BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SOBEKS PLAN
Manfred Weinland Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten ...
29 downloads
1006 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SOBEKS PLAN
Manfred Weinland Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos. Epoona und Siroona; die beiden letzt genannten sind weiblich. Sobek ist der Einzige von ihnen, der bereits vollständig erwacht ist, Mont ist, wie wir inzwischen wissen; tot. Die Foronen sind die wahren Herren der RUBIKON II (SESHA).Sie werden von den Vaaren wie Götter verehrt und »Hirten« genannt. John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blaue Augen, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte – später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. In Clouds Körper kreisen immer noch Reste von Protomaterie, die es ihm ermöglichen, die Sprache der Foronen zu beherrschen. Cloud wurde durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten Scobee-GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kam. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um deren Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, die das Getto umgibt und - wie, sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Darnok Der Keelon hielt sich lange Zeit für den letzten Überlebenden seines Volkes. Doch er fand heraus, dass er von seiner eigenen Rasse getäuscht worden war. Jetzt befindet er sich in der Gewalt Arabims. Vaaren Sie sind - zumindest vordergründig - die Beherrscher des Aqua-Kubus. Die Vaaren sind bei Körperkontakt zu einer bildtelepathischen Verständigung fähig. Sie betrachten die Foronen als gottgleiche Wesen und nennen sie "Hirten". Es scheint eine noch höhere Instanz zu geben, die Lovrena, die Vaaren-Königin getötet hat, als diese SESHA bedrohte. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen – das unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud. Arabim Der Keeton ist der »Master der Master«, der oberste Herrscher der Erde und damit des ErinjijReiches.
Die Keelon
Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von friedlichen Forschern wurde von den Erinjij ausgelöscht. Der einzige überlebende Keelon ist Darnok. So schien es zumindest. Inzwischen ist John Cloud und seinen Gefährten bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Sie stehen in sämtlichen Metropolen der Welt und anderen primär wichtigen Umgebungen. Die herrschenden Keelon werden Master genannt. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Bezeichnung, welche die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen verliehen haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei bislang unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik«. Über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Außen-Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Eroberungsfeldzüge koordinieren. Reuben Cronenberg Ehemaliger Leiter des NCIA (Nachfolgeorganisation des CIA);Allerweltsgesicht, wirkt wie ein biederer Familienvater, hat aber Ambitionen auf die Weltherrschaft; war während der Vorbereitungsphase der zweiten Marsexpedition mit Scobee liiert und kennt sie wahrscheinlich besser als jeder andere - was umgekehrt ebenfalls zutrifft. Als besondere Heimtücke hat er in Scobee ein Gehorsamsprogramm verankern lassen, das sie zwingt, stets auf seiner Seite zu kämpfen. Sid Palmer Ehemals persönlicher Berater der US-Präsidentin Sarah Cuthbert und ihr engster Vertrauter; wie sich zeigte jedoch nicht gerade loyal. Paktierte in Wirklichkeit mit Cronenberg und entmachtete Cuthbert schließlich vollends in der geheimen Militärbasis nahe Nevada. Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in die düstere Zukunft des Jahres 2252, in der die Menschen Erinjij genannt werden - »Geißel der Galaxis.« Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie die Hinterlassenschaft der Foronen, eines Geheimnis um witterten, uralten Volkes: ein rochenförmiges Raumschiff, das sie auf den Namen RUBIKON II taufen. Damit gelingt ihnen schließlich die Flucht aus dem Herrschaftsgebiet der Kubus-Beherrscher und die Rückkehr ins heimische Sonnensystem. Resnick und Jarvis verschlägt es über Umwege zum Mars, Cloud und Scobee gelangen zur Erde, wo sie erfahren, wer die Erdinvasion im Jahr 2041 initiierte: Hinter den Mastern verbergen sich die vernichtet geglaubten Keeton, Darnoks Volk. Auch Darnok selbst ist nicht in der Oortschen Wolke umgekommen, sondern befindet sich in der Gefangenschaft Arabims, des »Herrn der Herren«. Zusammen mit dem Mädchen Aylea, dem Florenhüter Jelto und einem namenlosen amorphen Wesen gelingt die Flucht aus Arabims Residenz und die Rückkehr zur RUBIKON II - wo bereits der Forone Sobek auf sie wartet. Er ist die wahre Autorität auf der RUBIKON II, von ihm SESHA genannt, und veranlasst die Bergung der Marsstation, in die es Resnick und Jarvis verschlug. Und dann müssen Cloud und Scobee hilflos mit ansehen, wie Jarvis auf Sobeks Befehl hin vor ihren Augen umgebracht wird - oder »von seinem Leiden erlöst«, wie der Forone es ausdrückt...
