Werner K. Giesa
Späte Rache Version: v1.0
Warten Sie nicht auch jeden Tag sehnsüchtig auf den Feiera...
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Werner K. Giesa
Späte Rache Version: v1.0
Warten Sie nicht auch jeden Tag sehnsüchtig auf den Feierabend? Ich mache für heute Dienstschluss. Es dämmert bereits und in spätestens einer halben Stunde ist es dunkel. Und hier in London sind die Nächte derzeit noch dunkler als anderswo, denn eine dichte Smogwolke liegt über der Stadt. Es wird Zeit, dass ich in meine Wohnung komme. Wohnung ist vielleicht etwas übertrieben. Ein Zimmer, eine Kochnische, ein WC und eine Dusche, dafür aber sehr viele lärmende Nachbarn. Ich versuche erst gar nicht, sie zur Ruhe zu bringen. Das gäbe nur Ärger.
Natürlich könnte ich mir eine größere, billigere Wohnung nehmen – in einem der Außenbezirke. Aber dann wäre ich jeden Tag endlos lange mit U‐Bahn und Bus unterwegs durch die Stadt, um meinen Arbeitsplatz zu erreichen. Mit dem Auto ginge es auch nicht viel schneller und kostet mittlerweile City‐Maut. Also habe ich eine Wohnung, die ich in weniger als fünfzehn Minuten zu Fuß erreiche und längst kein Auto mehr. Ich verlasse das Gebäude von New Scotland Yard und mache mich auf den Weg. Und nach gut fünf Minuten sehe ich ihn!
* Zuerst ist er für mich nur ein Schatten, der sich in eine Toreinfahrt duckt. Das kommt mir verdächtig vor. Warum versucht er, sich zu verstecken? Dabei muss er doch wissen, dass er trotz allem halb sichtbar ist! Dafür sorgt die Straßenbeleuchtung. Da stimmt etwas nicht. Meine berufliche Neugier erwacht. Den Typen muss ich mir näher ansehen. Also wechsele ich die Straßenseite und gehe zu ihm hinüber, ganz offen und zielgerichtet, um ihm zu zeigen: Verstecken nützt nichts, Junge, ich habe dich längst gesehen! Als ich auf etwa zehn Meter heran bin, verliert er die Nerven. Er verlässt seine Deckung und sprintet los, läuft vor mir davon. Und er entwickelt ein ganz schönes Tempo. Es ist beinahe, als würde er zwei Schritte machen, wo ich nur einen gehe. »Stehen bleiben!«, rufe ich ihm nach. »Polizei!« Ich trage zwar keine Uniform wie die Bobbys, wie wir Londoner unsere Polizisten nennen, aber ich kann ihm meinen Dienstausweis zeigen.
Wenn er denn stehen bleibt! Das scheint er nicht zu wollen. Er legt noch an Tempo zu. So schnell kann höchstens ein Sportler sein, aber auch nur für kurze Zeit, dann ist er ausgepowert. »Stehen bleiben!«, verlange ich ein zweites Mal. »Oder ich muss von der Waffe Gebrauch machen!« Ich fühle mich bei dem Nachsatz nicht besonders wohl. Immerhin hat er bisher nichts anderes getan als sich im Halbdunkel einer Toreinfahrt zu verstecken und dann davonzulaufen, als ich seine Fluchtdistanz unterschritten habe. Jetzt bleibt er endlich stehen und lässt mich herankommen. Er steht auf der Straßenmitte, als interessiere es ihn nicht, dass jeden Moment ein Auto hier entlang fahren könnte. Ich bin etwas kurzatmig von der Verfolgungsjagd, er atmet ganz normal. Nein … Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er überhaupt nicht atmet! Ich zücke meinen Dienstausweis und halte ihn ihm entgegen. Er wirft nicht einmal einen Blick darauf. Ich mustere den Burschen. Er ist jung, sehr jung. Sechzehn, siebzehn Jahre, mehr bestimmt nicht. Seine Kleidung wirkt abgetragen: eine etwas zerrupfte Jeans, ausgelatschte Turnschuhe und ein Sweatshirt, das im Licht der Straßenlampen blassblau aussieht. Die Aufschrift ist kaum noch zu erkennen. Für die kühle Nacht ist er eigentlich viel zu leicht bekleidet. Sein Haar ist blond, schulterlang und verwildert, als habe es seit Jahren keinen Kamm und keine Bürste mehr gesehen. Sein Gesicht ist hohlwangig, und seine Augen – ja, verdammt, was ist mit seinen Augen? »Kommen Sie von der Straße weg!«, sage ich und greife nach seinem Arm, um ihn auf den Gehsteig zu ziehen, ehe ein Auto
kommt und uns beide auf die Motorhaube nimmt. Auf Straßenmitte fühle ich mich einfach nicht wohl. Ich greife ins Nichts. Von einem Moment zum anderen ist der Junge verschwunden!
* Ich sehe mich um, suche nach ihm. Nichts! Als ich die Straßenseite wechsele, um einen besseren Überblick zu kriegen, meine ich im Licht der Straßenlampe sekundenlang einen Schatten zu sehen, aber da ist niemand, der diesen Schatten wirft. Was geschieht hier? Langsam, Rhett!, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Mach dich nicht verrückt. Was hast du gesehen? Etwas, das es nicht gibt. Du hattest eine Halluzination. So etwas soll vorkommen, wenn man überarbeitet ist. Und ich habe in den letzten Tagen eine Menge Überstunden angesammelt. Zwei Kollegen sind krank, ein weiterer angeschossen und vorübergehend dienstunfähig. Und ich darf den Kollegenkram mit erledigen, einschließlich des leidigen Papierkriegs. Ich bin ja dämlich genug, mir den Allerwertesten aufzureißen und auf eine Beförderung zu hoffen, die mich irgendwann in eine bessere Schreibtischposition bringt und meine Pension verbessern wird – wenn ich denn das Pensionsalter erreiche. Nett von den Kollegen, dass sie ihrerseits meine Arbeit sorgsam für mich liegen lassen, wenn ich mal wegen Krankheit oder Schussverletzung ausfalle – drei Kugeln habe ich mir im Laufe der letzten Jahre eingefangen. Vielleicht reagiere ich in diesem Fall deshalb so misstrauisch. Vorsichtshalber suche ich die Straße noch weiter ab. Das Ducken und Davonlaufen des Jungen muss doch einen Grund gehabt haben.
Verdammt, ich habe längst Feierabend! Und jetzt hechele ich trotzdem noch hier in der Dunkelheit herum und jage einem Phantom nach … Schließlich gebe ich auf und mache mich endgültig auf den Heimweg. Ein halbes Bier, kurz unter die Dusche und das andere halbe Bier. Es zischt richtig schön erfrischend durch die Kehle. Mich noch vor die Glotze oder an den Computer zu setzen, habe ich keine Lust an diesem späten Abend. Ich lasse mich ins Bett fallen und schlafe sofort ein …
* Plötzlich schrecke ich auf. Jemand ist am Fenster! Er starrt herein. Einen Moment lang bin ich wie gelähmt. Im nächsten Augenblick greife ich zur Hose, die neben meinem Klappbett liegt. Im Gürtelhohlster steckt die Dienstwaffe. Ich nehme sie immer mit heim, obwohl das eigentlich verboten ist. Aber im ganzen Yard hat sich noch nie jemand um diese Vorschrift gekümmert, nicht einmal der Chief Superintendent selbst. Ich ziehe den Schlitten zurück und lade durch, richte die Mündung aufs Fenster. Wenn du jetzt abdrückst, gibt’s eine Menge Trouble!, schießt es mir durch den Kopf, was mir in diesem Moment aber völlig egal ist. Ich starre das Gesicht an, das durchs Fenster ins Zimmer schaut. Diese Augen … Es ist der Junge von vorhin! Ich gleite aus dem Bett, verzichte darauf, das Licht einzuschalten und verheddere mich prompt in den Kleidungsstücken, die ich im Zimmer verteilt habe. Trotzdem bin ich mit ein paar Schritten am Fenster und reiße es auf.
Da ist niemand. Nur ein Windstoß, der ins Zimmer fegt … Ich beuge mich etwas vor, schaue nach oben, nach unten, zu den Seiten. Aber da klammert sich niemand an die Fassade und niemand liegt zerschmettert im Hinterhof. Narrt mich ein Spuk? Habe ich nur geträumt, dass der gespenstische Junge zu mir hereinschaut? Es muss so sein. Denn es gibt hier keine Feuerleiter, die er hinaufgeklettert sein könnte. Und woher sollte er wissen, wo ich wohne? Er kann mich nicht verfolgt haben. Das wäre mir aufgefallen. Schon allein meines Misstrauens wegen. Ich schließe das Fenster und fühle mich in meiner Wohnhöhle plötzlich nicht mehr wohl. Immer wieder habe ich den Eindruck, beobachtet zu werden – aber da ist niemand! Auch kein Gesicht am Fenster, das dort gar nicht gewesen sein kann. Es dauert lange, bis ich endlich wieder einschlafe. Ein erster Streifen Morgenlicht dämmert am Horizont über der Stadt, als Ich schließlich Ruhe finde …
* Viel zu früh summt der Wecker. Ich weiß, dass ich intensiv geträumt habe, aber ich kann mich an die Details nicht erinnern. Das Frühstück schlinge ich hastig hinunter, am Tee verbrenne ich mir beinahe die Lippen, weil er noch zu heiß ist. Ich schlüpfe in Schuhe und Jacke und checke die Waffe durch. Im Gegensatz zu vielen Kollegen, die auf ihr Schulterhohlster schworen, mag ich es lieber leicht. Mit einer Metallspange wird das Clip‐Hohlster am Gürtel angeheftet. Das ist zwar manchmal lästig, aber es ist mir lieber, als mich in ein Ledergeschirr zu zwängen.
