KLEINE JUGENDREIHE
Janka Mawr
Sohn des Wassers
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1959
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KLEINE JUGENDREIHE
Janka Mawr
Sohn des Wassers
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1959
10. Jahrgang, 2. Aprilheft Aus dem Russischen übersetzt von Esther Wieprecht Veröffentlicht 1959 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 3-285/65/59 Umschlag und Illustrationen: Adelhelm Dietzel Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden in-9-5
Die Meermemschen Schon drei Tage lang wütet der Sturm. Ununterbrochen sprüht herbstlich kalter Regen, und es ist doch Dezember, also Hochsommer auf der südlichen Erdhalbkugel. Die Berge haben sich hinter dem Regen versteckt, selbst die nahen Felsen heben sich nur schwach vom Grau des Himmels und des Meeres ab. Um die Gipfel pfeift der Wind. Hier unten aber in der schmalen Felsengasse ist es fast still, nur selten bricht der Wind ein. Dann tobt und heult er wie ein gehetztes Tier, jagt Wellen über die schmale Wasserrinne und – rast weiter. Den dritten Tag schon liegt Taidos Boot in dieser Felsspalte. Ein Grasdach schützt es zur Hälfte vor Regen. Taidos ganze Familie hat sich darunter niedergelassen: seine Frau, sein Sohn Mang, der schon neunzehn Jahre alt ist, und die beiden Jüngsten ~ ein Mädchen von zehn Jahren und ein sechsjähriger Junge. Da, wo kein Dach ist, klatscht der Regen ins Boot. „Wasser schöpfen!“ befiehlt der Vater von Zeit zu Zeit. Dann schütten die Kinder mit Muschelkellen oder auch mit den hohlen Händen das Wasser über Bord. Man könnte denken, Taido und die Seinen haben einen Ausflug gemacht und warten hier das Unwetter ab. Das ist nicht der Fall. Sie sind auf dem Wasser zu Hause. Gewiß wünschen sie sich, daß der Regen endlich aufhört, aber sie sind ihn gewohnt. Manchmal hält er wochenlang an, herbstlich kalt im Sommer wie im Winter, das ganze Jahr über. Dennoch gibt es Unterschiede bei den Jahreszeiten. Die Sommermonate sind etwas wärmer, an manchen Tagen scheint die Sonne, und bisweilen zieht auch ein Gewitter auf. Im Winter mischt sich der Regen häufig mit Schnee, doch richtig kalt wie bei uns wird es hier nie. Nur oben in den
Bergen gibt es Fröste, dort taut der Schnee auch im Sommer nicht, und die Hänge hinab kriechen Gletscher. Die Alakalufs, wie dieser Volksstamm heißt, leben seit uralten Zeiten im Westen Feuerlands und auf den Inseln an der Magellanstraße. Wie es Menschen der Berge gibt, der Steppe, der Wälder, so gibt es eben auch Menschen des Wassers – die Alakalufs. Auf dem Meer wachsen sie heran, da leben und sterben sie. Ihr Dasein ist mühselig, aber an Land hätten sie es noch schwerer, denn dieses Land besteht fast nur aus nackten, kalten Felsen. Selten finden sie einen Strand, wo sie sich auf längere Zeit niederlassen können. Die ungewöhnliche Lebensweise formt auch die Körper der Alakalufs. Da sie fast alle Tage im Boot hocken, ist ihr Leib schwammig und rund, die Beine sind dünn und nicht sehr kräftig. Besonders bei den kleinen Kindern fällt das auf, sie sehen aus wie Ballons, in denen dünne Stangen stecken. Die Haut der Alakalufs ist gelblich, das Gesicht breit, die Augen sind schmal, die Nase aber ist gerade, man kann sogar sagen hübsch. Lange schwarze Haare hängen ihnen steif um den Kopf, die Stirnhaare reißen sie heraus. Trotz der rauhen Witterung sind Taido, seine Frau und die Kinder nackt, bis auf ein Fell, das am Hals befestigt wird. Es stammt von einem Walroß, einer Robbe oder einem anderen Meerestier und wird auf die Seite des Körpers geschoben, die der Wind angreift, die andere aber bleibt bloß. Die ganze Habe der Familie befindet sich im Boot: Tontöpfe, geflochtene Säckchen, Messer, Waffen, die verschiedensten Geräte – teils aus Stein, teils aus Knochen oder Krebs- und Muschelschalen. Auch ein verrostetes eisernes Beil ist auf irgendeine Weise mit hineingeraten und ein langes Stück Eisen mit einem Haken am Ende. Als besonders kostbarer Besitz werden zwei Eisennägel gehütet.
Der größte Schatz der Familie aber ist der Herd. In der Mitte des breiten Bootes wurde Erde festgestampft und darauf ein Feuer angelegt. Jetzt ist es fast erloschen, spendet weder Licht noch Wärme. Als das Mädchen Holz auflegen will, zankt die Mutter sie aus: „Was fällt dir ein! So ein großes Stück!“ Dabei ist es nur so lang wie ein Löffel. Die Mutter bricht einen fingerlangen Splitter davon ab und legt ihn behutsam auf das letzte bißchen Glut. Ein Vorhang aus geflochtenem Seegras, über drei Stangen gespannt, schützt die Flamme vor Regen. Meist dient dieses Seegras auch als Heizmaterial, doch noch so gut getrocknet, brennt es schlecht, weil es mit Salz durchsetzt ist. „Wenn es so weiterregnet“, sagt Taido, „haben wir bald nichts mehr nachzulegen.“ Niemand antwortet. Das weiß ohnehin jeder. Da! – es bewegt sich etwas im Nebel! Ein Boot! „Wer ist denn das?“ fragt Taido leise. „Scheint Kos zu sein“, antwortet der Sohn. Und wirklich, es ist Kos, ihr nächster „Nachbar“, ein ebensolcher „Hausbesitzer“ wie Taido. „He, Kos!“ ruft Taido. „Woher und wohin bei diesem Wetter?“ „Nichts zu essen!“ klingt eine Stimme herüber. Das Boot gleitet vorbei. Die Bewohner dieses Gebiets begegnen einander selten, ein oder zwei Kanus sieht man hin und wieder in einer ruhigen Bucht. Wieviel Menschen dieser Volksstamm noch zählt, weiß niemand. Wahrscheinlich sind es nicht mehr als zweihundert. Nie versammeln sie sich, sie haben kein Gesetz, nicht einmal einen Ältesten oder Führer. Jede Familie lebt für sich. Auf dem Papier gehören die Alakalufs zur Chileni-
schen Republik, in Wirklichkeit aber kennen weder sie ihre Republik, noch kümmert sich die Republik um sie. Taido blickt auf den Boden seines Kahns und sieht, daß da nur noch wenige kleine Fische und Muscheln liegen. Die Kinder sammeln sie und legen sie in die heiße Asche. Auch Taido hat Hunger, aber er beherrscht sich und verzichtet. Endlich läßt der Regen nach. Die Sonne bricht durch – und ein wundersames Fleckchen Erde tut sich den Augen auf: eine Felsenstadt! Nach allen Richtungen kreuz und quer laufen Straßen – die schmalen Wasserrinnen – , und an ihren Seiten ragen majestätisch schwarze Felsen empor, die „Häuser“. Keines gleicht dem anderen: Hier steigt eine steinerne „Treppe“ zum Wasser hinunter, dort ragt ein „Balkon“ auf das Meer hinaus. Gewaltige ,Kirchen’ strecken zweitausend Meter hohe Türme in den Himmel, ihre Spitzen, mit ewigem Schnee bedeckt, funkeln in der Sonne, und über die „Dächer“ gleiten blaue Gletscher herab. An einer „Straßenkreuzung“ fällt von der Höhe eines wohl „zehnstöckigen Hochhauses“ ein Wasserfall. Der feine Staub schillert bunt in der Sonne, und an der schwarzen Wand gegenüber wölbt sich ein Regenbogen. Eine verzauberte Stadt aus der Märchenwelt! Aber wo sind ihre Bewohner? Außer den Leuten in Taidos Boot ist alles wie ausgestorben. Doch nein! Hoch oben auf einem „Balkon“ bewegt sich etwas Grauweißes, und auch aus den schwarzen „Fensteröffnungen“ blicken Köpfe. Möwen sind es und Albatrosse. Ein schriller Schrei zerreißt die Stille: Die Möwen fliegen die Straße hinunter. Von einem Felsen steigt kreischend eine Vogelwolke auf. Das ist sie, die Bevölkerung dieser „Stadt“. Wieder erhebt sich ein Schwärm Vögel, diesmal von einem Felsen am Ende der Straße, in der Taidos Boot hält. Was hat
sie aufgeschreckt? In der Biegung des Kanals entsteht ungewöhnliche Bewegung. Zwei schwarze Wesen tauchen auf und nähern sich spielend und balgend dem Boot. Die hochaufspritzenden Fontänen über den Köpfen der Tiere verraten, daß es Wale sind, Walkinder. Wie gewandt und leicht sich diese plumpen Tiere bewegen! Bald blitzt ein Kopf, bald ein Schwanz in der Luft auf, bald schießt der ganze gewaltige Körper aus dem Wasser hervor und plumpst im nächsten Moment wieder zurück, mit solcher Wucht, daß das Wasser ringsum hoch aufschwappt. Die Kinder Taidos sehen den spielenden Walkindern zu, sie freuen sich, jauchzen, lachen. Taido selbst ist aber gar nicht zum Lachen zumute, er steuert weg vom Tummelplatz der Wale. Aber gerade dadurch werden sie auf das Boot aufmerksam. Sofort schießen sie hinter dem neuen Spielzeug her, ein Jungwal taucht neben dem Boot auf, wälzt sich im Wasser, als wollte er seine Gewandtheit zeigen, und schlägt mit dem Schwanz. Fast hätte er die Bordwand getroffen. Das Boot schöpft Wasser, die Kinder schreien voller Angst auf. „Leg dich ins Ruder, Junge!“ ruft Taido. Auch die Mutter hilft. Pfeilschnell fliegt der leichte Kahn dahin, aber die Wale bleiben ihm auf der Spur. Zum Glück entdeckt Taido zwischen zwei „Häusern“ ein offenes „Tor“ – einen engen Durchschlupf. Ein, zwei Sekunden, und sie sind im „Hof“. Verdutzt bleiben die Wale auf der Straße vor dem Tor: der Durchgang ist viel zu schmal für sie. Hohe Fontänen ausstoßend, schwimmen sie nach einer Weile davon. Südlich von Feuerland gibt es unzählige Wale. Auch an Walfängern ist kein Mangel, dennoch trifft man sie seltener als in den nördlichen Meeren. Erstens ist der Weg hierher sehr weit, und zweitens gilt dieser Teil des Ozeans als der
unruhigste und gefährlichste. Die Seeleute sind zu zählen, die hier von keinem Sturm überrascht wurden – eine große Gefahr bei diesem Gewirr von Klippen, die den Schiffen sogar unter Wasser auflauern. Die Wale wissen das jedoch zu schätzen; die Felsen schützen die Tummelplätze ihrer Jungtiere. Taidos Boot liegt im Hof, einer kleinen Bucht inmitten der Felsen. Nach etwa einer halben Stunde beginnt das Wasser zu fallen, die Ebbe setzt ein. Die ganze Familie starrt gebannt auf den Grund. Ob wohl viel Eßbares zurückbleibt? „Wir wollen zum Ausgang fahren und die Fische aufhalten“, schlägt Mang vor. Im Tor machen sie halt, lärmen und schlagen aufs Wasser. Immer mehr fällt es, der See wird kleiner und kleiner, und nach zwei Stunden steht das Boot auf dem Trockenen. Von dem kleinen Teich ist nur noch eine Pfütze übrig. Allzu reichlich ist die Beute nicht, denn das Wasser kommt nur zur Zeit der Flut hierher. Die ständigen Bewohner des Meeresbodens stellen sich nicht ein, nur Gelegenheitsgäste. Von diesen gibt es aber immerhin so viel, daß die Familie für zwei Tage Nahrung hat. Der Wasserspiegel auf der Straße ist um weitere fünf Meter gesunken. Neue Felsen zeigen sich mitten auf dem „Damm“, manche Straße erweist sich plötzlich als Sackgasse. Aber niemand im Boot achtet darauf: nicht zum ersten Mal sehen die Alakalufs, wie die Ebbe die ganze Stadt verwandelt. Die Kinder, unter ihnen auch Mang, nutzen die Gelegenheit, festen Boden unter den Füßen zu haben. Vergnügt strecken sie die Beine und klettern munter auf den Felsen umher. Auch die Eltern steigen an Land. „Hallo!“ ruft es vom Wasser. Alle sehen: Kos kehrt zurück.
„Was habt ihr gefangen?“‘ fragt er und schaut zu ihnen herauf. „Für zwei Tage Fische“, antwortet Taido. „Und ihr?“ „Wir auch. Und noch das…“ Kos hebt eine tote Möwe hoch. In Kos’ Boot sind außer ihm selbst seine Frau und die vierzehnjährige Tochter Mgu. Die beiden Frauen verstehen es sehr gut, aus Seegras, Bast und Rinde nützliche Dinge zu flechten: Säckchen, Matten und sogar Boote, Kanus. Auch jetzt führen sie ein halbfertiges Kanu mit. „Wie steht es mit Brennholz?“ fragt Taido. „Ausgegangen. Ich wollte dir schon vorschlagen, mit uns zusammen danach zu fahren.“ „Gut! Warte, bis das Wasser wieder steigt.“ Nach der langen Schlechtwetterperiode scheint die Sonne so warm und freundlich, daß die Menschen sich einer nach dem andern wohlig ausstrecken und allmählich einschlafen. Während sie ruhen, steigt das Wasser wieder, und in den Abendstunden schwimmen beide Boote wie vordem durch die Straßen der Felsenstadt. Ngara, der Mensch im Vogelkleid Schon als Mang noch ganz klein war, empfand er die Fesseln seines Daseins. Nichts konnte er allein unternehmen, stets war er ans Boot der Familie gekettet. Solange er sich zurückerinnern konnte, träumte er davon, auf Abenteuer auszugehen, rudern zu können, wohin er wollte, anzulegen, wo es ihm gefiel. Aber dazu brauchte man ein eigenes Kanu, und das konnten nur die Erwachsenen bauen. So blieb Mang nichts weiter übrig, als darauf zu warten, bis er selbst erwachsen sein würde. Endlich hatte er das achtzehnte Lebensjahr überschritten!
