Michael Morley
Spider
s&c 01/2008
Jack King, bester Profiler des FBI, zerbricht an seinem letzten Fall und zieht sich...
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Michael Morley
Spider
s&c 01/2008
Jack King, bester Profiler des FBI, zerbricht an seinem letzten Fall und zieht sich nach Italien zurück. Der sogenannte Black-River-Killer hat auf qualvolle Weise junge Frauen ermordet. Drei Jahre später holt das Grauen Jack in seiner privaten Idylle ein: Ein Mordfall in der Toskana trägt die kaltblütige Handschrift des Killers … ISBN: 978-3-453-26573-8 Original: Spider (2007) Aus dem Englischen von Jürgen Bürger Verlag: Heyne Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Sechzehn Jahre lang hat der Black-River-Killer sein Unwesen getrieben. Auch Jack King vom FBI, einer der weltweit angesehensten psychologischen Profiler, kommt dem Killer nicht auf die Spur und zerbricht an diesem Fall. Mit seiner Frau Nancy und ihrem kleinen Sohn Zack zieht er sich in die Toskana zurück, wo sie in San Quirico eine kleine Pension betreiben. Plötzlich taucht in Italien eine Leiche auf, und die Tat trägt eindeutig die Handschrift des Black-River-Killers. Gleichzeitig schlägt dieser auch wieder in den Vereinigten Staaten zu: Über Internetvideo verbreitet er Liveaufzeichnungen davon, wie er eine Straßenprostituierte foltert. Der Killer spielt ein mörderisches Spiel mit Jack und lockt ihn immer mehr in sein tödliches Netz …
Autor
MICHAEL MORLEY hat lange als Enthüllungsjournalist und Dokumentarfilmer im Bereich Verbrechensaufklärung gearbeitet und dabei intensive Einblicke in das Denken und Fühlen von Serienkillern erhalten. Er lebt abwechselnd in den Niederlanden, wo er bei einer großen TV-Gesellschaft eine führende Stellung innehat, und im englischen Derbyshire. Spider ist sein erster Roman.
Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Friedrich Nietzsche
PROLOG Georgetown, South Carolina
SAMSTAG, 30. JUNI Zum kühlen, dämmrigen Ausklang eines siedend heißen Tages speien Barbecue-Grills Feuer. Partygelächter zieht die Ufer des sich dahinschlängelnden Black River in South Carolina entlang. Am anderen Ende der Stadt betritt eine traurige Gestalt den Friedhof von Georgetown und sucht nach dem Grab eines ihm einst nahestehenden Menschen. Seit Tagen ist er auf dieser Pilgerreise unterwegs und inzwischen körperlich und seelisch erschöpft. In den Armen hält er einen Blumenstrauß, ihre geliebten weißen Spinnenlilien. Als er ihr das erste Mal begegnete, war sie in einem der örtlichen Parks von Abertausenden dieser Blumen umgeben gewesen. Diese Pflanze hatte für sie beide eine ganz besondere Bedeutung gewonnen. Die Grabsteine auf dem voll belegten Friedhof tragen Namen, die fast so alt sind wie Amerika selbst. Die Einwohner haben hier ihre Toten schon Mitte des 16. Jahrhunderts begraben, als die ersten spanischen Siedler alt wurden und verstarben. Das Grab, nach dem er sucht, gehört keiner berühmten Person; keine übergroße Statue, kein reich verziertes Familiengrab markiert die Stelle. Die Frau entwich der Anonymität erst, als ihr verstümmelter junger Körper aufgedunsen und verwesend im Tupelo-Sumpf, einem Nebenarm des Black River, auftauchte: ein uralter Gewässerstreifen, der einst Handelsweg der kommerziellen Kolonialisierung und Hauptwasserweg für South Carolinas Plantagen gewesen war.
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Endlich entdeckt er ihren Grabstein. Einfacher schwarzer Marmor, finanziert aus einem Armenfonds der Gemeinde. In goldenen Buchstaben steht dort ihr Name: Sarah Elizabeth Kearney. So hat er sie nur nie genannt. Für ihn war sie »Sugar« gewesen, und er für sie einen Nachmittag lang einfach nur »Spider«. Sie war gerade mal zweiundzwanzig gewesen, und wie die Spinnenlilien, die sie zusammengebracht hatten, blühte sie gerade erst auf, wurde sie sich ihrer Schönheit eben erst bewusst, sprossen gerade erst ihre Träume. Spider zupft Unkraut zwischen den Kieseln auf ihrem Grab heraus und legt die großen Blumen hin. In Gedanken kehrt er zu jener wundervollen Begegnung zurück, die auf den Tag genau vor zwanzig Jahren stattfand. Sugar war etwas ganz Besonderes. Sie war die Erste. Die Erste, die er entführt hat. Die Erste, die er umgebracht hat.
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ERSTER TEIL SONNTAG, 1. JULI
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KAPITEL EINS
San Quirico d’Orcia, Toskana Jack King wurde von einem Albtraum aus dem Schlaf gerissen. Er richtete sich kerzengerade im Bett auf und griff, obwohl er nach Luft rang und im ersten Augenblick nicht wusste, wo er war, instinktiv nach seiner im Halfter steckenden Waffe. Aber da war keine Waffe, war keine mehr, seit er vor über drei Jahren seinen Job als FBI-Profiler aufgegeben hatte. »Alles in Ordnung?«, brummte im Halbschlaf seine Frau Nancy, die sich inzwischen an Jacks nächtliche Runde böser Träume gewöhnt hatte. Nichts war in Ordnung, aber ihr einstudiertes Beruhigungsritual verlangte, wie Jack wohl bewusst war, dass er genau das von sich behauptete. Die Albträume waren heftig, brutal und blutig. Jede Nacht wurde er von etwas so plastisch Greifbarem gepackt, dass es ihm trotz der ständigen Wiederholungen immer noch schwerfiel zu glauben, dass alles nur ein böser Traum sein sollte. »Ja, Nancy, alles in Ordnung«, antwortete er. »Schlaf weiter.« Die Nachtluft der Toskana war vom Duft des Lavendels, des Salbeis und der Wildrose getränkt, der vom Garten unter dem Fenster heraufströmte. Nancy King legte ihrem Mann tröstend die Hand auf den nackten Rücken und streichelte ihn sanft, so wie sie es auch bei ihrem dreijährigen Sohn tat, wenn sie ihn beruhigen wollte. »Mein Gott, Jack, du bist schon wieder schweißgebadet. Bist du dir sicher, dass alles in Ordnung ist?« »Ja. Versuch, wieder einzuschlafen. Ich glaube, ich geh unter die Dusche und trinke danach noch was.« 8
Plötzlich musste er sich am ganzen eins neunzig großen und neunzig Kilo schweren Körper schütteln wie ein großer Hund, der gerade aus dem Wasser kam. Nancy riss ihre Hand erschreckt zurück. Die Albträume ihres Mannes verfolgten sie fast genauso wie ihn. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal durchgeschlafen hatte, obwohl alles an ihr danach gierte. »Schatz, du weißt doch, je früher du jemanden deswegen aufsuchst, umso besser wird es sein. Für uns beide.« Das war der wunde Punkt. Seit seinem Zusammenbruch hatte Jack sich beharrlich geweigert, sich einer Therapie zu unterziehen, doch vor Kurzem hatte er endlich eingewilligt, zu einem Psychiater zu gehen. »Ich geh jetzt duschen«, sagte er und stand auf. Kaum hatte er das getan, pochte sein Herz wieder wie verrückt. Früher schlug es nur dann so heftig, wenn er seine Runden auf der Aschenbahn in Quantico drehte oder wenn Nancy und er wie in den Flitterwochen knutschten und fummelten. Es kam ihm inzwischen wie eine Ewigkeit vor, seit er beides zum letzten Mal getan hatte. Irgendwie stimmte die sexuelle Chemie bei Nancy und ihm nicht mehr. Die Liebe war noch da, aber die nie enden wollenden Albträume hatten ihn in tiefe Melancholie gehüllt. Und was Quantico betraf, dieses Kapitel war in seinem persönlichen Geschichtsbuch abgeschlossen. Sie waren unmittelbar nach Jacks Zusammenbruch in die Toskana gezogen, Nancy hatte darauf bestanden, und eigentlich hatte sie gehofft, dass alles schon längst wieder normal wäre. Im Nachhinein begriff sie, wie blauäugig ihr Optimismus gewesen war. Es gab nun einmal solche und solche Zusammenbrüche, und Jacks Zusammenbruch war wohl eher ein Erdbeben gewesen. Nancy zog die weißen Laken bis unters Kinn, eine Angewohnheit aus Kindertagen, dann lag sie auf dem Rücken da und starrte in die Dunkelheit. In solchen Augenblicken dachte sie oft an jenen schicksalhaften Tag in New York, als sie ans Telefon 9
ging und Jacks Stellvertreter Howie Baumguard in der Leitung war. Howie und Jack hatten fast alles zusammen gemacht; die beiden standen sich sehr nah, und wenn Howie eine Frau gewesen wäre, dann hätten sie eine Affäre gehabt, darauf hätte Nancy ihr Leben verwettet. Die Jungs waren gerade erst auf dem JFK gelandet, nachdem sie in Los Angeles einer Konferenz über alte, nie aufgeklärte Fälle beigewohnt hatten. Ihr Mann hatte diese Dienstreise von Anfang an nicht antreten wollen. In den Monaten davor hatte er Tag und Nacht an einer Reihe von Serienmorden gearbeitet und die FBI-Spitze gedrängt, weitere Unterstützung zu bewilligen, aber daraus war nie etwas geworden. Jack war immer ein Ass in seinem Job gewesen, der erfolgreichste und bekannteste Profiler seit den Tagen von John Douglas, Robert Ressler und Roy Hazlewood, den Gründervätern dieser Abteilung. Jack hatte jedoch eine entscheidende Schwäche: Er konnte einfach nicht Nein sagen. Er war schon vor der Abreise zu Tode erschöpft gewesen, schon bevor er sich vor ihrem Loft in Chelsea mit einem Kuss von Nancy verabschiedet hatte. Nancy war zu diesem Zeitpunkt im neunten Monat schwanger gewesen, und ihre größte Sorge war es, dass er wegen dieses zweitägigen Trips womöglich die Geburt ihres ersten Kindes verpasste, falls es beschloss, frühzeitig auf die Welt zu kommen. Als Nancy ihn das nächste Mal sah, lag Jack auf der Intensivstation; er war in einem Flughafen-Café zusammengebrochen. Er sei zu Boden gegangen wie eine gefällte Eiche, erzählte man ihr später, und habe dabei zwei andere Leute und ein volles Tablett mit Cappuccinos und Kuchen mit sich gerissen. Sie erfuhr auch, dass er so etwas wie einen leichten Schlaganfall erlitten habe und dies als Warnung verstehen solle, dass er sein Leben ändern müsse, wenn er sich das Erlebnis eines ausgewachsenen Schlaganfalls ersparen wolle. Es dauerte Wochen, bis Jack wieder normal schlafen, gehen und reden konnte, und selbst dann zögerten die Ärzte noch, ihn 10
zu entlassen. Als Nancy ihn endlich nach Hause holen konnte, war ein kleiner Junge in ihr Leben getreten, und die Entscheidung, dass er beim FBI aufhören sollte, war bereits gefällt worden, ohne dass Jack etwas davon wusste. Nancy hatte keine Skrupel, die Angelegenheit voranzutreiben; sie war die Tochter eines ehemaligen Marine und war dazu erzogen worden, kritische Situationen mit einem Blick zu erfassen. Der Druck, der auf Jack lastete, hatte nicht nur seine Gesundheit ruiniert, sondern beinahe auch noch ihre Ehe und Nancys Leben. Eigentlich hatte sich der Zusammenbruch schon eine ganze Weile angekündigt. Jack unterlag immer stärkeren Stimmungsschwankungen und hatte angefangen, Nancy nicht mehr an sich heranzulassen. Die Situation eskalierte, als sie eines Tages zufällig mithörte, wie er eine Rede einstudierte und dabei den Philosophen Friedrich Nietzsche zitierte: »Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.« Nancy hatte einen Wutanfall bekommen und verlangt, dass er endlich auf seine eigenen Ratschläge hören und seine Ungeheuer in der Arbeit lassen solle, statt sie ständig mit nach Hause zu bringen, wo sie beide mit ihnen kämpfen müssten. Sie hatte gehofft, dass ihr Wutausbruch irgendetwas bewirken würde, aber das hatte er natürlich nicht. Wie denn auch, hatte er sie mehrfach gefragt. Wie könne er denn aufhören, so hart wie nur möglich zu arbeiten, wenn das sofort bedeuten würde, dass noch mehr Kinder misshandelt, noch mehr Frauen vergewaltigt und noch mehr Menschen umgebracht wurden? Aus diesen Erinnerungen wurde Nancy gerissen, als Jack laut prustend aus der Dusche kam. Ein nebliger Lichtschein aus dem dampfigen Badezimmer folgte ihm und fiel dann weit ins Schlafzimmer hinein, als er aus der Tür trat. »Du bist immer noch wach?«, fragte er überflüssigerweise.
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»Sieht so aus, oder?«, erwiderte Nancy eine Spur gröber als beabsichtigt. Jack lächelte sie an, und sie verzieh ihm sofort. Er war pudelnass und hatte sich ein weißes Handtuch um die Hüften gebunden, über dem sich noch immer deutliche Spuren des Waschbrettbauchs abzeichneten, der sie immer so angetörnt hatte, wenn sie mit ihren Fingern darüberfuhr. Als sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte sie ihn viel zu schön gefunden, um ihr Typ zu sein. Große, dunkelhaarige, gut aussehende Kerle mit Holzfällerschultern und Keanu-Reeves-Gesicht waren toll zum Anhimmeln, aber die reinste Hölle, wenn man sich unterhalten oder gar eine Beziehung mit ihnen eingehen wollte. Jack war die Ausnahme von dieser Regel, und das hatte sie einfach umgehauen. In diesem Riesenkerl steckte ein kluger Verstand mit einem sicheren Gespür für richtig und falsch, gepaart mit gelegentlich aufblitzender Romantik und Zärtlichkeit, die er ebenso zu genießen schien wie Nancy. Es war schon komisch, aber als sie mit Jack ging, hatte Nancy sich zum ersten Mal in ihrem Leben unsicher gefühlt, und wenn sie ehrlich war, hatte sich daran auch nach zehnjähriger Ehe nichts geändert. Klar ausgedrückt, manchmal fragte sie sich, was er eigentlich an ihr fand. Als sie zusammengezogen waren, durchblätterten sie einmal ein Fotoalbum, und da bekam sie einen guten Einblick in die Jahre vor ihrer Zeit. Jacks frühere Flammen waren ausnahmslos groß gewesen, und alle hatten langes blondes Haar und Figuren, mit denen sie auf großflächiger Außenwerbung Reklame für Dessous hätten machen und damit Massenkarambolagen verursachen können. Nancy wiederum sah sich im günstigsten Fall als Brünette mit durchschnittlicher Oberweite, die ihr Haar gern kurz trug und selbst auf ihren höchsten Absätzen gerade mal eins siebzig erreichte. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie habe die babyblauen Augen eines Engels – vielleicht war es ja das. Jedenfalls hatte sie sich
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einen guten Mann geangelt, der sich obendrein als wunderbarer Vater herausstellte, und dafür war sie überaus dankbar. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte Jack und rieb sich die Haare mit einem kleinen weißen Handtuch trocken. Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Möchtest du etwas Eiswasser oder lieber Tee, Kaffee oder Kakao?« »Eisgekühlter Schlaf wär mir lieber«, sagte Nancy und stützte sich auf ihren Ellbogen ab. Sie schaltete die Nachttischlampe an und blickte missmutig drein. Sie brauchte Licht um sich herum, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte. »Jack, du gehst doch heute zu dieser Psychiaterin, oder?« Jack schleuderte das Handtuch auf den Boden. Schlagartig verfinsterte sich seine Stimmung. »Wie oft muss ich denn noch Ja sagen? Ja, ja, ja, ich werde hingehen, und ja, ich werde diese verfluchte Psychiaterin aufsuchen.« Nancy mochte es nicht, wenn sie sich stritten. Sie wusste, dass Jack etwas empfindlich war, wenn es darum ging, dass er Hilfe brauchte, aber sie hielt das für so wichtig, dass sie bereit war, wenn nötig einen weiteren Sturm zu überstehen. »Wenn ich dich nicht trieze, würdest du nie etwas unternehmen, das weißt du selbst. Ich will dir doch nur helfen.« »Tut mir leid, ich bin nur ein bisschen gereizt«, sagte Jack und setzte sich neben ihr aufs Bett. »Bist du nervös, weil du zu der Psychiaterin gehen sollst?« Jack schwieg einen Moment. »Ich glaub schon. Ich mochte diese Hirnklempner noch nie.« Nancy verdrehte die Augen. »Das hört sich aus deinem Mund irgendwie komisch an.« »He, ich bin kein Psychiater«, sagte er lachend. »Ich bin ein psychologischer Profiler, das ist …« »Du warst einer«, betonte Nancy. Jack wirkte über diese Zurechtweisung verärgert. »Ja, ja. War ich. Entschuldigung. Jedenfalls gibt es einen ziemlichen 13
Unterschied zwischen dem, was ich tue – getan habe –, und dem, was Psychiater tun.« »Das Ganze muss endlich ein Ende haben.« Nancy beugte sich zu ihm vor und ergriff mit beiden Händen eine seiner riesigen Pranken. »Wenn du jetzt nach drei Jahren immer noch diese Träume hast und diesen verdammten Fall immer noch nicht loslassen kannst, dann brauchen wir professionelle Hilfe, damit du es schaffst.« Jack wollte schon etwas erwidern, behielt es aber für sich, stand auf und ging hinaus. Es war zu früh am Morgen und die Schlacht schon zu weit fortgeschritten, um weiterzukämpfen.
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KAPITEL ZWEI
Georgetown, South Carolina 20 JAHRE VORHER Sie fiel ihm sofort ins Auge, wie sie da über die Uferpromenade flanierte. Sein Blick filterte die Umstehenden aus, er konzentrierte sich ganz auf sie, wusste, sie war es! Irgendwo tief in seinem Inneren riss sich etwas Dunkles, Animalisches von der Kette und regte sich. Er beobachtete sie beim Schaufensterbummel in der Nähe des Old Rice Museum, als sie wohl gerade überlegte, ob sie sich ein neues Kleid leisten oder das Geld lieber für die Miete sparen solle. Er ließ die Augen keine Sekunde von ihr. Sie aß im Trove – ein sich nicht an Touristen anbiederndes Restaurant in einer dämmrigen Seitengasse – einen kleinen gemischten Salat mit French Dressing und trank dazu Mineralwasser. Sie nahm keinen Nachtisch, dafür aber einen schwarzen Kaffee. Er beobachtete alles von dem Tisch in der Nähe des Herrenklos aus und ging ihr sofort nach, nachdem sie ein Trinkgeld liegen lassen hatte, das sie sich wahrscheinlich gar nicht leisten konnte. Als er später in einem der Buchläden in der Schlange hinter ihr stand, fiel ihm auf, wie sehr sie doch seiner Mutter ähnelte. Er liebte ihr langes braunes Haar und hätte es am liebsten berührt und daran gerochen. Es war eine Qual für ihn, ihr so nahe zu sein, ohne sie berühren zu dürfen. Er konnte sehen, dass sie nur noch zehn Dollar in ihrem Portemonnaie hatte und keine Kreditkarten besaß. Viel interessanter fand er aber den Titel des Buches, das sie aus dem Korb mit den Sonderangeboten gefischt hatte: Gesunde Single-Küche. Er 15
setzte das Puzzle zusammen. Alleinstehend, gut aussehend, übte irgendeine Hilfstätigkeit aus, die ihr nicht annähernd so viel einbrachte, wie es sollte. All diese Einzelheiten katapultierten sie auf seiner Liste möglicher »Projekte« ganz nach oben. Er hatte schon drei andere »Projekte« am Laufen, drei Frauen, denen er wie besessen folgte und an die er ständig dachte. Er war ihnen gefolgt, erst aus der Ferne, dann immer näher und näher, bis er sie schließlich hätte streifen oder berühren können. All dies war Futter für seine Fantasien gewesen, die Probe auf die Praxis. Jetzt war er bereit, die drei zu vergessen. Sie konnten ihr nicht das Wasser reichen. Sie bemerkte ihn nie, wie er da in seinem Wagen auf der anderen Straßenseite saß und den ganzen Tag beobachtete, wie sie ihr Appartement über der Bäckerei in der Nähe der Plantersville-Grundschule betrat und wieder verließ. Auch bei Nacht bekam sie nichts davon mit. Er beobachtete sie und lauschte hinter den riesigen Müllcontainern auf dem Bäckereigrundstück; sein Blick klebte förmlich an dem offenen Fenster keine drei Meter über ihm. Kein blaues Fernsehlicht fiel an die Zimmerdecke; entweder besaß sie keinen Fernseher, oder aber sie hatte kein Verlangen nach dieser künstlichen Gesellschaft. Keine Musik tröpfelte durch die papierdünnen Wohnungswände, kein Radio plapperte, niemand rief sie an. Er verarbeitete all diese Informationen. Er musste sicher, absolut sicher sein, bevor er den nächsten Schritt wagen würde. Sie war schüchtern, fand er, sensibel und – was am allerwichtigsten war – allein. Jeder Hinweis bestärkte seine Überzeugung, dass sie die Richtige war. Endlich, endlich hatte er die perfekte Frau gefunden. Am zweiten Tag seiner Observierung ging sie am späten Vormittag joggen, und er nutzte die Gelegenheit, um die eiserne Treppe hinter der Bäckerei hinaufzusteigen und durch die Fenster in ihr bescheidenes Heim zu linsen. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er ein in braunes Papier gewickeltes Paket mit der Adresse der Nachbarwohnung versehen. Wenn ihn jemand 16
ansprach, würde er so tun, als wäre er ein Lieferant. In der Küche erspähte er neben der Spüle einen Teller, ein Glas, einmal Messer und Gabel. Im kleinen Wohnbereich gab es keinerlei Hinweis auf einen Mitbewohner oder eine Mitbewohnerin. Die Würfel waren gefallen, nun war alles nur noch eine Frage des richtigen Timings. Er kehrte zu seinem Wagen zurück, der auf der anderen Straßenseite stand, und wartete. Er hörte Radio, sprang hin und her zwischen Lokalnachrichten, Talkshows und Musiksendern. Nicht einen Augenblick nahm er den Blick von der Seitengasse hinter der Bäckerei. Als sie wieder auftauchte, richtete er sich auf und starrte durch die getönten Scheiben seines alten Chevy Celebrity. Allein schon der Anblick ihrer pinkfarbenen Nike-Joggingshorts und dazu passender Weste brachte sein Blut zum Kochen. Sie verschwand in der Seitengasse, und er entschied, wie er vorgehen wollte. Sie hatte so schnell geduscht und sich umgezogen, dass er ganz überrascht war, sie so bald wieder auf der Straße zu sehen. Sie nahm den Bus nach Richburg, und er folgte mit drei Wagen Abstand, wobei er genau darauf achtete, wie die Fahrgäste alle paar Meilen aus- und einstiegen. Nachdem sie den Highway US21 überquert hatten, stieg sie hinten aus und verschwand im 160 Hektar großen Canal State Park in Landsford. Er stellte schnell seinen Wagen ab und durchkämmte dann den riesigen Park, der mit Dutzenden von Kanälen aus dem 19. Jahrhundert durchzogen war. Er befürchtete schon, er hätte sie verloren. Er konnte sie weder bei den Menschen entdecken, die neben der historischen Mühle posierten, noch bei dem alten Schleusenwärterhäuschen. Dann erhaschte er draußen am Catawba River einen Blick auf ihr Haar und ihr Gesicht, und sein Herz machte einen Sprung. Wie eine Katze auf Vogeljagd schlich er sich langsam näher, und sein Blick ruhte wie magnetisiert auf der jungen Frau, die nun ein weißes Top und einen 17
Minirock trug und am Rande einer üppigen Blumenwiese saß. Es war offensichtlich, dass sie ganz fasziniert von diesen Blumen war; vorsichtig glitt sie mit den Fingern über die Stiele, erfreute sich an den riesigen spitzen Blütenblättern auf ihrer Handfläche und beugte sich beinahe ehrfürchtig vor, um an ihnen zu riechen. »Schöne Blumen«, sagte er und ging zuversichtlich auf sie zu. »Wie heißen die denn?« Einen Augenblick lang wirkte sie erschrocken, dann aber antwortete sie: »Es sind Lilien. Spinnenlilien, manche nennen sie auch Schönhäutchen.« Sie sprach mit einem leichten, warmen Südstaatenakzent. Ihm gefiel das; ihre Stimme war ruhig und angenehm. Eine Stimme, von der er wollte, dass sie zu ihm sprach – zu ihm allein. »Stört es Sie, wenn ich mich dazusetze und sie mir mit Ihnen ansehe?«, fragte er und machte es sich ihr gegenüber leutselig bequem. »Nein«, antwortete sie ein wenig überrascht. Es war ihm ein Leichtes, die junge Frau zu bezirzen. Er war darin geübt, den Menschen ihre Befangenheit zu nehmen; er wusste genau, was zu tun war, damit sie sich weder bedroht noch verletzlich fühlten. Sie plauderten ungezwungen, und zwanzig Minuten später willigte sie gern ein, mit ihm ins ParkCafé zu gehen, wo sie eisgekühlten Zitronentee trank und seine Komplimente genoss, wie gut sie aussehe und wie sehr ihr die Kleidung stehe. Er selbst sah auch gut aus – nein, diese Bemerkung streichen, er war bei näherem Hinsehen sogar ausgesprochen attraktiv. Vielleicht war er nicht ganz so groß, wie sie es gern gehabt hätte, aber er war ziemlich muskulös, hatte dichtes schwarzes Haar und schöne, saubere Hände. An den Händen der Menschen – das hatte jedenfalls ihr Vater gesagt – konnte man vieles ablesen: Seine Hände waren makellos, die Nägel gepflegt und sauber.
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Er erzählte, dass er als Wirtschaftsprüfer arbeite, ein spießiger Job, den er hasse, und dass er in den Park gegangen sei, um an die frische Luft zu kommen. Er meinte, er könne nicht länger bleiben, weil er noch bei einer Firma auf der Ostseite von Georgetown einige Geschäftsbücher abzuholen habe und anschließend ein Hotel in Myrtle Beach finden müsse, da er dort am folgenden Vormittag einige Besprechungstermine habe. Sie bot an, ihn zum Parkeingang zu begleiten, und während sie noch zusammen dahinschlenderten, bewölkte sich der Himmel, und eine leichte Brise kam auf. »Sieht nach Regen aus«, meinte er und warf einen Blick zu der kriegsschiffgrauen Wolke, die sich komplett vor die Sonne geschoben hatte. »Haben Sie eine Fahrgelegenheit?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin mit dem Bus hier.« Sie rieb sich die Arme; vom Wind bekam sie eine Gänsehaut; wenn sie doch nur daran gedacht hätte, einen Pullover mitzunehmen. »Wo müssen Sie denn hin? Kann ich Sie vielleicht irgendwo absetzen?« Sie lächelte. »Ach, wenn’s Ihnen nichts ausmacht, mich nach Georgetown mitzunehmen? Es wär kein Umweg für Sie. Sie müssen ja sowieso dorthin, und ich könnte Ihnen sogar eine Abkürzung zeigen.« »Kein Problem«, sagte er und lächelte sie an. »Es wäre mir ein Vergnügen.« Den ganzen Weg bis zu seinem Chevy konnte er spüren, wie das Feuer in ihm zu brennen begann, eine schmerzende, hungrige Flamme, die ihn zornig und erregt zugleich werden ließ. Er hielt ihr die Beifahrertür auf, bis sie eingestiegen war; dann, ganz Gentleman, schloss er sie und ging zur Fahrerseite hinüber. Als er eingestiegen war, steckte er den Schlüssel ins Zündschloss und legte seinen Gurt an. »Erste Regel im Straßenverkehr: Anschnallen. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.« Er schaute auf ihren Gurt; sie musste lachen. 19
»Ach herrje, ich hasse diese Dinger«, sagte sie und lehnte sich zurück, um nach dem Gurt zu greifen. »Sie nerven, und in dieser Hitze sind sie einfach unbequem.« Unwillig klickte sie die Metallschnalle ins Schloss und wollte sich gerade zurücklehnen, um es sich bequem zu machen. Dazu sollte es nie mehr kommen. Mit ungeheurer Wucht schlug ihr etwas gegen die Kehle. Sie hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander. Er hatte die ersten beiden Finger der linken Hand gekrümmt und klemmte damit von beiden Seiten ihre Luftröhre zusammen, drückte fester und immer fester, presste ihren Hals gegen die Kopfstütze und schnürte ihr die Luft ab. Sie wollte sich wehren, aber der Sicherheitsgurt fixierte sie – genau, wie er gehofft hatte. Sie krallte sich an seinem Arm fest, aber an dem festen Stoff seiner Jacke brachen ihr die Fingernägel ab. Fast hatte er es geschafft. Fast hatte er seine Fantasievorstellung realisiert, ihren letzten Atemzug auf der Haut zu spüren, fast war er da, dieser letzte Augenblick, der sie für immer vereinen würde. Er beugte sich über sie, um ihre Augen beobachten zu können, während sie in die magische Welt der Leblosigkeit hinüberglitt. Dann packte er sie noch fester an der Kehle, drückte ein letztes Mal zu, und presste seinen Mund auf ihre Lippen, damit er den letzten Atemzug, der aus ihr wich, einsaugen konnte. Sie war sein. Sie waren vereint, so fest vereint wie Mann und Frau. Weil ihm vom Orgasmus der Gewalt ganz schwindlig war, hielt er sich an ihr fest. Er sog ihren Duft ein: ihren Schweiß, ihr Parfüm, ihre Angst. Er berührte sanft ihr Gesicht, spürte ihr weiches Haar und ihre warme Haut. Nie wieder würde diese Haut so warm sein.
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Er öffnete ihren Sicherheitsgurt, hob sie vorsichtig auf die Rückbank des Chevy und legte zwei dicke schwarze Decken über sie. Er kurbelte das Fenster auf seiner Seite herunter und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er hatte es geschafft. Aus Fantasie war Wirklichkeit geworden. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn trocken. Er schwitzte stark, aber nicht vor Anstrengung, sondern aus reinem Hochgefühl. Sein Hemd war nass, und der Schweiß strömte nur so an ihm hinab. Er legte eine Hand zwischen die Beine und spürte, dass er gekommen war; er war gekommen wie noch nie zuvor. Er verstellte den Rückspiegel und betrachtete sich. In seinen Augen war keine Scham zu entdecken, keine Reue, keine Schuld. Nur der strahlende Glanz, etwas erreicht zu haben. Er drehte das Radio an, schaltete die Automatik auf D und fuhr langsam davon. Bald würde er mit ihr allein sein. Ein junges Paar in den Flitterwochen. Für immer vereint.
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KAPITEL DREI
San Quirico d’Orcia, Toskana Jack drückte sich vor der Schlafzimmerlektion, die Nancy ihm unbedingt erteilen wollte, und ging die Treppe hinunter in die Küche des kleinen Hotels, das sie sich vor zwei Jahren gekauft hatten. Na ja, Hotel war vielleicht ein wenig übertrieben; es handelte sich wohl eher um ein sehr exklusives Gästehaus. Voll belegt, was es während der Sommermonate zumeist war, bot es acht Gästezimmer, dazu ein gutes Restaurant und eine beliebte Bar. Nancy und er hatten Glück gehabt, so etwas an die Angel zu kriegen. Als sie während Jacks Genesungszeit im Internet nach einem günstigen Erholungsurlaub in Europa suchten, hatten sie bei einer Internetauktion »La Casa Strada« entdeckt. Die Bildunterschriften erklärten, dass das Gebäude ursprünglich ein großes Bauernhaus gewesen sei, »auf eine Art erweitert und ausgebaut, dass es sich wunderbar in Italiens berühmteste und schönste Landschaft einfügt«, und die Fotos schienen diese Behauptung zu bestätigen. Die Mauern glänzten in der Sommersonne golden unter einem mit Terrakotta gedeckten Dach, das im Sonnenlicht pfirsichfarben wirkte und im Schatten nahezu blutorangenrot. Nancy war vom ersten Augenblick an darin vernarrt, und Jack musste nicht lange überredet werden, um ihrem Instinkt zu folgen und ein Angebot abzugeben. Eine Woche später stellten sie überrascht fest, dass das Haus ihnen gehörte. Nach einer Reihe wilder Telefonate und mit der Hilfe eines ortsansässigen Dolmetschers gelang es ihnen sogar, weiter die Dienste von Carlo – einem ungeheuer effizienten Italoschweizer – als Hoteldirektor und von Paolo als Koch in Anspruch nehmen zu können, dessen Zabaglione so erstaunlich 22
gut war, dass Jack meinte, allein die sei schon den Kauf wert. Paolo servierte gern historische Abschweifungen als Beilage, und so erfuhren sie schon bald, dass die Zabaglione im 16. Jahrhundert von dem Turiner Pater Pasquale de Baylon erfunden worden sei. Pasquale sei hundert Jahre später heiliggesprochen und darauf sogar zum Schutzheiligen der Köche ernannt worden, weil seine Zabaglione angeblich ein Heilmittel gegen männliche Unfruchtbarkeit sei. Manchmal hatte Jack seine wahre Freude an dieser neuen toskanischen Idylle. Doch mit der Zeit beschlich ihn immer öfter das Gefühl, als hätte er sich hierher geflüchtet. Und tief in seinem Innersten war Jack King davon überzeugt, dass er sich niemals würde damit abfinden können, vor etwas wegzulaufen. Er konnte einfach nicht vergessen, dass er den Black-RiverKiller nicht erwischt hatte, dass ein Serienmörder, der sechzehn Frauen – wenn nicht mehr – umgebracht hatte, immer noch da draußen war. Die Jagd auf den BR-Killer, wie sie ihn genannt hatten, war die anstrengendste Ermittlung gewesen, die Jack je geleitet hatte, und das alles unter dem beispiellosen Druck, den die Medien und die Politiker Tag für Tag ausübten. Nach allem, was das FBI wusste, erstreckten sich die Morde über einen Zeitraum von mindestens zwanzig Jahren. Die zeitlichen Abstände zwischen den Morden waren unregelmäßig. Vielleicht hatte der Täter zwischenzeitlich im Gefängnis gesessen, das Land verlassen oder war eine Beziehung eingegangen, die seinen Wunsch, zu töten, entschärfte, vielleicht aber, und das war wohl am wahrscheinlichsten, hatte es weitere Opfer gegeben, die von der Polizei schlicht und einfach nicht entdeckt worden waren. Im Augenblick waren fast vier Jahre vergangen, seit das letzte Opfer gefunden wurde, aber allen war bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Morden weiterging. Jack setzte einen Stieltopf mit Milch auf den achtflammigen Herd und zündete die Gasflamme an. Er erinnerte sich, wie Paolo ihm einmal erzählt hatte, dass man früher in 23
Italien beim Kochen nicht auf die Uhr geschaut habe. Vielmehr waren dabei Gebete gesprochen worden, was die Speisen bei ihrer Entstehung vervollkommnen sollte. Paolo schätzte, dass zwanzig Vaterunser genügten, um Milch richtig aufkochen zu lassen, vielleicht noch ein Ave Maria dazu und eine Prise Zimt, während man sie noch ein wenig weiterköcheln ließ. Jack nahm das venezolanische Kakaopulver, gab ein paar Löffel zur Milch in den Topf, noch einen Schuss Sahne dazu, und rührte, bis alles eine satte dunkle Farbe angenommen hatte. Für ihn war das Kochen so etwas wie eine Therapie, die seiner Meinung nach seelisch hilfreicher war als seine bevorstehende Fahrt nach Florenz, wo er Dottoressa Elisabetta Fenella aufsuchen sollte. Die Psychiaterin war ihm vom FBI empfohlen worden, als er nach Italien zog, aber er hatte es nie über sich gebracht, sie anzurufen, hatte dies, um bei der Wahrheit zu bleiben, auch nie wirklich vorgehabt. Letztlich war es Nancy gewesen, die den Termin für ihn ausgemacht hatte, und angesichts der Schwere und Häufigkeit seiner jüngsten Albträume wurde ihm langsam klar, dass er wirklich keinen vernünftigen Grund mehr dafür vorbringen konnte, nicht dorthinzugehen. Auf einem Silbertablett brachte Jack die Kakaobecher nach oben. »Vorsicht, heiß«, warnte er Nancy und stellte einen der weißen Becher behutsam mit einem Untersetzer auf ihren Nachttisch. »Ich schätze mal, das kommt daher, dass man die Milch kocht«, sagte sie und grinste über das Buch hinweg, das sie gerade zu lesen begonnen hatte. »Haha. Sehr witzig.« Nancy legte das Buch beiseite. »Du hast doch hoffentlich nicht Paolos Küche durcheinandergebracht?« »Er wird noch nicht mal bemerken, dass ich überhaupt drin gewesen bin.« »Oh, ganz gewiss wird er das. Paolo merkt es sogar, wenn eine Fliege dort gewesen ist. Ich schwöre dir, er führt Buch über jede 24
Unze und jedes Pint, über jeden Tropfen Wein und jede Prise Salz.« »Gramm und Liter, Nancy. Wir sind hier in Europa.« Kalorienmäßig war der Kakao der reinste Albtraum, gleichzeitig aber auch unwiderstehlich. Jack hatte zehn Kilo mehr auf den Rippen, als ihm lieb war, und er schwor sich, etwas dagegen zu unternehmen, jedenfalls demnächst. Nancy schlürfte ganz vorsichtig von der heißen, samtig glatten Flüssigkeit, verbrannte sich aber trotzdem die Zunge. »Glaubst du, du hast Zeit, aus Florenz ein paar Sachen mitzubringen?«, fragte sie und stellte den Becher auf den Untersetzer zurück. »Was für Sachen?« »Sachen, die man eben vielleicht kaufen würde, wenn man zu dieser Jahreszeit allein in Florenz wäre.« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was du meinst«, sagte Jack mit Unschuldsmiene. »Was hast du dir in deinem hübschen kleinen Kopf ausgeheckt?« Nancy lächelte ihn an und kuschelte sich an seine Brust. »Elf Jahre, Jack King. In ein paar Tagen sind wir elf Jahre verheiratet. Wo ist nur die Zeit geblieben?« In Gedanken kehrte Jack zu ihrem Hochzeitstag zurück. Sie hatten in einer hübschen Kirche in der Nähe ihres Elternhauses geheiratet und waren dann in den Flitterwochen nach San Francisco gefahren, notgedrungen kurze Flitterwochen, weil er in der Arbeit gebraucht wurde. Die Arbeit. Schon damals, gleich zu Anfang, hatte die Arbeit angedeutet, welche Schwierigkeiten sie in der Zukunft noch machen würde. Die verkürzten Flitterwochen waren nicht das Einzige, was ihm durch den Kopf ging. So sehr er versuchte, die Bilder zu vergessen, durchfuhren sie die Membranen seines Gedächtnisses doch immer noch wie das Projektil einer Magnum: Der 8. Juli, ihr Hochzeitstag, war auch der Tag, an dem der BR-Killer sein sechstes und jüngstes Opfer gefordert hatte. 25
KAPITEL VIER
Georgetown Der 15-jährige Gerry Blake und sein jüngerer Cousin Tommy Heinz trauten ihren Augen nicht. Egal, ob tagsüber oder nachts, immer nahmen sie die Abkürzung über den Friedhof, und weder die alten Grabsteine noch die gruslige Kirche konnte ihnen je einen Schrecken einjagen. Bis heute. Heute hatten sie es eilig. Sie wollten zu ihrem Freund Chuck, um mit ihm und seinem Vater in dessen Boot draußen auf dem Black River angeln zu gehen. Auf halber Strecke durch den Friedhof kamen sie beide rutschend auf dem mit grob behauenen Steinplatten gepflasterten Weg zum Stehen, und Tommy ging in die Knie. »Muuutherfucker!«, kreischte Gerry und zog dabei das Wort so lang, wie er es bei den Rappern auf MTV gehört hatte. Tommy war wieder aufgesprungen; er keuchte wie ein Hund und wollte nur noch weg hier. Er wollte so schnell wie möglich verschwinden, wenn Gerry erst mal seine fünf Murmeln wieder beisammen hatte und endlich mitkam. Doch einen Moment lang standen die beiden Jungs Schulter an Schulter mit aufgerissenen Augen einfach nur da. Was sie vor sich sahen, hatte sich ihnen längst für den Rest ihres Lebens ins Gedächtnis gebrannt. Das Grab vor ihnen war geöffnet worden. Man hatte den billigen Sarg aus Kiefernholz aufgebrochen, und nun saß das Skelett einer jungen Frau in einem fleckigen Kleid aufrecht darin und lehnte am Grabstein. Schwarz gewordene, knochige Arme und Beine ragten aus dem verdreckten 26
Stoff. Das Bild jedoch, das die Jungen bis in deren eigenes Grab verfolgen würde, war das des Kopfes. Oder besser gesagt, von der Stelle, wo der Kopf hätte sein sollen.
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KAPITEL FÜNF
San Quirico d’Orcia, Toskana San Quirico d’Orcia liegt in einem bezaubernd schönen Tal östlich von Montalcino, etwa ein Drittel des Wegs, den die meisten Touristen auf der atemberaubenden Strecke nach Montepulciano zurücklegen. Einen Kilometer in die entgegengesetzte Richtung liegt entlang der sich in die Höhe windenden Straße von San Quirico nach Pienza jener aufregende, von Zypressen gesäumte Hügel, den Ridley Scott für die Rückblenden von Frau und Kind benutzte, die in dem Film Der Gladiator auf die Rückkehr von Maximus warten. Die Stadtmauern von San Quirico d’Orcia sind an zahlreichen Stellen geborsten und haben viel von ihrer historischen Würde und Schönheit verloren. Hinter ihnen jedoch stehen Gebäude aus erstaunlich goldenem Gestein, das Nancy immer an die süßen Honigwaffeln erinnerte, die sie als Kind so gern gegessen hatte. La Casa Strada, eine alte Ölmühle, lag direkt an der Stadtmauer. Die Ölmühle gab es bis Mitte der siebziger Jahre, als ein glühend heißer Sommer für viele Bauernhöfe in den Tälern der Toskana den Bankrott bedeutete. Laura und Silvio Martinelli, die Besitzer, gaben auf und zogen zu Lauras Familie nach Cortona. Der sechzigjährige Silvio arbeitete als Taxifahrer, und die fünfundsechzigjährige Laura kümmerte sich nun darum, für ein ortsansässiges Geschäft torta della nonna zu backen. Seitdem waren ihr ehemaliges Zuhause und die Betriebsgebäude bis zur Unkenntlichkeit modernisiert und erweitert worden; nur die grandiose Aussicht über die welligen Hügel des Val d’Orcia würde für immer so bleiben, wie sie war. 28
Nancy glitt langsam in ihren Arbeitstag. In Gedanken war sie noch bei Zack. Sonntags brachte sie ihn ab und an bei Bekannten unter, die auch kleine Kinder hatten. Sie hoffte, dass ihr dreijähriger Sohn jetzt schön mit ihnen spielte, es hatte nämlich lange gedauert, bis er ohne Zetern irgendwo ohne sie blieb. Noch vor einem Jahr hatte es schreckliche Szenen gegeben, wenn sie ihn im Kindergarten absetzte. Zack schrie und tobte und krallte sich an ihren Schultern oder ihrem Kleid fest, um nicht runterzumüssen. Aber was am schlimmsten war: Hatte sie es einmal geschafft, sich loszureißen, konnte sie von draußen sein tränenüberströmtes Gesicht sehen, wie er es gegen die Scheibe presste, wenn er sie anflehte, nicht wegzugehen. Doch jetzt war Zack »ein großer Junge«, ein »braver Junge«, und er verstand, dass Mami und Dad tagsüber arbeiten mussten. Nancy ging durch das Hotel und hörte, wie in der Küche die letzten Frühstücke vorbereitet wurden. Sie steckte den Kopf durch die Tür, rief: »Guten Morgen, alle miteinander!«, und wartete den Antwortchor »buongiorno« ab, bevor sie die Tür dann wieder zufallen ließ. Jack war schon fort. Guido, der Mann für alle Reparaturen, der vorbeigekommen war, um die Dunstabzugshaube über dem Gasherd zu reparieren, hatte ihn nach Siena mitgenommen. Schon eine ganze Weile wurde Nancy von ihrem temperamentvollen Küchenchef bedrängt, einen neuen Herd anzuschaffen, einen, wie ihn sein zweiter Cousin in Rom habe. Aber Paolo würde noch warten müssen. Das Bargeld war im Augenblick knapp, also teilte Nancy ihm mit, dass er sich bis zu den Sommereinnahmen mit den »Schnäppchen« begnügen müsse, die sie möglicherweise bei Versteigerungen in der Gegend machten. Nancy musste lächeln. Guido hatte inzwischen so viele der Geräte repariert, dass weder Jack noch sie sich länger einreden konnten, es hätte sich um Schnäppchen gehandelt. Und dann gab es da noch all die anderen Dinge, die repariert werden mussten. Vor Monaten war ein Stück vom hinteren Ende 29
der Gartenterrasse dramatisch abgesackt, und jetzt ging es dort steil zur nächsten Terrasse hinunter. In der Hügelflanke klaffte ein ziemlich großes Loch. Carlo meinte, es könne ein alter Brunnen darin stecken, während Paolo sich erheblich exotischere Möglichkeiten zusammenreimte und darauf hinwies, dass die Gegend früher einmal ein befestigtes Rückzugsgebiet der Medici gewesen sei. Was auch immer es war, das Loch beleidigte das Auge, war eine Last, vielleicht sogar eine Gefahr. Irgendwann in den kommenden Tagen sollte einer von Carlos Freunden vorbeikommen und, so war es zugesagt, für wenig Geld alles wieder herrichten. »Guten Morgen, Maria«, sagte Nancy, als ihre zwanzigjährige Empfangsdame endlich zur Arbeit an ihrem Schreibtisch eintrudelte. »Guten Morgen, Mrs. King«, sagte Maria. Die mürrische Hotelbesitzerin hatte ihr verboten, Italienisch zu reden. Sie bestand darauf, dass Maria all ihre Gespräche zunächst auf Englisch beginnen solle, da ausländische Touristen nun einmal ihre Zielkundschaft bildeten. Maria nahm das hin, denn eines Tages würde sie bei den Wahlen zur Miss Italia und dann zur Miss World mitmachen, und am Ende würde sie noch dankbar dafür sein, dass sie hatte Englisch lernen müssen. Zumindest redete sie sich das ein. Nancy sah nach ihren E-Mails und hörte den Anrufbeantworter ab. Sie konnte vier weitere Reservierungen für das abendliche Dinner notieren. Danach überprüfte sie, ob es über die Website Anfragen gab. Es lagen einige bezüglich der Speisekarte vor, ein paar Mails auf Italienisch, die Nancy ausdruckte, damit Maria sie beantworten konnte, und eine Preisanfrage für ein Essen zu einem fünften Hochzeitstag. Maria telefonierte gerade mit ein paar möglichen Hotelgästen, weshalb Nancy warten musste, bis sie ihr die E-Mail-Ausdrucke geben konnte. Sie warf währenddessen einen Blick in die Zeitung La Nazione. Auf der Titelseite prangte die Überschrift 30
»Omicido!« und dazu das Bild einer hübschen, dunkelhaarigen jungen Frau namens Cristina Barbujani. Nancy hatte das Bild der jungen Frau auch schon im Fernsehen gesehen und Angestellte darüber reden hören, ihre Leiche sei zerstückelt und anschließend ins Meer geworfen worden. Nancy wandte sich ab, seufzte schwer und war traurig, dass es selbst hier, an dem schönsten Ort, an dem sie je gelebt hatte, kein Entrinnen vor Mord gab.
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KAPITEL SECHS
Florenz, Toskana Die Zugfahrt von Siena nach Florenz war schnell vorübergegangen, war mehr ein Vergnügen als eine Last gewesen. Jack hatte den Großteil der anderthalbstündigen Fahrt damit verbracht, die Schönheit der Landschaft zu genießen, die vor dem staubigen Fenster des stickigen, abgenutzten Abteils vorbeizog, das er sich mit fünf anderen Reisenden teilte. Er war ganz fasziniert gewesen von den Weinbergen und Olivenbaumgärten, die sich die steilen Hügel hinauf um die besten Terrassen stritten, sich nach der Sonne streckten, aber auch nach kostbarem Schatten lechzten. An einigen Stellen hatte die Sonne die gepflügten Äcker so verbrannt, dass die Erde aussah, als wäre sie aus großen Steinbrocken gemacht. In wasserbegünstigteren Tälern wuchsen goldene Steinhäuser aus fruchtbareren Feldern wie Landbrote in einem Backofen. Die Toskana war tatsächlich wie ein Ofen. Als Jack den Zug verließ und in der brütenden Mittagshitze in ein Taxi stieg, sehnte er sich geradezu nach dem eisigen Wind amerikanischer Klimaanlagen. Die Praxis von Dottoressa Elisabetta Fenella lag in der Nähe der Piazza San Lorenzo im Marktviertel der Stadt. Darüber thronte die majestätisch steinerne Basilica di San Lorenzo, eine fassadenlose Kirche aus dem 4. Jahrhundert, die von den Medici wiederaufgebaut worden war und für die Leonardo da Vinci den Auftrag erhalten hatte, eine Fassade aus reinweißem Carrara-Marmor zu errichten. Aus irgendeinem Grund war es dazu allerdings nie gekommen. Jack konnte das verstehen, er hatte noch ein paar schwere Verandafliesen hinter seinem Haus zu reparieren, und genau wie Leonardo kam er 32
einfach nie dazu. Vielleicht hatte Leonardos alte Dame ihn ständig damit genervt, endlich auch jene Fassade zu reparieren? Jack ließ die gleißende Sonne hinter sich und trat in den kühlen Schatten des Hauseingangs. Er nahm den winzigen, altmodisch schmiedeeisernen Fahrstuhl in den dritten Stock, wo er von einer schüchternen Empfangsdame höflich in ein Gesprächszimmer mit Marmorfußboden und hoher Decke geführt wurde. Über ihm kreisten zwei Ventilatoren, die so aussahen, als wären sie älter als die Stadt selbst. Grazil, aber sinnlos quirlten sie die heiße Luft von einer Zimmerecke in die andere, ohne den Raum darunter in irgendeiner Weise zu kühlen. Ein alter Eichenschreibtisch mit breiten, kunstvoll geschnitzten Beinen stand in einer der hinteren Ecken, an der Wand darüber hing ein bescheidenes Kreuz. Der Schreibtisch war mit Unterlagen übersät, dazu gab es silbergerahmte Fotos einer weitläufigen italienischen Familie. Ihm war erzählt worden, dass Fenella eine hochgeschätzte Ärztin sei und über zehn Jahre für die Polizei in ganz Italien gearbeitet habe. Die Fotogalerie verriet ihm zudem, dass sie erheblich eleganter war, als er erwartet hatte. Er nahm eines der Fotos in die Hand, auf dem sie Schulter an eleganter Schulter neben einem Mann stand. Die Dottoressa hatte langes schwarzes Haar, ein absolut symmetrisches Gesicht, warme braune Augen und ein makelloses Lächeln. Ihr Ehemann, wenn es sich denn tatsächlich um ihren Mann handelte, sah erheblich älter aus. Er hatte einen mächtigen Schopf weißer, nach hinten gekämmter Haare. Jack schätzte ihn auf Ende fünfzig, Anfang sechzig. Die Tür hinter ihm ging auf, und die Frau von den Fotos sah ihn verwirrt an. Sie schien sich zu wundern, weshalb er an ihrem Schreibtisch stand. »Signore King?«, sagte sie mit strenger, aber noch höflicher Stimme. Jack fiel auf, dass sie eher mit einem amerikanischen als mit einem englischen Akzent sprach, und nahm an, dass sie
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entweder dort aufgewachsen war oder ihr Englisch auf einer von Amerikanern geführten Sprachschule gelernt hatte. Jack drehte sich um und bemerkte sofort ihren missbilligenden Blick. »Verzeihen Sie«, sagte er schnell und stellte den Bilderrahmen vorsichtig zurück. »Alte Polizeigewohnheiten lassen sich nur schwer abschütteln.« »Bitte«, sagte sie, ging über seine Indiskretion hinweg und wies auf zwei cremefarbene Sofas, die sich an einem viereckigen Beistelltisch mit Glasplatte gegenüberstanden. Jack ging auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Jack King. Vielen Dank, dass Sie mich empfangen, vor allen Dingen an einem Sonntag.« Die Dottoressa trug an ihrem Ringfinger einen goldenen, mit Diamanten besetzten Ehering, der einen FBI-Beamten drei Monatsgehälter gekostet hätte. »Nichts zu danken. Es tut mir leid, aber es musste heute sein, sonst hätte ich Ihnen erst in ein paar Monaten einen Termin geben können. Nehmen Sie bitte Platz.« Sie nickte in Richtung eines der Sofas und setzte sich auf das andere. Dann legte sie ein paar braune Aktendeckel auf den Glastisch. Jack erkannte sofort, dass sein Name daraufstand. Er hasste es, in Akten zu stehen, hasste es, bearbeitet, begutachtet und womöglich beurteilt zu werden. Dottoressa Fenella räusperte sich und kam gleich zur Sache. »Verraten Sie mir bitte, Jack, warum genau wollen Sie mich konsultieren?« Sie beugte sich vor und nahm einen der Aktendeckel. »Ihre Dienststelle hat mich schon vor fast zwei Jahren angerufen, und letztlich war es jetzt Ihre Frau, nicht Sie, die um diesen Termin gebeten hat. Also, warum genau sind Sie jetzt hier?« Jack fiel auf, dass sie »warum genau« gleich zwei Mal verwendet hatte. Ihre Befragungstechnik war lehrbuchmäßig; der Fragende benutzte starke Schlüsselwörter, um den Befragten dazu zu bringen, sich zu konzentrieren – und um ihn zu kontrol34
lieren. Seine Liste der hassenswerten Dinge wurde um einen weiteren Punkt ergänzt – er hasste es, in einer Frage- undAntwort-Situation auf der falschen Seite zu sitzen. »Was genau meinen Sie damit?«, fragte er geringschätzig. »Sie halten es für offensichtlich, dass ich gar nicht hier sein will und auch nicht glaube, dass Sie mir in irgendeiner Weise behilflich sein können? Oder meinen Sie, dass Sie die Akte gelesen haben und das Ganze ohnehin für reine Zeitverschwendung halten?« Dottoressa Fenella lächelte freundlich, aber ohne jede Wärme. Er wollte Gedankenspielchen mit ihr spielen, und sie wusste, sie würde womöglich verlieren, wenn sie sich darauf einließ. Allerdings wusste sie auch, dass der kluge Mann vor ihr ein Klient war, ein Kranker, der aufgrund einer fürchterlichen Erfahrung, die er gemacht hatte, leiden musste. »Jack, ich bin sehr erfreut, Sie hier zu sehen, und ich hoffe, ich kann Ihnen helfen«, sagte sie. »Aber wir wissen doch beide, dass dies nur möglich ist, wenn Sie selbst sich helfen lassen wollen.« »Ach, Sie meinen, die Glühbirne muss es wollen, gewechselt zu werden?« »Ich verstehe nicht«, erwiderte sie stirnrunzelnd. Jack bedauerte seine Bemerkung sofort. »Das war ein alter Witz. Tut mir leid. Ich wollte mich nicht über Sie lustig machen. Die ganze Angelegenheit ist für mich einfach nur ziemlich komisch. Sonst sitze nämlich ich auf der anderen Seite des Schreibtischs und stelle die Fragen.« »Ich weiß«, sagte die Dottoressa, legte die Akte beiseite und stützte sich mit den Ellbogen auf ihre, wie er nicht übersehen konnte, wohlgeformten Knie. »Jack, ich habe Ihre Personalakte gelesen. Ich weiß, was in der Vergangenheit passiert ist. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Albträume, die Ängste und Nöte in letzter Zeit schlimmer geworden sind, und das wahr-
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scheinlich in einem Maß, dass Sie glauben, das alles nicht länger in sich verstecken zu können, hab ich recht?« Jack stand auf und trat an eines der mit Läden verschlossenen Fenster, die auf ein kleines Gartenquadrat führten. Das Umhergehen brachte seine Gedanken in Gleichtakt und setzte ihn geistig in Bewegung. »Sie gehen davon aus, dass Sie recht haben«, sagte er und sah in den Garten hinaus. »Ich dagegen bin völlig unsicher, ob ich weiß, wie ich darüber reden soll.« Er drehte sich zu ihr um und stand nun mit dem Rücken zur Wand da. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß noch nicht mal, wo ich überhaupt anfangen soll.«
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KAPITEL SIEBEN
Days Inn Grand Strand, South Carolina Nachdem Spider sich das Gewünschte vom Friedhof geholt hatte, kehrte er auf direktem Weg in sein Hotelzimmer im Days Inn Grand Strand zurück, nur wenige Minuten vom Myrtle Beach International Airport entfernt. Der Akt der Grabschändung hatte Spider keine schlaflose Nacht bereitet. Weit gefehlt. Es war berauschend gewesen, hatte ihn so erschöpft wie nur irgendein vorstellbarer Sex-Marathon, und danach war er mühelos eingenickt und hatte die ganze Nacht fest durchgeschlafen. Nun rührt er sich in seinem Hotelbett und schaut sich um. Er fragt sich, wie so etwas wie diese Bruchbude überhaupt einen einzigen Stern bekommen kann, geschweige denn zwei. Draußen kann er Kinder kreischen und lachen hören, wie sie in den Swimmingpool hüpfen. Spider wird klar, dass er etwas zu essen und zu trinken und noch erheblich mehr Schlaf braucht, aber solche Genüsse werden warten müssen. In diesem Augenblick zählt nur die Flucht. Spider ist zwar fünfzig Kilometer vom geschändeten Friedhof entfernt, doch für ihn ist das noch viel zu nah, um sich sicher zu fühlen. Trotz des ungeheuren Drangs, in der Gegend zu bleiben, sich unters Volk zu mischen und zuzuhören, was über das Geschehene geredet wird, muss er weg, das weiß er. In der Zwischenzeit dürfte es auf dem Friedhof nur so von Polizei wimmeln, und das wiederum bedeutet, dass die Geschichte überall im Radio und im Fernsehen verbreitet wird. Spider ist überaus sorgfältig vorgegangen, und er wird noch viel sorgfältiger sein, bevor er das Hotelzimmer verlässt, wiewohl trotz all 37
seiner Vorsichtsmaßnahmen immer noch die vage Chance besteht, dass ihn jemand sehen wird, auch wenn er selbst das nicht mitbekommt. Spider geht auf die Toilette, dann duscht er ausgiebig und heiß. Es gibt zwei weiße Badehandtücher. Er nimmt eines davon, trocknet sich halb ab, wickelt sich anschließend in das Badetuch und setzt sich aufs Bett. Erst jetzt fällt ihm auf, wie schwer er schnauft und wie sehr seine Hände zittern. Selbst nach all diesen Jahren, nach all diesen Morden, bekommt er am Tag danach immer noch das große Zittern. Er weiß, dass das erst der Beginn einer Panikattacke ist. Es ist der Moment, in dem die Angst davor, gefasst zu werden, am stärksten ist, und die Erfahrung hat ihn gelehrt, je weiter er sich vom Tatort entfernt, desto schneller legt sich die Panik wieder. Als er sich etwas gefasst hat, zappt er auf der Suche nach irgendwelchen Nachrichten aus Georgetown mit der Fernbedienung durch die Fernsehsender. Auf WTMA endet gerade eine tropische Sturmwarnung, und auf WCSC läuft eine Reportage über eine Frau aus Mount Pleasant, die beim Segeln vor Sullivan’s Island ertrunken ist. Spider schaltet auf WCBD um und erkennt auf den Videoaufnahmen sofort den Friedhof, auf dem er so kürzlich erst war. Nach ein paar Sekunden erscheint ein hispanoamerikanisch aussehender Reporter im Bild und unterhält sich mit einem Nachrichtensprecher im Studio: »Hier in der Gemeinde von Georgetown, wo jeder jeden kennt, sind heute alle über ein Ereignis entsetzt und aufgebracht, das die meisten Ortsansässigen nicht nur als Untat ansehen, sie finden es darüber hinaus widerwärtig und abstoßend. Kameraleuten und Journalisten wurde der Zutritt zum Friedhof verwehrt, doch wie man unseren Bildern entnehmen kann, die von einer angrenzenden öffentlichen Straße aus gemacht wurden, scheint es sich um eine extrem grausame Grabschändung zu handeln. Derzeit wird darüber 38
spekuliert, ob es sich um das Werk eines Trophäensammlers oder eines zutiefst gestörten, geisteskranken Einzelgängers handelt, der sich von den Gräbern von Mordopfern angezogen fühlt. Der Polizeichef von Georgetown hat heute kategorisch verlauten lassen, dass er zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Grund sieht, diesen Zwischenfall mit dem sogenannten BlackRiver-Killer, also jenem Serienmörder in Verbindung zu bringen, der angeblich für den Mord an Sarah Elizabeth Kearney verantwortlich sein soll.« Spider ist amüsiert und verärgert zugleich. Glaubt die Presse solchen Blödsinn wirklich? Besitzt denn keiner von denen so viel Intelligenz, um zu begreifen, worum es hier eigentlich geht? Er bezweifelt, dass die Polizei ebenfalls so dumm ist. Die werden doch sicher begreifen, welche Bedeutung diese Tat besitzt, oder? Er legt sich mit nassen Haaren rücklings aufs Bett. Auf dem Kopfkissen neben ihm liegt das zweite Handtuch, das er vorsichtig um den Gegenstand seiner Zuneigung gewickelt hat. Um den Schädel von Sarah Kearney. Spider dreht sich auf die linke Seite und fährt mit den Fingern der rechten Hand sanft über den glatten Knochen. Ist es wirklich schon zwanzig Jahre her? Zwanzig Jahre, dass er die Vertraulichkeit ihres Todes und die geheimen Freuden ihres kühlen Leichnams genossen hat? »Wir müssen bald los, Sugarbaby«, sagt er leise und küsst sie leicht auf die Stirn. »Ruh dich noch ein wenig aus, bis es so weit ist. Wir haben dann nämlich noch jede Menge zu erledigen.«
San Quirico d’Orcia, Toskana Jack war in Florenz, Zack bei seinen Spielkameraden, und Nancy King entspannte sich auf der schattigen Terrasse und genoss den ersten Cappuccino des Tages. Auf dem Schoß lag Paolos neue Sommerspeisekarte. Sie war froh, viele ihrer alten Lieblingsgerichte wiederzufinden, darunter eine klassische 39
Auswahl von la pasta fatta in casa, erstaunlich einfache Tomatensauce zu den selbst gemachten Linguini oder Tagliatelle. Wie schafften es die Italiener nur, aus so wenigen Zutaten so viel Geschmack herauszuholen? Sie legte die Speisekarte beiseite, trank einen Schluck Kaffee und blinzelte über die im dunstigen Sonnenlicht liegenden Täler. Die toskanische Landschaft lag da wie eine Aufeinanderfolge grüner Wellen, die auf eine weit entfernte Küste zuliefen. Der blassblaue Himmel war wolkenlos. Nancy war so entspannt und fühlte sich so lebendig wie seit Jahren nicht mehr. Die Toskana war ganz gewiss der richtige Ort, um noch einmal von vorn zu beginnen. Giovanna, eine der beiden Kellnerinnen, die um diese Uhrzeit frische weiße Leinentücher auf die Mittagstische legten und neu eindeckten, klapperte mit ihren Schuhen über die geflieste Veranda und die Holzumrandung und unterbrach Nancys kurzen Frieden. »Scusi, Signora«, sagte sie höflich. »Da ist jemand am Empfang für Sie. Polizei.« Nancy stockte der Atem. Sie schob ihre bloßen Füße in die Sandalen und verschwand eilig von der sonnenheißen Terrasse in die Kühle der Rezeption. In diesen wenigen Sekunden schossen ihr alle nur erdenklichen Katastrophen durch den Kopf. Ist Jack wieder zusammengebrochen? War irgendetwas Schreckliches mit Zack passiert? Warum sonst sollte ein italienischer Polizist unangemeldet vor der Tür stehen? Nancy war fest davon ausgegangen, einen Polizisten vor sich zu sehen, einen schwarzhaarigen Carabiniere mit einem Bartschatten und den weißen Handschuhen seines Berufsstandes. Stattdessen wartete eine überaus hübsche junge Frau in einem makellosen, maßgeschneiderten anthrazitgrauen Geschäftsanzug in der Rezeption mit dem kühlen Marmorboden. »Buongiorno. Signora King?«, sagte die Frau. 40
»Sì.« Nancy zögerte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Buono, sono Ispettore Orsetta Portinari. Ho bisogno …« »Englisch, bitte sprechen Sie Englisch mit mir!«, fuhr Nancy dazwischen, die ihre Ängste nicht mehr im Zaum halten konnte. »Oh, tut mir leid«, sagte die Polizistin. Sie holte kurz Luft und wechselte dann ohne Schwierigkeiten die Sprache. »Mein Name ist Orsetta Portinari. Ich bin von meinem Chef Massimo Albonetti aus Rom hierhergeschickt worden. Mein Chef und Mr. King hatten vor einiger Zeit beruflich miteinander zu tun. Nun hat mich Direttore Albonetti geschickt, um Mr. King um seine Mithilfe zu bitten.« Nancys Ängste ließen ein wenig nach. »Es ist also alles in Ordnung? Jack oder meinem Sohn ist nichts zugestoßen?« Die junge Beamtin schaute verwirrt. »Es tut mir leid, ich verstehe nicht ganz. Ihr Sohn?« Nancy wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Sie sind nicht gekommen, um mir eine schlechte Nachricht über meinen Mann oder meinen Sohn Zack zu bringen, oder? Geht es den beiden gut?« Orsetta schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Deswegen bin ich nicht hier. Den beiden wird es wohl gutgehen.« Nancy stützte sich auf der schwarzen Granitplatte der Empfangstheke ab und seufzte erleichtert. Sie fasste sich und wandte sich dann wieder an die Polizeibeamtin. »Schon komisch, dass man immer an das Schlimmste denkt, wenn man mit der Polizei zu tun hat – dabei bin ich seit über zehn Jahren selbst mit einem Polizisten verheiratet.« »Sì«, sagte Orsetta. »Jack ist im Augenblick nicht hier, und er wird auch den ganzen Tag fort sein. Worum genau geht es denn?« Orsettas Miene verriet, dass sie Nancy darauf keine direkte Antwort geben wollte. »Bei allem Respekt, Mrs. King, aber es handelt sich um eine dringende polizeiliche Angelegenheit, die ich lieber persönlich mit Ihrem Gatten besprechen möchte.« 41
Zehn Jahre Eheleben mit einem Polizisten hatten Nancy gelehrt zu erkennen, wann sie mit leeren Worten abgespeist wurde. Zudem wusste sie, dass Polizisten solchen Fragen immer dann auswichen, wenn der Fall äußerst wichtig war. In Gedanken landete sie wieder bei Marias Zeitung. »Geht es um diese ermordete Frau?« Die Polizeibeamtin runzelte die Stirn. »Ich muss wirklich mit Ihrem Mann darüber sprechen. Können Sie mir vielleicht seine Handynummer geben?« Nancy schaute sie wütend an. Italienische Polizisten waren offenbar genauso penetrant und grobschlächtig wie ihre amerikanischen Kollegen. »Das möchte ich lieber nicht. Polizeiliche Angelegenheiten sind nicht länger unsere Angelegenheiten. Also, wollen Sie eine Nachricht hinterlassen oder nicht?« Orsetta wurde rot. »Hier ist meine Visitenkarte«, sagte sie und knallte sie auf die kühle Theke. »Es ist dringend. Teilen Sie ihm bitte mit, er möchte mich umgehend anrufen, sobald er zurück ist.« Dann sah sie Nancy wütend an. »Das ist keine Bitte, Signora, das ist eine Aufforderung, der Sie Folge zu leisten haben.« Einen Augenblick lang starrten die beiden Frauen sich unverwandt an, dann lächelte Orsetta so freundlich, wie sie nur konnte, drehte sich elegant auf ihren makellosen Schuhen um und ging.
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KAPITEL ACHT
Florenz, Toskana Dottoressa Elisabetta Fenella teilte Jack mit, da das FBI die nicht unerheblichen Kosten ihrer Dienste begleichen werde, habe sie sich den ganzen Nachmittag freigenommen, damit sie so viel miteinander sprechen könnten, wie er wolle. Schließlich konnte sie ihn überreden, ihr aus seiner Kindheit zu berichten. Anders als bei jenen, die er während seiner Berufsausübung verfolgt hatte, verbarg sich in seiner Vergangenheit kein Trauma, kein Missbrauch, keine Entbehrungen, nur die standhafte Liebe und Unterstützung seiner Eltern, die sich schon als Teenager kennengelernt hatten. Ihre unzertrennliche dreißigjährige Ehe fand jedoch vor fünf Jahren ein jähes Ende, weil ein Autofahrer seinen Vater kurz nach dessen Pensionierung überfuhr und Fahrerflucht beging. Jack senior war sein ganzes Arbeitsleben über Polizist in New York City gewesen; Jacks Mutter Brenda hatte im Mount Sinai Medical Center in der Nähe des Central Park eine Stelle als Krankenschwester gehabt. Inzwischen war es drei Jahre her, dass sie an einem Herzinfarkt gestorben war, allein, im Schlaf, mitten in der Nacht. Jack glaubte immer noch, dass sie ebenso sehr an gebrochenem Herzen gestorben war wie an dem überhöhten Cholesterinwert, der nach Ansicht der Ärzte für ihre verstopften Arterien verantwortlich war. »Gehe ich recht in der Annahme«, sagte die Dottoressa und sah in ihren Unterlagen nach, »dass Sie kurz vor Ihrem Zusammenbruch unter großem Druck standen?« »Der gehört zum Job«, sagte Jack nüchtern. 43
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte sie verständnisvoll. »Aber wenn wir uns die Zeiten genauer anschauen, haben wir hier den Tod Ihrer Mutter, und wenige Wochen später brechen Sie am Flughafen zusammen. Gibt es da wirklich keine Verbindung?« Jack hasste schnelles Psychologisieren. Das Leben war voller Zufälle, manchmal passierten ein Haufen guter Dinge gleichzeitig, ein andermal hatte man mehrere beschissene Blätter hintereinander auf der Hand. »Ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass der Tod meiner Mutter in irgendeiner Weise zu meinem Zusammenbruch beigetragen hat«, sagte er leicht verärgert. »Natürlich habe ich sie geliebt, natürlich hat mich ihr Tod tieftraurig gemacht, aber damit habe ich mich auseinandergesetzt. Ich habe erkannt, dass jener Lebensabschnitt vorüber ist. Hören Sie«, setzte Jack scharf nach, »jeden Arbeitstag meines Lebens war ich irgendeiner Form dem Tod nahe, war persönlich betroffen. Ich habe alle möglichen toten Mütter, tote Kinder und selbst tote Babys gesehen. Ich habe den Tod in Fotoalben voller Tatortaufnahmen gesehen, auf den Seziertischen in Leichenschauhäusern, unter dem Sirren einer Schädelknochensäge bei einer Autopsie, und ich habe die Gier nach dem Tod in den Augen und Seelen all jener teuflischen Mistkerle gesehen, die getötet haben. Der Tod ist mir nicht fremd; wir beide sind schon mein ganzes Leben lang Bettgenossen.« Dottoressa Fenella schwieg. Sie ließ die Hitze seines Monologs verfliegen, weil sie wusste, dass sie ihm Freiraum lassen musste. Sie nahm ihre schwarze Armani-Brille ab, wischte eines der Gläser sauber und legte sie dann auf den Beistelltisch. »Jack, die Antworten müssen Sie selbst finden. Ich kann Ihnen nur dabei helfen, die Bereiche zu finden, die Sie genauer betrachten sollten. Stellen Sie sich für einen Augenblick vor, Sie hätten eine Befragung mit jemandem geführt, mit irgendeinem Verdächtigen. Er wäre die ganze Zeit über ruhig gewesen, doch ab einem gewissen Zeitpunkt wäre er leidenschaftlich und erregt gewesen. Stellen Sie sich vor, dass sich sein Vokabular geändert 44
hätte und seine nonverbalen Signale alle sehr eng und defensiv geworden wären. Was würden Sie dann denken?« Jack wusste, dass sie recht hatte. Bei solchen Anzeichen wäre er mit absoluter Sicherheit davon ausgegangen, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein. »Okay«, sagte er, »ich gebe zu, dass der Tod meiner Mutter mich vielleicht stärker berührt hat, als ich dachte. Gut möglich, dass ich das fortwischen, zu schnell wegpacken wollte, es internalisiert habe, oder wie immer Sie das nennen. Wollen Sie darauf hinaus?« Dottoressa Fenella lehnte sich zurück und sah ihn sich an. Er wirkte schmerzlich berührt und linkisch. Er wollte nicht hier sein, weder seelisch noch körperlich, und sie konnte da mitfühlen. »Sollen wir eine Pause machen? Möchten Sie ein wenig frische Luft schöpfen, bevor wir weitermachen?« Jack lehnte sich zurück und sah sie an, schätzte sie auf ähnliche Weise ein, wie sie es gerade mit ihm getan hatte. Es sah ganz so aus, als wollte sie ihm wirklich helfen. Unabhängig von seiner Ansicht, dass die Psychiatrie nicht viel brachte, respektierte er ihre Bereitschaft, anzupacken und gegen die seelischen Dämonen anzugehen, von denen er besessen war. »Verraten Sie mir nur eins, diese Albträume – warum zum Teufel glauben Sie, habe ich die?« Die Dottoressa sah ihm in die Augen, und er spürte, dass sich innerlich abwägte, ob sie seine Frage beantworten oder durch eine Gegenfrage abwehren sollte. Schließlich sagte sie: »Sie haben Angst, Jack, deshalb haben Sie diese Träume. Die große Frage lautet nur: Wovor haben Sie Angst?« Er starrte sie an, konnte ihr aber keine Antwort darauf geben. Ein paar Sekunden vergingen, bevor sie weitersprach. »Für viele Menschen ist der Schlaf ein Symbol des Todes. Sie hingegen wecken sich aus diesen Träumen auf, weil Sie für die Realität – die nichtschlafende Welt – noch weitaus größeres Unheil befürchten, als Ihnen je in den Albträumen begegnen konnte.« 45
Jack sprach noch immer kein Wort. Er dachte über das nach, was die Dottoressa gerade gesagt hatte, und schenkte sich ein Glas Wasser ein. »Möchten Sie auch etwas?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das zweite Glas. »Ja, gern«, sagte sie; ihr war klar, dass ihre Unterhaltung an einen entscheidenden Punkt gelangt war, einen Punkt, an dem es nun darum ging, ob er sich öffnete und kooperierte, oder ob er sich, vielleicht für immer, verschloss. Der ehemalige Profiler des FBI nahm einen großen Schluck Wasser und wischte sich mit dem Handrücken vorsichtig den Mund ab. »In meinen Akten findet sich doch bestimmt eine Kurzdarstellung der Black-River-Morde, oder?« Die Dottoressa nickte. Sie hätte ganz gern noch mehr Einzelheiten gewusst, aber für einen ersten guten Eindruck reichte es. »Das war der Fall, an dem Sie gearbeitet haben, bevor Sie krank wurden, richtig?«, sagte sie. »Sechzehn Opfer, vielleicht noch mehr, verteilt über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahrzehnten.« »Sicherlich mehr«, sagte Jack. Fenella warf einen Blick auf die Akte auf dem Glastisch. »Alle bekannten Opfer sind hier namentlich verzeichnet, nebst ein paar kurzen Angaben dazu, was der unbekannte Täter ihnen angetan hat.« Jack runzelte die Stirn. In Wahrheit hatte man trotz all der jahrelangen Untersuchungen schlichtweg nichts in der Hand, abgesehen von genau jenen kurzen Angaben, was der Unbekannte seinen Opfern angetan hatte. Gerichtsmedizin und Autopsie verrieten ihnen, dass einige der Opfer schnell ums Leben gekommen waren, andere wiederum, die neueren Fälle, waren langsamer getötet worden. Jack wusste, warum. Der Killer hatte an Selbstvertrauen gewonnen und wurde dadurch experimentierfreudiger. Vermutlich dehnte er seine sexuellen Vorlieben aus, seine Fantasien wurden immer vielschichtiger, und zweifellos wurden seine Foltermethoden immer brutaler. 46
All diese Fälle waren für die beteiligten Untersuchungsärzte ein Albtraum gewesen. Zu den üblichen Vorgehensweisen des BRKillers hatte bisher gehört, die Leichen so lange wie möglich bei sich zu haben. Kaum setzte die Verwesung ein, beeilte er sich, die Opfer loszuwerden und die Leichen im Black River zu versenken. Er ließ sie in die schäumenden Fluten plumpsen, so als würde er ein paar gebrauchte Taschentücher ins Klo spülen. Zu Anfang wurden die armen Frauen einfach dort hineingeworfen, mit wachsender Erfahrung und zunehmendem Selbstvertrauen zerlegte der Täter die Leichen, stopfte die einzelnen Leichenteile in mit Steinen beschwerte Plastikmüllsäcke und entsorgte sie verstreut über Meilen hinweg. Mit jedem Mord schien es unmöglicher zu werden, ihn zu fassen zu kriegen. Fenella beobachtete Jack, wie er die Schwierigkeiten der Untersuchung stumm erneut durchlebte. Sie konnte sehen, wie sehr ihn das alles verletzte, aber dennoch musste sie nachhaken. »Wie oft denken Sie denn an den Black-River-Killer?«, fragte sie. Jack schluckte. »Oft. Ich bemühe mich, es zu verhindern. Ja, ich denke immer noch oft an ihn.« Fenella warf einen Blick in ihre Unterlagen. »Es sind mehr als drei Jahre vergangen, seit Sie an dem Fall gearbeitet haben. Warum denken Sie immer noch so oft daran?« Jack zuckte die Achseln. »Kommt alles wieder hoch, wenn ein weiterer Mord passiert, oder denken Sie einfach ohne jeden Anlass daran?« »Er hat seit damals, als ich noch mit den Untersuchungen beschäftigt war, nicht mehr gemordet. Mit seinem letzten Opfer war ich gerade befasst, als ich meinen Zusammenbruch hatte.« Fenella machte sich eine Notiz und fragte dann: »Also werden Ihre Gedanken und Ihre Albträume nicht durch Neuigkeiten über ihn ausgelöst?«
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»Nein. Er schwirrt mir immer im Kopf herum, ich werde seinen Schatten nicht los, ständig lauert er in irgendeinem hintersten Winkel meines Verstands.« »Vergessen wir für einen Augenblick die Albträume«, meinte Fenella. »Erzählen Sie mir bitte, was Ihnen jeweils gerade durch den Kopf geht, wenn Sie tagsüber in Gedanken zu dem Fall zurückkehren.« Jack wich ihrem Blick aus. »Ich frage mich, was der Killer wohl gerade macht, mit wem er zusammenlebt, wie er es schafft, mit sich selbst zu leben, klarzukommen. Wie normal er ist oder wirkt.« Fenella war sich bewusst, dass Jack sich zurückhielt; die ganze Wucht dessen, was seine Gedanken erfüllte, behielt er für sich. Sie hoffte um seinetwillen, dass er sich öffnen würde. »Denken Sie oft an diese Verbrechen? An das, was er getan hat? Daran, wie er sich bei den Morden fühlte?« Jack sah sie wieder an, wägte ihren Gesichtsausdruck ab und überlegte, ob er ihr genug vertraute, um fortzufahren. »Nein, nicht so oft wie früher. Als ich noch mit dem Fall befasst war, habe ich ständig darüber nachgedacht. Unsere Ausbildung zielt darauf ab, dass wir so denken; dass wir sozusagen in den Schuhen derjenigen stecken, die wir jagen. Wir müssen so denken wie sie, müssen so fühlen wie sie und ihr Tun in allen Dimensionen begreifen. Begreifen, wie es ist, das zu tun, was sie tun.« »Und wie, glauben Sie, ist das?« »Für die Täter? Was ich glaube, was Abschaum wie der BRKiller empfindet, wenn er so etwas tut?« »Ja.« Jack hob die Brauen. »Für die ist es wahrscheinlich ein Ereignis, das ihnen den Atem raubt. Sie sind gottgleich. Sie haben buchstäblich Macht über Leben und Tod. Für die Mörder dieser Welt ist Töten das Höchste. Es gibt nichts auch nur annähernd Vergleichbares. Und wenn sie so etwas erst mal durchlebt 48
haben, dann sind sie sofort süchtig danach; für sie ist Mord eine Droge.« Fenella beugte sich vor und sprach ganz leise. »Sie verurteilen nicht. Wie machen Sie das?« Jack schaute sie verwirrt an. »Wie mache ich was?« »Sie unterdrücken Ihre Abscheu, den Widerwillen, den Sie doch spüren müssen.« Jack war für einen Augenblick aus der Bahn geworfen. Irgendwie spürte er gar nichts mehr. Die endlose Folge an mörderischen Schrecken hatte ihn abgestumpft. Aber wie konnte er das laut aussprechen, ohne unmenschlich zu wirken? Wie konnte er zugeben, dass Opfer und Täter für ihn keine Menschen mehr waren, sondern in seinem Verstand zu Gegenständen geworden waren, zu Puzzleteilen, zur blanken Algebra der Gewalt? »Fällt Ihnen eine Antwort auf diese Frage schwer?«, sagte Fenella freundlich. Jack fuhr mit der Zunge über die Lippen, bis ihm bewusst wurde, dass dieses offenkundige Anzeichen von Nervosität seine Antwort vielleicht unehrlich klingen lassen könnte. »Es ist eine gute Frage«, sagte er. »Ich versuche gerade, eine passende Antwort darauf zu formulieren. Mir ein Urteil zu erlauben würde bedeuten, mir als Ermittler Scheuklappen anzulegen, und das kann ich mir nicht leisten. Ich kann mir nicht erlauben, dass ein Mörder oder Vergewaltiger, den ich verhöre, Anzeichen davon erkennt. Ganz gleich, was sie getan haben mögen, wie sie jemanden verletzt oder ums Leben gebracht haben, ich muss ihnen signalisieren, dass ich da bin, um zu verstehen, warum sie es getan haben, statt sie für ihre Taten zu verdammen.« Fenella registrierte insgeheim, dass Jack noch immer so sprach und sich zum Großteil auch noch so verhielt, als wäre er nach wie vor beim FBI. Darauf wollte sie später noch einmal zurückkommen, bei einer weiteren Sitzung möglicherweise, falls es zu einer solchen kommen sollte. Jack war jetzt offen zu ihr und 49
zeigte Vertrauen, weshalb sie es für richtig hielt, nun ein schwierigeres Thema anzuschlagen. »Ich möchte nun zu Ihren Albträumen kommen. Ist das in Ordnung?« Jack rutschte unbehaglich auf seinem Platz herum. »Ach, kommen Sie mir jetzt mit Freud und Jung und all dem?« Sie schenkte ihm wieder mal ihr Lächeln. »Nur ein wenig, vielleicht. Freud nannte Träume einmal ›den Königsweg zum Unbewussten‹. Ich bin überzeugt, dass es sich lohnen könnte, diesen Weg einzuschlagen.« Jack beugte sich vor. »Nun, die meisten Neurobiologen meinen, dass Träume nichts anderes als wild gewordene elektrische Impulse sind, die willkürlich durch unser Hirn zucken, sobald wir eingepennt sind.« Ihr Lächeln verblasste. »Jack, wir können den ganzen Tag so weitermachen und die Klingen kreuzen. Die blanke Tatsache, dass Sie davon ablenken, über den Albtraum reden zu wollen, zeigt doch, dass Sie dessen Bedeutung erkannt haben.« Sie hatte recht, und Jack wusste das. Wie ein ausgeschimpfter Teenager, der nicht wusste, wie er das Gespräch mit den Eltern wieder aufnehmen sollte, ließ er sich ins Sofa zurücksinken. Sie füllte die Stille für ihn aus. »Im Durchschnitt verbringen wir sechs Jahre unseres Lebens damit, zu träumen. Lassen Sie uns ein paar Minuten damit verbringen, den Sinn in dem letzten Traum zu finden, den Sie hatten.« Jack holte tief Luft und spürte, wie sein Herz aus Protest gegen den Brustkorb schlug. Es wurde Zeit, die Büchse der Pandora zu öffnen. »Ich bin bei einer Autopsie. Sie wird mitten in der Nacht in einem Kuhkaff durchgeführt, in dem ich noch nie war. Es handelt sich nicht um meinen Fall; der verantwortliche Beamte hat mich in letzter Minute hinzugezogen. Wir sind unten in einer Art Keller; eher ein Keller in einem Haus als in der Gerichtsmedizin. Es ist kalt und riecht süßlich nach Altöl und feuchten 50
Wänden. Die Wände sind geziegelt und geweißelt, der Fußboden ist schwarz und hart, und es knirscht unter den Schuhen, als würde man über Glasscherben laufen. Rostige Rohre an der Decke zischen und kollern, dass man glauben könnte, sie würden jeden Augenblick platzen.« Der Dottoressa fiel auf, wie bildhaft und krass Jacks Sprache geworden war und dass er offenbar selbst in seinen Träumen mit geschärften Sinnen dabei war und Geräusche, Gerüche und sogar die Dinge unter seinen Füßen wahrnahm, die er gar nicht sehen konnte. »Der Gerichtsmediziner schuftet wie ein Berserker, fast wie ein Chirurg, der Leben zu retten versucht, nicht wie ein Pathologe, der langsam und systematisch einen Leichnam öffnet. Er bewegt sich so schnell um den Tisch herum, dass ich nicht erkennen kann, um wen es sich handelt. Jedes Mal wenn ich mich bewege und etwas sagen will, bewegt sich der Mann zu einer anderen Stelle des Leichnams.« Jack rieb sich die Stirn. Er spürte, wie ihm der Schweiß im Gesicht ausbrach, wie sein Puls schneller wurde, seine Muskeln sich verspannten. »Das Mädchen auf dem Obduktionstisch ist die sechzehnjährige Lisa Maria Jenkins, das letzte bekannte Opfer des BR-Killers. Sie ist zerteilt worden wie ein Brocken Fleisch. Kopf, Hände, Beine, Füße, alles abgetrennt. Ihre linke Hand wurde nie gefunden, der BR-Killer hat sie wohl als Trophäe behalten. Aber in meinem Traum ist Lisa unversehrt; sie sieht so schön aus wie auf ihrem letzten Geburtstagsfoto, auf dem sie ihr langes braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat.« Jack musste sich anstrengen, um fortzufahren. Dieser ganze Erkenntnisprozess bereitete ihm Mühe, aber die Dottoressa unternahm nichts, um die Stille zu unterbrechen oder ihm einen Ausweg zu liefern. Er presste kurz die Augen zusammen und fuhr dann fort. 51
»Ich sehe ihr Gesicht, und mir fällt auf, dass da etwas nicht stimmt. Sie atmet noch. Ich brülle los: ›He, schauen Sie, schauen Sie, sie lebt noch!‹, aber der Mediziner beachtet mich nicht weiter, sondern schneidet sie weiter auf und holt ihre Eingeweide aus dem Bauch heraus. Plötzlich reißen sich die Rohre von den Wänden los, und Blut fließt auf den Boden wie aus riesigen Venen. Ich schreie: ›Stopp! Um Himmels willen, hören Sie auf, sie lebt noch!‹ Aber der Kerl ignoriert mich einfach. Ich eile um den Tisch herum, um ihn zu packen. Er macht mit der Knochensäge einen schnellen Schnitt durch ihren Hals und trennt ihr den Kopf ab. Jetzt kann ich den Mann erkennen. Jetzt weiß ich, warum er vor mir davonläuft und nicht zulassen will, dass ich sein Gesicht erkenne. Ich erkenne ihn sofort.« »Sie sagen, Sie erkennen ihn. Wer ist es, Jack?« Jack hebt den Kopf und schaut ihr unverwandt in die Augen. »Ich bin es. Das Ungeheuer in meinen Träumen bin ich.«
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KAPITEL NEUN
Days Inn Grand Strand, South Carolina Die Dame, die bei UMail2Anywhere am Telefon sitzt, hat ihr Wort gehalten. Nach kaum einer Stunde taucht Stan, der Bote, mit einer Bahn Luftfolie, vier Pappkartons, drei Lagen Packpapier und einer Rolle Klebeband bei ihm auf. Spider, der die Hände voller Motorenöl hat, geht an die Tür, lässt den Burschen herein, lässt ihn die Sachen aufs Bett werfen, wäscht sich schnell die Hände und gibt ihm ein Trinkgeld. Er hat gerade den Schädel von allen Fingerabdrücken gesäubert, und will nun keine auf dem Paket hinterlassen, in dem er Sugar nach Hause schicken will. Stan lungert am Pool herum, trinkt Coke mit Limone und checkt die Mädchen, während sein Kunde mit dem fetten Trinkgeld sich Zeit damit lässt, irgendeine zerbrechliche Fracht einzupacken, die noch am Nachmittag per Luftpost raussoll. Scheint ein netter Kerl zu sein, nicht viele Kunden geben heutzutage noch Trinkgeld oder fragen ihn gar nach seinem Namen und bedanken sich für die Mühe. Für so einen Gentleman zu warten macht überhaupt nichts aus. Der Typ hat sogar gemeint, er könne ihm ein bisschen Arbeit nebenbei verschaffen, Botengänge, bei denen mehr rausspringt als das Witzgehalt, das er bei UM2A kriegt. Der Mann hat gesagt, dass er vielleicht am Nachmittag noch was für ihn habe, wenn Stan das mit der ersten Sendung zu seiner Zufriedenheit erledigt hat. Spider zieht Baumwollhandtusche an. Vor Kurzem hat er gelesen, dass die Bullen jetzt sogar schon von den Innenseiten von Gummihandschuhen Fingerabdrücke abnehmen können. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber er will kein Risiko eingehen. 53
Wenn er fertig ist, wird er die Handschuhe mitnehmen. Er nimmt ein Schweizer Messer, schneidet einen Streifen Luftfolie ab und stopft ihn in Sarah Kearneys Schädel. Das Plastik quillt aus den Augenhöhlen und dem Unterkiefer heraus und verleiht den grotesken Eindruck von Membranen, Muskeln, ja sogar Leben. Spider wickelt ein zweites Stück von außen um den Schädel, befestigt es mit Klebeband und steckt das Ganze dann in einen der kleineren Kartons, die Stan geliefert hat. Er klebt den Karton zu und packt ihn in braunes Packpapier ein. Dann schneidet er wieder ein Stück Luftfolie ab, klebt es um die Schachtel und steckt diese dann sorgfältig in einen der größeren Kartons. Die Kanten versieht er mit Klebeband, und danach verpackt er den Karton mit den restlichen beiden Lagen Papier. Er nimmt einen schwarzen Filzstift aus seinem Koffer und schreibt die Lieferanschrift in unauffälligen Großbuchstaben darauf, die keinerlei Rückschlüsse auf seine tatsächliche Handschrift zulassen. Einen Augenblick lang hält Spider inne und riecht genüsslich und zufrieden an der Filzstiftspitze. Sie riecht nach Bonbons mit Birnenaroma. Spider muss lächeln. Wer hätte je gedacht, dass einem die unschuldigen Freuden aus Kindertagen wieder einfallen, wenn man den Schädel einer Frau verpackt, die man vor zwanzig Jahren getötet hat? Die restlichen Kartons macht er flach und packt sie zusammen mit dem Klebeband und der Luftfolie in seinen Koffer. Dann trägt Spider den Karton in den Gang hinaus und stellt ihn vor die Tür. Sein Zimmer befindet sich im ersten Stock des zweistöckigen Motelblocks; von dort oben kann er Stan gut sehen. Der Bursche beäugt gerade ein paar weibliche Teenager, deren Bikinis so winzig sind, dass man sie als Zahnseide benutzen könnte. »He, Stan!«, ruft Spider. Der Botenjunge wird aus seinen jugendlichen Tagträumen gerissen und hebt zum Zeichen, dass er verstanden hat, eine Hand. Bis Stan auf dem Außenflur erscheint, hat Spider die 54
Handschuhe ausgezogen und sich ein Handy zwischen linkes Ohr und Schulter geklemmt. Er notiert sich etwas auf einen Motelschreibblock, während er scheinbar mit jemandem telefoniert. »Oh, sicher, ich habe die Arbeit vor etwa einer Stunde erledigt. Ich werde Ihnen die Kontenaufstellungen im Lauf des Nachmittags zufaxen. Machen Sie sich keine Sorgen.« Stan sieht schon, dass der Typ echt beschäftigt ist, also nickt er in Richtung des Pakets und fragt: »Alles fertig?« »Einen Augenblick, bitte«, sagt Spider ins Telefon, hält das Mikrofon des Handys zu und wendet sich an Stan. »Ja, das können Sie mitnehmen. Vielen Dank noch mal, dass Sie gewartet haben. Ich rufe dann später wegen des zweiten Jobs an.« »Alles klar, kein Problem«, sagt Stan, nimmt das Paket, lächelt und geht davon. Spider tut so, als würde er weitertelefonieren. Er schaut zu, wie der Bursche verschwindet, und geht dann wieder auf sein Zimmer. So weit, so gut – sein Plan macht Fortschritte. Er nimmt ein Tintenfass aus dem Koffer und bekleckert damit absichtlich Bettlaken und Kissen. Dann nimmt er schnell die Handtücher, um damit aufzuwischen, wirft das ganze Bündel schließlich unter die Dusche und dreht den Wasserhahn auf. Als Nächstes ruft er den Zimmerservice an, um mitzuteilen, dass er gestolpert sei und überall mit Tinte gekleckert habe, die Laken aber eingeweicht habe, damit die Flecken wieder herausgehen. Schneller als ein Hundert-Meter-Sprinter auf Steroiden erscheint ein mexikanisches Zimmermädchen vor seiner Tür. Sie schimpft ihn auf Spanisch aus, beruhigt sich aber wieder, als er ihr zehn Dollar gibt und dabei behilflich ist, die Laken auszuwringen und in ihren Wäschewagen zu stopfen. Nun, da er weiß, dass all die Laken, der Bettüberwurf, die Kissen und Handtücher, auf denen sich vielleicht Spuren von DNS befinden könnten, in zehn Minuten in der Wäscherei gekocht werden, fühlt er sich besser. 55
Spider kontrolliert noch einmal sein Zimmer, um sicherzugehen, dass er nichts liegen lassen hat, nimmt dann all seine Habe, schließt ab, geht hinunter zur rund um die Uhr besetzten Rezeption und bittet um die Rechnung. Er heuchelt, wie peinlich ihm der »Zwischenfall« sei, gibt sich höflich und entschuldigt sich. Nach einem kurzen Anruf bei der Hausdame teilt man ihm mit, dass alles in Ordnung sei und er nichts extra zu bezahlen habe. Er bedankt sich, begleicht seine Rechnung in bar und geht dann hinaus, um seinen silbernen Chevy Metro, einen Leihwagen, auf dem Vorplatz abzuholen. Es sind nur ein paar Minuten bis zur Filiale von Thrifty Rent-a-Car an der Jetport Road, wo er einen gefälschten Führerschein vorgezeigt, das 80-DollarTagesangebot gebucht und ebenfalls in bar bezahlt hat. Gutes, altes Bargeld, das man nicht zurückverfolgen kann, die internationale Währung des Verbrechens. Es dauert eine Ewigkeit, bis sich der Angestellte um ihn kümmert, dann protestiert er, wie alle anderen auch, vehement über den viel zu hohen Benzinzuschlag und tut, selbst als er den Shuttlebus zum Terminal des Flughafens nimmt, immer noch so, als wäre er sauer. Spiders erster Halt ist der Schalter der Fluggesellschaft Delta, wo er sich ein Ticket besorgt, das ihn aus South Carolina hinausbringt. Er checkt seinen Koffer ein, lässt sich seine Bordkarte geben und sucht sich dann etwas zu essen. Vor seinem Abflug hat er noch jede Menge Zeit. Einen letzten Anruf hat er noch zu tätigen. Einen letzten, wichtigen Schritt, um den er sich noch kümmern muss, bevor er seinen Flug von Myrtle Beach International Airport aus nimmt.
