmal ausgebildeten Vorstellung einer 20 599 Α: τριττα απέχοντα του οντος. 2ΐ Die Einbeziehung der Sophistik geht auf eine Diskussion meiner These mit D. Henrich zurück. 20
absoluten Spontaneität menschlichen Handelns ihre metaphysische Dignität zu verschaffen? Die Antwort ist im nachhinein leicht zu geben: die >Setzung< bekommt ihre metaphysische Würde erst dadurch, daß sie als theologischer Begriff, als Attribut des Göttlichen entdeckt wird. Erst die Transplantation einer Vorstellung auf den theologischen Nährboden macht sie virulent, um in der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses jene Attraktion auszuüben, die - von der mystischen Sehnsucht nach der όμοίωσις 9εω bis zur trotzigen Usurpation göttlicher Attribute in dem, was man die Hybris der Renaissance genannt hat - den Willen bewegt. Es geht also hier gar nicht primär um die Frage, wo die Authentizität der menschlichen Werksetzung zuerst konzipiert wurde, sondern wo sie zu ihrem einzigartigen metaphysischen Rang gekommen ist, der das Denken einer Epoche auf diese Idee zentrieren konnte. Not hat zwar seit je erfinderisch gemacht, wie das Sprichwort sagt, aber sie vermag der Idee der Erfindung nicht den Glanz zu geben, der zu ruheloser Selbstbestätigung in dieser Qualität treibt. Die sophistische Thesis begründet Schein, nicht Sein, sie hat keinen Bezug zur Wahrheit: τέχνη und αλήθεια, bleiben einan der fremd. In diese Grundlosigkeit des menschlichen Tuns Grund zu bringen, Seinsbezug, Verbindlichkeit - das war das Motiv der Ideenlehre und der ihr korrekten Mimesis-Vorstellung. Der Hand-. werker, der Bett und Tisch herstellt, macht etwas Neues nur im Hinblick auf die phänomenale Welt, nicht aber im Hinblick auf den idealen Kosmos, in dem es die Ideen dieser Zeugdinge immer schon gibt. Wenn Plato nun sagt, diese Ideen bedeuteten das Bett bzw. den Tisch εν τη φύσει 22 , dann ist der spezifisch platonische Ursinn der Formel von der >Nachahmung der Natur< greifbar: die Natur nachzuahmen, heißt, die Idee nachzubilden. Wie nun aber weiter? Ist die Idee selbst noch auf einen Ursprung hin befragbar oder ist sie das Ursprungs los Absolute selbst? Ist die Vorstellung eines schöpferischen Aktes der platonischen Metaphysik fremd? Der Piatonismus der Tradition jedenfalls hat diesen Eindruck erweckt; es wird sich zeigen, wie es dazu kam. An unserer Stelle jedoch, im zehnten Buch der »Politeia«, wird ausdrücklich gesagt, es sei der Gott, der wahrhaft Hervorbringer des eigentlich seienden Bettes - nicht irgendeines beliebigen, wie es irgendein beliebiger 22 597 BC. 21
Handwerker herstellt - sein wollte und es so in der Einheit seiner Natur als >Idee< begründete.23 Dreimal kurz hintereinander insistiert Plato auf dieser Aussage, und er nennt den wesenbegründenden Gott den φυτουργός. Hier ist Schöpfung als Akt der Urzeugung von Wesenheit zum erstenmal erfaßt und zum Attribut der Gottheit gemacht. Man sollte denken, diese Konzeption des Schöpfungsbegriffs in seiner Radikalität hätte spätestens in dem Augenblick erkannt und anerkannt werden müssen, als es darum ging, die biblische Schöpfungsidee mit den Mitteln der antiken Metaphysik zu artikulieren und traditionsfähig zu machen. Aber, wie oft genug nachgewiesen worden ist, hat sich in dieser Funktion ein anderes Element des platonischen Werkes durchgesetzt: der Demiurgenmythos des »Timaios«. Im Demiurgen wird die Präfiguration des biblischen Schöpfergottes gesehen werden. Aber der Demiurg ist nicht schöpferisch. Er ist - seiner Handlungsstruktur, nicht seinem metaphysischen Range nach - genau so Handwerker wie der Tischler im zehnten Buch der »Politeia«. Der Demiurg des »Timaios« hat eine kosmologische, keine ontologische Begründungsfunktion: er soll erklären, weshalb es überhaupt neben dem Ideenkosmos noch sein phänomenales Pendant gibt, also eine Verlegenheit der platonischen Philosophie überbrücken, an der dann Aristoteles so nachhaltig Anstoß nahm. Die Funktion des Demiur. gen ist eine dienstbare, dem absoluten Sein der Ideen untergeordnete; nicht auf diesem >Schöpf er<, sondern auf seinem Werkmodell liegt der metaphysische Akzent. Er bringt nur das eigentlich Seiende (das man sich als zur Selbstmitteilung drängend vorstellen muß, wie es die Neuplatoniker getan haben) zur faßbaren Erscheinung, er übersetzt es in die Sinnensprache. Ob das Urbild solcher >Verkündigung< bedarf, ist eine unwichtige Frage, allerdings nur so lange wie der Demiurg nicht selbst der Gott ist, der als Prinzip des Guten gerechtfertigt werden muß. Eben diese Identifizierung des Demiurgen mit Gott wird aber schon im ersten vorchristlichen Jahrhundert eingeleitet und beherrscht den christlichen Platonismus. Daß in der geschichtlichen Rezeption der φυτουργός der »Politeia« keinen Widerhall findet und statt dessen der δημιουργός des »Timaios« die maßgebende Vorstellung wird, bedeutet, daß der. Begriff der >Schöpfung< mit den kategorialen Mitteln des Strukturschemas der >Nachahmung< ausgelegt werden mußte. So wenig es 23 597D. 22
hier schon um das Verständnis menschlicher Spontaneität ging, so wesentlich wurde dieses doch hier vorentschieden, wenn man den typischen Prozeß der theologischen Inkubation der begrifflichen Elemente der Selbsterfassung der Subjektivität in Rechnung stellt. Die Übertragung der Demiurgenvorstellung auf den Gottesbegriff impliziert die entscheidende Sanktion des Prinzips der Nachahmung der Natur<. Aber noch in einem weiteren Punkt bringt der »Timaios« eine wichtige Modifikation der im zehnten Buch der »Politeia« dargestellten Position. Aristoteles berichtet uns den - angesichts des bisher Dargelegten - erstaunlichen Sachverhalt, daß es nach Ansicht der Akademie für künstliche Dinge, wie das Haus oder den Ring, keine Ideen gäbe.24 Wie ist es dazu gekommen, daß bei Plato oder in seiner Schule die Ideen der technischen Gegenstände wieder aufgegeben worden sind? Vom »Timaios« her läßt sich das leicht einsehen. Der Demiurg bildet im vorgegebenen Stoff die vorgegebenen Urbilder nach; aber er waltet dabei nicht nach Belieben, nicht auswählend. Für ihn gilt das Prinzip des optimalen Effekts: der von ihm verfertigte Kosmos ist das Beste, was überhaupt entstehen konnte (κάλλιστος των γεγονότων), und der Demiurg wird durch sein Werk als άριστος των αιτίων qualifiziert.25 Die Ideenlehre selbst, in ihrer ontologisch-ethischen Doppelfunktion, macht diese Feststellung unumgänglich: die Ideen sind ja nicht nur Vorlagen, wie dieses Werk gemacht werden kann, sondern zugleich verpflichtende Normen, daß es so gemacht werden soll. Daraus folgert Plato sowohl die Einzigkeit des realen Kosmos als auch seine Vollständigkeit hinsichtlich des idealen Modells.26 Das aber heißt nun: der Demiurg schöpft das Potential der Ideen aus, das Reale repräsentiert erschöpfend das Ideale. Alles Mögliche ist schon da, und für das Werk des Menschen bleiben keine unverwirklichten Ideen übrig. Diese gravierende Abweichung vom zehnten Buch der »Politeia« macht die Frage nach der Herkunft des menschlichen Werkes zur bleibenden Verlegenheit des Platonismus. Aristoteles hat die einzig mögliche Konsequenz gezogen: alles hergestellte >Neue< geht auf schon Daseiendes zurück. Die 24 Metaph. I, 9; 991 b 6 f. Positiv formuliert: Metaph. XII, 3; 1070a 18-.20. 25 29A. 16 30 CD, 31 A. So auch EM. Cornford, Plato's Cosmology. London 1937. S. 4o£: The intelligible Living Créature corresponds to it, whole to whole, and part to part. 23
Idee der vollständigen Entsprechung von Möglichkeit und Wirklichkeit läßt nicht zu, daß der Mensch geistig originär wirken kann. Ontologisch bedeutet das: durch das Menschenwerk kann das Seiende nicht >bereichert< werden, oder anders ausgedrückt: im Werk des Menschen geschieht essentiell nichts. Das menschliche Gebilde hat keine ihm eigene und eigentliche Wahrheit. Kein Wunder also, daß es der traditionellen Metaphysik nichts zu sagen hatte.27
IV. Bei Plato ist bereits die ganze Konzeption angelegt, für die Aristoteles die traditionsgängige Formel gefunden hat. Die Ewigkeit der Urbilder wird zur Ewigkeit der realen Welt selbst, und die Vollständigkeit der Entsprechung zwischen Ideen und Erscheinungen wird zur Einzigkeit und Vollständigkeit des Kosmos im Hinblick auf den Begriff der Möglichkeit. Das Moment der Exemplarität ist mit dieser aristotelischen Transformation geschwächt: warum die Natur nachgeahmt werden soll, war von Plato her besser zu verstehen, insofern die reale Welt als das schlechthin bestfundierte Werk erschien, dem gegenüber auf anderes zu sinnen unsinnig sein mußte. Hier wird die Stoa wieder ansetzen. Was aber bei Aristoteles eindeutiger als bei Plato heraustritt, ist die Notwendigkeit, warum ein Werk immer nur Wiederholung der Natur sein kann. Natur ist der Inbegriff des überhaupt Möglichen. Geist kann gar nicht anders bestimmt werden denn als eine Fähigkeit in bezug auf das All des Schon-Seienden. Möglich ist immer nur, was seiner μορφή nach schon wirklich ist: der Kosmos ist das All des Wirklichen und des Möglichen zugleich. So ist das immanente Gesetz aller Bewegung (in dem weitesten Sinn von Veränderung, den dieser Begriff bei Aristoteles hat) die ewige Selbstwiederholung des Seins. Diese Grundstruktur übergreift Ding und Geist, Natur und >Kunst<, sie ist letztlich die innere Struktur des absoluten Seienden der aristo27 Der antike Piatonismus hat es sich mit dieser Hypothek sauer werden lassen, wie W. Theiler (Die Vorbereitung des Neuplatonismus. Berlin 1930) gezeigt hat. An der Exklusivität der Ideen für die φύσει οντά wird festgehalten (ζ. Β. Chalcidius [ed. Wrobel 333, 8]: ideae sunt exempla naturalium verum). Man hilft sich, wie in aller »Scholastik«, mit nominalen Differenzierungen, denen begriffliche Deckung fehlt, so mit der schon bei Plato anklingenden Unterscheidung von ίδέα und είδος. Das Eidos wird die ins Werk gesetzte Idee. 24
telischen Metaphysik: der >unbewegte Beweger< ist die reine gei stige Form der Selbstwiederholung in der νόησις νοήσεως, im sich selbst denkenden Denken. Diese in sich verschlossene Selbstge nügsamkeit des Absoluten ist ebensowenig nach außen schöpferisch wie nach innen zeugerisch (wie erstaunlich, daß die christliche Theologie sie dennoch zum Modell nahm!). Die Selbstwiederholung des Absoluten geht im Kosmos in die Struktur der >Nachahmung< über: dieses Prinzip erklärt schon die ungetrübte Kreisform der ersten Sphärenbewegung als liebende Assimilation an das rein in sich zurückkehrende Höchste, es spiegelt sich im Kreislauf des Wassers der Meteorologie28, es ist das Grundgesetz aller generativen Prozesse, in denen das Zeugende immer nur wieder seine eigene Wesensform produziert. Am allgemeinsten schließlich: Seiendes kommt nur aus Seiendem.29 Die τέχνη steht in dieser kosmi schen Prozeßordnung tief unten: der Produzierende wiederholt ja nicht sich selbst; nur mittelbar- eben durch das notwendige Angewiesensein auf >Nachahmung< - ist der technische Akt in die kosmische Grundstruktur zurückgebunden, ist er nicht bloße βία oder τύχη. So ist auch die >Kunst< noch für den Kosmos >gerettet<, ihm funktional inkorporiert, bezeugt seine Einzigkeit und Vollständigkeit. Im Grunde ist die Theologisierung des Kosmos, die erst die Stoa vollziehen wird, hier schon beschlossen. Wo das Seiende als ganzes absolut ist, kann es >Bereicherung< an Sein nicht geben, selbst durch Gott nicht. Der Wille hat keine Seinsmacht; er kann nur wollen, was schon ist, kann nur - wie der Gott auch - >in Bewegung halten<. Die Homogeneität der aristotelischen Lehre von der Erkenntnis innerhalb dieses Ganzen seiner Metaphysik versteht sich von selbst.30 28 Meteor. I 9; 346 b 16-347 a 5· 29 Metaph. XII, 2; 1069b 19. XII, 3; 1070a 8. Vgl. hierzu Studium Generale 4, 463 f. (1951); [in diesem Band S. 253-265]. 30 S.H. Butcher, Aristotle's Theory of Poetry and Fine Art. 4. Aufl. London 1927. S. 126 weist z.B. mit Recht darauf hin, daß man den Ausdruck φαντα σία bei Aristoteles nicht genau durch >Imagination< wiedergeben könne, worin an image-making power bedeutet werde. An der noch direkteren Wiedergabe mit >Phantasie< läßt sich ein ähnlicher differenzierender Bedeutungszuwachs entnehmen, um dessen ontologische Möglichkeit es uns hier gerade geht. Davon darf man auf Aristoteles nichts zurückfließen lassen. Um so weniger verstehe ich die geheimnisvolle Bemerkung bei Butcher (a.a.O. S. 127 Anm. 1): The idea of a créative power in man which transforms the materials supplied by the empirical world is not unknown either to Plato or Aristotle, but it is not a separate faculty or denoted by a distinct name. Für die 25
In der Interpretation der aristotelischen Mimesis ist wiederholt auf die Bedeutung des dynamischen Naturbegriffs hingewiesen worden, der nicht so sehr den gegebenen eidetischen Gesamtbestand bedeutet, als vielmehr den Inbegriff der generativen Prozesse, die diesen Bestand jederzeit bedingen: the créative force, the productive principle oj the universel Es ist die klassische Unterscheidung von natura naturans und natura naturata. Einen entscheidenden ontologischen Zuwachs gegenüber Plato vermag ich auch dann nicht zu sehen: selbst wenn man, ohne Rücksicht auf die letzte Gestalt der platonischen Lehre, die Statik der Ideenwelt unterstellt, ist doch in der Funktion des Demiurgen die initiierende Dynamik konzentriert. Dies alles - Ideen, Stoff, Demiurg - muß Aristoteles im Naturbegriff unterbringen; das führt zur Mehrdeutigkeit, die auf die Mimesis-Vorstellung übergeht. >Nachahmung der Natur< bedeutet so nicht nur Reproduktion eines eidetischen Bestandes, sondern Nachvollzug des produktiven Vorganges: art in gênerai imitâtes the method of nature?2 Ich kann dieser Unterscheidung für unsere Fragestellung keine entscheidende Bedeutung beimessen, da doch für Aristoteles alle generativen Prozesse der Natur durch einen unverrückbaren eidetischen Bestand reguliert sind. Die Natur wiederholt sich in ihrer Selbstproduktion ewig - was erlaubt, ihr créative force zuzuschreiben? Hier sind offenkundig Implikationen des modernen, durch die Evolution bestimmten Naturbegriffs herangetragen, die dann konsequent dazu führen, daß das έπιτελεϊν in der aristotelischen Definition der >Kunst< überdeutet wird. Inwiefern kann die Natur überhaupt einer Vollendung bedürfen? Mangel heißt hier jedenfalls nie so etwas wie eine >Leerstelle<, sondern nur das je faktisch noch nicht erreichte Werdeziel. Wenn Aristoteles sagt, es sei Sache des Künstlers, die Naturdinge nachzuahmen, wie sie sein sollen*3, so bedeutet Bedeutungsgeschichte von >Phantasie< ist es charakteristisch, wie spät erst originäre Momente zufließen, und nicht weniger, daß es ein Vertreter der sog. >zweiten Sophistik< im 3. nachchristl. Jahrhundert war, der eine neue Definition von φαντασία als créative imagination (Liddell-Scott) gab: Philostrat in seiner Apollonius-Vita (ed. Kayser VI, 19), wo ausdrücklich die >Phantasie< der >Nachahmung< entgegengestellt wird, und zwar im Hinblick auf das Mehr, das in den Götterstatuen eines Phidias oder Praxiteles enthalten ist, das Mehr an Ungesehenem,Unvorgegebenem: μίμησις μέν γαρ δημιουργή σει δ ειδεν, φαντασία δέ και δ μη είδεν. 3ΐ S.H. Butcher, a.a.O. S. 116. 32 S.H. Butcher, a.a.O. S. 117. 33 Poetik XXV, 1460b 11, 35. 26
das nicht den Hinweis auf irgendeine diesen Gegenständen transzendente Norm, sondern die >Extrapolation< aus dem Werdeprozeß auf das Werdeziel, von der γένεσις auf ihr τέλος. Damit es sich die >Kunst< nicht am jeweilig faktischen Zustand des Seienden ge nug sein läßt, sondern es auf das darin gestaltend wirksame Werdeziel, die εντελέχεια, absieht, ist die generative Seite des Naturbe griffs für die Mimesis wesentlich, aber dies doch nur deshalb, weil nach und trotz der Beseitigung der Ideen eben immer noch so etwas wie >Idealität< benötigt wird, um zu verstehen, was den Menschen in seinem Werk, vor allem: was ihn im Kunstwerk bestimmt. Sollte die Natur einmal ihre eidetische Konstanz verlieren, würde auch die aristotelische Lehre von der >Kunst< ihr Fundament einbüßen: wo ist der Natur noch eine Form des Seinsollens abzugewinnen, wenn an Stelle der ewig wiederholten endlichen Ontogenesis die von Mutation und Selektion induzierte unendliche Phylogenesis den Begriff der natura naturans bestimmt? Dieser Hinweis auf Späteres soll nur hier schon andeuten, daß philosophische Grundvorstellungen nicht beliebige Renaissancen haben können. Der Kern der aristotelischen Lehre von der τέχνη ist, daß dem werksetzenden Menschen keine wesentliche Funktion zugeschrieben werden kann. Was man die >Welt des Menschen< nennen wird, gibt es hier im Grunde nicht. Der werksetzende und handelnde Mensch stellt sich in die Konsequenz der physischen Teleologie: er vollbringt, was die Natur vollbringen würde, ihr - nicht sein immanentes Sollen, τέχνη und φύσις sind gleichsinnige Konstitu tionsprinzipien, das eine bewirkt von außen, was das andere von innen zustande bringt.34 Verfertigung ist an die Entsprechung zu Wachstum gebunden. Das technisch-ästhetische Werk hat daher auch immer nur einen verweisenden Sinn, keinen ihm seinseigenen Wahrheitsgehalt. Die Möglichkeit, am Kunstwerk etwas nur da Aufgehendes zu erfahren, ist noch ungedacht, das Werk ist noch kein Medium der Selbsterkenntnis und Selbstbestätigung des Menschen. Im Hellenismus bietet die ps.-aristotelische Schrift »Über den Kosmos« eine nicht unbedeutsame Variation der Mimesis-Vorstellung durch ihre Einbeziehung heraklitischer Motive.35 Die Mimesis wird nicht primär auf den 34 Metaph XII, 3; 1070a γί.: ή μεν τέχνη αρχή έν άλλω, ή δε φύσις αρχή έν αύτω. 35 De mundo 5; 39^ a 33"b 2 2 · Es ist sicher falsch, auch das Mimesis-Element 27
eidetischen Bestand der Natur bezogen als vielmehr auf ihre formale Struktur (wobei man >formal< nicht im Sinne der aristotelisch-scholastischen forma zu verstehen hat). Der Kosmos ist, nach Heraklit, ein Gefüge aus Gegensätzen, die sich nicht aufheben, so wie eine Polis aus Armen und Reichen, Jungen und Alten, Schwachen und Starken, Schlechten und Guten eine Einheit bildet. Die Natur realisiert sich in Gegensätzen, wie dem Männlichen und Weiblichen, dem Trockenen und Feuchten, dem Warmen und Kalten. Und eben darin ahmt die >Kunst< die Natur nach, etwa wenn die Malerei gegensätzliche Farben verwendet, die Musik aus hohen und tiefen Tönen Harmonien bildet, die Schreibkunst Vokale und Konsonanten zusammenfügt. Hier ist zweifellos durch die Formalisierung der Mimesis >Spielraum< für die Authentizität des Werkes gewonnen, aber die Heterogeneität von Musik oder Sprache (Schrift) gegenüber irgendeinem Naturvorgang ist noch nicht gesehen. Die Stoa hat das metaphysische Fundament der Mimesis eindeutig verstärkt, indem sie Vollständigkeit und Vollkommenheit des Kosmos zu Prädikaten von theologischer Dignität erhob. Trotzdem hat sich die Stellung des Menschen gesteigert durch die universale Fassung des Teleologiegedankens: Die Natur ist auf den Menschen hin angelegt, und das menschliche Werk ist Annahme und Vollzug dieser Disposition. Die τέχνη erhalt gera dezu eine religiöse Sanktion, wenn etwa Poseidonios das Färberhandwerk auf die Sonne zurückführt, die die Farbenpracht des Vogelgefieders, der Blumen und Minerale erzeugt und die menschliche >Kunst< gleichsam in ihren Dienst stellt.36 Zwischen Natur und Technik gibt es keine definierbare Grenze mehr, eine einzige ενέργεια ist am Werke: >Kunst< ist Natur mit anderen Mitteln. Wie hier durch den christlichen Schöpfungsbegriff die Schranke zwischen der Natur als Gotteswerk und der >Kunst< als Menschenwerk wieder aufgerichtet wird, läßt sich gerade am Beispiel des Färberhandwerks sehr hübsch zeigen: bei einigen patristischen Autoren findet sich eine Polemik gegen textile Finessen mit der Begründung, Gott hätte die Schafe farbig geschaffen, wenn er sich für den Menschen farbige Kleidung gewünscht hätte. Tertullian weitet das zu einer sehr charakteristischen Polemik gegen die ars aus: Gott hat an nichts Wohlgefallen, was er nicht selber hervorgebracht hat. Konnte er nicht auch purpurrote oder stahlblaue Schafe erschaffen? Wenn er es vermochte, so hat er es eben nicht gewollt; was Gott aber nicht machen wollte, das darf man auch nicht machen ... Was nicht von Gott kommt, muß notwendig von dessen Widersacher kommen.37 Hier ist also schon die >Dämonie der Technik< vorgeprägt, indem Natur und dieses Zusammenhanges schon Heraklit zuzusprechen, wie es Michaelis (Art. μιμέομαι in: Theolog. Wörterbuch zum NT IV, 662) tut, wohl veranlaßt durch das Gesamtzitat bei Diels 22 Β ίο. 36 Diodor, Bibl. histor. II, 57,7: ου (sc. τοϋ ηλίου) την φυσικήν ένέργειαν τάς 9νητάς τέχνας μιμησαμένας ... μαθήτριας γενομένας της φύσεως. 37 De cultu fem. I, 8 (Ubers. ν. Η. Kellner). 28
>Kunst< in ein dualistisches Schema gebracht sind. Dazu bedurfte es freilich erst einer neuen Grundauffassung von der Natur als Wiüensausdruck Gottes und der noch impliziten Voraussetzung anderer als der so gewolltfaktischen Seinsmöglichkeiten. Aber ich habe, um einer besonders charakteristischen Differenz willen, vorgegriffen. Bei Poseidonios bedeutete Nachahmung der Natur nur einen äußeren Aspekt der Homogeneität des einen, durch Natur und Mensch hindurchgehenden Gesamtprozesses. Aus der Theorie der Nachahmung wird eine Theorie der Wesensrelation, aus dem Erfinden wird ein Ablesen, ein Urteilen, ein Unterscheiden dessen, was in der Natur geschrieben steht. Vorbild wird die Natur nicht erst vom Menschen aus, sondern bereits von sich aus, und der Mensch wird zur Erfüllung der Natur nach ihren wesentlichen, nicht nach ihren zufälligen Möglichkeiten?* Die >Erfindung< als Auffindung der Naturvorzeichnung wird zum Amt der Weisen, so daß erstmalig die klassische Theorie unmittelbar in die Werksetzung übergeht und die Philosophie als Wurzel auch der materiellen Kultur erscheint. Die Polemik Senecas gegen Poseidonios richtet sich weniger gegen diese Grundkonzeption als gegen die >Höhenlage<, auf die hier die technischen Fertigkeiten als höchste Konsequenzen der Natur selbst versetzt werden, wodurch das theoretische Ideal - wie auch bei Cicero - seinen absoluten Rang einbüßt. Mit eben demselben Prinzip der Teleologie argumentiert Seneca genau andersherum: die vollkommen auf den Menschen zentrierte Natur gibt volles Genügen, macht Technik und Arbeit überflüssig, gibt ihnen den Charakter des Luxus.39 Es bedarf keiner >Nachahmung der Natur<, weil die Natur für alles Notwendige einsteht. Es gibt keinen legitimen Übergang von der Natur zur >Kunst<. Schon hier sind >Kunst< und Hybris im Grunde eins, gehen aus dem Ungenügen an der natürlich-göttlichen Providentia hervor. Der Mensch selbst - seine künstlichen Bedürfnisse, sein Überdruß am facilis actus vitae - treibt die artes hervor: ad parata nati sumus: nos omnia nobis difficilia facilium fastidio fecimus ... Sufficit ad id natura, quod poscit.40 Das Instruktive an diesem Gegensatz ist, daß aus ein und demselben metaphysischen Prinzip ganz entgegengesetzte Folgerungen gewonnen werden. Während Poseidonios die Idee der Mimesis aus ihren immanenten Prämissen so übersteigert, daß sie sich beinahe selbst aufhebt durch die Zirkelvorstellung einer sich selbst nachahmenden Natur, sieht Seneca das authentisch Menschliche des Ungenügens an der teleologischen Vorsorge der Natur, die Unendlichkeit der sich selbst potenzierenden Bedürfnisse, 38 K. Reinhardt, Poseidonios. München 1921. S. 400. Vgl. die verdichtete Formel für diesen Zusammenhang, bezogen auf die Kunst der Rhetorik, bei (Cicero), De ratione dicendi ad C. Herennium (ed. Marx) III, 22,37: Imitetur ars igitur naturam et, quod ea desiderat, id inventât, quod ostendit, sequatur. 39 Ep. mor. XC, 16: Simplici cura constant necessaria: in delicias laboratur. Non desiderabis artifices, si sequere naturam. 40 Ep. mor. XC, 18. 29
die Lust am Oberflüssigen zum ersten Mal - freilich mit negativem Vorzeichen - als Wurzel des technischen Arbeits- und Werkwillens. >Nachahmung< hat hier im Grunde ihren Sinn verloren, da der Antrieb zur >Kunst< gerade im Ausschlagen der Verbindlichkeit und in der Bestreitung der Vollständigkeit der Natur gesehen wird. Die negative Einstellung hat hier, wie so oft, die Sicht für das Wesentliche geschärft.
V. Die Geschichte der Zersetzung und Entwurzelung der MimesisIdee ist aber nicht, wie es das Beispiel der Polemik Senecas gegen Poseidonios vermuten lassen könnte, ein Vorgang des Auf brechens ihrer inneren Widersprüchlichkeit; es ist vielmehr ein Prozeß, der durch neue, äußere, nämlich theologische Ideen inauguriert wurde. Freilich ist es nicht damit getan zu sagen, die biblische Schöpfungslehre habe hier ganz neue Voraussetzungen eingebracht; vielmehr wird sich zeigen, daß dieser Impuls sehr wohl in die bestehende Seinsauffassung eingefangen werden konnte. Die beiden Elemente, die sich als konstitutiv für die Mimesis-Vorstellung herausgeschält haben - exemplarische Verbindlichkeit und essentielle Vollständigkeit der Natur - , scheinen sich zunächst sehr wohl mit dem Schöpfungsbegriff zu vertragen. Ja, man muß sagen, daß die Verbindlichkeit der gegebenen Natur durch den Gedanken, in ihr manifestiere sich der Wille des Schöpfers, verstärkt worden ist, wie das Beispiel aus Tertullian schon belegt hat. Und zunächst wird gar nicht gesehen, daß diese Begründung der Verbindlichkeit auf einen Willensakt doch die Notwendigkeit der gegebenen Welt als der erschöpfenden Realisierung des Möglichen in Frage stellt; so muß Tertullian in unserem Zitat die göttliche Willensäußerung im natürlichen Sachverhalt so formulieren, daß Gott eben das Nichtgewollte nicht geschaffen habe und daß er das Nichtgeschaffene nicht wolle. Aber was ist dieses Nichtgewollt-Nichtgeschaffene? Eine in der Natur nicht vertretene Seinsmöglichkeit? Diese zwingende Konsequenz ist noch nicht ausdenkbar: sie impliziert die Faktizität und Unvollständigkeit der Natur, einen Spielraum des Möglichen für das >Künstliche<. Dieses Beispiel vermag zu zeigen, in welche ontologisçhen Konsequenzen das Willensmoment im Schöpfungsbegriff hineintreibt: die verschärfte Begründung der Verbindlichkeit einer Natur, in der Gott sein Wollen dekretiert, hat zum unausbleiblichen Korrelat die Unbestreitbarkeit der 3°
nichtgewollten Möglichkeiten, für die sich freilich erst eine unfromme und spitzfindige Neugierde ausdrücklich interessieren wird. Von diesem Zusammenhang her gesehen ist die oft vorgetragene These nicht zutreffend, das christliche, aus dem Schöpfungsbegriff gespeiste neue Seinsverständnis sei zum erstenmal von Augustin geschlossen expliziert worden. Vielmehr war es gerade dieser Denker, der die immanenten Konsequenzen des Schöpfungsgedankens in der antiken Ontologie auffing. Es ist freilich richtig, daß er mit der Reduzierung der materiaprima auf das absolute nihil die creatio ex nihilo allseitig gegen den Dualismus abgesichert hat. Aber es ist falsch, hier das wirklich wesentliche Problem zu sehen. Entscheidend ist, daß der schöpferische göttliche Geist nun mit dem platonischen mundus intelligibilis identifiziert wird. Idee und demiurgische Potenz sind nun zwar in einer Instanz vereinigt, aber nichts hat sich daran geändert, daß der mundus intelligibilis noch ein Ganzes darstellt - Piatos ζωον νοητόν -, das nur integral in den mundus sensibilis umgesetzt werden kann. Hier steht Augustin ganz im Bann der Pedanterie, mit der der Neuplatonismus die Ent sprechungen von physischer und noetischer Welt durchexerziert hatte.41 Der göttliche Willensakt, der die Schöpfung beschließt, kann sich nur auf die fixierte Totalität des einen Ideenkosmos beziehen; also nur das Daß der Schöpfung, nicht ihr Was ist faktisch geworden. Der Begriff der Allmacht ist ha Augustin noch nicht in Berührung gekommen mit dem Begriff der Unendlichkeit. Damit aber bleibt er auf dem Boden der antiken Kongruenz von Sein und Natur stehen. Es gibt zum gegebenen Bestand der Schöpfung keine Alternative, auch für den Schöpfer nicht, und nach dem Schöpfungsakt kann nichts von essentieller Ursprünglichkeit mehr hervorgebracht werden. Wie sich endliche Welt und unendliche Potenz der Gottesmacht, Seinswirklichkeit und Seinsmöglichkeit zueinander verhalten mochten, das durchzudenken und zu seinen 41 Z.B. Plotin, Enn. V, 8,3, wo die Weltverdopplung ins Detail so durchgeführt ist, daß die ursprünglich logische Struktur des Ideenreiches zugunsten der Genauigkeit einer Vorlage der physischen Welt völlig verlorengeht. Welt erscheint dadurch nur in dieser einen verbindlichen Gestalt als denkbar. Auch der von W. Theiler (a.a.O. S. 30) beschriebene Vorgang des rangmäßigen Stellungstausches zwischen den Ideen und dem Demiurgen, durch den schon Philo die Ideen als όργανον dem Schöpfergott mit Hilfe der Logosspekulation subordiniert, hat die absolute Exemplarität der Ideen als eines integralen Bestandes nicht berührt. 31
Konsequenzen zu führen, blieb dem Mittelalter als eines seiner schwierigsten und trächtigsten Themen aufgegeben. Dieser den antiken Charakter der Ontologie Augustins festhaltenden These hat (als ich sie in München vortrug) H. Deku widersprochen, der in einer eigenen subtilen Studie die Geschichte des possibile logicum bei Augustin beginnen läßt42, also die Geschichte der Herausbildung eines den idealen wie realen Kosmos übergreifenden Bereiches der Seinsmöglichkeit, den wir hier als >Spielraum< schöpferischer Ursprünglichkeit überhaupt betrachten. Deku beruft sich vor allem auf Augustins Traktat »De spiritu et littera«, wo sich in der Tat der Begriffsgebrauch vonpossibilitas konzentriert. Aber dieser Begriff tritt hier- wie überhaupt bei Augustin - nur im Zusammenhang der pelagianischen Kontroverse auf, also im Rahmen der Gnadentheologie. Es geht um die Frage nach der möglichen Sündenlosigkeit des Menschen, der possibilitas non peccandi, also um die Frage nach einer möglichen Qualität des menschlichen Handelns, die es aus sich selbst haben kann: einer possibilitas naturalis im Unterschied zu dem nur aus der Gnade entspringenden Heilsstatus.43 Gott steht also gar nicht als Semsgrund, sondern als ffez'/sgrund in der Betrachtung, ebenso das >Können< des Menschen nur hinsichtlich seiner Qualität der Heilswürdigkeit. Der Traktat »De spiritu et littera« ist an den Tribunen Marcellinus gerichtet, der schon Adressat einer früheren Schrift »De peccatorum meritis et remissione« gewesen war, und beantwortet den auf diese frühere Schrift hin gemachten Einwand, wie man behaupten könne, daß Sündlosigkeit dem Menschen prinzipiell bei gutem Willen und mit Hilfe der Gnade erreichbar sei, wenn man doch zugleich zugeben müsse: nemo tamperfectae iustitiae in hacvita velfuerit,velsit,vel futurus sit - mit anderen Worten: wie man als möglich behaupten könne, was als wirklich nicht vorkomme.44 Dieser Marcellinus zumindest denkt ganz im Horizont der antiken Ontologie: die Möglichkeit wird nur ausgewiesen durch die Wirklichkeit bzw. durch das eigentlich Seiende< der Ideen. Die Argumentation ist aufs engste verwandt der des Lukrez, der gegen die Schöpfung einwendet: wie können die Götter Schöpfer der Natur sein, wenn es ihnen doch dazu an dem exemplum fehlt, welches erst die schon wirkliche Natur geben kann: si non ipsa dédit speciem natura creandi.45 In der uns nicht überlieferten Einrede des Marcellinus muß eben diese Position bezogen worden sein, wenn Augustin darauf schreiben kann: Absurdum enim tibi videtur dici, aliquid fieriposse cuius desit exemplum.46 42 H. Deku, Possibile Logicum. In: Philosophisches Jahrbuch LXIV, S. 10. 43 Augustinus, De natura et gratia XLIV, 52. 44 Diese Allgemeinheit der Fragestellung kommt am deutlichsten in der Formulierung der Retractationes II, 27 heraus: quomodo... posse fieri cuius rei desit exemplum. 45 De rerum natura V, 181-186. 46 De spir. et litt. I, 1. 32
Es wird nun gezeigt, daß die biblische Offenbarung einen neuen Leitfaden für die apud Deum facilia bietet, denn hier macht Gott über das ihm Mögliche selbst Mitteilung und das >Wort< tritt an Stelle der >Sache< als ein Beleg eigener Art: die Rede vom Kamel, das durch ein Nadelöhr gehen, der Glaube, der Berge versetzen kann - quod tarnen nusquam factum, vel legimus, vel audivimus47. Trotzdem berühren diese theologischen Possibilitätserwägungen die ontologische Basis der augustinischen Metaphysik nicht, denn überall ist hier nur die Rede von der Möglichkeit Gottes, sein eigenes Schöpfungswerk Mensch in seinem ursprünglichen konstitutiven Sein platonisch: in der Entsprechung zu seiner Idee - wiederherzustellen. Der Horizont des ideal präformierten Kosmos wird durch die Fragen nach der Möglichkeit des menschlichen Heils nicht erweitert, sondern nur reintegriert. Wenn also festgestellt wird: omnia possibilia sunt Deo^, so enthält dieses omnia noch keinerlei Anzeichen für ein mögliches Mehr im Verhältnis zum faktisch Geschaffenen, die Korrelation von mundus intelligibilis und mundus sensihilis ist vielmehr nur durch die Urschuld des Menschen und an ihm defekt geworden, und um die Möglichkeit der Restitution dieses Defekts geht es. Amposse nonpeccare des Menschen festzuhalten, ist dabei ein logisches Erfordernis:_, dehn ohne diese Möglichkeit könnte auch nicht sinnvoll vom posse peccare mehr gesprochen werden. Der Mensch ist eben zu definieren als ein Wesen, das über sein Kongruenzverhältnis zu seiner Idee selbst verfügt. Aber diese Freiheit ist ganz innerhalb der Grenzen der Idealität gesehen. Nun ist nicht daran zu zweifeln, daß der bereits seit dem Hellenismus in die Kosmogonie eingeführte und von Augustin vollends virulent gemachte Faktor des Willens einen >Störbegriff<49 ersten Ranges für die Fortgeltung der antiken Ontologie darstellt und einen ent-necessitierenden Einfluß auf das Wirklichkeitgewordene49 ausgeübt hat; doch war es noch nicht Augustin, der sich in seinem Seinsverständnis dadurch so gründlich gestört sah, daß er den vorgegebenen Sichthorizont wirklich irgendwo durchbrochen hätte. Ich glaube, auch den Grund dafür angeben zu können: die Eliminierung der materia prima und der mit dieser notwendig verbundenen Tendenz zum Dualismus war das sich vordrängende, durch den Manichäismus aktualisierte Problem. So glaubt man, ganz dicht an unserer Fragestellung zu sein, wenn man Augustin zwischen creatum und creabile unterscheiden sieht, um dann aber enttäuscht festzustellen, daß sich der Ausdruck creabile eben auf 47 De spir. et litt. XXXV, 6z. 48 De spir. et litt. V, 7. 49 Briefl. Formulierungen von H. Deku. 33
das materielle Substrat bezieht, das er in sein tufecisti eingeschlossen wissen will.50 Wo von dem die Rede ist, was noch nicht ist, aber sein kann, geht es immer um das aristotelische, mit der Materie identifizierte Seinkönnen als formale Unbestimmtheit.51 Die Betonung des Willens im Schöpfungsbegriff hat ihre Grenze in der antignostischen Position, die die Schöpfung als rationalen Akt zu fassen gebietet:... quis audeat dicere Deum irrationahiliter omnia condidisse?52. Was aber >rational< hier heißen kann, läßt sich nur nach dem Leitfaden der Entsprechung von noetischer und realer Welt, also nach dem Modell des platonischen Demiurgen, auslegen. Damit aber bleiben die Begriffe der >Allmacht< und der >Unendlichkeit< notwendig getrennt, denn das infinitum ist im antiken Verständnis mit Rationalität unvereinbar, es ist das hyletische άπει ρον. Unter den Attributen Gottes taucht die >Unendlichkeit< noch nicht auf. Aber erst wenn die potentia Gottes als potentia infinita gesehen wird, tritt die logische Nötigung auf, das possibile nicht mehr von der potentia (und den in ihr implizierten Ideen) her, sondern umgekehrt die potentia vom possibile her zu definieren.53 Damit erst wird der logische Umfang des Möglichkeitsbegriffes maßgebend und zugleich der Ideenkosmos für die Frage, was das omnia als Umfang der omnipotentia bedeute, gleichgültig. Das hat zur Folge: der Begriff der Rationalität wird auf den der Widerspruch slosigkeit reduziert, während noch bei Augustin der Begriff der ratio nicht von dem der exemplarischen Idee zu lösen war, also einen endlich-gegenständlichen Bezug implizierte. Jetzt erst kann der für unsere Frage nach dem ontologischen >Spielraum< des 50 Confessiones XII, 19, 28: Verum est quod non solum creatum atque formation, sed etiam quidquid creabile atque formabile est, tufecisti ex quo sunt omnia. (Auf die Stelle hat mich G. Gawlick hingewiesen.) 51 De vera religione XVIII, 36: Ita omne quod est inquantum est, et omne quod nondum est inquantum esse potest, ex Deo habet (sc. esse et esse posse). Der Kontext dieser Stelle ist auch im Hinblick auf den oben diskutierten Zusammenhang von De spiritu et littera insofern aufschlußreich, als hier der theologische Begriff der salus mit dem des bonum identifiziert und auf dem Boden der antiken Voraussetzungen als integritas naturae - platonisch: als Entsprechung zu der Idee - ausgelegt wird. 52 De diversis quaestionibus LXXXIII, q. 46. 5 3 Für die Herleitung des possibile vomposse zitiere ich die versio latina von De natura hominis des Nemesius von Emesa (ed. Burkhard) c. 34: tria igitur haec sunt ad invicem se habentia: potens, potestas, possibile, potens quidem essentia,potestas vero a qua habemusposse,possibile autem, quodsecundum potestatem natum estfieri. 34
Schöpferischen entscheidende Schritt Fuß fassen: der als endlich gedachte Kosmos schöpft das unendliche Universum der Seinsmöglichkeiten - und das heißt: der Möglichkeiten der göttlichen Allmacht - nicht aus und kann es nicht ausschöpfen. Er ist notwendig nur ein faktischer Ausschnitt dieses Universums, und es bleibt ein Spielraum unverwirklichten Seins - der freilich noch auf lange unbefragtes Reservat Gottes sein wird und zu der Frage des Menschen nach seinen eigenen Möglichkeiten noch nicht in Bezug tritt. Aber zum erstenmal wird in der Erörterung des Allmächte begriffs dieser Spielraum überhaupt ontologisch impliziert und als Hintergrund der Weltrealität mitverstanden. Das ist primär ein eminent religiöser Gedanke, insofern nicht nur das Daß der Welt seine Selbstverständlichkeit verloren hat, sondern auch das Was nun als ein Akt besonderer göttlicher Entscheidung verstanden werden kann. Zugleich aber ist hier auch die Basis der philosophischen Kritik erweitert, auf der eine Fülle allmählich,bewußtseinsbildender Fragen entsteht. Die Welt als Faktum - das ist die ontologische Voraussetzung für die Möglichkeit der Erwägung, schließlich für den Antrieb und die Lockung, im Spielraum des Unverwirklichten, durch das Faktische nicht Ausgefüllten, das originär Menschliche zu setzen, das authentisch >Neue< zu realisieren, aus dem Angewiesensein auf >Nachahmung der Natur< ins von der Natur Unbetretene hinaus vorzustoßen.
VI. Für das Mittelalter freilich lag hier noch nichts Lockendes: alle spekulative Kühnheit wird daran gewendet, den Möglichkeiten Gottes, nicht denen des Menschen, bis zum äußersten nachzugehen. Es wird noch eines weiteren entscheidenden Motivs bedürfen, damit der Mensch die theologisch entdeckte Inkongruenz von Sein und Natur für sich als Möglichkeit schöpferischer Originalität erkennen und ergreifen konnte. Der initialzündende Kontakt der Begriffe Allmacht und Unendlichkeit scheint im n . Jahrhundert zustande gekommen zu sein, als die Theologie durch den Angriff der >Dialektiker< vom Schlage des Berengar von Tours, vor allem gegen die Transsubstantiationslehre, genötigt wird, den Begriff der göttlichen Allmacht zu systematisieren. Hier ist vor allem Petrus Damiani mit seiner Schrift 35
»De divina omnipotentia« federführend54, aus deren zwölftem Kapitel ich hier nur die charakteristische rhetorische Frage zitiere: Quid est, quod Deus non valeat nova conditione creare? Das Sein der Welt bekommt nun jene eigentümliche Zufälligkeit, Widerruflichkeit und hypothetische Ersetzbarkeit, die erst im ausgehenden Mittelalter mit seiner Faktizitätsangst aus logischen zu emotionalen - das heißt: vom Menschen auf sich selbst bezogenen - Elementen werden. Ich vermag keine Darstellung dieses Transformationsprozesses zu geben. Mir geht es darum, etwas über das Anwachsen der Inkongruenz von Sein und Natur und damit über die Relevanz des Spielraumes der schöpferischen Ursprünglichkeit auszumachen. Diesen Prozeß darf man sich weder als >organisch< vorstellen noch ihm die eherne Gangart geschichtlicher Notwendigkeit beilegen, die er a posteriori - und noch dazu im selektiven Präparat, auf das jede derartige Untersuchung angewiesen ist - an sich zu haben scheint. Es läßt sich leicht sehen, daß die Rolle, die die Scholastik in diesem Vorgang der Umbildung der ontologischen Prämissen spielt, wenig ins Konzept einer geschichtlichen Notwendigkeit paßt. Daß man sich die Reantikisierung durch die Aristotelesrezeption auch nicht als zu gewaltsame Reversion denken darf, ergibt sich schon aus der für Augustin gewonnenen Einsicht, wie stark der Fortbestand antiker Implikationen ohnehin war. Um so reizvoller ist es, gerade in der Neubelebung der antiken Metaphysik durch die Hochscholastik die oft unscheinbaren, aber signifikanten Verformungen wahrzunehmen, die belegen, was schon nicht mehr rückgängig zu machen war. Ontologische Voraussetzungen, die wir bei Augustin in Geltung sahen, ohne daß sie ausdrücklich formuliert zu werden brauchten, werden nun nach scholastischer Manier >quaestionsreif<. Aufschlußreich im Hinblick auf unser Augustin-Ergebnis ist eine Stelle bei Albertus Magnus, die sich polemisch gegen den Föns vitae des Avicebron (Ibn Gabirol) mit seiner Identifizierung von metaphysischem Lichtprinzip und Willen richtet: voluntas non potest esse primum.55 Die Funktion des göttlichen Willens bezieht sich 54 Die Bedeutung dieses Autors für die Geschichte des Möglichkeitsbegriffs ist von A. Faust, Der Möglichkeitsgedanke II, 72-95 (Heidelberg 1932) dargestellt worden. 5 5 Albertus Magnus, De causis et processu universitatis I tr. 3 c. 4: Primum enim et operiproximum, in quoprimi estpotentia agendi, est illud, quod dat formam operi,et non illud, quod iubet etpraecipit opusfieri; lumen autem 36
nur auf die Existenz der Welt, auf den Befehl utfiat, nicht aber auf die forma operis, den essentiellen Seinsbestand, der auch hier die Selbstverständlichkeit des ideal präformierten Ganzen hat. Noch bei Thomas von Aquino ist diese Position nicht überschritten. Trotzdem zeigt sich für das Prinzip der Nachahmung der Natur eine Lockerung insofern, als neben dieses noch die Idee der Nachahmung Gottes als weiterer Fundierungszusammenhang tritt.56 Das gab es formal schon bei Aristoteles, bei dem ja die reine Kreisbewegung der ersten Sphäre Nachahmung des unbewegten Bewegers war; aber damit ist auch die Ergiebigkeit dieses Bezuges erschöpft. Deshalb mußte Aristoteles die Genesis z.B. des Hauses so erklären, daß der Architekt hier etwas zustande bringt, was die Natur ebenso entstehen lassen würde, das heißt: er muß sich das künstliche Gebilde als Naturprodukt vorstellen, um dann diese hypothetische Vorstellung nachzuahmen. So wurde die universale Geltung der Mimesis gewahrt. Thomas schränkt die Nachahmung der Natur auf das ein, was die Natur auch tatsächlich hervorbringen kann 57 ; gerade das Haus aber ist reines Kunstding: semperfit ab arte, sicut domus omnis est ab arte. Natürlich besteht hier noch gar kein Gegensatz, aber der Akzent ist doch anders gelegt. Noch deutlicher wird das im Physikkommentar, wo die eingangs zitierte fundamentale Stelle II, 8; 199 a 15-17 zur Sprache kommt. Die Thomas vorliegende lateinische Version hat: ars alia quidem perficit quae natura nonpotest operari..., wozu der Kommentar erläutert: dicit quod ars quaedem facit, quae natura non potest facere.58 Das ist radikaler formuliert als es bei Aristoteles gemeint gewesen sein kann, der doch immer das schon Angelegte, das schon UnterwegsSeiende der Natur voraussetzt, wenn er von der vollendenden Arbeit des Menschen spricht. Weshalb aber die Nachahmung der Natur so erkennbar an Unausweichlichkeit verloren hat, weshalb intellectus universaliter agentis est forma operis opus determinans ad rationem etformam,voluntas autem non est nisipraecipiens utfiat. 56 Summa theol. I q. 9a. 1 ad 2: ... suam similitudinem diffundit (sc. divina sapientia) usque ad ultima rerum: nihil enim esse potest quod non procedat a divina sapientia per quamdam imitationem ... 57 Summa c. Gent. II, 75 ad 3: In bis autem quaepossunt fieri et arte et natura, ars imitatur naturam... 5 8 In octo libros Physicorum Aristotelis expositio II, lect. 13 n. 4 (ed. Maggiôlo p. 126). Um zu zeigen, wie der aristotelische Sinn authentischer getroffen werden kann, zitiere ich noch die Übersetzung des Johannes Argyropylos (ed. Bekker III, 109 b): atque ars omnino alia perficit, quae natura nequit perficere, alia imitando naturam facit. 37
die >Kunst< aus dem Naturzusammenhang heraustreten kann, das ist bei Thomas nicht zur Ausdrücklichkeit gebracht. Wohl aber bei seinem Zeitgenossen Bonaventura, der den Versuch, den Schöpfungsbegriff mit Hilfe der aristotelischen Beweger-Metaphysik auszulegen, nicht mitmacht, weil ihm in der Mechanik dieser Konzeption das Moment eines göttlichen Willens, der sich in seinem Werk mitteilen will, verlorenzugehen droht. >Mitteilung< nämlich bedeutet, daß die unendliche Macht Gottes sich gerade nicht sozusagen >automatisch< exekutiert, sondern sich im Endlich-Faßbaren beschränkt und vernehmbar macht für ein endliches Wesen.59 In der Welt bekundet sich ein Ausdruckswille, der nicht alles Mögliche, sondern etwas Bestimmtes zu verstehen geben will: multa, non omnia - vieles, nicht alles, holt Gott aus dem Schatze seiner Möglichkeiten hervor, um sich dem Geschöpf in seiner Größe zu erweisen.60 Rein gefühlsmäßig interpretierend möchte man sagen, die Differenz zwischen multa und omnia sei hier nur als ein >Rest< verstanden, dem Menschen vielleicht wohlweislich und liebevoll vorenthalten, kein Grund jedenfalls, sich als im Seinsbesitz und -Zugang verkürzt zu empfinden. Aber schon Wilhelm von Ockham, der die franziskanische Tradition zu ihren Konsequenzen forciert, wird die Formel Bonaventuras umkehren, indem er das multa auf die andere Seite bringt, auf die Seite des Nichtgewollt-Unverwirklichten: Gott kann vieles schaffen, was er nicht schaffen will.61 Man spürt geradezu, wie hier ein quälendes, 59 Breviloquium II ι, ι: universitas machinae mundiatisproducta est in esse ex tempore et de nihilo, ab uno principio primo, solo et summo; cuius potentia, licet sit immensa, disposuit tarnen omnia in certo pondère, numéro et mensura. In dieser faktischen Bestimmtheit ist ontologisch der >Anreiz<, nachzumessen, nachzuzählen, nachzuwägen, verwurzelt, der den empirischen Weg der Erkenntnis eröffnet. 60 II. Sent. 1, 2,1,1 concl. (ed. Quaracchi II, 39-40): Propter ergo immensitatis manifestationem multa de suis thesauris profert, non omnia, quia effectus non potest aequari virtuti ipsius primae causae. Die aristotelisierende Begründung für einen ganz heterogenen Sachverhalt ist charakteristisch. Trotzdem war sich Bonaventura der Differenz zu Aristoteles viel klarer bewußt als Thomas, ja er dachte bereits so >geschichtlich<, daß er Aristoteles dafür loben konnte, daß er in der Frage der Ewigkeit der Welt folgerichtig und seinen eigenen Prinzipien gemäß gedacht habe. 61 Quodlib. VI q. r.Deus multa potest facere quae non vultfacere (zit. nach R. Seeberg, Dogmengeschichte III, 715). Hier wird der Zusammenhang unseres Problems mit dem >Nominalismus< Ockbams greifbar: der Realismus der universalia erweist sich als unvereinbar mit dem strikten Begriff der creatio ex nibilo. Das universale als das im Konkreten beliebig Wiederholte und 38
bohrendes Bewußtsein der Faktizität entspringen muß, die anschwellende Frage, weshalb diese und keine andere Welt ins Sein gerufen wurde, eine Frage, der nur noch das nackte augustinische Quia voluit als Un-Antwort entgegengeschleudert werden konnte. Die rationale Anstößigkeit weckt das Bewußtsein der Unerträglichkeit dieser Faktizität: unversehens verlagert sich der Akzent von dem im Geschaffenen empfundenen göttlichen Willensausdruck auf den im Nichtgeschaffenen implizierten Vorenthaltenheitscharakter. Wir können diesen Prozeß der Umakzentuierung am ehesten ablesen an den sorgenden Versuchen, ihm zu begegnen, ihn aufzufangen, ja ihm Positivität zu geben. Am vielfältigsten spiegelt sich diese Anstrengung wohl im Werk des Nikolaus von Cues. Der Cusaner hat in seiner frühen Phase den Versuch Leibnizens vorweggenommen, das Nichtgeschaffensein des Ungeschaffenen dadurch zu rechtfertigen, daß er die wirkliche Welt als die höchste Form der Realität hinstellt, als Selbstverschwendung des schöpferischen Prinzips, als Deus creatus.62 Aber in diesem verchristlichten Neuplatonismus ist eine immanente Gegenläufigkeit zweier Elemente der spekulativen Theologie entWiederholbare hat nur einen Sinn, solange das Universum des Seinsmöglichen ein endliches Ganzes ist (wie der mundus intelligibilis), dem Existenz gleichsam nur >zugeführt< wird (distinctio realis). Im Begriff der potentia absoluta ist nun aber ein unendliches All des Möglichen impliziert; das macht die Deutung des Individuellen als >Wiederholung< eines Universellen sinnlos. Schöpfung bedeutet nun für jedes Geschöpf das ex nihilo seiner essentia. Nur so wird ausgeschlossen, wie Wilhelm argumentiert, daß Gott durch die Erschaffung eines Seienden seine potentia einschränkt, weil durch die Setzung eines universale im Bereich desselben nur noch >Nachahmung<, nicht aber creatio möglich wäre, denn creatio est simpliciter de nihilo, ita quod nihil essentiale vel intrinsecum rei simpliciter praecedat in esse reali. Der Universalienrealismus würde bedeuten, azßper consequens omnia producta post primum productum non crearentur, quia non essent de nihilo (I. Sent. dist. 2 q. 4 D). Wieviel Raum das Reich des Möglichen schon bietet, zeigt sich daran, daß Wilhelm gegen seinen Vorgänger Duns Scotus den Satz, Gott allein besitze schöpferische Potenz, für nicht beweisbar erklärt (Quodlib. VII, 23). Dies ist noch nicht die Investitur des Menschen mit dem Attribut des Schöpferischen; aber es löst den Begriff potentiell aus seiner exklusiven Theologizität heraus und läßt erwarten, daß er sich als transplantabel erweisen wird. 62 De docta ignorantia II, 2: Quoniam ipsa forma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sit quasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius essepossit;ac si dixisset creator:Fiat, et quia Deusfieri nonpotuit, qui est ipsa aeternitas, hoc factum est, quod fieri potuit Deo similius. 39
halten: einerseits erfordert die maximale Fassung des Begriffs der Vollkommenheit von Schöpfer und Werk zu sagen, Vollkommeneres habe nicht gemacht werden können, andererseits erfordert die maximale Fassung des Begriffs der göttlichen Macht zu sagen, kein wirkliches Werk dieses Schöpfers realisiere je das Äußerste dessen, was er an Größe und Perfektion hätte leisten können. Aus diesem Dilemma ist nicht herauszukommen. In der Schrift De beryllo hat der Cusaner fast zwei Jahrzehnte später die Schöpfung nach dem Modell der positiven Rechtssatzung betrachtet, wobei er zweimal das Digesten-Zitat heranzieht, nach dem der Herrscherwille Rechtskraft hat.63 Am Ende seines Denkweges, in der Schrift De ludo globi, hat der Cusaner den Versuch gemacht, seine beiden früheren Positionen zu harmonisieren, indem er sie auf eine Verschiedenheit des Aspekts zurückführt: von Gott her betrachtet gibt es einen Spielraum der Möglichkeit, von der Welt her betrachtet nicht.64 Das beruht auf einer Metaphysizierung des Möglichkeitsbegriffs: Gott hat nicht nur das Mögliche oder aus dem Möglichen verwirklicht, indem er schuf, sondern er hat die Möglichkeit selbst geschaffen: et fieri posse ipsum factum est. Das ist deutlich dazu bestimmt, Fragen zu entkräften und auszuschließen, die sich akut aufdrängten. Versucht Nikolaus von Cues das noch durch eine Metaphysizierung der Logik, so wird es Luther durch die Radikalisierung des Ausschließlichkeitsanspruches der Theologie tun. Mit deutlicher Wendung gegen die Formel Ockhams besteht er darauf, daß >Allmacht< keinen logisch explikablen Sinn außerhalb des Schriftsinns hat und eben nicht jene Macht bedeutet, mit der Gott vieles nicht wirkt, was er wirken kann.65 Die potentia absoluta Gottes, deren Unfaßbarkeit noch den jungen Luther ängstete wie das späte Mittelalter insgesamt, ist nun als von Gott selbst durch das Instrument der Offenbarung auf die potentia ordinata be63 Quodprincipi plaçait legis vigorem habet (Ulpian, Digesta I, 4,1). Das ist ausdrücklich auf die Unfähigkeit der antiken Metaphysik gemünzt, den Schöpfungsakt auszulegen: Cur autem sie sitet non aliter constitutum, propterea non sciret, nisi quod demum resolutus (!) diceret: Quod principi etc. (De beryllo XXIX; cf. cap. XVI). Als biblische Autorität wird Eccl. VIII, 17 zitiert: Omnium operum Dei nulla est ratio. 64 De ludo globi I:... perfectiorem et rotundiorem mundum atque etiam imperfectiorem et minus rotundum potuit facere Deus, licet factus sit ita perfectus, sicut esse potuit. 65 Werke (Weimar) XVIII, 718: omnipotentiam vero Deivoco non illam potentiam, qua multa non facit quae potest, sed actualem illam, qua potenter omniafacit in omnibus, quomodo scriptura vocat eum omnipotentem: 40
schränkt zu denken; über diese gnädige Selbstbeschränkung Gottes hinauszufragen, nimmt das Odium des Ausschiagens des Gnadenaktes an. Nur indem man die Frage nach dem unendlichen Spielraum der Möglichkeit nicht stellt, entzieht man sich der drohenden Ungewißheit dessen, was er offen läßt.
VII. Aber die Gewalt der einmal aufgebrochenen Fragen ließ sich nicht eindämmen; wohin sie führen, sehen wir schon bei Descartes fast in ganzem Umfang ausgesprochen. Bei ihm wird die Philosophie zur Systematik des Möglichen; von der Seinsmöglichkeit her wird die S eins Wirklichkeit nun verstanden. Darauf beruht die neue Bedeutung der Hypothese, die dem Erkenntniswillen am konstruierbaren möglichen Seinszusammenhang Genüge verschafft und demgegenüber die Frage nach dem faktischen Nexus gleichgültig werden läßt. Dem Willen zur Konstruktion ist es irrelevant, ob zufällig die Natur nachgeahmt wird oder ob eine dort nicht realisierte Lösung Platz greift; das normative Prinzip der Ökonomie ist eine Idee des menschlichen Geistes für seine Leistungen, nicht für die Produktionen der Natur. Die Prinzipien der möglichen Welten sind so unendlich fruchtbar, daß eine Übereinstimmung der aus ihnen deduzierten hypothetischen Konstruktionen mit der wirklichen Welt nur noch Zufall sein kann.66 Schon ist bei Descartes erkennbar, wie sich die Idee der Freiheit gerade auf die Unabhängigkeit der rationalen Formel vom faktisch Gegebenen bezieht: am Beispiel einer machina valde artificiosa demonstriert er die vis ingénu als so originär seinsmächtig, ut ipsam (sc. machinam) nullibi unquam visam per se excogitare potuerit.67 Der Mensch >wählt< sich seine Welt, wie Gott aus dem Möglichen die eine zu schaffende Welt wählte. Leibniz wird noch einmal versuchen, diese Welten durch seine prästabilierte Harmonie zu verklammern und durch den metaphysischen Optimismus den Druck der unendlichen Möglichkeiten zu balancieren. Als aber dieser bodenlose Optimismus um die Mitte des 18. Jahrhunderts zusammenbricht, tritt das 66 Principia philosophiae III, 4: Principia ... tarn vasta et tarn foecunda, ut multoplura ex iis sequantur, quam in hoc mundo aspectabili contineri videamus. 6y Princ. phil. I, 17. 41
ganze Ärgernis der Tatsache hervor, daß die Seinswirklichkeit im Reich der Seinsmöglichkeit nur ein beliebiger Punktwert sein sollte. Welche Rechtfertigung gibt es noch für das Möglichbleiben des Möglichen? Die Natur wird zum faktischen Resultat mechanischer Konstellationen - was kann sie noch der Mimesis durch das Menschenwerk verbindlich machen und empfehlen? Der Zufälligkeit der natürlichen Formationen tritt nun das Menschenwerk als ästhetisches wie als technisches - mit seiner Notwendigkeit entgegen. Was von Leibniz' bester aller möglichen Welten ontologisch nachhaltig übrigbleibt, ist nicht die »beste Welt«, sondern die Unendlichkeit der möglichen Welten, die eben dann bewußtseinsattraktiv wird, wenn die wirkliche Welt nicht mehr die ausgewähltbeste glaubhaft repräsentiert. O. Walzel hat, ohne den metaphysischen Hintergrund zu ahnen, die Verbindungslinie von Leibniz zur Idee des schöpferischen Genies um die Mitte des 18. Jahrhunderts angezeigt.68 Er hat vor allem sichtbar gemacht, wie der Vergleich Gottes mit dem schöpferischen Künstler schon das SichVergleichen des Künstlers mit Gott enthält; logisch war hier zwischen Renaissance und Sturm und Drang nichts mehr hinzuzufügen. Entscheidend wichtig ist aber der Umstand, daß die Dichtung nun in dem Vergleich eine singulare Bedeutung bekommt. Während der Vergleich Gottes mit dem Baumeister und bildenden Künstler in die Antike zurückreicht, wird nun der Dichter zum bevorzugten >Schöpfer<, und das nicht zufällig, sondern - wie für uns nun leicht durchsichtig ist - auf Grund der Zersetzung der Mimesis-Idee. Noch Leonardo hatte in seinem »Trattato della Pittura« die Gottähnlichkeit des Malers gerade damit begründet, daß er in der Nachahmung der Natur ihren Schöpfer nachahme. Und der Aufstand des Manierismus gegen die Mimesis hatte de facto nur eine ostentative Deformation der Natur zuwege gebracht. In der Tradition der Poetik ist die Auflehnung gegen die imitatio primär gegen die Bindung der Stilmittel an den Kanon der Antike gerichtet, als Bestehen auf der Individualität der Aussageform gegen das System der aristotelischen Poetik und den Ciceronianismus.69 Aber schon/. C. Scaliger definiert in seiner Poetik von 1561 den Unterschied zwischen der Dichtung und allen anderen Künsten so, 68 Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe. 2. Aufl. München 1932.
69 Vgl. A. Bück, Italienische Dichtungslehren. Tübingen 1952. 42
daß nur die Tätigkeit des Dichters ein condere sei, die aller übrigen Künstler ein narrare, ein Nacherzählen im Unterschied zur Seinssetzung des Poeten, der als alter deus eine natura altera zu begründen vermag.70 Diese Idee ist aber noch ohne ontologisches Fundament; sie erhält es erst durch Leibniz, der selbst aber keine Folgerungen aus der Unendlichkeit der möglichen Welten gezogen hat71, wegen seines metaphysischen Optimismus nicht ziehen konnte. Erst die »Schweizer« stellten zwischen der Vorstellung des schöpferischen Dichters und der Idee der möglichen Welten den zündenden Kontakt her, der die Bedeutung der Kunst als einer metaphysischen Thätigkeit für die Folgezeit statuierte././ Breitingers zweibändige »Critische Dichtkunst« von 1740 ist eine ästhetische Verwertung von Leibnizens Lehre der möglichen Welten.72 Der Dichter findet sich in der Lage Gottes vor der Erschaffung der Welt angesichts der ganzen Unendlichkeit des Möglichen, aus der er wählen darf; darum ist - und nun kommt die erstaunlichste Formulierung, die man sich in unserem Zusammenhang erwünschen könnte ! - die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung und der Natur nicht nur in dem Wirklichen, sondern auch in dem Möglichen. So mächtig ist die in der metaphysischen Tradition verwurzelte Urformel von der >Nachahmung der Natur<, daß ihre Sanktion für die Deutung des menschlichen Werkes auch dann nicht entbehrt werden kann, wenn das genaue Gegenteil ihrer genuinen Bedeutung gesagt, ja >proklamiert< werden soll! Noch das unendliche Mögliche nimmt hier die Konsistenz der platonischen Ideen an, wenn irgend die Rede von der >Nachahmung< noch einen Sinn behalten soll. Auch /./. Bodmer spricht in seiner ebenfalls 1740 erschienenen »Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie« fast in denselben Worten davon, daß die Dichtung die Materie ihrer Nachahmung allezeit lieber aus der möglichen als aus der gegenwärtigen Welt nimmt.73 An dem Beispiel Mutons wird gezeigt, wie der Dichter das Gegebene überschreitet, ja das Nichts darzustellen vermag gerade dadurch, daß er durch eine metaphysikalische Handlung alles hinauswirft, was die Welt zur Welt macht, und das Nichts als etwas vorstellt, wodurch er die Schöpfung vor der Schöpfung vorausgeholet hat. Und auch hier wieder 70 71 72 73
Die Stelle ist ausführlich wiedergegeben bei O. Walzel, a.a.O. S. 45 f. Walzel, a.a.O. S. 51. Walzel, a.a.O. S. 39; dort das folgende Zitat. Walzel, a. a. O. S. 43 für dieses und die folgenden Zitate. 43
die stupende Formulierung, daß die Dichter nach ihrer Kunst mittelst der Nachahmung Dinge hervorbringen, die nicht sind. Das 19. Jahrhundert hat die Faktizitätscharaktere der Natur entscheidend verschärft. Was als Natur vor uns steht, ist das Resultat ungerichteter mechanischer Prozesse, der Kondensation wirbelnder Urmaterie, des Wechselspiels zufällig streuender Mutationen mit dem brutalen Faktum des Kampfes ums Dasein. Dieses Resultat mag alles sein - nur ästhetischer Gegenstand wird es nicht sein können. Wie könnte der Zufall die überraschende Evidenz des Schönen hervorbringen? So läßt sich das bis dahin Undenkbare verstehen, daß die Natur häßlich wird, wie es Franz Marc berichtet: Bäume, Blumen, Erde, alles zeigte mir in jedem Jahr mehr häßliche, gefühlswidrige Seiten, bis mir erst plötzlich die Häßlichkeit der Natur, ihre Unreinheit voll zum Bewußtsein kam.74 Den ontologischen Hintergrund genauer angesprochen hat der französische Maler Raoul Dufy, als er auf den Vorwurf, er mache zu kurzen Prozeß mit der Natur, erwiderte: Die Natur, mein Herr, ist eine Hypothese.. . 75 Im ästhetischen Naturerlebnis drängt sich nun bereits der Vorbehalt der unendlich vielen möglichen Welten auf, denn wir können seit Descartes naturwissenschaftlich nicht mehr mit Gewißheit sagen, welche dieser Möglichkeiten in der Natur verwirklicht ist, sondern nur, mit welcher dieser Möglichkeiten wir funktional zurechtkommen. Diese Natur hat nichts mehr gemein mit dem Naturbegriff der Antike, auf den sich die MimesisIdee bezieht: das selbst nicht herstellbare Urbild alles Herstellbaren. Dagegen ist Herstellbarkeit aller Phänomene die universelle Antizipation der experimentellen Naturforschung, und Hypothesen sind Entwürfe von Anweisungen für die Herstellung von Phänomenen. Die Natur ist folgerichtig zum Inbegriff möglicher Produkte der Technik geworden. Der Rest an exemplarischer Verbindlichkeit ist damit aus der Natur ausgetrieben. Für den Techniker konnte die Natur mehr und mehr zum bloßen Substrat werden, dessen gegebene Konstitution der Verwirklichung konstruktiver Zwecke eher im Wege steht als sie fördert. Nur durch die Reduzierung der Natur auf ihren nackten Material- und Energiewert wird eine Sphäre reiner Konstruktion und Synthese möglich. 74 Dieses und weitere Zeugnisse bei H. Sedlmayr, Verlust der Mitte. Salzburg 1948. S. 158. 75 Zit. in: Geschichte der modernen Malerei. Fauvismus und Expressionismus (Skira). Genf 1950. S. 69ff. 44
So ergibt sich der auf den ersten Blick paradoxe Sachverhalt, daß in einem Zeitalter höchster Geltung der Wissenschaft von der Natur zugleich deren Gegenstand in seinem Seinsrang für den Menschen nivelliert worden ist.
VIII. Nun erst läßt sich die positive Bedeutung ermessen, die der Auflösung der Identität von Sein und Natur zukommt. Der Entwertungsprozeß der Natur ist nur deshalb nicht schlechthin ein nihilistischer Vorgang, weil der Glaube möglich geworden ist, daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind76, und daß diese Welt nicht die einzige aller Welten ist.77. So deutet die Kunst nicht mehr auf ein anderes exemplarisches Sein hin, sondern sie ist selbst dieses für die Möglichkeiten des Menschen exemplarische Sein: das Kunstwerk will nicht mehr nur etwas bedeuten, sondern es will etwas sein. Aber ist nicht dieses Sein, das eine der unendlich vielen gleichsam neben der Natur liegengebliebenen Möglichkeiten aufnimmt, ebenso faktisch und beliebig wie das der Natur? Um diesen Kern bewegen sich alle Fragen, die durch die Überwindung der MimesisBindung aufgeworfen worden sind. Wir stehen wohl noch zu sehr im Auslauf des agonalen Prozesses dieser Überwindung, um uns bestimmte Antworten zutrauen zu dürfen. Wir sind auf Hypothesen angewiesen, wo wir dem entfliehen wollten, was >nur Hypothese< ist. Aber manches deutet darauf hin, daß die Phase der gewalttätigen Selbstbetonung des Konstruktiven und Authentischen, des >Werkes< und der >Arbeit<, nur Übergang war. Die Überwindung der >Nachahmung der Natur< könnte in den Gewinn einer >Vorahmung der Natur< einmünden. Während der Mensch ganz dem hingegeben scheint, sich in der metaphysischen Thätigkeit der Kunst seiner originären Potenz zu vergewissern, stellt sich unvermutet im Geschaffenen eine Ahnung des Immer-schon-Daseienden ein, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.n Ich denke an 76 Paul Klee, zit. in der Monographie von W. Haftmann, München 1950. •
S.71.
jy Paul Klee, Über die moderne Kunst. Bern 1945. S. 43. 78 Kant, Kritik der Urteilskraft I 1, 2 § 45. 45
ein in der Bewußtheit seiner Antriebe so paradigmatiscb.es Lebenswerk wie das von Paul Klee, an dem sich zeigt, wie im Spielraum des frei Geschaffenen sich unvermutet Strukturen kristallisieren, in denen sich das Uralte, Immer-Gewesene eines Urgrundes der Natur in neuer Überzeugungskraft zu erkennen gibt. So sind Klees Namengebungen nicht die üblichen Verlegenheiten der Abstrakten, an Assoziationen im Vertrauten zu appellieren, sondern sie sind Akte eines bestürzten Wiedererkennens, in dem sich schließlich ankündigen mag, daß nur eine Welt die Seinsmöglichkeiten gültig realisiert und daß der Weg in die Unendlichkeit des Möglichen nur die Ausflucht aus der Unfreiheit der Mimesis war. Sind die unendlichen Welten, die Leibniz der Ästhetik beschert hat, nur unendliche Spiegelungen einer Grundfigur des Seins? Wir wissen es nicht, und wir wissen auch nicht, ob wir es je wissen werden; aber es wird unendlich oft wieder die Probe darauf gemacht werden. Wäre das aber nicht ein Zirkel, der uns genau dahin zurückführt, wo wir aufgebrochen waren? Die Anzeichen eines solchen Zirkels schrecken heute viele, die fürchten, alle Kühnheiten könnten vergeblich gewesen sein. Aber eben das ist ein Irrtum. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir das Gegebene als das Unausweichliche hinzunehmen haben oder ob wir es als den Kern von Evidenz im Spielraum der unendlichen Möglichkeit wiederfinden und in freier Einwilligung anerkennen können. Das wäre, worum es letztlich ging, die Verwesentlichung des Zufälligen.™ *
79 Paul Klee, zit. b. W. Haftmann, a.a.O. S. γι. * Der Gedankengang ist zuerst im November 1956 auf Einladung der Philo sophischen Fakultät der Universität München vorgetragen worden. 46
Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans Die Tradition unserer Dichtungstheorie seit der Antike läßt sich unter dem Gesamttitel einer Auseinandersetzung mit dem antiken Satz, daß die Dichter lügen, verstehen.1 Noch Nietzsche steht unter dem Einfluß dieses Satzes, wenn er zur Behauptung der metaphysischen Würde der Kunst die Umkehrung verwenden muß, daß die Wahrhaftigkeit der Kunst im Gegensatz zur lügenhaften Natur stehe.2 Gleichsam auf halber Strecke zwischen dem antiken ι Für die Wirkungsgeschichte dieser Formel ist ihr Ursprung kaum relevant; für das Sachverständnis ist es aufschlußreich, daß am Anfang nicht die generelle Abwertung steht, sondern die kritische Mahnung an die Wahrheitspflicht des epischen Vortrages, der nicht die Erdichtungen der Vorzeit unnütz hervorholen, sondern Edles kraft der Erinnerung zum Vorschein bringen (έσ9λά άναφαίνει) soll (Xenophanes, fr. Β 119-23 Diels). Der Vorwurf der Unwahrhaftigkeit hebt sich also vor dem Hintergrund der Voraussetzung ab, daß das Epos Wahrheit zu vermitteln habe. Wie B. Snell gezeigt hat (Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 1946, S. 87ff.), kommt es zur Generalisierung des Vorwurfs erst durch die Problematik der szenischen Illusion beim Drama: seine Vergegenwärtigungstechnik, entstanden aus der mythischen Repräsentanz des lyrischen und tragischen Chores, kommt mit dem das Epos fundierenden Wirklichkeitsbewußtsein nicht mehr ins reine. Der Übergang von der ekstatischen Identifizierung im Dionysoskult zur technisch gehandhabten Darstellung reißt die Differenz von Wirklichkeit und Kunst auf, und zwar bis zu der für die Griechen immer naheliegenden theoretischen Konsequenz: schon für Aeschylus malt ein Agatharch nicht nur eine perspektivische Dekoration, sondern hinterläßt auch eine Abhandlung darüber (Diels 59 A 39; Bd. I 14ff.). Von Gorgias (fr. Β 23 Diels) besitzen wir noch ein Stück moralisierender Rechtfertigung der Täuschung in der Tragödie, die durch den Effekt beim Zuschauer entschuldigt erscheint. Der Ausgangspunkt der Reflexion auf die dichterische Illusion war also in der Antike, wie im 18. Jahrhundert bei Diderot, das Drama. Aber dort wie hier wurde dieser Ausgangspunkt schnell verlassen. Für die Tradition des Topos vom Lügen der Dichter wurden zwei Momente bedeutsam: die platonische Kritik am Wahrheitsgehalt darstellender Kunst überhaupt und die stoisch-christliche Allegorese, die darauf angewiesen war, einen Wahrheitsrest in der Dichtung zu verteidigen, um ihn sodann aus seiner Zerstreuung und Verdeckung retten zu können. 2 Der Philosoph. Betrachtungen über den Kampf von Kunst und Erkenntnis (Entwürfe von 1872) (WW, Musarion-Ausg., VI 31). Der Begriff von Natur ist nun ganz orientiert an der naturwissenschaftlichen Objektivierung und ihrer Herrschaft über den Wahrheitsbegriff, der sich in der Zerstörung der anthropomorphen Immanenz erfüllt. Aber mit der Bändigung der Wissenschaft ist der Notwendigkeit der Illusion eine fragwürdige Rechtfertigung zuteil ge47
Topos und der modernen Antithese steht die scholastische Zubilligung eines >minimum veritatis< an die Dichtung. Fragen wir nun, wie sich die Bestreitung des antiken Axioms von der Lügenhaftigkeit der Dichtung denken läßt. Oder: was kann es heißen, in Antithese von den Dichtern zu behaupten, daß sie >die Wahrheit sagen Zweierlei, wie ich meine: erstens, indem der Dichtung ein Bezug zu einer vorgegebenen Wirklichkeit - welcher Art auch immer - zugesprochen wird; zweitens, indem für die Dichtung die Erzeugung einer eigenen Wirklichkeit in Anspruch genommen wird. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß rein logisch auch die Möglichkeit bestand, aus der bezeichneten Antithese überhaupt herauszuspringen und die völlige Unverbindlichkeit des artistischen Gebildes in bezug auf Wahrheit oder Lüge, seine Unbetroffenheit durch das Kriterium des Wirklichkeitsbezuges, festzustellen. Aber der logische Katalog kongruiert nicht schon mit den historischen Möglichkeiten. In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Disposition, das ästhetische Gebilde aus seinem Verhältnis zu Wirklichkeit zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der traditionellen Ästhetik erfordert also eine Klärung, in welchem Sinne hier jeweils von >Wirklichkeit< gesprochen wird. Diese Klärung ist deshalb schwierig, weil wir gerade im Umgang mit dem, was uns als wirklich gilt, zumeist gar nicht bis zur prädikativen Stufe der ausdrücklichen Feststellung des Wirklichkeitscharakters vordringen. Andererseits: in dem Augenblick, in dem einem praktischen Verhalten, einem theoretischen Satz ihr Realitätsbezug bestritten wird, kommt zutage, unter welchen Bedingungen jeweils von Wirklichkeit gesprochen werden kann. Also gerade dadurch, daß dem poetischen Gebilde von allem Anfang unserer Tradition an seine worden (WW VI 12); diese Art von Wahrheit kommt im Grunde von der Tradition der imitatio nicht los, sondern verpflichtet nur auf eine als Schein gedeutete Welt, die den Erkenntniswillen freiläßt: Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr (WW VI 98). Die so gefaßte Bedeutung der Kunst als des wahrhaftigen Scheines bleibt gebunden an die metaphysische Tradition der Kunsttheorie, indem sie die Kunst auf den Gegebenheitscharakter des Wirklichen festlegt, auch wenn dieser Unerkennharkeit heißt. Angesichts der Funktion, die der Kunst bei der Reversion der Geschichte zugedacht ist, kann dies auch gar nicht anders sein: solche Anstrengungen stehen immer unter den Prämissen dessen, was sie wiederholen wollen. 48
Wahrheit bestritten worden ist, ist die Theorie von der Dichtung zu einem systematischen Ort geworden, an dem der Wirklichkeitsbegriff kritisch hereinspielen und aus seiner präformierten Implikation heraustreten muß. Im Grunde geht es dabei um das, was einer Epoche als das Selbstverständlichste und Trivialste von der Welt erscheint und was auszusprechen ihr nicht der Mühe wert wird, was also gerade deshalb die Stufe der überlegten Formulierung kaum je erreicht. Ob ein Vordringen der begrifflichen Analyse hier möglich und ertragfähig ist, kann sich nur zeigen, wenn ich einige Versuche vorlege, historische Wirklichkeitsbegriffe zu bestimmen. Die erste historische Gestalt eines Wirklichkeitsbegriffes, von der ich sprechen möchte, läßt sich vielleicht bezeichnen als die Realität der momentanen Evidenz. Er ist nicht behauptet, aber vorausgesetzt, wenn z.B. Plato ohne Zögern davon ausgehen kann, daß der menschliche Geist beim Anblick der Ideen sofort und ohne Zweifel erfährt, daß er hier die letztgültige und unüberschreitbare Wirklichkeit vor sich habe, und zugleich ohne weiteres zu erkennen vermag, daß die Sphäre des empirisch-sinnlich Gegebenen eine solche Wirklichkeit nicht war und nicht sein kann. Es ist doch keineswegs selbstverständlich, daß die Dualität von empirischer und idealer Gegebenheit ohne die Gefahr einer Spaltung des Wirklichkeitsbewußtseins gesehen werden konnte, die wir in diesem Falle sogleich befürchten würden, wenn wir uns einen Verstand vorstellen wollten, der aus der uns umgebenden Welt in eine ganz andersartige Gegebenheit versetzt würde. Der antike Wirklichkeitsbegriff, wie er Piatos Ideenlehre die Möglichkeit bietet, ohne mit ihr identisch zu sein, setzt voraus, daß das Wirkliche sich als solches von sich selbst her präsentiert und im Augenblick der Präsenz in seiner Überzeugungskraft unwidersprechlich da ist.3 3 Ohne also zu behaupten, die platonische Ideenwelt sei repräsentativ für den antiken Wirklichkeitsbegriff, möchte ich doch meinen, daß sie ohne seine Implikationen kaum denkbar wäre. Es ist oft genug gesagt worden, daß der Zugang der Griechen zu ihrer Welt nicht nur Sehen war, sondern auch am Sehen in seinem Selbstverständnis orientiert blieb. Vielleicht sollte man aber das noch verschärfen und bemerken, daß es das ruhende Sehen und das Sehen des ruhenden Gegebenen ist, dem die Griechen den Vorzug gaben: όραν ist das Ruhenlassen des Blickes auf dem Aussehen von etwas, der Gestalt, dem Bild, wie ich in B. Snells Vorlesungen »Homerische Bedeutungslehre« gelernt habe. Schon Aristoteles hat die Momentaneität des Sehens als Analogon der Lust herangezogen (Eth. Nie. X 3; 1174a 13ff.): die ορασις ist in jedem Au genblick vollendet und des integrierenden Hinzukommens in der Zeit unbe49
Es ist dieser formale Merkmalskomplex, dem die Metaphorik des Lichtes zu seiner Artikulation so besonders angemessen ist. Auf diesem Wirklichkeitsbegriff beruht auch noch ein Denken, dem die biblischen und andere Berichte von der Erscheinung Gottes oder eines Gottes völlig unproblematisch bleiben konnten, in denen dieser Gott sich als solcher in der Erscheinung unmittelbar und momentan ausweist und für die Vermutung, Befürchtung oder Unterstellung einer Illusion überhaupt keinen Raum läßt.4 Der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz ist eben ein solcher, der augenblickliches Erkennen und Anerkennen von letztgültiger Wirklichkeit einschließt und gerade an dieser Implikation identifizierbar wird. Ein zweiter Wirklichkeitsbegriff, der für das Mittelalter und die als sein Resultat ansetzende Neuzeit fundierend ist, läßt sich bezeichnen als die garantierte Realität. Wie spät die Philosophie die Implikationen des menschlichen Weltverstehens und Weltverhaldürftig wie die ηδονή. Gegebenheit für das Sehen konstituiert sich nicht in der Zeit; obwohl natürlich Gegenstände sich summieren, tragen sie doch aus dem Erlebnisverlauf nichts davon, was ein Mehr ihres Gegebenheitscharakters ausmachen könnte. Im Jetzt ist das Sehen ohne jede γένεσις ein Ganzes (1174 b 9-13). Das hat seine unmittelbare Konsequenz im Begriff des Schönen als gleichsam einer Spezifität der momentanen Evidenz jeder αϊσ9ησις (Χ 4; 1174b 14-17). Daß Sehen sich im Durchlaufen von Aspektfolgen vollzieht, daß es selbst Prozeß ist und im wesentlichen Ereignisse, Relationen, Etwasan-etwas erfaßt, schafft hier weder eine Problematik noch wird es maßgebend für die Begriffsbildung. 4 Einen späten, ironischen Reflex solcher momentanen Evidenz findet man in einem Roman, der sich das Ineinandergreifen von Fiktion und Realität, ihre Äquivalenz für das menschliche Schicksal und damit die praktische Gleichgültigkeit ihrer Identifikation zum Thema gemacht hat, in André Gides Caves du Vatican. Nach der Trauerfeier für den armen Kreuzfahrer Amadeus, der an der Aufdeckung der vermeintlichen Vertauschung des Papstes gescheitert war, kommt es in der Kutsche zu einem Gespräch zwischen Julius Baraglioul und Anthimos, dem der Graf eröffnet, der amtierende Papst sei tatsächlich nicht der echte. Anthimos, der einstige und dann ebenso bekehrte wie vom Hinken geheilte Atheist, wird am Nachdenken über diese Eröffnung im Handumdrehen wieder zum Ungläubigen: wer könne ihm jetzt noch versichern, daß nicht auch Amadeus Fleurissoire beim Eintritt ins Paradies erkennen müsse, sein Gott sei gleichfalls nicht der echte? Die Antwort des Grafen impliziert den ungetrübten Glauben, in einem solchen Falle gebe es nichts als momentane Evidenz: der Gedanke sei bizarr, daß es von Gott eine unechte Präsentation geben könne, eine Verwechslung, als wenn ein anderer da zu denken wäre. Aber das macht auf Anthimos bezeichnenderweise nicht den geringsten Eindruck. Er hat zweifellos nicht mehr diesen Wirklichkeitsbegriff, läßt halten, verläßt die Kutsche und - hinkt wieder. 5°
tens erfaßt und ausdrücklich macht, zeigt sich gerade hier daran, daß von der systematischen Formulierung dieses Wirklichkeitsbegriffes die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie ihren Anfang nimmt. Für Descartes gibt es keine momentane Evidenz des letztgültig Wirklichen, weder für das sich selbst in einem QuasiSchluß erfassende Subjekt noch für den aus seinem Begriff als existent deduzierten Gott. Die gegebene Realität wird erst verlässig durch eine Garantie, deren sich das Denken in einem umständlichen metaphysischen Verfahren versichert, weil es nur so den Verdacht eines ungeheuerlichen Weltbetruges, den es aus eigener Kraft nicht zu durchschauen vermöchte, eliminieren kann. Gott als der verantwortliche Bürge für die Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis, dieses Schema der dritten Instanz, des absoluten Zeugen, ist in der ganzen Geschichte der mittelalterlichen Selbstauffassung des menschlichen Geistes seit Augustin vorbereitet. Dieses Schema schließt aus, daß es ein Merkmal geben könnte, das als solches das je Gegebene in seiner unüberbietbaren Realität ausweist. Die Merkmale der Klarheit und Deutlichkeit, die Descartes der Evidenz zuspricht, sind nur unter der metaphysischen Bedingung, die aus seinem Zweifelsversuch resultiert, systematisch zu placieren; sonst - so ist mit Recht bemerkt worden - sind sie genauso gut die Merkmale des in der Paranoia Gegebenen. Das Schema der garantierten Realität, bei dem in das Verhältnis von Subjekt und Objekt noch eine vermittelnde Instanz eingebaut ist, hat auf die neuzeitliche Kunsttheorie eingewirkt. Es steckt noch in dem Versuch, die Wahrheit der künstlerischen Hervorbringung durch die Rückfrage auf das zugrundeliegende Erlebnis des Künstlers und die psychologische Aufrichtigkeit seiner Umformung zu sichern. Eine dritte Form des Wirklichkeitsbegriffes läßt sich bestimmen als Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes.5 Dieser 5 Mit Recht ist in der Diskussion des Kolloquiums gesagt worden, dies sei der Wirklichkeitsbegriff der Phänomenologie Husserls. Vielleicht hätte ich auf der Präzisierung bestehen sollen: der von der Phänomenologie explizierte Wirklichkeitsbegriff. Auch ich bezweifle, daß es sich hier um eine jederzeit möglich gewesene Deskription der Wirklichkeitskonstitution handelt; deshalb war es mir wichtig, die Bestimmung zu versuchen, was eine solche phänomenologische Thematisierung voraussetzt, seit wann sie hätte geschrieben und verstanden werden können. Den Nachweis, daß diese Thematisierung in der Kritik des Cartesianismus bei Leibniz (von den »Animadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum« 1692 bis zum Entwurf des Remond51
Wirklichkeitsbegriff unterscheidet sich von den vorhergehenden durch seinen Zeitbezug: Wirklichkeit als Evidenz weist sich je im gegenwärtigen Augenblick und seiner Gegebenheit aus, garantierte Wirklichkeit durch den Rückbezug auf die in der Einheit der Erschaffung der Welt und der Vernunft verbürgte Vermittlung, also auf einen immer schon vergangenen Grund dessen, was die Scholastik veritas ontologica genannt hatte; dieser dritte Wirklichkeitsbegriff nimmt Realität als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten. Auch die abgeschlossene Lebenszeit eines Subjektes erlaubt erst zu sagen, seine Wirklichkeit sei ungebrochen gewesen, aber auch dieses und jenes seien seine Illusionen, Imaginationen, Selbsttäuschungen, >seine< Wirklichkeit gewesen. Die Verbindung des Possessivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit ist für diesen Begriff charakteristisch. Der alle einzelnen Subjekte übergreifende und umgreifende Horizont der Zeit setzt das einzelne Subjekt mit >seiner< Wirklichkeit entweder ins Unrecht oder gibt ihm die Noch-Zulässigkeit einer perspektivischen Position, eines topologisch zuordnungsfähigen Aspektes von Realität. Wirklichkeit als sich konstituierender Kontext ist ein der immer idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbegriff, ein Bestätigungswert der in der Intersubjektivität sich vollziehenden Erfahrung und Weltbildung. Es ist unschwer zu sehen, daß dieser Wirklichkeitsbegriff eine gleichsam >epische< Struktur hat, daß er notwendig auf das nie vollendbare und nie in allen seinen Aspekten erschöpfte Ganze einer Welt bezogen ist, deren partielle Erfahrbarkeit niemals andere Erfahrungskontexte und damit andere Welten auszuschließen erlaubt.6 Briefes vom Juli 1714) in der Auseinandersetzung mit der Vorstellung von der garantierenden dritten Position erfolgt ist, habe ich in dem noch ungedruckten Vortrag »Antiker und neuzeitlicher Wirklichkeitsbegriff« (zuerst Jungius-Gesellschaft Hamburg, Februar 1961) unternommen. Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich auch, daß Wirklichkeitsbegriffe sich nicht wie mutierende Typen ablösen, sondern daß die Ausschöpfung ihrer Implikationen, die Überforderung ihrer Befragungstoleranzen in die Neufundierung treiben. Daß ich mich hier auf eine typisierende Aufreihung beschränke, ist durch das thematische Interesse an der vertikalen Fundierungsstruktur bedingt. 6 Der Wirklichkeitsbegriff des >offenen< Kontextes legitimiert die ästhetische 52
Ein letzter hier noch zu besprechender Wirklichkeitsbegriff orientiert sich an der Erfahrung von Widerstand. In diesem Wirklichkeitsbegriff wird die Illusion als das Wunschkind des Subjekts vorausverstanden, das Unwirkliche als die Bedrohung und Verführung des Subjekts durch die Projektion seiner eigenen Wünsche, und demzufolge antithetisch die Realität als das dem Subjekt nicht Gefügige, ihm Widerstand Leistende, und dies nicht nur als Erfahrung des Berührens, der trägen Masse, sondern auch und in letzter Zuspitzung in der logischen Form des Paradoxes. Mit diesem Wirklichkeitsbegriff hat es z.B. zu tun, daß das Paradox zur bevorzugten Zeugnisform der Theologie werden konnte, die gerade in der Ärgerlichkeit und Anstößigkeit des logisch inkonsistenten Gehaltes den Ausweis einer letzten, das Subjekt niederzwingenden und zur Selbstaufgabe fordernden Realität sieht. Wirklichkeit ist hier das ganz und gar Unverfügbare, was sich nicht Qualität der novitas, des überraschend-unvertrauten Elementes, während die >garantierte< Realität das Unvertraute und Neuheitliche nicht wirklieb werden läßt, der Tradition und Autorität eine schon bewältigte, als Summa des Erkennbaren aufgearbeitete Welt zuschreibt und damit zum Postulat des nihil novum dicere (z.B. Petrarca, Epist. fam.VI 2; cf. X 1) führen muß. Der Wandel des Wirklichkeitsbegriffs nimmt dem Neuen sein Suspektes, die terra incognito., der mundus novus werden möglich und als Reiz menschlicher Aktivität wirksam; paradox formuliert: die Überraschung wird erwartbar. Das greift auch in die Geschichte des Topos von der Lügenhaftigkeit der Poesie ein; das ästhetische Vergnügen an den falsa wird legitim, insofern sie sich als nova (also: mögliches, noch jenseits des Horizontes liegendes Wirkliches) deuten lassen. Julius Caesar Scaliger, Verfasser einer heute viel angerufenen Poetik ( 15 61 ), verhandelt in seinem noch interessanteren Werk »De subtilitate ad Hieronymum Cardanum« ( 15 5 7; ich benutze die Ausg. von 1582) den Satz des Cardano Falsa délectant quia admirabilia (Exerc. 307,11; S. 9$6i.). Scaliger verwahrt sich gegen den Zusatz, es seien nur die Kinder und Toren, die solches Vergnügen am Unwahren hätten, und zwar deshalb, weil sie noch plus veritatis darin vermuteten, so daß es letztlich doch wieder die (wenn auch nur vermeintliche) Wahrheit wäre, was Vergnügen bereitet. Dagegen: einem seiner Natur nach unendlichen Verstand kann die Kunst unerschöpflicher genügen als die Natur; jene falsa, an denen doch auch sapientes Gefallen finden (e. g. an den Homericaphasmata), erweisen sich als der überschießende Reichtum der Kunst über den (noch) konstanten Naturbestand hinaus. At quare délectant admirabilia? Quia movent. Cur movent? Quoniam nova. Nova sane sunt, quae nunquamfuere neque dum existunt... Mentem nostram esse natura sua infinitam. Quamobrem et quod adpotentiam attinet aliéna appetere, et quod spectat ad intellectionem, etiam efalsis ac monstrorum picturis capere voluptatem. Propterea quod exsuperant vulgares limites veritatis ... Mavultque pulchram imaginem, quam naturali similem designatae. Naturam enim in eo superat ars. 53
als bloßes Material der Manipulation und damit der ständig umsteuerbaren Erscheinung unterwerfen läßt, was vielmehr in der Technisierung nur scheinbar und zeitweise in Dienst genommen worden ist, um sich dann in seiner überwältigenden Eigengesetzlichkeit und einer seine Erzeuger tyrannisierenden Mächtigkeit zu enthüllen als ein factum brutum, von dem nachträglich nur noch behauptet, aber nicht mehr vorgestellt werden kann, daß es aus einem freien und konstruktiven Prozeß des Erdachtwerdens einmal hervorgegangen sein könnte. In diesem Sinne ist das der Analyse nicht mehr Zugängliche, das nicht weiter Auflösbare, das in einer charakteristischen Wendung - atomic fact, die elementare Konstante, signifikativ für diesen Wirklichkeitsbegriff; aber auch solche Aussagen wie die, daß das Spielen mit zwei einander aus-?schließenden Bildern schließlich den richtigen Eindruck von einer bestimmten Realität geben könne (Heisenberg), oder daß ein kompliziertes Stück Mathematik ebenso Realität repräsentiere wie >Masse<, >Energie< usw. (George Thomson). Vielleicht deutet sich dieser Wirklichkeitsbegriff zum ersten Mal darin an, daß für das Realitätsbewußtsein ein Instinkt in Anspruch genommen wird, dessen praktische Mechanik den theoretischen Zweifel zwar nicht ausschließt und aufhebt, aber gleichgültig für unsere Existenz- und Selbstbehauptung macht, wie es D'Alembert in der Einleitung zur »Enzyklopädie« ausgesprochen hat. Vielleicht auch in jenem fast gleichzeitigen Wort Lessings an Mendelssohn, daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines größern Grads unserer Realität bewußt sind7, einer Formulierung, die das Wirklichkeitsbewußtsein vom Denken trennt und in die Sphäre der unverfügbaren Erfahrungen des Subjekts mit sich selbst verlegt. Jedenfalls müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß die Neu-, zeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist, oder daß die Herrschaft eines bestimmten ausgeprägten Realitätsbewußtseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten oder sich formierenden Möglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu werden, vollzieht. Zwischen den derart umrissenen Wirklichkeitsbegriffen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und den Verständnisweisen für das Kunstwerk besteht ein Begründungsverhältnis. Ganz un7 Lessing, Gesammelte Werke, Berlin 1957, Bd. IX S. 105 (Brief vom 2. Febr. 1757)· 54
zweifelhaft ist die Theorie der Nachahmung 8 als die beherrschende Konzeption in unserer ästhetischen Tradition fundiert in dem Wirklichkeitsbegriff dermo mentanen Evidenz. Die Nachahmungstheorie ist gebunden an zwei ontologische Voraussetzungen: i. die Gegebenheit oder Annahme eines Bereiches eigentlicher und aus sich einleuchtender exemplarischer Realität; 2. die Vollständigkeit dieses Bereiches hinsichtlich aller möglichen Gehalte und Gestalten von Wirklichkeit. Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, daß alles Künstliche im weitesten Sinne das Natürliche nur wiederholen kann, weil es gar keinen Spielraum der >Überschreitung< gibt. Es liegt ferner im Sinne einer aus sich selbst exemplarischen Gegebenheit, daß sie nicht nur wiederholt werden kann, sondern auch wiederholt werden soll, daß sie also zu ihrer Nachahmung gleichsam herausfordert, weil sie in ihrer Urbildlichkeit ohne die erfolgte Veranlassung des Abbildes steril bliebe. So begründet die platonische Idealität, weshalb es künstliche und künstlerische Gebilde gibt, zugleich aber auch, weshalb in ihnen nichts Wesentliches >geleistet< sein kann. Hier ist die eigentümliche Ambivalenz des Piatonismus in der Geschichte der Kunsttheorie angelegt: er war stets Rechtfertigung und Entwertung der künstlerischen Tätigkeit zugleich. Plato selbst belegt das im zehnten Buch seines »Staates«, wo er bekanntlich eine Polemik gegen die Dichtung und darstellende Kunst überhaupt führt, und zwar mit dem Argument, daß der Künstler in der Darstellung der gegebenen Gegenstände bereits aus der zweiten Hand schöpfe, indem das, woran er sich hält, doch selbst noch nicht das letzte und eigentliche Wirkliche sei, sondern dessen Nachahmung durch die Natur oder durch den Handwerker. Das Kunstwerk ist als Nachahmung zweiter Stufe bestimmt. Wenn also 8 Die folgende Darstellung der Herkunft und historischen Rolle der MimesisTheorie referiert nicht nur, sondern korrigiert ζ. Τ. auch den entsprechenden Abschnitt meiner Studie »Nachahmung der Natur« (in: Studium Generale X, 1957,266-283; s p e z · 270ff.; [in diesem Band S. 9-46]). Vor allem habe ich mich nicht mehr mit der Feststellung der Ambivalenz des platonischen Schemas begnügt, sondern möchte zeigen, daß positive und negative Wertung, Betonung der Partizipation bzw. der Defizienz, verschiedenen Bezugsebenen zugehören, die als reale Abbildlichkeit und bloß relationale Nachbildlichkeit gekennzeichnet sein mögen. Dadurch wird sowohl verständlich, was in der aristotelischen Kunsttheorie geschieht, die diese Differenzierung nicht haben kann und der nur die positive Wertung der Mimesis offenbleibt, als auch, was eigentlich der Neuplatonismus und die platonisierende Gnosis >ausgelassen< haben. 55
das Abbild des Abbildes ganz anders bewertet werden muß als das Abbild des Urbildes, so hängt auch das mit dem Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz zusammen: in der unübersteigbaren Evidenz des Urbildes ist Wirklichkeit als Verbindlichkeit zu erfahren, und das Abbild erster Stufe - also das Abbild des Urbildes - ist legitimiert dadurch, daß es sein soll, nicht nur dadurch, was es sein soll (eine Bestimmung;, die nur dem Urbilde zukommt). Dieser Sachverhalt wird an dem von Pkto gewählten Beispiel der künstlerischen Darstellung von elementaren Gebrauchsgegenständen durch die Malerei bestätigt. Den Tisch oder das Bett gibt es in der uns umgebenden Natur nicht; aber für Plato ist es ausgeschlossen, daß der Handwerker solche Gegenstände im Hinblick auf einen Gebrauchszweck erfunden haben könnte, denn das hieße, daß er ihre Idee authentisch hervorgebracht hätte. Vielmehr muß es nach Plato für alle sinnvollen Gestaltungen des Menschen bereits Urbilder in der, Ideenwelt geben, anhand deren handwerkliche Produktion sich vollzieht. Das Abbild erster Stufe wird hier also von dem geleistet, der handwerklich den Tisch oder das Bett herstellt. Der Maler aber, der solche Dinge seinerseits darstellt, hält sich an das handwerklich schon produzierte Zeug, bildet also das Abbild nochmals ab. Weshalb aber läßt Plato nicht zu, daß der Maler - genauso wie der Handwerker- auf die Idee selbst blickt, wenn er solche Gegenstände darstellt, und damit der Forderung genügt, ein unmittelbares Abbild des Urbildes zu geben? Diese Frage bleibt im Text des zehnten Buches des »Staates« unbeantwortet. Sie ist aber von Wichtigkeit, wenn man die Ambivalenz des Piatonismus für die Theorie des Ästhetischen verstehen will. Sie wird auch nicht ohne Bedeutung sein, wenn man die These begründen will, daß es der platonische Restbestand in unserer ästhetischen Tradition ist, der dem Roman seine systematisch legitime Stelle in unserer traditionellen Ästhetik bestreitbar bzw. unsicher macht und ihn dadurch zu einer Gattung des schlechten ästhetischen Gewissens werden ließ, deren Überwindung oder deren Assimilation an andere legitime Gattungen die kaum je verstummende Forderung wurde. Die platonischen Ideen fixieren einen Kanon dessen, was der Abbildlichkeit zugleich fordernd und lizenzierend vorgegeben ist. Die platonischen Ideen waren zunächst Begründungen für die Möglichkeit unserer abstrakten Begriffe, also noch nicht Urbilder von Gestalten, sondern Normen für Leistungen des Verstandes, 56
etwa für die Herstellung von Relationen zwischen Gegenständen, für die Erfassung geometrischer Verhältnisse und schließlich für die Beurteilung des Wertes von Handlungen. In all diesem hatten die Ideen gebietenden Charakter; sie repräsentierten noch nicht Wirkliches, wie es sein soll, sondern das Seinsollen als solches. Die Tatsache, daß die ursprüngliche und präexistente Erfahrung der Ideen als Anschauung vorgestellt werden mußte, führte dazu, daß an den Ideen das eidetische Moment immer ausgeprägter wurde, daß sie sich zu Urgestalten alles dessen formierten, was wir in der sichtbaren Welt als einen Inbegriff vager Nachbildungen vor uns haben. Aber immer noch waren die Ideen nicht nur Bilder reiner Wesenheiten, sondern Urbilder mit dem der Idee genuinen Sollensgehalt der zum Nachbilden auffordernden Vorbildlichkeit. Die Begriffe >Urbild< und >Abbild< sind also nicht bloße Relationsbegriffe, die sich aus der vollzogenen Nachbildung ergeben, sondern sie haben entsprechend der Herkunft der Ideenlehre selbst ideale Qualität, d. h. Urbildlichkeit ist unabhängig von der tatsächlichen Nachbildung und vor ihr da als eine erst in der Tatsächlichkeit und Getreulichkeit des Abbildes sich erfüllende Norm. Diese Konsequenz der Ideenlehre, die sich schon im »Staat« in der Heraushebung des Guten zu einer Idee der Ideen bezeugt, zeigt sich in dem Dialog »Timaeus« vollends in ihrer Bedeutung, und zwar darin, daß die Tatsache der Weltherstellung gar keiner weiteren Motivierung bedürftig ist als derjenigen des bloßen Anblicks der Ideen durch einen, als zu dieser Verrichtung befähigt gedachten Handwerker, dem nur seine Werktreue bescheinigt werden muß, nicht aber eine besondere Disposition seines Willens, ein solches Werk auf sich zu nehmen und durchzuführen. Die sichtbare Welt ist danach eine Vollstreckung der Sollensimplikation der Urbilder, ihnen ihre Nachbildung als das ihren Sinn erfüllende Korrelat zu geben. Aber es zeigt sich auch sogleich, daß in diesem System nur das erste und unmittelbare Abbild als Erfüllung des Urbildgebotes legitimiert ist und darin ein Ende des Prozesses der Abbildung darstellt; der als reales Prädikat genommene Abbildcharakter schließt die Möglichkeit aus, wiederum verbindliches Vorbild werden zu können. Der darstellende Künstler bildet also nur das ab, was seinerseits schon Abbild ist und nur Abbild sein kann und erhebt es dadurch in die ihm nicht zukommende Funktion der Urbildlichkeit. Nicht jedes Abbild und nicht das Abbild als solches ist also bei Plato negativ gewertet, sondern nur das nicht unmittel57
bar nach dem Urbild entstandene, also nicht >reale< Abbild, das indirekte, schon auf Abbilder zurückgehende Nachbild. Es ist wohl eines der Mißverständnisse des Neuplatonismus, daß dort Nachahmung überhaupt in eine negative Wertung rückt und damit schon die Entstehung der Welt - und nicht erst die der Nachbildwerke der Kunst - ein zweifelhaftes Ereignis wird. Aber dieses neuplatonische Mißverständnis der Nachahmungskritik Piatos macht zugleich den eigentümlichen Sachverhalt verständlich, daß Motive der platonischen Tradition an einer Entwicklung beteiligt sein konnten, durch die eine Überwindung der Nachahmungsformel in der Begründung der Möglichkeit künstlerischer Produktivität erreicht werden sollte. Bei diesen Überlegungen darf nicht vergessen werden, daß die ästhetische Theorie der Nachahmung in die Aristoteles-Rezeption gehört.9 Indem bei Aristoteles die Ideen zu Formprinzipien der Natur selbst wurden, verschmolzen Tatsächlichkeit und Verbindlichkeit in der Welt so, daß der Künstler nun seine Aufgabe darin finden konnte, aus der Erscheinung das, was sein soll und wie es sein soll, zu erheben. Jetzt wird die künstlerische Darstellung Abbild erster und einziger Stufe. Die Würde der Nachahmung als des Inbegriffs künstlerischer Tätigkeit ist also nicht durch eine Umwertung der Mimesis herbeigeführt, sondern nur durch eine Verminderung der Zahl der Bezugsebenen: das Künstlerische ist nun genau an die Stelle getreten, an der bei Plato die Natur selbst bzw. der sie herstellende Demiurg gestanden hatten und durch deren Besetzung die künstlerische Tätigkeit dort wesensmäßig überflüssig, ja systemwidrig geworden war. Freilich, es handelt sich hier nur um einen platonischen Rest< im Aristotelismus, und dieser begründet zwar die Möglichkeit des Kunstwerkes, aber er rechtfertigt es nicht, gibt ihm keine Notwendigkeit. Daran liegt es, daß die aristotelische Tradition der Ästhetik darauf angewiesen ist, die künstlerische Tätigkeit zwar als Nachahmung der Natur zu definieren, sie aber zugleich fast ausschließlich von den Bedürfnissen des menschlichen Gemüts und von der Wir9 Dabei darf nicht übersehen werden, daß in dieser Tradition die allgemeine metaphysische Auslegung von Kunst (τέχνη) im weitesten Sinne beherr schend geworden ist, bevor das, was wir Ästhetik des Aristoteles nennen würden, mit der Wiederentdeckung der Poetik wirksam werden konnte. Die Kommentierungsarbeit des Mittelalters hatte einen Aristotelismus abzüglich der Poetik (die nur über die arabische Linie der Tradition läuft) zum Ergebnis; welche Folgen das gehabt hat, müßte dringend näher untersucht werden. 58
kung auf dieses Gemüt her zu begründen, zu verstehen und zu normieren. In einer aristotelisierenden Kunsttheorie ist daher der fundierende Begriff des Menschen wichtiger als der Wirklichkeitsbegriff; wir haben eine Ästhetik, die im Hinblick auf den affizierten Rezeptor konzipiert und systematisiert ist. Der ursprünglich böse Satz, daß die Künstler, insbesondere die Dichter, Lügner seien, verliert in diesem systematischen Rahmen seinen negativen, kritisch relevanten Gehalt, und dies schon deshalb, weil die aristotelische Definition des Künstlichen als Nachahmung nicht eine Bestimmung dessen ist, was getan werden soll, sondern dessen, was überhaupt nur getan werden kann. Die Erneuerung des Piatonismus in der Renaissance1® bedeutet nicht eine Umkehrung des Verhältnisses der Entstehung der aristotelischen Konzeption aus der platonischen; die Kritik am Ideal der Nachahmung beruht auf einer Veränderung des metaphysischen Interesses. Mit dem Ausgang des Mittelalters gewann die Frage des Menschen nach sich selbst und nach seiner Stellung in der Welt und gegenüber der Welt Vorrang, und bei der Beantwortung dieser Frage gaben Leistung und Werk des Menschen den Ausschlag. Thema der Renaissance wurde mit der Würde des Menschenwerkes die Begründung der Dignität des Kunstwerkes. Der vernehmio Was an dieser Erneuerung wirklich >platonisch< ist, läßt sich im einzelnen nur schwer bestimmen. Bei begriffsgeschichtlichen Untersuchungen darf nicht übersehen werden, daß der >Platonismus< der Renaissance seit Petrarca aus einer Cicero-Rezeption hervorgeht und in seiner Verständniskapazität durch sie bestimmt wird. Dieser Umstand macht z.B. idea als Leitfaden ungeeignet, um Piatonismen aufzuspüren, wie man an Erwin Panofskys »Idea« (Studien der Bibl. Warburg 1924; 2. Aufl. i960) nachprüfen kann: mit der Wahl von species als lateinischem Äquivalent hatte Cicero dem Ausdruck jede Spezifität genommen (obwohl er ihn auch griechisch stehen ließ), den der Humanismus zum philosophischen Allerweltswort nivellierte. Wenn Panofsky ζ. Β. Melanchthons ausdrückliche Gleichsetzung von idea und notifia für die in animo des Apelles eingeschlossenepulcherrima imago humani corporis anführt, um die Immanentisierung des Piatonismus zu belegen, so spricht dagegen Melanchthons eigene Verlegenheit, wenn er einmal gezwungen ist, einen authentisch platonischen Gedanken wiederzugeben, und z.B. die mit notifia kaum systematisierbare imitatio verwendet: so hat der statuarius in sich eine certa notitia seines Werkes, die seine Verrichtungen reguliert, donec efficiatur similitudo eius archetypi quem imitatur (Corp. Ref. XIII 305). Wäre idea wirklich hier beinahe ah ein spezifisch kunsttheoretischer Begriff genommen, brauchte nicht archetypus hereingeheimnist zu werden; aber idea ist eben schon das angenehme Bildungswort, das man gerade dann nicht mehr brauchen kann, wenn man etwas Platonisches bezeichnen muß. 59
liehe Hinblick einer Theorie der Kunst auf den affizierten Betrachter war dazu systematisch wenig geeignet. Die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem göttlichen Schöpfungswerk war die heimliche oder ausdrückliche Orientierung eines neu sich bildenden Begriffes vom Künstler, und das führte natürlich mit Vehemenz zurück auf die Frage nach dem Verhältnis des Kunstwerkes zur Naturwirklichkeit, nach der notwendigen oder zufälligen Abhängigkeit oder der Lösbarkeit dieses Bezuges. Wenn diese Auffassung von dem frühen Impuls für die Kunstauffassung der Neuzeit richtig ist, dann liegt in der Konsequenz des Ansatzes nicht nur eine Neubestimmung der Differenz ästhetischer und physischer Gegenstände, sondern die Idee der Konkurrenz des Künstlers mit der vorgefundenen Welt im ganzen, also nicht nur ihrer Abwandlung, Idealisierung, Variierung, sondern der künstlerischen Erschaffung weltebenbürtiger Werke. Sowohl nach dem antiken Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz als auch nach dem mittelalterlichen der Realitätsbürgschaft Gottes wäre eine solche Idee der künstlerischen Konkurrenz mit dem Gegebenen sinnlos und bodenlos gewesen. Erst ein neu sich durchsetzender Begriff von Wirklichkeit, der nichts anderes als die Konsistenz des Gegebenen im Räume und in der Zeit für die Intersubjektivität als den einzig möglichen Rechtstitel auf Anerkennung durch ein Wirklichkeitsbewußtsein bestimmte, ließ den Anspruch auf Totalität künstlerischer Setzungen neben dem Faktum Welt überhaupt tragbar, wenn nicht allererst verstehbar werden. Derselbe Schöpfungsbegriff, der jetzt die Vorstellung von der möglichen Totalität eines Werkes nach sich zog, hatte - ohne daß das systematisch rechtzeitig ausdrücklich geworden wäre - der aristotelischen Konzeption des Künstlichen und Künstlerischen den Boden entzogen. Indem sich die gegebene Natur als Ausdruck eines mit allmächtiger Fähigkeit ausgestatteten göttlichen Willens darbot, war die Idealisierung als Aufgabe des Künstlers nicht nur zweifelhaft geworden, sondern fast dämonisiert durch die Implikation, daß die Natur nicht so sein müsse, wie sie sein sollte, sofern der Künstler ihre Möglichkeiten gleichsam >einzuholen< und ihren Rückstand gegenüber ihrem Seinsollen auszugleichen hätte. Was konnte es jetzt nach der aristotelischen Definition noch bedeuten, daß Technik und Kunst vollenden, was die Natur nicht zu Ende zu bringen vermag? Für das mittelalterliche Weltverständnis hatte die gegebene Natur ihre selbsteigene, ihre authentische Evidenz als 6o
Wirklichkeit verloren. Das durch einen absoluten Willen gesetzte wie verbürgte Faktum war eine neue große Doppeldeutigkeit: es gewährte die Beruhigung der nicht zu stellenden Fragen und gab zugleich das Ärgernis, das in jeder Faktizität für die Vernunft steckt. Die Tatsache, daß aus den Voraussetzungen und Zusammenhängen der cartesischen Philosophie keine Ästhetik hervorgegangen ist, wird jetzt gerade daraus verständlich, daß diese Philosophie hinsichtlich ihres Wirklichkeits begriff s >mittelalterlich< gewesen ist und an das Bürgschaftsschema der Realität gebunden blieb. Eine Ästhetik des Cartesianismus hätte nichts anderes sein können als allenfalls eine Theorie der mittelalterlichen Kunst. Dieses historische Phänomen darf uns weder verblüffen noch irremachen; es ist ganz selbstverständlich, daß die versteckteste Implikation einer Epoche, nämlich ihr Wirklichkeitsbegriff, erst zur Explikation kommt, wenn jenes Wirklichkeitsbewußtsein bereits gebrochen ist. Die Frage nach der Möglichkeit des Romans als eine ontologische, d.h. als eine die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff aufsuchende, zu stellen, bedeutet also, nach der Herkunft eines neuen Anspruches der Kunst zu fragen, ihres Anspruches, nicht mehr nur Gegenstände der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Eine Welt - nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans.11 Es ist seltsam, ii Die Formel von Georg Lukâcs, der Roman sei die Epopöe der gottverlassenen Welt (Die Theorie des Romans, Berlin 1920, S. 84), also das Epos unter den Bedingungen des neuzeitlichen Weltverständnisses, findet in den hier entwickelten Zusammenhängen eine gewisse Entsprechung. Die ersehnte Erneuerung des · griechischen Epos wie die Behauptung seiner absoluten Maßstäblichkeit brachen sich an einem Wirklichkeitsverständnis, für das die Welt >eine< Welt, der Kosmos ein Universum geworden war. Der mit Leibniz und Wolff endgültig gescheiterte Versuch, der faktischen Welt die ratio sufficiens zu sichern, öffnete die Schleusen für eine Kritik des Faktischen vom Möglichen und Rationalen her, die auch die Imagination affizieren und zur Sinnhaltigkeitserprobung ihrer >Welten< innervieren mußte. Die Einzigkeit ihres Kosmos und die Verbindlichkeit des Epos für die Weltauslegung der Griechen waren nur zwei Aspekte der in momentaner Evidenz gegebenen Wirklichkeit gewesen. Der Roman konnte keine >Säkularisierung< des Epos nach der Entgöttlichung der Welt sein; im Gegenteil, gerade auf die Theologisierung der Welt geht ihre Kontingenz, die Faktizität des unbestimmten , Artikels, der Zudrang der possibilia zurück. Die >Welten<, denen das ästhetisch eingestellte Subjekt jeweils nur auf Widerruf zu gehören bereit ist, in der verfügbaren Endlichkeit eines Kontextes, sind dejjd^edifder Realiη ^ Universitätsbibliothek ^
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daß die Voraussetzung für diesen Ansatz durch die Erneuerung des Piatonismus geschaffen werden konnte, seltsam deshalb, weil der Piatonismus damit in eine ihm ganz heterogene geschichtliche Funktion eintrat. Die in seiner Ambivalenz angelegte negative Bewertung der Nachahmung war der am Anfang der Neuzeit gleichsam >erwünschte< Effekt, dessen genuine Voraussetzungen freilich nicht zu erneuern waren: die Differenz zwischen Tatsächlichkeit und Seinsollen der Welt als Spielraum der Kunst war eine inzwischen ausgeschlossene Möglichkeit. Die Kunst sollte sich vielmehr im Räume des von Gott und der Natur nicht Verwirklichten ansiedeln, und hier gab es keine Dualität mehr von vorgegebener Wirklichkeit und nachgestaltendem Werk; vielmehr war jedes sich an dem neuen Wirklichkeitsbegriff messende Werk immer schon die Wirklichkeit des Möglichen, dessen Nicht-Realität die Voraussetzung für die Relevanz seiner Realisierung sein mußte. Wenn die Ausgangsthese dieser Überlegungen richtig ist, daß die Geschichte der Ästhetik eine einzige Auseinandersetzung mit dem antiken Satz darstellt, daß die Dichter lügen, so muß diese Geschichte immer mitabhängig sein von der Auffassung der menschlichen Möglichkeit, >die Wahrheit zu sagen<. Die Wandlung des Wahrheitsbegriffes eröffnet erst einen neuen Spielraum für die Kunst, >wahr< zu sein. Der antike und noch weithin durch das Mittelalter festgehaltene Begriff von Wahrheit bestimmt, daß in der Erkenntnis ontisch dasselbe konstituierende Moment wirksam und präsent ist, das die Dinge selbst zu dem macht, was sie sind, aristotelisch gesprochen: ihre Wesensform. Zwischen dem Gegenstand und dem ihn erfassenden Erkenntnisakt besteht ein kausaler Zusammenhang eindeutig abbildender Repräsentation. Nun ist mit dem mittelalterlichen Wirklichkeitsbegriff der transzendent garantierten Wirklichkeit eine neue Möglichkeit verbunden, diesen direkten Kausalzusammenhang preiszugeben und die Erkenntnissphäre als eine heterogene und eigengeartete Welt bloßer Zeichen für Dinge zu verstehen, die nur in ihrer inneren Ordnung in strenger Entsprechung zur inneren Ordnung der Elemente der Dinge stehen muß, damit Wahrheit erreicht werden kann. Die Konzeption einer nicht-abbildenden Erkenntnisleistung, in der Worte und Zahlen und deren Verhältnisse für die Dinge und deren Verhältnisse eintreten können, hat ihren metaphysischen Rückhalt in der tätsthematisierung durch den Roman und die ihm essentielle >Einstellung< der Ironie. 62
Voraussetzung einer dritten Instanz, die jene strenge Entsprechung des ganz Heterogenen verbürgt. Der aristotelische Satz, daß die Seele der Möglichkeit nach alles sei, der das uralte Prinzip der Erkenntnis durch Ähnlichkeit und Verwandtschaft auf seine abstrakteste Formel brachte, erhält den neuen Sinn, daß der erkennende Geist in seiner Fähigkeit, Symbole für Dinge und Dingverhältnisse zu setzen, im jede Formulierung gegenständlicher Gegebenheiten disponiert sei. Das späte Mittelalter hat die Vorstellung von der Erkenntnis durch Ähnlichkeit und Abbildung vor allem deshalb aufgeben müssen, weil sie ihm den menschlichen Geist zu nahe an den göttlichen heranzurücken schien. Der neue Erkenntnis begriff dagegen trennt den die Dinge unmittelbar und in ihrem Wesen erschauenden göttlichen Geist und den sie nur symbolisch repräsentierenden menschlichen Geist radikal, indem der menschliche Geist seine rezeptive Offenheit gegenüber den Dingen verliert und zu einem schöpferischen Prinzip seines eigenen symbolischen Instrumentariums wird.12 Die verschärfte Transzendenz des göttlichen Umgangs mit den Dingen erzwingt die Immanenz des neuen Begriffs menschlicher Bewältigung der Dinge. Die Entsprechung der Erkenntnis zu ihren Gegenständen ist nicht mehr material, sondern funktional. Die immanente Konsistenz des Zeichensystems der Begriffe bleibt die einzige, aber auch die zureichende >Adäquation< zu der gegebenen Wirklichkeit. Der Begriff des Bildes ist herausgenommen aus der bis dahin unlösbaren Verklammerung von Urbild und Abbild.13 Wahrheit im strengen Sinne von adaequatio bleibt nur noch möglich für das, was der Mensch selbst geschaffen hat und was ihm dadurch vollkommen und ohne symbolische Vermittlung präsent sein kann: dazu gehören die Strukturgesetze seines symbolischen Erkenntnisinstruments selbst, die in der Logik erfaßt werden, die mathematischen 12 Zur similitude» divini intellectus in creando verweise ich auf meine Einführung zu Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung, Bremen 1957 (Slg. Dieterich Bd. 128) S. 47 f. 13 Schon in dem (umstrittenen) platonischen VII. Brief sind εΐδωλον und όνομα hinsichtlich ihres Abstandes vom wahrhaft Seienden auf eine Linie gebracht (342 f.), aber dies im abwertenden Sinne als Provisorien zu einer dann unüberbietbaren Weise der Unmittelbarkeit. Die neuzeitliche Nivellierung der Differenz von Bild und Begriff als adäquationsfreier Suppositionen kennt keine weitergehende Annäherung oder gar Unmittelbarkeit zum Wirklichen an sich selbst. Es gehört eben zu den Merkmalen des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffes, daß er den ontologiseben Komparativ (W Bröcker) ausschließt. 63
Gegenstände, die Geschichte, die Sprache und schließlich und nicht zuletzt die Kunst. Nicht mehr zwischen dem darstellenden Kunstwerk und der Natur kann also jetzt ein Wahrheitsbezug absoluten Ranges gesehen werden, sondern zwischen dem verstehenden, mit Kunst umgehenden Subjekt und dem künstlerischen Gebilde, das es als ein von ihm wenigstens der Möglichkeit nach hervorgebrachtes Stück Wirklichkeit ansieht. Nicht mehr im Verhältnis zur Natur als einer ihm entfremdeten Schöpfung, sondern in seinen Kulturwerken konkurriert der Mensch mit der Unmittelbarkeit, in der Gott mit seinen Werken als Urheber und Betrachter umzugehen vermag. Die nie zuvor gekannte metaphysische Dignität des Kunstwerkes hat in dieser, Einschränkung und Intensivierung zugleich bedeutenden, Wandlung und Spaltung des Wahrheitsbegriffes ihr Fundament. Die Konsequenzen dieser neuen Formulierung der geistigen Leistung des Menschen sind weitreichend. Wirklichkeit kann nicht mehr eine den gegebenen Dingen gleichsam anhaftende Qualität sein, sondern der Inbegriff des einstimmigen Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen. Wirklichkeit stellt sich immer schon und immer nur als eine Art von Text dar, der dadurch als solcher konstituiert wird, daß er bestimmten Regeln der inneren Konsistenz gehorcht. Wirklichkeit ist für die Neuzeit ein Kontext; und ein so wesentliches geistesgeschichtliches Phänomen, wie die Kritik der theologischen Vorstellung von den Wundern als Bezeugung des Göttlichen, steht ganz unter der Dringlichkeit, diesen Wirklichkeitsbegriff durchzuhalten. Wenn es nun so etwas wie eine Eigenwirklichkeit ästhetischer Gegenstände geben kann, so stehen auch diese nicht nur unter dem Kriterium des Kontextes als Wirklichkeitsausweis, sondern auch unter der bestimmenden Notwendigkeit, hinsichtlich des Umfanges, der Weite, des Reichtums der einbezogenen Elemente mit dem. Kontext Natur zu konkurrieren, also zweite Welten zu werden - und das heißt: nicht mehr Wirklichkeiten aus der einen und einzigen Wirklichkeit nachahmend herauszuheben, sondern nur noch den Wirklichkeitswert der einen vorgegebenen Wirklichkeit als solchen nachzubilden. Thema der Kunst wird in letzter Konsequenz der formale Wirklichkeitsausweis selbst, nicht der materiale Gehalt, der sich mit diesem Ausweis präsentiert. Unbezweifelbar wäre das Nicht-Mögliche die Erfüllung dieses Anspruches, nämlich der unendliche Kontext als das der physischen Erfahrung in ihrer Unabschließbar64
keit allein formal Adäquate. Hier ist der Ansatz, von dem her sich sehen läßt, daß die Dichtung der Neuzeit - und die ihr zugeordnete ästhetische Reflexion — auf den Roman als die welthaltigste und welthafteste Gattung eines zwar in sich endlichen, aber Unendlichkeit voraussetzenden und auf sie verweisenden Kontextes tendiert. Oit potentielle Unendlichkeit des Romans ist zugleich seine aus dem Wirklichkeitsbegriff bezogene Idealität und das ästhetische Ärgernis, das er unaufhebbar gibt, indem seine nur amorph zu lösende Aufgabe wiederum unter dem ästhetisch unabdingbaren Prinzip der Form steht. Vielleicht macht gerade dies den humoristischen Roman zur genauesten Repräsentation der Problematik des Romans. Dann könnte man sagen, daß schon in Sternes »Tristram Shandy« das Thema des Romans seine eigene Möglichkeit und Unmöglichkeit sei: das zunehmende Mißverhältnis zwischen dem gelebten und dem dargestellten Dasein bringt die Unendlichkeitsimplikation des Romans zum Ausdruck, sein Dilemma, als endlicher Text die Vorstellung eines unendlichen Kontextes zu evozieren. Der Roman durchbricht als endliches, faktisch abbrechendes Werk die Antizipation seines auf das Und-so-weiter gerichteten Lesers und macht gerade dadurch sein wahres Thema virulent, daß nicht der Fortgang angeschnittener Ereignisse und Begebenheiten das ist, wovon er letztlich zu handeln und woran er sich als Kunstwerk auszuweisen hat, sondern die Konkurrenz der imaginären Kontextrealität mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt. Ein anderer nicht nur faktisch unvollendeter, sondern wohl gar nicht vollendbarer humoristischer Roman, der Wirklichkeit selbst und als solche zum Thema hat, wäre Jean Pauls »Komet«.14 Hier ist das Thema die geradezu >experimentelle< Darstellung des Ineinandergreifens der illusionären Welt des vermeintlichen Erbprinzen Nikolaus Marggraf und der realen bzw. ebenfalls ver14 Jean Paul selbst gibt in der einleitenden Investitur des Lesers mit der Geschichte diese Thematisierung zu verstehen, indem er Historie und Roman so aufeinander projiziert, daß er sich für sein vorgegeben historisches Sujet die Fähigkeit des Romanciers erwünscht, mit einem Allmachtsschlage das Dasein seines Helden voll gegeben sein zu lassen: und ich werde mein Ziel erreichen, wenn ich die historischen Wahrheiten dieser Geschichte so zu stellen weiß, daß sie dem Leser als glückliche Dichtungen erscheinen, und daß folglich, erhoben über die juristische Regel fictio sequitur naturam (die Erdichtung oder der Schein richtet sich nach der Natur), hier umgekehrt die Natur oder die Geschichte sich ganz nach der Erdichtung richtet, und also auf Latein natura fictionem sequatur. 65
meintlich realen Welt des deutschen Duodezfürstentums, wobei die Prädikate des Illusionären und des Realen durch das Funktionieren der Berührungen beider Welten als vertauschbar erscheinen. Gerade dadurch erweist sich das, was wir am Roman als >Darstellung< bezeichnen mögen, als im Grunde >asemantisch<, d.h. als nicht anderes darstellend, sondern sich darstellend, als die Doppelpoligkeit von Sein und Bedeuten, von Sache und Symbol, von Gegenstand und Zeichen zerbrechend, also gerade jene Korrespondenzen preisgebend, an die unsere ganze Tradition des Wahrheitsproblems gebunden gewesen war. Hier waltet eine auch im Bruch der Tradition immer noch an die Tradition gebundene Oppositionslogik der indirekten Erzwingung des nicht Herstellbaren durch Aufhebung der überlieferten Funktion: indem das Zeichen erkennen läßt, daß es keiner >Sache< entsprechen will, gewinnt es selbst die >Substantialität< der Sache. Das ist freilich ein Ansatz, der über den Roman und den ihn fundierenden Wirklichkeitsbegriff noch hinausweist auf ein am Widerstand sich konstituierendes Wirklichkeitsbewußtsein und die ihm entsprechende bzw. es bezeugende Kunstform der sich selbst zersprengenden, ihr Nicht Bedeuten durch Inkonsistenz demonstrierenden Aussageweisen.15 Nochmals wird sich der Roman selbst zum Thema, an der Demon15 Solche Substantialisierung durch Sprengung der Funktion der >Bedeutungsmittel< ist nicht in der immanenten Geschichte des Romans entdeckt worden; die im Widerstand okkurrierende Wirklichkeit ist, gattungsästhetisch betrachtet, fundierend für die Lyrik. Die an der Poesie im engsten und strengsten Sinne gewonnenen ästhetischen Erfahrungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind prototypisch geworden u. a. auch für die Wendung der Romanästhetik zur Thematisierung der >Unmöglichkeit< des Romans. Jene prototypische Entdeckung der Lyrik definiere ich vielleicht am besten mit der Stelle eines Briefes von Paul Valéry an J.-M. Carré vom 23. Februar 1943 (»Lettres à quelques-uns«, Paris 1952, S. 240), in der er seine mehr als fünfzig Jahre zurückliegende Erfahrung des Schocks der »Illuminations« Rimbauds auf eine systematische Formel zu bringen sucht: ...le système, conscient ou non, que supposent les passages les plus virulents de ces poèmes. Il me souvient d'avoir résumé ces observations - et, en somme, mes défenses par ces termes: R. a inventé ou découvert la puissance de l'incohérence harmonique. Arrivé a ce point extrême, paroxystique de l'irritation volontaire de la fonction du langage, il ne pouvait que faire ce qu'il a fait -fuir. Die Peripetie der >Realisierung<, die Erschöpfbarkeit der ontischen Basis dieses Wirklichkeitsbewußtseins, gehören zu den Voraussetzungen der Verlagerung des Prinzips in andere Gattungen und Künste (z.B. Aufgabe der Tonalität); dabei hat sich der Roman (in anderer Weise das Drama) als besonders resistent gegen die paroxystische Konsequenz des Prinzips - und damit als experimentell höchst belastbar wie ertragreich - erwiesen. 66
stration der Unmöglichkeit des Romans wird ein Roman möglich. Ich möchte diese formale Problematik erläutern. Der Begriff der Wirklichkeit als Kontext gibt dem Roman zunächst die Form der linearen Konsistenz in einem Raum-Zeit-System auf. Aber, wie ich schon ausgeführt habe, erfüllt sich dieser Wirklichkeitsbegriff erst in der Einstimmigkeit der Gegebenheit untereinander verständigungsfähiger Subjekte, also in der Intersubjektivität und ihren perspektivischen Möglichkeiten. Soweit ich sehen kann, hat der Roman ein perspektivisches Modell zum erstenmal bei Balzac angenommen, wo die Illusion der Wirklichkeit einer ganzen Menschengesellschaft strukturell durch die von Roman zu Roman des Gesamtzyklus perspektivisch jeweils verschobene Wiederkehr identischer Personen erzielt wird. Vom Wirklichkeitsproblem her ist ein entscheidender Unterschied zwischen der episch-linearen und der perspektivischen Wiederkehr von Personen; es entsteht ein ganz anderes Raumbewußtsein, eine subtilere Welthaftigkeit des Romans. Das perspektivische System des Balzacschen Romans erlaubt die Übersetzung der linearen Episodenfolge in die Gleichzeitigkeit. Es ist hier mehr gefordert als die bloße Widerspruchsfreiheit mit bereits aufgetretenen Prädikaten, denn die perspektivische Einstimmigkeit hat weitere Toleranzen der Transformation der Prädikate auf einen verschobenen Aspekt, und damit wird das Problem der Abstimmung der einzelnen Aspekte aufeinander und auf die Identität des in ihnen gegebenen Gegenstandes höchst komplex. Das ist etwas grundsätzlich anderes als die längst bekannte gleichzeitig sich vollziehende Vorbereitung der einzelnen Romanpersonen auf ihr schließliches Zusammentreffen im Schnittpunkt der Handlung. Nicht mehr nur und nicht mehr vor allem die Personen des Romans bewegen sich durch die Ereignispunkte der Handlung, sondern der Leser bewegt sich mit um das Massiv der imaginären Wirklichkeit und durchläuft die Möglichkeiten der Anblicke, die es zu bieten vermag. Balzac selbst hat geglaubt und es als eine seiner kühnsten Intentionen bezeichnet, er gebe durch die Wiederkehr einzelner Personen der »Comédie Humaine« der fiktiven Welt dieses Romankosmos mehr Leben und Bewegung;16 16 Es handelt sich um etwas, das man ein >Romanmobile< nennen könnte, ein Ganzes, das aus einer gewissen Zahl von Teilen besteht, die wir nahezu in einer von uns gewünschten Reihenfolge zur Kenntnis nehmen können ... Man erkennt, daß die Wiederkehr der Personen oder ihr Fortbestehen von 67
tatsächlich wird nicht die Welt des Romans in Bewegung versetzt, sondern der durch die wechselnden Perspektiven tretende Leser, und die Romanwelt selbst bekommt vielmehr einen höheren Grad von Stabilität, von Substantialität, sie scheint dem Autor wie dem Leser einen gesteigerten Widerstand der Bewältigung zu leisten und ihnen eine Anstrengung abzunötigen, von der das imaginativ Gegebene nicht affiziert wird - je mehr die Wirklichkeit des Romans vom Standpunkt des vermittelnden Subjekts abhängig wird, um so weniger scheint sie von ihm selbst und seiner Imagination abhängig zu sein, um so mehr jenes von ihr. Schon hier zeigt sich, daß der Wirklichkeitsbegriff des intersubjektiven Kontextes hinüberführen kann in einen Wirklichkeitsbegriff der erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen. Dieser Übergang tritt am Roman heraus als das Auseinanderbrechen der Bezogenheit und Beziehbarkeit der perspektivischen Aspekte aufeinander. Das deutete sich im humoristischen Roman »Der Komet« von Jean Paul an;17 es vollendete sich jenseits des Humoristischen etwa in Robert Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«. In diesem ungeheueren Romanfragment, bei dem man selbst bis zu dem uns vorliegenden Abschluß noch keine Konvergenz auf eine Vereinigung der getrennten Handlungsstränge oder ihre Beeinem Roman zum anderen sich bei Balzac von viel größerer Tragweite erweist als in dem sogenannten roman-fleuve... (Michel Butor, »Balzac et la réalité«, 1959, dt. in: Neue Rundschau 74, 1963, 65)... der endgültige Sieg Balzacs über seinen großen Vorgänger (Walter Scott) und seine Befreiung von ihm zeigt sich in einer außerordentlichen Neuerung, die die Struktur seines Werkes vollständig verwandelt ... die Wiederkehr der Personen ( S - 6 4)· 17 Man beobachte die Dialoge des »Komet« daraufhin, wie sie immer nur durch das Mißverständnis >funktionieren< und den Fiktionskontext nicht zerplatzen lassen. Aber indem die Verständigungsstruktur der Intersubjektivität als vermögend gezeigt wird, noch die Unwirklichkeit zur Quasi-Wirklichkeit zu hypostasieren, ist nicht nur der Wirklichkeitsbegriff mitthematisiert, sondern auch als ästhetisches Element verwendet, ja instrumentalisiert. Unausbleiblich ist, daß die ästhetische Instrumentalisierung kritisches Bewußtsein überhaupt, schafft, wenn nicht voraussetzt: der Verdacht der Manipulierbarkeit der Realität als solcher und in beliebiger Zwecksetzung ist hier schon impliziert, und er steckt in der unerwarteten gesellschaftskritischen Virulenz des Romans, in der unablässigen Erprobung der Deformierbarkeit der Realitätskonstituentien bis zur Entdeckung ihrer Grenzbelastung etwa in den solipsistischen Dialogen von Kafka bis Beckett - der (noch zu wenig verstandene) Triumph, schließlich doch wieder auf eine Konstante gestoßen zu sein, gibt dieser Entwicklung ihre Phrasierung: der Funktionszusammenbruch der Intersubjektivität gibt einen neuen Wirklichkeitsbegriff frei. 68
zogenheit aufeinander bzw. auf einen identischen Pol erkennen kann, ist der epische Perspektivismus gleichsam explodiert, an seiner eigenen Konsequenz der exakten Deskription gescheitert. 1932 notiert sich Musil zu dem »Mann ohne Eigenschaften«: Dieses Buch hat eine Leidenschaft, die im Gebiete der schönen Literatur heute einigermaßen deplaciert ist,, die nach Richtigkeit und Genauigkeit. Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden soll, nicht erzählt wird. Die Steigerung der Genauigkeit des Erzählens führt dazu, daß die Unmöglichkeit des Erzählens selbst ihre Darstellung findet. Aber diese Unmöglichkeit wird ihrerseits als Index eines unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription empfunden, und insofern führt das dem Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz zugehörende ästhetische Prinzip an einem bestimmten Punkt des Umschlages in einen anderen Wirklichkeitsbegriff hinein. Hier liegt der Grund, daß die immer wieder angekündigte >Uberwindung< des Romans nicht erreicht worden ist, daß aber Ironie zur authentischen Reflexionsweise des ästhetischen Anspruches im modernen Roman geworden zu sein scheint, und zwar so, daß dieser gerade in seinem Realitätsbezug ironisch wird, den er weder aufgeben noch einlösen kann. Thomas Mann hat von der Schein-Genauigkeit gesprochen, die sich als eines ironischen Stilmittels der wissenschaftlichen Schreibweise bedient: im Vortrag über »Josef und seine Brüder« von 1942 bezeichnet er das als die Anwendung des Wissenschaftlichen auf das ganz Unwissenschaftliche, und eben dies als den reinsten Ausdruck der Ironie. Noch auf einen letzten Gesichtspunkt zum Fundierungszusammenhang von Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans muß ich eingehen. Die Eignung des Begriffs von Wirklichkeit als phänomenal-immanenter Konsistenz zur Begründung des Kunstwerkes in seiner autonomen Realität habe ich zu zeigen versucht; was dabei noch unerwähnt blieb, aber erst die Konkurrenz der vom Menschen geschaffenen Realität mit der von ihm vorgefundenen Realität der Natur integriert, ist die Eigentümlichkeit, daß der Mensch einerseits sich in seinem Selbstbewußtsein reflektiert an der Verifikation seiner schöpferischen Potenz, daß er andererseits aber die Abhängigkeit der Kunstwerke von seinem eigenen Können und Wollen zu verschleiern suchen muß, und zwar deshalb, weil diese Werke nur so jene unfragwürdige Selbstverständlichkeit 69
des Nicht-anders-sein-Könnens gewinnen, die sie ununterscheidbar von den Produktionen der Natur macht. Man kann es daher als einen charakteristischen Zug an den künstlerischen Gebilden unserer weiteren Gegenwart ansehen, daß sie eine Art von Entgegenständlichung durchgemacht haben; die bekanntere Verfremdung ist nur ein Teilphänomen dieser Tendenz. Das Gebilde von Menschenhand soll weder als >nachgeahmte Natur< noch als ein >Stück Natur< vor uns stehen, aber es soll doch die Dignität des Natürlichen haben; es soll Werk des Menschen sein, aber nichts von der Zufälligkeit des Gewollten, von der Faktizität des bloßen Einfalls an sich haben. Es soll, um es so zu formulieren, Novität und Fossil zugleich sein. Wir wollen von uns selbst als der Bedingung der Möglichkeit dieser Werke absehen können, um sie nicht an unserer Bedingtheit und an der Geschichtlichkeit, auf die wir ebenso stolz sind wie wir an ihr leiden, teilnehmen zu lassen, d. h. wir wollen die Werke nicht als Gegenstände, sondern als Dinge. Die Werke sollen nicht ihrerseits schon Aspekte darstellen, sondern uns Aspekte gewähren. Aus der im Roman selbst systematisch vorbereiteten und angelegten Perspektivität kann eine erst jenseits des Werkes ansetzende, von ihm ebenso provozierte wie offengelassene perspektivische Potentialität hervorgehen; wir erfahren sie an der wesentlichen Kommentierbarkeit des modernen Kunstwerkes, an der seit der Romantik wesentlich zum Kunstwerk gehörenden vieldeutigen Interpretierbarkeit. Die hermeneutische Vieldeutigkeit hängt mit dem Realitätscharakter des Kunstwerkes insofern zusammen, als uns gerade darin seine Unabhängigkeit von unserer Subjektivität und ihrer Verfügung demonstriert wird. Deshalb etwa historisieren wir das Kunstwerk künstlich, um es seines Gegenstandsbezuges zu uns zu entkleiden und zu >verdinglichen<. So wie es die archaisierende Plastik in der Landschaft gibt, die auf den grünen Rasen verschlagenen Dinge von Otterloo etwa, ebenso gibt es den sprachlich oder durch den Kunstgriff einer Rahmenerzählung distanzierten Roman, von dem wir nur >zuviel wissen<, als daß er uns so verfremdet begegnen könnte, wie er auf uns wirken soll. Ebenso wie wir künstlich historisieren, naturalisieren wir künstlich, aber nicht mehr, indem wir Natur darstellen und nachahmen, sondern indem wir Natürlichkeit für unsere Werke beanspruchen, also Dinge hinstellen, die wie Produkte von Eruptionen oder Erosionen aussehen, wie jenes objet ambigu im »Eupalinos« von Paul Valéry; ihnen entspricht im Roman die künstlich kunstlose Nach-
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schrift der Bewußtseinsvorgänge und inneren Monologe, der Protokollroman, der die Erschaffung einer ganzen Welt beansprucht und zugleich verleugnet. Der Wirklichkeitsbegriff des Kontextes der Phänomene stellt eine als Realität nie endgültig gesicherte, immer noch sich realisierende und auf Bestätigung angewiesene Wirklichkeit vor; diese Idee von Wirklichkeit, umgesetzt in eine Realitätsnorm des ästhetischen Gebildes, bleibt auch hier die in einem unendlichen Horizont offene Konsistenz, die auf immer neue Leistung, immer neue Bewährung angewiesen ist und nie die Endgültigkeit der Evidenz erreicht, die im Wirklichkeitsbegriff der Antike konzipiert war. Hier liegt eine Wurzel für das Unbehagen und das Ungenügen, das als kritische Unterströmung in der Geschichte des Romans sich fast immer bemerkbar gemacht hat. Ein Ausweg aus diesem Ungenügen konnte dahin führen, der Nötigung zur nie abschließbaren Realisierung zu widerstehen, und zwar gerade in der bewußten Durchbrechung der formalen Konsistenz, einer Durchbrechung, die schon in ihrer Handhabung erkennen läßt, daß sie nicht in einem Versagen oder einem Sicherschöpfen der produktiven Potenz gründet, sondern im Gegenteil als Äußerung einer Anstrengung gefaßt sein will, die sich die bewußte Mißachtung des immer noch als quasi-objektiv empfundenen Prinzips der formalen Konsistenz leisten kann. Daß die Dichter lügen, wird erst als vollends überwunden erachtet, wenn sie nicht einmal mehr das Gegenteil dieser These in Anspruch nehmen, nämlich >die Wahrheit zu sagen<, sondern bewußt die Enge der Antithese und die Spielregeln von Wirklichkeit überhaupt durchbrechen. Die Bindung an Wirklichkeit wird als ein Formzwang abgeworfen, als eine in Authentizität verkleidete Heteronomie des Ästhetischen. Hier liegt der Ansatzpunkt für eine ästhetische Vorstellung, die das von allen Wirklichkeitsbegriffen her als unwirklich zu Qualifizierende nun als das >Eigentliche< ausgeben kann: das Paradox, die Inkonsistenz der Träume, die ostentative Sinnwidrigkeit, das kentaurische Mischgebilde, die unwahrscheinlichste Placierung der Gegenstände, die Umkehrung der natürlichen Entropie, in der Zivilisationsschrott zur Konstitution von Bildern, Zeitungsausschnitte zur Komposition von Romanen zusammengezwungen werden können oder die Sphäre der technischen Geräusche und Lärme eine musikalische Komposition herzugeben gezwungen wird. Die moderne Kunst ist von dem Zwang zur ständigen Widerle71
gung ihrer Abhängigkeit von der vorgegebenen Natur nicht frei geworden; ihr Antiphysizismus bezieht sich nicht einmal auf eine konstante Natur als eine bekannte und definierte Größe. Die immer wieder, z.B. von Breton, proklamierte Befreiung der Vorstellungskraft gerät, indem sie den Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz in seiner (zwar nur noch formalen) Bindung an den Wirklichkeitswert einer Natur auch noch durchbrechen will, unter die Nötigung zu der verzweifelten Anstrengung, sich nun in der äußersten Unwahrscheinlichkeit doch in einer Art momentaner Evidenz zu realisieren. Die Zugehörigkeit des Romans zum Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz verrät sich an den Schwierigkeiten, die ihm aus einem heterogenen oder kontrierten Wirklichkeitsbegriff erwachsen: er kann sich nicht einfach am Widerspruch zu dem, was jeweils der Wirklichkeit als signifikanter Ausweis zugeschrieben wird, realisieren. Das Ideal der perfetta deformitd ist für den Roman undurchführbar. Aber es ist bezeichnend, daß gerade dann der Roman seine eigene Möglichkeit zum Thema bekommt und dadurch seine Bindung an den Wirklichkeitsbegriff demonstriert. Ich brauche nur an das Stilmittel des mißlingenden Dialoges zu erinnern, um sofort zu erläutern, was ich meine: das Scheitern des Gesprächs, seine Hypertrophie im nichtssagenden Geschwätz, das Mißverständnis als konstitutives Produkt der Sprache - das alles bleibt im Roman gattungsnotwendig immer noch in zuviel imaginativ vorausgesetzte und miterzeugte Welt eingebettet, als daß die blanke Absurdität wirklich je zum Thema werden könnte. Der Roman hat seinen eigenen, aus seiner Gattungsgesetzlichkeit heraus entwickelten >Realismus<, der nichts mit dem Ideal der Nachahmung zu tun hat, sondern gerade an der ästhetischen Illusion hängt, die dem Roman wesentlich ist. Welthaftigkeit als formale Totalstruktur macht den Roman aus. Als das Absurde zum Programm künstlerischer Produkte erhoben wurde, hat man seine Funktion als die Überwindung des Fundaments formuliert, und es eignete sich schließlich sogar die Architektur zur Darstellung dieser Funktion des Absurden. Aber der Roman war viel früher, viel selbstverständlicher zur Überwindung des Fundaments - und das heißt zur Aufhebung des Gegensatzes von Realität und Fiktion - vorgestoßen und hatte sich, wie ich gezeigt habe, seine eigene Möglichkeit nicht als Fiktion von Realitäten, sondern als Fiktion der Realität von Realitäten zum Thema gemacht. Den Vorrang des Romans in der Verwirklichung 72
der ästhetischen Grundideen der Neuzeit versteht man nur dann, wenn man begreift, daß er die Absurdität als das neue Merkmal des absolut Poetischen nicht aufnimmt, weil er dieses Stigmas nicht bedarf. Der Roman erfüllt die ästhetische Norm, die nach den Aufzeichnungen Boswells Samuel Johnson in jenem berühmten Gespräch im Literarischen Klub über den zu hohen Preis eines antiken Marmorhundes zuerst ausgesprochen hat: die Erweiterung des Bereiches des Menschenmöglichen (3. April 1778), während noch die großzügigste Auslegung des aristotelischen Ideals der Nachahmung, etwa bei Breitinger, auf den Bereich des der Natur Möglichen verweist.18
18 Die dem Text des Referates nachträglich beigegebenen Anmerkungen berücksichtigen dankbar Anregungen, Zweifel und Stiche, die am Rande des Kolloquiums ausgetauscht wurden und in den Diskussionsprotokollen keinen Niederschlag fanden, ohne daß ich diesem oder jenem namentlich Verantwortung aufbürden möchte. 73
Sokrates und das >objet ambigu< Paul Valéry s Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes In einem Brief vom i. Mai 1923 an Paul Souday berichtet Paul Valéry von den Umständen, unter denen sein Dialog Eupalinos entstanden sei.1 Man habe den Text für ein Album mit architektonischen Grundrissen und Schnitten erbeten, nachdem Umfang, Raumaufteilung und Wahl der Drucktypen für den Text soweit festgelegt waren, daß der noch freie Raum für Valérys Beitrag exakt bis auf die Zahl der Lettern - nämlich 115 800 - vorgeschrieben werden konnte, aber auch eingehalten werden mußte. Valéry macht diese Mitteilung, wie er schreibt, à titre de curiosité (L 147). Aber man kann unschwer dieser und anderen Äußerungen entnehmen, daß er die Entstehungsgeschichte des »Eupalinos« sowohl für seine eigene Arbeitsweise, als auch für die Ursprungsbedingungen des Kunstwerks überhaupt nicht für atypisch hält. Er sagte nicht nur zu, sondern fand, wie er selbst gesteht, schließlich die Enge der Erfordernissse, die bizarre contrainte, interessant; er führt die Wahl der Dialogform auf die Erleichterung des Erreichens der exakten Länge zurück, läßt ironisch dahingestellt sein, ob der Text nicht unter diesen Umständen ein wenig gelitten habe, um sich schließlich auf das große Beispiel jener Bildhauer zu berufen, die ihr olympisches Personal in den stumpfwinkligen Dreiecken von Tempelgiebeln unterzubringen hatten. Nun, dies war Auftragsarbeit, ein Stück Prosa, wie es sich Valéry zugestandenermaßen immer nur durch äußere Anlässe abringen ließ2 - für die Poesie mag das nicht gelten, von ihr ist man zu glau1 Zitiert werden die Werke Valérys nach der zweibändigen Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade unter bloßer Band- und Seitenangabe, der allgemeine Briefwechsel: Lettres à quelques-uns, Paris 1952, unter der Signatur (L ...), der Briefwechsel mit André Gide: Correspondance 1890-1942, Paris 1955, unter der Signatur (GV ...). 2 Die Feststellung, daß er Prosa nur im Auftrage und auf Verlangen geschrieben habe, enthält ein Brief Valérys an Jean de la Tour vom 28. 7. 1933, wo zur näheren Bestimmung jener Auftragsumstände hinzugefügt ist: sujet imposé et parfois conditions fort bizarres. (L 207) 74
ben geneigt, daß sie dem Duktus der spontanen Erregung und Konzeption entspringt. Aber in einem Brief an George Duhamel aus dem Jahre 1929 (L 178 ff.) berichtet Valéry über die Entstehung des ersten poetischen Werkes nach der selbst auferlegten Pause eines Vierteljahrhunderts, der »Jeune Parque«, während des ersten Weltkrieges. Dieses große Poem von kristallener Heiterkeit ist zwar nicht unter Bedingungen äußeren Zwangs, wohl aber aus der Erfahrung des Verlustes der inneren Freiheit entstanden. Ihm sei der Gedanke gekommen, sich in freien Stunden zu einer Arbeit unter der selbst gesetzten Strenge formaler Forderungen zu zwingen, aus der äußersten Belastung das Gedicht hervorgehen zu lassen: Je m'imposai de faire des vers, de ceux qui sont chargés de chaînes. In ihm sei keinerlei sérénité gewesen, und das Gedicht belege den Trugschluß von der Stimmung des Werkes auf die Stimmung des Autors, der mit angstvoller Gegenwehr auf tiefe Verstörungen und katastrophische Ahnungen reagiert habe, aber dies gerade dadurch, daß er sie nicht reflektiert habe. Zurück zur Entstehungsgeschichte des »Eupalinos«; mehr als zehn Jahre nach dem Brief an Paul Souday kommt Valéry wieder auf diese Vorgeschichte (Brief an Dontenville, 20. 1. 1934, L 2i4f.) und bestätigt noch einmal, daß die Form des Dialoges wegen ihrer Elastizität und Zurichtbarkeit gewählt worden sei. Kein Zweifel auch, daß erst diese Form auf Sokrates als den Träger des Dialoges geführt hatte. Dies alles, einschließlich der Wahl des Namens Eupalinos für einen antiken Architekten aus einer Enzyklopädie, ist von höchster, wenn nicht gesuchter, so doch als adäquat empfundener Faktizität. Aber diese Faktizität, die dem Dichter zugestoßen ist, ist zugleich durch die Bedürfnisse seiner poetischen Selbstauffassung provoziert - und natürlich auch im Rückblick stilisiert.
