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Das Leben unserer Generation Otto Zierer, der Verfasser der 40 bändigen Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte", hat seinen Ruf als großer Gestalter geschichtlicher Ereignisse mit dem jüngst erschienenen Werk
DAS BILD UNSERER ZEIT
1917 bis 1954 vonneuem gefestigt. Auch in diesem großangelegten Werk verbindet Zierer das, was man im allgemeinen unter Geschichte versteht — Kriege und Schlachten, Konferenzen and Verträge; Staatsmänner und Politiker, Monarchen und Feldherren — mit dem Alltag des Bürgers und Arbeiters und mit dem Geschehen in den Ateliers der Maler und Bildhauer, den Arbeitszimmern der Dichter, den Wohnungen der Musiker und Komponisten, den Laboratorien der Wissenschaftler, den Studierzimmern der Philosophen und den Konferenzräumen der Finanzmänner und Unternehmer.
„EIN BUCH, VON DEM MAN SPRICHT" schreibt die Allgemeine Zeitung, Mainz, in ihrem Urteil über „Das Bild unserer Zeit", — „Es ist eines der fesselndsten Dokumentärwerke geworden, weil es in die brennenden, selbsterlebten Ereignisse der Gegenwart eingreift, mit denen wir selbst Geschichte erlebten,.. Man wünscht, wir hätten heute viele dieser Bücher" (Der Fortschritt, Düsseldorf). — Im Rheinischen Merkur urteilt der Kritiker: „Dieser 702 Seiten umlassende Band ist eine große Leistung, ein anschauliches Bild des politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, künstlerischen und wirtschaftlichen Lebens . . . Die Szenen lassen uns in oft herzbeklemmender Anschaulichkeit die jüngst vergangenen Jahre wieder erleben . . , Der Verfasser stellt den Leser mitten in charakteristische Szenen nicht nur aus dem öffentlichen Geschehen, sondern auch aus der privaten Sphäre geschichtlicher Persönlichkeiten oder auch gut gezeichneter Menschen aus allen Bevölkerungsschichten" 736 Seiten mit historischen Karten, Zeitdokumenten und Begriffserklärungen — Ganzleinen mit Goldprägung DM 16.90 Durch alle Buchhandlungen zu beziehen
VERLAG SEBASTIAN LUX M U R N A U • M Ö N C H E N - I N N S B R U C K - ÖLTEN
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
HERBERT
HEFTE
KAUFMANN
ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU-MÜNCHEN-INNSBRUCKOLTEN
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in breiter, gelbbrauner Strom mit Felsen und sandigen Inseln ist die Grenze. Auf den Inseln sonnen sich Krokodile und sperren die Rachen auf. Durch den Feldstecher sind sie gut zu erkennen. Vögel spazieren unerschrocken in die Mäuler hinein, kratzen und picken zwischen den Zähnen herum und benehmen sich wie Putzfrauen beim Reinigen einer Wohnung. Der Zollbeamte, ein kleiner eleganter Südfranzose mit Tropenhelm, Schnurrbart und schwarzer Zigarette reicht mir die Autopapiere zurück. Ich verlasse FranzösischÄquatorialafrika (vgl. die Karte Seite 16 und 17). Der Ubangi bildet die Nordgrenze des belgischen Kongostaates. Auf beiden Ufern des Stromes stehen wie grüne Mauern die gleichen hohen Urwaldbäume. Die gelben, spitzen Bananenblattdächer der Eingeborenenhütten lugen durch das Grün. Dünner blauer Rauch kräuselt gegen den Himmel. Die Schwarzen auf beiden Ufern des Stromes sind Yakoma, athletische Gestalten mit gut geschnittenen Gesichtern. Ich lasse den Motor anspringen. Es geht steil hinunter zur Fähre. Ganz langsam rolle ich auf das Wasser zu. Die Eingeborenen am Ufer sehen herüber. Ich könnte ihnen keinen größeren Gefallen tun, als nier vor ihren Augen ein wenig U-Boot spielen. 2
Das geschieht schon einmal, wenn das Fahrzeug zu heftig auf die Fähre aufsetzt und am anderen Ende gleich wieder hinunterfährt. .. Nicht, daß meine dunkelhäutigen Zuschauer gehässig wären. Nein, aber sie würden stundenlang darüber kichern. Die Trommeln würden die Nachricht in alle Himmelsrichtungen tragen. Und wenn ich in Stanleyville ankäme, würde der Gouverneur sagen: „Na, mein Lieber, da sind Sie aber schön naß geworden, da am Ubangi?" — Und wenn ich dann antwortete: „Aber woher wissen Sie denn das, Herr Gouverneur?", würde er vermutlich lächeln. „Tja, wissen Sie: bei uns ist eigentlich alles schon bekannt, bevor es überhaupt passiert. Das ist eben Afrika. Das ist der Kongo". Aber ich tue den Burschen den Gefallen nicht. . . Ich schalte ab, und wir stoßen vom Ufer. Mit großen Stangen staken die Ruderer die plumpe Fähre in die Strömung. Ich ziehe mich in den Schatten des Wagens zurück, stecke mir die Pfeife an und habe bis zum Anlegen am anderen Ufer Zeit genug, ein wenig über dieses Land nachzudenken, das ich nun betreten werde.
* Das Dorf am jenseitigen Ufer sieht friedlich und verträumt auf den Strom. Als im Jahre 1886 die ersten Europäer hierher kamen, war es ein sehr kriegerischer Platz. Damals hatten die Weißen, die den Ubangistrom erforschen sollten, noch ihre liebe Not mit den Eingeborenen. Aber an der Spitze der Expedition stand ein Teufelskerl, Leutnant Alfonso von Gele, ein Belgier, der schon einige Jahre vorher vom Kongostrom her Forschungen auf dem Unterlauf des Ubangi unternommen hatte; Fieber, wilde Stämme und Stromschnellen hatten seinem Vordringen bald ein Ende gesetzt. Diesmal aber trug er den Befehl seiner Regierung in der Tasche, den Stromverlauf des Ubangi auf Biegen und Brechen zu erkunden und festzustellen, ob der Uele und der Ubangi ein und derselbe Fluß waren. Gele wurde von Leutnant Lienart und Kapitän Hanssens — Dänen wie so viele Pioniere des Kongogebietes — begleitet; sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt wie der Leiter des mutigen Unternehmens, das in der Folge fast bis in die Mitte des Schwarzen Erdteils vordringen sollte. 3
„En Avant" — Vorwärts — hieß der kleine Dampfer, mit dem sich die Expedition vom Kongo her stromauf quälte. An den Elephantenfällen von Zongo ging es nicht mehr weiter. Kein Einbaum konnte dort vorbei, geschweige denn ein Dampfer. Aber die drei Europäer waren um eine Lösung nicht verlegen. Der Dampfer wurde demontiert! Vom Kessel bis zur Schiffsschraube wurde alles säuberlich am Ufer ausgebreitet und auf den Köpfen der Schwarzen an den Stromschnellen vorbeigetragen. Einige hundert Meter weiter oberhalb setzte man das Ganze wieder sorgfältig zusammen, und das wiederholte sich einige Male. Bäume wurden gefällt und für die Kesselfeuerung zerkleinert. Eine Strecke weit wurde die „En Avant" ohne Schraube mit einem Seil am linken Ufer entlanggezogen; ein anderesmal verpflichtete Leutnant van Gele Männer vom Stamme der Sangos, die den Dampfer im Zickzack durch die Stromschnellen bei Mobaya lotsten. Endlich konnte van Gele am 1. Januar 1888 an einer kleinen Insel vor Anker gehen. Die Insel lag dort, wo zwei mächtige Flüsse ineinander mündeten. Bomu hieß der kleinere Fluß und Uele nannte sich der andere. Die drei bärtigen Europäer hatten ihre Aufgabe gelöst. Der Uele, der vom Osten Afrikas her bereits erreicht worden war, war die Fortsetzung des Ubangi und indirekt die Fortsetzung des Kongo. Das Stromgebiet des Kongo war auf viele tausend Kilometer Länge in seinem Zusammenhang erkannt.