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KAPITEL ZEHN
FBI-Behörde, New York Special Agent Howie Baumguard saß an seinem Schreibtisch und verlor gerade ein übles Wrestlingmatch gegen seinen Imbiss. Der Bagel spuckte auf der einen Seite Lachs aus und auf der anderen Seite fettarmen Frischkäse. Baumguard leckte den Käse ab, konnte aber nicht verhindern, dass der Lachs auf seinem Papierkram landete, bevor er Gelegenheit hatte, den Fisch in seinen hungrigen Schlund zu bugsieren. Er hatte nicht gefrühstückt und war gezwungen gewesen, eine Einladung zum Mittagessen abzusagen, also standen jetzt der Bagel und ein siedend heißer Filterkaffee ganz oben auf seiner Liste lebenserhaltender Maßnahmen. Howie war eindeutig zu dick, nicht nur für seinen eigenen Geschmack, sondern vor allem für den seiner spindeldürren, Botox-süchtigen Frau, die kategorisch erklärt hatte, dass die »Schwimmringe« verschwinden müssten, sonst werde Howie bald lernen müssen, wie man sich von den paar Kröten, die sie ihm lassen werde, nachdem sie seinen fetten Hintern auf alles verklagte habe, was sie an Unterhaltszahlungen nur kriegen könne, selbst was zu essen kocht. Nicht allzu viele Menschen würden angesichts dessen, was auf Howies Schreibtisch lag, auch nur ans Essen denken. Aber der FBI-Mann hatte schon Schlimmeres gesehen und dabei größere Portionen gegessen. Die Bilder, die die Beamten aus Georgetown herübergeschickt hatten, waren gerade von der Verwaltungsstelle heruntergeladen und ausgedruckt worden. Gute Tatortfotos, zwar kalt und brutal, aber sehr aufschlussreich. Weitwinkelaufnahmen zeigten die Szenerie von der Straße aus, die den Friedhof umgab. Dann gab es »Luftaufnahmen«, 57
Ansichten von oben, wahrscheinlich von der Kirche nahebei, die zeigten, wie die Gräber angelegt waren. Nach und nach konzentrierten sich die Aufnahmen auf die Grabschändung. Weitwinkel, Nahaufnahmen, Großaufnahmen und schließlich nahezu mikroskopische Detailbilder. Howie bemühte sich mit seinen Stummelfingern darum, den Lachs aufzuklauben. Schließlich bekam er ihn zu fassen, wischte dabei aus Versehen einen Fettfleck über eine Nahaufnahme von Sarah Elizabeth Kearneys kopfloser Leiche. Armes Kind, dachte Howie und rieb das Fett weg, gerade mal zweiundzwanzig, als sie ermordet wurde. Wenn sie noch lebte, wäre sie heute zweiundvierzig, hätte wahrscheinlich selbst eine Tochter, vielleicht sogar Enkelkinder. Was für ein krankes Arschloch war das nur, der jemanden derart um seine Zukunft brachte? Und wie krank musste das Arschloch sein, das sie zwanzig Jahre später wieder ausbuddelt und ihr den Schädel von der skelettierten Leiche klaut? Howie schüttelte ungläubig den Kopf. Soweit er wusste, war Grabschändung im 21. Jahrhundert extrem selten. In den seltenen Fällen, die es gab, war der Täter entweder ein durchgeknallter Junkie, ein bekloppter Satanist oder ein äußerst aufgebrachter Ehemann, der einfach nicht hinnehmen konnte, dass seine Frau für immer von ihm gegangen war. Die örtliche Polizei vertuschte solche Fälle, und meistens spielten die Zeitungen mit. Den gegenwärtigen Fall unter dem Deckel zu halten war jedoch ausgeschlossen. Nein, die Pressedrähte glühten schon wie ein überhitzter Gartengrill. Es sah ganz so aus, als hätte ein Zeitungsfritze aus Georgetown Glück gehabt und selbst ein paar Bilder gemacht. Das kleine Wiesel hatte bestimmt einen Tipp von den Bullen oder den Sanitätern bekommen, vielleicht hatte er auch den Polizeifunk abgehört. Jedenfalls hatte der Kerl eine Exklusivstory, die Bilder flipperten gerade als JPEGs durch die Nachrichtenwelt und brachten ihm ein paar ordentliche Mäuse aufs Konto. Howie schaute sich eines der Fotos an, die ihm Billy 58
Blaine weitergeleitet hatte, ein zahmer New Yorker Journalist, der eine Presseagentur betrieb und häufig kleine Gefälligkeiten mit dem FBI wechselte. Die Aufnahme war gut. Howie wischte sich noch einmal die Finger sauber und hielt dann den Ausdruck hoch. Obwohl nur ein Fax, war alles scharf zu erkennen, nicht eine einzige unscharfe Stelle, kein Verwackler. Der Typ hatte bestimmt einen dieser neumodischen Bildstabilisatoren verwendet, die mehr kosteten als der ganze Fotoapparat. Howie ärgerte die Jungs von der Spurensicherung immer, dass die Schmieranten bessere Bilder machten als sie; das vorliegende war keine Ausnahme. Es war zwischen den Grabsteinen hindurch geschossen worden, sodass man nur unscharfe Gräber und einen leichten Schimmer von Sonnenschein von hinten sah, aber keine Spur von den Polizisten und den Absperrbändern. Die Aufnahme musste ungeheuer schwer, nahezu unmöglich zu machen gewesen sein. Trotz all dieser Schwierigkeiten war alles Wichtige auf dem Bild messerscharf, perfekt belichtet und deutlich zu erkennen. Exakt in der Mitte des Bildes war Sarah Kearneys kopfloses Skelett zu sehen, das auf groteske Weise an ihren Grabstein gelehnt dasaß. Howie schüttelte wieder seinen großen Kopf. Das Bild war der reinste Schocker. Er hielt es auf Armeslänge von sich, nicht weil er schlecht sah, sondern um sich vorzustellen, er sei tatsächlich am Tatort und habe nur einen Schritt zurück gemacht, um einen besseren Überblick zu bekommen. Verdammt, dachte Howie, wenn Steven Spielberg jemals einen Horrorfilm drehte, dann würde er solche Einstellungen verwenden. Das Bild war einzigartig, eine echte Gruselvorstellung, viel zu grausam für die Fernsehnachrichten. Das Internet kannte solche Skrupel nicht; es war längst Tagesgespräch in allen einschlägigen Blogs. Howie nahm einen Schluck Kaffee und dachte an Jack King. Sie hatten vor fast zwei Monaten das letzte Mal miteinander gesprochen und auch da nur Smalltalk gemacht. Howie hatte besonders darauf geachtet, alles zu vermeiden, was alte Wunden 59
wieder aufgekratzt hätte. Wie geht’s? Was machen Nancy und der kleine Zack? Hast du die Story von dem Yankee-Spieler mitgekriegt, den sie in Queens hochgenommen haben? Männergeschichten, die ihre Beziehung als Polizisten und alte Freunde aufrechterhielten. Sie waren gemeinsam durch die Hölle gegangen, und Howie würde nicht zulassen, dass sich solche Kleinigkeiten wie ein ganzer Ozean und sechs Stunden Zeitunterschied zwischen ihn und seinen Exboss drängten. Doch jetzt musste er Jack anrufen und ihm von all dem durchgeknallten Mist erzählen, der mit Kearneys Grab angestellt worden war. Er musste ihn vorwarnen, dass die ganze Geschichte von ihm und seinem Zusammenbruch in der Presse vielleicht wieder hochkam. Verdammt und zugenäht – hörte dieser Fall denn nie auf? Howie Baumguard besah sich noch einmal die Fotos. Er wusste genau, was Jack dazu sagen würde. Er wusste es so sicher, wie er wusste, dass seine spindeldürre Frau ihn eines Tages für einen jüngeren, fitteren Mann verlassen würde, einen der öfter daheim war. Das hier war zweifellos das Werk eines einzigen Mannes, das Werk des BR-Killers, des Killers, den er, Jack und all die anderen guten Männer vom FBI nie erwischt hatten.
Montepulciano, Toskana Ispettore Orsetta Portinari parkte ihre »Eule« und ging trotz der für die meisten Polizeibeamtinnen etwas zu hohen und bei weitem zu modischen Absätze elegant den steilen, mit Kopfsteinen und Steinplatten ausgelegten Corso hinauf, die historische Hauptstraße von Montepulciano. Streifenwagen der Polizia trugen den Spitznamen Panther, die der Carabinieri Gazellen, die zivilen Einsatzwagen wurden alle als Eulen bezeichnet. Orsettas Freundin Louisa hatte ihr Kaffee versprochen, wollte ihr Bilder vom Baby ihrer Schwester zeigen und anderthalb Jahre nachzuholender Gerüchte weitererzählen. Für Orsetta hörte sich das wie eine gute Möglichkeit an, die Zeit herumzu60
kriegen, bis dieser vermaledeite ehemalige FBI-Typ wieder auftauchte und sie endlich anrief. Porca madonna! Seine Frau hatte nur Ärger gemacht; kein Wunder, dass der Mann nicht zu Hause war. Mit dem Schrapnell zu leben musste die reinste Hölle sein. Orsetta kaufte an einem Marktstand Blumen und Kirschen und war gerade mal hundert Meter vom Haus ihrer Freundin entfernt, als das Handy klingelte. »Pronto«, sagte sie; sie war der Mailbox gerade noch zuvorgekommen. »Ispettore Portinari?« »Sì.« »Jack King. Meine Frau sagte, Sie wollten mich sprechen.« Orsetta blieb stehen und trat in einen schattigen Hauseingang. »Ah, Signore King, grazie. Danke für Ihren Rückruf. Direttore Massimo Albonetti, mein Chef, ist gerade in Belgien bei einem Meeting von Europol und hat mich zu Ihnen geschickt, um …« »Massimo?«, unterbrach sie Jack überrascht. »Was will denn der alte Stinkstiefel von mir?« »Scusi?« Jack lachte. »Entschuldigung. Massimo und ich kennen uns schon ewig. Wir haben miteinander eine Menge Zeit auf unserer Akademie verbracht, als Ihre Leute sich zum ersten Mal für unser VICAP-Programm in Sachen Gewaltverbrechen interessiert haben. Sie sind also seine Mitarbeiterin und arbeiten für ihn?« »Sì«, bestätigte Orsetta und hatte ihren 16 Stunden am Tag arbeitenden Workaholic von Boss vor dem geistigen Auge, wie er sie in ein düsteres Büro rief, sich den stoppligen Schädel rieb, wie ein Schlot rauchte und ihr Akten hinhielt, ohne überhaupt aufzuschauen. »Und zwar ziemlich hart.« Jack hatte keinerlei Zweifel daran. Massimo war eine Bulldogge von Mann. Er war körperlich und geistig überaus fit, und wenn er sich in eine Sache verbiss, dann ließ er nicht mehr los, 61
selbst wenn er sein ganzes Team dabei bis an den Rand der Erschöpfung trieb. »Was machen Sie denn, gehören Sie zur CID, CSI, sind Sie Profiler, oder was?« Orsetta warf einen Blick auf ihre neuen Schuhe, die von ihrem Spaziergang staubig waren und dringend liebevoll geputzt werden mussten. »Ich arbeite in einer Sonderabteilung, die unserer nationalen Abteilung für Gewaltverbrechensanalyse angeschlossen ist. Man bezeichnet uns als Verhaltensanalytiker, aber eigentlich bin ich eine – wie würden Sie sagen? – psychologische Profilerin.« Jack verstand. Die Polizeikräfte benannten Abteilungen ganz nach Vorlieben jener Politiker um, die gerade am Geldhahn saßen. »Ich hab schon schlimmere Berufsbezeichnungen gehört«, sagte er. »Nun denn, Ispettore, Sie wissen doch sicher, dass ich hier nicht auf Urlaub bin. Ich habe meinen Beruf aufgegeben und unterstütze meine Frau – die Sie wohl ziemlich verärgert zu haben scheinen – dabei, ein Hotel zu führen. Ich bin jedenfalls nicht mehr bei der Polizei. Warum also dieser Anruf?« Im Geiste verfluchte Orsetta noch einmal Kings Frau. »Massimo, ich meine Direttore Albonetti, meint, ich soll darauf keine Rücksicht nehmen. Er meint, so jemand wie Sie würde nie richtig in den Ruhestand gehen.« Jack musste abermals lachen. »Das hat er gesagt?« »Na ja, eigentlich hat er gesagt: Jack King ist genauso wenig im Ruhestand wie ich. Jack King weiß nicht mal, wie man das Wort Ruhestand überhaupt buchstabiert.« Jack schwieg für einen Augenblick. Massimo hatte recht. Er arbeitete vielleicht keine zwölf Stunden mehr am Stück in New York und verbrachte die Nächte nicht länger damit, sich Tatortbeschreibungen durchzulesen, aber sein Hirn war nie zur Ruhe gekommen und arbeitete immer noch im Schichtbetrieb. »Was will er denn?«
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Ein Motorroller mit zwei Teenagern darauf knatterte den Hügel hinauf und übertönte das Gespräch. »Scusi?«, rief Orsetta und hielt sich das freie Ohr zu. »Was will Massimo von mir?« »Ich habe eine Akte dabei«, fing Orsetta an zu erläutern und überbrüllte dabei den Roller. »Es geht um den Mord an einer jungen Frau, bei dem Sie uns seiner Meinung nach behilflich sein könnten. Sind Sie wieder in Ihrer Pension, Mr. King? Ich könnte vorbeikommen und Ihnen alles zeigen.« Jack sah auf die Uhr. Es war fünf Uhr abends, und er musste noch ganz Florenz durchqueren, um den Zug nach Siena zu erwischen. »Nein, tut mir leid. Ich bin gerade in Florenz und werde erst sehr spät wieder in San Quirico sein.« Orsetta setzte alles daran, dass er ihr nicht durch die Finger glitt. »Mr. King, der Tatort des Falles, den Sie sich anschauen sollen, liegt zufälligerweise westlich von Florenz, nicht allzu weit entfernt. Wenn Sie in der Stadt bleiben, kann ich Sie dort treffen. Bitte nehmen Sie sich ein Hotelzimmer, wir werden alle Kosten übernehmen.« Jack schwieg und fragte sich, wie er das Nancy beibringen sollte. Sie würde sich fürchterlich aufregen, aber irgendwie hatte er sich schon innerlich entschieden, sich der Sache anzunehmen. Die Aussicht, bei einem aktuellen Fall mithelfen zu können, war einfach zu verlockend. »Okay«, sagte er. »Sie kriegen vierundzwanzig Stunden von meiner Zeit. Ich rufe Sie an, wenn ich irgendwo eingecheckt habe.« Orsetta versetzte der Luft einen Fausthieb. »Grazie«, sagte sie. Nachdem Jack sich verabschiedet hatte, schaltete sie ihr Handy aus und warf einen reuigen Blick zum Haus ihrer Freundin hinüber, die sie immerhin seit achtzehn Monaten nicht mehr gesehen hatte; ihr war klar, dass es wahrscheinlich abermals anderthalb Jahre dauern würde, bis wieder Gelegenheit dazu war. Trotzdem, Orsetta hatte den Mann rumgekriegt. Während 63
sie vorsichtig die steile und gewundene Straße von Montepulciano hinunterging, kam sie an einer alten Frau mit rotem Kopftuch vorbei, die vor einer offenen Haustür auf einem Holzstuhl saß und schlief. Auf dem Schoß der Alten hatte es sich eine Katze bequem gemacht. Orsetta legte den Blumenstrauß und die Kirschen behutsam neben dem Stuhl auf den Boden. In Gedanken war sie ganz bei Jack King und fragte sich, ob er auch nur annähernd so sexy aussah, wie seine Stimme am Telefon klang.
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KAPITEL ELF
Florenz, Toskana Jack schenkte Nancy immer die gleichen drei Dinge zum Hochzeitstag – etwas zum Anziehen, etwas zum Essen und etwas zum Lesen. Diese drei Auswahlbereiche spiegelten ihre Hauptsinne wider – berühren, schmecken, sehen –, und Jack rühmte sich gern der Tatsache, dass er stets ein paar interessante Funde machte. Etwas zum Anziehen war zum Beispiel einmal ein pinkfarbener Winteranorak gewesen, nichts sonderlich Romantisches, bis sie die Hände in die Tasche steckte, die Flugtickets nach Schweden und die Reservierung für den Eispalast entdeckte, wo sie die darauffolgende Woche verbrachten. Dieses Jahr war Etwas zum Anziehen rot und spitzenbesetzt, und Jack hoffte, dass dies ein wenig vom Zauber der Jahre zurückbrachte, die hinter ihnen lagen. Etwas zum Essen war traditionell der Besuch eines neuen Restaurants gewesen, mit Ausnahme des Jahres, in dem die örtliche Theatergruppe Romeo und Julia aufführte. Sein blitzendes Polizeiabzeichen an den richtigen Stellen hatte ihm ermöglicht, die Bühne für den Abend zu mieten, ein paar Musiker und die Pizza kommen zu lassen und sich von den beiden Hauptdarstellern während des Essens einzelne Szenen vorspielen zu lassen. Klar, das Ganze war eher komisch als romantisch gewesen, aber sie dachten gern daran zurück. Diesmal, nun, diesmal überließ er den Speiseplan Paolo, der versprochen hatte, etwas gastronomisch Außerirdisches mit weißen Trüffeln und italienischem Brandy zu zaubern. Etwas zum Lesen war immer am einfachsten gewesen. Manchmal war es ein Buch, das ihre Beziehung auf den Punkt brachte. Männer 65
sind anders, Frauen auch hatte den Startschuss dieser Entwicklung gebildet. Ab und zu war Nancy sogar so dreist gewesen und hatte ihre ganz eigenen Bestellungen aufgegeben und um Werke von Dichtern mit Namen, die er noch nie gehört hatte, gebeten, Namen wie Szymborska und Saint-John Perse. Diesmal hatte Jack seinen Geschenkedreier in aller Eile vervollständigt und machte sich mit einem Exemplar der englischen Übersetzung von Dantes Divina Commedia auf den Weg ins Sofitel in der Via de’ Cerretani. Er hatte nicht ins Buch geschaut, wusste aber, dass Dante aus der mittelalterlichen Toskana stammte und irgendwie dichtete, weshalb er annahm, dass sein Gelegenheitskauf relevant genug war, um sich als erfolgreich zu erweisen. Das Sofitel befand sich in einem umgebauten Palazzo aus dem 17. Jahrhundert und lag, was noch wichtiger war, in der Nähe des Bahnhofs, wo Jack einen frühen Zug zurück zu seiner Frau erwischen wollte. Möglicherweise hatte sie sich bis dahin ja auch schon wieder ein wenig beruhigt. Er bahnte sich einen Weg durch einen Schwarm deutscher Touristen, die das Empfangspersonal mit verstümmelten italienischen Phrasen überhäuften. Schließlich schaffte er es, sich ein Zimmer im ersten Stock mit Blick auf den Domplatz zu sichern. Doch am besten an dem Zimmer war die Tatsache, dass es mit einer Klimaanlage bestückt war, wie er sie von zu Hause kannte. Er stellte sie auf kalt und plünderte dann die Minibar, um sich ein paar Bloody Marys zu mixen. Die Sitzung mit der Seelenklempnerin hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Das war nicht das unverständliche Kauderwelsch gewesen, mit dem er gerechnet hatte, nein, das Ganze hatte Sinn ergeben. Fenella hatte recht. Er hatte Angst. Er machte sich Sorgen. Er hatte sich zwar geschworen, die Dottoressa wieder aufzusuchen, um die Sache hinter sich zu bringen, aber im Augenblick wollte er alle diese grausamen Wahrheiten, die ihn tief berührten, nur mit einer guten Portion russischem Wodka verbannen. Die erste Bloody Mary zeigte keinerlei Wirkung. 66
Jack fuhr mit dem Finger über die Innenseite des Glases und leckte sich den Tomatensaft ab. Ein paar Minuten später trug er die zweite Bloody Mary zum Bett, ließ sich darauffallen und warf die Schuhe von sich. Er rief Ispettore Portinari an, um herauszufinden, wo sie momentan war, und um zu entscheiden, ob er mit dem Essen auf sie warten sollte oder nicht. Ihre Mailbox ging an und lieferte ihm eine Nachricht auf Italienisch, wahrscheinlich wurde er um Name und Telefonnummer gebeten. Nachdem er die zweite Bloody Mary intus hatte, schaltete er CNN an und beschloss, sich die Zeit mit dem neuen Buch für Nancy zu vertreiben. Es enthielt sowohl das italienische Original als auch die Übersetzung, jeweils auf gegenüberliegenden Seiten. Jack mühte sich durch die kurze Abhandlung über Dante, einen Kommentar, dass er der Begründer des Italienischen für das gemeine Volk gewesen sei, eine kurze Geschichte über seine Verbannung aus einem Haus, das sich witzigerweise nicht weit von seinem Hotel befand, und ein paar Bemerkungen über die beiden Schriftsteller, die die Übersetzung angefertigt hatten. Schließlich kam er zum ersten Canto und las ihn laut, allerdings mit einem fürchterlichen Akzent: »Nel mezzo del cammin di nostra vita, mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita.« Jack verstand nicht ein einziges Wort, was ihn aber nicht davon abhielt, jede einzelne Silbe zu genießen, die er im Munde kreisen ließ wie einen Schluck erlesenen Weins. Er schaute auf die andere Seite und stutzte. Der Satz in der Übersetzung hatte eine so große persönliche Bedeutung für ihn, dass es ihm schier den Atem verschlug. »Auf halbem Weg des Menschenlebens fand / ich mich in einen finstern Wald verschlagen, / Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt.« Ganz genau so fühlte er sich im Augenblick. Er fragte sich, wie sein Leben als Mitglied des besten psychologischen Profilerteams des FBI sich nur so schnell in ein Leben verwandeln konnte, in dem er in Italien lebte und dabei half, ein Hotel zu führen. War er aus freien 67
Stücken hier, oder war er nur hier, weil er die Finsternis nicht mehr ertragen konnte, die ihn in den USA gepackt hatte? Ein dritter Drink verscheuchte die aufkeimende Melancholie. Der Alkohol verlockte ihn zu einem unvorhergesehenen Nickerchen. Diesmal träumte Jack zur Abwechslung einmal etwas Nettes. Er war zusammen mit Nancy irgendwo in der hügligen Landschaft der Toskana, und die Sonne schien so hell, wie sie das hier immer tat. Zack rannte mit einem Geburtstagsballon am Handgelenk vor ihnen her. Jack betrachtete gerade den Ballon, als dieser mit einem derartigen Knall explodierte, dass ihm das Herz raste. Er saß senkrecht im Bett, dann ging ihm auf, dass jemand laut an die Tür klopfte. Er schaute auf die Uhr und sah, dass er fast drei Stunden geschlafen hatte. »Einen Augenblick, bitte!«, rief er, rieb sich die Augen und besah sich schnell im Schrankspiegel, während er zur Tür ging. Ganz instinktiv schob er den Türspion auf und schaute nach, wer denn da klopfte. So wie es aussah, wollte ihm wohl jemand vom Empfang eine Nachricht vorbeibringen. »Signore King?«, sagte eine dunkelhaarige junge Dame, als er öffnete. Tatsächlich, sie hielt eine offiziell wirkende Aktenmappe in der Hand. »Hallo«, sagte er träge und klopfte sich die Taschen ab. »Einen Augenblick, ich hole nur einen Stift.« Damit ließ er die junge Frau stehen. Die mit einem starken Schließer versehene Tür schlug ihr buchstäblich vor der Nase zu, während er nach einem Stift und ein paar Euro Trinkgeld suchte. »Tut mir leid«, sagte Jack, als er die Tür wieder öffnete. Er hielt ihr ein paar Münzen hin. Die junge Frau schien verwirrt zu sein. Jack betrachtete sie etwas eingehender. Sie erinnerte ihn an eine italienische Ausgabe von Keira Knightley, nur größer und vielleicht ein wenig muskulöser als der federgewichtige Filmstar. »Sie haben
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etwas für mich?«, fragte er und nickte in Richtung der Aktenmappe. »Muss ich erst etwas unterschreiben?« »Signore, Sie müssen gar nichts unterschreiben«, sagte die Frau und streckte ihm ihre Hand hin. »Ich bin Ispettore Portinari.« »Verdammt! Das tut mir jetzt aber leid«, sagte Jack, steckte schnell das Trinkgeld, das er ihr hatte geben wollen, in die Tasche und schüttelte ihr die Hand. »Bitte kommen Sie doch herein. Der Tag war lang, ich hatte heute Abend schon gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet.« Diesmal hielt er ihr die Tür auf. Sie drückte sich an ihm vorbei und fand, dass sein Aussehen tatsächlich sehr gut zu der starken, maskulinen Stimme passte, die sie am Telefon gehört hatte. Allerdings war er erheblich größer und kräftiger, als sie sich ihn vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, dass es so spät geworden ist«, sagte sie, während er die Tür schloss. »Der Straßenverkehr ist einfach schlimm, und dann habe ich noch eine Weile gebraucht, um hier ein Zimmer zu bekommen.« »Zu viele Gäste, nicht genug Personal«, sagte Jack. »Möchten Sie etwas trinken?« »Ist der Wein kühl?«, fragte Orsetta und nickte in Richtung der noch geschlossenen Flasche Orvieto, die Jack aus der Minibar genommen hatte, um an den Wodka zu gelangen. »Ein wenig.« Jack befühlte die Flasche. »Möchten Sie es trotzdem wagen?« »Ja, bitte«, sagte sie, setzte sich in den Sessel, der neben dem Bett stand, und sah sich im Zimmer um. Jack entkorkte die Flasche und schenkte zwei Gläser ein. »Salute«, sagte sie und stieß mit ihm an. »Salute«, wiederholte Jack und dachte einen Augenblick daran, wie anders doch italienische Polizistinnen im Vergleich
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zu ihren amerikanischen Kolleginnen wirkten, vor Kraft strotzende, zwei Zentner wiegende Personen. Orsetta nippte an ihrem Wein und betrachtete über den Glasrand hinweg den Mann, von dem sie schon so viel gehört und gelesen hatte. Unter Profilern waren Jack Kings veröffentlichte Theorien, Vorträge und Kriminalstudien ebenso legendär wie sein Zusammenbruch. Seine Spezialität waren serielle Sexualverbrechen gewesen. Orsetta hatte gelesen, dass Jack während seiner aktiven Zeit mit der Ermittlung und Verhaftung von fünfzehn Serienvergewaltigern und fünf Serienkinderschändern zu tun gehabt hatte. Seine Trefferquote in Serienmordfällen war sogar noch beeindruckender, neunundzwanzig erfolgreiche Ermittlungsergebnisse in den dreißig Fällen, die über seinen Tisch gegangen waren. Nur einer war ihm entwischt, und nun saß sie ihm wegen eines Falles gegenüber, der möglicherweise damit in Verbindung stand. »Es geht um einen Mord«, begann sie und stellte das Glas Wein vorsichtig auf einen kleinen Beistelltisch, der mit Prospekten über Florenz bedeckt war, »der bestürzende Ähnlichkeiten zum Black-River-Fall aufweist.« Jack ließ sich nichts anmerken, aber sein Herz pochte merklich schneller. Er ließ den Wein im Glas kreisen und fragte: »Welche Ähnlichkeiten?« »Viele«, antwortete Orsetta. »Ich habe hier eine Fallbeschreibung bei mir« – sie klopfte auf die Aktenmappe neben sich –, »dazu eine vertrauliche Notiz für Sie von Massimo Albonetti.« Sie wollte schon die Akte hervorziehen, aber Jack hob die Hand. »Nein, bitte, heute Abend nicht. Ich habe einen langen Tag hinter mir, und um ehrlich zu sein, bin ich einfach nicht in dem Zustand, mich jetzt auf der Stelle in solch eine Angelegenheit zu vertiefen.« Bei diesem Zögern fragte sich Orsetta, ob Jack wirklich die späte Uhrzeit meinte oder ob er seinen Zusammenbruch und all die emotionale Belastung, die zweifellos damit einherging, 70
immer noch nicht überwunden hatte. »Frühstücken wir gemeinsam?«, sagte sie und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während sie in seinem Gesicht nach Stressmerkmalen suchte. »Dann könnten wir die Akte durchgehen.« »Hört sich gut an«, sagte Jack und schenkte ihnen nach. »Möchten Sie ein paar Oliven? Im Kühlschrank steht ein Glas.« Ihr Lächeln versiegte. »Also, Mr. King, Sie sollten es wirklich besser wissen. Einer Italienerin kann man doch keine Oliven aus irgendeinem Hotelgläschen anbieten.« Wenn Blicke hätten töten können, dann hätte Jack bereits Erde auf sein Grab geschaufelt bekommen. Stattdessen warf er eine Speisekarte des Zimmerservice auf das Bett, neben dem sie saß. »Möchten Sie etwas auswählen und mir dabei helfen, die Flasche zu leeren? Ich werde ein Steak-Sandwich und einen Salat essen und mich dann für die Nacht verabschieden. Wir könnten davor aber noch eine Weile während des Essens miteinander plaudern.« Die eine Hälfte von ihr wollte am liebsten auf ihr Zimmer, sich in die Badewanne sinken lassen und früh zu Bett gehen. Doch wie immer gewann die andere Hälfte. »Das hört sich schon besser an«, meinte sie und reichte ihm die Speisekarte zurück. »Ich nehme mein Steak medium, bitte.« Orsetta besah sich Jack, während er die Bestellung aufgab. Sein Haar war tiefschwarz und modisch kurz geschnitten, allerdings nicht so kurz, als dass sie nicht mit den Fingern hindurchfahren und sich im Notfall daran hätte festkrallen können. Seine Wangenknochen traten deutlich hervor, aber er sah so aus, als könnte er noch gut eine zweite Tagesrasur brauchen, um den abendlichen Bartschatten zu beseitigen. Manche Frauen fanden einen solchen vielleicht attraktiv, auf sie wirkte das einfach nur schmuddelig. Er trug ein einfaches weißes Hemd und eine schwarze Hose. Seine Haut wirkte durch die leichte Bräune gesund, eine Bräune, die er sich offenbar einfach so zugelegt hatte, nicht etwa durch tagelanges Grillen 71
auf irgendeinem Strandlaken. An seinen Schultern konnte sie erkennen, wie muskulös er war, und irgendwie gefiel es ihr, dass er seine Statur keineswegs zur Schau stellte. Sein Hemd saß eher locker und war bis auf den obersten Kragenknopf geschlossen. »Zwanzig Minuten«, sagte Jack, legte den Hörer auf und drehte sich zu Orsetta um. Sie sah schnell beiseite, damit er nicht – wie peinlich – mitbekam, dass sie ihn beobachtete. Jack tat so, als hätte er ihr Interesse nicht bemerkt, aber ihm war nichts entgangen. Er nahm sein Weinglas in die Hand, setzte sich in den Sessel ihr gegenüber und sagte: »Ich nehme an, Massimo hat Sie aus drei Gründen hierhergeschickt. Erstens sind Sie zweifellos eine sehr gute Polizistin, und er vertraut Ihrem Urteil. Zweitens sollen Sie herausfinden, ob ich in der Verfassung bin, Ihnen bei diesem Fall behilflich zu sein, oder ob ich wirklich nur noch ein Kohlkopf bin und es reine Zeitverschwendung wäre, mich um meine Mithilfe zu bitten.« Orsetta schaute verwirrt. »Kohlkopf? Was hat das mit Ihnen zu tun?« Jack lachte. »Ach, das ist nur so eine Redensart. Keine sehr nette übrigens; es soll heißen, dass jemand gerade mal so viel Verstand beisammen hat wie ein Kohlkopf.« »Aha«, sagte Orsetta und beschloss, die entspannte Lage auszunutzen. »Ja, vielleicht haben Sie recht. Aber ich glaube, mein Chef hat auch Ihr Wohlergehen im Sinn. Er wollte, dass ich sichergehe, ob ein solcher Fall Ihnen nicht zu unangenehm wird. Er weiß, was Sie durchgemacht haben, und hat allergrößten Respekt für Sie.« Jack lächelte dankbar. Er wusste, dass Massimo sehr vorsichtig vorgehen musste, ihn um Hilfe zu bitten; er an seiner Stelle hätte wohl ebenso gehandelt. »Und der dritte Grund wäre: Wenn Sie mich für fit genug halten, mich dem Ganzen zu stellen, sollen Sie mich zum Mitmachen überreden. Denn von einem muss er ausgehen, nämlich dass ich einen solchen Job so
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dringend brauche wie ein trockener Alkoholiker eine Kiste Bourbon.« »Und? Kann man Sie überreden?«, fragte Orsetta. Jack schwieg. Er trank einen Schluck Wein und entspannte sich. Er war froh, am heutigen Abend in Gesellschaft zu sein, auch wenn es sich dabei um bedrohlich kokette Gesellschaft handelte. Orsettas Blick fiel auf das Buch, das Jack gekauft hatte. »Ah, Dante«, sagte sie anerkennend. »Für meine Frau«, sagte Jack. Orsetta wurde ein wenig blasser. Einen Augenblick lang hatte sie ganz vergessen, dass er verheiratet war. »Eine gute Wahl, ich hoffe, es wird ihr gefallen«, sagte sie so freundlich, wie sie nur konnte. Dann sah sie ihm provozierend direkt in die Augen und fragte sich, wie sie herausfinden könnte, wie sehr verheiratet Jack King eigentlich tatsächlich war.
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KAPITEL ZWÖLF
FBI-Behörde, New York Special Agent Howie Baumguard war so geschockt und sprachlos wie nicht mehr seit der Eröffnung seiner Schwester, sie sei lesbisch. Die Klimaanlage in seinem Büro war mal wieder kaputt, und es war heiß wie in der Sauna. Howie wischte sich mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand den Schweiß von der gerunzelten Stirn und überlegte verzweifelt, was er nun tun sollte. Er klickte mit der Computermaus und zog das Bild, das ihm gerade geschickt worden war, auf den Flachbildschirm. »Verdammt! Verdammt!«, beschimpfte er das sonst leere Büro. Howie drehte das Bild um 180 Grad in die eine, dann in die andere Richtung. Er veränderte mehrmals die Farbe und begutachtete das Bild dann auf dem Kopf und spiegelverkehrt. »Himmelherrgott noch mal!«, fluchte er. Howie verkleinerte das Bild und schob es in die obere linke Ecke des Bildschirms, dann öffnete er zwei weitere Bilder und begutachtete sie auf dieselbe Weise durch Drehen, Umfärben und Spiegeln. Das nagelneue 360-Grad-Bildbearbeitungsprogramm, das er verwendete, lieferte so scharfe, realistische Bilder, dass er fast den Eindruck hatte, er könne Gegenstände vom Bildschirm nehmen und sie wie einen Ball in der Hand springen lassen. »Verdammt noch mal!«, brüllte er. Irgendwie war er mit der Geduld am Ende. Howie stand auf und ging auf die Herrentoilette. Nicht nur, weil er jede Menge Kaffee getrunken hatte, den er nun fortbrin74
gen musste, sondern auch, um sich eine kleine Verschnaufpause zu gönnen. Howie wusch sich die Hände und kehrte ganz langsam an seinen Schreibtisch zurück, fast so, als hätte er Angst, dort anzukommen. Statt sich zu setzen, stellte er sich lieber hinter seinen Drehstuhl, trommelte mit seinen Wurstfingern auf die Rückenlehne und starrte auf den Bildschirm. »Verdammt!« An den Bildern hatte sich nichts geändert. Sie waren noch immer so beängstigend wie beim ersten Mal. Auf dem Bildschirm waren drei Fotos zu sehen. Bild eins zeigte einen Pappkarton. Bild zwei zeigte Sarah Kearneys Schädel. Aber es war Bild drei gewesen, dessentwegen Howie so laut durch das leere Zimmer geflucht hatte. Auf dem Flachbildschirm war die Adresse auf dem Karton zu sehen, der Grund, warum die Flughafensicherheit das Paket eingehend untersucht und Howies Büro benachrichtigt hatte. Mit schwarzem Filzstift standen dort die Worte geschrieben: »Zerbrechlich. Zu Händen von Jack King, c/o FBI.«
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TEIL ZWEI MONTAG, 2. JULI
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KAPITEL DREIZEHN
Brighton Beach, Brooklyn, New York Unter Polizisten heißt es über Nutten, ein Jahr auf der Straße mache sie zehn Jahre älter. Nach dieser Rechnung geht Ludmilla Zagalsky mit ihren fünfundzwanzig Jahren bald auf die einhundertdreißig zu. Irgendwie hält sich Ludmilla jedoch ein wenig besser, als diese mathematische Gleichung vorhersagt; allerdings lassen zwei Abtreibungen und ein Drogenproblem, das selbst den wildesten Rockstar beschämen würde, für die Zukunft nichts Gutes erahnen. Ludmilla geht auf den Strich, seit sie fünfzehn ist; ihr Lude ist ein Russe namens Oleg, der einen Großteil des Geschäfts auf der Brighton Beach Avenue kontrolliert. Oleg ist ein Brutalo, ein Fleischberg mit tätowierten Unterarmen, so dick wie die Hinterläufe eines Stiers, und einem großen, kahl geschorenen Schädel, der so attraktiv ist wie ein überreifer Kürbis. Aber er schlägt sie nicht, jedenfalls nicht so, wie ihre betrunkene Mutter es getan hat, eine grauhaarige Moskowiterin, die neidisch auf die Schönheit ihrer Tochter war. Und er steigt nicht in ihr Bett, um ihr »nahe zu sein«, wie ihr Stiefvater es gemacht hat. Aus Moskau fortzulaufen und für Oleg auf den Strich zu gehen mag vielleicht nicht die klügste Entscheidung ihres Lebens gewesen sein, aber es war allemal besser als die Alternative. Ludmilla hat angeschafft, um das Geld für das Flugticket raus aus Russland zusammenzukriegen; seitdem hat sie nicht mehr damit aufgehört. Sie bringt sich jeden Morgen mit ein paar E hoch, pfeift sie sich rein, wie andere Kaffee und Croissants essen. Das Ecstasy hält sie am Laufen, wenn sie sich an ihre selbstzerstörerische Arbeit macht, sich für ihre Miete und ein Taschengeld verletzen 77
und misshandeln zu lassen. Sie fängt gegen Mittag damit an und hört auf, wenn ihr letzter mudak – irgendein krankes, dummes Arschloch – die Kohle rausgerückt und sich von ihr gewälzt hat und aus ihrem jämmerlichen Leben verschwunden ist. Ihre erste Schicht ist auf der Coney Island Avenue bis runter zur Brighton Sixth und Seventh Street. Gegen sechs Uhr abends trifft sie sich mit Oleg und »bezahlt«. Wenn sie mehr als ihr Tagesziel verdient hat, kauft er ihr manchmal einen Hamburger und ein Bier, bevor er ihr einen Klaps auf den Hintern gibt und sie wieder auf die Straße schickt. In der zweiten Schicht präsentiert sie ihre Ware auf der Brighton Beach Avenue, meistens in roten Stilettos ohne noch viel an. Wenn die Bullen vom 60. Revier sie verjagen, geht sie über den Riegelmann Boardwalk ostwärts zum Chambers Square. Im Augenblick – es ist kurz nach ein Uhr nachts – ist sie völlig fertig. Ein paar Minuten nachdem sie für Oleg ihre Tasche geleert hat, wird sie von irgendeinem Kerl aus der City in einem goldenen Lexus aufgegabelt. Sie holt ihm einen runter und steckt den Schotter für sich ein – Mann, was das diesen Irren allein kostet, die Ledersitze zu reinigen. Ist ja auch egal, sie hat zwei Fünfziger für zehn Minuten Arbeit in der Tasche, und das ist für Ludmilla schon fast ein Rekord. Die meisten Mädchen sagen, sie sei billig, eine schlucha woksalnaja – eine Bahnhofsnutte –, aber in letzter Zeit zieht sie die großen Nummern an Land und hat das Gefühl, es geht wieder aufwärts. Mr. Lexus hat ihr erzählt, dass er gern in sein altes Viertel zurückkommt, in dem er aufgewachsen ist, und geprahlt, wie er hier raus ist und in Manhattan sein Glück gemacht hat. Was für ein Arschloch, was für ein swolotsch! Ludmilla hat sich den Scheiß einfach angehört und ist mit ihm zu einem ihrer Lieblingsplätze hinter dem Brighton Fish Market gefahren; da hat sie ihn – stinkend wie eine geräucherte Makrele – auch sitzen lassen, als sie fertig waren. Mit heruntergelassener Hose und dem Sperma auf dem Bauch und den tollen Ledersitzen sah er wirklich nicht mehr wie 78
irgend so ein großer Oberboss aus. Ludmilla muss immer noch über die süßen Worte grinsen, die sie ihm in seine verschmalzten Ohren geflüstert hat, und darüber, wie sie ihn angemacht hat. »U tebja otschen malenki chui, tolko … pjat santimetrow?«, hat sie geschnurrt und ihm den Hosenschlitz aufgemacht. Er wäre bestimmt nicht so erregt gewesen, wenn er gewusst hätte, was sie ihm da sagte: »Du hast einen Winz von Schwanz, wie groß ist der … fünf Zentimeter?« Sie hätte auch bestimmt keinen Aufschlag gekriegt, wenn er gewusst hätte, dass »U tebja roscha kak obesjanaja schopa« nicht »vielen herzlichen Dank« bedeutete, sondern »deine Fresse sieht aus wie ein Affenarsch«. Ludmilla lacht und sagt: »Mudak, mudak!«, als sie am Restaurant Primorski’s vorbeikommt; sie bleibt kurz stehen und schaut durch das Fenster zu, wie die Putzkolonne die Stühle auf die Tische stellt und die Böden schrubbt. Ihren Arsch zu verkaufen ist ihr allemal lieber, als anderer Leute Fußböden zu putzen. Ludmilla sieht einen jungen Kellner namens Ramsan, den sie kennt, und winkt ihm zu, aber Ramsan ist zu sehr beschäftigt und kann nicht an die Tür kommen. Erst letzte Woche hat sie ihn in einer neuen Bar am Ocean Parkway gesehen, aber als sie endlich einen ungebetenen Kunden abgeschüttelt hatte, war Ramsan schon fort gewesen. Ihre Freundin Grasyna meint, sie soll die Finger von ihm lassen, weil er doch Tschetschene sei, und lieber daran denken, wie sehr Oleg die Tschetschenen hasse. Ludmilla ist das scheißegal; Oleg soll sich doch ins Knie ficken. Ramsan ist groß, schlank, sieht gut aus, hat sanfte Augen. Er sieht so aus wie einer, der sich um sie kümmern wird, vielleicht ihr ganzes Leben verändert und sie aus diesem Rattenloch herausholt. Sie drückt sich die Nase an der Scheibe platt, schaut zu, wie Ramsan einer der Putzfrauen behilflich ist, einen der Tische wegzuschieben, damit sie darunter wischen kann, und wird eifersüchtig. Scheiß auf Ramsan. Ludmilla Zagalsky wartet auf niemanden. Sie wühlt in ihrer Handtasche herum und zieht ein paar Amphetaminkristalle hervor; die werden ihr den 79
Kummer nehmen. Sie nimmt den Stoff, und plötzlich schlägt ihr Freier-Radar Alarm, und sie sieht einen Typen, der gerade den Geldautomaten neben dem Restaurant benutzen will. »Ist kaputt«, ruft sie ihm zu. »Wie bitte?« »Ist kaputt«, wiederholt sie, und jeder Anflug von russischem Akzent ist verflogen. »Der ist immer kaputt.« »Ach verdammt!« Der Mann nimmt seine Brille ab und steckt die goldene Kreditkarte zurück in seine Brieftasche. »Wissen Sie, wo ich den nächsten Automaten finde?« »Na klar. Am Ostende der Avenue, etwa drei Blocks weiter«, antwortet Ludmilla und wittert einen leichten letzten Kunden für den Abend. Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Ich zeig Ihnen den Weg, wenn Sie mir versprechen, einen Teil des Geldes für mich auszugeben.« Der Mann wirkt ein wenig schockiert, es ist ihm sichtlich peinlich. Er schaut die Straße hinauf und hinunter, macht den Eindruck, als wollte er einwilligen, wüsste aber nicht so recht, was er tun oder sagen soll. »Also, ähm, ich weiß nicht. Ich meine, ich hab so was noch nie gemacht. Ich bin mir nicht sicher, ich meine …« Ludmilla geht auf ihn zu. Jungfrauen sind am einfachsten. Wenn man ihnen über die erste Nervosität hilft, zeigen sie sich meistens erkenntlich – in mehr als nur einer Hinsicht. »Keine Sorge, Mister, ich pass schon auf«, sagt sie und kommt noch näher. »Haben Sie einen Wagen?« Der Mann tut einen Schritt zurück und antwortet nervös: »Ja, ja, ich habe einen. Da drüben.« Er zeigt auf einen langweiligen Hyundai-Viertürer, in dem sie mit neunzig nicht tot aufgefunden werden möchte. Der arme Hund hat in den letzten zwanzig Jahren bestimmt noch keinen aufregenden Sex mit seinem Frauchen gehabt. Er tut Ludmilla beinahe leid.
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»Zwanzig mit der Hand, fünfzig mit dem Mund, hundert für alles«, sagt sie wie eine Bedienung im Schnellrestaurant, die das Tagesmenü herunterrasselt. »Aber, aber …«, stammelt er, »aber ich hab doch kein Geld, das habe ich doch schon gesagt.« »He, keine Panik. Ich weiß schon«, sagt sie und fährt mit den Fingern über den Aufschlag seines alten blauen Jacketts. »Also, ich fahre mit Ihnen, ich zeig Ihnen, wo der Geldautomat ist, und dann können Sie mit mir Schlitten fahren – wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Ja, ja. Ich verstehe«, sagte er, nestelte seinen Autoschlüssel hervor und lässt ihn beinahe fallen. Sie gehen schweigend zum Auto. Er öffnet die Türschlösser per Funk. Sie steigen ein. Er startet den Motor, schnallt sich an und wendet sich zu ihr. »Ich hab ein wenig Angst vor Unfällen. Schnallen Sie sich bitte an, Miss?«, sagt er, beugt sich vor und zieht den Gurt für sie heran. »Erste Regel im Straßenverkehr: Anschnallen. Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig.«
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KAPITEL VIERZEHN
Sofitel, Florenz Nancys Lieblingszitat von Shakespeare lautete: »Erfüllte Freude, / durch Zeitumschwung ermattet, wandelt sich / Ins Gegenteil.« Als die Nebenwirkungen von Alkohol und einem anstrengenden Tag der Psychoanalyse Jack eine schlechte Entschuldigung dafür zu liefern drohten, die eheliche Bahn zu verlassen, war ihm das Zitat vom gestrigen Abend noch rechtzeitig eingefallen. Trotz Orsettas unzweifelhaftem Charme hatte er noch genügend Verstand beisammen gehabt, sie beide vor der Versuchung zu bewahren, und hatte alle weiteren Gespräche bis zum Frühstück verschoben. Inzwischen war es Viertel vor zehn und ihm lief die Zeit davon. Mit dem gigantischsten Brummschädel aller Zeiten stolperte er ins Bad. Er hatte um einiges verschlafen; nun waren ihm keine zwei Stunden mehr geblieben, sich mit Orsetta zu treffen, um herauszufinden, wobei sie seine Hilfe brauchten, und dann den Zug nach Siena zu kriegen. Es war eng. Er brauchte eine Viertelstunde zum Duschen und Rasieren. Als er in den Frühstücksraum kam, brannten ihm die Wangen immer noch vom Rasierwasser. Orsetta saß in einer Ecke, trank Cappuccino und las Zeitung. »Guten Morgen. Na, gibt’s gute Neuigkeiten?«, fragte Jack und setzte sich neben sie. »Buongiorno«, erwiderte sie, ohne aufzublicken. »Nein, leider stehen in italienischen Zeitungen nie gute Nachrichten.«
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Da waren sich alle Länder wohl gleich, dachte Jack. Er las die von Blut nur so triefenden amerikanischen Blätter auch nur, um mit »dem Feind« Schritt zu halten. Ein Kellner erschien, und Jack bestellte Kaffee, Orangensaft, Obstsalat und Joghurt. Das war zwar nicht genau das, wonach ihm der Sinn stand, aber er war nun einmal in einem Alter, in dem er sich ein üppiges warmes Frühstück nicht länger leisten konnte, ohne es irgendwo zwischen Mund und Knien als weitere Speckrolle wieder auftauchen zu sehen. Orsetta faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Dabei fiel ihr auf, dass sie Druckerschwärze an den Fingern hatte. Sie musste grinsen. »Sieht so aus, als hätte man mir gerade die Fingerabdrücke abgenommen«, sagte sie und wischte sich die Fingerkuppen an der Serviette ab. »Immer gut, so was in den Akten zu haben«, sagte Jack lächelnd. Orsetta lehnte sich zurück und ließ die rechte Hand in ihrer kalbsledernen schwarzen Aktenmappe verschwinden. Sie zog einen prall gefüllten A4-Umschlag hervor, faltete die Arme darüber und schaute dann aufmerksam über den Tisch. »Was ist?«, fragte Jack freundlich, als er ihr Zögern bemerkte. »Gestern Abend meinten Sie, Sie müssten überredet werden, uns zu helfen. Ist das immer noch so?« Jack fuhr mit der Zunge über die Lippen. Der konsumierte Alkohol hatte ihn leicht dehydriert, und er hoffte, dass er bald Orangensaft und Kaffee bekam. »Gestern Abend haben Sie zugegebenermaßen feststellen wollen, ob ich nicht vielleicht doch ein ›Kohlkopf‹ bin. Ist das immer noch so?« Bei dem Wort »Kohlkopf« lachte Orsetta auf. Sie schob ihm den Umschlag hin. »’ne ganze Menge«, sagte er und wog die Akte mit einer Hand. »In Ordnung, wenn ich das im Zug lese und Sie später anrufe?«
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»Rufen Sie bitte Massimo an«, sagte Orsetta. »Er hat Ihnen auch einen Brief dazugelegt. Wie ich gestern Abend schon sagte, wollte er eigentlich persönlich vorbeikommen, war aber leider außer Landes.« Jacks Bestellung wurde serviert. Nach wenigen Sekunden hatte er den halben Orangensaft ausgetrunken. Er wartete, bis der Kellner verschwunden war, bevor er weitersprach. »Die Opfer des BR-Killers sind stets alleinstehende Frauen Mitte zwanzig, und seine Vorgehensweise scheint eher raffiniert als plump zu sein. Ich meine damit, dass wir nie Augenzeugen gefunden haben, die ihn bei der Entführung seiner Opfer gesehen hätten. Wir gehen also davon aus, dass er sich ihnen vorsichtig nähert, sie vielleicht sogar verführt, sie zumindest in eine Gegend lockt, wo sie sich sicher fühlen, um sie erst dann umzubringen. Er ist organisiert, plant alles bis ins Detail, geht niemals unnötige Risiken ein, macht niemals dumme Fehler. Er ist ein Typ, der lieber zweimal misst, bevor er eine Holzlatte zurechtsägt.« Jack hatte die Befürchtung, dass das auch galt, wenn er Leichen zersägte. Orsetta trank von ihrem Cappuccino; ihr fiel auf, wie mühelos Jack King die Ausdrucksweise seines Berufs angenommen hatte, während er den Joghurt in den Obstsalat rührte. »Wir haben nur ein einziges Opfer, eine junge Frau, die bei Livorno getötet wurde, einer Stadt an der Küste, kurz vor dem Tyrrhenischen Meer. Es gibt in diesem Fall keinerlei Hinweis darauf, dass das Opfer unter Gewaltanwendung entführt wurde. Wir glauben außerdem, dass der Täter in die Kategorie organisiertes Verbrechen fällt; allerdings ist es beim derzeitigen Stand der Ermittlungen noch zu früh zu behaupten, er habe keine Fehler gemacht oder keine Spuren hinterlassen. Ich hoffe, dass unser Täter sich wenigstens in dieser Hinsicht anders verhält als der BR-Killer.« Jack kaute erst zu Ende. »Der BR-Killer hat seine späteren Opfer alle zerstückelt und die Einzelteile ins Wasser gestreut. 84
Bis wir das fanden, was die Fische noch nicht gefressen hatten, gab es nichts mehr, was die Gerichtsmedizin noch verwerten konnte, nichts außer Steinsalz und Seepocken.« Orsetta wirkte nervös und rückte sich ihre Armbanduhr zurecht. »Ich werde leider in Rom erwartet. Eigentlich bin ich schon viel zu spät dran. Ich hatte ursprünglich nicht vorgehabt, über Nacht zu bleiben.« »Tut mir leid«, sagte Jack. Er war sich nicht sicher, ob er ihr diese Eile abkaufen sollte. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass sie ihm etwas verschwieg. Was, das würde sich bestimmt bald herausstellen. »Entschuldigen Sie bitte. Ich war gestern Abend einfach nicht so weit, mich mit solchen Dingen auseinanderzusetzen. Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Bitte, die Angelegenheit bis heute Morgen zu verschieben.« »Aber selbstverständlich«, sagte Orsetta, die durch Jacks Höflichkeit etwas aus dem Konzept gebracht worden war. Sie zeichnete die Rechnung ab, die der Kellner gebracht hatte, und fügte hinzu: »Ihnen sei vollständig verziehen, wenn Sie uns helfen.« »Das werde ich«, sagte Jack. »Um ehrlich zu sein, ich freue mich auf die Gelegenheit, wieder richtige Polizeiarbeit erledigen zu dürfen. Hoffen wir nur, dass ich auch wirklich eine Hilfe bin.« Er klopfte mit der Hand auf den Umschlag, den sie ihm gegeben hatte. »Ich werde die Akte noch heute lesen. Dann rufe ich Massimo an und sage ihm, dass er in ein paar Tagen mein erstes vorläufiges Profil erwarten kann.« Orsetta legte einen Zehneuroschein Trinkgeld zu der Rechnung, nahm ihre Tasche und stand auf, um sich zu verabschieden. »Sie müssen mir etwas versprechen«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Jack erhob sich höflich und schüttelte die ihm gereichte Hand herzlich. »Klar«, sagte er. »Was denn?« Orsetta lächelte. »Wenn Sie uns in Rom aufsuchen, geht das Abendessen auf mich.« 85
»Ich freue mich darauf«, sagte Jack höflich. Orsetta lächelte und hielt seine Hand einen Augenblick länger als nötig fest, wie er fand, bevor sie schließlich ging. Sie ließ einen lang anhaltenden, leicht zitronig scharfen Parfümduft zurück, dazu noch so einiges andere, worüber Jack zu grübeln hatte.
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KAPITEL FÜNFZEHN
Brighton Beach, Brooklyn, New York Ludmilla Zagalsky wirft einen kurzen Blick zu dem verängstigten Freier auf dem Fahrersitz hinüber und fragt sich, ob sie mit dem wohl nur ihre Zeit verschwendet. Erst kriegt der Penner kein Geld aus dem Automaten, dann will er, dass sie sich für die kurze Strecke von nicht mal anderthalb Kilometern über eine nahezu gottverlassene Straße mitten in der Nacht anschnallt. Die Chancen stehen gut, dass der Wichser keinen hochkriegt und sich dann weigert zu zahlen. »Na gut«, sagt sie, beschließt mitzuspielen und schnallt sich an. Sie schiebt sich einen Kaugummi in den Mund und kaut geräuschvoll, während der Mann die Brighton Beach Avenue in östlicher Richtung entlangfährt. »Wy goworyte po russki?«, fragt sie ihn, um erst einmal herauszufinden, ob er Russisch kann, bevor sie ihm unbedacht ein paar fette Beleidigungen an den Kopf wirft. »Wie bitte?«, fragt der Fahrer. Er hält den Lenker mit beiden Händen umklammert und nimmt den Blick nicht von der Straße. »Ich wollte nur wissen, ob Sie Russisch können«, sagt Ludmilla. »Hier in der Gegend sprechen das viele, ist nämlich ’ne ziemlich russische Gegend.« »Ah, ich verstehe«, antwortet der Typ und schaut auf seinen Tacho, damit er nicht schneller als mit der zulässigen Geschwindigkeit fährt. Himmel, ist schon eine ganze Weile her, dass Ludmilla jemand untergekommen ist, der so übernervös und pingelig ist wie dieser Freier. »Nein, nein, ich spreche kein Russisch«, fährt der Mann fort. »Ich bin Buchhalter und habe in 87
der Gegend gerade einen Kunden. Eigentlich kenne ich mich hier gar nicht aus.« Plötzlich findet Ludmilla den Freier erheblich interessanter. He, denkt sie, wer hat denn schon jemals von einem armen Buchhalter gehört? Der soll sich ’ne Tonne Papiergeld aus dem Automaten ziehen, dann bring ich ihn irgendwo hin, wo er die Hose runterlassen kann, und dann mache ich die Biege mit seinem Geld und vielleicht seiner Brieftasche dazu. Hört sich doch gut an. Nicht sonderlich einfallsreich, machen das Nutten doch schon seit Jahrhunderten so. Trotzdem erstaunlich effektiv, vor allem bei einem solch blöden jebanatik wie diesem hier. »Die nächste links«, sagt Ludmilla und zeigt zur Windschutzscheibe hinaus. »Sehen Sie den Elektronikladen da an der Ecke?« »Ja, ja, ich sehe ihn«, antwortet der Kerl, beugt sich vor und blinzelt hinaus. »Da links rein, und dann ist der nächste Automat vielleicht hundert Meter weiter auf der rechten Seite.« Jebanatik!, sagt sie bei sich, als der Kerl viel zu früh blinkt und fast stehen bleibt, um die Kurve zu nehmen, und dann eine Ewigkeit braucht, um am Straßenrand anzuhalten. Ludmilla hat schon alte Omas schneller fahren sehen als diesen Penner. »Bin sofort wieder da«, sagt er zu ihr, wirft die Fahrertür zu und geht zum Automaten. Im nächsten Augenblick klappt Ludmilla das Handschuhfach auf und sucht nach Diebesgut. Scheiße Mann, der Kerl hat nicht mal ’ne CD, die sich zu klauen lohnt! Nur die Wagenpapiere und einen Fensterwischer. Ludmilla klappt das Handschuhfach zu und sieht, wie der Kerl sich vom Automaten abwendet, die Brieftasche in die Jacke steckt und zum Wagen zurückgeht. »Danke«, sagt er höflich. Arschlangweilig, wie er ist, schnallt er sich an, kontrolliert, ob die Handbremse auch wirklich gelöst ist, und dreht dann die Zündung.
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»Okay, Mister«, sagt Ludmilla, der bald der Geduldsfaden reißt. »Jetzt haben Sie ja Ihre Kohle, warum fahren wir nicht irgendwo hin und geben ein bisschen davon für mich aus? Sind Sie hier in einem Hotel untergebracht?« »Nein«, sagt er und wirkt wieder etwas nervöser. »Ich habe eine kleine Wohnung in der Nähe der Fillmore Avenue gemietet, auf der anderen Seite vom Marine Park. Vielleicht w-wollen Sie mitkommen?« »Vielleicht w-will ich«, antwortet sie schnippisch. »Kennen Sie den Weg?« Wahrscheinlich kennt der Typ doch noch nicht mal den Weg bis zu seinen eigenen Schnürsenkeln. »Ich g-glaub schon«, stottert er. »Na, dann mal los!«, sagte Ludmilla und versucht, ein wenig Tempo in die Sache zu bringen. »Ist noch nicht zu spät, Ihnen eine Nacht zu bereiten, die Sie nie vergessen werden.« Sie wirft ihm ihren aufreizendsten Blick zu, den Blick, bei dem selbst Oleg dahinschmilzt, aber sie erkennt nicht die Spur von Wärme auf dem Gesicht des Freiers, während er die Automatik auf D stellt und losfährt. Ludmilla stiert zum Seitenfenster hinaus, und die beiden reden nicht viel miteinander, während die strahlenden Lichter der Brighton Beach Avenue hinter ihnen verblassen. Nach etwa zehn Minuten sieht sie die ersten Hinweisschilder zur Fillmore Avenue und Gerritsen Avenue und erkennt im gelben Schein des Abblendlichts Hausboote, die an Stelzen schwanken und Dutzende von schäbigen Bootsanlegeplätzen, die dringend einmal wieder gestrichen und lackiert werden müssten. Irgendwo zwischen der Gerritsen und der östlichen Thirty-eight biegt ihr letzter Freier für die Nacht in eine heruntergekommene Einfahrt zwischen überwucherten Sträuchern und überhängenden Bäumen ein und hält an. »Sind wir da?«, fragt Ludmilla. Es überrascht sie, dass der Kerl diese Aufgabe tatsächlich ohne weitere Überprüfungen, Verzögerungen oder Schwierigkeiten erledigt hat. 89
»Ja, einen Augenblick bitte«, sagt er und betätigt irgendeinen Automatikknopf, mit dem er das große metallene Tor zu einer Doppelgarage hebt. Er schaltet wieder auf D, fährt den Wagen langsam hinein und lässt dann das Tor wieder automatisch hinunter. Ludmilla ist aus dem Wagen gestiegen, bevor das Garagentor noch ganz unten ist. Sie möchte so schnell wie möglich fertig werden und dann ein Taxi nehmen und verschwinden. Vor allem braucht sie dringend ein Klo. Der Mann schaltet das Licht in der Garage ein, und Ludmilla muss kurz blinzeln. »Ich habe hier jede Menge Schlüssel, ich muss nur herausfinden, welcher der richtige ist«, sagt er und geht langsam mehrere messingfarbene und silberne Schlüssel an einem Schlüsselbund durch. Schließlich scheint er den richtigen gefunden zu haben. Er bahnt sich dann einen Weg um die Motorhaube des Wagens herum zu einer Verbindungstür zwischen Garage und Küche des alten Hauses. Er schaltet weitere Lichter an, und Ludmilla sieht sich um. Nicht viel dran an der Bude, eine schäbige alte Küche, deren Theke in einen abgenutzten Wohnbereich hineinragt; zwei Sessel, ein Sofa, ein Kamin, ein schmutzig weißer Teppich, aber kein Fernseher. Ludmilla war noch nie in einem Haus ohne Fernseher; sie kann überhaupt nicht glauben, dass es so etwas überhaupt gibt. »He, kann ich mal aufs Klo?«, fragt sie den Mann, der gerade die Hintertür zur Garage abschließt. »Am Vordereingang oder Treppe rauf«, antwortet der Mann und nickt zu der offenen Holztreppe, die am anderen Ende des Wohnzimmers nach oben führt. Ludmilla nimmt das untere Bad. Während sie auf der Toilette sitzt, überlegt sie, wie viel sie ihm abknöpfen soll. Das Haus ist eine Enttäuschung, keine Anzeichen einer Frau, also auch kein Schmuck. Der Kerl musste unterwegs anhalten, um Kohle zu 90
ziehen, also wird kaum mehr zu finden sein als ein bisschen Kleingeld auf dem Nachttisch; vielleicht eine Uhr oder ein Goldring oder ein Kettchen, wenn sie Glück hat, der Typ sieht nun einmal nicht so aus, als würde er teuren Schmuck tragen. Sie beschließt, es am besten damit zu versuchen, ihm einen »Sonderpreis« abzuzocken, weil sie doch extra mit zu ihm gekommen ist. Fünfhundert Steine für die restliche Nacht, wird sie sagen. Jedenfalls für den Anfang. Wenn er Buchhalter ist, schätzt sie, sind Zahlen wohl das Einzige, worin er gut ist, soll heißen, er wird sie runterhandeln. Okay, Ludmilla, fang mit fünfhundert an; wenn du’s klug anstellst, kommst du mit zweihundertfünfzig oder dreihundert Dollar hier raus. Sie spült und lässt Wasser ins Waschbecken laufen. Dann wirft sie einen Blick in den Spiegel über der dreckigen Glasablage, sieht, dass Lidschatten und Eyeliner verschmiert sind und ihre Augen leicht blutunterlaufen wirken. Nicht gerade eine Schönheit, aber was soll’s, sie spricht ja nicht in Hollywood vor, und der Schwächling von mudak da draußen wird schon nicht Nein sagen, wenn er erst mal sieht, was sie ihm zu bieten hat. Wenn alles gut läuft, macht sie vielleicht morgen ein paar Stunden frei, ruht sich eine Weile aus und liefert einen Teil vom heutigen Überschuss an Oleg ab, so als ob sie ganz normal ihre Schicht gemacht hätte. Ludmilla pudert sich den Glanz vom Nasenrücken, presst die frisch geschminkten Lippen zusammen und öffnet die Tür. Sie will fünfhundert Mäuse verlangen und dafür alles hinnehmen, was dieser kleine nutzlose Kerl von ihr verlangt. »Okay, Mister, Zeit für ein Spielchen!«, ruft sie, während sie zum Wohnzimmer zurückgeht. Von hinten wird ihr eine Schlinge um den Hals gelegt und brutal nach hinten gerissen. Ludmilla Zagalsky verliert den Halt und knallt mit dem Kopf auf den Boden. Sie krallt die Finger in die Schlinge, die sich brennend in ihren Hals beißt und ihr alle Luft nimmt.
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»Willkommen im Spinnennetz«, sagt eine kalte, bedächtige Stimme über ihr.
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KAPITEL SECHZEHN
Florenz, Toskana Der Bahnhof von Florenz war der reinste Glutkessel, in dem eine menschliche Minestrone aus Touristen aus ganz Europa kochte. Die Touristen stießen und rempelten sich auf der Suche nach ihren Zügen gegenseitig an. Schlechte Laune flammte auf. Nach und nach würden die Menschenströme sich auf die Bahnsteige ergießen und sich in die backofenheißen Waggons zwängen. Jack hatte Glück und fand am hinteren Ende des Zuges ein leeres Abteil. Dennoch war es immer noch unerträglich heiß darin und stank nach tausend fremden Körpern. Er goss eine halbe Flasche Wasser in sich hinein, die er aus dem Kühlschrank des Sofitel mitgenommen hatte, und zupfte sich das Hemd vom klebrigen Leib. Dann wollte er das Fenster öffnen, das aber klemmte. Er setzte sich auf die kaputten Sprungfedern eines der staubigen Sitzplätze und sah, wie draußen Angehörige der Polizia Stradale im Schatten standen und rauchten, nachdem sie gerade einen Routinecheck nach Bombenkoffern absolviert hatten. Über ihnen suchten automatisch gesteuerte CCTV-Kamers die Gleise ab. Jack erkannte, dass es sich um ultramoderne IMAS-Kameras handelte. Auf dem klebrigen Tisch vor Jack lag der noch immer verschlossene Umschlag, den ihm Orsetta in Massimo Albonettis Auftrag überreicht hatte. Jack und Massimo hatten sich bereits vor langer Zeit, während eines Interpol-Austauschs in Rom, angefreundet. Ein Jahr darauf war Massimo ihm dabei behilflich gewesen, in Little Italy einen Pädophilenring zu zerschlagen, als die italienische Unterwelt New Yorks der örtlichen Polizei alle 93
Türen verschlossen und versucht hatte, das Problem gemäß den eigenen traditionellen Werten der Mafia durch Folter und Mord zu erledigen. Albonetti war geradeheraus, hatte wie Jack einen Abschluss in Psychologie und sah die Erstellung eines Täterprofils als mächtiges Werkzeug an, um Ermittlern Hinweise auf Verhaltensmuster zu geben, nicht als Kristallkugel, in der auf magische Weise der Name des Täters erschien. Jack trank die Wasserflasche leer und schlitzte den Umschlag mit einem Finger auf. Dann zog er ein Blatt teures cremefarbenes Schreibpapier hervor, auf dem er deutlich Massimos Handschrift erkannte. Lieber Jack, es freut mich, dass Du das hier liest. Das bedeutet, dass all die Dinge, die ich über Deinen Ruhestand gehört habe, einfach nicht wahr sind und dass in Dir noch immer das Herz und der Verstand eines Polizisten stecken. Ich bin sehr froh darüber, dass dem so ist! Bitte entschuldige, alter Freund, aber ich konnte leider nicht von dieser fürchterlichen Europol-Konferenz in Brüssel fort, also habe ich Dir Ispettore Portinari an meiner statt geschickt, um Dich dazu zu überreden, uns in einem äußerst beunruhigenden Mordfall Deinen Expertenrat zukommen zu lassen. Solltest Du nach dem Studium der beiliegenden Dokumente den Eindruck haben, der Fall sei für Dich zu heikel, um hineingezogen zu werden, würde ich Deine Ablehnung natürlich jederzeit respektieren. Wie viele Deiner Freunde habe auch ich darum gebetet, dass Du Dich von Deiner Erkrankung schnell und vollständig erholst; wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass nur Du allein uns bei diesem besonderen Fall helfen kannst, dann hätte ich Dich niemals damit belästigt. In dem Umschlag findest du ein paar kurze, aber sehr vertrauliche Dokumente, die Dir einen schnellen Einblick in die 94
Ermittlungen und den Grund geben, warum ich durch gewisse Umstände gezwungen bin, um Deine Hilfe zu bitten. Wenn Du Deine Entscheidung getroffen hast, rufst du mich bitte an, im Büro oder auf meinem Handy? Mit den allerherzlichsten Grüßen verbleibe ich in Freundschaft Dein Massimo Jack seufzte schwer. Er hatte seit seinem Zusammenbruch nicht mehr von Massimo gehört, doch das hier klang erheblich anders als der freundliche, aufmunternde Brief, den er damals von ihm bekommen hatte. Wollte er sich wirklich in einen Fall vertiefen, der so sehr nach dem BR-Killer klang? War er gewillt, diesen Test mitzumachen? Konnte er Nancy tatsächlich davon überzeugen, dass seine Rückkehr zur Polizeiarbeit wirklich das Beste für ihn war? All diese Fragen schossen ihm durch den Kopf, doch die Antworten ließen auf sich warten. Jack klappte die Umschlaglasche erneut auf und zog einen weiteren, versiegelten Umschlag heraus, der mit VERTRAULICH und seinem Namen versehen war. Er hatte in der Vergangenheit schon oft solche Dokumente zu Gesicht bekommen, Zusammenfassungen, die den Tod unschuldiger Opfer und den lebenslangen Schmerz ihrer Familien auf blanke Fakten und Zahlen reduzierten. Am Ende des Bahnsteigs durchzuckte ein langer, schriller Pfiff die drückend heiße Luft. Die Waggontüren schlugen zu, die metallene Schlange erwachte langsam zum Leben und glitt träge aus dem Schatten des Bahnhofs hinaus in das gleißende Licht der Mittagssonne. Jack spürte, wie ihn eine Welle der Traurigkeit überkam. Seit geraumer Zeit war er nicht mehr in die einsame, stressige Welt des Mordes gereist, und tief in seinem Innern fühlte er sich unsicher, ob er wirklich schon bereit war, diese Reise aufs Neue anzutreten. 95
KAPITEL SIEBZEHN
Marine Park, Brooklyn, New York Einen Augenblick lang hat Ludmilla Zagalsky das Gefühl, schon tot zu sein. Als sie die Augen aufschlägt, wünscht sie sich, sie wäre es tatsächlich. Sie ist zwar noch immer völlig verwirrt, aber ihr ist sofort bewusst, in welch aussichtsloser Lage sie sich befindet. Dieser nutzlose mudak, dieser Irre, der so langweilig war, dass er nicht mal schneller als erlaubt fuhr, hatte sich mit seinem selbst gebastelten Galgenstrick auf sie gestürzt und fast erwürgt. Verdammt, Ludmilla, denkt sie, wie oft hast du anderen gesagt, sie sollen niemandem trauen? Und jetzt das. Mädchen, Mädchen, das Leben steckt voller Scheißüberraschungen, und jede einzelne beißt dich in den Arsch. Langsam kehren Bewusstsein und Aufmerksamkeit wieder in ihren traumatisierten Verstand und Körper zurück. Sie liegt flach auf dem Rücken und schaut zur Decke. Sie erkennt klar, dass sie sich nicht mehr im Wohnzimmer befindet, sie ist anderswo. Aber wo? Ein Lichtstrahl blendet sie schmerzhaft, sonst wirkt das Zimmer irgendwie völlig schwarz. Ludmilla versucht den Kopf zu bewegen, um mehr zu sehen. Sie spürt, dass die Schlinge immer noch da ist und ihr die Luftröhre abdrückt. Eine Schlinge? Was zum Teufel ist hier los? Der Druck kommt allerdings von unten, nicht von oben. Dann fällt ihr auf, dass sie an Händen und Füßen mit Lederriemen gefesselt ist. Sie zerrt daran. Entsetzen schießt ihr durch den ganzen Körper, als sie das Klirren von Ketten unter sich hört. 96
Langsam fügen sich die Teile des Puzzles zusammen. Sie liegt nackt, alle viere von sich gestreckt, auf einer Art Fesselungstisch. Das Seil ist irgendwo unter dem Tisch verknotet, und wenn sie den Kopf heben will, drückt sie sich selbst die Luft ab. Sie möchte schreien, so laut sie nur kann, aber sie kriegt kaum genug Luft zum Atmen. Ich ersticke! O Gott, ich ersticke! In ihrem Mund steckt ein Fetzen Stoff und wird mit Klebeband fixiert, das ihr straff um das Gesicht gewickelt ist. Panik packt sie. Ihr Herz rast wie verrückt, und sie weiß, wenn sie sich nicht beruhigt, wird sie ersticken. Na, komm schon, Mädchen, reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen, sonst bist du einfach nur ’ne tote Nutte. Sie konzentriert sich eisern darauf, langsam durch die Nase zu atmen, und nach und nach schafft sie es, sich zusammenzureißen. Ihr Puls beruhigt sich etwas. Und wie sie so daliegt und an die merkwürdig schwarze Decke starrt, sieht sie ihn wieder. Er beugt sich über sie. Sein Gesicht ist so nah und so groß, dass sie jede einzelne Pore seiner Haut erkennen kann. Sie sieht die Haare in seiner Nase und spürt die Wärme seines Atems. Wohl doch nicht so harmlos, der Kerl, was? »Hallo, meine kleine Sugar«, gurrt er sanft. Er schnuppert an ihrer Haut und reibt sein Gesicht an ihrem wie ein Hund, der einen neuen Hausgast beschnüffelt. »Keine Sorge, mein kleiner Schatz, Spider ist ja da. Spider ist bei dir.« Sie ist nicht ganz so hübsch wie die anderen Sugars, findet Spider, aber sonst stimmt alles. Die haben alle gedacht, sie sind stark und brauchen niemanden, sie könnten das Spiel nach ihren eigenen Regeln spielen, könnten im Leben anderer auftauchen und wieder verschwinden, ganz wie es ihnen gefällt. Tja, da haben sie sich aber getäuscht. Völlig. Niemand verlässt Spider. Niemand. Niemals. 97
Er rückt einen Holzstuhl mit Lederpolster zu sich heran, damit er sich setzen und sie betrachten kann. »Wie lang du bleibst – am Leben bleibst –, hängt ganz davon ab, wie gut du zuhörst«, sagt er. Er zieht einen braunen Umschlag hervor, nimmt eine Reihe von Digitalfotos in die linke Hand und legt den Umschlag auf den Boden. »Arme Sugar. Ich weiß, dass du in einer Welt voller Lügen lebst«, fährt er bedauernd fort, »aber mach dir keine Sorgen, ich werde dich nicht belügen. Ich finde, eine Beziehung sollte auf Ehrlichkeit basieren, und ich verspreche dir, schon gleich zu Beginn unserer Beziehung, dass ich immer ehrlich zu dir sein werde.« Er schweigt einen Augenblick lang und wischt ihr dann beinahe zärtlich ein paar schwarze Strähnen von der schweißnassen Stirn und aus den Augen. »Ich werde dir ein paar Fotos zeigen, Familienschnappschüsse«, sagt er, »damit du siehst, dass alles, was ich sage, die Wahrheit ist. Ist dir das recht? Möchtest du die Fotos sehen?« Ludmilla hat das Gefühl, gleich den Verstand zu verlieren. Sie liegt wie ein menschliches X nackt und gefesselt da, und jetzt zeigt ihr dieser durchgeknallte Irre auch noch sein Fotoalbum. Mann, die werden Tag für Tag bekloppter. »Oh, tut mir leid«, sagt Spider süffisant und legt die Fotos verkehrt herum auf ihre Brust. »Ich sollte deine Schlinge ein bisschen lockern, das Seil schneidet bestimmt schon in die Haut.« Ludmilla hört, wie er am Seil herummacht, und spürt, wie der Druck um den Hals ein wenig nachlässt. O Mann, das fühlt sich gut an. Ihr war bisher noch nicht klar gewesen, dass es zu den schönsten Gefühlen im Leben gehört, nicht mit einem Strick erwürgt zu werden. »Besser?«, fragt Spider. Ludmilla nickt. 98
Er nimmt die Fotos wieder in die Hand und bringt sie in eine bestimmte Reihenfolge, fast so, als würde er Spielkarten sortieren. »Die Fotos, die ich dir zeigen werde, sind von anderen Frauen, Frauen, die in derselben Lage waren wie du. Wenn du Zeitung gelesen hast, dann wirst du vielleicht die eine oder andere wiedererkennen.« Er beugt sich über sie. »Liest du Zeitung? Du siehst jedenfalls nicht so aus. Na, die Witzseite vielleicht, aber mehr auch nicht.« Ludmilla stellt sich vor, wie sie ihm in seine arrogante Fresse spuckt, wie sie ihm in die Eier tritt, weil er so ein swolotsch ist, wie sie ihn sich vor Schmerzen windend auf dem Bürgersteig liegen lässt, von wo aus er zuschauen kann, wie sie mit ihrem süßen russischen Hintern davonwackelt. »Spielen wir doch das nette kleine Spielchen namens Vorher/Nachher.« Er mischt die Fotos, zieht dann eines heraus und hält es Ludmilla vor die Augen. »Das ist vorher«, sagt er. Ludmilla erkennt eine Rothaarige mit Sonnenbrille; sie trägt ein weites, geblümtes grünes Kleid und Riemchensandalen. Das Foto ist in einem Einkaufszentrum gemacht worden; die junge Frau telefoniert mit einem Handy, und im Hintergrund fahren Menschen auf einer Rolltreppe nach oben. »Und nachher«, sagt Spider und tauscht die Fotos aus. Diesmal ist die Frau nackt – und tot. Sie liegt auf dem Rücken und hat die Hände über der Brust gefaltet. Ihr Haar wirkt im Kontrast zu der schockierend weißen Haut unnatürlich rot. Dann fällt Ludmilla noch etwas auf. Die Tote liegt auf demselben Tisch, an den nun sie gefesselt ist. Spider steckt die Fotos seiner früheren Opfer wieder in den Umschlag und lächelt. »Du musst keine Angst haben, Sugar, ich weiß, was du jetzt denkst, aber da liegst du falsch, ganz falsch. Du bist nicht nackt, weil ich irgendwas Sexuelles mit dir
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vorhabe. Vielleicht wird es eine Zeit der Intimität geben. Aber nicht jetzt. Nicht in diesem Leben.« Die Wörter ergeben in Ludmilla Zagalskys Verstand keinen Sinn. Sie hat schon alle möglichen Irren allen möglichen Scheiß stammeln hören, der sie antörnen soll. Piss mich an, zieh mir Gummi an, schleif mich an einer Hundeleine herum, aber so etwas noch nicht. Dieser Scheiß ist einfach nicht wahr. Spider stellt sich hinter sie. Er fährt mit den Fingern durch ihr zerzaustes Haar, das über die Tischkante hängt. Es erinnert ihn an damals, wie er als kleiner Junge im Frisiersalon saß und wartete, während seine Mama sich rückwärts über ein Waschbecken gebeugt die Haare waschen ließ, ein fremder Mann die ganze Zeit über lachte und ihr Haar so kräftig einseifte, dass er, Spider, am liebsten mit den magischen Schaumwolken gespielt hätte, die aus dem Becken auf den Boden fielen. Aber der fremde Mann ließ ihn nicht und schob ihn immer wieder beiseite, sagte, er solle sich wieder setzen und seine Mama nicht dauernd nerven, sondern zur Abwechslung mal in Ruhe lassen. Spider reibt seine Fingerspitzen an ihren Haaren, so wie er es bei dem Mann gesehen hat, dann streicht er mit den Handflächen über ihr Gesicht und ihre Stirn, wie um Seifenschaum fortzuwischen. »Du hast schönes Haar, Sugar, aber du solltest es besser behandeln. Vielleicht nicht so viel Haarspray benutzen, dir einen klassischeren Schnitt verpassen lassen. Ab und zu wirst du dir so etwas doch sicher mal leisten können.« Er massiert ihr sanft die Schläfen und die Stirn und kehrt dann zu seinem Stuhl zurück, damit er sie wieder ansehen kann. Düstere Gedanken umwölken seinen Verstand. Gedanken daran, wie sehr er ihren Körper erforschen möchte, wenn sie tot ist, sich in der Kühle ihrer Öffnungen ergießen und dann ihren leblosen Körper halten möchte, bis all ihre Energie auf ihn übergegangen ist. Wieder berührt er ihr Gesicht. »Magst du Blumen?«, fragt er. 100
Scheiße, was soll das jetzt? Ob ich Blumen mag? Er starrt sie an. Sein irrer Blick bohrt sich in ihre Augen, und seine verrückte Stimme krächzt verrückte Wörter. »Hast du schon jemals Spinnenlilien gesehen?«, fährt er fort. »Was sind die schön! So weiß und so zart.« Ludmilla hat noch nie eine Lilie gesehen, geschweige denn diese Spinnendinger, von denen dieser durchgeknallte Kerl da brabbelt. »Eines Tages werde ich deinen ganzen Körper damit bedecken. Ich werde dich mit ihnen zudecken. Und wenn alle anderen dich längst vergessen haben, werde ich dir immer noch Spinnenlilien bringen.« Spider dreht sich um und geht davon. Er spürt, wie der Drang in ihm wächst, ihn kitzelt, ihn reizt. Er will sie jetzt. Er will den Zauber spüren, sie ganz für sich zu haben. Sie zu besitzen. Zu verzehren. Zu töten. Aber er weiß, dass er sich nicht von seiner Lust überwältigen lassen darf, nicht zulassen darf, dass das Lodern in ihm all seine Pläne zunichte macht. Er wird sich seiner Lust nicht hingeben. Das hat er gelernt. Er weiß, wie er diesen Sturm in seinen Adern beherrschen kann, wie er verhindern kann, sich in einem einzigen Augenblick blinder, blutiger Leidenschaft überwältigen zu lassen. Ludmilla Zagalsky ist der kalte Schweiß ausgebrochen. Jetzt, da ihr Kopf ein wenig freier ist, schafft sie es zum ersten Mal, ihn zur Seite zu drehen, hin zu dem kranken mudak, der nun mit dem Rücken zu ihr in einer Ecke des Zimmers steht. Was sie sieht, versetzt sie jedoch wieder in Panik, und trotz der vollkommenen Aussichtslosigkeit dieser Aktion fängt sie plötzlich an, zu treten und an den Riemen um ihre Handgelenke zu zerren. 101
Nicht nur die Decke ist mit schwarzem Plastik verhängt. Jeder Zentimeter des Zimmers, alle Wände, selbst der Boden, alles ist vollständig schwarz. So als ob sie in einem riesigen Leichensack stecken würde. Der gleich zugezogen wird.