I. So zufällig also ist Sokrates in diesen Text gekommen. Es ist ein Gespräch im Hades, ein Sujet, das keine Originalität mehr beanspruchen kann.3 Aber dieser Hades ist nicht ein Ort der höheren 3 Daß dennoch im genre des Totengesprächs noch unausgeschöpfte Möglichkeiten steckten, darauf hatte Gide schon 1893 Valéry einen Hinweis gegeben: Mais le dialogue des Morts est peut-être possible entre autre chose que des poncifs. (GV 187) 75
Ansicht der Dinge; eher könnte man sagen, er sei diejenige Position, aus der sich die Welt von ihrer >Rückseite< darbietet. Der Hades des »Eupalinos« von Valéry unterscheidet sich vom Jenseits des platonischen Sokrates in einem wichtigen Punkt: er hat nicht die Endgültigkeit des durch ein Totengericht Entschiedenen, auch nicht die der letztmöglichen Anschauung der Wahrheit an und für sich aus einem unüberbietbaren Standpunkt, sondern dieser Hades ist nur wieder eine Perspektive der Dinge, vielleicht ein bevorzugter Aspekt, aber dann nur deshalb, weil ihn nicht jedermann zu jeder Zeit einnehmen kann. Für die Position, die Valéry seinen Sokrates beziehen lassen will, ist der Hades frei vom Verdacht jener >Natürlichkeit<, die der Wahrheit keine Chance gibt. In den Aufzeichnungen, die als »Cahier B 1910« veröffentlicht sind, hat Valéry dieses Prinzip des nicht-natürlichen Aspekts so formuliert: La vérité, la découverte du nouveau, est presque toujours le prix de quelque attitude anti-naturelle. La profonde réflexion est forcée... Il faut faire ou subir violence pour voir mieux ou autrement... (II 580).
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Aber noch etwas anderes bezeichnet den Hades Valérys: die Unerschöpflichkeit der Zeit und die ihr angemessene Form eines Denkens, das den Abbruch seiner immanenten Intentionalität nicht kennt, das sich in allem bis zur letzten Konsequenz auszutragen vermag, ja wegen des Mangels eines materiellen Widerstandes zur Unablenkbarkeit verurteilt ist: Wir sind jetzt zu einfach geworden, als daß wir uns auf die Bewegung irgendeines Gedankens auf Widerruf einlassen könnten. (II y$) Die Resignation des Interesses ist gekettet an die agilste Form des geistigen Selbstvollzuges. Die im Leben so lästig empfundene Endlichkeit und Irritierbarkeit des Denkens ist abgestreift, aber in demselben Augenblick hat das Denken seine lebendige Relevanz verloren. Das Gespräch wartet hier nicht auf seine glückliche Stunde, es ist atmosphärische Allgegenwart geworden: Ils parlent sans but, et leurs ombres bourdonnent. Sokrates und Phaidros stehen am Ufer des Ilissos, am Strom der Zeit, in dem alle Dinge ihre Konturen und ihre Substanz verlieren - nicht einmal die Anamnesis wird geweckt beim Anblick der Formlosigkeit des Vorüberströmenden. Das Sinnliche hilft dem Denken nicht mehr. Man könnte diese Hades-Situation überschreiben mit den Worten »die Enttäuschung der Unendlichkeit«. Wahrheit ist offenbar geworden, aber sie interessiert nicht mehr - und entzieht sich den76
noch nicht der Gegenwärtigkeit, dem Bedachtwerden, so als ließen sich hier die Augen nicht mehr schließen: Ici tout est négligeable, et cependant tout compte (II 81). Die Entfaltung der Hades-Situation leitet die Kritik des Piatonismus ein, die den ganzen Dialog durchzieht. Der tote Sokrates und seine Partner haben alles hinter sich gelassen, was Körperlichkeit, Zeitlichkeit, Erscheinung war, und dennoch haben sie nicht erreicht, was der platonische Sokrates an diese Voraussetzungen geknüpft hatte: die erfüllende Unmittelbarkeit des Wahren und Schönen, die Endgültigkeit im Anblick der Ideen, die reine Anschauung als Inbegriff des Glücks. Die als Endziel des Erkenntnisstrebens definierte Position jenseits der Leiblichkeit erweist sich als der Ort, an dem die offenliegende Wahrheit nicht mehr >ergriffen< werden kann: Mais d'ici tout est méconnaissable. La vérité est devant nous, et nous ne comprenons plus rien. Diese Ausgangsposition des Dialoges muß man im Auge behalten, um die ironische Schwebe nicht zu verlassen, die dadurch der fortschreitenden Einsicht des Sokrates in seine eigene geistige Geschichte gegeben wird. Aber zugleich wird dieser Einsicht durch die Schilderung des Hades-Milieus ihre Dignität gegeben; denn indem sich Sokrates mehr und mehr seiner Erinnerung zuwendet, indem er auf die entscheidenden Situationen seiner intellektuellen Biographie rekurriert, befreit er sich von der Mißlichkeit der >platonischen< Enttäuschung durch den Hades. Erinnerung ist hier nicht gemeint als das Heraufrufen bildhafter Reproduktionen, sondern als der nochmalige Vollzug der unwiderruflich gefallenen Lebensentscheidung. Schon in der allerersten Phase des Dialoges bahnt sich die große Selbstkorrektur des Sokrates an, nämlich in dem Augenblick, in dem ihn Phaidros nach der Herkunft und dem Sinn jenes goût de l'éternel befragt, der sich bei den Lebenden wahrnehmen lasse und den Sokrates selbst in seinem Streben nach Erkenntnis ebenso bewiesen habe wie diejenigen, die Tempel und Grabmäler mit der Anstrengung auf Unzerstörbarkeit errichten, und Sokrates hierauf antwortet, dies sei Torheit, freilich eine den Menschen vom Geschick bestimmte und für ihre Existenz unerläßliche Unsinnigkeit, ohne die es weder Liebe noch Wissenschaft noch die Energien gäbe, aus denen die menschliche Kultur entsteht. Es gibt also Unsterblichkeit, aber sie desavouiert sich selbst als Motiv jener ungeheuerlichen Anstrengungen, für die der Architekt als thematische Figur des Dialoges steht. Im Gespräch taucht, herangeführt durch die Erinnerung des 77
Phaidros, die Gestalt des Baumeisters Eupalinos auf. Ihre Faszination, von der Phaidros Zeugnis gibt, entfaltet sich aus der Antithese zwischen dem Widerstand des Materials und der Umstände, der Ungefügigkeit des Vorgegebenen einerseits und der Leichtigkeit der bewältigten Form, der auf das Wort folgenden Realität andererseits. Dieser Architekt, dem Phaidros die Mächtigkeit des Orpheus nachsagt, scheint nur mit der Sprache zu bauen; alles, was er tut, geht im Wort auf: Er sagt dem ungefügen Chaos des Materials seine im Bauwerk aufgehende Zukunft voraus und seiner Stimme scheinen die Dinge an den ihnen bestimmten Platz zu folgen, seine Ansprachen an die Bauarbeiter sind in den Gesamtplan als Kräfte eingesetzt, und es wird ausdrücklich von Phaidros berichtet, daß aus den Schwierigkeiten seiner nächtlichen Erwägungen nichts anderes hervorging als die reine Gestalt des Befehls und der Zahl. Was soll Sokrates auf diese Evokation anderes antworten als: C'est la manière même de Dieu (II 83). Ganz die Art Gottes? Überlegen wir, wo der Akzent dieser, höchsten Auszeichnung einer Vorstellung in unserer geistigen Geschichte liegt. Der Demiurg des Mythos im platonischen »Timaios« gerät an die Schwierigkeiten seines Werkes der Weltverfertigung, sobald er es mit der Ananke zu tun bekommt; und die Art, wie er diese Schwierigkeit meistert, ist gebunden an das Wort: sie ist Überredung. Der biblische Schöpfer scheint auf keine Schwierigkeit zu stoßen, es sei denn, daß er das Ganze seines Werkes nicht auf einmal vollbringt, sondern im ersten Zugriff der Schöpfung nur das Wüste und Leere gewinnt. Die Leichtigkeit, mit der er seine Macht über die Dinge demonstriert, liegt in der unmittelbaren Folge von Befehlswort und Realisierung; erst wo der Befehl zum Gebot wird, nämlich gegenüber dem Gehorsam des Menschen, stößt er auf Widerstand. Das Gemeinsame des platonischen Demiurgen und des biblischen Schöpfers, das über der Hervorhebung der Differenz von gegebenem Stoff und ungegebenen Nichts übersehen wird, ist dies, daß die Herkunft ihrer Weltkonzeption unbefragt bleibt. Diese Frage ist im Falle des Demiurgen vorweg gelöst durch die ewig ihm vorgegebenen Ideen und im Falle des biblischen Schöpfers durch die scheinbare Selbstverständlichkeit dessen, daß die Worte seiner Befehle >Bedeutung< hatten, bevor es die ihnen entsprechenden Dinge gab, also durch eine Art von implizitem Piatonismus. Die göttliche Manier des Eupalinos dagegen liegt ganz zwischen der nächtlichen Meditation und dem aus ihr 78
schließlich hervorgehenden Wort, als Befehl, als Ermunterung, als Formel. Alles Folgende, was zwischen dem Wort und der steinernen Realität eines Tempels liegt, ist nur noch Transposition, Veranschaulichung des in jener ersten Phase Geleisteten. Freilich ist jenes Wort nicht nur der Befehl, eine vorgegebene und vorausgesetzte Vorstellung in Realität umzusetzen, eine Idee nachzubilden, sondern die Anweisung des Werdens dieser Realität selbst. Die Idee ist nicht mehr ein Bild, sondern eine Regel, deren Befolgung erst sehen läßt, was gewollt war. Das erst ist der Bruch mit jenem systematischen oder versteckten Piatonismus, der dem »Timaios« und der Bibel gemeinsam ist, ein Bruch, den Sokrates in dieser Phase des Dialoges noch nicht erkennt, sondern den Phaidros in die Worte faßt, daß Idee und Technik der Realisierung des Werkes für ihn identisch geworden seien: Je ne sépare plus l'idée d'un temple de celle de son édification.* Das sei das genaue Gegenteil dessen, was die Natur - la misérable nature - tut, die, indem sie sich ständig selbst wiederholt und das Neue immer als Nachbildung des schon Gewesenen hervorbringt, das platonische Modell liefert, ein erbärmliches Verfahren, das zwar die Ewigkeit der Form, aber nicht die Einzigkeit der Überraschung kennt und damit vom Aspekt des Hades her eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem hat, was nicht oder nicht mehr lebendig ist. Sokrates versteht hier noch nicht, was Phaidros an der Gestalt des Eupalinos fasziniert; es ist für ihn die Begeisterung eines Schattens für ein Phantom. Es scheint nur die Automatik des Sichvollstreckens aller Gespräche im Hades zu sein, die ihn dennoch weiterfragen läßt, die ihn veranlaßt, sich die von seinem Gesprächspartner gepriesenen Regeln des Eupalinos mitteilen zu lassen. Diese Sätze wachsen unmittelbar aus der Bestimmung der Idee als genetischer Gesetzlichkeit hervor; die Einheit des Werdens, die sich trotz ihrer zeitlichen Èrstreckung nicht teilen, nicht atomisieren läßt, tritt an die Stelle der gestalthaften Einheit der Idee - es gibt in der Ausführung des Werkes keine Details. In dem Dialog spielt die Doppeldeutigkeit des französischen Wortes détail eine Rolle: Sokrates hat es mit der Bedeutung Einzelheiten verstanden, Phaidros interpretiert es als Kleinigkeiten (II 86); das eine ergibt einen Satz über die homogene Kontinuität des Werdens des Werkes, das andere einen Satz über die Gleichwertigkeit von möglicherweise doch dis4 1906 hatte Valéry an Gide geschrieben: ...les choses construites ne m'attirent plus extérieurement. Je m'occupe trop de choses en construction. (GV 411) 79
kreten Stadien dieses Werdens - daß es im Werden keine Nebensächlichkeiten gibt, appelliert an die Aufmerksamkeit des Praktikers, daß es in ihm keine >Einzelheiten< gibt, rechtfertigt das Geheimnis und die Unübertragbarkeit des produktiven Prozesses. Der zweite Satz des Eupalinos handelt von der Beziehung zwischen dem Kunstwerk und seinem Betrachter. Mein Tempelsoll die Menschen so bewegen, wie sie der Gegenstand ihrer Liebe bewegt (II 87). Sokrates antwortet wieder, indem er das höchste der Prädikate erteilt: Cela est divin. Valéry, der es zwar liebte, die geistigen Voraussetzungen seiner Werke und zumal seine Kenntnis des antiken Hintergrundes zugunsten der Schwierigkeiten der Form zu bagatellisieren, kann nicht übersehen haben, daß zwischen dem Satz des Eupalinos und dem Prädikat des Sokrates eine genauere Beziehung besteht, als das oberflächliche Hören der Phrase enthüllt. Was Eupalinos über die Wirkungsweise seines Tempels sagt, entspricht genau dem, was Aristoteles über die Wirkungsweise seines Gottes, des unbewegten Bewegers, gesagt hat: er bewegt die Welt, selbst ruhend, bloß als Gegenstand der Liebe. Auch der Tempel, dieses so augenscheinlich rein statische Gebilde, ist und soll nach dem zweiten Satz des Eupalinos sein: ein unbewegter Beweger. Indem Sokrates die aristotelische Formel des Göttlichen hier heraushört, leitet er die zweite gegenplatonische Evolution des Dialoges ein. Sokrates erinnert sich eines Wortes, das er über den Alkibiades und seine Schönheit gehört habe, ein Wort ganz ähnlichen Typs und doch ganz gegenteiliger Richtung seiner Aussage: Wenn man ihn ansieht, fühlt man, wie man selbst zum Architekten wird! Wieder ein doppeldeutiger Satz, und man erfährt nicht, für welche Deutigkeit Sokrates sich entscheidet. Denn, genau betrachtet, geht dieser Satz noch einen Schritt weiter in der gegenplatonischen Richtung als der zweite Satz des Eupalinos; nicht nur, daß er das Ideal der ruhenden Anschauung preisgibt, der Beharrung in der Präsenz des Schönen, Wahren, Guten, und die Bewegung als die wahre Entsprechung des Beschauers auf die Gegenwart des Schönen fordert - darüber hinaus spezifiziert er die Art der korrespondierenden Bewegung des Betrachters: es ist die Bewegung, die die Herstellung des angeschauten Gegenstandes zu ihrem Ziel hat, also das jener Ersetzung der platonischen Idee durch die Einheit des Werdeprozesses entsprechende Verhalten. Der ästhetische Gegenstand mobilisiert seinen Betrachter, läßt ihn potentiell immer auch zum Schöpfer des Gegenstandes werden. Sokrates kennt hier noch 80
nicht die Differenz des theoretischen und des ästhetischen Gegenstandes; er beklagt den Phaidros, daß er im Hades viel unglücklicher sein müsse als er selbst, der nicht die sinnliche Präsenz der Schönheit gesucht und geliebt, sondern nur an die Wahrheit sein Leben gehängt habe, von der er noch hier im Hades die Illusion festhalten könne, den Prozeß ihrer Erkenntnis wenigstens fortzusetzen:/e cherche volontiers,parmi les ombres, l'ombre de quelque vérité (II 87). Welche antiplatonische Ironie, daß der vom Leibe befreite Sokrates nun erst recht in eben jene Höhle gebannt ist, die Plato ihn zum Gleichnis der irdischen Situation der Geister hatte machen lassen! Aber derjenige, der den Schatten der Wahrheit im Reiche der Schatten sucht, scheint eben doch besser daran zu sein als der ganz vom Wunsch nach der Schönheit Erfüllte, dem hier, wo die Körper nichts anderes mehr sind als Erinnerungen, alles genommen ist. Erst in diesem Moment des Dialoges wird Sokrates an Plato erinnert. Als Phaidros die Bindung der Schönheit an das endliche und sterbliche Leben bekennen muß: Ce qu'il y a déplus beau ne figure dans l'éternel!, kommt Sokrates die Frage: Ist nicht auch Plato in diesen Gefilden hier? Und das wiederum zwingt Phaidros einzugestehen: Je parle contre lui. Er wendet sich gegen die Auffassung von der unsterblichen Schönheit, beheimatet in jenen Modellen außerhalb der Natur und von den edelsten Seelen betrachtet als verbindliche Norm ihrer Pläne und als heimliches Vorbild ihrer Anstrengungen. Die Idee jener Ideen Piatos erscheint ihm nun zu einfach und so, als ob sie zu rein in ihrer Konzeption sei, um die Differenz der Schönheiten und den Wechsel ihrer Rangfolge in der Wertung der Menschen verständlich zu machen, ihre Geschichtlichkeit also, ihre Möglichkeit, sich mit dem radikal Neuen und Schöpferischen zu verbinden, ihre in keinem Gesetz zu fassende Mächtigkeit der Wiederkehr. Alles spitzt sich zu auf die Antinomie zwischen der Idee und der Faktizität des Ästhetischen als Schöpfung und als Geschichte. Wenn es etwas gibt, was wir als wesentlich zur historischen Gestalt des Sokrates gehörig zu kennen glauben, so ist es dies, daß er auf der Definition der Begriffe besteht. Valérys Sokrates im Hades verhält sich also ganz >konsequent< zu seiner geistigen Biographie, wenn er nun darauf insistiert zu erfahren, was denn eigentlich und wahrhaft schön und darin dem Menschen angemessen sei, indem es ihn zum Erstaunen bringe, ohne zu verwirren, sich seiner bemächtige, ohne ihn abzustumpfen. Er möchte also die Merkmale einer 81
Gegenständlichkeit bestimmt sehen, die zu solcher Angemessenheit und Wirkung fähig wäre. Aber Phaidros entzieht sich der Präzision der Frage, indem er ausschließlich von der Wirkung her den Gegenstand bestimmt, der nämlich das sei, was den Menschen ohne Anstrengung über seine Natur hinaushebe. Es ist spürbar, daß Phaidros es nicht wagt, den widerstrebenden Sokrates über die entscheidende Schwelle zu zwingen und daß er sich des Umweges der Berufung auf Eupalinos bedient, um Sokrates an eine Erfahrung heranzuführen, von der er glaubt, daß sie ihm in seiner Lebenszeit gefehlt habe. Diese Hemmung gegenüber Sokrates und dem, was ihm fraglos gültig war und noch zu sein scheint, muß man als eines der Kunstmittel des Dialoges empfinden, durch das die ganze Differenz deutlich gemacht wird zwischen der von Sokrates ausgehenden philosophischen Tradition, in der das Schöne an der ewigen Substantialität des Wahren und des Guten wie selbstverständlich teilnimmt, und dem Grundgedanken der konstitutiven Endlichkeit des Schönen, seiner Teilnahme an der Sterblichkeit des Menschen. Der Gegenstand des ästhetischen Genusses ist nicht eine in sich selbständige Welt von Erscheinungen, Eigenschaften, Qualitäten; der Gegenstand des ästhetischen Genusses ist durch die Vermittlung einer Sphäre von Objektivationen der Mensch selbst. Phaidros läßt den Eupalinos nicht nur gesagt haben, daß er seine Kunst um so mehr ausgeübt habe, je mehr er über sie nachgedacht habe, und daß er im Maße des Nachdenkens und Ausübens sich als Baumeister erfahren, freudig und leidend empfunden habe - und darin sich selbst mit einer immer sicherer werdenden Lust und Klarheit. Sondern die Selbsterfahrung des Künstlers wird noch um einen Grad gesteigert, vom Selbstgenuß zur Selbstschöpfung, der Architekt wird sich zu seinem eigenen Bauwerk: A force de construire ...je crois bien que je me suis construit moi-même (II 92). Man spürt, wie die Selbstaussage des Eupalinos auf die Provokation des Sokrates zueilt, auf die Herausforderung seiner Maxime der Selbsterkenntnis. So kommt der Einwurf, mit der resignierten Milde der Schatten, ob denn das zweierlei sei oder nicht, sich selbst zu konstruieren und sich selbst zu erkennen. Es ist wie ein Erschrecken vor dem Ausmaß der Frage, wenn Phaidros an ihr vorbei sich in die Fortsetzung seines Berichtes flüchtet, in dem es weiter um die unauflösbare Einheit von Konzeption und Exekution des Kunstwerkes geht, um den Ausschluß des Vorranges der Gestalt vor dem Werden. 82
Mit innerer Konsequenz kommt in dem von Phaidros berichteten Gespräch mit Eupalinos die Musik zur Sprache. Sie bietet das exemplarische Gegengewicht gegen die in diesem Dialog durch den äußeren Anlaß thematisierte Architektur. Eine ästhetische Deutung der Architektur steht vom Gegenstand her zunächst der ontologischen Position des platonischen Sokrates sehr nahe: das künstlerische Bauwerk läßt sich nicht unter das von Plato als Nachbildung von Abbildern kritisierte Genus der darstellenden Künste einpassen, und es ist ferner dem täuschungsfreien reinen Anblick des statischen Eidos am nächsten. Aber diese Annäherung an die Urbild-Statik war schon durch den ersten Satz des Eupalinos in Frage gestellt, der die Konzeption des Werkes nicht als das Ergreifen des Bildes eines schon immer fertigen Gegenstandes ansieht5, sondern als die Vorwegnahme des Prozesses, dessen letzte Phase das fertige Werk sein wird. Dabei zeigt sich, daß die >Fertigstellung< des Werkes in seiner Dinglichkeit nur ein willkürlicher Einschnitt ist und daß das aus dem Prozeß seines Werdens herausgetretene Werk unmittelbar in einen neuen Prozeß eintritt, den der Kommunikation mit seiner natürlichen und menschlichen Umwelt. Die Skala der Möglichkeiten, die sich hier ergeben, von der Sterilität bis zur höchsten Stufe der Intensität, wird bezeichnet durch die Metapher von den stummen, den sprechenden und schließlich den singenden Bauwerken, wie sie Eupalinos unterschieden habe. Die Musik-Metaphorik hat eine antiplatonische Implikation: die reine Idee hat keinen irgendwie gearteten Bezug zur Zeit, die Musik hat ihn nicht nur zufällig, sondern notwendig, sie ist die Projektion der Figur auf die Zeit oder sogar die Zeit als Figur.6 Die von Phaidros beim Anblick jenes Tempels des Eupali5 Der Tempel des Eupalinos ist zwar auch ein Bild, nämlich die gebaute Erinnerung an ein korinthisches Mädchen, aber es ist ausdrücklich image mathématique jener Geliebten. Der Begriff des Bildes ist hier fast ironisch gebraucht. 6 Das pythagoreische Element im Piatonismus hat die Schärfe der Differenz ein wenig gemildert, die zwischen einer Ontologie, die für das eigentliche Sein das Moment der Zeit ausschließt, und einer Kunst, die es so wesentlich und notwendig einschließt, daß von ihr eine ewig-zeitlose Realität gar nicht gedacht werden kann, bestehen mußte. Nicht zufällig findet die Musik gerade in der Epoche, die zuerst der Zeit eine absolute Realität zuschrieb, zum ersten Mal ein adäquates Fundament der ihr eigenen Realität. Noch der Spätscholastik war es außerordentlich schwergefallen, den Gesang der Seligen im Himmel in seiner notwendigen Zeitlichkeit (nämlich als Vergänglichkeit jedes seiner Elemente) mit der ewigen Physis des Himmels systematisch in Einklang zu bringen. 83
nos zuerst empfundene und ausgesprochene >göttliche Analogie< zwischen Tempel und Musik war von Eupalinos als eine zufällige Assoziation des Entlegenen bezeichnet worden, die doch eine bewunderungswürdige Notwendigkeit der inneren Einheit von Form und Zeit enthüllt: cet étrange rapprochement des formes visibles avec les assemblages éphémères des sons successifs (II 96). Was der Betrachter als die Musikalität des Bauwerkes empfindet, ist schon in der schöpferischen Potenz des Architekten ein geheimnisvolles Ensemble, eine Form höchsten Selbstbesitzes und einer noch unentschiedenen, aber eben darin produktiven Doppeldeutigkeit - cet état de divine ambiguïté - dessen, was nicht Traum bleiben darf, sondern Wissen und technische Herrschaft werden muß, als Einheit von Analyse und Ekstase. Die punktuelle Ekstase muß transformiert werden in die diskursive Analyse, die überreiche Gunst des Augenblicks muß >angehalten< werden, das Unteilbare dennoch geteilt werden. Er bemühe sich, hatte Phaidros dem Eupalinos supponiert, die Ideen zu verlangsamen - immer wieder die schon sprachlich so widerständige Zusammenfügung von Idealität und Temporalität. Indem sich die ästhetische Problematik der zeitlosen Idee andeutet und entfaltet, rückt auch das Problem der vermeintlich vom Leib eingekerkerten und zu befreienden Seele heran, jene metaphysische Selbstverständlichkeit, die Sokrates in einer Interjektion gerade noch erwähnt hatte, als er von seinem Tode und seiner Gefängnishaft sprach und in die Sentenz überging, in Wirklichkeit habe er nur das Gefängnis seines Leibes gekannt (II 94). Und nun läßt Phaidros den Eupalinos davon sprechen, daß im schöpferischen Prozeß seiner Werke der eigene Leib ihm immer eine Rolle gespielt zu haben schien: dieses wunderbare Instrument, von dem die Lebenden in der Fülle seiner Dienste keinen Gebrauch machen (II 98). Kunstvoll ist in der Führung und inneren Teleologie des Dialoges diese Wendung gegen den Leib-Seele-Dualismus des Sokrates vorbereitet. Die Passage gipfelt in der Anrufung des Leibes durch die Seele, jenem prière sans exemple, wie Sokrates es betroffen nennen wird, in dem der Leib als der Transformator und Moderator der Träume der Seele gepriesen wird, als der anthropozentrische Bezugspunkt des Weltalls, den die gleichsam heterozentrisch gestimmte Seele für sich nicht zu setzen wagt oder zu setzen vermag - ein Gedanke, der, als dem antiken Eupalinos zugeschrieben, anachronistisch wirkt und ironischerweise auch wirken soll, weil die anthropozentrische Welt, hier als künstlerische Fiktion 84
gedacht, doch dem antiken Denken noch Realität war oder zumindest sein konnte. Auch das ist antiplatonisch gemeint, wenn der Leib in Abwandlung des protagoreischen Satzes als la mesure du monde angerufen wird. Trivialitäten, wird man sagen, viel zu oft ausgesprochene, aber hier doch in der ganz präzisen Funktion der Unterhöhlung des Standortes, an dem Valérys Sokrates noch zu stehen glaubt. Die Enttäuschung der metaphysischen Erwartung der Befreiung vom Leib, die Umkehrung der Richtung jener Sehnsucht aus dem Jenseits ins Diesseits, ist die Pointe dieser ganzen Passage; Sokrates ergreift sie sofort: die Preisung des Leibes klinge befremdlich im Hades, und die Klage über den Verlust des Lebens sei seltsam für diejenigen, die sehnsüchtig darauf gewartet hätten, vom Körper befreit zu werden. Die Erregung des Problems der Künste hat ihn erfaßt, und man erkennt leicht, daß der exemplarische Rang von Architektur und Musik in ihrer Gemeinsamkeit gegenüber allen anderen Künsten ihn deshalb beschäftigt, weil das Kriterium dieses Ranges anti-sokratisch (d.h. hier immer: antiplatonisch) gefaßt worden ist. Allein diese beiden Künste schaffen, wie jetzt Sokrates überraschend den Gedankengang aufnimmt, mehr als einen bloßen Anblick, mehr als eine Gestalt, um die man herumgehen kann, vielmehr einen Raum, in den man einzutreten vermag, eine ausschließlich menschliche und nicht auf die Natur zurückgehende selbstwertige Realität, endliche und geschlossene Universa, in die wir aus unserer gewöhnlichen Realität einen totalen Übertritt vollziehen können. Ganz in das Menschenwerk einzutreten, in ihm gebannt zu sein, zu leben und zu atmen, das wird hier von Sokrates beschrieben wie ein Akt der Ekstase, aber eine Ekstase in die Immanenz und damit eine nicht mehr platonische, ja gegen die platonische Transzendenz formulierte Ekstase. In dem von Säulen oder Tönen konstituierten Universum zu sein, bedeutet ebenso, außerhalb seiner selbst zu sein, wie, dennoch ganz im Menschlichen zu bleiben, aber in einer Weise, die dem Menschen nicht nur seine Freiheit hinein- und herauszutreten beläßt, sondern gerade im Eintreten und Herausgehen das Bewußtsein seiner Freiheit aktualisiert. Das Ergebnis, wie es von Sokrates ausgesprochen wird, ist: Il y a donc deux arts qui enferment l'homme dans l'homme (II 103). Architektur und Musik sind gegenstandslose Künste, sie benötigen nicht vermittelnde Zeichen und Repräsentanten, so wie der Maler, wenn er an einer Stelle seines Bildes ein Grün braucht, einen Baum malt gleichsam als Vehikel dieses 85
Grüns, das es trägt und mit sich führt und es an diese Stelle zu bringen ermöglicht. Das Verhältnis des faktischen Baumes zum essentiellen Grün wird verglichen mit der konkret-fabulösen Vorstellung, die einen abstrakten Zusammenhang sichtbar zu machen erlaubt, nämlich die zenonische Paradoxie von Achill und der Schildkröte, an der die Problematik des Kontinuums darstellbar wird. Thema der Kunst ist ebenso nicht eine faktische Gegenständlichkeit, sondern jene puissance cachée qui fait toutes les fables. Diese verborgene Mächtigkeit legt sich aus und produziert sich in einer unerschöpflichen Fülle von möglichen Bildern und faktischen Transformationen, in tausend vergänglichen Leben und Gestalten, in einer Unendlichkeit von Imagination. Malerei und Dichtung seien immer nur diese faktischen Korrelate, Musik und Architektur realisierten ihren Quellgrund selbst. Musik und Architektur versetzen die Seele in ihre reine Potentialität zurück, aus der alles Gegenständliche entspringt, aber schon als festgelegte Gegebenheit, während es in jeder seiner Gestaltungen die Freiheit schon verloren hat an das jeweils Realisierte. Die Nähe zur neuzeitlichen Naturbetrachtung ist unmittelbar zu fassen, einer Naturbetrachtung, die nicht Gestalten zum Gegenstand hat, sondern die Gesetze, aus denen eine Fülle von Gestaltungen möglich wird und die selbst Inbegriffe dieser Möglichkeiten sind. Es ließe sich leicht eingehender zeigen, daß wir hier eine Kunsttheorie vor uns haben, die die Grundbegriffe des Piatonismus verwendet, indem sie sie gegen ihre systematische Herkunft und Verwurzelung wendet. Sokrates spricht die platonische Sprache, wenn er sagt, daß Musik und Architektur inmitten dieser Welt wie Denkmale einer anderen Welt sind, an die zu erinnern ihre Funktion ist; aber diese andere Welt der Gesetze ist von einer Andersartigkeit und Unvergleichlichkeit, die die Brücke der Nachahmung nicht zuläßt; ihre Differenz wäre die von Geräusch und reinem Ton. Der reine Ton ist ein Geschöpf des Menschen, die Natur bringt nur Geräusche hervor (II 107). Aber das Gesetz, an das die Symphonie erinnert, wenn sie sich selbst in ihrer sinnlichen Präsenz vergessen macht, ist eben als Naturgesetz nicht Natur, sondern das nur vom Intellekt Formulierbare, das, was nicht schon vorher da war, bevor der Mensch es formulierte, véritables créatures de l'homme. Die Intelligibilität des Gesetzes weist nicht mehr darauf hin, daß es eine eigene Gegenstandswelt reiner Formen gibt, sondern gerade darauf, daß der Mensch und nur der Mensch sie hervorgebracht haben kann. So86
krates kommt auf sein großes Thema, auf die geometrischen Figuren zurück, deren Wesentliches nun nicht mehr darin liegt, daß sie immer schon da waren und aus der Erinnerung zurückgeholt werden, sondern daß sie auf Grund eines in sich einheitlichen Befehls, einer Formel konstruiert werden, daß sie aus der Bewegung hervorgehen, die diesem Befehl gehorcht. Die Formel, die das Gesetz der Figur enthält, enthält von der Figur noch nichts und ist doch die geistige Energie, aus der die konkreten Figuren in beliebiger Vielfältigkeit entspringen. Zwischen dem Gesetz der Handlung und dem Produkt der Handlung liegt die entscheidende Differenz. Sokrates selbst hat hingefunden zum Satz des Eupalinos, daß das Werden den Gegenstand hervorbringt, ohne ihn schon von Anfang an präformiert zu enthalten, indem er den geometrischen Gegenstand kraft des definitorischen Befehls aus der Bewegung, aus der Handlung hervorgehen läßt. Diesen Befehl können wir finden oder bilden, ohne schon eidetisch sein Ergebnis vor uns zu haben; das Wort ist die Potenz der Figur: Pas de géométrie sans la parole (II no). Mit Recht gesteht Sokrates jetzt zu, daß die Worte des Eupalinos in ihm etwas erweckt hätten, das jenen Maximen ähnlich sei. Phaidros mißversteht sofort, indem er Potentialität und Präformation verwechselt und die eben realisierte Einsicht als den Ausdruck des vorher schon Vorhandenen versteht: Sokrates habe also in sich einen Architekten enthalten. Sokrates berichtigt das nicht, es mag ihn zu sehr an seine eigene Vorstellung von der Maieutik erinnern, er geht also auf den Gedanken ein: ja, es habe in ihm einen Architekten gegeben, den die Umstände nicht zur Reife hätten kommen lassen. Zwischen Geburt und Tod aktualisiere sich die Potenz eines Daseins dadurch, daß sie ihre Möglichkeiten vergibt, indem sie sich zu ihren Wirklichkeiten entscheidet. Je t'ai dit que je suis né plusieurs, et que je suis mort, un seul (Il 114). Die nicht wirklich werdenden Möglichkeiten wirken herein als Zweifel, erzeugen Widersprüche, drängen an die Kreuzwege der Existenz.7 An diesem 7 Hier ist zu erinnern an die Art, in der Valéry eine andere zentrale Gestalt der von ihm erwählten Ahnenschaft behandelt hat, nämlich Leonardo da Vinci. Vor allem in dem zweiten der drei großen Leonardo-Essays, der »Note et Digression« von 1919, hat er seine Methode beschrieben, zur Präsenz einer historischen Gestalt vorzudringen. Die wirkliche Aufgabe des geschichtlichen Verstehens sei es, auf die Möglichkeit der Gestalt zurückzugehen und den historisch-realen, in seinen Werken und in den Quellen bezeugten Leonardo zu begreifen aus dem Possible d'un Léonard (I 1204). Wie der Sokrates 87
Punkt führt Sokrates jenen seltsamen Gegenstand ein, den er >das zweideutigste Ding der Welt< nennt.
IL Was hat es mit diesem objet ambigu auf sich? Das ist die Schlüsselfrage der Interpretation des Dialogs und darüber hinaus der Ästhetik Valérys. Zunächst liegt auf der Hand, daß das objet ambigu als das genaue Korrelat der Potentialität des jungen Sokrates vor der Entscheidung für die Philosophie gemeint ist. Er berichtet selbst, daß dieser Fund ihm durch den Zufall zugetragen wurde, als er sich noch am Ausgangspunkt der möglichen Wege seines Daseinsvollzuges befand, und daß ihm eben diese Situation an jenem seltsamen Gebilde als inneres Zögern bewußt geworden sei, so daß die Vieldeutigkeit des Gefundenen genau der Unentschiedenheit seines Selbstbewußtseins entsprach. Wenn nun aber diese Situation durch die Alternative von Philosophie und Kunst bestimmt war, dann muß auch die Mehrdeutigkeit jenes seltsamen Gegenstandes darin bestanden haben, daß er unbestimmt war hinsichtlich seiner theoretischen oder einer ästhetischen Gegenständlichkeit bzw. Vergedes Dialogs »Eupalinos« ist auch Leonardo, von dem wir historisch viel mehr wissen, die durch faktische Umstände und Entscheidungen bedingte Ausprägung eines >inneren Gesetzes<, einer Gestaltformel, in der wir den Spielraum der Freiheit der Selbstgestaltung einer Existenz miterfassen. Das Thema des geschichtlichen Verstehens ist das Verhältnis von Potentialität und Entscheidung, also die Freiheit, aus der Geschichte zum Faktum wird, nicht dieses Faktum als solches. Hier wird auch die Wurzel der Gegnerschaft Valérys gegen jede platonisierende Ontologie erkennbar: die Präformation der Erscheinung in der Idealität läßt systematisch keinen Ort für die Freiheit. Der Dialog »Eupalinos« nimmt also Thema und Methode der Leonardo-Essays in einer kühneren, dichterischen Konzeption wieder auf, in der der historischen Gestalt gleichsam >Gelegenheit< gegeben wird, zu ihrer eigenen Potentialität in einer Art von Anamnesis jenes inneren Gesetzes ihrer puissance sans objet (11223) sich zurückzufinden. Damit hängt aufs engste zusammen die in den Leonardo-Essays entfaltete Theorie von einem reinen Bewußtsein als einem formalen System variabler Besetzbarkeit (cf. S. 108), durch das ebenso bestimmt wird, was überhaupt >etwas bedeuten< und damit eine Stelle einnehmen kann, wie auch fixiert wird, was als Unbegreiflichkeit ausgeschlossen bleiben muß. Das gegenseitige Illustrationsverhältnis der Leonardo-Essays und des »Eupalinos« kann hier nicht ausgeschöpft werden; hingewiesen sei nur noch auf die Funktion der Musik im zweiten Leonardo-Essay, die dort das moi pur als puissance de l'univers correspondant metaphorisch darstellt (11228).
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genständlichung. Die unendlichen Überlegungen, zu denen dieser Fund Veranlassung gab, spielten zwischen den Möglichkeiten des construire und des connaître. Phaidros ist begierig darauf, eine Beschreibung dieses Gegenstandes zu erhalten, aber gerade die Möglichkeit einer Schilderung würde im Widerspruch stehen zu der Potentialität dieses Gegenstandes, in der allein seine Bedeutung lag. Sokrates erzählt statt dessen die Geschichte seines Fundes am Strande des Meeres und den Zustand der noch unbestimmten Lebenstrunkenheit der Jugend. Diese Erzählung ist eines der schönsten Stücke Prosa, die ich kenne. Jeder Zug der geschilderten unauflösbaren Einheit der äußeren Szenerie und des inneren Lebensbefundes läuft konzentrisch auf den geheimnisvollen Fund zu, in dem diese Situation ihre schlechthin einfache Darstellung findet. Der Sokrates im Hades, der sich eben noch gestoßen hatte an der Preisung des Leibes und seines sinnenhaften Selbstgenusses, entdeckt sich in seiner Erinnerung als selbst einmal ganz aufgegangen in der sinnenhaften Totalität einer einzigartigen Erfahrung. Valéry läßt ihn zu einer Sprache finden, die der lebende Sokrates nie gesprochen hätte und deren unterschwelliges Aufbrechen er mit den Worten konstatiert: Je me suis laisséparler... (II 117). Eine Sprache, von der Phaidros ebenso bestürzt wie begeistert erklärt, sie lasse ihn wieder lebendig werden. Das Ding, das objet ambigu, lag am Rand des Meeres, eingebettet in ein Schauspiel der Natur, das >verfremdet< ist dadurch, daß es im Hades aus dem Gedächtnis zurückgerufen wird als etwas, das unwiderbringlich verloren ist, obwohl es das Gewöhnlichste und jedermann Zugängliche und gerade dadurch für jedermann Zuverlierende gewesen ist. Das objet ambigu ist aber nicht nur eingebettet in diese Szenerie, sondern auch das Produkt der Kräfte, die in ihr wirksam sind; wieder greift Sokrates weit aus, um das Gegeneinander und Ineinander dieser Kräfte an der Grenze von Land und Meer, von Erde und Luft zu schildern. Es ist eines der Dinge, die das Meer an den Strand wirft, une chose blanche, hart, zart und leicht, poliert und von allerreinster Weiße. Sokrates hebt es auf, reinigt es von Sand, reibt es an seinem Mantel, und sogleich sind alle seine Gedanken durch die Einzigartigkeit dieser Form bestimmt. Wir wissen schon, woher die Erregung durch diesen Gegenstand kommt: es ist ein Gegenstand, dem die Deutbarkeit innerhalb einer platonischen Ontologie fehlt. Sokrates sieht es sofort - es ist ein Gegenstand, der an nichts erinnert und dennoch 89
nicht gestaltlos ist. Man denkt sogleich an die Diskussionen des platonischen Dialogs (z.B. »Parmenides« 130 BE) über die Frage, bis wie weit herunter in der Wertordnung der Dinge die Vorbildlichkeit der Ideen reiche, ob sie auch dort noch anzunehmen sei, wo der Kanon einer sich gestaltlich reproduzierenden Natur nicht mehr gilt. Wer mag diesen Gegenstand gemacht haben?, ist die erste Frage, die Sokrates sich stellt. Zweifelhaft ist die Herkunft, zweifelhaft der Stoff, aus dem das Ding besteht, matière à doutes. Der Gegenstand, der sich der Definition entzieht, also der stereotypen sokratischen Frage keine Antwort gibt, geht auch in die letzte Klassifikation der antiken Metaphysik nicht hinein, in die Dualität von Natürlichkeit und Künstlichkeit. Aber gerade, daß das objet ambigu >nichts< ist und >nichts< bedeutet, seine Ungegenständlichkeit im traditionellen Sinne, steigert seine Bedeutung ins Unabsehbare: es stellt alle Fragen und läßt sie offen. Der zweifelhafte Gegenstand wiederholt als Form, was wir bereits an den Sätzen des Eupalinos feststellen konnten, an Sätzen, die nichts oder etwas ganz und gar Triviales bedeuteten, die gleichsam bloße Anreize der Selbstexplikation des Denkens bei denen waren, die sie hörten. Das objet ambigu ist das Produkt der Vielheit der in dieser Zone wirksamen Kräfte der Natur 8 in der Zeit, und was die unendliche Zeit hervorbringt, sieht so aus, als sei es der von der Idee geleiteten Absicht eines Künstlers entsprungen oder habe irgendwo seinen Platz in der Reihe der Versuche der Natur, Organe auf ihre funktionelle Zweckmäßigkeit hin durchzuprobieren, auszuwählen oder zu verwerfen. Ein Gedanke also, den der klassische Sokrates unmöglich haben konnte, wirkt hier herein aus der Naturwissenschaft der Neuzeit, die Verantwortung der langen Zeiträume für die Evolution der Organismen und die Formenvielfalt der Erosionen, Sedimente, Geschiebe und Schliffe, für die unzählbaren >Mu8 Die Grenzzone von Land und Meer als Region des Bildhaftwerdens rein quantitativer Kraftgrößen, also als charakteristischer Beleg für den Zusammenhang zwischen Formel und Gestalt, taucht schon 1893 in einem Brief Valérys an Gide auf, in dem er die Bewunderung des Literaten für den Mathematiker ausspricht, dessen Fähigkeit, Wirklichkeit verstehbar zu machen, ihm beim zufälligen Aufschlagen des Laplace begegnet sei, der die déglutition de la mer im berechenbaren Wirken der Flut, der Gezeiten in Formeln zu fassen und dennoch - vielmehr gerade dadurch - das Schauspiel bildlos zu beschwören vermöge: ...le glouglou et le déhanchement m'en vint, le ton d'acier, le gonflement et les fuites précipitées a l'Ouest. Le mot: syzygie! l'odeur de ce machin qui bouge et luit entre azimuths, coordonnées, parallaxes, etc., la hauteur du soleil, - tout. (GV 186) 90
ster<, die die anorganische Natur ebenso hervorbringt wie die organische. Immer steht die Erlaubnis im Hintergrund, mit ungeheuer großen Zeiträumen und der Akkumulation ungeheuer kleiner Wirkkräfte in ihnen zu rechnen; Sokrates selbst sagt, was vor Bacon kaum ein Denker gesagt haben könnte, daß die Jahrhunderte nichts kosten und daß derjenige, der sie in seine Rechnung einzusetzen weiß, zu verwandeln vermag, was er will und zu was er es verwandeln will. Es ist bedeutsam für die Subtilität, mit der dieser Dialog gearbeitet ist, daß derselbe Phaidros, der zunächst Sokrates angeregt und erregt hatte mit seinem Bericht über Eupalinos, jetzt kaum noch folgen kann; diese Schwerfälligkeit zeigt sich ζ. Β. an der winzigen Differenz, daß Sokrates von dem temps infini spricht, während Phaidros diesen Gedanken unter dem Begriff des temps indéfini aufnimmt. Aber Phaidros treibt auf seine Weise den Gedanken voran, indem er die Arbeit des Künstlers gerade hinsichtlich der Dimension der Zeit in Gegensatz setzt zur Wirksamkeit der Natur: die Arbeit des Künstlers muß in der Endlichkeit der Zeit die Objekte schaffen, für die sich die Natur die Unendlichkeit des Zufalls und der Zeit vorbehalten hat. Valéry hat mehrfach ausdrücklich geleugnet, durch Bergson beeinflußt zu sein und ihn auch nur vor seiner Wahl in die Akademie gekannt zu haben (ζ. Β. L 163 f.). So glaubwürdig das ist, trifft es doch nicht den Kern einer Feststellung, deren Richtigkeit nicht vom Faktum der literarischen Beeinflussung abhängt; die Gemeinsamkeit der geistigen, der geschichtlichen Voraussetzungen führt noch in der Opposition gegen den Zeitgeist zu tief verwandten Strukturen. Der Dichter, der sich die Strenge und Exaktheit der Form als Gesetz auferlegt hat, schreckt vor dem Infinitismus der évolution créatrice zurück, wie er überhaupt das Verhältnis von Philosophie und Dichtung am Kriterium der Form gemessen hat. Aber die Gestalt des Sokrates, an dem er die Aktualisierung des Philosophen zurückführen will auf jenen Punkt, an dem die Potentialität des Künstlers gleichwertig bereitlag und übergangen wurde, zwingt ihn dazu, das Verhältnis zwischen philosophischer Intention und poetischer Form nicht einfach als faktischen Gegensatz bestehen zu lassen, sondern auf den Ausgangspunkt ihrer Verträglichkeit zurückzuführen.9 Die 9 In dem eingangs schon zitierten Brief an Souday (1. Mai 1923; L 146) bezeichnet Valéry dieses Thema als die véritable pensée in der Intention des »Eupalinos«: J'aurais essayé de faire voir que lapenséepure et la recherche de la vérité en soi ne peuvent jamais aspirer qu'à la découverte ou à la construction de 91
Begegnung mit dem objet ambigu will genau diese Stelle bezeichnen: das Produkt der Natur ist trotz der unendlichen Komplikation von Faktoren und der unendlichen Zeit ihrer Einwirkung doch schließlich die endliche Form und in jedem Augenblick die vollendete Form; denn daß der Augenblick des Fundes dieses Gegenstandes ein zufälliger Zeitpunkt ist und der angetroffene Zustand des Gegenstandes damit eine beliebig angehaltene Fixierung des Prozesses, ist Sokrates klar. Die Arbeit des Künstlers steht im Gegensatz zum temps infini, aber doch so, daß das Prädikat des Unendlichen von der Zeit auf die Arbeit hinüberwandert. Ein Künstler wiegt tausend Jahrhunderte oder gar hunderttausend, wenn nicht noch mehr, auf, indem er die Blindheit und Zufälligkeit der Natur durch den Gedanken ersetzt. Die Kunst ist das endliche Äquivalent der unendlichen schöpferischen Entwicklung, aber als solches eben un labeur infini, wie Valéry in einem Brief an Albert Mockel 1917 über die Entstehung seiner »Jeune Parque« schreibt (L 123), und diese unendliche Anstrengung wird aufgebracht, erzwungen durch das selbstgewählte jeu difficile, die Enge der selbstauferlegten Bedingungen. Damit hängt zusammen, daß es für quelque forme. Je n'oppose pas tout philosophe à l'artiste, mais seulement m'oppose à celui-ci le philosophe qui ne parvient pas à cette forme finie, ou qui ne se doute pas qu'elle seule peut être l'objet d'une recherche rationelle et consciente... Die Endlichkeit der Form als unendliche Aufgabe - das ist ein Grundgedanke, der Valéry gerade im Verhältnis zu seinen eigenen philosophischen Notizen immer wieder aufstößt, in denen sich einmal Le Système vorzubereiten schien (GV 286; 22. Februar 1897). Ein Vierteljahrhundert später heißt es über tout ce fatras, über die eigene Trägheit gegenüber der hoffnungslosen Forderung der Ordnung und Formung dieser Hyle:... - et enfin songer à la forme, terrible affaire, et infinie! (L 150) Die eigene Philosophie, »maphilosophie« in Anführungszeichen, also das, was mon œuvre véritable hätte werden sollen, ist jetzt exactement le contraire d'une philosophie. Nochmals zehn Jahre später ist die Antithese von Philosophie und Kunst aufgegangen in der Lösung >Philosophie als Kunst<. Le philosophe ne veut pas avouer qu'il fait et ne peut faire qu'oeuvre d'art et se refuse à centrer cette œuvre sur soi-même, tel qu'il est. Je crois que prétendre à quelque chose de plus est une absurdité. (L 208; 28. Juli 1933) Wiederum eine Dekade später gesteht Valéry jemand, der sich nach dem Nichts in seinen Werken erkundigt, que je ne suis point philosophe le moins du monde, peut-être même quelque chose comme un anti-philosophe, und zwar begründet aus dem Verhältnis zur Sprache, ihrem eher formalen als materialen Gebrauch, so daß auch jenes erfragte Néant nur verwendet sei comme un peintre emploie une certaine couleur: il a besoind'un noir, il met un noir. (L 242 £523. November 1943) Die Einordnung des Hades-Sokrates in den sichtbar werdenden Prozeß und seine immanente Finalität ist hiernach leicht zu vollziehen. 92
Valéry das ganz und gar gelungene, in der Form vollendete Werk nicht gibt, da die unendliche Aufgabe eben jene ist, die nie gelöst werden kann, so daß er gerade die Verfehlung des Anspruches immer wieder herausstellt als die in der Selbstbeobachtung gelingende Erfahrung des Künstlers von dem Wesen des poetischen Gebildes. Valérys Poetik ist empirisch, das Ergebnis der an sich selbst beobachteten Verzweiflung, die alle Dichter erfahren hätten (L 161), und der idée de l'impuissance consciente (L 141). Auf den Vorwurf der Dunkelheit seiner Gedichte, mit dem sich Valéry immer wieder auseinanderzusetzen hatte, erwidert er, daß diese obscurité nicht gewollt, sondern Ausdruck der Ohnmacht, klar zu sein, gewesen ist (Brief an Aimé Lafont, 1922; L 144). Aber dieses Ungenügen gegenüber dem poetischen Anspruch wird gerade nicht negativ bewertet, sondern positiviert als das Stigma des reinen ästhetischen Sollens, als der Quellpunkt des bewußten Bewußtseins des Dichters, seiner conscience consciente. In der Dichtung ist das Unendliche nur als Defizienz, als Zeichen innerhalb der Form, als durch die Form durchscheinende Formlosigkeit, aber als gebannte, nicht als zugelassene, berechtigt. Ich glaube, daß die am Anfang wiedergegebenen Selbstzeugnisse Valérys über die Entstehungsbedingungen des »Eupalinos« in ihrer Bedeutung erfaßbar werden: die durch die enge Definition des Auftrages oder durch die selbstgesetzten Spielregeln des Dichters geschaffene Enge des Spielraumes hat die Funktion, eben jene Zeichen für den absoluten Anspruch und die unendliche Arbeit zu provozieren, die die errungene Form vor dem Hintergrund des Ghaos gerade als >errungene< Form erkennbar bleiben lassen, das Sichfügen der Sprache nie ganz aufgehen lassen in der Illusion einer restlosen Verfügbarkeit. Den ästhetischen Standardausdruck des >Schöpf erischen< hat Valéry nie nach der Analogie der biblischen Schöpfung als Befehl, aus dem Nichts hervorzutreten, verstanden, sondern demiurgisch als Überwältigung des Apeiron und der Ananke. An der unbegrenzten Tätigkeit des Künstlers, der das Bedürfnis, das Ziel, die Mittel und sogar die Widerstände für das Werk erschaffen müsse, habe ihn, so schreibt Valéry einmal (1942; L 237), am meisten diese letzte Voraussetzung interessiert, und zwar weil sie die eigentliche Bedingung der Selbsterfahrung des Künstlers sei: ...en créant, je me suis recréé sur un point. Der junge Sokrates am Strande des Meeres, das objet ambigu in der Hand und es von allen Seiten betrachtend, verharrte einige Zeit, 93
befragte es, ohne sich an eine seiner Antworten zu halten - und warf es zurück ins Meer. Aber Sokrates blieb der Gefangene der durch dieses Ding aufgestörten Gedanken, deren Richtung bestimmt war durch das Übergewicht einer der möglichen Fragen und entweder zu einer umfassenden Vorstellung von der Natur weisen mußte oder in ein genießendes oder schaffendes ästhetisches Verhalten einmünden konnte. Der unbekannte Gegenstand macht nur deutlich, wie nahe diese Möglichkeiten im Ursprung beieinandergelegen hatten und wie verwechselbar im ersten Schritt sie gewesen waren. Die Alternative, Philosoph oder Künstler zu werden, ist also an dem objet ambigu konzentriert als die Pluralität seiner Aspekte und die Konsequenz aus der Wahl eines bestimmten Gesichtspunktes. Die Situation als ganze widersetzt sich der antiken Ontologie, die das Problem der natürlichen oder künstlichen Herkunft eines Gegenstandes für eine immer entscheidbare Frage halten mußte und das Künstliche von vornherein als sekundär gegenüber dem Natürlichen - und zwar nicht nur der Zeit oder dem materiellen Substrat nach - interpretiert hatte. Die Relevanz des objet ambigu liegt gerade darin, daß es in einer platonisch aufgefaßten Welt nicht vorkommen kann. Um seine Vieldeutigkeit zu beschreiben, ja nur zuzulassen, muß der Sokrates im Hades aus der Tradition seiner eigenen Ontologie heraustreten und seinem Naturbegriff die moderne Komponente der Evolution und einer faktisch nur im Zeitschnitt faßbaren Zuständlichkeit hinzufügen. Nur so gewinnt er ein Verhältnis von Natur und Kunst, in dem eine Äquivalenz der Produkte bei radikaler Differenz der Genesen möglich ist. In dieser Natur gibt es ebenso die Überraschung der Neuheit und des Unwahrscheinlichen, ohne daß irgendeine Anamnesis an den idealen Kosmos ausgelöst werden könnte, wie es in der Kunst wesentlich das Noch-nicht-Dagewesene gibt. Erfindung und Konstruktion - Begriffe, um die Valérys Denken kreist und die er zu Schlüsselbegriffen seiner Leonardo-Essays gemacht hat - lassen den Menschen die Evolution der Natur, die je abzuwarten oder auf die seine Hoffnung zu setzen seine Existenz zu kurzfristig ist, ganz und gar kompensieren. Der nächste Schritt der Überlegung ist die Einsicht, daß die Differenz zwischen einem unbekannten Gegenstand von der Art des objet ambigu und der Sphäre der bekannten Gegenstände gar nicht objektiv relevant ist, sondern daß dieselbe Ratlosigkeit gegenüber dem Gegenstand auch für das Bekannte denkbar ist, wenn wir nur 94
fähig wären, ihm gegenüber dieselbe Einstellung der Unbefangenheit und des Nicht-schon-Bescheidwissens zu erreichen. Aber angesichts des Vertrauten ist unser Sehen immer schon auf einen Aspekt fixiert, indem wir ζ. Β. wissen, daß und wie die Natur einen solchen Gegenstand hervorgebracht hat (II 121). Da wir die Antworten schon besitzen oder zu besitzen glauben, stellen wir die Fragen nicht mehr. Unsere éducation première verhindert unsere éducation profonde, wie Valéry es im ersten Leonardo-Essay formuliert hat (I 1165). Wir halten für die Dinge immer schon ihre lieux évidents, ihre beaux sites bereit und damit die Perspektive, in der wir sie als das schon Vertraute und Bewältigte zu sehen vermögen und zu sehen wünschen. Die malerische Technik der Zentralperspektive, die dem Betrachter seinen bevorzugten und normierten Zuschauerplatz anweist, ist Ausdruck dieser Abwehr der unendlichen Vielfalt möglicher Aspekte (I 1167). Die anthropozentrische Tradition, die dem Menschen als >contemplator caeli< naturgegeben und wesensgemäß den zentralen Weltplatz anwies, hat Vertrautheit der Dinge mit metaphysischer Legitimation dem Weltverständnis zugeschrieben. Hier sieht Valéry die Funktion des Künstlers, der die Freiheit der Anschauung, des regard pur, wiedergewinnt und den Kosmos nicht als das garantiert Gegebene voraussetzt, sondern ihn als jederzeit erst zu erbringende Leistung des Menschen, als ständigen Übergang von der Unordnung zur Ordnung, aufgibt. Ein Haus, einen Tisch oder einen Krug so zu betrachten, daß man nicht bereits alle Antworten auf mögliche Fragen bereit hat und damit die Fragen gar nicht erst aktualisiert, erfordert, wie Sokrates den Gedanken weiterführt, mich selbst von diesem Gegenstand so zu distanzieren, daß ich ihn sehe wie ein Wilder, der niemals derartige Dinge gesehen hat und daher vor allem nicht weiß, daß sie menschliche Produkte sind. Dasselbe erreicht der Künstler dadurch, daß er den Geist des Betrachters durch eine neue Sicht der Dinge beunruhigt. Auch das Denken hat seine eigene Trägheit, die nur durch neu einwirkende Kräfte gebrochen werden kann: On s'arrête, puis on repart, voilà ce qui est penser! (II 122). Der Augenblick, in dem Sokrates das objet ambigu ins Meer zurückwirft, enthält gleichsam punktuell die Entscheidung über die Richtung seiner Existenz, die Entscheidung für die Philosophie. Sokrates bleibt zurück mit der letzten Frage, die er an jenen Gegenstand gerichtet hatte: nach der Klassifizierbarkeit als Natur95
produkt oder Artefakt. Aber indem er sich von dem diese Frage provozierenden Gegenstand getrennt hat, hat er zugleich die andere Möglichkeit verloren, sich unmittelbar ästhetisch zu ihm zu verhalten, ihn gerade in seiner Unbestimmtheit stehenzulassen und zu genießen. Valéry hat einmal unter der Überschrift »L'art« eine Definition des Schönen gegeben: Le beau exige peut-être l'imitation servile de ce qui est indéfinissable dans les choses (II 681). Diese Bestimmung ist deshalb von seltsamer Widersprüchlichkeit, weil sie den traditionellen Begriff der Nachahmung aufnimmt, jedoch die Gegenständlichkeit dieser Nachahmung auf ganz untraditionelle Weise· definiert, indem sie Unbestimmtheit, Unbestimmbarkeit zum wesentlichen Merkmal des Schönen macht. Die ästhetische Einstellung hat hier ihre Differenz zur theoretischen, indem sie die Unbestimmtheit gerade nicht zum provokanten Reiz des Fragens, des Suchens nach Merkmalen und spezifischen Differenzen nimmt, sondern sie auf sich beruhen läßt und genießt. Sokrates aber wendet sich entschlossen von der Küste des Meeres und ihren Unbestimmbarkeiten ab und geht landeinwärts, mit sich die Last der Frage nach der Bestimmbarkeit des Unbestimmten tragend. Es kommt hier nicht mehr darauf an, die Antwort, die Sokrates auf diese Frage findet, genauer zu durchdenken: die Natur steigert die Komplexität ihrer Teile ständig, der Reichtum ihrer Strukturen nimmt zu, je weiter man in ihre Einzelheiten und Feinheiten theoretisch vordringt; der Mensch reduziert die Natur, indem er aus ihr die Materialien für seine Werke entnimmt, auf die abstrakte Materialität, er kümmert sich nicht um die vorgefundene Struktur, geht vielmehr auf ein neues Ganzes, das weniger komplex ist als die in ihm aufgegangenen, aus der Natur entnommenen Substrate. Das Bildungsprinzip der Menschenwerke ist also Zerstörung einer vorgefundenen Ordnung: Leur structure est... un désordre! (Il 123). Der Mensch interessiert sich für das der Natur entnommene Material immer nur hinsichtlich einer kleinen Auswahl seiner Eigenschaften. Die Stärke des Menschen als eines Demiurgen liegt im Verzicht auf die volle Einsicht in die Natur, in der Fähigkeit zur Vernachlässigung nicht relevanter Größen. Noch seine exaktesten Verfahren werden nur durch tolerierte Ungenauigkeit möglich: L'homme ... fabrique par abstraction ... (Π 123). Der Mensch als ästhetisches, als technisches Wesen bedarf nicht der integralen Natur. Die Finalität des homo faber durchkreuzt rücksichtslos die Finalität der Natur, construire und connaître sind antinomisch, 96
und der Natur gegenüber beruht das künstliche und künstlerische Werk auf einem Verzicht: der Mensch kann nur handeln und schaffen, weil er >ignorieren< kann. In der Durchkreuzung der Eigenstruktur des Natürlichen ist die Kunst fundamental Gewaltsamkeit, die Ordnung, die sie setzt, beruht auf der Unordnung, die sie anrichtet, so wie die Kunst des Strategen, an die Phaidros erinnert, auf einer Abrichtung der Individuen beruht, die deren Individualität für nichts achtet:... cependant que chaque élément de ces figures était l'objet le plus complexe, un homme (II 125). Die Schöpfungen des Menschen also gründen in dem Konflikt seiner Ordnung mit der Ordnung der Natur und auf der Ökonomie, die Bedingung dafür ist, daß der Mensch seinen Gedanken gegen den der Natur durchzusetzen vermag. Aber der Widerstand, den die Natur dem Werkwillen des Menschen leistet, ist durch die menschliche Form nicht überwunden und auf Null reduziert, sondern geht mit ein in die Form; die Figur des phönizischen Schiffsbauers, Tridon, der alsbald in den Dialog eingeführt wird, veranschaulicht diesen Sachverhalt, daß in der höchsten Eleganz der Form die Spannung des Widerstandes, den sie zu meistern hatte, noch erhalten bleibt. Der achtzehnjährige Sokrates, der das objet ambigu ins Meer zurückgeworfen hatte, war in dem Moment, da er landeinwärts ging und mit den Fragen über den Gegenstand begann, die nicht mehr Fragen an den Gegenstand sein konnten, zum Philosophen geworden. Das heißt hier, daß er sich zu den Verzichtleistungen, die der ästhetischen Einstellung vorausgehen, nicht bereitfand. Der Philosoph vermag nicht zu verzichten: Philosophe est celui qui se fait une idée étendu, et veut avoir besoin de tout (II 125); er ist derjenige, der eine immer etwas größere Erkenntnis, als nötig ist, zu besitzen beansprucht. Sokrates, so hält ihm Phaidros vor, habe den Künstler in sich getötet, indem er sich allzusehr in das Problem des Bruchstückes einer Muschel versenkt habe; damit habe er seinen Teil übernommen an den vielfältigen Anstrengungen der Menschen, das ewige Schweigen der unendlichen Räume, das sie erschreckt, zu erfüllen oder zu durchbrechen (Π 126).10 10 Pascal-Apostrophen, wie diese, finden sich bei Valéry zahllos; erst ihre sorgfältige Interpretation könnte Aufschluß über den inneren Zusammenhang von Antiplatonismen und Antipascalismen geben. 1923, zum 300. Geburtstag Pascals, veröffentlichte Valéry die durchgehende Paraphrasierung der Pensée Le silence éternel... (1458-473). In einem Brief an Pierre Louys 97
Fast wie selbstverständlich läßt Phaidros anstelle seines Architekten Eupalinos nun den abenteuerlichen und vielseitigen Schiffsbauer Tridon auftreten, dessen Werke mit dem Tempel des Eupalinos insofern unvergleichbar sind, als sie Schönheit nur sekundär verwirklichen, primär aber der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, des Schiffes mit den Gewalten und Widerständen des Meeres dienen. Die Beherrschung der Formel erlaubt es diesem unternehmenden Manne, in seinen Konstruktionen nicht einfach der Tradition zu folgen, das Schiff des Odysseus noch einmal zu kopieren, sondern seine Kunstfertigkeit von der Wurzel her auszuüben, und das heißt: den Komplex der Umstände zu ersetzen durch die Analyse von Faktoren, das Schiff vorzustellen als einen Körper, auf den bestimmte Wirkungen ausgeübt werden. Die schließlich gefundene Formel enthält die Form, die den Umständen und Widerständen entgegengesetzt werden kann. Als Phaidros dem Sokrates berichtet von den Studien des Sidoniers an den schnellsten Fischen des Meeres, fragt Sokrates ganz einfältig zurück, ob es denn nicht genüge, die Schätze der Natur unmittelbar auszubeuten und einen solchen Fisch einfach nachzuahmen. Wieder tritt die Antithese von Nachahmung und Konstruktion auf: Nachahmung nimmt die Gestalten der Natur als solche hin, hält sich an ihre Vorgegebenheit gleichsam von außen, und glaubt ihre Leistungen erreichen zu können durch Wiederholung; Konstruktion ist die Entwicklung der Gestalt gleichsam von innen, ihre Produktion aus der Formel des Gesetzes, das die Verhältnisse zwischen den Kräften und den Formen, zwischen den Umständen und den Leistungen reguliert. Phaidros schildert den Stapellauf einer dieser reinsten Schiffsformen und entlockt in diesem Augenblick Sokrates den sehnsüchtigen Ausruf nach dem verlorenen Leben. Im Kontrast steigt augenblicklich die Erinnerung an die schwarzen (21. Mai 1917; L 121) kündigt er ein éreintement sauvage der »Pensées« an, aber mit dem balancierenden Zusatz: au bénéfice du »Traité de l'équilibre des liqueurs«. Größtes Ärgernis ist ihm das Argument der Wette (L 165; mit feinster Ironie der Anspielung in dem Brief zur Einkleidung einer Nonne: L 202 f.); die versöhnliche Entdeckung, daß Pascal das Blatt aus den Vorarbeiten zur Apologie ausgesondert hatte, ist erst nach Valérys Tod gemacht worden. Aufs Ganze dieser Materialien gesehen, würde ich mich hier auf die sinnfällige Formel beschränken, in der Valéry seinen Gegensatz zu Pascal als den von Leonardo und Pascal ausgedrückt hat: Un abîme le ferait songer a un pont. (I 1210) Auch Faust, auf dem Felsgrat des Einsiedlers in »Mon Faust« (Ι 381), ist ein Anti-Pascal, wenn er sagt:/e puis regarder le fond d'un abîme avec curiosité. Mais, en général, avec indifférence. 98
Segel jenes heiligen Schiffes auf, dessen Rückkehr von Delos ihm den Tod bedeutet hatte, einen Tod, der ihm nun nicht mehr als die Beglaubigung seiner Weisheit erscheinen will, aus dem eine Art von Meisterwerk gemacht zu sehen ihm jetzt höchst zweifelhaft vorkommt: La vie ne peut pas se défendre contre ces immortelles agonies... Les plus profonds regards de l'homme sont pour le vide (II139). Der Schmerz des nicht gelebten Lebens überwindet die Erinnerung an das tatsächlich gelebte Leben. Mit Entsetzen wohnt Phaidros dem Gericht bei, das Anti-Sokrates über Sokrates vollzieht. Dieses Selbstgericht ist so ungerecht, wie nur das Urteil sein kann, das am Maßstab der Möglichkeit über die Wirklichkeit gefällt wird. Anti-Sokrates bekennt sich zur rücksichtslosesten Selbstverwirklichung, auch um den Preis der Durchbrechung und Verkehrung der kosmischen Ordnung; er vergißt, daß der lebende Sokrates gerade deshalb das Universum nicht auf den Kopf gestellt hatte, weil er es schon für anthropozentrisch hielt; und weil der Kosmos ihm unantastbare Verbindlichkeit war, konnte ihm die Kunst nicht als absolute Wirklichkeit erscheinen. Aber Phaidros sieht auch, daß dieser Schatten, der sein Leben noch einmal von vorn anfangen möchte, eben gerade darin doch Sokrates ist, der Philosoph, dessen Ärgernis das bloße Faktum eines Lebens ist, das seine Entschiedenheit nicht aus der ganzen Einsicht gefunden hat - wie das eigene im Rückblick aus dem Hades. 77 ne faut pas vouloir recommencer..., hält Phaidros ihm entgegen (II 141). Sokrates aber hat den Sinn des Hades darin entdeckt, die unermeßliche Muße zu verwenden, um immer erneut Gericht über sich selbst zu halten, immer andere Antworten zu geben auf die Fraglichkeiten des verlorenen Lebens, sich mit der Illusion zu verteidigen gegen das Aufgehen in der Nichtexistenz, so wie es die Lebenden tun gegen die Anerkennung ihrer Existenz. Das Bild des Anti-Sokrates, der ein constructeur sein muß, ist doch wieder - und das ist die Ironie, die jeden Schritt des Hades-Sokrates zur Selbstkorrektur begleitet - das Bild eines Wahrheitssuchers, der freilich einen anderen und neuen Wahrheitsbegriff hat, der nicht Wahrheit als Voraussetzung des rechten Handelns sieht und Tugend als Wissen identifiziert, sondern Wahrheit aus dem Handeln hervorgehen läßt, die Erkenntnis des Weltalls nur dadurch für möglich hält, daß man durch die Handlung sich an die Stelle des Gottes selber setzt, der als Handelnder das Universum gemacht hat. In diesem grand acte de construire, dem in seiner Vollkom99
menheit der Baumeister nahekommt, wird der Demiurg allein begriffen aus der Auseinandersetzung mit dem Chaos. Der AntiSokrates sieht die wesentliche Relation nicht zwischen dem Demiurgen und dem Kosmos der Ideen, die ihm sein Werk von Anfang an bestimmen, sondern in der Konfrontierung des Ordnungswillens mit der Gestaltlosigkeit und Unreinheit des Stoffes (II 143). Der Baumeister, als den Anti-Sokrates sich selbst imaginiert, findet das Werk jenes Demiurgen schon vor, aber er sieht es seinerseits nur wieder als Chaos und als Rohstoff, als ein unvollendetes und den Menschen nicht genügendes Werk, das erneut in Arbeit genommen werden muß. Wo der Gott aufgehört hatte zu handeln, beginnt das Handeln des Künstlers. Und der Grund für die Notwendigkeit des Baumeisters und seiner Handlung, die der Natur als dem Gegebenen, nicht aber als dem Verbindlichen begegnet, ist, daß der Demiurg die Welt nur für sich selbst geschaffen hat, zu seiner Zerstreuung oder zu seiner Langeweile; die Kunst zieht ihre Notwendigkeit gerade daraus, daß sie es mit dieser Rücksichtslosigkeit der Natur gegenüber dem Menschen aufnimmt, daß sie ihr Rücksicht, Zentrierung auf den Menschen oktroyiert: Le Démiurge poursuivait ses desseins qui ne concernent pas ses créatures. La réciproque doit venir (II145). Die Kunst ist die Teleologie, die der Ateleologie der Natur entgegengesetzt wird und sie zu überwinden, in ihre Ordnung zu zwingen hat.11 Der Gedankengang des Sokrates ist - wenn man ihn von seinem Ansatz in jenem objet ambigu aus betrachtet, das Natur und Kunst als bloße Aspekte verwechselbar in sich zu einigen schien - am äußersten Gegenpol angelangt, der antithetischen Entfremdung von Natur und Kunst. Das mächt es verständlich, daß der Enthusiasmus des Anti-Sokrates, der ironisch doch noch so viel von Sokrates in sich trägt, am n Zwei Motivationsstränge der technisch-artistischen Weltinterpretation sind hier in Valérys Sokrates formuliert: Zuerst die Idee eines noch unvollendeten Universums, das entweder auf die Bestimmung des Menschen als eines >schöpferischen< Wesens hin disponiert ist oder sich ihm als nacktes Faktum der Anforderung seiner >Arbeit< darbietet; dann, zweitens, die Selbstbehauptung gegen eine Natur, der, Kosmos zu sein, nicht mehr zugetraut wird oder in der der Mensch, vorgesehen zu sein, mit einem zureichenden Daseinsfundus bedacht zu sein, nicht mehr glauben kann. Ich verweise hierzu auf zwei andere Arbeiten: auf den Abschnitt »Unvollendetes Universum« in »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, Bonn i960, 62-68 [neue Auflage Frankfurt am Main 1998]; und »Ordnungsschwund und Selbstbehauptung« in: Das Problem der Ordnung. Hg. v. Helmut Kuhn und Franz Wiedmann, Meisenheim 1962, 37-57. 100
Ende des Dialogs umschlägt in die Melancholie dessen, der als Schatten im Hades schließlich seiner eigenen Realität nicht mehr traut, der durch den Bruch der Identität seiner geistigen Geschichte zu zweifeln beginnt an der Authentizität seiner Gedanken überhaupt, die ihm so entfremdet erscheinen, als ob sie der Phantasie eines noch Lebenden entsprungen seien - und die Sokrates damit ihrem Autor zurückzuerstatten scheint. Am Ende also und im ganzen eine vergebliche Unsterblichkeit.
III. Der Dialog »Eupalinos« ist im Werk Valérys dadurch zentral, daß er fast das ganze Instrumentarium der Begriffe des Kunsttheoretikers enthält und entfaltet. Darüber hinaus deutet sich in ihm eine Auseinandersetzung mit der metaphysischen Tradition an, die in diesen Begriffen steckt bzw. hinter ihnen steht. Aber die Bedeutung des Dialogs und seiner Sokrates-Figur geht noch etwas weiter: es wird versucht, die Umwendung der Tradition der ästhetischen Grundbegriffe nicht nur als Faktum hinzunehmen, sondern sie verständlich zu machen durch die Projektion in die Geschichte einer identischen - über den Tod hinaus identischen - Person, des Sokrates, der das Fazit der ganzen, als in ihm entspringend gedachten, Tradition im eigenen Leben zusammengedrängt sieht. Das führt oder verführt dazu, zwischen dem Prozeß der Geistesgeschichte und der fiktiven Biographie des Sokrates Analogien anzusetzen. Zwar wird dem Leser nirgendwo nahegelegt, diese Übertragung vorzunehmen, aber er wird auch nirgendwo davor gewarnt, es zu tun. Das hier naheliegende Schema könnte man beinahe als ein Stück Biologismus bezeichnen, von der Art des biogenetischen Grundgesetzes, nach welchem die Phylogenese sich in der Ontogenese wiederholt, so daß von dieser Schlüsse auf jene zugelassen sind. Wenn etwa der Naturbegriff Valérys sich als außerordentlich leer und unergiebig, ja als ein Inbegriff von Irreführungen und ablenkenden Orientierungen des Künstlers und der ästhetischen Theorie erweist, und wenn sein Sokrates sich als der von eben dieser Natur Enttäuschte zeigt, so ist damit zwar eine Motivation der Umkehr im Hades geschaffen, die den Dialog zentriert, aber eine Interpretation, die dies als Schema des geschichtlichen Prozesses verwenden bzw. übertragen wollte, wäre doch ΙΟΙ
einer Illusion sehr nahe, wenn nicht schon in ihr befangen. Die zureichende Interpretation des im »Eupalinos« zentralen objet ambigu erfordert, auf den Naturbegriff Valérys noch einmal zurückzukommen. Die Gestalten des Sokrates und des Anti-Sokrates haben eine gewisse Symmetrie zueinander, deren Achse gleichsam durch das objet ambigu dargestellt wird. Die Konsequenz des objet ambigu schien darin zu liegen, daß die Entscheidung entweder für die Natur als Herkunftshorizont dieses Gegenstandes fällt und dann die theoretische Betrachtung die angemessene Einstellung ist, oder daß die Künstlichkeit den Eindruck und die Herkunftsvermutung beherrscht und dann die Bewunderung des Gegenstandes sich unmittelbar fortsetzt in den Willen, solcher Hervorbringungen als Künstler mächtig zu werden. Der antikmetaphysische Hintergrund dieses Sokrates ist dahin wirksam, daß schon die Befragung des Gegenstandes auf die Alternative Natur oder Kunst Zuläuft und diese hier unlösbare Frage als solche die philosophische Landeinwärtswendung des Sokrates impliziert. Aber diese Funktion des objet ambigu, zu der ursprünglichen Alternative der antiken und traditionellen Metaphysik hinzuführen, zeichnet sich nicht ganz eindeutig als die Lösung ab, die Valéry für sich selbst gesucht oder gefunden hätte. Sein Naturbegriff eignet sich im Grunde nicht dazu, die Alternative zur Kunst zu bilden, und sein Begriff von Kunst ist nicht mehr wesentlich darauf angewiesen, aus der Opposition zu einer als unvollendet oder häßlich oder zu arm verstandenen Natur seine Bedeutung zu ziehen. Die Klammer der begrifflichen Antithese Natur und Kunst blieb in der ganzen geistesgeschichtlichen Entwicklung darin wirksam, daß die Wertaufladung der einen Seite immer nur auf Kosten der anderen möglich war, also der Seinsvorrang der Natur nur dadurch stabilisiert werden konnte, daß es gelang, alle Künstlichkeit und Kunstfertigkeit auf die Nachahmung der letztverbindlichen Exemplarität der Natur zurückzuführen, oder aber die Akkumulation der menschlichen Selbstwertung in der Kunst nur durch Entwesentlichung der Natur durchführbar zu sein schien. Valérys Position, im ganzen betrachtet, scheint auf eine Neutralisierung dieser Antithetik hinauszulaufen und damit auf eine Ästhetik jenseits der traditionellen metaphysischen Fixierung der Aussagemöglichkeiten. Der Sokrates des Dialogs »Eupalinos« hätte sich dann schon dadurch auf den falschen Weg begeben, daß er überhaupt das objet ambigu aus seiner Unbestimmtheit herausheben wollte; er hätte 102
also auch dann einen falschen - und das heißt hier immer philosophischem - Ansatz gefaßt, wenn er sich dafür entschieden hätte, diesen Gegenstand als Kunstwerk anzusehen und genießend zu behalten. Die Frage, nicht eine der möglichen Antworten, war die festlegende Vorentscheidung. Im Grunde braucht sich der HadesSokrates keine Vorwürfe zu machen: es gab nichts in dem Jüngling, was ihn befähigt hätte, die Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des Gegenstandes als solche auf sich wirken zu lassen. Die ästhetischen Voraussetzungen Valéry s, sein Begriff von Natur wie sein Begriff von Kunst, liegen noch jenseits des letzten Urteils, das Anti-Sokrates im Selbstgericht über sich spricht. Darin vor allem sehe ich die Bedeutung der eigentümlichen Resignation, mit der er das Wort gleichsam an seinen Autor zurückgibt. In einer Notiz des »Cahier Β 1910« schreibt Valéry: La >nature<, c'est-à-dire la Donnée. Et c'est tout. Tout ce qui est initial. Tout commencement; l'éternelle donnée de toute transaction mentale, quelles que soient donnée et transaction, c'est nature - et rien d'autre ne l'est (II 572). Diese Bestimmung der Natur geht von der zeitlichen Relation zum menschlichen Handeln aus; Natur ist nicht ein bestimmter Bereich von Gegenständen oder Prozessen, sondern das, was dem Menschen vorliegt, wenn er geistig tätig zu sein beginnt, und was in der transaction nicht bleibt und bleiben kann, was es gewesen ist. Solches Handeln ist hier keineswegs festgelegt auf den Bereich der Kunst; die Leonardo-Essays sind erfüllt von dem Grundgedanken, daß die theoretische Hypothese des Naturforschers im Grunde nichts anderes ist als die technische Konstruktion des Erfinders oder die ästhetische Konstitution des Künstlers. Nur der Anfang ist Natur; und in diesem Sinne hätte Sokrates recht gehabt, wenn er das objet ambigu als >Natur< angesehen hätte. Aber für den antiken Denker hätte dies etwas ganz anderes bedeutet, nämlich das Auf-sich-beruhen-Lassen des Gegenstandes in der theoretischen Anschauung. Der Mensch, wie Valéry ihn sieht, steht nicht der Natur gegenüber, er rivalisiert nicht mit ihr, er baut nicht seine Kulturwelt in die Naturwelt hinein oder neben sie, in Konkurrenz zu ihr, sondern sobald er sich von seinem Anfang entfernt, sobald er in seiner transaction tätig wird, hört die Natur auf, Natur zu sein, löst sie sich in den Transformationen des menschlichen Geistes. Das unsinnigste Programm, das Menschen sich stellen können, ist daher die Forderung, >zur Natur zurückzukehren^ In den »Rhumbs« steht, daß es kein naiveres Bestreben 103
geben kann als das, das alle dreißig Jahre >die Natur< entdecken will; es gebe gar nicht die Natur, oder vielmehr: das, was man für das Gegebene hält, sei immer schon une fabrication (II 617 f.). Die Idee, zum ursprünglichen Zustand der Dinge Beziehung zu gewinnen, habe zwar eine erregende Macht, aber ihre Voraussetzung, daß es etwas so Jungfräuliches geben müsse, sei eine grundlose Imagination, denn das Meer, die Bäume, die Sonnen und vor allem das Auge des Menschen selbst, das alles sei schon Kunst, und Kunst setze voraus, daß jenes Anfängliche und Ursprüngliche vergessen sei. Daher ist zu verstehen, daß es bei Valéry auch nicht die'ästhetische Antithese von Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit gibt. Die Vorstellung, die Valéry von Malerei hat und die er am Beispiel Leonardos entwickelt, ist durchaus gebunden an die Gegenständlichkeit des Gemäldes; aber diese Gegenständlichkeit ist sekundär und instrumental gegenüber einer Ungegenständlichkeit, die beim Künstler primär als Disposition der Farbe auf der Fläche da ist. Gegenstände setzt er erst sekundär als Vehikel dieser Disposition ein, so daß ait induction des gegenständlichen Objekts zurückführt auf die farbige Elementarstruktur, die sich im Betrachter wiederherstellt, so wie - nach einer Marginalie an derselben Stelle - ein Stück Poesie schließlich darin aufgeht, >musikalisch< gelesen zu werden (I 1186). Obwohl die Ateleologie der Natur den Künstler dazu legitimiert, sich nicht an die Verbindlichkeit ihres Bestandes zu halten, sondern sich seiner zu einer neuen Ordnung zu bedienen, scheint doch eine Teleologie anderer Stufe bei Valéry vorausgesetzt zu sein, die die Welt eben für diese Dienstbarkeit nicht nur disponiert, sondern sie, nach einem von Valéry zitierten Wort Mailarmes, darauf drängen läßt, ausgedrückt zu werden. Das hat nichts zu tun mit der Aussage, sie tendiere darauf, nachgeahmt oder dargestellt zu werden. Bezeichnenderweise gibt Valéry dieses Mallarme-Zitat an einer Stelle, wo er von Leonardos exzessiver Idee von der Malerei spricht, die ihm als das >Äußerste< der Anstrengungen eines universalen Geistes erschienen sei (11259). Die Idee einer ursprünglichen Natur läuft immer mehr oder weniger darauf hinaus, den Menschen und seine Hervorbringungen vom Gesamtbestand des Wirklichen zu subtrahieren, ihn aus diesem Gesamtbestand wegzudenken und sich nun den Widerspruch des >Anblicks< der Dinge ohne das Auge zu leisten. Aber >die Natur< ist genauso eine sprachliche Hypostasierung wie >die 104
Weltx Das Denken hat sich hier längst von der Eigenmächtigkeit der Sprache freigemacht und die immanent sprachlichen >Realitäten< paralysiert. Von dieser Art eben, so glaubt Valéry, sei der Ausdruck >Natur<: Lapensée l'abandonne à la parole. Tous ces mots nous paraissent de plus en plus des mots (II 621). Der Gegner des Infinitismus trifft sich mit der antiken Metaphysik, wenn er das Unendliche als das Unbestimmte und Nichtseiende versteht und damit einem Universum reine Nominalität zuschreibt, das weder ein Ganzes sei noch eine Mitte habe (II 790). Daß wir dennoch die Realitätserfahrung einer uns gegenüberstehenden Naturwelt haben, die mit uns, neben uns und gegen uns fortdauert, beruht nach einer anderen Notiz Valérys in den »Choses Tues« auf dem Widerstand, den die Dinge unserer Erkenntnis bereiten; wäre kein Rest des Rätselhaften je zu entschlüsseln übrig, so hätte ein vollends durchleuchtetes Universum ebensowenig Fortbestand wie eine bloßgestellte Gaunerei (une escroquerie dévoilée) oder der Trick eines Zauberkünstlers (un tour prestidigitateur), dessen Geheimnis man herausbekommen hat (II 506). Die Realität der Welt beruht auf dem Widerstand, dem der Mensch begegnet, und das Korrelat dieses Widerstandes ist die Anstrengung, in der er sich an ihm mißt. Unter diesen allgemeinen Begriff des Verhältnisses von Mensch und Welt gehört als der hervorragende Spezialfall das Werk des Künstlers. Dieses Grundschema beherrscht die Ästhetik Valérys, macht sich überall in den Bevorzugungen seiner Sprache bemerkbar, vor allem in der entschiedenen Ablehnung der Vorstellung der Inspiration, durch welche die erarbeitete, aber doch niemals vollendete Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit des Kunstwerkes zurückverlegt wird in den Ursprung seiner Konzeption und damit vor den bewußten und geleisteten Anteil des Autors. In der Fazilität des Gewordenen zahlt sich die Last seines Werdens aus. Hier fällt weiteres Licht auf das objet ambigu: seine Realität liegt in der Unüberwindlichkeit seiner Vieldeutigkeit, in den nicht beantworteten Fragen, die es ins Meer zurück mit sich nimmt und die doch dem landeinwärts gehenden Sokrates bedrängend nahebleiben. Aber dies ist zugleich auch die Beschreibung des Realitätscharakters des ästhetischen Werkes; es verdichtet die Verschlüsselung, die die Welt ohnehin dem Menschen entgegenstellt, aber seine Undurchdringlichkeit steht nicht mehr in Beziehung zu den Lebensnotwendigkeiten des Menschen, seine Realität braucht nicht aufgelöst zu werden als eine fremde und damit gefährliche 105
Größe, sondern kann auf sich und in sich beruhend bleiben, weil dies das Geheimnis ist, das der Mensch sich selbst darstellt und aufgibt. Anders als die Hypothese des Wissenschaftlers sucht das Kunstwerk die Rätsel des Gegebenen nicht aufzulösen, sondern an die Stelle der fremden Unauflösbarkeit die eigene, menschliche Unauflösbarkeit zu setzen, an die Stelle der einen quälenden Unbestimmtheit des aus unerforschbarer Quelle Begegnenden die beglückende, Genuß bietende Unauflösbarkeit des menschlichen Werkes, dessen Realitätscharakter als Widerstand damit äquivalent dem Gegebenen, aber ohne den Stachel der theoretischen Unruhe, ist. Die Interpretation des Kunstwerkes wird sich daher immer mit einer Lösung begnügen können, die nicht Auflösung des Gegebenen ist, sondern die verbleibende Unbestimmtheit anderer Möglichkeiten bewußt lassen darf, während die theoretische Hypothese des Wissenschaftlers belastet ist mit der Möglichkeit anderer, sie überbietender Lösungen, von denen doch keine je endgültig ausschließen kann, daß ihre Verifikation scheitert. Die spezifische Differenz zwischen dem ästhetischen Werk und der theoretischen Leistung liegt in diesem Moment, während beide ihre generische Identität in der Struktur der transaction besitzen. Die thematisch fixierbare Gegenständlichkeit des Kunstwerkes ist daher seine Schwäche; der Gedanke muß im Gedicht verborgen sein wie der Nährwert in der Frucht, die zwar nahrhaft ist, aber nur in ihrem Genußwert sich anbietet, so daß man nur Vergnügen empfindet, während man doch Substanz zu sich nimmt (II 547f·)· Hier wird auch der Grund erkennbar, weshalb Valéry es in dem eingangs zitierten Brief an Duhamel für notwendig hält, die traditionelle Literaturkritik mit dem Grundsatz zu korrigieren, daß der Schluß von der Stimmung des Werkes auf seine Ursprungssituation unzulässig sei. Die Selbstbeobachtung bei der Entstehung der »Jeune Parque« hatte Valéry in die Worte zusammengefaßt: Il n'y avait aucune sérénité en moi. Je pense donc que la sérénité de l'œuvre ne démontre pas la sérénité de l'être ... Sur ces questions, toute la critique littéraire me semble à réformer (L 181). Die formale Schwerelosigkeit des Gedichts ist ein ästhetischer Effekt, der für den Aspekt des Lesers gültig ist und die wesentliche Illusion der Vollendung erzeugt, der aber nicht für die Selbstbeobachtung des Autors normativ ist, der sein Werk als unvollendet, den Widerstand als nicht gebrochen erfährt, für den die Selbsterprobung und Selbstbestätigung daher mit keinem Werk abgeschlossen sein kann. 106
Wiederum über die Entstehung der »Jeune Parque« schreibt Valéry an Albert Mockel (1917; L122-125), der wahre Gewinn, den er aus diesem Werk gezogen habe, bestehe in den observations sur moimême prises pendant le travail. Eine Poetik der ästhetischen Produktion wird daher ganz anders aussehen müssen als eine Poetik der ästhetischen Rezeption, ohne daß die eine die andere ausschließt oder durch ihren Widerspruch entkräftet; man wird aber bei jeder vorliegenden Aussage zu fragen haben, in welche der beiden Poetiken sie gehört. Es ist also nicht wahr, daß der Betrachter, Zuschauer oder Leser eben die Handlungen zu wiederholen hätte, die der Autor vollzogen hat, oder sich in dessen Situation und Stimmung versetzt fühlen müßte. Der Leser kann die Erfahrungen des Autors nicht teilen; die Selbstbeobachtung des Autors gewinnt vielleicht aus dem mißglückten Versuch, mit den Bedingungen des Werkes fertig zu werden, mehr als aus ihrer geglückten Bewältigung - der Leser gewinnt aus solchen Schiffbrüchen des Dichters unmittelbar nichts. In dem Entwurf eines zur Veröffentlichung bestimmten Briefes an einen Freund (1926; L i6of.) konfrontiert Valéry bewußt den Standpunkt des bewundernden Lesers seiner Verse mit dem, was diese Verse ihm selbst bedeuten. Indem er die Mythologie der Inspiration wieder einmal abweist, geht er auf die Selbstbeobachtung des arbeitenden Dichters zurück, auf ces efforts de poète contre les étroites conditions que je m'étais données, auf ait problèmes sans issue, und beschreibt das Hirn des Dichters als einen Meeresgrund, auf dem das Wrack manchen Gedichts ruht, das durch ein Nichts Schiffbruch erlitt. Eben dies seien die Affairen des Geistes, und über sie lernt der Beobachter mehr an der Niederlage als am Erfolg, denn Bewußtsein und Erfahrung von Widerstand sind untrennbar: Ce qui se fait facilement ce fait sans nous... Das Gegenständliche erscheint als die ästhetische Versuchung, die von sich aus die Bedingungen ihrer Realisierung zu setzen tendiert; statt dessen sollen die >engen Bedingungen der Form den Gegenstand nicht zur vollen Präsentation seiner Bestimmtheit durchdringen lassen, sondern ihn in jene Unbestimmtheit zurückdrängen, die die Vieldeutigkeit des nur noch ästhetischen >Gegenstandes< bestehen läßt.12 Der Reim demonstriert am sinnfälligsten 12 Den ganzen hier umschriebenen Komplex hat Valéry schon lange vor dem »Eupalinos« mit Formeln für die Unbestimmbarkeit des Gegenständlichen in Zusammenhang gebracht, wie une étrange substance in der wichtigen No107
die Indifferenz zwischen dem Gegenstand und der Form; er drängt den Gegenstand aus dem beherrschenden Vordergrund des Gedichtes zurück, gerade indem er seine Äußerlichkeit fühlbar werden läßt: La Rime - constitue une loi indépendante du sujet et est comparable à une horloge extérieure (II 552). Es sei, so sagt Valéry, eben dies der große Gewinn des Reimes, daß er bei den einfältigen Leuten Anstoß erregt, die in ihrer Naivität glauben, daß es unter dem Himmel etwas Wichtigeres gibt als eine Konvention, und die ebenso naiv glauben, irgendein Gedanke könne größere Tiefe und Dauer besitzen als jede beliebige Konvention - und gerade deshalb biete der Reim ästhetischen Genuß (II551). An anderer Stelle scheut Valéry nicht davor zurück, diesen Sachverhalt durch eine Wahrscheinlichkeitsüberlegung zu begründen; wenn man von einer festen Vorstellung ausgeht, sei die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dazu einen Reim zu finden, als wenn man von dem Reim ausgehe, dazu eine literarische >Idee< zu gewinnen - alle Dichtung beruhe auf diesem Sachverhalt und insbesondere die Dichtung des Zeitraumes zwischen 1860 und 1880 (II 582). Schließlich ist dies die Theorie, die der ästhetischen Bedeutung des objet ambigu zugrunde liegt. Der ästhetische Gegenstand hat nicht die Bestimmtheit eines Punktes, sondern die Potentialität eines Horizontes. Indem die dichterische Sprache ihre feste Bindung an Gegenstände und ihre Intentionalität auf die volle Bestimmung dieser Gegenstände preisgibt, ja indem die Sprache in letzter Konsequenz sich selbst widerspricht und ihre Verweisungsfunktion aufsprengt, wird sie selbst dinghaft, selbst das objet ambigu, das den Menschen nicht von sich weg auf andere und eigentlichere Dinge hindrängt. tiz des »Cahier Β ιριο« (II 592), das objet vague, das Voraussetzung der Erfindung und ihrer Selbsterfahrung (... j'invente, donc je suis) ist (II 594). Die Betonung des hyletischen Moments und des travail contre ce hasard ist gegen die mnerträgliche Vorstellung< der poetischen Inspiration gerichtet (II 681), die einschließt, daß das, was nichts kostet, am meisten wert sei (II 550), also gegen das Acheiropoieton als Grenzvorstellung der ästhetischen Konzeption. Daß das Unbestimmt-Formlose - im Gegensatz zu der den Dingen entfremdeten menschlich-authentischen Sprache - gleichsam die Sprache der Dinge selbst, der noch nicht vergegenständlichtem Dinge, sein könnte, kommt an einer hübschen Stelle eines Briefes Valérys an Madame Gide zum Vorschein, an der er über die ersten Lautversuche des Söhnchens Claude berichtet: // commence à tenir des discours informes. Mais cela me connaît. L'informe est mapartie. Lui, l'enfant, profère tout d'abord ce que je cherche si souvent, tuant la phrase, cassant le mot, évoquant le babil même des organes, c'est-à-dire des... choses! (26. Dezember 1903; GV 402) 108
Francis Ponge hat in »Le Parti pris de Choses« die Sprache als ein vom Menschen ausgeschiedenes Gehäuse nach der Art einer Muschel vorgestellt und dadurch das Bild des objet ambigu aufgenommen, indem er sich vorstellt, nach dem Aussterben unserer Spezies gerieten die leeren Muschelgehäuse in die Hände anderer Wesen, die sie ebenso ansehen würden, wie wir Muscheln am Meeresstrand betrachten. Für uns selbst allerdings sei die Chance, die von uns hervorgebrachten Sprachgehäuse als in ihrer Bedeutung unbekannte Dinge zu betrachten - so wie Sokrates das objet ambigu betrachtet - nicht gegeben; um unsere Sprachgehäuse uns selbst als unbekannte Dinge begegnen zu lassen, müssen wir die Gebrauchsfunktion, den objektiven Bedeutungswert der Worte zerstören, so daß sie - immer nach Ponge - ihrerseits zu Dingen werden, von uns hervorgebracht und doch nicht mehr von uns begreifbar. Diese Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, die das Kriterium der Angemessenheit der Form an den Inhalt, der Sprache an das in ihr Bedeutete preisgibt, verliert damit auch die Entscheidbarkeit der Frage nach der Vollendung des ästhetischen Werkes. Unbeständigkeit (instabilité) gehört wesentlich zum ästhetischen Urteil, das eben als Urteil sich ständig der legitimen ästhetischen Illusion der Vollendung widersetzt und den faktischen - als jeweils letzten Zustand des Werkes mit seinem möglichen endgültigen Zustand vergleichen möchte; die Feststellung, daß ein Werk vollendet sei, scheitert an seiner wesentlichen Unbestimmtheit (II 553). Damit hängt zusammen, daß der Autor nicht kompetenter ist, sein Werk zu werten und zu beurteilen, als der Leser; der Autor beurteilt, beobachtet und kontrolliert nur den Prozeß, in dem das Werk entsteht, nicht aber dieses selbst, als sei es nur das Telos des Prozesses (das erinnert wieder ganz an den Architekten Eupalinos). Quand l'ouvrage a paru, son interprétation par l'auteur n'a pas plus de valeur que toute autre par qui que ce soit (II 557).
IV. Ich möchte nun noch eine letzte Annäherung an das objet ambigu versuchen, und zwar ausgehend von einer Bemerkung, die sich im zweiten Leonardo-Essay von 1919 findet (11221). An dieser Stelle wird von einer wesentlichen Differenz zwischen dem Künstler und dem Philosophen gesprochen; das Staunen des Künstlers be109
ziehe sich nicht darauf, daß überhaupt etwas existiert, sondern darauf, daß die Dinge so und nicht anders sind, wie sie sind. Man muß beachten, daß diese Sätze unmittelbar anschließen an eine Erörterung über die notwendige Unbegreiflichkeit des Todes für das Bewußtsein (I 1219^). Die Erwägung der absoluten Kontingenz, des möglichen Nichtseins der Welt, erscheint hier als eine bedeutungslose Alternative, aus der nichts zu folgern ist. Aber die relative Kontingenz, daß die Welt auch anders sein könnte als sie ist, impliziert, wie Valéry sagt, le secret des inventeurs, und das heißt, daß oie figure de ce monde als zufällig und überschreitbar angesehen werden kann. Die metaphysische Radikalität der Frage, wie sie Leibniz gestellt hatte: cur aliquid potius quam nihil, wird beiseite geschoben; aber auch die Frage, weshalb diese und keine andere Welt, wird nicht um des Nachweises ihres zureichenden Grundes willen gestellt, sondern in dem einzigen Interesse, den Anspruch der Kunst zu legitimieren, die faktische Welt auf sich beruhen zu lassen und sich dem Unverwirklichten zuzuwenden. Im Staunen über die Faktizität der Welt nimmt das Bewußtsein seine eigene Freiheit wahr. Was für die Philosophie negativ in das rationale Ärgernis einer Begrenzung ihres Fragens nach dem Grund ausschlagen muß, wird für die Ästhetik positiv als Antrieb und Rechtfertigung ihres Willens, die Natur als das Nur-Gegebene anzusehen. Diese Freiheit beruht auf dem Wesen des Bewußtseins als einem Formalismus, als einem System von Variablen faktischer Besetz barkeit; das Bewußtsein versichert sich dessen, daß die Dinge anders sein könnten, als sie sind, ohne daß es selbst anders sein müßte, als es ist (I 1222). Der Leib und die Welt erscheinen ihm daher als fast willkürliche Einschränkungen seiner Funktion. Kunst und Technik beruhen darauf, daß das Ereignis >Welt< wesentlich material ist, das Ereignis >Bewußtsein< wesentlich formal. Das Bewußtsein stellt einen >Überschuß< über die Bedürfnisse der faktisch gegebenen Welt dar, der als solcher formulierbar, repräsentationsfähig ist und in der Kunst tatsächlich formuliert und repräsentiert wird. Kunst ist Reflexion des Bewußtseins in seiner Welttranszendenz und Weltautonomie. Darin liegt der Vorrang des Formalen in der Kunst begründet; es variiert nicht die Faktizität, sondern reflektiert die Möglichkeit selbst. Das objet ambigu nun ist ein Gegenstand, der in der faktischen Welt nicht untergebracht werden kann, der sich der Klassifizierbarkeit und Identifizierbarkeit entzieht. Er ist potentiell ästhetisch, weil er nicht die restriction 110
repräsentiert, sondern sie schon zu durchbrechen scheint. Sokrates, der noch nicht zum Anti-Sokrates Bekehrte, wirft diesen zweifelhaften Gegenstand ins Meer, weil er nichts von der Faktizität der Welt weiß und wissen kann, weil es für ihn nur die Welt geben kann, die es tatsächlich gibt, und er damit den Transzendenzcharakter des objet ambigu verwerfen muß, den er nicht zum Sprechen zu bringen vermag. Zugleich wird klar, was eigentlich das im ästhetischen Genuß Genießbare ist. Das ästhetisch-rezeptive Subjekt genießt nicht den Gegenstand als solchen und kein Moment an ihm, sondern durch den Gegenstand hindurch bzw. an ihm sein eigenes Nichteingeschränkt-Sein durch die faktische Welt, seine Freiheit gegenüber dem >Gegebenen<. Das ästhetische Objekt ist, von der Welt her betrachtet, das Unwahrscheinliche; vom Bewußtsein her ist es angesichts der Unbestimmtheit des Möglichen gegen die Endlichkeit des Wirklichen das schlechthin Wahrscheinliche, dessen Ausbleiben das Faktische immer in den unerträglichen Verdacht des Notwendigen setzt.'"1'
Die vorliegende Arbeit ist das erste Stück einer vierteiligen Valéry-Studie, die ferner aus den Kapiteln »Leonardo«, »Faust« und »Monsieur Teste« bestehen wird. Einem gemeinsam mit meinem Gießener Kollegen H. R. Jauß im Sommer 1962 veranstalteten Seminar über Valérys Poetik verdanke ich Wesentliches.
Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes Das Verhängnis jeder Kunsttheorie ist in dem Gemeinplatz ausgesprochen, über den Geschmack ließe sich nicht streiten. Weshalb eigentlich nicht? Weil vorausgesetzt wird, daß ein Streit über bestimmte bzw. bestimmbare Gegenstände seinen Sinn nur darin haben könne, die eindeutige Bestimmtheit des Gegenstandes auch zur Form des Resultates der.Auseinandersetzung über den Gegenstand werden zu lassen. Immer also sucht die Ästhetik aus ihrem Dilemma herauszukommen, indem sie sich die theoretische Objektivierung zum wenn nicht erreichbaren, so doch näherungsweise erstrebbaren Modell setzt. So hat Kant die subjektive Allgemeinheit des ästhetischen Urteils als die einzige Möglichkeit gesehen, das ästhetische Gegenstandsverhältnis davor zu bewahren, zu einer völlig unverbindlichen Relation der absoluten Individualität zu werden. Diese Intention als solche muß jede Philosophie der Kunst teilen; nur ist die Frage, ob der Weg Kants der einzig mögliche ist. Liegt die ästhetische Subjektivität wirklich nur und primär bei den Subjekten, oder ist der ästhetische Gegenstand seinerseits und essentiell vieldeutig, und zwar so, daß diese Vieldeutigkeit nicht seine Defizienz gegenüber dem theoretischen Gegenstand ausmacht, sondern seine ästhetische Funktion erst ermöglicht? Vieldeutigkeit ist geradezu der Index, unter dem die Gegenständlichkeit des Ästhetischen sich ausweist. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß das durch den Dichter oder bildenden Künstler hervorgebrachte Werk eine eigene ästhetische Gegenständlichkeit besitzen muß. Gemeint ist natürlich nicht diejenige physische raumzeitliche Objektivität, die mich ein Gemälde ergreifen und forttragen, den Malgrund oder die Farben chemisch untersuchen, seine Größenangaben nachprüfen läßt. Sondern gemeint ist, daß ein solches Werk auch eine rein vermittelnde oder verweisende, nicht selbst unmittelbar gegenständliche Bedeutung haben kann, indem es z.B. an erlebbare Situationen gegenüber der Natur oder aus der inneren Erfahrungswelt des Menschen erinnert oder, wie auch gern gesagt worden ist, etwas noch nicht Gesehenes, aber prinzipiell Sichtbares, sichtbar macht bzw. mit einem Akzent ver112
sieht. Oder die Funktion des Werkes kann darin bestehen, Gedanken mitzuteilen, sie am Modell der Anschaulichkeit deutlicher oder eindrucksvoller nahezubringen. Etwas ganz anderes ist es, wenn ein moderner Autor fordert, der Dichter dürfe niemals einen Gedanken äußern, sondern einen Gegenstand, und das heiße, daß er noch den Gedanken die Haltung eines Gegenstandes einnehmen lassen müsse. Das aber bedeutet, daß der Gedanke nicht einfach nur in ein passendes Medium der Anschaulichkeit übersetzt ist, um diesem Medium jederzeit wieder entnommen werden zu können und in seine Ausgangsidentität zurückzukehren - freilich nur in der Sphäre eines anderen Subjektes -, sondern es heißt, daß der Gedanke endgültig und irreversibel Gegenstand geworden ist, daß er für jeden Rezipienten etwas anderes und eigenes bedeuten wird, daß er endgültig aus der Eindeutigkeit seiner Herkunft verlorengegangen ist in die Vieldeutigkeit einer ihm immanenten Geschichte. Der ästhetische Gegenstand stellt seinen absoluten Anspruch, die Bezugsfähigkeit des Subjektes auf sich zu konzentrieren und endgültig ohne Weiterverweisung bei sich aufzufangen, gerade durch die Ausschaltung alles Gedanklichen, Semantischen, Intentionalen. Vielleicht läßt sich das am besten am Beispiel der Allegorie demonstrieren. Der zeitgenössische Verfasser eines Theaterstücks notiert sich folgenden Einfall: Feriengäste sitzen in einer Pension, und dann erscheint eine Maurerkolonne, die allmählich die Fenster und zuletzt die Türen zumauert. Keiner der Gäste... wird den Raum verlassen. Zuerst ignorieren sie den Vorgang, dann werden sie unruhig, dann versuchen sie ihn komisch zu nehmen, dann geraten sie in Panik, und zum Schluß sind sie wie gelähmt. Die Maurer stellte ich mir harmlos gemütlich, aber unbeirrbar vor. Sie beriefen sich gegenüber den Gästen auf einen Auftrag des abwesenden Wirtes. Auf den ersten Blick ist man geneigt, das eine Allegorie zu nennen; aber bei der Verifikation dieser Figur zeigt sich, daß etwas fehlt, was die klassische Allegorie auszeichnet, nämlich, daß sie immer schon weiß, was sie darstellt, daß ihr Verweisungsbezug durch dieses Vorwissen Eindeutigkeit beansprucht, und daß das Verständnis nicht ruhen darf, ehe es nicht diesen eindeutigen Bezug aufgedeckt bzw. nachvollzogen hat. Die moderne Allegorie von der Art der zitierten geht weder von einer abstrakten Formulierung eines Inhaltes aus noch tendiert sie auf eine solche Faßbarkeit. Zwar muß die Möglichkeit ihrer De"3
chiffrierung immer im Hintergrund stehen, aber sie kann nicht realisiert werden, oder sie darf, ja sie muß sogar Vieldeutigkeit zulassen, d. h. die Nichtkorrigierbarkeit einer jeweils gegebenen Deutung durch eine andere, evidentere. Der schon zitierte Autor eines modernen Bühnenstückes notiert sich weiter: Ich konnte sicher sein, daß es auf die Frage >Wer oder was sind die Maurer?< eine Menge Antworten gab. Wenn man einmal eine solche Modellsituation gefunden hat, braucht man sich keine Gedanken zu machen. Das tun dann die anderen ... Das würde sich auch nicht ändern, wenn ich mich selbst für eine bestimmte Deutung entschied. Diese Art von Allegorie ist also nicht eine Fiktion, die für eine vorgegebene bzw. dahinterstehende Bedeutung eintritt, um dieser Bedeutung als Vehikel zu dienen, um sie eingängiger, prägnanter, ablesbarer, transportabler zu machen. Sondern diese Allegorie beansprucht für sich selbst die Charaktere einer letzten Gegebenheit, die zwar immer Deutungen provoziert, diese Deutungen aber durch ihre Ablösbarkeit bzw. ihre Interferenz entkräftet, in der Schwebe läßt, aufhebt, nicht zur Endgültigkeit gelangen läßt. Diese Gegebenheit dessen, was ursprünglich ein Zeichen für anderes war, geht selbst in die Gegebenheitsweise jenes anderen über, verdinglicht sich, gewinnt jene innere Konsistenz, in der sie selbst perspektivisch erfaßbar wird, Aspekte darbietet, die sie auf einen Pol von Gegebenheit beziehen lassen. Diese Aspekte, deren Realisierung bzw. Vollstreckung in jedem Falle den Titel »Kommentar« tragen könnte, haben ihren Realitätsbewußtsein stiftenden Sinn aber nur und gerade in ihrer Pluralität, in der Potentialität ihrer Implikationen, einem Reichtum, dessen Mitpräsenz sich sofort verflüchtigt, wenn eine dieser Möglichkeiten nicht mehr ästhetisch, sondern theoretisch realisiert und bis in die volle Explikation hinein vollzogen wird. Daraus ergibt sich der paradoxe Sachverhalt bei moderner Kunst, nicht nur bei der bildenden Kunst, sondern auch etwa in der Lyrik (Eliot, The Waste Land; Ezra Pound, Cantos), daß ihre Produkte geradezu nach dem Kommentar schreien, daß aber jeder Kommentar zerstörerisch auf ihren Realitätsmodus wirkt. Diese Paradoxie ist symptomatisch für die Essentialität der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes. Der Perspektivismus, den der Roman seit Balzac in seine Erzähltechnik, in sein Darstellungssystem selbst einbeziehen konnte, aber doch mit der Fixierung des Lesers auf die jeweils ins Spiel gebrachte Perspektive, wird in der Lyrik oder im Werk der bilden114
den Kunst gleichsam als Netz besetzbarer Variablen in den Raum um das Werk hinausprojiziert. Gehen wir von unserem Beispiel der Allegorie noch einen Schritt zurück, so stoßen wir auf eine Theorie der Phantasie selbst, die nicht mehr originär schöpferisch ist, sondern die sich als Organ in einem Räume des Vorfindbaren bewegt, der nicht identisch ist mit dem Raum der empirischen Realität, aber auch nichts zu tun hat mit dem der Phantasie traditionell ganz fremden Bereich des sogenannten Idealen. Dadurch bekommen die Produkte der Phantasie einen eigenen Charakter der Objektivität, der für das phantasierende Subjekt selbst überraschend angetroffenen Solidität. Das gibt der Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes jene Sanktion, die er benötigt, damit Vieldeutigkeit nicht gleichgesetzt werden kann mit dem Mangel an Verbindlichkeit und Klarheit dessen, der zu wenig gesehen, zu wenig hingesehen, nur halbe Arbeit in der Deskription des Geschaffenen geleistet hätte. Obwohl also die Phantasie gerade in der Neuzeit als schöpferisch, als erfinderisch entdeckt und definiert worden ist, scheint sie zu erfahren, daß sich ihr etwas zeigt, wenn sie eine bestimmte Einstellung bezieht. Man sieht leicht, daß man hier mit der klassischen Differenzierung des Subjektiven und des Objektiven nicht mehr weiterkommt, daß gerade das, was man als im höchsten Grade subjektiv bezeichnen müßte, insofern Charaktere der Objektivität annimmt, als es der Verfügung und willkürlichen Bestimmung gerade des Produzierenden entzogen ist. Die objektive Faktizität im Raum der Phantasie läßt zumindest die Konvention zu, daß dieser Raum intersubjektiv zugänglich sei und daß die Identität des Subjekts, das ihn betreten und in ihm seine Erfahrungen gemacht hat, zufällig sei. Ein moderner Lyriker schreibt in der Vorrede zu seinen ausgewählten Gedichten an den Leser: Wenn auf den Seiten dieses Buches irgendein glücklicher Vers gelingt, möge mir der Leser die Unhöflichkeit verzeihen, daß ich diesen zuerst usurpiert habe. Unsere Spielereien unterscheiden sich wenig; trivial und zufällig ist der Umstand, daß du der Leser dieser Übungen bist und ich ihr Verfasser bin. Die Zufälligkeit der Zuordnung von Verfasser und Leser beruht gerade auf der vermeintlichen Unabhängigkeit der Werkstücke von der Subjektivität ihres Autors: sie werden nicht erfunden, sondern vorgefunden, sie haben innere Notwendigkeit ihres So-und-nicht-Andersseins, sie liegen sozusagen auf dem Wege, und es ist ein pures Faktum, wer sie "5
findet. Sie sind dem Subjekt des Lesers daher genauso fremd oder vertraut, wie dem des Autors, und diese Konvention bzw. Fiktion gibt die Chance, daß das Verhältnis des Rezipienten zum ästhetischen Gegenstand genauso authentisch, so hoffnungsvoll im Gelingen des deutenden Zugriffs sein kann, wie das des Autors. Ihre Stellen sind vertauschbar. Der Autor entschuldigt sich dafür, daß er diese Gegenstände sich angeeignet und sie als die seinigen ausgegeben hat. Wir haben es nicht mit einer rhetorischen Bescheidenheitsformel des Autors zu tun, sondern mit einem sehr genau erwogenen Versuch, den Realitätsgräd seiner ästhetischen Produkte mit Hilfe der Fiktion einer InterSubjektivität, einer Vertauschbarkeit der Positionen, zu steigern. Der Unterschied von Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik soll aus der Welt geschafft werden. Die ästhetische Interpretation löst sich nicht nur von der psychologischen Fragestellung nach dem, was der Autor mit seinem Werk gewollt hat, sondern auch von der historisch objektivierten Problemstellung, die sein Wollen in den Horizont dessen stellt, was dem Rezipienten seines Werkes zugetraut werden konnte, mit anderen Worten: was er mit seinem Werk gewollt haben konnte. Der Wille des Autors, als eindeutig bestimmter vorgestellt, ist von vornherein inadäquat der essentiellen Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit dessen, was als ästhetisch ansprechender Gegenstand existiert. Noch die romantische Idee von der Selbstaufhebung des Kunstwerkes durch die Implikation, daß erst der ihm kongeniale Kritiker seine Realisierung vollendet, führt zu einer einseitigen Akzentuierung, wenn nicht Mystifizierung der Rezeptionsästhetik im strengsten Sinne, indem der Kritiker hier zu dem von der Natur disponierten Exponenten eines Publikums wird, an dessen Fähigkeit zum Allgemeinen nicht mehr geglaubt werden kann, weil die ästhetische Sonderstellung des Genies aus der Sphäre der Produktion in die der Rezeption transponiert ist. Aber das Genie der Rezeption schafft den Widerspruch einer Pluralität von absoluten Integrationen, die sich je auf ihre Legitimation durch Genie berufen können. Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes ist hier systemwidriges Faktum. Nun könnte man einwenden, dieser Konzeption widerspreche aufs entschiedenste das Phänomen der Ausschaltung der Perspektive in der modernen Malerei. Aber, ganz im Gegenteil, dieser Vorgang bestätigt gerade, daß die technische Festlegung des Betrachters auf einen vom Künstler gewählten Aspekt das auszuiié
schaltende Ärgernis ist. Die Hereinnahme einer Pluralität als Gleichzeitigkeit von Aspekten in das Bild selbst (Picasso) bzw. die Durchbrechung der Erwartungsstruktur in der Plastik (Archipenko, Moore) bestätigen, daß der ästhetische Gegenstand dem Betrachter die Wahl des Deutungsstandpunktes nicht mehr aufzwingen, sondern offenlassen soll, und daß er sich gerade darin zu einem neuen Realitätsgrad verdichtet. Die Verachtung der Erzeugung von Illusion, die mit der Technik der Perspektive und mit der Befriedigung der raumtypischen Erwartung verbunden war, beruht auf der Geringschätzung des Verzichtes für das ästhetische Werk, selbst und seinerseits das Letzte, der absolute Bezugspol der ästhetischen Relation zu sein. Das moderne Bild, die moderne Plastik wollen nicht Gebrauchsanweisungen für Illusionen, Eröffnungen der Sichtbarkeit für anderes sein; sie wollen selbst das und nichts weiter als das sein, als was sie sich darstellen. Um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen: die Pluralität der ästhetischen Interpretationen ist nicht eine Form des Verunglückens der gesollten Einstellung und Rezeption; sie scheint vielmehr die einzige Form zu sein, in der eine Äußerung des >Geschmacks< überhaupt einen Sinn hat. Nur wenn man sich der Vorstellung hingibt, ein Mensch besitze seine Individualität als einen Merkmalsbestand unabhängig davon, ob er überhaupt mit anderen Menschen in Austausch, in Vergleich, in Widerspruch tritt, nur dann kann man glauben, es gäbe >Geschmack< als je isoliert sich ausbildenden ästhetischen Gegenstandsbezug, als eine in die Individualität eingeschlossene Sphäre ästhetischer Formulierbarkeit. Dagegen gibt es so etwas wie ein ästhetisches >Urteil< im Sinne der isolierten Endgültigkeit dieser logischen Kategorisierung eigentlich nicht; formuliert wird die ästhetische Erfahrung doch nur, um sich mit anderen zu messen, um sich gegen andere zu behaupten, aber dies im Sinne einer pluralistischen Versicherung der Relevanz des Gegenstandes, nicht primär der >Richtigkeit< der eigenen Position. Daß der Geschmack sich mitteilen läßt, ist die eigentliche Grundform seiner >Allgemeinheit<. Die Verständigung über den Geschmack scheint vergebens zu sein, wenn man als das Ideal und Ziel die objektive Identität eines Resultates ansieht, wie in der theoretischen Praxis. Der mögliche Austausch, l'échange possible (Valéry), ist der Sinn jeder ästhetischen Behauptung, die in dem Augenblick, in dem sie zur identischen Meinung aller möglichen Partner dieses Austausches geworden wäre, nicht nur ihren "7
intersubjektiven Sinn verloren hätte, sondern den Gegenstand zur erledigten Sache< zusammensinken ließe. Wir haben heute einen ästhetischen Pluralismus in der Dimension der Zeit, den ästhetischen Historismus, durch den es uns selbstverständlich ist, daß der Geschmack sich geschichtlich wandelt und daß die gewandelten Urteile jeweils in ihrem Sinnhorizont fundiert und legitimiert sind; aber wir haben kein System der gleichzeitigen Pluralität des ästhetischen Gegenstandsbezuges, d. h. keine Rechtfertigung dieses Zustandes, der zumeist mit einem schlechten Gewissen< toleriert wird. Die Unübersehbarkeit des ästhetischen Gegenstandes ist seine eigentliche >Qualität<, in der Weise, daß sich die ästhetische Erfahrung um ihn nicht drücken kann, so wie in der empirischen Realität bestimmte Grunderfahrungen nicht ausgelassen werden können. Das mag man akute Dringlichkeit, unausschlagbare Relevanz oder wie immer sonst nennen - die Nötigung zum Eintreten in den Potentialitätshorizont der ästhetischen Stellungnahme ist das wesentliche Kriterium der ästhetischen Gegenständlichkeit. Paul Valéry hat dies in seinem Dialog »Eupalinos« dargestellt an der schicksalhaften Rolle jenes von Sokrates am Meeresstrand aufgefundenen objet ambigu, an dessen Erinnerung der im Hades auf sein Leben reflektierende Sokrates eine Vieldeutigkeit gewahr wird, deren Übersehenhaben ihm nun als die anstößige Faktizität seiner Entscheidung- für ein Philosophenleben aufgeht. Dieses zweifelhafteste Ding von der Welt< ist zwar ein Naturprodukt; aber indem es in der Zone zwischen Meer und Land einer unübersehbaren Vielfalt von einwirkenden Faktoren über unendliche Zeit ausgesetzt war, hat seine Form den paradoxen Status der vollendeten Unbestimmtheit erreicht, dem der Künstler nur auf dem Gipfel einer unendlichen Anstrengung nahezukommen vermag. Diese Gegebenheit widersetzt sich der traditionellen Ontologie seit der Antike, die die Frage nach der natürlichen oder künstlichen Herkunft eines Gegenstandes immer für entscheidbar halten mußte und das Künstliche von vornherein als sekundär gegenüber dem Natürlichen auffaßte. Erst in einer Natur, deren Grundkräfte als Evolution und Erosion bestimmbar geworden sind, bestimmt der paradoxe Sachverhalt der erwarteten Überraschung des Niegesehenen die Einstellung, der auf der Seite der Kunst die Grundbegriffe von Erfindung und Konstruktion adäquat gegenüberstehen. Der Sokrates im Dialog Valérys gelangt nicht zur ästhetischen Ein118
Stellung gegenüber dem objet ambigu, weil er auf der Frage, auf der Definition, auf der Klassifikation des Gegenstandes besteht - darin hat er sich zum Philosophen entschieden. Die ästhetische Einstellung läßt die Unbestimmtheit stehen, sie erreicht den ihr spezifischen Genuß durch einen Verzicht, durch den Verzicht auf die theoretische Neugier, die letztlich immer Eindeutigkeit der Bestimmtheit ihrer Gegenstände fordert und fordern muß. Die ästhetische Einstellung leistet weniger, weil sie mehr aushält, weil sie den Gegenstand für sich stark sein läßt und ihn nicht in den an ihn gestellten Fragen in seiner Objektivierung aufgehen läßt.
