DAS BUCH Der Erzähler und Held des Romans, Dennis Cleg - genannt Spider wächst in den Slums des Londoner East Ends auf ...
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DAS BUCH Der Erzähler und Held des Romans, Dennis Cleg - genannt Spider wächst in den Slums des Londoner East Ends auf 1957 - er ist kurz zuvor aus der psychiatrischen Anstalt Ganderville entlassen worden und in die Gegend seiner Kindheit zurückgezogen - holen ihn die Erinnerungen an die zwanzig Jahre zurückliegenden traumatischen Ereignisse wieder ein. Um diese Vergangenheit zu bändigen, beginnt er zu schreiben. Spiders Vater Horace, der in dumpfer Wut gegen seine Umwelt lebt und seine scheue, ihm ganz ergebene Frau demütigt, wo er nur kann, trifft eines Tages in einer Kneipe die Prostituierte Hilda Wilkinson. Zwischen beiden entwickelt sich eine stürmische Affäre, die Horace immer mehr von seiner Frau entfremdet und seinen Haß auf sie ins Grenzenlose steigert. Als Spiders Mutter die beiden eines Tages miteinander überrascht, wird sie von dem skrupellosen Pärchen ermordet. Horace verwandelt das Haus in ein Bordell, und plant am Ende sogar, Spider verschwinden zu lassen, der zum Zeugen des Mordes geworden war. Doch allmählich verdichten sich die Hinweise darauf, daß Dennis während des Aufenthalts in der Anstalt an einer komplexen Geschichte gesponnen hat, deren Held und Opfer sein alter ego, Spider, ist ...
DER AUTOR Patrick McGrath wurde 1950 in London als Sohn eines berühmten Gerichtspsychiaters geboren. Seine Schulzeit verbrachte er an einem von Jesuiten geleiteten Gymnasium; später erhielt er einen Abschluß als Literaturwissenschaftler an der Londoner Universität. Er hat in den USA und Kanada gelebt und einige Jahre auf einer entlegenen Insel im Pazifik verbracht. Seit 1981 lebt und arbeitet er in New York. Sein 1997 erschienener Roman Stella begründete auch in Deutschland seinen Ruf als Schriftsteller von Weltklasse.
Patrick McGrath
Spider Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
ULLSTEIN
Scanned by „IL GRIFO“
Ullstein Buchverlage GmbH & Co.KG, Berlin Taschenbuchnummer: 24412 Titel der englischen Originalausgabe: Spider Ungekürzte Ausgabe Juni 1998 Umschlaggestaltung: Tandem Design, Hamburg Foto: SIP ZEFA Alle Rechte vorbehalten © 1990 bei Patrick McGrath Taschenbuchausgabe mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages © 1992 für die deutsche Ausgabe by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Printed in Germany 1998 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-548-24412-2 Gedruckt aufalterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt !
Die Deutsche Bibliothek C1P-Einheitsaufnahme MacGrath, Patrick: Spider: Roman / Patrick McGrath. Aus dem Engl. von Brigitte Walitzek. Ungekürzte Ausg. -Berlin: Ullstein, 1998 (Ullstein Buch; 24412) Einhcitssacht.: Spider
ISBN 3-548-24412-2
Mein Name ist Ozymandias, König der Könige: Blicket auf meine Werke, Ihr Mächtigen, und verzweifelt! Shelley
Ich
fand es schon immer sonderbar, daß ich mich mit großer Klarheit und Genauigkeit an Vorfälle aus meiner Kindheit erinnern kann, Dinge jedoch, die sich erst gestern ereigneten, völlig verschwommen sind, und ich habe kein Vertrauen in meine Fähigkeit, sie mir auch nur annähernd genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Gibt es vielleicht, frage ich mich, eine Art Fixierungsprozeß, durch den die Zeit, statt Erinnerungen verblassen zu lassen (wie man es erwarten würde), das Gegenteil tut - sie härtet, wie Beton, genau das Gegenteil also zu dem flüssigen Brei, der dabei herauskommt, wenn ich versuche, über gestern zu sprechen? Das einzige, was ich Ihnen mit Sicherheit sagen kann - über gestern, meine ich -, ist, daß schon wieder Leute auf dem Dachboden waren, Mrs. Wilkinsons Leute - und hier gibt es etwas Seltsames, etwas, was mir bis zu diesem Augenblick entgangen war: Die Frau, der die Pension gehört, in der ich lebe (nur vorübergehend), hat denselben Nachnamen wie die Frau, die für die Tragödie verantwortlich ist, die meiner Familie vor zwanzig Jahren zustieß. Über den Namen hinaus gibt es keine Ähnlichkeiten. Meine Mrs. Wilkinson ist ein ganz anderer Mensch als Hilda Wilkinson, sie ist eine verdrießliche, nachtragende Frau, groß und kräftig, das stimmt, wie Hilda groß und kräftig war, aber ohne auch nur die geringste Spur von Hildas Unbekümmertheit und Vitalität, und weit mehr an Dingen wie Macht interessiert - was mich wieder auf die Leute zurückbringt, die letzte Nacht
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auf dem Dachboden waren; aber von denen werde ich, wenn ich es mir recht überlege, lieber ein andermal erzählen. Ich brauche ungefähr zehn Minuten, um vom Kanal zu Mrs. Wilkinsons Pension zurückzugehen. Ich gehe nicht schnell; ich schlurfe mehr, als daß ich gehe, und häufig sehe ich mich gezwungen, mitten auf dem Bürgersteig stehenzubleiben. Ich vergesse einfach, wie man es macht, verstehen Sie, denn bei mir ist nichts mehr automatisch, nicht, seit ich aus Kanada zurückgekommen bin. Die einfachsten Handlungen - essen, anziehen, zur Toilette gehen - stellen manchmal nahezu unüberwindliche Probleme dar, nicht etwa, weil ich in irgendeiner Weise körperlich behindert wäre, sondern vielmehr, weil ich das mühelose, fließende Gefühl des Im-eigenen-Körper-Seins verliere, das ich einst besaß; die Verbindung zwischen Hirn und Gliedmaßen ist ein diffiziler Mechanismus, der sich bei mir, heutzutage, oft auskuppelt. Zum Ärger jener, die sich in meiner Nähe befinden, muß ich dann stehenbleiben und Entscheidungen darüber treffen, was es denn nun eigentlich ist, was ich zu tun versuche, und erst ganz allmählich werden die fundamentalen Rhythmen wieder hergestellt. Je mehr ich mich mit den Erinnerungen an meinen Vater befasse, desto häufiger scheint es zu passieren, und von daher nehme ich an, daß ich mich auf ein paar schwierige Wochen gefaßt machen muß. Mrs. Wilkinson verliert zu solchen Zeiten schnell die Geduld mit mir, und das ist einer der Gründe dafür, daß ich die Absicht habe, ihr Haus zu verlassen, wahrscheinlich Anfang nächster Woche. Es gibt fünf andere Menschen, die hier leben, aber ich schenke ihnen keine Beachtung. Sie gehen niemals aus, sie sind passive, apathische Kreaturen, tote Seelen, von denen ich in Übersee viele getroffen habe. Nein, ich bevorzuge die Straßen, denn ich bin in diesem Teil Londons aufgewachsen, im East End, und während die Veränderungen in 8
gewisser Hinsicht total sind und ich ein Fremder bin, hat sich in anderer Hinsicht überhaupt nichts verändert: Es gibt Gespenster, und es gibt Erinnerungen, und sie steigen scharenweise auf, wenn ich die Unterseite einer vertrauten Eisenbahnbrücke sehe, eine vertraute Stelle des Flusses in der Abenddämmerung, das Gaswerk - das hat sich überhaupt nicht verändert -, und meine Erinnerungen haben die Eigenart, sich in die Szene hineinzudrängen und den Block der Zeit, der das Damals vom Heute trennt, zum Einsturz zu bringen und eine Art Identität hervorzurufen, eine Art Zusammenfließen von Vergangenheit und Gegenwart, so daß ich ganz verwirrt bin und - so intensiv und unvermittelt sind die Erinnerungen - vergesse, daß ich bin, was ich bin, eine schlurfende, spinnenartige Gestalt in einem abgetragenen Anzug, und kein verträumter Junge von zwölf Jahren oder so. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, ein Tagebuch zu führen. Das hier ist übrigens ein höchst eigenartiges Haus. Mein Zimmer befindet sich ganz oben, gleich unter dem Dachboden. Dort werden die Kisten und Koffer von Mrs. Wilkinsons Mietern aufbewahrt, und von daher kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie es ihnen gelingt, soviel Lärm zu machen, wie sie es tun, es sei denn, sie sind sehr klein. Bevor ich dieses Haus verlasse, werde ich hinaufgehen und sie zur Rede stellen, denn ich habe, seit ich hier bin, keine einzige Nacht durchschlafen können - aber natürlich hat es keinen Zweck, mit Mrs. Wilkinson über diese Dinge zu sprechen, es ist ihr gleichgültig, wieso sonst hätte sie mich hier oben einquartiert? Unter dem Fenster steht ein kleiner, ziemlich wackliger Tisch, und an diesem sitze ich, wenn ich schreibe. Übrigens sitze ich auch jetzt dort; vor mir liegt mein Schreibheft, dessen Seiten fein säuberlich liniert sind, und in meinen langen, dünnen Fingern halte ich einen stumpfen Bleistift. Ich überlege, wo ich das Heft verstecken soll, wenn ich es nicht benutze, und ich glaube, für den Au9
genblick werde ich es einfach unter das Zeitungspapier schieben, mit dem die unterste Schublade meiner Kommode ausgelegt ist; später werde ich dann einen sicheren Platz dafür finden. Nicht etwa, daß es viele Möglichkeiten gäbe! Ich habe ein schmales Bett mit einem schmiedeeisernen Gestell und einer dünnen, müden Matratze, die ebenso unbequem auf ihren wenigen intakten Sprungfedern liegt wie ich auf ihr; dieses Bett ist etwa fünfzehn Zentimeter zu kurz für mich, so daß meine Füße überstehen. Auf dem rissigen grünen Linoleum liegt ein kleiner fadenscheiniger Läufer, und an der Tür befindet sich ein Haken, an dem zwei Kleiderbügel aus Draht hängen, die jedesmal, wenn ich die Tür öffne, blechern scheppern. Das Fenster ist schmutzig, und obwohl ich von ihm aus einen Blick auf den kleinen Park auf der anderen Straßenseite habe, kann ich mir nie sicher sein, daß ich wirklich sehe, was ich dort unten zu sehen glaube, so schlecht ist die Sicht. Die Tapete ist von einer schmutzigen, gelblichgrünen Farbe mit einem sehr blassen Blumenmuster und stellenweise so abgewetzt, daß darunter die älteren Tapeten und der Verputz zum Vorschein kommen, und an der Decke hängt eine Glühbirne in einem hutförmigen Schirm aus irgendeinem pergamentähnlichen Material, deren Schalter sich neben der Tür befindet, so daß ich, wenn ich das Licht ausgeschaltet habe, im Dunkeln zum Bett hinübergehen muß, etwas, was ich hasse. Das ist also das Zimmer, wo ich, für den Augenblick, lebe. Aber wenigstens habe ich es nicht weit zum Kanal. Ich habe eine Bank am Wasser gefunden, an einer abgelegenen, geschützten Stelle, die ich mein eigen nennen kann, und dort verbringe ich gerne den einen oder anderen Nachmittag, ohne daß ich von irgend jemandem gestört werde. Von dieser Bank aus habe ich einen ungehinderten Blick auf das Gaswerk, und der Anblick erinnert mich immer an meinen Vater, ich weiß nicht wieso, vielleicht, weil er Klempner war, 10
und eine allseits bekannte Figur in dieser Gegend, wie er auf seinem Fahrrad durch die Straßen radelte, die Segeltuchtasche mit dem Werkzeug über die Schulter gehängt wie einen Köcher. Die Straßen waren damals eng, mit dumpfigen, dicht gedrängten kleinen Häusern mit winzigen Hinterhöfen - mit Außenklos, und Wäscheleinen, die sich von Mauer zu Mauer spannten, und die Höfe gingen auf enge Gassen hinaus, in denen magere, streunende Katzen zwischen den Mülltonnen herumstöberten. London kommt mir heute so weit und so leer vor, und das ist auch so eine Sache, die ich seltsam finde: Ich hätte gedacht, daß es umgekehrt sein würde, denn Szenen aus der Kindheit haben doch normalerweise die Angewohnheit, sich in der Erinnerung riesig und gewaltig darzustellen, so wie sie zur betreffenden Zeit erlebt wurden. Aber bei mir ist das alles umgekehrt, in meiner Erinnerung ist alles eng: Zimmer, Häuser, Höfe, Gassen, Straßen - eng und dunkel und gedrängt, zusammengepfercht unter einem drückenden Himmel, an dem der Rauch der Schornsteine in verschwommenen, faserigen Strähnen verwehte, einem Himmel voller Regenwolken - es schien immer zu regnen, und wenn es einmal nicht regnete, sah es immer so aus, als würde es gleich regnen. Es gab schwarz verfärbte Backsteine, und schmutzige Mauern und graue Gestalten in Regenmänteln, die an den späten Winternachmittagen, bevor die Lampen angezündet wurden, wie Phantome nach Hause huschten. Das ganze geht so, verstehen Sie. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand auf meiner Bank. Der Himmel ist grau und bewölkt; vielleicht regnet es zwischendurch ein bißchen. Eine Atmosphäre der Verlassenheit liegt über der ganzen Szene; kein Mensch weit und breit. Direkt vor mir ein kümmerlicher Streifen aus Unkraut und Gras. Dann der Kanal, schmal und schmutzig, grüner Schleim, der an den Steinen hinaufkriecht. Auf der anderen Seite ein weiterer Streifen 11
Unkraut, eine weitere Backsteinmauer, hinter der Mauer die fleckigen Backsteinbauten einer verlassenen Fabrik mit eingeworfenen Fenstern, und dahinter die großen, rostroten Kuppeln des Gaswerks, die sich massig vor dem düsteren Himmel abheben, drei Stück im ganzen, jede davon bestehend aus einem Dutzend hoch aufragender Träger, die kreisförmig angeordnet und oben von einem stählernen Ring umgürtet sind. Innerhalb dieser schlanken, kreisförmig angeordneten Masten aus Stahl sitzen die breitkuppeligen Zylinder für das Gas, von denen die Farbe abblättert und die um den Rand herum Rollen haben diese laufen in den Schienen der Träger, wodurch die Zylinder sich mit den Schwankungen von Volumen und Nachfrage heben und senken können. Aber ich versuche, nicht zu ihnen hinüberzusehen, und zwar aus Gründen, die ich später noch erläutern werde; statt dessen sehe ich nach Süden, in Richtung der buckligen Brücke hundert Meter weiter, die von einem eisernen Geländer gekrönt und am diesseitigen Ufer von einem abgestorbenen Baum eingerahmt wird, und auf das dahinterliegende Panorama aus grauen Schieferdächern mit ihren endlosen Reihen spindeliger, roter Schornsteine, aus denen Rauch treibt. Ich drehe mir meine Zigaretten, und irgendwie gleitet die Zeit an mir vorüber. Ja, ich drehe mir meine endlosen Zigaretten, und beobachte meine Finger, diese langen, spinnenartigen Finger, von denen ich manchmal den Eindruck habe, daß sie gar nicht zu mir gehören; sie sind an den Spitzen dunkelgelb verfärbt, und die Nägel sind hart und gelblich und verhornt und krümmen sich wie Haken, Haken, die Mrs. Wilkinson jetzt anscheinend wirklich entschlossen ist, mit ihrer Küchenschere abzuschnipseln. Sie zittern unaufhörlich dieser Tage, diese langen, vergilbenden, hakennageligen Finger, die ich habe, sie zittern, und ich weiß wirklich nicht, warum. Aber es war schon ein armseliger Ort, das London meiner Kindheit, ein verschlungenes Gewirr dunkler Kästen 12
und enger Gassen, und manchmal, wenn ich eines seiner typischen Merkmale wiedererkenne, kehre ich im Geist in jene Zeit zurück, ohne auch nur zu merken, was ich tue. Deshalb beabsichtige ich, ein Tagebuch zu führen, um wenigstens einen Anflug von Ordnung in das Chaos der Erinnerungen zu bringen, die die Stadt ständig in mir weckt. Das Datum von heute: der 17. Oktober 1957. Wieder ein grauer, freudloser Morgen. Ich bin früh aufgestanden, um mein Tagebuch zu schreiben (es ist mir nicht besonders wohl bei dem Gedanken, es in der Kommode zu verstecken; später werde ich vielleicht versuchen, es unter das Linoleum zu schieben), und wann immer mein Blick auf das schmutzige kleine Fenster über dem Tisch fiel, sah ich nur eine dicke, graue Wolkendecke, die ganz allmählich heller wurde, als irgendwo dahinter, irgendwo draußen, jenseits der Nordsee, die Sonne an einem freudlosen winterlichen Himmel aufging. Dieses Haus kommt mir oft wie ein Schiff vor, habe ich das schon gesagt? Seine Fassade zeigt nach Osten, wissen Sie, in Richtung auf das offene Meer, und ich sitze ganz oben am östlichsten Punkt, wie ein Seemann im Krähennest, während wir mit unserer Fracht toter Seelen den Strom hinuntergleiten! Wir nehmen unsere Mahlzeiten in der Küche ein. Mrs. Wilkinson hat eine kleine Glocke; sie stellt sich an den Fuß der Treppe und läutet zum Essen, und die toten Seelen tauchen langsam aus ihren Zimmern auf und schweben mit leeren Gesichtern und steifen Gliedmaßen die Treppe hinunter, und wenn ich erscheine - ich bin immer der letzte, schließlich lebe ich im obersten Stock -, sitzen sie schon am Küchentisch und stopfen stumm ihren Haferbrei in sich hinein. Die Köchin ist eine untersetzte kleine Ausländerin mit einem flaumigen schwarzen Schnurrbart; sie steht mit dem Rücken zu uns am Herd, linst mit zusammengekniffenen Augen in ihre dampfenden Töpfe mit Geflügelklein und Fleischresten, raucht Zigaretten und wischt sich mit 13
dem Rücken derselben Hand, die den Eintopf rührt, die Nase ab. Ich nehme meinen Platz am unteren Ende des Tisches ein. Auf dem Tisch liegt eine steife Plastikdecke (wie eine Ölplane), bereits bekleckert mit Haferbrei und verschütteter Milch - wir bekommen hier keine richtige Milch, die Frau rührt ein Pulver an, und das ganze ergibt eine wäßrige Flüssigkeit, in der Klumpen herumschwimmen. Tassen und Teller sind aus dickem eierschalenfarbenem Porzellan, und es ist uns erlaubt, richtige Messer und Gabeln zu benutzen. Mrs. Wilkinson ist niemals anwesend, außer, sie hat uns etwas zu sagen, sie ist in ihrem Büro, das gleich neben der Haustür vom Flur abgeht. Ich probiere einen Löffel Haferbrei; er ist widerlich schlecht. Die toten Seelen beachten mich nicht, in dumpfer, wortloser Versunkenheit schlingen sie hungrig ihren Haferbrei hinunter und schlürfen ihren Tee, wobei ihnen diverse Körpergeräusche entweichen, leise Fürze und Rülpser und so weiter. Einer nach dem anderen sind sie fertig und verziehen sich in den Aufenthaltsraum. Die Ausländerin stellt die Teller zusammen und kratzt die Haferbreireste in den Abfalleimer neben dem Herd. Schon jetzt brodeln ihre Töpfe mit Unkraut und Innereien eifrig vor sich hin; ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, beugt sie sich schnüffelnd vor, um in ihnen herumzurühren; Asche fällt in den Eintopf. Nach dem Frühstück versuche ich, so schnell wie möglich aus dem Haus zu kommen. Das ist gar nicht so einfach, denn Mrs. Wilkinson sitzt in ihrem Büro neben der Haustür wie der sprichwörtliche dreiköpfige Höllenhund. »Mister Cleg! « bellt sie und blickt von ihren Papieren auf Ich erstarre; ich habe Angst vor dieser Frau. Ich stehe und scharre schuldbewußt mit den Füßen, während sie sich erhebt und ihre Brille abnimmt und ihren massigen Körper seitlich um den Schreibtisch herumzwängt. »Mister Cleg! « schreit sie. Sie ist eine derart laute Frau! Ich kann ihr nicht 14
in die Augen sehen. Sie lehnt sich an den Rahmen der Bürotür. Die Sekunden ticken mit qualvoller Langsamkeit dahin. Sie hält einen Bleistift in den dicken, kräftigen Fingern; sie spielt damit, und ich stelle mir vor, daß sie ihn jeden Augenblick mitten durchbrechen wird - als Warnung! »Wir werden nicht schon wieder zu spät zum Mittagessen kommen, nicht wahr, Mr. Cleg?« Ich murmele irgendetwas, die Augen auf den Boden gerichtet, auf die Wand - auf egal was, bloß nicht auf ihr strenges Gesicht! Endlich entläßt sie mich. »Einen schönen Spaziergang, Mr. Cleg«, sagt sie, und ich mache, daß ich schleunigst davonkomme. Es ist wohl nicht überraschend, daß ich meinen Tabak verschütte, als ich endlich den Zufluchtsort meiner Bank erreicht habe, so stark zittern mir die Hände. Es ist nicht überraschend, daß ich das Alleinsein hier genieße, das Alleinsein und die Erinnerungen - sie ist eine Megäre, diese Frau, eine Hexe, und dem Himmel sei Dank, daß ich sie bald zum letzten Mal gesehen haben werde. Als ich noch ein Junge war, wohnten wir in der Kitchener Street, die auf der anderen Seite des Kanals liegt, östlich von hier. Unser Haus hatte die Nummer siebenundzwanzig und wie alle anderen Häuser der Straße oben zwei Zimmer und unten ein Zimmer und die Küche, und einen ummauerten Hinterhof mit einer Tür zur dahinterliegenden Gasse und einem Außenklo. Über der Haustür befand sich ein schmutziges Oberlicht in der Form einer untergehenden Sonne, und außerdem gab es einen Kohlenkeller, den man durch eine Tür erreichte, die im Erdgeschoß vom Flur abging, und hinter der eine steile Treppe nach unten führte. Alle Zimmer des Hauses waren klein und eng und niedrig; die Schlafzimmer waren vor so vielen Jahren zum letzten Mal tapeziert worden, daß die Tapeten feucht geworden waren und sich von der Wand lösten und stellenweise völlig
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verfärbt waren; die großen, sich immer weiter ausbreitenden Flecken mit ihrem Geruch nach schimmeligem Putz (ich habe den Geruch selbst heute noch in der Nase!) zeichneten unheimliche Figuren auf das verblaßte Blumenmuster und riefen in meiner kindlichen Vorstellung viele phantastische Schrecken wach. Der untere Flur führte vorbei am Wohnzimmer, das nach vorne hinausging und nur selten benutzt wurde, vorbei an der Kellertür, und direkt auf die Küche zu, wo sich über dem Spülbecken und gleich neben der Hintertür ein Fenster befand, das auf den Hof hinausging. Mein Schlafzimmer lag direkt über der Küche, folglich konnte ich von meinem Fenster aus den Hof sehen, auf die Gasse dahinter und die Rückseite der Häuser der nächsten Straße. Das einzige, wodurch sich unser Haus von den anderen Häusern in der Kitchener Street unterschied, war vielleicht die Tatsache, daß es uns gehörte: Die Eltern meiner Mutter hatten ein Geschäft, und sie hatten das Haus für meine Eltern gekauft und ihnen zur Hochzeit geschenkt. Ich weiß noch gut, daß dies oft erwähnt wurde, wenn meine Mutter und mein Vater sich abends in der Küche stritten, denn mein Vater glaubte, die Familie meiner Mutter sähe auf ihn herab, und ich glaube, das taten sie tatsächlich. Trotzdem gab es damals nur selten eine Familie, der das Haus, in dem sie lebte, tatsächlich gehörte, und es muß für die Nachbarn Anlaß zum Neid gewesen sein; vielleicht ist das ein Grund für die seltsame Isolation meiner Eltern inmitten dieser wimmelnden Straßen und Gassen. Sonntagmorgens beobachtete ich oft, wie mein Vater sich auf den Weg zu den Parzellen machte, wo er seinen Gemüsegarten hatte. Ich sah ihn vor der Hintertür stehen, in der kühlen diesigen Luft des frühen Morgens, in der sein Atem zu Dampf wurde, während er sich die Mütze aufsetzte, den Schal fest um den Hals wickelte und sich dann niederkniete, um ein Stück Schnur um sein Schienbein zu binden, damit die Hose sich nicht in der Fahrradkette ver16
hedderte. Das Fahrrad lehnte an der Wand des Außenklos; er schob es über den Hof und durch die Tür auf die Gasse, und einen Augenblick später sah ich ihn davonradeln. Er saß immer steif und hoch aufgerichtet auf seinem Fahrrad, mein Vater, und selbst heute noch sehe ich vor mir, wie er an einem Herbstmorgen durch die verlassenen Straßen gleitet, in der alten fadenscheinigen Jacke, die er immer trug, wenn er im Garten arbeitete, die Mütze tief über die Ohren gezogen, und der frischen rauchigen Stille und dem Alleinsein eine Art finstere Freude abgewann. Er überholte den Milchmann, dessen Pferd laut schnaubte und mit den Hufen über den Boden scharrte, bevor es einen dampfenden Haufen braungelber Dungziegel auf das Pflaster fallen ließ, und als es schnaubte, stoben dichte Dampfwolken aus seinen schwarzen und geweiteten Nüstern. Manchmal stieg mein Vater von seinem Fahrrad ab und schaufelte den frischen Dung in eine Papiertüte, um ihn zu seinem Kompost zu tun. Dann ging es weiter durch die stillen schmalen Straßen, in südwestlicher Richtung, auf das Gaswerk zu, das, umhüllt vom Nebel des frühen Morgens, etwas Majestätisches an sich hatte, etwas Geheimnisvolles, trotz des Gestanks, der von ihm ausging. Über den Kanal, dann einen langgezogenen Hang hinauf, und den Omdurman Close hinunter zum Bahndamm. Auf halbem Weg über die Eisenbahnbrücke, wenn er die Parzellen schon sehen konnte, stieg er ab und nahm sich die Zeit, sich eine Zigarette zu drehen. Durch diese kleine Zeremonie konnte er die Vorfreude auf den Tag, der vor ihm lag, noch ein paar süße Sekunden länger auskosten. Ich war noch nicht wieder in der Kitchener Street; ich fürchte mich davor, den Kanal zu überqueren und die schwarz gewordenen Backsteine wiederzusehen, die in meiner Erinnerung von den Geräuschen und Gerüchen der Tragödie durchtränkt sind, die sich dort abspielte. Eines Tages werde ich es tun müssen, ich weiß, aber noch nicht, 17
noch nicht. Letzte Woche bin ich jedoch den Hang zum Omdurman Close hinaufgegangen und habe sogar die Eisenbahnbrücke betreten, wobei ich mich gut am Geländer festhielt. Von einem Punkt genau in der Mitte der Brücke ich wagte es nicht, auf das Gespinst der Geleise tief unter mir hinunterzuschauen - sah ich, daß die Parzellen immer noch da waren, auf der anderen Seite des Bahndamms, und offensichtlich immer noch genutzt wurden, denn der Rauch eines Gartenfeuers stieg in die aufgewühlte Luft jenes windigen Oktobernachmittags. Aber kaum hatte ich den Entschluß gefaßt, weiterzugehen und nachzusehen, was aus dem Garten meines Vaters geworden war, und aus dem Schuppen, den er am hinteren Ende des Gartens gebaut hatte, als ein Güterzug laut kreischend unter mir vorbeifuhr, und ich hastete in einer Art schlotternder Panik den Weg zurück, den ich gekommen war, und klammerte mich ein paar Augenblicke später schlaff und kraftlos an einem Laternenmast fest, während das Herz in meiner Brust zuckte und raste und meine Ohren schmerzten vom Geräusch des Zuges, einem gräßlichen Geräusch, das sich für ein paar Sekunden in das höhnische Geheul irgendeiner Horde unsichtbarer Kobolde verwandelte, jedenfalls schien es mir so! Wie leicht ich mich dieser Tage in Angst und Schrecken versetzen lasse. Wissen Sie, ich bin selbst so eine Art Gärtner. Die Gärtnerei ist vielleicht das einzige Gute, das die Jahre, die ich im Ausland lebte und in denen ich lernte, wie man Gemüse anbaut, mit sich gebracht haben, obwohl ich nie dieselbe Leidenschaft dafür entwickelte wie mein Vater. Für ihn war dieses kleine Stückchen Erde nicht nur eine Quelle für frisches Gemüse, es war, glaube ich, eine Art Zufluchtsort, eine Art geistiger Haufen. Wenn er die Brücke überquert hatte, holperte er den schmalen Pfad neben dem Bahndamm hinunter, vorbei an den Parzellen der anderen Gärtner, alles schwer arbeitende Männer wie er selbst, die 18
vielleicht schon dabei waren, die Erde zu harken, oder umzugraben, oder vielleicht einfach nur zwischen den Reihen auf und ab gingen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Stirn gerunzelt, während sie ihre Kartoffeln begutachteten oder ihre grünen Bohnen oder ihre Karotten oder Kohlköpfe oder Erbsen. »Morgen, Horace«, brummelten sie vielleicht, wenn mein Vater sein Fahrrad langsam über den Pfad lenkte. Sie mögen wortkarg und verschlossen gewesen sein, diese Männer, sichtlich besorgt über zu langsames Wachstum oder den Brand oder die Welkkrankheit oder einen feuchten Sommer und räuberische Krähen, aber es waren Männer, die mit sich im Einklang waren, so wie ich in einem Garten mit mir im Einklang war, sie waren glücklich. Mein Vater verbrachte die erste Stunde des Sonntagmorgens damit, über den Stand der Dinge im Garten nachzudenken, und es war eine Stunde, aus der er ein Maß stiller Freude schöpfte, das jedem, der nicht selbst gärtnert, unverständlich bleiben muß. Diese eine Stunde in der klirrend klaren Luft des frühen Morgens, in der der Tau noch feucht auf den Kohlblättern lag, war in gewisser Weise das, wofür er arbeitete, denn diese Augenblicke brachten ihm eine Erfüllung, die er, wie ich glaube, nirgends sonst in seinem engen, begrenzten Leben fand. Er inspizierte, er grübelte, er stocherte mit der Fußspitze in der Erde herum, er hockte sich hin, um diese oder jene Pflanze zu begutachten, breitete ein zartgeädertes Blatt über die schwielige Haut seiner Handfläche und betrachtete es durch die Gläser seiner Brille. Nach einer Weile ging er dann in seinen Schuppen, ein schmuckes, quadratisches Gebilde, zusammengestückelt aus alten Brettern und Teerpappe, und dort, im spinnwebigen Halbdunkel, hängte er seine Jacke auf und suchte sich die Geräte heraus, die er benötigte, und die Arbeit des Tages fing an. Dies ist nur ein sehr flüchtiger Abriß der Parzelle meines Vaters (ich werde Ihnen zu gegebener Zeit mehr 19
davon vor Augen führen), aber mit Hilfe dieses schmalen Fleckchens Erde und des Schuppens war er dazu in der Lage, innerhalb des größeren Rahmens seines Lebens eine kleine Ecke auszusparen, in der er Selbständigkeit und Kameradschaft genießen konnte; und das war es, was das Leben für ihn, und für andere wie ihn, erträglich machte. In einem sehr realen Sinn war die Parzelle die geistige Mitte und Essenz eines Lebens, das in jeder anderen Hinsicht lieblos, monoton und grau war. Ich habe Ihnen noch nicht einmal gesagt, wie ich heiße. Eigentlich Dennis, aber meine Mutter sagte immer Spider zu mir. Ich bin ein seltsamer, abgewirtschafteter Kauz, wirklich - meine Kleider sahen schon immer so aus, als würden sie an mir schlottern, wie Segeltuch, wie Lein- oder Leichentücher manchmal, wenn ich durch die menschenleeren Straßen humpele, erhasche ich zufällig einen Blick auf mich selbst, und meine Kleider sehen immer leer aus, unbewohnt, so wie der Stoff sich um mich herum beult und höhlt, so als wäre ich nichts und als klebten die Kleider nur am Phantom eines Mannes, während der Mann selbst irgendwo anders wäre, nackt. Diese Gefühle legen sich wieder, wenn ich meine Bank erreiche, denn dort bin ich verankert, ich habe eine Mauer hinter mir und Wasser vor mir, und solange ich nicht ausgerechnet auf das Gaswerk sehe, ist alles gut. Aber gestern bekam ich auf einmal einen ziemlichen Schock, denn plötzlich merkte ich, daß mir nichts mehr paßte. Zum ersten Mal fiel es mir auf, als ich von meiner Bank aufstand: Die Hose ging mir kaum noch bis an die Knöchel, und meine Handgelenke ragten zu einer absurden Länge aus meinen Ärmeln hervor, wie Stöcke, bevor sie dann plötzlich zu jenen langen schlaffen Händen erblühten, die ich habe. Als ich wieder im Haus war, schien alles normal zu sein, und mir kam der Gedanke, daß das Problem vielleicht bei meinem Körper liegen könne und nicht bei meinen Kleidern? Natürlich würde ich nicht ein 20
mal im Traum daran denken, mit Mrs. Wilkinson über so etwas zu sprechen, sie hat ihre Haltung zu diesem Punkt mehr als deutlich kundgetan: Sie hat mir strikt verboten, mehr als ein Kleidungsstück von einer Sorte auf einmal zu tragen, nicht mehr als eine Hose, ein Hemd, einen Pullover und so weiter, obwohl ich mich ihr in dieser Hinsicht natürlich widersetze, da ich es nun einmal liebe, so viele Kleidungsstücke auf einmal zu tragen, wie ich kann, ich finde es beruhigend, und seit meiner Rückkehr aus Kanada ist Beruhigung etwas, wovon ich einfach nicht genug bekomme. Wahrscheinlich war das Ganze nur eine Art Fehlwahrnehmung, früher hatte ich gelegentlich mit so etwas zu tun. Ich bin viel größer, als mein Vater es war, aber in anderer Hinsicht bin ich ihm ähnlich. Er war drahtig und kurzsichtig; er trug eine runde Hornbrille, die ihm ein eulenartiges Aussehen verlieh. Seine Augen hatten einen täuschend sanften, wäßrigen Blick, und wenn er seine Brille abnahm, fiel einem auf, von was für einer verblüffend hellblauen Farbe sie waren. Aber ich habe gesehen, wie in diesen Augen der Zorn aufflammte, und wenn das passierte, gab es nichts Sanftes und Wäßriges mehr an ihm, und in den allermeisten Fällen wurde ich dann hinunter in den Kohlenkeller beordert und bekam seinen Gürtel zu spüren. Nicht etwa, daß er je zugelassen hätte, daß andere Leute seine Wut zu sehen bekamen, dafür war er viel zu vorsichtig - aber meine Mutter und ich, wir sahen sie, er hatte kein anderes Ventil dafür, wir waren die einzigen Menschen auf der ganzen Welt, die schwächer waren als er. Ich weiß noch, daß meine Mutter oft zu mir sagte: »Lauf runter ins >Dog<, Spider, und sag deinem Vater, daß das Essen auf dem Tisch steht«, und da wußte ich, daß ich wieder einmal sehen würde, wie dieses zornige helle Licht in seine Augen trat. »Dog« - so hieß das Pub an der Ecke der Kitchener Street, eigentlich »Dog and Beggar«. Es war nicht groß; es hatte vier Räume, den gewöhnlichen Schankraum, den etwas vornehmeren Salon, 21
und zwei kleine Kämmerchen, die »Snugs«, in denen man sich ungestört unterhalten konnte. jeder Raum war von den anderen durch eine hölzeren Trennwand mit eingelassenen Milchglasscheiben abgeteilt. Mein Vater trank immer im Schankraum, und ich weiß noch heute, wie ich die Tür aufstieß und sofort von einer Vielzahl von Geräuschen und Gerüchen bestürmt wurde, von Männerstimmen, lautem Gelächter, dichtem Rauch, Bier; die nackten Bodendielen waren mit Sägespänen bestreut, und im Winter brannte ein kleines Kohlenfeuer im Kamin. Über dem Kamin hing, wie ich mich erinnere, ein Spiegel mit einem schwarzen Tukan darauf, und den Worten: Guinness is Good For You. Das erste Wort konnte ich nicht lesen, ich wußte nur, daß irgend etwas gut für einen war. Für mich war nichts gut im »Dog and Beggar«: Ich sah ihn an der Theke stehen, vornübergebeugt, die Ellbogen aufgestützt, einen Fuß auf der Messingstange, die in Knöchelhöhe an der Theke entlanglief; irgend jemand sagte dann vielleicht: »Da ist der Junge von Horace« oder »Da ist dein Junge, Horace«, und ich sah, wie er sich zu mir umdrehte, die Zigarette im Mundwinkel, und in seinen Augen lag nur dieser kalte Haß, der daher rührte, daß er, wieder einmal, an die Existenz seiner Familie und des Hauses erinnert wurde, in das er aus der unbeschwerten Zuflucht des Lokals zurückkehren mußte. Ich stotterte meine Nachricht hervor, und mein kleines Stimmchen klang dünn wie eine Blechflöte zwischen all diesen füßescharrenden grunzenden Männern, diesem Vieh an seiner Biertränke, und er sagte dann, ich solle schon vorgehen, er würde gleich nachkommen. Niemand wußte, nur ich, nur ich, wie groß, wie wild der Haß war, den er in diesem Augenblick für mich empfand, und ich lief so schnell ich konnte davon. Ich brachte es nie über mich, meiner Mutter zu sagen, wie ungern ich ins »Dog« ging und ihm ausrichtete, was sie mir aufgetragen hatte, denn mein Vater verbarg seine Gefühle so geschickt, daß sie nur gelacht hät22
te, wenn ich versucht hätte, ihr zu erklären, was sich in Wirklichkeit abspielte. Wenn er in dieser Stimmung war - und der Alkohol machte alles nur noch schlimmer, der Alkohol schwemmte all seine Hemmungen fort-, waren die Mahlzeiten die reinste Hölle. Ich saß dann am Küchentisch und starrte die Decke an, von der eine nackte Glühbirne an einem umflochtenen braunen Kabel herabhing. Ich versank oft in Träumereien in dieser muffigen kleinen Küche, dieser Küche mit ihren klappernden Töpfen und ihrem tropfenden Wasserhahn und ihrem allgegenwärtigen Geruch nach gekochtem Kohl, es machte diese gräßlichen Mahlzeiten erträglicher. Draußen dunkelte die Dämmerung in die Nacht hinüber, und vom Bahndamm war das Kreischen einer Lokomotive zu hören, als ein Vorortzug vorbeidröhnte. Meine Mutter stellte einen Teller mit gekochten Kartoffeln, gekochtem Kohl und geschmortem Hammelnacken, von dessen Knochen das Fleisch sich in grauen fasrigen Fetzen löste, vor mich auf den Tisch. Eine fürchterliche Spannung erfüllte den Raum, als ich mein Besteck in die Hand nahm. Ich wußte, daß mein Vater mich beobachtete, und das machte alles nur noch schlimmer, denn ich war selbst im besten Fall ein eher ungeschickter Junge, der seine langen schlaksigen Gliedmaßen nur unzulänglich unter Kontrolle hatte. Ich stopfte mir ein großes Stück Kartoffel in den Mund, aber es war zu heiß, und ich mußte es auf den Teller zurückspucken. »Um Himmels willen -« zischte er durch zusammengebissene Zähne. Meine Mutter warf ihm einen schnellen Blick zu, während ihre Gabel reglos über einer Kartoffel verharrte, die wie ein Stöpsel in einer fettigen Pfütze aus dünner Soße schwamm. »Nicht böse werden«, sagte sie leise. »Der Junge kann doch nichts dafür.« Die Mahlzeit verlief in qualvoller Stille. Vom Bahndamm waren keine weiteren Geräusche zu hören, und auch in der 23
Kitchener Street selbst rührte sich nichts. Besteck klapperte auf billigem Porzellan, als wir unseren Hammelnacken aßen, und aus dem Wasserhahn tropfte es mit einem unaufhörlichen Plop Plop Plop ins Spülbecken. Die Glühbirne über unseren Köpfen tauchte das Zimmer in ein kränkliches, gelbes Licht, und als ich mein Essen herunter geschlungen hatte, starrte ich erneut an die Decke, wobei ich lautlos vor mich hinmurmelte, eine Beschäftigung, die ich nur unterbrach, um an einer Fleischfaser zu zupfen, die mir zwischen den Zähnen stecken geblieben war. »Dann stell mal den Kessel auf, Spider«, sagte meine Mutter, und ich stand auf. Dabei kam ich mit dem Knie gegen den Tisch und versetzte ihm einen so heftigen Stoß, daß der Teller meines Vaters zur Seite sprang. Ich spürte, wie er erstarrte, ich spürte, wie seine Hand sich um die Gabel krampfte, auf der er gerade einen matschigen Haufen aus hellem zerkochtem Kohl aufgehäuft hatte- aber zum Glück sagte er nichts. Ich zündete das Gas an. Endlich war er fertig, legte das Besteck quer auf seinen Teller und die Hände flach auf die Tischkante, so daß seine Ellbogen im spitzen Winkel nach außen ragten, und machte Anstalten, vom Tisch aufzustehen. »Zurück ins Pub, nehm ich an?« sagte meine Mutter, ohne meinen Vater anzusehen. Sie war noch mit ihrer letzten Kartoffel beschäftigt, die sie in mehrere sehr kleine Stückchen zerteilt hatte. Ich warf ihm einen schnellen verängstigten Blick zu; und an der Art, wie seine Wangenmuskeln zuckten, erkannte ich, was er von uns beiden hielt, seinem schlaksigen, nichtsnutzigen Sohn und seiner vorwurfsvoll schweigenden Frau, die am Tisch saß, auf ihre Kartoffeln einstach und sich weigerte, seinem Blick zu begegnen. Er nahm seine Mütze und seine Jacke vom Haken an der Tür und ging ohne ein Wort hinaus. Das Wasser fing an zu kochen. »Dann mach uns mal eine schöne Tasse Tee, Spider«, sagte meine Mutter, stand von ihrem Stuhl auf und strich 24
sich mit der Hand über die Wange, bevor sie anfing, das schmutzige Geschirr zusammenzustellen. Später ging ich dann hinauf in mein Zimmer, und ich glaube, ich sollte Ihnen etwas über dieses Zimmer erzählen, denn so vieles von dieser ganzen Geschichte beruht auf dem, was ich von dort oben sah und hörte und sogar roch. Mein Zimmer ging nach hinten heraus und lag direkt am Kopf der Treppe, und ich konnte von meinem Fenster aus den Hof und die Gasse dahinter sehen. Es war ein kleines Zimmer, und wahrscheinlich das feuchteste Zimmer im ganzen Haus: Meinem Bett genau gegenüber befand sich an der Wand ein großer Fleck, von dem die Tapete abgeblättert war, und der Verputz darunter war im wahrsten Sinne des Wortes wie ein Vulkan explodiert - bröcklige, grünliche Klumpen aus feuchtem Putz quollen aus der Wand heraus wie Pestbeulen oder Krebsgeschwüre, und wenn man sie berührte, zerbröselten sie zu Staub. Meine Mutter versuchte ständig, meinen Vater dazu zu bringen, etwas dagegen zu unternehmen, aber obwohl er die Wand einmal neu verputzt hatte, waren die Flecken einen Monat später wieder da, denn das Problem lag natürlich darin, daß die Regenrinne undicht war und der Mörtel zwischen den Backsteinen schimmelte, beides Dinge, von denen meine Mutter meinte, daß mein Vater dazu in der Lage sein müßte, sie in Ordnung zu bringen, was er jedoch nie tat. Nachts lag ich oft wach und starrte im wie auch immer gearteten Licht des Mondes, das in mein Zimmer fiel, auf diese schattigen Klumpen und Knoten, und in meiner kindlichen Phantasie verwandelten sie sich in die Geschwülste und Geschwüre einer fürchterlichen, buckligen Nachthexe mit irgendeiner gräßlichen Hautkrankheit, ein geisterhaftes Wesen, das zur Strafe für seine Verbrechen gegen die Men25
schen dazu verdammt war, im schimmelnden Verputz einer alten Mauer in einem Armeleuteviertel zu sitzen und gepeinigt zu werden. Gelegentlich kam die Hexe aus der Mauer heraus und schlich sich in meine Alpträume (ich wurde als Junge von Alpträumen geplagt), und wenn ich dann mitten in der Nacht voller Entsetzen aufwachte, sah ich sie feixend in der Ecke des Zimmers stehen, halb von mir abgewandt, das Gesicht im Schatten verborgen, und ihre Augen glitzerten aus dieser schrecklichen knotigen Haut hervor, und der Gestank ihres Atems verpestete die Luft; dann fuhr ich in meinem Bett hoch und schrie, und erst wenn meine Mutter hereinkam und das Licht anmachte, zog die Hexe sich wieder in ihren Verputz zurück, und das Licht mußte dann für den Rest der Nacht anbleiben. Was nun die Schule anging, so war ich dort nie glücklich, und ich versuchte, mich so weit wie möglich davor zu drücken. Ich hatte keine Freunde, ich wollte keine Freunde haben, ich konnte keines der anderen Kinder leiden, und im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, mich in Ruhe zu lassen. Selbst jetzt noch schaudere ich, wenn ich an jene Tage denke: Es gab lange Pultreihen in einem riesigen, scheunenartigen Klassenzimmer mit einer hohen Decke und einem hölzernen Fußboden, und an jedem Pult saß ein gelangweiltes Kind mit einem Bleistift und einem Schreibheft. Ich saß ganz hinten in der Fensterreihe; die Fenster waren hoch oben in die Wand eingelassen, so daß ich nicht in die Ferne starren und der Langeweile entfliehen konnte, und durch diese Fenster fiel das Licht des Tages, und in diesem Licht trieb und wirbelte unaufhörlich der Staub; im Sonnenlicht tanzender Staub hat sich jeher eine einschläfernde Wirkung auf mich, und das galt erst recht, wenn aus dem vorderen Teil des Raumes die gelangweilte, ausdruckslose, müde Stimme irgendeines unzufriedenen Lehrers in einem schäbigen Anzug und mit derben Lederschuhen drang, der vor der Tafel auf und ab marschierte eine ferne Welt, staubige 26
Äonen von meiner eigenen entrückt - und nur gelegentlich innehielt, um ein Wort anzuschreiben, oder ein paar Zahlen, wobei die Kreide manchmal so schrill über die Tafel quietschte, daß den Schülern Schauder über den Rücken liefen und sie mit den Schuhen über den Fußboden scharrten, daß der Staub nur so wirbelte, und unser Spider trieb immer weiter davon, immer tiefer hinein in die hinteren Bereiche seines Hirns, wohin niemand ihm folgen konnte. Es kam nur selten vor, daß ich aufgerufen wurde, um eine Frage zu beantworten; andere Jungen und Mädchen konnten das besser als ich, selbstbewußte intelligente Kinder, die schneidig aufspringen und dem Lehrer sagen konnten, was er hören wollte. Diese Kinder saßen im vorderen Teil des Klassenzimmers, in der Nähe der Tafel; hier hinten, in den niederen Regionen, saßen die »langsameren« Kinder, ein dicker Junge namens Ivor Jones, der sogar noch unbeliebter war als ich und den die anderen Tag für Tag aus reiner Gewohnheit auf dem Schulhof zum Weinen brachten; und ein sehr schmutziges Mädchen namens Wendy Wodehouse, dessen Nase immer rotzverschmiert und dessen Kleid immer dreckig war - sie stank und war so ausgehungert nach Zuneigung, daß sie hinter den Toiletten ihren Schlüpfer herunterzog, wenn man sie darum bat, und es hieß, daß Wendy sogar noch ganz andere Sachen machte. Das also waren meine nächsten Nachbarn im hinteren Teil der Klasse, Ivor Jones und Wendy Wodehouse, aber zwischen uns war keine Allianz möglich, nein, wir haßten uns gegenseitig sogar noch erbitterter, als die anderen Kinder uns haßten, weil wir nämlich füreinander ein Bild unserer eigenen kläglichen Isolation darstellten. Ich glaube nicht, daß ich vermißt wurde, als ich aufhörte, zur Schule zu gehen; im Klassenbuch gab es wahrscheinlich eine säuberliche Reihe von »nicht anwesend«, und einen Satz Hausaufgaben weniger zu korrigieren. Es kümmerte keinen.