Der Vater sprach schon selbst davon, daß man sich trennen müßte; es wurde zu eng im Boot. „Sieh, da wächst Mgu heran“, sagte er, „nimm sie zum Weib. Ein tüchtiges Mädchen, versteht etwas vom Flechten! Sie wird dir ein gutes Kanu machen.“ Mangs Herz schlug aufgeregt bei dem Gedanken an das Boot, nicht an das Mädchen. Ach, wenn er nur sein Kanu bekommen könnte, ohne gleich eine Frau nehmen zu müssen. Er sprach mit dem Vater darüber, aber der alte Mann verstand ihn gar nicht. „Warum willst du nur das Boot, wenn du doch Boot und Frau, zusammen haben kannst?“ fragte er. „Mit Kos habe ich schon darüber gesprochen.“ Mang beschloß zu warten. Wenn man ein Kanu bauen wollte, mußte man zuerst ein Gerippe aus Stangen anfertigen – das Skelett des Bootes – und es dann mit Rinde verkleiden. Holz zu beschaffen aber war keine leichte Sache und genügend Rinde zu finden – noch schwieriger. Das Verkleiden selbst erforderte wirkliche Meisterschaft. Die Ritzen mußten so sorgfältig mit Bast abgedichtet werden, daß kein Tropfen Wasser in das Boot sikkern konnte. Wenige nur beherrschten diese Kunst. Auf der Fahrt nach Brennholz wollte Mang sich Stangen und Rinde besorgen. Dann würde man weitersehen. Die ganze Nacht fuhren die Boote nach Norden, und am nächsten Nachmittag öffnete sich vor ihnen ein breiter Wasserarm. Natürlich wußten weder Taido noch Mang, daß es die Magellanstraße war. Vor ihnen, in der Ferne, erhoben sich hohe, schneebedeckte Berge: dort begann das Festland. Die felsige Küste war ebenso zerschnitten von Buchten und Meerengen wie die Inseln, von denen die Alakalufs kamen. Links lag der Stille
Ozean, rechts zog sich die Meerenge hin, bis sie hinter einem Kap verschwand. „Seht, seht nur – da schwimmt ein Kanu der Weißen!“ riefen die Kinder. Und wirklich: Hinter dem Kap tauchte ein Schiff auf, groß und gewaltig. Leben kam in die Feuerländer, sie stießen kehlige Freudenlaute aus, lachten, winkten mit den Armen. Sogar die gesetzten Männer lärmten und gestikulierten. Die Alakalufs hatten schon Schiffe gesehen und fürchteten sich nicht im geringsten. Im Gegenteil, sie freuten sich: gewiß würde auch für sie etwas abfallen. So fuhren sie dem Schiff entgegen. Die Passagiere auf dem Dampfer hatten sie schon bemerkt. Enggedrängt standen sie an der Reling und staunten: Meerwilde! Brote wurden zerteilt und den Feuerländern zugeworfen, die ihnen nach ins Wasser stürzten. Die mit Salzwasser durchtränkten Stücke dünkten ihnen herrliche Leckerbissen. Eine Frau warf den Kindern eine Apfelsine zu, die sofort mitsamt der Schale aufgegessen wurde. Ein freundlicher alter Mann trennte sich von seinem schönen Taschenmesser. Mang fing es auf. Nicht umsonst hatten sich die Alakalufs über diese Begegnung gefreut: die Ausbeute war beneidenswert. Selten geschah es, daß sie auf Schiffe stießen, ein- oder zweimal im Jahr. Es fuhren wenig Dampfer durch die Magellanstraße, seit der Panamakanal gebaut war, und immer waren die Alakalufs auch nicht zur Stelle. Woher diese weißen Menschen wohl kommen und wohin fahren sie? fragte sich Mang. Wie haben sie nur dieses riesige Kanu gebaut? Woher nehmen sie solche erstaunlichen Dinge wie das hier? Er schaute auf das Messer in seiner Hand. Warum begegnet man ihnen so selten? Schade, daß
ich sie nicht aus der Nähe sehen kann! Was sind das für Menschen – ja, sind es überhaupt welche? Mang war davon überzeugt, daß sie wie alle Menschen, die er kannte, auf dem Meer lebten, nur nicht in kleinen Booten, sondern in riesigen Kanus. Aber wo lebten sie, warum fuhren sie immer vorbei und hielten nicht an? Er fragte den Vater danach. „Sie leben die ganze Zeit auf dem Land“, antwortete der alte Taido, „sehr weit weg von hier. Man erzählt, daß sie dort auch solche ungeheuren Kanus stehen haben. Auf diesen hier fahren sie nur von einer Stelle zur anderen.“ Mang wunderte sich. „Das heißt also, sie leben immer an demselben Ort?“ „Ja.“ „Aber warum tun sie das, wenn man auf solchen Kanus doch wohnen kann, wo man will? Und müssen sie sich nichts zu essen suchen?“ Aber auf solche Fragen konnte der alte Taido auch nicht antworten. Mang nahm sich fest vor, diese Leute von nahem zu betrachten, sobald er sein eigenes Kanu besäße. Währenddessen überquerten die Boote von Taido und Kos die Magellanstraße, kreuzten eine Weile zwischen den Felsen umher und befanden sich plötzlich in einer hübschen kleinen Bucht. Windstill, auf allen Seiten von Bergen umgeben, war sie nicht nur für die Feuerländer ein herrlicher Zufluchtsort. Ein Fetzen Papier am Ufer bewies, daß ein Schiff vor kurzem in der Bucht vor Anker gegangen war und seine Passagiere einen Landspaziergang unternommen hatten. Das nördliche und westliche Ufer wiesen einigen Pflanzenwuchs auf, aber es verging viel Zeit, bis die beiden Kanus einen günstigen Anlegeplatz gefunden hatten. Dann hieß es noch gut fünfhundert Meter über blanke Steine hinaufkra-
xeln, ehe man auf Gestrüpp stieß. Es war jedoch knorrig und so hart wie Eisen; Taidos verrostetes Beil konnte hier nichts ausrichten. Nur die roten, den Johannisbeeren ähnlichen Früchte, die zwischen dem Krummholz wuchsen, machten den Feuerländern Freude. Diese Beeren kannten sie, aus ihnen verstanden sie sogar einen Rauschtrank zu bereiten. Die beiden Frauen und die Kinder blieben zurück, um die Beeren zu sammeln, die Männer aber stiegen weiter bergauf, dorthin, wo Wald zu sehen war. Voran schritt Mang und hielt Ausschau, wo er die nötigen Stangen und die Rinde für sein Kanu finden könnte. Der Wald bestand aus Buchenund Myrtenarten, aus Bäumen also, die sonst nur in warmen Ländern wachsen. Die Natur dieses Landstriches ließ nicht gleich erkennen, ob hier ein kaltes oder warmes Klima herrschte. Brennholz gab es im Überfluß, doch Mang mußte ziemlich weit laufen, ehe er anderthalb Dutzend Bäume fand, aus deren Stämmen sich einigermaßen brauchbare Bootsstangen anfertigen ließen. Die Rinde hatte er schneller zusammen. Das Taschenmesser leistete ihm gute Dienste. Besonders schwierig war es, das gesammelte Holz und die Stämme zum Boot zu schleppen. Sie mußten sich durch das Strauchgewirr durcharbeiten und dann noch eine Strecke über zerklüftete Felsen klettern. Bis zum Abend hatte jeder nur ein einziges Bündel hinuntergeschafft. Sie machten sich am Ufer Feuer, übernachteten auf ihren Fellen und schliefen länger als gewöhnlich. Es war so angenehm, sich nach dem langen Sitzen im Boot frei auszustrecken. Am Vormittag trugen sie noch mehr Holz hinunter, und Mang schleppte alles, was er zum Bau eines Kanus brauchte,
ans Ufer. „Du willst dir jetzt also ein Boot machen?“ fragte Taido lächelnd. „Ja“, antwortete Mang und fing gleich an, die Stangen zusammenzubinden. Die Alten sahen einander an und schüttelten die Köpfe. „Was bist du für ein Dickkopf!“ sagte Taido in strengem Ton. Man merkte aber heraus, daß er seinem Sohn nicht böse sein konnte. „Das ist gar nicht so dumm“, wurde Mang von Kos unterstützt. „Ob wir das Boot dieses Jahr machen oder im nächsten, bleibt sich doch gleich.“ Schon am anderen Tag arbeiteten beide Familien daran. Die Männer verbanden die Stangen zu einem Gerippe, die Frauen hefteten die Rinde aneinander. Kos spendete noch das Flechtwerk, das seine Frau und seine Tochter bereits angefertigt hatten. Alle – sowohl die Alten als auch die Kinder – meinten, es werde ein Heim für Mang und Mgu geflochten. Nur Mang allein war anderer Ansicht. Nach einigen Tagen lag neben den beiden alten Booten ein neues, und Mangs Herz weitete sich vor Freude. „Mag er einstweilen seinen Spaß haben“, sprachen die Eltern unter sich. „Für Mgu ist es ohnehin noch zu früh zum Heiraten.“
Auch Mgu wußte, daß ihr künftiges Schicksal mit diesem Boot verknüpft war. Sie hatte wiederholt davon sprechen hören und dachte einfach: Wenn die Alten etwas sagen, muß es so sein. Was sollte sie auch dagegen einzuwenden haben? Ihre Familien hielten seit langem wie nahe Verwandte zusammen. Die Boote schwammen wieder auf den Kanal hinaus. Mang benahm sich mit seinem Kanu ebenso übermütig wie die jungen Wale: bald überholte er die anderen, bald blieb er zurück oder bog seitlich ab. Endlich besaß er, was er sich so lange gewünscht hatte: er konnte rudern, wohin es ihn lockte, er war frei! Bald darauf sahen sie ein fremdes Boot, es kam ihnen entgegen. „Das wird Ngara sein“, meinte Kos. „Natürlich will er wieder etwas von uns haben“, bemerkte Taido.
„He, haltet an!“ rief der Mann im anderen Boot. Die drei Kanus hielten. Ngara, ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, ruderte heran. Er trug ein seltsames Gewand: ganz aus Vogelbälgen. Eine solche Kleidung stand einem Walroß- oder Robbenfell in nichts nach. Trotzdem wünschte sich jeder Mann ein Tierfell. Aber es war nicht leicht, sich eins zu beschaffen. Walrosse zu erlegen fällt selbst gutbewaffneten Leuten schwer, gar nicht zu reden von unseren Feuerländern. Deswegen suchte Ngara auch die Gesellschaft von Taido und Kos. „Bei den hellen Felsen habe ich Walrosse gesehen“, sagte er. „Fahren wir hin?“ Die Männer stimmten freudig zu. „Aber werden wir denn mit ihnen fertig?“ fragte Taido. „Wieviel sind es?“ „Drei. Zu viert werden wir es schaffen.“ Die Boote kehrten wieder in das Felsenlabyrinth zurück. Nach etwa zwei Stunden erreichten sie den Ozean. Ngara gab ein Zeichen, die Boote hielten. Die Männer sprangen ans Ufer und spähten vorsichtig um eine Felsnase. Sie erblickten einen kleinen flachen Platz, den an drei Seiten steil aufragende Felswände schützten. Die vierte Seite, zum Meer hin, war offen. Hier wärmten sich zwei Walrosse in der Sonne, ein kleines plätscherte im Wasser. Die Jagdvorbereitungen begannen. Die Frauen und Kinder gingen an Land, alles Hab und Gut wurde ausgeladen. Dann fuhren die vier Boote nacheinander auf das Meer hinaus. In jedem saß nur ein Mann. Mit Geschrei schössen sie hinter dem Felsen hervor und riegelten mit ihren Booten das Ufer ab. Die beiden Walrosse bekamen einen solchen Schreck, daß sie sich zuerst gegen die Felswände warfen, Doch dann
wandten sie sich grunzend den Menschen zu, die aus den Booten stiegen. Auf ihre riesigen Hauer gestützt, krochen sie zum Ufer; ihre Beinflossen bewegten sich ungelenk, mit den Schwänzen schlugen sie auf den Boden. Das eine Tier steuerte auf Ngaras Boot zu. Dort war das Ufer flach, deshalb hatte Ngara nicht nah genug anlegen können. Zwischen seinem Kanu und dem Land lag ein schmaler Wasserstreifen, dorthin strebte nun das Walroß. Ngara jedoch war schon aus dem Boot gesprungen, um das Tier nicht entkommen zu lassen, und stand bis zu den Knien im Wasser. Er schleuderte seinen Speer nach dem Walroß. Dieser drang dem Tier in die Seite, doch Ngara selbst glitt aus und fiel hin. Das wütende Walroß wollte sich auf ihn werfen, aber da kam Mang Ngara zu Hilfe, in der Hand das Stück Eisen mit dem Haken, das wir schon in Taidos Boot gesehen hatten. Der Schädel des Tieres knirschte unter dem Schlag, es wälzte sich auf der Stelle und stieß Mang mit einem heftigen Schlag seines Schwanzes um. Da liefen auch schon Taido und Kos herbei. Ngara richtete sich wieder auf, und im Nu war das Walroß erledigt. Das andere entkam ins Meer. Dann wurden die Frauen und Kinder geholt; fröhlich fing man an, das ausgeweidete Tier zu zerteilen. Die Siegesfreude wurde jedoch bald durch eine bedauerliche Meinungsverschiedenheit getrübt. Es erhob sich die Frage, wer das Fell bekommen sollte. Von Rechts wegen hätte es Mang erhalten müssen, doch Ngara war damit nicht einverstanden. „Ich habe die Walrosse aufgespürt, ich habe euch hierhergeführt, also gehört es mir.“ „Aufgespürt heißt noch nicht erlegt.“ „Ich habe es zuerst mit dem Speer getroffen. Es war schon
verwundet, als ihr es erschlagen habt.“ Ngara gab nicht nach. „Es hätte dich trotz deines Speers beinah noch aufgefressen.“ „Aber wenn ich nicht gewesen wäre, hättet ihr überhaupt nichts gehabt.“ „Und wenn ich nicht gewesen wäre, lebtest du nicht mehr!“ Mang wurde böse. „Sieh doch ein, daß er dich gerettet hat“, fügte Taido hinzu. „Ihr nützt es aus, daß ihr hier drei gegen einen seid!“ schrie Ngara erbost. Voller Wut verzichtete er auch auf seinen Anteil an Fleisch, sprang ins Boot, stieß ab und rief: „Wir werden sehen, was Gerechtigkeit ist, wenn wir einmal Mann gegen Mann stehen!“ Obwohl diese Drohung die Männer nicht schreckte, war doch die fröhliche Stimmung dahin. „Vielleicht wäre es besser gewesen, auf dieses verdammte Fell zu verzichten und sich mit ihm nicht zu überwerfen“, meinte der friedfertige Kos. Aber Vater und Sohn erhoben Einspruch: „Warum nur? Frage, wen du willst. Jeder sagt dir, daß er im Unrecht ist. Und was die Drohung angeht – die hören wir doch oft. Gerade von ihm.“ Ein Wald unter Wasser Die meisten Alakalufs halten sich im südlichen Teil der Inselgruppe auf, dort, wohin kein Fremder kommt. Nicht, daß sie sich fürchten – nein, der Grund ist ein anderer: Wo es keine Weißen mit ihren Flinten gibt, sammelt sich gewöhnlich allerlei Getier, besonders Vögel. Doch Mang zog es immer nach dem Norden, in die Nähe der Weißen. Seit sie den Dampfer getroffen hatten, glaubte er sie dort suchen zu müssen.
Auf seinen Streifzügen zur Magellanstraße entdeckte er eines. Tages einen Winkel, der den beiden Familien für lange Zeit Unterschlupf bieten konnte. Es war eine kleine Bucht jenseits der Straße, so gut durch die Felsen geschützt, daß weder Wind noch Wellen einzudringen vermochten. Der Platz erinnerte ihn an die Bucht, wo sie das Holz gefunden hatten, nur war diese hier kleiner, gemütlicher und wärmer. Einen besseren Ort für den Winter konnten sich die Familien nicht denken. Sie beschlossen, diesen Winkel zu ihrem Heim zu machen. Sie hatten Platz, Vorräte anzusammeln und sich zum Schlafen langzulegen. Von einem Felsen fiel ein Süßwasserstrahl. Mit einem Wort: sie waren mit allem Komfort versehen. Freilich mußten sie erst die Vögel verjagen, denen dieses einsame Plätzchen auch gefallen hatte. Während der Ebbe stellte es sich heraus, daß den Grund der ganzen Bucht ein dichter Wald von Wasserpflanzen bedeckte, der überreich an „Wild“ war. In der Strömung bewegten sich die weit ausladenden grünen Zweige einer eigenartigen Pflanze. Sie sah wie ein richtiger Baum aus mit armdicken Ästen und schmalen, etwa meterlangen Blättern. Blasentang war es, den es auch in nördlichen Meeren gibt, aber längst nicht in solchem Umfang. Hier dehnt sich eine Pflanze manchmal über zweihundert Meter aus. Als die Männer ins Wasser stiegen und einen kleinen Zweig hochhoben, fand sich daran so viel Leckeres zu essen, daß selbst den Erwachsenen das Wasser im Munde zusammenlief. Was gab es hier nicht alles! Miesmuscheln, Mollusken, Krabben, Medusen, verschiedene Würmchen – kurz, lauter Dinge, die unseren Alakalufs ausgezeichnet schmeckten. „Seht nur, sogar Krebse!“ riefen die Kinder vergnügt.