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Sprachsituation und immanente Poetik Superstitions littéraires ... J'appelle ainsi toutes croyances qui ont de commun l'oubli de la condition verbale de la littérature. Paul Valéry
Semper mens est potentior quam sint verba (Mattesilano). Dieser Grundsatz einer extensiven Gesetzesinterpretation könnte auch als die Möglichkeitsbedingung jeder Hermeneutik angegeben werden. Die Feststellung, daß das Denken reicher an Möglichkeiten als die Sprache sei, schützt den juristischen Exegeten vor dem Vorwurf der Analogie, indem sie den Identitätsrahmen der Vorschrift Eadem ratio, eadem lex weit offenhält. Für einen weiter gefaßten Begriff von Hermeneutik läßt die Behauptung des wesentlichen Überschusses des Denkens über die Sprache hinaus die Möglichkeit, trotz der historischen Trägheit der Ausdrucksmittel an die Lebendigkeit der geschichtlichen Prozesse zumindest zu glauben, wenn nicht an sie heranzukommen. Die Grunderfahrung der >Armut der Sprache< verlangt ihre Auslegung. Cicero empfand die egestas verborum seiner philosophisch indisponierten Sprache gegenüber der griechischen und formulierte dabei wohl überhaupt zuerst, daß zumindest nicht jede Sprache gleicherweise das aufzufangen vermag, was das Denken zu leisten imstande ist - aber ließ sich das nicht sehr leicht auf die Situation der Sprache gegenüber dem Denken überhaupt anwenden? Die Mystiker aller Epochen haben verzweifelt unter der Knappheit der sprachlichen Mittel im Verhältnis zu dem gelitten, was sie zu sehen glaubten. Aber auch die entstehende historische Erfahrung wurde der Armut der Sprache gewahr, ihres Versagens in der Erfassung jener sich bietenden oder geforderten Totaleindrücke, an die die Sprache allenfalls nur Tangenten anlegen könne ( Justus Moser). In der Rhetorik und Poetik ist das Zurückbleiben der Sprache hinter der Empfindung seit je stehender Topos gewesen, ebenso oft gebraucht, wie kaum je geglaubt. Hermeneutik geht von dieser Grunderfahrung aus und sucht die in ihr bemerkbar gewordene Differenz zu überwinden, sich zu dem Verfasser hinaus [zu] empfinden und das Bezugsnetz aufzudecken, in dem der sprachlich faßbare Gedanke mit anderen Gedanken, Prämissen und Konsequenzen steht, die unmöglich I20
sämtlich in den sprachlichen Ausdruck mit eingehen können, sich aus ihm aber zum Teil erschließen lassen. Diese Konzeption von >Sprache< mit ihrer implizierten Inkongruenz von Denken und Sprechen - wobei jedoch immer das Denken mächtiger ist als das Sagen - findet ihren dezidierten Widerspruch in der Idee einer exakten Sprache, deren Kriterien in den spätestens von Descartes kanonisierten Vorschriften der Klarheit und Deutlichkeit angegeben worden sind und deren Teleologie restloser Vergegenständlichung in der Phänomenologie neu und entschieden aufgelebt ist. Nach diesem phänomenologischen Sprachglauben läßt sich die Universalität der Deckung von Sprache und Denken1 festhalten, und der getreue Ausdruck klarer Gegebenheiten erfordert nicht einmal eine Kunst- oder Formelsprache. Es gibt einen Übergang aus der Gemeinsprache in die phänomenologische Sprache: Die benutzten Worte mögen aus der allgemeinen Sprache stammen, vieldeutig, ihrem wechselnden Sinne nach vage sein, aber sie können mit deutlichen und einzigen Bedeutungen ausgestattet werden.2 Aber diesen beiden eben skizzierten Begriffen von >Sprache< läßt sich ein dritter hinzufügen, der den eingangs zitierten juristischen Interpretationsgrundsatz geradezu umkehrt und nach dem die Sprache mächtiger wäre als das Denken. In der modernen Sprachphilosophie scheint die Klage über das Ungenügen des Wortes gegenüber dem Anspruch des Denkens zurückgetreten zu sein gegenüber der gegenteiligen Feststellung, daß der Gedanke dem Vorgriff der Sprache nur zu folgen vermag und daß er dies in ständiger Unangemessenheit gegenüber einer nicht auslotbaren Sinntiefe tut.3 Die Sprache erscheint als das schlechthin unüberschreitbare Hintergrundphänomen, ihre Grammatik im weitesten Sinne als die ebenso unmerkliche wie tyrannische Kanalisierung aller Prozesse, in denen wir uns mit der Wirklichkeit auseinandersetzen, während wir gleichzeitig die Illusion haben, daß wir über ein plastisches Medium wenn nicht vollkommener so doch ständig sich vervollkommnender Anmessung an das Gegebene verfügen. Benjamin Lee Whorf hat von einem linguistischen Relativitätsprinzip ι E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, Halle 1929, S. 22 (jetzt auch in: E.H., Gesammelte Werke. Husserliana, Bd. 17, Den Haag 1974). 2 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, § 66; Husserliana, Bd. 3, 1950, S. 154! 3 Zum Beispiel Louis Lavelle, La parole et l'écriture, Paris 1942. 121
gesprochen und die Grundleistung einer Sprache in der Ermöglichung bestimmter faktischer Begriffssysteme gesehen, denen andere gleichberechtigt, wenn auch nicht immer mit vergleichbarer Leistungsfähigkeit, an die Seite gestellt werden können. Folgerung: >Reden< sollte ein edleres, würdigeres Wort sein als >denken<.4 Wenn aber die Sprache in dieser Weise den Spielraum der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Denkens präformiert, dann muß sich die kritische Aufgabe der Philosophie darauf richten, den Überschuß der Sprache über das reelle, verifizierbare, zu rechtfertigende Denken methodisch aufzudecken und abzubauen, also jene Sprachanalyse und Sprachkritik zu betreiben, die weithin das Gesicht der Gegenwartsphilosophie prägt. Diese drei Grundvorstellungen von dem Verhältnis zwischen Sprache und Denken sollen uns dazu dienen, eine gewisse Orientierung für die Funktionsbestimmung der poetischen Sprache zu gewinnen. Eine immanente Poetik wird ja notwendig darauf angewiesen sein, die Sprache eines Werkes auf ihre Funktion hin zu untersuchen. Die Explikation der immanenten Poetik eines Werkes wird also davon abhängen, die >richtigen< Fragen hinsichtlich der Sprache dieses Werkes zu stellen. Fingerzeige kann natürlich auch die exogene Poetik des Autors geben, seine Selbstbezeugung und Selbstbeobachtung, sofern sie dies wirklich ist und nicht nur >Ableger< einer normativen Kunsttheorie. Diese methodische Vorfrage verdient, nicht übergangen zu werden. Schon die Klassifizierung eines Textes durch seinen Autor als >Selbstbeobachtung< beim Vorgang der poetischen Produktion ist Ausdruck einer bestimmten ästhetischen Position, einer Position, die unter anderem zuläßt, daß Erfahrung relevante Aufschlüsse über den Prozeß der Entstehung eines Werkes liefert, und die nicht schon vorentschieden weiß, daß dies alles in einer bestimmten, jedenfalls empirisch gar nicht zugänglichen Weise vor sich geht. Wer vom Blitz getroffen wird - und sei es auch nur der Blitz der Inspiration -, kann darüber nicht auch noch Protokoll führen bzw. glaubt ganz sicher, es nicht zu können, ohne seiner eigenen Präsumtion widersprechen zu müssen. Die Mitteilung von Selbstbeobachtungen setzt mithin voraus, daß überhaupt die Beobachterstellung gleichzeitig mit der Produktionsstellung eingenommen werden kann, eine Voraus4 Benjamin Lee Whorf, Language, Thought and Reality, hrsg. von John B. Carroll, Cambridge (Mass.) 1956, dt.: Sprache, Denken, Wirklichkeit, hrsg. und übers, von Peter Krausser, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 12f., 19. 122
Setzung ästhetischer Versachlichung, die mit der Annahme inspirierender Faktoren - von der Muse bis zum Narkotikum - nicht vereinbar ist. Das bloße Vorhandensein von Texten, die ihr Autor als Selbstbeobachtung klassifiziert wissen möchte, unabhängig von der Frage ihrer Glaubwürdigkeit und Genauigkeit, ist also schon ein Faktum immanenter Poetik, bezogen auf ein Gesamtwerk. Das schließt aber natürlich gar nicht aus, daß auch die selbstbeobachtenden, der Empirie sich fähig glaubenden Autoren ihre exogene Poetik haben, und es ist nicht unwichtig, ihre poetischen Werke und ihre poetischen Texte auf Inkonsistenzen zwischen normativen und effektiven Elementen abzusuchen. Die Frage nach der Korrekturfähigkeit eines Textes - ganz unabhängig zunächst davon, ob diese Frage anhand des handschriftlichen Materials oder gar der Druckgeschichte eines Werkes historisch geklärt werden kann - ist ein Leitfaden zu einer immanenten Poetik, die sich unter Umständen scharf abheben kann von der Position, die derselbe Autor in seiner exogenen Poetik hinsichtlich der Alternative von Inspiration und Anstrengung - also hinsichtlich dessen, was ich die metaphysische Poetik nennen möchte - bezogen hat. Zu den primären und mit einiger Deutlichkeit zu erbringenden Beobachtungen (auch Selbstbeobachtungen) gehört, was unter die Frage fällt, wie >sich die Sprache spricht<. Unterscheidungen wie die des stark assoziativ oder des konstruktiv bestimmten Sprachtypus gehören hierher. Aber auch die Assoziation zum Beispiel, ganz sicher einer der motorischen Faktoren der poetischen Sprachbildung, ist nicht homogen; sie kann hintergründig sein, aus dem Kern einer verdeckten Vorstellung heraus den Sprachbildungsprozeß dirigieren, oder vordergründig, von Wort zu Wort, im Klanglichen, am greifbarsten mit dem Leitschema des Reims, diesen Prozeß in Gang halten. Diese letzte Unterscheidung ist nicht gleichgültig, denn von ihr hängt ab, was der Sprache >zugetraut< wird, ob man sich ihr als dem leitenden Konstitutionsgrund überläßt oder sich ihr als dem zu bewältigenden Material, dem zu bezwingenden Widerstand gegenübersieht. Es gibt sehr verschiedene Grade und Gründe des Sprachvertrauens. Sprachvertrauen muß nicht mit der Vorentscheidung für das Inspiratorische zusammenhängen, muß nicht heißen, daß man auf den Zuspruch eines >Seins< hinzuhören habe, der nicht in der Sprache erfolgt, sondern die Sprache selbst ist - dies nur die ins Positive umgekehrte Gestalt 123
und Prämisse moderner Sprachkritik, die doch gleichfalls von der Übermächtigkeit der Sprache über das Denken ausgeht, nur mit dem Unterschied, daß sie gleichsam das >Hinhören< verbietet und den Zuspruch als eine Art der Verhexung zu bannen, nämlich >aufzuklären< sucht. Nein, das Sprachzutrauen auf die sich selbst sprechende Sprache kann der reinen Musikalität des Sich-Fortzeugens sprachlicher Bildung hingegeben sein, wobei aber die sich derart selbst und leicht hinsprechende Sprache der Frage nach dem in ihr etwa Gedachten oder Imaginierten nur zu leicht wegläuft, so daß selbst noch die etwaige >authentische< Interpretation des Autors genauso viel und so wenig wert ist wie jede andere. Es gibt da Glücksfälle: die Unterschriften unter Bildern von Paul Klee sind fast immer, obwohl der Bildkonstruktion oder Bildassoziation nachträglich aufgesetzt, erfinderisch gesetzte Aspekte, trotz der naheliegenden Gefahr, eben sie als authentische Interpretationen zu benutzen. Ich habe mit Absicht am Reich der Sprache vorbeigegriffen, um zu zeigen, daß es gerade hinsichtlich der immanenten Befragbarkeit des Kunstwerkes strukturelle Analogien gibt. Die zunächst herauspräparierte Frage nach dem impliziten Sprachbegriff eines Textes darf freilich nicht auf eine statische Klassifikation hinauslaufen. Sprachliche Realisierung hat eine immanente Tendenz, die im Rahmen einer Erfassung der Kongruenzverhältnisse von Denken und Sprechen nicht unterzubringen ist. Ich möchte dieses Tendenzielle durch die Angabe der beiden Richtungen >Eindeutigkeit< und >Vieldeutigkeit< beschreiben. Dazu bedarf es nicht der Frage nach einem ausdrücklichen Programm. Die Sprache der Wissenschaft tendiert, unabhängig von präsumtiven Erwägungen, auf Eindeutigkeit der Bezeichnung der Begriffe, und diese Tendenz läßt sich erfassen, gleichgültig, ob einem Text solche Eindeutigkeit bescheinigt werden kann oder nicht. Unwesentlich ist auch, ob die wissenschaftliche Sprache von der Gemeinsprache her gebildet oder ob eine neue Nomenklatur erfunden und konventionell eingeführt wird. Die Maxime der Eindeutigkeit ist schon durch die besondere Weise wissenschaftlicher Mitteilung gegeben, die kaum Rückfragen und Verdeutlichungswünsche wie im Dialog zuläßt. Der gemeinsprachliche Dialog kann auf die Tendenz zur Eindeutigkeit seiner Sprachmittel verzichten, ja er erzielt Klarheit gerade durch die Interferenz der Unklarheiten. Aber die Tendenz der wissenschaftlichen Sprache zur Eindeutigkeit geht zu Lasten ihrer Weite und Allgemeinheit: Wissenschaftliche Sprache gibt es 124
überhaupt nur im Plural, als Inbegriff der Fachsprachen, die exklusive Regionalidiome sind, verstärkt isoliert durch ein soziologisches Moment, das die Behauptung oder gar die Praxis der Übersetzung ins Gemeinsprachliche als >Disziplinverstoß< empfunden werden läßt. Die Sprachsituation der Gegenwart ist weithin charakterisiert durch ihre Tendenz auf Eindeutigkeit in der Regionalisierung bzw. um den Preis der Regionalisierung und damit der Reduzierung auf die reine Übermittlungsfunktion. Der Glaube, durch eine logische Idealisierung, die von der Existenz solcher Fachsprachen ausgeht, die Tendenz auf Eindeutigkeit in eine rationale Gemeinsprache wenigstens aller Wissenschaften untereinander überführen zu können, wird sich als Illusion erweisen. Die philosophische Sprache nimmt in dieser Betrachtung eine Sonderstellung ein. Ihre Tendenz möchte ich als auf kontrollierte Mehrdeutigkeit gerichtet bezeichnen. Wie hier nicht weiter ausgeführt werden kann, gründet sich diese Tendenz auf die Indienstnahme der mundanen Sprache für die Bezeichnung transzendentaler Begriffe, denn eine spezifisch transzendentale Sprache kann es offenkundig nicht geben, wie überhaupt die Illusion einer philosophischen Eigensprache seit dem späten Wittgenstein zerrinnt. Das Phänomen hat seine Vorgeschichte in den Sprachproblemen der negativen Theologie und der Mystik, mit einem interessanten Übergang beim Cusaner und seiner ebenso authentischen wie vergeblichen Sprachanstrengung, und es liegt zum ersten Mal klar vor uns in der Zweisprachigkeit der »Nouveaux Essais« von Leibniz, die von der Monade sprechen, indem sie sie zugunsten der Sprachgemeinschaft mit Locke verschweigen. In der Gegenwart scheint sich, freilich auf einer noch höheren Stufe der Reflexion, das zu wiederholen, was auch das ausgehende Mittelalter charakterisiert hat, nämlich die zunächst paradox erscheinende Gleichzeitigkeit zweier Geistesrichtungen, die für das Mittelalter als >Nominalismus< und >Mystik< bezeichnet werden. Das Gemeinsame läßt sich vielleicht als eine bestimmte Art der geistigen Aufmerksamkeit charakterisieren, die sich zunächst der Ökonomie des Sagbaren unterwerfen möchte, aber dabei der Enge des Bereiches solcher Präzision inne wird und sich dieser Enttäuschung in die Paradoxien des Unsagbaren entzieht. Aber erst in dem Raum zwischen der idealisierenden Programmierung der Sprache auf das Sagbare und der Sprengung der Sprachstruktur zugunsten des Unsagbaren entfaltet sich die eigentliche Leistungsbreite des Sprechens als eines 125
sich ständig neu einspielenden Regulationssystems einer Verständigungsgemeinschaft von äußerster Instabilität. Wie ordnet sich hier die poetische Sprache zu? Wenn man glauben konnte, sie sei die eigentliche >Ursprache< einer Frühzeit, die in poetischen Charakteren und in phantastischer Sprachweise sich äußerte (Vico), so erschien Poesie als der mühsam gerettete Restbestand eines nur gelegentlich angehaltenen bzw. durchsichtig gewordenen säkularen Verfalls in die Prosa. Nicht radikal anders ist die Voraussetzung, wenn Poesie als die Selektion und Sammlung in der Sprache zerstreuter spezifischer Elemente dargestellt wird, die erkannt und zusammengetragen sein wollen. Die als tendenziell zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit ausgespannt beschriebene Sprachsituation läßt die poetische Möglichkeit der Sprache anders sehen. Wenn die Sprache ein Potential der Vieldeutigkeit ist, das mühsam auf engen Bereichen notwendiger informativer Eindeutigkeit in Dienst gehalten wird und schon im Dialog nur funktioniert durch die Unscharfe sich aufeinander einspielender, noch und gerade im Sich-Verfehlen >indikativer< Idiome, dann wäre die poetische Sprache gerade die Freigabe der immanenten Tendenz auf die Multiplizität der Bedeutung. Aber dieses Aufflammen der Vieldeutigkeit ist weder die Rettung eines Restes jener geheimnisvollen Ursprache noch des vermeintlichen Reichtums der alltäglichen Sprache, die eher undeutlich als aktual vieldeutig ist und in einer Art von funktionsgebundener >Toleranz< steht. In dieser Frage gibt es Fehlleitungen in Fülle. Valéry hat in Notizen aus dem Jahre 1928 unter dem Titel »Poésie pure« eine Art von substantialistischer Deutung der poetischen Sprache gegeben.5 Reinheit ist hier verstanden als die Selektion spezifisch poetischer Elemente, die in Vermischung und Verstellung auch alle anderen sprachlichen Werke enthalten. Diese substance noble et vivante läßt sich anreichern, entwickeln, kultivieren. Reinheit der Poesie meint dann denjenigen sprachlichen Zustand, in dem das ursprünglich beherrschende Medium der gemeinen Sprache nicht einmal mehr als störende Verunreinigung nachweisbar wäre - ein zugegebenermaßen unerreichbares Ziel, dem sich die Dichtkunst in ihren Anstrengungen nur annähern könne. Die Grundvorstellung ist unabhängig von diesem Zugeständnis, daß die reine Poesie eine Fiktion ist, wenn auch eine empirisch gewonnene Fiktion, aus der Beob5 Paul Valéry, Œuvres, Bd. 1, Paris 1931, S. 1456ff. 126
achtung an der Sprache hervorgegangen. Die Grundvorstellung spricht sich in dem Satz aus, daß das, was man ein Gedicht nennt, se compose pratiquement de fragments de poésie pure. Oie Wahrscheinlichkeit des Vorkommens poetischer Elemente in der Sprache ist dabei gering, denn die Sprache ist un élément commun et pratique, ein den alltäglichen und individuellen Bedürfnissen angepaßtes grobes Instrumentarium. Poetisierung der Sprache ist demnach die Anreicherung eines seltenen Materials in ihr: Or le problème du poète doit être de tirer de cet instrument pratique les moyens de réaliser une œuvre essentiellement non pratique. Diesem Gedanken einer spezifischen Differenz poetischer und nichtpoetischer Elemente der Sprache und damit der Auffassung der Poesie als einer Extraktion einer vorgegebenen seltenen Substanz aus der Sprache folgen wir hier nicht; indem wir Poetisierung als eine Tendenz der Sprache beschreiben, fassen wir das poetische Moment nicht als eine inhärierende Qualität, als ein Merkmal möglicher Auslese, sondern als einen im Funktionszusammenhang des poetischen Gebildes erst möglichen und sich realisierenden Zugewinn der Sprache. Die Tendenz der Poetisierung geht nicht auf die Entdeckung vorgegebener, und sei es noch so wurzelhafter, Bedeutungen, deren Verständnis eine poetische Quasi-Linguistik zu widmen wäre, sondern auf die Bildung neuer Deutigkeiten. Das zeigt sich sehr schön daran, daß auch und gerade das Ausdrucksgut spezialisierter Regionalsprachen in den Horizont moderner poetischer Texte hereingeholt wird oder daß historisch-philologisch indiziertes und erkaltetes Material neu eingesprengt werden kann. Das banalste Alltagswort tritt neben die geweihte metaphysische Vokabel, und es ist dann unmöglich zu sagen, welchem der beiden Elemente eigentlich der poetische Effekt zuzuschreiben ist (z.B. großer Run der Äonen), und es wäre das auch eine Frage, die sinnvoll nur im Rahmen jener substantialistischen Theorie der poetischen Sprache gestellt werden könnte. Der ästhetische Effekt der sprachlichen Tendenz auf Vieldeutigkeit ist zunächst die Überraschung am Vertrauten, der Selbstwertgewinn des bloßen Mittels, das Heraustreten des Selbstverständlichen aus der Sphäre der als solcher unbeachteten >Lebenswelt<. Es wird also nicht etwas >wiedergewonnen<, was in einem Verfallsprozeß geschichtlich verlorengegangen ist, irgendwann aber in ursprünglicher Präsenz dagewesen sein könnte als mythisches Elementarerlebnis, das sich restaurieren ließe, sondern Poetisierung ist 127
durchaus mit Neuheit, Erstmaligkeit verbunden. Der Prozeß der Poetisierung, der sich an der Sprache vollzieht, ist also vergleichbar mit dem Prozeß der theoretischen Vergegenständlichung, der sich gleichfalls elementar dadurch vollzieht, daß das Selbstverständliche problematisch wird, daß auch hier etwas aus dem Horizont der >Lebenswelt< heraustritt. Ob diese Gemeinsamkeit der theoretischen und der ästhetischen Einstellung einer umfassenderen Bewußtseinstheorie zugeordnet werden kann, steht hier nicht zum Thema. Sicher ist aber, daß die ästhetische Funktion der Sprache als solche einen neuen Grad der Bewußtheit ihres alltäglichen Vollzuges und seiner Möglichkeiten darstellt. Aber diese in aller Poesie sich vollziehende, in der modernen Dichtung gleichsam programmatisch gewordene Entselbstverständlichung der Gemeinsprache, die ins Pretentiöse wie ins Magische genutzt werden kann, ist noch nicht die volle Beschreibung der ästhetischen Funktion der Sprache. Es kommt in der Tendenz auf Vieldeutigkeit zu dem, was man ein >Grenzereignis< nennen könnte, es wird ein Punkt erreicht, an dem der semantische Dienstwert der Sprache gleichsam versagt. Ich werde nicht behaupten, daß in diesem Grenzereignis selbst der Spitzenwert der ästhetischen Möglichkeit der Sprache zu sehen ist; aber die Nähe der Gefährdung durch dieses Grenzereignis bestimmt wesentlich den ästhetischen Reiz der poetischen Sprache. In dieser Gefährdung droht es für die der Sprache zugewandte Aufmerksamkeit sinnlos zu werden, den Bedeutungsspielraum auszuschöpfen und die Vielfalt des Möglichen auf die Stimmigkeit mit dem Kontext hin zu befragen. Die poetische Sprache führt den Mitvollzug einen ähnlichen Weg, wie es die Mystik mit dem Mittel der >Sprengmetaphorik< getan hat: der Horizont von Information, Mitteilung, Anweisung zerbirst, die primär erwartete Leistung der Sprache ist nicht mehr Bezeichnung und Bedeutung. Betrachtet man die Dinge typisierend und klassifizierend, so ist man nicht weit davon entfernt, die Gefährdung selbst zur Norm zu machen und den Zielpunkt der poetischen Tendenz der Sprache im reinen Nonsense, im Dada, zu sehen; aber der ästhetische Reiz liegt hier wie überall in der Annäherung an den Umschlagspunkt in das Unmögliche, an die Selbstaufhebung, in der Annäherung, sage ich, nicht in der Identifizierung mit diesen Extremen. Um es anders auszudrücken: der hermeneutische Glaube bzw. die hermeneutische Glaubwürdigkeit bleiben Bedingungen der Möglichkeit des ästhetischen Ge128
misses. Der ästhetische Vollzug erfordert die Mitgehbarkeit am Leitfaden eines semantischen Kontextes bis zu bestimmten Punkten der Irritation, der Sinnverzweigung, und auch hier wird der ästhetische Sinn nicht in eine Transzendenz gesprengt oder dem Nichts überlassen, wie in allen Arten der Mystik, sondern im Gegenteil in seiner Erwartung umgestimmt auf die Dinglichkeit der sprachlich-bildlichen Präsenz selbst, abgelenkt von der Verweisungsfunktion des Wortes. Aber ich bitte schon hier darauf zu achten, daß mit >Dinglichkeit< nicht die bloße lautliche Materialität des "Wortes gemeint ist. In ihrer Poetisierung wird die Sprache also nicht auf einen vermeintlichen Urzustand zurückgeführt oder auf ihre geheimen Kostbarkeiten hin selegiert bzw. revirginisiert, sondern es wird bei ihrem ständig kritischen Funktionsstatus angesetzt. Aber sicher ist das bewußte Ergreifen und Zuspitzen dieser Möglichkeit etwas durchaus Modernes, das mit einer Sprachkrise zusammenhängen mag, die ihrerseits nur den akuten Zustand einer chronischen Problematik darstellt, die man mit dem großen und verbrauchten Begriff >Geschichtlichkeit< in Zusammenhang bringen kann. Geschichte als bedrängende Erfahrung ist ein neuzeitliches Phänomen, und mit ihr hängt zusammen, daß die Sprache indirekt - nämlich über die ihr sich stellenden'semantischen Ansprüche - selbst als kontingentes Faktum erfahren wird. So hat die frühe Neuzeit erstmals die Indifferenz der Information gegenüber dem Wort offenkundig gemacht: mit dem 17. Jahrhundert entzog sich die Naturwissenschaft dem darstellenden Wort in die Zahl, in die Formel, und ebenso begann die Musik, sich der Vokalität in die reine Instrumentalität zu entziehen. Die Verselbständigung dieser beiden formalen, parasprachlichen Bereiche hat auf das Verständnis der Möglichkeiten der Sprache stark zurückgewirkt und an der Idealvorstellung einer zu fordernden >Reinheit< der Sprache - nicht nur und nicht zuerst im Ästhetischen - wesentlichen Anteil. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schwebt die Vorstellung von der Absolutheit der Musik als Idee und als Faszination ständig über den Versuchen der Selbstdefinition der Poesie und der Poeten: Musik als das, was nicht Medium ist, sondern selbst voll Beanspruchendes, was nicht die Aufmerksamkeit durch sich hindurchleitet auf anderes, was nicht thematischer Zeiger, sondern thematisches Ende (Husserl) ist. Versuchung kann diese Idealität der Musik deshalb sein, weil der Analogiewert der Vorstellung nur zu leicht 129
vergessen und der Übergang des poetischen Wortes in den bloßen Klang als Inhalt dieses Regulativs mißverstanden werden kann, während doch das poetische Wort eben Wort bleibt und nicht linear im Klang aufgeht, sondern jene Schwelle der Preisgabe der semantischen Funktion wahrt, die zwischen der Vieldeutigkeit und der bedeutungslosen Undeutbarkeit liegt. Pure Finsternis wäre das Ende auch der >dunklen< Poesie als Poesie. Der hohe Grad der Gefährdung der Sprache im Prozeß ihrer Poetisierung ist gerade am Leitproblem des Verhältnisses von Dichtung und Musik unverkennbar. Indem die Sprache sich der Musik nähert, hört sie auf, Verweisung auf etwas anderes zu sein, und beginnt, nur noch sich selbst zu bedeuten. Aber solche Substantialisierung kann auch heißen, daß die Sprache in das banalste Kling-Klang, das selbstgestrickte Laut- bzw. Druckmuster umschlägt, also sich als pure Oberfläche weniger >verdichtet< als vielmehr verschließt. Die Einstellung des Dichters, sagt wiederum Valéry, sei eine Art von matérialisme verbal; er könne auf Philosophen und Romanautoren von oben herabsehen, die der Sprache insofern unterworfen sind, als diese für sie Realitätsbedeutung nur durch ihren Inhalt bekommt, während für den Dichter gilt, que le réel d'un discours, ce sont les mots, seulement, et les formes. Aber weshalb eigentlich ist dieser Wirklichkeitsbezug der Sprache so störend und worin besteht die neue >Realität<, die in der Dichtung die Sprache selbst gewinnt? Die bloße Annahme des Abbaus der Verweisungscharaktere auf die reine Materialität des Sprachlichen hin gebe kein Kriterium mehr an die Hand, Selbstbedeutung und Bedeutungslosigkeit zu unterscheiden; demgegenüber wurde hier der Versuch unternommen, diesen Prozeß nicht als einen Abbau auf die pure Phänomenalität der Sprache zu beschreiben, sondern als eine Steigerung der in ihr tendenziellen Vieldeutigkeit. In den »Fragments des Mémoires d'un Poème« von 1937 hat Valéry als Grund für die Bevorzugung des Ornaments im weitesten Sinne und der reinen Musik, also der Freiheit von Bedeutungscharakteren, die Lösung von der Bindung an das Faktische angegeben. In der Musik, in der Erfindung des musikalischen Werkes, ist ständig eine Gesamtheit von Möglichkeiten gegenwärtig, und zwar nicht nur ohne darstellende, reproduktive Beziehung zu einer vorgegebenen Wirklichkeit, sondern auch und vor allem ohne Einschränkung des noch Möglichen durch das schon Realisierte. Valéry hat mit Recht diese Einstellung, die sich um das Programmwort possi130
hilité beschreiben läßt, als einen antihistorischen Zustand des Geistes bezeichnet, und nicht zufällig zieht sich durch das Denken um >reine Poesie< der rote Faden des Ärgernisses am Faktum, nicht nur am Faktum der Natur und der vorgefundenen Welt, sondern auch am Faktum der vorgefundenen, und zwar mit bestimmter Bedeutungsausstattung vorgefundenen Sprache und an der Irreversibilität jedes mit der Sprache vollzogenen geistigen Prozesses, in dem jede Gegenwart ihre Möglichkeiten eingeschränkt findet durch das, was schon gesprochen worden ist. Die musikalische Formation schafft keine solchen Irreversibilitäten, sie ist in jedem Zeitpunkt im vollen Besitz aller ihrer Möglichkeiten. Daher ist > Konstruktion eines der Lieblingsworte Valérys, und zwar nicht so sehr als gegen das Organische, sondern vielmehr mit der Spitze gegen das Historische gerichtete Vorstellung. In der Reinheit der ständigen Präsenz eines unbeengten Möglichkeitshorizontes liegt die Faszination der Musik für den Dichter. An einer Stelle, an der Valéry ausdrücklich gegen die Suche nach der verlorenen Zeit6 polemisiert, in der er sich gegen die Erinnerung als das Organ des Faktischen und damit gegen das Epische wehrt, stellt er sich den Plan eines Werkes vor, das die Knotenpunkte des Möglichen zum Gegenstand hätte, das possible-à-chaque-instant - und eben hier schließt er die Bemerkung an, daß er von ein und demselben Gedicht verschiedene Texte veröffentlicht habe, und zwar auch solche, in denen es Widersprüche gegeben habe. Als den Inbegriff der dichterischen Selbsterfahrung beschreibt Valéry einen geistigen Zustand uneingeschränkter Freiheit, der gegenüber irgendeinem faszinierenden Gegenstand die Empfindung eines Spielraumes gewonnen habe, in dem der Gegenstand aus seiner gegenwärtigen und vollständig bestimmten Wirklichkeit zurückgekehrt ist in den Zustand der Möglichkeit. Die geschichtlich gewordene und vorgefundene Sprache erscheint Valéry immer wieder als ein Netz von Bindungen und Einschränkungen des reinen Denkens; das Verhältnis des Dichters zur Sprache muß für ihn also dadurch bestimmt sein, daß er auch die Sprache zu einem Zustand der reinen Möglichkeit zurückführt und sie dadurch zu einem Medium der poetischen Freiheit macht. Von hier aus enthüllt sich die Freigabe der Tendenz der Sprache auf Vieldeutigkeit als das Korrelat der ästhetischen Rückverwandlung des Wirklichen in den Horizont 6 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Paris 1938-41, dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt a.M. 1953-57. 131
seiner Möglichkeiten. Die Vieldeutigkeit der poetischen Sprache vermittelt ein Bewußtsein der ästhetischen Freiheit selbst. Sprache gibt den >Einsatz< zu intentionalen Akten; aber in der poetischen Sprache liegen solche Ansätze gleichsam gebündelt und können daher nicht bestimmte Richtungen des Nachvollzuges initiieren, sondern schaffen nur eine bestimmte Sensibilität. Gottfried Benn spricht von einer latenten Existenz der Worte in der Dichtung, um allerdings sogleich mit der Banalität von Zauber und letztem Mysterium nachzurücken.7 Weshalb Zauber, weshalb Mysterium} Es läßt sich leichter sagen, weshalb Phäaken, Mégalithe, lernäische Gebiete, Astarte, Geta, Heraklit - von Benn selbst genannte Beispiele, allerdings Namen, allerdings zum Teil von mir sogar gebildet, aber wenn sie sich nahen, werden sie mehr - auch, nein gerade ohne den zur historischen Pseudoberuhigung führenden Kommentar ihren Effekt haben. An einer anderen Stelle sagt Benn: Worte schlagen mehr an als die Nachricht und den Inhalt, sie sind einerseits Geist, aber haben andererseits das Wesenhafte und Zweideutige der Dinge der Natur. Diese Analogie zur Dinglichkeit ist wichtig: wo das Wort als Anweisung auf eine Anschauung versagt, wo es auf mehr als einen Weg der Ausbildung einer zunächst vage ansetzenden Vorstellung schickt, wo es auf viele Wege weist, die eben deshalb doch nicht reell gegangen werden können, lädt es sich auf mit der Ahnung dessen, was nicht vollstreckt und zur Erfüllung gebracht werden kann, was aber gerade als solches, als Horizont unerfüllter Intentionen, das erfahrende Subjekt sich selbst gegenwärtig macht und es von der alltäglichen Sprachsituation der objektivierten und zu objektivierenden Welt wegwendet auf seine eigene Omnipotenz der Imagination. Eine immanente Poetik wird nicht darum herumkommen können, die poetische Qualität der ihr vorliegenden Sprache wesentlich aus der Opposition gegen die zeitgenössische Normierungstendenz der Sprache zu verstehen. Die Frustration der normalen bzw. normierten Antizipation ist selbst poetisches Mittel, das den Rezipienten aus seiner Einstellung des fließenden Verstehens von Sprache wirft, die immer Eindeutigkeit unterstellt, fordert, beanspruchen zu können glaubt, sich durch die ständige Enttäuschung dieses Anspruches in der alltäglichen Verständigung gar nicht irremachen läßt und auch gar nicht irremachen zu lassen braucht. Der 7 Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, in: G. B. Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. i, Wiesbaden i960, S. 513 f. 132
Widerstand der ästhetischen Sprache muß daher um so massiver sein, je mehr das öffentliche Sprachbewußtsein in dem Anspruch auf Eindeutigkeit vermeintlich oder reell sich bestätigt findet. Man wird nicht umhin können, die Sprachtendenz einer sich verwissenschaftlichenden "Welt als zumindest vermeintliche Bestätigung des Eindeutigkeitsanspruches anzusehen. Das gilt nicht nur für die Welt, in der Naturwissenschaft und Technik getrieben werden, sondern auch und gerade für die Welt, in der Philologie und Ästhetik ihren Platz und Betrieb haben. Die wesentliche immanente Gegenläufigkeit objektivierender und poetisierender Sprache wird also, so wird man noch vor Kenntnisnahme konkreter Zeugnisse annehmen dürfen, in dieser Sphäre eine akute Verschärfung erfahren, und man wird eine poetische Sprache von vehementer Obstinanz gegen jede Verweisungsfunktion erwarten dürfen, eine Sprache, deren Metaphern sich gegenseitig stören und aufheben, in der die angesetzten Bilder nicht aufgehen, die keine beruhigende Interpretation ihrer Syntax zuläßt, in der die Herkunftshorizonte mythischer Anspielungen ständig und ohne Hilfen wechseln, ja in der ein ans Lesen und nicht ans Sprechen gewöhntes Publikum gezwungen wird, Sprachbilder gedruckt zu sehen, für die ihm sogar die lautlichen Äquivalente fehlen und wo der gebildete Leser nur zu oft nicht weiß, ja nicht einmal errät, woher eine >Zutat< genommen sein könnte - ich denke etwa an Ezra Pound -, wo also auch das bestausgerüstete Bildungsarsenal nicht zur Beruhigung verhilft. Wo hier die Grenze der Zumutungen liegt, die dem ästhetisch rezeptiven Bewußtsein gestellt werden können, läßt sich wohl kaum bestimmen. Viele Zeugnisse einer solchen Poesie werden ihre Bedeutung nur als Fossilien einer bestimmten ästhetischen und sprachlichen Situation behalten. Die aus der Sprachsituation zu verstehende Oppositionsqualität der poetischen Sprache genügt indes nicht, schon Dichtung zu konstituieren, indem das derart Elementare nun nur noch sekundär in eine präsentable Form gebracht werden müßte. Im Gegenteil, die Vieldeutigkeit ist eine atomistische, eine zerstörerische Bestimmung; sie ist Bedingung, aber nicht konstruktiver Faktor der Dichtung. Die notwendige Verbindung jener Oppositionsqualität mit einer positiven formalen Determination ist am glücklichsten, wie ich meine, wieder von dem immer mit mathematischen Kategorien liebäugelnden Valéry in dem »Calepin d'un Poète« von 1928 formuliert worden: der Gehalt eines Gedichtes an 133
reiner Poesie bestehe letztlich in der probabilité apparente et qui s'impose, dans laproduction de l'improbable.,8 Die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen ist die logische Strukturformel des ästhetischen Gegenstandes. Obwohl auch für die Sprache die Unordnung den Zustand statistischer Wahrscheinlichkeit darstellt, ist doch die Tendenz zur Vieldeutigkeit als solche nicht die Richtung zunehmender Wahrscheinlichkeit und Unordnung, sondern jener Bedeutungsschwund der Sprache, bei dem Eindeutigkeit nur das ist, was übrigbleibt. Der Bedeutungsreichtum der poetischen Sprache ist das Unwahrscheinliche. Aber dieses hat als solches noch keine ästhetische Qualität, im Gegenteil, es fällt in der Isolierung auf die pure Signalqualität zurück. Die Gestaltung, innerhalb deren es als Element auftritt, bindet es zu einer vom Elementaren her unerwarteten Wahrscheinlichkeit, im günstigen Falle zur Evidenz. Was aus der lebensweltlichen Selbstverständlichkeit herausgenommen und in seiner Konstellation zu überraschender Neuheit gebracht wird, integriert doch einen Kontext, der sich durch eine neue, zwingende Selbstverständlichkeit ständig rechtfertigt. Die formalen Mittel zu solcher Konsistenz des Inkonsistenten, Wahrscheinlichkeit aus Unwahrscheinlichem, sind bekannt. Valéry hat hier besonders den gern verachteten Reim hervorgehoben und ihn in einer Notiz des »Cahier Β 1910« (1924) mit der Wahrscheinlich keitsüberlegung in Zusammenhang gebracht, daß man mehr Aussicht habe, zu einem bestimmten gegebenen Reim eine literarische Idee zu gewinnen als umgekehrt von einer Vorstellung ausgehend einen Reim zu finden - und auf diesem Sachverhalt beruhe alle Poesie und insbesondere die Dichtung der Epoche von 1860 bis 18 80. Das ist eine höchst charakteristische und in Varianten wiederkehrende Bemerkung, so auch bei der Darstellung der Entstehung eines Gedichtes aus den bei einem Spaziergang sich von selbst einstellenden Rhythmen des Gehens, die als eine zur Auffüllung anreizende Leerform aufgefaßt werden.9 Wollte man das Schema von Form und Gehalt erneuern, so müßte man jetzt von einer Angemessenheit des Gehaltes an die Form ausgehen; aber das ist ganz unnötig, da auch die Vieldeutigkeit der poetischen Sprache als solche ein >formales< Kennzeichen ist. Es handelt sich hier um formale Bestimmungen verschiedener Stufen; dadurch allein wird die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen als Kriterium des äs8 Valéry, Œuvres, Bd. 3,1933, S. 192Î. 9 Valéry, Œuvres, Bd. 1, S. 1474· 134
thetischen Gegenstandes in seiner Totalität ermöglicht. Was ein ästhetischer Reiz< - als Gegenwert ästhetischer Sensibilität - ist, bleibt eine zuverlässige Frage der immanenten Poetik, aber sie gestattet nicht die weitergehende Voraussetzung, daß der ästhetische Gegenstand als solcher durch eine Summierung ästhetischer Reize konstituiert sei. Der ästhetische Reiz haftet an der Steigerung der elementaren Vieldeutigkeit aus der Komplexität der Konstellationen und Bedeutungsinduktionen; aber zur Konstitution des ästhetischen Gegenstandes wird dieser Unwahrscheinlichkeit in der Substruktur ein kontrastierendes Dennoch formaler Integration, Bewältigung des der semantischen Exklusion Nahegerückten, entgegengesetzt. Das Gedicht wird auf einer anderen Sprachstufe gesprochen als jedes seiner konstituierenden Sprachelemente, deren jedes der Maxime der sprachlichen Poetisierung genügen muß: Nous attendons le mot inattendu [-.-β0, aber das Gedicht ist dann doch nur realisiert als die unerwartete Erfüllung einer im Durchgang zweifelnden, wenn nicht verzweifelten Erwartung.
io Ebd., S. 1448. 135
π Metapher
Licht als Metapher der Wahrheit Im Vorfeld der philosophischen Be griffsbildung Wenn die Anzeichen nicht täuschen, steht eine Neubelebung der begriffsgeschichtlichen Forschung in der Philosophie bevor. Diese Tendenz hat mehrere erkennbare Impulse: die Einsicht in die Vergeblichkeit der eruptiven begrifflichen Neuproduktion der letzten Jahrzehnte, die zunehmende Verlegenheit vor den Schwierigkeiten philosophischer Verständigung, die paradigmatische Leistung der theologischen Begriffsforschung seien genannt. Soll diese seit langem vernachlässigte Arbeit mit Ertrag wieder aufgenommen' werden, so wird man vor allem die Umfangsbestimmung des p h i losophischen Begriffs< gegenüber früheren Unternehmungen revidieren müssen. Die Eigenart und Geschichte der philosophischen Aussage bedingen, daß >Terminologie< hier einen umfassenderen Sinn hat als in anderen Disziplinen, die teils ihre Begriffe eben in der Philosophie vorfanden, teils durch eindeutige Definitionssetzungen sich ihren Begriffsapparat originär aufbauen konnten. Die Philosophie, die es immer wieder mit dem Unbegriffenen und Vorbegriffenen aufzunehmen hat, stößt dabei auch auf die Artikulationsmittel des Unbegreifens und Vorbegreifens, übernimmt sie und bildet sie, abgelöst von ihrem Ursprung, weiter. Die Vorstellung, der philosophische Logos habe den vorphilosophischen Mythos >überwunden<, hat uns die Sicht auf den Umfang der philosophischen Terminologie verengt; neben dem Begriff im strengen Sinne, der durch Definition und erfüllte Anschauung aufgewogen wird, gibt es ein weites Feld mythischer Transformationen, den Umkreis metaphysischer Konjekturen, die sich in einer vielgestaltigen Metaphorik niedergeschlagen haben. Dieses Vorfeld des Begriffs ist in seinem >Aggregatzustand< plastischer, sensibler für das Unausdrückliche, weniger beherrscht durch fixierte Traditionsformen. Hier hat sich oft Ausdruck verschafft, was in der starren Architektonik der Systeme kein Medium fand. Hier wird behutsame Forschung noch reiche Bestände erheben können. Zum inhaltlichen und methodischen Aufbau einer philosophi139
sehen »Metaphorologie« möchte auch die vorliegende Studie über die Lichtmetapher und ihr zugehöriges Umfeld beisteuern. An Aussagefähigkeit und subtiler Wandlungsmöglichkeit ist die Lichtmetapher unvergleichlich. Von ihren Anfängen an hat die Geschichte der Metaphysik sich dieser Eigenschaften bedient, um für ihre letzten, gegenständlich nicht mehr faßbaren Sachverhalte eine angemessene Verweisung zu geben. Daß im Begriff des >Seins< mehr steckt als ein leerstes Abstraktum, das man dem Seienden als sein allgemeinstes reales Prädikat abgewinnen könnte, ist immer wieder mit Hilfe dieser Chiffre darzustellen versucht worden. Das Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Absolutem und Bedingf tem, von Ursprung und Abkunft fand hier eine Art von >Modell<. [Licht kann der gerichtete Strahl, die wegweisende Leuchte im i Dunkel, die vordringende Entmachtung der Finsternis, aber auch : die blendende Überfülle, ebenso wie die unbestimmbar allgegenjwärtige Helle sein, in der alles darinsteht: das selbst nicht-erscheiinende Erscheinenlassen, die unzugängliche Zugänglichkeit der '- Dinge. Licht und Finsternis können die absoluten metaphysischen Gegenmächte repräsentieren, die sich ausschließen und doch das Weltgefüge zustande bringen. Oder das Licht ist die absolute Seinsmacht, die die Nichtigkeit des Dunkels enthüllt, das nicht mehr sein kann, wenn erst einmal Licht geworden ist. Licht ist das Eindringliche, es schafft in seiner Fülle jene überwältigende, unüberj sehbare Deutlichkeit, mit der das Wahre >heraustritt<, es erzwingt die Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes. Das Licht /bleibt, was es ist, während es Unendliches an sich teilhaben läßt, es j ist Verschwendung ohne Schwund. Licht schafft Raum, Distanz, [ Orientierbarkeit, angstloses Schauen, es ist Geschenk, das nicht \ fordert, Erleuchtung, die ohne Gewalt zu bezwingen vermag. Dieser kürze und sicher ganz unvollständige Umriß des Aussagepotentials der Lichtmetapher soll hier nicht mit Details aufgefüllt werden, sondern es soll gezeigt werden, wie die Umformungen der Grundmetapher die Wandlungen des Welt- und Selbstverständnisses indizieren. Was wir >Geschichte< in einem fundamentalen Sinn nennen, steht ja immer im Widerstreit zu der elementaren Trägheit der Zeugnismittel, in denen der gründige Wandel der Wirklichkeitsauffassung nicht nur sich manifestieren, sondern allererst sich selbst für sich selbst zur Artikulation bringen kann. Hier ist gerade die traditionelle philosophische Terminologie, wie sie die Indices und Speziallexika bevölkert, nur zu langsamsten Bedeutungsver140
Schiebungen fähig. Ausgetragene Definitionen begrifflicher Umbildungen pflegen geistesgeschichtlich als wahre >Spätzündungen< aufzutreten, so wie es in der Philosophie zumeist erst dann zum >System< kommt, wenn die tragende Substruktur schon wieder in Bewegung geraten ist. Diese Verhältnisse begründen die Bedeutung der unreiferen, tastenden, vermutenden Aussageweisen, unter denen die Lichtmetapher mit ihren Korrelaten eine Vorzugsstellung einnimmt. Für einzelne Phasen hat die Forschung schon hervorragende monographische Arbeit geleistet1; aber erst eine weiter übergreifende Phrasierung kann die wirkliche >Leistung< der Metapher sichtbar machen. Ursprünglich gehört der Lichtbegriff wohl in eine dualistische Weltauffassung, wie es für uns noch im zweiten Teil des parmenideischen Lehrgedichts2 und, nach dem Bericht des Aristoteles3, im die Pythagoreer bezeugt ist. Licht und Finsternis sind, wie Feuer und Erde, elementare Urprinzipien; ihre Feindschaft läßt bewußt werden, daß Sein nichts Ungefährdetes, Wahrheit nichts Selbstverständliches ist. Aber schon, daß Parmenides diesem Dualismus seinen Platz im zweiten Teil des Lehrgedichtes anweist, deutet auf seine Überwindung hin; er gehört in den Bereich der δόξα. Der Weg zur Wahrheit geht im Anfang des Gedichts είς φάος.4 Im Zen trum seines Werkes entwurzelt Parmenides den Dualismus von Sein und Nichtsein, Wahrheit und Schein, Licht und Finsternis: ι An der Spitze muß noch immer der in der Sammlung des Materials unvergleichliche »Witelo« von C/. Baeumker (Beiträge zur Gesch. d. Philosophie d. Mittelalters III, 2. 2. Aufl. Münster 1908) genannt werden. Zur Antike: R. Bultmann, Zur Geschichte der Lichtsymbolik im Altertum. In: Philologus XCVII, 1 ff. (1948). J. Stenzel, Der Begriff der Erleuchtung bei Piaton. In: Die Antike II, 235-257 (1926). Zum Mittelalter:]. Gessner, Die Abstraktionslehre in der Scholastik bis Thomas von Aquin mit besonderer Berücksichtigung des Lichtbegriffs. In: Philosophisches Jahrbuch XLIV (1931) - XLV (1932). M. Honecker, Der Lichtbegriff in der Abstraktionslehre des Thomas von Aquin. Ebd. XLVIII, 268 ff. (1935). L. Baur, Die Philosophie des Robert Grosseteste (Beiträge XVIII, 4-6). Münster 1917. P. Garin, La théorie de l'idée suivant l'école thomiste. Paris 1930. R. Carton, L'expérience mystique de l'illumination intérieure chez Roger Bacon. Paris 1926. Zu Augustinus, Bonaventura, der Mystik und Nikolaus von Cues enthält die einschlägige Literatur reiches, aber doch nicht ausreichend genutztes Material. Für aie Neuzeit bedarf es offenbar noch des Nachweises, daß die Geschichte der Lichtmetapher hier überhaupt weitergeht. 2 Diels 28 Β % dazu das Simplicius-Zeugnis zu fr. 8, 53 bis 59. 3 Metaph. I, 5; 986a 25 sq. 4 Diels 28 Β ι, ίο. 141
Sein ist nicht dadurch, daß es nicht Nichtsein ist (denn dann wäre ihm das Nichtsein zum Sein notwendig5), und Licht ist nicht wesenhaft das Gegenspiel der Finsternis, sondern im Wesen des Lichts ist Finsternis vernichtet und überwunden. Nicht also erst Plato hat die Begriffe Sein, Wahrheit, Licht aus ihrer dualistischen Angewiesenheit auf ihren Gegensatz herausgelöst; aber erst Plato hat durch die Lichtmetapher die Konsequenz dieser Ent-Zweiung aufgewiesen. Sie läßt sich formulieren als die Natürlichkeit des Zusammenhanges von Sein und Wahrheit. Das heißt: als >Natur< ist das Sein aus sich seihst (nicht kraft seines Gegenteils), und ebenso ist es aus sich selbst (also nicht erst durch das hinzukommende Denken, das es aus einer Situation der Un-Wahrheit heraus ent\ deckte) wahr. Wahrheit ist Licht am Sein selbst, Sein als Licht, das j bedeutet: Sein ist Selhstdarbietung des Seienden. Deshalb ent] springt Erkenntnis in ihrer höchsten Form aus der tatlos ruhenden Schau, der 9εωρία. Deshalb dringt in der platonischen Anamnesis die vorgeschaute Wahrheit durch die Vergessenheit ihres Ur sprungs immer wieder durch. Deshalb ist im Höhlengleichnis des »Staates« eine Ausgangssituation geradezu künstlich-gewaltsamer Abschirmung vom >natürlichen< Licht angesetzt, eine Situation, die nichts Dualistisches mehr hat und erst später wieder in ein dualistisches Schema zurückgebogen werden mußte. Das Drama der : Wahrheit ist kein kosmischer Agon zwischen Licht und Finsternis, | sondern nur ein Vorgang des menschlichen Sich-Entziehens oder {Sich-Aussetzens, eine Sache der Paideia also.6 Wahrheit ist nicht \ nur anwesend, sie ist andringlich. Von der Idee des Guten, die im platonischen Höhlengleichnis als die alles ins Seinslicht stellende Sonne figuriert, wird dort gesagt, sie sei als Ursprung von Erkennbarkeit, Sein und Wesen doch s^lbsjt jiiçJxLSjeiendes, sondern rage an Würde und Kraft über das Seiende hinaus.7 Das ist eine zunächst metaphysisch gar nicht belastete Aussage: was allem anderen seine Sichtbarkeit und Gegenständlichkeit verleiht, kann selbst nicht gleicherweise gegenständlich sein. Licht wird nur an dem gesehen, was es sichtbar werden läßt; gerade das macht die >Natürlichkeit< des Lichts aus, daß es erst mit der Sichtbarkeit der Dinge seinem Sinn nach >aufgeht<, selbst also nicht von der Art dessen ist, was es hervorruft. Aber diese 5 Diels 28 Β 2, 5. 6 M. Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit. Bern 1947. S. 2 5 f. 7 Politeia 509 Β. 142
Differenz spielt schon bei Plato in Transzendenz hinüber; in der hichtmetapher ist die Lichxmetaphysik angelegt. Die Aussageweise für die Natürlichkeit der Wahrheit schlägt in ihr Gegenteil um: \ Wahrheit wird in der Transzendenz >lokalisiert<. Die griechische ! Religion hatte, bei aller Götterfülle der Natur, doch keine Licht- \ gottheit gekannt8 - eben weil das Licht für den griechischen Sinn zu umfassend war, um faßbar zu sein: das Worin der Natur, nicht ihr Bestandteil, das Tageslicht als die Helligkeit, in der man sich bewegt, in der sich die Welt artikuliert, in der sie übersehbar und verständlich wird, in der die Unterscheidung zwischen hier und dort, zwischen diesem und jenem möglich ist... und die damit zugleich das Dasein sich selbst verständlich macht? In dieser Helligkeit stehen Geist und Dinge gleichermaßen; >Erleuchtung< ist kein innerer im Gegensatz zu einem äußeren Vorgang, sondern ontische und ontologische Erhellung sind identisch. Es gibt keine Lichtwystik bei Plato; Licht ist keine eigene, besondere Dimension der f Erfahrung.10 Aristoteles hat dasselbe nüchterner formuliert, wenn I er sagt, daß das Sehende gleichsam selbst Farbe wird und daß die Wirklichkeit des Wahrgenommenen und die des Wahrnehmens identisch sind.11 Darin liegt der radikale Unterschied zwischen Licht und Finsternis: die Finsternis bringt diese Identität nicht zustande, sie ist ontisch und ontologisch ohnmächtig. Von diesem Punkte aus läßt sich die volle Differenz leicht fassen, die zur Bedeutung von >Licht< und >Finsternis< im spätantiken Neuplatonismus besteht; sie werden dort zu antagonistischen Mächten, die sich die Seele gegenseitig streitig machen, die Gewalt ausüben, an sich reißen, >einverleiben<. Um also genau zu sehen, was >Licht< jeweils bedeutet, muß immer mitgesehen werden, was >Dunkel< verstehen läßt. Es gibt eine autonome, >romantische< Dunkelheit des Dunkels, und es gibt das Dunkel, das unter dem Licht und im Licht liegt. Der hier entwickelten Sicht der klassischen griechischen Philosophie korrespondiert es, wenn für die griechische Tragödie gesagt werden kann: Die antike Tragödie zeigt wohl den dunklen Untergrund der menschlichen Existenz, aber nicht als etwas, das 8 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen I. 2. Aufl. Darmstadt 1955. S. 135. 9 R. Bultmann, a.a.O., S. 13. 10 J. Stenzel, a.a.O., S. 256. rr De anima ΠΙ, 2; 425 b 20-27. Vgl. z u r Stelle W. Bröcker, Aristoteles. Frankfurt 193 5. S. 148: Das Sehen wird von A. primär nicht als irgend ein Vorgang im Subjekt genommen, sondern als das sich"Zeigendes Sichtbaren. 143
dunkel zu ahnen ist. Vielmehr erhellt sie diesen dunklen Untergrund mit einem schonungslos hellen Licht}2 Die im platonischen Sonnengleichnis angelegte Transzendenz des Lichts wird im hellenistischen Denken beherrschend. Die den Kosmos wie ein Medium erfüllende Helligkeit wird zurückgezogen, konzentriert, zum metaphysischen Pol vergegenständlicht. Ausstrahlung wird jetzt zum Abstieg, zum Verlust an das Dunkel, Verschwendung zum Schwund. Die >unnatürliche< Abschirmung der Höhle wird ausgeweitet zur höhlenhaften Natur des ganzen Kosmos, der das Licht an sich reißt, verschluckt und entkräftet; die zuvor lichtdurchlässigen Sphärenschalen verdichten sich zu Höhlenwänden. Das nun außerweltliche, reine Licht eröffnet kein theoretisches Verweilen in der beglückenden Schau; es erfordert die außerordentliche, ekstatische Zuwendung, in der erfüllende Berührung und zurückstoßende Blendung eins werden. Diesem absoluten Anspruch sind nur wenige gewachsen; den Sterblichen muß das tödliche Licht in der behutsameren Dosierung des φωτισ μός der Mysterien zugänglich gemacht werden - Licht wird zur Metapher des >Heils<, der Unsterblichkeit. Die kosmische Lichtflucht ist die Voraussetzung für den Begriff der >Offenbarung<, die eine Wiederkehr des Lichts als eschatologisches Ereignis ankündigt und den Menschen sich darauf zu rüsten heißt. Licht ist der jenseitige Vorbehalt, der einen reineren Zustand des Menschen erfordert als den hiesig-faktischen.13 Nicht mehr im Lichte zu stehen \ und zu sehen, gewährt dem Menschen Erfüllung, sondern in das ι Licht selbst hineinzusehen und darin alles sonst Sichtbare erlö\ sehen zu lassen, treibt es ihn. Die Flucht des Lichtes aus der Welt \ zieht den Drang des Menschen ins Licht nach sich. Das führt unmittelbar in den spätantiken Neuplatonismus und in die Gnosis 12 K. v. Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie. In: Studium Generale 8, 228 (1955)· 13 Seneca, Epist. Mor. Ol: Cum venerit dies ille, qui mixtum hoc divini humanique secernat, corpus hie, ubi inveni, relinquam, ipse me dits reddam (22). Alia origo nos expeetat, alius rerum status. Nondum caelum nisi ex intervallo patipossumus. (23 sq.)... aliquando naturae tibi arcana retegentur, discutietur ista caligo te lux undique clarapercutiet. Imaginäre tecum, quantus ille sit fulgor tot sideribus inter se lumen miscentibus. Nulla serenum umbra turbabit: aequaliter splendebit omne caeli latus: dies et nox aeris infimi vices sunt. Tunc in tenebris vixisse te dices, cum totam lucem et totus aspexeris, quam nunc per angustissimas oculorum vias obscure intueris, et tarnen admiraris illam iam proeul: quid tibi videbitur divina lux, cum illam suo loco videris? (28). 144
hinein. Hier hat die klassische θεωρία ihren Boden verloren: Sein \ ist nicht mehr Selbstdarbietung des Seienden, es ist gestaltlos und \ unansichtig geworden14, es öffnet nicht die Augen, sondern ver- ! schließt sie. Absolutes Licht und absolute Finsternis fallen zusammen. Konsequent wird der Areopagite aller Mystik die Formel ^ vom 9εϊον σκότος vorprägen. Bisher weniger beachtet als diese Linie des Prozesses der Weltentlichtung ist die Einstimmigkeit anderer Richtungen des hellenistischen und spätantiken Denkens. Vor allem ist übersehen worden, daß auch der Skeptizismus eine Antwort auf die kosmische Lichtflucht darstellt. Es ist ja durchaus kein Schuhunfalh, daß die Skepsis inmitten der platonischen Akademie ausbricht; es ist auch dies eine Stellungnahme zu dem ontologischen Grundvorgang der Transzendenz des Lichts, und es ist gleichfalls eine Haltung der Flucht, der Weltausschaltung, der Absage an die Θεωρία in der εποχή. Man braucht sich nur zu erinnern, wie der Sokrates des »Phaidon« erfah ren muß, daß die Hinwendung zum Wirklichen selbst das Auge blendet, und daraus die Folgerung zieht, sich in die λόγοι zu flüchten und in ihnen die Wahrheit des Seienden zu betrachten.15 Das Sehen will sich vor der blendenden Unmittelbarkeit wahren; es will nicht in die Sonne blicken und begnügt sich mit der vertretenden Mittelbarkeit des Logos. Der Skeptizismus kann sich in diese Tradition stellen, er tut hier - nach dem erwiesenen Versagen auch des Logos im Streit der Schulen - nur den nächsten Schritt. Er setzt sich der Erfahrung von Licht und Dunkel erst gar nicht aus. Zuvor aber mußte der klassische Zusammenhang von ευδαιμονία und 9εωρία gelöst sein. Das glückerfüllte Dasein ist als innere Möglichkeit des Menschen vorausgesetzt. Aber dieses Innere ist im Skeptizismus eigentümlich leer; es ist die bloße Differenz, die nach der Subtraktion des Weltbezuges übrigbleibt. Daß in der εποχή etwas übrigbleibt und was es sein könnte, ist dem Skeptizismus nie fragwürdig geworden; er teilt mit dem Epikureismus wie selbstverständlich die Voraussetzung, Glück sei schon in der Abschirmung gegen Unglück, Verwirrung und Schmerz gewährleistet. Der Skeptiker ist der Mystiker im Negativ: auch er verschließt die Augen, aber nicht vor der blendenden Überfülle des absoluten Lichts, sondern vor der fragenden und verwirrenden Andringlichkeit der obscuritas rerum. Aber in der Abschaltung des äußeren Dunkels ist doch noch 14 Plotin, Enn. VI, 7,17: άμορφος καί άνείδεος. 15 Phaidon 99 Ε-ιοο Α. 145
nicht das innere Licht gewonnen. An diesem Punkte hat die Stoa mit ihrem moralischen Absolutismus eingesetzt. Sie hat folgerichtig eine positive Bestimmung des Glücksbegriffes gesucht und sie mit der inneren Evidenz des Sittlichen verbunden. Dieses Ineinandergreifen der verschiedenen hellenistischen Schulrichtungen auf Grund der gemeinsamen ontologischen Implikation wird bei Cicero deutlich. Er hat den Begriff des natürlichen Lichtes< für die Tradition geprägt.16 Und er hat die Lichtmetapher mit der inneren moralischen Evidenz verknüpft. Für Cicero ist Licht nicht mehr die universale Helligkeit, in der alles Seiende gleichermaßen darinsteht; vielmehr kommt dem Licht eine Art anthropozentrischer Ökonomie zu. Das menschliche Leben steht in einer seinen Notwendigkeiten zugemessenen Lichtung. Im theoretischen Bereich genügt der Lichtschein der Wahrscheinlichkeit; auf sie ist die >Natürlichkeit< der Wahrheit reduziert. Im methodischen Gegeneinanderausspielen der Thesen, wie es die akademische Skepsis übt, >leuchtet< das probabile auf17; darüber hinauszuwollen, ist 16 W. Dilthey, Gesammelte Schriften II. Leipzig 1923. S. 177. 17 De officiis II, 2, 8 : Contra autem omnia disputantur a nostris (sc. academicis), quod hoc ipsum probabile elucere nonpossit, nisi ex utraque parte causarum esset facta contentio. Bezeichnend für die Ungeklärtheit der Bedeutung der Lichtmetaphorik ist die transitive Fassung, die K. Atzert dem elucere in seiner Übersetzung (Limburg 1951) gibt:... Das geschieht deshalb, weil sich das Wahrscheinliche erst ins rechte Licht rücken läßt, wenn man ... Adäquat dagegen erfaßt K. Büchner (Zürich 1953):... weil eben dieses Einleuchtende nicht aufstrahlen könnte, wenn nicht... Im Grunde trägt Atzert schon die neuzeitliche Transformation der Lichtmetapher in Cicero hinein, während Büchner recht daran tut, noch dem Skeptiker den Rest platonischer Voraussetzungen zu belassen, den er tatsächlich durchblicken läßt. Die akademische Skepsis ist überhaupt >platonischer<, als sie selbst wahrhaben will; sie ist nicht nur institutionell in der Schule Piatos >ausgebrochen<, sondern sie ist eine Konsequenz des Piatonismus und seine Ideentranszendenz selbst. Die Fama, daß Arkesilaos einem esoterischen Schülerkreis weiter platonische Orthodoxie vermittelte (Sextus Empiricus, Pyrrh. Hyp. I, 33,234), während er sich öffentlich als Skeptiker gab, paßt aufs genaueste in diesen Sachverhalt. Vor allem aber steckt der platonische Rest in der Bedeutung der Wahrscheinlichkeit: in diesem Begriff wird die Differenz zwischen Idee und Erscheinung auf die >Wahrheit< selbst übertragen. Cicero übersetzt das skeptische πιθανόν durch verisimile, das er anfangs in seinem metaphorischen Cha rakter durch ein quasi bewahrt (Luc. 32), dann jedoch terminologisiert. Das Wahrscheinliche >scheint< nicht nur (im trügerischen Sinne) das Wahre zu sein, sondern es ist das Durchscheinen des Wahren, seine dem Menschen genügende Erscheinung. Augustinus knüpft an die Voraussetzung des verum im verisimile in seiner Auseinandersetzung mit der akademischen Skepsis an (Contra Academ. II, 27). 146
arrogantia, die die teleologische Ökonomie der Wahrheit geringachtet. Außerhalb der dem Menschen ökonomisch zugemessenen Lichtung hat das Dunkel sein Recht; unter den vitia, die gegen die Norm der sapientia verstoßen, nennt er nicht nur die Leichtfertigkeit der Zustimmung, sondern auch die Hinwendung zu den res obscurae und non necessariae.18 Eine solche Ausgrenzung ist unter den ontologischen Voraussetzungen der klassischen antiken Philosophie undenkbar; das Naturstreben nach "Wissen, wie es der Anfang der aristotelischen Metaphysik formuliert, bewegt sich dort eben in einem Raum universaler theoretischer Helle und Ansichtigkeit, und θεωρία ist Nachvollzug eines absoluten göttlichen Aktes. Cicero sieht Erkenntnis innerhalb der menschlichen Spezifität und Bedürftigkeit; die theoretische Tätigkeit erhält moralische Prämissen. Diesen Prozeß wird das Mittelalter unter dem Titel der curiositas als der theoretischen Hybris fortsetzen.19 Die Verteilung von Licht und Dunkel im theoretischen Feld steht bei Cicero unter praktischen Prinzipien. Nicht primär das scire, sondern das uti ist der dem Menschen offene Anspruch an das Seiende.20 Das Intensitätszentrum des Lichtes muß also bei den Grundsätzen des menschlichen Handelns liegen; nur bei diesen res necessariae ist volles Licht, zwingende Evidenz gewährt. Piatos selbstleuchtendes, allem anderen Licht verleihendes αγαθόν ist nicht in die Transzendenz entrückt, sondern zur intimsten Immanenz des moralischen Bewußtseins verinnerlicht, das aber heißt auch: theoretisch verborgen. Cicero akzeptiert den stoischen Grundsatz, im Zweifel über Recht oder Unrecht einer Handlung 18 Deofficiisl, 6,18. 19 Schon Ambrosius geht in seiner Paraphrase zu De officiis über Cicero hinaus, indem er gegen dessen Ausnahmegewährung für Geometrie und Astronomie polemisiert, wobei das Hintangesetzte die Sache des Heils - nicht, wie bei Cicero, die societas - ist (De officiis ministrorum 1,26,122). Die res obscurae auf sich beruhen zu lassen, wird dem Christen schon durch den Glauben an einen Richter nahegelegt, dem das Verborgene nicht entgeht (I, 26,124). Es ist leicht zu sehen, wie schon hier die mittelalterliche Identifizierung von curiositas und Naturforschung vorbereitet ist. 20 De divinatione I, 35: Latet fortasse (sc. causa) obscuritate involuta naturae. Non enim me deus ista scire, sed bis tantummodo uti voluit. Auf die Bedeutung dieser Auffassung für Cicero hat G. Gawlick bei Untersuchung der Formel Perdifficilis et perobscura quaestio in seiner Dissertation »Untersuchungen zu Ciceros philosophischer Methode« (Kiel 1956) hingewiesen. Dort auch zahlreiche weitere Belege für die >natürliche< Dunkelheit der Dinge außerhalb der um den Menschen zentrierten >ökonomischen< Seinslichtung. 147
diese überhaupt zu unterlassen.21 Aber die Annahme dieser Voraussetzung stürzt ihn in einen unbemerkten Widerspruch zu seinem eigenen platonischen >Lichtresiduum< - denn, kann es diesen Zweifel über Recht und Unrecht überhaupt geben, wenn zutrifft, was gleich im nächsten Satz ausgesprochen wird: Aequitas lucet ipsa per se, dubitatio cogitationem significat iniuriae? Wenn das Gute sich selbstleuchtend darbietet, dann ist der Zweifel immer schon Index der Erwägung von Unrecht. Das Gute ist so authentisch im Licht, daß es den Zweifel ausschließt.22 Der Verinnerlichung des reinen Lichtes entsprechen die innerlichen Formen seiner Verdunkelung durch die Leidenschaften.23 Andererseits aber dringt das verinnerlichte Licht auch wieder nach außen: Cicero handelt von der gloria als der von der communitas aufgenommenen und bestätigten >Ausstrahlung< der virtus; die Tugend leuchtet auf und erzwingt die Achtung der menschlichen Gemeinschaft.24 Die moralische Qualität ist der ästhetischen noch verwandt, vermag in sie überzugehen auf ihrer höchsten Stufe platonisches Erbgut! Exkurs: Die Höhle Finsternis als dualistische Gegenmacht des Lichtes, als überwundene Nichtigkeit, als natürliche Hintergrundzone der ökonomischen Lichtung des menschlich Wißbaren, als blendender Umschlag des reinen und absoluten Lichtes - das alles sind bisher aufgetretene Korrelate der Lichtmetaphorik. 2i De off. 1,9, 30: Quocirca bene praecipiunt, qui vêtant quicquam agere, quod dubites aequum sit an iniquum. 22 Einige Editionen haben die Inkonsequenz an dieser Stelle durch ein enim hinter aequitas hinwegpolieren wollen. So korrigiert Atzert, ohne Rechtfertigung im Apparat, seine eigene Ausgabe von 1939 in der Neuauflage von 1949, berücksichtigt aber das unmotivierte enim in seiner Übersetzung von 1951 mit richtigem Gefühl nicht, ebensowenig wie Büchner und Gigon. 23 Tusc. III, 2: Nuncparvulos nobis dedit (sc. natura) igniculos, quos celeriter malis moribus opinionibus depravati sie restinguimus, ut nusquam naturae lumen appareat. 24 De off. II, 9, 32: Etenim illud ipsum, quod honestum decorumque dieimus, quiaper se nobis placet animosque omnium natura et specie sua commovet maximeque quasiperlucet ex iis, quas commemoravi,virtutibus, ideirco Mos, in quibus Mas virtutes esse remur, a natura ipsa diligere cogimur. In Kants Begriff der >Achtung< (Kr.d.pr. V. I, 1, 3) ist der Akzent fast ganz auf das cogimur verlagert: Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht... Die Lichtmetapher ist für diesen Sachverhalt nicht mehr brauchbar. 148
In diesem Bedeutungsfeld nimmt die Metapher der Höhle eine Sonderstellung ein. Die Höhle ist nicht einfachhin die Gegenwelt des Lichtes, so wie die Finsternis der >natürliche< Gegensatz der Helligkeit ist. Die Höhlenwelt ist eine künstliche, ja geradezu gewaltsame Unterwelt zu der Sphäre natürlichen Lichtes und natürlichen Dunkels, eine Region der Abschirmung und des Vergessens, der Seinssurrogate und -derivate. An dieser Stelle von der Höhlenmetaphorik zu handeln, liegt nahe, weil es Cicero ist, der uns mit seinem Referat eines Höhlengleichnisses aus einem aristotelischen Frühdialog die angeführten Züge der Höhlenmetapher am ausgeprägtesten exemplifiziert.25 Der Stoiker Baibus will an dieser Stelle zeigen, daß uns die admirabilitas der Welt durch Gewöhnung verblaßt ist und daß Menschen, die immer unter der Erde gewohnt hätten, beim Heraufkommen und Erblicken des Kosmos sozusagen mit einem Schlage an Existenz und Wirken der Götter glauben würden. Der wichtigste Unterschied zum Höhlengleichnis im 7. Buch des platonischen »Staates« ist, daß bei Cicero die Höhlensituation ein bloßes Gedankenexperiment ist, um hypothetisch den Faktor Gewöhnung zu reduzieren; die Normalsituation (haec loca, quae nos incolimus) ist die außerhalb der Höhle im ständigen und deshalb erlebnismäßig nivellierten Anblick des Kosmos. Bei Plato ist der Raum außerhalb der Höhle der außergewöhnliche Aufenthalt des Weisen, während die Situation in der Höhle unseren >normalen< Zustand angibt; die Menschen in der Höhle sind gerade nicht ατοπόι, wie Glaukon sagt, sondern όμοιοι ήμΐν, wie Sokrates ihn zurechtweist. Schon bei Plato angelegt ist die Künstlichkeit der Gegenstandswelt der Höhle: die Schatten, die auf der Höhlenwand erscheinen, werden durch künstliches Gerät, artistisches Bildwerk und Erzeugnisse der Menschenhand aller Art hervorgerufen. Trotzdem ist die platonische Höhle ärmlich gegenüber der ciceronischen; hier ist Gewicht auf Glanz und Pracht der unterirdischen Behausungen gelegt, damit nicht das leiseste Gefühl des Ungenügens und Unbehagens aufkommen kann: alles ist da, quibus abundant ii, qui beati putantur. Die ciceronische Höhlenwelt ist von städtischem Luxus, eine blendend eingerichtete Kultursphäre, die gefangen hält durch ihre bloße Attraktivität. In der platonischen Höhle dagegen ist der Mensch gefesselt, in einer Zwangssituation, die dort allerdings rein faktisch vorausgesetzt wird, aber die Kausalfrage geradezu aufdrängt, auf die erst der Neuplatonismus den Akzent verlegen wird. 25 De natura deorum II, 37,95. V.Rose (i886),i?. Walzer (1934) und W.D. Ross (1955) lassen keine Zweifel an dem Zitat erkennen. W. Jaeger, Aristoteles. Berlin 1923. S. 167 erhärtet daraus ohne Bedenken die Platonähe, aber auch die Platoumbildung des frühen Aristoteles. Ein Hinweis von E. Burck (1950) hat mich an der Authentizität des vorliegenden Textes irregemacht; es ist doch zu viel Stoisches darin. Aber das kann noch auf das Konto dessen gehen, was Cicero unter >übersetzen< versteht. G. Gawlick hat dafür (a.a.O.) wichtige neue Belege beigebracht. Die ganze Frage kann wohl noch nicht abschließend beurteilt werden. Wir gehen aber sicher, wenn wir den Text nur für den Zusammenhang auswerten, in dem er für uns auftritt. 149
Cicero kommt es darauf an, die Höhlerrwelt >konkurrenzfähig< mit der Oberwelt erscheinen zu lassen, weil der Aufstieg aus dieser Sphäre als rein zufällig gedacht und nur auf den Effekt der Überraschung berechnet ist. Bei Plato dagegen ist die Entfesselung, die schmerzhafte Umwendung, der Aufstieg mit den Stufen der Ent-täuschung die entscheidende Vorstellung der παιδεία, die im nachhinein die Höhlenwelt als Sphäre des Mangels an Sein und Wahrheit bewußtmachen soll. Bei Cicero hat, bei allem Glanz der Schilderung des wirklichen Kosmos, das Reich künstlichen Lichtes keine Schrecken, die Ökonomie des Dunkels ist ihm vertraut geworden, und fast möchte man sagen, er könnte eine gewisse Affinität zu seiner Höhlenvorstellung gehabt haben, wo die Natur vollends zur res obscura geworden ist und alle Gewißheit dem inneren Licht zugewiesen bleibt. Die Aussagekraft der Höhlenmetapher bei Cicero liegt im Grunde gerade darin, daß die Höhle ihren (s. v.v.:) existentiellen Ernst verloren hat; sie ist Hypothese, Gedankenspiel geworden. Die Folie der obscuritas rerum und die ihr korrekte Verinnerlichung des lumen naturae haben das Bild von der Höhle in seinen Voraussetzungen entkräftet.26 Radikale Umdeutungen der >Höhle< werden fortan möglich. Schon einmal war in der Vorsokratik der ganze Kosmos mit der Höhle gleichgesetzt worden 27 , aber erst der Neuplatonismus kann mit dieser Identität wirklich etwas anfangen. Hier wird, in Anlehnung an die blühende //omer-Allegorese, die Nymphengrotte der Odyssee kosmologisch ausgedeutet, wie in der Schrift »De antro nympharum« des P/otzVzschülers Porphyrios: Kosmos und Höhle stehen füreinander, das eine ist das σύμβολον des anderen, wobei das tertium der mit Lockung und sanfter Gewalt an der Erreichung seiner höhlentranszendenten Bestimmung gehinderte Mensch ist. Die mit dem Kosmos identifizierte Höhle gibt nun ein für die ostkirchliche Symbolik charakteristisches Szenarium der Inkarnation ab: statt im Stall wird Christus in der Höhle geboren, und Justinus besteht darauf, daß der Höhlenkult des Mithras eine diabolische Usurpation dieses symbolischen Ortes sei.28 Der Topos des >Lichtes in der Höhle< ist nur durch diese Konstellation möglich geworden.29 Der paiz6 Vgl. M. Heidegger, a.a.O. S. 33: Wo die Wahrheit anderen Wesens ist und nicht Unverborgenheit oder wenigstens durch sie nicht mitbestimmt, da hat ein >Höhlengleichnis< keinen Anhalt der Veranschaulichung. Wie tief und genau die Höhlenmetapher bei Plato fundiert ist, zeigt sich ja schon an ihrem Vorspiel im Phaidon 109 E, wo die Seinsverwechslung und der Aufstieg aus der täuschenden Tiefe bereits angelegt sind. 27 Pherekydes von Syros, Diels 7 Β 6. 28 Dialogus cumTryphone Judaeo LXXVIII, 5-6 (möglicherweise in Aufnahme von Protev. Jacobi XVIII, 1). Vgl. hierzu C. Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums I. München 1954. S. 250, wo noch auf (Ps.) Basilius, Hom. in nativ. Christi hingewiesen ist. Ferner E. Benz, Die heilige Höhle in der alten Christenheit und in der östlichen orthodoxen Kirche. In: EranosJahrbuch XXII (1953). 29 Ein jüngster Reflex ist Ezra Pound, Canto XLVII: 150
deutische Weg führt nicht mehr aus der Höhle heraus; der Blick ist in das Dunkel gerichtet, weil in ihm das Unglaubliche glaubhaft geworden ist: daß das Licht hier erscheint. Die platonische Differenz des Höhlenfeuers gegenüber der Sonne des Guten ist beseitigt: das Licht in der Höhle ist eines Wesens mit seinem Ursprung, es ist sein Statthalter und seine Bürgschaft, nicht trügerische Ursache von Schatten. Das Innen der Höhle ist positiv umgewertet: als individualisierte Höhlen werden Kämmerlein und Klause im Mittelalter zu Orten, an denen die Wahrheit offensteht, Hinweisung darauf, daß nun alles von innen erwartet werden kann. Intra in cubiculum mentis tuae, exclude omnia praeter Deum30 - ist eine neue Lebensformel, die Höhle und Gehäus erschafft, Positionen, in denen man auf das Licht warten kann, wie es der Glaube an Gnade impliziert. Aber die Vorstellung geht dann unmittelbar über zur Metapher für den >Innenraum des Selbstbesitzes<, wie Montaigne >Höhle< (tanière) versteht.31 Als kontrastierende Metapher für das Neue, das nun heraufkommt, bleibt die Höhle im Gebrauch. Francis Bacon faßt die Befangenheit des Individuums in seiner subjektiven Welt unter dem Titel der idola specus32; Veranlagung, Erziehung, Erfahrung bilden jedem Menschen seine besondere Höhle, die für ihn das natürliche Licht bricht und entkräftet. Die Höhle bezeichnet die Faktizität des Subjekts, die Eigenwelt, in der es sich immer schon vorfindet. Bezeichnenderweise hat Bacon aus der ιδία φρόνησνς des Heraklit, auf den er sich namentlich beruft, die eigene kleine Welt gemacht. Und das Heraustreten aus der Höhle ist nun nicht mehr der paideutische Weg des einzelnen Weisen unter das volle Licht, sondern die Methode als die Technik der Gewinnung einer größeren gemeinsamen Welt für alle. Das Heraustreten aus der Höhle wird zur geschichtsphilosophischen Metapher, es bezeichnet die neue Epoche der Menschheit. So hat auch Descartes die Metapher gebraucht.33 Er vergleicht die Bekämpfung der neuen Wissenschaft durch die Scholastiker mit dem Vorgehen eines Blinden, der seinen sehenden Gegner- um Gleichheit der Bedingungen herzustellen -fait venir dans le fond de quelque cave fort obscure; die Veröffentlichung seiner Methode aber bedeutet demgegenüber quasi le même..., que si j'ouvrais quelques fenêtres, et faisais entrer du
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The light has entered the cave. Ιο! Ιο! The light has gone down into the cave, Splendour on splendour! Anselm von Canterbury, Proslogion c i . Vgl. H. Friedrich, Montaigne. Bern 1949. S. 307. Novum Organum I, 42. Idola specus sunt idola hominis individui. Habet enim unusquisque (praeter aberrationes naturae humanae in génère) specum sive cavernam quandam individuam, quae lumen naturae frangit et corrumpit... ut plane Spiritus humanus (prout disponitur in hominibus singulis) sit res varia, et omnino perturbata, et quasi fortuita: unde bene Heraclitus, homines scientias quaerere in minoribus mundis, et non in maiore sive communi. Discours de la Méthode VI (ed. Gilson S. 71). 151
jour dans cette cave ... Das ist ein signifikatives neues Bild anstelle des paideutischen Weges aus der Höhle, denn hier wird der Raum selbst verwandelt, es wird nicht nur am Menschen, sondern an der Welt etwas getan, was nicht mehr von Bildung und Willen des Individuums abhängt. Nur ist dies kein momentaner Akt, sondern ein Weg geschichtlicher Kontinuität des Ent-deckens der Wahrheit, qui ne se découvre que peu à peu. Dem trägt die Fenster-Metapher mit ihrer Implikation der schrittweisen Öffnung des Lichtzuganges Rechnung. Man erinnere, welche Bedeutung das geschlossene, mittelalterliche Gehäus in der Schilderung der Wende des cartesischen Denkens noch hat: ... je demeurais tout le jour enfermé seul dans un poêle.. .34 Das Verhältnis von Gehäus und Welt ist hier noch ganz mittelalterlich: die >Richtung< geht von außen nach innen. So hatte es exemplarisch Nikolaus von Cues am Bilde des Kosmographen dargestellt (Compendium VIII): um eine Weltkarte herzustellen, sammelt dieser zunächst alle empirischen Daten, clauditqueportas et adconditorem mundi internum transfert intuitum ... Dieser innere Weltgrund ist die unmittelbare Verwandtschaft des menschlichen Geistes mit dem göttlichen, das signum conditoris, in quo vis creativa... relucet. In der Weltabschirmung des mittelalterlichen Gehäuses leuchtet zuerst die schöpferische Potenz des Menschen auf; nur durch die Weltaskese entdeckte sich die Weltmächtigkeit. Von nun an wird die Höhle gängige Metapher der Geschichtsphilosophie für den Ausgangspunkt des >Fortschritts<. Die Probleme der menschlichen Vergesellschaftung werden an der hypothetischen Situation des Heraustretens aus der Urhöhle exemplifiziert (wo, ganz stilgerecht, die Relikte des Urmenschen dann auch gesucht und gefunden werden). Der Topos des Geschichte initiierenden Heraustritts aus der Höhle war schon in der Antike vorgeprägt: so ist es bei Vitruv das Feuer eines Waldbrandes, das die Menschen aus ihren Höhlen hervorlockt und zum ersten Male vergesellschaftet35, bei Cicero die Leistung der Rhetorik, aus dem vereinzelten Höhlendasein zur Gemeinschaft zu überzeugen36. Diese Doppeldeutung als triebhafte Automatik oder geistige Urleistung zieht sich durch die ganze Geschichte des Höhlenaustrittsmotivs hindurch. Rückkehr in die Höhle ist dagegen nur noch Sache abseitiger Kuriosität, wie in dem Höhlenabstieg des Don Quijote (II, 22/3) oder in der bemerkenswerten Imitation des ciceronischen Höhlengleichnisses bei Jean Paul37: hier wird der Held Gustav, entsprechend einer Bedingung des Ehekontraktes der Eltern, nach seiner Geburt acht Jahre unter der Erde für den Himmel (im stoischen Sinne!) erzogen, mit dem paideutischen Sinn, das Kind nicht gegen die Schönheiten der Natur und die Verzerrungen der Menschen zugleich abzuhärten; die Erfüllung dieser Absicht bestätigt sich später ausdrücklich, denn Natur34 Discours II (ed. cit. S. 11). 3 5 De architectura IL prooem. 36 De inventione I. prooem. 37 Die unsichtbare Loge, 3. Sektor. 152
Schönheit war die einzige Sache, worüber er mit anderen (sc. weiblichen) Schönheiten begeisternd sprechen konnte; - und er konnte am frischesten alle Weltreize in einem Morgen zusammendrängen, wenn er seinen Eintritt aus der Erde hinauf in das hohe Weltgebäude beschrieb.38 Aber Rückkehr in die Höhle, aus der die Menschheit zu ihrem >Fortschritt< heraustrat, kann auch Distanzierung von diesem Fortschritt bedeuten: so wird die Höhle zum Ort der aristokratischen Absonderung, des Rückzuges aus der Niederung des Allgemein-Menschlichen, des Willens zur Umkehrung der geschichtlichen Bewegung. Von dieser Art ist die Höhle des Zarathustra.
Kehren wir zum Deviationspunkt unseres Exkurses zurück. Transzendenz des Lichtes einerseits, seine Verinnerlichung andererseits kennzeichnen die Wendung vom metaphorischen zum metaphysischen Gebrauch der Vorstellung. Die beiden Korrelate dieser Entwicklung werden durch eine entscheidend neue Idee in Zusammenhang gehalten: das Licht bekommt eine Geschichte. Das innere Licht des Geistes ist abkünftig vom transzendenten Licht, aber nicht in der Weise der >Erleuchtung<, sondern in der der >Zerstreuung<, nicht aus dem Grunde der Mitteilung, sondern durch den >Unfall< der Beraubung, der illegitimen kosmischen Verstrickung. Das Drama der Diaspora und der Wiedervereinigung des absoluten Lichtes ist die Grundvorstellung der Gnosis. Das Licht strahlt nicht mehr in die Welt, um sie zum Sein zu erwecken, sondern es geht in der fremden und feindlichen Sphäre verloren, es muß befreit und zu seinem Ursprung zurückgeführt werden. Die paideutische Geschichte des Menschen, der aus dem Dunkel ans Licht kommt, hat sich verwandelt in eine Geschichte des Lichtes, das sich an das Dunkel verliert und zu sich selbst zurückkehrt. Der Mensch ist nur ein Vehikel· dieser Geschichte, die kein menschliches, sondern ein kosmisches Drama ist. Damit gerät der Begriff der >Welt< in eine unaufhebbare Zweideutigkeit: ohne die Herabkunft des göttlichen Lichtes gäbe es keinen sichtbar-gestaltlichen Kosmos, keinen Ursprung der dinglichen Welt - zugleich aber ist diese Weltschöpfung das metaphysische Unglück des reinen Lichtes, Verunreinigung und Entstellung des Absoluten. Auch Plotin beschreibt in seiner Abhandlung über den Ursprung des κακόν 39 zugleich die Entstehung des realen Kosmos und die Herkunft des Übels. Das reine Licht des Guten und das reine Dunkel des Stoffes sind für Plotin je μή δν. Zwischen diesen beiden Polen spielt das Drama der 38 A.a.O., 30. Sektor. - 39 Enn. I, 8. 153
Vermischung, aus dem das öv hervorgeht; das Seiende hat von diesem Ursprung her ein negatives Vorzeichen. Dieser Negativität des Seienden entspricht die des λόγος. Hatte sich der platoni sche Sokrates im »Phaidon« in die λόγοι geflüchtet, so muß nun der Geist aus der Befangenheit in den λόγοι erweckt und hinge wendet werden zur namen- und begriff losen Schau des reinen Lichtes.40 Die Abbilder verweisen nicht mehr auf das Urbild, wie bei Plato, sondern verführen trügerisch von ihm fort; nur wer schaut, ist wissend.41 Es gibt nur einen >Gegenstand< wahrer Erkenntnis: das Licht selbst und an sich selbst. Abkunft ist schon Abfall. Darin scheint eine unaufhebbare immanente Konsequenz der Lichtmetaphysik zu liegen: das Licht als das Gute ist Selbstverschwendung und Selbstverstrahlung, aber eben darin Entfernung von sich selbst, Selbstverlust und Selbsterniedrigung. Darin wird die Hauptschwierigkeit der christlichen Rezeption der Lichtmetaphorik liegen: das κακόν darf nicht aus der Konsequenz des sich verstrahlenden Lichtwesens Gottes hervorgehen. Es ist das zen trale Problem der Metaphysik bei Augustinus, das er in der Aus einandersetzung mit der manichäischen Gnosis zu lösen hat. Der Kosmos, als die >Schöpfung< Gottes, kann nicht mehr die Mésalliance des Lichtes sein. Der Anknüpfungspunkt für die christliche Rezeption von Lichtmetaphorik und Lichtmetaphysik lag in der eigentümlichen Trennung, die der biblische Schöpfungsbericht zwischen dem Ursprung des >Lichts< am ersten Tage und dem der >Leuchten< am vierten Tage vornimmt. Hier bot sich ein zwangloser, kaum zu verfehlender Einlaß für den Gedanken eines kosmisch nicht lokalisierbaren, allem Seienden vorgängigen Lichts. Von diesem Ansatz her nahm die unübersehbar reiche >Lichtsprache< der christlichen Tradition ihren Ausgang. Es kann uns nicht um eine Bestandsaufnahme zu tun sein; vielmehr richten wir unser Augenmerk wieder auf die Β edeutungsWandlungen des Übergangs, der Rezeption. Motive der Transformation liegen schon in der Genesis bereit: das Licht des ersten Tages ist geschaffenes Licht, es entspringt einem göttlichen Befehlsakt, sein Gegensatz zur Finsternis ist kein Urdualismus, sondern beruht auf Setzung und Scheidung Gottes. Gott selbst steht jenseits dieses Gegensatzes und verfügt über ihn. Das erfordert die Zurückbiegung der dualistischen Tendenz der 40 Enn. VI, 9, 4. 41 Enn. VI, 9, 9. 154
spätantiken Vorprägung der Lichtmetapher. Weit bedeutsamer aber ist die unausweichliche Kollision, die zwischen den Implikationen der Lichtvorstellung und der fundamentalen Aussage von der willentlichen Setzung des Seienden entsteht. Wird der Zusammenhang zwischen Seinsgrund und erscheinendem Seienden nach dem >Modell< des Lichts verstanden, so ist die Implikation des >natürlichen< Überfließens des Lichts auf das Erleuchtete, des emanativen Übergehens des Grundes in das Gegründete gar nicht auszuschließen. Das ist ja die immanente Aussagetendenz der Lichtmetapher, daß sich das Ganze des Grundes selbst mitteilt und verschwendet, ohne zu schwinden. Weiter liegt in der Lichtmetapher, daß sie, wenn schon kein dualistisches Gegenprinzip, so doch einen reflektierend-passiven Untergrund: das im Licht aufscheinende Substrat der klassischen ϋλη, voraussetzt. Hier liegen Differenzen zwischen der tradierten Sprache und dem, was sie nun zu sagen hat. Der alexandrinische Jude Philo hatte mit seinem Versuch, die biblischen Aussagen in griechische Metaphysik zu transformieren, über die Rezeption der Lichtvorstellung schon entschieden. Philo erliegt in seiner Genesisallegorese »De opificio mundi« fast ganz seiner >Leitvorstellung< vom Licht: so wie er das Licht des ersten Tages und die Lichter des vierten Tages in den genetischen Zusammenhang des Hervorgehens des ästhetischen aus dem noetischen Licht bringt, so ist ihm schon das νοητόν φως eher Strahlung als Schöpfung.*2 Die Einschaltung des Willensbegriffs vermag den >Naturalismus< dieser Vorstellung nicht aufzufangen, denn für Philo ist dieser Begriff synonym mit dem der platonischen Ideen, deren Dynamisierung schon bei dem Akademiker Antiochus eingesetzt hatte.43 Die Anwendung der Lichtmetapher auf eine als >Ausstrahlung< aufgefaßte Wirkform des göttlichen Willens ist seither immer wieder versucht worden 44 ; aber hier liegt eine unüberwindliche Heterogeneität von metaphysischem Sachverhalt und metaphorischer Kategorie vor. Unversehens ist bei Philo der Ak42 De opificio mundi c. 8 (ed. Cohn 1889 S. 9). 43 W. Theiler, Die Vorbereitung des Neuplatonisraus. Berlin 1930. S. 50. 44 Ein illustratives Beispiel findet sich bei Salomon ibn Gabirol (scholast. Avicebron), Föns vitae IV, 31 (ed. Baeumker S. 254): Dubitas quod lumen infusum in materia(!) sit defluxum ab alio lumine, quod est super materiam, scilicet lumine, quod est in essentia virtutis agentis? Et hoc est voluntas, quae eduxit formam de potentia ad effectum. Bei Moses Maimonides, Dux neutrorum I, 72 wird die Lichtmetapher auf die von der ersten Himmelssphäre ausgehende motorische Kraft angewendet. !55
zent im platonischen Sinne verschoben: Licht ist nicht das Ersterschaff en-Weltliche, sondern das Schaffend-Überweltliche, Gott als Schöpfer ist φως45, ist selbst der νοητός ήλιος 46 , der Urquell des Seinslichtes47. Diese >Naturalisierung< des biblischen Schöpfungsgedankens bleibt, bis in das hochscholastische Mittelalter hinein, die wesentliche Indikation der Lichtmetaphorik. Die Verbindung der Lichtmetapher mit dem Dualismus der Gnosis hat ihre christliche Rezeption aufgehalten, aber nicht verhindert. Indem Augustinus den Dualismus durch die Entfaltung des Freiheitsbegriffes einerseits, durch die strenge Ausformulierung des ex nihilo des Schöpfungsgedankens andererseits entkräftete, machte er den Weg für die endgültige christliche Legitimierung der illuminatio frei. Niemals vorher und niemals nachher ist die Lichtsprache so subtil und reich nuanciert gehandhabt worden. Das vorwiegend erkenntnistheoretische Interesse an der illuminatio hat eine angemessen umfassende Untersuchung bisher nicht hervorbringen können; diesen Aspekt vernachlässigen wir daher hier, um Hinweise auf sonst Vernachlässigtes zu geben. Wichtig ist vor allem, wie Augustinus sich von der gnostischen Lichtmetaphysik distanziert. Er wirft den Manichaeern vor, daß sie non distinguunt inter lucem quod est ipse Deus, et lucem quam fecit Deus; Gott ist nicht einfachhin Licht, sondern er ist lucifica lux.48 Augustinus verzichtet auf die emanative Homogeneität des Seinslichtes vom absoluten über das noetische bis zum ästhetischen Licht herab - also auf eine großartig geschlossene Konzeption - und fordert metaphysische Scheidungen: wie zwischen ungeschaffenem und geschaffenem, so auch zwischen dem Licht qua cernimus und dem qua intelligimus.49 Mit unseren Worten: erführt die Lichtmetaphysik auf die Lichtmetaphorik zurück! Mit rhetorischer Vehemenz streitet er gegen die manichaeische fahella vom Urkampf des Lichtes mit der Finsternis, gegen die ganze dramatische Mythologie von Niederlage, Verschlingung und Entwürdigung des Lichts durch die Finsternis und seine Wiederbefreiung, Reinigung und Erhöhung unter Mitwirkung des Menschen.50 Nicht nur ist der 45 46 47 48 49 50 156
De somniis 113, 75 (ed. Cohn-Wendland). De virtutibus 22,164. De Cherubim 28, 97. Contra Faustum Manichaeum XXII, 8. L. c. XX, 7. L.c. XIII, 18.
Gott Augustins einem solchen Zugriff unerreichbar, sondern auch das Licht, das er den Menschen gibt, ist nicht taie lumen, quod ab aliquo possit obtenebrari.51 Das geht nicht nur auf die Unanfechtbarkeit seines Heilswillens, sondern auch auf die illuminative Fundierung der für den Menschen zugänglichen Wahrheit. Der Mensch kann sich selbst nicht Licht sein: Lumen tibi esse non potes; non potes, non potes.52 Der Mensch ist nicht Licht, sondern nur Leuchte, die am Licht entzündet wird: Lucerna et accendipotest, et exstingui potest; lumen verum accendere potest, exstingui non potest. Die Rede vom lumen illuminatum, vom participando illuminari53, will zwar die Differenz des Seins strikt herausstellen, zugleich aber den absoluten Charakter der dem Menschen erschlossenen Wahrheit bedeuten. Diese Entdeckung hat Augustinus vor dem Hintergrund der akademischen Skepsis gemacht. Im Unterschied zum ekstatischen Begriff der absoluten "Wahrheit bei den Neuplatonikern aber, wo die höchste Stufe der Wahrheitserschließung das Sehen-ins-Licht ist, kehrt Augustinus zu der klassischen Form der Metapher des Sehens-im-Lichte zurück: wir werden des Lichtes nur inne an der Gewißheit, die es uns am erhellten Seienden gewährt.54 Wir haben das Licht immer gleichsam im Rücken, und das gilt gerade für die lux interior, deren Leistung es ist, daß durch sie die Dinge uns offenliegen - qua res quaeque manifesta est.55 Auf diese Verborgenheit des entbergenden Lichts an sich selbst deutet, an der selben Stelle, die paradoxe, trotz ihrer Analogie zu neuplatonischen Formeln ganz autochthone Rede von der insensibilitas tenebrae huius lucis. Trotz der oft gewollten ter51 52 53 54
Enarratio i n P s . XXVI; II, 3. Sermo CLXXXII, 5. Epist. CXL, 7. Epist. CXX, 10: ... sed invisibiliter et ineffabiliter, et tarnen intelligibiliter lucet, tamque nobis certum est, quam nobis efficit certa quae secundum ipsum (sc. lumen) cuncta conspicimus. Abweichend von seiner Haltung zum Manichaeismus hat Augustinus sein Verhältnis zu den Neuplatonikern harmonisierend behandelt und daher die Differenzen in der Lichtmetaphysik nicht scharf genug betont (cf. De civitate dei X, 2). Selbst bei ganz neuplatonisch-esoterisch klingenden Wendungen, wie der: ... sed paucissimis (sc. conceditur) videre quod verum est (De div. quaest. q. 46), ist doch nur die Reflektion auf die Herkunft der Gewißheit, nicht aber die ekstatisch-mystische Schau ihrer Quelle gemeint. 5 5 De genesi ad litteram imperfectus liber V, 24: Convenienter autem lucem hanc dici concedit, quisquis concedit rede dici lucem, qua res quaeque manifesta est ... haec lux qua ista manifesta sunt, utique intus in anima est, quamvis per corpus inferantur quae ita sentiuntur.
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minologischen Harmonisierung zu Plotin hin, im attingere und amplecti z. B., schließt schon die Innerlichkeit der illuminatio eine Interpretation im Sinne der Ekstasis aus.56 Der >Ort< der illuminatio ist bei Augustinus die >Tief e< der Seele, mit Vorzug der Innerlichkeitsgrund der memoria.57 Die >Richtung<, aus der die illuminatio kommt, müßte also durch den ek-statischen Akt gerade verfehlt werden. Statt dessen treten die paideutischen Momente der Lichtmetaphorik wieder hervor: das entscheidende Drama ist nicht die Geschichte des Lichts, sondern die menschliche conversio. Der Akzent ist, um es in der Sprache des platonischen Höhlengleichnisses zu sagen, auf die Abwendung von den Schatten gelegt, oder noch enger und genauer: auf die Lösung der Fesseln, die den Blick auf die Schatten hinzwangen. Alles hängt an dem, was schon bei Plato der Gefesselte nicht selbst zu leisten vermochte, was aber dort beiläufig ist und kein Gewicht erhält gegenüber dem Weg der παιδεία. Vor den Weg der παιδεία ist nun, als alles entscheidende Bedingung, der Akt der gratia gesetzt, faßbar in der Erfahrung der conversio. Augustins Lehre ist Metaphysik der Bekehrung.5* Schließlich darf die ganz wesentliche Differenz zur neuplatonischen Lichtmetaphysik nicht übersehen werden, die in Augustins Abneigung gegen die Implikation des Flusses in der Lichtsprache zutage tritt. Gegen das emanatistische fluere setzt er, mit einem seiner Lieblingstermini, das substantiale mauere, am härtesten in der Entgegensetzung: nihil est omne quod fluit... est autem aliquid, si manet, si constat, si semper taie est.59 Die Herausarbeitung der creatio ex nihilo impliziert eine schärfere Kontur des Seienden als der neuplatonische Überfluß des Lichts auf den dunklen Grund des Urstoffes; das Sich-im-Sein-Halten, das custodire se velle (als Potenzierung des stoischen suum esse conservare) profiliert sich vor dem Fond des Nichts zu einer dritten Grundbestimmung alles Seienden (nach existentia und essentia), für die Augustinus das Nomen manentia neu prägt.60 Gegen das stufenweise ausfließende, sich hypostatisch vervielfältigende und ausformende Licht der Neuplatoniker ist auch die augustinische Schöpfungsterminologie 56 Gegen J. Barion, Plotin und Augustinus. Berlin 1935. S. 152ff. 57 De Trinitate XIV, 6,8-7,10; auch Confessiones X, 20,29-21,30. 58 E. Gilson, Introduction à l'étude de St. Augustine. Paris 1929. Dt. Ausg. Hellerau 1930. S. 399. 59 De beata vitall, 8. 60 Epist. XI, 3. 158
mit ihrer Betonung der momentanen Totalität des kreativen Aktes gerichtet, am prägnantesten in dem ictus condendi, dem seinsgründenden Stoß, der den Fluß des gradibus attingere und gressibus pervenire ausdrücklich überbietet.61 Augustinus kann die >Natürlichkeit<, die in der Lichtmetaphorik impliziert ist (im Sinne des natura nonfacit saltus), nicht übernehmen, wenn er den radikalen Seinsur>sprung< durch das mandavit (sc. Deus) et creata sunt zur Geltung kommen lassen will. Diese Grenzen der Lichtmetaphorik haben sich in der mittelalterlichen Tradition nur zu oft wieder verwischt; die nicht nur lautliche, sondern auch bildliche Affinität von lumen und flumen dringt wieder gegen die augustinischen Kamelen durch. Exkurs: Auge und Ohr In der Sprache der Lichtmetaphorik wird das Auge als das dem Licht korrespondierende Organ erst ausdrücklich bedeutsam, wenn die Selbstverständlichkeit der Entsprechung von Erhellung und Sehen gestört oder sogar gebrochen ist. Solche Entselbstverständlichung kann entweder auf die blendende Überhelle des Lichts zurückgehen, die das Auge schmerzt, blendet und zum Sich-Schließen zwingt, oder auf die Trübung des Auges selbst durch die Unreinheit des Sehenden bis hin zum willentlich-schuldhaften Verschließen des Auges vor dem, was ihm zu sehen naturgemäß zukommt. Im platonischen Höhlengleichnis ist die Relativität der Störungen der Sehkraft in bezug auf die jeweilige Ausgangssituation eines Weges gesehen: sowohl wer aus dem Licht in die Finsternis kommt als auch wer aus dem Dunkel ins Licht tritt, sieht zunächst nicht, weil das Organ den Übergang nicht sogleich mitvollziehen kann.62 Die Eingewöhnung kommt hier noch gegen die Blendung auf, ist aber zugleich auch die wesentliche Quelle der Täuschung über den eigenen Standort zum Sein, weil sie ambivalent funktioniert: auf die Dauer sieht man im Höhlendämmer so gut, als ob man im Tageslicht stände. Die absolute Blendung, gegen die keine Gewöhnung aufkommt, gibt es erst im Neuplatonismus. Aber hier bekommt sie positiv indizierenden Sinn: die Koinzidenz von Sehen und Nichtsehen in der Blendung durch das reine Licht ist die bestätigende Grunderfahrung aller Mystik, in der sich die Gegenwart des Absoluten bezeugt, in der alles Denken und Sprechen überboten wird, die der Transzendenz einzig adäquate Begegnungsweise.62a Zugleich geht der Gesichtssinn durch die das Dunkel 61 De genesi ad litteram IV, 33, 51. 62 Politeia 518 A. 62 a Diese mystisch-methodische Funktion der Dunkelheit als Kriterium des rechten Weges hat vielleicht am schönsten Nikolaus von Cues ausgespro159
nicht erschiene, so wäre er nicht auf dem Wege schmerzende Präsenz, die gleichsam in das Auge eindringende Gewalttätigkeit des Geschauten in eine Wahrnehmung des Tastsinnes über, eine >Berührung<. Die Distanz des Sehens geht verloren; dafür wird die Realität des >Gegenstandes< mit der dem Tastvermögen zukommenden höchsten Bezeugungsqualität versehen. Zugleich ist, in dem Verlust der Distanz und des Standortes der Sicht, der vorher nur Sehende ein anderer geworden, er ist nicht mehr dieses Selbst und nicht mehr seiner selbst, er gehört dem Anderen, das nur theoretisch betrachten zu wollen und zu können eine Illusion ist.63 Im Gehören aber geht die Sprache in einen ganz anderen Sinnbereich hinüber: vom Sehen zum Hören, von den Metaphern des Lichts zu denen des Wortes, vom metaphorischen Organ des Auges zu dem des Ohres. Das ist ein Übergang, von dem die Möglichkeit der Freiheit immer mitbetroffen wird. Neben dem Augenschließen der zwingenden Blendung steht das Augenschließen als Einleitung der Selbstversenkung, der inneren Kontemplation, als freier Akt einer Blickwendung. Es ist die charakteristische Haltung der augustinischen Soliloquien, fundiert in der Betonung der inneren illuminatio gegenüber der ekstatischen Begegnung mit dem Absoluten. Aber auch Plotin kennt diese Abschirmung des Blicks nach außen, auf eine versucherische und selbstentfremdende Welt, die entweder in die Transzendenz überschritten oder in die Innerlichkeit unterschritten werden muß, wenn man ihr nicht erliegen will.64 In dieser Doppeldeutigkeit des Augenschließens steht fortan die ganze mystische Tradition. Bei Augustinus gibt es noch eine weitere Bedeutung der Metapher des Augenschließens: es nützt nichts, die Augen in der Finsternis zu öffnen, aber es nützt auch nichts, im Lichte zu sein und die Augen geschlossen zu halten.65 Das erste chen, bezeichnenderweise um die Dunkelheit seiner eigenen Metaphysik zu rechtfertigen: £5 ist gerade so, wie wenn jemand die Sonne sucht, und wenn er in der rechten Weise zu ihr hintritt, so entsteht durch das überstarke Licht der Sonne Finsternis in seinem schwachen Auge; und dieser Nebel ist für den, der die Sonne sucht, ein Zeichen dafür, daß er auf dem rechten Weg ist; und wenn zu jenem überhellen Licht. (Brief an den Abt des Klosters Tegernsee v. 14. Sept. 1453 [ed. Vansteenberghe, Autour de la docte ignorance. Münster Ι9ΐ5·η. 5 S. 113].) Systematisch paßte dieser Sachverhalt aufs genaueste in die cusanische Metaphysik der coincidentia oppositorum. Die Objektivierung der subjektiven mystischen Erfahrung hat der Cusaner mühelos in dem einen Satz vollzogen: Deus est maxime lux, quod est minime lux (De docta ignorantia I, 4). Das hatte schon der ps.-hermetische »Liber XXIV philosophorum« (prop. 21) der mittelalterlichen Mystik vorformuliert: Deus est tenebra in anima post omnem lucem relicta. Und Bonaventura sagt: Excaecatio est summa illuminatio (In Hexaem. XXII, 11). In der cusanischen docta ignorantia ist diese ganze Tradition auf ihre dichteste Formel gebracht. 63 Plotin, Enn. VI, 9, 10: οίον άλλος γενόμενος και ούκ αυτός ούδ' αύτοϋ. 64 Εηη. Ι 6, 9;V 5, 7· 65 Enarratio in Psalmum XXV, 2,14· 160
Bild veranschaulicht die Situation des guten Heiden: die Ohnmacht des subjektiven Sehenwollens, dem seine objektive Bedingung, die Gnade, mangelt; das zweite die Lage des schlechten Christen, der die objektiv gegebene Möglichkeit des Sehens subjektiv verspielt. Dieser Gegensatz konnte in der klassischen Lichtmetaphorik nicht zur Sprache kommen; er setzt die Einbeziehung des Auges voraus. Eine weitere extreme Möglichkeit der Metapher wird erst aussagefähig, wenn Dunkelheit ein positives Vorzeichen erhält, eine Umwertung, die den romantischen Begriff der Nacht und Dunkelheit charakterisiert. Novalis wird in der ersten Hymne von den unendlichen Augen, die die Nacht uns geöffnet sprechen; hier bedeutet das Licht der Tageswelt Begrenzung, Unfreiheit in der Endlichkeit des an die Dinge gehefteten und durch sie bestimmten Blicks, das Dunkel der Nacht dagegen das Zurücksinken der gegenständlichen Determination zugunsten der horizontlosen, affektiv als Einheit gegenwärtigen Ganzheit des Seins. Für das griechische Denken war alle Gewißheit in Sichtbarkeit gegründet. Worauf der λόγος sich berief, war gestalthafter Anblick, war είδος. >Wissen< und >Wesen< (als Eidos) gehören schon etymologisch aufs engste zu >Sehen<. Der λόγος ist gesammeltes Gesehenhaben. Für Heraklit sind die Augen genauere Zeugen als die Ohren.66 Das ist eine Formel, die die abendländische Tradition gerade dort tief bestimmt hat, wo sie sich einer ganz heterogenen Konzeption gegenübersah, und zwar im Gewißheitsbegriff der biblischen Geisteswelt. War für das griechische Denken das >Hören< die wahrheitsindifferente und primär unverbindliche Vermittlung von δόξα als einer im Sehen immer erst noch zu bestätigenden Aussage, so ist in der alttestamentlichen Literatur und dem von ihr bezeugten Wirklichkeitsbewußtsein das Sehen immer schon durch das Hören vorbestimmt, in Frage gestellt oder überboten. Das Geschaffene gründet im Wort, und das Wort bleibt ihm an verbindlichem Anspruch immer voraus. Das Wirkliche zeigt sich in einem durch das Hören zugewiesenen Horizont seiner Bedeutung. Wie verschlossen der biblische Sinn des >Hörens< für ein in der griechischen Tradition stehendes Denken sein mußte, verrät sich bei der ersten fundamentalen Auseinandersetzung beider Geisteswelten, die sich für uns bei Philo dokumentiert, der die alttestamentlichen Gehalte innerhalb des griechischen Bildungshorizontes faßbar zu machen versucht. Dabei ist bemerkenswert, wie er gerade dort übersetzen muß, wo das Moment des >Hörens< im Spiele ist. So ist, wie schon gezeigt wurde, die Schöpfung durch das aus dem Nichts rufende Wort transponiert in eine Ausstrahlung von Licht auf das Dunkel des Stoffs. Und ausdrücklich ist ihm untrüglich nur das Sehen, durch welches das Seiende in seinem Sein vorgestellt wird.67 Folgerichtig muß der personifizierte philonische >Logos< allererst die Organe zum Vernehmen seiner Offenbarung zurichten, indem er die Ohren der Menschen 66 Diels 22 Β ιοί a. Vgl. die von Diels angeführten Parallelen. 6j De fuga et inventione 208: άψευδές δ' ορασις, fj τα οντά όντως κατανοεί ται. „~——«—^, ^^AJttWersitai *(/£-..
Γ ^ Universitätsbibliothek ^. 1
in Augen verwandelt, worin sich sein unworthaftes Wesen als Licht bekundet.68 Und das alttestamentliche Grundereignis der Gesetzgebung am Sinai deutet Philo in eine Erfahrung von Erleuchtung um.69 Im Neuen Testament ist das Hören des Wortes die Quelle der Haltung des Glaubens. Nicht-hören-wollen ist Abweisung des angebotenen Heils.70 Aber hier kündigt sich doch schon die Form der Harmonisierung mit der griechischen θεωρία an, die dann Patristik und Scholastik vollziehen wer den: das Sehen ist der Modus der eschatologischen Endgültigkeit, die vorbehaltene und geschichtsendigende Parusie vollstreckt sich im Sichtbarwerden des bis dahin verborgenen Gottes. Daraus entwickelt sich die Zuweisung der antik idealen θεωρία an den status gloriae. Fortan werden die Fragen der menschlichen Erkenntnis nur aus der Defizienz des status viae gedeutet werden, der des Hörens als des wegweisenden Vorgriffs auf die endgültige visio bedarf. Das ist eine völlige Umwandlung des alttestamentlichen Sachverhalts, der ganz von der absoluten, nicht nur vorläufigen Unerschaubarkeit Gottes bestimmt ist. Bestätigend für die neutestamentliche Vorläufigkeit des Hörens ist der Vorrang des Sehens bei Johannes, der am stärksten die eingetretene Präsenz des Eschaton vertritt; ebenso bringt das eschatologisch trächtige Osterereignis das Moment des Gesehenhabens vor dem bloßen Hören zur Geltung. Da sind Ansätze genug für das Zurückströmen der eschatologisch vorbehaltenen θεωρία in das weltliche Dasein. Das >Hören< engt sich wieder ein: der Umfang des Vernehmens des Wortes schrumpft auf das >Gehorchen<. Diese Bedeutungskomponente wird sich bei Augustinus mit der römischen Verbindlichkeitsidee der auctoritas zusammenfinden: nach der skeptischen Entkräftung des >Sehens< wird eine Äquivalenz der Instanzen ratio und auctoritas möglich.71 >Wahrheit< integriert sich aus >Sehen< und >Hören<. Aber dieses Äquilibrium der beiden >Zeugen< von Wahrheit ist schon bei Augustinus selbst flüchtig: das >Hören< des Wortes von der göttlichen Prädestination verdrängt in den späten Schriften den Anspruch des >Sehens<, das Einsicht in die Gründe des Heilswillens sucht. Wieder zeigt sich der entscheidende Zusammenhang zwischen der Metaphorik des Auges und dem Begriff der Freiheit, während die Metaphorik des Ohrs die Grenzen oder gar die Aufhebung der Freiheit indiziert. Die metaphorischen Aussagequalitäten von >Auge< und >Ohr< implizieren eine ganze Phänomenologie der Sinnesvermögen.72 Das Nicht-Hören68 Vgl. H. Leisegang, Der heilige Geist I. Leipzig 1919. S. 215. 69 Leisegang, a.a.O., S. 2i9ff. 70 Art. ακούω (G. Kittel) in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament I, 216 H. Dort alle Belege zum Folgenden. 71 De ordine IX, 29: Ad discendum necessario dupliciter ducimur auctoritate atque ratione. 72 Vgl. H. Jonas, The Nobility of Sight. A Study in the Phenomenology of the Sensés. In: Philosophy and Phenomenological Research XIV (1954) S. 507162
Wollen ζ. Β. ist schon metaphorisch als gravierender angezeigt als das Nichtsehen-Wollen, weil das Ohr naturhaft immer offensteht und unverschließbar ist, das Nicht-Hören also mehr Gegenwillen und Eingriff in die Natur voraussetzt als das Nicht-Sehen. Die gnostische Metapher des >Rufes< in den mandäischen und manichäischen Lehren weist auf ein dringlicheres, mächtiger >ergreifendes< Phänomen des absoluten Anspruchs auf die μετάνοια hin als die Sprache der >Erleuchtung<. Luthers Sprache in »De servo arbitrio« spielt die Metaphern des Ohrs gegen die des Auges aus: das Angebot des gnädigen Gottes läßt die Distanz der freien Erwägung, wie sie dem im Sehen Begegnenden gegenüber besteht, gar nicht zu.73 Das Unerwartete und Ungewärtigte, rein Ereignishafte der >Gnade< kommt in der Sprache des >Hörens< heraus. Das Auge schweift umher, wählt aus, geht auf die Dinge zu, dringt ihnen nach, während das Ohr seinerseits von Schall und Wort betroffen und angegangen wird. Das Auge kann suchen, das Ohr nur warten. Das Sehen >stellt< die Dinge, das Hören wird gestellt; es gibt den >Zuhörer< nicht in demselben Sinne des Unbeteiligtseins wie den >Zuschauer<. Entsprechend hat das >Wort< nicht die kosmische Allgemeinheit des >Lichts<. Das Wort ist wesentlich >gerichtet an<, man kann ihm folgen und sich ihm unterwerfen, aber man kann nicht >in< ihm stehen, wie es das in luce esse bezeichnet. Das unbedingt Fordernde begegnet im >Hören<; das Gewissen hat eine >Stimme<, kein Licht. Für Kant ist das moralische Sollen als das unausweichliche Faktum der Vernunft gegeben, bevor es aus seiner Prämisse der Freiheit noch deduziert, also einsichtig gemacht werden kann; folgerichtig spricht Kant von der Stimme der Vernunft, die in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich sei.74 Hier finden sich die Strukturen des >Hörens< noch jenseits aller Transzendenzmetaphysik wieder. Schließlich ist die Metaphorik des >Hörens< noch bedeutsam für die Erfassung des Phänomens der Tradition. Das >Sehen< ist auf Wiederholung autoptischer Erfahrung eingestellt, am deutlichsten durch die Restitution des Phänomens selbst in aller experimentellen Methodik. Die Forderung der Präsenz des Gegenstandes ist der Ausgangspunkt der modernen Wissenschaftsidee, und diese Forderung wird bei Bacon und Descartes formuliert in Gegensetzung zur Geltung von auctoritas. Angewiesensein auf Tradition erscheint hier als ein prinzipiell behebbarer Mangel der Erkenntnis. Dieser Vorwurf setzt voraus, daß die Vernunft es nicht nötig hat zu 519. Ferner die Analysen von H. Lipps, Die menschliche Natur. Frankfurt 1941. S. 25 ff., S. 76ff. 73 Charakteristisch ist, wie der Humanist Melanchthon von der Sprache des Hörens wieder zu der des Sehens zurückkehrt: Lux quid sit, cerni rectius potest, quam dici, estque illa ipsa claritas quae cernitur, quae omnia ostendit, sie et in corde nostro, clara ostensio, lux est. [Commentarius in Genesin c. 1 (Corp. Reform XIII S. 767)]. 74 Vgl. Studium Generale 6,179 (1953) [Hans Blumenberg, Ist eine philosophische Ethik gegenwärtig möglich?]. 163
>hören<, weil sie jederzeit ihre Gegenstände zu Sicht (Experiment) und Einsicht (Deduktion) bringen kann. Das aber bedeutet ontologisch: alle Gegebenheit ist wiederholbar, es gibt keine einmalig-faktische Erfahrung bzw. sie hat für den menschlichen Wahrheitsbesitz keine Bedeutung. Nur wenn das Faktisch-Einmalige für den Menschen wesentlich ist, hat das >Hören< auf die Tradition Verbindlichkeit, muß sich der Mensch etwas >überliefern< lassen, ohne beanspruchen zu können, es selbst zu sehen. Iri der Wertung der Tradition ist immer ein teleologisches Moment impliziert: daß nämlich >Wahrheit< für den Menschen bestimmt ist und ihn deshalb auch auf dem gefährdenden Strom der Überlieferung erreicht. Der Verzicht auf das Sehen, der im Hören auf die Tradition liegt, schließt immer ein Element teleologischen Zutrauens ein, das >theoretisch< nicht gerechtfertigt werden kann. In der Haltung des >Hörens< als dem Angewiesensein auf Tradition liegt daher oft ein Ungenügen verborgen, das von der veritas asserentis zur evidentia obiecti drängt (um es scholastisch zu formulieren). Die metaphorische Sprache indiziert dieses Ungenügen überall dort, wo Sachverhalte der Tradition, der auctoritas, des >Hörens< also, in Lichtmetaphern auftreten. Am Anfang scheint hier wieder Cicero zu stehen. So spricht er im Zusammenhang mit seiner >Übersetzung< der griechischen Philosophie ins lateinische Medium von dem lumen litterarum Latinarum (Tusc. I, 5), von der lux auctoris (I, 5, 11). Die Rhetorik wird die Urform dieses Lichtes. Vico schildert in der »Scienza Nuova« die Geschichte der Jurisprudenz als Ausbreitung von Licht über die Dunkelheit der Fakten (IV 14, 2). Und negativ sagt noch Tocqueville am Ende der »Démocratie en Amérique«, daß, seit die Vergangenheit aufgehört hat, ihr Licht auf die Zukunft zu werfen, der menschliche Geist in Finsternis läge. Der Weg der Lichtmetapher durch das Mittelalter braucht hier nur kurz skizziert zu werden, nicht nur, weil darüber umfassende Arbeiten vorliegen, sondern auch, weil die wesentlichen Vorentscheidungen im Übergang von der Antike zum Mittelalter bereits gefallen sind. Die arabische und jüdische Präscholastik amalgamiert Neuplatonismus und Aristotelismus, indem sie >Licht< gleich >Form< setzt: forma est lumen purum.75 Albertus Magnus vermittelt dieses Amalgam der lateinischen Scholastik in der Schrift »De causis et processu universitatis«, wobei die Unbefangenheit auffällt, mit der die Metaphern des >Fließens< (influentia constitutionis ad esse) aufgenommen werden oder die diffusio intellectus agentis als lumen luminis rei.76 Thomas von Aquino ist voll Abwehr gegen die >Lichtsprache<, weil sie ihm die Grenzen von Metaphorik und 75 Ibn Gabirol, Föns vitae IV, 14. 76 De causis et processu universitatis I, 1, c. 1. 164
Metaphysik verwischt. Licht ist für ihn eine qualitas per se sensibilis et species quaedam determinata in sensibilibus, und insofern darf von >Licht< im geistigen Bereich nur aequivoce vel metaphorice gesprochen werden, wo es um die ratio manifestationis des Seienden, also seine ontologische Wahrheit, geht.77 Sein Zeitgenosse Bonaventura dagegen handhabt die Lichtmetaphorik mit einer nur Augustinus vergleichbaren Meisterschaft. Licht ist die natura communis des Seienden78, eine Grundverfassung und fundierende Bestimmung aller Dinge noch vor ihrer spezifischen Differenzierung. Vor allem aber wird es bei Bonaventura licht in der Innerlichkeit des Menschen, deren Licht ein aller Erkenntnis vorausgehender und sie ermöglichender Besitz, nicht ein allmählich erhellender Erwerb ist, so wie >Wahrheit< allen Wahrheiten im einzelnen zugrunde liegt. Das Licht geht über und wird eins mit dem Identitätsgrund des Subjekts selbst; so ist Gott secundum veritatem in anima, aber nicht als deren Gegenstand oder Idee, sondern als ihre Wahrheitsfähigkeit selbst und insofern intimior animae quam ipsa sibi.79 Diese kühnste Formel der Verinnerlichung der illuminatio bedeutet: das Subjekt kann sich selbst immer noch in der Reflektion gegenständlich werden, und insofern es das kann, bedarf es dabei schon des inneren Lichts, das ihm also >noch innerlichen sein muß als es selbst sich selbst ist. Damit ist die schon bei Augustinus angedeutete Erkenntnis ausformuliert, daß das innere Licht dem Ich eigentümlich im Rücken stehen muß, so daß hier ein Ins-Licht-Sehen unmöglich ist. Die lux veritatis, in qua cuncta relucentso, ist nur in der Selbstgewißheit der Wahrheitsfähigkeit des Subjekts >gegeben<, nicht in der cognitio (für diese gibt Bonaventura die Möglichkeit der aristotelischen tabula rasa zu), sondern in der notitia als der radikalen Vorvertrautheit des Seins für das Subjekt.81 So wird in der Lichtmetaphorik formuliert, was an der Erkenntnis mehr ist als bloße Rezeptivität. Der alle Seinsbeziehung tragende mystische Affekt des amor und die fundierende vortheoretische notitia sind nur zwei Aspekte einer elementaren •77 IL Sent. dist. 13 q. 1 a. 2. 78 II. Sent. dist. 12 a. 2 q. iarg. 4. 79 I. Sent dist. 1 a. 3 q. 2 concl. Charakteristisch ist, daß eben diese Formel bei Luther, aus der Lichtmetaphorik herausgenommen, wiederkehrt, und zwar bezogen auf das verbum dei (Werke, Weimar, IX, 103), also als die absolute Intimität des >Hörens<. 80 Itinerarium mentis II, 9. 81 II. Sent. dist. 39 a. 1 q. 2 concl. 165
Relation: Amor et notitia animae connaturales sunt.82 Die philosophische >Leistung< der illuminativen Vorstellungen wird hier ganz greifbar: sie verweisen auf eine radikale Einheit des Geistes jenseits der psychologischen Vielfalt seiner >Vermögen<, und sie verweisen ebenso auf die letzte Einheit des Horizontes, in dem alles Seiende zur Gegebenheit kommt. Folgerichtig hat Duns Scotus, bei dem die augustinische Tradition sich unter aristotelischen Axiomen zu behaupten hat, die illuminatio aufs äußerste reduziert - aber gerade dadurch standfest gemacht -, indem er in ihr die eine Urgegebenheit, das primum obiectum des univoken Seinsbegriffs wurzeln läßt.83 Das esse ist hier nicht das esse commune als letztes Derivat der Abstraktion, sondern der erste und totale Sinnvorgriff auf alle nur mögliche Gegebenheit. So kommt noch einmal mit Hilfe der illuminativen Vorstellung die >Natürlichkeit< der Wahrheit, ihr Vorwegsein vor allem prädikativ Wahren, zu einer subtilen Artikulation. Noch einmal, wurde gesagt - denn die augustinische Tradition schlägt gerade bei Duns Scotus eine Richtung ein, in der sich das >natürliche Licht< zunehmend verdunkelt, um die Situation des Menschen gegenüber dem Absoluten ganz auf das >Hören des Wortes< zu konzentrieren. Der nominalistische Fideismus braucht die Folie der Weltverfinsterung, um wiederum das credo quia absurdum herauszutreiben; der Deus absconditus läßt die >Natürlichkeit< der Wahrheit nicht mehr zu. Diese Tendenz wird auch nicht dadurch aufgehalten, daß Nikolaus von Cues im 15. Jahrhundert nochmals die >Lichtsprache< in ihrem ganzen Reichtum, aber doch auch mit einer unverkennbaren exzessiven Verselbständigung der Metapher zur Metaphysik - z.B. im Dualismus von »De coniecturis« - , entfaltet. Sein Magnae potentiae veritas est84 bleibt 82 Bonaventura, I. Sent. dist. 3 p. 2 a. 2 q. 2 concl. Wichtig ist hier vor allem, daß der aus der antiken Tradition als seinsverdunkelnd beurteilte Affekt eine positive Umwertung erfährt und eine erhellende Funktion bekommt. Die Verbindung einer positiven Affektlehre mit der Lichtmetaphorik wird auch sehr deutlich in dem »Liber de intelligentiis« des (Ps.) Witelo (ed. Baeumker): amor und delectatio sind hier gleichsam die primären Antworten der Seele auf die Lichthaftigkeit des Seins, in ihnen entsteht der appetitus suhstantiae cognoscentis ad ipsum cognoscibile, ohne den der Blick gar nicht offen wäre für Gegebenheit, eine ordinatio huius ad hoc, die allen geistigen >Akten< vorangeht (prop. XVIII). 83 Vgl. E. Gilson, Avicenne et le point de départ de Duns Scot. In: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen-âge II (1927) S. n6f. '84 De apice theoriae. 166
eine geschichtlich einsame Erfahrung im Ausgang des Mittelalters. Wesentlicher ist, daß die mittelalterliche >Verinnerlichung< des Lichtes verhindert, daß das Weltdunkel das Subjekt völlig durchdringen und entmachten kann. Es ist, um in der Metapher zu bleiben, so viel transzendentes Licht auf das Subjekt nibergegangen<, daß es >selbstleuchtend< geworden ist. Augustins Grundsatz der Illuminationslehre: Lumen tibi esse non potes zeigt sich in der nun einsetzenden Wandlung der Lichtsprache entkräftet. Der menschliche Geist erweist sich, in der spätmittelalterlichen Probe seiner Selbstüberlassenheit gegenüber dem Dens absconditus, als authentisches Licht. Rein grammatisch zeigt sich das daran, daß bei den Ausdrücken lumen rationis, lumen intellectus etc. der Gen. obj. zum Gen. subj. wird. Es gibt Übergangsformen, die im Unbestimmten bleiben, wie Francis Bacons lumen experientiae85, bei dem sowohl der Gegenstand wie der Akt der Erfahrung >Licht< sein kann. Die Lichthaftigkeit des menschlichen Geistes zeigt sich gerade daran, daß eine Analyse und ihr nachfolgende Ausschaltung von Verdunkelungen und Fehlleitungen dieses Lichts als die neue Aufgabe der philosophischen >Methode< begriffen wird.86 Es bezeichnet den Anbruch einer neuen Epoche, indiziert an der Lichtmetapher, daß vom Menschen - zunächst in seiner höchsten Verwirklichung, dem Studiosus homo - gesagt werden kann, er sei naturalis lux Ρ Der Mensch findet nicht eine objektiv feste Welt struktur vor, die sich ihm verbindlich darbietet und in die er sich einzufügen hat, sondern er wird selbst zum Prinzip einer von ihm ausstrahlenden Strukturbildung, und indem er sich selbst als sapiens verwirklicht, gewinnt er jene weltmächtige Ausstrahlungskraft: Selbstverwirklichung wird zur Bedingung von Weltverwirklichung. Die sapientes >verwirklichen< die Welt, indem sie 85 Novum Organum I, 49. Vgl. I, 56, wo die Verschiedenheit der Geister nach admiratio antiquitatis oder amor novitatis festgestellt und dann gesagt wird: verkäs autem non afelicitate temporis alicuius, quae res varia est, sed a lumine naturae et experientiae, quod aeternum est, petenda est. 86 Novum Organum 1,49: intellectus humanus luminis sicci non est; sed recipit infusionem a voluntate et affectibus... 87 Carolus Bovillus, Liber de sapiente (ed. R. Klibansky) c. 51. Es kann mit dieser Aussage nicht in Zusammenhang gebracht werden, daß Aristoteles den νους in seiner aktiv-passiven Doppelfunktion als φως vorgestellt hat (De anima III, 5; 430a 14-17). Dieser νους nämlich ist genuin kosmisch, der menschlichen Seele nur >von außen< in der Erkenntnisleistung assoziiert. Die >Richtung< dieses Lichtes ist also die von außen nach innen; in der Umkehrung dieser Richtung aber liegt das entscheidend Neue. 167
quodlibet ad proprium finem ducunt.88 Das Erkennen der Welt und das rite uti ihrer Dinge ist kein Verhältnis des Empfängern, sondern des Gebens: im Erkennen und im Gebrauchen behebt der Mensch den einen großen Mangel des Seins, daß es selbst zwar alles ist, aber eben alles nichtwissend ist.89 Das Physische >erfüllt< sich erst im Geistigen. Theorie und Praxis sind nicht mehr Derivate der allverbindlichen Natur, sondern deren Integration und Seinserfüllung. Homo denique fulgor est, scientia, lux et anima mundi... Ist diese Wendung einmal genommen, so ist es nicht mehr weit bis zu der umfassenden geschichtlichen Bedeutung des Begriffs der >Aufklärung<, dessen Abstammung aus der Lichtsprache im Französischen90 und Englischen so greifbar ist: siècle des lumières, progrès des lumières, der Aufklärer als Akteur des Lichtes, qui propage les lumières, sowie das englische enlightenment. Mit der Aufklärung rückt >Licht< in den Bereich des zu Leistenden; die Wahrheit verliert ihre natürliche facilitas, mit der sie von sich her sich durchsetzt. Noch, oder genauer: erst, in der Karikatur bezeugt sich der nun getrennte Zusammenhang der Lichtmetaphorik mit dem Vertrauen in die >Natürlichkeit< der sich darbietenden Wahrheit: so hat Galilei den Simplicio seines »Dialogo« - die oft ironisch als >mittelalterlich< charakterisierte Figur des Scholastikers - mit diesem nun als leichtfertige Vertraulichkeit enthüllten Vertrauen ausgestattet. Es wird da z.B. über das Problem der Ursache von Ebbe und Flut diskutiert: es könne dafür nur eine Ursache geben, sagt jener Simplicio, aber es gäbe viele Meinungen über sie und man müsse damit rechnen, daß die wahre Erklärung nicht unter ihnen sei - sonst wäre es doch höchst verwunderlich, wenn von dem Wahren nicht so viel Licht ausgehen sollte, daß es auch durch die Finsternis solcher Irrtümer hindurch aufstrahlte.91 Eben aus dieser 88 Bovillus, Liber de sapiente c. 19. 89 Omnia siquidem est mundus: seit tarnen novitque nihil. Porro exiguum et fere nihil est homo: seit attamen novitque universa. (1. c.) 90 Der Übergang ist, in der Gleichzeitigkeit seiner Nuancen, besonders greifbar in der Sprache Pascals, ζ. Β. in dem Fragment 337 (ed. Brunschvicg):/>izr une nouvelle lumière, par une autre lumière supérieure, selon qu'on a de lumière ... Im ersten Fragment der Abhandlung »De l'esprit géométrique« ist lumière naturelle zugleich die Grenze des menschlichen Geistes in seinem Anspruch, alle seine Prämissen zu beweisen, und das Fundament der ihm trotz dieser Beschränktheit möglichen strengen Bewahrheitung. 91 Dialogo IV. Opere (ed Albèri) I, 456: ... anzi cosi credo esser veramente perché gran cosa sarebbe che il vero potesse aver si poco di luce, che nulla apparisse tra le ténèbre di tantifalsi. Die Verbindung der simplicitas - aber in 168
Auffassung der Wahrheit als des Selbstleuchtend-Eindringlichen wird durch die Umwendung der Lichtmetapher in der Aufklärung der Vorwurf gegen das Mittelalter, daß es in seiner Lichtgläubigkeit seine eigene Finsternis nicht bemerkt habe. Nach d'Alembert waren während der zwölf Jahrhunderte des Mittelalters die Prinzipien der Wissenschaften und Künste verloren, weil das Schöne und das Wahre, die sich den Menschen ringsum zu zeigen scheinen, sie doch erst erreichen, wenn man sie dazu anleitet.92 Daß die Wahrheit >sich zeige<, war also gerade der Schein, dem die Ignoranz des Mittelalters zugeschrieben werden muß: die Wahrheit zeigt sich nicht, sie muß gezeigt werden. Auf die >natürliche< Leuchtkraft des Wahren ist kein Verlaß, vielmehr ist die Wahrheit von einer Art konstitutioneller Schwäche, der der Mensch mit gleichsam Licht zuführender Therapie aufhelfen muß, parce que rien n'est si dangereux pour le vrai et ne l'expose tant à être méconnu que l'alliage ou le voisinage de l'erreur. Das ist das genaue, wörtliche Gegenteil der Verfassung, die Galilei durch Simplicio dem Wahren zuschreiben ließ! An dieser Schwäche und Pflegebedürftigkeit der Wahrheit ist immer noch der Hintergrund des spätmittelalterlichen Gottesbegriffes spürbar: d'Alembert vergleicht das Weltall einem literarischen Werk d'une obscurité sublime, dessen Autor doch immer wieder durch >Lichtblicke< in dem Leser die Illusion zu erwekken versucht, er habe fast alles verstanden. Das vorgefundene >natürliche< Licht bekommt also geradezu die Funktion einer Irreführung: in dem Labyrinth der Welt können die wenigen éclairs uns ebenso vom Wege weiter ab- wie zu ihm wieder hinführen, wenn wir ihn einmal verlassen haben.93 In einer solchen Welt, die zum positiver Wertung! - mit dieser Grundauffassung findet sich in seltener Ausdrücklichkeit in einem Traktat des 13. Jahrhunderts, der Schrift »De usuris« des Ägidius von Lessines, als Auslegung des ersten Satzes der Metaphysik des Aristoteles: Quam (sc. veritatem) si quis concupiscit vero corde, et eam quaesierit in simplicitate cordis sui, ipsa seipsam manifestabit... (zit. b. M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben II. München 1936. S. 522). 92 Discours Préliminaire de l'Encyclopédie (éd. Picavet): Les principes des sciences et des arts étaient perdus, parce que le beau et le vrai, semblent se montrer de toutes parts aux hommes, ne les frappent guère à moins qu'ils n'en soient avertis. 93 Es bedürfte einer besonderen Untersuchung, die in die Begriffsgeschichte der Wahrscheinlichkeit gehört, um diese Ambivalenz am Bedeutungswandel des verisimile zu zeigen. Der >Schein< des Wahrscheinlichen ist ursprünglich durchaus Schein als Abglanz der Nähe der Wahrheit (vgl. oben Anm. 17); diese Bedeutung hat aber metaphysische Prämissen, die für Des169
Feld eines göttlichen Spiels geworden ist (où l'Intelligence suprême semble avoir voulu se jouer de la curiosité humaine), ist der Wert einzelner "Wahrheiten so lange zweideutig zwischen Licht und Irrlicht, als nicht ihr sporadischer Charakter in einen systematischen Zusammenhang überführt ist. >Wahrheit< als solche ist zwielichtig, so lange sie nicht ihre geregelte Herkunft aus der Methode und ihren geregelten Ort im System hat. Das Dictionnaire und die Enzyklopädie werden zu exemplarischen Instrumenten der Aufklärung; d'Alembert hat nicht nur die Einleitung, sondern (mit ihr) die Metaphysik der großen »Encyclopédie« geschrieben. In der Idee der >Methode<, die von Bacon und Descartes ihren Ausgang nimmt 94 , wird >Licht< als verfügbar gedacht. Das Gegebene steht nicht mehr im Licht, sondern es wird von einem bestimmten Aspekt her beleuchtet. Für das Ergebnis kommt es auf den Winkel an, aus dem das Licht auf den Gegenstand fällt und aus dem er gesehen wird - Bedingtheiten der Perspektive und ihre Bewußtmachung, ja ihre freie Wahl, bestimmen nun den Begriff des >Sehens<. Die Bedeutung der Perspektive, des Standortbewußtseins, für die Neuzeit erforderte eine Untersuchung für sich. Hier kann nur noch angedeutet werden, wie technische Charaktere in die Lichtmetaphorik eindringen, wie aus dem Licht als einem ringsum herrschenden Medium der gerichtete und dosierte Strahl der >Beleuchtung< wird. An der Malerei ließe sich das als geschichtliche Signatur am besten exemplifizieren: Licht als das homogene, fraglos vorausgesetzte Medium der Sichtbarkeit, das eine akzentlose Präsenz des Darzustellenden gewährleistet, verwandelt sich im 16. und 17. Jahrhundert in einen lokalisierten Faktor, der eingestellt werden kann. Caravaggio und Rembrandt haben bereits so etwas wie eine>Lichtregie<, nur ist die >Quantität< des gerichteten cartes nicht mehr bestehen. Für ihn heißt >Schein< mögliche Täuschung, das Wahrscheinliche ist das, was nur so aussieht wie das Wahre und deshalb methodisch grundsätzlich ausgeklammert werden muß. Ehe der Gegenstand sich nicht im clare et distincte percipere vergewissern läßt, ist er wahrheitsindifferent. Certum etiam est, cum assentimur alicui rationi quam non percipimus, vel nosfalli, vel casu tantum incidere in veritatem ... (Principia philosophiae I, 44). Daß man auf die Wahrheit zufällig verfallen könne, ist ein zuvor ungedachter und undenkbarer Gedanke, in dem die ganze Tradition der Lichtmetaphorik aufgehoben ist. Jene ärgerliche Zufälligkeit wird durch die >Methode< an die Hand genommen und verfügbar gemacht. 94 Vgl. Studium Generale 5, 133-142 (1952) [Hans Blumenberg, Philosophischer Ursprung und philosophische Kritik des Begriffs der wissenschaftlichen Methode]. 170
Lichtes - dem Gesetz der umgekehrten quadratischen Proportion unterworfen - noch gering. Erst im 19. Jahrhundert wird das Theater durch das Drummondsche Kalklicht instand gesetzt, in Verbindung mit Hohlspiegeln Lichieffekte zu erzielen, mit denen die Erschließung ganz neuer Möglichkeiten einer akzentuierenden Optik beginnt, einer Optik, die immer vom Dunkel als dem >natürlichem Zustand ausgeht. Aber nur weil diese Möglichkeiten des gezielten Lichts überhaupt einmal entdeckt worden sind, konnte die Technik zu dieser Entdeckung schließlich die gewaltsamsten Mittel erschließen, und es ist signifikativ, daß der Name »Illumination« auf die rücksichtslose Akzentsetzung des künstlichen Lichts Anwendung findet, auf die technische Selektion und Überhöhung des als einzig sichtwürdig unübersehbar zu machenden Menschenwerks. Diese Manipulation des Lichts ist eine weit herkommende Konsequenz. Im Raum der Nacht wird eine Optik des Präparats herbeigeführt, die die Freiheit des Sich-Umsehens in einem allgemeinen Medium der Sichtbarkeit ausschaltet und dem modernen Menschen immer mehr Situationen bereitet, in denen eine Zwangsoptik herrscht.95 Der Zusammenhang von Sehen und Freiheit wird dissoziiert; die neuzeitliche Ausweitung der Sinnenbereiche ist durch die Herrschaft des Präparats, der technisch vorgeprägten Situationen und Aspekte, nicht zur Quelle der Freiheit geworden.96 Die Welt der Blickfixierung und der optischen Präparate ist in ihrer Struktur wieder der >Höhle< nahe (WH. Auden hat in seinem »Zeitalter der Angst« die Höhlensituation des modernen Menschen angezeigt). Das Heraustreten aus der Höhle gewinnt als paideutische Metapher wieder reale Bezüglichkeit. Der Mensch, dem das technische Licht der >Illumination< in vielerlei Gestalt eine fremdwillige Optik oktroyiert, ist der geschichtliche Antipode des antiken contemplator caeli und seiner Freiheit des Schauens. Schon gibt es Menschen, die noch nie einen Stern gesehen haben: Gestirne? wo? ist der glaubwürdig gewordene ungläubige Ausruf des modernen Lyrikers der großen Stadt.97 9 5 Man spricht heute von >Lichttechnik< in einem Sinne, der sich keineswegs auf Lichterzeugung und >Beleuchtung< beschränkt, sondern Licht als Element der Konstruktion wie Stahl, Beton usw. versteht. Vgl. das Buch von W Köhler und W. Luckhardt, Lichtarchitektur. Berlin 1956. 96 Ob sie eine Quelle der Wahrheit geworden ist, ist von W. Wagner, Versuch zur Kritik der Sinne. In: Studium Generale 4, 265ff. (1951) gefragt worden. yj Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte. Zürich 1956, S. 98. 171
Paradigma, grammatisch Thomas S. Kuhn hat in seinem vieldiskutierten Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen den Begriff des Paradigma in die Theorie der Wissenschaftsgeschichte eingeführt.1 Er selbst gibt im Vorwort an, wie er zu der Verwendung dieses Ausdrucks gekommen ist. Als Naturwissenschaftler verbrachte er das Jahr 1958/59 in einer überwiegend aus Sozialwissenschaftlern zusammengesetzten Gruppe am »Center for Advanced Studies in the Behavioral Sciences« in Stanford. Für den Naturwissenschaftler war überraschend, in welchem Maße innerhalb der Sozialwissenschaften Meinungsverschiedenheiten über wissenschaftliche Methoden und Probleme bestehen und ausgetragen werden. Kuhn begnügte sich nun nicht mit der Annahme, daß in den exakten Naturwissenschaften größere Sicherheit und Solidität in den fundamentalen Fragen gegeben sei, sondern kam zu der Vermutung, daß hier andere historische und soziale Strukturen der theoretischen Praxis die Verfestigung bestimmter Voraussetzungen zur Ausschaltung von Kontroversen begünstigt hätten. Kuhn schreibt: Der Versuch, die Ursachen jener Differenz zu enthüllen, führte mich dazu, die Rolle dessen in der wissenschaftlichen Forschung zu erkennen, was ich seitdem >Paradigmata< (paradigms) nenne. Von diesen glaube ich, daß sie allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen sind, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern.2 Gerade die Geltung des Paradigmas ist es dann, die an einem bestimmten Punkt der theoretischen Entwicklung durch die Verfeinerung und Präzisierung von Verfahren zur Feststellung von Anomalien und damit zur Störung der innerhalb des Paradigmas geweckten und bestehenden Erwartungen führt und schließlich das Paradigma in eine Krise hineintreibt. Der Begriff des Paradigmas stellt also in gewisser Hinsicht ein Moment der Diskontinuität im Schema der Wissenschaftsgeschichte dar. Die violations of expedations sind eben nur dann möglich und folgenreich, wenn ein konsolidierter Bestand gefährdet werden kann. Das Paradigma ist ein latenter Komplex von Prämissen, die als Implikationen der wissenschaftlichen Praxis 1 "Vgl. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Révolutions, Chicago 1962, dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1967. 2 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 11. 172
gar nicht ausdrücklich formuliert werden müssen, sondern in die Methoden und Fragestellungen bereits eingegangen sind. Wissenschaftler arbeiten nach Modellen, die sie sich durch ihre Ausbildung und die spätere Beeinflussung durch die Literatur angeeignet haben, oft ohne genau zu wissen oder auch wissen zu müssen, welche Eigenschaften diesen Modellen den Status von GemeinschaftsParadigmata gegeben haben? Der wissenschaftliche Fortschritt ist daher kein als additiv zu begreifender Prozeß; die in ihm auftretende Spontaneität hat vielmehr den Charakter einer technique for producing surprises. Man liest diesen Text, ohne in dem Ausdruck >Paradigma< etwas anderes als die Bedeutung >Beispiel< wahrzunehmen. Nun ist aber aufschlußreich, daß schon Georg Christoph Lichtenberg den Ausdruck >Paradigma< bezogen auf die Wissenschaftsgeschichte als Metapher verwendet hat. Im letzten Band der Göttinger Ausgabe der Schriften Lichtenbergs von 1800 bis 1806 ist unter den als Nachlaßfragmente betitelten Texten folgendes zu lesen: Ich glaube unter allen heuristischen Hebezeugen ist keins fruchtbarer als das, was ich paradigmata genannt habe [... ].4 Lichtenberg schreibt weiter, er glaube, daß man durch ein aus der Physik gewähltes Paradigma auf kantische Philosophie hätte kommen können. Der Text verrät nicht, wie Lichtenberg auf den Ausdruck Paradigma in diesem Zusammenhang verfallen ist. Darüber geben die Erinnerungen von Gottlieb Gamauf zu den Vorlesungen Lichtenbergs Aufschluß. Hier findet sich der folgende, durchaus authentisch klingende Lichtenberg-Text: Das schönste Beispiel von dem großen Nutzen der Hypothesen gibt die Astronomie. Nun ist das kopernikanische System fast ganz außer allen Zweifel gesetzt. Es ist gleichsam das Paradigma, nach welchem man alle übrigen Entdeckungen deklinieren sollte. Hier ist der menschliche Verstand am weitesten und tiefsten eingedrungen? In diesem Text ist der Ausdruck >Paradigma<, schon durch die Kennzeichnung mit einem >gleichsam<, ganz klar metaphorisch gebraucht. Die Funktion der astronomischen Theorie vom Range der 3 Ebd., S. 71. 4 Georg Christoph Lichtenberg, Vermischte Schriften, hrsg. von Ludwig Lichtenberg und Friedrich Kries, Bd. 9, Göttingen 1806, S. 152t. 5 Gottlieb Gamauf, Erinnerungen aus Lichtenbergs Vorlesungen, Bd. 1, Wien/ Triest 1808, S. 36 [zu §§ 8/9 der »Anfangsgründe der Naturlehre« (1772) von Johann Chr. Polyk. Erxleben, überschrieben »Hypothesen«]. 173
kopernikanischen ist die eines Schulbeispiels in der Grammatik, an dem der Schüler die Deklination aller übrigen Substantive desselben Stammtypus erlernt. In welchem Sinne das kopernikanische System ein solches Paradigma ist, nach dem andere Entdekkungen >dekliniert< werden können, hat Lichtenberg selbst immer wieder vorgeführt. Er hat schließlich am Ende seines Lebens aus dieser Affinität zu dem astronomischen Paradigma heraus noch die schönste Biographie des Kopernikus geschrieben, die wir in deutscher Sprache besitzen. Ich gebe nun noch ein für diesen Zusammenhang sehr signifikantes Beispiel, das sich in Lichtenbergs »Geologisch-meteorologischen Phantasien« findet und in dem Lichtenberg den Ausdruck >Paradigma< in dem prägnanten metaphorischen Sinn des grammatischen Schulbeispiels verwendet. An dieser Stelle spricht Lichtenberg von dem Problem möglicher periodischer Schwankungen der Sonnenstrahlung und der Abhängigkeit von Klimaveränderungen von diesen. Der Göttinger Astronom Mayer hatte Vorschläge zur Aufstellung von Strahlungsmeßgeräten auf Gebirgen im Anschluß an Herschel gemacht. In dem von ihm herausgegebenen »Göttingischen Taschenbuch« schreibt Lichtenberg dazu: Es freut den Herausgeber dieser Blätter unendlich, auch hier wiederum zu sehen, was astronomischer Geist, fast möchte man sagen, astronomisches Gefühl bei Anordnung von Untersuchungs-Planen in der Naturlehre vermag. Es wird nicht eher, wie er schon oft gesagt hat, um alle Teile der Naturlehre gut zu stehen anfangen, bis man das Verfahren der Astronomen bei Erweiterung ihrer Wissenschaft als das Paradigma ansieht, in allen übrigen Teilen der Naturlehre danach zu deklinieren, und eine Geschichte der Astronomie in nuce als eine Haustafel in den physischen und chemischen Laboratoriis anzunageln. Zumal wäre es vielleicht jetzt den eifrigen Antiphlogistikern zu raten, die Geschichte der Erfindung des wahren Weltsystems zu Herzen zu nehmen. Lavoisier ist unstreitig der Kopernikus der Chemie geworden.6 Lichtenberg sieht den Zustand in den Wissenschaften seiner Zeit gern als vorkopernikanisch an. Dazu gehört die Verwirrung, die aus der Hypertrophie von Hilfskonstruktionen und neuentdeckten Materien entstanden war. Das gilt vor allem und immer wieder für die Chemie, in der für Lichtenberg viel zu viele neue Erden entdeckt worden waren. Das zeigt ihm an, daß in dieser 6 Lichtenberg, Vermischte Schriften, Bd. 7,1804, S. 203 f. 174
Wissenschaft ein radikaler vereinfachender Zugriff nach dem Paradigma der astronomischen Reform fällig geworden ist. In einer Notiz aus dem Nachlaß schreibt Lichtenberg: Ich kann eben nicht sagen, daß mir diese Entdeckungen von neuen Erden sehr gefallen. Diese Aufhäufungen von neuen Körpern erinnern mich an die Epicykloiden in der Astronomie. Was wollten jene Astronomen mit ihren Epicykloiden gemacht haben, wenn sie die Aberration der Fixsterne gekannt hätten fViel geometrischer Scharfsinn hätte können gezeigt werden, wie ζ. Β. Kopernikus bei seinen Irrtümern. Aber was ist dasfWas ich eigentlich hier sagen wollte, ist:Wenn die Chemie nicht bald einen Kepler erhält, so wird sie von der Menge der Epicykloiden erdrückt werden; kein Mensch wird sie mehr studieren, und die Trägheit wird sie am Ende zu simplifizieren wissen, was der tätige Verstand besser könnte. Es muß und muß einen Standpunkt geben, aus welchem angesehen alles einfacher aussieht. Sobald man vermeintliche Irregularität in den Blättern des Baums für wichtig genug hält, sie in der Geschichte des Baums als große Ereignisse anzumerken, so ist an Ergründung der Natur des Baums gar nicht mehr zu denken.7 Dem wissenschaftlichen Paradigma vom Typus des kopernikanischen geht voraus das Paradigma, das die Sprache für alles Denken liefert. Von diesem Gedanken ist Lichtenberg beherrscht, und er hat gesagt, daß unsere ganze Philosophie Berichtigung des Sprachgebrauchs und damit Berichtigung der allgemeinsten immer schon vorhandenen Philosophie sei. Das wird wiederum in eine grammatischen Metapher ausgesprochen: Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können sozusagen nicht räsonnieren, ohne falsch zu räsonnieren. Man bedenkt nicht, daß Sprechen, ohne Rücksicht von was, eine Philosophie ist... Allein die gemeine Philosophie hat den Vorteil, daß sie im Besitz der Deklinationen und Konjugationen ist. Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt.Wörter erklären hilft nichts; denn mit Wörtererklärungen ändere ich ja die Pronomina und ihre Deklination noch nicht.8 Bedenkt man, wie häufig in dem metaphorischen Komplex >Buch der Natur< die Metaphorik der Wörter, Silben und Buchstaben und die der offenen und chiffrierten Semantik ist, so fällt von Lichtenbergs Metaphorik her- also am Ende dieser Tradition - erst 7 Ebd., Bd. 9, 1806, S. 187t 8 Ebd., Bd. 2, 1801, S. 56f. WS
auf, daß es für jenes >Buch der Natur< keine Metapher der Syntax und Formenlehre gegeben hatte. Die Wahrnehmung dessen, was es nicht gibt, ist die schwerste.