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Samstagabends gingen meine Mutter und mein Vater immer gemeinsam ins »Dog and Beggar«. Von meinem Schlafzimmerfenster aus, an dem ich saß, die Ellbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände gestützt, sah ich sie durch die Hintertür aus dem Haus kommen und über den Hof und durch die Tür zur Gasse gehen. Sie saßen immer am selben runden Tischchen in der Nähe des Kamins. Es gab nicht viel, was sie miteinander zu reden hatten; von Zeit zu Zeit ging mein Vater an die Theke, und der Wirt, ein Mann namens Ratcliff, bediente ihn. »Wie immer, Horace?« fragte er, und mein Vater nickte, die Zigarette zwischen den Lippen, während er in seiner Hosentasche nach Kleingeld suchte. Ich habe ja schon erwähnt, daß ich die letzten zwanzig Jahre in Kanada verbracht habe. Über diese Jahre möchte ich lieber nichts sagen, außer vielleicht dies: Ich habe in Kanada viel Zeit damit verbracht, über die Ereignisse nachzudenken, die ich hier beschreibe, und bin dabei zu gewissen Schlußfolgerungen gelangt, die mir, aus Gründen, die auf der Hand liegen, zur fraglichen Zeit selbst nie in den Sinn gekommen wären; diese werde ich, je weiter wir vorankommen, Schritt für Schritt enthüllen. Was nun das erste Mal angeht, daß mein Vater Hilda Wilkinson zu Gesicht bekam, so würde ich vermuten, daß er sie hörte, bevor er sie sah sie war eine laute Frau (vor allem, wenn sie einen Drink in der Hand hatte), und in ihrer Stimme lag ein rauher Unterton, eine Art Heiserkeit, die manche Männer anscheinend anziehend finden. Ich sehe meinen Vater in der für ihn typischen steifen Haltung im »Dog« auf seinem Stuhl am Kamin sitzen, während Hilda auf der anderen Seite des Raumes im Mittelpunkt einer ausgelassenen Gruppe von Zechern steht. Und dann ertönt dieses Lachen, das sie an sich hat, und zum ersten Mal fällt es ihm auf Ich sehe, wie er zusammenfährt, ich sehe, wie er sich umdreht, ich sehe, wie er die Stirn runzelt, als er versucht auszumachen, wo 28
dieses Geräusch entsprungen ist - aber er kann es nicht lokalisieren, denn das »Dog« ist voll, und er hat seine Brille nicht dabei. Er ist ein viel zu vorsichtiger Mann, um meine Mutter oder irgend jemand sonst merken zu lassen, was in ihm vorgeht, und so ist das Bild, das er sich an jenem Abend von Hilda macht, zusammengesetzt aus der Ausbeute mehrerer verstohlener kurzsichtiger Blicke, die er in ihre Richtung wirft, wenn er an die Theke geht, oder zur Toilette, vielleicht erhascht er, inmitten der Gruppe von Männern, einen Blick auf ihren Hals (der vor Wärme und Alkohol gerötet ist) und auf ihren Hinterkopf, an dem das blonde Haar zu einem nachlässigen Knoten aufgetürmt und festgesteckt ist; oder er sieht, ein wenig später, für einen kurzen Augenblick ihre Hand, deren blasse dicke Finger ein Glas mit süßem Portwein und eine Zigarette halten; oder er entdeckt, daß er, anscheinend in Gedanken versunken, auf den Boden starrt, einen weißen Knöchel und einen Fuß in einem abgestoßenen, schwarzen, hochhackigen Schuh - und die ganze Zeit über hört er, wie diese rauhgetönte Stimme in heiseres Gelächter ausbricht. Als er mit meiner Mutter nach Hause ging und seine genagelten Stiefel auf dem Pflaster der Gasse hallten, sah mein Vater vor seinem inneren Auge immer noch diese fragmentarischen Eindrücke der lachenden Frau im Schankraum des »Dog and Beggar«. Meine Eltern hatten in jener Nacht geschlechtlichen Verkehr, wie jeden Samstagabend, aber ich glaube nicht, daß sie sich wirklich im Hier und jetzt befanden. Meine Mutter hatte den Kopf voll von eigenen Sorgen, und mein Vater dachte immer noch an seine Blondine; und in seiner Phantasie, so denke ich es mir, kopulierte er mit ihr, und nicht mit meiner Mutter. Am nächsten Abend war er wieder im »Dog and Beggar«, und Ratcliff hatte ein bißchen Zeit, einen Unterarm auf die Theke zu stützen, einen kleinen Whiskey mit ihm zu trinken und ein paar Bemerkungen über das Fußballspiel 29
vom Samstag auszutauschen. Während dieser Unterhaltung erspähte mein Vater, hinter dem Kopf des anderen Mannes, im gegenüberliegenden Snug ein großes, gerötetes Gesicht unter einer wirren Masse blonder Haare; und einen Augenblick später hörte er erneut den Klang jener lärmenden Stimme. Ein plötzliches Aufflammen von heißer Begierde in seinem Inneren, und er verlor alles Interesse an dem, was der Wirt sagte. »Kundschaft, Ernie«, murmelte er und deutete auf das Snug, und Ratcliff sah über seine Schulter nach hinten. Mit leiser Stimme sagte er dann: »Ach, das ist nur dieses fette Flittchen Hilda Wilkinson«, und ging dann ganz gemächlich ans andere Ende der Theke, um die Frau zu bedienen. Hinsichtlich einer Begegnung ereignete sich an diesem Abend wenig genug. Mein Vater blieb im Schankraum und konzentrierte sich darauf, zu sehen und zu hören, was sich im Snug abspielte, während er gleichzeitig versuchte, soviel wie möglich aus Ernie Ratcliff herauszubekommen, aber der Wirt erwies sich als Enttäuschung, weil er an diesem Abend anscheinend über nichts anderes als Fußball reden wollte. Einmal sah mein Vater eine andere Frau an die Theke kommen, die ebenfalls zu der Gruppe gehörte, die Hilda am Abend zuvor umgeben hatte, eine kleine Frau mit Hut, die leere Gläser über die Theke schob und mit ruhiger, fast männlicher Stimme eine Flasche Dunkelbier und einen süßen Portwein verlangte. Er ging erst, als das Lokal geschlossen wurde. Die Nacht war kühl, und es hatte angefangen, leise zu regnen. Er blieb auf dem Bürgersteig stehen, die Mütze tief in die Stirn gezogen, und drehte sich eine Zigarette. Ein plötzlicher Tümpel aus gelblichem Licht ein paar Meter weiter, an der Ecke, verriet ihm, daß die Tür des Snugs geöffnet worden war, und als er den Kopf hob, sah er, daß Hilda Wilkinson und ihre Freundin herausgekommen waren. Einen kurzen Augenblick sah sie ihn direkt an, und er erwiderte ihren 30
Blick aus den Augenwinkeln, die Zunge an der Kante des Zigarettenpapiers. Zum ersten Mal sah er sie deutlich - und was für eine prachtvolle Frau sie war, eine temperamentvolle Frau, vollbusig und hellhäutig, eine Yacht von einer Frau! Während der räudige Pelzmantel um ihren Körper flatterte und der Regen auf ihren ungeschützten Kopf hinunterrieselte, sah sie, immer noch umrahmt vom Licht, das aus der Kneipe fiel, meinem Vater direkt in die Augen, das große Kinn vorgereckt, und, großer Gott, wie sehr er sie plötzlich wollte, das wußte er mit größerer Gewißheit, als er je zuvor in seinem Leben irgend etwas gewußt hatte! Dann fiel die Tür zu, der Lichtschein verschwand, und die beiden Frauen hasteten durch die Nacht und den Regen davon. Ich klappte mein Heft zu, beugte mich auf meinem Stuhl vor und schob es unter das Linoleum, an der Stelle, an der es sich an der Fußleiste vom Boden gelöst hatte. Ich war wie ausgelaugt von meinen Bemühungen um Erinnerung und Mutmaßung. Es war spät, im Haus war alles still und dunkel, sogar auf dem Dachboden über mir war es still. Ich legte mich auf mein Bett, auf die dünnen Decken, ohne mich auszuziehen. Ich rauchte und starrte die Lampe an, die kaum merklich an ihrem Kabel hin und her pendelte. Die Stille um mich herum schien immer intensiver zu werden. Ich starrte die Decke an und vertiefte mich allmählich in den Anblick der Glühbirne, die ein glühender Faden im Inneren einer zerbrechlichen Hülle aus dünnem, grauem, sprödem Glas war. Mehrere Minuten starrte ich sie an, ohne daß es in meinem erschöpften Hirn ein anderes Bild gegeben hätte als das der Glühbirne, die inzwischen angefangen hatte, mich anzuknistern; und dann bemerkte ich den Geruch von Gas. Er war sehr schwach, so schwach, daß ich mehrere Minuten lang dachte, ich hätte ihn mir nur eingebildet. Aber dann roch ich ihn wieder. Ich hob den Kopf vom Kissen und sah mich um. Es gibt einen Anschluß in meiner Wand, an dem früher einmal eine Gaslampe hing, 31
und im Kamin steht ein gasbetriebenes Heizgerät, das wie ein Wandschirm aussieht und ebenfalls schon seit Jahren nicht mehr angeschlossen ist. Ich stand auf, zog den Stuhl quer durchs Zimmer und kletterte darauf, um an der toten Leitung an der Wand zu schnuppern. Nichts. Ich ließ mich auf Hände und Knie nieder und hielt die Nase an das Heizgerät. Es war schwer zu sagen, was da war, es war so unbestimmt, daß ich im einen Augenblick dachte, es sei hier im Zimmer, und im nächsten davon überzeugt war, daß es nur die Erinnerung an einen Geruch war, eine Erinnerung, die irgendeine obskure Kette von Assoziationen in der Folge meines Tagebuchschreibens ausgelöst hatte. Es gab jedoch noch eine dritte Möglichkeit, aber es dauerte mehrere Minuten, bis sie mir bewußt wurde: daß der Geruch von mir ausging, von meinem eigenen Körper. Das war ein Schock. Ich richtete mich auf und versuchte, mich selbst zu riechen. Nichts. Ich kam taumelnd hoch, hielt mich am Fußende des Bettes fest und fing an, mein Hemd und meine Hose zu öffnen, wobei ich in meiner Hast kaum mit den Knöpfen zurechtkam. War er da, der Geruch? Wieder diese gräßliche Ungewißheit - im einen Augenblick glaubte ich, ihn aufgespürt zu haben, dann war er wieder fort. Ich setzte mich auf mein Bett, die Arme um die Schienbeine geschlungen, die Stirn auf den Knien. Hatte ich es tatsächlich an mir? War da tatsächlich Gas? Sickerte es aus meinem Schoß? Ich hob den Kopf und drehte ihn hilflos hin und her. Gas aus meinem Schoß? Und dann plötzlich bemerkte ich das Geräusch auf dem Dachboden über meinem Kopf, gedämpftes Lachen gefolgt von einer Art Poltern - dann war es wieder still. In jener Nacht fand ich nur wenig Schlaf, und das Licht blieb die ganze Zeit an. Ich versuchte, mir die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen, aber sie wollte nicht weggehen, eine schreckliche nagende Ungewißheit blieb zurück. Beim Frühstück am nächsten Morgen fühlte ich mich ganz be32
sonders unbehaglich und unsicher, denn ich hatte das Gefühl, daß sie mich vernichten konnten, jeder von ihnen, mit nichts weiter als einem Blick; ich kam mir vor wie eine Glühbirne. Erst als ich den Kanal erreicht hatte, kehrte so etwas wie Normalität zurück, und als ich mir mit zitternden Fingern eine Zigarette drehte und die Minuten an jenem einsamen Ort an mir vorüberglitten, fingen die Ereignisse der Nacht an, mir wie ein Alptraum im Zustand des Wachens vorzukommen; und nach einer Weile gelang es mir, ihn abzuschütteln. Aber Gas - wieso Gas? Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Hatte es etwas mit dem Gaswerk auf der anderen Seite des Kanals zu tun? In Kanada gibt es keine Gaswerke, und als ich die drei großen Kuppeln hinter der Fabrik wiedergesehen hatte, war es das erste Mal in zwei Jahrzehnten, daß ich etwas Derartiges zu Gesicht bekam, obwohl es nur die Konstruktion ist, die mich beunruhigt, nichts anderes, die Träger bestehen aus Tausenden von stählernen Modulen, und alle vier Fassaden eines jeden Moduls sind ein Gerüst mit diagonalen Querverstrebungen; und zu der gigantischen Höhe übereinander gestapelt, wie es nun einmal der Fall ist, wiederholen sie dieses Zickzackmuster fast bis ins Unendliche, und wenn ich sie zu lange ansehe, gehe ich völlig in diesem Muster auf, und die Wirkung ist gräßlich schwindelerregend - albern, ich weiß, aber die Empfindung ist nichtsdestoweniger real. Ist das der Grund dafür, daß ich in der letzten Nacht diese bizarren Empfindungen hatte? Es gelang mir nicht, den Zusammen hang herzustellen. Ich ging langsam durch die nassen, leeren Straßen nach Hause. Am frühen Nachmittag hatte es angefangen zu regnen (ich war nicht zum Mittagessen nach Hause gegangen), und das Geniesel hielt jetzt schon seit mehreren Stunden an. Ich war völlig durchnäßt, aber das machte mir 33
nichts, es fühlte sich reinigend an, und nach den eigentümlich krankhaften Ereignissen der vergangenen Nacht warr mir dieses Gefühl sehr willkommen. Und so ging ich weiter, während der nasse Tag sich zur Dämmerung verdichtete, vorbei an einer langen Reihe schmutziger Backsteinbögen, einem rauchgeschwärzten Viadukt, der die Eisenbahnlinie trägt, die quer über die Straßen des East Ends schneidet. Viele der Bögen waren zugemauert oder mit Wellblech verrammelt, und dahinter ging man auf Schrottplätzen und in Autowerkstätten verstohlenen Geschäften nach. Aus einer von ihnen tauchte plötzlich ein buckliger Mann in einem alten klapprigen Rollstuhl auf und verschwand holpernd um die Ecke, und ich folgte ihm unter den Bogen, und als ich auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam, sah ich, im Osten, schon wieder das Gaswerk, dessen rostige dreikuppelige Masse vom Regen zu einem dunklen Rötlichbraun gefleckt und gestreift wurde. Ich schlich mich ins Haus zurück und ging direkt hinauf in mein Zimmer, wo ich erst einmal eine rauchen wollte, denn ich hatte den ganzen Tag über sehr wenig geraucht. Ich stand an meinem Tisch, während ich den Tabak und die Blättchen hervorsuchte, und sah durch das Fenster auf den armseligen Platz unter mir, in dessen Mitte sich ein kleiner Park befindet, mit einem Zaun aus spitz zulaufenden Eisenstäben drumherum, ein paar Büschen, einem oder zwei Bäumen, einem kleinen Teich und einem kleinen Stück Rasen, auf dem die Kinder spielen. Es war fast dunkel. Am Tor des Parks, das seit halb sechs abgeschlossen war, stand eine einzelne Laterne, ein schwarzer eiserner Mast, der aus einem gerieften Sockel aufragte und oben einen kurzen Querbalken mit einem Knauf in der Mitte hatte. Auf diesem ruhte der gläserne Kasten, der den hellen Lichtkreis beherbergte und einen diesigen gelbgoldenen Schein verbreitete. Nieselregen trieb wie Sprenkel, wie Andeutungen, wie Einflüsterungen an der Laterne vorbei. Meine cleveren 34
Finger zupften den Tabak und verteilten ihn auf dem Papier, dann drehte ich und leckte den Rand. Ich habe ein kleines, gedrungenes Blechfeuerzeug mit aufklappbarem Deckel- damit gab ich mir Feuer, und dann rauchte ich. Die Nacht brach herein, und der gelbliche Schein der Straßenlampe wurde in der zunehmenden Dunkelheit immer intensiver und heller, und immer noch trieb der Regen als feiner Dunst schräg durch den Lichtkreis hindurch, wie Erinnerungen, die durch einen verlorenen und umnachteten Geist irren. Ich setzte mich an den Tisch und bückte mich, um mein Heft hervorzuholen. Der folgende Sonntag war hell und klar heraufgedämmert, und schon vor acht Uhr hörte ich meinen Vater in der Küche unten den Kessel füllen und das Gas anzünden. Ich hörte das Klappern, mit dem er die große schwarze Bratpfanne auf den Herd stellte, ich hörte, wie der Brotkasten geöffnet wurde, um die beiden Kanten des Brotlaibs von gestern hervorzuholen. Dann Stille - der Duft von ausgelassenem Speck treibt die Treppe herauf -, er sitzt am Tisch und trinkt seinen Tee aus einer abgestoßenen weißen Emailletasse und tunkt das Brot in das heiße Fett. Das Scharren von Stuhlbeinen - er schnürt seine Stiefel zu -, dann durch die Hintertür, und von meinem Schlafzimmerfenster aus beobachte ich, wie er über den Hof zu seinem Fahrrad ging. Es muß irgendwann an diesem Nachmittag gewesen sein, daß Hilda Wilkinson über die Brücke am Omdurman Close über die Schienen kam und über den Pfad zu den Parzellen ging. Mein Vater war in seinem Schuppen und sortierte einen Korb Kartoffeln, die er an diesem Morgen ausgegraben hatte. Dieser Schuppen - was für Schauder mir immer noch über den Rücken laufen, wenn ich nur an ihn denke! In seinem Inneren war es sehr dunkel, und es roch intensiv nach Erde. Es gab Stapel von Kisten und Säcke und Körbe, und natürlich die Gartengeräte, die Spaten und Re35
chen und Hacken und so weiter, und verschnürte Samenpäckchen auf den Regalen, und oben in den Schatten, zwischen den Dachbalken, die Spinnweben. Manchmal machte ich die Tür hinter mir zu und beobachtete sie ganze Stunden lang, und im tiefen Dunkel des Schuppens - er hatte kein Fenster, und das bißchen Licht, das es gab, zwängte sich durch die Risse und Ritzen zwischen den Brettern - sah ich schließlich eines der großen Netze erzittern, wenn dessen Herstellerin eilig an einem der zarten Fäden entlanghuschte, um sich ihre Mahlzeit zu holen. Ein anderes Mal stieß ich vielleicht die Tür auf und ließ das Tageslicht für einen kurzen Augenblick in den Schuppen fluten, und dann schimmerten die Netze im Licht der Sonne auf, während ich wie gebannt ihre duftige Zartheit und die Perfektion ihres Aufbaus bewunderte. Aber irgendwie hatte ich nie genügend Zeit, sie wirklich ausgiebig bei Licht zu betrachten. Im Schuppen gab es auch einen zerschlissenen Roßhaarsessel, aus dem die Polsterung herausquoll, und daneben eine Holzkiste, auf der eine Kerze in einem Klecks aus Wachs steckte; und schließlich - und wo dieses Ding herstammte, kann ich beim besten Willen nicht sagen - gab es auf einem Regal an der hinteren Wand ein ausgestopftes Frettchen in einem staubigen Glaskasten. Es fauchte, es bleckte seine kleinen, weißen, spitzen Zähne, es hatte eine Vorderpfote angehoben, und sein glatter, geschmeidiger Körper war wie in einer Haltung plötzlicher Wachsamkeit erstarrt, und obwohl eines seiner gläsemen Augen fehlte und die Füllung aus der Höhle herausquoll, glitzerte das andere im Dunkel des Schuppens grell auf und jagte mir, wenn ich es zu lange ansah, jedesmal Angst ein, bösartig wie die Kreatur nun einmal war. Wie ich bereits sagte, war mein Vater dabei, Kartoffeln zu sortieren, um sie mit nach Hause in die Kitchener Street zu nehmen, und er hörte nicht, daß Hilda über den Pfad kam. Es war ein prächtiger Tag, jener Sonntag, aber kalt. Plötz36
lich hob er den Kopf und sah sie, vom Sonnenlicht umflutet, in der Tür stehen, die Haare zerzaust, mit vor Anstrengung wogender Brust. Er stand dort, im Dunkeln, über seinen Korb gebeugt, und wandte der Frau, mit der er es in seiner Phantasie inzwischen mehr als einmal getrieben hatte, schuldbewußt den Kopf zu. Sie sah sich mit absoluter Gelassenheit im Schuppen um. Mein Vater richtete sich langsam auf, ohne zu merken, daß er immer noch in jeder Hand eine Kartoffel hielt, und das, obwohl er sie so fest umklammerte, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Hildas Hände waren tief in den Taschen ihres dicken Pelzmantels vergraben. »Mister Cleg?« fragte sie mit rauher Stimme, wobei sie das Kinn hob und die Augenbrauen hochzog. »Ja«, sagte mein Vater, der seine Stimme endlich wiederfand. »Horace Cleg?« fragte sie. »Der Klempner?« »Richtig«, sagte mein Vater, und ließ die Kartoffeln in den Korb fallen. Allmählich fand er seine Fassung wieder. »Ich hätte da ein kleines Problem mit meinen Leitungen«, sagte Hilda. »Und habe mir sagen lassen, Sie könnten mir vielleicht helfen. « Richtig fing das Verhältnis meines Vaters mit Hilda Wilkinson erst an, als er zu ihr fuhr, um ihre Wasserleitungen zu reparieren. Sie hatte sich nicht lange auf seiner Parzelle aufgehalten; die beiden hatten einen Termin ausgemacht und sich dabei durchweg wie zwei ganz erwachsene Menschen benommen, sachlich und geschäftsmäßig, und dann war sie, ohne ein einziges Glucksen ihres heiseren Gelächters, ohne ein einziges freches Heben dieses großen rosigen Kinns, wieder gegangen, von einer Seite auf die andere schlingernd und schwankend, als sie vorsichtig den Gartenpfad entlangbalancierte. Mein Vater hatte ihr von der Tür des Schuppens nachgesehen, war dann wieder hineingegangen und hatte sich in den Sessel gesetzt. Er hatte eine Kartoffel aus dem Korb genommen, der neben ihm stand, 37
sie langsam in den Händen hin und her gedreht und über das nachgedacht, was gerade vorgefallen war. Hilda wohnte direkt über einem Tabakladen in der Spleen Street, die auf der dem Kanal entfernten Seite am Gaswerk entlang verläuft; sie teilte sich die Wohnung mit einer Frau namens Nora Temple, der Frau mit dem Hut, in deren Begleitung mein Vater sie im »Dog and Beggar« gesehen hatte. Ein paar Tage später können wir sehen, wie er sein Fahrrad an den Laternenmast vor dem Tabakladen lehnt und mit einem Blick auf die hoch aufragenden Kuppeln, die ein kleines Meer aus Schatten über die Geschäfte und Häuser der Spleen Street werfen, den Tabakladen betritt, ihn durchquert und eine dunkle, steile, enge Treppe hinaufsteigt. Etwa auf halber Höhe ereignete sich etwas Merkwürdiges. Von oben war auf einmal das Geräusch schwerer Schritte zu hören, die die Treppe herunterkamen; dann kam ein fetter Mann in einem schweren Mantel mit hochgeklapptem Kragen die Treppe heruntergepoltert und drängte sich ohne ein Wort der Entschuldigung so rücksichtslos an meinem Vater vorbei, daß dieser gegen das Geländer gepreßt wurde und die Treppe fast wieder hinuntergefallen wäre. Einen Augenblick später konnte man hören, wie der Mann durch den Laden und hinaus auf die Straße stampfte, während die kleine Klingel über der Ladentür kläglich hinter ihm herklimperte. Mein Vater war erstaunt und verärgert; stirnrunzelnd setzte er seinen Aufstieg fort. Auf sein Klopfen hin wurde die Tür der Wohnung einen Spalt weit geöffnet, und durch den Spalt spähte Nora, die ihn feindselig und mißtrauisch musterte, bis er sagte, er sei der Klempner. Dann folgte wahrscheinlich ein ziemliches Getue um das Öffnen der Tür, da Nora verhindern wollte, daß die Katzen fortliefen, denn sie hatten Dutzende von den Biestern, räudige Viecher, die ständig maunzten und Haare verloren. Also zwängte mein Vater sich seitlich durch den Türspalt und folgte Nora, die auf derben Schuhen 38
durch einen kurzen, dunklen Flur stapfte, der durch die vielen dicken Mäntel, die an Haken und Nägeln an der Wand hingen, noch beengter wirkte, als er es hätte sein müssen. Zusätzlich wurde sein Vorankommen durch die Katzen behindert, die ihm unaufhörlich um die Knöchel strichen. Am Ende des Flurs stieß Nora die Tür zu einem Badezimmer auf. »Hier ist es«, sagte sie. Aber bevor mein Vater hineingehen konnte, sagte eine vertraute Stimme: »Ist das der Klempner?« Er drehte sich um. Sie stand in der Tür ihres Schlafzimmers, in einem Morgenmantel aus irgendeinem seidigen Material, der tief ausgeschnitten und fest mit einem Gürtel zugezerrt war. Ihr Haar war frisch gebürstet, und sie rauchte eine Zigarette. Ohne die hochhackigen Schuhe war sie ein paar Zentimeter kleiner als mein Vater, und allein diese Tatsache löste in ihm ein heftiges Aufflammen der inzwischen schon vertrauten Hitze aus. »Tag«, sagte er, während er steif vor ihr stehenblieb, die Werkzeugtasche in der einen Hand, die Mütze in der anderen. Sie lehnte an der Tür- ihr Zimmer war, wie mein Vater sah, mit Möbeln vollgestopft. Das Bett, ungemacht, war riesig, das Kopfteil eine dunkle Monstrosität aus lackiertem Holz, eingezwängt zwischen zwei wuchtigen hölzernen Pfosten mit hölzernen Kugeln obendrauf. Am Fußende des Bettes stand ein Frisiertisch, der nur durch einen schmalen Gang vom Bett getrennt war und dessen großer Spiegel mit seinen zwei Flügeln fast das Fenster verdeckte, das mit einem Stück schäbiger Spitze verhängt war und durch das man die hoch anfragenden Massen des Gaswerks erkennen konnte; auf dem Frisiertisch herrschte ein wüstes Durcheinander von Kosmetikartikeln und Bürsten und Haarnadeln und Klammern und Gummibändern. Auf der einen Seite des Betts, eingekeilt zwischen ihm und der Wand, stand ein kleiner Tisch, ebenfalls mit Frauenkram übersät, und aus den Tiefen dieses Durcheinanders ragten eine halbleere Flasche Port und 39
zwei ungespülte Gläser. Auf der anderen Seite stand ein Stuhl, der so mit Röcken und Blusen und Strümpfen und Unterwäsche überhäuft war, daß er mehr einem Berg aus Stoff glich, einem Hügel aus Seide und Baumwolle, als sonst etwas. Dann fing das Hämmern an: eine plötzliche Serie harter metallischer Klänge in den Wasserleitungen. »Hören Sie? « sagte Hilda. »Das haben wir ungefähr dreimal die Stunde. « »Wasserhammer«, sagte mein Vater auf seine knappe Art. Hilda veränderte ihre Haltung an der Tür und blies Rauch an die Decke. »So nennt man das also«, sagte sie. »Mein Vater nickte. »Wahrscheinlich eine Verstopfung in der Lüftungsleitung. Sollte mich jedenfalls nicht wundern.« Sie sah ihm in die Augen. »Jedenfalls macht es mich noch wahnsinnig«, sagte sie. »Können Sie es reparieren, Klempner?« Mein Vater schnüffelte und setzte sein bedächtiges, fachmännisches Gesicht auf, wie um anzudeuten, daß es sich hier um eine Angelegenheit handelte, die Feingefühl und Takt erforderte. »Dazu müßte ich zuerst das System überprüfen«, sagte er. »Sie wohnen hier in der Nähe, nicht wahr? « fragte Hilda. »Kitchener Street.« »Habe ich es mir doch gedacht.« Sie betrachtete ihre Fingernägel. »Ich habe nämlich gleich gedacht, ich hätte Sie schon mal unten im >Dog< gesehen.« Plötzlich gähnte sie, hob die Arme hoch über den Kopf und faltete sie dann mit einem trägen Lächeln wieder vor der Brust. »Was ist? « sagte sie dann. »Wollen Sie den ganzen Tag hier herumstehen? Ich habe gedacht, Sie wären hier, um meine Leitungen zu reparieren. « Mein Vater sah, daß ihre Haut von einem viel blasseren Rosa war, als er ursprünglich angenommen hatte, eher weiß, fast weiß, und ihr Morgenmantel ließ den ganzen 40
oberen Teil ihres Busens frei. Außerdem fiel ihm zum ersten Mal auf, daß ihr Kinn wirklich abnorm weit vorragte, aber ihre Haut war so klar, und ihr Haar so prachtvoll weizenblond (wenn auch schwarz an den Wurzeln), daß einem das eckige, stumpfe, kantige Ding nach dem ersten oder zweiten Augenblick einfach nicht mehr auffiel, ebensowenig wie der falsche Biß ihrer überstehenden unteren Zähne. »Eine Verstopfung«, sagte mein Vater, immer noch in der Tür, immer noch die Mütze in der einen und die Werkzeugtasche in der anderen Hand. Und dann, als Hilda sich bückte, um eine Katze auf den Arm zu nehmen, die um ihre Knöchel schnurrte, sah er sie: gelang ihm ein kurzer Blick, ein deutlicher Blick, wenn auch nur für einen Moment, als der Morgenmantel nach vorn fiel, auf ihre Brüste: auf vollkommene Weise eingerahmt vom seidigen Material des Morgenmantels, zwei weiße glockenförmige Brüste mit kleinen rosigen Warzen. Er riß die Augen von ihnen los. »Luft in den Leitungen«, sagte er - und in diesem Augenblick, ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte, hörte das Hämmern wieder auf. »Es stinkt«, sagte Hilda, während sie gedankenverloren die Katze streichelte. »Riechen Sie das denn nicht?« »Das kommt von der Toilette«, sagte mein Vater. Hilda lächelte. Wegen ihres Unterkiefers war es ein seltsames kleines Lächeln, mehr ein kurzer Schlitz mit winzigen Öffnungen zu beiden Seiten, und mein Vater war seltsam gerührt. »Das will ich doch hoffen«, sagte sie. »Eine Schande, in was für einem Zustand die Rohre in diesem Haus sind.« Immer noch lächelnd ließ sie ihre Augen träge über den wortkargen Mann wandern, der steif und starr vor ihrer Schlafzimmertür stand. »Also, was ist? Wollen Sie den ganzen Tag hier stehenbleiben?« wiederholte sie. »Oder reparieren Sie jetzt meine Leitungen?« Wie nicht anders erwartet stellte mein Vater bald fest, daß in der Toilettenschüssel kein Wasser stand und es von 41
daher keinen Verschluß, genauer, kein Siegel gab, das das Aufsteigen von Gasen aus der Kanalisation verhindert hätte. In der Folge eines Druckabfalls, der genau wie die Wasserstöße durch eine Verstopfung oder Blockierung in einer der Lüftungsleitungen verursacht worden war, war eine Art Rückstau eingetreten. Seine Aufgabe war es, die Verstopfung zu lokalisieren und zu beheben, und sein erster Gedanke war, daß es sich um nistende Mäuse handeln mußte: Sie verirrten sich oft in die Leitungssysteme dieser alten Häuser. Er würde das System prüfen, indem er alle Rohre absperrte und dann das Wasser andrehte; eine Überprüfung der diversen Ventile und Hähne würde ihn dann zur Quelle der Fehlfunktion führen. Ich legte meinen Bleistift hin. Ich befand mich tief in unbekanntem Territorium. Ich lernte Hilda Wilkinson erst später kennen, und da war ihre Beziehung zu meinem Vater schon weit über diese ersten formellen Kontakte hinaus fortgeschritten. Ich bewege mich also im Dunkeln, ohne mich an irgend etwas halten zu können, außer an meine Intuition. Ich nehme an, daß mein Vater Hildas Probleme mit Rückstau und Wasserstößen behob; schließlich sind das ganz alltägliche Aufgaben für einen kompetenten Klempner, obwohl ich nicht sagen kann, ob es sich tatsächlich um nistende Mäuse handelte. Als ich noch ein kleiner Junge war, sprach mein Vater oft mit mir über seine Arbeit, er zeigte mir seine Werkzeuge, erklärte mir, wozu man sie brauchte, und wenn es im Haus etwas zu tun gab, war ich sein Lehrling, und es war meine Aufgabe, ihm die Lötlampe zu reichen oder den Achter-Schraubenschlüssel oder was auch immer. Seltsamerweise schien es auch mit unserer Toilette draußen auf dem Hof ständig Probleme zu geben; wenn man abzog, stieg das Wasser bis an den Rand der Schüssel und lief manchmal sogar auf den Boden über. Aber 42
es war genau dasselbe wie mit dem Verputz in meinem Schlafzimmer, denn wenn er die Toilette reparierte, funktionierte sie höchstens einen oder zwei Monate, und dann fing alles wieder von vorne an. Ich finde nicht, daß man meiner Mutter einen Vorwurf daraus machen kann, daß sie deswegen an ihm herumnörgelte, schließlich war er Klempner, und wenn das Klo überlief, war sie es, die die Schweinerei aufwischen mußte. Und wie sie schuftete, meine Mutter! Ich weiß noch gut, daß ich oft aus der Schule nach Hause kam und sie dabei fand, wie sie auf den Knien herumrutschte und den Küchenboden schrubbte, einen Eimer mit schmutzigem Wasser neben sich, während sie eine große Bürste mit harten Borsten mit beiden Händen vor sich herschob. Ich wußte, was mit den Händen der Frauen aus der Kitchener Street passierte: Über die Hofmauer hinweg erzählten sie sich oft gegenseitig, daß sie sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten mußten, aber genau das Gegenteil war der Fall: Jahre der Arbeit mit heißem Wasser und grober Seife häuften Schichten von aufgequollenem, gefühllosem Fleisch auf diesen Knochen an, sie wurden zu roten, rohen formlosen Fleischmassen, und wenn meine Mutter am Leben geblieben wäre, wäre dasselbe wahrscheinlich auch mit ihren Händen passiert. Aber sie war noch jung, als das alles geschah, sie hatte die blühende Frische einer jungen Frau noch nicht verloren. Wann fing alles an zu kippen? Wann fing es an zu sterben? Es gab eine Zeit, in der wir glücklich waren; ich nehme an, der Verfall ging allmählich vor sich, eine Auswirkung der Armut und der Monotonie und der düsteren Schäbigkeit jener engen Straßen und Gassen. Auch der Alkohol spielte dabei eine Rolle, und der Charakter meines Vaters, seine angebotene Gemeinheit, die Leblosigkeit in ihm, die mit der Zeit auch auf meine Mutter und mich übergriff, wie eine ansteckende Krankheit. Zwei oder drei Abende später war er im »Dog and Beg43
gar«, als er Hildas laute Stimme im Snug hörte. Er trank sein Bier aus, ging auf die Straße und weiter zur Tür des Snug. Er stieß sie auf; Hilda saß mit drei anderen am Tisch. Sie drehten sich zu ihm um. Hildas Gesicht war gerötet. Als mein Vater in der Tür auftauchte, war sie gerade dabei, ein Glas Portwein an ihre Lippen zu heben. Es blieb auf halbem Weg dorthin hängen, während sie die Augenbrauen hochzog und jenes schwerfällige Lächeln lächelte, das für sie typisch war. Nora saß rechts von ihr; auf der anderen Seite eine dunkelhaarige, nuttig aussehende Frau und ein dünner junger Mann mit langen Haaren. Es war eine trockene, kalte, mondlose Nacht gegen Ende November, und in der plötzlichen Stille, die sich über den kleinen Raum legte, war nur das ferne Rauschen des Verkehrs drei Straßen weiter zu hören, und das gedämpfte Stimmengemurmel aus den anderen Räumen des »Dog«. Hildas Augen huschten von meinem Vater zu den drei anderen, die mit ihr am Tisch saßen. Dann stellte sie ihr Glas ab mein Vater stand immer noch in der Tür -, erhob sich, rauschte durch das Snug und an ihm vorbei auf die Straße. Als mein Vater die Tür hinter sich zufallen ließ, wurde am Tisch leise gelacht. Durch die engen Gassen, die hinter den Häusern verliefen, gingen sie hinunter zum Kanal. Hilda war sehr aufgekratzt. Aber sie hatte seinen Vornamen vergessen. »Horace! « rief sie dann. »Das war schon immer einer von meinen Lieblingsnamen. Ich hatte mal eine Katze, die Horace hieß.« Sie redete über das Wetter. »Ganz schön frisch, was?« sagte sie. »Ich bin froh, daß ich meinen Pelz habe.« Und was ging im Kopf meines Vaters vor? Was glaubte er, was passieren würde? Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen schnellen Blick zu. Sie lief mit zusammengezogenen Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen neben ihm her. »Das mit meinen Leitungen hast du sauber hingekriegt«, sagte sie. »Sie geben kaum noch einen Piep44
ser von sich. Aber stinken tut's immer noch. « Eine Zeitlang unterhielten sie sich über die Klempnerei. Hilda wußte nur sehr wenig darüber und schien beeindruckt von der offensichtlich meisterhaften Art, mit der mein Vater sein Handwerk beherrschte. Sie war eine lebenslustige Frau und hatte meinen Vater bald soweit gebracht, daß er leise vor sich hinlachte. Die meisten Leute, sagte er, fänden die Klempnerei tödlich langweilig. »Das ist doch nicht zu fassen?« rief sie. »Ich jedenfalls nicht, Horace. Ich liebe alles, was damit zu tun hat! « Sie hatten die Brücke erreicht, die am Gaswerk über den Kanal fährte. Hilda zog ihn zu einer schlüpfrigen Steintreppe, die auf ein schmales Kai direkt am Wasser hinunterführte. »Komm mit, Horace«, sagte sie leise, während sie vorsichtig die Stufen hinunterstieg. »Hier geht's lang.« Unten am Kanal waren sie den Blicken eventueller Passanten entzogen. Hilda öffnete ihren Mantel, knöpfte ihre Strickjacke auf und zeigte ihm ihre Brüste. Dann schlang sie einen Arm um seine Taille und rieb mit der anderen Hand über seinen Schoß. Sie grinste. »Na, Horace, wie gefällt dir das?« flüsterte sie. Mit ihren hohen Absätzen war sie genauso groß wie er, aber wahrscheinlich etwas schwerer, um zu fühlen, wie dieser große schwellende Körper sich gegen den seinen preßte, war fast mehr, als der Mann aushalten konnte. Er ließ seine Hände unter den Pelzmantel gleiten, berührte zögernd ihre Brüste und versuchte dann, sie auf den Mund zu küssen, aber sie drehte das Gesicht zur Seite. Sein Penis drängte gegen den Hosenstoff; Hilda flüsterte unaufhörlich auf ihn ein, während sie mit der Handfläche über seinen Penis rieb, dann öffnete sie mit geschickten Fingern die unteren Knöpfe seiner Hose und zog ihn heraus. »Was haben wir denn da?« murmelte sie. Es war ein ungewöhnlich dünner Penis, der Penis meines Vaters, aber hart wie ein Bleistift, und er zuckte. Hilda spuckte in die Hände. »Ooh, Horace«, flüsterte sie. Mit einem halben Dutzend schneller 45
Bewegungen brachte sie ihn zum Höhepunkt und drehte sich schnell zur Seite, als er in den Kanal spritzte. Dann löste sie sich ganz von ihm, stopfte ihre Brüste in ihre Strickjacke zurück und zog zitternd ihren Mantel zu. Mein Vater blieb mit dem Rücken zu ihr am Rand des Kais stehen und urinierte in den Kanal. Er konnte sein Sperma auf dem schwarzen Wasser davontreiben sehen, strähnige Fasern des Zeugs, grau und durchscheinend. »Beeil dich schon, Horace«, sagte Hilda mit klappernden Zähnen. »Mir ist kalt.« Aber mein Vater wollte allein sein; er sagte, er würde noch einen Augenblick bleiben, um eine zu rauchen. »Wie du willst«, antwortete sie unbekümmert. »Dann gehe ich wieder zurück ins > Dog<. « Als mein Vater ein paare Augenblicke später den Kopf der Treppe erreichte, marschierte Hilda schon die Straße entlang. Mit gerunzelter Stirn lehnte er sich an das Geländer der Brücke und tastete nach seinem Tabak. Er sah der pelzbekleideten Gestalt nach, die eine Straßenlampe nach der anderen passierte, umweht von Wolken von dunstigem Atem, während das Klack Klack Klack ihrer Absätze auf dem Pflaster immer leiser wurde, und als sie ganz verschwunden war, stand er immer noch reglos in der kalten Nachtluft auf der Brücke. Es gab eine Zeit, in der wir glücklich waren. Meine Mutter war so still, so geduldig; auch als mein Vater anfing, seine ganze freie Zeit in seinem Garten oder im »Dog« zu verbringen, wurde sie niemals schrill oder bitter, sie verwandelte sich nie in eine keifende Hexe wie die meisten Frauen aus der Kitchener Street; allen Widrigkeiten zum Trotz bewahrte sie sich ihr liebes Wesen. Manchmal saßen wir zusammen in der Küche, an den Abenden, sie und ich, und spielten Phantasiespiele. An der Küchendecke befand sich ein großer Fleck, und das Spiel bestand darin, sich eine Geschichte darüber auszudenken. Meine Geschichten waren immer schrecklich - ich sah dort oben einen mißgestal46
teten Zwerg und schilderte meiner Mutter in gräßlichen Einzelheiten die furchtbaren Dinge, die dieses Wesen in der Nacht tat, wenn alle guten Menschen schliefen. Meine Mutter, deren Nadeln beim Stricken friedlich klapperten, bekam Angst, wenn ich so redete. »Was für Ideen du immer hast, Spider!« sagte sie dann. »Wie kommst du nur darauf, dir so etwas auszudenken! « Wenn sie dann an der Reihe war, ließ sie ihre Nadeln sinken und erzählte mir, der Fleck an der Decke sei ein Heuhaufen oder ein kleines Cottage oder ein vollbeladener Erntewagen - sie war in Essex aufgewachsen und hatte ihre Liebe für das Leben auf dem Land nie verloren. Und während sie sprach, und das Klappern ihrer Nadeln wieder einsetzte, breitete sich ein ruhiger, fast träumerischer Ausdruck über ihr Gesicht und machte ihre Züge weich, und die dunklen Schrecken meiner eigenen Geschichte verblaßten, wurden ersetzt durch eine Stimmung von fast lyrischer Zartheit, durch Bilder von Feldern und Farmen, von Vogelgezwitscher im Sommer, von neuen Spinnweben, die bei Sonnenaufgang in den Ulmen glitzerten. Sie erzählte mir oft von den Spinnen, und wie sie ihre Netze in der Stille der Nacht webten, und wie sie selbst, ganz früh am Morgen, über die Felder ging und die Netze, die die Spinnen in der Nacht gewebt hatten, wie Wolken aus feinem Musselin in den Zweigen hängen sah, und wenn sie dann noch näher heranging, verwandelten sie sich in glitzernde Wagenräder, jedes davon mit einer reglosen Spinne im Zentrum. Aber sie war nicht gekommen, um sich die Netze anzusehen, sagte sie, denn ganz unten, in den untersten Zweigen der Sträucher - man mußte nur wissen, wo man suchen mußte -, konnte man kleine seidene Beutel von der Größe eines Taubeneis finden, die an seidenen Fäden von den Zweigen hingen. Und im Inneren des Beutels, sagte sie, befand sich eine winzige Kugel aus kleinen, zusammengeklebten, orangefarbenen Perlen, nicht größer als eine Erbse - und das waren die Eier der Spinne. Sie war die 47
ganze Nacht über fleißig gewesen, hatte aus ihren eigenen Eingeweiden die Seide hervorgesponnen, die sie brauchte, um den Eierbeutel zu weben, und die Hüllen, die ihn umschlossen, damit er schön warm und trocken blieb. Und sieh nur, Spider, sieh nur, wie absolut vollkommen ihre Arbeit ist! Kein einziger Faden, der nicht an seinem Platz wäre! Und dann sah ich vor meinem inneren Auge den kleinen Eierbeutel an seinem Faden baumeln, und ja, er war perfekt, eine winzige Zwiebel aus gepreßtem weißem Satin, und darüber breite Bänder aus schwarzer und brauner Seide, in spindelförmigen Mustern, in kunstvollen, wabernden Linien. Ich stellte mir vor, wie es wäre, den Beutel aufzuschneiden und in seinem Inneren die dicke wattierte Polsterung zu finden, und darunter den zarten seidenen Beutel, in dem die winzigen Eier lagen. Aber es war das Ende der Geschichte, das ich am meisten liebte: Was wurde dann aus der Spinne, fragte ich. Und meine Mutter seufzte. Wenn sie fertig ist (sagte sie), kriecht sie einfach in ein Loch, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Denn ihre Arbeit ist getan, sie hat keine Seide mehr, sie ist innerlich ganz ausgetrocknet und leer. Sie kriecht einfach davon und stirbt. Die Strickarbeit wurde wieder aufgenommen. »Stell den Kessel auf, Spider«, sagte sie dann. »Und mach uns eine schöne Tasse Tee. « Wenn mein Vater nach Hause kam, lag ich immer schon im Bett. Manchmal hörte ich nichts; dann wußte ich, daß er mürrisch und schweigsam war, unempfänglich für ihre Worte und ihre Sorgen. Etwas später hörte ich ihn dann mit schweren Schritten die Treppe heraufkommen. Er überließ es ihr, das Licht auszuschalten und die Türen abzuschließen. An anderen Abenden kam er voller Zorn nach Hause, und dann hörte ich seine erhobene Stimme, den scharfen Ton seines Sarkasmus, und die leise ruhige Stimme meiner Mutter, die versuchte, seinen Zorn zu besänftigen und seinem vom Alkohol gesteigerten Groll gegen die Welt und 48
gegen sie selbst die Schärfe zu nehmen. Oft brachte er sie zum Weinen, so bitter und so voller Haß beschimpfte er sie, und ich weiß noch, daß sie einmal aus der Küche und durch den Flur und die Treppe hinauf in mein Zimmer gelaufen kam, wo sie sich auf die Kante meines Bettes fallen ließ und meine Hand nahm und mehrere Minuten in ein Taschentuch schluchzte, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Es tut mir leid, Spider«, flüsterte sie. »Es ist nur, daß dein Vater mich manchmal so traurig macht. Aber es ist allein meine Schuld - schlaf jetzt wieder, es ist gut, es ist jetzt wieder gut. « Und sie beugte sich zu mir, um mich auf die Stirn zu küssen, und ich spürte die Feuchtigkeit der Tränen auf ihrem Gesicht. Oh, wie ich ihn in diesem Augenblick haßte! In diesem Augenblick hätte ich ihn umbringen können, hätte es in meiner Macht gelegen - er war gemein und niederträchtig, dieser Mann, er war innerlich tot, verdorben und verfault und tot. Ich fühlte mich besser, viel besser, als ich mein Heft zugeklappt und unter das Linoleum geschoben hatte. Ich glaube, es kam davon, daß ich von meiner Mutter gesprochen hatte - oder zumindest von den Stunden, die ich allein mit ihr verbrachte. Es war anders, wenn mein Vater dabei war; wenn mein Vater dabei war, gab es Spannungen, und ein grässliches, ungemütliches Schweigen machte sich breit, und weder sie noch ich konnten so sein, wie wir wirklich waren. Ich schob meinen Stuhl zurück, stand auf und reckte mich. Ich fühlte mich wirklich bemerkenswert gut. Ich legte die Hände auf die Tischplatte und sah aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, aber in den nackten Zweigen der Bäume im Park hingen immer noch die Tropfen und glitzerten im Licht der Straßenlampe, bevor sie auf die Herbstblätter hinuntertröpfelten, die auf dem Boden lagen. Eine Gestalt mit einem Regenschirm hastete über den Bürgersteig, und irgendwo bellte ein Hund. Der Mond war eine schmale Sichel aus gelbem Licht, und ich stellte mir 49
vor, wie dieses Licht sich auf den dunklen Wellen des Flusses kräuselte, der etwa eine Meile weiter südlich vorbeiströmte. Ich wußte, daß ich in dieser Nacht gut schlafen würde, und daß ich nicht noch einmal von dieser dummen Geschichte mit dem Gasgeruch belästigt werden würde. Ich glaube, es ist das Haus, das an dieser ganzen Sache schuld ist - ich bin ein empfindsamer Mensch, übernervös, und Mrs. Wilkinsons Etablissement ist nichts für mich und meinesgleichen. Morgen oder übermorgen würde ich ihr meine Kündigung übergeben und mir eine freundlichere Unterkunft suchen. Vielleicht würde ich sogar ganz aus dem East End fortziehen - die Erinnerungen, die es in mir weckt, sind irgendwie so unbarmherzig und so scheußlich, zum größten Teil wenigstens; wenn ich woanders wäre, könnte ich vielleicht mit größerer Distanz über die Vergangenheit nachdenken? Am nächsten Morgen war ich schon früh auf und immer noch ausgezeichneter Dinge. Der Tag war düster und naß, und das kam mir sehr gelegen, denn ich hatte schon immer eine Vorliebe für Regen und Nebel und Dunkelheit. Ich saß an meinem Tisch, bis ich die Frühstücksklingel hörte, und rauchte und starrte die Wolkendecke an und dachte darüber nach, was ich zu Mrs. Wilkinson sagen würde. An diesem Morgen war ich als einer der ersten in der Küche; ich saß am Tisch und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum, und als die toten Seelen eine nach der anderen hereinkamen, begrüßte ich sie mit lauter Stimme. Kaum eine Reaktion, was denn auch sonst; sie kamen herein, schlurfend und grunzend, und machten sich mit gesenkten Köpfen über ihren Haferbrei her. Ich konnte nichts essen- statt dessen trank ich Tee, eine Tasse nach der anderen, mit viel Zucker und ohne Milch. Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch, ich tippte mit den Füßen auf den Boden, ich lächelte der Welt zu. Ich verkündete den toten Seelen, daß ich sie in Kürze verlassen würde. Auch dar50
auf kam keine Reaktion, obwohl ein paar fischartige Augen sich tatsächlich von den Schüsseln lösten und Blicke in meine Richtung entsandten. ja, erzählte ich ihnen, schon bald würden sie ihren Mr. Cleg das letzte Mal gesehen haben, ich würde mir nämlich eine andere Bleibe suchen (wo genau, darüber gab ich keine Auskunft). ja, sagte ich, ich würde mir eine Wohnung nehmen, mein Verbleib in der Dachkammer - ich deutete zur Decke - war ausschließlich vorübergehender Natur, eine Übergangslösung, bis ich festen Boden unter den Füßen gefunden hatte. In Kanada, erzählte ich ihnen, war ich an gewisse Annehmlichkeiten gewöhnt gewesen, einen Billardtisch, eine Bibliothek - wie konnte man nur in einem Haus leben, in dem es keine Bibliothek gab? Ich trank noch eine Tasse Tee; ich ließ mich ausführlicher über mein Thema aus. Aber kaum daß ich einigermaßen in Fahrt war, sah ich, wie sie sich zur Tür umdrehten. Und dort stand Mrs. Wilkinson, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich verstummte. »Sprechen Sie ruhig weiter, Mr. Cleg«, sagte sie. »Das alles ist sehr aufschlußreich.« Ihr Sarkasmus war wie Salzsäure. »Mr. Cleg«, sagte sie, wobei sie noch einen Schritt näher kam. Ich drehte mich auf meinem Stuhl zur Seite, mit dem Gesicht zur Wand, und schlug die Beine übereinander. Ich fing an, mit meinem Tabak herumzuhantieren. »Mr. Cleg«, sagte sie. »Ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, als Ihnen einen Billardtisch und eine Bibliothek zur Verfügung stellen zu können, aber das hier ist kein reiches Haus, und deshalb muß jeder von uns sich selbst helfen - wie Sie es tun, Mr. Cleg, ich wäre froh, die anderen Bewohner würden gelegentlich auch einmal einen Spaziergang machen.« Immer noch seitlich auf meinem Stuhl, das Gesicht immer noch abgewandt, wurde ich ganz starr. Ich brannte vor Demütigung. Aus meinen zitternden Fingern rieselten Tabakkrümel auf meine Hose. Mehrere Augenblicke vergin51
gen. Dann ein müder Seufzer meiner Peinigerin. »Mr. Cleg, wie viele Hemden haben Sie an? Was ist mit unserer Abmachung?« Abmachung! Ich war inzwischen wie zu Stein erstarrt. Ich gab den Versuch auf, mir eine Zigarette drehen zu wollen. Meine Hände hingen schlaff und reglos, ein Blättchen zwischen zwei Fingern der linken Hand, eine Prise Tabak in der rechten. Stille. Was tat sie jetzt? Dann, von einer der toten Seelen: »Sie ist fort, Mr. Cleg«, und ich entspannte mich allmählich, obwohl meine Finger mindestens eine Viertelstunde nicht aufhörten zu zucken. Erst als ich die Haustür hinter mir zugemacht hatte und in Sicherheit war, kam ich allmählich wieder zu mir. Diese Frau ist ein Ungeheuer! Aber ich verdrängte sie aus meinen Gedanken, ich war viel zu guter Dinge, um mir von ihr die Laune verderben zu lassen, und etwas später war ich wieder voller Überschwang. Aus irgendeinem Grund hatte ich keine Lust, heute am Kanal zu sitzen, und ich fragte mich, so wie ich esjeden Tag tue, ob ich heute die Brücke überqueren und in die K itchener Street gehen würde. Aber ich ging nicht in die Kitchener Street, nicht an diesem Tag, und ich ging auch nicht an den Kanal. Statt dessen ging ich an den Fluß, denn ich wußte, daß ich nur schwermütig werden würde, wenn ich sah, wie der Regen die schwarze Oberfläche des Kanals sprenkelte, denn der Regen bringt Ideen mit sich, das habe ich in Kanada gelernt, wo es fast ständig regnet. Also ging ich den Treidelpfad entlang und kletterte dann zur Hauptstraße hinauf- wie schnell die Dinge sich im Regen zu bewegen schienen! -, überquerte sie und schlängelte mich durch enge Straßen zu einer schmalen Gasse zwischen Lagerhäusern, und dann zu einer durchgetretenen steinernen Treppe, die zum Fluß hinunterführte. Oh, der Fluß! Großer, breiter, wirbelnder Strom, gute alte Mutter Themse an diesem rauhen grauen Tag! Auf der anderen Seite deuteten die Kräne von Rotherhithe durch den Nebel zu mir herüber wie Finger oder Insekten. Auf den unteren Stufen, die ich vor 52
sichtig hinunterkletterte, kriechender grünlicher Schlick, und eine der Stufen war ganz und gar weggefressen, und die anderen bröckelig und pockennarbig. Am Fuß der Treppe wirbelte und strudelte das Wasser, graugrün wie der Himmel, wie die dicke, sich immer tiefer herabsenkende Decke des Himmels, die Regen ausspuckte, der mich bis auf die Haut durchnäßte. Meine Mütze war inzwischen pitschnaß und so nutzlos, daß ich sie in den Fluß warf und beobachtete, wie sie davontrieb. Ich liebe die Nässe von Tagen, wie dieser einer war, ich liebe Nässe und Dunkelheit und Himmel, die wie dicke graue Decken sind, denn nur zu solchen Zeiten fühle ich mich in der Welt zu Hause. In einem Zustand heiterer Gelassenheit machte ich mich auf den Rückweg, überquerte die Hauptstraße (im Verkehr entstand einige Aufregung, und es wurde gehupt, denn ich hatte einen meiner vergeßlichen Augenblicke, ich war momentan wie abgeschnitten), dann weiter über den Treidelpfad. In der Nähe meiner Bank verließ ich den Kanal und ging einem Impuls folgend hangaufwärts in Richtung Omdurman Close, bis ich auf der Brücke stand, die über die Schienen führt. Tief unter mir glitzerten die Gleise, taubenetzte eiserne Spinnweben, aber bei einem solchen Wetter konnten keine Kobolde mich terrorisieren, dies war mein Tag! Über die Brücke, ein feuchtes ekstatisches Platschen und Planschen war das, denn der Regen war wirklich sehr heftig geworden - und auf der anderen Seite blieb ich stehen und sah auf die Parzellen hinunter, die unter mir ausgebreitet lagen, ein Streifen neben dem anderen, in einer Art Dunstschleier, jeder einzelne Streifen eingezäunt und beherrscht von seinem Schuppen. Nichts, nichts hatte sich hier verändert! Ich schlurfte den Pfad hinunter, schlammig und voller Pfützen, wie er war, ohne auf den Schlamm und die Pfützen zu achten, bis ich erneut vor dem Tor zur Parzelle meines Vaters stand. Nichts hatte sich verändert. Ich machte das Tor auf und 53
betrat den Pfad. Die Kartoffelpflanzen rechts und links von ihm klebten naß und platt am Boden wie hingestreckte Höflinge, und der Regen prasselte auf die Erde nieder und sammelte sich in den Furchen zwischen den einzelnen Reihen zu Pfützen. In der Nähe des Schuppens, ein Stück zurückgesetzt, auf der rechten Seite, der Komposthaufen, am heutigen Tag ein völlig durchweichtes Gebilde, in dem sich die Eierschalen und Gemüseabfälle zu einem glitschigen, feuchten, fruchtbaren Brei vermischten, und dort, direkt vor mir, der Schuppen selbst, gereinigt vom Regen, ich spürte keinen schwarzen Schrecken von ihm ausgehen, spürte nichts von den schwindelerregenden Wellen des Entsetzens, die mein Vater an diesem Ort ausgelöst hatte und die ihm mit der Zeit so zusetzten, daß er an die Grenzen des Wahnsinns getrieben wurde - nichts dergleichen, und als ich mich wieder zu den Beeten umwandte, spürte ich auch dort keinen Schrecken, in der Erde war alles friedlich, denn der Regen bringt Frieden für die Lebenden und die Toten, für alle Dinge, die unter der Erde und unter dem Wasser sind, sie alle ruhen bei Regen. Ich kniete mich auf das Kartoffelbeet und legte den Kopf an die Erde; und dann sagte eine Stimme: »He! Was treiben Sie denn da?« He! He! He he he he he he he! So echote es, als ich mich taumelnd der Stimme zuwandte, einer bärtigen Gestalt mit Mütze und Regenmantel, die auf der anderen Seite des Zauns stand. He! He! He he he he he! Die Kobolde nahmen den Ruf auf, verdammt, verdammt sollten sie sein, sie und ihre dreckigen Seelen, verdammt bis in die tiefsten Tiefen der Hölle! Ich floh, ich flüchtete platschend und planschend und weinend über den Pfad und über die Brücke, und ihre dreckigen Stimmen hallten in meinen Ohren wider, bis ich wieder auf meiner Bank saß, ein nasses zitterndes Wrack, ich hätte es wissen müssen, sagte ich mir selbst, ich hätte es wissen müssen, sie geben niemals Ruhe, ich muß gerissen sein, ich muß sein wie der Fuchs. 54
Mrs. Wilkinson sah mich hereinkommen, durchgeweicht wie ein Stück Treibholz, und sie war ganz und gar nicht begeistert, daß ich so naß war. Aber ich ignorierte sie, und schlurfte einfach nach oben, ohne auf die toten Seelen zu achten, die aus dem Aufenthaltsraum kamen, um meine tropfende und belagerte Hülle anzustarren. Ich setzte mich auf die Bettkante, die Ellbogen auf den Knien, eine durch und durch armselige und bemitleidenswerte Wasserspinne - und dann kam sie hereingeplatzt, ohne anzuklopfen, durch und durch tatkräftige mütterliche Besorgnis. »Heraus aus den nassen Sachen, Mr. Cleg«, sagte sie. »Schließlich wollen wir nicht, daß Sie sich den Tod holen.« Ich war völlig entkräftet, mein Überschwang, meine Energie waren verflogen, hatten sich aufgelöst wie der Nebel. Ich stand müde auf und ließ sogar zu, daß sie anfing, sich an meinen Knöpfen zu schaffen zu machen. Aber einen Augenblick später kam ich wieder zu mir, ich stieß ihre Hand fort und machte selbst mit den Knöpfen weiter. Sie rauschte aus dem Zimmer. »Ein heißes Bad ffir Sie, Mr. Cleg«, rief sie. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie sich derart naßregnen lassen würden.« Ich konnte sie im Badezimmer am Ende des Flurs hören, sie summte vor sich hin, während das heiße Wasser spuckend und gurgelnd aus den alten Messinghähnen sprudelte. Als ich fertig war, hüllte ich mich zitternd in den zerschlissenen alten Morgenmantel, den ich noch aus der Zeit der Kolonien habe, und trottete den Flur entlang. Es ist ein altes Haus, das Haus von Mrs. Wilkinson, mit einem alten Badezimmer; die Wanne selbst ist ein riesiges, klauenfäßiges gußeisernes Monstrum, das unter einem schrägen Dachfenster auf einem Fußboden aus rautenförmigen, schwarzen und weißen Kacheln steht. Wenn die Leitungen ihre glühendheißen Wasserströme hervorhusten, füllt der Raum sich schnell mit Dampf, und so war es auch, als ich die Tür erreichte. Mrs. Wilkinson beugte sich 55
gerade über die Wanne, eine Hand auf den Rand gestützt, während sie mit der anderen die Wassertemperatur prüfte. Sie drehte den Kopf zur Tür, starrte mich ein oder zwei Sekunden an und richtete sich dann auf. »Kommen Sie, Mr. Cleg«, sagte sie. »Damit wir ein bißchen Wärme in Ihre durchgefrorenen Knochen bekommen.« Ich hängte mein Handtuch an den Türhaken und ging vorsichtig auf sie zu. Das Wasser in diesem Haus hat immer eine leicht rötlichbraune Färbung, Kupferoxid in den Leitungen, würde ich sagen, Mrs. Wilkinson stand neben ihrer Badewanne mit dampfend braunem Wasser, die Hände ausgestreckt, um mir den Morgenmantel abzunehmen. Natürlich wich ich vor ihr zurück. »Nun stellen Sie sich nicht so an, Mr. Cleg«, gurrte sie. »Sie sind schließlich nicht der erste Mann, den ich in diesem Bad sehe. « Das glaube ich gerne, dachte ich, während ich mich bis zur Tür zurückzog. »Mr. Cleg«, sagte sie, »seien Sie nicht albern.« Immer noch rückwärts gehend tastete ich hinter mir nach dem Türgriff. Sie war eine große Frau, aber ich hatte das Gefühl, meinen Mann stehen zu können, wenn ich dazu gezwungen wäre, glücklicherweise kam es nicht dazu. »Also gut, dann überlasse ich Sie eben sich selbst, Mr. Cleg«, sagte sie und ging kopfschüttelnd hinaus. Die Badezimmertür hat kein Schloß (in diesem Haus gibt es nirgends Schlösser, außer, bezeichnenderweise, an der Tür, die zur Treppe zum Dachboden führt, und natürlich an der zum Krankenzimmer), aber durch sorgfältiges Drapieren meines Handtuchs gelang es mir, das Schlüsselloch zu verdecken- dann endlich kletterte ich in die Wanne und streckte meine langen, dürren Glieder aus: kein Geruch. Überhaupt kein Geruch. Ich stelle fest, daß ich aus irgendeinem Grund plötzlich an den Kohlenkeller in der Kitchener Street denke. Meine Mutter war dort unten einmal auf eine Ratte getreten, und seitdem mußte ich immer für sie hinuntergehen. Nach ei56
ner Weile fing ich an, auch ohne jeden Grund hinunterzugehen, es gefiel mir da unten einfach, in der Dunkelheit, den Geruch des Kohlenstaubs in der Nase, und selbst heute noch muß ich, wenn ich Kohlenstaub rieche, immer an den Keller denken, und vielleicht ist das der Grund dafür, daß ich jetzt daran denke. Ich hatte schon immer einen scharf ausgeprägten Geruchssinn, und vielleicht hat diese Gasgeschichte etwas damit zu tun - daß ich in geruchlicher Hinsicht überempfindlich bin, und vielleicht gelingt es mir aus diesem Grund, Geruchsnuancen aufzuspüren, die für normale Nasen nicht wahrnehmbar sind, oder die vielleicht gar nicht existieren? Aber ich will mich nicht länger mit diesem Thema aufhalten- der Geruch ist verschwunden, das Ganze war wahrscheinlich ein Irrtum, und ich war ein Narr, so ein Theater zu machen. Seltsamerweise fällt mir dabei ein, wonach die Straßen rochen, als ich noch ein Junge war: nach Bier. Nicht weit vom Kanal entfernt gab es eine Brauerei, und an den meisten Tagen war die Luft erfüllt von jenem unverkennbaren Brauereigeruch nach Malz, nach Hefe, oder was immer es ist. Meine Mutter haßte diesen Geruch, aber schließlich trank sie so gut wie nie vielleicht ein oder zwei Gläser Dunkelbier an einem Samstagabend -; denn für sie war Alkohol immer mit den Launen meines Vaters verbunden. Einmal, als wir beide allein in der Küche saßen, sagte sie, sie wäre überzeugt davon, daß unser Haus ein glückliches sein könnte, wenn mein Vater nicht tränke. Ich glaube das nicht; ich glaube, die Grausamkeit meines Vaters meiner Mutter gegenüber wäre auch dann an den Tag getreten, wenn er nie auch nur einen Tropfen angerührt hätte, wenn auch vielleicht in anderer Form. Und zwar, weil es etwas mit seinem Wesen zu tun hatte, mit seiner Art, mit dem, was, oder besser gesagt, was nicht in ihm steckte. Aber es war seltsam, daß ich den Keller so liebte, wo ich doch immer dort von ihm verprügelt wurde. Ich weiß noch, daß er einmal sagte (ich bin mir nicht sicher, ob es vor 57
oder nach dem Tod meiner Mutter war), ich solle sofort aufhören, mit den Zinken meiner Gabel über den Teller zu kratzen, er sagte, es gehe ihm auf die Nerven. Wie auch immer, es passierte noch einmal, und er explodierte. Die natürliche Dunkelheit des Kellers war immer durchsetzt von Kohlenstaub, der in der Luft herumtrieb wie winzige Pünktchen der Schwärze, und der drang einem in die Augen und den Mund und die Nase und setzte sich sogar in den Poren der Haut fest, und wenn ich wieder nach oben kam, fühlte ich mich immer geschwärzt, und auch das war ein Gefühl, das ich liebte, denn ich stellte mir gerne vor, ich sein ein kohlrabenschwarzer Junge, der sich ungesehen durch die Dunkelheit bewegen konnte. Ich erinnere mich auch an die Geräusche: wie die Treppe knarrte, wenn ich hinunterging, und wie anders sie knarrte, wenn mein Vater mir folgte. Dann war nicht nur das Knarren der Treppe, sondern auch das Öffnen seines Gürtels zu hören - das leise Klirren von Dorn und Schließe, und das schabende Geräusch, mit dem Leder durch Gürtelschlaufen gezogen wurde. Selbst heute kann ich diese Geräusche nicht hören, ohne unwillkürlich au Schmerzen zu denken - obwohl der Schmerz der Schläge nie so schlimm war wie die Minuten, die ihm vorausgingen: die Wut meines Vaters, die Art, wie er mit den Zähnen knirschte, und die Lippen zusammenpreßte und mich anzischte, auf der Stelle runter in den Keller zu gehen - die Vorahnung, will ich damit sagen, war schlimmer als das eigentliche Ereignis. Der Keller wurde, genau wie die Küche, nur von einer einzigen Glühbirne an einem umflochtenen braunen Kabel beleuchtet, und vollgestopft und niedrig wie es dort unten war, konnte diese Glühbirne kaum mehr tun, als die Schwärze der Schatten zu betonen, die einen großen Teil der Wandflächen beherrschten. Ich hatte dort unten Phantasien, in denen es um Gespenster und Ketten und Folterungen ging - wie freudig ich meinen Vater folterte! Ich 58
legte ein scharfes Messer an das dünne Hautgewebe zwischen seinen Fingern und schlitzte es auf! In der Mitte des Kellers stand ein Balken, ein schwarz gewordener, vom Holzwurm zerfressener, grob behauener Balken, der die Decke stützte; neben ihm baumelte die Glühbirne und warf einen Kreis aus trübem, gelblichem Licht auf den Boden. In diesen Kreis trat ich hinein und fing an, die dicke, graue Wollhose aufzuknöpfen, die mir bis an die Knie ging und von gestreiften Hosenträgern, wie alle Jungen sie damals trugen, hochgehalten wurde. Die Hose fiel als unordentliches Bündel über meine Stiefel, gefolgt von meiner dicken Winterunterhose, und dann, ohne ein Wort, legte ich die Arme an den Balken, kreuzte sie, lehnte meinen Kopf dagegen und beugte mich aus der Hüfte vor. Dann tat ich so, als wäre es ein anderer Spider, der an diesem Balken lehnte, oder an ihm festgebunden oder sogar an ihn angenagelt war - und als wäre ich es, der ihn mit dem Gürtel bearbeitete. Oft stellte ich mir vor, mein Vater sei an den Balken genagelt. Er baute sich hinter mir auf, stampfte ein oder zweimal mit dem Stiefel auf den Boden, legte den Gürtel doppelt zusammen und packte ihn dicht hinter der Schnalle. In den Balken war ein alter Nagel eingeschlagen, genau über der Stelle, an der ich meine Arme gekreuzt hatte, und ich hakte meinen kleinen Finger um den Nagel und dachte an etwas anderes. Oft dachte ich an die Ratten, die im Keller lebten und regelmäßig in den Fallen gefangen wurden, die mein Vater aufstellte und mit vergiftetem Käse bestückte; ich überprüfte diese Fallen mindestens einmal am Tag, und wenn ich eine Ratte fand, steckte ich sie in meine Tasche, um sie später, wenn ich zum Angeln an den Kanal ging, als Köder zu benutzen, indem ich einen Nagel durch ihr Ohr hämmerte und den Nagel krumm bog und an einem Stück Schnur befestigte. Ich weiß nicht, was ich glaubte, im Kanal am Gaswerk fangen zu können, es gab da unten nichts als 59