Prolog
Es geschah noch vor der Rückkehr der Rüstung: Der Forone Sobek versammelte fünf weitere Hirten
um sich.
Hirten - unter diesem Begriff hatten sie sich im genetischen Gedächtnis der Versteck-Bewohner
verewigt. Ihrer Schöpfungen...
Wir haben so vieles geschaffen, dachte Sobek. In der Ersten Heimat. Der Einzigen Heimat...
Er spürte den Sog der Erinnerungen, die nach oben drängten, verwehrte sich ihnen aber. Für dieses
Mal. Die Zeit, da er in ihnen schwelgen konnte, würde kommen. Vorher musste er sich der
Aktualität stellen, dem Hier und Jetzt mit seinen Problemen - und Unwägbarkeiten...
»Was ist mit Mont geschehen?«, erklang Saracs Stimme.
Er war - wie die anderen fünf - nicht real. Noch ersetzte ein Hologramm seinen im Aufwachen
begriffenen Körper. Aber die Gedanken, die der holografische Hirte aussprach, waren bereits die
des wahren Sarac. Eine spezielle Einrichtung des Schiffes ermöglichte es den Bewusstseinen der
aus viertausendjährigem Schlaf Zurückkehrenden, die Cybersinne der Projektion zu nutzen und
schon jetzt bei Sobek zu weilen. Mit ihm zu kommunizieren.
Foronen waren schwache Telepathen, die über eine hoch entwickelte Lautsprache verfügten,
darüber hinaus aus nächster Nähe aber auch mental miteinander zu kommunizieren vermochten.
Auf diese Weise hatte Sobek bereits Kontakt mit jedem der fünf gehabt, nachdem er mit Hilfe von
SESHA, der künstlichen Intelligenz des Schiffes, den Erweckungsvorgang eingeleitet hatte.
Er selbst war der Vorreiter gewesen. Ihn hatte die Schiffs-KI nach einem Äonen alten Programm als
Ersten aus der Stasis geholt, als die Ereignisse in der Ewigen Stätte und in ganz Tovah'Zara es
geboten erscheinen ließen.
SESHA hatte Sobek erweckt, und er war von ihr mit allen erforderlichen Informationen versorgt
worden. Daraufhin hatte er entschieden, auch seinen Körper mit der gebotenen Vorsicht aus dem
langen Schlaf zu wecken. Die genaue Dauer der Stasis, in der ganz SESHA - der Name galt sowohl
für die KI als auch für das Schiff - mit all ihren Bewohnern geschlummert hatte, war erst später von
ihm ermittelt worden.
Zunächst hatte er sich um die Eindringlinge kümmern müssen, und ganz besonders um einen von
ihnen. Einen, der einen besonderen Status besaß, weil er mit Materie durchwirkt war, die eine Art
von... Verbindung ermöglichten.
Der Name dieses Einen lautete John Cloud.
John Cloud und diejenigen, die ihn begleiteten, hatte den Frieden innerhalb des Verstecks akut
gefährdet - im Nachhinein aber war Sobek ihm durchaus dankbar. Denn die von ihm und seinen
Begleitern verbreitete Unruhe hatte dazu geführt, dass jene Mechanismen in Gang gerieten, die
einst als Erweckungskriterien festgelegt worden waren.
Damals - als wir noch sieben waren.
Sein Blick ruhte auf dem leeren Sitz, der in den alten Tagen Mont gehört hatte. Er wirkte wie eine
Wunde in einem Körper. Wie ein Makel an einer kostbaren Kette, an der plötzlich eine Perle fehlte,
und die damit viel von ihrem Wert verlor.
Sobek wusste, dass keiner seiner geheimen Gedanken zu den anderen drang. Deshalb erlaubte er
sich Widerspruch. Diese Assoziation war falsch. Die Wahrheit war: Gerade weil diese ganz
bestimmte »Perle« entfernt worden war, erhöhte sich der Wert der verbliebenen Kette um ein
Vielfaches.
Für ihn.
Mont war immer ein Problem gewesen, ein Hemmschuh, ein... Rivale.
»Vermutlich ein Defekt in seinem Lebenserhaltungssystem«, antwortete Sobek auf Saracs Frage.