Und wirklich! In einer Astgabel hatte sich eine ganze Krebsfamilie eingenistet. Der alte Taschenkrebs sah die Menschen böse an. Er öffnete und schloß seine furchtbaren Zangen, aber da wurde er von hinten gepackt und am Kahn zerschlagen. Dasselbe Los traf seine Artgenossen. Das Wasser wimmelte von kleinen Fischen. Die alten hatten hier ihren Rogen abgelegt. Ein besserer Laichplatz als diese Bucht ohne Wellengang war kaum denkbar. Nicht zufällig hatten auch die Vögel Gefallen an diesem Fleckchen gefunden. Die Männer ernteten den Zweig ab wie einen Baum im Garten und ließen ihn zurück ins Wasser gleiten. Aber damit hatte der Schmaus noch kein Ende. Es gab „Gemüse“, junge Blätter des Blasentangs, die nicht schlecht im Geschmack waren. Die Frauen kochten sie, und alle aßen sich daran so satt wie seit langem nicht. Etwas Grünes braucht jeder Mensch, und die beiden Familien hatten es schon einen ganzen Monat entbehrt. Auf dem Wasser schwammen Enten, die durch ihre Flügel etwas den Pinguinen ähnelten. Sie können ebenfalls nicht fliegen, sondern nur schwimmen; dabei klatschen sie schnell und laut mit den Flügeln aufs Wasser. Ihr Fleisch schmeckt aber im Gegensatz zu dem der Pinguine sehr gut. Die beiden Familien luden ihre Sachen ab, legten ein Feuer an und stellten ein Wetterdach auf. Wenn die Alakalufs eine geeignete Stelle zum Lagern finden, bleiben sie gern an Land. Aber wie oft kommt das schon vor? Taido hatte noch nie einen so vortrefflichen Lagerplatz gefunden. Ein Dach über dem Kopf, eine Wand und genügend Platz, sich lang auszustrecken – all das dünkte ihnen so herrlich und bequem, daß sie sich an Leib und Seele von den Strapazen der vorhergehenden Monate erholen
konnten. Die Alakalufs besaßen nur sehr einfache Geräte für den Fischfang: geflochtene Säckchen und kleine Netze. Oft holten sie die Fische mit bloßen Händen aus den Felsspalten, und nur äußerst selten gelang es ihnen, einen großen Fisch mit dem Speer zu erlegen. Jetzt, als sie das Gewimmel im Wasser zu ihren Füßen sahen, erkannten sie zum ersten Mal, daß ihnen ein Gerät fehlte, um diese Fische einfach herauszuschöpfen. Lange zerbrach sich Mang den Kopf darüber, bis er endlich etwas ausgedacht hatte. Er nahm einen geflochtenen Sack, zog ihn über einen Reifen und machte ihn an einer Stange fest. Mit dieser Kelle fuhr er durch das Wasser und schöpfte viele Fische auf einmal. Alle waren froh und vergnügten sich lange damit, auf diese Weise zu fischen. Sie fingen weit mehr, als sie brauchten. Ein paar Tage steckte niemand die Nase aus der Bucht hinaus. Draußen tobte der Sturm. Hinter den Felsen im Ozean brausten die Wogen, hoch über den Köpfen heulte der Wind, aber am Wohnplatz der Feuerländer war es still und behaglich. Zu essen hatten sie auch genug, nur eins machte ihnen Sorge: der Brennvorrat war zu Ende. Als sich das Wetter beruhigt hatte, beschlossen daher die Männer, auf Holzsuche zu gehen. Hinter den kahlen Felsen im Westen lag der Ozean, also mußten sie nach Osten. Sie fanden einige Vorsprünge in der steilen Felswand und stiegen nach oben, jede Minute in Gefahr, abzustürzen. Nachdem sie etwa zwanzig Meter geklettert waren, standen sie auf einem kleinen Plateau. Vor ihnen lag ein kleiner See, aus dem jenes Bächlein in die Tiefe fiel, das ihnen Trinkwasser lieferte. Aber hinter dem See erhob sich wieder eine Steilwand, und auch von dort oben kam ein Wasserfall, er
speiste den See. Die Männer kletterten höher – wieder gelangten sie auf ein Plateau, an einen See und einen Wasserfall. „So können wir ja bis in den Himmel klettern“, sagte Mang im Scherz. „Was sollen wir im Himmel?“ entgegnete Taido. „Aber sieh, dort in der Mulde wächst etwas.“ In einer kleinen Vertiefung, geschützt vor Nord- und Westwinden, wuchsen niedrige Sträucher und ein paar verkrüppelte Bäumchen. Rasch machten sich die Männer an die Arbeit; aber von Zeit zu Zeit richteten sie sich auf und freuten sich an dem wundervollen Ausblick. Endlos dehnte sich nach Westen der Ozean und glänzte in der Sonne, daß die Augen weh taten. Dicht an der Küste lagen verstreut eine Unmenge Inselchen und Felsen. Kahl und schwarz, sahen sie im blitzenden Wasser wie die Rücken von Riesentieren aus. Im Osten erhoben sich Berge mit weißen Schneegipfeln, Stufen einer gigantischen Treppe. Nirgends gab es menschliche Ansiedlungen. Um so erstaunter waren die Männer, als sie unweit des Ufers ein Boot bemerkten, in dem ein Mann stand. Ihre scharfen Augen erkannten Ngara mit seinem Vogelanzug. „Was mag ihn hierher verschlagen haben?“ forschte Mang beunruhigt. „Den wünschen wir uns nicht zum Nachbarn“, bemerkte Kos. „Was machen wir, wenn er unseren Winkel findet und bei uns bleiben will? Wollen wir ihn wegjagen?“ „Was sonst?“ antwortete Taido hart. „Wenn es nötig ist, werden wir ihn schon loswerden.“ Währenddessen hatten sie genug Äste und Zweige abgeschlagen und wollten sie zum Lagerplatz schaffen. Mang
ergriff so viel Äste, wie er fassen konnte, und schleuderte sie hinunter, von Terrasse zu Terrasse. So machten es alle, bis sie die Frauen und Kinder lustig schreien hörten, weil ihnen die Äste auf den Kopf zu fallen drohten. Das Weiße Vögelchen Jetzt konnte Mang unbesorgt seine Ausflüge unternehmen – er würde die Seinen immer an diesem Ort wiederfinden. Außerdem brauchte er sich keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie es seinen Eltern, dem Brüderchen und der Schwester erging und ob sie genug zu essen hatten. Die von ihm entdeckte gesegnete Bucht konnte sie länger als einen Winter gut ernähren. So blieb Mang oft mehrere Tage weg. Die Eltern gewöhnten sich daran und hinderten ihn nicht. Noch immer brannte in Mang der Wunsch, die geheimnisvollen weißen Menschen aus der Nähe zu betrachten, dort zu sein, wo sie wohnten, vielerlei Wunder zu sehen. Aber die Kanus der Weißen kamen sehr selten vorüber, und noch seltener gelang es, sich ihnen zu nähern: sie fuhren sehr schnell. Und was für Nutzen sprang schon dabei- heraus? Er schaute das Schiff von unten an, vielleicht warf man ihm irgend etwas zu – das war alles. Das genügte Mang aber nicht. Nein! Er mußte den Ort aufsuchen, wo sie wohnten. Aber der lag weit, weit im Norden, dort, woher die großen Kanus kamen. Eines Tages erklärte Mang den Eltern, daß er fortrudern wolle, um zu sehen, wie die weißen Menschen leben. „Das ist so weit, am anderen Ende der Welt“, versuchte ihm die Mutter das Abenteuer auszureden. „Du kommst gar nicht hin, dir geschieht ein Unglück, oder sie bringen dich um.“ „Ihr habt doch selbst gesehen, daß sie uns nichts tun“, wi-
dersprach Mang eifrig. „Und wenn es zu weit ist, so fahre ich eben, solange ich kann. Merke ich, daß ich es nicht schalle, kehre ich um.“ Sie konnten ihn von seinem Plan nicht abbringen und ließen ihn fahren. Warum sollten sie ihn auch zurückhalten? Schließlich streiften sie alle auf dem Meer umher. „Hüte dich vor ihrem Zauberer“, warnte ihn die Mutter noch zum Abschied. Selbstredend hatte Mang nicht die geringste Vorstellung von der Entfernung, die er zurücklegen mußte, um „zu sehen, wie die Weißen leben“. Bis zur nächsten großen Stadt, Valparaiso, waren es 2000 Kilometer, und die nächste Siedlung der Weißen lag fast fünfhundert Kilometer entfernt. In dem kleinen Kanu hätte er mindestens einen Monat gebraucht, um diese fünfhundert Kilometer zurückzulegen – nicht mitgerechnet die vielen Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen konnten: Sturm, Mangel an Essen oder Trinkwasser. Doch all das wußte und bedachte Mang nicht. Er meinte, nach einigen Tagen würde er am Ziel sein, sich umsehen, staunen – und befriedigt nach Hause zurückkehren. Der erste Tag verging wie hundert andere. Die gleichen Felsen und Straßen, die gleichen Vögel. An Land zu gehen brauchte Mang noch nicht: er hatte Vorrat an Nahrung und Wasser mitgenommen und übernachtete im Boot unter einem Felsvorsprung. Aber schon am zweiten Tag mußte er mehrmals anlegen. Das wenige Wasser in dem kleinen, unverschlossenen Topf war beim Schaukeln des Bootes herausgeschwappt. Auf den Felsen und kleinen Inseln gab es aber kein Süßwasser. Mang mußte zum Kontinent abbiegen und suchen, wo von der felsigen Küste ein Rinnsal herunterfiel. Das bedeutete einen großen Umweg, und daher kam er
nur wenige Kilometer voran. Etwa drei Stunden vor Sonnenuntergang gelangte Mang an eine Gruppe flacher Inseln, die mit Gras bewachsen waren. Mang entsann sich schon gar nicht mehr, wann er das letztemal Gras gesehen hatte. Er beschloß, auf einer dieser Inseln zu übernachten. Als er ans Ufer heranruderte, bemerkte er, daß dieses hübsche Fleckchen auch seine Schattenseiten besaß. Hier gab es viele Riffe, Einige ragten aus dem Wasser hervor, andere verbargen sich dicht unter der Oberfläche. Sogar für das leichte Boot Mangs war es beschwerlich, sich hindurchzulavieren. Endlich stieg Mang ans Ufer, zog das Boot nach und machte sich daran, die Insel zu erkunden. Sein Messer, seine Jagdgeräte und die Walroßhaut ließ er im Boot zurück. Nur der kurze Überwurf aus Robbenfell hing ihm von der Schulter. Wie angenehm war es, über das weiche Gras zu gehen! Ringsum blühten niegesehene Blumen. Auch die Vögel, die es hier gab, kannte er nicht, sie waren klein und sangen schön, gar nicht so wie Möwen, Enten, Albatrosse und andere Seevögel, deren Geschrei einem die Ohren zerriß. Jenseits der Wiese zog sich grüner Wald einen Hügel hinan. Mang war glücklich. Dort, wo die Alakalufs lebten, wuchsen nur niedrige, verkrüppelte Bäumchen, die sich mit ihren Wurzeln an den bloßen Stein klammerten. Hier aber waren die Bäume gerade gewachsen und höher und trugen freundliches Grün. Mang umging das Wäldchen, stieg auf den Gipfel des Hügels und setzte sich. Der Abend war herrlich. Das Meer lag spiegelglatt, nicht ein Wölkchen hing am Himmel. Langsam versank die Sonne im Ozean… Mang saß still da und freute sich an der Schönheit der Natur. Doch was war das? Am Ufer machte sich ein Mensch in ei-
nem Boot an Mangs Kanu zu schaffen! Jetzt fuhr der Fremde ab und zog das Kanu hinter sich her. Das war doch Ngara! Man sah’s an diesem verdammten Vogelkleid! Mang heulte laut auf, preßte Fäuste und Zähne zusammen und stürzte dem Ufer zu. „Halt, Ngara! Halt!“ schrie er keuchend. Aber die Boote entfernten sich immer mehr. Als Mang zum Wasser hinunterkam, war Ngara schon so weit weg, daß er frech anzuhalten wagte. „Ngara! Halt!“ Mang hörte nicht auf zu rufen. „Das soll dir schlecht bekommen! Wenn ich dich erwische, schlag ich dich tot, oder Vater und Kos tun es. Nimm, wenn du magst, das Walroßfell, aber laß das Kanu hier!“ „Warum willst du mir das Fell geben, wenn ich es schon habe?“ antwortete Ngara spöttisch. „Und das Kanu lasse ich einfach schwimmen. Dann kommst du mir nicht mehr in die Quere und kannst hier drohen, soviel du willst. Dein Vater aber denkt, du bist ertrunken.“ Er fuhr weiter. „Warte, Ngara!“ rief Mang wieder. „Nimm dir alle meine Sachen, nur das Kanu laß mir!“ „Hahaha!“ lachte dieser. „Du Dummkopf! Die habe ich ja schon… Na, viel Spaß auf deiner Insel! Leb wohl!“ Er ruderte fort. Vergeblich rief Mang, schüttelte die Fäuste, drohte, bat sogar – er blieb allein am einsamen Strand, mit leeren Händen. Voller Verzweiflung warf er sich auf die Erde, hämmerte den Kopf gegen den Boden, schrie, raufte sich das Haar. Es dauerte lange, bis er sich endlich beruhigt hatte und wieder aufrichtete. Die ganze Nacht saß er an derselben Stelle. Die ersten Strahlen der Sonne weckten in Mang neuen Lebensmut. Er stand auf, reckte die Glieder und sah sich um. Alles war hier besser und schöner als dort, wo seine Eltern
wohnten. Nur das Kanu fehlte! Aber deswegen brauchte er noch lange nicht ans Sterben zu denken. Er würde sich selbst ein Kanu bauen, gutes Holz war ja genügend da. Später würde er es diesem Ngara schon heimzahlen! Über solchen Gedanken vergaß er seine gefährliche Lage ganz. Schnell ging er an die Arbeit. Der Bootsbau versprach langwierig zu werden: Mang hatte kein Werkzeug, sogar das Taschenmesser war im Boot geblieben. Und wenn auch! Er würde sich schon irgendwie helfen. Früher war er doch auch ohne Messer ausgekommen. Mang sammelte Muscheln am Strand, zerschlug sie, ging zum Wald, suchte einen dünnen, hohen Baum aus und fing an, ihn mit den scharfen Muschelkanten abzusägen. Weil der Baum nur armstark war, fällte er ihn ziemlich schnell. Nach einigen Stunden hatte er auf diese Weise sieben Bäume umgelegt: eine Stange für den Boden des Kanus und sechs für die Bordwände. Die Bearbeitung der Stangen war bedeutend schwieriger als das Fällen. Die stumpfen Enden mußten angespitzt werden, damit er sie an Bug und Heck des Bootes zusammenfassen konnte. Außer den Muscheln nahm er noch scharfe Steinsplitter zu Hilfe. Viel Zeit und Mühe sparte ihm ein schlauer Einfall: Er steckte die Enden der Stangen in einen schmalen Felsenritz und drehte sie. Mang arbeitete mit solcher Hingabe, daß er gar nicht merkte, wie es Abend wurde. Hunger quälte ihn und mehr noch Durst. Aber zum Suchen nach etwas Nahrhaftem war es zu spät. Mang lehnte sich an einen Stein und schloß die Augen. Nach der durchwachten Nacht und dem anstrengenden Tag schlief er schnell ein und vergaß Hunger und Durst. Am nächsten Morgen aß er etliche kleine Krabben und ging wieder an die Arbeit. Bald merkte er jedoch, daß er es nicht