alte Stiefel und ein paar schlammfarbene Karpfen, und vielleicht ein verrostetes Fahrrad - was für ein Narr ich war, wie ich in meiner dicken grauen Hose am Rand des Kanals kauerte (nicht weit von der Stelle entfernt, wird mir dabei klar, an der heute meine Bank steht, bloß auf der anderen Seite), mit über die Stiefel gerutschten Strümpfen und sperrig abstehenden, knochigen Knien, und meine Schnur ins Wasser baumeln ließ, die Stirn in höchster Konzentration gerunzelt, und beobachtete, wie sie sich nahtlos mit ihrem eigenen Spiegelbild vereinte und dann, auf der schwarzen Oberfläche des Kanals, zum Bild meiner eigenen zusammengekauerten Gestalt erblühte, das einen Augenblick später vom Wind in tausend schimmernde, scherbenartige Fragmente zersplittert wurde! Ich nehme an, in meiner Phantasie war ich ein schwarzer Junge, tief im Herzen irgendeines Dschungels, der nur mit einem Lendentuch bekleidet und mit bemaltem Gesicht auf einem Baumstamm hockte. Ich fischte nie etwas Lebendiges aus dem Gaswerkkanal, aber das spielte kaum eine Rolle, es waren nicht die Karpfen, derentwegen ich gekommen war. Und dann schnitt der Haß meines Vaters durch meine Dschungelphantasien, und alles, was ich kannte, war Schmerz. Inzwischen trank er immer im »Earl of Rochester«. Das »Earl of Rochester« war bedeutend größer als das »Dog and Beggar«; es war das Pub, in dem Hilda und ihre Freunde für gewöhnlich ihre Abende verbrachten, da es näher an der Spleen Street lag, und das traf sich gut, denn je weiter er bei seinem Treiben mit Hilda von der Kitchener Street entfernt war, desto besser. Oft folgte ich ihm, wenn er das Haus nach dem Abendessen verließ, ich schlich hinter ihm durch die Gasse, huschte zwischen Türen und Mülltonnen hin und her, drückte mich in die Schatten, und er hatte nie auch nur den geringsten Verdacht. Ich beobachtete ihn durch das Fenster des »Rochester«, ich sah ihn mit Hilda und Nora und den anderen 60
dort sitzen, und oft wirkte er isoliert, ausgeschlossen - er gehörte nicht zu ihrer Welt, wie mir später klar wurde, der Welt der Nutten und der Buchmacher und der kleinen Ganoven, seine Welt war die einsame, eng umgrenzte Welt des selbständig arbeitenden Klempners, und er war von Natur aus kein geselliger Mann. Manchmal, wenn ich von der Straße zu ihm hineinspähte, dachte ich daran, wie ich jeden Tag im hinteren Teil des Klassenzimmers saß, ohne je wirklich anwesend zu sein: Genauso saß mein Vater mit Hilda und den anderen in der Kneipe, starrte mit einem abwesenden Ausdruck auf dem Gesicht in die Menge und ließ den Lärm um sich herum wirbeln - so lange, bis Hilda eine Hand auf seinen Oberschenkel legte, und das rief ihn ins Leben zurück. Oh, Hilda war im Pub immer in »Höchstform«, sie liebte es, zu lachen und herumzualbern, sie liebte es, mit den Männern zu schäkern und mit den Frauen zu weinen, und sie liebte ihren Port, und wie diese Frau ihren süßen Port liebte! Und so rief sie ihn ins Leben zurück, und er trank einen Schluck Dunkelbier, ließ das verstohlene Grinsen, das so typisch für ihn war, ein oder zweimal um seine Mundwinkel zucken, sonnte sich einen Augenblick im Schein von Hildas warmem alkoholisiertem Licht; dann wandte sie sich wieder anderen Dingen zu, und er verlor sich wieder in Gedanken. Scherze flogen hin und her, neue Leute gesellten sich zu der kleinen Gruppe, immer neue Runden wurden bestellt (irgendwie war immer Geld da für noch eine Runde, obwohl es oft mein Vater war, der die letzte Runde des Abends zahlte), und dann, endlich, nachdem er den ganzen Abend still auf seinem Stuhl gesessen hatte wie ein braver Junge, wurde er belohnt: Denn wenn das Lokal geschlossen wurde, durfte er Hilda nach Hause bringen, in die Spleen Street. Ich folgte ihnen in sicherer Entfernung, wenn sie durch die Seitenstraßen und Gassen torkelten, und in einer dieser Gassen, tief in den Schatten, verbrachten sie ein paar 61
Minuten in enger Umarmung. Dann öffnete Hilda die Knöpfe seiner Hose, holte seinen dünnen steifen Schwanz heraus und brachte ihn mit ein paar schnellen kräftigen Handbewegungen zum Höhepunkt. Kurz darauf löste sie sich von ihm, und er ging nach Hause. Bei diesem letzten Teil ihres Abends war ich nicht immer anwesend, denn ich mußte ja vor ihm zu Hause sein; aber ich kann mir nur zu gut vorstellen, was sich abspielte. Es fällt mir also nicht schwer, meinen Vater vor mir zu sehen, wie er in den Abend davonstapft, nach einer weiteren unglücklichen Mahlzeit in seiner eigenen Küche, und mir vorzustellen, was er dabei dachte. Ich fragte mich, ob er je mit dem Gedanken spielte, einfach nur runter ins »Dog« zu gehen, so wie er es früher getan hatte, das »Earl of Rochester« zu meiden, Hilda Wilkinson zu meiden, in aller Stille zu seinem alten Leben zurückzukehren, das, so eng und eingeschränkt es auch sein mochte, wenigstens den leisen Vorteil der Vorhersehbarkeit besaß, und eine Art von Harmonie? Er tat es nicht, natürlich nicht; nur eine wehmütige Nostalgie konnte sein altes Leben zurückbringen, sein Leben vor Hilda; zu oft hatte er ihre Brüste unter seinen Händen gespürt, die Weichheit ihres Bauchs, der sich gegen seinen eigenen preßte, und, am besten von allem, die schiere, schwindelnde Euphorie ihrer Finger, die sich an den Knöpfen seiner Hose zu schaffen machten - und wenn die Erinnerung an diese Empfindungen ihn überflutete, wurde er steif, sogar im Laufen, und alles Zweifeln, alles Wanken, löste sich in Luft auf. Das Ganze lag nicht mehr im Bereich seiner Kontrolle. Es gab einen Abend im »Rochester«, an den ich mich besonders gut erinnere. Es war ein verdammt entsetzlicher Abend, der durch die üble Laune, die mein Vater aus der Kitchener Street mitgebracht hatte, noch entsetzlicher gemacht wurde, als er es hätte sein müssen. Er schien sich noch unbehaglicher zu fühlen als sonst, als er zwischen Hil62
das Freunden saß, umgeben von den Goldornamenten und den Spiegeln des großen, geschäftigen Lokals, und vielleicht sah er einen der Stammgäste des »Dog« hereinkommen - das hätte ihn nervös gemacht, das weiß ich genau, der Gedanke, daß Ernie Ratcliff etwas von der ganzen Geschichte erfahren könnte, Ratcliff ein Mann, der Tratsch und Klatsch mehr liebte als alles andere. Und so saß er da, über eine Stunde lang, mit gerunzelter Stirn, schweigsam und mürrisch, und nicht einmal Hilda konnte ihn auftauen. Als sie das Lokal verließen, war sie kühl und abweisend, sie erlaubte ihm nicht, ihren Arm zu nehmen, als sie gemeinsam in die Nacht hineingingen. Als sie durch eine Gasse in der Nähe der Spleen Street kamen (ich war zu diesem Zeitpunkt dicht hinter ihnen, schlich lautlos und schwarz wie ein Schatten durch die Dunkelheit), versuchte mein Vater, sie an die Wand zu drängen. Aber da war er bei ihr an der falschen Adresse! Oh, sie ging auf ihn los, und er wich vor ihr zurück - was für eine Kratzbürste sie sein konnte, wenn sie in Rage war! Ihre Augen blitzten. »Du gibst dir wirklich keine große Mühe, was, Klempner?« fuhr sie ihn an. »Strengst dich nicht sonderlich an, was? Ich möchte wirklich wissen, wieso ich mich mit dir abgebe sitzt den ganzen Abend rum wie ein Totengräber - hast du Probleme oder was?« Allmählich kam sie immer mehr in Fahrt, ihr Kinn war vorgereckt, ihr Mantel nach hinten geschlagen, ihre Hände in die Hüften eines fast aus den Nähten platzenden Rocks gestemmt. Mein Vater hatte sich umgedreht und sah die Gasse hinunter, dorthin, wo ich mich hinter eine Mülltonne duckte, aber er sah mich nicht. »Ach, laß gut sein, Hilda«, sagte er resigniert und holte seinen Tabak hervor. »Laß gut sein? Das ist ja wohl zum Lachen, ausgerechnet von dir. Laß du es gut sein, Klempner. Du sitzt schließlich den ganzen Abend rum wie eine gottverdammte Leiche und glaubst dann, du kannst mich in irgendeiner Gasse be63
grabschen! Was ist los? Bist du für deine Leitungen nicht gut genug bezahlt worden? « Ich sah, wie er erstarrte, denn diese Bemerkung traf ihn bis ins Mark. Am anderen Ende der Gasse warf eine Straßenlampe Splitter aus Licht in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen und über die Kanten der Mauerziegel. Für die Leitungen bezahlt? Für die Leitungen bezahlt? War es das, worum es ging? Er hatte von ihr kein Geld für seine Arbeit bekommen, er wußte, daß er nie dafür bezahlt werden würde - aber sah sie die ganze Sache so, als Bezahlung für geleistete Dienste? Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, er steckte den Tabakbeutel in seine Tasche zurück. Hilda sah ihn an, tat nonchalant und von oben herab, reckte das große Kinn vor. »Ist es das, Klempner? Ist es das, was dahinter steckt?« Er stand da, weiß vor Wut, mit dem Rücken zu ihr, und kämpfte darum; die Beherrschung nicht zu verlieren. Am liebsten hätte er sie geschlagen, brutal geschlagen, das konnte ich sehen, ich kannte diesen Blick - er wollte ihr wehtun, wirklich wehtun, ihr so wehtun, wie sie ihm wehgetan hatte. »Komm her, Klempner«, hörte er sie dann sagen. Er rührte sich nicht. »Komm schon, Klempner.« Ein seidiger Ton in ihrer Stimme. Wieder ganz die süße Hilda. Er drehte sich um. Den Mantel immer noch nach hinten geschlagen, die Hände immer noch in den Hüften, lehnte sie an der Wand, ein Knie angewinkelt, so daß ihr Rock nach oben rutschte, und grinste ihn an. »Komm schon«, flüsterte sie. Und er ging zu ihr, lammfrommer Hund, der er war. Eine Hand immer noch in der Hüfte umfaßte sie mit der anderen seinen Hinterkopf, zog ihn an sich, küßte ihn sanft auf den Mund. Seine Hände legten sich auf ihre Oberschenkel, schoben ihren Rock hoch; plötzlich stand er in Flammen, wurde überwältigt von der Begierde nach dieser Frau, er wollte sie jetzt ha64
ben, in diesem Augenblick, an dieser Wand, er war steif in seiner Hose, fummelte schon an seinen Knöpfen herum, er war blind und keuchte vor Gier - aber Hilda, die ihn immer noch küßte, ließ die Arme sinken, packte seine Handgelenke, stieß seine Hände von sich fort, machte sich von ihm los. Sie lachte leise auf, ein einziges Mal, heiser, und zog zitternd ihren Mantel zu. »Mehr gibt es nicht, Klempner«, sagte sie und fing seine Handgelenke ab, als er sich erneut auf sie stürzen wollte. »Ich gehe jetzt nach Hause.« Mein Vater flüsterte aufgeregt auf sie ein, griff erneut nach ihr, wurde erneut fort gestoßen. Dann sah ich, wie sie eine Hand an seine Wange legte. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie noch einmal. »Es ist kalt hier draußen. Gute Nacht, Klempner« - und den Kopf schüttelnd, als er ein letztes Mal versuchte, sie zurückzuhalten, schlüpfte sie davon, ging mit wiegenden Schritten durch die Gasse auf das Licht zu, ließ meinen Vater in einem hitzigen Tumult aus Zorn und Begierde zurück, einer wahren Flut widersprüchlicher Empfindungen. Hilda war nämlich eine Prostituierte, verstehen Sie? Sie war eine Nutte, und sie bezahlte meinen Vater mit den Diensten einer Nutte, obwohl er das erst in jener Nacht erkannte. Als er eine halbe Stunde später nach Hause kam - er hatte am Kanal noch eine Zigarette geraucht, trotz der Kälte der Nacht -, merkte er zu seinem Ärger, daß meine Mutter noch wach war und auf ihn wartete. Ich hörte seine Stiefel im Hof, und dann hörte ich ihn durch die Hintertür ins Haus kommen. Meine Mutter saß im Dunkeln am Küchentisch, eine Tasse Tee vor sich, und er sah sie erst, als er das Licht einschaltete. Das Gesicht, das sie ihm zuwandte, war um die Augen herum verquollen, wie immer, wenn sie geweint hatte. »Noch auf murmelte er, als er sich auf der anderen Seite des Tisches schwer auf einen Stuhl fallen ließ und sich bückte, um seine Stiefel aufzuschnüren. Er brachte es nicht fertig, sie anzusehen. 65
»Wo bist du gewesen, Horace?« fragte sie leise. In ihrer Stimme lag eine Spur von Vorwurf, Vorwurf, der durch Kummer gedämpft wurde. Die Küchentür war offen, also kroch ich aus meinem Bett (ich war selbst erst eben nach Hause gekommen) und setzte mich auf die oberste Treppenstufe, im Schlafanzug, um zu lauschen. Hatte mein Vater, in diesem Stadium, noch einen Funken Anstand im Leib? Rührte der Kummer meiner Mutter an sein Herz? Zerriß es ihn? Wurde er hin und hergerissen zwischen dem unwillkürlichen Aufwallen von Mitgefühl für meine Mutter, für deren Schmerz er allein verantwortlich war - und dem wilden Zorn auf sie, der nicht nur daher rührte, daß sie seiner billigen Affäre mit Hilda Wilkinson im Weg stand, sondern auch daher, daß sie den harten sauberen Drang seiner Begierde hemmte? Sein Herz war noch nicht vollständig zu Stein erstarrt, glaube ich; sie weckte in ihm, glaube ich, immer noch letzte Reste der Verantwortung, die er einst für sie empfunden hatte, aber das Schuldgefühl, das diese Empfindung in ihm auslöste, das mußte er mit Gewalt unterdrücken, und zwar aus einem einfachen Grund: Er konnte seine Gier nach Hilda nur dann bewahren, wenn er sich gleichzeitig gegen meine Mutter verhärtete - wenn er, anders ausgedrückt, eine unnatürliche Aufteilung seiner Gefühle vornahm: Die andere Alternative wäre gewesen, sich in Verwirrung und Unentschlossenheit zu verstricken, in einem kraftlosen, unmännlichen Zustand, den er um jeden Preis vermeiden wollte. Und während eine winzige Stimme in seinem Inneren ihm zuschrie, meine Mutter zu trösten, die Tränen jener geröteten Augen zu trocknen, sie in die Arme zu nehmen und dafür zu sorgen, daß alles wieder gut wurde - forderte ein gegensätzlicher und gleichermaßen starker Impuls ihn auf, ihr noch mehr wehzutun, die Krise auf die Spitze zu treiben, das Zerschleißen und Zerreißen des wie auch immer gearteten fadenscheinigen Bands, das sie noch zusammenhielt, mit Gewalt herbeizu66
führen. Also tröstete er sie nicht, er preßte die Lippen zu einer dünnen, harten Linie zusammen, zog seine Stiefel aus, einen nach dem anderen, und massierte sich die Füße. »Unten im Pub«, sagte er. »Im >Dog« »Ja.« »Lügner! Du bist ein Lügner, Horace!« rief sie. Oh, es war schrecklich für mich, ihre Stimme auf dieser Weise brechen zu hören, wo Zorn ihr doch so fremd war. »Ich war unten im >Dog<, und du warst nicht da! « Sie saß jetzt hoch aufgerichtet am Ende des Tisches, und die Tränen liefen über ihre Wangen, und ein wäßriges Licht, zusammengesetzt aus Zorn und Kummer, brannte in ihren Augen. »Ich bin nach einer Weile noch woanders hingegangen«, sagte mein Vater aufgebracht. »Wieso bist du überhaupt ins >Dog< gegangen? Es ist schließlich nicht Samstag. « Sie gab keine Antwort, sie saß einfach nur da und starrte ihn an, während die Tränen über ihre Wangen liefen und sie nicht einmal den Versuch machte, sie fortzuwischen. Mein Vater zuckte die Schultern, senkte den Blick und fing erneut an, sich die Füße zu massieren. »Ich war im >Earl of Rochester<.« Ich hörte, wie er es sagte, und dachte, wieso zum Teufel sagt er das? Wie konnte er je wieder dorthin gehen, wo jetzt die Möglichkeit bestand, daß sie ihn dort suchen würde? »Wieso spionierst du mir eigentlich nach?« fragte er zornig. »Kann ein Mann nicht mal mehr nach der Arbeit in Ruhe ein Bier trinken? « »Ich will so nicht mehr leben«, sagte meine Mutter, die sich nach ihrem Ausbruch wieder etwas gefangen hatte, und trocknete ihre Tränen mit der Schürze. »Ich bin nicht dazu geschaffen, so zu leben. « »Das ist doch nicht meine Schuld«, sagte mein Vater, während eine Stimme in seinem Kopf sagte: O doch, das ist es. »Doch, das ist es«, sagte meine Mutter, und wurde für ei67
nen unheimlichen Augenblick zum Sprachrohr seines Gewissens. »Ist es nicht! « schrie er - und ich hielt es nicht länger aus. Ich rannte die Treppe hinunter, durch den Flur, barfuß, und tat so, als wäre ich völlig verschlafen. Meine Mutter drehte sich zu mir um, und der Anblick ihres tränenverschmierten Gesichts brachte mich erst recht aus der Fassung. »Es ist gut, Spider«, sagte sie leise, blinzelte die Tränen fort, stand müde vom Tisch auf und strich sich die Schürze mit einer für sie typischen Bewegung über dem Leib glatt. »Dein Vater und ich unterhalten uns nur. « »Ihr habt mich aufgeweckt«, sagte ich, oder etwas ähnliches in der Art, ich weiß es nicht mehr genau. »Es ist wieder gut«, sagte sie noch einmal. »Wir gehen jetzt alles ins Bett.« Sie nahm meine Hand; ich war größer als sie, obwohl ich barfuß war. »Komm jetzt, mein großer Spider«, sagte sie, »zurück ins Bett.« Und wir gingen die Treppe hinauf Mein Vater blieb noch etwa zehn Minuten am Tisch sitzen, dann hörte ich, wie er das Licht ausschaltete und ebenfalls nach oben kam. Meine Mutter war noch wach, sie lag in dem riesigen Bett und starrte die Decke an; das Licht der Straßenlampe fiel durch die Vorhänge und warf seltsame, rautenförmige Gitter aus Licht und Schatten an die Decke. Mein Vater zog sich aus und kletterte auf seiner Seite ins Bett, und die beiden lagen in der Dunkelheit, stumm und schlaflos, über eine Stunde lang. Als mein Vater am nächsten Morgen aufstand und sich für die Arbeit anzog und hinunterging, war meine Mutter in der Küche schon damit beschäftigt, Speck zu braten. Sie hatte ein sauberes weißes Tuch über den Tisch gebreitet und seinen Tee eingeschenkt und war ganz ruhige, geschäftige Aktivität; sie schlug zwei Eier in die Pfanne und stellte einen Augenblick später einen Teller vor ihn auf den Tisch: Speck und Eier, eine gebratene Tomate und gebratene 68
Nierchen. »Ich bin schnell noch losgelaufen und habe dir was Schönes zum Frühstück geholt«, sagte sie. »Du brauchst morgens ein kräftiges Frühstück, schließlich arbeitest du schwer. « Dann schnitt sie drei Scheiben Brot von einem frischen Laib und bestrich sie für seine Mittagspause mit Rinderschmalz. Mein Vater aß sein Frühstück; er sagte nichts, aber so tot er innerlich auch war, konnte ihm die Bedeutung und die Qualität ihrer Geste nicht entgangen sein. »Trink deinen Tee, solange er heiß ist«, sagte sie leise, während sie seine Brote in Zeitungspapier einschlug. Ein paar Minuten später ging er zur Arbeit, durch die Hintertür; ich beobachtete ihn von meinem Schlafzimmerfenster aus. Sie stand am Spülstein, als er das Haus verließ, ich hörte das Wasser laufen. In der Tür blieb er einen Augenblick stehen und sah zu ihr zurück. Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln, ohne die Hände aus dem Spülwasser zu nehmen, und er brachte einen Ausdruck um den Mund herum zustande, eine Art Zusammenpressen der Lippen, das teils Resignation ausdrückte, teils Bedauern; und dann nickte er ein oder zweimal mit dem Kopf. Ich könnte mir vorstellen, daß er, als er durch die beißende, frische Morgenluft zur Arbeit radelte, auf eigentümliche Weise mit sich selbst im Einklang war; es war die Nacht, die die Leidenschaft und die Verwirrung und den Schmerz brachte, am Morgen war alles anders. Im Laufe des Tages faßte er mehrmals den Entschluß, ein für alle Mal die Finger von Hilda Wilkinson zu lassen. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, was sie am vorherigen Abend zu ihm gesagt hatte, er erinnerte sich selbst daran, wie sehr die Leute, mit denen sie trank, ihm zuwider waren, und nicht zuletzt dachte er daran, was für ein Schlag es für meine Mutter sein würde, sollte sie es je erfahren, was vor sich ging. Das gab ihm nun wirklich zu denken; es mochte schwächlich und unmännlich sein, aber das auf sich zu nehmen, dazu war er nicht bereit. Nein, diese kurze Affäre mit 69
Hilda Wilkinson, diese kurze Begegnung - es war am besten, sie hinter sich zu bringen, sie zu vergessen, zur Routine des täglichen Lebens zurückzukehren, dieser verläßlichen Routine, die er, wie es schien, schon immer gekannt hatte. Der Entschluß meines Vaters blieb, so würde ich vermuten, bis etwa zur Mitte des Nachmittags fest. Er erneuerte die Leitungen eines Lagerhauses in East Ham, zusammen mit seinem Gehilfen Archie Boyle, einem fröhlichen dicken Jungen, dessen Haare die Farbe von Karotten hatten. Ich sehe ihn auf einer hölzernen Trittleiter stehen, die Schienbeine gegen die oberste Stufe gestemmt, und hoch oben im Staub und in der Dunkelheit ein altes Bleirohr mit Hammer und Schraubenschlüssel bearbeiten. Jeder Schlag seines Hammers hallt dumpf durch das leere Gebäude, und über dieses widerhallende Hämmern hinweg ist von der anderen Seite des Raumes her das hohe, schrille Geräusch von Archies Pfeifen zu hören; er ist dabei, neue Rohre zurechtzuschneiden, damit mein Vater sie dann installieren kann. In der linken Hand hält mein Vater den Schraubenschlüssel, der auf einer uralten achteckigen Mutter steckt, die im Laufe der Jahre unauflöslich mit dem Rohr verwachsen ist, und mit der rechten Hand schwingt er den Hammer und führt eine Reihe gleichmäßiger Schläge gegen den Griff des Schraubenschlüssels, um die Mutter zu lockern. jeder Hammerschlag hallt durch das Lagerhaus wie das Läuten einer unheimlichen Totenglocke, Rostpartikel lösen sich und rieseln auf ihn hinab, und er muß den Kopf drehen, damit sie ihm nicht in die Augen geraten. Langsam fängt die Mutter an, sich zu lösen. Eingelullt vom steten klagenden Ton seiner Hammerschläge, die in diesem riesigen leeren Raum das langsame tonlose Pfeifen Archie Boyles wie eine unheimliche barbarische Symphonie überlagern, ist mein Vater in Gedanken zu den Ereignissen von letzter Nacht 70
zurückgekehrt, zu Hilda, die mit zurückgeschlagenem Mantel vor ihm steht, die Hände in die Hüften gestemmt, mit nackten Beinen, ein Knie angewinkelt, so daß der Rock über ihrem weißen Oberschenkel nach oben rutscht; zu Hilda, die ihn aus dem Schatten heraus mit ihrem kinnlastigen Grinsen angrinst - und mit diesem Bild kommt der Gedanke, sie zu nehmen, dort in der Gasse, diese Nutte (wie er das Wort genießt!), an der Wand, den Rock über die Hüften hochgeschoben Plötzlich schießt aus dem Rohr ein zischender Strahl kalten Wassers und trifft ihn mit solcher Wucht, daß er fast mit der Leiter umgekippt wäre. Rund um die gelockerte Mutter herum schießen Strahlen zischenden Wassers hervor der Haupthahn ist nicht abgedreht worden. Archie kommt durch die Lagerhalle herbeigetrabt, als mein Vater von der Leiter stieg, tropfnaß und fluchend, während das Wasser immer noch an die Decke und den oberen Teil der Wand spritzt und dann an ihr herunterläuft, um auf dem Betonboden eine immer größer werdende Pfütze zu bilden. »Verdammter Mist! « brüllt mein Vater, als er losmarschiert, um das Wasser abzudrehen. Niemand muß ihm sagen, daß das ganze allein seine Schuld ist. Als er zurückkommt, ist Archie, immer noch pfeifend, schon mit Eimer und Scheuerlappen am Werk. Kein großes Problem, das ganze, wirklich nicht; aber als mein Vater sich immer noch wütend wieder an die Arbeit an der achtkantigen Mutter macht, weiß er, daß dies alles auf Hildas Konto geht. Die beiden setzen ihre verschiedenen Arbeiten fort; aber währenddessen wird das Licht draußen vor den staubigen Lagerhausfenstern an diesem düsteren, grauen Novembernachmittag immer trüber; und je trüber es wird, desto weniger kann mein Vater verhindern, daß seine Gedanken sich immer und immer wieder um Hilda drehen, seine Nutte, und die Begierde kommt zurück wie ein Fieber, und sein Entschluß gerät in Vergessenheit. 71
Nicht lange danach verließen die beiden Klempner das leere Lagerhaus. Mit dem Einbruch der Dunkelheit war ein nasser, kalter Nebel vom Fluß herübergezogen, und mein Vater drückte die Mütze tiefer in die Stirn und wickelte sich den Schal fester um den Hals. Als er sich von Archie verabschiedet hatte, bestieg er sein Rad und fuhr in Richtung Kitchener Street. Die Feuchtigkeit des Nebels schlug sich auf seinen Brillengläsern nieder und brannte ihm in den Augen, als er durch die dunklen verlassenen Straßen fuhr, vorbei an schwarzen Mauern, die in regelmäßigen Abständen, wann immer das diffuse Licht einer Straßenlampe auf sie fiel, feucht aufglänzten, um dann wieder in tintiger Unkenntlichkeit zu versinken. Gelegentlich hastete eine dick vermummte Gestalt vorbei, deren Schritte urplötzlich laut wurden und dann ebenso schnell wieder verhallten. Der Weg meines Vaters führte ihn durch Straßen, die zu den Docks hinunter abfielen, und je tiefer er kam, desto dichter wurde der Nebel, desto verlassener die Stadt, desto unheimlicher und verhangener die ganze Atmosphäre. Trotz des kalten und klammen Abends war das körperliche Verlangen meines Vaters mit dem Einbruch der Dunkelheit und dem Verblassen seiner Entschlüsse vom Vormittag immer stärker geworden, und es erhitzte und quälte ihn- er konnte sich an seinen Entschluß, seine Affäre mit Hilda zu beenden, genausowenig erinnern, wie es ihm möglich gewesen wäre, sich mit seinem Fahrrad über die Dächer und Schornsteine des East Ends zu erheben und die Zwänge des Fleisches für immer unter und hinter sich zurückzulassen. Er kroch weiter durch den dunklen, düsteren Nebel, und sein Körper brannte vor Verlangen nach Hilda Wilkinson. Es schwelte in seinem Inneren wie die geschmolzene Schlacke im Herzen einer Schmiede, es brannte und brodelte im Nebel, und als er sein Fahrrad auf den Hof der Nummer siebenundzwanzig schob, war er ein kranker 72
Mann, ein fiebernder Mann, ein Mann, der nicht länger für seine Taten verantwortlich war. Er betrat die Küche. Ich habe Ihnen ja schon erzählt, wie diese Küche aussah, sie war ein schäbiger, nur trübe beleuchteter Raum, und es wäre einem schwer gefallen, sie behaglich zu nennen. Trotzdem hatte meine Mutter sich alle Mühe gegeben, sie warm und heimelig zu machen. Die Vorhänge, ebenso schäbig und zerschlissen wie ihre Schürze, waren vor dem schmutzigen Fenster über dem Spülstein zugezogen, und auf dem Herd brutzelten Leberscheiben und Zwiebeln vor sich hin und erfüllten die Küche mit ihrem Duft. Meine Mutter hatte das Geschirr abgewaschen und den Boden gefegt und sogar ihre einzige Pflanze aus dem Wohnzimmer hereingeholt, eine halb vertrocknete und vor sich hinkränkelnde Asphidistra. Jetzt trocknete sie sich die Hände an der Schürze ab, schenkte meinem Vater dasselbe kleine Lächeln, das er schon am Morgen gesehen hatte - vor einer wahren Ewigkeit, wie es ihm schien! - und holte eine Flasche Bier aus dem Schrank. Ich saß am Tisch und starrte die Decke an; ich wollte nichts mit meinem Vater zu tun haben, überhaupt nichts, nicht nach der letzten Nacht. Er stand in der Tür und trat seine Stiefel auf der Fußmatte ab, während der Nebel um ihn herum ins Haus gewirbelt kam. Er erwiderte das Lächeln meiner Mutter nicht, er machte nicht einmal einen Versuch, das fragwürdige Zusammenziehen der Lippen zu wiederholen, das er am Morgen zustand gebracht hatte. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu ihm am Küchentisch und schenkte ihm ein Glas Bier ein. »Mach die Tür zu, Horace«, sagte sie, »damit der Nebel nicht hereinkommt. Ich habe dir ein schönes Stück Leber -« Sie wurde von dem lauten Krachen unterbrochen, mit dem mein Vater die Hintertür zuschlug. Er stampfte mit wütend gerunzelter Stirn durch die Küche, ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen (wobei er mich ebenso ignorierte, wie ich ihn ignorierte) und trank das Bier. 73
»Trink nicht so schnell«, murmelte meine Mutter, während sie sich aufs neue am Herd zu schaffen machte. Als Antwort darauf füllte mein Vater das Glas so hastig wieder nach, daß das Bier auf die Tischdecke überschäumte, ein hübsches, besticktes Batisttuch, das ein Hochzeitsgeschenk seiner verstorbenen Schwiegermutter gewesen war. »O Horace«, rief meine Mutter. »Sieh nur, was du gemacht hast! Sei doch bitte ein bißchen vorsichtiger.« Ihr Ton war immer noch sanft, sie war entschlossen, es nicht zu einem Streit kommen zu lassen. Meinem Vater war das völlig egal. Er war ein veränderter Mann, hart wie Granit und kalt wie Eis. Eine neue Arbeit von Zorn brannte in ihm, brannte mit einer kalten, harten, diamantenen Flamme: Ich konnte sie in seinen Augen sehen, als er seine Brille abnahm, diese harte Flamme, die in seinen harten blaßblauen Augen brannte. Er war schon seit Jahren ein mürrischer, humorloser Ehemann und Vater gewesen, aber nie zuvor hatte ich in ihm einen Zorn gesehen, der so heftig und so kalt war wie dieser. Es war, als habe er irgendeine Grenze überschritten, die Fähigkeit verloren, auch nur einen Funken menschlichen Mitgefühls für meine Mutter zu empfinden. Das Tischtuch, das Lächeln, die brutzelnde Leber - nichts davon drang zu ihm durch, er kannte nur noch den einen Wunsch, sie aus seinem Weg zu stoßen, und dieses Gefühl war so stark, daß er die Brutalität, die allein ihre Gegenwart in ihm auslöste, kaum zu unterdrücken vermochte. Er saß am Tisch, ohne seinen Schal oder seine Jacke oder seine Stiefel auszuziehen, ohne mich anzusehen, ohne sich eine Zigarette zu drehen, er saß dort mit einem Gesicht wie gepeinigter Donner und kippte ein Glas Bier nach dem anderen in sich hinein, bis die große Literflasche fast leer war. Meine arme Mutter. Die Mühe, die sie sich gemacht hatte, war enorm, und als Reaktion erntete sie nichts als diese wortlose Wut. »Was ist denn nur, Horace?« flüsterte sie, als sie den Teller mit der Leber und den 74
Zwiebeln vor ihn auf den Tisch stellte, nachdem sie die Topfpflanze ein Stück zur Seite geschoben hatte. »Was ist denn bloß los mit dir?« Sie stand da und sah ihn an, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Stirn durchfurcht von zerquälten verständnislosen Falten. Immer wieder trocknete sie sich die Hände an der Schürze ab, obwohl sie längst trocken waren. Mein Vater starrte auf die dampfende Leber, die Hände rechts und links des Tellers so fest zu Fäusten geballt, daß die Knöchel wie Billardkugeln wirkten, die sich von innen gegen die Haut stemmten. »Sag doch, Horace«, war die Stimme erneut zu hören, und immer noch starrte er, kämpfte die Welle nackter, schwarzer Wut nieder, klammerte sich verzweifelt an den letzten Rest von Beherrschung, hielt sich verzweifelt fest. Laß mich in Ruhe! schrie eine Stimme in seinem Kopf, aber meine Mutter, meine arme dumme Mutter, ließ ihn nicht in Ruhe. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus, wie um ihn zu berühren. Da endlich drehte er sich zu ihr um - in der Küche war es still, denn die Pfanne brutzelte nicht mehr, nur das Tropfen des Wasserhahns -, und was für ein Gesicht er ihr zeigte! Ich werde dieses Gesicht nie vergessen, mein ganzes Leben lang nicht: die Augenbrauen vor Qual zusammengezogen, die Zähne gebleckt, der Mund zu einer gräßlichen Grimasse verzerrt, die sowohl nackte Gewalt als auch äußerste Hilflosigkeit ausdrückte, gequälte Hilflosigkeit im Angesicht jener Gewalt, und dann die Augen! - In seinen Augen brannte nicht mehr die harte, diamantene Flamme, sondern derselbe Schmerz, der seine Stirn und seine Lippen verzerrte, seine ganze erbärmliche Physiognomie, alles stand dort geschrieben, und meine Mutter sah es, und war fassungslos über das Leid, das in ihm war, und sie ging zu ihm. »Nein! « sagte mein Vater, als ihre Hand seine Schulter berührte, »Nein!« - und dann, mit einem kehligen Laut, an dem er schier zu ersticken schien, sprang er schwerfällig auf, stieß dabei den Stuhl um, 75
der mit lautem Gepolter nach hinten kippte, und stolperte durch die Küche zur Hintertür und in den Nebel hinaus. Meine Mutter blieb einen Augenblick reglos stehen und sah ihm nach, die Hand vor den Mund geschlagen. Dann lief sie ihm nach, durch den Hof, an dessen Ende das Tor offen stand, und hinaus auf die Gasse. »Horace!« rief sie. Aber die Nacht war gekommen, der Nebel war dichter denn je, sie konnte nichts sehen, und in der Dunkelheit war kein Geräusch zu hören, und nachdem sie erst ein paar Schritte in die eine Richtung gelaufen war, und dann in die andere, kam sie in den Hof zurück, zurück in die Küche, und machte die Tür hinter sich zu. Die Kälte und der Gestank des Nebels hatten die Wärme der Küche durchgetränkt, und sie blieb einen Augenblick zitternd stehen, die Arme um den Oberkörper geschlungen. »Ach, Spider«, flüsterte sie; ich saß immer noch am Tisch, wie betäubt von dem, was geschehen war. Sie starrte den Teller mit der lauwarmen Leber an und den Bierfleck auf dem Tischtuch, und dann ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Wieder Regen. Ich liebe den Regen, habe ich das schon gesagt? Und ich liebe den Nebel, und habe ihn geliebt, seit ich ein kleiner junge war. Ich liebte es, bei Nebel zu den Docks hinunterzugehen und den Nebelhörnern zu lauschen, die miteinander heulten und klagten, und das blasse, diffuse Licht der Positionsleuchten zu beobachten, wenn die Schiffe mit der Flut den Fluß hinunter glitten. Es war der Mantel der gespenstischen Unwirklichkeit, den ich liebte, der Mantel, den der Nebel über die vertrauten Umrisse der Welt deckte. Alles war fremd im Nebel, Gebäude wurden ungewiß, Menschen irrten blind durch die Straßen und fanden den Weg nicht mehr, die Orientierungspunkte, die Richtungsweiser, nach denen sie navigierten, verschmolzen im Nichts, und die Welt verwandelte sich in ein Land der Blinden. Aber wenn die Sehenden blind wurden, dann 76
wurden die Blinden - und aus irgendeinem seltsamen Grund habe ich mich immer als einen der ihren betrachtet -, wurden die Blinden sehend, und ich weiß noch, daß ich bei Nebel in meinem Element war, mich in der Düsternis und Finsternis, die meine Mitmenschen so verwirrte, wie zu Hause fühlte. Ich bewegte mich schnell und sicher durch nebelverhangene Straßen, unbehelligt von den Schrecken, die in der sichtbaren, materiellen Welt an jeder Ecke auf mich lauerten; wenn es neblig war, blieb ich immer so lange draußen, wie es nur ging. Gestern abend, als ich in meiner Dachkammer in Mrs. Wilkinsons Haus saß, stand ich von Zeit zu Zeit auf, um mich zu recken und in den Regen hinauszusehen, der durch den Lichtschein der Laterne auf der anderen Straßenseite trieb; und ich erkannte, wie wenig ich mich verändert hatte, wie sehr meine Gefühle im Regen an jenem Tag (gestern, meine ich) den Gefühlen ähnelten, die ich als Junge für den Nebel empfunden hatte. Was liegt an der Wurzel von all dem, frage ich mich, was ist das für eine Macht, die vor so langer Zeit ein einsames Kind hinaus auf die nebligen Straßen lockte und zwanzig Jahre später bei starkem Regen immer noch ihre Anziehungskraft ausübt? Was ist bloß am Diesig- und Dämmrigwerden der sichtbaren Welt, das für den Jungen, der ich damals war, ein so großer Trost war, und es noch heute für die Kreatur ist, zu der ich seitdem geworden bin? Seltsame Gedanken, nein? Ich seufzte. Ich bückte mich, um mein Heft unter dem Linoleum hervorzuholen. Nichts! Ich tastete. Ein plötzlicher Anfall von Panik, als die Möglichkeit, das Heft könnte verschwunden sein, in mein Bewußtsein eindrang. Diebstahl? Natürlich - diese verdammte Mrs. Wilkinson, wer denn sonst! Aber dann war es da, eine winzige Spur tiefer unter das Linoleum gerutscht, als ich gedacht hatte; keine unbeträchtliche Erleichterung. Mein Vater wankte blindlings durch den Nebel, ohne sich seiner Umgebung bewußt zu sein, das Chaos in seinem In77
neren intensiviert durch das Bier, das er gerade in sich hineingekippt hatte. Große Erleichterung, um genau zu sein; was um alles in der Welt hätte ich getan, wenn sie es in die Finger bekommen hätte? Ist der beste Platz dafür wirklich der unter dem Linoleum? Gibt es nicht irgendwo ein Loch, in das ich es stecken könnte? Die Straßenlampen waren im Nebel nichts weiter als ein helles Lichtergeschmier, Sprengsel und Splitter eines schwachen, gebrochenen, gelblichen Scheins, der das Glitzern des milden Lichts in den Augen meines Vaters auffing, das flüchtige, verschwommene Weiß seiner Nase und seiner Stirn aufleuchten ließ, wenn er vorüberstürmte. Irgendwo habe ich ein Loch gesehen, ich weiß, daß ich eines gesehen habe, aber wo, wo? Er stolperte weiter, bis er schließlich ein hell erleuchtetes Gebäude sah, und so wie eine Motte vom Licht angezogen wird, ging er darauf zu und fand sich vor dem »Dog and Beggar« wieder. Er ging hinein, hinein in die trockene Wärme des Lokals, und plötzlich war der Geruch von Bier und Tabak in seiner Nase, und das Geräuch von Stimmen in seinen Ohren. Ich kann es mir einfach nicht leisten, das Risiko einzugehen. Ein paar Augenblicke blieb er in der Tür stehen. Seine Brust hob und senkte sich schwer, als er versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Seine Augen waren immer noch wild, seine Haut feucht und glatt vor Nässe. Er sah sich um, betrachtete den Raum mit seinen wie zufällig angeordneten kleinen, runden Tischen; auf den nackten Bodendielen eine dünne Schicht Sägemehl, an der Theke ein alter Mann, der die Rennergebnisse las. Zwei weitere alte Männer an einem Tisch am Kamin, in dem ein kleines Kohlenfeuer brannte; ihre Lippen bewegten sich lautlos über grauem zahnlosem Zahnfleisch. Das Stimmengemurmel kam aus dem anderen Teil des Lokals, dem Saloon, hinter der gläsernen Trennwand, und aus dieser Richtung tauchte nun auch Ernie Ratcliff auf Er sah meinen Vater, legte eine magere Hand auf einen der Zapfhähne 78
und sagte: »Nun komm schon rein, Horace, wenn du reinkommen willst.« Und mein Vater, in dessen Brust immer noch die Leidenschaften tobten, nickte ein oder zweimal ausdruckslos mit dem Kopf und machte die Tür zu. Wie ein Mann in einem Traum ging er auf die Theke zu. Ratcliff bemerkte nichts Ungewöhnliches an ihm - oder falls er etwas bemerkte, so war es nicht seine Art, es anzusprechen. »Eklig draußen«, sagte er. »Richtige Erbsensuppe. Dasselbe wie immer, Horace?« Mein Vater nickte, und ein paar Sekunden später hatte er sein Glas an einen Tisch am Kamin getragen, setzte sich hin und starrte in die Flammen. Ganz plötzlich schien er wieder zu sich kommen, seine Umgebung zu erkennen. Er hob sein Glas, trank den Pint Bier fast auf einen Zug aus, stand auf und ging zurück zur Theke. »Noch mal dasselbe?« fragte Ratcliff entgegenkommend. » Gutes Gebräu, was? « - und er zapfte meinem Vater noch einen Pint. Eine Stunde später stand mein Vater wieder draußen im Nebel. Er war in der Zwischenzeit nicht ruhiger geworden, weit davon entfernt. Der fast wahnsinnige Aufruhr in seinem Inneren hatte sich zwar etwas gelegt, aber aus diesem Aufruhr war ein Entschluß entstanden. Entschluß, sage ich; dabei war es mehr ein Impuls, oder ein Instinkt, als ein Entschluß, eine Art simples blindes Getriebenwerden hin zur Befriedigung eines Hungers und ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, was dieser Hunger war. Auf unsicheren Beinen verließ er das »Dog and Beggar«, knöpfte seine Jacke zu und wickelte sich den Schal um den Hals. Dann schlug er den Weg zum »Earl of Rochester« ein und wurde etwas später vom Nebel verschluckt, der dichter war denn ja. Als er das »Earl of Rochester« erreichte, wirkte mein Vater völlig beherrscht. Er torkelte nicht, er lallte nicht, aber er war nichtsdestoweniger betrunken und nicht weniger in den Krallen des Instinkts, als er es gewesen war, als er das 79
»Dog« verließ. Das »Rochester« war voll, als er dort ankam; es war Freitagabend, und es war fast neun Uhr. Er stieß die Tür auf und ging hastig hinein, umwirbelt von ein paar Nebelfetzen. Eine Welle von Stimmen und Gelächter, von Rauch und Wärme und Licht schlug über ihm zusammen. Er drängte sich zur Theke durch und bestellte einen Whisky. Als er ihn hatte, drehte er sich um, auf der Suche nach Hilda. Sie saß mit Nora und den anderen an einem Tisch in der Ecke. Sie hob den Kopf, sah ihn, stand sofort auf und drängte sich durch die Menge zu ihm durch. Merkwürdig, das; sicher hätten Sie erwartet, daß sie ihn dazu gezwungen hätte, zu ihr zu kommen. Ich glaube, ich weiß, was den Ausschlag für ihr Verhalten an jenem Abend im »Rochester« gab, und für vieles, was anschließend geschah, denn ich glaube, daß sie seit den Ereignissen in der Gasse vom vorherigen Abend etwas über meinen Vater erfahren hatte, etwas Besonderes; wenn die Zeit reif ist, werde ich das alles genauer erläutern. Jetzt jedoch drängte sie sich durch die Menge zu ihm durch, das Gesicht gerötet, ein Glas Portwein in der hoch erhobenen Hand, wie ein Banner, und unterwegs schäkerte sie mit den Männern, die ihr Platz machten, lachend, wie eine aufgewühlte See sich vor einem Schiff unter vollen Segeln teilt. Darin stand sie neben ihm, und als er den ersten Schluck Whisky trank, war das scharfe Brennen des Alkohols wie 01 auf das Feuer des Verlangens, das seit Anbruch der Dunkelheit in ihm schwelte. Einen Fuß auf der Messingstange, die an der Theke entlanglief, die Augen fest auf ihr Gesicht gerichtet, zog er seinen Tabak hervor. »Na, Klempner«, sagte Hilda - auch sie hatte getrunken, und sie erkannte die Wildheit in ihm -, »geht es dir heute abend besser? « Mein Vater drehte sich eine Zigarette, sein Kopf war gesenkt und seine Finger waren mit Rizla-Blättchen und Old Holborn beschäftigt, aber seine Augen ließen ihr Gesicht 80
nicht los. Als er die Zigarette fertig hatte, gab er sich mit einem Streichholz Feuer und sagte: »Komm runter zu den Parzellen. « Ja, sie konnte spüren, wie wild er war, und es erregte sie. »Runter zu den Parzellen?« wiederholte sie, zog die Augenbrauen hoch und legte die Zungenspitze an die Oberlippe. Er drehte sich zur Theke um, nickte und leerte sein Glas. »Wann?« fragte sie. Ein paar Sekunden schwieg er, wartete auf die Bedienung. Er bestellte noch einen Whisky ffir sich selbst und einen süßen Portwein für sie. Sie standen mitten unter den hier und her wogenden Gästen, und es war, als wären sie durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden. »Ich gehe direkt«, sagte er. »Du kommst etwas später nach.« Hilda hob den Portwein an ihre Lippen. Sie ließ eine kleine Pause eintreten. »In Ordnung, Klempner«, sagte sie dann. »Mir soll es recht sein. « Ich weiß jetzt wieder, wo ich ein Loch gesehen habe; hinter dem Heizkörper. Früher war da ein richtiger Kamin, und der leere Rost und der Schornstein sind noch da; genau das Richtige für mich, ich werde das Heft einfach dort verstecken. Aber erst muß ich einen Augenblick innehalten, die ganze Nacht über hatte ich ein höchst merkwürdiges Gefühl in meinen Eingeweiden, als würden sie zusammengedreht wie ein Stück Gummischlauch. Irgend etwas Seltsames geht dort unten vor, obwohl ich nicht genau weiß, was es ist; wahrscheinlich irgend etwas, was ich gegessen habe. Ich kritzelte weiter, weiter durch die Stunden der Dunkelheit, brachte meine genaue und detaillierte Rekonstruktion jener entsetzlichen Nacht zu Papier, die das einzige war, worüber ich in den langen leeren Jahren, die ich in Kanada gefangen war, nachgedacht hatte. Ich war in meinem Zimmer, als meine Mutter, nicht lange nachdem mein Vater aus 81
dem Haus gestürmt war, nach mir rief Ich ging auf den Treppenabsatz hinaus, und da stand sie, stand in Mantel und Kopftuch unten an der Haustür. »Ich muß noch einmal weg, Spider«, sagte sie, »bin aber bald wieder zurück. « Sie hatte sich die Lippen angemalt, wie ich sah, und einen Tupfer Rouge aufgelegt - so sah sie immer aus, wenn sie samstags abends mit meinem Vater ausging. Heute war erst Freitag, aber nach dem, was geschehen war, konnte sie ganz offensichtlich nicht tatenlos in der Küche sitzenbleiben. »Ich will mich mit deinem Vater treffen«, sagte sie. Es waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Ich sah, wie sie durch die Hintertür aus dem Haus ging, und ich beobachtete sie, als sie auf dem Hof stehenblieb und sich die Handschuhe überstreifte. Sie hatte das Licht in der Küche angelassen, und für einen kurzen Augenblick wurde sie von seinem Schein eingehüllt; das alles sah ich von meinem Schlafzimmerfenster aus. Dann ging sie über den Hof, eine adrette zierliche Frau, die sich mit ihrem Mann treffen wollte, und einen Augenblick später wurde sie vom Nebel verschluckt und entschwand meinem Blick. Aber ich war immer noch bei ihr, verstehen Sie, ich war bei ihr, während ich mich auf das Fensterbrett stützte und die Scheibe mit meinem Atem bewölkte, ich war bei ihr, als sie durch die Gasse ging, die Handtasche fest umklammert, und sich im schwachen Licht der Straßenlampe am Ende der Gasse vorsichtig vorantastete. Sie wußte nicht, ob mein Vater im »Dog« sein würde, und auch nicht, was für eine Art von Empfang sie erwarten würde, sollte sie ihn dort finden, aber sie konnte nicht länger weinend in der Küche sitzen, wenn er sich Gott weiß wo herumtrieb und betrank und erfüllt war von einem Groll, den sie nicht verstand, der jedoch offensichtlich - ohne daß sie sich einer Schuld bewußt gewesen wäre - gegen sie gerichtet war. Sie erreichte das »Dog«, ging mutig hinein und weiter an die Theke. »N'Abend, Mrs. Cleg«, sagte Ernie Ratcliff. »Suchen Sie 82
Ihren Mann? Er war vorhin hier, aber ich glaube, er ist schon wieder gegangen.« Er sah sich mit seinen kleinen Wieselaugen um. »Nein«, sagte er dann. »Keine Spur von ihm, Mrs. Cleg.« »Ich verstehe«, sagte meine Mutter. »Vielen Dank, Mr. Ratcliff. »Sie hatte sich fast schon umgedreht, als ihr plötzlich etwas einfiel. »Mr. Ratcliff«, sagte sie. »Können Sie mir vielleicht sagen, wo das >Earl of Rochester ist? « Ich sehe meinen Vater durch nebelverhangene Straßen zu den Parzellen gehen. Er geht die Spleen Street hinunter, in der die hoch über ihm aufragenden Massen des Gaswerks kaum zu erkennen sind, den Omdurman Close entlang, und über die Brücke, die über die Eisenbahnschienen führt, eine kleine dunkle Gestalt, die mit schnellen Schritten durch den Nebel hastet. Das Klirren seiner genagelten Stiefel auf dem Pflaster klingt gedämpft und verhalten. Als er den Pfad erreicht hat, bleibt er einen Augenblick stehen; hier oben auf der Anhöhe ist der Nebel nicht ganz so dicht, und er kann sogar den Mond sehen und ein Stückchen weiter links den ersten Schuppen. Er bleibt einen Augenblick stehen, eine verschwommene aber dennoch deutlich erkennbare Gestalt vor dem Hintergrund der grauschwarzen Nacht mit ihrem blassen Mondlichtfleck, und unter ihm liegen die Parzellen, und hinter ihnen das Gewirr der Straßen und Gassen, die zu den Docks hinunter abfallen, von denen durch den Nebel hindurch das klagende Tuten der Schiffe zu ihm dringt; ein paar Augenblicke später schließt er die Tür zu seinem Schuppen auf, und dann ist er drinnen und sucht in seinen Taschen nach Streichhölzern. Es ist kalt und klamm im Schuppen, und in der Dunkelheit mit ihrem durchdringenden Geruch nach Erde könnte man, so denkt er, das Gefühl bekommen, sich in einem Sarg zu befinden. Dann flammt das Streichholz auf, er zündet die Kerze auf der Kiste neben dem Roßhaarsessel an, und die Flamme 83
wirft ein schwaches flackerndes Licht in den Schuppen. Er reißt eine Büchse Bier auf und geht unruhig im Schuppen auf und ab; sein Schatten ist riesig und mißgestaltet in dem trüben flackernden Licht, das auf die rohen Bretterwände und die Dachbalken fällt. An der hinteren Wand, die im Schatten liegt, fängt das Auge des ausgestopften Frettchens plötzlich den Schein der Kerze auf und wirft einen grellen, glitzernden Pfeil aus Licht durch den Schuppen zurück. Der Alkohol im Blut meines Vaters läßt ihn nicht zur Ruhe kommen, erlaubt ihm kein Innehalten, so daß er noch einmal darüber nachdenken könnte, was er tut; er verharrt in einer Art Fieber, bleibt getrieben von diesem einen fixen Instinkt. Dann kommt sie. Mein Vater hört sie und reißt die Tür auf Fluchend und stolpernd kommt sie barfuß über den Pfad gewankt, die Schuhe in der einen und eine Flasche Portwein in der anderen Hand. »Scheiße! « ruft sie, als einer ihrer Füße im Kartoffelbeet versinkt. Mein Vater grinst, und in dem gedämpften Licht, das aus dem offenen Schuppen fällt, sieht Hilda seine weißen Zähne blitzen, als er ihr entgegengeht, um ihr zu helfen. Sie zieht den Fuß aus der weichen Erde, und er legt einen Arm um ihre Schultern. Sofort kleben sie unter dem rauchigen Mond aneinander, sofort flammt die Hitze, die seit dem frühen Abend in meinem Vater schwelt, mit fast wütender Intensität wieder auf, während sie eng aneinandergepreßt auf dem Pfad vor dem Schuppen vor und zurück schwanken. Gedämpftes Lachen von Hilda, die das Gesicht im Kragen meines Vaters vergraben hat, dann lösen sie sich langsam voneinander und gehen auf den Schuppen zu, und durch die Tür, und die Tür schließt sich, und Stille breitet sich über die Parzellen. (Guter Gott, ich wäre froh, auch über dieses Haus würde sich Stille breiten! Sie haben wieder angefangen, und es hört sich an, als würden sie dort oben stampfen; sie treiben es minutenlang ohne Pause, bis sie dann, anscheinend 84
atemlos vor Gelächter, hilflos zusammenbrechen. Ich bin schon auf meinen Stuhl geklettert, und habe mit dem Schuh an die Decke gehämmert, aber es nützt nichts, es nützt überhaupt nichts, ganz im Gegenteil scheint es alles nur noch schlimmer zu machen. Mrs. Wilkinson wird sich für vieles zu verantworten haben, und die Störung meiner Nachtruhe durch diese Kreaturen ist der nicht unwesentlichste Punkt. Und meine Eingeweide tun immer noch weh!) Meine Mutter stand dicht hinter der Tür des »Earl of Rochester« und sah sich ängstlich um. Das Lokal war voll, und zu dieser relativ späten Stunde hatte eine Art kollektiver Wahn die Gäste erfaßt, und sie redeten und lachten und gestikulierten wie Karikaturen von Männern und Frauen, wie groteske Marionetten, und meine Mutter, von Natur aus scheu und außerdem nüchtern, ließ sich völlig davon einschüchtern. Die Luft war voller Rauch, der fast so dicht hing wie der Nebel draußen; und im Gedränge all dieser Leute, deren Lautstärke ihre Körperlichkeit zu vergrößern schien, während sie ihre Menschlichkeit verkleinerte, konnte sie nicht einmal vermuten, ob mein Vater da war oder nicht. Aber obwohl sie scheu und nüchtern war, hatte sie sich zu einem bestimmten Vorgehen entschlossen: Sie umklammerte ihre Handtasche und fing an, sich zur Theke durchzudrängen, wobei sie immer wieder Entschuldigungen murmelte und sich gleichzeitig suchend umsah. Endlich hatte sie die Theke erreicht und wartete geduldig darauf, daß eine der Kellnerinnen auf sie aufmerksam würde. Aber wann immer eine von ihnen in ihre Nähe kam, drängelte sich irgendein großer rotgesichtiger Mann von hinten vor, steckte riesige rote Pranken mit Bier- oder Whiskygläsern über ihre Schulter und fing an, eine lange, 85
komplizierte Liste von Getränken herunterzurasseln; und die Kellnerin flitzte hierhin und dorthin, um seiner Bestellung nachzukommen. Das geschah mehrmals hintereinander, und immer noch stand meine Mutter an der Theke, eine Zwergin im Vergleich zu diesen schier gigantischen Zechern, bis sie schließlich die ungeteilte Aufmerksamkeit einer freundlichen jungen Frau auf sich zog, die sagte: »Was kann ich Ihnen bringen? « »Ich suche meinen Mann«, sagte meine Mutter. Ein Schnauben des Mannes, der neben ihr stand, und eine wahre Salve lärmender Kommentare von seinen Freunden, als er die Worte meiner Mutter wiederholte. »Und wer ist Ihr Mann? « fragte die abgehetzte Kellnerin, nicht ohne Mitgefühl, wobei sie ihre Stimme hob, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. »Horace Cleg.« »Wie war das? « fragte die Kellnerin. »Horace Cleg«, wiederholte meine Mutter. »Horace!« brüllte der Mann neben ihr. »Dein Typ wird verlangt!« »Ist er hier?« fragte meine Mutter, und drehte sich zu ihm um. »Nicht wenn er auch nur einen Funken Verstand hat, dann nicht!« sagte der Mann, und er und seine Freunde brüllten vor Lachen. »Horace Cleg?« sagte die Kellnerin. »Den kenne ich nicht. Ist er Stammkunde?« »Nein«, sagte meine Mutter. »Das heißt, ich glaube nicht.« »Dann tut es mir leid«, sagte die Kellnerin. »Kann ich Ihnen etwas bringen? « »Nein, danke«, sagte meine Mutter, drehte sich um und fing an, sich durch die Menge zur Tür zurückzukämpfen. Einen Augenblick später stand sie wieder draußen im Nebel. 86
Sie hatte die Eisenbahnbrücke überquert und stand auf dem Pfad, der an den Parzellen entlangführte; sie starrte den Schuppen meines Vaters an. Das Gelände dahinter fiel steil ab, und das spitze Dach des Schuppens zeichnete sich klar umrissen vor dem faserigen Nebel und dem nächtlichen Himmel ab, an dem der Mond nicht wie eine runde Scheibe aussah, sondern mehr wie in unförmiger Klumpen, wie eine riesige Kartoffel. Durch die Ritzen des Türrahmens sickerte ein leise flackerndes Licht, sie wußte also, daß er da war; was sie auf dem Pfad stehenbleiben ließ, waren die seltsamen gedämpften Geräusche, die aus dem Schuppen drangen; offensichtlich war er nicht allein. Nach einer Weile wurde es still, und meine Mutter, die in der kalten Nachtluft fror, dachte daran, einfach über den Pfad zu gehen und an die Tür zu klopfen. Aber sie rührte sich nicht, sie blieb zitternd am Tor stehen, starrte den Schuppen an und preßte ihre Handtasche an sich. Aus dem Straßengewirr hinter den Parzellen drang das trostlose Bellen eines Hundes zu ihr, und vom Fluß her waren die Nebelhörner zu hören; dann dampfte ein Güterzug auf seinem Weg in die Stadt hinter ihr vorbei und ließ sie erschrocken zusammenfahren. Nicht ohne beträchtliche Überwindung, und nicht ohne Mut, machte sie das Tor auf und ging mit schnellen Schritten über den Pfad zur Tür des Schuppens. Als Junge wurde ich oft von Alpträumen gequält; und in dieser Nacht träumte ich vom Kanal am Gaswerk. In meinem schlafenden Hirn tobte ein schwerer Sturm: Das Wasser war schwärzer denn je, es toste und schäumte, und am Himmel zuckten knisternde Blitze zwischen tief hängenden, drohenden Regenwolken, schwellenden, schwarzen, schmutzig gefleckten Formationen, die an den Rändern wie Rauchfahnen verwehten. Ich stand am Rand des Kanals, als plötzlich ein Skelett aus dem Wasser auftauchte, hochgetragen von einer Welle, ein Skelett, in 87
dem ein glattes, seehundartiges Wesen steckte, das in seinem Brustkorb eingeklemmt war. Die schnurrbärtige Schnauze jenes schrecklichen, schwarzen, klumpigen Dings ragte zwischen den Rippen hervor, und als es mich kläglich anblökte, zeigte es eine Reihe winziger weißer Zähne; die Wasser des Kanals hoben es fast in meine Reichweite, dann versank es unter unaufhörlichem, jämmerlichem Blöken, und ich sah, daß der Kanal überall um mich herum gräßliche Dinge emporschleuderte, einen riesigen grauen Fisch, der in einem schmalen Einkaufsnetz zappelte, das straff über seine Augen und sein Maul gespannt war, wie ein Strumpf; einen Stiefel, der aus winzigen, weißen Knochen gemacht war; weitere schnurrbärtige, seehundartige Wesen, von denen viele in Netzen zuckten und zappelten und von denen mehrere menschliche Gesichter hatten, die jämmerlich blökten, wenn sie von den schwarzen Wellen hochgehoben wurden, um dann wieder zu versinken. Mit jeder schaumgekrönten Welle wurde irgendein neuer Schrecken aus den Tiefen emporgetragen und meinen Augen enthüllt, und ich wußte mit abgrundtiefer Gewißheit und abgrundtiefem Entsetzen, daß ich meinen Halt am Ufer des Kanals verlieren und mitten in diese blökenden Abscheulichkeiten hineinfallen würde. Und dann war da plötzlich das Bild meines Vaters, in Hemdsärmeln und Mütze, der in seinem Kartoffelbeet ein Loch aushob. Es war neblig dort draußen im Garten, aber nicht neblig genug, um den narbigen knotigen Klumpen des Mondes ganz zu verbergen. In der Tür des Schuppens sah ich Hilda, die, den räudigen Pelzmantel über die Schultern gelegt, rauchend am Türrahmen lehnte, während die Kerze im Schuppen einen schwachen Lichtschein um sie breitete. Ein paar Minuten später kniete mein Vater sich nieder und hob mit unendlicher Sorgfalt eine Kartoffelpflanze aus der Erde, wobei er den blättrigen Schößling liebevoll mit der einen Hand 88
umfaßte, während die andere das stielige Rhizon mit seinen zart wehenden, hauchfeinen Wurzelfasern hegte. Er legte die Pflanze zur Seite - es war ein unheimliches Gefühl, die Zärtlichkeit zu beobachten, mit der er die Pflanze behandelte! Dann grub er weiter, die Reihe der Kartoffelpflanzen neben dem Loch wurde immer länger; Hilda verschwand im Schuppen und kam etwas später mit einer Flasche Portwein und einer Teetasse wieder zum Vorschein. Nebelhörner tuteten auf dem Fluß. Dann sah ich, daß mein Vater bis zur Schulter in dem Loch stand, das er gegraben hatte, trotz der neblig kalten Nacht schweißüberströmt. Er warf den Spaten nach oben und kletterte mit einiger Mühe hinterher. Die Erde bröckelte unter seinen Fingern, und mehrere Male rutschte er wieder zurück. Hilda kam vom Schuppen herüber und warf, den Mantel immer noch über den Schultern, einen Blick in das Loch. Im Mondlicht glänzende Würmer, nur schwach zu erkennen, winden sich an den steilen Wänden des Lochs aus der Erde heraus. Jetzt kommt mein Vater aus dem Schuppen, etwas Unförmiges in den Armen, das teilweise in einen blutverschmierten Sack gehüllt ist. Es ist eine Leiche, deren Kopf in einem Sack steckt, der am Hals mit einem Stück Schnur zugebunden ist. Er legt die Leiche am Rand des Lochs nieder, steht auf und sieht Hilda an, die zwischen den ausgemachten Kartoffelpflanzen steht. Sie zieht den Mantel fester um ihre Schultern. Mein Vater versetzt der Leiche mit dem Fuß einen Schubs, und sie plumpst in das Gras hinein und bleibt unten flach auf dem Rücken liegen. Der eine Arm ist unter dem Körper eingeklemmt, der andere liegt verdreht hinter dem mit Sackleinwand umwickelten Kopf, ein Anblick, der an eine Lumpenpuppe erinnert. Hilda kommt an den Rand des Lochs und stößt mit dem Fuß etwas lose Erde hinein; dann schaudert sie zusammen und geht in den Schuppen zurück. Mein Vater hebt den Spaten auf 89
und fängt an, das Loch zuzuschaufeln; mit äußerster Sorgfalt setzt er ganz zum Schluß die Kartoffelpflanzen wieder ein. Ich wachte schreiend auf, kletterte aus meinem Bett und rannte über den Treppenabsatz ins Zimmer meiner Eltern, aber das Bett war leer, also lief ich die Treppe hinunter und durch den engen Flur, die beide in völliger Dunkelheit lagen, in die Küche. Ich riß die Tür auf. Mein Vater saß mit einer Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, am Küchentisch. »Was ist?« fragte er. »Was ist los mit dir? « Er stand auf, führte mich aus der Küche in den Flur und machte die Tür hinter sich zu. »Geh wieder rauf«, sagte er, während er mich durch den Flur führte. » Geh wieder ins Bett, Dennis. « »Wo ist meine Mum?« fragte ich, während ich versuchte, mich gegen das Geschobenwerden zur Wehr zu setzen. »Komm schon, Sohn, zurück ins Bett.« »Wo ist meine Mum? « schrie ich. »Ich will nicht ins Bett! Ich hatte einen Traum! « »Jetzt ist es aber gut«, sagte er, und versetzte mir einen Stoß. »Ich will meine Mum! « »Mach mich nicht wütend, Dennis! Deine Mum ist in der Küche.« »Nein, ist sie nicht! « »Rauf ! « zischte er. »Du tust mir weh! « Er hielt meine Handgelenke viel zu fest umklammert, als er versuchte, mich die Treppe hinaufzustoßen, und seine Zähne waren gebleckt. »Du tust mir weh«, jammerte ich - und er ließ mich los und lehnte sich am Fuß der Treppe gegen die Wand. »Geh wieder ins Bett«, sagte er mit plötzlicher ruhiger Stimme. Sein Zorn schien 90
völlig verflogen zu sein. »Du kannst das Licht anlassen. Ich komme später und sehe noch einmal nach dir. « Auch ich wurde ruhig. Ich fing an, die Treppe hinaufzugehen. Auf halbem Weg blieb ich stehen und drehte mich um. »Was ist das für eine Frau? « fragte ich. Er sah mich an, nahm seine Brille und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Was für eine Frau? « »Die in der Küche. « »Mach mich nicht böse, Dennis. Und geh endlich rauf. « Als ich die Treppe hinaufstieg, ging er in die Küche zurück und machte die Tür hinter sich zu. Es war fast Weihnachten, als mir endgültig aufging, daß meine Mutter tot war. Dennoch sind die Stunden, die jetzt folgten, klar und deutlich in meinem Gedächtnis verzeichnet, und zwar nicht nur die, die ich mit eigenen Augen beobachten konnte, sondern auch jene, deren Rekonstruktion später, in Kanada, so qualvoll für mich war. Horace und Hilda gingen schweigend zusammen nach Hause, und während sie durch die engen, menschenleeren, nebligen Straßen wanderten, drückte sie sich an ihn, und zum ersten Mal durfte er sie stützen, durfte er einen Arm um ihre Schulter legen und ihr Gewicht tragen. Nachdem er gemordet hatte, fühlte er sich innerlich ganz leicht und ruhig, sogar heiter, obwohl diese Gefühle ihre Existenz mehr einem Zustand der Benommenheit und des Schocks verdankten als irgendeiner echten Befreiung; mein Vater war ein Narr, wenn er glaubte, die Qualen der Schuld würden ihm erspart bleiben, und sie machten sich dann auch tatsächlich sehr schnell bemerkbar. Den Rest jener Nacht verbrachte Hilda bei ihm in der Kitchener Street. Sie hängte ihren Rock und ihre Bluse in den Schrank, neben die Kleider meiner Mutter, warf ihre Unterwäsche über einen Stuhl und kletterte dann ins Bett. Mein Vater hätte nur allzu gerne mit ihr Verkehr gehabt, aber sie erlaubte ihm keinerlei Berührung. Früh am näch91
sten Morgen schlich ich mich leise ins Zimmer meiner Eltern, blieb neben dem Bett stehen und sah hinunter auf den massigen Körper unter den Decken, unter denen der Körper meiner Mutter hätte liegen sollen, und auf das Kopfkissen, auf dem sich Hildas Haare in wirren, gelben, an den Wurzeln schwarzen Strähnen kringelten. Das Licht, das durch die Vorhänge sickerte, war grau und düster, und das Zimmer stank nach schalem Alkohol. Plötzlich wurde mein Vater wach. Das erste, was er wahrnahm, war die Gestalt, die stumm neben dem Bett stand, das zweite der widerliche Schleimgeschmack in seinem Mund. Dann kam die Erinnerung an die Nacht zu ihm zurück, und er drehte sich um und warf einen Blick auf Hilda, die neben ihm im Bett lag. Dann fiel sein Blick wieder auf mich, und ich sah, daß er plötzlich Angst hatte, und sich nach einem Drink sehnte; aber wir hatten nie etwas zu trinken im Haus (dafür sorgte meine Mutter), höchstens einmal eine Flasche Bier. Er hatte das Bedürfnis, sich zu Hilda umzudrehen und bei ihr Trost zu suchen, aber durch ihre Mittäterschaft und ihre Teilhabe an seinem eigenen schuldbewußten Entsetzen schien ihr plötzlich ein Makel anzuhaften. Schließlich erinnerte er sich an die kleine Flasche Whisky, die er letzte Weihnachten gekauft und nie getrunken hatte. Ich war schon wieder in meinem Zimmer, als er aus dem Bett kletterte, Unterhemd und Hose überstreifte und erst einmal aufs Klo ging. Ein paar Minuten später durchquerte er wieder die Küche und ging von dort ins Wohnzimmer, wo er den Whisky im Schrank fand. Und dort blieb er im Dämmer jenes seltsamen Samstagsmorgens sitzen, dessen Seltsamkeit nicht zuletzt auch darin begründet war, daß er in diesem Wohnzimmer saß; ich hatte nie zuvor erlebt, daß er sich alleine dort aufhielt. Das Wohnzimmer war für Besuch bestimmt, und meine Eltern hatten nur sehr selten Besuch - sie waren nicht sehr gesellig. Eine Stunde später hatte er sich ein wenig gefangen und 92