»Er wurde von SESHA zu spät entdeckt.«
»Wie konnte ihr das entgehen?«
Diese Frage, wusste Sobek, richtete sich weniger an ihn, als an die Kontrollinstanz der Arche, die
über eine gewaltige Zeitspanne erfolgreich über sein und das Leben so vieler anderer gewacht hatte.
»Es konnte kein Defekt ermittelt werden«, meldete sich die KI zu Wort.
»Kein Defekt?«, echote Sarac. Es klang verstört.
Auch Siroona schaltete sich nun ein. »Aber Sobek sagte...«
»Es war eine Vermutung«, unterbrach Sobek sie. »Basierend auf meinem eigenen Erkenntnisstand
bis vor wenigen Momenten.« An die KI gewandt verlangte er: »Erklärung!« Er war nicht beunruhigt. All dies hatte er kommen sehen. Aber die Spuren seines Attentats auf Mont waren so akribisch verwischt worden, dass ihm weder die Schiffs-KI noch einer der um ihn Versammelten je auf die Schliche kommen würde. Er konnte in den Mienen der anderen lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Menschen wie John Cloud wären nicht in der Lage gewesen, in dieser Physiognomie überhaupt eine Regung zu erkennen. Aber Foronen untereinander verstanden die winzigen Nuancen der Hautverfärbung und der Verhärtung von Knorpelpartien durchaus zu deuten. Den Rest erledigten spezielle von den Poren ausgeschiedene Duftstoffe. Aber auch diese konnte ein erfahrener Forone - wie seine geheimen Gedanken unterdrücken oder sogar nach Belieben verfälschen. Sobek gab sich auch diesbezüglich keine Blöße. »Der Tod des Erhabenen Mont geht nicht auf äußere Einflüsse zurück«, erklärte SESHA. »Meiner Diagnose zufolge wurzelt er in dem Erhabenen selbst.« »Du willst behaupten, er sei einfach... gestorben?« Erstmals mischte sich Epoona ein. Sie war neben Siroona die einzige weibliche Angehörige der Hohen Sieben. »Das ist das Resultat mehrerer Scans«, gab die KI Antwort. »Monts Körper befindet sich immer noch im Stasis-Block. Habe ich die Befugnis, ihn daraus zu lösen und einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen?« »Verweigert!«, drang es unisono aus sechs Membranen gleichzeitig, wobei die virtuellen ebenso erzitterten wie Sobeks reale. Ihre Körper waren den Foronen heilig. Es gab keinen hinreichenden Grund, der eine Entweihung gerechtfertigt hätte. Ein Umstand, auf den Sobek durchaus baute. »Dann bleibt es bei dem, was ich sagte. Er starb eines natürlichen Todes, obwohl seine normale Lebensspanne erst zu einem Drittel erreicht war.« »Wie viele Ausfälle sind unter den anderen Schläfern zu beklagen?«, fragte Ogminos. Er war noch
immer besonnen wie vor der halben Ewigkeit, als Sobek ihm zuletzt gegenüber gesessen hatte.
»Keiner«, antwortete die KI. »Nicht ein Einziger.«
Monts Tod wurde dadurch nicht begreiflicher, denn die, nach denen sich Ogminos erkundigt hatte,
waren - obwohl der kümmerliche Rest ihres einst stolzen Volkes - immer noch beachtlich an Zahl.
»Wenn die anderen einverstanden sind«, führte Sobek das Thema elegant weg von Mont, »treffen
wir auch bei ihnen erste Vorbereitungen zur Erweckung. Ihr wisst, ihr spürt es am eigenen Leib,
wie behutsam die Rückholung nach so langer Zeit erfolgen muss.«
»Du bist entschlossen, an unseren ursprünglichen Absichten festzuhalten - obwohl Monts Ableben
nie im Kalkül stand?«,fragte mit Mecchit der Letzte im Bund der Erhabenen.
»Seid ihr es nicht?«, hielt Sobek dagegen. »Ändert der Tod eines Einzelnen etwas am Letzten
Traum?«
Sie verneinten. Es änderte nichts. Keiner von ihnen hätte eine Rückkehr ins Leben verdient gehabt,
hätte er diese Frage bejaht.
Sobek trug SESHA auf, die Schläfer in ihren zahllosen Kammern zu betreuen und sie langsam zu
reanimieren.
»Wir befinden uns in einem ehemaligen Stützpunkt-System«, stellte wenig später Siroona fest.
»John Cloud stammt von hier«, bestätigte Sobek. Er hatte sie bereits über einige Zusammenhänge
informiert, aber noch nicht über alles, was seit Verlassen Tovah'Zaras geschehen war.