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Geld oder Leben Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmeis Kann man von einer Philosophie des Geldes einen weniger lässigen Gebrauch des Ausdrucks >Philosophie< erwarten als von den beliebig vielen Titeln, die den beliebigen Gegenstand ihres Nachdenkens in Verbindung mit dem einst anspruchsvollen Ausdruck >Philosophie< bringen? Also: ein wenig mehr Nachdenken und ein wenig allgemeinere Gedanken über eine Sache, die sonst den Spezialisten ihrer Handhabung überlassen bliebe? Ich weiß nicht, ob Georg Simmel mit seiner »Philosophie des Geldes« jemals Resonanz zuteil geworden wäre, wenn er nicht schließlich noch die Lebensphilosophie erfunden hätte. Die Frage ist, ob das eine Konversion, ein Sprung, eine biographisch oder exogen bedingte Zufälligkeit gewesen ist. Auch wenn es sich so darstellen ließe, würde immer noch offenbleiben, was der Lebensphilosoph aus der Anstrengung um die »Philosophie des Geldes« mitgebracht haben könnte. Der Titel ist zunächst nicht nur nichtssagend, sondern auch bloß so geistreich wie die Verbindung von Elementen, die gemeinhin als extrem voneinander entfernt gelten, wie etwa sehr viel später Leriches »Philosophie der Chirurgie«. Aber das Geld, das Gemeine, das nicht stinkt, ist dies zugleich auch deshalb, weil es das Allgemeine ist, das ohnehin keinen Geruch hat, als solches aber hochgradig zum philosophischen Gegenstand disponiert ist. Die Allgemeinheit des Geldes ist dynamisch, nämlich insofern es den Grad seiner eigenen Abstraktion ständig steigert, alle Dinglichkeit hinter sich läßt und in die reine Form der bloßen Notiz überzugehen ständig auf dem Sprunge ist. Die früheste philosophische Verbindung zum Thema Geld ist von den Nominalisten hergestellt worden, und es ist verständlich, daß ihr Interesse auf einen Gegenstand geht, der Substanz repräsentiert, ohne sie sein oder auch nur abbilden zu müssen. Georg Simmel, obwohl in der »Philosophie des Geldes« einen relativistischen Wertbegriff praktizierend, ist dadurch entfernt von der nominalistischen Vorgeschichte der phi177
losophischen Thematisierung des Geldes, daß er seine zentrale Leistung nicht in der Wertrepräsentanz, sondern in der Kategorie der Ablösung personaler Funktionen sieht. Wenn traditionell Teleologie ein Merkmal der Natur gewesen war, so ist die des Geldes von höchster Künstlichkeit: es ist eine Institution, die sich selbst nicht ruhen läßt, weil sie von ihrem immanenten Telos, zur zweiten Natur zu werden, von ihrem Grenzwert ebenso attrahiert wie bedroht wird. Der Grund für diese Ambivalenz ist die enge Beziehung dieses Abstrakten zu den menschlichen Leidenschaften. Was Simmel entdecken sollte, ist die Kehrseite eben dieses Sachverhalts, die Affinität der Institution des Geldes zum Prozeß der menschlichen Freiheit. Man darf schon hier anmerken, daß der spätere Begriff Simmeis von jener elementaren Substanz >Leben< ohne Austauschbarkeit mit den Aggregatzuständen von Freiheit - zu denen die elementare Antithese von Erstarrung und Liquidität gehört - nicht verständlich ist. Nennt jemand einen Traktat über einen unkonventionellen Gegenstand »Philosophie«, so liegt die Frage nahe, ob sich die philosophische Perspektive dieses Gegenstandes und seines Interesses nicht auf eine der klassischen philosophischen Thematiken reduzieren läßt. Subjektivität und Objektivität? Freiheit und Notwendigkeit? Substanz und Individualität? Sein und Haben? Es mag auf das erste Hören befremden, wenn ich sage, daß eine philosophische Theorie nicht mehr wert ist als die deskriptiven Leistungen, deren Möglichkeit sie eröffnet, indem sie ihren Gegenstand der begrenzten Perspektive seiner Fachzugehörigkeit entreißt. Wenn Heinrich Heine in seinem Pamphlet über Ludwig Börne zu den großen Nivellierern Europas Richelieu und Robespierre auch Rothschild hinzuzählt, weil er dem Boden endgültig seine Vormacht in den Sozialverhältnissen genommen habe und gleichsam das Geld mit den ehemaligen Vorrechten des Bodens belehnte, so ist der von den Bildern her paradoxe Gewinn dieser Metapher erst der deskriptive Befund in dem Satz: Geld ist flüssiger als Wasser, windiger als Luft... Die Beziehung zwischen der Philosophie des Geldes und der Philosophie des Lebens könnte darin bestehen, daß der Ausdruck >Leben< eine nochmalige Steigerung des Abstraktionsgrades, aber auch zugleich eine Aktualisierung der in der Thematik des Geldes gefundenen Struktur bezeichnet. Für den Leser der »Philosophie des Geldes«, die wie Freuds »Traumdeutung« im Jahr 1900 zuerst 178
erschienen ist, wird jedoch spürbar, daß im Thema Geld nicht der letzte Bezugspunkt des Werkes liegt, sondern so etwas wie ein Paradigma entwickelt wird, vielleicht schon die Entfaltung einer Metapher gesehen worden ist. Je allgemeiner der Gegenstand ist, von dem wir sprechen, um so weniger vollziehen wir dieses Sprechen dadurch, daß wir den Gegenstand selbst im Blick zu behalten suchen, im Gegenteil: vom Allgemeinen spricht es sich am besten, indem man von ihm absieht. Wenn man von so allgemeinen Gegenständen wie der Welt und dem Leben einigermaßen sinnvolle Aussagen machen will, wählt man in jenem Absehen ein Orientierungsschema, eine Metapher. Hierin mag Willkür liegen. Überzeugender ist daher der Nachweis, daß man, wenn man sich ans Allgemeine wagt, die Metapher schon besitzen muß. Sie ist das Primäre, sie erschließt den Zugang zu den höheren Abstraktionsgraden, in denen sie sich als Orientierung zunehmend verbirgt und endlich verschwunden ist. Deshalb ist es so aufschlußreich, daß Simmel eine »Philosophie des Geldes« schrieb und an seinem Thema alles fand, was es ihm gestattete, danach vom Leben zu sprechen. Metaphern stehen nur deshalb im Verruf, rein illustrative Erläuterungen zu sein, weil sie als das Nachträgliche und daher genetisch Akzessorische erscheinen und so als entbehrlicher Zierat und Zutat. Aber der sekundäre Stellenwert der Metaphern ist der Schein, den ein Autor durch die Umkehrung des genetischen Verhältnisses in der Darstellung erzeugt: er spricht vom Leben und hat schon die Metapher des Geldes gefunden. Dabei darf man nicht vergessen, daß für Simmel das Thema Geld seinerseits schon eine Umwegthematik gewesen war, um philosophisch zu einem abstrakteren Thema den Zugang zu eröffnen, nämlich dem des Wertes. Vom Wert läßt sich schlecht reden oder, wie ich sagen möchte, nur sekundär reden, wenn man einen Leitfaden gefunden hat. Die krasse Differenz der beiden Hauptbegriffe im denkerischen Entwicklungsgang Simmeis, zunächst Wert, dann Leben, ist vermittelt durch die Thematik des Geldes, das ursprünglich den Zugang zum Wertbegriff eröffnen sollte und schließlich auf den Weg zum Lebensbegriff nötigte. Damit das nicht als abstrakte Behauptung in der Luft hängt, möchte ich sogleich die für Simmel charakteristischen gemeinsamen Merkmale von Geld und Leben fixieren. Es sind die Charakteristiken von Stadien eines Prozesses, dessen Dynamik hier wie dort immanent ist: Erstarrung und Liquidität, Gestalt und Auflö179
sung, Festhalten und Verschwenden, Institution und Freiheit, Nivellierung und Individualität. Erich Brock schrieb 1924 in der Zeitschrift »Logos« über Simmel: Im Augenblick, wo er den philosophischen Begriff des Lebens entdeckte, begriff er das Übersichhinausgehen des Lebens; ohne es zu verlassen, gelangte er zum Objektiven. Ich meine, dieser exemplarische Vorgang sei schon in der »Philosophie des Geldes« vorgeprägt: die eigentümliche Objektivität einer Fiktion, einer ganz und gar auf dem subjektiven und reziproken Wertungsverhältnis beruhenden Substitution. 1898 schreibt Simmel in einem Brief an Heinrich Rickert über den Stand seiner Arbeit an der »Philosophie des Geldes«, er sei deprimiert, weil in der Werttheorie an einem toten Punkt angelangt, an dem er weder vorwärts noch rückwärts könne. Der Werthbegriff scheint mir nicht nur denselben regressus in infinitum, wie Kausalität, sondern auch noch einen circulus vitiosus zu enthalten, weil man, wenn man die Verknüpfungen weit genug verfolgt, immer findet, daß der Werth von A auf den von B, oder der von Β nur auf den von A gegründet ist. Damit würde ich mich schon zufrieden geben und es für eine Grundform des Vorstellens erklären, die mit der Logik eben nicht auszuschöpfen ist - wenn nicht, ebenso thatsächlich, absolute und objektive Werthe Anspruch auf Anerkennung machten. Die Lösung dieser Schwierigkeit, die ich für manche Fälle gefunden habe, versagt bei andern und ich sehe auch kein Ende der Schwierigkeiten ab, denn ich halte allerdings daran fest, daß ich bei meinem Relativismus nur bleiben kann, wenn er alle Probleme, die sich die absolutistischen Theorien stellen, gleichfalls zu lösen imstande ist.x Nun zeigt die »Philosophie des Geldes«, daß der Relativismus des Wertes nicht etwas der Problematik des Geldes Äußerliches ist. Der von Simmel entdeckte Sachverhalt ist gerade, daß unter Verhältnissen des Tausches die Gegenseitigkeit des Willens in bezug auf Gegenstände der Verfügung des jeweils anderen ein notwendiges Verhältnis des höheren subjektiven Wertes impliziert. Im Tausch werden zwar objektive Äquivalente postuliert und institutionell festgestellt, aber ebenso wesentlich ist die subjektive Inäquivalenz der Tauschgegenstände, die Potenz zur Anreicherung der subjektiven Wertsphären durch Vollendung des Tausches. Das 1 Buch des Dankes, Berlin 1958, S. 94. 180
Geld bekommt seine Funktion nur in bezug auf die Antizipation dieser Wertsteigerung, die in ihm gleichsam vergegenständlicht ist, durch Wertpräsumtion, fast müßte man sagen: durch Wertphantasie. Aber gerade dieses subjektive Moment allein stellt die Disposition des Geldes zur Ablösung personaler Funktionen dar, in der nicht nur Dingliches subjektiv höher bewertet wird, sondern der subjektiven Wertung des durch Ablösung erreichbaren Zustandes überhaupt kein objektives Moment entspricht. Das Geld nivelliert, gleichsam interimistisch, diesen Subjektivismus der Wertsteigerung. Deshalb führt Simmel seine Objektivität auf die Vergleichbarkeit der Totalität der Geldmenge mit der Totalität der Warenmenge als eine ideale Grenzvorstellung zurück. Diese Objektivität ist freilich für den menschlichen Betrachter nicht erreichbar; sie würde so etwas wie einen Laplaceschen Dämon für die Darstellung der beiden Totalitäten und ihren Vergleich erfordern. Aber im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Idee der Darstellung der Totalität einer Welt in Raum und Zeit durch Differentialgleichungen auf dem Standpunkt des Laplaceschen Dämons ist dies ein Ideal, auf das in der Philosophie des Geldes zugleich Bezug genommen und verzichtet werden kann. Denn die Gesamtheit der subjektiven Werterlebnisse ist eben gerade nicht konstant; sie erfährt mittels des objektivierenden Mediums des Geldes eine ständige Steigerung, indem jedes Subjekt dieser Sphäre auf dem Wege der objektiven Äquivalenzen sich subjektiv ständig bereichert. Man denke daran, daß die Geschichte vom Hans im Glück zwar zumeist rousseauistisch gelesen wird und wohl auch gelesen werden soll, aber genauso als die eines extremen Subjektivismus der Wertsteigerung durch Tausch gelesen werden kann; es ist gleichsam nur de.r Außenaspekt der verschiedenen Phasen dieser Geschichte, daß alle anderen sich bereichern, während Hans Verlust um Verlust erleidet, auch wenn ihn der falsche pädagogische Wille der Geschichte durch Bescheidenheit dennoch glücklich werden läßt, während er dies tatsächlich durch die arrogante Subjektivität seiner Wertphantasie wird. Der empirische Betrachter menschlicher Handlungen sieht den Vorgang des Tausches unter der Kategorie der Wechselwirkung. Die Möglichkeit des Geldes beruht darauf, daß noch subjektive Wertungen sich untereinander objektiv vergleichen können und im Markt schließlich objektiv verglichen werden, obwohl der äußere Betrachter das ursprünglich reflexive Moment des Sich181
Vergleichens nicht wahrnehmen kann. Simmel hat den Begriff des Tausches noch postuliert für eine sozusagen solipsistische Wirtschaft, also eine solche, in der der vereinzelte Mensch nicht anderen, sondern unmittelbar der Natur gegenübersteht. Auch in diesem Tauschverhältnis mit der Natur muß er für die Gewinnung von Gütern ein Äquivalent geben, das schlechthin elementar und irreduzibel ist: seine Zeit. Die Ausschöpfung der Natur auf der Stufe der Sammler und Jäger hat schon ihren Preis, in dem Bezug auf die Zeit ein gewisses Maß an Objektivierbarkeit. Der Wert entsteht schon hier durch das Hingeben von etwas, durch die Aufbringung eines eigenen Einstandes. Man kann das auch so formulieren, daß den intersubjektiven Relationen innersubjektive vorausgehen: das Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt tauscht mit eben diesem Subjekt zu einem anderen Zeitpunkt, indem es gegenwärtige Verfügbarkeit für künftige hergibt und Preis und Gewinn zu vergleichen sucht. So beruht schon die Identität des individuellen Lebens auf einer Objektivierung subjektiver Wertungen: Ist das, was es hergeben muß, um sich künftig so und so verhalten und einrichten zu können, in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Können? Simmel selbst hat die Bedeutung, die die »Philosophie des Geldes« für sein Denken bekommen hat, als Bewältigung des Relativismusproblems dargestellt: Die zeitgeschichtliche Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen in den Fluß der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit scheint mir dann vor einem haltlosen Subjektivismus und Skeptizismus gesichert, wenn man an die Stelle jener substantiell festen Werte die lebendige Wechselwirksamkeit von Elementen setzt, welche letzteren wieder der gleichen Auflösung ins Unendliche hin unterliegen. Die Zentralbegriffe der Wahrheit, des Wertes, der Objektivität etc. ergaben sich mir als Wechselwirksamkeiten, als Inhalte eines Relativismus, der jetzt nicht mehr die skeptische Lockerung aller Festigkeiten, sondern gerade die Sicherung gegen diese vermittels eines neuen Festigkeitsbegriffes bedeutete (Philosophie des Geldes).2 Am deutlichsten ist dieses Ergebnis ausgesprochen in dem Prinzip der Vermehrung der absoluten Summe empfundener Werte, das man als ein Prinzip der möglichen Objektivität des Subjektiven bezeichnen könnte. Hier liegt die Abkehr 2 Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung, in: Buch des Dankes, Berlin 1958, S. 9. 182
von jedem Naturalismus; Erhaltungssätze, die für jede neuzeitliche Naturwissenschaft das rationale Bedingungsprinzip sind, können auf das Wertproblem nicht angewendet werden und brauchen es nicht, weil die Totalität der menschlichen Handlungswelt nicht mit der der Natur identisch ist: Die Sätze von der Erhaltung des Stoffes und der Energie gelten glücklicherweise nur für das absolute Ganze der Natur, nicht aber für denjenigen Ausschnitt derselben, den das menschliche Zw eckhandeln für sich designiert...3 Der Tausch, von einem objektiven empirischen Standpunkt aus betrachtet, wäre nichts anderes als die Anwendung eines Erhaltungsprinzips und damit ein Naturalvorgang; für Simmel kann er einer der ungeheuersten Fortschritte, die die Menschheit überhaupt machen konnte, sein, weil er als Objektivierung des Subjektiven die Menschheitstragödie der Konkurrenz mindert, (...) dem geschichtlichen Prozeß zu seinem vielleicht edelsten, veredelndsten Ergebnis verhilft, zu dem Aufbau einer Welt, die ohne Streit und gegenseitige Verdrängung aneigenbar ist, zu Werten, deren Erwerb und Genuß seitens des einen den anderen nicht ausschließt, sondern tausendmal dem anderen den Weg zu. dem gleichen öffnet.* Ein Jahrzehnt nach Simmeis großem Werk wird dieses Problem der funktionellen Darstellung der Objektivität, von einer ganz anderen Seite her, von der mathematisch-physikalischen Thematik aus, in dem anderen überraschend reifen Frühwerk, Ernst Cassirers »Substanzbegriff und Funktionsbegriff«5, wieder aufgeworfen. Diese beiden Bücher müssen in ihrem Zusammenhang der Herkunft aus der erneuerten Beschäftigung mit Kant gesehen werden. Es ist nicht zufällig, daß auch Cassirer von diesem Frühwerk den Weg zu einer zwar nicht sogenannten, aber dem Anspruch nach äquivalenten Philosophie des Lebens in Gestalt der Theorie der symbolischen Formen gefunden hat. Simmel hat sein Prinzip der Vermehrung der absoluten Summe empfundener Werte in seiner kürzesten Formulierung so ausgedrückt: Die objektiv gleiche Wertsumme geht durch die zweckmäßigere Verteilung, die der Tausch bewirkt, in eine subjektiv größere, in ein höheres Maß empfundener Nutzungen über.e Die Stringenz dieses Prinzips wird ein wenig verschleiert durch eine 3 4 5 6
Philosophie des Geldes, München u. Leipzig 1922, S. 305. A . a . O . , S. 306. Berlin 1910. Philosophie des Geldes, S. 307. 183
letzte Rücksicht darauf, daß die Realität des Tauschsystems eine partielle gegenüber dem Natursystem ist, so daß objektive Wertsteigerung durch Zufluß aus diesem die Immanenz der Wertsteigerung in jenem nicht rein erscheinen läßt. Die Formel ist daher nicht ganz eindeutig, daß jeder die zu jedem gegebenen Zeitpunkt der Natur abgewonnenen Werte zu immer höherer Verwertung zu bringen vermag, indem er nur in den Tausch gibt, was ihm relativ überflüssig ist, und in den Tausch nimmt, was ihm relativ nötig ist. Um diese Unklarheit auszuschalten, formuliert Simmel sein Prinzip hypothetisch unter der Bedingung, daß das soziale Wechselwirkungssystem ohne weitere Rückgriffe auf den Naturbestand auskommen könnte: Angenommen, die Welt wäre wirklich weggegeben und alles Tun bestünde wirklich in einem bloßen Hin- und Herschieben innerhalb eines objektiv unveränderlichen Wertquantums, so bewirkte dennoch die Form des Tausches gleichsam ein interzellulares Wachstum der Werte. Nur in einer Nebenbemerkung kann ich darauf hinweisen, daß Simmel auch in seiner Ethik - repräsentiert durch die große LogosAbhandlung von 1913 »Das individuelle Gesetz« und deren völlige Neufassung von 1918 in der »Lebensanschauung« - ein entscheidendes Schema der »Philosophie des Geldes« festhält, nämlich die Bindung der Objektivität, sei es des Wertes oder der Norm, an die Idee der Totalität, sei es der subjektiven Wertungen oder der individuellen Lebensakte, so daß er folgende Formulierung für das individuelle Gesetz geben kann: Das jeweilige Sollen ist eine Funktion des totalen Lebens der individuellen Persönlichkeit. Simmel gehört nicht zu den >harten< systematischen Formulierern in der Philosophie. Er drängt zwar von der deskriptiven Stufe auf den höheren Allgemeinheitsgrad hin, nimmt aber diese Energie immer wieder derart zurück, wie sich in seinem Begriff des >Lebens< die Tendenz auf gestaltliche Konsolidierung und Verhärtung aus den daraus resultierenden Gehäusen immer wieder in die Unentschiedenheit der gestaltlosen Liquidität zurücknimmt. Simmel hat sich davor gehütet, die beschreibend gewonnene Phasenstruktur des im Geld sich darstellenden Prozesses auf die logische Schärfe einer Dialektik zu bringen oder so etwas wie den intentionalen Grenzwert dieses Prozesses zu bestimmen. Man kann aber Simmel unschwer so lesen, daß man diese Verschärfung nachholt. Man kommt dann zu Formeln, die Simmel nie gebraucht hätte, auch wenn sie den Zusammenhang von Geldfunktion und Huma184
nität abschließend bestimmen mögen. Ich versuche es mit den folgenden. Die oberflächliche Verächtlichkeit des Geldes suggeriert, daß die Humanität gewinnt, wenn das Geld an Wert verliert, weil man dann nicht mehr alles dafür haben kann. Der reelle Befund ist aber, daß in dem Augenblick, wo man für Geld nicht mehr alles haben kann, anstelle des Geldes das hergegeben werden muß, was als Humanes unveräußerlich bleiben sollte. In diesem Sinne gilt der Satz, daß Geld, für das man nicht alles haben kann, nichts wert ist. Die unvergleichliche Nachhaltigkeit der Erinnerung an Geldentwertungen hängt offenkundig damit zusammen, daß seine Funktionsschwäche erst erfahrbar macht, welchen humanen Standard es fundiert. Die Pathologie des Geldes steht im Zusammenhang mit dem intimen Verhältnis von Geld und Zeit: der Verfall der Geldfunktion bedeutet vor allem, daß nicht mehr über den Vorteil aus zeitweisen Verzichten beliebig, sondern nur unter Zeitdruck verfügt werden kann. Die geläufigste Redensart über dieses Verhältnis, daß Zeit Geld sei, erreicht noch nicht die wichtige Äquivalenz der Verhaltensweisen zu Zeit und Geld in der scheinbar absurden Verklammerung von Erwerb und Verschwendung, die bei der Zeit als Anstrengung des Zeitgewinns und Bedenkenlosigkeit des Zeitvertreibs auftritt. Zeitvertreib ist das Prädikat für fast alles, was der Mensch gern tut; Zeitgewinn ist direkt oder indirekt das Radikal seiner augenfälligsten Anstrengungen. Um sich die Zeit zu vertreiben, gewinnt er sie. Eben dies ist wie mit dem Geld: man wünscht es nur aufzuhäufen, um es zu verschwenden - wenn man nicht der Geizige ist. Gerade die Zeit, die wir uns vertreiben, ist nicht gemessene Zeit; wer sich die Zeit vertreibt, entfernt sich von den Uhren, denn er hat Zeit, um sie sich zu vertreiben. So ist der Wunsch nach Geld verbunden mit dem Grenzwert, nicht mehr aufs Geld sehen zu müssen. An dieser Stelle wird die Nachprüfung der Redensart, Geld mache nicht glücklich, unausweichlich. In dem Gesetz der subjektiven Wertsteigerung steckt, ohne daß der Ausdruck je bei Simmel vorkäme, eine Mitteilung darüber, daß jene Redensart falsch sein muß. Man muß sich hier wieder der odiosesten Formulierungen bedienen, wie dieser, daß Geld zu haben die einzige bestimmte Form von Glück ist, die wir überhaupt angeben können. Der Grund dafür liegt in allem, was als Resultat der »Philosophie des 185
Geldes« benannt werden kann: weil die reine Potentialität des Geldes der reinen Subjektivität des Glücksbegriffs - die keine philosophische Enttäuschung, sondern vielmehr eine Errungenschaft der Kritik ist - allein zu genügen vermag, gilt der Satz, daß mit Geld jeder sein Glück machen kann. Und nur darin, jedem seines sein zu können, besteht Glück. Daran ändert auch nichts, daß dieses Potential von außen umworben wird, massiv und handgreiflich in Gestalt der kulturkritisch so diffamen Warenwerbung. Gerade das bestätigt die Subjektivität des Glücks, daß seine Erwartung manipulierbar ist und Geld diese Manipulierbarkeit ausdrückt. Verachtung und Feindschaft gegenüber dem Geld beruhen auf der vermeintlich erreichbaren Objektivität der Glücksidee; wäre Glück ein objektives Ideal, würde freilich in der Tendenz Geld überflüssig und zur geschichtlichen Episode, denn das Objektive kann von außen ermittelt und verteilt werden. Daß sich das Geld nicht in Händen der objektiv Glückswürdigen befindet, ist nur ein kleiner Schönheitsfehler im Vergleich dazu, daß es überhaupt dieses eine Äquivalent für die Subjektivität des Glücksbegriffs gibt. Sie erklärt, daß die Menschen nicht nur im blinden Taumel falscher Bedürfnisse handeln, wenn sie sich durch den Begriff des Geldes in ihrem Denken so weitgehend bestimmen lassen, wie sie es tatsächlich tun. Nichts Wesentliches ist für Geld zu haben; aber alles Wesentliche ist erreichbar, wenn alles andere für Geld zu haben ist. Für Simmel ist es selbstverständlich, daß die Entwicklung des Geldwesens an dem Prozeß der Quantifizierung aller Lebensverhältnisse und vor allem der Wissenschaft nicht nur teilnimmt, sondern diese durch dessen reinsten Ausdruck selbst vorantreibt. Er sieht das ohne kulturkritische Voreingenommenheit. Das Subjekt kann nur gerade in dem Maße der Nivellierung durch Tauschprozesse entgehen, in dem es seine Eigenschaften und Leistungen von sich abzutrennen vermag. Dem entspricht, daß in der neuzeitlichen Wissenschaft die Substanz als Träger von Eigenschaften und Leistungen gleichsam immer weiter und weiter ins Eigenschaftslose entrückt und dadurch unverfügbar wird. Beim Ertrag von Besitz ist es greifbar, daß die Geldform jede beliebige Entfernung zwischen dem Besitz und seinem Besitzer ermöglicht und diesen daher von den Normen und Obligationen der Sache unabhängig macht. Aber auch der Warencharakter der Arbeit wird durch deren Quantifizierbarkeit depotenziert, indem diese dem Arbeitsver186
hältnis seinen totalen Charakter nimmt; sie macht aus einer Verdingung der Person ein zunehmend unter Sachnormen stehendes Funktionsverhältnis hinsichtlich einer nur partiellen Leistung. Simmel sieht ein Element der Freiheit darin, daß die Zuordnung desjenigen, der seine Arbeitskraft verkauft, nicht mehr subjektivpersonaler, sondern technischer Natur ist. Dabei werde klar, daß schon jene prinzipielle Befreiung, die im Übergang der Unterordnung in die objektive Form liegt, aufs engste an die unbedingtere Wirksamkeit des Geldprinzips gebunden ist.7 Was unter dem Titel >Ablösung< als zentrale Funktion des Geldes in der Darstellung Simmeis bezeichnet werden kann, wird hier als außerwissenschaftliche Identität von Quantifizierung und Objektivierung deutlich. Die personal-identische Leistungsbindung wird durch ein austauschbares Verhältnis abgelöst: das Geld schafft eine freie Stelle anstelle dessen, der sie geborenermaßen zu besetzen hätte. So wie ein bestimmter persönlich zu erbringender Dienst gegenüber dem Lehnsherrn schließlich durch Geld ersetzbar gemacht wird, werden mit dem Institut der Steuer spezifische Pflichten des Einzelnen gegenüber der Öffentlichkeit nivelliert und in öffentliche Dienstleistungen transformiert. Der grundlegende Sachverhalt der >Ablösung< wird nicht schon dadurch entwertet oder problematisch, daß er faktisch durch heterogene Sachverhalte überlagert wird; so ermöglicht der Preis für Arbeit zwar die Definition einer austauschbaren Stelle, deren Freiheitsmoment aber latent bleibt, solange es eine mit Existenzrisiko verbundene Konkurrenz derer gibt, die auf sie angewiesen sind. Den hier vorliegenden Zusammenhang von Geld und Bewußtsein beschreibt Simmel folgendermaßen: Das gewachsene Selbstgefühl des modernen Arbeiters muß damit zusammenhängen: er empfindet sich nicht mehr als Person untertänig, sondern gibt nur eine genau festgestellte und zwar auf Grund des Geldäquivalents so genau festgestellte Leistung hin, die die Persönlichkeit als solche gerade um so mehr freiläßt, je sachlicher, unpersönlicher, technischer sie selbst und der von ihr getragene Betrieb ist.8 Man darf angesichts von Simmeis »Philosophie des Geldes« die Frage nicht vorschnell zur Ruhe kommen lassen, was das Philosophische dieses Themas ist. Es ist ja nicht damit getan, in der Thematik des Geldes die Protometapher für die des Lebens aufzu7 A.a.O., S. 362. 8 A.a.O., S. 362. 187
finden, für diesen unbestimmtesten der Begriffe Simmeis. Es mag sich anachronistisch anhören, ich sage es trotzdem: der Rang einer philosophischen Untersuchung spezieller Thematik bestimmt sich jederzeit nach ihrer Nähe zu den großen klassischen Grundproblemen der philosophischen Tradition. Deshalb genügt die Aufweisung der inneren Konsistenz zwischen der frühen Thematik Wert und Geld und der späten des Lebens nicht, um sich deutlich zu machen, daß Simmeis Werk von 1900 eines der wenigen zum Kanon gehörenden nach Nietzsche ist beziehungsweise werden wird. Ich meine, man kann bei Simmel die Beobachtung machen, daß bei der Anwendung der frühen Metaphorik des Geldes auf den späten Begriff des >Lebens< Gewinn und Verlust in einer für alle philosophischen Prozesse signifikanten Weise zu vergleichen sind: die Erklärungsleistung des höchsten Abstraktionsgrades ist trivialerweise universell, aber dafür ihrerseits nicht mehr einsichtig. Der Lebensbegriff antizipiert in dieser Hinsicht die jüngere Konzeption der Seinsgeschichte. So kann Simmel für den Prozeß des Lebens von einer großen Wendung sprechen, in der die Formen der Funktionen, die das Lehen um seiner seihst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat,... derart selbständig und definitiv (werden), daß umgekehrt das Lehen ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet, und daß das Gelingen dieser Einordnung als eine ebenso letzte Wert- und Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung dieser Formen in die Ökonomie des Lehens.9 Eine solche große Achsendrehung des Lebens ist wieder der rational unverzichtbare Griff nach dem schlechthin umfassenden Einen, dem Leben, dem Sein. Als solcher bringt er nur wieder dieselbe Verlegenheit zutage, die schon aus der Personalisierung der letzten Instanz unter dem Titel der unbegreiflichen Ratschlüsse der Gottheit, ihrer Verborgenheit, ihres absoluten Willens resultierte. Darin aber liegt der Unterschied zwischen der Philosophie des Geldes und der Philosophie des Lebens, daß dieselben Bestimmtheiten, die hinsichtlich des Lebens nur als Fatum ausgegeben werden können, als seine verhängnisvolle und unstillbare Ruhelosigkeit in jeder seiner Realisierungen, als seine Hinneigung und sein Widerstand gegen die Verhärtung der Gestalt, auf der Stufe der Thematik des Geldes noch deskriptiv erfaßt werden konnten als Verklammerung von Möglichkeitsgewinn und Wirklichkeitsverlust, von An9 Vorformen der Idee. In: Logos IV, 1916/17, S. 104. 188
spruch und Verzicht, als Freisetzung der individuellen Personalität zu Lasten der Funktionalisierung ihrer Eigenschaften. Insofern ist der Weg von der Philosophie des Geldes zur Philosophie des Lebens seinerseits ein Paradigma der letzteren. Ist es dann gestattet, von der »Philosophie des Geldes« als einer der spätesten Formen säkularisierter Theologie zu sprechen? Abgesehen von der Problematik der Säkularisierungskategorie läßt sich hier antworten: eben gerade deshalb nicht, weil diese Philosophie ihr Ungenügen an sich selbst produzierte in Gestalt der Philosophie des Lebens, die so etwas wie eine der Philosophien des werdenden Gottes war. Aber auch, weil sich das Attribut der Allmacht im bloßen Wertäquivalent der Warenmenge nicht darstellen läßt infolge der Pluralität konkurrierender Wünsche und Vorstellungen, deren utopische Schlichtung oder monistische Vereinfachung das Mittel des Geldes sofort überflüssig und hinfällig machen müßte. Es ist sicher kein Zufall, daß die Theorie des Geldes ihren ersten Höhepunkt in der Zeit und in der Schule des spätmittelalterlichen Nominalismus hatte, weil der reine Gedanke der abstrakten Macht erst erreicht sein muß, ehe die Konzeption ihrer Verbindung mit Bedürfnissen und Wünschen hergestellt werden kann. Ganz deutlich ist, daß die Allmachtskritik, die sowohl im Nominalismus steckt als auch ihm folgte und die neuzeitliche Rationalität inaugurierte, sich fortgesetzt hat in der Kritik an dem, was als Platzhalter der Omnipotenz gesehen wurde, dem Geld. Marx hat den später so erfolgreichen Ausdruck der >Verweltlichung< für dieses, das Geld als das dem Menschen entfremdet Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, das ihn beherrsche und das er anbete, schon früh auf die Szene gebracht: Der Gott der Juden hat sich verweltlicht ... 10 Simmel jedoch spricht, deskriptiv bleibend, von der psychologischen Formähnlichkeit zwischen der höchsten kosmischen und der höchsten wirtschaftlichen Einheit, auf der die Feindseligkeit der Klientel der einen gegenüber der der anderen Potenz beruhe.11 Wenn nicht der Begriff des Geldes, so doch die beschreibende »Philosophie des Geldes« enthält die vielleicht abschließende Kritik der Allmachtsvorstellung, von der die Neuzeit ausgegangen war und an der sie ständig zu arbeiten hatte. Schon der Enthusiasmus der Allmacht entdeckt die zerstörerische Absurdität in ihrem io Zur Jüdenfrage, 1843. 11 Philosophie des Geldes, S. 241. 189
Schöße, daß sie in ihrer konsequenten Realisierung nichts anderes tun könnte, als sich selbst zu reproduzieren, also aus ihrem Monismus in ihren Dualismus überzugehen und sich dadurch in ihrer entscheidenden Eigenschaft selbst aufzuheben, indem sie nun nicht mehr alles vermöchte. Allmacht, sich vollziehend gedacht, müßte sich entweder ihre Einschränkungen selbst auferlegen oder an dem von ihr Bewirkten schließlich vorfinden. Diese Überlegung hängt aufs engste zusammen mit der Problematik des Geldes. Die Anthropologie kann es sich, im Gegensatz zur theologischen Metaphysik, leisten, auf dem Reiz der reinen Möglichkeiten zu bestehen und von der Enttäuschung der vollendeten Wirklichkeiten zu sprechen. Das Geld erlaubt noch die Zurücknahme der enttäuschenden Wirklichkeit in die Schwebe der bloßen Möglichkeit. Die Verächtlichkeit des Geizigen zu allen Zeiten liegt im Unverständnis für seinen Genuß an der puren Möglichkeit. Es ist das Interesse der anderen, man habe zu widerlegen, daß man geizig sei. Der Geizige tut es, indem er zum Beispiel sich selbst täuscht. Arnold Zweig beschreibt in einem Brief an Sigmund Freud vom 16. September 1930 die Erschwerungen seiner Lage, die sich daraus ergeben hätten, daß die Rolle des Familienhauptes auf ihn gefallen war: Einerseits sei er gezwungen zu beweisen, daß er nicht geizig sei, andererseits stelle er mit der größten Leichtigkeit einen Scheck aus, seiner Unanschaulichkeit wegen, während er eine Banknote sehr ungern aus der Hand gebe, die ja doch das eigentliche Geld ist. So aufschlußreich diese Bemerkung ist, so naiv ist sie, denn die Banknote hatte das viel größere Mißtrauen getroffen, als sie die Leichtigkeit der Vermehrung des Geldes durch Fürsten und Minister bedenklich potenziert hatte und fortan immer die Neigung der Zuflucht in das eigentliche Geld< in Gestalt der Münze stimulieren sollte, auch wenn es sich um Kupferpfennige oder billigste Legierungen handelte. Die Beziehung des Geldes zu den großen Themen der Metaphysik geht auch auf das der Unsterblichkeit. Voltaire hat sich in seinem Notizbuch unmittelbar hintereinander die beiden Gedanken notiert, der Mensch sei das einzige Lebewesen, welches wisse, daß es sterben müsse, und der Tod sei es, der bewirke, daß die heimliche Phantasie des Geizigen von einem anderen, nämlich seinem Erben, vollstreckt würde.12 Welche Assoziation des mit dem 12 Voltaire, Notebooks, ed. Th. Bestermann, II 502. 190
Gelde und mit potentiellen Erben so vertrauten Aufklärers! Das Todeswissen und die Fähigkeit zur Erfindung des Geldes hängen zusammen in der Leistung des Begriffs, das nicht Anwesende ebenso zu denken wie das, was gar nicht Erfahrung werden kann. Sich selbst als nicht mehr seiend denken zu können, die Welt als ohne sich fortexistierend, ist als begriffliche Leistung genauso einzigartig wie die des Geldes, potentiell und tendenziell die nicht erreichbaren und unverfügbaren Gegenstände verfügbar werden zu lassen, ohne darauf - wie im Falle des Geizigen - je die Probe machen zu müssen. Der Geiz ist die Maximierung dieser Abstraktion: der Geizige kann die Absolutheit seiner Ansprüche an das Mögliche noch über seinen Tod hinaus auf seine Erben überwälzen. Die Nähe der Geldthematik zu der von Todeswissen und Unsterblichkeit besteht, wie sich zeigt, nur in der Mittelbarkeit des Begriffs. In der Analogie von Begriffsleistung und Geldfunktion kulminiert die Affinität der »Philosophie des Geldes« zum klassischen Bestand der philosophischen Fragen. In ihr wird die unvergleichliche Bedeutung des Geldes für die Entwicklungsgeschichte des praktischen Geistes lokalisierbar. Simmel beschreibt es so: Was man die Tragik der menschlichen Begriffsbildung nennen könnte: daß der höhere Begriff die Weite, mit der er eine wachsende Anzahl von Einzelheiten umfaßt, mit wachsender Leere an Inhalt bezahlen muß, gewinnt im Gelde sein vollkommenes praktisches Gegenbild, d. h. die Daseinsform, deren Seite Allgemeingültigkeit und Inhaltslosigkeit sind, ist im Geld zu einer realen Macht geworden, deren Verhältnis zu aller Entgegengesetztheit der Verkehrsobjekte und ihrer seelischen Umgebungen gleichmäßig als Dienen wie als Herrschen zu deuten ist.Xi Simmel spricht ungeniert vom metaphysischen Wesen des Geldes; für ihn besteht es darin, daß es als absolutes Mittel die Möglichkeit aller Werte als den Wert aller Möglichkeit inkorporiert. Der Begriff des Lebens erfüllt diese Metapher nur, wenn er vom Faktum der Endlichkeit individueller Leben abstrahiert und zur Hypostase einer in diesen sich nur vordergründig äußernden Substanz erhoben ist. Hierauf bezogen finde ich es von einzigartiger Prägnanz, daß Simmel am Ende seines eigenen Lebens noch dieses und den Ertrag seiner Verausgabung in philosophischer Lehre unter der Metapher 13 Philosophie des Geldes, S. 219. 191
des Geldes gesehen hat. Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgend einen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.14 Die Zulässigkeit, die Unverächtlichkeit der Metapher des baren Geldes für einen Nachlaß geistiger Wirkung macht noch einmal spürbar, was zwei Jahrzehnte zuvor in der »Philosophie des Geldes« gefunden worden war und was das Tagebuch auf die Formel bringt: Geld ist das einzige Kulturgebilde, das reine Kraft ist, das den substantiellen Träger völlig von sich abgetan hat, indem er absolut nur Symbol ist.. .15
14 Aus dem nachgelassenen Tagebuche. In: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß, München 1923, S. 1. 15 A.a.O., S. 44. 192
Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit A metaphoris autem abstinendum philosopho. Berkeley, De motu 3
Als Erich Rothacker 1960 die »Paradigmen zu einer Metaphorologie« in sein »Archiv für Begriffsgeschichte« aufnahm, dachte er wie der Verfasser an eine subsidiäre Methodik für die gerade ausholende Begriffsgeschichte. Seither hat sich an der Funktion der Metaphorologie nichts, an ihrer Referenz einiges geändert; vor allem dadurch, daß Metaphorik nur als ein schmaler Spezialfall von Unbegrifflichkeit zu nehmen ist. Nicht mehr vorzugsweise als Leitsphäre abtastender theoretischer Konzeptionen, als Vorfeld der Begriffsbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen wird die Metaphorik gesehen, sondern als eine authentische Leistungsart der Erfassung von Zusammenhängen, die nicht auf den engen Kern der >absoluten Metapher< einzugrenzen ist. Auch diese war ja zunächst nur definiert durch ihre Indisposition zum >Ersatz durch Sachprädikate< auf derselben Sprachebene. Man könnte sagen, die Blickrichtung habe sich umgekehrt: sie ist nicht mehr vor allem auf die Konstitution von Begrifflichkeit bezogen, sondern auch auf die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen obwohl nicht ständig präsent zu haltenden - Motivierungsrückhalt aller Theorie. Wenn wir schon einsehen müssen, daß wir nicht die Wahrheit von der Wissenschaft erwarten dürfen, so wollen wir doch wenigstens wissen, weshalb wir wissen wollten, was zu wissen nun mit Enttäuschung verbunden ist. Metaphern sind in diesem Sinne Leitfossilien einer archaischen Schicht des Prozesses der theoretischen Neugierde, die nicht deshalb anachronistisch sein muß, weil es zu der Fülle ihrer Stimulationen und Wahrheitserwartungen keinen Rückweg gibt. Das Rätsel der Metapher kann nicht allein aus der Verlegenheit um den Begriff verstanden werden. Rätselhaft nämlich ist, weshalb Metaphern überhaupt >ertragen< werden. Daß sie in der Rhetorik als >Schmuck der Rede< auftreten, mag an ihrer Gewähltheit be193
greiflich werden; daß sie aber auch in gegenständlichen Kontexten hingenommen werden, ist nicht selbstverständlich. Denn in jedem solchen Kontext ist die Metapher zunächst eine Störung. Betrachtet man das Bewußtsein, sofern es von Texten >affiziert< wird, mit der Phänomenologie als eine intentionale Leistungsstruktur, so gefährdet jede Metapher deren >Normalstimmigkeit<. In den funktionalen Übergang von bloßer Vermeinung zu anschaulicher Erfüllung setzt sie ein heterogenes Element, das in einen anderen als den aktuellen Zusammenhang verweist. Nun ist das diskursive, also nicht nur punktuelle, Bewußtsein ohnehin vielleicht die >Reparatur< einer Störung, die Überwindung einer Dysfunktion des organisch so bewährten Reiz-Reaktion-Systems. Dabei hätte erst die synthetische Verarbeitung von Reizmannigfaltigkeiten zu >Gegenständen< - als nicht nur durch Zeichen, sondern durch Eigenschaften bestimmbaren Komplexen - sachgemäßes Verhalten ermöglicht. Seine Unstimmigkeiten auszubessern, immer wieder zur Einstimmigkeit der Daten als solchen einer Erfahrung zurückzufinden, bleibt die konstitutive Leistung des Bewußtseins, die es dessen versichert, der Wirklichkeit und nicht Illusionen zu folgen. Die Metapher aber ist zunächst, um mit Husserl zu sprechen, >Widerstimmigkeit<. Diese wäre tödlich für das seiner Identitätssorge anheimgegebene Bewußtsein; es muß das ständig erfolgreiche Selbstrestitutionsorgan sein. Es folgt, auch und gerade gegenüber der Metapher, der von Husserl formulierten Regel: Anomalität als Bruch der ursprünglich stimmenden Erscheinungseinheit wird in eine höhere Normalität einbezogen. Das zunächst destruktive Element wird überhaupt erst unter dem Druck des Reparaturzwangs der gefährdeten Konsistenz zur Metapher. Es wird der Intentionalität durch einen Kunstgriff des Umverstehens integriert. Die Erklärung des exotischen Fremdkörpers zur >bloßen Metapher< ist ein Akt der Selbstbehauptung: die Störung wird als Hilfe qualifiziert. In der Erfahrung entspricht dem die Notwendigkeit, auch den überraschendsten Auftritt an der Grenze zum vermeintlichen Wunden noch als dem kausalen Gesamtsystem angehörig einzugliedern. Um Quintilians viel strapaziertem Beispiel zu folgen, ist es ein Unfall des glatten Ablaufs der Information, wenn die auf eine Wiese angesetzte Intention überraschend und außerhalb des Spielraums typischer Erwartung zum Prädikat überspringt, diese Wiese 194
lache: pratum ridet. Um die Leistung des Textes scheint es geschehen zu sein, bis die >Entschuldigung< sich einstellt, keine Aufreihung der erwarteten Sachprädikate könne jemals über eine Wiese die Information vermitteln, die in dem einen Ausdruck ihres Lachens beschlossen liegt. Er hätte in keiner deskriptiven Sprache etwas zu suchen. Doch wäre es auch falsch zu sagen, dies sei bereits Dichtung in nuce, wie viele Dichter auch Wiesen haben lachen lassen mögen. Was in den Eigenschaften einer Wiese unter objektivem Aspekt nicht vorkommt, aber auch nicht die subjektiv-phantastische Zutat eines Betrachters ist, der nur für sich die Konturen eines menschlichen Gesichts aus der Oberfläche der Wiese herauslesen könnte (ein Spiel, das zur Besichtigung von Tropfsteinhöhlen gehört), wird von der Metapher festgehalten. Sie leistet dies, indem sie die Wiese dem Inventar einer menschlichen Lebenswelt zuweist, in der nicht nur Worte und Zeichen, sondern die Sachen selbst >Bedeutungen< haben, deren anthropogenetischer Urtypus das menschliche Gesicht mit seiner unvergleichlichen Situationsbedeutung sein mag. Die Metapher für diesen Sinngehalt der Metapher hat Montaigne gegeben: le visage du monde. Es war eine der mühsamsten Rekonstruktionen der theoretischen Sprache, zu dem überhaupt noch einmal zurückzufinden, was mit dem Ausdruck >Landschaft< bezeichnet wird. Die Metapher reklamiert eine Ursprünglichkeit, in der nicht nur die privaten und müßigen Provinzen unserer Erfahrung, die Spaziergängeroder Dichterwelten verwurzelt sind, sondern auch die fachsprachlich verfremdeten Präparataspekte theoretischer Einstellung. In dieser gibt es für die quintilianische Wiese nichts mehr zu lachen. Aber es bleibt, daß, was Lachen für uns bedeutet, nicht nur einmal auf eine Wiese >übertragen< worden ist, sondern auch als diese Bedeutung >Lachen< dadurch angereichert und >erfüllt< wurde, daß es in der Lebenswelt wiederkehren konnte. Lebens weltlich muß es immer schon Rückübertragungsverhältnisse der Anschauung gegeben haben, damit die Forcierung des Bewußtseins durch die Metapher ertragen werden konnte. Deshalb auch gilt Wittgensteins Satz von 1929: Ein gutes Gleichnis erfrischt den Verstand. Erfrischung ist hier selbst Metapher, antithetisch zur ebenfalls metaphorischen Erschöpfung: das Gleichnis zeigt mehr als in dem schon steckt, wofür es gewählt wird. Es ist der Parallelfall für Hermeneutik, aber in umgekehrter !95
Richtung: nicht die Ausdeutung bereichert den Text über das hinaus, was der Autor in ihn hineingewußt hat, sondern der Fremdbezug fließt unabsehbar in die Produktivität zu Texten ein. Die in der rigorosen Selbstverschärfung der theoretischen Sprache verächtlich gewordene Ungenauigkeit der Metapher entspricht auf andere Weise der oft so eindrucksvollen höchsten Abstraktionsstufe von Begriffen wie >Sein<, >Geschichte<, >Welt<, die uns zu imponieren nicht nachgelassen haben. Die Metapher jedoch konserviert den Reichtum ihrer Herkunft, den die Abstraktion verleugnen muß. Je mehr wir uns von der kurzen Distanz der erfüllbaren Intentionalität entfernen und auf Totalhorizonte beziehen, die für unsere Erfahrung nicht mehr zu durchschreiten und abzugrenzen sind, um so impressiver wird die Verwendung von Metaphern; die >absolute Metapher< ist insofern ein Grenzwert. Der Wald steht schwarz und schweiget, das ist ein anderer Fall der dachenden Wiese<; nur ist uns beim Wald schon sprachlich vertrauter, daß man ihn vor Bäumen nicht sieht, sobald man in ihn eingedrungen ist. In ihm steckt also ein >Sprung< unserer Anschauung. In dieser Hinsicht ist die Welt ein Wald, den wir niemals anders denn als in ihm Stehende gewahren - in hac silva plena, sagt Marsilio Ficino - und vor lauter Bäumen nicht zu sehen vermögen. Die absoluten Metaphern, die für die Welt gefunden worden sind, lösen sich sowenig in Eigenschaften und Bestimmbarkeiten auf wie dieser letztinstanzliche Wald in Bäume. Dennoch ist es der Wald, in dem man sich nach dem Gleichnis des Descartes verirrt und den Entschluß zur morale par provision fassen muß, weil man keine Gesamtanschauung davon besitzt (obwohl nach dem theoretischen Programm des Descartes besitzen kann). Die Welt mag alles sein, was der Fall ist, und damit der alten Definition als séries rerum recht geben; ein Cartesianer mit seinem Anspruch auf Klarheit und Deutlichkeit könnte damit keinesfalls zufrieden sein. Vor allem aber wäre es ungefähr das, was von allem Aussagbaren über die Welt, so unwidersprechlich es sein mag, am wenigsten interessiert, weder den Kosmologen noch den Theologen, nicht einmal den, der von ihrem Interpretieren genug hat und zu ihrer Veränderung übergehen möchte. Daß die Welt ein Buch sei, in dem man lesen könne oder nach Mühseligkeiten der Entzifferung schließlich lesen würde, ist eine metaphorische Erwartung über die Art der Erfahrung. Sie ist aus der lebensweltlichen Einstellung vor aller Theorie und unterhalb aller Theorie in unserer 196
Geschichte schwer wegzudenken und schon deshalb rückblickend im Auge zu behalten, weil sie den bloßen Nutzungswert der Welt, vermittelt durch das Instrument der Wissenschaft, als sekundären Richtungssinn des theoretischen Verhaltens zu verstehen gibt. Die Begeisterung ist atavistisch, mit der Sachverhalte aufgenommen werden, die an der Natur wieder etwas zu >entschlüsseln< geben oder gar das Verhältnis von Schrift und Leser in den Naturprozeß selbst einzuführen scheinen. Das >Buch der Natur< ist eben nicht nur ein Belegsammlungsobjekt der Toposforschung. Es ist auch Orientierung für das Zurücktragen vom faktischen Status des theoretischen Weltverhaltens zu den ihm zugrundeliegenden lebensweltlichen Sinngebungen. Es wäre bare Romantik, dies mit der Absicht zu tun, die Position des Weltbuchlesers zu erneuern. Es geht um die schlichte Sistierung von Gegenwart als Selbstverständlichkeit, die den Zeitgenossen immer als das letzte Wort erscheinen wird, das zur Sache zu sagen war. Auch um die Sistierung von Sinnerwartungen nur noch metaphorisch greifbarer Spezifität, deren ungeglaubte Unerfüllbarkeit die Enttäuschungen schon vorgibt. Man spürt, daß etwas Suggestives in aller Metaphorik steckt, das sie zum bevorzugten Element der Rhetorik als der Einstimmung bei nicht erreichter oder nicht erreichbarer Eindeutigkeit qualifiziert. Der Prozeß der Erkenntnis ist auf Verluste kalkuliert. Zu definieren, Zeit sei das, was man mit einer Uhr mißt, hört sich solide an und ist höchst pragmatisch in bezug auf Vermeidung von Streitigkeiten. Aber war es das, was wir verdient haben, seit wir zu fragen begonnen hatten, was Zeit sei? Daß Zeit kein diskursiver Begriff sei, dient Kants Abwehrgestus, der ihm erlaubt, sie über Newtons absolute Zeit zur apriorischen Form des inneren Sinnes zu machen. Aber wenn Kant die Zeitbestimmung in der »Widerlegung des Idealismus« der zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« argumentativ einsetzt, wird unverkennbar, daß auch bei ihm die Metaphorik des Raumes der Zeitanschauung zugrunde liegt und aus ihr nicht zu eliminieren ist. Es mag sein, daß das mit Sachverhalten des Gehirns zusammenhängt, in dem genetisch die Leistungen der Raumvorstellung älter sind als die der Zeitvorstellung. Dann aber: Ist auch noch die Vorstellung vom fluxus temporis, vom Strom der Zeit, notwendige Metaphorik? Ist die Gemeinsamkeit der absoluten Metapher des Strömens für das Bewußtsein 197
einerseits, die Zeitkonstitution andererseits der Leitfaden, anhand dessen die Phänomenologie die Zeit zur ursprünglichsten Struktur des Bewußtseins erklärt? Erlaubt die Anwendung des Grundsatzes von der Beharrung der Substanz auf diese Figuration noch den weiteren Schritt, den Otto Liebmann tat, das Ich als das ruhende Ufer oder vielmehr die feststehende Insel, woran der Strom des Geschehens, der fluxus temporis vorüberfließt, einzubildend Schließlich ist geschichtlich daran zu erinnern, daß die Metapher vom Strom der Zeit ihre destruktive Wendung gegen die Zusicherung, die Wahrheit werde die Tochter der Zeit sein, bei Francis Bacon gefunden hat, der auf diesem Strom an unseren faktischen Standort nur gelangen läßt, was leicht genug gewesen war, um nicht im Fluß zu versinken - die metaphorische Evidenz für das Versagen der Tradition gegenüber der Wahrheitslast. Über dem Portal des Observatoriums von Camille Flammarion in Juvisy. steht: Ad veritatem per scientiam. Man würde das heute kaum über das Portal einer Universität oder wissenschaftlichen Institution setzen. Weshalb nicht? Offenbar setzt das Wort voraus, daß die Wahrheit, zu der zu gelangen ist, nicht identisch ist mit der Wissenschaft, durch die zu ihr zu gelangen sei. Da ist eine Differenz, hinsichtlich derer unsere Erwartungen außerordentlich vage und ungenau, trotz aller Präzisierungen in der wissenschaftlichen Welt beinahe konfus zu nennen sind. Mit anderen Worten: Wir wissen nicht mehr genau, weshalb wir das ganze gewaltige Unternehmen der Wissenschaft - unabhängig von all den Leistungen, die sie für die Lebensfähigkeit unserer Welt erbringt und die sie für diese unentbehrlich machen - überhaupt unternommen haben. Es ist jene Wahrheit offenbar etwas, was in der Sprache der Wissenschaft selbst, durch die sie erreichbar sein soll, nicht mehr ausgesagt werden kann und wohl auch niemals ausgesagt worden ist. Im Aspekt der Lebenswelt-Thematik ist die Metapher, noch dazu in ihrer rhetorisch präzis definierten Kurzform, etwas Spätes und Abgeleitetes. Deshalb wird eine Metaphorologie, will sie sich nicht auf die Leistung der Metapher für die Begriffsbildung beschränken, sondern sie zum Leitfaden der Hinblicknahme auf die Lebenswelt nehmen, nicht ohne die Einfügung in den weiteren Horizont einer Theorie der Unbegrifflichkeit auskommen. Daß man von der dachenden Wiese< sprechen kann, ist poetische Suggestion doch erst dadurch, daß die ästhetische Evidenz darauf zu198
rückgeht, alle hätten es gesehen, ohne es sagen zu können. Die Heimatlosigkeit der Metapher in einer durch disziplinierte Erfahrung bestimmten Welt wird am Unbehagen faßbar, dem alles begegnet, was dem Standard der auf objektive Eindeutigkeit tendierenden Sprache nicht genügt. Es sei denn, es qualifiziere sich in der entgegengesetzten Tendenz als >ästhetisch<. Dieses Attribut gibt die letzte, darum völlig enthemmende Lizenz für Vieldeutigkeit. Unter dem Titel der Unbegrifflichkeit muß zumindest damit gerechnet werden, daß auch die Klasse des Unsagbaren nicht leer ist. Wittgensteins »Tractatus«, der mit dem Satz beginnt: Die Welt ist alles, was der Fall ist, endet zwar mit einem Verbot hinsichtlich dessen, was nicht der Fall ist oder wovon nicht eindeutig gesagt werden kann, daß es der Fall ist: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Es ist jedoch das Verbot einer Verwechslung: der zwischen dem Unsagbaren und dem Sagbaren. Denn alles, was der Fall ist, hat einen eindeutigen Grad der sprachlichen Verfügbarkeit, deren Umfang sich allerdings nicht mit dem deckt, was erfahren werden kann. Sonst stände nicht unmittelbar vor dem abschließenden Verbot: Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Es ist die beiläufige Feststellung eines Relikts, das, als nicht unter die Definition der Wirklichkeit fallend, gleichsam heimatlos ist. Diese Exotik teilt es mit dem >Sinn der Welt<, der außerhalb ihrer liegen muß, und sogar mit der Bestimmung des Mystischen, das im Gegensatz dazu, wie die Welt ist, darin lokalisiert wird, daß sie ist. Die Gegenposition hat einer der wenigen modernen Dichter, von denen ohne Übertreibung gesagt werden kann, sie seien auch bedeutende Denker gewesen, Paul Valéry, in »Mon Faust« formuliert: Ce qui n'est pas ineffable n'a aucune importance. Immerhin gilt auch für Wittgenstein, daß selbst dann, wenn alle möglichen Fragen nach dem, was der Fall ist, beantwortet werden könnten, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt wären. Zwischen Lebenswelt und Welt theoretischer Sachverhalte könnte es dann keinen Begründungszusammenhang geben. Die Situation nach Beantwortung aller wissenschaftlichen Fragen ist eigentümlich die des Satzes: Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort. Der Philosoph, so sagt Wittgenstein später in den »Philosophischen Untersuchungen«, behandle eine Frage wie eine Krankheit. Die Grenzwerte von Sagbarkeit und Unsagbarkeit sind noch 199
weiter gespannt als die von definitorischer Bestimmtheit und imaginativer Vorzeichnung. Nicht die Existenz von Korrelaten behaupteter Sprachlosigkeit steht deskriptiv zur Diskussion, sondern die der Geschichte unseres Bewußtseins zugehörige Anstrengung, die Unsagbarkeit selbst sprachlich darzustellen. Ich habe das am Paradigma der >Sprengmetaphorik< beschrieben, die in der Tradition der mystischen via negationis auftritt, also in jenen Selbstdarstellungen der elementaren Verlegenheit jeder Theologie, über Gott unentwegt sprechen zu sollen, ohne über ihn etwas zu sagen sich zutrauen zu dürfen. Nikolaus von Cues hat daraus ein spekulatives Darstellungsmittel seiner coincidentia oppositorum gemacht. So erfand er die Sprengmetapher des Kreises, dessen Radius unendlich wird, wobei die Peripherie eine unendlich kleine Krümmung erhält, so daß Bogenlinie und Gerade zusammenfallen. Es wird eine Intentionalität der Anschauung überdehnt, um ihre Vergeblichkeit in ihr selbst auszusprechen, im Vorgriff zugleich die Zurücknahme des Übergriffs zu vollziehen. Es mag überraschen, für dieses prägnant mittelalterliche Aussagemuster noch moderne Belege zu finden. Georg Simmel hat in einem seiner Tagebuchfragmente einen bestimmten Aspekt am neuzeitlichen Geschichtsbewußtsein verdeutlicht, indem er Nietzsches Konzept von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zur Sprengmetapher abändert: Mir erscheint der Weltprozeß als die Drehung eines ungeheuren Rades, allerdings wie es die Voraussetzung der ewigen Wiederkunft ist. Aber doch nicht mit dem gleichen Erfolge, daß nun wirklich irgendwann das Identische sich wiederholte - denn das Rad hat einen unendlich großen Radius; erst wenn eine unendliche Zeit abgelaufen ist, also niemals, kann dasselbe wieder an dieselbe Stelle kommen - und doch ist es ein Rad, das sich dreht, das seiner Idee nach auf die Erschöpfung der qualitativen Mannigfaltigkeit geht, ohne sie in Wirklichkeit je zu erschöpfen. Man spürt nichts mehr von der >traurigen Notwendigkeit der Metaphern, von der der Aufklärer sprechen konnte. Auch ein verzweifelter Akt der Anstrengung, etwas bis dahin Ungesagtes und für unsagbar Gehaltenes auszusprechen - keinen Satz über einen Sachverhalt, sondern über die Totalität aller Sachverhalte -, kann ein unvergleichlicher Gewinn sein, den der Autor vielleicht unter dem Gebot des Verschweigens gesehen hat, obwohl ihm Paradoxa für die Doppeldeutigkeit des >Lebens< auch in seinen veröffentlichten Texten nicht fremd sind. Es gibt diese Grenzzone der 200
Sprache, in der Niederschrift Scham vor der Öffentlichkeit wäre, ohne daß der Anspruch, etwas wahrgenommen zu haben, zurückgezogen würde. Naturgemäß mußte eine das Thema >Leben< entdeckende Philosophie die frühen sprachlichen Erfahrungen des Heraklit abermals machen. Der Grenzwert des Mystischen ist in diesem Zusammenhang nur ein Erinnerungsposten an den Sachverhalt, daß Unbegrifflichkeit nicht kongruiert mit Anschaulichkeit. Es ist nicht richtig, daß der Mythos die Heimat der Anschauung vor der Odyssee der Abstraktion gewesen wäre. Der mythische Satz, alles sei vom Okeanos umgeben und stamme von ihm ab, ist schließlich nicht anschaulicher als der, alles sei aus dem Wasser entstanden. Beide haben ihre Schwierigkeiten, als Anweisungen an unser Vorstellungsvermögen ausgeführt zu werden. Dennoch ist diese >Übersetzung< des Thaies von Milet so folgenreich, weil da ein Satz auftritt, der als Antwort auf eine Frage genommen sein will. Das ist dem Mythos weitgehend fremd, auch wenn die Aufklärung ihn gern als Inbegriff naiver Antworten auf schon dieselben Fragen gesehen hätte, deren sich inzwischen die Wissenschaft mit unvergleichlichem Erfolg angenommen hatte. Um den Fallstricken der Mythentheorien wenigstens hier zu entgehen, versuche ich, einen der folgenreichsten Sätze mythischer Qualität, die je gebildet worden sind, näher zu betrachten, den der Apokalypse des Johannes: Der Teufel hat nicht viel Zeit. Da wir wissen, wie stark dieser Satz noch bis nahe an die Gegenwart heran bei erweckten Auswanderern gewirkt hat, wie Ernst Benz dargestellt hat, wird man dies auf Anhieb der Anschaulichkeit mythischer Sätze zuschreiben wollen. Aber diese Annahme hält der Prüfung nicht stand. Der apokalyptisch-visionäre Autor mochte ein Bild haben, wie der Teufel aussieht; der Leser muß es anderswoher nehmen, etwa aus seinen Erfahrungen mit der mehr als ein Jahrtausend späteren Malerei. Was es aber den Zeitgenossen bedeuten konnte zu erfahren, dieser Teufel habe nicht viel Zeit, das entzieht sich vollends der Anschauung: Zeit, welche Zeit? Die der Uhr, des Kalenders, der Geschichte? Viel oder wenig im Verhältnis wozu? Es ist erstaunlich, wie wenig Material zur Auffüllung der imaginativen Leere die Exegetik an diesem Satz erbracht hat. Trotzdem ist er kaum an die kulturellen Bedingungen seiner Herkunft gebunden; er ließe sich in jede beliebige Sprache mit einem anderen Namen übersetzen. Zugleich aber merkt man diesem Satz an, daß 20I
er das Weltgefühl verändern mußte. Er alarmiert auf mittelbare Weise, da er nicht dem Menschen das alte Lied sagt, er habe wenig Zeit, sondern dies von einem anderen behauptet, dem zugetraut werden kann, er werde das Äußerste aufbieten, um die ihm verbleibende Zeit zu nutzen und sie allen anderen nicht zu lassen. Es ist ein Einsatzmythos, der nicht einmal unsere Imagination in Umlauf setzt, sondern nur eine Formel für etwas ist, was sich begrifflich nicht hätte ausdrücken lassen: Die zum Unheil des Menschen entschlossene Macht steht ihrerseits unter dem Druck der Zeit. Was dann kommt, hat der Evangelist Lukas, wiederum in einem Einsatzmythos, als die Vision der abgelaufenen Frist ausgesprochen: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Im Dienst der Begriffsgeschichte hat die Metaphorologie die Verlegenheiten rubriziert und beschrieben, die im Vorfeld der Begriffsbildung, im Umfeld des harten Kerns klarer und deutlicher Bestimmtheit, auch in endgültiger Abseitigkeit zu diesem, auftreten. Eine historische Phänomenologie muß sich aber auch der Verfallsformen annehmen, die nach beim Wort genommener Rede als Verlegenheit vor dem realistischen Anspruch auftreten. Die theologische Christologie hat in ihrer Absetzung gegen Doketismen aller Art Stringenzen des Realismus erfunden, die bis dahin im Umgang mit Mythen und deren Allegoresen, mit Epiphanien und Metamorphosen beliebiger Unbestimmtheit ihres Ernstes, nicht bekannt, zumindest nicht rigoros formulierbar waren. Der Realismus der Inkarnation wandte sich empört ab von der gnostischen Zumutung, die Menschennatur sei von Gott bei seiner geschichtlichen Erscheinung nur durchlaufen worden, wie Wasser durch eine Röhre läuft. Der Hintergrund des unverbindlichen Umgangs mit Mythologemen erzwang die dogmatische Festschreibung eines Rigorismus der Endgültigkeit für die gottmenschliche Heilsunion. Aber schon die exegetischen Künste der Vervielfältigung des Schriftsinnes haben diesen Realismus aufgeweicht, und die Metapher ist die Sprachform des Ausweichens vor seinen strikten Anforderungen. Wer nicht die Krisensymptome des ausgehenden Mittelalters in der zunehmenden Metaphorisierung der theologischen Dogmatik betrachten will, kann diese Vermeidung von Schwierigkeiten an der Wiederholung der Metaphorisierung in unserem Jahrhundert nach der Phase der Überforderungen durch die dialektische Theologie studieren. Die Entmythisierung ist zu einem guten Anteil nichts 202
anderes als Remetaphorisierung: das punktuelle Kerygma strahlt auf einen Hof von Sprachformen aus, die nun nicht mehr beim Wort genommen zu werden brauchen. Der dogmatische Realismus hatte >verstanden<, was Auferstehung heißen sollte; als absolute Metapher für Heilsgewißheit ist das etwas, wovon man sagen kann, es bleibe besser unverstanden. Solche Zurückführung auf Unbestimmtheit gehört durchaus zu den Eigentümlichkeiten sakraler Texte, die durch die Abwehr banaler Wörtlichkeit überdauern, weil ihnen etwas zugetraut wird, ohne die Probe darauf zu machen, was es wohl sein könnte. Die Rückführung von Kirchensprachen auf das Umgangsidiom liefert jeden Text der Befragbarkeit widerstandslos aus. Um nicht aufs Lateinische abzustellen, frage ich, was aus den Chorälen von Paul Gerhardt würde, wollte man sie der Übersetzung vom Deutschen ins Deutsche ausliefern. Es ist die Kunst, nicht der sakrale Gehalt, was sie davor schützt. Die Metapher kann also auch Spätform sein. In der Wissenschaftsgeschichte ist dafür ein prägnantes Beispiel der Realitätsverlust des Molekularismus im 19. Jahrhundert. Denn dieser hatte doch seit Laplace unter der Erwartung gestanden, die Mikrostruktur der Materie werde sich als Wiederholung der Makrostruktur des Universums und damit als Anwendungsfeld der Dynamik Newtons erweisen. Der Molekularismus entsteht zu einem Zeitpunkt, der keine Aussicht auf eine empirische Auflösung des Problems der materiellen Mikrostruktur offenließ; er ist Ausdruck der ökonomischen Annahme, das Sonnensystem stelle das einfachste Bauprinzip aller physikalischen Systeme dar. Diese Hypothese hatte sich in der anderen Richtung, zur Klärung der Konstruktion kosmischer Übersysteme vom Typus der Milchstraße, schon als erfolgreiche und empirisch einholbare Projektion, als >kopernikanischer Komparativ<, erwiesen. Dadurch schien das identische Verfahren zur Unterwelt des endgültig Unsichtbaren hin die Vollstreckung eines einheitlichen Weltprinzips zu sein. Die Analogie ist der Realismus der Metapher. Die Zerstörung dieses Realismus der molekularen Sonnensysteme war zunächst das Werk des Positivismus und seiner Reduzierung aller physikalischen Fragen auf solche der reinen Analysis nach dem Muster der rationalen Mechanik von Euler und Lagrange; dann absurderweise der Großzügigkeit von Maxwell bei der Interpretation von Faradays >Kraftlinien<, dem Begreifen jede 203
Art von physikalischem Gleichnis freizustellen. Dies war seine Folgerung aus der Einsicht, daß die Forderung der Positivisten, eine wissenschaftliche Aussage dürfe nichts anderes als Differentialgleichungen enthalten und die Wirklichkeit sei selbst eine mathematische Struktur, der Realität nicht näher gekommen wäre als die Newton-Systeme der Molekularisten. Es handle sich nicht um antithetische Theorien, sondern um wechselnde Besetzungen des Platzes der Scientific Metaphor. Das menschliche Denken könne sich nur intermediär in der Sphäre reiner Positivität bewegen, jedenfalls nicht zufriedengestellt werden ohne die Einsetzung einer Metapher für die Symbolik des Kalküls. Unzweifelhaft war dieses Verfahren beherrscht vom Prinzip des unzureichenden Grundes. So wird wiederum Wittgenstein die Philosophie als beruhend auf der Bevorzugung von Gleichnissen, ohne zureichende Begründung für deren Wahl, beschreiben. Auf der Bevorzugung gewisser Gleichnisse beruhe überhaupt ein viel größerer Teil der Gegensätze unter Menschen als es den Anschein habe. Der Einwand, die Metaphorologie, erst recht eine Theorie der Unbegrifflichkeit, hätte es mit irrationalen Dezisionen zu tun, bringe den Menschen auf den Esel des Buridan, liegt nahe. Selbst wenn es so wäre, würde sie jedenfalls diesen Sachverhalt nicht erzeugen, sondern nur beschreiben. Dadurch aber, daß sie auf seine Genese zurückgeht und sie auf eine Bedürfnislage hin analysiert, wird etwas bewirkt, was ich die Rationalisierung des Mangels nennen möchte. Sie besteht darin, die Erwägung dessen, was wir als Erfüllung der Intentionalität des Bewußtseins leisten sollen, zu ergänzen durch die eher anthropologische Abwägung, was wir uns an Erfüllungen leisten können. In einem erstmals 1959 von H. Sembdner publizierten Fragment hat Kleist vorgeschlagen, die Menschen in zwei Klassen abzuteilen: in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Die sich auf beides verstehen, seien zu wenige, um eine Klasse auszumachen. Es sieht so aus, als stecke in dieser Typologie eine Alternative. Aber tatsächlich können wir auf Metaphern nicht ausweichen, wo Formeln möglich sind. Den Überfluß an Metaphern, die unsere Rhetorik produziert, können wir uns nur leisten, weil die Leistungsfähigkeit von Formeln unseren Spielraum bestimmt für das, was über die blanke Daseinssicherung hinausgreift, also auch für das, was uns Metaphern an I 204
Überschreitung der Formelhaftigkeit anbieten. Formeln gewährleisten vor allem, die Ausgangszustände von Prozessen mit beliebigen Endzuständen zu verbinden, ohne für das Zwischenfeld oder für die Totalität empirischer Gegenständlichkeit vorauszusetzen. Unbegrifflichkeit will mehr als die >Form< von Prozessen oder Zuständen, sie will deren >Gestalt<. Es wäre aber leichtfertig, darin das Angebot einer Entscheidung zwischen Anschaulichkeit und Abstraktion zu erblicken, die ohnehin nicht identisch sind mit Metapher oder Formel, Symbol oder Begriff. Hier bestehen gerade zur Anschauung komplexe und oft gegenläufige Beziehungen. Was Begriff und Symbol verbindet, ist ihre Indifferenz gegen die Anwesenheit dessen, was sie vorzustellen anweisen. Während der Begriff potentiell auf Anschauung tendiert und angewiesen bleibt, löst sich das Symbol in der umgekehrten Richtung von dem, wofür es steht. Es mag sein, daß die Fähigkeit zum Symbol aus der Unfähigkeit zur Abbildung entstanden ist, wie Freud es vermutet; oder aus der Magie mit ihrem technischen Bedürfnis, durch die Behandlung eines beliebigen Splitters einer Realität über diese selbst und als ganze zu verfügen; oder aus der Disposition zum bedingten Reflex, bei dem ein Begleitumstand des reellen Reizes die Reizfunktion selbst übernimmt und behält. Entscheidend ist, daß dieses elementare Organ des Verhältnisses zur Welt Abkehr von Wahrnehmung und Vergegenwärtigung ermöglicht als freie Verfügung über das Ungegenwärtige. Die Operabilität des Symbols ist, was es von der Vorstellung wie von der Abbildung unterscheidet: die Fahne repräsentiert nicht nur den Staat, der sich ihre Farbenfolge gewählt hat, sondern sie kann im Gegensatz zu diesem erbeutet oder geschändet, in der Stellung der Trauer oder des sportlichen Sieges gezeigt, zu Zwecken mißbraucht und zu anderen hochgehalten werden. Diese Fähigkeit zur Verkuppelung des Heterogenen hat erst spät begreifen lassen, was in der menschlichen Erkenntnis geschieht und daß sie nicht der naheliegenden, dann aber widerspruchsvollen Evidenz des Spruches Gleiches durch Gleiches unterliegt. Es mag die erste absolute Metapher der Philosophie gewesen sein, daß Heraklit das Denken als Feuer beschrieb, nicht nur weil Feuer das göttliche Element für ihn war, sondern weil es die Eigenschaft hat, ständig Fremdes aufzunehmen und in sich zu verwandeln. Die Atomistik hat das dahin mißverstanden, daß die Gestalt der Feueratome die Kugel sei, die alle anderen Atomgestalten in sich 205
enthalte und daher die Eigenschaften der Seele, zu bewegen und zu erkennen, am genauesten darstelle. Erst der Begriff des Symbols vorgeprägt durch den des Symptoms in der antiken Medizin - erlaubt zu erfassen, was in Wahrnehmung und Erkenntnis geschieht. Die sekundären Sinnesqualitäten bilden so wenig ab, was es als solches an der Sache nicht gibt, wie die äußeren Symptome die inneren Krankheiten; beide leisten nur wegen der Konstanz ihrer Verbindung zu dem, worauf sie verweisen, was sie leisten. Das Geld suchte durch Verbindung mit einer seltenen Materie den "Wert zu vergegenwärtigen, mit dessen Vorstellung es doch nur auf eine zuverlässige Weise, etwa die der staatlichen Verbürgung seiner Akzeptation, verknüpft sein muß. Aber das Symbol ist ohnmächtig, etwas über seinen Referenzgegenstand mitzuteilen. Dafür steht es für das Nicht-Abbildbare, ohne zu ihm hin zu verhelfen. Es hält die Distanz aufrecht, um zwischen Objekt und Subjekt eine Sphäre ungegenständlicher Korrelate des Denkens, die des symbolisch Darstellbaren, zu konstituieren. Es ist die Möglichkeit der Wirkung der bloßen Idee, der Idee als des Inbegriffs von Möglichkeiten, wie es die des Wertes ist. Oder die des >Seins<. Verstehen wir wirklich, was mit Heideggers fundamentalontologischer Frage nach dem >Sinn von Sein< gemeint war? Wir verfahren hier, wie bei jeder anderen Frage nach dem >Sinn<, indem wir uns mit einer Substitution behelfen. Etwa wenn wir nach dem Sinn der Geschichte fragen, ersetzen wir unvermerkt das Erfragte durch etwas anderes, indem wir dem Verlauf der Geschichte einen Zweck zuschreiben und diesen in einem alles Vorherige rechtfertigenden Endzustand des geschichtlichen Prozesses lokalisieren. Bei der Frage nach dem Sinn von Sein geht dies nicht, weil das Erfragte offenkundig keiner Veränderung unterworfen ist, zumindest solange es die >Seinsgeschichte< noch nicht gibt. Der Kunstgriff, der dann hilft, ist die Behauptung, die Frage brauche gar nicht erst auf dem Wege der Hinblicknahme auf ihren Gegenstand beantwortet zu werden. Vielmehr besäßen wir diese Antwort bereits, beständen sogar aus gar nichts anderem als dem Besitz dieser Antwort. Es wäre die nochmalige Steigerung der platonischen Anamnesis mit dem Unterschied, daß dieser Besitz sich nicht in Begriffen, sondern in der Struktur des Bewußtseins selbst und dem darin fundierten Verhalten manifestiert. Den Weg der platonischen Anamnesis über den Begriff vermeidet die Neufassung der Seinsfrage, indem sie Seinsverständnis zum Wesen des Daseins macht, 206
ohne sagen zu müssen, welche logische >Form< es hat. Unbegrifflichkeit ist hier, daß wir gründlich erfahren, welcher Art Seinsverständnis nicht ist. Dann kann die Antwort auf die Seinsfrage als das Radikal unserer Verhaltensweisen, als der Inbegriff ihrer Implikationen und deren Implikation gesehen werden. Deshalb ist das Sein des Daseins Sorge, die Implikation der Sorge die Zeit, die Implikation der Zeit das Sein. Eine solche Antwort bezieht sich auf keinen der Gegenstände, die wir kennen, auch nicht auf deren Gesamtheit als eine Welt wie die, in der wir leben. Daß Dasein In-der-Welt-Sein ist, bedeutet gerade, daß die Welt dieses In-Seins nicht aus >Gegenständen< besteht, aber auch nicht in Metaphern erfaßt werden kann. Es bedarf nur einer kleinen Zusatztheorie, um uns verständlich zu machen, weshalb dieser Besitz uns so lange und mit so verhängnisvollen Folgen verborgen bleiben konnte. Es ist das Zusatztheorem von der Uneigentlichkeit unserer Existenz; bei Heidegger hat es sich erst später zum Bestandteil seines Konzepts einer Seinsgeschichte umgebildet, die das zuvor Uneigentlichkeit Genannte als Episode der Seinsverborgenheit, besser: der Selbstverbergung des Seins, begreifen wollte. Als geschichtliches Verhängnis hat sie schlimmere Folgen denn die verfehlte Eigentlichkeit. Sie hat die Blindheit der wissenschaftlichen Vernunft für die Herkunft ihrer Möglichkeit in einem Weltverhältnis zum Fatum gemacht. Heidegger hat eine Gegnerschaft zwischen seine Seinsfrage und die positive Wissenschaftlichkeit gesetzt, die von tieferer Abgründigkeit sein soll als die zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Metapher und Formel. Doch gilt auch für dieses Verhältnis, was die Wertungsneigungen in diesem Felde nicht übersehen können, daß die Frage nach dem >Sinn von Sein< uns nur deshalb tangieren oder gar okkupieren kann, weil die Frage nach den Bedingungen des Daseins dadurch weder entschieden noch auch nur beeinflußt wird. Zunächst hatte der Kunstgriff, die Antwort auf die Seinsfrage als immer schon gegebene anzunehmen, eine Verklammerung zwischen dem Dasein und dem, wonach es dabei fragt, vorausgesetzt. Aus ihr resultiert eine so konstitutiv ungegenständliche, ebenso lebenslang wie lebenstief bestehende Koppelung von Dasein und Sein, daß jenes den Typus des Symbols für dieses, oder besser: den der Begründung aller Symbole, annehmen konnte. Was ich >Impli207
kation< als das Schema des methodischen Zusammenhangs von Daseinsanalytik und Ontologie genannt habe, ist zugleich ein Verbot von Metaphorik, auch der absoluten Metapher. Metaphorisch kann sich nichts >darstellen<, wenn alle elementaren Verhaltensweisen zur Welt ihre ursprüngliche Ganzheit in der Sorge haben, deren ontologischer Sinn in der Zeitlichkeit liegt, und wahrscheinlich diese wiederum der entfaltete Horizont einer letzten Radikalität ist, deren Benennung beliebig austauschbar sein darf. Für sie galt striktes Metaphernverbot; die Sprache der >Seinsgeschichte< belegt, daß es nicht einzuhalten war. Ein Metaphernverdikt gilt auch für das, was mit dem Ausdruck >Freiheit< bezeichnet wird. Weil sie nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft erschlossen werden könne, sagt Kant, sei Freiheit eine Idee. Nicht nur von der Realität der Freiheit gibt es keine Erfahrung, sondern auch zu ihrer Idee keine mögliche Veranschaulichung. Für sie allein wird von Kant ausdrücklich die Möglichkeit der Symbolisierung - in dem Sinne, in dem er den Begriff des >Symbols< nahe dem der absoluten Metaphorik gebraucht - bestritten, weil ihr selbst niemals nach irgendeiner Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag. Doch die Gefahr einer absoluten Metaphorik für die Idee der Freiheit ist bei Kant selbst erkennbar und in ihren schwerwiegenden, notwendig irreführenden Folgen ablesbar an der Einführung des transzendentalen Handlungsbegriffs. Sie legt es nahe, alles für Freiheit zu nehmen, was als transzendentale Handlung des Verstandes dargestellt werden kann. Kant hat die Synthesis der transzendentalen Apperzeption als Verfahren des Verstandes, die Kategorien als dessen letztinstanzliche Regelung dargestellt. Darf das, mit Rücksicht auf den Handlungsbegriff der Theorie der praktischen Vernunft, schon oder noch >Handlung< genannt werden? Die Theorie der praktischen Vernunft darf und muß die Identität eines Subjektes voraussetzen, das Bedingung aller möglichen Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit ist; die Theorie der theoretischen Vernunft darf dies nicht, sie zeigt gerade die Identität des Subjekts in statu nascendi. Der Verstand ist nicht das Subjekt, welches sich in seinen Handlungen eines Verfahrens bedient, sondern er ist nichts anderes als der Inbegriff dieses geregelten Verfahrens. Nimmt man die sprachliche Sonderung des Verstandes von solchen >Handlungen< beim Wort, so wird die ganze Kritik der Vernunft, nicht nur die der praktischen (welche als solche natürlich auch theoretisch ist), praktisch. 208
Wenn dann alles praktisch ist und nichts mehr theoretisch, sind zwar alle beruhigt, aber nicht belehrt. Es ist für das Verständnis von Freiheit als dem Bedingungsgrund der Moralität nichts gewonnen, wenn man erfährt, daß >schon< die Synthesis der Vorstellungen Handlung des Verstandes sei. Dieses Mißverständnis ist jedoch älter als seine neueren Erfinder glauben; es gehört schon in Simmeis viel bewunderte Kant-Interpretation und nachfolglich dieser in den Versuch seiner Geschichtsphilosophie, daraus etwas gegen den deterministischen Historismus zu gewinnen. Der Mensch würde dann in Freiheit oder mehr Freiheit seine Geschichte >machen<, weil die Synthesis seiner Vorstellungen >Handlung< seines Verstandes wäre. Dies ist nur die Irreführung einer absoluten Metapher, die beim Wort genommen wurde.
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Im Fliegenglas Nach neuen Schätzen wühlen wir, wir neuen Unterirdischen... Nietzsche, Dionysos-Dithyramben (Fragment) Die Philosophie der Neuzeit ist auch dort, wo sie von Triumphen des menschlichen Geistes zu handeln scheint, weithin eine Beschreibung von Gefangenschaften. Kants »Kritik der reinen Vernunft« gibt den Grundriß der Einsperrung: Theoretische Erkenntnis bleibt auf Erscheinungen eingeschränkt, jeder Ausblick der Vernunft über deren Grenzen versagt. Verglichen mit den Erwartungen aller vorhergehenden Jahrhunderte der Philosophie - zumal mit denen des deutschen Leibniz-Jahrhunderts - war dies bei Zusicherung neuer Gewißheiten eine enttäuschende Zurückweisung in die Höhle der eigenen Gesetzlichkeit bloßer Erscheinungen. Die dabei gewonnene Sicherheit war keine andere als die, daß einer in Schutzvorrichtungen gegen ein äußeres Unbekanntes auf der Enge des abgeschirmten Raumes zwar gefangen, dafür jedoch in Exaktheit geborgen und auf Vorsorge eingerichtet ist. Die Kritik der Vernunft war nur der Höhepunkt des Anfangs einer Serie von Mitteilungen über die Minimalität und Enge des menschlichen Anteils an Raum und Zeit: Hiobsposten von der Art des kulturellen Relativismus, der moralischen Einsamkeit der ethnischen Provinzen bis hin zu der des Individuums, des Historismus, der evolutionären Episodizität, der hermetischen Trennung des Ich von seiner neuen Unterwelt wie Überwelt. Schließlich und am härtesten die Reduktion der Vernunft auf die kontingenten Voraussetzungen der ihr zugewachsenen Sprache. Auch dies mag das letzte Wort der Fatalität noch nicht sein. Dann ist es so verwunderlich nicht, wenn Imaginationen von Innenräumen als Daseinsaufenthalten des Menschen aufkommen, die charakterisiert sind durch Unüberschreitbarkeit ihrer Wandungen, durch Fensterlosigkeit und Künstlichkeit ihrer Beleuchtungen, durch narrende Scheinhaftigkeit ihrer Zugänge wie Ausgänge. Ein Spezialist für solche Gefangenschaften wird Ludwig Wittgenstein. Seine Affinität zum Bildfeld der Höhle - ohne Benennung und Umriß des Mythos je zu erwähnen - findet 210
im Prozeß seiner denkerischen Wandlungen reichliche Ansatzpunkte. Der früheste Beleg für solche nicht aus Bildungsrelikten kommende Affinität findet sich in einem Brief, den Wittgenstein am 25. März 1913 aus Wien an seinen Lehrer Bertrand Russell schreibt: Immer, wenn ich über die Logik nachzudenken versuche, sind meine Gedanken so vage, daß ich niemals etwas herauskristallisieren kann. Was ich empfinde, ist der Fluch aller, die nur ein halbes Talent haben; als ob man von jemandem mit einem Licht durch einen dunklen Gang geführt würde, und gerade wenn man in der Mitte ankommt, geht das Licht aus, und man ist allein gelassen.1 Russells Antwort kennen wir nicht. Wäre sie auf das gewählte Gleichnis eingegangen, hätte sie darauf hinweisen müssen, es gelte noch immer der am Anfang der Neuzeit von Descartes für die Verirrten im Walde beispielhaft gegebene Rat: entschlossen nur geradeaus zu gehen. Chronologisch ist immerhin noch ein anderer Zusammenhang möglich: Wittgenstein hätte sein Gleichnis mit dem offenen Schluß in der Höhlengangsmitte als Kontrafaktur zu einer Aktualisierung der cartesischen Imagination erdacht haben können, die gerade zwei Monate zuvor durch einen Vortrag von Otto Neurath vor der Philosophischen Gesellschaft an der Wiener Universität erfolgt war. Der Vortrag hatte den Titel »Die Verirrten des Cartesius und das Auxiliarmotiv«. Daß Wittgenstein diesen Vortrag am 27. Januar 1913 gehört haben könnte, ist unwahrscheinlich, weil sein Vater am 20. Januar gestorben war. Um so wahrscheinlicher ist, daß ihm davon berichtet wurde. Er könnte dann auf eine imaginative Bestimmung der verlorenen Situation gesonnen haben, die nicht durch die Eindeutigkeit des cartesischen Rates aufzulösen war, sondern 1 Wittgenstein, Briefwechsel, ed. B. F. McGuiness/G. H. von Wright. Frankfurt 1980,27. - In einem früheren Brief an Russell aus dem Sommer 1912 hatte er für seinen >Zustand< Goethes Allegorie der >Sorge< aufgegriffen, um die Beschäftigung mit WilliamJames'»Varietiesofreligious expérience« (1902) zu beschreiben: £5 hilft mir nämlich, glaube ich, mich von der So rge freizumachen (Sorge in dem Sinne, in dem Goethe das Wort im zten Teil des Faust verwendet). (Briefw. 18) Noch in demselben Sommer scheint er das Bedürfnis zu haben, Russell durch genaue Anschrift und das vollkommen irdische Schreibpapier zu versichern, daß ich nicht in der Hölle bin. Der mit diesem als erstem Satz begonnene Brief hat als letzten - und das macht seine Spanne wie die Lebensspannung des Schreibers empfindbar -: Es gibt nichts Wunderbareres auf der Welt als die wahren Probleme der Philosophie. (Briefw. 19 f.) 211
die Alternative von Durchbruch oder Rückgang, Entschlossenheit oder Reflexion enthielt.2 Doch gehört zur Entscheidbarkeit, ob der lichtlos Verlassene auch weiß, daß er die Mitte des Dunkelgangs erreicht hat. An die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit dem Vortrag von Otto Neurath zu denken, ist für Späteres nicht ohne Reiz. Neurath sollte nach einem Jahrzehnt der Namengeber und Projektmacher des Wiener Kreises< werden, der sich aus den erregten und unschlüssigen Diskussionen um den »Tractatus« bildete und seinen lange unerwiderten Bezug auf den im Hinterwald fast verschollenen Wittgenstein nie ganz aufgab. Sollte Wittgenstein am Jahresanfang 1913 - als er über den Tod des Vaters an Russell geschrieben hatte3, er glaube, dieser Tod war ein ganzes Leben wert - von Neuraths Herübernahme des Gleichnisses von den Verirrten im Walde Kenntnis erlangt haben, mußte er wohl Anstoß nehmen an einem Ausgleich des Orientierungsverlustes, der gerade nicht die theoretische Situation gemeint hatte; vielmehr des Status der provisorischen Moral, die auf theoretische Vorleistungen abschließender Geltung angewiesen sein sollte, um ihrerseits >definitiv< werden zu können. Neurath hatte Descartes widersprochen und es zu seinem Grundirrtum erklärt, daß er nur für das praktische Verhalten provisorische Regeln nicht entbehren zu können geglaubt hatte, während seither einsichtig geworden sei, daß auch das Denken provisorischer Regeln in mehr als einer Hinsicht bedürfe. Wittgenstein konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, wie er sich dieser Position über ein ganzes Leben hinweg annähern würde: bis hin zur Ausschaltung der Frage nach der beweisbaren Widerspruchsfreiheit logisch-mathematischer Aussagensysteme. Im März 1913, als er über die Logik nachzudenken versuchte, mußte ihm jedenfalls die Übertragung der Verirrtensituation auf den Theoretiker als Verharmlosung erscheinen. So schuf er - gleichgültig, ob mit oder ohne Kenntnis von Neuraths Vortrag - die unterirdische Verirrung mit dem offenen Schluß möglicher Tragik 2 Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, ed. R. Haller/H. Rutte. Wien 1981,159. - Der Untertitel der Publikation des Vortrags im »Jahrbuch der Philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien« (1913, 45-59) verdeutlicht, daß es nicht um das Provisorium einer >Moral< ging: »Zur Psychologie des Entschlusses«. 3 Wittgenstein, Briefwechsel, 26. 212
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bei Verkennung der Alternative von Fortgang oder Rückkehr, auch ohne Licht. Wittgenstein ist sich, nebenher erwähnt, erst sehr lange nach diesem frühesten Beleg dessen bewußt geworden, in welchem Ausmaß sein Philosophieren mit dem Gelingen oder Mißlingen von Gleichnissen in einem Zusammenhang stand, der von anderer als. nur didaktisch-rhetorischer Natur war. In einem Brief an G. E. Moore, den Verfasser der »Principia Ethica«, gibt er das mit Ironie gegenüber dem möglichen Verächter dieser Art von Undeutlichkeit zu verstehen: Wie Sie sehen, mache ich immer noch schöne Gleichnisse. Doch war er sich schon in den »Philosophischen Bemerkungen« sechs Jahre zuvor (und erst postum erschienen) darüber klar, daß Gleichnisse nicht nur von Gefangenschaften reden, sondern es auch sind. So bei der Gleichniswahl für das Gedächtnis als Zeiterfahrung und als Bildbewahrung mittels des Verhältnisses von Filmstreifen und Einzelbild: Wir haben eben ein Gleichnis gehraucht, und nun tyrannisiert uns das Gleichnis. In der Sprache dieses Gleichnisses kann ich mich nicht außerhalb des Gleichnisses bewegen.* Der Höhlengang mit dem verlöschenden Licht könnte einem Angsttraum entstammen. Noch hat Wittgenstein nicht erkannt, daß jede Art von Theorie vomTypus des Lebens selbst ist: Alle Warnungen, sich auf dessen Risiken einzulassen, kommen jederzeit schon zu spät. Die Faszination der klassischen Ratschläge, sich des Urteils zu enthalten und in stoischer Ruhe auszuharren oder immer wieder zu den Anfängen zurückzukehren und sich mit besseren Leuchten fürs nächste Mal auszurüsten, hat nachgelassen und läßt weiter nach. Für den Blick auf den späten Wittgenstein illustriert sein frühes Gleichnis die Verhaltensweise, auf einem Weg auch dann weiterzugehen, wenn die Warnungen vor Paradoxien, die Drohungen von Widersprüchen unüberhörbar geworden sind. Dabei ist unverkennbar die Angst vor letzten Ungewißheiten die philosophische Grunderfahrung. Ihr ist anstelle der Vergeblichkeit letztbegründender Sicherungen nur mit dem blanken Trotz einer mühsam zurückgewonnenen Unbefangenheit zu begegnen, die dennoch nichts Gutes verspricht. Nur sucht der Theoretiker sich 4 An G. E. Moore, etwa Oktober 1936 (Briefe, 200). - Philosophische Bemerkungen V § 49 (Schriften II82). Das Vorwort ist datiert »November 1930«, die Erstausgabe durch Rush Rhees erschien in Oxford 1964 und gleichzeitig in Frankfurt 1964. 213
diese Proben nicht als Anlässe für eine heroische Attitüde selbst aus, weil Theorie in ihrer Lebensbindung nicht die beliebige Wahl unter Möglichkeiten ist. Wie bei den Verirrten im Walde stellt sich auch hier die Frage nach dem Anfang nicht: Was tut da einer in einem dunklen Gang mit einem Licht? Mitten wir im Leben sind/mit dem Tod umfangen, ließ im ausgehenden Mittelalter der Choral die Christen bedenken. Man kann leicht die zweite Verszeile weglassen, um die ganz unfromme Wahrheit zu bekommen, daß wir schon auf einem der Wege im Wald oder im Höhlengang sind, wenn wir uns unserer Lage überhaupt bewußt werden. Die Logik, von der Wittgenstein als der Antreiberin in die ausweglose Lage spricht, erweist sich dann nur als das Präparat für eine eher professionelle Daseinsverfassung. Es war nicht die Logik, die den dunklen Gang betreten ließ. Doch ist sie es, die mit ihrem Licht in dessen Mitte den Höhlengänger verläßt. Ihr Licht reicht nicht für den ganzen Gang, für das Unmaß an Dunkelheit. Doch erfährt dies keiner, der nicht die Erhellung und das Verlöschen inmitten des Weges erfahren hat. Ich erinnere an die vielen, niemals aufgegebenen Erwartungen, es könne und werde den Übergang von der bloßen Regulation des Denkens zur Verpflichtung auf >das richtige Denkens von der Logik zur Moral also, geben: Erst etwas Propädeutik, da leuchtet es noch hell, dann die >Orthot(h)ermik< der Begriffe, wo das Lichtlein zu flackern beginnt, schließlich die Schwelle der Ethik, vor der es erlischt. Bei der Bewertung der Möglichkeiten, die dann bleiben oder sich ergeben, versagt die logische Orientierung. Sie ist kein autonomes Instrument, sich in der Welt zurechtzufinden. Sie leistet nicht die Übergänge, weil ihr Realitätsbezug nicht auf dem Niveau von Ethik und Erkenntnis liegt. Sie ist realitätsunbezogen. Nietzsche hat das so ausgedrückt: Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen. Dies ist weder die Anweisung zum Durchhalten und Durchgang noch zur Umwendung und Rückkehr aus der Höhlenausgangsmitte.5 Es ist die 5 Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches Ι ι § 31 (Gesammelte Werke, Musarionausgabe, VIII 47). Daß der dunkle Gang als unterirdischer zu denken ist, läßt sich aus den 1956 edierten »Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik« (Schriften VI 112) erschließen, wo von den mathematischen Rätselfragen< Respekt abwehrend die Rede ist: Sie werden gestellt, weil sie 214
Bestimmung der Unmöglichkeit des Verweilens im Vollzug der Logik. Der dunkle Gang des Jahres 1913 ist objektiv kein Gefängnis. Er wird es subjektiv durch die Unentschiedenheit des Lichtverlassenen zwischen seinen Optionen des Weitergehens und Umkehrens, die ihn wie Buridans Esel zwischen zwei Lebensmöglichkeiten zugrunde gehen lassen könnte. Die Beziehung jeder Philosophie auf eine Ausgangslage der Gefangenschaft hat Wittgenstein erst viel später mit einem seiner katechismusförmigen Kurzdialoge auf die Metapher gebracht: Was ist dein Ziel in der Philosophie? - Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigend Über die Aussichten auf Erreichung des so veranschaulichten Ziels sagt die Metapher nicht mehr, als daß es den Ausweg geben könnte. Ihn passierbar zu machen, läßt Wittgenstein in dem auf Januar 1945 datierten Vorwort zu den seit 1929 entstandenen »Philosophischen Untersuchungen« mit einem Satz von düsterer Depressivität offen: Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit beschieden sein sollte, Licht in ein oder das andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich nicht wahrscheinlich7 Wie er auf seine Parabel gekommen war, mit welcher Beiläufigkeit sie aufgenommen und wie wenig Allgemeingültigkeit ihr zunächst abgewonnen ist, wird überraschend ablesbar an den etwa gleichzeitig mit den »Untersuchungen« entstandenen »Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik«. Es geht um die Vorstellung eines gestalttheoretischen Legespiels: Eine Figur soll aus ihr ganz unähnlichen Figuren zusammengesetzt überraschen; das ist ihr ganzer Sinn. Man solle nicht glauben, es sei da etwas verborgen, das der Einsicht entzogen bleibt - und nun im Irrealis: - als seien wir durch einen unterirdischen Gang gegangen und kämen nun irgendwo ans Licht, ohne aber wissen zu können, wie wir dahin gekommen sind, oder welches die Lage des Eingangs zum Ausgang des Tunnels sei. Wie aber konnte man denn überhaupt in dieser Einbildung sein f Was gleicht in der Rechnung einer Bewegung unter der Erde f Was konnte uns denn dieses Bild nahelegen? Ich glaube: daß kein Tageslicht auf diese Schritte fällt; daß wir den Anfangsund Endpunkt der Rechnung in einem Sinne verstehen, in dem wir den übrigen Gang der Rechnung nicht verstehen. 6 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I 309 (Schriften I 407). 7 Philosophische Untersuchungen. Vorwort (Schriften I 286f.) - Geschrieben im Januar 1945, bestimmt das Vorwort den Zeitraum der Untersuchungen als in den letzten 16 Jahren, die Resignation des Autors beim Abschluß mit dem Irrealis: Ich hätte gerne ein gutes Buch hervorgebracht... die Zeit ist vorbei, in der es von mir verbessert werden könnte. Immerhin hätte er noch bis zum 27. April 1951 Zeit gehabt. 215
werden, etwa ein Rechteck aus vier Dreiecken. Ist die Lösung der Aufgabe gelungen, erstaunt man über den unerwarteten Durchbruch zu einer Konfiguration, an die zu denken die vorgegebenen Elemente nicht zugelassen zu haben schienen. Das Ergebnis liegt außerhalb des Umkreises sich anbietender Lagerungen der Teile, ihrer Führung oder Verführung zu optischen Präsumtionen: Es ist gleichsam diese Lage aus dem Raum ausgeschlossen. Als wäre hier ein Minder Fleck<, etwa in unserm Gehirn.8 Der Rückblick verändert das plane Gleichmaß der Anordnung von Möglichkeiten; er laßt es so aussehen, als sei man durch eine Art von Verhexung an der Lösung vorbei oder über sie hinweg gegangen. Der Raum selbst führt von der Lösung weg oder um sie herum. Diese Exteriorität faßt Wittgenstein in die Überspitzung der rhetorischen Frage, ob nicht die Lösung die Geometrie dessen ändere, der die Begrenzung seiner Möglichkeiten durchbrochen haben mußte, um sie finden zu können. Dabei zeigte sich ihm gleichsam eine neue Dimension des Raumes. Um diesem Ablauf des Gedankenexperiments den Anschein rationaler Normalität zu nehmen, wird die Grenzfallsfigur des >Dämon< bemüht, der für den gegebenen Fall die Funktion des cartesischen genius malignus annimmt. Von einem solchen muß die als Lösung zu findende Lage der Teilfiguren mit einem Bann umzogen und aus unserm Raum ausgeschlossen worden sein. Abstrakter - und ohne koboldische Bosheiten zu bemühen - überträgt Wittgenstein das Exempel in den nahezu metaphysischen Satz: Die neue Lage ist wie aus dem Nichts entstanden. Dort, wo früher nichts war, dort ist jetzt auf einmal etwas. Dabei ist nur aus dem Ungekonnten ein Gekonntes geworden. Merkwürdig ist, daß der Herkunftsseite der Aufgabe keine Beachtung geschenkt wird. Die Überraschung angesichts der unverhofften Lösbarkeit hat doch ihren Grund eher in der Tücke dessen, der durch Auflösung der Figur eines Rechtecks in Dreiecke das Problem >hergestellt< und sich dabei sowohl auf die ihm bekannte Lösbarkeit als auch auf die Erschwerung durch die spezifi8 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik I 45 (Schriften VI 56). Über Dämonen und Engel bei Wittgenstein ist noch nicht geschrieben worden. Durch sie werden Vertracktheiten wie Lizenzen in Gedankenexperimenten erzeugt, vor allem imaginäre Räume wie Kavernen im logischen Raum< des »Tractatus«. Der Grenzbann der Sprache hat ein eher Impersonales Subjekt. 216
sehe Disparität der Partikel verlassen hatte. Denn logische Priorität hat die analytische Fassung der Aufgabe, ein Rechteck in vier gleiche, doch nicht-rechteckige Teile zu zerlegen. Der vermeintliche Dämon steckt also in der Geschichte, die solche Aufgaben haben, und in der Erfüllbarkeit ihrer Funktion, durch Verzögerung der Lösung den Verstand anzuspannen, der intentionalen Natur des Bewußtseins Genüge zu verschaffen. Es wird Zeit verbraucht und zugleich durch die Befriedigung am erreichten Können der Zeitverlust gerechtfertigt. Insofern ist die Harmlosigkeit des Beispiels vordergründig. Was man zu bemerken verfehlen würde, stände nicht in eben diesem Zusammenhang das schon vertraute Fliegengleichnis: an den Schluß der Notiz vor dem Auftauchen des Dämons und des Nichts gerückt und in Klammern gesetzt. Jeder Hinweis auf Allgemeingültigkeit für die Philosophie fehlt. Dafür wird durch den Bezug auf die Anisotropie des Raumes die Bedeutsamkeit der gläsernen Gefangenschaft noch gesteigert, obwohl die Anwendbarkeit unbestimmt bleibt. Für Wittgensteins Gleichnisse bezeichnend ist das auch hier vorliegende tertium comparationis: Die Öffnung ist jederzeit frei wie die Lösung der Aufgabe, nur wird diese wie jene übersehen, und zwar infolge struktureller Doppeldeutigkeit des Gegebenen. Insofern ist der >Dämon< so wenig ein Betrüger wie der Fliegenfallensteller. Zu Recht heißt es von der Lösung der Aufgabe, daß sie etwas >zeigt<, aber nicht etwas, was sie vorher verborgen oder verfälscht hätte. Sie macht aufmerksam auf< gleichsam eine neue Dimension des Raumes - und eben darauf folgt die eingeklammerte Erläuterung: Wie wenn man einer Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigte. Schon in der Sprache des »Tractatus« war >Raum< eine Metapher für die Bedingungen gewesen, unter denen Sachverhalte und Sachlagen vorkommen: Jedes Ding ist, gleichsam, in einem Raum möglicher Sachverhalte. Diesen Raum kann ich mir leer denken, nicht aber das Ding ohne den Raum.9 Der unbestimmte Artikel enthält 9 Wittgenstein,Tractatus logico-philosophicus 2.013 (Schriften 112). -Wittgensteins >Denkart< ist von der Metaphorik räumlicher Verhältnisse beherrscht und genügt darin den Anforderungen zeitgenössischer Autoren, die des Primats zeitlicher Anschauung in der Philosophie überdrüssig sind - also in Namen ausgedrückt: Wittgenstein für das geeignete Antidot auf Heidegger halten müßten. Fraglich ist allerdings, ob man hier vor einer >nach Geschmack entscheidbaren Alternative steht. Schließlich hatte sich die Phänomenologie lange vor Heideggers Folgerungen ihrer Evidenz des Zeitprimats 217
schon die Aussicht darauf, daß es einen einzig-absoluten Raum in dieser Metaphorik nicht geben müsse. Das ist in der Tat die Konsequenz, die zur Pluralität der Sprachen hinführt. Im Vorwort zum 1921 erstmals erschienenen »Tractatus«, das auf 1918 datiert ist, werden die philosophischen Probleme, die das Buch behandeln solle, dem Mißverständnis der Logik unserer Sprache zugeschrieben. Das daraus zu folgernde Postulat jedoch, dem Denken eine Grenze zu ziehen, wird zurückgewiesen, weil dieser Anspruch voraussetze, wir müßten beide Seiten dieser Grenze denken können - dann aber denken können, was sich nicht denken läßt. Die Grenze, die dennoch zu ziehen sein könnte, müsse also nur in der Sprache gezogen werden können.10 Die Folgerung ist eine neue Form von Piatonismus, indem eine Sprache der Inbegriff des in ihr Denkbaren wird. Ihr Besitz wäre dann so etwas wie das Resultat der Geschichte des jeweils Gedachten. Das wirft schon der erste Satz des Vorworts dem Leser vor, sofern dieser Zweifel an seinem Begreifen bekommen würde: Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind - oder doch ähnliche Gedanken - schon selbst einmal gedacht hat. Das liest sich wie schiere Freundlichkeit, ist aber die Paratheorie, die den, der Widerstand spüren und zeigen sollte, selber daran schuld sein läßt. Wenn Denken seinen Raum in den Grenzen der Sprache hat, kann die Möglichkeit von Unverständnis und Mißverständnis nur auf deren Pluralität, also auch auf der Vielheit der Räume, beruhen. Wenn jeder nur verständnislos gegen die Grenzen seiner Sprache anrennen kann wie die Fliege im Glas, bedarf es zur Wahrnehmung und Durchbrechung von Grenzen einer dem Gefüge der Räume als dem System zugelassener oder ausgeschlossener Lösungen zufür die Deskription des Bewußtseins beugen müssen. So weit war nicht einmal Kant gegangen, der niemals endgültig das Fundierungsverhältnis von Zeit und Raum festzustellen vermochte. Mit dem eindeutigen >Resultat<, das der »Kritik der reinen Vernunft« als nur partielles Vorkommen des äußeren Sinnes im inneren trotz beiderseitiger Newtonscher >Absolutheit< zugrunde liegt, muß schon die zweite Auflage brechen, um den >Idealismus< widerlegbar zu machen: durch Nachweis der Abhängigkeit der Zeitanschauung in ihrer Bestimmtheit von der Raumanschauung als der Bedingung für die Wahrnehmung bewegter Körper (als Zeitmesser). Wer diese Veränderung der Sachlage nicht wahrgenommen hat, sollte sich die Optionspräferenz noch einmal überlegen. 10 Tractatus. Vorwort (Schriften 111). 218
geordneten Position. Deshalb ließe sich die Philosophie im Spätwerk bestimmen als die Instanz, die der Fliege den Weg aus ihrem Glasgehäuse weisen kann - dem Dämon zuwider, der es ihr verordnet zu haben scheint. Es gibt keine >Vorgeschichte< der Fliegenglasparabel bei Wittgenstein, die >Einflüsse< nachweisbar werden ließe. Im Vergleich zu ihrer Signifikanz für die immanente Geschichte seines Denkens wäre das'auch herzlich uninteressant. Nicht ganz so belanglos ist der Nachweis anderweitigen Vorkommens für die in jedem Zeithorizont bestimmter Ausdrucksmittel zu stellende Frage, wie nahe oder fern sie der Einbildungskraft der Zeitgenossen lagen, welche Griffbereitschaft ihnen zukam. Für das Fliegenglas mögen das zwei Belege erläutern. Paul Yorck von Wartenburg, dem die werdende Lebensphilosophie die Paradoxie der ^Transzendenz des inneren Lebens< zu verdanken hatte und der mit seinem Begriff der Geschichtlichkeit als eines ontologisch überhöhten Historismus gegen Ende des Fragments von Heideggers »Sein und Zeit« drei Jahrzehnte nach seinem Tod zur Apotheose geführt wird11, hat in einem unvollständig überlieferten Brief an Wilhelm Dilthey aus dem Herbst 1893 seine wissenschaftliche Lebensunlust - manifest an der Unvollendbarkeit seines Werkes und an seiner Ohnmacht angesichts des ihn umgebenden Unverständnisses - mit der Metapher von Fliege und Glas beschrieben: Wissenschaftlich bin ich noch immer tot. Ich spüre keine Lust, wissenschaftliche Bücher in die Hand zu nehmen. Das Denken bewegt sich im Zirkel und die Leute erscheinen mir wie die Fliegen, die immer wieder an die Glasfenster sich stoßen, bei dem Versuche hinaus und weiter zu kommen.12 Objektiv scheint diese Lage nicht hoffnungslos zu sein: es müsse eben einer das Fenster aufmachen. Subjektiv jedoch lähmt die beschriebene Situation gerade den, der sich selbst meint, wenn er von einem spricht, der dies tun müßte; meinte er nicht sich selbst, hätte er nicht versäumt, dem Adressaten des Briefes dies zuzutrauen und zuzumuten, ihn dazu zu ermutigen. Statt dessen endet die 11 Heidegger, Sein und Zeit. Erster Teil, zweiter Abschnitt, fünftes Kapitel §77- . 12 Karlfried Gründer, Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen. Göttingen 1970,356. Gründer charakterisiert die Beziehung des einschlägigen Textes zu Wittgensteins »Philosophischen Untersuchungen« zurückhaltend als ein >Vor-Spüren<. 219
Phrase von der Öffnung des Fensters für die Fliegen mit dem resignierenden Nebensatz: ... wozu aber viel Arbeit und Muße gehörte. Mit leichterer Hand hat ein Jahrzehnt nach dem Grafen Yorck der philosophisch unverächtliche Morgenstern die von Wittgenstein nicht wahrgenommene, jedenfalls nicht ausgesprochene Beziehung zwischen dem Glasverhältnis der Fliege und Kants Hiatus der Erscheinung zum Ding an sich hergestellt: Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das hartnäckige. Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster. Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die unerbittliche Scheibe etwas anderes als - Durchsicht. Schwerer war die Hand des weniger weltfreundlichen Aphoristikers Emile Michel Cioran, als er die Fatalität der gläsernen Trennscheibe des Zuschauers so befragte: Woher kommt es, daß die Durchsichtigkeit einer Glasscheibe uns derartig vom Leben trennt? Im Grunde entfernt uns ein Fenster weiter von der Welt als eine Gefängnismauer. Durch vieles Beobachten des Lebens vergessen wir es schließlich.^ Das ist ein anderer Realitätsentzug als jener der Höhleninsassen: Die Fliege im Glas, der Zuschauer hinter der Scheibe, sie sehen keine Schatten, keine Abbilder, sie sind nur am Vollzug der urtümlichsten Realitätsbeziehung gehindert, am >Gebrauch< des Tastsinnes. Die Grenze wird ertastet, nicht die Sache. Deshalb ist vor lauter Zuschauen das Vergessen so naheliegend. Das Glas ist die Metapher einer Reduktion, die die >Sachen< dastehen läßt, als gehörten sie nicht zu der einen Welt. Aber auch der Zuschauer vergißt dies, weil er dem Schmerz entgeht, der die Zugehörigkeit zur Welt indiziert. Nicht der Mensch, nur die Fliege ist so töricht, sich an der Glaswand zu stoßen, weil sie nicht zum Verzicht fähig ist, den das >reine< Zuschauen zur Bedingung hat. Weil sie die >Reduktion< nicht akzeptiert, ist sie Gefangene, unfrei von der >Existenz<, unfähig zum >Wesen<. Doch kann dies die letzte Belehrung des Philosophen aus dem Gleichnis sein? Seiner scheint es nur noch zu bedürfen zur Erhebung des aller Illusion abholden Befundes, nicht mehr als Wegweisers zum Ausgang. Allerdings, die Differenz von Zugang und Ausgang ist nicht beiläufig; an ihr hängt alles, was zwischen Kant und Wittgenstein sich zur Schärfe einer 13 Christian Morgenstern, Werke. Jubiläumsausgabe 1979, III199. - Ε. Μ. Cio ran, Von Tränen und von Heiligen. (Bukarestx 1937; Paris 21986) Dt. Frankfurt 1988, 72. 220
die bloße Erkenntnistheorie übersteigenden Problematik erhoben hatte. Nur auf den ersten Blick sind an der Fliegenglasparabel Eingeschlossensein und Ausgeschlossensein identisch. Auch die gestalttheoretische Versuchsperson vor ihrem Legespiel mit geometrischen Figuren verdeckt in der Reduktion auf die ausschließlich optische Problemstellung die radikalere Differenz von Eingeschlossensein und Ausgeschlossensein: Es gibt die Annehmlichkeit der Einschließung als Bewahrung vor den Unbilden eines durch seinen Wirklichkeitsgehalt ausgezeichneten Aufenthalts. Was bei Plato durch die Blendung der jeweils höheren und helleren Stufe des Mehrseins bis hin zum Seiendseienden verbildlicht wird, hat Wittgenstein mit seinem Rückgriff auf die Trennungsqualität des Glases ungleich härter anschaulich gemacht. Die Schwester Hermine berichtet von einem Gespräch mit dem gerade aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Bruder, als dieser sich 1919 zum Unverständnis aller entschloß, Dorfschullehrer zu werden. Sie hatte sich des Vergleichs bedient, der philosophische Intellekt vor dieser Aufgabe erschiene ihr wie die Verwendung eines Präzisionsinstruments zum Offnen von Kisten. Darauf hatte Ludwig ein Gegenbild, das die Schwester zum Schweigen brachte: Du erinnerst mich an einen Menschen, der aus einem geschlossenen Fenster schaut und sich die sonderbaren Bewegungen eines Passanten nicht erklären kann; er weiß nicht, welcher Sturm draußen wütet und daß dieser Mensch sich vielleicht nur mit Mühe auf den Beinen hält. Die Schwester fügt hinzu, da habe sie verstanden, in welcher Verfassung er sich innerlich befand}4 Das Gleichnis von 1919 hat bereits alle Züge einer die Unzulässigkeit des Inneren konzedierenden Theorie der Verhaltensphänomene. Unter den Voraussetzungen des Pragmatismus gibt es die Aussperrung dessen, der sich mit seinem Verhalten auf Bedingungen einstellt, die seinem theoretischen Betrachter oder ästhetischen Zuschauer unbekannt sind; dieser, nicht sein Objekt, ist hinter der Trennscheibe trotz ihrer optischen Durchlässigkeit eingeschlossen in einen Erfahrungsraum, der ihm den Zugang zur Wirklichkeit 14 Hermine Wittgenstein, Mein Bruder Ludwig. In: Rush Rhees, ed. Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche (1 Oxford 1981 »Recollections of Wittgenstein«); dt. Frankfurt 1987, 21-34; hi e r : 2&- Der Abschnitt der »Familienerinnerungen« (unveröff.) über den fünfzehn Jahre jüngeren Bruder ist 1945 geschrieben. Hermine starb 1950, ein Jahr vor ihm. 221
des anderen versperrt. Es sind, im weitesten Sinne und mit einiger Metaphorik, die Grenzen der Sprache aus dem Vorwort zum »Tractatus«, was diese Sperre bildet. Als sei es die Erinnerung an den Bildvorhalt, den er der Schwester gemacht hatte, bleibt ein Mensch in einem Zimmer die stehende Figur der Wittgensteinschen Gefangenschaften. An ihm als dem vorgestellten Subjekt einer Ursituation aller Philosophie wiederholt sich nur, was in der organischen Welt geschah, als die Evolution Bewußtsein hervortrieb. Das Bild, es sich vorzustellen, sei etwa dies: Die Welt ist, trotz aller Ätherschwingungen, die sie durchziehen, dunkel. Eines Tages aber macht der Mensch sein sehendes Auge auf, und es wird hell.15 Philosophie läßt diesen archaischen Vorgang auf einem anderen Niveau vorausgegangener Dunkelheit sich abspielen: Ein Auge werde aufgeschlagen, bedeutet nun, daß nicht mehr nur auf das gehört wird, was eine kontingente Sprache vorsagt. Freilich ist die Situation des philosophischen Denkens an seinem Anfang keine andere als die der Schwester Hermine am geschlossenen Fenster: Es versteht nicht, was es heißt, da draußen im >Leben<, im >Dasein<, in der >Existenz< sich zu halten und zu bewegen. Es begreift die darauf eingestellten Verhaltensweisen eher als Rituale, zu denen man Zugang nur gewinnen könnte, wenn man die da draußen befragen würde - um ihre daraufhin gegebenen Antworten wiederum nur zu verstehen, nachdem man die ihren Begriffen zugeordneten Verhaltensweisen und Absichten mit ihnen erfahren hätte. Wie kann man wissen, sollte das Gleichnis von der Schwester am Fenster bedeuten, daß es Situationen gibt, in denen alles darauf ankommt, nicht so sehr die Welt zu begreifen, als vielmehr sich in ihr nur aufrechtzuerhalten? Könnte man die elementare Situation erfassen, hätte man den anschaulichen Zugang zu Bedeutungen, die jemand verwendet, um von sich zu sagen, er denke so und so, und dies sei der Grund dafür, daß er sich so und so verhalte. Der Eingeschlossene und der Ausgeschlossene hätten sich auf einer Grenze getroffen, die ihre Differenz bedeutungslos machte. Auf eine rigide wie lakonische Formel gebracht: Von drinnen nach draußen gibt es kein Begreifen. Wie intensiv die Vorstellung von Eingeschlossensein Wittgenstein nachging, belegt noch die harmloseste Notiz, mit der er zeigen 15 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Zweiter Teil VII (Schriften I 495). - Erinnerung an Schopenhauer-Lektüre? 222
will, daß es den unbestimmten Sinn< eines Satzes nicht gibt. Eine unscharfe Begrenzung ist eben dieses nicht, und man habe es etwa so zu denken: Wenn ich sage neb habe den Mann fest im Zimmer eingeschlossen - nur eine Tür ist offen gebliebem - so habe ich ihn eben gar nicht eingeschlossen. Er ist nur zum Schein eingeschlossene Eine Umgrenzung, die ein Loch habe, sei so gut wie gar keine, führt er den Gedanken fort. Jedoch nicht zu Ende, da er sich selber in einer letzten Wendung zweifelnd ins Wort fällt: Aber ist das denn wahr? Auf diesen Selbstvorhalt gibt es keine Erwiderung mehr. Dem Leser bleibt, dem Sinn des Satzes mit dem Blick auf die Bezugsfigur der Einschließung nachzugehen und sich darüber klarzuwerden, daß die Handlung >Einschließung< von dem Verhalten des Mannes abhängt, der sich in jenem Zimmer befindet. Vom Grad seiner subjektiven Überzeugung, eingeschlossen zu sein, kann man nichts wissen. Wittgensteins Behaviorismus läßt nur zu, ihn an der Konkludenz seines Verhaltens als einen Eingeschlossenen wahrzunehmen. Angefangen mit seiner beobachtbaren Beobachtung desjenigen, der ihm die Türe verriegelt, ohne erkennen zu lassen, daß er eine Tür nur zum Schein verriegelt. Er verhält sich wie einer, der schon gebannt ist durch die Intensität der Unterstellung, ihn einzuschließen sei die Absicht und die Mittel dazu seien zureichend gewesen. So ist es nicht der Raum, aus dem er für den objektiven Beobachter heraustreten könnte, was ihn eingesperrt hält; es ist die Konsistenz aller Wahrnehmungen, die er machen konnte, was ihm auch nur den Gedanken daran verwehrt, die Verschlüsse zu überprüfen. Mit der Präsumtion, die sein Verhalten durchdringt, ist es wie mit dem Ideal, von dem Wittgenstein in unmittelbarer Nachbarschaft dieses Fragments sagt, daß es in unseren Gedanken unverrückbar festsitze - um sich sogleich zu korrigieren, indem er das metaphorische Verhältnis von Innen und Außen umkehrt. Der Satz, das Ideal sitze in unseren Gedanken, ist zwar äquivalent dem anderen, wir säßen in jenem ein; doch ist die rhetorische Wirkung der Umkehrung stärker: Du kannst nicht aus ihm heraustreten. Du mußt immer wieder zurück. Es gibt gar kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft. - Woher dies? Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir 16 Philosophische Untersuchungen. Erster Teil § 99 (Schriften I 340). 223
durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen}7 Es ist ein und derselbe Sachverhalt: Auf das Bedenken hinsichtlich der Dichtigkeit des Türverschlusses nicht zu kommen und das optische Instrument auf der eigenen Nase beim Wahrnehmen nicht mehr wahrzunehmen. Vor allem aber: Der Philosoph kann sich nicht damit genugtun, seine Rolle als die des Beobachters so närrischer Dinge zu definieren. Wie in dem der Schwester 1919 in eher existentiellen Bedeutung angebotenen Gleichnis muß der Zuschauer hinter dem Fenster den Weg zu dem anderen draußen antreten, auf dessen Verhaltensweise er sich aus dem geschlossenen Raum heraus keinen Reim machen kann. Eine Verschärfung der Imagination von Eingeschlossensein findet sich in den Jahren zwischen 1942 und 1944: Ein Mensch ist in einem Zimmer gefangen, wenn die Tür unversperrt ist, sich nach innen öffnet; er aber nicht auf die Idee kommt zu ziehen, statt gegen sie zu drücken.1* Die Verschärfung liegt darin, daß nichts mehr von der Absicht einer Person abhängt, die den >Helden< gefangenhält. Aus der Tücke des Subjekts gegen das Subjekt ist die des Objekts geworden. Es verleitet zu dem geringfügig anmutenden Irrtum, Türen öffneten sich in der intentionalen Richtung des sie Benutzenden. Der unverschlossene Raum ist vorzustellen als Behälter mit einem mentalen Überdruck, der nur in der Richtung seiner Dynamik technische Funktionen zuläßt und deren Umkehrbarkeit ausschließt. Den einen Schritt zurückzutreten, der genügen würde, um die vergeblich gedrückte Tür in der Gegenrichtung zu bewegen, macht die Vehemenz der Protention unmöglich. Sie konstituiert sich auf einem Grundriß von Annahmen, die Zweckmäßigkeiten der Welt zugunsten des Menschen implizieren. Türen gibt es nur in einer Menschenwelt, und wenn diese zweckmäßig sein soll, müssen sie sich in der >natürlichen< Richtung der menschlichen Bedürfnisse öffnen. Im Gleichnisfall ist es diese Präsumtion selbst, die sich ihre Erfüllung verhindert, indem sie keinen Nachlaß an die von ihr imprägnierte Weltansicht gewährt. Darin ist Wittgenstein mit seinem schlichten >Zimmer< über Piatos Höhle hinausgegangen und zu einer neuen Eindringlichkeit vorgedrungen. Er braucht nichts, was den Gefangenen an seine Situation fesselt. Vielleicht hätte auch 17 Philosophische Untersuchungen. Erster Teil § 103 (Schriften I 340). 18 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik IV (1942-1944) § 37 (Schriften VI 245). 224
Plato die Fesseln nicht gebraucht; aber faktisch hat er nun einmal dem bloßen Lustgewinn der Schattenbilder nicht alles zugetraut. Wittgensteins Gefangener trifft auf keine Verwehrung oder Erschwerung seines Austritts aus dem Gewahrsam, es sei denn die Bestimmtheit seiner Erwartung, wie ihm ein Ausgang gefügig zugemessen sein müsse. Was er verkennt, ist das Verhältnis zwischen Willen und Funktion, Erwartung und Gegebenheit, Wunsch und Realität. Weiterzugehen ist bei einem so entschiedenen Antifreudianer wie Wittgenstein nicht geziemend. Wie weit er das Muster fortgebildet hat, wird am näherliegenden Vergleich mit dem >Vater< des Wiener Kreises, Ernst Mach, noch deutlicher. Bei ihm wird die Werkstube des Theoretikers als eine Art Raum der Vergeßlichkeit eingeführt: Wir quälen uns in unserer Stube vergebens ab, ein Werk zustande zu bringen, und die Mittel, es zu vollenden, liegen vielleicht vor der Türe.19 Vergessen folgt keiner Regel, was es auch indizieren mag. Es ist einfach ein Defekt, eine Art der professoralen Zerstreutheit, was die Möglichkeiten >vor der Türe< außer acht läßt. Bei Wittgenstein ist es die >Anwendung< einer Regel, wie Türen sich zugunsten von Strebigkeit öffnen, was die Nutzung der >Ausnahme< verhindert. Die Regel ist ein Vorurteil, das den Ablauf von Intentionen erleichtert - darin zugleich seine Herrschaft verfestigt und mit jedem Erfolg die Aura des >Gesetzes< verstärkt. Die Regel >begründet< sich im Gebrauch, nicht .vorher; das macht sie so unentbehrlich wie verdächtig. Schon Hermann von Helmholtz - einer der Ahnen des Wiener Positivismus über den Physiologen Ernst Wilhelm Brücke - hatte empfohlen, die Beweisgründe gegen Sätze von >alter Autoritär besonders ernst zu nehmen und um so strenger zu sein, je länger dieselben sich bisher in der Erfahrung vieler Generationen als tatsächlich richtig erwiesen habend In jedem System geltender Sätze (>En19 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Prag J1885; Jena 5ιHypothesen<, deren Analogieimplikationen - etwa in Helmholtz' Behandlung des zweiten Hauptsatzes der Wärmelehre - Boltzmann 225
zyklopädie<) sind solche äußerst instabil, deren Nachprüfbarkeit verfeinerungsfähig ist, was aber den Verdacht gegen die Stabilität von Sätzen nicht rechtfertigt. Denkt man an Wittgensteins Umgang mit den Beweisforderungen für die. Widerspruchsfreiheit von Kalkülen, dann sind >Regeln< Ausschlußverfahren für das, was vor der Türe liegt. Auf eine Formel gebracht, ist die Verfassung seines Eingeschlossenen Beharrung im Vorurteil. Damit gewinnt die Thematik Anschluß an das Programmwort >Aufklärung<. Wie in deren Epoche das Verhältnis von Wissen und Können gesehen worden war, muß der Gefangene belehrt werden über die Technik des Anschlags von Türen und wie aus dieser folge, sie angemessen zu benutzen. Die Präsumtion seiner Begünstigung muß dem vermeintlich Eingesperrten in ihrer ganzen möglichen Stärke zugeschrieben werden; dann weist er jede denkbare oder ihm zugemutete Änderung seines Verhaltens zurück und setzt ihr die Forderung nach Änderung des Anschlags der Türen entgegen. Deren Technik sieht er ausschließlich von der Richtung seiner Bewegung abhängig, weil in deren Dienst eingerichtet: Die Funktion von Türen sei, das Verlassen von Räumen zu ermöglichen. Außerhalb seines logischen Raumes< liegt, daß auch das Betreten von Räumen durch Türen ermöglicht und durch deren Anschlag aus fremder Zweckmäßigkeit gerade erleichtert werden solle. Dazu freilich muß er denken, was er selbst nicht ist: einen, der die entgegengesetzte Intention hätte, Einlaß in dieses Gelaß zu begehren. Wie soll er wissen, daß das in einem Hirn Platz haben kann? Nur wenn man das Vorurteil des Eingeschlossenen in seiner analysierte und akzeptierte. Es habe sich gezeigt, sagte er 1892 in einem Vortrag »Über die Methoden der theoretischen Physik« (in: Populäre Schriften. Leipzig 1905, 9), daß mechanische Analogien dem Geiste der Wissenschaft besser entsprachen als die alten Hypothesen und auch für den Forscher selbst bequemer waren. Denn die alten Hypothesen konnten nur aufrecht erhalten werden, so lange alles klappte; jetzt aber schadeten einzelne Nichtübereinstimmungen nicht mehr, denn einer bloßen Analogie kann man es nicht übel nehmen, wenn sie in einzelnen Funkten hinkt. Schließlich habe die Philosophie Maxwells Verfahren so generalisiert, daß die Erkenntnis überhaupt nichts anderes sei, als die Auffindung von Analogien. Alle Methodenideale seien >hinwegdefiniert< worden mit dem Fazit: Wissenschaft sprach nur mehr in Gleichnissen. — Was zu Wittgenstein hinüberführt, ist die eigentümliche >Weichheit< des theoretischen Duktus, die Vorsicht vor dem Verlust von Bewegungsfreiheit: Der Effekt des Beweises sei, so meine ich, daß der Mensch sich in die neue Regel hineinstürzt. (Wittgenstein, Schriften VI 244). 226
möglichen Mächtigkeit annimmt, wird verständlich, daß zu seiner Befreiung nicht genügt, ihm >die Wahrheit< zu sagen und >die Technika zu zeigen. Erforderlich ist mehr: ihn über die Unstimmigkeit zwischen seinem Anspruch an die Sachen und dem Sachverbalt der Sachen zu beruhigen. Man mag dies das >Eingehen< auf sein Vorurteil und dessen Intensität nennen: als die Wahrnehmungsweise dessen, der ganz der Frage verfallen ist, wie man einen Raum verlassen könne, in dem man nicht bleiben will. Was Wittgensteins bildhafte Konzeption von der Befangenheit im Vorurteil gegenüber der Aufklärung abhebt, ist die Einfühlung in das Bedürfnis des Aufzuklärenden, über seine vorherige Verkennung der Möglichkeit zum Austritt, zur Befreiung, zur Überwindung der Widerwärtigkeit des Mechanismus nicht nur erschrecken zu müssen. Als den Kern des philosophischen Problems hat Wittgenstein daher formuliert: Wie können wir die Wahrheit sagen, und dabei diese starken Vorurteile beruhigen?21 Diesen Satz kann man nur lesen als Kritik an der epochalen Annahme über die Wirkungsweise der Vernunft, ihre Wahrheit sei durch sich selbst Vernichtung des Vorurteils zur Befreiung des Subjekts. Das Verhältnis der Wahrheit zum Irrtum - man kann auch sagen: der Wahrheiten zur Wahrheit - hat sich als schwieriger erwiesen. Wie schon bei Piatos Höhleninsassen ist auch noch bei Wittgensteins Eingeschlossenem zu fragen, ob alle Fragen gestellt sind, um zu klären, wie er seine Lage und deren Bedingungen erfaßt. Rätselhaft ist, daß der Eingeschlossene überhaupt die Funktion einer Tür begreift, gleichgültig ob diese sich so oder so öffnen läßt; entscheidend ist doch sein Vorbegriff davon, daß beim Durchschreiten der Öffnung nicht nur der Raum homogen sich fortsetzt, sondern vor allem der Boden, auf dem fortgehen zu können der Intention, den Raum durch die geöffnete Tür zu verlassen, allererst ihren Sinn gibt.22 Wittgenstein hat, an anderer Stelle, die Imagination durchgespielt, beim Öffnen einer Tür könne die Annahme dieser Regelmäßigkeit einmal versagen. Die Zuverlässigkeit des Alltags gibt keinem Zweifel Raum, man könne hinter einer täglich zu öffnen2i Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik IV § 34 (Schriften VI 242). - Den Gefangenschaften gehen Vorgänge voraus, deren Metaphorik sich um ein In-die-Falle-Gehen oder -Stürzen gruppiert. 22 Über die terrestrische Einheit des Bodens: H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt 1987, 97-100. 227
den Tür auf das Unerwartete stoßen: etwa ins Bodenlose stürzen. Der Philosoph verschärft noch die Situation zu einer an der Haustür und zögert bei dem Einfall, sie müsse nicht ständig der reguläre Ausgang sein: Ich kann mir sehr wohl denken, daß jemand jedesmal vor dem Öffnen seiner Haustür zweifelt, ob sich hinter ihr nicht ein Abgrund auf getan hat, und daß er sich darüber vergewissert, eh ' er durch die Tür tritt... Kein bloßes Gedankenspiel, will Wittgenstein sich verstanden wissen, indem er ausdrücklich hinzufügt, es könne sich einmal erweisen, daß er recht hatte. Dies aber, daß ein solcher Fall gedacht werden könne, sei für den, der ihn denkt, noch nicht der zureichende Grund, sich ähnlich zu verhalten wie jener skeptische Pedant, gegen den die lebensweltliche Vernunft sich durchsetzt: aber deswegen zweifle ich im gleichen Falle doch nicht.23 Mit dem unauffälligen Wechsel der Person, von der dritten in die erste, wird die sonst ausgeschlossene >Reflexiön< befragbar. Ihre Auskunft läßt keine Projektion zu auf den anderen, der sich nur am >Verhalten< zu erkennen gibt: Es ist zu sehen, wie er sich gegen das Irreguläre vor seiner Haustür absichert. Die Beobachtung, wie einer sich verhält, gibt nicht zu denken frei, was er denken müßte. Vergewissert er sich nicht des Gewohnten, scheint er einer Regel zu folgen; sorgt er sich vor dem Ungewöhnlichen, könnte er eine Regel haben, nach der er die erste Regel durchbricht - nur mag dem Beobachter die Lust vergehen, dem Trivialmißtrauen obsessiv nachzugehen. In einem der Gespräche, die er während der bei der Familie in Wien verbrachten Weihnachtsferien zwischen 1929 und 1932 mit Mitgliedern des Wiener Kreises< geführt hat, ist von Friedrich Waismann seine Antwort auf die durch Moritz Schlick aufgeworfene Frage protokolliert worden, wie jemand auf die Pluralität und Systematik der Farben kommen könne, der sein ganzes Leben in einem roten Zimmer eingeschlossen gewesen wäre. Wittgenstein beruft sich auf das Möglichkeitsbewußtsein des Eingeschlossenen: Wenn jemand nie aus seinem Zimmer herauskommt, so weiß er doch, daß der Raum weitergeht, d. h., daß die Möglichkeit besteht, 23 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I § 84 (Schriften I 333). Um zu zweifeln, genügt es nicht, sich einen Zweifel denken zu können; doch am gedachten Zweifel läßt sich zweifeln, wie sich denken läßt. Hier verbirgt sich die Lebensweltthematik der Phänomenologie: Mag in einer >Lebenswelt< gezweifelt werden, so heißt es doch immer schon, diese verlassen zu haben, wenn man sich zu zweifeln denkt. Insofern belegt Descartes einen Grenzpunkt der Distanz zur Lebenswelt. 228
aus dem Zimmer herauszukommen (und wenn es auch diamantene Wände hätte). Das also ist keine Erfahrung. Es ist in der Syntax des Raumes gelegen, a priori.2* So gesagt am 25. Dezember 1929. Man sieht, wie ein wenig Rückgreifen auf Piatonismus das Philosophieren erleichtert, ohne dem Verstand voranzuhelfen. Wittgenstein muß sich dessen schnell bewußt geworden sein. Schon für den 30. Dezember 1929 vermerkt Waismann einen Nachtrag, der mit den Worten beginnt: Ich habe unrecht gehabt, als ich die Sache so dargestellt habe. Das kann nur heißen: Der Begriff des Raumes macht die Erfahrung eines geschlossenen Raumes zu der eines beliebigen Ausschnitts aus einem homogenen Ganzen. Wegen seiner Überschreitbarkeit kann ein geschlossener Raum nur kontingente Inhalte zu erfahren geben, die in jedem anderen Teil des Raumes durch andere ersetzt werden können, aber mit jenen in einem System der Ordnungsfähigkeit zueinander stehen. Die apriorische Einheit des Raumes ist die Bedingung gerade dafür, daß die Inhalte der Raumteile sowohl empirisch-faktisch als auch ordnungsfähig sein können. Dadurch wird das höhlenhafte Rotgehäuse zu einem Standort der Extrapolation. In einer nicht von Waismann angefertigten Aufzeichnung über die Wiener Gespräche wird der Apriorismus Wittgensteins für die Lösung des von Schlick aufgeworfenen Problems, wie der Eingeschlossene weiß, wovon er ausgeschlossen ist, noch greifbarer: Wenn ein Mensch sein Leben lang in einem Zimmer eingesperrt ist: weiß er deswegen nicht, daß der Raum über das Zimmer hinausreichtfWoher weiß er das?25 Russell würde und müßte von einer Hypothese sprechen; doch sei es klar, daß diese Antwort unsinnig ist. Nur von einer Möglichkeit zu wissen, sei keine Hypothese. Die 24 Wittgenstein und der Wiener Kreis von Friedrich Waismann. Ed. B. F. McGuinnes (Oxford 1967), Frankfurt 1967, 66: 25. Dezember 1929 bei Schlick. Der enge Datenzusammenhang mit dem Gespräch am 30. Dezember, wieder bei Moritz Schlick, gibt Aufschluß darüber, daß die Wendung vom >Anrennen gegen die Grenzen der Sprache< mit der apriorischen Syntax des Raumes zu tun hat, auf der das Denken der Möglichkeit beruht, aus dem geschlossenen Raum herauszukommen: Anrennen gegen die Sprachgrenze setzt genau dies für den logischen Raum< voraus. Die Warnung, es könne nur Unsinn dabei herauskommen, bewirkt nichts gegen das, was hier als >Trieb< festgestellt und auf Heideggers >Sein< und >Angst< bezogen wird. 25 Wittgenstein und der Wiener Kreis, Anhang A: Gesamtheit und System (Schriften III 214). 229
Erfahrung gebe keine Hilfe für das System der Möglichkeiten, in dem jede geschlossene Entität steht, so wie die Wirklichkeit als ganze gleichsam eine Insel in der Möglichkeit ist.26 Erfahrung lehrt nichts darüber, was sein kann: Die Möglichkeit ist kein empirischer Begriff, sondern ein Begriff der Syntax. Es sei Russells Grundfehler, immer wieder zu versuchen, die Möglichkeit auf die Wirklichkeit zurückzuführen. Dann wäre der in seinem Zimmer lebenslang Eingeschlossene verloren: unfähig, jemals zu begreifen, was es heißt, daß es außerhalb seines Raumes andere und anderes geben könne, auf das hin den Raum zu verlassen man nur den Willen zu haben brauchte, um zu begreifen, was eine Tür ist und welche Eigenschaften sie haben muß und darf, um jenem Willen sich zu öffnen. Der vom Anschlag der unverschlossenen Tür düpierte Gefangene wäre nicht nur seinem Vorurteil über das Nachgeben von Türen in Intentionsrichtung erlegen, sondern seiner Unfähigkeit, vom Begriff des Raumes Gebrauch zu machen. Nur von diesem her wäre die Funktion einer Tür so zu begreifen, daß es gleichgültig würde, welche faktische Variante ihrer regulären Funktionsweisen sie darstellt. Man vergesse nicht: Es geht nicht um eine Theorie von Türen und nicht um eine Psychologie von Gefangenen. Statt dessen geht es um die in ein Gleichnis für höhere Allgemeinheiten investierten theoretischtechnischen Bedingnisse. Indem Wittgenstein mit Hinblick auf den Raum von einer >Syntax< spricht, scheint er die Gefangenschaft in der Sprache ins Spiel zu bringen; da jedoch das Gleichnis vom Eingesperrtsein auf eben diese sprachliche Involution zuläuft und für deren eingeschränkte Ausschließlichkeit einen Begriff anbietet, muß dieser sich auf ein Moment der Unbegrifflichkeit beziehen. Sonst könnte er nicht das Begreifen der Äußerlichkeit des Eingeschlossenseins bezeichnen. Dieses unbegriffliche Moment von >Syntax< ist es, dem man nur durch den Titel der Platonizität beikommen kann. Sie ist es, die den sprachanalytischen Absolutismen aller Art ihre Verlegenheiten erspart. Im übrigen gehört Wittgenstein zu der traditionsstarken Denkerfraktion, die das Gleichnis als didaktisch favorisiert, die Metapher als rhetorisch ablehnt (ohne sie sich zu versagen). Da geht es auch ums Verstehenkönnen: Mit dem Gleichnis erläutert der Redende seine Intention, mit der Metapher schreckt er die Hö26 Wittgenstein und der Wiener Kreis, Anhang Β § 9: Der logische Raum (Schriften III 261). 230
renden aus ihrer Lethargie unter der Erwartung eines >syntaktischen< Und-so-weiter. 27 Der Zusammenhang zwischen Höhlengleichnis und Sprache ist weder von Plato noch von Aristoteles hergestellt worden. Er stammt aus der anderen Traditionslinie dieses Imaginationsfeldes, von dem durch Herodot überlieferten und allbekannt gemachten Sprachversuch des Pharao Psammetich. Unschätzbar ist, daß wir für Wittgenstein den Beleg seiner Kenntnis der Kindergeschichte aus dem Herodot besitzen, und zwar für die Zeit seiner Dorfschullehrerschaft. Sein niemals abreißendes Interesse daran, wie Bedeutungen zumal abstrakter Ausdrücke erlernt werden können, hat unverkennbar Wurzeln in den mühseligen Jahren von Trattenbach, Puchberg und Ottertal. Auf den 22. April 1925 ist sein Vorwort zu einem in Wien 1926 erscheinenden »Wörterbuch für Volksschulen« datiert. Schon 1921 hat Wittgenstein seinen Schülern vom Experiment des Pharao erzählt, im Märchentypus, als gehöre es in eine heitere und kurzweilige Welt: Es gab einmal ein Experiment. Zwei kleine Kinder, die noch nicht Sprechen gelernt hatten, sperrte man mit einer stummen Frau zusammen. Man wollte herausfinden, ob sie eine primitive Sprache lernen oder selber eine Sprache erfinden würden. Das Experiment ist gescheitert.2^ Die Abweichungen von der Fassung des Herodot sind bezeichnend. Das eher politische Motiv des Pharao wird rein theoretisch gedeutet. Zwei Möglichkeiten der Lösung sind vorweggenommen, an die der Herrscher bei Herodot nicht denken durfte, weil er eben durch sie nicht erfahren hätte, was er nachweisen wollte. Unter dem politischen Aspekt war das Experiment bei Herodot nicht 27 Wittgensteins störrische Abweisung der Metapher ist nicht nur Denkerattitüde; ihm Nahestehende haben sie durchaus als Unverstehen empfunden. So seine Russischlehrerin Fania Pascal, die er in der Klinik nach einer Mandeloperation besucht und die krächzt, sie fühle sich wie ein Hund, den man überfahren hat. Seine Entrüstung muß ihr echt vorgekommen sein: Sie haben doch gar keine Ahnung, wie sich ein überfahrener Hund fühlt. (Meine Erinnerungen an Wittgenstein, in: Rush Rhees, Porträts und Gespräche, 57) Die Szene läßt daran denken, daß Wittgensteins Insistenz auf der absoluten Subjektivität von Empfindungsausdrücken (Schmerz etc.) nicht nur Sache der Logik sein könnte. 28 William W. Bartley III,Wittgenstein ein Leben. Dt. München 1983,78. -Den negativen Ausgang des pharaonischen Experiments konnte Wittgenstein gegen seine eigene >anthropologistische< Auffassung vom Sprachorganismus im »Tractatus« verstehen, und das hätte ihn der Konsequenz seines späteren Pluralismus der Sprachartefakte nahebringen müssen. 231
gescheitert, obwohl auch nicht vollends wunschgemäß verlaufen. Es erbrachte das Resultat, daß die menschliche Ursprache eine Spur im Zentrum der menschlichen Bedürfnisse hinterlassen hatte: Das Wort für Brot war in die Anamnesis der Gattung aus dem Phrygischen eingegangen. Der Ausgang des Versuchs gehörte zum Mythos; aber Wittgenstein wollte ihn als Beispiel von Beobachtung unter verschärften und definierten Bedingungen vorführen. Er konnte und wollte wohl vermeiden, daß die Geschichte als Veranschaulichung eines einfachen Stücks Wissenschaft für Dorfkinder an Eindringlichkeit verlor. Doch kann man auch daran denken, daß die Feststellung vom Scheitern des Experiments auf den pädagogischen Effekt der Ernüchterung gegenüber Veranstaltungen der theoretischen Welt abgestellt war, die der Dorflehrer resigniert verlassen hatte. Ein Stück Selbstdarstellung implantierte er der Mythe. Und mehr noch: Vorweggenommen ist, daß alle Gedankenexperimente in den künftigen Höhlen Wittgensteins scheitern, genauer gesagt: offene Ausgänge haben werden. Der Lehrer hat die Geschichte dem Typus auch seiner Erwartungen angeglichen. Das Bild der Gefangenschaft durchzieht Wittgensteins Metaphorik und Parabolik; Gefangenschaft im Bild ist selbst eines der Stücke an diesem Leitfaden. Man wird ihm nur gerecht, wenn man die gezielte Wendung im Gebrauch des Ausdrucks >Bild< als gegen dessen Herrschaft im »Tractatus« gerichtet wahrnimmt. Dazu verhilft, daß Wittgenstein in diesen drei Zeilen der »Untersuchungen« in der Vergangenheitsform spricht: Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unsrer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.^ Hat man das als unmittelbare Kritik am »Tractatus« aufzufassen, läßt sich die Iteration vertreten, es sei das >Bild des Bildes< gewesen, das den Erkenntnistheoretiker der Frühschrift gefangengehalten hatte. Die Mehrdeutigkeit des Bildbegriffs hatte dem »Tractatus« einen Anschein von Konsistenz gegeben, die er nicht besaß, nur durch vage Metaphern suggerierte. So sei das Bild mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. Das ist dann Voraussetzung für die Vorstellung, das Bild sei wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt, wobei durchscheint, wie gut Wittgenstein die »Prinzipien der Mechanik« von Heinrich Hertz, postum erschienen 29 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I § 115 (Schriften I 343). 232
i894> kennt, wenn er sagt, daß nur die äußersten Punkte der Teilstriche ... den zu messenden Gegenstand >berühren<. Die Form der Abbildung bestehe in der Zuordnung der Elemente des Bildes zu denen der Sachen. Doch dann sind, in metaphorischer Weiterung gegenüber Hertz, diese Zuordnungen gleichsam die Fühler..., mit denen das Bild die Wirklichkeit berührt. Das wird er gegenüber Moritz Schlick ausdrücklich revidieren. Schon hier zeigt sich der bekannteste Satz der »Untersuchungen« als ein Kondensat von Selbsterfahrung: Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.30 Der Satz steht in der von Wittgenstein selbst noch geschaffenen Anordnung vom Teil I des Spätwerks: in nächster Nachbarschaft der Metapher von der Gefangenschaft durch ein Bild. Der »Tractatus« hatte die durch die Sprache geschaffenen Gehäuse noch als Instrumentar des Auftretens von Gedanken gesehen, die Sprache mit dem Organismus, der ihre Verlautung leistet, verglichen und dabei die Fähigkeit zur Sprachschöpfung unabhängig gemacht von jeder Ahnung, wie ein Wort etwas und was es gegebenenfalls bedeutet: Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, daß man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann .. .31 Bei Nietzsche hatte für diese Eigenschaft der Sprache noch die Metapher des Netzes ausgereicht. Im Unterschied zur Dichtigkeit der Bekleidung des Gedankens läßt das Netz Maschen, um durchzuschlüpfen oder wenigstens durchzublicken. Wie auch immer das Gitterwerk, aus ihm ist nicht zu entkommen oder herauszusehen ohne Gefahr, die Gewißheit zu verlieren, daß die Welt einigermaßen auf den Menschen zugerichtet sein möchte: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem >Selbstbewußtsein< vor30 Philosophische Untersuchungen I § 109 (Schriften I 342). - Die Selbstrevision gegenüber Schlick Ende 1929: Ich möchte jetzt lieber sagen: Ein Satzsystem ist wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt ... Nicht die einzelnen Teilstriche werden angelegt, sondern die ganze Skala... (Schriften III 63 f.). 31 Tractatus 4.002. - Das Sprachphänomen ist hier anthropologisch definiert und dadurch als einheitlich supponiert, obwohl bereits vom Plural der faktischen >Sprachen< die Rede ist: Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrücken läßt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. Der Einheitsgrund wird durch den Sachverhalt gegeben, daß die Umgangssprache ... ein Teil des menschlichen Organismus ist. (Schriften I 25). 233
bei.32 Diese Gefangenschaft in der verkappten Anthropozentrik, im Weltaberglauben der Auszeichnung menschlicher Erfahrung, war undurchlässiger als das leichte Netz der Sprache, mit der zumal der Philologe seine Poeten spielend umgehen sah, noch ohne den Ausdruck >Sprachspiele< zu kennen. Unentschieden war bei Nietzsche geblieben, ob Philosophie Furchtlosigkeit vor der Anfechtung des Selbstbewußtseins bewirken dürfe und solle. Bei Wittgenstein steckt das in dem lakonischen Satz schon des »Tractatus«: Alle Philosophie ist >Sprachkritik<.33 Dennoch bedeutet dieser Satz nicht primär Skepsis gegenüber den Leistungen der Sprache. Sie sind im Gegenteil so überwältigend, daß auch ihre Magie überwältigt. So sicher es ist, daß sich die Sprache bei ihrer Leistungstüchtigkeit nicht zusehen läßt, so unerläßlich ist es, ihr auf die Schliche und Sprünge zu kommen, mit denen sie mehr als das Nötige tut. Gefangenschaft als Bild und Gefangenschaft im Bild sind auch die Aspekte der Metapher von der Fliege im Glas. Diese hat mit der gegenüber Hermine verwendeten vom Blick durch das verschlossene Fenster die optische Pointe gemeinsam, daß die Welt jenseits des Glases zum >bloßen Bild< planiert wird - mag es auch bewegtes Bild sein, wie die Schatten Piatos es gewesen waren. Die platonische Höhle hatte der Schatten bedurft, weil ihre Wände undurchsichtig waren und alles Bildwerk stufenweise abkünftig sein sollte vom Seiendseienden. Die Durchsichtigkeit des Glases macht die Schatten überflüssig. Sie bietet die Welt dar, wie sie ist; und doch im entscheidenden Merkmal, der >Realität< des in Durchsicht Gesehenen, als nicht erreichbar, nicht genießbar, nicht betastbar - und damit als unbegriffen. Das Unerreichbare bedarf nicht der vermittelten Abschwächung über Abbilder und Schatten; es ist >irreal< durch die bloße Immanenz seiner optischen, die Transzendenz seiner haptischen Qualitäten. Das Quälende eines derart reduzierten Wirklichkeitsverhältnisses sieht aus wie Parodie auf den reinen 32 Nietzsche (Vorarbeiten zu einer Schrift über den Philosophen, Pläne aus dem Sommer 1873), Musarionausgabe VI 84f. Der Mensch kann nur mit Sicherheit und Konsequenz leben, indem er sich als den Urheber, als künstlerisch schaffendes Subject vergißt und durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt seiner genuinen Sprachschöpfung die schon hart und starr gewordene Bildermasse für die Wahrheit an sich über die Welt nimmt. Im Hinblick auf diese anthropologische Bedingtheit ist die Pluralität der >Sprachen< akzessorisch. 33 Tractatus 4.0031 (Schriften I 26). 234
theoretischen Objektbezug: Von allem etwas wissen, von nichts etwas haben. Dieser Begriff des Bildes als Reduktion der Wahrnehmung auf eine planierte Optik war nicht der des »Tractatus« gewesen. Dort hatte die Lehre vom Satz als dem Modell der Welt zu der Formel geführt: Wir machen uns Bilder der Tatsachen.^ Am Scheideweg Wittgensteins könnte gestanden haben: Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Es ist die einzige Tatsache, die mit allen anderen Tatsachen in Beziehung zu treten erlaubt. Zugleich ist das Bild selbst nur eine Tatsache, deren Recht, für andere zu stehen, niemals erhärtet werden kann, weil es keine Position gibt, von der her die Tatsache >Bild< mit den Tatsachen, für die sie steht, verglichen werden könnte. Freilich entsteht daraus der Verdacht, es könne nicht Sache vernünftiger Entscheidung sein, welches Bild der Tatsachen gewählt wird. Es könnten Vorgegebenheiten im Rücken des vor diesem Bild Stehenden längst über seinen Kopf hinweg bestimmt haben, welches Bild er von allem hat, was der Fall ist: von der Welt. Wenn das Bild auf diese Weise kontingent ist, wird der Bildner zum Gefangenen seines Bildes, weil es für ihn kein Motiv oder Kriterium zur Wahl eines anderen gibt. Der Grund für diesen Mangel ist, daß er gar nicht weiß, welchen Anteil er an der Bildung seines Bildes hatte oder haben konnte. Was ihn bestimmt, scheint hinter seiner Optik zu liegen, und er hat nicht einmal die Vermutung, dies selbst sein zu können. Die Metaphorik dessen, was im Rücken liegt, ist bei Wittgenstein nicht weniger belegbar als die der Verkennung der Öffnungsrichtung der Tür. Der Philosoph gleicht einem Gefangenen, der den Ausgang aus seinem Gewahrsam nicht findet, weil er die auf einer Wand des Raumes aufgemalten Türen gebannt im Blick behält, obwohl sie sich nicht öffnen lassen, während in seinem Rükken die reale Tür liegt, durch die er den Raum jederzeit verlassen könnte, wenn er sich nur einmal umdrehte. Der Typus dieser Imagination mußte den auf Ernst Mach sich zurückbeziehenden Wiener Philosophen vertraut sein. Mach hatte sie eingeführt, um den Denker scharf abzugrenzen, der nach eigener Jugenderfahrung mit einer gewisse(n) Neigung zum Solipsismus das einzige prinzipiell unlösbare Problem des Ich zum Ausgangspunkt für alle übrigen 34 Tractatus 2.1-2.141 (Schriften I i4f.). 235
nimmt. Über diese Art von Philosophie sagt er, sie scheine ihm dem Manne nachzuahmen, der sich das Umdrehen abgewöhnt hat, weil das, was er sieht, doch immer nur sein Vorn ist. Zweifellos ist diese transportable Beirrung raffinierter, weil >konstitutiv<, als Wittgensteins Kulisse der aufgemalten Türen.35 Der Tradition entspricht diese Fassung des Gleichnisses insofern, als sie >Umkehrung< enthält: die klassische Metapher für den durch Philosophie oder Religion geforderten Akt der Änderung von Leben und Gesinnung. Das beherrschende Muster der philosophischen wie religiösen conversio war das Übergewicht an Attraktivität der Welt gegen alles, was aus ihr herausführen könnte: die behagliche Unwilligkeit, sich umzudrehen. Doch hat das Gleichnis nichts mehr vom Verführerischen des Scheins. Die Realität besteht darin, den Ausgang aus der Gefangenschaft zu versprechen, die Intention wachzuhalten, ohne ihre Erfüllung freizugeben. Das Verharren vor den illusionär angebotenen Auswegen wird selbst zum Mittel, das Vergessen der rückwärtigen Möglichkeit aller Ausgänge bestehen zu lassen. Jede Philosophie letzter Fragen ist auch eine letzter Mittel. Wenn die Struktur des Satzes das Bild der Sachverhalte war, wurde damit ausgeschlossen, daß Sätze über Sätze noch einen respektablen Sinn haben. Dies wird verhängnisvoll, sobald die Sprache als kontingentes Medium die Leistungsfähigkeit des Verstandes einschränkt, seine Festlegung und Bannung ist, so daß der Philosophie nichts als die Bildung von Sätzen über Sätze übrigbleibt. Doch werden diese geradezu unentbehrlich, um den Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache überhaupt führen zu können. In diesem Kontext findet sich auch das Postulat, mit dem Wittgenstein der Phänomenologie Husserls nahezukommen scheint: Alle Erklärung muß fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Doch ist bei dieser Feststellung von Affinität an die Bedeutung Ludwig Boltzmanns für Wittgenstein zu denken, dessen physikalischer Phänomenalismus die Ablehnung der Erklärung und den Primat der Beschreibung enthielt. Daß in die Mittel der Beschreibung die >Verhexuhg< der Sprache weniger eindringen als in die der Erklärung, haben Boltzmann, Mach und Wittgenstein in der Nachfolge Nietzsches wohl gesehen, kaum aber Husserl, der gegen die Sprache so sorglos ist, wie er mit ihr ver3 5 E. Wasmuth, Die Tür im Rücken. In: Deutsche Rundschau LXXX. - Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen. Jena91922, 292 f. 236
fährt, obwohl immer Vieldeutigkeit fürchtend. Wittgensteins >Reduktion< bestand in dem einen Befehl: Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.36 Damit ist zunächst der Sprache eine letzte Position zugeschrieben, diese dann als historisch-faktische Kontingenz aufgedeckt und doch wiederum nichts anderes zur Verfügung des Denkens übriggelassen als ebendiese Sprache, um ihrer Machtausübung auch nur auf die Spur zu kommen. Was für den Ausgang des Cartesianismus in jeder seiner Formen bis zu Husserl hin gilt, daß ohne eine Begrenzung des Zweifels jede Gewißheit die Bedingungen ihrer Möglichkeit zerstört, wiederholt sich verschärft auf der Ebene des Zweifels an der Sprache als >Bild< der Wirklichkeit. Radikale Sprachkritik kann nur durch Zurücknahme ihrer vordersten Linie die Operationen zulassen, die sie selbst der bloßen Sterilität der Feststellung von kontingenten >Sprachspielen< entheben. Es muß eine Sprache geben, in der über Sprachspiele gesprochen werden kann, die selbst kein Sprachspiel oder dies jedenfalls nur noch in einem analogen Sinne - ist. Wittgenstein hat das im Hinblick auf die klassischen Skeptizismen der Philosophie klarer ausgesprochen als für seine eigene Sprachkritik: Es lassen sich Zweifel denken, von denen zumindest zweifelhaft ist, ob man sie auch haben kann. Schon Leibniz war diesem Verdacht gegenüber der Radikalität des cartesischen Zweifels nahegekommen. Es ist das, was Wittgenstein mit der Parabel von dem Abgrund vor oder hinter der Haustür veranschaulicht hatte. Bei dieser wie bei den anderen Parabeln bleibt die Antwort auf die Frage offen, was nach dem >Höhlenausgang< käme, sofern es gelänge, mit Einsperrung und Abgrund fertig zu werden. Die Antwort ist dem Szenarium der platonischen Höhle näher, als es den Anschein hat: Man kann die Höhle nicht von außen betrachten. Das macht ihre didaktische Verwendung gegenüber den Eingeschlossenen so aussichtslos wie die der anderen geschlossenen Räume - auch des logischen Raumes<. Aus den Notizen Friedrich Waismanns über die Gespräche Wittgensteins mit dem Wiener Kreis< wirkt ein isolierter Satz authentisch: Wir können aus unserer logischen Welt nicht hinaustreten, um sie von außen zu betrachten.37 Sich den Zweifel denken zu können - und sogar denken zu kön36 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I § 109 (Schriften I 342). Untersuchungen I § 116 (Schriften I 343). 37 Gespräche Anhang A (Schriften III 226). 237
nen, daß er irgendwann einmal recht behält -, ist noch nicht die Identität des Cogito mit dem Dubito. Ich zweifle nicht, indem ich mir mögliche Zweifel, und nicht einmal, indem ich Fälle von Rechtbehalten ausdenke. Deshalb ist der geschichtliche Nachweis von so großer Bedeutung, daß in gegebenen Positionen der Skepsis als universaler Verdächtigungen aller >Seinsgründe< zu Manichäismen im weitesten Sinne nicht aus bloßer Lust am intellektuellen Entsetzen der Zeitgenossen und dem eigenen Aufspielen zum Überwinder theoretischer Katastrophen philosophiert worden ist. Für jede der letzten oder auch nur jeweilig letzten Fragen, wie sie für die Philosophie spezifisch sind, gilt eine Vorsichtsregel, die nicht nur im Ausblick auf ihre Beantwortbarkeit und auf die Methoden zu deren Einlösung besteht. Leibniz' Seinsgrundfrage ist bei einsichtiger Unbeantwortbarkeit schon unter den Bedingungen der Metaphysik des Fragestellers eine die Philosophie in der Grenze ihrer Reichweite repräsentierende, die Konturen verschärfende, das Ausbleibende markierende und deshalb in der endlichen Formulierung wesentliche Frage. Gerade darin ist sie nicht identisch mit der Fatalität gestellter Letztbegründungsfragen. Diese sind eher ein ebenso professionelles wie provinzielles Innenprodukt versuchter philosophischer Geschichtslosigkeit. Nun haben gerade Wittgensteins Gleichnisse die Dimension unabsehbarer weiterer durch sie induzierter Fragen. Für die Fliegenglasparabel hat schon Gilbert Ryle ebenso schlicht wie über den Rand der Planskizze hinausschießend gefragt, was denn eine Fliege zu versäumen habe, die niemals ins Fliegenglas gerate. Sobald das Weiterfragen freigegeben ist, deutet sich die nächstfällige Frage an: Was denn jener Fliege versprochen werden könnte, sollte sie den ihr philosophisch gewiesenen Ausgang benutzen, dem Fliegenglas zu entgehen. Es könnte sein, daß es für die Fliege ohne ihre Einsperrung keinerlei Anschauung von >Befreiung< gäbe und nur ein >Erlebnis< dieser Art zum Begriff von >Freiheit< verhelfen kann, der zu denen gehört, die absoluter Metaphern bedürftig sind. Werfen daher die Freien so bereit- wie mutwillig ihre Freiheit weg, um sich im >Erlebnis< dessen, was sie bedeutet, wieder zu versichern? Während die Unfreien so schwer davon zu überzeugen sind, daß etwas ihnen mangelt und was es ihnen bedeuten würde. Nur Befreite (emancipati) wissen, was Freiheit ist - und möchten es immer wieder wissen. So sind die ständigen Troglodyten unbewegbar, lebende Paradigmata für die Notwendigkeit der Anschauung zum 238
Begriff, im Grenzfall die der absoluten Metapher als einem prekären Substitut. Für die Fliege in ihrem gläsernen Behältnis bleibt bei alldem die Frage akut: Kann der Sorge begegnet werden, der Verlust des Gehäuses werde sie vor eine Realität ungleich härterer Herausforderung stellen, als es die gläserne Abgeschiedenheit und bloße Bildlichkeit des Draußen gewesen war? Zwar hat die Distanz zur ausgeschlossenen Realität deren Reduktion bewirkt, aber damit noch nicht erwiesenermaßen eine Reduktion des Lebens. Was möglich gewesen war, mochte wenig gewesen sei, aber damit noch nicht zu wenig: Man glaubt, wieder und wieder der Natur nachzufahren, und fährt nur der Form entlang, durch die wir sie betrachten?* Das ist nichts anderes als eine Umschreibung dessen, was mit dem Titel >Bild< gemeint war. Nicht einmal die Frage läßt sich präzise genug stellen, was es denn einbringen könnte, aus der Gefangenschaft des Bildes oder der Bilder auf dem gewiesenen Weg auszubrechen, den unerbittlichen Wiederholungen der Sprache sich zu entziehen - um nun in Sätzen über Sätze was zu sagen? Plato hatte den von seinen Fesseln befreiten Philosophen etwas erfahren lassen, was jeder ihm bis dahin vertrauten Realität dadurch überlegen war, daß es sie erklärte. Wittgenstein weiß von keinem zu sagen, der außerhalb der Gefangenschaft des Bildes gelebt hätte. Der Philosoph treibt es nur dadurch weiter als die anderen, daß er sich an den Wänden des Gehäuses Schmerzen zuzieht und daher weiß, es bereite Schmerzen, an Grenzen zu stoßen: Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennend Doch würde eben die Fliege nicht gegen die Wände des Fliegenglases stoßen, wäre es nicht durchsichtig auf die Welt jenseits des Glases hin, gäbe es die zum Bild gewordene Exteriorität nicht. Ist nun der Philosoph durch die Metaphorik der Gefangenschaften gezeichnet als der Mandatar aller, der sich an ihrer Stelle und um es ihnen zu ersparen die Beulen und Schmerzen an den Grenzen dessen holt, was gesagt werden kann? Er würde dann die Lage dieser Grenzen derart vermessen, daß das Anrennen von allen vermieden werden kann, die dem Schmerz als Symptom für letzten Realismus der Philosophie entgehen wollen. Wäre also das, Prinzip 38 Philosophische Untersuchungen I § 114 (Schriften I 343). 39 Philosophische Untersuchungen I § 119 (Schriften I 344). 239
der philosophischen Professionalität die Delegation einer ganz rechtmäßig zu meidenden Unzuträglichkeit an die, die für extreme Erfahrungen den Schmerz hinzunehmen bereit sind - Abenteurer auf die terra incognita hin, die es seit je auf allen Gebieten in der Menschheitsgeschichte gegeben hat und geben mußte, weil sonst das Bestehen auf Behaglichkeit den Atemraum unerträglich eng gemacht hätte? Es ist schon erstaunlich, daß die Metapher vom Anrennen gegen die Grenzen der Sprache und den dabei zu holenden Beulen zwar viel erwähnt, aber nie beanstandet worden ist. Der Selbstvorhalt, es sei eben nur so eine Metapher, mag die Toleranz erklären. Aber was für eine Grenze kann das sein und wo gibt es sie, gegen die man derart anrennen könnte oder müßte, daß es eine Beule (doch wohl am Kopf?) kostete? Es handelt sich eben gar nicht um eine Grenze, sondern um eine Wand - Wittgenstein kannte die Ausnahme noch nicht, daß eine Grenze eine (Mauer-) Wand sein würde. Daß seine Wand die einer Zelle sein muß, kann deshalb nicht gleichgültig sein, weil es Aufschluß über etwas gibt, was mit dem Ausdruck Grenze in verlegener Unbestimmtheit bliebe: ob der >begrenzte< Raum weit oder eng ist. Er ist eng, weil er ein Käfig ist. Wittgenstein hat das in dem Vortrag vom 10. Mai 1929 »Über Ethik« deutlicher als sonst gesagt: Seine ganze Tendenz sei, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen, und dieses sei ein Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs - und dieser ist offenbar solide genug umwandet, dem Ansturm standzuhalten, weshalb es ganz und gar aussichtslos sei. Grenzen können weit gezogen sein, ein Käfig ist immer eng. Dies wäre ein mögliches Verständnis für die Metaphorik der verschlossenen Räume. Die Grenze zur alten Metaphysik der zu großen Fragen hin wäre so undurchdringlich geworden, daß man sich ihrer Lage und ihrer Festigkeit nur um den Preis des Schmerzes vergewissern kann. Im »Tractatus« steht der Satz: Und es ist nicht verwunderlich, daß die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. Als Wilhelm Ostwald im letzten Band der von ihm herausgegebenen »Annalen der Naturphilosophie« 1921 den so lange abgewiesenen »Tractatus« veröffentlichte, fehlte dieser letzte Absatz von 4.003, wie erst mit signifikanter Verspätung überhaupt aufgefallen ist.40 Man kann sich den Eindruck der Inkonsistenz dieses Satzes leicht vergegenwärtigen, denn die superlative Tiefe 40 G. H. von Wright, Wittgenstein. Oxford 1982: dt. Frankfurt 1986, i n . 240
von Problemen war anerkannt, denen nicht >Unsinn< zu sein attestiert war; zugleich aber gesagt, es seien eigentlich keine. Das liest sich, als sei da doch überhaupt die Qualität der >Fragwürdigkeit< geleugnet. Betont man nur ein wenig anders, als die Heraushebung im Text es haben will: es seien keine Probleme, bleibt offen, was es denn anderes bei approbierter >Tiefe< sein könnte. Soll man jene >Probleme< nur als >Versuche< bezeichnen, die Grenze zu forcieren, ohne daß es - wie bei jedem ordentlichen Experiment - schon die Frage gäbe, auf die es eine Antwort zu erbringen hätte? Denkt man an Beulen und Schmerzen, die sich holt, wer die Vorsicht des vorzeitigen Grenzrespekts nicht walten läßt, bekommt man ein Bild des blinden Anrennens, der ärgerlichen Beschränkung statt der freien, wie sie einmal die >Kritik der Vernunft< als Befreiung von der Last und Überforderung der alten Fragen hätte bringen sollen. Liegt es daran, daß die Genauigkeit der Grenzziehung, die einmal zur Errungenschaft der Vernunftkritik gehören und ihre befreiende Wirkung ausmachen sollte, nicht behauptet werden konnte? Dann wären jene >Versuche< die Rekognoszierungen des Grenzverlaufs. Mit einem Wortspiel: Die >Anstößigkeit< der Grenze ist ihr Modus der sich anzeigenden Lage, ihre >Wirklichkeit<. Durch diese Differenz war aus der zur Selbstbeschränkung der Vernunft angesetzten Kritik - einem Dienst an der Freiheit - die >Erfahrung< der Einsperrung geworden, die nur der nicht kennt, der nicht schon die Katastrophe des Ausbruchs riskiert hat. Wenn es im letzten Absatz des »Tractatus« heißt, man müsse davon schweigen, wovon man nicht sprechen kann, so ist das ineffabile nicht geleugnet, sondern durch die Stellung des Satzes vollends befestigt. Es behält seine Konsistenz mit dem Satz, der ihm vorausgegangen war: Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werdend Jene Grenze ist, was indirekt gezeigt werden kann, indem man seine Beulen zeigt, unter seinen Schmerzen stöhnt. Auf Probleme kann man nicht zeigen, und man kann sie 41 Tractatus 4.1212 (Schriften I 33); Wittgenstein an Russell, 19. August 1919 (Briefwechsel, 88): SEHR bedrückend,von keiner einzigen Seele verstanden zu werden! Und das vom Adressaten kaum zu erwartende Verständnis bezieht sich auf meine wesentliche Behauptung, die >Hauptsache<, die besteht in der Theorie über das, was durch Sätze - d. h. durch Sprache - gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann. Dies ist, glaube ich, das Hauptproblem der Philosophie. 241
nicht durch Zeigen lösen. Deshalb liegen in der tiefsten Tiefe, wo Probleme vermutet oder behauptet werden, solche eben nicht. Man bringt Blessuren mit, wenn man es mit der Tiefe aufnimmt. Sie genügen, um den Einwand der Sinnlosigkeit, es getan zu haben, zurückzuweisen. Was der Fall ist, danach kann gefragt werden. Tatsachen, nicht >Dinge<, sind Auskünfte auf Erfragbares. Die Welt besteht aus dem, wonach gefragt werden kann. Insofern >liegt sie< in einem Raum, der als logischer Raum< schon ein Innenraum ist. Über dessen Begrenzung ließ sich durchaus sagen, was sie aussperrte oder wogegen sie einsperrte. Als Wittgenstein das Manuskript im Spätherbst 1919 an Ludwig von Ficker schickte, kündigte er diesem nicht ohne Beiklang von Hochmut an, er werde von der Lektüre nicht allzuviel haben, denn er werde es nicht verstehen, der Stoff ihm ganz fremd erscheinen.*2 Aber eben nur >erscheinen<; in Wirklichkeit sei er ihm nicht fremd, denn der Sinn des Buches ist ein ethischer. Er habe in das Vorwort einen Satz schreiben wollen, der nun tatsächlich nicht darin stehe, den er aber als einen Schlüssel zu dem Werk dem Adressaten hinschreibe. Er habe sagen wollen, sein Werk bestehe aus zwei Teilen: aus dem, der hier vorliegt, und aus alledem,was ich nicht geschrieben habe. Und gerade dieser zweite Teil ist der Wichtige. Diese Rede von einem anderen Teil des »Tractatus« war metaphorisch. Es gab diesen >zweiten Teil< nicht, weil es ihn nicht geben konnte, er aber auf andere Weise als mit den Aussagemitteln des ersten Teils, nämlich durch diesen selbst, bestimmbar wurde. Die Parallele zu den Mystifikationen um den >zweiten Teil< von »Sein und Zeit«, die kaum mehr als ein Jahrzehnt später anheben sollten, 42 Wittgenstein an L. von Ficker (Oktober oder November 1919); Briefwechsel, 961. - In dem nächsten der erhaltenen Briefe an Ficker vom 4. Dezember 1919 ist die Aussage noch durch Erweiterung verstärkt: >das Wesentliche< sei im »Tractatus« aus dem geschlossenen Raum ausgeschlossen. Es gebe immer einen Standpunkt, von dem aus ein Buch wertlos sei, denn eigentlich brauchte niemand ein Buch zu schreiben, weil es auf der Welt ganz andere Dinge zu tun gibt. (Briefwechsel, 102) Das deutet schon auf Austritt aus der Höhle der Philosophie ins Volksbelehrerleben hin, denn die Begründung ist eben nicht mehr >immanent<, an einem Buch werde doch nur das verstanden, was der Rezipient ohnehin schon gedacht hat oder (beinahe) hätte. Was von Wittgensteins Lehrerverhalten bekannt ist, läßt sogar darauf schließen, daß dieser der Anamnesis nahe Grundgedanke ihn dabei bestimmt hat, in abgelegenen Analphabetendörfern seine »Menon«-Kinder zu suchen, um ihr Sokrates zu werden. 242
ist nur vordergründig. Entscheidend ist die Topographie des Verhältnisses thematischer Korrelate beider Teile, indem der erste Teil genau den geschlossenen Raum< bestimmt, um den herum in unbestimmter Ausdehnung und Kontur gelagert ist, worauf es wiederum bei der Vermessung des Innenraumes ankommt: Es wird nämlich das Ethische durch mein Buch gleichsam von Innen her begrenzt; und ich bin überzeugt, daß es, streng, NUR so zu begrenzen ist. Kurz, ich glaube: Alles das, was viele heute schwefeln, habe ich in meinem Buch festgelegt, indem ich darüber schweige. Für den Adressaten (und Mitleser) bedeutet dies, daß in dem Buch vieles gesagt werde, was dieser selbst sagen wolle, wovon er aber gar nicht zu sehen vermöge, daß es darin gesagt ist. Solche die Verständnisbereitschaft zurückstoßenden Apostrophen Wittgensteins finden sich in seinen Aufzeichnungen wie Nachschriften vom Mündlichen immer wieder. Sie haben etwas mit der Rolle des Befreiten im Höhlengleichnis zu tun, und zwar darin, daß es auf das Verständnis anderer, mehrerer, vieler oder aller nicht ankommt, sofern nur einer einmal den Weg gegangen war, mochte es den >Vorgänger< auch noch so drängen, es bei Mitteilung seiner Weisheit auf das Paradox der Uniehrbarkeit ankommen zu lassen. Als gelte es, auf den Zweifelsversuch des Descartes, der die Neuzeit zu ihrer äußersten philosophischen Anspannung gebracht hatte, am Ende der Epoche eine letzte Antwort zu geben, nimmt die Philosophie die Wendung, jene Erregung zu mäßigen: Die bloße Denkbarkeit eines Bruches im Kontext der durch Sprache erschlossenen Welt begründet nicht zureichend, ihr das Vertrauen zu entziehen. So wenig wie der hinter der Haustür denkbare Abgrund die Intention gegenüber Türen verändern kann, sie verwiesen auf das, was hinter ihnen liegt, als auf einen begehbaren Boden, auf ein zuverlässiges Und-so-weiter der Dinge. Die Sprache würde sich eben weigern, etwa eine Tür zu nennen, was nur zum Absturz ins Bodenlose verleitete. Was aber ist von einer Tür zu halten, deren Verschluß exklusiv dazu bestimmt ist, von außen geöffnet zu werden? Sie müßte nach allem fürs Metaphernrepertoire Wittgensteins ausscheiden. Und doch hat er sie 1930 emphatisch für die Philosophie verwendet, indem er deren Probleme mit Kassenschlössern verglich, die nur durch Einstellung einer Zahl- oder Buchstabenfolge geöffnet werden können: So sei es, wenn man einem Philosophie lehrt; man komme sich vor, wie der, der an den Stellgriffen eines 243
Kassenschlosses herumprobiert, bis vielleicht endlich alle Bedingungen beisammen sind, daß die Tür aufgeht.4'* Die Position des Philosophen ist außerhalb des verschlossenen Behälters, aber die Aufmerksamkeit soll ganz auf Unkenntnis des Codes und auf die Unwahrscheinlichkeit des Öffnungserfolgs gelenkt werden. Es ist eher eine Aufgabe des Denkens als der Anschauung; darin liegt die Lizenz, nicht im Zuge der durchgehenden Metaphorik von Türen zu bleiben. Man tut also gut daran, dem Leitfaden der Denkbarkeiten nicht zu folgen. Wer wahrnehmbar zögert, eine Tür zu öffnen, oder sich nach deren Öffnung dessen versichert, was dahinter liegt, erweist sich als einer, der Zweifel hat. Die Lösung ist behavioristisch; man kann es sehen. Kann man es nicht sehen, ist es sinnlos, dem Erdachten ernsthafte Besorgnis zu widmen und für seinen Fall Vorkehrungen zu treffen. Dies aber ist die Sache der ganzen neuzeitlichen Philosophie. Wittgenstein, könnte man sagen, besorgt diese Sache, indem er sich ihrer als Sorge zu entledigen sucht. Das war die Sorge: Können wir sicher sein, daß es nicht jetzt Abgründe gibt, die wir nicht sehen? Abstrahiert von der Situation vor einer Tür, die man zu öffnen und zu durchschreiten beabsichtigt. Auch die Antwort hat noch Bezug auf jene Situation, obwohl sie die Metapher bereits anwendet auf das Durchlaufen eines Kalküls: Wie aber, wenn ich sagte: Die Abgründe in einem Kalkül sind nicht da, wenn ich sie nicht sehe!44 Dann hätte der cartesische genius malignus seinen Betrug gerade nicht wegen seiner Ruchlosigkeit begehen können. 43 Zitat aus unveröffentlichtem Manuskript nach: M. Nedo/M. Ranchetti, edd., Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt 1983, 241 (Nr. 342). 44 Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik III (19391940) § 78 (Schriften VI 205). - Sowohl der >Sumpf< als auch der >Abgrund< erscheinen hier als eher ironische Metaphern für die Gefahren, die beim Bestehen auf Beweisen für Widerspruchsfreiheit unterstellt werden, etwa daß die von ihnen Bedrohten sonst bei jedem Schritt in Gefahr wären, in den Sumpf zu fallen; oder daß sie schlafwandelnd den Weg zwischen Abgründen dahingingen, wogegen Wittgenstein die Unausschaltbarkeit dieser Beirrung geltend macht, weil die Feststellung, nun sei man aber wach, keiner Evidenz fähig ist; auch sie lasse die Iteration offen: können wir sicher sein, daß wir nicht eines Tages aufwachen werden? (Und dann sagen: wir haben also wieder geschlafen.) Es gibt die Gewißheit, unerwachbar wach zu sein, nicht. Zu >Sumpf< bei Wittgenstein: Ή . Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt 1987, 109-112. 244
Denn es liegt im Wesen der totalen Täuschung, daß ihre Abgründe nicht bemerkt werden können. Wittgensteins Absage an das Übermaß der Sicherheitsbedingungen hat keinen gemeinsamen Zug mit dem >heroischen Nihilismus<, den Attitüden der Gewagtheit von Existentialismen, die dem ohnehin zum Tode Seienden nichts an Risiko hinzufügen können. Der cartesische Dämon ist bei Wittgenstein zum harmlosen Diminutiv geworden: Irrt uns jetzt kein Teufelchen?Nun wenn es uns irrt, - so macht's nichts. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Selbsterhaltung heißt auch Wegdenkenkönnen. Zwar nicht das Risiko wegdenken zu können, wohl aber den Abweg und Ausweg zu nehmen: um das Risiko den Umweg zu machen, der nicht durch die härtesten Ansprüche hindurchführt. Warum sagt Wittgenstein nicht, Philosophen sollten sich um solche Gefahren nicht kümmern, denn selbst wenn es sie geben sollte, könnten sie sie nicht bemerken und, sofern sie sie bemerken sollten, nichts daran ändern? Noch beim striktesten Beweis könnte die Kontrolle, kein Zeichen des Kalküls übersehen zu haben, durch jenes Teufelchen problematisch gemacht werden, indem es Zeichen verschwinden läßt, ohne daß wir es bemerken. Es hätte keinen Sinn, sich mit der Möglichkeit solcher Teufelei auseinanderzusetzen. Für sie gilt, was schon Epikur dem härtesten Einwand gegen das mögliche Lebensglück des Menschen, dem Hinweis auf den Tod und allen anderen Einstiegen in die Metaphysik, entgegengestellt hatte: Sie mögen bedeuten, was sie wollen, für den Menschen bedeuten sie nichts. Analog Wittgenstein zum modernisierten cartesischen Zweifel: Wo man sagen kann: >auch wenn uns ein Dämon betrogen hätte, so wäre doch alles in Ordnung*, dort hat der Schabernack, den er uns antun wollte, eben seinen Zweck verfehlt.45 Wie steht es, wenn das so ist, mit der intellektuellen Gesundheit dessen, der seine Haustür nicht ohne Zögern zu durchschreiten vermag, so daß man ihm den Zweifel ansieht, ob sich dahinter nicht ein Abgrund auf getan hat? Was mit der Frage gemeint ist, läßt sich an einem Text aus der »Philosophischen Grammatik« verdeutlichen, die Wittgenstein in den Jahren 1933/34, also nach den »Philosophischen Bemerkungen« von 1930, geschrieben hat. Sein Verhältnis zur Mathematik, um das es dabei geht, läßt sich als 45 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik III § 21 (Schriften VI 158t). 2
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exzentrische Stellung zu deren Verfahrensweisen charakterisieren. Für die Unterschiede, auf die er aufmerksam machen könne, nimmt er in Anspruch, es seien solche, wie sie jeder Bub in der Schule wohl kennte Was er seinen mathematischen Zeitgenossen vorhält, ist Mangel an Schärfe der Wahrnehmung - also etwas, was man jederzeit jedermann vorwerfen kann und dem abzuhelfen jede theoretische Disziplin zur letzten Bestimmung hat. Auch die Philosophie. Was den Mathematiker der Zukunft auszeichnen werde, ist nach Wittgenstein eine höhere Sensitivität; sie werde absolute Klarheit an die Stelle des Erfindens neuer Spiele setzen. Neue Spiele? Das ist noch harmlos. Wittgenstein zuckte nicht vor der Denkanweisung zurück, die Mengenlehre wäre als eine Art Parodie auf die Mathematik von einem Satiriker erfunden worden. Auf den Ausdruck >Parodie< wird er assoziativ gekommen sein, nachdem David Hilbert gerade die Mengenlehre als das >Paradies< der Mathematiker gepriesen hatte. Doch ist für Wittgenstein die Geschichte mit Scherz und Satire nicht zuende. Wie so oft wird der Spötter >integriert<: Wie in modernen Verfahren der Kunst, gerade den zum Künstler zu >erklären<, der es am wenigsten sein wollte: Er findet sein Nicht-Kunstwerk eines Tages im Museum wieder. Über die Eingemeindung der Mengenlehre sagt Wittgenstein schon im nächsten Satz: Später hätte man dann einen vernünftigen Sinn gesehen und sie in die Mathematik einbezogen.^7 Für den Rückgang auf Infantilität beruft er sich ausdrücklich auf Freud, bei Wittgenstein nicht gerade gängig. Was die Mathematiker daran hindere, den Philosophen zu verstehen, sei ihr Ekel vor diesen Dingen, insofern sie ihnen als etwas Infantiles erschienen. Der Zuspruch der Ermunterung, den ihnen der Philosoph zukommen läßt, ist freilich ambivalent. Meint er mit den unterdrückten Zweifeln die an der eigenen Berufsmentalität, wären es Zweifel an Zweifeln, Bedenken gegenüber einem Rigorismus, der zur Vermeidung definierter Fehler nicht weniger als die Klarheit selbst vermeidet: Ich sage also zu diesen unterdrückten Zweifeln: ihr habt ganz recht, fragt nur, und verlangt nach Aufklärung! In diesen Kontext nun tritt nochmals die Metapher von Höhlendunkel und Sonnenlicht, mit dem merkwürdigen biologischen 46 Wittgenstein, Philosophische Grammatik V § 25 (Schriften IV 379-382). 47 Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik V 7 (Schriften VII264). Der >Paradies<-Anstoß bei David Hilbert, Über das Unendliche. In: Mathematische Annalen 95,1926. 246
Einschlag, die durch Philosophie bewirkte Veränderung mit der aufschießenden Geilheit von Knollentrieben zu vergleichen: Die philosophische Klarheit wird auf das Wachstum der Mathematik den gleichen Einfluß haben, wie das Sonnenlicht auf das Wachsen der Kartoffeltriebe. (Im dunkeln Keller wachsen sie meterlang.) Das unterirdische Dunkel des Gewölbes ist wie das der alten Höhle ganz der Ort des Aufkommens unsolider Gebilde, falscher Fertilität, trügerischer Nahrhaftigkeit, im ganzen: Illusion dessen, was im klaren Lichte wäre. Philosophische Klarheit, wie Wittgenstein sie postuliert, ist nicht die Behebung aller Zweifel, nicht Versprechen absoluter Widerspruchsfreiheit; es ist Reduktion der Ansprüche und Normen selbst, die Verkürzung der Idealisierung. Das Sonnenlicht läßt die geilen Schößlinge verkümmern, und das ist die primäre Wirkung der Philosophie, nicht das andere Analogon, reguläres Wachstum zu befördern, das den ausgelaugten Knollen nicht mehr gelingt. Wenn Licht in den geschlossenen Raum fällt, ist es zu spät für den Erfolg, nicht zu spät jedoch für die Klarheit über die Gründe des Prozesses, die ihn verhindert haben. Nur die Begrenzung des Zweifels macht überhaupt Gewißheit möglich. Jemand will sich davon überzeugen, daß er zwei Hände habe, aber davon kann man sich nicht überzeugen. Wer daran zweifelt, wird auch seinen Augen nicht trauen, wenn er sich beide Hände vor Augen hält; einen andern kann er nicht fragen, denn wer seinen eigenen Augen nicht traut, wird auch denen anderer nicht trauen.48 Es gibt eine Zuspitzung des Zweifels zu dem, den man nicht hat, den man sich nur zutraut. Man kann nicht beliebig zweifeln. Wenn aber einer behauptet, er habe dennoch diesen verschärften Zweifel, aus welchen Gründen auch immer, hat man es nicht mehr in der Hand, durch Mittel den Zweifler zur Aufgabe seines Zweifels zu bringen. Damit ist der Anfang der modernen Philosophie selbst gemeint. Man kann den Verdacht nicht ganz beseitigen, daß da einer einen Zweifel vielleicht gar nicht hat, sich ihn nur ausdenkt und anderen induziert, um die Rolle zu übernehmen, ihn zu beheben, was nur kann, wer ihn nicht hat. Durch sein Beispiel des Zweifels an der Doppelhändigkeit gelangt Wittgenstein zu der lakonischen Feststellung: Und das ist die ganze Weisheit: Wer sich in diese 48 Philosophische Untersuchungen. Teil II § XI (Schriften I 533). 247
Gefahr begibt, kommt darin um. Ob allerdings die Vermeidung solcher Verschärfungen des Zweifels gleichgesetzt werden darf mit Sicherheit vor ihm hinsichtlich dessen, was im bloß gedachten Zweifel in Frage gestellt werden könnte, hat Wittgenstein mit einem seiner katechismusförmigen Frage-Antwort-Muster bedacht: »Aber schließt du eben nicht nur vor dem Zweifel· die Augen, wenn du sicher bist?« ~ Sie sind mir geschlossene Philosophie erweist sich als Kunst der Resignation. Sie bändigt die Energie der großen Erwartungen, deren Enttäuschung zum Umschlagen in Weltzorn verführen kann. Philosophie ist dann alles andere als die Erfüllung des immer wieder beschworenen Postulats, Theorie und Praxis müßten aneinander grenzen, den Grenzübergang geradezu unumgänglich nahelegen. Von diesen Erwägungen her nehmen sich Höhlenausgänge nicht mehr als lebenspraktische Angebote aus, auf dem Umweg über die Philosophie jene Stellung in der Politeia zu erreichen, für die Plato seine ganze Paideia entworfen hatte. Von den Höhlen seiner >Vorzeit< hat der se//m<*i/e-Philosoph keine Notiz genommen, wie er zumeist mißachtet, was es vor ihm schon gegeben hat. Das gewährt die Aussicht zu beobachten, wie so etwas ausgeht. Es gibt - wir wissen es vom Anblick Husserls und seiner gewaltigen >Doppelarbeit< - den Vorteil der Authentizität durch Geschichtslosigkeit, aber auch das Risiko der Lächerlichkeit: die Verblüffung, daß schon lange und vielgestaltig gesagt worden ist, was einer zum erstenmal gesagt zu haben meint. Wittgenstein umkreist die Höhlenimagination, aber erkennbar könnte er wenig von dem gebrauchen, was es schon gab. Das Paradox der Aussicht ohne Ausgang - oder mit dem unerkennbaren Ausgang -, das des Und-so-weiter bei unverstandener Einschließung, des Durchgangs als Ausgangs, der Fixierung auf die falschen Türen das alles sind keine >Bildungs<muster; und Wittgensteins Scheitern in der vagen Absicht, sie in >Volksbildung< umzusetzen, könnte dem Mißverständnis des späteren Lesers gleichen, die platonische Transformation doch zu gewahren. Obwohl sich kein Beleg dafür findet, daß Wittgenstein den Höhlenmythos Piatos umsetzen wollte, gibt doch seine Variante des Psammetich-Experiments bei Herodot den Fingerzeig, wie er >didaktifizierte<, was genuin keine solche Funktion hatte: Indem er das Experiment gänzlich miß49 Untersuchungen II § XI (Schriften I 537). 248
lingen läßt, führt er seinen Schulkindern vor Augen, daß Sprache gelehrt und gelernt werden muß, weil man sich auf endogene >Urzeugung< nicht verlassen könne. Nur, merkwürdigerweise, der Philosoph ist einer, bei dem der Pharao Psammetich hätte Erfolg haben können, ihn seine Sache allein erschaffen zu lassen. Die Menschheit hätte es vergeblich gegeben. Nach dem Zeugnis der Frau seines Arztes Dr. Bevan, in dessen Haus er starb, waren seine letzten Worte nach diesem Leben der Unrast, der Depressionen, Fluchten und Ratlosigkeiten, der Selbstmorderwägungen und Abbruche: Sagt ihnen, daß ich ein wundervolles Leben gehabt habe.