* Das war vor 65 Jahren. Seitdem ist dieses Land der Riesenströme und Urwälder fast bis in seine letzten Gründe erforscht worden. Eine kleine Nation hat hier im Herzgebiet des afrikanischen Kontinents einen Siedlungs- und Wirtschaftsraum von einer Größe erschlossen, die achtzigmal die Fläche des belgischen Mutterlandes übertrifft. In der Brusttasche meines Buschhemdes steckt die alte, zerfetzte Afrikakarte. Sie ist so gefaltet, daß der Kongo in einem rechteckigen Ausschnitt sichtbar wird. Deutlich erkennt man, wie Wälder, Sümpfe, Savannen und Flüsse das gewaltige Becken zerteilen. Daraus heben sich wie ein Gespinst aus feinen blauen Adern die Flußsysteme des Kongo-Lualaba, des Kassai. des Ubangi und anderer Ströme ab. Gebirgsschwellen, die zum großen Teil mit den staat4
liehen Grenzen übereinstimmen, schließen dieses Riesenbecken in den vier Himmelsrichtungen ab; am eindrucksvollsten dort, wo ganz im Osten des Kongos der zentralafrikanische Graben und die darin eingebetteten Seen auf 1500 km Länge den Abschluß gegen Uganda-Kenia und Tanganjika bilden. Hier an der Ostgrenze türmen sich die Gipfel bis in die Regionen des ewigen Schnees. Über 5000 m hoch ragt der Ruwenzori in die Wolkenbänke, die seine höchsten Grate fast immer dem Auge verbergen. Hier wird auch die Wasserscheide sichtbar, die Kongo und Nil trennt und deren Festlegung viele Jahrzehnte hindurch eines der größten Rätsel der Erderkundung gewesen ist: Man suchte die Nilquelle und entdeckte zugleich mit der Quelle des Nilstroms den Oberlauf des Kongo und seine Zuflüsse. In Ost-Kongoland zeigt die Kette der großen Seen dem Afrikareisenden eine der schönsten Landschaften Zentralafrikas: Durch Straßen verbunden, reihen sich hier die riesigen Wasserflächen des Tanganjika-Sees, des Kivu- und des Eduard- und Albert-Sees von Süd nach Nord hintereinander. Am Albert- und Eduard-See tummeln sich die hundertköpfigen Herden der Zebras und Antilopen, der Büffel und Nilpferde, der Gnus und Gazellen wie in jenen Zeiten, als es noch keine Schnellfeuerwaffen gab. Heute wie einst brechen am südlicher gelegenen Kivu-See die Trupps der Elefanten unter Trompetenstößen durch den dichten Regenwald, der die Hänge der immer noch tätigen Vulkanberge bedeckt. Während an diesem krokodil- und moskitofreien See — der afrikanischen Riviera — tagsüber die Palmen über die Sommervillen der reichen Europäer blicken, leuchten des Nachts die Glutwolken vom Widerschein des nahen Niragongo-Vulkans. Hier an den Feuerbergen ist die Zufluchtsstätte der Gorillas und das Dorado der Nashörner. Oft pressen die Ausbrüche des Riesenvulkans Njamlagira die Lavamassen durch den Wald hindurch und mitten hinein in den Kivu-See, dessen Wasser zischend und brodelnd aufdampft und dessen Ufer von der erkaltenden Lava durch immer neue Halbinseln verändert wird. Auf den Hängen bei Rutschuru sitzen dann die Kaffeepflanzer mit den Ferngläsern vor den Augen vor ihren Bungalows und verfolgen das urgewaltige und jedem Fremden unvergeßliche Schauspiel. 5
Aber beherrscht wird das Bild des Kongos von den tropischen und subtropischen Wäldern nördlich und südlich des Äquators, der den Kongostaat quer durchschneidet. Vom Flugzeug her gesehen, ist es ein Meer von Grün, durch das wie mattglänzende Schlangen die Flüsse ziehen.
* Ich folge auf der Karte dem geschwungenen Lauf des Kongos, der seine Wasser auf einer Länge von 4650 km zum Meere trägt; es ist mir, als habe dieser mächtige Strom immer wieder die Gebirgsränder des Beckens zu durchstoßen versucht, bis er endlich im wilden, kataraktreiehen Durchbruch den Weg nach Westen zum Atlantik erzwingt. Seine Quellflüsse, die Lualaba und Luagula, entspringen jenseits der Grenze in den Hochflächen und Beckenlandschaften Katangas und Nordwestrhodesiens. In weitem Halbkreis, fast 3,7 Millionen qkm groß, erstreckt sich sein Stromgebiet, das nur der Amazonas an Wasserreichtum übertrifft. An manchen Stellen des Unterlaufes, dort wo der Kongo über die sieben Katarakte der Stanleyfälle hinuntergebraust ist, zeigt die Karte das Strombett als «eearliges, langgezogenes Gewässer von mehr als 14 km Breite. Nach den Regenmonaten mag es wohl sein, daß der Spiegel des Flusses noch breiter wird und vier bis neun Meter höher liegt als in der trockenen Jahreszeit. Unterhalb der Fälle, wo der Kongo sich mit ungeheurer Wildheit durch die Schluchten dem Meere zu preßt, verengt sich sein Bett wieder auf 400 und sogar auf 225 m bei einer Tiefe von 40 bis 90 m. Dann aber, im Mündungsdelta, gewinnt der Strom majestätische Gelassenheit und verteilt seine Wassermassen auf vierzig Kilometer Breite — vierzig Kilometer voller Sümpfe, Inseln, Mangroven und Palmen. Wie ein gelbbrauner Teppich weisen sich die Fluten des Kongo jenseits seiner Mündung noch auf Dutzende von Kilometern in der unergründlichen Weite des Atlantik aus. Viele Flüsse hat er auf seinem langen Lauf mit seinen Wassern vermischt. Die Landkarte nennt ihre Namen. Man muß sie auf der Zunge vergehen lassen; man muß sie leise vor sich hinsprechen, und es ist, als höre man die uralte, geheimnisvolle Stimme Afrikas. Da ist der Lukuga, der aus dem Tamganjika-See austritt; der Aruwimi, der seinen Namen dem Mißverständnis des Forschers 6
Kongo-Schnelldampfer vor dem Hafen von Leopoldville Stanley verdankt; der Ituri, immergrüne, regenfeuchte Heimat der Pygmäenstamme. Da ist der Lomami, der sich unendlich weit parallel dem großen Bruder sein Bett gesucht hat; da ist der Itimbiri im Norden, an dessen Oberlauf die wichtige Hafenstadt Aketi liegt und dessen Namen klingt wie das Zwitschern eines seltenen Vogels; da sind der Sanga und der Lulonga, der Ruki und der Lulua, den der Deutsche von Wißmann als Erster hinuntergefahren ist. Da ist der Kassai, länger als der Rhein, dessen Erforschung mit den Namen von Wißmann und Pogge verbunden ist. All diese Flüsse haben Geschichte gemacht. Hier sind Forscher ertrunken, wenn die Kanus in dem Gischt der Falle umschlugen; hier sind Missionare erschlagen worden, die, das Gebetbuch in der Hand, die Lehre Christi zu den Kannibalen bringen wollten; hier sind Handelsposten entstanden und wieder zerfallen, und hier haben Sklavenjä,ger aus Sansibar und Aden die Bevölkerung 7
dezimiert, die Kinder erschlagen, Männer und Frauen in Ketten weggeschleppt. —• Dunkles, blutiges, geheimnisvolles Schicksal des Kongos! Bis in das Jahr 1483 reicht seine Geschichte zurück, eine Zeit, in der Amerika noch nicht entdeckt war.