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KAPITEL ACHTZEHN
Florenz, Toskana Jack wartete, bis der Zugschaffner seine Fahrkarte kontrolliert und den Wagen verlassen hatte, bevor er sich daran machte, Massimo Albonettis Akte zu studieren. Ein kurzer Blick auf die Unterlagen reichte, um ihn ganz zappelig zu machen. In dem Umschlag befanden sich zwei dicke Aktendeckel, der eine mit italienischem Inhalt, der andere mit der englischen Übersetzung. Jack legte die italienische Fassung beiseite und widmete sich ganz der englischen. Obenauf lag eine gut geschriebene Zusammenfassung, wahrscheinlich von Massimo selbst, wie er vermutete. Darin stand, was Orsetta ihm schon mitgeteilt hatte: Die italienische Polizei untersuche den Fall eines sehr beunruhigenden Serienmörders, der ein gefährlich hohes Risiko für die Öffentlichkeit darstelle. Jack schaute im Briefkopf der Unterlage nach und stellte fest, dass sie auf die letzte Juniwoche datiert war; der Fall war offenkundig noch nicht abgeschlossen. Jack merkte, dass er die Übersetzung eines vertraulichen Berichts an das private Büro des italienischen Premierministers vor sich hatte. Schon an dieser ersten Seite erkannte er, dass bisher höchstens eine Handvoll Personen diesen Bericht zu sehen bekommen hatten. An die Akte war mit einer Büroklammer das Foto des Opfers geheftet. Es handelte sich um eine ausgesprochen schöne junge Frau von Mitte zwanzig, mit langem dunkelbraunem Haar und noch dunkleren Augen. Sie trug eine billige, leicht eulenhafte Brille, die ihr allerdings sehr gut stand. Sie hieß Cristina Barbujani, war tatsächlich sechsundzwanzig Jahre alt, Biblio103
thekarin aus Livorno, alleinstehend, klug, schüchtern. Cristina hatte einen Universitätsabschluss in Geschichte. Vor ihrem Tod hatte sie einen Großteil ihrer freien Zeit damit verbracht, die fünfundzwanzig Kilometer nach Montelupo Fiorentino außerhalb von Florenz zu fahren. So oft wie möglich war sie dort gewesen, um bei den Ausgrabungen römischer Ruinen zu helfen. In dieser Gegend wurden Bauernhäuser, Villen und sogar frühe Anlagen zur Herstellung und Lagerung von Wein, Olivenöl und Getreide ausgegraben. Jack fragte sich, warum Serienmörder sich anscheinend willkürlich immer genau die Opfer aussuchten, die es am wenigsten verdienten. Unter den Opfern dieser Wiederholungstäter befanden sich nie internationale Drogendealer, Pädophile oder Vergewaltiger. In der Zusammenfassung war von den weiteren Ähnlichkeiten mit dem Fall des BR-Killers die Rede, die Orsetta schon beim Frühstück skizziert hatte. Einzelne Leichenteile waren über mehrere Kilometer entlang der Westküste gefunden worden. Jedes Leichenteil, es handelte sich offenbar um insgesamt dreizehn, war in schwarze Plastiktüten verpackt und mit Steinen beschwert worden. Auch das deckte sich mit der Entsorgungsmethode des BR-Killers. Beim Weiterlesen erfuhr Jack, dass die Leichenteile, nach den Fundorten zu schließen, vom Ufer aus ins Meer geworfen worden waren – vom Strand, von einer Klippe oder einem Felsvorsprung. Ein Boot war offenbar nicht benutzt worden. Füße, Schienbeine, Oberschenkel, Torso, Unter- und Oberarme waren alle entsorgt und an verschiedenen Orten wieder aufgefunden worden. Jack blätterte um und spürte, wie ihm die Luft in der Lunge gefror. Alle Leichenteile waren gefunden, spurentechnisch behandelt und mit Autopsienummern versehen worden. Alle bis auf die linke Hand. Jack erkannte die Bedeutung dieses Details sofort. In seiner gesamten Laufbahn war er bisher nur auf einen einzigen Täter gestoßen, der solch eine vielsagende Trophäe für sich behielt. Der Black-River-Killer. 104
KAPITEL NEUNZEHN
Marine Park, Brooklyn, New York Spider überprüft den Knebel und die Fesseln, verriegelt die Kellertür und geht nach oben, um sich hinzulegen. Er geht ins Schlafzimmer und schaut zu den Spiegelkacheln hinauf, mit denen die Zimmerdecke ausgekleidet ist. So kann er sich wunderbar sehen, wenn er auf seinem speziell umgebauten Bett liegt. Für ihn sind sie sein persönliches »Fenster zum Himmel«. Er leert seine Taschen auf den Nachttisch, klappt sein Handy auf und blättert durch das Menü. Im Bilderverzeichnis des Dateimanagers drückt er auf »Ansicht« und sieht sich im Schnelldurchlauf die Fotos an, die er mit der eingebauten 2Megapixel-Kamera gemacht hat. Zwei Nächte lang hatte er Ludmilla Zagalsky bei der Arbeit auf den Straßen von Brooklyn Beach heimlich fotografiert, wie sie auf ihren Stilettos an den Wagen vorbeistolzierte, die durch Little Odessa schlichen. Er kannte jeden einzelnen Schritt von ihr, hatte sie fotografiert, wie sie einen Freier nach dem anderen angebaggert und anschließend mit leerem Beutel und leerer Brieftasche zurückgelassen hatte. Typisch Frau: Haben sie erst mal dein Geld, hauen sie ab. Der einzige Unterschied bestand nur darin, dass diese Mädchen dafür zwanzig Minuten brauchten, nicht zwanzig Jahre. Im Ergebnis lief es allerdings aufs Gleiche hinaus: Am Ende ließen einen alle sitzen. Nur nicht in deiner Welt, Spider, oder? In Spiders Welt ging keiner fort. Was sagst du ihnen immer? Selbst wenn dein Körper von uns gegangen ist, lebst du in mir weiter; du wirst immer ein 105
Teil von mir sein. Deine Seele und meine Seele werden für immer zusammen sein. Spider betrachtet das kleine Digitalbild, das er von Ludmilla hat, und findet, dass an ihr, wie auch an den anderen, etwas ist, was ihn an seine tote Mutter erinnert. Die Haarfarbe ist fast dieselbe, das gilt auch für Farbe und Form der Augen. Aber das war’s auch schon mit der Ähnlichkeit. Dieses Mädchen ist eine Hure, eine Schlampe; eigentlich verdient sie das, was er mit ihr vorhat, gar nicht. Das hier soll nämlich kein gewöhnlicher Mord werden, sondern etwas Einzigartiges, ein Mord, der sie berühmter machen wird als alle seine bisherigen Opfer. Spider spürt einen lustvollen Schmerz, ein Nagen in sich, während er daran denkt, wie sie sterben und wie ihr kühler, toter Körper aussehen wird, wenn er mit ihr fertig ist. Er entkleidet sich und geht ins angrenzende Badezimmer, um aufs Klo zu gehen, sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Er putzt sie sich dreimal am Tag, nicht nur zweimal. Das hat ihm seine Mama beigebracht. Sauberkeit ist gottgefällig. Das war damals in den glücklichen Tagen, in der Zeit, bevor sie ihn verließ. Ohne sich vorher zu verabschieden. Er war aus der Schule heimgekommen, und man sagte ihm, seine Mutter sei von ihnen gegangen, sie sei gestorben, aber er solle sich keine Sorgen machen, nicht traurig sein, weil sie jetzt doch an einem besseren Ort sei, im Himmel bei den Engeln. Wie konnte das sein? Wie konnte Mama irgendwohin gehen, wo es viel besser war, ohne ihn mitzunehmen? Da war er erst neun. Er war zwar schon klug genug, nicht allen und allem zu glauben, aber seiner Mutter und seinem Vater glaubte er schon; sie waren, wie man so sagte, die einzigen Menschen auf der Welt, denen man wirklich vertrauen konnte, die einzigen, die einem immer die Wahrheit sagen und immer auf einen aufpassen würden. Immer. Für immer und ewig. 106
Aber das war alles natürlich gelogen. Sie war wochenlang im Krankenhaus gewesen, und er hatte sie vermisst, jeden einzelnen Tag hatte er sie vermisst. Ich kann nicht schlafen, Daddy, wann kommt Mama nach Hause? Wann kommt sie zurück? All die Wochen hatte er sie im Krankenhaus besucht, und jeden Tag wirkte sie trauriger, dürrer, blasser. Man sagte ihm, sie kämpfe gegen eine Krankheit namens Krebs, und er hatte den Eindruck, als ob dieses Krebsding gewinnen würde, aber sie sagten, nein, deine Ma ist eine Kämpfernatur, sie wird wieder gesund, du wirst sehen. Lügner. Alles gottverdammte Lügner. Und als sie ihr dann überall diese Schläuche anschlossen, da hatte sein Vater ihn umarmt und gesagt, er solle keine Angst haben, die seien nur da, damit seine Mutter wieder gesund werde. Wieder gesund! Wie hatte er sich nach diesem Tag gesehnt. Manchmal war er auf ihr hartes Krankenhausbett geklettert, weil sie zu schwach war, sich aufzusetzen und ihn in den Arm zu nehmen. Dann lag er neben ihr und weinte ins Kissen. Sie hob die Hand, die ganz knochig und dürr war – mit Pflaster angeklebte Schläuche ragten aus ihren blauen Venen – und streichelte sein Gesicht. Ihre Stimme war ganz dünn und schwach, klang gar nicht wie jene, die in den Garten hinunterrief, er solle sofort hereinkommen, es gebe gleich Essen. Sie war nur noch schwer zu verstehen, aber die Wörter waren immer dieselben – weine nicht, mein Kleiner, mir wird’s bald wieder besser gehen, wisch dir die Tränen ab, Mama ist bald wieder zu Hause. Und dann war sie urplötzlich fort. Im Himmel. An einem besseren Ort, ohne ihn. Wo bist du, Mama? Ich warte. Ich warte immer noch. Vielleicht wäre Spider im Laufe der Zeit über den traumatischen Verlust seiner Mutter hinweggekommen, doch manchmal 107
spielte einem das Schicksal grausam mit, und manchmal konnte diese Grausamkeit lebenslange Folgen haben. Wenige Wochen nach dem Tod seiner Mutter kam sein Vater, Spiders emotionaler Rettungsanker in dieser schwierigen Phase der Trauer, bei einem Verkehrsunfall ums Leben: Er war von einem Streifenwagen überfahren worden, der auf einen falschen Notruf reagierte – ein paar Jungs aus der Gegend hatten aus Spaß die Polizei angerufen, weil sie die Streifenwagen mit ihren blauen und roten Blinklichtern vorbeiflitzen sehen wollten. Spiders Kiefernholzbett hat hohe Seiten, genau wie sein Kinderbett. Doch dieses Bett sieht aus wie ein Sarg. Er hat es mit dem Werkzeug seines Vaters selbst gebaut. Unter dem Bett gibt es eine tiefe, platzsparende Rollschublade. Darin hebt Spider Fotos von seinen Eltern auf, Zeitungsausschnitte über den Unfalltod seines Vaters und andere kostbare Erinnerungsstücke – seine Trophäen. Haut- und knochenlos, abgekocht und sauber geschrubbt, liegen die Fingerknochen seiner Opfer da wie grobe Essstäbchen. Er hat nie den Wunsch gehabt, ihre Hände zu behalten. Er schnitt sie ab, weil er so einfacher und schneller an den gewünschten Finger kam, den Ringfinger. Wenn er an seine wertvolle Trophäe wollte, sorgte er eben dafür, dass sie nicht beschädigt wurde. Hinten in der Schublade befindet sich in einem Taschentuch eingewickelt eine Sammlung billiger und teurer Verlobungs- und Eheringe. Spider sitzt nackt auf der roten Polstermatratze des Betts und fingert aus Gewohnheit an einer Goldkette herum, die er um den Hals trägt. Daran hängen Ehe- und Verlobungsring seiner toten Mutter. Er führt sie an den Mund und küsst sie. Er denkt einen kurzen Augenblick an seine Mutter und lässt die Kette dann los. Er nimmt einen Plastikbehälter, der neben dem Bett steht, dreht die Kappe ab und gießt sich den Inhalt auf die Hand. Langsam verteilt er weißes Talkumpuder über seinen Körper, bis er weiß ist, ganz weiß. Weiß wie eine Leiche. 108
Weiß wie das Gesicht seiner Mama. Spider legt sich hin und sieht durch das Fenster zum Himmel. Auf der anderen Seite, da ist er sich ganz, ganz sicher, sieht er seine Mama an jenem besseren Ort, wie sie ihre toten weißen Arme ausstreckt, um ihn an sich zu ziehen.
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KAPITEL ZWANZIG
West Village, Sono, New York Es gab zwei Dinge, warum Howie Baumguard nicht schlafen konnte – das eine war Essen, das andere Mord. Im Augenblick hatte er für seinen Geschmack zu viel von diesem und zu wenig von jenem auf seinem Teller. Mit nacktem Oberkörper, bloßen Füßen und einem grummelnden Bauch, der über den Bund einer blauen Baumwollpyjamahose wogte, schlich er auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, um den Rest der Familie nicht zu wecken. Eine Zeit lang hatte er sich noch vorgemacht, er würde Tony Soprano ähneln. Vielleicht verlor er ja etwas zu viel Haar und setzte um den Bauch herum etwas zu viel an, aber er war immer noch jemand, der mit etwas Nachhilfe eine gute Figur machte. Eine gründliche Rasur, ein wenig Eau de Cologne und ein tolles Hemd, und er fühlte sich prima. Bis seine spindeldürre Frau ihm sagte, er sehe eher aus wie das teiggesichtige Monster in Ghostbusters als James Gandolfini, der, wie sie zugeben müsse, trotz seiner Pfunde höllisch sexy sei. Als er dann gestern Abend nach einem mörderischen Arbeitstag nach Hause kam, fand er einen in Frischhaltefolie eingewickelten Krabbensalat und fettfreie Milch zum Abendessen vor. Mann, hält das Leben eigentlich überhaupt keine Freuden mehr bereit? Zur Hölle mit ihr und ihren Kalorien, jetzt gibt’s Happahappa. »Vorsicht, Kühlschrank, Howie rollt an!«, sagte er leise und zog die beiden Türen der gekühlten Speisekammer auf. Sein Gesicht strahlte so hell wie die Innenbeleuchtung. Er schnappte sich ein kaltes Hähnchen und tanzte damit und mit einem Glas Preiselbeergelee zum Küchentisch. Im Brotkasten fanden sich noch weitere Schätze; große Scheiben Weißbrot und ein 110
gefüllter Donut (die drei anderen aus der Viererpackung hatte offenbar Howie junior schon vertilgt). Zur Abrundung knackte Howie noch eine Dose Bier und nahm schon einmal einen kräftigen Schluck, bevor er es sich in der kühlen Küche bequem machte. Er riss ein Hühnerbein ab und knabberte genussvoll an dem köstlichen weißen Fleisch. Eine ordentliche Prise Salz (»schlecht fürs Herz«) verwandelte es von köstlich in himmlisch. Howie wusste, dass er ein Frust-Esser war. Aber es funktionierte. Noch einen ordentlichen Schluck Bier, und er fühlte sich tausendmal besser als in den letzten zwei schlaflosen Stunden, in denen er hungrig auf seiner Bettseite gelegen und sich Sorgen wegen des Anrufs gemacht hatte, den er jetzt gleich erledigen würde. Howie nahm das schnurlose Telefon aus der Ladestation auf der Küchenarbeitsplatte aus schwarzem Granit und drückte die Kurzwahl für Jack King. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er eine Verbindung hatte. Schließlich hörte er das italienische Freizeichen, und jemand hob ab. Es meldete sich eine Frauenstimme. »Buongiorno. La Casa Strada. Mein Name ist Maria, womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Howie fiel sofort eine ganze Reihe von Dingen ein, womit eine junge Frau mit einer derart sinnlichen Stimme ihm behilflich sein konnte, aber es waren alles Dinge, die ihm ausnahmslos eine sofortige Scheidung einbringen würden, also hielt er sich lieber an den eigentlichen Grund für den Anruf. »Hallo, ich rufe aus den Vereinigten Staaten an und hätte gern mit Jack King gesprochen. Könnten Sie mich bitte mit ihm verbinden?« Er fühlte sich ganz schrecklich dabei; der gute alte Jack genoss bestimmt einen angenehmen toskanischen Vormittag, und nun kam sein alter Kumpel Howie angewalzt und verwandelte das alles in einen Riesenhaufen Elefantenscheiße. »Tut mir leid, aber Signore King ist im Augenblick nicht hier. Möchten Sie mit Signora King sprechen?« 111
Hätte er die Wahl gehabt, dann hätte Howie sich lieber die Augäpfel rasiert als zu riskieren, von Nancy runtergeputzt zu werden. »Ja, bitte stellen Sie mich durch«, sagte er und wand sich nervös. Mann, Nancy hatte ihn in der Vergangenheit bereits einige Male niedergemacht. Sie beide hatten einfach nie einen gemeinsamen Nenner gefunden. Zu Anfang, da war er sich sicher, hatte sie es ihm übel genommen, wie viel Zeit Jack und er miteinander verbrachten. Und am Ende, tja, sie hatte es zwar nie ausgesprochen, aber Howie wusste, dass sie ihm zumindest eine Teilschuld an Jacks Zusammenbruch gab. »Howie?«, sagte Nancy ungläubig. »Warum rufst du denn um so eine Uhrzeit an?« Verdammt, jetzt steckte er in der Klemme. Was sollte er darauf antworten? Tja, Nancy, jemand hat deinem Mann den abgetrennten Kopf einer Frau geschickt, die vor zwanzig Jahren ermordet worden ist, und ich überlege gerade, ob er nicht vorbeikommen und die Sache übernehmen will. Nee, nee, das war ja wohl nicht so ganz der Bringer. Stattdessen versuchte er es auf die sichere Tour. »Hi, Nancy, ich bin gerade aufgestanden, um den Kühlschrank zu plündern, aber ich müsste mal mit Jack reden, es gibt da kurz was durchzusprechen.« »Was denn?«, fragte Nancy schneller als ein Schnappmesser. »Ach, nur so ein alter Fall. Da sind ein paar neue Hinweise aufgetaucht. Hast du eine Ahnung, wann ich ihn erwischen kann?« Nancy spürte, dass sie hingehalten wurde, genau wie bei der italienischen Beamtin, die ihr nicht verraten wollte, warum sie hereingeschneit war. Gleichzeitig wusste sie, dass es keinen Zweck hatte, Jacks alten Kumpel zu fragen, ob es da irgendeine Verbindung gab oder nicht. »Howie, wird das schlimm für uns? Jack ist noch nicht so weit, und ehrlich gesagt, könnten wir ganz gut auf jeden 112
weiteren Stress verzichten.« Sie ertappte sich dabei, wie sie sich am Hals kratzte, ein Tick, den sie eigentlich unter Kontrolle zu haben geglaubt hatte. »Sei ehrlich, Howie, geht es um etwas, was ihn zurückwerfen kann?« Howie musste erst den letzten Schluck Bier trinken, bevor er ihr antworten konnte. »Nancy, wir müssen die BR-Killer-Akte wieder öffnen. Da ist das Risiko ziemlich hoch, dass die Presse eine Menge alten Kram ausbuddelt.« »O mein Gott!« »Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte Howie. Er hörte, wie Nancy am anderen Ende der Leitung um Luft rang. »Alles in Ordnung?« Nancy atmete tief durch. »Nein, nichts ist in Ordnung, Howie. Absolut gar nichts.« Das gute Gefühl, das ihm Bier und Hähnchen bereitet hatten, hatte sich in nichts aufgelöst. Wenn er sich wegen dieser Geschichte nicht mehr schlecht fühlen wollte, würde es ab sofort mehr als nur einen Essenskick brauchen. »Nancy, versteh doch, es ist nur zu seinem Besten, wenn ich als Erster mit ihm rede und ihm alles sage, bevor er es im Fernsehen sieht oder in der Zeitung liest.« »Ich weiß nicht, Howie. Ich kann momentan gar nicht klar denken. Jack ist im Moment in Florenz. Ich sage ihm, er soll dich anrufen, sobald er zurück ist.« »Danke«, sagte Howie und schob den Teller mit dem Hähnchen von sich. »Schon gut«, sagte Nancy verbittert. »Ach übrigens, Carrie hat recht – du bist ein fettes, selbstsüchtiges Schwein, das mehr ans FBI denkt als an all die Dinge, die einem wirklich wichtig sein sollten.« Die Verbindung wurde unterbrochen, bevor Howie etwas entgegnen konnte. Es war vier Uhr nachts, trotzdem blieb ihm jetzt nur noch eines übrig: Er machte die nächste Dose Bier auf.
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KAPITEL EINUNDZWANZIG
Florenz – Siena, Toskana Jack las die Akte zweimal durch, bevor er sich wieder dem handgeschriebenen Begleitbrief zuwandte und die Mobiltelefonnummer von Massimo Albonetti wählte. Der Zug hatte inzwischen die Außenbezirke von Florenz hinter sich gelassen und rumpelte in Richtung Siena. »Pronto«, meldete sich eine sonore Männerstimme; das »r« klang so satt wie aus dem Munde eines Opernbaritons. »Massimo, ich bin’s, Jack – Jack King.« »Ah, Jack«, erwiderte Massimo herzlich und hoffte dabei, dass sein ehemaliger Kollege vom FBI über seine Bitte um Hilfe nicht allzu beunruhigt gewesen war. »Mein Freund, wie geht’s dir?« »Danke, gut, Massimo«, sagte Jack. Er stellte sich den »alten Bock« an seinem Schreibtisch vor; vor ihm stand sicherlich eine Tasse Espresso, und im Aschenbecher brannte eine Zigarette. »Bestimmt hat deine junge Kollegin dir schon alles berichtet.« Massimo räusperte sich und hüstelte in die Hand. »Entschuldige, bitte. Es tut mir außerordentlich leid, dass ich nicht persönlich vorbeikommen konnte. Jack, du hast die Akte ja inzwischen gelesen, du weißt also, warum ich dich so dringend sprechen musste.« »Ja, schon klar, Massimo. Mach dir darüber mal keine Gedanken, dazu kennen wir uns schon zu lange.« Jack musste unwillkürlich an eine der vielen langen Nächte denken, die sie durchgebracht hatten; zuerst italienischer Rotwein, dann amerikanischer Bourbon. »Ich hätte es wahrscheinlich nicht anders gemacht.« 114
Massimo konnte hören, dass Jack in der Eisenbahn saß. Ihm war bewusst, dass sein amerikanischer Freund zu seiner Familie zurückfuhr, gegen deren Interessen zu handeln er ihn nun bat. »Jack, ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich den Fall ohne dich lösen könnte. Niemand kennt diesen Mann, diesen Mörder, besser als du.« Jack runzelte die Stirn. Er machte sich nichts vor. Er wusste, was ihn sein Einsatz bei dieser Ermittlung kosten konnte. »Das ist eisenhart, Massimo. Diesen Irren zu jagen hat mich fast alles gekostet.« Massimo fühlte sich elend. »Sì. Das weiß ich. Wenn ich nicht Polizist wäre, würde ich dir raten, die Finger davon zu lassen. Als Freund würde ich dir raten, dich fernzuhalten und nur an dich und deine Familie zu denken. Aber ich bin nun mal Polizist, Jack, und du auch. Und ich weiß, dass nur du die Sache herumreißen kannst. Ich kenne deine Fähigkeiten, Jack. Mit deiner Hilfe haben wir alle Chancen, diesen Kerl zu schnappen.« Draußen brannte die Sonne auf die ausgebreitete Flickendecke der grün gemusterten Landschaft. Jacks Blick wanderte zum baumgesäumten Horizont. War der BR-Killer wirklich hier gewesen? Hatte er seinen Wahnsinn nach Europa gebracht und dieses wunderschöne Land mit seinem Blutvergießen und seiner Barbarei befleckt? »Und es gibt keinen Zweifel an den entscheidenden Details im Fall Barbujani?« »Nein«, antwortete Massimo ohne Zögern. »Keine Zweifel«, betonte er und trank den letzten Tropfen Espresso. »Du denkst an die Hand, Jack, stimmt’s?« Dutzende Bilder schossen vor Jacks geistigem Auge vorbei: Gesichter von Frauen, weiße Leichenschauhauslaken, die zurückgeschlagen wurden und skelettierte sterbliche Überreste enthüllten, die Armstümpfe junger Frauen, von denen das Monster seine Trophäe abgehackt hatte, die linke Hand – stets nur die linke Hand –, die »Ehehand«. 115
Massimo zog an seiner Zigarette. Lieber würde er Jack gegenübersitzen, ein paar Gläser mit etwas Starkem auf dem Tisch vor sich, irgendetwas, um den Schock zu mildern, der Jack bestimmt zusetzte, irgendetwas, um sie an die alten Zeiten zu erinnern. Er stieß den Rauch aus und gab sich Mühe, die nächsten Worte nicht zu hart klingen zu lassen. »Jack, es gibt wirklich keinen Zweifel. Dieser Mann hat die Hand auf die gleiche Weise abgetrennt wie in den anderen Fällen.« »Wo?«, sagte Jack und klang rein geschäftsmäßig. »Aus den Unterlagen geht nicht genau hervor, wo er den Schnitt angesetzt hat.« »Der Schnitt wurde um die unteren Handwurzelknochen herum geführt.« Massimo zupfte sich einen Tabakkrümel von der Zunge. »Ein diagonaler Schnitt zwischen Handwurzelknochen und Elle und Speiche.« Jack brach der Schweiß aus. Rückblenden flammten vor seinem geistigen Auge auf, diesmal von dem Killer selbst, nicht von seinen Opfern. Er sah den Mann bei der Arbeit, wie er langsam und systematisch vorging und sich sorgfältig auf sein Werk vorbereitete. Jack konnte sich bildhaft vorstellen, wie das Monster den Arm seines Opfers in Position brachte – lebten die Frauen zu dem Zeitpunkt noch? Bei den ersten Opfern waren die Amputationen noch grob und widerlich experimentell ausgeführt worden; es gab Meißelspuren und Hinweise auf zögerliche Versuche mit einer Säge, Späne und Rillen an den Knochen, Anzeichen, dass er möglicherweise einen Hammer verwendet hatte, um seine Trophäen abzuschlagen. Aber das gehörte schnell der Vergangenheit an. Schon bald hatte sich der BRKiller das richtige Werkzeug besorgt. Bestimmt hatte er irgendwo nachgelesen, wo er die richtigen Schnitte ansetzen musste. »Bist du noch dran, Jack?«, fragte Massimo. »Schlechte Verbindung«, sagte Jack. »Massimo, verrat mir mal, womit dein Typ seine Trophäe abgeschnitten hat.« Er wappnete sich gegen die Antwort. 116
»Mit einer Profisäge«, antwortete Massimo. »Nach den Zahnspuren zu schließen, muss es eine Knochensäge gewesen sein, vielleicht eine Autopsiesäge, höchstwahrscheinlich aber eine Metzgerknochensäge.« »Verdammt!«, entfuhr es Jack. »Massimo, waren die Zähne an der Säge eher neu oder waren schon welche abgebrochen?« »Nicht neu«, sagte Massimo. »Es war eine alte Säge. Sie ist schon mal benutzt worden. Laut Gerichtsmedizin handelt es sich höchstwahrscheinlich um ein vierzig Zentimeter langes Sägeblatt. An zwei Stellen sind die Zähne beschädigt.« »Lass mich raten«, sagte Jack. »Die ersten fehlenden Zähne bilden eine Dreiergruppe. Dann folgt ein Abschnitt unbeschädigter Zähne, ungefähr siebzehn Zentimeter lang, dann ein einzelner kaputter Zahn, nach links gebogen.« »Schwer zu sagen«, antwortete Massimo. »Aber es gibt deutliche Anzeichen von ausgebrochenen Zähnen. Jack, ich fürchte, es handelt sich um ein und denselben Täter. Es deutet einfach alles darauf hin.« Jack fehlten die Worte. Er musste das alles erst noch verdauen. Vor etwas mehr als vierundzwanzig Stunden war er nach Florenz gefahren, um endlich unter alles einen Schlussstrich zu ziehen. Nun war alles wieder offen. Klaffte alles weit auf, wie eine hässliche alte Wunde, die einfach nicht heilen wollte. Massimo wartete geduldig Jacks Schweigen ab. Am anderen Ende der Leitung hörte er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. »Okay. Ich bin dabei«, erklärte Jack schließlich. »Ich werde dir helfen. Ich habe doch sowieso keine andere Wahl. Ich muss es noch mal versuchen. Ich rufe dich auf einer besseren Leitung an, sobald ich zu Hause in San Quirico bin, dann können wir von dort aus die Logistik planen. Ciao.« »Va bene. Molto bene, grazie«, sagte Massimo sanft. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Jack hatte schon aufgelegt.
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Massimo hielt den Hörer in der Hand und klopfte damit gedankenverloren in die andere Hand, bevor er auflegte. Es gab da ein paar Details, die er Jack noch nicht mitgeteilt hatte, bestürzende Einzelheiten des Mordes an Cristina Barbujani, die nur er ihm sagen konnte.
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KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
West Village, Sono, New York Die ersten Striche eines Aquarell-Sonnenaufgangs wurden über den Himmel von New York gezogen, als Howie sich an den Schreibtisch vor dem Fenster seines häuslichen Arbeitszimmers setzte. Manchmal konnte er in den frühen Morgenstunden am besten arbeiten, wenn er den Kopf noch frei hatte von all dem Kram, der über ihn hereinbrach, sobald er das Büro betrat. Die Oberbosse in Virginia hatten ihn nun offiziell darum gebeten, den Fall des BR-Killers wieder zu öffnen, und er brauchte jede wache Sekunde des Tages, um die Ermittlungen wieder in die Gänge zu bringen. Man hatte ihn beauftragt, ein kleines Team zusammenzustellen (ohne das Budget zu sprengen), die Beweise noch einmal zu sichten und mit der Polizei in Georgetown zusammenzuarbeiten, um herauszufinden, ob die Schändung von Sarah Kearneys Grab irgendetwas Neues ergab. Howie hielt einen Becher schwarzen Kaffee in der Hand und machte sich daran, einen Weg durch das Dickicht von Papierkram zu bahnen, den er aus dem Büro mit nach Hause gebracht hatte. Er begann mit den Computerausdrucken der statistischen und psychologischen Profile, die von PROFILER und VICAP ausgespuckt worden waren, den beiden wichtigsten Computersystemen des FBI hinsichtlich Serienmorden. Der BR-Killer belegte mittlerweile zigtausend Gigabyte an Speicherplatz, was die Angelegenheit allerdings eher schwieriger als leichter machte. Die blanken Fakten waren zu jeder beliebigen Tageszeit schwer zu verdauen, vor dem Frühstück waren sie vollkommen ungenießbar. Über 30000 Zeugenaussagen aus vierzig Städten, gesammelt über einen Zeitraum von 119
zwanzig Jahren. 80000 Fahrzeugüberprüfungen, über 2000 Abgleiche mit früheren Tätern. Howie spürte, wie sein Lebenswille versiegte. Schon allein die Überprüfung der Fingerabdrücke konnte einem die Tränen in die Augen jagen. IAFIS, das FBI-eigene »Integrated Automated Fingerprint Identification System«, hatte über 7000 Sätze von Fingerabdrücken durch eine Datenbankabfrage laufen lassen, hatte sie mit über vierzig Millionen Fällen im Zentralregister verglichen und mehr als 10000 potenzielle Übereinstimmungen generiert. Außerdem hatten sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse eingesetzt, um von den Fingerabdrücken selbst DNS-Spuren zu sichern. Die Eierköpfe hinter CODIS, dem »Combined DNA Index System« des FBI, hatten ihre Datenbanken gründlich gemolken, aber die genetischen Profile, die sie herauszogen, hatte zu keinem bekannten Täter gepasst. Früher hatte das Problem darin bestanden, dass die Wissenschaft noch nicht so weit war, um harte Fakten zu liefern, heute war es genau umgekehrt. Es gab einfach zu viel Beweismaterial. Sie hatten mehr als genug damit zu tun, herauszufinden, welche vom Opfer stammten, welche vom Täter und welche von unschuldigen Unbeteiligten, die einem der beiden über den Weg gelaufen waren. Und um wie viel hatten all diese Technik und all dieser wissenschaftliche Fortschritt sie ihrem Ziel, den Täter zu stellen, näher gebracht? Nicht einen Millimeter. Klar, es gab Fingerabdrücke, genetische Profile, statistische Profile, mögliche Sichtungen verdächtiger Fahrzeuge und all das. Aber nichts von alledem hatte sie zu einem Hauptverdächtigen geführt. Und ohne einen Verdächtigen hatten sie nichts in der Hand. Die Daten waren gut und schön, sofern es sich bei einem Verdächtigen um einen rechtskräftig verurteilten Täter handelte, aber wenn es über ihn nichts in den Akten gab, war das ganze Material keinen Pfifferling wert. 120
Das alles im Hinterkopf, entschied Howie, noch einmal ganz von vorn anzufangen. Er war entschlossen, das Ganze einmal von oben zu betrachten, sich von dem Wald an Informationen fernzuhalten und sich allein auf die großen schwarzen Bäume zu konzentrieren, die wie sturmzerzauste Eichen aus all diesem Dickicht herausragten. Und dazu musste er bei null anfangen und sich all diese Hinweise anschauen, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Manches sprang einem sofort ins Auge. Die zwanzig Jahre zwischen dem ersten zugeordneten Mord und der Grabschändung bedeuteten, dass der Täter inzwischen zumindest mittleren Alters sein musste. Wenn dem so war, hatten die Morde nicht nur während der für Männer sexuell aktivsten Jahre stattgefunden, ein sicheres Anzeichen dafür, dass er mehr war als nur ein Sexualmörder, dass er nicht aufhören würde. Ein Ende war erst abzusehen, wenn er gefasst wurde oder selbst starb. Sämtliche Mordopfer waren weiße Frauen gewesen; rein statistisch gesehen war also die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er ebenfalls weiß war. Die Fundorte der Leichen verteilten sich über eine enorme Fläche, die mehr Gebiete der Vereinigten Staaten umfasste, als der Presse je mitgeteilt worden war. Seinen Namen hatte der BR-Killer wegen der Morde am Black River in South Carolina, aber die simple Wahrheit war, dass der Kerl an der gesamten Atlantikküste gemordet hatte. Leichenteile waren in Jacksonville, Swan Quarter, Hertford und sogar Hampton angespült worden. Es hatte Funde an der kanadischen Grenze gegeben, an der Küste von Miami, ja selbst an der mexikanischen Grenze. Die Ausdehnung der Entführungsorte und Leichenfundstellen war derart groß, dass die Beamten daraus die Erkenntnis zogen, der BR-Killer sei Herr über sein eigenes Leben, alleinstehend, arbeitslos oder wohlhabend, frei, zu tun und zu lassen, was er wolle, ohne jemandem Rechenschaft dafür ablegen zu müssen. Howie schrieb die grundlegenden Punkte auf: 121
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weiß mittleres Alter keine Vorstrafen Führerschein gute geografische Kenntnisse unbeschäftigt/vermögend uneingeschränkte Bewegungsfreiheit Single keine Angehörigen
»Na toll!«, sagte er und warf die Arme in gespielter Begeisterung in die Höhe. »Schätze, das schränkt die Sache auf schlappe sechzig Millionen weiße Amerikaner ein.« Howie kannte die Verbrechensstatistiken im Schlaf; besser fühlte er sich deswegen aber nicht. Jedes Jahr wurden in den Staaten 17000 Menschen ermordet, knapp sechs pro 100000 Einwohner. Die meisten Morde waren schnell aufgeklärt: häusliche Streitigkeiten, die aus dem Ruder liefen, Drogenprobleme, Bandenkriege, die auf den Straßen ausgetragen wurden und mehr Zuschauer hatten als ein Baseballspiel. Die meisten Morde waren das Werk von »Amateuren«, Ersttäter, die nach ihrer Bluttat in Panik gerieten und sich versteckten, die verzweifelt die Leichen verschwinden lassen und so schnell wie möglich so weit wie möglich verschwinden wollten. Beim BR-Killer war das anders. Dieser Täter, dieser »beschissene, durchgeknallte, kranke Irre«, wie Howie ihn nannte, wollte die Leichen so lange bei sich behalten wie nur möglich. Dafür könnte es mehrere Gründe geben. Die Profiler glaubten, dass der BR-Killer hochintelligent war und wusste, dass die Entfernung der Leiche vom ursprünglichen Tatort jede Untersuchung doppelt schwierig machte. Zunächst einmal fängt eine Ermittlung erst dann richtig an, wenn eine Leiche gefunden wird. Eine Vermisstenmeldung zieht 122
nur einen Bruchteil der polizeilichen Ermittlungen und des Presseinteresses auf sich, die ein Mord auslöst. Verschwindet aber die Leiche vom Tatort, regnet es, trampeln Leute darüber, pinkeln Hunde darauf – schon gibt der Tatort keinerlei Spuren mehr her. Die nächste Schwierigkeit lag in den Zuständigkeiten. Bei einer Leiche krempeln FBI, städtische Polizei und Sheriffsbehörde die Ärmel hoch und kämpfen um das Vorrecht, die Ermittlung durchzuführen (oder sie, wie Howie aus manchen Fällen wusste, zu verschleppen). Und schließlich der Oberhammer: Wenn ein Serienmörder sein Opfer beiseiteschaffte und dann in einer geschlossenen, kontrollierbaren Umgebung tötete, in der er nicht versehentlich Spuren hinterließ und quasi sogar hinter sich aufräumen konnte, dann hatte die Spurensicherung noch nicht mal einen Tatort, wo sie sich an die Arbeit machen konnte. Die meisten Profiler nahmen an, dass genau dies der Grund war, warum der BR-Killer die Leichen behielt. Jack war da allerdings völlig anderer Ansicht. Mit seiner Meinung hatte er sich nicht selten gegen die Mehrheitsentscheidungen stellen müssen. Er ging nämlich davon aus, dass es noch andere, viel simplere Gründe dafür gab. Howie nahm den Kaffeebecher wieder in die Hand und hörte die Worte seines alten Kumpels: Er kann es einfach nicht ertragen, sie loszulassen. Er will sie für immer bei sich haben. Tote laufen nicht weg. Er tötet, um Gesellschaft zu haben. Howie trank noch einen Schluck von der bitteren schwarzen Flüssigkeit und dachte, um wie viel besser sie mit einem Donut schmecken würde, vor allem einem mit Schokolade. Im Augenblick konnte er gut etwas zwischen den Zähnen vertragen, um seine wirren Gedanken auf die Reihe zu bringen. Die einzige echte Spur, die dieser Kerl hinterlässt, ist die Art, wie er die Leiche beseitigt. Er zerstückelt sie und verstreut die Einzelteile einfach wild in die Gegend.
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Er fährt an Flüsse, Sümpfe, Flussmündungen, wo immer es tiefes Wasser gibt, und wirft die Leichenteile hinein. Und was sagt uns das? Jack hatte diese Frage viele Male gestellt, und sie waren mit Dutzenden von Hypothesen angekommen. Wasser zog ihn an; er war Fischer; er war an einem Fluss aufgewachsen; vielleicht hatte er mitbekommen, wie sein Vater den Fluss als Müllabladeplatz missbrauchte. Vielleicht war er Matrose, vielleicht kannte er die Häfen gut, tauchte dort vor und nach der Tat auf und verschwand wieder. Das FBI hatte all dies überprüft, manche Hypothese sogar zweimal. Vielleicht war Jacks einfache Erklärung am Ende doch die richtige. Ich sag dir was, Howie, nach Feuer ist Wasser die beste Möglichkeit, eine Leiche zu beseitigen. Drei Viertel unseres Planeten sind mit Wasser bedeckt; viel Platz, um Leichen verschwinden zu lassen. Wenn man sie vergräbt, kann man fast immer erkennen, wo die Erde aufgegraben wurde; Leute kommen vorbei, Tiere buddeln die Leiche aus, und ehe man sich’s versah, wurde die Polizei gerufen. Wenn man die Leichenteile aber beschwerte und sie in tiefes Wasser warf, dann wusste ziemlich lange außer dem Täter selbst nur das Meer, was dieser getan hatte. Und wenn schließlich etwas an die Oberfläche kam, dann war alles so sauber abgenagt wie ein Hühnerbein beim Superbowl. Glaub mir, Howie, die einzige Besessenheit mit Wasser, die dieser Typ hat, ist die Tatsache, dass es ihm nützlich ist. Wenn er was Besseres findet, wird er das mit dem Wasser sofort sein lassen. Howie kehrte wieder zu seinem Profil zurück und fügte • • • • •
pingelig sorgfältig intelligent skrupellos gewissenhaft 124
hinzu. Beinahe hätte er noch Pfannkuchen, Schinken und Kaffee daruntergeschrieben, weil er daran gerade ebenfalls gedacht hatte. Er musste zum wiederholten Mal das frühmorgendliche Knurren seines Magens unterdrücken. Müsste er auf der Stelle den Täter beschreiben, dann würde er sagen: weiß, männlich, überdurchschnittlich intelligent, etwa Mitte vierzig, nicht vorbestraft, finanziell unabhängig, Besitzer eines unauffälligen Wagens, wahrscheinlich noch nicht mal einen Strafzettel wegen Falschparkens auf dem Gewissen. Er ging keine Risiken ein; eine graue Maus, die sich überall einfügte und nirgendwo auffiel. Alleinstehend, höchstwahrscheinlich nie verheiratet gewesen und – und was? Howie zögerte beim Gedanken an die sexuelle Orientierung des Täters. Homosexuell? Handelte es sich womöglich um homosexuell unterlegte Angriffe auf hübsche heterosexuelle Frauen? Er ging nicht davon aus. Warum sollte es so sein? Howie strich diesen Punkt von seiner mentalen Liste. Handelte es sich um heterosexuelle Lustmorde? Vielleicht. Vielleicht sollte die Zerstückelung der Leichen vertuschen, was er mit den Opfern anstellte, irgendetwas derart Abartiges, dass selbst er vor der Entdeckung dessen zurückschreckte, was er getan hatte. Das war eine Möglichkeit. Wofür es allerdings keinerlei echten Hinweis gab. Keine Samenspuren auf den Leichen oder Körperwunden, keine Anzeichen dafür, dass irgendetwas in irgendwelche Öffnungen gerammt, gepresst oder geschlagen worden war. Es hatte Spuren an Handgelenken und Schienbeinknochen gegeben, möglicherweise fetischistische Fesselspuren, wahrscheinlich aber nur das Werk eines sorgsamen Gefängniswärters, der sicherstellen wollte, dass seine Gefangene nicht entkam. Howie nahm noch einen Schluck Kaffee und wünschte sich erneut, Jack wäre da, um ihm zu helfen. Serielle Triebverbrechen waren nun einmal Jacks Spezialität. Darin konnte ihm keiner das Wasser reichen.
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Vergiss nicht, Howie, das primäre Geschlechtsorgan sowohl des Mannes als auch der Frau sind nicht die Geschlechtsorgane, sondern das Hirn. Fantasie und Planung passieren im Kopf, nicht in der Hose. Was immer diese Irren auch tun, letzten Endes ist es nur die Manifestation mentalen Verlangens. Howie war sich immer noch uneins, ob er homosexuell oder heterosexuell hinschreiben sollte. Er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen, was diesen Wahnsinnigen antörnte. Dann stieß er auf das Wort, nach dem er suchte. Unter intelligent, skrupellos und gewissenhaft schrieb er ein Wort, das er noch nie zuvor geschrieben hatte: Nekrophil. Das Töten war nur der Anfang dessen, was den Mörder anmachte.
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KAPITEL DREIUNDZWANZIG
Siena, Toskana Jack verlor allen Mut, als der Zug in Siena eintraf. Im Bahnhof wimmelte es nur so von Touristen, und plötzlich fiel ihm auch ein, warum: Heute fand der Palio statt. Jack und Nancy waren noch nie bei diesem berühmten Pferderennen durch die Gassen der Stadt gewesen, aber sie hatten natürlich davon gehört. Paolo hatte sie gedrängt hinzugehen, aber Carlo, ihr zurückhaltender und erheblich konservativerer Hoteldirektor, hatte sie angefleht, es nicht zu tun. Diese entgegengesetzten Meinungen entsprachen ziemlich genau dem allgemeinen Stimmungsbild in Italien über dieses höchst gefährliche Spektakel. Viele betonten die Tradition. Das Rennen ging nämlich bis ins 17. Jahrhundert zurück und nahm historische Anleihe bei den traditionellen römischen Spielen des Bogenschießens, Kämpfens und Wagenrennens. Andere fanden es verabscheuungswürdig, weil sich die Pferde oft schwer verletzten und dann getötet werden mussten. Carlo hatte ihnen erzählt, wie einmal eines der zehn Pferde, die jeweils einen Stadtteil von Siena repräsentierten, gestürzt und zu Tode getrampelt worden war; das Rennen war einfach fortgesetzt worden. Danach hatte er sich geschworen, dass seine Familie nie wieder beim Palio zuschauen würde. Vor dem Bahnhof konnte Jack schon Pferdegetrappel hören. Mehrere berittene Carabinieri kamen vorbei. Er nahm an, dass sie auf dem Weg zu einer Probe für den dramatischen Angriff mit gezückten Schwertern waren, den sie bei dem Umzug auf der Piazza del Campo aufführen würden. 127
Jack konnte auch überall Buchmacher beobachten, die ganze Hände voll Euro einsackten. Die Wettlust vor dem großen Ereignis war bereits entfacht worden. Praktisch der gesamte Autoverkehr war aus der Stadt verbannt worden. Ein Taxi zu finden war noch schwieriger und kostspieliger als zu normalen Zeiten. Schließlich ließ sich Jack auf den Rücksitz eines klapprigen Renault Mégane plumpsen, dem es an gewissem Komfort fehlte wie Stoßdämpfern oder Fenstern, die man herunterkurbeln konnte. Irgendwo auf Höhe des Stadtrands von Siena schlief er ein und war angenehm überrascht, erst wieder aufzuwachen, als das Taxi lärmend auf dem Kies vor der Casa Strada in San Quirico hielt. Jack ging um das Hotel herum. Als hinter dem Gebäude der kleine Zack von seinem Dreirad stieg, mit offenen Armen auf ihn zurannte und »Papa! Papa!« rief, strahlte er übers ganze Gesicht. »Hallo, Tiger, komm her und gib deinem alten Herrn einen Schmatz«, sagte er. Er fing den kleinen Kerl mit den Armen auf, hob ihn hoch und küsste das wunderbar weiche Gesicht ab. »Bist du auch schön brav gewesen?«, fragte er und ging auf Nancy zu. Seine Frau saß auf der Veranda an einem eisernen Gartentisch voller Papierkram. »Hallo, Fremder«, rief sie zu ihm herüber und konnte gerade noch ein paar Blätter festhalten, die eine unerwartete Böe beinahe davongeweht hätte. »Hallo, Liebling«, sagte Jack und beugte sich vor, um ihr einen Kuss zu geben. Dabei hielt er Zack noch immer unter dem rechten Arm wie einen Football. »Wie war die Zugfahrt?«, fragte Nancy, nahm die Sonnenbrille herunter und besah ihn sich genauer. Jack setzte seinen Sohn ab. Ihm wurde ganz warm ums Herz zu sehen, wie der Sprössling zu seinem Dreirad zurückeilte. Er
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nahm Nancy gegenüber Platz und schob die Plastiktüten mit den Geschenken mit gespielter Verstohlenheit unter den Stuhl. »Ich hatte völlig vergessen, dass in Siena heute der Palio stattfindet. Es war völlig verrückt. Ich musste meilenweit laufen, bis ich ein Taxi gefunden habe.« Er stibitzte sich eine Olive von dem runden weißen Teller. »Ich weiß, was Carlo davon hält, aber eines Tages möchte ich mir das schon mal anschauen.« »Na, vielleicht«, meinte Nancy zurückhaltend. In Gedanken war sie anderswo. »Was ist mit dem Fall? Bist du damit fertig? Alles erledigt? Oder bin ich zu optimistisch?« Jack gab ein Geräusch von sich, das halb Lachen, halb Seufzen war. »Ach herrje, Nancy, bin ich so leicht zu durchschauen?« Nancy nickte. »Die haben da etwas, was ich mir anschauen soll.« Nancy hob die Augenbraue. »Will das diese junge Frau, diese Olivetta, oder wie sie heißt?« »Orsetta«, sagte Jack. Ihm fiel auf, wie empfindlich sie sich gab. »Nein, die Bitte kommt von Massimo.« Nancys Augen leuchteten wieder ein wenig mehr. »Hast du schon mit ihm gesprochen? Hat er gesagt, wie es Benedetta und den Kindern geht?« »Nein, dazu hatten wir leider keine Zeit«, antwortete Jack. Nancy und Massimos Frau Benedetta hatten sich auf Anhieb verstanden, als sie sich in Rom kennenlernten. Benedetta hatte ihr all die Touristenziele gezeigt, während Jack und Massimo Überstunden machten. »Ich werde ihn gleich anrufen, wenn ich mich frisch gemacht und einen Kaffee getrunken habe.« »Ich sage in der Küche Bescheid. Sie sollen dir einen raufschicken. Möchtest du auch was essen?« »Ja – ob die mir wohl ein panino machen könnten?«, sagte er, nahm seine Taschen und wollte gehen. »Das sind Köche, mein Schatz, die könnten dir ein SechsGänge-Menü zaubern, wenn du das möchtest.«
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»Mozzarella und ein paar Salatblätter reichen mir«, meinte Jack und schob den Stuhl an den Tisch. Er wollte gerade gehen, als er den Blick in ihren Augen sah. »Du siehst aus, als würdest du gleich platzen, Nancy. Willst du mir nicht verraten, was los ist?« Nancy holte tief Luft. Sie hätte diese Unterhaltung lieber später geführt, am kühlen Abend, wenn sie die Stimmung beherrschen konnte und es sonst keine andere Ablenkung gab. »Ich möchte nicht, dass du dich darauf einlässt. Ich nehme an, dass das Ganze mit dem Mord an dieser jungen Frau zu tun hat, der in aller Munde ist, und du hast das Gefühl, dich darum kümmern zu müssen. Aber das solltest du lieber sein lassen, es ist nicht gut für dich.« »Du wiederholst dich«, sagte Jack ein wenig schroffer, als er es beabsichtigt hatte. »Es geht alles wieder von vorn los, oder?«, sagte Nancy. Ihr war klar, dass der restliche Tag nun ruiniert war. Jack verspannte die Schultern, so wie er es immer tat, wenn er ihr zeigen wollte, dass er verärgert war und sie mal wieder maßlos übertrieb. »Liebling, ich schaue mir ein paar Unterlagen und ein paar Fotos an, ein paar Landkarten und Berichte, dann gebe ich ein paar Ratschläge. Und das war’s dann auch schon.« Sie sah ihn misstrauisch an und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Vorderzähne, eines jener Zeichen, an denen Jack erkennen konnte, dass sie ihm etwas verschwieg. »Was noch?«, fragte er in einem Ton, den er normalerweise bei Verdächtigen im Verhör anwendete. »Howie hat aus New York angerufen.« Sie achtete auf jede seiner Regungen, bevor sie mit einem resignierenden Seufzer hinzufügte: »Da ist was vorgefallen. Er wollte mir nicht verraten, was, aber er hat den BR-Killer erwähnt und gesagt, sie würden den Fall wieder aufrollen.« »Du weißt wirklich nicht, warum?«, sagte Jack. Sein Puls fing an zu rasen. 130
»Wie gesagt, er wollte mir nichts verraten. Er meinte nur, die Presse würde sich wieder daraufstürzen … und wahrscheinlich auch auf dich.« Nancy nahm seine freie Hand. »Liebling, wir brauchen das alles nicht.« Dann verhärtete sich ihre Stimme. »Das sind genau die Dinge, von denen wir uns fernhalten wollten, indem wir uns hier niedergelassen haben.« Sie sah sich nach allen Seiten um und genoss den friedlichen Garten und die schöne Aussicht über die Hügel. »Bitte, setz das alles nicht aufs Spiel, Jack. Lass dich da nicht wieder reinziehen.« Jack beugte sich näher zu ihr und heischte um Verständnis. Sein Gesicht blieb hart, aber dem geübten Auge seiner Frau konnte die Verletzlichkeit nicht verborgen bleiben. »Nancy, dieser Mann mordet vielleicht weiter, vielleicht hat er bereits das Leben einer jungen Frau gefordert, hier in Italien, vielleicht das Mädchen, von dem du da gesprochen hast, und nach allem, was du gerade angedeutet hast, scheint er auch drüben wieder aktiv zu sein. Ich kann nicht ständig weglaufen. Nichts unternehmen zu können, diese Machtlosigkeit, treibt mich noch in den Wahnsinn. Ich muss ihn stoppen.« »Auch auf die Gefahr hin, dass du dir selbst schadest?«, entgegnete Nancy, die das Gefühl hatte, vor vier Jahren genau dieses Gespräch schon einmal geführt zu haben. »Selbst wenn es uns schadet?« Jack sagte nichts, aber Nancy konnte die Antwort von seinem Gesicht ablesen. Sie entzog ihm ihre Hand. »Ich gehe jetzt zu Paolo in die Küche. Ich sorge dafür, dass er dir etwas zu essen bringt.« Jack stand regungslos da, als sie ihren Stuhl so hart vom Tisch wegstieß, dass er umfiel. Er beugte sich vor und richtete ihn auf, während Nancy in Richtung Restaurant davoneilte. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte wahrscheinlich. Er wusste, dass es nichts auf der Welt gab, womit er ihre Tränen trocknen könnte. 131
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Ludmilla Zagalsky schläft noch, als Spider ihr den Knebel abnimmt und ihr die Kanüle in den Kehlkopf rammt. In der Spritze befindet sich unverdünntes Bleichmittel. Er will ihr damit die Stimmbänder wegätzen, damit sie nicht mehr reden, geschweige denn schreien kann. Ihr den Knebel drin zu lassen wäre riskant. Sie könnte an Erbrochenem ersticken, aber er will nicht, dass sie stirbt. Zumindest jetzt noch nicht. »Pscht, pscht, wehr dich nicht«, sagt Spider. Er lässt die Spritze fallen und packt sie bei den Schultern. Die Kette an ihrem rechten Handgelenk hat sich etwas gelockert, und Ludmilla versucht ganz instinktiv, Spider zu schlagen. Die Kettenglieder zurren fest und kugeln ihr fast den Arm aus. »Aufhören! Hör sofort auf!«, brüllt er und drückt ihr mit der rechten Hand den Hals zu. Seine Finger sind stählern und schneiden ihr wie Messer in die Kehle. Spider ist wütend und erregt. Sein Klammergriff drückt immer fester in die weiche Haut, unter der sich das Bleichmittel bereits durch den Kehlkopf frisst. Ludmilla glaubt, sterben zu müssen. Es ist so weit! Er wird mich jetzt auf der Stelle umbringen! Kein Ramsan, kein Leben abseits der Brighton Beach Avenue, nichts mehr, nur noch das hier. Trotz der ungeheuren Schmerzen schafft sie es, den Kopf zu drehen und den Mund so schnell um seine Hand zu bekommen, dass sie zubeißen kann. 132
Spider spürt, wie die Zähne zuschnappen und sich tief in seine linke Hand vergraben. Ihre Kiefer sind so unnachgiebig wie der grausame Biss eines Straßenköters. Spider will ruhig bleiben, aber diese Frau hat wahnsinnige Kräfte. Ihre Eckzähne bohren sich in sein Fleisch, durchbeißen die Haut, treffen auf seine Daumenknochen. Er lässt ihren Hals los und schlägt sie. Ludmilla spürt den Schlag kaum. Ihre Mutter hat sie mit einer täglichen Ration Schlägen großgezogen, die hundertmal härter waren als das, was dieser jebanatik da tut. Sie kümmert sich nicht um das dumpfe Pochen am linken Wangenknochen und beißt nur noch fester zu. Sie kann spüren, wie die Haut unter ihren Zähnen reißt und wie sein stinkiges Blut ihr in den Mund tropft. »Scheiße!«, schreit Spider. Wieder schlägt er zu, aber er kann nicht weit genug ausholen, um mehr Kraft in den Schlag zu legen. Die Zähne dieser kleinen Schlampe stecken in Nerven und Sehnen. Der Schmerz ist so stark, dass ihm ein greller Blitz bis in den Ellbogen fährt. Spider lässt sich auf sie fallen und nutzt Schwung und Körpergewicht, um ihr die Luft zu nehmen, um ihr die Hand tief in ihren teuflischen kleinen Schlund zu stopfen. Die kleine Schlampe wird entweder loslassen oder ersticken, denkt er, ignoriert den Schmerz und presst sich an sie. Ludmilla lässt nicht los. Obwohl Spider nun mit seinem ganzen Körpergewicht auf ihr liegt, knirscht sie nur mit den Backenzähnen. Sie kann nichts mehr sehen und ringt erfolglos nach Luft. Seine Körperwärme und sein Gewicht sind überwältigend, keine Luft zum Atmen mehr da. Ihr wird schwarz vor Augen, unscharf, und wieder schlägt er mit der rechten Hand zu und presst sich erneut mit aller Kraft an sie.
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Spider drückt ihr den linken Daumen tiefer in den Schlund. Ludmilla muss würgen. Sie weiß, was er vorhat. Sie weiß, dass er seine Hand nicht losreißen kann, ohne sich schwer zu verletzen, also versucht er, sie zu erwürgen. Na, dann mal los, Mister, da braucht es schon ’ne Menge, um Ludmilla Zagalsky totzukriegen, ich hab schon größere Dinger im Mund und schwerere Kerle auf mir drauf gehabt als so ein Arschloch wie dich. Ludmilla kehrt weit in ihre Kindheit zurück. Missbrauchsalbträume steigen in ihren Gedanken auf, die Wut wächst und kocht über. Sie beißt so fest zu, dass ihr ein Zahn abbricht. Die Schmerzwelle, die Spider überrollt, ist so stark, dass er von ihr ablässt und zu Boden fällt. Ludmilla spuckt sein Blut und ihren abgebrochenen Zahn aus. Sie kommt sich vor wie Rocky nach seinem Sieg über Apollo Creed. Blutig, zerschlagen, aber siegreich. Sie weiß, dass ihr Sieg entsetzlich kurzlebig sein wird. Wieder kehrt sie in Gedanken nach Moskau in ihr Zimmer zurück, wo sie das letzte Mal einen Mann derart gebissen hat. Man muss sich so eine Scheiße einfach nicht gefallen lassen. Egal, was passiert, so eine Scheiße muss man sich nicht gefallen lassen. Kämpf um dein Leben, Ludmilla, kämpf um jede Sekunde, die du noch atmen kannst. Egal, was passiert, deinen Kampfesmut kann er dir nicht nehmen. Spider wiegt seine Linke in der rechten Handfläche. Himmelherrgott noch mal, wie hat sie das geschafft? Die Haut ist aufgerissen, er kann sich in die eigene Hand schauen. Er sieht Knochen und Adern, Blut und Fleisch aus der sichelförmigen Wunde ragen, die ihre grausamen Zähne gerissen haben. Spider wischt sich mit dem rechten Unterarm den Schweiß von der Stirn. Er braucht irgendetwas, womit er sich die Hand abbinden kann. Er geht in den Kellerraum nebenan, wo bei dem
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Spülbecken in der hinteren Ecke ein paar Baumwollstreifen liegen. Wenn er sie auswäscht, wird es schon gehen. Er dreht den Hahn auf und lässt kaltes Wasser über die verletzte Hand laufen. Das Wasser wird blutrot, aber die Flüssigkeit ist kühl und lindert etwas den Schmerz, der durch seinen Körper tobt. Dann weicht er einen der Baumwollstreifen ein, die er normalerweise für Knebel und Gesichtsverbände benutzt, und drückt ihn so fest aus, wie er kann. Er wickelt den feuchten Streifen um die Bisswunde, macht eine Schlaufe und hält ein Ende mit den Zähnen fest, damit er zuziehen kann. Dann legt er mit einem zweiten Streifen weiter oben am Arm noch eine Aderpresse an, damit an der Wundstelle kein Blut nachfließt. Ludmilla liegt währenddessen hilflos auf der Fesselbank. Sie muss daran denken, wie sie als kleines Kind zum ersten Mal vom Fenster ihrer elterlichen Mietwohnung aus Schneeflocken gesehen hat, denkt an die Zeit, als sie frei und unschuldig war und im Gorki-Park herumtollen durfte. Sie denkt daran, wie das Leben mit Ramsan wohl gewesen wäre. Sie denkt an alles Mögliche, nur nicht an das, was ihr als Nächstes zustoßen könnte. Spider kommt in den schwarzen Raum zurück. Er trocknet sich die linke Hand an der Hose ab und starrt sie an. »Böse Sugar«, sagt er und schüttelt bedächtig den Kopf. »Böse, böse Sugar.« Ludmilla starrt seine Hand an. Nicht die, in die sie gebissen hat, sondern seine heile Rechte. Mit der hält er etwas umklammert, das wie eine große Knochensäge aussieht.
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KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
San Quirico d’Orcia, Toskana Jack schaute aus einem mit grünen Fensterläden verschlossenen Schlafzimmerfenster der Casa Strada hinunter in einen Garten voller Apfel-, Pflaumen- und Birnbäume. Der Streit mit Nancy hatte ihm zugesetzt und ihn nachdenklich gemacht, aber insgeheim wusste er genau, dass er nicht mehr zurückkonnte. Was immer Nancy sagte oder tat, er würde Massimo helfen. Und falls nötig auch Howie. Er hatte es sowieso nie wirklich geschafft, sich den BR-Killer aus dem Kopf zu schlagen. Eigentlich hatte der Fall nur noch mehr in seinem Kopf herumgespukt, seit er überhaupt nichts mehr damit zu tun gehabt hatte. Wenn er jetzt versuchte, wieder mitzuarbeiten, waren seine seelischen Qualen wenigstens nicht ganz so sinnlos. Jack sah wieder hinaus in den Garten. Von den Gästen ging nur ein älteres Paar darin spazieren. Sie waren im selben Alter, in dem auch seine Eltern gewesen wären, würden sie noch leben. Die beiden schlenderten über den mit Steinen gepflasterten Weg, hielten Händchen und blieben ab und zu stehen, um sich gegenseitig die verschiedenen Obstsorten zu zeigen. Jack versuchte sich an ihren Namen zu erinnern: Giggs oder Griggs, so ähnlich jedenfalls. Nancy hatte gesagt, sie seien hier, um seinen siebzigsten und ihren sechzigsten Geburtstag zu feiern, die offenbar nur fünf Tage auseinanderlagen. Wie wunderschön, gemeinsam so alt geworden und immer noch so verliebt zu sein. Jack betrachtete den Mann genauer, dessen sonnengebräuntes Gesicht unter einem elfenbeinfarbenen Panamahut hervorlächelte. Der alte Herr schien völlig glücklich mit seinem Leben zu sein, war zufrieden damit, alles langsam angehen zu lassen, 136
Hand in Hand mit seiner Seelengefährtin. Das Paar blieb im Schatten eines Kirschbaums stehen und bewunderte Zacks Zwergkaninchen, das um ihre Füße hoppelte, bevor es zum anderen Ende der Obstwiese davonflitzte. Der alte Herr wischte Blütenblätter von einem in der Nähe stehenden Gartensessel und half seiner Frau hinein, dann setzte er sich neben ihr in einen zweiten Sessel. Kaum hatte er es sich bequem gemacht, streckte er seinen knorrigen alten Arm aus, damit sie wieder Händchen halten konnten. Jack hätte liebend gern seine eigenen Eltern hergeholt, hätte sie gern jeden Sommer ein, zwei Monate hier verbringen lassen, damit sie sahen, wie ihr Enkelkind groß wurde. Er hätte fast alles dafür gegeben, genau aus diesem Fenster zu schauen und seine Eltern dort sitzen zu sehen. Sie hatten den Staat New York nur selten verlassen, von Amerika ganz zu schweigen, aber Italien hatte immer auf ihrer Wunschliste gestanden, und tief in seinem Herzen wusste er, dass es ihnen hier gefallen hätte. Es steckte eine gewisse traurige Ironie in der Tatsache, dass ihr Erbe es ihm und Nancy erst ermöglicht hatte, La Casa Strada zu erwerben, ohne irgendeine Hypothek aufzunehmen. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie drei Generationen King gemeinsam zum Stadtplatz gingen, zur Piazza della Libertà, wo sie dann auf den breiten Steinstufen saßen, während Zack und der Großvater, den er nie kennenlernen konnte, sich in der Bar ein Eis holten. Danach würden sie durch die Renaissancegärten der Horti Leonini schlendern, und Nancy und seine Mutter würden warten, während Zack in dem Miniaturlabyrinth Verstecken spielte. Irgendwie hatten der Streit mit Nancy und die drohende wachsende Distanz zwischen ihnen wieder den Schmerz um seine eigenen Eltern geweckt. Jack wandte sich vom Fenster ab und gab sein Grübeln auf, was alles hätte sein können. Nun war es an der Zeit, die Toskana und alle Gedanken an seine Eltern, an Nancy und Zack weit nach hinten zu verbannen. 137
Jack hatte eine Aufgabe zu erledigen. Er rief Massimo Albonetti an.
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KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Spider hält die Säge in der Hand und schaut am Sägeblatt entlang auf Ludmilla Zagalsky, die sich auf dem Tisch windet und sich verzweifelt aus ihren Ketten zu befreien sucht. In der Hand hält er vierzig Zentimeter brutalen Stahl, der einmal seinem Vater gehört hat und jahrelang verwendet worden war, die Rinder- und Schweinehälften zu zerlegen, die die Familie zum Großhandelspreis einkaufte. Später hatte Spider dramatischere Verwendungen dafür gefunden, und im Augenblick überlegt er, wie passend es doch wäre, Ludmilla damit ihre Grausamkeit heimzuzahlen und sie bei lebendigem Leibe Stück für Stück zu zerlegen. Aber das ist nicht der Plan, Spider. Halt dich an den Plan. Du hast Großes mit ihr vor; ruiniere doch nicht das Ganze wegen eines kleinen Malheurs. Spider wirft einen Blick auf das Blut, das immer noch aus der Wunde tritt. Die Knochen seines Daumens pochen vor Schmerz. Spider kann die einzelnen Abdrücke ihrer Zähne am Wundrand erkennen. Ludmilla kann die Angst in ihren Augen nicht verbergen. Sie will mit ihm sprechen, will um ihr Leben betteln, aber sie bekommt kein Wort mehr heraus. Ihre Stimmbänder sind weggeätzt. »Hurenschlampe!«, kreischt Spider und lässt den Hartholzgriff der Säge auf ihren Nasenrücken krachen. »Glaubst du etwa, du kannst mir wehtun und damit durchkommen?«, faucht er. »Du beschissene, arrogante kleine Hurenschlampe!« 139
Wieder schlägt er mit dem Holzgriff zu. Der Schmerz ist so durchdringend, dass sie sofort weiß, dass er ihr die Nase gebrochen hat. Die Tränen steigen ihr in die Augen, aber sie kann den Blick nicht von der Säge abwenden. »Schau dich doch mal an!«, sagt Spider angewidert. »Schau doch nur, wie dreckig und wertlos du bist.« Er tritt einen Schritt rückwärts und spuckt sie an. Erst in diesem Augenblick geht Ludmilla auf, dass sie sich selbst beschmutzt hat. Nicht in ihren schwärzesten Albträumen hätte sie so etwas je für möglich gehalten. Der Mann hat recht. Dieser verdammte, durchgeknallte Irre hat recht, irgendwann in den letzten fünf Minuten hat sie während ihres Kampfes die Kontrolle über sich verloren. Spider grinst sie höhnisch an. »Du bist ekelhaft. Du bist auch nicht besser als die anderen.« Ludmilla versucht, den Blick von ihm abzuwenden, ihre irrationalen Schamgefühle zu verbannen und sich daran zu erinnern, was dieses Tier ihr und all den anderen gefolterten und ermordeten Frauen vor ihr angetan hat. Spider grinst aus dünnen Lippen. »Das haben alle getan. Früher oder später bekackt und bepisst ihr dreckigen Schlampen euch alle. Was glaubst du wohl, warum ich dich ausgezogen habe?« Ludmilla möchte am liebsten schluchzen. Sie schaut weg und versucht sich wieder klarzumachen, wie kindisch es ist, sich so gedemütigt zu fühlen. Vergiss die Würde – dieser Kerl wird dich ausnehmen wie einen Fisch, die Säge da hat er nicht zum Spaß in der Hand, ganz egal, was er sagt, jeden Augenblick wird er dir die Kehle durchschneiden und deinen traurigen kleinen Arsch in Stücke schneiden. Spider ist jetzt ganz ruhig. Alles wieder unter Kontrolle. Es wird nichts Schlimmes passieren. Du hast alles im Griff.
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Er geht ans Kopfende, kniet sich hin und zurrt die lockere Kette um ihr rechtes Handgelenk fest. Ludmillas Herz beginnt zu rasen. Was macht er da? Er zieht die Ketten fest, aber warum? Ist es jetzt so weit? Wird er mich jetzt umbringen? Spider scheint ihre Angst bemerkt zu haben. »Ich werde dich umbringen, Sugar.« Er drückt ihr die Knochensäge an die Kehle, und die Zähne bohren sich schmerzhaft in ihre Haut. »Aber nicht damit und nicht jetzt.« Er zieht mit der Säge ganz leicht über ihre Kehle und kratzt ihr ein wenig die Haut auf, sägt aber nicht. »O nein, ich werde dich mit etwas viel Schmerzvollerem als dem hier umbringen.«
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KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
Rom Benedetta Albonetti war nicht die einzige Liebe in Massimos Leben. Neben seiner Frau hatte er noch eine zweite große Leidenschaft, und die war jung und sehr sexy. Sein blauer Maserati Ghibli Coupé, Baujahr 1997, war ein Überraschungsgeschenk gewesen. Der Wagen war ihm von einem römischen Bankier vermacht worden, den Massimo vor fast zwanzig Jahren bei einem bewaffneten Überfall gerettet hatte, der in einer sehr öffentlichen und sehr blutigen Schießerei endete. Massimo hatte das 250 Stundenkilometer schnelle Monster sechs Tage nach seinem fünfzigsten Geburtstag abgeholt, und er beabsichtigte, es bis zu seinem letzten Tag auf dieser Erde zu behalten, der, so witzelte Benedetta, bei seinem Fahrstil wohl eher früher als später kommen würde. Obwohl er sein Büro recht früh verlassen hatte, hatte er fast eine Stunde gebraucht, um das Stadtzentrum von Rom hinter sich zu lassen, und weitere zwanzig Minuten, bevor er die Gelegenheit hatte, in den sechsten Gang zu schalten und den Zwillingsturbo von der Leine zu lassen. Massimo wusste, wie blödsinnig es war, zwei Stunden in einem Wagen zuzubringen, der in weniger als sechs Sekunden von null auf hundert beschleunigen konnte, statt sich in eine lahme Stadtbahn zu setzen, die ihn in kaum einer halben Stunde nach Hause brachte, aber irgendwie war ihm das scheißegal. Er genoss jeden Augenblick in seinem Maserati. Für ihn war die tägliche Heimfahrt nach Ostia ans Meer keine Strapaze, sondern »Therapie«. Es war seine Art, die Arbeit hinter sich zu lassen, geografisch und mental. Normalerweise war er ein völlig anderer, wenn er vor 142
seinem bescheidenen Drei-Zimmer-Häuschen hielt, war nicht länger der Direttore, der in einer Welt voller Blutlachen, Abstriche und Schusswunden lebte. Diesmal jedoch klingelte eine Viertelstunde vor Ostia sein Autotelefon. Er ging ran. Als er Jack Kings Stimme erkannte, fuhr er gleich langsamer. »Wo steckst du gerade?«, fragte Jack, der das Motorengeräusch deutlich zu hören bekam, weil der Maserati missbilligend knurrte, nachdem Massimo zurück in den vierten Gang geschaltet hatte. »Auf dem Heimweg«, rief Massimo und fummelte an dem unbequemen Ohrstöpsel herum, den er nicht gern trug. »Benedetta und die Kinder fliegen nach Nizza zu ihrer Schwester und ein paar Freundinnen. Ich habe versprochen, sie zum Flughafen zu bringen, deshalb hab ich heute früher Feierabend gemacht.« »Ich hoffe, es geht ihnen gut«, sagte Jack. »Nancy hat nach ihnen gefragt.« »Grazie«, antwortete Massimo. »Also hast du deiner bezaubernden Gattin alles über unser Gespräch erzählt?« »Zum größten Teil«, antwortete Jack. »Die Einzelheiten hab ich ihr erspart. Sie muss nicht alles wissen. Du weißt ja, welche Sorgen sie sich sonst macht.« »Allerdings«, sagte Massimo. »Und willst du uns nach eurem Gespräch immer noch behilflich sein?« »Würde ich sonst anrufen? Wo und wann brauchst du mich?« »In Rom. Sobald du kannst.« »In Ordnung.« »Wann bist du da, Jack?« Jack dachte einen Augenblick nach. »Morgen noch nicht. Ich brauche noch einen Tag, um alles zu regeln und sicherzugehen, dass Nancy mit dem Hotel und allem zurechtkommt. Wie lange, glaubst du, brauchst du mich?«
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Massimo fluchte laut und legte sich auf die Hupe. Ein dicker alter Ford schien große Freude dabei zu haben, ihn zu überholen und den Maserati dann beim Einscheren zu schneiden. »Scusa, auf der Straße sind nur Idioten unterwegs«, sagte Massimo und fügte dann hinzu: »Ich kann mir dich irgendwie nur schwer als Hotelier vorstellen, Jack. Na ja, du solltest vielleicht eine Woche einplanen. Ein paar Tage Aufenthalt hier in Rom, und dann wirst du sicher nach Livorno wollen und dort Fragen stellen.« Jack überlegte kurz. »Klingt doch ganz gut, aber viel Spielraum habe ich nicht. Am Achten muss ich wieder hier sein, das ist unser Hochzeitstag. Nancy macht Parmaschinken aus mir, wenn ich dann nicht zurück bin.« »Non c’è problema«, sagte Massimo. Er musste den Wunsch unterdrücken, den alten Ford zu verfolgen und ihn seine Abgase riechen zu lassen, um den Kerl dann zum Anhalten zu zwingen und ihm seinen Polizeiausweis unter die Nase zu halten. »Hast du einen Dolmetscher für mich? Mein Italienisch ist nicht existent, wie du weißt.« »Orsetta wird dich begleiten. Ihr Englisch ist doch gut genug, oder?« Jack zögerte. Es wäre ihm lieber, wenn sie nicht dabei war, aber er sah keine Möglichkeit, das vernünftig zu erklären. »Ja, ihr Englisch ist hervorragend.« »Und bellissima ist sie auch, oder?«, sagte Massimo schelmisch. »Lass das, Massimo, du kennst mich doch. Ich bin treu, bin es immer gewesen und hoffe, es auch zu bleiben.« »Perfetto«, sagte Massimo. »Geht mir auch so, aber Orsetta würde selbst den Heiligen Vater zum Sünder machen.« »Das wäre jedenfalls eine Schwierigkeit mehr im Leben, auf die ich gut verzichten kann«, sagte Jack. »Also, zurück zum Thema. Die Unterlagen, die sie mir gegeben hat, waren zwar
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schon sehr nützlich, aber ich könnte noch ein paar zusätzliche Details gebrauchen.« »Wir werden dich umfassend einweisen, wenn du in Rom bist.« »Prima. Außerdem brauche ich den vollständigen Autopsiebericht. Das ist jetzt nicht abwertend gemeint, aber eure Gerichtsmedizin entspricht nicht ganz amerikanischem Standard. Vielleicht sollten wir den zuständigen Arzt, der Cristina Barbujani untersucht hat, zu einer Befragung bitten. Kannst du bitte überprüfen, ob er erreichbar ist und mich bald aufsuchen kann?« »Der Pathologe ist eine Pathologin«, antwortete Massimo. »Ich sorge dafür, dass sie dir zur Verfügung steht.« Zögernd fügte er hinzu: »Es gibt noch – wie soll ich sagen – ein paar weitere Details post mortem, die in dem Bericht, der dir vorliegt, nicht erwähnt werden.« Jack erinnerte sich, dass die Unterlagen, die er eingesehen hatte, an die höchste Stelle gegangen waren, direkt ins Privatbüro des Premierministers. »Massimo, die Dokumente sind an Prodi persönlich gegangen. Willst du etwa andeuten, dass es etwas gibt, was du ihm vorenthältst? Oder willst du mir etwas verschweigen?« Massimo Albonetti verzog das Gesicht. »Beides, Jack. Tut mir leid, aber es handelt sich um etwas, was ich euch beiden zunächst vorenthalten musste. Bislang weiß nur eine Handvoll Leute, um was es geht. Tut mir leid, ich kann es dir auch nicht einfach am Telefon sagen. Ich verrate es dir, sobald du hier bist, versprochen.« Damit verabschiedete er sich und legte auf, bevor Jack nachhaken konnte. Jack glaubte für einen Sekundenbruchteil noch gehört zu haben, wie der Maserati einen Gang heruntergeschaltet wurde, um dann laut brüllend zu beschleunigen.
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KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Spider verlässt den Keller und geht ins Schlafzimmer, um seine verletzte Hand zu versorgen. Er schließt den Arzneischrank unter dem Waschbecken im angrenzenden Bad auf, dessen Inhalt so manche Apotheke vor Neid erblassen ließe. Dann geht er seinen Bestand an Lokalanästhetika durch: Procain, Lidocain und Prilocain. Für diese Mittel hat er normalerweise finsterere und erfreulichere Verwendung. Beschafft hat er sie sich über eine von ihm gegründete fiktive PharmaHandesgesellschaft, die es ihm ermöglicht, mit einer ganzen Reihe von Online-Auktionshäusern Geschäfte zu machen, die Bestände aus Geschäftsauflösungen verscherbeln und regelmäßig Medikamente und medizinische Instrumente und Geräte aus Überproduktionen versteigern. Dabei war er auf mehr als genug Verkäufer gestoßen, die seine Bestellungen nur zu gern entgegennahmen und die Ware lieferten, ohne jemals nach seiner medizinischen Zulassung zu fragen. Spider nimmt die 50-ml-Flasche mit Lidocain, sein bevorzugtes Lokalanästhetikum, heraus. Er entfernt die provisorische Aderpresse und wirft sie in die Duschwanne. Später wird er sie zusammen mit der Kleidung, die er gerade trägt, verbrennen, weil beides mit seinem Opfer in Kontakt gewesen war. Er tupft die Wunde mit einem sterilen Tuch ab und spritzt sich das Mittel in die Haut neben der Bisswunde. Schon bald entspannen sich Nerven und Muskeln, und Spider kann in aller Ruhe die Wunde begutachten. Die Schlampe hat ihm eine ziemliche Verletzung zugefügt, die so tief ist, dass sie nicht von allein heilen wird. 146
Spider schaut wieder in den Arzneischrank und zieht eine Schachtel mit wundverschließendem Sterilpflaster heraus. Mit einer Hand ist es nicht ganz einfach, aber er lässt sich Zeit und verschließt die Wunde ordentlich mit den Pflasterstreifen. Dann legt er eine elastische Binde an und fixiert sie mit einem weiteren Pflasterstreifen. Er schließt den Arzneischrank wieder ab, kehrt ins Schlafzimmer zurück und setzt sich auf die Kante seines Sargbetts. Er streicht über die Hand, überprüft den Verband und schaltet schließlich den kleinen tragbaren Fernseher ein, der neben ihm steht. Das Bild baut sich knisternd auf, aber es ist nur grauer Nebel zu sehen. Auf dem ersten Kanal, den er einschaltet, sieht man ein Schwarz-Weiß-Bild von der Straße vor seinem Haus. Der Bildschirm ist viergeteilt. Die oberen beiden Bilder zeigen Weitwinkeleinstellungen der beiden Zufahrten zum Haus, aus Osten und Westen. Auf den unteren beiden sind Bilder von der Garage und der Haustür zu sehen. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass Kopf und Schulter etwaiger Besucher zu sehen sind. Außerdem sind die Kameras ferngesteuert und können jeder Bewegung folgen. Spider betätigt die Fernsteuerung, und wieder füllen vier Bilder den Monitor. Kamera eins zeigt den Keller in einer Weitwinkeleinstellung. Die schwarze Folie an Wänden, Decke und Boden haben die Lichtmenge so weit reduziert, dass man nicht erkennen kann, wo die eine Fläche endet und die andere beginnt. Es sieht dadurch so aus, als würde der reglose Körper von Ludmilla Zagalsky mitten im Raum schweben. Von allen Einstellungen mag Spider diese am liebsten. Er stellt sich vor, wie sie für immer da in der vollkommenen, nie enden wollenden Dunkelheit des Nachlebens schwebt – bis in alle Ewigkeit sein. Die nächste Einstellung stammt von einer Deckenkamera, die sich zoomen und dank einer speziellen Halterung um 360 Grad drehen lässt. Die dritte und die vierte Kamera hängen viel tiefer. 147
Kamera drei befindet sich hinter Ludmillas Kopf und blickt an ihrem Körper entlang. Kamera vier schaut von der gegenüberliegenden Seite in gleicher Höhe wie Kamera drei an ihrem linken Fuß vorbei über ihren Körper. Mit der Fernsteuerung kann Spider seine tödliche Show dirigieren. Er verfügt über jede nur denkbare Kombination an Weitwinkelaufnahmen, Naheinstellungen, Zooms, Schwenks und Aufsichtsaufnahmen von seinem Opfer. Er zoomt auf Ludmillas Gesicht. Das Bild zeichnet weich, bis der Autofokus einsetzt und einen Augenblick lang die korrekte Fokussierung und Belichtung berechnet. Mit der Fernsteuerung lassen sich auch Einzelbilder digital abspeichern, um sie als Digi-Prints ausdrucken zu können. Spider beobachtet sie eine Weile aufmerksam. Er versucht, ihre Gedanken zu lesen, versucht, sich vorzustellen, was ihr durch den Kopf geht, während sie so nackt und verwundbar in fast völliger Dunkelheit daliegt. Sie blinzelt nicht, fällt ihm auf, ihr Körper wirkt nicht mehr so von Angst geschüttelt wie zuvor. Wahrscheinlich ist sie im Geiste anderswo und versucht in einer Art kruder Meditation, die Realität dessen auszublenden, was mit ihr passiert. Beziehungsweise bald passieren wird. Spider macht ein paar Aufnahmen, die später für ihn noch angenehm und nutzbringend sein werden, wie er weiß, dann schaltet er das Monitorbild auf seine Lieblingseinstellung der Kamera eins um. Das Lidocain macht ihn matt und schläfrig. Das wird zwei, drei Stunden anhalten. Er hält die verletzte Hand in der anderen und legt sich auf die Seite in sein Sargbett. Das Bett fühlt sich gut an. Etwas Ruhe wird ihm wohl tun. Er streckt die unverletzte Hand aus und streicht über den Bildschirm neben sich. Sie sieht so wunderschön aus dort unten. So wunderbar friedlich. So todesähnlich. 148
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
West Village, Soho, New York Howie Baumguards absolute Lieblingsfilmszene stammte aus Pulp Fiction. Es ist die Szene, in der Marsellus und Vincent in der Wohnung des renitenten Boxers Butch warten und Vincent wie üblich aufs Klo geht, und dann taucht Butch unerwartet mit einer Mac-10 in der Tür auf und nietet den Killer um, dem noch die Hose um die Füße baumelt. Wie die meisten Jungs, selbst die Mittdreißiger, stand Howie auf Klowitze. Aber, so erzählt er es allen, was ihn an dieser Szene am meisten umhaut, war der blanke Realismus. Als Polizist, der auch schon auf dem Klo Tote gefunden hat (einen übergewichtigen Junkie und einen alten Mafioso mit Herzproblemen), gefällt ihm die Tatsache, dass Tarantino »den Mumm hat, es uns zu zeigen, wie es wirklich ist«. So war es also durchaus passend, dass Howie gerade seine allmorgendliche Sitzung machte, auf die Minute pünktlich, als sein Handy klingelte. Normalerweise hätte Howie nur einen kurzen Blick aufs Display geworfen, um dann zu einem günstigeren Augenblick zurückzurufen. Da dieser Anruf jedoch eine italienische Vorwahl hatte, ging er sofort dran. »Wohnsitz der Baumguards, wie zum Teufel kann ich Ihnen helfen?« Erst musste Jacks Lachen über die Leitung rollen, bevor er antworten konnte. »Na, Mr. B, schön, Sie so früh und munter anzutreffen. Wie geht’s denn so?« »Wer zuerst kommt, kriegt auch die schöne Müllerin, du kennst mich doch, Boss.« 149
Jack ließ die Sache mit dem »Boss« unerwidert; wahrscheinlich hatte der große Kerl das so oft gesagt, dass er es sich einfach nicht abgewöhnen konnte. »Na, wenn du deine Cornflakes und die schöne Müllerin erledigt hast, kannst du mir ja verraten, warum du gestern bei meiner mir Angetrauten angerufen hast? Läuft zwischen euch beiden was? Hat sie dich endlich in dein hartes Herz getroffen?« »Deine Frau würde nur auf einem einzigen Weg in mein Herz eindringen wollen, und das wäre sauber durch den Brustkorb.« Sie mussten beide lachen. Dann wurde Jacks Stimme nüchterner. »Themenwechsel, Kumpel. Nancy meinte, dein Anruf hätte ernst geklungen.« Howie schluckte das letzte Lachen herunter. »Ja, es ist was Ernstes. Mann, wir zwei haben ja schon ziemlich schräge Sachen erlebt, aber bei dem, was ich dir zu berichten habe, wird selbst dir die Spucke wegbleiben.« »Bleib dran«, unterbrach ihn Jack, als Nancy mit einem Silbertablett hereinkam, auf dem das Essen mit einer schneeweißen Serviette zugedeckt war. Jack schaute auf und hielt das Telefonmikro zu. »Danke«, sagte er fast liebevoll, als er an den Streit dachte, den sie gerade gehabt hatten. Nancy erwiderte nichts darauf, stellte das Tablett stumm aufs Bett und presste sich im Hinausgehen nur ein trockenes Lächeln ab. »Jack, bist du noch da?«, rief Howie aus mehreren tausend Kilometern Entfernung. »Ja«, sagte Jack. »Sorry, Nancy hat mir gerade was zu essen gebracht. Wo waren wir stehen geblieben?« »Erinnerst du dich noch an Sarah Kearney, das Opfer des BRKillers, das unten in Georgetown begraben liegt?« »Na klar«, antwortete Jack. Er zog die Serviette weg und sah die Schüssel mit Salat an – bestehend aus Rucola, Tomatenscheiben und einem saftigen Mozzarella fior di latte –, den Paolo wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden zubereitet hatte. 150
»Sie stammte doch aus der Gegend, oder? Keine Angehörigen, aber wie ich gelesen habe, hat die Gemeinde sich um ihre Beerdigung gekümmert.« »Ja, stimmt«, sagte Howie. »Aber so wie es im Moment aussieht, hätten sie sich das Geld sparen können. Irgend so ein krankes Arschloch, vielleicht der BR-Killer selber, war da und hat sie ausgebuddelt.« Jack gefror das Blut in den Adern. »Bist du dir da sicher? Waren es nicht einfach nur ein paar Vandalen, ein paar Junkies aus der Gegend?« »Nein. So viel Crack kann man sich gar nicht reinziehen, um auf so etwas zu kommen wie dieser Irre. Er hat den Sarg ausgebuddelt, hat die Knochen der Ärmsten hochgeholt und sie an den Grabstein gelehnt.« »Extra drapiert?«, fragte Jack und grübelte, ob der BR-Killer das FBI damit ärgern wollte, weil er davon ausgehen konnte, dass die Presse früh genug auftauchen und Fotos schießen würde. »Sieht danach aus. Ein paar Jungs, die angeln gehen wollten, haben sie entdeckt.« Jack schob eine Tomatenscheibe mit der Gabel in der Schüssel herum. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. »Und warum zum Teufel sollte er so was tun?« Howie zuckte die Achseln. Das hatte er sich auch schon gefragt. »Keine Ahnung. Wir wissen ja, dass diese Arschlöcher es toll finden, an ihre Tatorte zurückzukehren, am Grab ihrer Opfer zu sitzen und so weiter, aber Knochen ausbuddeln, also das ist zumindest für mich was vollkommen Neues.« Jack war nicht davon überzeugt, dass es dabei um den sexuellen Kick gegangen war. »Vielleicht will er unsere Aufmerksamkeit wecken?« »Na, das ist ihm dann ja auch prima gelungen«, sagte Howie trocken.