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III Rhetorik
Das Verhältnis von Natur und Technik als philosophisches Problem Nicht nur vor unseren Augen, sondern auch unter unseren Händen entsteht und besteht die technische Welt. An ihr ist nichts, was wir als gegeben hinzunehmen und erkennend erst zu durchdringen hätten. Die technische Realität ist derart, daß sie erst aufgrund und kraft erlangter Erkenntnis und durchgeführter Berechnung in Wirklichkeit umgesetzt ist. Wenn wir dennoch bei dieser durch und durch nachrechenbaren Sache unserer gegenwärtigen Welt vor einem Problem stehen, und zwar einem der dunkelsten und dringlichsten der Zeit, so muß es auf einer anderéh Ebene liegen als der, in welcher die Bedingungen der Funktion technischer Gebilde ausgemacht werden können. Nun sind wir aber trotz des klaren Bewußtseins der sich hier immer drängender zusammenballenden Problematik weit davon entfernt, die leitende Fragestellung auch nur annähernd formulieren zu können; wir wissen noch nicht einmal, in welchem spezifischen Bereich möglicher Fragen eben diese entfaltet und angegangen werden kann.
i. Die gegenwärtige Problemlage Zunächst scheint die Gesamtheit der hier überhaupt möglichen Fragen selbstverständlich einen Filialbereich der Naturwissenschaft zu bilden. Die Technik hat sich historisch als angewandte Naturwissenschaft konstituiert, als konstruktive Verlängerung der Natur, und diese strukturelle Kontinuität scheint auch Charakter und Methodik ihrer Probleme endgültig zu bestimmen. Die geschichtliche Wirklichkeit des menschlichen Lebens mit der Technik hat jedoch diese Grundauffassung nicht bestätigt. Die Technik, als gegenständlicher Bezirk der modernen Welt, hat sich immer sichtbarer aus der funktionalen Kontinuität zur Natur gelöst und ist in neue, eigengeartete, ja gegensätzliche Konstellationen zur natürlichen Wirklichkeit getreten. Vom bloßen Gebrauch der Natur im Dienste der Lebensfristung über die sich mehr und mehr steigernde Ausbeutung der Natur als eines Energie- und 253
Rohstoffreservoirs geht die Entwicklung des technischen Bewußtseins und Willens bis zum Anspruch auf radikale und totale Umwandlung der Natur als der bloßen materia prima der Machtausübung des Menschen. Folgerichtig erscheint in der Einsicht dieser Zusammenhänge der Mensch als das Prinzip, in dem das Verhältnis von Natur und Technik als willentliche Setzung begründet ist. Als ein Wesen, dem seine Existenz nicht durch organische Anpassung an die natürliche Umwelt gewährleistet ist, das daher in den Daseinsmodus der Selbstbehauptung und Selbstproduktion seiner Lebensbedingungen hineingezwungen ist, bringt der Mensch die Technik als Antwort auf seine spezifische Seinsproblematik hervor. Der Mensch ist ein technisches Wesen; die technische Realität ist das Äquivalent eines Mangels seiner natürlichen Ausstattung. Die moderne Technik ist daher nicht eine einzigartige Erscheinung der menschlichen Geschichte, sondern nur das ins Bewußtsein gerückte, willentlich ergriffene Durchvollziehen einer im Wesen des Menschen verwurzelten Notwendigkeit. Aber auch dieser anthropologische Ansatz erweist sich vor dem Phänomen der Technik als unzureichend. Als Grundzug der technischen Sphäre enthüllt sich mehr und mehr ihre Autonomie, die zunehmende Unverfügbarkeit für den Menschen, das Überspielen seiner Entschlüsse, Wünsche, Bedürfnisse durch eine Dynamik der Sache, die dem gesamten Leben der Epoche einen unverkennbaren homogenen Stil aufprägt. Die äußere und innere Herrschaft, die die Technik über den gegenwärtigen Menschen erlangt hat, schlägt sich in der gängigen Metapher von der >Dämonie der Technik< nieder, die gerade den ungeklärten Stand der Problematik aufs deutlichste bekundet. Die Rede von der Autonomie und Dämonie der Technik, von ihrer unentrinnbaren Perfektion, bereitet vor und rechtfertigt die unmittelbar drohende Kapitulation vor einer vermeintlichen Notwendigkeit. Sie verfestigt das resignierte Genügen an der Aporie, der Verlegenheit, und schneidet den eigentlich philosophischen Weg ab, der von der Aporie zur Problemstellung führt. Wenn aber die Philosophie sich hier ihren Anspruch nicht verkürzen läßt durch vorgreifende Absolutsetzung, dann vermag sie zumindest das Bewußtsein offenzuhalten für die Fraglichkeit der gängigen Formeln, in denen das lähmende Gift der Resignation eingenommen wird. Wie man die Möglichkeiten der Philosophie in dieser Situation 254
einschätzen soll, das ist eine Frage, die nur in einem umfassenderen geschichtlichen Horizont an Profil gewinnt.
2. Natürliches und verfertigtes Seiendes in der griechischen Metaphysik Für das Seinsverständnis der Griechen sind Sein und Natur, ουσία und φύσις, fast gleichbedeutende Begriffe. Was das Seiende als Sei endes ausmacht, ist dies, daß es auf sich selbst ruht, aus sich selbstund nicht durch Hinzukommendes, Eingreifendes - das ist, was es seinem Wesen nach ist, sein Charakter des Sich-selbst-Tragens (ου σία). Dieser Grundzug des Seienden als Seienden aber ist abgelesen am Wesen der Natur: das Natur-Seiende. hat das Prinzip seines Seins und Werdens (εντελέχεια) in sich selbst. Pflanze und Tier werden und sind, was sie werden und sein können, im genetischen Naturzusammenhang aus sich selbst. Dieser genetische Zusammenhang ist selbstgenugsam, bedarf keines äußeren Zuschusses: immer wieder entstammt jedes Seiende einem solchen des gleichen spezifischen Gepräges (είδος). Die Einheit der Natur als eines sol chen genetischen Zusammenhanges konstanter Grundgestalten bedarf nicht der Frage nach einem Anfang, sie ist aus sich selbst verstehbar gerade und nur als Einheit eines zeitlich unendlichen Zusammenhanges: εξ οντος γίγνεται πάντα.1 Der Begriff der >Natur< deckt und erfüllt den Begriff des Seins. Wie aber wird der Seinscharakter des Verfertigten diesem Grund Verständnis zugeordnet? Sein Ursprung ist Fertigkeit (τέχνη), und es scheint nicht im selbstgenugsamen und unend lichen Zusammenhang der Natur zu stehen, sondern seinen An fang aus einer Setzung zu haben, die in der Kontinuität der spezifischen Gestaltungen einen Sprung darstellt. Erst eine vertiefte Interpretation des antiken τέχνη-Begriffes zeigt, daß auch das Verfertigte seinen Seinscharakter aus dem inneren Zusammenhang der Natur entlehnt und daß das durch τέχνη Seiende nur kraft solcher Entlehnung ein Seiendes genannt werden kann. Der Mensch als Träger der τέχνη ist nicht das radikale Prinzip der τέχνη όντα. Er selbst ist das, was er seinem Wesen nach ist, ganz und gar als Glied der genetischen Einheit der Natur, und zwar so ι Aristoteles, Metaphysik 1069 b 19. 2
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sehr, daß er ständig als Paradigma ihres selbstgenugsamen Zusammenhanges berufen werden kann: έξ δντος γίγνεται πάντα ... άνθρωπος γαρ άν9ρωπον γεννά. 2 Der Mensch ist Glied des Kos mos und nichts darüber oder daneben. Er ist das Lebewesen, das sich von den anderen Arten dieser Gattung durch den Besitz des Logos unterscheidet (ζωον λόγον έχον). Dieser Logos ist der In begriff des besonderen Bezuges, den der Mensch zum Kosmos hat, indem er nämlich das Sein des Kosmos in sich als Begreifen und Erkennen zu >versammeln< vermag (λέγειν ursprünglich = >sammeln<). Alle Möglichkeiten dieses Seienden >Mensch< sind regiert von und fundiert in seinem Besitz des Logos, also auch seine Werke setzende Fertigkeit, die τέχνη. Durch ihre Naturbezogenheit ver liert sie den Schein spontaner, originärer Radikalität und Gewaltsamkeit: τέχνη ist nur möglich als sich ins Werk setzender Vollzug des im Logos begründeten Bezuges des Menschen zur Natur. Das bestätigt sich darin, daß z.B. Aristoteles zwischen dem Werk (έρ γον) des Menschen und dem >Werk< von Pflanze und Tier nur eine graduelle, aber keine wesentliche Differenz zugibt. Der Logos be gründet nur ein Mehr an Möglichkeiten, aber keinen wesentlichen Unterschied des Wirkens. Das τέχνη δν ist also nur kraft seines Aufruhens auf dem φύσει öv selbst ein Seiendes (ουσία), ein sekun därer Modus des Naturseins, aus welchem auszubrechen gegen den Logos und damit gegen das Wesen des Menschen wäre, sinnlose Gewaltsamkeit (βία) und Beraubung des Seienden an seinem Sein (στέρησις). Auf dieser Auslegung des Verhältnisses von Natur und Technik, die geleitet ist von einem bestimmten Verständnis des Seienden als des in sich selbst Begründeten, ruht die antike Sicht der Rangordnung des menschlichen Verhaltens auf: die 9εωρία ist der πράξις nicht nur als instrumentale Bedingung vorgeordnet und übergeordnet, sondern die Theorie ermöglicht die Praxis erst dadurch, daß sie zum Sein den eigentlichen und wesentlichen Zugang hat und so alle werkhafte Entlehnung und Ableitung der Praxis erst fundiert, die pure Gewaltsamkeit aber ausschließt. Damit ist auch der Freiheit ihr Rang und Spielraum klar zugewiesen.
• 2 Aristoteles, Metaphysik 1069b; 1070a 8. 256
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U m k e h r u n g des Verhältnisses von natura u n d ars durch den Schöpfungsgedanken
Selbstverständnis des Menschen als Glied des homogenen Naturzusammenhanges, Sinngebung der Freiheit aus dem Spielraum der gegebenen Weltgestalt, Fundierung der τέχνη auf den im Logos versammelten Kosmos - das waren die einander korrespondieren den Aspekte des antiken Seinsverstehens, das als >Sein< im genauen Sinne nur die aus sich selbst unendlich sich gestaltende Natur im genetischen Zusammenhang ihrer konstanten Gestaltbildung gel ten läßt, während das werkhaft Seiende als Seiendes nur in Herleitung aus diesem Sinnbezirk verstanden werden kann. Eine radikal neue Sicht des Verhältnisses von Natur und Technik, und damit die Freigabe eines ungleich erweiterten Spielraums der technischen Freiheit, wird sich folgerichtig nur aus einem Wandel des Seinsverstehens von Grund auf entfalten können. Was macht die Radikalität dieses Wandels, die Eröffnung neuer Möglichkeiten des Denkens und Handelns aus ? Vorgreifend läßt sich sagen: die Selbstgenügsamkeit der Natur und ihres Wirkzusammenhanges als der fundamentalen ontologischen Dimension wird aufgebrochen. Prägnantester Ausdruck dessen ist, daß der Naturzusammenhang nun als ein zeitlich endlicher begriffen werden muß und die Frage nach den Prinzipien und Strukturen seines immanenten Verlaufes überboten wird durch die Frage nach dem Anfang, eine Frage, die ihren Sinn und ihre Dringlichkeit erst dadurch erhält, daß Kosmos und Sein nicht mehr kongruieren, der Kosmos das 9εϊον QV nicht mehr selbst ist oder es enthält, sondern nur von einem anderen seiner selbst her in seinem Sein begriffen werden kann und seinen Ursprung hat. Das Sein des Seienden geht nicht mehr auf und begründet sich nicht mehr hinreichend in seinem genetischen Zusammenhang; vielmehr ist die Natur als eine Einheit der φύσει όντα jetzt ihrerseits ein τέχνη δν. Die Genesis der Natur, herleitend verfolgt, bricht ab im Nichts als der Unmöglichkeit ihrer selbstgenugsamen Begründung, der sie die göttliche Gewalttat der >creatio ex nihilo< entriß, ein im genauen Sinne technischen Urakt, der radikalste Sprung, den das Denken nur noch als Limes seiner rationalen Möglichkeit zu begreifen vermag. Hier entspringt zugleich die scharfe Umkehrung des Verhältnisses von Natur und Technik, die als Inbegriff der >Bekehrung< (conversio) der antiken Ontologie angesehen werden muß. Die Freiheit emp257
fängt ihren Sinn nicht mehr vom gegebenen Sein als Natur, sondern umgekehrt hat die Natur ihren Sinn durch die urgründende göttliche Freiheit, durch das nicht weiter befragbare >Quia voluit< des Schöpfungsentschlusses.3 Wie aber steht der Mensch in diesem neuen Verhältnis von Natur und Technik? Der Mensch ist nicht mehr aus seiner Gliedschaft im genetischen Naturzusammenhang heraus zu begreifen, er ist nicht mehr einfachhin >Natur< und in seinem Wesen auf den Boden der Natur angewiesen. Seine Einzigartigkeit liegt nun aber keineswegs erst - wie zumeist allein beachtet wird - in seiner Erwählung und Heilsbestimmung, die ihn auch aus einer ursprünglichen Einwurzelung im Naturganzen herausheben könnte, sondern schon in seiner Herkunft, die nicht mit der des Ganzen der Schöpfung einfach zusammenfällt, sondern den einzelnen Menschen im Kern seines Wesens als je einziges, originäres und unmittelbares Geschöpf der göttlichen Macht uranfänglich beginnen läßt. Daß die Seele des individuellen Menschen nicht im natürlichen Zeugungszusammenhang entspringt, sondern durch einen je einzigen Schöpfungsakt aus der Hand Gottes hervorgeht, bedeutet nichts Geringeres als das Fundament der radikalen Eigenwüchsigkeit und Autonomie des Menschen im Ganzen der Natur, dem er doch phänomenal eingewurzelt ist. Daß der Mensch seinem Wesen nach in Gegensatz und Auseinandersetzung mit der Natur und in ein Macht- und Vergewaltigungsverhältnis zur Natur treten kann, ist erst im Horizont der christlichen Ontologie als Möglichkeit verstehbar. Die Differenz des christlichen Kreationismus zum antiken Generationismus hinsichtlich des Seelenursprunges ist von unabsehbaren latenten Konsequenzen für das künftige Weltverhältnis des Menschen im Abendlande. Erst der Mensch, der nicht seinem Sein nach aus der Natur hervorgeht, sondern in sie hineingestellt ist und damit nicht eine >natürliche< und darum fraglose Vorzeichnung seiner Existenz in ihr vorfindet, ist ein potentiell technischem Mensch, der in der Auseinandersetzung mit der Natur zu leben hat.
3 Augustinus, De Genesi contra Manichaeos I, 2, 4. 258
4- Die theologische Verschärfung der Differenz zwischen N a t u r und menschlicher Existenz Die Heterogeneität von Mensch und Natur verschärft sich nun auf dem Boden des christlichen Seinsverstehens zum tragischen Hiatus durch das die christliche Existenz tief durchdringende Bewußtsein von einer Urentscheidung des Menschen, die das Verfehlen seines ursprünglichen Seinsollens zum Grundzug seines Daseins machte. Der Mensch, der seine Freiheit gegen das gottgewollte Sein gesetzt hat, vermag sich dennoch nicht der Notwendigkeit zu entziehen, mit und aus diesem Sein sein Leben zu fristen. Die Ursünde macht die Natur zum Widerpart seines Selbstbesitzes; sein Leben ist, wie schon das 3. Kapitel des 1. Buches Mosis zeigt, daher geprägt von der Mühe, Härte und Arbeit des Und doch seines Lebenmüssens in der Natur, die ihm nicht mehr tragender Daseinsboden und bereite Lebensquelle ist, in die er vielmehr als ein Verstoßener geworfen ist. Die unversöhnbare Differenz von Freiheit und Notwendigkeit, die aus der Sünde entspringt, bestimmt ihn zu einem Dasein, das wesentlich Mühe, Arbeit, Kraftaufgebot, Gewalt, also ein >technisches< ist und seinem Willen das unerreichbare, aber zugleich unauf gebbare Ziel setzt, Existenz und Natur, Müssen und Können, Freiheit und Notwendigkeit dennoch zu >mühelosem< Einklang zu bringen. Nicht zufällig wird am Ursprung der Neuzeit nicht nur der Aufstieg des naturwissenschaftlichen Denkens als des Instrumentes technischer Realisierung, sondern auch die reformatorische Verschärfung des Sündenbewußtseins und damit des Hiatus von Existenz und Natur stehen. Die moderne Technik ist zwar >Anwendung< der modernen Naturerkenntnis; aber daß es zu solcher dynamischen Transposition der Erkenntnis ins Reale kommt, hat seinen hinreichenden Grund nicht in diesem inneren Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Technik selbst, sondern in der Konsequenz jenes Verständnisses der Stellung der Existenz in der Natur. Für die Entstehung der spezifischen modernen Wirtschaftsform ist man diesen Zusammenhängen intensiv nachgegangen; für die Technik fehlt es noch an einer Analyse des geistesgeschichtlichen Hintergrundes ihrer Ursprünge.
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5. Die Aufhebung der mittelalterlichen Scheidung von Gebrauch u n d G e n u ß Gegen diese Darstellung läßt sich nun ein schwerwiegender Einwand geltend machen: wie konnte trotz dieser fundamentalen Voraussetzungen das Mittelalter als der historische Raum einer christlichen Ontologie ein phänomenal so untechnisches Zeitalter sein? Gegen diesen Einwand wird man nicht nur ins Treffen zu führen haben, daß die genuinen christlichen Antriebe im Mittelalter entscheidend durch die kaum zu überschätzende Rezeption der antiken Metaphysik überdeckt und latent gehalten wurden, sondern auch, daß einer dynamischen Realisierung dieser Antriebe die Eigenart des Mittelalters entgegenstand, die Dringlichkeiten der Welt und des diesseitigen Daseins >sub specie aeternitatis< zu depotenzieren. Die augustinische Formel, die das Verhältnis zur Welt auf das uti, den Gebrauch, beschränkte, das/n«, den Genuß, aber der jenseitigen Seinserfüllung als dem absoluten Ziel vorbehielt, charakterisiert diese Sicht aufs deutlichste. Die Bedeutung dieses Vorbehalts für die Latenthaltung der die Technik innervierenden Antriebe bestätigte sich vom Ausgang des Mittelalters her: zu den entscheidenden Voraussetzungen der spezifischen technischen und ökonomischen Entwicklung der Neuzeit gehört die Aufhebung der Differenz von uti undfrui, von Gebrauch und Genuß. Der notwendige Gebrauch der Natur erfüllt sich als freier und in sich Genüge findender Genuß. Immer deutlicher zeigt sich, daß die Bestimmung der Technik als Anwendung der modernen Wissenschaft nicht als Erklärung ihrer Stellung im Bild der Neuzeit genügt. Denn daß Erkenntnis nicht sich selbst genügt und in sich beruhen kann, sondern über sich hinaus auf Anwendung drängt, ist ganz und gar nicht selbstverständlich. Die Antike sah in der Erkenntnis und dem durch sie erlangten Wissen das Höchste und den Inbegriff menschlichen Strebens, wie der Anfang der aristotelischen Metaphysik zeigt. Weshalb das Wissen am Beginn der Neuzeit sich nicht mehr zu genügen beginnt, läßt sich also nicht damit begreifbar machen, daß man sagt, es dränge zur Anwendung. Vielmehr zeichnet sich jetzt die Deutung ab, daß die moderne Wissenschaft durch das geschichtliche Selbst- und Weltverständnis geradezu zu ihrer instrumentalen Funktion herausgefordert worden ist, ja daß ihr eigener Aufstieg durch das Voraussein des technischen Willens entschei260
dend provoziert worden ist. In einer philosophischen Betrachtungsweise kehrt sich die landläufige Auffassung des Folgeverhältnisses von Wissenschaft und Technik um. Die Aufhebung der fundamentalen mittelalterlichen Differenz von Gebrauch und Genuß ist unabsehbar in ihren Konsequenzen. Der auf eine jenseitige Erfüllung hin instrumentale Gebrauch der Welt ist seinem Wesen nach endlich, der Weltgenuß dagegen, der den bloßen Gebrauch absorbiert, unendlich. Die Ablösung des endlichen Weltbildes durch ein unendliches, die überhaupt die Epochenschwelle zur Neuzeit charakterisiert, markiert auch diese historische Linie. Im Prinzip ist schon hier - mögen die Konsequenzen auch erst viel später sichtbar zutage treten - der entscheidende Übergang vollzogen, der vom Gebrauch der Natur und der Anwendung ihrer Gesetze zu ihrer rückhaltlosen Ausbeutung und Eroberung als sich selbst sinngebender Dynamik der Technik führt. Der innere Widerspruch einer Grundlegung, die auf Genuß zielt und Arbeit zur Voraussetzung hat, wird erst am Ende der technischen Entwicklung zu voller Schärfe aufbrechen.
6. Die Einheit des Ursprunges von Wissenschaft, Technik, Kunst u n d Macht am Beginn der Neuzeit Die dargestellten ontologischen Zusammenhänge werden noch bestimmter bestätigt, wenn man auf die zumeist vernachlässigte Einheit der Voraussetzungen achtet, die den Ursprung der modernen Kunst mit dem der modernen Technik verbindet. Das lateinische Wort >ars< ist der Erbe der Bedeutungen, die griechisch mit τέχνη bezeichnet wurden: Kunst und Technik, im heutigen Sprachge brauch, sind Entfaltungen der ursprünglichen >ars< des Menschen, einer >Kunst<, die sich als die Einheit des werkgestaltenden Könnens des Menschen verstehen läßt. Das gemeinsame Neue der neuzeitlichen Kunst und Technik ist die Auffassung, die der Mensch sich von den Möglichkeiten seines Könnens im Hinblick auf die Verwirklichung seines Genußwillens gebildet hat. Das Moment des Genusses macht den einen Grundzug der neuzeitlichen Ästhetik aus, das der schöpferischen Macht des Künstlers den anderen. Die neue Sicht, in der dem Menschen sein eigenes Können erscheint, läßt sich nur auf dem Hintergrur^^Ä'igeSisggSQhichtUniversitätsbibliothek
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lichen Situation des ausgehenden Mittelalters verstehen, die durch den Nominalismus bestimmt wird. Hier wird aus wesentlich theologischen Motiven heraus das Vertrauen des Hochmittelalters in die Erkenntniskraft der Vernunft radikal erschüttert; der Zugang zum Wesen des Seienden, das der unendlichen Freiheit des göttlichen Schöpfers entsprungen ist, ist der endlichen Vernunft des Menschen verwehrt. Die Gesamtheit unserer Erkenntnis ist nur in der Praxis der Weltorientierung und Wirklichkeitsbewältigung als >richtige< bestätigt und gerechtfertigt. So sind die Begriffe nur >nomina<, nicht >conceptus<, und >richtig< und >falsch< drücken nur die ökonomische Funktion des innerweltlichen Sich-Einrichtens und Sich-Zurechtfindens aus. Damit aber hat unser gesamtes Erkenntnisvermögen von vornherein einen Charakter erhalten, den man getrost als >technischen< ansprechen kann: es ist nicht vernehmend hingegeben an das Seiende, das ihm doch verschlossen ist, sondern es ist originär schöpferisch, eine ganz und gar menschliche, nur auf die menschliche Weltaufgabe hingeordnete Einheit von Begriffen und Gesetzen produzierend. Unsere Erkenntnis ist ihrem Wesen nach schon Kunst und Technik in eins, die >ars humana<, die sich erst sekundär aufspaltet in die Ausdrucks- und Werkformen der >Kunst< und >Technik< im neuzeitlichen Sinne. Erstmals zeigt sich die menschliche Autonomie als der Grundzug der heraufziehenden Epoche; aber ihr Ursprung ist nicht Selbsterhebung und Selbstüberhebung des Menschen, sondern die Antwort auf die Not der wesenhaften Fremdheit in dieser Welt und der Verfehlung ihrer gottgegründeten Wahrheit. Nicht der Kraftüberschuß und -Überschwang ist primär, sondern die der Notwendigkeit sich unterwerfende Kraftentfaltung. Da die gottgeschaffene Welt dem Menschen nicht zu eigen werden kann, ist der Mensch in die Not gestürzt, seine eigene Welt aus eigener Kraft zu bilden. Die gegebene Natur aber, verborgen in ihrem Wesen und nur als >res extensa< in den wissenschaftlichen Quantitätsformeln zu befassen, wird zum bloßen Rohstoff der >ars humana<. Der Stil des Weltverhältnisses, dessen Grundlegung dargestellt wurde, ist so tief in den Geist der Neuzeit eingegangen, daß er selbst heute noch die in Ost und West gespaltene Welt überspannt: die Unterwerfung der Natur unter den Willen des Menschen ist hier wie dort das immer ausdrücklicher formulierte Programm. Was der Techniker im amerikanischen Laboratorium vom Sinn seiner Arbeit sagt, das spricht 262
auch aus den Projekten, die der Osten propagiert: Hier wird die Welt zum zweitenmal geschaffen! Wie verborgen diese Selbstformulierung des technischen Willens noch vor kurzem war und wie ausdrücklich sie heute gewordert ist, zeigt sehr augenfällig die Geschichte jener >Ersatzstoffe<, die, zunächst der Natur mühsam nachgemacht, heute einen ungeheuren Komplex der Technik repräsentieren, in dem der Natur etwas >vorausgemacht< wird oder werden wird. Die gewonnenen Einsichten über den geschichtlichen Zusammenhang, aus dem diese moderne Technik als ein unvergleichliches Phänomen hervorgegangen ist, bestätigen sich, wenn man versucht, den weiteren Umkreis der Vorstellungen und Begriffe, die den Beginn der Neuzeit markieren, als Sinneinheit zu verstehen. Hierher gehört der Streit der Renaissance um das Wesen der Kunst als imitatio oder inventio; der Begriff der Erfindung, später ein Specificum des technischen Bereiches, wird zuerst in diesem Zusammenhang bedeutsam. Eine Schlüsselgestalt der beginnenden Neuzeit wie Leonardo, der nicht zufällig Künstler und Techniker zugleich war, bestätigt die Einheit des Ursprunges. Auch wird man die Heraufkunft des Begriffes der politischen Macht als Anspruch auf rational-technische Verfügbarkeit des öffentlichen Geschicks auf dieselben Fundamente begründen müssen. Die Theologie versucht, die menschliche Autonomie als göttlichen Auftrag in christlicher Bindung zu halten; so sagt Nikolaus von Cues, zugleich einer der Begründer des Experiments, nämlich des Versuches, die Natur unter die Bedingungen der menschlichen Erkenntnis zu bringen: Ο Domine ... 'posuisti in libertate mea ut sim, si voluero, mei ipsius. Hinc nisi sim mei ipsius, tu non es meus.. . 4 In diesen Zusammenhang fällt auch der vielschichtige Programmbegriff der >reformatio<. Marsilio Ficino, der ihn proklamiert, will ihn universal-kosmisch verstanden und exemplarisch in der Kunst, verwirklicht sehen:5 der göttlichen >formatio< der Natur korrespondiert die menschliche >re-formatio<, die dadurch zum Anliegen des Menschen wird, daß er in die erste Schöpfung nicht selbstverständlich und wie in sein Eigentum eingewurzelt ist. Immer ist die Distanz von Existenz und Natur das ontologische Fundament. Descartes erhebt die Forderung des jetter par terre alles historisch und naturhaft Vorgegebenen (préven4 De visione Dei VII. 5 De christiana religione XVIII. 263
tion), das den Raum für den radikalen, gleichsam >ex nihilo< ansetzenden Entwurf der Wissenschaft und Moral freilegt; die Auffassung der Einheit der Wissenschaft als Entwurf ist in ihrem Wesen >technisch<. Giambattista Vico gebraucht nur eine andere Vokabel, wenn er alle Arten menschlichen Handelns und Wirkens als poietisch zu begreifen sucht; erstmals bezieht er dabei die Geschichte in den Bereich der >ars humana< ein. So werden die Umrisse einer Interpretation sichtbar, die die Signaturen der Neuzeit, Wissenschaft, Technik, Kunst und Macht aus der Einheit ihres Ursprunges in der geschichtlichen Sinngebung des Seins zu verstehen sucht. Das Problem der Technik läßt sich aus dieser Einheit nicht als ein für sich zu formulierendes oder zu lösendes herausreißen.
7. Die >zweite Natur< der Maschinenwelt als Konsequenz des technischen Willens Nun ist gegen die Auffassung der Geschichte der modernen Technik als konsequenter Entfaltung eines inneren Prinzips ein gewichtiger Einwand erhoben worden. Ortega y Gasset hat in seinen deskriptiv wertvollen, ontologisch aber unzureichend fundierten »Betrachtungen über die Technik« auf die wesentliche Differenz hingewiesen, die innerhalb des technischen Bereiches selbst zwischen >Werkzeug< und >Maschine< gesehen werden müsse. Kann diese nicht zu übersehende Differenz noch aus der ungebrochenen Vollstreckung der bisher aufgewiesenen ontologischen Fundamente her ausgelegt werden oder hebt hier etwas radikal Neues an? Es hat sich gezeigt, daß der Mensch der Neuzeit in die Not und Notwendigkeit der technischen Weltbildung hineingestellt ist, eine Not, die erst aus dem Kraftbewußtsein ihrer Bewältigung zur >Tugend<, nämlich zu Würde, Stolz und Hybris der menschlichen Autonomie und Autarkie, gewendet wurde. Es liegt in der inneren Dynamik des Vollzuges dieser Weltaufgabe, daß die anfängliche Notlösung sich zum unbedingten Rang einer zweiten Schöpfung< erhebt, die sich in einem Geschaffenen manifestiert, das dem der ersten Schöpfung nicht wesentlich nachsteht. Wenn also das Geschaffene der ersten Schöpfung wiederum als >Natur<, als in sich begründetes Aus-sich-Selbst des Gestaltens und Wirkens, begriffen wird, dann muß der >zweiten Schöpfung< die 264
innere Tendenz auf eben diesen seinsmäßigen Rang hin innewohnen, das heißt: sie kann sich nur in einer >zweiten Natur< erfüllen. Die Charakteristik des natürlichen Seins, daß es das Prinzip seiner Gestaltung und seiner Funktion in sich trägt, wird folgerichtig in den Bereich des technischen Werkes transponiert. Hier liegen die Antriebe zur Herausgestaltung des Automaten, der Maschine, der >aus sich selbst< funktionierenden Gebilde der modernen Welt, die der >ersten Natur< um so adäquater erscheinen konnten, je mehr es gelang, diese selbst nach dem Schema eines >Weltautomaten< zu begreifen. Dieses Schema der Naturdeutung entspringt nicht primär dem Ausdehnungsdrang der Grundvorstellungen des technischen Menschen, sondern es ermöglichte seinerseits erst die Konzeption der Maschine als einer technischen Transposition des Naturbegriffes. Daß die Maschine >produziert<, daß sie industriell nutzbar zu machen ist, ist demgegenüber erst ein später und sekundärer Zug, so daß man den wesentlichen Einschnitt nicht erst bei der Erfindung der Industriemaschine (1825: mechanischer Webstuhl) ansetzen darf, sondern auf die barocke >Spiel<welt der Automaten, auf den Traum vom >Perpetuum mobiles dem absoluten technischen Aus-sich-Selbst, zurückgehen muß. Das Schlüsselwort aber dieser wesenhaften Tendenz der technischen Welthaltung auf die >zweite Natur< hin ist der Unbegriff der >Organisation<, der das Organische als Produkt einer Konstruktion voraussetzt. Aber stehen wir mit dem Begriff der >zweiten Natur< schon am Ende der möglichen Konsequenzen, die das Seinsverständnis der Neuzeit impliziert? Ist der Anspruch der unbedingten Herstellüng<, wie Heidegger den technischen Willen genannt hat6, in der >zweiten Natur< einer perfektionierten Maschinenwelt ausgetragen oder liegt es im Zuge solcher Unbedingtheit, daß sie nichts anderes neben sich duldet, das heißt: daß die >zweite Natur< nicht nur die Potenz zur Aufhebung der >ersten Natur< bereitgestellt hat, sondern auch aus ihrem Wesen heraus auf die Vollstreckung dersçlben hindrängt? Die Erfahrungen des Menschen mit dieser letzten Phase möglicher technischer Realisierung stehen erst im Beginn.
6 Über den Humanismus, S. 88. 265
Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik Strukturanalysen zu einer Morphologie der Tradition
Obwohl dem Mittelalter in unserer Geschichtsvorstellung seit langem sein von der Aufklärung bestrittenes Recht, als >Epoche< eigenen geschichtlichen Sinnes und Traditionsanteils zu gelten, restituiert worden ist (ja, der romantische Impuls hat bei dieser Restitution zu einem noch heute spürbaren >Überschuß< geführt), haben wir uns doch noch nicht ganz gelöst von der Unterstellung, es sei zwischen Antike und Renaissance nicht alles so mit rechten will sagen: geschichtlichen - Dingen zugegangen wie sonst in der Geschichte. Es sind da Restbestände theologischer, aber nicht einmal theologisch legitimer Vorstellungen im Spiele, die das Christentum nicht nur mit absolutem Anspruch, sondern auch mit der ebenso unwiderstehlichen wie unbegreiflichen Gewalt des Göttlichen in die fest strukturierte antike Welt >einbrechen< ließen. Die Aufklärung hat recht naiv an diesem Einbruchsschema festgehalten, nur das Ereignis und seine Folge - den finsteren Graben durch das lichte Band der zur Vernunft kommenden Geschichte - radikal umgewertet. Auch die romantisch ausgelöste neuere Mittelalter-Bewunderung hält, obwohl ihr der theologisch gedeutete Ursprung der ästhetisch empfundenen Epochenarchitektur unwesentlich geworden ist, gern an der vagen Idee einer Art Urzeugung des christlichen Zeitalters fest. Naturgemäß gab es darauf eine methodische Reaktion, die das eigentlich >Historische< des Übergangs von der Antike zum Mittelalter dadurch wahren zu können glaubt, daß sie einerseits überhaupt möglichst wenig geschehen sein läßt und andererseits das, was doch geschehen ist, nicht dem primären Influx des Christentums zuschreibt, sondern als einen sekundären! und späten, von Randfaktoren der hellenistischen Welt ausgehenden katalytischen Prozeß ansieht. Der mechanischen Metapher des >Einbruchs< einer neuen geistigen Macht ist die nicht weniger mechanische Vorstellung der >Beharrung< der antiken Welt (als deren letzte Selbstformulierung das Christentum dann konsequent gesehen werden muß) bis zu ihrer immanenten Zersetzung entgegen266
gestellt. Es ist leicht zu sehen, daß wir uns hier, in der extremen methodischen Reaktion, noch immer im Ausstrahlungsfeld der aus der theoretischen Diskussion längst verschwundenen theologischen Prämisse befinden. Das Besondere der theoretischen Situation ist dabei, daß für die beiden antithetischen Positionen die historische Dokumentation breit verfügbar ist: die radikale, das ursprüngliche eschatologische Pathos gegen den Watbestand transformierende Kritik zmWeltzustand ist genauso eindrucksvoll belegbar wie die Selbstdeutung der Konservation, der Berufung auf die Fortgeltung der traditionellen Substanz, und die diesem Programm gemäße Flut der Rezeption der antiken Gehalte. Nur ist es der Grundfehler der historischen Objektivation, hier eine Alternative zu sehen, zu einer Entscheidung sich gedrängt zu glauben, die jeweils den einen Dokumentationsbefund aufgreift und den anderen als unglaubwürdig entwertet. Befreit man sich von der Gängelung durch die Alternative mechanischer Metaphern und der durch sie geleiteten Selektion der Dokumente, so erweist sich die Christianisierung der hellenistischen Welt als ein höchst komplexer Prozeß, in dem Kritik und Rezeption des vorgegebenen Bestandes nicht nur nebeneinanderherlaufen und sich nicht ausschließen, sondern darüber hinaus funktional ineinanderspielen. Als das Christentum sich zu dokumentieren beginnt, ist seine Initialphase unbedingter Kritik, des eschatologischen Vorwegseins in der Aufhebung des Weltbestandes, schon vorüber; wer Dokumente schafft, richtet sich auf die Spielregeln einer vorgegebenen und fortbestehenden Welt ein. Das Neue stellt immer weniger und immer unbestimmter die Welt als ganze in Frage, beansprucht immer weniger, das ganz und gar Andere und pur Befremdliche zu sein, das nur im blinden Ja ergriffen werden könnte; aus der Negation wird Kritik, aus dem Aufgeben der dem Gericht verfallenen Welt ihr Sich-aufgegeben-sein-lassen. Aber gerade diesen Übergang glaubwürdig zu realisieren, wurde für eine Buchreligion, die die Spuren ihrer eschatologischen Ursprünge nicht verleugnen konnte, zu einem Problem, das die heidnische Polemik sehr wohl zu nützen wußte, indem sie das hellenistische Weltalterungs- und Zerfallsgefühl mit der christlichen Eschatologie derart in Verbindung brachte, daß das vage Gefühlte und Erlittene nun seine Kausalität bekam. Arnobius zieht die Summe der gegen die Christen gerichteten Anklagen, indem er sie beschuldigt sieht als causae,per quas suis mundus aberravit ab legibus (adv. gentes I i). 267
Eschatologische Negation konnte ein bloßer Warn- und Bußruf vor dem nahen Ende sein, aber Kritik setzt ein Maß gemeinsamer Position voraus, sie kann nie so radikal sein, daß sie unter ihrem Tiefgang nicht noch eine fundierende Substruktur unangetastet ließe, den gemeinsamen Boden, auf den man sich auch noch mit einem Gegner stellen muß, den man für immer überwinden will. Das ganz und gar >Neue<, die reine Bekundung der Transzendenz, ist eine theologische Grenzfiktion, mit der sich keine Vorstellung eines geschichtlichen Ereignisses verbinden ließe; eine Verkündigung, die davon sprechen wollte, müßte zu bloßer Bestürzung oder bloßer Indifferenz führen. Aber es ist viel zu wenig, wenn man zugibt, die christliche Rezeption der antiken Philosophie habe der Gewinnung einer dogmatischen >Sprache< gedient, so wie im 13. Jahrhundert die Vollrezeption des Aristoteles zur scholastischen Systematisierung der christlichen Theologie verhalf. Das ist deshalb kein Modell, das man rückübertragen kann, weil der späte Rezeptionsvorgang schon auf einer >Autorität< des rezipierten Denkers beruhte, die ihre überwältigende Potenz daraus zog, daß nun in der aristotelischen Metaphysik vieles >wiedererkannt< wurde, was schon in dem Strom der frühen Rezeption aufgenommen und assimiliert worden war, so daß es im 13. Jahrhundert als genuin christlich galt und seinem Urheber das Ansehen eines potentiell christlichen Autors gab, der zu verifizieren half, was ihm gehörte. In diesem Sachverhalt wiederholte sich verborgen und unausdrücklich jener in der Frühzeit immer wieder angewendete Kunstgriff der Inversion, durch den ein christlich akzeptabler Gehalt der antiken Philosophie einem biblischen Einfluß auf seinen Urheber zugeschrieben worden war.1 Mehr als eine >Sprache< für das zu sagende Neue wird in der Rezeption gesucht; es geht darum, eine appellable Wirklichkeit zu gewinnen. Wirklich ist immer das, worauf man sich unmittelbar berufen kann, ohne einer Beweisforderung gewärtig sein zu müssen; nur in bezug auf gültige, fortgeltende Wirklichkeit kann sich eine neue Lebensform realisieren, selbst als diskutables Element mit anderen Einstellungen in Vergleich treten. Für jedes Zeitalter kann man sich Thesen und Haltungen ausdenken, die als ganz und gar unbezogen auf die geltende Generalthesis von >Wirklichkeit< nur als sinnlos und irreal angese1 Ein Beispiel (Cicero bei Ambrosius) habe ich in ganz anderem Zusammenhang in Studium Generale 10, S. 65 f. (1957) gegeben [Hans Blumenberg, Kosmos und System. Aus der Genesis der kopernikanischen Welt]. 268
hen werden würden. Das Christentum mußte Anschluß an die (nun doch weiter bestehende) Welt gewinnen, wenn es nicht seine bloße Diskutabilität in ihr verlieren wollte, von Wirkungsmöglichkeiten gar nicht zu reden. Es mußte Anschluß gewinnen - und doch zugleich unkenntlich werden lassen, daß dies seine Not und Notwendigkeit war. Es ist der Sinn der Rezeption, ihren eigenen Grund zu verschleiern. Das Christentum stellte sich in eine (von ihm allererst konstruierte) Teleologie der Geschichte hinein: es machte alles das in der Tradition zur Frage, worauf es die Antwort darstellen zu können glaubte. Alles Neue muß als >Antwort< auftreten können; deshalb muß es zu seinen Gehalten die voraussetzbaren >Fragen< im Bestand des Alten nachweisen, aktual und akut machen können. Die Paulusrede auf dem Areopag (Apg. 17) ist dafür das Modell: was den Zuhörern zunächst als Befremdliches (ξενίζοντα) erscheint, paßt doch wie vorgesehen in eine Lücke des Bestehenden, einen ausgesparten Raum, den es nun >erfüllt<. Im Vergleich mit den Geschichten von Zeussöhnen sei, so versichert Justin (Apol. I 21), die Kunde vom Gottessohn doch gar nicht etwas Neues (ου καινόν τι). Hier ist das Christentum nicht einmal auf sehen der Philosophie und ihrer einer neuen Religion schon so lange vorarbeitenden Kritik des Polytheismus und der Göttermetamorphose, sondern es betreibt pure Mimikry im Milieu der alten Religionen. Es ist also keineswegs so, daß das Interesse des Christentums in der Kritik der alten Mythologie mit dem der Philosophie so weit übereinging, daß die Rezeption nur als eine Konsequenz dieses gemeinsamen Interesses erklärt werden könnte. 2 Der Sache nach war, wie sich viel später erweisen sollte, das Christentum gegen die von dieser Philosophie entwickelten kritischen Prinzipien seinerseits nicht immun. Wenn Tertullian von der Jungfrauengeburt Jesu spricht (Apol. 21, 14), beruft er sich nicht auf Philosophie, sondern schlägt vor: recipite intérim hanc fabulam, similis est vestris, dum ostendimus, quomodo Christus probetur... Nein, das Bündnis mit der Philosophie war gar nicht so selbstver2 H. Langerbeck [in seiner Rezension von Carl Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, in: Gnomon 28, S. 481-501 (1956)] hält die geschichtliche Verbindung von Philosophie und Christentum nicht zum wenigsten für eine zwingende Konsequenz der radikalen Ablehnung und Überwindung der antiken >Religion< durch beide, wobei man über die naive Deutung antiker philosophischer Theologie als gedankliche Explikation >antiker Religiosität analog dem Verhältnis von christlicher Theologie und christlichem Glauben natürlich hinausgekommen sein müsse. 269
ständlich und gar nicht so unbedenklich, sofern sie sich als Religionskritik ausgebildet hatte und damit jederzeit auch Kritik des Christentums werden konnte; aber die Philosophie war doch auch mehr, sie war in der hellenistischen Welt weithin zu der Art und Weise geworden, in der man >Wirklichkeit< verstand, sich auf sie beziehen und berufen konnte, und in der festgelegt war, wie man dies zu tun hatte. Bei dieser Feststellung darf vor allem nicht übersehen werden, wie weitgehend Philosophie und Rhetorik amalgamiert waren und wie sehr >Wirklichkeit< sich im gültigen Zu-Wort-kommen manifestierte. Den legitimierenden Logos zu finden, das war also weit mehr, als überhaupt nur seine Sache zur >Sprache< zu bringen. >Rezeption< bedeutet das Einströmen einer ganzen Welt in die ursprüngliche Weltlosigkeit einer eschatologisch begründeten Lehre; >Kritik< bedeutet den Inbegriff der Regulationen, die diesen Strom im Dienst seiner Funktionalität halten sollten. Überall in unseren Quellen haben wir mit einem >Interesse< der Aussagen zu rechnen, das uns nicht gestattet, uns mit morphologischen Zuordnungen zufriedenzugeben. Zwar soll uns überall dort, wo auf der Heterogeneität des Neuen ausdrücklich bestanden wird, dies auch als das Wesentliche ausgegeben werden, weil sich sonst die noch den Zeugnistod fordernde Strenge der Aussonderung aus dem legeren hellenistischen Religionsbetrieb nicht rechtfertigen ließ; aber zugleich darf dies Besondere doch nicht das Wesentliche sein, wenn nicht die beanspruchte teleologische Kontinuität in Frage gestellt sein sollte, die vera religio quae iam erat nun erst recht zu sein. Wie komplex der ganze Prozeß gewesen ist, zeigt sich gerade an der Umbildung der Eschatologie. Ganz abgesehen von der schon früh zu entscheidenden Schwierigkeiten führenden Rückbildung der Naherwartung, nimmt die Eschatologie auch qualitativ andere Züge an, die dem Bewußtsein der hellenistischen Welt näherstehen: aus der Vorstellung von einem, wenn nun auch in unbestimmter Ferne, hereinbrechenden, in Gewaltsamkeit die transzendente Kausalität bekundenden Ende wird die Idee eines im Weltzustand sich ankündigenden, immanent heranreifenden und ausbrechenden, im Verfall aller Dinge schon sich einleitenden Untergangs. Was anfangs pure Glaubenszumutung war, beruft sich jetzt auf das unsichere Lebensgefühl der Epoche, auf eine Erfahrung also, wie es etwa auch Lukrez bei seiner Leugnung der Ewigkeit der Welt getan hatte mit dem Hinweis auf die mundi confusa ruina (VI 601-607). 270
Aus dem Vorzeichenkatalog der Apokalyptik werden nun dem hellenistischen Denken gemäßere organische Symptome. Der Clemens-Brief fordert die Korinther auf, sich mit einem Baum zu vergleichen, der in kurzer Zeit seine Frucht zur Reife bringt (23,4); aber dazu will nicht passen, daß der eschatologische Gotteswille sich schnell und plötzlich erfüllen soll (23, 5). Cyprian kann feststellen: senuisse iam saeculum, non Ulis viribus stare, quibus prius steterat necvigore et robore ipso valere, quo ante a praev alebat (ad Demetr. 3), und er fügt ausdrücklich hinzu, daß dies auch ohne die christliche Lehre und biblische Verheißung offenkundig sei: mundus ipse iam loquitur et occasum sui rerum labentium probatione testatur? Weltalterung und Weltzerfall sind schon hellenistische Grundvorstellungen, die mit dem >Kommen des Herrn< in apokalyptischer Manier nichts zu tun haben; die Rezeption identifiziert bedenkenlos. Zugleich aber, indem sie die hellenistische Vorstellung aufnimmt, fügt sie ihr ein Element hinzu, das den Naturalismus dieser Vorstellung durchbricht: der christliche Gott kann das zwangsläufig Heranrückende aufhalten. Mit der Möglichkeit, pro mora finis zu beten4, empfiehlt sich das Christentum der am Bestand der Welt zweifelnden hellenistischen Geistigkeit, bietet sich an, dem Kosmos und dem römischen Imperium eine Frist zu verschaffen; zugleich aber vergißt es die Inbrunst, mit der es an seinem Anfang um das Kommen des Endes gefleht hatte5. Eine Gemeinde aber, die pro statu saeculi betet, kann sich nicht mehr auf das kommende Gericht verlassen und sich und die Welt ihm überlassen; das Gericht rückt in den Weltbestand herein, wird vorweggenommen und institutionalisiert zu einem Als-ob der göttlichen Parusie: nam et iudicatur magno cum pondère, ut apud certos de dei conspectu, summumque futuri iudiciipraeiudicium est...6 Die positive Welthaltung ist gezwungen, das biblische Richtet nicht! zu vergessen und dem ins Unbestimmte verschobenen, hinausgebeteten Endgericht die Funktion abzunehmen: aus der Krisis ist Kritik, aus der Weltvernichtung die Weltverwandlung geworden. Das bestimmt auch die Rezeption. 3 Vgl. Cyprian, de mortalitate 25: mundus ecce nutat et labitur et ruinam sui non iam senectute rerum sedfine testatur. 4 Tertullian, Apologeticum 39, 2. 5 Vgl. die reich belegte Darstellung bei M. Werner, Die Entstehung des christlichen Dogmas. 2. Aufl., S. 105-115. Bern o. J. 6 Tertullian, Apol. 39, 4. 271
Um den umrissenen strukturellen Komplex auf dem knappen Raum möglichst konkret exemplifizieren zu können, beschränke ich mich hier auf einen patristischen Autor, der gerade wegen seiner nicht allzu ausgeprägten Originalität die thematischen Zusammenhänge gut sichtbar werden läßt. L. Caelius Firmianus Lactantius, dessen Hauptwerk Divinae Institutiones etwa 311 abgeschlossen gewesen sein dürfte, hat es vermieden, Verdienste für die Dogmengeschichte anzuhäufen. Von Cicero, nicht nur stilistisch, stark beeinflußt, kritisiert er von einer schmalen Basis praktischer Philosophie her, die er durch die Gleichsetzung der paulinischen >Gerechtigkeit< mit der stoischen iustitia gewinnt, nicht nur die mythische Götterwelt, sondern auch die theoretische Philosophie der Antike. Hieronymus wirft ihm in dem Brief (ep. 58) an Paulinus seine theologische Zurückhaltung vor: Hätte doch Laktanz, dessen Beredsamkeit an den Fluß der ciceronianischen Rede erinnert, es mit der gleichen Leichtigkeit verstanden, für unsere Lehre einzutreten, wie er es verstanden hat, gegnerische Auffassungen zu zerstören! Aber gerade diese Ökonomie verrät, wie gut Laktanz seinem Cicero nicht nur nachgeschrieben, sondern ihn auch verstanden hatte: seine theologisch-dogmatische εποχή ist die christ liche Nachfolge jener ciceronischen Skepsis, die die res obscurae jenseits der Sphäre sittlichen Engagements auf sich beruhen läßt. Das war schon für Cicero nur unter der Prämisse einer anthropozentrischen Teleologie möglich: die für den Menschen mögliche Evidenz ist zugleich die für ihn ausreichende Gewißheit. Diese ökonomische Skepsis läßt sich für Laktanz unmittelbar in den christlichen Gedanken einer heilsnotwendigen Wahrheit übersetzen, die von Gott, sozusagen in Konsequenz der teleologischen Anlage der Schöpfung, mitgeteilt wird. Hier ist wirklich ein Anschluß an eine antike Gedankenlinie gefunden. Was sich damit anfangen läßt, zeigt sich nächstliegend in der Kritik an einer dogmatischen Skepsis, der nova non philosophandi philosophia des / Arkesilaos.7 Die Natur muß dem Menschen ein lebensnotwendiges Wissen gewähren, ja, sofern sie auch den Mangel· setzt, dem es abhilft, zwingt sie es dem Menschen auf: sunt enim multa, quae natura ipsa nos scire et usus frequens et vitae nécessitas cogit (III5, 1). Dies scheint das Schema zu sein, in das sich für Laktanz auch die christliche Auffassung einpassen läßt: der personale Schöp7 Divinae Institutiones III 4,11. Bloße Stellenangaben im weiteren Text beziehen sich auf dieses Werk. 272
fungsbegriff verlangt freilich die Ausgestaltung des teleologischen Elements zu einem allumfassenden göttlichen Willensausdruck, der Licht und Finsternis gleichermaßen einschließt (II 12, 7), so daß die res obscurae jetzt geradezu zu dem werden, quae abstrusa prorsus atque abdita deus esse voluit.s Der Mensch ist so genau im Seienden justiert, daß die Reichweite seiner Erkenntnisorgane kongruiert mit dem ihm zugemessenen Gegenstandsbereich und das ihm >natürlicherweise< Unerreichbare (quae a nobis longe remotae) auch das von Gott ihm Vorenthaltene ist. Hierauf beruht die Idee des Laktanz, daß der eigene Leib der legitimste, weil >nächstliegende< Gegenstand der menschlichen Erkenntnis sein müsse eine unverkennbar gegen den antiken Vorrang der Kosmologie gerichtete Pointe. Dieses eine theoretische Vorhaben, rationem corporis nostri inspicere et contemplari, gehört nicht zum Vorenthaltenen, ist ein Bereich quae plane obscura non est (opif. 1, 16). Aber weit - diesmal ins Innere - ist auch hier dem Menschen nicht vergönnt zu kommen, es bleibt bei einer teleologischen Eidetik der äußeren Leibeserscheinung, die Grenze des Blicks ist die Grenze der Forschung.9 Hier zeichnet sich, in der Funktion eines Vehikels der Rezeption, ein ganz spezifischer Begriff von Wahrheit ab, eine sehr bestimmte Auffassung davon, was "Wahrheit für den Menschen bedeutet. Laktanz verwendet gern die Metapher von der vis veritatis. Weil die Mächtigkeit der Wahrheit so groß ist, daß niemand sich ihr entziehen kann, ist es überhaupt möglich, antike Dichter und Philosophen zu Zeugen für eine Sache anzurufen, von der sie explizite Erkenntnis noch nicht hatten, wie etwa für den Monotheismus: non quod Uli habuerint cognitam veritatem, sed quod veritatis ipsius tanta vis est, ut nemo possit esse tarn caecus, qui non videat ingerentem se oculis divinam claritatem. (I 5, 2) Freilich, diese Mächtigkeit hat die Wahrheit nicht mehr, weil sie Wahrheit schlechthin und als solche Licht und Eindringlichkeit an sich wäre, sondern weil sie und soweit sie -wie in diesem Fall des Monotheismus - eine für den Menschen unentbehrliche Wahrheit ist. Indem Laktanz seinen dogmatischen Kanon so klein wie möglich hält, gewinnt er die ihm so wichtige Bestätigung, daß es sich hier um die 8 Deopificio dei 1, 15. 9 De opif. 14, 8: omnia quae ad motus animi animaequepertineant, tarn obscurae altaeque rationis esse arbitror, ut supra hominem sit, ea liquido pervidere. 273
durch ihre vis bezeugte notwendige Wahrheit für den Menschen handelt, aus den Spuren der Tradition. Im Notwendigen darf es keinen Bruch, keine radikale Neuheit geben; die skeptische Ökonomie als kritisches Prinzip vermittelt die Rezeption. Wenn man dieser Konzeption bis auf den Grund sieht, wird man gewahr, daß sie die in der klassischen Philosophie der Griechen grundgelegte Identität von Sein und Wahrheit (im Sinne der veritas ontologica) auflöst. Die Wahrheit >gehört< Gott, der alles geschaffen hat, und zwar, weil er alles geschaffen hat; mit dem Sein, das er begründet, gibt er nicht zugleich die Erkennbarkeit aus der Hand. Zwar spielt der später so wichtige Gedanke mit hinein, daß nur der Urheber einer Sache sein Werk >innerlich< kennt10, aber vorherrschend ist die Analogie des Eigentums aus der Urheberschaft, die souveränes Verfügungsrecht gibt. Gott >darf< die Wahrheit vorenthalten, in ihrer Durchsetzungskraft dosieren, ohne dabei einer Theodizee zu bedürfen. Dieser Gedanke ist für die Kontinuation wichtig, weil er alle Fragen abschneidet, warum erst jetzt die zum Heil notwendige Wahrheit voll entfaltet wird, obwohl die nun zu Ende gehende Epoche doch so große Anstrengungen auf die Erlangung der Wahrheit gewendet hatte (Ι ι, ι), ja, obwohl jene Weisen doch auch des Lohnes für ihre Mühen würdig waren - sie erreichten nicht, was sie erstrebten, und vergeudeten all ihre Mühen, quia veritas, id est arcanum summt dei, qui fecit omnia, ingenio ac propriis sensibus non potest comprehendi (I i, 5). Hier spart Laktanz allen Bezug auf die Ursünde und ihren den Geist der Nachfahren Adams verdunkelnden und entmachtenden Effekt; er braucht die antiken Weisen nicht zu Sündern zu machen, um ihren Mangel an Wahrheit erklären zu können - sie waren der Wahrheit würdig, aber als eines Gutes, auf das es keinen Anspruch gibt. Das ist, verglichen mit apologetischer Polemik, eine Aufwertung der philosophischen Tradition. Und darin tut Laktanz noch einen weiteren Schritt: wenn es jetzt an den Punkt gekommen ist, da Gott den Menschen nicht länger im ungewissen lassen wollte, ac sine ullo laboris effectu vagari per tenebras inextricabiles, so scheint es doch die Summe der Anstrengung der alten Philosophie gewesen zu sein, die zwar nicht die >Rechtslage< des göttlichen Wahrheitsvorbehalts zu ändern vermochte, aber doch den Gnadenakt der göttlichen Schenkung erwirken konnte. 10 De opif. 14,9: quis scire nisi artifexpotest, cui soli opus suum notum est? (hier bezogen auf die innere Organausstattung des Menschen). 274
Es ist eine recht ausgewogene Konstruktion, die hier bei Laktanz den Rezeptionsprozeß unterbaut, wenn man das prinzipielle Dilemma der Patristik im Auge behält, das darin bestand, einerseits den absoluten Anspruch und Aufwand einer neuen Lehre vertreten zu müssen und doch andererseits die alten Lehren nicht so weit ins Unrecht setzen zu dürfen, daß sie nicht mehr in den (oben schon umschriebenen) Dienst genommen werden konnten. Volle Konsequenz ist in dieser Sache nirgendwo erreicht worden. Auch Laktanz muß aus dem arcanum dei mehr und mehr >Vorgaben< an die alten Weisen herausgegeben sein lassen, um sein umfangreiches Werk überhaupt inganghalten zu können, denn ein starres arcanum dei ist eine für menschliches Denken höchst sterile Angelegenheit. Wenn er also auch nicht auf der radikalen >Neuheit< seiner Konfession insistieren darf, so muß er doch für sie ein >Mehr< an Wahrheit nachweisen können. Aber schon das widersprach einer Traditionsstruktur, in der die auctoritas maiorum eine Quelle der Legitimation und Verbindlichkeit gewesen war. Hier muß Laktanz nivellieren: alle Menschen erhalten den gleichen Anteil (pro viriliportione) an sapientia, deshalb bedeutet der >Vorsprung< der Alten in der Zeit nichts: necquia nos Uli temporibus antecesserunt, sapientia quoque antecessemnt... (II, 7, 2) - ein typisches Problem des Epochenwandels, das auch die Anfänge der Neuzeit wieder durchtönen sollte und das auch dort mit der Gleichheit der Vernunft gelöst werden wird. Unter der wie das Sonnenlicht gleichmäßig verteilten Helle der sapientia gibt es keinen Grund, weshalb man die inventa maiorum unkritisch hinnehmen und sich pecudum more davon leiten lassen sollte (II 7,4). Das Zugeständnis der durch Wahrheitsbemühung der Alten vielleicht erwirkten Eröffnung des arcanum dei hindert doch nicht zu sagen, der Name maiores sei trügerisch, weil er die minores glauben mache, sie könnten nicht ein >Mehr< an Wahrheit im Vergleich zu jenen besitzen (II 7, 5). Im Gegenteil: die Gegenwärtigen sollten dem Beispiel jener (ihrem falsa invenire) nicht folgen, sondern sich für die ihnen Nachkommenden verantwortlicher erweisen (posteris meliora tradere) (II 7, 6). Daß alle Traditionskritik sich auf den Boden der rationalen Gleichheit der Voraussetzungen stellen muß, ist hier entdeckt und mit einer Geschichtsauffassung verbunden, in der die Verbindlichkeit von der Zukunft, nicht von der Vergangenheit ausgeht. Kritisieren kann man nur, wenn man Gleichheit der Voraussetzungen zugesteht; was so die Möglichkeit der Kritik schafft, läßt aber zugleich das 275
christliche Offenbarungsereignis, dessen Implikation eben Ungleichheit der Voraussetzungen vorher und nachher ist, zur Unerheblichkeit verschwinden. Diese Antinomie ist unüberwindlich; sie führt Laktanz konsequent zu der Inkonsequenz, sein Erstaunen darüber auszudrücken, daß die alte Philosophie nicht mehr Wahrheit erlangt habe.11 Ja, unter dieser Prämisse kann er die Vorsehung geradezu hindernd eingreifen lassen, damit das potentiell Erkennbare nicht zu früh (nämlich vor der Offenbarung) erkannt würde: aversos esse arbitror divina Providentia, ne scire possent veritatem (IV 2, 5). Wir haben es, wie man sieht, mit keinem Systematiker zu tun; gerade deshalb bietet Laktanz so prägnante Indizien für die strukturelle Problematik der Kritik und Rezeption der Antike durch die Patristik. Unsere These, daß der Fortgang seiner Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie Laktanz nötigt, ihr immer mehr an Vorbesitz der Wahrheit zuzugestehen, um die kritische Position überhaupt durchführen zu können, bestätigt sich im letzten Buch der Divinae Institutiones, wo der Autor, nun weit entfernt von seiner >harten< Ausgangsthese, des Umfangs jener >Vorgaben< innezuwerden scheint; jetzt gibt er zu,.daß die Wahrheit, in Partikeln verstreut über alle philosophischen Schulen, doch schon da war: totam igitur veritatem et omne divinae religionis arcanum philosophi attigerunt (VII 7, 14). Was der antiken Philosophie fehlte, war die Fähigkeit, das Berührte einsichtig ergreifen und verteidigen zu können (defendere id, quod invenerant, nequiverunt) und das zerstreut Auftretende zu einem Ganzen zusammenzufügen (in summam redigere). Auf den Anspruch materialer Neuheit der christlichen Offenbarung ist nun verzichtet; was sie hinzugebracht hat, ist die formale Möglichkeit der Unterscheidung, der Integration und dialektischen Sicherung, die certiora signa.12 Der Gott des 11 III, 11, 5: Miror itaque, nullum omnino philosophorum exstitisse, qui sedem ac domicilium summi boni reperiret. 12 VII 8, 3 macht Laktanz dies am Vergleich der platonischen und der christlichen Unsterblichkeitslehre deutlich und formuliert die formale Differenz so: Nos igitur certioribus signis eligere possumus veritatem, qui eam non ancipiti suspicione collegimus, sed divina traditione cognovimus: Charakteristisch abgewandelt ist dieser Gedanke in der Epitome Institutionum Divinarum (64, 6), wo Plato hinsichtlich seiner Unsterblichkeitslehre vorgehalten wird, daß er amputatis mediis zu ihr gelangt sei, wir würden sagen: auf unmethodische Weise, daß er non per gradus ad eam sententiam descendit. Sein Wahrheitsanteil wurde im blinden Vorstürzen, nicht im bedachten Vorgehen erlangt, als Raub, nicht als Erwerb gewonnen: amputatis enim mediis, incidit ij6
siebenten Buches ist weniger despotisch als der des ersten: er hat freigebig aus seinem arcanum ausgespendet, er hat die Wahrheit in ihrer (hier mit der Antike vorausgesetzten) immanenten Wirksamkeit freigegeben und dadurch geschichtlich spürbar werden lassen, daß der Mensch einer zusätzlichen Hilfe bedarf, um die Wahrheit wahrhaft zu besitzen. Die dogmatischen Differenzen der hellenistischen Philosophenschulen, die den Skeptikern zu ihren eindrucksvollen Antinomientafeln verhalfen, werden hier in einer Weise gerechtfertigt, die nun doch - wieder im Gegensatz zum ersten Buch - das Bedürfnis nach so etwas wie einer Theodizee verrät: particulatim verkäs ab bis tota comprehensa est (VII 7, 7). Nun aber hat Gott die >Methode< nachgeliefert, die der sporadischen Zufälligkeit ihr Recht entzieht: das casu, non ratione als Quintessenz der traditionellen Philosophie in ihrem Wahrheitsbesitz, als Aussage eines epochal neuen Selbstbewußtseins, erinnert wieder durch eine erstaunliche Strukturanalogie an die Begründung der Neuzeit, an fast gleichlautende Formeln bei Descartes und die Funktion, die er seiner méthode zuschreibt, nicht primär ein Instrument der Findung material neuer Wahrheiten, sondern der Unterscheidung und Verifikation schon gegebener Aussagen zu sein (Apfelkorbgleichnis!). Es geht hier, wenn man der in solchen Konstruktionen vorausgesetzten >Aufgabe< auf den Grund geht, um die Gewinnung der Geschichte durch eine Lehre, die mit dem Willen und der Gewißheit des Endes der Geschichte aufgetreten war; die elastische >Systematik< des Laktanz zielt darauf ab, seiner Offenbarung die Funktion einer Mitte der Geschichte anzuweisen. Zwar ist die Eschatologie das einzige dogmatische Kapitel, dem Laktanz spekulative Anstrengungen widmet; aber dabei wird die Endphase der potius in veritatem quasi per abruptum aliquod praecipitium, nee ulterius progressus est: quoniam casu, non ratione verum invenerat. Weil Plato nur eine solche Wahrheitspartikel an sich gebracht hatte, mußte ihm der >systematische< Zusammenhang, in den diese gehörte, entgehen: hie Plato aberravit: hieperdidit, quamprimum arripuerat,veritatem, cum de eultu eius dei, quem conditorem rerum ac parentem fatebatur, obtieuit, nee intellexit, hominem deo potestatis vineulis esse religatum (64, 5). Die partielle Wahrheit konnte Plato als eine selbstgenugsam philosophische erscheinen und ihm so ihre Implikation der religio verbergen. Kritik und Rezeption gehen hier Hand in Hand: die Kritik geht auf den Mangel an Konsequenz im philosophischen Vorfeld des Christentums und rechtfertigt so die Rezeption, durch die die testimonia divina als Anstoß zur konsequenten Explikation des philosophischen Erbes in Szene gesetzt werden können. 2-77
Geschichte so kompliziert, der Vorzeichenkanon so ausgedehnt, daß dem die >Zeichen der Zeit< etwa ängstlich befragenden Gemüt eher Beruhigung zuteil geworden sein muß. Zweihundert Jahre Toleranz für eine eschatologische Erwartung (VII 25, 5-7) - das nimmt dem >Nahsein< des Gerichts jede ins Leben einschneidende Relevanz und überläßt die Trübsal des Endes den Immer-anderen.13 Aber mochte so auch das Problem für die Christen selbst entschärft sein, ihre Umwelt sah offenbar immer noch in ihnen Leute, die am Ende der Dinge und der Herbeiführung der kosmischen Vorzeichen >interessiert< waren. Wenn Augustin es als ein vulgare proverbium gegen die Christen bezeichnet zu sagen: Pluvia défit, causa ChristianiH, so ist da nicht nur ungegründete Bosheit und Hexensuche im Spiele, sondern die von der neuen Lehre ursprünglich selbst hergestellte Verbindung zwischen ihrem Auftreten und den kosmischen Vorzeichen des Endes, die vom alten Kosmosvertrauen her suspekte >Unordnung< der mit biblischen Ereignissen verbundenen extraordinären Himmelserscheinungen. Arnobius, dessen Formulierung dieses Verdachtes ich schon zitiert habe, die Christen hätten die Welt zum Abweichen von ihren ursprünglichen Gesetzen gebracht, verteidigt in der ihm eigenen massiven Art, die oft dem Eigenen mehr schadet als dem Gegnerischen wehrt: Ist nicht tatsächlich alles beim alten geblieben?15 Geht die Geschichte nicht so weiter wie sie immer lief? Besteht nicht der Zusammenhang der Dinge ungebrochen fort? Hier wird die Metapher vom >Einbruch< des Christentums erstmals formuliert und abgewiesen: neque ulla irruperit novitas, quae tenoremperpetuum rerum dissociata continuatione diduxerit (I 3). Der Anspruch auf die Geschichte ist schon Verzicht auf eine akute 13 Zu der Wiedergewinnung der Geschichte durch eine elastische Chronologie der eschatologischen Verheißungen vgl. das Material bei M."Werner, a.a.O., S. 83-88. 14 Decivitate dei II, 3. Vgl. Tertullian, Apolog. c. 40. i 15 Adversus gentes 12:. ..postquam esse nomen in terris Christianae religionis occoepit, quidnam invisitatum, quid incognitum, quid contra leges principaliter institutas, aut sensit aut passa est rerum ipsa quae dicitur appellaturque natura* Die Assoziierung der göttlichen Selbstbezeugung mit dem Wunder war also ganz und gar nicht der Schlüssel, der dem Christentum den Zugang in eine Geisteswelt hätte öffnen können, die sich ihres Kosmos im umfassendsten Sinne nicht mehr sicher fühlte. Die Berufung auf den Wunder>beweis< hätte das Christentum in Widerspruch zur Sehnsucht nach dem verlorenen Kosmos gebracht. Arnobius trägt diesem elementaren Konflikt hier Rechnung. 278
Eschatologie, ja auf ein prägnantes Neuheitsbewußtsein; die christliche Eschatologie brauchte nicht mehr irgendwo in der unfrommen Neuzeit >säkularisiert< und in so etwas wie das »Kommunistische Manifest« transformiert zu werden16, ihre Verleugnung war schon der Preis für das weltgültige Eingehen in die hellenistische Geisteswelt, für das Gewinnen der Geschichte, in der es um >Lokalisierung<, nicht mehr um Infragestellung ging. Arnobius geht bedenkenlos so weit, den stoischen Weltenzyklus mit der Wiederkehr des Weltbrandes vorauszusetzen und zu fragen: quando mundus incensus infavillas et cineres dissolutus est? non ante nos? (I 4) Laktanz ist da viel subtiler, aber der grobschlächtige Arnobius konnte uns die >Aufgabe< nackt vorführen, die auch jener zu lösen hatte: in die Geschichte zurückzufinden, sich in ihr zu legitimieren, zu realisieren. Da darf nicht die absolute Wahrheit vom Himmel fallen und alles Gewesene und Tradierte zu nichts verblassen lassen. Und wie er die Funktionen auszuwiegen versucht! Die Unwahrheit wird zu einer Gegenwelt der Wahrheit hypostasiert17 und 16 Vgl. meine Besprechung von Rudolf Bultmanns »Geschichte und Eschatologie« in: Gnomon31, S. 163-166 (1959). 17 Von solchen Dualismen ist das "Werk des Laktanz so durchwachsen, daß man schwerlich an den additamenta dualistica als gnostisch-häretischen Einschüben festhalten kann: ex rebus diversis ac repugnantibus homo factus est, sicut ipse mundus ex luce ac tenebris (II12, y);fons autem bonorum deus est; malorum vero ille scilicet divini nominis semper inimicus ...ab bis duobus principiis bona malaque oriuntur... summum malum... adversarium dei (VI 6, 3-5); itaquefecit omnia deus ad instruendum certamen rerum duarum (VI 22, 2). Das von Tbomasius zuerst athetierte Stück nach VII, 5, 27 wird schon ab 5, 23 dualistisch eingeleitet. Das vermeintliche additamentum in De opif. 19, 8 paßt vorzüglich zwischen 19, 8 und 19, 9 weil die hier thematische magna vis hominis die dualistische Prämisse voll auffängt. Der Kern dieses ganzen Dualismus liegt aber in der Voraussetzung der logischen Korrelativität der Begriffe bonum-malum: hanc enim deus bonorum ac malorum voluit esse distantiam, ut qualitatem boni ex malo sciamus, item mali ex bono; nee alterius ratio intelligi sublato altero potest (V 7, 5). Ähnlich VI 15, 7 und Epitome 24,3: ita fit, ut bonum sine malo esse nonpossit. Dieses fundierende Raisonnement ist aber ganz und gar nicht gnostisch, sondern stoisch! Chrysipp hat in seiner Schrift über die Vorsehung (Stoic. Vet. Fragm. ed. Arnim II, 1169 = Gellius, Noct. Att. VII, 1) den gegen die Vorsehung und anthropozentrische Teleologie gerichteten Einwand: in eo mundo, quempropter homines fecisse dicatur, tantam vim esse aerumnarum et malorum, zurückgewiesen mit der Argumentation: cum bona malis contraria sint, utraque necessum est opposita inter sese et quasi mutuo adversoque fulta nisu consistere; nullum adeo contrarium est sine contrario altero. Chrysipp selbst beruft sich auf Plato: alterum enim ex altero, sicuti Plato ait (wohl Berufung auf »Phaidon« 60 C). Weitere stoische Belege vgl. SVF II1181,1182. Da Laktanz seine Stoi279
so das falsum intelligere zu einer eigenständigen Erkenntnisleistung aufgewertet, der das verum scire als die von Gott herkommende Erfüllung hinzutritt (II 3, 23). Die skeptische Dialektik und die christliche Offenbarung werden in diesem Geschichtsbild zu Korrelaten. Die Philosophen haben erreicht, was menschliche Weisheit überhaupt erreichen konnte: zu erkennen, was nicht ist; zu sagen, was ist, vermochten sie nicht.18 Hier beruft sich Laktanz auf eine Äußerung Ciceros19, er möchte das Wahre so leicht finden können, wie ihm das Falsche bloßzustellen gelinge; dabei habe er sich nicht in skeptischer Manier verstellt, sondern aufrichtig seine Überzeugung ausgesprochen, denn quod adsequi valuit humana Providentia, id adsecutus est, ut falsa detegeret. Hier werden nun die Attribute des Wahren und des Falschen in aufschlußreicher Weise vertauscht, indem es nicht mehr das Wahre ist, das durch seine Identität mit dem lichthaften Sein sich selbst zur Manifestation bringt20, sondern dieser Modus der Aufdringlichkeit bleibt dem Offenbarungsereignis vorbehalten, während eben nach dem Selbstzeugnis Ciceros die >Leistung< des antiken Denkens auf dem falsum quidem apparere,veritatem tarnen latere beruht und in dieser Formel seiner ontologischen Situation nach definiert ist. Mit Hilfe dieser epochalen Distinktion kann Laktanz sogar dem vielgeschmähten Epikur einen Platz und eine Funktion zuweisen: gegen Plato und Aristoteles hebt ihn positiv ab, daß er die Faktizität des Kosmos betont hatte, obwohl er dies nicht begründen konnte 21 ; und er verdirbt sich denn auch sein falsum intelligere in bezug auf die platonisch-aristotelische Weltewigkeit dadurch wieder, daß er sein Nicht-begründen-können ins Objekt projiziert und die ratio mundi überhaupt leugnet - damit aber die Welt zum Traum macht (redegitque mundum ...ad similitudinem cuiusdam
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zismen aus Ciceros »De natura deorum« schöpft, ist es kaum eine Kühnheit, zu vermuten, daß dieses Chrysipp-Argument in einer der uns verlorenen Partien gestanden hat. II 3,24: Ita philosopbi, quod summum fuit humanae sapientiae, assecuti sunt, ut intelligerent, quid non sit: illud assequi nequiverunt, ut dicerent quid sit. De natura deorum I 32, 91. Diese Bezugnahme auch De ira dei 11, 10. Vgl. Licht als Metapher der Wahrheit in: Studium Generale 10, S. 432-447 (1957) [in diesem Band S. 139-171]. VII1,10: UnusigiturEpicums,auctoreDemocrito,veridicusinhacrefuit,qui ait et ortum aliquando fuisse et aliquando esse periturum (sc. mundum). Nee tarnen rationem ullam reddere potuit...
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vanissimi somnii)22. Denkt man durch die Geschichte weiter an die Folgen, die das Zutagetreten der metaphysischen Implikationen der rezipierten platonischen und aristotelischen Philosophie für die christlichen Grundpositionen der Seinsdeutung gehabt hat, so erscheint es als sehr sensibel, wie Laktanz Epikurgegen die Essentialphysik der platonischen und aristotelischen Kosmologie einsetzt. Die dogmatischen Irrtümer des antiken Philosophen entwerten seine kritischen Errungenschaften nicht, weil er die (von dem providentiell bevorzugten Cicero allerdings eingesehene) im Hinblick auf eine noch ausstehende Epoche sinnvolle >Aufgabenteilung< und seine damit gegebene Beschränkung auf das falsum intelligere nicht kannte. Das erlaubt Laktanz, auch einen Epikur vergleichsweise milde zu beurteilen, wo er thetisch geirrt hatte: wenn er seinen sorglosen Göttern Amt und Anspruch gegenüber den Menschen aberkannte - quod a sapienti et gravi viro débet esse alienum -, so tat er das nicht aus Bosheit oder Lust an der Irreführung, sondern weil ihm das Wahre verborgen war: ignorantia veritatis erravit, ja noch mehr, weil er um das seinem Weltalter allein zugewiesene falsum apparere nicht wußte und deshalb einem trügerischen Schein von Wahrheit folgte: inductus enim aprincipio veri similitudine unius sententiae, necessario in ea quae sequebantur incurrit.23 Überall ist das antike Denken, eben weil es an das essentielle Sich-Zeigen der Wahrheit glaubte, für Laktanz der Verführung durch das Wahrscheinliche ausgesetzt gewesen. Ist es verwunderlich, daß sie Gott mit dem Himmel verwechselten, da sie doch nicht einmal am Menschen das sahen, was das Menschliche an ihm ausmacht, sondern das Gehäuse für das Wesen nahmen? 24 22 VII 3, 24: cormpit ergo, quod recte viderai, et totam rationem penitus ignorantia rationis evertit... 23 De ira dei 4, 8-9. Schärfer im Ton ist Laktanz in De opif. 6, 1, wo von der Epicuri stultitia die Rede ist und alle Verantwortung für die Lehren des Lukrez dem Meister zugewiesen wird: illius enim sunt omnia, quae delirat Lucretius. Das braucht Laktanz, nach seinem Generalrezept für die Rezeption, wiederum nicht zu hindern, einen Lukrez-Vers (aus dem dritten Prooemium: Dicendum est, deus ille fuit ... V, 8), der die Apotheose des Epikur zelebriert, auf seinen eigenen Gott anzuwenden, so daß aus dem antiken Begriff {... war ein Gott) der Eigenname des neuen Gottes geworden ist. Eines der hübschesten Zeugnisse für die Technik der Rezeption und das in ihr wirksame, alles Tradierte funktionalisierende Geschichtsbewußtsein der Patristik! 24 II 3, 8: nee mirandum est, si deum non videant, cum ipsi ne hominem quidem 281
Der Stoa rechnet Laktanz es hoch an, daß sie den Blick des Menschen auf den Himmel gerichtet hat, aber was jene für den Gegenstand der contemplatio hielten, ist für ihn nur die Richtung, das Durchstrichenwerden der Aufdringlichkeit des Erdhaften, also auch eine Form des falsum apparere. Die Richtung des Blickes ist teleologisch in der aufrechten Haltung des Menschen vorgezeichnet, und damit die Gegenrichtung der Götterverehrung. 25 Aber die Richtung genügt noch nicht, es muß gleichsam eine neue >Intensität< der contemplatio gewonnen werden, die sie über das vordergründig Sichtbare hinausträgt (von >Transzendenz< darf man wohl bei Laktanz kaum sprechen). Das Sehen gibt sich dabei nicht auf, wird nicht zur bloßen Metapher: der Anblick des Himmels geht unmittelbar in die Begegnung der Gottheit über, ohne Kausalschluß und ohne ekstatischen Sprung: homo ...ad contemplationem mundi excitatus confert cum deo vultum et rationem ratio cognoscit (de ira dei 7, 5). Daß der Himmel nicht selbst das Göttliche ist, sondern gleichsam nur dessen >Physiognomie<, argumentiert Laktanz heraus, indem er zwei dogmatische Positionen der Stoa gegeneinander ausspielt: er benutzt das Prinzip der universalen anthropozentrischen Teleologie gegen die Vergottung des Kosmos. Wenn die Gestirne nach göttlichen Gesetzen dem Wohl und Nutzen des Menschen dienstbar sind, können sie nicht selbst göttlich sein.26 Das Teleologiepr'mz'ip, das am Beginn der Neuzeit zum Fluchtpunkt fast aller Stoßrichtungen der Kritik gegen die tradierte Metaphysik werden sollte, erfüllt hier selbst die Funktion eines kritischen Prinzips. Man könnte diese Funktion auf die Formel bringen: Depotenzierung der antiken metaphysischen Dignität des Kosmos zugunsten der Auszeichnung des Menschen gegenüber alvideant, quem videre se credunt. hoc enim, quod oculis subiectum est, non homo, seä hominis receptaculum est. 25 II 1, 14: nobis autem status rectus, sublimis vultus ab artifice deo datus sit; apparet, istas religiones deorum non esse rationis humanae: quia curvant coeleste animal ad veneranda terrena ... Fast wörtliche Wiederholung II 2, 18-20.
26 Dienstbarkeit der Gestirne: istam caeli speciem tamprovidenter ad utilitates viventium temperatam (de ira dei 10, 35); caelestium rerum officia (13, 3); a deo lumina illa, ut horrorem tenebrarum depellerent, instituta (II 5, 24). Ungöttlichkeit der Gestirne: quae cum videant divinis legibus obsequentia commodis atque usibus hominum perpétua necessitate famulari, tarnen illa deos existimant esse, ingrati... (II 5, 6). Vgl. ferner VI 2, 3-4. Die Argumentation ähnelt sehr der Abwehr der Gestirnvergötzung in Deuteron. 4, 19. 282
lern anderen Seienden, aber dies wiederum nur in einer theologischen Absicht, insofern der Mensch der einzige >Partner< eines nun persönlich gefaßten Gottes sein kann. Daß die kosmische Theoria der Antike nun zu einer personalen Gegenseitigkeit umgeformt werden soll, ergab sich schon aus dem eben zitierten, nicht mehr gegenständlich kontemplativen conferre vultum. Ein signifikantes Detail ist auch die Korrektur an der stoischen Formel hominum causa mundum èsse fabricatum: hier sollte der Singular gebraucht werden, um die Begründung dieses Sachverhalts im Verhältnis des einen Gottes zu seinem einen Geschöpf zur Geltung kommen zu lassen.27 Während eine der altstoischen Kosmosformeln die Welt um der Menschen und Götter willen entstanden sein läßt (SVF II, 5 27), ist jetzt der Mensch zum alleinigen Weltbezug geworden, aber seinerseits so etwas wie der >Repräsentant< der Welt gegenüber der Gottheit. Man könnte diesen Sachverhalt vielleicht auf ein Modell vom Typus des >Statthalters< zurückführen: ei cuncta subiecta sunt, utfictori atque artifici deo esset ipse subiectus (de ira 14,2). Hier ist der stoische Teleologie-Sachverhalt ausgedrückt durch den biblischen Unterwerfungsbefehl, das heißt: ein Sein durch ein Sollen, das zum Sein transformiert ist.28 Kontemplations- und Aktionsformeln gehen daher ineinander und durcheinander.29 Es beginnt sich so etwas wie eine Weltaufgabe des Menschen herauszuschälen, seine Potenz als kosmische begriffen zu werden, und es fehlt der kleinen Laudatio des Menschen (VII4,14-16) gar nicht so sehr viel, um schon an die »Oratio de hominis dignitate« des Pico della Mirandola zu erinnern: magna igitur et recta et admirabilis est vis et ratio et potestas hominis, propter quem mundum ipsum et universa, quaecunque sunt, deus fecit, tantumque Uli honoris habuit, ut eum praeficeret universis, quoniam solus poterat dei opera mirari (VII4,16). Demgegenüber kann, ja muß der Kosmos defizient 27 VII, 4, 2-3: quanquam in hoc ipso non mediocriter peccent (sc. Stoici), quod non hominis causa dicunt, sed hominum. unius enim singularis appellatio totum comprehendit humanum genus. sed hoc ideo, quia ignorant, unum hominem a deo esseformatum,putantque, homines in omnibus terris et agris tanquam fungos esse generatos. 28 Laktanz sieht die Differenz nicht, denn als Beleg für das schon erwähnte particulatim veritas ah his tota comprehensa est führt er u. a. auch den stoischen Teleologiesatz an: hominum causa mundum et omnia, quae in eo sunt, esse facta, Stoici loquuntur. idem nos divinae literae docent. (Vgl. hierzu die Verweisung in Anm. 1.) 29 De ira dei 14, 1-3: spectatorem operum rerumque caelestium ... ut rerum omnium dominaretur... Vgl. III10, 9. 283
sein; noch die >Übel< in der Welt sind der anthropozentrischen Teleologie eingeordnet, sind gleichsam die >Leerstellen<, in die hinein die menschliche sapientia wirksam wird, in denen sie ihren Spielraum findet (VII4,14). Die antike Metaphysik hatte das Übel in der Welt als einen Mangel des gesollten Seins, als Nicht-Seiendes also, gedeutet und es damit ontologisch einer Sinngebung entzogen. Augustin wird im Anfang seiner Frühschrift »De libero arbitrio« die Verantwortung für die mala in der Welt auf die mala des menschlichen Tuns zurückführen, also das >Schlechte< auf das >Böse< reduzieren, wobei Gott in seiner Strafjustiz nur der vermittelnde Faktor sein wird; aber gerade diese der antiken Ontologie verhaftet bleibende Lösung erzwingt sich zur Voraussetzung, daß die >Sünde< nun eine geradezu metaphysische Unausweichlichkeit bekommt und dadurch im weiteren Gang des augustinischen Denkens eben den Grund ihrer Imputabilität, die menschliche Freiheit, in Frage stellt und im Ausgang zerstört. 30 Für Laktanz ist das ma30 Es ist eine völlige Verkennung der inneren Struktur eines solchen Vorgangs zu sagen, es sei der >Einfluß< des paulinischen Römerbriefes gewesen, der Augustin zum Umbau seiner frühen Freiheitskonzeption geführt habe. Das ist eine mechanische Metapher, die sich den Einfluß-Faktor mit einer bestimmten, dem vorgegebenen und als solchen massenträgen Bestand an Vorstellungen überlegenen Energiemenge ausgestattet denkt; jedenfalls bedarf es äußerster kritischer Vorsicht, ehe man sich diesem Modell eines geistesgeschichtlichen Prozesses überläßt, das gemeinhin als das fraglos-unbefragte gilt. Im Falle Augustins ist deutlich erkennbar, daß die in seiner frühen Freiheitskonzeption implizierte antike Ontologie immanent zu einer Hypertrophie des Sündenbegriffes führen mußte, zu deren Rechtfertigung das aktuale Schuldbewußtsein selbst eines Augustin nicht ausgereicht haben dürfte: alles, was noch im Neuplatonismus die Hyle in ihrer Seinslosigkeit und Dunkelheit >erklärt< oder, besser, der Erklärungsforderung entzogen hatte, mußte ja nun (nach dem angegebenen Schema von »De libero arbitrio«) als Strafübel für eine gegebene Schuld gerechtfertigt werden, um Gott von dem manichäischen Verdacht zu befreien. Diese Gesamtlast einer antimanichäischen Metaphysik hat die Sündenvorstellung zu übernehmen, eine kosmische Verantwortung, die nur durch eine ebenso universale, ihrer >Schwere< nach gar nicht bestimmbare Wurzelschuld der Menschheit >auf gebracht werden konnte. Hier ging es gar nicht mehr ohne paulinischen theologischen Sukkurs, ohne das über dem Menschen zusammenschlagende Meer einer seinstiefen Ursündigkeit. Die verschwiegene Ironie dieses die menschliche >Kapazität< überfordernden Sündenbegriffs ist es, daß über die Prädestinationsvorstellung doch eben der Manichäismus wieder hereingeholt wird, dessen Elimination der ganze Aufwand gegolten hatte; für diese Sünde in ihrer seinsaffizierenden Absolutheit konnte eben letztlich doch nur das absolute Prinzip selbst verantwortlich gemacht werden - die massa damnata hatte dafür nur noch die Folgen zu tragen. Paulus ist in dieser ganzen 284
lum ein Indiz für die Stellung des Menschen zum Kosmos: so wie der dem Kosmos angehörende Leib des Menschen mangelhaft ist, damit sich die geistige Potenz des Menschen erweisen kann31, muß der Kosmos im ganzen Nichtseiendes aussparen, wenn er um des Menschen willen gemacht sein soll. So polemisiert Laktanz gegen die epikureische Atomistik, daß sie in unendlichem Raum und unendlicher Zeit eine erschöpfende Kombinatorik der concursus atomorum vor sich gehen lasse, wobei doch alle überhaupt möglichen Seinsgestalten zutage treten müßten, also auch das, was der menschlichen ars eigentümlich sei, dabei von der Natur zustande gebracht werden müßte - eben das aber sei nicht der Fall: den Himmel hätte die Natur hervorgebracht, nicht aber Stadt und Haus, Marmorgebirge, nicht aber marmorne Säulen und Standbilder.32 Also muß, so läuft hier die Argumentation, die Prämisse der unendlichen Atomkombinatorik falsch sein; es ist nicht alles in der Natur >schon da<, also ist planvoll ausgespart worden, was der Mensch für sich selbst hervorbringen sollte und wozu er so ausgestattet wurde, ut ipse sibi efficeret quae ad usus essent necessaria (de ira ίο, 41). Der vollständige Kosmos als Ausschöpfung aller in den Ideen vorgebildeten Seinsmöglichkeiten war der Inbegriff der >Leistung< des platonischen Demiurgen gewesen; Vollständigkeit des Seinsmöglichen galt für den aristotelischen wie für den stoischen Kosmos, und auch die demokriteisch-epikureische Atomistik hatte dieser Norm genügen müssen, weshalb es trotz der Pluralität der Welten in ihr nur die unendliche Wiederholung des uns umgebenden Exemplares von >Welt< gab. In diesem metaphysischen >Rahmen< blieb dem Menschen nur übrig, nachzuahmen, was er vorfand.33 Eine neue Konzeption des Menschen, die ihn zum >Partner< Gottes machen konnte, erforderte das Zerbrechen des Rahmens. Sache (wenn es schon einer metaphorischen Hilfe bedarf) nur der >Katalysator<, dessen Bestärkung die Konsequenzen fließen läßt. 31 VII4,14: itaque nudumformavit et inermen (sc. hominem), ut eum sapientia et muniret et tegeret. Vgl. de opif. 2, 6; 2, 10; 7, 9. 32 De ira dei 10, 39f.: quaero curfacere caelumpotuerit (sc. natura), urbem aut domum non potuerit, cur montes marmoris fecerit, columnas et simulacra nonfecerit. atquin non debuerant atomi etiam ad baec efficienda concurrere, siquidem nullampositionem relinquunt quam non experiantur? nam de natura quae mentem non habeat non est mirandum quod baec facere oblita sit. 33 Vgl. Nachahmung der Natur in: Studium Generale 10, S. 270-278 (1957) [in diesem Band S. 9-46]. 285
Laktanz zeigt sich von dieser Konsequenz erfaßt und sucht ihr gerecht zu werden. In der Frage nach der ratio operis der Schöpfung wendet er gegen die aus dem platonischen »Timaeus« kommende Begründung, der Schöpfer schaffe, weil er gut sei, ein, dies würde eine durch und durch gute Welt erfordern, das heißt: eine Welt ohne Nichtseiendes. Da aber diese Konsequenz nicht gegeben sei, müsse die Prämisse falsch sein. Die ratio operis kann nicht in der göttlichen Immanenz eingeschlossen bleiben: quoniam complexus est (sc. mundus) bona et mala, nee feck (sc. deus) propter se quicquam, sed propter aliud (epit, 63,5). Dadurch, daß der Mensch zur ratio operis wird, rechtfertigt sich eine unvollständige, Nichtsein einschließende Schöpfung, eine Welt, die des Menschen bedarf wie er ihrer und dadurch Notdurft und Freiheit vereinbar macht. Dieses Menschenbild wirkt auch in die Götterkritik hinein. Laktanz will ja diese Kritik mit der These durchführen, die antiken Götter seien ursprünglich Menschen von besonderen Verdiensten (z.B. Erfindung des Getreide- oder Weinanbaus) gewesen, die daraufhin vergottet wurden. Um so argumentieren zu können - also diese Götterwelt nicht nur auf Lüge und Erdichtung, sondern auf ein. fundamentum in re, wenn auch ein fundamentum imperfectum, zurückzuführen -, muß Laktanz sagen dürfen, daß jene >Urerfindungen< gar keine göttlichen Qualitäten erforderten, sondern im Bereich der wesentlich menschlichen Kapazität lagen. Durch die Götterkritik wird die >Erfindung< zu einer menschlichen Fähigkeit, aber doch so, daß der göttliche Ursprung nur um einen Schritt zurückverlegt wird: die menschlichen Erfindungen bleiben im göttlichen Autorenrecht, weil Gott sowohl diese Fähigkeit als auch die Voraussetzungen ihrer Realisierung in der Natur begründet, beides aufeinander >abgestimmt< und nur die Aktualisierung dem Menschen >überlassen< hat.34 Ein Gott, der seinem Geschöpfe sapientia gewährt, kann nicht zugleich alles >selbst machen< und bleibt doch Urgrund von allem. Wie kühn, trotz dieser Rückbindung, diese Stelle Späteren erschien, verrät die Tatsache, daß eine Reihe früher Ausgaben durch einen Textzusatz Gott selbst zum Ersterfinder macht: ...et ipsa illa, quae possent inveniri,primus invenit.35 34 118, 20: reliquerit haec sane deus humanis ingeniis eruenda: tarnen fieri non potest, quin ipsius sint omnia, qui et sapientiam tribuit homini, ut inveniret, et ipsa illa, quae possent inveniri. 3 5 M. Thomasius, der diesen Zusatz streicht, begründet charakteristischerweise: nam de Deo ante et hie loquitur, declarans, quamvis homines aliquem usum 286
Wir waren "davon ausgegangen, daß Laktanz die stoische contemplatio caeli in ein personales vultum conferre zu transportieren sucht. Dazu war nicht nur eine neue Formulierung der antiken Anthropologie notwendig, sondern auch der metaphysischen Theologie. Es würde eine eigene Abhandlung erfordern, das aufzuzeigen. In der Schrift »De ira dei« ringt Laktanz der stoischen Affektnegatiön und der hinter ihr stehenden Metaphysik des >unbewegten< Gottes den Zorn als Attribut eines moralisch Stellung nehmenden, ja richtenden absoluten Wesens ab. Die Unterscheidung zwischen immobilitas und immutabilitas (I n , 8; II 8, 44) bereitet Augustinisches vor. Das Machtmoment wird stark betont: posse enim dei est; nam si nonpotest, deus non est (II 8, 27), ja zum Kern des Gottesbegriffs gemacht: deus est nomen summae potestatis (I 3, 23). An die iuris civilis ratio knüpft ausdrücklich an die Einheit vonpater und dominus (IV 3,15). Charakteristisch ist auch eine Zurückführung der Mitmenschlichkeit auf den Gottesbegriff: deus enim, quoniam pius est, animal nos voluit esse sociale, itaque in aliis hominibus nos ipsos cogitare debemus (VI 10, 10) - dieses pius >übersetze< erst mal einer so, daß der kausale Sinn auch wirklich vollziehbar wird. Der Kern dessen, was wir im Nachhall unserer theologischen Tradition Personalität nennen, wird in all diesen Bestimmungen eher umspielt als getroffen. Aber was trifft den Kern dieses Begriffes eigentlich, dessen Bedeutung wir doch mehr zu kennen glauben als wirklich kennen?36 Etwas - w i e heute doch recht beliebt - über den >Personbegriff< bei irgend jemand zu schreiben, ist zumeist ein Tasten nach Kontur im Vagen. Ich beteilige mich für Laktanz nur mit einem Zitat an diesem Spiel, von dem ich das Gefühl habe, daß es etwas an der Sache >trifft<: solus igitur humano generi utilem multamm rerum invenerint, tarnen omnia in Deum esse referenda, qui et prudentiam hominibus ad inveniendum ea tribuerit, et res ipsas effecerit, in quibus prudentia haec passet apparere. In dieser Abschwächung erscheint die inventio nur als >Entdeckung< eines usus utilis rerum, während Laktanz das ipsa illa quae possent inveniri im Sinne der Begründung der >formalen< Kausalität einer res utilis gemeint haben dürfte. 3 6 Laktanz selbst dürfen wir da höchstens nach der Sache befragen; den Namen verwendet er noch ganz unbefangen so: homo voluptarius (sc. Epicurus) personam sibi virifortis imposuit... III 27, 5). Etwas näher der augustinischen Ausstattung des Begriffs kommt er bei der Formulierung der Goldenen Regel: transfer in alteriuspersonam... (epit, 55,3), aber man lese auch da nichts hinein. 287
deus est, qui factus non est... ex seipso est... et ideo talis est, qualem se esse voluit (II 8, 44). Ein Wesen, das so ist, wie es sich will und weil es sich als dieses will - das ist freilich ein Entwurf jenseits antiker Ontologie. Und vielleicht läßt sich dies auch als Prinzip der Einheit der neuen theologischen Attribute durchführen, etwa für das ens infinitum: weil der Wille unendlich ist, ist ein Wesen, das so ist, wie es sich will, ein unendliches Wesen. Das aber nur als Vermutung, wie dieses Theologumenon mit einem Personalitätsbegriff zusammenhängen könnte. Dem sich-selbst-wollenden (statt: sich-selbst-denkenden) Gott entspricht eine >Religion< der inneren Freiheit: religio sola est, in qua libertas domicilium collocavit. res est enim praeter ceteras voluntaria, nee imponi cuiquam nécessitas potest, ut colat, quod non vult (epit. 49, 1). Die Entdeckung einer neuen Positivität der Freiheit steht hier als Fazit am Ausgang der Verfolgungszeit. Die Antike hatte den Freiheitsbegriff vorwiegend unter dem Aspekt der Antithese: universale Ordnung (Kosmos) individuelle Willkür gesehen; Freiheit war nicht das, worauf sich der Mensch berufen konnte, sondern vielmehr, woraufhin er zu seiner Ordnungsverantwortung berufen werden konnte, etwa: sich Lob oder Tadel der Polis zuzurechnen hatte. Das durch die Martyrerzeit geprägte Selbstbewußtsein sieht den Freiheitsbegriff unter dem Aspekt der Antithese: öffentliche Ordnungsgewalt individuelles Recht auf Überzeugung. Bei Laktanz (noch nicht bei Tertullian) kommt der Gedanke zur Formulierung, daß der Märtyrer nicht nur für >seine Sache<, sondern für das Prinzip der Möglichkeit einer >eigenen Sache< überhaupt stirbt. Mit Recht beansprucht die neue Religion hier, gegenüber der antiken Objektivierung des Freiheitsproblems als domicilium der neuen Freiheit des Subjekts zu gelten. Der Mensch kann diesem Gott, der sich in seinem Sein will, nur noch dadurch als >Partner< begegnen, daß er wenigstens in diesem Akt der religio sich seinerseits frei zu dem bestimmt, was er ist. Bedeutet das, dieses Verhältnis sei fortan personal·? Ein letzter Punkt darf nicht übergangen werden, wenn die strukturelle Komplexion von Kritik und Rezeption an unserem Paradigma einigermaßen zureichend veranschaulicht werden soll; er betrifft das Verhältnis des Rhetors Laktanz ζμΓ Rhetorik. Das ist eine Frage, die auch andere patristische Autoren rhetorischer Provenienz in Verlegenheiten gebracht hat. Laktanz ist sich des Zurückbleibens seiner Glaubensurkunden gegenüber dem rhetori288
sehen Stilanspruch wohl bewußt; er weiß, wie sehr das Christentum benachteiligt ist durch die Uneingängigkeit seiner Urkunden für das Ohr der grammatisch-rhetorisch Geschulten: nee quaerunt vera, sed dulcia; imo Ulis haeevidentur esse verissima, quae auribus blandiuntur (epit. 57, 7). Der eigentliche Konflikt des Laktanz besteht nun darin, daß er einerseits von der Vorstellung der vis veritatis beherrscht ist und ihr das Feld allein einräumen möchte, daß aber andererseits seine eigene Erfahrenheit mit Technik und Wirkung rhetorischer Mittel ihm doch geraten erscheinen läßt, die Wahrheit nicht ganz sich selbst zu überlassen. So kann er kurz hintereinander von der incredibilis vis eloquentiae verderblicher Philosophen und der vis veritatis sprechen, die uns keinen Zweifel erlaubt, veritatem ipsam contra fallacem captiosamque faeundiam sua propria vi et claritate valituram (de opif. 20, 5). Vermutlich zeigt sich auch hier etwas von dem charakteristischen Dualismus des Laktanz und vielleicht auch von dem in der Geschichte immer dann auftretenden Dramatisierungsbedürfnis, wenn für eine Sache nur noch durch Reden eingetreten werden kann. Darauf weisen so künstliche Antithesen wie die zwischen der scientia bene dicendi und dem pie atque innocenter vivere (11, 9) hin, wobei sich Laktanz auf die Griechen beruft, denen der Ruhm des Philosophen mehr gegolten habe als der des Rhetors. Die Begründung, daß das Reden doch nur wenige, das Leben aber alle anginge, wirkt wenig überzeugend. Schließlich will er doch nur der >Wahrheit< seine Reverenz erwiesen haben, indem er sagt, daß sie den Rhetor und Stilisten eigentlich gar nicht nötig habe<, um dann aber für sich und seine Dienste und Künste freie Hand zu bekommen, denn mit Glanz und Schmuck zieht die Wahrheit um so sieghafter in die Gemüter ein.37 Diese >VerstärkerBildung< in die neue Epoche eingelassen worden ist. Auch der Topos des Rhetors Laktanz, er sei unerfahren und armselig in der Redekunst, hat immer wieder dazu gedient, allen Glanz und alle Macht des Vortrags der Sache selbst zuzuschreiben, die er vertritt: sed necesse est, ipsa me faciat causae bonitas eloquentem (III 13,12). Die Rhetorik will sich nicht als Instrument, sondern als Ausdruck der Wahrheit verstan37 11,10: quae licet possit sine eloquentia defendi, ut est a multis saepe defensa; tarnen claritate ac nitore sermonis illustranda et quodam modo disserenda est, ut potentius in animos influât, et vi sua instructa, et luce orationis ornata. 289
den wissen. Der Glanz der Diktion soll als der Glanz der Wahrheit selbst, als die unvermittelte und ungekünstelte Selbsttranspositiqn der Sache in die Sprache verstanden werden.
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Neoplatonismen und Pseudoplatonismen in der Kosmologie und Mechanik der frühen Neuzeit Résumé ι. A partir du XVe siècle, se réclamer de Platon et des platoniciens, c'est avant tout délimiter des positions contre Aristote et les scolastiques aristotéliciens et les appuyer sur une autorité comparable à celle d'Aristote. 2. Dans ce mode d'utilisation, le contenu spécifique de la philosophie platonicienne se perd, ainsi que la cohérence de ses propositions fondamentales. 3. Dans la tradition scolastique déjà, on attribue au platonisme trois thèses opposées à l'aristotélisme: i° La thèse qui affirme un commencement du monde et une création de l'univers, en opposition à la thèse de l'éternité du monde; 2° la thèse qui affirme l'immortalité de l'âme, contre la thèse qui professe seulement l'unité de l'intellect agent; 3° le schéma qui pose la transcendance des idées et la vérité absolue contre la théorie de la connaissance qui admet la possibilité de tirer des concepts à partir de l'expérience sensible et des vérités à partir du donné objectif. 4. Ces »platonismes« sont développés et modifiés à l'aide d'éléments tirés du néoplatonisme. La création du monde est conçue comme un processus universitatis: elle devient un moment du »procès génératif« que le néoplatonisme avait fait émaner de l'Un, et que la théologie trinitaire chrétienne avait ensuite utilisé pour représenter les relations de personnes divines entre elles (à condition d'exclure toute idée de subordination). Il en résulte que les attributs divins passent à l'univers lui-même (par exemple l'infinité, chez Nicolas de Cuse) et qu'ainsi s'efface peu à peu la différence entre generatio et creatio. 5. Cette problématique peut se préciser dans celle de la toute-puissance divine: Dieu a-t-il créé tout ce qu'il pouvait créer et comme il pouvait le créer? En référence au Timée (29 E) s'élabore, contre une notion volontariste de l'acte créateur, une contreposition: si le créateur a voulu produire toutes choses comme semblables à lui-même, le monde ne peut être un choix parmi des produits possibles de la puissance divine: il doit »épuiser« tout le potentiel qui se trouvait dans son origine. Par là, la création du monde ne peut plus se distinguer de la génération du Fils de Dieu et finalement elle se ramène à une identité avec sa cause divine elle-même. La ligne que l'on peut tracer de Nicolas de Cuse à Spinoza en passant par Giordano Bruno manifeste cette suite logique. Giordano Bruno tient fermement à l'idée de Nicolas du Cuse selon laquelle Yunitas produit Yaequalitas; mais pour lui Yaequali291
tas n'est plus le Fils de Dieu, mais l'Univers lui-même. Impersonnalisme métaphysique et pensée copernicienne convergent en cette solution: ou bien l'univers ne peut absolument pas être ou il doit être infini. 6. L'idée fondamentale du platonisme: la transcendance du monde des idées par rapport au monde des choses ne peut subsister dans le cadre de cette cosmologie. L'existence de corps géométriques »parfaits« devient le présupposé du développement de la mécanique nouvelle et de ses expériences »idéales«: par exemple, le comportement d'une sphère »parfaite«, sur un plan »parfait«. Ce que la cosmologie aristotélicienne concédait au domaine astral, devient moyen d'exposition de la mécanique de tous les corps qui se trouvent dans le monde. 7. Une conséquence très importante de cette évolution est l'explication que Copernic a donnée de la mobilitas terrae à partir de la forme sphérique parfaite. Les deux premiers chapitres des Revolutiones correspondent à une destruction des présupposés aristotéliciens à l'aide de la tradition néoplatonicienne.
Der genuine Piatonismus hat sich offenkundig zur Konstituierung einer >Schule< und damit einer doxographisch faßbaren homogenen Tradition nicht geeignet. Man kann das seinem sokratischen Erbe zuschreiben. Man kann aber auch den in der Akademie alsbald ausgebrochenen Skeptizismus noch in den Zusammenhang der Steigerung der Transzendenz des adäquaten Erkenntnisobjekts durch Plato selbst bringen. Schließlich bestätigt auch das Phänomen des Neuplatonismus die Traditionsschwäche der. platonischen Philosophie: zu einer schulmäßigen Verfestigung ist der Neuplatonismus nur dadurch gekommen, daß er sich in hohem Maße aristotelische und stoische Elemente einverleibte, also solche aus bereits bewährten Schulsystemen. Der spätantike Neuplatonismus ist ein Pseudoplatonismus, und vielleicht ist er es als ein Piatonismus ohne Sokrates, wie Walter Bröcker Plotins Philosophie charakterisiert hat.1 Aber gerade dadurch ist er traditionsfähig und traditionsmächtig geworden - und dies in demselben Maße, in dem die Spezifität der Einflüsse und Rezeptionen vager und ungreifbarer geworden ist. Seit Petrarca hatte die Berufung auf Plato und die >Platoniker< vor allem die Funktion, Positionen gegen Aristoteles und die aristotelischen Scholastiker abzugrenzen und mit vergleichbarer Autorität abzustützen. Petrarca kommt zu Plato über die Kon1 Walter Bröcker, Piatonismus ohne Sokrates. Ein Vortrag über Plotin, Frankfurt 1966. 292
fessionen Augustins. Unter dessen Bekehrungen fesselt ihn vor allem die erste, die Bekehrung zur Philosophie durch den »Hortensius« des Cicero. Nach allem, war wir wissen können, erschien Cicero hier trotz des skeptischen Einschlages, den er seiner Hauptquelle - dem »Protreptikos« des Aristoteles - gab, als Platoniker. Kein Zweifel, daß Petrarcas Neugierde auf den originalen Plato über diesen uns oberflächlich erscheinenden Weg der Mißverständnisse gelenkt worden ist. Die Faszination durch die Form des Dialogs darf man nicht gering veranschlagen: sie enthielt den Widerspruch zum Typus der großen scholastischen Traktate, Summen und Kommentare. Petrarca besaß einen Kodex mit sechzehn Dialogen Piatos, in dem er mangels griechischer Kenntnisse nicht zu lesen vermochte. Aber gerade solche Unbestimmtheit der Kenntnisnahme von platonischer Philosophie erlaubte, ihr eben die Funktion einer Antithese gegen die Entwicklung des Aristotelismus zuzuweisen. Die aristotelische Orthodoxie verfloß Petrarca mit dem, was unter dem Schimpfwort des »Epikureismus« stand; das hieß vor allem Leugnung des Anfanges der Welt und der individuellen Unsterblichkeit. Was im 15. Jahrhundert im Gegensatz der Akademie von Florenz und der Schule von Padua Gestalt annimmt, läßt sich nicht auf die einfache Formel von Fortschritt und Orthodoxie zurückführen: In Padua ist für die Vorbereitung einer neuen naturphilosophischen Methode mehr geschehen als in Florenz, in Florenz für die Vorbereitung einer vom anthropologischen Interesse abgelösten und damit zu ihren eigenen Fragestellungen freigegebenen Kosmologie mehr als in Padua. Aber es wird für die beiden folgenden Jahrhunderte deutlich, daß der Platonismus ein Instrument gegen die Herrschaft des Aristotelismus sein konnte. In diesem Zusammenhang nennt sich vieles platonisch, einfach um sich auf die Seite derjenigen zu schlagen, die bereits eine Front gegen die Scholastik errichtet zu haben schienen. Fragt man nach reellen Abhängigkeiten, so bleibt zumeist wenig Greifbares übrig.