länger ohne Wasser aushalten konnte. Würde er aber auf dieser Insel eine Quelle finden? Der Wind war heftiger geworden, im Westen zogen Wolken auf. „Ich will lieber den Regen abwarten“, sagte Mang zu sich selbst und arbeitete weiter. Der Regen kam bald, aber es goß so heftig, daß Mang sich eher gewünscht hätte, noch einen ganzen Tag ohne Wasser dazusitzen, als diese Flut über sich ergehen zu lassen. Von Mittag an bedeckten schwarze Wolken den Himmel. Riesige Wellen wälzten sich auf die flache Insel zu und drohten sie gänzlich zu überschwemmen. Aber die Riffe fingen den ersten Anprall ab und brachen die Gewalt des Meeres, das – wie aus Zorn darüber – mit höllischer Wut brüllte und tobte. Mang saß unter einem Baum, er hatte sich das Robbenfell über den Kopf geworfen und zitterte vor Kälte. Endlos langsam verging die Zeit. Plötzlich ertönte hinter den Riffen die wild aufheulende Sirene eines Dampfers. Mang sprang sofort auf und lief zum Ufer. Der Wind warf ihn beinahe um, salzige Spritzer schlugen ihm ins Gesicht, er achtete nicht darauf. Mit Neugier und Entsetzen spähte er in den dichten Regenschleier hinaus, fieberhaft gewärtig, das Kanu der Weißen auftauchen zu sehen. Gewiß ist es in Gefahr, dachte Mang. Aber was kann einem solchen Riesen schon zustoßen? Vielleicht nehmen die Weißen mich mit und retten mich von dieser Insel? Wohl eine Stunde stand er so da und starrte in das neblige Grau, aber es zeigte sich nichts. Auch die Sirene heulte nicht mehr, nur die Wogen brüllten, und der Regen goß in Strömen. Da trieb auf dem weißen Kamm einer Woge etwas Schwarzes heran, stieg auf, versank wieder, näherte sich schon dem
Ufer, als eine zurückgleitende Welle es packte und wieder ins Meer trug. Eine andere Woge rollte heran, faßte es von neuem und schob es dem Lande zu – doch wieder riß es die zurückflutende mit sich… Mang hatte schon erkannt, daß es ein Mensch war, der sich an ein Brett klammerte; er würde so lange hin und her geworfen werden, bis er auf die Felsen aufschlug. Mang paßte den Moment ab, wo das Wasser den Menschen näher brachte, stürzte ihm, entgegen und griff nach dem Brett. Eine Welle wollte Ihn mitreißen, aber er tauchte unter ihr durch. Dann packte er blitzschnell den Menschen und lief zum Ufer. Der Fremde hielt sich krampfhaft an dem Brett fest, das Mang beim Laufen im Wege war. Die nächste Woge holte ihn ein und versetzte ihm einen Schlag in den Rücken. Er wurde vorwärts getrieben, stürzte am Ufer hin und auf ihn der Mensch mit dem Brett. Mang hatte sich heftig gestoßen, aber darauf durfte er jetzt nicht achten. Er kroch schnell ein paar Schritte weiter, damit der Ozean ihn nicht wieder ergriff, und versuchte dem Menschen das Brett aus den Händen zu reißen. Es gelang nicht. Mang mußte ihn mitsamt dem Brett weiterschleppen. Erst am Ufer konnte er die verkrampften Finger lösen… Ein Mädchen! stellte Mang fest, als er den Menschen näher ansah. Die Gerettete war besinnungslos; Mang spürte keinen Atem. Er nahm sie auf die Arme, trug sie unter den Baum und wickelte sie in seinen Überwurf. Das Fell bedeckte zwar nur einen Teil ihres Körpers, mehr konnte Mang indes nicht tun. Er kauerte neben ihr und betrachtete neugierig diesen geheimnisvollen, ungewöhnlichen weißen Menschen. Am meisten interessierten ihn die Beine. Sie waren blau, und das
wunderte ihn sehr. Die nassen dünnen Strümpfe lagen so fest an, daß nicht ein einziges Fältchen zu sehen war. Deshalb dachte Mang, das Mädchen habe einen so absonderlich gefärbten Körper. Die kleinen schwarzen Schuhe mit den schmalen Spitzen erregten ebenfalls Mangs Aufmerksamkeit. Er befühlte sie: Was stellten sie dar? Währenddessen hatte das weiche, warme Fell seine Wirkung getan. Das Mädchen holte tief Atem und stöhnte leise. Mang freute sich: Sie lebt also! Wasser sprudelte aus ihrem Mund, sie bewegte sich, stöhnte laut auf und begann wie im Fieber zu zittern. Mang, der selbst vor Kälte bebte, beschloß, einen besseren Unterschlupf zu suchen. Wind und Regen ließen nicht nach, und die Sicht wurde immer schlechter, da der Abend hereinbrach. Mang lief so schnell er konnte zu dem Hügel hinauf. Dahinter hatte er am Vortage Felsen gesehen. Vielleicht fand sich dort eine warme und trockene Stelle? Lange rannte er an den Felsen hin und her, aber erst auf dem Rückweg entdeckte er eine Art Nische, sicher geschützt gegen das Meer. Die Wolken kamen gerade vom. Ozean her, daher schlugen Wind und Regen hier nicht herein. Indessen genügte der Platz nur für einen. Mang lief zurück, nahm das Mädchen und trug sie in diesen Winkel. Sie zitterte und redete von Zeit zu Zeit irgend etwas Unverständliches. Es wurde immer dunkler. Ich müßte ein Feuer machen, dachte Mang. Er schaute sich nach allen Seiten um. Oben auf dem Hang wuchsen sicherlich Bäume oder Sträucher: aus der Erde ragten Wurzeln. Dürres Laub, Zweige, Gras waren auch da. Es mußte nur eine Flamme entfacht werden. Mang fand an den Wurzeln und Zweigen Baumschwämme, die konnten als Zunder dienen. Er sammelte die dünnsten und trockensten Ästchen, Gras und Blätter. Dann nahm er ein paar Steine
und fing an, Funken zu schlagen. Das alles war leichter gesagt als getan. Wieviel Steine mußte er suchen und ausprobieren, bis sich ein großes Stück Feuerstein fand! Dann sprühten zwar Funken auf den Zunder, doch der wollte und wollte nicht brennen. Endlos lange Zeit verstrich. Das Mädchen stöhnte, wälzte sich umher, seufzte. Der Sturm begann abzuflauen. Mang aber schlug sich noch immer mit seinem Feuer herum. Am liebsten hätte er die Sache aufgegeben, doch das schwere Leben hatte ihn Geduld gelehrt. Es war bereits finstere Nacht, als endlich die Flamme aufloderte. Das war eine Freude! Mit einemmal verwandelte und belebte sich alles. Auch das Mädchen kam zu sich, als das Feuer sie wärmte und trocknete. In den ersten Minuten begriff sie nicht, wo sie war. Dann richtete sie sich auf, starrte Mang an und schrie verzweifelt, als sie sich wieder an alles erinnerte. Sie schloß die Augen und wurde ohnmächtig. Mang hockte neben dem Feuer und lächelte glücklich, froh darüber, daß sie lebte. Er wußte nicht, weshalb sie wieder umgefallen war. Er nahm an, ihre Kräfte hätten noch nicht gereicht, und wartete. Nach kurzer Zeit kam die Gerettete von neuem zu sich. Wieder erblickte sie Mang. Sie sprang auf und flüchtete mit einem Aufschrei in den äußersten Winkel, die Hände vorgestreckt, als müßte sie sich vor ihm schützen. Mang lachte über das ganze Gesicht, nickte und sagte: „Gut, gut! Du bist schon gesund. Das Feuer ist gut.“ Aber das arme Mädchen dachte, ihr Ende sei gekommen, man würde sie bestenfalls sofort schlachten und auffressen. „Ach, wäre ich doch lieber ertrunken!“ stöhnte sie, zog den Kopf zwischen die Schultern, bedeckte das Gesicht mit den
Händen und erwartete den Tod. Aber Mang rührte sich nicht vom Fleck. Er schürte nur das Feuer und blickte dann wieder zu ihr hinüber. Sie erinnerte ihn an einen kleinen hilflosen Vogel und erregte sein Mitgefühl. Es war ihm angenehm, ihr Retter zu sein, und er war stolz darauf, neben einem der weißen Menschen zu sitzen, die er selbst, sein Vater und der alte Kos bislang nur von weitem gesehen hatten. Das Mädchen jedoch war vor Furcht wie gelähmt und bereitete sich aufs Sterben vor. Sie wartete, daß die übrigen Wilden kämen – furchtbare Wesen mit Lanzen und Messern – , um das Feuer herumtanzten, und dann… Sie wagte nicht, weiterzudenken und brach in klägliches Wimmern aus. Ihre Schultern bebten. Mang wunderte sich und wurde unruhig. Dieses verzweifelte Weinen erschütterte ihn. Sie tat ihm so leid, daß er zu ihr hinrutschte und sie zu beruhigen versuchte. „Sei nicht bange. Mang wird alles tun. Er wird dir zu essen bringen und auch ein Kanu flechten, damit er dich von hier fortbringen kann!“ Als das Mädchen sah, daß er sich ihr näherte, dachte sie, ihr Ende sei gekommen. Sie schrie mit einer nicht mehr menschlichen Stimme auf, schnellte hoch und lief vom Feuer weg, hinaus in die Finsternis. Mang blieb mit offenem Munde sitzen. Was hatte sie nur? Wohin lief sie? Es sah aus, als ob sie sich vor ihm fürchtete. Aber er hatte ihr doch nichts Böses getan und wollte ihr auch nichts tun! Was sollte er jetzt machen? Sie wieder einfangen? Das Mädchen war einige Schritte gelaufen. Als sie sah, daß er nicht den Versuch machte, hinter ihr herzujagen, blieb sie stehen. Zum ersten Mal beurteilte sie ihre Lage nüchtern.
Wohin auf dieser Insel? Wenn er wollte, konnte er sie sofort einfangen. Bisher hatte er noch nicht versucht, ihr ein Leid anzutun. Im Gegenteil, er hatte sie aus dem Wasser gezogen, hierhergetragen, sie gewärmt und getrocknet, sie sogar in ein Fell gewickelt. Dabei saß er selbst in der Kälte nur mit diesem winzigen Schurz! Nein, er dachte wirklich nicht daran, sie anzutasten. Vielleicht war das ein menschlicher Wilder? Man sagt ja, es gebe so etwas. Möglich, daß er sie sogar vor seinen Leuten beschützt, wenn sie kommen. Was auch immer geschehen mochte, sie kehrte auf ihren Platz zurück. Mang lächelte freundlich und sagte wieder: „Mang tut dem Weißen Vögelchen nichts. Mang rächt sich nur an seinen Feinden, an solchen wie Ngara.“ Das Mädchen beruhigte sich langsam. Die Erregung wich einer großen Ermattung, bleierne Müdigkeit überfiel sie. Eine Weile versuchte sie sich aufrecht zu halten, sie wollte nicht einschlafen. Doch bald senkte sich ihr Kopf, die Augen fielen zu, und sie merkte nicht, wie sie in tiefen Schlaf versank. Es war fast Mitternacht. Der Sturm hatte sich gelegt, aber der Ozean tobte nach wie vor. Mang schob Reisig ins Feuer und legte sich zum Schlafen hin. Nur Kopf und Schultern konnte er in die Nische zwängen, der Leib und die Beine blieben draußen. Mehrmals weckte ihn die Kälte. Er schürte die Flamme, aber es war nichts mehr zum Nachlegen da. Das bißchen Glut unter der Asche wärmte nicht. Das weiße Mädchen .schlief ruhig und fest. Die Katastrophe Mang wachte früh auf. Das Mädchen lag auf dem Fell, die blauen Beine angezogen. Das helle Kleid, die hellen Haare, das sanfte weiße Gesicht – alles das überzeugte Mang davon,
daß er kein gewöhnliches Wesen vor sich hatte. Die Feuerländer hielten die Weißen zwar nicht mehr für Götter – wie in vergangenen Zeiten – , aber immerhin empfanden sie große Achtung vor ihnen, wenigstens solange sie sie nicht näher kennenlernten. Mang war es eine große Freude, sein Weißes, Vögelchen Zu versorgen. Gleich brach er auf, etwas zum Frühstück zu suchen. Er sammelte Muscheln und Schnecken und wollte schon umkehren, als er wie angewurzelt stehenblieb; auf den spitzen Steinen lag ein Mann. Für Mang war es nicht schwer zu erraten, daß er zu dem untergegangenen Schiff gehörte. Er hatte Männer mit solcher Kleidung auf allen Schiffen gesehen. Dieser hier war tot, in seinem Schädel klaffte ein Loch. Mang drehte ihn von einer Seite auf die andere, befühlte die schwarze Uniform mit den goldenen Knöpfen und den verschiedenen anderen Anhängseln und entdeckte am Gürtel einen schönen Dolch. Dieser Fund beglückte ihn so, daß er hell aufjauchzte. Im Augenblick hatte er den Dolch aus der Scheide gezogen, drehte ihn in den Händen, schnalzte mit der Zunge, aber dann wollte er auch die Scheide haben. Sie war jedoch am Gürtel befestigt, und als er diesen löste, kam ihm der glückliche Gedanke, die ganze Jacke zu nehmen; er war doch so gut wie nackt und konnte sie brauchen. Bald stand er da in einer Kapitänsjacke. Sich auch die Hosen anzuziehen, darauf kam Mang nicht. Das Mädchen war inzwischen aufgewacht. Sie blickte um sich, und die Erinnerung an die gestrige Katastrophe überfiel sie mit Entsetzen. War es ein Traum, oder war es Wirklichkeit? Das Schiff ging unter, das Rettungsboot zerschellte – daran entsann sie sich ganz genau. Aber dann – war sie dann nicht Wilden in die Hände gefallen? Wieso saß sie hier
plötzlich ganz allein? Da sah sie jemand in Uniform auf sich zukommen. Sofort tauchte in ihr die Hoffnung auf: das ist einer, der sich auch gerettet hat! Aber nein – es war der Wilde von gestern. Hatte er am Ende einen Schiffbrüchigen erschlagen?… Das Mädchen schrie auf und drückte sich an den Felsen. Doch Mang legte fröhlich lachend seine Beute vor sie hin und sagte wohlwollend: „Da, iß!“ Dann merkte er, daß sie seine Kleidung interessierte, und fügte hinzu: „Da war ein Mann von euch, der ist tot.“ Dabei zeigte er mit der einen Hand auf die Uniform und wies mit der anderen dorthin, wo er eben herkam. Das Mädchen wußte nicht, was sie denken sollte. Endlich nahm sie allen Mut zusammen, trat entschlossen an Mang heran und versuchte ihm durch Zeichen zu erklären, daß sie selbst dahin gehen und nachsehen wolle. Mang verstand, winkte ihr und schritt voran. Als sie zum Ufer kamen, begriff das Mädchen alles. Tränen des Mitleids entströmten ihren Augen. Einige Minuten stand sie und erinnerte sich an die Einzelheiten der Katastrophe. Wer weiß, vielleicht sind die anderen glücklicher als ich? dachte sie unter Tränen. Für sie ist wenigstens alles schon zu Ende… Der Anblick des Toten, wie er da auf den Steinen lag, bedrückte sie. Durch Gesten gab sie Mang zu verstehen, daß er ihn dem Meer übergeben solle. Mang schleppte die Leiche zum Wasser, und die Wellen trugen sie sacht davon. Das Mädchen wandte sich um und ging schnell zurück, allzu schwer war ihr ums Herz. Die Angst vor dem Wilden hatte sie jedoch überwunden. Er hatte sich in allem so benommen, wie jeder andere Mensch auch. Sie wunderte sich nur, daß er allein war. Ob ihn ebenfalls ein Unglück
hierher verschlagen hatte? Vielleicht mußten sie beide viele, viele Jahre auf dieser Insel leben, vielleicht sogar bis zum Tode… Aber es war wohl besser, nicht daran zu denken! Die Engländer sind energische und widerstandsfähige Menschen. Auch das junge Mädchen fand bald Frische und Tatkraft wieder. Sie fühlte einen heftigen Hunger. Aber als Mang ihr seine Schnecken vorlegte, schauderte sie fast ebenso wie gestern, als sie ihn selbst erblickte. Mang briet seinen Fang in der Asche und begann zu essen. Seine Miene verriet deutlich, wie gut es ihm schmeckte. Das Mädchen zeigte, daß sie trinken wollte. Mang sprang sofort auf, lief zum Meer, hob eine große Muschel auf und holte damit Wasser aus einer Regenpfütze. Für das Mädchen war es wenig verlockend, dieses Wasser zu trinken, dazu noch aus einer Muschel, von den schmutzigen Händen eines Wilden gereicht – aber was blieb ihr anderes übrig? Sie mußte sich daran gewöhnen. Mang merkte: das Weiße Vögelchen mochte seine Nahrung nicht, und er beschloß, sie mit Fischen zu bewirten. Das war mühsamer als Wasser holen, das hieß, eine Stelle finden, wo er die Fische in eine Ecke jagen und mit den Händen greifen konnte. Erneut lief er zum Ufer und kehrte nach einer Weile mit ein paar kleinen Fischen zurück. Diese Mahlzeit nahm das Mädchen dankbar an, sie briet die Fische sogar selbst in der Glut. Beim Essen aber verzog sie das Gesicht, weil die Fische ungesalzen und voller Asche waren und das Brot dazu fehlte. Mang hockte neben ihr in seiner Kapitänsuniform und freute sich, daß sie aß. Wie traurig das Mädchen auch war – beim Anblick dieser Uniform mußte sie jedesmal lächeln. Jetzt aber lachte sie laut los, und Mang stimmte aus vollem Herzen ein. Nach dem Frühstück ging er an seine Arbeit. Er zeigte dem
