K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D
K U L T U R K U N D L I C H E
A...
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K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
W I S S E N S
LUX-LESEBOGEN N A T U R - U N D
K U L T U R K U N D L I C H E
ALBERT
H E F T E
HOCHHEIMER
Stanley am Kongo Q U E R D U R C H DEN SCHWARZEN KONTINFNT
2006 digitalisiert von Manni Hesse
VERLAG M U R N A U .
SEBASTIAN
MÜNCHEN
.
LUX
INNSBRUCK
BASEL
T
„Suchen Sie Livingstone!"
J o h n Rowland, aus Wales in England, wäre vermutlich zu Zeiten des Columbus ein Weltumsegler geworden, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber, als er in Denbigh die Schafe seiner Tante hütete, war der Globus schon vielmals umrundet. So wurde er fürs erste ein Herumtreiber auf vielen Wegen ohne Ziel. Als durchgebrannter Schiffsjunge hantierte er eine Zeitlang in New Orleans mit Säcken und Ballen, bis sein Chef eines Tages Gefallen an ihm fand und ihn adoptierte. Aus dem verwaisten John Rowland wurde ein Henry Morton Stanley, aus dem Vagabunden ein wohlbehüteter Bürgerssohn mit einer gesicherten Existenz — doch das Schicksal bootete ihn bald wieder aus. Der Adoptivvater starb, bevor er sein Testament hatte ändern können, und der junge Stanley wurde Holzfäller, Kriegsgefangener, Weltenbummler und schließlich Journalist. Afrika lernte er zum erstenmal während eines englischen Feldzuges gegen Abessinien kennen, und er ahnte nicht, in welche Bahnen dieser Erdteil sein Leben einmal lenken sollte; dann ging er nach Spanien — als ein wendiger Zeitungskorrespondent auf der Suche nach einer Chance. Dann bot sich ihm die große Chance wirklich . . . Sein geschäftstüchtiger Verleger verlangte von ihm eine sensationelle Artikelserie. Statt der alltäglichen Berichte über Aufstände und Feldzüge, deren das Publikum überdrüssig war, eine Reportage über eine Hilfsexpedition ins Innere Afrikas. „Suchen Sie Livingstone!"* — war die Parole. Dieser Auftrag setzte überdurchschnittliche Tatkraft, Härte und einen Ehrgeiz voraus, der auch das Letzte wagte; denn Livingstone war als Missionar, Forscher und Arzt nach Zentralafrika geschickt, um über den Sklavenhandel Bericht zu erstatten und Wege zu seiner Bekämpfung zu finden. Er war seit Jahren verschollen; doch glaubten viele, daß er noch am Leben sei, daß er wie ein verlorenes Irrlicht im afrikanischen Busch herumwandle. Stanley fand ihn nach einer beschwerlichen Expedition, verbrachte vier Monate mit ihm zusammen und mußte allein um* Vgl. dazu Lux-Lesebogen Nr. 266, „David Livingstone". 2
kehren. Livingstone blieb in der Nähe der großen Seen, krank und gebrechlich, von der Liebe zu den Eingeborenen und von Forscherleidenschaft erfüllt; ihm fehlte noch die Gewißheit, ob der LualabaStrom, den er mühselig erreicht hatte, tatsächlich der Quellfluß des Nils war, wie er vermutete. Er starb zwei Jahre später am Saume der dunklen Regionen, die er entschleiern wollte, ohne das Rätsel gelöst zu haben. Sein Leib ruht in der Westministerabtei neben den Großen seines Vaterlandes. Die Wirkung, welche die Nachricht vom Tode des befreundeten Forschers auf Stanley machte, war ungewöhnlich. Er faßte den Entschluß, das Werk Livingstons zu vollenden, „so daß er entweder — falls es Gottes Wille sein sollte — der geographischen Wissenschaft als nächster Märtyrer zum Opfer fallen oder die große Aufgabe lösen werde . . ." Stanley suchte aus 130 Werken zusammen, was je Wissenswertes über Afrika geschrieben worden war; intelligent und zielbewußt, ein stattlicher Mann, mit klugen Augen, ein Besessener, der bis in die Nächte hinein am Arbeitstisch saß, Pläne schmiedete, Reiserouten entwarf und mit dem Lineal die mögliche Durchforschung seines Traumlandes errechnete. Sein Kopf wurde förmlich zu einem Wissensspeicher für afrikanische Geographie. Endlich schickte ihn der Eigentümer des „Daily Telegraph" und der Herausgeber des „New York Herald", Georg Bennett, der schon seine erste Ausfahrt finanziert hatte, zu einer neuen Forschungsreise nach Afrika, damit er die Entdeckungen früherer Forscher, vor allem Livingstones, vervollständige. Fa*t unbekannt war noch in breiter Bahn die Zone des Äquators zwischen den großen ostafrikanischen Seen und dem Atlantik (vgl. auch die Karte S. 9). Am 12. November 1874 betrat Stanley, mit großen Mitteln ausgerüstet, von Sansibar aus erneut afrikanischen Boden und erreichte in 104 Marschtagen den Viktoriasee, der weit größer war, als man bisher angenommen hatte. Seine Wasserfläche war doppelt so groß wie Holland. Den See befuhr Stanley fast zwei Monate lang in einem zerlegbaren Boot. Dieses Fahrzeug, die „Lady Alice" —• zwölf Meter lang und zwei Meter breit, aus Holzplanken spanischen Zedernholzes — war für die Träger ein beschwerliches Monstrum, das sich in fünf Teile auseinandernehmen ließ und vierundzwanzig Mann zu seinem Transport über Land erforderte. Als schließlich auch der Tanganjikasee umfahren war, der etwa die gleiche Größe wie Holland hat, gelangte Stanley, westwärts dem einzigen Ausfluß des Sees folgend, in den Lualaba, und jetzt 3
stellte sich ihm die große Schicksalsfrage, deren Lösung zum Angelpunkt seines Lebens werden sollte: Strömte der 1200 Meter breite Fluß unentwegt nach Norden zum Mittelmeer als Zufluß des Nils, oder war er der Ursprung des Kongo, dessen Mündung weit im Westen von dem Portugiesen Diego Cao im Jahre 1485 gefunden und von dem Engländer Tuckey 330 Jahre später eine kurze Strecke hinauf ins Innere erforscht worden war? Die Karawanne zog den Lualaba abwärts, zusammengeschmolzen zwar, aber immer noch eine kleine vergnügte Völkerwanderung mit all den Trägern und ihren Frauen und Kindern, die sich im Chorgesang ermunterten und mit Trommelwirbel und Trompetengeschmetter ihren Einzug in die Residenz des berüchtigten arabischen Handelsfürsten Hamed ben Mohammed, alias Tippu Tib, hielten.
Tippu Tib macht mit Stanley schildert diesen Landesbeherrscher von eigenen Gnaden als einen großen, schwarzbärtigen Mann mit negerartiger Hautfarbe, in der Blüte seiner Jahre, von straffer Haltung, lebhaft, mit einem schönen, intelligenten Gesicht, in dem die Augen nervös zuckten; äußerlich ein arabischer Gentleman, dessen vornehmes Gebaren von seiner primitiven Umgang seltsam abstach. Selbst an seinem Äußeren war nichts vernachlässigt, nicht seine Kleider vom reinsten Weiß, nicht der nagelneue Fes, noch der kostbare Seidenschal und der silberglänzende Dolch. Sie setzten sich einander gegenüber und begannen eine weitschweifige Unterhaltung, voll blumenreicher Redensarten; das Wesentliche ließen sie nur allmählich durchblicken. „Ich möchte gern den Lualaba in Kanus hinunterfahren", sagte Stanley, „bis ich die Stelle erreiche, wo er sich ganz und gar entweder nach Westen oder nach Osten wendet." Und Tippu Tib erkundigte sich teilnahmsvoll: „Wieviel Tagemärsche, mein Freund, müßtest du da reisen?" „Das weiß ich nicht. — Aber du, Freund aller Welt, wirst es sicher wissen." „Ich? Warum gerade ich? — Der Norden hat mich nie gereizt." Und nach einer nachdenklichen Pause: „Vielleicht aber katin ich dir trotzdem helfen. — Einer meiner Leute hat den Lualaba befahren. Er ist der einzige, der ihn wirklich kennt." Er winkte einen Araber seines Gefolges herbei und stellte ihn vor: „Abed ben Dschummah." Der Mann ließ sich neben ihm nieder. Sie schwiegen eine Weile, bis Stanley fragte:
„Nach welcher Richtung fließt der Lualaba?" „Er fließt nach Norden." „Und dann"? Er fließt nach Norden." „Und dann?" „Immerfort nach Norden." Stanley nickte: „Ich weiß, mein Freund, er fließt immerfort nach Norden. Und nun sag mir noch, wohin er fließt, wenn er den Norden erreicht hat?" Mit einem sanften, verzeihenden Lächeln über so viel Begriffsstutzigkeit erwiderte der Araber: „Aye, Herr, ich habe dir doch erklärt, daß er nach Norden fließt und immer nach Norden weiter, und vermutlich erreicht er die Salzsee, wie einige meiner Freunde behaupten." „In welcher Richtung aber liegt die Salzsee?" „Allah Yallim" (das mag Gott wissen). „Ein sonderbarer Bescheid. — Ich dachte, du wüßtest alles über den Fluß?" 5
„Natürlich", versetzte der Araber etwas verletzt. „Ich weiß eben, daß er sicher nach Norden fließt." „Wie hast du das erfahren?" „Ich bin mit Mtagamayo auf dem Lualaba ins Land der Pygmäen gereist." „Wieviel Tagemarsche sind es von hier bis dahin?" „Ungefähr neun Monate." „Liegt dieses Zwergenland in der Nähe des Flusses?" „Nicht weit davon." „In welcher Richtung?" Abed ben Dschummah breitete die Arme aus und zeigte vage, wie eine Magnetnadel, in nordwestliche Richtung. Stanley zuckte die Achseln, und nachdem wieder eine Weile in Stillschweigen vergangen war, fragte er beiläufig, als wäre sein Interesse mit einem Male erloschen: „Wie sehen denn die Pygmäen aus? Schießen sie wirklich mit vergifteten Pfeilen? — Erzähl mir doch, du Vielgereister, die Geschichte von deiner Fahrt mit diesem Mtagamayo!" Darauf räusperte sich der Araber selbstbewußt, strich sein Gewand glatt und begann seinen Bericht über die unbekannten Länder im Norden: „Mtagamayo ist ein Mann, der nicht weiß, was Furcht ist. Er ist kühn wie ein Löwe. Als er den Arabern und Wangwana in Nyangwe ankündigte, daß er im Begriffe sei, soweit als möglich nordwärts zu gehen, um Elfenbein aufzutreiben, da waren wir alle der Meinung, daß, wenn uns irgendeiner zu neuen Elfenbeinmärkten führen könne, dies Mtagamayo sei. Darum machten sich viele der jüngeren Araber reisefertig, um ihn zu begleiten, und wir alle sammelten unsere bewaffneten Sklaven und folgten seiner S p u r . . . " Die farbige, phantasievolle Erzählung von allerlei Überfällen der Dschungelbewohner, von Schlachten mit den Pygmäen, von wilden Tieren und der Mühsal der Wanderung schloß mit einer entschiedenen Handbewegung: „Wir Araber werden nie mehr Reisen in jenes nördliche Land unternehmen. Wir haben es dreimal versucht, und fast 500 der Unseren sind nicht wieder heimgekehrt." Selbst nach Abzug des schmückenden Beiwerks, der offenbaren Übertreibungen, der Selbstbeweihräucherung, blieb als Rest noch Schlimmes genug: eine unübersichtliche, gefahrvolle Reise in eine dunkle Zukunft — in ein Land, wo alle, selbst Livingstone, der „Sucher der Flüsse", gescheitert waren.