I. Fontenelle hat in seiner »Histoire des oracles« als die wichtigste Wirkung der platonischen Philosophie den Zusammenhang mit der christlichen Lehre von der Trinität bezeichnet. Er hat dies 293
natürlich nicht als einen >Einfluß< zu verstehen gegeben, sondern als die Leistung eines halben Propheten, der verschiedene wichtige Lehrsätze des Christentums vorhergesehen hatte.2 Nun ist klar, daß hier der Name Piatos für den Neuplatonismus steht, denn die Behauptung, man könne von der Trinitätslehre nicht leugnen, daß sie ziemlich deutlich in Piatos Schriften enthalten gewesen sei, bleibt ohne Stütze. Aber der Anteil, den die neuplatonische Hypostasenlehre an der Ausbildung der Trinitätsspekulation gehabt hatte, behält für die frühe Geschichte der neuzeitlichen Kosmologie eine eigentümliche Bedeutung. Der Neuplatonismus hatte die Gesamtheit dessen, was aus dem Prinzip des Einen hervorgeht, in den Zusammenhang eines generativen Prozesses gebracht; der Ursprung der Welt war prinzipiell nach demselben Schema verstanden wie der Ursprung des Geistes und der Seele. Die Trinitätsspekulation aber hatte den generativen Prozeß auf die innergöttliche Hervorbringung der drei Personen beschränkt und zur Erklärung des Weltursprungs eine heterogene Vorstellung eingeführt, die der Schöpfung durch Befehl und Willen. Diesen Dualismus möglicher Ursprünge hatte der Gottesbegriff des Aristotelismus zu formulieren erleichtert, indem, er den Begriff des unbewegten Bewegers als des sich selbst denkenden Denkens zur Erklärung des inneren Generationsprozesses der Gottheit anbot. Damit konnte die scholastische Spekulation die neuplatonische Tendenz auffangen, in der Folge der Hypostasen auch die Welt als Produkt eines essentiellen Prozesses aufzufassen, als den Inbegriff der notwendigen und natürlichen Selbstentfaltung des absoluten Prinzips aller Realitäten. Dieser Naturalismus in den Grundvorstellungen des Neuplatonismus hatte schon bei Augustin eine erkennbare Abneigung gegen die Metaphorik des Fließens und der Übergänge hervorgerufen: Nihil est omne quodfluit ...est autem aliquid, si manet, si constat, si semper taie est.71 Die Herausarbeitung der Schöpfung aus dem Nichts impliziert eine schärfere Zäsur zwischen Schöpfer und Schöpfung, die Betonung der momentanen Totalität des schöpferischen Aktes gegen jedes Verfließen und Ausfließen. Am prägnantesten zeigt sich das in der Rede vom ictus condendi, in der 2 Histoire des oracles, éd. Maigron, S. 22 f.:... on le regardoit comme une espèce de Prophète, qui avoit deviné plusieurs points importans du Christianisme, sur tout la sainte Trinité, que l'on ne peut nier qui ne soit assez clairement continue dans ses écrits (Übersetzung von Gottsched). 3 De beatavita II, 8. 294
ausdrücklich jede Bildlichkeit des Allmählichen, des gradibus attingere und des gressibus pervenire, korrigiert und überboten werden sollte.4 Bei dem Versuch, einen Text einer bestimmten Tradition zuzuordnen, tut man gut daran zu fragen, welche Metaphern untragbar geworden sind. Mit dem Ausgang des Mittelalters wird der von Augustin formulierte Widerstand gegen die neuplatonische Metaphorik für den Ursprung der Welt auch dort weitgehend zurückgenommen, wo die Differenz von generatio und creatio terminologisch festgehalten ist. Erkennbar ist das vor allem daran, daß genuin theologische Attribute auf die Welt übergehen, wie das der Unendlichkeit bei Nikolaus von Cues, wobei dessen Kautelen und Zusatzbestimmungen alsbald ihre Wirksamkeit einbüßen. Wenn sich der göttliche Ursprung wesensgemäß in der Erschaffung der Welt verausgabt und erschöpft, dann entfällt die fundamentale Differenz zwischen dem Willen und der Natur. Was dann aus der Hypostasenlehre übrigbleibt, ist so etwas wie der rituelle Modus der Seinsentfaltung, die Stellenfolge der Hervorgänge, die zu Thesen wie der folgenden führen: Quod pater non posset producere creaturas nisi productis filio et Spiritu Sancto. Das ist ebenso konsequent im Schema des Neuplatonismus gedacht wie das filioque in der Trinitätslehre: an jeder Phase des Prozesses sind alle vorhergehenden notwendig beteiligt. Aber dieses metaphysische Ritual ermöglicht es auch, neue und gegenüber der Tradition oppositionelle Aussagen zu machen. Wenn generatio und creatio ununterscheidbar geworden sind, dann müssen der creatio alle Wesenszüge beigelegt werden, die der generatio zugesprochen worden waren. Hier hat ein authentisch platonischer Text, nämlich der Demiurgenmythos des »Timaios«, auf das neuplatonische Schema verändernd eingewirkt, also der ganz andersartige handwerkliche Grundgedanke auf die generative Idee. Dabei spielt besonders der eine Satz eine Rolle, nach welchem der Demiurg alles sich selbst möglichst ähnlich hervorbringen wollte.5 Man könnte sagen, daß dieses Prinzip des platonischen Dialogs dem anderen, dort später ausgesprochenen in der Tradition den Rang abläuft, nach dem die Herstellung der Welt dem Muster der vorgegebenen Urbilder unterworfen ist.6 Daß die Auslegung der Stelle 29 Ε heute noch umstritten ist, braucht im 4 De genesi ad litteram IV, 33, 51. 5 Timaios 29 e. 6 Timaios 31a. 295
Zusammenhang der Wirkungsgeschichte nicht zu interessieren. Sie fundiert jedenfalls eine Auffassung des Weltursprungs, die den mittelalterlichen Allmachtsbegriff entscheidend korrigiert, nach dem die faktische Welt auch hinsichtlich ihrer Qualität kontingent ist, also immer noch eine andere und bessere als diese hätte geschaffen werden können. Für das Werk des platonischen Demiurgen soll doch gelten, daß er das Äußerste aus seinen Möglichkeiten macht, genauso, wie der urbildliche Kosmos, nach dem er sich richtet, den Inbegriff des überhaupt Realisierbaren darstellt. Das Mögliche so gut wie möglich zu machen - wobei der vorgegebene Weltstoff das Maß der handwerklichen Güte einschränkt -, ist der Inbegriff des demiurgischen Aktes. Das genuin platonische Motiv des Demiurgen, das ihn überhaupt zu seinem Werk bestimmt, ist freilich der Anblick des chaotischen Urstoffes in seiner Unerträglichkeit als Herausforderung des formenden und ordnenden Zugriffs. Dieses exogene Motiv entfällt unter der Herrschaft des Schöpfungsbegriffes. Aber wenn die Schöpfung ihr stoffliches Substrat zugleich hervorbringt, dann kann dieses nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden, daß das Werk hinter der in ihm wirksamen Absicht zurückbleibt. Die Welt als Manifestation der Allmacht kann hinter dem, was dieser möglich ist, nicht faktisch zurückbleiben, wenn der Ideenkosmos und der Demiurg identisch geworden sind, wenn die Intention des Schöpfers als die platonische definiert werden kann, alles sich selbst möglichst ähnlich hervorzubringen. Die optimale Lösung der Frage nach dem Seinsgrund liegt in der Annahme, daß ein absolut mächtiges und zugleich absolut gutes Wesen nichts anderes aus sich bewirken kann, als sich selbst zu reproduzieren. Das ist der Grundgedanke des generativen Prozesses, der sich als Grenzwert der Rationalität auch des kreativen Aktes erweist. Wenn das aber so ist, dann tendiert aus seiner eigenen Logik der Begriff der Schöpfung darauf, die Welt aus der vierten Stelle des neuplatonischen Hypostasenschemas herauszulösen und in diesem auf den zweiten Rang zu setzen. Der nächste konsequente Schritt wäre dann die Anwendung des Prinzips der Identität des nicht Unterscheidbaren. Und dies ist in der Tat die Logik, die von Nikolaus von Cues über Giordano Bruno zu Spinoza und zur Naturphilosophie des Idealismus führt. Für die neuzeitliche Kosmologie sind auf dieser Linie wichtige Schritte gleichsam als Nebenprodukte, aber doch in Abhängigkeit von der inneren Konsequenz 296
erreicht worden. Spinoza hat unter den Voraussetzungen seiner Metaphysik das Prinzip der conservatio sui formuliert, auf dessen Überwindung der mittelalterlichen conservatio-Idee die neuzeitliche Physik beruht, Aber wichtiger noch war der Schritt, den Giordano Bruno über Nikolaus von Cues hinaus getan hatte, indem er dem unendlichen Universum die Attribute und die Stelle des Gottessohnes der christlichen Theologie gab. Bruno benutzt die Begriffe des Cusaners, aber er setzt gleichsam das dritte Buch der »Docta ignorantia« an die Stelle des zweiten Buches, er formuliert die Kosmologie in der Sprache der Christologie. So kann er an der cusanischen Grundidee festhalten, daß die unitas die aequalitas hervorbringt, aber diese aequalitas ist jetzt nicht mehr die zweite göttliche Person, sondern das Universum. Der Erschöpfungszwang des Weltursprungs ist, obwohl hier erst vollends beim Wort genommen, neuplatonisches Erbe. Aber die Bilder Plotins von der Quelle, die überfließt und dennoch unerschöpft und ungemindert in sich verharrt, von der Wurzel des gewaltigen Baumes und von dem sich selbst mitteilenden Licht sind für die neue Konzeption nicht mehr brauchbar, weil es in ihnen primär auf den Vorrang des Prinzips und seiner unangefochtenen Integrität abgesehen ist, nicht aber auf die Darstellung des aus diesem Ursprung hervorgegangenen, der Welt als eines jeder Subordination und Kontingenz entbehrenden Systems. Die Anwendung der theologischen Attribute auf die Welt ist nicht mehr metaphorischer Überschwang, sondern die genaue Bezeichnung der Disposition, mit den Attributen den Rang der Ausschließlichkeit zu absorbieren. Diese Konsequenz sollte ein knappes Jahrhundert nach Giordano Bruno bei Spinoza vollendet sein. Der Konflikt um das kopernikanische Weltsystem verbindet sich bei Giordano Bruno mit einem metaphysischen Affekt gegen die Personalität des Weltursprunges und gegen das christliche Dogma der Inkarnation, das mit jener untrennbar zusammenhängt. Daß die Ursache der Welt personal sei, bedeutete für die Scholastik dasselbe wie die Formel, daß sie keine causa naturalis sei. Die natürliche Ursächlichkeit bedeutet für die Erklärung der Welt, daß aus ihrem Ursprung nur entweder alles oder nichts hervorgehen konnte; anders ausgedrückt: das Weltall kann entweder gar nicht sein oder es muß unendlich sein, wenn es die Wirkung einer unendlichen Ursache sein soll. Eben dies ist der zentrale Satz der Philosophie des Giordano Bruno, wie ihn uns der »Somma297
rio« des Inquisitionsprozesses überliefert hat.7 Auf dieses Prinzip konvergieren Kopernikanismus und metaphysischer Impersonalismus. Kopernikus bot mit seinem heterozentrischen System den kosmologischen Ansatz, die Unendlichkeit des Universums nicht als bloße spekulative Überschwenglichkeit einzuführen, sondern sie als die Konsequenz einer wissenschaftlichen Einsicht auf dem Boden eines dringend gewordenen Bedürfnisses der Steigerung der Welt gleichsam >aufgehen< zu lassen. Dabei wandelt sich die Terminologie der Schöpfungsvorstellung von selbst ab. Bruno spricht nicht mehr von der potentia infinita, sondern von der natura als dem Deduktionsprinzip des Universums, das schon deshalb die Charaktere eines Organismus zeigt, weil sein Ursprung nicht mehr demiurgisch oder imperativ ist, sondern generativ. Hier lag die auf das Zentrum der christlichen Dogmatik gerichtete Herausforderung Brunos: kein einzelnes Faktum, keine Welt, keine Person, kein Heilsereignis durfte angesichts der Unendlichkeit des Ganzen für sich in Anspruch nehmen, die Macht oder den Willen, die Fülle und die Selbstbezeugung der Gottheit darzustellen. Die Idee der Unendlichkeit der Welt erweist sich als Antithese zum mittelalterlichen Grundbegriff der Kontingenz der Welt.8
II. Ich möchte jetzt die speziellere Problematik eines möglicherweise neuplatonischen Elements in Zusammenhang der kopernikanischen Reform behandeln. Es gehört in den größeren Komplex der immer wieder für den Piatonismus in Anspruch genommenen Texte der frühen Naturwissenschaft, in denen nicht nur mathematische Konstruktionen auf empirische Sachverhalte Anwendung finden, sondern die geometrische >Genauigkeit< realer Körper der Theorie zugrunde gelegt wird. Auf den ersten Blick ist es verblüffend, daß ein solches theoretisches Moment als >platonisch< bezeichnet wird, denn es verletzt den platonischen Chorismos von Idealität und physischer Realität. Es scheint auch, daß die aristote7 II somraario del processo di Giordano Bruno, ed. Angelo Mercati: Natura dei est finita, si non producit de facto infinitum aut infinita. 8 Hierzu H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, 540ff.; Das Universum eines Ketzers. Einleitung zu: Giordano Bruno, Das Aschermittwochsmahl, Frankfurt 1969 (sammlung insel 43), S. 45 ff. 298
lische Behauptung von der besonderen Natur der stellaren Substanz für die Ermöglichung solcher Überlegungen zumindest eine Hilfestellung gegeben hat. Aber spätestens bei Kopernikus stellt sich das Problem der Reinheit einer geometrischen Gestalt für den Erdkörper selbst. Unverkennbar liegt hier der Übergang zu einer neuen Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Materie und Geometrie, die für die Mechanik Galileis entscheidend werden sollte. Im Hinblick auf diese Konsequenz muß die vieldiskutierte Frage neu durchdacht werden, weshalb Kopernikus das erste Kapitel seiner »Revolutiones« mit der Erörterung der Frage beginnt, welche Form der Kosmos als Ganzes und die Erde im besonderen haben. Für beide wird die vollkommene Kugelgestalt behauptet. Für die Funktion der beiden ersten Kapitel des ersten Buches der »Revolutiones« im Argumentationszusammenhang des Werkes ist sicher der Bescheid nicht gering einzuschätzen, Kopernikus habe hier vor allem den Aufbau des »Almagest« des Ptolemäus nachbilden wollen. Aber gerade die für eine Nachbildung wesentlichen formalen Parallelen sucht man vergeblich, denn Ptolemäus hatte das Problem nur in einem einzigen, und zwar dem vierten, Kapitel seines ersten Buches behandelt. Diesem formalen Indiz folgt die Beobachtung, daß die Erörterung für Kopernikus einen ganz anderen Argumentationswert hat als für Ptolemäus. Vor allem demonstriert die Behandlung der Erdgestalt in einem astronomischen Traktat, daß Kopernikus Kosmologie und nicht nur Astronomie im traditionellen Sinne betreiben will, denn für die Tradition war die Erde gerade nicht Gegenstand einer astronomischen Theorie: sie war nichts als der für sich genommen irrelevante Nullpunkt eines Bezugssystems. Die These ihres Stillstandes im Mittelpunkt der Welt bedeutete nichts anderes als ihre Neutralisierung für die phoronomische Theorie. Schon mit der bloßen Thematisierung der Erdgestalt signalisiert Kopernikus, daß er - wie die Pythagoreer und wie Nikolaus von Cues - die Erde zum Himmelskörper qualifiziert. Aber damit ist das engere Argumentationsziel dieser ersten Kapitel noch nicht zureichend bestimmt. Es geht des näheren um eine Äquivalenz von Fixsternsphäre und Erdkörper, die den Vorrang der Himmelssphäre im Hinblick auf das Prädikat der Bewegung aufhebt und die Entscheidung, ob die Tagesbewegung der letzten Sphäre oder der Erde real zugeschrieben werden soll, für andere konstruktive Beweisführungen sistiert. 299
Wenn sowohl die Welt im ganzen - und das heißt hier: die letzte Sphäre - als auch die Erde kugelförmig sind, dann könnten diejenigen Eigenschaften, die vorzugsweise der Kugel zugeschrieben werden, ebensogut der Erde wie dem Fixsternhimmel beigelegt werden. In der Kugel verkörpert sich der höchste Grad der Beweglichkeit, und wenn die Erde diese Figur besitzt, dann kann es dem Leser keineswegs mehr als selbstverständlich erscheinen, daß nicht auch sie die der Himmelssphäre zugeschriebene mobilitas besitzen sollte. Man muß daran denken, daß Kopernikus auch nach seiner Reform die Sphärengestalt des Fixsternhimmels festhält, deren Auflösung mit Thomas Digges beginnt. Wenn zunächst das astronomische Phänomen der Tagesbewegung des Himmels durch die Achsendrehung der Erde erklärt werden soll, entsteht freilich eine Schwierigkeit, die aus der aristotelischen Physik und Metaphysik herkommt, nämlich die Schwierigkeit der Erklärung dieser Bewegung. Im tradierten System wird jede kosmische Bewegung von der äußersten Sphäre her nach innen über die Folge der Planetensphären übertragen und zuletzt der Mondsphäre übermittelt. Die Autorität dieses Schemas für das Mittelalter war eng mit dem Gottesbeweis aus der Ursächlichkeit für die erste Bewegung der äußersten Sphäre verbunden; diesen Zusammenhang hatte Aristoteles vor allem im zwölften Buch der »Metaphysik« hergestellt. Fernwirkungen waren im Rahmen der potentia ordinata ausgeschlossen. Die Fortpflanzung der Bewegung innerhalb des Kosmos wurde entweder durch Berührung der Sphären oder durch Beseelung der Sphärenkörper erklärt. Das kopernikanische System aber erfordert, daß weit von der äußersten Sphäre entfernt in der Nähe des Weltzentrums die höchste Beweglichkeit zunächst als Tagesrotation des Erdkörpers und dann als Komplexion der übrigen Erdbewegungen auftritt. Wenn die Tagesumdrehung des Fixsternhimmels fortan nur noch der der Erdrotation entsprechende Schein sein sollte, mußte die absolute Gleichmäßigkeit der ersten Bewegung, die in der aristotelischen Metaphysik und Physik im Zusammenhang mit dem Problem der Zeit eine so bedeutende Rolle gespielt hatte, nun der Erde beigelegt werden. Die Betonung der vollkommenen Kugelgestalt der Erde durch Kopernikus hat erkennbar den Grund, die Erdbewegung zum Äquivalent der Bewegung des Fixsternhimmels machen zu können. Kopernikus konnte die Lehre von der höchsten Mobilität der genauen Kugelgestalt bei Nikolaus von Cues gefunden haben, der 300
ihm nicht unvertraut gewesen ist. Wir haben zumindest eine direkte Spur für die Kenntnis des Cusaners in einer eigenhändigen Notiz in seinem Handexemplar des »Almagest«.9 Weitere mögliche oder wahrscheinliche Zusammenhänge hat D. Mahnke eingehend erörtert.10 Was wir noch von der Bibliothek des Kopernikus wissen können, zeigt das ausgeprägte Interesse an der platonischen und neuplatonischen Tradition.11 Einschlägig für die These von der Beweglichkeit der vollkommenen Kugel ist vor allem der erste der beiden Dialoge »De ludo globi«, an dem die Verschränkung genuin platonischer und spezifisch neuplatonischer Gedankengänge besonders klar hervortritt. Es ist die Rede von einer Art Kegelspiel, dessen Kugel durch eine konkave Asymmetrie in eine nach innen gekrümmte Bewegung versetzt werden kann. Dieses Spielinstrument führt die Diskussion auf das Problem der absolut genauen Kugelgestalt. Im platonischen Sinne wird dabei behauptet, daß die genaue geometrische Kugel überhaupt nicht materielle Erscheinung werden kann. Die Begründung für diese Behauptung weicht jedoch von der platonischen Argumentation entscheidend ab. Zwar kann die Rundung jedes realen Körpers genauer als gegeben angenommen werden; aber der Extremwert dieser Steigerung ergibt gerade nicht den vollkommen runden realen Körper, sondern ergibt die Absurdität des unsichtbaren realen Körpers: weil die extremitas rotundi mit dem Punkt der Kugeloberfläche zusammenfallen würde, eine Fläche aber nicht aus lauter Punkten konstituiert gedacht werden kann, ergibt sich Aufhebung der Sichtbarkeit.12 Das Rezept des Cusaners ist deutlich erkennbar: die Steigerung einer geometrischen Eigenschaft zu absoluter Reinheit transzendiert die physische Gegenständlichkeit als solche. Aber das Überraschende ist nun, daß der Cusaner diesen Grundgedanken dennoch auf die wirkliche Welt für anwendbar hält, indem er den Gedanken der traditionellen Kosmologie, die äußerste Sphäre sei von vollkommenster körperlicher Rundheit, aufgreift. Hat die 9 L.À. Birkenmajer, Kopernik, Krakau 1900, I, S. 581: Kopernikus hat sich den Wert für die Zahl pi mit dem Vermerk >apud nicolaum Cusa< vermerkt. 10 Unendliche Sphäre und Allmittelpunkt. Beiträge zur Genealogie der mathematischen Mystik, Halle 1937, S. 98; S. ιζγΐί ii R. Ramsauer, Neue Ergebnisse zur Coppernicusforschung aus schwedi schen Archiven. In: Forschungen und Fortschritte 18,1942, S. 316-318. 12 Nam rotunditas, quae rotundior esse non posset, nequaquam est visibilis ... Non enim rotunditas ex punctis potest esse composita. 301
Fixsternsphäre vollkommene Kugelgestalt, so muß sie von außen unsichtbar sein.13 Nur bei den einzelnen, die Welt konstituierenden Gegenständen gibt es die Dualität von Idee und Erscheinung; die Totalität der Erscheinungen ist ihrerseits etwas, was nicht mehr zur Erscheinung gebracht werden kann, also bereits Idee. Diese Sonderstellung der Kugel wird ausdrücklich als Ausnahme vom platonischen Dualismus charakterisiert. Der Kardinal des Dialogs sagt zu seinem Gesprächspartner, dem Herzog von Bayern: Obwohl du im platonischen Sinne das Richtige sagst, besteht dennoch ein Unterschied zwischen der Rundheit und einer anderen Form. Wenn es auch möglich wäre, die Rundheit im Stoff zu realisieren, wäre sie dennoch unsichtbar. Den Sinn dieser Aussage könnte man wohl auch so formulieren: die stoffliche Realität der vollkommenen Kugel würde Eigenschaften zur Folge haben, die in der physischen Welt nicht vorkommen können. Dieser Gedanke ist für die Funktion, die die genaue Kugelgestalt in den Gedankenexperimenten der frühen Mechanik haben sollte, von Bedeutung. Beim Cusaner ist das Ganze der Welt gegenüber der Gesamtheit ihrer Teile transzendent, und diese Transzendenz wird dem Verhältnis zwischen der Idee und der Teilhabe ihrer Abbilder an ihr gleichgesetzt: Man muß innerhalb des Runden zu einem Runden von größter Rundheit, welche größer nicht mehr sein kann, gelangen, weil ein Fortschreiten ins Unendliche nicht möglich ist. Das ist die Rundheit der Welt, und durch Teilhabe an ihr ist alles Runde rund. Das platonische System scheint hier voll repräsentiert zu sein; das Verhältnis von Idee und Erscheinung überlagert dasjenige des Ganzen zu seinen Teilen. Um so überraschender ist, daß der Cusaner mit einer plötzlichen Wendung das System des Ganzen der Welt wiederum nur als Teilsystem eines übergreifenden Transzendenzverhältnisses gelten läßt: Obwohl nun die Rundheit der Welt die größte ist, über die hinaus eine größere nicht wirklich sein kann, so ist sie doch noch nicht die absolute und schlechthin wahre Rundheit selbst. Sie ist nämlich nur das Abbild der absoluten Rundheit. Wir haben hier ein Schachtelsystem vor uns, in welchem die platonische Grundrelation sich auf einer jeweils höheren Stufe wiederholt. Die Leistung dieses Rezeptes läßt sich im Text sogleich daran erkennen, daß es eine der umstrittenen aristotelischen Aussagen wie die, daß die Welt ewig sei, durchaus metaphysisch zu 13 ... sipossibile foret quem extra mundum constitui mundus foret Uli invisibilis ad instar indivisibiüs puncti. 302
verkraften erlaubt, indem diese Eigenschaft >Ewigkeit der Welt< eben wiederum nur begriffen werden kann als Verhältnis der Teilhabe an der Ewigkeit selbst, die nur der Schöpfer der Welt besitzt oder ist, also der klaren Subordination trotz der Gleichheit der Prädikate. Das Urbild-Abbild-System erweist seine Elastizität daran, daß es die dogmatische Geltung umstrittener Aussagen entschärft und depotenziert, indem es diese Aussagen als eine Art metaphorischen Redens im Verhältnis zur Eigentlichkeitsstuf e der absoluten Geltung der Prädikate hinstellt. Die Eigenschaften der vollkommen runden Kugel sind im Zusammenhang dieser spekulativen Struktur gleichsam freigegeben aus der Rücksicht auf die Bedingungen der tradierten Physik und Kosmologie. So ist das zu verstehen, was über die Bedeutung der Kugelgestalt für das Prädikat der Bewegung im Laufe des Dialogs gesagt wird. Nikolaus von Cues läßt den Kardinal die Behauptung aufstellen, daß die vollkommen runde Kugel auch die Eigenschaft hätte, die ihr einmal verliehene Bewegung niemals zu verlieren. Er setzt voraus, daß absolute Homogeneität der Gestalt Indifferenz gegenüber jeder Veränderung des Zustandes zur Folge hätte. Was nämlich sich in Bewegung befindet, würde niemals zur Ruhe kommen, wenn es nicht sich zu einem Zeitpunkt anders verhielte als zu einem anderen. Die vollkommene Kugel auf der vollkommenen Ebene müßte sich wegen der Gleichheit der Bedingungen ihres Verhaltens zu jedem Zeitpunkt immerfort bewegen, wenn sie einmal in Bewegung versetzt worden wäre. Die Form der Rundheit ist die zur Beharrung in der Bewegung schlechthin geeignete, wobei freilich die aristotelische Bedingung hinzugefügt wird, daß die Bewegung dem Körper >natürlich< zukommen müsse.14 Aber welche Bewegung sollte dem vollkommen runden Globus sonst natürlich sein können als die um seine eigene Achse? Die Natürlichkeit der Bewegung der Himmelskörper hatte sich schon für die Tradition der Astronomie nicht daraus ergeben, daß sie sich als die uns leuch14 Perfecte igitur rotundus, ... postquam incepit moveri, quantum in se est numquam cessabit, cum varie se habere nequeat. Non enim id, quod movetur aliquando, cessaret nisi varie se haberet uno tempore et alio. Ideo sphaera in plana et aequali superficie se semper aequaliter habens, semel mota semper moveretur. Forma igitur rotunditatis ad perpetuitatem motus est aptissima. Cui si motus advenit naturaliter numquam cessabit. Ideo si super se movetur ut sit centrum sui motus, perpétue movetur et hie est motus naturalis, quo motu ultima sphaera movetur sine violentia etfatiga; quem motum omnia naturalem motum habentia participant. 303
tend erscheinenden Körper auf Kreisbahnen bewegen, sondern daß diese Bahnen die Erscheinungsform der Rotation von Kugelsphären um ihre Achsen waren. Man ist leicht geneigt, das, was erklärt werden soll, zu verwechseln mit dem, wodurch es erklärt wird. Daß auch und vorzugsweise die Bewegungen der sublunaren Elemente zu ihren natürlichen Ortern für Aristoteles >natürliche< Bewegungen gewesen waren, ist im Text des Cusaners vergessen, wenn er sagt, daß alle natürlichen Bewegungen durch Teilhabe an der natürlichen Kreisbewegung der äußersten Sphäre entstehen. Man kann sich im Zusammenhang mit dieser platonisierenden Teilhabe-Formel nicht vorstellen, daß der Erde die Prädikate der äußersten Sphäre übertragen werden könnten; und doch ist dies der Gebrauch, den Kopernikus von den spekulativen Prädikaten der vollkommenen Kugel machen wird. Die entscheidende Folge der Theorie von der immerwährenden Beweglichkeit der vollkommenen Kugel ist der Abbau der aristotelisch-scholastischen Theorie vom unbewegten Beweger, die auf der Voraussetzung der ständig notwendigen bewegenden Kraft für die Welt beruht. Der Cusaner kann sich mit der These von einer gleichzeitigen Erschaffung der Sphäre und ihrer Bewegung, einer concreatio, wie Augustin sie für Form und Stoff behauptet hatte, begnügen. Die Welt wird in ihrem Bestand von Gott so wenig bewegt, wie die Kugel des Spielers, nachdem sie die werfende Hand verlassen hat, die ihr einen impetus mitgibt, der nur deshalb nachläßt und erlahmt, weil die Kugel nicht vollkommen rund ist.15 In diesem Zusammenhang werden die Platonici erwähnt, weil der Gedanke von der immerwährend sich fortbewegenden Kugel genau die platonische Vorstellung von der Seele als einer geschaffenen Selbstbewegung veranschauliche.16 Für die Kosmologie der frühen Neuzeit läßt sich dieser Vergleich so anwenden: die_ organische 15 Cessât igitur impetu, qui impressus est ei, déficiente. Sed si globus ille foret perfecte rotundus ... numquam cessaret, 16 Sed creatus est in te motus se ipsum movens secundum Platonicos, qui est anima rationalis movens se et cuncta sua. - Es bedarf hier nicht des Hinweises, daß der Zusammenhang zwischen den Eigenschaften der Seele und der Kugelform zuerst von Demokrit hergestellt worden ist, der der Seele mit der elementaren Natur des Feuers die atomare Struktur der kugelförmigen Bausteine zuschrieb. Aristoteles lobt die elegante Lösung des Demokrit für die Erklärung der beiden Eigenschaften der Seele, die geistige und die bewegende Funktion: Kugelförmig aber ist für ihn der Geist und das Feuer {De anima I, 2, 405 a 6 ff.). 304
Auffassung des Weltalls als eines beseelten Ganzen nach stoischer Tradition wird entbehrlich durch die Annahme der Beharrung der Rotation der letzten Sphäre - oder des Erdkörpers. Die Bedeutung, die Kopernikus ganz offenkundig dem Nachweis beimißt, daß die Erde nicht nur Kugelgestalt, sondern diese in Vollkommenheit habe, wird jetzt verständlicher. Er gewinnt diesen Nachweis insbesondere aus der Gestalt des Erdschattens bei Mondfinsternissen: absoluti enim circuli amfractibus Lunam deficientem efficit. Daraus ergibt sich für ihn die Ablehnung aller anderen Theorien über die Erdgestalt, die nacheinander aufgezählt werden, mit der Schlußfolgerung: ... sed rotunditate absoluta, ut philosophi sentiunt.u Sogleich zu Anfang des vierten Kapitels leitet Kopernikus die mobilitas sphaerae aus der Kugelgestalt ab. Für die Himmelssphären und die ihnen zugeschriebene Sondernatur ist das eine vertraute Behauptung. Aber deren Bewegung wird als lineare Bahn eines Gestirns phänomenal, nicht als Drehung einer Kugel um ihre Achse. Die Kugel ist die hypothetische Hilfskonstruktion der Astronomie für die Erfüllung des platonischen Postulats der Darstellung aller Himmelsbewegungen aus Kreisen und gleichmäßigen Bewegungen auf diesen. Solange von Sternen und Planeten gesprochen wird, bleibt die Frage nach der Realität jener als Träger der stellaren Erscheinung angenommenen Hohlkörper irrelevant. Kopernikus aber hält in diesem vierten Kapitel des ersten Buches der »Revolutiones« seine Ausdrucksweise ganz so, daß motus circularis jederzeit auch als Ausdruck für die Achsenrotation eines soliden Kugelkörpers verstanden werden könnte, wie es für ihn im Weltall allein die Erde ist. Dabei versteht er die rotierende Bewegung im Sinne der metaphysischen Tradition als die Verwirklichung der sphärischen Form, als so etwas wie den angemessenen Ausdruck< ihrer eidetischen Einfachheit: Mobilitas enim sphaerae est in circulum volvi, ipso actuformam suam exprimentis in simplicissimo corpore (sc. sphaerae), ubi non est reperire principium etfinem nee unum ab altero secernere, dum per eadem in se ipsam movetur. Vor Newtons dynamischer Betrachtung der Kreisbahn als eines Produktes einer Mehrheit von Kräften sind Kugel und Kreis die einander adäquaten einfachsten und schlechthin rationalen Formen der Körper und ihrer Bewegung. Der in sich kreisende Körper vereinigt die Antithesen von Bewegung und 17 De revolutionibus orbium caelestium I, 3. 3°5
Ruhe, die Kreisbahn bringt Anfang und Ende in jedem ihrer Punkte zur Identität. Wenn Kopernikus dieser platonischen Erörterung mehr Raum gibt als Ptolemäus, der sie nur in einem einzigen Satz im dritten Kapitel des dritten Buches seines »Almagest« erwähnt hatte, so dient das seinem Argumentationsziel, der Erde diejenigen Eigenschaften kraft ihrer absoluten Kugelgestalt zuzueignen, die bis dahin nur den Himmelssphären zugeschrieben waren. Was ist damit gewonnen? Der tägliche Umlauf des Fixsternhimmels und der Sonne gab für die klassische Astronomie das absolute Zeitmaß der Tagesgröße. Ein gutes Stück der Anstrengungen der Metaphysik des Aristoteles war der Sicherung des Zeitbegriffs mittels der Deduktion der absoluten Regelmäßigkeit der Bewegung der äußersten Sphäre gewidmet gewesen. Durch Kopernikus wird die tägliche Umdrehung des Himmels rein phänomenal und von der Achsenrotation der Erde abhängig. Damit fällt die volle Beweislast für die Genauigkeit der kosmischen Uhr einem nach aristotelischen Voraussetzungen ganz und gar ungesetzlichen, unregelmäßigen und seiner Stofflichkeit nach unzuverlässigen Weltkörper zu. Kopernikus will es ganz offenkundig nicht auf sich nehmen, die philosophischen Prämissen und Konsequenzen seiner Reform ausdrücklich zu diskutieren; aber er weiß, auf welche Voraussetzungen er bei den zeitgenössischen Lesern seines Werkes zu rechnen hat. Er hat die Argumente für eine Umstellung der Prämissen in sein Werk aufzunehmen versucht, ohne die Grenzen der astronomischen >Kunst< explizit zu überschreiten. Aber der Versuch, als Astronom für Astronomen zu schreiben, konnte gar nicht durchgeführt werden, ohne daß ihm die unausweichliche Auseinandersetzung mit den naturphilosophischen Positionen der Tradition vor Augen stehen mußte. Man kann die Ökonomie bewundern, mit der er jeweils nach der einfachsten Schutzbehauptung für seine These sucht. Nicht die Beweise also für das neue System sind philosophisch, sondern nur die Abschirmungen gegen die Prämissen des alten. Demzufolge ist das Resultat der Erörterungen im vierten Kapitel des ersten Buches nur die Sicherung der mobilitas der Erde, nicht die Begünstigung der Behauptung ihrer tatsächlichen Bewegung. Am Schluß des Kapitels ist die weitere Aufgabe erst ernsthaft erwägbar geworden, sorgfältig zu untersuchen, welche Stellung die Erde zum Himmel einnimmt. Die Gefahr einer voreiligen Selbst306
Verständlichkeit ist behoben, daß wir bei der Erforschung der erhabenen und entfernten Gegenstände des Weltalls das Nächstliegende unbeachtet lassen, nämlich die Erde selbst, und dabei quae telluris sint, attribuamus caelestibus. Folgerichtig beginnt das fünfte Kapitel mit der Erinnerung daran, daß auch die Erde die Gestalt einer Kugel habe: terram quoque globi formam habere. Weil sie diese Gestalt habe, müsse untersucht werden, ob ihrer Beweglichkeit nicht ihre tatsächliche Bewegung entspreche. Die Überlegung folgert aus der Äquivalenz der Kugelgestalt eine bestimmte Beweislast, die derjenige übernehmen muß, der von vornherein für die Erde die Realität einer Bewegung negiert. Diese beweistaktische Wendung ist für den Gang der »Revolutiones« überaus wichtig. Sie charakterisiert zudem mit einem weiteren Zug den noch ganz mittelalterlichen Typus der kopernikanischen Reform; der gut scholastische Zusammenhang von forma und actus manifestiert sich als noch tragfähiges Denkschema. Die spekulative kosmologische Erörterung der ersten Kapitel des ersten Buches führt zu dem Punkt, an dem die Erde als Weltkörper so etwas wie ihre primäre Thematisierung für die Astronomie erfährt, nicht obwohl, sondern gerade weil sie der Standort des Beobachters und damit die erste Bedingung für die Möglichkeiten seiner Wahrnehmungen ist: Terra autem est, unde caelestis ille circuitus aspicitur et visui reproducitur nostro. Die Ironie dieser Verbindung der Metaphysik von Kugel und Kreis mit dem Kopernikanismus liegt nun darin, daß seit Newton gerade das entgegengesetzte Beweiserfordernis auftritt. Für Newton nämlich ist die Kreisbewegung eines Körpers in sich selbst, seine Achsenrotation, keinesfalls mehr eine >natürliche< Bewegung. Die Drehung der Kugel wird betrachtet als das Resultat von Kreisbahnen aller ihrer Teile. Dabei müssen Fliehkräfte auftreten, die den Bestand der Kugelform zum Ergebnis beschleunigter Bewegungen ihrer Teile machen. Durch diesen Sachverhalt gewinnt die Rotation eines Körpers wie der Erde absoluten Charakter gegenüber dem absoluten Raum; bloße Erwägungen der konstruktiven Ökonomie verlieren für die Entscheidbarkeit astronomischer Systemprobleme ihren Vorrang. Insofern sollte der empirische Nachweis für die Abplattung der Erde an den Polen zu einem Triumph des Kopernikanismus gegen die Prämissen des Kopernikus werden, errungen vor allem durch das Organisationstalent von Maupertuis, den der König von Preußen in seinem aus dem Lager von 307
Mollwitz am 14. Mai 1741 an Voltaire gerichteten Gedicht cet aplatisseur de la terre nennt. Mehr als ein Jahrhundert, nachdem Kepler mit seinem ersten Gesetz die reine Kreisform der Planetenbahnen aufgegeben und damit das platonische Postulat aus der Astronomie verbannt hatte, ist auch die platonische Hilfestellung für die Durchsetzung des Kopernikanismus an dem Punkt widerlegt und preisgegeben, an dem Kopernikus sie ursprünglich in Anspruch genommen hatte. Aber wie steht es mit der Zuordnung des kopernikanischen Arguments zur platonischen Tradition? Gilt nicht auch und gerade für Newton die Behauptung neuplatonischer Einflüsse über die Schule von Cambridge als gesichert? Die Voraussetzung der genaueren Kenntnis neuplatonischer Texte kann sehr wohl den anzusetzenden Befund effektiver Tradition verändert haben. Ich möchte das an dem hier einschlägigen Beispiel der Dynamik der Kreisbewegung wenigstens als Problem markieren. In Plotins Abhandlung II 2 »Über die Kreisbewegung des Himmels« ist die Antwort auf die Frage, weshalb sich der Himmel im Kreise bewegt, auf die Kurzformel gebracht: Weil er den Geist nachahmt. Diese Formel verbindet platonische und aristotelische Elemente. Im platonischen Dialog »Timaios« wird durch die Kugelform des Kosmos die Vollständigkeit der demiurgischen Nachbildung der Ideen veranschaulicht, indem die Kugel die optimale Fassungskraft eines Körpers darstellt. Konsequent wird bei Plato nirgendwo gesagt, daß auch das Ganze der Ideen diese Gestalt habe; die >geistige Kugel< ist vielmehr ein erst durch Plotin aufgekommenes Mißverständnis, das die metaphorische Funktion der Kugelgestalt auf die symbolische reduziert.18 Daß die kosmische Kugel darüber hinaus um ihre Achse rotiert, veranschaulicht in der Einheit von Ruhe und Bewegung die Mittelstellung der stellaren Phänomene zwischen der Unbewegtheit des Absoluten und der Irregularität der innerkosmisch-irdischen Vorgänge. Die Unbe18 Hierzu H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 125 [neue Auflage Frankfurt am Main 1998]. - D . Mahnke (a.a.O., S. 22.9Î.) deutet Plotins Mißverständnis als ein Hinausgehen über Plato in Richtung auf die >unendliche Sphäre<. Vorausgesetzt, dies träfe zu, wäre das Mißverständnis noch tiefer, denn die sphärische Form verbindet für Plato Vollständigkeit des Kosmos mit Begrenzung. Die Kosmologie der Sphäre steht gegen den Versuch Demokrits, auf der Geraden als dem rationalsten geometrischen Element aufzubauen; dabei muß die Unbegrenztheit des Raumes und der Zahl der Atome hingenommen werden. 308
wegtheit erscheint als Beharrlichkeit der Bewegung in der Umdrehung der Kugel. Aber es fehlt jede Spur eines Zusammenhanges der Begründung, durch die die Beharrlichkeit der Bewegung aus der Vollkommenheit der Kugelgestalt abgeleitet würde. Die Vernunft soll die streng regelmäßigen Umläufe der Gestirne nachahmen, um sich selbst eben deren Grundform der Gesetzlichkeit und Unbeirrbarkeit, der Identität von Ruhe und Bewegung zu geben. Für Aristoteles ist die absolut regelmäßige Kreisbewegung der äußersten Sphäre die Gestalt des Eros, indem sich der Sphärenbeweger der ruhenden reinen Wirklichkeit des sich selbst denkenden Denkens zuwendet. Plotin identifiziert Rationalität, Liebe und Nachahmung. Die Schlußformel der Abhandlung zeigt deutlich die Bezugnahme auf das siebte Kapitel des zwölften Buches der Metaphysik des Aristoteles; hier wird nämlich gesagt, worin die Nachahmung des Geistes durch die Sphäre besteht: die rotierende Kugel bewegt sich und ruht zugleich, weil sie sich um sich selbst bewegt, ohne ihren Ort zu verlassen: Der Geist bewegt sich folgendermaßen: er steht still und bewegt sich, und zwar um sich selbst. So bewegt sich nun auch das All und steht doch zugleich still. Entscheidend aber ist, daß es bei der Vorstellung der Beseelung der Welt bleibt; die Eigenart der Seele in ihrer Beziehung zum Geist ist es, was dem Sphärenkörper des Kosmos seine Bewegung verleiht. Die Kreisbewegung als Nachahmung bezieht sich auf ein Verhältnis, das der Geist zu sich selbst hat: auf sein Selbstbewußtsein. Dieser Zusammenhang war bei Aristoteles angelegt, aber nicht expliziert. Für Plotin ist die Sphärenbewegung eine Bewegung zu sich selbst, eine Bewegung der Selbstwahrnehmung und des Selbstbewußtseins und des Lebens, die niemals nach außen und zu einem anderen geht, denn sie muß alles umfassen. Diese Charakteristik soll nicht bloße Metaphorik für die Realität der Weltseele sein, sondern sie ergibt die Eigenschaften eines Lebewesens: der Organismus ist bleibende Einheit bei Bewegung aller seiner Teile. Der Übergang von der Sphärenbeseelung zur homogenen Allbeseelung mag stoischem Einfluß zuzuschreiben sein - wichtiger ist, daß die Bewegung des Ganzen als ein Produkt der Faktoren Seele und Körper in bestimmter Weise begriffen werden soll: Der Körper bewegt sich von Natur geradeaus, die Seele aber hält ihn fest und aus beidem entsteht etwas, das sowohl Bewegung wie Stillstand ist. Die Darstellung der Kreisbewegung als Resultante zweier Faktoren, ausgehend von der >Natürlichkeit< nur der geradlinigen Bewegung, 309
ist eine ungewöhnliche Abweichung von dem uns durch Simplicius überlieferten sog. platonischen Postulat, die Bewegungen der Himmelskörper ausschließlich aus der Grundform des Kreises zu entwickeln. Für das Verständnis Plotins in dieser frühen Abhandlung wird man fragen dürfen, ob sich die Auffassung von der Kreisbewegung auch auf das metaphorische Korrelat des Selbstbewußtseins beziehen ließ, ob also dieses einer primär zentrifugalen Geradlinigkeit der seelischen Antriebe gleichsam erst als deren Beugung abgerungen gedacht wurde.19 Ob in der Weltseele selbst eine Zwiespältigkeit zwischen Selbstbezug und Selbstentfremdung besteht oder ob der Weltstoff eine Art magischen Zwanges auf die Weltseele ausübt, das bleibt im ganzen Denken Plotins ungeklärt. Entscheidend ist in dieser frühen Abhandlung Plotins, daß die kosmische Kreisbewegung nicht aus der eidetischen Norm der rationalen Figur erklärt werden kann, sondern daß diese Bewegung Vermittlung des einander Widerstrebenden ist, und zwar zwischen der zentrifugalen Strebung des Körpers und der zentripetalen Kraft der Seele. Die Rotationsbewegung der Sphäre ist nicht ursprüngliche Erfüllung einer Idealität, sondern Derivat widersprüchlicher Faktoren. Bei einem Kreis steht der Mittelpunkt von Natur still. Die Peripherie aber würde, wenn sie still stände, nichts als ein großer Mittelpunkt sein. Sie wird sich daher eher um den Mittelpunkt herum bewegen, und zwar sowohl beim Körper eines Lebewesens als auch bei jedem anderen naturgemäß sich verhaltenden Körper. So nämlich kann sie zum Mittelpunkt hin sich beugen, und zwar nicht, indem sie sich zusammenzieht und dadurch den Kreis zerstört, sondern - da sie das nicht kann - indem sie um diesen herum kreist. So allein nämlich vermag sie ihr Streben zu erfüllen. Die Nachahmung des Geistes als Prinzip der Kreisbewegung ist bei Plotin organisch, nicht mechanisch gedeutet. Aber die Konstruktion der Kreisbewegung aus divergenten metaphysischen Prinzipien kommt auf den ersten Blick Newtons Vorstellung von der Entstehung der Planetenbahnen aus Trägheit und Gravitation nahe. Das bedeutet nicht, Plotin eine Art Vorahnung oder Vorwegnahme der Einsichten Newtons zuschreiben zu dürfen; das metaphysische Bedürfnis Plotins erklärt seine Konzeption zureichend, das Stoffliche als heterogen zum Geistigen und als Widerstand ge19 Marsilio Ficino übersetzt Plotins perî hautön mit reflectitur in se ipsum. 310
gen dessen reflexive Reinheit der Theorie zu erklären. Aber die Erscheinungen der Welt sind nicht bloße Nachbilder von Urbildern, sondern entstehen aus Prozessen und Kräften, aus der Divergenz von Prinzipien. Die Weltseele erlaubt eine Art von kosmischer Anthropologie: die menschliche Natur wird als vorgebildet in der kosmischen Natur verstanden. Darauf ist in der Abhandlung über die Kreisbewegung des Himmels angespielt, wenn gesagt wird, im Leibe des Menschen hätte es die Seele noch schwerer, ihre Mimesis der Kreisbewegung durchzusetzen, weil die auf fremde Ziele gerichteten Antriebe in der Weise der geradlinigen Bewegungsform der Zentrierung und Identitätsbildung der Seele entgegenwirken. Es wird keinen stichhaltigen Beweis dafür geben, daß Newton die Kenntnis der Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung mit so etwas wie >neuplatonischen Hintergedanken in Verbindung gebracht hat. Aber das Schema zur Erklärung der Kreisbewegung ist in der neuplatonischen Strömung präsent, die durch die englische Rezeption des Marsilio Ficino und die platonische Renaissance der Mitte des 17. Jahrhunderts auch Newton beeinflußt hat, wenn er auch nur in einem einzigen Punkt - bei der Abstützung des absoluten Charakters von Raum und Zeit - ausdrücklich Nachgiebigkeit gegenüber metaphysischer Spekulation verrät. Und dabei ist es nicht gleichgültig, daß Newton Henry More gerade ein Stück seiner Theorie des Raumes als einer symbolischen Form des reinen Geistes entlieh.20
III. Die Vorsicht, mit der >Einflüsse< auf die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft beurteilt werden müssen, weil die Ausbildung bestimmter neuer Denkschemata oft den Kriterien der belegbaren Abhängigkeit nicht genügt, ist im umgekehrten Verhältnis - nämlich bei der Berufung der Anhänger traditioneller Systeme auf die sich ausbildende neue Naturwissenschaft - kaum 20 Newtons nur punktuell greifbarer Bezug zum »Enchiridium Metaphysicum« Mores wird von Ernst Cassirer in dem Satz zusammengefaßt: Die metaphysische Gesamtanschauung, die damit geschaffen ist, bildet auch für Newtons Denken den latenten Untergrund (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 2. Berlin 1911, II, S. 446). Ferner: E. Cassirer, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge. Studien der Bibl, Warburg, Leipzig 1932. 311
beachtet worden. Der gerade genannte Henry More hat im Kopernikanismus ein Argument für seinen Neuplatonismus sehen wollen. Das kopernikanische Modell bietet sich zur Demonstration des Dualismus von Erscheinung und Wirklichkeit, von Sinneswahrnehmung und Vernunftleistung geradezu an. Henry More veröffentlicht 1642 ein platonisches Poem von der Unsterblichkeit der Seele mit dem Titel »Psychathanasia Platonica«, das der Fragestellung und dem Inhalt nach weitgehend abhängig ist von Marsilio Ficinos »Theologia Platonica de immortalitate animorum«. Dieses frühe Werk, lange vor dem so einflußreichen »Enchiridium Metaphysicum« von 1671 erschienen, ist das komplexe Resultat einer Abwendung von den ausschließlich naturwissenschaftlichen Interessen und des Versuchs, dennoch die Naturerkenntnis in den Dienst der dem Menschen näherliegenden Frage nach seiner persönlichen Unsterblichkeit zu stellen. In diesem Zusammenhang muß More über seine Abhängigkeit von Marsilio Ficino und dem Florentiner Piatonismus hinausgehen. Den Anstoß dazu hatte ihm 1641 die Kenntnis der lateinischen Übersetzung des »Dialogs über die beiden Weltsysteme« von Galilei gegeben.21 More suchte zwar nicht nach neuen Beweisen, aber doch nach neuen Bestärkungen für die Unsterblichkeit der Seele, nach dem also, was schon Marsilio Ficino die signa genannt hatte. Ein solches signum wird für ihn die kopernikanische Theorie in der Darstellung Galileis. More sieht in der Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrische System die Überwindung der Herrschaft des sinnlichen Scheins durch die der rationalen Einsicht und darin die Selbstbefreiung des menschlichen Geistes von seiner Verhaftung an die Unmittelbarkeit der physischen Organe. Freilich sollte ihm wenig später der cartesische Dualismus von res cogitans und res extensa einen genauso plausiblen Rückhalt bieten, und es spricht nicht sehr für die Dignität solcher Orientierungen, daß das Folgeverhältnis Descartes nach Galilei sein konnte und nicht umgekehrt. In den beiden ersten Gesängen des dritten Buches der »Psychathanasia«, die in der Argumentation weithin dem neunten Buch 21 Die Übersetzung des Mathias Bernegger war 1635 in Straßburg erschienen und 1641 in einer von Galilei selbst verbesserten Fassung ebendort neu aufgelegt worden. Für die Wirkungsgeschichte Galileis ist diese unangefochten verbreitete lateinische Version bedeutend wichtiger gewesen als das italienische Original. 312
der »Theologia Platonica« des Ficino entsprechen, behandelt More die Unabhängigkeit der Seele vom Leib mit dem gesamten Aufgebot der traditionellen Argumente, um im dritten Gesang entsprechend der im dreizehnten Buch Ficinos angegebenen Methode der >Zeichen< die kopernikanische Theorie ins Feld zu führen. Die Zeichen befestigen in der Überzeugung dessen, was schon bewiesen ist oder sein soll. Wo Ficino noch das ganze Arsenal der antiken Autoren ausgebeutet hatte, beschränkt sich More auf das für ihn überwältigende Zeichen der kopernikanischen Reform. Sich dem sinnlichen Schein der Bewegung des Himmels und der Bewegungen am Himmel entgegenzustellen und sich gegen diesen Schein durchzusetzen, ist der Erweis des Primats der vernünftigen Seele, der Endgültigkeit und Unabhängigkeit ihres Urteilsvermögens. Die Erhabenheit der stellaren Gegenstände, die durch die ganze philosophische Tradition hindurch behauptet worden war, besteht nicht mehr in der Größe des Anblicks und der Fähigkeit zu seiner Bewunderung, sondern in der Aufhebung der Anschauung durch die Konstruktion, in der Überwältigung gerade der Kraft des unmittelbaren Eindrucks durch den kritischen Einspruch des vernünftigen Urteils, das die niedere Instanz der Sinne verwirft. Die neue Astronomie wird so selbst zum Paradigma jener geforderten Katharsis der Seele, in dem sich die theoretische Neugierde dadurch rechtfertigt, daß sie einen Schritt über die Hingabe an ihren Gegenstand hinaus tut und die Auslieferung an die Wahrnehmung durchbricht. Man darf nicht übersehen, daß mit vergleichbaren Argumenten im 17. Jahrhundert die Theorie der Atome als eine durch keine Sinnesgegebenheit zu bestätigende Behauptung der konstruktiven Vernunft zu neuer Geltung gebracht wird. Ralph Cudworth beschreibt die Leistung der Atomistik mit eben diesem platonisierenden Topos vom Triumph der Vernunft über die Sinne. Das ist auch die Pointe des »Democritus Platonissans«, den Henry More 1646 veröffentlicht. Ein Jahr nach diesem Werk folgt die zweite Auflage der »Psychathanasia«, der More zahlreiche Anmerkungen hinzugefügt hat.22 Die Anmerkungen sollen die Argumentation des Gedichtes zugunsten der platonischen Philosophie besser verständlich machen. Aber sie beziehen sich fast ausschließ22 Lee Haring, Henry More's Psychathanasia and Democritus Platonissans. A Critical Edition, New York 1961 (Columbia Univ., Ph.D.Diss.). Vgl. ferner: C A . Staudenbaur, Galileo, Ficino, and Henry More's Psychathanasia. In: Journal of the History of Ideas 29, 1968, S. 565-578. 313
lieh auf die astronomische Theorie und auf das kopernikanische System in der Darstellung Galileis, und zwar ohne Rücksicht zu nehmen auf die Bedeutung, die astronomische Erörterungen innerhalb des Piatonismus schon immer gehabt hatten. So entsteht eine perspektivische Verdeckung, in der sich das Mißverständnis Mores bloßstellt, die vorkopernikanischen Theorien, wie die des ptolemäischen »Almagest«, seien von einem ganz anderen, nämlich weniger rational-konstruktiven Typus gewesen als die des Kopernikus und sie hätten dem platonischen Postulat< weniger Genüge getan. Die neue Verteidigung der Unsterblichkeit gab zugunsten eines aktuellen Arguments die Kontinuität der Tradition, auf die sie sich berief und in die sie sich stellte, allzu schnellfertig preis.
IV. Kopernikus war in England durch Thomas Digges früh bekannt gemacht worden. Henry More hatte die kopernikanische Reform offenbar nur durch das Werk Galileis kennengelernt. Er fand bei Galilei wiederholte Berufungen auf das platonische Denken, die ihn dazu angeregt und darin bestärkt haben mögen, den Kopernikanismus für die platonische Renaissance weitergehend zu aktualisieren. Die Frage nach der sachlichen Berechtigung der Bezugnahmen Galileis auf Plato ist in der Forschung nicht zur Ruhe gekommen. Wie steht es mit der vielfach behaupteten Platonizität des Ursprungs der neuzeitlichen Physik bei Galilei? Die Nachahmung des platonischen Dialogs legt seit Cicero kaum noch bestimmte inhaltliche Verpflichtungen auf. Die Berufung auf die sokratische Maieutik, mit der im »Dialog über die Weltsysteme« Salviati immer dann anrückt, wenn er auf Grundfragen der Mechanik eingeht, steht in Zusammenhang mit Galileis Anhänglichkeit an die mythische Vorstellung von der Anamnesis in der Gestalt, die durch den Dialog »Menon« schon mittelalterliches Bildungsgut geworden war. Die Vorliebe für die Anamnesis ist mehr als ein Ornament, sie ist Deutung der eigenen Erfahrung des Forschers, dessen Untersuchungen vorwiegend den Charakter des Gedankenexperiments hatten. Denn zu einem guten Teil konnte die Genauigkeit seiner experimentellen Vorrichtungen und Meßmethoden gar nicht das leisten, was er von ihnen erwartete oder von ihnen behauptete. Die auf elementare mathematische Verhältnisse, 314
ζ. Β. auf die Reihe der ungraden Zahlen als Zuwachs der Wege bei der Bestimmung des Fallgesetzes, gebrachte Antizipation forderte Genauigkeiten der Bestätigung, denen die Erfahrung nicht zu folgen vermochte. Den sachlichen Gehalt des Piatonismus Galileis hat Ernst Cassirer 1937 folgendermaßen bestimmt: Die Bewegung, das Grundphänomen der Natur, war jetzt in das Reich der >reinen Formern aufgenommen worden: das Wissen von ihr erschien vom prinzipiellgleichen Rang wie das arithmetische und geometrische Wissen, das Wissen von Zahlen und Figuren.27' Ob das als spezifische Opposition zum Naturbegriff des Aristotelismus schon genügt, erscheint mir fraglich; denn der in sich konsistente Weg zu diesem Resultat für Galilei könnte sehr wohl in der Erweiterung der astronomisch ständig bewährten Methode bestehen, nachdem der Blick durch das Fernrohr die aristotelische Trennung zwischen Sternenwelt und Erdenwelt aufgehoben hatte und damit die Idealisierbarkeit der irdischen Mechanik nach dem Muster der Astronomie prinzipiell freigegeben war. Galilei löste den metaphysischen Dualismus von sublunarer und supralunarer Welt auf und bekam dadurch die platonischen Reste, die in der Kosmologie des Aristoteles von den Gestirnsphären gleichsam absorbiert worden waren, in die allgemeine Fassung seines Naturbegriffs. Hier war für den Astronomen Galilei der Punkt des Übergangs zur mathematisch arbeitenden Physik. Er begann die Probleme der Mechanik der Körper analog zur Darstellung der Himmelsvorgänge zu behandeln als eine Art in Bewegung versetzter Geometrie der reinen Formen. Und hier scheint der eigentliche Piatonismus Galileis zu liegen: die Ideen selbst werden als physische Realitäten vorgestellt und im Gedankenexperiment in Prozesse versetzt. Bevor Galilei die irdische Mechanik so idealisieren konnte, daß sie schließlich zur universalen Mechanik des Weltalls disponiert war, mußte er eine gedankliche Operation von der Art durchführen, daß die vorgestellten Körper in ihren Prozessen den zuvor vom Aristotelismus für die Gestirnsphären angenommenen Bedingungen entsprachen. Diese Bedingungen lassen sich auf die Formel bringen, daß die Materialität der astronomischen Gegenstände als Nullgröße behandelt werden konnte. Der Kunstgriff der Annahme einer quinta essentia hatte das Problem der Materie neutralisiert. 23 Wahrheitsbegriff und Wahrheitsproblem bei Galilei. In: Scientia 62, Mailand 1937, S. 129. 315
Ich möchte den Endpunkt dieses Weges an dem spätestens für uns greifbaren Resultat der Physik Galileis in den »Discorsi« vorgreifend verdeutlichen. Entscheidend ist, daß die Materie hier nicht mehr Nullgröße ist, sondern selbst die Bestimmbarkeit dessen angenommen hat, was die Tradition des Hylemorphismus als Form bezeichnet hatte. Gleich am Anfang des ersten Tages der »Discorsi« tritt das Problem auf, welche Bedeutung dem Material bei der Herstellung der einfachsten Maschinen beigemessen werden muß. Den Voraussetzungen aus der metaphysischen Tradition hätte es entsprochen, daß die Eigenschaften eines Gegenstandes ausschließlich von seiner Form abhängen, während die Materie als Substrat seiner Verwirklichung keine intelligiblen Merkmale hinzubringt, wohl aber als eine Art unbestimmbarer Störfaktor die Durchsetzung der Eigenschaften der Form behindert. Für die Funktion eines einfachen Mechanismus bedeutete das, daß die Einhaltung der Proportionen seiner Form die ausschließliche Bedingung für die Veränderung der Größe des ganzen Gebildes sein mußte. Dagegen stand die Erfahrung der Praxis - in diesem Fall der Ingenieure des Arsenals von Venedig -, daß Maschinen in bestimmten Abmessungen einwandfrei funktionierten, während sie bei verändertem Maßstab funktionsunfähig wurden. Nicht nur bei Vergrößerung der absoluten Maße, sondern auch bei deren Verkleinerung wurde eine Grenze der zweckmäßigen Ausführbarkeit erreicht. Am Beispiel der Uhren wird dies demonstriert. Es scheint, daß zur Analyse dieses Sachverhaltes weder die Begründung der Mechanik auf Geometrie zureicht noch die Berufung auf die Unvollkommenheit und Unbestimmbarkeit der Materie etwas erbringt. Galileis These ist nun, daß in diesem Problem eine selbständige Theorie der Materie steckt, die unabhängig von den Voraussetzungen der Konstruktion nach den Regeln der traditionellen Mechanik sein müsse. Das Dogma von der Unvollkommenheit der Materie genüge nicht, den Ungehorsam der wirklichen Maschinen gegenüber den idealen zu erklären, denn selbst wenn man die Materie als vollkommen und unveränderlich voraussetzen könnte, ließe sich doch zeigen, daß eben deshalb, weil sie materiell ist, die größere Maschine, wenn sie aus demselben Material und in genauer Proportionalität hergestellt ist, zwar in jeder Hinsicht der kleineren entsprechen wird, außer hinsichtlich ihrer Festigkeit und ihres Widerstandes gegen äußere Einflüsse, gegen die sie um so schwächer sein wird, je größer sie ist. Daraus folgt für Galilei, daß 316
man, die Unveränderlichkeit der Materie vorausgesetzt, völlig klare mathematische Betrachtungen entwickeln kann. Dieses Ergebnis bedeutet, daß die materielle Grenze der Realisierung idealer Maschinen ihrerseits ideal bestimmbar wäre. Solche Bestimmbarkeit eröffnet generell den Zugang dazu, das von der Antike als chaotisch und irrational angenommene materielle'Substrat der Natur in die Rationalität der Physik einzubeziehen. Als Faktor unter anderen bestimmenden und bestimmbaren Faktoren ist auch die Materie nichts anderes als eine >Form<. Dieses Resultat ist weder platonisch noch aristotelisch, aber es ist erstaunlicherweise durch die aristotelische Kosmologie besser vorbereitet als durch die· platonische Ideenlehre. Galileis Sprache ist denn auch an dieser Stelle keiner Tradition eindeutig zuzuordnen; er konfrontiert wirkliche Maschinen (machine in concreto) den abstrakten und idealen Maschinen (astratte ed ideali) und spricht ferner davon, von allen Unvollkommenheiten der Materie zu abstrahieren (astraendo tutte l'imperfezzioni della materia). Von diesem Endpunkt der Entfaltung der Physik Galileis her wird der Zwischenschritt deutlicher und aufschlußreicher, den Galilei sechs Jahre zuvor im »Dialog über die Weltsysteme« erreicht hatte. Dort wird die Materie bei der Erörterung der Frage thematisch, ob im Experiment der auf einer Ebene rollenden Kugel die Unvollkommenheit der Materie berücksichtigt werden müsse. Der Salviati des Dialogs löst dieses Problem so: Sobald Ihr eine konkrete materielle Kugel auf eine materielle Ebene legt, legt Ihr eine nicht vollkommene Kugelauf eine nicht vollkommene Ebene, und von diesen behauptet Ihr dann, daß sie sich nicht in einem Punkte berühren. Ich aber behaupte, daß auch bei der abstrakten Vorstellung einer immateriellen Kugel, die keine vollkommene Kugel ist, eine immaterielle Ebene, welche keine vollkommene Ebene ist, möglicherweise nicht in einem Punkte, sondern mit einem Teile ihrer Oberfläche berührt würde. Insoweit also stimmt das, was konkret eintritt, ganz mit dem überein, was bei der abstrakten Konstruktion eintritt... Der Geometer muß, wenn er die theoretisch bewiesenen Folgewirkungen experimentell studieren will, die störenden Einflüsse der Materie in Rechnung stellen. Wenn er das versteht, so versichere ich Euch, alles wird genau mit den zahlenmäßigen Berechnungen übereinstimmen. Die Fehler liegen also weder an dem Abstrakten noch an dem Konkreten, weder an der Geometrie noch an der Physik, sondern an dem Rechner, der nicht 317
richtig zu rechnen versteht. Hier wird behauptet, daß das materielle Resultat im reellen Experiment nicht notwendig die gedankliche Konstruktion des Vorganges verfälscht, wenn nur die gedankliche Operation die Materialität der Vorrichtung antizipiert. Entscheidend ist nicht die Abweichung der realen Kugel von der idealen (die hier im Text überall als Kugel >in abstracto< bezeichnet wird), sondern daß diese Abweichung eine bestimmte Größe hat. Der filosofo geometra befinde sich in derselben Lage wie jemand, der Berechnungen über Warenlieferungen anzustellen hat und dabei das Gewicht der Verpackung in Abzug bringen muß; der Einfluß der Materie ist hier noch ganz als der einer Störung gesehen (gli impedimenti della materia), aber der Wert für diese Störung ist in den Griff der Rationalität gekommen. Die hyletische Komponente ist nicht mehr das chaotisch-irrationale Moment, sondern selbst der Genauigkeit fähig, und das heißt hier: der Genauigkeit in der Bestimmung der Abweichung von der geometrischen Genauigkeit. Wenn das nicht gelingt, so liegen die Fehler weder an dem Abstrakten noch an dem Konkreten, weder an der Geometrie noch an der Physik, sondern an dem Rechner, der nicht richtig zu rechnen versteht.2* Zwar hat diese Berechenbarkeit hier noch den Charakter einer bloßen Subtraktion eines Ballastes - etwa nach der Art, wie in mittelalterlichen physikalischen Traktaten der Widerstand der Luft = ι angegeben wird -, aber das Postulat der Kalku lierbarkeit der Materie bereitet die präziseren Vorstellungen in den »Discorsi« vor. Galilei läßt Salviati an dieser Stelle ausdrücklich sagen, daß es die vollkommene Kugel auf der vollkommenen Ebene nicht gibt. Er kann dieses Zugeständnis machen, weil er damit die Möglichkeit der wissenschaftlichen Erörterung des Falles nicht mehr aus der Hand gibt. Aber bei der Differenzierung zwischen Galilei und der platonischen Tradition spielt noch ein weiteres Moment herein: das der Annäherung durch technische Mittel. Galilei hat ganz sicher die Problematik der Bewegungseigenschaften der Kugel nicht aus der platonischen Tradition; für ihn kommt dieses Thema aus dem achten Kapitel des Traktats über die »Mechanischen Probleme«, der noch dem Aristoteles zugeschrieben wurde. Dem peripatetischen Autor ist der Ausweg versagt, die Bewegung einer Kugel oder Töpferscheibe als >natürliche< und damit als beharrende Be24 Dialogo II, ed. S. Timpanaro, I, S. 282! Dt. Emil Strauß, Leipzig 1891, S. 220.
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wegungen zu beschreiben. Die Kugel kommt in der sublunaren Natur nicht vor, und käme sie vor, so hätte Aristoteles ihr die Natürlichkeit der Kreisbewegung nicht zusprechen können, weil für ihn die Drehung eines soliden Kugelkörpers wegen der verschiedenen Bewegungsgeschwindigkeiten seiner Teile keine vollkommen stetige Bewegung sein kann25 - schon diese Voraussetzung hätte die kopernikanische Lösung, die Erde nach Analogie der äußersten Sphäre (die als Hohlkörper sehr wohl die Bedingung stetiger Bewegung erfüllen kann) rotieren zu lassen, ausgeschlossen. Aber für den Autor der »Mechanischen Probleme« gründen sich die Erstaunlichkeiten, von denen sein Traktat handelt, gerade auf die Künstlichkeit der Gebilde und Vorrichtungen, die er bespricht. Die antike Mechanik ist durch die Thaumatopoike, eine ihrer Teildisziplinen nach der von Proklus überlieferten Einteilung, ihrer Thematik nach am genauesten repräsentiert. Verwunderung erweckt, was der Natur gemäß geschieht, wenn die Ursache nicht bekannt ist; was aber der Natur entgegen ist, wenn es durch Kunstfertigkeit zum Wohl der Menschen geschieht ... Soll etwas der Natur entgegen geschehen, so bereitet es wegen seiner Schwierigkeit Ratlosigkeit und bedarf der Kunstfertigkeit. Daher nennen wir den Teil der Kunstfertigkeit, der solcher Ratlosigkeit abhilft, Mechanik.2^ Die Künstlichkeit der mechanischen Zurichtung der einfachen Geräte Hebel, Waage, Winde, Rolle und Flaschenzug nähert sie den reinen Bedingungen an, die jene Darstellbarkeit fundieren, die sonst nur durch die Substanz der Gestirne gewährleistet wird, nämlich die mathematische. Zitiert wird der Vers des Antiphon: Durch Kunstfertigkeit beherrschen wir, was von Natur uns beherrscht. Das Schema solcher Fälle ist, daß das Kleinere das Größere beherrscht, also ein kleines Gewicht eine große Last bewegt. Ausdrücklich wird gesagt, daß derartige Fragen weder in die Physik gehören noch gänzlich von ihr abgetrennt werden können, vielmehr ein gemeinsames Gebiet mathematischer und physikalischer Erörterung darstellen; und zwar sei die Methode mathematisch, die Gegenständlichkeit physikalisch.27 In diesen Zusammenhang ge25 Physik VI, 10; 240b 15-17. 26 (Ps.-Aristoteles), Quaestiones Mechanicae 847a 11-19. - Hierzu: Fritz Krafft, Die Anfänge einer theoretischen Mechanik und die Wandlung ihrer Stellung zur Wissenschaft von der Natur. In: Arbeiten aus dem Institut für Geschichte der Naturwissenschaften der Universität Hamburg, 1967, S. 12-33. 27 A . a . O . , 847a 21-28. 319
hört nun auch die Frage nach dem Grund dafür, daß kugelförmige und runde Gebilde - in den drei Grund typen Wagenrad, Rolle und Töpferscheibe - am leichtesten beweglich sind. Diese Beweglichkeit beruht darauf, daß in allen drei Fällen die tragende Ebene mit der kleinstmöglichen Fläche berührt wird.28 Der nächste Schritt, gleichsam die Metabasis ins Platonische, ist nicht getan, nämlich die Folgerung, daß die Drehung der Kugel absolut beharrlich wäre, wenn sie die Ebene nur absolut in einem Punkte berührte, oder, was in diesem Zusammenhang dasselbe bedeutet, ohne Berührung im Raum schwebte. Für die Mechanik ist nur wichtig, daß die Kugel und die Ebene zu immer genauerer Realisierung gebracht werden können, so daß die mathematische Vorstellung zur Norm der Perfektionierung der Kunstfertigkeit wird. Nicht die Natur steht unter der ebenso zwingenden wie zwingend verfehlten Norm der Genauigkeit, sondern die Beherrschung der Natur durch die auf den stupenden Effekt angelegte menschliche Kunstfertigkeit. Daher gibt die Thematik der antiken Mechanik für die Erklärung natürlicher Prozesse nichts her; die Gemeinsamkeit mit der Physik ist als theoretische Erregung nicht wirksam geworden - noch für die entstehende klassische Philologie des 18. Jahrhunderts durfte der Autor der »Physik« nicht identisch sein mit dem der »Mechanik«. An dieser Stelle ergibt sich für unsere Gesamtthematik die den Umkreis der Überlegungen schließende Frage, ob die Idee der beharrlichen Bewegung der vollkommenen Kugel bei Nikolaus von Cues aus der Kenntnis der »Mechanischen Probleme« gewonnen sein könnte. Dabei genügt es sicher nicht, den cusanischen Grundbegriff der >Genauigkeit< als Auslöser für die Weiterbildung des Theorems der Kugel in der Mechanik anzusetzen. Aber es gibt einen weiteren sehr spezifischen Beleg, der es wahrscheinlich macht, daß der Cusaner die dem Aristoteles noch unbezweifelt zugesprochene Mechanik gekannt hat. Solche Kenntnis würde zugleich das Rätsel der Herkunft seiner Grundidee von der coincidentia oppositorum beheben. Die formale Struktur des Schemas vom Zusammenfallen der Gegensätze findet im ersten Kapitel des antiken Traktats eine genaue Entsprechung. Hier wird als Beispiel der einfachen Maschinen der Hebel besprochen und der thematischen >Aporie< der Bewegung einer großen Last durch eine kleine Kraft zugeordnet. Dabei erscheint der Kreis als das elementare Prinzip 28 A . a . O . , 851b 15-24. 320
der Wirksamkeit aller einfachen Mechanismen als der gegen die Natur erfundenen >Wunder<. Die Eigenschaften des Kreises manifestieren die Gattung (thaumasioteron), die sich in jeder der mechanischen Vorrichtungen (thaumaston) gleichsam spezifiziert. Die Einheit der Eigenschaften des Kreises nun hat das höchst Wunderbare (thaumasiotaton) der Vereinigung von Gegensätzen. Die Konstruktion des Kreises vereinigt Bewegung (auf der Peripherie) und Ruhe (im Mittelpunkt); die Peripherie vereinigt das Konkave und das Konvexe; die Bewegung des Kreises vereinigt entgegengesetzte Richtungen, je nachdem welche Punkte auf der Peripherie man betrachtet; jeder Punkt der Peripherie kann als Anfang und Ende einer Kreisbewegung angesehen werden. Diese Einheit der Gegensätze macht den Kreis zum Prinzip der gegen die Natur gerichteten >Listen<, der >Wunder< der Mechanik.29 Außer der formalen Struktur der coincidentia oppositorum findet sich hier zugleich das bevorzugte Modell des Cusaners für die Demonstration des Prinzips, der Kreis. Was hinzukommen mußte, um die cusanische >Sprengmetaphorik<, das symbolice investigare, zu ermöglichen, hebt sich klar ab: das hermetische Prinzip der sphaera infinita. Was aber den Gusaner mit dem Autor der »Mechanischen Probleme« vor allem verbindet, ist seine Auffassung von der menschlichen Authentizität des Künstlichen im Gegensatz zu aller aristotelischen Bestimmung von Kunstfertigkeit durch Nachahmung: die Kugel, an der er die Eignung des vollkommen Runden zur Beharrlichkeit der Bewegung demonstriert, ist das Artefakt eines Handwerkers wie die Schalen und Töpfe des Idiota, deren Formen allein kraft der menschlichen Kunstfertigkeit entstehen, die vollkommener ist als diejenige, welche die Gestalten von Geschöpfen nachahmt.™ Zugleich reflektiert sich das Paradigma der niederen Kunst Mechanik auf die Deutung der artes liberales: selbst die Geometrie, die ihre Figuren vorfindet und nachahmt, ist originär, insofern sie 29 A.a.O., 847b 15-848 a 11. In der Übersetzung des Nicolaus Leonicenus: omnium autem huiusmodi causae principium habet circulus. istud vero ratione contingit. ex admirabili etenim mirandum accidere quippiam non est absurdum. maxime autem est admirandum simul contraria fieri. circulus vero ex huiusmodi est constitutus... In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß in der Kosmologie des Aristoteles die Kreisbewegung gerade deshalb als >natürliche< für die Himmelskörper ausgezeichnet ist, weil sie keinen Gegensatz enthält wie die sublunaren >natürlichen< Bewegungen der Elemente nach oben oder nach unten. 30 Idiota de mente (1450), c. 2. 321
das Konstruktionsprinzip dieser Figuren und damit den Sinn ihrer >Genauigkeit< anzugeben vermag. Der Ausgang vom Piatonismus hat den Cusaner so weit über ihn hinausgeführt, daß er Plato in der Schrift »Über den Beryll« des Irrtums bezichtigen kann, er habe nicht unterschieden zwischen den Ideen, die uns vorgegeben sind, und denen, die wir selbst hervorbringen, und die Differenz der Wahrheit, die damit gegeben ist, sei ihm entgangen.31
V. Für die Erfassung dessen, was in der frühen Geschichte der neuzeitlichen Kosmologie und Physik zwischen Nikolaus von Cues und Galilei geschehen ist, bietet die Fragestellung nach Neoplatonismus oder Pseudoplatonismus eine heuristisch wirksame Alternative an. Die vollkommene Erdkugel des Kopernikus und der an diese Voraussetzung gebundene Begriff der mobilitas sind dabei ein Schnittpunkt von differenten Möglichkeiten der Herleitung aus der astronomischen, physikalischen und mechanischen Tradition. Aber diese vollkommene Kugel ist insofern ein exzeptioneller Fall, weil sie sich die aristotelische Zusatzannahme von der Sondernatur des Stoffes der Himmelskörper zunutze macht. Die Himmelsmaterie ist der Kunstgriff, der alles möglich, zugleich aber Aussagen vom Typus der Physik unmöglich macht. Die Gestirnmaterie ist das fiktive Substrat von Idealitäten, das die Frage ihres Verhältnisses zur Realität zu sehr vereinfacht, als daß die Antwort weiterführen könnte. Anders ausgedrückt: die neuplatonische Rezeption des Cusaners führt entweder in die Paradoxe seiner >Sprengmetaphorik< oder in eine bloße Erweiterung der Voraussetzungen der aristotelischen Kosmologie durch die Stellarisierung der Erde, die physikalische Probleme eher zum Verstummen bringt als sie zu formulieren oder zu lösen verhilft. Insofern ist Kopernikus auch eine Sackgasse, und zwar gerade wegen der philosophischen Schutzbehauptungen, mit denen er seine Reform umgibt und absichert. Die frei im Raum rotierende Kugel ist nicht charakteristisch für die Entfaltung des Problems, das der Cusaner zumindest angegeben hatte. Darstellbar ist das Thema der Kugel auf der Ebene. Die 31 De beryllo, c. 32. - Zur Problematik der Geometrie bei Nicolaus von Cues: H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 511 f. 322
Paradoxe des Nikolaus von Cues beziehen sich nicht nur auf die Wahrnehmbarkeit der >genauen< Kugel, sondern auch auf die Möglichkeit ihrer Bewegung: auch wenn die vollkommene Kugel wahrnehmbar wäre, könnte sie keine Bewegung haben, denn da sie die Ebene jeweils nur in einem Punkte berühren würde und eine Linie nicht aus Punkten >besteht<, ließe sich der Verlauf ihrer Bewegung auf der Ebene nicht als Verbindung zweier Punkte darstellen. Die Behauptung, die Bewegung der vollkommenen Kugel wäre beharrlich, ist also völlig äquivalent der anderen Behauptung, diese Bewegung wäre auch dann nicht möglich, wenn die vollkommene Kugel möglich wäre. Man wird an die drei Negationen des Gorgias erinnert, nichts könne sein, wenn aber etwas sein könnte, würde man es nicht erkennen, wenn erkennen, nicht mitteilen können. Sollte also der Satz von der absoluten Beharrlichkeit der Bewegung der vollkommen genauen Kugel bestimmend für Kopernikus und einige Kopernikaner geworden sein, so wäre dies allenfalls eines jener Mißverständnisse, die sich durch ihre Fruchtbarkeit zwar nicht als hermeneutische Leistungen rechtfertigen, aus denen aber zu einem guten Teil Geschichte besteht. Auch Galilei ist im Falle der auf der Ebene rollenden Kugel mit der Heterogeneität der hier zusammenlaufenden Traditionen nicht fertig geworden. Die mathematische Konstruktion der Ebene sieht anders aus als die physikalische, denn diese muß die Ebene im Hinblick auf die Schwere normalisieren, also als identischen Abstand aller Punkte von dem Erdmittelpunkt definieren. Dadurch aber wird die Annahme der Kugel auf der Ebene gerade nicht die Realisierung einer mathematischen Idee, also ein pseudoplatonisches Problem. Die zur Erdoberfläche parallele Krümmung der Normalebene Galileis ist keine >Ungenauigkeit< im Sinne des Cusaners, sondern der Versuch einer Anpassung der physikalischen Annahmen Galileis an die Kosmologie des Aristotelismus. Die Präsumtion des Gedankenexperiments besteht gerade darin, daß die Beharrlichkeit der Bewegung jener Kugel auf dieser Ebene eben dadurch >legitimiert< wird, daß sie eine Kreisbahn um den Erdmittelpunkt darstellt. Die Mechanik der rollenden Kugel ist nur eine Filiation der aristotelischen Kosmologie. Galilei sieht im Stadium des »Dialogs über die Weltsysteme« noch nicht, daß er von der Beziehung auf den Erdkörper abstrahieren mußte, um seine Ebene >idealisieren< zu können, also etwa sie aus der Bewegung einer Geraden zu definieren. Erst am Anfang der Giornata IV der »Dis323
corsi« ist Galilei von dem Gedanken abgegangen, die Beharrlichkeit der Bewegung der Kugel auf der Ebene durch Äquivalenz mit den >natürlichen< Bewegungen der Himmelskörper begreiflich zu machen. Erst hier konstruiert er statt der zur Erdoberfläche parallelen imaginären Sphäre eine horizontale Ebene, auf der die beharrende Bewegung die Form einer geraden Linie hätte. Dadurch aber wird der reale Vorgang der beharrlichen Bewegung einer Kugel auf einer Fläche - also das reelle Experiment auf der Erdoberfläche nicht zu einer >Ungenauigkeit< gegenüber dem idealen Fall des Gedankenexperiments, sondern zu einer Irregularität als Komplexion von Regularitäten, von denen jede am konkreten Fall prinzipiell restlos darstellbar ist. Die >Unreinheit< der realen Gegebenheit beruht nicht auf einer Differenz von Idee und Erscheinung, sondern auf der Komplexität der die Erscheinung konstituierenden Momente. Wenn also der Piatonismus - wie bei Nikolaus von Cues die Funktion einer Rechtfertigung der Inexaktheit von empirischer Wissenschaft im Hinblick auf den Realitätsstatus ihrer Objekte annehmen konnte, so ist Galilei der Norm seines Erkenntnis- und Gegenstandsbegriffes nach entschieden kein Platoniker. Für ihn kann die >Erscheinung< einer Regel beliebig genau entsprechen, und die Toleranzen unserer Erkenntnis ergeben sich nur aus der Interferenz prinzipiell bestimmbarer Gesetzlichkeiten an ihren Gegenständen. Als Ernst Cassirer 194.6 in der Festschrift für George Sarton das von ihm immer wieder umkreiste Problem des Piatonismus Galileis zum letzten Mal behandelte, half er sich mit der kaum noch erhellenden Formel, dieser Piatonismus sei of a new and veryparadoxical nature gewesen: Never before had such a Platonism been maintained in the history ofphilosophy and science. Es sei, soll dies heißen, nicht ein metaphysischer, sondern ein physikalischer Plato nismus gewesen, und ein solcher was a thing unheard of.32 Worin aber sollte das Unerhörte dieses Piatonismus bestehen? Eben darin, daß der nicht mehr geometrische Sachverhalt dennoch als idealer vorgestellt werden kann. Aber dies geschieht eben dadurch, 32 Galileo's Platonism. In: Studies in the history of science, offered to G. Sarton. New York 1946, S. 277-297. - Cassirer veranschaulicht die Differenz zwischen Galilei und Plato an der Möglichkeit, die Metapher vom >Buch der Natur< zu gebrauchen: All this is implied in the saying of Galileo's thatphilosophy is written in the great hook of nature. For Plato philosophy was not written in nature. It was written in the minds ofmen. (284) 324
daß die Erfahrung mit dem platonischen Postulat in der Astronomie gleichsam wiederholt wird. Mit Ptolemäus hatte sich erwiesen - und diese Erfahrung hatte sich für Kopernikus zwischen dem »Commentariolus« und den » Révolu tiones« enttäuschend erneuert -, daß die Konstruktion der Himmelsphänomene aus Kreisen und gleichmäßigen Bewegungen auf diesen Kreisen zu wahren Dschungeln von Kreisen auf Kreisen führte. Schon bei Ptolemäus selbst findet sich eine Resignationsformel für die unbefriedigenden Ergebnisse dieses Konstruktionsprinzips, die sich auf die Transzendenz der stellaren gegenüber den irdischen Gegenständen und die Verhaftung unserer Erkenntnis an die letzteren beruft.33 Man könnte gerade in dieser Behauptung der Transzendenz des Gegenstandes gegenüber der Theorie das platonische Residuum bei Ptolemäus sehen, das für ihn allerdings schon durch Aristoteles und dessen Trennung von sublunarer und supralunarer Natur, dementsprechend von Physik und Kosmologie, vermittelt war. Kopernikus hatte gerade hier mit seinem Widerspruch und seinem Anspruch angesetzt. Für Galilei gibt es die Differenz von Idealität und Erscheinung ebensowenig wie die von Form und Materie, aber nicht nur durch Behauptung der Adäquation, sondern dadurch, daß die Erscheinung zum Produkt ihrer je rein darstellbaren Gesetzlichkeiten gemacht ist. Die Berufung auf Plato war für Galilei der notwendige Rückhalt für die Destruktion der aristotelischen Physik, aber unter einer Prämisse, die für den Platoniker unannehmbar gewesen wäre, nämlich der, in der Welt der Erscheinungen selbst die mathematisch darstellbaren Idealitäten aufzudecken. Keine >Ungenauigkeit< konnte auf das Konto der Materie abgeschoben werden. Wo die Regularität undeutlich oder scheinbar getrübt ist, muß dies immer dem Einwirken eines anderen, ebenso gesetzlichen Faktors zugeschrieben werden, so daß >Ungenauigkeit< nichts anderes ist als der Komplex der möglichen Genauigkeiten. So gesehen, war für Galilei der Piatonismus eher eine Gefahr als eine Bestärkung. Mit Recht schreibt Cassirer: Ifhe bad accepted the Piatonic theory of the sensible world he would have lost the fruit of bis whole scientific work. Galilei geht zwar vom platonischen Begriff von Wissenschaft aus, aber er hat Objekte dieser Wissenschaft, die er sich nach deren Implikationen hätte versagen oder als vergeblich befinden müssen. 33 Syntaxis mathematica XIII, 2. Hierzu: H. Blumenberg, Die Kopernikanische Wende, Frankfurt 1965, S. 83 f. 325
Die Bedeutung des Piatonismus für die Geschichte der frühen neuzeitlichen "Wissenschaft erweist sich als ambivalent: einmal hat er mit der Lehre von den Ideen und von der an ihnen teilhabenden Erscheinungswelt die Voraussetzung sanktioniert, daß in den Erscheinungen Gesetzlichkeit auffindbar sein müsse; andererseits hat er der Resignation Grund gegeben, daß eine adäquate Erfassung dessen, worauf es der Erkenntnis ankommt, gerade in den Erscheinungen nicht möglich sei. Zwar ist, nach einem Wort Justus Liebigs die Überzeugung von der Existenz der Gesetze die erste und nächste Bedingung zu ihrer Entdeckung; zugleich aber ist die Überzeugung von der wesenhaften Unerreichbarkeit der genauen Erkenntnis auch die Rechtfertigung einer falschen Beruhigung. Die gleiche Forderung bedeutet in verschiedenen Phasen der Geschichte der Wissenschaft nicht das gleiche. Der Anspruch auf Genauigkeit führt auf einem frühen Stand der Erkenntnis in die Irre, indem er die spekulative Deduktion begünstigt und die Erfahrung entmutigt; aber ebenso verstellt das sich metaphysisch rechtfertigende Zugeständnis der impraecisio den Weg, die Abweichungen gegenüber einer angenommenen Gesetzlichkeit als Überlagerungen durch andere Gesetzlichkeiten zu analysieren.
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Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos Die Einsicht in die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung ist nicht immer begleitet von vorsichtigen Erwartungen dessen, was dabei passieren kann. Der Vorteil, den man der Sache verschaffen zu können glaubt, schließt Zugeständnisse ein, die man der Logik machen muß. Man darf davon ausgehen, daß >die Sache< in der faktischen Grenzziehung der Disziplinen noch nicht zu ihrem Recht gekommen ist und daß sich erst im Zwischenreich der Fächer neue Aspekte und Problemstellungen ergeben werden. Aufgabenstellung und Programm einer solchen Unternehmung werden daher die Tugend geringerer Präzision, als dies in den kanonischen Fächern zum Anspruch gehört, auf sich nehmen müssen. Es gehört zu den Eigenheiten nicht erst der hochgradigen Spezialisierung, sondern schon der in ihrem Selbstbewußtsein konsolidierten Wissenschaften, daß sie immer sehr viel sehr viel genauer zu wissen glauben, als es gewußt werden kann; der Preis der Verengung und Isolierung des Gegenstandes ist keineswegs umsonst erlegt worden. Das interdisziplinäre Unternehmen muß hier notwendig zunächst enttäuschend wirken, indem es den Gegenstand in seiner wohldefinierten und bewährten Abgrenzung nicht akzeptiert. Aber was diese Unbestimmtheit bedeutet und welchen Ertrag sie zu erbringen vermag, zeigt sich erst an der Art, wie der Aufruf zur Teilnahme verstanden wird und wie sich dadurch das Programm konkretisiert. Am Ende stehen die Anstifter solcher neuen Unbestimmtheit etwas ratlos vor den Trümmern ihrer vagen Konzeption, aber doch zugleich mit der Chance und der Aufgabe, die Durchkreuzung ihrer Vermutungen und Erwartungen als eine Information über den thematischen Sachverhalt zu verstehen und zu erschließen. Dieses Verfahren rückt die Möglichkeit der Definition von Begriffen ans Ende des theoretischen Prozesses und folgt darin Kant, der in der Disziplin der reinen Vernunft die Forderung der präliminaren Definitionen von der Philosophie abweist, weil hier die Definition als abgemessene Deutlichkeit das Werk eher schließen als anfangen müsse, indem die Definition nicht wie in der Mathematik ad esse, sondern ad melius esse gehöre. Manchem zeitgenössischen Diskussionspuristen wäre Kants Anmer327
kung entgegenzuhalten: Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können, als bis man ihn definiert hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophieren stehen. Aller Faszination durch mathematische Verfahren zum Trotz folgt daraus, daß man es in der Philosophie der Mathematik nicht so nachtun müsse, die Definitionen voranzuschicken, als nur etwa zum bloßen Versuche. Der Ausgangszustand möglicher Versuche muß immer einmal wiederhergestellt werden. So leicht es ist, den ausschließlichen Gebrauch klarer und distinkter Begriffe zu fordern und alles vom Tisch zu wischen, was der Strenge vorgängiger Begriffsklärung nicht genügt, so problematisch ist es, jene vielleicht noch flüchtige und wenig konturierte Gegenständlichkeit zu gefährden, die als Konvergenzpunkt· bis dahin verstellter Aspekte aufzuspüren gerade der interdisziplinären Anstrengung obliegen sollte. Natürlich wird man immer Furcht vor dem empörten Aufschrei der Fachleute haben, eine Sache, die ihnen seit langem sonnenklar gewesen ist und für die sie eine kaum bestrittene Kompetenz und Terminologie in Anspruch nehmen durften, nun ins Trübe und Unbestimmte gezogen zu sehen. Beim Thema Mythos geschieht dies schon dadurch, daß man den legeren Sprachgebrauch der Unzuständigkeit ernst zu nehmen versucht, der noch jenseits archaischer Epochen und Denkweisen und ethnologischer Primitivität mythische Realität wahrzunehmen oder postulieren zu können glaubt. Hier gibt es allerdings schlimme Vorgänge und Vorgänger; aber auch der falsche Anspruch und die hinterhältige Berufung sind ein Moment am Gegenstand oder verweisen auf ein solches, und es wäre verfehlt, die so veranlaßte Aufmerksamkeit auf dessen Vieldeutigkeit gering zu schätzen. Freilich, wenn zur Kenntnis genommen ist, in welchem Maße der Gegenstand, aus der Zucht lange gepflegter Betrachtungsweisen herausgenommen, im Niemandsland der Zuständigkeiten zu explodieren vermag, darf es bei der Katalogisierung des neuen Pluralismus seiner Aspekte oder gar bei der Resignation der entstandenen Unbestimmtheit gegenüber nicht bleiben. Der aus seiner Eindeutigkeit als einem Resultat historisch gewordener Abgrenzungen und Konventionen herausgerissene und gleichsam experimentell in neue ΒeleuchtungsVerhältnisse gerückte Gegenstand muß nun daraufhin befragt werden, welche Veranlassung in ihm selbst und in seinen geschichtlichen Konstellationen liegt, solcher Verflüssigung und Polysemie über328
haupt fähig zu sein. Disposition zur Vieldeutigkeit ist immer auch etwas an der Sache selbst. Nun ist Mythologie nicht erst durch die Aktualität interdisziplinärer Bemühungen zu einem Treffpunkt der verschiedensten Wissenschaften geworden.1 Aber Ethnologen und Archäologen, klassische Philologen und Indogermanisten, auch Philosophen und Soziologen haben Mythologien vornehmlich als historisch oder prähistorisch lokalisierbare Phänomene betrachtet, und selbst die gleichzeitigen primitiven Kulturen sind unter dem Gesichtspunkt der möglichen Anschaulichkeit des für uns Vergangenen ausgewertet worden. Erst die verschiedenen Formen der Psychoanalyse haben für das Verhältnis des Vorzeitlichen und Gleichzeitigen einen neuen Aspekt eröffnet. Aber auch hier bleibt, der Zuordnung von historischer >Vorwelt< und psychischer >Unterwelt< zuliebe, der Mythos eine archaische Formation, die in ihrer Untergründigkeit als eine ebenso geschlossene wie abgeschlossene Periode des menschlichen Bewußtseinsprozesses anzusehen ist. Gerade die Faszination durch das kommunizierende System von phylogenetischer Vorwelt und ontogenetischer Unterwelt hat die Thematisierung der diachronen Phänomene der Rezeption, Zitation und Transformation jenes mythologischen Potentials als eines sehr eigenartigen Komplexes geschichtlicher Strukturen hintangehalten. Natürlich kann man sich ein fast mechanisches Bild von einer Art >Wirkungsgeschichte< der Mythologie machen, in welchem die Relikte jenes einst als >Denkform< homogenen Stratums als erratische Einschlüsse mit dem Strom der Geschichte mitgeführt und gelegentlich zu musealen Bildungsehren gebracht werden. Eine solche Vorstellung erklärt nichts, auch und vor allem nicht, wie mythologische Gehalte fern von ihrem Ursprung und ihrer genuinen Funktion immer wieder als Leitfiguren elementarer Selbstund Weltbestimmungen aufgegriffen und ausgelegt, variiert und umakzentuiert werden konnten. Was bedeutet die Überfülle der Anklänge aus der alten Mythologie} Bedeuten der Rückgriff auf Mythologeme, Anspielung und Andeutung, Allegorese und >Berichtigung<, Ergänzung und Variation in verschiedenen geschichtlichen Kontexten auch nur annähernd Vergleichbares ? Kann es geben und gibt es so etwas wie »neue Mythologie«, formale Mythisierung, und wenn: ist das eti B. Malinowski, The Role of Myth in Life. In: Myth in Primitive Psychology, London 1926. Dt. in: Wege der Forschung XX, Darmstadt 1967, S. 180. 329
was anderes als ein ästhetisches Phänomen? Ist die Form der späten Realität von Mythologie überhaupt und im ganzen als >Ästhetisierung< zu beschreiben? Die Frage nach dem Wesen des Mythos< braucht in diesem Zusammenhang nur vorläufig gestellt zu werden; vielleicht ist es für die Konfigurationen, in die mythologische Elemente je versetzt werden sollten, ganz unergiebig, ob Erfahrungen der Natur oder der Geschichte, des individuellen Traumes oder der kollektiven Rituale, ob astrale oder meteorische Phänomene in Mythologie eingegangen sind. Einige eher formale Bestimmungen dessen, was schließlich vom Mythos geblieben ist, und dessen, was »neue Mythologie« zu erkennen erlauben würde - ζ. Β. jene My thologie des Historischen, von der Nietzsche in den Vorarbeiten zur Betrachtung vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben spricht2 -, sind dagegen für den Zweck dieser Untersuchung kaum entbehrlich. Oder ist alle Rezeption von Mythischem ebenso wie der philosophische Anspruch, dem Mythos endgültig im Logos ein Ende gesetzt zu haben - nur der im selektiven Vollzug gefundene Vorwand zur Abdeckung dessen, was doch seiner Realität nach unverändert geblieben ist: Nachlebender Mythos inmitten einer nur zum Schein entmythologisierten Menschheit^ Eine solche Vermutung entspräche dem von Sigmund Freud schon 1912 in »Totem und Tabu« gemachten Versuch, das individuelle Phänomen der Latenz traumatischer Früherlebnisse und des mit ihnen gesetzten neurotischen Wiederholungszwanges auf die Gattungsgeschichte der Menschheit zu übertragen und als eine ihrer elementaren Gesetzlichkeiten aufzuweisen. Die folgenden Überlegungen versteigen sich nicht zur Beantwortung der großen Fragen, zur Bestätigung oder Bestreitung der großen Thesen, aber sie wollen in Relation zu ihnen gesehen werden. Sie fragen nach der Funktion mythologischer Rezeptionsvorgänge als der Indikatoren geschichtlicher Wirklichkeitsverständnisse.
2 Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, Bd. 6, München 1922, S. 336. 3 Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, S. 302. 330
Ι. Ursprung und Ursprünglichkeit des Mythos werden im wesentlichen unter zwei antithetischen metaphorischen Kategorien vorgestellt. Um es auf die kürzeste mögliche Formel zu bringen: als Terror und als Poesie - und das heißt: als reiner Ausdruck der Passivität dämonischer Gebanntheit oder als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorpher Steigerung des Menschen. Diese Kategorien sind leistungsfähig genug, um so gut wie alles ihnen zuzuordnen, was an Interpretation von Mythologie zutage gebracht worden ist. Wenn Ernst Cassirer definiert: Myth is an objédification of man's social expérience.. . 4 , dann ist gemeint die Erfahrung lastender Unausweichlichkeiten und drückender Zwänge, zumindest aber die aus aktueller Zweckmäßigkeit nicht verstehbarer Handlungen, zu denen Mythologie eine Präfiguration liefert. Aber gerade diese entzieht das Unverstandene dem Anspruch, es aus den gegenwärtigen Bedingungen seines Vollzuges zu begreifen und gerechtfertigt zu sehen. Es ist eine Begründung, die immer zugleich darauf festlegt, wie allein begründet werden kann: This reality cannot be rejected or criticized; it has to be accepted in a passive way. In Freuds Konzeption der menschlichen Urgeschichte und ihrer Folgen ist das Unverstandene die Institutionalisierung jenes frühen Triebverzichts des >Brüderbundes<, der nach der Beseitigung des übermächtigen >Hordenvaters< in einer Art von Gesellschaftsvertrag die ersten sozialen Spielregeln festlegt, deren Inbegriff der Verzicht der Söhne auf das Ideal, die VaterStellung für sich zu erwerben, auf den Besitz von Mutter und Schwestern gewesen sei. Die dem Totemismus zugehörigen Geschichten verschleiern diese urtümliche Konvention eher als daß sie sie in ihrem Gehalt erklären; der Horizont bildhafter Vorstellungen wird für das mythische Bewußtsein undurchdringlich, weil die Bilder, in denen es lebt, nicht als Bilder erkannt, sondern in der bloßen Sanktionspotenz erfahren werden. Hier wurzeln Furcht und Schrecken selbst dann noch, wenn das an die Stelle des Vaters gesetzte Totemtier anthropomorphe Züge anzunehmen beginnt. Und in der bildhaften Verstelltheit des nicht mehr durchschaubaren Sinnes von Institution, Norm und Zwang ist der abstraktere, aber nicht weniger düstere 4 The Myth of the State, New York2195 5, S. 5 γί. 33i
Gebrauch des Ausdrucks >Mythos< begründet, in dem sich die vollkommene Unvereinbarkeit des Mythos mit der rationalisierten Gestalt der Wirklichkeit noch aktuell zum Ausdruck bringen läßt: Mythisch ist die Zelebration des Sinnlosen als Sinn .. .5 Andererseits: gegen solchen strengen und fast dämonisierten Funktionalismus des Mythos richtet sich die Beobachtung seiner schwebenden Freiheit, seines phantastischen Wuchses, der die Natürlichkeit und Gewaltlosigkeit des Organischen, die Selbstverständlichkeit des Urvorgegebenen zu haben scheint: Der Mythos ist wild gewachsen, die Natur aber trennet und unterscheidet nicht, wie der Begriff und die Reflexion sondern und unterscheiden. Sie wirket und bildet in fließenden Übergängen. Daher durchdringen jene mythischen Elemente eines das andere, im Großen wie im Kleinen. Jene Äste und Zweige haben ihre Verastungen und Verzweigungen, und das Ganze steht vor uns als ein einziger großer Baum, aus Einer Wurzel erwachsen, aber nach allen Seiten hin verbreitet mit unzähligen Blättern, Blüten und Früchten.6
Vico hatte zuerst in seiner »Scienza nuova« die poetisch-kreative Natur der Mythologien als den mit der Entstehung der Sprache verbundenen Prozeß phantastischer Namengebung dargestellt, und eine solche Art der bewußtlosen Poesie der Erde, die anfängliche Weise, diese Welt zu dichten, ohne es zu wissen, ist Mythologie dann für Friedrich Schlegel, nun erkennbar als romantischer Kontrastbegriff einer nachaufklärerischen Sehnsucht nach dem von der Vernunft vermeintlich Vergessenen. Als die erste Blüte der jugendlichen Phantasie7 ist Mythologie die primäre Entbindung einer dem Menschen wesentlichen Freiheit; die Ursprünglichkeit dieser Freiheit läßt sich nicht als Negation einer ihr vorausliegenden Bedrückung verstehen. So sieht der Romantiker das Chaos nicht als die uralte Drohung hinter der bunten Vordergründigkeit der Genealogien der Götter; für ihn ist das Chaos vielmehr die Chance der Phantasie, der absoluten Poesie, die das Chaos weniger auflöst, als es in den Gestalten bewahrt, die sie aus ihm hervorgehen läßt. Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie 5 Adorno, a.a.O., S. 122f. 6 Creuzer, Symbolik, Heidelberg 2 i819,1, S. 88f. 7 Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie: Rede über die Mythologie, Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, ed. H. Eichner, München 1967, S. 312. 332
es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich.8
Dabei versteht der Romantiker den Mythos aus dessen authentischen Kategorien und ist deshalb geneigt, seine Präsenz als seine Wiederkehr, nicht als seine späteste Geschichte zu betrachten, seine Abwesenheit als die Möglichkeit und das Postulat seiner Erneuerung, die immer wiederum Berührung mit dem Chaos als seinem terminus a quo bedeutet: Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.9
Aber könnte das Verhältnis von Chaos und Phantasie nicht auch eine sekundäre, erst durch Überwindung und als Aufhebung realisierte Freiheit andeuten? Als Aufarbeitung alter Bestände an schreckenden und bedrängenden Vorstellungen wäre Mythologie dann nicht das Anfängliche, sondern gegen dieses sich erhebende Befreiung, der Mythos entkleidet von seiner alten mystischen Würde, wobei eine religiöse Betrachtungsart allein es beklagen könnte, daß durch die poetische Mythik der Griechen der höchste Ernst grauer Vorzeit in ein freies Spiel der Phantasie ausgeartet sei.10 Diese Konzeption verspräche, die antithetischen Kategorien der Interpretation des Mythos in ein fundierendes Verhältnis zueinander zu setzen. Mythos als Programmwort eines romantischen Kontrastes folgert aus dem Selbstverständnis der Philosophie und der aus ihr entlassenen Wissenschaftlichkeit, Überwindung einer von Mythologie beherrschten und an der Erkenntnis der Welt durch sie verhinderten geschichtlichen Epoche zu sein, daß auch und zumal die Enttäuschungen und Verluste rationaler Sachbewältigung kompensiert oder gar rückgängig gemacht werden könnten, wenn man erneuern oder wieder hereinziehen würde, was im Selbstbewußtsein der rationalen Epoche als das von ihr Überwundene gilt. Aber der Kontrast setzt nicht nur ab auf die vermeintliche oder tatsächliche Verarmung der aufgeklärten Rationalität. Er zielt auch auf eine Differenzierung, in der noch das Gesamtphänomen >Auf8 A.a.O., S. 313. 9 A.a.O., S. 319. 10 Creuzer, a.a.O., S. 93. 333
klärung< nur als Teilphase des Prozesses der Theologisierung unserer Tradition erscheint, eines Prozesses, zu dem der biblische Monotheismus ebenso gehört wie die antike Metaphysik als Vorbereitung des scholastischen Verfahrens, jenem Monotheismus systematische Struktur zu geben. Die einschneidende Zäsur, die der biblischen wie der antiken Tradition gemeinsam wäre, würde damit die Auseinandersetzung mit dem Polytheismus als Dämonisierung seiner Freiheiten oder als Denunzierung seiner Irrationalität. Wenn man von einem Geschichtsbegriff ausgeht, der das Vergangene nicht als Inbegriff abgeschlossener und auf sich beruhender Fakten ansieht, die Geschichte nicht als Analogon einer stratigraphisch darstellbaren Struktur, wird auch das Entkräftete immer noch als eine Kraft, das Vergessene immer noch als potentielle Anamnesis zuzulassen sein: die Freiheiten des Polytheismus werden zur geheimen Sehnsucht aller Renaissancen und Romantiken als der Akte des Mißtrauens gegenüber dem >Resultat< und >Erfolg< der auf diese Weise in ihrer Einheit begriffenen Tradition. Worin liegt die Dignität, das einsichtige Maß an Recht dieser Kontrastierung? Wenn Jean Paul in der »Vorschule der Ästhetik« sagt: Die Griechen glaubten, was sie sangen, Götter und Heroen, und hinzufügt, daß die griechischen Götter uns nur flache Bilder und leere Kleider unserer Empfindungen, nicht lebendige Wesen seien11, so ist die von ihm für diesen Wandel gegebene Erklärung, daß der Begriff der falschen Götter der ganzen Leichtigkeit der Produktion von Theologie durch Gesang ein Ende bereitet habe, schon eine wesentliche, aber noch nicht erschöpfende Feststellung. Daß die authentische Produktion von Mythologie als Freiheit verstanden werden konnte - und ihre Wiederholung damit als Manifestation eines bestimmten Anspruches auf diese Freiheit -, ist eben nicht eine >objektive< historische Feststellung über den Zustand einer m y thischen Epoche<, sondern geschichtlich bedingte Perspektivität. Aber nicht erst die Unterscheidung zwischen dem >richtigen< Gott und den >falschen< Göttern - die Einführung der Möglichkeit von Orthodoxie also - hat die Fähigkeit zur mythischen Produktion ausgetrieben (und damit zugleich die Latenz der mythischen Rezeption vorbereitet), sondern überhaupt jene unendliche Erschwerung des Umganges mit Namen und Begriff des Göttlichen, die ihre Wurzel in der alttestamentlichen Scheu beim Gebrauch des ii Vorschule der Ästhetik I, 4, § 17; I, 5, § 21. 334
heiligsten Namens hatte. Das Verbot des Dekalogs (Exodus 20,7), den Gottesnamen unnütz zu gebrauchen, ist die eigentliche und strikte Gegenposition zu aller Mythologie und ihrer Leichtigkeit, mit der unfixierten Gestalt und Geschichte des Gottes und der Götter umzugehen. Nicht von ungefähr geht Mythologie in Dichtung über, und verwandelt dieser Übergang rückwirkend sein >Material<. Schelling hat in der ersten seiner Vorlesungen zur »Philosophie der Mythologie« empfohlen, bei diesem eigenthümlichen Ganzen menschlicher Vorstellungen ... auf den ersten Eindruck zurückzugehen.12 Dieser erste Eindruck ist gebunden an und bedingt durch einen Standort des Betrachters innerhalb oder vielleicht am Ende einer Geschichte, die bis auf den heutigen Tag im wesentlichen den Aggregatzustand einer Dogmengeschichte hat. Dadurch erscheint alles am Mythos als Kontrast: seine Leichtigkeit, seine Unverbindlichkeit und Plastizität, seine Disposition für Spielbarkeit im weitesten Sinne, seine Ungeeignetheit zur Markierung von Ketzern und Apostaten. Mythologie spricht von ihren Gegenständen wie von etwas, was man hinter sich hat, nicht nur im Epos mit der Freude, die aus dem Abstreifen und Hintersichlassen traumatischer Ängste und Drohungen gespeist sein könnte, sondern auch in der Tragödie mit dem Aufatmen des Überstandenhabens, das der Sinn der aristotelischen Definition der Tragödie als katharsis pathêmaton im Sinne des befreienden Durchganges durch die Affekte Furcht und Mitleid sein muß, wie es die zur Poetik analoge Stelle über die Wirkung der Musik in der Politik nahelegt. Nicht der Stoff des Mythos, sondern die ihm gegenüber zugestandene Distanz des Zuhörers und Zuschauers ist das entscheidende Moment. Was in der Mythologie Götterlehre im strengen Sinne gewesen sein mag, hat menschliches Leben vielleicht einmal mit Zwang und Furcht bedrückt; aber das alles ist in Geschichten aufgegangen, und daß selbst die Göttergeschichten nicht mehr schrecken und nicht mehr binden, disponiert sie zugleich zu ihrer ästhetischen Rezeption. Alle Anstrengungen einer durch Formen des Glaubens geprägten Tradition, auch den exemplarischen Griechen eine solche Haltung beilegen zu können und im >Glauben der Hellenen< zu finden, haben Nietzsches lakonische Feststellung nicht entkräften können: Die alten Griechen ohne normative Theologie: jeder hat das Recht, 12 Einleitung in die Philosophie der Mythologie I, 1, Schillings Werke, ed. M. Schröter, München 1927, Bd. 6, S. 9. 335
daran zu dichten und er kann glauben, was er will.™ Auch Jacob Burckhardt begründet die Herrschaft der Poesie über alle Götterauffassung, wie Homer und Hesiod sie repräsentieren, mit so etwas wie einer konstitutiven Schwäche des Verhältnisses der Griechen zu den Göttern hinsichtlich seiner genuin religiösen Affekte. Dieser >Mangel< liegt für ihn am Fehlen von Wächtern über den theologischen Bestand: Die griechische Religion würde von Anfang bis zu Ende anders lauten, wenn ein Priestertum Einfluß darauf gehabt hätte. Die urtümlichsten, bisweilen fratzenhaft schrecklichen Auffassungen der Persönlichkeit und des Mythus der Götter würden festgehalten worden sein und mit denselben die Bangigkeit, nicht aus Politik und Herrschsucht der Priester, sondern, weil solche sich an die Auffassung früher Vorgänger in der Regel gebunden glauben; die ganze epische Poesie wäre unmöglich geworden.14
Aber könnte der Zusammenhang nicht auch umgekehrt sein: die Flüchtigkeit des zu Hütenden hätte die Hüter funktionslos gemacht? Schließlich ist dort, wo es Priestertum gab, beim delphischen Apollo, die erste Priesterin nach antiker Tradition die Erfinderin des Hexameter gewesen, und bei aller Autorität unter den Griechen hat dieses Delphi niemals eine religiöse Wahrheit von allgemeiner Bedeutung ausgesprochen.™ Die Mythologie hat nicht den Glauben der Hellenen, sondern ihre Phantasie beherrscht, und wenn sie diesseits der Philosophie dem Mythos keinen Widerstand leisteten, sondern seiner momentanen Präsenz zu erliegen schienen, so vielleicht aus der einen Furcht vor dem Versiegen des Genusses, den er ihnen bot: Das zuhörende Volk glaubte gewiß jedesmal, was es hörte, und sehnte sich nur nach mehrerem. In diesem großen Idealbilde seines eigenen, dauernden Seins genoß es gewissermaßen lauter Ewigungen, während wir heute von lauter Zeitungen umgeben sind.16
Die Faszination des Mythos war gerade, daß er nur gespielt, durchgespielt, nur momentan >geglaubt< zu werden brauchte, aber nicht zur Norm und zum Bekenntnis wurde. Für alle seine Rezeptio13 Vorarbeiten zu einer Schrift über den Philosophen (1872), a.a.O., Bd. 6, 14 Griechische Kulturgeschichte II, 3, Gesammelte Werke, Bd. 6, Darmstadt 1956, S. 31. 15 Burckhardt, a. a. O., S. 29. 16 A.a.O., S. 36. Diese Stelle bietet freilich schon ein Beispiel einer aus dem Kontrastbegriff des Mythos gezogenen, kulturkritisch apostrophierenden Mythologie des Mythos. 336
nen - und zu diesen gehört schon die Stufe seiner ersten poetischen Formation - ist er nur ein Muster, auf dem und mit dem man kühn umgehen kann, weil es alte Gefährdungen und Drohungen als das, was vergessen werden durfte, nur noch wie ferne Vermutung enthält. Die entscheidende Bemerkung Jacob Burckhardts zum Mythos ist, die Schwierigkeit der Deutung griechischer Mythen beruhe darauf, daß das griechische Volk die Urbedeutungen der Gestalten und Hergänge offenbar hat vergessen wollen.17 Diese Mythologie ist daher nicht nur anthropomorph, wie andere auch, sondern in einem genaueren Sinne >human<, jeder Überforderung fern, so daß es sich leben ließ mit Göttern, welche dem Schicksal nicht weniger Untertan waren und nicht sittlicher zu sein begehrten als die Menschen, und diese nicht zum Ungehorsam reizten durch jene Heiligkeit, welche dem Gott der monotheistischen Religionen angehört.18 Dichtung konnte dazu das Entscheidende leisten, wenn ich auch annehmen möchte, daß sie einen bereits zur legeren Behandlung disponierten Mythos antreffen mußte, um so frei damit umzuspringen, wie sie es tat. Aber diese Freiheit ist durch die Dichtung, wenn die paradoxe Formulierung erlaubt ist, kanonisierte Lizenz geworden. Von Homer vollends haben sich Zeus und die übrigen Götter gar nicht mehr erholt...19 Daß es vom achten Gesang der Ilias bis zu den Götterparodien Lukians nicht sachlich so weit wie zeitlich lang gewesen ist, kann uns nur falsche humanistische Ehrfurcht verdecken. Daß die Griechen glaubten, was sie sangen, wie Jean Paul sagt, kann wohl nur unter Voranstellung des Satzes gelten, daß sie dies erst sangen, als sie es nicht mehr recht oder nur momentan kraft des Gesanges glaubten. Eine moderne, ironische Form der My thenallegorese ist von Leszek Kolakowski mit Geschichten des Alten Testaments praktiziert worden. Aber noch die ironische Distanz verrät, wie heterogen dieses Material gegenüber dem antiken ist. Welche Obligationen und Ansprüche hier ins Spiel kommen, zeigt das moralisierende Fazit der Geschichte von Salomos Verlegenheit angesichts des unausrottbaren Paganismus seiner tausend Frauen: Die Menschen bekämpfen einander wegen der Frage, welchem Gott sie gehorchen sollen. Die Götter bekämpfen einander wegen der Menschen, die ihnen gehorchen sollen. Jedoch in beiden Fällen - im Streit der Götter unter17 A.a.O., S. 45. 18 A.a.O.,S. 44 f. 19 A.a.O., S. 27. 337
einander wie in dem der Menschen untereinander - werden die Kämpfe schließlich durch die Menschen ausgetragen. Nicht hier jedoch liegt der neuralgische Punkt in den Beziehungen zwischen Himmel und Erde. Das Entscheidende ist, daß die Götter von den Menschen ständig eine klare Stellungnahme für die eine oder andere Seite verlangen und keine ungeklärten Situationen dulden. Sie zwingen den Menschen dadurch, sich ständig zu einer Alternative zu bekennen und nehmen so seiner Existenz jene angenehme Zweideutigkeit, die zu den wichtigsten Reizen des Daseins gehört.20
Der Mythos stellt nicht vor Entscheidungen, er fordert keine Verzichte. Sigmund Freud hat das Bilderverbot des Alten Testaments im Sinne eines ungeheuren >Triebverzichts< gedeutet21, als den Aufbruch in die großen theologischen Abstraktionen, die über die bloße Reduktion des Polytheismus auf den Monotheismus weit hinausgehen und die in der theologischen Spätgeschichte ihre Krönung als Scholastik finden sollten. Das biblische Verbot, den Gottesnamen unnütz zu gebrauchen, zwingt ebenso in die Richtung der Abstraktion wie in die der unerbittlichen Ausschließlichkeit; es weiß um die entbannende und entpflichtende Kraft der mythischen Freiheit des Umgangs mit den Götternamen, den Götterbildern und den Göttergeschichten. Wir brauchen die psychoanalytische Erklärung der Übermacht des einen Gottes als Wiederkehr des Vaters der Urhorde und des ägyptischen Aton nicht mitzumachen, um zu sehen, in welchem Maße der Monotheismus dieser Tradition auf eine Orthodoxie und ihre Dogmatik tendiert, die schließlich nicht nur bedeutet, keine anderen Götter neben diesem zu haben, sondern auch, über diesen keine anderen Sätze als die dogmatisierten zu gebrauchen. Der frühe Monotheismus hält es noch für selbstverständlich, daß dieser eine Gott einen Namen hat und daß er ihn den Seinen mitteilen muß, damit sie kraft dieses Namens den richtigen Gott rufen und erreichen können. Nur in der Möglichkeit der Verwechslung und Abweichung, nur im Irrealis steckt noch der Keim einer Geschichte; aber nicht einmal sie kann erzählt werden, weil die Sprache dieser Theologie den Konjunktiv nicht kennt. Der Konjunktiv ist die Sprache des sekundären, des reflektierten Mythos; in ihm wird überlegt und ausgesprochen, daß der Mensch der 20 Kolakowski, Der Himmelsschlüssel, München 1966, S. 99. 21 Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt 1964 (Bibliothek Suhrkamp 131), S. 153: Die Religion, die mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von Gott zu machen, entwickelt sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der Triebverzichte. 338
Betrogene der Weltveranstaltung eines Dämons sein könnte, wie bei Descartes, oder die Welt das Produkt einer Vergeßlichkeit Gottes, wie es der Nietzsche der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« Luther als Sinn des Satzes unterstellt, Gott hätte die Welt nicht geschaffen, wenn er an das schwere Geschütz gedacht hätte.22 Erst die philosophische Theologie hat eingebracht, daß der Gott als absolutes Prinzip keinen Namen hat und keinen Namen braucht, daß er nicht auf seinem Namen besteht. Damit entfaltet sich freilich zugleich die Dogmatik seiner Attribute, denn jener Gott, der einen Namen hatte, brauchte keine determinierbaren Eigenschaften zu haben wie der philosophische Gott: man mußte den richtigen haben, nicht das Richtige über ihn wissen. Nur seine Identität war wichtig, wie Pascal erinnert, indem er den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs gegen den der Philosophen stellt. Wenn es nicht mehr verboten ist, von Gott mit seinem Namen zu sprechen (weil er keinen mehr hat), bleibt es doch immer schwer, es überhaupt zu tun: seine Attribute sind Erschwerungen des Sprechens von Gott, extrem in den Sprachvorschriften der negativen Theologie. Mystik ist zu einem guten Teil Steigerung der theologischen Spracherschwernisse. Sie alle sind im Namen- und Bilderverbot angelegt, hätten aber ohne die Philosophie, zumal die neuplatonischer Prägung, die Stufe des reinen Abstraktionsbefehls nicht erreicht. Die Philosophie ihrerseits hat den Mythos mißverstanden, als 22 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, a..a.O., Bd. 6,S. 255. Zur theologischen Bedeutung des fehlenden Konjunktivs im Hebräischen: M. Kartagener, Zur Struktur der hebräischen Sprache, in: Studium Generale 15, 1962, S. 31-39. Hier eine wichtige Bemerkung zur Implikation des Konjunktivmangels: der nur metaphorische Charakter des Wirklichen (S. 39). H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv, in: Verstehen und Vertrauen. Festschrift O.F. Bollnow. Stuttgart 1968, S. 136-147, sagt Wesentliches über die Funktion des Konjunktivs, einen Spielraum innerhalb des Möglichen zu schaffen (S. 143), als Obligationsentzug und Appell an die Einbildungskraft, damit aber auch über die theologische Illegitimität des Konjunktivs: Wird das Leben von der Allgegenwart Gottes beherrscht, so kann es sich mit gutem Gewissen kein échappement leisten. Mit Recht besteht Plessner aber darauf, über der Indikation der Sprache auf das Denken dieses nicht einem Absolutismus jener zu unterwerfen: Sprachen bleiben Mittel zur Verfügung des Menschen, der ihrer aufschließenden wie ihrer verdeckenden Kraft gleichwohl Herr werden kann. (S. 144) Das gilt auch für die Versuche, den bannenden Charakter mythischer Gehalte aus ihrem genetischen Zusammenhang mit der Sprache, aus einer Allgemeinheit der Sprachsymbolik (Freud, a. a. O., S. 128) oder, wie schon vor einem Jahrhundert Max Müller, aus der inhärenten Notwendigkeit der Sprache herzuleiten. 339
sie eine Vorform der Metaphysik aus ihm machen und dies durch Mittel der Allegorese belegen wollte. Die christliche Apologetik hat ihn ebenso mißverstanden, als sie - in absoluter Ernsthaftigkeit gegenüber den Widersprüchen der Mythologie und ihrer Frivolität - dort im Grund den Konkurrenten sah, der wegen des vermeintlichen Gehaltes an >Lehre< auszuschalten und dessen Stelle einzunehmen war, während doch in Wirklichkeit es nur die an den Gehalten der Mythologie praktizierte Liberalität gewesen ist, die als bleibend konkurrierende Unterströmung bis tief in die Renaissance und Neuzeit hinein dem Christentum als der Form des dogmatischen Ernstes und absoluter Verbindlichkeit den kontrastierenden Modus des Denkens und Sprechens darbot. Was einander gegenüberstand, war die Gegensätzlichkeit des Umgangs mit den Namen und Geschichten der Götter. Das Christentum wollte und mußte im Mythos einen dem eigenen vergleichbaren Anspruch auf Gültigkeit der Aussagen, kurz: ein System, sehen. Die für alle Apologetik exemplarische Rede des Paulus auf dem Areopag von Athen im 17. Kapitel der Apostelgeschichte zeigt, wie wichtig es war, den Gegner systematisch zu dogmatisieren; so bekam die eine Lücke des vorgefundenen vermeintlichen Göttersystems, der Agnostos Theos, seine Relevanz. Ebenso stehen alle Versuche, das pagane Pantheon zu retten, unter dem Zwang, den Verbindlichkeitsrückstand gegenüber der neuen Lehre wettzumachen; und das war nur mit dem Instrument einer dogmatischer verfahrenden Allegorese möglich, als Sophisten, Stoiker und Epikureer sie geübt hatten. Dazu bemerkt Schelling: Zuletzt wurden beide (sc. Stoiker und Epikureer) von den Neuplatonikern abgelöst, welche endlich eigentliche Metaphysik in der Mythologie sahen, genöthigt dazu hauptsächlich wohl, um dem geistigen Gehalt des Christenthums in einem analogen des Heidenthums ein Gegengewicht zu geben.23
Das Mißverständnis war philosophisch akzeptiert worden und wirkte als eine Art subkutaner Rache von den spekulativen Hypostasen der Neuplatoniker auf die Trinitätsspekulation der patristischen Denker zurück. Die Liberalität der Mythologie überlebte nur in den Übungsstücken der Rhetorik. Aber das war wegen der über die Schulen möglichen Wirksamkeit kein hoffnungsloses Réduit. Der Unterschied zwischen einer dogmatischen und einer mysti23 Einleitung in die Philosophie der Mythologie I, 2, a. a. O., Bd. 6, S. 3 5. 340
sehen Tradition sowie zwischen den ihnen zugeordneten Rezeptionsakten liegt nicht im bloßen Maß der Veränderung ihrer Inhalte. Immerhin gibt es als Disziplin die Dogmengeschichte; aber sie beschreibt das Anwachsen eines substantiellen Bestandes und die Ausbildung seiner terminologischen Eindeutigkeit. Ihr Thema ist eine auf Entmutigung aller Abwandlungsgelüste angelegte Geschichte. Was Veränderung als Zuwachs immer weiterer Definitionen schafft, ist die Aufdeckung von Inkonsistenzen im dogmatischen System, wie sie im >Durchdenken<, im schulmäßig pedantischen Verfügen durch Disputationen und Sophismata zutage gefördert werden also ungewollt und störend, aber Aushilfen und damit Erweiterungen, Festlegungen, Anathemata erzwingend. Die mythologische Tradition scheint auf Variation und auf die dadurch manifestierbare Unerschöpflichkeit ihres Ausgangsbestandes angelegt zu sein, wie das Thema musikalischer Variationen darauf, bis an die Grenze der Unkenntlichkeit abgewandelt werden zu können. Noch in der Variation durchgehalten zu werden, erkennbar zu bleiben, ohne auf der Unantastbarkeit der Formel zu bestehen, erweist sich als spezifischer Modus von Gültigkeit. Solche Gültigkeit bietet gleichsam Bezugspunkte für >Anspielungen< und vage Verweisungen: es darf Vertrautes vorausgesetzt werden, ohne daß es eine besondere Sanktion besäße oder dem Zwang einer konservativen Behandlungsweise unterworfen wäre. Die Mythologie erlaubt, indem ihre Tradition bestimmte Materialien und Schemata fixiert, immer zugleich die Demonstration von Neuheit und Kühnheit als ermeßbare Distanzen zu einem Vertrautheitshorizont für ein in dieser Tradition stehendes Publikum. Die mythologische Tradition beschafft Beweislasten der Phantasie, Parameter für ihre Kühnheiten; ich erinnere an das poetische Obligatorium der Unterweltsfahrt des epischen Helden einschließlich seiner faustischen Variante des Abstiegs zu den Müttern. Die Stärke der mythologischen Tradition ist ihre substantielle Inkonstanz, ihr unbedenklicher Verzicht auf Konsequenz, den als Kategorie des Mythos wiederum Jacob Burckhardt festgestellt hat: Konsequente Anschauungen sind übrigens hier (sc. die Metamorphose betreffend) 50 wenig zu erwarten, als auf irgendeinem Gebiete dieser herrenlosen, von keiner Theologie gehüteten griechischen Religion.2-"' Schon der frühen Mythenforschung erschien gerade die Inkonsistenz als Kriterium 24 Griechische Kulturgeschichte II, 1, a.a.O., S. 9f. 341
der Authentizität einer Mythologie: Je zusammenhangender und runder, je mehr Spuren von philosophischer und dogmatischer Industrie.25 Gerade das also, was ihn dem Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit, der unter dem Kriterium der Konsistenz steht, entfremdet, erweist den Mythos in seiner Ursprünglichkeit. Die Inkonsistenz jener träumerischen Systeme2^, der Mangel ihrer durchgängigen kategorialen Verknüpfung ist freilich eher ein Stigma der Sorglosigkeit als der Überforderung des Verstandes durch das Unmögliche. Es ist daher schon eine Rückprojektion des Glaubensanspruches und seiner extremen Formel des credo quia absurdum, die Aufrichtung einer Macht, die ins Leben greift, in den Haltungen und Handlungen der Menschen zur Erscheinung kommen muß, wenn neuere Schwärmerei für den Mythos sich so formuliert: der Mythen Grundcharakter ist das für den Verstand Unmögliche. Sie alle kreisen um einen Mittelpunkt der Unmöglichkeit. Aber dieses Unmögliche im Zentrum ist der Gott! Die Welt des Mythos ist seine Welt. Hier haben alle Denkweisen den Sinn verloren, denn es gibt nichts Vergleichbares. Der Gott kann nur erscheinen und erfahren werden oder nicht.27 Das ist genauso pseudoantik wie der Satz: Das Göttliche will die Inkarnation.2* Es ist schon merkwürdig, daß romantische Kontrastfunktion des Mythischen die Rückprojektion derjenigen Strukturen, zu denen jenes gerade kontrastieren soll, nicht ausschließt. Die Vorliebe für das dunkle Wort des Thaies, alles sei voll von Göttern, vernimmt nicht die Zweideutigkeit eines sentimentalen >erfüllt< und eines indifferenten >gefüllt<; Aristoteles jedenfalls, der diesen Ausspruch im 5. Kapitel des ersten Buches »Über die Seele« berichtet, bringt ihn in Zusammenhang mit einem bloßen Panpsychismus und fügt mit schwer erträglicher Pedanterie hinzu, diese Meinung enthalte einige Schwierigkeiten. Jener auch sonst berichtete Satz charakterisiert jedenfalls nicht den Mythos als Kontrast zu einer der Ausdörrung und Entheiligung durch die Transzendenz ausgesetzten Welt, sondern eher als den formalen Ausdruck einer äußersten Unverbindlichkeit, etwa von der Art: zu viele Götter verderben das Göttliche. In diesem Sinne ist der Satz nicht weit 25 Ph. Buttmann, Mythologus oder gesammelte Abhandlungen über die Sagen des Alterthums, I, Berlin 1828, S. 20. 26 Buttmann, a. a. O., S. 19. 27 W.F. Otto, Der Mythos, in: Studium Generale 8, 1955, S. 264f. 28 A.a.O., S. 266. 342
entfernt von der Ironie des >unbekannten Gottes< der paulinischen Areopag-Rede, die doch besagt, es könnte der Gott, auf den es ankommt, vergessen sein in der Überfülle derer, auf die es nicht ankommt - aber eben auch nicht ankommen soll, dessen die Überfülle Ausdruck sei. Verständlich ist, daß der Satz des Thaies mehr affiziert als einen Vertrautheitsrest aus der Bildungssphäre der Mythologie. Die Idee der Wiederherstellung der heilen Welt ist an die Erwägung der Möglichkeit geknüpft worden, wir könnten nicht nur dichtend Polytheisten, nicht nur mit dem schönen Schein spielend wieder in einer von Göttern erfüllten Welt sein.29 Die mit der Erwartung, es werde sich die diesseitige Welt voll von Göttern als die wirkliche Welt... offenbaren, verbundene Renaissance Hölderlins will ich hier nicht erörtern; aber es ist nur zu begreiflich, wie solches in einer auf ihre instrumentellen und konsumtiven Mittelbarkeiten reduzierten Wirklichkeit, die den Menschen beständig versucht, sich selbst nach ihrer Analogie zu verstehen und sich in sie einzuverleiben, attraktiv werden kann. Zwischen Selbstbehauptung und Glücksanspruch scheint ein Widerspruch zu bestehen. An den gleichsam aus der Knechtschaft ihrer Funktion befreiten und auf ihre Selbstbedeutung verwiesenen Dingen könnte ein bloß auf Mittel bedachtes Denken zurückgeworfen und zur Ruhe gebracht, seinerseits >erfüllt< werden. Eine Wiederherstellung der Selbstbedeutung führt in konsequenter Steigerung zur Selbstbedeutung im absoluten Sinne und das heißt: zur Vergöttlichung der Dinge. Eine solche ästhetische Eschatologie mit ihrer eudämonistischen Parusie der Götter reißt die Teleologie des Glückswillens und die der Freiheit auseinander. Die Wiederfüllung der Welt mit Göttern würde den Glücksanspruch des Menschen sättigen, indem er die Dinge zu absoluten Werten potenzierte. Aber ein solcher >Stillstand< des Willens würde die Freiheit zu einem phantastischen und sinnleeren Begriff machen. Er würde den Mythos selbst, so wie er unserer Tradition präsent geworden ist, auf den hinter ihm stehenden und in ihm überwundenen absoluten Ernst zurückführen. Der Bezug der Mythologie zur Erhebung und Erfüllung des menschlichen Daseins scheint aber gerade darin zu bestehen, daß sie Entlastung von jenem Ernst, Freiheit der Imagination im Umgang mit Geschichten von einst Übermächtigem ist. 29 W. Bröcker, Der europäische Nihilismus und die kantische Philosophie, in: Studium Generale 7,1954, S. 550-554. 343
Was wir noch fassen können und was uns vertraut ist, ist schon die späteste Gestalt jener Mächte in der frühgriechischen Dichtung. Hier ist das Schreckliche, das tremendum und das fascinosum, schon ins Erträgliche, wenn auch noch nicht ins Ästhetische unseres Sinnes transformiert. Wenn Ursprung des Dämonischen die erste Benennung des blanken Schreckens und der absoluten Ungewißheiten ist, so sind hier längst die Mittel vertraut, den Schrecken zu bannen, ihn vielleicht sogar in Dienst zu nehmen für Nützliches, in ihm nach Protagonisten der Kultur zu suchen. Hephaistos, ursprünglich ein Gott des Feuerschreckens, wird zum Erfindergott: Kein Übergang von einem rohen zu einem gebildeten Volke kann einleuchtender sein, als daß dieses in dem furchtbaren Gotte, den die geschreckte Einbildungskraft des ersteren sich aus dem Feuer schuf nunmehr den Urquell aller mechanischen Künste verehrt?0 Schon in den Götternamen liegt Disposition zur Distanz, Ansatz zur Freiheit der Geschichten, und von dieser Freiheit >zehren< alle Späthorizonte einer Tradition, die gleichzeitig mit dem nie erlahmenden Anspruch auf Rechtgläubigkeit sein sollte. Daher bekommt seinen unverlierbaren Reiz, daß man mit den einst strengen Ritualen solches durfte, von den Göttern selbst das nur noch Menschliche zu erzählen. Vergessen wir nicht, Blasphemie ist immer ein Korrelat auch der Furcht vor Mächten gewesen, eine magische Praxis, ihre hintergründige Ohnmacht vielleicht entdeckbar zu machen. War Zeus ein alter Wettergott mit schrecklichen Attributen, so konnte es keine größere Freiheit des Heraustretens aus >schlechthinniger Abhängigkeit^ geben, als über ihn jene Geschichten zu erzählen, die ihn menschlicher als jeden Menschen erscheinen ließen. Apollon, ursprünglich der >Verderber<, wurde ein strahlender Gott von ausgesprochener Nettigkeit, und seine Mutter Leto war ursprünglich eine Gottheit jenes Raumes, in dem Furcht zu Hause ist, der Nacht. Der Mythos tendiert nicht ins Absolute, sondern in der Gegenrichtung zu den Kategorien, die Religion und Metaphysik bestimmen. Aber diese Bewegung wird ihren Ursprung nie ganz verleugnen können: eine rein poetische Erfindung hätte es nie zu dieser Wirkung gebracht, die darauf beruht, daß den von alter Verbindlichkeit noch verschatteten Elementen sich eine Schicht entspannter Unverbindlichkeit überlagert: Zu einer Zeit, wo noch alles voll 30 Buttmann, a.a.O., S. 6. 344
von Traditionen, von religiösen Gebräuchen ist, da ist es gar nicht möglich, eine auf bloße Erfindungen gebaute Theorie vorzutragen ...Es muß in derselben sogar das meiste auf Tradition und Ritus gegründet sein, wenn sie auch nur ihren Erfinder überleben soll.31 Latenz der traumatischen Schrecknisse, die mit dem Ursprung der Götter verbunden gewesen waren, mag im Spiele sein, wenn die neue poetische Liberalität einen bestimmten Bezugsrahmen nicht zu überschreiten vermag. Überwindungen eines solchen Erbes sind nie Sache eines Aktes. Die Geschichte verläuft nicht vor allem in diachronen Sequenzen dessen, was noch nicht ist, was ist und was nicht mehr ist, sondern in synchronen Parataxen und Hypotaxen. Es gibt nicht die endgültigen Triumphe des Bewußtseins über seine Abgründe: Bildung, Tradition, Rationalität, Aufklärung bedeuten weniger das, was einmal im Leben von Grund auf getan und für allemal getan werden kann, als vielmehr die ständig neu instrumentierbare Anstrengung zu depotenzieren, aufzudecken, aufzulösen, ins Spiel umzusetzen. Sigmund Freud hat die Konzeption der Latenz in seiner historischen Psychoanalyse der monotheistischen Religion entwickelt, vor allem an der Wiederholung der Urvatergeschichte, aber dann auch an der sicher höchst strittigen Spekulation vom ägyptischen Ursprung des Moses und seiner Religion, die gleichsam im Untergrund die Übernahme des midianitischen Jahve überlebte und zu später Erneuerung kam. Jahve aber war sicherlich ein Vulkangott ... ein unheimlicher, blutgieriger Dämon, der bei Nacht umgeht und das Tageslicht scheut.32 Die Bedeutung der von Moses gestifteten Theologie läge dann in der Überwindung der Schrekkensgottheit aus jenem Untergrund apokrypher Vermittlung heraus. Auf die Dauer machte es nichts aus, daß das Volk, wahrscheinlich nach kurzer Zeit, die Lehre des Moses verwarf und ihn selbst beseitigte. Es blieb die Tradition davon, und ihr Einfluß erreichte, allerdings erst allmählich im Laufe der Jahrhunderte, was Moses selbst versagt geblieben war.33 31 A.a.O., S. 19. 32 Freud, a.a.O., S. 43. Das ursprüngliche Charakterbild Jahves nach Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme, Berlin 1906, S. 38, S. 58. Von E. Seilin, Mose und seine Bedeutung für die israelitisch-jüdische Religionsgeschichte, Leipzig 1922, übernimmt Freud die für ihn entscheidende These von der Ermordung des ägyptischen Moses als Voraussetzung für den interimistischen Untergang seiner Religionsstiftung. 33 Freud, a.a.O., S. 65. 345
Die Kategorie der Wiederholung, die selbst eine elementare mythologische Struktur ist, wird hier für den einzigartigen Geltungsgewinn der von Moses gestifteten Theologie in Anspruch genommen. Gerade in diesem Zusammenhang wird wichtig, daß der jüdische Geschichtsgott ein Gott der namentlichen Identität und der durch sie appellierbaren Bündnistreue ist, nicht aber ein Gott der Attribute und zwar schon aus dem Grunde, daß die hebräische Sprache keine Kopula kennt: Attribute entstehen aus adjektivischen Prädikaten.34 Das Modell jener von Freud vermuteten Latenz ist aus dem Analogon der traumatischen Neurose< und ihres Wiederholungszwanges abgeleitet. Mit Hilfe dieses Erklärungsmittels will Freud nebenher auch die Frage beantworten, woher die Griechen das von Homer und den attischen Dramatikern verarbeitete mythologische Material genommen hätten: Die Bedingung, die wir erkennen, ist: Ein Stück Vorgeschichte, das unmittelbar nachher als inhaltreich, bedeutsam und großartig, vielleicht immer als heldenhaft erscheinen mußte, das aber so weit zurückliegt, so entlegenen Zeiten angehört, daß den späteren Geschlechtern nur eine dunkle und unvollständige Tradition von ihr Kunde gibt... Wenn von der Vergangenheit nur mehr die unvollständigen und verschwommenen Erinnerungen bestehen, die wir Tradition heißen, so ist das für den Künstler ein besonderer Anreiz, denn dann ist es ihm frei geworden, die Lücken der Erinnerung nach den Gelüsten seiner Phantasie auszufüllen und das Bild der Zeit, die er reproduzieren will, nach seinen Absichten zu gestalten. Beinahe könnte man sagen, je unbestimmter die Tradition geworden ist, desto brauchbarer wird sie für den Dichter.35
Nein, ich glaube nicht: je unbestimmter die Tradition, desto brauchbarer für den Dichter, sondern: der Dichter sorgt seinerseits entscheidend für die Unbestimmtheit der Tradition, die er vorfindet, und zwar paradoxerweise gerade durch die Wahrnehmung jenes Anreizes für eine Phantasie, die frei geworden ist, dem vorgefundenen Substrat Überbestimmtheit zu geben. Homer und Hesiod wußten gleichsam zu viel von den Göttern, zu Genaues über ihre Genealogien und Geschichten, als daß diesem noch so etwas wie >Glauben< hätte entgegengebracht werden können. Nun läßt sich dieses Modell Freuds aber auch umkehren, um das Wirkungspotential des Mythos in seiner Rezeption verständlich 34 Kartagener, a.a.O., S. 35. 3 5 Freud, a. a. O., S. 93 f. 346
zu machen: die Anspielung und Variation, die Berichtigung und Ergänzung, das Durchscheinenlassen und die Pointe sind Imitationen, Nachspielungen der Struktur einer schicksalhaften Anamnesis. Piatos Metapher der Anamnesis bereits enthält dazu eine wichtige Vermutung: darin, daß bei Veranlassung äußerer Eindrücke sich die präexistent erworbene Wahrheit mit Macht durchsetzt, liegt der Verdacht beschlossen, daß in einem Akt der Erinnerung die im Bewußtsein sich geltend machende vorzeitliche Erfahrung solche Mächtigkeit gewinnen könnte, daß wir sie mit der Evidenz einer Einsicht gleichzusetzen geneigt oder verführt sein mögen. Die Voraussetzung Piatos wird freilich hierbei verkehrt; nicht: weil Wahrheit der Idee als das früh Erfahrene, deshalb Evidenz der Erinnerung, sondern: weil früh Erfahrenes als Erinnerung, deshalb Evidenz einer Idee. Dieser Mechanismus ist von ebenso großartiger wie verhängnisvoller Potentialität. Eben jenes uralte Wiederkehrende kann simuliert werden und so die Rezeption des Mythos zu jener zwangshaften Anamnesis der Latenz machen, mit der Freud erklärt, daß auf den als monotheistische Gottheit wiederhergestellten Urvater alle archaischen Affekte übertragen werden. Etwas von solcher Mobilisierung und Übertragung archaischer Affekte muß im Spiel sein, wenn Mythisierung von Ideologien versucht wird: als übermächtig und mit allen Gewalten im Bunde soll erscheinen, was aller rationalen Legitimierbarkeit entbehrt und bei Mangel an erweisbarer Geschichte doch wie das Uralt-Wiederkehrende aussehen soll. Denn dem >alten Wahren< wird unterstellt, es sei wegen seiner Wahrheit alt geworden, während die Funktion fiktiver Spätmythologien darin besteht, dem als alt Ausgegebenen die Assoziation der Wahrheit zu erschleichen. Für die Übel der Welt etwa können nur Übergrößen aufkommen, und von diesen muß sich eine Geschichte erzählen lassen, die keiner Prüfung fähig ist und bedarf, z.B. die von einer Verschwörung gegen die Menschheit. Zugleich darf die Absolutsetzung des übergroßen Feindes eben nicht absolut sein, denn er soll doch als das Überwindbare des nächsten und letzten Aktes der Geschichte noch jeden Mut lassen. In solcher Inkonsistenz jeweils nur momentan, aber nicht im Kontext zu erfassender Evidenzen kann nur Mythologie die Wirklichkeit anbieten. Etwas von jener Affektübertragung auf das Uralt-Wiederkehrende ist aber auch in der Rezeption der Mythentradition im Spiel. Die Affektmobilisierung setzt sich um in Bedeutsamkeit, 347
in ein Gewicht der derart akzentuierten Aussage, das keiner Argumentation mehr zu bedürfen scheint. So etwa, wenn auf Prometheus angespielt wird. Beispiel: in einem Festvortrag will ein Techniker die schiefe Stellung unseres Bildungs- und Wertungssystems zur Technik markieren; er sagt: Das Schicksal unseres technischen Ahnherrn Prometheus, des >Vorherbedenkenden< ... zeigt übrigens den zeitlosen Sinngehalt antiker Sagen; denn auch heute noch gibt es gleichsam Adler, die glauben, in olympischer Sendung mit scharfem Schnabel auf Prometheus einhacken zu müssend Wie könnte man mit einem vergleichbar geringen Aufwand an Deskription und Fakten eine wuchtigere Wirkung erzielen als mit dem Appell an diese vertraute Geschichte, die hier nur mit einem ihrer Nebenzüge ins Bild kommt? Welcher Satz ließe sich beim jungen Marx anführen, der eindrucksvoller auf Künftiges vorzubereiten vermöchte als der Schlußsatz der Vorrede zu seiner Jenaer Dissertation vom März 1841: Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender. Welches Amalgam von christlichem Säkularisat und mythologischer Anamnesis! Das Auftauchen der Prometheusfigur seit der Renaissance als einer Art von Leitfossil - zumindest als Anspruch auf Kühnheiten in der Selbstformulierung der Neuzeit - ist in der Literatur allzusehr im Sinne der humanistischen Befriedigung an der Konstanz eines sanktionierten Bildungselementes behandelt worden, also im Stile der Toposforschung. Die Aufschlußhaltigkeit solchen >Vorkommens< ergibt sich erst, wenn das Ineinandergreifen der formal entgegengesetzten Tendenzen von Konstanz und Variation, von Bindung und Ausschweifung, von Tradition und innovatorischer Kühnheit wahrgenommen wird. Auch die gewollten Undeutlichkeiten, die Bezugsstrukturen des Mythos verwischen, können hier deutlich genug sein; so in Shaftesburys berühmter, dem >Sturm und Drang< gegenwärtiger Formel: Such a poet is indeed a second maker; a just Prometheus, underjove, worin das Hinter Jupiter< in seiner Blässe ebenso beschwichtigendes Zugeständnis wie Hindeutung auf strafende Übermacht sein kann.37 36 H. Blenke, Zur Synthese von Wissenschaft und Technik. Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1966, in: Mitteilungen der DFG 1966, 4, S. 6. 37 O. Walzel, Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe, München 2 1932, S. 12-14, n a t zwar die Übertragungsgeschichte der Stelle aufgeklärt, 348
IL Zwischen dem, was man das >Nachleben< der antiken Mythologie zu nennen pflegt, und dem anderen Nachleben, das als >Säkularisierung< des Christentums bezeichnet worden ist, besteht eine spezifische Differenz. Auf die Berechtigung, Säkularisierung als Kategorie historischen Verstehens auszugeben, brauche ich dabei nicht einzugehen38; es bleibt als unbestritten, daß die von der christlichen Theologie hinterlassenen Leerstellen den nicht eliminierbaren Anspruchsrest behalten, jene absoluten Forderungen theoretischer wie praktischer Art an den Menschen anzunehmen und durchzuhalten, die durch eine Religion der Transzendenz und der Offenbarung eingeführt und stabilisiert worden waren. Schon in der Renaissance wird an ihrem Verhältnis zur Mythologie sichtbar, wie sie diese in einer Art allegorischer Dogmatisierung dem Christentum zu assimilieren versucht und bis in die Ästhetik hinein zum Kanon neuer Obligationen macht, statt in ihr ein Instrument der aber die Interpretation zu ausschließlich in die Linie des Gott-KünstlerVergleichs eingeordnet, der doch gerade hier wie unter der Irritation der Bezugsfigur >verformt< wird. Interessant, was geschieht, wenn mehrere Vorprägungen aufeinandertreffen; so, wenn bei Wilhelm Schlegel Prometheus den Grundsatz, die Kunst solle die Natur nachahmen, zwar über sein Ausgangsniveau hinauszwingt, aber dann doch aus dem Raub am Göttlichen ein Stück legitimierter aristotelischer Mimesis wird: Auf diese Weise hat Prometheus die Natur nachgeahmt, als er den Menschen aus irdischem Ton formte und ihn mit einem von der Sonne entwandten Funken belebte (zitiert bei O. Walzel, a.a.O., S. 18f.). Bei Herder ist aus dem Sonnenfunken ein elektrischer Funken geworden, aber Prometheus damit noch nicht aus der Nähe der Naturfrömmigkeit weggerückt. Der >Künstler< Prometheus hat noch nicht das Odium des >Technikers<, die gefeierte Übergröße ist noch nicht zur kritischen Grenzfigur der Selbstbehauptung oder des >heroischen Nihilismus< geworden, wovor zu schaudern wiederum mythologische Anamnesis bestärkt. In seiner Rede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität nimmt Heidegger Bezug auf die schon antike Doxa, Prometheus sei auch der erste Philosoph gewesen, und zwar, wie der moderne Autor meint, weil er vom Ausgeliefertsein an die Übermacht des Schicksals wußte: Eben deshalb muß das Wissen seinen höchsten Trotz entfalten, für den erst die ganze Macht der Verborgenheit des Seienden aufsteht, um wirklich zu versagen. Man bedenke dagegen, wie schon die antike Komödie die prometheische Theomachie >heruntergespielt< hatte - der Mythologie darin ganz konsequent folgend, wie ich meine, deren ganze Intention >Herunterspielen< der großen Gott-Mensch-Konflikte war- : der Prometheus der Komödie ist nur noch der kleine Gauner, der den Göttern das Opferfleisch stiehlt (C. Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums I, München 1954, S. 445). 38 Dazu vom Vf.: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt/M. 1966, S. 9-74. 349
Entdogmatisierung zu sehen und zu gebrauchen, also gerade nicht mit der Rezeption paganer Mythen die Forderung der >Rückkehr< zu irgend etwas zu verbinden, um dann dieses als das Endgültige festzuhalten. Jeder Absolutismus der Wahrheit führt einen Analogiezwang mit sich, dem sich noch seine radikalsten Opponenten nicht entziehen können. Das lag für die Renaissance zu einem guten Teil an ihrem Weg über die patristischen Quellen, in denen ein >Heidentum< von durchgebildeter Systematisierung vorgegeben war. Die Anstrengung, für die eine eindeutige und ganze Wahrheit einstehen zu sollen, die der überwundenen oder zu überwindenden Epoche versprochen worden war, setzt sich in den Ernst der mythischen Totalität um, die zu leisten noch der spätesten Künstlichkeit des >weltanschaulichen< Mythos angelegen sein sollte. In der Richtung ihrer schon in der Antike gewonnenen Freiheit zur schönen Objektivität der Unbesonnenheit^ sich zu entfalten, wollte der erneuerten Mythologie nur schwer gelingen. Es scheint, daß die Freigabe der Mythologie für ihre ästhetische Funktion in der Neuzeit mit der Entlastung zusammenhängt, die hinsichtlich des Erbes der >allzu großen Fragen< von der neuzeitlichen Philosophie übernommen wurde. Dazu trug bei, daß seit Vico die Heterogeneität des Mythos gegenüber aller vertrauten Logik behauptet wurde; man könne sich jetzt gar nicht mehr vorstellen, wie die ersten Menschen gedacht haben, denen nicht einmal der Begriff der Identität verfügbar gewesen sei, so daß sie bei jeder neuen Ansicht einer Gestalt sogleich eine andere neue Gestalt vermuteten..., bei jeder neuen Leidenschaft an ein anderes Herz glaubten.40 Damit aber blieb der Mythologie zunächst nur noch eine ästhetische Brauchbarkeit. Eine Betrachtungsweise wie die hier vorzuschlagende sucht nicht historisch oder philologisch zu klären, was >der Mythos< ursprünglich oder in einer bestimmten Phase unserer Geschichte bzw. Vorgeschichte gewesen sein mag; vielmehr wird er als immer schon in Rezeption übergegangen verstanden. Wenn man meint, eine solche Betrachtungsweise sei sekundär und daher auch von sekundärem Interesse, so geht man von einem Unterschied zwischen dem Objekt und seinen Verständnisweisen aus, den die 39 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik I, 4, § 17 40 Scienza Nuova II, 7, 2 (in der Übersetzung von E. Auerbach, München 1924). 350
Naturwissenschaften verbindlich gemacht haben, in denen jedes Resultat über einen Gegenstand seine Vorgänger verdrängt und einem >nur noch< historischen Interesse überliefert. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften haben die wirkenden Werke keinen Vorrang vor den Resultaten ihrer Wirkung, weil und sofern es keine besondere Dignität ihres Ursprunges - z.B. in einer Metaphysik der Kunst als originärer Hervorbringung, sei es mit Hilfe der Musen, der Magie oder der Inspiration, sei es durch das Genie selbst - mehr gibt. Produktion und Rezeption sind äquivalent, sofern die Rezeption sich zu artikulieren vermochte. Um so etwas wie die >Rückgewinnung des verlorenen Sinnes< geht es gerade nicht; da gerät man, auf unser Problem bezogen, nur in einen Mythos der Mythologie. Das Ursprüngliche bleibt Hypothese, deren einzige Verifikationsbasis die Rezeption ist. Weder Homer noch Hesiod oder die Vorsokratiker präsentieren uns etwas vom absoluten Anfang; sie selbst produzieren aus dem Akt der Rezeption oder, anders ausgedrückt, sie werden uns nur dadurch begreiflich, daß wir diese Voraussetzung machen. Die Antithese von schöpferischer Ursprünglichkeit und hermeneutischer Nachläufigkeit ist unbrauchbar: selbst wenn es das Ursprüngliche als Faßbares gäbe, wäre es in dieser Qualität zwar von stupendem, aber nicht artikulierbarem Interesse. Der Reiz des Neuen geht in den Genuß des Verstehens dadurch über, daß es als Kühnheit gegenüber dem Alten und als beziehbar auf dieses verstanden wird. Absolute Anfänge machen uns sprachlos im genauen Sinne des Wortes. Dies aber ist es, was der Mensch am wenigsten erträgt und zu dessen Vermeidung oder Überwindung er die meisten Anstrengungen seiner Geschichte unternommen hat. Die Frage nach der Realität des Mythos in seinen Späthorizonten kann keine andere sein als die nach seiner Funktion innerhalb jener Anstrengungen. Thematisch ist aber nicht nur die materielle, sondern auch und gerade die formale Rezeption. Über einen Gott eine Geschichte zu erzählen, ohne eine bestimmte tradierte Geschichte dabei zu übernehmen oder zu verwenden, das kann als solches seine deutlich umschriebene Funktion haben. Als Nietzsche vom >Tode Gottes< sprach, griff er - im Gegensatz zum Atheismus des 19. Jahrhunderts, der seinerseits der kategorischen Dogmatik eine dogmatische Negation entgegenstellte - auf die Form des Mythos zurück: er erzählte nicht von einem der alten Götter der Griechen und Römer, sondern von diesem Gott der noch andauernden Ge351
schichte eine Geschichte. Er mißachtete dadurch ein letztes Mal das Verbot, den Namen Gottes unnütz zu gebrauchen. Es ist, auf das Ganze des "Werkes von Nietzsche gesehen, nicht nur ein Stilmittel und eine Figur der Rhetorik, sondern es ist die Wahl der Form selbst als Antithese. Wenn Nietzsches Philosophie auf den Finalgedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen tendiert, weil er darin die Herstellung der absoluten Bedeutung der Welt und des Menschen erwartet, dann ist dies die formale Struktur des Mythos gleichsam beim Wort genommen. Vorhergeht, daß der Tod Gottes die Bedingung dafür ist, daß der Übermensch möglich wird. Wie in der Generationsfolge der Götter besteht um die Weltherrschaft absolute Rivalität: der neue Gott kann nicht kommen, ohne daß der alte entmannt oder in die Unterwelt gesperrt ist. Die mythische Struktur steht gegen die der Geschichte; sie hat Generationen, Weltalter, Herrschaftszeiten. Im Verhältnis zum Mythos liegt ein Moment der Einheit der Philosophie Nietzsches: Als der Lehrer der ewigen Wiederkunft erinnert er sich des Problems der Geburt der Tragödie wieder, und in der höchsten Art des dionysischen Seins schließt sich das Ende seines Versuchs mit dessen Anfang systematisch zusammen.41 Nietzsches Affinität zum Mythos entsteht daraus, daß ihm die Norm der Wahrheit problematisch geworden ist. Die Dichter lügen - das Wort kommt wieder zu Ehren. Die Unbefangenheit, mit der der Mythos sich bei seinen Unstimmigkeiten antreffen läßt, ist archaische Vorgängigkeit zur >Pflicht der Wahrheit<: wie der epische Erzähler, so erfindet der Priester Mythen seiner Götter: sie rechtfertigt ihre Erhabenheit. Außerordentlich schwer, das mythische Gefühl der freien Lüge wieder sich lebendig zu machen. Die großen griechischen Philosophen leben noch ganz in dieser Berechtigung zur Lüge. Wo man nichts Wahres wissen kann, ist die Lüge erlaubt.42
Nietzsche hat die Theologie nicht einfach negiert, er hat sie transformiert, indem er Gott statt seiner Attribute eine Geschichte gab, deren Ende ihre Pointe ist. Er machte von der formalen Freiheit des Mythologen Gebrauch und übertrug sie - darin besteht der Skandal des Paradoxes - auf den biblischen Gott, der zwar in die 41 K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin 1935, S. 17. 42 Vorarbeiten zu einer Schrift über den Philosophen (1872), a.a.O., Bd. 6, S. 29. 3J2
Geschichte eingegangen war, aber die Form der Geschichten nicht ertrug. Der Mythos eines Gottes kann erklären, was seine Dogmatik nicht wahrhaben darf: weshalb nämlich diesem Gotte die Altäre erkalten, die Opfer sich der Schlachtung widersetzen, die Beweise seiner Existenz nicht mehr funktionieren, die Gebete von ihm nicht mehr erhört und die Wunder Vergangenheit werden - weil nämlich dieser Gott tot ist. Ich will an dieser Stelle nur deutlich machen, was formale Bezugnahme auf den Mythos bedeutet und daß sie in einem Zusammenhang mit der Einschätzung der Wahrheit gesehen werden muß. Dieser Zusammenhang ist von der christlichen Tradition nicht nur durch ihren allgemeinen Wahrheitsanspruch hergestellt worden, sondern durch sehr bestimmte Abgrenzungen dessen, was als Unwahrheit fortan unerträglich sein sollte. Am eindringlichsten wurde das an der Metamorphose als einer Grundstruktur mythischer Geschichten demonstriert, die noch aus den letzten Schlupfwinkeln der neuen Theologie vertrieben werden mußte, weil sie ständig die Art von >Wahrheit< gefährdete, die mit der zentralen theologischen Mitteilung gegeben war, Gott sei wirklich und wahrhaft Mensch geworden. Jahrhundertelang ist an den christologischen Definitionen und ihrer Terminologie gearbeitet worden, um das Inkarnationsdogma aus dem Umkreis der mythischen Kategorien herauszumanövrieren. Ohne jeden Gebrauch von Schein, von verminderten Kriterien der Realität, von herabgesetzten Risiken des Engagements, historisch bestimmbar nach Ort und Zeit sollte Gott Mensch geworden sein. Dies sollte nichts mehr an Ähnlichkeit besitzen - von der Leichtfertigkeit der Zwecke auf der anderen Seite ganz abgesehen - mit den Vorgängen des Gebrauchs menschlicher und tierischer Erscheinung durch Götter, wie sie der Mythos berichtet. Aber auch nichts mit der Apotheose ursprünglich sterblicher Wesen, die durch einen Akt der Kooptation und der Teilnahme am olympischen Mahl in den Kreis der Götter aufgenommen wurden. Wenn man bedenkt, daß noch die gnostische Mythologie dem Heilbringer des guten Gottes gegenüber den bösen Mächten dieser Welt das große Mittel der List und der Verkleidung durchaus zugestand, wird erst deutlich, in welche Distanz zur antiken Mythologie sich die neue Lehre per definitionem im strengsten Sinne setzen wollte. Dem liederlichen Ästheten- und Artistenvölkchen der Griechen, wie Thomas Mann sie in seinem Nietzsche-Vortrag 353
nannte, galt List als so verwerflich nicht, angefangen von Odysseus über die Sophistik bis zu jenen Traktaten über die wunderliche Hintergehbarkeit der Natur, in deren Titel die List steckt und noch in unserer ehrbaren Disziplin der >Mechanik< steckengeblieben ist. >List< - und sei es die der Vernunft - hat auch als geschichtsphilosophisches Muster mythologisches Gepräge; nur daß ihre Umwegigkeit sich mit der Aura des Notwendigen umgibt, das episodische Unvernunft einer noch unabsehbaren Totalität der Vernunft integriert. Die geheime Pädagogik, die mit der Menschheit in ihrer Geschichte nach dem Vorbild geheimer Gesellschaften praktiziert wird, ist eine Auskunft der Aufklärungsphilosophie, mit den Schwierigkeiten ihres Geschichtsbildes fertig zu werden: dem >alten Wahren< und der >Macht der Wahrheit< war nicht mehr zu trauen, wenn sie in der Geschichte des animal rationale erst so spät und so mühsam zum Vorschein kamen. Daß die Natur ihr elementares Ziel der Selbsterhaltung noch über Verblendung und Vorurteil der Menschen, also >hinter ihrem Rückens erreicht, ist ein Topos der Moralistik, dem ein neues Bewußtsein des Mangels an Evidenz wie an metaphysischer Teleologie zugrunde liegt. Die umfassende Geltung des Verfahrens formuliert Kant 1784 in der »Idee zu einer gemeinsamen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« als die regulative Idee einer Weltgeschichte, zu welcher die Natur die Menschen überlistet. Plausibel hat die List als Verfahren der Vernunft wohl erst gemacht, daß die Ideologiekritik die geradezu homerischen Listen der Unvernunft, sich dem Bewußtsein einzuverleiben, vorweisen konnte. Dennoch ist die Symmetrie, die nun List zum ältesten Medium der Aufklärung (Adorno) macht, nicht ganz so selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß die Ökonomie der kürzesten Wege zur >klassischen< Charakteristik der Vernunft gehört. Als Quasi-Subjekt der Geschichtsphilosophie gewinnt sie das Aussehen, den Rollenpart in einer Gigantomachie übernommen zu haben. An dieser Stelle werden sich die Freunde Siegfried Kracauers an seinen Widerwillen gegen die >List der Vernunft< erinnern. Ausgangspunkt der Digression war die gnostische Anknüpfung an das mythische Muster der Metamorphose. Das Göttliche will keineswegs die Inkarnation, wie es Schlegel romantisierte, sondern nach dem überwältigenden Zeugnis des Mythos will es die flüchtigste Form der spielerisch-täuschenden Episode, die Metamorphose. Dagegen sollte die Entschiedenheit des biblischen Gottes 354
und seines Heilswillens stehen, ohne jeden Ausweg in allegorische Deutbarkeit und Bedeutsamkeit. An diesem Punkt wendet sich der Wahrheitsbegriff der Theologie viel entschiedener und reflektierter gegen den der Mythologie als in der Frage der Pluralität oder Unizität des Göttlichen. Hier lag der Vegetationspunkt, an dem die Häresien als die wahren Symptome einer konstitutiven Mißverständlichkeit der Menschwerdungslehre aufsprossen und wo die Begriffswelt der antiken Metaphysik ihre gewaltsamsten Mißbildungen erfuhr; ich brauche nur auf die Begriffsgeschichte von >persona< hinzuweisen.43 Nur auf der Härte und Solidität einer derart gegen den Mythos behaupteten und zu behauptenden Wahrheit konnte der weitergehende Anspruch an das Leben begründet werden, der sich hier erhob, das was Nietzsche als das >Du sollst< negiert. Und es war also konsequent, daß Nietzsche den imaginativen Typus des mythischen Denkens ganz allgemein gegen eine solche Art von Wahrheit richtete, die ein >Du sollst< überhaupt implizieren kann, wenn er von diesem zu seinem >Ich will< und schließlich zur unverpflichteten Unmittelbarkeit des >Ich bin< kommen wollte. Hier geht es in der Tat primär um eine radikale Differenz im Wahrheitsbegriff, und alles, was je am Mythos gelockt und verführt haben mag bis in alle seine Rezeptionsstufen hinein, muß in diesem Zusammenhang gesehen werden - auch und am deutlichsten die Gefahr, daß die depotenzierte Wahrheit virtuell die manipulierbare Wahrheit sein könnte, mit der Vorsicht gegenüber dieser Vermutung, die sich daraus ergibt, daß auch die Wahrheitsstrenge der traditionellen Metaphysik ihr ideologisches Potential besitzt, und zwar ganz einfach deshalb, weil nur in ihrer Strenge Wahrheit Postulate der Praxis (und noch solche der praktischen Passivität) zu tragen vermag. Zum erstenmal wird uns an Nietzsches Mythologie, indem sie in der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen gipfelt, deutlich, daß Rezeption des Mythos nicht nur ein Umkreisen seiner Materialien, auch nicht nur ein Nachspielen seiner formalen Strukturen ist, sondern daß dieses Verfahren seine eigene Konsequenz, gleichsam seine Finalität, hat. Ich nenne es: den Mythos zu Ende zu bringen. Das soll heißen: seine Bedeutsamkeit - oder wie immer man sein Wirkungspotential nennen mag - nicht nur zu erneuern, nicht nur zu akkumulieren und zu steigern, sondern rein darzu43 Vgl. v. Vf.: Epochenschwelle und Rezeption, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 102. 355
stellen. Im Augenblick kann ich das nur im Hinweis auf Nietzsche erläutern. Natürlich steht Nietzsches ewige Wiederkunft gegen eines der betontesten Merkmale theologischer Wahrheit, gegen die Einmaligkeit des zwischen Schöpfung und Gericht eingespannten Heilsgeschehens, gegen die Identifizierung der Wahrheit mit dem einzigartigen und unüberbietbaren zentralen Faktum, dem nichts anderes abgelesen werden kann als es selbst und das im prädikatlosen >Ich bin es< aufgeht. Zwischen dem ganz aus der Tradition des absoluten Monotheismus herkommenden johanneischen >Ich bin es< und dem durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu seinem absoluten Gewicht zu bringenden >Ich bin< besteht die entscheidende Differenz. Dieses Mythologem der ewigen Wiederkunft des Gleichen aber überbietet sowohl die materialen als auch die formalen Rezeptionen des Mythos und führt sie zu ihrem Grenzwert: der wiederholende Typus des mythischen Denkens wird hier zu seinem einzigen und letzten Inhalt. Was in allen Welten wiederholt wird, bestimmt sich erst unter dem Gewicht der Ungeheuerlichkeit der Wiederholung als solcher. Der Mythos spricht nach einem Wort des Sallust, eines Zeitgenossen und Freundes des Kaisers Julian in seinem Buch »Über die Götter und den Kosmos« von dem, was niemals geschah, aber dennoch immer ist.44 Solches stellt sich gleichsam in der >Zwischenform<, in der Vermittlung der zyklischen Wiederholung dar. Dem entspricht die Vermutung, daß das Ritual genetisch dem Mythos vorausgeht. Statt das rituelle Tun aus dem Glaubensinhalt, als einem bloßen Vorstellungsinhalt, zu erklären, müssen wir vielmehr den umgekehrten Weg einschlagen: wir müssen das, was am Mythos der theoretischen Vorstellungswelt angehört, was an ihm bloßer Bericht oder geglaubte Erzählung ist, als eine mittelbare Deutung desjenigen verstehen, was unmittelbar im Tun des Menschen und in seinem Affekt und Willen lebendig ist.45
Die ritualisierte Handlung trägt eine Obligation ihrer Wiederholung, und diese bringt die Gefährdung des Vergessens ihrer ursprünglichen Dienlichkeit und Bedeutung über die Zeit mit sich. Vielleicht wird die Selbstverständlichkeit der institutionalisierten Handlung erst in der Phase ihrer profanen Festlichkeit problematisch. Die erklärende Paraphrase, die das im Vergessen seines Sinnes 44 De diis et mundo, Kap. 4. 45 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen IL Das mythische Denken, (Ί923) Darmstadt21953, S. 51. 356
lebendig Gebliebene erfordert, muß in Rechnung stellen, daß die Erläuterung des dem Zwang der Wiederholung unterliegenden Rituals ihrerseits der Gültigkeit des Wiederholbaren bedarf. Wenn der Mythos derart verständlich macht, was immer schon dargestellt wird, tritt er dabei als das verbale Surrogat des verblassenden Liturgiezwanges anstelle dessen, was einmal mit Assoziationen des Schrecklichen, der unmittelbaren Präsenz der dämonischen Mächte besetzt gewesen sein mag und dadurch beschwörende und abwehrende Genauigkeit seiner Zelebration verlangte. Dabei mag aber auch der Häufung der Handlungen vertraut worden sein, was der späteren Paraphrase die Strapaze der begründenden Abwandlung des identischen Schemas auferlegte und sie zur Wiederholung des Gleichen auf verschiedenen Stufen eines Prozesses nötigte. Der Mythos hat mit der Sphäre des Ursprungs dessen, was er paraphrasierend zum Verbund der Geschichten erhebt, nur mittelbar zu tun. Für altägyptische Götterkulte ist nachgewiesen, daß Mythenbildung erst mit der Vermenschlichung der Gottesvorstellungen, also nach Überwindung der frühen Schrecken fürchterlicher und tiergestaltiger Götter, einsetzt: Das märchenhafte Fabulieren, die gedankliche Auseinandersetzung mit einer noch fürchterlichen Welt, kann als Vorzeichen eines menschlicheren, schon beobachtenden, überlegenen Interesses gelten ... Die ersten Götter in der neuen, später allgemeinen Menschengestalt finden sich noch während der Frühzeit auf Abdrücken von Siegeln auf Weinkrügen aus ihnen geweihten Weingütern ... Doch fehlt auch den wenigen Mächten in Menschengestalt, die wir aus der Frühzeit kennen, eine eigene Mythe. Min, Onuris undPtah gewinnen wie alle Mächte ihre mythische Rolle erst mit der mythischen Ausdeutung der alten Kulte und ihrer Rituale.^ Es wird vermutet, daß die mythische 46 S. Schott, Ritual und Mythe im altägyptischen Kult, in: Studium Generale, 8, 195 5, S. 289 f. Ferner: S. Schott, Mythe und Mythenbildung im Alten Ägypten, Heidelberg 1945, S. 93 f. Daß der Ritus als Wiederholung dessen genommen wird, was seine exegetische Mythe ihm darzustellen zuschreibt, ist wohl ein sekundärer >Realismus<, zumal wenn es für magische Unterstellungen keinen Grund gibt. Löst sich der Mythos vom Ritus, so kann schon die bloße Erzählung als >Wiederholung< des thematischen Ereignisses gelten, wenn wir hier nicht einem Überschwang von Mythologenmetaphysik ausgesetzt sind: So kam im alten Mesopotamien die Rezitation des sog. >Schöpfungsgedicbtes< (Enuma elis) anläßlich des Neujahrsfestes (akîtu) einer Wiederholung des Schöpfungsgeschehens gleich, es war so, als sei die Welt noch einmal in ihren Anfängen (R. Pettazzoni, Die Wahrheit des Mythos, in: Paideuma 4 [1950], S. 5). 357
Paraphrase zum Ritus von >Vorlesepriestern< vorgetragen wurde und daß diese Priester auch für besondere Gelegenheiten zum Ritual passende Texte verfaßten. Bezeichnend ist, daß solche Erläuterung des Unverstandenen keineswegs jederzeit und jedem Publikum zugänglich gemacht wurde; das Unverstandene hat seine Gewalt über die Menschen, und Erläuterung ist nicht für jedermann: Die öffentlichen Feste werden als Umzüge mit unerklärten Festriten gefeiert. In den Sanktuaren steht jedoch auch der tägliche Kult unter der Stimme der Mythe, welche Handlungen und Gegenstände im Ritual als Erinnerung an die Götterwelt und Reliquie erklärt, obwohl das, was durch sie verklärt wird, unmittelbar in der Vorzeit wurzelt. Durch diese Verwurzelung ergreifen Rituale. Die einzelnen Bräuche, Tracht und Rhythmus sind überkommen und darum >volkstümlich<. Die Mythe spricht über sie hinweg und erzählt den Eingeweihten überall in Ägypten von der Erschaffung der Welt und ihrem Königtum... Die Mythen sind mit ihren Göttern versunken. Über rätselhaften Ritualen erweisen sie sich als sinngebende Göttergeschichten. Mythen verlangen Götter, die alles, was sich erzählen läßt, vor allem das, was den Menschen betrifft und ihn rührt, erleben und bekunden können. Dies ist bei den vorgeschichtlichen Tiermächten noch nicht der Fall. Erst ihre Vermenschlichung öffnet das Feld der Mythe.47 Die Humanität des Mythos ist etwas Spätes, schon Verlust der Unmittelbarkeit zu den ursprünglichen Schrecknissen, deren in Riten erstarrte Abwehr, Verzögerung und Beschwörung gleichsam auf einer ersten Stufe von >Allegorese< ins Erzählbare umgedeutet werden. Das Modell des Verhältnisses von Ritual und Mythologie übernehme ich, ohne Kompetenz seiner Prüfung zu beanspruchen, als Hypothese, die zum Verständnis dessen, was hier thematisch ist, weiterhilft. Ohne Erinnerung der Schrecken und Zwänge, die sie überwand, ist die Freiheit des Mythos in ihrer Spezifität - als Freude der Variation gegenüber der Macht der Wiederholung 47 Schott, a. a. O., S. 293. >Metamorphose< als Kategorie steckt also in der Genesis des Mythos selbst, als Anthropomorphose: die Götter verlieren ihren Schrecken, indem sie ihre Gestalt ändern. Dadurch, zu einem guten Teil, werden sie schließlich poetisch. Jacob Burckhardt hat aller Erörterung über griechische Götter einen Abschnitt >Die Metamorphosen vorangestellt; er hat nicht darauf reflektiert, weshalb uns dieses Prinzip der Göttergeschichten derart >auffällt<: alles Spätere ist aus der Anstrengung erklärbar, nicht als Metamorphose verstanden zu werden oder solche in der Welt nicht zuzulassen. 358
unverständlich. Pures Vergessen dessen, was hinter den Figuren stand, was ihrer Anthropomorphose vorausging, schafft nicht die Distanz, in deren Steigerung schließlich der Mythos aus der Funktion der Auslegung des Rituals ausbricht, gleichsam um seiner Freiheit Endgültigkeit im Poetischen zu erringen. Absicht des Modells kann nicht Erklärung der Entstehung des Mythos hinsichtlich seiner Inhalte sein, denn die Funktion der Auslegung eines Rituals läßt beliebige Paraphrasen· offen. Der Mythos kommt ins Spiel, wenn Ritus, Zeremonie oder eine gesellschaftliche oder sittliche Regel Rechtfertigung heischen, als Bürgschaft für Alter,Wahrheit und Heiligkeit.48 Gerade dies aber bedeutet, daß die >Passung< des Mythos zum Ritual nicht inhaltlich ist (wie sie es sein würde, wenn das Ritual sekundäre Darstellung und Präsentation des Mythos wäre), sondern symbolisch. Der Mythos hat kein >realistisches< Verhältnis zur ursprünglichen Bedeutung der Handlung oder Handlungsregel, eher wirkt er nachträglich auf das Ritual zurück und verformt oder ergänzt es. Daher bleibt die Geschichte, die die Handlung auslegt, leicht von dieser ablösbar und autonom. Dieses Verhältnis von Handlung und Text entspricht einer allgemeineren hermeneutischen Regel der Umkehrung des Verhältnisses von Motiv und Handlung, von Frage und Antwort. Wir machen damit die allzu selbstverständlich gehandhabte Unterstellung rückgängig, es sei in der Geschichte des Menschen ein konstantes theoretisches Interesse am Werk gewesen, dessen Vollzug zu gegebenen Fragen die mehr oder weniger bestimmten und geeigneten Antworten gesucht hätte. Daß der Mensch ständig in Akten und Texten das produziert, was er selbst nicht versteht, und es dennoch oder gerade deshalb wiederholt und ritualisiert, dabei aber erst spät und akzessorisch das Bedürfnis hervortreibt, sich für Sinn und Begreiflichkeit dessen, was er da tut, Versicherungen zu verschaffen das ist eine unter den Bedingungen eines sich ständig theoretisch absichernden Zeitalters schwer zugängliche Einsicht. Der Mensch weiß nicht, was er tut, oder er hat den praktischen Kontext vergessen, in dem eine Handlung stand; aber eines Tages will er wissen, was dies bedeutet. Dabei hält er das Unverstandene für eine alte Antwort, zu der nur noch die passende Frage gesucht werden muß. Wenn dies so ist, wird verständlich, daß in solchem Zusam48 Malinowski, a.a.O., S. 189. 359
menhang die Fragen bedeutsamer werden als die vermeintlichen Antworten. Für das Wirkungspotential des Mythos ist diese Einsicht wesentlich: nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vorgeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen entdeckt, ausgelöst, artikuliert werden. Daß kosmogonische Mythen noch im Zeitalter theoretischer Kosmogonien ihre eigene Faszination haben, kann nicht an ihrem Antwortgehalt zu der theoretischen Frage nach der Weltentstehung liegen, sondern am Heraustreten der ebenso gewaltigen wie elementaren Fragen, die mit einer Theorie über die Weltentstehung unbeantwortet bleiben und eher vom Typus der großen Leibniz-Frage cur potius aliquid quam nihil sind. Uns ist bereits zu selbstverständlich, daß die Wissenschaft Fragen erst gar nicht zu stellen gelernt hat, die sie mit ihren Mitteln nicht beantworten zu können absieht, als daß uns nicht auffallen müßte, mit welcher Unbefangenheit der Mythos an den Rand der Abgründe dieser Fragen tritt, ohne daß sie ihm gestellt wären. Die Geschichte von Prometheus beantwortet keine Frage über den Menschen, aber sie scheint alle Fragen zu enthalten, die über ihn gestellt werden können. Diese Vieldeutigkeit des Mythos läßt sich an dem Modell der symbolischen Passung< von erzählter Geschichte und erklärter Handlung am ehesten verstehen. Die Geschichte muß sich in der Deutung der Handlung bewähren, aber dazu trägt das Erfordernis >Passung< am wenigsten bei, denn es ist in beliebiger Vielfalt erfüllbar. Die Geschichte soll die Handlung, der sie unterlegt wird, so bedeutsam erscheinen lassen, daß ihre wiederholende Manifestation gerechtfertigt wird. Umgekehrt: die Wiederholung des Ritus ist immer wieder eine Probe auf die Bedeutung, die ihm die Paraphrase des Mythos verleiht. Die Selektion des Beliebigen auf das Bedeutende hin ist eine Funktion der Wiederholung. Das ist ein wichtiges Moment an dem Zusammenhang von Ritus und Mythos. Zwar trauen wir dem Satz veritas filia temporis nicht mehr; die Aufklärung bedurfte seiner, um ihre historische Verspätung trotz der von ihr behaupteten Mächtigkeit der Vernunft zu rechtfertigen. Aber die Zeit als Quantum hatte zur Förderung der Wahrheit nichts beigetragen, auch nicht durch Ausmerzung der Irrtümer und Vorurteile. Dennoch hat Tradition einen selektiven Effekt, 360
und zwar auf das >menschlich< Bedeutsame hin: was den Menschen zentral affiziert, was unabhängig von den Aussichten theoretischer Verifikation seinem Selbstverständnis zur Artikulation verhilft. Die >Bewährung< durch die Zeit stiftet Vertrautheit und Vertrauen - eine Dignität, die mißbraucht werden kann als simulierte, die ebenso die Kühnheit des Neuen als Forcierung des Vertrauten zu indizieren erlaubt. Der Erinnerung als Organ der Tradition wird eine Teleologie beigelegt: sie entscheidet in der uferlosen Konkurrenz der auflaufenden Geschichten, was bewahrt zu werden verdient, sie leistet >soziale Verdichtung< (W. Jerusalem), die auslegungswürdig macht und im Modus der >Anspielung< aktualisiert wird - aber sie suggeriert auch, Sperre der Untrüglichkeit zu sein, an der im Durchlauf der Zeit zunichte wird, was sich nicht >kraft der Wahrheit< behaupten kann. Der Mythos wirkt in seiner Rezeption wie eine Bindung ans Objektive; indem er die Unbegrenztheit des Arbiträren begrenzt durch die Typik eines vorgegebenen Horizonts, gibt er sich den Anschein, hierin bringe sich >die Sache selbst< zur Geltung. Die Verwechslung des Bedeutsamen und des Wahren legt sich nahe. Dabei ist Bedeutsamkeit nur diejenige Qualität der Mythologeme, die sie durch Evokation zu immer neuer >Bearbeitung< im Bestand der Tradition hält. Die Allegorese des Mythos erscheint uns als ein Mißverständnis solcher >Bedeutsamkeit<. Wir verstehen sie nicht mehr, weil uns der >ontologische Komparativs den sie voraussetzt, fremd geworden ist: >momentane Evidenz< von Wirklichkeit ist die höchste Stufe eines Steigerungsschemas, wie es Piatos Höhlengleichnis veranschaulicht. Das Verhältnis der Steigerungsstufen untereinander ist ein solches der verschatteten Korrespondenzen. Deshalb gibt es gleichsam nachrangige Stufen der Wahrheit, die erst als solche erkannt werden, wenn die höchste Stufe erreicht ist. Darauf beruht die Allegorese des Mythos; sie ist wesentlich >nachträglich<, so wie Philo das Alte Testament von der hellenistischen Philosophie her erschließt und wie die Patristik mit eben jener Philosophie verfährt oder zu verfahren glaubt. Jede Allegorese beansprucht Eindeutigkeit; erst moderne Ironie bietet >Versionen< zur Auswahl an. Aber mit dem Anspruch auf Eindeutigkeit der Exegese wird das nicht verstanden, was wir >Bedeutsamkeit< nennen würden, denn diese impliziert gerade die Vieldeutigkeit, die nicht nur dem unerschöpflich scheinenden Bearbeitungspotential des Mythos zugrunde liegt, sondern auch der Vielfältigkeit der^J^S^ïéffTOS^s^me HerUniversitätsbibliothek ^.