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»Kannst du dich noch an Massimo Albonetti erinnern?«, sagte Jack. Er wollte kurz den italienischen Fall erwähnen, bei dem er mithelfen sollte. Howie musste einen Augenblick nachdenken. »Ach ja, doch. Dieser Polizist aus Rom, ist zum Chef von deren Profilern befördert worden. Wart ihr beide nicht ’ne Weile dicke Freunde?« »Ja. Ich mag ihn, er ist ein anständiger Kerl. Er hat mich eben erst um Mithilfe bei einem Fall gebeten, der mehr als nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der Arbeit des BR-Killers aufweist.« »Ich hoffe, du machst Witze«, sagte Howie, der genau wusste, dass dies nichts war, worüber Jack je Witze reißen würde. »Schön wär’s«, sagte Jack. »Entlang der italienischen Westküste sind Teile einer Frauenleiche gefunden worden. Nach der ersten Akteneinsicht zu schließen, gibt es sicherlich genug Parallelen, um den BR-Killer mit in Betracht zu ziehen.« »Die Hand?« »Die Hand«, bestätigte Jack. »Es fehlt die linke Hand, und die Schnitte sind nach demselben Muster. Aber da ist noch mehr. Die Opferbeschreibung passt zu denen in unserer Serie – dunkles Haar, Mitte zwanzig, etwas kleiner als der Durchschnitt, das Übliche eben.« Howie verzog das Gesicht und versuchte abzuwägen, welche Bedeutung ein Mord des Black-River-Killers auf einem anderen Kontinent haben könnte. »Warum zum Teufel sollte der BRKiller in Italien morden und gleichzeitig in den USA mit der Leiche eines früheren Opfers herummachen?« »Kann es nicht sein, dass es sich hier bei uns um einen Nachahmungstäter handelt?«, sagte Jack. Er warf einen Blick auf die Salatschüssel und wollte den Mozzarella gerade probieren, da fiel ihm ein, dass das Verb mozzare »abschneiden« bedeutete. »Kann ich mir kaum vorstellen«, antwortete Howie. »Da müsste man glauben, dass der Friedshofszwischenfall in South Carolina und dein Fall in Italien nichts miteinander zu tun haben 152
und nur rein zufällig zu fast demselben Augenblick passiert sind.« »Wahrscheinlich ist es andersrum«, sagte Jack. »Wir müssen davon ausgehen, dass der BR-Killer jetzt auf zwei Kontinenten arbeitet.« Plötzlich hämmerte jemand mit den Fäusten gegen die Badezimmertür. »Howie, willst du den ganzen Tag da drinbleiben?«, brüllte Carrie. »Ich muss mal da rein, bevor ich zu meinem Pilates-Kurs gehe.« »Du bist doch nicht im Bad, oder?«, sagte Jack. »Sag mir, dass du nicht das tust, was ich jetzt denke, dass du es tust.« »Ich war gerade beschäftigt, als du angerufen hast.« »O Mann, bitte keine Details!«, sagte Jack im angewidertsten Ton, den er herausbrachte. »He, du hast gefragt. Wie du weißt, kann ich dich einfach nicht anlügen.« »Glaub mir, Howie, in solchen Augenblicken ist eine Lüge ganz in Ordnung.« »Lässt du mich jetzt endlich rein?«, brüllte Carrie wieder. »Einen Moment, Jack«, sagte Howie. Er ließ das Handy sinken und rief: »Carrie, kannst du bitte verdammt noch mal für eine Minute den Schnabel halten. Ich hab Jack in Italien an der Strippe, und außerdem sitze ich auf dem Thron.« »Ich fass es einfach nicht!«, erhielt er zur Antwort. Carrie hämmerte noch einmal gegen die Tür, bevor sie davonstürmte. Howie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder. »Tut mir leid, Mann, aber hier gibt’s Ehezoff. Wo waren wir?« »Verbindungen«, antwortete Jack. »Wir sprachen gerade darüber, ob es eine Verbindung zwischen Kearney, dem BRKiller und dem Mord in Italien gibt.« »Ich bin mir sicher, dass unser Mann an Kearneys Grab war«, bekräftigte Howie noch einmal. »Sicher wie in ›ich habe da so ein Bauchgefühl‹ oder sicher wie ›kriminaltechnisch sicher‹?« 153
»Von beidem ein bisschen«, antwortete Howie. »Er hat ihr den Schädel vom Rumpf getrennt und mitgenommen.« »Wie bitte?« »Er hat ihr den Schädel sauber abgetrennt. Und bevor du weiterfragst: Wir wissen zwar noch nicht genau, womit er es gemacht hat, aber es war definitiv eine Säge, nicht nackte Gewalt oder ein stumpfes Werkzeug.« Jack stellte sich Sarah Kearneys geschändete Leiche vor und spürte, wie ihn die kalte Wut packte. »Köpfe sind doch nicht sein Stil. Okay, er hat auch früher schon Leichen enthauptet. Verdammt, er hat schon jedes Körperteil abgetrennt und jeden bekannten Muskel verstümmelt, aber das hatte immer funktionale Gründe, keine emotionalen, er wollte die Opfer beseitigen, nicht Schädel sammeln. Es ging ihm immer nur um die linke Hand, um nichts anderes. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es da wirklich eine Verbindung gibt.« »Es gibt sie, Jack, glaube mir.« »Fahr fort«, sagte Jack, der spürte, dass er noch nicht alles wusste, und gleichzeitig erkannte, dass er mit aller Macht sein eigenes Gefühl zu unterdrücken suchte, dass es durchaus eine Verbindung geben könnte. »Wir haben den Kopf. Er hat ihn uns mit der Post geschickt.« »Dem FBI?«, sagte Jack. »Er hat ihn an unser New Yorker Büro adressiert. Die Jungs am International Airport in Myrtle haben das Päckchen routinemäßig herausgefischt und durchleuchtet.« »Damit dürfte er gerechnet haben«, bemerkte Jack. »Keine Fingerabdrücke, nehme ich an, nichts vom AFIS?« »Sauberer als die Unterwäsche des Papstes.« »Trotzdem immer noch nicht zwingend«, sagte Jack und spielte weiter den Advocatus Diaboli. »Ich sehe ein, dass Sarah Kearneys Grab in besonderer Verbindung zum BR-Killer steht. Aber eine Leiche auszugraben entspricht überhaupt nicht seiner üblichen Vorgehensweise. Schädel abzutrennen gehört nicht zu 154
seinem bisherigen Profil, und eine direkte Kontaktaufnahme mit dem FBI ist ganz bestimmt nicht sein Stil.« Howie wusste, dass man sich am besten nicht mit Jack stritt, wenn er gerade etwas durchdachte. »Du könntest recht haben«, räumte er deshalb ein. »Allerdings gibt es da noch eine Sache, die dich deine Meinung vielleicht noch ändern lässt. Wer immer es war, der BR-Killer oder nicht, er hat den Schädel von Sarah Kearney an dich geschickt. Er hat ihn in einen Karton gelegt und ihn an Jack King, c/o FBI, New York, adressiert. Jetzt verrate mir mal, Jack, warum sollte irgendein x-beliebiger Irrer den abgetrennten Schädel eines der Opfer ausgerechnet an dich schicken?«
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KAPITEL DREISSIG
Marine Park, Brooklyn, New York Als Ludmilla Zagalsky seine Schritte sich auf der hölzernen Kellertreppe nähern und den Schlüssel im Schloss der schweren Tür am unteren Ende der Treppe klappern hört, bekommt sie es wieder mit der Angst zu tun. Es ist sechs Stunden her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hat, doch da sie keine Uhr hat, auf die sie schauen kann, kommt es ihr noch länger vor. Sie ist schon dabei, das Gefühl für Tag und Nacht zu verlieren. Vor Erschöpfung ist sie schließlich in einen unruhigen Schlaf gesunken, aber das hat den Schmerz ihrer gebrochenen Nase, ihres verätzten Halses und schmerzenden Körpers kaum gelindert. »Hallo, Sugar«, sagt Spider fröhlich, fast so, als würde er eine alte Freundin begrüßen und nicht mit einer Entführten reden, die gerade um ihr Leben gekämpft hat. Ludmilla bemerkt den Verband an seiner Hand, der ein wenig durchgeblutet ist. In der anderen Hand hält er einen VanilleMilchshake und eine Zeitung. Spider sieht, wie ihre Blicke über ihn hin und her huschen. »Ich war draußen«, erklärt er. »Ich brauchte mal ein bisschen frische Luft, um mich nach unserem Zwischenfall wieder zu beruhigen. Ich habe dir einen Milchshake mitgebracht; ich dachte, du möchtest vielleicht was Kühles für deinen Hals.« Er legt die Zeitung auf den Boden, als wollte er damit einen Fleck zudecken, und stellt den Becher auf die Tischkante. »Ich werde jetzt die Ketten etwas lockern, damit du dich aufsetzen und trinken kannst«, sagt Spider und fügt dann mit einer Prise schwarzem Humor hinzu: »Aber am besten nicht 156
ganz so locker wie letztes Mal, hm? Der alte Spider hat seine Lektion gelernt. Leider wirst du nie wieder so weit freikommen, dass du noch einmal die Hand beißen kannst, die dich füttert.« Ludmilla platzt vor Schmerzen fast der Schädel, als er sie aufsetzt; das Blut fließt wieder durch ihre Adern. »Vorsichtig trinken«, ordnet Spider an, biegt den Strohhalm zu ihr und führt ihn an ihre Lippen. Ludmilla saugt kräftig daran. Die eiskalte Flüssigkeit gleitet sanft durch ihre wunde Kehle. Sie trinkt weiter, und plötzlich knurrt und grummelt ihr eingefallener Bauch vor Überraschung, endlich doch noch etwas zu essen zu bekommen. »Gut, gut«, sagt Spider und nimmt ihr den Milchshake fort. »Und jetzt legen wir dich wieder hin.« Er drückt ihre Stirn nach hinten und beugt sich unter den Tisch, um die Ketten wieder festzuzurren. Ludmilla geht es nach dem Trinken gleich viel besser, und einen Augenblick lang erlaubt sie sich einen Anflug von Optimismus. Er hat dich gefüttert, Lu. Wenn er dich füttert, heißt das, dass er dich am Leben lassen will, wenigstens noch für eine Weile. Spider beugt sich wieder über sie und zieht an den Ketten, um sich zu vergewissern, dass sie stramm sind. »Nach dem Milchshake fühlst du dich bestimmt besser. Er wird dich für eine Weile beruhigen – während ich fort bin.« Fort? »Du hast richtig gehört«, sagt Spider, als er ihren Blick bemerkt. »Ich werde dich jetzt verlassen.« Ludmilla macht ein verwirrtes Gesicht. Mich verlassen? Wo will er hin? Für wie lange? Warum? Spider nähert sich ganz nah ihrem Gesicht und zeigt mit einem Finger nach oben. »Schau genau zur Decke, da siehst du eine Kamera.«
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Ludmilla starrt an die schwarze Decke und entdeckt schließlich die Kameralinse, über der ein roter Punkt blinkt, wie das Auge einer Ratte, die auf sie herabschaut. Spider dreht ihren Kopf zur Seite. »Und da drüben ist noch ein kleines Kameraauge und beobachtet dich.« Er lässt sie los. »Im ganzen Zimmer befinden sich Kameras und beobachten dich ununterbrochen. Und jetzt rate mal! Wo immer ich auch bin, kann ich dich beobachten. Ist die Technik nicht etwas Wunderbares?« Dann zieht er ein kleines schwarzes Kästchen aus der Tasche, viermal so klein wie ein Handy. Ludmilla sieht ein blaues Licht auf dem Kästchen, darunter drei verschiedenfarbige Knöpfe wie die für die Farbeinstellungen an einer Fernseh-Fernbedienung. »Das hier ist ein Funkauslöser. Wenn ich hier verschwinde, werde ich außerhalb des Kellerraums mehrere druckempfindliche Minen aktivieren. Solltest du zu fliehen versuchen oder sollte irgendjemand während meiner Abwesenheit einzudringen versuchen, dann werden diese Dinger hochgehen, und das ganze Haus verwandelt sich innerhalb von Sekunden in einen Feuerball. Und was noch schöner ist, ganz gleich, wo ich mich aufhalte: Ich kann eine Nummer wählen und auf diesen kleinen roten Knopf hier drücken, und Bumm! Bye, bye, Sugar.« Ludmilla spürt, wie ihr das Blut aus ihrem sowieso schon blassen Gesicht weicht. »Ich hoffe, der Milchshake war gut, Sugar, das war nämlich das Letzte, was du jemals bekommen wirst. Bald wirst du Hunger bekommen. Dann wirst du erleben, was Hungern bedeutet. Nach einer gewissen Zeit wird sich dein Körper buchstäblich selbst verzehren. Und die ganze Zeit über werde ich dir zuschauen, bis zu deinem letzten Atemzug.«
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TEIL DREI DIENSTAG, 3. JULI
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KAPITEL EINUNDDREISSIG
Rom Keines der Büros roch derart nach kaltem Zigarettenrauch wie jenes von Massimo Albonetti, Chef der Direzione Investigativa Psicologia Criminale Centrale, einer Eliteabteilung der nach dem Vorbild des berühmten National Center for the Analysis of Violent Crime des FBI in Quantico gegründeten Unità Analisi Crimini Violenti. In Vorbereitung auf Jack Kings Ankunft drängten sich in Massimos Nikotinhöhle Orsetta, Fallkoordinator Benito Patrizio und Analyse-Assistent Roberto Barcucci. Als Aufwärmübung für die Zusammenarbeit mit Jack unterhielten sie sich auf Englisch. Von Massimos Schreibtisch waren sämtliche Papiere und Unterlagen verschwunden, die nichts mit dem Fall zu tun hatten; übrig geblieben waren nur ein lederbezogener dunkelgrüner Tintenlöscher, ein mit blassen Linien und hartem Rücken versehener Notizblock, ein billiger Dienstkugelschreiber und ein Schwarz-Weiß-Foto von Cristina Barbujani, die ihn direkt anzustarren schien. Massimo drückte auf einen Klingelknopf und sprach mit seiner Sekretärin Claudia, die sein Büro von außen wie ein Pitbull bewachte. »Claudia, bitte bringen Sie Saft, Mineralwasser und für mich einen doppelten Espresso. Grazie.« Er schaltete die Sprechanlage aus und berührte Cristinas Foto sanft, bevor er sich an sein Team wandte. »Orsetta, Jack wird im Grand Hotel Plaza in der Via del Corso absteigen. Er hat ein Zimmer für zwei Nächte. Bitte beauftragen Sie die Verwaltung, eine dritte Nacht zu reservieren. Lassen Sie ihn mit einem Zivilwagen am Bahnhof abholen, und bringen Sie ihn ohne 160
Umwege hierher. Er sollte gegen zehn Uhr eintreffen.« Massimo dachte noch einmal über den Wagen für Jack nach. »Schicken Sie ihm nicht eine Eule, sondern eine Limousine mit Chauffeur. Ich will, dass er bei unserem vermaledeiten Verkehr frisch bei uns ankommt. Lassen Sie ihn in der Früh von demselben Chauffeur mit demselben Wagen ins Büro bringen. Am Abend werde ich ihn wahrscheinlich selbst am Hotel absetzen.« »Ich fahre auf dem Heimweg in seine Richtung, Direttore«, sagte Orsetta, die diesmal eine schlichte figurbetonte Hose und eine weiße Baumwollbluse mit breitem Kragen trug. »Ich kann ihn gern dort absetzen.« Massimo betrachtete sie und überlegte, ob er sie ein bisschen aufziehen sollte. Es war nur normal, dass sie von jemandem wie Jack King mit seinem guten Ruf fasziniert war. Wahrscheinlich hatte er sogar selbst diese Faszination geweckt, indem er in so mancher Fallbesprechung Jacks Abhandlungen zitiert hatte. »Das ist überaus freundlich von Ihnen, Orsetta. Ich werde daran denken und im Bedarfsfall darauf zurückkommen«, sagte er neckisch. Orsetta wurde leicht rot, während Massimos braune Augen ihre Gedanken zu scannen schienen. Ja, zum Teufel, sie hatte beschlossen, dass Jack King etwas Besonderes war, und sie hoffte, dass bei ihrer nächsten Begegnung etwas Besonderes geschehen würde. »Roberto, sind alle Übersetzungen fertig?«, fragte der Direttore. »Mein alter Freund Jack ist Amerikaner. Er spricht kaum Englisch, geschweige denn Italienisch.« »Sì, Direttore«, antwortete der Assistent lachend. Er wirkte noch so jung und frisch im Gesicht, dass Massimo kaum glauben konnte, dass er sich überhaupt schon rasierte. Eine Wohltat, die er so lange wie nur möglich genießen sollte. »Wir haben Zusammenfassungen der Hauptzeugenaussagen angefertigt, einen zusammenfassenden Bericht der bisherigen Unternehmungen und ihrer Ergebnisse, dazu einen Kurzbericht 161
von der Gerichtsmedizin unter Berücksichtigung der Boden- und Stoffanalyse. Wir untersuchen noch Spuren an den schwarzen Plastiksäcken, in denen die Leichenteile gefunden wurden. Das dauert noch eine Weile, wir sind im Augenblick etwas unterbesetzt.« »Machen Sie Dampf, Roberto. Wenn Sie mehr Leute brauchen, bitten Sie jetzt darum, nicht in zwei Wochen, wenn es zu spät ist.« Massimo starrte ihn an, damit seine Lektion auch recht verstanden wurde. »Ich brauche noch zwei Mann«, erwiderte Roberto schnell. »Vielleicht jeder drei Schichten?« »Die sollen Sie kriegen, junger Kollege.« Massimo lächelte generös. »Was noch?« Roberto räusperte sich. »Wir haben Übersetzungen von den Zusammenfassungen zu Fingerabdrücken und DNS, allerdings gibt es keinerlei Übereinstimmung mit irgendeinem Vorbestraften.« »Dann sollten wir erst einmal weitersuchen«, sagte Massimo und verfluchte insgeheim die Tatsache, dass dem italienischen gerichtsmedizinischen Dienst, anders als dem FBI, keine vollintegrierte DNS-Datenbank zur Verfügung stand. Der Dienst verfügte über das CODIS, das eigene DNS-Index-System, das schon 1999 aufgebaut wurde, doch die Polizia di Stato, die Carabinieri und viele andere öffentliche und private Körperschaften betrieben weiter ihre separaten Datenbanken, die dem CODIS nicht angeschlossen waren. Zudem wurden die einzelnen Datenbanken derart eifersüchtig gehütet, dass Massimos Einheit immer wieder an Staatsanwaltschaft und Richter appellieren musste, den Eigentümern die Anordnung zu erteilen, Daten freizugeben. Massimo versuchte, diesen Wirrwarr um die DNS-Daten aus seinen Gedanken auszuklammern, und drängte weiter: »Wir sind bisher davon ausgegangen, dass dieser BR-Killer Amerikaner ist, dass er allein Problem des FBI ist und auch deren Problem 162
bleiben würde. Ein Mord hier in Italien stellt das alles auf den Kopf. Nun ist es auch unser Problem. Mein Problem, Ihr Problem, unser Problem.« Er ließ seinen Blick über die Runde wandern und schaute jeden einzelnen von ihnen an. »Haben Sie mich alle verstanden?« »Sì, Direttore«, bekamen die Anwesenden leicht entschuldigend, aber keineswegs einstimmig heraus. »Warum also Italien?«, fuhr Massimo fort, massierte seinen großen kahlen Kopf und wartete auf Antworten. »Na los, lassen Sie mich an Ihren Ideen teilhaben.« Roberto wagte es als Erster: »Er ist hierhergezogen, er lebt jetzt hier. Er ist aus beruflichen Gründen in Italien.« »Möglich«, sagte Massimo. »Weiter.« »Urlaub«, mutmaßte Benito, der Koordinator. »Auch Serienmörder machen mal Urlaub. Vielleicht ergab sich dabei die Gelegenheit.« »Weiter.« »Vielleicht war Cristina Barbujani in Amerika in Urlaub, und er hat sie hier besucht«, schlug Orsetta vor. »Überprüfen«, sagte Massimo. »Fragen Sie bei der Familie nach, wo sie Urlaub gemacht hat, und ob es irgendwelche ausländische Bekanntschaften gibt, von denen sie gesprochen hat.« »Was, wenn sich herausstellt, dass der Serienmörder Italiener ist?«, sagte Roberto. »Vielleicht stammt er ja ursprünglich aus Rom, ist wie so viele Italiener nach Amerika gezogen und hat nun nach einer langen und illustren Karriere als Mörder in Amerika beschlossen, nach Hause zurückzukehren.« »Und warum sollte er dann hier morden?«, fragte Massimo. »Ich könnte ja verstehen, wenn ein Mörder, vielleicht italienischer Abstammung, in seine Heimat zurückkehrt, um endlich damit aufzuhören, um mit dem Morden Schluss zu machen und seine letzten Jahre in der Sonne zu verbringen, schön weit weg
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von allen, die seine Verbrechen untersuchen. Aber hier morden? Ein Hund scheißt doch nicht ins eigene Körbchen.« »Mein Hund scheißt überall hin, auch in sein Körbchen«, widersprach ihm Benito und strich über sein struppiges Ziegenbärtchen, von dem Massimo gern gesehen hätte, dass er es abrasierte. »Guter Punkt«, sagte Massimo. »Wir sollten unsere Überlegungen nicht vor der Tatsache verschließen, dass dieser Mann eine Ausnahme von allen Regeln darstellt, die wir kennen, und dass er niemals aufhören wird zu töten. Das ist kein ausgebrannter Geschäftsmann, der nach einem Plätzchen an der Sonne sucht, um sich dorthin zurückzuziehen und seine alten Knochen zu wärmen. Das ist ein Geier, der nach frischer Beute sucht, der nach frischem Blut giert. Vielleicht hat er beschlossen, dass Italien sein neues Jagdrevier ist.« »Vielleicht ist es gar nicht der BR-Killer«, schlug Orsetta vor. »Vielleicht handelt es sich um einen Nachahmungstäter.« »Nein, das glaub ich nicht«, warf Benito ein. »Zwei Mörder auf zwei Kontinenten mit demselben Modus Operandi, die sich zudem noch auf dieselbe Opfergruppe konzentrieren. Das ist ein bisschen viel verlangt.« »Auch nicht mehr, als zu glauben, dass er den ganzen Weg hierhergekommen ist, nur um zu töten«, erwiderte Orsetta und erhob zur Verteidigung ihrer Hypothese etwas die Stimme. »Ist doch nicht so, als gingen ihm in Amerika die möglichen Opfer aus, oder? Er hat die freie Wahl unter rund dreihundert Millionen Menschen, warum in aller Welt sollte er da solch reiche Jagdgründe aufgeben, um in einem Land zu operieren, das ihm fremd ist?« »In Ordnung, setzen wir mal ein Fragezeichen dahinter«, sagte Massimo. »Doch zurück zu meinem Punkt. Warum hier? Wo ist die Verbindung?« Sie saßen schweigend da und forsteten in ihren Hirnen nach einer Eingebung. 164
»King«, meinte Orsetta schließlich. »Wenn es sich um den BR-Killer handelt und nicht um einen Nachahmer, dann ist Jack King die einzige Verbindung, die ich sehe.« Massimo runzelte die Stirn. »Jack King?« Orsetta suchte nach den richtigen Worten. »Ich will damit nicht behaupten, dass King der Grund ist, warum der BR-Killer in Italien mordet, ich sage nur, dass er momentan die einzige Verbindung zu sein scheint.« Benito zwirbelte seine Barthaare zwischen den Fingern. »Sehe ich auch so. Ich kann auch keine andere Verbindung entdecken.« Massimo wurde klar, dass sie damit keinen Schritt weiterkamen. »Dann stecken wir in Schwierigkeiten. Wenn Jack King die einzige Verbindung ist, die wir finden können, der Mann, den ich gebeten habe, uns bei den Ermittlungen zu helfen, dann haben wir tatsächlich absolut gar nichts, womit wir weitermachen könnten. Ich erwarte, dass wir alle unsere Einschätzungen noch einmal auf den Kopf stellen, und damit meine ich alle. Ich will, dass wir über jede einzelne Sekunde in Cristina Barbujanis Leben Bescheid wissen. Und lassen Sie mich eins sagen. Ich werde nicht zulassen, dass dieser Psychopath hier bei uns in Italien Dutzende junger Frauen abschlachtet. Ich will nicht, dass noch jemand ums Leben kommt. Haben Sie mich verstanden?« Der Ausdruck auf den Gesichtern seiner Untergebenen sagte ihm, dass sie ihn ganz genau verstanden hatten. »Gut. Der erste Mord in neuer Umgebung ist niemals perfekt. Dies ist vielleicht unsere beste Chance, ihn zu fassen. Ich verbessere mich. Dies ist vielleicht unsere einzige Chance, ihn zu fassen. Das ist auch der Grund, warum ich Jack King gebeten habe, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen und uns zu helfen, dieses Monster … diesen …« Massimo fand nicht das richtige englische Wort, um all seinen Hass und seine Abscheu zum Ausdruck zu bringen, den er für Cristina Barbujanis Mörder empfand. Er kehrte zu seiner
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Muttersprache zurück und legte respektvoll eine große Hand vor das Foto der toten Frau: »Uno che va in culo a sua madre!« »Motherfucker«, übersetzte Orsetta trocken ins Englische. »Das Wort, nach dem Sie suchen, Direttore, lautet motherfucker.«
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KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
Marine Park, Brooklyn, New York Das Haus steht allein an der Ecke einer stillen Sackgasse im tiefen Schatten großer Ahornbäume und dichter Rotdornbüsche, die den vorderen Garten und die kleine Zufahrt beherrschen. In der frühmorgendlichen Dunkelheit kurz vor Sonnenaufgang umkreist Spider das Haus, kontrolliert akribisch sein Sicherheitssystem, überprüft die Sensoren an den Lampen, die Beobachtungswinkel der Überwachungskameras und die vielen Kabel, die zu einer ganzen Reihe von anderen versteckten Sicherheitseinrichtungen führen, die mehr tun werden, als nur unerwünschte Eindringlinge abzuschrecken. Hinter dem Haus setzt er sich auf die Kante eines stark verwitterten Holztischs und grübelt über die alten Zeiten nach, als er hier noch mit seinen Eltern lebte, bevor sie zu einem besseren Ort gingen und er ins Waisenhaus kam. Vor fünfzehn Jahren hat er mit dem Geld aus seinem Erbe, das auf seinem Namen in einem Treuhandfonds steckte, das Haus zurückgekauft, in bar. Das restliche Geld hatte er klug angelegt und per Internet ein gut gefülltes Portfolio aus Aktien, Fondsanteilen und Rentenwerten verwaltet. Sein Vater wäre stolz auf ihn gewesen. Er hatte immer gesagt: »Geh niemals ein unnötiges Risiko ein«, und das war der Schlüssel zum Erfolg seines Sohns gewesen, und zwar bei allem, was er tat. Er erinnert sich an die Zeit im Waisenhaus, an die Schikanen, die Prügel, das dürftige Essen, den üblen, warmen Gestank nach überfüllten, unsauberen Schlafsälen, vor allem aber an den endlosen Lärm. Erst als er von dort fortging, lernte er zu schätzen, wie schön Stille sein konnte. Spider weiß, dass ihn 167
diese Jahre geformt haben. Sie haben ihn zu dem gemacht, der er heute ist. Er weiß, dass er sein Essen wegen damals immer noch viel zu schnell hinunterschlingt. Wenn er nämlich als Kind seine Mahlzeiten nicht so schnell wie möglich aufgegessen hatte, nahmen sich die großen Jungs im Waisenhaus einfach alles, was noch auf dem Teller war. Ihm ist klar, dass sein vertrauter Umgang mit Gewalt aus jenen Tagen stammt, als er den rituellen Missbrauch und die Schläge, die alle neuen Jungs erdulden mussten, nicht länger ertragen konnte, geradezu vor Wut explodierte und einem der Angreifer den Schädel einschlug, indem er dessen Kopf unablässig gegen eine Toilettenwand donnerte. Das Waisenhaus war voller Kinder, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten; für sie war es eine Schule des Verbrechens, in der sie Dutzende von Möglichkeiten lernten, sich eine falsche Identität zuzulegen, falsche Papiere zu bekommen und Scheinfirmen zu gründen. Verbrechen war für Spider buchstäblich ein Kinderspiel. In der morgendlichen Kühle des Hinterhofs wirft er einen Laptop an und geht über einen unter falschem Namen eingerichteten Web-Account online. Er loggt sich bei seinem WebmailProvider ein und arbeitet sich zu seinem codegeschützten eigenen Intranet vor. Ein paar Sekunden später zieht er Bilder aus den Kameras, die er in und um das Haus installiert hat, auf den Laptop. Er wechselt zwischen den Außenansichten, dann verkleinert er die Bilder, um die Pixelgröße zu komprimieren und die Nachtsichtqualität zu verbessern. Als er zufrieden ist, zieht er die Bilder der hausinternen Kameras hoch. In der Dunkelheit des Hinterhofs wirkt Sugars hingestreckter Körper wie eine grelle weiße Form, fast wie ein weiß glühendes Kruzifix. Spider betrachtet sich die Szene. Irgendetwas an der Frau beunruhigt ihn. Als er sich ihr gestern näherte, kam er sich wie ein begossener Pudel vor; genau so fühlt er sich jetzt gerade. Und obwohl sie unbeweglich daliegt und bald sterben wird, 168
stellt sie für ihn eine Gefahr dar, jedenfalls hat er diesen Eindruck. Wie unlogisch, winkt er ab. Seine Planung war gut, und abgesehen von diesem blutigen Augenblick, als sie sich festbiss, hat er mit ihr keinerlei ernsthafte Probleme gehabt. Spider wechselt die Einstellungen und wählt eine Nahaufnahme von Ludmillas Gesicht. Sie hat die Augen geschlossen, und die Kamera ist so nah, dass es fast aussieht, als würde sie friedlich schlummern. Spider weiß jedoch, dass die Wahrheit ganz anders aussieht. Er stellt sich vor, dass diese Frau sich in einem Zustand dauerhafter seelischer Schmerzen befindet. Er hat keinerlei Mitgefühl für sie. Tatsächlich fühlt er überhaupt nichts, was sie betrifft. Nutten sind eigentlich nicht seine normale Beute, aber das hier ist ja auch kein normaler Mord. Das hier hat er nicht allein zu seinem Vergnügen geplant; bei diesem Mord geht es um erheblich mehr.
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KAPITEL DREIUNDDREISSIG
Monte Amiata, Toskana Es gab Tage, da war es in der Toskana so schön, dass Nancy sich vorstellte, Gott persönlich habe Italien erschaffen. Aus einem Grunde, den nur er selbst kannte, hatte er die Arbeiten am Rest der Welt an einen Subunternehmer weitergegeben, der versprochen hatte, bis zum Wochenende fertig zu werden, und das auch noch billig. Heute war einer dieser Tage. Zack war im Kindergarten, Carlo und Paolo wussten bereits, was im Hotel und im Restaurant noch zu machen war, also beschlossen Jack und Nancy, den letzten gemeinsamen Tag vor seiner Abreise nach Rom so gut wie nur möglich zu nutzen. Den Vormittag verbrachten sie damit, auf dem Monte Amiata zu wandern. Als sie die großen Platten gelblich grauen Gesteins erklommen, aus denen der ehemalige Vulkan gebildet war, schnaufte und keuchte Jack mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Die Aussicht über das Val d’Orcia war atemberaubender als alles, was sie bislang von der Toskana gesehen hatten. Seite an Seite standen sie auf dem Gipfel, ein warmer, sanfter Wind umfing sie, und sie versuchten, Pienza, Montalcino, Radicofani und natürlich San Quirico auszumachen. »Weißt du eigentlich schon, woher San Quirico seinen Namen hat?«, fragte Nancy, als Jack auf die deutlich erkennbaren alten Stadtmauern zeigte. »Nein, keine Ahnung«, sagte er, »aber ich habe das leise Gefühl, jemanden zu kennen, der es mir gleich verraten wird.« Nancy drehte sich zu ihm um. Der Wind wehte ihr ein paar Strähnen über das Gesicht. »Keine nette Geschichte. Anschei170
nend hat der Ort seinen Namen von dem heiligen Märtyrerkind Sankt Quiricus.« »Und wer war das?«, fragte Jack, der gern wollte, dass sie auf den Punkt kam. »Immer langsam. Kommt gleich«, antwortete seine Frau, die seine Ungeduld sehr gut kannte. »Im Jahre 304, als Quiricus, manche sagen Cyricus, erst drei Jahre alt war, genau so alt wie Zack jetzt, wurde seine Mutter Julietta zum Tode verurteilt, weil sie Christin war. Als sie vor dem örtlichen Statthalter in Tarsus erschien und das Urteil gefällt wurde, hatte sie ihren Sohn bei sich. Das Kind veranstaltete ein großes Tamtam und sagte, es werde seine Mutter nicht verlassen, komme, was da wolle. Die Würdenträger teilten ihm recht unverblümt mit, dass seine Mutter hingerichtet werde, weil sie Christin sei. Da verkündete Quiricus, er sei ebenfalls Christ und wünsche, mit ihr zu sterben. Diese Haltung erzürnte den Statthalter derart, dass er den Jungen an den Beinen packte und ihm den Schädel an ein paar Steinstufen einschlug. Doch jetzt kommt das Erstaunliche, Julietta weinte nicht, sondern erklärte öffentlich, sie freue sich.« »Wie bitte?«, sagte Jack. »Sie hat sich gefreut?« »Ja. Sie fühlte sich offenbar geehrt, dass ihr Sohn auserwählt worden war, die Krone des Märtyrers zu tragen.« Nancy fragte sich, ob sich die Geschichte nicht in der Gegenwart wiederholte. »Vielleicht ist das dasselbe, was die Eltern von Selbstmordattentätern empfinden, vielleicht fühlen sich ihre Mütter geehrt.« »Genug davon«, sagte Jack, der sich nicht auf eine solche Diskussion einlassen wollte. »Du hörst dich ja schon an wie meine alte Großmutter.« »Das wäre doch gar nicht weiter schlimm. Soweit ich mich erinnere, mochtest du sie doch, oder nicht?« »Ich habe sie angehimmelt«, sagte Jack und musste voller Zärtlichkeit an die alte Frau denken. »Eine völlig durchgeknallte Betschwester, aber ich habe sie abgöttisch geliebt.« 171
»Jedenfalls ist der heilige Quiricus Schutzpatron des Familienglücks. Und so hat unser Dorf angeblich seinen Namen bekommen.« »Du bist glücklich hier, stimmt’s?«, sagte Jack und eröffnete damit eine Diskussion, die er am liebsten so lange wie möglich vor sich hergeschoben hätte. Nancy strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ja. Du nicht?« Jack drehte sich halb zur Seite und schaute hinaus über die im Dunst der Hitze liegende Landschaft. »Ich weiß, das hört sich verrückt an, aber nein, ich bin nicht glücklich.« Jack machte eine ausladende Handbewegung. »All das hier ist sehr schön, aber es hilft mir nicht weiter. Um ehrlich zu sein, habe ich selbst hier, auf diesem unglaublichen Berggipfel, das Gefühl, in der Falle zu sitzen.« »In der Falle?«, hakte Nancy nach. Jack vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Du hast gemeint, dass es mir in der Toskana leichter fallen wird, mich zu erholen«, sagte er und sah sie nun doch an, »aber eigentlich meintest du, dass es dir leichter fallen würde. All das hier ist das, was du wolltest, was du gebraucht hast.« »Das ist nicht fair!«, sagte sie erhitzt. »Du warst völlig erledigt, als du aus dem Krankenhaus gekommen bist, du warst mit allem am Ende, Jack, hattest mit allem abgeschlossen.« Jack schüttelte den Kopf und biss sich auf die Lippe. »Nein, Nancy, du hattest damit abgeschlossen. Ich war krank. Ich hätte in New York bleiben sollen. Ich hätte eine Auszeit nehmen, wieder zu Kräften kommen, und dann zur Arbeit zurückkehren sollen, um den Job zu Ende zu bringen.« »Ha!«, rief Nancy und wandte sich von ihm ab. Jack tat schnell einen Schritt vor und packte sie am Arm. »Hör mir zu.« Nancy wirkte überrascht, wie grob er sie anfasste. Er ließ sie sofort los. »Ich liebe dich. Ich liebe dich und unseren kleinen Zwerg unendlich, aber dieses Exil, diese Abgeschie172
denheit, die mir auferlegt worden ist, bringt mich einfach um.« Nancy verletzte diese Bemerkung, und sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich bin Polizist, ich jage die Bösen und bringe sie hinter Gitter«, fuhr Jack fort. »Das ist mein Beruf und meine Berufung. Ich habe nie etwas anderes getan, und ich kann auch nichts anderes. Mich hierherzubringen und mich nichts anderes tun zu lassen, als Stühle zu tragen und Teller zu waschen, das hilft mir nicht, Nancy, das macht mich erst recht krank.« »Ach, Jack, wie kannst du so etwas sagen? Du warst in New York so krank, du konntest kaum laufen, als ich dich aus dem Krankenhaus geholt habe. Jetzt schau dich nur an, du bist fitter und gesünder als je zuvor.« Jack patschte sich auf den Bauch und lächelte gepresst. »Körperlich sicher, da hast du recht. Die Toskana hat mir geholfen, wieder Kraft zu schöpfen. Aber seelisch, nun …« Nancy runzelte die Stirn. »Nun was?« »Seelisch macht mich das kaputt. Ich komme mir nutzlos vor, schwach, ohnmächtig und …« Er suchte nach Worten und fügte dann hinzu: »… feige.« »Ach, Liebling.« Nancy schloss ihn in die Arme, und einen kurzen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, dass er sich von ihr losreißen wollte. Sie stand da und lehnte ihren Kopf an seine Brust, so wie sie es getan hatte, als sie das erste Mal miteinander ausgingen. Sie wollte nicht, dass er sich wieder in die Polizeiarbeit stürzte, aber sie wollte ihn auch nicht in seinem jetzigen Zustand sehen. Sie spürte, wie er sie fest drückte und ihr dann einen Kuss auf den Scheitel gab. Schließlich löste sie sich aus seinen Armen und schaute zu ihm auf. »Du hast wahrscheinlich recht. Ich musste wohl herkommen. Ich brauchte ein Leben so weit weg von Mord und Leichenschauhäusern wie nur möglich. Und ich brauchte dich dabei. Nicht nur für zwei Stunden die Nacht, wenn du dich um 173
zwei Uhr morgens neben mich legst und noch vor Sonnenaufgang wieder verschwindest, sondern den ganzen Tag lang.« »Es tut mir leid …«, begann Jack. Nancy unterbrach ihn. »Pst, lass mich ausreden. Ich habe solche Angst gehabt, als du zusammengebrochen bist. Ich kann mir nicht vorstellen – ich will es mir nicht vorstellen –, Zack allein großzuziehen, nur weil du dich zu Tode geschuftet hast. Ist das vielleicht zu egoistisch?« »Nein, nein, ist es nicht«, sagte Jack und merkte, dass sie ihn in der Defensive hatte. »Ich möchte mit dir alt werden, ob nun hier oder an irgendeinem anderen Ort der Welt. Ich möchte einfach nur, dass wir ein langes, glückliches Leben miteinander führen.« Nancy sah sich um, so wie Jack es wenige Augenblick zuvor getan hatte. »Du hast recht, es gefällt mir hier, und ich hoffe, du wirst auch noch so weit kommen. Aber vor allem liebe ich dich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich verstehe, dass du wieder einsteigen musst. Tief in meinem Innersten habe ich das wohl immer geahnt. Da ist noch was zu erledigen, ich weiß.« Sie seufzte und nahm dann seine Hand. »Aber versprich mir, dass du vorsichtig bist.« »Ich verspreche es«, sagte er, wie er es schon hundertmal zuvor getan hatte. »Und du gehst weiter zu der Psychiaterin. Versprochen?« »Ja, das werde ich.« »Dann tu es. Tu, was immer du tun musst.« Nancy versuchte wieder zu lächeln, aber diesmal scheiterte sie, und die Tränen rollten. Jack schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Vom Gipfel des Amiata schauten sie hinüber zu der Stelle, wo sie sich ihr neues Zuhause eingerichtet hatten, und fragten sich beide insgeheim, was die Zukunft wohl bringen mochte. Nancy drehte sich zu ihrem Mann um und küsste ihn so leidenschaftlich, wie sie nur konnte. 174
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
Rom Zwei wichtige Punkte hatte Massimo Albonetti gegenüber Jack King bisher verschwiegen. Erstens, der abgetrennte Kopf von Cristina Barbujani war nicht im Meer gefunden worden wie die anderen Leichenteile, vielmehr hatte ihr Mörder ihn gut verpackt an ihre oberste Dienststelle in Rom geschickt, offenbar mit einem Mailänder Kurierdienst. Der zweite Punkt war noch erheblich schockierender. An beide Punkte musste Massimo denken, während er kalte Getränke austeilte und sein Team weiter auf Jacks Ankunft vorbereitete. »Roberto hat den viktimologischen Bericht fertiggestellt und übersetzen lassen«, sagte Orsetta und öffnete eine Dose Cola light. »Va bene«, meinte Massimo, der froh war, aus seinen Gedanken gerissen zu werden. »Und was verrät er uns, Roberto? Warum hat dieser Mann sich ausgerechnet Cristina Barbujani ausgesucht? Warum war sie die Unglückliche?« »Vor allem schien sie einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ge…«, fing der junge Mitarbeiter gerade an. »Blödsinn!«, platzte es aus Massimo heraus, der das Foto von Cristina wieder mit der Hand vor seiner »ausdrucksstarken« Wortwahl schützte. »Che cazzo stai dicendo?!« »Auf Englisch, bitte, Direttore«, sagte Orsetta und lächelte. Massimo funkelte sie an und wendete sich wieder dem jungen Mitarbeiter zu. »Roberto, Sie sollten nicht mal im Traum daran denken, so etwas Jack gegenüber zu erwähnen. Der BR-Killer ist kein Gelegenheitsmörder, kein gewöhnlicher Krimineller, der 175
aus einem spontanen Impuls heraus handelt. Dieser Mann hat sich Cristina ganz bewusst ausgesucht. Er hat sie aus der Menge ausgewählt. Wenn Jack King Ihnen diese Frage stellt, sollten Sie dieser Einheit keine Schande machen. Sagen Sie bloß nie, sie sei einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.« Damit wandte sich Massimo zu Orsetta um. Er hielt Cristinas Bild zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Suchen Sie mir eine Doppelgängerin. Gehen Sie in die Casting-Agenturen, und suchen Sie uns eine Schauspielerin, die wie unsere Cristina aussieht und sich verhalten kann wie sie.« »Ich kümmere mich darum«, sagte Orsetta. »Und noch was, Orsetta«, fuhr Massimo fort. »Was ist mit der patologia, was haben die uns zu den Gliedmaßen zu sagen?« »Gliedmaßen oder Kopf?«, fragte sie und schlug ihr Notizbuch auf. »Zuerst die Gliedmaßen«, antwortete Massimo, der immer noch nicht wusste, wie er Jack die Sache mit dem Kopf beibringen sollte. »Sie wurden an verschiedenen Orten ins Meer geworfen, der Kopf hierhergeschickt. Also, ich vermute, dass er die Körperteile sofort beseitigt hat, den Kopf des Mädchens aber so lange wie möglich behalten.« »Höchstwahrscheinlich«, sagte Orsetta und blätterte zu der entscheidenden Seite ihrer Notizen. »Also, ich fange mit den Gliedmaßen an. Die Zerstückelung und Versenkung der Teile im Meer machen es äußerst schwer, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Das Labor meinte, das Ganze werde unter anderem noch durch die Tatsache erschwert, dass es keinerlei Körperflüssigkeiten für die Untersuchung gebe …« »Porca madonna!«, fluchte Massimo. »Wie leicht soll man es denn diesen sogenannten Wissenschaftlern noch machen? Wie wär’s, wir verabschieden ein Gesetz, dass alle Mörder die Leichen mit einem Etikett versehen müssen, auf dem der genaue Todeszeitpunkt notiert ist, bevor sie sie beseitigen? Orsetta,
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verschonen Sie mich mit Ausreden. Bitte nur die Fakten, die uns weiterbringen.« Orsetta, die seine Gefühlsausbrüche bereits gewohnt war, sprach ungerührt weiter. »Die Zersetzung war an allen Körperteilen recht gleichmäßig weit fortgeschritten, plus/minus ein paar Stunden. Das Gewebe hatte begonnen, weich zu werden und sich zu verflüssigen. Der Täter hat die abgetrennten Teile in Plastiksäcke verpackt, bevor er sie ins Meer geworfen hat, sie haben also einen halbwegs normalen Fäulnisprozess hinter sich: Verfärbung, Marmorisierung, Blasenbildung.« »Wie lange, Orsetta?«, unterbrach Massimo sie ungeduldig. »Wie lange hat er ihre Leiche bei sich gehabt?« »Das konnten sie anhand der Leichenteile nicht akkurat bestimmen, aber …« »Vaffanculo!«, fluchte Massimo und ließ seine fleischige Hand auf die Tischplatte donnern. »Non mi rompere le palle!« Orsetta bekam einen roten Kopf, allerdings nicht vor peinlicher Berührtheit, sondern vor Verärgerung. »Bei allergrößtem Respekt, Direttore, ich trete Ihnen nicht in die Eier. Das hier ist der Bericht der Gerichtsmedizin, nicht meiner. Die Leichenteile sind bei der Bestimmung des Todeszeitpunkts deshalb nicht sehr hilfreich, weil der Zersetzungsprozess in Meerwasser anders abläuft als sonst.« »Mi dispiace«, entschuldigte sich Massimo und legte die Hände wie zum Gebet zusammen. »Bitte fahren Sie fort.« Dann streckte er die Hand aus und berührte sanft Cristinas Foto auf seinem Schreibtisch. Orsetta fuhr fort, wo sie unterbrochen worden war. »Die Gerichtsmedizin geht davon aus, dass Cristina etwa sechs bis acht Tage tot war, bevor sie zerstückelt und dem Salzwasser ausgesetzt wurde.« »Irgendetwas in Magen oder Lunge, was uns weiterhilft?«, fragte Massimo voller Hoffnung.
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Orsetta runzelte die Stirn. »Glücklicherweise wurde Cristinas Torso recht schnell und fest in Plastiksäcke verpackt, wahrscheinlich um am Tatort größere Verunreinigungen zu vermeiden, deshalb sind die inneren Organe recht gut erhalten. Die Analyse des Lungengewebes hat sich als äußerst schwierig erwiesen; nach allem, was möglich war, fanden sich in den Organen aber keine Diatomeen. Auch die Überprüfung des Knochenmarks ergab keine Hinweise auf Diatomeen.« »Diatomeen sind Kieselalgen, oder? Mikroorganismen, die in Seen, Flüssen oder im Meer zu finden sind?«, wollte sich Roberto vergewissern. »Genau«, bestätigte Orsetta. »In manchen Gegenden findet man sie sogar im Badewasser. Jedenfalls bedeutet das Nichtvorhandensein dieser Organismen, dass sie weder ertrunken ist, noch in Salzwasser oder irgendeinem anderen Wasser zerstückelt wurde.« »Aber das wäre doch sowieso ziemlich unwahrscheinlich gewesen, oder?«, fragte Benito. »Da haben Sie recht«, sagte Massimo. »Unwahrscheinlich ja, aber nicht ausgeschlossen. Es gab mal den Fall eines Mörders, der sein Opfer erst in der Wanne ertränkt und dann zerstückelt hat. Auf diese Weise war nur ein Tatort zu säubern statt zwei. Wir sollten stets nach dem Ungewöhnlichen suchen. Wenn wir das gefunden haben, ist es so gut wie ein Navigationsgerät, das uns direkt zum Mörder führt.« Orsetta nahm einen großen Schluck aus der Dose. Massimo wartete, bis sie damit fertig war, und drängte sie dann fortzufahren. »Jetzt zu ihrem Kopf«, sagte er. »Was hat die patologia zu Cristina Barbujanis Kopf zu sagen?« Orsetta blätterte weiter. »Der Kopf …« »Ihr Kopf, Cristinas Kopf«, sagte Massimo ungehalten. »Das ist nicht einfach nur ein Gegenstand. Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun. Vergessen wir das nicht.«
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»Cristina Barbujanis Kopf«, begann Orsetta von vorn, »lässt sich als Musterbeispiel bezeichnen. Er war nicht dem Salzwasser ausgesetzt. Die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist also viel leichter möglich. Ich zitiere: ›Die Haut ließ sich leicht vom Schädel abziehen, die Haare leicht auszupfen.‹ Daran lässt sich eine Zersetzungsdauer von etwa vierzehn Tagen festmachen.« Roberto grübelte über etwas. »Wie sehr unterscheidet sich die Zersetzung einer Leiche auf dem Land eigentlich von der im Wasser?« »Sehr«, sagte Massimo. »Leichen zersetzen sich an der Luft doppelt so schnell wie im Wasser und achtmal so schnell wie im Boden.« »Und junge Menschen zersetzen sich schneller als alte«, fügte Benito hinzu. »Warum denn das?«, fragte Roberto. »Wegen des Fettanteils im Körper«, sagte Benito. »Flüssigkeiten und Fett beschleunigen die Zersetzung. Wenn Sie also am Leben hängen, halten Sie sich lieber von Fastfood und Bier fern.« »Danke, Benito.« Massimo ging dazwischen, um den schwarzen Humor des Fallkoordinators im Keim zu ersticken. »Maden, Orsetta? Jack wird wissen wollen, ob es einen Befall gab. Gab es die üblichen Verdächtigen?« »Ja«, bestätigte Orsetta. »Die Analyse ergab das Aufkommen zahlreicher voll ausgebildeter Exemplare der Familie der Calliphoridae.« »Schmeißfliegen«, klärte Benito seinen Kollegen Roberto auf. Orsetta sah ihn fest an und machte deutlich, dass sie nun oft genug unterbrochen worden sei, und fuhr dann fort: »Die Larven waren ausgewachsene, ältere, fette, träge Maden im dritten Stadium, ohne Puppenhülle. Der Schätzung nach waren die Eier neun bis zehn Tage vorher abgelegt worden. Dem Labor zufolge sollten wir ein oder zwei Tage hinzurechnen, bis die Mutterfliegen den Kopf gefunden haben … tut mir leid: Cristina 179
Barbujanis Kopf. Also sind wir wieder bei den geschätzten vierzehn Tagen.« Massimo sah vom Schreibtisch auf. »Die Nachkommenschaft selbst hatte also das Brutalter noch nicht erreicht?« »Nein«, antwortete Orsetta. »Die Frage habe ich auch gestellt. Das hätte offenbar einen Monat gedauert.« »Das passt also zu den Zeitangaben?«, fragte Roberto. »Ja«, sagte Orsetta. »Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Unterlagen bestätigen, dass der Kopf wahrscheinlich zehn bis vierzehn Tage lang an einem lauwarmen Ort aufbewahrt wurde.« Massimo schrieb etwas auf seinen Notizblock, und sein Team wartete stumm, bis er damit fertig war. »Wir sollten mal eine Zeitleiste erstellen. Mal sehen …« Roberto unterbrach ihn. »Direttore, ich habe schon einen groben Zeitrahmen aufgelistet.« »Nur zu«, sagte Massimo, der mit Freude sah, dass der Benjamin der Gruppe mitgedacht hatte. »Cristina wurde am 9. Juni das letzte Mal lebend gesehen und am 10. als vermisst gemeldet. Laut Gerichtsmedizin wurde sie vermutlich zwischen dem 12. und 14. Juni ermordet. Wir haben gehört, dass der Mörder die Leiche sechs Tage bei sich behalten haben muss, bevor er sie zerstückelt und beseitigt hat. So landen wir also beim 20. Juni als frühestmöglichem Zeitpunkt. Die ersten Funde wurden zwei Tage später, am 22. Juni, gemacht.« Massimo hob die Hand. »Das ist gut, aber halten wir doch mal einen Augenblick inne und gehen einen Schritt zurück. Es sieht doch ganz so aus, als hätte der Mann Cristina für mindestens zwei und höchstens vier Tage am Leben gelassen.« Massimo sah seine Leute an und fügte hinzu: »Nachdem er sie dann getötet hat, hat er ihre Leiche, oder Teile davon, für weitere sechs bis acht Tage behalten. Warum? Warum hat er so lange gezögert? Was hat er in der Zwischenzeit gemacht?« Massimo ließ die Daten und Fragen im Raum stehen, schluck180
te und setzte nach. »Dann hat unser Killer Cristinas abgetrennten Kopf weitere vier, fünf Tage aufgehoben, bevor er ihn an uns geschickt hat. Und wieder die Frage: Warum?« Orsetta bekreuzigte sich und ließ den Kopf sinken. Sie konnte nur ansatzweise erahnen, welche Qualen Cristina durchlitten haben musste, und was für eine Sorte Mensch sie da jagten. »Er hat uns viele Fragen hinterlassen, auf die wir eine Antwort suchen, aber konzentrieren wir uns auf die wichtigsten«, sagte Massimo und begann, sie an seinen Fingern abzuzählen. »Wie hat er Cristina entführt? Wo versteckte er sie für diese zwei bis vier Tage, die sie noch lebte? Bewahrte er ihre Leiche am selben Ort noch weitere sechs Tage auf oder brachte er sie anderswo hin? Warum wartete er so lange damit, uns Cristinas Kopf zu schicken?« Massimo ließ seine Hand auf den Schreibtisch sinken und betrachtete das gerahmte Foto von Cristina. Sie wirkte darauf so glücklich und sorglos. Ihr Gesicht war faltenlos und strahlte voller Hoffnung. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln, als hätte der Fotograf genau in jenem Augenblick auf den Auslöser gedrückt, als ihr ein Lachen über die Lippen kommen wollte. Massimo blickte auf und brachte das Gespräch auf die zweite wichtige Tatsache, die er Jack bisher verschwiegen hatte. »Und die andere große Frage lautet: Was genau will der Mörder uns mit der Nachricht sagen, die er in einer Plastiktüte verschweißt im Schädel unseres Opfers zurückgelassen hat?«
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TEIL VIER MITTWOCH, 4. JULI
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KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
Rom »Jack, du siehst großartig aus!«, sagte Massimo Albonetti und drückte den ehemaligen FBI-Agenten an sich, als dieser sein Büro in Rom betrat. »Und du, mein kahler italienischer Freund, siehst immer noch aus wie eine polierte Billardkugel«, erwiderte Jack und rieb spielerisch über Massimos rasierten Hinterkopf. Massimo schlug Jacks Hand fort und schloss dann die Tür hinter ihnen. »Man hat mir gesagt, du wärest krank, und jetzt schau dich nur an. Du bist feister und wirkst gesünder, als ich dich je gesehen habe.« »Gutes Essen und eine gute Frau, das ist das ganze Geheimnis«, sagte Jack und klopfte sich dabei gut gelaunt auf den Bauch. »Jack, bitte, ich bin Italiener, mir musst du so was wirklich nicht erzählen.« Er deutete mit einer Hand auf den Holzstuhl vor seinem Schreibtisch. »Setz dich, bitte. Möchtest du etwas trinken? Kaffee, Wasser?« »Nur Wasser, bitte. Ich versuche gerade, meinen Koffeinkonsum etwas zu drosseln.« »Ich auch«, sagte Massimo, »aber das Koffein gewinnt jedes Mal.« Er drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage. »Claudia, zwei doppelte Espresso und Wasser, bitte.« Jack warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Massimo zuckte die Achseln. »Wenn du ihn nicht willst, trinke ich eben beide.«
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Jack setzte sich und beugte sich auf den Schreibtisch vor. »Geht es Benedetta und den Kindern gut? Sind sie gut in die Ferien gekommen?« »Ja, sehr gut, danke«, antwortete Massimo. »Allerdings gab’s am Flughafen wieder mal eine Bombendrohung. Die Kinder waren enttäuscht, dass sie ihre Getränkeflaschen abgeben mussten.« »Flugreisen werden nie mehr so sein, wie sie mal waren«, sagte Jack. »Wahrscheinlich wird man sich schon bald all seiner Körperflüssigkeiten entledigen und sich anschließend in einen durchsichtigen Plastikbeutel stecken müssen, bevor die einen an Bord lassen. Den Leutchen in den Anti-Terror-Einheiten wird die Arbeit wohl nicht ausgehen.« »Sì«, meinte Massimo lächelnd. »Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass ich es geschafft habe, nicht in diesen besonderen Krieg hineingezogen worden zu sein.« Nachdem der Smalltalk sein Ende gefunden hatte, stellte Jack die Frage, die ihm seit ihrem letzten Gespräch ständig durch den Kopf geisterte. »Also, Massimo, verrätst du mir jetzt bitte, was du mir am Telefon verschwiegen hast?« Der Italiener lehnte sich zurück. Der alte Stuhl knarrte so laut, als wollte er aus dem Leim gehen. Massimo hatte mit dieser Frage gerechnet, und die Antwort war einfach. Dennoch zögerte er. »Jack, du weißt, wie sehr ich dich respektiere und unsere Freundschaft achte, also, bitte verzeih mir. Bevor ich dir alles erzähle, muss ich dir in die Augen schauen, von Mann zu Mann, von Freund zu Freund, und dich fragen: Ist mit dir wirklich alles in Ordnung? Bist du wirklich körperlich und seelisch stark genug, um dich alldem auszusetzen?« Genau auf diese Frage hatte bereits Orsetta angespielt. Jack hatte sie sich selbst in den letzten Tagen immer wieder gestellt. »Ja«, antwortete er im Brustton der Überzeugung, obwohl er tief in seinem Innersten immer noch Zweifel hegte. »Nach allem, was du mir gesagt hast, ist dein Mord keine Nachah184
mungstat, sondern möglicherweise das Werk eines Mannes, der in den USA mindestens sechzehn junge Frauen ermordet hat. Ich habe diesen Mistkerl fast ein halbes Jahrzehnt gejagt, und gottverdammt, die Strapazen und der Stress haben mich fast das Leben gekostet. Aber ich sag dir eins, Massimo, nur untätig herumzusitzen und zuzuschauen, wie er immer weiter mordet, nichts dagegen unternehmen zu können, ihn nicht stoppen zu können, also, das wär das Schlimmste für mich: Um meiner eigenen Gesundheit willen muss ich einfach dabei sein. Ich muss noch ein letztes Mal alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um diesen Kerl von der Straße zu holen.« »Bravo, mein Freund«, sagte Massimo erleichtert. Er hatte die Antwort erhalten, die er sich erhofft hatte. »Ich bin sehr stolz, dass du dich entschlossen hast, uns zu helfen.« »Schluss jetzt mit der Lobhudelei«, sagte Jack. »Was hast du mir verschwiegen?« Massimo lehnte sich auf seinen Ellbogen nach vorn. Es war nicht leicht. »In dem Bericht, den ich dir geschickt habe, steht, dass Cristinas Leiche zerstückelt wurde.« Jack schwieg. Sein Blick stellte die Frage ohne Worte. »Cristina ist enthauptet worden. Ihr Kopf ist vom Rumpf getrennt worden, und nachdem er die anderen Leichenteile beseitigt hatte, hat er ihn hier nach Rom in unsere Zentrale geschickt.« Jack fielen sofort ein Dutzend Fragen ein, und er fing mit der offenkundigsten davon an. »Warum war in den vertraulichen Notizen davon nicht die Rede? Immerhin gingen die doch an den Premierminister.« Massimo lächelte. »In der italienischen Politik ist nichts vertraulich, schon gar nicht im Büro des Premierministers. Schickst du vertrauliche Informationen nach ganz oben, erhöht das nur den Preis, für den irgendein Berater oder ein Beamter das Dokument an die Presse verhökert.«
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Er zog eine Schublade auf, die die gesamte Tischbreite einnahm. »Da ist noch etwas«, sagte er, fest entschlossen, Jack so schnell wie möglich mit allen noch offenen Punkten vertraut zu machen. Er zog eine dünne Akte mit der Aufschrift »Barbujani/vertraulich« hervor. Er reichte sie mit den Worten über den Tisch: »Das ist die Kopie der Notiz, die wir im Mund von Cristina Barbujani gefunden haben. Die Gerichtsmediziner haben das Original.« »In ihrem Schädel?«, fragte Jack nach. Massimo nickte. Jack schlug langsam die Akte auf und versuchte in Gedanken, die verschiedenen Aspekte zusammenzufügen. Ganz offensichtlich gab es zwischen den Fällen in den USA und in Italien ein gemeinsames Muster, und Jack ging davon aus, dass noch weitere Verbindungen und Ähnlichkeiten zutage treten würden. Jack betrachtete die Fotokopie. Es handelte sich um eine handschriftliche Notiz. Großbuchstaben in schwarzem Filzstift auf weißem Papier. Die Botschaft war kurz, aber niederschmetternd: BUONGIORNO, ITALIENISCHE POLIZEI! ANBEI EIN KLEINES GESCHENK. ALLES LIEBE, DER BR-KILLER STÜRZT EUCH BLOSS NICHT »HALS ÜBER KOPF« IN DAS, WAS ICH FÜR EUCH NOCH AUF LAGER HABE! HA! HA! HA! © DER BR-KILLER Jack lief ein kalter Schauder über den Rücken, sein Blick blieb an den Buchstaben kleben, die beinahe sein Leben ruiniert hatten. BR-Killer. Der Black-River-Killer. Jack las die Nachricht noch einmal und bemerkte, dass das Kürzel doppelt auftauchte. Fast als wollte der Verfasser die 186
Polizei ein wenig zu sehr überzeugen, dass dies das Werk des BR-Killers war. »Mit dir alles in Ordnung?«, fragte Massimo. »Mir ging’s schon mal besser«, antwortete Jack geistesabwesend und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht, er kam nur nicht dahinter, was. Vielleicht war’s der perverse Humor – Hals über Kopf –, aber vielleicht suchte er ja auch nur verzweifelt nach einem Vorwand, egal, welchem, sich einreden zu können, dass dies als Beweis nicht ausreichte, dass der BR-Killer wieder sein Unwesen trieb. Jack holte tief Luft und machte seinen Kopf frei. »Ich habe mit meiner alten Dienststelle in New York telefoniert. Wie sich herausgestellt hat, ist die Leiche eines frühen Opfers des BRKillers ausgegraben und der Schädel zu meinen Händen ans FBI geschickt worden.« Massimo verzog das Gesicht. Jack tat ihm leid. Welch ungeheuren Druck der arme Kerl aushalten musste. »Ich habe eine diesbezügliche Kurzmitteilung des FBI gelesen und gehört, dass gewisse Einzelheiten des Falles an die Presse durchgesickert sind, aber es war nicht die Rede davon, dass das Paket an dich adressiert war.« »War es aber. Howie Baumguard, mein ehemaliger zweiter Mann, ist davon überzeugt, dass es der BR-Killer war.« »In der Mitteilung war davon nicht die Rede«, sagte Massimo. »Dieselben Probleme, was vertrauliche Nachrichten betrifft, wie im Büro eures Premierministers«, entgegnete Jack und zwang sich zu einem Lächeln. »Knall einen ›Vertraulich‹Stempel auf solche Informationen, wenn du willst, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen.« Massimo fragte sich, ob es dem Black-River-Killer tatsächlich möglich war, nahezu zeitgleich in Italien und den USA aktiv zu sein. »Glaubst du, dass dieser Mörder wirklich für diesen Zwischenfall in Amerika verantwortlich ist?«
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Jack seufzte schwer. »Ich habe absolut keine Ahnung. Die ganze Angelegenheit wird durch das, was du mir gerade erzählt hast, nur noch verworrener.« Massimo kam das auch so vor. Er kratzte sich unter dem linken Ohr »Zwei Enthauptungen. Zwei Köpfe, beide vom Mörder verschickt …« Jack unterbrach ihn. »Der BR-Killer hat es mit Händen, nicht mit Köpfen. Aber du hast schon recht. Ein solcher Zufall, dass zwei verschiedene Täter annähernd zur selben Zeit den Kopf ihrer toten Opfer an die Polizei schicken, ist doch ziemlich unwahrscheinlich.« »Finde ich auch«, sagte Massimo, »aber ich hoffe inständig, dass ich mich irre. Mir wäre der Gedanke lieber, dass wir es hier mit einem durchgeknallten Ersttäter zu tun haben, als mich an die Vorstellung gewöhnen zu müssen, dass euer erfahrener Serienmörder sein Spielchen nun auch in Italien treibt.« Jack kam nicht auf den Namen des italienischen Opfers, es war ihm geradezu peinlich. »Cristina Bar …, Bar …« Massimo half ihm auf die Sprünge. »Barbujani.« »… Barbujani«, fuhr Jack fort. »Auf welche Weise wurde ihr Kopf geliefert?« Massimo hob genervt die Augen zur Decke. »Das ist noch nicht vollständig geklärt. Unsere Poststelle hat einen Pappkarton in Empfang genommen. Von dort ging er weiter in den Sortierraum, wo er von einer jungen Angestellten geöffnet wurde.« »Was kann uns die Poststelle dazu sagen?« »Die Anlieferung wurde in kein Eingangsbuch eingetragen, und wir können niemanden finden, der bestätigt, das Paket in Empfang genommen zu haben«, antwortete Massimo, dem die Sache sichtlich peinlich war. »Gut möglich, dass das Paket einfach mit der anderen Post im Posteingang gelandet ist. Wir durchleuchten zwar alle Post und alle Pakete, aber erst wenn alles auf die verschiedenen Abteilungen verteilt ist.«
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»Ich habe das Gefühl, da wartet eine Sicherheitsüberprüfung und eine Verschärfung der Maßnahmen auf euch«, sagte Jack. »Schon in Arbeit. Auf dem Karton befand sich übrigens der Stempel eines Kurierdienstes, aber bis jetzt haben wir noch nichts über den rausgefunden.« »Hat die Spurensicherung irgendwas an Karton oder Nachricht gefunden?«, fragte Jack. »Keine Fingerabdrücke. Die Dokumentanalyse mithilfe elektrostatischer Verfahren hat auch nichts erbracht. Wir versuchen derzeit noch, das Papier und den Stift zurückzuverfolgen.« Jack schüttelte den Kopf. »Hat keinen Zweck. Es wird sich um allgemein zugängliche Produkte handeln.« Massimo hoffte, dass Jack sich da irrte. »Du solltest die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen, mein Freund. Selbst der klügste Kriminelle macht Fehler.« »Nicht dieser Kerl«, sagte Jack. »Ich verrate dir, wie er arbeitet. Bevor dieser Hurensohn überhaupt irgendwas unternimmt, stellt er gründliche Nachforschungen an. Ich verwette deine gesamten Ersparnisse, dass der Stift, mit dem er diesen Dreck verfasst hat, zu der in den Staaten am weitesten verbreiteten Sorte Filzstift gehört.« »Oder in Italien.« »Ich wette hundert Euro, dass es sich um ein amerikanisches Produkt handelt. Beim Papier ebenso. Deine Leute werden bei allen italienischen Herstellern eine Niete ziehen, das kann ich dir versprechen, Massimo.« Massimo zuckte die Achseln. »Dann kriegen wir vielleicht heraus, dass es sich um eine Sonderlieferung handelt, die zu einer bestimmten Zeit in eine bestimmte Gegend gegangen ist. Deine Kollegen vom FBI werden uns dabei sicherlich behilflich sein können.« »Da kannst du Gift drauf nehmen. Die haben ganze Datenbanken zu Tinte und Papier«, sagte Jack wegwerfend.
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»Aber ich garantiere dir: Der BR-Killer weiß genau, dass wir diesen Spuren nachgehen, er weiß, dass wir die Fabrik finden werden, in der die Stifte hergestellt werden, und den Baum, aus dem das Papier gemacht ist.« »Was willst du damit sagen, Jack?« »Damit sage ich Folgendes: Er wird das gebräuchlichste Papier gekauft haben, das er kriegen konnte, und zwar schon vor Monaten, wenn nicht sogar Jahren. Er wird es in einem großen Geschäft bar bezahlt haben, in einer Stadt, mit der er nichts mehr zu tun hat und in der er wahrscheinlich sowieso nur auf der Durchreise war. Und selbst wenn wir den Tag und die Uhrzeit herausfinden, wann er es gekauft hat, wird uns das keinen Deut weiterbringen.« Die Tür zu Massimos Büro ging auf, und Claudia, seine Sekretärin, brachte die Espressi und dazu zwei Gläser Wasser herein. »Grazie«, bedankte sich Massimo. Claudia lächelte und verschwand wieder leise. »Möchtest du?« Massimo bot Jack eine Tasse an. »Na klar«, sagte Jack, der nach etwas gierte, was ihn aus seiner momentan pessimistischen Stimmung reißen würde. »Außerdem sind Stift und Papier ohnehin nicht die wichtigsten Spuren.« »Ah, du meinst den Text?«, fragte Massimo, und zog seinen Stuhl neben Jack auf der anderen Seite des Schreibtischs. »Ja. Er hat lang und gründlich über seine Worte nachgedacht, Massimo. Was war denn dein erster Eindruck?« Massimo nahm das Blatt und las stumm. »Schockierend. Kaltblütig. Brutal. Wie sagt man, er kommt gleich auf den Punkt, stimmt’s?« »Ja, stimmt. Was noch?« Massimo grübelte einen Augenblick. »Klar, bedrohlich, gefährlich.« Er suchte nach Worten. »Und du? Was erkennst du darin?«
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Jack warf einen Blick auf das Blatt. »Er bettelt um Aufmerksamkeit. Die Großbuchstaben, der knappe Stil, die Verwendung von Ausrufezeichen, sein Name, der gleich zweimal auftaucht, all das beweist, dass er unsere Aufmerksamkeit sucht, ja fast fordert. Wie du weißt, ist das normalerweise ein Zeichen dafür, dass der Mörder vor Wut gleich platzen wird. Ich würde sagen, er wird entweder schon sehr bald wieder töten oder hat dies seit diesem Brief bereits getan.« Massimo wollte gar nicht daran denken. Seine Abteilung war sowieso schon überarbeitet, und ein weiterer Mord würde das blanke Chaos auslösen, nicht nur im Fall Barbujani, sondern auch in drei weiteren, von diesem unabhängigen Fällen, in denen er die Ermittlungen leitete. Er nahm sich eine Zigarette, klopfte das Ende mehrmals auf die Tischplatte und fragte: »Hat ihn das Verfassen des Briefes wohl erregt?« »Bestimmt«, antwortete Jack. »Und nicht nur das, sondern auch gestärkt. Vor allem aber wird ihn das Warten anmachen, die Vorfreude darauf, dass wir ihn finden und lesen.« Massimo warf erneut einen Blick auf den Brief. »Mir ist aufgefallen, dass er buongiorno richtig geschrieben hat. Das tun nicht viele Ausländer. Ich halte ihn für einen gebildeten Menschen.« »Ein Dummkopf ist er sicher nicht, nein. Wenn du dir den Brief anschaust, wirst du feststellen, dass alles richtig ist, Grammatik, Rechtschreibung, Zeichensetzung sind fehlerfrei«, sagte Jack. »Ich denke, dafür gibt es zwei Gründe. Erstens glaube ich nicht, dass er übermäßig intelligent ist, er ist vielmehr übermäßig sorgfältig. Der BR-Killer geht alles genauestens durch, was er tut, und das grenzt dann schon mal an Überpingeligkeit. Der Kerl hat bestimmt die Schreibweise von buongiorno nachgeschlagen, um nur ja keinen Fehler zu machen. Seine ganze Lebenseinstellung besteht darin, vorsichtig zu sein, vorauszuplanen, den einen Fehler zu vermeiden, der das Ende
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seiner Freiheit bedeuten würde, und das spiegelt sich auch in diesem Brief wider.« »Und zweitens?«, fragte Massimo. »Sein Ego. Hier handelt es sich um einen Mörder mit dem größten Ego auf der ganzen Welt. Wenn man Egos sehen könnte, müssten wir uns nur ein Flugzeug mieten, ein bisschen herumfliegen und ihn einkassieren. So einfach wäre das.« »Und woher kommt sein Ego?« »Der BR-Killer wäre schwer gedemütigt, wenn er einen Fehler gemacht hätte und glauben müsste, wir würden über ihn lachen, nicht er über uns.« Jack schob Massimo den Brief hin. »Schau dir das hier mal an«, sagte er und wies auf das Smiley. »Kids benutzen so etwas in ihren E-Mails, sie verwenden dieses Symbol, um auf unkomplizierte, unschuldige, kindische Weise zu zeigen, dass sie sich wohlfühlen. So ein Smiley ist praktisch das erste Gesicht, das ein Kind malen kann. Indem der Täter dieses Symbol verwendet, zeigt er uns, dass er keinen unserer Werte respektiert und glücklich darüber ist, als Bedrohung des Wertvollsten angesehen zu werden, was wir haben, unsere Kinder. Er benutzt das Smiley zur Einschüchterung. Und dann schau hier.« Jack unterstrich mit dem Finger die Zeile mit dem HA! HA! HA!. »Er unternimmt größte Anstrengungen, uns zu verhöhnen. Auffällig die Großbuchstaben und gleich drei Ausrufezeichen. Damit will er uns sagen: Ihr seid in meinen Augen nur Witzfiguren, kapiert ihr das nicht? Und jetzt kommt die kränkste Zeile von allen.« Jack fuhr mit dem Finger zu den Worten »STÜRZT EUCH BLOSS NICHT ›HALS ÜBER KOPF‹ IN DAS, WAS ICH FÜR EUCH NOCH AUF LAGER HABE!«. Der ehemalige FBI-Profiler lehnte sich zurück. »Er warnt uns davor, dass er erneut morden wird. Warum?« Massimo zündete sich die Zigarette an, pustete den Qualm aus und dachte sorgfältig über seine Antwort nach. »Das Ganze ist ein Spiel. Vielleicht ist das alles für ihn ein einziges riesiges Spiel.« 192
Der Zigarettenrauch ließ Jack blinzeln. »Du hast recht, er will sichergehen, dass wir mitspielen. Ich glaube, er ist hier in Italien, und ich bin mir jetzt hundertprozentig sicher, dass er wieder morden wird.«
San Quirico d’Orcia, Toskana Terry McLeod, ein amerikanischer Tourist, bezahlte das Taxi, trug sein Gepäck von der staubigen Straße und machte sein erstes Urlaubsfoto: eine Außenansicht von La Casa Strada. »Sehr hübsch hier«, meinte er zu Maria am Empfang, als er in den kühlen Eingangsbereich trat und seine Ankunft bekannt gab. »Sie bleiben nur fünf Tage bei uns, ist das richtig, Mister McLeod?«, sagte sie auf Englisch, jener Sprache, von der sie hoffte, sie eines Tages so gut zu beherrschen, dass sie international um den Titel einer Schönheitskönigin kämpfen konnte. »Richtig. Schade, dass ich nicht länger bleiben kann. Bin noch nie in der Toskana gewesen, sieht einfach fantastisch aus hier.« McLeod warf einen Blick auf Marias Namensschild. »Sagen Sie, Maria, sind die Hotelbesitzer eigentlich da? Wie hießen sie noch gleich?« »Mr. und Mrs. King.« Maria hatte große Mühe, ihm zu folgen, weil er so schnell sprach. »Mrs. King ist hier, nur Mr. King nicht. Soll ich sie rufen?« Sie griff nach dem Haustelefon. »Sind Sie ein alter Freund aus Amerika?« »Nein, nein, lassen Sie nur«, sagte der Mann. »Ich werde ihr sicher noch über den Weg laufen, während ich hier bin. Noch jede Menge Zeit, sie mal zu erwischen, also lassen Sie’s ruhig sein.« Maria betrachtete den Gast genauer. Er war etwa so alt wie Mr. King, aber lange nicht so groß oder gut aussehend. Er hatte einen kleinen feisten Bauch, der sich unter einem pinkfarbenen Designer-Poloshirt wölbte, genau so eines übrigens, wie sie ihrem Freund Sergio eines kaufen wollte. Bei genauerem 193
Hinsehen bemerkte sie einen schmalen braunen Fleck darauf, so als wäre dem Mann etwas Kaffee oder Eiscreme aus dem Maschinengewehrmund getropft und auf dem Bauch gelandet, weil der so weit vorstand. »Darf ich bitte Ihren Ausweis haben?«, fragte Maria. »Und für die Abrechnung eine Kreditkarte? Das Frühstück ist inklusive und wird bis halb elf serviert.« McLeod reichte ihr seinen Pass und musterte die Empfangsdame, während sie eine Fotokopie machte. Sie war hübsch. Er hätte ein Vermögen dafür bezahlt, wenn man sie ihm mit ein paar Büchsen Bier und einer vernünftigen Klimaanlage aufs Zimmer geschickt hätte. Mann, Italien war ja ganz toll, mit seinen alten Trümmern und so weiter, aber wenn’s um Klimaanlagen ging, dann war tote Hose. »Vielen Dank«, sagte Maria. McLeod lächelte sie an. »Wie sagt man auf Italienisch? Dasselbe wie auf Spanisch, gracias?« »Nein«, erwiderte Maria höflich, »nicht ganz. Wir sagen grazie.« »Grat-ziehe«, sagte er. »Perfetto«, sagte Maria, die es für unhöflich hielt, seine Aussprache zu korrigieren. »Sie haben die Skorpion-Suite«, fuhr sie fort und nahm einen Schlüssel vom Brett hinter sich. »Den Gang hier rechts, dann links und ein paar Stufen hinauf.« »Skorpion«, wiederholte der Mann. »Sind alle Zimmer nach Sternzeichen benannt?« »Ja. Ja, das sind sie«, antwortete Maria, die langsam genug von ihm hatte. Wenn der Mann endlich weg war, konnte sie die Illustrierte wieder unter dem Tisch hervorholen. »Wie viele Zimmer gibt’s denn insgesamt?« Maria musste einen Augenblick nachdenken. »Sechs. Nein, acht. Wir haben insgesamt acht Zimmer.« »Acht«, wiederholte McLeod und fantasierte einen Augenblick lang, wie er wohl die schöne Maria überreden könnte, eine Weile mit ihm in einem der Zimmer zu verbringen. Später. 194
Dafür war später noch Zeit. Er hatte noch eine Menge vorzubereiten. Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.
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KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Rom Die Besprechung des Falls Cristina Barbujani war für vierzehn Uhr angesetzt worden, aber Massimo hatte darauf bestanden, vorher in einem Restaurant um die Ecke gemütlich zu Mittag zu essen, und erklärt, dass zwei Uhr nachmittags in Italien irgendwann vor vier bedeutete. Das Treffen wurde in einem dafür vorgesehenen Einsatzbüro abgehalten. Als Jack und Massimo dort eintraten, unterhielten sich die anderen geräuschvoll und deuteten immer wieder auf die weißen Flipcharts. Der Direttore stellte Benito, Roberto und die Gerichtsmedizinerin Dottoressa Annelies van der Splunder vor. »Orsetta Portinari kennst du ja bereits«, sagte er und unterdrückte ein Grinsen. »Sehr erfreut, Sie wiederzusehen, Mr. King«, sagte Orsetta freundlich. »Ganz meinerseits, Ispettore«, erwiderte Jack nicht ganz so überschwänglich. »Verzeihen Sie«, fuhr er fort und wandte sich an die Medizinerin, eine große, recht stämmige Frau von Ende dreißig mit kurzem strohblondem Haar. »Ihr Name klingt nicht sehr italienisch.« »Ach, Sie sind ja tatsächlich ein richtiger Detektiv«, witzelte die Dottoressa. »Ich bin Holländerin. Ich hatte das Glück, mich in eine Italienerin zu verlieben, und bin vor etwa sieben Jahren hergezogen. Ich liebe Rom, die Stadt ist mein neues Zuhause.« »Jack und seine Frau sind ebenfalls italophil«, bemerkte Massimo. »Sie führen ein kleines, aber – wie ich mir habe sagen lassen – sehr exklusives Hotel in der Toskana.« 196
»Klingt fantastisch«, sagte die Gerichtsmedizinerin. »Sie müssen mir unbedingt mehr davon erzählen. Lunetta und ich sind immer auf der Suche nach einem hübschen Fleckchen für ein langes Wochenende.« »Lunetta?«, unterbrach sie Orsetta. »Lunetta della Rossellina, das Model?« »Ja«, antwortete die Dottoressa, die offenbar erfreut war, dass man den Namen kannte. »Lunetta liebt Kleidung, und ich liebe Essen und Wein, wie man leicht sehen kann.« »Dann ist Italien ja perfekt für Sie beide«, meinte Massimo diplomatisch. »Dottoressa, Jack hat Ihren Bericht bereits gelesen, aber wären Sie wohl so freundlich, ihn auf den neuesten Stand hinsichtlich Cristina Barbujanis Blutgruppe zu bringen. Wir sprachen ja gestern Abend darüber.« »Aber natürlich«, sagte sie. »Wollen wir uns nicht setzen?« Das Team nahm um einen einfachen langen Konferenztisch aus Buchenholz Platz. Annelies van der Splunder setzte sich eine runde Brille mit Drahtgestell auf, mit der sie, wie Orsetta fand, halb wie eine Schuldirektorin und halb wie ein Uhu aussah. »Die Untersuchungen, die ich durchgeführt habe, befassten sich mit den abgetrennten Gliedmaßen, dem Torso, dem Mageninhalt und dem Kopf einer jungen weißen Italienerin von Mitte zwanzig. Sie heißt Cristina Barbujani und stammt aus Livorno. Die Leichenteile wurden mir im Laufe einer Woche überantwortet. Der Kopf dieser armen Frau kam als Letztes zu mir. Aus diesem abgetrennten Kopf konnte ich die meisten Informationen gewinnen, unter anderem die Tatsache, dass Cristina die Blutgruppe AB rhesusnegativ hatte.« »Eine recht seltene Blutgruppe, oder?«, fragte Jack. »Ja, richtig. Blutbestimmung ist zwar mein Lieblingsthema, aber leider kann ich nicht genau sagen, wie selten diese Gruppe in Italien ist. Wahrscheinlich haben weniger als neun Prozent der Bevölkerung die Blutgruppe AB. AB ist die seltenste und 197
zufällig auch die am spätesten entdeckte Blutgruppe. 0 ist die älteste und geht bis in die Steinzeit zurück. Dann kommt A, die ihre Wurzeln in den bäuerlichen Ansiedlungen Norwegens, Dänemarks, Österreichs, Armeniens und Japans hat. AB ist noch keine tausend Jahre alt und hat sich in Europa durch eine Vermischung aller Blutgruppen gebildet.« »Und der Rhesusfaktor?«, hakte Jack nach. Annelies setzte für einen Augenblick die Brille ab. »Wie Sie sicher wissen, ist D das am weitesten verbreitete Antigen. Ist es vorhanden, nennen wir die Gruppe rhesuspositiv. Bei Cristina war es nicht vorhanden, also ist sie rhesusnegativ. Fazit: Wahrscheinlich weisen nur drei Prozent der Bevölkerung diese Blutgruppe mit dem entsprechenden Rhesusfaktor auf.« »Das ist sehr hilfreich«, sagte Jack und wandte sich an Massimo, »aber nur, wenn wir das Blut an unserem Täter oder an der Stelle finden, wo der BR-Killer Cristinas Leiche zerstückelt hat. Als Beweis wäre es vor Gericht sehr aussagekräftig, wenn wir ihr Blut mit einem Verdächtigen in Verbindung bringen könnten.« »Ja, aber den Tatort zu finden«, warf Benito ein und zuckte die Achseln, »ist uns bisher noch nicht gelungen.« »Wo haben Sie denn schon überall gesucht?«, fragte Jack vorsichtig. »Wir mussten uns auf Livorno und die großen Städte konzentrieren, die enge Verbindungen zu der Stadt und der Provinz haben«, antwortete Benito. »Also arbeiten wir uns in Richtung Pisa vor, das zwanzig Kilometer entfernt liegt, Lucca fünfzig, Florenz etwa hundert, und schließlich Siena, vielleicht hundertzwanzig Kilometer. Wir nehmen Autovermietungen unter die Lupe, Hotels und Pensionen, auch Speditionen. Wir fragen bei allen nach, ob sie in letzter Zeit aus ihren Fahrzeugen oder in ihren Zimmern Blut entfernen mussten. Bisher ohne Ergebnis.« Jack bezweifelte, dass die Suche etwas ergab, worauf sich eine Anklage aufbauen lassen konnte, aber ihm war klar, dass diese 198
Routinechecks durchgeführt werden mussten. Häufig genug führte genau das zum entscheidenden Durchbruch und nicht etwa brillante Einfälle. »Damit ich das jetzt richtig verstehe«, sagte Jack und wandte sich wieder an die Medizinerin. »Sie gehen also davon aus, dass der Killer den Kopf bis zu zwei Wochen bei sich behalten hat, bevor er ihn hierherschickte?« »Ungefähr«, sagte van der Splunder vorsichtig. »Bitte bringen Sie den Todeszeitpunkt und den der Enthauptung nicht durcheinander. Der Tod trat am oder um den 14. Juni ein, Enthauptung und Zerstückelung ereigneten sich höchstwahrscheinlich am oder um den 20. Juni.« »Woran ist sie denn gestorben?« Die Gerichtsmedizinerin zuckte zusammen. »Ich fand Spuren einer prämortalen Prellung am Kehlkopf.« »Also wurde sie erdrosselt oder auf irgendeine Weise erstickt?« »Davon gehe ich aus«, antwortete Annelies van der Splunder. »Es gab keinerlei Hinweis auf eine Erdrosselung mithilfe eines Gegenstandes, also nehme ich an, dass sie mit den Händen erwürgt wurde. Und tatsächlich passen einige der Spuren am Hals zu einem festen Druck der Knöchel einer Männerhand.« Jack wusste, was sie meinte und warum sie zusammengezuckt war. Es hätte etwa vier Minuten gedauert, Cristina auf diese Weise umzubringen. Jack hoffte für die arme Frau, dass sie nach einer halben Minute in Ohnmacht gefallen war, wenn dem Gehirn der Sauerstoff ausging, aber selbst dann dürfte es ein entsetzlich langsamer Tod gewesen sein. Vielleicht der schlimmste nur vorstellbare Tod, wenn der Killer sie bis kurz vor ihrem Ableben würgt, dann loslässt, damit sie sich wieder erholt, nur um dann sofort wieder zu würgen. Jack kannte Würger, die den ganzen Tötungsprozess in einen sexuellen Marathon verwandelt hatten, bei dem sie ihre Gewalttätigkeit langsam aufwallen und abebben ließen, bevor sie schließlich mit 199
einem letzten tödlichen Druck der Finger zum brutalen Höhepunkt kamen. »Macht’s dir was aus, uns an deinen Gedanken teilhaben zu lassen?«, fragte Massimo beiläufig. Jack riss sich von den Gedanken an die Todesszene los und kehrte zu der unemotionaleren Frage nach dem zeitlichen Ablauf zurück. »Nehmen wir mal an, der BR-Killer ist für den Mord an Cristina verantwortlich, gleichzeitig aber auch für die Schändung von Sarah Kearneys Grab in Georgetown. Wir haben den ungefähren Todeszeitpunkt und den Zeitpunkt, an dem ein paar Jungs Sarahs Grab entdeckt haben, also müssten wir doch ein Zeitfenster bestimmen können, zu dem er aus Italien abreisen und nach Amerika fliegen musste.« Massimo nickte. »Wir gehen bereits die von der Grenzpolizei durchgeführten Ausweiskontrollen sämtlicher männlicher USStaatsbürger durch, die in den letzten drei Monaten nach Italien eingereist sind und das Land wieder verlassen haben. Du wirst staunen, wie viele das sind!« Jack hakte nach. »Also, wenn wir diesen Zeitrahmen richtig abstecken, sollten wir die Zielzeit doch erheblich einschränken können.« Er trat an eines der weißen Flipcharts, nahm einen schwarzen Filzstift und schrieb beim Sprechen Schlüsselbegriffe auf. »Am 9. Juni wird Cristina von Freunden das letzte Mal lebend gesehen. Am Tag darauf wird sie als vermisst gemeldet. Um den 14. herum wird sie umgebracht, aber er behält die Leiche, lässt sie weitere sechs Tage unversehrt. Damit sind wir dann schon beim 20. Juni.« Jack warf der Gerichtsmedizinerin einen kurzen Blick zu, die daraufhin zustimmend nickte. »Am 20. zerstückelt er sie. Zwei Tage später, am 22. Juni, werden die ersten Leichenteile gefunden. Das nächste wichtige Datum ist die Anlieferung von Cristinas Kopf hier in Rom am 25. Juni. Untersucht wird der Kopf am 26. Juni.« Jack überflog alles noch einmal, um sicherzugehen, dass er keinen Fehler gemacht hatte. Niemand korrigierte ihn, also schob er die letzten Teile des 200
Puzzles zusammen. »Das FBI geht davon aus, dass der BRKiller in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli auf dem Friedhof in Georgetown, South Carolina, war. Also können wir davon ausgehen, dass er Italien am Abend des 25. oder am Morgen des 26. Juni verlassen hat. Er ist demnach am 26. oder 27. Juni in den USA eingetroffen, nur ein paar Tage vor der Grabschändung.« »Gibt es einen Direktflug von Italien nach Georgetown?«, fragte Massimo. Jack runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Der Myrtle Beach International ist ein ziemlich großer Flughafen, vielleicht gibt es Direktflüge von Rom oder Mailand aus.« »Wir werden uns noch einmal auf diesen engeren Zeitraum konzentrieren«, versprach Benito und schrieb die Daten auf seine immer länger werdende Liste. Alle starrten wieder auf die Tafel, dann fragte Massimo: »Warum, glaubst du, hat er sich Livorno ausgesucht?« »Gute Frage«, erwiderte Jack. »Bislang hat der BR-Killer immer in der Nähe einer Küste gemordet. Das Meer ist sehr zweckmäßig, um Leichen zu beseitigen. Vielleicht ist das schon die ganze Erklärung. Vielleicht stoßen wir später aber noch auf eine größere Bedeutung. Eine mögliche Verbindung zu einem Hafen können wir nicht ausschließen. Er könnte ein Seemann sein. Allerdings muss ich erwähnen, dass wir umfassende Überprüfungen bei der amerikanischen Marine durchgeführt haben, ohne auf irgendeinen potenziellen Verdächtigen gestoßen zu sein.« »Livorno hat einen sehr lebhaften Hafen«, sagte Orsetta. »Und wenn ich mich recht entsinne, gibt es dort auch eine Marineakademie.« »Ja«, bestätigte Benito, »die Offiziersschule. Die italienische Marine ist seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Livorno stationiert.«
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»Woher weißt du so was?«, fragte Orsetta mit einem trockenen Lächeln auf den Lippen. Benito hob die Hände, so als wollte er kapitulieren. »Ich geb’s ja zu, ich wollte mal zur See fahren, bin dann aber nur Polizist geworden. Nichts, weswegen ich mich schämen müsste.« Nachdem das Lachen verebbt war, griff Jack den Faden wieder auf. »Wir wissen nicht, warum der BR-Killer in Livorno war, aber wir können davon ausgehen, dass er dort war und sich Cristina gezielt ausgesucht hat. Gibt es irgendwelche Zeugenaussagen, dass sie in den Tagen vor ihrem Verschwinden mit einem Fremden gesehen wurde?« Massimo schüttelte den Kopf. »Hätte ich auch nicht erwartet«, fuhr Jack fort. »Gut möglich also, dass der BR-Killer sie überredet hat, in ein Fahrzeug zu steigen und freiwillig mit ihm an einen abgelegenen Ort zu fahren, den er zuvor präpariert hat.« »Moment mal«, sagte Massimo. »Orsetta, hat Cristina nicht bei irgendwelchen Ausgrabungen in der Nähe von Florenz mitgeholfen?« »Ja«, bestätigte Orsetta. »Freunde haben ausgesagt, dass sie regelmäßig bei den Ausgrabungsstätten in der Nähe von Montelupo Fiorentino war, irgendwas mit der Erforschung einer mit Fresken versehenen Grabkammer.« »Unser Opfer war eine Grabräuberin?«, fragte Jack. Orsetta schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil. Sie stand ganz auf der offiziellen Seite der Archäologie, galt als äußerst gesellschaftsorientiert und setzte sich leidenschaftlich für die Erhaltung italienischer Kulturgüter ein.« »Ein großer Verlust«, sagte Massimo und dachte für einen Augenblick darüber nach, was für eine Person Cristina gewesen war und dass sie zweifellos alle Ansätze gehabt hatte, eine gute Mutter und Staatsbürgerin zu werden, wenn sie denn nur die Chance gehabt hätte, ihr Potenzial zu erkennen. Er kratzte sich am Kinn und fügte dann hinzu: »Konzentrieren wir uns auf die 202
Route von Livorno nach Montelupo Fiorentino. Vielleicht ist ihr der BR-Killer auf dem Hin- oder Rückweg begegnet. Erinnern Sie sich noch an den Fall vor ein paar Jahren, als wir einen Täter hatten, der sich auf Frauen konzentrierte, von denen er Bilder in der Zeitung gesehen hatte? Wir sollten prüfen, ob Cristina in jüngster Zeit in irgendwelchen Zeitungen, Illustrierten, Touristenbroschüren oder auf Internetseiten zu sehen war.« »Alles klar«, sagte Benito. Jack kehrte dem Flipchart den Rücken und wandte sich noch einmal an die Medizinerin. »Dottoressa, aus Ihrem Bericht weiß ich, dass an Cristinas Gliedmaßen keinerlei Haut-, Blut- oder Samenspuren des Täters gefunden wurden. Hat die Toxikologie auch nach Spuren von Gleitmitteln oder Kondomen gesucht, vor allem an den Schädelöffnungen?« Annelies verzog das Gesicht; nicht angesichts des Gedankens, wie widerlich ein solcher Akt war, sondern bei der Erinnerung daran, wie weit fortgeschritten die Verwesung des Kopfes bereits war. »Nein, aber ich würde mir da keine allzu großen Hoffnungen machen. Ein Großteil des Gewebes und der Organe hatte sich bereits verflüssigt. Es gab ein paar winzige Spuren in der Mundhöhle, aber die passten zu dem dort hineingestopften Plastikbeutel, in dem sich die Nachricht befand. Warum fragen Sie?« Jack massierte mit beiden Händen langsam sein Gesicht; fast sah es so aus, als wollte er sich die Müdigkeit abwaschen. »Wir wissen aus Fallstudien, dass Mörder, die Köpfe abtrennen, diese sehr häufig zu sexuellen Handlungen verwenden, indem sie entweder Mund- oder Augenöffnungen penetrieren oder auf den Schädel ejakulieren. Wir haben auch durchaus Erfolge erzielt, sich der Möglichkeiten der modernen Spurensicherung bewussten Sexualstraftätern aufgrund der Gleitmittel an den Kondomen auf die Spur zu kommen, die sie in der Hoffnung benutzt hatten, auf diese Weise keine verräterische DNS am Tatort zurückzulassen.« 203
»Ich werde das Labor anweisen, nichts unversucht zu lassen«, versprach die Gerichtsmedizinerin, »aber wie schon gesagt, große Hoffnungen würde ich mir da nicht machen.« »Danke«, sagte Jack. »Ich habe noch eine Frage«, sagte Massimo und hielt Cristinas Fotos ins grelle Neonlicht. »Hier scheint es sich doch nicht ausschließlich um einen Sexualmord zu handeln. Warum aber hat er es dann getan? Warum hat er diese junge Frau getötet?« Die Frage schwebte wie eine dunkle Wolke über ihrem gedankenversunkenen Schweigen, bis Jack schließlich antwortete. »Er hat sie begehrt. Die Zeit, die er mit ihr verbrachte, bevor er sie tötete, und die Zeit, die er danach mit ihrer Leiche verbrachte, deuten darauf hin, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Ganz gleich, aus welchem Grund er sie schließlich umbrachte, ob nun, um sich von einer gewalttätigen Spannung zu befreien, um eine sexuelle Fantasie zu befriedigen oder um irgendein düsteres psychologisches Verlangen zu stillen, er fühlte sich zu ihr hingezogen. Vielleicht, und das wissen Sie alle genauso gut wie ich, vielleicht hat er nur nach einem Opfer gesucht, und Cristinas körperliche Erscheinung hat unbewusst irgendeinen Schalter in seinem Kopf umgelegt, wodurch er sich auf sie als Opfer konzentrierte. Vielleicht gibt es auch eine fundiertere Verbindung, eine frühere Begegnung, seit der er sie attraktiv fand. Aber das glaube ich eigentlich nicht. Der BR-Killer verfolgt seine Opfer, tötet sie und …« Jack versagte die Stimme, während er sich vorzustellen versuchte, von welchem inneren Verlangen der Killer getrieben wurde. »Bedenkt man, wie viel Zeit er mit ihrer Leiche verbracht hat, scheint er noch von einem besonderen Verlangen getrieben worden zu sein, nachdem sie tot war. Es ist, als würde der Tod irgendein psychologisches, möglicherweise sexuelles Verlangen befriedigen, als würde der Tod eine Urleere in seinem Leben füllen.« Jack starrte ein Loch in die Luft und dachte an frühere Fälle, an über ein Dutzend Frauen, die unter ähnlichen Umständen 204
sterben mussten wie Cristina. Dann wandte er sich wieder an Massimo. »Ich nehme an, wir werden deine Frage erst wirklich beantworten können, wenn wir ihn haben, und selbst dann erfahren wir die wahren Gründe vielleicht nie.« »Gut möglich«, meinte Massimo. »So oder so bleibt noch die nächste große Frage: wo er das nächste Mal morden wird. Hier in Italien oder in den USA, wohin er unserer Meinung nach zurückgekehrt ist?« Jack verzog das Gesicht, aber nicht wegen des Ernsts der Frage, sondern wegen des stechenden Schmerzes, der ihm schnell und tief wie ein Torpedo durch den Kopf schoss, an der rechten Schläfe einschlug und explodierte. Im rechten Augenwinkel zuckte es, dasselbe Zucken, das nur ein paar Wochen vor seinem Zusammenbruch am Flughafen angefangen hatte. »Keine Ahnung«, antwortete Jack, holte tief Luft und rieb sich das Gesicht in der Hoffnung, das Zucken wegmassieren zu können. Alte Wunden wurden aufgerissen, und die seelischen Narben, von denen er gehofft hatte, dass sie völlig verheilt wären, schmerzten wieder wie neu.