fühlte sich dazu in der Lage, nach oben zu gehen und nach Hilda zu sehen. Der Whisky hatte die grellen Umrisse der nächtlichen Tat etwas verwischt; das Grauen, das für ein paar Minuten fast unerträglich gewesen war, war in den Hintergrund zurückgewichen und hatte der noch etwas wankenden Zuversicht Platz gemacht, daß sie damit durchkommen würden (er muß, so denke ich, von Anfang an in Begriffen eines »sie« gedacht haben, in Begriffen einer gemeinsamen, geteilten Verantwortung). Langsam, schwerfällig, stieg er die Treppe hinauf; ich war in meinem Zimmer, am Fenster, das Kinn auf die Hände gestützt. Der Vormittag war bereits weit fortgeschritten, aber der Nebel hing immer noch über der Stadt und hüllte sie in Zwielicht. Während er unten war, war ich noch einmal über den Treppenabsatz geschlichen und hatte mir die Frau im Bett meiner Mutter noch einmal angesehen. Sie schlief immer noch tief und fest und schnarchte; einmal hörte ich sie ein paar Worte murmeln, die ich jedoch nicht verstehen konnte. Das Zimmer war dunkel, und der widerliche, süßliche Geruch nach Portwein hing immer noch schwer in der Luft; aber außerdem war da noch ein anderer Geruch, ich bemerkte ihn sofort, so vertraut war mir der Geruch meiner Mutter: Auch dies war der Geruch einer Frau, aber es war Hildas Geruch, ein warmer fleischiger Geruch, durchdrungen vom Duft eines starken Parfüms und den Ausdünstungen ihres Pelzes, der, vom Nebel durchtränkt, an der Schranktür hing. Außerdem war da der Geruch ihrer Füße, und ich hatte den Eindruck eines großen weiblichen Tieres, das nicht unbedingt sehr sauber und möglicherweise gefährlich war. Und in den Bau, in die Höhle dieses Tieres ging mein Vater, gestärkt vom Whisky; ich lauschte hinter meiner Zimmertür, die ich ein wenig geöffnet hatte, das Ohr an den Spalt gepreßt. Ich hörte, wie er sich auszog und wieder ins Bett kletterte. Sie lag mit dem Rücken zu ihm, mit dem Gesicht zum 93
Fenster und dem dahinterliegenden Gaswerk. Behutsam schmiegte mein Vater sich an ihren Körper (ich konnte die Federn quietschen hören), so daß sein Unterleib ein kuscheliges Nest für ihren Hintern bildete. Einen Arm ganz leicht über sie gelegt, preßte er sein Gesicht in ihr Haar (das nach Zigarettenrauch roch) und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber er konnte nicht schlafen. Wieder stieg das Grauen in ihm auf Sie bewegte sich, und ich hörte ein Wälzen in dem großen Bett. Lautlos schlich ich aus meinem Zimmer und über den Treppenabsatz, bis ich vor ihrer Tür stand, die ebenfalls einen Spalt weit offen war (sie ließ sich nicht mehr richtig schließen, diese Tür). Lautlos ging ich in die Knie und schob den Kopf um den Türrahmen herum, bis ich sie sehen konnte. Hilda hatte sich umgedreht und schlang, immer noch schlafend, die Arme um meinen Vater. Wieder murmelte sie etwas Unverständliches, dann wurde ihr Atem ruhig und gleichmäßig, ihr Busen hob und senkte sich, und mein Vater, fest umschlungen, fand endlich Frieden und war etwas später ebenfalls eingeschlafen. Mehrere Minuten beobachtete ich das schlafende Paar, dann schlich ich in mein Zimmer zurück und beschäftigte mich mit meiner Insektensammlung, spitzte aber gleichzeitig die Ohren, um zu hören, wann sie wach werden würden. Ich nehme an, daß es mir darum ging, irgend etwas zu hören, irgend etwas, was mir helfen würde herauszufinden, wohin meine Mutter - meine richtige Mutter - verschwunden war. Mein Vater wurde am späten Nachmittag wach. Im Zimmer war es immer noch dunkel, denn die Vorhänge waren zugezogen, und alles, was durch die Ritzen sickerte, war das graue Dämmerlicht des noch immer anhaltenden Ne94
bels. Auch Hilda wurde wach und löste ihre Glieder aus seiner Umarmung, und die große durchgelegene Matratze wogte unter ihr, und die Federn und die Scharniere des alten Bettes quietschten und knarrten, und ich schlüpfte noch einmal über den Treppenabsatz zum Schlafzimmer. Hilda reckte sich und gähnte, und dann drehte sie sich zu meinem Vater um und seufzte: » Klempner. « Sie sah ihn mit verschlafenen Augen an. Es war heiß im Bett, und ich überlegte, daß mein Vater sich bestimmt gerne das Gesicht gewaschen und die Zähne geputzt hätte (mir wäre es bestimmt so gegangen), aber Hilda schloß ihn in ihre Arme - und einen Augenblick später kam Leben in sie. Auf den Knien vor der Schlafzimmertür sah ich die Bewegung unter den Decken, dann war er plötzlich über ihr, im Halbdunkel des Zimmers bildete sich unter den heißen Decken ein Höcker. Ein kleineres Durcheinander, als sie sich ein Kopfkissen unter den Hintern stopfte, dann wurde aus den Bettdecken ein Zelt, es höhlte und beulte sich, senkte und bauschte sich, die ganze bewegte, schattige Masse fing an zu stöhnen wie ein einziges Wesen, während das Quietschen und Knarren der alten Nachtmaschine einen bestimmten Rhythmus annahm, der eine seltsame Wirkung auf den gaffenden jungen Spider hatte; und dann drehte dieser wogende Hügel sich wie ein sportlicher Wal einmal um sich selbst (heiseres Lachen und unterdrücktes Gegrunze begleiteten dieses unbeholfene Manöver), und ihr blonder Schopf tauchte aus dem Hügel auf und wandte sich mit vorgestrecktem Kinn dem Fenster zu, und sie hob und senkte sich, so als durchpflüge sie eine schwere See. Sie stöhnte. Das alte Bett quietschte und knarrte unter ihr wie die Spieren und Rahen einer Galeone, und ihr Stöhnen verwandelte sich in das Heulen des Windes im Topsegel, als sie immer weiterpflügte, sich hob und senkte und vorwärtsdrängte, während ihr Kinn sich erst der Decke entgegenreckte und dann hinunter auf ihre Brust sank, und ihre 95
dicken weißen Arme standen wie Säulen unter ihrem Leib und die wirren blonden Strähnen fielen nach vorn und verbargen ihr Gesicht vor den gierigen Blicken des beobachtenden Spiders. Dann endlich sackte sie zusammen, sie verlosch, mit einem lang anhaltenden Klagelaut, der genausogut Wonne wie auch Schmerz sein konnte, und dann senkte die Stille sich über den Raum, und das einzige Geräusch war ein erschöpftes Keuchen, das immer leiser wurde, je mehr Zeit verging. Stille; dann hievte sie sich von meinem Vater herunter und setzte sich auf die Bettkante, das Gesicht zur Tür gewandt, die Füße auf dem Boden, und gähnte. Ich kniete immer noch an der Tür und starrte die Frau an; ich wagte nicht, mich zu bewegen. Im Bett hinter ihr murmelte mein Vater irgend etwas, und ich sah, wie sie den Kopf schüttelte. Sie kratzte sich gedankenverloren am Ohr, und die Bewegung ließ ihre Brüste wabbeln. Ihr Bauch wölbte sich wie ein weiches weißes Kissen; ich starrte fasziniert auf das Dreieck aus weichem Fleisch unter der Falte des Bauches, und auf das kleine Büschel lockiger schwarzer Haare zwischen ihren dicken Oberschenkeln. Wieder gähnte sie, und drehte sich zu meinem Vater um, und ich zog mich von der Tür zurück. Einen Augenblick später hörte ich, wie sie an den Schrank ging, ich hörte die Kleiderbügel klappern, als sie in den Kleidern meiner Mutter herumwühlte; und auf lautlosen Füßen schlich ich in mein Zimmer zurück. Später wollte sie sich das Haus ansehen. Ich beobachtete sie, als sie vorsichtig unsere schmale Treppe hinunterkletterte, sich behutsam und halb zur Seite gedreht die Stufen hinuntertastete, in einem eng taillierten dunkelblauen Kleid mit kleinen weißen Tupfen: dem Sonntagskleid meiner Mutter. Ich beobachtete, wie sie hinunterging, mit weit ausladendem Hinterteil, eine dicke Hand auf dem Geländer, und als ich das Klappern ihrer Absätze hörte, mußte ich 96
unwillkürlich an das weiche schabende Geräusch denken, das die Hausschuhe meiner Mutter machten, wenn sie sich durch das Haus bewegte. Sie hatte sich den Mund mit dem Lippenstift meiner Mutter angemalt und ihre Haare mit dem Kamm meiner Mutter gekämmt; aber der Geruch war ganz Hilda. Ihr Bauch wölbte sich unter dem dünnen Stoff des getüpfelten blauen Kleides, es war ein großzügiger, fleischiger Bauch, der an den Flanken in die feste, baumstammartige Rundung ihrer Oberschenkel überging, zwischen denen der Stoff des Kleides klebte wie ein Schleier oder Vorhang, der eine schattige Höhlung verdeckte. »Zwei oben, zwei unten, nicht wahr?« fragte sie, als mein Vater hinter ihr die Treppe hinunterging (sie hatte ihre Nase schon in mein Zimmer gesteckt, mich aber nicht gesehen, ich lag unter dem Bett), dann, ohne seine Antwort abzuwarten: »lch liebe kleine Häuser wie das hier, Horace, ich habe mir schon immer so eins wie das hier gewünscht, Nora kann dir das bestätigen. « Und dann - und achten Sie darauf, wie beiläufig sie diese Bemerkung fallenließ - »Es gehört dir, was? « Es gehört dir, was: Das ist wichtig, darauf werden Air später noch einmal zurückkommen. Aber für den Augenblick genügt es, daß Hilda Wilkinson, eine gewöhnliche Prostituierte, ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, von einer Absteige in die nächste zu ziehen, nicht selten mitten in der Nacht; und unter diesen Umständen war ein Mann mit einem eigenen Haus ein vielversprechender Kandidat um so vielversprechender, sollte die Frau dieses Mannes verschwunden sein! Sie ging weiter, und ihre gräßliche angeberische Stimme hallte durch das ganze Haus, und nichts leichter, als ihre Motive zu durchschauen: »Man muß sein Geld in Immobilien anlegen, sage ich immer. Ist das hier das Wohnzimmer, Horace? Das ist aber mal wirklich ein hübsches Zimmer. Hier könnte man seine Freunde wirklich sehr schön empfangen. « 97
Horace und Hilda verbrachten eine Stunde im Wohnzimmer und tranken den Rest des Whiskys. Nach allem, was ich hören konnte, fühlte sie sich wohl, das Zimmer schien irgendeiner heimlichen Sehnsucht nach Ehrbarkeit zu entsprechen, die sie in ihrem Inneren hegte. Sie füllte es bis zum Bersten mit ihrer Gegenwart, als sie den bescheidenen Kamin mit seinem glänzend polierten Kohlenkasten und den dazugehörigen Stochern und Schüreisen aus Messing bewunderte, und sie äußerte Gefallen an dem gekachelten Kaminsims mit dem ovalen Spiegel darüber, und an den fünf Gänsen aus Porzellan, die in einer schräg aufsteigenden Linie an der Wand hingen. Auch das Muster der Tapete gefiel ihr, und die Chintzbezüge der Polstermöbel. Die Glasvitrine mit ihren drei Wedgewood-Stücken: auch sie fand ihre Zustimmung. »Ich liebe Wohnzimmer, Horace«, sagte sie, mehr als einmal. »Sie geben einem Haus so was Ehrbares. « Und was für einen Eindruck machte das alles auf meinen Vater, der schließlich versuchte, mit Hilfe des Whiskys einen wahren Mahlstrom von Schuldgefühlen abzuwehren, während der Mord sich mit jeder vergehenden Stunde wie ein Virus tiefer in das lebende Gewebe seiner lebenswichtigen Organe hineinfraß? Es war Speck im Haus, und als sie den Whisky leergetrunken hatten, gingen sie hinüber in die Küche. Sie aßen ihr Frühstück, als es schon dunkel wurde; der Duft des Specks trieb zu mir herauf und steigerte meinen eigenen, nagenden Hunger, denn ich hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen; aber ich wollte auf keinen Fall hinuntergehen. Ich saß am Fenster und beobachtete den Lichtschein, der aus dem Küchenfenster fiel und die Dunkelheit des Hofes kaum durchdringen konnte. Ich sah Hilda aus dem Haus kommen und zum Klo gehen und war in diesem Augenblick sehr versucht, hinunterzugehen, aber die Aussicht, ihr über den Weg zu laufen, wenn sie zurückkam, hielt mich davon ab. »Du solltest die Toilette da drau98
ßen wirklich mal in Ordnung bringen, Horace«, sagte sie, als sie zurückkam. »Sind ja schöne Zustände, wenn in einem Klempnerhaushalt die Toilette nicht geht! « Zehn Minuten später machten sie sich auf den Weg zum »Earl of Rochester«, und ich ging hinunter. Es war kein Speck mehr da, also mußte ich mich mit Brot und dem ausgelassenen Fett begnügen. Würde dieser gräßliche Tag denn nie zu Ende gehen? Ich konnte nicht mehr darüber nachdenken, über jenen langen Abend, den ich ganz allein im Haus verbrachte und an dem Hildas Geruch mir immer und überall in die Nase stieg. Nachdem ich das Brot mit dem ausgelassenen Fett gegessen hatte, ging ich hinaus in den Nebel und schlug den Weg zum Kanal ein, wo ich in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit umherwanderte, manchmal verzweifelt, manchmal vor hilflosem Zorn den Tränen nahe, und Steine in das schwarze Wasser kickte und mich so gut es eben ging von der nebligen Dunkelheit der Nacht trösten ließ. Wo war meine Mutter? Wo war sie? Es war schon nach neun, als ich zur Nummer siebenundzwanzig zurückkam und durch die Hintertür hineinging; das Haus war leer. Ich aß noch etwas Brot mit Fett und ging dann hinauf in mein Zimmer und holte meine Insektensammlung hervor. Ich hörte meinen Vater spät nach Hause kommen, allein; er blieb in der Küche sitzen und trank Bier, bis er die Besinnung verlor. Gegen Mitternacht schlich ich hinunter und sah ihn in sich zusammengesackt auf dem Stuhl am Herd sitzen, immer noch in Mütze und Schal, und selbst im Schlaf klebte eine Zigarette an seiner Unterlippe. Der nächste Tag war ein Sonntag. Wie es seine Gewohnheit war, fuhr er zu seiner Parzelle. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, es war ein kühler wolkiger Vormittag, der nach Regen aussah. Als er durch die leeren Straßen radelte, war er immer noch zu einem sehr hohen Grad ein Mann, der in einer Krise steckte: Seit dem Mord waren kaum drei99
ßig Stunden vergangen, und er hatte sich noch nicht an das neue Territorium gewöhnt, das er jetzt bewohnte. Ein Mord sondert einen Mann ab, versetzt ihn in eine andere Welt, eine enge, begrenzte Welt, eingeengt und eingeschränkt, von Schuld und Mitschuld und der Furcht vor Verrat. Noch war ihm nichts davon in seiner ganzen Tragweite klargeworden, denn er stand immer noch unter Schock; er radelte an zugezogenen Fenstern vorbei, hinter denen eine Welt schlief, von der er nun für immer ausgeschlossen war, obwohl ihm das, wie ich bereits sagte, noch nicht so ganz klargeworden war. Das änderte sich bald! Ich war schon immer der Meinung, daß in der Tatsache, daß der Garten, in den mein Vater so oft vor seinem häuslichen Leben geflüchtet war, nun mit dem Grauen des Mordes an meiner Mutter belastet war, eine freudlose, poetische Gerechtigkeit lag. Er selbst empfand das nur ganz schwach, als er an jenem Sonntagmorgen durch die Straßen radelte, aber je näher er der Eisenbahnbrücke kam, desto stärker wurde der Wunsch, umzukehren und die Parzellen so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Aber er kehrte nicht um, denn gleichzeitig empfand er eine vage, perverse Erregung bei dem Gedanken, die Erde wiederzusehen, unter der sie lag. Es gab jedoch nichts, was ihn auf die Welle des Grauens vorbereitet hätte, die ihn mit voller Wucht traf, als er das Tor öffnete und auf dem Gartenpfad stehenblieb. Mehrere Augenblicke strudelte sie in einer reißenden, wirbelnden Bewegung um ihn herum, als sei die Parzelle plötzlich zu einem aktiven, schwersten Störungen unterworfenen Kraftfeld geworden. Sie verzerrten sein Wahrnehmungsvermögen: Der Schuppen und die Gemüsepflanzen schienen vor seinen Augen schwarz zu werden, und noch bevor er den ersten Schritt auf den Pfad gemacht hatte, spürte er überall um sich herum eine Art von Um-sich-Schlagen und Sich-Winden, und in den wenigen, scheinbar endlosen Au100
genblicken, die er brauchte, um den Schuppen zu erreichen, wimmelte es in der plötzlich schwarzen, feuchten Luft des frühen Morgens vor winzigen bösartigen Keimen, und diese Schwärme von Keimen zu durchqueren erforderte eine nicht geringe Entschlossenheit. Die Wirkung ließ etwas nach, als er das Innere des Schuppens erreichte und die Tür vor der Boshaftigkeit des Gartens zuschlug, aber draußen hörte das Toben keine Sekunde auf, den ganzen Sonntag nicht. (Ich kenne dieses Gefühl, auch ich wurde auf diese Weise gequält, auch ich habe gefühlt, wie sie sich klickend und klackend um meinen Hinterkopf schlossen, wie die Zähne eines Jagdhundes, wie eine Wolke sirrender Mücken, tatsächlich ist das Geräusch nur selten einmal überhaupt nicht vorhanden, obwohl es die meiste Zeit gnädigerweise gedämpft ist, mehr ein Summen als sonst etwas. Während mein Vater die erste Welle des Grauens erlebte, die aus der Erde seiner Parzelle aufstieg, saß ich in meinem Zimmer in der Nummer siebenundzwanzig. Ich wußte noch nicht, daß meine Mutter tot war, ich wußte nur, daß sie nicht zu Hause war und daß statt ihrer eine fette Frau im Bett meiner Eltern gelegen hatte. Ich beschäftigte mich wieder mit meiner Insektensammlung, die mir half, die Sorgen und die Ratlosigkeit zu vergessen, die diese Veränderungen in mir auslösten. Als Junge sammelte ich Insekten, in erster Linie Fliegen, die ich in künstlerischen Formationen, die ich Tableaus nannte, in Schachteln aufspießte. Getrocknete Blätter in den unterschiedlichsten Farben nahmen in den Schachteln, die ich im Herbst angeordnet hatte, eine Vorrangstellung ein, aber inzwischen waren die meisten von ihnen so spröde und brüchig geworden, daß sie von den Nadeln abgebrök101
kelt waren und in kleinen Häufchen auf dem Boden der Schachteln lagen. Ich kippte sie weg, und entfernte auch die Federn und die Zweige, und holte die frischen Materialien hevor, die ich sorgfältig gesammelt und in einer Pappschachtel unter meinem Bett aufbewahrt hatte. In dieser Schachtel befanden sich alle möglichen Dinge, alles, was so aussah, als könne man es für irgend etwas gebrauchen, und ich machte keinen Unterschied zwischen natürlichen Materialien wie Zweigen oder Federn und Streichhölzern, Kronenkorken, Fäden, Schnüren und leeren Zigarettenschachteln mitsamt ihrem Silberpapier. Ich experimentierte mit ein paar Eierschalen herum, und mit einem pelzigen Ball blonder Haare, den ich am frühen Nachmittag aus dem Kamm meiner Mutter herausgeklaubt hatte; ein paar Fischgräten, ein paar Flossen. Das Ganze ergab eine seltsame Zusammenstellung, und ich war mir nicht sicher, ob sie mir gefiel oder nicht. Irgendwann im Laufe des Nachmittags es war schon recht spät -, als ich noch mit all diesen Dingen beschäftigt war, hörte ich draußen Schritte. Ich stand vom Fußboden auf und ging ans Fenster, und wen sah ich über den Hof kommen? Die Frau, die mit meinem Vater im Bett gewesen war. Ich zuckte zurück und beschloß, daß ich sie einfach nicht hereinlassen würde, ich würde einfach nicht hinuntergehen, sie würde nicht einmal wissen, daß ich im Haus war. Alles vergeblich; sie kam einfach durch die Hintertür herein, ohne anzuklopfen, und dann drang aus der Küche das vertraute Klappern des Kessels am Spülbecken, das dumpfe Plop, mit dem das Gas angezündet wurde, und das Scharren von Stuhlbeinen. Ich setzte mich wieder auf den Boden, sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, das ihr meine Anwesenheit verraten würde. Auch das war vergeblich; nachdem sie ihren Tee getrunken hatte, hielt sie sich ein paar Minuten im Wohnzimmer auf und kam dann die Treppe herauf Ich rannte an meine Tür, als sie den 102
Treppenabsatz erreichte, und hielt sie von innen zu. Sie stand auf der anderen Seite und versuchte, den Griff zu drehen, und sie war zu stark für mich; der Griff drehte sich, die Tür öffnete sich, und sie sah zu mir herein. »Hallo, Dennis«, sagte sie. »Was machst du denn hier oben? « Ich wollte sie nicht in meinem Zimmer haben! Ich murmelte irgend etwas von Insekten; vor meinem inneren Auge sah ich sie auf meinem Vater liegen, sah, wie sie sich hob und senkte und wie ein Fisch nach Luft schnappte. Plötzlich schüttelte sie sich. »All diese Fliegen! « sagte sie. »Müssen wir die wirklich in deinem Schlafzimmer haben? « Ich saß bei ihr in der Küche, als mein Vater von der Parzelle nach Hause kam. Die Anspannung der letzten beiden Tage stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. Er hatte überhaupt nichts in seinem Garten gearbeitet- das eine Mal, als er den Schuppen verlassen und es gewagt hatte, sich den eigentümlichen atmosphärischen Energien der Parzelle zu stellen, war er nicht dazu imstande gewesen, die Erde zu berühren. Er war wieder zurückgegangen, zurück zu dem Rest, der noch in der Portweinflasche war. Am späten Nachmittag setzte ein kalter Regen ein, der in Schwaden herunterpeitschte und auf das Dach über seinem Kopf trommelte. Es wurde sehr schnell dunkel, und das Gefühl des Grauens wurde immer stärker, bis es wieder so dicht und intensiv war wie an diesem Morgen, als er es zum ersten Mal empfunden hatte. Als er den Schuppen verließ, wurden die Blätter seiner Wurzelgemüse erneut schwarz und schlugen wild um sich, wie Seetang bei einlaufender Flut. Mit hochgeklapptem Kragen und tief in die Stirn gezogener Mütze radelte er durch den eisigen Regen zur Kitchener Street zurück. Es muß für ihn ein Schock gewesen sein, mich mit Hilda am Tisch sitzen zu sehen. »Regnet es?« fragte sie, als mein Vater ein Netz voller Kartoffeln ins Spülbecken ausleerte. »Ich hab gedacht, ich hätte Regen gehört. Aber was will 103
man um diese Jahreszeit anderes erwarten.« Mein Vater gab keine Antwort - als er seine Jacke und seine Mütze ausgezogen hatte, fing er an, die Kartoffeln zu waschen. Ich nutzte die Gelegenheit, um von meinem Stuhl zu rutschen und die Küche zu verlassen. Mein Vater hörte mich. »Wo willst du hin, Dennis?« fragte er, und drehte sich, ein Messer in der einen und eine halbgeschälte Kartoffel in der anderen Hand, zu mir um. »In mein Zimmer«, sagte ich. Er runzelte die Stirn wie schwarzer Donner, sagte aber nichts, sondern wandte sich wieder seinen Kartoffeln zu. Die Schuld lag bei ihm, nicht bei mir! Oh, ich lasse meinen Bleistift fallen. Die Psychologie des Mörders - woher weiß ich etwas darüber? Woher weiß ich etwas über all diese Dinge? Alles in Übersee angeeignet, in den langen, ereignislosen Jahren, die ich in Kanada verbrachte. Genug, es ist sehr spät, ich bin müde, auf dem Dachboden stampft es, aber ich kann nicht mehr. Die Schmerzen in meinen Gedärmen sind nicht verschwunden, sondern haben sich auf meine Nieren und meine Leber ausgeweitet, und ich habe den Verdacht, daß irgend etwas sehr Schlimmes in meinem Inneren vor sich geht, daß es nichts mit dem Essen zu tun hat (ungenießbar wie es ist), sondern daß es sich um etwas weitaus Ernsteres handelt. Genau gesagt, habe ich den Verdacht, daß meine inneren Organe allmählich schrumpfen, obwohl ich mir nicht erklären kann, aus welchem Grund das so sein sollte. Wie soll ich denn funktionieren, wenn meine Organe schrumpfen? Auch so besitze ich keine sonderlich große Vitalität, und ich kann mir ein internes Schrumpfen oder Schwinden nur schwerlich leisten. Vielleicht ist es nur ein vorübergehendes Phänomen, wie der Gasgeruch, der gnädigerweise nicht zurückgekommen ist. Ich hatte über den Tod meiner Mutter geschrieben. Ich hatte an meinem Tisch gesessen und die Ereignisse jener 104
schrecklichen Nacht und des darauf folgenden Tages geschildert, und im Verlauf dieses Prozesses waren die Erinnerungen auf irgendeine Weise lebendiger geworden als die augenblickliche Situation - jenes mir nur allzu bekannte Zusammenfließen von Vergangenheit und Gegenwart war eingetreten, und ich muß wohl in eine Art von Trance gefallen sein. Denn als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in Mrs. Wilkinsons Schlafzimmer. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war sehr spät, im Haus war alles dunkel und still, und sie schlief tief und fest. Sie trug eine Art Kopftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknotet hatte, und ihre Haare waren auf Lockenwickler aufgedreht. Stirn und Wangen waren mit einer weißen Creme eingeschmiert, die im Licht der Glühbirne im Flur geisterhaft hell schimmerte. Ich weiß nicht, wie lange ich dort stand, oder was ich dabei dachte; ich kam erst wieder zu mir, als sie plötzlich zusammenfuhr und sich aufsetzte und mit der Hand nach der Lampe auf ihrem Nachttisch tastete. »Mr. Cleg!« rief sie. »Was um alles in der Welt haben Sie hier zu suchen? Gehen Sie sofort wieder zurück in Ihr eigenes Zimmer! « Sie fing an aufzustehen. An der Tür drehte ich mich noch einmal um, in der Absicht, ihr irgendwie zu erklären, was mir heute noch genauso unerklärlich ist, wie es damals war. Sie saß auf der Bettkante, eine seltsame Erscheinung in ihrem Nachthemd, mit den Lockenwicklern und der Gesichtsbemalung, und starrte mich mit offenem Mund an, und auf irgendeine eigentümliche Art wirkte sie in diesem Augenblick so verletzlich, wie sie es nie zuvor gewesen war; ein Gefühl regte sich in mir, irgend etwas Starkes, obwohl ich außerstande bin, es genau zu definieren. Ich blieb in der Tür stehen. Sie machte mit der einen Hand eine abwehrende Bewegung, während sie hinter der anderen ein Gähnen verbarg. »Hinaus! Hinaus!« rief sie. »Wir unterhalten uns morgen früh über diesen Vorfall!« 105
Als ich wieder in meinem Zimmer war, fand ich mein Heft genau der Stelle vor, an der ich es zurückgelassen hatte, auf dem Tisch, aufgeschlagen, den Bleistift im Falz. Ich legte es in sein Versteck zurück, in den Schornstein hinter dem ungenutzten Heizgerät; es war schon komisch, dachte ich, als ich auf Händen und Knien vor dem Kamin lag. Das Tagebuch sollte mir eigentlich dabei helfen, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, das ich irgendwie zwischen Erinnerung und Empfindung angerichtet hatte, und was tat es, es machte die Verwirrung nur noch größer. Ich schlief schlecht; meine Eingeweide taten immer noch weh, und auf dem Dachboden herrschte eine ziemliche Aktivität; später fingen sie dann an, Koffer durch die Gegend zu schleppen. Im Anschluß daran folgte eine Phase der Stille, und dann hörte ich sie vor meiner Tür. Ich muß mindestens ein halbes Dutzend Mal auf Zehenspitzen durch das Zimmer geschlichen sein und die Tür aufgerissen haben, aber die verflixten Kreaturen, Kobolde oder was immer sie sind, waren immer zu schnell für mich. Am nächsten Tag regnete es, und ich dachte ernstlich daran, in die Kitchener Street zurückzugehen. Ich weiß nicht, was es war, was mich davon abhielt - wohl kaum das Bedürfnis, in meiner Erinnerung eine Art Aura wahren zu wollen, einen leuchtenden Schein der Unschuld womöglich; die Kitchener Street war lange vor den Ereignissen, die ich hier beschreibe, aufs schwärzeste verseucht, jeder einzelne Backstein triefte vor Zeit und Unheil, und nicht nur in der Kitchener Street war das der Fall, die ganze schwärende Wohnsiedlung war schlecht, schlecht von dem Tag an, an dem sie erbaut wurde. Und nein, das war es nicht, vielleicht eher das Gegenteil, die Aussicht darauf, zu sehen (wie nur ich, nur ich, sehen konnte), wieviel dunkler die Backsteine geworden waren, wieviel mehr sie trieften, wieviel mehr von dem moralischen Schmutz, den eine solche 106
Architektur zwangsläufig in ihren Bewohnern aufwühlt, sie in sich aufgesaugt hatten. Die Parzelle war eine andere Geschichte. Als der Regen aufgehört hatte, machte ich mich erneut auf meinen schlurfenden Weg zum Omdurman Close, und weiter zur Eisenbahnbrücke. Ich war in keiner guten Verfassung, schaffte es jedoch, ohne Zwischenfall auf die andere Seite zu gelangen. Ein paar Minuten später stand ich am Tor der Parzelle meines Vaters. Eine Vogelscheuche ragte zwischen den Kartoffeln auf (ich mußte sie beim letzten Mal übersehen haben), fünf Fuß hoch, aus Sackleinwand gemacht, die mit Lumpen ausgestopft und an den Handgelenken und Knöcheln mit Schnur zugebunden war. Sie war mit ausgestreckten Armen an ein grobes Lattenkreuz genagelt und hatte unverkennbar bereits mehrere Einsatzperioden hinter sich: Ihre Kleider hatten eine eintönige graubraune Färbung angenommen, und der Hut, der auf dem formlosen, augenlosen Kopf saß und an der Querlatte aufgenagelt war, war vom Regen verwaschen und voller Vogeldreck. Mehrere Minuten starrten wir uns an, diese Kreatur und ich, bis ein Windstoß aufkam und die lose Sackleinwand kräuselte und mir einen Schrecken einjagte. Es war nicht zu übersehen, daß die ausgefransten Ränder der Sackleinwand schwärzlich verfärbt waren. Am Himmel zogen vom Fluß her kommend dicke, niedrig hängende, graue Wolkenbänke vorbei, und der Wind frischte auf; ich dachte, daß wir Sturm bekommen würden. Außerdem dachte ich, daß eine Geste des Angedenkens angebracht sei, und so pflückte ich einen kleinen Strauß Löwenzahn und ein paar Disteln, und dann (es war niemand in der Nähe) öffnete ich das Tor, huschte über den Pfad und streute mein schlichtes Bouquet über das Kartoffelbeet. Dann legte ich mich flach auf die Erde. Nach einer Weile fühlte ich mich wieder kräftiger, und statt den Weg zurückzugehen, den ich gekommen war, ging ich an den Parzellen entlang zu dem steil abfallenden 107
Pfad, der in das Gewirr der Straßen und Gassen hinunterführte, das aus irgendeinem Grund immer die »Slates« genannt worden war. Ich kletterte den Pfad hinunter und blieb unten einen Augenblick stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Im Osten sah ich eine lange niedrige Reihe von Fabrikgebäuden, aus deren schlanken Schornsteinen der Rauch trieb, während sich im Süden, zwei- oder dreihundert Meter von mir entfernt, ein langer Wellblechzaun hinzog. Wo aber waren die Slates? Überall um mich herum war der Boden übersät von Steinen und Betonbrocken, aus denen abrasierte Eisenstäben hervorragten, und nicht weit von mir entfernt sackte das Gelände plötzlich ab und bildete eine Art Rinne, in der sich Wasser angesammelt hatte und an deren Rand struppige Grasbüschel wuchsen. Papierfetzen trieben über dieses Brachland, als ich in allen Richtungen nach den Slates Ausschau hielt. Waren sie verschwunden? Wie konnten sie verschwunden sein? Oder spielte meine Erinnerung mir wieder einmal einen Streich? Mühsam stieg ich den Pfad zu den Parzellen wieder hinauf und ging dann weiter zur Eisenbahnbrücke. Hatte ich die Slates in meiner Erinnerung vielleicht völlig falsch plaziert? Und falls ja, war der Rest meiner inneren Landkarte gleichermaßen falsch? Oh, dies war beunruhigend, dies machte mir beträchtliche Sorgen. Es war ein langer Tag für den alten Spider gewesen, und er trottete müde zurück und schlich sich sehr leise ins Haus, um Mrs. Wilkinson, die sicherlich eine Erklärung für seinen nächtlichen Besuch verlangen würde, nicht über den Weg zu laufen. Am nächsten Tag ging ich hinunter zum Fluß, zu einem kiesigen Strand, an dem ich als Junge oft gestanden und die Barken und Dampfer beobachet hatte; damals wurden sie noch mit Kohle gefeuert und husteten ständig wolkige Fahnen aus schwarzem Rauch in den Himmel hinauf Man erreichte den Strand bei Ebbe über eine teergeschwärzte hölzerne Treppe gleich neben einem alten Gasthaus, dem 108
»Crispin«. Ich war früher oft dorthin gegangen, um zwischen den Booten herumzustreunen, die dort vertäut waren, alte, ramponierte Arbeitsboote, abgedeckt mit übelriechenden Ölplanen, in denen Regenwasser stand und die vom Schimmel grünlich verfärbt waren. Oft kletterte ich in eines der Boote hinein und kroch unter die Ölplane, zu den eisernen Ketten und den feuchten Planken, und machte es mir auf einer dicken, ölverschmierten, vor sich hinmodernden Taurolle bequem - ich liebte es, in jenem feuchten Dämmer allein zu sein, und über mir das gedämpfte Kreischen der Möwen zu hören, die über dem Wasser flappten und kreisten. Das »Crispin« war immer noch da, und auch die teergeschwärzte Treppe, obwohl sie jetzt so unsicher aussah, daß ich sie nicht betreten wollte. Aber ich warf einen Blick über das Geländer, und die Boote waren ebenfalls da, und am anderen Ufer ragten die Kräne in den Himmel hinein, genau so, wie sie es in meiner Erinnerung immer getan hatten. Dies war mir ein kleiner Trost; wenigstens das, wenigstens war meine Geographie nicht ganz und gar verzerrt. Ich veränderte mich, als meine Mutter tot war. Als sie noch lebte, war ich ein guter Junge, das heißt, ich geriet natürlich gelegentlich mit dem Jähzorn meines Vaters aneinander und wurde dann hinunter in den Keller beordert, aber das war nun wirklich nichts Unnormales, alle Jungen machen Fehler und werden dafür bestraft. Aber bevor meine Mutter starb, war ich ein stiller Junge, eigenbrötlerisch und nachdenklich, ein Junge, der viel las; ich hatte keine Freunde unter den Kindern der Kitchener Street, und wann immer ich konnte, wanderte ich allein durch die Gegend, entweder hinunter zum Kanal, oder zum Fluß, vor allem bei feuchtem und nebligem Wetter. Ich war groß für mein Alter, groß und dünn und gescheit und schüchtern, und solche Jungen sind nirgends beliebt, erst recht nicht bei ihren Vätern, die nach verwegeneren, männlicheren Eigen109
schaften Ausschau halten. Mütter sind in dieser Hinsicht anders, wie ich beobachtet habe; meine Mutter jedenfalls war es. Sie stammte aus einer besseren Familie als mein Vater, sie heiratete unter ihrem Niveau, verstehen Sie, und sie liebte Bücher und Kunst und Musik; sie ermutigte mich zum Lesen, und an den langen Abenden, die wir in der Küche verbrachten, während mein Vater irgendwo trank, lockte sie mich aus meiner Reserve, ermutigte mich zum Reden, forderte mich auf, meine Ideen und Phantasien mit ihr zu teilen, und wenn ich dann ins Bett ging, war ich manchmal still erstaunt über die Dinge, die ich gesagt hatte, und vor allem darüber, daß es diese Dinge in meinem Kopf gab, wo ich doch so oft das Gefühl hatte - oder vielmehr vermittelt bekam -, daß es in meinem Kopf überhaupt nichts gab, daß ich nichts weiter war als ein schlaksiger maulfauler Trottel mit knochigen Knien und ungeschickten Händen, bei dem es mehr als unwahrscheinlich war, daß er je zu irgend etwas zu gebrauchen sein würde. Später erkannte ich, daß meine Mutter mich verstand, weil auch sie in ihrer Umgebung eine Fremde war - die Frauen der Kitchener Street hatten kein Verständnis für ihren Geschmack, ihre Zartheit, ihre Kultur, sie waren wie Hilda, primitiv im Vergleich zu ihr. Deshalb verstand sie, wie ich litt, und sie allein gab mir die Möglichkeit, wirklich ich selbst zu sein in jenen wenigen, flüchtigen Stunden, die wir miteinander verbrachten, bevor mein Vater ihr mit einem Spaten den Schädel einschlug. Von da an, verstehen Sie, war ich ganz, ganz allein, und ohne ihre Liebe, ihren Einfluß, ohne ihre Gegenwart verlor ich ganz einfach sehr schnell den Boden unter den Füßen. Aus diesem Grund verwandelte ich mich von einem guten in einen bösen Jungen. Nicht etwa, daß es grundlos dazu gekommen wäre. Für Hilda war ich, ganz zu Anfang, eine Quelle der Belustigung. Später fing sie dann an, mich zu fürchten, aber in je110
nen ersten Wochen benutzte sie diesen großen, ständig errötenden Jungen, der kein K ind mehr war, aber auch noch kein Mann, als Zielscheibe für ihren vulgären Sinn für Humor. Sie hänselte mich, sie lachte mich aus, sie protzte vor mir mit ihrem Körper; und weil sie sich so oft in der Küche aufhielt, auch wenn mein Vater nicht im Haus war, konnte ich ihr nur aus dem Weg gehen, indem ich mich hin unter an den Kanal flüchtete (obwohl ich dazu natürlich durch die Küche gehen mußte) oder indem ich mich im Kohlenkeller versteckte oder indem ich in meinem Zimmer blieb - obwohl auch dieses Zimmer kein wirklicher Zufluchtsort mehr war, denn sie hatte nicht die geringsten Skrupel, einfach heraufzukommen und nach Herzenslust herumzuschnüffeln. War mein Vater mir in dieser Hinsicht eine Hilfe? War er mir wenigstens zum Teil ein Verbündeter? Nein, das war er nicht. Das Gegenteil war der Fall; er beteiligte sich an ihren Witzen, auf diese hinterhältige stille Art, die er hatte, er ermunterte Hilda mit Blicken oder Gesten oder einem einvernehmlichen Lächeln, wenn sie es sich wieder einmal zum Ziel gesetzt hatte, mich »auf die Palme« zu bringen. Das Ganze erreichte sehr schnell einen Punkt, an dem ich, wann immer ich mit Horace und Hilda in der Küche war, Signale sah, die zwischen den beiden hin und her flogen, und die für mich nur eines bedeuten konnten, Spott und Hohn, obwohl sie das, wenn ich einmal etwas sagte, natürlich immer bestritten, und so lernte ich, meinen eigenen Wahrnehmungen zu mißtrauen, aber ich glaube, daß es trotzdem so war. Wieso sie das taten? Wieso sie mich so beharrlich auf diese Weise verhöhnten? Erst Jahre später, in Kanada, erkannte ich, daß ich für Horace und Hilda eine Art Ventil für die Schuld und die Angst war, die sich in den Wochen nach dem Tod meiner Mutter über sie legten, nicht akut oder panikartig, sondern als eine Art Lebensbedingung, eine Art Existenzgrundlage in der Folge des Mordes. So sehr Hilda auch versuchen mochte, das 111
Ganze mit einem Lachen abzutun und genau wie vorher die lärmende, lebenslustige Blondine zu spielen - und so meisterhaft mein Vater die Kunst der Verdrängung beherrschte -, sonderten sie auf irgendeiner Ebene eben doch die Giftstoffe ab, die ein Mord immer und unweigerlich in menschlichen Herzen produziert, und wenn sie nicht wollten, daß diese Giftstoffe sich gegen sie selbst richteten, dann mußte es ein Ventil dafür geben, einen Auslaß. Ich war dieser Auslaß, ich sollte das Gift kanalisieren und absorbieren, und das tat ich auch; aber das Gift verseuchte mich, es ließ mich verkümmern, es tötete etwas in mir, es machte mich zu einem Geist, zu einem toten Ding, es machte mich, kurz gesagt, schlecht. Der grausamste Aspekt der ganzen Situation war vielleicht der, daß ich meine Trauer mit niemandem teilen konnte. Zuerst war es keine Trauer, es war Verzweiflung. Wo war sie? Wo war meine Mutter? Ich bekam keine Antwort auf diese Frage, und wenn ich mit meinem Vater darüber sprechen wollte, wurde er sofort verschlossen und böse und erinnerte mich an die Unterhaltung, die wir an jenem Samstagmorgen gehabt hatten, an dem ich Hilda zum ersten Mal bei ihm im Bett sah. Aber ich vergaß diese Unterhaltung immer wieder, denn das Gefühl des Verlustes, unter dem ich litt, die reine Panik des Nicht-Wissens, war stärker als die wie auch immer gearteten schwächlichen Verbote, die er mir auferlegt hatte, und es kam aus mir heraus, es sprudelte aus mir heraus; und als Reaktion wieder nur dieser entsetzliche, stille Zorn, und das einzige, was ich zu hören bekam, war die Aussage, daß ich es noch nicht erfahren durfte. Mit der Zeit veränderten sich meine Gefühle, Verzweiflung und Dringlichkeit machten einem chronischen Schmerz Platz, einem nagenden Gefühl der Abwesenheit, der Leere, das mich eigentümlich anfällig machte für die anhaltende Verachtung, mit der Horace und Hilda mich behandelten. Aber es lag nicht 112
nur daran, daß ich allein war, denn wenn ich Hilda gegenüber auch nur einen Ton sagte - und zweimal, als ihr Spott und ihre Sticheleien das Maß des Erträglichen überschritten hatten, tat ich dies, und schrie den Tränen nahe: »Du bist nicht meine Mutter! « -, tat sie jedesmal so, als sei sie völlig perplex, und drehte sich zu meinem Vater um, der ihren Blick aus überschatteten Augen erwiderte, während ein fast unmerkliches Lächeln um seine Mundwinkel spielte - und sagte: »Nicht deine Mutter?« »Nein«, schrie ich, »meine Mutter ist tot! « Wieder dieser stille Spott, wieder ein heimlicher Blickwechsel. »Tot?« - und so ging es weiter, bis ich aus der Küche lief, unfähig, die Tränen zurückzuhalten, und ohne etwas anderes tun zu können, als die Erinnerungen und die mit ihnen verbundenen Gefühle, die niemand mir bestätigen wollte, ganz fest an mich zu pressen. Sie lebte nur noch in mir, das erkannte ich schließlich, und diese Erkenntnis machte mich zäher und widerstandsfähiger, denn ich erkannte intuitiv, daß sie, wenn sie in mir starb, für immer starb. Denn sehen Sie, ich hatte gehört, wie mein Vater dem Mann von nebenan erzählt hatte, sie sei für immer zu ihrer Schwester nach Kanada gegangen. Mit der Zeit entwickelte ich mein System der zwei Köpfe. Der vordere Teil meines Kopfes war der, den ich benutzte, wenn andere Leute im Haus waren, der hintere Teil war für die Zeit bestimmt, in der ich allein war. Meine Mutter lebte im hinteren Teil meines Kopfes, aber nicht im vorderen; ich wurde immer geschickter, wenn es darum ging, zwischen dem hinteren und dem vorderen Teil hin und her zu pendeln, und es schien das Leben einfacher zu machen. Der hintere Teil meines Kopfes war der reale Teil meines Lebens, aber um die Dinge, die dort hinten lebten, frisch und gesund zu erhalten, mußte ich einen vorderen Teil haben, der den hinteren schützte, wie Tomaten in einem Treibhaus. Wenn ich unten war, sprach und aß und ging ich und 113
war in ihren Augen ich selbst, und nur ich allein wußte, daß »ich« nicht da war, was sie sahen, war nur das Treibhaus; ich war hinten, Spider lebte hinten, das da vorne, das war nur Dennis. Von da an wurde das Leben einfacher. Es machte mir nichts aus, daß ich ein schlechter Junge war, weil ich ja schließlich wußte, daß es Dennis war, der der schlechte Junge war; und wenn mein Vater mich in den Kohlenkeller beorderte, war es Dennis, der mit ihm ging und den Kopf an den Balken lehnte und den kleinen Finger um den rostigen Nagel hakte - während Spider die ganze Zeit über oben in seinem Schlafzimmer war! Daraus ergab sich logischerweise, daß, wenn meine Mutter nur im hinteren Teil meines Kopfes lebte, dies auch für den Mord an ihr galt. Denn wenn ich unten nicht einmal ihren Namen erwähnen durfte, wieviel größer mußte dann erst die Unmöglichkeit sein, über ihren Tod zu sprechen, und darüber, daß sie wie ein Müllsack in ein Loch in der Erde geworfen worden war? In jenen ersten Wochen war mir jedoch noch nicht klar, daß ihr etwas zugestoßen war, und ich redete mir selbst ein, daß sie tatsächlich nach Kanada gegangen war, wie mein Vater es den Nachbarn erzählt hatte. Schließlich hatte ich es mit eigenen Ohren gehört. Aber sie hatte keine Schwester in Kanada. Ich hätte es doch wissen müssen, wenn sie eine Schwester in Kanada gehabt hätte? Sie hätte sie erwähnt, wenn wir in der Küche am Herd saßen, an den langen Winterabenden, an denen der Regen gegen die Fenster trommelte und die genagelten Stiefel auf dem Pflaster klirrten, wenn die Männer durch die Gasse hinter dem Hof nach Hause gingen. Sie hätte diese Schwester erwähnt, sie hätte Briefe bekommen, die den Poststempel »Winnipeg« oder »Vancouver« trugen und Briefmarken mit dem Kopf des Königs darauf, und sie hätte sie mir gezeigt, hätte sie mir vorgelesen, und gemeinsam hätten wir Bilder von kanadischen Wintern und kanadi114
schen Weihnachtsfesten heraufbeschworen - hätten uns die Familie ihrer Schwester vorgestellt, die um eine geschmückte Kiefer versammelt war (»alles deine kleinen Cousins und Cousinen, Spider«), hätten den Duft der fetten Gans gerochen, der aus der Küche des Holzhauses drang, das ein Dach aus Zedernholz und einen behäbigen Schornstein hatte, aus dem der Rauch in den naßkalten kanadischen Himmel stieg. Gemeinsam hätten wir uns diese Bilder im gelben Zwielicht der Nummer siebenundzwanzig ausgemalt, und eine Stunde oder länger hätten wir dieses trübselige Armeleuteviertel weit hinter uns gelassen, wären wir Teil der Familie gewesen, die sich um den offenen Kamin versammelt hatte, in dem die Kiefernscheite prasselten und vor dem die Kinder - alles meine kleinen Cousins und Cousinen - unter Jubelschreien ihre Geschenke auspackten. Was für einen Grund konnte sie gehabt haben, zu ihrer Schwester zu fahren und mich zurückzulassen? Diese Frage beunruhigte mich, oben in meinem Schlafzimmer, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt, diese Frage versetzte mir einen Stich, einen heftigen, schmerzlichen Stich der Verständnislosigkeit, bis mir wieder einfiel, daß es keine Schwester gab, kein Holzhaus, keine kleinen Cousins und Cousinen, es gab nur die Abwesenheit meiner Mutter, nur die Erinnerung an sie, und unten eine fette Frau, der ich völlig gleichgültig war (wenn ich nicht gerade als Zielscheibe für ihren Spott herhalten mußte), und einen kalten, teilnahmslosen Vater. An dieser Situation änderte sich, wie ich bereits sagte, mehrere Wochen lang nichts, erst als die Weihnachtstage vor der Tür standen, fingen sie an, von m ir Notiz zu nehmen, denn inzwischen war mir, dem bösen Jungen, zu dem ich geworden war (dem Teil von mir, der Dennis hieß, will ich damit sagen), klargeworden, daß ich den Befehl meines Vaters, nicht von ihr zu sprechen, keineswegs befolgen mußte. Und als es mir klargeworden war, und sie sahen, daß es mir 115
klargeworden war, konnten sie mich nicht länger ignorieren. Damals arbeitete mein Vater noch, und folglich war Geld im Haus, und das bedeutete Abende im »Rochester« und Leute, die hinterher noch mit in die Kitchener Street kamen. Ich sah sie aus der Gasse in den Hof wanken, bepackt mit Flaschen, und ihr Atem hing wie eine dichte Nebelwolke über ihnen, so daß sie aussahen wie ein einziges Tier, ein vielbeiniges Monsterpferd, das über den Hof stampfte. Sie stießen Dampf aus, sie röhrten mit mehreren Stimmen gleichzeitig, und ich konnte nie schlafen, wenn es im Haus derart zuging, sie machten so viel Lärm, es gab laute Stimmen und betrunkenes Singen, das Klirren von Flaschen und das Stampfen von Stiefeln auf dem Boden. Oft kamen Leute ins Haus, die ich nie zuvor gesehen hatte, und ich beobachtete von meinem Schlafzimmerfenster aus, wie sie durch die Hintertür zum Klo torkelten, oder ich beobachtete von meinem dunklen Hochsitz am Kopf der Treppe, wie sie sich im Flur unten küßten und befummelten. Es gab keinen Weihnachtsbaum in der Nummer siebenundzwanzig, keinen Schmuck, keine Geschenke, nur einen Mistelzweig, der an einem Stück Schnur von der Glühbirne hing, die von der Küchendecke baumelte, und der Mistelzweig gab ihnen die Gelegenheit, sich noch hemmungsloser zu begrabschen als üblich. Flaschen wurden entkorkt, während Horace sich auf allen vieren niederließ, um noch ein bißchen Wärme aus dem Herd herauszulocken. Hilda hatte dafür gesorgt, daß er die Sessel aus dem Wohnzimmer in die Küche brachte, und jetzt ließ sie sich in einen dieser Sessel fallen, ein großes Glas mit rubinrotem Portwein in der Hand, während das Singen und die Ausgelassenheit ihren Anfang nahmen. Trotz des allgemeinen Trubels war ihr Lachen jederzeit herauszuhören, selbst wenn die Küchentür geschlossen war. Einmal, fällt mir dabei ein, hörte ich, wie die Küchentür geöffnet wurde - der Lärm schwoll ei116
nen Augenblick an -, und dann wurde unten im Flur verstohlen geflüstert. Ich saß im Schlafanzug am Kopf der Treppe und zog mich hastig in mein Zimmer zurück, als ich die Leute durch den Flur kommen hörte. Durch den Spalt in meiner Tür sah ich einen Mann und eine Frau die Treppe heraufkommen: er war fett und trug einen dunklen Anzug, sie hatte ihre Schuhe in der Hand und war eine Frau, die ich schon einmal im Haus gesehen hatte, eine Freundin von Hilda, in gewisser Weise vielleicht ganz hübsch, obwohl ich mich jetzt, wo ich an sie denke, daran erinnere, daß das Leben und der Alkohol ihr Gesicht farblos und ihre Augen glanzlos gemacht hatten, sie war eine graue, fahle Frau, und obwohl auch sie ständig lachte, waren ihre Augen tot, und das waren ihre Zähne auch, und ihr Atem roch schlecht. Ihr Haar war schwarz gefärbt, und ihr Name war Gladys. Sie schlichen auf den Zehenspitzen über den oberen Treppenabsatz und dann ins Schlafzimmer meiner Eltern, und zogen die Tür hinter sich zu, obwohl sie sich natürlich nicht richtig schließen ließ, weil irgend etwas damit nicht in Ordnung war. Nicht sehr lange danach hörte ich das Bett quietschen und Gladys leise stöhnen; dann war es wieder still. Ich schlich über den Treppenabsatz, ließ mich auf Hände und Knie nieder, so wie ich es an dem Tag getan hatte, an dem Hilda zum ersten Mal ins Haus gekommen war, und sah mir die beiden an. Gladys lag auf dem Bett und rauchte eine Zigarette. Sie hatten das Licht nicht angeschaltet, also gab es nur den schwachen Lichtschein der Straßenlampe, der durch das Fenster sickerte. Der fette Mann stand auf der anderen Seite des Bettes, zwängte sich in seine Hose und zählte gleichzeitig mehrere Pfundnoten ab. Ich schlich in mein Zimmer zurück und hörte die beiden fünf Minuten später wieder hinuntergehen. Ich blieb in meinem Zimmer, setzte mich ans Fenster und wartete darauf, daß sie endlich gingen. Es war schon nach Mitternacht, als sie zu zweit und zu dritt über den Hof 117
davontorkelten, nicht mehr das Pferdemonster, das sie vorher gewesen waren, dafür waren sie jetzt zu betrunken, und dann hörte ich Horace und Hilda nach oben kommen. Ich wartete noch eine halbe Stunde, bevor ich mit der Kerze nach unten ging. Die Küche sah schrecklich aus: schmutzige Gläser, leere Flaschen, überquellende Aschenbecher, Hildas schwarze Schuhe auf dem Tisch, der eine aufrecht, der andere umgekippt (wieso waren sie auf dem Tisch?) und ein widerlicher Gestank nach Zigarettenrauch und Alkohol. Gladys lag im Mantel in einem der Sessel und schlief, und auf der Armlehne des Sessels, gleich neben der Stelle, an der ihr heruntergesackter, schnarchender Kopf auf der Schulter eines schlaff herabhängenden Armes ruhte, stand ein halbvolles Glas Dunkelbier (das im Kerzenlicht schwarz aussah), in dem eine Zigarettenkippe schwamm, die sich bereits auflöste und in Tabakfäden zerfaserte. Ich stellte das Glas auf den Küchentisch, nahm Hildas Schuhe und beförderte sie auf den Boden. Dann blieb ich mehrere Minuten stehen und sah auf Gladys hinunter, wobei ich die Kerze so dicht unter mein Kinn hielt, daß ich die Wärme der Flamme spüren konnte; das Feuer im Herd war fast aus, und die Kälte der Nacht kam in die Küche gekrochen. Als ich auf die Frau hinabstarrte, die schlafend im Halbdunkel der Küche lag, dachte ich an die Geräusche, die sie oben von sich gegeben hatte, und an den Anblick ihrer bestrumpften Beine auf dem Bett, und an das rund um ihre Hüften zusammengeknüllte Kleid. Auch im zweiten Sessel lag jemand und schlief, aber es war nicht der fette Mann, es war Harold Smith. Ich ging durch die Hintertür hinaus in die Kälte und holte mir auf dem Klo einen runter, und als ich die Kette zog, stieg das Wasser bis an den Rand der Schüssel, bevor es langsam wieder absickerte: er hatte die Toilette immer noch nicht repariert. Wieder in der Küche, fand ich im Schrank ein Stück alten Cheddar, und im Brotkasten einen Kanten Brot, und ich setzte mich an den Tisch und verzehrte im 118
Schein der Kerze mein Abendessen, umgeben von den schnarchenden Säufern, und spülte es mit einem Glas Bier aus einer halbleeren Flasche hinunter, die ich im Spülbecken gefunden hatte. Am nächsten Tag war Heiligabend, und ich mußte nicht zur Schule. Ich wäre sowieso nicht gegangen, seit ich ein schlechter Junge geworden war, hatte ich die Schule oft geschwänzt, weil ich nachts so gut wie überhaupt nicht mehr schlief Ich kam um zwölf Uhr nach unten. Die Küche war frisch geputzt, und Hilda war dabei, eine Pastete zu machen. Sie lächelte mir zu, und ich war sofort auf der Hut. Wärme war bei Hilda immer eine Falle, denn sobald man unachtsam wurde und sich entspannte, rammte sie einem ein vergiftetes Messer in den Leib. Ich setzte mich ohne ein Wort an den Tisch. Sie war gerade damit beschäftigt, einen Klumpen Teig mit dem Nudelholz auszurollen; ihre Hände und Arme waren mehlbestäubt, aber ihre Fingernägel waren dreckig, und sie roch nach Aal in Aspik. Sie trug die Schürze meiner Mutter - sie war ihr zu eng, wie nicht anders zu erwarten, vor allem um den Busen herum. »Was starrst du mich so an«, fragte sie, während ihre dicken weißen Arme sich auf das Nudelholz stemmten. »Hier ist dein Toast« - und sie fischte einen Teller aus dem Backofen, auf dem zwei trockene, halb verkohlte Brotscheiben lagen. »Es ist auch Schmalz da, wenn du willst«, sagte sie, »und der Kessel steht auf dem Herd. Dein Dad kommt heute vielleicht etwas früher nach Hause. « Was für ein Spiel spielte sie? Ich sah mir den Toast sehr genau an und beschloß, das Risiko lieber nicht einzugehen. Aber ich trank den Tee, und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. »Nora ist zum Fleischer gegangen«, sagte Hilda. »Würde mich verdammt wundern, wenn wir wirklich alles rechtzeitig fertig bekommen würden. Sag selbst, ob es die Mühe wert ist.« Ihre Augen wanderten zum Fenster über dem Spülbecken. »Ich wäre froh, sie würde sich 119
ein bißchen beeilen«, sagte sie, und ich fühlte, wie ich innerlich stark wurde und mich in den hinteren Teil meines Kopfes zurückzog, wo Spider lebte. Sobald ich dort war, wußte ich, daß sie sich eine neue Strategie ausgedacht haben mußten anscheinend hofften sie, sie könnten sich, indem sie mich auf ihre Seite zogen, mein Schweigen und meine Komplizenschaft sichern. Es war eine Falle, verstehen Sie, es war, als hätte Hilda zu mir gesagt: »ja, es stimmt, wir haben deine Mutter umgebracht, aber versuch trotzdem, mich als deine Mutter zu betrachten. « Deshalb machte sie Pasteten und redete vom Fleischer, sie tat so, als wäre sie meine Mutter. Es fiel ihr nicht leicht, das war an der Art, wie sie das Nudelholz handhabte, leicht zu erkennen. Meine Mutter konnte viel besser Pasteten backen, war dieser Nutte mit den riesigen Pranken, die in einer Küche, die nicht ihre eigene war, Theater spielte, weit überlegen; außerdem hätte meine Mutter niemals Lebensmittel angerührt, ohne sich vorher gründlich die Hände zu waschen.. Und dann dieses: »Nora ist zum Fleischer gegangen« - und was hatte ich mit Nora zu schaffen? Glaubte sie etwa, ich würde Fleisch essen, das Nora angefaßt hatte? Es war schlau inszeniertes Theater, aber ich war zu schlau für sie. »Was gibt es denn zu lächeln?« fragte sie, unterbrach ihr übertriebenes Teigausrollen und strich sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn. »Du bist in letzter Zeit wirklich sehr merkwürdig geworden, kein Wunder, daß dein Vater sich Sorgen macht.« Oh, sie war gut, insgeheim applaudierte ich ihr, sie war genau wie eine Mutter. Auf diese Weise ging es weiter, bis Nora mit dem Vogel, der unser Weihnachtsessen werden sollte, vom Fleischer zurückkam. »Zeig her«, sagte Hilda, und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Mit der schwarzen Küchenschere zerschnitt sie die Schnur, mit der das Zeitungspapier, in das der Vogel eingewickelt war, zugebunden war. »Sehr schön, Nora«, sagte sie, als der Vogel auf dem Küchentisch lag, die 120
pralle, rosige Haut punktiert von kleinen Löchern, aus denen die Federn ausgerupft worden waren. Ich hatte nicht das geringste Interesse an diesem Kadaver, bis Hilda eine Hand in seinen Hintern steckte und rief. »Und wo sind die Innereien?« »Sind sie etwa nicht drin? « fragte Nora. »Sich doch selbst nach! « Und sie machte Platz, damit Nora ihre Hand in den Vogel stecken konnte. »Er tut sie doch immer rein«, sagte Nora. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, nachzusehen.« »Dann geh mal schön zurück und laß dir unsere lnnereien geben, Nora. Und die Füße, und den Kopf! Was denkt der Kerl sich eigentlich? Daß er uns um den halben Vogel betrügen kann? Und, Nora, sag ihm« - Nora war inzwischen schon halb aus der Hintertür - »wenn er so etwas noch einmal versucht, bekommt er es mit mir zu tun. « Sie drehte kopfschüttelnd den Wasserhahn auf, hielt ihre Hände kurz unter den Strahl und fing an, ihre Pastete zu füllen. Ich konnte nicht anders, ich mußte einfach einen Blick in das Innere des Vogels werfen: Alles, was ich sah, war eine Höhlung in seinem Inneren, aber kein einziges Organ, und das rief in mir ein sehr eigentümliches Gefühl wach. Kurz darauf verließ ich die Küche und ging hinunter in den Keller. Ich war in meinem Zimmer, als mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, und das erste, was Hilda ihm erzählte, war natürlich die Geschichte mit dem Vogel, der ohne seine Innereien ins Haus gekommen war, und daß Nora zurückgegangen war, um sie zu holen. »Was, keine Innereien? « sagte mein Vater - ich saß am Kopf der Treppe, hörte mir die ganze Geschichte an und konnte mir das Lachen kaum verbeißen. Dann steckte auch er die Hand in den Vogel hinein, genau wie ich gedacht hatte. »Und was ist das hier?« hörte ich ihn sagen, und ich wußte genau, was als nächstes geschah: Aus der Höhlung im Inneren des Vogels 121
zog er einen Packen Herbstblätter hervor, die mit Schnur zusammengebunden waren, und als er den Packen öffnete, kamen mehrere Kohlestückchen zum Vorschein, ein paar Vogelfedern, ein paar abgeknickte Zweige, und mittendrin eine tote Ratte! Ich verbrachte diese Nacht, die Nacht des Heiligen Abends, im Schuppen auf der Parzelle meines Vaters. Mein Vater hatte natürlich sofort gewußt, wer für die Ratte verantwortlich war. »Wo ist er?« hörte ich ihn fragen, und einen Augenblick später kam er die Treppe heraufgestampft. Dann stand er in der Tür meines Zimmers, im wahrsten Sinne des Wortes zitternd vor Wut, mit blitzenden Augen und vorgeschobenem Unterkiefer. »Runter in den Keller«, sagte er. »Sofort!« »Mörder«, sagte ich. Ich kniete bei meinen Insekten auf dem Fußboden. »Sofort!« Damit durchquerte er das Zimmer mit einem einzigen Schritt, packte mich am Kragen und zerrte mich hinter sich her, die Treppe hinunter, ich als erster, halb erstickt in seinem Griff, während er mich von hinten schubste. Als wir die Kellertür erreichten, ließ er meinen Kragen für einen kurzen Augenblick los, und das war alles, was ich brauchte. Durch die Küche, vorbei an einer verblüfften Hilda und einer ebenso verblüfften Nora, auf den Hof, er immer dicht hinter mir. » Komm sofort zurück! « brüllte er. Das Tor zur Gasse stand zum Glück offen, und ich war wie der Blitz hindurch und rannte die Gasse entlang. Es wurde gerade dunkel; kurz vor dem Ende der Gasse holte er mich ein, stieß mich an die Wand und quetschte mich an die Backsteine, während er nach Atem rang. Ich machte mich ganz schlaff, als er mich wütend anfunkelte. »Mörder«, flüsterte ich. »Mörder, Mörder.« Sein Gesicht verdunkelte sich, er runzelte verständnislos die Stirn - was sollte er bloß mit mir machen, mit dem, was ich wusste? Sein Atem wurde 122
allmählich ruhiger, ich machte mich noch immer schlaff; der Griff, mit dem er mich festhielt, lockerte sich ein wenig; ich duckte mich unter seinen Händen hindurch und rannte noch einmal los. Er lief mir bis ans Ende der Gasse nach, aber ohne den richtigen Schwung, und während ich in die Dämmerung hineinlief, ein flüchtiger, mantelloser, langbeiniger Junge, machte er, immer noch in Hemdsärmeln, kehrt und ließ seine Wut mit einem gutgezielten Tritt an einer Mülltonne aus, die an der Wand stand. Eine schwarze Katze schoß unter dem Deckel hervor, einen Fischkopf im Maul, und verschwand in den Schatten. Mit schmerzendem Fuß humpelte er in die Küche zurück, wo sie zweifellos den Rest des Abends damit verbrachten, über mich zu reden. Aber ich glaube, daß er als erstes seinen Stiefel und seine Socke auszog und feststellte, daß der Nagel seines großen Zehs blutunterlaufen war und sich blau und schwarz verfärbte. Falls Sie je Tagebuch geführt haben, wissen Sie sicher, daß es an manchen Abenden schier unmöglich ist, auch nur einen einzigen Satz aus sich herauszuzwingen, während es andererseits Zeiten gibt, zu denen die Worte Stunde um Stunde nur so auf das Papier fließen, bis man innerlich ganz leer ist, und wenn das geschieht, hat man manchmal das Gefühl, nicht selbst geschrieben zu haben, sondern geschrieben worden zu sein? Ich werde die Nacht, die ich in Schuppen meines Vaters verbrachte, nie vergessen. Ich hatte schon vor längerer Zeit entdeckt, wie man es anstellte, in den Schuppen hineinzukommen: Man lockerte einfach das Brett, an dem die metallene Lasche angeschraubt war, in die der Bügel des Vorhängeschlosses eingehängt wurde, und dann zwängte man sich durch den Spalt und zog die Tür fest hinter sich zu, so daß das Brett wieder an seinen Platz zurückrutschte. Aber bevor ich den Schuppen betrat, verbrachte ich ein paar Minuten auf den Knien im Kartoffelbeet. Nichts als schwarze Erde so spät im Jahr, aber ich 123
war schließlich nicht wegen der Kartoffeln gekommen. Sie spürte meine Gegenwart, ich weiß, daß sie es tat, denn irgend etwas griff nach mir, es war ganz deutlich zu spüren, und ich hatte es nicht anders erwartet, so eng war das Band zwischen uns: Es war etwas, was mein Vater mit all seinen Nutten und all seiner Brutalität nicht zerstören konnte, nicht ein Band wie dieses. Sobald ich sie spürte, legte ich mich flach auf die Erde und flüsterte mit ihr, und ich werde nicht schreiben, was ich zu ihr sagte. Die Dunkelheit hatte sich über den Garten gesenkt, und es wurde schnell kälter; heute nacht würde es Frost geben, und die Leute redeten sogar schon von Schnee. Aber mir konnte keine Kälte etwas anhaben, nicht in diesem Augenblick, ich flüsterte mit ihr, bis ich alles gesagt hatte, was gesagt werden mußte, und dann zwängte ich mich in den Schuppen. Ich wußte, wo ich die Streichhölzer und die Kerzen finden würde, und ich zündete sie alle an und stellte sie auf die Regale und den Boden, bis es im Schuppen ausah wie in einer Kirche. Dann rollte ich mich so gut es ging im Sessel zusammen, wickelte mich in Säcke, um die Kälte fernzuhalten, und beobachtete, wie das Kerzenlicht flackernd über die Spinnweben hoch oben im Dunkel der Dachbalken zuckte. Nach ein paar Minuten mußte ich unter meinen Säcken hervorkriechen und den Kasten mit dem Frettchen zudecken: Die Art und Weise, wie das Licht sich in seinem gläsernen Auge brach, machte mich ganz nervös. Und so lag ich zusammengerollt in dem alten Roßhaarsessel und beobachtete die Spinnweben, und es ist schon seltsam, wenn ich es mir jetzt überlege, denn wahrscheinlich hätte man erwartet, daß ich mich in den Schlaf geweint hätte. Aber das tat ich nicht, statt dessen lag ich da, hellwach und mit klaren Augen, und seltsamerweise war es die Vorstellung, daß die Spinnen in den Dachbalken über mich wachten, die Spider das Gefühl gab, an diesem Ort sicher und geborgen zu sein. 124