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kunft und genuine Funktion. Von den historischen, physikalischen und moralischen Auslegungsweisen des Mythos hat Schelling gesagt, schon die Möglichkeit so heterogener Erklärungen legt nur ein Zeugnis ab für die Universalität der Mythologie, die in der That von der Art ist, daß, die allegorischen Erklärungen einmal zugegeben, fast schwerer ist zu sagen, was sie nicht bedeute, als was sie bedeute.. .Vergeblich wäre es, einen solchen Ausleger widerlegen zu wollen, dem die Entdeckung das unschätzbare Glück gewährt, sein eigenes neuestes Angesicht im Spiegel so hoher Alterthümlichkeit zu beschauen .. .49
An diesem Punkt werden wir der Schwierigkeiten gewahr, die es uns bereitet, den Wirklichkeitsbezug des Mythos zu verstehen. Wiederum Schelling hat bereits bemerkt, daß Theorien über den Mythos fast zwangsläufig dahin geraten,.selbst mythologisch zu werden.50 Wir haben dafür noch gegenwärtige Beispiele. Man hat die Zugangsschwierigkeiten zur Mythologie mit der Prälogizität des ihr zugrundeliegenden >primitiven< Denkens zu erklären versucht; aber die uns auffallenden Inkonsistenzen mögen Verstöße gegen eine systematische Konstruktion sein, mit Verletzung des Widerspruchsprinzips haben sie nichts zu tun. Plausibler ist der Versuch Ernst Cassirers, dem mythischen Denken eine präkategoriale Verfassung zuzuschreiben, ihm also hinsichtlich der Verknüpfung der Erscheinungen einen größeren Spielraum und geringere Stringenz beizumessen. Die These, die hier verfolgt werden soll, geht in dieser Richtung einen Schritt weiter und versucht, die von Cassirer nachgewiesenen präkategorialen Strukturen des Mythos aus der Differenz des in ihm angelegten Wirklichkeitsverständnisses begreiflich zu machen, zugleich damit aber und als vordringliche Absicht, aus dieser Differenz Formen und Intensität der Rezeption des Mythos herzuleiten. Dem neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff des >in sich einstimmigen offenen Kontextes<51, für den Realität immer das Resultat einer Realisierung, einer sich in der Zeit durchhaltenden, aber nie definitiv gesicherten Verläßlichkeit, einer nie abgeschlossenen und daher immer noch auf die ganze Zukunft angewiesenen Konsistenz ist 49 Einleitung in die Philosophie der Mythologie I, 2, a.a.O., S. 31. 50 Eine besonders hübsche Stelle beim Referat der Theorie Gottfried Hermanns: a.a.O., I, 2, S. 35: Es lebten einmal - doch nein, so würde die Hermannsche Theorie selbst wie ein Mythos anfangen ... - wir wollen also sagen... 51 Vgl. hierzu: Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 12 f. 362
diesem Wirklichkeitsbegriff ist die Möglichkeit unverständlich geworden, an einer Gegebenheit die Gültigkeit des eigentlich Seiendem wahrzunehmen oder wahrgenommen zu denken und darin die Aufforderung zur Wiederholung gestellt zu sehen. Der Wirklichkeitsbegriff der >offenen Konsistenz< ist der einer Gewißheit auf Abruf; diese Wirklichkeit kann als solche nur dadurch bestätigt werden, daß sie nicht widerrufen wird, anders ausgedrückt: nur das Erwachen kann den Traum als das Irreale denunzieren. Der Irrtum aller ästhetischen Realismus-Theorien und -Praktiken ist die Prämisse, es gäbe so etwas wie Merkmale des Realen, die man auf das Kunstwerk und seine Elemente transplantieren könnte. Gegenüber den Anstrengungen solcher Realismen gilt der Satz Kafkas: Wirkliche Realität ist immer unrealistisch.52 Die uns fremd gewordene Behauptung einer erreichbaren bzw. uns erreichenden >momentanen Evidenz< von unüberbietbarer Wirklichkeit liegt den Systemen der antiken Metaphysik zugrunde, die für die europäische Tradition bestimmend werden sollten, am deutlichsten der Philosophie Piatos - und nicht zufällig diese ist von der Problematik des Mythos nicht losgekommen. Dabei behaupte ich nicht, daß Plato den Wirklichkeitsbegriff der >momentanen Evidenz< im Zusammenhang der Ideenlehre gefunden oder auch nur zuerst definiert hätte. Aber was Plato in der Enttäuschung an der Erscheinungswelt und im Suchen nach der sie überbietenden endgültigen Realität umkreist hat, präpariert gerade die Spezifität des Wirklichkeitsbezuges heraus, die wir noch und gerade in der Faszination des Mythos, der erratischen Erstaunlichkeit seiner Rezeptionsvielfalt, erfahren. Die platonische Metaphysik hat den Wirklichkeitsbegriff des Mythos zu Ende gebracht, und darauf beruht sowohl ihre Feindschaft gegen den poetischen Mythos als auch die ihr immanente Nötigung, ihren eigenen Mythos zu finden. Daß die platonischen Ideen Urbilder seien, lesen wir auf den ersten Blick als Behauptung einer Relation: das Urbild ist dadurch Urbild, daß Abbilder von ihm bestehen. Aber gerade das will die Behauptung der Urbildlichkeit der platonischen Ideen nicht sagen; sie sind Urbilder unabhängig davon, ob Abbilder von ihnen genommen sind, weil sie an sich selbst die Nachahmung, das Abbild 52 Nach G. Janouch, Erinnerungen an Kafka, in: Die Neue Rundschau 62 (19 51), S. 6z. Zum Umschlag der Steigerung >realistischer< Mittel in die rezeptionsästhetische >Qualität der unbetroffenen Entrealisierung< vgl. Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, S. 540t. 363
fordern. Der Mythos vom Demiurgen im Dialog »Timaios« zeigt, daß der Kosmos der Ideen in dem Anblick, den er darbietet, den Gehorsam des getreulichen Nachbildners fordert - und dies, obwohl dabei die primäre Wirklichkeit jener Ideen nie erreicht werden kann und sie also das von ihnen provozierte Abbild in die Distanz der Unzulänglichkeit und Nichtigkeit verweisen. Das Abbild - und damit die Welt der Erscheinungen, in der wir leben - ist immer Triumph und Niederlage der Idee zugleich. Diese Verbindlichkeit der Idee, kraft deren sie nachgeahmt und >wiederholt< sein will, beruht nicht auf irgendeinem hinzutretenden Moment der Zwecksetzung oder des heteronomen Willens. Dies ist, der Konzeption nach, das Gegenteil eines Wiederholungszwanges; es ist Wiederholung als Erfüllung der Verbindlichkeit der Sache selbst, >Sachgemäßheit< im strikten Sinne. Deshalb können und müssen theoretische und praktische Vernunft hier noch auf ein Prinzip konvergieren. Zwar ist die platonische Idee für sich noch nicht der hinreichende Grund für die Entstehung einer Welt der Abbilder: die Geschichte vom Demiurgen integriert die Obligation zur Kausalität. Der Neuplatonismus hat demgegenüber die Idee als aus sich selbst hinreichend zur Hervorbringung der Welt erklärt und dafür das Schema der Hypostasen und ihrer Emanation entwickelt. Zugleich mußte er aber ein anderes mythisches Moment der Selbstentmächtigung des Geistes gegenüber der Materie einführen.53 Im genuinen Piatonismus liegt, daß Wiederholung >das Ideal· der Idee ist, nämlich die Anerkennung dessen, daß sie >gut< und damit verbindlich ist. Nicht nur deshalb, weil die Frage nach der Gültigkeit der Tugendnormen einmal das sokratische Ausgangsproblem der Ideenlehre gewesen war, ist bei Plato die Idee des Guten Idee aller anderen Ideen, sondern weil sie das gemeinsame >Merkmal< aller Ideen in sich befaßt, kraft dessen trotz ihrer Vergeblichkeit Nachahmung der Inbegriff des an den Ideen zu Erschauenden und Abzulesenden ist. Wiederkehr des Gleichen als Ungleiches ist die homogene Strukturbestimmung sowohl der mythischen wie der platonischen Wirklichkeit. Dieser Wirklichkeitsbegriff ist nicht von der Kategorie der Kausalität beherrscht, bei der es im Grunde immer darauf ankommt, zukünftige Wirklichkeit mittels der Einsicht in die gegenwärtige unter Kontrolle oder wenigstens Voraussicht zu bekommen, das 53 W. Bröcker, Piatonismus ohne Sokrates. Frankfurt 1966. 364
Und-so-weiter der Fakten in der Prävention als das, worauf es ankommt, verfügbar zu machen, zumindest ihm auszuweichen. Der antike Wirklichkeitsbegriff dagegen, wie er Piatos Ideenlehre ihre Voraussetzung bot, ohne mit ihr identifiziert werden zu dürfen, schließt ein, daß das Wirkliche sich als solches von sich her darbietet und in seiner Gegenwärtigkeit, unbedürftig des ständigen und unabsehbaren Weiterfragens, das Bedürfnis der theoretischen und praktischen Gewißheit befriedigen kann, aber auch im Genuß ruhender Anschauung Eudämonie gewährt. Die in sich geschlossene Anschaulichkeit der mythischen Figur und Geschichte ebenso wie die der platonischen Idee widerstrebt einem Wirklichkeitsbegriff des offenen Kontextes, in dem von weiterer Erfahrung eher gewärtigt wird, daß sie die gegenwärtige korrigiert, als daß sie diese in einer wiederholenden Typik bestätigt. Ästhetische oder politische Mythisierung im Späthorizont eines heterogenen Wirklichkeitsbegriffes wird daher gerade daran erkennbar, daß die geschlossene Konfiguration, die fiktive Anschaulichkeit herbeigezwungen werden sollen; ob der Dichter die diffuse Weitläufigkeit der modernen Industriestadt zum Labyrinth werden läßt, in dem sein TheseusHeld die Wiederholungen schicksalhafter Figuren durchläuft (Michel Butor, »L'emploi du Temps«) oder ob >Weltanschauung< und Jahrhundert-Mythos Überflüssigkeit rationaler Verarbeitung von Erfahrung und Weltkontakt verbürgen und damit den hermetischen Abschluß des Horizontes verharmlosen - wie heterogen auch immer die Beispiele sein mögen, sie haben den Kern eines Verweises auf eine gemeinsame Realitätsstruktur (was freilich nicht heißt, man dürfe ideologischen Sukkurs der einen Sphäre für die andere leichtfertig unterstellen). Noch konsequente Aufklärung... schlägt zurück in Mythologie an der Stelle, wo sie ...im Glauben an ein letzthin Gegebenes die Reflexion abbricht.5* So zutreffend freilich die Feststellung ist: die Ideenlehre, ein mächtiger Schritt zur Entmythologisierung, wiederholt den Mythos55, so sehr verkennt sie als Vorwurf die Bedingung des Wirklichkeitsbegriffs, unter der Distanz zum Mythos als kritische Übersicht über die Erfordernisse und die Haltbarkeit einer Entmythisierung erreicht, ja unter der die Nötigung, solches zu tun, überhaupt erfahren werden kann. Es ist mehrfach gesagt worden, daß Sehen nicht nur der Zugang 54 Adorno, a.a.O., S. 130. 55 A . a . O . , S. 179.
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der Griechen zu ihrer Welt war, sondern daß ihr Verstehen der Welt sich am Akt des Sehens orientierte. Man kann diese These noch verschärfen durch die Einschränkung, daß es das ruhende Sehen und das Sehen des ruhenden Gegebenen war, dem die Griechen den höchsten Rang einräumten. Wo sie Bewegung verstehen (wie in voller Artikulation bei Aristoteles), verstehen sie sie als Wechsel je für sich konstanter Formen an einem identischen Substrat. Eben Aristoteles hat die Augenblickshaftigkeit der Anschauung als Analogon der Lust herangezogen56: der Akt des Sehens ist in jedem Augenblick seiner Dauer vollendet und des ihn ergänzenden, erweiternden, integrierenden Zeitmoments der Zukunft wesentlich unbedürftig, er ist wie die Lust in seiner Gegenwärtigkeit gesättigt. Die im Blick ruhende Gegebenheit kann nicht bereichert werden; der den modernen Phänomenologen so beunruhigende unendliche Rest der >Abschattungen< - des in jedem Anblick verdeckten und nicht mitgegebenen, zu weiterer Umschreitung des Gegenstandes und Aktivierung des Erfahrungsvorganges Provozierenden - ist dem antiken Gedanken nicht akut. Auf solche gesättigte Anschaulichkeit sind alle Normen des antiken Denkens bezogen, auch und vor allem das, was im Begriff des Schönen erfaßt wird. Daß Sehen sich im Durchlaufen von Aspektfolgen vollzieht, daß es seinerseits Prozeß ist und an seinen Gegenständen im wesentlichen Ereignisse, Relationen, also: immer etwas an etwas erfaßt, blieb ohne Ausschlag im Wirklichkeitsbegriff. Und auf diesem beruht nun auch ein Denken, dem alle mythische Erzählung von der Erscheinung eines Gottes völlig unproblematisch bleiben konnte: der Gott kann sich in seinen Metamorphosen entziehen und verstekken, er kann aber auch als solcher in Erscheinung treten, mühelos und momentan erkennbar werden. An der Frage nach der bloßen Möglichkeit der Theophanie hat sich die philosophische Kritik des Mythos nicht entzündet. Gerade hier hat der Mythos jene Selbstverständlichkeit, die aus dem Standpunkt einer Epoche des Abbaues aller Selbstverständlichkeiten imponiert - und zur Simulation des Unwidersprochenen als Unwidersprechlichkeit verführt. Im Gegensatz zu einigen biblischen Texten findet sich im antiken Mythos keine Spur, daß dieses weiträumige Geflecht der Metamorphosen irgendwo die Befürchtung oder den Verdacht erweckt hätte, der hervortretende und sich zu erkennen gebende 56 Nikomachische Ethik X, 3, 1174a 13f. 1174b 9-13. X, 4,1174b 14-17. 366
Gott könne Illusion sein, zu Unrecht anerkannt werden oder man könne ihn verfehlen und übersehen, wenn er sich zeige. Beweise seiner Identität oder göttlichen Dignität werden von dem erscheinenden Gott nicht erwartet, es ist selbstverständlich, daß man ihn, wenn nur er sich nicht verbergen will, als den erkennt, der er ist. Keiner der patristischen und scholastischen Exegeten der alttestamentlichen Geschichte von Abrahams Opferung des Isaak hat die Frage aufgeworfen, ob dieser Patriarch nicht an der Identität und Qualität des ihm solches gebietenden Gottes wenigstens einen Atemzug lang hätte zweifeln müssen. So wenig es der Erzähler der Mühe für wert hält, auf eine Legitimation der versucherischen Stimme auch nur hinzuweisen, so wenig ist diese Frage einem Zeitalter relevant geworden, das in der visio beatifica das ewige Glück des Menschen jenseits des Todes sah, ohne auch hier nur zu erwägen, woran der Mensch sich seines beseligenden Gegenstandes werde vergewissern können - momentane Evidenz war dafür selbstverständlich. Es ist wesentlich, daß die Vorstellung einer >ewigen Seligkeit< - im Gegensatz zu den Realitätsbedingungen des status viatoris - noch ganz auf der antiken Prämisse der Einheit von Theorie und Eudämonie beruhte; denn der Garant der weltlichen Realität konnte nicht seinerseits über die Modalität einer Bürgschaft als >wirklich< begriffen werden. So liegt die Ironie in Christoph Martin Wielands »Agathodämon« darin, daß er einen der Antike unmöglichen Gedanken der Aufklärung in den Mund seines Pythagoreers Apollonius legt, wenn er ihn ernsthaft über die Möglichkeit von Erscheinungen der Götter gegenüber Menschen sprechen läßt: Gesetzt, Jupiter oder die goldne Aphrodite, seine Tochter, wollten dich so, daß keinem Zweifel Raum übrig bliebe, von ihrem Dasein überzeugen: so können sie es doch wohl nicht anders, als wie es deine Natur zuläßt, bewerkstelligen? also auf eben dieselbe Weise, wie du und ich und alle andre Menschen, vermöge unsrer Natur, von dem Dasein irgendeines Dinges außer uns gewiß werden? nämlich vermittelst des äußerlichen Sinnes, durch den unmittelbaren Eindruck, den sie auf eines oder mehrere Organe desselben machen müßten. Setze also, Zeus erschiene dir unter der Gestalt eines Stiers oder Schwans, so würdest du nicht ihn, sondern einen Stier oder Schwan sehen; und wie könntest du - oder wie hätten Europa und Leda, denen dieses Abenteuer wirklich begegnet sein soll, auf den Einfall kommen können, den Vater der Götter unter dieser Maske zu suchen? Eben dasselbe würde geschehen, wenn Zeus oder Aphrodite sich dir unter menschlicher Gestalt zeigten: du würdest Menschen sehen, nicht Götter. Wolltest du 367
sagen, sie könnten ihre Erscheinung durch Umstände und Eindrücke auszeichnen, wodurch sie notwendig als wirkliche Dämonen erscheinen müßten: so würde ich dich fragen, wie sie das anfangen sollten, wofern sie nicht das Unmögliche tun, und dem Menschen neue bisher unbekannte Sinnenwerkzeuge, oder Empfänglichkeit für Erscheinungen, die außerhalb des Kreises ihrer Anschauung liegen, geben können? Gesetzt, Jupiter zeige sich dir in der ganzen Majestät, womit ihn Homer und Phidias umgeben, auf einer Donnerwolke sitzend, die Rechte mit Blitzen bewaffnet, und den göttlichen Adler zu seinen Füßen: was hättest du da gesehen, als ein Bild, das dir Dichter und Maler oft genug vorgemalt haben, um es deiner Einbildungskraft einzuprägen? und wie könntest du je gewiß werden, daß es nicht diese, sondern wirklich der äußere Sinn sei, der dir eine so ungewöhnliche Erscheinung darstellt? Laß es aber auch sein, daß sie deinem körperlichen Auge wirklich widerfahren wäre: so würdest du darum nicht mehr noch weniger, als einen mit Blitzen bewaffneten Menschen, nicht den Gott auf der Donnerwolke gesehen haben; und der wirkliche Jupiter hätte in dieser Gestalt keine andere Eindrücke auf dich machen können, als die Schranken, die er selbst seiner Kraft durch seine scheinbare Vermenschlichung gesetzt hätte, zugelassen haben würden; das heißt, weder mehr noch weniger als denselben Eindruck, den eine erhabene Menschengestalt in dem besagten Jupiter-Kostüm auf die natürlich disponierten Organe eines Menschen machen kann ... Was auch die Dämonen an sich sein mögen, uns können sie weiter nichts als idealisierte Menschen sein; eine göttlichere Gestalt, als die menschliche, gesehen oder erfunden zu haben, hat sich meines Wissens noch kein Sterblicher gerühmt.57 Das ist die Projektion des Problems, wie es vom Wirklichkeitsbegriff der Neuzeit her sich stellt, in dessen Konsistenz ein Gott gar nicht die Möglichkeit fände, sich zu zeigen, weil das die Wirklichkeit, in der er sich als solcher erweisen müßte, zerstören - nämlich das Wirklichkeitsbewußtsein in seiner Angewiesenheit auf die kategoriale Verknüpfung der Erscheinungen aufheben - würde. Die Wunderkritik der Aufklärung hat gerade an diesem Problem wesentlich zur Explizität des Wirklichkeitsbegriffes der Neuzeit beigetragen, indem sie nicht nur das Problem der Vereinbarkeit von Wundern mit dem Gottesbegriff und der Idee der Naturgesetzlichkeit erörtert, sondern auf der Unmöglichkeit der Erfahrung eines >wunderbaren< — und das wäre: eines theophanen - Sachverhaltes besteht. Selbst der nachmittelalterliche Mystiker konnte den cartesischen Zweifel, zugespitzt zum Argument des dieu trompeur, nicht ungeschehen machen; die überlieferte Unmittelbarkeit der mystischen 57 Agathodämon I 4. 368
Gotteserfahrung belastet sich ihm mit der unausrottbaren Reflexion auf die mögliche Ununterscheidbarkeit zwischen Gott und dem trügerischen Dämon. Teresa von Avila hat dies als eine Sache des Gehorsams und der Unterwerfung unter die äußere Seelenführung definiert, die zwar den etwaigen Trug nicht aufheben, aber machtlos machen könne, denn Nutzen oder Schaden liegt nicht in der Vision, sondern in dem, der sie empfängt und sich diese entweder in Demut zunutze macht oder nicht. Ist Demut vorhanden, so kann sie nicht schaden, selbst wenn sie vom Teufel wäre... Für die momentane Evidenz des sich zeigenden Gottes gibt der neuzeitliche Wirklichkeitsbegriff keinen Ansatz. Kaum anders als die Mystikerin des 16. Jahrhunderts hat Leibniz, in seiner Kritik am Zweifelsversuch des Descartes, argumentiert, als er der Hypothese des universalen Betruges nur die Resignation entgegenzuhalten vermochte, es sich an der Konsistenz der Erscheinungen - und wäre sie nur die eines Traumes - genug sein zu lassen und die Möglichkeit des Bruches dieser Konsistenz als Katastrophe des Wirklichkeitsbewußtseins auf sich beruhen zu lassen. Befreiung vom Problem ist schließlich auch hier die Unterwerfung unter die Unmöglichkeit der Evidenz.58 Im Verhältnis zum Mythos würde das bedeuten, als Faktum anzunehmen, daß Götter nicht mehr erscheinen, weil sie sich als solche nicht >zu erkennen geben< könnten. Die romantische Kontrastfunktion des Mythos gewinnt unter dem Aspekt der Wirklichkeitsproblematik erst ihr Profil: sie ist der Unwille, mit den Resultaten des Zweifels und unter den Verzichten, die er auferlegt, zu leben. Mit dem Gedanken, daß Götter erscheinen könnten, ist im Horizont des neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs nicht einmal mehr zu spielen. Wer davon spricht, Hölderlin etwa oder ihn auslegend Heidegger, muß konsequent nicht mehr nur auf ein einschlägiges Ereignis im Kontext unserer Wirklichkeit, sondern auf einen radi5 8 R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, Stuttgart 1963, S. 181, würde also nicht mit Recht über die von ihm behandelten nachmittelalterlichen Mystiker sagen: In der durch Gehorsam realisierten Demut finden diese Autoren jenen Punkt der Unangreifbarkeit, den Descartes in der Selbstgewißheit des Denkens findet. - Die mystische Demutsfigur hat ihr Äquivalent weniger im >Cogito< des Descartes als im Phänomenalismus der Descartes-Kritik, etwa in Leibniz' »Animadversiones« zu den »Principia« (Philos. Sehr., ed J. Gerhardt, Hildesheim 1960-61, Bd. 4, S. 35o£). Selbst der in seinem metaphysischen Wirklichkeitsanspruch Betrogene könnte nicht mehr daran interessiert sein, aus der Dichte des Truges jemals zu erwachen. 369
kalen Wandel dieser Wirklichkeitsstruktur selbst hoffen dürfen. Darum geht es denn in der Tat, wenn die Vorwelt des Mythos, als die mögliche Nachwelt, die nichts mehr von Konsequenz der gegenwärtigen hat, erscheint: Was die Welt eigentlich sei, - nicht das, was man gewöhnlich dafür hält, sondern die eigentliche, die wahre, die ganze, die heile Welt, die keineswegs vor aller Augen steht, sondern höchst verborgen, vielleicht heute gar nicht da, ja vielleicht noch nie da gewesen, sondern erst etwas Zukünftiges ist, - das ist die eigentlich bewegende Trage in Heideggers Denken.5** Bezogen auf den Wirklichkeitsbegriff der immanenten Konsistenz ist solche Spekulation, Hoffnung oder Geschichtsmetaphysik, notwendig eschatologisch. Von Anschauung der Gottheit zu sprechen, geht im Grenzfall in purer Ironie auf. In André Gides »Caves du Vatican« kommt es nach der Trauerfeier für den Kreuzfahrer Amadeus, der an der Aufdeckung einer vermeintlichen Vertauschung des Papstes gescheitert war, in einer Kutsche zu einem Gespräch zwischen Julius Baraglioul und Anthimos. Diesem eröffnet der Graf, der amtierende Papst sei tatsächlich nicht der echte. Anthimos - einst ein hinkender Atheist, dann von seinem Unglauben ebenso wie von seinem Leiden geheilt - wird über dieser Eröffnung im Handumdrehen wieder zum Ungläubigen. Der Gedankengang, der ihn in den unverwindlichen Zweifel stürzt, ist dieser: wer würde ihm jetzt noch versichern können, daß der eben beerdigte Amadeus Fleurissoire beim Eintritt in das Paradies nicht gleichfalls erkennen müsse, sein Gott sei nicht der echte? Die Antwort, die der Graf auf diesen Zweifel bereithält, erweist sich gerade dadurch als absurd, daß in ihr die Möglichkeit der momentanen Evidenz, der reinen Anschauung ohne Bedenken vorausgesetzt wird. Der Gedanke sei bizarr, so etwa argumentiert der Graf, daß es von Gott eine unechte Gegenwärtigkeit geben könnte; die Anschauung Gottes lasse keinen Spielraum zum Zweifel. Auf den Zweifler Anthimos macht dieses Argument bezeichnenderweise nicht den geringsten Eindruck; die Möglichkeit einer Theophanie ist unter den Bedingungen seines Wirklichkeitsbegriffes nicht denkbar. Der in den Unglauben Zurückgefallene verläßt die Kutsche - und hinkt wieder. 59 W. Bröcker, Dialektik, Positivismus, Mythologie. Frankfurt/M. 1958, S.35. 370
III. Unsere Kategorien für die Beschreibung des Mythischen sind solche des Kontrastes zur Theologie und der in sie eingegangenen oder von ihr hinterlassenen Metaphysik - aber nicht, weil Mythologie den Anspruch und Absolutheitsgrad einer Theologie noch nicht erreicht hätte, sondern weil sie sich aus der Richtung auf diesen Anspruch ursprünglich heraushält. Die Konstellationen, in die das Mythische im Späthorizont seiner Rezeption eingetreten ist, sollen hier verstanden werden aus der essentiellen Distanz, die der Mythos zu jeder Art von >Strenge< - sei es der Furcht oder des Glaubens, der Exaktheit oder der Systematik, der Texttreue oder der bloßen Ausschließung von Satire und Parodie - innehält. Uns ist dies verdeckt geblieben durch die von den frühen christlichen Autoren angenommene Konkurrenz, die ihr Angebot der neuen Lehre weithin zum Zitat der philosophischen Kritik am Polytheismus werden ließ, so daß der Anschein entstand, als rivalisierten hier >Theologien< miteinander. Aus diesem Kategoriennetz muß die Mythologie samt ihrer Rezeptionsgeschichte herausgewunden werden - nicht weil sie andere Götter, nicht einmal weil sie mehr Götter darbietet, als die dogmatische Ausschließlichkeit einer Theologie zulassen könnte, sondern weil Mythologie zu Theologie überhaupt ein Verhältnis der >Gleichzeitigkeit< hat. Das, was Lessing die fromme Raserei, Den bessern Gott zu haben genannt hat, ist ein dem Mythos fremdes Phänomen, dessen Bedingtheiten er entweder schon hinter sich gelassen hat oder immanent bestreitet. Diese spezifische Differenz ist schon recht früh mehr oder weniger ausdrücklich beobachtet worden, etwa in Fontenelles Abhandlung »De l'origine des fables« von 1724, dann aber vor allem in der »Götterlehre« von Karl Philipp Moritz (1795), in der er die eigentümliche Liberalität dessen beschreibt, was er die Sprache der Phantasie in den mythologischen Dichtungen nennt. Den Begriff der Dichtung verwendet er eben deshalb, weil er diese Welt für sich ... aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben sieht. Die Phantasie als Organ des Mythos ist durch Negation aller Metaphysik und aller theologischen Begriffe definiert; sie schafft sich ihren Spielraum, indem sie sorgfältig alle abstrakten und metaphysischen Begriffe meidet: sie scheut den Begriff einer metaphysischen Unendlichkeit, sie flieht den Begriff eines anfanglosen Daseins und sie umgeht die Konsequenzen der 371
Allmacht und Allgegenwart, die aus der Logik des Gottesbegriffes ebenso unvermeidlich hervorzugehen scheinen, wie sie diese Logik sodann zu gefährden vermögen. Von herausragender Wichtigkeit für den Mythos und seine Rezeption ist dabei die Negation des Attributes >Allmacht<. Positiv entspricht dem, was ich als kategoriale Bestimmung mythologischer Formen ihre >Umständlichkeit< nenne. Allmacht verwehrt es im Grunde, von ihrem Träger eine Geschichte zu erzählen. Geschichten sind, topographisch vorgestellt, immer Umwege, während absolute Macht sich im Diagramm der kürzesten Verbindung zweier Punkte auslegt. Jeden Polytheismus kann man aus der immanenten Absicht der Verendlichung der in ihm vertretenen Mächte heraus verstehen. Dieses Modell hat wiederum Sigmund Freud durchgeführt, indem er die Pluralität der Götter als den unmittelbaren Ausdruck der Überwindung der Übermacht des Urhordenvaters, also der Triumphfeier des Sieges der verbündeten Söhne über den Vater, interpretiert. Die neuen Väter erreichten freilich nie die Allmacht des Urvaters ... sie mußten sich miteinander gut vertragen, blieben durch soziale Satzungen beschränkt. Wahrscheinlich entstanden die Muttergottheiten zur Zeit der Einschränkung des Matriarchats als Entschädigungen der zurückgesetzten Mütter. Die männlichen Gottheiten erscheinen zuerst als Söhne neben den großen Göttern, erst später nehmen sie deutlich die Züge von Vatergestalten an. Diese männlichen Götter des Polytheismus spiegeln die Verhältnisse der patriarchalischen Zeit wider. Sie sind zahlreich, beschränken einander gegenseitig, unterordnen sich gelegentlich einem überlegenen Obergott.60
In solchen >Systemen< gibt es den Absolutismus der Vaterfigur nicht mehr oder - bezogen auf ihre späte und durch Anamnesis erhöhte Wiederkehr - noch nicht. Der Mythos fragt zwar nach dem >Höchsten<, aber gerade nicht im philosophischen Sinne der unmöglichen Überdenkbarkeit. Das mythologische Fragen ist in dieser Hinsicht gleichsam dynastisch: der Höchste ist nicht als Spitze einer Pyramide, er ist eher als Zentrum eines genealogischen Geflechtes von Herkunftsverhältnissen gedacht, er darf schon tief in einer ihn übergreifenden Geschichte darin stecken. Höchstes ist, was sich in einer solchen Geschichte zu behaupten vermag. Göttlich ist schon die dem Menschen überlegene Macht, aber sie muß nicht alles, sondern >über alles etwas< 60 Freud, a.a.O., S. 110. 372
vermögen.61 Dieser mythologische Komparativ gilt auch für die Behauptungen über den >Anfang<; es geht nie um das absolut Erste, man verweilt bei den Anfängen. Sobald die Behauptung von >Urpotenzen< als ausdrücklich >ewigen< auftaucht, ist schon Philosophie im Spiele.62 Fontenelle vermutet in seinem Mythentraktat auf dem Grunde der Mythologie Ansätze einer urtümlichen Philosophie. So habe etwa die Frage, woher das unaufhörlich fließende Wasser eines Flusses komme, einen frühen Grübler (un contemplatif de ces siècles-là) zu der Antwort geführt, jemand gieße es aus einem Kruge immer wieder nach. Die hier naheliegende weitere Frage, woher denn in den Krug immer neues Wasser gekommen sei, habe sich jener nicht mehr gestellt: Le contemplatif n'allait pas si loin. Fontenelle übersieht, daß gerade dies den Mythos charakterisiert, daß er über einem Anfang den Anfang vergessen macht und daß darin nicht nur eine quantitative Differenz zur Philosophie liegt, sondern eine elementare Disposition, sich nicht an den Abgrund des Absoluten treiben zu lassen. Gerade weil die Ansprüche an den Erklärungswert des Mythos leger sind, braucht sich sein Erklärungspotential nicht zu konsolidieren; es kann diffus bleiben und das heißt: es kann alles aus allem hergeleitet werden. Eben deshalb aber scheint das Bedürfnis des Mythos nach Antworten hypertroph zu sein, sobald man ihm unterstellt, hinter allem hätte schon explizites Fragen gestanden. Die Umständlichkeit des Mythos verdeckt, daß nichts erklärt ist, indem nur die Endlichkeit einst gefürchteter Mächte veranschaulicht wird. Zeus steht nicht am Wege der Griechen zum Monotheismus; er hält die Herrschaft über Götter und Menschen in Händen, ohne jedoch dadurch wesentlich die freie Selbständigkeit der übrigen Götter zu gefährden. Er ist der oberste Gott, seine Macht aber absorbiert nicht die Macht der anderen. Er hat zwar Zusammenhang mit dem Himmel, mit Blitz und Donner und der erzeugenden Lebendigkeit der Natur, doch mehr noch und eigentlicher ist er die Macht des Staats, der gesetzlichen Ordnung der Dinge, das Bindende in Verträgen, Eiden, Gastfreundschaft, überhaupt das Band der menschlichen, praktischen, sittlichen Substantialität, und die Gewalt des Wissens und des Geistes.63 61 U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen, Darmstadt 2 i955,1, S. 18. 62 H. Schwabl, Weltschöpfung, in: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Supplement IX, Stuttgart 1962, Sp. 1433 f. 63 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Sämtliche Werke, Bd. 13, ed. H. Glockner, Stuttgart 1964, S. 82. 373
Auch Hölderlins Nicht vermögen /Die Himmlischen alles geht auf das, was Karl Philipp Moritz als Spielraum der Mythologie bestimmt. Dieser Spielraum wird durch Umständlichkeit gleichsam ausgeschritten und darin etwas von dem Typus des Rituals festgehalten, das in komplizierten Figuren vor dem Eintritt ins Zentrum des Kultes sich verzögert und sein Anhalten des unmittelbaren Zugriffs auf die Substanz des Mysteriums zelebriert. Noch in Lukians Parodien des Mythos schlägt Umständlichkeit als vorzügliches Merkmal durch, und es wird sichtbar, wie nahe sie der Kreisfigur der Sinnlosigkeit steht. In einem der »Göttergespräche« läßt er Zeus durch Hermes den Helios bitten, drei Tage lang nicht auszufahren und dadurch eine einzige Nacht entstehen zu lassen, die er bei der Frau des Amphitryon verbringen wolle, um den Herakles zu zeugen. Das kann selbst der mächtigste der Götter nicht im Handumdrehen und nicht ohne Götterhilfe, die den Kosmos durcheinanderzubringen droht. Aber ein Skändalon von der Art des alttestamentarischen Sonnenstillstandes zugunsten des mit Gott verbündeten Volkes scheut Zeus. Auf die Klage des Sonnengottes, die Ordnung des Alls werde zuschanden, weiß Hermes Rat: er geht zu Selene und Hypnos, um zu erreichen, daß sie allen Menschen einen entsprechend langen Schlaf verleihen und dadurch ihnen die lange Liebesnacht des Zeus nicht anders als gewöhnliche Nächte erscheinen lassen. Wenigstens für die Menschen wird es so sein, als sei nichts geschehen. Auch für den Gott gibt es das adynaton, das im Text steht; seine begrenzte Macht und sein Angewiesensein auf Komplizität machen hier die Geschichte, die jedes Wort von Allmacht sofort zerstören müßte. Die Operation mit dem Allquantor ist ihrerseits allmächtig; sie vermag alles zu erklären, aber gerade dadurch zerstört sie die Möglichkeit jeder Erklärung, die der Mythos nur überspielt. Ich verdeutliche das an einem kleinen Gegenbeispiel zu Lukian, einem fast parodistischen Text aus den Erinnerungen Casanovas, und zwar der Episode mit der an Spitzfindigkeit kaum schlagbaren Genfer Theologin Hedwig. Sie soll mit der Frage in die Enge getrieben werden, wie Jesus von sich sagen konnte, er wisse nicht den Zeitpunkt des Weltuntergangs. Da er einerseits nicht gelogen haben darf, sagt sie, er habe dieses Wissen tatsächlich nicht besessen. Auf den Einwand, dann könne er nicht allwissend, also nicht Gott gewesen sein, antwortet sie biblisch, gerade bei Gott sei alles möglich, also auch Unkenntnis der futurité. Der mythische Zug, daß der 374
Gottessohn nicht in das ganz große Geheimnis des Weltendes eingeweiht ist, wird zerstört: Gott ist allwissend, aber er muß es nicht sein, denn er kann alles wollen, also auch, in einer bestimmten Sache unwissend zu sein. Hier wird zwar nicht mehr alles aus allem hergeleitet, wohl aber alles aus Einem erklärt. Späte Versuche der Theodizee und Geschichtsmetaphysik kehren übrigens notgedrungen zur Umwegstruktur der Mythologie zurück. In dem Typus der teleologischen Literatur nach Leibniz bis hin zur Verteidigung des Flohes stecken Ansätze zu Mythen und damit Widersprüche gegen die sich formierende Neuzeit. Die Schlaflosigkeit der Alten werde ihnen zum Trost, sagt Linné, weil sie nur so den Vogelgesang der Morgenfrühe hören dürfen. Niemand, der Autor selbst am wenigsten, konnte das auf den Hintergrund eines Götterstreites um das Recht des Menschen auf Glück projizieren. Sofern aber das Theodizeeproblem zu den authentischen Schwierigkeiten der christlichen Tradition seit seiner Anschärfung durch die Gnosis gehört, wird man nach dem mythologischen Potential in der Anlage des Christentums selbst fragen müssen. In der radikalen Eschatologie der neutestamentlichen Heilserwartung ist am wenigsten von jenem >Spielraum< der Umständlichkeit; die Verbindung zwischen dem Heilsbedürfnis und der Heilserfüllung ist als die kürzeste aller möglichen verheißen, die Macht der Gottheit wird unmittelbar und auf elementare Weise als wirksam erwartet. Die Ausbildung einer Grundgeschichte von Inkarnation und Erlösung führt dagegen von der kargen Heilsökonomie fort, und das hat den Eindruck erwecken können, daß in der Anlage des Christentums alles der Ausbildung einer Theologie der bloßen Allmacht widersprach und eher auf eine Geschichte tendierte. Denn Inkarnation und Erlösung in ihrem Zusammenhang ließen sich als Inbegriff einer schlechthinnigen Umständlichkeit Gottes beschreiben. Der Gott, der die Weltschöpfung mit einem bloßen Wort exekutiert hatte, sollte sich nun, um den Menschen Heil zu bringen und sie mit sich selbst zu versöhnen, auf ein Verfahren eingelassen haben, das alle Züge der Ohnmacht bis zur Kenosis an sich trug. Die Annahme eines gleichsam geregelten Verfahrens< blieb unter den metaphysisch-theologischen Attributen der Allmacht und Unendlichkeit schwer begreiflich - und konnte gerade deshalb als Sporn eines credo quia absurdum kultiviert werden. Abraham, der den Isaak opfert, und der Vatergott, der seinen 375
Sohn für die Menschen leiden und sterben läßt, rücken zu Prototypen der absoluten Zumutung an den Glaubenden aneinander. Entmythologisierung als kritisches Verfahren bedeutet daher formal auch: Entflechtung einer Sphäre der indirektesten Wege, Reduktion der Umständlichkeit auf den harten Kern der eschatologischen Unmittelbarkeit, auf das Kerygma des >Ich bin es< - obwohl dieses wiederum in seiner kerygmatischen Qualität nur vor dem Hintergrund einer wenigstens geahnten, wenn auch nicht erzählten Geschichte verstanden werden kann, in der jemand als der Erwartete sich zu erkennen gibt und solches Erkennen schon alles in der Situation der Heilsbedürftigkeit Notwendige >erfüllt<, also in der Verweisung auf den gnostischen Grundmythos. Aus der Direktheit der Erwartung des bevorstehenden Weltendes geht das Christentum hervor mit der Last, die weitergehende Geschichte als einen nochmaligen Einschub zu erklären, von derselben Art wie es die Zeit zwischen Sündenfall und Ankunft des Messias schon gewesen war. Die Geschichte erscheint wieder als eine einzige Umständlichkeit der Gottheit in der Exekution ihres Heilsplanes. Fragen, die angesichts des nahen Endes ihren Platz verloren hatten, kehren zurück. Der Schwund der Eschatologie gibt Raum für ein Anwachsen der Mythologie. Wenn nicht alles täuscht, war es die kritische Energie des genuinen biblischen Monotheismus, seiner absolutistischen Züge und vor allem seiner Schöpfungsidee, was die Remythisierung des Christentums zum Stillstand brachte und spätestens mit Augustin die Züge einer Dogmatik prägte, die mit Allmacht und Freiheit Instrumente zur >Ökonomie< aller Fragen besaß. Der an der Radikalisierung der Schöpfungsidee entwickelte Begriff der Allmacht wurde zum spekulativen Lieblingsprinzip der theologischen Scholastik, die die Umwege und Umständlichkeiten der göttlichen Heilsfürsorge auf ein konsistentes System von Heilsnotwendigkeiten zurückzuzwingen suchen mußte. Diese Beweislast bei der Frage nach der Geschichte blieb über das Christentum hinaus. Die Form der rationalisierten Umständlichkeit prägt die großen geschichtsphilosophischen Systeme, die sich des allzu schlichten Fortschrittsschemas nicht leicht bedienen mochten: der Umweg blieb der Weg des Geistes, wie erzürn Wissen dessen zu kommen sich erarbeitet, was er an sich ist. In der Dialektik bekam der Umweg seine Logik, genügte auf eine höhere Art dem Kriterium der Konsistenz und verbarg seine mythische Figur. 376
Daß Gott die Geschichte brauche, um sich nach der Definition des Aristoteles selbst zu denken, ist jenseits einer Theologie der Attribute ganz konsequent, denn Bewußtsein von Allmacht und Allwissenheit ist etwas anderes als deren Deduktion aus dem Begriff eines absoluten Wesens. Leibniz hatte für die Philosophie der Neuzeit mit Nachdruck auf das Problem der Widerspruchsfreiheit der göttlichen Attribute als präliminar für jede rationale Theologie hingewiesen, und zweifellos ist die spekulative Geschichtsphilosophie des Idealismus eine Form der Antwort auf die Frage, indem sie die Geschichte als eine Art >empirischer< Verifikation von Widerspruchsfreiheit in Anspruch nimmt. Die Geschichte erweist, ob Gott das erfüllt, was der Begriff von ihm fordert - u n d zwar nur für ihn selbst. Dabei muß jede Geschichtsphilosophie auch Stelle und Funktion des Mythos bestimmen, und seine Betrachtung vom Standpunkt des Monotheismus her erhält dabei eine mehr als methodische Sanktion. In Schellings System etwa erreicht der Mythos die ihm wesentliche Wahrheit erst dadurch, daß er sich als ein notwendiges Moment im Prozeß der Selbstentfaltung des Absoluten zwischen dem relativen Monotheismus der Frühzeit und dem absoluten Monotheismus der christlichen Epoche begreifen läßt. Die gegentheologischen Kategorien des Mythos können in diesem Schema aus der Ablösung jenes primären Monotheismus verstanden werden. Wer dies beschreibt, darf, um den Mythos der Geschichte zuzuordnen, auf den Mythos anspielen: Der Mythos ist die Odyssee des reinen Gottesbewußtseins, das in seiner Entfaltung gleich wahr durch das Natur- und Weltbewußtsein bedingt und vermittelt ist.64 Die mythische Kategorie der Umständlichkeit, verborgen in den Spekulationen der Geschichtsphilosophie, impliziert ein Verbot der Ungeduld über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzuschreiten.65 Die Umwegstruktur des Mythos taucht auch in der Sprache der von >Der Wissenschaft nicht anerkannten Wissenschaft auf, wo diese den Verzicht auf eine integrierte Anschauung der Wirklichkeit, der unter dem Ideal der Exaktheit als Preis für die Strenge der Erkenntnis erlegt worden ist, vergißt und wenigstens den Entwurf einer Totalität versucht. Dem Resultat theoretischer Objektivierung wird dabei in der Weise vorgegriffen, daß dieses als Teilaspekt des Entwurfes erscheint. Der Selbsterhaltungstrieb wurde zu ei64 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen II, S. 12. 65 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 62. }77
nem der großen Erklärungsinstrumente der neuzeitlichen Wissenschaft vom Typus ihrer rationalen Konstanzsätze; aber hier wird >das Ganze< immer nur vom Einzelvorgang her erklärt, als Summe eines großen Verrechnungsverfahrens der Gewinne und Verluste der Einzelprozesse. Die Erhaltung einer Substanz, wie immer sie bezeichnet werden mag, ist als Prinzip der Naturerkenntnis zugleich ein Prinzip der Geschichtslosigkeit. Den Selbsterhaltungstrieb hat Sigmund Freud zusammen mit den anderen Macht- und Geltungstrieben zur partiellen Bedeutung herabgedrückt und ihn der Figur der Umwege zum Tode inkorporiert. Dieser neue Totalmythos des Lebens, wie er in »Jenseits des Lustprinzips« entwikkelt ist, macht die Evolution des organischen Lebens zum vordergründigen Schein. Jede Archäologie des Lebens findet auf dem Grunde ihrer Grabungen den Tod: Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Leben einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt... Das Ziel alles Lebens ist der Tod ... Die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben des Organismus sich aller Welt zum Trotz zu behaupten entfällt ... Dabei kommt das Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf das energischste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt, die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegensatz zu einem intelligenten Streben.66
Auch hier geht die mythische Struktur nicht nur über den Umweg, sondern auch auf Wiederholung, und zwar ausdrücklich auf Rückkehr zum Gleichen im Gegensatz zum Fortschritt. Die geschlossene Kreisstruktur dieses Schemas scheint gegenüber der Unbestimmtheit einer rationalen Form des Und-so-weiter so etwas wie eine bergende Gewißheit zu bieten, auf die man sich verlassen kann - auch wenn es die des Todes ist. Die Faszination solcher Entwürfe, die Sinnhaftigkeit durch eine im Grunde sinnlose, aber prägnante Figur vortäuschen, hat 66 Freud, Jenseits des Lustprinzips, Gesammelte Werke, ed. A. Freud, Bd. 13, Frankfurt/M. ^1969, S. 40f. 378
sich immer wieder bewährt. Ohne Hinblick auf die Entsagungen, die das neuzeitliche Wissenschaftsideal verlangt, kann das nicht verstanden werden. Die auf funktionale Zusammenhänge und deskriptive Fakten reduzierte Raum-Zeit-Welt der Wissenschaft drängt das Bewußtsein auf die Signifikanz eines zugreifenden Konzepts ohne perspektivische Verluste zurück. Das gilt vorzüglich auch für das Verhältnis von historischem Wissen und Geschichtsbewußtsein. Die vermeintliche Greifbarkeit von Geschichte im prägnanten Detail, das den Faktorenkpmplex der Historie zu etwas werden läßt, was >sich ereignet<, hat mythische Züge. Immer wieder drängt die Geschichte auf eine Geschichte. Luthers Thesenanschlag von 1517, ursprünglich ein akademischer Vorgang, der sich in den Spielregeln des scholastischen >Betriebs< hielt, geriet unter dem Druck des Bedürfnisses nach der signifikanten Geschichte in eine mit Fakten nicht mehr aufrechenbare Bedeutsamkeit. Am Beispiel des apokryphen Traumes des Kurfürsten Friedrich des Weisen ist das exemplarisch dargestellt worden.67 Dem Thesenanschlag wächst aus dem gefälschten prophetischen Traum, aus dem Einbezug in die Symbolik der Weltalter und aus der Berufung auf den Mythos von Herkules und dem nemeischen Löwen magische Qualität zu. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis und der Tragweite dessen, was daraus hergeleitet wird, kann gar nicht mehr hergestellt werden. Kausalität ist in gewisser Weise enttäuschend: als ein Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Ursache und Wirkung schließt sie Signifikanz aus. Wenn die Verzichte spürbar werden, unter denen uns Wissenschaft Lebensbedingungen gewährleistet, aber Fragen abschneidet, liegt Mythologie nahe, denn die eigentlich bewegende Frage< ist nicht auch notwendig die, von deren Lösung unser pures Existierenkönnen abhängt. Die Tendenz zur Neubildung mythischer Bedeutsamkeitscharaktere in der Geschichte unterliegt freilich der Gegenkraft des ständigen Abbaus durch historische Erkenntnis, die, je mehr sie auf die diffusen Faktoren sozialer, ökonomischer und institutioneller Realitäten ausgreift, alle Prägnanz in der kategorialen Verknüpfung ihrer Gegenständlichkeit verschwinden läßt. Entmythisierung als Inbegriff wissenschaftlicher Nivellierung anschaulicher Bedeutsamkeit kann freilich auch Illusion oder zu67 E. Benz, Der Traum Kurfürst Friedrichs des Weisen, in: Humanitas - Christianitas, Festschrift W. v. Loewenich. Witten 1968, S. 134-149. 379
mindest Verhehlung des unüberwundenen Restes sein, dessen archaischer Qualität man in neuer Funktion bedarf. Was wäre das Jahrhundert der Aufklärung ohne die Entdeckung des Blitzableiters, dessen Rolle nur aus der apotropäischen Bedeutsamkeit vor dem Hintergrund archaischer Ängste verstanden werden kann? Der Sekretär der Pariser Akademie der Wissenschaften, Fontenelle, bespricht im Jahresband 1723 seiner Geschichte der Akademie eine Vorlage von Jussieu über den Ursprung der sogenannten »Donnerkeile«. Die Verwechslung dieser versteinerten Relikte der Belemniten mit den Funden von prähistorischen Faustkeilen aus Feuerstein führt zu dem in die Absichten Fontenelles genau passenden Umprägungsvorgang: das Fossil der Furcht wird zum Dokument des Fortschritts. Was zuvor Bestandsstück einer Mythologie des einstigen Wettergottes war, der Donnerkeil, geht über in die Mythologie der Moral; das Göttliche wird als das altherkommend Menschliche enthüllt, der Mythos als apokryphe Form der Geschichte erkannt. Was einmal die Spur einer großen Beunruhigung der Menschen gewesen war, gleichsam die Speerspitze einer als schrecklich erlebten Gotteswaffe, wird jetzt zum Dokument der Beruhigung des Menschen über sich selbst als das in die Konsistenz seiner moralischen Selbstbildung eingetretene Geschichtswesen. Fontenelle schließt seine Rezension mit der enthusiastischen Anzeige, daß anstelle eines Mythos eine humane Umwälzung zutage getreten sei: Si les autres pierres figurées sont des monuments de grandes révolutions physiques, celles-ci sont le monument d'une grande révolution, qu'on peut appeler morale, et la comparaison du Nouveau monde avec l'Ancien sert également à prouver l'une et l'autre espèce de révolution.68 68 Histoire de l'Académie des Sciences, Année 1723 (éd. 1725), bei J.R. Carré, La philosophie de Fontenelle, Paris 1932, S. 1891. In der »Eloge de Bernoulli« von 1705 hatte Fontenelle noch auf einen anderen Vorgang der Entmythisierung durch Wissenschaft und als Fortschritt hingewiesen: Jacob Bernoulli hatte in seinem Werk »Conamen novi systematis cometarum« anläßlich des Kometen von 1680 den Einwand zurückweisen müssen, der Nachweis gesetzmäßiger Bewegung dieser Himmelskörper nehme ihnen die Qualität außerordentlicher Zeichen himmlischen Zornes; Behebung des Einwandes in umständlicher Erörterung war, daß zwar der Kopf des Kometen ein Gestirn und kein Zeichen sei, wohl aber der Schweif zeichenhafte Bedeutung haben könnte. Fontenelle triumphiert; hier konnte man den Fortschritt innerhalb eines Vierteljahrhunderts mit Händen greifen, der Depotenzierung eines mythischen Objekts als Zuschauer beiwohnen: Maintenant on est dispense de cet égard, c'est-à-dire que le gros du monde est guéri sur le fait des comètes, et que les fruits de la saine philosophie se sont répandus de proche en proche. Il serait assez bon de marquer, quand on le pourrait, 380
Für ein Verständnis geschichtlicher Prozesse im Epochenwandel als >Umbesetzungen< und der dabei einwirkenden >Bedürfnisreste< ist dies ein sinnfälliger Beleg mehr. Das Schema der Umbesetzung schützt zugleich vor der Voreiligkeit der Behauptung materialer Äquivalenzen.69 Es zeigt sich, wie die Probleme der genuinen Mythologie, der mythologischen Rezeption und schließlich der Möglichkeit von Remythisierung strukturell zusammenhängen. Nur wenn man den Mythos als Distanz zu dem versteht, was er schon hinter sich gelassen hat, was Schrecken, schlechthinnige Abhängigkeit, Strenge des Rituals und der sozialen Vorschrift oder wie immer genannt werden mag, kann man den Spielraum der Imagination als das Prinzip seiner immanenten Logik begreifen, aus der die Grundformen der Umständlichkeit und Umwegigkeit, der Wiederholung und Integration, der Antithese und Parallele hervorgehen. >Distanz< steht hier immer für die erhellende Beobachtung Burckhardts, daß unsere Schwierigkeiten gegenüber dem Mythos darauf beruhen, daß wir ihn in unserer Tradition bei einem Volke antreffen, welches die Urbedeutungen der Gestalten und Hergänge offenbar hat vergessen wollen.70 Mythologie in der Funktion der Depotenzierung dessen, was ängstet, als Reaktion auf den schrecklichsten und quälendsten Gedanken, beobachtet mit der Authentizität des >Feldforschers< auch der moderne Ethnologe (B. Malinowski):... der Gedanke an den Tod ist mit Schrecken bel'époque de la fin des erreurs qu'elle a détruites (Œuvres diverses III, Amsterdam 1742, S. 68 f.). Zur Geschichte der >Bedeutsamkeit< des Blitzableiters zwischen Mythos und Aufklärung ist außer den Briefwechseln von Lichtenberg und Lambert vielleicht am aufschlußreichsten der tödliche Unfall bei den Blitzableiterversuchen Michail Lomonossows an der Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Vgl. E. Benz, Theologie der Elektrizität und des tierischen Magnetismus, in: Jahrbuch. Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz 1967, S. 81.) 6<) Dafür ein Beispiel:V. Klemperer, Montesquieu, Heidelberg 1914/5, IIS. 68 f., über Montesquieus >tragische Schuld< an der Französischen Revolution, an Robespierre, durch sein >Märchen von der idealen auf Gleichheit gestellten Republik<: Märchen wirken immer stärker als Sachlichkeiten, und wo eine Zeit mit Lächeln auf den Märchensinn der früheren Epoche zurückblickt und sich ihrer eigenen Sachlichkeit rühmt, da hat sie eben diese Sachlichkeit bereits ins Märchen erhoben. Auch vom Rationalismus durchtränkte Zeiten werden doch nur durch die Phantasie geführt, und die Göttin der Vernunft ist ein Phantasieerzeugnis wie Aphrodite oder Freya... Man ist versucht zu sagen: gerade weil das nicht ganz falsch ist, ist es so falsch. 70 A.a.O., S. 45 (Sperrung original). 381
laden, mit dem Wunsch, seine Drohung abzuwenden, mit der undeutlichen Hoffnung, ihn nicht erklären, sondern vielmehr weg-erklären zu können, ihn unwirklich zu machen und regelrecht zu leugnen (a. a. O., S. 192). Das Vergessen der >Urbedeutungen< ist die Technik der Mythenkonstitution selbst - und zugleich der Grund dafür, daß Mythologie immer nur als >in Rezeption übergegangen< angetroffen wird. Die Phänomenologie der Rezeption absorbiert das vermeintlich in dieser Wirkendem Die genannten formalen Merkmale der >Distanz< bestimmen den Ausschluß jeder orthodoxen Determination: statt etwa die eigenen Götter als die wahren gegen die der anderen als die falschen zu stellen, werden diese dem System jener integriert, in ein Generationsverhältnis oder in einen anderen Erzählzusammenhang gebracht. Die je schon vorhandenen Mythologeme scheinen immer nur wie Orientierungspunkte für neue Gruppen von Geschichten in einem Vertrautheitsfeld gewesen zu sein. Auch die einzelne Geschichte wird nie so dicht angelegt, daß nicht neue Elemente eingeschoben und eingewoben werden könnten, die dann legitimiert werden als ein Nachholen des bis dahin Verschwiegenen oder Verlorenen. Noch moderne Autoren können diese Struktur benutzen, gelegentlich ernsthaft, gelegentlich parodierend, immer ironisch gegenüber der Wahrheit des Vorgefundenen. So Kolakowski, wenn er biblische Geschichten mit der charakteristischen Begründung >weiterführte Diese Geschichte ist im wesentlichen (aber nicht in allen Punkten) richtig. Sie muß jedoch unverständlich bleiben, weil der Chronist eine Reihe von Einzelheiten, die für die Sache von Bedeutung sind, übergangen hat.71 Bertolt Brecht gab um 1933 »Berichtigungen alter Mythen«, von ihm auch »Zweifel am Mythos« genannt, darunter vor allem zur Sirenengeschichte der »Odyssee«: Das ganze Altertum glaubte dem Schlauling das Gelingen seiner List. Sollte ich der erste sein, dem Bedenken aufsteigen? Bedenken waren schon Kafka aufgestiegen, der die Schrecklichkeit der Sirenen nicht in den Gesang, sondern ins Schweigen legte, dessen Vernichtung Odysseus nur durch die Illusion ihres Gesanges entgangen sei: Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten. 71 A.a.O., S. 101. 382
Gerade wegen seiner Elastizität, ja Porosität, der Umstellbarkeit seiner Elemente, ihrer bloßen >Kontiguität< konnte die Konstanz des Grundmythos zum Phänomen seiner Rezeption werden. Der Mythos ist kein Kontext, sondern ein Rahmen, innerhalb dessen interpoliert werden kann; darauf beruht seine Integrationsfähigkeit, seine Funktion als >Muster< und Grundriß, die er noch als bloß durchscheinender Vertrautheitsrest besitzt. Wenn auch die Metamorphose alles erlaubt, ist sie doch nicht chaotisch; sie setzt vielmehr eine gewisse Strenge eines Kanons an Spielregeln voraus, die durchlaufen werden, von Privilegien, die, dem einen einmal zugewiesen, auch von dem anderen beansprucht, imitiert oder erschlichen werden. Wenn Athene dem Haupt des Zeus unter Verletzung der ehelichen Rollenverteilung gleichsam parthenogenetisch entspringt, so ist es nach der mythischen Symmetrie billig, daß auch Hera in Hephaistos ihren parthenogenetischen Sproß bekommt. Vakant werdende Stellen müssen wieder besetzt werden: Prometheus darf durch Herakles von seinen Qualen befreit werden, aber ein anderer muß, wie ungerecht auch immer, an seine Stelle treten, so als müßte das fixierte Bild einem Urbild entsprechend gewahrt werden. Die Grundfiguren stehen jenseits von Zweckmäßigkeit und Zielbezogenheit, sie bedürfen keiner Rechtfertigung. Auch als die Philosophie bei den Griechen den Mythos zu verdrängen und überbieten zu können beansprucht, vermag sie nicht aus dem Wirklichkeitsbegriff der vorgegebenen, geprägten Figuren auszubrechen. Nicht nur die Gestalten der Elemente, Atome, Ideen und Wesensformen, sondern auch das, was Friedrich Schlegel im Athenäum-Fragment 161 die zyklische Natur des höchsten Wesens beiPlato und Aristoteles genannt hat, ist abstrakte Darstellung einer fraglos gewordenen, ritualisierten Struktur, die den griechischen Kosmos insgesamt prägt, dessen >Ordnung< so etwas wie ein einziges Zeremoniell der Wiederholung des Gleichen ist und in dem Kugelform und Kreisbahn aller Himmelskörper eine ebenso verläßliche wie theoretisch darstellbare Periodik der Erscheinungen als Inbegriff ihrer Vernunft verbürgen. Unbedürftigkeit, Unsterblichkeit und sogar Glückseligkeit der Götter kehren als Prädikate des Kosmos wieder. In der zyklischen Wiederholung als kosmischer Grundform vereinigen sich Bewegung und Ruhe, so wie in der Metaphysik des Aristoteles der unbewegte Beweger durch den Umlauf der Fixsternsphäre nachgeahmt wird. Das ist 383
nicht nur und nicht erst ein platonischer Rest; aber es ist zugleich die Darstellung einer noch unserer metaphysischen Tradition im höchsten'Sinne als rational erscheinenden Wirklichkeit. Bewegung realisiert sich im endlichen Horizont der eidetisch vorgeprägten Möglichkeiten, einem Horizont, dessen Endlichkeit nicht als Beschränkung bewußt wird, der im Gegenteil Wiederholung als Modus von Bestätigung und Bewährung im Zurückkommen auf das Immer-Gleiche ausweist. Demgegenüber ist der Gegensatz von Mythos und Logos sekundär, wenn man ihn vom neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriff her sieht: der offene Kontext läßt unendlich immer Neues zu und wiegt die Ungewißheit des Unerwartbaren durch den Kalkül der wissenschaftlichen und technischen Prävention auf. Im geschlossenen Horizont der momentanen Evidenz dagegen hatte alle Gewißheit den Modus des Schon-Wissens, was kommen kann. Die eindrucksvollste Schicksalsfigur dieses Wirklichkeitsbegriffes ist die des homerischen Odysseus, dessen Heimkehr nach Ithaka aller Zufälligkeit enthoben ist und so allen Irrenden und Verbannten, wie dem Ovid der »Tristien«, verbürgen kann, daß der Kreis ihrer Abenteuer und Schicksale sich schließt. Noch der Widerspruch muß sich des angebotenen Diagramms bedienen: im Schlußmythos der platonischen »Politeia« tritt bei der Auslosung der Lebensschicksale die Seele des Odysseus mit dem letzten Los in die Wahl: Da sie aber in Erinnerung an ihre früheren Mühsale allen Ehrgeiz aufgegeben hatte, sei sie lange Zeit herumgegangen und habe das Leben eines zurückgezogenen, geruhsamen Mannes gesucht und gerade noch irgendwo eines gefunden, das die anderen unbeachtet hatten liegen lassen. Und als sie es entdeckt hatte, habe sie gesagt, sie würde ebenso gehandelt haben, wenn sie das erste Los bekommen hätte, und habe es mit Freuden gewählt.
Schon W. B. Standford hat darauf hingewiesen, daß der »Ulysses« von James Joyce gleichssam die späte Erfüllung dieses von Plato der Seele des Odysseus beigelegten Wunsches nach bürgerlicher Lebensform sei.72 Man darf freilich nicht übersehen, daß die Kreisbewegung rationale Würde nur insofern hat, als sie das Ideal der 72 W.B. Stanford, The Ulysses Thème, New York (1954) ^964, S. n6f. Der Untertitel A Study in the Adaptability ofa Traditional Hero spielt mit der Doppeldeutigkeit von adaptability als einem Zug der Grundfigur und als einem Merkmal ihrer Rezeptionsvorgänge; Kategorienbildung des Autors kündigt sich damit nicht an. 384
autarken Ruhe in der Bewegung festhält. Insofern ist die platonische Antithese zum homerischen Odysseus von ganz anderer Natur als die Dantes sein sollte, dessen tollkühner Abenteurer den sich schließenden Kreis der Heimkehr nach Ithaka mißachtet und sprengt, um die Grenzen der bekannten Welt zu überschreiten und im Ozean zugrunde zu gehen. Vielleicht war die Kühnheit, mit der Dante der antiken Grundfigur widersprach und gerade dadurch die Neuheit seiner Konzeption signifikant machte, nur möglich, weil er zum Original der Odyssee keinen Zugang hatte und sich ihm die Gestalt des mythischen Helden schon in den Verformungen der Rezeption darbot. Auch James Joyce hat bezeichnenderweise für seinen »Ulysses« nicht auf Homer, sondern auf Charles Lamb zurückgegriffen. Die Unbefangenheit im Umgang mit den mythischen Figuren setzt bereits eine Art von Verwischung ihrer Präzision im Medium der Tradition voraus.73 Wenn Dante das Diagramm der Odyssee überdehnt und zersprengt, den Mythos damit in der schon einmal erwähnten Bedeutung >zu Ende gebracht hatte, so wurde dies vielleicht erkennbar an der Schwächlichkeit, mit der das Zeitalter der Entdeckungen und der aufgebrochenen Weltenge auf diese Figur zurückgegriffen hat. Unter den späten Zeugen dafür ist Heinrich Heine, der den Berliner Buchhändler Nicolai in seinem nicht immer geschickten und feinsinnigen Kampf für die Aufklärung mit dem homerischen Helden vergleicht: Er suchte, wie Odysseus, die Ohren seiner Gefährten zu verstopfen, damit sie den Gesang der Sirenen nicht hörten, unbekümmert, daß sie alsdann auch taub wurden für die unschuldigen Töne der Nachtigall.'1?i Ich meine, inzwischen hatte die Neuzeit eine andere Figur gefunden, deren demiurgische Insistenz die schließliche Heimkehr nur noch zu einem Schnörkel macht, während ihre Faszination in der Umwandlung der fremden und unvorbereiteten Welt in Heimat besteht: Robinson Crusoe. Außer dem Faust hat keine andere Gestalt noch den Rang mythischer Prägnanz und das Aufgebot rezeptiver Korrespondenz erreicht. Die Digression auf Odysseus sollte die in sich geschlossene Bewegung als mythische Sinnfigur verdeutlichen, zugleich Ausblick geben auf ihr Zerbrechen unter dem Anspruch eines heterogenen 73 Für diesen Sachverhalt formuliert Stanford, a.a.O., S. 4, den eher erschlagenden als schlagenden hermeneutischen Grundsatz: Ignorance is the mother of imagination. 74 Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 2. Buch. 385
Wirklichkeitsbegriffes, der >Wiederkehr< zum Trauma nihilistischer Sinnlosigkeit werden läßt und zugleich damit das gewalttätige Sinnoktroi der ewigen Wiederkunft des Gleichen als seinen Widerspruch provoziert. Die zyklische Grundform war jedenfalls für die Griechen über die Differenzen ihrer Schulen hinweg evidente Orientierung. Wenn die Wirklichkeit als Kosmos aus der Antithese zum Chaos verstanden wird, bedeutet die stabile Unwahrscheinlichkeit von Kugelform und Kreisbahn das Maximum von Distanz zur Drohung des Chaos. Das in sich zurückkehrende Geschehen manifestiert nicht den Mangel der ganz anderen Möglichkeiten, der nicht gehobenen Schätze dessen, was auch sein oder noch werden könnte, wie es das ausgehende Mittelalter an seinen Spekulationen über die potentia absoluta zu empfinden beginnt. Der Kosmos präsentiert sich in seinen Kreisbewegungen als das Unüberbietbare, als die Evidenz der erfüllten Möglichkeiten, zu denen Wesentliches nicht hinzugebracht werden kann, weder durch die Natur noch durch die auf deren Nachahmung angewiesene Kunst, weder durch den Zufall noch durch die Freiheit. Alternative der kosmischen Wiederholung ist nur das Chaos. Wie gefährdet die Entscheidung für den Kosmos im Grunde gesehen wird, verrät die Stelle im platonischen Dialog »Timaios«, an der die Ananke durch Überredung zur Gefügigkeit gegenüber dem idealen Weltentwurf gebracht werden muß. Die Zerstörung der Kreisfigur - durch Keplers erstes Gesetz und durch Newtons Parallelogramm der Kräfte - ist schon Ausdruck des ganz anderen Wirklichkeitsbegriffes, der die reine Figur zum Grenzwert unzähliger Übergänge und Verformungen macht.75 Was Plato derart nur in der Gestalt eines Mythos sagen konnte, beruht auf dem Wirklichkeitsbegriff der >momentanen Evidenz<, der auch die geschlossen-bedeutsame Figuration der Mythologie fundiert. Das Diagramm des Mythos umschließt endliche Geschichten von endlichen Gestalten, wie zahlreich auch immer sie sein mögen, und undenkbar wäre es hier, daß Neues ins Uferlose hinzukommen könnte, so möglich es bleibt, daß einzelnes im Zwischenfeld übergangen wurde und im Detail nacherstattet werden kann. Wie spät auch immer >die Geschichte< aus der Pluralität der Geschichten heraus als Einheit eines offenen Kontextes begriffen worden und zu ihrem Begriff gekommen ist, die Pluralität der Geschichten als 75 M. H. Nicolson,The Breaking of the Circle. Studies in the Effect of the >New Science< upon Seventeenth-Century Poetry, New York 2ι$6ο. 386
Mythologie hat mit jener Vorform >der Geschichte< nichts gemein, sie ist deren Gegenform sowohl hinsichtlich der Singularität geschichtlicher Ereignisse als auch hinsichtlich der Offenheit der Geschichte für das zuvor nie Dagewesene und Erahnbare. Utopie ist nicht das zum Gegenwartspunkt symmetrische futurische Korrelat des Mythos. 76 Zu der wohl exemplarischen Kollision von mythologischer und geschichtlicher, zyklisch-geschlossener und linear-offener Grundfigur kam es, als zu Beginn des 3. Jahrhunderts Origenes die kosmische Wiederkehr zur christlichen Metaphysik machen wollte. Hatten zuvor nur die Gegner des Christentums zur Verwechslung der biblischen Eschatologie mit der stoischen Ekpyrosis geneigt und den Anhängern des neuen Glaubens beschleunigende Wünsche hinsichtlich des Weltbrandes vorgeworfen, so soll nun das endgültige Ende der Welt zum innerweltlichen Ereignis, zur wiederkehrenden Episode eines kosmischen Rituals werden. Vielleicht war Origenes gerade deshalb der größte Denker der griechischen, wenn nicht der gesamten Patristik, weil er im Prozeß der Auseinandersetzung von antiker Metaphysik und biblischer Lehre den äußersten und kühnsten Versuch einer Versöhnung machte. Der theologischen Heilsgeschichte nahm er die vom antiken Wirklichkeitsbegriff her notwendig anstößige Faktizität des Einmaligen. Er verlieh dieser Geschichte dafür die höchste Sanktion, die ein aus der mythischen Grundfigur herkommendes Weltverständnis zu vergeben hatte, nämlich die der Wiederholung, der Apokatastasis. Das System des Origenes ist noch nicht theologisch im Sinne der späteren Tradition, sondern es bringt noch einmal - wie die beiden anderen großen Systeme des dritten Jahrhunderts, das des Plotin und das des Mani - die Umständlichkeit einer mythischen Struktur zur Geltung. Der Aufwand der Welten führt zu keinem definitiven j6 Zum Wirklichkeitsbegriff der Utopie: Vf., Wirklichkeitsbegriff und Staatstheorie, in: Schweizer Monatshefte 48 (1968), S. 121-146. Adorno, a.a.O., S. 275, bestimmt die Asymmetrie von Utopie und Mythos anders, weil für ihn >Mythos< als die in Mythologie unüberwundene Substanz des Terrors archaischer Zwänge - ζ. Β. als Identitätszwang - zumindest latent geblieben ist: Gebot einmal seine (sc. des Subjekts) Freiheit dem Mythos Einhalt, so befreite es sich, als vom letzten Mythos, von sich selbst. Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts. Zwischen Mythos und Utopie steht >Aufklärung< als Einsicht in den Trug des zum Absoluten sich stilisierenden Subjekts, das die späte und dennoch der ältesten gleiche Gestalt des Mythos «i (a.a.O., S. 185). 387
Resultat; aber der Kosmos trägt noch genug antiker Sinnhaftigkeit an sich, um die Wiederholung seiner Epochen nicht als Inbegriff der Sinnlosigkeit erscheinen zu lassen. Daß dieser Kosmos nach dem Gericht nicht endgültig vergeht, sondern gleichsam eine neue Chance bekommt, ist Ausdruck einer Metaphysik der Gnade, verbunden mit einer solchen der Thodizee; Gott braucht seine Schöpfung nicht endgültig zu widerrufen, der Richter gerät nicht mit dem Schöpfer in Widerspruch, weil noch seine Strafen nur für eine Weltzeit gelten. Der mythische Akzent liegt auf der Welt, nicht auf der Macht, die über sie verfügt. Am deutlichsten wird dies am Verhältnis des Origenes zum neu heraufkommenden theologischen Prinzip der Omnipotenz, das die theologische Spekulation des folgenden Jahrtausends als der Epoche zwischen Mythologie und Wissenschaft bestimmen sollte. Origines kann noch ausdrücklich sagen, man dürfte nicht in der Absicht, die Gottheit zu rühmen, ihrer Macht die Begrenzung absprechen. Das Unbegrenzte wäre als das Unbestimmte auch das schlechthin Undenkbare; also könnte sich Gott, sofern er von unbegrenzter Macht wäre, nicht einmal selbst denken. Das höchste ihm von der antiken Metaphysik beigelegte Attribut, sich selbst denkendes Denken zu sein, wäre damit widerspruchsvoll geworden. Die Welt ist keine Manifestation einer auf den Möglichkeitsbegriff bezogenen Allmacht; Allmacht heißt vielmehr im schon antiken Sinne, in der Welt alles über alles zu vermögen. Gott habe die Zahl der Wesen in ein Verhältnis zu seiner Vorsehung gesetzt und auch die Materie entsprechend, also nicht als das absolut Unbestimmte, geschaffen.77 Was hier interessiert, ist die Verbindung dieses Prinzips der begrenzten göttlichen Macht mit der Auflösung der Einzigkeit der heilsgeschichtlichen Fakten im Schema der Wiederholung des Weltlaufs ohne Festlegung der Akteure jeder Weltperiode auf ihre in der vorhergehenden eingenommenen Rollen. Die Harmonisierung von mythischem Zyklus und heilsbezogener Freiheit der individuellen Subjekte besteht darin, daß zwar in jedem Umlauf der Welt dieselben >Stellen< im System, vom Engel bis zum Satan, zu vergeben sind, daß aber ihre Verteilung Resultat des Gerichts über die vorhergehende Weltepoche ist.78 Die Freiheit bringt jedesmal wieder Bewegung in das •J-J Origenes, De principiis II, 9, ed. P. Koetschau, Leipzig 1913 (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte 22), S. 164. 78 Zur Rekonstruktion des origenistischen Systems: H.Jonas, Gnosis und 388
Reich beseligter Ruhe und Ungeschiedenheit des göttlichen Geistes und der den Gott genießenden Geister. Überdruß an der Seligkeit solcher liebenden Anschauung ist hier das ganz mythische, weil um Konsistenz unbesorgte Motiv für den großen Umweg eines neuen kosmischen Zyklus. Ebenso bei Plotin treibt neugierige Geschäftigkeit die Weltseele in die Arme der Hyle, und noch bei Augustin ist die superbia Grundmotiv eines mit der Rangordnung des Geschaffenen sich nicht abfindenden endlichen Geistes, der als Geist keine natürliche Grenze seines Anspruchs besitzt, sondern sich diese nur selbst durch Demut setzen kann. Aber zwischen jenem Überdruß und diesem Stolz besteht ein wesentlicher Unterschied: insofern dieses Prinzip aus der Natur des Geistes selbst entwickelt und begriffen wird, hat es aufgehört, mythischer Natur zu sein, so wie âiepotentia absoluta als Prinzip theologischer Spekulation aus der Logik des Gottesbegriffes selbst hervorgeht. Augustins Versuch, den neuplatonischen >Sündenfall< zu rationalisieren, um ihm die Last seiner antignostischen Theodizee aufzuerlegen, ist eine der erkennbaren Schwellen zwischen Mythologie und theologischer Spekulation. So wenig mythisches Denken an die Stringenz von Folgerungen und an das Prinzip des kürzesten Weges gebunden ist, so zwingend tendiert die theologische Metaphysik auf die absoluten Grenzwerte ihrer der Gottheit je verliehenen Prädikate - und das heißt: sie argumentiert in jedem ihrer Schritte homogen. Hinsichtlich des Attributes der Allmacht ist die Überschreitung dieser Grenze klar markiert durch die in der Mitte des 6. Jahrhunderts aufgrund eines von Justinian gegen Origenes gerichteten Buches erfolgte Verurteilung des Satzes von der spätantiker Geist, II/i, Göttingen 1954, S. 175 f. Zur Wirkungsgeschichte des Origenes folgende Notiz aus dem Nachlaß Franz Overbecks: Origenes und der Alexandrinismus schwächen alle christlichen Ideen ab, und doch ist dieser Alexandrinismus und mit ihm Origenes außer allem Vergleich historisch einflußreicher als ζ. B. der Geist des Tertullian. Dieser ist historisch sogar sehr wenig einflußreich. Dieser Geist ist eben der in der christlichen Kirche, so lange sie nicht überhaupt zu sein aufhört, stets gegenwärtige, immer in Individuen vertretene. Der andere dagegen ist der Geist, der hauptsächlich vom sogen, historischen Zusammenhange fortlebt. Er tradirt sich in den Schulen und bildet den Gegenstand der Geschichte, der Literaturgeschichte. Dieser alexandrinische Geist ist zäh, er pflanzt sich immer fort, welches auch das menschliche Material sein mag, mit dem er in jeder Generation zu thun hat. Der andere Geist hängt durchaus an der Existenz lebendiger Individuen. Fehlen diese, so ist nichts zu machen (Overbeckiana II, ed. M. Tetz, Basel 1962, S. 78 f.). 389
begrenzten Macht Gottes.79 Verworfen wird nicht nur die Behauptung, die Macht Gottes sei begrenzt, sondern auch, das Maß seines Schaffens sei gebunden an das Maß seines Begreifens. Das richtet sich ganz offenkundig gegen die platonische Vorstellung vom Demiurgen, der durch den ewigen Kosmos der Ideen zu seinem Werk bestimmt wird. Die Rezeption dieses Mythos bei Origenes hatte notwendig die Form der Bestreitung unendlicher göttlicher Macht angenommen. In der Begrenzung dieser Macht auf einen vorgegebenen Kosmos steckt der eigentliche Witz des Systems, das die Kategorie der Metamorphose auf das Schema des Weltenzyklus überträgt. Nur wenn der eidetische Aufbau des Kosmos ein für allemal präformiert und als Rangordnung institutionalisiert ist, bekommt es Sinn, die identischen Subjekte von Welt zu Welt je nach erworbener moralischer Würdigkeit die äußere Gestalt wechseln zu lassen.80 Die mythische Struktur dient einer ihr unbekannten Anstrengung: sie liefert eine Theodizee. Denn in der Konzeption der Weltzyklen ist der Zustand jeder Weltepoche der unmittelbare Ausdruck des über die vorhergegangene ausgesprochenen göttlichen Urteils, so daß die Schöpfung immer zugleich Gericht ist, dessen Gerechtigkeit sich in einer Umverteilung der Ränge in der Schöpfung nach Verdienst und Verfehlung ausdrückt. Dem antiken Kosmos prägt der christliche Gott die Funktion einer Darstellung der freien Entscheidungen seiner Geschöpfe auf: als System ihrer angemessenen Orte - und damit als Instrument zugleich seiner Gerechtigkeit und seiner Vorsehung - schafft er diese Welt.sl Jeder Schöpfungsakt ist Antwort auf eine Provokation, und als Handlung der Gerechtigkeit bedarf er keiner Rechtfertigung mehr. Das Problem der Theodizee ist weniger gelöst, eher amputiert, und zwar mit den Mitteln der mythischen Wiederholungsstruktur, weil -j<) H. Denzinger-J.B. Umberg, Enchiridion symbolorum, Heidelberg 1932, ed. 21, Nr. 210: Si quis dicit aut sentit, velfinitam esse Dei potestatem, vel eum tanta fecisse (gr. demiurgesai), quanta comprehendere (gr. peridraxasthai) potuit, A. S. (gr. anatema esto). - Die Verwerfung des demiurgischen Fundierungsverhältnisses von Erkennen und Hervorbringen ist einer der Ansätze zu seiner Umkehrung. (Vgl. K. Löwith,Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur, Heidelberg 1968.) 80 Jonas, a. a. O., S. 182, versteht in seiner Origenes-Rekonstruktion die merkwürdige Lehre von der Begrenztheit Gottes, zumal den auf diese gelegten durchaus positiven Nachdruck nicht: Welches spekulative Interesse ihn dabei geleitet haben könnte, vermag ich nicht zu sagen. 81 Jonas, a.a.O., S. 186. 390
die je bestehende Welt für sich nicht auf ihre Gerechtigkeit befragt werden kann. Daß der Kosmos so etwas wie moralisches Resultat der Weltgeschichte, einer Weltgeschichte, ist> bedeutet freilich ein gegenüber der Philosophie des Altertums ... völlig gewandeltes Bild, die erste Forderung eines Weltentwurfes, in dem alle Bewegung im Sein überhaupt sich nur in Akten sittlicher Entscheidung und ihrer richterlichen Erwiderung vollzieht.*2 Origenes ist an der Unvereinbarkeit der Wirklichkeiten gescheitert, die er zusammenzwingen wollte. Sein Entwurf beruhte einerseits auf dem Grundriß einer Struktur, die noch hinter die traditionsbestimmende antike Metaphysik auf Kategorien des Mythos zurückgreift, andererseits auf einer Anerkennung des absoluten Ranges der Freiheit aller Subjekte, einer Konzeption, die den Schöpfer nur noch als Richter zu integrieren vermochte. Aus dem Scheitern des Origenes folgte, daß die Endgültigkeiten des einmaligen Heilsprozesses zwischen Schöpfung und Gericht der Geschichte dieser einen Welt absoluten Rang gaben. Konsequenz war aber auch die Ungeheuerlichkeit der Vorstellung von der massa damnata als eines ebenso unabänderlichen wie zur Ertaubung humanen Empfindens zwingenden absolutistischen Verhängnisses; ihre Artikulation erfolgte als Widerspruch zur Apokatastasis des Origenes und der mit ihr gegebenen Möglichkeit der >Ablösung< selbst noch des Satans in seiner Rolle wie der Dämonen und der Verdammten.83 Hier wird die Antithese von Mythos und Geschichte, von Wiederholungs- und Endgültigkeitsstruktur am deutlichsten, zugleich damit das Potential der Mythologie, zum Ausdrucksmittel des Vorbehalts und Widerspruchs gegenüber den Absolutismen einer theologischen Metaphysik zu werden. Lange bevor die Geschichten in der Geschichte auch terminologisch aufgehen und schließlich >die Geschichte< sogar die Prädikation der Allmacht auf sich zieht84, wird der absolute Ernst vorbereitet, der die dichte Konsistenz dieser Wirklichkeit charakterisiert. Selbst Nietzsches Versuch, mit der Lehre von der Wiederkunft des Gleichen die Struktur des mythischen Kosmos zu erneuern, steht unter dem Postulat, dem Ernst der Geschichte als 82 A.a.O.,S. 188. 83 Denzinger-Umberg, a. a. O., Nr. 209. 211. 84 Vgl. R. Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte. Festschrift K. Löwith. Stuttgart 1967, S. 203-206. 391
Verantwortung dieser Welt für alle Welten erst sein unentrinnbares Gewicht zu geben. Den Mythos zu wiederholen, bleibt ein Unternehmen des formalen Als-Ob, das seinen Voraussetzungen nicht entkommt. Der Widerspruch gegen die >Arbeit der Geschichte< bringt bei aller Anspielung auf den Mythos die Unverbindlichkeit der Geschichten aus ihrer ästhetischen Sezession nicht zurück.
IV. Eine Phänomenologie der Rezeption des Mythos muß die Bandbreite zwischen den Extremwerten Terror und Poesie verständlich machen, die sich als das dem Gebrauchsstand des Ausdrucks >Mythos< Ablesbare bestimmen ließ. Auf dieser Spanne werden Materialien und Formalien mythischer Provenienz verarbeitet oder simuliert. Ich meine nun, die Reichweite des Wortgebrauchs würde sachgemäß interpretiert, wenn man sie als Projektion eines über die Zeit verlaufenenen Prozesses nimmt, der die anfänglichen Schrecknisse des Übermächtigen depotenziert und im >Herunterspielen< der Sanktionen und Zwänge schließlich das Poetische selbst oder wenigstens die Disposition dazu hervorgebracht hat. Epos und Tragödie setzen eine >entspannte< Qualität ihrer mythologischen Substrate bereits voraus und geben ihr Bestand: es ist schwer vorstellbar, daß Homer seine Götter einem Publikum hätte zumuten können, das an sie >glaubte<. Und wenn die Poetik der Tragödie bei Aristoteles nicht bloße Konstruktion ist, dann enthält sie eine Art Techne, sehenden Auges die alten Affekte durchzustehen und hinter sich zu bringen, als hinter sich gebracht zu vergewissern. Katharsis hieße, die archaische Empfindung der Furcht vor den Göttern wie vor der von ihnen verhängten Verblendung, aber auch des Mitleids mit den dadurch schuldlos Schuldigen an der Mimesis als Anamnesis in den Modus des Überstandenen zu versetzen. Die Beruhigung der Menschen über die Götter geht in die Göttergeschichte selbst mit ein; die dichterische Verarbeitung des Mythos enthält ein Element der Zusicherung, es sei dies zu Ende gebracht und >schon lange her<, das sich leicht mit einer Theodizee verwechseln läßt, welche doch allein das Interesse der Gottheit angesichts des immer möglich Bleibenden wahrnimmt. Dieses Zuendebringen bleibt eine Kategorie der Rezeption des Mythos: erst wenn er alles hergegeben hätte, wären die Mächte seiner Herkunft überlebt. 392,
Dazu gehören auch die Formen demonstrierter Kühnheit der Abwandlung und äußerster Lässigkeit der Anspielung, ja der blasphemischen Forcierung, mit der sich der Magier von alters her des Stillhaltens oder der Ohnmacht der Götter zu versichern sucht. Gott verzeihs. den Göttern, die so mit uns spielen, von Goethe kurz nach Lottes Heirat geschrieben, suggeriert, es sei der letzte Schlag gewesen, weil man solches nun sagen könne. Über Sigmund Freud bedacht, wären die mythologischen Kühnheiten Residuen vom Bündnis der Söhne nach der Tötung des Urhordenvaters. Freilich läßt die zum Ästhetischen tendierende Depotenzierung auch noch zu, daß die Rudimente des gezähmten Schreckens wieder virulent werden. Zwar will die Überwindung des Archaischen sich ihrer selbst als Endgültigkeit versichern, aber in der mythologischen Rezeption steckt wohl auch ein Moment des Widerspruchs gegen fahrlässige Sicherheit und die stetige Anstachelung zu der Frage, ob Glück nicht auf dem ganz anderen Wege gelegen habe, so daß man sich - um es mit einer aufschreckenden Anspielung von Albert Camus zu sagen - vielleicht Sisyphos als glücklich vorstellen müsse, statt nach der klassischen Glücksimagination im Bilde der bedürfnislos-müßigen und vom menschlichen Los unbetroffenen Götter zu schielen. Das ist eine Umkehrung, die dem Verdacht entstammen mag, die Rezeption der Mythologie habe es sich mit der Gewißheit des Überwundenen zu leicht gemacht - Ovid als bevorzugte humanistische Bildungslektüre deutet darauf hin -, das unbestimmt Vergangene oder nie Gewesene, als das nicht mehr Mögliche, das Bewußtsein der Fiktion des aufatmenden Zuschauers als. Immunisierung zu nehmen. Es ist die genaue methodische Umkehrung des Rezeptionsgefälles von Mythen, wenn die frühe Mythenforschung ihr Programm darauf richtet, den Weg durch die vermeintliche Verflachung zurück zu jener Griechischen Dogmatik zu suchen, die unbewacht, ohne Einheit und Zusammenhang im Leben wie ohne den Vorstand einer gelehrten Priesterschaft, in den Quellen auf so wunderbare Weise zerstreut liegte Das von der Rezeption als der bloßen Verschlechterung der Quellen sich abkehrende Interesse weiß, was es am Ende seines Rückganges antreffen wird, wenn, was im Laufe der Zeiten sich von verschiedenen Seiten Neues und von allen 85 F. G. Welcker, Methodik der mythologischen Forschung, in: Griechische Götterlehre, I, Göttingen 1857, S. 126 (zitiert nach Wege der Forschung XX, Darmstadt 1967, S. 110-120). 393
auch Mißverständliches und Leeres angesetzt hat, ausgeschieden ist; man werde dann die Griechische Mythologie, zurückgeführt auf ihren ächten Gehalt, gesichtet und geläutert, weniger unbestimmt, launenhaft, tändelnd, und unzusammenhängend finden als sie Manchen erscheint.86 Für die Rekonstruktion einer mit den Maßstäben des >specifisch Christlichem zu messenden Mythologie müsse Hauptregel... immer seyn die frühere Periode des Ernstes worin die Theologie ihren Ausdruck suchte und fand und in Absicht, Folgerung, Motivierung und Zusammenhang meistentheils klar ist, zu unterscheiden von den späteren der Fortbildung, der Anwendung an unzähligen verschiedenen Orten, der Auffassung in den zahllosen Köpfen verschiedener Zeiten. Der gehörige Ernst, der hier als Maßstab des Ursprünglichen unversehens unter der Form einer Dogmatik eingeführt wird, soll freilich gerade nicht als herangetragene heterogene Norm, sondern als der Sache selbst entnommenes Maß erscheinen: Wie sollten gerade die Griechen, so bedachtsam, streng, fleißig, formgerecht, folgerecht fortschreitend in ihrer Sprache, im Vers, in der Gestaltung der Sage, in der Schule der Bildnerei, regel- und zuchtlos in der Götterlehre gewesen seyn?87 Es gibt so etwas wie humanistische Einfalt in dem Bestreben, den Griechen nicht weniger Glauben an ihre Götter zuzubilligen als von denen gefordert wurde, die diese Götter verdrängten. Der antike Wirklichkeitsbegriff, den wir doch nur als die Voraussetzung für das Verständnis einer Aussage zu interpretieren vermögen, wird zugunsten dieses >Glaubens der Hellenen< gleichsam beim Wort genommen, um dadurch eine Art zeitloser Gemeinsamkeit als möglich zu suggerieren. Das nimmt sich dann so aus: Die Götter sind da. Daß wir dies als gegebene Tatsache mit den Griechen erkennen und anerkennen, ist die erste Bedingung für das Verständnis ihres Glaubens und ihres Kultus. Daß wir wissen, sie sind da, beruht auf einer Wahrnehmung, sei sie innerlich oder äußerlich, mag der Gott selbst wahrgenommen sein oder etwas, in dem wir die Wirkung eines Gottes erkennen. Wir selbst oder Menschen, von deren Autorität wir abhängen, haben zu der Wahrnehmung gesagt: dies ist Gott. Das ist also ein Prädikatsbegriffss Die der Rezeption eigentümliche Distanz, die das Unerreichbare nicht 86 Welcker, a.a.O., S. 121. 87 A . a . O . , S. 122. 88 v.Wilamowitz-Moellendorff, a.a.O., I, S. 17. 394
als das Eigentliche, das Übermächtige nicht als zu Liebendes ausgibt, könnte gegen dieses Niveau unübersehbarer Präsenz nur Verkümmerung bedeuten. Jedoch, wenn es sich leben ließ mit diesen in Geschichten verstrickten Göttern, die nach dem Wort Jacob Burckhardts den Menschen nicht reizten durch das Unerreichbare einer Heiligkeit,welche dem Gott der monotheistischen Religionen angehört, so ist solche moderierte Präsenz immer auch Abwesenheit; die Rezeption erhält kunstvoll und nicht ohne Merkmale der Künstlichkeit am Leben, aber das Pathos der Renaissance ist der Ökonomie der >Anspielung< nicht immanent. Was >nebenbei< und >eben noch< getan werden kann, gibt seine humane Verträglichkeit zu erkennen. Wir haben uns zu sehr an die Charaktere des >Überwältigenden< am ästhetisch Gegebenen gewöhnt; es soll uns auf diese oder jene Weise zusetzen, am Ende dadurch, daß es vorgibt, es habe nun hinter sich gelassen, >ästhetisch< zu sein. Aber Beiläufigkeit, in der sich Unangefochtenheit des Bewußtseins bekundet, kann von äquivalenter Bedeutung sein.89 89 Für pointierte Beiläufigkeit ein Beispiel aus den Prosastücken von Günter Eich »Maulwürfe« (Frankfurt 1968): Seepferde. Unsere Umgebungen sind ungenau, wir haben die Sonne innen, ein alter Imperativ, kategorisch, von Immanuel Kant. Immanuel hatte keine Kinder, schade. Auch Menzel hatte keine, auch Gottfried Keller nicht. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Seepferde gewesen wären, der Imperativ weniger kategorisch, das Klebemittel weniger bedeutsam. Aber das konnte man damals nicht verlangen. Bei Seepferden sind die Eier das Entscheidende. Ihr seht, es geht auch anders. Selbst Jungfernzeugungen gibt es. Die Natur verwechsle ich immer mit Aussichtsbergen. Aber das macht nichts, auch in zweitausend Meter Höhe ist sie kategorisch und imperativ. Literatur gibt es da nicht. Keine Möglichkeit, die Welt zu verändern, allenfalls Erdrutsche, Vulkanausbrüche und Gipfelkreuze mit Büchern, in die man sein Einverständnis eintragen kann. Datiert. Für konservative Herzen. Die andern benutzen den Autobus. Ach, ach, ach, soviel Seufzer, soviel Daten. Wieviel Frauen hast du gehabt, wieviel Männer? Haben sie auf Fichtennadeln gelegen oder im Autobus? Später haben sie politische Wissenschaften studiert oder monochrome Malerei, keine Unterschiede mehr, mausgrau. Aber wir werden die Biologie vorantreiben. Männlichen Geschlechts, fühle ich mich dennoch schwanger. Eben hielt ich mich noch für Avantgarde, schon gibt es Spezialisten. Mein Androloge sprach von Kaiserschnitt, so rückständig sind sie noch. Ich hatte an Zeus gedacht. Der Text scheint in der Befriedigung der Autor und Leser gemeinsamen Bildungsassoziation aufzugehen: Athene, dem Haupt des Zeus entspringend. Aber dann wird deutlich, daß nicht die Pointe den Text zur Ruhe bringt, sondern daß sich der Text vom Ende her zur Ironie gegen dieses Ende 395
Nun könnte man sagen, vor den Gewaltakten der Transzendenz und vor der Begegnung mit dem biblischen Monotheismus, vor der Rollenbestimmung des Pantheons als Pandämonium durch die patristische Polemik hätte das, was wir an der antiken Mythologie zu bemerken vermögen, nicht wahrgenommen werden können. Aber außer den Versuchen, die Mythologie allegorisch als Vorform der Metaphysik in Anspruch zu nehmen und sie dadurch für die Wahrheit zu >retten<, gibt es doch auch den Ansatz zu einer antiken Philosophie des Mythos, die das Moment der Distanz als entscheidende Bestimmung seiner nicht-allegorischen Rezeption artikuliert. Ich meine, dies sei trotz des beschwörenden monon ho mythos apesto des Pythokles-Briefes (ohne These zur Echtheitsfrage!) bei Epikur der Fall. Zwar sieht er in Furcht und Hoffnung die der Aufhebung durch Philosophie anheimgegebenen elementaren Affekte und diese gebunden an die Vorstellungswelt des Mythos, insbesondere als gedachte Erklärungen bestürzender Naturerscheinungen. Aber Affekt und Mythos lassen sich trennen. Sobald eine auf theoretische Neutralisierung der kosmischen Phänomene gerichtete Physik die unverstandenen Übermächtigkeiten der Natur und die an ihnen sich entzündende Neigung zu magischen Praktiken entschärft hat, kann sich die Funktion des Mythos wandeln. Es bleibt das Bild der menschengestaltigen, in unendliche griechische Gespräche - nicht mehr in Geschichten - verwickelten Götter, die in den Räumen zwischen den Welten in bedürfnisloser Seligkeit und Unbekümmertheit existieren. Mit der Existenz dieser Götter braucht nichts mehr erklärt zu werden; sie verheißen nichts und schrecken mit nichts. Sie erfüllen die kosmische Leere des für das griechische Denken dem Nichts so nahestehenden Raumes mit Bildern. Was soll die vieldiskutierte, weil uns nur in Andeutungen erhaltene Theologie des Epikur anderes enthalten haben als einen philosophischen Mythos vom Glück der Götter, die sich nicht um die Geschicke der Menschen zu kümmern und mit dem Problem der Theodizee daher nicht beladen zu werden brauchen? Schon Aristoteles ließ den unbewegten Beweger außerhalb des Kosmos die Welt zusammenballt. Der Ursprung der Athene, als ein archaisches ready made in diese Umgebung versetzt, in ein Stückchen simulierter Futurologie eingebaut, sanktioniert nicht, wie es sich für Mythologie gehört, Parthenogenesen geringerer Mächtigkeit, sondern er wird nicht wieder los, was ihm hier zugedacht wurde. 396
auf keine andere Weise >beeinflussen< als dadurch, daß er in seiner reinen Selbsterkenntnis von der Intelligenz der äußersten Sphäre sich lieben ließ; auch diesem Gott war nicht die Welt, sondern nur er selbst einziger und adäquater Partner seines Umgangs. Aristoteles hatte als eine Grenzbestimmung seiner Metaphysik mit kargen Worten gerade noch angedeutet, was bei Epikur immerhin die Züge einer belebten Szene bekam. Was aber bei Aristoteles schon auf die Konzeption der Transzendenz hinauszulaufen beginnt, ist bei Epikur zu Unrecht als deren Leugnung verstanden worden. Man kann Epikurs »Theologie« geradezu als Vollendung des Mythos bezeichnen. Die Szenerie der epikureischen Kosmologie, die Wirklichkeiten nur als Weltinseln im leeren Räume kennt, dessen Realität so vage ist, daß er nicht einmal den Begriff der Entfernung anzuwenden gestattet - diese Szenerie von Welten und Zwischenwelten, die mit dem Wirklichkeitsbegriff der Konsistenz nicht zu erfassen ist, bringt die Distanz zwischen der menschlichen Gegenwart und der zeitlichen Unbestimmtheit des Mythos als räumliche zur Anschauung. Epikurs »Theologie« bezeichnet die Unerreichbarkeit des Menschen durch die Existenz der Götter. Er trennt endgültig die Geschichte der Menschen von den Geschichten der Götter. Diese Diastase von Welten und Göttern nimmt die seit Plato sich anbahnenden Begriffe der Transzendenz vorweg, aber nicht, um den Menschen mit der Fremdheit und Unzugänglichkeit der göttlichen Hoheitsakte zu beunruhigen. Es liegt wiederum in der Linie des mythologischen Grundsachverhaltes, daß die Götter nicht alles können, wenn sie nun in Epikurs Mythos der müßigen Götter gar nichts mehr können, und zwar aus dem dafür gleichsam reinsten Grunde, daß sie nichts mehr können wollen. Das wird im Bild der intermundanen Wesen in ihrem um Welt und Menschen unbekümmerten Glücksbesitz der menschlichen Imagination vorgestellt. Ein von Furcht und Hoffnung befreites Bewußtsein ist hier nicht die bare Selbstverständlichkeit, sondern enthält noch die Spuren des Prozesses seiner Erringung und Absicherung der Negation dessen, was in der anschaulichen Entmachtung überwunden worden war. Gerade deshalb konnte Epikurs Philosophie nicht die Form eines kategorischen Atheismus annehmen. Die Abwesenheit der Götter im Kosmos gewinnt durch ihre Entrückung aus dem Kosmos eine Versicherung, die mit der Darstellbarkeit der Kosmogonie durch die Atomistik im Verfahren vergleichbar ist. Im My397
thos der müßigen Götter wird der Ausschluß der metaphysischen Motive absoluter Ungewißheit und Abhängigkeit des Menschen thematisiert: was zur Wirklichkeit der Welt gehört, ist dem Menschen gegenüber neutral. Mit dieser Bestimmung der >aufgehobenen< Weltzugehörigkeit des Mythos ist die Funktion der »Theologie« Epikurs noch nicht zureichend beschrieben. Wenn Epikur vor der Leugnung der Götter, die er dem Innenraum seiner Welten entrückt hat, Halt macht, so bleibt diese Konstruktion zwar ganz auf dem Boden des antiken Wirklichkeitsbegriffs, tendiert aber auf einen Punkt, an dem die antike Verbindung von Theorie und Eudämonie nicht mehr fraglos funktioniert, sondern der Mensch offenbar zusätzlicher Bestätigungen seiner Glücksfähigkeit bedarf. Epikur scheinen dazu noch die Möglichkeiten der Imagination zu genügen. Entgegen aller philosophischen Kritik am Mythos hält Epikur an der Menschengestaltigkeit seiner Götter fest. Es versteht sich von selbst, daß Menschengestaltigkeit der Götter so selbstverständlich nicht ist, wie es erscheint, wenn zu ihnen erst einmal die Geschichten gefunden sind. Fontenelles Mythologie-Traktat behauptet es noch als selbstverständlich, daß die Übermächte von Anfang an Menschengestalt haben: Quelle autre figure eussent-ils pu avoir?90 Die philosophische Kritik am Mythos hatte freilich vor allem Anstoß daran genommen, daß das Menschliche dort immer schon als das Allzumenschliche erscheint. Diese Kritik mochte aus dem Standpunkt Epikurs von einem Extrem ins andere geführt haben, indem sie vor allem in Gestalt der stoischen Physik an die Stelle der Willkür und launischen Einmischung der Götter in die Geschicke der Menschen die Instanz der Notwendigkeit einer unerbittlich determinierten Natur gesetzt hatte. Eine solche Philosophie der Notwendigkeit verstellte den rettungswürdigen Kern des Mythos, seine gleichsam physiognomische Qualität, der die Philosophie die abstrakten Hypostasen vom Typ des Logos, der Heimarmenë und der Pronoia entgegenstellte. Der Widerspruch Epikurs gegen die stoische Physik und gegen die 90 J.-R. Carré stellt im Kommentar zu seiner kritischen Ausgabe von »L'origine des fables« (Paris 1932, S. 70) die Frage, wieweit Fontenelles zu reichliche Ovid-Lektüre ihn gehindert haben kann, von den ihm zugänglichen Materialien Kenntnis zu nehmen, aus denen ihm hätte deutlich werden müssen, daß die >Metamorphosen< mit ihren Übergängen zur Tiergestalt die Geschichte des Mythos als Übergang zur Menschengestalt der Götter verkehrt herum erscheinen lassen. 398
Mythologie ist deutlich differenziert: wie er im Brief an Menoikeus ausdrücklich einräumt, hätte er ohne die Atomistik noch der Mythologie den Vorzug vor der Notwendigkeit der Stoiker gegeben: Denn es wäre besser, sich dem Mythos von den Göttern anzuschließen als sich zum Sklaven der unbedingten Notwendigkeit der Physiker zu machen; denn jener Mythos läßt doch der Hoffnung Raum auf Erhöhung durch die Götter als Belohnung für die ihnen erwiesene Ehre, diese Notwendigkeit dagegen ist unerbittlich.91
Solche im Konjunktiv gehaltenen Alternativen sind nur in einer rigoros dogmatischen Philosophie rein irreal; so wie wir Epikurs Physik uns vorstellen können, ist sie - auf das Ganze ihrer Aussagen gesehen - das Angebot einer plausiblen, nicht einer evidenten Konstruktion gewesen. Dadurch wird es sinnvoll, den Katalog möglicher Erklärungen präsent und Auswege offen zu halten. Die Theologie Epikurs kann durch die atomistische Physik weder unterstützt noch widerlegt werden; sie hat ihren zwar zwischenweltlichen, aber dennoch unerreichbaren Eigenraum. Die Physik Epikurs braucht ihr mythisches Reservat, weil sie gegen die N o t wendigkeit der stoischen Physik nur durch die winzige Unwahrscheinlichkeit eines Zufalls, jene >Abweichung< vom parallelen Fall der Atome, abgesichert ist und die Deutung dieses clinamen als Urelement der Freiheit von kaum mehr als bildhafter Überzeugungskraft gewesen sein kann. Epikur hat auch in der Ethik in solchen >Auswegen< gedacht. Seneca berichtet als pointierten Ausspruch: Es ist ein Unglück, in der Notwendigkeit zu leben, aber in der Notwendigkeit zu leben, ist keine Notwendigkeit. Offen stehen überall zur Freiheit die Wege, viele, kurze, leichte. Danken wir daher Gott, daß niemand im Leben festgehalten werden kann. Zu bändigen die Notwendigkeit selbst, ist gestattet.92
So wird es verständlich, daß Epikur entschieden gegen die Vergöttlichung des gestirnten Himmels als gegen eine vermeintlich >reinere< Form von Frömmigkeit Stellung nimmt. Fontenelle sollte in 91 Diogenes Laertios X, 134: Brief an Menoikeus (Übers. O. Apelt, Leipzig 1921).
92 Epistulae Morales XII, 10 (ed. A. Beltrami, I, Rom 1931, S. 40 nimmt das Zitat mit Usener, Epicurea, Leipzig 1887, Frg. 487, nur bis nécessitas nulla est, wohl wegen des agamus deo gratias, das andererseits Karl Marx in seiner Dissertation nicht abgeschreckt hat, bis calcare ipsas nécessitâtes licet authentischen Epikur zu lesen). 399
seinen Überlegungen zur Mythengenese dem Anblick des gestirnten Himmels eine zweideutige Wirkung auf das menschliche Gemüt zuschreiben; die Anschauung seiner gesetzmäßigen Ordnung führe auf das Attribut göttlicher Weisheit, die Wahrnehmung außergewöhnlicher Himmelsphänomene lasse dagegen nur die Annahme übermenschlicher Mächte aufkommen - eine primitive Menschheit habe angesichts des Außergewöhnlichen noch nicht zur Gesetzmäßigkeit durchdringen und ihren Mythen daher nur den Grundzug menschenwidriger Gewalten geben können: cruels, bizarres, injustes, ignorants. Epikur hat beide Wirkungen des Himmelsanblicks als für den Menschen beunruhigend ausschließen wollen; aber im Hinblick auf die Bedeutung seines weltschöpferischen clinamen mußte die undurchbrechbare Fatalität vom Typus der stoischen Kosmologie bevorzugter Gegenstand der Kri• tik sein. Die exemplarische Haltung des Epikureers, die Lukrez als das pacataposse omnia mente tueri formuliert93, kann beim Himmelsanblick nicht durchgehalten werden, wird vielmehr durch die aufsteigende Sorge verdrängt, daß die hinter diesem Schauspiel stehende immensa potestas den Menschen vor sich nichtig mache. Das Gesetzmäßige ist hier selbst zum Außergewöhnlichen geworden. Der für den Himmelsanblick philosophisch unvorbereitete Mensch muß dieses Schauspiel für einen Ausweis des omnia posse nehmen.94 Frei wird der Blick zum Himmel erst am Ende des Durchganges durch die Philosophie: wenn das Schauspiel, das das Ganze der Welt zu repräsentieren scheint, zur provinziellen Innenansicht nur einer der unendlich vielen Welten geworden ist, jenseits deren nicht die unbekannte Macht, sondern das Bild des müßigen Glücks der Götter steht. Wer derart gegen Mythisierung seiner Weltprovinz immunisiert ist, kommt dem Gegenstand seiner einstigen Bewunderung, der Gleichmäßigkeit durch Gleichmütigkeit, um so näher: nos exaequat Victoria caelo.95 Distanz zu aller Übermacht ist nur in dem Gedanken zu gewinnen, in der Natur sei die Macht von allem gegenüber allem begrenzt, alles habe seine finita potestas. Die Götter - und darin ist der Mythos in seiner Umkehrung zu Ende gedacht und zugleich zur potentiellen Antithese jeder spekulativen Theologie geworden - sind jeder Macht beraubt, oder besser: ihre Seligkeit ist aus der Bedingung ihrer Ohnmacht 93 De rerum natura V, 1203. 94 A.a.O.,V, 82-90 = VI, 58-66. 95 A . a . O . , I, j$. 400
abgeleitet und erklärt. Gerade dadurch werden sie der Gleichgültigkeit des Menschen wieder enthoben, daß nichts an sie zu glauben, auf sie zu hoffen oder von ihnen zu fürchten fordert. Die mythische Isomorphie von Menschen und Göttern ist der bewußte >Rückschlag< aus dem metaphysischen Abstraktionsprozeß. Aber kaum noch primär, um diese ihrer Schrecken zu entkleiden und sie vertrauter zu machen, sondern um ihrer Existenz eine Art Bürgschaft für das zu entnehmen, was der Mensch sein könnte und was er in der Gestalt des Weisen auch sein kann. In einer Welt, aus der die Götter und ihre Übermacht verbannt sind, kann der seine Möglichkeit wahrnehmende Mensch zu leben erwarten wie ein Gott unter Menschen, heißt es am Schluß des Briefes an Menoikeus. Es ist also nicht nur ein Topos der Lobpreisung, wenn Lukrez von Epikur die Verwirklichung dieser Möglichkeit versichert: deus ille fuit... quiprinceps vitae rationem invenit.96 Ein inkonsequenter Gott dies freilich nach dem Begriffe Epikurs, der nicht nur um seine eigene Seligkeit kreist, sondern Herkulesarbeit im Innern der Menschen dictis non armis verrichtet. Trotz ihrer Ferne und Indifferenz zur Menschenwelt ist das Glück der Götter ein menschenartiges Glück, und im Gegensatz zu den metaphysischen Theologien der klassischen griechischen Philosophie ist damit versichert, daß Glück nicht unter der Bedingung steht, von anderer Natur zu sein als ein Mensch. Zwar sind die Götter unsterblich, aber das ist nicht die wesentliche Voraussetzung ihres Glücks und kann es deshalb nicht sein, weil der Tod nicht mehr als Inbegriff menschlichen Unglücks gesehen wird; er ist das, was den Lebenden schlechthin nichts angeht. Die Differenz von Sterblichkeit und Unsterblichkeit kann durch Einsicht zunichte gemacht werden. Zugunsten dieses Gedankens bricht Epikur mit der Anschauung des ganzen griechischen Volkes, Göttlichkeit und Unsterblichkeit als identische Prädikate einer dem Menschen unerreichbaren Rangstufe von Wesen anzusehen und darin allein das dem Menschen unerreichbare Glück gründen zu lassen. Daß eine solche Abweichung von der griechischen Tradition auf eine zentrale und zwingende Notwendigkeit im Denken Epikurs verweist, ist zuerst 96 A.a.O., V, 8f. 191. 49-54. Daß Epikur über die Götter sich umfänglich geäußert habe (multa dicta), wird hier ausdrücklich dem Instrumentarium seiner Herkulesarbeit (dictis) zugeordnet, und zwar gleichrangig mit dem omnem rerum naturam pandere dictis (v. 54). 401
von Marx in seiner Dissertation herausgestellt worden; drei Jahre nach der Dissertation, in einem der Pariser Entwürfe von 1844, spielt Marx auf den Göttermythos Epikurs an, indem er Grundeigentümer und Kapitalisten als müßige Götter bezeichnet.97 Arbeit ist anstelle der Weisheit getreten, um den Besitz des Glücks oder das Glück des Besitzes zu legitimieren. Für Nietzsche ist dies der Typus wie der Übermensch leben muß: wie ein epikurischer Gott.9% Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen, die Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art waren seit je nichts anderes als die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstzucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen.^ Nietzsche verwirklicht eine Forderung, die Cicero mit Tadel an Homer, der menschliche Eigenschaften auf die Götter übertragen habe, lapidar formuliert hatte: Divina mallem ad nos. Der Übermensch, in seinem Verhältnis zu den >letzten Menschen<, tritt in das Muster des Göttermythos Epikurs ein; er ist ein Über-Mächtiger, so wie Epikurs Götter ohnmächtige sind, aber er transzendiert die Macht über andere in der Richtung der Unbesorgtheit um die anderen: ...es sollen zwei Arten nebeneinander bestehn - möglichst getrennt; die eine wie die epikurischen Götter sich um die andre nicht kümmernd.™ Daß Epikur mit seinen unweltlichen und dennoch nicht überweltlichen Göttern noch einmal den Bedürfnisrest der Mythologie gebunden hatte, daß seine Umkehrung der anthropomorphen Übertragungen, die Homer vorgenommen hatte, selbst zum Mythos vom Ende des Mythos wurde, reflektiert sich an dem Bezug, den der gedankliche Wurf nach dem Übergroßen auf ihn nimmt. Das Schema der Ablösung des Mythos durch den Logos entstammt weitgehend der Selbstauffassung der Philosophie von ihrer eigenen Geschichte und Leistung. In die Geschichte dieser Selbstauffassung ist freilich Epikur nur als ein Außenseiter, wenn nicht 97 Frühe Schriften, ed. H.J. Lieber-P. Fürth, Stuttgart 1962,1, S. 516. 98 Pläne und Bruchstücke zum Zarathustra, a.a.O., Bd. 14, S. 147. 99 Die fröhliche Wissenschaft III, § 143,ed. cit.,Bd. i2,S. 167. Dieser für unser Thema wichtige Abschnitt trägt die Überschrift Größter Nutzen des Polytheismus, und er schließt mit der These: Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere: so daß es für den Menschen allein unter allen Tieren keine ewigen Horizonte und Perspektiven gibt. 100 Pläne und Bruchstücke zum Zarathustra, a.a.O., Bd. 14, S. 107. 402
als die Schreckfigur der zentralen Traditionsstränge eingegangen. Was Epikur von der Tradition ausschloß, war schließlich seine Negation der Existenz von Allmacht, ja die Abwehr des Bewußtseins von Übermächtigkeit, selbst solcher der inneren Mächte. Für ihn wäre nicht zu akzeptieren, was Wilamowitz-Moellendorff den Stoikern gutbringt: Es war ein großer Fortschritt, als die Menschen innewurden, daß auch in ihrem Innern kreittona waren, Mächte, denen sie nicht widerstehen, sondern trotz besserer Einsicht oder auch trotz dem Drängen eigener Begehrlichkeit folgen mußten. Dann verdienten sie das Prädikat theos. Die Stoiker reden von der Vergöttlichung der pat he, der Leidenschaften; es reicht aber viel weiter.101 Das Übermächtige aus dem Bewußtsein der Menschen zu verbannen, hat der Mythos selbst begonnen und auf der Stufe seiner Poetisierung weit vorangebracht; aber erst von dem Versuch her, dem Mythos durch einen Mythos ein Ende zu setzen, wird der große Phrasierungsbogen dieser Intention deutlich erkennbar. Als schließlich die Philosophie in den Dienst eines dogmatischen Monotheismus trat, wurde eine neue Konzeption der Geschichte plausibel, in der das Wahre nur als Ablösung des Mythos durch etwas ihm Heterogenes denkbar ist. Die neue Theologie und die in ihr aufgegangene oder von ihr ausgegangene Metaphysik brauchten einen Gegner, den sie überwinden und dessen Trophäen sie vorzeigen konnten. So entstand, es wurde schon gesagt, in der Richtung der Götterkritik so etwas wie ein dogmatisches System des Mythos. Durch diese Konstellation ist die Rezeption der antiken Mythologie weitgehend bestimmt. Es gab einen wesentlichen, nicht nur chronologischen, sondern auch funktionalen Unterschied zwischen der frühen Rezeption der philosophischen Terminologie der Antike und der ihrer mythologischen Elemente, von denen doch Dichtung und Rhetorik gesättigt waren und die durch die verschiedenen Formen der Allegorese bereits gezähmt zu sein schienen. Jene philosophische Terminologie freilich war unentbehrlich, um die neue Lehre gerade als ein orthodoxiefähiges System zu formulieren und es in dieser Gestalt als die endgültige Lösung der gleichsam überhängenden Probleme ihrer Herkunftssphäre auszugeben. Es ist sehr charakteristisch, daß die Ansätze zur Mythenallegorese sich stark auf die Figur des Odysseus konzentrieren, ιοί A . a . O . , S. 25. 403
der sich am ehesten aus der Verflochtenheit in die Göttergeschichten herauslösen und als Prototyp des in der Weltfremde Umherirrenden verstehen ließ.102 Aber erst im 5. Jahrhundert wird jener >Kompromiß< geschlossen, nach welchem man sich dazu verstand, innerhalb bestimmter poetischer Gattungen die antike Mythologie zu tolerieren™, und damit der römischen Oberschicht das k o n servative Privileg< genommen, Rhetorik und Grammatik der römischen Vergangenheit und also das, was einmal >Bildung< heißen sollte, im Monopol zu kultivieren. Das war eine Frage der Konkurrenzfähigkeit angesichts einer mehr und mehr auf Vergangenheit und deren kanonisierte Güter angewiesenen Gesellschaft. • Zugleich und vor allem aber war die Zulassung der Mythologie ein Zeichen des gesicherten Sieges: die antike Bildung, in ihrer durch die christliche Polemik der Frühzeit als dämonisch ausgewiesenen Form, wurde nun gleichsam als Gefangene im Triumphzug der neuen Epoche mitgeführt. Die Umdeutung auf Christliches, die Allegorese, war nicht mehr obligatorisch. Solche Liberalität war jedoch die Schautoleranz der konsolidierten Macht. Als Fortsetzung einer literarischen Tradition gab sie Nachricht von einer Unterwerfung, die ihren Glanz aus der Dignität des Unterworfenen herleiten und sich immer wieder bestätigen konnte, die deshalb diesen Glanz weithin zu erzeugen bestrebt war. Die derart >vorgezeigte< Mythologie ist zunächst Manifestation eines bestimmten geschichtlichen Bewußtseins, das wiederum ein solches des Hintersich-gelassen-habens ist; als solche bleibt sie bzw. wird sie wieder kanonisches Bildungselement. Aber darin steckt das Potential eines erneuten Funktionswandels. Aus den Trophäen des epochalen Triumphes konnten die Symbole eines neuen Trotzes werden, der sich gegen die Endgültigkeit jenes im 5. Jahrhundert dokumentierten geschichtlichen Resultats richtete. Die christliche Gefangenschaft der Mythologie konnte ihre Renaissance als eine Befreiung der alten Götter erscheinen las102 Vgl. H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung. Zürich 1945, S. 414-486. Fazit: Darin also liegt die Kraft des christlichen Humanismus, und die Symbolgeschichte des gebundenen Odysseus hat es uns gezeigt: daß der erlöste Mensch vom Ewigen her die neugewordene Erde überhaupt erst so zu erkennen und zu lieben vermag, wie es dem wahrsten Wesen des Geschaffenen entspricht... (S. 485). 103 M. Fuhrmann, Die lateinische Literatur der Spätantike. Ein literarhistorischer Beitrag zum Kontinuitätsproblem, in: Antike und Abendland 13 (1967), S. 76 f. 404
sen. Unserer Geschichte sind Verwechslungen symbolischer und realer Vorgänge ja bis zum heutigen Tage geläufig: die literarische Reminiszenz, die bloße Wiederentdeckung von Verlorenem und Verdrängtem werden unterderhand zu Auferstehungen. Francis Bacon betritt den Park der Grafen von Arundel und erblickt die Fülle der dort aufgestellten antiken Statuen nackter Leiber, in den Ruf ausbrechend: The résurrection! Der Sachverhalt, um den es hier geht, wird durch den Ausdruck >Wirkungsgeschichte< entstellt. Bedeutsamkeit, von der schon zu sprechen war, ist ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht >immer schon<, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konfigurationen, in die sie eingehen oder in die sie einbezogen werden. Vieldeutigkeit ist ein Rückschluß aus ihrer Rezeptionsgeschichte auf ihren Grundbestand. Je vieldeutiger sie schon sind, um so mehr provozieren sie zur Ausschöpfung dessen, was sie >noch< bedeuten könnten, und um so sicherer bedeuten sie noch mehr. Radikalität will dabei jeweils den letzten Schritt tun und es endgültig zutage fördern, was bis dahin in zaghafter Vorläufigkeit nur berührt worden sein soll. Es gibt Mythologeme, auf die Friedrich Schlegels Wort über den »Wilhelm Meister« sich anwenden läßt: sie interessieren den Geist unendlich. So nimmt die Renaissance »Prometheus« als ihr Thema auf, das nicht nur Nietzsche, Gide und Kafka zu Ende zu bringen suchen werden. Schon 1731 schreibt Jakob Brucker in seinen »Kurtzen Fragen aus der Philosophischen Historie« zur Einleitung einer pedantischen Untersuchung der Prometheusgeschichte:... was aber derselbigen Verstand seye, davon gibt es unendlich viel disputirens.