Ich hebele die Patrone wieder aus dem Lauf und presse sie ins Magazin. Mit einer schussbereiten Waffe herumzulaufen, kann gefährlich sein. Ich nehme mir die Zeit, mich auf dem Hinterhof umzusehen. Vielleicht gibt es ja doch Spuren. Aus einem offenen Fenster dröhnt etwas, das der Bewohner wohl für Musik hält und weil er das der ganzen Umgebung mitteilen will, hat er den Verstärker voll aufgedreht. Ein anderer schraubt an seinem fahrbaren Rosteimer herum; der Wagen muss wenigstens dreißig Jahre auf dem Buckel haben. Ich weiß, dass sich der Typ seit vielen Jahren ein moderneres Auto wünscht, aber ihm fehlt das Geld dazu. Wie die meisten in diesem Mietshochhaus ist er arbeitslos. Vom Hinterhof aus sieht man nur Fassade und die Garagen‐ und Werkzeugschuppen, die teilweise illegal angelegt worden sind, weil sich viele der Mieter auch die Tiefgarage unter dem Haus nicht leisten können. Die kleinen Holz‐ und Wellblechbaracken engen natürlich den Platz auf dem Hinterhof erheblich ein, der ganz anderen Dingen dienen sollte als dem Abstellen irgendwelcher Vehikel. Meine Neugier gefällt dem Schrauber an der Rostmühle nicht so recht. »He, Mann, suchst du den Platz an der Sonne?«, spricht er mich an. »So ähnlich«, sage ich und lächele. »Hast du heute Nacht zufällig irgendwas auf dem Hof gesehen?« »Anständige Menschen schlafen nachts«, sagt er. »Was soll ich denn gesehen haben?« »Einen Junkie, der sich hier herumtrieb«, sage ich und beschreibe das geisterhafte Gesicht. »Nie gesehen, erst recht nicht letzte Nacht«, sagt der Schrauber. Er wird blass, als ein Windstoß meine Jacke aufbläht. ›Scheiße, du hast ja ‘ne Kanone!‹ Er scheint zu überlegen, wie er sich am besten aus
meiner Reichweite bringt. »Ist legal«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Ich bin Polizist.« »Und ich der Kaiser von Kalifornien! – He, Mann, schon gut, ich hab’ ja nichts gesagt.« Er hebt abwehrend die Arme. Dass ich ein Yard‐Beamter bin, weiß hier im Haus fast keiner. Und wer glaubt schon, dass sich ein Beamter in einer so kleinen Bude verkriecht, wenn er Feierabend hat? Ich zeige ihm meinen Dienstausweis. Da wird er endlich etwas ruhiger. An seiner Aussage, nichts gesehen zu haben, ändert das jedoch nichts. »Weißt du, ob irgend jemand im Haus wach war?«, frage ich und deute die Fassade auf und ab. Schulterzucken ist die Antwort. All right, hier komme ich nicht weiter. Außerdem ist es an der Zeit, mein Büro aufzusuchen. Ich bin ohnehin schon über die Zeit. Aber das werde ich mit gestern Abend verrechnen, irgendwie. Das ist das Schöne an meinem Job: dass man nicht die Stempeluhr bedienen muss und sich die Arbeitszeit aufteilen kann, wie es gerade nötig wird. Hauptsache, man bleibt im Rahmen. Ich liege meistens weit drüber und habe dadurch ein wenig Narrenfreiheit beim Chief Superintendent. Das Scheußliche an diesem Job ist, dass man zu oft den Überstunden ebenso wenig ausweichen kann wie den Kugeln der bösen Jungs. Zwanzig Minuten später sitze ich hinter meinem Schreibtisch. Aber irgendwie ist heute mit mir ebenso wenig anzufangen wie mit dem Tag.
* »Träumst du?«, fragt mich Valerie Brass von der Spurensicherung und legt mir einen Schnellhefter mit einem Bericht vor die Nase. Ich
schrecke auf. »Natürlich nicht!«, wehre ich ab, während sich Val auf die Schreibtischkante setzt. »Was hast du denn da? Zeig mal!« Sie ist schneller als meine Hand, die den Papierbogen in Sicherheit bringen will. Sie betrachtet die Porträtzeichnung des seltsamen Jungen, die ich nach dem Gedächtnis gefertigt habe. Eine grobe Skizze nur, die aber die Details hervorhebt. »He, ich wusste gar nicht, dass du so gut zeichnen kannst«, sagt sie. »Ich habe auch noch andere Qualitäten«, versichere ich, aber sie hört gar nicht richtig hin, sondern vertieft sich in den Anblick der Zeichnung. »Ich glaube, den habe ich schon mal gesehen«, sagt sie. »Ist aber schon ein paar Wochen her.« »Weißt du, wer er ist?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Rhett … oder doch? Lass mich überlegen.« Während sie nachdenkt, besorge ich uns Tee. Den gibt es wenigstens noch nicht aus dem Automaten. Schlimm genug, dass er in Beuteln bereit liegt. Aber um einen Tee richtig zu zelebrieren, fehlt uns im Yard meistens die Zeit. »Er war kalt«, sagt sie plötzlich. Das bedeutet tot. »Bist du sicher? Ich habe ihn … hm … gestern gesehen.« »Vielleicht ist es nur eine Ähnlichkeit«, schlägt sie vor. »Wenn du ihn gestern gesehen hast, kann er es nicht sein.« Stimmt. Weil er dann bereits im Sarg unter der Erde liegt. Oder in der Urne. Aber etwas Gespenstisches hat der Junge schon, den ich erst auf der Straße und dann an meinem Fenster gesehen habe. Auch wenn ich Letzteres inzwischen eher für einen Traum halte.