Nun hieß es für Stanley, sich nicht zu verraten. Niemand von den Arabern, niemand von seiner Umgebung durfte merken, welchen Schlag seine innere Sicherheit durch diesen Tatsachenbericht erlitten hatte. Denn eines wußte er jetzt schon: Der Durchmarsch durch die noch völlig unerforschten Gebiete bedeutete unerhörte Gefahr, Livingstone, Cameron und jeder andere waren davor zurückgeschreckt; unerhört war auch «die Verantwortung für die Menschenleben, für die Träger und ihre Familien und für den einzigen Europäer — Francis John Pocock —, der ihn bis hierher begleitet hatte. Dunkle Gedanken müssen von diesem Augenblick an, da sich der entscheidende Schritt nicht mehr aufschieben ließ, Stanleys Seele beschattet haben. Deutlich fühlt man, wie der Unsichergewordene sich an irgend etwas anzuklammern suchte; er begann mit Pocock das bekannte Münzspiel Kopf oder Wappen: „Kopf für den Norden und den Lualaba und Wappen für den Süden und Umkehr." Es war die Hoffnung, vom Schicksal eine Antwort zu erhalten. Aber diese Antwort lautete: „Nein." Beharrlich, sechsmal hintereinander, lag die Wappenseite der Münze nach oben. Das Nächstliegende wäre also gewesen: jetzt den Heimweg anzutreten und sich mit der Erforschung der beiden Seen zu begnügen. Aber es war ja nur ein unverbindliches Spiel; Stanlay hatte sich schon zu weit vorgewagt, um noch zurück zu können. Zu lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, auf den Schritt ins Unerforschte, zu heftig brannte der Wunsch in ihm, seinen Namen im Buch der großen Entdecker und Forscher eingetragen zu sehen. Für ihn gab es kein Zurück mehr. In dem Augenblick, da er den Befehl zur Umkehr geben würde, wäre der größte Augenblick seines Lehens vertan und unwiderbringlich dahin. So faßte er den klugen Entschluß, sich durch den Beistand der Araber die ersten Tagemärsdie zu erleichtern und dann mit seiner eigenen Karawane allein weiter zu ziehen. Am folgenden Tag schloß er mit Tippu Tib einen Vertrag: Für den Preis von 5000 Dollar sollte ihn der Araber mit seinen Leuten von Nyangwe aus auf 60 Märschen von je vierstündiger Dauer begleiten. Alles wurde genau vereinbart, Rasttage, Verpflegung, Mundvorrat für die Rückreise der angeworbenen 140 Musketiere und 70 Wanyahezi-Speerträger, inbegriffen die WangwanaFührer. Kaurimuscheln und Perlen für zehn Tage waren als Abschlagzahlung voraus zu entrichten. Damit war die erste der hundert- und tausendfachen Schwierig7
keiten beseitigt und das Unternehmen ein echtes Stanleysches geworden — kühn, großzügig und weiträumig. Auf ihm allein ruhte die Last der Verantwortung. Quer durch den Urwald Am 5. November 1876, zwei Jahre nachdem er gegenüber von Sansibar das afrikanische Festland betreten hatte, brach Stanley, der sich jetzt ungefähr im Herzen Afrikas befand, zu der weiteren Entdeckungsreise auf. Sein stattliches Gefolge war zu einer kleinen Armee angewachsen. Tippu Tib hatte 700 Mann nach Nyangwe mitgebracht, die wohlausgerüstete Trägerkolonne selbst zählte 154 Männer, Frauen und Kinder .. und dann das Gepäck. Stanley kannte als erfahrener Reisender die ungeheure Verantwortung eines Marsches ins völlig Unbekannte. Er wußte, daß auch der unbedeutendste Gegenstand, der beim Aufbruch durch Leichtsinn oder Gedankenlosigkeit vergessen wurde, für die ganze Dauer des Unternehmens vergessen blieb; eine Korrektur gab es für ein solches Versehen nicht mehr, kaum einen Ersatz, kaum einen Befehl. Jede Patrone, jedes Blatt Papier, jedes Pfund Nahrungsmittel, jede Axt, jedes Medikament stellte in den unwegsamen Zonen, denen er zustrebte, einen Wert dar, der mit keiner Summe Geldes, nicht einmal mit dem eigenen Blut zu beschaffen gewesen wäre. Und an einem einzigen vergessenen Hilfsmittel konnte die Expedition scheitern, an einer falschen Entscheidung konnten zahlreiche Menschenleben zugrunde gehen. Darum galt die letzte Heerschau vor dem Abmarsch dem Proviant, aber es blieb eine schwierige Rechnung, weil der eine Nenner, die Dauer der Reise, unbekannt war. Der Weg führte zunächst nicht über den Lualaba oder an ihm entlang, sondern durch den Urwald und wurde zu einer wahren Tortur. Warum Stanley ihn wählte, ist schwer verständlich. Auf dem Strom, den er erforschen wollte, wären die Anfangsschwierigkeiten jedenfalls viel geringer gewesen. Die weit auseinandergezogene Kolonne mußte sich in der Wildnis einen Marschweg erzwingen. Zur Rechten und Linken türmte sich zwanzig Fuß hoch das Unterholz, die niedere Welt der tropischen Vegetation, ein gewaltiges Treibhaus, schlimmer — eine Art Mistbeet, das, beständig mit Feuchtigkeit getränkt, in erstaunlicher Weise die Wachstumskraft der Natur veranschaulichte. Farnkräuter, Stechgras, Wasserrohr und orchideenartige Pflanzen, untermischt mit wildem Wein, kabeldicken Lianen und darüber das Gewirr-von Zweigen und das Laubwerk der hohen Stämme* dann die dumpf lastende 8
Stanleys Kongo-Expedition quer durch Afrika Atmosphäre, eine alles durchdringende Feuchtigkeit und das hoffnungslose Steckenbleiben im lehmigen Boden — das waren die Gegner, denen man kriechend, greifend, kletternd, zerrend und zwängend beikommen mußte. Das war tagtäglich ein heroischer Kampf. Die Träger des Bootes hatten es von allen am schlimmsten. Sie mußten das auseinandergenommene Fahrzeug wie eine stumpfe Pflugschar durch den zähen Boden schieben und trafen stets verspätet, völlig erschöpft und erbittert von solch unmenschlicher Mühe am abendlichen Rastplatz ein. So geschah es, daß die Expedition bald nicht mehr in dicht aufgeschlossener Ordnung marschierte, sondern ganz außer Rand und Band geriet und jeder für sich seinen Weg durch den Wald erarbeitete. Die beständige grüne Dunkelheit steigerte das traurige Elend dieses Daseins bis zur Unerträglichkeit. Die Menschen wurden zu Kriechtieren, wühlten sich mit Händen und Füßen voran, wanden sich durch das Gestrüpp, um am Ende zu erschlaffen. Nach 14 Tagen schien die lange Kolonne ihrer gänzlichen Auflösung nahe zu sein. Schließlich weigerte sich Tippu Tib weiterzumarschieren und erklärte, von dem Vertrag zurücktreten zu wollen. „Dies Land", sagte er zur Entschuldigung, „ist nicht zum Reisen 9