* Ich blättere zurück in der Chronik des Kongos, bis in das Jahr, da die ersten Europäer die Küste dieses Landes betreten! Den Golf von Guinea entlang segeln in jenem Sommer 1483 portugiesische Karavellen, die den Auftrag haben, im Namen des Königs den Seeweg um Afrikas Südspitze herum der Indienfahrt zu erschließen. Kapitän der kleinen Flotte ist Diego Cao, einer der kühnsten Männer des frühen Entdeckungszeitalters, in dessen Begleitung sich auch der deutsche Martin Behaim aus Nürnberg befindet. An einem Tage, da die Segler des Cao die in der tropischen Gluthitze brodelnde See durchfurchen, meldet der Matrose im Krähennest, daß sich mitten im Meere das Wasser verfärbe, daß es braun erscheine und nicht grünlich, wie die Wogen des Atlantik es sonst sind. Als man ein Gefäß hinabläßt und den Geschmack des Wassers mit der Zunge prüft, ist es Süßwasser. Süßwasser mitten im Ozean! Hier, außer Sicht des Festlandes, sind die Portugiesen auf die Wasser jenes Flusses gestoßen, der als Kongo in die Geschichte eingehen wird. Sie folgen dem gelbbraunen Wasser nach Osten, werfen angesichts der Küste Anker, lassen sich an Land rudern und treffen Eingeborene, die zum ersten Male ein weißes Gesicht erblicken. Die Portugiesen hören von dem mächtigen Strom, der tief ins Innere des Landes führen soll. Aber die weißen Männer haben keine Zeit, dem Stromlauf zu folgen. Die Küste ist ihnen nur eine Station, ein Posten, um frisches Wasser und wohlschmeckende Früchte für die skorbutkranke Mannschaft einzuhandeln. Diego Cao läßt einen ,padrao' an der Küste errichten, ein Steinmal, das allen künftig hier Landenden kundtun soll, daß Portugal hier gewesen ist, daß Portugal Besitz ergriffen hat von diesen Wäldern, von denen der Admiral nicht weiß, wie groß sie sind, von diesen schwarzen Männern, von denen der Admiral nicht sagen kann, wieviele hier leben. 8
Mit den Nachfolgern Diego Caos kommen Kaufleute an die gleiche Küste, folgen Beamte und Mönche. Die Beamten wollen Steuern, denn die Kassen Portugals sind ewig leer. Die Kaufleute wollen Gold und Waren und Sklaven, denn das Kapital, das sie in den Bau ihrer Segler gesteckt haben, soll sich hundertfach verzinsen. Und die Mönche wollen Seelen gewinnen, Seelen für die Sache Christi. Der Kongo findet um das Jahr 1500 erstmals für kurze Zeit und in geringem Umkreis das Interesse der Weißen. In den nächsten zehn Jahren dringt man eine Strecke stromauf. Das Negerkönigreich des Kongos öffnet den Fremden seine Hütten, nährt sie aus seinen Feldern. Dieses Königreich umfaßt an Gebiet nur einen Bruchteil des heutigen belgischen Kongos. Aber einige tausend Menschen leben hier, fischen im Strom, jagen die Waldtiere und arbeiten auf den dem Urwald abgewonnenen Feldern. Die Portugiesen gründen eine Stadt und nennen sie San Salvador. Die Mönche bauen Kirchen und taufen. Der König selbst bekennt sich zur neuen Lehre. Viele seiner Untertanen folgen dem Beispiel. Eingeborene reisen über See an den königlichen Hof in Lissabon; künftig werden sie als Dolmetscher zwischen den Weißen und ihren Landsleuten dienen. Aber es scheint, als ob die Portugiesen nicht den Ehrgeiz hätten, noch tiefer ins Innere vorzudringen. Landnahme und Besiedlung sind nicht die vordringlichste Aufgabe einer seefahrenden Nation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Meere zu beherrschen und die Häfen zu bewachen. So bleibt das Innere des Landes ein unberührtes und unbegehrtes Geheimnis. Fast vierhundert Jahre lang kümmert sich kein Mensch darum, was dort in der grünen Fieberhölle zu holen ist außer dem Tod. Dann bricht das portugiesische Weltreich Stück für Stück zusammen. An allen Enden der Erde bröckelt es ab, gerät aus den Fugen wie ein zu alt gewordenes Schiff. Gewiß, in Angola südlich des Kongogebietes und in Mozambique im Südosten der Landesgrenzen halten sich die Portugiesen, aber das prächtige San Salvador wird langsam vom Busch überwuchert. Die Händler gehen zur Küste zurück. In Europa hat man andere Sorgen, als sich um die von Menschenfressern bewohnten Gebiete Zentralafrikas zu kümmern. Und so 9
kommt es, daß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts das Herz Zentralafrikas immer noch ein weißer, unerforschter Fleck auf der Landkarte ist.
* Unerforscht: Das ist ein Wort, das von dieser Zeit an viele Wagemutige in die Ferne treibt. Seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts beginnt mit dem Sturm auf die weißen Flecken der Erde auch der organisierte Vorstoß auf die afrikanische Mitte um den Kongo und seine Nebenflüsse. Der schottische Missionar Dr. Livingstone, ein Freund der Eingeborenen, ein gütiger, weiser und aufrechter Christ, dringt von Südosten her in das Kongobecken ein, durchquert das südlich gelegene Kassaigebiet und kommt an der Atlantikküste wieder ans Meer. Im Osten entdecken die Engländer Burton und Speke, wissenschaftlich geschulte Offiziere, auf der erfolgreichen Suche nach der Quelle des Nils den 650 km langen Tanganjika-See. Ebenfalls vom Osten her gelangt ein anderer Engländer, Samuel White Baker, an das Ufer des Albertsees. Den Uelestrom im Norden entdeckt der deutsche Forscher Schweinfurth, ohne zu ahnen, daß dieser mächtige Strom über den Ubangi und Kongo Verbindung mit dem westlichen Ozean hat. Schweinfurth ist es auch, der als erster Weißer das Zwergvolk der afrikanischen Pygmäen kennenlernt und von ihnen dem aufhorchenden Europa berichtet. Als Schweinfurth auf dem Rückmarsch zur afrikanischen Ostküste ist, taucht auf der zentralafrikanischen Szene schon ein anderer Weißer auf, dessen Namen bald die ganze Welt nennen wird. Er ist weder Missionar noch Forscher, weder Händler noch Soldat. Sein Auftrag lautet, für den New-York Herald einen fesselnden Tatsachenbericht über den seit Monaten verschollenen Dr. Livingstone zu schreiben. Der Titel des Berichtes ist schon festgelegt: „Wie ich Livingstone fand . . ." Und der Mann, der diesen Bericht verfassen soll, ist der amerikanische Zeitungsberichterstatter Henry Morton Stanley. 1877 trifft Stanley in Ostafrika ein. Ein breitschultriger, untersetzter Mann mit blitzenden strengen Augen, einem energischen Kinn und einem martialischen Schnurrbart. Er reist unter der Flagge 10
der Vereinigten Staaten und findet am 10. November 1871 den Gesuchten in Udjidji am Tanganjikasee. Dann aber erliegt auch Stanley der Lockung des Unbekannten und wagt die Durchquerung Afrikas von Ost nach West. Im November 1874 schlängelt sich seine 350 Mann starke Karawane über die Steppen Ostafrikas. Einige seiner Leute sterben, andere fallen in Gefechten mit den Landesbewohnern, ein guter Teil desertiert. Nur noch mit einem Drittel der ursprünglichen Stärke dringt Stanley weiter vor. Arabische Händler leihen ihm ihre Unterstützung. Er entdeckt den Lualaba — den westlichen Oberlauf des Kongos — und schiebt ein zusammensetzbares Boot, die ,Lady Alice', die auf den Köpfen der Neger mitgenommen worden ist, in den Strom. Mit diesem Fahrzeug und mit geraubten Einbäumen erzwingt er kämpfend und verhandelud den weiten Weg stromab. Ungeheuer, unvorstellbar sind die Strapazen. Kanus kentern in den Katarakten. Fieber, Erschöpfung, Schlangenbisse und Giftpfeile fordern ihre Opfer. Eine Zeitlang begleitet den Tollkühnen ein Aufgebot des ,Königs der Sklavenjäger', des Sansibariten Tibbu-Tib. Aber nach einiger Zeit zieht er seine Eskorte wieder zurück. Zu undurchdringlich erscheint ihnen der Urwald. Tibbu-Tib kennt nicht den wissenschaftlichen Ehrgeiz der Europäer, ihn locken keine geographischen Rätsel, keine weißen Flecken auf der Landkarte. Ihn interessieren nur zwei Dinge — Sklaven und Elfenbein. Stanley setzt seinen Weg unbeirrt fort. Mehr als dreißig Mal muß er seine Flottille über die Stromschnellen tragen lassen. Endlich — 999 Tage nach seiner Abreise aus Sansibar — am 9. August 1877, trifft er mit seiner halbverhungerten Karawane in Borna an der Kongomündung ein. Zwei Drittel seiner Leute hat er eingebüßt. Aber sein eiserner Wille hat das Unmögliche geschafft: Das Unbekannte ist weithin erschlossen. Ein neues Blatt in der Geschichte des Kongos ist aufgeschlagen.