Man sagt uns Engländern eine besondere Beziehung zu Gespenstern nach. Kein Schlossbesitzer, der was auf sich hält, kommt ohne eine Spukgestalt in seinen Gemäuern aus. Und ein krasser Typ, der Earl of Pembroke, soll zu Lebzeiten gar ein ›Gespenster‐Asyl‹ betrieben haben, wo alle Geister Zuflucht fanden, die den Geisterjägern entfleuchen konnten. Ob der alte Vogel jetzt sein eigener Gast ist? Nonsens, das alles! Sowohl die Gespenster als auch deren Jäger. »Dan Callaghan hieß der Junge, wenn ich mich nicht irre«, sagt Val. »Eigentlich müsstet ihr den Fall doch bearbeitet haben.« »Mord?«, frage ich und kann mich an einen Dan Callaghan nicht erinnern. »Drogen, eine Überdosis«, sagt Val Brass. »Jemand munkelte, ein anderer habe ihm den Schuss verpasst, um ihn ruhig zu stellen. Deshalb hättet ihr eigentlich …« Wenn, dann hat ein Kollege sich darum gekümmert, aber mir fehlt die Zeit, den Kollegen über die Schulter zu schauen. Ich habe genug damit zu tun, die eigene Arbeit zu erledigen …
* Unwillkürlich wähle ich nach Dienstschluss den gleichen Weg wie gestern. Ich gehe dorthin, wo ich den Jungen so überraschend aus den Augen verloren habe. Was mich zu diesem Umweg treibt, kann ich mir nicht erklären. Ist es die Hoffnung, die verlorene Spur wieder aufzunehmen? Natürlich ist von dem Typen nichts zu sehen. Habe ich es wirklich anders erwartet? Plötzlich spielt mein Handy das Rufsignal ab. Fast reflexhaft ziehe ich es aus der Tasche und nehme den Anruf entgegen. Von einer
Sekunde zur anderen bin ich wieder im Dienst. Ich kann eben nicht aus meiner Haut. »Inspector Davies«, melde ich mich. Ein Juwelierladen ist geknackt worden. Der Einbrecher hat seinen Geländewagen als Rammbock benutzt, Schutzgitter und Fenster zertrümmert und die Auslagen abgeräumt, ehe die von der Alarmanlage herbeibeorderten Bobbys vor Ort erscheinen konnten, aber sie sind jetzt hinter ihm her. Der Geländewagen muss an der Front stark beschädigt sein und fährt möglicherweise ohne Licht. Ein Anwohner hat alles beobachtet, den Tathergang beschrieben und sogar das Kennzeichen sicher abgelesen. Der Mann muss Eulenaugen haben. Das Fluchtfahrzeug bewegt sich genau in meine Richtung. Ich gebe meinen Standort durch. »Ich versuche, den Wagen zu stoppen.« »Gehen Sie kein Risiko ein, Inspector«, warnt mich die Lady in der Funkbude. »Drei Einsatzwagen sind dicht hinter ihm.« Das ist übertrieben. Als ich den verdunkelt in der Straßenmitte rasenden Fluchtwagen sehe, sind die drei Einsatzwagen noch weit entfernt. Nur ihre Signalhörner höre ich. Der Kerl, der das Juweliergeschäft zum Selbstbedienungsladen gemacht hat, fährt unglaublich schnell. Ich habe keine Chance, mich ihm in den Weg zu stellen. Bevor ich angemessen reagieren kann, ist er bereits an mir vorbei. Plötzlich sehe ich den Jungen! Mitten auf der Straße steht er, aufgetaucht wie ein Gespenst! Der Geländewagen rast direkt auf ihn zu, doch der Junge verharrt stur wie ein Denkmal auf der Fahrbahn. Im buchstäblich letzten Moment weicht der Fahrer aus, um den Zusammenprall zu vermeiden. Weil er gleichzeitig instinktiv auf die Bremse tritt, gerät seine Kiste trotz Allradantrieb ins Schleudern,
verfehlt den Jungen um Zentimeter und knallt erst gegen eine Straßenlaterne, um dann an einer Hauswand ebenso endgültig wie abrupt zum Stehen zu kommen. Immerhin schafft es der Fahrer, sich nach draußen fallen zu lassen, ehe sich die Karosserie verformt und ein Öffnen der Tür unmöglich gemacht hätte. So viel Glück haben anständige Menschen nie! Ich laufe hinüber. »Polizei!«, warne ich ihn. »Bleiben Sie am Boden!« Er denkt überhaupt nicht daran, sondern richtet sich auf und greift unter die Jacke. Ich erkenne den Griff einer Pistole! Nachdem ich meine dritte Kugel gefangen hatte, habe ich mir geschworen, künftig als Erster zu schießen. Ganz gleich, was da an Papierkram und eventuellen Anklagen auf mich zukommt. Gib deinem Gegner eine Chance und es war deine letzte!, habe ich mir zum Sinnspruch gemacht. Das ist sicherlich nicht richtig, aber ich bin am Ende derjenige mit einem riesigen Loch im Körper. Ich bin gut im Training und habe meine Dienstwaffe schnell zur Hand. Trotzdem schießt er als Erster. Er zielt nicht einmal richtig, aber ich sehe direkt in das Aufblitzen und weiß, das ist Kugel Nummer Vier. Ein Schatten huscht zwischen uns hindurch, genau in dem Moment, als der Juwelendieb feuert. Alles geht so blitzschnell, dass ich es erst begreife, als es schon vorbei ist und meine Kugel ein Loch in die rechte Schulter des Schützen stanzt. Seine Kugel hat mich verfehlt … Nein, nicht verfehlt. Sie hat mich nicht erreicht! Sie hat den Jungen getroffen.
* Wirklich? Dann müsste er doch am Boden liegen. Der Mistkerl, der auf mich geschossen hat, verwendet ein unverschämt großes Kaliber. ›Manstopper‹ nennen wir die Dinger. Wen so eine Kugel erwischt, der landet erst mal auf dem Boden und braucht seine Zeit, wieder aufzustehen – wenn überhaupt … Vorsichtshalber nehme ich die Zimmerflak an mich, damit der Juwelenräuber nicht mit dem anderen, gesunden Arm danach greifen und Unfug machen kann. Aber der denkt gar nicht mehr daran, sondern stöhnt nur und wimmert und tastet nach seiner Schulter, in der meine Kugel steckt. Gleichzeitig schaue ich mich nach dem geisterhaften Jungen um. Aber er ist wieder einmal spurlos verschwunden wie ein Schatten, den helles Licht trifft. Endlich tauchen die drei Streifenwagen auf. Die Bobbys sehen, dass ich zwei Waffen halte und richten ihre Kanonen gleich auf mich. Mir reicht das jetzt! »Scotland Yard!«, brülle ich sie an, hebe aber vorsichtshalber die Hände. »Die Waffen runter und den Notarzt hierher, aber flott! Ich bin Inspector Rhett Davies!« Den Namen haben sie wohl bereits über Funk genannt bekommen. Zögernd senken sie ihre Dienstwaffen. Einer fordert den Notarzt an, zwei andere machen sich daran, die Straße zu sperren. Ich drücke einem die Pistole des Täters in die Hand. Die eigene Waffe stecke ich ein und zeige meinen Dienstausweis vor. Endlich verschwinden auch ihre Waffen. Ach, was war das noch eine schöne Zeit, als die Bobbys sich unbewaffnet durch London bewegten und ein Ehrenkodex den
Gangstern verbot, auf die Uniformierten zu schießen. Ich kann mich an einen Fall aus meiner Ausbildungszeit erinnern, wo Gangster einen der ihren ausgeliefert haben, weil der einen Bobby erschossen hatte. Der Constable, dem ich die Gangsterwaffe gegeben habe, mault: »Da sind doch jetzt auch Ihre Fingerabdrücke dran, Inspector.« »Sichergestellt beim Täter«, sage ich. »Morgen folgt meine eidesstattliche Erklärung dazu.« Wieder sehe ich mich nach dem Jungen um und kann immer noch nichts von ihm entdecken. Die Spurensicherung taucht auf, ein Staatsanwalt und der Juwelenräuber wird im Krankenwagen in Polizeiobhut abtransportiert. Ich mache eine knappe Aussage, verspreche für morgen einen ausführlichen Bericht und hoffe, dass ich den schreiben kann, ohne dass mir wieder etwas dazwischen kommt. Endlich kann ich Feierabend machen und gehe nach Hause. Die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, verfolgt und beobachtet zu werden. Aber ich kann den Verfolger nicht entdecken. Der Junkie mit den eigenartigen Augen will mir nicht aus dem Kopf. Immer wieder kreisen meine Gedanken um ihn. Der Junge ist für mich ein einziges großes Rätsel …
* Zum Rätsel wird auch Valerie Brass, die vor meiner Wohnungstür wartet. Was will sie von mir? Sie lächelt auf eine Weise, die mir einen Schauer über den Rücken laufen lässt, aber einen von der angenehmen Sorte. »Ich dachte, du lädst mich noch zu einem Tee ein«, sagt sie und streicht eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, »und lässt mich einen
Blick in deinen Kühlschrank werfen.« Ich habe schon gegessen – Fast Food, zwei oder drei Stunden vor Dienstschluss. Aber wenn Val noch Hunger verspürt … »Dann komm bitte rein«, sage ich und schließe die Tür auf. Wieder habe ich den Eindruck, dass jemand in meiner Nähe ist, der sich mir nicht zeigen will. Aber das Schloss ist unversehrt und die Bude klein genug, dass sich niemand darin verstecken kann. »Jalousien hast du keine?«, fragt Val mit einem Blick zum Fenster. »Hast du Angst, dass dich jemand sieht? Wir sind im siebten Stock«, entgegne ich. Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme etwas unsicher klingt. Aber Val scheint es nicht zu bemerken. In der Kochnische öffnet sie den kleinen Kühlschrank und zeigt sich enttäuscht. »Typisch Junggesellenhaushalt«, seufzt sie. »Der ist ja noch leerer als meiner.« Immerhin sind noch zwei Flaschen Bier da. »Wein hast du nicht zufällig?«, fragt Val. Eine streng gehütete Flasche vom letzten runden Geburtstag. »Machst du sie auf?«, fordert sie. »Ich bin gleich wieder da.« Mit traumhafter Sicherheit findet sie das Mini‐Bad. Es ist auch nicht zu verfehlen, eher verläuft man sich in einer Fahrstuhl‐Kabine. Als Val zurückkommt, ist sie nackt. Und wie schön sie ist! Wir trinken den Wein gleich aus der Flasche und eine Packung Kondome hat Val auch in ihrer Handtasche. Der CD‐Player liefert Schmusemusik und als wir eng aneinander geschmiegt endlich irgendwann einschlafen, träume ich nur noch von Val, nicht aber von dem Jungen. Erschöpft vom schönsten Spiel der Welt, schlafe ich so gut wie schon lange nicht mehr …
* Wir erwachen beinahe gleichzeitig. Ich will sie küssen, aber sie entzieht sich mir. »Zwei Dinge sollten dir klar sein«, sagt sie. »Mehr als dieser One‐ Night‐Stand ist nicht drin und deine Uhr deutet mehr oder weniger dezent den Beginn des neuen Arbeitstages an. Du kannst meinetwegen Gleitzeit machen, aber ich muss pünktlich in meinem Labor sein.« Immerhin – wir haben noch anderthalb Stunden! »Machst du Tee?«, fordert mich Val auf und entschwindet in Richtung Dusche. Noch ehe sie die Tür zu dem kleinen Raum hinter sich zuziehen kann, frage ich: »Wenn es dir nur um eine heiße Nacht ging, warum dann mit mir?« »Sag bloß, du hast dir mehr davon versprochen?« Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber das sage ich nicht. Ihre Hand streicht über mein unrasiertes Gesicht. »Ich dachte, du brauchst ein wenig Ablenkung und ein Mann, der zeichnen kann, gefällt mir. Da habe ich vor deiner Tür gewartet. Du hättest ruhig etwas früher kommen können.« »Sag das dem Knilch, der auf mich geschossen hat!« Sie zuckt kurz zusammen und jetzt komme ich doch noch zu meinem Guten‐Morgen‐Kuss. »Nett von ihm, dass er dich nicht getroffen hat«, sagt sie und ich glaube aus ihrer Stimme zu hören, dass sie durchaus erschrocken ist; mit einer solchen Möglichkeit hat sie nicht gerechnet. Dabei weiß sie doch, dass ich wie sie beim Yard arbeite, nur eben aktiv ›draußen‹ und nicht nur hinterm Schreibtisch, wo sie mich für gewöhnlich sieht.