Mädchen die Stangen und erklärte ihr, daß er ein Boot machen wolle, ein Kanu, in dem sie zusammen fortfahren würden. Dabei deutete er mit der Hand über das Meer. Sie verstand, was er mit seinen Gesten ausdrücken wollte, konnte sich aber durchaus nicht vorstellen, wie aus solchen Stangen ein Boot zustande kommen sollte. Die Arbeit ging Mang jetzt schneller von der Hand. Er hatte einen guten Dolch, der als Beil, als Messer, als Hobel und als Ahle diente. So besessen war er von seiner Arbeit, daß er das Essen ganz vergaß. Das Mädchen aber war hungrig. Die wenigen Fischchen und das Regenwasser konnten ihr nicht Kakao, Brötchen, Butter und andere schmackhafte Dinge ersetzen, an die sie gewöhnt war. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, trat zu Mang und deutete mit den Fingern in ihren Mund. Mang ließ sofort die Arbeit im Stich und ging auf Essensuche. Dieses Mal hatte er Glück, es war Ebbe, und er entdeckte einen Tümpel, in dem ein paar ziemlich große Fische schwammen. Die Weiße wollte ihm beim Fangen helfen, fürchtete sich aber vor den Krebsen, die – gebraten – ihr doch am besten von allem mundeten. So verstrich Tag um Tag. Mang mühte sich mit seinem Boot, das Mädchen aber ruhte auf dem weichen Robbenfell oder spazierte über die Insel. Sie verging fast vor Ungeduld. An die Nahrung, mit der Mang sie versorgte, konnte sie sich nicht gewöhnen, sie fühlte sich elend und magerte ab. Ihre Zuversicht schmolz immer mehr dahin, ihr schien, sie würde niemals mehr von hier fortkommen. Mang im Gegenteil war guter Dinge. Soweit er konnte, erfüllte er ihr jeden Wunsch und vertröstete sie auf die nahe Abfahrt. Er selbst wollte so schnell wie möglich nach Hause. Er mußte sich an Ngara rächen und ihm das Boot abnehmen;
denn das Kanu, an dem er jetzt baute, versprach schlechter auszufallen als sein altes. Hatte er erst wieder ein gutes Boot, dann würde er auch einen Weg zu den Weißen finden. Mangs Werk gedieh nur sehr langsam. Allein zwei Tage brauchte er für das Gerüst. Dann blieb noch die Hauptaufgabe: das Verkleiden. Hier gab es nur dünne Bäume. Die kleinen Rindenstücke, die er verwenden mußte, zerbrachen leicht. Er legte mehrere Schichten übereinander, flickte die Löcher, flickte das Geflickte und doppelt Geflickte… Das Mädchen begriff nun schon, wie Mang den Kahn machen wollte; wenn sie aber seiner Arbeit zusah, verlor sie alle Hoffnung, daß hierbei etwas Gescheites herauskommen könnte. Doch Mang verzagte nicht. Stückchen um Stückchen fügte er die Rinde aneinander. Endlich bot das Mädchen ihre Hilfe an. „Gut! Gut! Jetzt wird es schnell gehen. Das Weiße Vogelchen ist ein gutes Mädchen“, sagte er. Aber er hatte sich zu früh, gefreut. Dem Weißen Vögelchen wollte nichts gelingen. Sie begriff jedoch, daß ihr Leben davon abhing, biß die Zähne zusammen und arbeitete weiter. Ein, zwei Tage vergingen, da zeigte es sich, daß auch verwöhnte Hände nützen können. Mangs überzeugte, muntere Miene gab dem Mädchen neue Zuversicht. Drei Wochen verstrichen. Das Wetter wechselte, sie hatten Regen, Wind und Sturm. Das helle Kleid des Mädchens hing in Fetzen herunter, die blauen Strümpfe zerrissen – erst jetzt begriff Mang, daß dies nicht die Farbe der Haut war! – , aber ihre Gesundheit festigte sich. Das einfache Leben gereichte ihr nur zum besten. Sie hatte längst vergessen, daß sie sich „in den Klauen eines Menschenfressers“ befand. Für sie war Mang ein gelbhäutiger Diener, wie es sie auch in London gab. Sie wunder-
te sich durchaus nicht darüber, daß er sie umsorgte, beschützte und ernährte. Sie schrie ihn manchmal sogar an, stampfte mit den Füßen. Mang verstand das nicht und fand es äußerst lustig. Der Tag kam, da das Kanu zu Wasser gelassen wurde. Es sah wenig zuverlässig und alles andere als schön aus, aber Mang konnte sich nicht satt sehen an dem Werk seiner Hände. Ohne jedes Zutrauen stieg das Mädchen in das Boot und zitterte vor Angst, als Mang zwischen den Riffen hindurchsteuerte. Sie sah schon das Kanu kippen oder unter seiner Last auseinanderbrechen. Als aber der Weg durch enge Wasserstraßen führte, geschützt von hohen Felswänden, beruhigte sie sich allmählich. Die erste Nacht verbrachten sie im Boot unter einer überhängenden Steinplatte. Für das Mädchen war es eine Qual. Am Morgen fuhren sie weiter. Mittags hörten sie plötzlich eine Schiffsglocke hinter einem Kap. Dort kam ein Dampfer! Die Fremde zeigte aufgeregt mit der Hand nach dem Felsen. Mang wußte selbst, worauf es ankam, und ruderte, so rasch er konnte. Viel Hoffnung hatte er nicht, daß sie das Schiff erreichen würden. Das Boot kam nicht schnell genug voran, und der Felsen zog sich lang hin. Das Mädchen zappelte hin und her, rang die Hände, weinte, schrie und brachte bald das Boot zum Kentern. Als sie endlich das Kap umschifft hatten, sahen sie weit, weit hinten am Horizont einen schwarzen Punkt und eine Rauchfahne… Mit jammervollem Aufschluchzen sank das Mädchen auf den Boden des Kanus und fiel mit dem Gesicht in kaltes Wasser. Sie erschrak. Wo kam dieses Wasser her? Als Mang
dem Schiff mit allen Kräften nachgerudert war, hatte er die Füße so fest gegen den Boden des Kanus gestemmt, daß die Rindendecke geplatzt war. Jetzt wollte er das eindringende Wasser aufhalten, das Leck mit den Händen zustopfen, aber vergebens – der Riß verbreiterte sich immer mehr. Die Lage war bedrohlich, doch Mang verlor nicht den Kopf. Er schaute zu dem Felsen hinüber, entdeckte einen kleinen Vorsprung und lenkte das Boot ohne Zögern dorthin. Er fuhr heran, sie standen bald bis zu den Knien im Wasser. Mit einem Satz sprang Mang auf den Felsen und zog das Mädchen nach. Dann machte er das Boot fest, das bis zum Rand voll Wasser, sich gerade noch an der Oberfläche hielt. Sie befanden sich von neuem auf einer Insel, nur war diese weniger gastlich als die vorige. Auf dem schmalen Felsvorsprung konnte man sich nicht einmal bequem hinsetzen, und ihn anders als über das Meer zu verlassen, war unmöglich. Das Bild, das sich ihnen bot, war schön und von erhabener Ruhe. Das Meer glänzte in der Sonne, nicht eine Welle kräuselte die glatte Fläche. Schwarze Felsen erhoben sich in chaotischen Gruppen, starr und mächtig. Nur die Vögel lärmten und flatterten um die Gipfel. Das Mädchen stand unbeweglich und blickte verzagt vor sich hin. Mang dagegen suchte angestrengt nach einem Ausweg. Aufmerksam spähte er in die Ferne. Dort, gar nicht mal so weit, lag sein „Zuhause“. Er sah den Eingang der Bucht. Da warteten seine Angehörigen, da gab es ein Kanu. Sollte er hier elend umkommen, in nächster Nähe seiner Eltern und Geschwister? Auf dem Felsvorsprung war nicht einmal Platz, das Boot heraufzuziehen, um es auszubessern. Nur eins blieb übrig: Schwimmen! Er erklärte dem Mädchen seinen Plan. Mit der einen Hand
zeigte er auf das Boot, mit der anderen nach dem fernen Ufer. Dann machte er Schwimmbewegungen und versuchte ihr mit Gesten auszudrücken, daß er zurückkommen und sie holen werde. Das Mädchen verstand ihn zwar, doch Mangs Vorschlag erfreute sie nicht. Wie wollte er ein Boot finden? Und selbst wenn eins da wäre – würde er überhaupt bis dorthin schwimmen können? Dann schon besser zusammen umkommen: Immerhin war er ein Mensch, wenn auch nur ein Wilder. Mang warf jedoch schon die Uniform ab und schnallte sich den Gürtel mit dem Dolch um. Dann lächelte er ihr ermunternd zu, sprang ins Wasser und schwamm fort. Eine Weile war der dunkle Kopf noch zu erkennen, dann verlor er sich in der flimmernden Weite. Verzweifelt sah ihm das Mädchen nach. Endlos dehnten sich die Stunden. Sie ahnte nicht, wohin er geschwommen war, wo er ein Boot zu finden gedachte, wußte nicht, in welcher Zeit, ja ob er überhaupt wiederkommen würde. Sie hatte wenig Hoffnung. Er konnte ertrinken oder gar kein Boot auftreiben. Vielleicht fand er es auch erst nach Tagen, wenn es zu spät war. Und schließlich, wer weiß – am Ende hatte er sie absichtlich hiergelassen and dachte gar nicht daran, zu ihr zurückzukehren. Sie mußte sich also auf den Tod gefaßt machen. In Gedanken sah sie ihr noch so kurzes Leben vorüberziehen. Ihr Vater war ein reicher englischer Fabrikbesitzer und besaß in Chile ein großes Kupferbergwerk. Sie lebten in London, aber in diesem Jahr mußte er der Geschäfte wegen in Chile sein. Miß Gret, so hieß das Mädchen, hatte gerade ihre Schulbildung abgeschlossen. Sie wollte den Vater besuchen und zugleich ein wenig von der Welt sehen.
Nun stand sie hier ganz allein auf dem kahlen Felsen und wartete auf den Tod. Der Tag verging, der Abend brach an. Immer wieder sagte sie sich, daß sie ihrer Qual ein Ende machen und sich ins Wasser stürzen werde, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen. Ihr Verstand glaubte nicht an Rettung, tief im Herzen aber lebte ein Fünkchen Hoffnung: Vielleicht doch? Es wurde Nacht. Kein Laut war ringsum zu hören. Das angespannt lauschende Ohr fing ein entferntes Plätschern auf. Kam er doch zurück? Sie starrte angestrengt auf das schwarze Wasser. Doch kein Boot näherte sich dem Felsen. Mang mußte eine lange Strecke schwimmen. Wenn er müde wurde, legte er sich auf den Rücken und ließ sich treiben. Nur gut, daß das Meer still war! Endlich erreichte er den Eingang zur Bucht. Eine Biegung, noch eine – und vor ihm tauchte der ersehnte Rastplatz der Familie auf. Er rief laut, die Felswände warfen den Schall zurück, doch keine Antwort kam. Noch einmal rief Mang – wieder Schweigen. Da griff kalt die Angst an sein Herz. Die letzten Kräfte nahm er zusammen, schleppte sich zu dem alten Lagerplatz und sah sich um. Kein Stück der geringen Habe war am Ufer geblieben. Das hieß also, die Familien hatten den Rastplatz nicht nur für kurze Zeit verlassen, sondern, ganz aufgegeben. Völlig erschöpft taumelte Mang zu der Stelle, wo das Feuer gebrannt hatte, und stürzte zu Boden. Der Wassergeist Das Leben der beiden Familien verlief nach Mangs Abfahrt weiterhin ruhig und glücklich. Sie hatten alles, was so bescheidene Menschen nur wünschen konnten. Mit Ungeduld warteten sie auf Mangs Rückkehr.
„Vielleicht bringt er etwas Wertvolles von den Weißen mit?“ meinte Taido. „Wenn er nur selbst zurückkommt!“ antwortete die Mutter. Der gutmütige Kos beruhigte sie: „Was soll ihm schon geschehen? Mang ist ein geschickter Bursche, und das Kanu ist gut gebaut.“ Einmal sammelten Mgu und Taidos Tochter „Früchte“ vom Unterwasserbaum. Wie gewöhnlich saßen sie im Boot und hatten einen Zweig hochgehoben, unter dem der helle Grund und schwimmende Fische zu erkennen waren. Mangs Schwester beobachtete fröhlich lachend, wie sie hin und her schossen. Doch auf einmal fuhr sie zurück und rief entsetzt: „Der Wassergeist!“ Mgu sah hin und schrie ebenfalls auf. Der Zweig entglitt ihren Händen, und sie ruderten aus Leibeskräften zum Ufer. „Was habt ihr? Was ist los?“ fragten Taido und Kos, als die aufgeregten Mädchen aus dem Boot kletterten. „Ein Wassergeist… furchtbar… mit solchen Augen“, stammelte Mgu schreckensbleich. Die Eltern wunderten sich, befragten sie eingehend, doch mehr konnten die Mädchen nicht sagen. Da fuhren die Männer zu der Stelle und hoben den Zweig auf – aber sie entdeckten nichts. So glaubten sie, die Mädchen seien einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen. Einige Tage vergingen, der Vorfall geriet in Vergessenheit. Nur Mgu und Mangs Schwesterchen getrauten sich nicht mehr, den Seetang abzuernten. Kurz darauf hatten auch Kos und seine Frau ein Erlebnis, das den in Vergessenheit geratenen Wassergeist wieder aufleben ließ. Sie zogen einen Zweig heraus und sahen, wie sich in der Tiefe etwas Großes bewegte, ähnlich einem
Knäuel Schlangen. Das Wasser wurde schwarz. Die Fische verschwanden, nichts war mehr zu erkennen. „Was ist denn das? Taido, schnell hierher!“ Dieser kam mit dem anderen Boot heran, schaute auf den Grund und erblickte nur noch die schwarze Trübung. Er zuckte mit den Schultern und sah Kos fragend an. „Das ist der Wassergeist! Das ist der Wassergeist!“ riefen die Mädchen vom Ufer her. „Ach was“, meinte Taido, „das ist nur schmutziges Wasser.“ Damit war die Sache erledigt, um so mehr, als binnen weniger Minuten sich das Trübe setzte und sie ohne jede Störung weiterarbeiten konnten. Eines Tages jedoch mußten sich auch die Männer davon überzeugen, daß die Mädchen sich nicht ohne Grund fürchteten. Als Taido und Kos in der Nähe der gefährlichen Stelle einen Zweig aufhoben, erblickten sie im Walser einen entsetzlichen Kopf, der sogar sie vor Schreck erstarren ließ. Er hob sich ihnen entgegen, so widerlich und unheimlich, daß sich die beiden Männer vor Entsetzen nicht rühren konnten. Das furchtbarste waren die glasigen Augen – riesig, weit aufgerissen, vorstehend. Sie leuchteten grünlich im Wasser und blickten starr, wie mit Zauberkraft. Wo gab es einen Menschen, der unter diesem Blick nicht erbebt wäre? Rund um den Kopf des Scheusals aber wanden sich an Stelle von Haaren Schlangen. Die Männer ließen den Zweig sofort los und ruderten schnellstens dem Ufer zu. „Was ist geschehen?“ fragten die Frauen angstvoll. „Der Wassergeist! Die Mädchen haben die Wahrheit gesagt“, flüsterten sie. Nun hieß es überlegen, wie man sich zu so einem Nachbarn verhalten sollte.