eingerichtet, es wurde für nichtswürdige Heiden, für Affen und wilde Tiere geschaffen. Zeig mir Arbeit, wie sie Menschen möglich ist, und ich will sie ausführen! Aber dieses hier ist ein hoffnungsloser Weg, der nirgendwohin führt." Stanley mußte sich blind stellen, die Ohren verschließen, die Lippen zusammenpressen. Er durfte wohl verhandelm, aber nicht nachgeben, sonst wäre sein Ruf, sein Ansehen verloren gewesen. Klar stand das Recht auf der Seite der Angeworbenen; wenn sie ihm jetzt erbittert auf den Leib rückten, so war ihr Drängen nicht unberechtigt, sondern Selbsterhaltungstrieb, ihre Geduld war zu Ende, und mit schönen Worten war dem nicht mehr beizukommen. Am 19. November stießen sie wieder auf den Lualaba, und jetzt sah Stanley endlich deutlich die einzige, die logische und angesichts der erhaltenen Lehre selbstverständliche Lösung vor sich . .. Da er von Nyangwe aus zu jenem Punkt im Westen kommen wollte, den der Engländer von der Kongomündung her erreicht hatte, mußte er dahin einen Weg suchen; er hatte ihn durch den Urwald zu finden gehofft. Aber im Urwald gab es so etwas nicht. Also mußte er es auf dem Strom versuchen. Der Lualaba war ein breiter Wasserweg, ein Pfad voll Licht, der sich seine Bahn nach irgendeinem Meer gespalten hatte. Warum nicht auf ihm oder an ihm entlang die Reise fortsetzen? Von seiner eigenen Begeisterung mitgerissen, hielt der kühle, beherrschte Engländer eine seltsame Ansprache an seine Getreuen, die im Ton einem anfeuernden Tagesbefehl Napoleons ähnlich war: „Araber, Söhne von Nyamwezi, Kinder Sansibars, wir haben manche Bitterkeit gekostet und haben geseufzt, denn unsere Seelen waren betrübt. Wir suchen einen Weg, auf dem es sich reisen läßt. Ich suche einen Pfad, der mich zum Meer führen soll. El hamd ul Illah — ich habe ihn gefunden. Seht ihr diesen mächtigen Strom, den Lualaba? Von Urbeginn ist er so geflossen wie heute, in Schweigen und Dunkelheit. — Wohin? In die Salzsee, wohin ale Flüsse gehen. In jenes Meer, auf dem die großen Schiffe schwimmen, an dessen Gestade meine Freunde wohnen . .. Seid ihr bereit, ihr Männer mit Löwenherzen, mir zu folgen, bis ich mein Werk vollendet habe? Und daß ich es vollenden werde, das gelobe ich hier vor euch allen . . . " In einer Sekunde war der Plan gefaßt. Er war zwar im Feuer des Eifers geschmiedet, aber das Eis nüchterner Überlegung härtete ihn, und die Stunden und Tage, die nun folgten, dienten dazu, seine Einzelheiten in die Wirklichkeit umzusetzen. 10
„Wir wollen euch fressen!" Die Karawane setzte ans andere Ufer über, wo der Wald lichter war. Was zunächst folgte, war ein lästiger Kleinkrieg gegen die mißtrauischen Uferbewohner. Auf der „Lady Alice" unternahm Stanley mit einer starken Besatzung Vorauspatrouillen auf dem Strom, unablässig bedrängt von den Eingeborenen, die ihre Stammesbrüder mit wildem Geschrei und Getrommel alarmierten und den Fluß wie ein aufgestörtes Bienenvolk umschwärmten. Zuweilen gab es ein Gefecht, einen Hagel von Speeren und Pfeilen — und Opfer, Tote und Verwundete auf beiden Seiten, bis die Karawane am 5. Dezember Ikondu erreichte, eine große Siedlung, die von ihren Bewohnern beim Herannahen Stanleys verlassen worden war. Hier fanden sich Nahrungsmittel in Fülle, in den Gärten Melonen, große Beete mit Erdnüssen und weite Flächen von Zuckerrohr, vor allem aber ein stattliches, auf dem Trockenen zurückgelassenes Kanu mit schadhaftem Heck, das sich leicht reparieren ließ und geräumig genug war, um sechzig Erkrankte aufzunehmen. Diesen Ärmsten mußte ein bequemeres Transportmittel beschafft werden; sie litten unsäglich — die Pocken wüteten, die Ruhr ging um, Krätze, Geschwüre und Fieber schwächten die Widerstandsfäbigkeit. Mit dem Weitermarsch begannen auch die Belästigungen wieder. Sie spitzten sich zuweilen zu Situationen zu, die an die Pionierzeit des amerikanischen wilden Westens erinnerten. Es kam zu regelrechten Gefechten vor rasch errichteten Palisadenwänden und zu nächtlichen Überfällen. Doch die kühle Gelassenheit Stanleys, seine Unerschrockenheit und seine Energie überwanden auch diese kritischen Augenblicke. Dann kam der Abschied von Tippu Tib, dessen undisziplinierte Leute durch die täglichen Angriffe und die traurige Lage der Kranken gänzlich entmutigt waren. Im Morgendämmer des 28. Dezember schiffte sich die Expedition ohne den Schutz der arabischen Begleitmannschaft wieder ein. Grauer Nebel lagerte wie ein schlechtes Omen über dem Fluß, doch mit der aufgehenden Sonne verwandelten sich die üppig bewaldeten Ufer, der Strom und die Ferne in das strahlende Portal einer zaubervollen Welt. Weithin, auf viele Meilen offen, breitete der Lualaba seine Wasserfläche, ein Anblick, ermutigend für die erschöpften Ruderer, ermutigend aber auch für Stanley, der niemand seine Sorgen verriet, ruhig die gewohnten Befehle erteilte, ruhig die schweren Glieder abends zum Schlaf streckte. Eine Zeitlang durfte man sich des Friedens freuen. Dann stieß 11
man wieder auf feindselige Stämme. Das Verhandeln mit den angriffslustigen Uferbewohnern blieb erfolglos. Auf alles Parlamentieren und jede Beteuerung gab es nur eine Antwort: „Wir brauchen euch gar nicht als Freunde, wir wollen euch fressen." In den Dörfern am Strom ertönte erneut das schreeklicke Getrommel, das Blasen der gewaltigen Kriegshörner und das entnervende Kriegsgeschrei: „Bo-bo-bo-bo-bo", und hallte unheimlich in den Talkesseln wider. Es war wie in einem wüsten, gräßlichen Traum, wie ein Alpdruck, wie die unerhörte Anspannung eines Trommelfeuers, dessen Ende nicht abzusehen ist. „Die Dörfler trieben jedesmal ihre zahllosen Kanus mit scharem Rammbug so schnell vorwärts, daß sie einem Schwärm fliegender Fische gleich über das Wasser glitten", schreibt Stanley über die Begegnung mit diesen Kannibalen. Anfang Januar erreichte die Expedition die erste große Kataraktstrecke, die man später Stanley-Fälle genannt hat; hier wendete sich der Strom nach der Einmündung des Kankora in wild dahinstürmender Flut nach Nordosten. Die Schnellen und Fälle mit den Kanus zu passieren war unmöglich; denn zu gewaltig brausten die Wasser dahin, zu zahlreich waren die Riffe, Klippen und Unterwasserbänke auf einer Strecke von hundert Kilometern. So wurde beschlossen, jeden der sieben Katarakte auf dem linken Stromufer zu umgehen.