Sie verschwindet endgültig im Bad und ich nutze die Zeit, das Frühstück vorzubereiten und das Wasser für den Tee zu erhitzen. Als Val zurückkommt, ist sie zu meiner Enttäuschung angezogen. Nur das Haar ist noch nass und durchfeuchtet die Schulterpartie ihrer Bluse. »Wachablösung!« Sie grinst mich munter an. Ich gehe hinüber, stelle mich unter den Wasserstrahl und fluche anschließend wie ein Hafenarbeiter, weil die Frotteetücher natürlich nass sind. Daran, dass heute eine Person mehr duscht, habe ich nicht gedacht und Val hat sich bedenkenlos bedient. Ich trockne mich ab, so gut ich kann. Als ich dann vor dem Spiegel stehe und zum Rasierapparat greife, sehe ich etwas, das nicht hierher gehört – und das mich erschreckt. Auf dem schmalen Bord unter dem Spiegel liegt eine Kugel vom Kaliber einer Manstopper! Verdammt, wie kommt die Kugel hierher? Hat Val sie mir dorthin gelegt? Das kann ich mir nicht vorstellen. Welchen Grund sollte sie dafür haben? War gestern doch jemand in meiner Wohnhöhle? Ich will das Geschoss aufheben, zucke aber im letzten Moment zurück. Da sind leichte Abriebspuren. Es sieht so aus, als wäre die Kugel verschossen worden. Nur ist sie nicht verformt, hat also nichts getroffen. Ich öffne die Tür zum Zimmer und höre das Radio im Hintergrund. »Val, kommst du bitte mal? Ich möchte dir was zeigen.« »Nasse Tücher? Tut mir Leid, aber ich bringe dir welche mit.« Sie hat tatsächlich meinen Schrank geöffnet und zwei Frotteetücher herausgeholt. »Große Badetücher hast du wohl nicht?« »Kann ich mir bei meinem lausigen Gehalt nicht leisten«, flachse ich, werde aber gleich wieder ernst. »Du bist doch bei der
Spurensicherung, nicht? Dann schau dir das hier doch mal an.« Sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Ich deute auf das Geschoss. »Weißt du, was das ist?« »Sieht aus wie ‘ne Mittelstreckenrakete mit Atomantrieb«, sagt sie. »Oder wie ein UFO. Willst du mich veralbern?« »Ich will, dass du das verdammte Ding in deinem Labor untersuchst. Mit solcher Munition ist gestern Abend auf mich geschossen worden. Deshalb war ich so spät dran.« »Hab’s gerade im Radio gehört«, sagt sie. Val scheint sich tatsächlich wie zu Hause zu fühlen. »War denen glatt eine Sondermeldung wert, inklusive Interview mit dem Staatsanwalt, der natürlich außer ›Warten Sie unsere Pressemitteilung ab‹ nichts gesagt hat. Du scheinst da einen großen Fang gemacht zu haben und die City Police ist alles andere als erbaut davon, dass ihnen ein Yard‐Inspector die Arbeit abgenommen hat.« »Zu dem Fang kann ich nichts sagen. Ich bin nur zufällig dazwischen geraten.« »Lass die Kugel doch von der City Police untersuchen«, schlägt Val vor. »Immerhin ist das deren Fall.« »Und ich möchte ihn an mich ziehen.« »Na schön«, seufzt sie. »Ich schau mir die Kugel näher an. Hast du ein Tütchen?« Habe ich natürlich. Inzwischen hat der Tee lange genug gezogen. Wir frühstücken und brechen auf. Vier Stunden später kehre ich von einem Einsatz zurück. Ich habe wegen einer Rauschgiftsache gemeinsam mit einem Kollegen versucht, drei mutmaßliche Dealer aus der Reserve zu locken. Aber die Typen gehen uns nicht auf den Leim. Derek O’Boom, den wir für den Kopf des Trios halten, hat uns sogar ausgelacht.
Tom Volkman, mein Partner bei dieser Sache, ballt die Fäuste, als wir wieder im zivilen Dienstwagen sitzen. Das Fahrzeug wurde für eine ähnliche Aktion angeschafft und steht jetzt uns zur Verfügung. City‐Maut wird für den sündhaft teuren Sportwagen, einem roten Ferrari 360, nicht fällig, weil dessen Kennzeichen als Polizeifahrzeug gespeichert ist. »Den kriegen wir noch!«, sagt Volkman düster. Ich bin mir da nicht so sicher … Ich soll mich unverzüglich beim Chief Superintendent melden, wird mir aufgetragen, als ich mein Büro wieder betrete. Spontan fällt mir der Bericht über den Vorfall von gestern Abend ein, den ich versprochen, aber noch nicht geschrieben habe, weil mir die Zeit dafür gefehlt hat. Wegen des morgendlichen Einsatzes muss ich nicht einmal nach einer Ausrede zu suchen. Ein Commander der City of London Police steht zwischen dem Fenster und dem Schreibtisch des Superintendent. Finster sieht er mich an, sagt aber kein Wort. Das erledigt Chief Superintendent Tennant. »Davies, haben Sie Miss Brass angewiesen, in die Kompetenz der City Police einzugreifen?« Was soll ich getan haben? »Haben Sie Miss Brass aufgefordert, eine Schusswaffe zu untersuchen, die sich im Labor der City Police befindet und von deren Spurensicherungsabteilung …« Ich erlaube mir die Unhöflichkeit, meinen Vorgesetzten zu unterbrechen, weil mir klar wird, was hier für ein Spiel abläuft: Die Spurensicherung der City Police hat sich beschwert. Was auch immer Val denen erzählt hat, ich sehe nicht ein, warum ich sie in dem Mist stecken lassen soll. Ich selbst habe ein dickes Fell und kann das jetzt auch ausbaden. »Ich habe Miss Brass gebeten, diese Arbeit auszuführen«, sage ich
schroff, »weil der Verdacht besteht, dass diese Waffe in Zusammenhang mit einem Mordfall zu sehen ist, an dem Scotland Yard arbeitet – genauer gesagt, ich.« »Was soll denn das für ein Fall sein?«, fragt der Uniformierte, dessen Name mir unbekannt ist. »Der laufenden Ermittlung wegen kann ich Ihnen keine nähere Information geben, Commander«, sage ich. »Nur so viel: Ich bin der Mann vom Yard, der gestern Abend für die Ergreifung des Täters gesorgt und die Waffe sichergestellt hat. Mit dieser Waffe wurde unter anderem auf einen Yard‐Beamten geschossen.« »Auf Sie, Inspector«, sagt der Commander spöttisch. »Darf ich davon ausgehen, dass Sie den Fall aus recht eigennützigen Motiven an sich ziehen wollen?« »Sie dürfen, wenn ich Sie dafür einen Ignoranten nennen darf«, sage ich und wende mich dem Superintendent zu. »Sir, warum haben Sie diesen Wichtigtuer noch nicht rausgeschmissen?« Tennant runzelt die Stirn. »Ich muss Sie doch beide um etwas mehr Zurückhaltung bitten, Gentlemen. Was hat es mit diesem ominösen Fall auf sich, Davies?« Ich muss wieder an den rätselhaften Junkie denken. Val hat ihn mit Dan Callaghan in Verbindung gebracht, dem Drogentoten, mit dem sich einer der Kollegen befasst haben muss. Ich schieße ins Blaue und nenne den Namen Callaghan in der Hoffnung, mich damit nicht unsterblich zu blamieren. Wortlos dreht sich der Commander um und verlässt Tennants Büro. Mir rutscht die Bemerkung über die Lippen: »Kein Wunder, dass City Police und Yard ständig miteinander im Clinch liegen, wenn die Trachtenabteilung so wunderbar kooperativ ist.« »Kooperativ waren Sie auch nicht gerade, Davies«, wirft mir der Superintendent vor. »Hätten Sie die Freundlichkeit, wenigstens mich im kleinsten Kreis zu informieren, damit ich Ihr Vorgehen künftig besser decken kann? Momentan hat der Commander doch
die besseren Karten.« »Ich warte noch auf einige zusätzliche Informationen«, weiche ich aus. »Unter anderem die der Spurensicherung.« Die Wahrheit, dass ich einem Phantom nachjage, kann ich ihm wohl kaum anvertrauen. Ich bin mir meiner Sache ja selbst nicht sicher und die Bitte an Val, die Kugel zu untersuchen, kann mich wie ein Schiff auf ein Riff laufen lassen. »Kann ich jetzt gehen, Sir?«, frage ich. »Ich habe noch einige Berichte zu schreiben.« »Seien Sie ein braver Polizist«, verabschiedet er mich und lässt mich grübeln, was er damit eigentlich gemeint hat …