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KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
FBI-Behörde, New York Howie Baumguard und seine neue Partnerin Angelita Fernandez saßen im Konferenzraum und warteten darauf, dass der IT-Heini endlich die Videoschaltung nach Rom einrichtete. Howie hatte sich außerdem einen Cappuccino mit einer dicken Schicht Kakaopulver auf dem Schaum mitgebracht. »Teilen wir?«, fragte Angelita Fernandez, eine leicht rundliche 39-Jährige mit schulterlangem dunklem Haar, das sie, wie Howie bemerkte, gelegentlich zu einem Zopf zurückband und zu einem schneckenförmigen Knoten hochsteckte. »Ach, hätte ich dir auch einen mitbringen sollen?«, sagte Howie und bedauerte schon fast, Angelita als Erste zu seinem BR-Killer-Einsatzteam hinzugezogen zu haben. »Wäre zumindest nett gewesen«, neckte ihn Angelita. »Aber ist schon in Ordnung, ich kann improvisieren.« Sie verließ den Konferenztisch und kehrte mit zwei Plastikbechern vom Wasserspender zurück. Sie steckte einen in den anderen, schnappte sich Howies Becher und goss sich einen Schluck ein. »Danke«, sagte sie und schob den Becher zurück. »Mann, wie ich schüchterne Frauen hasse! Wann kommt ihr Mädels endlich aus den Puschen und fangt an, euch zu behaupten?«, fragte er trocken. »Ich hab ein Bild«, sagte der IT-Typ. Alle Blicke fielen auf die von oben heruntergezogene Leinwand an der Seite des Raums. Howie lächelte, als er Jack sah, der neben Massimo Albonetti saß und sich intensiv mit ihm unterhielt. Noch fehlte der Ton. 206
»Attraktiver Kerl«, sagte Angelita. »Davon hätte ich auch gern was ab.« »Was? Du stehst auf glatzköpfige kleine Italiener?«, fragte Howie. »Nein, den meinte ich nicht. Aber jetzt, wo du’s sagst, fällt mir schon der eine oder andere ein, für den ich noch ein Plätzchen im Bett frei hätte.« Howie lächelte sie an. Angelita hatte vor achtzehn Monaten eine schmerzhafte Scheidung hinter sich gebracht. Dabei sollte die Tatsache erwähnt werden, dass die Scheidung für ihren Ex erheblich schmerzhafter gewesen war als für sie. Angelita war nach einer 14-Stunden-Schicht nach Hause gekommen und hatte ihren Mann mit einer Nachbarin nackt im Bett vorgefunden. Nachdem sie den dürren Hintern der Schlampe die Treppe hinunter und zum Haus hinausgejagt hatte, hatte sie ihren Ex mit bloßen Händen fast ohnmächtig geprügelt. »Ton steht«, verkündete der IT-Mann, bevor Howie sich über das Wer und Warum an der italienischen Front auslassen konnte. Der Ton stand nicht nur, der Techniker hatte ihn auch so laut aufgedreht, dass den beiden FBI-Beamten fast der Schädel platzte. »Leiser! Dreh das verdammte Ding leiser!«, brüllte Howie und hielt sich die Ohren zu. »Grüße aus dem wunderschönen Rom«, verkündete Jack mit der Lautstärke eines startenden Düsenjets. »Ciao!«, sagte Massimo und drehte sich seitlich zu jemandem, der nicht im Bild zu sehen war, hielt eine Hand vor den Mund und sagte etwas auf Italienisch. »Wir können dich noch nicht sehen«, sagte Jack. »Massimo macht hier gerade einem ihrer IT-Genies Feuer unterm Hintern. Bist du allein, Howie?«
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»Nein«, antwortete der FBI-Mann. »Ich sitze hier mit Special Agent Angelita Fernandez. Sie ist seit gestern bei der Sondereinheit.« »Hallo, Mr. King. Freut mich, mit Ihnen arbeiten zu dürfen«, sagte Angelita respektvoll. »Jetzt können wir Sie sehen«, sagte Massimo. »Tut mir leid, die Telekommunikation in Italien ist auch nicht mehr das, was sie mal war, als Marconi noch lebte.« Alle lachten und warteten, bis die Computerfreaks in Rom und New York den Raum verlassen hatten. Jack schwieg zunächst und überließ Massimo das Feld. »Ich möchte bei dieser Videokonferenz einige wesentliche Punkte ansprechen«, begann Massimo und warf einen Blick auf seine Checkliste. »Da ist zunächst Jacks auf unseren ausdrücklichen Wunsch erfolgende Mitarbeit. Zweitens, das beiderseitige Bedürfnis, Informationen auszutauschen. Drittens, ein Paket, das an die italienische Polizei hier in Rom geschickt wurde und in dem sich der Kopf einer gewissen Cristina Barbujani befand. Und viertens, die versuchte Lieferung eines Pakets an das FBI, in dem sich der Kopf von …« Massimos Stimme verlor sich, als er wieder einen Blick auf seine Unterlagen warf, »… der Kopf von Sarah Kearney befand, einem früheren, vielleicht sogar dem ersten Opfer des Black-River-Killers. Möchten Sie dem noch etwas hinzufügen?« Howie beugte sich zum Mikrofon. »Wir müssen auch noch einige organisatorische Dinge klären, zum Beispiel die Einbeziehung der Behörden in South Carolina, den Zugriff auf unsere jeweiligen Datenbanken und dergleichen, aber das können wir auch außerhalb dieser Konferenz klären, wenn Ihnen das lieber ist.« »Ja, bitte«, sagte Massimo. »Vielleicht können Sie sich mit Jack darüber verständigen, und wir stellen ihm hier eine Verbindungsperson zur Seite?« »Sicher«, antwortete Howie. 208
»Wie Sie wissen«, fuhr Massimo fort und stürzte sich in die Tagesordnung, »hat mein Team hier bei der Investigativa Psicologia Criminale Centrale Jack als Berater im Fall von Costina Barbujani verpflichtet. Das haben wir getan, weil wir glauben, dass es womöglich beunruhigende Parallelen zu Ihren BR-Killer-Fällen in den Staaten gibt. Um das direkt klarzustellen, Jack hat keinerlei polizeiliche Einsatzgewalt und fungiert einzig und allein als ziviler Experte. Er wird uns an führender Stelle beratend zur Seite stehen, Analysen und Profile bei gegenwärtigen und zukünftigen Einzelheiten des Falls liefern und psychologische Beratung zu Vernehmungsstrategien leisten, sollten wir eine Verhaftung vornehmen können. Dieser letzte Punkt wird vor allem dann sehr wichtig sein, falls sich herausstellen sollte, dass der Killer kein Italiener, sondern ein amerikanischer Staatsbürger ist.« »Sie hätten keine bessere Wahl treffen können«, sagte Howie herzlich. »Nichts bereitet mir mehr Freude, als den alten Bullen wieder im Ring zu sehen.« »Natürlich«, sagte Massimo, der sich nicht ganz sicher war, was dieses amerikanische Kompliment tatsächlich bedeutete. »Wir werden Ihnen heute Abend über eine verschlüsselte Leitung Fotos und Übersetzungen von Ermittlungsakten zum Mordfall an der jungen Frau schicken, die ich bereits erwähnte, Cristina Barbujani.« Angelita hielt eine Hand vor den Mund und flüsterte Howie ins Ohr: »Ich habe schon ein bisschen Hintergrundmaterial aus der italienischen Presse besorgt. Außerdem gibt es eine Meldung von Interpol. Der BR-Killer wird allerdings nirgendwo erwähnt.« »Die Presse in Italien«, fuhr Massimo fort, »vor allem in Cristinas Heimatstadt Livorno, behandelt den Fall als Einzeltat. Die Journalisten wissen nichts von einer möglichen Verbindung zu einem Serienmörder. Und so würden wir es auch sehr gern belassen. Jedes Gerücht von einem italienischen Serienmörder 209
würde Signore Berlusconis Medien durchdrehen lassen, was uns in der Folge die Arbeit nur noch weiter erschwert. Jede Erwähnung eines amerikanischen Serienmörders oder eines ehemaligen FBI-Profilers, der für uns arbeitet, würde nur dazu führen, dass wir hier vor den scarafaggi – den Kakerlaken – der internationalen Nachrichtenagenturen überrannt werden. Darauf können wir sehr gut verzichten.« »Keine Sorge, Mr. Albonetti«, sagte Howie. »Wir sind ganz gut darin, die Scara-Fucker, oder wie Sie die genannt haben, außen vor zu lassen. Wenn diese italienische Verbindung bekannt wird, wäre auch bei uns die Hölle los.« Massimo nickte zustimmend. »So weit also Punkt eins und zwei unserer Tagesordnung.« Da fiel ihm noch etwas ein. »Ich sollte hinzufügen, sobald wir unsere Verbindungspersonen eingesetzt haben, gehen wir zur üblichen Praxis der halbtägigen Berichterstattung über, morgens und abends, wobei im Bedarfsfall weitere Kontakte zwischen ausgewählten leitenden Beamten dazukommen.« Und damit hakte er die ersten beiden Punkte auf seiner Liste endgültig ab. »Kommen wir jetzt zu Punkt drei, dem Kopf von Cristina Barbujani, der uns anonym zugestellt wurde, und zwar in einem Paket mit der Aufschrift ›An die zuständige Behörde‹.« »Anonym«, unterbrach ihn Howie. »Soll das heißen, Sie wissen weder welcher Kurierdienst noch welche Person das Paket abgeliefert hat?« »Im Moment trifft beides zu«, sagte Massimo. »Wir wissen nicht, wer das Paket gebracht hat, und obwohl wir den Namen des Kurierdienstes kennen, können wir derzeit leider keine Verbindung mit dieser Firma aufnehmen.« »Wie geht so was denn?«, fragte Howie. Massimo seufzte leise. Diese Amerikaner wollten immer noch eine Ebene tiefer wühlen, oder es musste alles schnell, schnell gehen. »Sie müssen in dieser Angelegenheit ein wenig Geduld mit uns haben. Die Adresse des Kurierdienstes ist nirgends 210
aufgelistet, bei unseren Behörden finden sich weder Telefonnummer noch sonst ein Firmeneintrag. Das kann bedeuten, dass die Firma gar nicht existiert. Es kann auch bedeuten, dass jemand eine illegale Firma betreibt, um Steuern zu hinterziehen. Wir halten es für sehr wahrscheinlich, dass die Firma gar nicht existiert. Aber bitte, vertrauen Sie uns, sobald wir die Informationen haben, werden wir sie Ihnen umgehend weiterleiten.« Howie spürte die Frustration bei seinem italienischen Amtskollegen. »Kein Problem. Ihre Leute werden der Sache sicherlich auf den Grund gehen. Ich wollte nur wissen, welche Ähnlichkeiten oder Unterschiede zu der Art und Weise bestehen, wie Ihr Paket in Italien und unseres hier zugestellt wurde.« Massimo nickte dem riesigen Howie auf der Leinwand zu. »Ich verstehe. Bedeutsamer ist allerdings meiner Meinung nach die Nachricht, die wir in unserem Paket gefunden haben. Sie befand sich im Schädel des Opfers. Jack und ich haben geraume Zeit damit verbracht, diese Nachricht zu analysieren. Er geht davon aus, dass der Inhalt der Nachricht sehr wichtig ist.« »Eine Kopie ist schon unterwegs zu euch«, meldete sich Jack nun zu Wort. »Im Wesentlichen steht dort Folgendes: ›Buongiorno, italienische Polizei!‹ Bitte beachtet, dass er buongiorno richtig schreibt und den Satz mit einem Ausrufezeichen beendet.« Howie und Angelita schrieben alles mit. »›Anbei ein kleines Geschenk. Alles Liebe, BR-Killer‹«, fuhr Jack fort. »Er legt offenbar großen Wert auf die Feststellung, dass er der BR-Killer ist. Auch hier keinerlei Rechtschreib- oder Grammatikfehler. Die nächste Zeile ist richtig der Hammer, also haltet euch schon mal fest. ›Stürzt euch bloß nicht ›Hals über Kopf‹ in das, was ich für euch noch auf Lager habe!‹ ›Hals über Kopf‹ mit Anführungszeichen, danach wieder ein Ausrufezeichen. Die Sprache ist einfach, verständlich und legt großen Wert darauf, uns zu beeindrucken und zu fesseln.« 211
»Und alles handgeschrieben oder getippt?«, wollte Howie wissen. »Handgeschrieben«, antwortete Jack, »aber in Großbuchstaben, da werden die Experten vermutlich nicht viel herauslesen können.« »Wir legen das Manny Lieberman auf den Schreibtisch, sobald wir die Kopie haben«, sagte Howie. »Der findet doch immer was.« »Irgendeine Unterschrift, ein Postskriptum oder so etwas?«, fragte Angelita emotionslos. »Ha, ha, ha«, sagte Jack. »Wie bitte?« Angelita war sich nicht ganz sicher, ob Jack sich über sie lustig machen wollte. »Die Buchstaben H und A – HA – dreimal hintereinander und in Großbuchstaben, jedes Mal mit einem Ausrufezeichen versehen«, erklärte Jack. »Der Mann steht auf Ausrufezeichen«, sagte Howie. »Hat wahrscheinlich zu Weihnachten ’ne Kiste davon geschenkt bekommen.« »Und zum Abschluss dann ein Smiley und wieder das Kürzel BR-Killer«, sagte Jack. »Das zweite Mal in dieser kurzen Mitteilung, dass er uns darauf aufmerksam zu machen sucht, alles sei das Werk des Black-River-Killers.« »Ach, Sie meinen, er versucht es ein wenig zu sehr?«, fragte Angelita. »Glauben Sie, es handelt sich um einen Nachahmungstäter, Jack, und nicht um den wahren Jakob?« »Massimo und ich haben uns ausgiebig darüber unterhalten. Wir können diese Möglichkeit nicht ganz ausschließen«, sagte Jack. »Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich wichtig ist. So oder so haben wir es mit einem gefährlichen Psychopathen zu tun.« Massimo hob eine Hand. »Oder mit zwei gefährlichen Psychopathen.«
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»Da hast du recht«, sagte Jack und richtete seinen Blick wieder auf Howie. »Es gibt sicherlich Parallelen zwischen den BRKiller-Akten und diesem neuen Fall hier in Italien, aber wir dürfen auch nicht aus den Augen verlieren, dass es gleichzeitig auch ziemliche Unterschiede gibt.« Damit wandte er sich an Massimo. »Ist es okay, wenn ich ein paar Stichpunkte aufzähle?« Massimo nickte, also fuhr Jack fort: »Die Opferbeschreibung passt zum BR-Killer. Cristina war eine junge, schlanke Frau, die aussah wie Mitte zwanzig, tatsächlich aber etwas jünger war. Wie wir wissen, steht er auf langes dunkles Haar. Es gibt bisher keine kurzhaarigen Opfer, also scheint es hier eine ziemliche Fixierung zu geben, was wiederum bedeutet, dass das Opfer stellvertretend für eine Person in seinem Leben steht. Wir denken an die üblichen Verdächtigen – Exfreundin, frühere Ehefrau, erste Liebe, Mutter, Großmutter. Irgendwo muss es das Vorbild geben, nach dem er seine Opfer aussucht.« »Ach, also das alte Pendeln zwischen Hass und Liebe, hm?«, meinte Howie. »Genau«, sagte Jack. »Manche Täter suchen sich einen bestimmten Opfertypus, weil dieser stellvertretend für Personen steht, die sie hassen, aber aus psychologischen Gründen sind sie meist zu schwach, dieser ursprünglichen Person wehzutun. Wie bei Kemper.« Alle nickten und dachten an den klassischen Fall des amerikanischen Serienmörders Ed Kemper, der von seiner extrem dominanten Mutter seelisch tyrannisiert worden war. Statt jedoch seine Mutter umzubringen, hatte er die Großeltern getötet, danach dann eine lange Liste von Schülern aus der Schule, an der seine Mutter tätig war, wobei er von manchen seiner Opfer den Kopf unter dem Schlafzimmerfenster seiner Mutter vergrub und sich dann über sie lustig machte, indem er sagte, wie alle Kinder ihrer Schule zu ihr aufblicken würden. »Der für mich größte Unterschied«, fuhr Jack fort, »besteht in dieser Geschichte mit dem Schädel. Wir sind uns ziemlich 213
sicher, dass der BR-Killer Trophäen von seinen Opfern genommen hat, und wir sind uns weiter recht sicher, dass es sich dabei stets um die linke Hand handelte.« Angelita sah nach unten und wackelte mit den Fingern ihrer linken Hand; sie war froh, dass alle Gelenke noch intakt und funktionstüchtig waren, vor allem an jenem Finger, von dem sich der Ehering nur mühsam hatte lösen lassen, obwohl sie daran wie verrückt gezogen und gezerrt hatte. Jack hob zur Betonung seine linke Hand. »Wir sind uns nicht ganz sicher, welche Bedeutung das hat, aber möglicherweise hat es damit zu tun, dass die linke Hand weibliche Treue symbolisiert, schließlich handelt es sich üblicherweise um die Hand mit dem Ehering.« Er fingerte an seinem eigenen Ehering und musste einen flüchtigen Augenblick an Nancy denken, an das Konfetti und an den Tag, an dem sie vor fast zehn Jahren geheiratet hatten. »Vielleicht ist die ganze Angelegenheit aber auch gar nicht so romantisch. Vielleicht spielt die Linke nur deshalb eine solche Rolle in seinem Leben, weil er oder die Frau, die er mal geliebt hat, eine verkrüppelte linke Hand hat beziehungsweise hatte. Wir wissen es einfach nicht, daher sollten wir auch keine voreiligen Schlüsse ziehen. Unter dieser Maßgabe betrachtet, ist die Geschichte mit den Schädeln etwas völlig Neues. Er hat den Opfern schon früher den Kopf abgetrennt, aber er hat nie welche behalten, nicht einmal als Trophäe.« »Aber es sind ja auch nicht wirklich Trophäen«, meinte Massimo nachdenklich. »Er hatte nicht die Absicht, diese Körperteile zu behalten. Es handelte sich doch eher um eine mehr egoistische Handlung, ganz im Einklang mit der Botschaft, die er uns geschickt hat. Hier geht es doch eher um eine Demonstration von Stärke, finde ich, so als wollte er sicherstellen, auch ja unser Interesse zu wecken.« Jack war nicht ganz überzeugt. »In der Psychologie wird heftig darüber debattiert, was eine Trophäe tatsächlich ist. Manche 214
Experten vertreten die Auffassung, allein die Tatsache, dass jemand etwas von einem Tatort entfernt, und sei es nun ein Knopf oder ein winziges Schmuckstück, mache diesen Gegenstand bereits zur Trophäe. Es wird zu einer Beute, zu etwas, was der Mörder in seinem eigenen emotionellen und sexuellen Kampf, jemandem das Leben zu nehmen, gewonnen hat, und er nimmt dies als Erinnerung an jenes Hochgefühl mit, das er dabei empfunden hat. Es gibt heute zahlreiche Belege dafür, dass Serienmörder ihren Opfern etwas abnehmen, aber nicht sehr lang behalten. Häufig ›schenken‹ sie es weiter, sie übergeben es der Wohlfahrt, einem Freund oder Nachbarn. Es ist ein widerwärtiger Gedanke, aber es macht ihnen eindeutig Spaß, Beweisstücke eines brutalen Mordes in die Hände Unschuldiger zu geben.« »Außerdem wird es ihnen langweilig«, fügte Howie hinzu. »Manche von denen sind dabei wie Teenager, die sich ihr erstes Pornoheft kaufen. Beim ersten Mal sind sie noch ganz ängstlich und aufgeregt, und sie nehmen für diesen Kauf all ihren Mut zusammen. Dann kaufen sie sich so etwas regelmäßig und legen eine Sammlung an, sie werfen die alten Magazine fort und brauchen immer härtere Sachen, um das Feuer am Brennen zu halten.« »Du kennst dich da anscheinend gut aus, was?«, flüsterte Angelita ein wenig zu laut, als dass es nur Howie hätte hören können. »Kommen wir wieder auf den Punkt zurück« sagte Jack. »Die Sache mit dem Egoismus kaufe ich ihm ja noch ab, das springt einem ja aus der Nachricht förmlich entgegen, aber nicht die Vorstellung, dass dieser Kerl nach Publicity schreit. Schlagzeilen sind ihm egal. Diese Hypothese würde ich eher annehmen, wenn er die Schädel an die Presse geschickt hätte, was er aber nicht getan hat, er hat sie dezidiert an die Polizei geschickt. Also schmeißt er wohl eher uns den Fehdehandschuh vor die Füße.«
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»Wir müssen uns alle noch eingehender mit seiner Nachricht beschäftigen«, sagte Massimo. »Wie Jack schon sagte, wir schicken Ihnen eine Kopie. Wir werden bestimmt noch mal ausführlich darüber sprechen müssen.« Er drehte das linke Handgelenk, um auf die Uhr zu schauen, und musste dabei unwillkürlich an die Säge denken, die Cristina Barbujanis Hand abtrennte. »Die Zeit verfliegt, also lassen Sie uns kurz zu Punkt vier kommen: das Paket, in dem sich der Kopf von Sarah Kearney befand, eines frühen, wenn nicht sogar des ersten Opfers des BR-Killers.« »Okay«, sagte Howie. Er knöpfte seine Hemdsärmel auf und rollte sie hoch. »Kein Grund, schon gleich Freudentänze aufzuführen, aber wir haben ein paar gute Nachrichten. Das Paket wurde von einem Kurierdienst namens UMail2Anywhere via Myrtle Beach International Airport verschickt. Dabei handelt es sich um einen sehr kleinen Kurierdienst, der nur in Myrtle Beach operiert, und wir haben den Boten gefunden.« »Hat er den Kunden richtig zu sehen bekommen?«, fragte Massimo und gab sich Mühe, seinen aufkeimenden Optimismus zu unterdrücken. Eine Täterbeschreibung wäre ein echter Durchbruch. »Wir glauben schon«, antwortete Howie. »Es handelt sich um einen Burschen namens Stan Mossman. Er ist heute nicht zur Arbeit erschienen, hat eine Menge Überstunden abzufeiern, Vertretungen von Kollegen und all das. Er soll angeblich bei Freunden außerhalb von South Carolina sein. Wir wissen nicht, wo, andernfalls hätten wir ihn uns schon geschnappt. Wir haben jemanden von der örtlichen Behörde darauf angesetzt, der sich an seine Fersen heften soll, und werden ihn hoffentlich morgen befragen können, wenn er wieder zurückerwartet wird.« »Wo wurde das Paket abgeholt?«, fragte Jack. »In einem Days Inn«, antwortete Angelita. »Und zwar dem Grand Strand am South Ocean Boulevard. Preiswert und angenehm, nur einen Steinwurf vom Flughafen entfernt.« 216
»Das passt«, sagte Jack. »Ich gehe jede Wette ein, dass unser Täter zeitnah nach Übergabe des Pakets an Mossman vom Myrtle Beach International aus einen Flug genommen hat.« »Va bene«, sagte Massimo enthusiastisch. »Das könnte unsere momentan wertvollste Information sein. Wenn Sie ein Phantombild zusammenkriegen, müssen wir uns schnell darüber verständigen, es in unseren beiden Ländern zu veröffentlichen. Uns mit den scarafaggi herumzuschlagen werden wir verkraften, wenn sie uns helfen können, das Leben seines nächsten potenziellen Opfers zu retten.« Jack war der Einzige, der nicht optimistisch zu sein schien. Irgendetwas stimmte einfach nicht. Das ist so offenkundig etwas Unausgegorenes! Der BR-Killer würde so etwas niemals unerledigt lassen. Und dann begriff er, was da nicht stimmte. »Howie, bist du dir absolut sicher, dass dein Zeuge, dieser Stan Mossman, sich irgendwo außerhalb des Bundesstaates vergnügt und nicht schon tot und irgendwo verscharrt ist?« »O Scheiße!«, meinte Howie, als ihm diese grausame Möglichkeit aufging. »Du denkst, der BR-Killer hat ihn erledigt, bevor er in den Flieger gestiegen ist?« »Ganz genau das denke ich«, antwortete Jack. »Wann wurde Stan das letzte Mal in der Arbeit gesehen?« Angelita warf einen Blick auf ihre Notizen. »Am 1. Juli. An dem Tag, als uns das Paket zugestellt wurde. Seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.«
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KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
San Quirico d’Orcia, Toskana Die warmen Lichter des Hauses und das Lachen der noch speisenden Gäste von La Casa Strada ergossen sich über die dunklen, stummen Hügel des Val d’Orcia, während Nancy King die letzten Aufgaben des Tages erledigte. Das Restaurant war am Abend gut besucht gewesen, doch nun saßen nur noch wenige Gäste an ihren mit weißen Leinentüchern gedeckten Tischen, tranken Kaffee und Grappa. Für Nancy war dies einer der magischen Momente, ein Restaurant zu führen. Sie liebte es, einen Raum voller glücklicher Gäste vor sich zu sehen, die mit dem Essen zufrieden waren und sich an den wunderschön gedeckten Tischen entspannten. Der Raum schwirrte nur so von Unterhaltungen darüber, in welchen Teil Europas jemand als Nächstes zu reisen gedenke und ob es sich wirklich lohne, einen außerplanmäßigen Tagesausflug nach Florenz einzulegen. Paolo hatte die restliche Küchenbelegschaft nach Hause geschickt; nur Giuseppe war noch da und stapelte Dessertteller in die riesige Spülmaschine, die groß genug war, so hatte Jack gewitzelt, um ein ganzes Auto darin zu waschen. Sobald Giuseppe danach den Boden geschrubbt habe, hatte Paolo zu ihm gesagt, könne er ebenfalls gehen. »Möchten Sie draußen bei unserem Gespräch noch ein Glas Wein mit mir trinken, Mrs. King?«, fragte Paolo mit übertrieben theatralischer Höflichkeit. Diese Frage stellte er jeden Abend, und Nancy gab ihm stets dieselbe Antwort und nickte übertrieben höflich dazu. »Das wäre überaus reizend, Signore Balze, vielen Dank für die Einladung.« »Nehmen Sie bitte Platz, ich komme sofort«, sagte Paolo. 218
Nancy ging durch die Küchentür hinaus in den Privatgarten. Die Nacht war erfüllt vom intensiven Duft der Rosen und dem unablässigen Zirpen der Grillen. Sie hatte irgendwo gehört, dass man die Insekten rösten und sogar zu Keksen backen konnte, aber sie hatte es noch nie geschafft, eines dieser Tiere zu fangen, geschweige denn zu überlegen, was sich kulinarisch damit anfangen ließe. Plötzlich sprang die Küchentür auf. »Überraschung!«, rief Paolo, der Schulter an Schulter mit Giuseppe dastand, welcher einen kleinen Kuchen in der Hand hielt, auf dem eine Freiheitsstatue aus Plastik mit einer brennenden Geburtstagskerze an der Fackel der Liberty stand. »Born in the USA«, sangen die zwei völlig unmelodisch. »Born in the USA, I’m a cool rocking daddy in the USA.« »Alles Gute zum Unabhängigkeitstag, Mrs. King«, sagte Giuseppe. »Bitte du puste die Kerze aus und mache Wunsch.« »Wir kannten die Wörter Ihrer Nationalhymne nicht«, entschuldigte sich Paolo, »aber wir kennen ein bisschen was von Bruce Springsteen, sì, Giuseppe?« Nancy applaudierte und pustete die Kerze aus. »Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen ganz herzlich«, sagte sie. Sie war ganz gerührt über die Geste der beiden. »Hol ein Messer«, sagte Paolo zum Küchenjungen. »Wir werden ein kleines Stück zum Wein essen, und du auch, Giuseppe.« »Augenblick«, sagte Nancy. »Bevor Sie ihn anschneiden, hole ich schnell meinen Fotoapparat von oben. Ich muss ein Foto machen, damit ich Jack zeigen kann, was Sie da gezaubert haben.« »Eigentlich war das Gio«, sagte Paolo und meinte damit ihren Konditor, als Nancy bereits ins Haus eilte, um ihre Digitalkamera zu holen. »Es tut ihm leid, dass er nicht bleiben konnte«, rief Paolo ihr noch nach, »aber sein Kleiner zu Hause ist krank.«
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Nancy lächelte noch immer, als sie die Treppe hinauflief. Als sie an der Tür zu Zacks Zimmer vorbeikam, ging sie langsamer, dann knipste sie das Licht an und betrat ihr eigenes Schlafzimmer. Was sie dort als Nächstes sah, verschlug ihr den Atem. Neben ihrem Schminktisch stand ein großer maskierter Mann mit einer Taschenlampe in der einen und etwas Schwerem, Viereckigem, Schwarzem in der anderen Hand.
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KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
Marine Park, Brooklyn, New York Um Mitternacht lösen die Digitaltimer in Spiders verlassenem Schlafzimmer eine Reihe von technischen Ereignissen von kleinerer und größerer Bedeutung aus. In Wohnzimmer und Küche unten geht das Licht aus. Im Badezimmer flammt ein kleines Licht auf, die Sicherheitsbeleuchtung draußen brennt weiter, und der schalldichte Keller versinkt in vollkommene Dunkelheit. Als das Licht das erste Mal ausging, war Ludmilla Zagalsky in Panik geraten. Ihr Herz hatte ihr aus der Brust springen und weglaufen wollen. Die Dunkelheit schien voller lebendiger, satanischer Schatten zu sein, die irgendwie ihr Gesicht befingerten, sie zu ersticken drohten, sie in die endlose Dunkelheit zu saugen und zu verschlucken suchten. Heute aber ist sie beinahe dankbar für diese Dunkelheit. Ihre gebrochene Nase tut fast gar nicht mehr weh, nur ihre Augen fühlen sich an, als hätte jemand Säure hineingegossen. Ludmilla hat ungeheuren Durst. Sie würde alles tun, um an ein einziges Glas Wasser zu kommen. Irgendwo hatte sie mal aufgeschnappt, dass man eine ganze Weile ohne Nahrung auskommen konnte, nur trinken musste man. Was sie natürlich noch nicht wusste: Eines Tages würde sie am eigenen Leibe erfahren, wie lange genau man überleben konnte. Ludmilla tröstet die Tatsache, dass sie fast nichts von dem Hunger verspürt, der ihr am ersten Tag so schwer zugesetzt hat, nachdem er gegangen war. Jetzt ist sie eigentlich überhaupt nicht mehr hungrig. Bedauerlicherweise ist das nichts, worüber sie froh sein sollte. Wie die Wissenschaft herausgefunden hat, 221
leiten Sensoren entweder im Verdauungstrakt oder in den Gekröseadern, von denen die Eingeweide versorgt werden, etwa nach zwei Tagen des Fastens Signale ans Gehirn, das Hungergefühl auszuschalten und das Verdauungssystem herunterzufahren. In Ludmillas Körper setzt nun ein Prozess ein, der ihr möglicherweise irreparablen Schaden zufügt: Er fängt an, sich selbst aufzufressen. Die Lichter im Keller flammen wieder auf, Ludmilla blinzelt in das grelle Licht über ihrem Kopf, ihre Augen brennen. Oben löst ein Timer einen weiteren Mechanismus aus. Ein Aufzeichnungsgerät wird aktiviert. Die Kameras um sie herum fangen an, Schwenks zu machen, heranzuzoomen und sich automatisch scharf zu stellen. Eine Festplatte springt an und zeichnet die, wie Spider weiß, letzten Stunden in Ludmillas Zagalskys Leben auf.
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KAPITEL VIERZIG
San Quirico d’Orcia, Toskana Der Eindringling warf die Taschenlampe nach Nancy, aber sie konnte sich rechtzeitig ducken. Die Lampe verfehlte ihr Ziel, krachte gegen die Wand hinter ihr und zersprang in mehrere Stücke. Nancy schrie auf, als der Mann sich an ihr vorbeidrängte. Er polterte die Treppe hinunter und stürmte in den schwach erleuchteten Garten hinaus. »Paolo, Giuseppe, Hilfe!«, rief Nancy aus dem Schlafzimmerfenster. »Haltet ihn! Haltet ihn!« Paolo wirbelte gerade noch rechtzeitig an dem Tisch herum, wo er gerade den Kuchen anschnitt, um eine kräftige Gestalt in Schwarz zu sehen, die in den Garten gerannt kam. Der Eindringling erspähte die beiden Männer und sah das Messer in Paolos Hand. Er blieb so abrupt stehen, dass er auf dem taufeuchten Gras ausrutschte. Hastig rappelte er sich wieder auf und rannte durch die hintere Küchentür zurück ins Haus. Einen Augenblick lang dachte Paolo daran, ihm das Messer hinterherzuwerfen, ließ es dann aber fallen und setzte zur Verfolgung an. Der Maskierte stürzte aus der Küche durchs Restaurant hinaus in die schmalen Flure des Hotels und stieß dabei Gäste beiseite, die aufgestanden waren, weil sie wissen wollten, was all der Lärm zu bedeuten hatte. Die Flure führten den Mann automatisch zum Empfang, wo Maria den mutigen Versuch unternahm, ihn mit einem Holzstuhl aufzuhalten, den sie hochhielt, um ihm den Weg zu versperren. Der Mann packte den Stuhl am anderen Ende, drückte Maria gegen die Wand und entkam durch den 223
Vordereingang. Maria ließ sich wie eine Stoffpuppe zu Boden gleiten. Als Paolo am Empfang auftauchte, weinte Maria vor Schmerzen und hielt sich den Bauch. Er hatte keine andere Wahl, als die Verfolgung aufzugeben und sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. »Alles in Ordnung? Beweg dich nicht, Maria, zeig mir, wo’s wehtut.« »Mein Bauch«, sagte Maria. »Mein Bauch und meine Rippen tun höllisch weh. Was ist passiert?« Ein paar Sekunden später tauchten Giuseppe und Nancy auf, gefolgt von ein paar Restaurantgästen. »Alles in Ordnung, Leute. Kein Grund zur Besorgnis«, sagte Nancy und machte beruhigende Handbewegungen. »Es scheint einen unangenehmen Zwischenfall gegeben zu haben, aber alles ist geklärt. Bitte gehen Sie ins Restaurant zurück, damit wir hier alles aufräumen können. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Damit schloss sie die Verbindungstür zwischen Empfang und dem restlichen Hotel und ging zu den beiden Männern, die Maria auf die Beine halfen. »Alles in Ordnung, Maria? Hat er Sie verletzt?«, fragte Nancy. »Geht schon wieder, Mrs. King, glaube ich wenigstens«, antwortete Maria, die den Tränen nahe war. »Ich hab den Stuhl da genommen und wollte ihn damit aufhalten, aber der Mann, der Mann hat mich einfach umgestoßen und ist weggelaufen.« »Setzen Sie sich«, sagte Paolo. »Trinken Sie einen Schluck Wasser, und kommen Sie wieder zu Atem.« Giuseppe holte hinter der Rezeption eine Karaffe mit Wasser hervor und füllte ein Glas. Nancy stand einen Augenblick da und biss an den Fingernägeln, während sie rekapitulierte, was eigentlich genau passiert war. In solchen Augenblicken fehlte ihr Jack am meisten. Paolo und Giuseppe waren ganz wundervoll und hatten den Eindringling verfolgt, aber wenn Jack hier gewesen wäre, nun, dann 224
würde der Bursche sich jetzt wünschen, er hätte sich irgendein anderes Hotel zum Einbrechen ausgesucht. »Soll ich die Polizei verständigen, oder möchten Sie lieber Mr. King anrufen?«, fragte Paolo. »Rufen Sie die Polizia oder die Carabinieri an«, entgegnete Nancy. »Jack hat größere Sorgen, ich will ihn nicht mit solchen Lappalien belästigen.« Paolo rief bei der Polizei an und redete so lange, dass Nancy schon glaubte, er habe den Fall mit jedem einzelnen Beamten auf dem Revier durchgesprochen. Maria erholte sich langsam wieder und bestand darauf, dass ihr nichts passiert sei, außer vielleicht einen blauen Fleck auf dem Bauch davongetragen zu haben. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, was für eine tolle Story sie vor den Kameras zu erzählen hätte, wenn sie bei der Wahl zur Miss Italien kandidierte. Nancy bedankte sich bei allen für die Mühe und versprach, ihren Einsatz nicht zu vergessen, wenn wieder Zahltag sei. Giuseppe bot sich an, Maria in seinem Wagen nach Hause zu fahren. Als die beiden verschwanden, fragte sich Nancy, ob sie da mehr als nur eine Freundschaft zwischen den beiden aufflammen sah. Paolo bot an, die Nacht über zu bleiben, nachdem er erfahren hatte, dass die Polizei erst am nächsten Morgen jemanden schicken konnte, aber Nancy wollte nichts davon wissen. Trotzdem machte Paolo noch einen letzten Kontrollgang durchs Haus, bevor er auf seinen Motorroller stieg, dessen durchgerosteter Auspuff einen solchen Höllenlärm machte, dass die Hunde in einem Bauernhaus fast zwei Kilometer entfernt anschlugen. Nancy ging nach oben und bereitete sich auf die Nacht vor. Sie putzte sich die Zähne und drückte auch Zahncreme auf Jacks Zahnbürste, bis ihr wieder einfiel, dass er gar nicht da war. Dann ging sie in Zacks Zimmer und hob ihren schlafenden Kleinen hoch. Vorsichtig trug sie ihn in ihr dunkles Schlafzimmer und legte ihn in das kühle Bett neben sich, einerseits um dafür zu 225
sorgen, dass er in Sicherheit war, andererseits weil sie, wenn sie ganz ehrlich war, den Trost brauchte, ihn bei sich zu haben. Gegen ein Uhr nachts begann es stark zu regnen. Erst da fiel Nancy der tolle Kuchen zum Unabhängigkeitstag wieder ein, der immer noch im Garten stand und jetzt ruiniert wurde. Sie würde ihn wegwerfen müssen. Unter gar keinen Umständen würde sie das Zimmer verlassen, bevor es nicht taghell war und sie im Hotel wieder all die Stimmen hörte, denen sie vertraute. Unten drehte sich leise ein Schlüssel im Schlüsselloch der Eingangstür. Der erst frisch eingetroffene Gast Terry McLeod gab sich die größte Mühe, niemanden aufzuwecken.
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TEIL FÜNF DONNERSTAG, 5. JULI
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KAPITEL EINUNDVIERZIG
Grand Hotel Plaza, Rom Es war noch tiefste Nacht, als Jack schweißgebadet und atemlos erwachte. Der neueste Albtraum war der persönlichste und intensivste, den er je durchleben musste. Er war gegen Mitternacht in der Hoffnung eingeschlafen, sich ausruhen zu können. Wie sehr er sich doch getäuscht hatte. Schon bald hatte ihn der Schlaf wieder in den Keller gelockt, wo der weiß gewandete Mediziner wieder so rätselhaft arbeitete wie immer; alles andere wirkte noch eindringlicher als sonst. Das Blut schoss noch stärker aus den Röhren an den schwarzen Wänden und ergoss sich auf den Boden, und in den Pfützen ringsum lagen merkwürdige Formen, die an Rorschach-Figuren erinnerten. Darauf waren die Gesichter der Opfer des BR-Killers erschienen, eines nach dem anderen, und ineinander verschmolzen, bis Jack schließlich Cristina Barbujani ins Gesicht starrte. Sie wollte ihm etwas sagen, aber Jack konnte sie nicht verstehen. Einen Augenblick lang hatte sie ihre jungen Finger durch das Blut hindurchgestreckt und ihn angefleht, ihre Hand zu ergreifen und sie zu retten. Aber kaum hatte er sie berührt, da fiel alles Fleisch von ihr, die Hand war nur noch Knochen und brach ab. Jack wischte sich den Schweiß vom Gesicht und versuchte sich an den Rest des Traums zu erinnern. Ihm fiel ein Chor aus männlichen und weiblichen Stimmen ein, der immerzu rief: ALLES DEINE SCHULD!
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Jack hatte sich an der Pritsche festgehalten, weil er fürchtete, seine Beine könnten versagen, während sich sein Kopf mit Stimmen füllte. Die haben schon recht, King, du bist ein Versager, du bist zusammengebrochen. Überleg mal, wie viele Frauen sterben mussten, nur weil du sie nicht retten konntest. Denk nach! Sind es fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig oder noch mehr? Jack hatte sich an den Körper auf der Pritsche geklammert, als der Gerichtsmediziner die Knochensäge hob. Er musste diese Frau retten, es musste Schluss sein mit dem Morden. Das Sägeblatt näherte sich dem Körper auf der Pritsche, die Zähne suchten nach weiterem unschuldigem Fleisch, nach weiteren Knochen. Jack streckte die Hand in Richtung des Mannes aus, um das Sägeblatt abzuwehren. Dabei stolperte er. Als er in die Blutlache stürzte, konnte er noch einen kurzen Blick auf das Gesicht des Opfers auf der stählernen Pritsche werfen. Es war das Gesicht seiner Frau.
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KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
San Quirico d’Orcia, Toskana Terry McLeod saß allein an einem Tisch für vier Personen. Seinen Frühstücksteller hatte er mit Schinken, Käsesorten, Croissants, Marmelade und Butter schier überhäuft. Auf der einen Seite lag eine große Landkarte mit dem Titel Terre di Siena, auf der anderen eine Ausgabe von La Nazione. Terry konnte gar kein Italienisch, das war nur so ein Tick von ihm. Wohin er auch kam, er nahm immer gern eine Zeitung des jeweiligen Landes mit nach Hause. Er war eine Elster, war er schon immer gewesen, und daran würde sich auch nichts mehr ändern; er stand nun mal auf internationale Souvenirs. Paulina, die Kellnerin, brachte ihm seinen »doppelten Cappuccino«, eine Bestellung, die bisher noch nie bei ihr aufgegeben worden war. Sie hatte sich darunter einen Cappuccino mit der doppelten Menge Kaffee vorgestellt, und der Gast hatte gesagt, das sei schon in Ordnung. »Welchen Ausflug haben Sie denn heute vor?«, fragte sie, als sie die Landkarte sah, während sie ein leeres Saftglas und eine Müslischale abräumte. »Siena oder Pienza?« »Na ja«, antwortete McLeod mit vollem Mund, »ich weiß noch nicht so recht. Ich bin vom Flug noch immer ziemlich geschafft. Vielleicht gehe ich hierhin.« Er zeigte auf einen nahe gelegenen Ort. »Wie spricht man das aus?« Paulina beugte sich über die Karte, und McLeod genoss den Augenblick, sie so nah bei sich zu haben. »Chianciano Terme«, antwortete sie mit einer Stimme, für die er liebend gern eine fette Premium-Telefongebühr bezahlt hätte, nur um sie zu hören. 230
»Ach, wissen Sie was«, sagt er, »vielleicht fahre ich einfach nur nach Montepulciano. Gestern Abend beim Essen meinten ein paar Leute, da wär’s ganz nett.« Paulina nickte. »Ja, das stimmt. Montepulciano ist berühmt für seine Aussicht und seine Kirchen. Es liegt sehr hoch oben auf einem Hügel, aber der Aufstieg lohnt sich.« »Klingt gut. Ich liebe eure italienischen Kirchen und all dieses Da-Vinci-Zeugs«, sagte McLeod und wischte sich ein paar Krümel vom Mund. »Also, das mach ich, Sie haben mich überzeugt, ähm … Tut mir leid, wie war noch Ihr Name?« »Paulina. Paulina Caffagi.« »Terry McLeod, sehr erfreut, Sie kennenzulernen.« Er bot ihr die Hand an, die sie nur sehr zögerlich nahm. »Ich bin schon seit ein paar Tagen hier, aber ich habe Sie noch nie gesehen. Arbeiten Sie nur Teilzeit?« »Scusi, ich verstehe nicht.« »Teilzeit – nur am Morgen, nur Frühstück?« »Ah, sì, ich arbeite nur beim Frühstück.« »Dann könnten Sie doch vielleicht, wenn Sie freihaben, mitkommen, so als Fremdenführerin, um mir die Sehenswürdigkeiten zu zeigen«, sagte McLeod hoffnungsvoll. »O nein. Das geht leider nicht«, erwiderte Paulina und fragte sich, für welche Sehenswürdigkeiten sich dieser Mann wohl wirklich interessierte. »Aber warum denn nicht? Ich bezahle auch. Ich gebe Ihnen das, was Sie hier vormittags verdienen. Ich bezahle für heute Nachmittag, damit Sie mir Montepulciano zeigen.« Paulina zögerte einen Augenblick. Der Typ war ein ziemlicher Blödmann, aber er schien harmlos zu sein, und sie konnte den Nebenverdienst gut gebrauchen. »Na gut, es wird mir eine Freude sein, Ihnen Montepulciano zu zeigen.« »Klasse!«, sagte McLeod. »Wann ist es Ihnen recht?« »Um zwölf. Um zwölf bin ich hier fertig und könnte los. Ist das in Ordnung?« 231
»Das wäre prima«, antwortete McLeod. »Könnten Sie uns ein Taxi besorgen? Ich hab’s nicht so mit dem öffentlichen Nahverkehr.« Paulina lächelte. »Ich werde dafür sorgen.« McLeods Interesse an Paulina schwand, kaum dass Nancy King den Speiseraum betrat. Es war nur ein beiläufig kurzer Blick der älteren Frau nötig, und schon widmete sich Paulina schnell wieder ihren Aufgaben. McLeod hatte Glück. Nancy war ins Restaurant gekommen, um sich unter die Gäste zu mischen und zu fragen, ob sie ihren Aufenthalt genossen. McLeod spielte mit dem Löffel im Milchschaum seines Cappuccino und lauschte dem Smalltalk. Nancy King klapperte alle Tische ab; sie ging von einem älteren Paar zu zwei Flitterwöchnern, dann zu zwei Wanderern und kam schließlich zu ihm. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn fröhlich. »Ich bin Nancy King, meinem Mann und mir gehört La Casa Strada. Wir hoffen, es gefällt Ihnen bei uns.« »Terence T. McLeod«, sagte er und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln. »Mir geht’s hier blendend, Mrs. King. Sie haben ein tolles kleines Hotel und erstklassiges Personal.« Er nickt in Richtung Paulina und setzte sich wieder. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Danke, Mr. McLeod«, sagte Nancy King. »Wir möchten, dass sich hier jeder wohlfühlt.« »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich habe Ihre Kellnerin gebeten, mir Montepulciano zu zeigen. Ich habe natürlich angeboten, sie für ihre Dienste zu bezahlen. Und sollte es irgendeinen Aufschlag oder eine Gebühr des Hotels dafür geben, ist das auch in Ordnung. Ich brauche heute nur einen guten Fremdenführer.« Die Bemerkung verwirrte Nancy, und sie musste einen Moment darüber nachdenken. »Nein, nein, ich habe überhaupt nichts dagegen. Wir halten unsere Angestellten zwar nicht dazu 232
an, mit den Hotelgästen zu verkehren, aber vorausgesetzt, es handelt sich um eine rein geschäftliche Verabredung, habe ich wirklich überhaupt nichts dagegen einzuwenden.« »Super, danke.« Nancy lächelte und wollte schon gehen, um ein Wörtchen mit Paulina zu wechseln, bevor sie die Sache wieder vergaß. »Ich hoffe, Ihnen wird Montepulciano gefallen, Mr. McLeod. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.« »Ganz meinerseits«, sagte McLeod und fügte hinzu: »Ach, übrigens, haben Sie ihn gekriegt?« Nancy drehte sich noch einmal um. »Wie bitte?« »Den Mann gestern Abend. Haben Sie ihn erwischt? Im Restaurant sprachen alle darüber. Irgendein Kerl mit Kapuze, der durchs Haus rannte.« Nancy blieb vorsichtig. »Nein, nein, haben wir nicht. Aber seien Sie versichert, es war nichts Ernstes. Es wurde nichts gestohlen, und wir haben die Polizei eingeschaltet. Machen Sie sich bitte keine Gedanken deswegen. Ich kann Sie beruhigen, hier ist alles sicher.« »Das glaube ich«, sagte McLeod. »Hat Ihr Mann ihn vertrieben? Ich habe irgendwo gelesen, er wäre mal Polizist gewesen, ein ehemaliger FBI-Agent oder so was?« Nancy hätte die Unterhaltung am liebsten beendet. Der Schreck von letzter Nacht hatte sie beunruhigt, und sie war immer noch gereizt. Einerseits war es ja nur normal, dass die Gäste sich erkundigten, was passiert war, aber dieser Kerl ging ihr etwas auf die Nerven. »Nein, Mr. McLeod. Nicht mein Mann. Mein Chefkoch und sein Küchenjunge. Er hat Glück gehabt. Ich möchte nicht wissen, was sie mit ihm angestellt hätten, wenn sie ihn geschnappt hätten.« »Ich schätze, dann hätte heute wohl Einbrecher im Schlafrock auf der Karte gestanden«, witzelte McLeod lahm.
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»Und das wäre erst die Vorspeise gewesen«, sagte Nancy King. Sie lächelte abermals und schaffte es diesmal, sich von ihm loszueisen. Terry McLeod war hocherfreut. Wenn der ehemalige FBIAgent Jack King letzte Nacht nicht hier gewesen war, und noch dazu am Unabhängigkeitstag, und wenn er heute Morgen wieder nicht hier war, um seine Frau nach diesem Martyrium zu trösten, wo zum Teufel steckte er dann?
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KAPITEL DREIUNDVIERZIG
Rom Erst nachdem Jack mit seiner Frau telefoniert hatte, konnte er die Schrecken seines letzten Albtraums abschütteln. Er hatte bis sieben Uhr gewartet, die Zeit, wo ihr Wecker sie gerade geweckt haben würde. Die schläfrige Stimme seiner Frau beruhigte ihn, und er stellte sich vor, wie warm sie sich anfühlte, wenn er im Bett neben ihr liegen und sich an sie schmiegen könnte. Nancy hatte den Einbrecher mit keiner Silbe erwähnt, obwohl sie an fast nichts anderes dachte. Sie wusste nur zu gut, dass er selbst mehr als genug Stress zu bewältigen hatte, da musste sie seine Last nicht noch vergrößern. Nach dem Anruf fühlte sich Jack ausreichend gekräftigt, um eine Runde joggen zu gehen, heiß zu duschen und auf der Terrasse ein gesundes Frühstück einzunehmen. Als er in den Wagen mit Chauffeur stieg, der ihn zum Polizeipräsidium bringen sollte, waren die Straßen schon fast dicht. Die Fahrt dauerte doppelt so lang wie nötig, und als Jack ausstieg, war ihm so heiß, dass er gleich noch einmal hätte duschen können. Er gab dem Chauffeur, den Massimo ihm geschickt hatte, gegen seinen Protest ein Trinkgeld und ging dann schnurstracks zum Konferenzraum. Massimo hatte an jenem Tag andere Termine, und es war vereinbart worden, dass Jack sich mit Orsetta, Benito und Roberto zusammensetzte, dass sie sich auf den aktuellen Stand der Ermittlungen brachten und mögliche neue Ideen austauschten. Das Treffen sollte um zwölf beginnen. Jack hatte immer noch Probleme, sich an die Tatsache zu gewöhnen, dass die Kollegen hier, anders als in New York, nicht 235
um acht oder noch früher an ihren Schreibtischen saßen. Die Italiener schienen die heikle Balance zwischen Arbeit und Privatleben erheblich besser hinzubekommen als die Amerikaner, fand Jack. Sie arbeiteten, um zu leben, statt zu leben, um zu arbeiten. Freizeit, Zeit für die Familie, Zeit für sich – das waren die drei Dinge, auf die sie am meisten Wert legten. Jack setzte sich allein in den kahlen, langweiligen Raum und ging gerade eine Liste der Themen durch, die er ansprechen wollte, als Orsetta hereinkam. »Buongiorno«, sagte sie. »Sie sind früh dran, was?« »Nicht nach amerikanischen Maßstäben«, erwiderte Jack. »Das Treffen ist erst um zwölf, richtig?« »Ja, stimmt«, sagte Orsetta, »Ich dachte mir schon, dass ich Sie hier finden würde, also bin ich vor den anderen gekommen.« Er konnte einem kleinen Flirt nicht widerstehen und fragte: »Gedacht oder gehofft?« »Irgendwie beides«, antwortete sie kühl. »Aber ich denke eher an etwas Berufliches, nicht an etwas Privates.« Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augen neckisch funkelten. »Schießen Sie los.« Sie nahmen auf harten Holzstühlen am Ende des langen Tisches Platz, von wo aus die Flipcharts und Videomonitore gut zu sehen waren. Orsetta trug eine dezente braune Jacke mit passender Hose, dazu eine grün gestreifte Bluse. Das Haar hatte sie mit einem grünen Haargummi zusammengebunden. »Also gut«, sagte sie, als sie endlich wusste, wie sie das Thema ansprechen wollte. »Vor ein paar Jahren war ich zu verschiedenen Kursen in England bei Scotland Yard und an einem Ort auf dem Land namens Brams Hall …« »Bramshill«, unterbrach Jack sie. »Es heißt Bramshill, nicht Hall. Das ist der Sitz des National Police Staff College, geführt von der Association of Chief Police Officers. Sic waren im Rahmen Ihrer Profilerausbildung dort, stimmt’s?«
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»Ja«, antwortete Orsetta, die über die unerbetene Korrektur etwas verärgert war. »Die ACPO hat die Entwicklung von Straftäterprofilen in Großbritannien eingeführt. Sie mussten das jahrelang gegen die Widerstände regionaler Polizeibehörden durchziehen. Heute bietet Bramshill wahrscheinlich den besten Profilerkurs auf der Welt an, gleich nach Quantico, natürlich.« »Natürlich«, sagte Orsetta. »Also, als ich in Bramshill war«, fuhr sie fort, »habe ich dort eine sehr wichtige englische Redewendung kennengelernt.« »Und die wäre?«, fragte Jack, der sehr gespannt darauf wartete, worauf sie letztlich eigentlich hinauswollte. Orsetta sprach langsam und legte großen Wert darauf, den merkwürdigen englischen Ausdruck richtig zu formulieren. »Wir vermeiden alle, über den Elefanten im Zimmer zu reden.« »Was tun wir?«, fragte Jack und grinste von einem Ohr zum anderen. »Wir reden um den heißen Brei, vermeiden, den größten und offensichtlichsten Punkt anzusprechen. Stattdessen tun wir einfach so, als wäre er nicht vorhanden«, erklärte Orsetta. »Tut mir leid«, sagte Jack, »aber ich verstehe nicht. Um ganz ehrlich zu sein, kapiere ich die meisten dieser englischen Sprüche nicht. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, Hochmut kommt vor dem Fall, das Kind mit dem Bade ausschütten, über vergossene Milch jammern – die halbe Zeit reden die Engländer für mich in Rätseln.« Jack sah an Orsettas Gesichtsausdruck, dass ihr nicht nach Scherzen zumute war. »Tut mir leid. Sie wollten auf etwas Ernstes hinaus. Wir vermeiden, das Offenkundige, den einen großen Punkt anzusprechen, der uns förmlich ins Gesicht springt. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Also, um was geht’s hier? Und um welchen großen Punkt geht es?« Orsetta biss sich auf die Unterlippe und sprach aus, was sie beschäftigte. »Um Sie, Jack, Sie sind der große Punkt.« 237
»Noch mal?« »Ich habe gehört, wie Massimo und Sie sich über den BRKiller unterhalten haben, wie er die Polizei verspottet, und dass selbst die FBI-Berichte darauf hinweisen. Aber was, wenn die ganze Angelegenheit viel persönlicher ist? Was, wenn der BRKiller gezielt Jack King verhöhnt?« Jack warf ihr einen geringschätzigen Blick zu. »Völlig unwichtig. Das sehe ich einfach nicht. Warum um alles in der Welt sollte er auf mich fixiert sein?« Er unterbrach sich kurz und suchte nach möglichen Gründen. »Nein, das sehe ich wirklich nicht. Im Laufe der Jahre wurde diese Ermittlung von sieben verschiedenen leitenden Beamten geführt, und ich glaube nicht, dass ich etwas wesentlich anders gemacht habe als einer der anderen.« Jack seufzte. »Jedenfalls bin ich einer Verhaftung auch nicht näher gekommen. Denken Sie an etwas Bestimmtes?« Das tat Orsetta nicht, es war nur so ein Gefühl, aber sie hatte gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen, wenn etwas derart an ihr nagte. »Ich weiß nicht. Ich werde den Gedanken einfach nicht los, dass Sie die einzige Verbindung zwischen dem BR-Killer, Italien und den USA sind. Vielleicht verkörpern Sie für ihn die Polizei oder irgendeine Regierungsmacht, und er muss Sie vernichten, um für irgendetwas Rache zu nehmen, was ihm angetan worden ist. Vielleicht symbolisieren Sie eine Ungerechtigkeit, die ihm oder einer ihm nahestehenden Person widerfahren ist.« Die Erklärung klang erheblich schwächer, als sie beabsichtigt hatte, nur wusste sie nicht, wie sie sich besser ausdrücken sollte. Sie sah, dass Jack sie anstarrte, als wäre sie ein Erstsemester auf der Polizeiakademie, das keine Ahnung hatte, wovon es da eigentlich redete. »Sehen Sie«, fügte sie schnell hinzu, »er hat gemordet, als Sie in den Staaten waren, jetzt mordet er, während Sie in Italien sind. Soll das alles nur ein Zufall sein?«
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Jacks scharfe Ablehnung verschwand aus seinen Augen. Einfachheit hatte ihn schon immer fasziniert, und wie alle Polizisten glaubte er nicht an pure Zufälle. Als erfahrener Profiler wusste er, dass es schon verdammt gute Gründe geben musste, um etwas kategorisch ausschließen zu können. »Der BR-Killer hatte bereits seit Jahren gemordet, bevor ich überhaupt mit dem Fall zu tun bekam. Ich habe nur etwa fünf Jahre an seinen Akten gesessen, und PROFILER, das Computersystem des FBI, bringt ihn mit Morden in Verbindung, die gute zwölf Jahre vor diesem Zeitpunkt stattgefunden haben. Der Fall Kearney, zum Beispiel, das liegt nun ziemlich genau zwanzig Jahre zurück, und …« Jack schwieg kurz, und vor seinem geistigen Auge tauchten Teile der Akten auf. »Wenn ich mich nicht völlig täusche, ist es genau zwanzig Jahre her, seit Sarahs Leiche gefunden wurde. Also, das ist viel eher der Auslöser für seine jüngsten Aktivitäten. Vielleicht sind Sie ja unbeabsichtigt tatsächlich auf etwas gestoßen.« Orsetta legte ihm eine Hand auf den Arm. »Jack, es ergibt keinen Sinn. Wenn der BR-Killer nur durch den Gedanken an den bevorstehenden Todestag seines ersten Opfers erregt wurde, dann mag das zwar der Grund dafür sein, dass er an ihr Grab zurückkehrt, aber Sie ignorieren die Tatsache, dass er das Paket mit dem Schädel ganz bewusst an Sie adressiert hat.« Daran hatte Jack selbst schon gedacht, es aber wieder verworfen. »Ich war die letzte Person, die die Ermittlungen geleitet hat. Mein Name war überall in der Presse und im Fernsehen. Der Frontmann kriegt immer alle Aufmerksamkeit, selbst von Psychopathen.« Jack zuckte die Achseln. »Selbst mein Abschied von dem Fall stand in der Presse, also war ich für seinen Hohn einfach die größte Zielscheibe.« Orsetta verzog das Gesicht. »Und wenn Sie sich selbst ausschließen, wo ist dann die Verbindung zu Italien?« Auch darauf glaubte Jack die Antwort zu haben. »Italien mag sein neues Jagdrevier sein, aber das bedeutet noch lange nicht, 239
dass er nicht nach Hause fliegen und einen Jahrestag begehen kann. Wenn diese Irren aufdrehen, neigen sie zu launenhaften Handlungen, und sie toben sich im Verbrechen aus, bis sie ihre Energie aufgebraucht haben. Das bin ich viel eher geneigt zu glauben, als den Gedanken zu hegen, der BR-Killer hätte ein ganz persönliches Hühnchen mit mir zu rupfen.« Jack entzog sich Orsettas Hand und lehnte sich zurück. Er dachte darüber nach, was sie gerade gesagt hatte. Irgendwie hatte sie einen Nerv getroffen. Die italienische Verbindung war wirklich merkwürdig. Und dann kam ihm ein Gedanke. »Aber Sie haben mich da auf etwas gebracht. Warum Italien? Wenn es sich tatsächlich um den BR-Killer handelt, warum mordet er dann in Italien? Nichts an seinem Profil deutet auf dieses Land hin, und Sie haben recht, ich bin die einzige geografische Verbindung.« Orsetta konnte sich nicht zurückhalten und warf ihm einen ihrer altklugen »Hab ich doch gleich gesagt«-Blicke zu. »Nehmen wir mal an, wir haben es tatsächlich mit dem BRKiller zu tun, und nehmen wir weiter an, die Aufregung über den Jahrestag hat ihn dazu getrieben, wieder mit dem Morden anzufangen«, sagte Jack und spürte, wie sich in seinem Hinterkopf langsam ein Bild abzeichnete. »Es würde sehr gut zu seinem Profil passen, seine Rückkehr zu organisieren, eine falsche Fährte zu legen, damit wir unsere Aufmerksamkeit weit streuen und massiv abgelenkt werden, was es ihm ermöglicht, in Ruhe seine kranken kleinen Fantasien ausleben zu können.« Orsetta sah, wie Jack den Hass und den Schmerz der Jagd auf seinen alten Feind erneut durchlebte. Unbewusst fing er an, den goldenen Ehering an seinem Finger zu drehen, und fuhr fort. »Wenn wir also Ihrem Gedankengang weiter folgen, Orsetta, dann tötet der BR-Killer in Italien in dem Wissen, dass die italienische Polizei sich an mich wenden wird. Das ist durchaus nicht weit hergeholt, unser Umzug in die Toskana stand damals zu Hause nämlich in allen Zeitungen, also 240
kann es gut sein, dass er davon gelesen hat. Er dürfte wissen, dass der Fund einer zerstückelten Leiche an einer Küste plus eine Nachricht, die von ihm zu sein scheint, nahezu mit Sicherheit bewirken würde, dass ihr Leute bei mir anklopft.« Jack freundete sich sichtlich mit dieser Hypothese an. »Das würde auch erklären, warum er sehr viel Wert darauf gelegt hat, in der Nachricht gleich zweimal zu erwähnen, dass wir es mit dem BRKiller zu tun haben. Und während sich dann jeder auf Italien konzentriert, richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf seine alte Flamme Sarah Kearney, was wiederum Teil seines eigentlichen Plans ist.« Orsetta konnte seinem Gedankengang nicht mehr folgen. »Worauf wollen Sie hinaus, Jack? Wollen Sie sagen, dass er Ihrer Meinung nach nicht mehr in Italien ist und dass er beabsichtigt, wieder in den Staaten zu morden?« Genau das dachte Jack. »Entweder plant er weitere Morde in den Staaten oder er hat bereits wieder getötet. Italien ist nur eine falsche Fährte, mit mir im Mittelpunkt. Sie hatten recht, ich bin der Elefant im Zimmer. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann die nächste Leiche auftaucht. Und Sie können darauf wetten, falls der BR-Killer wieder tötet, wird er diesmal in einen Mordrausch fallen, der schlimmer sein wird als alles, was wir bisher jemals erlebt haben.«
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KAPITEL VIERUNDVIERZIG
San Quirico d’Orcia, Toskana Nancy Kings Vormittag war völlig in Unordnung geraten, nachdem unerwartet ein Landschaftsgärtner aufgetaucht war, um sich das abgesenkte Gelände im hinteren Garten anzuschauen. Vincenzo Capello war ein alter Freund ihres Hoteldirektors Carlo. Die beiden umarmten und küssten sich am Empfang derart herzlich, dass man sie leicht für ein schwules Liebespaar hätte halten können. Es war schon so lange her, seit Carlo versprochen hatte, sein Freund Vincenzo würde das klaffende Loch am Fuß des terrassierten Gartens reparieren, dass Nancy ihn schon fast wieder vergessen hatte. Vincenzo war der lebende Beweis für die hochgepriesenen Vorzüge einer italienischen Diät, bestehend aus frischen Lebensmitteln, Olivenöl und kräftigem Rotwein. Nancy hatte erfahren, dass Vincenzo stramm auf die siebzig zuging, doch wenn sie ihn sich so anschaute, wirkte er auf sie nicht einen Tag älter als fünfzig. »Ciao!«, sagte Carlo und zog los, um sein Personal auf Trab zu bringen. Er überließ es Nancy, dem noch immer grinsenden Vincenzo die Stelle im Garten zu zeigen. »Carlo, er sagt mir, Sie haben ein großes Loch in Garten. Er sagt, alle Mitarbeiter haben Angst, sie fallen hinein.« Vincenzos Augen strahlten, und sein andauerndes Lächeln enthüllte ein vollständiges Gebiss gesunder weißer Zähne. »So schlimm ist es noch nicht«, sagte Nancy und führte ihn aus dem Empfang. »Aber es ist schon ziemlich was abgerutscht, und ich möchte nicht, dass es noch schlimmer wird. Das untere Ende der Gartenterrasse, da, wo wir unser Gemüse für die Küche ziehen, ist abgerutscht und hat eine Art Tunnel darunter 242
freigegeben. Ich mache mir vor allen Dingen Sorgen, dass der Boden darüber auch gefährdet sein könnte.« Vincenzo schien ihr nicht zuzuhören. Er starrte das Toilettenschild an. Wie es schien, hatte sich seine Blase vielleicht nicht ganz so gut gehalten wie sein Aussehen. »Un momento brevissimo«, sagte er und verschwand hinter der Tür. Nancy wartete geduldig, und ihr Adlerblick bemerkte sofort eine Stelle an der Tür, die dringend neu gestrichen werden musste, wenn die Sommersaison vorbei war und alle Gäste abgereist waren. Bald erschien Signore Capello wieder und schüttelte Wasser von den frisch gewaschenen Händen ab. »Sie mögen Italien?«, fragte er. Italiener, die La Casa Strada aufsuchten, stellten immer wieder diese Frage, und Nancy liebte die Tatsache, dass sie sie Anteil an ihrer Leidenschaft für das Land nehmen lassen wollten. »Ich bete Italien geradezu an«, sagte sie voller Überzeugung. »Mein Mann und ich sind jetzt einige Jahren hier, und wir fühlen uns von Tag zu Tag mehr wie zu Hause.« Vincenzo strahlte übers ganze Gesicht. »Meraviglioso«, sagte er, »wunderbar.« »Kommen Sie, ich zeige Ihnen jetzt den Schaden«, sagte Nancy. Als sie das Hotel verließen, wurden Nancys Schritte langsamer, und sie sah sich um. Das tat sie jedes Mal, wenn sie das Haus verließ. Für sie war jeder Ausblick ringsherum ein Fest für die Augen, ein Augenschmaus, der mit jedem neuen Tag, den sie hier verbrachte, immer schmackhafter wurde. Heute erschien ihr das Sonnenlicht in ihrem Privatgarten so sanft und golden wie reiner Honig. »Es ist den Hang dort hinunter«, sagte Nancy und deutete auf das andere Ende des Gartens. »Sehen Sie, dort hinten hat mein Mann einen alten Zaun gesetzt, damit niemand weitergeht.«
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Vincenzo nickte, ging langsam hinüber und ergötzte sich kurz an dem Anblick über das üppige Tal zum Monte Amiata im Süden und Siena im Norden. Nancy sah ihn verschwinden, und dann hörte sie mitten im Vogelgezwitscher in den Orangenbäumen ein merkwürdiges Geräusch, ein hartes Klicken und Klacken, sehr metallisch, ein Geräusch, das einfach nicht in einen Garten passte. Sie machte ein paar Schritte um einen Baum herum und war überrascht, plötzlich direkt vor ihrem höchst neugierigen Landsmann Terry McLeod zu stehen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie schroff, »das hier ist Privatgrund. Würden Sie bitte in den Gastgarten zurückkehren?« »Ach herrje, tut mir leid«, erwiderte McLeod jovial. »Sie haben es wirklich wunderschön hier. Ich bin nur herumspaziert und habe Fotos gemacht. Es tut mir aufrichtig leid.« Nancy fiel die teure Kamera auf, die an einem breiten Gurt um seinen Hals baumelte, und ihr fiel auf, dass er noch immer den Finger am Auslöser hatte. »Schon in Ordnung. Bitte denken Sie in Zukunft daran.« Irgendetwas an McLeod gefiel ihr nicht, irgendetwas, das sie einfach nicht genau benennen konnte. »Neue Kamera«, sagte der Amerikaner, »ich kann einfach nicht meine Finger davon lassen.« Er hob sie ein Stück, um sie ihr zu zeigen, und machte dabei, klick-klick, eine Porträtaufnahme von Nancy. Nancy war mit einem Mal ungeheuer wütend. »Fragen Sie eigentlich nie um Erlaubnis?«, fauchte sie ihn an und wurde rot im Gesicht. »He, tut mir echt leid.« McLeod klang nicht sehr aufrichtig. Er setzte seine Kamera ab, hielt sie am Objektiv und ging dann, ohne sich noch zu verabschieden. Einen Augenblick lang hatte Nancy im Geiste eine Rückblende. Die schwere schwarze Kamera in seiner Hand kam ihr seltsam bekannt vor. Aber woher? 244
Und dann fiel es ihr ein. Sie sah genau so aus wie der rechteckige schwarze Gegenstand, den sie letzte Nacht gesehen hatte. Wie der Gegenstand in der Hand des Einbrechers in ihrem Schlafzimmer.
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KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
FBI-Behörde, New York Angelita Fernandez legte den Telefonhörer auf und verzog das Gesicht, als sie sich Howie Baumguard zuwandte. Der große Kerl sah wirklich urlaubsreif aus. Was sie ihm zu sagen hatte, würde es auch nicht besser machen. »Ich habe gerade mit Gene Saunders draußen in Myrtle Beach gesprochen. Anscheinend ist unser Stan nicht wieder bei der Arbeit aufgetaucht.« »Ist das schon mal vorgekommen?«, fragte Howie, der gerade am Computer beschäftigt war. »Nein. Eigentlich nicht. Sein Boss bei UMail2Anywhere meint, er sei ein guter Junge. Immer pünktlich. Nimmt nie einen Tag frei, ohne vorher zu fragen oder wenigstens anzurufen und einen triftigen Grund zu nennen, statt mit plumpen Ausreden zu kommen.« »Klingt so, als hätte Jack recht«, sagte Howie, der mit zwei Fingern tippte. »Der arme Junge.« Angelita versuchte sich den Botenjungen vorzustellen. Wahrscheinlich war er jung, dürr und abgerupft und noch dabei, seinen Platz im Leben zu finden. »Glaubst du wirklich, Stan wurde umgelegt, bevor der BR-Killer aus Myrtle verduftet ist?« »Sieht langsam so aus, ja«, antwortete Howie. Angelita nahm einen Bleistift in die Hand und ließ ihn wie einen Majorettenstab um die Finger der einen Hand kreisen. Den Trick hatte sie in der Highschool gelernt, und irgendwie half er ihr dabei, sich zu konzentrieren. »Ich werde mal unten nach den Knochen schauen. Wir sollten langsam ein paar Ergebnisse zu den Zahnabdrücken dieser Kearney haben. Glaubst du, sie stimmen überein?« 246
»Da wette ich drauf«, sagte Howie. Er hatte um eine Überprüfung des Gebisses gebeten, um ganz sicher zu sein, dass der Schädel, den sie gefunden hatten, tatsächlich der von Sarah Kearney war und nicht von jemand anderem. Er wollte sich die Peinlichkeit ersparen, erst im Nachhinein herauszufinden, dass der BR-Killer sie ein weiteres Mal verarscht hatte. Howie hörte auf zu tippen und drehte sich zu Angelita. »Kennst du dich mit Nekrophilie aus?« »Machst du Witze?«, entgegnete sie und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Ich hab mich in meinem Leben ja schon mit ein paar Untoten abgegeben, mein Ex steht da ganz oben auf der Liste, aber nicht wortwörtlich.« »Nekrophile«, sagte Howie und las einen FBI-Eintrag auf seinem Bildschirm vor, »kriegen ihren Kick beim Sex mit Leichen …« »Ach was. Darauf wär ich ja nie gekommen. Jetzt weiß ich auch, womit du dir deine Beförderung verdient hast.« »Halt den Mund und hör zu, ich brauche vielleicht deine Hilfe.« Wieder wirbelte sie den Bleistift herum und fand, dass Howie irgendwie niedlich war, wenn er so tat, als wäre er stinkig. »Das Wort stammt aus dem Griechischen von nekros für Leiche und philia, das, wie wir alle wissen, Liebe heißt.« »Ich mag diese zwei Wörter irgendwie, solange sie nicht im selben Satz auftauchen«, sagte Angelita. Howie warf ihr abermals einen scharfen Blick zu. »Die Seelenklempner meinen, dass Nekrophile ein geringes Selbstwertgefühl haben, ihnen geht es um Macht oder Rache an etwas oder jemandem, dem gegenüber sie sich unvollkommen fühlen, und ihnen fehlt es an entscheidenden emotionalen Kontakten.« »Mal langsam«, sagte Angelita und wurde ernst. »Nach dem wenigen, was ich über diese Ärsche weiß, und ich betone erneut, nicht durch persönliche Erfahrung, ist es eine Tatsache, dass sie 247
normalerweise nicht töten. Sie mögen es lieber durchgebraten, nicht roh. Stimmt doch, oder? Wie du vorhin so ausdrucksstark formuliert hast, kriegen die ihren Kick, wenn sie mit Leichen herumspielen, nicht, indem sie Leute umbringen, um mit ihnen anschließend herumzuspielen.« »Ist zwar nur ein winziger Unterschied, aber du hast recht«, sagte Howie und suchte in den Online-Akten nach weiteren Informationen. »Einigen wir uns schon mal darauf, dass Sex mit Leichen nicht normal ist. Wenn wir diesen intellektuellen Standpunkt einnehmen, dann ist es doch kein allzu großer Glaubenssprung, anzunehmen, dass ein abnormer Kerl, der seinen Steifen gern in Stocksteife steckt, vielleicht anfängt, sich ein paar Stocksteife zu basteln, wenn ihm der Nachschub an Stocksteifen ausgegangen ist.« »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine natürliche Begabung im Umgang mit Worten hast?«, sagte Angelita sarkastisch. »Ich kämpfe unablässig gegen das Bedürfnis, Gedichte zu verfassen«, entgegnete Howie und scrollte auf dem Bildschirm eine Seite weiter. »Wieso gilt der BR-Killer eigentlich als nekrophil?«, fragte Angelita. Howie zählte auf: »Er behält die Leichen nach dem Mord, denk nur daran, wie lange er diese Barbujani mit sich herumgeschleppt hat. Er nimmt Trophäen. Er kehrt zu den Gräbern zurück, buddelt ihre Leichen aus und hackt ihnen die Hände ab. Für mich klingt das ganz wie ein Nekrophiler.« »Dieser Kerl ist also Serienmörder und Nekrophiler zugleich. Eine Mischform?« »Das denke ich auch«, sagte Howie. »Doppelt durchgeknallt, doppelt so gefährlich. Vielleicht hat er am Anfang aus ganz asexuellen Gründen getötet.« »Rache, Zufall, Gelegenheit?«, schlug Angelita vor.
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»Irgend so was. Und als er die Leiche sah, war er plötzlich erregt« »Gibt es da drin ein paar Fallstudien, die ich mal lesen könnte?«, fragte sie. Howie benutzte die Suchfunktion. »Ja. Mann, was für eine Liste: Carl Tanzler, Richard Chase, Winston Moseley, unsere alten Kumpel Ed Gein, Jeffrey Dahmer und Ted Bundy. Die letzten drei scheinen ja nun wirklich in jede nur denkbare Kategorie zu passen.« »Schlampige Ermittlungen«, sagte Angelita und schrieb die Namen auf. »Wenn alles, was jemals über Bundy geschrieben wurde, stimmt, dann hätte er drei Leben haben müssen.« »Das hier ist interessant«, sagte Howie. »Hier ist eine Zusammenfassung, die die Sache auf den Punkt bringt. Da steht, dass ein Nekrophiler normalerweise große Angst hat, von Frauen abgewiesen zu werden, die er körperlich begehrt. Du bist doch eine Frau, fällt dir dazu was ein?« »Abweisung ist für mich ein Fremdwort«, antwortete Angelita. »Das dürfte wohl eher in dein Wissensgebiet fallen«, fügte sie hinzu und bedauerte augenblicklich ihr loses Mundwerk. Howie wirkte gekränkt; zweifellos hatte sie einen wunden Punkt erwischt. »Schon gut«, sagte er. »Ich meine, stell dir mal vor, was ein Nekrophiler wohl in der Situation macht, wenn er abgewiesen wird.« Angelita konnte ihm folgen. »Ach, du meinst, er hat sie umgebracht, damit sie bei ihm bleibt?« »Ganz genau!« Angelita dachte darüber nach. »Vielleicht ist der BR-Killer mal fürchterlich abgeblitzt und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihn noch mal jemand verlässt.« »Gebranntes Kind«, sagte Howie. »Er kann die Vorstellung nicht ertragen, allein zu sein? Vielleicht hat er einfach nur eine Scheißangst davor, allein zu sein. Eine Art Einsamkeitsphobie?« 249
»Ich glaube, das ist es«, sagte Howie. »Ich denke, unser Täter mordet, um Gesellschaft zu haben. Der Tod sorgt dafür, dass die Frauen ihm keinen Laufpass geben, dass sie bei ihm bleiben, ihm hörig sind, für immer.« »Hm«, sagte Fernandez. »Daran sollte ich wohl lieber denken, wenn ich das nächste Mal irgendeinem Brad-Pitt-Double in einer Bar meine Nummer gebe.«
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KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Seit fast sechzig Stunden sind weder Nahrung noch Flüssigkeit über die ausgetrockneten, aufgeplatzten Lippen von Ludmilla Zagalsky gekommen. Immer wieder fällt sie ins Delirium, wacht auf, und ihre Gedanken werden ständig von dem Wissen geplagt, dass sie die Hauptfigur in einem Akt von Selbstkannibalismus ist. Neben dem fürchterlichen Brennen der Augen ist ein neuer Schmerz aufgetaucht, ein tiefes, durchdringendes Stechen in den Nieren. Ludmilla kennt sich nicht gut genug aus, um das innere Organ benennen zu können, das ihr da wehtut, geschweige denn zu diagnostizieren, dass ihr ein Nierenversagen droht. Eines weiß sie jedoch ganz sicher: Irgendetwas Wichtiges in ihrem Körper schreit nach Wasser, und ohne dieses Wasser wird sie sterben. Es war einmal eine Zeit in der wirklichen Welt, als die Menschen nicht entführt, entkleidet und zu Tode gefoltert wurden, da hatte sie mit einem alten Freund Pizza gegessen; sie hatten sich Scream angeschaut, oder war es Scream 2 oder 3 gewesen? Egal, jedenfalls hatten sie herumgewitzelt, was denn nun die schlimmste Art sei, umgebracht zu werden – Kugel, Klinge, Wasser oder Feuer. Ihr Freund hatte gemeint, er würde am liebsten nicht auf dem Scheiterhaufen sterben, wie sie’s damals in Frankreich mit Tussen wie Johanna von Orleans gemacht hatten. Ludmilla hatte zugegeben, dass sie nicht schwimmen konnte, niemals im Meer oder einem Schwimmbad gewesen sei und daher eine Heidenangst vor dem Ertrinken habe. Und wie sie ihre Pizza aufaßen, eine mit Schinken, Ananas und doppelt 251
Käse, wäre keiner von ihnen darauf gekommen, dass die grausamste Todesart die war, vorsätzlich verhungern und verdursten zu müssen. Im Moment findet Ludmilla, Ertrinken wäre vielleicht doch keine so schlechte Todesart. Ein Mädchen, mit dem sie früher mal die Brighton Beach Avenue abgeklappert hatte, meinte mal zu ihr, dass man jeden Tag zwei Liter trinken müsse, um gesund zu bleiben. Zwei Liter am Tag! Sie hätte sich beinah vor Lachen in den Schlüpfer gemacht. Das Mädchen meinte, sie habe es mit einem Gesundheitsfanatiker getrieben, einem Fitness-Monster, der Muskeln gehabt habe wie Hulk, und der habe ihr gesagt, über achtzig Prozent des Blutes bestehen aus Wasser, deshalb müsse man immer einen gewissen Flüssigkeitspegel halten. Ludmilla hatte das damals für kompletten Schwachsinn gehalten. Bis jetzt. Zum ersten Mal in ihrem Leben versteht sie ganz genau, was damit gemeint ist. Im Verlauf der letzten Stunde etwa ist ihr aufgefallen, dass nicht nur ihr Mund schmerzhaft trocken ist, ihre Zunge schmeckt auch bitter, fast giftig. Wenn der Gesundheitsfanatiker in der Nähe wäre, könnte er ihr vielleicht erklären, dass ihr Elektrolythaushalt gefährlich unausgeglichen ist und sich, technisch ausgedrückt, in einem kritischen Zustand befindet. Ihre Körperzellen werden angegriffen, ihr Blutplasma ist bereits schwer geschädigt. Ludmilla Zagalsky glaubt nicht an Gott. Sie ist in ihren fünfundzwanzig Lebensjahren nie in einer Kirche oder überhaupt an irgendeinem heiligen Ort gewesen. Ihre Mutter hat sich nicht mal die Mühe gemacht, ihre Geburt registrieren, geschweige denn sie taufen zu lassen. Doch in diesem Augenblick betet sie. Sie erzählt dem Gott ihrer Dunkelheit, welcher Konfession auch immer, dass ihr all das Böse, das sie in ihrem stinkigen, jämmerlichen, wertlosen Leben angerichtet habe, leidtue. Sie erzählt ihm, dass sie ihrem Stiefvater all das verzeihe, was er ihr angetan habe, dass sie hoffe, es gehe ihm gut, er sei glücklich 252
und gesund; sie habe es nicht so gemeint, als sie ihm an den Kopf warf, sie wolle, dass er in der Hölle schmore und ihm die Höllenhunde die Eier abbeißen. Sie bittet Gott um Vergebung dafür, dass sie ihren Eltern die Schuld für ihren Zorn gab, und dafür, dass sie ihre Mutter für all die Schläge gehasst hat. Sie beichtet ihm all ihre Sünden und alle sündigen Gedanken, die sie je hatte. Dafür bittet sie Gott um eine einzige Kleinigkeit. Nicht, sie zu retten, sondern sie sterben zu lassen, ganz schnell.