Die sieben Katarakte Ein vier Meter breiter Weg wurde durch das dichte Gebüsch von Palmried, Palmen, Weinstöcken, Schlinggewächsen und Unterholz gehauen und alles Reisholz in dichten Haufen quer über den Weg gelegt. Am nächsten Tag spannten sich die Träger frisch und ausgeruht vor die Kanus; nachmittags gegen 3 Uhr waren die Wasserfälle und Stromschnellen des ersten Kataraktes bereits überwunden. Die Inseln zwischen den Hindernissen bewohnte hier eine friedliche Bevölkerung, die hinter dem Katarakt offenbar Schutz vor den kannibalischen Anrainern des oberen Stromes gesucht hatten. Bemerkenswert fand Stanley ihren ungewöhnlich großen Besitz an Eisenwaren aller Art, an Zangen, Hämmern, Beilen, eisernen Ambossen, Angeln und Speeren mit auffallend breiten Spitzen. Die Messer staken in hölzernen Scheiden, die mit Ziegenfell überzogen und mit polierten Eisenringen verziert waren. Bei der Überwindung des zweiten Kataraktes ging es wieder weniger friedlich zu. Stanley sah sich gezwungen, den kriegerischen 12
Die Expedition überquert eine Waldlichtung und beutelüsternen Stämmen der Bakumu entgegenzutreten und sie sich vom Leibe zu halten, um ungestört die Kanus durch den dichten Wald zu schleifen. „Am 10. Januar", so schreibt Stanley über dieses Treffen, „fuhren wir in der frühen Morgendämmerung und mit heftig klopfenden Pulsen ungefähr eine Meile stromauf und stürmten dann mit verzweifelter Hast quer hinüber aufs andere Ufer, wo wir augenblicklich angegriffen wurden. Wir ließen uns dann bis in die Krümmung dicht oberhalb des Wasserfalls abwärts treiben und brachten dort unsere Boote und Kanus in Sicherheit. Francis Bocock ließ ich mit acht Musketieren und sechzig Axtträgern zum Aufbau einer Palisadenverschanzung zurück, führte sechsunddreißig Mann in einer Linie durch die Büsche und trieb die vereinigten Bawa- und Bakumukrieger in ihre Dörfer. Hier machten sie hinter ihren Schutzwehren entschlossen halt, aber wir schlichen uns durch das dichte Strauchwerk an sie heran, und es gelang uns, in die Verschanzungen einzudringen und sie hinauszutreiben. Auf solche Weise hatten wir uns für diesen Tag Frieden verschafft..." So gelang es, von den entmutigten Kannibalen unbelästigt, in 13
mühevoller, 78-stündiger Anstrengung auch die zweite Stromsperre zu überwinden und den Lauf des Lualaba jenseits des Kataraktes zu erreichen. Aber die Reihe der unerwarteten, aufregenden Zwischenfälle auf diesen hundert Kilometern war noch nicht zu Ende. Mitte Januar kenterte durch die Ungeschicklichkeit des Steuermannes Zaidi eines der Boote beim Passieren einer der nächsten Stromschnellen. Während die Besatzung sich durch Schwimmen in Sicherheit brachte, raubte das Brausen der Strömung Zaidi selber die Besonnenheit. Er glaubte sich durch Anklammern an das abwärtstreibende Boot retten zu können, gelangte aber in den Sog des Kataraktes und scheiterte an einem spitzen Felsen, der hier den Fall in zwei Teile spaltete. Sein Schicksal schien besiegelt; zur Rechten und Linken schäumte und tobte der Strom dem tiefen Absturz entgegen. Ratlos auf dem Inselchen hockend, versuchte der Gestrandete sich mit seiner ausweglosen Lage abzufinden, da es unmöglich schien, ihn von seinem bedrohten, überspülten Zufluchtsort herunterzuholen. Rettungsversuche mit einem kleinen Kanu, das man die Strömung hinabließ, und mit zugeworfenen Seilen vereitelte die Gewalt der Strömung; da erklärten sich zwei Freiwillige bereit, dem Verlorenen beizustehen. Aber im entscheidenden Augenblick rissen die Seile, mit denen ihr Boot vom Ufer aus an den Felsen heranmanövriert wurde, und die Retter wurden selbst zu Schiffbrüchigen. Sie verbrachten zu dritt eine ungemütliche Nacht inmitten der donnernden, schäumenden Wasser — in des Wortes wahrster Bedeutung nur einen Schritt von ihrem Grab entfernt. Erst am folgenden Morgen gelang die Rettung. Mit Hilfe von Naturseilen, die man aufgetrieben hatte, wurden die drei Verunglückten, betäubt, halb erstickt und zerschunden, durch die reißende, brandende Flut hindurch ans Ufer gezogen. Der siebente und letzte Katarakt bildete eine Landschaft von phantastischer Wildheit und unerhörter Naturgewalt; die Ufer rückten allmählich zusammen, die Strömung nahm an Geschwindigkeit zu, wurde reißend, warf sich mit alles zerschmetternder Wucht vorwärts und stürzte im stark verengten Flußbett in einen Schlund, in quirlendes, hochaufschäumendes Gewoge, hinab. Dann endlich durften die Expeditionsteilnehmer aufatmen; die Stanley-Fälle waren überwunden. Kaum einer dachte, nachdem das alles überstanden war, noch an die Mühsal des Marsches; unvergessen blieben nur die Überfälle der roten Ameisen, deren Bisse schmerzten, als 14
hätten Stahlkämme die Haut aufgerissen; unvergessen auch das hohe Steckgras voller Kletten und die scharfen Spitzen des Riedgrases, die bis auf die Knochen drangen; die Gedanken kamen auch nicht los von den mit Menschenschädeln gesäumten Straßen der Dörfer, von dem massenhaft herumliegenden menschlichen Gebein — Zeugen des unersättlichen Kannibalismus dieser Urwaldneger. Die Expedition befand sich jetzt dreißig Kilometer nördlich des Äquators. Seit dem Abmarsch von Nyangwe waren 600 Kilometer zurückgelegt In diesem Zeitpunkt zeichnete sich für Stanley eine gewaltige Enttäuschung ab. Hinter den Fällen begann sich der Strom noch weiter nach Nordosten zu wenden, ein Zeichen, daß der Lualaba zum Flußgebiet des Nils und nicht zum Kongo gehörte. Stanleys ganze Erwartungen und Vermutungen schienen sich als falsch herauszustellen, auf diesem Wege würde er niemals zum Atlantik kommen. Stanley wurde schweigsam und unzugänglich. Nicht einmal mit Pocock oder den Steuerleuten wollte er sich aussprechen. Die Mannschaft, die seine Niedergeschlagenheit spürte, folgte ihm stumpf und gehorsam und nahm seine Befehle bedrückt entgegen.
Der Lualaba ist der Kongo! Den Charakter Stanleys erkennt man nirgends besser als an seinem Verhalten in dem entscheidenden Moment, da sich dann doch ergab, daß der Lualaba nicht zum Nil gehörte, sondern zum Kongo, ja, daß er eigentlich der Kongo selber war; denn es gab keinen sichtbaren Übergang zwisdien den beiden Flüssen. In diesem beglückenden Augenblick seines Lebens, als die vage Vermutung sich zur Tatsache verdichtete, blieb er völlig beherrscht. Wie beiläufig notiert er, nachdem er in einem Gespräch mit dem Häuptling von Rubunga die Gewißheit erhalten hatte, daß er auf dem richtigen Wege war, in sein Tagebuch: „Ehe ich mich von dem Häuptling verabschiedete, befragte ich ihn über den Namen des Stromes. Nach einer Weile verstand er mich und sagte, er heiße ,Ibari'. Als er den Sinn meiner Frage ganz begriffen hatte, anwortete er mit hellklingender Stimme: ,Ikutu Ya Kongo' . . . Kein Zweifel mehr, daß der furchtbare Strom sich wirklich als der Strom des Kongolandes ausweisen würde —es war sehr angenehm, dies aussprechen zu hören." Das ist alles, was er darüber sagt — obwohl der Vielgeprüfte eine bessere Kunde seit Jahren nicht mehr vernommen hatte. Vor15
erst aber •— vor der Erringung des großen Sieges — galt es noch viele kleine und große Scharmützel mit den Kannibalen zu bestehen. Der Strom floß jetzt nordwestwärts zwischen hügeligen Ufern dahin, eine prächtige Fahrbahn mit breitem, graubraunem Gewässer, auf dem die Kanus unter munterem Gesang der Besatzung rasch vorwärts kamen. Wieder aber dauerte das friedliche Vergnügen der unbeschwerten Bootsfahrt nicht lange. Die Wilden, die nun angriffen, waren womöglich noch gefährlicher, als es die Uferbewohner oberhalb der Fälle gewesen waren. Sie hatten sich scheußlich bemalt — die eine Hälfte des Körpers war weiß, die andere ockergelb —, stürzten, ihre länglichen Schilde schwingend, wie eine Büffelherde auf die Expedition los und schleuderten unter rasendem Kriegsgeschrei ihre scharfen Speere. Doch Stanley hatte inzwischen eine besondere Art der Verteidigung für Land- und Wassergefechte entwickelt. In den zahlreichen Treffen waren fünfundsechzig türähnliche Riesenschilder erbeutet worden, die vor den Schützen und Steuerleuten aufgestellt wurden, so daß jedermann in sicherer Deckung war und die Fahrt auf dem Fluß meist keine Unterbrechung erfuhr. Der Kongo wurde durch einen langen Bergrücken immer deutlicher in Westrichtung gezwungen. Senkrecht abfallende, rötliche Felswände, deren Gipfel schöne Wälder bedeckten, gaben der Landschaft ein anmutiges Gepräge. Steile Sandsteinufer mit hohen, prächtigen Farnkräutern und starkem Unterholz boten den Bootsfahrern eine Weile Schutz. Der Strom wuchs hier zu einer Breite von vier Kilometern an, zahlreiche Inseln, von dichten Dächern grünen Laubwerks überwölkt, unterbrachen seinen Lauf; es hätte eine angenehme Reise werden können, eine Strecke der Erholung, wenn nicht das Donnern der großen und kleinen Kriegskesselpauken unablässig die Gemüter in Spannung gehalten hätte. Eines Tages — Anfang Februar — kam es zu einer regelrechten Seeschlacht. Eine Armada riesiger Kanus, an Größe und Zahl allen weit überlegen, die bisher den Weg versperrt hatten, schwamm den Strom herab; im ganzen wohl an die sechzig Boote. Ein Admiralschiff von ganz ungewöhnlicher Größe fuhr voran. Im Bug dieses Fahrzeuges schwangen auf einer Plattform zehn ausgewählte Krieger drohend ihre Waffen; die Köpfe waren pfachtvoll mit roten und grauen Papageienfedern geschmückt; das Boot wurde von achtzig stehenden Männern im Takt der hin und her schwingenden Körper ge16