Ich schlief ein. Als ich ein paar Stunden später wieder wach wurde, brannten nur noch ein paar Kerzen, und ich erlebte einen Augenblick der Verwirrung und Orientierungslosigkeit- dann, ganz schwach zuerst, aber mit jedem Augenblick stärker werdend, breitete sich ein Gefühl des Friedens und der Freude aus, denn meine Mutter war bei mir. Meine Mutter war bei mir, zu Anfang vage und schattenhaft, aber mit jeder verstreichenden Sekunde deutlicher und erkennbarer. Sie stand vor mir, in dem von Kerzen erhellten Schuppen, zwischen den Gartengeräten und Blumentöpfen und Samenpäckchen. Ihre Kleider waren schmutzig und feucht von der Erde des Gartens, und ihr Kopf wurde von einem dunklen Schal verhüllt, aber wie weiß ihr Gesicht war! Makellos weiß, heil, ganz, glühend und strahlend! Jene Augenblicke sind unauslöschlich mit dem Stoff meiner Erinnerungen verwebt - das Kerzenlicht, die Spinnweben, die in der Kälte in den Dachbalken schimmerten, obwohl mir nicht kalt war, wie hätte ich die Kälte fühlen sollen, wo ich doch eingehüllt war in die Wärme und den Frieden ihrer Gegenwart, in das leise, weiche Murmeln ihrer Stimme, und über allem das Gefühl der Fülle, das ich in diesem Augenblick empfand, einer Fülle, die ich seitdem immer gesucht und nie wieder gefunden habe, nicht hier, in den leeren Straßen des East Ends von London, und auch nicht in den Ebenen und Bergen und Städten Kanadas, wo ich zwanzig Jahre lang allein und verzweifelt umherwanderte. Später schlief ich wieder, einen traumlosen Schlaf, und ich wachte am frühen Weihnachtsmorgen auf, immer noch ruhig und voller Freude nach ihrem nächtlichen Besuch. Ich zwängte mich aus dem Schuppen und ging über den Pfad zu der Stelle, an der er zu den Slates hinunter abbog, und weiter durch die Straßen, die so früh am Morgen verlassen und still und in denen die Vorhänge noch zugezogen 125
waren, und hinter ihnen lagen schlafende Männer und Frauen und Kinder; und es war ein seltsames Gefühl, draußen auf der Straße zu sein, während hinter den Vorhängen dunkler stiller Häuser die Familien schliefen. In einem dieser Häuser lebten Kinder, die auf dieselbe Schule gingen wie ich, und vor meinem inneren Auge sah ich sie mit ihren Brüdern und Schwestern im Bett zusammengerollt wie kleine warme Tiere, während Spider in den frühen Morgenstunden auf langen Beinen vorbeihuschte. Etwas später fing ich an zu laufen, denn der Tag war kalt, die Fensterscheiben waren bereift, und die Pfützen auf der Straße waren von einer dünnen Eisschicht überzogen und knirschten unter meinen Stiefeln. Es war ein klarer Tag, und das Schiefergrau des Morgenhimmels nahm allmählich eine bläuliche Färbung an, während ich immer weiterlief. Ich war jetzt von einem Gefühl heiterer Gelassenheit erfüllt, dem wundervollen, glorreichen Gefühl, nicht länger allein zu sein, nicht länger das gestrandete, hilflose Objekt und Opfer des Hasses meines Vaters, denn meine Mutter war jetzt bei mir, in gewisser Weise flog sie mit mir durch die kalten Straßen hinunter zu den Docks, und ihre Anwesenheit in meinem Inneren gab mir Mut und Entschlossenheit und Hoffnung. Später ging ich, gelangweilt und müde, langsam in die Kitchener Street zurück, wohin hätte ich sonst gehen sollen? Ich trottete durch die Straßen, und jetzt war Licht und Leben und Bewegung in den Häusern, an denen ich vorbeikam, Rauch wehte aus den Schornsteinen in die kalte klare Luft, und das Herz wurde mir schwer, als ich hinter Wohnzimmerfenstern den Schein von Kohlenfeuern sah, und Kinder, die sich davor versammelt hatten, und alle Türen waren zu, und alle Fenster waren zu, und für mich gab es keinen Ort, wohin ich gehen konnte, nur die Nummer siebenundzwanzig, und nichts, worauf ich mich freuen konn126
te, nur die Aussicht auf eine Tracht Prügel im Kohlenkeller und auf einen Abend allein in meinem Zimmer, ohne Abendessen. Durch die Gasse, durch den Hof, und durch die Hintertür ins Haus. Mein Vater war nicht da, sondern nur Hilda; finsteres Schweigen, als ich hereinkam. »Da bist du ja endlich. Du kannst von Glück reden, daß dein Vater nicht da ist, mein Junge. Er ist unterwegs, um dich zu suchen. Hier ist dein Abendessen.« Sie holte es aus dem Backofen und stellte es vor mich auf den Tisch, und ich war einfach zu hungrig, um mir Sorgen zu machen, ich aß alles bis auf den letzten Rest, und sie sah mir schweigend dabei zu. Kein einziges Wort über die Ratte. Und so aß ich mein Weihnachtsessen im eisigen Schweigen der Küche, und ging dann nach oben in mein Zimmer und wartete mit nicht unbeträchtlicher Angst auf die Rückkehr meines Vaters. Es war fast acht, als ich seine Schritte in der Gasse hörte, und dann kam er über den Hof; er war im »Dog and Beggar« gewesen, das erkannte ich sofort, und es war kein gutes Zeichen, die Schläge waren immer schlimmer, wenn er im »Dog« gewesen war und getrunken hatte, denn der Alkohol schien seinen Zorn nur noch mehr anzuheizen. Durch die Hintertür ins Haus, während ich oben saß und darauf wartete, gerufen zu werden, und mich ganz bewußt in die tiefsten Tiefen im hinteren Teil meines Kopfes zurückzog, die nur Spider erreichen konnte. Und dann - geschah nichts! Ich wurde nicht gerufen! Ich hörte das Scharren von Stuhlbeinen, als er sich an den Tisch setzte, und dann Stimmengemurmel - die Tür war zu, von daher weiß ich nicht, worüber sie redeten, obwohl ich sicher bin, daß ich es war. jedenfalls kam mein Vater nicht an den Fuß der Treppe und rief mich herunter, damit er mich verprügeln konnte, und so verging dieser seltsame und in gewisser Weise wundervolle Weihnachtstag. Es war, im nachhinein, nicht besonders schwer, eine Er127
klärung dafür zu finden, daß ich wegen der toten Ratte nicht verprügelt worden war: Sie mußten mich bei Laune halten. Denn was hinderte mich daran, sie anzuzeigen? Ganz einfach die Angst, mein Zuhause zu verlieren, obwohl sie das natürlich nicht wußten. Denn wenn ich Horace und Hilda anzeigte, würde man mich unter Vormundschaft stellen und in ein Waisenhaus stecken, und es war nur allzu einfach, mir die Schikanen vorzustellen, die in derartigen Anstalten garantiert gang und gäbe waren, das Fehlen jeglicher Privatsphäre, die Reglementierungen. Nein, ich liebte mein Zimmer in der Nummer siebenundzwanzig, ich genoß mein uneingeschränktes Jungenleben, hatte meine Freude an meinen Insekten, dem Kanal, den Docks, dem Fluß und dem Neel; und jetzt hatte ich, in gewisser Weise, auch meine Mutter. Und nein, ich hatte nicht das Bedürfnis, mein Los gegen die Befriedigung einzutauschen, die beiden baumeln zu sehen, jedenfalls noch nicht gleich. Aber das wußten sie nicht, sie konnten sich nicht sicher sein, was ich als nächstes tun würde. Von daher lag es in ihrem Interesse, mich bei Laune zu halten, und von daher keine Prügel. Erst viel später begriff ich, daß Hilda in gewisser Weise dieselben Vorteile genoß wie ich. Wissen Sie, auch sie wollte dieses Dach über ihrem Kopf - ein Mann, der ein eigenes Haus besaß, war zu jener Zeit eine Seltenheit, und für Hilda, die nun einmal war, wie sie war, und vor allem, was sie war, war dieser Punkt zweifellos sehr ernst. Verstehen Sie jetzt, wie sie triumphiert haben muß, als meine Mutter ermordet wurde - als ihr klar wurde, daß die Tatsache, daß es Mord war, sozusagen eine Garantie war für ihren eigenen, sicheren Platz unter diesem sicheren Dach! Anderenfalls hätte sie sich nicht im geringsten für meinen Vater interessiert, da bin ich mir ganz sicher, sie war ein zynischer, kaltblütiger Parasit, nur darauf aus, soviel wie möglich aus einem Mann herauszuholen, über den sie jetzt, im wahr128
sten Sinne des Wortes, die Macht über Leben und Tod hatte denn genau wie ich konnte auch sie ihn, wann immer sie wollte, verraten, und wenn sie es geschickt anstellte, würde sie wahrscheinlich sogar verhindern können, daß sie den Gang zum Galgen an seiner Seite antreten mußte. Wann erkannte mein Vater, in was für einer Lage er sich befand? Die Kanada-Geschichte war anscheinend allgemein akzeptiert worden, und was Hildas ständige Anwesenheit in der Nummer siebenundzwanzig anging, so hätte dies- in einer Straße, die gegen Unmoral und Verderbtheit nicht so immun war, vielleicht einen Skandal hervorgerufen, aber in der Kitchener Street waren solche Vorkommnisse sozusagen an der Tagesordnung. In der Kitchener Street schickten Männer ihre Frauen ständig nach Kanada und brachten Prostituierte nach Hause, damit sie das Bett mit ihnen teilten; oder sie gingen selbst nach Kanada, und andere Männer kamen und nahmen ihren Platz ein. Dies rief kaum einen Kommentar hervor, und gegen Weihnachten sah es also so aus, als seien sie mit ihrer Tat davongekommen, das heißt, solange ich den Mund hielt. Ich nehme an, mein Vater erkannte den tatsächlichen Stand der Dinge erst, als Hilda offen damit herausrückte und es ihm unverhohlen sagte. Ich hörte zwar nicht direkt, wie sie es sagte, aber ich erinnere mich, daß ich ihn eines Abends auf dem Hof sah, und es war klar, daß irgend etwas in der Art vorgefallen sein mußte. Wissen Sie, als meine Mutter noch lebte, hatte mein Vater, wenn er der Meinung war, sie nörgele zuviel an ihm herum, die Angewohnheit, einfach durch die Hintertür aus dem Haus zu stürmen. Diese Angewohnheit war tief in ihm verwurzelt, und als ich ihn aus der Tür stürmen sah (vorher hatte ich in der Küche laute Stimmen gehört), wußte ich, daß sie ihn wütend gemacht hatte. Er stampfte über den Hof, immer noch damit beschäftigt, sich die Jacke anzuziehen, aber dann blieb er am Tor stehen und schien wie gelähmt vor Unentschlossen129
heit, weder dazu in der Lage weiterzugehen, noch dazu umzukehren. Ich wurde richtig panisch, als ich das sah, ich bin mir nicht sicher, wieso eigentlich - vielleicht weil das einzige, was noch schlimmer gewesen wäre, als Hilda und Nora im Haus zu haben (und ich haßte Nora fast ebenso intensiv wie Hilda, sie war eine korrupte und zynische kleine Säuferin), die Aussicht darauf war, sie ohne meinen Vater im Haus zu haben. Er verkörperte für mich wenigstens ein Minimum an Sicherheit, und ich war fest davon überzeugt, daß es meinen sicheren Untergang bedeuten würde, wenn ich der Gnade dieser beiden weiblichen Ungeheuer ausgeliefert wäre. Deshalb wollte ich nicht, daß er aus dem Haus getrieben wurde, nicht in diesem Stadium (obwohl sich das noch ändern würde). Es war dunkel draußen, und es hatte gerade angefangen zu regnen; dann plötzlich schien er einen Entschluß zu fassen, denn er drehte sich um und kam wieder auf das Haus zu, aber nach ein paar Schritten verlor er erneut den Mut, und statt zur Hintertür zu gehen, ging er aufs Klo. Während ich am Fenster saß, sah ich den schwachen Schein der Kerze, die er angezündet hatte, durch das halbmondförmige Loch in der Tür fallen. Es regnete jetzt in Strömen, ich konnte sehen, wie der Regen durch das halbmondförmige Licht trieb, und ich stellte mir vor, wie mein Vater hinter dieser Tür saß, die Hose um die Knöchel geringelt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und ich dachte, daß wir beide in diesem Augenblick den Frauen in der Küche gleichermaßen entfremdet waren- und ich fragte mich, ob seine Gefühle den meinen vielleicht ähnelten? Dann hörte ich die Spülung rauschen, die Kerze wurde ausgeblasen, und er kam wieder zum Vorschein. Einen Augenblick später ging er ins Haus zurück, und ich hörte aus der Küche das Murmeln von Stimmen. Ich glaube, was mich am meisten bekümmerte, seit Hilda in die Nummer siebenundzwanzig eingezogen war, war zusehen zu müssen, wie die Kleider meiner Mutter von einer 130
ganz gewöhnlichen Prostituierten getragen wurden. Es war nicht nur die abstrakte Vorstellung von Eindringen und Entweihung, sondern vor allem das tägliche Spektakel dessen, was mit den Kleidern geschah, wenn Hilda sie anzog. Meine Mutter war eine schlanke Frau, sie hatte eine schmale, zierliche Figur, fast jungenhaft, während Hilda nichts als Kurven war, sie war fleischig. Folglich waren die Kleider meiner Mutter ihr zu eng, und das Ergebnis war, daß sie provozierend wirkten; was an meiner Mutter bescheiden ausgesehen hatte, sah an Hilda nuttig aus, aber schließlich war das die Natur dieser Frau, alles, was sie anfaßte, wurde auf irgendeine Weise nuttig. Ich weiß noch, daß ich anfing, sie zu beobachten, denn sie rief in mir eine Art entsetzter Faszination wach. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen, aber die Kleider, die Schürzen, die Pullover zu sehen, die für mich immer noch die Aura meiner Mutter an sich hatten, sie verwandelt zu sehen, durchtränkt von der Art von körperlicher Aufforderung, die allen Gesten Hildas anhaftete, all ihren Worten, der Art, wie sie ging, der Art, wie sie mit dem Hintern wackelte - das alles hatte eine starke Wirkung auf mich. Oft folgte ich ihr, wenn sie ihre Einkäufe erledigte, oder abends, wenn sie sich ihren räudigen Pelz umhängte und auf ihren hohen Absätzen durch die Gasse davon klapperte, den Lippenstift meiner Mutter auf den Lippen, die Unterwäsche meiner Mutter auf der nackten Haut, den Ehemann meiner Mutter am Arm - ich schlich hinter ihnen durch die Gasse, bewegte mich (wie ein afrikanischer Junge) von Schatten zu Schatten, lautlos, unsichtbar, ein Phantom, ein Geist. Wenn sie im »Earl of Rochester« tranken, beobachtete ich sie durch die Fenster, ich stand draußen in der Kälte und der Dunkelheit und spähte zu ihnen hinein, während sie sich in der hellen geselligen Wärme der Kneipe suhlten und mit Alkohol vollkippten. Ich fand eine Möglichkeit, auf den Hof hinter der Kneipe zu gelangen, und hatte da131
durch freien Zugang zu den Fenstern der Toiletten; hoch oben auf einem Fuß stehend beobachtete ich Hilda, wenn sie aus dem Lokal kam, und zur Damentoilette zu gehen, ich sah sie mit heruntergelassenem Schlüpfer und hochgehievtem Kleid, das Hinterteil ein Stück über der Brille- und dann, wenn sie sich abgewischt hatte, holte sie die Puderdose hervor und frischte ihr Make-up mit dem Puder und dem Lippenstift meiner Mutter auf. Sie entdeckte mich kein einziges Mal, obwohl ich mich erinnere, daß einmal, als ich mich auf die Zehenspitzen reckte, um besser sehen zu können, was sie tat, das Faß unter meinen Füßen anfing zu wackeln, und sie hob den Kopf und sah zu mir hinauf aber nicht, bevor ich mich geduckt und mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Wie schon gesagt, war ich erfüllt von einer Mischung aus Entsetzen und Faszination angesichts der unglaublichen Unverfrorenheit dieser Kreatur, ich beobachtete sie, wie man vielleicht ein wildes exotisches Tier beobachten würde, mit einer Mischung aus Bewunderung und Angst, und einem Gefühl der Verwunderung darüber, daß eine solche Lebensform überhaupt existieren konnte. Sie war eine Naturgewalt, so dachte ich damals über sie. Was nun meinen Vater anging, so kannte meine Verachtung für ihn keine Grenzen. Er war kein Exot, keine Naturgewalt; in einem Anfall barbarischer, feiger Wut hatte er meine Mutter ermordet und genoß jetzt die schmutzigen Belohnungen seiner Tat. Er saß im »Rochester«, ein dümmliches, affektiertes Grinsen auf dem Gesicht, während er sein Bier trank, ein verstohlener, grinsender Mann, ein Wiesel mit Blut an den zuckenden Pfoten, heimlichtuerisch, listig, lüstern, grausam und bösartig. Ich hatte allen Grund, ihn zu hassen, oder etwa nicht? Er hatte meine Mutter ermordet und mich dadurch schlecht gemacht; er hatte mich mit seinem Schmutz und seinem Dreck infiziert, und ich haßte ihn dafür mit glühender Inbrunst. 132
Eine Zeitlang tat ich noch so, als würde ich morgens zur Schule gehen, aber nach ein oder zwei Wochen machte ich mir nicht einmal mehr diese Mühe. Ich schlief nachts fast überhaupt nicht mehr, und es war viel zu anstrengend, um halb neun aus dem Haus zu gehen und den ganzen Tag am Kanal herumzulaufen oder zum Fluß zu gehen und mich bei den Booten herumzutreiben. Nein, ich blieb einfach in meinem Zimmer und arbeitete an meiner Insektensammlung und behielt den Hof im Auge, um zu sehen, wer alles kam und ging. Tagsüber hatte Hilda oft Freunde zu Besuch, größtenteils Nutten. Harold Smith und Gladys gehörten zu denen, die am häufigsten kamen. Wenn sie da waren, ging ich oft hinunter in die Küche und setzte mich auf einen Stuhl, die Knie bis ans Kinn hochgezogen und die Arme um die Unterschenkel geschlungen, und sagte kein Wort, sondern hörte nur zu, es schien sie nicht zu stören, sie redeten weiter, schwatzten weiter über die diversen kleinen Tragödien, die wenigstens ein bißchen Würze und Farbe in ihr armseliges Leben brachten. Hilda war immer schnell bei der Hand, wenn es darum ging, den süßen Portwein hervorzuholen. »Kein Wort zu deinem Vater«, sagte sie zu mir, wenn sie uns allen ein Schlückchen in unsere Teetassen goß (ich hatte selbst Geschmack an Portwein gefunden, seit Hilda eingezogen war). Gladys schien immer ein Problem zu haben. »Wenn es nicht das eine ist, dann ist es das andere, was, Glad?« sagte Hilda, während sie den Herd abwischte oder die Kartoffeln schälte und Glad am Tisch saß und Woodbines rauchte und sorgenvoll an ihren schwarzgefärbten Haaren herumfummelte, während sie irgendeine neue Katastrophe schilderte, die mit ihrem Vermieter zu tun hatte, oder mit ihrem derzeitigen »Gentleman«, und Harold Smith sein zynisches, totes Grinsen grinste und seine Fingernägel saubermachte und nichts sagte. Aber im Grunde war es ausschließlich Hilda, die ich beobachtete, und wäh133
rend sie saubermachte oder Kartoffeln schälte, beobachtete ich mit heimlicher Faszination, wie ihre Arme und Schenkel und Brüste unter den Röcken und Schürzen wogten und waberten, die einst die zarte Figur meiner Mutter geziert hatten. Ein Vorfall aus dieser Zeit ist mir besonders deutlich im Gedächtnis geblieben. Im Januar wurde es schon um fünf Uhr nachmittags dunkel, so daß die Straßenlampen immer schon brannten, wenn mein Vater nach Hause kam. Ich beobachtete von meinem Schlafzimmerfenster aus, wie er sein Fahrrad auf den Hof schob und es an die Wand des Außenklos lehnte. Die Werkzeugtasche hing über seiner Schulter, und um den Hals trug er einen schwarzen Schal. Er kniete sich hin, um die Schnüre zu lösen, die er sich um die Knöchel gebunden hatte, und stopfte sie dann in seine Hosentasche. Dann rieb er sich die Hände, um sie zu wärmen, und stampfte über den Hof und durch die Hintertür ins Haus. Hilda war dabei, das Abendessen zu machen, ich konnte das Klappern der Töpfe und das dumpfe Grollen hören, das die Leitungen immer von sich gaben, wenn man das Wasser laufen ließ. Stimmengemurmel, das Scharren von Stuhlbeinen - er hatte seine Jacke und seinen Schal an den Haken an der Küchentür gehängt und sich an den Tisch gesetzt. Hilda stellte ihm eine Flasche Bier hin, und er holte die Blättchen und die Tabakdose hervor, während sie den Tisch deckte. Sehen Sie, wie glatt und routiniert Hilda im täglichen Ablauf des häuslichen Lebens die Rolle meiner Mutter übernommen hatte, sie hatte die Rolle der Dame des Hauses sozusagen perfekt einstudiert; aber halten Sie bitte auch fest, mit was für einer empörenden Selbstgefälligkeit mein Vater dies akzeptierte! Kaum daß ich die Küche betreten hatte, wußte ich, daß sich irgend etwas Seltsames zusammenbraute. Es gab eine ganz bestimmte Art (sie war mir schon früher aufgefallen), mit der Hilda und mein Vater mich manchmal aus den Au134
genwinkeln heraus beobachteten, und ich spürte, daß sie es auch an diesem Abend taten. Was mich dabei fast wahnsinnig machte, war die Tatsache, daß sie, sobald es mir auffiel, woanders hinsahen und sich völlig normal benahmen - zu normal -, und das war auch an diesem Abend der Fall, es lag etwas seltsam Gekünsteltes in allem, was sie taten. Außerdem hing ein seltsamer Geruch in der Luft, auch wenn ich nicht genau identifizieren konnte, um was für einen Geruch es sich handelte. Es war nicht das Essen, da war ich mir ganz sicher, denn es gab Räucherhering, und ich weiß, wie Räucherhering riecht. Ohne ein Wort setzte ich mich an meinen Platz, ohne ein Wort machte ich mich über meinen Räucherhering her. Ich spürte immer noch, daß sie mich ansahen und sich dann gegenseitig zublinzelten, obwohl es mir nie gelang, sie dabei zu ertappen. Dann zerschnitt ich meine Kartoffel, und genau in der Mitte der halbierten Kartoffel befand sich ein dunkler Fleck. Ich starrte ihn voller Unbehagen an. Plötzlich sickerte eine sirupartige Flüssigkeit aus der Kartoffel heraus, es war das langsame, zähe Sickern einer Flüssigkeit, die ich einen Augenblick später als Blut identifizierte. Ich hob den Kopf, zutiefst erschrocken, und sah, daß mein Vater und Hilda, das Besteck über ihren Tellern in der Schwebe, unverhohlen zu mir herübergrinsten. Plötzlich knisterte die Glühbirne über meinem Kopf, und einen Augenblick glaubte ich, es sei Gelächter. Dann fiel mein Blick wieder auf die triefende Kartoffel, und jetzt hatte es den Anschein, als sammele das Blut sich unter meinem Räucherhering zu einer bösartigen Pfütze. Was erwarteten die beiden von mir? Was sollte ich ihrer Meinung nach tun? Irgend etwas Seltsames war mit dem Licht los; es gab nur die eine Glühbirne in der Küche, die keinen Lampenschirm hatte und an einem umflochtenen braunen Kabel hing, und das Licht, das sie warf, war grell und gelblich. Jetzt schien es sich zu verändern mehrere Augenblick wurde es immer dunkler, bis wir alle in 135
Schatten getaucht waren und alles, was ich von Hilda und meinem Vater sehen konnte, das Weiß ihrer Zähne und ihrer Augen war, und das Glitzern ihrer Augen - und dann wurde es allmählich wieder heller, und sie schienen sich völlig normal zu benehmen. Einen Augenblick später wurde es mit schwindelerregender Unerbittlichkeit wieder dunkler, und dieses Mal wurde das Knistern der Glühbirne plötzlich sehr laut, es steigerte sich fast zu einem Kreischen, und während ich am Tisch saß und kaum zu atmen wagte, war es einfach unmöglich, in diesem Knistern nicht die Stimmen des Spotts zu vernehmen, und des Hohns, und als ich auf meinen Teller sah - ich war außerstande, Hilda und meinen Vater anzusehen, sie machten mir jetzt angst, sie waren verwandelt, sie waren wie Tiere, in ihren Gesichtern war nichts mehr, was ich als menschlich erkannte, und das ließ mir die Haare zu Berge stehen - als ich auf meinen Teller sah, schien das Blut leise zu glühen, es hatte einen hellen Schimmer angenommen, und ich starrte in einem Zustand der Benommenheit und des Schocks auf dieses Blut, während das Licht langsam wieder zurückkehrte und die Küche wieder in jenen seltsam unstabilen Zustand einer falschen Normalität versetzte, in dem Messer und Gabeln auf Tellern klapperten und Horace und Hilda umständlich ihr Essen kauten und ihren Tee tranken und das Knistern der Glühbirne wieder gedämpft und gebrochen war und der Wasserhahn endlos und gleichförmig in das Spülbecken tropfte. Auf meinem Teller lag die halbierte Kartoffel in einer Pfütze aus geronnenem Bratenfett, das von den Säften des Räucherherings bräunlich verfärbt war. Ich würde nicht vom Tisch aufstehen, diese Genugtuung würde ich ihnen nicht geben. »Ich habe gedacht, du magst Räucherhering«, sagte Hilda mit einem Blick in meine Richtung, während sie eine vollgehäufte Gabel an ihre Lippen führte, und ich sah, wie die Augen meines Vaters bei dieser Bemerkung zu ihr hinüberhuschten, und wie seine 136
Lippen dieses flüchtige, zuckende Flackern amüsierter Verachtung produzierten, das ebenso schnell verschwand, wie ich es entdeckt hatte. Diese Genugtuung würde ich ihnen nicht geben; wortlos schnitt ich in meinen Räucherhering hinein und fing an, geräuschvoll zu kauen, die Augen starr auf Hildas Gesicht gerichtet. »Was machst du denn da?« sagte sie, die Teetasse in der Hand. »Siehst du - jetzt hast du eine Gräte verschluckt! « Ich fing an zu husten, denn der Räucherhering hatte ein grätiges Skelett, und ich war unvorsichtig gewesen. Ich spuckte einen matschigen Klumpen aus halbzerkautem Fisch auf meinen Teller, durchsetzt von vielen winzigen, nadelspitzen Gräten, die kreuz und quer daraus hervorragten; und mein Vater sagte: »Um Himmels willen, Dennis! « Um Himmels willen, Dennis! - können Sie sich die Wut vorstellen, die diese Bemerkung in mir auslöste? War das etwa keine abscheuliche Behandlung, keine schnöde Provokation? Aber ich würde ihnen die Genugtuung nicht geben, und ich ließ mir meine Gefühle nicht anmerken, ich verschloß meine Wut und meinen Haß in meinem Inneren, denn meine Zeit würde kommen, das wußte ich seit Weihnachten, meine Zeit würde kommen, und dann würde es ihnen leid tun. Später gingen sie in die Kneipe, und ich ging zurück zu meinen Insekten. Als ich sie durch die Gasse zurückkommen hörte, schaltete ich das Licht aus und beobachtete von meinem Fenster aus, wie sie durch das Tor und auf den Hof kamen. Mein Vater schwankte ein bißchen, und Hilda war sauer auf ihn, das konnte man an ihrem Gesicht sehen, das nicht lächelte, und an der Art, wie sie über den Hof und durch die Hintertür ins Haus marschierte, während er ungeschickt am Tor herumfummelte und dann einen Abstecher zum Klo machte. Schritte auf der Treppe Hilda auf dem Weg ins Bett. Aber als mein Vater ein paar Augenblicke später ins Haus kam, hörte ich ihn nicht die Treppe herauf 137
kommen, und als die Minuten verstrichen, wurde mir klar, daß er sich in die Küche gesetzt haben mußte, obwohl er das Licht nicht angeschaltet hatte. Nach einer Weile schlich ich mich über den Treppenabsatz und betrachtete die schlafende Hilda, ihre Kleider und ihre Unterwäsche lagen auf einem Stuhl, einer ihrer Strümpfe war auf den Boden gerutscht. Dann schnell die Treppe hinunter, und wie ich es vermutet hatte, war mein Vater in der dunklen Küche sitzen geblieben, um noch ein Bier zu trinken, und dabei eingeschlafen. Ich ging auf Zehenspitzen auf ihn zu. Den Kopf nach hinten geworfen, den Mund offen, immer noch in Mütze und Schal, schnarchte er im Sessel neben dem Herd leise vor sich hin, eine Literflasche Bier und ein halbleeres Glas neben sich auf dem Boden. Im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster über dem Spülbecken fiel, sah ich ihn mir genau an; ich hatte immer noch all meine Wut in mir, und plötzlich wurde mir klar, daß ich mit ihm machen konnte, was ich wollte; und mit diesem Gedanken kam ein unglaublich süßes Gefühl der Macht, der Überlegenheit. Ich öffnete den Brotkasten und holte das Brotmesser heraus. Ich vollführte damit ein paar spielerische Stiche und Hiebe und stellte mir dabei vor, wie es sich anfühlen würde, wenn ich es in den Hals meines Vaters stieße. Geräuschlos bewegte ich es vor seinem Gesicht hin und her, tanzte um ihn herum wie ein afrikanischer junge; er wurde nicht wach. Das Mondlicht blitzte auf der Klinge des Messers auf, als ich durch die Küche tanzte, die Knie immer höher riß und den Kopf wild hin und her schüttelte, stumm, lautlos. Schließlich hatte ich genug, legte das Messer in den Brotkasten zurück und füllte meine Hand mit Brotkrümeln. Diese ließ ich langsam auf das Gesicht meines Vaters herunterrieseln, und obwohl er zuckte und schnaubte und mit einer unsicheren Hand danach schlug, wurde er nicht wach, so besinnungslos betrunken war er. 138
Nach dem Zwischenfall mit dem Räucherhering und der Kartoffel war Hilda mir gegenüber lange nicht mehr so selbstsicher und zuversichtlich wie vorher. Ich glaube, sie hatte beschlossen, daß sie das Risiko, das ich für ihre neugefundene Sicherheit darstellte, nicht länger hinnehmen konnte - sie war zu weit gekommen, um tatenlos zuzusehen, wie das alles durch das wilde Gerede eines Jungen wieder von ihr gerissen wurde. Denn ich hatte an jenem Abend am Tisch den Blick in ihren Augen gesehen, ich hatte die Sorge gesehen, als ich mich an dem vor Gräten starrenden Fisch verschluckte; und mit dieser Sorge ging eine neue, erregte Wachsamkeit einher, sie fiel mir in den Tagen, die nun folgten, oft an ihr auf, sie verhielt sich mir gegenüber so vorsichtig, wie sie es nie zuvor getan hatte. Und natürlich war es nicht nur der sichere Zufluchtsort der Nummer siebenundzwanzig, den sie verlieren würde; wenn es je so weit kommen sollte, daß das Kartoffelbeet meines Vaters umgegraben wurde, und wenn sich dann herausstellte, daß sie in jener Nacht bei ihm gewesen war würde sie bedeutend mehr verlieren, als nur einen sicheren Zufluchtsort. Sie würde baumeln. Und so wurde die Atmosphäre in der Nummer siebenundzwanzig immer spannungsgeladener, eine neue Gereiztheit machte sich bei den beiden bemerkbar, eine neue Schroffheit, die ich schnell erkannte und mir zunutze machte. Hilda verteilte nicht mehr mit komplizenhafter Unbekümmertheit Teetassen mit Portwein an Harold und Glad - es war aus mit dem »nur ein kleiner Schluck, damit du wieder ein bißchen Wärme in die Knochen bekommst, Glad, du hast eine lange Nacht hinter dir«. Nein, Hilda fing an, die Anspannung zu spüren, sie war schlecht gelaunt und zerstreut, wenn sie ihre Arbeiten in der Küche verrichtete. Ich versuchte, die Zustände noch schlimmer zu machen, als sie waren. Ich stahl ihren Eimer und schleppte ihn hinunter an den Kanal, wo ich ihn mit Steinen füllte und 139
versenkte. Sie war wütend darüber, daß der Eimer verschwunden war, sie stellte das ganze Haus auf den Kopf, denn natürlich konnte sie weder den Boden noch den Hof noch die Treppe vor dem Haus putzen, wenn sie keinen Eimer hatte. Ich sehe sie noch heute am Küchentisch sitzen, als mein Vater an jenem Tag nach Hause kam (ich saß auf der Treppe und lauschte); ein Tuch um den Kopf geschlungen (sie hatte sich die Haare eingedreht), trank sie ihren Tee und sagte: »Ich habe das ganze Haus auf den Kopf gestellt - Eimer verschwinden doch nicht einfach spurlos. « Ein Stöhnen von meinem Vater, das nicht leicht zu interpretieren war. War es ihm egal, daß ihr Eimer verschwunden war? Oder runzelte er die Stirn, bleckte die Zähne in jener vertrauten Grimasse ärgerlicher Ratlosigkeit, und verdrehte vielleicht die Augen zur Decke, in Richtung auf mein Zimmer, um mir die Verantwortung für den verlorenen Eimer in die Schuhe zu schieben? Ich vermute es. Als ich zum Essen herunterkam, platzte Hilda offen damit heraus und fragte mich ohne Umschweife, was ich über ihren Eimer wüßte. Ich saß auf meinem Stuhl, zuckte die Schultern, starrte die Decke an und sagte nichts. »Dennis!« fuhr mein Vater mich an. »Antworte deiner Mutter, wenn sie dich etwas fragt. « Das war stark. »Mutter? « sagte ich, beugte mich vor, legte die Hände flach auf den Tisch und starrte sie aus schmalen Augen an. »Du bist nicht meine Mutter. « »O nein, nicht schon wieder!« sagte Hilda und drehte sich zu meinem Vater um. Er runzelte die Stirn, nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen. »Essen wir lieber«, sagte er müde. Ich frohlockte innerlich über das angespannte Schweigen, in dem die Mahlzeit verzehrt wurde. Am späten Abend hörte ich sie wieder in der Küche miteinander reden, also schlich ich mich an den Kopf der Treppe, um zu lauschen. Die Tür stand nur einen Spalt offen, und ihre Stimmen waren gedämpft, und ich mußte mich 140
konzentrieren, um zu verstehen, was sie sagten. Aber nach ein paar Minuten konnte ich den ungefähren Sinn ausmachen. Sie sprachen über mich. Sie sprachen darüber, mich nach Kanada zu schicken. Ich schlich in mein Zimmer zurück und machte die Tür zu. Ich schaltete das Licht aus und setzte mich ans Fenster, die Ellbogen auf dem Fensterbrett, das Kinn in den Händen. Der Mond schien in jener Nacht, und auf der anderen Seite der Gasse glänzte das Licht auf den unzähligen Reihen feuchter Schieferdächer. Mein Vater hatte meine Mutter nach Kanada geschickt, und sie lag unter den Kartoffeln. Dann dachte ich daran, wie er besinnungslos und mit offenem Mund unten in der Küche im Sessel gelegen hatte, und in meinem Kopf nahm eine Idee Gestalt an, und sie hatte etwas mit Gas zu tun. In den folgenden Tagen unternahm ich nichs, um die Situation schlimmer zu machen, als sie war. Ich konnte den Eimer meiner Mutter nicht zurückholen, er war für immer weg, aber ich stahl keine anderen Gegenstände. Bei den Mahlzeiten verhielt ich mich still und normal, und es gab keine Wiederholung jener knisternden Verzerrung des Lichts. Niemand sagte etwas, aber wir waren erfüllt von gegenseitigem Mißtrauen, und das allein steigerte die Spannung, unter der das Haus sowieso zu ersticken schien; keiner von uns hatte ein Interesse daran, sie noch mehr zu vergrößern. Eine schwierige Phase also, und das einzige, was in dieser Zeit an Bedeutsamem geschah, war der eine, ungeschickte Versuch meines Vaters, mir Sand in die Augen zu streuen. Ich war in dieser Zeit oft unten bei den Parzellen - es muß so gegen Ende Januar gewesen sein, eine Zeit, in der es für einen Gärtner nicht viel zu tun gibt. Am besten gefiel 141
es mir dort bei Anbruch der Dunkelheit, gegen halb fünf Uhr nachmittags, vor allem in jenen zehn oder zwanzig Minuten, bevor die eigentliche Dunkelheit sich herabsenkte, in denen der Himmel noch graublau war, unten auf der Erde die Schatten aber bereits dunkler wurden und alle Gegenstände ihre Schärfe verloren. Dann wurde jenes Gefühl in mir wach, das ich schon immer bei Nebel und Regen empfunden hatte, und ich wanderte glücklich und zufrieden von Garten zu Garten und hatte das Gefühl, kaum noch sichtbar zu sein. Aber es gab einen Nachmittag - die Parzellen waren verlassen, nur ich war da -, als ich zu meiner Überraschung sah, daß mein Vater über den Pfad geradelt kam, der zwischen dem Zaun und dem Eisenbahndamm entlangführte; ich war gerade auf Jack Bagshaws Parzelle, versteckte mich hinter seinem Schuppen und spähte, wie ich es schon oft getan hatte, um die Ecke herum, um zu sehen, was er vorhatte. Er stieß das Tor zu einer Parzelle auf, schob sein Fahrrad über den Pfad und lehnte es an den Schuppen. Dann kam er um den Schuppen herum zum Komposthaufen und sah zu mir herüber; ich zuckte zurück. »Dennis«, rief er. Ich sagte nichts; ich bewegte mich nicht, ich atmete kaum. »Komm her, Sohn, ich will nur mit dir reden. « Ich ließ mich in die Hocke fallen und hielt mir die Ohren zu. Ein paar Augenblicke später fühlte ich seine Hand an meinem Ellbogen. »Komm schon, Sohn, komm rüber in den Schuppen. « Ich ließ mich von ihm zum Schuppen führen. Er schloß die Tür auf, schob mich hinein und drückte mich in den Sessel, während er ein paar Kerzen anzündete. Dann setzte er sich selbst auf eine Holzkiste, die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt, nahm seine Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand über die Augen. »Was ist los mit dir, Sohn? Warum bist du so böse 142
auf uns? « Er warf mir einen Blick zu, und er sah dabei müde und ratlos aus. »Sag doch? « Ich hatte mich im Sessel zusammengerollt und starrte die Spinnweben an. Mein Herz schlug sehr schnell; mit einiger Erleichterung merkte ich, daß Spider anfing, sich zurückzuziehen, ich merkte, wie er leise davonkroch und nur eine staubige leere Zelle zurückließ: und das war Dennis. »Warum hast du neulich so etwas zu deiner Mutter gesagt? « »Sie ist nicht meine Mutter«, sagte ich, obwohl ich nicht die Absicht gehabt hatte, etwas zu sagen. Ein überraschtes Schnauben. »Wer ist sie dann? « Aber er würde mich nicht noch einmal in die Falle locken. »Wer ist sie, Sohn? « Ein Anflug von Ärger. Ich starrte die Spinnweben an; Spider versuchte, in ein Loch zu kriechen. »Wer ist sie, Dennis?« Das Stirnrunzeln, die Zähne. »Sie ist eine Nutte. « »Du dreckiger kleiner Affe. Ich schlage dir den Schädel ein!« Er war aufgesprungen, stand drohend über dem Sessel. »Sie ist eine fette Nutte! « Er gab mir eine Ohrfeige, und ich fing an zu weinen, ich konnte nicht anders. »Du hast meine Mum umgebracht«, schrie ich durch die Tränen hindurch. »Du Mörder! Du Mörder! Du verdammter Mörder!“ « »Was?« Er ließ sich wieder auf die Kiste fallen. »Willst du mich auf den Arm nehmen, Dennis? Weißt du, was du da sagst?« Ich versank in trotziges, mürrisches Schweigen-, so gerne Spider auch in seinem Loch geblieben wäre, der Schlag ins Gesicht hatte ihn ausgeräuchert, und der heiße, sengende Schmerz hinderte ihn daran, sich erneut abzukapseln. Mein Vater runzelte die Stirn; er sagte, er hätte keine Ahnung, 143
wovon ich redete. Hatte ich den Verstand verloren, fragte er. Immer noch auf der Kiste sitzend kratzte er sich am Kopf, sah immer wieder zu mir herüber, als hätte er mich noch nie gesehen, und wandte den Blick dann wieder ab. Er fing an, mir zu erklären, wie verrückt ich mich benahm, er sagte, er wisse nicht, wie ich auf diese Idee gekommen sei, er sagte, ich sei viel zuviel allein, er sagte, ich müßte Freunde haben, er hätte in meinem Alter Freunde gehabt, jeder Junge müßte Freunde haben, und so weiter und so weiter, und als der heiße, sengende Schmerz etwas nachließ, merkte ich, daß ich mich zurückziehen konnte, daß ich mich endlich wieder in die dunklen geheimen Winkel zurückziehen konnte, und als ich das tat, geschah etwas sehr Seltsames: Mein Vater schien zu schrumpfen. Plötzlich war es, als wäre er sehr weit weg, obwohl ich natürlich wußte, daß er nur ein paar Schritte von mir entfernt war. Aber in meinen Augen war er fern und winzig, und seine Stimme hörte sich an, als müsse sie einen gewaltigen Raum durchqueren, bevor sie mich erreichte, und wenn sie mich erreichte, hatte sie einen hohlen, blechernen Klang, der den Sinn und die Bedeutung seiner Worte verzerrte, so daß sie nur Echos waren, leere Echos in einem dunklen Schuppen, in dem hoch oben zwischen den Dachbalken Spinnen Netze webten, die im Kerzenlicht glänzten und glitzerten und zwinkerten und dafür sorgten, daß mir ganz weich zumute wurde, und die Zeit stand still, bis ich ihn klar und deutlich sagen hörte: »Dennis? Glaubst du immer noch, daß ich sie umgebracht habe? « Ich sagte nichts. Er hatte wieder Substanz und Realität angenommen, und das weiche Gefühl mich von mir. »Antworte mir, Sohn. Glaubst du immer noch, ich hätte deine Mum umgebracht? « Was konnte ich tun? Er machte mir Angst. Ich schüttelte den Kopf. »Dem Himmel sei Dank«, sagte er. »Laß uns nach Hause gehen.« 144
Wir verließen den Schuppen und gingen über den Pfad, wobei er sein Fahrrad neben mir herschob. Als wir am Grab meiner Mutter vorbeikamen, fiel mir auf, daß er sich nicht erboten hatte, das Kartoffelbeet umzugraben, aber das sagte ich natürlich nicht (obwohl ich nicht glaube, daß wir etwas gefunden hätten, sie war zu dieser Zeit schon auferstanden, aber das wußte er nicht). Hilda wartete in der Küche auf uns. Als wir durch die Hintertür hereinkamen, sah sie meinen Vater, der die Hand auf meine Schulter gelegt hatte, ängstlich und erwartungsvoll an. Spider hatte sich zu diesem Zeitpunkt in eines seiner dunkelsten Löcher zurückgezogen. »Alles in Ordnung? « fragte sie, und mein Vater nickte, und sie fing mit sichtlicher Erleichterung an, in der Küche herumzuhantieren. »Setzt euch«, sagte sie. »Ich bin schnell noch einmal losgelaufen und habe euch etwas Schönes zum Abendessen geholt. « Es war Aal. Also saß ich ganz still in der Küche und aß meinen Aal, vergaß dabei jedoch nicht eine Minute, daß sie ungeachtet des ganzen Geredes meines Vaters immer noch vorhatten, mich nach Kanada zu schicken. Es ist sehr spät, während ich das hier schreibe, und ich weiß nicht, ob Sie die Unruhe verstehen können, die ich dabei empfinde, all diese Gedanken zu Papier zu bringen. Falls sie dieses Heft je finden sollte, wären die Folgen katastrophal, und ich will lieber nicht darüber nachdenken, nicht im Licht dessen, was später in der Kitchener Street an den Tag kam - wenn Sie die ganze Geschichte kennen, werden Sie meine Besorgnis verstehen. Ich bin mit dem Kamin als Versteck ganz zufrieden, obwohl er natürlich den Nachteil hat, sehr rußig zu sein - schon nach wenigen Tagen war das Heft so schmutzig, daß ich es in eine Papiertüte stecken mußte, bevor ich es in sein Versteck stopfte, zu ich mir meine Fausthandschuhe überzog, damit meine Hände nicht schmutzig wurden. Dieses System funktionierte bis gestern morgen, als mir plötzlich einfiel, daß sie, 145
wenn sie die rußigen Fausthandschuhe fand, bestimmt mißtrauisch werden und im Kamin herumschnüffeln würde, um herauszufinden, was ich im Schilde führte - womit ich vor dem Problem stand (Sie werden jetzt sicher sagen, daß ich es fast absurd genau nehme, aber glauben Sie mir, ich kann es mir nicht leisten, das Risiko einzugehen), vor dem Problem, ein sicheres Versteck für die Handschuhe zu finden (unter dem Linoleum vielleicht?) oder, alternativ, sie loszuwerden. Ich entschied mich für die zweite Lösung, ich warf sie gestern nachmittag in den Kanal, und beobachtete, wie sie sich mit Wasser vollsogen und nach einer Weile untergingen. Das bedeutet jedoch, daß ich mir (a) jedesmal die Hände waschen muß, wenn ich das Heft hervorhole oder zurücklege (was einen Gang durch den Flur zum Badezimmer erforderlich macht) und (b) ihr irgendwann werde erklären müssen, daß ich die Handschuhe verloren habe, und wie Sie sich vielleicht vorstellen können, ist das keine Unterredung, der ich freudig entgegensehe. Aber hier jetzt der Grund, weshalb es so wichtig ist, daß sie das Heft nicht findet: Ich glaube zu wissen, wer sie ist, verstehen Sie? Eines Nachmittags vor mehreren Wochen, nachdem ich mehrere Stunden damit verbracht hatte, durch die Straßen zu wandern, kam ich ins Haus zurück und ging durch die Diele zur Treppe, als mein Blick zufällig auf die Küche fiel, die am Ende eines kurzen Flurs liegt, der auf der anderen Seite, links von der Treppe, von der Diele abgeht. Der Flur war dunkel, aber in der Küche brannte Licht, und sie stand in der Mitte des Raumes am Tisch, mit hochgekrempelten Ärmeln, ein Nudelholz in der Hand. Nichts Ungewöhnliches, natürlich nicht; sie half der kleinen ausländischen Frau, eine Steak-und-Nieren-Pastete zu machen, vielleicht wollte sie ihr die englische Methode zeigen. Was meine Aufmerksamkeit auf die hell erleuchtete Szene lenkte, die 146
von der Küchentür am Ende jenes kurzen dunklen Flurs eingerahmt würde, war die Art, wie sie das Nudelholz handhabte, die Art, wie sie sich auf die Zehenspitzen hob und sich dann auf das Nudelholz stemmte, so daß die ganze Kraft und das ganze Gewicht jener fleischigen Schultern durch ihre mächtigen Arme nach unten geleitet wurde, durch ihre Handgelenke, und weiter in die dicken Finger ihrer prankenartigen Hände, deren Nägel, wie ich mit einem sehr realen Schauder des Wiedererkennens und des Entsetzens bemerkte, und zwar trotz der Mehlschicht, die sie überpuderte, schmutzig waren. Für einen Augenblick glitten Vergangenheit und Gegenwart nahtlos ineinander, nahmen die gleiche Identität an, und es gab nur eine Frau, die sich auf das Nudelholz stemmte, und diese Frau war Hilda Wilkinson; die Frau in der Küche verwandelte sich, ihr Haar war jetzt blond mit schwarzen Ansätzen, ihr Busen sprengte fast den Stoff einer Schürze, die nicht ihre eigene war, und ihre kräftigen Beine ragten aus dem Küchenboden auf wie zwei Baumstämme, und hoben und senkten sich, während sie sich mit jedem nach unten gerichteten Schub von Nudelholz auf Teig auf die Zehenspitzen hob. Ich war näher gekommen, ich hatte den Flur betreten und starrte sie mit offenem Mund an, als sie sich mit einem rauhen Keuchen zur Tür umwandte und eine Strähne feuchter Haare aus ihrer Stirn strich. Ihr Kinn! Wie konnte ich das übersehen haben? Sie hatte Hildas Kinn, groß und kantig, vorspringend, genau wie bei Hilda! »Ah Mr. Cleg«, sagte sie - und ich befand mich wieder mit meiner Vermieterin im Jahre 1957. Eine Pause; ich wußte nicht, was ich sagen sollte, als sie dort am Tisch stand, mir zugewandt, einen fragenden Ausdruck auf dem Gesicht. »Haben Sie irgend etwas gewollt, Mr. Cleg?« »Nein«, sagte ich, aber nur ein krächzendes Flüstern drang aus meiner Kehle. »Nein«, wiederholte ich, dieses 147
Mal mit mehr Erfolg, und nur mit der allergrößten Mühe gelang es mir, mich wieder in Bewegung zu setzen, denn ich war, für jene wenigen Augenblicke im Flur ausgekuppelt worden. »Nein?« sagte sie, als ich davonschlurfte, und der vertraute Stachel des Spotts lag in ihrer Stimme. »Eine Tasse Tee vielleicht, Mr. Cleg?« Aber ich mußte nach oben, und so floh ich ohne ein weiteres Wort. Sobald ich die Sicherheit meines Zimmers erreicht hatte, blieb ich am Fenster stehen, sah hinunter auf den Park und versuchte, mir eine Zigarette zu drehen- aber meine Hände zitterten so stark, daß ich die Hälfte des Tabaks auf den Boden verschüttete, und es dauerte mehrere Minuten, bis ich mich soweit gefaßt hatte, daß ich mich niederknien und ihn zusammenscharren konnte. Im ersten Augenblick war mir nicht klar, was ich tun mußte. Ich stelle immer wieder fest, daß ich in diesem Haus erst dann richtig denken kann, wenn alle anderen zu Bett gegangen sind, sonst gibt es zu viele Störungen, zu viele Gedankenmuster, die die Wellen blockieren, falls Sie wissen, was ich meine - das ist übrigens nicht der unwichtigste Grund dafür, daß ich soviel Zeit unten am Kanal verbringe, denn wenn ich nicht vorsichtig bin, verdrängen diese fremden Gedankenmuster meine eigenen, und das darf nicht sein, ich kann keine Gedanken von anderen Leuten im Kopf haben, das habe ich in Kanada oft genug gehabt. Es ist dasselbe, wenn alle im Haus wach sind, selbst wenn ich in meinem Zimmer bin und die Tür zu ist, und eines kann ich Ihnen sagen: Sie mögen zwar tote Seelen sein, aber die Gedanken, die sie denken, sind grotesk, und das wiederum hat etwas mit den Kreaturen auf dem Dachboden zu tun, aber auf die komme ich später noch zu sprechen. Nein, was ich erkannte, sobald ich klar denken konnte das heißt, mitten in der Nacht -, war, daß ich versuchen mußte, eine Bestätigung für den so lebhaften ersten Eindruck zu finden, den ich im 148
Flur gehabt hatte; es hatte keinen Sinn, über irgend etwas anderes nachzudenken, solange das nicht erledigt war. Es war gegen drei Uhr morgens, als ich erkannte, daß sie, wenn ich wußte, wer sie war, auch wissen mußte, wer ich war - und was das bedeutete, war sehr beunruhigend, obwohl es noch mehrere Tage dauerte, bis ich die Konsequenzen bis ins letzte Detail durchdacht hatte. Der folgende Tag war feucht und kalt. Nach dem Frühstück verließ ich wie gewöhnlich das Haus, aber statt an den Kanal zu gehen, ging ich in den kleinen Park auf der anderen Straßenseite. Mrs. Wilkinsons Haus steht an der Nordseite eines Platzes, der früher einmal eindrucksvoll gewesen sein muß. Heute jedoch sind die ehemals hochherrschaftlichen Häuser mit ihren Stuckfassaden und ihren korinthischen Säulen heruntergekommen und baufällig, viele von ihnen wurden bereits abgerissen, und die, die noch übrig sind, werden nur von Ratten oder Geistern oder Elementen wie mir bewohnt. Und da saß ich also auf einer Bank im Park in der Mitte dieses schäbigen Platzes, unter blätterlosen Bäumen und einem schiefergrauen Himmel, zwischen leeren Flaschen und Zigarettenschachteln, und warf den Krähen, die hier leben, Brotkrumen zu; und hielt ein wachsames Auge auf das Haus, um zu sehen, wann sie herauskam. Es war nach elf, als sie endlich in ihrem Wintermantel zum Vorschein kam, eine Einkaufstasche am Arm, und ohne auch nur einen einzigen Blick auf den Park zu werfen, marschierte sie die Straße hinunter. Ich gab ihr ganze fünf Minuten; dann zurück ins Haus, durch die Diele, und die Treppe hinauf ins oberste Stockwerk, wo sie, genau wie ich, ihr Zimmer hat, obwohl ihres auf der anderen Seite des Hauses liegt. Am Kopf der Treppe blieb ich stehen und lauschte; nichts; außer dem Radio, das im Tagesraum, wo die toten Seelen teilnahmslos die Zeit vertrödelten, leise vor sich hindudelte. Dann durch den Flur zu ihrer Tür eine weitere Pause, ein weiterer Augenblick, in dem ich auf149
merksam auf die Geräusche des Hauses lauschte - dann drehte ich den Türgriff und - nichts! Abgeschlossen! Sie hatte ihre Tür abgeschlossen! Ein Rückschlag. Und was für einer. Ich ging wieder hinunter, durch die Vordertür aus dem Haus und über die Straße zurück in den Park, wo ich mich wieder auf die Bank setzte und versuchte, die ganze Sache noch einmal zu überdenken. Sie hatte ihre Tür abgeschlossen. Die einzige andere Tür im Haus, die abgeschlossen war, war die, die zur Treppe zum Dachboden führte (und natürlich die des Krankenzimmers). Weit davon entfernt, meine Neugier zu dämpfen, hatte diese Entdeckung die gegenteilige Wirkung, sie machte mich erst recht neugierig darauf zu erfahren, was die Frau zu verbergen hatte: Ich mußte irgendwie an ihre Schlüssel herankommen. Mit diesen Überlegungen beschäftigt, aber ohne eine Lösung zu finden, zog ich eine Scheibe trockenes Toastbrot, das ich mir vom Frühstück augespart hatte, aus meiner Tasche und fing an, es zwischen meinen Fingern zu zerbröseln und die Krumen um die Bank herum zu verstreuen. Sehr bald schon kamen die Krähen herbeigeflattert, und als ich den Toast vollständig zerbröselt hatte, holte ich meinen Tabak hervor und drehte mir eine Dünne. Und dort saß ich dann, tief in Gedanken versunken, die ausgestreckten Beine an den Knöcheln übereinander geschlagen, und rauchte, umgeben von Krähen. Noch einmal zurück zu den Gedankenmustern: Sie scheinen in den letzten Tagen schlimmer geworden zu sein. Aus welchem Grund? Vollmond vielleicht? Aber nein, der Mond ist nur wie ein Fingernagelschnipsel, wie die Sichel aus Kerzenlicht in der Tür des Außenklos auf dem Hof. Vielleicht ist aus irgendeinem unerfindlichen Grund Leben in die toten Seelen gekommen, und sie erzeugen zerebrale Energien von ungewöhnlich hoher Spannung? Aber ich 150
habe nach dem Abendessen eine Stunde im Tagesraum verbracht, und es gab nicht das geringste Anzeichen für irgendeine neue Vitalität, es war eher noch weniger vorhanden als gewöhnlich, falls das überhaupt möglich ist - sie saßen in ihren angestammten Sesseln wie eine Horde Schneiderpuppen, verblödet vor lauter Medikamenten, mit Gesichtern wie Talg und mit zitternden Händen, in Kleidern, die ihnen viel zu groß und mit Essensresten bekleckert und vollgesabbert sind (Gott, wie sie sabbern!), und warteten darauf, daß El Mustachio ihnen ihren Kakao brachte. Aber wie komme ich dazu, so zu reden? Auch ich sabbere, ich zittere, ich schlurfe, und wie Sie wissen, werde ich gelegentlich ausgekuppelt,- aber der Himmel stehe mir bei, sollte ich mich je in eine der toten Seelen verwandeln, dann zieht den Stecker, bitte, falls das passiert; laßt mich dem Rätsel meiner Kindheit nachspüren, solange ich den Willen dazu habe, und wenn dieser Wille austrocknet, knüpft mich an den nächsten Dachbalken und laßt mich baumeln wie die Spinne, die ich bin! Dann kommt die kleine Frau mit ihrem Tablett herein, und das ist das einzige, was wir an diesem Abend an diesem Ort an Leben sehen werden, der kleine dumpfe Geist eines Funkens, der in den toten Augen meiner Mitbewohner zu schwachem Leben aufflackert bei der Aussicht auf eine Tasse schwachen Kakao, der aus Milchpulver gemacht und widerlich süß ist von all dem vielen Zucker, der 'die schwabbeligen Fettschichten an ihren Bäuchen und ihren Hälsen angehäuft hat. Alle hier sind fett, wissen Sie - sie haben fette Brüste, fette Oberschenkel, fette Finger, fette Gesichter und trockene Haare, die immer durchsprenkelt sind von Partikeln toter Haut; und wenn sie ihren Kakao rühren, diese Zombies, rieseln die Schuppen in ihre Tassen wie Wolken aus zartem Schnee. Ich wende mich ab, ich drehe mich zum Fenster und berühre mit der Hand meinen eigenen Schädel, der von den Ohren bis zur Schläfe bis auf die Stoppeln abrasiert ist und 151
auf dem oben nur ein paar dichte Haarbüschel sprießen, die genau dieselbe braune Farbe haben wie die Haare meiner Mutter. Ich kann diesen meinen knotigen Schädel minutenlang ununterbrochen kratzen, ohne daß sich auch nur eine einzige Flocke toter Haut löst, denn meine Haut ist wie Leder, straff gespannt über die spitzen Knochen dieses langen schmalen Pferdeschädels, den ich habe; ja, stoppeliges Leder, das ist mein Kopf - hakennagelige Spinnenbeine, das sind meine Finger - und mein Körper nur eine Hülle, in der jetzt kaum noch etwas anderes enthalten ist als die stinkenden kompostierenden Überreste dessen, was einst ein Herz war, eine Seele, ein Leben - wie also komme ich dazu, verächtlich auf die Zombies herabzusehen, ich, der ich die spröde Spannkraft einer Eierschale besitze, einer Glühbirne, eines Pingpongballs? Nein, es sind nicht sie, die die Luft mit Gedankenmustern füllen, die Gedankenmuster kommen woanders her, sie kommen vom Dachboden. Ich höre sie jetzt jede Nacht, ich kann überhaupt nicht mehr schlafen, und alles, was sie in Schach hält und mir ein wenig Erleichterung verschafft, ist das Schreiben meines Tagebuchs. Mein Tagebuch! Kann man es überhaupt noch so nennen? Sehen Sie doch, wie ich mitten in der Nacht auf Händen und Knien vor einem ausrangierten Heizgerät liege und nach einer Papiertüte taste, die von oben bis unten voller Ruß ist. Mit spitzen Fingern ziehe ich sie hervor, ich richte mich mühsam auf und schleiche auf Zehenspitzen durch das Zimmer an meinen Tisch. Ich wische mir die Hände an der Hose ab und nehme das Heft aus der Tüte dieses arme Heft, das noch vor ein paar kurzen Wochen ein jungfräuliches Ding mit einem glänzendgrünen Umschlag war jetzt hat es Eselsohren, es ist übersät von den schwarzen Abdrücken meiner Daumen, es ist zu einem Gegenstand geworden, den man nicht anfassen würde, wenn man nicht unbedingt müßte: Es ist ein schmutziges Heft. Nachdem ich mir die Finger abgewischt und die Papiertüte zur 152
Seite, gelegt habe, schlage ich dieses schmutzige Heft auf und blättere bis zur letzten Eintragung, wobei ich bei jeder Berührung noch ein bißchen Ruß dazuschmiere, noch ein bißchen vom Schmutz des Hauses, ich übertrage ihn vom Kamin auf das schwindende Weiß der Seiten, die vor mir liegen. Ich lese die letzte Eintragung noch einmal durch, schlage dann eine saubere Seite auf und halte einen Augenblick inne, den Blick auf das Fenster gerichtet, den Bleistift in den Fingern, um die ersten Worte des ersten Satzes zu finden, der den Fluß meiner Erinnerungen auslösen und seinen Beitrag zum Aufbau eines logischen Gebäudes plausibler Mutmaßungen leisten wird. Dann fange ich an zu schreiben. Ich fange an zu schreiben. Und plötzlich geschieht etwas Seltsames, der Bleistift fängt an, sich über die hellblauen Linien der Seite zu bewegen, fast so, als hätte er einen eigenständigen Willen, fast so, als wären die Erinnerungen an die Ereignisse, die der Tragödie in der Kitchener Street vorausgingen, nicht etwa im stoppeligen Lederhelm diesses meines Schädels enthalten, sondern in diesem Bleistift, als wären sie winzige Partikel, die zu der langen, dünnen Graphitsäule zusammen gepreßt wurden, die über die Seite dahinfliegt, während meine Finger, wie ein Motor, nur das mechanische Hilfsmittel für die Niederschrift darstellen. Wenn das geschieht, habe ich das eigentümliche Gefühl, nicht zu schreiben, sondern geschrieben zu werden, und inzwischen ist es so weit, daß ich dabei Angst bekomme, im Augenblick noch schwach, aber von Tag zu Tag stärker. Ja, Angst. Oh, ich bin eine schwache Kreatur, ja, ich weiß, ich weiß es besser als Sie, ich lasse mich so schnell in Aufregung versetzen, in Angst und Panik, und es wird immer schlimmer, ich habe Ihnen das noch nicht erzählt, weil ich gehofft hatte, es sei vielleicht nicht wahr, ich würde mir das alles nur einbilden, es wäre vielleicht einfach nur »einfach ich« - aber das ist es nicht. Das Gefühl, wie eine Glüh153
birne zu sein: ich habe es jetzt ständig. Ich hatte es während der schier endlosen Stunde, die ich mich zwang, im Tagesraum zu sitzen. Es waren nicht ihre Gedankenmuster, die mich so beunruhigten, die Gedankenmuster kommen vom Dachboden des Hauses- es waren ihre toten Augen, nur ihre toten Augen, ein einziger Blick aus diesen toten Augen hat die Macht, mich zu zerschmettern, meine glasige Identität in tausend winzige Scherben zu zersplittern und nur den dünnen, kaum noch leuchtenden Glühfaden im Inneren zurückzulassen - die Überreste, die Ruine dessen, was einst ein Herz war, eine Seele, ein Leben - ihn nackt und verletzlich und nach Gas riechend dem Sturm der Welt zu überlassen, der ihn innerhalb weniger Sekunden unweigerlich auspusten wird: und deshalb muß ich jetzt ihre Augen meiden, deshalb muß ich nachts durch das Haus schleichen, muß meine ruhelose Erkundung der undurchsichtigen Vergangenheit betreiben wie ein Schattenwesen, wie ein halbiertes Ding, wie ein Körper ohne Seele, oder vielleicht eine Seele ohne Körper - Ghoul oder Geist, es spielt kaum eine Rolle; was eine Rolle spielt, ist die Tatsache, daß ich diesen glühenden Faden so sorgsam in mir hege, damit er mich bis zum Schluß begleitet, mich bis zum Ende dieser Geschichte begleitet, und deshalb bin ich jetzt so anfällig für die Angst, denn ich bin mir ständig darüber bewußt, daß ich Gefahr laufe, zersplittert zu werden, was wiederum dazu führt, daß ich ein übertrieben großes Bedürfnis nach Kontrolle habe, was wiederum der Grund dafür ist, daß das Gefühl, gestaltet zu werden, geformt, geschrieben, mir so entsetzlich angst macht. Denn etwas, was mich schreiben kann, kann mich doch sicher auch vernichten? Aber ich muß fortfahren, was für eine andere Wahl habe ich? Und vielleicht (ich habe gerade eine geaucht, und wenn ich eine geraucht habe, sehen die Dinge nie ganz so trostlos aus) übertreibe ich meine Schwierigkeiten ja auch. 154
Schließlich habe ich Strategien, habe ich Handlungsmöglichkeiten, habe sie seit jeher, seit ich ein Junge war. Zum Beispiel habe ich den gewohnten Rückzug in die unzugänglicheren Abteilungen meines Kopfes: Es war nicht nur Spider, der junge, der sich nach dem Tod seiner Mutter in die hinteren Räume zurückzog und es Dennis überließ, sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Nein, im Laufe der Jahre hat Spider gelernt, daß es notwendig ist, Dennis zu erlauben, sich der Welt zu stellen, oder auch »Mr. Cleg«, was das angeht; und nicht nur das, Zwischenabteilungen sind notwendig geworden - zum Beispiel bei Dr. McNaughten, der meine Geschichte kennt. Der vordere Teil meines Kopfes stellt den Doktor nicht zufrieden, und von daher ist es ihm erlaubt, Kontakt mit dem aufzunehmen, was früher der hintere Teil meines Kopfes war, jetzt aber nur noch eine Art Kammer ist, die von einem Dennis Cleg bewohnt wird, der »meine Vergangenheit« hat - aber Spider ist niemals dort! Spider ist sonstwo, obwohl der Doktor nichts davon ahnt. Ähnlich ist es bei den toten Seelen: Alles ist gut, vorausgesetzt, Spider ist sonstwo - aber sollte ich mich nur einen einzigen Augenblick am äußeren Rand des Netzes zeigen, in dem mein zerbrechliches und belagertes Sein lebt - wäre das der Augenblick, in dem ich vernichtet würde. So also sieht es mit mir aus. Aber was ist bloß los mit mir, daß ich, um mein Leben zu schützen, dieses Leben innerhalb von Rädern verbergen muß, Rädern, die auf Speichen aufgezogen sind, die Abteilungen bilden - Parzellen! -, die nur tote Dinge enthalten, stinkende leere Kammern, in denen Schatten und Federn, Kohlenstaub und tote Fliegen herumtreiben, in denen der Geruch nach Gas alles durchdringt, und das ist alles, was da ist - diese Löcher, meine ich, diese übelriechenden Löcher, die ich um Spider herum aufgebaut habe, um ihn vor den Stürmen und Orkanen der Welt zu schützen? Was für eine Art von Leben ist das, das nur in der Nabe dieser zerklüfte155
ten, radartigen Konstruktion aus leeren Zellen existieren kann? Als ich aus der Kitchener Street weggebracht wurde, dauerte es eine Weile, bis sie endgültig entschieden hatten, was sie mit mir machen sollten. Mir ist nur sehr wenig aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben: verschwommene Männer und Zimmer, und die Luft überall voll von Gedankenmustern, und immer das Gefühl einer schrecklichen Spannung, ähnlich der Spannung, die mein Vater bei den Mahlzeiten in der Küche erzeugen konnte. Dann spürte ich, daß eine Katastrophe unmittelbar bevorstand, und ich spürte mit nie gekannter Intensität mein eigenes Falschsein. Das Licht war niemals klar, ich schien mich immer im Schatten zu befinden, und das galt auch für die anderen, die Männer, die mit mir von Zimmer zu Zimmer gingen, alles war im Schatten, so als hätte sich ein ewiges Zwielicht in diesen Zimmern zusammengezogen und alle Gestalten und Gesichter unkenntlich gemacht, und auch ihre Stimmen waren hohl, waren tief, sie dröhnten und hallten aus den Schatten heraus, die an ihnen klebten, und die Luft, die Dämmerung, in der ich mich bewegte, war voll von Gedankenmustern, die nicht meine eigenen waren. Damals lebte ich in Angst, bewegte mich in Angst, unablässiger Angst, streckte verzweifelt die Arme nach den hinteren Bereichen aus, bis ich endlich, erschöpft, in das Loch kroch, in dem ich mich, wenigstens für kurze Zeit, sicher fühlen konnte. Später wurde die Welt wieder schärfer. Die Schatten zogen sich zurück, und ich hatte nicht mehr dieses dröhnende Echo von Stimmen in den Ohren, ich fing an, die Männer voneinander zu unterscheiden, und obwohl ich wußte, daß sie die Absicht hatten, mir Schaden zuzufügen, hatte ich gleichzeitig das Gefühl, daß es vielleicht nicht sofort geschehen würde, oder daß es, wenn es geschah, so plötzlich und aus einer so unerwarteten Richtung geschehen würde, daß es sowieso wenig Sinn hatte, ein mehr als hinlängliches 156
Maß an Wachsamkeit zu wahren, während ich meiner täglichen Routine nachging. Routine! Dies waren die Zeiten der Routine. Von morgens bis abends war alles Routine, jeder Tag wie der vorherige und wie der darauffolgende, und dies war für mich ein gewisser Trost, wenigstens in den ruhigeren Perioden, in denen ich das Gefühl hatte, den Gedankenmustern gewachsen zu sein, in denen sie nicht ständig gegen mich anstürmten und anstürmten, die Luft mit ihrem statischen Summen und Brummen und Klicken und Klacken erfüllten wie ein Schneesturm aus Bazillen in ständiger Bewegung um meine Ohren und meinen Hinterkopf, bis es kein Entkommen mehr vor ihnen gab, nicht einmal ganz hinten in den ruhigen Nischen und Winkeln, in die nur Spider kriechen konnte - wenn das geschah, konnte keine Routine der Welt die Qualen der Angst vor der Katastrophe lindern, die im nächsten Augenblick über mich hereinbrechen würde. Später jedoch schienen sie immer zu wissen, wann es geschehen würde, und sie brachten mich in ein sicheres Zimmer, hielten alles Unheil von mir fern, bis ich wieder ruhig geworden war. Aber was die Erinnerung daran so beunruhigend macht - und ich habe Ihnen das bisher nur noch nicht erzählt, weil es mir eben erst eingefallen ist -, ist die Tatsache, daß zu diesen Zeiten immer, immer, immer der durchdringende und überwältigende und ekelhafte Geruch nach Gas gegenwärtig war. Die Zeit verging. Zwanzig Jahre, das war mein Kanada. Oh, genug. Mein Kanada - mein Ganderhill! Mit seinen Mauern aus verwitterten roten Backsteinen, seinen vergitterten Toren und verschlossenen Türen, seinen Höfen und Fluren, seinen Blumengärten, in denen Männer in schlechtsitzender Anstaltskleidung und quietschenden Schuhen auf hölzernen Bänken zuckten und zappelten, während sie aus rastlosen, wahnsinnigen Augen auf die Terrassen und den tiefergelegenen Kricketplatz hinuntersahen, und dahinter auf die Außenmauer, und dahinter auf 157