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Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik Was der Mensch ist, wurde in zahllosen definitionsähnlichen Bestimmungsversuchen auf Sätze gebracht. Die Spielarten dessen, was man heute Philosophische Anthropologie nennt, lassen sich auf eine Alternative reduzieren: der Mensch als armes oder als reiches Wesen. Daß der Mensch biologisch nicht auf eine bestimmte Umwelt fixiert ist, kann als fundamentaler Mangel einer ordentlichen Ausstattung zur Selbsterhaltung oder als Offenheit für die Fülle einer nicht mehr nur vital akzentuierten Welt verstanden werden. Kreativ macht den Menschen die Not seiner Bedürfnisse oder der spielerische Umgang mit dem Überfluß seiner Talente. Er ist das Wesen, das unfähig ist, irgend etwas umsonst zu tun, oder das Tier, das allein zum >acte gratuit< fähig ist. Der Mensch wird definiert durch das, was ihm fehlt, oder durch die schöpferische Symbolik, mit der er sich in eigenen Welten beheimatet. Er ist der Zuschauer des Universums in der Mitte der Welt oder der aus dem Paradies vertriebene Exzentriker auf dem Stäubchen Erde, das nichts bedeutet. Der Mensch birgt in sich den wohlaufgeschichteten Ertrag aller physischen Wirklichkeit oder er ist das von der Natur im Stich gelassene Mängelwesen, geplagt von unverstandenen und funktionslos gewordenen Instinktresiduen. Ich brauche mit der Aufzählung der Antithesen nicht fortzufahren; man sieht leicht das Prinzip, nach dem sie sich verlängern ließe. Was die Rhetorik betrifft, so lassen sich ihre traditionellen Grundauffassungen ebenso auf eine Alternative zurückführen: Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder mit den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen. Plato führte den Kampf gegen die Rhetorik der Sophisten mit der Unterstellung, sie beruhe auf der These von der Unmöglichkeit der Wahrheit und folgere daraus das Recht, das Durchsetzbare für das Wahre auszugeben. Die in unserer Tradition einflußreichste Rhetorik, die des Cicero, geht dagegen vom möglichen Wahrheitsbesitz aus und gibt der Redekunst die Funktion, die Mitteilung dieser Wahrheit zu verschönen, sie eingängig und eindrucksvoll zu machen, kurz: der Sache angemessen mit ihr zu verfahren. Die christliche Tradition schwankt zwischen 406
den beiden möglichen Konsequenzen aus der Prämisse des Wahrheitsbesitzes, daß einerseits die göttliche Wahrheit der menschlichen Hilfestellungen rhetorischer Art nicht bedarf und sich aufs schmuckloseste selbst darbieten sollte - ein Muster, das sich in jeder Rhetorik der Aufrichtigkeit wiederholt-und daß andererseits eben diese Wahrheit sich im kanonisierten Gehäuse der rhetorischen Regeln humanisiert. In der neuzeitlichen Ästhetik feiert die Implikation der Rhetorik, sie habe es positiv oder negativ mit der Wahrheit zu tun, ihren letzten Triumph, in dem sich der Zusammenhang umkehrt: der Schluß von der Kunst der Rede, vom Stil, vom Schönen auf den Wahrheitsgehalt wird zulässig, oder gar: Kunst und Wahrheit werden identisch. Die von Plato gesetzte Feindschaft zwischen Philosophie und Rhetorik ist in der Philosophie selbst, zumindest in ihrer Sprache, als Ästhetik gegen die Philosophie entschieden. Nur als Ästhetik? Es läßt sich leicht sehen, daß man die beiden radikalen Alternativen der Anthropologie und der Rhetorik einander eindeutig zuordnen kann. Der Mensch als das reiche Wesen verfügt über seinen Besitz an Wahrheit mit den Wirkungsmitteln des rhetorischen ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertig werden läßt. Die erkenntnistheoretische Situation, die Plato der Sophistik unterstellt hatte, radikalisiert sich anthropologisch zu der des >Mängelwesens<, dem alles in die Ökonomie seines Instrumentariums zum Überleben rückt und das sich Rhetorik folglich nicht leisten kann, es sei denn, daß es sich sie leisten muß. Die anthropologische Verschärfung der Ausgangsbedingungen hat zur Folge, daß auch der Begriff einer ihnen zugeordneten Rhetorik elementarer gefaßt werden muß. Die Technik der Rede erscheint dabei als der spezielle Fall von geregelten Weisen des Verhaltens, das etwas zu verstehen gibt, Zeichen setzt, Übereinstimmung bewirkt oder Widerspruch herausfordert. Ein Schweigen, eine sichtbare Unterlassung in einem Verhaltenskontext können so rhetorisch werden wie ein vom Blatt abgelesener Aufschrei des Volkszorns, und der platonische Dialog ist nicht weniger zur Rhetorik aufgelegt als der sophistische Lehrvortrag, gegen den er literarisch angetreten ist. Rhetorik ist, auch unterhalb der Schwelle des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, Form als Mittel, Regelhaftigkeit als Organ. Nietzsche mag fehlgegangen sein mit der Feststellung, Piatos Kampf gegen die Rhetorik sei aus dem Neid 407
auf ihren Einfluß zu verstehen, aber hat recht, wenn er an derselben Stelle sagt, die Griechen hätten mit der Rhetorik die >Form an sich< erfunden.1 Die beiden großen Negationen Piatos, die der Atomistik und die der Sophistik, waren wohl noch folgenreicher als die dogmatischen Positionen seiner als »Piatonismus« benannten und dadurch feststellbaren Wirkungsgeschichte. Der philosophische Vorzug des semantischen Sachverhältnisses der Sprache hatte eine ständige Empfindlichkeit gegen die pragmatische Sprachauffassung der Rhetorik zur Folge, die nur episodisch zugunsten der Rhetorik umschlug, wenn die Begriffssprache in Formen der Scholastik ihren Sachbezug unglaubwürdig werden ließ. Der zu den trivialen Bildungsbeständen gehörende Satz des platonischen Sokrates, Tugend sei Wissen, macht die Evidenz anstelle der Institution zur Norm des Verhaltens. Niemand wird bestreiten wollen, daß er damit ein Ideal formulierte, ohne dessen bald hochgemute, bald verzweifelte Verfolgung europäische Tradition nicht gedacht werden kann. Aber ebenso gilt, daß er eine Überforderung konstituierte, der die Resignationen auf dem Fuße folgten - angefangen bei dem katastrophalen Rückschlag, den die Ideenlehre in Piatos eigener Schule durch den Ausbruch des akademischen Skeptizismus kaum ein Jahrhundert nach dem Tode ihres Begründers erfuhr, und endend bei dem, was Nietzsche als Nihilismus bezeichnet hat. Die Philosophie der absoluten Ziele legitimierte nicht die Theorie der Mittel, sondern verdrängte und erstickte sie. Eine Ethik, die von der Evidenz des Guten ausgeht, läßt keinen Raum für die Rhetorik als Theorie und Praxis der Beeinflussung von Verhalten unter der Voraussetzung, daß Evidenz des Guten nicht verfügbar ist. Das betrifft auch die in der Rhetorik angelegte und aufgegangene »Anthropologie«; als eine Theorie des Menschen außerhalb der Idealität, verlassen von der Evidenz, hat sie die Möglichkeit, >philosophisch< zu sein,'Verloren und wird die letzte und verspätete Disziplin der Philosophie. Die anthropologische Bedeutung der Rhetorik profiliert sich am ehesten vor dem Hintergrund der seit der Antike dominanten Metaphysik, die einen kosmologischen Grundriß hat: die Ideen bilden einen Kosmos, den die erscheinende Welt nachbildet. Der Mensch, ι Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, Musarion-Ausg., hrsg. von Richard Oehler, Max Oehler und Friedrich Christian Würzbach, Bd. 6, München 1921, S. 105. 408
mag er auch in der Mitte des Ganzen als Zuschauer noch so bevorzugt plaziert sein, ist dennoch kein reiner Sonderfall, sondern eher ein Schnittpunkt fremder Realitäten, eine Komposition - und als solche problematisch. In dem modernisierten Schichtenmodell lebt der Gedanke fort, beim Menschen sei einiges zueinander gekommen, was sich schwer miteinander verträgt. Prinzipiell besagt diese Metaphysik, daß die Gedanken des Menschen auch die eines Gottes sein könnten und das, was ihn bewegt, das Bewegende einer Himmelssphäre oder eines Tieres. Man stand vor einer Komplikation der sich sonst nur rein darstellenden und umweglos regulierenden Natur, die sich am ehesten als Unfall oder Vermischung heterogener Elemente erklären ließ; das Problem des Verhaltens war dann, einem dieser Elemente die Herrschaft über die anderen zuzuweisen, eine Art substantieller Konsequenz herzustellen. Kurz: über den als einzigartig behaupteten Menschen hat die metaphysische Tradition im Grunde nichts Besonderes zu sagen gewußt. Das ist erstaunlich, aber es hängt eng mit der philosophischen Verbannung der Rhetorik zusammen. Denn die Rhetorik geht aus von dem und nur von dem, worin der Mensch einzig ist, und zwar nicht deshalb, weil Sprache sein spezifisches Merkmal wäre, sondern weil Sprache in der Rhetorik als Funktion einer spezifischen Verlegenheit des Menschen zutage tritt. Will man diese Verlegenheit in der Sprache der traditionellen Metaphysik ausdrücken, so wird man sagen müssen, daß der Mensch zu diesem Kosmos (wenn es ihn denn gibt) nicht gehört - und zwar nicht wegen eines transzendenten Überschusses, sondern wegen eines immanenten Mangels: des Mangels an vorgegebenen, präparierten Einpassungsstrukturen und Regulationen für einen Zusammenhang, der »Kosmos« zu heißen verdiente und innerhalb dessen etwas Teil des Kosmos genannt werden dürfte. Auch in der Sprache der modernen biologischen Anthropologie ist der Mensch ein aus den Ordnungsleistungen der Natur zurückgefallenes Wesen, dem Handlungen die Regelungen ersetzen müssen, die ihm fehlen, oder die korrigieren müssen, die erratische Ungenauigkeit angenommen haben. Handeln ist die Kompensation der >Unbestimmtheit< des Wesens Mensch, und Rhetorik ist die angestrengte Herstellung derjenigen Übereinstimmungen, die anstelle des >substantiellen< Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird. Unter diesem Aspekt ist Sprache nicht ein Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten, sondern primär der 409
Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist. Hier wurzelt der consensus als Basis für den Begriff von dem, was >wirklich< ist: wovon alle überzeugt sind, das nennen wir wirklich, sagt Aristoteles2 und hat dafür immer ein teleologisches Argument im Hintergrund. Erst die skeptische Zerstörung dieses Rückhalts macht den pragmatischen Untergrund des consensus wieder sichtbar. Ich weiß, daß der Ausdruck >Skepsis< gegenwärtig nicht hoch im Kurs steht. Dazu wird zu vieles wieder einmal zu genau gewußt, und da ist man nicht gern der Störenfried. Aber die Anthropologie, deren metaphysische Verdrängung ich kurz zu lokalisieren versucht habe, ist in der untergründigen, nur gelegentlich aufflackernden Tradition des Skeptizismus am ehesten dringlich geworden, wenn die ewigen Wahrheiten auf das Maß der nächsten Verläßlichkeiten herabgestimmt werden mußten und der Mensch nicht mehr als verkleidete Variante eines reinen Geistes erschienen war. Die erste philosophische Anthropologie, die diesen Namen verdiente, ist am Anfang der Neuzeit Montaigne s »Apologie de Raimond Sebond«. Unter den Händen eines Skeptikers, der über den Menschen hinauszufragen sich verwehrt sieht, gerät ein überwiegend konventionelles Material in einen neuen Aggregatzustand, in welchem der einzige noch mögliche Gegenstand des Menschen erzwingt, daß alles nur noch Symptom dieses Gegenstandes ist. Über die Moralistik führt diese Tradition zu der ausdrücklich so benannten »Anthropologie« Kants. Die nur zum Zwecke ihrer endgültigen Erledigung aufgehäufte Skepsis im Vorfeld von Erkenntnistheorien (aber auch der Phänomenologie Husserls) bringt sich um die Chance ihres anthropologischen Ertrages, der an der Frage hängt, was dem Menschen bleibt, wenn ihm der Griff nach der reinen Evidenz, nach der absoluten Selbstbegründung mißlingt. Beleg für diesen Sachverhalt ist die Art, wie Descartes nicht nur den radikalisierten theoretischen Zweifel, sondern auch das Problem einer morale par provision erledigt hatte, die bis zur Vollendung der theoretischen Erkenntnis die dann möglich werdende morale définitive vertreten sollte. Descartes' noch immer aufschlußreiche Illusion bestand nicht so sehr darin, daß die morale définitive bald kommen müsse, weil die Physik schnell zu vollenden wäre, sondern vielmehr darin, daß die 2 Aristoteles, Metaphysik 1172 b }6{. 410
Zwischenzeit eine statische Phase des Festhaltens am seit eh und je Verbindlichen sein könnte. Descartes erkannte nichts von der Rückwirkung des theoretischen Prozesses auf das vermeintliche Interim der provisorischen Moral. Es ist sehr merkwürdig, die Folgen dieser Idee einer morale par provision unter der Voraussetzung der ausbleibenden wissenschaftlichen Eschatologie zu bedenken und darin vieles von dem wiederzuerkennen, was die immer wieder enttäuschten Enderwartungen gegenüber der Wissenschaft an Gemeinsamkeiten produzieren. Daß Descartes das Vorläufige als Stillstand inszenieren wollte, brachte ihn um die Nötigung, die anthropologischen Implikationen dieses Zustandes zu durchdenken. So konnte er als Exempel der provisorischen Moral den im Walde Verirrten aufstellen, der nur in einer Richtung entschlossen geradeaus zu gehen braucht, um aus dem Walde herauszukommen, da alle Wälder endlich sind und für die gedachte Situation als unveränderlich betrachtet werden dürfen. Die Empfehlung der formalen Entschlossenheit für die provisorische Moral bedeutet das Verbot der Beachtung aller konkreten Merkmale der Situation und ihrer Veränderungen, einschließlich der Disposition des Menschen für eine Lage der ungewissen Orientierung. Die angekündigte Endleistung der >Methode< verhindert die gegenwärtige Selbstverständigung des Menschen, verhindert auch Rhetorik als eine Technik, sich im Provisorium vor allen definitiven Wahrheiten und Moralen zu arrangieren. Rhetorik schafft Institutionen, wo Evidenzen fehlen. Man könnte den Dualismus von Philosophie und Rhetorik, dessen Ausgleich immer wieder mißlungen ist, in einem bestimmten geschichtsphilosophischen Konzept aufgehen lassen, das den Entwurf des Descartes umformt, indem es die Bedingungen der morale par provision skeptisch modifiziert. Zweifelhaft bleibt nicht nur die Vollendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, auf welchem Gebiet immer, sondern auch der mögliche Ertrag solcher Vollendung für eine morale définitive. Es ist fast vergessen, daß der >Fortschritt< nichts anderes ist als die auf Dauer gestellte Lebensform jenes cartesischen Interims, für das die provisorische Moral gedacht war. Worin Descartes recht behielt, ist dies, daß es nicht so etwas wie einen vorläufigen und vorab gewährten Anteil am Erfolg des Ganzen gibt. Anders ausgedrückt: das Programm der Philosophie gewinnt oder verliert, aber es wirft keinen Ertrag auf Raten ab. Alles, was diesseits der Evidenz übrigbleibt, ist Rhetorik; sie ist das Organ der morale par provision. Diese Feststellung bedeutet vor 411
allem, daß sie ein Inbegriff legitimer Mittel ist. Die Rhetorik gehört in ein Syndrom skeptischer Voraussetzungen. Darüber kann nicht hinwegtäuschen, daß sie sich gegen das Verdikt der >bloßen Mitteh nur erwehren konnte, indem sie sich als das Mittel der Wahrheit ausgab. Denn noch in ihren Siegen mußte die Rhetorik >rhetorisch< verfahren: als im 4. vorchristlichen Jahrhundert die Rhetorik faktisch die philosophischen Ansprüche ausgeschaltet hatte, nannte Isokrates seine Sophistik mit einem sophistischen Kunstgriff »Philosophie«. Der Sinn der Griechen für Wirkung, statt für Wirklichkeit, ist im Jacob Burckhardt die Basis der Rhetorik, die nur auf Augenblicke sich zur Staatsberedsamkeit aufschwang, im übrigen aber auf den Erfolg vor den Tribunalen hin ausgebildet gewesen sei. Aber von den Griechen selbst ist die Überredung in den Gegensatz zur Überwältigung gestellt worden: im Umgang der Griechen mit Griechen, so Isokrates, sei das Überreden angemessen, im Umgang mit Barbaren der Gebrauch der Macht; aber diese Differenz ist als eine der Sprache und der Bildung verstanden, weil Überredung Gemeinsamkeit eines Horizontes voraussetzt, der Anspielung auf Prototypisches, der Orientierung an der Metapher, am Gleichnis. Die Antithese von Wahrheit und Wirkung ist oberflächlich, denn die rhetorische Wirkung ist nicht die wählbare Alternative zu einer Einsicht, die man auch haben könnte, sondern zu der Evidenz, die man nicht oder noch nicht, jedenfalls hier und jetzt nicht, haben kann. Dabei ist Rhetorik nicht nur die Technik, solche Wirkung zu erzielen, sondern immer auch, sie durchschaubar zu halten: sie macht Wirkungsmittel bewußt, deren Gebrauch nicht eigens verordnet zu werden braucht, indem sie expliziert, was ohnehin schon getan wird. So lange die Philosophie ewige Wahrheiten, endgültige Gewißheiten wenigstens in Aussicht stellen mochte, mußte ihr der consensus als Ideal der Rhetorik, Zustimmung als das auf Widerruf erlangte Resultat der Überredung, verächtlich erscheinen. Aber mit ihrer Umwandlung in eine Theorie der wissenschaftlichen >Methode< der Neuzeit blieb auch der Philosophie der Verzicht nicht erspart, der aller Rhetorik zugrunde liegt. Zwar erschien es zunächst so, als seien die Hypothesen der Wissenschaft immer vorläufige Hilfsmittel der Erkenntnis, Anweisungen zur Herbeiführung der Verifikation und damit der endgültigen Sicherung; aber die Geschichte der Wissenschaft gab Aufschluß darüber, daß auch Verifikation den Typus der Zustimmung auf Widerruf repräsen412
tiert, daß die Publikation jeder Theorie einen Appell impliziert, die angegebenen Wege ihrer Bestätigung nachzugehen und ihr das Placet der Objektivität zu geben, ohne daß durch diesen Prozeß je endgültig ausgeschlossen werden kann, daß auf anderen Wegen anderes gefunden und Widerspruch erhoben wird. Das, was Thomas S. Kuhn in seiner »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«3 das >Paradigma< genannt hat - die beherrschende Grundvorstellung in einer wissenschaftlichen Disziplin für einen längeren Zeitraum, die sich alles verfeinernde und erweiternde Nachforschungen integriert -, dieses Paradigma ist nichts anderes als ein consensus, der sich zwar nicht ausschließlich, aber auch über die Rhetorik der Akademien und der Lehrbücher zu stabilisieren vermochte. Mag der Mangel an Evidenz auch die dem theoretischen Prozeß und der Rhetorik gemeinsame Situationsbestimmung sein, so hat doch die Wissenschaft sich den unschätzbaren Vorteil verschafft, die Vorläufigkeit ihrer Resultate unbegrenzt ertragen zu können. Das ist nicht selbstverständlich; noch Descartes hätte es für unerträglich gehalten. Aber seine Vorstellung der >Methode< hat es möglich gemacht, Wissenschaft als einen ständig >übertragbaren<, die Individuen und Generationen nur als Funktionäre sich integrierenden Gesamtprozeß zu verstehen und zu organisieren. Alles Handeln, welches sich als >Anwendung< auf diese Art von Theorie stützt, muß die Schwäche ihrer Vorläufigkeit teilen, jederzeit desavouiert werden zu können. Auch Theorien werben implizit um >Zustimmung<, wie es Rhetorik explizit tut. Der entscheidende Unterschied besteht in der Dimension der Zeit; Wissenschaft kann warten oder steht unter der Konvention, es zu können, während Rhetorik den Handlungszwang des Mängelwesens als konstitutives Situationselement voraussetzt - wenn sie nicht mehr ornatus einer Wahrheit sein kann. Es ist deshalb eine Kopie der Prozeßform von Wissenschaft, wenn die Diskussion als Instrument der öffentlichen Willensbildung so betrachtet wird, als sei sie ein Mechanismus rationaler Ergebnisfindung, während sie sich doch gerade die prinzipielle Unendlichkeit der wissenschaftsförmigen Rationalität nicht leisten kann. Die begrenzte Redezeit mag die Strenge der rhetorischen Formvorschriften nur dürftig ersetzt haben, aber sie ist auch als Ersatz ein essentielles Institut der Rhetorik; wo sie mißachtet wird oder unbekannt ist oder gar ihr 3 Vgl. Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Révolutions, Chicago 1962, dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1967. 413
Gegenteil institutionalisiert wird (»Filibuster«), wird der Alternativcharakter der Rhetorik zum Terror manifest. Sich unter dem Aspekt der Rhetorik zu verstehen heißt, sich des Handlungszwanges ebenso wie der Normentbehrung in einer endlichen Situation bewußt zu sein. Alles, was hier nicht Zwang ist, gerät zur Rhetorik, und Rhetorik impliziert den Verzicht auf Zwang. Dabei kann der Handlungszwang, der die rhetorische Situation bestimmt und der primär eine physische Reaktion verlangt, rhetorisch so transformiert werden, daß die erzwungene Handlung durch consensus wiederum >nur< eine rhetorische wird. Physische durch verbale Leistungen zu ersetzen, ist ein anthropologisches Radikal; Rhetorik systematisiert es. Ernst Cassirer hat in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« den Menschen als das animal symbolicum beschrieben, dessen originäre Leistung es sei, den äußeren >Eindruck< als >Ausdruck< von Innerem umzuverteilen und derart für etwas Fremdes und Unzugängliches etwas anderes, sinnlich Greifbares zu setzen. Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft sind nach Cassirer Regionen solcher symbolischen Formen<, die im Prinzip nur jenen primären Umsetzungsvorgang von >Eindruck< in >Ausdruck< wiederholen. Aber diese Theorie Cassirers verzichtet darauf zu erklären, weshalb die s y m bolischen Formen< gesetzt werden; das Faktum, daß sie in der Kulturwelt in Erscheinung treten, läßt den Schluß auf das animal symbolicum zu, das sein >Wesen< in seinen Kreationen äußert. Eine Anthropologie des >reichen< Menschen läßt auf der Basis einer gesicherten, zumindest unbefragten biologischen Existenz Schicht um Schicht das Kulturgehäuse der symbolischen Formen< emporwachsen. Die Anreicherung der nackten Existenz steht in keinem Funktionszusammenhang zu ihrer Möglichkeit. Aber sofern Philosophie Abbau von Selbstverständlichkeiten ist, hat eine >philosophische< Anthropologie zum Thema zu machen, ob nicht die physische Existenz gerade erst das Resultat derjenigen Leistungen ist, die dem Menschen als >wesentlich< zugesprochen werden. Die erste Aussage einer Anthropologie wäre dann: es ist nicht selbstverständlich, daß der Mensch existieren kann. Der Typus einer solchen Überlegung ist in der neuzeitlichen Staatsvertragstheorie vorgebildet, die die Notwendigkeit der Begründung des bürgerlichen Zustandes des Menschen daraus deduziert, daß sie im >natürlichen< Zustand einen Widerspruch gegen die Bedingungen der Möglichkeit physischer Existenz findet. Bei Hobbes ist der Staat 414
das erste Artefakt, das nicht die Lebenssphäre in Richtung auf eine Kulturwelt anreichert, sondern ihren tödlichen Antagonismus beseitigt. Philosophisch ist an dieser Theorie nicht primär, daß sie das Auftreten einer Institution wie des Staates - und noch dazu des absolutistischen - erklärt, sondern daß sie die vermeintliche Wesens-Bestimmung des Menschen als des >zoon politikon< in eine funktionale Darstellung überführt. Ich sehe keinen anderen wissenschaftlichen Weg für eine Anthropologie, als das vermeintlich >Natürliche< auf analoge Weise zu destruieren und seiner >Künstlichkeit< im Funktionssystem der menschlichen Elementarleistung >Leben< zu überführen. Einen ersten Versuch dieser Art hat Paul Aisberg 1922 mit seinem zu wenig beachteten, weil schon im Titel und in der Sprache fehlleitenden, Buch »Das Menschheitsrätsel« unternommen. Arnold Gehlen hat dann 1940 mit dem grundlegenden, wenn auch in der Intention fragwürdigen Werk »Der Mensch« den Ansatz zu einer Theorie der Wahrnehmung und der Sprache ausgebaut und seither zu einer Fundierung der Lehre von der >Institution< weitergeführt. Mit Gehlens Absolutismus der Institutionen kehrt die Anthropologie in gewisser Weise zu ihrem Ausgang im Modell des Staatsvertrags zurück. Die Diskussion um diese Anthropologie hat bis heute nicht geklärt, ob jene fatale Rückkehr unausweichlich ist. Der Mangel des Menschen an spezifischen Dispositionen zu reaktivem Verhalten gegenüber der Wirklichkeit, seine Instinktarmut also, ist der Ausgangspunkt für die anthropologische Zentralfrage, wie dieses Wesen trotz seiner biologischen Indisposition zu existieren vermag. Die Antwort läßt sich auf die Formel bringen: indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einläßt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem >metaphorisch<. Wie der Mensch mit dem Übermaß der Anforderungen aus seinem Wirklichkeitsverhältnis fertig wird, ist in der nominalistischen Interpretation des Urteils seit langem vorgeführt worden. Prädikate sind >Institutionen<; etwas Konkretes wird begriffen, indem es aufgelöst wird in seine Zugehörigkeiten zu diesen Institutionen. Als Konkretes ist es verschwunden, wenn es in Urteilen aufgegangen ist. Aber, etwas als etwas zu begreifen, unterscheidet sich radikal von dem Verfahren, etwas durch etwas anderes zu begreifen. Der metaphorische Umweg, von dem thematischen Gegenstand weg auf einen anderen zu blicken, der vorgreifend als aufschlußreich ver415
mutet wird, nimmt das Gegebene als das Fremde, das Andere als das vertrauter und handlicher Verfügbare. Ist der Grenzwert des Urteils die Identität, so ist der Grenzwert der Metapher das Symbol; hier ist das Andere das ganz Andere, das nichts hergibt als die pure Ersetzbarkeit des Unverfügbaren durch das Verfügbare. Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist. Am deutlichsten wird das dort, wo das Urteil mit seinem Identitätsanspruch überhaupt nicht ans Ziel kommen kann, entweder weil sein Gegenstand das Verfahren überfordert (die >Welt<, das >Leben<, die >Geschichte<, das >Bewußtsein<) oder weil der Spielraum für das Verfahren nicht ausreicht, wie in Situationen des Handlungszwanges, in denen rasche Orientierung und drastische Plausibilität vonnöten sind. Die Metapher ist nicht nur ein Kapitel in der Behandlung der rhetorischen Mittel, sie ist signifikantes Element der Rhetorik, an dem ihre Funktion dargestellt und auf ihren anthropologischen Bezug gebracht werden kann. Es wäre ganz einseitig und unvollständig, die Rhetorik nur als die >Notlösung< angesichts des Mangels an Evidenz in Situationen des HandlungsZwanges darzustellen. Sie ersetzt nicht nur die theoretische Orientierung für die Handlung; bedeutender ist, daß sie die Handlung selbst zu ersetzen vermag. Der Mensch kann nicht nur das eine anstelle des anderen vorstellen, sondern auch das eine anstelle des anderen tun. Wenn die Geschichte überhaupt etwas lehrt, so dieses, daß ohne diese Fähigkeit, Handlungen zu ersetzen, von der Menschheit nicht mehr viel übrig wäre. Die ritualisierte Vertretung des Menschenopfers durch ein Tieropfer, wie sie in der Abraham-Isaak-Geschichte noch durchscheint, mag ein 'Anfang gewesen sein. Das Christentum hat es durch zwei Jahrtausende hindurch für ganz verständlich gehalten, daß der Tod des einen das geschuldete Unheil aller aufwiegen kann. Freud hat im Totenmahl die Konvention der Söhne gesehen, mit der Tötung des Hordenvaters ein Ende zu machen und statt dessen - eben etwas anderes zu tun. Vor der gemeinsamen Amerikareise 1909 überredete Freud den des Schulverrats verdächtigen C. G. Jung in Bremen, zum Essen Wein zu trinken - was gegen die Grundsätze seines ersten Lehrers Bleuler verstieß -, statt ihn zu einem Akt der Unterwerfung zu bringen, im Grunde des Inhalts, nicht selbst der Vater sein zu wollen. Politisch gilt der Vorwurf, ein verbaler oder demonstra416
tiver Akt sei >reine Rhetorik<, als schwer; aber das gehört selbst zu einer Rhetorik, die nicht wahrhaben will und auch gar nicht wahrzuhaben braucht, daß eine Politik um so besser ist, je mehr sie es sich leisten kann, sich auf >bloße Worte< zu beschränken. Außenpolitisch tragen Warnungen am meisten ein, die in dem Augenblick noch ausgesprochen werden, in dem der Gewarnte ohnehin davon Abstand genommen hat, den Akt zu vollziehen, vor dem er gewarnt wird. Es kann alles darauf ankommen, es - wie man zu sagen sich gewöhnt hat - >bei Erklärungen zu belassen<, den Handlungszwang herunterzureden, wenn das Risiko des Handelns alle möglichen Erfolge des Handelns zu disqualifizieren vermag. Hier spielen Fragen des Wirklichkeitsbegriffes herein, die an dieser Stelle nicht ausgetragen werden können. Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation. Rhetorisch ist aber nicht nur das substitutive und metaphorische Verfahren. Der Handlungszwang selbst ist kein durch und durch >realer< Faktor, er beruht auch auf der >Rolle<, die dem Handelnden zugeschrieben wird oder mit der er sich selbst zu definieren sucht - auch das Selbstverständnis bedient sich der Metaphorik und >sich selbst gut zuzureden< ist eine Wendung, die verrät, daß der interne Gebrauch von Rhetorik keine Neuentdeckung ist. Die heute wieder gängige Rollenmetaphorik beruht auf einer sehr soliden Tradition, Leben und Welt als >Theater< zu veranschaulichen, und es ist nicht für alle historischen Formen von Theater gleichermaßen selbstverständlich, daß seine >Rollen< so fixiert sind, wie wir es heute beim Gebrauch der Metapher voraussetzen. Jemand im Verlauf eines Konfliktes zu gestatten, >sein Gesicht zu wahren<, kommt zwar aus einem anderen Sprachbereich, deckt aber weitgehend das in der Rollenmetaphorik implizierte Gebot, die Bezugsperson eines Vorganges, der diese zur Änderung ihres Verhaltens bestimmen soll, nicht aus der Identität ihrer Rolle herauszuzwingen, sondern die zugemutete Schwenkung als glaubwürdige Konsequenz anzubieten. Ich brauche nicht zu illustrieren, in welchem Maße die Politik von großen und kleinen Mächten heute mit dem Ausdruck der Rollendefinition und Rollenerwartung (hier ist die anthropologische Metapher nochmals zur Metapher genommen) beschrieben werden kann und welche pragmatischen Anweisungen, potentiell rhetorisches Verhalten aktuell rhetorisch zu behandeln, darin enthalten sind. Georg Simmel hat darauf hingewiesen, daß die Rollenmetapher nur des417
halb so leistungsfähig ist, weil das Leben eine Vorform der Schauspielkunst sei; gerade Simmel hat dabei erkannt, daß mit dieser Metaphorik nichts mehr von der Unterstellung verbunden ist, es ginge um Illusion, szenisches Doppelleben mit und ohne Maske, mit und ohne Kostüm, so daß man Bühne und Schauspieler nur zu entblößen brauchte, um der Realität ansichtig zu werden; und dem theatralischen Intermezzo ein Ende zu machen. Jenes >Leben<, von dem Simmel spricht, ist nicht nebenher und episodisch Vorform der Schauspielkunst, sondern Lebenkönnen und Sich-eine-Rolledefinieren sind identisch. Ich behaupte nun, daß nicht nur dieses Reden von der >Rolle< metaphorisch ist, sondern daß der Definitionsprozeß des Rollenkonzepts - an dem das Identitätsbewußtsein hängt und mit dem es verletzt werden kann - selbst in der Metapher wurzelt und intern wie extern metaphorisch behauptet und verteidigt wird. Gerade der Verteidigungsfall macht das deutlich: Erving Goffmans »Stigma« (1963) belegt es vielfältig. Die >Zustimmung< die das Ziel jeder >Überredung< (sogar der Selbstüberredung) sein muß, ist die in allen Situationen gefährdete und immer neu zu sichernde Kongruenz von Rollenbewußtsein und Rollenerwartung seitens der anderen. Vielleicht ist >Zustimmung< ein zu starker Ausdruck, denn Beifall wäre immer schon ein Überschußmoment. Im Grunde kommt es darauf an, keinen Widerspruch zu finden, sowohl im internen Sinne der Konsistenz als auch im externen Sinne der Hinnahme. Rhetorik ist nicht nur ein System, um Mandate zum Handeln zu werben, sondern um eine sich formierende und formierte Selbstauffassung bei sich selbst und vor anderen durchzusetzen und zu verteidigen. Wissenschaftstheoretisch erfüllt die metaphorisch konzipierte >Rolle< die Funktion einer Hypothese, welche jeder Akt >verifiziert<, der sie nicht falsifiziert. Der Rest, der aller Rhetorik vom teleologischen Wert des consensus als einer Bürgschaft der Natur noch geblieben ist, ist die Sicherung des Nicht-Widerspruchs, des Nicht-Zerbrechens der Konsistenz des Hingenommenen, das im politischen Tagesjargon deshalb gern eine >Plattform< genannt wird. Es ist angesichts dieses Befundes verständlich, daß ein Bedürfnis nach der >Basis gemeinsamer Überzeugungen immer wieder und in immer anderen Angeboten virulent wird. Man mag den consensus weiterhin eine >Idee< der rhetorischen Wirkung nennen; in der anthropologischen Begründung der rhetorischen Funktion ist er redundant. 418
Die rhetorische Substitution im Handlungszwang und die rhetorische Abschirmung der Selbstpräsentation als >Selbsterhaltung< haben gemeinsam, daß sie zwar kreative Akte (Symbolschöpfung, Rollenkonzeption) voraussetzen, aber in der reinen Kreativität doch ohnmächtig und funktionslos bleiben. Hier stellt sich zugleich die Frage, ob der heute so gesuchte Zusammenhang von Produktionsästhetik und Rezeptionsästhetik nicht auf eine analoge Struktur hinführt. Jede Kunst hat eine Stufe der Rhetorik, schreibt Nietzsche 1874 in einem Fragment über Cicero.4 Die >Erfindung< des substitutiven Symbols etwa kann der harmloseste, phantasieärmste Akt von der Welt sein; es muß zur Anerkennung gebracht werden, und dafür enthält es materiell - im Gegensatz zum ästhetischen Werk - nicht den geringsten Anreiz. Aber diese Anerkennung ist hier so gut wie alles; erst sie hat Folgen. Ich erinnere an die klassische politische Formel, der Handel folge der Flagge; heute kann man ihn umkehren und sagen, die Flagge folge dem Handel (Staaten, die nicht einmal diplomatische Beziehungen unterhalten, schließen Handelsabkommen in der Erwartung, das andere werde folgen) - die Umkehrung des alten Satzes ist zugleich Ausdruck der völligen Entwertung des Symbols >Flagge<, das nur noch zuletzt die Realitäten zu schmücken vermag. Wenn gesagt wurde, die Geltung von Substitutionen beruhe auf >Konvention<, so ist das ebenso richtig wie tautologisch. Die Konvention ist ein Resultat-wie kommt es zustande? Zweifellos durch Angebot und Werbung. Das gilt sogar für den abstraktesten Fall aus der Wissenschaftsgeschichte, die Durchsetzung formallogischer Symbolsysteme; die Werbungsrhetorik geht ins Detail oder besteht darin, von ungeliebten Nationsformen öffentlich vorzugeben, man werde sie nie begreifen. Je weniger politische Realitäten außerhalb der wirtschaftlichen Sphäre noch >geschaffen< werden können, um so wichtiger werden >Anerkennungen<, Benennungsfragen, Verträge, in denen auf das ohnehin nicht Mögliche verzichtet, Prozeduren, in denen das ohnehin schon Feststehende hart umkämpft wird. Sobald es das nicht mehr gibt, was einmal als >real< galt, werden die Substitutionen selbst >das Reale<. In der Ästhetik ist mit der Preisgabe aller Arten und Grade von Gegenständlichkeit das Angebot, etwas als Kunstwerk zu akzeptieren oder auch nur als das, was nach dem Ende aller Kunst >fällig< ist, nur noch mit einem 4 Friedrich Nietzsche, »Cicerofragment«, in: F. N., Gesammelte Werke, Bd. 7, 1923,8.385. 419
großen Aufwand an Rhetorik durchzusetzen. Es ist nicht primär die Kommentarbedürftigkeit eines Werkes, die sich in begleitenden und nachkommenden Texten geltend macht, sondern seine Deklaration zum Kunst- oder Kunstnachfolgewerk; insofern ist der Verriß eines kompetenten Kritikers immer noch Akzeptation in einen Zusammenhang einer Geschichte, in der immer wieder Kunst gegen Kunst - mit dem rhetorischen Gestus, dem Gewesenen ein Ende und dem Kommenden einen Anfang zu setzen produziert worden ist. Auch die Verleugnung der Rhetorik ist dabei noch rhetorisch; noch der Fußtritt, der dem konventionell um >Verstehen< bemühten Zuschauer verpaßt wird, demonstriert ihm, daß zu Recht besteht, was er nicht versteht, und zwar an der >Stelle< dessen, was einmal zu verstehen war oder von der einschlägigen Instanz jetzt verstanden wird. Die >Umbesetzungen<, aus denen Geschichte besteht, werden rhetorisch vollzogen. Rhetorik hat auch mit der Temporalstruktur von Handlungen zu tun. Beschleunigung und Verzögerung sind Momente an geschichtlichen Prozessen, denen bisher zu wenig Beachtung zuteil wurde. >Geschichte< besteht nicht nur aus Ereignissen und ihrer (wie immer gedeuteten) Verknüpfung, sondern auch aus dem, was man den zeitlichen >Aggregatzustand< nennen könnte. Was in unserer Tradition als Rationalität bezeichnet worden ist, kam fast immer dem Moment der Beschleunigung, der Verdichtung der Prozesse zugute. Selbst dialektische Theorien der Geschichte akzentuieren die Faktoren der Beschleunigung, weil sie den Prozeß an den kritischen Punkt des Umschlags treiben und damit dem Endzustand erkennbar, also die behauptete Gesetzlichkeit bestätigend, näherbringen. Das vielschichtige Phänomen der Technisierung läßt sich reduzieren auf die Intention des Zeitgewinns. Rhetorik hingegen ist hinsichtlich der Temporalstruktur von Handlungen ein Inbegriff der Verzögerung. Umständlichkeit, prozedurale Phantasie, Ritualisierung implizieren den Zweifel daran, daß die kürzeste Verbindung zweier Punkte auch der humane Weg zwischen ihnen sei. Ästhetisch, etwa musikalisch, ist uns dieser Sachverhalt ganz vertraut. Überforderungen gehen in der modernen Welt nicht nur von der Kompliziertheit der Sachverhalte aus, sondern auch von der zunehmenden Divergenz der beiden Sphären der Sacherfordernisse und der Entscheidungen hinsichtlich ihrer Zeitstruktur. Es ist ein Mißverhältnis entstanden zwischen der Beschleunigung von Prozessen und den Möglichkeiten, sie im Griff zu behalten, mit Ent420
Scheidungen in sie einzugreifen und sie mit anderen Prozessen durch Übersicht zu koordinieren. Gewisse Hilfsfunktionen, die technische Einrichtungen für menschliches Handeln ausüben können, haben einen assimilierenden Effekt: wo alle Daten schnell verfügbar sind, scheint der schnelle Entschluß eine sachgemäße Auszeichnung zu haben. Der Wunsch, Entwicklungen in der Hand zu behalten und wieder in die Hand zu bekommen, beherrscht die Erwägungen zur Kritik des Fortschritts, sofern sie nicht reine Romantik sind. Operationsanalysen liefern optimale Problemlösungen, aber sie beheben nie den Zweifel mit, ob das Problem richtig gestellt w a r - und dieser Zweifel charakterisiert das Handeln schon als das, was seiner Theorie vorausgeht, und was aus ihr nicht als bloßes Resultat folgt. Man erkennt deutlich die stärkere Ausprägung von Verzögerungsmomenten im öffentlichen Handeln. Nicht zufällig konnte ein so abgelegtes Wort wie >Reflexion< erneut zum Schlagwort werden. Es liegt ein Bedürfnis nach institutionalisiertem Atemholen vor, das auch entscheidungsfähige Mehrheiten auf lange rhetorische Umwege schickt. Es soll sichtbar werden, daß man nicht >getrieben< wird (wovon auch immer) und nicht das längst Entschiedene bloß noch zu sanktionieren gedenkt. Die Beschleunigung der Prozesse ist ja nur eine Variante jener >Reizüberflutungs der das biologisch verarmte Wesen Mensch konstitutiv ausgesetzt ist und der es mit der Institutionalisierung seines Verhaltens begegnet. Verbale Institutionen sind dabei keineswegs eine Schwundstufe massiverer Regulationen; ihre Mächtigkeit muß an dem Ideal dezisionistischer Theorien gemessen werden, das in der Punktualität besteht. Es gibt so etwas wie eine Zweckmäßigkeit des Unzweckmäßigen. Wir beobachten heute einen rasanten Abbau >überholter< Formen durch kritische Verfahren, in denen alles Bestehende die Beweislast seiner Existenzberechtigung trägt; aber zugleich sehen wir eine üppige Phantasie in der Neugestaltung umständlicher Prozeduren am Werk, die sich nur durch nüchternere Benennungen wie Geschäftsordnungen, Kontrollorgane, Funktionssysteme auszeichnen. Jeder Zeitgewinn wird allemal sogleich verbraucht. Wir müssen den Gedanken an einen Bildungstypus zunehmend preisgeben, der von der Norm beherrscht wird, der Mensch müsse jederzeit wissen, was er tut. Ein Arzt sollte nicht nur die Funktionsbedingungen der Organe kennen, deren Versagen die Krankheiten ausmacht, und dazu die Wirkungsweise der Therapien 421
und Pharmaka, die er verordnet, sondern noch die Herkunft der Fremdwörter, die er zur Bezeichnung von all diesem ständig benutzt und deren Gebrauch ihm Zunftweihe gibt. Ein Kapitän sollte nicht nur den Sextanten und die zugehörigen Formeln der Trigonometrie anwenden können, sondern müßte auch wissen, wie das Instrument funktioniert und wie die Formeln abgeleitet werden können, so daß er ein potentieller Robinson wäre, der ex nihilö anfangen könnte, wenn die vorfabrizierten Hilfsmittel verlorengegangen wären. Dagegen gewinnt seit langem der Gedanke an Boden, die technische Welt brauche trainierte, sachgemäß reagierende, aber nicht ihre Funktionszusammenhänge allseitig durchschauende Funktionäre. Immer weniger Leute werden wissen, was sie tun, indem sie lernen, weshalb sie so tun. Die Handlung verkümmert zur Reaktion, je direkter der Weg von der Theorie zur Praxis ist, der gesucht wird. Der Schrei nach der Eliminierung >unnützen< Lernstoffes ist immer der nach der >Erleichterung< der funktionellen Umsetzungen. Zwar ist die Umständlichkeit des Anspruches zu wissen, was man tut, noch nicht die Garantie einer humanen oder moralischen Einsicht, aber doch als Typus einer verzögerten Reaktion potentiell der eines >bewußten< Handelns. Ich unterstelle, daß >Bildung - was immer sie sonst noch sein mag - etwas mit dieser Verzögerung der funktionalen Zusammenhänge zwischen Signalen und Reaktionen zu tun hat. Dadurch werden ihre Inhalte, ihre >Werte< und >Güter<, sekundär. Die Diskussion um diese Werte wird meistens mit einer ungeprüften Beweislastverteilung geführt: wer tradierte Bildungsgüter verteidigt, soll beweisen, was sie noch wert sind. Nehmen wir an, daß sie als solche überhaupt nichts wert sind, so wird ihr >rhetorischer< Charakter deutlich: sie sind Figuren, Pflichtübungen, obligatorische Umwege und Umständlichkeiten, Rituale, die die unmittelbare Nutzbarmachung des Menschen erschweren, die Heraufkunft einer Welt der kürzesten Verbindungen zwischen jeweils zwei Punkten blockieren, vielleicht auch nur verlangsamen. Zielt die klassische Rhetorik wesentlich auf das Mandat zum Handeln, so wirbt die moderne Rhetorik für die Verzögerung des Handelns oder zumindest um Verständnis für diese - und das auch und gerade dann, wenn sie Handlungsfähigkeit demonstrieren will, indem sie wiederum symbolische Substitutionen vorweist. Der Hauptsatz aller Rhetorik ist das Prinzip des unzureichenden Grundes (principium rationis insufficientis). Er ist das Korrelat 422
der Anthropologie eines Wesens, dem Wesentliches mangelt. Entspräche die Welt des Menschen dem Optimismus der Metaphysik von Leibniz, der sogar den zureichenden Grund dafür angeben zu können glaubte, daß überhaupt etwas und nicht eher nichts existiert (cur aliquid potius quam nihil), so gäbe es keine Rhetorik, denn es bestände weder das Bedürfnis noch die Möglichkeit, durch sie zu wirken. Schon die der Verbreitung nach bedeutendste Rhetorik unserer Geschichte, die des Gebetes, mußte sich entgegen den theologischen Positionen des rationalistischen oder voluntaristischen Gottesbegriffes an einen Gott halten, der sich überreden ließ; für die Anthropologie wiederholt sich dieses Problem: der für sie thematische Mensch ist nicht durch die philosophische Überwindung der >Meinung< durch das >Wissen< charakterisiert. Aber das Prinzip des unzureichenden Grundes ist nicht zu verwechseln mit einem Postulat des Verzichtes auf Gründe, wie auch >Meinung< nicht das unbegründete, sondern das diffus und methodisch ungeregelt begründete Verhalten bezeichnet. Mit dem Vorwurf der Irrationalität muß man dort zurückhaltend sein, wo unendliche, unbestimmbar umfangreiche Verfahren ausgeschlossen werden müssen; im Begründungsbereich der Lebenspraxis kann das Unzureichende rationaler sein als das Insistieren auf einer >wissenschaftsförmigen< Prozedur, und es ist rationaler als die Kaschierung von schon gefallenen Entscheidungen durch wissenschaftstypisierende Begründungen. Die Euphorie hinsichtlich der Beratung öffentlichen Handelns durch Wissenschaft ist zwar etwas abgeklungen, aber die Enttäuschungen an diesem Bündnis beruhen auf der fehlenden Einsicht, daß Gremien von Wissenschaftlern in Ermangelung abschließender Evidenz ihrer Erkenntnisse ihrerseits gar nicht anders verfahren können als die Institutionen, die sie zu beraten haben, nämlich rhetorisch, nämlich auf einen faktischen consensus zielend, der nicht der consensus ihrer theoretischen Normen sein kann. Wissenschaftliche Norm ist auch die klare Kennzeichnung der Modalität von Sätzen. Apodiktisch, ja schon assertorisch zu behaupten, was nur problematisch behauptet werden kann, verstößt gegen diese Norm. Wer von öffentlichem Handeln betroffen wird oder wer diese zu akzeptieren hat, darf beanspruchen zu erfahren, von welcher Dignität die Voraussetzungen sind, die als Ergebnisse wissenschaftlicher Beratung ausgegeben werden. Rhetorik lehrt, Rhetorik zu erkennen, aber sie lehrt nicht, Rhetorik zu legitimieren. 423
Es geht nicht nur um das Verhältnis von Wissenschaft und politischen Instanzen, sondern um einen Bereich von Aussagen, die von sehr bedeutender und nicht zu sistierender praktischer Auswirkung sind, aber ihrem theoretischen Status nach vielleicht für immer auf unzureichender Begründung beruhen oder gar erweislich nicht verifizierbar sind. Der positivistische Vorschlag, solche Fragen und Aussagen auszurotten, die keine Anweisung zu ihrer Verifikation enthalten, schließt die Stillegung von Praxis ein, die auf solchen Prämissen beruht, und wird dadurch illusionär. Man kann die Entscheidung solcher Fragen wie dieser, ob der Mensch von Natur gut oder schlecht, durch seine Anlagen oder durch seine Umwelt bestimmt, der Faktor oder das Faktum seiner Geschichte sei, zwar wissenschaftlich, aber nicht praktisch aufschieben oder für sinnlos erklären. So steht jede Art von Pädagogik schon im praktischen Prozeß und kann auf die Zulieferung ihrer theoretischen Voraussetzungen nicht warten; sie wird daher gezwungen, aus dem Angebot theoretischer Verallgemeinerungen der Biologie, Psychologie, Soziologie und anderer Disziplinen Quasiresultate zu akzeptieren. In dieser Grenzzone spielen sich merkwürdige Vorgänge vom Typus der rhetorischen ab, bei denen Rationalität und Realismus zu divergieren scheinen; denn hier gibt es nicht nur den Handlungszwang als solchen, sondern eine Nötigung zur Axiomatisierung von Voraussetzungen, ohne die eine auf Handlungszwänge bezogene Theorie lahmgelegt und zur Sterilität verurteilt wäre. Dennoch meine ich, daß diese Entscheidungen nichts mit dem Zynismus eines liberum arbitrium indifferentiae und schon gar nichts mit existentialistischer Selbstsetzung zu tun haben. Im Geltungsbereich des Prinzips vom unzureichenden Grunde gibt es rationale Entscheidungsregeln, die nicht wissenschaftsförmig sind. Pascal hat in seinem Argument du pari ein Modell dafür gegeben, das uns nur deshalb nicht mehr einleuchtet, weil es die Chance eines transzendenten unendlichen Gewinns mit dem Risiko eines endlichen Einsatzes vergleicht, das aber darin gültig bleibt, der Mensch müsse auf die seiner Selbstbehauptung und Selbstentfaltung günstige Chance einer theoretischen Alternative den ganzen Einsatz seiner Praxis bei jedem Risiko des Irrtums setzen. Kein theoretischer Zweifel an der Geltung des Kausalitätsprinzips oder seiner evidenten Begründbarkeit kann irgend etwas daran ändern, daß wir auf dessen uneingeschränkte Geltung in un424
serem Verhalten setzen. Eine der folgenreichsten Aussagen aus dem Bereich verschiedener Wissenschaften wäre die Beantwortung der Frage, in welchem Maße die Verhaltensweisen des Menschen durch endogene oder exogene Determinanten bestimmt und daher beeinflußbar sind. Mag man auch diese komplexe Frage für wissenschaftlich noch weitgehend unentschieden ansehen, so ist doch leicht erkennbar, daß wissenschaftstheoretische Überlegungen einen endogenen Determinismus begünstigen, wie sie ganz unabhängig von empirischen Befunden in der Evolutionstheorie eine Bevorzugung des Darwinismus vor den Spielarten des Lamarckismus implizieren; Die auf spezifisch wenige, methodisch sauber isolierbare und darstellbare Faktoren beschränkte Theorie hat größere Chancen, >Paradigma< im Sinne Thomas S. Kuhns zu werden, als diejenige, die ein weniger gut präparierbares Faktorenfeld von diffuser Verteilung anzubieten hat. Die wissenschaftliche Annäherung an ein Resultat vom Typus der darwinistischen Theorien erscheint mir als unausweichlich und theoretisch fundiert. Diese Entwicklung müßte weittragende Folgen auf vielen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens haben: für Erziehung und Rechtsprechung, für die soziale Prophylaxe und den Strafvollzug, sogar für den alltäglichen Umgang der Menschen miteinander. Tatsächlich aber scheint sich der Vorzug praktischer Axiome nicht nach der wissenschaftlichen Dominanz zu richten. Das ist ein Sachverhalt, den Kant entdeckt hat, als er in der Lehre von den >Postulaten< seiner »Kritik der Praktischen Vernunft« die Unabhängigkeit moralischer Setzungen von theoretischen Beweisen annahm. Für Kant sind es die klassischen Hauptsätze aller Metaphysik - Freiheit des Menschen, Existenz Gottes, Unsterblichkeit -, die in der Gestalt des Postulates dem praktischen Gesetz unzertrennlich anhängen. Die Logik dieser Unzertrennlichkeit wird deutlicher, wenn man sieht, daß nur der, der das Gesetz mißachtet, ein Interesse daran hat, sich auf seine Unfreiheit und auf die Vergeblichkeit gesetzlichen Verhaltens im Hinblick auf Wohlstand zu berufen. Wir würden die Postulate, aller Metaphysik entzogen, zur Rhetorik der Moral schlagen: sie sind der Inbegriff dessen, was den consensus praktischer Axiome durch Überredung und Selbstüberredung ausmacht, was den öffentlichen und privaten Anstrengungen Zustimmung verschafft und Sinn gibt, die Bedingungen für delikt- und konfliktfreies Leben zu verbessern und Vertrauen in die Heranführung zurückgebliebener oder fehlgeleiteter Lebens42 5
laufe zu setzen. Wir tun so, >als ob< wir wüßten, daß Anstrengungen und Aufwand dieser Art zugunsten des Menschen nicht vergeblich sind und durch Wissenschaft nicht in Frage gestellt werden. Die Praxis axiomatisiert als >Postulat<, was die größeren humanen Chancen wahrzunehmen motiviert. Rhetorik ist hier auch die Kunst, zur Nichtbeachtung dessen zu überreden, was der Wette auf diese Chancen entgegensteht. Die deprimierenden Resultate der genetischen Zwillingsforschung haben die Anhänger der Milieutheorien nicht entmutigen können - und mit Recht. Der Unsicherheitsbereich wissenschaftlicher Aussagen mag noch so schmal werden, er wird nie ganz verschwinden, und auf ihn wird gesetzt werden, wo Theorie der Praxis unzumutbar und unerträglich erscheint. Das praktische Postulat steht seit Kant gegen den überwältigenden Determinismus der Welt möglicher wissenschaftlicher Objekte. Rhetorik hat es nicht mit Fakten zu tun, sondern mit Erwartungen. Das, was sie in ihrer ganzen Tradition >glaubwürdig< und >dem Wahren ähnliche genannt hat, muß in seiner praktischen Valenz deutlich unterschieden werden von dem, was theoretisch >wahrscheinlich< heißen darf.5 Daß der Mensch die Geschichte >macht<, ist eine Chance, auf die die Neuzeit nach geschichtsphilosophischen Umwegen gesetzt hat. Was dieser Satz bedeutet, kann nur verstanden werden, wenn man die >Umbesetzung< wahrnimmt, die mit ihm vollzogen wird. Ich habe diesen Begriff in meiner »Legitimität der Neuzeit« ( 1966) eingeführt und erläutert, aber noch nicht gesehen, daß er einen theoretischen Vorgang impliziert. Denn, wer das handelnde Subjekt der Geschichte ist, wird nicht entdeckt oder bewiesen; das Subjekt der Geschichte wird >ernannt<. Im System der Wirklichkeitserklärung unserer Tradition gibt es eine >Stelle< für dieses Geschichtssubjekt, auf die Vakanz und Besetzung sich beziehen. Durchsetzung und Bestätigung der Umbesetzung sind rhetorische Akte; >Geschichtsphilosophie< thematisiert nur die Struktur dieses Vorganges, sie trägt ihn nicht. Nicht zufällig hat der Akt, durch den das Subjekt der Geschichte bestimmt und legitimiert wird, den Namen einer fundierenden rhetorischen Figur getragen als translatio imperii. >Übertragungen<, metaphorische Funktionen spielen hier immer wieder eine wesentliche Rolle. Alexander ergreift seine historische Konzeption in der Umkeh5 Vgl. dazu Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn i960, S. 88-105 [neue Auflage Frankfurt am Main 1998]. 42e
rung des Xerxeszuges über den Hellespont. Der Gott des Alten Testaments überträgt seine Geschichtshoheit durch Vertrag. Die Bürger des Konvents der Französischen Revolution nehmen die Metaphorik der römischen Republik beim Wort, mit Kostüm und Phrase. Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen, schreibt Marx im »18. Brumaire«.6 Je tiefer die Krise der Legitimität reicht, um so ausgeprägter wird der Griff nach der rhetorischen Metapher - nicht die Trägheit macht die Tradition, sondern die Verlegenheit, der Designation als Geschichtssubjekt zu genügen. Man begnügt sich daher leichter mit Partizipation an der Rolle des Geschichtssubjekts: man ist es nicht, aber man gehört dazu, müßte dazugehören, wenn es eben nur mit rechten Dingen zuginge. Rhetorisch liegen Zurechnungen wie Ausreden immer gleichermaßen bereit. Die Rhetorik wird hier nicht gefeiert als ein kreatives Talent des Menschen. Ihre anthropologische Beleuchtung ist nicht der Nachweis einer >metaphysischen< Auszeichnung. Als Verhaltensmerkmal eines Wesens, das trotzdem lebt, ist sie im Sinne des Wortes ein >Armutszeugnis<. Ich würde mich scheuen, sie eine >List der Vernunft zu nennen; nicht nur, weil sie da in eine noch zweifelhaftere Gesellschaft kommt, sondern weil ich daran festhalten möchte, in ihr eine Gestalt von Vernünftigkeit selbst zu sehen, das vernünftige Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft. Es mag sein, daß die theoretische Vorläufigkeit, die sie wahrnimmt und nutzt, nur die Gnadenfrist für sie selbst ist, wenn nicht zutrifft, daß es theoretische Unwiderruflichkeit nicht gibt. Gegen alle Rhetorik, die nicht der klare und elegante Ausdruck der Gedanken und Begriffe ist, empfahl Hobbes den Gebrauch der >richtigen Vernunft<. Dieser Ausdruck ähnelt dem gegenwärtig umlaufenden der >kritischen Vernunft<. Schön gesagt, aber wer sonst könnte beurteilen, ob es sich jeweils um die >richtige< Vernunft handelt, als wiederum die Vernunft, und zwar die >richtige Für Hobbes ist es einer der gewichtigsten Einwände gegen die Demokratie, daß sie nicht ohne Rhetorik auskommen kann und folglich zu Entscheidungen mehr impetu animi als recta ratione gelangt, denn ihre Redner richten sich nicht nach der >Natur der Dinge<, sondern nach den Leiden6 Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin i960, S. 115. 427
Schäften ihrer Zuhörer. Dies ist nicht der Fehler der Menschen, sondern der Beredsamkeit, deren Zweck, wie alle Lehrer der Beredsamkeit es lehren, nicht die Wahrheit (ausgenommen zufällig), sondern der Sieg ist, und deren Aufgabe nicht die Belehrung, sondern die Überredung ist.7 Ein merkwürdiger Satz, der die Menschen ausdrücklich von den Wirkungen eines Instrumentes freispricht, das sie nur eben dieser Wirkungen wegen erfunden haben und gebrauchen. Ein merkwürdiger Satz erst recht dann, wenn man ihn konfrontiert mit dem Typus von Rationalität, den Hobbes' Theorie des Staates repräsentiert: die Selbsterhaltung als rationale Motivation des Unterwerfungsvertrages riskiert mit dem unbestimmten und unbestimmbaren Willen des absoluten Herrschers jeden impetus animi, den Hobbes als Korrelat der Rhetorik diskriminiert. Hobbes' Pathologie der Rhetorik führt die Erregung der Leidenschaften auf den metaphorischen Gebrauch der Worte zurück. Auch für ihn ist Metaphorik das signifikante Element der Rhetorik; er meint, sie sei den Leidenschaften angepaßt und damit weit entfernt von der wahren Erkenntnis der Dingen Worauf beruht dieser Zusammenhang von Metaphorik und Leidenschaft, den Hobbes hier als selbstverständlich unterstellt? Für ihn ist die Metapher der Gegensatz zum Begriff; indem sie das Instrumentarium der Vernunft ausschaltet, gibt sie das Feld frei für alles, was der Tradition nach von der Vernunft gezügelt und kontrolliert wird, was sich gern vor der Anstrengung des Begriffs in die Bequemlichkeit der bildhaften Orientierung flüchtet. Hobbes läßt an dieser Stelle eine Beredsamkeit (eloquentia) gelten, die sich der Metapher enthält und aus der Betrachtung der Dinge selbst hervorgeht, die nur in der Eleganz der Darstellung von Erkenntnissen besteht. Der >Natur der Dinge< als einen möglichen Besitz konfrontiert, erscheint die Rhetorik wirklich als ein exzentrisches Kunstmittel. Betrachtet man freilich Hobbes' Theorie des Begriffs, so ist man verwundert, daß seine Ablehnung der Metapher darauf beruht, dem menschlichen Verstand mehr zuzutrauen, als er ihm in der Theorie des Begriffs zuzugestehen vermag. Denn auch der Begriff ist nur ein Kunstmittel, das mit jener >Natur der Dinge< nichts gemein hat. Es geschieht hier nicht beiläufig, daß auf diese Unstimmigkeit in der Kritik der Metapher als dem wesentlichen Element 7 Thomas Hobbes, De Cive X, n . 8 Ebd. X, 12. 428
der Rhetorik der Finger gelegt wird. Sie legt die Vermutung nahe, die Kritik der Metapher unter Berufung auf ihre Affinität zu den Leidenschaften beruhe im Grunde auf dem Widerspruch der Idee des absoluten Staates zu einer Rhetorik, die er als notwendige Eigenschaft des zu Unruhen geborenen Menschen beschreibt. Nun ist in der Tat die Metapher nicht nur ein Surrogat des fehlenden, prinzipiell aber immer möglichen und deshalb einzufordernden Begriffs, sondern ein projektives Element, das sowohl erweitert als auch den leeren Raum besetzt, ein imaginatives Verfahren, das sich im Gleichnis seine eigene Konsistenz schafft. Der rational aus dem Prinzip der Selbsterhaltung deduzierte absolute Staat kommt, wie Ahlrich Meyer erst kürzlich gezeigt hat9, in die Zange der Metaphorik des Organischen einerseits, des Mechanismus andererseits. Solche Leitmetaphorik hat ihre eigene Überzeugungskraft, die gerade aus den möglichen Erweiterungen des metaphorischen Kerns auf diesen zurückwirkt: die Möglichkeit einer organischen Geschichtsphilosophie verstärkt zum Beispiel den organischen Staatstypus; Hobbes selbst hat den Widerspruch seiner organischen Metaphorik für die >Staatsperson< zur Künstlichkeit ihres Ursprunges übersehen - und gerade das ist aufschlußreich, denn das Verdikt der Metapher erschwert die Wahrnehmung ihrer faktischen Hintergrundfunktion. Noch das Verbot der Rhetorik ist ein rhetorischer Vorgang, den dann nur die anderen als solchen wahrnehmen. Das Beispiel Hobbes zeigt, daß Antirhetorik in der Neuzeit zu einem der wichtigsten rhetorischen Kunstmittel geworden ist, für sich die Härte des Realismus in Anspruch zu nehmen, die dem Ernst der Lage des Menschen - hier in seinem >Naturzustand< - allein gewachsen zu sein verspricht. Rhetorik ist deshalb eine >Kunst<, weil sie ein Inbegriff von Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit ist und Wirklichkeit in unserer Tradition primär als >Natur< vorverstanden war. In einer hochgradig artifiziellen Umweltwirklichkeit ist von Rhetorik so wenig wahrzunehmen, weil sie schon allgegenwärtig ist. Die klassische antirhetorische Figur »res, non verba!« verweist dann auf Sachverhalte, die ihrerseits nichts mehr von der Sanktion des Natürlichen besitzen, sondern bereits rhetorische Tinktur tragen. Das macht andererseits die betonte Empfehlung oder Präsentation rhetorischer Stilmittel leicht ein wenig (oder mehr) lächerlich. Man 9 Ahlrich Meyer, Mechanische und organische Metaphysik politischer Philosophie, in: Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969) S. 128-199. 429
schreibt sich das dann als gesteigerten Realismus zu. Die modernen Schwierigkeiten der Rhetorik mit der Wirklichkeit bestehen zum guten Teil darin, daß diese Wirklichkeit keinen Appellationswert mehr hat, weil sie ihrerseits Resultat künstlicher Prozesse ist. So begibt man sich in die spezifisch rhetorische Situation, sich einen Mahnruf deshalb zu sichern, um ihn nicht den anderen zu überlassen: >ad res<, >zur Sache und zu den Sachen !< Es ist Rhetorik, anderen die Voraussetzung zu suggerieren, es sei nötig, wieder oder überhaupt erst zu denken und zu handeln. Wenn die Wirklichkeit >realistisch< zu sehen und zu handhaben wäre, wäre sie schon immer so gesehen und gehandhabt worden. Die Attitüde des retour au réel muß sich daher viel mehr als mit der Realität, die sie verspricht, mit der Erklärung der Illusionen, Blendwerke, Verführungen abgeben, die dabei zu erledigen sind. Jede Rhetorik des Realismus braucht die Verschwörungen, die ihn bisher verhindert haben. Piatos Höhlengleichnis, in dem die Gefangenen vor den Schattenspielen ihrer Höhlenwand das wahre Wirkliche niemals erfahren, wenn sie nicht gewaltsam herausgerissen werden, ist das Modell solcher Entlarvungen: es ist gegen die Rhetorik gerichtet, denn die Machinatoren der Schattenwelt sind die Sophisten als >Bildermacher<, und es ist selbst Rhetorik, indem es auf einer elementaren Metapher des Ans-Licht-Kommens beruht und sie zum Gleichnis für eine absolute Realität erweitert, deren Evidenzverheißung nicht eingelöst werden kann. Die philosophische Wendung von den Schatten zur Wirklichkeit ist von der Rhetorik - und ihr folgend von der Ästhetik - usurpiert worden. Jean Paul hat sie in der »Unsichtbaren Loge« in zwei Sätzen ironisch reflektiert: Ach, wir sind nur zitternde Schatten! Und doch will ein Schatten den anderen zerreißen? Kant hat in der »Kritik der Urteilskraft« die Rhetorik, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen, für gar keiner Achtung würdig erklärt.10 Diese hinterlistige Kunst habe es damit zu tun, die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen. Nun ist hier gar nicht strittig, daß die konstitutive Angewiesenheit des Menschen auf rhetorische Handlungen immer auch eine Anfälligkeit für Rhetorik ist; zur Maschine zu werden, gibt es für ihn Gefahren und Pressionen genug. Die Absichten, diese Schwächen der Menschen io Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 53. 430
zu benutzen, hat die Theorie der Rhetorik immer zugleich bloßgelegt, indem sie ihnen diente. In einer anthropologischen Lokalisierung der Rhetorik ist von diesen Schwächen, nicht von jenen Absichten die Rede. Dabei konvergieren die anthropologischen Zugänge zur Rhetorik auf eine zentrale deskriptive Feststellung: der Mensch hat zu sich selbst kein unmittelbares, kein rein >innerliches< Verhältnis. Sein Selbstverständnis hat die Struktur der >Selbstäußerlichkeit<. Kant hat als erster der inneren Erfahrung jeden Vorgang vor der äußeren abgesprochen; wir sind uns selbst Erscheinung, sekundäre Synthesis einer primären Mannigfaltigkeit, nicht umgekehrt. Der Substantialismus der Identität ist zerstört; Identität muß realisiert werden, wird zu einer Art Leistung, und dem entspricht eine Pathologie der Identität. Die Anthropologie hat nur noch eine >menschliche Natur< zum Thema, die niemals >Natur< gewesen ist und nie sein wird. Daß sie in metaphorischen Verkleidungen auftritt - als Tier und als Maschine, als Sedimentenschichtung und als Bewußtseinsstrom, in Differenz oder in Konkurrenz zu einem Gott -, berechtigt nicht zu der Erwartung, sie werde am Ende aller Konfessionen und aller Moralistik enthüllt vor uns liegen. Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg. Nicht erst seine Situation, sondern schon seine Konstitution ist potentiell metaphorisch. Der schlechteste Platz, den wir wählen könnten, sei der in uns selbst, formuliert Montaigne das Ergebnis seiner Anthropologie als Selbsterfahrung (la pire place, que nous puissions prendre, c'est en nous).11 Er verweist auf den kopernikanischen Umsturz, der als Trauma der Weltinnerlichkeit des Menschen metaphorisch die Skepsis an seiner Selbstinnerlichkeit bestärkt. Selbstüberredung liegt aller Rhetorik im Außenverhältnis zugrunde; sie ergreift nicht nur die sehr allgemeinen praktisch effizienten Sätze, von denen früher die Rede war, sondern das Selbstverständnis aus der Selbstäußerlichkeit. Die kühnste Metapher, die die größte Spannung zu umfassen suchte, hat daher vielleicht am meisten für die Selbstkonzeption des Menschen geleistet: indem er den Gott als das Ganz-Andere von sich absolut hinwegzudenken versuchte, begann er unaufhaltsam den schwierigsten rhetorischen Akt, nämlich den, sich mit diesem Gott zu vergleichen.
ii Michel Montaigne, Essais II, 12. 43 1
Nachwort von Anselm Haverkamp
Die Technik der Rhetorik Blumenbergs Projekt »ehestens Kant«1
Hans Blumenbergs ästhetische und metaphorologische Schriften umfassen zwei Jahrzehnte, die fünfziger und sechziger Jahre, mit einigen Nachkömmlingen, bevor mit der Arbeit am Mythos das vielbändige Spätwerk der achtziger Jahre einsetzt. Dem frühen Ruhm zum Trotz und trotz der Hochschätzung des Spätwerks ist die Blumenberg-Philologie nicht aus den Kinderschuhen herausgekommen. Man spricht von genialen Anfängen und einem Spätwerk, als sei der Autor ein Spätentwickler, dessen Werk am Ende zu reicher Fülle gedieh, nachdem die schmächtigen Nachkriegsversuche, zeitverhaftet wie sie sein mußten, überwunden waren. Wegmarken in dieser rudimentären Chronologie sind trotz bekannter Meilensteine wie der »Nachahmung der Natur« spärlich, nicht zu sagen obskur. Die beiden ersten bedeutenden Bücher, Dissertation und Habilitationsschrift, in atemberaubendem Tempo Ende der vierziger Jahre vollendet, sind nie im Druck erschienen, und die Paradigmen zu einer Metaphorologie, in denen die Schriften der fünfziger Jahre ihren Höhepunkt finden, sind erst nach dem Tod des Autors in einer selbständigen Ausgabe zugänglich geworden. Das geschah nicht ohne sein Zutun, sei es aus Zurückhaltung, sei es aus Überdruß gegenüber dem, was er als unvollkommen, überholt oder gescheitert ansehen mochte, aber in Ausnahmefällen wiederaufzunehmen bereit war. Blumenberg war anders als es die gewaltigen Überbauungen der Arbeit am Mythos erkennen lassen. Noch die großen, wegen ihrer anschaulichen Gelehrsamkeit und ihres anekdotischen Geschicks gerühmten Bände der achtziger Jahre sind begleitet von Stücken der älteren, härteren Prosa pointierter Theoriebildung. Die »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, für zehn Jahre versteckt in einer italienischen Avantgarde-Zeitschrift, und der »Ausblick auf eine Theorie ι Paradigmen zu einer Metaphorologie (i960), Frankfurt/Main 1998, S. 140; im folgenden zitiert als: Paradigmen. -Alle Seiten-Nachweise im Text beziehen sich, wenn nicht eigens angegeben, mit den entsprechenden Kurztiteln auf die vorliegende Auswahl. 435
der Unbegrifflichkeit«, als Nachtrag einer wissenschaftshistorischen Bilanz zur Metapherntheorie verfaßt, zeigen, daß die frühen Ansätze weder überholt noch vergessen waren, im Gegenteil mit größter Schärfe in den Vordergrund treten konnten. Das Kapitel »Im Fliegenglas«, überschüssig wie es ist unter den Schluß-Exkursen der Höhlenausgänge, ist das letzte bedeutende Beispiel. In ihm findet der Grundgedanke der Metaphorologie nicht nur ein Echo, sondern eine radikal neue Perspektive. Dies anhand eines Autors, der nicht nur bei Blumenberg die Provokation Heidegger befrieden hilft, Wittgenstein. »Die Problematik der Höhlenausgänge liegt darin, daß man in einer Höhle nicht darstellen kann, was eine Höhle ist«, umreißt Blumenberg das Terrain des weitläufigen Werks, auf dem Wittgenstein die letzte, unübertreffliche Denkfigur bietet.2 Am Ende der Höhlenausgänge, als deren letzter, erweist sich das Fliegenglas als Gleichnis für die Höhle der Phänomenologie. Es zeigt, wie die phänomenale Falle, die in der Politeia totalitäre Züge annahm, in den »Wirklichkeitsbegriff« der Phänomenologie eingebaut ist. Als die der Phänomenologie angemessenere Rezeption kann es den »Rezeptionsunfall« Heideggers nicht vergessen machen, aber es wirft ein Licht auf die Anfälligkeit, die Verführbarkeit des Philosophen. Blumenbergs Projekt unter den Überwucherungen des Spätwerks zu rekonstruieren, in seiner Re- oder De-konstruktion der Philosophie Heideggers und Wittgensteins lesbar und nachvollz Höhlenausgänge, Frankfurt/Main 1989, S. 89. Das Szenario dieses Zurückkommens auf das metaphorologische Design ist bemerkenswert. Es ist, als erlaube sich Blumenberg erst am Schluß wieder in der alten Sache und auf dem alten Niveau tätig zu werden. Tatsächlich bieten die unter der Überschrift »Andere doch keine letzten Gefangenschaften« stehenden letzten Kapitel der Höhlenausgänge eine Genealogie des eigenen Ansatzes. Das »Fliegenglas« folgt auf die Würdigung der Platon-Verdienste des Lehrers Walter Bröcker, welche auf eine in dieser Härte bis dahin bei Blumenberg unerhörte Abrechnung mit dessen Lehrer Heidegger folgt, sowie davor Freud und Husserl, um danach, im vorletzten Kapitel, an »Hitlers letztem Funkspruch« den als Alternative zu Heideggers Seinsgeschichte eingeführten »Wirklichkeitsbegriff« in Stellung zu bringen. Zwischen Heidegger und Hitler läßt geballte Wittgenstein-Lektüre dem »Seinsbegriff« Heideggers keine Chance: »dieser Abweg oder Umweg bietet sich nicht mehr an« (S. 806). Dabei stimmt Blumenberg mit Heidegger überein: die Crux der Phänomenologie liegt bei Piaton, aber Wittgenstein zeigt die Piaton gemäßere Lösung. Das Buch endet nicht damit; Blumenberg hatte immer mehr zu sagen. Am Ende steht, im reinen unkommentierten Zitat »Ein anderer Mythos«, ein Gleichnis (würde Wittgenstein sagen) aus dem Babylonischen Talmud. 436
ziehbar zu machen, ist eine unsichere Sache, solange man die Ausgangskonstellation nicht im Blick hat. In den frühen Schriften liegt sie glasklar, in deutlichen Abstufungen und Weiterentwicklungen vor Augen. Die Frage der Diskontinuität, der Ablenkung, Umlenkung oder Aufgabe der ursprünglichen Projekt-Umrisse wird erst in den siebziger Jahren virulent, nach der Fehlrezeption, der Blumenberg sein zweites großes Werk, Die Genesis der kopernikanischen Welt erlegen sah.3 Zwar fand er die gelehrte Konzeption und die Eleganz der historischen Darstellung gewürdigt, die metaphorologische Pointe dagegen völlig übersehen. Das Projekt der Metaphorologie kam zum Stillstand; es zog in der Lesbarkeit der Welt eine Vielfalt von Miscellanea nach sich, aber so viele grundlegende Merksätze man daraus gewinnen mag, es ist keine methodische Abhandlung mehr. Hin und wieder finden sich noch Ansätze einer methodischen Vertiefung wie in dem Stück »Paradigma, grammatisch« aus den verstreuten »Beobachtungen zur Metapher«, und der Aufsatz »Geld oder Leben«, der das Wort »metaphorologisch« im Untertitel trägt, verspricht ein kapitales neues Paradigma, dessen Stelle im Kontext der alten Paradigmen, aber auch des neuen »Ausblicks« unerörtert blieb. Nun war schon die Metaphorologie nicht, als was sie fast ratlos gelobt wurde, nur die gründlichste Abhandlung des rhetorischen Phänomens der Metapher. Das war sie gewiß auch in dem paradigmatischen Sinne, der im Titel stand, und sie fügte sich darin dem geistesgeschichtlichen Stand der Zeit nur zu gut, der in der Figur der Metapher für diskutabel hielt, was an Rhetorik insgesamt diskutabel sein mochte.4 Die »Umkehrung der Blickrichtung«, deren 3 Der ohne Zweifel große Erfolg der Legitimität der Neuzeit war womöglich in der Sache gar nicht angemessener; er lag an einer theologiegeschichtlichen Provokation, die sich anhand der Wissenschaftsgeschichte nicht wiederholen ließ, deren wissenschaftshistorische Konsequenz im Gegenteil nichts als eine Art übermäßiger Fleißarbeit schien. Daß er die handliche façon de parler von der »Säkularisierung« im ersten Buch nicht vom Tisch gebracht hatte, zeigte sich am zweiten, dem man die metaphorologische Struktur sowenig ansah, wie man sie der Anwendung im ersten abgenommen hatte. Das hätte nicht überraschen dürfen, denn daß die auf diese Weise in der Rezeption bestätigte theologische Präokkupation der Geistesgeschichte den Fortschritt der Naturwissenschaften als Epiphänomen ihrer selbst mißversteht, ist Teilaspekt des Buches. 4 Der begriffsgeschichtliche Anlaß, der am Ort der Erstveröffentlichung, dem Archiv für Begriffsgeschichte, auf der Hand lag, tat ein übriges, Blumenberg unter den Kompromiß dieser forschungspolitischen Errungenschaft, der er 437
Programm im »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« ausformuliert wurde, deren Tragweite im späteren Werk aber dahinstehen sollte (S. 193), zitiert die »kopernikanische Wende« Kants, mit der, recht besehen, die Reichweite der Paradigmen problematisch wurde; allenfalls in der Wissenschaftsgeschichte Thomas Kuhns schien ihr eine regionale, dem historischen Charakter der Experimentalwissenschaften geschuldete, via Wittgenstein aufgeklärte Bedeutung zu bleiben (Paradigma grammatisch, S. 72). Das indirekte Eingeständnis des »Ausblicks«, mit der Metapher womöglich auf das falsche Pferd gesetzt zu haben, faßt neu, wofür die Metapher wohl das richtige, aber inaktuelle Paradigma war: »Die modernen Schwierigkeiten der Rhetorik mit der Wirklichkeit«, heißt es im Neuansatz der »Anthropologischen Annäherung«, »bestehen zum guten Teil darin, daß diese Wirklichkeit keinen Appellationswert mehr hat, weil sie ihrerseits Resultat künstlicher Prozesse ist« (Annäherung, S. 43o).5 sich nicht verschließen konnte, zu verbuchen. Immerhin erwies ihm Joachim Ritters Einleitung in das auf dieser Grundlage begonnene Historische Wörterbuch der Philosophie ausführlich die Ehre, als das schlechthin Nicht-Machbare nicht kommensurabel zu sein. Er war es tatsächlich nicht, denn die Metaphorologie barg, wie Ritter klar einsah, den Stachel einer radikalen Alternative. Sie war mehr als eine »subsidiäre Methodik für die gerade ausholende Begriffsgeschichte«, als die Blumenberg eigenhändig das abgetane Vorhaben verleugnet, als sei er rückblickend von der eigenen Kompromißbereitschaft enttäuscht (Ausblick, S. 193). Die Metaphorologie hätte, seine Vorzugsmetapher zu zitieren, das Wörterbuch »gesprengt« statt ergänzt. Tatsächlich trifft der Satz nicht auf die Metaphorologie zu, sondern was in der Lesbarkeit der Welt daraus werden sollte: ein ins Subsidiäre rückgestuftes begriffsgeschichtliches Komplement des Spätwerks seit der Arbeit am Mythos. Daß Begriffsgeschichte dem Autor eine liebe Gewohnheit und virtuos geübt blieb, läßt den Verlust nicht leichter verschmerzen. 5 Der Einbau des »Ausblicks« in das Bändchen Schiffbruch mit Zuschauer, dem Blumenberg den Untertitel »Paradigma einer Daseinsmetapher« gegeben hat, ist von emblematischer Undurchsichtigkeit. Um es vorsichtig zu sagen, er täuscht. Keine Daseinsmetaphorik, so paradigmatisch sich das bloße Dasein im Blick des allfälligen Zuschauers offenbaren mag, verheißt der »Ausblick«, sondern eine Revision der Paradigmatik der Metaphorologie. Diese war in dem kurzen Stück »Paradigma, grammatisch« immerhin als ein syntaktischer Grenzwert faßbar und daraus wird in der »Anthropologischen Annäherung an die Rhetorik« die Konsequenz gezogen. Beide sind in den Sammelband Wirklichkeiten in denen wir leben aufgenommen, der nach dem »Ausblick« erschien, von dessen Programm aber methodisch überflügelt wird. Wie die Cassirer-Rede am Ende des Bandes zeigt, zog sich Blumenberg trotz des doppelt, in »Annäherung« und »Ausblick« neu gefaßten, tiefer gelegten Ansatzes auf eine Minimalkonzeption im Stil der »symbolischen Formen« zurück. 438
Der Befund der Metapborologie, den »ehestens Kant« adäquat diagnostiziert hätte und Blumenberg ihm als Anstoß für die »tiefere Untersuchung« der Paradigmen explizit dankt (S. 12), hatte mit Kants Entdeckung auch schon ihre historische Grenze offenbart. Blumenberg sah diese Begrenzung als Crux jeder Metaphorologie vorgezeichnet, hatte aber offengelassen, ob Kants transzendentale Reflexion, die ihm als Modell dienen sollte, über diese Grenze mehr als transzendental, in einem »radikaleren«, historischen Sinne erhaben sein könnte. Der »eigentümliche Sachverhalt«, den Blumenberg gleich zu Beginn der Metapborologie zu bedenken gibt, »daß die reflektierende >Entdeckung< der authentischen Potenz der Metaphorik die daraufhin produzierten Metaphern als Objekte einer historischen Metaphorologie entwerten« müsse (S. 10), scheint mit Kants transzendentaler Wende bereits erfüllt. Die grundsätzliche »Verborgenheit« der Metapher, mit der Blumenberg Heideggers »Seinsverborgenheit« beim Wort nimmt und auf historisch gegebene Zustände sprachlicher Erschlossenheit von Welt bezieht, scheint präzise bei Kant der »authentischen Potenz« verlustig gegangen zu sein. Daß die von der Rhetorik unterstellte Wirklichkeit »keinen Appellationswert mehr hat«, ruft eine Nachfolgeformation auf den Plan, die Blumenberg mit Kant Anthropologie nennt; sie läßt die Menge der rhetorischen Konstellationen als vorkritische Wirklichkeitsbegriffe hinter sich. Die Wirklichkeit kommt auf einen anthropologischen Begriff, aber es ist eine neue Figur, die wie die alten Begriffe von Wirklichkeit diese produziert, modelliert, figuriert. Weit davon entfernt, der Anthropologie als solcher das Wort zu reden, bezeichnet der Ausdruck »Anthropologische Annäherung an die Rhetorik« einen neuen Stand von Rhetorik, auf dem Anthropologie der Rhetorik an verborgener Wirkung nahekommt und sie an nötigem »Appellationswert« übertrifft. Sie ist eine transzendental radikalisierte Rhetorik, deren absolute Metaphern, Nietzsche beizuziehen, »Anthropomorphismen« sind und als »Anthropologica« - den Aesthetica Baumgartens entsprechend - neue Evidenz schaffen und hermeneu tisch geltend machen (Annäherung, S. 418). In der Genesis der kopernikanischen Welt war die transzendentale Wende mit der historischen Einsicht Kants in die »kopernikanische Wende« des Kopernikus verbunden und als metaphorologische Wende zur anthropologischen Welt markiert. Schon unter den Paradigmen, die alles andere als eine willkürliche Konstellation 439
vorstellen, war diese Möglichkeit vorgezeichnet im vorletzten Paradigma der »Metaphorisierten Kosmologie«. Es steht nicht von ungefähr an dieser Stelle, denn in ihm wird »die kopernikanische Umformung des Kosmos zum Orientierungsmodell«, und die Frage, deren Beantwortung dieses Modell anbietet, ist keine andere als die »Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt« (Paradigmen, S. 144). Mit »rein theoretischen und begrifflichen Mitteln« war sie »noch nie [zu] beantworten« gewesen - der antiken Erkenntnispragmatik hatte sie sich nicht stellen können, weil sie erst dem Schöpf ergott, seiner Stelle im Kosmos geschuldet ist. Als anthropologische Frage folgt sie aus dem Umformungsprozeß des Kosmos zu einem Orientierungsmodell, in dem diese Stelle vorgesehen ist. Blumenberg läßt zur Formulierung des Befundes den Titel Max Schelers, Die Stellung des Menschen im Kosmos, nicht aus, denn er gibt ihm Gelegenheit, die universalhistorische Fehlverwendung des Wortes Kosmos zu korrigieren und ihn durch den phänomenologischen Weltbegriff zu ersetzen, der sich allein aus dem Wandel der nurmehr in einem metaphorischen Sinne »kosmischen« Orientierung erklärt. Allein metaphorologisch, durch keine sachliche Referenz gestützt, impliziert die Genesis der kopernikanischen Welt den Übergang vom rhetorischen zum anthropologischen »Welt«bild. Die »Anthropologische Annäherung« indiziert keine anthropologische Wende des Autors, wie man immer wieder hört; sie zielt im Gegenteil auf die meta-rhetorische Radikalisierung des überholten metaphorologischen Projekts, nachdem dieses die Tücken der Historisierung offenbart hatte. Diese lagen in der mangelnden Historisierung der Phänomenologie und gingen mit der metaphorologischen Differenzierung Hand in Hand. Die Absicht, die in der Einleitung zu den Wirklichkeiten in denen wir lehen formuliert wird, »eine Phänomenologie der Geschichte« zu entwerfen (S. 6), ist im ersten Essay der Wirklichkeiten nach ihrem Erkenntnisinteresse benannt: Unter dem Titel »Lebenswelt und Technisierung« postuliert er den Perspektivwechsel vom methodischen Thema »Metapher« auf den phänomenologischen Horizont »Wirklichkeit«; er liefert die phänomenologische Begründung für das, was die »Anthropologische Annäherung« methodisch motivieren, zugleich aber in der Anwendung begrenzen soll.6 Im Hori6 »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«, (1963). In: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981. Die Engführung beider, phänomenologischer Wahrheit und metaphorologischer Methode, 440
zont von »Wirklichkeit« und »leben« versinken die Schichten der verflossenen metaphorologischen Umbesetzungen. Anthropologie verleugnet die figurale Genealogie ihres Wirklichkeitsbegriffs, nivelliert ihn zum »Mythos«. Wirklichkeiten in denen wir leben ist die einzige Aufsatzsammlung Blumenbergs; vom Autor selbst komponiert, entwirft sie einen Übergang von den frühen Schriften auf den Horizont der Arbeiten nach der Arbeit am Mythos. Eine vergleichbar übergreifende Absicht oder Perspektive, vergleichbar der »Phänomenologie der Geschichte« in den Wirklichkeiten, läßt sich für das Gros der frühen methodischen Schriften nicht fingieren. Das Feld ist zu reichhaltig, um eine solche Flurbereinigung zuzulassen, zumal sie der Autor wohl nur wieder in einiger Härte gegen sich selbst vorgenommen hätte. Blumenbergs Tendenz zur Anknüpfung an Gegebenes folgend, empfahl sich für den Titel einer größeren Auswahl die Verwendung von ihm selbst nicht gescheuter Begriffe, die ein Problemfeld deskriptiv benennen, ohne eine terminologische Präferenz zu unterstellen. Eine genauere Konstellierung unterliegt dem Versuch der Gliederung nach den Aspekten Poetik, Metapher und Rhetorik, die der Vorliebe des Autors für paläonyme Bildungen nachgeht: dem Willen zur Wiedergewinnung unterschätzter oder historisch verborgener Termini, die, ins rechte Licht gesetzt, verkannte Möglichkeiten erkennen lassen. Poetik ist ein solches Paläonym bis heute, die Metapher war es seinerzeit (und nicht zuletzt für den Jargon der Eigentlichkeit); dazu kommt die abschätzige Bedeutung von Rhetorik, gegen die Blumenberg entschiedener als irgendein anderer in seiner Generation angearbeitet hat. Daraus erhellt sich, daß jeder dieser Termini, indem er neu für sich spricht, an der Stelle anderer, ihm vorgezogener steht: Poetik an der Stelle von Ästhetik, Metapher an der Stelle von Hermewar das Diskussionsangebot der gleichzeitigen, programmatischen Vorlage zu Poetik und Hermeneutik I, »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans«, in der die Poetik des Romans methodische Provokation hermeneutischer Horizontabhebungen ist (1964). Zum Programm der Rezeptionsästhetik ist die Methode in der Konstanzer Antrittsvorlesung von Hans Robert Jauß erhoben worden, Literaturgeschichte als Provokation (1967). Der andere Philosoph der Stunde, Dieter Henrich, ließ es sich nicht nehmen, mit dem Vorwurf des »vorkritischen« Rückfalls den kantischen Ehrgeiz von Blumenbergs Entwurf auf die Probe zu stellen. Poetik und Hermeneutik I. Nachahmung und Illusion, hrsg. v. Hans Robert Jauß, München 1964. Diskussion, S. 225 f. 441
neutik, Rhetorik an der Stelle von Technik, was nicht heißt, daß Blumenberg die Worte ästhetisch, hermeneutisch und vollends Technisierung vermiede, er sie aber unter den methodischen Vorzeichen von Poetik, Metaphorologie und Rhetorik anders besetzt, in bestimmter Absetzung vom zeitgenössischen Usus. Die schwierige Raffinesse, mit der er eine terminologische Umfirmierung grundlegender philosophischer Termini verfolgt hat, ist der Rede von der »Phänomenologie der Geschichte« wie keiner anderen abzulesen. Was in ihr als Auf-den-Plan- und In-Erscheinung-Treten von Geschichte thematisch werden soll, ist die epoché der Technisierung. Man erwartet darunter alles andere als Ausführungen zu Poetik, Metapher, Rhetorik, und doch ist dies die historische Bahnung, auf deren Spur Blumenberg der Provokation der Technisierung als dem zentralen, unhintergehbaren Zeitproblem der Lebenswelt nachgeht, das er als Hypothek von Husserl und Heidegger übernommen hat. Dabei ist entscheidend, was Blumenberg als eine erste, seit der Habilitationsschrift kaum mehr thematisierte Vorentscheidung praktiziert, die durchgängige Ersetzung des unreflektierten Ausgangs von regionalen (in der Terminologie der Rhetorik topischen) Gegebenheitsweisen der Phänomenologie durch die in diesen immer schon meta-rhetorisch mit-gegebene räumliche Vorstruktur der Sprache, des »Logos«. Vor der anfänglichen, transzendentalen Formel, die das Muster für die Phänomenologie der Geschichte ist - »Kosmos und Logos waren Korrelate« - liegt als phänomenologische Urspur die Verräumlichung dessen, was die Habilitationsschrift »ontologische Distanz« nennt. In dem grammatischsyntaktisch vor-ausgelegten Vor-raum der ontologischen Distanz spielt die proto-aristotelische »Metakinetik geschichtlicher Sinnhorizonte«, der die Paradigmen der Metaphorologie zu danken sind (Paradigmen, S. 6, 13). Die Habilitationsschrift nennt sie den »Inbegriff des Geschichtlichseins selbst«, den »gründigsten Strukturverhalt von >Geschichte<« (S. 27). In einem kompakten Résumé bezieht Blumenberg die »Metakinese« des ontologischen Horizontes, von der hier erstmals die Rede ist, auf die grundlegende »räumliche Metaphorik« des »ontologischen Bewegungsbegr'nies« (seine Hervorhebungen) und postuliert ihn als grundlegende »Dimension geschichtlicher Metakinetik«.7 7 Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Habilitationsschrift, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 442
Was sich in diesen Begriffen auf Heideggers Spuren als das Weiterverfolgen einer aristotelischen Platon-Kritik ausnimmt, stellt keine explizite Neuaufnahme oder Weiterführung der von Aristoteles selbst rehabilitierten Rhetorik dar, sondern eine ganz von der prägenden Kraft der Negativ-Fixierung getragene Historisierung des Piatonismus als eines Vorgängersyndroms der Phänomenologie, die sich in Husserls Krisis vor ihren historisch blinden Fleck gestellt findet und die platonische Urszene, das Nein zur Rhetorik durchzuarbeiten beginnt. Vor den Epochen dieser phänomenologischen Vorgeschichte, deren transzendentale Aufklärung Blumenbergs Metaphorologie auf Augustinus, Kant und Nietzsche datiert, liegt die ursprüngliche, antike Formation, aus welcher der Antrieb der poiesis als das wichtigste metakinetische Moment in die Moderne der Phänomenologie herüberreicht: »mit welchem >Mut< sich der Geist in seinen Bildern selbst voraus ist und wie sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft«, ist der letzte Satz der Einleitung in die Metaphorologie, mit dem Blumenberg nicht die leidige vorrationale Rolle des Poetischen für die Findung philosophischer Begriffe aufwärmt, sondern umgekehrt den genuin philosophischen Anteil an der »Poetik« des Machbaren herausstreicht. »Poetik« ist deshalb dezidiert nicht Ästhetik, sondern als Antipode zur Hermeneutik eine Voraussetzung von Ästhetik, die von dieser in der Rezeption nicht eingeholt werden kann; in der literarischen Produktion findet sie jenen ausgezeichneten Niederschlag, an dem ablesbar ist, wieweit er als ein ästhetischer einholbar ist. 1950. S. 8-iod,mitAnm. 3a-n(S. 218). Der Seiten-und Anmerkungszählung zufolge nach dem Abschluß des Manuskripts revidiert, bringt diese Stelle die Arbeit auf den letzten Stand. Karl Ulmers Freiburger Habilitationsvortrag von 1944, verspätet publiziert unter dem Titel »Die Wandlung des naturwissenschaftlichen Denkens zu Beginn der Neuzeit bei Galilei« gibt Blumenberg eine neue Version der aristotelisch-galileischen Differenz vor: »Es wandelt sich das, was die Grundphänomene im Bereich der Bewegung sind.« Die »Struktur des Wißbaren« wandelt sich: »An die Stelle der Fügung, die auf der Idee physis beruht und die als taxis bezeichnet wird, tritt die Fügung, die auf der Idee der Gesetzmäßigkeit beruht.« In: Symposion II (1949), S. 293-349: hier S. 347, 348.Der Sachverhalt, nicht der Begriff der Verräumlichung, den Blumenberg nicht eigens auszeichnet, zeigt eine im Ausgang von Husserl und Heidegger begründete Nähe zu der Grammatologie Jacques Derridas (1967), den Schriften zur platonischen »Chora« sowie der »Mythologie blanche« (1971). Siehe Vf. »Paradigma Metapher, Metapher Paradigma« (1985). In: Die paradoxe Metapher, hrsg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt/Main 1998. 443
Pauschal gesagt ist Poetik die »Idee des schöpferischen Menschen«, die im Untertitel des Aufsatzes »Nachahmung der Natur« steht und in der Nachahmung der Natur ihren Horizont hat (S. 18). Dessen Abschattungen sind den Paradigmen der Metaphorologie weitgehend synchron, führen aber in der Naturarbeit über deren technische Beherrschung hinaus zum ersten, frühen Korrelat von Lebenswelt: dessen, was Blumenberg an der Stelle des »Seins« bei Heidegger »Wirklichkeitsbegriff« nennt. In der Thematisierungsleistung ist dieser Begriff des Begreifens ein philosophischer und literarischer zugleich; er benennt den Horizont, in dem alle Literatur philosophisch ist. Aus der Koinzidenz von Natur und lebensweltlicher »Wirklichkeit«, ihrer philosophisch selbstbewußten Erfassung konform, erwächst die »Möglichkeit des Romans«; auf ihr beruht dessen Rolle als exemplarische Gattung der Moderne (S. 49). Die der Thematisierungsleistung des Romans entgegengesetzte, rein ästhetische Seite ist die in stetem Bezug auf Valéry beschriebene, der Tradition der lyrischen Moderne in vielen Hinsichten verpflichtete Auflösung der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes, die ihrerseits die strukturelle Thematisierung ontologischer Distanz in sich trägt, in der linguistischen Gegebenheit des sprachlichen Materials verbirgt. Sie überschreitet, genau genommen, das phänomenale Gegebensein und damit auch die Zuständigkeit des Wirklichkeitsbegriffs (S. 18). Wenn es für Blumenberg ein Thema im forschungsrhetorischen Horizont von Poetik und Hermeneutik geben konnte, war es der literarische Anteil an der phänomenologischen Leistung der Moderne.8 Der dem impliziten Begriff der Wirklichkeit entsprechende poetologische Begriff, der die immanente Sprachstruktur auf den angemessenen hermeneutischen Nenner bringen soll, ist der der 8 Anfang der sechziger Jahre soll Blumenberg auf den Namen der von ihm mit seinem Kollegen Hans Robert Jauß ins Leben gerufenen Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik gekommen sein, und Gründe für diese prägnante Firmierung entfielen mit der Legende, kein anderer als Blumenberg hätte auf sie verfallen können. Als »Prägnanz im Gegensatz zu Indifferenz« hat Blumenberg später die Aura von »Bedeutsamkeit« erklärt (Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979, S. 78). Was impliziert, daß mit dieser Prägung mehr intendiert war als ein Logo für das Konsortium der Literaturwissenschaftler und Philosophen, das die Gruppe in Gestalt von Blumenberg und Jauß begründete. Der Gegensatz von Poetik und Hermeneutik in Blumenbergs Werk spricht für eine Kompromißformel, in der die Hermeneutik, die Blumenberg nicht teilte, wie auch die Poetik, die er vorschlug, nicht indifferent sein konnten. 444
»Sprachsituation«. Er zeigt frühzeitig an der paradoxen Kommunikationsstruktur der Lyrik, was jenseits von Metaphorologie der Begriff der Unbegrifflichkeit leisten soll: »Der Prozeß der Poetisierung, der sich an der Sprache vollzieht, ist [...] vergleichbar mit dem Prozeß der theoretischen Vergegenständlichung«, aber dies nicht in romanhafter Thematisierung, sondern in der Entgrenzung zu »elementarer Vieldeutigkeit« vor jeder mythisch narrativen Diskursivierung oder Verdichtung (Sprachsituation, S. 146, 155). Eine Metaphorologie der modernen Lyrik (aller Lyrik, wie Paul de Man gezeigt hat) ist deshalb fehl am Platze: der Begriff der »absoluten Metapher«, den Hugo Friedrich in die Struktur der modernen Lyrik eingeführt hatte, ist die Verlegenheitsverwechslung eines elementar Vor-metaphorischen mit dem metaphorologisch Verborgenen.9 »Metapher« als Gegenstand von Metaphorologie hat entgegen den Erwartungen (und oft genug zu deren Erleichterung) mit Ästhetik nichts zu tun. Darin kommt Blumenberg mit dem von ihm vermutlich nicht gelesenen William Empson überein, der »ambiguity« an der Stelle der romantischen Metapherntheorie seines Lehrers I. A. Richards als poetisches Prinzip der Moderne etablierte. Es ist der Effekt von »ambiguity« auf die grammatischrhetorische »structure of complex words«, könnte man sagen, der Blumenbergs »Sprachsituation« zum Resultat hat. Im Unterschied zu der destruktiv-regenerativen Funktion der poetischen Mittel geht es in Blumenbergs Metaphorologie um die Latenz von Technik oder, wie es in dem frühen Grundsatzpapier über »Natur und Technik« heißt, einer »Latenthaltung« von Technik, die als »Tech9 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (1957) war die gegebene Provokation des Kolloquiums Poetik und Hermeneutik II. Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, hrsg. v. Wolfgang Iser, München 1966. Zu dessen theoretischer Orientierung wurde »Sprachsituation und immanente Poetik« verfaßt; Paul de Man nahm das Unternehmen zum Exempel seiner grundsätzlichen Erwägungen »Lyrik and Modernity« in Blindness andlnsight (1971). Blumenbergs rhetorische Erläuterung der »absoluten Metapher« im Kolloquium fällt leider hinter den eigenen Entwurf zurück auf eine verbesserte Version von Friedrich (Diskussion, S. 457, 492). Tatsächlich dürfte die für Blumenberg maßgebliche Verwendung des »absolut« der absoluten Metapher nicht in Friedrichs Lyrik, sondern in Kants Behandlung von Newtons »absolutem Raum« liegen, genauer in Ernst Cassirers Referat desselben in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie (1921). Vf. Mass Times Accélération: Rhetoric as the Meta-Physics of the Aesthetic. In: Quiparle 12.1 (2000), S. 127-143. 445
nisierung« in der Moderne lebensweltlich beherrschend wird (Natur und Technik, S. 260). Die rhetorische téchne, deren verborgenes Wirken in der Metaphorologie zu verfolgen ist, repräsentiert nur eine Phase, deren Ränder im Verhältnis von Piatonismus und Phänomenologie untergründig korrespondieren. Ihre sukzessive metaphorologische Diagnose ist bereits bei Augustinus gegen Ende der Antike angelegt und wird bei Kant auf dem Höhepunkt der Aufklärung manifest; vollends bei Nietzsche liegt sie auf der Hand. »Licht als Metapher der Wahrheit« ist aus gutem Grund nicht Teil der Metaphorologie, so sehr sie auch teil daran hat, denn dieses blendende Stück ist selbst kein Paradigma dieser Phase, sondern das Kernstück der antiken Vorgeschichte der metaphern-rhetorischen Paradigmatik, des platonischen Phantasmas der von Derrida an Aristoteles rekonstruierten »mythologie blanche«. Zum ProtoParadigma wird das Licht durch Augustinus, der die Lichtmetaphysik metaphorologisch reduziert und damit, Kants kopernikanischer Revolution am anderen Ende der Formation vorgreifend, die Paradigmatik der absoluten Metapher am unvordenklichen Modell durchspielt (Licht, S. 15 6). In der Metapher des Lichts wird durchsichtig, was die schiere Opposition von Natur und Technik begründet und in ihr zum Eigengewicht der »sich selbst sinngebenden Dynamik der Technik« verdichtet ist (Natur und Technik, S. 261). Als das primordiale Modell der Absolutheit aller metaphorologischen Verborgenheit erhellt das Licht den Abgrund, über den hinweg die Natur »selbst schon eine Verformung«, die nachträgliche »Pointierung der ursprünglichen Weltstruktur«, also des Kosmos ist; so Blumenbergs spätere Fassung des Arguments in »Lebenswelt und Technisierung« (S. 20). Seither ist Technisierung unterwegs zur Sprache und die Sonne, wie Derrida mit Aristoteles sagt, immer schon ein »Lüster«, ein Kunstprodukt. 10 10 Die »Mythologie blanche« als aristotelisches Korreferat zu Blumenbergs Licht-Abhandlung zu lesen, hat einen bei der gegenseitigen Unkenntnis beider Autoren fast geisterhaften Effekt, ist aber nicht ohne philologische Chancen. Der Vorwurf einer gewissen neoplatonischen Schwäche Blumenbergs, sei es Vorliebe oder Fixierung, ist durchgehend. Er wird idealtypisch faßbar in der denkwürdigen Diskussion zwischen Blumenberg und Pierre Aubenque, Verfasser des bedeutenden, von Heidegger nicht unbeeindruckten Werks über den Seinsbegriff des Aristoteles, Le Problème de l'être chez Aristote (1956). Derrida zitiert Aubenques Ausarbeitung der Mimesis in ihrer natürlichen Fixierung an eine Physis qua Sonnen-System, einen Rückbe446
»Rhetorik« ist auf diese Weise immer auch Meta-Rhetorik. Im Unterschied zur Technik, die allein in Gestalt der rhetorischen téchne zu selbstreflexiver Anwendung oder zur Ablenkung vom Ziel gegenständlicher Bearbeitungen imstande ist, macht die Rhetorik das metakinetisch-technisierende Momentum möglich, durch das die »Frage nach der Technik« von Heidegger zur allgegenwärtigen »Schickung des Geschickes« erhoben werden kann. Blumenbergs Skizze zu »Natur und Technik« geht von dieser Frage aus; er zitiert als einzigen Referenztext Heideggers Humanismus-Brief, dessen Wortlaut durchscheint in der »letzten Phase möglicher technischer Realisierung« (S. 265). In den Heidegger gewidmeten nachgelassenen Stücken der Verführbarkeit des Philosophen wird Blumenberg »den damals schwerbegreiflicherweise berühmten Vortrag >Die Frage nach der Technik<« nur noch abfällig nennen; als »Schickung des Geschickes« ist Technisierung nicht mehr die Frage, der totalitär-platonische Rest kein Grund mehr zur Sorge.11 Der dynamisierte Begriff der Technisierung terminozug, wie er hinzusetzt, »der Beziehung von Erde und Sonne im System der Wahrnehmung«. »La Mythologie blanche« (1971). In: Marges. De laphilosophie, Paris 1972, S. 244, 251. Auf dem Kolloquium »Le Néoplatonisme« in Royaumont 1969 befragt Aubenque Blumenbergs »Neoplatonismen und Pseudoplatonismen« zum selben Sachverhalt und erklärt die vorgelegte Interpretation der kinesis für »nicht aristotelisch, sondern vielleicht plotinisch«. Der Austausch ist im Detail von zu großem Interesse, um in Kürze referierbar zu sein; er trifft den Kern des Blumenbergschen Begriffs der Metakinetik genau, das ist: der platonischen Voraus-Setzung oder plotinischen Nachkonstruktion des aristotelischen Begriffs. Aubenques Abschwächung »Das ist doch eine Metapher« kontert Blumenberg trocken »Das glaube ich auch«. In: Le Néoplatonisme. Colloques Internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique, Paris CNRS 1971. Diskussion, S. 473/74. Die Diagnose des »Pseudoplatonismus« impliziert, wo Aristoteles Rhetorik diszipliniert, eine wilde Metaphorologie, die im Zuge der von Blumenberg wirkungsgeschichtlich gewendeten Proliferation eine prozeßartige »Seinsentfaltung« nach sich zieht (Neoplatonismen, S. 295). 11 Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt/Main 2000, S. 104. Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik« (1953). In: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 26. Blumenberg hat das Design von »Natur und Technik« über »Technik und Wahrheit« bis »Lebenswelt und Technisierung« mehrfach verändert und die Änderung von der »Natur« zur »Wahrheit« in der Zuspitzung auf die »Lebenswelt« als nötige Korrektur kommentiert (Lebenswelt und Technisierung, S. 52, Anm. 2). Auch hier diskreditiert der Autor umstandslos die ältere Fassung auf ihr unnötiges Mißverständnis hin: Daß »der Blick auf die Sache«, wie er schreibt, »weithin verstellt [ist] durch die Herrschaft der (...) Antithese von Technik und Natur« (S. 12), ist Teil schon der alten These; die Verstellung ist rhetorischer Natur und Teil der 447
logisiert die Metakinetik der Metaphorologie. Metaphorologisch entspricht »Technisierung« dem terminologisierten Paradigma »Wahrscheinlichkeit« (Paradigmen, S. 117), ist Technisierung die »letzte Phase« totalisierter Wahrscheinlichkeit, die nun nicht einmal mehr wahrscheinlich zu sein braucht, um lebensweltlich »wahr« zu werden und es zu bleiben. Technisierung ist die (verborgene) Latenz der Technik in der Rhetorik, die sich über die Rhetorik hinaus verwirklicht, durchsetzt und lebensweltlich wahr wird. Der Schritt von der metaphorologischen Ausprägung des Paradigmas Wahrscheinlichkeit zur Technisierung sprengt die Metaphorologie. Nicht nur entzieht Technisierung dieser die platonisierende Illusion; sie re-literalisiert über die metaphorologische Terminologisierung hinaus die fundierende Verräumlichung der Metakinese in einem Netz techno-logischer Verknüpfungen, deren Enden ganz unmetaphorisch in den lebensweltlichen Alltag hineinragen. Unmittelbar nach der Metaphorologie signalisiert der Lebenswelt-Aufsatz den meta-rhetorischen Wechsel von der Metakinetik zur Technisierung, der zur Arbeit am Mythos des im Prozeß der Technisierung verdichteten Verblendungszusammenhangs wird, mitsamt den in diesen Prozeß immer neu eingebauten mythischen Entlastungsgeschichten. Der Aufsatz »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos« testet das Paläonym »Mythos« auf seine wirkungsgeschichtliche Potenz; er überschreibt die methodische Hypothek der metaphorologischen Paradigmen, die in der Glosse zu Kuhn ad acta gelegt sind, in den Entwurf der »Anthropologischen Annäherung«. Blumenberg »Phase in der Geschichte des Seins«, von der Heidegger spricht im Humanismus-Brief, und die Blumenberg zitiert als »letzte«. Statt der »Phase« spricht er im Lebenswelt-Aufsatz von der Technisierung als »Prozeß« (S. 16); wie das gründlich abgewehrte Geschick kommt er von weither und findet zu einem letzten Dauerton. Er durchdringt den Umschlag von der metaphorologischen Wahr-scheinlichkeit zur wahrgewordenen Durch-Technisierung. Blumenberg gebraucht das Wort »durch« ständig in diesem Sinne; man könnte meinen, es manifestierte die plotinische methexis. Der entscheidende Schritt in und hinter der Terminologisierung, der insbesondere auch im Roman der Zeit den Wirklichkeitsbegriff verändert hat, ist nach der Lebenswelt-Abhandlung im »Ausblick auf Unbegrifflichkeit« abzusehen, war in den Paradigmen und den Wirklichkeitsbegriffen aber kaum angedeutet (»Geld oder Leben« wäre die Ausnahme gewesen). Siehe Rüdiger Campe, Das Spiel der Wahrscheinlichkeit. Eine moderne Textaufgabe. Habilitationsschrift, Universität-Gesamthochschule Essen 2000. 448
konzentriert sich auf das mythische Supplement, das die Paradigmen der Metaphorologie immer schon zu überfluten drohte. 12 Die metaphorologische Reaktionsbildung auf die Überflutung, das untergründige Implikat aller weiteren Arbeit am Mythos, heißt »Unbegrifflichkeit«. Dies Implikat weiterzuexplizieren, es gegen den Strich der mythischen Oberflächenbehandlung zu lesen, steht mit (der Andeutung) einer metaphorologischen Analyse zweiten Grades dahin, die in der »zweiten Natur« der Technisierung ihren Anhalt hätte. Im »Ausblick« begann Blumenberg Heideggers »Uneigentlichkeit« des Daseins als rhetorischen Effekt der mythischen Überflutung aufzufassen statt als Beweis einer »Episode der Seinsverborgenheit« (S. 207). Die Selbstverbergung des Seins entpuppte sich als die meta-rhetorische Grundformel, der Heideggers Seinsbegriff auf den Leim ging. Statt der Selbstverbergung bildet die autopoiesis der »Wirklichkeitsbegriffe« rhetorische Funktionsbilder aus, in denen die kognitive Funktion der Hintergrundmetaphern 12 Der Mythos-Aufsatz, kapitale Programmschrift zum Unternehmen Poetik und Hermeneutik IV. Terror und Spiel, hrsg. v. Manfred Fuhrmann, München 1971, führt, wiewohl er das Wort Rhetorik nicht enthält, auf die Höhe der meta-rhetorischen Reflexionen nach der Metaphorologie. Indem er die mythische Dimension der >Wirklichkeitsbegriffe< - die wirklichkeitsbildende Rolle der Mythen und mythischen Analoga - bis hin zur anthropologischen Annäherung an die Aktualität der Rhetorik< rekapituliert, spielt er alle die poietischen und mimetischen Register der metaphorologischen Analyse durch, die er im »Finalgedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen« bei Nietzsche als »formale Struktur des Mythos gleichsam beim Wort genommen« findet (Mythos, S. 352). Es ist »nicht nur die materiale, sondern auch und gerade die formale Rezeption«, die den Mythos mythisch macht (S. 351). Als Rezeption verkörpert der Mythos »Metakinetik« in ihrer auf anthropomorphe Gestalten drängenden metamorphotischen Tendenz (S. 358). In die Reihe der anthropomorphen Vorzugsgestalten des Mythos fügt sich die >Anthropologie< als letzte Metamorphose ein, ist sie Inbegriff des Verblendungszusammenhangs, den Blumenberg in Adornos »negativer Dialektik« verdichtet sieht (S. 330). Die in Blumenbergs eigenem Œuvre herausgearbeitete nach-metaphorologische, meta-rhetorische Perspektive, die im MythosAufsatz die Reihe der Wirklichkeitsbegriffe Revue passieren läßt, ist leicht zu übersehen und doch klar eingezeichnet im Titel: »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential« benennen die Doppelansicht der meta-rhetorischen Hexerei, die Terror und Poesie< entbindet, das ist: mythische Latenz und rhetorische Performanz. Freuds Theorie der Wiederholung, »jener zwanghaften Anamnesis der Latenz«, deckt mit der Umprägung der platonischen Anamnesis die verdeckte Rhetorik der Rezeption auf: einen »Mechanismus von ebenso großartiger wie verhängnisvoller Potentialität« (S. 347). Blumenberg nennt den Namen Rhetorik nicht, die Rhetorik der Latenz hält nicht still. 449
modifiziert, überformt oder unterlegt wird. »Neoplatonismus« ist die Chiffre für eine solche meta-rhetorische Formation, die älteste; Tradition und Rezeption eine andere, in der diese keine kleine Rolle spielt. In der Dissertation hatte Blumenberg zum ersten Mal Kritik und Rezeption als Korrelate des Seinsverständnisses oder Wirklichkeitsbegriffes eingeführt.13 In der Folge wird er diese Begriffswahl gegen zwei anders gelagerte Angebote profilieren, das Modell der gnostischen »Pseudomorphose« bei Hans Jonas und das der »Hintergrunderfüllung« bei Arnold Gehlen. Die »Anwendung«, die Heideggers Existentialanalytik in Jonas' Werk Gnosis und spätantiker Geist (1934) erfahren hatte, ist das Modell, an dem Blumenberg das eigene historische Erkenntnisinteresse artikulierte, während die anthropologische Philosophie Gehlens als insgeheimer Gegenpol wirksam wurde. Jonas hatte den Begriff der >Pseudomorphose< von Spengler bezogen und das gnostische Paradigma der spätantiken >Horizontverschmelzung< verwendet. Blumenbergs Vorbehalt, untergründig gegen Gadamer gerichtet, ist in dem Rezensionsaufsatz »Epochenschwelle und Rezeption« enthalten, der die Rolle von Jonas für die Erforschung des spätantiken »Synkretismus« als des langfristig entscheidenden Rezeptionssyndroms herausstellt, dabei den Verschmelzungsbegriff der »Pseudomorphose« aber systematisch ausblendet. Der einzige Einwand gegen Jonas, an dem Blumenberg liegt, ist die Vernachlässigung des antiken >Skeptizismus<: der »skeptischen Abwendung von der theoria«, sofern diese »auch eine spezifische Ausprägung des Akosmismus« sei und in der Gleichgültigkeit gegen den >Kosmos< »gleichsam eine Form innerweltlicher Transzendenz« einschloß, »die sich jede eschatologische 13 Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie, Inaugural-Dissertation, Christian-Albrechts-Universitätzu Kiel 1947, S. 12. Auch hier ist die »Wiedergewinnung der Geschichtlichkeit der Geschichte« das leitende Interesse und die Auflösung der »Verfestigung ontologischer Sichtweisen im Gange der Tradition«, kurz die »Destruktion der traditionellen Ontologie« Voraussetzung des »Wirklichkeitsbezuges« (S. 5). Die Korrektur von Sein und Zeit liegt in der Dekonstruktion (avant la lettre) der mittelalterlichen Ontologie als »Rezeptions«vorgabe der Moderne. Das de(kon)struktive Momentum von Kritik und Krisis ist Implikation des Rezeptionsbegriffs und der aus ihm entwickelten wirkungsgeschichtlichen Methode. Wie das Verhältnis von »Kritik und Rezeption antiker Philosophie in der Patristik« im Untertitel ankündigt, liegt die Metakinetik in der Rezeption und lagert sich »strukturell«, in der »Morphologie« der Traditionsbildung als einem metaphorologischen Analogon ab. 450
>Lösung< versagt« (S. 118). Hier fällt der ausgesparte Begriff in der gesteigerten Form des Ausrufs: »Was für eine tolle Pseudomorphose«, und was die Verrücktheit ihrer Verrückung auf die Spitze treibt, ist der christliche, nicht der gnostische Gewaltakt der Uminterpretation, durch den Ambrosius die »skeptische epoché«, der Blumenbergs ganzes Interesse gilt, »für die eschatologische Vorläufigkeit in Dienst« nimmt: »nur so war überhaupt mit der skeptisch-stoischen Funktionseinheit bei Cicero fertig zu werden«.14 Nur so, durch den rhetorischen Gewaltakt hermeneutischen »Umverstehens«, sei die »genuine« metaphorologische Präferenz für die antike >Erkenntnispragmatik< zu erledigen gewesen (Paradigmen, S. 25). In den historischen Untersuchungen Blumenbergs wird Rhetorik zum über-individuellen Organ des Seinsverständnisses oder Wirklichkeitsbegriffs; hier scheint sich anzubahnen, was man als anthropologische Annäherung verstanden hat. Tatsächlich verhält es sich geradezu umgekehrt mit der von ihm selbst so genannten »Annäherung«, und Gehlen ist die exemplarische Gegenposition. In Blumenbergs »Annäherung« erhellt sich das verborgene Wirken der Rhetorik als der von Gehlen übersehene institutionenbildende »consensus«: als »Basis für den Begriff von dem, was >wirklich< ist«, oder, nach einem Zitat Nietzsches, der ersten Autorität dieses Essays, »Form an sich« (Annäherung, S. 408, 410). »Gehlens Absolutismus der >Institutionen<« ist »fatal« (S. 415), weil er die institutionelle Leistung unterschlägt, mit der die Rhetorik im Gegenzug zur unausweichlich ins Totalitäre tendierenden Reparatur des Mängelwesens »Mensch« deren Resultat, die zweite Natur, immer schon als Kopie einer ersten behandeln gelernt hat und sie als eine artifizielle zu beherrschen gewohnt ist. Die rhetorische Funktion der meta-rhetorischen Formationen von Rezeption und Traditionsbildung ist rhetorische Annäherung an die Anthropologie, Anthropologie ihre techno-logische, »technisierte« Kreatur. 14 »Epochenschwelle und Rezeption«. In: Philosophische Rundschau 6 (1958), S. 94-119: hier 118. Die zentrale Rolle, die Jonas in diesem Aufsatz spielt für die »Anwendung« Heideggers, ist charakteristisch für Blumenbergs Selbstverständnis einer von Heidegger ausgehenden neuen »Möglichkeit der Geschichtsbefragung«, wobei er an Jonas' Buch rühmt, »keins« sei »von vergleichbarer Gewaltlosigkeit« (S. 110). Eben darin, der unvergleichlichen Gewaltlosigkeit, sei dies Buch ein »ebenso bestürzendes wie nobles document humain« (S. 107). Blumenbergs eigenes, an diesem Maßstab gewachsenes skeptisches Projekt als ein solches lesen zu lernen bleibt die Aufgabe. 4SI
Die diffuse Oberfläche der meta-rhetorischen Funktionen, exemplarisch in den pseudoplatonischen Umformungen neoplatonischer Ideen, unübersichtlich in Rezeptionsschicksalen und Zufällen der Traditionsbildung, beweist gegen alle transzendentale Randunschärfen der fortgeschrittenen Moderne ein übers andere Mal, und sei es ex negativo, die methodischen Vorzüge der verflossenen metaphorologischen Konstrukte. »Geld oder Leben« ist das unausgeschöpfte, liegengebliebene Paradigma dieses Typs, an dem die »eigentümliche Objektivität der Fiktion« besticht: »einer ganz und gar auf dem subjektiven und reziproken Wertungsverhältnis beruhenden Substitution« (S. 180). Man sieht oder ahnt doch, wie dieses letzte der Paradigmen das erste sein könnte, das über die Anthropomorphismen der anthropologischen Formation hinaus, allein auf Grund der inhärenten Logik der Substitutionsverhältnisse quasi wirklichkeits-frei technisierbar ist. Es ist in der Tat »nicht damit getan«, verwahrt sich Blumenberg, »in der Thematik des Geldes die Protometapher für die des Lebens aufzufinden« (S. 187 f.). Es könnte umgekehrt sein, daß sie die strukturelle Latenz zur technologischen Durch-Organisierung in post-anthropologischen Seinsverhältnissen aufweist, zu deren Bewältigung eine Epoche neu installierter metaphorologischer Techniken den »Mut zur Vermutung« aufbringen muß. Die epochale Leistung in dieser Andeutung eines Paradigmawechsels, der den doppelten kopernikanischen überträfe, ist an Blumenbergs Lieblingsmetapher, der Sprengmetaphorik des Kreises zu ermessen, die schon die aristotelische kinesis in ihrem Bann hielt. Sie bringt den meta-rhetorischen Grenzwert schlechthin, die Unbegrifflichkeit ins Spiel, deren meta-physisches Korrelat die Unendlichkeit ist. »Das Sprengmittel [der Sprengmetaphorjk] ist der Unendlichkeitsbegriff«, und was in diesem den Horizont der Metaphorologie mit-sprengt, so Blumenbergs Diagnose schon in den Paradigmen, ist ein »neues Medium der uneigentlichen Aussage«, das Cusanus in der »Welt der >mathematicalia<« findet (Paradigmen, S. 180). Die Berechenbarkeit, Abgleichbarkeit von »Möglichkeitsgewinn und Wirklichkeitsverlust«, welche die Philosophie des Geldes der des Lebens als Gewinn und Verlust anbietet (Geld oder Leben, S. 18 8), hat Blumenberg nicht weiterverfolgt. Er hat sie (mit Simmel) wieder Kant überlassen als der Epochenschwelle, von der er nicht lassen konnte, als deren letzte Kante er das transzendentale Unternehmen Phänomenologie sah. So endet der »Ausblick« 452
wie die Paradigmen unentwegt mit Kants Freiheitsbegriff, im Lichte der von Nietzsche ein weiteres Mal im »ewigen Kreislauf« restituierten absoluten Kreismetapher, als tabula rasa des »theoretisch Unerfüllbaren« (Paradigmen, S. 193, letzter Satz). Der »Ausblick« auf die Unbegrifflichkeit nimmt eine Theorie der tabula rasa neu in den Blick, die nicht anders als von Kant zurück auf Plotin gehen kann und auf den neoplatonischen Horizont, dem Blumenberg in Wittgensteins Fliegenglas die angemessene Diagnose gestellt sieht: »eine(r) neue(n) Form von Platonismus, in dem eine Sprache der Inbegriff des in ihr Denkbaren wird« (Im Fliegenglas, S. 218). Simmel, in dessen Philosophie des Geldes ein neues Moment aufschien, das hinter den Horizont der phänomenalen Wahrnehmbarkeiten zu führen versprach, droht in seiner Kant-Interpretation zurückzufallen auf die »Irreführung einer absoluten Metapher, die beim Wort genommen wurde«, auf den Kurzschluß freien Handelns mit der »Handlung« des Verstandes in der Synthesis der Vorstellungen (Ausblick, S. 209, letzter Satz). Das meta-rhetorische Kapital der Technik, das damit vorerst verspielt worden ist, hat im Paradigma des Geldes mehr als ein re-mythisierendes, lebensphilosophisches Analogon. Es zeigt die substitutive Struktur der Unbegrifflichkeit jenseits der Phänomene der Lebenswelt, deren technische Logik in dieser ebenso tragend wie verborgen ist, denn sie liegt unterhalb der Oberfläche der ausgeprägten symbolischen Form »Geld«. Schon in Plotins »Herleitung der Kreisbewegung des Himmels aus der Nachahmung der reinen Vernunft« war, wie Blumenbergs kantianisierende Rede von der »reinen Vernunft« nahelegte, »die Struktur der Metapher selbst metaphysisch hypostasiert« (Paradigmen, S. 176). Blumenberg hat diesen Befund als Ganzen kursiviert, denn er thematisiert von seiner Seite her den vorprogrammierten metaphysischen Rückfall in eine ursprünglich gedachte Mimesis, die »nur im Verfehlen treffen, nur im Anderssein wahr sein kann«, und die in dieser Annäherung, die für Plotin die Idee der Mimesis ist, »die genaue Darstellung der Funktion der absoluten Metapher<« gibt: »sie gibt ein >Bild< an der Stelle des Begriffs und des Nachvollzugs im Begreifen« (S. 177). Ein Bild, ist zu ergänzen, das die Phänomenalität des Begreifens immer schon sprengte. »Ein Bild hielt uns gefangen«, wird Blumenberg bei Wittgenstein finden: »Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wieder453
holen« (Philosophische Untersuchungen § 115; Im Fliegenglas, S. 232). Wittgensteins Fliegenglas exponiert die logische Verlegenheit des Philosophen, auf die Blumenbergs Projekt die Antwort ist. Der Hrsg. dankt Bettina Blumenberg, Rüdiger Campe, Eva Geulen, Andrea Kern, Dorothée Kimmich, Christoph Menke, Mariele Nientied und Bernd Stiegler für Vertrauen und Verständnis, Mitarbeit und Gespräche.
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Register A d o r n o , T h . W . 330, 332, 354, 365,
Bergson, H . 91 Berkeley, G. 193 Ägidius v o n Lessines 169 Bernegger, M . 312 Bernoulli, J. 380 Aeschyius 47 Birkenmajer, L . A . 301 d'Alembert, J . L . R . 54, 169f. Blenke, H . 348 Alexander von Mazedonien (der Blumenberg, H . 163, 170, 227, G r o ß e ) 426 244, 268, 298, 308, 322, 325, 349, Aisberg, P. 415 A m b r o s i u s 147, 268 426 Bodmer, J.J. 43 Antiochus 155 Börne, L. 178 A n t i p h o n 319 Boltzmann, L. 225, 236 Apollonius 26 Bonaventura, J.F. 38, 141, 160, 165£. A r c h i p e n k o , A. 117 Boswell, J. 73 Aristoteles 9 f., 13, 15, 19, 22-26, 37f., 49, 58, 80, 141, 143, 149, 167, Bovillus, C . 167 f. 169, 231, 255 f., 268, 280, 291-293, Brecht, B. 17, 382 B r e i t i n g e r J J . 43, 73 300, 304, 306, 309, 315, 318-321, Breton, A. 11, 72 325, 342, 366, 377, 383, 392, Brock, E. 180 396f., 410 Bröcker, W. 63, 143, 292, 343, 364, Arkesilaos 146, 272 A r n o b i u s , 267, 278 f. 370 Atzert, K. 146, 148 Β rucker, J. 405 A u d e n , W . H . 171 Brücke, E.W. 225 Augustin 31-34, 36, 51, 141,146, B r u n o , G. 291, 296-298 154, 156-160, 162, 165, 167, Bück, A. 42 258,278,284,293-295,376, Büchner, K. 146, 148 389 Bultmann, R. 141, 143, 279 Avicebron (Ibn Gabirol) 36,15 5,164 Burck, E. 149 Burckhardt, J. 336f., 341, 358, 381, Bacon, F. 91, 151, 163, 167, 170, 198, 395»412 405 Butcher, S . H . 2 5 f. Baeumker, Cl. 141 Butor, M . 68 (Beginn d. F u ß n o t e Balzac, H . d e 67f. 114 67), 365 Barion, J. 158 B u t t m a n n , Ph. 342, 344 Bartley,W.W. 231 Basilius 150 C a m u s , A. 393 Baur, L. 141 C a n t e r b u r y , A. v o n 151 Beckett, S. 68 Caravaggio, M . 170 Benn, G. 132, 171 C a r d a n o , G. 53 Benz, E. 150, 201, 379, 381 (Beginn Carré, J.-M. 66 Carré, J.R. 380, 398 d. F u ß n o t e S. 3 80) 455
Carton, R. 141 Casanova, G. 374 Cassirer, E. 183, 311, 315, 3 2 4 ^ 33i> 35<>, 362, 377> 4M Chalcidius 24 Chrysipp 279, 280 Cicero 29, 59, 120, 146-150, 152, 164, 268, 272, 280, 281, 293, 314, 402, 406, 419 Cioran, E. M. 220 Comte, A. 17 Cornford, R M . 23 Cudworth, R. 313 Cyprian, T.C. 271 Damiani, P. 3 5 Dante Alighieri 385 Demokrit 19, 280, 304, 308 Descartes, R. 41, 44, 51, 121, 151, 163,169f., 196, 211 f., 228, 243, 263, 277, 312, 339, 369, 4io£, 413 Diderot, D. 47 Diels, H. 161 Digges, Th. 300, 314 Dilthey,W. 146, 219 Diodor 28 Diogenes Laertios 399 Dontenville 75 Dufy, R. 44 Duhamel, G. 75, 106 Duns Scotus, J. 39, 166 Eich, G. 395 Eliot, T. S. 114 Engels, F. 17, 427 Epikur 245, 28o£, 287, 396-403 Euler, L. 203 Faraday, M. 203 Faust, A. 36 Ficino, M. 196, 263, 310-313 Ficker, L. von 242 Flammarion, C. 198 456
Fontenelle 293, 371, 373, 380, 3 9 8 ! Freud, S. 178, 190, 205, 246, 330f., 3381., 345-347, 372, 378, 393, 416 Friedrich, H. 151 Fritz, K. von 144 Fuhrmann, M. 404 Galilei, G. 168 f., 299, 312, 314-318, 322-325 Gamauf, G. 173 Garin, P. 141 Gawlick, G. 34,147,149 Gehlen, A. 415 Gerhardt, P. 203 Gessner, J. 141 Gide, A. 50, 74!:., 79, 90, 370, 405 Gigon, O. 148 Gilson, E. 158,166 Goethe, J.W. von 211, 393 Goffman, E. 418 Gorgias 47, 323 Grabmann, M. 169 Gründer, K. 219 Haftmann, W. 11, 45 f. Haring, L. 313 Hegel, G.W.F. 373, 377 Heidegger, M. 142, 150, 2o6f., 217, 219, 229, 265, 349 (Beginn d. Fußnote 348), 369f. Heine, H. 178, 385 Heisenberg, W. 54 Helmholtz, H. von 225 Henrich, D. 20 Heraklit28, 151, 161, 201, 205 Herder J. G. 349 Hermann, G. 362 Herodot 231, 248 HerscheLW. 174 Hertz, H. 232 f. Hesiod 336, 346, 351 Hieronymus 272 Hubert, D. 246 Hobbes, Th. 414, 427-429
Hölderlin, F. 343, 369, 374 Hofmann, W. 11 Homer 150, 3361., 346, 351, 385, 392,402 Honecker, M. 141 Husserl, Ε. 51, τζτ, 129, 194, 2361., 248, 410 Isokrates 412 Jaeger,W. 149 James, W. 211 Janouch, G. 363
Jauß, H.R. m Jerusalem, W. 361 Jesus Christus 150, 269, 374 Johannes (Evangelist) 162, 201 Johnson, S. 73 Jonas, H. 162, 388, 390 Joyce, J. 3 84 f. Jünger, E. 18 Julian , F. C. (Kaiser) 356 Jung, C G . 416 Jussieu, A.L. de 380 Justin 269 Justinian 389 Justinus 150 Kafka, F. 68, 363, 382, 405 Kant, I. 11, 45, 112, 148, 163, 183, 197, 208-210, 218, 220, 327, 354, 395,410, 425 f., 43of. Kartagener, M. 339, 346 Keller, G. 395; Kepler, J. 175, 308, 386 Kittel, G. 162 Klee, P. 45 f., 124 Kleist, H. von 204 Klemperer,V. 381 Köhler, W. 171 Kolakowski, L. 337f., 382 Kopernikus, Ν . i74f., 292, 298-301, 305-308, 314, 322f., 325 Koselleck, R. 391
Kracauer, S. 354 Krafft,F. 319 Kuhn, Th. S. 172, 413, 425 Lafont, A. 93 Lagrange, J. de 203 Laktanz, L.C.F. 272-277, 279-289 Lamb, Ch. 385 Lambert, J.H. 381 Langerbeck, H. 269 Laplace, P. S. de 90, 203 Lavelle, L. 121 Lavoisier, A. L. 174 Leibniz, G.W. 39, 41-43, 46, 51, 61, 110, 125, 210, 2 3 7 ! , 360, 369,
375» 377, 423 Leisegang, H. 162 Leoniceus, N . 321 Leriche, R. 177 Lessing, G. E. 54, 371 Lichtenberg, G.Ch. 173-175, 381 Liebig, J. 326 Liebmann, O. 198 Lilienthal, O. 15 Linné, C. von 375 Lipps, H. 163 Locke, J. 125 Löwith, K. 352, 3 90 f. Lomonossow, M. 381 Louys, P. 9J Luckhardt,W. 171 Lukâcs, G. 61 Lukas (Evangelist) 202 Lukian 337, 374 Lukrez 32, 270, 281, 40οί. Luther, M. 40, 163,165, 339, 379 Mach, E. 225, 23 5 f. Magnus, A. 36, 164 Mahnke, D. 301, 308 Maimonides, Μ. 15 5 Malinowski, B. 329, 359, 381 Mallarmé, S. 104 Mann, Th. 69, 3 5 3 457
Marc, F. 44 Marcellinus 32 Marx, K. 17, 189, 348, 399, 402, 427 Matisse, H . 11 Mattesilano 120 Maupertius, P . L . M . de 307 Maxwell, J. C . 203, 226 Mayer, T. 174 Melanchthon, Ph. 59, 163 Mendelssohn, M . 54 Menoikeus 399, 401 Menzel 395 Meyer, A. 429 Michaelis 28
Milton, J. 43 Mirandola, P. della 283 Mockel, A. 92, 107 Moser, J. 120 Montaigne, M . de 151,195, 410, 431 Montesquieu 381 M o o r e , G . E . 213 M o o r e , H . 117 More, H . 311-314 Morgenstern, C h . 220 Moritz, K . P h . 371, 374 Moses 345 f. Müller, M . 339 Musil, R. 68 f. Nemesius v o n Emesa 34 N e u r a t h , O . 211 f. N e w t o n , I. 197, 203, 305, 3071^, 310f., 386 Nikolaus v o n Cues i2f., 16, 39!:., 63, 125, 141, 152,159, 160, 166, 200, 263, 291, 295-297, 299-304, 320-324 Nicolson, M . H . 386 Nietzsche, F. 10, 17, 47, 188, 200, 210,214,233^236,330,335, 339>35i-353>355f->39i> 402, 405, 4 0 7 ! , 419 Novalis 161
458
O c k h a m , W . v o n 38-40 Origenes 387-391 Ortega y Gasset, J. 264 O s t w a l d , W. 240 O t t e r l o o , W. van 70 O t t o , W. F. 342 Overbeck, F. 389 O v i d 384, 393, 398 Panofsky, E. 59 Parmenides 141 Parmigianino 10 Pascal, Β. $γ{., ι 6 8 , 339, 424 Pascal, F. 231 Paul, J. 65, 68, 152, 334, 337, 350, 430 Paulinus 272 Paulus 269, 284, 340 Pettazoni, R. 357 Petrarca, F. 53, 59, 292 f. Pherekydes 150 Phidias 26 Philo 155, 161 f., 361 Philostrat 26 Picasso, P. 117 Plato 18-26,31,49, 55-58, 81 f., 142 f., 146f., 1 4 9 ! , 154, 158, 221, 224 f., 227, 231, 234, 239, 248, 276, 277, 279 f., 291-294, 308, 314, 322-325, 347, 361, 363-365, 383f., 386, 397, 406-408, 430 Plessner, H . 339 Plotin 31, 145, 150, 153, 158, 160, 292, 297, 308-310, 387, 389
PolykJ.Ch. 173 Ponge, F. 109 P o r p h y r i o s 150 Poseidonios 28-30 P o u n d , E. 114, 133, 150 Praxiteles 26 P r o k l u s 319 Proust, M . 131 Psammetich I. 231, 249 Ptolemäus 299, 306, 325
Quintilian 194 Rahner, H. 404 Ramsauer, R. 301 Reinhardt, K. 29 Rembrandt 170 Rhees, R. 231 Richelieu, A.-L. 178 Rickert, H. 180 Robespierre, M. de 178, 381 Rose,V. 149 Ross, W D . 149 Rothacker, E. 193 Rothschild, M. Α. 178 Russell, B. 2ii f., 2 2 9 ^ 241 Ryle, G. 238 Sallust 356 Salviati 314, 317t Scaliger, J.C. 42, 53 Schelling, F.W.J. 335, 340, 362, 377 Schlegel, F. 332, 383, 405 Schlegel, W. 349 Schlick, M. 228 f., 233 Schneider, C. 150, 269, 349 Schopenhauer, A. 222 Schott, S. 3 57f. Schwabl, H. 373 Scott, W. 68 Sedlmayr, H. 44 Seeberg, R. 3 8 Seilin, E. 345 Sembdner, H. 204 Seneca, L.A. 29 f., 144, 399 Shaftesbury, A. A.C. of 348 Simmel, G. 177-189, 191, 200, 209,
Spinoza, B. de 291, 2961 Standford, W B . 3 84 f. Staudenbaur, C.A. 313 Stenzel, J. 141, 143 Sterne, L. 65 Teresa von Avila 369 Tertullian, Q.S.F. 28, 30, 269, 271, 278,288,389 Thaies von Milet 201, 342! Theiler,W 24, 31, 155 Thomas von Aquino 3 7 f., 164 Thomasius, M. 279, 286 Thomson, G. 54 de Tocqueville, A. 164 de la Tour, J. 74 Tours, B.v. 35 Ulpian 40 Usener 399 Valéry, P. 66, 70. 74-76, 79-81, 85, 87-98, 100-108, iiof., uji., 120, 126, i3of., 133f., 199 Vico, G. 126, 164, 264, 332, 350, 390 Vinci, L. da 15, 42, 87, 88, 94f., 98, 103!, 109, 263 Vitruv 152 Voltaire 190, 308
Wagner, W. 171 Waismann, F. 228 f., 237 Walzel, O. 42 f., 348, 349 Walzer, R. 149 Wartenburg, P.Y. von 219 f. Wasmuth, E. 236 Welcker, F. G. 393 f. 4I7 f . . '. Werner, M. 271, 278 Simplicius 141, 310 Whorf,B.L. 121 f. Snell, B. 47, 49 Sokrates 74-103, 105, 109, 111, 118, Wieland, Ch.M. 367 Wilamowitz-Moellendorf, U. von 145, 149, 154, 242, 292, 408 Souday, P. 74-75, 91 / 4 3 , 373, 394, 4°3 Wittgenstein, Hermine 221, 234 Spaemann, R. 369 459
Wittgenstein, L. 125, 195, 199, 204, 210-217, 219-248 Wolff, Ch. 61 Wright, G. H. von 240 Wright, Ο. 14
460
Xenophanes 47 Xerxes 427 Zweig, Α. 190
Nachweise »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Studium Generale 10 (1957) S. 266-283. Wieder veröffentlicht in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 55-103. Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans. In: Hans Robert Jauß (Hrsg.): Nachahmung und Illusion. München 1964 (Poetik und Hermeneutik 1) S. 9-27. Sokrates und das »objet ambigu«. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des ästhetischen Gegenstandes. In: Franz Wiedmann (Hrsg.): Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. Festschrift für Helmut Kuhn. München 1964. S. 285-323. Die essentielle Vieldeutigkeit des ästhetischen Gegenstandes. In: Friedrich Kaulbach und Joachim Ritter (Hrsg.): Kritik und Metaphysik. Festschrift für Heinz Heimsoeth. Berlin 1966. S. 174-179. Sprachsituation und immanente Poetik. In: Wolfgang Iser (Hrsg.): Immanente Ästhetik - ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. München 1966. (Poetik und Hermeneutik 2) S. 145-155. Wieder veröffentlicht in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 137-156. Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium Generale 10 (1957) S. 432-447. Paradigma, grammatisch. Aus: Beobachtungen an Metaphern. In: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971) S. 195-199. Wieder veröffentlicht in: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 157-162.
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Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. München 1971. (Poetik und Hermeneutik 4) S. ii-éé. Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Il Verri (Mailand) 35/6 (1971) S. 49-72. Deutsche Erstveröffentlichung: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 104-136.
Redaktion: Mariele Nientied