Bootstransport durch den Urwald rudert und schoß wie ein Pfeil zu Tal. Dann folgte in Linie unter dem schmetternden Klang der großen Trommeln und dem dumpfen Ton der zahllosen Elfenbeinhörner die Flotte. Gellendes Kriegsgeschrei aus tausend Kehlen erschütterte die Luft. Es war ein furchterregender Anblick; denn was sich da in Schlachtordnung herandrängte, war eine nie dagewesene Zusammenballung an Macht und der offenbare Ausdruck fester Entschlossenheit, mit den Eindringlingen endgültig aufzuräumen. Stanley ließ seine Streitmacht — elf Doppelkanus — in einem Abstand von je neun Meter voneinander vor Anker gehen. Als die Besatzung von vier Booten sich taub stellte und das Hasenpanier ergriff, zwang er sie mit der Waffe zum Gehorsam. Darauf wurden die Schilde aufgerichtet, und alles ging in Deckung. Er selbst fuhr mit der „Lady Alice" auf das Führerschiff der feindlichen Flottille los. In dem Augenblick, als die Speere herijbersausten, erwiderte er mit ein paar Salven. Dann begann sein An17
griff, dem die Kannibalen nicht standhielten. Sie zogen sich zurück. Schnell ließ er alle seine Boote die Anker aufziehen und setzte ihnen nach, landete bei den Dörfern und führte das Gefecht in den Dorfgassen weiter, bis es ihm genug schien, dann erst wurde der Rückzug geblasen. Zwischen Verzweiflung und Hoffnung Doch dieser letzte der bisher bestandenen achtundzwanzig Kämpfe hatte ihm arg zugesetzt. Er wurde für Augenblicke schwach und sah sich in die Rolle eines gehetzten Wildes gedrängt. Die fortwährenden Angriffe bei Tag und Nacht, das gellende Geschrei, das ihn hinter jeder Flußkrümmung erwartete, das ununterbrochene Trommeln, der grelle langgezogene Ton der Hörner, das alles zwang ihn zu ernsten Überlegungen. Er fühlte sich erschöpft und sah mit Schrecken, wie sich die Reihen seiner Getreuen lichteten. Es waren nicht dreißig in der Expedition, die nicht irgendwann einmal eine Verwundung empfangen hätten. „Dieses fürchterliche Leben in solcher Weise fortzuführen, ist nicht möglich", schreibt er. „Dem Tage können wir nicht entgehen, an dem wir unterliegen und uns wie Lämmer den KannibalenSchlächtern darbieten müssen. Ich habe das Gefühl, daß diese Zeilen nie von einem Menschen gelesen werden." Aber die Fahrt ging weiter, und die gedrückte Stimmung war bald gewichen und vergessen. Die Breite des Stromes schwankte jetzt zwischen vier und sieben Meilen. Die Gestade waren sehr niedrig, nicht mehr als drei Meter hoch und mit Wäldern bedeckt, selbst die zahllosen Inseln waren dicht bewaldet. Stanley fand mehr Zeit zur Beobachtung der Pflanzenwelt. Die Boote glitten an palm- und gewürzreichen Ufern vorüber, die mit ihren Wohlgerüchen und ihrem frischen Grün wie in einem ewigen Frühling prangten. Tekbäume wuchsen hier, wilde Dattelund Ölpalmen, hoch emporschießender, schlangenähnlicher Rottang mit herabhängenden, fedrigen Blättern, Gummi- und Feigenbäume und die vielästigen Tamarinden. Im Unterholz wucherten Büsche von außerordentlicher Mannigfaltigkeit. Aber selbst in diesem Paradies, dessen Betreten ihnen die Bewohner verwehrten, litt in der Expedition jung und alt Mangel am Nötigsten. Die Vorräte waren aufgebraucht, der Hunger meldete sich gebieterisch und zwang zu Verhandlungen mit den Wilden. Da sonst niemand den Mut hatte, fuhr Stanley selbst an ein Dorf her18
an, schwang in einer Hand eine Banane, in der anderen ein fun kelndes Armband mit Perlen von verschiedenen Farben, und so begann er, in einem wortlosen Gebardespiel den am Strand versammelten Hunderten von Kannibalen seine Wünsche auseinanderzusetzen. Ein seltsames Schauspiel, das sich lange hinzog; die Gesichter der Eingeborenen blieben mürrisch, unnachgiebig, voll grimmiger Feindseligkeit. Stanley ließ Kupferarmbänder aneinander klirren, betastete liebkosend ihr glänzendes Metall, klapperte verheißungsvoll mit den blanken Halsketten aus Schneckengehäusen und führte dann die Banane zum geöffneten Mund. Das Spiel wiederholte sich. Er brauchte Geduld, denn noch regte sich nichts, zeigte sich weder Verständnis noch Entgegenkommen, bis endlich der alte Häuptling an den Landungsplatz herantrat und sein Gefolge sich ihm anschloß. Der alte Mann nickte, und der Bann war gebrochen. An dieser Stelle verbrachte die Expedition ein paar ruhige Tage. Ein ordentlicher Markt wurde für sie abgehalten, und morgens brachten die Kanus von allen Seiten herbei, was das Land und seine Bewohner zu bieten hatten: getrocknete Fische, Austern, Muscheln, getrocknetes Hundefleisch, Ziegen, Bananen, Mehl und Brot, das so derb und fest war wie alter Schiffszwieback. Sonderbar war die Tätowierung der Männer. Jede Stelle der Haut, von den Haarwurzeln bis zu den Knien, trug eingestochene Zeichen. Ihre Brust glich geradezu Hieroglyphentafeln voll Quadraten, Kreisen, Wellenlinien, Rosetten und allen möglichen Mustern, die durch eingeblasene Luft bis zur Dicke eines Hühnereis aufgetrieben waren. Der Halsschmuck bestand aus Bändern von solchen Mengen Menschen,- Gorilla- und Krokodilzähnen, daß vom Hals wenig oder gar nichts zu sehen war. Audi fanden sich hier vier uralte portugiesische Musketen, Tauschartikel schwarzer Elfenbeinhändler, die den Fluß heraufgekommen waren — sichere Zeichen der sich näherden Zivilisation. Stromabwärts tauchten große Inseln mit tropischer Vegetation aus dem ungeheuer breiten Fluß auf. Die Tierwelt an ihren Ufern war außerordentlich artenreich. Marabus, Flamingos, Kraniche, Gänse, große Scharen wilder Enten, Taucher und Reiher bevölkerten den flachen Strand. Elefanten kamen abends zur Tränke mit Kolonien von Pavianen, Makis und kleinen langschwänzigen Affen, und in den Kanälen und toten Flußarmen wimmelte es von Flußpferden. Man sah Krokodile einer besonders großen, wohlbeleibten 19
Art, die auf den schmalen Landzungen in geruhsamem Schlummer lagen. Gegen Ende Februar stieß Stanley zum erstenmal auf Volksstamme, die mit Vorderladern bewaffnet waren und sie auch zu gebrauchen wußten; zwar verschossen diese altmodischen Flinten nur Metallstückchen auf kurze Entfernung, aber ihrer Wirkung war doch, zu mißtrauen, mehr als den Speeren. Als der Stromlauf sich schließlich nach Westsüdwest wandte, begannen auch die Angriffe von neuem. Trotzdem durchlebte Stanley in diesen Tagen beglückende und entspannende Augenblicke. Wenn er auch über seine Stimmung nichts schreibt und nur in geographischen Daten etwa notiert, der Flußlauf wende sich mehr und mehr dem Südwesten — dem Ozean zu, so ist doch nicht daran zu zweifeln, daß ihn diese Tatsache mit überwältigender Genugtung erfüllte. Hinter ihm lagen die schweren Tage des Urwaldmarsches, des Hungers, der Entbehrungen, der Kataraktstrecke und die gefährlichen Kämpfe mit den Kannibalen. Hinter ihm lag die entsetzliche Unsicherheit, die ihn Wochen und Monate gequält hatte: der Zweifel, ob das Unternehmen, ob alle Opfer nicht sinnlos seien. Aber jetzt durfte er zufrieden sein: Er hatte einen der bedeutendsten Ströme der Erde entdeckt und ein Gebiet voll ungeheurer Möglichkeiten gefunden, er hatte Regionen entschleiert, in die Livingstone und andere Forscher seinerzeit vergebens einzudringen versuchten. Er war dem dunklen Herzen dieses Erdteils näher gekommen als je ein Europäer vor ihm. Wie klein, wie unbedeutend und einfach gegenüber dem Erreichten lag das Geringe vor ihm, das noch zu vollenden war! Ein paar Wochen und Monate noch auf der breiten Wasserbahn talwärts, dann war die Aufgabe vollgültig gelöst, und er konnte heimkehren mit dem unverwelklichen Lorbeer um die Stirn . . . Die am 27. Februar 1877 gemessene Position 2°23'14" südlicher Breite war in mancher Hinsicht bemerkenswert; denn hier gelang einem Kannibalenhäuptling, was 500 seiner Kollegen vergebens versucht hatten: Stanley hereinzulegen, ihn zu täuschen und sein Mißtrauen einzuschläfern; und so sehr fühlte sich Stanley durch die Geschicklichkeit dieses Eingeborenen beeindruckt, daß er mit anerkennenden Worten über ihn nicht sparsam ist. Hinter einer Felsenspitze überraschten die Boote eines Tages drei Eingeborene, die damit beschäftigt waren, Elritzen mit Handnetzen zu fangen. Die Wilden zeigten keine Furcht, gaben sich viel20