„Bis jetzt hat er uns nichts getan“, sagte Kos zu seiner Frau. „Vielleicht schadet er uns auch weiterhin nicht.“ „Wer kann das wissen“, warf Taido ein. „Aber neben ihm wohnen… brrr!“ Auch Kos kam das Grauen an. Die Mädchen schauderten vor Furcht, sobald die Rede auf den Wassergeist kam, ebenfalls die Frauen, obgleich sie ihn nicht gesehen hatten. „Ich denke, wir müssen ihn für uns gewinnen“, meinte Kos, „ihm ein Opfer bringen.“ Dieser Vorschlag kam allen aus dem Herzen. Sie berieten, was man darbringen könne. Fische waren zu gewöhnlich, Pinguine oder Enten ebenfalls. Davon hatte der Geist genug. Etwas Besonderes mußte es sein, irgendein Landtier. Am Morgen begaben sich Taido und Kos auf Jagd in die Berge. Sie erkletterten die erste Terrasse, die zweite und umschlichen dann das Gestrüpp, aus dem sie Holz geholt hatten. Vor ihren Füßen sprang ein Tier mit schönem grauem Fell auf. Es sah wie eine Ratte aus. Die Männer schenkten ihm jedoch keine Aufmerksamkeit, es erschien ihnen für das Opfer zu gering. In Europa allerdings wird das Fell dieses Tierchens – einer Chinchilla – sehr geschätzt und teuer bezahlt. Sie kletterten noch höher. Vor ihnen öffnete sich eine dritte Hochfläche, größer als die anderen und mit Moos und Gras bedeckt. „Was ist dort?“ fragte Taido und zeigte nach Osten. „Da springt etwas umher…“ An einer Felswand bewegten sich schwarze Punkte. Als die Jäger langsam näher kamen, erkannten sie Alpakas. Sie sehen den Schafen ähnlich, haben jedoch lange, dünne Hälse und spitze Schnauzen. Ihre Wolle ist sehr begehrt. Bisher hatten sie ungestört gelebt und kannten keine Furcht. Sie
blieben stehen und schauten die Menschen erstaunt an. Die beiden Feuerländer besaßen nur kurze Speere und Beile – Taido das eiserne und Kos ein Steinbeil – und waren froh, daß die Alpakas nicht fortliefen. Als die Tiere merkten, daß die unbekannten zweibeinigen Wesen gerade auf sie zukamen, wurden sie doch unruhig und sprangen schließlich in großen Sätzen davon. Es war an diesem kahlen Ort für die Jäger unmöglich, sich zu verstecken und heranzuschleichen. „Wollen wir nicht versuchen, sie in eine Schlucht zu treiben?“ schlug Kos vor. „Etwas anderes bleibt uns nicht übrig“, stimmte Taido zu. Sie umgingen die Alpakas und drängten sie vorsichtig in einen langen, schmalen Felsenkorridor. Als aber die Jäger das Ende der Schlucht erreichten, fanden sie die Alpakas nicht mehr vor. Sie waren verschwunden, als ob die Erde sie verschlungen hätte. Die Jäger staunten. „Wo können sie geblieben sein? Einen Ausgang gibt es doch hier nicht.“ Doch für Bergtiere genügt der kleinste Vorsprung im glatten Fels zur Flucht. Wütend blickten sich Taido und Kos um, fest entschlossen, die Verfolgung nicht aufzugeben. Sie entdeckten einen Spalt, in dem sie nach oben klettern konnten. Taido voran, Kos ihm nach. Wieder erreichten sie ein kleines Plateau. Es wurde von einer anderen Schlucht durchschnitten, und sie erspähten die Alpakas bereits auf der gegenüberliegenden Seite. „Da ist nichts zu machen“, sagte Kos. Aber in diesem Augenblick wurden sie auf etwas anderes aufmerksam. Weiter oben ragten über den Rand eines Felszackens geflochtene Zweige. Dort war ein Nest mit jungen Vögeln. Taido und Kos schauten sich an: Das war bestimmt nichts Schlechteres als ein Alpaka. Sie wußten, daß dort ein mäch-
tiger Vogel, der Kondor, nistete. Solch ein Opfer mußte dem Wassergeist besser gefallen als alles andere. Ohne langes Besinnen kletterte Taido hinauf. Das Nest war sehr schwer zugänglich. Kos beobachtete voller Angst, wie Taido sich an die Felsvorsprünge klammerte. Jeden Augenblick konnte er abgleiten und in die Tiefe stürzen. Endlich hatte er das Nest erreicht, befand sich aber unter ihm. Er klammerte sich mit den Händen an den Felsrand und hing jetzt frei über dem Abgrund. Plötzlich kam aus der Höhe ein gräßlicher Schrei, ein riesiger Schatten verdeckte die Sonne. Über Taidos Kopf kreiste ein gewaltiger Vogel. Drei Männerschritte maßen seine ausgebreiteten Schwingen. „Schnell herunter!“ schrie Kos, aber es war schon zu spät. Mit heiserem Schrei stürzte sich der Kondor auf Taido und stieß mit dem starken Schnabel nach seinem Kopf. Zum Glück streifte er nur leicht das Ohr. Taido war in einer gefährlichen Lage. Mit der einen Hand hielt er sich an dem Felsrand fest, mit der anderen wehrte er die Angriffe des Vogels ab. Kos konnte nur durch Schreie helfen, aber das schreckte den Kondor nicht. Er versetzte Taido einen Hieb in die Schulter. Blut floß. Sich ohne Waffe gegen den furchtbaren Schnabel, die Krallen und Flügel zu verteidigen war unmöglich. Die Hand, mit der sich Taido anklammerte, ermüdete bereits. Er wußte, daß er verloren war; gleich würde er abstürzen, weil seine Kraft erlahmte oder der Kondor ihm den Schädel zerhackte. Dieser umflog ihn in immer engeren Kreisen. Jetzt schlug er Taido mit einem Flügel und holte von neuem mit dem schrecklichen Schnabel aus. Taido hob die Hand, ein letztes Mal den Angriff abzuwehren – und krallte sich in den nackten Hals des Kondors fest. Instinktiv tat die andere Hand dasselbe, und beide Fein-
de stürzten in die Tiefe. Kos streckte die Arme zum Himmel und schaute wie versteinert zu. Der Kondor kämpfte, um von dem Würgegriff freizukommen. Er schlug mit den mächtigen Schwingen, doch das Gewicht des Mannes zog ihn unaufhaltsam abwärts… Als Kos zu den Abgestürzten kam, lagen beide Feinde ausgestreckt da. Taidos Hände preßten sich immer noch um den Hals des Kondors. Endlich bewegte sich Taido und öffnete die Augen. Kos beugte sich mit einem Freudenschrei über ihn und richtete ihn auf. „Lebst du noch? Tut dir etwas weh?“ Als Taido völlig zu sich gekommen war, tastete er seinen Körper ab. Er fand nichts außer etwas Blut am Ohr, der Schulterwunde und einem dumpfen Schmerz in der Seite. Ohne Kos’ Hilfe stand er auf. Seine Rettung verdankte er den Riesenkräften des Kondors, der so lange seine gewaltigen Flügel geregt hatte, wie er noch atmen konnte. Nachdem Taido seine Wunden mit eiskaltem Wasser gekühlt hatte, fühlte er sich kräftiger, und feierlich schleppten sie die Beute heim. Am selben Abend, beim Schein des Lagerfeuers, vollzog sich die Opferzeremonie. Sie banden dem Kondor Steine an die Füße, und Kos, der den Medizinmann ersetzte, sprach die Worte der Beschwörung: „Wassergeist! Beherrscher der Meere! Tu uns armen Menschen nichts. Erlaube uns, Nahrung zu holen in deinem Bereich. Als Zeichen unserer Verehrung aber nimm diesen Herrscher der Vögel zum Geschenk, den wir für dich herbeigeschafft haben unter Einsatz unseres Lebens.“
Die Gesichter aller Mitglieder der Familien, bis hinunter zu dem jüngsten Sohn Taidos, waren ernst und feierlich. Alle fühlten die Bedeutung dieses Opfers, von dem – wie sie glaubten – ihr künftiges Leben abhing. Ringsum standen starr die schwarzen Felsen, dunkel und geheimnisvoll wogte das Wasser. Das Lagerfeuer entriß einen winzigen Teil des Meeres der Finsternis, die Blätter des Unterwasserbaums regten sich, und ein paar Krabben krochen verwundert zum Licht… Das Wasser spritzte auf, Tropfen glitzerten im Feuerschein – der Vogel versank. Dann trat wieder tiefe Stille ein. Nur die sanft wogenden Wellen schlugen an den Fuß der Felsen. Alle atmeten erleichtert auf. Sie waren überzeugt, daß der Geist, der ein so großes Opfer empfangen hatte, ihnen nichts Böses antun würde. Und wirklich blieb das Ungetüm lange Zeit unsichtbar. Ruhig schliefen die Menschen am Ufer, auf ihren Fellen ausgestreckt. Das Feuer war erloschen, langsam wurde es Tag. Die Sonnenstrahlen vergoldeten schon die Gipfel, während es am Fuße der Felsen noch dunkel war. Da rührte sich etwas im Wasser dicht am Ufer. Eine Schlange kroch heraus, eine Schlange ohne Kopf. Bewegte sie sich deshalb so vorsichtig, unsicher, tastend? Ihr Körper war bedeckt von Auswüchsen, mit denen sie alles abfühlte, was ihr in den Weg kam. Jetzt berührte sie das nackte Bein von Taidos jüngstem Sohn und ringelte sich darum. Der Junge zuckte ein paarmal zusammen, schlief aber. Eine zweite Schlange kroch aus dem Wasser, diesmal schon schnell und sicher, und wickelte sich um das andere Bein. Nun erwachte der Junge und schrie gellend auf. Die Erwachsenen und die Mädchen sprangen hinzu, als die beiden
Schlangen den Jungen zum Wasser zogen. Taido packte das Beil und hackte die eine durch. In diesem Augenblick rauschte das Wasser auf, durch die Luft blitzte es zischend wie eine lange Peitsche, und die dritte Schlange wand sich um Taidos Hals. Anfangs fühlte er nur einen brennenden Schmerz, dann spürte er, wie ihm die Luft ausblieb. „Kos, schlag zu!“ röchelte er. Dieser hielt schon das Beil hoch. Er schlug die Schlange, die sich um Taidos Hals ringelte, durch und wollte schon den Jungen losreißen, als die vierte Schlange durch die Luft pfiff. Kos wich ihr aus, und sie packte den Jungen. Taido und Kos hoben wieder die Beile… „Der Geist! Der Geist!“ schrien da plötzlich die Frauen und starrten entsetzt auf das Wasser. Die Beile entfielen den Händen der Männer. Aus dem Wasser heraus sah sie mit weit aufgerissenen, starren Augen der furchtbare Kopf an, um den sich noch mehr Schlangen wanden. „Oh, Geist! Hab Erbarmen mit uns!“ stieß Taido mit dumpfer Stimme hervor und stürzte zu Boden. Kos und die Frauen folgten seinem Beispiel. Der Junge wurde immer tiefer ins Wasser gezogen… Kurze Zeit darauf fuhren zwei Boote eilig in den Ozean hinaus. Den unglücklichen Alakalufs blieb nichts übrig, als schnellstens aus diescr gefährlichen Bucht zu fliehen. Der Wassergeist hatte sie betrogen. Er hatte das Opfer wohlwollend angenommen und sie doch nicht verschont. Weder Taido noch Kos noch ihre Frauen wußten, daß ihr Wassergeist ein Krake war, ein Riesentintenfisch, den sie wohl hätten besiegen können.
Die Rettung Mang lag ausgestreckt am Ufer, aber die Erschöpfung wich nicht. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken, eine Vermutung löste die andere ab. Was war geschehen? Vielleicht waren die Seinen nur auf kurze Zeit weggefahren und würden bald wiederkommen? Aber dann hätten sie doch das Schutzdach dagelassen und nicht alle Sachen mitgenommen. Sie waren also für immer fortgezogen – doch was hatte sie dazu gezwungen? Vielleicht waren sie alle tot? Da bemerkte Mang, daß etwas abseits vom alten Rastplatz ein Gegenstand lag. Er ging hin, um ihn sich anzuschauen. Es war ein Kochtopf – aber nicht aus Taidos Boot. Gehörte er Kos? Da lag noch ein Beil, das Mang nicht kannte. So eins hatte auch Kos nicht. Dort ein Riemen – weder Kos noch der Vater besaßen einen. Hier lebten anscheinend andere Alakalufs, den Sachen nach zu urteilen, kaum mehr als zwei. Hatten sie etwa alle seine Leute erschlagen? Mang blieb nichts weiter übrig, als die Fremden zu beobachten. Er versteckte sich hinter einem Felsvorsprung und brauchte gar nicht lange zu warten. Bald ließen sich Ruderschläge vernehmen, und ein Boot erschien. Mang wurde leichter ums Herz, als er feststellte, daß nur ein Mann darin saß. Doch einen Augenblick später hätte er fast aufgeschrien und wäre aus seinem Versteck hervorgesprungen – er hatte Ngara erkannt. Der also hatte sich hier angesiedelt! Mang zitterte vor Wut. Ngara ruderte gemächlich zum Ufer, warf einen Vogel aus dem Kahn, einen Armvoll Reisig und stieg dann ohne Eile aus. An seinem unbekümmerten Verhallen war zu erkennen, daß er sich hier wie zu Hause fühlte. Nicht ein einziges Mal schaute er sich aufmerksam um.