* Die ganze Welt bejubelt Stanleys außerordentliche Tat. Aber nur einer weiß die Entdeckung und Durchquerung des unerforschten Inneren Zentralafrikas zu nutzen: der belgische König Leopold II. Das Interesse des Königs für diese fieberverseuchten Sümpfe und Wälder zeugt von ungewöhnlichem Weitblick. Wie ein guter Börsen11
makler das Steigen der Aktien voraussieht, sieht er in Stanleys Tat mehr als nur ein Abenteuer im Dienste der Geographie und der Sensationsreportage. So treffen sich die beiden Männer in Brüssel. Ein Studienkomitee für den Oberen Kongo wird gegründet. Aber im eigenen Lande begegnet der König erbittertem Widerstand. Da nur wenige bereit sind, sich in ein koloniales Abenteuer zu stürzen, will der Monarch seine Ideen als Privatmann weiterverfolgen. Und er findet Männer, die ein Geschäft wittern. Aber ehe sie Geld geben, wollen sie Sicherheiten haben, etwas, woran sie sich später halten können. Wenn der König bereit ist, ihnen Schürfkonzessionen zu bewilligen, Konzessionen für Gold, für Edelsteine, für Kupfer oder was sonst der Boden birgt, dann . . . ja, dann sind sie bereit, auch Geld zur Verfügung zu stellen. Und so geschieht es. In dieser Zeit, da ein einzelner Mann seinem Volk geradezu ein Kolonialreich aufzwingt, werden riesige Bodenund Schürfrechte vergeben, Konzessionen und Monopole für künftige Eisenbahnen, für. Schiffstransporte, für Gummi und Elfenbein. 1879 ist Stanley im Auftrag des Königs wieder am Kongo. Mit der ,En Avant' fährt er diesmal den Strom von der Mündung her aufwärts. Leopoldville, die heutige Hauptstadt, wird gegründet. Handelsstationen entstehen mitten im Urwald. Dann wird Stanley krank. Auch diese Bärennatur ist den Anstrengungen nicht gewachsen. Er muß zurück. Der Däne Hanssens übernimmt seine Vollmachten. Inzwischen sind die europäischen Großmächte aufmerksam geworden; denn auch Frankreich und Deutschland sind dabei, sich in Afrika auszubreiten. Portugal beruft sich auf sein Recht der Erstentdeckung und auf alte Ansprüche, die es im 15. und 16. Jahrhundert den Negerkönigen gegen Glasperlen abgehandelt hat. Nur die gegenseitige politische Mißgunst der Mächte gestattet es dem Belgier im Jahre 1879, die Anerkennung des Kongos als ,Unabhängiger Kongostaat' auszuhandeln. Leopold II. wird der Souverän dieses Staates. Sechs Jahre später regelt die Generalakte der Berliner Konferenz die Besitzverhältnisse genau; gleichzeitig wird festgelegt, daß jede Nation im Kongobecken unbehindert Handel treiben darf. 12
Vieles bleibt zu tun. In vorderster Linie durchpflügen die Forscher diejenigen Teile des neuen Gebietes, die noch nicht bekannt sind. Von Wißmann und Pogge erkunden das Kassaibecken, das bereits Livingstone durchquert hat, von West nach Ost und treffen eines Tages in Tabora, der Hauptstadt Deutsch-Ostafrikas ein. Später durchforscht von Wißmann die Zuflüsse des Kassai und gründet die Station Luiuabourg. Die Freunde Reichard und Böhm, ebenfalls Deutsche, erreichen unter unerhörten Anstrengungen das Katangagebiet im Südosten, wo heute der Schein der Hochöfen den nächtlichen afrikanischen Himmel anstrahlt. Auch Stanley kehrt erneut aus Europa zurück. Wieder macht er sich auf den Weg durch die grüne Mauer der Wälder. Er entdeckt den Tumbasee, die Flüsse Lulonga und Lomami, fährt den Aruwimi aufwärts, gründet Stanleyville und setzt großzügig fort, was er genial begonnen hat. Aber während die Expeditionen der Forscher mit wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufträgen unterwegs sind, sehen sich die Politiker vor ganz andere Probleme gestellt. Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sind die Araber von Osten her in das Land eingesickert. Sie betrachten das ganze Gebiet als ihr privates Jagdrevier und die Eingeborenen als Jagdbeute und haben regelrechte Königreiche gegründet. Sie betreiben den Sklavenhandel, wie andere Leute den Handel mit frischen Eiern betreiben. Leere Dörfer, verbrannte Hütten, geplünderte Felder —Tote, Sterbende, Gemarterte und Verhungerte sind die Spuren, die sie auf ihren Raubzügen zurücklassen. 1886 greifen sie Stanleyville an und brennen es nieder. Im Jahre 1889 beschließen die Kolonialmächte in Brüssel den gemeinsamen Kampf gegen den Sklavenhandel. Während am unteren Kongo unter unmenschlichen Anstrengungen, in achtjähriger verzweifelter Arbeit die 338 Kilometer lange Eisenbahnstrecke vom Seehafen Matadi nach dem neuen Leopoldville vorgetrieben wird, beginnen im Osten belgische Offiziere mit ihren Eingeborenenheeren den Kampf gegen die Sklavenjäger. 1892 entbrennen die Kämpfe in aller Schärfe. Über 10 000 Mann, gut bewaffnet und gedrillt, zählt die Armee des arabischen Sklavenjägers Sefu. Nach drei Jahre währendem erbittertem Ringen, als 13
die Weißen schon glauben, aufatmen zu können, bricht ein neues Uniheil über den Kongo herein. Vom Osten, vom Nil her, greifen die Derwische des Mahdl auf das Gebiet des Unabhängigen Kongostaates über. Die besten Truppen des jungen Staates, die BatetelaSoldaten, meutern, ermorden ihre Offiziere und marodieren durch das unglückliche Land. Erst als das Jahrhundert zu Ende geht, kehrt im Kongo Ruhe ein. Aber auch dann ist es noch keine Insel der Glücklichen. Abenteurer aller europäischen Völker versuchen sich in diesem riesigen Gebiet auf dem schnellstem Wege zu bereichern. Der Sklavenhandel hat aufgehört, aber die Epoche der Gummisklaverei hat eingesetzt. Um die Eingeborenen zu immer größeren Lieferungen an Gummi aus den wiLd wachsenden Gummipflanzen zu zwingen, ist jedes Mittel recht. Auspeitschen ist an der Tagesordnung. Die Gerüchte und Berichte über die Grausamkeiten dringen nach Europa, rütteln hier die Gewissen wach. Die Ausbeutung endet erst, als es den belgischen Beamten gelingt, nachdrücklich Ordnung zu schaffen. Im Jahre 1908 übernimmt der belgische Staat aus den Händen des Königs den Kongo als Kolonie. Und damit beginnt eine langsame, aber ruhige Entwicklung. Das Erworbene wird gefestigt und gefördert, der Kongo nimmt jenen ungeheuren, bis heute währenden Aufschwung, der jeden Besucher mit Bewunderung erfüllt.
* Während diese Bilder und Erinnerungen an meinem Auge vorüberziehen, stößt die Fähre über Kies und Sand des seichten Uferwassers. Muskulöse Arme schieben Planken heran. Sachte rollt der Wagen an Land. Die Yakoma wickeln das Fährgeld in kleine Tuchzipfel, die sie am Gürtel befestigt haben, und verziehen sich lachend und schwatzend zu den Hütten. Ich aber breche auf, das Land kennenzulernen, von dem die Welt heute spricht.
* Und das nun ist das Bild des Kongos von heute, wie es sich mir auf meinen Streifzügen kreuz und quer gezeigt hat — auf halber Strecke zwischen einem unvergessenen Gestern und einem noch nicht greifbaren Morgen festgehalten: ein Land in tausend Gestalten und mit tausend Möglichkeiten. 14
Ein Eindruck vor allem ist beherrschend: der Belgische Kongo ist das reichste, das zukunftsträchtigste und leider a u c h . . . das teuerste Land des dunklen Erdteils. Und aller Aufbau ist erst ein Anfang; denn weite Gebiete sind wirtschaftlich und verkehrsmäßig noch immer ungenutztes Land. Die Zeit hat nicht gereicht und nicht die Menschen. Auf diesen 2,4 Millionen Quadratkilometern leben nur 12 Millionen Eingeborene — und selbst wenn man das von Belgien verwaltete, früher deutsche Ruanda-Urundi hinzuzahlt, sind es nicht mehr als 16 Millionen. Dazu kommen 80 000 Europäer, von denen der überwiegende Teil Belgier sind, die übrigen Portugiesen, Griechen, Engländer und Amerikaner. Während die Engländer und Amerikaner einen großen Teil der protestantischen Missionare stellen, haben sich Portugiesen und Griechen dem Handel mit den Eingeborenen verschrieben. Fast 80°/o des Handels
Eingeborene lernen in Fachschulen das Arbeiten an modernen Büromaschinen 15