das wogende Farmland und die bewaldeten Hügel von Sussex in der Ferne ... In den späteren Jahren in Ganderhill arbeitete ich im Gemüsegarten; ich trug derbe, schwarze Stiefel und eine weite gelbe Cordhose. Ich erinnere mich an den Geruch von frischgemähtem Gras im Sommer, ein Geruch, der mir plötzlich so gegenwärtig ist, daß ich mit dem Schreiben aufhöre und fast davon überzeugt bin, daß er hier bei mir im Zimmer ist - der Geruch von frischgemähtem Gras, hier in dieser kalten mitternächtlichen Dachstube! Hier, in dieser trostlosen Jahreszeit des Nebels und des Regens, hoch oben unter dem Dach dieser Leichenhalle von einem Haus - frischgemähtes Gras! Draußen auf den dunklen nassen Straßen verstopfen Herbstblätter die Abflüsse und Gullis und bleiben zwischen den hohen, schwarzen, metallenen Gitterstäben mit ihren speerförmigen Spitzen hängen; und Spider riecht frischgemähtes Gras! Oh, sehen Sie doch, wie ich in meinen sämtlichen Hemden und Pullovern an diesem wackligen Tisch sitze, den Bleistift über der rußverschmierten Seite meines Tagebuches, den langen Pferdekopf hochgereckt, dunkle Schatten in den Höhlungen der Wangen und der Augen, eine knotige, knorrige Knolle von einem Kopf, der sich jetzt schnüffelnd hebt, eine ausgegangene dünne Selbstgedrehte an der Unterlippe, sich in die Dunkelheit hebt, als die Erinnerung an Anstaltskricket zurückkommt und den Geruch von frischgemähtem Gras mit sich bringt! Du bist ein Narr, Spider! Aber immer noch besser, du riechst Gras als Gas. Was soll ich Ihnen über diese Jahre erzählen? Mr. Thomas war der erste, den ich erkennen konnte, als die Welt anfing, wieder scharf zu werden; anders als die anderen Männer drohte er nie, mich mit seinen Augen zu zerschmettern. Diese sanften braunen Augen, die er hatte: Die Haut um sie herum war kreuz und quer von winzigen, zerknitterten Linien durchzogen, und das war für mich eine 158
Beruhigung, ich weiß selbst nicht, wieso. Dann war da noch die Pfeife, die ewige Pfeife, und ich weiß nicht, wieso auch sie für mich eine Beruhigung war, aber sie war es, das ständige Saugen, das alle paar Minuten, wenn er die Pfeife aus dem Mund nahm, durch das Ausstoßen von Rauch unterbrochen wurde; vielleicht der Geruch des Tabaks, der Duft. Nach dem Abendessen blieb ich auf der Station, ich las, ich spielte Karten, legte ein Puzzle. Es war ein ruhiges Leben. Meine erste Station in Ganderhill war die, die sie die Station der harten Bänke nannten. Nicht schwer, den Grund dafür zu finden: Auf der ganzen Station gab es keinen einzigen Sessel (außer natürlich im Dienstzimmer gleich neben der Treppe). Die Männer auf dieser Station schliefen viel, und ich war keine Ausnahme. Nach dem Frühstück legte ich mich auf eine Bank, deren Holz von Brandlöchern übersät war, benutzte meinen Schuh als Kopfkissen, döste vor mich hin und versuchte, so lange es nur irgend ging in einem Zustand der Reglosigkeit zu verharren. Kümmerte das irgendwen? Nein, es kümmerte niemand. Auf einer Station der harten Bänke waren die Männer stumm, inkontinent, halluzinierten. Wenn ich keine Bank ergattern konnte, rollte ich mich einfach mit einer Decke auf dem Fußboden zusammen. Es kümmerte keinen. Hier oben waren alle starr und in sich selbst versunken, und darin lag ein gewisser Trost. Was mir jedoch überhaupt nicht gefiel, waren die türlosen Toiletten, ich konnte mich einfach nicht an sie gewöhnen, es war für mich eine ständige, quälende Demütigung, auf einer türlosen Toilette zu sitzen, dem zufälligen Blick jedes Vorübergehenden ausgesetzt: Dabei fällt mir übrigens ein, daß ein Teil der Probleme, die ich später mit meinen Eingeweiden hatte (sie wurden in den hinteren Teil meines Körpers gezogen und vom Arsch bis zum Schädel wie eine Schlange um mein Rückgrat gewunden), vielleicht eine Folge der Störungen der exkretorischen Funk159
tionen sein könnte, unter denen ich auf der Station der harten Bänke litt. Auf der Station der harten Bänke lernte ich, Dicke und Dünne zu drehen, wir nahmen unseren Tabak dort sehr ernst. Es ist schon komisch, ganz gleich, wie tief ein Mann in seiner eigenen Melancholie versunken sein mag, seinem eigenen Wahnsinn völlig weggetreten, würden Sie denken, sämtliche Verbindungen zum Sozialgefüge gekappt -, er würde dennoch nie vergessen, einem seine Kippe zu geben, damit man sich seine eigene daran anzünden kann, es gibt keinen Wahnsinn, der tief genug ist, einen Mann aus der Gemeinschaft des Tabaks auszuschließen. Und hier ist noch etwas Komisches: Ein Mann bekommt von einem Wärter eine richtige Zigarette, eine Woodbine, eine Senior Service. Er setzt sich auf eine Bank und raucht sie. Ein zweiter Mann steht daneben, seine Arme hängen schlaff an seinen Seiten herab, sein Gesicht ist ausdruckslos, er wartet stumm. Nach einer Weile bekommt er die Kippe. Er raucht sie, bis er sich die Finger daran verbrennt, und läßt sie dann auf den Boden fallen. Ein dritter Mann hebt sie auf, und ohne sich darum zu kümmern, daß er sich die Finger verbrennt, raucht er sie bis zu Ende. Auf einer Station der harten Bänke wurde nichts von einem erwartet, außer, daß man versagte. Man war hier, weil man versagt hatte, versagen war das, was man tat, und man würde wieder versagen. Darin lag ein Trost für Spider, denn eine gewisse Wachsamkeit konnte gelockert werden. Was so besonders tröstlich auf ihn wirkte, war die Gleichgültigkeit: Niemand kümmerte sich um irgend etwas, außer um seinen eigenen Schaden. Die tägliche Routine war elementar und unwandelbar, ein paar wenige grobe Streben, die dem Tag Form gaben: Anstellen für die Mahlzeiten am Eingang der Station, zwanzig Minuten herumstehen und mit den Füßen scharren, dann die engen Treppen hinunter, Klappern von Türen, Klirren von Schlüsseln an Gitterstäben, Rufe 160
ferner Wärter, eine lange Schlange grauer Patienten in schlechtsitzenden Hemden und Hosen, schlappenden Schuhen keine Gürtel oder Schnürsenkel auf einer Station der harten Bänke - Anstellen in der riesigen scheppernden Scheune von einem Speisesaal, Vorbeidefilieren an langen Tischen, hinter denen Küchenhelfer in schmierigen weißen Schürzen einem zerkochte Portionen von zermatschtem Gemüse und Pferdefleisch, oder Hundefleisch, oder nicht mehr frischem Kabeljau auf die Teller klatschten. Als Nachtisch gab es Rosinenpudding oder klumpigen Vanillepudding. Am späten Nachmittag machte die Tagschicht Feierabend, und bis zum Abendessen wurden Air entweder in unsere Zellen eingesperrt oder unter der Aufsicht eines einzigen Wärters im Aufenthaltsraum zusammengepfercht. Ich haßte es, auf diese Weise mit den anderen zusammengezwängt zu werden, aber ich bettelte vergeblich um die Erlaubnis, den zwei oder drei privilegierten Männern zugezählt zu werden, die allein und ohne Aufsicht durch die Station wandern durften. Von Zeit zu Zeit verlor irgend jemand die Nerven - ich weiß noch, wie John Giles, ein großer Mann, wütend über den Entzug seiner Privilegien, in seinem Zimmer auf und ab marschierte; ich weiß noch, daß ich, als ich auf meinem Weg zum Aufenthaltsraum vorbeikam, für mich dachte: John geht garantiert jeden Augenblick in die Luft. Vielleicht sagte ich es sogar zu irgend jemand, das weiß ich nicht mehr - dann plötzlich das Splittern einer Fensterscheibe, und es war natürlich John Giles. Wir drängten neugierig aus dem Aufenthaltsraum, aber die Wärter waren schneller. Sie kamen von beiden Seiten durch die Sation gerannt - was für einen Krach ihre Stiefel auf den Fliesen machten! -, sie rannten auf John zu, der spuckend und fluchend und am ganzen Leib zitternd in seiner Tür stand, ein großes, häßliches, scharfkantiges Stück Glas in den Händen. Sie stürzten nicht auf ihn los, nicht, wo er dieses Stück 161
Glas in den Händen hatte. »Leg es hin, John«, sagte einer von ihnen. »Komm schon, John, tu uns allen den Gefallen« - aber bei John waren sämtliche Sicherungen durchgebrannt, er spuckte und fauchte und schrie ihnen zu, was er mit ihnen machen würde, wenn sie näher kämen. Zwei von ihnen gingen in ein Zimmer. Einen Augenblick später kamen sie wieder zum Vorschein, im Laufschritt, eine Matratze vor sich, wie einen Schild. Dann waren sie über dem armen John, und alles, was ich noch sehen konnte, waren seine zappelnden Arme und Beine rechts und links der Matratze, mit der sie ihn an die Tür gequetscht hatten, und hinter der er sich immer noch wehrte und schrie, obwohl seine Schreie jetzt gedämpft klangen. Nach einer Weile ließ er das Glas los, und kurz danach verschnürten sie ihn in Schnallen und festes Leinengewebe und schleppten ihn in ein sicheres Zimmer im hintersten Teil der Station, wo er sich heiser brüllte und dann einschlief. Aber ich erzähle diese Geschichte nur wegen ihrer Fortsetzung. Denn als ich eine Woche später unten im Hof in einem Blumenbeet herumstocherte, fand ich eine Glasscherbe, die wie ein Dolch geformt war, und als ich den Kopf hob, sah ich, daß sie von dem Fenster stammen mußte, das John Giles eingeschlagen hatte. Ich brachte die Scherbe auf die Station und zeigte sie Mr. Thomas. Er führte mich in ein Nebenzimmer, wo er auf einem Tisch das ganze Fenster zusammengesetzt hatte, jede einzelnen Scherbe, mit einer Ausnahme. Er nahm meinen gläsernen Dolch und fügte ihn in die letzte, schmale Lücke ein, und vervollständigte damit das zerbrochene Fenster, und dann drehte er sich mit einem zufriedenen Seufzer zu mir um und sagte: »Wegen dieser Scherbe habe ich mir Sorgen gemacht, Dennis, wegen dieser Scherbe habe ich schlaflose Nächte hinter mir, ich hatte Angst, jemand würde sich damit ein Auge ausstechen.« Und dann legte er mir die Hand auf die Schulter, und ich ging auf die Station zurück - komisch, das - und der Hals war mir wie 162
zugeschnürt vor lauter Freude über diese Hand auf meiner Schulter. Ein ruhiges Leben also, denn ich lebte mich tatsächlich ein. Und als ich mich eingelebt hatte, konnte ich auch wieder an die Kitchener Street denken. Wenn ich auf einer Bank auf der Terrasse saß und den Männern zusah, die im Gemüsegarten arbeiteten und hackten oder säten, dachte ich oft daran, wie mein Vater sonntags in seinem Garten gearbeitet und vielleicht dieselben Arbeiten verrichtet hatte wie sie, denn ein Kartoffelbeet unterscheidet sich nicht so sehr von einem anderen. Aber jedesmal, wenn ich das dachte, fiel mir sofort wieder ein, daß das Kartoffelbeet meines Vaters in Wirklichkeit ganz anders war als alle anderen Kartoffelbeete, und zwar aus dem einfachen Grund, daß meine Mutter dort begraben war. Und mit diesem Gedanken wurde, wenn ich nicht sehr vorsichtig war, eine solche Flut in meinem Inneren aufgewirbelt und aufgewühlt, daß es manchmal der gute alte Spider war, der in dickes Leinengewebe eingeschnürt und in ein sicheres Zimmer geschleppt wurde (wobei er den Kopf hin und her warf, um dem Gasgeruch zu entkommen)! Aber mit der Zeit lernte ich, daß es es Möglichkeiten gab, über die Kitchener Street und die Tragödie nachzudenken, ohne die Nerven zu verlieren (es hat etwas mit Abteilungen zu tun), und mit der Zeit war ich dazu in der Lage, solche Gedanken auch dann zu denken, als ich, in den späteren Jahren, selbst einen Job im Gemüsegarten hatte. Eine ganz besonders reichhaltige Schicht von Erinnerungen wurde, wie ich mich erinnere, aufgedeckt, als ich an einem sehr windigen Tag im Herbst den Kornposthaufen der Anstalt wendete. Ich halte inne; es ist sehr spät. Ich nehme mir einen Augenblick Zeit, meine ausgegangene Zigarette wieder anzuzünden. Im Haus ist alles still; draußen hat der Regen aufgehört, und auch die Straßen sind still. Komisch, hier zu sitzen, das Heft vor mir, den Bleistift in der Hand, und 163
mich an eine Zeit der Erinnerung zu erinnern. Ist es immer so, frage ich mich? Der Rauch treibt in trägen Schnörkeln hinauf zu der leise knisternden Glühbirne über meinem Kopf. Ich lehne mich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die ausgestreckten Beine an den Knöcheln übereinander geschlagen, und beobachte, wie er sich im Halbdunkel auflöst. Ist eine Erinnerung immer und ausschließlich das Echo ihres letzten Anlasses? Der wiederum nur ein Echo desjenigen davor ist? Ein Flackern des Unbehagens in meinem Bauch, als ich dies denke, ein kleines alarmiertes Aufzucken: wie bei den Querstreben der Träger des Gaswerks ist auch hier das Grauen der Vielfalt, das Grauen der Reproduktion; und dennoch kommt mir das, woran ich mich an jenem windigen Tag im Gemüsegarten erinnerte (ich stützte mich auf den Griff meiner Gartenforke, und der Geruch des Komposts stieg mir in die Nase), kommt mir das, woran ich mich erinnerte, jetzt so frisch, so neu, so scharf und klar vor, daß ich nicht zweifeln kann, ich kann nicht zweifeln, und zwar aus dem einfachen Grund, daß ich es sah, ich war da, trieb mich in den Tagen nach Weihnachten auf den Parzellen herum, für den Fall, daß meine Mutter noch einmal zurückkommen würde. Und mein Vater, verstehen Sie, bearbeitete seinen Kompost. Ein gut gebauter Komposthaufen (es ist der Gärtner, der jetzt aus mir spricht) ist ein aus mehreren Schichten bestehendes Gebilde, das sich erhitzt und von daher schnell zersetzt. Küchenabfälle, Laub, Pflanzenrückstände - all das ergibt guten Kompost, all das trägt zu der guten, dunklen, krümeligen Materie bei, die selbst die kümmerlichste Erde anreichert. Fügen Sie eine Lage Mist dazu, oder auch Knochenmehl, und dann ein wenig Erde, und bestreuen Sie das Ganze mit Holzasche. So baute mein Vater den ganzen Herbst hindurch seinen Komposthaufen auf, Schicht um Schicht, bis zu einer Höhe von fünf Fuß, und zusammengehalten wurde das Ganze von einem Rahmen aus Holzlatten 164
und Maschendraht. Er hatte die einzelnen Schichten angefeuchtet, als er sie aufbaute, und mit seinen eigenen Händen oben eine flache Mulde ausgehoben, in der sich das Regenwasser sammeln konnte. An dem Tag, an den ich mich erinnerte, wollte er den Haufen wenden, Luft an ihn heranlassen, um eine gleichmäßige Zersetzung zu gewährleisten und Überhitzung zu verhindern; aber kaum daß er die erste Forke herausgehoben hatte, sah er zu seinem Erstaunen, daß der Haufen sich bewegte, daß das freigelegte Innere lebte. Er setzte seine Brille auf (ich stand hinter dem Schuppen der nächsten Parzelle, der von Jack Bagshaw, und beobachtete ihn; es war ein düsterer, feuchter Tag, und kalt), und er stellte fest, daß sein Komposthaufen nur so wimmelte von schwarzen Maden. Er hatte noch nie Maden wie diese gesehen. Sie wimmelten überall in seinem Kompost, überall auf den vermoderten Überresten von Pferdemist, Kartoffelschalen, Gras und gemahlenen Knochen, wanden und krümmten sich, diese fetten, kleinen, schwarzen Dinger, und was für ein Insekt, muß mein Vater sich gefragt haben, als er dort stand und sich den Kopf kratzte (ich linste immer noch um Jack Bagshaws Schuppen herum), was für ein Insekt legte Eier, die so spät im Jahr schlüpften - obwohl ihm dann sicher aufging, daß die Wärme, die bei der Zersetzung des Komposts entstand, ausreichen mußte, um die Kreaturen schlüpfen zu lassen, Käfer, muß er gedacht haben, Käfer. Aber welcher englische Käfer brachte eine Brut wie diese hervor? Ich sah, wie er eine der Maden auf die Spitze seines Fingers kriechen ließ und sie betrachtete: eine glatte, fette, weiche, sich krümmende Made, und während sie sich dort auf seinem Finger wand, muß er gespürt haben, wie ihr Schleim die Schmutzschicht an seiner Hand aufweichte, und er wischte sie an seinem Hosenboden ab und legte dann mit seiner Forke eine weitere Schicht des Haufens frei. Wieder das Gewimmel unzähliger schwarzer Maden, und er wußte, daß 165
der ganze Kompost befallen war. Ich beobachtete, wie er sich auf seine Forke stützte und stirnrunzelnd auf seinen ruinierten Kompost starrte, aber als er noch darüber nachdachte, wie er es anstellen sollte, die Parasiten wieder loszuwerden, fingen die Maden an, die Kälte der Winterluft zu spüren, und je mehr Wärme sie verloren, desto langsamer wurden sie, und sie fingen an zu sterben. Und in diesem Augenblick sah ich, daß mein Vater plötzlich erstarrte, und zurückwich, und die Forke an seine Brust drückte, wie um sich zu verteidigen - und seine Augen irrten hin und her, mit einem Ausdruck, der Entsetzen zu sein schien, abgrundtiefes Entsetzen, und ich wußte, ich wußte, daß er gespürt hatte, wie etwas an ihm vorbeistrich. Ich rührte mich nicht, ich atmete nicht. Ich sah ihn zittern, die Forke fallenlassen und sich zum Schuppen umdrehen - aber da fing der Schuppen an zu beben (es wurde allmählich dunkel), zu beben, wie er in der Nacht gebebt haben mußte, in der er es mit Hilda im Sessel trieb, in der Nacht, in der meine Mutter die beiden dort entdeckt hatte. Dann fing es an zu regnen, und ich beobachtete, wie mein Vater vor dem Schuppen zurückwich, mit einem vom Entsetzen gezeichneten Gesicht, über den Pfad zurückwich, während der Schuppen mit zehnmal mehr Gewalt bebte und in seinen Grundfesten erzitterte als in der Nacht, in der Hilda breitbeinig im Sessel gelegen hatte, den Rock über die Hüften hochgeschoben, während er vor dem Sessel kniete, mit offener Hose, und sein bleistiftdünner Penis zwischen den Knöpfen hervorragte. Es war eine Verhöhnung, eine dunkle Travestie des Schauspiels, das meine Mutter in der Nacht, in der sie ermordet wurde, beobachtet haben muß, und bevor er das Tor erreichen konnte, hörte er das entsetzliche Stöhnen und Ächzen der Wonne, das Hilda von sich gab, und inzwischen war die Luft voll von jener schrecklichen, schwarzen Energie, und er floh, ich sah, wie er floh, ich sah ihn sein Fahrrad über den Pfad 166
schieben und aufspringen, als seien alle Teufel der Hölle hinter ihm her, und erst als er weg war, kletterte ich hinüber in seinen Garten und fing an, unter lautem Geschrei herumzuhüpfen und die Erde zu Matsch zu zerstampfen, während die Dunkelheit sich immer schneller auf mich herabsenkte. Ich war auch am folgenden Sonntag da, als mein Vater seinen Komposthaufen vernichtete. Ich kam durch die Slates, den Hang hinter den Parzellen hinauf, und an der Rückseite der Schuppen entlang, bis zum Schuppen von Jack Bagshaw. Mein Vater war nicht untätig gewesen; während der Woche war er jeden Abend nach der Arbeit hergekommen, um den Boden mit Mulch abzudecken, um die Käfer daran zu hindern, sich im Frühjahr über seine Kartoffelpflanzen herzumachen, und er hatte die vertrockneten Gräser und das Unkraut weggeschafft, da nicht auszuschließen war, daß sie Ansammlungen von Larven beherbergten. Der Sonntag war dafür vorbehalten, den Kompost zu verbrennen und die Maden zu vernichten, die sich in ihm breitgemacht hatten, und ich beobachtete, wie er eine flache Grube aushob (ich brauche wohl nicht zu sagen, daß er das auf der anderen Seite des Gartens tat, ein gutes Stück weg vom Grab meiner Mutter), und dann fing er an, in dieser Grube ein Feuer zu bauen, aus zusammengeknüllten Zeitungen, Kleinholz und ein paar alten Brettern, die er den ganzen Winter über hinter seinem Schuppen unter einer Plane gestapelt hatte. Etwas später brannte das Feuer, ich konnte seine Wärme bis zu der Stelle spüren, an der ich mich versteckt hatte, und dann fing er an, die Gartenabfälle hineinzuschaufeln, die größtenteils feucht waren, und dichte Rauchschwaden stiegen auf. Aber als er anfing, den Kompost auf das Feuer zu schaufeln, wurde der Rauch so dicht, daß alles, was ich von jetzt an von ihm sah, nur noch ein Schatten war, der sich hin und her bewegte und 167
Kompost schaufelte und ins Feuer warf, und es erinnerte mich an ein Bild der Hölle, das ich einmal gesehen hatte, eine Art Höhle, mit tropfenden schwarzen Wänden, erfüllt von dichtem, schwarzem Rauch, der von irgendwo weiter unten aufstieg, und in diesem Rauch stand der Teufel mit einer Forke, die der meines Vaters nicht unähnlich war, und sein langer gezackter Schwanz zuckte hinter ihm in der Dunkelheit. Obwohl der Kompost feucht war, brannte er gut oder schwelte zumindest, und der Gestank, der Gestank nach Mist und fauligem Gemüse, war so entsetzlich, daß ich davonschleichen mußte, hinter den Schuppen vorbei, und hinunter in die Slates, und von dort schlug ich den Weg zum Fluß ein. Selbst unten beim »Crispin« konnte ich den Rauch sehen, der in den grauen, winterlichen Himmel aufstieg, eine lange dünne Säule, die sich nach Westen neigte, je höher sie stieg, und schließlich im Nichts verwehte, der untergehenden Sonne entgegen. Als es fast schon dunkel war, ging ich zu den Parzellen zurück. Von meinem Vater war keine Spur zu sehen, also kletterte ich über den Zaun und näherte mich den Überresten des Feuers. Die Grube war immer noch voll Kompost, in dessen Mitte ein kleiner kreisrunder Kern in der Dämmerung glühte und schwelte und plötzlich laut aufknisterte, als die Hitze einen verirrten Zweig oder Strohhalm erfaßte und auffraß. Drüben beim Schuppen war nur ein Fleck heller feuchter Erde im Inneren eines Maschendrahtzauns übrig. Ich knöpfte meine Hose auf und pißte auf den schwelenden Kompost, und als die Pisse in der Grube zischte, stieg eine Säule aus Dampf in die Dunkelheit hinauf und roch nach verbranntem Mist. An all das erinnerte ich mich, als ich in meiner flatternden gelben Cordhose im Garten von Ganderhill stand, mich auf eine Forke stützte und über die Mauer hinwegblickte, auf Farmland und bewaldetes Hochland, und auf fette weiße 168
Wolken, die an einem frischen Herbstnachmittag in den frühen fünziger Jahren über einen windigen blauen Himmel jagten. Was gibt es sonst noch zu erzählen? Fast alles, was ich über die Ereignisse in der Kitchener Street weiß, habe ich mir während jener Periode mühsam erarbeitet. Denn als ich mich eingelebt hatte und wieder dazu in der Lage war, über jene Zeit nachzudenken - ich meine jenen schrecklichen Herbst und Winter meines dreizehnten Jahres, in dem mein Vater Hilda Wilkinson kennenlernte -, fand ich nichts als ein Sammelsurium partieller Eindrücke - Szenen, die ich von meinem Schlafzimmerfenster aus beobachtete, und Gesprächsfetzen, die ich vom oberen Treppenabsatz belauscht hatte, Mahlzeiten in jener düsteren Küche, und flüchtige Bilder meines Vaters bei der Arbeit in seinem Garten. Aber was die Ordnung und die Bedeutung jener Fetzen anging: das war es, was ich mühsam zusammensetzte, wie ein zerbrochenes Fenster, in den ruhigen Jahren, die folgten, Bruchstück für Bruckstück, bis das Bild vollständig war. Und das Merkwürdige daran war, daß ich, Spider, in dem Maße, in dem meine Kindheit Gestalt annahm, zusammenhängender wurde, stärker, entschlossener - ich fing an, Substanz zu haben. Schwer zu glauben, nein? Schwer zu glauben in Anbetracht der jämmerlichen Gestalt, die ich am heutigen Tage bin, am heutigen Abend, an dem ich im Krähennest dieses abgewrackten Schiffs von einem Haus sitze und schreibe (aus Angst), und, fast, fortgeschwemmt werde von der Sturzsee, der Flutwelle des schieren Lebens, das um mich herum tost - heute bin ich ein zerbrechliches Gefäß, aber damals, so scheint es mir, als ich auf dem Grundgestein der Routine aufbauen konnte, und die Ereignisse jener Zeit Stück für Stück rekonstruierte (das Auftauchen von Hilda und die spätere Ermordung meiner Mutter, die Zerstörung meines Zuhauses und die Tragödie, die folgte), 169
damals sah ich, für eine Weile, vor meiner Entlassung, aus wie ein Mann. Stellen Sie sich also vor, wie ich als junger Mann war: Spider mit fünfundzwanzig Jahren, groß und mager, wie ich es heute noch bin, aber da ist auch noch etwas anderes - können Sie es sehen? eine Vitalität, eine Flamme, auch wenn es eine wahnsinnige ist, sie ist trotzdem da, im gesunden Glanz meiner Haut, in der rastlosen Energie, mit der ich von morgens bis abends im Gemüsegarten arbeite, sie ist da, in meinen Augen - ganz anders als der matte verschleierte Blick, der heute die hohlen Augen des Spiders bewölkt. Ein gutaussehender Mann sogar! Sehen Sie mich im Garten, in Hemdsärmeln und gelber Cordhose, eine drahtige, muskulöse Gestalt, die an einer Hügelflanke in Sussex die Erde umgräbt, in der klaren, frischen Luft, eingerahmt vom Himmel - können Sie mich sehen? - Blätter wirbeln um mich herum, rote Blätter, goldene Blätter, wirbeln herab von der Ulme an der Mauer, und ich unterbreche meine Arbeit, ich stoße meinen Spaten in die Erde und drehe mich, wieder einmal, zu der Landschaft um, die mir so lieb geworden ist, da ist die fließende Linie der Terrassen, der Kricketplatz, die Außenmauer mit ihren alten Backsteinen, die in der frischen, klaren Luft in einem weichen Rostrot schimmern, und hinter der Mauer die Farm und die Hügel, und die Bäume, die an diesem Herbstnachmittag ein leuchtendbuntes Farbgestrichel sind. Oh, heraus mit den Rizlas, und das Blättchen flattert wild in meinen Fingern, als ich die Dose mit dem Old Holborn hervorhole, und der Wind klebt den groben Stoff des grauen Anstaltshemds an die Knochen meines sehnigen Oberkörpers, und der dicke gelbe Cordstoff der Hose schlägt mir um die Beine! Heute abend sehen Sie mich im Stadium des Verfalls, eine spröde Glühbirne, die einen flackernden, immer schwächer werdenden Glühfaden behaust, aber in jenen Tagen hatte ich einen Körper, und ein energischer Geist brannte in ihm! 170
Aber genug, genug von dieser pathetischen Nostalgie, diesem romantischen Gefasel. Was will ich denn damit sagen, daß ich ein Held war? Auf meinem windigen Hügel, einen Spaten in der Hand? Ein Held? Dieser Verrückte? Ich lebte unter geistesgestörten Kriminellen, und ich kannte Routine, Gemeinschaft und Ordnung. Was immer ich an Kraft und Struktur besaß, sie kam von außen, nicht von innen, und wenn Sie einen Beweise dafür brauchen, dann sehen Sie sich doch an, was seit meiner Entlassung aus mir geworden ist - sehen Sie mich an, jetzt, wie ich in diesem einsamen Zimmer sitze und schreibe, aus Angst, in dem kläglichen Versuch, die Stimmen vom Dachboden zu übertönen. Und es gab Zeiten, da war nicht einmal die Struktur der Anstalt genug! Es gab Zeiten, da brach Spider zusammen, das ganze baufällige Gefüge zerfiel in seine Einzelteile, und er stürzte, der arme Narr, er stürzte mit lautem Gepolter hinunter auf die Erde, und wachte später in einem sicheren Zimmer wieder auf, umgeben von den Scherben seiner zerborstenen Hülle. Was jedoch am wichtigsten ist, ist die Tatsache, daß ich mir langsam ein Bild dessen zusammensetzte, was geschehen war, und je unangreifbarer meine Geschichte wurde, desto unangreifbarer wurde ich. Umgekehrt galt jedoch, daß, wenn meine Geschichte zusammenbrach, ich dies ebenfalls tat, aber ich baute sie jedesmal wieder auf, ich baute sie jedesmal wieder auf, und mit jedem Mal wurde das Gebäude stabiler, besser gerüstet, die Streben und Stützen hielten es immer besser zusammen, bis es fest war, bis es ganz war. Und das war ich auch. Und dann wurde ich entlassen. Darin liegt eine tiefe Ironie, wie Sie noch erfahren werden. Es gab vieles, was sich veränderte; es gab jetzt Pillen für Leute wie mich, und auch in Ganderhill machten sich Veränderungen bemerkbar, und die wichtigste davon war der Abschied unseres Anstaltsleiters, Dr. Austin Marshall. 171
Dr. Austin Marshall war ein Gentleman, ein großer, freundlicher Gentleman in maßgeschneiderten Tweedanzügen, der seit einem Motorradunfall während seines Medizinistudiums ein steifes Bein hatte - und einen Stahlnagel in der Hüfte. Ein Gentleman: Es gab nur selten einen Tag, an dem ich Dr. Austin Marshall nicht über die Terrasse humpeln sah, und immer hatte er ein freundliches Wort für jeden Mann, dem er begegnete; und er kannte jeden einzelnen von uns beim Namen. »Ah, Dennis«, sagte er zum Beispiel, blieb stehen und stützte sich auf seinen Stock. »Und wie geht es uns heute? « Dann richtete er den Blick nach Süden und ließ ihn über die herrliche Landschaft schweifen, ein Adelsherr, hätte man meinen können, der sein Lehen begutachtete. »Schöner Tag für einen kleinen Ausritt, was?« sagte er dann. »Was ist, Dennis? Hätten Sie nicht auch Lust auf einen flotten Trab? Natürlich hätten Sie das!« Und dann tätschelte er meinen Arm und humpelte mit einem leisen Lachen davon, und wenn er einem anderen Insassen begegnete, blieb er wieder stehen, und drehte den Kopf nach Süden, und sprach den Mann namentlich an und machte erneut seine freundlichen Bemerkungen über einen kleinen Ausritt zu Pferde. Sein Repertoire war vielleicht nicht sehr vielseitig, aber die Wärme, die dahinter lag, war echt; er war ein guter Anstaltsleiter, und wir alle liebten ihn, mit Ausnahme von John Giles, der bei jeder Gelegenheit versuchte, ihn umzubringen. Ich stehe auf und sehe aus dem Fenster. Die erste blasse Andeutung der Dämmerung macht sich bemerkbar, ein blasser grauer Fleck dort draußen, irgendwo über der Nordsee. Auf dem Dachboden ist alles still, und meine Angst hat nachgelassen, zumindest ein bißchen. Mein Verhältnis zu diesem Heft fängt an, sich zu verändern: als ich mit dem Schreiben anfing, hatte ich eigentlich nur vor, die Schlußfolgerungen aufzuzeichnen, zu denen ich hinsichtlich der 172
Ereignisse vom Herbst und Winter meines dreizehnten Jahres gelangt war; und ich glaubte, mich im Verlauf dieses Prozesses festigen und stärken zu können, meine wackelige Identität ausbauen zu können, denn seit ich entlassen wurde, bin ich nicht mehr stark. Aber all das hat sich verändert; ich schreibe jetzt, um die Angst in Schach zu halten, die mich unweigerlich überfällt, wenn die Stimmen auf dem Dachboden allabendlich laut werden. Sie sind schlimmer geworden, verstehen Sie, viel schlimmer, und nur durch den Fluß meiner eigenen Worte gelingt es mir, das Getöse ihrer Worte zu übertönen. Ich wage nicht, daran zu denken, was für Konsequenzen es haben würde, sollte ich das Schreiben aufgeben und ihnen zuhören. Und so fing ein neuer Tag an. Ich wußte nicht mehr, was schlimmer war, Tag oder Nacht. Die Stille und die Einsamkeit der Nacht waren einst mein Hafen gewesen, mein sicheres Versteck vor den Augen und den Stimmen und den Gedankenprozessen, die am aktivsten zu sein schienen, wenn andere Leute im Haus wach waren. Jetzt fürchte ich den Einbruch der Nacht, denn diese verdammten Kreaturen auf dem Dachboden lassen mir keine Ruhe. Vor ein paar Minuten war ich draußen auf dem Treppenabsatz und habe an der Tür gerüttelt, die zur Treppe zum Dachboden führt - vergeblich natürlich, sie ist immer verschlossen. Es sind ihre Kreaturen, das darf ich nicht vergessen, das ist der Grund dafür, daß die Tür immer verschlossen ist; aber bestimmt fällt mir noch eine Möglichkeit ein, wie ich an ihre Schlüssel herankommen könnte. Ich rauche, bis es Zeit zum Frühstück ist, und beobachte den Himmel. Weiche, aufgeplusterte, blaugraue Wolkenbänke - es wird ein nasser Tag werden, heute wird der Regen nur so prasseln. Ich habe all meine Hemden an, und darüber einen schwarzen Rollkragenpullover, und darüber die Jacke meines schäbigen grauen Anzugs. Dazu die An173
zughose, dicke, graue Socken (zwei Paar), und schwere, schwarze Lederschuhe mit dicken Sohlen und zehn dicht an dicht sitzende Schnürsenkellöchern (Ösen) und einem flammenförmigen Lederstreifen, der vorne auf die Kappe aufgenäht und von Zierperforationen durchbrochen ist. Anstaltsschuhe, diese Schuhe, vom Schuster von Ganderhill gemacht. Außerdem habe ich mir Streifen aus Packpapier und dünner Pappe an die Beine und den Oberkörper geklebt. Sie knistern, wenn ich mich bewege. Das Frühstück verlief ohne besondere Vorkommnisse tote, fischartige Augen über Haferbreischüsseln, die üblichen quietschenden Fürze. Dann sofort hinaus in den sprühenden Regen, und hinunter an den Kanal, und glücklicherweise waren die Straßen leer, bis auf die eine oder andere vorbeieilende Gestalt mit einem Regenschirm und ein blindes Mädchen, das mit einem Stock den Bürgersteig entlang klapperte. Ich bemerkte Einzelheiten der Welt, die mir neu waren, zum Beispiel, daß der Wellblechzaun, der ein Stück Brachland umgab, oben zugespitzt war und aussah wie eine Reihe von Speeren; daß oben auf einer Backsteinmauer zerbrochene Flaschen in einem Bett aus Beton steckten, und daß darunter in großen schwarzen Buchstaben die Worte SCHUTT ABLADEN VERBOTEN standen. Zwischen dem Beton wuchs Unkraut, steife, distelartige Pflanzen, widerstandsfähige, wild gesträubte Gewächse. Dann unter den Viadukt, dessen Bögen vom Regen schwarz gefleckt waren, und ich war jetzt naß, ich konnte die Nässe an mir riechen. Der Wind wehte, auf dem Bürgersteig lag Hundescheiße. An einer Wand hing ein Fetzen aus gestreiftem Stoff, und als der Wind ihn erfaßte, teilte er mir flatternd irgendeine Botschaft mit. An der Hauptstraße blieb ich stehen und winkte den Verkehr vorbei, winkte ihn an mir vorbei, bis ich die Straße überqueren konnte. Wie es aussah, war ich auf dem Weg zum Fluß; ich hatte gedacht, ich würde an den Kanal gehen. 174
Am Fluß war der Wind heftiger, ich mußte meine Jacke zuknöpfen und den Kragen hochschlagen. Ich fand eine Bank: zwei senkrechte Streben aus Beton mit je einem vorspringenden Arm, an dem drei grau zernarbte, grünliche Planken festgeschraubt waren, drei weitere waren als Rückenlehne an die Senkrechte geschraubt. Die Bank war naß, es war mir egal, ich war selbst naß. Vor mir ein rostiges schwarzes Geländer, dann der Fluß, graugrün und schnell und kabbelig im Wind. Eine Konstruktion aus hölzernen Pfählen ein paar Meter weiter, im Wasser. Am anderen Ufer Reihenhäuser unter einem Wald von Kränen, die sich wie trunken in alle Richtungen neigten, als wollten sie im nächsten Augenblick umfallen. Grauer Himmel, an dem sich große, bauchige Wolkenformationen mit dem Wind schwerfällig nach Osten wälzten. Das Geniesel ein Dunstschleier, der mich besprüht, näßt, einen seltsamen Geruch aus meinem schwarzen Wollpullover aufsteigen läßt. Heraus mit dem Tabak, und mit der ersten, guten Lunge voll Rauch kommt der Gedanke: Heute werde ich es noch einmal mit ihrem Zimmer probieren. Ich kam sehr naß vom Fluß zurück, am späten Nachmittag, und ging sofort nach oben. Zwischenzeitlich hatte ich die Idee gehabt, den Kanal zu überqueren und in die Kitchener Street zurückzugehen, um endlich zu sehen, wie es dort aussah, nach zwanzig Jahren-, aber wieder einmal wollte irgend etwas in mir irgendeine tiefsitzende Angst, irgendein Widerstreben, oder eine Furcht - nicht zulassen, daß ich den Fuß auf die Brücke setzte, und ich war meiner üblichen Route gefolgt, am Kanal entlang, und zurück zum Haus. Jetzt stand ich an meinem Fenster und rauchte eine Dicke, während es draußen immer dunkler wurde und die Krähen in den nackten Zweigen der Bäume im Park mit den Flügeln schlugen, und dann hörte ich die Haustür zuschlagen, und einen Augenblick später sah ich sie mit einer Einkaufstasche am Arm die Straße hinuntergehen. Ich drückte 175
die Selbstgedrehte in der Blechdose aus, die ich als Aschenbecher benutzte, und huschte hinüber zu ihrem Schlafzimmer. Das war etwas, was ich nun schon mehrere Male gemacht hatte, wann immer ich sicher war, daß sie nicht im Haus war. Dieses Mal war ihre Tür nicht verschlossen; und ich ging ohne Zögern hinein. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Sie wissen ja, was für eine Schlampe sie ist, daß sie ihre Unterwäsche überall herumliegen läßt, daß ihr Frisiertisch übersät ist mit Kosmetiksachen und so weiter, daß sie ihr Bett nie macht: Anscheinend hatten die Jahre ihren Teil dazu beigetragen, diese schlampigen Gewohnheiten zu ändern, denn dieses Zimmer hier war sauber und ordentlich, das Bett gemacht, und keine Spur von Unterwäsche irgendwelcher Art. Ich durchsuchte in aller Eile ihre Kommode und fand nichts von Interesse, und auch in oder auf dem Nachttisch war nichts zu entdecken. An der Wand hingen, wie mir auffiel, drei gerahmte Bilder, zwei Ansichten vom Lake District, und über dem Bett eine Madonna mit Kind. An diesem Punkt angelangt, huschte ich auf den Treppenabsatz hinaus, um mich zu vergerwissern, daß sie nicht zurückgekommen war: kein Geräusch, nur die gedämpften Klänge von Tanzmusik aus dem Radio im Tagesraum. Dann wieder hinein, und hinüber zu dem großen dunklen Schrank, der gegenüber der Tür an der Wand stand. Als ich mich vorsichtig an ihn heranschlich, sah ich mein Bild in dem hohen Spiegel in seiner Tür, immer noch in meinem nassen Rollkragenpullover und dem schäbigen grauen Anzug; und wie seltsam und verstohlen ich ausssah, wie ich auf langen Beinen und auf Zehenspitzen durch dieses dunkle Schlafzimmer schlich, wie eine richtige Spinne! Vor dem Schrank blieb ich stehen, eine Hand an der Tür, und drehte noch einmal den Kopf, um auf die Geräusche des Hauses zu lauschen, fünf, zehn, fünfzehn Sekunden lang: nichts als die leise ferne Radiomusik. Ich öffnete den 176
Schrank - und da war er, das erste, was ich sah, obwohl er ganz nach hinten geschoben war, ans hintere Ende der Stange, und fast völlig verdeckt wurde: ihr räudiger alter Pelzmantel. Plötzlich hörte ich die Haustür schlagen (zum Glück ist es eine Tür, die sich nicht gut leise schließen läßt), und ich, huschte davon und ließ das Zimmer ganz genau so zurück, wie ich es vorgefunden hatte, schlich zurück in mein eigenes Zimmer und blieb, im wahrsten Sinne des Wortes zitternd vor innerer Erregung, an meinem Fenster stehen und versuchte, ruhig zu bleiben. Dort stand ich viele Minuten, den linken Arm quer über meine Brust gelegt, die Finger in meine knochige Schulter gekrallt, und zwischen den immer noch zitternden Fingern der anderen Hand eine dick Gedrehte, ich brauchte sie. Langsam ließ das Zittern etwas nach, und als es nachließ, stieg mir der feuchte Geruch meines Wollpullovers erneut in die Nase, und nach einer Weile schüttelte ich den Kopf, schüttelte den Rest der Erregung von mir ab, und zog meine Jacke aus. Ich hängte sie an die Tür, und dann nichts wie herunter mit dem stinkenden Pullover. Aber der Geruch blieb, und erst in diesem Augenblick erkannte ich ihn als Gas. Es war eine lange Nacht. Ich weiß heute noch nicht, wie ich sie überstanden habe, denn es war wahrscheinlich die bisher schlimmste. Trotz zusätzlicher Packpapierschichten, die ich um meinen Oberkörper klebte, trotz der Lagen von Unterhemden und Hemden und Pullovern darüber, blieb der Gasgeruch bis zum Morgen. Natürlich hatte ich mein Tagebuch, und ich glaube, allein dieses Tagebuch bewahrte mich davor, mir selbst oder irgend jemand sonst Schaden zuzufügen. Eine neue Strategie der Kreaturen auf dem Dachboden: Ich ließ das Licht natürlich die ganze Nacht brennen, und die Birne knisterte 177
mich an, wie sie es für gewöhnlich tut, und ich beachtete sie nicht weiter - bis das Knistern plötzlich sehr laut wurde, genau wie an dem Abend in der Kitchener Street, den ich vorhin schon beschrieben habe, aber dieses Mal waren es die Stimmen, die die Oberhand hatten, und sie veranstalteten eine Art Singsang, der aus der Glühbirne kam, und der Singsang ging: TÖTE sie töte sie töte sie TÖTE sie töte sie töte sie töte sie. Ich erstarrte, ich richtete mich hoch auf und konzentrierte mich auf die Glühbirne, aber kaum daß ich das getan hatte, ebbte das Geräusch zu einem statischen Summen ab, und ich konnte es nicht mehr hören. Zurück an die Arbeit, aber sobald ich wieder in mein Schreiben vertieft war, verwandelte das Knistern sich erneut in diesen schrecklichen Singsang, und wieder hielt ich inne, wieder hob ich den Kopf, und der Singsang verwandelte sich in Gelächter, das langsam verhallte, und alles, was davon übrig blieb, war eine fehlerhafte Glühbirne in einem Haus mit unzulänglichen elektrischen Leitungen und ein verzweifelter Mann, der von Botschaften gequält wurde, von denen er nicht wußte, woher sie kamen, aus dem Dachboden über ihm, aus der Glühbirne über seinem Kopf oder aus irgendeinem tiefen Loch in den hinteren Sphären seines eigenen kranken Hirns. Oh, es war eine schlimme Nacht, gebe Gott, daß ich niemals wieder eine ähnliche erleben muß. Gegen Morgen ließ es etwas nach, und ich machte eine Pause, drehte mir eine Zigarette, blätterte noch einmal durch die Seiten meines Heftes. Sie waren vollgekritzelt und vollgeschmiert, angefüllt mit Worten, die zu lesen ich kein wirkliches Interesse hatte, nicht jetzt, wo die Nacht fast vorbei war. Irgend etwas ging mit meiner Schrift vor, sie hatte jetzt etwas definitiv Fließendes und Elegantes, es war jetzt eine wirkliche Schrift, und nicht mehr das verkrampfte Gekrakel eines Mannes, der zwar viel gelesen aber nur wenig geschrieben hat. Es war eine fließende Schrift, die 178
Schrift eines Schriftstellers, und unter anderen Umständen, dachte ich, hätte ich das, was ich geschrieben hatte, sicherlich mit Befriedigung betrachtet, vielleicht sogar mit Stolz. Aber die äußeren Umstände, die mit diesem Schreiben verbunden waren, ließen eine derartige Selbstzufriedenheit nicht aufkommen; ich schöpfte nur Mut aus der blassen, grauen Andeutung der Dämmerung, die den östlichen Himmel zögernd befingerte, und aus dem in ihr enthaltenen Versprechen einer zumindest kurzen Ruhepause von all diesen Quälereien, zumindest für die Dauer der wenigen, kurzen, flüchtigen Stunden, in denen das Tageslicht herrschte. Irgendwo im Haus rauschte eine Toilettenspülung, die Wasserleitungen rumpelten, und vor meinem inneren Auge sah ich eine der toten Seelen in einem fadenscheinigen schmuddeligen Schlafanzug aus der Toilette kommen, mit trüben, von gelblichem Schlaf verkrusteten Augen und schlechtem Atem, und dümmlich gähnen und zurück in ihr schmales Bett schlurfen, um noch einmal im süßen Vergessen des Schlafes zu versinken; und in diesem Augenblick hätte ich eine Hand dafür hergegeben, oder einen Arm - oder einen Arm und ein Bein! - eine der toten Seelen sein zu dürfen, mit einem leeren Geist und der süßen Aussicht auf Schlaf. Wach zu sein heißt, der Qual ausgesetzt zu sein, und das ist der einzige, der ausschließliche Sinn des Lebens. Würde ich heute in die Kitchener Street zurückgehen, fragte ich mich, als ich meinen Bleistift noch einmal zur Hand nahm. Was würde ich dort vorfinden? Würde es mir Frieden bringen, oder Erleichterung, vor der Nummer siebenundzwanzig zu stehen und die Spitzenvorhänge fremder Leute an den Wohnzimmerfenstern zu sehen? Vielleicht einen neuen Anstrich an der Haustür, und das Oberlicht darüber, die untergehende Sonne, befreit von dem Schmutz und dem Staub, der sich nach Hildas Einzug dort angesammelt hatte? Würde ich wie eine Spinne durch 179
die Gasse hinter dem Haus huschen, bei den Mülltonnen stehenbleiben, es vielleicht sogar wagen, das Tor zu unserem Hof zu öffnen, um die Wäsche fremder Leute an der Wäscheleine flattern zu sehen, das Fahrrad fremder Leute an der Wand des Außenklos, in dem das Wasser vielleicht immer noch bis an den Rand der Schüssel stieg, wenn man die Kette zog, und manchmal überlief? Was hätte ich davon? Vielleicht würde ich mich umdrehen, ans Ende der Kitchener Street schlurfen, ins »Dog and Beggar« gehen und mich mit einem Glas Bier an den Kamin setzen. Verstohlene Blicke auf Ernie Ratcliff werfen, der jetzt in den Fünfzigern sein würde, aber noch genauso wieselflink wie immer mit seinen schnellen dünnen Händen und seinen pomadigen Haaren und seiner verdammten Schlauheit obwohl er mich natürlich nicht erkennen würde, nein, auf keinen Fall würde er in diesem heruntergekommenen Wrack den schüchternen Jungen sehen, der früher immer gekommen war, um seinen Vater zu holen, wenn das Essen fertig war, er würde nichts dergleichen sehen, er würde einen langsamen traurigen Mann sehen, gezeichnet von einer langen geistigen Erkrankung, mit kaum genug Kupfermünzen in der Tasche, um auch nur das kleinste Glas des billigsten Bieres in der schäbigsten Kneipe Londons zu bezahlen! Nein, ich werde nicht in die Kitchener Street zurückgehen, nicht heute, ich bin nicht stark genug. Wenn ich mich besser fühle wenn ich diese schlimme Phase hinter mir habe -, dann werde ich nach Hause gehen, dann werde ich zurückgehen zur Nummer siebenundzwanzig, und vielleicht wird es mir guttun. Ich lege meinen Bleistift nieder, gehe durch das Zimmer und schalte das Licht aus, ich brauche es nicht mehr. Ich lege mich auf mein Bett und starre an die Decke: Stille. Bald werden die Leitungen rumpeln, das Radio wird angeschaltet werden, ich werde Leute im unteren Teil des Hauses hö180
ren. Aber für den Augenblick, Stille, gesegnete goldene Stille. Heute wieder hinunter an den Fluß. Aus irgendeinem Grund, den herauszufinden ich mir noch nicht die Mühe gemacht habe, gefällt es mir nicht mehr, am Kanal zu sitzen, obwohl es, dieser Gedanke kommt mir erst in diesem Augenblick, etwas mit dem Blick auf das Gaswerk drüben in der Spleen Street zu tun haben könnte. Neblig heute, nicht so naß wie gestern, und der Geruch nach Gas ist fast verschwunden. Ich finde einen gewissen Trost in der baufälligen Konstruktion hölzerner Pfähle im Fluß, grünlich, wo das Wasser sie umspielt , überall sonst dunkelbraun, bepinselt mit Kreosot, und wenn ich mich konzentriere, kann ich das Kreosot bis zu mir riechen. Abgesehen davon hängt Holzrauch in der Luft, ich sehe ihn aus dem blechernen Schornstein eines ramponierten holländischen Kahns ein Stück den Fluß hinunter aufsteigen, und etwa in der Mitte des Flusses fängt der Nebel an, ein weicher Vorhang, der dem Auge Einhalt und mir die Möglichkeit bietet, ohne Ablenkung über den flüchtigen Blick nachzudenken, den ich in ihrem dunklen Schlafzimmer auf ihren räudigen Pelz werfen konnte. Daß sie den immer noch hat - wie soll ich das bloß verstehen? Ich bin jetzt ganz ruhig, ich kann ganz ruhig über diese Dinge nachdenken. Eine Möwe läßt sich mit einem lauten Schrei auf einem der Pfähle nieder, und irgendwo hinter mir heult eine Sirene, irgendeine Fabrik. Ein Schuljunge bleibt neben meiner Bank stehen und versucht, mir eine Zigarette abzuschnorren. »Kommen Sie schon, Mister«, sagt er. »Nur eine. « Aber ich schüttele den Kopf, ich löse nicht einmal den Blick von den Pfählen, die aus der graugrünen Themse und dem nebligen Vorhang dahinter aufragen. Könnte man nicht annehmen, meine Entschlossenheit sei durch das, was ich im hintersten Winkel von Mrs. Wilkinsons Schrank entdeckt habe, gefestigt worden? 181
Wieso ist das nicht der Fall? Irgend etwas paßt nicht in die Logik dieser ganzen Geschichte. Aber was? Daß die Kreaturen auf dem Dachboden mich gedrängt haben, sie zu töten, ist es das? Sind sie etwa gar nicht ihre Kreaturen? Vielleicht nicht. Vielleicht sind sie die Kreaturen von irgendwem oder von niemand. Oder vielleicht stammen sie, wovon ich, zeitweise, überzeugt bin, aus irgendeinem tiefen Loch in den hinteren Sphären meines eigenen kranken Hirns - und was dann? Erde, Wasser, Gas, Hanf - das sind die Elemente Spiders. Als ich vom Fluß zurückkam, ging ich direkt hinauf in mein Zimmer und holte mein Seil hervor. Ich bewahre es seit zehn Tagen im Kamin hinter dem Heizgerät auf. Ich habe es eines Nachmittags am Kanal gefunden und sofort gewußt, daß ich es brauchen würde. Es ist anders als die dicken Taue, in deren öligen Schlingen ich mich als Junge so gerne zusammengerollt habe, unten bei den Booten, es ist viel dünner, Schnur, würde man vielleicht dazu sagen, drei drahtige, geflochtene Strähnen aus dunkelgrünem Hanf. Es ist nicht sauber; Schmiere und Schmutz langjährigen Gebrauchs haben es stellenweise schwarz verfärbt, und jetzt ist auch noch der Ruß des Kamins dazugekommen. Es ist ungefähr drei Meter lang, an einem Ende ausgefranst, und am anderen zu einer Schlaufe geschlungen, die durch einen stählernen Ring verstärkt ist. Ich nehme es in die Hände; ich liebe seine rauhe, schmutzige Textur. Ich packe es mit den Fäusten und ziehe es straff. Es ist ein gutes, kräftiges Seil, immer noch verwendbar. Ich wickele es über meinem Unterarm auf und lege es auf mein Bett. Ich setze mich an meinen Tisch, mit Blick auf das Bett, ich rauche eine Dünne und betrachte mein Seil. Ein Klopfen an der Tür: Plötzlich ist sie bei mir im Zimmer. »Mister Cleg«, sagt sie auf ihre typische Art - sie hat ein Bündel in den Armen -, und dann sieht sie das Seil. Ich sit182
ze immer noch auf meinem Stuhl. »Nicht auf das Bett, Mr. Cleg«, ruft sie. »Dieses dreckige Ding!« Und sie verlagert ihr Bündel auf den einen Arm, nimmt mein Seil und wirft es auf den Boden, wo es sich mit einem dumpfen, gedämpften, seiligen Schnurren entrollt. Mit der Kante ihrer fetten Hand streicht sie die Decke glatt und legt dann ihr Bündel darauf. Ganz oben auf dem Bündel liegt ein Schirm, fest zusammengerollt. »Mr. Cleg, wenn ich Sie schon nicht daran hindern kann, im Regen herumzulaufen, kann ich Ihnen wenigstens einen Schirm geben. Einen Schirm. Und das hier« - sie hob ein gummiartiges Ding hoch, hellorange, geformt, wie eine Flunder, und ließ es hin und her baumeln - »ist Ihre Wärmflasche. Sie können sie in der Küche füllen, bevor Sie zu Bett gehen. Das hier« - sie hielt einen Mantel hoch, der aussah, als stamme er mindestens aus dritter Hand, wahrscheinlich hatte sie ihn von irgendeinem Penner ergattert, dem sie irgendwo begegnet war - »ist Ihr Wintermantel.« Er war hellgrau, mit einem zarten Fischgrätmuster, von dem ich sofort Augenschmerzen bekam, all diese dünnen, schrägen, parallelen Linien im Zickzackmuster. »Und das« - sie schwenkte eine fadenscheinige blaue Decke mit mehreren Brandlöchern - »ist Ihre Extradecke.« Ich starrte diese bizarre Kollektion in stummer Verwunderung an. Was hatten diese Gegenstände miteinander zu tun? Sie hatte mir den Rücken und das Hinterteil zugedreht, sie machte sich an meinem Bett zu schaffen, breitete die Extradecke darüber. Über die Schulter hinweg sah sie mich an. »Na? Nicht einmal ein einziges Wort, Mr. Cleg? Hat die Katze Ihre Zunge gefressen?« (Was für ein widerlicher Gedanke.) Wußte sie, fragte ich mich plötzlich, wofür ich das Seil brauchte? Plötzlich heftige Sorge Spiders. »So«, sagte sie, als sie mit dem Bett fertig war; dann, mit einem Blick auf den Boden: »Kann ich das mitnehmen? Es ist wirklich zu schmutzig für ein Schlafzimmer.« 183
Ich griff sofort danach, riß es an mich, umfing die wirren Schlaufen in meinem Schoß. »Dann legen Sie es wenigstens nicht wieder auf das Bett«, sagte sie. »Ich glaube nämlich, daß das Öl ist, und Öl bekommt man nie wieder heraus.« Sie stand jetzt am Fußende des Bettes. Sie wirkte heute sehr groß, erschreckend groß. »Immer noch nichts zu sagen, Mr. Cleg?« Sie legte den Kopf etwas zur Seite und faltete die Arme vor der Brust. »Ich mache mir Sorgen um Sie.« Ich zuckte zurück, das Seil fest umklammert. Wie verzweifelt ich mich danach sehnte, dem Blick dieser Augen zu entgehen, sie bohrten sich in mich hinein, sie zersplitterten mich, ich würde jeden Augenblick zerbersten, und es gab kein Entkommen, ich war hypnotisiert wie eine Ratte im Angesicht einer Schlange. Über meinem Kopf erwachte die Glühbirne spuckend und knisternd zu neuem Leben, obwohl das Licht nicht angeschaltet war. Das Zimmer wurde dunkler, ihre Augen glitzerten mich an. »Sie denken doch daran«, sagte sie - und ihre Stimme hörte sich an, als käme sie aus der Tiefe eines tiefen, steinernen Brunnens, hohl und dröhnend und unheilvoll - »Sie denken doch daran, daß morgen der Doktor kommt. « DRÖHN, dröhn, dröhn, dröhn - die Worte dröhnten auch dann noch im Zimmer, als sie längst gegangen war. Ich trat ans Fenster und sah hinunter auf die Straßenlampe, die gerade angezündet worden war. Ich zitterte unkontrollierbar; das Seil glitt aus meinen Fingern und fiel genau wie eben mit einem seiligen Schnurren auf den Boden, und ganz langsam und allmählich verhallte das Echo. Oh, dachte ich, das wird eine schlimme Nacht werden, das wird eine schlimme Nacht werden, wie um alles in der Welt soll ich diese Nacht bloß überstehen? Was für ein jämmerlicher Spider, der im ersten, blassen Licht der Dämmerung zu sehen war! Was für ein gebrochener hagerer Schatten von einem Echo von einem Witz von einem Mann! Was für eine Hülse, was für ein Wrack, was für 184
eine Ruine! Aber er lebte, er lebte. Ich stand an meinem Tisch, die Hände auf die Platte gelegt, und sah zum Himmel hinauf. Die Nacht war vorüber, ich hatte sie überstanden. Es herrschte Stille; das Kreischen hatte aufgehört, der Tumult war zu Ende, ich war das kleine Boot, das in der Nacht auf hoher See von einem Sturm überrascht worden war und sich bei Tagesanbruch mühsam in irgendeine kleine Bucht oder einen kleinen Hafen schleppt, mit gesplittertem Hauptmast und einem am Steuer festgebundenen Rudergänger, dessen Augen vor Müdigkeit und ausgestandener Angst rot umrändert sind. Ein kleiner Trost, der Hafen des Tageslichts, aber immerhin ein Trost. Pappe knisterte, als ich meine Glieder bewegte, zum Bett ging, mich auf den Rücken legte und die von Feuchtigkeitsflecken übersäte Decke anstarrte, die noch vor einer Stunde die dunkle Leinwand eines Dämonen gewesen war, auf der es von höllischen Formen in Schlaufen und Knoten gewimmelt hatte, die sich wanden und spuckten und trieften vor Schmutz und Bösartigkeit. Aber für den Augenblick, die Ebbe der Nacht, das Wogen und Branden einer stillen Dämmerung: mein Pazifik. Der gestrandete Spider lag auf seinem Bett, die Beine an den Knöcheln übereinandergeschlagen, und beobachtete, wie der Rauch einer dünn Gedrehten als schlanke Säule aufstieg, die erst in Wirbel zerbrach und dann ganz verwehte. Er dachte an das Seil im Kamin, und er wußte, daß er fast zu Ende war, dieser klägliche Tanz, den er aufführte, dieser Tanz in der Hölle; genug, flüsterte er der Stille zu, genug, genug, genug. Dr. Mc.Naughten war in Mrs. Wilkinsons Büro, als ich nach dem Frühstück aus der Küche kam. »Mein Gott, was ist denn mit Ihnen passiert, Mann? « rief er, als ich hereingeschlurft kam. »Setzen Sie sich.« Ich setzte mich. Er sah mich prüfend an, mit gerunzelter Stirn, ging dann zur Tür und schrie nach Mrs. Wilkinson. »Hat dieser Mann seine 185
Medikamente bekommen?« fragte er, ohne sich die Mühe zu machen, seine Stimme zu senken. »Natürlich hat er das«, antwortete Mrs. Wilkinson mit gedämpfter Stimme und zog ihn von der Tür fort, damit ich die weitere Unterhaltung nicht hören konnte. Ein paar Minuten später war er wieder bei mir. »Dennis«, sagte er, »ich habe den Verdacht, daß Sie Ihre Medikamente gehortet haben. Seien Sie ehrlich, ist es so?« Was spielte es jetzt noch für eine Rolle? Ein Schulterzucken, ein Seufzen des resignierten Spider. Der Doktor sah mich stirnrunzelnd an und trat ans Fenster, wo er mit dem Rücken zu mir stehenblieb, eine Hand in der Hosentasche, während er mit der anderen auf dem Fensterbrett herumtrommelte. Stille; nach mehreren Minuten geht die Tür auf. Es ist Mrs. Wilkinson. Sie kommt an den Schreibtisch und läßt etwa ein Dutzend rußgeschwärzter Tabletten auf die Platte fallen; außerdem hat sie mein Seil, auch dieses legt sie auf den Schreibtisch. Ich zucke unwillkürlich zusammen: Wo ist mein Heft? Dr. McNaughten sieht mich an, schüttelt den Kopf »Vielen Dank, Mrs. Wilkinson«, sagt er. Er geht wieder ans Fenster, bleibt wieder mit dem Rücken zu mir stehen, und sieht hinaus. Nach einer Weile, und ohne sich umzudrehen, sagt er: »Ich bin fast der Meinung, daß ich Sie wieder einweisen sollte«, sagt er, »aber ich will Ihnen noch eine letzte Chance geben.« Als ich in mein Zimmer zurückkam, stellte ich zu meiner großen Erleichterung fest, daß mein Heft noch da war. Man würde mich nicht nach Ganderhill zurückschicken; Dr. McNaughten hatte eine Reihe von Gründen für seine Entscheidung, und einer davon war, daß ich, bevor ich aufgehört hatte, meine Medikamente zu nehmen, anscheinend »Fortschritte« gemacht hatte. In welche Richtung 186
diese Fortschritte gingen, das hatte Dr. McNaughton nicht gesagt. Auch wenn ein Mann nichts hat, was er sein eigen nennen kann, findet er Möglichkeiten, sich Besitztümer zuzulegen- dann findet er Möglichkeiten, seine Besitztümer vor den Wärtern zu verbergen. Auf einer Station der harten Bänke band man das eine Ende einer Schnur an seiner Gürtelschlaufe fest und wickelte das andere um den oberen Rand einer Socke, und dann ließ man die Socke innen in seinem Hosenbein herabbaumeln. In der Socke bewahrte man seinen Tabak auf, Nähzeug, Papier, Bleistift, zusätzliche Schnur - was immer man eben an Nützlichem oder Wertvollem besaß. Die Männer hingen an ihren Socken: auf einer Station der harten Bänke war das Leben auf die nackte Substanz reduziert, und die Socke war eine Möglichkeit, ihm ein bißchen Fleisch zu geben, sich selbst das Gefühl zu geben, mehr zu sein als nur ein Produkt der Anstalt. Männer kämpften erbittert um ihre Socken, wenn die Wärter beschlossen, sie zu konfiszieren, und wenn das geschah, verlor man nicht nur seine Socke, sondern auch seine Kleider und wurde in einem unzerreißbaren Drillichkittel in ein sicheres Zimmer gesteckt, oder man kam in eine Zwangsjacke, wurde eingebündelt und eingeschnürt wie eine Weihnachtsgans, damit man nicht an die Wand hämmern und sich dabei die Knöchel brechen konnte. In den späteren Jahren in Ganderhill hatte ich ein Zimmer auf einer guten, tiefergelegenen Station in Block F und genoß alle Privilegien, die die Anstalt mir bieten konnte. Aber in den frühen Jahren war ich für gewöhnlich oben bei den traurigen Männern, und oft in einer Zwangsjacke in einem sicheren Zimmer. Ich weiß noch, wie es das erste Mal passierte. Zwei Wärter hatten angefangen, über mich zu reden, während ich rauchend auf der anderen Seite des Aufenthaltsraumes saß. Der eine Wärter sah zu mir herüber und erzählte dem anderen, ich sei hier, weil ich meine Mut187
ter umgebracht hätte. Selbstverständlich bestritt ich das; ich sagte, es sei mein Vater gewesen, der sie umgebracht hatte, nicht ich. Sie lachten und unterhielten sich eine Weile über andere Dinge. Aber nach ein paar Minuten kamen sie wieder auf mich zu sprechen, und wieder sagten sie, ich hätte meine Mutter umgebracht. Wieder widersprach ich ihnen; sie sagten, ich solle mich nicht aufregen, ich solle mich bloß nicht in einen »Zustand« hineinsteigern. Das war stark. Ich weiß noch, daß ich anfing, auf meiner Bank vor und zurück zu schaukeln (etwas, was ich nicht kontrollieren konnte), und daß meine Finger heftig zitterten. Spider machte verzweifelte, huschende Bewegungen, vor und zurück, vorwärts und rückwärts, so fühlte es sich an, suchte mit wachsender Verzweiflung irgendeine Nische oder Ritze, in die er kriechen konnte. Der Aufenthaltsraum wurde zusehends dunkel, und die beiden Wärter saßen da und beobachteten mich mit animalischer Intensität, während mein Geschaukel immer heftiger wurde. Dann war da Lärm und Geschrei, und dann hielten sie mich auf dem Boden fest, während das Licht anschwoll und abebbte. Dann kam das eigenartig vertraute Klirren von Schnallen, und gleichzeitig mit dem plötzlichen Gefühl der Enge beim Festzurren der Gurte sah der aufgeregte Spider endlich ein Loch und schlüpfte hinein, und dann war da nichts mehr, bis er sich in einem sicheren Zimmer wiederfand, zusammengeschnürt wie eine Weihnachtsgans, nur den einen Gedanken im Kopf, der sich unaufhörlich drehte und drehte und drehte, daß es sein Vater war, sein Vater, sein Vater sein Vater sein ... Nicht ganz einfach, jetzt an diese Zeiten zu denken (vielleicht ist es ein Resultat meiner sogenannten Fortschritte, daß ich mich überhaupt damit befassen kann), aber zu einem beträchtlichen Teil bestand die Arbeit jener ersten Jahre in Ganderhill darin zu lernen, solche Sticheleien zu ertragen - was mir schließlich auch gelang: Es kam eine 188
Zeit, in der ich durchaus hörte, wie sie versuchten, die Gewalt in mir zu wecken - sie flüsterten miteinander, über meine Mutter, aber statt sich aufzuregen - statt anzufangen, zu schaukeln und zu zittern und herumzuhuschen wie ein Krebs auf der Suche nach einem Stein -, entwickelte Spider Strukturen, die dazu imstande waren, Provokationen auszuhalten, er baute sie unermüdlich auf, er erprobte sie mit beharrlichem Fleiß, und lernte so, die Sticheleien zu ertragen, und als es soweit war, ließen die Sticheleien allmählich nach, und er wurde in Ruhe gelassen. In diesem Augenblick fing das Leben in Ganderhill an, besser zu werden. Ich sitze am Fluß, mein zusammengerollter Schirm lehnt neben mir an der Bank. Ein wolkiger Tag, und sehr windig. Ich bin etwas benommen von meinen Medikamenten, vielleicht helfen auch sie mir, ohne große Erregung an die frühen Jahre in Ganderhill zu denken. Andere Patienten John Giles, Derek Shadwell - hätten niemals getan, was die Wärter taten: Untereinander hatten wir keinen Grund, zu zweifeln oder zu lügen. Dabei kommt mir jedoch der Gedanke, daß die Sticheleien, seien sie nun beabsichtigt gewesen oder nicht, auch die Funktion gehabt haben könnten, mich dazu zu zwingen, mich mit dem, was in der Kitchener Street geschehen war, auseinanderzusetzen und es dadurch zu verstehen: deshalb hörten sie, als ich es schließlich tat, irgendwann auf, obwohl diese Entwicklung beileibe nicht schnell vonstatten ging, im Gegenteil, es dauerte Jahre, es gab häufige Zusammenbrüche, während derer man wieder einmal sehen konnte, wie Spider sich wie ein kleines Kind unter einer Decke zusammenrollte, oder schlafend auf einer Bank lag, einen Schuh unter dem Kopf. Was jedoch in dieser Periode auch geschah, war die Weiterentwicklung des Systems der zwei Köpfe: Ganz hinten, wo Spider lebte, finden wir die traurige, wahre Geschichte der Kitchener Street (die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzähle). Und auf 189