Mang preßte die Zähne zusammen. Er wartete auf den rechten Augenblick, um sich auf den Feind zu stürzen. Ngara trat an die Feuerstelle, bückte sich, betastete die Asche. Sie war wohl noch heiß. Er warf trockenes Gras darauf und kniete nieder, die Flamme anzublasen. Das schien Mang sehr günstig, doch in letzter Minute änderte er seinen Plan. Er würde mit Ngara genauso verfahren, wie der mit ihm – er würde ihm das Kanu nehmen. Auf Zehenspitzen schlich er zum Boot. Es dämmerte schon, und Ngara war so sehr mit dem Feuer beschäftigt, daß es ihm nicht einfiel, sich umzuschauen. Erst als er ein Geräusch am Boot vernahm, sah er auf. Er traute seinen Augen nicht, als er Mang erblickte. Wo war denn der hergekommen und wie? Doch nicht aus dem Jenseits? „Nun, Ngara!“ rief Mang böse und stieß vom Ufer ab. „Jetzt bin ich an der Reihe, dir viel Spaß zu wünschen. Bedank dich nur, daß ich dich nicht totschlage wie einen Pinguin!“ Diese Stimme überzeugte Ngara, daß er nicht träumte. Wut und Verzweiflung preßten ihm die Kehle zusammen. Ohne Zögern stürzte er hinter Mang her ins Wasser. Das hatte Mang nicht bedacht, er war erst wenige Schritte vom Ufer entfernt. Ngara holte ihn im Nu ein, klammerte sich an den Rand des Kanus und kippte es mitsamt dem Gegner um. Mang fühlte, wie sich die glitschigen Zweige des Unterwasserbaums um seine Beine wickelten. Ein Kampf auf Leben und Tod begann. Ngara war der Stärkere. Er packte den Gegner von hinten und drückte ihn unter Wasser. Es stand schlecht um Mang. Wenn er sich jetzt nicht befreien konnte, war es aus mit ihm. Da fiel ihm der Dolch ein. Er riß ihn heraus, konnte aber nicht zum Stoß ausholen, weil Ngara ihn an den Schultern
festhielt. Währenddessen drang ihm schon das Wasser in die Nase und nahm ihm den Atem. Plötzlich hörte Mang einen wilden Schrei, seine Schultern wurden frei. Er tauchte auf und sah, wie sich um Ngaras Leib eine Schlange wand. Mang war noch nicht ganz zu sich gekommen, als er fühlte, daß auch sein Bein brannte und zusammengepreßt wurde. Er tauchte und zerschnitt die Schlange mit einem Dolchhieb. Dann kam er hoch und klammerte sich ans Boot. Ngara wand sich im Wasser und versuchte sich von den würgenden Schlingen zu befreien. Er hielt sich ebenfalls am Boot fest und gab gar nicht mehr auf Mang acht. Auch dieser hatte allen Zorn vergessen, er dachte nur noch an die neue Gefahr und flüchtete zum Ufer. Kaum aber war er ein paar Meter geschwommen, als eine neue Schlange sein Bein umspannte. Noch einmal konnte er sich mit seinem Dolch retten, Ngara indes sank mit einem grausigen Schrei in die Tiefe. Als Mang das Ufer erreicht hatte, suchte er sich aus Ngaras Holzvorrat einen langen Ast aus, holte damit das Boot zum Ufer, brachte es in Ordnung und fuhr rasch aufs Meer hinaus. Es war schon ganz dunkel. Der Gedanke, daß irgendwo das Weiße Vögelchen auf ihn wartete, schien Mang jetzt lächerlich und seltsam. Das schreckliche Erlebnis in der Bucht hatte die Abenteuer der letzten Wochen verdrängt. Miß Gret aber hockte noch immer auf dem Felsen. Ihr Herz schien gestorben, ihr Körper war erstarrt und auch ihr Denkvermögen. Längst hatte sie sich gesagt, daß alles zu Ende sei, daß es keine Hoffnung mehr gebe, und trotzdem schaute sie unverwandt in jene Richtung, wohin Mang geschwommen war, und lauschte auf einen Ruderschlag. Ihr Lebens-
wille war noch nicht erloschen. Auf einmal flog ein langgezogener Ruf über das Wasser. Das Mädchen fuhr auf und lauschte mit allen Sinnen: War das Mang? Kehrte er endlich zurück? Ach, wenn er es nur wäre, der liebe, gute Mang! In ihrem ganzen Leben hatte sie niemanden so erwartet, niemanden so wiederzusehen gewünscht wie diesen „wilden Menschenfresser“. Er war ihr jetzt lieber als die Misters, Sirs, Lords und andere vornehme Herren, die sich um die Gunst des reichen Mädchens bemüht hatten. Wieder erklang ein fröhlicher Ruf, dann plätscherte ein Ruder, das Boot mit Mang tauchte auf und fuhr heran. Grets bis zum äußersten gespannte Nerven hielten nicht mehr stand. Aus ihren Augen stürzten Freudentränen, und sie fiel Mang in die Arme. Nach zwei Stunden langten sie in der verlassenen Bucht an. Am nächsten Tag verschlechterte sich das Wetter, sie konnten nicht weiterfahren. Aber es wohnte sich hier besser und geschützter als auf der grasbewachsenen Insel, sie hatten sogar einige Hausgeräte. Erst nach einer Woche änderte sich das Wetter, und sie ruderten weiter nach Süden. Bald erreichten sie die Magellanstraße. Das Mädchen erkannte Berge und Felsen, an denen sie mit dem Schiff vorübergefahren war. Sie bedeutete Mang, hier zu halten und auf einen Dampfer zu warten. Mang begriff was sie wünschte, schüttelte aber den Kopf. Weit und breit war kein Dampfer zu sehen. Er ruderte weiter. Das Mädchen versuchte ihn daran zu hindern, wurde böse und weinte wie ein eigensinniges Kind. Mang wußte nicht, was er tun sollte und hielt wieder an. Das Mädchen spähte angestrengt bald in die eine, bald in die andere Richtung. Dachte sie, daß gleich ein Schiff auftau-
chen würde? Mang saß und wartete. Dann dauerte es ihm doch zu lange, und er griff von neuem zum Ruder. Wieder begann das Mädchen zu weinen und zu schreien und beschwor ihn, die Straße nicht zu verlassen. Mang versuchte ihr so gut es ging begreiflich zu machen, daß sie jetzt weiterfahren müßten, dafür aber später hierher zurückkommen und auf einen Dampfer warten würden. Das Mädchen wußte genau, daß sein Plan gut war – einmal im Monat kam hier vielleicht ein Schiff vorbei –, aber sie klammerte sich an die Hoffnung wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Erst nach einer guten Stunde ruderten sie endlich weiter. Das Mädchen wollte sich wenigstens in der Nähe aufhalten, aber Mang blieb fest. Es gab von neuem Geschrei, Vorwürfe, Tränen – doch auf Mang machte das mittlerweile keinen Eindruck mehr. Sie fuhren noch viele Stunden. Endlich erblickte Mang die bekannten heimatlichen Felsen. Da war auch der Wasserfall, umsprüht von silbernem Staub, dort der „Hof“, in den sie sich vor den mutwilligen Jungwalen gerettet hatten. Noch immer glänzten die schneebedeckten Gipfel. Lauter bekannte, dem Auge vertraute Bilder! Mang empfand alles ringsum so schön – wie jeder, der nach langer Abwesenheit in die Heimat zurückkehrt. Seiner Begleiterin aber kam dieses Gewirr von Klippen, Felsen und Wasserstraßen tot und unwirtlich vor. Wohin bringt er mich? fragte sie sich ängstlich. Gerade jetzt begegnete ihnen eine ganze Familie Wilder in einem Boot. Sie erkannten Mang in der Kapitänsjacke und wunderten sich über die weiße Frau. Sie schrien, fuchtelten mit den Armen, und das Mädchen machte sich schon auf das Schlimmste gefaßt. Aber nach kurzem Gespräch mit seinen Landsleuten bog Mang links ab, nach Osten, und ließ die ihm verwundert
nachblickenden Wilden zurück. Je mehr sie sich vom offenen Ozean entfernten, desto größer und flacher wurden die Inseln. Gras und Bäume tauchten auf. Noch weiter nach Osten gab es Wälder und Wiesen. Aber dort wohnte ein starker, kriegerischer Volksstamm, die Ona. Diese hatten die Alakalufs vor langer Zeit auf die unfruchtbaren westlichen Felsen verdrängt und ließen sie nicht zurückkommen. Zwei Tage fuhren Mang und Gret geradewegs nach Osten, und am dritten, um die Mittagszeit, erblickten sie an einem bewaldeten, gut zugänglichen Ufer zwei Boote. Sie gehörten Taido und Kos, die sich mit den Ihrigen hier niedergelassen und nicht schlecht eingerichtet hatten. Unter den Bäumen stand eine mit Zweigen gedeckte Laubhütte, unansehnlich zwar, aber doch ein Schutz vor Regen und Kälte. Die kleine Kolonie am Ufer geriet in Bewegung, als sie ein Boot mit so sonderbaren Leuten näher kommen sah. Mang rief den Seinen einen Gruß zu, doch diese wollten ihren Augen und Ohren kaum trauen: War dieser Mann in dem seltsamen Gewand und mit dem unbekannten Mädchen im Boot wirklich ihr Mang? Erst als er anlegte und ans Ufer stieg, überzeugten sie sich, daß kein anderer als er vor ihnen stand. Mit Staunen, ja mit Scheu näherten sie sich ihm. Dabei blickten sie immer nach dem Boot, in dem das Mädchen saß, das aber nicht auszusteigen wagte. Das Fragen begann. Mang erzählte von seinen Abenteuern und hörte mit tiefem Schmerz vom Tod seines Bruders. „Aber wozu hast du die da mitgebracht?“ fragte endlich Taido und zeigte auf das Mädchen im Boot. „Was willst du mit ihr?“ „Ich weiß auch nicht“, gab der Sohn zur Antwort. „Ich
werde sie wohl zu den Weißen bringen müssen.“ Der Alte schüttelte den Kopf. „Wir selbst haben kaum genug zu essen, und nun müssen wir sie auch noch mitversorgen“, brummte er unzufrieden. „Hätte ich sie etwa umkommen lassen sollen oder ins Meer zurückstoßen?“ verteidigte sich Mang. Taido sah ihn mürrisch an. Kos stand daneben, warf ab und zu einen Seitenblick auf die Fremde und war sichtlich derselben Meinung wie Taido. Miß Gret saß im Kanu und wartete, wie sich ihr Schicksal gestalten würde. Sie wußte, daß sich das Gespräch um sie drehte. Schließlich wandte sich Mang zu ihr um und forderte sie auf, auszusteigen. Sie gehorchte ihm schweren Herzens und setzte sich ins Gras. Die Wilden umringten sie, staunten sie an. Sie betasteten ihr Kleid, das, zerrissen und beschmutzt, schon eigentlich keins mehr war. Besonders interessierten sich die Frauen für sie. Dieses peinliche Anstarren war ihr unangenehm und lästig. Sie fühlte sich so unglücklich und hilflos wie noch nie. Sogar Mang flößte ihr Furcht ein. Er schien ihr fremd, fern und gar nicht mehr ihr Diener wie bisher. Als Lager wies man ihr einen Winkel in der Hütte neben den Frauen zu. Ein fremder, unnützer Mensch bedeutete im Leben der Alakalufs eine große Belastung. Das Mädchen war tüchtig abgemagert. Zwar hatte sie sich ein wenig an Muscheln, Krebse und Fische gewöhnt, aber während sie vordem Mang befahl, dies oder jenes herbeizuschaffen, so wagte sie es jetzt nicht mehr. Ja, Mang selbst begriff, daß er sie hier inmitten seiner Angehörigen nicht so ausschließlich bedienen konnte wie früher. Kos war ihretwegen so beunruhigt, daß er schon am nächsten Tag mit Taido beriet, was zu tun wäre.
„Was meinst du, Taido“, äußerte er besorgt, „ob Mang etwa daran denkt, dieses Fischblut zum Weibe zu nehmen? Dadurch würde unser Abkommen gebrochen werden. Wir haben ihm doch schließlich das Kanu gebaut.“ „So etwas befürchte ich auch“, meinte Taido finster. „Aber Mang hat doch gesagt, daß er sie den Weißen wiederbringen will.“ „Wann wird das schon sein! Und wir müssen sie inzwischen ernähren! Nein, sie muß weg!“ „Mang wird nicht damit einverstanden sein“, sagte Taido. „Sie tut ihm leid, und außerdem will er durch sie die Weißen kennenlernen.“ „Man muß ihm seine Dummheiten austreiben“, schlug Kos vor. „Wir bringen das Mädchen auf eine Insel; sie soll selbst sehen, wie sie weiterkommt! Mang heiratet dann Mgu und lebt wie alle ordentlichen Menschen.“ Taido gab zu, daß der Vorschlag recht brauchbar war. Durch diese Weiße konnte ihnen Mang entfremdet werden. Taido selbst alterte bereits, der jüngste Sohn war umgekommen. Möglicherweise blieb die Familie später ganz ohne Männer. Mang aber dachte an eine neue Reise. Er wollte unbedingt die Weißen auffinden. Miß Gret drängte, sie müßten sich auf den Weg machen, und war sehr erfreut, als er zum Zeichen des Einverständnisses lebhaft nickte. Am selben Tag ordneten Taido und Kos an, daß Mang und alle Frauen, außer der weißen, zum Beerenpflücken in den Wald gehen sollten. „Kapitän Mang“ wird feierlich empfangen Der Wald, an dem sie wohnten, wurde landeinwärts immer dichter und höher. Aus seiner Mitte erhoben sich beschneite
Berge. Fast alle Sträucher und Bäume, meist Buchen, grünen hier das ganze Jahr über, obgleich Feuerland weit vom Äquator entfernt liegt. Die nicht sehr hoch wachsende Buche hat kleine harte Blätter, die in Büscheln am Ende der Zweige stehen und angenehm duften. Ab und zu trifft man auch die Magnolie mit ihren blanken, harten Blättern und den herrlichen weißen Blüten an. Die Rinde benutzen die Feuerländer als Medizin. Während die Frauen sammelten, erkundete Mang den Wald, um nach Gefahr Ausschau zu halten. Plötzlich erspähte er über den Bäumen sich kräuselnden Rauch. Mang stand wie angewurzelt. Was sollte er tun? Zurücklaufen, die Frauen warnen und mit ihnen fliehen oder erst einmal die Ursache des Feuers ergründen? Er entschied sich für das letztere. Es war beschämend, auszureißen, ohne zu wissen, wovor. Leise schlich er sich heran. Wie ein Schatten huschte er von Baum zu Baum, bis er auf einer Lichtung das Feuer erspähte, an dem vier Männer saßen. Sie gehörten zum Stamme der Onas. Mang warf sich zu Boden und kroch vorsichtig näher. Er war den Onas noch nie begegnet, aber er erkannte sie sofort nach den Erzählungen seines Vaters. So hatte er sie sich auch vorgestellt: groß und stark. Über den bronzefarbenen Körpern trugen sie weite Überwürfe aus Guanako-, Fuchsoder Curorofellen. Neben ihnen im Gras lagen Bogen, Pfeile und Speere. Mang gelang es, einige Worte von dem Gespräch der Männer am Feuer aufzufangen. Alles verstehen konnte er nicht, sie redeten in ihrer Sprache. Aber er hörte das Wort „Alakaluf“ heraus und sah, wie einer zornig in Richtung des Ufers zeigte. Es war klar, daß von ihnen die Rede war, und das bedeutete nichts Gutes.