ist in ihren Händen. Die Belgier hingegen arbeiten in der Verwaltung und der Industrie, und, neben Holländern und Luxemburgern, auch in den katholischen Missionen. Eigentümlich ist die Verteilung der weißen Bevölkerung nach Berufsgruppen. Die Farmer und Pflanzer, die im benachbarten Kenia und Tanganjika eine solch bedeutende Rolle spielen, machen zusammen mit den selbständigen Kaufleuten und freien Berufen kaum ein Zehntel der Europäer aus. Fast ebenso viele sind Beamte und Angestellte des Staates, und über 20°/o sind Angestellte bei den großen Handelsgesellschaften, den Industrie-Unternehmen, vor allem aber den Minenkonzernen. Den Rest stellen Frauen, Kinder und Missionare. Diese Zusammensetzung der weißen Bevölkerung ist die Folge der Kolonialmethode, die Leopold II. in den siebziger Jahren einführen mußte. Die kapitalkräftigen Gesellschaften, die seinerzeit die Pläne des Königs finanzierten, haben die Rechte, die ihnen eingeräumt wurden, bis heute in kaum gemilderter Form beibehalten. Sie sichern ihnen eine ungeheure sichtbare und unsichtbare Macht. Sie sind die Schrittmacher der Wirtschaftsrevolution, die den Kongo ähnlich wie Südafrika völlig umgestaltet hat. Waren die früheren Jahrzehnte eine Epoche harter Ausbeutung, so begann mit dem Ende des ersten Weltkrieges die sorgsame wirtschaftliche Erschließung und mit dem zweiten Weltkrieg ein Zeitabschnitt der kolonialen Planung. Dazwischen lag in den dreißiger Jahren die Weltwirtschaftskrise, die den Kongo besonders hart getroffen hat. 17
Die enttäuschten Siedler verließen fluchtartig die Kolonie. Häuser und Pflanzungen verfielen. Die Weltmarktpreise für Kopra und Palmöl lagen iSO tief, daß es nicht einmal lohnte, die Ernten einzubringen. Aber dann erholte sich der Kongo wieder. Die Siedler kehrten zurück. Immer mehr Weiße ließen sich nieder, Jahr um Jahr wuchs ihre Zahl. Bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges, der die Kolonie vom Mutterland abschnitt, waren die Reichtümer des Kongos zum größten Teil erschlossen. Der Krieg unterbrach die Entwicklung nur teilweise; gewisse kriegswichtige Produkte, wie Kupfer, Zinn, Baumwolle und Holz, wurden gerade jetzt von größter Bedeutung. Unmittelbar nach dem Ende des letzten Krieges aber beginnt die dritte Etappe. Ein Strom von Einwanderern ergießt sich in den Kongo. Sie kommen mit den Flugzeugen der Sabena, deren Flugverkehrsnetz nun die gesamte Kolonie umspannt. Auf den breiten Etagenschiffen, die wie einst die ,En Avant' noch mit Holz geheizt werden, kommen sie von Matadi her den Kongo aufwärts nach Leopoldville und Stanleyville. Oder sie steuern in hochgepackten Last- und Personenwagen durch die Sahara und die französischen Kolonien ins Land. Sprunghaft steigt die Bevölkerungszahl der Städte. Hochhäuser, Fabriken, asphaltierte Boulevards, Ölmühlen und Kraftwerke entstehen. Wo gestern noch der Urwald wucherte, rattern jetzt die Kreissägen und über die Felder die Traktoren. Und mit den Weißen kommen die Schwarzen. Zweihundertachtzigtausend sind es nun in Leopoldville, über hunderttausend im eleganten Elisabethville. Costermansville, Jadotville, Usumbura und Borna — sie alle wachsen in die Breite und Höhe. Eine Landflucht von bisher unbekannten Ausmaß setzt ein. Jeder Schwarze träumt davon, in der Stadt leichte Arbeit, leichtes Leben und hohe Löhne zu finden. Die Lichtreklame der Kinos zieht sie an wie ein Magnet. Sie haben gehört, daß es Bars in den Städten gibt, wo man schönes kaltes Bier bekommt, man kann Straßenbahn und Omnibus fahren und die Sonntage auf Sportplätzen und in Klubs verbringen. Unangemeldet, ohne Arbeitsplatz, ohne Vorstellung davon, was sie in der Stadt erwartet, ziehen sie barfüßig über die staubigen Straßen. Der Mann voran, einen bunten Kamm im Haar, die Fetzen 18
einer alten Khakihose auf dem Leib, und hinter ihm die Frau, eingehüllt in einen bunten Baumwolldruck, das Kind auf dem Rücken festgebunden, die Habseligkeiten in einer Kalabasse auf dem Kopf. In den Eingeborenenvororten finden sie Verwandte oder Freunde. Die Sitte verlangt, daß man sie aufnimmt und beherbergt. Man hofft zwar, daß sie bald wieder gehen und sich selbst ein Haus mit Wellblechdach suchen. Aber sie haben kein Geld mehr. Sie können keine neue Unterkunft bezahlen. Wie Kuckucksbrut machen sie es sich in dem bescheidenen Wohnraum des Gastfreundes bequem. Sie leben auf seine Kosten und ruinieren ihn langsam aber sicher im Laufe der Monate. Er wagt nicht gegen die Sitten der Gastlichkeit zu verstoßen. Lieber macht er sich eines Tages selbst davon und sucht bei Freunden Unterschlupf. Solche kleinen Tragödien spielen sich häufig genug dort ab, wo überlieferte Sitte und der Geist der neuen Zeit hart aufeinander prallen. Endlich findet der Mann Arbeit. Er kann sich vielleicht ein kleines Zimmer in einer Wellblechbude mieten. Jeden Morgen um 7 Uhr muß er am Hafen sein und Schiffe ausladen. Jeden Morgen um die gleiche Zeit. Erst schickt er sich nur schwer darein, pünktlich zu sein und jeden Tag die gleiche Arbeit zu tun. Draußen im Busch und im Urwald, wo sein Dorf steht, haben die Frauen die Arbeit getan. Er hat geholfen, gewiß — aber nur. wenn es ihm paßte. Das Wort Pünktlichkeit existierte nicht in seinem Sprachschatz, und Regelmäßigkeit war ihm ein Greuel. Nach und nach aber findet er Gefallen an seiner Tätigkeit. Er bringt einiges Geld nach Hause. Seine Frau kann ein neues Stück Tuch kaufen, und etwas Geld für ein Fahrrad kann zurückgelegt werden. Die Kinder schickt er auf die Schule, die die Missionare eingerichtet haben. Auf der Schule sind noch 3000 andere Kinder. Sie lernen Französisch und eine der Verkehrssprachen des Kongos: Lingala, Kisuaheli, Kikongo (am unteren Kongo) oder Tschiluba (in der Provinz Lusambo); sie lernen Rechnen und Schreiben und Lesen. Die Jungens können ein Handwerk erlernen, die Mädchen Hausund Nadelarbeit; eines Tages wird das Mädchen nach Hause kommen, in einem Khaki-Rock und in einer Khakibluse, auf dem Kopf einen breiten Filzhut: sie ist Pfadfinderin geworden, und der Junge spielt in der Fußballmannschaft der Schule. Und die Eltern bewundern 19
ihre Kinder, die können, was sie niemals konnten und nie zu hoffen wagten: so klug zu sein wie die Weißen und so reich. Der Vater aber steht, wie er es gewohnt ist, noch immer jeden Morgen um 7 Uhr früh am Hafen unter dem Verladekran. Die Sirenen der Dampfer heulen. Und wenn die erste Kiste vor ihm abgesetzt wird und er mit seinen Kameraden die Hände darauflegt, um sie hochzustemmen in die Güterwagen der Schmalspurbahn, dann unterscheidet ihn nur noch eine winzige Kleinigkeit von den Hafenarbeitern in allen Häfen der Welt: Er s i n g t . Einer singt vor, und die anderen wiederholen es im Chor. Und wie Ruderer in den Einbäumen auf den mächtigen Strömen des Kongos tun sie ihre Arbeit in rhythmischer Bewegung. Und ihre dunklen Stimmen mischen sich mit dem Schrillen der Dampfpfeifen, dem Hupen der Lastwagen und den Klingelzeichen des Kranführers. Sie sind Leute der Stadt geworden. Langsam vergessen sie den Wald. Sie vergessen ihre Brüder in den Dörfern. Sie fühlen sich als Zivilisierte, und sie wollen nichts mehr gemein haben mit den ,Wilden' im Busch. Die Kinder plappern schon ein wenig Französisch. Der älteste Sohn wird einmal aufs Büro gehen, einen weißen Kragen tragen und einen bunten Schlips. Auch die alten Tänze und Sitten geraten in Vergessenheit, auch die Fetische. Die Kinder sind längst getauft und gehen zur Kirche. So wie es dieser Familie geht, geht es tausend anderen. Jahr für Jahr entvölkert sich der Busch, leeren sich die Dörfer. Ein Viertel der Gesamtbevölkerung lebt heute bereits in der Stidt, in den Centres-extra-coutumieres, den Vorstädten, wo die Stammessitten nicht mehr gelten. Auch in Lagern; auch in den sauberen und schönen Städten, die die Minenverwaltungen angelegt haben für ihre Bergleute und deren Familien. Sorgsam achten die Belgier darauf, diesen Strom aus den Dörfern nicht in den Städten verkommen zu lassen. Großzügige Planung verwirklicht hübsche, gesunde Vorstadtsiedlungen mit elektrischem Licht, kleinen Gärten, sauberen Zwei- und Dreizimmerwohnungen. In manchen Centres-extra-coutumieres sind Lautsprecher aufgestellt. Morgens und abends werden dort die Weltnachrichten durchgegeben, Musik ertönt, Musik gespielt von Eingeborenen für Eingeborene. Afrika, Amerika und Europa mischen sich in diesen Rhythmen. 20