Dort wo Stanley sich durch, den Urwald kämpfte, führen heute Autostraßen durch das Land am Kongo mehr völlig unbefangen und harmlos und führten Stanley zum Lagerplatz ihres Stammes inmitten eines lichten Haines. Darauf schickten sie nach ihrem König — Tschumbiri —, der mit fürstlichem Pomp und Glanz, von fünf Flintenträgern eskortiert, in Gesellschaft seiner Großen und Söhne erschien. Dieser Tschumbiri war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, mit kleinen Augen, einer wohlgebildeten Nase, dünnen Lippen und glattrasiert. Er trug ein ruhiges, würdevolles Wesen zur Schau und sprach mit einer sanften, gewinnenden Stimme. Sein königliches Haupt bedeckte ein hoher Hut aus Palmfasern; ein kurzes Schwert, auf der Schulter die Borsten eines Elefantenschwanzes und ein Büffelsehwanz als Fliegenwedel vervollständigten seine Ausrüstung. Er benutzte eine halbe Kürbisschale als Schnupftabaksdose; wenn er sich ihrer bediente, und er tat es recht häufig, drückte er seine Nase so heftig nach oben, als wolle er sie in die Stirn hineinschieben. Nach einer solchen Prozedur stopften ihm 21
seine Kinder eine sechs Fuß lange Pfeife, die er nach zwei oder drei Zügen weiterreichte, bis alle Umstehenden davon genossen hatten. Der Verkehr Stanleys mit diesem Souverän war durchaus freundschaftlich, offenbar ohne Hintergedanken auch von Seiten seiner königlichen Hoheit. Tschumbiri verstand zwar keinen Spaß beim Handeln, zeigte sich sogar über alle Maßen schlau und durchtrieben — aber war das ein Grund, an seinem guten Willen zu zweifeln? Ja, selbst den königlichen Harem bekam Stanley vorgeführt, wirklich hübsche Damen, von tiefbrauner Hartfarbe, großäugig und von schöner Gestalt. Doch waren auch sie offenbar Sklavinnen der Mode, denn sie trugen um den Hals einen breiten Messingring, ein Gewicht von 30 Pfund. Ihr Herr und Gebieter benutzte sie und seine Töchter gewissermaßen als lebenden Tresor für dieses kostbare Metall, und da er insgesamt über fünfzig Frauen gebot, besaß er einen Messingvorrat von 1500 Pfund. Am 7. März nahm Stanley von dem liebenswürdigen Tschumbiri Abschied, in dem Bewußtsein, ein paar angenehme und nützliche Tage verbracht zu haben, und reiste mit einer Ehreneskorte von 45 Mann unter der Führung des ältesten Königssohnes weiter. Leider erwies sich nun, daß die Freundschaft des Königs eine Falle gewesen war und sein Entgegenkommen Stanley zu einem bedauerlichen Trugschluß verführt hatte. An einer Flußenge — wo der Kongo nicht mehr als 1400 Meter breit war — blieb das Begleitkommando der Kannibalen listigerweise zurück, und die Expedition erlebte plötzlich, als sie am wenigsten darauf vorbereitet war, ihren zweiunddreißigsten und gefährlichsten Angriff, bei dem vierzehn Mann verwundet wurden und das Unternehmen beinahe sein Ende gefunden hätte. Zu spät erkannte Stanley, daß dieser Tschumbiri, dieser „ärgste Schelm in ganz Afrika", mit seiner sanften Stimme die Komödie höflicher Zuvorkommenheit nur gespielt hatte, um sich desto leichter des reichlichen Gepäcks der Fremden bemächtigen zu können. Natürlich hielt er auch nicht eines seiner aalglatten, teuer erkauften Versprechen auf Nachschub von Nahrungsmitteln. Der Strom zog nun zwischen steilen, bewaldeten Anhöhen dahin, dann traten die Ufer mit einemmal zu einem seeartigen Becken auseinander, voll sandiger Inseln, mit weißen Kreideklippen und grasreichem Tafelland — ähnlich dem Strand von Dover oder der Küste der Grafschaft Kent. Stanley gab deshalb diesen Felsen — markanten Wegweisern in der Wildnis — die Bezeichnung „Dover-Klip22
pen". Die ganze seeähnliche Erweiterung von hier bis zum ersten Katarakt der Livingstone-Fälle erhielt den Namen „Stanley-Pool". Die Bevölkerung wurde friedlicher, der Handel mit den Küstengebieten, der bis hierher ausstrahlte, hatte ihre Wildheit gezähmt; die Rolle des Gegners übernahm nun der Fluß. An den Livingstone-Fällen Bei den schon bald folgenden neuen Katarakten wurde er zu einem wütenden Strom, zu einem rücksichtslos zermalmenden Riesen. Er rannte gegen Lavaklippen, gegen vorspringende Bergwälle, gegen ungeheure Steinmauern an. Sein vielgekrümmter Lauf wand sich durch tiefe Schlünde, stürzte sich über gewaltige Terrassen und Stromschnellen in die Tiefe. Von der gefährlichsten dieser Schnellen, welche die Eingeborenen den „Vater" nennen, sagte Stanley tief beeindruckt: „Er ist die wildeste Stelle eines Stromlaufs, die ich je gesehen habe. Man nehme einen vier Meilen langen und eine halbe Meile breiten Streifen des Ozeans und lasse einen Orkan auf ihm wüten, und man wird von diesen hochaufspringenden Wogen einen ziemlich genauen Begriff erhalten." Hier rauschte das Wasser auf einer schiefen Ebene in den Grund eines ungeheueren Troges hinab, dort wuchs es mit Wucht steil empor und wurde zu einem förmlichen Hügel, der sich plötzlich sechs bis neun Meter in die Höhe schleuderte, ehe die Flut sich zum nächsten Trog weiterwälzte. Dazu donnerte an den aufgetürmten Felsbrocken am Ufer eine wilde Brandung. Diese lange Kataraktstrecke zu bezwingen, war wieder nur durch Umgehen jedes einzelnen der zweiunddreißig Fälle möglich. Das aber hieß: mühevolles Schleppen der Boote über die Uferfelsen oder behutsames Manövrieren am Ufer entlang, wenn die Beschaffenheit der Ufer einen Transport zu Lande nicht erlaubte. Stanley versuchte, sein Reisesystem dieser beschwerlichen Strecke anzupassen. Morgens führte Pocock die Expedition zu Lande in irgendeine Einfahrt, eine Bucht oder in ein Seitental in der Nähe der zu passierenden Stromschnellen. Während er mit den Dienstuntauglichen, den älteren Männern, den Frauen und Kindern, ein Lager herrichtete, kehrten die jüngeren Leute zurück, um beim Transport der leeren Kanus Hand anzulegen. Waren die Stromhindernisse unpassiserbar oder nur unter großen Risiken zu befahren, so 23
wurde ein geeigneter Weg zwischen den Uferfelsen gesucht und eine Art Rollbahn aus Zweigen und Reisig hergerichtet. Auf dieser Bahn schleppte man die Fahrzeuge hinüber, jenseits der Hindernisse ließ man sie wieder zu Wasser. Daß selbst die widerstandsfähigsten unter den eisenstarken, leidgewohnten Männern bei der mangelhaften Kost solch ungeheurer Anstrengung auf die Dauer nicht gewachsen waren, ist kaum verwunderlich; so kam es zu einer Serie von zum Teil schweren Zwischenfällen. Am 25. März wurde an einer schwierigen Stelle das beste fast 23 Meter lange Kanu den fünfzig Männern, die es hielten, aus den Händen gerissen, von der Strömung entführt und zerschlagen. Am gleichen Tag brachen die Haltetaue eines anderen Bootes, das davontrieb, eine halbe Meile stromauf zurückkehrte und in einer Bucht landete, wo es geborgen werden konnte. Am Ausgang eines Talkessels trieb plötzlich ein Boot mit einer Besatzung von drei Mann mitten in den Strom, raste über das verräterisch ruhige Wasser einem Katarakt entgegen und zerschellte an den Felsen, die hier die Brandung teilten. Kurz darauf schoß das nächste Kanu, gleichfalls zu weit ab vom Ufer, zu Tal dem sicheren Verhängnis entgegen; nur der Steuermann und einige Helfer kamen heil durch die Strudel und erreichten mit den Trümmern des Bootes das gegenüberliegende Land. An dieser Stelle gingen neun Mann zugrunde. Auf der Weiterreise, zwei Meilen talwärts, kenterte über gefährlichen Schnellen ein Kanu mit fünfzig Elefantenzähnen und verschwand; die Besatzung rettete sich mit knapper Not. Stanley war vielleicht nie auf eine härtere Probe gestellt worden als hier, so nahe am Ziel, 500 Kilometer vor der Küste, eine Entfernung, die ein Nichts war im Verhältnis zu dem zurückgelegten Weg. Stanley selbst geriet mit seinem Boot infolge eines Schwächeanfalls der Haltemannschaft in ein rasendes Wildwasser, schoß Zwei Meilen in halsbrecherischer Fahrt zwischen Felsen, Gischt und der polternden, tosenden Flut zu Tal und entrann wie durch ein Wunder unversehrt dem entsetzlichen Mahlstrom. Er schreibt: „Umgeben von Schauder- und furchterregenden Szenen, betäubt von dem schrecklichen Getöse, an allen Punkten einer hoffnungslosen, beschränkten Aussicht gegenüber, halten wir jene Gegend, welche wir hinter uns gelassen, für ein Eden und diese, in der wir uns jetzt befinden, für eine Wasserhölle." Die Expedition brauchte, um in dieser zweiten Kataraktfolge eine Strecke von 34 Meilen zurückzulegen, über einen Monat. Das 24