* Wer glaubt, der Job eines Yard‐Beamten sei langweilig, irrt: Er ist stinklangweilig! Ich sitze innerlich verkrampft vor der Tastatur meines Computers und bin dabei, mir etwas aus den Fingern zu saugen, was vor den gestrengen Blicken der Vorgesetzten und ›Konkurrenten‹ als Bericht Gnade finden kann. Selten ist es mir so schwer gefallen, einen Text zusammen zu stoppeln, wie heute. Ich warte regelrecht auf den nächsten Außeneinsatz, was immer er auch bringen mag – und wenn’s nur eine stupide Observation wäre. Nur weg vom Schreibtisch! Aber heute scheint ein ruhiger Tag zu sein. Tom Volkman schneit herein. »Schon gehört, Rhett? Der Chef will jetzt in Sachen Drogentrio Nägel mit Köpfen machen. Wir sollen nicht mehr versuchen, O’Boom aufs Glatteis zu führen, sondern er will ihm direkt eine Falle stellen. Kann sein, dass wir heute Nacht gebraucht werden. Halt dich fit. Ich mache jetzt Feierabend, damit ich’s später bin. Solltest du auch tun. Ich hole dich gegebenenfalls
mit dem Dienstwagen ab.« »Ich überlege es mir.« Eigentlich hat Volkman Recht, und notfalls kann ich meinen Bericht auch noch in der Nacht schreiben, falls wir doch nicht gebraucht werden. Als er schon halb draußen ist, rufe ich ihm nach: »Sagt dir der Name Dan Callaghan was?« Er stutzt. »Ja …«, sagt er gedehnt. »Der war doch auch im Drogenmilieu angesiedelt und jemand hat ihm den Goldenen Schuss gesetzt, weil er auspacken wollte. Ich hatte mit dem Fall zu tun. Die Ermittlungen verliefen im Sand und wurden vor einer Woche oder so von der Staatsanwaltschaft eingestellt – keine Aussicht auf Erfolg. Wen man auch gefragt hat, überall war eine Mauer des Schweigens.« »Du hast überhaupt nichts herausgefunden?«, hake ich nach. »Nichts Verwertbares. Nur Gerüchte, die uns der Verteidiger in einem Verfahren um die Ohren gehauen hätte«, sagt er. »Das Gerücht besagt, dass O’Boom in der Sache drin steckt, nur hat der Gerüchtestreuer prompt gekniffen, als wir ihn ein zweites Mal befragen wollten.« Ich habe die Zeichnung von gestern noch in der Schreibtischschublade und hole sie jetzt hervor. »Kennst du den Mann, Tom?« Er wirft einen Blick auf die Skizze. »Callaghan«, sagt er. »Eindeutig. Woher hast du das Bild?« »Irgendwo gefunden«, lüge ich. Dass ich selbst recht gut zeichnen kann, weiß im Yard kaum einer. Wenn ich zu Block und Stift greife, dann fast nur in meiner Freizeit zur Entspannung. Und dass ich diesen Dan Callaghan, der seit Wochen tot sein soll, gestern noch gesehen habe, kann ich Volkman doch nicht erzählen!
Er geht endlich und wäre dabei fast mit Val zusammengestoßen, die gerade zu mir will. Sie schwenkt zwei Plastiktüten. In einer ist meine Kugel, in der anderen die großkalibrige Waffe, mit der der Juwelendieb auf mich geballert hat – das zumindest versichert sie mir. »Die Beweislage ist eindeutig«, sagt sie. »Diese Kugel ist definitiv aus dieser Waffe abgeschossen worden. Und jetzt frage ich dich, Rhett Davies, wie die Kugel auf die Ablage vor deinem Badezimmerspiegel gekommen ist. Sie kann nirgendwo eingeschlagen sein, weil es keine entsprechenden Verformungen gibt, und bei der Pulverladung, die in der Patrone steckt, hätte sie gut eine Meile frei fliegen können, bis sie endgültig zu Boden fiel. So viel Freiraum gibt es vor Ort aber gar nicht.« »Vielleicht habe ich das Geschoss mit den Zähnen aufgefangen«, schlage ich grinsend vor und präsentiere ihr mein Prachtgebiss. »Es hätte dir ein paar Zähne zertrümmert und wäre in der Erbse stecken geblieben, die du hochtrabend dein Gehirn nennst.« Sie lacht freudlos auf. »Diesen Manstopper fängt nicht mal Superman mit der bloßen Hand auf.« »Danke für deine Mühe«, sage ich. »Dafür lade ich dich für übermorgen zum Frühstück bei mir ein. Morgen geht’s nicht, weil ich vielleicht einen Nachteinsatz habe. Ich verspreche dir, dass mein Kühlschrank diesmal besser gefüllt sein wird.« »Wenn das die Einladung zu einer Nacht bei dir sein soll, vergiss es«, warnt sie. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich One‐night‐stands bevorzuge. Es war schön mit dir, aber erwarte nicht mehr.« Ich bin mir längst nicht mehr sicher, ob ich das so einfach hinnehmen kann. Darüber reden wir noch einmal, beschließe ich. Nicht hier und jetzt, aber bald. »Versprich mir statt eines gefüllten Kühlschranks lieber, dass du mich an deinen Ermittlungen teilhaben lässt«, verlangt sie. »Du weißt ja, Frauen sind neugierige Wesen. Und der Fall interessiert
mich. Es muss für das Kugel‐Rätsel eine Lösung geben, nur sehen wir die momentan nicht. Ich will sie aber finden.« Da sind wir ja schon zu zweit …
* Ich denke daran, was Tom Volkman gesagt hat. In der Skizze hat er auf Anhieb diesen Dan Callaghan erkannt und einem Gerücht nach soll unser spezieller Freund O’Boom seine Finger im Spiel haben. Wie kann es dann aber sein, dass ein Drogentoter quicklebendig herumläuft und sogar mit seinem Körper eine für mich bestimmte Kugel … Stopp! Callaghan kann nicht der sein, für den ich ihn halte, denn Gespenster gibt es nicht – aber können Gespenster nicht auch Dinge bewerkstelligen, die Menschen nicht schaffen? Gespenster können auftauchen und wieder verschwinden und warum nicht auch eine Kugel auffangen? Aber man sagt ihnen auch nach, dass sie sich nur zwischen zwölf und ein Uhr nachts den Menschen zeigen. Einmal vorausgesetzt, dass es diese Wesen aus dem Jenseits tatsächlich geben sollte, kann Callaghan dennoch nicht zu ihnen gehören, weil er zu völlig anderen Zeiten auftauchte, um im Nichts wieder zu verschwinden. Ich rufe Volkman an, der schon zu Hause ist und sich gerade bettreif macht, um in der Nacht einsatzbereit zu sein. Ich will von ihm wissen, ob Dan Callaghan einen Zwillingsbruder hat. Wenn Volkman meinen Verdacht bestätigt, bin ich einen Schritt weiter und muss ›nur‹ noch herausfinden, welcher technischen Mittel sich dieser Zwilling bedient, um mit seinen Taschenspielertricks zu brillieren. Dann kann ich ihn auch erwischen und fragen, warum er
sich ausgerechnet mir zeigt. »Und um mich diesen Blödsinn zu fragen, rufst du mich hier an?« Volkman klingt etwas verärgert und als ich aus dem Hintergrund eine Frauenstimme höre, wird mir der Grund für seine Verdrießlichkeit ebenso klar wie der wirkliche Grund für seinen frühen Feierabend. »Callaghan hatte überhaupt keine Verwandtschaft. Alles andere findest du in der Akte. Muss noch irgendwo auf meinem Schreibtisch liegen. Ich bin noch nicht dazu gekommen, meinen Abschlussbericht zu schreiben.« »Dann warte auch noch ein paar Tage länger damit«, empfehle ich und lege auf. Den Teufel werde ich tun, auf Volkmans Schreibtisch nach einer bestimmten Akte zu suchen. Dieser Schreibtisch ist ein Papierdschungel, in dem man stundenlang wühlen kann, ohne das zu finden, was man sucht. Keine Verwandtschaft, also auch kein Zwillingsbruder. Ist der Junge also doch ein Gespenst? Da glaube ich einen Schatten zu sehen, der über mich fällt wie von jemandem, der unmittelbar hinter mir steht. Völlig lautlos muss er aufgetaucht sein, als sei er vorher unsichtbar gewesen und habe nur auf diesen Moment gewartet. Ich wirbele mit meinem Schreibtischstuhl herum. Aber niemand steht hinter mir und auch der Schatten ist wieder verschwunden. »Callaghan?«, frage ich. »Sind Sie das? Sind Sie hier?« Wo niemand ist, kann auch niemand antworten. Ich bringe meinen Sessel in seine alte Position zurück, sehe vor mir meine Schreibtischplatte und stelle fest, dass nicht nur der Schatten verschwunden ist, sondern auch die beiden Plastikbeutel mit Kugel und Pistole!