Nach Feierabend treffen sich die jungen Schwarzen in den von Regierung und Mission eingerichteten Klubs. Dort wird gespielt, diskutiert, werden Filme gezeigt. In manchen kann man Bier trinken — gutes Bier, das im Kongo selbst gebraut worden ist. Etwas außerhalb der Stadt liegen die Krankenhäuser, wo schwarze Arzthelfer den belgischen Kolonialärzten zur Hand gehen. Sportplätze und Schwimmbäder entstehen überall für die jungen schwarzen Arbeiter und Angestellten. Langsam hebt sich ihr Lebensstandard. Längst schon essen sie anders als in den Dörfern. Es gibt mehr Fleisch, aber auch mehr Büchsennahrung. Sie gehen auch nicht mehr barfuß, sondern kaufen sich billige europäische Schuhe mit Gummi- oder Ledersohlen, die im Lande hergestellt werden. Ihr Traum ist ein Fahrrad, und eines Tages vielleicht auch ein Motorrad. Schon haben einige Tausend auch diese Stufe erreicht. Allein am unteren Kongo verdienen rund 10 000 Schwarze zwischen 200 und 400 DM im Monat, und manche noch mehr. Es gibt selbständige Gewerbetreibende mit eigenen Geschäften. Andere sind Buchhalter und führen für mehrere — auch europäische — Geschäfte die Bücher. Schwarze Redakteure, Schriftsteller, Künstler zählt der Kongo zur Elite der Eingeborenenbevölkerung. Die meisten ,evoloues', wie man diese zivilisierten Schwarzen nennt, tun Büroarbeit in den großen Handelsgesellschaften, sind Schreiber bei der Post oder bei der Bahn. Andere sind Boys in den Haushalten der Weißen. Sie kochen, putzen, waschen und besorgen die Einkäufe. Viele aber, an Charakter und Erziehung, Wissen und Ausbildung hervorragende Männer, sind Geistliche geworden, einige Bischöfe der katholischen wie der protestantischen Kirche. Denn von den 12 Millionen Eingeborenen des Kongos sind drei Millionen Katholiken und sechshunderttausend Protestanten. Nur 70 000 bekennen sich zum Islam. Die europäische Stadt und ihre Zivilisation haben das Leben vieler Eingeborener umgestaltet. Diese Stadimenschen werden als Kongolesen bezeichnet; sie selber nennen sich mit Betonung, ,Afrikaner'; denn auch im Kongo wie im'ganzen übrigen Afrika ist das Empfinden unter, den Schwarzen lebendig, Angehöriger einer größeren Gemeinschaft zu sein. Aber auch das Leben in den Dörfern hat sich verwandelt. 21
Die Kriege unter den Stämmen haben aufgehört. Auch die Völkerwanderungen, die früher in großen Wellen das Gebiet des Kongos beunruhigten, sind zum Stillstand gekommen. Am wenigsten von der Umwälzung sind die Pygmäen berührt worden, die vermutlich älteste Bevölkerung des Kongos, deren Zahl heute noch auf rund 250 000 geschätzt wird. Zurückgedrängt in das kaum durchdringliche Dunkel des Urwaldes, jagen sie noch heute mit Bogen und Gipftpfeilen auf Zwergantilopen, Leoparden und das seltenste Wild: das Okapi, eine Kurzhalsgiraffe. Manche dieser kaum 1,40 m großen Menschen wagen sich sogar an den Elefanten heran und erlegen ihn. Die Pygmäen leben auch heute noch zum überwiegenden Teil in Laubhütten, die, aus Blättern und Zweigen schnell errichtet, nach wenigen Tagen schon wieder verlassen werden. Denn die Horde zieht weiter dem Wild nach. Erst seit kurzem ist die belgische Regierung dazu übergangen und hat einige Pygmäenfamilien versuchsweise angesiedelt und ihnen Felder zur Bebauung gegeben. Aber es ist ungewiß, ob man diese Menschen, denen das Umherschweifen im Blut liegt, überhaupt seßhaft machen kann. Von der Zivilisation wenig berührt ist auch die weitaus bedeutendste Rassengruppe im Kongo, dieBantus mit ihren zahlreichen Stämmen und ebenso zahlreichen, einander verwandten Sprachen. Manche dieser Stämme sind Waldbewohner, die das Leben auf den Steppen scheuen und die grüne Dunkelheit des Waldes nie verlassen. Die Lokele und Wagenia bei Stanleyville sind geübte Fischer, die mit ihren schlanken Einbäumen in halsbrecherischer Fahrt durch die Stromschnellen schießen, um die im Fluß versenkten Reusen zu leeren. Tausende Lokele leben auch in Hausbooten auf dem Kongo, werden dort geboren, wachsen heran, heiraten und sterben in ihren schwimmenden Hütten. Die Mabudu oder Wamba im östlichen Kongo bei Irumu und Beni sind bekannt geworden durch die grausame Sekte der Leopardenmenschen, Männern in Leopardenfellen, die des Nachts ihre unglücklichen Opfer überfielen und sie, um einen Überfall durch Leoparden vorzutäuschen, zerfleischten und zerfetzten. — Andere Stämme aber sind tüchtige Ackerbauern, wie die Banande auf den Hügeln bei Lubero im östlichen Kongo, oder gerissene Handler wie die Bashi, die auf den Märkten am Kivu-See mit Fleisch und Gemüse sitzen o>der auf den Plantagen arbeiten. 22
Eine der größten, wenig zivilisierten Stammesgruppen, die Bahutu in Ruanda-Urundi, zählt fast dreieinhalb Millionen. Sie wird von den Watussi beherrscht, einem Eroberervolk, das mit seinen langhörnigen Rindern wohl aus Äthiopien herübergewandert ist. Die Watussi sind riesengroße Gestalten, die oft 2,20 m und mehr erreichen, berühmt und gefürchtet zugleich und immer wieder bewundert wegen ihrer zaubervollen Kriegstänze. Stärker europäisiert sind die Bayeke, die in den Minenbezirken Katangas, vor allem bei Jadotville als Arbeiter gesucht sind. Man kennt die Geschichte dieses Stammes einigermaßen. Unter dem Negertyrannen Msiri waren sie so gefürchtet, daß Leopold IL und der große Cecil Rhodes Abordnungen an den Hof des Königs sandten, ihn um Schürfrechte zu bitten. Bei einer solchen Verhandlung hat der Belgier Bodson den Despoten Msiri mit dem Revolver erschossen und ist dann selbst unter den Hieben von Msiris Häuptlingen gefallen. Am Unterlauf des Kongostromes leben die Bakongo als Händler. Handwerker und Kaufleute. Sie haben sich von allen Stämmen des Belgischen Kongos zahlenmäßig am stärksten den Weißen angenähert. 80 Prozent ihrer Kinder besuchen die Schule. Als Angestellte sitzen sie in den Büros der europäischen Geschäftshäuser. Wahrend sie früher durch Sklavenjagden und Alkoholismus mehr und mehr an Bedeutung verloren und zum langsamen Aussterben verurteilt schienen, ist die Bevölkerungskurve gerade dieses Stammes durch eine sorgfältige Eingeborenenpolitik die günstigste der Kolonie geworden. Außer den Bantus, Watussi und den anderen genannten Stämmen sind noch an Eingeborenengruppen im Kongo vertreten: Sudanesen im Norden und Nordosten, wie die Asande im Raum von Bondo, und die künstlerisch hervorragend begabten Mangbettu, die vor allem im Gebiet von Paulis leben; und einige wenige Stämme nilotischer Sprache im äußersten Nordosten. In der Dorfgemeinschaft der noch in ihrer Ursprünglichkeit verbliebenen Eingeborenen vergeht der Tag heute nicht viel anders als vor 100 Jahren. Überall hört man das dumpfe Klappern der Holzstößel, mit denen die Frauen in den Mörsern die Körner und Wurzeln zerstampfen. Maniok, eine weiße Wurzel, ist Volksnahrungs23
mittel bei vielen Stämmen. Eine häufig vorkommende Art dieser Pflanze wird vor der Verwendung einige Zeit in fließendem Wasser gewässert, um eine giftige Cyanverbindung zu entfernen. Getrocknet und gestampft werden kleine Würstchen aus dem Melil geformt, in Bananenblätter gewickelt, gekocht und als ,chickwangues' auf den Märkten verkauft. Die Zubereitung der Mahlzeiten ist immer Sache der Frauen. Ein Topf über drei Steine gestellt, ein Feuer aus Holz oder Holzkohle — das sind die Vorbereitungen für die Morgenund Abendmahlzeit, bei der immer die Männer den Vortritt haben. Auf der Speisekarte stehen Hirse oder Bohnen, Mais, Maniok, Pilze, Erdnüsse, geräuchertes Fleisch, vielleicht auch geflügelte Termiten, Raupen und Krebse. Soßen, gewürzt mit dem roten, überaus scharfen Pfeffer, Pilli-Pilli genannt, und ,malafu\ Palmwein, sind den Essern willkommen. Auch Bier aus Bananen, Hirse oder Mais wird von den Eingeborenen gebraut. Tabak wird von Männern und Frauen geschätzt und geraucht. Gegessen wird mit den Händen, meist gemeinsam aus einer Schüssel. Fleisch ist jedoch selten, da strenge Jagdgesetze die Tiere schützen. An den Flüssen wird auch Fisch gefangen und zubereitet. Das Steinhaus hat sich im Dorf, auch bei Berührung mit den Europäern, kaum durchgesetzt. Nur sehr selten sieht man moderne, zweizimmerige Häuser für Lehrer, Arzthelfer und ähnliche wichtige Funktionäre der Verwaltung. Rundhütte und Rechteckhütte, je nach Landschaft, Stamm und Baumaterial, oft mit Erd- und Pflanzenfarben bemalt, sind meist auch heute noch die Behausung der Schwarzen. Aufschlußreich ist es zu sehen, wie sich die Malereien langsam von den hergebrachten Motiven der Eingeborenenkunst abwenden. Da findet man auf den Hauswänden Flugzeuge und Europäer im Buschhemd beim Kaffeetrinken oder Autos mit Soldaten, oder Kinder, die auf eine Tafel schreiben. In den kleineren Dörfern liegen die Felder und Pflanzungen der Bewohner oft gleich hinter der Hütte. Wo das Klima feucht-heiß ist, und oft noch hoch hinauf an den Berghängen, sind die Bananenhaine das charakteristische Bild. Im südlichen Kongo und im Norden am Uele sind der Savanne und dem Wald die Felder mit Mais, Hirse und Sorgho abgewonnen. Baumwurzeln, die nicht entfernt wurden, stehen als abgebrannte schwarze Stümpfe zwischen den Halmen und 24