Schneckentempo beweist die ungeheure Pein der halb verhungerten, ausgemergelten Menschen. Die „Inkisi" oder „Zauberfälle" nahmen noch immer kein Ende. Der Strom zwängte sich durch eine 450 Meter breite Kluft, mit Wellen von zerstörender Wucht, die in der Flußmitte aufeinanderprallten. An dieser Stelle war die Hochebene durch die Gewalt des unablässig anprallenden Wassers in der Vorzeit unterhöhlt worden und auseinandergeborsten; eine langgestreckte Insel mitten im Strom, Haufen von Steintrümmern und Gneisplatten waren als Zeugen dieser Naturkatastrophe zurückgeblieben. Vierhundert Meter stiegen an dieser Stelle die Felswände aus dem Flußbett. Unmöglich schien die Passage. Denn wer wäre auf den Gedanken gekommen, die schweren Kanus über das Hochplateau zu schleppen, mit allem Gepäck, mit jeder Flinte, jedem Ballen Stoff, mit den Meßinstrumenten, mit allem, was von der Ausrüstung übriggeblieben war — wer hätte das gewagt? Stanley, der dem Fluß früher im Guten gefolgt war und sich jetzt im Bösen an ihn klammern mußte, unternahm das Wagnis. Enttäuschung und Leid Als er seinen Entschluß bekanntgab, waren selbst die Unentwegten sprachlos und bestürzt. Die Eingeborenen aus den nahen Dörfern aber starrten mit dem Ausdruck unaussprechlichen Schrekkens zu den Höhen empor, aus denen Bergspitzen, Felsstücke und Trümmer wie Borsten hervorstachen. In ihrer Einbildung schien das Ende der Welt gekommen, drohte ein übernatürliches Ereignis. Entsetzt kletterten sie den Berg hinan, um die dort weidenden schwarzen Ferkel, das Geflügel und die Ziegen in Sicherheit zu bringen. Wie der Wind verbreitete sich das Gerücht, der weiße Mann wolle mit seinen Kanus über den Berg fliegen. Auch auf dem anderen Flußufer sammelte sich eine nach Hunderten zählende Menge, um dem sonderbaren Schauspiel beizuwohnen. Es begann wieder der gewohnte Rollbahnbau. Schon am nächsten Tag war ein Pfad von 1400 Meter Länge bis zum Gipfel fertig. Zum Beweis, daß alles mit rechten Dingen zugehe, wurde ein kleines Kanu hinaufgeschafft. Die Häuptlinge schienen tief beeindruckt von Stanleys Erfindungsgabe und Energie und der Tatsache, daß hier Unmögliches auf ganz natürliche Weise möglich gemacht worden war, und stellten 600 Mann, die beim Hinaufziehen der drei Tonnen schweren Kanus Hand anlegen sollten. Am Abend des 28. April befanden sich alle Fahrzeuge unversehrt auf dem höchsten Teil des 25
Tafellandes, von wo sie in den nächsten Tagen über eine Strecke von drei Meilen transportiert und dann wieder zum Strom hinabgeschleppt wurden. In dieser Periode der Reise hatte die Expedition unter allen möglichen Krankheiten zu leiden. Die Mannschaft war erschöpft von monatelangen Strapazen; Hunger und Entbehrung lagen hinter ihr, Hunger und Entbehrungen reisten mit ihr. Im stillen beneideten die Darbenden wohl die glücklichen Kameraden, die frühzeitig desertiert und heimgekehrt waren. Die Beschaffung des Proviants wurde von Meile zu Meile schwieriger, denn je näher die zivilisierte Welt heranrückte, um so wertloser wurden die Tauschartikel. In der Gegend der Kataraktstrecke gab es bereits Delfter Steingut, englische Töpfer- und Schmiedewaren, Pulver, Flinten, Stoffe und alle nur denkbaren Handelsartikel in Fülle. Aber die Expedition hatte kaum noch etwas, was demgegenüber für die Eingeborenen tauschenswert erschien. Entsetzlich meldete sich die Not, auch für Stanley und Pocock. Selbst der Tee, der noch einigermaßen Lippe und Seele erfrischte, war verbraucht, Schuhwerk und Kleider bestanden nur noch aus notdürftigem Behelf. Tiefer lagen die Augen in den Höhlen, matter wurde mit jedem vergeblichen Morgen ihr Glanz, mehr und mehr höhlten sich die Wangen, schlaffer und schwächer wurde der Schritt. Hohlwangig und fahl, wie Gespenster, gingen die umher, die vor Monaten noch als frische, verwegene Burschen das Ruder geschwungen hatten. Wie sehr die Moral unter diesen bedrückenden Verhältnissen litt, bewiesen die häufigen Diebstähle, die zu Reibereien untereinander und mit den Eingeborenen führten. Als selbst der Treueste der Treuen, der Bootsführer Uledi, einen Sack Talmiperlen stahl — unersetzbares Zahlungsmittel für den Proviant zweier Tage — war Stanley aufs tiefste betroffen. Dieser Uledi, Bootsführer der „Lady Alice", ein tüchtiger Steuermann und Handwerker, hatte dreizehn Menschen vom Tode des Ertrinkens gerettet. Er war klein und von gedrungener Gestalt, keine Heldennatur, aber bewährt durch Pflichtbewußtsein und Treue — „und dennoch", schreibt Stanley, „hatte dieser geliebte und geehrte Diener — wie leid tut es mir, ein solches Prädikat zufügen zu müssen — mich bestohlen". Als Stanley noch überlegte, wie er Uledi bestrafen solle, erklärten seine schwarzen Kameraden einmütig, daß sie die Strafe auf 26
sich nehmen wollten. Einer von ihnen machte sich zum Wortführer. Er trat vor und erklärte: „Wir Schwarzen wissen nichts und haben auch gar kein Gedächtnis. Was wir gestern sahen, ist heute vergessen. Aber du, Herr, schreibst es auf für ewige Zeiten, und wenn du später einmal in deine Bücher blickst, wirst du darin finden, wie sich Uledi auf dem Tanganjikasee bewährte, wie er Zaidi dem Katarakt entriß, wie er viele Männer, auf deren Namen ich mich nicht mehr besinne, aus dem Fluß rettete, Bill, Alli, Mabruki, Kom-Kusi und andere, wie er auf den Kanus für drei arbeitete — er, der gütige Vater der Bootsjungen, ohne den wir nichts sind. Wenn er aber, wie du sagst, bestraft werden muß, dann, Herr, gestatte mir, deinem Diener Saywa, die Hälfte dieser Strafe auf midi zu nehmen, und für die andere Hälfte verbürgt sich Schumari, mein Freund — aber Uledi laß frei!" Was blieb Stanley anderes übrig, als Saywa und Schumari die Strafe zu erlassen und Uledi in Freiheit zu setzen! Nach einer Unterbrechung von sieben Tagen wurde am 3. Juni der Mowa-Katarakt bezwungen. Hier verlor Stanley seinen treuesten Gefährten. Er war, an Stelle des fußkranken Pocock, mit der Karawane vorausgezogen und beobachtete mit dem Glas von einem Felsen aus die Fahrt der Kanus über die furchtbaren Schnellen — da gewahrte er im wilden Getümmel der quirlenden, tobenden Wasser ein gekentertes Kanu und die Besatzung, die sich verzweifelt daran anklammerte. Er schickte Hilfe, aber es hieß, die Männer hätten sich schwimmend in Sicherheit gebracht, während das Boot in die unergründliche Tiefe des Strudels hinabgezogen wurde und versdiwand. Doch schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Der Bootsführer meldete, atemlos vor Schrecken, daß sich nicht alle hätten retten können; von den elf Mann, die mit ihm an Bord gewesen seien, hätten drei das Ufer nicht erreicht. Und einer von ihnen sei der „Kleinmeister", sei Pocock gewesen. Acht Tage später kam ein Eingeborener von Kilanga ins Lager und berichtete, daß er während einer Fahrt über das KilangaBecken plötzlich das aufwärtsgeriditete Antlitz eines weißen Mannes im Wasser vor sich gesehen habe und entsetzt geflohen sei. — Die Leiche des Francis Pocock wurde niemals gefunden. Daß Stanley an dieser Stelle der Reise fast zusammenbrach, ist begreiflich, und er hat aus seiner Verzweiflung kein Hehl gemacht. Im leeren Zelt erfüllte ihn das erstickende Gefühl unaussprech27