* Er kann nirgendwo und überall sein. Er zeigt mir, dass er mit mir spielen kann, wie es ihm gerade gefällt. Aber warum? Wer oder was ist er wirklich? Und was will er ausgerechnet von mir? Will er mich in den Wahnsinn treiben? Lässt er mich an Gespenster glauben, um mich auszuschalten? Aber ich habe mit dem Fall Callaghan doch nichts zu tun gehabt! Er müsste sich da doch eher an Tom Volkman hängen! Den Rest des Nachmittags verbringe ich in unserer psychologischen Abteilung. Ich will von den Seelenklempnern wissen, ob ich unter Hypnose stehe. Hat mir jemand einen posthypnotischen Block verpasst, der mich auf bestimmte Reize reagieren lässt und dann Halluzinationen in mir auslöst? Unwahrscheinlich, denn Halluzinationen lassen keine Beweisstücke verschwinden, aber vielleicht habe ich sie selbst verschwinden lassen, ohne es zu wissen? Nur erzähle ich dieses Detail nicht, weil es mich in Teufels Küche bringen kann, wenn die Psycho‐Docs keine hypnotische Einwirkungen bei mir feststellen. Und genau das ist der Fall! Den Tests zur Folge gibt es in mir keinen posthypnotischen Befehl zum Gespenstersehen. Noch mehr: Man stellt fest, dass ich zu der Gruppe Menschen gehöre, die nicht zu hypnotisieren sind. Beruhigen kann mich das nicht – eher im Gegenteil. Aber das lasse ich mir nicht anmerken, sondern heuchle Zufriedenheit, bedanke mich artig und verschwinde so schnell wie möglich wieder, um heute einmal pünktlich Feierabend zu machen. Verdammt, wie soll ich dem Superintendent und dem Commander das Verschwinden der Pistole erklären? Aua, das wird eine ganze Menge Ärger geben und danach werde ich die relative
Narrenfreiheit, die ich im Yard genieße, wohl nicht mehr zugestanden bekommen. Zu Hause liegen die beiden Plastiktüten auf dem Tisch! Das Türschloss scheint unbeschädigt zu sein. Gespenster brauchen keine Türen, aber können Gespenster auch feste Gegenstände mit durch ihre Jenseitswelt schleppen, um sie im Diesseits von einem Ort zum anderen zu versetzen? Ich fordere die Spurensicherung an. Die vom Yard, versteht sich. Val Brass leitet das kleine Team. »Rhett!« Sie funkelt mich an. »Wenn das ein Trick ist, um mich herzulocken, um gleich im Anschluss, wenn die Kollegen wieder abgerückt sind, weiterzumachen, wo wir aufgehört haben …« »Ich habe ja nicht mal mit dir gerechnet«, verteidige ich mich. »Sonst hast du um diese Zeit doch schon Feierabend.« »Schon mal was von Überstunden gehört?«, faucht sie mich an. »Ich musste ja schließlich nacharbeiten, was ich heute Vormittag nicht erledigen konnte, weil ich für dich die Kugel untersucht habe. Bist du da inzwischen weiter?« »Noch keinen Schritt«, gestehe ich. Sie glaubt mir kein Wort. Auch nicht, dass ein Einbrecher in meiner Wohnung war. Es gibt keine fremden Fingerabdrücke – nur meine und die von Val, die sie in der Nacht hinterlassen hat. Und es gibt auch keine Spuren an der Tür, kein Hinweis, dass das Schloss geknackt worden ist. Wenn tatsächlich jemand durch die Tür gekommen ist, muss er einen Schlüssel benutzt haben. Außer mir hat den aber nur der Hausmeister – für Notfälle. Ich werde ihn morgen fragen, ob sein Exemplar zeitweise verschwunden war. Aber Gespenster brauchen keine Schlüssel und sie hinterlassen auch keine Fingerabdrücke. Val rückt mit ihrem Team wieder ab. »Danke für die zusätzliche
Arbeit«, zischt sie mir im Hinausgehen zu. »Ich habe ja auch sonst überhaupt nichts zu tun!« Ich kann verstehen, dass sie sauer ist. Ich wäre es an ihrer Stelle auch. Als alle verschwunden sind, hole ich die Pistole wieder aus dem Versteck, in dem ich sie zwischendurch habe verschwinden lassen. Es kann nicht gut für mich sein, wenn jemand die Waffe bei mir sieht, die eigentlich in die Asservatenkammer der City Police gehört. Ich werde mich morgen mal mit diesem Juwelendieb unterhalten. Vielleicht steckt auch er in dieser rätselhaften Geschichte drin … In dieser Nacht habe ich keine Geistererscheinung mehr. Auch Kollege Volkman klingelt nicht an, um mich abzuholen. Der Chief Superintendent, erfahre ich am Tag darauf, hat die nächtliche Aktion gegen Derek O’Boom verschoben …
* Auf dem Korridor sieht Tennant mich und winkt mich in sein Büro. »Sind Sie in Ihrem speziellen Fall weiter gekommen?«, will er wissen. »Leider noch keinen Schritt«, gestehe ich. »Aber Sie wissen doch aus Erfahrung, Sir, dass es bei manchen Fällen länger dauert, um dann explosionsartig eine Lösung zu ergeben.« »Dann hoffe ich mal, dass diese Explosion bald erfolgt und nicht in die falsche Richtung losgeht«, knurrt der Superintendent. »Der Commander macht schon wieder Druck. Da ist was mit einer Waffe, die von unserem Labor zu einer Überprüfung abgeholt, bis jetzt aber nicht zurückgegeben wurde.« Er funkelt mich düster an und ich spüre wachsendes Unbehagen. Das wird noch größer, als ich ihn sagen höre: »Außerdem sind Sie,
wie ich erfuhr, gestern Nachmittag bei unseren Psychologen gewesen und haben sich untersuchen lassen. Was darf ich daraus schließen, Davies?« »Dass ich nicht zu hypnotisieren bin, Sir«, erwidere ich. »Das wollte ich von unseren Psycho‐Docs erfahren.« »Aus welchem Grund? Haben Sie den Verdacht, in Ausübung Ihres Dienstes hypnotisiert worden zu sein?« »Ja!«, behaupte ich. »Näheres kann ich Ihnen aber noch nicht sagen, weil ich dadurch den Schritt nicht weitergekommen bin, den ich gehen wollte.« »Denken Sie sich einen guten Grund für die Untersuchung aus, sonst muss ich sie Ihnen als Freizeit anrechnen«, warnt der Superintendent. »Und geben Sie die Pistole schnellstens an die City Police zurück, sonst kriegt der Commander noch einen Tobsuchtsanfall.« Ich suche erst mal mein Büro auf und trinke einen Tee. Volkman kommt herein, ohne anzuklopfen, weil er gleich zwei Teetassen in den Händen hält und die Tür mit dem Ellenbogen öffnet. »Für dich, Rhett«, sagt er und stellt eine der Tassen vor mir ab. »Oh, du hast schon … Na, egal.« Er flegelt sich in den Besuchersessel und streckt die Beine aus. »Den Fall O’Boom können wir komplett vergessen«, grummelt er. »Der Staatsanwalt hat das Verfahren eingestellt. Die Verdachtsmomente reichen ihm für unseren Einsatz nicht aus. Wir können die Akte zumachen – bis zum nächsten Mal«, fügt er verbittert hinzu. Ich zucke mit den Schultern. O’Boom und seine Räuberbande werden uns so oder so bald wieder über den Weg laufen, da hat Volkman Recht. Und dann wird der Staatsanwalt sich in den Hintern beißen. Aber wir haben garantiert auch so noch genug zu tun. Der nächste