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KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
Rom Roberto kehrte mit vier Bechern Kaffee und schlechten Neuigkeiten zurück in den Einsatzraum. Er stellte das Tablett auf einen Tisch und wartete höflich, bis Jack und Benito ihre Gespräche beendet hatten. »Tut mir leid«, sagte er, »aber während ich in meinem Büro war, um den Kaffee zu kochen, habe ich einen Anruf von meinem Kontakt in Mailand erhalten.« »Wegen des Kuriers?«, fragte Orsetta. »Ja«, sagte Roberto. »Man ist sich dort sicher, dass es einen Kurierdienst namens Volante Milano nicht gibt. Er existiert einfach nicht.« Jack nahm sich einen Kaffee vom Tablett. Irgendwie war er inzwischen wieder koffeinabhängig. »Und wie hat der BR-Killer das Paket hierhergekriegt, wenn nicht mit einem Kurierdienst?« Orsetta sprach das Undenkbare aus: »Persönlich? Ob er es vielleicht persönlich vorbeigebracht hat?« Benito nickte. »So in der Richtung.« »Augenblick, bitte«, unterbrach Roberto sie. »Mein Kontaktmann hatte eine Idee, wie das möglicherweise vonstatten gegangen ist. Im Augenblick gibt es viele Studenten, die sich ein paar Euro dazuverdienen wollen. In Mailand, so scheint es, stehen sie vor dem Flughafen und dem Bahnhof und bieten ihre Dienste an.« »Ihre Dienste? Was meinst du damit, Roberto?«, fragte Orsetta. »Tut mir leid, vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt«, sagte Roberto. »Sie halten ein Schild hoch, und auf dem steht, 254
dass sie Kurierdienste überallhin übernehmen. Sie bauen sich neben den Filialen der Paketdienste auf und bieten an, mit der Eisenbahn oder sogar mit dem Flugzeug alles Mögliche zuzustellen. Die Kurierdienste sind darüber natürlich alles andere als erfreut, weil es ihrem Geschäft erheblich schadet.« »Kann ich mir vorstellen«, sagte Jack. »Sie wollen also damit sagen, der BR-Killer könnte das Paket einem Studenten am Bahnhof gegeben haben, und der hat es hier abgeliefert?« »Sì, das wollte ich sagen«, antwortete Roberto, der ganz erleichtert war, endlich verstanden worden zu sein. »Ein ziemliches Risiko, oder?«, meinte Orserta. »Ich würde jedenfalls keinem Studenten etwas Wertvolles anvertrauen.« »Wie werden diese Studentenkuriere bezahlt?«, fragte Benito. »Bar, nehme ich mal an«, sagte Roberto. Benito spielte an seinem Ziegenbärtchen und grübelte über die ganze Vorgehensweise nach. »Der BR-Killer wird dem Kurier eine Rückfahrkarte gekauft haben, Eisenbahn oder Flugzeug. Er wird bar bezahlt haben, damit wir das nicht zurückverfolgen können. Er wird ihm einen Teil der Summe vorweg gegeben und ihm eine deutlich größere Summe versprochen haben, wenn er zurückkehrt.« »Das glaub ich so nicht«, sagte Jack. Orsetta frustrierte das alles. Sie fuhr sich mit den Fingern ins Haar und kratzte sich kräftig am Kopf. »Das bringt mich völlig durcheinander.« »Genau!«, sagte Jack. »Das ist ganz genau das, was er will. Uns verwirren. Uns in die Irre führen. Es gibt kein Volante Milano. Dennoch gibt er sich die größte Mühe, es so aussehen zu lassen, als wäre er in Mailand gewesen und habe diesen Kurierdienst beauftragt. Das hat er nur getan, um uns in Mailand zu binden und glauben zu machen, er sei dort gewesen.« »Dabei war er aber nie in Mailand?«, fragte Orsetta, die das alles immer noch verwirrte.
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»Nein«, antwortete Jack. »Ich denke, wir werden feststellen, dass er den Aufkleber des Kurierdienstes mithilfe irgendeines Computers fabriziert hat und dass Karton und Luftpolster mit dem Paket übereinstimmen, das UMail2Anywhere beim FBI abgeliefert hat.« »Und der schwarze Filzstift auch«, fügte Orsetta hinzu. »Ja, der auch«, sagte Jack. »Er scheucht uns durch die Gegend«, sagte Benito. »Er versucht es zumindest«, sagte Jack. »Was uns Roberto über die Studentenkuriere erzählt hat, ist wahrscheinlich allgemein bekannt. Ich habe jedenfalls schon von solchen Studenten gehört, die als Kuriere eingesetzt werden, eine Geschichte, die es in den USA seit vielen Jahren gibt. Die machen auf diese Weise sogar kostenlosen Urlaub, indem sie Pakete in der ganzen Welt herumfliegen. Ich denke, der BR-Killer wollte uns glauben machen, dass das Paket von einem richtigen Kurierdienst aus Mailand zugestellt worden ist. Und wenn wir das erst durchschaut hätten, davon geht der BR-Killer wohl aus, wären wir auch auf den weitverbreiteten Einsatz von Mailänder Studenten als Kuriere gestoßen und hätten dann noch mehr Zeit damit verplempert, dieser toten Fährte nachzuspüren.« »Was bedeutet, dass er das Paket eventuell tatsächlich persönlich abgeliefert hat«, meinte Orsetta, die irgendwie fand, dass eine solche Tat für den Killer unter Umständen sogar einen ungeheuren Kick bedeutet hätte. Jack hielt das nicht für sehr wahrscheinlich. »Wir sollten nicht vergessen, dass er keine Risiken eingeht, also würde ich nicht darauf wetten. Nein, ich nehme an, Robertos Kontaktmann hat recht. Aber der BR-Killer wird einen Studentenkurier in Rom genommen haben, nicht in Mailand.« Benito fügte dem Puzzle ein weiteres Steinchen hinzu. »Weil er in Rom den Studenten bei der Rückkehr bezahlen konnte, ohne ihm vorab etwas zu geben, und sich so sicher sein konnte, dass das Paket auch zugestellt wurde.« 256
»Was bedeutet«, setzte Jack fort, »dass unser Mann aus Rom zurückgeflogen ist, nicht aus Mailand, wahrscheinlich am Abend des 25. oder irgendwann am 26. Juni.« »Vielleicht auch später«, sagte Benito, »wenn er sich sicher war, dass wir in Mailand herumsuchen, hätte er bis zum 28. oder 29. Juni in Rom bleiben und einen Transatlantikflug nehmen können, um pünktlich zum 30. Juni auf dem Friedhof in Georgetown zu sein. Wir werden also außerdem sämtliche Flüge aus Rom genau überprüfen müssen.« Sie holten alle tief Luft und sahen sich gegenseitig an, ein leises Lächeln drohte sich auf ihre Gesichter zu legen. Jeder von ihnen wusste, dass sie jetzt zum allerersten Mal die echte Fährte des Black-River-Killers aufgenommen hatten. »Ein letzter Punkt noch«, sagte Jack. »Ich möchte ja nicht unsere Parade verhageln, aber wir sollten mal nach in letzter Zeit verstorbenen Studenten in Rom Ausschau halten. Sie wissen ja, wie sauber unser Mann immer hinter sich aufräumt.«
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KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
Pan Arabia News Channel, New York Tariq el Daher, der für die Verbrechensmeldungen zuständige Redakteur, fragte sich langsam, ob er nicht den größten Fehler in seiner, wie alle meinten, an sich vielversprechenden Karriere gemacht hatte. Vor etwas über einem Jahr hatte er den Job bei Reuters hingeschmissen und war zu dem umstrittenen, in Dubai ansässigen Fernsehsender Pan Arabia gewechselt, um deren neu eingerichteten englischsprachigen Dienst aufzupeppen. Zu Anfang hatten größere technische Probleme die lang erwarteten Erstübertragungen des Senders verzögert und ihre Glaubwürdigkeit als Nachrichtensender massiv unterminiert. Diese Schwierigkeiten waren allerdings nichts im Vergleich zu dem Hohn und Spott, den die konkurrierenden westlichen Mediengesellschaften über sie ausgossen, nachdem sie auf Sendung gegangen waren. Tariq, der in seinem New Yorker Büro saß und die digitalen Lufträume kontrollierte, um festzustellen, was die Konkurrenz sendete, tröstete sich mit dem Gedanken, dass weder er noch seine Vorgesetzten damit gerechnet hatten, dass das Ganze ein einziges Zuckerlecken würde. Als Moslem begriff er nicht nur die Fakten und Zahlen einer Minderheitenexistenz – er lebte sie buchstäblich. Von den zwanzig Millionen Einwohnern New Yorks hielten sich weniger als zwei Prozent streng an die Regeln des Islam, weniger als zwei Prozent waren Buddhisten, Hindus oder Sikhs. Doch jenseits dieser Zahlen deutete sich seismographisch ein massiver Wandel an, der nur noch nicht sichtbar wurde. New York ist die Heimstatt eines Viertels aller amerikanischen Juden, doch still 258
und leise war es auch zum Gelobten Land eines Viertels aller amerikanischen Moslems geworden. Fragte man Tariq, ob er den Islam mehr liebe als Amerika, würde der strenggläubige 35-Jährige diese Frage als naiv abtun und zurückfragen, ob man sein Kind mehr liebe als die Ehefrau. Seine Liebe zum Islam und zu Amerika war gleich leidenschaftlich, und da er nicht den Eindruck hatte, als würden sich die beiden gegenseitig ausschließen, glaubte er seinen Traumjob gefunden zu haben, als sich ihm die Chance bot, sich dem New Yorker Büro eines der größten und am schnellsten expandierenden Sender des Nahen Ostens anzuschließen. In letzter Zeit allerdings machte Tariq sich Sorgen, ob er tatsächlich die richtige Wahl getroffen hatte. Als Angehöriger von Reuters hatte er in jeder Hotelbar der Welt zur Pressemeute gehört. Seine Adressbücher waren vollgestopft mit einigen der interessantesten Namen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Heute jedoch blieben seine Anrufe unbeantwortet. Seine Bitten um Informationen wurden abgelehnt. Und die Pressemeute in den Hotelbars schien immer genau dann bettreif zu sein, wenn er auftauchte. Wann immer sie ihn damit aufzogen, sein Sender sei doch nur Sprachrohr und Marionette Bin Ladens, tat er dies mit einer wegwerfenden Handbewegung ab – er nahm nicht ernstlich an, dass sie das tatsächlich glaubten. Und er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, dass sie Pan Arabia für antiamerikanisch hielten. Im Augenblick fand Tariq el Daher allerdings, dass sich sein Traumjob in einen düsteren Albtraum verwandelt hatte. Er warf einen Blick auf den ersten Entwurf der Themenliste, die sein Stellvertreter für den kommenden Tag vorbereitet hatte, und war enttäuscht, wie kurz sie war. Die zwei Morde in Queens, beides Schüsse aus vorbeifahrenden Fahrzeugen, waren nur mäßig interessant. Der Selbstmord einer Moslemin, die sich heimlich mit einem stadtbekannten Spieler eingelassen hatte, sah ein wenig schärfer aus. Trotzdem alles sehr dünn. 259
Tariq wollte einen Kaffee, aber seine Sekretärin war wieder mal von ihrem Schreibtisch verschwunden. Die Frau musste weg. Sie war sowieso nur für einen Monat über eine Zeitarbeitsagentur angeheuert worden. Nie war sie an ihrem Platz, wenn er sie mal brauchte. Tariq hatte aber auch keine Lust, sich den Kaffee selbst zu machen; also öffnete er stattdessen den Posteingang auf seinem Computer. Damals bei Reuters hatte er immer Angst, die Maschine anzuwerfen. Da hatte er locker jeden Tag über hundert Mails zu beantworten. Heutzutage konnte er froh sein, zehn Nachrichten vorzufinden. Und zwei davon waren stets von seiner Frau. An diesem Tag war es nicht anders. Er arbeitete die kurze Liste ab und löschte den Werbemüll, der ihm Riesengeschäfte versprach, von Börsentipps bis Billig-Viagra. Die letzte Mail allerdings weckte seine Neugier. Sie trug den Betreff »Exklusiv« und stammte angeblich von einer Firma namens »Insidexclusive«. Tariq klickte die Mail an. Die Mail war leer bis auf den Hyperlink www.inside xclusive.com. Darunter stand die Anweisung: »Geben Sie das Passwort ›898989‹ ein.« Tariq bewegte den Mauszeiger auf den Link und klickte. Eine Pop-up-Fenster erschien auf dem Bildschirm: »Passworteingabe bis spätestens 22 Uhr.« Tariq warf einen Blick auf die Bürouhr: noch massig Zeit. Er gab das Passwort ein. Das Pop-up verschwand, und der Bildschirm füllte sich mit den vertikalen Testfarbstreifen, die man manchmal am Beginn eines Videos zu sehen bekam. Die Streifen verschwanden, und dunkelgrauer Nebel füllte den Bildschirm aus. Langsam erschien eine Art Szenerie, unscharf und verschwommen zunächst, so als würde eine Kamera schnell hin und her schwenken und gleichzeitig versuchen, das Bild scharf zu stellen. Schließlich konnte Tariq eine Zeitung erkennen, möglicherweise USA Today, die auf dem Boden lag. Tariq wollte schon wieder wegklicken und das Ganze als virenverseuchte E-Mail behandeln. Dann bemerkte er, dass die Kamera auf die Schlagzeile der Zeitung fokussierte. Tariq konnte sogar 260
das Datum erkennen. Die Zeitung war drei Tage alt, vom 2. Juli. Tariq lehnte sich zurück und gab dem Video noch eine Chance; vielleicht versuchte sich USA Today ja mit einer schrägen Marketingkampagne. Die Kamera fuhr zurück, die Zeitung schien in Schwarz zu versinken. Dann kam eine Tischkante in Sicht. Tariq beugte sich auf seinem Sitz nach vorn. Die Zeitungseinstellung ergab plötzlich Sinn; sie sollte ihm beweisen, dass alles, was er sah, echt war. Der Zoom hielt an, das Bild wurde scharf. Tariq konnte die ausgestreckte Gestalt einer nackten, jungen weißen Frau erkennen, die auf einer Art Tisch festgekettet war. »Verfluchter Sohn eines Hundes«, stieß er laut aus. Das Bild sprang über zu einer Einstellung von oben. Tariq konnte das geschundene, erschöpfte Gesicht der jungen Frau in einer entsetzlichen Nahaufnahme sehen. Sie bewegte den Kopf in schmerzlicher Monotonie hin und her, hin und her. Tariq hatte schon genug Aufnahmen aus Kriegsgebieten gesehen, genug Videobeweise von gefolterten Menschen, um zu erkennen, was echt war und was nicht. Er hatte keinen Zweifel an der Echtheit der Aufnahme. Die Frau befand sich in einem fortgeschrittenen Zustand der Traumatisierung; die monotone Bewegung war ein untrügliches Anzeichen dafür, dass sie kurz vor dem Zusammenbruch stand. Plötzlich zoomte die Kamera wieder etwas heran. Diesmal drehte sie sich zur rechten Seite des Tischs. Auf dem Boden wurden langsam drei weiße Blätter Papier sichtbar. Tariq beugte sich zum Monitor vor und schaute genau hin. Auf jedem Blatt konnte er große, verschwommene Formen oder Buchstaben erkennen. Der Zoom hielt an, und das Bild wurde scharf. Tariq las die drei Wörter »HA! HA! HA!«.
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TEIL SECHS FREITAG, 6. JULI
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KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
FBI-Behörde, New York Howie Baumguard beendete sein Telefonat mit dem Direktor des FBI und drückte dann auf die Kurzwahltaste für Jack Kings Mobiltelefonnummer, ohne auch nur den Blick von der Nachrichtensendung im Fernsehen zu nehmen. In Rom war es zwei Uhr nachts, aber Jack war bereits beim dritten Klingeln am anderen Ende. »Hallo«, murmelte er. »Jack, ich bin’s, Howie, tut mir leid, dass ich dich wecken muss, ich nehme an, du hast schon geschlafen …« Jack schaltete die Nachttischlampe ein. »Ja, komischerweise richtig getippt. Schlaf, das ist diese verrückte Sache, die komische Typen wie ich ab und zu brauchen, und zwar jede Nacht und so lange wie nur möglich.« Während er sprach, drehte Howie den Fernseher lauter. »Tut mir leid, Kumpel, aber ich rufe nicht zum Spaß an, es ging nicht anders. Uns fliegt hier ziemlich die Scheiße um die Ohren.« Jack ließ die Nummer mit dem Witzbold fallen. »Was ist los? Mit dir alles okay?« »Ja, ich bin okay, keine Sorge, aber wir stecken hier in einer echten Klemme, und es sieht ganz danach aus, als hätte es mit unserem Lieblingssoziopathen zu tun, dem guten alten BlackRiver-Scheißer höchstpersönlich.« Der Name des Black-River-Killers genügte, dass Jack schlagartig senkrecht im Bett saß. »Was meinst du damit? Und schön langsam, Kumpel, ich bin noch nicht ganz wach.« »Nun ja, was ich hier habe, wird dich todsicher hellwach machen. Du kennst doch Pan Arabia, diesen arabischen Sender, 263
der Al Jazeera Konkurrenz machen soll, den Jungs, die auf Heimvideos von Bin Laden spezialisiert sind?« Jack rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ja, ich war bei einem der frühen Prüfungsteams dabei.« »Also, Pan Arabia bringt heute Morgen eine mordsmäßige Exklusivsendung. Scheiße, die haben gerade das Video und die Story von einer Frau gebracht, die irgendwo als Geisel festgehalten und zu Tode gefoltert wird.« Jack bemühte sich, einen Sinn in der ganzen Geschichte zu erkennen. »Ich komm immer noch nicht ganz mit, Howie. Bitte, noch mal ganz langsam von vorn, Mann. Die haben also Aufnahmen von einer entführten Araberin, und du glaubst, das hat was mit unserem BR-Killer zu tun?« »Scheiße!«, sagte Howie. »Tut mir leid. Noch mal von vorn. Auf ihrem englischen Nachrichtenkanal, nicht auf dem üblichen arabischen Sender, zeigen sie heute Morgen eine Exklusivgeschichte. Ein Video plus Kommentar von ihrem Chefredakteur für Verbrechen, Tariq el Daher heißt der. Der Bericht, den sie da zusammengeschustert haben, zeigt eine junge weiße Frau, die in einer Art dunkler Kammer angekettet ist. Allem Anschein nach ist sie in einem fürchterlichen Zustand. Sie bringen das Video gerade noch mal, falls du den Kanal auf deinem Fernseher bei Euch drüben findest.« »Ich werde nachschauen, wenn wir fertig sind«, sagte Jack und bemühte sich, die Augen offen zu halten. »Ich bin immer noch nicht so richtig wach.« »Jack, du müsstest das Mädchen sehen, völlig zerschunden und fertig. Unser Freund Tariq hat eine Kopie davon einem total bescheuerten Detective von der Mordkommission des NYPD gezeigt und ihm genug Zitate aus den Rippen geleiert, um zu melden, dass bereits eine landesweite Suche angelaufen ist, um dieses Mädchen zu finden, bevor es den Löffel abgibt.« »Woher weißt du, dass das Video echt ist?«, fragte Jack, dessen Hirn endlich zu arbeiten begann. 264
»Ich bin mir da ziemlich sicher«, antwortete Howie. »In dem Video ist eine Ausgabe von USA Today zu sehen, die auf dem Boden liegt, mit dem Datum vom 2. Juli. Und jetzt kommt’s, Jack, in dem Video sind außerdem noch drei Zettel zu sehen, darauf die Worte: ›HA! HA! HA!‹« Jack spürte, wie sein Schädel zu pochen begann. »Genau so geschrieben wie bei der Notiz, die der BR-Killer hier in Italien zurückgelassen hat?« »Ganz genau so«, bestätigte Howie. »Alles in Großbuchstaben«. »Gottverdammte Scheiße!«, fluchte Jack. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Die Sache mit Italien war nur eine falsche Fährte, so wie er es Orsetta gegenüber schon vermutet hatte. Und wie er ebenfalls vermutet hatte, hatte der BR-Killer eine neue, offensichtlich unvorstellbar grausame Gewaltserie in Amerika geplant. »Howie, glaubst du, dass die Frau irgendwo in Amerika von dem BR-Killer festgehalten wird? Glaubst du, dass wir hier drüben in Italien nur gegen den Wind pissen?« Howie konnte Jacks Schmerz und Erniedrigung förmlich spüren. »Sieht so aus. Italien ist eine falsche Fährte, nur für uns ausgelegt. Ich bin mir sicher, dass dieser Irre großen Spaß dabei hatte, sie zu präparieren, aber sein eigentliches Betätigungsfeld ist hier, war immer hier und wird auch immer hier bleiben.« Jack konzentrierte sich einen Moment auf das Video. Ihm war klar, dass der Film mehr als nur ein einmaliger PR-Gag war. Der BR-Killer würde als Fortsetzung etwas noch erheblich Teuflischeres aushecken. »Wie’s aussieht, wird der BR-Killer das Mädchen schon bald töten und das Video des Mordes dann dem im Westen am meisten verhassten Nachrichtensender zuspielen.« Howie teilte diese Befürchtungen. »Das sehe ich auch so. Du kennst doch diese Wichser, Jack, die zeigen Enthauptungen westlicher Geiseln und was nicht noch für Gräueltaten. Wahr265
scheinlich beten sie zu Allah oder Mohammed oder wem auch immer, dass irgend so etwas passiert, um ihre Einschaltquoten hochzutreiben.« Jack seufzte schwer. »Was hast du jetzt vor, Howie? Ich schätze mal, dein neuer Boss Joey Marsh ist ganz heiß, mischt sich überall ein und will, dass umgehend alle relevanten Dienststellen informiert werden?« »Genau. Marsh klebt mir derart am Arsch, den muss ich mir wohl wegoperieren lassen. Wir brauchen dich hier bei uns, Jack. Kannst du dich von deinen Verpflichtungen den Italienern gegenüber freimachen?« Jack dachte einen Augenblick über die Konsequenzen nach. »Ist Marsh damit einverstanden?« »Mehr als das. Er hat es selbst vorgeschlagen. Der ganze Scheiß geht wieder von vorn los, doch diesmal fleht uns dieser Irre geradezu an, ihn zu schnappen. Und wer weiß, Mann, vielleicht macht er diesmal den einen riesengroßen Fehler.« Jack wägte die Möglichkeiten ab. Howie könnte recht haben. Wenn der BR-Killer hinter dem Video steckte, dann ging er ein Risiko ein, und das würde er nur tun, wenn er kurz davor stand, erneut zu töten. Dies war eine einmalige Chance. Noch nie zuvor hatten sie derart präzise vorhersagen können, wann der Serienmörder erneut zuschlagen würde. »Ich kläre das mit Massimo. Ich werde kommen«, sagte Jack. »Ich weiß nicht, wann der nächste Flug von Rom nach New York geht, aber ich werde in der Maschine sitzen. Krallt euch in der Zwischenzeit diesen Tariq, klemmt ihm die Eier in den Schraubstock und drückt zu, damit er weiß, dass es bei dem, was als Nächstes passiert, nicht um eine TV-Story geht, sondern um Leben oder Tod.«
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Rom Als Orsetta und Massimo ins Büro kamen, befand Jack sich bereits auf dem Weg nach New York. Der Portier im Hotel hatte ihm eines der wenigen Resttickets für den Lufthansa-Flug um 9 Uhr 55 vom römischen Fiumicino aus besorgen können. Es sollte nicht die angenehmste aller Flugreisen werden. Jack war gut über eins achtzig groß, und sich in die Economy-Class zu quetschen war ihm zutiefst verhasst. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, musste er in Düsseldorf umsteigen und auch den anschließenden Transatlantikflug in der »Holzklasse« zurücklegen. Orsetta und Massimo erfuhren all dies aus den Meldungen, die er auf ihren Mailboxen hinterlassen hatte. Kurz vor dem Boarding hatte er Nancy angerufen und ihr gesagt, wohin er unterwegs sei und dass sie sich keine Sorgen machen solle, wenn er sie nicht zu den versprochenen Zeiten anrufen könne. Es war sehr ermutigend für ihn, wie verständnisvoll sie reagiert hatte. Er schaffte es ebenfalls noch, kurz mit Massimo zu telefonieren und ihm die letzten Neuigkeiten über den BRKiller zu berichten und den Grund für seinen plötzlichen Aufbruch zu erklären. Orsetta saß in Massimos Büro und stützte sich mit den Ellbogen auf den riesigen Schreibtisch des Direttore. Beide hielten sie sich an ihrem Espresso fest und sprachen darüber, wie ungeheuer enttäuscht sie wegen Jacks überstürztem Abschied waren. Massimo widerstand der Versuchung, sich zum Kaffee eine Zigarette anzuzünden, und hielt sich an seinen neuen Vorsatz, bis zum Mittagessen nicht zu rauchen. Er klopfte mit dem Finger auf den Aschenbecher, so als wollte er Asche abschlagen. »Orsetta, ich hoffe, Jack hat recht, und der Mord an Cristina Barbujani ist nur eine grausame Ablenkung, doch dieses Risiko können wir nicht eingehen. Wenn Benito ins Büro kommt, müssen wir ihm klarmachen, dass unsere eigenen Ermittlungen konzentriert weiterlaufen müssen. Ich möchte nicht, dass wir 267
uns zurücklehnen und denken, es sei jetzt nur noch eine Sache der Amerikaner. Das könnte sich als tragischer Irrtum erweisen.« Orsetta war schon einen Schritt weiter. »Ich habe gestern mit der Mordkommission in Livorno gesprochen, eine gute Truppe. Ich kenne den verantwortlichen Beamten, Marco Rem-Picci. Es ist nicht seine Art, jemandem zu erlauben, sich zurückzulehnen und Däumchen zu drehen.« »Gut«, sagte Massimo. Die Anspannung der Ermittlungen ließ sich langsam an seinen rotgeränderten Augen erkennen. »Fast täglich kriege ich Anrufe oder E-Mails aus dem Büro des Premierministers, vom Innenminister, vom Chef der Polizia Scientifica, von der Direzione Centrale Anticrimine della Polizia di Stato, und selbst der vermaledeite Polizeichef will wissen, welche Fortschritte wir machen.« Er warf verzweifelt die Hände in die Höhe. »Hoffen wir, dass diese Entwicklung in den USA uns ein wenig Luft verschafft.« Orsetta leerte ihre Espressotasse und trank einen Schluck Wasser hinterher, um das Bittere hinunterzuspülen. Mehr als jeder andere wollte sie den Fall weiter vorantreiben. Einerseits war dies der größte Fall, an dem sie je gearbeitet hatte, andererseits befanden sie sich, was sie betraf, gerade erst am Anfang, nicht am Ende. »Ich möchte gern mit der 3-D-Rekonstruktion des Tatorts weitermachen. Würden Sie Kostenübernahme und Zugang autorisieren?« Seit einigen Jahren hatte die italienische Polizei den Einsatz eines ausgeklügelten Computersystems gepflegt, das Tatorte mit erschreckender Genauigkeit rekonstruieren konnte. Es ließ sich alles darstellen, von der Flugbahn einer Kugel bis zu den Zuckungen einer Leiche. »Rufen Sie RiTriDEC an und sagen Sie, sie sollen anfangen. Ich schicke denen am frühen Nachmittag den Papierkram rüber«, antwortete Massimo. Er meinte damit das Speziallabor in Rom, das unter der Bezeichnung Ricostruzione 268
Tridimensionale della Dinamica dell’Evento Criminale firmierte. Orsetta war von diesem System begeistert. Es schluckte alle zum Tatort verfügbaren Daten, von eventuell vorhandenen Aufzeichnungen von Straßenüberwachungskameras bis hin zu den Vermessungen, die die Gerichtsmedizin während der Autopsie vornahm. War all dies eingespeist, rekonstruierte der Computer die Tatorte auf fünfeinhalb mal zwei Meter großen Bildschirmen in einem eigens dafür gebauten Vorführraum. Anschließend konnten Experten wie Orsetta die Bilder begutachten, fast wie Kunstkritiker, und jedes einzelne Pixel unter die Lupe nehmen, um nach Hinweisen zu suchen, die sie vielleicht zum Täter führten. Massimo winkte sie zu sich auf die andere Seite des Schreibtischs. »Benito hat mir das FBI-Video eingespielt, von dem Jack gesprochen hat. Ich habe es hier auf dem Computer.« Sie sprachen beide kein Wort, während Tariq el Daher seinen Bericht ablieferte. Orsetta machte sich Notizen und brach dann als Erste das Schweigen. »Nur weil auf dem Video eine Kopie von USA Today zu sehen ist, muss sich dieser Ort noch lange nicht in den USA befinden. Diese Zeitung kann man auch an hundert Stellen in Rom kaufen.« »Oder in einem Flugzeug auf dem Weg nach Rom«, ergänzte Massimo. »Jack könnte zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Wenn er doch nur zuerst mit uns darüber gesprochen hätte.« Orsetta nickte. Das fand sie auch. Was sie betraf, so übersahen Jack King und das FBI noch immer den Elefanten im Zimmer.
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KAPITEL FÜNFZIG
Toskana Montepulciano erhob sich vor dem frühabendlichen Himmel mit all der Schönheit und Rätselhaftigkeit einer befestigten mittelalterlichen Stadt aus einem Märchenbuch für Kinder. Von seiner luftigen Höhe auf einem Kalksteinhügelkamm aus, sechshundert Meter über dem Meeresspiegel, bewachte die Stadt majestätisch das magische Königreich der Natur selbst, die Toskana. Nancy King hatte ihre Kellnerin Paulina, die für einen Tag Fremdenführerin spielte, instruiert, dafür zu sorgen, dass der fotosüchtige Mr. Terry McLeod seine Linse auf jeden Quadratzentimeter der Stadt richten konnte. Und Paulina hatte das Versprechen, das sie ihrer Chefin gegeben hatte, getreulich gehalten. Als Erstes ließ sie ihn das letzte Stück des berühmten Corso zu Fuß laufen, der an der Porta al Prato beginnt und sich bis zur Stadtspitze und der weiten, offenen Piazza Grande hinzieht. Sie aßen draußen vor der Trattoria di Cagnano spät zu Mittag, wo Paulina den Fehler beging, darauf zu bestehen, dass er den örtlichen Vino Nobile probierte. McLeod willigte begeistert ein. Er trank den Großteil der Flasche allein, dazu aß er einen ordentlichen Teller Pasta und ein Stück torta, das groß genug war, um damit eines der beiden Tore des Rathauses zu verkeilen, das Ganze gefolgt von einem großen Grappa. Nach dem Essen führte sie ihn an den Stadtmauern entlang, die der granduca Cosimo I. de’ Medici im 16. Jahrhundert hatte errichten lassen. McLeod blieb einmal stehen, um Fotos zu machen, einmal, um ein paar Anrufe auf seinem Handy zu 270
erledigen, und einmal, um sich von dem Druck zu befreien, den der Rotwein in seiner Blase auslöste. Paulina zeigte ihm Santa Maria delle Grazie und, kurz bevor sie sich auf den Heimweg machten, noch die berühmte, der Madonna di San Biagio geweihte Kirche am Rande der Städtchens. McLeod interessierte sich erheblich weniger für Kirchenarchitektur, als er sie hatte glauben machen; dafür schien er umso mehr Interesse an allen Einzelheiten zu haben, die das Leben ihrer Arbeitgeber betrafen. Wie versprochen, rief Paulina bei Nancy an, kurz bevor sie ins Taxi stiegen und die Rückfahrt antraten. Sie erstattete ihr ausführlich Bericht über das, was sie gesehen und gemacht hatten. Nancy legte auf und drehte sich zu Carlo um. Sie standen im Zimmer des angeblichen Touristen Terence T. McLeod. Nancy hatte mit dem Generalschlüssel aufgeschlossen. Dieser McLeod, davon war sie überzeugt, war hier ebenso wenig auf Urlaub wie sie. Nancy hatte hin und her überlegt, ob sie in die Privatsphäre eines Gastes eindringen und in dessen Abwesenheit Zimmer und Habe durchsuchen sollte. Im Ende hielt sie es mit der alten Maxime ihres Vaters: »Bedaure lieber etwas, was du getan hast, als etwas, was du nicht getan hast.« Überraschenderweise hatte ihre Suche absolut nichts erbracht, was ihre Abneigung oder ihren tief sitzenden Verdacht erhärtete, er sei der Eindringling in ihrem Schlafzimmer gewesen. »Was halten Sie davon?«, fragte sie Carlo. Der Hoteldirektor zuckte die Achseln. »Es war dunkel, als das Ganze passiert ist. Und Sie sagen ja selbst, dass Sie das Gesicht des Mannes nicht erkannt haben, weil er eine Maske trug. Wir haben nichts gefunden, um zu beweisen, dass es Mr. McLeod war.« Er sah sie mitfühlend an. Der Zwischenfall hatte ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. »Ich glaube, Mrs. King, Sie 271
irren sich. Sieht doch ganz so aus, als wäre unser Mr. McLeod genau das, was er zu sein behauptet: ein amerikanischer Tourist. Meiner Erfahrung nach können die manchmal allerdings erheblich mehr Scherereien machen als ein einfacher Einbrecher.«
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KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
Pan Arabia News Channel, New York Tariq el Daher schaute hinaus über die dunstige New Yorker Skyline und überlegte, wie lange genau er die beiden FBIAgenten warten lassen sollte. Er sah auf seine Uhr, es war kurz nach halb zwölf. Waren zwanzig Minuten genug, um ihnen zu zeigen, dass er hier das Sagen hatte und dass alles geschah, wann und wie er es für richtig hielt? Oder sollte er sie mindestens eine volle Stunde warten lassen, um sicherzustellen, dass zumindest diese Regierungsbehörde in Zukunft Pan Arabia ernst nehmen und die Höflichkeit besitzen würde, auf Anfragen zurückzurufen und sie mit demselben Respekt zu behandeln, den sie Sendern wie Fox und CNN zuteil werden ließ? Tariq schickte seine Sekretärin, ihm einen weiteren Kaffee zu holen, und beauftragte sie, den Bundesbeamten mitzuteilen, dass er sehr beschäftigt sei und alles in seiner Macht Stehende tue, sie so schnell wie möglich zu empfangen. Dann trank er den Kaffee und beendete seine Lektüre der Morgenzeitungen. Morgen würden sie voller Zitate von ihm sein, dazu wohl noch das eine oder andere Foto. Er hoffte, dass man die Bilder nehmen würde, die vor ein paar Jahren bei einem Presseempfang gemacht worden waren, als man ihm den Sonderpreis für investigativen Journalismus überreichte. Tariq rechnete schon damit, dass alle Nachrichtenmedien, gleich ob Zeitungen, Fernsehsender oder Magazine, Bilder von der Frau aus dem Videobericht stehlen würden, den er zusammengestellt hatte, also hatte er bereits die Anwälte von Pan Arabia vorgewarnt, eine Copyright-Warnung herauszugeben und eine Reihe von digital bearbeiteten Bildern zu verbreiten, die die Presse 273
kostenlos verwenden durfte, natürlich nur dann, wenn als Urheber Pan Arabia genannt wurde. Ja, morgen würden sich all diese Schmierenschreiber wie die Aasgeier auf seine Story stürzen, ganz bestimmt. Tariq grinste bei dem Gedanken, wie sie fieberhaft nach seiner Telefonnummer suchten, und fragte sich, ob er sich wohl herablassen würde, mit ihnen zu sprechen. Als Erstes musste er jedoch den unangenehmen Termin mit dem FBI hinter sich bringen, nachdem er den mit dem NYPD bereits am Vormittag erledigt hatte. Der zahme Polizist, den Tariq benutzt hatte, um überhaupt erst eine richtige Story zusammenzubekommen, drehte inzwischen völlig durch und behauptete, seine Zitate seien völlig aus dem Zusammenhang gerissen und er werde heute Nachmittag Tariq den Arsch dafür aufreißen, ihn in solche Schwierigkeiten gebracht zu haben. Tariq fragte sich, ob er ihm auch die fünfhundert Dollar zurückgeben würde, die er für das Interview verlangt hatte. Wahrscheinlich wohl eher nicht. Nach vierzig Minuten bat Tariq seine Sekretärin, die Beamten in den großen Konferenzraum zu führen. Dann änderte er seine Meinung. Er beschloss, sich in Anwesenheit ihres Rechtsanwalts mit ihnen im kleinsten der Besprechungszimmer im Erdgeschoss zu treffen, das normalerweise den Jungreportern vorbehalten war, die man nach unten schickte, um potenzielle Zeitverschwender abzuwimmeln. Ryan Jeffries aus der Rechtsabteilung kam in sein Büro, und gemeinsam nahmen sie den Fahrstuhl nach unten. Der 50jährige Jeffries hatte schon mehr erlebt als ein New Yorker Taxifahrer, und es gab nichts in den Mediengesetzen, das er nicht kannte oder von dem er nicht wusste, wie man es umgehen konnte. »Guten Morgen, meine Herren«, sagte Tariq kraftvoll, als er die Tür zu dem engen Zimmer öffnete. »Mein Name ist Tariq el Daher, und das hier ist Ryan Jeffries, der Leiter unserer Rechtsabteilung. Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten.« 274
Howies erster Blick verriet gleich die unverhohlene Verachtung, die er für beide hegte. »Senior Supervisory Special Agent Howie Baumguard und Special Agent Angelita Fernandez.« Sie setzten sich alle an einen billigen Holztisch, der so klapprig war, dass er unter Howies fleischigen Armen fast zusammenbrach. Tariq lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, und Jeffries setzte zum Schlag an. »Mr. el Daher und der Sender haben bereits gegenüber dem New York Police Department eine Aussage gemacht, das, soweit uns bekannt ist, die Leitung dieses Einsatzes besitzt. Wir haben eine Kopie des von uns entdeckten Materials weitergeleitet, und wir werden das NYPD auch zukünftig weiter nach Kräften unterstützen. Mr. el Daher ist, wie Sie wissen, ein viel beschäftigter Mann, und wir halten es nicht für angebracht, seine kostbare Zeit mit der Wiederholung gewisser Vorgänge zu vergeuden.« Angelita war neugierig, wie ihr Chef damit umgehen würde. Die dicken Adern an seinem Hals und die riesigen geballten Fäuste ließen vermuten, dass er gleich Hulk-grün anlief, sich die Kleider vom Leib riss, sich dann den Anwalt schnappte und diesen aalglatten Mistfink von Journalisten mit ihm erschlug. »In Ordnung«, antwortete Howie überraschend ruhig und leise. »Agent Fernandez und ich bedauern wirklich zutiefst, Sie belästigt zu haben. Wir gehen dann mal wieder, falls es Ihnen nichts ausmacht, ja?« Jeffries lächelte und legte die Handflächen auf den Tisch, um sich beim Aufstehen abzustützen. »Setzen Sie sich, Mister«, knurrte Angelita. »Mein Boss will Sie nur verarschen. Sie wissen doch, wie das Spiel läuft.« Howie grinste gemein. »Die Dame hat leider recht. Natürlich könnten wir die Scheiße fressen, die Sie uns da aufgetischt haben, und einfach wieder gehen. Doch dann müsste ich leider heute Nachmittag mit einem Gerichtsbeschluss zurückkommen, jeden Computer und jede Bandmaschine im Haus beschlagnahmen und schließlich Ihren ach so viel beschäftigten Mr. el Daher 275
in einen Raum einsperren, der noch viel kleiner ist als diese beschissene Streichholzschachtel, in die Sie uns geführt haben.« »Das ist doch lächerlich! Mit welcher Begründung?«, stammelte Jeffries empört. »Vorenthaltung von Beweismaterial. Behinderung der Rechtsfindung oder der polizeilichen Ermittlungen. Wir werden schon einen passenden Grund finden«, sagte Angelita. »In der Zwischenzeit«, fügte Howie hinzu und pullte an einem dreckigen Fingernagel, »wird jeder Pressefritze auf der Welt sich auf die Story stürzen, die wir herausbringen werden, nämlich wie Ihr Sender das Leben einer jungen Amerikanerin gefährdet. Das erzählen Sie mal Ihrem Chef, dem Aufsichtsrat und den Geldgebern. Mal sehen, wie viel Unterstützung Sie dann noch von dieser Seite erwarten können.« »Und das natürlich nur, wenn die Aufnahmen echt sind«, setzte Angelita nach. »Denn sollten wir herausfinden, dass sie gefälscht sind, dann haben Sie verdammt viel Scheiße an der Backe, und wir werden dafür sorgen, dass sie Ihnen bis über den Kopf steigt.« Tariq beugte sich vor und legte eine Hand auf Jeffries’ Arm, um ihn am Reden zu hindern. »Was wünschen Sie, Mr. Baumguard?«, fragte er mit einer Stimme, die so ruhig war, dass sie schon fast gelangweilt klang. »Fangen wir doch gleich mal mit etwas mehr Höflichkeit an«, antwortete Howie. »Und gleich danach dürfen Sie von vorn anfangen und eine vollständige Wiederholung Ihrer Aussage liefern, indem Sie uns mitteilen, wie diese Aufnahme in Ihre Hände gelangt ist.« »Ach, und Mister Anwalt«, sagte Angelita, »während er dabei ist, könnten Sie uns vielleicht ein paar Tassen Kaffee und Donuts besorgen. Wir haben heute Morgen das Frühstück verpasst.«
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KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
San Quirico d’Orcia, Toskana In San Quirico setzte allmählich die Abenddämmerung ein und tuschte eine seidige Mischung aus Zinnoberrot und Gold über den dunkelblauen Abendhimmel. In Terry McLeods Badezimmer löste sich der Ventilatordeckel über der Toilette unter dem Druck seiner Hände. McLeod hob einige Dinge herunter, die er in dem Metallrohr versteckt hatte, und trug sie ins Schlafzimmer. Darunter befanden sich verschiedene spezielle Fotos und einige besondere Ausrüstungsgegenstände, die er äußerst geheim halten musste. Die Kellnerin Paulina war eine gute Begleiterin gewesen. Und als er ihr zu den äußerst generösen hundert Euro, auf die er als Entlohnung für ihre »Dienste« als Fremdenführerin bestanden hatte, noch fünfzig Euro Trinkgeld drauflegte, war sie mehr als nur hilfreich. Ein paar Dinge, die sie ihm über die Kings verraten hatte, dürften sich schon bald als äußerst wertvoll erweisen. Sie hatte sich ausführlich darüber ausgelassen, dass die Amerikaner nicht die leiseste Ahnung von der Branche hatten, als sie La Casa Strada übernahmen, dass Carlo und Paolo Hotel und Restaurant die ersten sechs Monate allein führten, dass Mrs. King dann aber langsam begonnen habe, die Leitung zu übernehmen und sich leidenschaftlich für das Kochen und die Unterbringung ihrer Gäste zu interessieren, damit diese sich als willkommene Freunde fühlten. McLeod hatte geduldig zugehört, während sie über das Essen und die Speisekarte sprach, über die Arbeit, die sie im Hotel zu erledigen habe, und über ihre Ambitionen nach Abschluss ihres Studiums. Schließlich konnte er mit nur sehr wenigen Anspielungen das Gespräch auf das 277
lenken, was ihn tatsächlich interessierte: auf den ehemaligen FBI-Agenten Jack King. Paulina hatte nicht alles gewusst, was McLeod zu erfahren gehofft hatte, aber immerhin eine Menge. Sie beschrieb ausführlich, wie niedergeschlagen Jack gewesen war, als sie ihm das erste Mal begegnete. Dass er sich ständig in den Privaträumen des Hotels aufhielt und sich so gut wie gar nicht für Angestellte oder Gäste zu interessieren schien, sich nie die Mühe machte, sie kennenzulernen oder gar mit ihnen zu plaudern, wenn sie sich zufällig in den Gängen oder im Garten begegneten. Sie erwähnte, dass er vor etwa zwei Jahren immer lange Spaziergänge unternommen habe, meist allein, manchmal mit seinem Sohn im Kinderwagen, und seine Runden durch San Quirico drehte. Er ging so oft im Kreis, dass die Ladenbesitzer und Einwohner schon meinten, er sei fuori di testa – verrückt. McLeod sog das alles auf, und je mehr schlimme Sachen er über den Helden Jack King zu hören bekam, umso besser. Paulina erzählte auch, dass Jack sich hatte gehen lassen und so zugenommen hatte, dass Nancy sich mit Paolo zusammentat, um eine spezielle Diät auszuhecken, damit er seine Pfunde wieder herunterbekam. Das hätte McLeod nur zu gern mit eigenen Augen gesehen. In letzter Zeit jedoch, sagte Paulina, habe er abgenommen, und statt der langen, einsamen Wanderungen gehe er nun zwei-, dreimal die Woche joggen und sei in buona salute. McLeod hatte gefragt, wo sich Jack denn gerade aufhalte. Paulina hatte gezögert und dann gesagt, sie glaube, er sei weit weg, vielleicht sogar am anderen Ende des Landes. Was McLeod allerdings richtig interessierte, war Paulinas Enthüllung, sie glaube, Jacks Abwesenheit habe irgendwas mit der italienischen Polizei zu tun. Sie erinnerte sich daran, dass eine Beamtin in Zivil aus Rom gekommen sei und nach ihm gefragt habe. Offenbar sei es zum Streit zwischen der Polizistin und Mrs. King gekommen, und am Ende habe die Polizistin 278
Mrs. King befohlen, ihren Mann anzurufen, weil es um »dringende polizeiliche Angelegenheiten« gehe. Bei dem Gedanken daran musste McLeod grinsen, und er betrachtete die Fotos von Jack, die er aus dem Fotoalbum in Nancy Kings Schlafzimmer gestohlen hatte. »Ich habe eine nette kleine Überraschung für dich, Mr. FBI-Mann«, sagte er und legte die Fotos beiseite. Dann packte er langsam die Sonderausrüstung aus, die er ebenfalls versteckt hatte. Die würde er bei Nancy King brauchen.
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KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
JFK International Airport, New York Jacks Maschine landete pünktlich am Terminal 4 des JFK. Howie wartete draußen mit einem Wagen, einer kräftigen Umarmung und einem Schlag auf die Schulter, der eine schmächtigere Person geradewegs ins Krankenhaus befördert hätte. Sie fuhren sofort ins Büro und brachten sich unterwegs auf den neuesten Stand. »Hast du dir irgendwo ein Zimmer genommen?«, fragte Howie, als sie endlich das Verkehrschaos am Flughafen hinter sich gelassen hatten. »Nein, noch nicht. Es war schon schwierig genug, einen Flug von Rom aus zu erwischen, alles andere habe ich nicht mehr geschafft. Macht es dir was aus, Janie oder eine der anderen Sekretärinnen zu bitten, mir was zu suchen?« Howie sah ihn böse an. »Kommt gar nicht infrage. Heute Nacht schläfst du auf jeden Fall bei uns.« Howies Angebot erfolgte einerseits aus Höflichkeit, andererseits aber machte er sich auch Sorgen, wie Jack es wohl verkraftete, wieder bei der Arbeit zu sein und dann auch noch die Nacht allein verbringen zu müssen, ohne mit jemandem über alles reden zu können. Jack schob den Beifahrersitz nach hinten, um die Beine auszustrecken. »Ich möchte Carrie und dir meinetwegen keine Umstände machen.« »Kein Problem. Außerdem könnte ich im Moment einen Freund im Haus brauchen. Und Scheiße, Mann, weiß der Himmel, wann ich dich das nächste Mal wiedersehe.« »Sehr nett von dir, danke.« Als sie sich Manhattan näherten, blickte Jack gedankenverloren durch die Windschutzscheibe 280
hinaus auf die vertraute Gebäudekulisse. »Seit meinem Zusammenbruch bin ich jetzt zum ersten Mal wieder in New York. Mann, als Nancy und ich vor – wie lange? – drei Jahren nach Italien abgereist sind, da hätte ich im Traum nicht daran gedacht, irgendwann noch mal zurückzukommen, und schon gar nicht zurück zur Arbeit.« Howie hupte irgendeinen mit dem Wagen schlingernden Touristen an, der beim Fahren offenbar in den Stadtplan guckte. »He, nimm dir das nächste Mal ein beschissenes Taxi, du blöder Hund!«, brüllte er. Jack lachte. »Hier hat sich anscheinend nichts geändert, hm?« Howie musste ebenfalls lachen. »Überhaupt nichts, Kumpel. Immer noch das liebenswerte New York, wie du siehst.« Die Fahrt tat Jack gut. Er hatte genug Zeit, sich zu akklimatisieren und auf die bevorstehende Arbeit vorzubereiten. »Kurz vor dem Abflug habe ich noch das Video sehen können«, sagte er. »Üble Sache. Gibt’s irgendwas Neues?« »Wenig«, antwortete Howie. »Angelita und ich waren bei diesem Wichser Tariq. Erst hat er einen auf gelacktes Arschloch markiert, und als wir ihm dann ein bisschen Feuer unterm Hintern gemacht haben, hat er mehr ausgespuckt, als man das auf einer Lungenkrebsstation erleben würde.« »Hatte er einen Anwalt dabei?« »Ja, so einen Klugscheißer, aber der war kein Problem. Anscheinend hat der BR-Killer Tariq eine Mail mit einem Hyperlink und einem Zugangscode geschickt, und so ist er an das Video gekommen, das sie dann ausgestrahlt haben.« »Sucht schon jemand nach Hintergründen über den- oder diejenigen, die hinter dieser Website stecken?« »Na klar, aber wir wissen doch beide, dass schon ein Zwölfjähriger solche einfachen Seiten basteln kann. Der BR-Killer wird einen falschen Namen angegeben haben, als er sich den Provider ausgesucht hat. Während der Testphase hat er bestimmt nur völlig harmlose Videos auf den Server geladen. Das richtige 281
Zeug hat er erst an dem Tag abrufbar gemacht, als er die E-Mail an Pan Arabia geschickt hat. Unsere IT-Jungs glauben, es könnte mit einem Dongle-Verfahren verschlüsselt sein.« »Noch mal, womit?«, fragte Jack. »Ist das so, als ob man sich den Schniepel im Reißverschluss einklemmt?« Howie lachte. »Das ist ein Codiertrick, der dafür sorgt, dass man nur für einen begrenzten kurzen Zeitraum auf das Video zugreifen kann. Ein Dongle ist so was wie ein Zeitzünder: Er tickt leise vor sich hin, und dann – Bummm! – geht er hoch, und du hast keinen Zugang mehr zu den Daten.« »Also steckt man dann doch mit dem Schniepel im Reißverschluss«, sagte Jack. Howies Handy klingelte, als sie gerade zur Federal Plaza abbogen. »Ja, hallo«, meldete er sich und drehte am Lenkrad. »Boss, Fernandez hier. Die Jungs in Myrtle Beach haben eine Leiche gefunden. Sie glauben, dass es sich um Stan Mossman handelt, unseren Kurierdienst-Zusteller.«
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KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
FBI-Behörde, New York Jack King brauchte zehn Minuten, um jedem die Hand zu schütteln, und weitere zwanzig Minuten, um all seine weiblichen Exkollegen zu umarmen, zu küssen und ihnen Hallo zu sagen. »Mann, du solltest mal kurz auf die Herrentoilette verschwinden und dich wieder auf Vordermann bringen«, sagte Howie grinsend. »Ich hab schon Typen von den wildesten Junggesellenwochenenden heimkehren sehen, die weniger Lippenstift am Kragen hatten.« »Diesen kleinen Preis muss man schon zahlen, wenn man beliebt ist«, witzelte Jack und beschloss, Howies Rat anzunehmen. »Wir sehen uns bei der Einsatzbesprechung.« Der Konferenzraum war voll und hochkarätig besetzt. Den Vorsitz hatte FBI Field Office Director Joe Marsh, ein kleiner, dürrer Mann Anfang vierzig mit grauen Schläfen und einem natürlichen Lächeln, für das die meisten Politiker ihre halbe Wahlkampfkasse gegeben hätten. Rechts neben ihm saß NYPD Deputy Commissioner of Operations Steven Flintoff, ein breitbrüstiger Stier von Mann mit stoppelkurzen roten Haaren und seinem Markenzeichen, den hochgekrempelten Ärmeln. Dann folgten an dem runden Tisch die beiden Verhaltensanalytiker Howie Baumguard und Angelita Fernandez, daneben die Pressesprecherin des NYPD, Elizabeth Laing, die aussah wie Roseanne Barr, sowie Julian Hopkins, ihr Kollege von der New Yorker FBI-Behörde. Sie waren noch damit beschäftigt, sich Kaffee und Wasser einzuschenken, als Jack King den Raum 283
betrat und alle mit einem selbstbewussten »Guten Tag, alle miteinander!« grüßte. Es gab spontanen Beifall. Marsh erhob sich und schüttelte Jack die Hand. »Schön, Sie wieder hier zu sehen, Jack. Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich.« »Es ist schön, wieder hier zu sein«, sagte Jack. »Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt nicht das Gefühl, jemals weg gewesen zu sein. Derselbe Fall, dasselbe Zimmer, nur ein paar neue Gesichter.« »Angelita Fernandez«, stellte sich die Profilerin selbst vor, beugte sich über den Tisch und schüttelte ihm die Hand. »Wir haben uns ja schon bei der Videokonferenz gesehen.« »Genau. Nett, Sie auch in natura kennenzulernen«, sagte Jack. Einer nach dem anderen beugte sich nun über den Tisch und machte sich bekannt, dann kam Marsh zur Sache. »Für die anwesenden Pressesprecher: Jack King ist ausschließlich in beratender Funktion hier. Am besten wäre es, sein Name würde überhaupt nicht fallen, aber bleiben wir realistisch, seine hässliche alte Visage ist so bekannt, dass die Presse sich spätestens nach ein paar Tagen todsicher laut fragen wird, was zum Teufel er hier macht. Keine Interviews mit Jack, keine Kommentare von Jack, sagen wir einfach, er ist hier, um sich mit ein paar alten Freunden zu treffen. Ist das klar?« Laing und Hopkins nickten. »Gut«, sagte Marsh. »In ein, zwei Minuten wird sich Malcolm Thompson aus Quantico per Telefon dazuschalten, um mit uns die Strategie der nächsten paar Tage abzusprechen. Jack, Malcolm ist der neue Direktor des National Center for the Analysis of Violent Crime. Er ist im Moment noch dabei, sich einzuarbeiten, aber wenn er erst mal Land sieht, wird alles bestens.« Marsh schlug mit beiden Händen leicht auf den Tisch. »Okay, Howie, Angelita, bevor wir Malcolm anrufen – was gibt’s Neues?«
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Howie ergriff das Wort. »Wir haben mit diesem Journalisten Tariq el Daher gesprochen. Nach einem, nun, sagen wir mal, zögerlichen Anfang konnte er sich unserer Sichtweise der Dinge anschließen.« Howie nickte dem Deputy Commissioner of Operations des NYPD zu. »Stevies Jungs statten Tariqs Büro gerade mit jeder Menge Audio- und Videoaufzeichnungsgeräten aus, Telefone, Computer, das volle Programm. Damit sollte sichergestellt sein, dass wir jede neue Videoeinspielung zurückverfolgen können, die der Täter ins Netz stellt.« »Und dieser el Daher hatte nichts dagegen?«, hakte Marsh nach. »Absolut nicht. Der Mann ist ein echtes Muster an Kooperationsbereitschaft«, sagte Howie und grinste dabei so breit, dass jeder genau wusste, wie das zu verstehen war. »Schwirrt das Material immer noch da draußen im Hyperspace herum?«, fragte Jack. »Nein«, antwortete Angelita. »Tariq hat vor zehn Minuten angerufen und mitgeteilt, dass der Zugangscode nicht mehr funktioniert.« Jack musste einen kurzen Moment an Dongle, Zeitzünder und andere Reißverschlusskatastrophen denken. »Hat der Code selbst irgendeine Bedeutung?«, fragte er. »Sagt irgendjemandem die Zahl 898989 was? Ist das die Telefonnummer von Pan Arabia, haben wir sie als Telefonnummer durchprobiert, haben wir die Zahl selbst durchs Internet gejagt?« »Ich habe mal gegoogelt«, sagte Angelita. »Und?«, fragte Marsh. »Hundertsechzehntausend Treffer. Zwanzigtausend davon habe mir bereits angesehen …« Alle lachten. »Als Domainname ist 898989 bereits registriert. Alles völlig legal, keinerlei Verbindung zu unserer Sache. Außerdem landet man bei einem Gartencenter in England und auf einer merkwürdigen Website namens ›Just Curious‹.« Angelita legte eine 285
Kunstpause ein, um die Spannung zu steigern, und fuhr dann fort: »Tut mir leid, Leute, aber auch hier alles ganz legal. Ich war zunächst auch ganz aufgeregt, weil das Motto der Site ›Fremde helfen Fremden‹ lautet.« »Und worum zum Henker geht es dabei?«, fragte Flintoff. »Man stellt anonym eine Frage, und die ganze Welt antwortet einem und gibt gute Ratschläge«, erläuterte Angelita. »Hört sich doch super an«, sagte Howie. »Schreib doch mal, und teil der Welt da draußen mit, dass wir schrecklich gern wüssten, wo sich der BR-Killer aufhält, und frag, ob ihn vielleicht einer gesehen hat.« Wieder mussten alle lachen. »Keine schlechte Idee«, sagte Jack. »Wir wissen ja, was für ein egoistisches Stück Scheiße der BR-Killer ist. Da stehen die Chancen gar nicht schlecht, dass er die Seite aufsucht und antwortet. Ich fürchte nur, eine Million weiterer Knalltüten tun das ebenfalls.« »Was noch?«, sagte Marsh. »Wir müssen uns etwas ranhalten.« Howie übernahm wieder. »Die schlechte Neuigkeit des Tages: Es sieht ganz so aus, als wäre einer unserer möglichen Augenzeugen, der den Täter vielleicht hätte identifizieren können, umgebracht worden. Die Jungs unten in Myrtle waren auf der Suche nach einem Kurier der Firma UMail2Anywhere, sein Name: Stanley Mossman. Am besten berichtet Angelita den Rest. Sie hat vorhin erst mit denen telefoniert.« Angelita ergriff das Wort. »Unser Stan tauchte im Kofferraum seines eigenen Wagens im Dauerparkbereich am Myrtle Beach International auf. Ich kenne noch nicht alle Einzelheiten, aber nach allem, was mir Gene Saunders berichtet hat, scheint alles dafür zu sprechen, dass sich der BR-Killer dort mit ihm verabredet und ihn erledigt hat. Anscheinend wurde dem Jungen die Kehle durchgeschnitten, als er hinter seinem Fahrzeug stand, dann hat der Täter den Kofferraum geöffnet und ihn dort verstaut.« 286
»Überwachungskameras, Gerichtsmedizin?«, fragte Marsh. Angelita nickte. »Jawohl, Sir, alles in Arbeit. Der Arzt führt die Autopsie morgen durch, aber er hat die Leiche am Tatort gesehen. Seiner Meinung nach ein Schnitt mit einem einfachen, kurzen und rasierklingenscharfen Messer. Der Schnitt wurde von hinten geführt. Schnell und entschieden.« Sie fuhr sich mit einem Finger über die Kehle. »Schwupp!« »Eine saubere Tötung«, sagte Howie. »Klingt, als hätte er den Jungen gebeten, etwas in den Kofferraum seines Wagens zu legen. Dann schleicht er sich hinter ihn, zückt ein Klappmesser oder so und durchtrennt blitzschnell die Halsschlagader.« »Es ist wahrscheinlich vermessen zu hoffen, dass wir das alles auf Video haben?«, sagte Marsh. Fernandez lächelte. »Sie können Gedanken lesen, Boss, was? Das Parkhaus gehört nicht zum normalen Parkplatzangebot des Flughafens, es war vielmehr ein altes Gebäude ein paar Blocks hinter der Jetport Road. Keine Kameras.« »Sehr interessant«, sagte Jack. »Um einen Parkplatz zu finden, der nicht kameraüberwacht wird, muss man erst diejenigen aufsuchen, die es sind, um sie dann ausschließen zu können. Jemand unten in Myrtle Beach soll sämtliche Autovermietungen am Flughafen anrufen und sie bitten, die Videoaufzeichnungen der letzten drei Wochen aufzuheben. Es besteht die – zugegeben kleine – Chance, dass er gefilmt worden ist.« »Klingt wie eine hervorragende Beschäftigung für einen Detective in Horry County, der noch grün hinter den Ohren ist«, sagte Marsh. Jack goss sich Wasser ein. »Unsere Leute in Myrtle Beach haben den Wagen doch bestimmt sichergestellt?« »Die Spurensicherung hat ihn schon im Spielzimmer«, antwortete Fernandez. »Wenn es irgendwelche Haare, Fasern oder sonstige Spuren gibt, werden sie die finden.« »Die Sache hat nur einen kleinen Haken«, sagte Howie. Jack beendete den Satz für ihn: »Wir haben keinen vermale287
deiten Täter in der Kartei, mit dem man die Daten abgleichen könnte.«
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KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Ludmilla und Ramsan leben in einem kleinen weißen Häuschen mit strohgedecktem Dach und Wasserrad neben einem Fluss; ihre kleinen Kinder spielen Fangen in einem Garten, durch den sich ein alter steinerner Pfad über eine Wiese voller Gänseblümchen schlängelt. Ludmilla Zagalsky fantasiert, und sie ist froh darüber. Ramsan und sie sind verheiratet und haben zwei wunderhübsche kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, die ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten sind. Es fehlt ihnen an nichts, und sie führen ein perfektes Leben in einem perfekten Heim auf dem perfekten Land, wo der Sommer nie endet, wo niemand einen nackt auszieht und wie einen Hund krepieren lässt. Ludmilla hat viel geträumt, seit sie in diesem Keller festgehalten wird, aber nur wenige Träume waren so angenehm wie dieser. Meistens hatten sie mit Schmerz, Demütigung und Tod zu tun. Manche waren so furchtbar, dass sie Angst hatte, wieder einzuschlafen. In der letzten Stunde jedoch fantasiert sie über Ramsan. In ihrem früheren Leben, vor ein paar Tagen erst, war er nur ein großer, gut aussehender Kellner, der ihr Interesse geweckt hat. Heute stellt sie ihn sich als Liebhaber, Ehemann und Vater ihrer Kinder vor. Der letzte Gedanke schmerzt am stärksten, denn sie wird nie Mutter sein, wie sie nun weiß, sie wird niemals Kinder gebären, wird niemals das Lächeln auf dem Gesichtchen ihrer Babys sehen. Ludmilla schlägt die Augen auf und starrt mit leerem Blick an die schwarze Decke mit dem strahlenden Rattenauge der 289
Kamera, die auf sie herablinst. Manchmal ist sie davon überzeugt, dass der Mann immer noch im Haus ist und sie von irgendwo auf der anderen Seite der Tür aus beobachtet, die Kameras hin und her fährt und sich bestimmt einen runterholt, während sie sich Stück für Stück dem Tode nähert. Sie ist ja schon so manchen Irren begegnet, Sadisten und Masochisten, Skopophilen und Skatophilen, aber dieser Bekloppte jetzt übertrifft alles, was sie bisher erlebt hat. Wie kann es einen nur aufgeilen, dabei zuzusehen, wie jemand verhungert? Wie verrückt muss man sein, um das erregend zu finden? Es ist siebenundachtzig Stunden her, seit Ludmilla das letzte Mal etwas zu sich genommen hat, und selbst das waren nur ein paar kleine Schlucke von einem Vanille-Milchshake. Die Folgen von Nahrungsmangel und Dehydrierung werden von Stunde zu Stunde akuter. Zu Delirium und Halluzinationen kommt inzwischen ein extrem hohes Fieber. Trotz fehlender Nahrung empfindet sie einen starken Brechreiz, ohne allerdings tatsächlich etwas hochzuwürgen, denn ihr Magen ist ja vollkommen leer und trocken wie Pergamentpapier. Jedes Würgen löst fürchterliche Krämpfe und stechende Schmerzen in Unterleib und Brustkorb aus. Sie muss fast überhaupt nicht mehr urinieren, und wenn, dann sind es ein paar brennende Tropfen Säure, die die letzten Reste ihrer Menschenwürde wegfressen. Vielleicht findet dich jemand, Ludmilla. Vielleicht haben sie ihn längst geschnappt und sind jetzt schon auf dem Weg hierher, um die Haustür aufzubrechen. Jeden Augenblick wirst du hören, wie sie die Kellertreppe herunterkommen. Und was dann? Bumm! Das passiert dann. Hat er nicht gesagt, dass der ganze Laden verdrahtet ist, in einem Feuerball hochgeht und alles Lebendige darin verbrennt? Na, lieber verbrennen als so krepieren. Aber dann sterben noch andere, Ludmilla. Unschuldige, die dich retten wollten – willst 290
du das? Bist du schon so verzweifelt, so weit runtergekommen? Und immer weiter quälen sie ihre Gedanken, nie lassen sie sie in Ruhe, stets zerstören sie ihre Hoffnung, stets bringen sie sie dazu, sich das Schlimmste auszumalen. Und wenn die Gedanken vorbei sind, kommen die Schuldgefühle. Du hast es doch nicht anders verdient. Das ist Gottes Strafe für dein sündiges Leben. Zähl doch mal all die Sünden auf, Ludmilla, die du begangen hast. Die Diebstähle, die Lügen, die Ehebrüche, gibt es denn ein einziges Gebot, das du nicht gebrochen hast? Mord, das ist aber auch das einzige, und im Augenblick würdest du diesen Irren doch nur zu gern killen, der dich diese Hölle durchleiden lässt. Ludmilla kann nicht mehr klar sehen. Ihre Augen schmerzen so sehr, dass sie sie auch nicht mehr richtig schließen kann. Die Kopfschlinge hat sich durch ihr Zerren gelöst, sie kann den Kopf zur Seite drehen, aber das Leder hat ihre Haut übel aufgescheuert. Ihre Haut ist praktisch taub. Sie hat ihre natürliche Elastizität verloren und fängt an zu schrumpfen. Manchmal verliert sich die Taubheit, und ihre Haut kribbelt, aber nicht so ein Kribbeln wie als Kind. Eher so, als würde man sie mit einem Elektroschocker malträtieren, der so starke Schläge austeilt, dass sie schon meint, gleich abzukratzen. Ludmilla fragt sich, ob sie nicht schon so weit hinüber ist, dass sie auf jeden Fall an den Folgen dessen sterben wird, was der Kerl ihr bisher angetan hat, selbst wenn ihre Retter jetzt in dieser Minute auftauchen würden. Sie bekommt genau mit, wie ihr Körper sich selbst umbringt. Er hat sich in ein Mordinstrument gegen sich selbst verwandelt. Das ist die gerechte Strafe für deinen Lebenswandel, Ludmilla. Verscherble deinen Körper an Fremde, dann wird Gott dich entsprechend bestrafen – Auge um Auge und Zahn um Zahn. Daran hättest du denken müssen. Daran hättest du wirklich denken müssen.
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Ludmilla will sich mit der Zunge über die Lippen fahren, aber selbst das ist eine schrecklich schmerzhafte Anstrengung, die ihre Kräfte übersteigt. Die Zunge ist angeschwollen und aufgeplatzt. Ihr Hals fühlt sich an, als wäre er völlig abgeschnürt, und sie bekommt kaum noch Luft. In den letzten paar Stunden hat ihre Nase angefangen, stark zu bluten. Das ist teilweise auf den brutalen Schlag zurückzuführen, den er ihr versetzt hat, liegt zum Teil aber auch an dem ständig steigenden Fieber und der Tatsache, dass ihre Nasenschleimhaut völlig ausgetrocknet und wie Gips aufgeplatzt ist. Das gestockte Blut verstopft ihr fast ganz beide Nasenlöcher. Ludmilla hat das Gefühl, als würde sie durch einen kaputten Strohhalm atmen. Wieder versucht sie, positiv zu denken. Da ist dieses Häuschen auf dem Land, die Kinder spielen am Fluss, und vielleicht gibt es sogar einen Hund, einen langhaarigen bernsteinfarbenen Hund, der hochspringt und bellt, dass man ihm seinen Ball werfen soll. Und dann geschieht es. Der Elektroschocker setzt wieder ein, brennt sich in ihre Haut, reißt an ihren Nerven. Doch diesmal sind die Schläge weitaus stärker und schmerzvoller als zuvor. Ludmillas ganzer Körper windet sich in Krämpfen. Alles wird schwarz. Und sie hört auf zu atmen. Spider sitzt am Monitor und beobachtet die Krämpfe mit der atemlosen Erregung eines Sportfans, den es vor Anspannung fast nicht mehr auf seinem Platz hält. Er beugt sich vor und stützt das Kinn auf die verschränkten Finger. Sieht aus, als würde sie bald sterben, früher, als er es gewollt hat, aber das ist okay, er kann seine Pläne entsprechend anpassen. Spider streckt die Hand aus, fährt sanft über den Bildschirm, und die Statik entlädt sich knisternd auf seine Finger. Er hat Ludmilla zu einem bestimmten Zweck ausgewählt, nicht aus Lust oder Verlangen, sondern aus einem anderen Grund, doch 292
jetzt in diesem Augenblick begehrt er sie so sehr wie all die anderen zuvor. Gib den Kampf auf, meine süße, süße Sugar. Hauch deinen letzten Atem aus und geh an jenen besseren Ort. Er schaut zu, wie ihr Körper unkontrollierbar zuckt, wie ihre Muskeln sich verhärten und ebenso schnell wieder entspannen. Das Vollbild zeigt ihm ihren ganzen Körper, der wie eine Stoffpuppe zittert und in einer großen Muskelkontraktion von Kopf bis Fuß auf dem harten lederbezogenen Tisch auf und ab hüpft. Sie steht auf der Schwelle des Todes, und Spider will dabei sein, Lippen und Körper an sie pressen und jene kostbare letzte Zuckung spüren, wenn das Leben ihre sterbliche Hülle verlässt. Die Zuckungen scheinen noch unkontrollierter zu werden, dann bricht Ludmilla leblos auf dem schwarzen Lederbezug zusammen. Die Deckenkamera zeigt ihr Gesicht in Nahaufnahme. Ludmilla rührt sich nicht mehr. Spider legt beide Hände zärtlich auf die Seiten des Monitors, so wie ein Liebhaber das Gesicht des sterbenden Partners in Händen halten würde. Glasiert, gläsern, wie die Murmeln, mit denen Kinder spielen. Sieh doch nur, wie tief ihre Augen in den Höhlen sitzen, wie hübsch, wie wunderschön ihre Wangen eingesunken sind. Und ihre Haut – ist sie nicht schön? So weiß, so bezaubernd bleich. Deiner Mutter hätte sie gefallen, Spider. Deine Mutter hätte sie auch ausgewählt. Spider streicht ihr mit der verletzten Hand übers Gesicht und drückt seine Wangen an sie. Er klammert sich fast eine halbe Minute an den Monitor, fühlt sich ihr nahe, klammert sich an ihre letzten Lebensmomente. Wie schön, wie wunderschön. Ihr Körper hängt schlaff und leblos auf dem Tisch. Spider würde ihr am liebsten die Gurte von Armen und Beinen abneh293
men. Er möchte sie waschen, sie einpudern und vernünftig anziehen. Das macht ihn ganz traurig. Traurig, dass der Plan, den er für sie zurechtgelegt hat, die Falle, die er sich schon so lange überlegt hat, ihn daran hindert, sie zu behalten und zu erforschen. Zeit war immer das eigentliche Problem. Und wenn er ein Wort hasst, dann: Verwesung. Spider hat genau Tagebuch darüber geführt, was mit den anderen Sugars geschehen ist, und er weiß, dass im Laufe der ersten Stunde diese lebhaft blauen Augen sich verändern werden, wenn die Äderchen fleckig werden und die roten Blutkörperchen sich verklumpen. Nach zwei Tagen werden merkwürdig gelbe, dreieckige Flecken auf ihrer Hornhaut erscheinen, dann braun und schwarz werden. Spider hat den Keller auf 37 Grad, Körpertemperatur, geheizt, in der Hoffnung, so die natürliche Auskühlung der Leiche zu verlangsamen, aber er weiß, dass dies nur den Zustand der Leichenstarre auf etwa achtundvierzig Stunden nach ihrem Tode verlängern wird. Er weiß auch, dass er nichts gegen die Schwerkraft tun kann, die das Blut und all die anderen Körperflüssigkeiten nach unten zieht. Sie werden sich auf ihrem Rücken, an Schulterblättern und am Gesäß sammeln, solange sie auf dem Tisch liegt, und hässliche rotviolette Flecken bilden, die er mit deckendem Make-up und Puder kaschieren muss. Ändere den Plan. Finde eine Möglichkeit, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Spider sitzt da und ergeht sich in seinen Fantasien. Er ist nun schon so lange allein und sehnt sich nach einer neuen Frau an seiner Seite. Wenn er könnte, würde er Tag und Nacht bei ihr bleiben, sie in die Arme schließen, mit ihr sprechen, intime Augenblicke mit ihr genießen, mit ihr einschlafen und mit ihr aufwachen. Es könnte die schönste, die perfekte Hochzeitsreise sein. Aber der Plan sieht anders aus.
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Plötzlich erregt etwas auf den Bildschirm seine Aufmerksamkeit. Ludmillas linke Hand zuckt. Leichenzuckungen, nur ein toter Muskel, der sich plötzlich entspannt? Oder lebt sie wirklich noch?
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KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
West Village, Soho, New York Jack schaffte es nicht mehr bis ins Bett. Nachdem er ein paar Biere getrunken und eine Schlaftablette genommen hatte, fiel er in einen derart tiefen, festen Schlaf, dass man ihn schon fast als Koma hätte bezeichnen können. Howie hatte ihn erst vom Sofa ins Gästezimmer bringen wollen, doch dann entschied er, dass es einfacher war, das Gästezimmer zu ihm zu bringen. Er schob Jack ein Kissen unter den Kopf, deckte ihn mit einer dünnen Decke zu und ging dann selbst zu Bett. Carrie saß im Bett und schaute sich im Fernsehen eine Folge von Law and Order an, das Letzte, was Howie jetzt sehen wollte. Er machte das Bad sauber, legte sich neben sie und wunderte sich, warum sie von Tag zu Tag immer dünner aussah. Okay, sie hatte also die Sache mit dem Abnehmen hingekriegt, was er von sich nicht behaupten konnte, aber mal ehrlich, Mann, all diese Creme und das andere Zeug, das sie sich jede Nacht ins Gesicht schmierte, machte doch die ganze Angelegenheit mit dem Abnehmen wieder zunichte. So wie Howie das sah, verloren Frauen Gewicht und blieben fit, um für den Mann in ihrem Leben attraktiver zu werden. Aber wenn das der Fall war, warum zum Teufel butterte sie sich das Gesicht mit irgendeiner schneeweißen Dreckscreme ein und legte sich in Nachtzeug ins Bett, bei dem es nicht mal einem jämmerlichen Exhibitionisten von Riker’s Island in der Hose zucken würde? Es sei denn, sie trieb’s mit jemand anderem. Der Groschen, der dann endlich fiel, rummste zu Boden wie ein Konzertflügel vom Dach des Chrysler Building. 296
Howie schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. »He, was machst du da?«, quiekte Carrie. »Ich will das sehen.« »Spuck’s aus, Caz. Mit wem vögelst du rum?« Nur diese schneeweiße Dreckscreme verbarg, dass sie plötzlich blass wurde. Carrie ließ ein paar Herzschläge verstreichen, fragte sich, ob sie sich herauswinden und lügen oder dankbar sein sollte, dass das große hässliche Geheimnis endlich auch für ihren großen hässlichen Mann zu erkennen war. »Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst«, antwortete sie, um noch etwas Zeit zu gewinnen. Zum ersten Mal in seinem Leben stand Howie kurz davor, eine Frau zu schlagen. Nicht so sehr, weil sie mit einem anderen Kerl schlief, obwohl das für einige Mitglieder seiner Familie Grund genug wäre, auch nicht, weil er bis jetzt zu blöd gewesen war, das überhaupt zu erkennen. Nein, was ihn wirklich stinksauer machte, war die Tatsache, dass er neun Kilo abgespeckt und all diese Mahlzeiten ausgelassen hatte in dem, wie er nun wusste, sinnlosen Versuch, für sie attraktiv zu bleiben und sie in seinem Bett zu halten. Ach, Scheiß doch der Hund drauf! Er wollte sie sowieso nicht mehr in seinem beschissenen Bett haben, verdammt. Howie packte die Wut, und bevor er sich’s versah, stand er auf, griff mit seinen Riesenpranken nach seiner Bettkante und hob das Bett an. Carrie purzelte hinaus und krachte gegen die Wand. »Du falsche Schlange, du schwanzlutschende Kuh!«, brüllte er und ließ das Bett wieder fallen. Es donnerte laut wie eine kleine Bombe zu Boden, und die Holzbeine auf seiner Seite brachen splitternd ab. Howie warf einen Blick auf das Ehebett und lächelte zynisch. »Tja, wenn das mal kein hübsches Symbol für unsere Ehe ist.« 297
TEIL SIEBEN SAMSTAG, 7. JULI
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KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG
West Village, Soho, New York Während die letzten Reste der Nacht in den ersten warmen Morgenschein versanken, streckte Howie seine müden Knochen auf dem Sofa gegenüber von Jack aus, der auf dem anderen Sofa friedlich schnarchte. Carrie und er hatten sich im Schlafzimmer angeschrien, sich in der Küche angebrüllt, sich im Garten sogar gegenseitig mit Sachen beworfen, bis ihnen kurz nach vier die Kampfeslust verging. Der Streit war laut genug gewesen, um die halbe Nachbarschaft zu wecken. Jack hatte dieses emotionale Erdbeben komplett verschlafen. Im grellen Licht des Vormittags fühlte sich Howie so ausgelaugt, wie er aussah. Der Kopf schmerzte stärker als bei jedem Kater, den er je gehabt hatte, und seit seiner Highschool-Zeit, als ihm mal jemand die Klamotten und Sportsachen geklaut hatte, während er unter der Dusche stand, hatte er sich nicht mehr so deprimiert, wütend und gedemütigt gefühlt. Als sie ins Büro fuhren, wusste Jack, dass irgendetwas überhaupt nicht in Ordnung war. »Was ist Carrie denn über die Leber gelaufen?«, fragte er und gähnte, während er gegen die letzten Nachwirkungen der Schlaftablette ankämpfte. »Mir ist aufgefallen, dass sie uns beiden heute Morgen ziemlich die kalte Schulter gezeigt hat.« Howie seufzte laut und schmerzerfüllt und drehte das Radio leiser. »Sie hat mir gestern Nacht gestanden, dass sie es mit einem anderen treibt. Wir haben uns die halbe Nacht gefetzt wie die Besenbinder, aber du hast alles verschlafen.«
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»Oh, tut mir leid, Mann«, sagte Jack. »Ich hasse Schlaftabletten, aber ab und zu muss ich eine nehmen, um endlich mal acht Stunden am Stück schlafen zu können.« »Was tut dir leid? Dass du verschlafen hast? Oder dass sie einen anderen bumst?« Sie mussten beide lachen. Jack dachte an das Naheliegendste. »Ich schätze mal, heute Nacht geht es in Runde zwei, also sollte ich mir lieber ein Zimmer im Holiday Inn oder sonst wo suchen und umziehen.« »Gute Idee«, sagte Howie. »Vielleicht sollten wir Rabatt für zwei Zimmer verlangen. Gut möglich, dass ich dazustoße.« »So schlimm?« »Schon möglich. Das wirklich Traurige ist, dass ich nicht weiß, ob ich die Sache überhaupt wieder kitten will. Könnte sein, dass unsere Zeit abgelaufen ist. Vielleicht sind wir alle einfach nur ausgebrannt.« »Willst du meinen Rat hören?« »Schieß los.« »Überstürz nichts. Vielleicht hast du recht, vielleicht habt ihr die beste Zeit hinter euch, aber ihr müsst auch an eure Kinder denken. Ist ja möglich, dass die Geschichte euch beide wachgerüttelt hat.« »Mann, das Letzte, was ich im Augenblick brauche, ist ein Weckruf. Acht Stunden Schlaf wären mir lieber«, witzelte Howie. Aus den Lautsprechern tröpfelte die Erkennungsmelodie der Nachrichten, und Howie drehte automatisch lauter. »Mal sehen, ob die bescheuerte Presse etwas weiß, was wir noch nicht wissen.« Am ernsten Tonfall des Nachrichtensprechers erkannten Jack und Howie sofort, dass es sich bei dem folgenden Beitrag um eine tragische Geschichte handelte, und beide befürchteten durchaus nicht grundlos, dass sie das Thema etwas anging. »Und nun die neuesten Nachrichten. Der umstrittene Nachrichtensender Pan Arabia hat heute Morgen weitere 300
beunruhigende Videoaufnahmen jener jungen Frau gezeigt, die, so der Sender, irgendwo in den Vereinigten Staaten gefangen gehalten und langsam zu Tode gefoltert wird. Die Aufnahmen, die vor einer halben Stunde im englischsprachigen Kanal des arabischen Senders ausgestrahlt wurden, zeigen die Frau, die allem Anschein nach weiß und etwa Mitte zwanzig ist, nackt auf eine Art Folterbank gefesselt. Tariq el Daher, der zuständige Redakteur von Pan Arabia, verteidigte die Entscheidung seines Senders, weitere Aufnahmen zu senden …« »Die Scheißer müssen unsere Aufnahmegeräte gekappt haben«, sagte Howie und schlug mit einer Hand aufs Lenkrad. Tariqs Stimme klang nüchtern und sachlich. »Pan Arabia hält es mit den Interessen der amerikanischen Öffentlichkeit und des Opfers für vereinbar, diese Aufnahmen zu senden. Mit der Ausstrahlung verteidigen wir nicht nur die demokratischen Prinzipien des Rechts auf freie Meinungsäußerung und der Zensurfreiheit, wir senden dieses Bildmaterial auch, damit die Selbstgefälligkeit von FBI und anderen Polizeikräften in diesem Land endlich aufhört. Wenn diese junge Frau stirbt, dann wird ihr Blut an ihren Händen kleben. Wir fordern alle Polizeibeamten im ganzen Lande auf, das Überleben dieser Frau zu ihrer vordringlichsten Aufgabe zu machen. Wenn die USA ebenso viel Geld und Energie in die Suche nach dieser Frau investieren, wie sie für Kriege im Ausland ausgeben, wird diese Frau heute Abend bereits wieder bei ihrer Familie sein.« »Verdammter Hurensohn!«, fluchte Howie und schlug wieder aufs Lenkrad. Dann war wieder der Nachrichtensprecher zu hören, der die Meldung zu Ende brachte. »Die Terrororganisation El Kaida hat bereits eine Erklärung herausgegeben, dass sie keinerlei Kenntnis von der Entführung oder dem Video hat, das exklusiv auf Pan Arabia gesendet wurde, und auch nicht daran beteiligt ist. El Kaida betonte weiter, dass die Organisation jede Form der Folterung von Menschen stets scharf verurteilt habe.« 301
Howie machte das Radio leiser. »Eine verhüllte Anspielung auf Abu Ghuraib?« »Nicht besonders verhüllt«, sagte Jack. Howie blinkte, warf einen Blick in den Rückspiegel und wendete mit quietschenden Reifen. »Statten wir unserem Freund Tariq doch mal einen Besuch ab. Mir scheint, er ist genau das richtige Ventil für meine aufgestaute Wut.«
Rom Orsetta Portinari war stinksauer. Sie hatte Jack Kings Mobiltelefon mindestens ein Dutzend Mal angerufen, und der Mistkerl besaß nicht einmal die Höflichkeit, auch nur ein einziges Mal zurückzurufen. Er konnte sie kreuzweise! Massimo sagte zwar, er habe ebenfalls kein Wort von ihm gehört, aber das war kein Trost. Für Orsetta bewies das alles nur, wie ungeheuer unprofessionell Jack war und nicht, dass er sie einfach abtat, weil sie sich mit ihrer Flirterei zur Närrin gemacht hatte. Jack King mochte ja durchaus attraktiv und klug sein, aber manchmal war er einfach nur ein ignoranter Trottel. Orsetta knallte die Wagentür zu und fühlte sich danach gleich besser. Sein abruptes Verschwinden hatte sie wütend gemacht. Die italienische Polizei hatte ihn um Mithilfe gebeten, er hatte versprochen, der italienischen Polizei seine Zeit zu widmen, und urplötzlich verschwand er in sein ach so tolles Amerika, ohne die Angelegenheit mit Massimo und ihr zu besprechen. Sie fühlte sich betrogen. Sitzen gelassen. Vor allem aber glaubte sie, dass es ein Fehler von ihm war, wegzugehen. Glaubte er wirklich, er könne dieser Entführten das Leben retten, indem er nach New York flog? Welche Beweise hatte er, dass sie überhaupt in Amerika war? Wie sie schon gesagt hatte, konnte man überall auf der Welt ein Exemplar der USA Today kaufen. Die Videoaufnahme der Zeitung war kein Beweis, absolut keiner, dass die Frau Amerikanerin war und in Amerika 302
festgehalten wurde. Genauso gut konnte der Tatort in Italien sein. Vielleicht war dieses schwarze Höllenloch ja derselbe Raum, in dem Cristina Barbujani ermordet wurde. Vielleicht war es nur ein paar Kilometer von Cristinas Heimatort Livorno entfernt. Vielleicht war es in Rom, direkt vor der eigenen Nase. Orsetta fand, dass Massimo völlig recht hatte. Vergiss die Amerikaner, arbeite weiter an dem Fall, als würde das FBI überhaupt nicht existieren, arbeite weiter so hart wie nur möglich; vielleicht hängt ja das Leben einer weiteren unschuldigen Frau davon ab.