liehen Kummers. Der Gram über den Verlust des Kameraden —• des einzigen, der ihm in den jahrelangen Mühsalen der afrikanischen Reisen innerlich nahe gekommen war — drohte ihn zu überwältigen. Er sah die Zukunft schwarz in schwarz und zweifelte ernstlich daran, ob es ihm gelingen werde, die Reise ohne Pococks Unterstützung zu beenden. In der Nacht nach dem Unglück saß er stundenlang einsam auf einem Uferfelsen, starrte in die gurgelnde Flut zu seinen Füßen, und seine krankhaft überreizte Phantasie beschäftigte sich mit der eitlen Hoffnung, daß der Freund durch einen glücklichen Zufall dem Strudel entkommen sein könne. Den folgenden Tag verbrachte Stanley erschöpft und apathisch in seinem Zelt. Er kümmerte sich nicht einmal um die achtzig Leute, die im Lager oberhalb des Mowa-Kataraktes zurückgeblieben waren, denn nicht alle hatten die Fahrt gewagt. Plötzlich überbrachte man ihm die Nachricht, daß diese achtzig Männer meuterten. Lieber wollten sie, so ließen sie ihm bestellen, für die Heiden auf dem Feld hacken, als ihm weiter zu folgen, denn der Tod aller werde doch einmal das Ende dieser Fahrt sein. Aber das Leben mußte weiter gehen. Es gelang, die Rebellen zu beschwichtigen; am 14. Juni trug Stanley in sein Tagebuch ein: „Fieberkrank; aber ich bin erfreut zu hören, daß es in der Zwischenzeit Manwa Sera geglückt ist, alle Kanus nach Massassa hinabzuschaffen und daß nun schließlich alle Leute das Lager am Mowa-Katarakt verlassen haben." Als es zwei Wochen später wieder zu einem Aufruhr kam, griff Stanley sofort durch und veranlaßte die Eingeborenenhäuptlinge, den Deserteuren den Durchmarsch durch ihr Gebiet zu verweigern. So wurde der Zwischenfall rasch beigelegt. Endlich am 30. Juli 1877, nach neuen Abenteuern auf dem felsenumstandenen, ungastlichen Kongo, nach mancher Enttäuschung und schmerzlichen Verlusten, erreichte die Expedition einen Katarakt, den die Eingeborenen „Isangila" nannten. Hier stieg am linken Ufer der Hang eines Bergrückens bis zu einer Höhe von 300 Metern jäh empor. Am rechten Ufer erhob sich eine kahle und niedrige felsige Terrasse, und dahinter dehnte sich das Tafelland. Der Katarakt hatte die Gestalt eines Halbmondes; im Flußbett standen sieben rostfarbene Felsblöcke, an denen sich das Wasser brach, um in wildem Ungetüm noch eine Strecke von zwei Meilen zu toben und sich dann in einem von Sandbänken eingefaßten Becken zu beruhigen. Kein Zweifel, dieses hier war der Sangalla-Katarakt, den Kapitän Tuckey im Jahre 1815 von der Kongomündung her erreicht und beschrieben hatte. 28
Stanley am Ziel Der große Augenblick war gekommen. Stanley stand vor dem Ziel. Zwischen Nyangwe und dem fernsten Punkt, bis zu dem Tuckey gekommen, war die Verbindung hergestellt. Der Lauf des Kongo war erforscht, Afrika war in seiner Mitte durchquert. Stanley schrieb in sein Tagebuch: „Da der Hauptzweck der Reise nun erreicht war, so sah ich keinen Grund, warum ich dem Strom länger folgen und die wenige Lebenskraft, welche wir noch besaßen, bei den unendlich mühevollen Transportarbeiten neben den vier letzten Katarakten vergeuden sollte." Aber dieser strahlende Moment seines Lebens währte nicht lange; denn nun begann der Hungermarsch zur Küste. Zwar wurde ein vierfaches Rationsgeld an jeden Mann, jede Frau und jedes Kind verteilt, doch wegen der großen Armut der Gegend, vor allem aber wegen des Schachergeistes ihrer Bewohner zogen, die so lange schon Darbenden nur wenig Nutzen aus dieser Geldzuteilung. Eiserne Speere, Messer, Äxte, Kupfer- und Messingdraht, aus der Reiseapotheke dreißig Fläschchen, Stanleys Wäschekoffer nebst Inhalt, Decken, wasserdichte Stoffe, kurz jeder irgend entbehrliche Artikel, der sich in Lebensmittel umsetzen ließ, mußte hergegeben werden, um wenigstens einiges Eßbare zu erstehen. Da die „Lady Alice" überflüssig geworden war, ließ Stanley das Boot auf den Gipfel eines Felsens schleppen, damit es hier nach seiner 7000 Meilen langen Reise über Wasser und Land in Frieden verrotten könne; dann wurde am 1. August der Marsch angetreten. Er führte mit vierzig an Ruhr, Geschwüren und Skorbut Erkrankten über eine trostlose Hochebene, an armseligen Siedlungen vorüber zu einem wohlhabenden Dorf, wo ein alter Häuptling mit fünfzig Mann drohend den Weg versperrte. Aber es kam nur zu einem kleinen Zwischenspiel. Der Häuptling warf sich in die Brust und donnerte den verdutzten Stanley an: „Ich bin hier Herr. — Und du zahle eine Flasche Rum als Weggeld, oder der Teufel soll dich holen." Stanley, der keinen Tropfen von diesem Zahlungsmittel mehr bei sich hatte, verlegte sich aufs Verhandeln. Vergebens. Erst als Uledi sich einmischte und energisch tat, gab der Häuptling den Weg frei. Auch im nächsten Dorf gab es Aufenthalt. Der Dorfkönig empfand das Angebot von Perlen für Lebensmittel geradezu als Zumutung. „Für Draht?" bot Stanley an. „Wir brauchen keinen Draht." „Für Kauris?" 29
„Sind wir Buschmänner?" „Für Stoffe?" „Stoffe könnt ihr erst in drei Tagen auf dem nächsten Markt anbieten. Wenn ihr aber Rum habt verkaufen wir Euch, was Ihr wolllt." Anderntags begann der mühsame Marsch von neuem — ein Elendsmarsch über einen Weg voller scharfkantiger Gesteinsbrocken, über ödes Land, durch weißgebleichte Flächen überreifen Grases mit spärlichem Baumwuchs. Den Horizont begrenzte ein graues Felsmassiv. Acht Meilen waren die äußerste Leistung, die äußerste Kraftanstrengung der Karawane, in der Frauen mit kürzlich geborenen Säuglingen, Kranke und Schwerverwundete sich vorwärtsschleppten. Endlich, am dritten Marschtage, traf Stanley auf einen Dorfmonarchen, der es schließlich nach vierstündigem Feilschen übernahm, einen Brief nach Borna, der nächsten Europäersiedlung, zu befördern. Nach dem „Diner", drei gebratenen Bananen, zwanzig gerösteten Erdnüssen und einem Becher voll schlammigen Wassers, schrieb Stanley dieses Dokument an einen Unbekannten: Dorf Nsanda, 4. 8. 77. An irgendeinen Herrn in Borna, der Englisch versteht. Geehrter Herr! Ich bin in diesem Ort von Sansibar aus angekommen mit 115 Seelen, Männer, Frauen und Kinder. Wir befinden uns jetzt in einem dem Hungertode sehr nahem Zustande. Von den Eingeborenen des Landes können wir nichts kaufen, denn sie lachen über unsere Stoff-, Perlen- und Drahtsorten. Es gibt keinen Proviant im Lande zu kaufen, außer an Markttagen, und verhungernde Menschen sind nicht imstande, tagelang auf diese Märkte zu warten. Ich nehme mir deshalb die Freiheit, Sie um Hilfe anzuflehen, und obwohl ich Sie nicht kenne, beschwöre ich Sie als Ehrenmann und Christ, meine Bitte nicht unbeachtet zu lassen. Wir befinden uns in einem Zustand des größten Elends, wenn aber Ihre Lieferung zur rechten Zeit ankommt, so werden wir Borna in vier Tagen erreichen können . . . Am erwünschtesten wären mir 10 bis 15 mit Korn oder Reis beladene Träger, damit ich die ganz ausgehungerten Mägen meiner Leute sofort füllen kann. Diese Lieferungen müßten in zwei Tagen ankommen, oder ich werde eine entsetzliche Zeit mitten unter Ster30
benden durchleben müssen. Natürlich leiste ich Bürgschaft für jede Ausgabe, die Ihnen durch dieses Geschäft entsteht. . . " Und als Postkriptum setzt er hinzu: „Sie werden meinen Namen nicht kennen. Ich füge deshalb hinzu, daß ich der Reisende bin, welcher 1871 Livingstone auffand." Und es dauerte nicht lange; schon am übernächsten Tag traf die Trägerkolonne im Lager ein. Sie brachten den ersehnten Reis, süße Kartoffeln, getrocknete Fische, Tabak und Rum, und zum erstenmal seit Wochen und Monaten aßen Kranke und Gesunde sich wieder satt. Fröhlich wurde am 7. August zum Aufbruch geblasen. Alle wußten nun: Die schreckliche Reise war zu Ende. Nur zwei Tage noch hatten sie zu marschieren Während des Marsches tauchten schon zur Rechten und Linken immer wieder die Vorboten der Zivilisation auf. Endlich, am 9. August 1877, dem 999. Tage nach der Abreise von Sansibar, traf die Expedition in Borna ein. Dann nahmen sie das Schiff. Wie er es ihnen versprochen hatte, brachte Stanley seine afrikanischen Reisebegleiter rings um Afrika in ihre ostafrikanische Heimat zurück.
Umschlagbild: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst und Archiv. Über Stanleys zweite große Reise zum Kongo, die zur Gründung des Kongo-Staates iührte, berichtet Lux-Lesebogen 177, „Kongo — zwischen gestern und morgen". L u x - L e s e b o g e n 2 9 8 (Erdkunde) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundllche Helle - Bestellungen (vierteljähr]. 6 Hefte DiVl 1.5Ü) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind In jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München