Fall lässt nicht lange auf sich warten, dessen bin ich mir sicher. Außerdem gibt es noch eine Menge aufzuarbeiten. Einer der erkrankten Kollegen soll zwar nächste Woche wieder zum Dienst erscheinen, aber vor unangenehmen Überraschungen kann man nie sicher sein. »Apropos Akten«, sagt Volkman. »Du hast mich doch gestern auf Dan Callaghan angesprochen. Hast du dir meine Unterlagen schon angesehen?« Ich schüttle den Kopf. »Ich bringe sie dir eben rüber.« Ein paar Minuten später ist er mit einem der roten Schnellhefter wieder da, legt ihn mir zurecht und taucht wieder ab. Ich lese mich ein. Viel bringen die Papiere nicht, nur, dass Callaghan eine Pistole besaß. Registriert und mit Waffenschein. Raten Sie mal, welches Kaliber – und raten Sie mal, was mit der Waffe geschehen ist! Bingo: Die Zimmerflak ist spurlos verschwunden! Als Callaghans Leiche gefunden wurde, hatte er die Waffe nicht mehr. Val Brass kommt herein, ebenfalls ohne anzuklopfen. Offenbar wollen mich heute alle mit Ausnahme des Chief Superintendent mit Tee verwöhnen. Ich nippe an meiner dritten Tasse. »Hast du den Manstopper bei dir?«, fragt Val ohne Vorwarnung. Ich hole die immer noch in der Plastikhülle verpackte Waffe aus der Schreibtischschublade, in der ich sie nach Betreten meines Büros versenkt habe. Val streift dünne Gummihandschuhe über, um keine Spuren zu hinterlassen, nimmt die Pistole heraus und betrachtet die eingestanzte Registriernummer. »Stimmen die Nummern überein, Val?«, frage ich und drehe ihr den Aktenhefter zu, so dass sie ihn lesen kann. Sie runzelt die Stirn. »Wie bist du denn darauf gekommen?«, fragt sie. »Stimmt, Rhett – diese Pistole gehörte Callaghan. Aber du hast
sie doch diesem Juwelendieb abgenommen! Das bedeutet …« »… dass der eine den anderen kannte und der Juwelendieb auch ein Leichenfledderer ist. Warte mal!« Etwas, das ich wissen will, geht aus der Akte nicht hervor. Ich rufe Volkman an, der sich glücklicherweise noch in seinem Büro findet. »Tom, kannst du mir verraten, weshalb ein Drogen‐ Junkie eine registrierte Waffe besitzen darf? Das ist doch verdammt ungewöhnlich.« »Fehlt noch in meinem Bericht und wird vielleicht nie drin stehen«, sagt Volkman. »Halt die Klappe drüber und spitz die Ohren: Callaghan war ein V‐Mann. Mehr sage ich nicht dazu, weil ich mehr auch nicht weiß. Vielleicht kann dir der Chef weiterhelfen.« Bei dem melde ich mich an. Val will die Waffe einstecken, um sie der City Police wieder zur Verfügung zu stellen. »Stopp, die brauche ich noch!«, halte ich sie davon ab. »Wofür? Du weißt doch jetzt, was du wissen wolltest.« »Eben nicht.« Ein paar Minuten später bin ich wieder beim Superintendent und stelle ihm meine Frage. Er schwenkt mit dem Sessel herum und sieht eine Weile stumm in Richtung Fenster. Draußen zeigt sich London mal wieder in schönstem Grau. Regenwolken hängen über der Stadt und können sich nicht entscheiden, ob sie ihre nasse Fracht abwerfen oder sich vom Wind noch ein bisschen weiter treiben lassen sollen. »Daran arbeiten Sie also, Davies?«, murmelt Tennant nach einer Weile und schwenkt den Sessel wieder herum. »Vergessen Sie es. Der Fall Callaghan ist abgeschlossen.« »Er hat unter Umständen mit einem anderen Fall zu tun. Also, weshalb hatte der V‐Mann Callaghan eine Waffe?« »Weil er bedroht wurde. Reicht Ihnen das? Leider ist die Waffe
verschwunden und dürfte inzwischen irgendwo in der Unterwelt auf dem Schwarzmarkt kreisen oder schon einen neuen Besitzer haben. Nur wissen Dealer und Kunde nicht, dass die Waffe registriert ist.« »Sie ist wieder aufgetaucht«, sage ich. »Das ist der Fall, an dem ich arbeite.« »Die Waffe, die der Commander so gern zurück hätte?« Ich nicke. »Geben Sie sie bis auf Widerruf noch nicht wieder zurück, aber bleiben Sie an dem Fall dran. Ich rufe bei der City Police an, und auch beim Staatsanwalt. Der soll der City Police den Fall entziehen und an den Yard geben. Dann wird es auch für Sie offiziell, Davies. Bis jetzt bewegen Sie sich auf verdammt dünnem Eis.« Mit der einen Hand drückt er den Schalter der Sprechanlage, um seine Sekretärin im Vorzimmer anzuweisen, die Telefonate vorzubereiten, mit der anderen scheucht er mich aus seinem Büro. Können Sie sich mein zufriedenes Haifischgrinsen vorstellen? Nur an die gespenstische Erscheinung darf ich nicht denken!
* Ich besuche den Juwelendieb in der Untersuchungshaft. Endlich erfahre ich auch, wie der Typ heißt: John Jones. In der Unterwelt ist er unter ein paar anderen Namen bekannt. Ich lege den Manstopper vor mich hin. Es hat mich einiges an Überredungskunst gekostet, die Waffe mitnehmen zu dürfen. Normalerweise sind hier auch uns Polizisten die Waffen verboten. Das Risiko ist zu groß, dass ein Inhaftierter sich in deren Besitz bringt und sich per Geiselnahme selbst aus der U‐Haft zu entlassen versucht.
Vorsichtshalber befindet sich deshalb ein Beamter der City Police mit im Verhörraum, um notfalls eingreifen zu können. John Jones wartet bereits auf uns. Plötzlich werden seine Augen groß wie Scheinwerfer, als er an mir vorbeischaut. Er springt auf und weicht bis zur Wand zurück. Ich sehe nichts, wovon Jones sich bedroht fühlen könnte. Ich will mich nur mit ihm unterhalten und dem Constable ist es absolut egal, wen er bewacht. »Wie … wie ist das möglich?«, stößt Jones hervor, immer noch an mir vorbeisehend. »Du bist doch tot!« Seine Stimme wird leiser, »du bist tot … tot …« Aber da ist doch niemand. Plötzlich ahne ich, vor wem John Jones sich so erschrocken hat. Er muss Dan Callaghan gesehen haben! Das Gespenst, als das der Junkie sich bisher nur mir gezeigt hat. Jones entspannt sich. Ist die Erscheinung wieder verschwunden, die ich diesmal nicht sehen konnte? »Wie kann das sein?«, keucht Jones. »Wie haben Sie das gemacht? Und warum?« »Was faseln Sie da für einen Nonsens?«, fährt der Constable ihn an. »Kein … kein …« Jones verstummt. Zögernd nimmt er wieder Platz. Ich setze mich zu ihm an den Verhörtisch und lege unter dem misstrauischen Blick des Beamten die immer noch in Plastik verpackte Waffe vor mich hin. »Kennen Sie diese Pistole, Jones?«, frage ich. »Ich kann’s wohl nicht leugnen«, murmelt der Juwelendieb. »Sie sind der Mann, der mir in der Schusslinie stand, nicht wahr? Wer sind Sie überhaupt?« »Inspector Rhett Davies von Scotland Yard.« »Yard? Ach du Scheiße!«, ächzt Jones. »Ich dachte, Sie wären
irgendwer und später hielt ich Sie für einen Zivilfahnder der City oder Metropolitan Police. Yard … Womit habe ich das nur verdient?« »Sie haben sich’s selbst ausgesucht«, sage ich. »Woher haben Sie diese Waffe?« »Ist mir irgendwo zugelaufen. Darf ich mal sehen?« »Nein. Aber Sie geben zu, dass Sie aus dieser Waffe auf mich geschossen haben?« »Aber doch nicht auf Sie, Inspector«, stöhnt er. »Auf wen dann?«, frage ich. Er zögert. Dann sagt er leise: »Ich sage es Ihnen unter vier Augen.« Ich reiche dem Constable den Manstopper. »Gut drauf aufpassen, das ist ein wichtiges Beweisstück. Bitte lassen Sie uns ein paar Minuten allein!« Dann fordere ich den Juwelendieb zum Reden auf. »Ich habe auf ihn geschossen. Auf den, der gerade hier war! Dieser Albtraum …« »Dan Callaghan?«, gebe ich der Erscheinung ihren Namen. »Ja«, sagt Jones heiser. »Ich habe auf Dan Callaghan geschossen …«
* »Dan Callaghan ist tot«, erkläre ich. »Wie wollen Sie ihn hier gesehen haben?« »Es muss sein Geist gewesen sein«, keucht Jones. »Sie haben nichts gesehen, nichts gespürt, Inspector?« »Nichts«, sage ich. »Gespenster gibt es nur in Gruselgeschichten für Touristen, die so genannte Spukschlösser besuchen, aber nicht in der Wirklichkeit. Sie können Callaghan nicht gesehen haben, weil er
längst tot ist und sein Gespenst nicht, weil es keine Geister gibt. Also wechseln wir mal zur Abteilung Wahrheit.« Ich kann ihm doch nicht sagen, Gespenstererscheinung auch schon hatte!