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KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG
FBI-Behörde, New York Special Agent Angelita Fernandez reichte Sebastian Hartson, dem jüngsten Rekruten der Sonderermittlungsgruppe, die Ergebnisse der Nekrophilie-Anfrage. Frisch von der Akademie, war der Jungspund noch so feucht hinter den Ohren, dass Angelita ihn am liebsten trocken gerubbelt hätte. Leider standen diese Ohren wie Henkel ab, und der militärisch kurze Haarschnitt, zu dem Sebastian sich unglücklicherweise entschlossen hatte, war da auch nicht besonders förderlich. »Lass dir die Haare wachsen, Mann, damit sie dir über diese Topfgriffe fallen«, hatte sie zu ihm gesagt. Angelita wollte unbedingt dabei sein, wenn Jack und Howie sich den »Tollen Tariq« vornahmen, wie sie ihn nannte, aber Howie meinte, sie solle sich am Vormittag mal lieber um die anderen unerledigten Dinge kümmern. Manny Lieberman stand ganz oben auf ihrer Liste. Das FBI hatte zwar eigene Handschriftenexperten, aber nahezu alle, die Manny erst einmal kannten, griffen auch wieder auf ihn zurück. Manny war bereits zweiundachtzig, aber seine Augen waren noch immer so scharf wie das Lasersichtgerät eines Sturmgewehrs. Angelita wusste, dass es keinen Sinn hatte, bei Manny anzurufen. Wann immer Lieberman beschäftigt war, ignorierte er das Telefon; eigentlich ignorierte er dann alles. Sie packte ihren Kram zusammen, leitete die Anrufe um und machte sich auf den Weg zu Manny Liebermans Büro an der Liberty Avenue in der Nähe des Jüdischen Friedhofs. Die schwarzen Buchstaben auf der Milchglasscheibe verkündeten, dass es sich bei der Firma um Lieberman & Sohn & 304
Tochter handelte. Die Tochter war vor zwei Jahren hinzugefügt worden, nachdem Annie, seine »Prinzessin«, wie er sie nannte, ihren Abschluss gemacht und schließlich beschlossen hatte, dass sie nun doch mit ihrem alten Herrn arbeiten wolle. Wie Manny sich ausdrückte, war es ein knappes Rennen zwischen ihm und Tierpräparation gewesen, und er hatte all seinen Charme, seinen Reichtum und seine Familienkontakte spielen lassen müssen, um einen knappen Sieg über ein ausgestopftes Tier davonzutragen. Was sollte er dazu sagen? Die Liebermans hatten sich auf jede Form von Handschriftenanalyse spezialisiert, darunter die Entdeckung gefälschter und die Erkennung gültiger Unterschriften, das Aufspüren veränderter Testamente, Landbesitztitel, Urkunden und jeglicher anderer Form von Geschäftsunterlagen. Die Wände des winzigen Empfangsbereichs waren mit einer Collage aus Hunderten gefälschter Schecks zugepflastert, die er entdeckt und die die Polizei ihm zur Erinnerung an erfolgreiche Verurteilungen geschenkt hatte. Inmitten all dieser Schecks, die insgesamt gut zwei Millionen Dollar wert gewesen wären, wenn man sie hätte einlösen können, kümmerte sich Mannys Sohn David um alle Verwaltungsangelegenheiten. David sah ungeheuer gut aus und war noch schwuler als Elton John. Was für eine Verschwendung, dachte Angelita, als sie ihm in die babyblauen Augen sah und darauf wartete, dass er das Telefonat beendete, das er gerade führte. David Lieberman legte eine Hand auf die Sprechmuschel und flüsterte ihr zu: »Gehen Sie ruhig rein, Agent Fernandez, Sie stören meinen Vater nicht.« »Danke«, sagte Angelita und fragte sich, ob man ihn wohl »umdrehen« konnte. Irgendwie würde sie es liebend gern mal auf einen Versuch ankommen lassen. Angelita klopfte an die schäbige Holztür, öffnete sie und betrat dann ein noch viel schäbigeres Zimmer. Manny hielt nicht viel davon, Geld für etwas anderes als das Notwendigste aus305
zugeben, eine Kategorie, zu der allein die für seinen Beruf notwendigen Dinge zählten. In letzter Zeit hörte er so gut wie gar nichts mehr, weshalb er jetzt nicht aufsah, als Angelita in der offenen Tür stand und darauf wartete, ganz hereingebeten zu werden. Der alte Mann saß hinter einem leeren Schreibtisch mit hellen Tischlampen und einer Vielzahl unglaublich teurer, langstieliger Lupen, die wie achtlos weggelegte Lutscher aussahen. Er trug ein uraltes dunkelblaues Jackett, ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte, die er fest zugezogen hatte. »Professionell auftreten, professionell arbeiten«, lautete seine Devise. »Guten Morgen, Mr. L.«, zwitscherte Angelita. Lieberman drehte ihr den Kopf voller dünner weißer Haare zu und schaute mit einem Auge durch seine Lupe auf das Blatt Papier, das darunter lag. »Guten Morgen, Ms. Fernandez, kommen Sie rein. Sind Sie hier, um einen alten Mann zu belästigen?« »Ganz im Gegenteil«, sagte Angelita und trat ein. »Eigentlich bin ich gekommen, um ihn sehr glücklich zu machen.« Sie steckte eine Hand in ihre Handtasche und zog eine Papiertüte hervor, in der sich ein Viertelpfund Kekse befand, die es nur bei einem bestimmten Bäcker in der Nähe des Wohnortes ihrer Eltern auf Staten Island gab. Lieberman konzentrierte sich nun ganz auf sie. »Ah, Sie sind ein Engel, den mir der Himmel gesandt hat«, sagte er und nahm ihr die Tüte ab. Die glasierten Kekse waren ein feststehender Scherz zwischen ihnen beiden, der bis auf den ersten Fall zurückging, bei dem sie zusammengearbeitet hatten. Manny hatte Angelita geholfen, einen gewieften Einbrecher und einen betrügerischen Juwelier aus Manhattan zu schnappen. Der Juwelier verkaufte hochwertige Diamanten an wohlhabende Kunden und gab dann dem Einbrecher die Adresse, wo die »Glasklunker« zu finden waren. Der Einbrecher stahl die 306
Diamanten, und der Händler zahlte ihm dafür einen Bruchteil des eigentlichen Werts. Dann verhökerte er die Steine in anderen Läden, die er in anderen Bundesstaaten betrieb. »Wissen Sie was, Ms. Fernandez?«, sagte Manny mit einem Strahlen in den Augen. »Wenn ich nur fünfundzwanzig Jahre jünger wäre, wenn ich frei und ungebunden wäre, dann würden wir …« »Ja, ja«, entgegnete Angelita lachend. »Dann würden wir unten im Gefängnis sitzen, weil man Sie festgenommen hätte, denn dann wäre ich noch ziemlich minderjährig und Sie immer noch ein böser alter Mann.« Sie mussten beide lachen. Angelita nahm sich einen der kleinen Kekse und biss die Glasur ab. »Haben Sie was für mich, Mr. L.? Oder muss ich später noch mal vorbeikommen?« Manny Lieberman seufzte. Er wusste, dass die freche junge Beamtin ihn »bearbeitete«, aber er genoss jeden einzelnen Augenblick. Er schob das Dokument, das er gerade untersucht hatte, in einen Aktendeckel und legte diesen in eine Schreibtischschublade. Dann nahm er einen anderen Aktendeckel heraus. Angelita erkannte sofort das sorgsam ausgeschnittene Stück Pappe und die mit schwarzem Filzstift geschriebenen Buchstaben darauf. Das Stück stammte von dem Paket, in dem sich Sarah Kearneys Schädel befunden hatte. Schließlich zog Manny auch noch eine Fotokopie der Notiz aus Italien hervor und legte sie neben das Stück Pappe. »Ich weiß schon, ihr Beamten habt nur eine sehr begrenzte Konzentrationsfähigkeit, also werde ich versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen.« Er faltete die Hände zusammen. »Beide Schriftproben stammen von ein und demselben Menschen und ein und demselben Stift. Das italienische Paket und das amerikanische Paket wurden von derselben Person beschriftet.« Angelita riss die Augen auf, als sie sich die ganze Tragweite dieser kurzen Zusammenfassung klarmachte. »Sind Sie sich da ganz sicher?« 307
Manny nahm eine einfache Brille mit einem goldenen Gestell und setzte sie auf. »Ach, nun wollen Sie also die nicht ganz so kurze Version?« »Ja, bitte.« »Na gut. Fangen wir mit der wissenschaftlichen Vorgehensweise an. Wie Sie wissen, bin ich in meinen Methoden ein wenig altmodisch, aber bisher haben sie mich auch noch nicht im Stich gelassen. Ich habe ein winziges Stück Farbe von beiden Schriftproben abgekratzt und sie mithilfe der pyrolytischen Gaschromatografie untersucht, eine Methode, der ich der Analyse von Farb- und Faserresten stets den Vorzug gegeben habe. Dabei kommt im letzten Schritt ein buchstäblich einzigartiges Ergebnis zustande. Es ist sicherlich zuverlässig genug, um vor jedem Gericht mit Bestimmtheit behaupten zu können, dass beide Proben übereinstimmen.« »Prima«, sagte Angelita. »Das bedeutet also schon mal, dass es sich um dieselbe Art von Stift, vielleicht sogar denselben Stift handelt, aber das ist noch kein Beweis, dass er von ein und derselben Person benutzt wurde, richtig?« »Nein, ganz gewiss nicht. Und einen solchen Beweis zu bekommen, so nehme ich an, ist der Hauptgrund Ihres Besuchs.« »Mr. Lieberman, an wen hätte ich mich denn sonst wenden sollen – Sie sind der Beste.« »Mit Schmeicheleien, meine liebe Ms. Fernandez, werden Sie bei mir alles erreichen, was Ihr Herz begehrt.« Manny zog ein Blatt Pergamentpapier aus dem Aktendeckel und befestigte es mit ein paar Büroklammern an der Fotokopie der italienischen Notiz. »Als Erstes habe ich die höchsten Punkte der Buchstaben markiert und diese ›Spur‹ hier gebildet, die zeigt, wie der Täter seine Buchstaben ansetzt. Sehen Sie?« Angelita musste sich hinter ihn stellen, um besser sehen zu können. Das Pergamentpapier war mit winzigen Punkten übersät. Ein Teil davon markierte die höchsten Punkte der Buchstaben. »Ich verstehe«, sagte sie. 308
»In Ordnung. Dann habe ich die zweithöchsten Punkte markiert. Beim Buchstaben B, zum Beispiel, ist mein erster Markierungspunkt oben am B und der zweite dort, wo der obere Halbkreis des B auf die Mitte der vertikalen Linie trifft. Verstanden?« Angelita besah sich genau das Linienpapier. »Ja, Mr. L., ich kann immer noch folgen.« Manny lehnte sich einen Augenblick zurück. »Indem ich alle Höhen und Tiefen der Buchstaben mit Markierungspunkten versehe, bin ich in der Lage, all diese Punkte miteinander zu verknüpfen, und erhalte so eine Art Kurve. Ich zeige es Ihnen.« Er beugte sich wieder über das Pergamentpapier und fuhr mit den Fingern die Bleistiftlinie entlang, die Angelita an einen jener Ausdrucke erinnerte, die man bei einem EEG oder einem Lügendetektor erhielt. »Dieses Blatt habe ich dann über die Schrift von dem Paket gelegt, das an Ihr New Yorker Büro geschickt worden ist.« Manny schob die Spur auf das Stück Pappe und klemmte sie fest. »Wie Sie sehen, hat er zwar Großbuchstaben verwendet, offenbar um eine Überprüfung seiner Handschrift zu erschweren, aber wir haben genug Vergleichsmaterial. Die Größe aller Buchstaben ist identisch, die Mittelpunkte seiner Buchstaben sind identisch, der Leerraum zwischen den Buchstaben ist identisch, und der Leerraum zwischen den Zeilen ist ebenfalls identisch. Wie ich schon sagte, stammen beide Schriftproben von demselben Menschen, geschrieben mit demselben Stift.« »Mr. L., in solchen Augenblicken wünschte ich mir, ich wäre fünfzig Jahre älter«, sagte Fernandez und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. Plötzlich waren alle Ahnungen und Bauchgefühle bestätigt, und sie hatten endlich den Beweis, einen Beweis, der vor einem Schwurgericht hoffentlich standhalten würde, dass hier nämlich keine zwei Mörder am Werk gewesen waren, sondern nur einer.
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Der Black-River-Killer hatte also tatsächlich den Kontinent gewechselt und auch in Italien gemordet.
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KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG
Pan Arabia News Channel, New York Jack und Howie hatten keine Zeit für lange frühmorgendliche Höflichkeitsfloskeln. Howie hielt den Sicherheitsleuten am Empfang von Pan Arabia seine FBI-Dienstmarke unter die Nase und machte unmissverständlich klar, dass sein Kollege und er direkt in Tariq el Dahers Büro zu gehen gedachten, ob ihnen das nun passte oder nicht. Im Fahrstuhl gingen beide im Geiste durch, was sie jetzt gleich wohl erwartete. Die Tür glitt auf und gab den Blick auf ein geschäftiges Großraumbüro mit einem weiteren Empfangsbereich frei. Howie zückte wieder seine Dienstmarke. »FBI. Wo ist Tariq el Dahers Büro?« Ein junge Frau von Mitte zwanzig erwies sich beinahe als harte Nuss und wollte sie schon aufhalten, doch dann knickte sie ein und sagte nur schnell: »Den Gang runter links. Soll ich seine Sekretärin anru…« Aber Jack und Howie waren schon weitergegangen, bevor die Frau ihren Satz beenden konnte. Die beiden stapften an Journalisten vorbei, die auf Computertastaturen herumklapperten, und an Sekretärinnen, die bunte Manuskripte produzierten. Als sie die Tür zu seinem mit Glas eingefassten Büro öffneten, saß Tariq el Daher mit einem anderen Mann dort und schaute fern. »Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Termin vereinbart haben, Mr. Baumguard«, sagte Tariq, ohne den Blick von der Mattscheibe zu nehmen. »Ich wusste nicht, dass ich einen brauche«, sagte Howie und schaltete den Fernseher aus. »Ich dachte, wir hätten uns gestern 311
geeinigt. Und dann fahre ich zur Arbeit und höre im Radio einen Haufen Scheiße, der mich dermaßen auf die Palme bringt, dass ich gleich herkommen muss.« Tariq sah Howie an. »Seien Sie doch so freundlich und schalten Sie den Fernseher wieder an, dann zeige ich Ihnen etwas, das Sie interessieren wird.« Howie warf ihm einen Blick zu, der schwächere Seelen in Stein verwandelt hätte, und schaltete dann wieder ein. Jack setzte sich neben Tariqs Besucher auf das Sofa und machte sich mit all seiner Körpergröße breit. »Hi«, sagte er eher einschüchternd als höflich. Der Besucher, ein Geschäftsmann um die fünfzig, sah ihn an, sagte aber kein Wort. Tariq drückte auf eine Fernbedienung und spulte zurück. »Heute Morgen habe ich mit jemandem telefoniert, der unsere Zentrale angerufen und gebeten hatte, mit mir zu sprechen. Normalerweise werden anonyme Anrufer nicht durchgestellt, aber der Mann sagte, man solle mir die Zahlen 898989 nennen. Ich nahm den Anruf also entgegen, und er sagte zu mir, der Hyperlink, den ich gestern angeklickt hätte, sei in fünf Minuten wieder aktiv und würde nach weiteren fünf Minuten wieder ausgeschaltet werden. Allerdings würde das Ganze nicht funktionieren, wenn ich nicht vorher die von der Polizei installierten Aufzeichnungsgeräte ausstecken würde.« »Wie hörte er sich an?«, fragte Jack. Tariq sah ihn stirnrunzelnd an. »Und Sie sind …?« Jack setzte ebenfalls ein Stirnrunzeln auf. »Ich bin der Mann, der Ihnen die Frage stellt. Wie hörte er sich an?« »Er hatte seine Stimme verstellt«, sagte Tariq. Er wies mit der Hand zu seinem Glasplattenschreibtisch. »Ich habe das Gespräch aufgezeichnet. Ich werde Ihnen eine Kopie anfertigen lassen.« »Mann, super, danke«, sagte Howie. »Was hat er gesagt?« Tariq seufzte, als fiele es ihm ungeheuer schwer, ihre Fragen zu beantworten. »Das war alles. Er sagte nur, dass ich fünf Minuten Zeit hätte, das Video abzurufen. Ich glaube, wir haben 312
dreißig Sekunden, vielleicht eine Minute davon verpasst. Ich war gerade dabei, mir das Video noch einmal anzuschauen, als Sie hereinplatzten.« »Dasselbe Video, das Sie heute Morgen um acht gesendet haben?«, fragte Howie. »Ja«, sagte Tariq. »Aber ich vermute mal, Sie haben nur im Radio davon gehört und es noch nicht gesehen.« »Da vermuten Sie richtig«, sagte Howie. Tariq drückte auf der Fernbedienung die Wiedergabetaste, hielt beim ersten Bild, das auf dem Fernseher erschien, aber noch einmal an. »Ich werde es Ihnen zeigen, aber bitte, wir haben nicht das ganze Band gesendet. Wir haben nur den am wenigsten beunruhigenden Abschnitt gezeigt, und das auch nur zwanzig Sekunden lang.« »Wie zurückhaltend von Ihnen«, sagte Jack sarkastisch. »Wie überaus verantwortungsvoll.« Tariq legte die Fernbedienung in seinen Schoß und sah Jack fragend an. »Sie sind doch Jack King, richtig? Ich erinnere mich, ein Foto von Ihnen gesehen zu haben, als ich noch bei Reuters war, das ist jetzt vier, fünf Jahr her, stimmt’s?« Jack funkelte ihn an. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Zeigen Sie uns endlich das Material.« Tariq studierte aufmerksam das Gesicht des Mannes. Er war überzeugt, dass er richtig lag. Dann drückte er abermals die Wiedergabetaste, und das Video lief an. Howie und Jack fuhren bei der furchtbaren Szene, in der die junge Frau in Zuckungen geriet, nicht zusammen; sie zeigten überhaupt keinerlei Reaktion. Stattdessen analysierten sie völlig emotionslos jeden Zentimeter des Bildausschnitts auf der Suche nach irgendetwas, was Rückschlüsse oder Anhaltspunkte auf den Aufenthaltsort der Frau liefern konnte, darauf, wann die Aufnahme gemacht worden war und ob die Frau noch lebte.
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Jack wandte sich in Gedanken der Frage zu, warum jemand diese Szene mit fest installierten Kameras aufnahm, statt sich dort in dem Raum bei dem Opfer aufzuhalten. Warum würde er die Szene nicht mit einer Handkamera filmen, damit er selbst ganz nah dabei sein konnte? Vielleicht würde er das ja tun, wenn er die Wahl hätte. Was bedeutet, dass er sich gar nicht in dem Gebäude befindet, in dem die Frau gefangen gehalten wird. Und warum ist er nicht dort? Weil er tagsüber arbeitet? Oder, wahrscheinlicher, weil er nicht am Tatort sein will, wenn sie stirbt, sodass man ihn nur sehr schwer mit dem Mord in Verbindung bringen kann. Die Aufzeichnung lief fast vier Minuten lang. Als das Opfer fast dreißig Sekunden lang regungslos blieb, ließ Howie das Band anhalten. »Pause. Halten Sie das mal kurz an. Was denkst du, Jack? Ist sie tot, oder was?« Jack kratzte sich im Nacken und wollte gerade seine Gedanken dazu äußern, da meldete sich Tariqs Besucher das erste Mal zu Wort. »Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Dr. Ian Carter. Ich berate den Fernsehsender und war vorher Mitglied der Weltgesundheitsorganisation WHO. Ich habe die Aufnahmen einige Male gesehen. Nach allem, was ich beobachten konnte, würde ich sagen, dass sie einen schweren Krampfanfall erlitten hat und ohnmächtig geworden ist. Ich kann nicht eindeutig feststellen, dass sie tot ist. Leider kann ich auch nicht mit Überzeugung behaupten, sie sei noch am Leben. Gut möglich, dass die Aufnahmen bereits vor einiger Zeit gemacht wurden und die junge Frau inzwischen verstorben ist. Möglicherweise handelt es sich aber auch um Aufnahmen neueren Datums. Wenn dies der Fall ist, kann ich meiner Expertenmeinung nach auf jeden Fall konstatieren: Selbst wenn sie diesen Krampfanfall überlebt hat, ist sie dem Tode kritisch nahe.« »Wie lange geben Sie ihr noch, Doktor?«, fragte Howie. 314
Carter dachte eine Weile nach. »Achtundvierzig Stunden, allerhöchstens«, sagte er schließlich.
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TEIL ACHT SONNTAG, 8. JULI
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KAPITEL SECHZIG
Holiday Inn, New York Howie war zur zweiten Runde des Kampfes mit Carrie nach Hause gegangen, und Jack hatte sich ein Zimmer im Holiday Inn in der Lafayette Street genommen. Jack nahm an, dass das FBI Räume über längere Zeit anmietete und so einen Preisabschlag erhielt, denn das Zimmer war winzig und stank nach den Ungenannten und Ungewaschenen, die vor ihm hier gewohnt hatten. Er ließ sich aufs Bett fallen und stellte fest, dass die Sprungfedern von Steinzeitmenschen hergestellt worden waren. Jack rief an der Rezeption an und fragte, ob es wohl die Möglichkeit gebe, ein Sandwich und ein Glas Milch zu bekommen. Der Typ lachte nur und antwortete etwas auf Spanisch, das wohl »keine Chance« bedeutete, wie Jack annahm. Er legte auf und war im ersten Augenblick stinksauer, doch dann fand er, dass es vielleicht auch sein Gutes hatte, eine mitternächtliche Mahlzeit auszulassen. Ihm fiel die junge Frau in dem Video ein, und er bekam Schuldgefühle. Die Ärmste würde für die Flasche Wasser in seinem Zimmer über Leichen gehen, von dem Schokoriegel in der Minibar ganz zu schweigen. Und er meckerte, weil er keinen Zimmerservice bekam … Jack schüttelte die Schuhe von den Füßen, sah auf die Uhr und rief Nancy an. Kurz vor eins in New York bedeutete kurz vor sieben in der Toskana, also erwischte er sie ein paar Sekunden, nachdem ihr Wecker geklingelt hatte. Nancy war ein Gewohnheitstier. Der Wecker klingelte immer zur selben Zeit, sogar im Urlaub. Sie sah keinen Sinn darin, im Bett herumzuliegen, und wollte den Tag immer so schnell wie möglich beginnen. Sie 317
sprachen nur kurz miteinander, lange genug, um sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern und Jack die Gelegenheit zu geben, sie zu bitten, Zack zu drücken und ihm einen Kuss zu geben. Nachdem Jack aufgelegt hatte, lag er – immer noch im Anzug – rücklings auf dem Bett und stellte sich vor, wie seine Frau und sein Sohn gerade den Tag begannen. Die Vorstellung beruhigte ihn und machte ihn auch ein wenig schläfrig, also nahm er eine Schlaftablette und spülte sie mit Wasser hinunter. Er wollte sich kurz ausruhen und dann ins Bad gehen, doch dazu kam er nicht mehr. Kaum hatte er die Augen zu, schlief er ein. Der Albtraum ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal war er anders. Diesmal war er im selben Raum wie die Frau in dem Video. Sie verkrampfte sich wieder. Ihr Körper wand sich auf dem merkwürdigen Tisch, an den sie geschnallt war. Jack legte ihr eine Hand auf den Brustkorb, um sie zu beruhigen. Er sah ihr ins Gesicht und erkannte, dass sie noch atmete. Er löste ihre Fesseln und drehte sie auf die Seite, damit sie nicht erstickte, dann holte er von irgendwo eine Decke und deckte sie zu. Bald wimmelte es in dem Zimmer vor Rettungssanitätern, Polizisten und Spurensicherungsexperten. Die Sanitäter hoben die Frau vorsichtig auf eine Tragbahre, legten schnell einen Tropf mit Kochsalzlösung an und trugen sie hinaus zum Rettungswagen. Jack fühlte sich gut; sie würde überleben. Er hatte sie gerettet. Er schaute sich im Zimmer um, während die Leute von der Spurensicherung Fotos schossen, Beweise in Beuteln sicherten, diese beschrifteten. Jack sah etwas auf dem Boden liegen. Etwas Schockierendes. Jack schreckte aus dem Schlaf. Ein Gedanke schoss ihm durchs Unterbewusstsein wie ein Blitzschlag. In dem Traum hatte er sich nach der Zeitung auf dem Boden gebückt, die USA Today vom 2. Juli.
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Und plötzlich hatte Jack die Antwort auf die Fragen, die er sich in Tariq el Dahers Büro gestellt hatte. Warum filmte er die Szene nicht mit einer Handkamera, damit er selbst ganz nah dabei sein konnte? Die Zeitung lag dort, um jedem, der das erste Video sah, als Tariq es am 5. Juli erhielt, zu beweisen, dass es sich um neuere Aufnahmen handelte. Als Tariq aber am 7. Juli neues Material erhielt, lag da keine neue Zeitung. Warum? Weil der BR-Killer nicht mehr in dem Zimmer gewesen war, seit er die Zeitung dort hingelegt hatte. Weil er die junge Frau am 2. Juli, also vor sechs Tagen, zum Verhungern zurückgelassen hatte und Aufnahme sowie Zustellung des Filmmaterials per Internet kontrollierte. Internet – das perfekte Werkzeug für anonyme Kriminelle. Aber wo war der BR-Killer jetzt?
San Quirico d’Orcia, Toskana Die Morgendämmerung drehte die Zeit an der Kirchturmuhr von San Quirico d’Orcia weit zurück, bis das Dorf so mittelalterlich wirkte wie zu jenen Tagen, als sich deren Gründerväter hier niederließen. Terry McLeod schlich sich unbemerkt und ungesehen zum Haupteingang von La Casa Strada hinaus. Die anderen Gäste waren noch gar nicht auf, und es dauerte noch eine Weile, bis Maria zur Arbeit kam, ihr Make-up richtete und sich an den Empfang setzte. McLeod hatte Schuhe mit Gummisohlen angezogen, damit seine Schritte nicht zu hören waren, auch nicht draußen auf den goldfarbenen Steinplatten rings um das Hotel. Er trug eine weite grüne Armeehose, ein braunes T-Shirt, einen grünen Pullover, den er, das wusste er, ablegen würde, sobald die Sonne ein weiteres Stück gestiegen war, und eine braune Kappe, um die 319
Augen zu beschirmen. Auf dem Rücken trug er einen mittelgroßen grünen Rucksack, gefüllt mit den für sein Vorhaben erforderlichen Werkzeugen, dazu etwas zu trinken und zu essen für die Zeit, in der er geduldig darauf warten würde, was der Tag brachte. Die Straßen waren menschenleer, doch erzählten sie stumm davon, wie Geschichte und Gegenwart sich darauf verständigt hatten, weiterzumachen. Vor den bunten Mauern jahrhundertealter Häuser schwere weiße Bettlaken, bunte Hemden und vergilbte Unterwäsche auf Wäscheleinen. Daneben standen die aufgestapelten Tische und Stühle der Cafés und Restaurants mit ihren gläsernen Fronten, damit das Straßenpflaster gefegt werden konnte. Das versehentlich fallen gelassene Eishörnchen hatte bunte Spuren auf dem abgewetzten Kopfsteinpflaster hinterlassen. Fahrräder standen an Hauseingängen oder in Hintergassen; die Dorfbewohner schlossen sie nie ab, für sie war Diebstahl in dieser Gegend so undenkbar wie schlechtes Essen und schlechter Wein. Ein paar Straßen weiter schlugen Kirchenglocken die halbe Stunde. McLeod wusste genau, wohin er wollte. Während der letzten paar Tage hatte er genau die richtige Stelle für das heutige Vorhaben gefunden. Er ging nach Südosten bis an die Stelle, wo die Via Dante Alighieri auf die Via Cassia stößt; dann verließ er die ausgetrampelten Touristenpfade und hielt sich weiter südlich. Schon bald erklomm er einen kleinen Gipfel voller Unterholz, von dem wohl nur die abenteuerlustigeren Kinder des Dorfes etwas wussten. Das Gras war tief, es war noch nie geschnitten oder von Rindern abgefressen worden. Große Sandsteinbrocken, die noch dunkler waren als die uralten Mauern der Stadt, bildeten einen perfekten Schutz vor der Sonne und vor neugierigen Blicken. McLeod schaute sich um und suchte nach allen denkbaren Routen hin zu seinem Aussichtspunkt. Er überprüfte den Boden 320
und setzte sich dann. Seine grün-braune Bekleidung ließ ihn mit dem felsigen Gelände verschmelzen wie ein Chamäleon. Er öffnete den Rucksack, zog ein starkes Fernglas heraus, säuberte die Linsen mit einem weichen Tuch und hob es vor die Augen. La Casa Strada fand er praktisch sofort. Er stellte scharf ein. Etwas weiter rechts hatte er einen perfekten Einblick in den Privatgarten, aus dem ihn Nancy King so schroff verbannt hatte. Eine Idee weiter nach links fand er das Schlafzimmerfenster, hinter dem sie noch schlief; die Fensterläden waren zwar geschlossen, aber das Fenster dahinter stand eindeutig offen. McLeod stand auf und postierte sich hinter einem der großen Sandsteinbrocken. Mit einer leichten Bewegung konnte er die Straßen rings um das Hotel und die tägliche Strecke überblicken, die sie mit ihrem Kind nach Pienza zurücklegte. McLeod war sehr zufrieden mit seiner Position. Von hier aus hatte er eine perfekte Schussmöglichkeit. Die toskanische Sonne erklomm nur mühsam den blauen Morgenhimmel, so sehr ächzte sie offenbar bereits unter der Last eines weiteren strahlenden Tages. Ihre goldenen Strahlen durchtränkten die Fassade von La Casa Strada und färbten die Terrakottadachziegel blutorangerot. Kurz nach sieben Uhr öffnete Nancy King die Fensterläden und genoss erst einmal am offenen Fenster die Schönheit eines neugeborenen Tages. Terry McLeod ließ das starke Fernglas sinken und griff nach einer Nikon mit 1200-mm-Teleobjektiv. Er baute das kleine Stativ auf und drückte leicht auf den Auslöser. Der Autofokus arbeitete, und McLeod konnte Nancy gut sehen, wie sie durch ihr Schlafzimmer ging. Sie trug noch immer ihre Nachtwäsche; nichts, was McLeod sonderlich sexy fand. Er drückte auf den Auslöser und schoss sein erstes Bild. Einen Augenblick lang glaubte er, sie würde das Oberteil eines von Jacks Schlafanzügen tragen, doch dann sah er, dass es sich um ein maßgeschneidertes Nachthemd handelte, das bestimmt ein Vermögen
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gekostet hatte. Nancy schüttelte ihr Haar am offenen Fenster aus und atmete die lavendelgetränkte Luft tief ein. Klick, schon wieder hatte die Kamera zugeschlagen. McLeod hoffte, dass sie sich gleich auszog, um den Blick auf ein Paar, wie er glaubte, erstklassige Brüste freizugeben, aber Nancy drehte sich vom Fenster weg und beugte sich vor, um etwas aufzuheben. Nun war sie im Halbschatten verschwunden, und McLeod konnte nicht erkennen, was sie gerade machte. Nancy beendete seine Unwissenheit schließlich, indem sie mit einem Kind auf dem Arm ans Fenster zurückkehrte. Klick, klick! McLeod nahm an, dass es sich um Zack handelte, den dreijährigen Sohn, von dem Paulina gesprochen hatte. Nancy verwuschelte ihm das Haar, gab ihm einen Kuss auf die Wange und zeigte mit der Hand auf ein paar Dinge im Garten und im Tal. Klick. Die Kamera fing jede Bewegung ein. Das Kind in Nahaufnahme war gut. Wann immer ein Kind im Bild war, konnte McLeod das zu seinem Vorteil nutzen. Ja, richtig nah ran an den kleinen Kerl, das macht die Sache noch interessanter.
Holiday Inn, New York Jack schlief noch in seinem Anzug, als sein Mobiltelefon klingelte. Er warf einen schlafumnebelten Blick auf das Display und konnte mit Mühe Howies Nummer erkennen. »Hallo«, brummte er. »He, Mann, aufstehen, duschen, anziehen. Ich bin in zehn Minuten am Hotel«, verkündete Howie aufgekratzt. »Wir haben eine heiße Spur. Ein Typ von der Internal Affairs Division, du weißt schon, der Dienstaufsicht, hat einem korrupten Bullen drüben in Brooklyn die Daumenschrauben angesetzt. Der Kerl 322
steckt bis zum Hals in irgendeiner Scheiße mit einem russischen Zuhälter, welcher wiederum eine Schwalbe hat, die mit der Frau in unserem Video befreundet ist.« Die Wörter schossen so schnell an Jack vorbei, dass er nur die Schlüsselbegriffe mitbekam: heiße Spur – jemand in Brooklyn – eine Nutte, die mit der Frau im Video befreundet ist. »Okay. Ich beeile mich. Bin in zehn Minuten unten.« Jack zog sich aus, stolperte unter die Dusche und versuchte noch immer, den tieferen Sinn in all dem zu finden, was Howie ihm gerade mitgeteilt hatte. Es war nicht so wichtig. Irgendjemand irgendwo kannte die Frau, und das bedeutete, dass sie möglicherweise die Chance bekamen, sie zu finden. Jack hatte nur den einen Anzug bei sich, in dem er dummerweise geschlafen hatte. Das Jackett sah aus, als hätte es sich ein Penner für einen netten Abend beim Ball der Fuselfreunde ausgeliehen. Jack ließ es auf dem Bett liegen und entschied sich für ein Hemd ohne Krawatte und eine schwarze Hose. Als er vor das Hotel trat, zeigte Howie gerade einem Autofahrer, der ihn angehupt hatte, den Finger. Jack stieg ein. »Gibt nichts Besseres, als den Tag mit ein paar guten Neuigkeiten zu beginnen. Wohin geht’s?« »Zum Frühstück nach Brooklyn. Wir treffen uns mit einem Burschen namens Pete McCaffrey.« Howie drehte an der Servolenkung, gab Gas und quetschte sich in eine Lücke im Verkehr. »McCaffrey ist einer der wenigen bei der Dienstaufsicht, der was von seinem Job versteht. Er ist nicht hinter Bullen her, die ab und zu mal einen Fehler machen oder Mist bauen, was jedem von uns ja mal passieren kann, er nimmt die wirklichen faulen Früchtchen ins Visier.« »Hilf mir noch mal auf die Sprünge«, sagte Jack. »Wie genau kommt unsere Frau hier ins Spiel?« »Pete und sein Partner Gerry Thomas sind einem korrupten Polizisten namens George Deaver auf der Hacke. Der Blödmann hat in der Gegend um die Brighton Beach Avenue für lau ein 323
paar Nutten flachgelegt. Die alte Nummer: Erst hat er seinen Spaß, dann zückt er seine Marke und sagt, bezahlt wird nicht.« »Öfter mal was Altes«, sagte Jack. »Genau. Aber wie sich herausstellt, hat sich unser Freund Deaver mit einem russischen Ganoven namens Oleg Smirtin angelegt. Das ist schon ein anderes Kaliber. Smirtin ist einer der großen Jungs in Little Odessa, und allem Anschein nach hat Deaver sich Smirtins Perlen ausgesucht, die es gratis mit ihm machen sollten.« Jack dachte wieder an Nancys Motto: Erfüllte Freude/Durch Zeitumschwung ermattet, wandelt sich/Ins Gegenteil. »Nicht sehr klug«, sagte er. »Und dein Kumpel McCaffrey interessierte sich wegen Smirtin plötzlich für die ganze Angelegenheit?« »Ganz genau. Sie glauben, dass der Iwan ein paar Polizisten auf der Lohnliste hat. Also haben sie Deaver zu ihrem Strohmann gemacht. Jedenfalls kommt dieser Penner zu ihnen und sagt, die Nutte, mit der er rumgemacht hat, die hätte behauptet, eine Freundin von der Frau im Video zu sein.« »Gibt’s auch einen Namen?«, fragte Jack. »So weit sind wir noch nicht. Angelita ist schon drüben in Brooklyn und trommelt alle zusammen. Wir sollten zuerst mit McCaffrey und Deaver reden, danach dann mit der Nutte. Falls erforderlich, statten wir anschließend auch noch Freund Smirtin einen Besuch ab.« »Und wo treffen wir uns?«, fragte Jack »Haben wir noch das Büro in der Cumberland Street?« »Ja«, sagte Howie. »Genau dorthin sind wir unterwegs. Und der Deli um die Ecke macht immer noch das beste Frühstück gleich nach meiner Mutter.«
San Quirico d’Orcia, Toskana Terry McLeod wartete geduldig in seinem »Ansitz«. Er wusste schon, dass in Italien selbst unter den günstigsten 324
Umständen nichts schnell ging, und an einem Sonntag in der Toskana lief wahrscheinlich alles noch langsamer ab als im Schneckentempo. Je länger man wartet, umso süßer der Schuss, sagte er sich. Er trank von der Wasserflasche in seinem Rucksack und verfolgte mit dem Fernglas, was im Hotel passierte. Diese King wirkte sehr glücklich, wie sie da so durch ihr Zuhause schlenderte. Genieß es, solange du noch kannst. Ich werde dein kleines, glückliches Leben nämlich schon sehr bald auf den Kopf stellen. McLeod lehnte sich zurück und wartete auf die Gelegenheit. Geduld war eine seiner Stärken. Wenn es sein musste, konnte er den ganzen Tag abwarten.
Brooklyn, New York Die sechs Meilen vom Hotel nach Brooklyn hätten normalerweise fünfzehn, zwanzig Minuten dauern sollen, doch auf der Fiatbush Avenue war der Verkehr praktisch zum Erliegen gekommen. Als Howie und Jack über Veronica Place und Erasmus Street auswichen, wurde es auch nicht besser. Howie meldete sich telefonisch, während sie einen Parkplatz suchten, und Angelita kümmerte sich um ihre Frühstücksbestellung – Orangensaft, Kaffee, Muffins, Pfannkuchen und gemischtes Obst. Das Obst war ein Wunsch von Jack; Howie interessierte sich mehr für Pfannkuchen und Muffins. Angelita saß bereits mit Pete McCaffrey und Gerry Thomas, den beiden Beamten der Dienstaufsicht, und ihrem neuen besten Freund George Deaver in einem kleinen Raum zusammen. Ohne vorgestellt werden zu müssen, wusste Jack, wer wer war. McCaffrey saß in großen, steifen Klamotten auf der Kante eines quadratischen Holztischs. Er hatte markante Gesichtszüge, die schwarze Krawatte über dem weißen Hemd war fest zugezogen. Er trank Wasser aus einem Plastikbecher und versuchte Angelita 325
auf eine Weise zu beeindrucken, wie sich nur dienstältere Beamte der Dienstaufsicht einbildeten, es tun zu können: betont machohafte Körpersprache und Geschichten von all den tollen Sachen, die sie schon gemacht hatten, bevor sie in der verhassten Welt der Dienstaufsicht abgetaucht waren. Thomas, eine jüngere Ausgabe seines Vorgesetzten, in einem etwas billigeren schwarzen Anzug und einem erheblich lockereren und billigeren Schlips, klebte geradezu an McCaffreys Lippen. George Deaver wirkte hier völlig fehl am Platz. Er saß etwas abseits von den anderen, machte ein verdrießliches Gesicht und hatte die Arme verschränkt wie ein Mann, der alle Sorgen dieser Welt allein zu tragen hat, was bei einem korrupten Beamten, der erwischt worden war und bald vor Gericht erscheinen und vielleicht in den Knast musste, ja auch ungefähr stimmte. Howie stellte Jack kurz vor, man schüttelte sich die Hand. Dann stellte McCaffrey Deaver vor, woraufhin dieser nur kurz nickte. Die Grenze war längst überschritten, und sie ließen das Deaver in jedem Augenblick spüren. »Wo ist die Frau?«, fragte Howie. »Nebenan«, antwortete Angelita. »Wir haben ihr was zu trinken gegeben, aber wir hätten lieber einen Arzt holen sollen. Sie sieht aus, als hätte sie die ganze Nacht durchgesoffen. Vor der Tür ist ein Beamter postiert, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt.« McCaffrey ging noch einmal die Vorgeschichte durch, und Jack hörte höflich zu, als wäre das alles neu für ihn. Dann erzählte Deaver von seinem Besuch bei Smirtin, wo dieser ihm mitgeteilt habe, dass er seine vermisste Nutte suche. »Die Perle auf dem Video heißt Ludmilla Zagalsky«, sagte Deaver und versuchte, wie ein hilfsbereiter Beamter zu klingen, nicht wie ein korrupter. »Sie ist fünfundzwanzig, eine Russin aus – soweit wir wissen – Moskau. Smirtin hat nicht viel von ihr erzählt, als wir uns in seinem Kebab-Schuppen unterhalten haben, obwohl ich eigentlich nur bei ihm war, um über sie zu 326
reden. Er interessierte sich mehr dafür, ob ich jemanden im Justizministerium kenne, der ihn bei irgendwelchen Schwierigkeiten mit Tabak beraten könne.« »Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit«, sagte Angelita. »Allerdings ist das auch schon der einzige gute Rat, den solche Arschlöcher wie Smirtin kriegen sollten.« Deaver beachtete sie nicht. »Jedenfalls ruft er mich am nächsten Tag an, am sechsten, und sagt, er weiß, wo Ludmilla ist. Er hat sie gerade im beschissenen Fernsehen gesehen. Wie sich herausstellt, haben diese Araber …« »Den Teil kennen wir schon«, unterbricht ihn McCaffrey. »Kommen Sie endlich zu dem Schwatz mit ihrer Freundin. Andernfalls sind die Jungs hier längst in Pension, bevor Sie zur Sache kommen.« Deaver schluckte seine Verbitterung hinunter und fuhr fort. »Am Nachmittag bin ich bei ihrer Freundin Grasyna Macowicz reingeschneit …« McCaffrey unterbrach ihn erneut. »Das ist die Bordsteinschwalbe nebenan, die er für lau gevögelt hat.« »Grasyna zitterte wie Espenlaub«, sagte Deaver. »Bis ich sie gefunden hatte, hatte sie schon eine Flasche Wodka gekillt, und das um fünf Uhr abends. Sie meinte, die entführte Frau in dem Video, das auf allen Sendern laufe, das sei ihre Freundin.« »Und sie ist sich da hundertprozentig sicher?«, fragte Howie. »Das ist kein Trick, mit dem so eine verlogene kleine CrackNutte auf sich aufmerksam machen will, oder?« Angelita holte tief Luft. »Das ist ein wenig heftig, Boss. Ich habe mit ihr gesprochen, und ich glaube, sie ist schon okay.« Howie ging nicht auf sie ein. Er starrte weiter Deaver an und wartete auf eine Antwort von ihm. Der Polizist trommelte mit den Fingern auf die Stuhllehne und überlegte. »Ich glaube, die ist echt«, sagte er schließlich. »Das Gesicht in dem Video ist ziemlich gut zu erkennen. Ich hatte
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schon ein kleines Foto von Ludmilla, Grasyna hat noch ein paar weitere aufgetrieben, die sie uns zeigen kann.« Deaver reichte ihnen das Schnellautomatenfoto von den beiden jungen Frauen. Howie warf einen Blick darauf und gab es dann Jack. Das Telefon klingelte, und jemand fragte Angelita, ob er das Frühstück hereinbringen könne. Während die anderen auf dem Tisch Platz machten und auf das Essen warteten, entfernten sich Jack und Howie in eine Ecke. Jack gab Howie das Foto zurück. »Sieht tatsächlich so wie die Frau in dem Video aus«, sagte er. »Ja, finde ich auch«, sagte Howie. »Glaubst du, sie ist noch hier in der Nähe?« »Ich habe nicht mal den Hauch einer Vermutung«, antwortete Jack. »Aber viel wichtiger: Gibt’s noch eine Chance, sie lebend zu finden?« Das Essen wurde hereingebracht. Jack füllte zwei Teller mit Muffins und Pfannkuchen, nahm sich etwas Obst und zwei Pappbecher Kaffee. »Schön zu sehen, dass all die Jahre im Restaurantgeschäft wenigstens zu etwas nütze gewesen sind«, witzelte Howie, als sie sich auf den Weg ins Nachbarzimmer machten, um mit Grasyna zu reden. Howie öffnete die Tür, und die Frau, die ihnen jetzt gegenübersaß, blickte auf. Sie hatte die Schultern hochgezogen, ihr Gesicht war bleich und ausgezehrt. »Ich bin Howie Baumguard, Miss. Und dieses menschliche Tablett hier heißt Jack King. Er hat Ihnen was zum Frühstücken mitgebracht.« »Guten Morgen, Grasyna«, sagte Jack freundlich. »Wir wollen Ihrer Freundin helfen.« Jack fragte nicht, ob sie etwas zu essen wolle, sondern stellte den Teller einfach vor sie und nahm den Deckel vom Kaffee.
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Howie setzte sich neben sie. »Man hat uns erzählt, dass Sie keinen Zweifel daran haben, dass die Frau in dem Video, das im Fernsehen gezeigt wurde, die Frau, die irgendwo gefangen gehalten wird, Ihre Freundin Ludmilla Zagalsky ist. Stimmt das?« Grasyna griff nach dem Kaffee. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie ihn wieder abstellen musste, um sich nicht zu verbrühen. »Ja, das stimmt«, sagt sie mit leisem Stimmchen. »Wir sind wie Schwestern, ich habe sie sofort erkannt.« »Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen, Grasyna? Können Sie sich daran erinnern?«, fragte Jack. Darüber hatte Grasyna lange nachgedacht, also konnte sie diese Frage sofort beantworten. »Das war vor sechs Tagen, so gegen ein Uhr nachts, vor dem Restaurant Primorski in der Brighton Beach Avenue.« Howie und Jack schauten sich fragend an. »Wie können Sie sich so sicher sein?«, fragte Howie. Diesmal zögerte Grasyna etwas. Sie kaute auf der Unterlippe und vermied es, die beiden anzusehen. »Ich war mit diesem Kellner vom Primorski zusammen, einem Kerl namens Ramsan. Ludmilla hat auch ein Auge auf ihn geworfen, aber ich hab mich an ihn rangemacht, als sie nicht in der Nähe war. Ich hab’s nicht über mich gebracht, ihr das zu sagen. Ich hatte mich mit ihm nach seiner Schicht verabredet, und als ich gerade die Straße runtergehe, da sehe ich Ludmilla, wie sie am Schaufenster steht und ihm zuwinkt. Ich bin dann in einen Hauseingang auf der anderen Straßenseite und hab mich dort eine Weile versteckt.« »Warum denn das?«, fragte Howie. »Weiß nicht«, antwortete Grasyna. »Hab wahrscheinlich gedacht, der Kerl betrügt mich oder so. Ich bin also in dem Hauseingang geblieben und hab gewartet, ob er rauskommt und sie küsst oder so.« »Und, hat er?«, fragte Jack.
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»Nein. Nach einer Weile hat Ludmilla ihm noch mal zugewinkt, und dann scheint sie wohl das Interesse verloren zu haben. Ein paar Minuten später kommt ein Typ angefahren und geht an den Geldautomaten direkt neben dem Restaurant. Und Ludmilla hat sich an ihn rangemacht.« Jacks und Howies Instinkte waren plötzlich hellwach. »Ich schätze, der Automat war wohl kaputt oder so, Ludmilla hat nämlich irgendwann die Straße runtergezeigt. Dann hat sie ihn irgendwie bearbeitet, ihn beschmust. Na, ich dachte, gut für dich, Schwester, mach dir ein paar Mäuse extra. Und genau, ein paar Sekunden später steigt sie mit dem Kerl ins Auto und fährt weg.« »In welche Richtung?«, fragte Howie. Grasyna runzelte einen Augenblick die Stirn. »Ich bin nicht gut in Himmelsrichtungen. Lassen Sie mich mal nachdenken.« Sie deutete mit den Händen. »Er ist nach Osten abgebogen. Ja, ich bin mir sicher. Sie sind nach Osten gefahren.« Howie hielt die Luft an. »Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?« »Nein. Aber es war ein gelber Hyundai. Ich hab die Plakette hinten dran gesehen.« »Zweitürer oder Viertürer?«, fragte Howie. Sie schaute zur Decke, wie um sich zu konzentrieren. »Vier.« Howie ging hinaus und bat Angelita, die Suche nach einem viertürigen Hyundai in die Wege zu leiten. Er schlug vor, sie solle nach einem weißen oder gelben Wagen Ausschau halten. Immerhin konnten die Straßenleuchten mit ihren NatriumdampfHochdrucklampen das Farbsehen Grasynas beeinträchtigt haben. Jack summte der Schädel vor Aufregung. Endlich bekamen sie Antworten auf ein paar entscheidende Fragen. Sie kannten nun das Opfer: Ludmilla Zagalsky, wussten, wo sie entführt worden war: Brighton Beach Avenue, und sie
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kannten nun auch den ungefähren Zeitpunkt: ein Uhr nachts am 2. Juli. Die entscheidende Frage, die noch unbeantwortet blieb, lautete: Lebte sie noch oder nicht?
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KAPITEL EINUNDSECHZIG
Brighton Beach, Brooklyn, New York FBI und NYPD kontrollierten Autokennzeichen, gingen Überwachungsaufnahmen der Straßenkameras durch, und klapperten Hyundai-Händler und Gebrauchtwagenverkäufer ab. Angelita blieb bei Grasyna Macowicz, die den Mann zu identifizieren versuchte, den sie mit Ludmilla hatte verschwinden sehen. Ein Polizeizeichner arbeitete mit ihr an Körperform, Statur und Haltung, während eine Beamtin am Computer ein Fahndungsbild von dessen Gesichtszügen zusammensetzte. Jack King stand auf dem Bürgersteig an der Brighton Beach Avenue, presste die Nase an die Scheibe des Restaurants Primorski und versuchte sich vorzustellen, was Ludmilla Zagalsky in ihren letzten Augenblicken in Freiheit vor knapp einer Woche wohl gemacht hatte. Es war wichtig für ihn herauszufinden, in welcher Stimmung sie war, in welcher Geistesverfassung, ob sie bereit war, ein Risiko einzugehen oder nicht. Als Erstes stellte er sich den Augenblick vor, wo Ludmilla diesen Ramsan in dem Restaurant sieht. Sie winkt ihm zu, hofft, dass er zur Tür kommt und sie vielleicht sogar hineinbittet, hofft, dass die Nacht in den Armen dieses kräftigen großen Kerls endet, der gut aussieht und einen festen Job hat. Doch aus irgendeinem Grund lässt er sie stehen. Na und? Scheiß drauf! Geht der Tag eben zu Ende wie immer. Jack stellt sich vor, wie Ludmilla sich mit dem Gefühl, abgewiesen worden zu sein, abwendet. Und was dann?
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Jack wendete sich ebenfalls von der Scheibe ab und versuchte, Ludmillas schmerzliches Gefühl von Einsamkeit zu spüren, versuchte herauszufinden, was sie als Nächstes tun würde. Irgendein Typ hält an und will an den Geldautomaten neben ihr. Es gibt kaum eine heißere Stelle für ein Mädchen, das ein wenig gute Zeit anzubieten hatte. Die perfekte Ablenkung für Ludmilla. He, warum nicht? Der Kerl sieht harmlos aus. Hallo, die Gelegenheit winkt. Der eine hat sie sitzen lassen, da wird sie sich doch ihr Selbstwertgefühl dadurch wieder aufpäppeln wollen, dass sie Geld und Macht eines anderen nimmt. Hatte Grasyna recht? War der Automat kaputt gewesen? Jack schrieb auf, das überprüfen zu lassen. Selbst wenn der Kerl eine falsche Kontonummer eingegeben hatte, was Jack sich nicht anders denken konnte, dann würde der Automat immer noch präzise Angaben enthalten, wo der BR-Killer zu ganz bestimmten Zeiten war. Jack hegte immer noch die Hoffnung, dass dieser Mistkerl eines Tages einen ganz simplen Fehler beging. Jack sah auf den Automaten; nein, die Kunden wurden im Falle einer Störung nicht an die nächste Maschine verwiesen. Das alles wäre dem BR-Killer natürlich egal gewesen. Selbst wenn der Automat funktioniert hätte, hätte er einfach so getan, als ob nicht, nur um die Frau ins Auto zu bekommen. Bedeutete das, er wusste schon, wo die anderen Automaten standen? Hatte er sich in der Gegend umgesehen? Hatte er Ludmilla bereits sogar ein paar Tage lang verfolgt und vielleicht nur auf den geeigneten Augenblick gewartet, sich in ihr Leben zu drängen? Jack war davon überzeugt, dass es sich nicht um eine Zufallsentführung handelte. Der BR-Killer wird sie also den ganzen Tag, vielleicht sogar mehrere Tage lang beobachtet haben. Jetzt war der Augenblick gekommen, die Straßen waren leer, Ludmilla allein. Er hat 333
einfach am Straßenrand gehalten und ist zu ihr gegangen. Nachdem sie sich vom Restaurantfenster weggedreht hat, war für ihn die Jagd eröffnet. Die Jagd war eröffnet – dieser Ausdruck spukte Jack unablässig durch den Kopf. Bei Serienmördern wie dem BR-Killer war der Jagd- und Tötungsinstinkt so stark ausgeprägt und so unwiderstehlich wie bei den meisten anständigen Menschen der Drang, sich kennenzulernen und zu paaren. Jack suchte an den Hauswänden nach Überwachungskameras, hoffte, dass zumindest eine davon den Geldautomaten abdeckte, aber er hatte kein Glück. Also, Ludmilla, was hast du als Nächstes getan? Jack schlüpft wieder in ihre Zeit und ihren Raum. Der Typ sieht harmlos aus. Er wird bald eine Menge Geld in Händen halten. Er ist noch spät auf und will Geld ziehen. Vielleicht will er damit ein wenig Spaß haben. He, sehe ich vielleicht nicht nach einem bisschen Spaß aus? Also los, mach dich ran. Ein Schwätzchen, zeig ihm, wo der nächste Automat ist, und dann schnell rein, schnell raus, und tschüs, ein paar Mäuse extra, und dann ist Feierabend. Jack schlenderte die Brighton Beach Avenue in östliche Richtung hinunter. Auf der anderen Seite kroch ein Streifenwagen die Straße entlang, bereit, ihn überall hinzufahren. Von unterwegs rief er Howie an und fand heraus, wo die nächsten beiden Geldautomaten standen. Irgendwo zwischen einem Baumarkt, der gerade zusperrte, und einer russischen Videothek, die aufsperrte, blieb er stehen und ging in Gedanken noch einmal alles durch. Wohin wollte sie mit ihm? In eine Seitengasse? An eine Hauswand für einen schnellen Fick, einen Blowjob neben einer Mülltonne? Nein, das passte irgendwie nicht. Jack lehnte sich an eine Hauswand, und Ludmillas Gedanken wisperten ihm durch den Kopf.
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Sieh’s doch mal so, Jack. Dieser schmierige Typ wird sich gleich eine Handvoll Scheine ziehen. Er tut zwar unschuldig, aber mich verarscht er nicht mit seiner Masche, der ist ganz scharf drauf, ein paar Mäuse auf meine Wenigkeit zu verplempern. Schau dir den Kerl doch mal an, leichte Beute, Ende dreißig, Mitte vierzig, der hat doch einen Job, der hat garantiert ein Hotelzimmer, ein Motel oder vielleicht sogar eine Wohnung in der Nähe. Jack stand regungslos da. In dem Strom der Käufer und Touristen, der ihn umflutete, wirkte er wie jemand in Trance, wie ein Mann, der in Gedanken in einer ganz anderen Welt war. Ludmillas Gedanken waren ihm nun keine Hilfe mehr. Die Falle war zugeschnappt, der Jäger hatte seine Beute. Von nun an musste Jack wie ein Killer denken. Wie ein Killer fühlen. Er sah hinaus in den fließenden Verkehr und stellte sich vor, wie er in dem Hyundai vorbeifuhr und sich an Ludmilla wandte, die neben ihm saß. Ich habe eine Wohnung nicht weit von hier, da könnten wir hin. Jack zuckte zusammen. Sein rechtes Augenlid flatterte nervös. Müdigkeit, Stress? War er wirklich schon fit genug für das alles? Jack konzentrierte sich wieder. Zu welcher Art Ort brachte er sie und wo war dieser? … nicht weit von hier, es ist gar nicht weit … Ganz egal, wohin er sie gebracht hat, es konnte keine lange Fahrt gewesen sein. Der Jäger wollte sein Opfer so schnell wie möglich für sich allein haben. Alles in ihm drängte zur Tat. Das Flattern wurde stärker, ein Zerren an der Haut, so als zöge eine unsichtbare Nadel einen Faden durch sein Fleisch. Jack legte einen Finger an die rechte Schläfe und massierte sie. Straßenmädchen sind nicht blöd. Die fahren vielleicht ein paar Meilen mit, aber nicht weiter als zehn, fünfzehn Minuten mit dem Auto, allerhöchstens. 335
Das Flattern legte sich. Für das, was der BR-Killer vorhatte, musste er sie an einen entlegenen Ort bringen, je entlegener, desto besser. Aber es musste auch was hermachen; irgendein Wohnviertel, bei dem sie es nicht mit der Angst zu tun bekam. Keine Frau wird mitten in der Nacht zu einer Scheune oder einem Lagerhaus mitfahren. Und wohin er auch fuhr, er musste den Wagen verstecken. Wahrscheinlich in einer Garage, einer Scheune oder einem ähnlich großen Raum. Ein Raum, den er noch für andere Dinge nutzte. Dinge wie die Zerstückelung und Entsorgung von Leichen. Ein großes altes Haus mit einer Garage – und einem Keller. Und in diesem Keller hält er sie gefangen. Jack wurde ungeheuer schlecht, als ihm klar wurde, dass die junge Russin vielleicht genau in diesem Augenblick einen langsamen, qualvollen Tod starb, in einem Keller keine fünfzehn Autominuten von der Stelle entfernt, an der er sich jetzt befand. Jack pochte der Schädel. Sein Hirn war voller Motorenlärm und dem Flackern von Neonröhren, die nicht mehr richtig ansprangen. Es ist noch zu früh. Nancy hatte recht. Du bist noch nicht so weit. Jack rieb sich das Gesicht mit den Händen und befahl sich, die Selbstzweifel zu vergessen und sich zu konzentrieren. Er sah die Brighton Beach Avenue in beide Richtungen hinab; fünfzehn Minuten von hier aus, das schloss alle Häuser in einem Umkreis von sieben Meilen ein. »Scheiße!«, sagte er laut und spürte, wie sein Herz in einen Spurt überging. Brooklyn war der größte Stadtbezirk in New York City, fast ein Drittel der gesamten Stadtbevölkerung lebte hier. Ludmilla Zagalsky war nur eine von zweieinhalb Millionen Menschen in der Gegend, die sie zu durchkämmen hatten.
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San Quirico d’Orcia, Toskana Das Tele, das McLeod nun von seiner Kamera schraubte, war dasselbe, mit dem er das Foto von dem kopflosen Skelett in Georgetown gemacht hatte. McLeod setzte die beiden Deckel auf das Objektiv und packte es in einen eigens dafür vorgesehenen Stoffbeutel, den er dann zu seiner restlichen Ausrüstung in den Rucksack steckte. Dieser Schnappschuss von Sarah Kearneys Grab hatte ihm ein Vermögen eingebracht; er war unendlich dankbar für den anonymen Tipp, der ihn noch vor den Bullen dorthin gelockt hatte. McLeod war ein mit allen Wassern gewaschener Zeilenschinder, ein freiberuflicher Pressefotograf, der sein Geld damit verdiente, Bilder und Storys an Crime Channel, Court TV, Crime Illustrated und alle möglichen sonstigen Magazine und Publikationen zu verscherbeln, die sich für wahre Kriminalfälle interessierten. Er war es gewohnt, auf Gerüchte und Tipps zu reagieren. Meistens stammten sie von Polizisten, Krankenwagenbesatzungen oder Gaunern selbst. Normalerweise wollte »die Quelle« einen Teil vom Kuchen abhaben, aber im Fall Kearney hatte es keinerlei Geldforderungen gegeben. Der Schotter, den er mit dem Job in Georgetown gemacht hatte, hatte sein Interesse für den Fall des Black-River-Killers geweckt und ihn auf den Gedanken gebracht, mal herauszufinden, was aus dem Polizisten geworden war, der die Ermittlungen abgeben musste, nachdem er unter dem Stress der Mörderjagd zusammengebrochen war. McLeod hatte mehrere Tage recherchiert und schließlich auf einer Website über die Kochkunst der Toskana den Aufenthaltsort der Kings herausgefunden. Der aufstrebende Starkoch Paolo Balze war Hauptthema des Artikels gewesen; darin hatte er sich überschwänglich bei Jack und Nancy King bedankt. Und nun plante der alte Zeilenschinder eine eigene Story, aber ganz gewiss nicht für die LifestyleRedaktion eines Hochglanzmagazins. 337
Jack King lässt es sich mit seiner Staatspension in der Toskana so richtig gut gehen, während sich seine ehemaligen Kollegen mit der Schändung eines Grabes herumplagen müssen, in dem eines jener Opfer lag, denen King so schändlich den Rücken gekehrt hat. Das gefundene Fressen für die Schundblätter. Vielleicht die Titelseite des National Enquirer oder eine Bilderfolge auf Court TV. Das einzige Problem war nur: King war nicht hier. Erst fürchtete McLeod, die Story sei tot, doch dann setzte er geduldig nach. Mit etwas Glück hatten sich die Kings ja getrennt; vielleicht gab es hier eine saftige Rührstory zu erzählen. Gescheiterter BR-Killer-Jäger: Gescheiterte Ehe! Dazu noch ein paar hübsche Bilder von dem einsamen Frauchen, die sich um den traurigen kleinen Sohn kümmern muss, weil Daddy sie hat sitzen lassen. Die Redakteure werden ihm aus der Hand fressen wie die Tauben im Park. Dann tauchte in den letzten paar Tagen noch der Hinweis auf, der alte Knabe sei der italienischen Polizei bei irgendwas behilflich. Auch nicht schlecht: »Unruheständler«: Ex-FBIAgent auf Pension kann uns nicht helfen, poliert aber sein Konto durch Mitarbeit bei der italienischen Polizei auf! An dieser Schlagzeile musste er noch ein wenig feilen, aber McLeod wusste, dass sie sich bestimmt verkaufen würde. Ehrlich gesagt war alles zu verkaufen, was sich um den BlackRiver-Killer drehte. Mit diesem Hintergedanken verließ er seinen Ansitz und kehrte zur Casa Strada zurück, um Nancy King rundheraus nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes zu fragen. Er würde schon die Zitate aus ihr herauskitzeln, die er für seine Story brauchte, und nichts und niemand würde ihn daran hindern. Was diese King von sich gab, war sowieso nicht wichtig. McLeod wusste, dass er bereits genug Material zusammenhatte, um eine Exklusivstory zu schreiben, für die so mancher über Leichen ging. 338
KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG
Livorno, Toskana Orsetta Portinari gingen zwei Fragen durch den Kopf, als sie in Livorno eintraf: Was hatte Cristina Barbujani am 9. Juni zuletzt getan, und was genau war die Verbindung zwischen Jack King und Cristinas Mörder? Marco Rem-Picci von der örtlichen Mordkommission holte sie am Bahnhof ab. Er lächelte sie an und gab ihr einen Kuss auf beide Wangen, wobei er sich auf Zehenspitzen stellen musste. Rem-Picci war selbst für italienische Maßstäbe ein kleiner Mann. Er war stets makellos gekleidet und trug dunkle Anzüge, die zu seinen kurzen dunklen Haaren, breiten Schultern und der schmalen Taille passten. Er fuhr sie zu Cristinas Appartement, einer billigen Wohnung hoch an einem Hügel mit einem atemberaubenden Blick auf den alten, von den Medici ausgebauten Hafen – wenn man ein Fernglas hatte. Das hässliche Betongebäude stand in starkem Kontrast zu den alten Türmen und Festungen, die in den historischen Stadtkern führten. Der Hausbesitzer, ein fetter, glatzköpfiger Mann von Mitte sechzig, der weiße FeinrippUnterhemden und Hosen mit kaputtem Reißverschluss für modisch hielt, führte sie in den dritten Stock. Er öffnete die schwere metallene Eingangstür und ließ sie ohne ein weiteres Wort allein, damit sie sich um ihr Geschäft kümmern konnten. Dem Geschäft des Mordes. Orsetta verfluchte Jack leise, als sie sich umsah. Diese Fahrt hätte er mit ihr machen sollen, um seine Expertenmeinung zu äußern, statt einfach sang- und klanglos nach Amerika zu verschwinden. Die Wohnung eines Opfers aufzusuchen war 339
immer so, als würde man eine Probe seines ganzen Lebens unter ein Mikroskop schieben, um dann all die wichtigen Geheimnisse zu enthüllen, von denen das Opfer gehofft hatte, dass niemand sie je entdeckte. Es wäre wirklich eine große Hilfe gewesen, Jack King jetzt dabeizuhaben. Orsetta betrachtete den hellen Marmorfußboden, der die gesamte Wohnung bedeckte, das einsame Sofa mit dem gelben Baumwollbezug und den gelben Sitzsack, der sich vor einem offenen Kamin lümmelte, in dem eine Terrakottavase mit vertrockneten Blumen stand. Auf einem Regal rings um den Kamin fanden sich ein paar Bücher über Archäologie, auf einer Marmorplatte in einer Zimmerecke stand ein kleiner Fernseher. Das war alles. Gelb und weiß waren die einzigen Farben. Ruhig, aber energiegeladen, einfach, trocken und aufgeräumt, fand Orsetta, die sich langsam in die tote Frau einzufühlen begann. »Haben Sie die alle durchgesehen?«, fragte sie und deutete auf die Bücher. »Buch für Buch, Seite für Seite. Nichts, was für uns von Interesse wäre«, antwortete Marco. Orsettas Absätze klapperten über den Marmor. Sie sah im Bad nach, dann suchte sie in der Küche. An der Wand neben der Spüle hing ein schmaler Kalender. Orsetta nahm ihn vom Nagel und blätterte ihn durch. Für jeden Monat ein anderes Rezept, passend zu den Nahrungsmitteln der Saison, dazu eine Weinempfehlung. Orsetta interessierte sich nicht für Kochrezepte. Sie schlug den Juni auf und war enttäuscht, dass es für den 9. oder 10. Juni keinerlei Einträge gab. »Erzählen Sie mir bitte noch einmal, wer sie am 9. Juni zuletzt gesehen hat«, bat Orsetta und blätterte weiter im Kalender. Marco seufzte müde; er war diesen Punkt schon so oft durchgegangen, dass er ihn auswendig konnte, und zwar rückwärts. »Zwei Freunde, Mario und Zara Mateo, haben gegen sieben Uhr abends angerufen und sie zum Essen eingeladen. Sie lehnte dankend ab, und die beiden gingen allein aus. Im Restaurant 340
heißt es, sie seien leicht betrunken gewesen, als sie gegen Mitternacht gingen und mit dem Taxi davonfuhren. Am folgenden Tag sollte Cristina für ihre Mutter ein paar Medikamente abholen, weswegen diese vielleicht sechs oder sieben Mal die Nummer ihres Mobiltelefons anrief. Am Abend begann die Mutter, sich ernstlich Sorgen zu machen, also kamen sie und Cristinas Vater hierher und verständigten dann die Polizei. Die hiesige Wache vermerkte als Zeitpunkt des Anrufs zwanzig Uhr dreißig.« Orsetta nickte und blätterte weiter. Es stand fast nichts in diesem Kalender, nur eine kurze Bemerkung in der letzten Maiwoche: »Ab heute Diät und Joggen!« Orsetta lächelte und war zugleich sehr traurig. Es gab wohl keine Frau auf der Welt, die solche Termine mit sich selbst noch nicht getroffen hatte. Sie hängte den Kalender wieder hin und folgte Marco ins Schlafzimmer. Die Kammer war kaum groß genug für ein Bett, einen billigen Schminktisch und einen weißen Plastikstuhl, der so aussah, als gehörte er in den Garten. Orsetta öffnete einen Einbauschrank aus Kiefernholz mit Schiebetür. Leer. »Die Kleider sind im Labor?«, fragte sie, kannte aber bereits die Antwort. »Ja«, antwortete Marco. »Ich habe Fotos und eine Liste mit all den Sachen mitgebracht, die mitgenommen und nicht zurückgebracht worden sind. Ich dachte mir schon, dass Sie sie sehen wollen.« Orsetta nahm ihm einen Stapel Fotos ab. Auf dem ersten Bild war zu sehen, wie der Fotograf den Schrank vorgefunden hatte, als er ihn öffnete. Auf der Stange links Jeans, einfache Hosen, Blusen, Röcke und schließlich Kleider. Einfach und praktisch; nichts davon wirkte teuer oder besonders neu. Orsetta blätterte weiter und stieß auf das Bild, nach dem sie gesucht hatte. Schuhe. Orsetta riss die Augen auf. »Sind das etwa alle Schuhe, die sie hatte?«, fragte sie ungläubig. 341
Marco warf einen Blick über ihre Schulter. »Ja, sieht so aus. Ein Paar hohe Schuhe, zwei Paar flache braune Schuhe, zwei Paar flache schwarze Schuhe und ein Paar schwarze Stiefel.« Irgendetwas stimmte hier nicht. Orsetta kam nicht drauf, aber sie wusste, dass hier etwas nicht stimmte. Sie ließ die Bilder auf den Schminktisch fallen und zog die drei Schubladen auf. Nichts. Sie setzte sich an den Tisch und wartete darauf, dass sie draufkam, was sie so verwirrte. Nichts. »Ist aus diesen Schubladen noch irgendetwas im Labor?« Marco dachte einen Augenblick nach. »Nein, ich glaube nicht.« Orsetta ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, schaute in jede Ecke, suchte verzweifelt nach dem Hinweis, der, das wusste sie, zum Greifen nahe lag. »Wäschekorb?« »Erledigt«, antwortete Marco, der ahnte, worauf sie hinauswollte. »Drei Schlüpfer, ein paar T-Shirts, Jeans, das war’s. Keine DNS-Spuren, nur die des Opfers.« »Das meinte ich nicht«, sagte Orsetta, und zog die unterste Schublade auf. Sie kippte den Inhalt aufs Bett und wühlte sich durch die Mischung aus Strumpfhosen, Strümpfen, Schlüpfern, BHs und Socken. Sie spürte, dass sie da was hatte. Aber was? Orsetta sortierte die Kleidungsstücke. Die feinere Unterwäsche war, wie sie vermutete, für die Arbeit oder die wenigen Einladungen, die Cristina gehabt hatte, die älteren, abgewetzten Sachen für daheim. Blieben noch zwei Paar Joggingsocken, die es üblicherweise im Dreierpack gab. Orsetta griff in ihre Jackentasche und zog ein Foto von Cristina hervor, um sich ihre Größe und Gestalt ins Gedächtnis zu rufen. »Lagen im Wäschekorb auch ein Sport-BH oder ein passendes Paar Socken so wie diese hier?«, fragte sie und zeigte auf das Paar, das sie zusammengelegt hatte. 342
Marco dachte kurz nach. »Nein.« Orsetta wurde unruhig. Sie hatte da so eine untrügliche Ahnung. Sie nahm sich die Fotos und blätterte sie noch einmal durch. »Keine Joggingschuhe. Auf dem Bild vom Schrank finden sich keine Joggingschuhe«, erklärte sie triumphierend. Orsetta konnte sich plötzlich Cristinas letzten Abend bildhaft vorstellen. »Ich glaube, sie wurde beim Joggen entführt, wahrscheinlich nicht weit von hier entfernt. Es finden sich hier keine Schuhe, keine Sporthose, kein Sport-BH, und ich wette, sie trug das dritte Paar Sportsocken.« Marco sah, worauf sie hinauswollte. »Also hat sie die Einladung ihrer Freunde gegen sieben Uhr ausgeschlagen und ist gleich im Anschluss joggen gegangen?« Orsetta dachte nach. »Ja. Sie war auf dem Fitnesstrip, also sagte sie ab und ging gleich darauf zum Joggen. Noch bevor es dunkel wurde. Wir können also festhalten, dass sie wahrscheinlich zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr, spätestens aber um halb zehn aus dem Haus gegangen ist.« Die beiden Polizisten sahen sich an. Sie hatten herausgefunden, wie, wann und ungefähr wo Cristina Barbujani die letzten Augenblicke ihres Lebens verbracht hatte, bevor sie ihrem Mörder begegnete. Das war ein Durchbruch, denn jetzt konnten sie Zeugenaussagen abgleichen und ihre Ermittlungen auf all diejenigen konzentrieren, die in der Nacht des 9. Juni in einem nicht zu großen Umkreis um Cristinas Wohnung gesehen worden waren. Blieb nur noch ein Punkt, an den Orsetta dachte, als sie den Hausbesitzer verließ, der die Wohnung abschloss – Jack King. Und wenn Jack ihr nicht persönlich half, der Verbindung zwischen ihm und Cristinas Mörder auf die Spur zu kommen, dann tat dies vielleicht ein Besuch bei seiner Frau.
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San Quirico d’Orcia, Toskana Terry McLeod brachte die Fotoausrüstung zurück in sein Hotelzimmer und packte den Koffer. Wenn sein Gespräch mit Nancy King schlecht verlief, würde sie ihn bestimmt aus dem Hotel werfen. McLeod schaute im Bad, in den Schränken und Nachttischschubladen nach, dass er auch nichts Wichtiges vergessen hatte, dann schloss er den Koffer ab und stellte ihn neben die Tür. Der altgediente Fotoreporter wusste, dass seine Stärke die Bilder waren, nicht seine Texte, deshalb nahm er sich noch etwas Zeit, sich seine Fragen zurechtzulegen, bevor er sich auf die Suche nach Mrs. King machte. Er beschloss, erst einmal so zu tun, als handelte es sich bei dem Artikel um einen Auftrag für ein neues Magazin über Hotels und Restaurants. Dazu habe er wie die Prüfer für den Guide Michelin unerkannt arbeiten müssen, bis er Küche und Hotel geprüft hatte. Er würde ihr ein oder zwei Seiten Werbung versprechen und dann sagen, er brauche nur noch ein paar Hintergrundinformationen zur Familie: Wann waren sie hierhergezogen, was hatten sie tun müssen, um das Haus so herzurichten, wie es nun war, wie war das Leben in Italien? All dieses harmlose Zeugs. Erst dann wollte er zu den wirklich wichtigen Fragen kommen: Wo war ihr Mann im Augenblick, wobei genau half er der italienischen Polizei, war er wieder beim FBI oder arbeitete er als selbstständiger Berater? McLeod überprüfte noch einmal, ob die Minikassette in seinem Taschendiktafon zurückgespult war, und steckte sich das Gerät dann so in den Ärmel, dass er alles heimlich aufzeichnen konnte. Im Restaurant war es zum sonntäglichen Mittagessen unglaublich voll gewesen, danach hatte sich Nancy eine wohlverdiente Pause im kühlen Schatten auf der Terrasse gegönnt. Dort war sie 344
für fünf Minuten eingeschlafen. Sie schreckte auf und sah sich sofort nach Zack um. Als sie die Augen geschlossen hatte, da hatte er fröhlich auf seinem Dreirad gespielt. »Zack, mein Süßer, wo bist du?«, rief sie und suchte im Garten. Nancy war nicht in der Stimmung, Verstecken zu spielen. Sie hatte heute schon ein Dutzend Mal mitgespielt, außerdem hatte sie Paolo versprochen, die abendliche Speisekarte durchzugehen, während er und Giuseppe eine kurze Fahrt nach Pienza unternahmen. »Na komm schon, mein Schatz, ich habe viel zu tun. Komm rein, du kriegst auch ein Stück Schokolade.« Bestechung klappte meist vorzüglich. Doch diesmal blieb Zack standhaft und ließ sie noch eine Weile weitersuchen. Die Klinke zur Küchentür war für ihn zu hoch, also musste er irgendwo im Garten stecken. Nancy suchte unter den Obstbäumen und hielt Ausschau nach Zacks roten Sandalen, die vielleicht hinter einem Baumstamm hervorlugten. Sie konnte nichts entdecken. Wenn er sich unten im Gemüsegarten versteckte, würde sie mit ihm schimpfen müssen, das hatte sie ihm nämlich streng verboten. Und wenn er wieder in den Kräutern hockte und sie sich in den Mund stopfte, dann würde es wirklich Ärger geben. Nancy ging zu dem Teil des Gartens hinüber, den sie ihrem Sohn verboten hatte, und rief streng: »Zack! Komm sofort raus.« Keine Antwort. »Das Spiel ist vorüber! Zack, komm jetzt bitte!« Nancys Mutterinstinkte waren geweckt. Sie warf einen besorgten Blick auf Garten, Wege, Bäume. Kein Zack. Doch dann sah sie etwas. Am Terrassenrand, dort, wo der Boden eingesunken war und der Landschaftsgärtner Vincenzo den provisorischen Zaun entfernt hatte, um den Erdrutsch zu begutachten, lag Zacks umgestürztes Dreirad. 345
FBI-Behörde, Brooklyn, New York In der Brooklyner FBI-Behörde räumten Jack und Howie ein Zimmer leer und breiteten dann eine Vielzahl von Straßenkarten auf dem Boden aus. Es war alles Mögliche dabei, von Militärkarten bis hin zu Busfahrplänen und Radfahrstrecken. Sie hatten einfach nicht genug Platz und Zeit, sie alle an die Wände zu pinnen. Die beiden waren sich darin einig, dass sie ein gewisses Risiko eingehen mussten. Sie hatten keine Möglichkeit, ganz Brooklyn zu durchforsten, also mussten sie einzelne Teams in ausgewählte, vielversprechende Stadtteile schicken. Jack überflog Brooklyns Westside. Hunters Point – dort, wo die Fähren nach Manhattan übersetzten – eine Gegend mit abgeschiedener alter Bebauung. Von Norden den East River hinunter – Williamsburg, gleich neben der Brücke, das sah vielversprechend aus. Fulton Ferry und Brooklyn Heights – auch nicht schlecht. Howie ging ähnlich vor. Prospect Park, in der Nähe des Zoos – dort boten sich viele Möglichkeiten. »Was ist mit dem Greenwood Cemetery, gleich an der 278, jede Menge Wohnviertel ringsherum – außerdem kann er dort gut irgendwelche Reste entsorgen.« »Nicht schlecht«, meinte Jack. »Setz den Friedhof ganz oben auf die Liste.« »Und vielleicht noch Dyker Heights rings um die Seventysecond, Wohngegend, aber ziemlich abgeschieden«, fügte Howie hinzu und markierte die Gegenden mit schwarzem Filzstift. Jack sah auf die Karten hinab, konzentrierte sich auf Brighton Beach, und zog sich die Brighton Beach Avenue heran, wo er gerade gewesen war. Er stellte sich vor, er würde mit einem Hubschrauber darüber hinwegfliegen. Er konnte die Autos, deren Fahrer auf Parkplatzsuche waren, die Einkaufsstraßen hinunterkriechen sehen. Geländewagen fuhren an die Strände. 346
Eine ganze Armee ameisenkleiner Angestellter strebte nach Manhattan. Tagesausflügler mit Sandwichs, Limonaden und aufgeregten Kindern reisten nach Coney Island. Dann fielen ihm wieder die Worte ein …. nicht weit von hier … Ein Straßenmädchen hätte niemals eingewilligt, sich von einem Fremden weit wegfahren zu lassen, und der Mörder wollte sie nicht länger als unbedingt nötig im Auto haben. Jacks Blick fiel auf eine Gegend in der östlichen Ecke der Karte. Ein Fleck abgeschiedenen Grüns weckte seine Aufmerksamkeit. Er fuhr mit der Fingerspitze den Belt Parkway entlang; nur vier Kreuzungen weiter lag die Ausfahrt Brooklyn Marine Park und das Wohnviertel Gerritsen. Die Flatbush Avenue führte von der anderen Seite des Marine Park nach Norden, schnurgeradeaus bis zur Brooklyn Bridge. »Komm mal her und schau dir das an«, sagte Jack. Howie war noch auf den Knien und hoppelte zu ihm herüber. »Marine Park«, sagte Jack und pochte mit dem Finger auf die Karte. »Geradezu ideal. Flatbush und Belt Parkway sind schnelle Fluchtrouten. Es liegt ziemlich abgeschieden, und der Flughafen ist gleich in der Nähe. Außerdem ist der Strand keine zehn Minuten entfernt, und Little Odessa liegt schützend direkt davor. Der Typ hat sich so gut getarnt, wie es nur geht.« Howie spürte, dass er vor Aufregung einen trockenen Mund bekam. »Da sind immer noch verdammt viele Häuser zu überprüfen.« Jack erhob sich, um die Beine auszustrecken. Das Blut schoss ihm in den Kopf, und ein weiß glühender Schmerz brannte sich durch seine Schläfen. »Alles okay?«, fragte Howie und sah ihn besorgt an. »Klar. Bin nur ein bisschen zu schnell aufgestanden.« Jack blickte auf das Kartengewirr hinab und fügte hinzu: »Wir müssen uns auf die abgeschiedeneren Häuser konzentrieren, die mit großen Garagen, Doppelgaragen. Er wird sich eine Straße gesucht haben, die er gut einsehen kann und aus der er schnell 347
verschwinden kann. Also wird er nicht mitten in der Wohnsiedlung stecken, sondern irgendwo am Rand.« »Wir stellen sofort Suchteams zusammen. Ich werde sie einweisen, wenn wir hier fertig sind.« Das bereitete Jack Kopfzerbrechen. Wenn sie die Gegend mit Streifenwagen oder gar gepanzerten Fahrzeugen überschwemmten, könnte das den BR-Killer verschrecken. »Sie müssen sehr vorsichtig vorgehen. Wir wissen, dass er Kameras im Haus hat, also wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch draußen welche installiert haben. Falls er dort ist, wird er uns kommen sehen.« Howie stand auf, seine Knie knackten. »Glaubst du, ihm gehört das Haus? Oder hat er es nur gemietet?« »Gute Frage. Der Kerl dürfte über vierzig sein, also sollten wir die Wahlregister und Grundbücher nach Leuten über fünfunddreißig durchforsten. Setz auch jemanden auf Hypotheken und Bankkonten an, immer mit Augenmerk auf die Eckdaten. Er benutzt mit Sicherheit eine falsche Identität und wird sich jünger oder älter machen, als er ist.« »Und was ist mit Mietwohnungen?«, fragte Howie. »Unwahrscheinlich«, antwortete Jack. »Er würde niemals riskieren, dass in seiner Abwesenheit ein Hausbesitzer auftaucht und sein ganzes Spielzeug findet.« Howie war sich nicht sicher, ob es wirklich so einfach war. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er diesen Irrsinn in seinem eigenen Haus treibt. Wie du selbst immer sagst: Der Kerl ist verdammt vorsichtig. Er will doch auf die Schnelle abhauen können, und wenn wir das Haus finden, wissen wir doch, wer er ist, oder nicht?« Wieder gab es eine Explosion in seinem Kopf, doch diesmal ließ sich Jack nichts anmerken. Konzentrier dich, befahl er sich, reiß dich zusammen, verdammt, ausruhen kannst du später immer noch! Bring deinen Kopf auf Vordermann! Denk nach! 348
Howie faltete einige Landkarten zusammen, was Jack eine Verschnaufpause gab. »Du hast recht. Da hast du absolut recht«, sagte er. »Setz ein Team auf die Maklerbüros an. Ich wette, ihm gehört das Haus, aber er hat es einer Hausverwaltung übergeben und es dann unter falschem Namen angemietet.« »Er hat wahrscheinlich schon einen falschen Namen angegeben, als er zu der Hausverwaltung gegangen ist und sich als Hausbesitzer ausgegeben hat«, sagte Howie. »Ja, höchstwahrscheinlich«, pflichtete ihm Jack bei, dessen Augenlid wieder zu zucken begann. »Das Haus an sich selbst zu vermieten ist ein wirklich cleverer Trick. Erstens gibt es jede Menge falschen Papierkram, und zweitens kann man mit dem falschen Mietvertrag falsche Konten eröffnen, falsche Kreditkarten beantragen und sich eine ganze Reihe falscher Identitäten zulegen.« »Ich kümmere mich drum«, sagte Howie und machte sich auf die Suche nach einem Telefon. »Noch was«, rief Jack ihm nach, »du wirst feststellen, dass es eine ganze Reihe von Mietern gegeben hat. Die Namensänderungen werden ungefähr mit den Todesdaten seiner Opfer übereinstimmen. Er streift einen alten Namen ab und fängt nach jedem der uns bekannten Morde unter einem völlig neuen Namen von vorn an.« »Bin gleich wieder da«, sagte Howie und zog los, um Angelita darauf anzusetzen. Jack war froh, allein zu sein. Er spürte, wie ihm ein zäher Schweiß ausbrach. Die Kraft in seinen Beinen schien sich in einer Pfütze um seine Füße zu verflüchtigen, und sein Sehvermögen trübte sich. Langsam atmen, tief durchatmen, ermahnte er sich und setzte sich schnell hin, bevor ihn eine schwarze Woge der Übelkeit überrannte.
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San Quirico d’Orcia, Toskana Nancy stürzte zum Rand der Terrasse, wo der Garten gute vier Meter abgesackt war. Dort lag Zacks Dreirad. Sie konnte nichts sehen. Panik überkam sie. Ohne an ihre eigene Sicherheit zu denken, stolperte sie das lockere Erdreich hinunter in den Krater. Zack wird doch nicht allein hierhergegangen sein? Dann fiel ihr wieder ein, wie er auf ihrem Ankleidetisch herumgetanzt hatte, als sie nur kurz ins Bad gegangen war, das an ihr Schlafzimmer grenzte. Bei Dreijährigen war alles möglich. »Zack! Zack, mein Schatz, bist du da?«, rief Nancy. Sie warf einen Blick in die Dunkelheit des alten Schachts, den sie unter dem Garten gefunden hatten, den schmalen Eingang zu einer Art Höhle, von der sie gehofft hatte, dort einen unterirdischen Brunnen oder gar ein Badehaus zu finden, und von der sie nun hoffte, dass es dort flach war und dass sich dort nichts befand, was ihren Sohn in Gefahr bringen konnte. »Zack!«, rief sie wieder. Nancy zwängte sich durch die schmale Öffnung. Sie kniff die Augen zusammen und schaute so angestrengt sie nur konnte. Schließlich entdeckte sie Zack in der muffigen Dunkelheit. Nancy konnte die Umrisse seines Gesichts nur mühsam erkennen. Zack schien völlig verängstigt zu sein. Nancy ging langsam auf ihn zu. »Alles in Ordnung, Schätzchen, ich bin ja da«, sagte sie. Und dann, als sie sich ihm langsam näherte, erstarrte sie plötzlich. Zack waren die Hände gefesselt. Um seinen Hals lag eine Schlinge.
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KAPITEL DREIUNDSECHZIG
Brooklyn, New York Bei Howies Rückkehr hatte Jack sich wieder im Griff. »Du bist ja kreideweiß, Kumpel. Alles okay mit dir?«, fragte Howie. »Vielleicht ein bisschen zu warm hier drin. Hier muss mal richtig durchgelüftet werden«, sagte Jack, der einfach nur weitermachen wollte. »Hast du einen Autoschlüssel für mich?« Howie griff in die Jackentasche und warf ihm seinen Autoschlüssel zu. »Aber sei vorsichtig.« Jack nickte und ging hinaus auf den Parkplatz. Die Uhr tickte. Sie wussten beide, dass sie im Wettlauf mit der Zeit waren. Dem Sieger winkte das Leben einer jungen Frau. Achtundvierzig Stunden höchstens, hatte der Arzt gesagt, der die Bänder gesehen hatte. Achtundvierzig Stunden. Jack gehörte offiziell nicht mehr zum FBI, er besaß weder Dienstmarke noch eine Waffe. Howie musste die Besprechungen und Einsatzleitungen allein bewerkstelligen. Er würde erst Marsh auf den neuesten Stand bringen, dann beim NYPD anrufen und die Polizeispitze informieren. Die wiederum würden Beamte der ESU, dem Gegenstück zum SWAT-Team, abstellen, und letztlich würde es ein gemeinsames Einsatzkommando unter der Leitung des FBI geben. Jack hatte außerdem vorgeschlagen, Josh Benson und Lou Chester hinzuzuziehen, die beiden Instruktoren, die Rodmans Neck, die Spezialtrainingseinrichtung des FBI in der Bronx, praktisch im Alleingang leiteten. 351
Chester war wohl der beste Scharfschütze der Welt, und Benson leitete das mörderischste Trainingsprogramm zum urbanen Straßenkampf. Wenn es darum ging, Gebäude zu stürmen und Geiseln zu befreien, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Beamte würden all die Gegenden absuchen, die Howie und er als mögliche Verstecke des BR-Killers markiert hatten. Jack wiederum war auf dem Weg nach Marine Park, einem riesigen Areal zwischen Mill Basin und Gerritsen Beach, das 61. und 63. Revier des NYPD mit einer ziemlich niedrigen Verbrechensrate. Ursprünglich hatte es hier eine holländische Ansiedlung gegeben, auch die erste Gezeitenmühle in Amerika hatte hier gestanden. Seither war der große Bereich aus Marschland, Parklandschaft, Moor, Sumpf und Ackerland so oft umgeformt worden, dass nichts mehr davon wiederzuerkennen war. Die Gegend war nun Heimat für viele New Yorker italienischer und jüdischer Herkunft, die in Gebäuden lebten, die zum Großteil vor sechzig oder siebzig Jahren errichtet wurden. Jack fuhr die Gerritsen Avenue in nördliche Richtung und umkurvte dabei die Cyrus, Florence und Channel Avenue. Am Ende bog er rechts in die Fillmore Avenue und kroch vorbei an der Thirty-third und der Thirty-fourth. Dann verfuhr er sich ein wenig und fand sich auf dem Weg zur Kings Plaza Shopping Mall wieder. Er fluchte, wendete und fuhr die Hendrickson und Coleman Street hinauf und hinunter, von wo aus er Golftrolleys sah, die über das samtige Grün des riesigen Golfplatzes des Marine Park geschoben wurden. Jack war frustriert. Er stieg aus und sah sich um. Die Frischluft würde ihm guttun und die Übelkeit bekämpfen, die er schon wieder in sich aufsteigen spürte. Es war zwar warm, aber von der Jamaica Bay wehte eine ziemliche Brise herüber. Die Gegend wirkte ordentlich und anständig, war respektabel und gut gepflegt. Sie stank nicht gerade vor Geld, aber sie war gewiss auch nicht ärmlich. Kurz gesagt, es handelte sich um eine Gegend, in der die Leute sich 352
um ihren eigenen Kram kümmerten und unter sich blieben. Hier nicht, Jack, viel zu offen, zu viele Häuser, zu viele Fenster, von denen aus man beobachtet wird. Er setzte sich in den Wagen, machte sich Notizen und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Er kam gerade durch eine Straße, in der anscheinend sämtliche Anlieger ihre Rasenflächen schnitten und ihre Autos wuschen, als sein Mobiltelefon klingelte. Howie. »Ich hab eine Spur.« »Schieß los«, sagte Jack, hielt an und griff sich seinen Notizblock. »Angelita hat ein paar Hausverwaltungen abgeklappert und ist dabei deiner Idee gefolgt, nach einem Mann zu suchen, dem das Haus unter falschem Namen gehört und der dann eine Hausverwaltung beauftragt, die das Haus dann wiederum unter falschen Namen an ihn selbst zurückvermietet. Nultkins, ein alteingesessenes Unternehmen in Brooklyn, hat da ein Haus, das die Firma seit fast zwanzig Jahren verwaltet. Der Hausbesitzer ist Junggeselle, und die Unterlagen der Mieter belegen, dass er stets ausschließlich an Junggesellen vermietet hat. Passt bis aufs iTüpfelchen zu deinem Profil.« Jack spürte, wie ihn ein aufgeregter Schauder durchfuhr. »Ich habe den Stift schon gezückt, gib mir die Anschrift.«
San Quirico d’Orcia, Toskana Plötzlich zieht sich die Schlinge um Zacks Hals fest, so als hätte jemand das Seil im Dunklen über einen Balken geworfen und wollte ihn nun hängen. »Tun Sie, was ich Ihnen sage, sonst bringe ich ihn um.« Es war eine männliche Stimme ohne jeden Anflug von dramatischer Übertreibung oder Gefühl. Nancy starrt weiter ihren Sohn an. 353
Langsam sieht sie etwas; ihre Augen gewöhnen sich an das fehlende Licht. »Ich tue alles, was Sie wollen, aber tun Sie meinem Kind nichts«, fleht sie. Tränen haben dreckige Streifen über Zacks Gesicht gezogen. Nancy kann sehen, dass ihm das Seil Schmerzen verursacht und dass Zack Angst hat. Sie will nur zu ihm und ihn an sich drücken. »Treten Sie langsam zwei Schritte vor, und drehen Sie sich um, sodass Sie nach draußen schauen«, befiehlt Spider. »Dann nehmen Sie die Hände auf den Rücken.« Nancy wirft Zack einen letzten Blick zu und gehorcht. Wie mutig er ist, denkt sie, er schreit und weint nicht. Als sie einen Schritt nach vorn tut, entdeckt sie voller Entsetzen, dass Zacks Mund mit dickem Paketklebeband verschlossen ist und er nur mit Mühe Luft bekommt. »Tun Sie ihm nichts, bitte! Bitte tun Sie meinem Kleinen nichts!«, fleht sie erneut. Spider sagt kein Wort. Er wickelt ihr schnell das Klebeband um Handgelenke und Hände und macht sie bewegungsunfähig. Er zieht ein Teppichmesser aus der Tasche, schiebt mit dem Daumen die rasierklingenscharfe, dreieckige Klinge heraus und schneidet das Paketband ab. Nancy zittert, als sie spürt, wie er sie fesselt. Ist es das, wovon Jack immer sprach? Fangen Vergewaltigung und Mord so an? Mein Gott, was wird aus meinem Kind? Spider streckt seine Arme nach vorn und zieht ihr Klebeband über den Mund. Nancy reißt instinktiv den Kopf zurück, und das Band landet halb auf ihrer Nase, halb auf ihrem Mund. Spider reißt das Band ab, und Nancy schreit auf. »Böse Sugar!«, schreit er sie an und verpasst ihr eine Ohrfeige. Nancy schreit. Wieder legt sich ein Klebeband über ihren Mund und erstickt ihren Schrei. Nancy bekommt kaum noch Luft, verzweifelt schnauft sie durch die Nase. 354
Spider schneidet das Band mit dem Messer ab. Dann packt er ihre gefesselten Hände und greift in die Dunkelheit. Plötzlich spürt Nancy einen stechenden Schmerz im Oberschenkel. Spider rammt die Nadelspitze tief in die Ader und lässt sie dort baumeln. Er betrachtet sie, wie ein Jäger stolz seinen Speer betrachtet, mit dem er seine Beute erlegt hat. Stich zu. Tief, tief! Er drückt den letzten Rest Lidocain aus der Spritze und fragt sich, ob die Dosis so wirkungsvoll ist, wie er das möchte. Oder ob sie vielleicht zu hoch ist und sie praktisch umgehend töten wird.