Plötzlich hörte Mang in seiner Nähe ein Geraschel; Äste knackten. Er blickte sich um – ein Guanako! Das Geräusch hatten auch die Onas gehört. Sie griffen zu den Waffen und schlichen gerade auf Mang zu. Dieser blieb regungslos liegen. Fortzulaufen hatte keinen Zweck, sie würden ihn sofort einholen. Zum Verstecken war es auch zu spät. Die kleinste Bewegung hätte ihn verraten. Dieser verwünschte Guanako hatte ihn in eine ausweglose Lage gebracht! Die Onas kamen immer näher. Stillzuliegen und zu warten, bis sie ihn erreichten, war Mang unmöglich. Er kroch vorsichtig zur Seite. Der Guanako wurde den Menschen gewahr, schrak auf und flüchtete in entgegengesetzter Richtung. Das rettete Mang. Die Onas stürzten natürlich dem Tier nach, und bis sie merkten, daß die Jagd keinen Erfolg hatte, und umkehrten, war Mang längst über alle Berge. Er fand die Frauen auf ihrer Wiese und führte sie zurück zur Laubhütte. Aber dort war niemand, weder die Männer noch das weiße Mädchen. Auch eines der Boote fehlte. Also waren sie fortgefahren. Wohin? Wozu? „Vielleicht sind diese Onas schon hier gewesen?“ meinte die Mutter ratlos. „Nein“, beruhigte Mang sie, „die hätten alles geraubt und zerstört. Wir dürfen keine Zeit verlieren! Hoffentlich kehren Vater und Kos mit der Weißen bald zurück!“ Jeden Augenblick konnten die Feinde dasein. Die Frauen beeilten sich, ihre Habseligkeiten in die Kanus zu tragen. Endlich zeigte sich das Boot hinter der Biegung, aber es saßen nur Taido und Kos darin. „Schnell, schnell!“ riefen die Frauen vom Ufer. „Die Onas! Die Onas!“ Dieses Wort versetzte die Männer in Schrecken. Schnell
ruderten sie ans Ufer und bestürmten Mang mit Fragen. Doch Mang antwortete nicht. „Wo ist das Weiße Vögelchen?“ fragte er. „Wissen wir nicht“, warf Taido hin. „Wo habt ihr die Onas gesehen, und wieviel sind es?“ „Vier Männer, im Wald am Bach“, antwortete Mang. „Wo war das Weiße Vögelchen, als ihr fortgefahren seid?“ „Sie ist hiergeblieben“, sagten die Männer. „Hast du herausbekommen, was sie vorhaben?“ „Sie wollen uns sicherlich überfallen. Ich hörte sie Alakaluf sagen… Habt ihr nicht gesehen, nach welcher Seite sie gegangen ist?“ „Nun hör aber endlich mit dieser Weißen auf! Was, zum Teufel, geht die uns an!“ schrie Taido erbost. „Es gibt jetzt Wichtigeres. Wir müssen sehen, daß wir schnellstens mit heiler Haut davonkommen!“ „Ich fahre nicht mit“, sagte Mang. „Was?“ Der Vater i iß die Augen auf. „Du fährst nicht mit? Was willst du denn hier?“ „Das Weiße Vögelchen suchen“, sagte Mang ruhig. „Dummkopf! Allein? Die Onas schlagen dich tot!“ „Allein geht es leichter. Ich verstecke das Kanu in den Sträuchern und gehe das Mädchen suchen.“ Taido und Kos tauschten einen Blick. „Wozu brauchst du sie?“ fragte Taido nochmals. „Ich habe sie aus dem Wasser gezogen und versprochen, sie zu den Weißen zu bringen. Es wäre traurig, wenn sie noch in letzter Minute umkäme. Ich muß ihr helfen.“ „Aber vielleicht ist sie absichtlich von uns fortgelaufen?“ gab Taido zu bedenken. „Nein, das ist ausgeschlossen“, sagte Mang überzeugt. „Sie ist zu schwach und würde es nicht wagen.“
Er zog sein Kanu ans Ufer. Da erkannten Taido und Kos, daß er es ernst meinte und entschlossen war, hierzubleiben. Er würde weder sein Weißes Vögelchen finden noch selbst am Leben bleiben. Ihr böser Streich war sinnlos. „Weißt du, Mang“, fing Taido an, „das Weiße Vögelchen wirst du hier nicht finden. Sie wollte näher zu der Meerenge gebracht werden, wo die Schiffe der Weißen fahren. Wir haben sie auf einer Insel abgesetzt.“ „Da soll sie wohl umkommen!“ schrie Mang. „Vielleicht findet sie jemand“, sagte Kos und blickte verlegen zur Seite. „Ich selbst will sie zu den Weißen bringen!“ rief Mang heftig. „Wo ist sie?“ „Nimm dein Boot, wir führen dich hin.“ Auch die Frauen und Mädchen siedelten wieder in die Kanus über, und gleich darauf fuhren die drei Boote in jener Richtung davon, aus der eben erst Taido und Kos gekommen waren. Kurz vor der Insel, auf der sie das Mädchen zurückgelassen hatten, hielt Taido an und sagte: „Dort ist sie, auf dem Felsen da! Fahr allein weiter, nimm sie und bring sie auf den Weg der Weißen. Komm aber so schnell wie möglich zurück. Uns findest du bei der Pinguineninsel.“ Die Kanus trennten sich. Die unglückliche Miß Gret befand sich wieder in einer ausweglosen Lage. Als Mang mit den Frauen im Wald verschwand, waren Taido und Kos zu ihr getreten und hatten ihr durch Zeichen zu verstehen gegeben, daß sie jetzt zu den Weißen fahren wollten. Sie versuchten wie ein Dampfer zu tuten. Das Mädchen verstand, wovon sie sprachen, aber es schien ihr verdächtig, daß gerade diese beiden sie mitnehmen wollten und nicht Mang, noch dazu in seiner Abwesen-
heit. Sie weigerte sich, ins Boot zu steigen, doch da stießen die Männer sie mit Gewalt hinein. Jetzt war sie sicher, daß ihr Tod beschlossen war. Sie versuchte sich loszureißen, weinte, schrie; endlich verlor sie das Bewußtsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie mutterseelenallein am Fuße eines Felsens. Sie richtete sich auf. Sogleich fiel ihr ein, wie sie schon einmal so verlassen an einer Felswand gestanden hatte. Ebenso wie damals dämmerte der Abend heran, plätscherte ruhig das Meer. Nur gab es dieses Mal keine Hoffnung, daß Mang kommen würde… Da sah sie, wie im Traum, ein Kanu herangleiten und darin eine Gestalt in Kapitänsuniform. „Mang?!“ rief das Mädchen, streckte ihm die Arme entgegen und lachte glücklich. Auch Mang lächelte, aber dann sagte er vorwurfsvoll: „Warum ist das Weiße Vögelchen von Mang fortgelaufen? Er hätte dich doch selbst zu den Weißen gebracht. Hier wärst du bald umgekommen.“ Wie erstaunt wäre das Mädchen gewesen, hätte sie verstanden, was er sprach. Allerdings betrübte es sie wenig, daß sie seine Sprache nicht kannte. Es genügte, daß er da war und nun endlich einem Schiff entgegenfahren wollte. Das entnahm sie aus seinen Gesten. Sie ruderten die Magellanstraße entlang. Schwerer und entbehrungsreicher als vordem zogen sich die Tage hin. Rundum standen nur nackte Felsen, und Mang durfte nicht vom Weg abbiegen, um einen Fleck zu suchen, der besser war und reichlichere Nahrung versprach. Fünf Tage mußten sie im Kanu verbringen. Dafür war aber jeder Tag voll Hoffnung. Das Mädchen starrte unverwandt nach dem Horizont, und Mang teilte ihre Aufregung. Zeigte sich hinter dem Felsen dort nicht ein Se-
gel? Oder war es der Rauch eines Dampfers? Grets Herz wollte die Brust sprengen. Nein – nur ein Vogelschwarm war aufgeflogen… Was war das Schwarze dort weit draußen? Ach – nur das Kanu eines Feuerländers. So ging es vom Morgen bis zum Abend, Tag für Tag. Sogar nachts hieß es aufpassen, obgleich die Schiffe gewöhnlich nicht im Dunkeln durch die Magellanstraße fuhren. Am sechsten Tag zeigte sich endlich am Horizont eine Rauchfahne. Es ist nicht zu beschreiben, was Gret in diesem Augenblick durchlebte. Fast setzte ihr Herzschlag aus. Diesmal hatten sie genügend Zeit, sich dem Dampfer genau in den Weg zu stellen. Das Schiff kam näher. Gret war so unruhig, daß sie das Boot beinahe zum Kentern brachte. Sie riß einen Ärmel von ihrem, verschlissenen Kleid ab und winkte. Vom Schiff aus hatte man mit Ferngläsern das Boot mit den ungewöhnlichen Insassen bemerkt. Die Maschine wurde gestoppt, das Fallreep heruntergelassen. Das neugierige Publikum drängte sich an der Reling. Neben dem Schiffsriesen tanzte das kleine Boot auf den Wellen wie eine Fliege. Mang hatte viel Mühe, es zum Fallreep zu steuern. Das Weiße Vögelchen klammerte sich sofort an die Stricke und kletterte nach oben. Mang stockte der Atem, als er den Kopf zurückbeugte und den Koloß betrachtete. Was mochte darin sein? Würde man ihm erlauben, hinaufzuklettern und alles anzusehen? Mitgefühl und Neugier erregte das Mädchen auf dem Schiff, doch nicht weniger Aufmerksamkeit wurde dem drolligen Wilden in der Kapitänsjacke zuteil. „Sehen Sie nur den Kapitän!“ „Ohne Hosen!“ Man wollte sich ausschütten vor Lachen. Mang wußte nicht, sollte er hinaufklettern oder nicht. Da
sah er, daß sich das Mädchen über die Reling beugte, freundlich lächelte und mit dem Kopf nickte. „Mein guter Mang!“ rief sie. „Ich danke dir! Leb wohl! Verzeih mir, daß ich nichts habe, um dir zu danken.“ Als die Passagiere diese Worte hörten, warfen sie Mang verschiedene Sachen zu. Doch zur allgemeinen Verwunderung achtete er nicht darauf. Er dachte, das Weiße Vögelchen habe ihn aufgefordert, an Bord zu kommen, faßte Mut und ergriff das Fallreep. „Du willst auch mitfahren?“ fragte das Mädchen. „Gut, mein treuer Mang, ich freue mich sehr.“ Sie wandte sich an den Kapitän: „Erlauben Sie ihm mitzukommen. Wir werden für ihn bezahlen. Ich verdanke ihm mein Leben.“ Der Kapitän willigte ein, und wenig später stand Mang an Deck, umringt von einer großen Menschenmenge. Wenige Künstler können sich eines so großen Erfolges rühmen, wie er Mang zuteil wurde. Schreien, Lachen, Händeklatschen klang über die öde Wasserstraße und hallte wider von den wilden Felsen und Schluchten. Mang stand mit hängenden Armen, verlegen lächelnd. Diese so seltsam aufgeputzten Menschen, das Deck, vollgestellt mit unbegreiflichen Dingen, der schreckliche Schornstein, aus dem Rauch quoll – wohin sollte er zuerst sehen? Der Dampfer kam schnell in Fahrt. „Ich spende Kapitän Mang den fehlenden Teil seiner Toilette!“ rief ein lustiger Herr und brachte ihm einen Augenblick später ein Paar – Unterhosen. Wieder ertönte allgemeines Gelächter. Auf der an Abwechslung so armen Fahrt verschaffte diese Begegnung den Passagieren eine vergnügte Stunde. Aber bald verlor sich das Interesse an den neuen Fahrgästen, es herrschte wieder Gleichgültigkeit und Langeweile.
Die Wasserstraße lag verödet. Wie zuvor plätscherten die Wellen, wie zuvor standen schweigend die starren schwarzen Felsen. Nichts ringsum erinnerte an Menschen. Nur weit draußen, abseits der Fahrrinne, schaukelte verlassen ein Kanu. Das Feuer auf seinem Boden verglühte, Felle lagen daneben, und über den Rand hinaus ragten Ruder und Speer.
In der Luft schrie durchdringend eine Möwe, umkreiste das Boot ein-, zweimal, flog so niedrig darüber hin, daß sie es mit den Flügeln streifte – und setzte sich dann ruhig auf das Heck. Vier Jahre später In einer der belebtesten Straßen Londons steht das Luxusrestaurant „Kosmopolit“. Prunkvoll ist seine Ausstattung, eigenartig das bedienende Personal. Unter den zahllosen Kellnern gibt es nicht zwei, die der gleichen Nation angehören. Alle Völker scheinen hier versammelt zu sein, um reichen Engländern zu dienen. Denn nur diese können sich erlauben, in diesem Palast zu speisen. Nichtsdestoweniger sind immer alle Tische besetzt, und jeden Augenblick fahren Autos mit neuen Gästen vor. Es war schon spät. Soeben stieg wieder eine kleine Gesellschaft aus: zwei junge Herren und eine Dame. Einer der Herren trug eine Offiziersuniform der britischen Kriegsflotte, der andere war in Zivil, mit Monokel und Zylinderhut.
Ihre Begleiterin, eine schöne junge Frau mit schmalem Gesicht und blauen Augen, mochte etwa zweiundzwanzig Jahre alt sein. Die Gäste nahmen im großen Saal Platz, auf dessen Bühne afrikanische Tänzerinnen auftraten. Rundum herrschte gedämpftes Stimmengewirr. Sogleich erschien ein Neger, verbeugte sich und fragte nach den Wünschen der Gäste. Der Offizier wollte bestellen. „Nein, warten Sie“, unterbrach die Dame. „Rufen Sie lieber Mang. Soll er uns bedienen.“ „Gern!“ sagte der Neger und zog sich zurück. „Ich hoffe, Schwesterchen, daß er uns nicht mit seinen Lieblingsgerichten bewirtet: Schnecken, Würmer und dergleichen. Hast du etwa wieder Appetit darauf?“ neckte der Zivilist. Gret lachte und drohte mit dem Finger: „Warte nur, vielleicht kommst du auch noch mal in die Verlegenheit, so etwas essen zu müssen.“ Währenddessen bahnte sich Mang einen Weg durch die Tischreihen. In seinem gutgeschnittenen Frack konnte man den früheren Mang kaum noch erkennen. Trotzdem merkte man, daß diese europäische Kleidung nicht zu ihm paßte: die kleine Gestalt, die langen Arme und die dünnen Beine verrieten seine Herkunft. Als er sein Weißes Vögelchen erblickte, so schön und sauber in dem eleganten Abendkleid und dabei so fremd und so fern, konnte er kaum glauben, daß sie irgendwann einmal miteinander viele, viele Tage verbracht hatten. Die Bilder der Vergangenheit erstanden vor seinen Augen: wie er sie aus dem Wasser rettete, beim Bootsbau, dann bei den Eltern und zuletzt die fünf Tage im Kanu. „He, du Affe! Einen Rum!“ hörte er hinter sich eine betrunkene Stimme. Er drehte sich um und erblickte einen be-
zechten Herrn, der ihn mit glasigen Augen anstarrte. „Entschuldigen Sie“, sagte Mang, „ich bin beschäftigt.“ „Was?“ schrie ihn der Herr an. „Du stehst doch mit leeren Händen da!“ Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. Ein Oberkellner eilte herbei. „Entschuldigen Sie, Sir! Womit sind Sie unzufrieden?“ „Was ist denn hier bei euch los, he?“ regte sich der Gast auf. „Affen aus aller Welt hat man zusammengeholt, aber wie sie bedienen sollen, hat man ihnen nicht beigebracht: Geht mit leeren Händen und weigert sich, eine Bestellung anzunehmen! Das ist doch…“ Mit Mühe gelang es dem Personal, ihn zu beruhigen. Aber auf Mangs Dienstliste tauchte ein neuer Tadel auf. Mang trat an Grets Tisch und verbeugte sich. „Nun, wie geht es, Mang?“ begann Gret. „Wie gefällt dir der Dienst?“ Die Herren musterten ihn neugierig. „Danke, Miß! Ich tue, was ich kann!“ „Aber ich bin jetzt nicht mehr Miß, sondern Mistreß. Das ist mein Mann, er ist Kapitän auf einem Kriegsschiff.“ „Anscheinend ist dir schon seit der Geburt bestimmt, Schwesterchen, daß die wichtigsten Momente deines Lebens mit Kapitänen verknüpft sind.“ „Danke für die Gleichstellung“, knurrte der Gatte. „Sei nicht beleidigt, Jack“, fuhr der Bruder fort. „Er gehörte doch nicht zur Flotte, sondern zur zivilen Schiffahrt.“ Mang stand da und lächelte verlegen. Er erinnerte sich gut an den „feierlichen“ Empfang auf dem Schiff. „Nun, Mang, sehnst du dich nicht nach deiner Heimat, nach deiner Braut Mgu?“ fragte Gret ihn aus. „Ich weiß nicht“, antwortete Mang nach kurzem Überlegen. „Besuchen möchte ich sie jedenfalls gern.“ „Wir werden uns wahrscheinlich so bald nicht wiedersehen.
Ich fahre heute nacht mit meinem Mann nach Indien“, sagte Gret. Mang hatte sie in diesen vier Jahren sowieso nur dreimal gesehen, dennoch wurde er jetzt traurig. Bisher hatte er immerhin das Gefühl gehabt, daß es einen Menschen in der fremden Millionenstadt gab, der ihn kannte, der mit ihm verbunden war durch gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen, an den er sich im Notfall wenden konnte. Sie hatte ihn ja auch in diesem Restaurant untergebracht und für seinen Unterhalt und seine Ausbildung bezahlt. Noch ein zweites Mal hatte der Wirt Geld bekommen, damit Mang in seiner Stellung bleiben durfte. Ohne Grets Schutz hätte er sich hier nicht einen Tag halten können. Wer weiß, was jetzt geschehen würde? „So, und nun bring uns etwas zu essen“, sagte der Offizier und fügte seine Bestellung hinzu. Als Mang gegangen war, wandte er sich an seine Frau: „Gret, du vergißt, daß du dich unter Menschen befindest. Du kannst dich doch nicht vertraulich mit einem Kellner unterhalten. Was sollen die Leute denken?“ „Es ist ja das letzte Mal, zum Abschied“, rechtfertigte sich Gret. „Ich verdanke ihm doch mein Leben. Und du verdankst ihm – deine Frau“, neckte sie ihn. „Du hast schon hundertmal mehr für ihn getan. Nicht jeder hätte sich so erkenntlich gezeigt. Wozu mußt du mit diesem Affen noch freundschaftlich plaudern?“ „Was ist denn dabei schon freundschaftlich!“ Gret winkte ab. „Der Kapitän beneidet den Kapitän“, flocht der Bruder ein. „Du mußt wohl alles ins Lächerliche ziehen!“ fertigte ihn der Schwager kurz ab. Als der Offizier nach dem Abendbrot bezahlte, gab er
Mang als Trinkgeld ganze drei Pfund Sterling, wofür seine Frau ihn mit einem dankbaren Blick belohnte. Mang stand lange da und schaute seinem Weißen Vögelchen nach. Doch das zwitscherte schon von der Abfahrt, von der Reise, von Bekannten und dachte nicht mehr daran, daß es auf der Welt auch einen Mang gab. Drei Tage später wurde Mang gekündigt. Der letzte Anlaß war seine „Ungeschicklichkeit“ gegenüber dem betrunkenen Herrn gewesen. Seine Gönnerin war abgereist, Mang stand ohne Schutz da. Aber er wußte es selbst: er verfügte nicht über die Wendigkeit, die im Umgang mit den verwöhnten Gästen dieses Restaurants verlangt wurde. Wie tausend andere arbeitslose Menschen trieb sich nun auch Mang in den nebligen Straßen Londons umher, und oft tauchte in seiner Erinnerung eine andere Stadt auf: die stillen Wasserstraßen zwischen den Felsen, Seevögel, das Kanu, seine Familie und das Mädchen Mgu, seine Braut. 1927