dass
ich
diese
»Ich habe auch auf ihn geschossen, als ich den Unfall hatte und Sie auf mich zukamen«, behauptet Jones. »Ich schwöre Ihnen, Inspector, ich habe nicht auf Sie gezielt …« Ich glaube ihm nicht, weil ich das Mündungsfeuer doch gesehen habe und das galt mir! Im gleichen Moment erkenne ich den Logikfehler in meiner Überlegung. Licht ist schneller als Schall und noch viel schneller als das schnellste Geschoss. Als ich das Mündungsfeuer sah, musste die Kugel mich bereits getroffen haben. Aber das Junkie‐Gespenst mit seinem Hechtsprung hatte die Kugel in diesem Moment bereits mit seinem Körper aufgefangen! Und dann musste es bei seinem spurlosen Verschwinden die Kugel mit sich genommen haben – dieselbe Kugel, die ich dann auf der Ablage meines Spiegels fand. Hat Jones wirklich nicht auf mich geschossen, sondern auf den Junkie? Seine Schreckreaktion vorhin, als er hinter mir das Gespenst sah, deutet darauf hin. Auch in der Nacht muss er den Geist gesehen haben, hat in einer Schreckreaktion darauf geschossen … »Ich bin der Sprungbewegung gefolgt, als ich feuerte«, gesteht Jones. »Da waren Sie einfach nur im Weg, Inspector. Aber ich weiß nicht, woher Callaghan kam und wohin er verschwand. Beides habe ich nicht sehen können. Er muss tatsächlich ein Gespenst sein.« »Ein Gespenst, dessen Waffe Sie benutzen, Jones«, sage ich. »Sie haben nur nicht damit gerechnet, dass die Pistole legal und registriert war, als Sie sie dem Toten abnahmen. Dem Mann, dem Sie den Goldenen Schuss verpasst haben. Sagt Ihnen der Name Derek O’Boom etwas?« Ich nenne die zwei weiteren Namen des Drogen‐Trios.
Jones schüttelt den Kopf. »In O’Booms Auftrag haben Sie Callaghan mit einer Überdosis ermordet und dann gleich mitgenommen, was Sie glaubten, gebrauchen zu können«, behaupte ich. »Das ist nicht wahr!«, fährt er auf. »Ich habe Callaghan nicht ermordet!« »Sie waren als Letzter mit ihm zusammen, sonst hätten Sie seine Waffe nicht an sich bringen können. Sie sind Callaghans Mörder! Mit diesen Hinweisen kann ich jedes Gericht davon überzeugen.« »Nein«, flüstert er. »Das … das können Sie nicht …« »Sie werden sehen«, sage ich und lasse ihn im Verhörzimmer zurück. Er wird wieder in seine Zelle gebracht. Vom Constable will ich die Pistole zurück haben. Der Mann sieht äußerst belämmert aus. Die Pistole, unser wunderschönes Beweisstück, ist wieder mal verschwunden!
* Callaghan, denke ich, während mich Zorn packt, allmählich reicht es mit deinen verdammten Spielchen! Im gleichen Moment höre ich einen wilden Aufschrei. Der Gang, über den ein weiterer Constable John Jones seiner Zelle entgegenführt, macht einen Knick. Hinter dem sind die beiden verschwunden und ich höre den Schrei, der nicht aus der Kehle des Juwelendiebs zu kommen scheint. Dann aber schreit Jones auf! »Nein, nein … nicht … Tu das nicht!« Ein Stöhnen und Poltern folgt, als stürze jemand zu Boden. Ich verzichte auf eine Erklärung meines Constable, was mit der Waffe geschehen ist und spurte los. So schnell bin ich selten
gelaufen, kann am Knick meinen Lauf nicht mehr richtig bremsen und knalle gegen die Wand. Jones brüllt immer noch seine Verzweiflung hinaus. Und da sehe ich auch, wohin der Manstopper verschwunden ist. Dan Callaghan hält ihn in der Faust und zielt auf Jones. Diesem und mir zeigt er sich jetzt nicht als Gespenst, sondern so, als sei er quicklebendig. Der Wachmann, der Jones zu seiner Zelle bringen sollte, liegt reglos am Boden. »Nein!«, schreit Jones wieder verzweifelt. Callaghans Zeigefinger krümmt sich um den Abzug. Ich will seinen Arm niederdrücken und ihm die Pistole entreißen. Aber ich greife ins Nichts, Callaghan bleibt unfassbar. Jones sieht seine Chance gekommen, greift nach der Pistole. Hinter mir taucht der Constable auf. Er will eingreifen und kommt zu spät, wie auch ich das Unheil nicht mehr verhindern kann. Jones hat geschafft, was mir nicht gelang und die Pistole in der Hand. Aber wieso habe ich plötzlich das Gefühl, dass Callaghan das so gewollt hat? Er hätte doch für Jones ebenso durchlässig und ungreifbar sein können wie für mich, wenn das seine Absicht gewesen wäre! Obgleich Callaghan körperlich nicht existent ist, bringt er es fertig, Jones’ Arm und Hand in die von ihm gewollte Richtung zu drehen. Der Manstopper brüllt auf! Es schleudert Jones zwei, drei Meter zurück, ehe er zu Boden stürzt. Noch immer hat er die Pistole in der Hand, mit der Callaghan ihn gezwungen hat, sich selbst zu erschießen. »Nein«, stöhnt hinter mir der Constable. »Nein, das …« Ich schaue mich um, doch Dan Callaghan, das Gespenst, ist verschwunden …
* Jones lebt noch, als ich neben ihm knie und mich über ihn beuge. Der Constable ruft über sein Handy den Notarzt. Inzwischen tauchen vom Schuss alarmiert weitere Beamte der City Police auf. Sie alle hören, was der Sterbende hervorkeucht und sind später Zeugen. Mich selbst entlastet die Aussage des Constables von dem Vorwurf, Jones erschossen zu haben. Der Kollege weiß zwar nicht, was wirklich geschehen ist, aber er hat gesehen, dass Jones die Pistole in der Hand hielt und abdrückte – auf sich selbst. Jetzt, da Jones am Boden liegt, das Blut aus der Brustwunde und Mund und Nase hervordringt, versucht er den Kopf zu heben und mich anzusehen. »Sie hatten … Sie hatten Recht, Inspector … Ich … ich habe Callaghan die Überdosis gegeben, im Auftrag von … Auftrag von O’Boom …« Er wiederholt es noch einmal und alle hören das Geständnis: John Jones hat Dan Callaghan im Auftrag von Derek O’Boom ermordet! Sterbende sagen die Wahrheit und Jones weiß, dass er stirbt. Er schließt die Augen, bäumt sich noch einmal Blut hustend auf und sinkt dann zusammen. Der Notarzt kommt zu spät. Sterbende lügen nicht und ein Toter hat sich gerächt – an seinem Mörder und dessen Auftraggeber …
* Um es vorweg zu nehmen: Wir haben Derek O’Boom wegen Anstiftung zum Mord verhaftet. Er hat natürlich alles geleugnet und sein Anwalt schaffte es tatsächlich, ihn einmal mehr aus der Sache herauszupauken. Die Anklage beruhe auf einer Wahnvorstellung
des Sterbenden, der in seinem Zustand schon nicht mehr gewusst habe, was er da sagt, behauptete der Rechtsverdreher. Die Zeugenaussagen der Polizeibeamten seien daher nichtig. O’Boom kam also wieder einmal mit heiler Haut davon und wegen meiner Aussage war ich ›verbrannt‹, was künftige verdeckte Ermittlungen gegen ihn angeht. Er wusste, dass ich Polizist bin. Volkman wird künftige Aktionen allein oder mit einem anderen Kollegen durchziehen müssen. Als ich mein Büro nach dem letzten Gerichtstermin wieder betrat, um die Akten zusammenzukramen, damit sie ins Archiv können – wir arbeiten nach wie vor nicht nur mit Computern, sondern auch mit Unmengen an Papier –, kam Val Brass herein. »Hast du heute Abend schon was vor?«, wollte sie wissen. Ich zuckte mit den Schultern. »Wohl nicht.« »Ich lade dich zu mir ein«, sagte sie. »Mein Kühlschrank ist wesentlich besser befüllt als deiner und eine zweite Zahnbürste für Gäste habe ich auch.« »Sagtest du neulich nicht, dass du auf One‐night‐stands stehst?«, fragte ich etwas überrascht. »Was schert mich mein Geschwätz von gestern?« Sie grinste mich an, als sie den berühmten Ausspruch des ersten Nachkriegskanzlers von Germany zitierte. Seither haben wir viele Nächte zusammen genossen. Der Geist von Dan Callaghan hat sich zum Glück nie mehr gezeigt … ENDE