Zinnmine von Manono am Datanga-Fluß Stauden. Im nächsten Jahr wird das Feld wieder aufgegeben, ein neues Stück Land gerodet und besät. Das Roden ist noch die Arbeit des Mannes. Aber wenn die Frucht reift, kümmert sich der Mann nicht mehr darum. Er überläßt alle Arbeit der Frau und den unverheirateten jüngeren Töchtern. Seit den zwanziger Jahren aber haben die Belgier in den für den Anbau geeigneten Gebieten die Anpflanzung der Baumwolle vorgeschrieben und dadurch viele Landstriche kultiviert, vor allem im Norden und Süden. Der Anbau ist fast auf einem Drittel aller Böden des Kongos möglich. Ungeeignet ist das Gebiet um den Äquator, da der Regen den weißen Fruchtkapseln schadet. Keine Pflanze hat so wie die Baumwolle, die von den Arabern eingeführt wurde, in das Leben der Dörfer eingegriffen. Die Regierung kontrolliert ständig durch ihre Inspektoren, ob die Pflanzen ihren Weisungen gemäß gehegt werden, ob die Pflückarbeit pünktlich aufgenommen und ob die 25
Baumwolle schließlich den Fabriken zugeführt wird. Die Familie hat mit dieser Pflanze das ganze Jahr hindurch Arbeit. Dieser „erzieherische" Zwangsanbau ist nicht ohne starken Druck der Regierung durchgesetzt worden. Sehr schwer war es, den Eingeborenen begreiflich zu machen, daß eine Pflanze, die man nicht essen konnte, die in den Fabriken verschwand, irgendwelchen Nutzen habe. Als aber die großen Zahlungen an die Pflanzer und ihre Familienangehörigen klingenden Reichtum in die Hütten brachten, änderte sich das Bild. Jedes Jahr fließen Millionenbeträge in die Hände der Schwarzen, und von dort wieder in die Ladenkassen der Inder und Portugiesen und Griechen, die an den Baumwollsammelstellen ihren Markt abhalten. Die Verarbeitung und der Weiterverkauf ist lange Jahre hindurch monopolartig in den Händen der Gotonco und ihrer Schwestergeselisehaften gewesen. Erst in jüngster Zeit hat dieses System sich geändert. Und in naher Zukunft werden Handelshäuser der Eingeborenen selbst über die Baumwolle verfügen können. Dem schwarzen Bauern wird dadurch ein Mittel in die Hände gegeben, nach und nach seinen Lebensstandard zu erhöhen. So findet man heute schon in diesen Dörfern der Baumwollgebiete Fahrrad und Nähmaschine, Koffergrammophon und Radioapparat, Emaille-Topf und Liegestuhl. In den Läden der Händler ist alles zu kaufen, was man sich in dieser Buntheit nur in einem großen Warenhaus vereint, vorstellen kann: Räucherfisch und Mundharmonikas, Messer aus Solingen und Papp-Tropenhelme — „made in occupied Japan" —, bunte Bildchen und Baumwollstrümpfe, Regenschirme und Mokkatassen, Schallplatten und Lippenstifte, Haarpomade, Kopftücher und Kleiderdrucke, Kopfwehpulver und Rattenfallen, Sturmlaternen und Büchsenmilch. Was in den trockeneren Gebieten die Baumwolle bedeutet, ist für die fortschrittlichen Dörfer im regenreichen äquatorialen Kongo die Palmfrucht und der Gummibaum. Ungefähr ein Drittel der Ölpalmenbestände ist hier in den Händen der Eingeborenen (1950: 52 000 Hektar gegenüber 110 000 Hektar in europäischem Besitz). Der Reisanbau durch Eingeborene umfaßt heute bereits 160 000 Hektar. Mit der Baumwolle, die von Europäern nicht angebaut werden darf und den Eingeborenen allein vorbehalten ist, haben die Kongolesen 330 000 Hektar unter Kultur genommen. Nur Sisal, 26
Zuckerrohr, Kaffee, Kakao, Chinarinde, Tee und Pyrethrum (ein Grundstoff zur Herstellung von DDT-Insektenvernichtungsmitteln) sind mehr oder weniger Erzeugnisse europäischer Pflanzungen. Die Männer und jungen Burschen, die in den Pflanzungen und Minen der Europäer arbeiten, haben heute ein ganz anderes Verhältnis zum Geld und zur Lohntüte wie vor fünfzig Jahren. Der Wert des Geldes und das Denken in Geld hat sich weithin im Kongo durchgesetzt. Neue Rechtsordnungen und neue Rechtsauffassungen sind unter dem Einfluß der Europäer entstanden. Aber auch die Auffassungen über Gut und Schlecht sind davon betroffen, und es sind nicht nur Vorteile, die dem Eingeborenen daraus erwachsen sind. Schon zeigen sich bedenkliche Anzeichen eines seelischen Hohlraumes, den die Zerstörung der alten Ordnungen hervorgerufen hat. Hier liegen große Aufgaben für die christliche Mission und die Erziehung durch Schule und Vorbild. Erschwert wird die Neuordnung durch ein Problem, in dessen Schatten heute alle afrikanischen Ereignisse gesehen werden müssen: die Rassenfrage. Die Belgier kennen zwar grundsätzlich und amtlich keine Rassenschranke. Ein Schwarzer könnte nach dem geltenden Recht ohne weiteres ein Hotel betreten und eine Mahlzeit nehmen; aber der Chef des Hotels wacht eifrig darüber, daß er es nicht tut. Ein kleines Schild am Eingang, wonach sich der Besitzer vorbehält, einen Besucher abzuweisen, gibt ihm die Handhabe. Schule, Eisenbahnabteil, vielfach auch die Läden, Postschalter sind getrennt für Schwarz und Weiß. Nur eine Elite besonders befähigter Schwarzer überwindet nach und nach diese Farbschranke. Grundsätzlich versuchen die Belgier die allmähliche Angleichung der beiden Rassen; doch wird jede Übereilung dieses Prozesses abgelehnt, da man sich hütet, aus dem Eingeborenen lediglich einen Europäer schwarzer Hautfarbe zu machen.
* Für den weißen Mann als Siedler kommen nur klimatisch günstige Gebiete, vor allem Höhen zwischen 1500 und 2000 Meter, in Frage. Wenn der Boden auch billig ist, so sind doch die Kosten bis zum Ausbau einer Pflanzung, die Erträgnisse abwirft, gewaltig. Für eine Kaffeefarm im Norden des Kivu-Sees werden Kapitalien von 200 000 DM und mehr genannt. Denn es gilt nicht nur, den 27
Boden zu roden, die Pflanzen zu kaufen, Maschinen zu beschaffen, ein Haus zu bauen, Trockenanlagen anzulegen, sich selbst und seine Familie vier bis fünf Jahre lang — bis zur ersten kleinen Ernte — durchzuhalten; es sind auch die Löhne für die Arbeiter zu zahlen und außer dem reinen Lohn Familienzulagen und Kleidung. Wolldecken, ärztliche Versorgung zu sichern. Ist die Farm endlich so weit, daß sie gute Ernten abwirft, dann garantiert niemand dem Pflanzer, daß er seine Produkte auch zu guten Preisen verkauft. Tüchtige Landwirte ziehen Vieh, halten Schweine, verfrachten das Frischgemüse, die Erdbeeren und Apfelsinen zweimal in der Woche mit den Lastwagen und lassen die Waren im Abonnement zu den Europäern in den weniger begünstigten Gebieten bringen. Zusammen mit den Einfuhren per Schiff und per Flugzeug und in Verbindung mit den Medikamenten gegen tropische Krankheiten ist so das Leben auch in abgelegenen Gegenden für die wenigen Weißen sehr erleichtert worden. Immer mehr Männer lassen ihre Frauen und Kinder aus Europa nachkommen. Mitarbeitende Familienmitglieder erleichtern die Arbeit sehr. Außer den schon genannten Anbaupflanzen der Eingeborenen befaßt sich der Europäer vor allem mit Kaffee, Kakao (Kongomündung), Zuckerrohr (Bas-Kongo), Tee (Kivu-See). Sesam und Rizinius. Parfümpflanzen, Chinin, Kartoffeln, Orangen, Zitronen, Mandarinen, Mangos, Papayas, Grapefruits, Advokatenbirnen, Ananas und Artischoken sind andere Früchte, deren Anbau lohnend ist — für den Export oder für den Verbrauch im Kongo selbst. Der Kongo könnte heute noch viele weiße Siedler und Pflanzer aufnehmen. Aber die Errichtung großer Plantagen ist weitgehend abhängig von der Verfügbarkeit der Eingeborenenarbeiter. Deren Zahl aber wächst nicht, da Bergwerke und Industrie, Verwaltung, Straßenbau, vor allem aber die magnetisch lockende Stadt alle irgendwo verfügbaren Arbeitskräfte an sich ziehen. So bleibt für die Zukunft des Kongos nur übrig, zu einer strengen Motorisierung und Technisierung überzugehen. Fin mit der Besiedlung zusammenhängendes Problem ist auch die Abspülung des Humusbodens dort, wo nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen getroffen werden. Die Rodung des Waldes und des Buschlandes ohne sorgfältigste Bewahrung des Mutterbodens führt un28
weigerlich zur Erschöpfung der Pflanzungen schon nach kurzer Zeit. Als Beweis für die Wichtigkeit, die die Belgier dieser Frage beimessen, müssen die ständigen Arbeiten der Forschungsinstitute betrachtet werden. Wenn etwas den Erfolg belgischer Kolonialpolitik im Kongo gesichert hat, dann ist es die Sorgsamkeit und Vorsicht, mit der hier alle Fragen von der Völkerkunde bis zur Viehzucht untersucht werden.