der Station, im Aufenthaltsraum, bewegte sich Ganderhill-Insasse Dennis Cleg unangefochten - eine Maske, ein Geist, eine Marionette - durch falsche Gerüchte, skandalöse Bezichtigungen und provokative Sticheleien - denn Spider war anderswo! (Bis Dr. Austin Marshall in den Ruhestand trat und ein neuer Anstaltsleiter nach Ganderhill kam, und diesem Mann gelang es, an nur zwei Nachmittagen, meine ganze Arbeit zu unterminieren; aber mehr über ihn zu gegebener Zeit.) Schlimme Jahre also, diese frühen Jahre, Jahre der Verfolgung. Die ersten Monate waren in dieser Hinsicht die schlimmsten, weil ich noch nicht gelernt hatte, mich an ihre Art anzupassen. (Es ist viel schwerer, über diese Zeit zu sprechen: sehen Sie, wie starr ich auf meiner Bank sitze, den Blick auf die Pfähle im Fluß gerichtet, während eine kreischende Möwe mit dem böigen Wind an mir vorbeifegt, und wie weißknöchelig die knochigen Hände sind, die ich um den Griff meines Schirms gekrampft habe.) Denn sie hätten mich zu einer ihrer Kreaturen gemacht, hätte ich nicht die Möglichkeit gefunden, mich zu widersetzen. Sehen Sie mich also in einem kalten, gekachelten Zimmer am Eingang der Aufnahmestation, gebadet und desinfiziert, splitternackt und zitternd: ein hochaufgeschossener knochiger Junge, an dem man die Rippen zählen konnte, die pickelige Haut weiß wie Milch, Entsetzen in den Augen. Sie haben mir meine Kleider weggenommen und sind dabei, mir die graue Anstaltsuniform auszuhändigen. Mein altes Ich, der Junge aus der Kitchener Street, Spider aus London, wurde von mir abgestreift; und bevor ich die Uniform eines Verrückten anlege, gibt es jene wenigen Minuten, in denen ich nackt in jenem trostlosen, gekachelten Zimmer stehe, in denen ich tatsächlich nichts bin, weder das eine noch das andere, und hier ist etwas Merkwürdiges: Ich werde in jenen Minuten des nackten zitternden Nichts von einem Gefühl überwältigt, das so intensiv ist, daß ich 190
laut auflachen muß; und der Wärter wendet sich von dem Tisch ab, an dem er mit meinen wenigen kläglichen Habseligkeiten beschäftigt ist, und runzelt die Stirn, während ich von einem Fuß auf den anderen hüpfe und versuche, die Wellen der unerklärlichen Freude zu unterdrücken - die bald genug wieder ausgelöscht werden, als ich mich in ein Hemd zwänge, das mir zu klein ist, und in eine Hose, die mir zu weit ist, und in dicksohlige Anstaltsschuhe, aus denen die Schnürsenkel entfernt wurden. Der Wärter hat mir meinen Bleistift abgenommen, und die wenigen Kupfermünzen, die ich besaß, und sie in einem braunen Umschlag eingesiegelt, auf den er meinen Namen und das Datum kritzelt, und mir erklärt, daß ich alles zurückbekomme, wenn ich entlassen werde. Und während ich das Zimmer als Spider aus London betreten habe, verlasse ich es als ein Verrückter, für mich selbst nicht mehr erkennbar; und die Angst, die für einen kurzen Augenblick durch jenen kurzen seltsamen Ausbruch der Heiterkeit ausgelöscht worden war, kam zurück und das einzige, was mir noch bewußt war, war das Gefühl fremde Materialien auf meiner Haut und fremder Gerüche in meiner Nase. Jetzt hatte ich Angst, schreckliche Angst, mehr Angst als je zuvor in meinem Leben, und ich hatte nur den einen Wunsch, wieder in meinem Zimmer über der Küche der Nummer siebenundzwanzig zu sein. Aber jenes seltsame Lachen: Ich glaube jetzt, daß das, was ich damals empfand, Erleichterung war. John Giles war der erste Patient, dem ich auf der Aufnahmestation begegnete, John mit den breiten Schultern und den buschigen Augenbrauen. Er wurde am selben Tag wie ich in Ganderhill eingeliefert: Als ich ihn das erste Mal sah, stand er mit dem Gesicht zur Wand am Eingang der Station und plapperte sehr schnell und sehr angeregt auf sich selbst ein. Hinter ihm, ein Stück den Flur entlang, saß ein kleiner kahlköpfiger Mann auf dem Boden und stöhnte leise vor 191
sich hin, während er unaufhörlich am Kragen seines Hemdes zupfte, und hinter ihm, an seinem Platz angewurzelt wie eine Statue, stand ein Mann und starrte seine offene Handfläche und seine gespreizten Finger an. Ich muß wohl stehengeblieben sein, auf der Schwelle, denn ich erinnere mich, daß der Wärter leise sagte: » Komm schon, Sohn, rein mit dir. « Und so gingen wir rein. Ein paar Männer wanderten auf der Station herum, aber die meisten waren in ihren Zellen eingeschlossen, die Gitterstäbe statt Türen hatten und Pritschen aus Beton. Diese Männer trugen Drillichkittel und lagen schlafend auf dem Beton, die Knie bis ans Kinn hochgezogen. Ein Mann, dessen Augen wild blitzten und dessen Haare in schweißfeuchten Strähnen von seinem Kopf abstanden, stürzte an das Gitter, als wir daran vorbeikamen, umklammerte die Stäbe und schnatterte auf mich ein, bis der Wärter mit erhobener Hand auf ihn zutrat, woraufhin er mit einem kummervollen Wimmern zurückwich. Auf halbem Weg die Station hinunter wurde das Gitter einer leeren Zelle aufgeschlossen und auf klirrenden Metallrollen zurückgeschoben. »Da wären wir also, Sohn«, sagte der Wärter. »Ich werde dich für den Augenblick nicht einschließen.« Ich stand da und starrte in die Zelle hinein: ein kleines, vergittertes Fenster hoch oben in der Wand, eine Toilette aus Beton, ohne Sitz und ohne Deckel, und eine Betonpritsche. »Und wenn du uns keinen Arger machst, Sohn«, sagte der Wärter, »bist du in Null Komma nichts unten. « Er war so groß ich, dieser Mann, der, wie ich später erfuhr, Mr. Thomas hieß. Er drehte sich um und ging durch die Station zurück, wobei er den Blick ständig hin und her schweifen ließ, während er sich mit einem großen Schlüssel immer wieder in die Fläche der anderen Hand schlug. Sehen Sie mich also: wie ich auf der Kante der Betonpritsche sitze, die Ellbogen auf den Knien, mit lose zwischen den Beinen herabbaumelnden Händen und hängendem Kopf, 192
ein heißes ersticktes Gefühl in der Kehle; ich starrte blinzelnd auf den Boden und beobachtete die zwei oder drei Tränen, die zwischen meinen Füßen auf den Boden tropften. Ein Schatten fiel über meine Zelle: Ich blickte erschrocken auf-. Es war John Giles, der Riese. »Hast du Tabak an dir? « fragte er. Ich schüttelte den Kopf; er schlurfte davon. Ich aß mein Abendessen in meiner Zelle, von einem Pappteller mit einem hölzernen Löffel, und bekam etwas später zwei Decken und drei Blatt Toilettenpapier zugeteilt. Dann wurde mein Gitter mit einem lauten klirrenden Peng! zugeschlagen, und alle Lichter wurden ausgeschaltet, bis auf eins oder zwei, die im Gang einen schwachen Schein verbreiteten, der gerade ausreichte, um den Mann in der gegenüberliegenden Zelle sehen zu können. Ich legte mich auf meine Pritsche und lernte zum ersten Mal, einen Schuh als Kopfkissen zu benutzen. Die Geräusche der Station veränderten sich; die Männer, die ich zusammengerollt und mit bis ans Kinn hochgezogenen Knien auf ihren Pritschen gesehen hatte, schienen mit der Dunkelheit wach zu werden, und jetzt erhob sich ein derart mitleiderregender Chor von Stöhnen und Schreien und Wimmern, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte und völlig verkrampft auf meiner Betonpritsche lag, mit weit aufgerissenen Augen, und die Decke anstarrte, auf deren Verputz der Lichtschein aus dem Korridor ein eigentümlich verzerrtes Gittermuster zeichnete. Trotzdem konnte ich den Stimmen nicht entkommen, und ein paar Minuten später lief auch ich in meiner Zelle auf und ab, den Kopf immer noch in den Händen, und murmelte fieberhaft vor mich hin, um mit meiner eigenen Stimme die unerträgliche Qual der ihren zu übertönen. Dann stand ein Wärter an meinem Gitter. »Ganz ruhig, Sohn«, murmelte er. »Nur keine Aufregung.« Ich sagte nichts; ich stand in meiner Zelle und starrte den Mann an. Nach ein paar Augenblicken sagte er: »Leg dich 193
wieder hin, Sohn«, und ich gehorchte. Dann ging er fort, und ich hörte, wie er das Stöhnen und das Wimmern besänftigte, bis es auf der Station fast still war. Ich blieb eine wahre Ewigkeit, wie es mir schien, auf meiner Pritsche liegen und beobachtete das verzerrte Gitter der Schatten an der Decke, und dann fing ich an, die Spinnweben im Dach des Schuppens meines Vaters zu sehen; und daraus zog ich einen gewissen Trost, denn kurz danach konnte ich endlich einschlafen. Die nächsten Tage vergingen in alternierenden Zyklen von Monotonie und Hölle. Ich geriet schnell in Erregung was nicht weiter überraschend war - und hatte bald mein Hemd und meine Hose verloren und wurde in einem unzerreißbaren Drillichkittel eingesperrt. Oh, das war der Tiefpunkt; heute noch erschaudere ich, wenn ich daran denke, was ich durchgemacht haben muß, um die Dinge zu tun, die ich tat. So groß war meine Verzweiflung, mein Schmerz, das nackte teuflische Elend und Unglück meiner Vereinzelung, daß ich mir den Kittel vom Leib riß und meine eigenen Fäkalien dazu benutzte, meinen Namen an die Wand zu schreiben - meinen richtigen Namen, Spider, in feuchten braunen Klumpen quer über den Verputz gekleckst und geschmiert - und sehen Sie mich jetzt, nackt, zusammengekauert, wie ich die Wand angrinse, von der mein eigener Name in zwei Fuß hohen Buchstaben aus Scheiße tropft, und für ein paar kurze Minuten bin ich meine eigene Kreatur, nicht die ihre. Und sehen Sie dann, wie ich unsanft ins Badezimmer geschleppt werde, während meine Zelle mit heißem Wasser und starken Desinfektionsmitteln abgeschrubbt wird, in ihren Augen als Wahnsinniger bestätigt durch diese schmutzige Tat, in meinen eigenen Augen jedoch als das Gegenteil! Schlimme Tage also, obwohl ich, wie bereits gesagt, mit der Zeit lernte, das alte System der zwei Köpfe auszubauen und ihnen einen guten Verrückten zu präsentieren, wäh194
rend Spider unnahbar blieb. Das war zum Teil dem Tabak zu verdanken: in Ganderhill war Tabak eine der groben Streben, die die Männer dazu benutzten, ihren Tagen Form zu geben. Es gab eine Tabakspause nach dem Frühstück, und eine nach dem Abendessen, aus der Dose am Eingang der Station. Ich lernte bald, mich mit den anderen einzureihen, wenn sie sich für ihren Tabak anstellten, obwohl es nicht einmal so sehr der Tabak war, aus dem man die Freude schöpfte; es war seltsamerweise die Seltenheit des Zeugs, die Kläglichkeit der Morgenration, die einen so ungeduldig auf den Abend warten ließ (nachdem man bis zum Mittag alles aufgetaucht hatte), und dann war es das Aufbrauchen der Abendration, das einen in den langen schlaflosen Stunden der Nacht den Morgen herbeisehnen ließ. Die Freude lag in der Verzögerung, in der Erwartung; und auf diese Weise machten sie einen zu ihrer Kreatur, denn wenn man Arger machte, wurde einem der Tabak entzogen, und der ganze süße Rhythmus von Vorfreude und Befriedigung verschwand aus dem Tag; und wie trostlos und freudlos der Tag dann war. Und so war auch das Anlaß für mich, das alte System der zwei Köpfe auszubauen, denn wenn ich ihnen einen guten Verrückten gab, gaben sie mir Tabak, zweimal täglich, den ich horten oder rauchen konnte, ganz wie es mir gefiel. Nicht etwa, daß der Tabak bei allem geholfen hätte: Männer rannten immer noch mit dem Kopf gegen die Wand, bis sie bluteten, sie rissen sich die Nähte wieder auf, sie brannten sich mit Zigaretten Löcher ins Fleisch, sie stopften ihre Kittel in die Toilette und zogen ab, bis das Wasser die Zelle überflutete und durch den Gang lief Denn dies war eine Station der harten Bänke, und wir waren hier, weil mir versagt hatten; aber ich lernte, einen einen guten Verrückten zu geben, und an diesem Punkt angelangt, entschieden sie, daß ich jetzt soweit sei, Dr. Austin Marshall zu sehen. Die Unterredung dauerte nicht lange. Sie fand in seinem 195
Büro statt - er saß, ich stand, während Mr. Thomas hinter mir an der Tür lehnte. Auf dem Schreibtisch lag eine aufgeschlagene Akte; ich begriff, daß es meine Akte war; irgendwie war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen, daß ich eine Akte hatte. Er stocherte mit einem Streichholz in seiner Pfeife herum. »Du bist noch sehr jung, um schon so krank zu sein«, sagte er leise und sah mich an, die Pfeife in den Händen. »Wie kommst du auf der Station zurecht? « »Gut«, sagte ich. (Ich hatte gesagt bekommen, daß ich das sagen sollte.) »Sir«, sagte Mr. Thomas leise. »Sir«, sagte ich. »Hättest du Lust, es einmal unten zu versuchen, Dennis?« »Ja, Sir«, sagte ich. »Ja«, murmelte er, während sein Blick sich wieder auf meine Akte senkte. Dann: »Warum hast du es getan, Sohn? Irgendeine Vorstellung? « »Ich habe es nicht gewollt, Sir, es war ein Irrtum.« »Es tut dir also leid, daß du es getan hast?« »Ja, Sir.« »Hm, das ist wenigstens ein Anfang, was, Mr. Thomas? Es ist wenigstens ein Anfang.« »Ja, Sir«, sagte Mr. Thomas von der Tür her. »Ich nehme nicht an, daß du es noch einmal tun wirst«, sagte Dr. Austin Marshall. »Schließlich hat man ja nur eine Mutter.« Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an; ich hatte gesagt bekommen, daß ich auf gar keinen Fall sagen dürfte, was mein Vater getan hatte. Mr. Thomas räusperte sich - zur Erinnerung. Ich blieb stumm. Der Anstaltsleiter kritzelte eine Weile in meiner Akte herum und sagte dann mit energischer Stimme: »Also gut, versuchen wir es auf einer der unteren Stationen. Dann werden wir ja sehen, wie er sich macht. Block B, Mr. Thomas - kann ich die Einzelheiten Ihnen überlassen? « 196
»Ja, Sir.« »Sehr schön. Du kennst dich nicht zufällig in der Geschichte der christlichen Seefahrt aus, Dennis? Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte er, stand auf und deutete mit dem Stiel seiner Pfeife auf ein Ölgemälde einer Seeschlacht. Ich konnte nicht hinsehen, all der Rauch und das Blut, und schreiende Männer in einer brennenden See, und splitternde Masten, und Kanonen, die Feuer spuckten, ich konnte es hören, ich konnte es riechen, ich wollte nicht damit zu tun haben. »Nein, natürlich nicht«, sagte er. »Dabei solltest du, ein Junge, der wie du im East End aufgewachsen ist! Es ist die königliche Marine, die dieses Land groß gemacht hat, habe ich recht, Mr. Thomas? « »Völlig recht, Sir.« »Sehr schön. Also dann, raus mit dir, Dennis.« Und so gingen wir raus, und so fing mein erster Aufenthalt auf einer der unteren Stationen an. In den späteren Jahren merkte ich, daß es im allgemeinen der Wahrheit entsprach, daß man Dr. Austin Marshall nur dann zu sehen bekam, wenn man ihn am wenigsten brauchte. Komisch, was? Die Möwe hat sich auf den Pfählen im Fluß niedergelassen, und ich scheine unfähig, meine Augen von ihr zu lösen. Häßliche fette Kreatur mit ihren kleinen Knopfaugen und ihren schwimmhäutigen Füßen, jetzt hebt sie ihren krummen Schnabel und stößt einen krächzenden Schrei aus, man kann sich richtig vorstellen, wie dieser Schnabel einem ins Gesicht fährt, ein Auge herauspickt, als wäre es eine Muschel, und nur eine leere Höhle und eine blutüberströmte Wange zurückläßt - blutüberströmt reiß dich zusammen - verlier nicht die Nerven - Nervenkrankheit Geisteskrankheit - ich hasse Vögel. Das Wasser strudelt und schäumt jetzt um meine Pfähle, weiter draußen Schaumkronen, eine starke Strömung, würde einen glatt aufs Meer 197
hinausreißen wie ein Stück Treibholz, Tod durch Wasser, Tod durch Gas, Tod durch Hanf, Hanf, Hanf: ich hätten Horace aufhängen sollen. Horace - Horror! Horror Cleg! Horror und seine Schnepfe Hilda, sie hätten sie beide aufknüpfen sollen! Die Tower Bridge eine unbestimmte, graue Konstruktion aus Bleistiften und Bindfäden vor dem Hintergrund des schwindenden Lichts dieses windigen Nachmittags, langgezogene Streifen dunkelgrauer Wolken fegen über den westlichen Himmel, ein paar zerfetzte klaffende Risse dazwischen, durch die streifiges Licht fällt, ich auf meiner Bank, auf meinen Schirm gestützt, während der Wind mir Tropfen von Flußwasser ins Gesicht spuckt und die Möwe unter weiterem heiserem Geschrei und dem wirren Schlagen schmutziger Flügel von ihrem Pfahl auffliegt und mit dem Wind davonsegelt und mir die Möglichkeit gibt, aufzustehen und nach Hause zu schlurfen. Hinauf in mein Zimmer, ohne gesehen zu werden, und heraus mit dem Heft. Wie ein Fuchs, der alte Spider, denn als sie mein Seil und die Tabletten im Kamin fand, hat sie das Heft nicht gefunden: Ich war einfach zu clever für sie. Denn im Inneren des Rauchfangs, genau hinter dem Kaminsims, der über dem Heizgerät vorragt, befindet sich ein schmaler Sockel, ein Sims, und ich stelle das Heft auf diesen Sims und klemme es mit einem Ziegelstein fest. Es gibt nur eine Möglichkeit, es hervorzuholen, wenn es auf dem Sims festgeklemmt ist: flach auf den Rücken legen, den Kopf an das Heizgerät gepreßt, den Arm durch die Lücke stecken ' in den Kamin hinein, den Schornstein hinauf - ich recke mich, ich strecke mich - und meine Finger sind nur ganz knapp in der Lage, den Ziegelstein zu fassen und herunterzuheben, und das Heft fällt hinterher; und trotz der Papiertüte ist es inzwischen schmutziger denn je. Bleistifte: Diese habe ich mir im Haus zusammengestohlen, sie braucht nicht zu wissen, was ich im Schilde führe, und für die Bleistifte benutze ich das alte System von Ganderhill, die Socke 198
im Hosenbein. Also heraus mit dem Bleistift, das Heft aufgeschlagen, ein Blick aus dem Fenster in den Himmel hinauf, der jetzt dunkel ist, und im Geist zurück zu den alten Tagen. Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß das Leben auf einer unteren Station angenehmer war. Tabak und Bücher; ein Zimmer mit einer Tür; frische Luft draußen auf den Terrassen. Sie vor allem waren meine Freude. Es gab Bänke auf den Terrassen (mein Leben war eine Reise von Bank zu Bank, und es wird auf einer Bank mit einem Deckel enden!), von denen ich einen ungehinderten Blick auf den Gemüsegarten und den Kricketplatz hatte, und die Mauter weiter unten, und das Farmland dahinter, das in der Ferne ganz allmählich in bewaldete Hügel überging. Wenn der Wind aus südlicher Richtung kam, brachte er von der Farm den intensiven Geruch nach Mist mit, und auch daran hatte ich meine Freude. Für einen Jungen, der in der Kitchener Street aufgewachsen war, für den die Parzellen und die arbeitende Themse alles waren, was er an Natur kannte, war diese wogende Landschaft eine wahre Pracht. Und die Himmel, die sie mir gab! Meine Himmel waren die Himmel von London gewesen, aber diese hier waren blau, mit hohen weißen Wolken, die in majestätischen Karawanen darüber hinwegzogen, und mein Geist frohlockte, irgend etwas wurde in dem alten Spider geweckt, als er diesen Himmeln zum ersten Mal begegnete, und es ist immer noch da, schwach zwar, nur noch auf kleiner Flamme brennend, aber es ist da. Und ich erinnere mich daran, daß ich eines Tages auf der Rückseite von Block B auf einer Bank saß und die Männer beobachtete, die im Gemüsegarten arbeiteten, mit ihren flatternden gelben Cordhosen und ihren grünen Pullovern, und als ich wieder hineinging (sie gaben uns immer nur eine halbe Stunde auf der Terrasse), waren die Männer im Gemüsegarten immer noch draußen, und ich dachte: Das ist die richtige Arbeit für mich. 199
Es dauerte Jahre. Manchmal geriet ich in Erregung und machte eine Dummheit und mußte wieder nach oben. Immer war John Giles da, um mich zu begrüßen, obwohl sein Grinsen jetzt etwas Dümmliches an sich hatte, denn nachdem er einem Wärter das Ohr abgebissen hatte, hatten sie ihm sämtliche Zähne gezogen. John kam in all den zwanzig Jahren nur ein einziges Mal nach unten, selbst nachdem sie angefangen hatten, ihm Elektroschocks zu geben; er ist heute noch oben bei den harten Bänken. Aber ich war anders, ich lernte, ihnen einen guten Verrückten zu geben, und je mehr Zeit verging und je mehr Spider sein Leben in den hinteren Bereichen absicherte, desto unwichtiger wurde es, meine Ansprüche auf der Station zu behaupten. Die Sticheleien wurden seltener, die Erregung ließ nach, und ich verbrachte immer längere Perioden unten. Ich saß auf der Terrasse und beobachtete die Männer im Gemüsegarten und dachte: Das ist die richtige Arbeit für mich. Ja, es war die richtige Arbeit für mich. Lieber Gott, fangen sie schon wieder an? Sind sie es, schon wieder, die mich mit ihren Stimmen aus der Glühbirne anknistern? Und dabei habe ich gedacht, ich würde noch so eine Nacht nicht durchstehen. Ich betrachte meine Finger - sie scheinen so weit von mir entfernt zu sein, im ersten Augenblick denke ich, daß es eine Art Krebs ist, was ich da auf der offenen Seite liegen sehe, ein gelber Krebs mit hornigen Kneifern, eine Kreatur, die nichts mit mir zu tun hat. Ich folge ihr meinen Arm hinauf bis zu meiner Schulter, ich muß das tun, um mich zu vergewissern, daß dieses Ding ein Teil von mir ist, oder doch zumindest verbunden mit diesem zusammengestückelten, diesem lose miteinander verknüpften und sich allmählich auflösenden Gewebe aus Knorpel, Hülse und Knochen. Denn ich bin jetzt fast leer, der widerliche Geschmack in meinem Mund bezeugt dies, und natürlich der Geruch nach Gas, und ich frage mich (solche Gedanken habe ich in der Nacht), was sie finden werden, wenn sie 200
mich nach meinem Tod aufschneiden (falls ich nicht jetzt schon tot bin)? Eine anatomische Monstrosität, das ist einmal sicher: Mein Dünndarm ist fest um den unteren Teil meines Rückgrats gewickelt und kriecht als straffe, eng anliegende Spirale nach oben, um etwa auf halber Höhe in den Dickdarm überzugehen, der sich um mein oberes Rückgrat windet wie eine Boa Constrictor, während das Rektum durch meinen Schädel verläuft und der Anus in meiner Schädeldecke mündet, wo zwischen den Knochen, die oben auf meinem Schädel zusammentreffen, eine Öffnung geschaffen wurde, die ich ständig in verwundertern Entsetzen befingere, eine Art ausgewachsene exkretorische Fontanelle (meine Haare wären völlig verfilzt und übelriechend, wenn der gnädige Regen nicht wäre, der mich täglich reinigt). Seit dies eintrat (spät in der Nacht irgendwann zu Anfang der Woche), habe ich versucht, nichts mehr zu essen, denn die Bewegung von Materie durch Gedärme ist mir jetzt schmerzhaft gegenwärtig, eine Serie krampfartiger Zuckungen, so als krieche ein Wurm rund um mein Rückgrat. Andere Organe wurden gegen mein Skelett gepreßt, um im Rumpf meines Körpers einen Hohlraum zu schaffen, eine Leere, und ich weiß noch nicht, aus welchem Grund das so ist. Eine meiner Lungen ist verschwunden; in der anderen lebt ein Wurm, aber zum Glück kann ich immer noch rauchen. Eine dünne Röhre nimmt Wasser aus meinem Magen auf (der platt gequetscht und zwischen meine Rippen gezwängt ist), und diese Röhre führt als einzige durch den Hohlraum nach unten zu dem Ding zwischen meinen Beinen, das kaum noch einem voll ausgebildeten männlichen Organ ähnelt. In meinem Inneren verrotten Substanzen, die kompostierenden Überreste von Organen, die ich nicht mehr brauche, und weil die Gerüche, die bei diesem Prozeß freigesetzt werden, angefangen haben, durch die Poren meiner Haut (meiner Haut! meiner Hülse! meiner Schale, meiner Rinde!) zu sickern, habe ich 201
meinen Oberkörper und meine Gliedmaßen mit Zeitungspapier und Wellpappe umwickelt und mit Schnur, Klebestreifen oder Gummibändern befestigt, je nachdem, was ich im Haus stehlen konnte. All das, all das sind Dinge, mit denen ich leben kann; was jedoch an mir zehrt, ist der Gedanke, daß mein Körper auf irgendetwas vorbereitet wird, daß ich sozusagen innerlich evakuiert werde, um Platz zu schaffen für etwas anderes: Und während ich diese Worte schreibe, während ich eine zittrige Linie darunter ziehe, dringt plötzlich ein lautes Gackern aus der Glühbirne, und oben auf dem Dachboden ist eine Salve von Gestampfe zu hören, die die Wände erzittern und die Glühbirne an ihrem Kabel hin und her pendeln läßt, und ich sitze in panischer Angst an meinem Tisch, klammere mich mit beiden Händen an ihm fest, während die hin und her pendelnde Birne das Zimmer in wild schaukelnde Blöcke aus Licht und Schatten zerteilt. Es geht in ein Flackern und Knistern über, und ich stehe vom Tisch auf, ich muß das Zimmer verlassen, und sei es nur für fünf Minuten. Ich schlurfe zur Tür, und von oben ertönt ein unheilvolles Heulen, als ich die Hand auf den Türgriff lege und ihn drehe, aber ihren Zorn kann ich ertragen, wenigstens für kurze Zeit. Über den dunklen Treppenabsatz zum Bad, wo ich vor der Toilette stehenbleibe und mit zitternden Fingern meine Hose aufknöpfe. Ein kleines, röhrenartiges Ding wie etwas, was in den Werkzeugkasten eines Klempners gehört, schiebt sich vor und fängt an, winzige schwarze Spinnen in die Schüssel zu urinieren, wo sie sich zu kleinen Pünktchen zusammenrollen, die auf dem Wasser treiben. Ich scheine von Schädlingen befallen zu sein; ich scheine eine Kolonie von Spinnen zu beherbergen; ich scheine ein Eierbeutel zu sein. Wieder in meinem Zimmer, stehe ich am Tisch, stütze die Hände auf die Tischplatte und blicke hinunter auf die blätterlosen Bäume im Park unter mir. Nur ganz schwach 202
vom Schein der Straßenlampe erhellt, zeichnen sich ihre fingerartigen Zweige vor dem Hintergrund der Dunkelheit als blasses Geflecht ab. Der Nachthimmel ist wolkig, es gibt keinen Mond. Nichts bewegt sich dort draußen. Unter dem Geraschel von Zeitungspapier und Pappe sinke ich auf meinen Stuhl und nehme meinen Bleistift in die Hand. Ich hatte geglaubt, keine weitere derartige Nacht durchstehen zu müssen; in dieser, wie in jeder anderen Hinsicht habe ich mich getäuscht, ich belüge mich selbst, wenn ich mir sage, daß ich frei bin, Kontrolle habe, handeln kann. Es ist nicht so. Ich bin ihre Kreatur. Das ist die richtige Arbeit für mich, hatte ich gedacht, als ich die Männer im Gemüsegarten sah. Nach zahllosen Anfragen bekam ich meine Chance, und ich enttäuschte sie nicht. Inzwischen hatte ich fast zehn Jahre in Ganderhill verbracht und war eine allseits bekannte Gestalt. Ich hatte ein Zimmer in Block F und ein paar legale Besitztümer (auch ein paar illegale, hier oder da in irgendeinem Loch versteckt). Ich hatte es gut, ich hatte meine Nische gefunden; ich war als einzelgängerisch bekannt, obwohl ich andererseits eine Art Freundschaft mit Derek Shadwell pflegte, einen Mann aus Nigeria, der, genau wie ich, fälschlicherweise beschuldigt wurde, seine Mutter umgebracht zu haben; Derek und ich spielten jeden Abend im Aufenthaltsraum Billard. Ich kam mit den Wärtern gut aus und wurde mit schöner Regelmäßigkeit auf der Terrasse von Dr. Austin Marshall begrüßt. In gewisser Weise war es der Höhepunkt meiner Laufbahn in Ganderhill, einen Platz in der Arbeitsgruppe im Gemüsegarten beanspruchen zu können; und ich war sicher, daß ich mit Hilfe der Dinge, die mein Vater mir als Junge beigebracht hatte, durchaus dazu in der Lage sein würde, alles zu tun, was dort von mir verlangt wurde. Am östlichen Rand einer der Terrassen führte eine stei203
nerne Treppe hinunter zu einem einsam gelegenen Stück Land etwa von der Größe eines Fußballplatzes, das auf der einen Seite von der Außenmauer begrenzt wurde, in deren Schatten eine alte Ulme wuchs. Der Mauer genau gegenüber, auf der Südseite, führte eine weitere Treppe einen kleinen Hang hinunter, an dessen Fuß der Kricketplatz lag, während im Norden ein steil ansteigender Pfad durch ein Gestrüpp aus Büschen und Bäumen zu den höhergelegenen Terrassen führte. Es hatte etwas Herrenloses und Verlorenes an sich, dieses einsame Stück Land, und war früher einmal ein Teegarten gewesen, denn immer noch standen ein paar altmodische Gartenmöbel - zwei Korbstühle, ein schmiedeeiserner Tisch - vor sich hinmodernd und rostend unter der Ulme. Anderswo wuchsen Unkraut und Gras, und da es Oktober war, hatten sich an der Mauer Berge von Herbstlaub in feuchtmodrigen Verwehungen angesammelt, zwischen denen Kolonien getüpfelter Giftpilze hochgeschossen waren. In der Nähe der Mauer, am Fuß des bewaldeten Hangs, lag ein unansehnlicher Haufe aus alten Brettern und toten Zweigen. An meinem ersten Vormittag im Garten erhielt ich die Aufgabe, dieses Gelände für die Aussaat im Frühling vorzubereiten. Ich hatte eine Schubkarre und eine Forke; falls nötig, gab es im Schuppen Spaten und Hacken. Ich machte mich an die Arbeit. Ich war damals jünger, ich war kräftig, ich konnte schwere Äste auf die Schubkarre hieven, sie an die Treppe fahren und sie dann hinauf zu dem Stapel hinter dem Schuppen schleppen. Es war eine windige Ecke, und obwohl die Arbeit mich wärmte, behielt ich meine Jacke an und den Pullover hochgeschlagen. Außerdem hatte ich eine gelbe Cordhose bekommen, schwarze Stiefel, und einen grünen Pullover. Ich brauchte einen ganzen Tag, um die Äste wegzuschaffen und mit dem Herbstlaub wenigstens anzufangen; die Arbeit ermüdete mich, aber sie machte mich auch froh, und als ich eine kurze Pau204
se einlegte, um eine zu rauchen, stützte ich mich auf die Forke, ließ meinen Blick über die Landschaft schweifen und fühlte mich mit mir und der Welt in Einklang. Vorher hatte ich in der Werkstatt von Ganderhill gearbeitet, wo ich gemeinsam mit Derek Shadwell den ganzen Tag über Paletten zusammengenagelt hatte, und dort gab es nichts als ein kleines, vergittertes Fenster mit Blick auf eine Mauer, und nur das bißchen Licht, das eine staubige knisternde Neonröhre von sich gab. Ich kam mit dem Herbstlaub gut voran, schob eine Schubkarre nach der anderen den Hang hinauf und über die Terrasse zum Komposthaufen, der bedeutend größer war als der meines Vaters, denn er nahm die organischen Abfälle der ganzen Anstalt auf. Auf diesen Fahrten mit meiner Schubkarre kam ich an den anderen Männern der Arbeitsgruppe vorbei, die vielleicht sagten: »Na, alles in Ordnung, Dennis?« oder »Immer mit der Ruhe, Dennis«, und ich sagte: »Alles in Ordnung, Jimmy«, oder was auch immer. Als ich die Blätter und Aste weggeschafft hatte, fing ich an, das Unkraut zu schneiden, und als das getan war, grub ich mit Hilfe einer Hacke die Wurzeln aus. Am dritten oder vierten Nachmittag, als ich gerade eine Fuhre mit Unkraut und Wurzeln auf den Kompost gekippt hatte und meine leere Schubkarre über den Pfad zum Schuppen schob, sah ich plötzlich eine zierliche Gestalt in einem schwarzen Mantel und mit einem Tuch auf dem Kopf mit dem Rücken zu mir am oberen Ende der Treppe stehen; aber kaum daß ich sie gesehen hatte, glitt sie auch schon die Treppe hinunter und verschwand. Ich blieb wie angewurzelt stehen und ließ die Griffe meiner Schubkarre los. Ich hatte nicht damit gerechnet, sie zu sehen, nicht nach so langer Zeit, nicht nachdem ich so oft enttäuscht worden war. Ich rannte am Schuppen vorbei zur Treppe und starrte hinunter in den Teegarten. Er lag schon im Schatten, denn es war nach fünf und die Sonne stand be205
reits tief am Himmel. Ich blieb oben an der Treppe stehen rechts und links von mir eine gedrungene, steinerne Säule mit einer steinernen Kugel obendrauf - und suchte das Gelände mit den Blicken ab. Da! Neben dem wirren Haufen aus Ästen und Brettern in der hinteren Ecke - da hatte ich doch für einen kurzen Augenblick eine Gestalt durch die Dämmerung gleiten sehen, oder? Ich rannte die Stufen hinunter, und dann quer über das Gelände; und als ich die Mauer erreicht hatte, starrte ich mit zusammengekniffenen Augen den bewaldeten Hang hinauf, der zu den höher gelegenen Terrassen führte. Hatte ich sie gesehen? Ich kletterte den Hang hinauf, Zweige und trockene Äste knackten unter meinen Stiefeln. Auf halbem Weg blieb ich stehen und sah mich mit wilden Augen um: Eine tiefe Stille hing über den Bäumen, und es war zu dunkel, um deutlich sehen zu können. Mehrere Minuten stand ich dort, ohne ein Geräusch oder eine Bewegung; dann ging ich zurück zum Teegarten, der in der schnell einbrechenden Dunkelheit verlassener wirkte denn je. Meine erste Aufregung hatte sich ein wenig gelegt und einem vagen Prickeln der Vorfreude Platz gemacht, einem Gefühl, daß soeben etwas Bedeutsames in Gang gesetzt worden war. Ich ging durch den Garten zurück und die Treppe hinauf, und sammelte unterwegs meine Gerätschaften ein und brachte sie in den Schuppen, bevor ich zusammen mit den anderen Männern in den Block F zurückkehrte. Ab, sie quälte mich, so wie sie mich quälen. Hören Sie! Wahrscheinlich bin ich verdammt und winde mich schon in der Hölle, daß ich das alles ertragen muß, wahrscheinlich bin ich schon tot, tot und dahin, und diese meine umwickelte Leiche wird nur noch belebt von irgendeinem seltsamen, abwegigen, unnatürlichen Hauch von Geisterarten, daß ich das alles ertragen muß! Und ja, sie quälte mich: In den Monaten und Jahren, die nun folgten, erhaschte ich bei zahllosen Gelegenheiten einen Blick, so flüchtig, so quä206
lend wie der, den ich eben beschrieben habe - auf ihre kleine schmale Gestalt in Mantel und Kopftuch, die Handtasche fest umklammert, wie sie, zum Beispiel, im gefleckten Schatten der Ulme an der Mauer stand, an einem Sommernachmittag, den Kopf abgewandt, während ich in einem Beet mit Kohlköpfen oder Kopfsalat oder Frühlingszwiebeln kniete, und ich ließ meinen Ausheber fallen, sprang auf und rannte einen Augenblick später quer durch die Gemüsereihen (wobei ich in meinem Wahn jedesmal dachte, dieses Mal, dieses Mal) - und fand jedes Mal nur ein spöttisches Spiel von Licht und Schatten, verursachte von den Sonnenstrahlen, die durch den Baldachin der Blätter über meinem Kopf sickerten. Es gab einen Sommer, wie ich mich erinnere, in dem ihre Gegenwart ganz besonders lebhaft war, in dem ich sie fast jeden Tag sah, und ich hörte sie sogar meinen Namen rufen, wenn ich allein im Garten arbeitete, hörte sie »Spider! Spider!« flüstern und ich wirbelte herum, zu nichts, zu niemand, Stille. Aber spät in jenem Sommer - es muß September gewesen sein, wir hatten einen der besten Sommer seit Menschengedenken hinter uns, und Ganderhill hatte so viel frisches Gemüse geerntet, daß wir es sogar an die benachbarten Dörfer verkaufen konnten - spät in jenem Sommer gab es eine Reihe von Nachmittagen, an denen ich von der Terrasse aus nach Süden blickte und der Himmel verwandelt war: Ein blaugoldenes Licht von außergewöhnlicher Intensität, ein großer breiter Streifen aus reinem Glanz, der seinen Ursprung in einem Punkt genau südlich von mir hatte und sich über den ganzen Himmel ausbreitete, ungefähr ein Sechstel bis ein Viertel des Horizonts ausfüllte und sich so hoch hinauf erstreckte, wie das Auge reichte - und da verstand ich etwas, in meinem Staunen über die schiere Pracht und Herrlichkeit dieses Anblicks verstand ich etwas über das Wesen der Gegenwart meiner 207
Mutter in Ganderhill. Und es war traurig, daß diese Einsicht mir später, im späten Herbst und Winter dieses Jahres, als sie in den Schatten verharrte und sich nur in der Dämmerung zeigte, wieder abhanden kam, und ich wieder Enttäuschung und manchmal zornige Ungeduld darüber empfand, daß sie mich immer noch auf diese Weise neckte und quälte. Und doch war mir ihre geisterhafte Gegenwart immer noch lieber als gar nichts. Das also waren die Jahre, die ich die guten Jahre nenne, die Jahre, in denen Spider mit sich und der Welt in Einklang war. An den Abenden spielte ich Billard mit Derek Shadwell, und später (Derek starb in Ganderhill) mit Frank Tremble. Ich las die Taschenbücher, die in Block F von Hand zu Hand gingen, sehr selten eine Zeitung, fast nie hörte ich Radio (anscheinend fanden während meiner frühen Jahre in Ganderhill große Ereignisse statt, aber ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben). Ich hütete die Gegenwart meiner Mutter in meinem Inneren, in den hinteren Bereichen, wo ich sie immer gehütet hatte, und sagte zu niemand ein Wort davon, nicht einmal zu Derek, als er noch lebte. Ich wurde ein guter Gärtner, und da frisches Gemüse in Ganderhill eine seltene und geschätzte Ware war, trug die Tatsache, daß ich dazu Zugang hatte, viel zu meinem Ansehen in der Anstalt bei. Dr. Austin Marshall behandelte mich weiterhin mit leutseliger Wärme und erinnerte sich fast immer an meinen Namen, wenn er mit seinem Stock über die Terrasse gehumpelt kam. Oft hatte er seine Hunde bei sich, zwei große irische Setter mit glänzendem Fell, denen gegenüber ich eine Zuneigung an den Tag legte, die ich nicht empfand; mehr als einmal malte ich mir mit einigem Vergnügen aus, was John Giles mit ihnen anstellen würde, wenn er mit dem Anstaltsleiter fertig war. (Sehen Sie mich jetzt draußen auf dem Treppenabsatz stehen, beide Hände auf dem Griff der Tür zur Treppe zum Dachboden, und schluchzend daran rütteln, während ihr 208
Lachen in meinen Ohren gellt und heult, sinnlos natürlich, sie ist natürlich abgeschlossen, und sehen Sie, wie ich an meinen Tisch zurückschlurfe, wo ich, steif knisternd, auf meinen Stuhl sinke und nach dem Tabak greife, um mir eine Dicke zu drehen, ich brauche sie. Es läßt etwas nach, als ich mir mit zitternden Fingern Feuer gebe und einen guten rauhen Mundvoll Rauch einatme, spüre, wie er durch die Röhre hinuntergesaugt wird, das Grauen eindämmt und sich in dicken wolkigen Wirbeln und Kräuseln in meiner einen verbleibenden Lunge ausbreitet, in deren unterem Teil ein Wurm liegt und schläft, die Segmente seines plumpen weißen Körpers kreisförmig übereinander gelagert. Rauch füllt den Sack, wird absorbiert von grauem schwammigem Gewebe, wird aufgenommen in ein System von zarten spitzenartigen Fäserchen, deren gegabelte Leitungen (immer noch) die breiige innere Fläche meiner Rinde überziehen, und dann weiter in Schädel und Hirn. Wenn man eine geraucht hat, sieht nichts mehr so trostlos aus wie vorher.) Jeden Nachmittag gegen vier Uhr versammelten wir uns im Schuppen, um unseren Tee zu trinken, wir, das ist das halbe Dutzend Männer, die im Gemüsegarten arbeiteten, und Fred Sims, unser Wärter. Sims war ein ruhiger Mann, bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er uns sämtliche Neuigkeiten überbrachte. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er uns erzählte, daß unser Anstaltsleiter in Pension gehen würde. Der Regen prasselte auf das Dach des Schuppens, wir saßen drinnen auf hölzernen Kisten, wir in unseren gelben Cordhosen, er in seiner schwarzen Uniform mit der Schirmmütze, und die Tür stand offen. Unbehagliches Füßescharren, als wir diese Neuigkeit hörten; Männer in unserer Lage halten nicht viel von Veränderungen. »In Pension?« fragte Frank Tremble. »Unser Dr. Austin Marshall? « Sims nickte, den Blick auf den Boden gerichtet, während 209
er einen Tabakkrümel von seiner Zunge zupfte. Mehr Füßescharren. »Wieso, Fred?« Er zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Schultern. »Zu alt, sie wollen einen jüngeren Mann.« »Einen jüngeren Mann, aha. « Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf. Oben waren seine Haare schon sehr dünn. »Sieht so aus, als hätten sie schon einen«, sagte er. »Und was ist das für einer, Fred? « »Ein Dr. Jebb, aus London.« »Jebb«, sagte Frank. »Nie von ihm gehört«, sagte Jimmy. »Wie ist er denn so?« »Er hat neue Ideen«, sagte Sims. Ein sehr unbehagliches Schweigen an dieser Stelle, ausgiebiges Scharren von Stiefeln auf Bodenbrettern. Im Halbdunkel um uns herum hingen die Geräte an Nägeln an den Wänden, Spaten, Rechen, Forken, Hacken, Ausheber, Scheren, Picken. Auf dem Boden zerbeulte Gießkannen, Stapel von Blumentöpfen und Holzkisten. Regale mit Markierungszetteln, die mit Gummiband zusammengehalten wurden, flache Kisten für Setzlinge, zusammengerollte Schläuche, Schnurknäuel, Messer, Bleistifte, Löffel, Scheren, zusammengerollte Netze, alte Zeitungen. Intensiver Geruch nach Erde und Feuchtigkeit. Draußen der stete Fall des Regens. »Neue Ideen?« sagte Jimmy. »Dann sieht es ja so aus, als wärst du deinen Job bald los, Fred.« Darüber mußten wir alle lachen, aber trotzdem keimte an diesem Nachmittag in uns allen die Saat der Angst, denn keiner von uns wollte eine Veränderung, nicht Frank nicht Jimmy, nicht Sims, nicht ich. (Derek lebte natürlich nicht lange genug, um die Veränderungen mitzubekommen, die Dr. Jebb einführte, und das war ein Glück für ihn. Ich weiß noch, daß er einmal zu mir sagte, seine Mutter müßte jedesmal, wenn er eine Ziga210
rette rauchte, mit einem Matrosen schlafen. Armer alter Derek, seine Mutter war tot, was ich aber selbstverständlich nicht sagte. Wir spielten gerade Billard, als er es mir erzählte, und das schlimmste daran war, sagte er, während er gleichzeitig eine absolute Kanone abschoß und die rote Kugel versenkte, daß er in letzter Zeit mehr rauchte als je zuvor! Ich glaube, das könnte der Grund gewesen sein, der ihn dazu trieb, es schließlich zu tun.) Nach dem Sommer des prachtvollen Lichts, wie ich ihn für mich nannte, wurde die Phantomgegenwart meiner Mutter in Ganderhill immer seltener. Jener Sommer war in dieser Hinsicht der Höhepunkt, die Kulmination, und es gab sogar eine Zeit - ein paar Tage, nicht mehr -, in der sogar das Wetter der Kontrolle meiner Gedanken und Handlungen unterlag. Es waren erregende Tage, aber die Anstrengung, die damit verbunden war, das prachtvolle Licht zu erhalten, erwies sich am Ende als zuviel für mich, und so ließ ich es langsam von mir fortgleiten. Von da an wurden ihre Erscheinungen, wie ich bereits sagte, immer flüchtiger und unregelmäßiger, und in den letzten Jahren sah ich sie nicht häufiger als vielleicht drei oder vier Mal, und immer in der Dämmerung, in der Nähe des alten Teegartens, der jetzt mit Kohl, Frühlingszwiebeln und Kartoffeln bepflanzt war und an dessen Südseite ein Klettergerüst für Gurken stand. Eines Tages erfuhren wir von Sims, daß Dr. Austin Marshall sein Büro ausgeräumt und Ganderhill verlassen hatte. Im Club der Mitarbeiter hatte eine Abschiedsfeier stattgefunden, bei der ihm ein wunderschöner Rollstuhl überreicht wurde, der in der Werkstatt von Ganderhill extra für ihn angefertigt worden war, denn anscheinend war sein Bein inzwischen so schlimm geworden, daß es ihm ganz unmöglich war, sich zu bewegen. Es gab Ansprachen, und alle waren sehr gerührt. Es wurde sogar von einer Ritterschaft auf der Ehrenliste für das nächste Jahr gesprochen. 211
Danach folgte eine atemlose Pause in Ganderhill, in der wir den weiteren Entwicklungen voller Spannung entgegensahen. Die Neuigkeiten, die Sims uns überbrachte, waren abwechselnd alarmierend und beruhigend. Angeblich hatte Jebb die Absicht, zusätzliche Psychiater einzustellen. Andererseits wurde unsere Tabakration großzügig erhöht. Sims' Haltung dem neuen Leiter gegenüber war vorsichtig und abwägend, und das war meine auch. An einem Morgen gegen Ende Juni wurde ich in sein Büro gerufen. Ich hatte den Mann schon auf den Terrassen gesehen, wenn auch nur aus der Ferne; anders als sein Vorgänger war er kein Typ für Tweedanzüge, Hunde, herzliche Leutseligkeit. Nein, Jebb stürmte in einer turbulenten Wolke aus Zielstrebigkeit und Tatkraft durch die Anstalt, was dazu führte, daß meine düsteren Vorahnungen noch düsterer wurden; er trug einen dunklen Anzug. Ich saß auf einem einfachen Holzstuhl vor seinem Büro, mit schmutzigen Fingernägeln und in meiner gelben Cordhose: ich war direkt aus dem Gemüsegarten hergekommen. Dreißig Minuten saß ich dort auf dem Flur, ohne zu rauchen, und schließlich ging die Tür auf, und eine Gruppe von Wärtern kam mit sehr ernsten Gesichtern herausgeschlurft. Dr. Jebb warf mir von der Tür einen schnellen Blick zu. »Es dauert nur noch eine Minute«, sagte er, ging wieder hinein und machte die Tür zu. Fünfzehn Minuten später rief er mich herein. Der erste Schock: Er forderte mich auf, mich zu setzen, warf einen stirnrunzelnden Blick in meine Akte, hob den Kopf, nahm seine Brille ab - und ich sah in Augen, die genau dasselbe kalte Blau hatten wie die meines Vaters! Ich drückte mich tiefer in meinen Stuhl (einen harten Holzstuhl). Er hatte die gleichen Haare wie mein Vater, schwarz, glatt und ölig, aus einer schmalen Stirn glatt nach hinten gekämmt, aber an den Schläfen etwas gewellt: er fuhr sich häufig mit der Hand durch diese Haare, wenn er die Stirn 212
runzelte. Die gleiche schmale Nase, der gleiche bleistiftdünne Schnurrbart, der säuberlich gestutzt die Oberlippe einrahmte, die gleiche drahtige Figur und die gleiche Haltung unterdrückter explosiver Energie: Was für ein böser Scherz war das nun schon wieder? »Sie sind«, sagte er ohne Einleitung, und ich stellte mit Erleichterung fest, daß wenigstens seine Stimme seine eigene war, »seit wann in Ganderhill? « Ich rutschte auf meinem Stuhl herum und räusperte mich. Aber alles, was ich hervorzubringen vermochte, war eine Art hilfloses Krächzen. Er runzelte die Stirn. »Seit fast zwanzig Jahren, Mr. Cleg. Sie waren bei Ihrer Einlieferung hochgradig gestört« - hier setzte er seine Brille wieder auf und las aus der Akte ab »>negativistisch - verschlossen unkooperativ - aggressiv.< Sie haben sich jedoch relativ schnell eingewöhnt, Sie haben Freundschaften geschlossen, Sie waren ein zuverlässiger Arbeiter, und in den letzten zehn Jahren hatten Sie eine Vertrauensstellung im Gemüsegarten inne, ein Vertrauen, das Sie nicht enttäuscht haben. « Er nahm seine Brille wieder ab und sah mich mit diesen so vertrauten, eisigen Augen an. »Was würden Sie davon halten, es mit einem Leben draußen zu versuchen? « Genau das war es, was ich befürchtet hatte. Trotzdem hatte ich keine Antwort parat. Ich rutschte unruhig hin und her, ich sah aus dem Fenster, ich sah auf die Wände: Zum Glück waren die Seeschlachten verschwunden. »Nun?« sagte Dr. Jebb und tippte mit der Spitze eines Bleistifts auf den Schreibtisch: tip tip tip tip tip. Ich sagte kein Wort, ich krümmte und wand mich vor Verwirrung und Angst. »Mr. Cleg«, sagte er, und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand die Augen. »Lassen Sie mich sehen, ob ich erraten kann, was Sie denken. Einerseits« - er hörte auf, sich die Augen zu reiben, hob den Blick an die Decke, legte die Fingerspitzen wie im Gebet aneinander und stützte das Kinn darauf - »einerseits 213
haben Sie Angst davor, Ganderhill zu verlassen. Sie haben hier Freunde, einen festen Tagesablauf, Arbeit« - er fing an, die Vorzüge, die ich genoß, an seinen Fingern abzuzählen »eine gewisse« - hier zog er die Augenbrauen hoch, vermittelte Ironie »Vorrangstellung innerhalb der Patientengemeinschaft, und Sie sind durch und durch mit den Abläufen des Krankenhauses vertraut.« (jetzt war es also ein Krankenhaus, aha.) »All das zu verlassen - eine unbekannte Welt zu betreten - ist natürlich bedroht, Sie ahnen die Schwierigkeiten, die Gefahren, die vor Ihnen liegen - und Sie haben recht, natürlich wird es Schwierigkeiten geben, Ihre Befürchtungen sind durchaus verständlich.« Er legte die Hände flach auf den Tisch und sah mich verständnisvoll an. Meine eigenen Hände benahmen sich überaus merkwürdig, sie schienen sich zu verdrehen, an den Handgelenken zu rotieren, sich von innen nach außen zu kehren: Ich klemmte sie zwischen meine Oberschenkel und hielt mich trostsuchend an meiner Socke fest. »Andererseits«, sagte Dr. Jebb, »stellen Sie sich natürlich vor, wie ein Leben außerhalb von Ganderhill aussehen muß - ohne verschlossene Türen und hohe Mauern. Sie stellen sich vor, wie es sein muß, abends ein Glas Bier zu trinken, Frauen kennenzulernen. Diese Aussicht trägt einiges dazu bei, Ihre Befürchtungen zu mindern. « (Bier trinken? Frauen kennenlernen?) »Das Ganze ist, da stimme ich Ihnen zu, ein Dilemma. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich mir dessen nicht bewußt bin. « Offensichtlich wurde an dieser Stelle eine Reaktion von mir erwartet, aber ich konnte nichts sagen, ohne eine zu rauchen, und ich konnte nicht rauchen, ohne erst etwas zu sagen. Nach ein paar unbehaglichen Augenblicken war er es, der aufs neue das Wort ergriff. »Mr. Cleg, lassen Sie mich sehen, ob ich Ihren Lebensweg hier bei uns zusammenfassen kann. Als Sie damals nach Ganderhill kamen, waren Sie ein sehr kranker Junge; Sie legten fast alle Symptome einer klassischen Schizophrenie an den Tag. Sie hat214
ten ausgeprägte, optische, akustische und Geruchshalluzinationen; Ihre affektiven Reaktionen waren auf bizarre Weise unangemessen; Sie hatten ausgeprägte körperliche Wahnvorstellungen, Sie waren regressiv, Sie litten unter Verfolgungswahn und glaubten sich unter dem Einfluß fremder Gedanken. « Er sah in meine Akte. »Auf der Station waren Sie aggressiv und mußten häufig unter Bewegungseinschränkung in einem sicheren Zimmer isoliert werden. Sie waren sich weder Ihrer Umgebung bewußt, noch wußten Sie, weshalb Sie nach Ganderhill gebracht worden waren. Ich will damit sagen«, sagte er, und klappte meine Akte zu, »daß all das sich geändert hat. « »Geändert«, murmelte ich. »Geändert«, sagte er. »Sie haben in den letzten zehn Jahren ein ständig zunehmendes Maß an Verantwortung für Ihr eigenes Leben übernommen. Das Krankenhausmilieu hat Forderungen an Sie gestellt, Mr. Cleg, Forderungen, die die Bereiche Körperpflege, Pünktlichkeit, Leistung, soziales Verhalten und Kooperation betreffen; diese Forderungen wurden von Ihnen erfüllt. Ihre Therapie war in Ihrer täglichen Routine bestehend aus Pflichten und Kontakten enthalten: Es gibt nichts mehr, was wir noch für Sie tun könnten.« »Nichts mehr«, sagte ich leise. »Ich brauche Ihr Bett, Mr. Cleg.« Mein Bett! »Ganderhill ist überbelegt, und ich bin der Meinung, daß Sie gesund genug sind, uns verlassen zu können. Gibt es irgendeinen Grund, der dagegen spricht, Sie zu entlassen und einer offenen Pflege zu überantworten?« »Ja!« schrie ich plötzlich, obwohl ich das gar nicht gewollt hatte; erschrocken über meine eigene Kühnheit verstummte ich wieder. »Und der wäre? « Schweigen. 215
»Und der wäre, Mr. Cleg? « Nichts. »Mr. Cleg, haben Sie vielleicht Zweifel an Ihrer Fähigkeit, innerhalb der Gesellschaft adäquat funktionieren zu können? Ist das das Problem? « Immer noch nichts. »Vielleicht wäre es an der Zeit, über Ihre Mutter zu sprechen.« »Meine Mutter geht Sie überhaupt nichts an!« schrie ich »Ah, das ist es also. Sie geht mich nichts an. « Er nahm seine Brille ab; ein Lächeln spielte um seine schmalen blutlosen Lippen, ein Lächeln, das ich aus meiner Kindheit kannte, ein Lächeln, das nichts Gutes für mich verhieß. »Mr. Cleg«, sagte er, plötzlich ernst und streng, »ich bin Ihr verantwortlicher medizinischer Betreuer. Nichts, was Sie etwas angeht, geht mich nichts an.« Als ich wieder in den Gemüsegarten kam, wollten die anderen Männer gerade zum Essen hineingehen, und ich ging mit ihnen. Im Speisesaal verhielt ich mich still und stumm, und sie ließen mich in Ruhe. Ungefähr um halb drei ließ ich meine Arbeit (die darin bestand, Gartenabfälle zu verbrennen) einfach liegen und ging in den Schuppen. Ich machte die Tür hinter mir zu, setzte mich auf eine Kiste und schlitzte mir mit dem Messer, das wir dazu benutzten, die Augen aus den Setzkartoffeln zu schneiden, die Pulsadern auf. Zwanzig Minuten später fand mich Fred Sims, während mein Blut immer noch in einen Blumentopf voller Erde tropfte. Ich wurde in der Ambulanz genäht, und als es Zeit zum Abendessen war, befand ich mich wieder einmal unter strenger Beobachtung in einem unzerreißbaren Kittel in einem sicheren Zimmer auf einer Station der harten Bänke. Ich schrieb weiter, weiter durch die langen, langsamen Stunden der Nacht. Ich rauchte eine Dünne nach der anderen, zündete jede an der Kippe der vorherigen an. Der 216
Wurm in meiner Lunge wurde nicht wach, vermutlich weil ich so viel rauchte. Sporadische Ausbrüche auf dem Dachboden, nichts, was ich nicht schon vorher durchgemacht hätte. Ich achtete sehr aufmerksam auf die Empfindungen im Hohlraum im Inneren meines Körpers, denn ich hatte jetzt allen Grund zu der Annahme, daß er von Spinnen befallen war. Ich stellte mir netzartige Konstruktionen vor, die in der Dunkelheit glitzerten, feuchte, seidene Spannleinen, die von Brustknochen zu Rückgrat, von Becken zu Rippe liefen. Huschende Kreaturen, die in meinem Inneren webten und spannen - zu welchem Zweck? Sechs Tage war ich auf der Station der harten Bänke, und nach den zehn Jahren in Block F war der Schock ziemlich groß. In erinnerte mich wieder an alles. Die türlosen Toiletten, die Demütigung, die damit verbunden war, stets und ständig sichtbar zu sein, stets und ständig feindseligen Augen zugänglich zu sein. Und die Gerüche! Grobes Desinfektionsmittel, das vor allem: Die rissigen gekachelten Fußböden wurden zwei, drei, viermal am Tag mit heißem Wasser und grobem Desinfektionsmittel aufgewischt, man hatte den Eindruck, daß immer irgend jemand damit beschäftigt war, sich den Korridor hinauf und hinunter zu arbeiten, oder kreuz und quer durch den Aufenthaltsraum, mit einem alten Mop, der aus einem Gewirr grauer Hanffäden bestand, und einem Blecheimer, der einen Metalleinsatz hatte, mit einem Griff, den man herunterdrückte, damit die Zähne des Geräts sich um den Kopf des Mops schlossen und das dreckige Wasser aus ihm herausquetschten. Ich hatte auch die tägliche Demütigung vergessen, die damit verbunden war, dauernd um die kleinsten Mengen der notwendigsten Dinge bitten zu müssen: ein paar Blatt Toilettenpapier, eine Prise Tabak, einen Tropfen heißes Wasser. Vielleicht wurde die Bitte erfüllt; aber für gewöhnlich stand man einfach da und trippelte von einem Fuß auf den anderen, während der Wärter gereizt die Stirn runzelte und sag217
te, man solle später wiederkommen - entweder das, oder er bedachte einen mit einem kalt abschätzenden Blick, ließ eine eisige Stille eintreten, und ignorierte einen dann völlig - und das alles wegen drei Blatt grobem Toilettenpapier, wegen ein paar groben, vertrockneten Tabakkrümeln aus der Dose! Oh, an einen Verrückten ist jede Höflichkeit verschwendet, das war die Botschaft, die in das kalte Backsteinherz Ganderhills eingemeißelt war, verschwendet an einen Verrückten auf einer Station der harten Bänke. Sechs Tage war ich auf der Station der harten Bänke, und dann brachten sie mich eines Morgens ans hintere Ende der Station, um Dr. Jebb zu sehen. Er führte mich in ein Nebenzimmer, und wir setzten uns. Grüne Wände, ein vergittertes Finster, eine Glühbirne, ein Tisch, zwei Holzstühle das war alles. Ein Aschenbecher aus Blech auf dem Tisch. Ich in einem grauen Hemd und einer grauen Hose und mit Schuhen ohne Schnürsenkel. Er im schwarzen Anzug, und mit einer Krawatte, die sofort meine Aufmerksamkeit auf sich zog, denn diese Krawatte, dunkelgrün, hatte kein Muster, sondern nur eine Art Wappen, in dem das dominierende Element, ein Schild, der von zwei Drachen flankiert und von einem geflügelten Helm gekrönt wurde, eine Schlange darstellte, die sich um einen Stab ringelte. Damals hatte ich keine Möglichkeit, die ganze Bedeutung von Jebbs Wappen zu erkennen; erst später war ich dazu in der Lage, es in den Begriffen der Veränderungen zu interpretieren, die in meinem Körper stattfanden, und in den Begriffen meines Todes. Nichtsdestoweniger rief es in mir ein Gefühl des Unbehagens hervor. »Rauchen Sie ruhig«, sagte er. Ein paar Minuten der Stille, während ich mir mit zitternden Fingern eine Dünne drehte und er seine Brille abnahm und sich die Augen auf diese vertraute Weise mit Daumen und Zeigefinger rieb - wie oft hatte ich eben diese Geste gesehen, eben diese gelangweilte Ungeduld, in der Küche der Nummer siebenundzwanzig! Dann, mit einem kleinen her 218
ablassenden Wedeln der Hand in Richtung auf meine bandagierten Handgelenke: »Ganz und gar unnötig, Mr. Cleg, und so melodramatisch. Ich bin sehr enttäuscht. « Ich war nicht stark. Ich war eine Woche auf der Station der harten Bänke gewesen, ich war zutiefst gedemütigt worden, ich hatte nichts, was ich mein eigen nennen konnte, keine Schnürsenkel, keinen Gürtel, nicht einmal eine Socke in meinem Hosenbein. Ich war nicht in der Lage, diese Kreatur mit den kalten Augen abzuwehren, diese Kopie meines Vaters - diesen Cleg-Jebb! oder was immer er war. Schweigen war meine einzige Waffe, der Rückzug Spiders in die hinteren Bereiche, in irgendein Loch, und genau das versuchte ich, während die Stimme sich hob und senkte, dröhnte und zischte, und »Jebb« schrumpfte, wurde winzig, und riesige Entfernungen taten sich in diesem grüngestrichenen, nach Desinfektionsmittel stinkenden Zimmer auf. Aber einen oder zwei Augenblicke später - Panik. Lange Jahre in Block F, lange Jahre, in denen ich im Gemüsegarten mein eigener Herr gewesen war - irgend etwas war abgestorben, und so sehr ich es auch versuchte, ich konnte der winzigen dröhnenden Gestalt auf der anderen Seite des riesigen Tisches nicht entkommen. Es wurde dunkel im Zimmer, der alte Alptraum legte sich über mich, und ich war steif und schwer und wand mich zuckend in den vorderen Bereichen meines Hirns, aufgespießt, unfähig, dem Dröhnen und Zischen zu entkommen, den Augen, den Händen dieser Cleg-Jebb-Kreatur auf der anderen Seite des Tisches. »Ein Hilferuf«, dröhnte er, »reine Panik«, dröhnte er, »die Notwendigkeit, sich der Realität zu stellen«, zischte er, während ich mich wand, nicht mehr Spider, er war jetzt die Spinne, und ich war die Fliege! »Der Versuch, sich der Verantwortung für den Unfall zu entziehen«, zischte er. »Sie haben Ihre Mutter getötet«, dröhnte er, und ich sprang auf und zeigte mit einem zitternden Finger auf ihn. »Nein, du warst es! « schrie ich. »Nicht ich! Du!« 219
Die Tür öffnete sich - Wärter - ohne viel Gefackel durch den Flur in ein sicheres Zimmer, und erst dann, erst dann, fand Spider seine alte Behändigkeit wieder und huschte in ein Loch und ließ mich in einer Ecke zusammengekauert zurück, wo ich vor und zurück schaukelte. Ich verbrachte drei weitere Monate in Ganderhill, einen auf der Station der harten Bänke, zwei in Block F. Es gab weitere Unterhaltungen mit dem Anstaltsleiter, in deren Verlauf er meine »Geschichte« rekonstruierte. Dann, an einem kühlen, nebligen Vormittag im frühen Oktober, entließ er mich. Sehen Sie, wie ich vor dem Haupttor stehe, unter der Uhr, in einem schäbigen grauen Anzug, einen Pappkoffer in der Hand, in dem sich kaum etwas befindet; sehen Sie, wie ich den Kopf von einer Seite zur anderen drehe, stellen Sie sich meine Angst vor. In meiner Tasche drei Pfundnoten, ein paar Kupfermünzen, und ein Zettel mit Mrs. Wilkinsons Adresse. Cleg-Jobb hatte meine Geschichte rekonstruiert, aber er hatte sie falsch rekonstruiert, falsch, falsch, falsch, es war eine schlechte Geschichte. Falls er etwas über den Plan meines Vaters wußte, mich nach Kanada zu schicken, so ließ er sich nichts davon anmerken; falls er meine Angst davor verstehen konnte, falls er, anders ausgedrückt, die Wahrheit über das, was meiner Mutter zugestoßen war, in Erfahrung gebracht hatte - so ließ er sich auch das nicht anmerken. Es war nicht schwer, mir vorzustellen, was als nächstes kommen würde: ich würde an irgendeinem nebligen Abend zu den Parzellen gelockt werden, und dort würde mein Vater, aufgepeitscht vom Alkohol und von Hilda, mich mit irgendeinem Gartengerät erschlagen. Er würde ein weiteres Loch graben (wobei er wieder diese seltsam widersinnige Sorgfalt für seine Kartoffelpflanzen an den Tag lernen wür 220
de), und dann würde er mich, immer noch unter den billigenden Blicken Hildas, hineinwerfen und zuschütten, und ohne auch nur ein Leichentuch zu haben, würde ich bald eine willkommene Mahlzeit für die Maden sein, die Käfer, die Leichenwürmer, und nichts würde von mir übrigbleiben, nur ein Haufen langer Knochen, voneinander losgelöst und ausgekuppelt, und mit jeder Verschiebung des Erdbodens würden sie sich mehr und mehr voneinander lösen und auskuppeln, bis mein sprödes Gerüst jedes noch so kleine bißchen an Zusammenhalt und Integrität verloren hätte, das es einst vielleicht besessen hatte, und kreuz und quer in der ganzen Londoner Erde verteilt sein würde! Und dann, wenn die Männer unter im »Dog and Bagger« fragen würden, »Wo ist eigentlich dein Junge abgeblieben, Horace? « oder »Wo ist eigentlich der kleine Dennis? «, würde mein Vater, mit seinem zuckenden kleinen Lächeln sagen, vielleicht während er sich gleichzeitig den Bierschaum von den Lippen wischte: »Er ist zu seiner Mutter nach Kanada gefahren« - und Hilda würde außerstande sein, ein heiseres Rülpsen gehässigen Gelächters zu unterdrücken, und das wäre dann mein Nachruf. Ich saß in meinem Schlafzimmer und hörte sie unten in der Küche flüstern. Dann das Scharren von Stuhlbeinen, Hilda kam für einen Augenblick nach oben, und ein paar Minuten später verließen sie das Haus durch die Hintertür. Ich lief hinunter und folgte ihnen. Ich sah sie durch die Gasse gehen, Arm in Arm, und an ihrem Ende nach rechts abbiegen, in Richtung »Earl of Rochester«. Wieder nach oben, wo ich ein gestohlenes Knäuel brauner Schnur unter meinem Bett hervorzog. Ich schnitt ein Stück davon ab und band das eine Ende an einem Bettpfosten fest. Das andere ließ ich aus dem Fenster fallen; es landete als wirres Knäuel vor der Hintertür. Dann wieder hinunter, und dann führte ich die Schnur durch das Küchenfenster (das einen halben Zoll offenstand) und befestigte sie an einem der 221
Schalter des Gasherds. Wieder oben, an meinem offenen Fenster sitzend, holte ich die Schnur ein, bis sie straff gespannt war. Dann fing ich an, vorsichtig an ihr zu ziehen; Sie ahnen sicher, was ich vorhatte. Die nächste halbe Stunde lief ich ständig zwischen der Küche und meinem Zimmer hin und her, veränderte die Befestigung der Schnur, versuchte, die Konstruktion zum Funktionieren zu bringen. Sie straffte sich zwar, aber der Schalter des Gasherds wollte sich trotzdem nicht drehen, und wenn ich fester zog, scheuerte die Schnur dort auf, wo sie sich an der Fensterkante rieb. Ich fing an, mir eine Art Mechanismus auszudenken, der dafür sorgen würde, daß die Schnur glatter lief, eine Art Spule auf einer Spindel, aber wie sollte ich so etwas unauffällig am Küchenfenster anbringen? Dann hörte ich das Geräusch genagelter Schuhe in der Gasse, und laute Stimmen, und ich band die Schnur vom Schalter los, rannte nach oben und zog meine Leine ein. Und schon kamen sie in den Hof, Horace und Hilda und Harold und Glad, Arm in Arm und völlig alkoholisiert, Hilda brüllte vor Lachen über ihr eigenes Getorkel, als sie sich von meinem Vater löste (der der nüchternere der beiden war), und mit viel Gepolter im Klo verschwand, wo ich sie herumkrakeelen und gegen die Tür krachen hörte, als sie versuchte, die Kerze anzuzünden. Die anderen kamen herein, das Licht in der Küche wurde angeschaltet, und dann kam Hilda wieder zum Vorschein, immer noch damit beschäftigt, ihren Rock herunterzuziehen, und noch bevor sie die Hintertür erreicht hatte, äußerte sie lauthals ihr Erstaunen darüber, daß sie mit einem Klempner zusammenlebte, der nicht einmal dazu fähig war, seine eigene Toilette zu reparieren. Es war eine wahre Schande (wie jeder hören konnte), und Gladys kreischte in der Küche, und dann hörte ich Hilda sagen: »Komm schon, Glad, trink noch ein Schlückchen, es wird dir guttun.« Ich machte meine Tür zu, ging ans Fenster zurück und versuchte, den Krach zu 222