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KAPITEL VIERUNDSECHZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Jack nahm den Straßenatlas, den er dabeihatte, setzte seine Sonnenbrille auf und stieg aus Howies Wagen. Er ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite von dem Haus entlang, das Angelita als mögliches Ziel identifiziert hatte. Es stand in einem der Seitenflügel einer T-förmigen Sackgasse. Jack ging auf der anderen Straßenseite direkt daran vorbei, hielt sein Gesicht aber abgewandt. Schatten und Straßenatlas halfen ihm, unerkannt in den Schutz jenes Hauses zu gelangen, von dem er hoffte, dass es ihm zur Observierung dienen könnte. Er ging die kleine Zufahrt zu seiner Rechten hinein und klopfte an die Haustür. Eine kleine Frau von Ende sechzig öffnete. Sie hatte schneeweiße Locken und trug eine goldene Brille. Sie hätte in jedem Film die Rolle der Oma besetzen können. »Guten Morgen«, sagte Jack. »Ich kaufe nichts an der Tür«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Jack lächelte. »Ich verkaufe nichts, Ma’am. Ich heiße Jack King, und ich brauche Ihre Hilfe.« Er griff in die Tasche und zog Howies Visitenkarte hervor. »Ich bin ein ehemaliger FBIAgent und arbeite mit diesem Mann hier zusammen. Wir versuchen gerade, ein sehr schweres Verbrechen aufzuklären, und dazu muss ich in Ihr Haus.« »Hier kommen Sie nicht rein«, sagte die alte Dame und gab ihm die Karte zurück. »Sie sind nur einer von diesen Leuten, die sich das Vertrauen von uns Alten erschleichen möchten. Ich kenne euch Typen.« Jacks Mobiltelefon klingelte in seiner Tasche, aber er ging nicht dran. »Bitte. Bitte nehmen Sie die Karte«, bat er sie. »Ich 356
bin keiner von den Bösen. Nehmen Sie sie, gehen Sie ins Haus, schließen Sie ab und rufen Sie diesen Mann an. Er wird Ihnen sagen, warum das FBI Ihre Hilfe braucht. Ich werde hier warten.« Die Frau schob die Brille hoch und sah ihn an. »Bitte, Ma’am«, sagte er noch einmal. Sie schnappte sich die Karte und ging hinein. Jack hörte, wie abgeschlossen wurde. Das Warten fiel ihm ungeheuer schwer, und er musste den Drang unterdrücken, sich umzudrehen und das Haus zu untersuchen, das Haus, in dem sich vielleicht die im Sterben liegende Frau befand. Ihm war aufgefallen, dass alle Häuser ringsherum groß genug waren, um Keller zu haben. In dieser Gegend passte alles. Das war ein Ort, wie ihn sich ein Mörder wie der BR-Killer aussuchen würde. Die alte Dame öffnete wieder die Tür. »Kommen Sie herein«, sagte sie erheblich freundlicher als zuvor. Jack trat ein und wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte. Es roch nach gekochten Kartoffeln und billigem Fleisch. »Ich wollte gerade einen Kaffee trinken, Mr. King. Möchten Sie auch einen?« »Ja, gern«, antwortete Jack, der erleichtert war, im Haus zu sein, »aber zuerst muss ich Ihnen unbedingt einige Fragen stellen. Anschließend müssen Sie mich bitte nach oben in Ihr Schlafzimmer führen.« Die alte Dame lächelte. Es war schon eine ganze Weile her, seit Yoana Grinsberg einen gut aussehenden Mann in ihr Haus gelassen hatte, der sie bat, ihn umgehend in ihr Schlafzimmer zu führen.
San Quirico d’Orcia, Toskana Langsam hatte Terry McLeod die Schnauze gestrichen voll. Abgesehen von Maria, der dummen, wenn auch hübschen jungen Frau an der Rezeption, schien das ganze verdammte 357
Haus menschenleer zu sein. Verdammt noch mal! Wenn er wirklich von einem Hotel- und Restaurantmagazin kommen würde, würde er dem Laden eine Fünf minus für schlechten Service geben. Das Mittagessen lag schon eine ganze Weile zurück, und der Speisesaal war menschenleer, wie McLeod nach einem kurzen Blick feststellte. Teller, Besteck und Tischdecken waren abgeräumt. McLeod suchte weiter. An der hinteren Treppe stand ein Wagen voller dreckiger Wäsche, also waren die Zimmermädchen, die hier beschäftigt waren, wohl oben, zogen Betten ab und sammelten alte Handtücher ein. McLeod schob die Flügeltür zur Küche auf. Ein junger Bursche, der gerade den Fußboden wischte, sah mit von der Arbeit gerötetem Gesicht auf. »Sì?«, sagte er. »Hallo. Ich suche Mrs. King. Irgendeine Idee, wo ich sie finden kann?« Giuseppe hielt inne und zuckte die Achseln. Dann fiel es ihm wieder ein: »Mrs. King, sie ist vielleicht mit ihrem Sohn im Garten.« »Okay, danke«, sagte McLeod. »Kann ich da durch?«, fragte er und deutete auf die Küchentür, durch die man in den Privatgarten gelangte. Giuseppe stellte sich schützend davor und hielt den Schrubberstiel in Händen, als wollte er ihn als Waffe benutzen. »Nein, nicht hier entlang, tut mir leid. Privat. Warten Sie an der Rezeption, ich werde Mrs. King sagen, dass Sie sie suchen.« McLeod funkelte ihn wütend an. Verdammt noch mal, Zehn minus war noch zu gut für diesen Drecksschuppen. Ging’s nach ihm, könnten sie den ganzen vermaledeiten Laden einfach abreißen.
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San Quirico d’Orcia, Toskana Spider schiebt seine Opfer tiefer in die Dunkelheit. Er hat Tage damit verbracht, Mrs. King und ihr Kind zu beobachten, ist ihnen in sicherer Entfernung gefolgt, hat gesehen, was sie wann taten, hat beobachtet, wie das eigensinnige Kind von der überarbeiteten Mutter weglief, die ständig zwischen Geschäft und Mutterpflichten hin- und hergerissen war. Spider folgte ihnen in dem alten Wohnwagen, den er gekauft hatte, um die junge Frau, die er in Livorno entdeckt hatte, zu entführen, zu töten und zu zerstückeln. Der Wohnwagen ersparte ihm die Mühe, Villen zu mieten oder in Hotels abzusteigen. Außerdem konnte Spider so kaum aufgespürt werden, und obendrein bot er ihm Gelegenheit, etwas Zeit mit seinem Opfer zu verbringen. Die junge Frau in Livorno war in dem Wohnmobil getötet worden. Bei dem Gedanken daran, wie glatt diese kleine Eskapade verlaufen war und wie überraschend das Vergnügen war, wo der Mord ursprünglich doch einem völlig anderen Zweck dienen sollte, musste Spider lächeln. Es war am frühen Abend gewesen, er hatte auf einer ruhigen Landstraße angehalten und sich umgeschaut, als er sie von hinten auf das Wohnmobil zukommen sah. Ihr Gesicht war gerötet, als ob sie gerade vom Joggen kam. Er war ganz aufgeregt, wie schön sie war. Genau dein Typ. Dunkles Haar, schlank, gute Statur. Mutter hätte eingewilligt. Spider stieg mit einer Straßenkarte aus. Weit und breit niemand zu sehen, kein neugieriger Blick konnte sie retten. Er wedelte mit der Karte und sagte, seine Frau und er hätten sich verfahren, und ob sie ihm wohl zeigen könne, wo sie seien. Er reichte ihr die Karte und schloss die Hintertür zum Wohnwagen auf, um eine Lampe zu holen. Und während sie mit einem Finger über die Karte fuhr, packte er sie von hinten. Ein gut mit
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Chloroform getränktes Taschentuch brach ihren Widerstand, gleich darauf bugsierte er sie in das Wohnmobil. Dasselbe hatte er auch mit Mrs. King vorgehabt, aber die war nicht so leichtsinnig. Sie war nie allein. Nur nachts. In den vergangenen Tagen hat Spider, als Nancy und Zack sanft in ihren Betten schlummerten, keine hundert Meter entfernt das unterirdische Areal für die bevorstehende Tat vorbereitet. Hier in der feuchten, stinkigen Dunkelheit hat er sein Handwerkszeug versteckt; etwas Elektronik, Seile, ein paar dicke Rollen Klebeband, eine Auswahl an rasierklingenscharfen Messern, eine vierzig Zentimeter lange Knochensäge und ein Gewehr. Die Waffe stammte von der Porta Portese in Rom. Der Flohmarkt dort, der mercato delle pulci, hat über viertausend Stände, von denen die meisten illegal sind. Aber es ist nicht einfach nur Europas größter Flohmarkt, es ist gleichzeitig auch der bekannteste Einkaufsort des Kontinents in Sachen gefälschte Markenkleidung, Drogen oder Waffen. Spider knipst die Taschenlampe an und sieht, dass das Lidocain zu wirken beginnt. Schon bald wird sich Mrs. King nicht mehr rühren, geschweige denn noch gehen können. Er schiebt sie und ihr Kind immer weiter in die schwarzen Katakomben, ihrem Schicksal entgegen.
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KAPITEL FÜNFUNDSECHZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Jack stand ungeduldig in Yoana Grinsbergs kleiner Küche. Sie hatte darauf bestanden, das Wasser noch einmal aufzukochen. »Wie kann ich Ihnen also behilflich sein?«, fragte sie. Sie war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, mit dem FBI zu tun zu haben. Jack betete, dass sie ihm die richtigen Antworten auf seine Fragen geben würde, und zwar schnell. »Kennen Sie den Mann von gegenüber aus Hausnummer fünfzehn?« »Kann ich eigentlich nicht behaupten. Ich sehe ihn ab und zu. Aber ich habe noch nie mit ihm gesprochen.« »Seit wann lebt er hier?«, fragte Jack. Ihm war klar, dass er mit der alten Dame etwas Geduld haben musste. Yoana verzog das Gesicht so sehr, dass sie ganz zerfurcht wirkte. »Fünfzehn Jahre, vielleicht sind’s auch schon zwanzig. Das muss man sich mal vorstellen. In der ganzen Zeit haben wir nicht ein einziges Mal Hallo gesagt.« Langsam passte alles zusammen. Jack hakte nach. »Fährt er einen gelben Wagen, einen viertürigen Japaner, vielleicht drei, vier Jahre alt?« Yoana schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht sein Auto.« »Sind Sie sich da sicher?«, sagte Jack enttäuscht. »Ich kenne mich mit Autos aus«, sagte Yoana und musste lächeln. »Schon als Kind haben mich Autos fasziniert. Mein Mann hatte mal einen Buick. Ein Oldsmobile, ein schönes Auto. Ich glaube, die dumme Firma hat das Modell eingestellt.«
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Jack sank der Mut. Die alte Dame war schon recht betagt, vielleicht irrte sie sich ja. »Sind Sie sich wirklich sicher?«, drängte er. »Ganz sicher«, antwortete Yoana. »Der Kerl von gegenüber fährt einen Hyundai, aber der kommt aus Südkorea, nicht aus Japan. Und außerdem ist er nicht gelb, sondern weiß. Ich wüsste hier in der Gegend nichts von einem japanischen Auto. Mr. Cohen hatte mal einen …« Jack ging dazwischen. »Tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen. Das war wohl unser Fehler. Wir suchen nach einem Hyundai. Wissen Sie, um welches Modell es sich handelt?« Yoana antwortete, ohne zu zögern. »Um einen Hyundai Accent SE. Nichts Besonderes, noch nicht mal Alufelgen. Ich fand das immer sehr merkwürdig.« »Warum?«, fragte Jack freundlich. »Was ist daran merkwürdig?« »Na ja«, begann Yoana zögernd. »Wie schon gesagt, ich weiß nicht mal, wie der Kerl heißt. Er ist auch öfter nicht da, und ich bin ihm noch nie begegnet, aber er hat immer ganz besondere Kennzeichen an seinem Wagen gehabt. Ich habe ihn erst für einen Autohändler oder so was gehalten, aber dann ist mir aufgefallen, dass er die Kennzeichen manchmal sogar an ein und demselben Wagen änderte.« Jack wurde ganz aufgeregt. Wieder klingelte das Mobiltelefon, aber er ging auch jetzt nicht ran; wer immer es war, was immer er wollte, das hier war wichtiger. »Yoana, Sie wissen nicht zufällig, welches Kennzeichen er im Augenblick benutzt, oder?« Sie lächelte. Es gefiel ihr, dem FBI behilflich zu sein, sie stellten so einfache Fragen. »Seien Sie kein Dummkopf. Natürlich weiß ich das. B – 898989.«
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San Quirico d’Orcia, Toskana Der Eingangsbereich zu den Katakomben hat einen weichen Lehmboden, doch etwa sechs, sieben Meter hinter dem schmalen Spalt wird der Boden hart. Spider leuchtet mit der Taschenlampe die Seitenwände hinauf. Sie sind von einer unterirdischen Wasserader, die vom Hügel über ihnen tropft, ganz feucht und grün. Spider sucht nach der Stelle, wo der schmale Gang einen Knick nach links macht und in eine erheblich breitere, hohe Kammer mündet, die von einem Marmorgrab auf einem Podest beherrscht wird. Je tiefer sie in die sterile Dunkelheit vordringen, in der nichts mehr wächst, verliert die Atemluft jede Spur von Frische. Spider fühlt sich in dem dumpfen Geruch unfruchtbaren Bodens sehr wohl. Hier riecht es nach Tod. Er schiebt die Frau und das Kind bis an das hintere Ende der Katakomben und zwingt sie, sich mit dem Rücken an das Marmorgrabmal aus der Zeit der Medici zu lehnen, das die sterblichen Überreste eines Soldaten und seiner Familie beherbergt. Der kleine Zack kriecht mit verbundenen Händen hinüber zu seiner Mutter und legt den Kopf auf ihre Knie, sucht dort verzweifelt Schutz und Trost. Nancys Handgelenke sind immer noch fest hinter ihrem Rücken zusammengebunden, doch ihr wahrer Schmerz rührt von der Tatsache, dass sie ihren Sohn nicht umarmen und trösten kann. Sie beugt sich über ihn und reibt mit dem Gesicht über seinen Rücken wie ein Tier, das sein verletztes Junges mit der Schnauze anstupst. Spider holt seinen Laptop aus dem Standby-Modus. Das Gerät erwacht zum Leben und verbindet sich sofort mit dem Funknetzwerk des Hotels, das sich fast unmittelbar über ihnen befindet. Spider geht zu seinem Webmail-Anbieter und loggt sich in sein Intranet ein.
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Auf dem Bildschirm erscheint eine Aufnahme von Ludmilla Zagalskys Körper. Er sieht ihr Gesicht und zittert vor Vorfreude. Nicht mehr lange. Bald wird all das Warten herrlich belohnt werden. Ein Schauder breitet sich von seinem Nacken aus und weiter hinunter über den Schweiß, der ihm auf dem Rückgrat steht. Er zieht Zack von seiner hilflosen Mutter fort, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Spider spürt den Tod in der Luft. Mehrfachen Tod.
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KAPITEL SECHSUNDSECHZIG
Marine Park, Brooklyn, New York Jack ruft Howie an, gibt ihm die Neuigkeiten durch und erfährt im Gegenzug, dass es eine weitere halbe Stunde dauern wird, bevor die Eingreifteams mobilisiert und alle in Position gebracht sind. Jack hofft, dass sich diese Verzögerung nicht als tödlich erweist. Yoana Grinsberg redet pausenlos, während sie ihn nach oben in ihr Schlafzimmer führt, dessen Fenster zur Straße liegt und von wo aus er hofft, das Haus Nummer fünfzehn im Auge behalten zu können. Das Zimmer ist überhitzt, überall stapeln sich alte Kleidungsstücke und Illustrierte. Eine Schale mit einem abgestandenen Duftpotpourri, das schon vor Monaten hätte ausgetauscht werden müssen, verströmt im Zimmer einen erdigen Geruch. Jack bemerkt die doppelten Schlösser am Fenster und geht davon aus, dass die übervorsichtige Mrs. Grinsberg sie seit dem Jahre zurückliegenden Tod ihres Mannes nicht mehr geöffnet hat. Er presst das Gesicht an die Glasscheibe. Selbst wenn er die Fenster öffnen würde, brächte die Aussicht gar nichts. Er hat noch nicht einmal einen halbwegs anständigen Blick auf das Zielobjekt. Eine dichte Ansammlung zu groß gewordener Bäume an beiden Ecken versperrt jede Sicht. »Das nützt uns nichts«, sagt er, verlässt das Zimmer und geht wieder nach unten, »aber trotzdem vielen Dank, Ma’am, wir wissen Ihre Kooperationsbereitschaft sehr zu schätzen.« Jack kehrt zu Howies Wagen zurück und überlegt, ob er damit nicht sicherheitshalber die Straße blockieren soll, falls der Black-River-Killer sich tatsächlich im Haus aufhält, es mit der 365
Panik bekommt und plötzlich fliehen will. Noch während er sich dieses Szenario auszumalen versucht, klingelt abermals sein Mobiltelefon. Nancys Handynummer erscheint auf dem Display. Jack steckt in Schwierigkeiten, und das weiß er. Sie wird durchdrehen, sollte sich herausstellen, dass es ihre Anrufe waren, die er sämtlich ignoriert hat. »Hallo«, sagt er und wappnet sich für den bevorstehenden Ausbruch. »Hallo, Jack.« Die Männerstimme klingt extrem gedehnt. »Wer spricht da?«, fragt Jack und wirft noch einmal einen Blick aufs Display. Spider lacht trocken. »Oh, ich glaube, du weißt genau, wer dran ist, oder?« Glühend heißer Schmerz detoniert wie eine Granate in Jacks Kopf. Er kämpft darum, das Undenkbare zu denken. »Deine Frau ist hier bei mir. Möchtest du vielleicht mit ihr sprechen?« Spider reißt Nancy das Klebeband vom Mund, worauf sie laut nach Luft schnappt. »Jack!«, keucht sie. »Jack, er hat Zack und …« Spider legt ihr eine Hand über den Mund. »Tut mir leid, Mr. King, aber deiner Frau geht’s im Moment nicht so besonders. Ich habe sie mit Medikamenten vollgepumpt, daher fällt ihr das Sprechen ein bisschen schwer.« Spider klemmt das Handy zwischen Ohr und Schulter und klebt Nancy das Band wieder über den Mund. »Weißt du, Jack, du solltest wirklich besser auf deine Familie achtgeben. Findest du nicht auch?« Jack schweigt. Sein Kopf pocht heftig, und ihm ist übel. Reg ihn nicht auf! Ein falsches Wort, und die beiden sind tot. Bleib kühl, distanziert und professionell, werde nicht emotional. »Antworte auf meine Frage!«, sagt Spider streng. »Ich sagte: Solltest du nicht wirklich viel besser auf deine Familie achtgeben?« 366
Jack kennt das Spiel, er weiß, dass er keine andere Wahl hat, als mitzuspielen. »Ja«, antwortet er demütig. »Ich hätte besser auf sie achtgeben sollen. Meine Familie bedeutet mir sehr viel. Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen, aber Sie müssen mir versprechen, dass Sie ihnen nichts tun.« »Keine Versprechungen«, sagt Spider, »aber gut zu hören, dass wir beide die gleichen Familienwerte teilen.« Jack kneift die Augen fest zu und hofft inständig, dass sein Verstand wieder einsetzt. »Wie ich mit meinen Webkameras sehe, hast du mein Haus in Brooklyn gefunden«, fährt Spider fort. »Sehr schön. Du bist ein wenig früher dort als erwartet. Ich hatte vorgehabt, dich selbst dorthin zu führen, wenn es so weit ist. Wenn die Welt Augenzeuge eines weiteren Mordes geworden ist, den Jack King wieder nicht verhindern konnte.« Sofort sucht Jack die umliegenden Hauswände nach einer Kamera ab. »In den Bäumen, King. Die Kameras hängen in den Bäumen und beziehen ihren Strom über die Außenbeleuchtung.« Spider wirft einen kurzen Blick auf Nancy und Zack, dann dreht er seinen Kopf wieder Jacks Bild auf dem Laptop zu. »Mein Plan sah vor, dass dieser nette arabische Nachrichtensender in vierundzwanzig Stunden neues Material senden sollte, so was wie einen Doppelknüller. Zuerst hätte ich ihnen die letzte und tödliche Folge der Story über diese erbärmliche kleine Russennutte geliefert, die du und deine Dummköpfe vom FBI nicht retten konnten. Und dann, Jack, dann hatte ich noch etwas Gepfefferteres im Auge.« Spider lacht finster und richtet seine Augen auf Jacks Gesicht, bevor er fortfährt: »Diesmal sollte der Exklusivbericht den Tod deiner reizenden Frau dokumentieren.« Jack verliert die Selbstbeherrschung. »Wenn du ihr auch nur …« »Ts, ts, ts, Jackieboy. Mach doch jetzt nicht all deine gute Arbeit kaputt, indem du ausfallend wirst. Du musst doch wissen, 367
dass ich sie töten werde, denn wozu hätte ich dich sonst in die Staaten locken sollen und wozu hätte ich sonst die weite Reise nach Italien unternehmen sollen, was meinst du?« Jacks Herz schlägt wie verrückt, als er endlich begreift, dass er dem sorgfältig ausgeheckten Plan des Black-River-Killers auf den Leim gegangen ist, ihn von seiner Familie wegzulocken, um ihn ohnmächtig zusehen zu lassen, wie sie abgeschlachtet wird. Aber warum? Spider schaut lächelnd zu, wie Jack mühsam versucht, alle Teile zusammenzufügen. »Du hast dich wie der letzte Vollidiot an der Nase herumführen lassen, King. Der Mord in Italien war nur eine List, dich aus deinem feigen Versteck zu locken, und natürlich bist du wie ein gehorsamer, geprügelter Köter gerannt gekommen. Dann musste die arme süße Sugar nur noch aus ihrem Grab steigen, damit deine strohdummen FBI-Freunde auch wirklich wussten, dass ich wieder aktiv bin. Zuletzt hab ich nur noch einen lebenden Köder in die Mischung gegeben, damit du in die Stadt zurückkommst, aus der du dich davongeschlichen hast. Und hier wären wir jetzt also, ein bisschen früher als erwartet, aber fast genauso wie geplant.« »Warum tun Sie das?«, fragt Jack und kämpft gegen die aufkeimende Übelkeit an. »Ich begreife nicht, warum Sie meine Familie da hineinziehen müssen. Was haben Sie davon?« »Ach, Jack. Wenn du wüsstest, wie lange ich darauf gewartet habe, dass du diese Frage stellst.« Wieder vergeht eine ganze Weile, bevor Spider fortfährt. »Sagt dir der Name Richard Jones etwas?« Jack kann den Namen nicht einordnen. Sein Hirn googelt nach Richard Jones, vielleicht Dick oder Dickie Jones? Kein Treffer. »Tut mir leid. Der Name sagt mir gar nichts.« »Dacht’ ich’s mir«, sagt Spider. »Aber für mich bedeutet er alles. Und ich meine alles. Vor dreißig Jahren kam Richard Jones bei einem Autounfall ums Leben. Er wurde von einem Streifenwagen überfahren, der auf einen Fehlalarm hin ausrück368
te. Kannst du dir so was vorstellen? Die Bullen haben ihn umgebracht, als sie einem Verbrechen hinterherjagten, das gar nicht stattgefunden hat.« Jetzt meint Jack, dass bei dem Namen Jones irgendwo in den Tiefen seines dröhnenden Kopfes ein Glöckchen klingelt. »Richard Jones«, fährt Spider mit einer Stimme fort, die so emotionsgeladen ist, dass sie fast versagt, »war mein Vater. Nur ein paar Wochen nachdem seine Frau, meine Mutter, an Krebs gestorben war, ist er umgebracht worden. Dieser Dreckskiller, dieser Scheißbulle, hatte mich zur Waise gemacht, hatte mich ohne Eltern allein mit diesem verschissenen Leben fertig werden lassen, hat mich gezwungen, in diesem flohverseuchten Waisenhaus zu vegetieren. Na, hast du dir schon alles zusammengereimt, du super FBI-Agent? Dieser Killer am Steuer, dieser debile Bulle, dem sie wegen des Mordes an meinem Vater noch nicht mal auf die Pfoten geklopft haben, das war dein alter Herr. Na, kapierst du jetzt, wie alles zusammenhängt?« Jack müht sich ab, in all dem einen Sinn zu erkennen. Bruchstücke seiner eigenen Familiengeschichte jagen ihm durch den Kopf, aber er bekommt kein klares Bild zustande. Wieder detoniert eine Granate in seinem Schädel. Er vergräbt sein Gesicht in den Händen und lehnt sich an Howies Wagen. Der Schmerz ist unerträglich, und er hat Angst, ohnmächtig zu werden. »Mein Vater«, schluchzt Spider, »wurde mit voller Wucht von dem Streifenwagen erwischt, er wurde quer über die stark befahrene Straße geschleudert. Als sein Körper endlich zum Liegen kam und auch nicht mehr von anderen Autos überrollt wurde, da war sein Kopf komplett vom Körper abgetrennt. Kannst du dir das vorstellen? Kannst du das?« Jack ist sprachlos, sein Verstand erstarrt vor Schock. Seine Nerven brennen vor alten Schmerzen, seine Sinne sind überwältigt und drohen zu versagen.
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Spider wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und wirft Nancy und Zack wieder einen Blick zu. Die Frau ist inzwischen bewusstlos, und der Junge hat sich eng an sie gepresst. Obwohl das Kind immer noch geknebelt ist, hört Spider es wie einen verängstigten Hund winseln. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder aufs Telefon. »Ich weiß, dass du dumm bist, King, also werde ich dich über den Rest aufklären. In der Zeitung habe ich den Artikel zur Pensionierung deines alten Herrn gesehen. Zuerst dachte ich, es ging um dich. Bestimmt hast du dir schon gedacht, dass ich alle Artikel über dich lese, den ganzen Schwachsinn, wenn du davon gefaselt hast, unmittelbar vor meiner Verhaftung zu stehen, was nebenbei gesagt ein ausgesprochener Bockmist ist. Doch dann habe ich genauer hingesehen. Und obwohl du mit auf dem Bild warst, neben einer Menge anderer Bullen, erkenne ich, dass es um deinen Vater geht.« Spider beobachtet Jack, der immer noch damit kämpft, diese neuen Informationen zu verdauen, dabei im Kreis geht, verzweifelt auszuloten versucht, was als Nächstes kommt. »Was du aber wahrscheinlich nicht weißt, Jackieboy, ist die Tatsache, dass das NYPD den Namen des Fahrers, der meinen Vater umgebracht hat, nie veröffentlichte. Du kannst dir daher sicher vorstellen, wie beschissen ich mich gefühlt habe, diesen Artikel zu lesen, in dem dein alter Herr über seine supertolle Karriere schwadroniert, dass er aber sofort auf alle Belobigungen, Auszeichnungen und Beförderungen verzichtet hätte, wenn er dafür diesen einen Verkehrsunfall vor dreißig Jahren in Brooklyn hätte verhindern können, einen Unfall, bei dem er einen jungen Fußgänger getötet hat. Nun, dieser Fußgänger war mein Vater, Richard Jones, und dein Vater war sein Mörder.« Allmählich erinnert Jack sich wieder an den letzten Arbeitstag seines Vaters und wie dieser erwähnt hat, welche Schuldgefühle er wegen des Zwischenfalls habe, der eindeutig ein Unfall
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gewesen sei, für den er sich aber trotzdem öffentlich entschuldigen wolle, um reinen Tisch zu machen. »Mein aufrichtiges Beileid«, sagt Jack ohne den geringsten Anflug von Aufrichtigkeit. »Na, vielen Dank«, erwidert Spider sarkastisch. »Das bedeutet mir sehr viel, vor allem weil ich weiß, dass du deinen Vater bei einem ähnlich tragischen Unfall verloren hast. Wie lange ist das jetzt her? Ungefähr fünf Jahre, richtig?« Jack gefriert das Blut in den Adern. »Ach, was würde ich dafür geben, jetzt direkt vor dir zu stehen«, sagt Spider und beugt sich dicht an den Monitor, um den Schmerz in Jacks Augen sehen zu können. »Ich würde dir liebend gern in die Augen sehen und dir haarklein schildern, was ich dabei empfunden habe, als ich deinen alten Herrn unter meinen Autoreifen spürte und gehört habe, wie sein Schädel wie eine Wassermelone zerplatzt ist.« Jack rauscht es im Schädel, und seine Knie zittern. Spider hält den Monitor mit beiden Händen fest. Er ist fest entschlossen, jede Sekunde dieses Augenblicks zu genießen. Mit den Fingern seiner unverletzten Hand trommelt er auf die Bildschirmkante. »Und deine Mutter Brenda, denkst du oft an sie, hm?« »Was?«, faucht Jack. »Ach, komm schon, du super FBI-Agent. Glaubst du denn wirklich, dass sie im Schlaf an einem Herzinfarkt gestorben ist? Ich bitte dich!« Spider beobachtet, wie Jack, überwältigt von Verwirrung und Qualen, den Kopf mit beiden Händen umklammert. »Nein, nein, King, auch das war wieder ich. Du hättest sie eben nicht so ganz allein in diesem großen alten Haus zurücklassen sollen, Jack, oder? Ein guter, treu sorgender Sohn hätte sie doch zu sich und seiner hübschen jungen Frau genommen, was meinst du?« Spider unterbricht sich und lässt die Worte ihre volle Wirkung entfalten. »Na, macht ja nichts. Jetzt hast du jedenfalls ganz andere Sorgen. Schon bald werde ich nämlich 371
deine Frau umbringen. Und anschließend werde ich dir verraten, welches Schicksal deinen Sohn erwartet.« Blinde Wut durchfährt Jack, und diese Wut löst einen Adrenalinschub aus. Seine Gedanken werden ein wenig klarer. Professionell bleiben – lass ihn reden. Sobald er aufhört zu reden, wird er töten. Frag ihn was – irgendwas! »Warum?«, fragt Jack. Die Übelkeit ebbt ab und er findet seine Beherrschung wieder. »Ich verstehe nicht, warum Sie meiner Frau und meinem Kind etwas antun wollen.« Spider wischt sich eine Schweißperle vom Gesicht. »Ich sag dir jetzt mal was. Dein Vater hat mir alles genommen. Er hat mich zu einem Waisenjungen gemacht, hat mich wahrscheinlich zu dem gemacht, der ich heute bin. Er hat meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft zerstört. Und nun werde ich dasselbe deiner Familie antun.« Spider wirft einen Blick auf Zack, der den Kopf noch immer unter dem schützenden Arm seiner Mutter verbirgt. »Ich habe deine Eltern umgebracht und werde nun deine Frau töten, und dann wirst du bei dem Versuch sterben, deinen Sohn zu beschützen. Was für ein passendes Ende für einen Mann wie dich. Und dieser kleine Kerl hier, nun, der wird aufwachsen und all die Schmerzen und den Verlust erleiden, die ich habe erleiden müssen. Jeden Morgen wird er ohne seine Eltern aufwachen, und er wird sich fragen, warum ihm so etwas zustoßen musste.« Jack gehen kurz die Sicherungen durch. »Du beschissenes Monster!« Dann ist sein Verstand wieder völlig klar. Er tritt auf die ferngesteuerte Kamera zu, die in dem Baum über ihm hängt. »Ich schwöre dir, dich bis ans Scheißende dieser Welt zu jagen, um dich umzubringen.« Spider stößt ein kurzes, verächtliches Lachen aus. »Du bist ein Dummkopf, King. Siehst du nicht, dass deine Welt heute endet. Du bist zu spät dran.« Ein Geräusch ein Stück die Straße hinunter lenkt Jacks Interesse an Spiders tödlichen Rechtfertigungen ab. Einen 372
Augenblick später kommt der erste Streifenwagen um die Ecke, gefolgt von weiteren. »Liebt deine Frau dich, Jack? Alle diese Frauen haben mich geliebt. Sie haben mich so sehr geliebt, dass sie mir ihr Leben geopfert haben. Wer könnte je mehr verlangen? Und nun wird deine Frau für dich sterben.« Der erste Wagen kommt quietschend zum Stehen, und Jack hebt warnend die Hand, als Howie seine massige Gestalt vom Beifahrersitz schält. Spider schaut wieder auf den Monitor. »Wie ich sehe, sind deine Freunde auch schon da«, sagt er. »Das ist gut. Dann kann die Party ja beginnen. Wir haben jetzt genug geplaudert und können alles zu einem Ende bringen.« Howie bleibt mit beunruhigter Miene stumm vor Jack stehen. Jack deckt das Mikrofon des Mobiltelefons mit einer Hand ab. »Er ist es. Er hat Nancy und Zack, und er wird sie umbringen. Zieh dich zurück!« Howie kehrt zu den anderen Polizisten zurück. Jack weiß, dass Howie die Einsatzleitung informieren wird. Alle werden in Wartestellung gehen, bis sich die Situation klärt und weniger riskant ist. »In meinem Haus wirst du die kleine Nutte finden, die du gesucht hast«, sagt Spider. »Und weil du so überraschend clever warst und hierhergefunden hast, habe ich auch eine Belohnung für dich. Ich erlaube dir, sie zu töten. Ich erlaube dir, deine Hände um ihren Hals zu legen und ihr den letzten Atem aus dem Leib zu pressen.« »Sie müssen verrückt sein«, sagt Jack. »Das wird so nicht geschehen.« »Nein, nein, ich bin absolut nicht verrückt, King. Grausam, vielleicht, aber ganz sicher nicht verrückt. Und es wird genau so geschehen, andernfalls werde ich nämlich sowohl deinen Sohn verstümmeln als auch deine Frau töten. Vielleicht werde ich den Kleinen zuerst zuschauen lassen, wie seine Mutter stirbt, um ihn 373
dann ein bisschen aufzuschlitzen, und zwar so, dass er für immer eine sichtbare Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit behält. Vielleicht kannst du dir ja vorstellen, an welche Teile ich denke, die ich ihm nehmen könnte?« Jacks Herz schlägt wie wild. Er lässt eine Faust in die Seitentür von Howies Wagen krachen. Zurück bleibt eine tiefe Delle. Spider sieht das auf dem Bildschirm und grinst. »Immer mit der Ruhe, Jackieboy. Also, dann wollen wir mal. Du hast nur noch fünf Minuten, um den Mord auszuführen. Brauchst du länger, werde ich mein Messer und meine Säge an deiner Frau und deinem Sohn ansetzen. In ein paar Stunden kannst du das dann im Internet bewundern. Übrigens eine faszinierende Technologie, findest du nicht auch? Schade, dass ich nicht mehr die Zeit habe, dir die Geschichte von der Spinne und ihrem Netz zu erzählen.« Jack stolpert um den Wagen herum. Die blanke Wut, der reine Hass bestärkt ihn in seiner Entschlossenheit. »Ach, noch ein paar letzte Regeln. Lass dein Mobiltelefon an. Du weißt schon, ich werde mit dir reden wollen. Um die Sache spannender zu machen, sollte ich wohl erwähnen, dass das Haus vermint ist. Ich kann die Minen von hier auslösen, du kannst sie aber auch versehentlich selbst auslösen. Und zu guter Letzt: Vergiss nicht, falls du es nicht in fünf Minuten zu der Nutte schaffst und sie umbringst, werde ich euch beide in die Luft jagen und danach meine Arbeit hier zu Ende bringen. Haben wir uns verstanden?« »Ja. Ja, ich habe verstanden«, sagt Jack. Er spuckt die Worte förmlich aus. »Gut«, sagt Spider. »Meine Mutter hat immer zu mir gesagt, ich soll von zehn runterzählen, bevor ich etwas wirklich Großes unternehme. Also, auf geht’s. Zehn!« In Jacks Kopf überschlagen sich die Gedanken. »Neun.« Ludmilla ist vielleicht schon tot. 374
»Acht.« Wenn nicht, wird der Black-River-Killer trotzdem nicht zulassen, dass wir beide lebend das Haus verlassen. »Sieben.« Durchaus möglich, dass sie überhaupt nicht dort drinnen ist, dass das alles nur ein weiterer seiner Tricks ist. »Sechs.« Vielleicht ist sie doch dort, aber das Haus ist nicht vermint, und der Kerl blufft nur. »Fünf.« Das Haus ist vermint, und die ganze Bude geht in die Luft, sobald ich drin bin. »Vier.« Wird er Zack wirklich verstümmeln? Habe ich überhaupt eine Chance, meinem Sohn diese Schmerzen und Verletzungen zu ersparen, die er androht? »Drei.« Was immer auch geschieht, er wird Nancy auf jeden Fall töten, wie er sagt. »Zwei.« Meine Familie ist mein Ein und Alles. »Eins.« Bitte, lieber Gott, hilf mir, dass ich sie nicht im Stich lasse. »Null.«
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KAPITEL SIEBENUNDSECHZIG »Howie! Howie! Gib mir deine Scheißkanone!«, brüllt Jack. Der FBI-Agent fragt nicht, er zieht seine Automatik aus dem Holster und wirft sie Jack zu. Jack steckt sich die Pistole hinter den Gürtel und spurtet um die Ecke der Sackgasse zur Vorderseite des Hauses. Er steht vor einer großen Doppelgarage. Bestimmt abgeschlossen. Bleibt noch die massiv wirkende Haustür und ein Erkerfenster; beide könnten jedoch verdrahtet sein. Also das Fenster. Die Vorhänge sind zugezogen. Dahinter könnte eine unangenehme Überraschung lauern. Jack dreht sich um und sucht den Garten ab. Die Ziersteine. Das geht. Jack packt sich den größten der Randsteine des Blumenbeets und schleudert ihn durch die untere Scheibe des Fensters. Er tritt einen Schritt zurück. Nichts. Fensterrahmen und Fußboden dahinter dürften sicher sein. Jack reißt sich die Jacke vom Leib, wickelt sie sich um den rechten Unterarm und schlägt damit genug Glas aus dem Rahmen, um sich hindurchquetschen zu können. Wenn er Zeit gehabt hätte, hätte er das Glas ganz ausgeschlagen und seine Jacke über die scharfen Splitterzähne gelegt, um hineinzuklettern. Aber er hat keine Zeit. Er zieht sich hoch und spürt beim Hindurchklettern, wie sich die Glassplitter in Hand und Knie bohren. Er kämpft mit dem Vorhang, in den er sich verheddert hat, und stürzt zu Boden. 376
Nach Jacks Schätzung hat er bereits eine Minute verloren. Noch 240 Sekunden. Mehr nicht. Das Zimmer ist völlig leer, keine Möbel, kein Teppich. Jack läuft über den Dielenboden und bleibt vor der Tür stehen. Abgeschlossen. Und verdrahtet ist sie garantiert auch. Er tritt zurück, entsichert Howies Kanone und schießt jeweils einmal in die Scharniere. Nichts geschieht. Er richtet die Waffe aufs Schloss und feuert. Es gibt einen lauten Knall. Die Tür geht in Flammen auf, Metallsplitter zischen an ihm vorbei wie Schrapnelle. Etwas streift stechend und brennend seine Wange. Jack spürt, dass er weiche Knie bekommt, und streckt eine Hand aus. Spider schaut amüsiert zu. Eine Minute und zwanzig Sekunden sind um. Vielleicht schafft es King so gerade eben noch bis zu der Nutte. Ach, das wird interessant! Spider schüttelt Nancy. »Wach auf, schau zu! Dann kannst du erleben, wie dieser Versager von Ehemann noch einmal versagt.« Nancy ist schwer angeschlagen. Sie kann den Blick kaum auf dem Monitor halten. Jack, sei vorsichtig. Bitte stirb nicht. Bitte lass uns nicht sterben. Sie ist völlig benebelt. Ihr ist schwindlig, alles ist verschwommen und dreht sich. Das Betäubungsmittel lässt alles um sie herumwirbeln und zerrt sie in einen Nebel der Bewusstlosigkeit. Zack, wo ist Zack? Wo ist mein Kind?
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Jack fängt sich und springt durch die Flammen. Wohin? Wohin jetzt? Das Wohnzimmer ist leer. Er sieht, dass es von dort aus in die Küche geht. Er setzt sich in Bewegung. Von der Küche aus geht es bestimmt in die Garage, und irgendwo dahinten muss auch die Treppe in den Keller sein. In der Küche gibt es drei Türen. Eine hinaus in den Garten? Eine in die Garage? Und die dritte? In den Keller? Jack prüft die dritte Tür mit den Blicken. Sie dürfte abgeschlossen sein. Er begutachtet den Türknauf. Messing. Ganz anders als die anderen. Da stimmt was nicht, Jack. Messing ist ein guter Leiter. Er hat den Knauf mit der Hauptsicherung verbunden. Wenn du sie anpackst, wirst du gegrillt. Die Tür besteht aus dicken Fichtenbrettern; mit reiner Körperkraft kriegt er die nicht auf. Er schaut sich in der Küche um. Die Arbeitsflächen sind bis auf einen Messerblock und eine rote Plastikspülschüssel leer. Die Schüssel! Jack packt sie und füllt sie mit Wasser. Dann hält er mit Howies Waffe hinterm Gürtel Abstand und schleudert den Inhalt der Schüssel über den Türgriff. Er hört, wie es irgendwo hinter der Tür knistert, dann macht es »Klack«. Jack hofft, dass es das Geräusch eines Kurzschlusses im Sicherungskasten war. Entschärft. Oder?
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Falls Jack sich jetzt irrt, wird die Pfütze auf dem Boden und das Wasser an der Tür helfen, ihm einen tödlichen Stromschlag zu versetzen. Das Risiko muss er eingehen. Er zieht Howies Glock und pustet Messingknauf und Schloss weg. Vier weitere Schüsse machen den schweren Scharnieren ein Ende. Jack tritt gegen die Holztafel, sie gibt nach und stürzt in die Dunkelheit, die in den Keller führt. Jack tritt über die Schwelle. In die Nacht. Spider wirft einen Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten. »Schau nur! Jackieboy strengt sich richtig an. Ist doch süß, oder?« Er reißt Nancy an den Haaren hoch und wendet ihr Gesicht gewaltsam zum Bildschirm des Laptops. Nancy bleibt bewusstlos. Das Betäubungsmittel ist in ihr Hirn gesickert. Sie ist weg. Ihr Körper ist schlaff, sie bekommt nicht mit, was mit ihr, ihrem Mann oder ihrem Kind geschieht. »Wach auf! Wach auf und schau hin, du verdammte Schlampe!« Spider schlägt sie. »Du verdammte Nuttenschlampe, du sollst das gefälligst mitkriegen.« Die Wut kommt ihm hoch. Am liebsten würde er ihr den Laptop in die Fresse schlagen. Er will das Messer einsetzen. Er will sie aufschlitzen und den Schmerz besänftigen, der sich in ihm regt und ihn durchschlängelt. Bring sie jetzt sofort um, dann geht der Schmerz weg! Nein! Beherrsch dich. Du musst dich beherrschen. Mutter wird dir helfen. Mutter ist ganz in der Nähe. Die Frau kannst du immer noch töten. Bring sie langsam um. 379
Bring sie genüsslich um. Aber nicht jetzt. Vergiss sie, vergiss das Kind, und schau lieber zu, wie Jack King krepiert. Die zersplitterte Tür rutscht die Kellertreppe hinunter wie ein Schlitten, den man versehentlich losgelassen hat. Sie donnert in der Dunkelheit gegen etwas am Fußende und bleibt liegen. Eine weitere Tür, vermutet Jack. Das Türblatt ist gegen eine zweite Tür unten gedonnert, die ebenfalls verschlossen ist. Vergiss nicht, das Mädchen ist gefesselt. Womit willst du sie befreien? Jack geht noch einmal in die Küche und zieht ein großes Messer aus dem hölzernen Messerblock. Dann kehrt er zur Kellertreppe zurück und tastet sich vorsichtig hinunter in die Dunkelheit. Die Tür wird ebenfalls heiß sein. Achte darauf, sie nicht anzufassen. Achte auch darauf, die Wände nicht zu berühren, vielleicht ist da ein Handlauf, der an einen zweiten Stromkreis im Keller angeschlossen ist. Jack tut einen weiteren Schritt die knarrende Holztreppe hinunter. Dann wieder einen. Plötzlich gibt die Stufe unter ihm nach. Die ganze Treppe stürzt ein. Jack schlägt mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Ein dumpfer Schmerz durchfährt Rücken und Brustkorb. Die Übelkeit überkommt ihn wieder, und er spürt, wie sich sein Bewusstsein trübt. Kämpf dagegen an! Kämpf! Du darfst nicht bewusstlos werden! Reiß dich zusammen! 380
Spider grölt so laut, wie er das schon seit Kindertagen nicht mehr getan hat. Das ist einfach Spitzenklasse! Reinster Slapstick! Der Blödmann benimmt sich wie ein Zirkusclown, der über alles Mögliche stolpert. Spider schaut auf die Uhr. Noch zwei Minuten. »Also, ich glaube nicht, dass dein Ehegespons das schafft«, sagt er zu Nancy, die noch immer bewusstlos ist. »Schade, dass du es nicht sehen kannst. Die ultimative Demütigung deines Mannes. Ein Anblick für Götter!« Da fällt Spider etwas noch viel Köstlicheres ein. Er könnte doch das Kind zwingen, sich alles anzusehen. Ja, irgendwie wäre das noch viel besser. Er sollte das Kind von Jack King zwingen, die Demütigung und den Tod seines Vaters mitzuerleben. Danke, Mutter, du sorgst immer dafür, dass sich alles zum Besten wendet. Spider greift nach dem Jungen. Aber der ist nicht da. Das Kind ist weg. Jack hat keine Ahnung, wie tief er gestürzt ist. Er weiß nur, dass er beim Sturz in die Tiefe Messer und Kanone hat fallen lassen. Die Zeit. Du hast keine Zeit mehr! Er rappelt sich mühsam wieder auf die Beine. Er sieht Licht. Er schaut in die falsche Richtung, nach oben zur Küche. Jack dreht sich um, braucht ein paar Sekunden, um sich wieder einigermaßen zu beruhigen und an die Dunkelheit zu gewöhnen. Langsam wird das Schwarz zu Grau, und Jack kann mit einiger Mühe die Kellertür ausmachen. 381
Er streckt die Hand aus und tastet um seine Füße herum. Er berührt zersplittertes Holz. Konzentrier dich, Jack. Du hast keine Zeit mehr. Jack zwingt all seine Konzentration in die Fingerspitzen. Dreck, Boden, Holz, Staub – Metall. Metall! Er hat das Messer. Er tastet nach der Klinge. Zeit, Jack. Du hast keine Zeit mehr! Jack suchte weiter. Keine Kanone. Er kann die Kanone nicht finden. Jack hört auf zu suchen, richtet sich auf und befreit sich aus dem Schutt. Nur wenige Zentimeter vor ihm ist die Kellertür. Und dahinter Ludmilla Zagalsky, lebendig oder tot. Jack holt tief Luft. Er hat Angst, es könnte einer seiner letzten Atemzüge sein. Wenn die Tür heiß ist, dann war’s das. Jack lässt die Schulter gegen das Holzpaneel krachen. Nichts rührt sich. Er versenkt sich tief in sein Reservoir an mentaler Kraft und verlagert sein gesamtes Gewicht in seine Schultern. Die Tür knirscht. Noch einmal. Jack spürt, dass sich die Tür bewegt, aber nur ein kleines bisschen. »Aaah!«, schreit Jack und rammt mit all seiner Kraft, seinem gesamten Gewicht die Tür. Das Schloss gibt nach, und er stürzt kopfüber in den Raum dahinter. Er rutscht mit Händen und Knien über die Plastikfolie. Himmel! Was ist das denn? Wo bin ich, verdammte Scheiße? Jack steht auf und sieht, dass Decke und Wände ebenfalls mit dieser schwarzen Folie bespannt sind. 382
Und dann sieht er den nackten, sterbenden Körper von Ludmilla Zagalsky direkt vor sich. Die Frau, die er umbringen soll. Spider macht sich nicht die Mühe, nach dem Kind zu suchen. Stattdessen schwebt sein Finger über dem Knopf des Fernauslösers. Es juckt ihn wie nur was, die elektronischen Zünder auszulösen und das Haus bis in den Himmel zu jagen. Er beobachtet, wie Jack die Ketten überprüft, und muss grinsen, als er sieht, wie Jack entdeckt, dass sie an dicken, im Betonfußboden versenkten Metallringen befestigt sind. Noch eine Minute. Spider dreht den Auslöser in der Hand. Warte, Spider. Je mehr du dich zusammenreißt und wartest, umso besser wird es. »He, das ist mein Messer, King«, sagt er scherzhaft, als das Licht von der Klinge in Jacks Hand reflektiert wird. »Du kannst doch nicht einfach meine Sachen nehmen, ohne mich vorher um Erlaubnis zu fragen.« Spider verfolgt aufmerksam, wie Jack die Lederriemen an Sugars Händen und Beinen durchtrennt. Er bringt sie nicht um, der Blödmann befreit sie, genau wie zu erwarten war. Er wirft Nancy einen kurzen Blick zu und sieht, dass sie immer noch ohne Bewusstsein ist. »Wach endlich auf!« Er will, dass sie bei Bewusstsein ist, wenn er Jack tötet. Und vielleicht tötet er sie ja beide gleichzeitig. Nancys Augenlider flattern. Er spielt mit dem Fernauslöser. »Wach auf!« Spider reißt Nancy hoch. Nancys Augen öffnen sich einen winzigen Spalt. Gerade weit genug für Spider, um zu sehen, dass sie wieder bei Bewusstsein ist. Er legt den Finger auf den rechten Knopf.
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Terry McLeod denkt ja gar nicht daran, sich von einem Küchenlümmel mit einem Schrubber in der Hand vorschreiben zu lassen, was er zu tun oder zu lassen hat. Er geht durchs Hotel und stiefelt dann zu dem abgezäunten Bereich hinüber, der als »privat« gekennzeichnet ist. Die jungen Leute heutzutage haben einfach keinen Respekt mehr. Er greift über das niedrige Gartentörchen, reißt den Riegel zurück und schiebt das Gatter auf. Mrs. King, ich muss zugeben, nicht ganz ehrlich mit Ihnen gewesen zu sein. Ich bin kein einfacher Tourist, ich bin ein international renommierter Reiseschriftsteller und Fotograf, und ich bin hier, um eine Story über Ihr schönes Hotel zu schreiben. Jetzt würde ich Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen. McLeod ist sich sicher, dass sie Wachs in seinen Händen sein wird – wenn er sie nur endlich finden könnte. Der Küchenlümmel meinte, sie sei bestimmt im Garten, also muss sie auch im Garten sein. Er sucht auf der Obstwiese und in dem hübschen Kräutergarten, der mit kurz geschnittenen Ligusterhecken abgegrenzt ist. Nichts. Dann sucht er sie im Gemüsegarten, wobei er sorgfältig auf seine Schritte zwischen Zwiebeln, Tomaten, Gurken und Radieschen achtet. McLeod kommt an die Stelle, wo der Boden nachgegeben hat. Das ist nichts Neues für ihn, er hat die Stelle durch sein Fernglas gesehen, als er sich auf dem Hügel da hinten in seinem »Ansitz« versteckt hat, und auch aus der Nähe, als sie ihn dabei ertappte, wie er auf ihrem Privatgrundstück herumschnüffelte. Doch was er jetzt sieht, trifft ihn ins Mark. Da unten im Lehm steht der kleine Junge der Kings. Sein Mund ist mit braunem Paketband verklebt. Die Hände sind mit Klebeband gefesselt. Und um seinen Hals baumelt ein Strick. 384
Jack durchtrennt die letzte Fessel. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Kann er wirklich tun, was von ihm verlangt wird, und sie umbringen? Wird dieser Mord seinen Sohn wirklich retten? Hat er überhaupt eine Wahl? Jack weiß nur eines: Sowohl sein Leben als auch das der armen Frau, die leblos vor ihm liegt, hängt jetzt an einem seidenen Faden. Im Bewusstsein, dass jede seiner Bewegungen überwacht wird, dreht Jack sich langsam um und sucht nach einer Kamera. Er entdeckt eine, die sich ungefähr in Kopfhöhe an der Wand rechts von ihm befindet. Jack zieht das Mobiltelefon aus der Tasche, drückt auf eine der Tasten, aktiviert damit das auf eine Warteschleife gelegte Gespräch und klemmt das Telefon zwischen Ohr und Schulter. »Jones, hören Sie mich?« Einen Augenblick nur Stille. Jack weiß nicht, ob der Killer nun überrascht ist, angerufen zu werden, oder entsetzt darüber, bei seinem richtigen Namen genannt zu werden. »Ich höre dich, Jack«, sagt Spider und sieht auf seine Uhr. Vier Minuten und fünfzig Sekunden. »Du hast noch zehn Sekunden, um das Mädchen zu töten.« »Die Spielregeln haben sich geändert. Ich will zuerst meine Frau und mein Kind hören, und anschließend töte ich die Frau, so wie Sie es wollen. Sie ist mir völlig gleichgültig, aber lassen Sie meine Familie gehen.« Spider betrachtet Jacks Gesicht auf dem Monitor und erkennt die Verzweiflung, die sich in jede Falte seines Gesichts gegraben hat. Wird er sie wirklich töten? Vielleicht, aber auch nur vielleicht. Die Liebe eines Vaters ist mächtig, vielleicht tut er alles, nur um seinen Sohn zu retten, vielleicht tötet er ja sogar die Frau, die er eigentlich retten will. 385
»Na, dann hör mal genau hin«, sagt Spider. Er reißt Nancy das Klebeband vom Mund und hält ihr das Mobiltelefon vor den Mund. Mit einem jähzornigen Ruck reißt er ihr ein Büschel Haare vom Kopf. Jack zuckt zusammen, als er Nancys Schrei hört. Wieder durchfährt ihn ein Schub Adrenalin und Wut. »Und jetzt mein Sohn. Ich will meinen Sohn hören.« Obwohl Spider weiß, dass der Junge nicht mehr da ist, blickt er automatisch in die Dunkelheit der Katakombe. »So läuft das nicht, King. Mach jetzt weiter, sonst hörst du als Nächstes, wie ich deine Frau umbringe, und dann hörst du deinen Sohn, du wirst hören, wie er unter meinem Messer schreit.« Jack lässt das Telefon fallen. Tu’s jetzt!, sagt er sich. Er tastet auf dem mit schwarzem Plastik überzogenen Boden herum und braucht scheinbar eine Ewigkeit, das Telefon zu finden. Nichts, nichts auf der ganzen Welt bedeutet ihm jetzt mehr als das Leben seiner Frau und seines Kindes. Mit hasserfülltem Blick starrt Jack in die Kamera. Er geht auf die andere Seite des Tischs, sodass die Kamera ihn und die Frau gut im Bild hat. Tu es! Es ist deine einzige Chance, ihr Leben zu retten. Spider beugt sich zum Monitor. Jack wischt mit der linken Hand eine Strähne von Ludmillas Hals und biegt ihren Kopf nach hinten. »Gott, vergib mir«, sagt er leise. Langsam zieht er mit der rasiermesserscharfen Klinge des Küchenmessers eine blutige Spur quer über ihre Kehle. Spiders Gesicht ist nur Zentimeter vom Monitor entfernt, aber trotzdem kann er kaum glauben, was er da sieht. Er schnappt unwillkürlich nach Luft, als er die Wirklichkeit des Geschehens begreift. Jack King hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Es fließt Blut. Er ist schon ganz besudelt. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten. 386
McLeod klettert in den Krater unter sich hinab und läuft zu dem kleinen Jungen. Himmelherrgott noch mal, wer macht denn so was? »Alles in Ordnung, mein Junge, keine Angst. Es wird alles wieder gut.« Das Kind starrt ihn mit vor Panik weit aufgerissenen Augen an. Das Gesicht ist stark gerötet, und McLeod kann sehen, mit welcher Mühe der Knabe atmet. Das Klebeband ist dem Jungen mehrere Mal über den Mund gezogen worden und klebt an seinen Haaren fest. Es gibt keine schmerzlose Methode, es ihm abzunehmen. McLeod dreht Zack herum und sucht den Anfang des Klebebands. Hinter dem rechten Ohr des Jungen findet er eine kleine überstehende Stelle. McLeod kratzt mit dem Fingernagel daran, bis er ein kleines Stück greifen kann. »Tut mir leid, kleiner Mann, aber das wird jetzt etwas wehtun.« McLeod hält das Kind mit dem linken Arm fest und zieht dann das Klebeband langsam ab. Die erste Schicht kommt relativ leicht ab, weil das Band genau übereinanderklebt, aber die letzte Runde reißt dem Jungen ganze Büschel blonder Haare vom Kopf. Zack zuckt am ganzen Körper vor Schmerz. McLeod packt ihn an den zitternden Schultern und sieht ihm fest in die Augen. »Jetzt musst du ganz tapfer sein, kleiner Mann, noch ein kleines bisschen, und ich hab das Klebeband ab.« Das Kind schaut ihn angsterfüllt an. McLeod will die Sache so schnell wie möglich zu Ende bringen. Er legte eine Hand auf Zacks Gesicht und zieht langsam, aber ohne weiter zu zögern, das letzte Stück des breiten, starken Klebendes ab. Kaum ist der Mund frei, fängt Zack an zu weinen. »Mama-Mami!«, schluchzt er, und McLeod drückt ihn fest an sich.
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Das Schluchzen lässt etwas nach, und McLeod wischt Zack das Gesicht ab. »Alles in Ordnung, mein Junge. Ich mach dir noch dieses blöde Band von den Händen ab, und dann suchen wir deine Mami.« »Bitte, Mami helfen«, fleht Zack ihn an. »Wo ist sie denn?«, fragt McLeod und kriegt das Paketband an den Handgelenken des Jungen zu fassen. »Wo ist denn deine Mami?« Zack deutet mit dem Kopf hinüber zu dem schmalen, schwarzen Spalt in der Hügelflanke. »Mami ist da drin.« McLeod zieht dem Jungen das letzte Stück Band vom Handgelenk. Die Haut ist rot und wund, aber Hände und Handgelenke scheinen so weit in Ordnung zu sein. »Ich werde deiner Mami helfen«, sagt er, »aber erst bringen wir dich in Sicherheit, okay?« Zack nickt. McLeod nimmt ihn in die Arme und drückt ihn an sich. Dann steigt er langsam die abgesackte Erde hinauf. Der Boden unter ihm rutscht immer wieder nach. Sie kommen nur mühsam voran. Außer Atem setzt sich McLeod oben an den Rand und stellt Zack auf die Beine. »Lauf zum Haus, Junge! Lauf und hol Hilfe!« McLeod gibt Zack einen Klaps auf den Po. Der Junge dreht sich um und rennt, so schnell er kann, der Sicherheit der Hotelküche entgegen. McLeod lässt sich die Böschung hinuntergleiten und macht sich noch einmal fest entschlossen daran, Nancy King zu finden. Spider starrt Jack an, der Ludmillas blutigen Kopf in den Händen wiegt, und verliert dabei fast die Zeit aus den Augen. Er drückt auf eine Taste des Laptops, und die Kamera zoomt auf das Blut, das jetzt in großer Menge durch Jacks Hände rinnt und auf Tisch und Boden tropft.
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Er hat ihr die Halsschlagader durchtrennt. So viel Blut kann nur aus einer der großen Arterien stammen. Spider kann auf dem Monitor sehen, wie Jack am ganzen Körper zittert und versucht, die Schluchzer zu unterdrücken, die ihm aus der Brust aufsteigen. Jack tritt einen halben Schritt zurück, und Spider kann jetzt all das Blut auf Ludmillas Hals und Gesicht erkennen. Jack schiebt die rechte Hand unter ihre Schulter, die linke unter ihre Knie, hebt sie hoch und drückt sie fest an sich. Spider überfällt ein beunruhigender Gedanke. Sein Kind. King hat gar nicht wieder nach seinem Kind gefragt. Er wirft einen Blick auf den Fernauslöser in seiner linken Hand. Da stimmt was nicht. Jack wird doch nicht einfach Frau und Kind vergessen haben. Auf dem Monitor sinkt Jack, der Ludmilla immer noch in den Armen hält, auf die Knie. Es sieht so aus, als würde er beten, während er sie trägt, und um Vergebung bitten für das, was er getan hat. Plötzlich tanzt ein greller weißer Lichtstrahl über den Boden und blendet Spider. »Polizei!«, brüllt eine Frauenstimme. »Stehen Sie auf und spreizen Sie die Arme. Jetzt! Oder ich schieße.« Orsetta Portinari hatte die örtliche Polizei angewiesen, La Casa Strada routinemäßig zu überwachen. Das Gleiche hatte sie mit den Tatorten in Livorno, den Bahnhöfen von Mailand und Rom und sogar der Poststelle des eigenen Polizeipräsidiums gemacht. Ihr Chef hatte verlangt, die Ermittlungen in Italien unabhängig von den Ermittlungen in den USA fortzusetzen. Orsetta deckte einfach nur alle Möglichkeiten ab und hielt sich an ihre lang gehegte Vermutung, dass Jack King selbst die Verbindung zwischen dem BR-Killer, Italien und Amerika war. Sosehr ihr 389
auch der Gedanke missfiel, aber während Jack außer Landes war, bestand die einzige Möglichkeit, ihre Neugier zu befriedigen, in einem überraschenden Besuch bei seiner Frau. »Stehen Sie auf, oder ich schieße!«, wiederholt sie. Ihr ist absolut bewusst, dass sie zwar jedes Schießtraining mitgemacht, aber noch nie außerhalb des Schießstandes geschossen hat. Spider erhebt sich langsam. »Schon gut. Okay. Nicht schießen.« Der Strahl der Taschenlampe ist hell, aber schmal. Orsetta sieht sein Gesicht gut, kann aber die Umrisse seiner Schultern nur vage erkennen. In der Dunkelheit hat sie eine entscheidende Bewegung übersehen. Spider legt die rechte Hand auf die Marmorkante, aber nicht, um sich abzustützen, wie Orsetta denkt. Sondern um seine Maschinenpistole hochzureißen. In einer blitzschnellen Bewegung jagt er einen Kugelhagel in die Richtung der Polizistin. Orsetta bewegt sich instinktiv, reagiert aber viel zu langsam. Ein stechender, brennender Schmerz in der rechten Schulter. Die Wucht des Einschlags der Kugel wirbelt sie herum und wirft sie zu Boden. Im Fallen verliert sie ihre Waffe. Spider ist überzeugt, dass er sie mehrere Male getroffen hat, aber er ist sich nicht sicher, ob sie auch wirklich tot ist. Du hast Zeit genug, sie zu erledigen. Er wird sie mit einem Kopfschuss töten. Aber im Moment ist sie nicht wichtig. Spider blickt wieder auf den Computerbildschirm. Wo ist King? Der betet noch immer. Tja, Jackieboy, dir kann jetzt kein Gott mehr helfen. Ohne weiteres Zögern drückt Spider auf den roten Auslöseknopf, und es folgt eine donnernde Explosion.
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KAPITEL ACHTUNDSECHZIG Jack hält Ludmilla fest und bereitet sich auf seinen nächsten Schritt vor. Die Finger seiner rechten Hand bluten stark aus der Wunde, die er sich mit dem Küchenmesser beigebracht hat, als er mit dem Rücken zur Kamera so tat, als würde er nach seinem Mobiltelefon suchen. Jack wusste, dass er tief genug schneiden musste, damit genügend Blut floss, um eine blutige Linie über den Hals der jungen Frau zu ziehen, als er dann so tat, als würde er ihr die Kehle durchschneiden. Als er sie in die Arme nahm, konnte er das Blut überall hinschmieren, damit das Ganze so aussah, als wäre sie tödlich verwundet. Jetzt kniet er auf dem Boden und weiß, dass die Zeit so schnell verrinnt wie das Blut, das ihm aus der Hand sickert. Mit einer schnellen Bewegung lässt er die Schultern sinken, fällt nach vorn und rollt Ludmilla und sich so weit unter den schweren hölzernen Tisch, wie er nur kann. Kaum sind sie unter der massiven, auf einem Chromgestell liegenden Eichenplatte, wird der Raum auch schon von einer vernichtenden Explosion erschüttert. Jack bedeckt Ludmilla mit seinem massigen Körper. Überall Holz, Steinbrocken und Staub. Der Schutt prasselt Jack auf Kopf und Rücken, prügelt wie eiserne Baseballschläger auf ihn ein, trifft Hals, Beine und Rücken. Er drückt Ludmilla fest an sich. Und diesmal betet er tatsächlich. Spiders Monitor wird grau. Staub und Schutt rauben die Sicht. Er nimmt den Laptop und hält ihn schräg, um einen besserer Blickwinkel zu haben. 391
Wo sind sie? Ich muss ihre Gesichter sehen! Spiders Körper ist vor Erwartung bis in die letzte Faser angespannt. Wo sind die Leichen? Spider hat die Kameras in Spezialgehäuse aus Sicherheitsglas montiert, wie sie auch beim Film verwendet werden. Sie halten Explosionen und sogar Eisenbahnzusammenstößen stand. Er starrt neugierig auf den Plasmabildschirm. Plötzlich füllt sich der Monitor mit grellroten und orangefarbenen Flammen. Die Höllenglut. Soll sie Kings stinkende Leiche verzehren. Spider schaltet den Computer aus. Sie sind tot. King und die Frau sind tot. Jetzt kann ich die Polizistin und Kings Frau erledigen. Er schaut zu Nancy und Orsetta hinüber. Beide liegen gekrümmt auf dem Boden. Schlachtvieh. Spider dreht sich um und greift nach seiner Pistole. Aber dazu kommt er nicht mehr. Die erste Kugel trifft ihn mitten ins Gesicht. Der Schuss klingelt noch in seinen Ohren, als die zweite und dritte Kugel ihm Löcher in den Bauch reißen. Spider stürzt nach hinten und schlägt mit dem Kopf gegen den Grabstein. Die vierte und fünfte Kugel zerfetzen den Brustkorb und verwandeln sein Herz in Brei. Erst als Terry McLeod sich absolut sicher ist, dass der Mann tot ist, lässt er die Beretta der Polizistin sinken. Howie Baumguard und das ESU-Team stehen immer noch in Alarmbereitschaft, als es zu der Explosion kommt. Howie hatte begriffen, dass der BR-Killer die ganze Show über ferngesteuerte Kameras dirigierte. Er hatte sich nicht
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getraut, den Zugriff anzuordnen, um nicht das Leben von Jack und Ludmilla Zagalsky zu gefährden. Kaum ist die Explosion verhallt, gibt er den Befehl. Das Einsatzteam operiert wie üblich aus einem mit Funk ausgestatteten Spezial-Truck, doch selbst die Standardausführung ist schon hinreichend geeignet, um Belagerungen durchzuführen und kleinere Gebäude in Schutt und Asche zu legen. Howie rennt zum Explosionsherd hinüber, mit Handfeuerwaffen ausgerüstete Männer folgen ihm dichtauf. Unterdessen holt die Rettungsmannschaft alles Nötige aus dem Truck: Feuerlöscher, Bolzenschneider und jene Art aufblasbarer Airbags, mit denen man schwere Lasten anheben kann, um darunter eingeklemmte Personen zu befreien. Beamte mit gleißend hellen Suchscheinwerfern gehen zuerst hinein, dicht gefolgt von bewaffnetem Schutz und Bergungsfachleuten. Beim ersten Anblick der Flammen teilt sich die Front, und die Jungs mit den Feuerlöschern legen einen Schaumteppich. Als wenige Sekunden später der Gasboiler explodiert, ruft das bei den Männern des Einsatzteams kaum eine Veränderung des Pulsschlags hervor. Damit haben sie gerechnet. Ganze Wolken aus Löschschaum legen sich über die Flammen. Es gibt keinerlei Anzeichen von Panik. Howie Baumguard macht Platz und lässt die Experten an die Arbeit gehen. Er hat schon miterlebt, wie die Zauberer der ESU bei Massenauffahrunfällen, Bombenexplosionen und eingestürzten Gebäuden Überlebende aus dem völlig ineinander verkeilten und verbogenen Metall gezogen haben. Sie waren die Besten und hatten schon überall gearbeitet, vom Bombenattentat in Oklahoma bis hin zu den Hurrikans von New Orleans. Wenn jemand Jack und Ludmilla lebend aus diesem Chaos bergen konnte, dann sie. »Bringt mal Licht her!«, ruft jemand. 393
Im Schein der Suchscheinwerfer wirbelt Staub und Gips im ziegelroten Nebel, während die Experten den Schutt durchwühlen. Zwei Meter hinter der Tür türmt sich eine Pyramide aus Holz und Ytong-Steinen. »Mehr Schaum!«, brüllt ein Beamter, als an der Tür erneut die Flammen auflodern. Am Kopfende der Kellertreppe steht Bernie, der einzige Experte der ESU, den Howie nicht im Einsatz sehen will. Bernie ist ein Spürhund. Bernies Spezialgebiet ist das Aufspüren von Leichen. Orsetta hatte zwei Kugeln in den rechten Schultermuskel abbekommen und blutete stark. Beim Sturz hatte sie sich den Kopf angeschlagen und war ohnmächtig geworden, und selbst, als sie wieder zu sich kam, war sie viel zu desorientiert, um sich rühren zu können. Im Kino stecken die heldenhaften Polizisten immer Treffer ein und machen trotzdem weiter, als wären sie nur von einer Biene gestochen worden. Im wahren Leben sieht das anders aus. In den meisten Fällen reißt einen ein solcher Treffer von den Beinen und man bleibt so lange liegen, bis die Rettungssanitäter kommen und einen abtransportieren. Orsetta bereitet es schon die größte Mühe, sich überhaupt aufrecht hinzusetzen. »Alles in Ordnung?«, fragt McLeod, der die Beretta noch immer in beiden Händen auf den Boden gerichtet hält. Orsetta nickt. Einen Moment lang kann sie noch nicht mal sprechen. »Er ist tot. Ich glaube, er ist tot«, sagt McLeod und wedelt mit der Waffe in Richtung des leblosen Körpers am Grab. Orsetta zwingt sich aufzustehen und drückt sich mit dem Rücken an der Wand hoch. Schließlich findet sie ihre Stimme wieder und sagt krächzend, aber ruhig: »Ich bin Polizeibeamtin. Bitte geben Sie mir die 394
Waffe.« Etwas unbeholfen schafft sie es, ihren Dienstausweis aus der Gesäßtasche zu ziehen. »Geben Sie sie mir bitte ganz vorsichtig«, fügt sie hinzu. McLeod ist ein ausgezeichneter Schütze. Er hat schon auf Hirsche, Kaninchen und alle Arten von Vögeln geschossen, aber noch nie auf einen Menschen. Jetzt zittern seine Hände so sehr, als würde er einen Cocktail mixen. Er nimmt die Pistole am Lauf und reicht sie Orsetta. »Weiter da hinten«, sagt sie zu McLeod. »Da liegt noch eine Frau auf dem Boden. Helfen Sie ihr bitte. Ich passe auf den Kerl auf.« »Klar, ja, sicher«, antwortet McLeod nervös. Er geht um das Grab herum und sieht sofort, dass es sich um Nancy King handelt. Orsetta hört hinter sich Stimmen und Schritte. Sie nähern sich schnell vom Eingang zu den Katakomben. Der Schusswechsel hat Orsettas Hörvermögen erheblich beeinträchtigt. Ihr wird mit einem Mal wieder ganz schwindlig, und ihr Gleichgewichtssinn versagt. Die Stimmen sprechen Italienisch. Wir sind in Sicherheit, denkt Orsetta. Sie hört das Knistern eines Funkgeräts und sieht dann mehrere Taschenlampen, die die dunkle Höhle erhellen. Jemand sagt ihr, dass jetzt alles in Ordnung sei. Sie spürt eine Hand auf ihrer Schulter und bekommt noch mit, wie ihr jemand vorsichtig die Waffe aus der Hand nimmt. Im Schein der Taschenlampe sieht sie, wie McLeod das Klebeband um Nancy Kings Kopf entfernt. Dann wird sie ohnmächtig und sackt zusammen. Sie brauchen zwanzig Minuten, um Jack und Ludmillas Körper in den Trümmern des Gebäudes zu finden. »Hierher!«, ruft Wayne Harvey, einer der Dienstältesten der ESU. »Sie stecken hier drunter.« 395
Die Explosion hat Teile der Decke zum Einsturz gebracht. Wasser spritzt aus geborstenen Rohren, die von der Wand gerissen wurden. Der Strom ist abgeschaltet, und die hellen Strahlen der Taschenlampen und Grubenhelme überkreuzen sich, als weitere Helfer zu Harvey eilen. Ein Dutzend Hände krallen sich in den Schutt aus Ziegeln, Holz und Ytong-Steinen. »Ich sehe jemanden!«, ruft Harvey und beugt sich zu Ludmilla Zagalskys blutigem, nacktem, bewusstlosem Körper hinunter. Der Foltertisch hat die Hauptwucht der Detonation abgehalten. Die schwere Eichentafel ist nicht zersplittert, nur die hinteren Beine des Tischs haben schließlich unter dem Gewicht der eingestürzten Kellerdecke nachgegeben. Howie Baumguard hebt die Tischplatte an und entdeckt Jack, der sich schützend über die junge Frau gelegt hat. »Sauerstoff und Tragbahren!«, ruft Harvey, der die Handschuhe auszieht und an Ludmillas Hals nach einem Puls sucht. Er schaut dabei auf die Uhr. »Sie lebt, aber es wird knapp. Deckt sie zu, und schafft sie, so schnell es geht, hier raus.« »Alles in Ordnung, Kumpel, wir haben dich«, sagt Howie. Er kniet im Schutt rieben Jack und wirft Betonbrocken beiseite wie unerwünschte Sofakissen. »Wir holen dich in null Komma nichts hier raus.« Jack ist zwar halb bei Bewusstsein, steht aber zu sehr unter Schock, um sprechen zu können. Plötzlich bemerkt Howie die verletzte Hand seines Freundes. »Scheiße, Mann! Das sieht übel aus! Sanitäter! Wir brauchen hier jemanden, schnell, gottverdammt schnell!« »Schon unterwegs!«, erwidert eine ruhige Stimme in der Dunkelheit. Der Lichtstrahl eines Grubenhelms blendet Howie kurz, dann hört er neben sich die unverkennbare Westküstenstimme von Pat O’Brien. »Ich sehe ihn. Mach Platz und lass mich mal da hin.«
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Howie tritt zur Seite und stolpert, weil sich seine Fußgelenke in den unsichtbaren Spalten zwischen Ziegeln und Betonbrocken verdrehen. »Er blutet wie ein Schwein«, sagt er und streckt eine Hand aus. »Da, seine Hand, die rechte Hand.« O’Brien richtet den Schein seiner Lampe auf die Stelle und sieht sofort, was er zu tun hat. Er setzt seinen Rucksack ab, streift Latexhandschuhe über und säubert die Wunde mit einem antiseptischen Tuch, um Größe, Form und Schwere des Schnittes besser beurteilen zu können. »Dein Kumpel hat recht, das hier ist eine üble Wunde, mein Freund«, erklärt O’Brien. Er dreht Jacks Hand in seinem Griff und fragt sich dabei, wie viel Blut der Kerl wohl schon verloren hat. Mit einem zweiten schnellen Griff in den Rucksack bringt er einen Stauschlauch, ein Sterilspray und Wundnähzeug hervor. Aus der Wunde, die mit Dreck und Staub verkrustet ist, pumpt immer noch Blut. O’Brien besprüht die verletzte Stelle so großflächig wie möglich mit Sterilspray, fischt so viele Steinbröckchen, wie er nur kann, mit dem kleinen Finger heraus und vernäht dann die Wunde. Kunststicken ist nicht unbedingt Teil seiner Notfallausbildung, aber wenn es im Bastelkreis der Kirchengemeinde jemals eine Prämierung in der Kategorie »Schönste Naht im Kampfeinsatz« gäbe, dann wäre O’Brien aussichtsreichster Kandidat auf den ersten Preis. Jacks Augen sind auf die junge Frau geheftet, die jetzt auf eine Trage gehoben und sofort an einen Tropf gehängt wird. Er erinnert sich an seinen Albtraum im Holiday Inn, als er davon träumte, sie zu retten, und dass der Raum voller Sanitäter und Polizisten war, genau wie jetzt hier. Er gräbt weiter in seinen Erinnerungen und zerrt Szenen der anderen Albträume ans Tageslicht, Bilder von einem schwarzen Raum, von einer Autopsie, von Wasserrohren und Blut auf dem Boden. Jack wird klar, dass sein Unterbewusstsein seit Jahren keine Ruhe gegeben und immer über den Tatort und das psychologische Profil 397
gerätselt hat, immer wieder versucht hat, ihn daran zu hindern, sich abzulenken, um sich stattdessen wieder dem Fall zuzuwenden. »Rückenschiene und Träger hierher!«, ruft O’Brien durch den Raum. »Wird er wieder?«, fragt Howie, der immer noch ein paar Schritte entfernt wartet. »Denke schon«, antwortet O’Brien. »Mir geht’s blendend«, mischt sich Jack mit staubiger Stimme ein. O’Brien leuchtet ihm in die Augen, zieht ihm die Augenlider hoch und prüft die Pupillenreaktion. »Ja, wird schon wieder. Du hast einen Eimer Blut verloren, aber du bist ein großer kräftiger Bursche, da ist noch genug übrig.« Jack hebt die unverletzte Hand und winkt Howie zu sich. »Hör zu, ich weiß, hier sieht’s schlimm aus, aber die sollen so viel rekonstruieren, wie nur möglich. Hol die Spurensicherung, so schnell du kannst. Hier hat er seine Opfer zerstückelt. Ich habe dieses verdammte Loch in meinen Albträumen gesehen. Wir sollten sicherstellen, dass wir auch was finden.« Howie klopft ihm beruhigend auf die Schulter und sieht sich im Schutt um. Es sieht aus wie in Beirut, aber die Spurensicherung wird schon etwas finden, da ist er sich sicher; kein Verbrecher kann jemals alle Spuren beseitigen. O’Brien zieht Howie beiseite, als seine Kollegen eintreffen, die Trage absetzen und Jack hinaufbugsieren. »Er braucht ein paar Spritzen. Tetanus, das volle Programm«, sagt er zu den Trägern. »Und behaltet die Blutung im Auge. Ich habe die tieferen Schnitte nur zusammengezogen, damit sie die Wunden im Krankenhaus wieder öffnen und gründlich reinigen können.« Die Sanitäter nicken, heben Jack auf der Trage hüfthoch an und setzen sich in Bewegung. Ludmilla Zagalsky, in einen ESU-Mantel gehüllt, ist bereits oben und wird zu einem auf dem nahe gelegenen Golfplatz 398
wartenden Hubschrauber gebracht. Der Notarzt hat es geschafft, ihr einen intravenösen Tropf anzulegen, und es heißt, sie habe gute Überlebenschancen. Allerdings wird es noch vierundzwanzig Stunden dauern, bevor die Mediziner wissen, ob sie dauerhafte Schäden zurückbehalten wird. Jack ist wieder bei vollem Bewusstsein, als sie ihn nach draußen schaffen. Er blinzelt in die Sonne und atmet langsam die frische Luft ein. Howie ist in der Nähe. Er sieht ihn und winkt ihn zu sich. »Nancy, Zack, sind sie …« Seine Stimme versagt. Howie beendet den Satz für ihn. »Ja, sie sind okay, es ist alles in Ordnung.« Jack schluckt und entspannt sich. Seine Angst verfliegt. »Und der BR-Killer?« Howie grinst. »Tot wie ’ne Dronte, Geschichte, erledigt. Ich kenne zwar die Einzelheiten noch nicht, aber irgendeine gute Seele hat ihm das Licht ausgepustet.« »Wie schade«, sagt Jack. »Schade?«, sagt Howie und runzelt ungläubig die Stirn. »Ja, jammerschade. Ich hätte gern das Vergnügen gehabt, ihn bis an sein Ende im Kittchen schmoren zu sehen.« Orsetta kann ohne Hilfe kaum stehen, aber sie schafft es noch, dem von Kugeln durchsiebten Leichnam des Black-RiverKillers einen Tritt zu versetzen, bevor die Rettungssanitäter sie, Nancy und Zack in ein Krankenhaus nach Siena fliegen. Im Hubschrauber wird Orsettas Schulterverletzung versorgt und Nancy erhält reinen Sauerstoff, um ihr über die Nachwirkungen des Lidocains hinwegzuhelfen. Nancy hat schon bald wieder einen klaren Kopf und bekommt mit, dass es Jack gutgeht. Den ganzen Flug über drückt sie Zack fest an sich. Keiner spricht ein Wort. Eine der großen Aufgaben, die nun vor ihr liegen, besteht darin, ihrem Sohn zu helfen, das Trauma des heutigen Tages zu verarbeiten.
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Außerdem will sie unbedingt ihren Mann sprechen und hören, wie es ihm geht. Und außerdem will sie ihm mitteilen, dass heute der 8. Juli ist, ein Sonntag. Ihr Hochzeitstag. Doch damit muss sie noch warten. Ihr Mobiltelefon liegt noch immer in der blutgetränkten Dunkelheit der Katakombe neben der Leiche des gefürchtetsten Serienmörders der USA.
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EPILOG Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Friedrich Nietzsche
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La Casa Strada, San Quirico d’Orcia, Toskana. DREI MONATE SPÄTER Zum ersten Mal in den dreieinhalb Jahren, seit sie hier sind, gab es in La Casa Strada keine Touristen und keine Fremden. Was aber nicht hieß, dass die Zimmer nicht belegt waren. Die Feier war Nancys Idee gewesen. Und alle waren sich einig, dass es eine gute war. Draußen war es immer noch warm genug, um auf der Terrasse, von der aus man die historische, sanft wogende Schönheit des Val d’Orcia genießen kann, ein Gläschen zu trinken. Massimo, Orsetta, Benito und Roberto waren aus Rom angereist. Sie standen in einer Gruppe zusammen und unterhielten sich auf Hochgeschwindigkeitsitalienisch, während Kellnerinnen den besten Wein servierten, den die Toskana zu bieten hatte. Terry McLeod war ebenfalls eingeladen worden. Dieses Mal musste er nicht lügen und betrügen, um seine Exklusivstory zu bekommen. Kaum war die Spurensicherung aus ihrem Garten verschwunden, hatte Nancy Signore Capello und seinen Leuten unmissverständlich klargemacht, was sie wollte. Sie hatte den Eingang zur Katakombe mit so viel Fertigbeton verschließen lassen, dass damit ganz Manhattan hätte bedeckt werden können. Ihr Zuhause war nicht länger ein Tatort. Und sie wollte auch nie daran erinnert werden, dass hier jemals der Tatort eines Verbrechens gewesen war. Nancy ließ Jacks Arm für einen Augenblick los und schaute in der Küche nach, wie lange es noch bis zum Essen dauern würde. 402
Paolo bereitete ein Sechs-Gänge-Menü vom Feinsten vor. Zum Nachtisch gab es natürlich Jacks Lieblingsdessert, Zabaglione. Der Duft von Gebratenem durchzog die frühherbstliche Abendluft und regte den Appetit der wartenden Gäste an. Howie hatte wiederholt die regionalen Weine abgelehnt, stattdessen aber das für alle bestimmte Bier ausgetrunken. Er war zwar allein gekommen, hoffte aber, dass Carrie und er sich vielleicht noch rechtzeitig zu Weihnachten wieder zusammenraufen würden. FBI Field Office Director Joe Marsh hatte seinen Terminplan freigeräumt und war ebenfalls über den Atlantik gekommen. Jack bot ihm tollpatschig die linke Hand hin, als sie sich auf der sonnigen Terrasse begrüßten. Seine Rechte war noch immer verbunden und bedurfte weiterer Physiotherapie, um den Nervenschaden zu kurieren, den der tiefe Schnitt verursacht hatte. »Tut’s noch weh?«, fragte Marsh. »Ein bisschen«, antwortete Jack und bewegte vorsichtig die Fingerspitzen. »Aber nicht so sehr wie mein Stolz.« Marsh sah ihn fragend an. »Was meinen Sie damit?« »Nun, um die Wahrheit zu sagen, gebe ich mir immer noch die Schuld, die Strategie des Black-River-Killers nicht früher durchschaut zu haben. Das hätte uns allen viel Kummer und Leid ersparen können.« Er vergewisserte sich, dass Nancy nicht in Hörweite war. Er hatte strikte Anweisungen, nicht über den Fall zu reden. »Der BR-Killer hatte die Sache mit Kearney einzig und allein inszeniert, weil er schon eine Weile nicht mehr gemordet hatte und befürchtete, wir hätten ihn vergessen. Er wählte den zwanzigsten Jahrestag von Sarahs Leichenfund, um sicherzugehen, dass wir auf ihn kommen, doch um das auch ja nicht zu verbocken, hat er noch meinen Namen auf das Paket geschrieben.« Jack wartete kurz, bis Marsh sich ein Glas von dem Tablett genommen hatte, das ihm eine Kellnerin hinhielt. »Der BR-Killer spekulierte darauf, dass der Zwischenfall die 403
Ermittlungen des FBI wieder anleiern und ihn wieder ins Rampenlicht stellen würde. Ebenso spekulierte er, dass der Mord in Livorno ausreichen würde, die Italiener dazu zu bringen, bei mir hereinzuschneien und mich zu bitten, den Hintern zu erheben und mich an den Ermittlungen zu beteiligen.« Jack deutete mit dem Kopf auf die Gruppe der italienischen Kollegen. »Orsetta hatte recht, ich selbst war der Elefant im Zimmer. Ich konnte es nur nicht sehen.« Marsh runzelte die Stirn. »Was waren Sie?« Jack lächelte. »Ja, ich war die Verbindung zwischen den USA, Italien, Sarah Kearney, dem BR-Killer und Barbujani, ohne es selbst zu bemerken. Jahrelang haben mir die Leute gesagt, ich solle den Fall des BR-Killers nicht so persönlich nehmen, und das habe ich dann wohl auch getan.« Marsh nickte und nahm einen Schluck Weißwein. »Im Nachhinein wissen wir nun allerdings, dass diese ganze Geschichte äußerst persönlich war. Der BR-Killer hatte es darauf abgesehen, Sie nach New York zurückzulocken, um Sie im alten Haus seines Vaters umzubringen und gleichzeitig Ihre schutzlose Familie anzugreifen.« »Ganz genau. Er hat uns quer durch die Staaten gescheucht, um in aller Ruhe die große Show in Italien abzuziehen.« Jack überkam ein Angstschauder, als er daran dachte, wie nahe der Serienkiller seinem Ziel gekommen war, sie alle seiner Opferliste hinzuzufügen. »Nicht zu vergessen, dass dieser kranke Irre auch noch seinen Spaß an der Planung hatte. Seit Jahren dürfte er davon fantasiert haben, wie er diese Morde durchführen wollte. Ich schätze, Sarahs Jahrestag hat ihn endgültig animiert, seine Fantasien in die Tat umzusetzen.« »Es ist gleich so weit«, verkündete Nancy und warf Jack und Marsh einen missbilligenden Blick zu. Carlo bahnte sich dezent einen Weg zu seiner Chefin und flüsterte ihr unauffällig etwas ins Ohr, wie dies nur die besten
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Chefköche können. Nancy nickte und wies ihre Kellnerinnen an, noch einmal nachzuschenken. »Ladys und Gentlemen«, bat Nancy mit lauter Stimme um Gehör, »Jack und ich möchten Ihnen allen herzlich danken, dass Sie heute kommen konnten. Sie wissen bestimmt alle, dass Sie einen ganz besonderen Platz in unserem Herzen haben. Doch bevor wir unsere Gläser erheben und auf die wunderbare Tatsache anstoßen wollen, dass wir alle glücklich und gesund sind, möchte ich Sie bitten, unseren Ehrengast ganz besonders herzlich willkommen zu heißen.« Nancy wies mit einer Hand zum Hotel hinüber. Alle drehten sich um. Vom anderen Ende der Terrasse kam ihnen, vorsichtig auf Krücken gestützt, Ludmilla Zagalsky entgegen. Auf ihrem Gesicht lag das größte und strahlendste Lächeln von allen. Einen halben Schritt hinter ihr folgte ein großer junger Tschetschene mit einem freundlichen Lächeln, allzeit bereit, sie zu stützen falls nötig. Als der Applaus verebbte, schaute Joe Marsh sich um und vergewisserte sich, dass ihn niemand hörte. Dann legte er dem Gastgeber eine Hand auf die Schulter. »Jack, ich sag es Ihnen ganz direkt: Ich brauche Sie wieder im Team. Wir haben zu Hause in den Staaten einen Fall, bei dem wir Ihre Hilfe dringend gebrauchen könnten.«
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DANKSAGUNG Am Entstehen von Spider haben die besten Fachleute der Branche auf großartige Weise mitgewirkt. Ich bin dem ganzen Team von Heyne zu großem Dank verpflichtet, vor allem Ulrich Genzler, Julia Bauer und Patrick Niemeyer für ihr Vertrauen, ihre Geduld, ihre Unterstützung und ihre Verbesserungsvorschläge. Viel Dank gebührt Michael Haider für seine Energie und seine Kreativität hinsichtlich der digitalen Medien und des Marketings, aber auch Julia Winkel für ihre wunderbare Hilfe im Umgang mit der Presse. Und mein Dank gilt natürlich vor allem Jürgen Bürger, der Spider so einfühlsam in seine Muttersprache übertragen hat. Auf internationaler Ebene kann ich meinen Agenten Luigi Bonomi nicht genug rühmen: Er hat mir mehr geholfen, als er selbst je wird ermessen können. Gleiches gilt für Nicki Kennedy und Sam Edenborough von ILA, die mich auf beispiellose Weise mit großartigen Menschen zusammengebracht haben. Und nicht zuletzt richtet sich mein Dank an all jene, die sich die (in diesen Zeiten so kostbare) Zeit erübrigt haben, Spider bis zum Ende zu lesen – ohne Sie, liebe Leser, wären wir Übrigen verloren!
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