* Erst nach und nach hat sich unter den Händen der Geologen herausgestellt, welch unermeßliche Reichtümer im Belgischen Kongo verborgen liegen. Nur langsam ist jene Minenwirtschaft in Gang gekommen, die heute einer der wichtigsten Zweige des Exports darstellt. 300 X 50 km groß ist das Kupfergebiet Katangas, wo die Union Miniere du Haut Katanga ihre Minen unterhält. Spezialisiert auf die Goldgewinnung ist die berühmte Kilo-Moto-Gesellschaft. Die Forminiere, ein anderes Unternehmen von gleicher Größe, das 20 000 Schwarze beschäftigt, gräbt nach Diamanten im Kassaigebiet, schürft Gold im Norden, hat Plantagen und Fabriken für Kaffee, Kautschuk, Palmöl, Kakao und Holzgewinnung und unterhält große Viehherden. In Manono stehen die Elektroschmelzöfen der Geomines, die allein dreißig Zinnminen im Gebiet von Costermansville und Stanleyville kontrolliert. In Shinkolobwe öffnet sich die größte Uranmine der Welt, die bis vor kurzem 95 Prozent der Weltproduktion gefördert hat. Im Süden von Bukama ist Kohle vorhanden. Bei Lubudi wird Eisen gewonnen. Im Gebiet von Mäyumbe und am Albertsee wird Erdöl vermutet. Zink, Wolfram, Mangan, Wismut, Cadmium und Kobalt werden abgebaut. Aber der Kongo hat auch eigene Zementfabriken. Die Gewinnung von Elektrizität aus Wasserkraft steckt jedoch erst in den Anfängen; doch werden die Wasserkraftreserven im Gefälle des Kongos und anderer Flüsse auf 115 Millionen PS veranschlagt — fast ein Fünftel der ausbaufähigen elektrischen Weltenergien! Tagsüber hallen die Detonationen der Sprengkörper durch die klare Steppenluft. Die offenen Gruben erstrecken sich wie graue und braune Flecken in das staubige Grün der Savanne; die schrillen Pfiffe der Dieselloks mischen sich mit dem Quietschen und Poltern 29
der Kipploren. Signalklingeln rasseln. Fördertürme drehen ihre schwarzen Stahlräder in einen erbarmungslos blauen Himmel. Preßlufthämmer rattern dort, wo neue Straßen sich an die Minen heranbahnen. Große Bagger gleiten auf Schienen am Rande der Gruben entlang und fressen sich tief in die erzhaltige Erde. Nachts glühen die Kupferschmelzofen bei Lubumbashi, die Kobaltöfen in Jadotville wie unbewegliche Steppenbrände unter einem sternenklaren Firmament. Und Tag und Nacht fließt ein Strom von Arbeitern durch die stacheldrahtumsäumten Tore in die Gruben. Schwarze Hände strecken den Kontrollbeamten ihre Werksausweise entgegen, und schwarze Gesichter blicken geblendet in das grelle Licht der Bogenlampen vor den Hallen und Magazinen, den Werkstätten und Kantinen. Männer, deren Väter noch mit den Wurflanzen den Elefanten angegangen sind, haben hier die blauen Brillen und dunklen Lederschurze der Schweißer umgetan und beugen sich tief über das grellgleißende Licht der Lichtbogen. Männer aus dem unteren Kongo und Männer vom Tanganjikasee stehen hier nebeneinander vor der gleichen Sprengkammer, bekommen zur gleichen Stunde für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn .. . Hier in den Minen, auf den Diamantenfeldern, unter den Rüttelsieben, den Kugelmühlen, an den Förderbändern und Schienen nimmt die neue Welt des schwarzen Arbeiters Gestalt an. Hier findet täglich und stündlich die Geburt eines neuen afrikanischen Menschen statt. So wächst eine Generation von Schwarzen heran, die mit ihren Werken fester verbunden ist als die Kontraktarbeiter in den Goldgruben bei Johannesburg, die ohne ihre Familie ein Jahr in den Baracken bleiben müssen. Der Arbeiter kommt gleich mit Frau und Kindern an, und es wird ihm ein wirklicher Ersatz geboten für den Verlust einer Ordnung, wie ihn das heimatliche Dorf geboten hat. Auf Normal- und Berufsschulen wird der Nachwuchs für die Handwerksberufe aller Art herangezogen. Während sich in Leopoldville und Elisabethville Eingeborene in den überfüllten Vorstädten zusammendrängen, wächst hier unter der Aufsicht der Minengesellschaften eine gesunde Jugend in eine andere, aber nicht unfreundliche Zukunft.
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Das ist der Kongo, wie ich ihn erlebt habe; ein Land, in dem eine einzige Gesellschaft, die Huileries du Congo Beige, auf ihren 40 000 Hektar Palmölplantagen und 4000 Hektar Kautschukpflanzungen mehr als 40 000 Schwarze beschäftigt! Hier werden die besten schwarzen Fußballmannschaften mit dem Flugzeug zu den Austragungsorten der Liga-Spiele befördert. Schmelzöfen stehen neben unscheinbaren Strohhütten. Pygmäen bieten auf der großen Straße Irumu-Beni den Touristen Erdbeeren zum Verkauf an. Mit Grasbüischeln'bekleidete Eingeborene tanzen in den Vollmondnächten ihre ekstatischen Tänze, während hundert Kilometer weiter ein schwarzer Priester sich auf die erste Messe vorbereitet. Hier versanden herrliche Asphaltstraßen plötzlich im undurchdringlichen Busch. Hier wälzt der Kongo jede Sekunde 40 000 Kubikmeter Wasser ins Meer, während in anderen Teilen des Landes die Eingeborenen verzweifelt um -einige Tropfen Regen bitten, damit die Ernte nicht verdorrt. Hier darf im Urwald kein Baum gefällt werden, ohne eine schriftliche Erlaubnis der belgischen Verwaltung; und hier sind Firmen tätig, deren Macht größer ist die kleiner europäischer Staaten. Schwarze Mechaniker demontieren mit geübten Handgriffen die Kupplung aus den gleichen Autos, die in den zwanziger Jahren noch auf den Köpfen der Neger von Bangassou nach Buta transportiert wurden. Schwarze Berufssoldaten sitzen an Funkgeräten und Maschinengewehren, und elegante Häuptlinge steuren ihre Luxuslimousinen über die roten Allwetterstraßen. Die Schallplatten wandern in die Urwaldhütten, und die Dorfjugend wandert in die Städte. Der Kongo ist aufgebrochen. Mit jeder Tonne Kupfer, mit jeder Penicillin-Injektion, mit jedem französischen Satz aus dem Munde eines Kongolesen, entfernt sich- das Land ein Stück weiter von seiner wechselvollen Vergangenheit. Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky
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Lebensstoffe
11 Naturkundliche Spaziergänge 12 Mensch und Haustier 14 Schrift und Schreiben 11 Messen und Maße 19 Unsere Zimmervögel 20 Erlebte Pflanzenwelt 21 Freundschaft und Feindschaft in der Natur 22 So wurde die Erde 23 Holz überall 24 Motorisierter Verkehr 28 Sprechen und Sprache 29 Kranker und gesunder Boden 32 Flugzeug und Luftverkehr 35 Seuchenzüge im Pflanzenreich 45 Lebenskräfte 46 Erdöl 47 Zwillinge
48 Gilt 49/50 Sport und Wissenschaft 53 Lebenswunder im Wassertropfen 54 Mit Tieren auf Du und Du 55 Energie aus Atomen 60 Pflanzengallen 61 Wege zur Farbenphotographtt 62 Irdisches Werden 63 Glas 64 Erfinderin Natui 65 Fernsehen 66 Mit Tieren auf Du und Du (Neue Folge) 67 Ultraschall 68 Eiszeit 69 Menschen und Klima 70 Meeresiadiologie 71 Pflanzenschutz 72 Kunststoff
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