überhören, den sie veranstalteten. Als Harold und Gladys endlich aus dem Haus wankten, schlich ich an meine Tür und lauschte: Hilda kam als erste die Treppe herauf, dicht gefolgt von meinem Vater; heute nacht würde er nicht in seinem Sessel am Herd einschlafen. Die folgenden Tage waren erfüllt von Merkwürdigkeiten und Schrecken. Ich hielt es im Haus nicht mehr aus, und wenn ich draußen war, schienen meine Schritte mich immer, und gegen meinen bewußten Willen, hinunter zu den Parzellen zu führen, hinunter zum Gemüsegarten meines Vaters - trotz der Tatsache, daß ich wußte, daß er die Absicht hatte, mich dort zu ermorden. An sehr kalten Tagen brach ich in den Schuppen ein, wo ich Kerzen anzündete und mich in Kartoffelsäcke hüllte, um mich zu wärmen. Einmal, in der Dämmerung, sah ich meine Mutter für einen kurzen Augenblick drüben bei den Überresten des Kornposthaufens; aber als ich hinüberlief, verschwand sie wieder. Ein anderes Mal sah ich von der Eisenbahnbrücke aus, daß der Schuppen in Flammen stand, ein großartiges, prachtvolles Flammenmeer vor dem Hintergrund der Stille und des Halblichts des Nachmittags; aber je näher ich kam, desto schwächer wurde es, und als ich das Tor erreicht hatte, stand der Schuppen genau wie immer da. Ich legte mich oft auf die gefrorene Erde, um zu spüren, wie meine Mutter die Hände nach mir ausstreckt- oft wurde ich enttäuscht, aber verschiedene Male rief sie mir auch zu, ich solle zu ihr kommen; und das brachte mich jedes Mal in einen schrecklichen Zwiespalt, Liebe und Entsetzen füllten mein Herz mit gleicher Stärke, mit gleicher Leidenschaft, wie es schien. Andere Male ging ich hinunter in den Keller, setzte mich in eine Ecke, atmete den Geruch des Kohlenstaubs ein und beobachtete die schwarzen Keime, die in den wenigen Lichtstrahlen tanzten, die durch die Luke in der Decke 223
über mir einfielen. Es war kalt hier unten, hier unten im Keller, und ich hüllte meinen Kopf und meine Schultern in einen schmutzigen Sack, so daß ich aussah wie ein Mönch in einer Kutte, und zog die Knie bis an die Brust hoch und schlang die Arme darum; ich zitterte und hauchte kalten Atem in die Lichtstrahlen und sah, wie die kleinen Keime, die Kobolde, im Kreis wirbelten und trudelten, und darüber mußte ich lachen. Eines Nachmittags saß ich ganz besonders still und ruhig, und eine Ratte kam aus ihrem Loch gekrochen und huschte in kurzen Sprüngen an der Wand entlang, wobei sie alle paar Schritte stehenblieb und mit der Schnauze zuckte. Danach nahm ich den Käse aus den Fallen und verstreute ihn in kleinen Brocken auf dem Boden; und dann konnte ich gleich mehrere von ihnen gleichzeitig beobachten. Ich liebte ihre Schwänze, wie lang und plump und blass sie waren, und bepelzt mit einem Flaum aus feinen Borsten, und wie sie hinter ihnen zuckten, wie die wurmartigen Taue an Deck eines Schiffs. Einmal hörte Hilda mich dort unten lachen, und die Tür ging auf, und Licht fiel von oben herab. »Was machst du da unten?« rief sie. Ich saß in meiner Ecke, in meiner Kutte, in den Schatten, und sagte nichts; sie kam ein Stück die Treppe herunter, auf diese eigentümliche, zur Seite gedrehte Art, die sie immer hatte, wenn sie eine Treppe hinunterging, und dann sah sie die Ratten. Ein entsetzter Aufschrei, sie rannte zurück, und die Tür fiel hinter ihr zu! Mehr Gelächter aus den Schatten. Als mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, schickte sie ihn sofort in den Keller, um die Fallen aufzustellen. Am nächsten Tag lagen zwei tote Ratten darin, ich steckte sie in meine Tasche und stellte die Fallen wieder auf, denn tot waren sie mir genauso lieb wie lebendig. Einmal, als ich in meiner Ecke saß, hörte ich eine Stimme, die »Spider« sagte. Es war nicht die Stimme meiner Mutter, es war eine brüchige krächzende Stimme, wie die Stimme einer alten Frau, und ich erkannte, daß es die Stimme der Nachthexe war, die in 224
der Wand meines Zimmers lebte. Von da an ging ich nicht mehr in den Keller. Ich ging an, mich unter der Brücke am Kanal herumzutreiben, wo es dunkel war. In der sichtbaren Welt gab es inzwischen viele Dinge, die mir angst machten - ich hatte ständig das Gefühl einer kurz bevorstehenden, entsetzlichen Katastrophe, und dieses Gefühl wurde zu Zeiten so überwältigend, daß ich mich unter der Brücke an die Wand lehnte und an ihr entlang zu Boden rutschte und mir die Augen und Ohren zuhielt. Es war die Angst davor, von meinem Vater zu meiner Mutter nach Kanada geschickt zu werden, es war die Angst davor, mit einem Gartengerät erschlagen zu werden, wenn ich am wenigsten damit rechnete. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was ich wußte, aber ich konnte in der Nummer siebenundzwanzig nicht mehr schlafen, und ich aß kaum noch einen Bissen, wieso sollte ich? Wieso sollte ich Fleisch oder Gemüse anrühren, das von Hilda zubereitet worden war? Ihre Gesichter hatten sich verändert: Ich konnte sehen, wie sie aßen, konnte sehen, wie ihre Kiefer sich bewegten, wie ihre Augen im Halbdunkel der Küche glänzten, wie ihre Zähne sich über den Bissen schlossen, aber jeder einzelne Gesichtszug hing getrennt und für sich allein und von den anderen losgelöst im Raum, und nur indem ich die Fragmente ihrer zerbrochenen Gesichter und Hände wieder zusammenfügte, war ich dazu in der Lage, sie wieder in den Brennpunkt zu rücken und ihre Aktivitäten zu verfolgen. Schon bald verloren sie selbst das letzte bißchen an menschlicher Politur oder menschlichem Lack, das sie besessen haben mochten, und in ihrem zerbrochenen Aussehen enthüllten sie ihre wahre Natur, ihre Leblosigkeit, ihre Animalität, und als ich das sah, wurde das Gefühl des bevorstehenden Unheils schier übermächtig, und ich floh voller Panik aus der Küche, ungeachtet ihres Geschreis und Gekreisches, das von frustriertem Hunger zeugte, denn sie 225
hatten die Absicht, mich zu fressen, ich hatte erkannt, daß sie die Absicht hatten, mich zu fressen. Nachts wurde ich etwas ruhiger, teils wegen der Dunkelheit, teils weil sie so oft nicht im Haus waren. Manchmal folgte ich ihnen, wenn sie ins »Rochester« gingen, ich beobachtete durch die Fenster, wie sie vor ihren Getränken saßen, und wenn Hilda zur Damentoilette ging, kletterte ich auf ein Faß, um ihr beim Pinkeln zuzusehen. An anderen Abenden blieb ich zu Hause und experimentierte mit der Schnur herum, die ich aus meinem Fenster baumeln ließ und mit dem Schalter des Gasherds verband. Einmal, als ich wieder einmal an der Schnur zog, um den Schalter dazu zu bringen, sich endlich zu drehen, merkte ich, daß mein Mund sich mit kleinen Vögeln fällte, die ich knirschend zwischen meinen Zähnen zermalmte, aber dann blieben die Federn und das Blut und die zermalmten Knochen mir im Hals stecken, und ich hatte das Gefühl zu ersticken, und ich würgte und würgte, aber es kam nichts hoch. Ein anderes Mal fand ich am Kanal eine Milchflasche, und sie enthielt die verwesende Leiche eines Mannes, den mein Vater in der Nacht zuvor ermordet hatte, und ich öffnete die Flasche und trank die Milch. Ein anderes Mal fand ich ein Baby mit einem Loch im Kopf, und durch das Loch saugte ich alles heraus, was sich im Kopf des Babys befand, und schluckte es herunter, bis das Gesicht in sich zusammenfiel wie eine leere Gummimaske. Später fiel mir ein, daß dies die Art und Weise war, wie Spinnen Insekten vertilgen. An diesem Abend schlief ich aus Versehen ein, und mein Vater kam herein und zerdrückte meinen Kopf mit einem Schraubenschlüssel, und als ich wach wurde, war mein Kopf birnenförmig; und das hatte er getan, damit mein Kopf in den Sack paßte, den sie vorbereitet hatten, um mich darin zu ermorden. Je mehr Tage vergingen, desto hungriger wurden sie, und ich wußte, daß es bald soweit sein würde. Wenn Hilda 226
mich ansah, lief der Speichel aus ihrem Mund und tropfte über ihr primitives Kinn. Mein Vater war vorsichtiger in der Zurschaustellung seines Appetits, er beobachtete mich immer nur aus den Augenwinkeln heraus. Mir fiel auf, daß seine Hände jetzt wie Pfoten aussahen. Leblosigkeit und Animalität: Ich hatte keinen Namen für Kreaturen wie sie, ich habe immer noch keinen, ungeachtet der Tatsache, daß eine von ihnen in diesem Augenblick schlafend auf der anderen Seite dieses Hauses liegt, sicher in dem Wissen, daß ihre Kreaturen auf dem Dachboden (trotz ihres gelegentlichen Verrats) sie vor allem Unheil schützen werden. Hören Sie nur zu! Hören Sie nur! Ihre Aktivitäten haben einen ganz bestimmten Rhythmus, drei deutlich voneinander abgesetzte Wellen, die jede für sich ansteigen und abfallen und von der vorherigen durch eine Pause abgetrennt sind, eine Unterbrechung, in der ich Erleichterung, gleichzeitig aber auch die Qual des Wartens auf die nächste empfinde (und das Warten darauf ist genauso schlimm wie die Welle selbst). Jede beginnt auf dem turbulentesten Höhepunkt der vorherigen, und folglich ergibt sich vom Anfang der Nacht bis zu ihrem Ende eine gewaltige Steigerung, sowohl was die Lautstärke als auch was die Intensität angeht. Und was ist es, was sie tun? Unmöglich, es genau zu sagen: Sie singen und stampfen, sie zischen, sie schreien, ich höre Schreie und Rufe, die nur teilweise verständlich sind, Stürme von Gelächter, Stimmen von Menschen, die ich gekannt habe, und die völlig uncharakteristische Dinge sagen: zum Beispiel Dr. Austin Marshall, der unanständige Verse rezitiert. Sie benutzen meinen Namen ganz wie es ihnen gefällt, sie spielen damit, sie drehen ihn um: gelc, nennen sie mich, gelc, und seit neuestem haben sie den Singsang erfunden gelc hat GESÜNDIGT gelc hat gesündigt gelc hat gesündigt hat GESÜNDIGT gelc hat gesündigt gelc hat gesün227
digt ... Sie wiederholen es immer wieder, immer lauter und stampfen dabei ununterbrochen mit den Füßen, so daß die Glühbirne an ihrem Kabel hin und her schwingt und ich erst in Schatten getaucht werde, und wieder in grelles Leben, in Schatten getaucht, und dann zurück in grelles Licht - und ich ducke mich auf meinem Stuhl, die Knie bis an die Brust gezogen, den Kopf zwischen den Knien, die Hände über die Ohren, und weine und weine und weine, während sie mich an die äußersten Grenzen dessen treiben, was ich ertragen kann - dann bricht das Ganze unter kreischendem Gelächter auseinander - und dieses Gelächter läßt allmählich nach, wird gefolgt von Gemurmel - und langsam hebe ich den Kopf und halte mich mit zitternden Händen an der Tischkante fest, nehme vielleicht sogar meinen Bleistift in die Hand oder drehe mir schnell eine, während sie sich für die nächste Welle sammeln - die, wie ich bereits sagte, auf dem höchsten Höhepunkt der größten Wildheit der letzten beginnt! Drei Wellen, gefolgt von Erschöpfung. Irgendwann stehe ich von meinem Stuhl auf und sehe aus dem Fenster, sehe ostwärts, um die erste blasse Andeutung der Morgendämmerung zu suchen, und wieder sage ich mir selbst: genug. Ich wandere durch das schlafende Haus, vorbei an Türen, hinter denen die toten Seelen träumen, ich trippele auf leisen Sohlen die Treppe hinunter und in die Küche, und wieder hinaus auf den Flur, werfe einen Blick in Mrs. Wilkinsons Büro - und in diesem Augenblick sehe ich sie: auf ihrem Schreibtisch, im Halbdunkel fächerförmig ausgebreitet: ihre Hausschlüssel. Ein stummer Schrei der Freude im Inneren des alten Spider, als er das Zimmer lautlos durchquert und den Schlüsselbund mit einer einzigen fließenden Bewegung in seiner Tasche verschwinden läßt. Dann nichts wie weg, zurück in sein Zimmer, ungesehen, ungehört, ungebunden. Den Pappkoffer in der Hand und die drei Pfund in der 228
Tasche drehe ich mich um, um einen letzten Blick auf die Tore von Ganderhill zu werfen. Flankiert von zwei quadratischen Türmen waren sie fünfzehn Fuß hoch und liefen in einem spitzen Bogen aus, über dem eine riesige Uhr hing, auf der es eine Minute nach zehn war. Es war ein schöner, klarer Morgen, und die Herbstsonne lag weich auf den Ziegeln. In die linke Torhälfte war eine kleine Tür eingelassen, und durch diese Tür war ich gekommen. Mr. Thomas stand in dieser Tür; er war inzwischen zum Oberaufseher befördert worden und hatte sich um die Einzelheiten meiner Entlassung gekümmert; außerdem hatte er mir zwei Päckchen Capstan ohne Filter zugesteckt. Er hob die Hand, ich hob meine; er ging wieder hinein, und die Tür schloß sich. Irgendwie fand ich den Weg ins Dorf und bestieg den richtigen Bus. Ich setzte mich ans Fenster und rauchte; ich betrachtete die Landschaft, während wir in Richtung London holperten, und versuchte, die gewaltigen Wogen der Verwirrung und des Verlustes in Schach zu halten, die mich zu Zeiten schien zu überwältigen drohten. In gewisser Weise hatte ich dasselbe Gefühl wie nach dem Tod meiner Mutter - dasselbe Gefühl freudloser Isolation in einer fremden und bedrohlichen Welt. Zwanzig Jahre in Ganderhill, wie gut ich diesen Ort kannte! Seine Höfe und Durchgänge, seine Gärten und Nebengebäude - allesamt erfüllt vom flüchtigen Gewisper ihrer Gegenwart, wenn sie sich mir gelegentlich voller Scheu zeigte, im getüpfelten Schatten einer Ulme, auf einer einsamen Terrasse in der Dämmerung. Und oh, die Rhythmen und Rituale, die das Leben dort bestimmt hatten, in all dem hatte ich meinen angestammten Platz, und vor allem wußte jeder, daß ich diesen Platz hatte. Als ich in jenem Bummelbus nach London saß, zwischen den Hausfrauen mit ihren Einkaufstaschen, wußte ich mit absoluter Gewißheit, daß ich mir nichts Besseres erhoffen konnte, nicht ich, nicht der alte Spider; und jetzt war es für 229
immer verloren, denn Jebb würde mich niemals zurücknehmen, das hatte er mir deutlich genug gesagt. Meine Gedanken nahmen eine unheilvolle Färbung an, denn ich spürte die ersten schwachen Regungen eines bevorstehenden Unheils - dort draußen am fernen Horizont bewegte sich etwas Großes und Schwarzes und Schreckliches auf mich zu. Denn was hatte ich dieser Welt zu geben, in die ich so abrupt geworfen worden war, und was hatte sie mir zu geben? Dann waren wir auf der Hauptstraße und legten Geschwindigkeit zu. Ich versuchte zu sehen, was vor mir lag, konnte es aber nicht, ich konnte mir das Leben, das ich nun führen sollte, einfach nicht vorstellen. Wie würde ich leben? Wer würde ich sein? Dennis Cleg aus Ganderhill? Der Verrückte? O nein, bloß das nicht - ich konnte mir die Wirkung, die das haben würde, nur allzu gut vorstellen, wenigstens das, die kalten Blicke, die höhnischen Bemerkungen, die geflüsterte Verachtung - kurz gesagt, die Gedankenmuster. Plötzlich sah ich mich in einen Abgrund stürzen, und mehrere Minuten lang war ich ausgekuppelt vor Entsetzen, und erstarrte auf meinem Sitz, die Zigarette auf halbem Weg zu meinen Lippen. Sofort fühlte ich die Augen der Frauen auf mir, spürte, wie sie die Köpfe zusammensteckten, ahnte das Geflüster, das unterdrückte Gelächter, das gedämpfte Schnauben der Verachtung. Gott sei Dank ging es schnell vorbei, und es gelang mir mit einiger Mühe, ruhig zu bleiben. Später sah ich dann Straßen und Gebäude, und ich wußte, daß wir die Außenbezirke der Stadt erreicht hatten, und das tröstete mich ein wenig; schließlich bin ich Spider aus London! Über die Westminster Bridge über den Fluß, die Themse, lebendig vor Licht, grün funkelnd in der Herbstsonne, und ihr Anblick tat mir wohl. Ein wenig Vertrautheit, das ist alles, ein wenig von dem, was man kennt, das ist es, was die Seele stärkt und ihr Kraft gibt. Ich zog den Zettel mit Mrs. Wilkinsons Adresse 230
aus meiner Tasche: Ich kannte die Straße, ich war als Junge oft in dieser Gegend gewesen. Sie lag im East End, wissen Sie. Am Anfang ein paar Probleme mit den Menschenmengen - die Augen! die Gedankenmuster! Die Luft war voll davon, und wieder wurde ich ausgekuppelt, ich stand im Busbahnhof an der Victoria Station, den Koffer in der Hand, festgefroren wie eine Statue. Aber dies war schließlich London, und ich kannte London, und etwas später schlurfte ich weiter, um den siebenundzwanziger Bus zu suchen, oder war es der siebenunddreißiger, oder der hundertsiebenunddreißiger? Am späten Nachmittag stand ich vor Mrs. Wilkinsons Tür. Ich hatte mich mehrere Male verirrt, denn die Stadt hatte sich auf eine Weise verändert, die nicht nicht verstehen konnte. Ich klopfte- sie öffnete die Tür. »Mr. Cleg?« fragte sie. »Wir haben Sie schon erwartet.« Ich schlurfte hinein, erschöpft und verwirrt und den Tränen nahe, und nicht einen Augenblick erkannte ich, wer sie war. Erst jetzt erkenne ich die volle Bedeutung ihrer ersten Worte: »Wir haben Sie schon erwartet«, hätte sie sagen können, »damit wir das, was wir vor zwanzig Jahren in der Kitchener Street begonnen haben, endlich zu Ende führen können. « Ich umwickelte meine Gliedmaßen mit frischem Zeitungspapier, ich fand ein Paar saubere Socken in der Kommode und warf die alten in das Loch hinter dem Gasofen. Dann legte ich mich auf mein Bett, auf den Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Knöchel übereinandergeschlagen, und beobachtete, wie der Zigarettenrauch sich unter der Decke kräuselte und kringelte. In meinem Hosenbein, zwischen meinen Oberschenkeln, in meiner Socke, der schwere verläßliche Druck ihrer Hausschlüssel. Sie sind mit einem dicken Gummiband umwickelt, damit sie 231
nicht aneinanderklirren und ihre Anwesenheit verraten können. Dann endlich die Klingel, ich springe von meinem Bett und flitze die Treppe hinunter, als die ersten der toten Seelen blinzelnd aus ihren Löchern auftauchen. In der Küche alles wie üblich - die schnurrbärtige Frau läßt Asche in ihre Töpfe und Pfannen rieseln, das Wachstum auf dem Tisch ist frisch abgewischt und riecht nach Reinigungsmittel, das zischende Blubbern des Haferbreis, während der Dampf aus dem Topf aufsteigt und sich im Gleißen des winterlichen Sonnenlichts am Fenster über dem Spülstein mit dem Zigarettenrauch mischt. Tote Seelen schlurfen herein, ich trinke Tee, keine Milch, viel Zucker. Ich esse nicht mehr, seit meine Gedärme um mein Rückgrat gewunden sind, aber ich trinke Tee, er spült die Spinnen heraus. Dann füllte Hilda die ganze Tür aus, funkelt drohend aus ihrer gewaltigen Höhe auf uns herab und fragt, ob wir ihre Hausschlüssel gesehen haben. Ein Zucken schuldbewußter Erregung dort unten, wo die gewichtige Socke zwischen meinen umwickelten Oberschenkeln ruht. Oh, sie runzelt die Stirn, oh, köstliches Grauen, oh, die Wut, oh, die Vorstellung, mich zu ergeben und mit leiser süßer Beschämung die Socke hervorzuholen und ihr mit zitternden Fingern und gesenkten Augen und brennenden Wangen die Beute zurückzugeben, und mich nach Bestrafung zu sehnen, um die Demütigung zu betteln, die Erniedrigung, den Schmerz! Aber ich bleibe still, ich starre (wie ein Fuchs) mit leeren Augen und offenem Mund, schüttele meinen langsamen Kopf, als ihre bohrenden Augen zu mir wandern, sich in meine Seele hinein brennen, aber die Wahrheit ist, daß es keine Seele gibt, nur noch Spinnen, nur noch Spinnen! Und dann, mit einem finsteren Stirnrunzeln, ist sie weg, und ich trinke noch eine Tasse Tee, berühre meine Socke, drehe mir eine Dicke und lasse mir meinen Triumph nicht anmerken. Dann hinaus, hinaus in die beißende, klare Luft, aber 232
nicht ohne eine letzte Begegnung an der Haustür, nicht ohne ihre Frage, ob ich sicher bin, daß ich nichts über ihre Hausschlüssel weiß. Ausdrucksloses, stummes, sinnloses Schulterzucken des listigen Spider, dessen ganze geheime Gegenwart sich unten in seiner Socke befindet, während das Gesicht hoch oben nur stumme, bestürzte Unwissenheit zu erkennen gibt. Zuerst gehe ich schnell, schnell für meine Begriffe, vorbei am Park, wo die Krähen in den nackten Ästen flattern, vorbei am verschlossenen Friedhof, dann scharf links und hinunter zum Eisenbahnviadukt (kurze Blicke durch seine Bögen auf das Gaswerk) und dann, mit nachlassendem Tempo, zum Kanal. Grünlich-schwarz im Morgenlicht, plötzliches Aufsprühen funkelnder Diamanten auf dem Wasser, winterlicher Sonnenschein - und da steht meine Mutter auf der buckligen Brücke, mit dem Rücken zu mir, und ich bleibe wie angewurzelt stehen, werde ausgekuppelt, starre vor Erstaunen, vor trunkener Wonne, auf die Klarheit ihrer Gestalt vor dem Hintergrund des Lichts. Das Gesicht immer noch von einem Kopftuch verhüllt, überquert sie die Brücke und verliert sich auf der anderen Seite, auf der Seite der Kitchener Street, hinter einer Mauer. Und jetzt endlich gehe ich den Pfad hinunter zur Brücke, und zum ersten Mal seit zwanzig Jahren berühre ich das eiserne Geländer, spüre, wie kalt es ist, und husche weiter. Oh, die Panik! Oh, das Chaos von Turbulenzen bei diesem ersten schlurfenden Schritt, das Branden von Flüssigkeiten in meinem Inneren, und Stimmen erheben sich, ungläubiges, gackerndes Gelächter, furchtsames Stöhnen, aber dessen ungeachtet überquere ich die Brücke; taste mich blindlings voran- beide Hände fest um das Geländer geklammert überquere ich tatsächlich die Brücke. Und nun schlurfe ich durch Straßen, die gleichzeitig vertraut und fremd sind, merkwürdig leer, merkwürdig verlassen. Ich treffe auf einen Mann mit einem Pferd. Die beiden 233
stehen am Ende einer Sackgasse vor einer hohen rußigen Backsteinmauer. Der Mann hat ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln an; das Pferd hat nur ein Zaumzeug. Ich bleibe am anderen Ende der Gasse stehen und beobachte, wie der Mann das hängende Zaumzeug packt, sich dem Pferd halb zuwendet und anfängt, es langsam die Straße hinunterzuführen. Er fängt an zu laufen, schreit auf das Pferd ein, das seine Hufe hebt, daß die Hufeisen auf den kalten Kopfsteinen nur so hallen, und die Zähne bleckt und den langen Kopf hebt und ein lautes Wiehern ausstößt. Sie kommen über die leere Straße auf mich zu, der seinem Pferd halb zugewandte, laufende Mann in dem weißen Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln, und das Pferd mit dem hohen Schritt und dem nickenden langen Kopf; Wolken wehen, als ihr Atem sich in der kalten Luft in Dampf verwandelt. Der Mann hält das Pferd zurück, als sie sich meinem Ende der Straße nähern, hält es zurück, bis es nur noch im Schritt geht, und läßt es dann kehrtmachen ich sehe die sich hebenden und senkenden Flanken! - und zur Mauer am anderen Ende der Gasse zurücktraben. Ich schlendere weiter, auf der Suche nach meiner Mutter. An der Ecke sehe ich ein ausgebranntes Lokal, dessen weiße Mauersteine rußverschmiert und geschwärzt und dessen Fenster nur noch schwarze Löcher sind, ohne Glas, blicklose Augen. Über der Tür, die mit Brettern vernagelt ist, hängt das Schild, aber das Metall hat sich in der Hitze verzogen und die Malerei darauf ist so verkohlt, daß der Name unleserlich ist. Ich biege um eine andere Ecke - und befinde mich in den Schatten des Gaswerks in der Spleen Street. O Heiland, der Schalter am Gasherd der Schalter der Schalter der Schalter am Küchenherd, o Heiland, erspare mir das bitte: ein kannelierter Kolben aus einem harten Material, der mittels einer versenkten Schraube an der Leitung befestigt ist, die zum Gasring führt. In einem der Schalter eine Schraube mit dem Gesicht zum Fenster: ein paar Dre234
hungen mit dem Schraubenzieher, und sie ragte so weit vor, daß ich ein Stück Schnur daran befestigen konnte, und die Schnur führte ich dann nicht durch das Fenster, sondern hinunter zu einer Krampe, die ich in den Boden gehämmert hatte, und dann über den Boden und unter der Tür hindurch zu einem Nagel, den ich in die Seite der Treppe geschlagen hatte, direkt über dem Boden, dann senkrecht nach oben, zum Kopf der Treppe. Wenn ich an der Schnur zog, spannte sie sich von Schalter zu Krampe, von Krampe zu Nagel, und von Nagel zu mir; und wenn ich noch einmal sanft daran zupfte, drehte sich der Schalter um eine winzige Kleinigkeit, und das Gas fing an, in die Küche zu strömen Oh, ich reiße den Blick davon los, ich wende mich ab von den drohend anfragenden, massigen Kuppeln, deren abblätternde rostrote Farbe im Morgensonnenschein so gräßlich lebendig wirkt und deren kreuz und quer verlaufende Streben und Pfeiler sich hoch über meinem Kopf endlos multiplizieren- hier ist Grauen, das Grauen der Reproduktion, und ich schlurfe mit abgewandtem Blick davon. Ich muß nach Hause gehen, sage ich mir, ich muß nach Hause gehen, ich muß nach Hause gehen in die Kitchener Street, wo meine Mutter an der Hintertür auf mich wartet. Nun sind die Straßen qualvoll vertraut, und die Erinnerungen steigen in Büscheln und Bündeln aus den tiefen vergessenen Höhlen meines Geistes auf, und ich werde für ganze Minuten ausgekuppelt und muß mich an eine Mauer lehnen und versuchen, mir mit zitternden Fingern eine zu drehen, und der Wurm in meiner Lunge scheint sich zu regen. Eine Frau mit einem Einkaufsnetz, das überquillt von Päckchen, die in braunes Papier eingeschlagen und mit Schnur umwickelt sind, bleibt vor mir stehen und fragt mich, ob mir etwas fehlt. Ich stoße mich von der Mauer ab und schlurfe davon. Ich muß nach Hause gehen, zu meiner Mutter! Dann komme ich durch die Victory Street, und 235
nein, nicht diese Ecke, und auch nicht die nächste, aber die übernächste, das ist die Kitchener Street. Hören Sie nur, was für einen Lärm sie jetzt machen. Was für ein dreckiges Getöse! Aber er geht weiter, der mutige alte Spider, Flanell flattert um von Zeitungen umwickelte Gliedmaßen, dreißig Meter, fünfzehn - oh, ein lautes Pochen in meiner Brust, der Wurm wird wach, und dann bin ich an der Ecke, und biege um die Ecke, und sehe Nichts. Einen Zaun aus Wellblech. Was geschieht mit mir? Durch eine Lücke im Zaun blicke ich auf von Kratzern zernarbtes Brachland. Es ist übersät mit Backsteinen und Geröll, und überall wächst Unkraut mit purpurnen Blüten, und hier und dort liegen schwarze Plastikrohre herum, rostige Blechdosen, alte Schuhe, Autoreifen. Was geschieht mit mir? Stürme von Gelächter, ein bellender Hund. Ist dies mein Werk? Wieder an meinem Tisch. Sehr mitgenommen von dem, was ich an diesem Morgen gesehen habe, sehr zerbrechlich, sehr spröde. Ich war in wilder Panik die Straße hinunter geflüchtet, war von Laternenmast zu Laternenmast getaumelt wie ein Betrunkener, bis ich die Stelle erreichte, an der die Nummer siebenundzwanzig hätte stehen sollen. Ein Loch im Zaun: Ich sah hindurch und fand ein weiteres Loch, eine flache Grube voller kaputter Ziegel, Dachschiefer, Bretter, Geröll, dasselbe purpur-blühende Unkraut, das sich im Wind sträubte; und eine Stimme sagte: Das ist dein Werk. Und dann, als ich mich an den Zaun lehnte, hilflos und weinend, war ein Geruch gekommen, und dann eine Erinnerung, herausgerissen aus der Unterseite irgendeiner tiefen Lasche meines Hirns: Ich sah mich am Fenster meines Zimmers über der Küche sitzen und Horace und Hilda beobachten, die sich auf den Weg in die Kneipe machten. Ich sah mich langsam die Treppe hinuntergehen, durch den Flur, und in die Küche. Ich sah mich meine Schnur anbrin236
gen: Ich befestige das eine Ende der Schnur an der Schraube am Schalter des Gasherds, führte sie dann sorgfältig durch die Krampe und unter der Tür hindurch und hinaus in den Flur zu dem Nagel in der Treppe. Auf halbem Weg die Treppe hinauf führte ich sie sanft um den Nagel herum, ging weiter bis zur obersten Stufe und band sie an einem Pfosten des Geländers fest. Dann ging ich in mein Zimmer und wartete auf ihre Rückkehr. Ich sah mich bei ausgeschaltetem Licht am Fenster sitzen. Ich erinnere mich, daß meine Ohren von einer Art Summen erfüllt waren, das alle anderen Geräusche übertönte, so daß ich, als Horace und Hilda zurückkamen, den Eindruck hatte, sie kämen in völliger Lautlosigkeit über den Hof gewankt, und in Zeitlupe; ihre Bewegungen waren unbeholfen und unkoordiniert, und ich mußte mir eine Decke in den Mund stopfen, um das Lachen zu unterdrücken, das bei diesem Anblick in mir aufstieg. Schließlich erreichten sie die Hintertür und kamen ins Haus; mehrere Minuten lang hörte ich laute Stimmen, und dann Hildas langsamen, schweren Schritte auf der Treppe. Nur den von Hilda. Das löste im Herzen des nervösen jungen Spider einen lautlosen Freudenschrei aus, wie schwer es in diesem Augenblick war, mir das Lachen zu verbeißen! Ich wartete, fünf Minuten, zehn Minuten, fünfundzwanzig Minuten fünfundzwanzig Minuten, die sich wie fünfundzwanzig Jahre anfühlten. Dann schlich ich lautlos aus meinem Zimmer- im Haus war es dunkel und still, die Küchentür war geschlossen. Mit angehaltenem Atem setzte ich mich auf die oberste Treppenstufe und band meine Schnur los. Sanft, oh, ganz sanft, zog ich sie ein; vor meinem inneren Auge sah ich sie straffwerden, von Schalter zu Krampe, von Krampe zu Nagel, und von Nagel zu mir; einen langen Augenblick hielt ich sie einfach nur fest und dachte dabei: Meine Schnur in meinen Fingern, sein Leben in meinen Händen. Dann zog ich noch einmal - sie bewegte sich – ge237
nug. Ich band sie wieder am Geländer fest und schlich zurück in mein Zimmer. Schlaflos vor Triumph saß ich in der Dunkelheit mit gekreuzten Beinen auf meinem Bett. Ich schaukelte vor lautlosem Gelächter hin und her. Dann allmählich, ganz allmählich, stieg von unten der schwache aber unverkennbare Geruch von Gas in meine gespannt wartende Nase Ja, es war tatsächlich mein Werk. Ich stieß mich vom Zaun ab; die Panik hatte nachgelassen, und ich fühlte mich merkwürdig ruhig (obwohl der Wurm in meiner Lunge in der ganzen Aufregung aufgewacht war). Dann bemerkte ich, daß die Häuser mit den geraden Nummern auf der anderen Straßenseite noch standen, obwohl ihre Fenster mit Brettern vernagelt waren; und daß am Ende der Straße auch auf dieser Seite noch Häuser vorhanden waren. Ich ging weiter, etwas ruhiger, auf das Ende der Straße zu. Dort fand ich drei Häuser; die Nummer dreiundfünfzig, vernagelt; die Nummer fünfundfünfzig, ebenfalls vernagelt; und das »Dog and Beggar«. Das »Dog and Beggar!« Ich lehnte mich an die Wand und lachte, ja, stellen Sie sich das vor, stellen Sie sich den alten Spider vor, wie er an einer Wand lehnt, das große Kinn hoch in die Luft gereckt, und ein kurzes heiseres Ächzen lautlosen Gelächters ausstößt. Aber einen oder zwei Augenblicke später löste er sich von der Wand, schlurfte zur Tür des Lokals, und ging hinein. Die Tür fiel hinter ihm zu. Nichts hatte sich verändert. Es war elf Uhr vormittags, und kaltes Sonnenlicht strömte durch das Fenster neben der Tür. Ein kleines Kohlenfeuer brannte im Kamin, und an einem Tisch ganz in der Nähe saß ein alter Mann vor einem Glas Bier; abgesehen davon war der Raum leer. Der hölzerne Boden, der Spiegel über dem Kamin, die Messingstange in Knöchelhöhe unter der zernarbten alten Theke - nichts hatte sich hier verändert. Der Pfeifenrauch des alten Mannes, der Biergeruch von 238
letzter Nacht, das Knistern der brennenden Kohlen- auf der Theke eine beim Sportteil aufgeschlagene Zeitung ... Spider schlurfte hinein und ließ sich neben der Tür auf einen Stuhl fallen. Alles war still und ruhig; Staub tanzte im hereinströmenden Wintersonnenlicht, und irgendwo hinter der Theke tickte eine Uhr. Spider saß wie gebannt, lauschte auf das Ticken der Uhr, und beobachtete die tanzenden Staubkömer. Ein Mann tauchte hinter der Theke auf, ein Glas in der Hand, das er mit einer Schürze abtrocknete. Er war es! Ernie Ratcliffl. Dieselben dünnen Hände, dieselben schmalen Augen, dieselbe Aura wieseliger Schläue, obwohl die Haare jetzt dünner waren, die Bitterkeit tiefer in die Linien des Gesichts eingeritzt. Er sah Spider an. »Was darf's sein?« fragte er. Spider sah ihn an. Ernie Ratcliff - einer der letzten, der seine Mutter lebend gesehen hatte! »Suchen Sie Ihren Mann, Mrs. Cleg? Er war zwar hier, aber ich glaube, er ist schon wieder gegangen. « Mehr oder weniger die letzten freundlichen Worte, die sie gehört hatte, und so freundlich nun auch wieder nicht, Ratcliff war noch nie das gewesen, was man einen freundlichen Mann genannt hätte. »Was darf's also sein?« wiederholte er, stellte das polierte Glas auf die Theke und trocknete sich die Hände an der Schürze ab. Spider kam auf die Beine, wählte in seinen vielen Taschen und brachte ein paar Münzen zum Vorschein, ein Dreipennystück, ein paar halbe Pennies. Er ging zur Theke und ließ seine Münzen auf die Platte fallen. Ratcliff begutachtete sie und griff wortlos nach einem Glas. Spider sitzt mit einem kleinen Glas Bier an der Tür. Nichts passiert. Ein zweiter alter Mann gesellt sich zu dem ersten, sie wechseln ein paar leise Worte und verstummen dann wieder. Spider betrachtete das Muster auf der Trennwand aus Milchglas; es erinnert ihn an eine blättrige Pflanze, an den blühenden Schößling eines Wurzelgemüses, einer gelben Rübe vielleicht. Ja, das alles war sein Werk, 239
gelc hatte tatsächlich gesündigt. Er trinkt einen Schluck Bier - ein sofortiges angeekeltes Zischen des Lungenwurms, hektische Aktivität unter den Spinnen. Er erinnert sich an die Geschichte seiner Mutter über die Spinnen in den Ulmen und denkt an seine eigenen Eingeweide, und an die Kreaturen, die dort ausgeschlüpft sind. Ich bin ein Eierbeutel, denkt er, und ich sollte an einem Faden von einem Ast baumeln. Er bleibt in der Wärme sitzen, bis es halb vier ist und Ernie Ratcliff ihn vor die Tür setzt. In den Tagen, die nun folgen, war Spider oft im »Dog and Beggar«. Er spazierte etwa eine Stunde in der Kitchener Street auf und ab und hoffte darauf, seine Mutter zu sehen, obwohl er im gleichen Augenblick, in dem er die schuttübersäte Grube an der Stelle entdeckt hatte, an der früher die Nummer siebenundzwanzig gestanden hatte, in irgendeinem Winkel seines Hirns gewußt hatte, daß er sie nie wiedersehen würde. Was also zog ihn hierher zurück? Weiß der Himmel, vielleicht nur der Wunsch, die Verwüstung anzustarren und sich selbst zu sagen, das ist dein Werk, das hast du getan. Nach dem dritten oder vierten Mal war er in der Lage, den Anblick zu ertragen, ohne von hoffnungsloser Verzweiflung erfüllt zu werden; eine seltsame Ruhe folgte, ein Gefühl der Verlangsamung, der Entschlußfindung, das durchaus etwas mit der ständigen beruhigenden Anwesenheit der Socke zu tun hatte, die in seinem Hosenbein herabbaumelte. Es war eine traurige, ungewisse, schläfrige Ruhe, mehr eine Melancholie, und sie wurde nur durch das nächtliche Gekreisch auf dem Dachboden gestört, und durch den sich windenden Lungenwurm, der im Inneren seines Körpers gefangen war. Er bewegte sich jetzt langsam aber zielbewußt durch das ihm gegebene Umfeld und verbrachte jeden Tag mehrere Stunden im »Dog and Beggar«. Es blieb nur noch eines zu tun: mit Hilda abzurechnen. Eines Nachmittags verließ er das »Dog and Beggar« und 240
schlug den altbekannten Weg zum Kanal ein, über die Brücke und den Hügel hinauf zum Omdurman Close, und weiter zu den Parzellen. Zu dieser späten Nachmittagsstunde neigte die Sonne sich bereits dem Fluß zu, und das Licht ließ merklich nach. Er schlurfte den Pfad hinunter zum Gartentor seines Vaters; der Garten war leer. Er betrat die Parzelle, ging auf dem Kartoffelbeet in die Knie und streckte sich dann flach auf der winterlichen Erde aus. Dort blieb er mehrere Minuten reglos liegen. Eine merkwürdige Stille lag über den Parzellen, eine Stille, deren Tiefe und Intensität durch das leise ferne Bellen eines Hundes nur noch verstärkt wurde. Auch in der Erde war es still, und so stand er mühsam wieder auf und ging um den Schuppen herum, von wo aus er einen ungehinderten Blick auf das öde Gelände hatte, das einst die Slates gewesen waren, und dahinter auf ein Gewirr aus Lagerhäusern und Docks, und dahinter auf den Fluß. Die Sonne hatte den Himmel inzwischen mit einem pudrigen, kalkigen Rot überhaucht, das zusehends tiefer und intensiver wurde. Schon jetzt schimmerten im Fluß die Lichter der Stadt, und ein Geschwader kleiner zerfaserter Wolken malte eine lange, fließende, schräg abfallende Linie quer über die Sonne, so daß sie, während sie mit der Sonne nach unten sanken, von den letzten Strahlen vergoldet wurden. Die Tower Bridge stand wie eine Kohlezeichnung schwarz vor dem Rot, und direkt darüber entdeckte er etwas, was wie mehrere plötzlich abgebrochene Zeilen in einer unleserlichen, geschmolzenen Schrift aussah. Er drehte sich um und wankte durch das Halbdunkel des Gartens davon, hinein in das Verblassen, das Sterben des Tages ... Oh, ich lasse meinen Bleistift angewidert auf den Tisch fallen. Ich bin weder mürbe noch melancholisch noch milde gestimmt, ich bin in einer gräßlichen Laune, die letzten Tage waren die reinste Hölle. Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht essen, und ich kann dem ständigen, alles durch 241
dringenden, fast lähmenden Gefühl nicht entkommen, daß alles um mich herum in etwas Stilles und Leeres und Totes verwandelt wird. Sogar die Luft scheint voll zu sein von Tod! Mehr als einmal ist mir der Gedanke gekommen, daß ich tot bin - das Vorhandensein des Wurms und der Spinnen in meinem Inneren würde darauf schließen lassen, das Schrumpfen meiner lebenswichtigen Organe, der Geruch nach Verfall und Verwesung, der jetzt ständig aus meiner Rinde sickert - sind das nicht Zeichen des Todes? Wann ist es passiert? Gab es einen Augenblick des Todes, einen Augenblick, von dem man sagen konnte, da hat er noch gelebt, da war er tot? Ich glaube nicht. Ich glaube, es ist ganz allmählich vor sich gegangen, ein langsamer Tod, der an dem Tag begann, an dem ich unter der Uhr von Ganderhill stand, mit meinem Pappkoffer und meinen drei Pfund obwohl mir, während ich dies niederschreibe, der Gedanke kommt, daß es vielleicht sogar noch früher angefangen hat, daß es in der Nacht angefangen hat, in der meine Mutter starb, und daß ich seitdem einfach heruntergebrannt bin, innerlich zu Asche und Staub verkohlt bin, und nur die äußeren Bewegungen erhalten blieben, die ruckhaften Gesten und Manifestationen des Lebens. Und so war es vielleicht gar kein Leben, sondern ein Zerbröckeln, nur zusammengehalten von Stöcken und einem Stückchen Schnur, das Gebastel eines Kindes; und jetzt ist nur noch Asche und Staub übrig, und die Spinnen, die sich von solchem Kompost nähren. Da ist die Klingel zum Abendessen, aber ich werde nicht hinuntergehen. Hilda ist irgendwo dort unten, wahrscheinlich immer noch auf der Jagd nach ihren Hausschlüsseln. Ich weiß, daß sie denkt, daß ich sie habe, denn sie war hier, um sie zu suchen, ihr Geruch hängt im Zimmer und will nicht fortgehen. Die Schlüssel sind immer noch in meiner Socke, aber das Ironische an der ganzen Sache ist, daß ich anscheinend nicht den Mut aufbringe, sie zu benutzen - ich habe das Gefühl, daß ich, sollte ich die Tür zur 242
Treppe zum Dachboden aufschließen und hinaufgehen, in Stücke zerrissen und aufgefressen würde; und deshalb ziehe ich es vor, ihre Unverschämtheiten zu ertragen, statt ihnen gegenüberzutreten. Und wie immer sind es nur das Heft und der Tabak, die meine einzige Stütze darstellen. Später höre ich Tanzmusik aus dem Radio im Tagesraum, und noch später stöhnen und donnern und scheppern die Wasserleitungen, als die toten Seelen ins Badezimmer und zur Toilette schlurfen, um ihre zerbröckelnden Zähne zu putzen und ihre geschrumpften Blasen zu entleeren. Tote Seelen! Ich bin jetzt die toteste der toten Seelen, sehen Sie doch nur, wie ich auf dem Bett liege und eine Dünne rauche, um den Lungenwurm zu beruhigen, sehen Sie sich den müden Zombie doch nur an! Noch später wird es im Haus still, und in den ersten Stunden der Nacht, bevor sie ihren Singsang aufnehmen, wandere ich oft von Stockwerk zu Stockwerk, denn ich liebe die Schatten. Vor allem liebe ich die Art, wie das Licht der Straßenlampen durch die Milchglasscheiben der Haustür fällt und einen dumpfen Schein durch den Flur breitet, ich sitze oft im Dunkeln auf der obersten Stufe der ersten Treppe und beobachte den Schein, denn ich habe festgestellt, daß er mich ruhiger macht. Noch ruhiger werde ich, wenn ich mich spät nachts, wenn alles still ist, in der Küche aufhalte. In einer Nacht entdeckte ich das Schränkchen unter der Spüle und war mit Hilfe meines Feuerzeugs dazu in der Lage, seinen Inhalt sorgfältig zu untersuchen: Es gab ein u-förmiges Rohr, das von der Spüle nach unten führte, außerdem einen Werkzeugkasten; Flaschen mit Putzmittel und Ammoniak; Lappen- Waschpulver; einen Stapel vergilbter Zeitungen; einen Blecheimer mit einer Scheuerbürste und einem Stück Karbolseife; ich fand sogar mein Seil dort drinnen. Ich verbrachte eine halbe Stunde damit, mit gekreuzten Beinen vor dem Schränkchen zu sitzen und hineinzustarren, während das Feuerzeug vor mir auf dem 243
Boden stand und unruhig vor sich hinflackerte. Dann räumte ich das Schränkchen aus, legte die Sachen ordentlich auf den Küchenboden, und kletterte selbst hinein - keine einfache Aufgabe, ich bin nicht gerade klein! Aber wenn ich den Kopf auf die Brust drückte und das u-förmige Leitungsrohr in den Schoß nahm und die Arme um die Knie schlang, gelang es mir, mich hineinzuzwängen und die Tür zuzuziehen. Zehn Minuten blieb ich zusammengequetscht in der Dunkelheit sitzen und empfand großen Frieden. Dann kletterte ich wieder heraus und drehte das Wasser an; mit dem Geräusch des fließenden Wassers in der Leitung war es in dem kleinen Schränkchen einfach himmlisch, und jetzt verbringe ich jede Nacht dreißig oder vierzig Minuten dort. Aber wenn ich zu lange bleibe, lassen sie es mich büßen, und so können Sie beobachten, wie ich plötzlich unter der Spüle hervorkrieche und in einem prachtvollen Zustand schuldbewußter Panik in mein Zimmer zurückhusche! Ah, die Kreaturen. Sie arbeiten jetzt oft an der Decke, sie benutzen die Decke als eine Art Leinwand und projizieren Bilder und sogar ganze Szenen darauf, die Verzerrungen oder ausgetüftelte Parodien von Teilen meiner Vergangenheit sind. Außerdem haben sie die gemeine Technik gelernt, die Gedanken meines Tages an sich zu reißen und in etwas Schmutziges oder Absurdes oder Groteskes zu verwandeln, und manchmal kann ich, auch wenn ich schreibe, nicht umhin, den Blick zu heben, und dann sehe ich eine verzerrte Imitation des Inhalts der Seite, die vor mir liegt - sehen Sie, jetzt! Sehen Sie, wie sie es in diesem Augenblick tun! Sehen Sie, wie riesig meine Hände sind, überdimensional groß, und mein Gesicht lang und gelb, und die Haut rieselt davon herab wie die Schuppen eines Kabeljaus unter dem Messer des Fischhändlers! Oh, sehen Sie, sehen Sie, wie es sich abmüht, das arme Ungeheuer, sich abmüht mit seinem Bleistift und seinen großen mißgestalteten Pfoten - und der 244
Bleistift wirkt winzig und zerbrechlich, als das Ungeheuer versucht, ihn zu fassen und zu handhaben - und ich zwinge mich, die Augen von diesem abscheulichen Anblick zu lösen, ich zwinge mich dazu, mich auf mein Heft zu konzentrieren, und als ich das tue, erhebt sich kreischendes Gelächter, und es ist einfach unmöglich, nicht zu hören, daß Hildas Stimme in diesem Lachen enthalten ist, mit ihrem heiseren und unterschwellig drohenden Unterton. Das Frühstück ist eine Tortur, denn ihre Augen besitzen die Fähigkeit, mich zu vernichten; noch gefährlicher ist es, die Diele zu durchqueren und zur Haustür zu gehen, und es ist mein Alptraum, auf halbem Weg ausgekuppelt zu werden. Die Angst davor sorgt natürlich dafür, daß es erst recht passiert, und so ertappe ich mich dabei, wie ich schon gegen Ende des Frühstücks versuche, nicht daran zu denken, daß ich ausgekuppelt werden könnte; es gelingt mir nur selten. Dann kommt sie aus ihrem Büro, und ich werde von Panik ergriffen. »Mister Cleg«, ruft sie. »Wo ist Ihr Mantel?« Oder: »Wo ist Ihre Mütze?« Eines Tages sagte sie: »Wir müssen Ihnen wirklich einmal die Fingernägel schneiden.« Ihr Gesicht hat angefangen, auf dieselbe Weise zu zerbrechen wie damals in der Kitchener Street, Augen und Kinn und Haare und Nase sind voneinander getrennt und treiben zusammenhanglos umher, so daß ich sie im Geiste zusammensetzen muß, um ein Gesicht daraus zu machen. Sie versucht nicht mehr, ihre Leblosigkeit und ihre Animalität zu verheimlichen, sie lassen sich deutlich an ihren Fingern ablesen, die sich vor nur mühsam unterdrücktem Zorn und Hunger verkrampfen und entkrampfen. Sie trägt dieselbe Strickjacke, die sie in der Nacht anhatte, in der sie meinen Vater hinunter an den Kanal am Gaswerk führte, und manchmal denke ich, daß sie sie öffnen und mir ihre Brüste entgegenstrecken wird, so wie sie es in jener anderen Nacht tat, und bei diesem Gedanken kommt Bewegung in meine Lunge. Aber sie läßt sich Zeit; jede Begegnung wird 245
abrupt und ungewiß abgebrochen, so daß ich verwundert zurückbleibe. Einmal sagte sie zu mir: »Mr. Cleg, was wissen Sie über das Brotmesser?« An jenem Tag war sie wieder oben in meinem Zimmer gewesen, ich konnte es riechen, als ich zurückkam. Es war, als hätte eine Meute wilder Tiere dort oben gelebt, nicht einmal Tabak und ein offenes Fenster konnten den Geruch vertreiben. Die Straßen sind mir kein Trost mehr: alles verliert seine Farbe, wirkt ausgebleicht und vertrocknet. Das Wetter ist Teil davon: eine Serie jener kalten klaren Tagen, an denen das Licht so kraß und hell ist, daß meine Augen keine warmen Taschen aus Farbe oder Schatten oder Feuchtigkeit finden, in die sie sich auf der Suche nach Sicherheit verkriechen können. Immer herrscht jetzt dieses Gleißen, die Straßen und Mauern und Fenster sehen alle hart aus, wie Metall, und sie schleudern mir weißes Licht entgegen und zwingen meine armen Augen dazu, hierhin und dorthin zu huschen, um diesem Licht zu entgehen, und ich kann nicht mehr am Kanal oder am Fluß sitzen, und so gehe ich in die Kitchener Street und verbringe meine Zeit im »Dog and Beggar«. An einen Besuch erinnere ich mich noch besonders deutlich: Ich überquerte gerade die Brücke über den Kanal, als mir ein Gedankenmuster auffiel, das nicht mein eigenes war: Alles, was ich berühre, stirbt. Wenn du mich liebst, stirbst du. Wenn ich dich berühre, stirbst du. Alles, was ich liebe, stirbt. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Wessen Gedankenmuster war das? Das meines Vaters. Es war mein Vater, der zum ersten Mal in mir zum Vorschein kam. Größere Seltsamkeiten folgten. Als ich das »Dog and Beggar« erreichte, schlurfte ich nicht an meinen üblichen Tisch hinten in der Ecke. Statt dessen blieb ich an der Theke stehen, einen Fuß auf der Messingstange, genau so, wie er immer gestanden hatte. Wieder war er er, der in mir zum Vorschein kam, und ich hatte nicht die Kraft, es zu verhindern. Ernie Ratcliff 246
war feindselig, auch sein Gesicht bricht auseinander, wenn er in meine Nähe kommt, und ich glaube, daß er entweder tot und ein Geist ist, oder aber ein Zombie wie ich. Ich bezahlte mein Bier und blieb über eine Stunde dort stehen. Heraus mit dem Tabak und den Blättchen, und wieder war er es, es war Horace, der an der Theke stand und sich eine Dünne drehte, und ich das hilflose Opfer oder Gefäß seiner Anmaßung. Ich war eingenommen worden, dieses Gefühl hatte ich, unterdrückt, beherrscht, und ich beobachtete in hilfloser Wut, wie er sich ganz wie immer benahm, sich auf die Ellbogen stützte, die Zigarette im Mundwinkel baumeln ließ, sich umdrehte, wann immer die Tür geöffnet wurde, aber trotzdem für sich blieb. Nur eines tat er nicht, sein Bier trinken - das hatte der Lungenwurm verboten, und so stand er im »Dog and Beggar«, ohne zu trinken, stand dort in einer Welt der Nässe, und verdurstete. Genau wie ich. Ab diesem Tag fing mein Vater an, meine Gedanken und Bewegungen immer häufiger zu übernehmen, und Spider war unfähig, es zu verhindern. Es war mein Vater, der anfing, nachts in Hildas Zimmer zu schleichen, und tagsüber, wann immer er im Haus war, beobachtete er sie hungrig aus verstohlenen, unsteten Augen, die sich abwandten-, sobald sie auf ihn aufmerksam wurde. Er fing an, darauf zu achten, wann sie ins Badezimmer und zur Toilette ging, und er versuchte, sie durchs Schlüsselloch zu beobachten, aber ich glaube nicht, daß es ihm öfter als zweimal gelang. Und dann, zu meinem Entsetzen, versuchte er eines Nachmittags im »Dog and Beggar«, eine Unterhaltung mit Ernie Ratcliff anzuknüpfen. Lieber Gott, die Demütigung! Er hatte absolut kein Talent für so etwas, keine Leichtigkeit, keine Übung, es war Jahre her, seit er sich zum letzten Mal beiläufig mit einem Fremden unterhalten hatte. Er stand an der Theke, so wie ich es eben beschrieben habe, und platzte einfach damit 247
heraus. Ernie Ratcliff stand am anderen Ende der Theke und unterhielt sich leise mit einem alten Mann, der keine Zähne und weiße Bartstoppeln hatte. »Erinnern Sie sich noch an Horace?« fragte mein Vater, und die Worte kamen als lautes Krächzen aus seiner Kehle, und Ratcliff und der alte Mann verstummten sofort. »Wie bitte?« sagte einer von ihnen. Ihre Augen bohrten sich in ihn hinein, er versuchte es noch einmal. »Erinnern Sie sich noch an Horace?« »Was für einen Horace? « fragte Ratcliff. »Cleg«, sagte mein Vater. »Horace Cleg.« Der alte Mann und Ernie Ratcliff wechselten einen langen Blick, und dann fing Ratcliff an, ein Bierglas trockenzureiben. »War es ein Freund von Ihnen, oder was? « fragte er leise. Mein Vater versuchte es mit einem Lachen, aber es funktionierte nicht; er war kurz davor, in Panik auszubrechen. »Ist im Krieg umgekommen, der alte Horace Cleg«, sagte der alte Mann. »Bei einem Luftangriff.« Ernie Ratcliff stieß ein erbittertes Schnauben aus. »Hat die ganze verdammte Straße in Schutt und Asche gelegt, das Ding. Aber Horace, dem war das zu dem Zeitpunkt schon egal. « Der alte Mann schüttelte den Kopf »Ganz egal«, sagte er. »Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der das Interesse am Leben so verloren hat wie Horace Cleg. Hat ihn umgebracht, was passiert ist.« »Würde jeden umbringen«, bemerkte Ernie Ratcliff, »die Frau auf so eine Weise zu verlieren. « »Ich richtiggehend vergast worden«, sagte der alte Mann, und drehte sich zu meinem Vater um. »In ihrer eigenen Küche. War übrigens eine nette Frau, diese Hilda, Hilda Cleg, und es war ihr eigener Junge, der das Gas angedreht hat.« Der alte Mann unterbrach sich, hob sein Glas mit einer zittrigen Hand, starrte meinen Vater mit 248
wäßrigen Augen an und flüsterte: »Sie war schon tot, als Horace sie fand! « Stille, irgendwo hinter der Theke konnte man die Uhr ticken hören. »Was ist eigentlich aus dem Jungen geworden? « fragte Ernie Ratcliff nach einer Weile, aber mein Vater hörte die Antwort nicht mehr, denn er war bereits aus dem Lokal geflohen, um nie wieder zurückzukommen. Die Tage, die jetzt folgten, wurden immer merkwürdiger für Spider. Das bedrückende Gefühl, daß alles und alle um ihn herum tot waren, verließ ihn nur noch selten, und er war sich darüber bewußt, daß er dafür verantwortlich war. Er war sich auch darüber bewußt, daß eine schreckliche Katastrophe unmittelbar bevorstand, hatte jedoch keine klare Vorstellung davon, wie sie aussehen oder aus welcher Richtung sie kommen würde. Ungefähr um diese Zeit herum beschloß er, daß er am liebsten auf hoher See beigesetzt werden wollte. Dann, eines Nachts, als er im Schränkchen unter der Spüle saß, brach eine neue Erinnerung in sein Bewußtsein ein. Er war in seinem Zimmer in der Kitchener Street, und er träumte. Er stand auf einer staubigen Straße, die sich pfeilgerade bis zum fernen flachen Horizont hinzog, und die Landschaft war völlig leer, bis auf einen niedrigen Zaun aus weißen Holzpfählen, der knöchelhoch an der Straße entlang verlief. Er ging auf den Horizont zu, als er plötzlich in das Skelett eines Hühnchens hineinfiel und sich in seinen Knochen verhedderte. Dann kam die Nachthexe aus der Wand heraus, bohrte ihren Finger durch die Knochen, versuchte, ihn zu packen, und zischte: »Spider! Spider!« Dann merkte er, daß er nackt war und daß er von einem weichen, schwarzen Schimmel bewachsen war. Er streichelte sich, 249
woraufhin er pinkeln mußte, und als er das tat, fing es auf der Stelle an zu regnen, und der Regen prasselte so heftig an sein Fenster, daß er wach wurde und den Gasgeruch in seinem Zimmer bemerkte. Alle Perspektiven waren verzerrt, die Linien von Fußboden und Decke schienen nicht mehr miteinander verbunden zu sein, und die Tür war meilenweit vom Bett entfernt, obwohl die Wände rechts und links von ihm so dicht beieinander standen, daß man das Gefühl hatte, sich in einer schmalen Gasse zu befinden. Auf dem Fußboden lagen die Fliegenschachteln, an denen er gearbeitet hatte, bevor er einschlief, und er kletterte aus dem Bett, setzte sich auf den Boden, pickte die Fliegen von den Nadeln und steckte sie sich in den Mund. Die ganze Zeit über wurde der Gasgeruch immer stärker und reizte ihn zum Lachen, obwohl es seltsam war, daß er, während er lachte, überhaupt nichts empfand. Ein paar Minuten später wurde ihm schlecht, und gleichzeitig überkam ihn ein plötzliches, überwältigendes Gefühl der Schuld und der Hoffnungslosigkeit. Er ging ans Fenster und öffnete es und beugte sich über das Fensterbrett in den peitschenden Regen hinaus, schlaff wie eine Lumpenpuppe, bis das Gefühl vorbeiging, und dann fing er wieder an zu lachen, obwohl er dabei wieder nur ein totes Gefühl in seinem Inneren empfand. Schon vor einer ganzen Weile hatte er eine Decke unter seine Tür gestopft; er hörte, wie die Tür aufgedrückt wurde, und dann wurde er, immer noch ganz schlaff, die Treppe halb hinunter geschleift, halb getragen, und durch die Haustür hinaus in den Regen. Da erst merkte er, daß er sich die Hose naß gemacht hatte. Er starrte auf die offene Tür der Nummer siebenundzwanzig und sah, wie sein Vater rückwärts herausgetaumelt kam und Hilda hinter sich herschleifte, und darüber mußte er noch mehr lachen, obwohl er sich auf eine unbestimmte Weise gleichzeitig auch wunderte. Später merkte er, daß die Nachbarn in kleinen Grüppchen im Regen auf der Straße standen, und er sah auf 250
den ersten Blick, daß keiner von ihnen am Leben war, daß sie Geister waren. Danach erinnerte er sich an ein schwarzes Auto mit brennenden Scheinwerfern, und er erinnerte sich daran, wie der Regen schräg durch die Lichtkegel fiel, und außerdem war da ein Krankenwagen mit einem roten Kreuz an der Seite. Er erinnerte sich daran, daß Hilda auf eine Trage gelegt und mit einem Laken zugedeckt wurde, und als er das sah, fing er wieder an zu lachen, aber trotzdem war er irgendwie verwirrt und hatte das unbestimmte Gefühl, daß das Ganze irgendwie ein Irrtum war. Spät eines Abends, bevor der Singsang anfing, lag Spider auf dem Rücken vor dem Kamin und tastete nach seinem Heft. Es fiel herunter, das schmutzige Ding, und er trug es zum Tisch und schlug es bei der letzten Eintragung auf. Dann nahm er den Bleistift zur Hand und fing an zu schreiben. Die Anwesenheit des Wurms und der Spinnen in meinem Körper (schrieb er), hat mir eindringlich klargemacht, daß ich ein toter Mann bin. Folgendes werde ich tun. Wenn diese Eintragung abgeschlossen ist, werde ich meinen Mantel anziehen und das Haus verlassen. Es ist eine klare Nacht, und der Mond ist fast voll. Ich werde das Haus sehr leise verlassen und, den Weg zum Fluß einschlagen, zwischen den Lagerhäusern hindurch, bis zu den glitschigen Stufen. Unterwegs werde ich häufig stehenbleiben, um Steine aufzusammeln, je schwerer desto besser, und mit diesen werde ich die vielen Taschen der verschiedenen Kleidungsstücke füllen, die ich trage. Zweifellos werde ich langsamer vorankommen, je schwerer meine Kleider werden, aber ich werde weitergehen, weiter durch die leeren mondhellen Straßen, und wenn ich die glitschigen Stufen erreicht habe, werde ich sehr schwer geworden sein. Ich werde eine seltsame Gestalt abgeben, ich, der alte Spider - innerlich leer bis auf den Wurm und die Spinnen, umhüllt von Pappe und Zeitungs251
papier und diversen Schichten von Kleidungsstücken, die alle mit Steinen beschwert sind - und tot! Ein seltsamer Zombie, oder etwa nicht? Ich werde oben auf den glitschigen Stufen stehenbleiben und das Mondlicht auf dem Fluß beobachten, und ich werde an die Nordsee denken. Ich werde an jenes leere Meer denken, das sich unter dem Mond hebt und senkt, während ich vorsichtig anfange, die Stufen hinabzusteigen, und ich werde mir im Geiste vorstellen, wie das blasse Licht auf seinen Wellen schimmert, und wenn der Fluß anfängt, um meine schweren, flachen Anstaltsschuhe zu strudeln, wenn er die Aufschläge meiner schlotternden Flanellhose packt und an ihnen zu zupfen beginnt, wenn die Papierschichten um meine Beine sich vollsaugen und meine Socken naß werden - werde ich an die Stille der mondhellen See denken. Und wenn ich bis zur Brust im Wasser stehe, werde ich immer noch an die Nordsee denken, und ich werde innerlich frohlocken, o ja, das werde ich, ich werde frohlocken beim Gedanken an die Stille und die Dunkelheit und die Feuchtigkeit und den Schlaf Und dann wird der Fluß seine Arme um mich schlingen, und ich werde untergehen, und nichts wird bleiben vom alten Spider, nur ein schmutziges Heft, das in einem Kamin versteckt ist. Ein hübsches Bild, nicht wahr? Ein hübscher Tod. Aber er ist nicht für mich bestimmt. Ich werde es nicht auf diese Weise tun, so verlockend es auch klingen mag, die Stille, die Feuchtigkeit, die mondhellen Wellen. Nein, für mich gibt es nur einen Ausweg, und das ist nicht der Fluß. Ich denke nun schon seit Wochen darüber nach, seit ich jenes Seil gefunden habe - von dem Hilda dachte, sie könnte es mir wegnehmen! Aber ich habe es wiedergefunden. Ich habe es im Schränkchen unter der Spüle gefunden, und jetzt werde ich es benutzen. Wo? Oben auf dem Dachboden natürlich, wo ihre verdammten Kreaturen sehen können, wozu sie mich getrieben haben? Sie können gackern, sie können 252
dröhnen, sie können singen und mit ihren dreckigen Füßen stampfen, sie können den Staub im Mondlicht tanzen lassen und Bilder an das Dach zeichnen, aber wird das den alten Spider daran hindern, auf einen kaputten Stuhl zu zeigen, das lose Ende des Seils durch den Ring gezogen, das Seil über einen Balken zu werfen? Und den Kopf durch die Schlinge zu stecken? Wird es ihn daran hindern, den Stuhl unter sich fortzutreten? Nein, das wird es nicht, das wird es nicht! Oh, genug. Hören Sie, im Haus ist es so still, daß man die toten Seelen im Schlaf husten und murmeln hören kann. Aber es gibt noch eine Frage: Wieso denke ich ständig an die Zähne von John Giles? An seine falschen Zähne, meine ich, die Zähne, die er bekam, nachdem sie ihm die echten gezogen hatten? Sie lebten in einem Wasserglas auf einem Regal im Dienstzimmer der Wärter, und vor jedem Essen ging er hin und holte sie sich, und brachte sie nach dem Essen wieder zurück. Nun, es gab einen Sommer, in dem John schon mehrere Monate lang ganz ruhig gewesen war, und sie beschlossen, zum ersten (und einzigen) Mal, es auf einer der unteren Stationen mit ihm zu versuchen; sie beschlossen auch, wenn er gesund genug war, um unten zu leben, müsse er auch gesund genug sein, seine Zähne zu tragen. Ich arbeitete damals im Gemüsegarten, und eine der großen Freuden jenes Sommers war es, mir die Krickettspiele anzusehen, denn vom alten Teegarten aus hatte ich einen guten Blick auf das Spielfeld weiter unten. Eines Nachmittags hatte Ganderhill also eine Mannschaft aus einem benachbarten Dorf zu Gast, und die Männer aus den unteren Stationen gingen hin, um es sich anzusehen, unter ihnen auch John. Vielleicht war die Sonne schuld daran, jedenfalls geriet er mitten im Spiel plötzlich in Erregung. Ich hatte von dort, wo ich arbeitete, das Krachen von Leder auf Weide gehört, den Applaus, die an den Schiedsrichter gerichteten Rufe, all diese Geräusche drangen klar und deut253
lich den Hügel hinauf zu mir - und dann hörte ich plötzlich eine Stimme brüllen: »Austin Marshall, wo ist mein Verstand? Wo ist mein Verstand, du Bastard?« Ich sah hinunter, und John war mitten unter den Krickettspielern. Er starrte zu den Gebäuden hinauf und fuchtelte mit den Fäusten. »Du Bastard!« brüllte er. »Wo ist mein Verstand?« (John glaubte, der Direktor hätte ihm den Verstand gestohlen, als er schlief). Drei oder vier Wärter bewegten sich vorsichtig über den Rasen auf ihn zu, als Dr. Austin Marshall höchstpersönlich auf der obersten Terrasse erschien und hinunterrief. »Was ist los, John?« Ich drehte mich zu ihm um, die Hände zum Schutz gegen die Sonne über die Augen gelegt. Aber der Anblick des Direktors machte den armen John nur noch wütender, und er rannte auf die Treppe zu. Die Wärter hatten ihn natürlich kurz darauf überwältigt und schleppten ihn, der sich wie ein wildes Tier wehrte und immer noch schrie, die Treppe hinauf zur obersten Terrasse und von dort direkt auf die Station der harten Bänke. Erst als sie ihn dort abgeliefert hatten, merkten sie, daß er während des Handgemenges seine Zähne verloren hatte. Jedenfalls hatten wir einen oder zwei Tage reichlich Gesprächsstoff, und dann vergaßen wir die Geschichte. Aber etwa zwei Wochen später schnitt ich im Beet neben dem Pfad Kopfsalat. Es waren wundervolle Köpfe, die ich in jenem Sommer gezogen hatte, Augustas, eine knackige, grüne, blättrige Sorte. Es war ein kühler Sommer gewesen, und kühle Sommer sind gut für Kopfsalat, denn Hitze macht die Blätter bitter und läßt sie zu schnell schießen. Ich habe schon alle Arten von Salat gezogen, aber die Augustas sind mir am liebsten, sie sind am süßesten und butterigsten. Ich schnitt also meine Augustas, als ich ganz in der Nähe des Pfades auf ein besonders prachtvolles Exemplar stieß. Ich zog die dicken äußeren Blätter auseinander, und dort, mitten im Herz der Pflanze, lagen Johns Zähne! Und grinsten mich an! Und in diesem Augenblick glaubte ich zu hö254
ren, wie der Kopfsalat sagte: »Wo ist mein Verstand, du Bastard?« Komisch, oder nicht? Ein leises, ächzendes Lachen des alten Spider, als er nach seinem Tabak greift. Eine letzte Dünne, eine für unterwegs, und dann heraus mit der Socke, heraus mit den Schlüsseln, und nichts wie rauf auf den Dachboden!
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