Tovah'Zara - der Schlüssel.
»Jeder von uns«, fuhr Sobek fort, »hat uneingeschränkten Zugang auf die Datenbänke der Arche.
»Darin ist alles gespeichert, was sich seit unserem Rückzug ins Herz unseres Verstecks ereignete.
Ein letzter Datentransfer fand unmittelbar vor Verlassen des Kubus statt. Ich selbst hatte
Gelegenheit, mich über die Verhältnisse - und die Fortschritte - kundig zu machen. Unser Konstrukt
ist demnach seit langem vollendet und einsatzbereit. Das Regulativ, das wir installiert haben, hat
sich bestens bewährt.«
»Es existiert noch?«, fragte Siroona. Nichts verriet den anderen, was sie füreinander empfanden.
»Es existiert und funktioniert. Für eine andere Schlussfolgerung gibt es keinerlei Hinweis.«
»Du hattest Kontakt mit ihm?«
»Nein. Als SESHA Tovah'Zara verließ, agierte ausschließlich die KI nach den von uns verankerten
Richtlinien. Ich war noch im Aufwachen begriffen und selbst nicht handlungsfähig.«
»Was sich geändert hat.«
»Was sich geändert hat.« Er unterdrückte, was das direkte Gespräch mit ihr in ihm auslöste. Hier
war nicht der Ort. jetzt war nicht die Zeit für mehr als nüchterne Überlegung.
»Was ist aus John Cloud und der Frau geworden?«
»Sie sind unterwegs – als Kundschafter auf dem verborgenen Planeten dieses Systems, ihrer
ehemaligen Heimat.« Er informierte sie detailliert auch darüber und schloss: »Ich habe ihnen einen
Verbündeten mitgegeben.«
»Wen?«, fragte Epoona.
»Monts Rüstung.«
Zunächst war die vorherrschende Reaktion Bestürzung, ja Protest. Dann erklärte er ihnen seine
Gründe, und sie akzeptierten.
»Wie gefährdet sind wir auf diesem Gebiet?«, war die nächste Frage, die aufkam.
Auch dazu stellte die Schiffs-KI ihnen einen Wust von Daten zur Verfügung. Sämtliche bisherigen
Versuche der System-Bewohner, SESHA unschädlich zu machen, gingen daraus hervor.
»Sie stellen keine akute Bedrohung dar, obwohl ich sie nicht unterschätzen würde«, fügte Sobek
den Ausführungen der KI an...
Wenig später kehrte Cloud in Begleitung der Rüstung und anderer Subjekte an Bord zurück. Eines
davon erwies sich als Gefahr, was Sobek zu unverzüglichem Handeln zwang.
»Interessante Zeiten«, wandte sich Sobek an das Kollektiv der Hirten, bevor er Kontakt mit Sobeks
Rüstung aufnahm und ihr auftrug, die Ankömmlinge in die Zentrale von SESHA zu geleiten. »Es
kommen interessante Zeiten auf uns zu.«
»Die Virgh?«, fragte Siroona mit verständlicher Skepsis in der Stimme.
»Wir werden uns um sie kümmern«, versprach und wiegelte er zugleich ab. Zu gegebener Zeit.«
Obwohl er es hatte vermeiden wollen, schwang der Name des Feindes noch lange unheilvoll nicht
nur in seinem Hirn nach.
Die Virgh.
Was mochte aus ihnen geworden sein? Oder anders gefragt: Existierten sie nach all der Zeit noch?
1. Uralt. Er war uralt, und die imaginären Jahre hatten nie schwerer auf seinen Schultern gewogen als in dem Moment, da er Jarvis sterben sah. Der Moment, der sich seither als Endlosschleife in John Clouds Kopf wiederholte, ganz gleich, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt. Gefühle und Gedanken vermischten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel. Uralt fühle ich mich. Als wäre ich wahrhaftig 239 Jahre alt... Resnick ist tot... Jarvis ist tot... Dieser verdammte Hundesohn Sobek hat ihn eiskalt gekillt! Nicht nur alt, nein, er fühlte sich auch unsagbar allein – seit dem Moment, da der Amorphe, dieses absurde, quecksilbrige Konstrukt aus der Techno-Schmiede der Hirten, Jarvis erstickt hatte. Spätestens aber seit Scobee und Jelto auf Sobeks Geheiß hin die Zentrale der RUBIKON II – den Schauplatz des feigen Mordes - verlassen und sich in ihre Unterkünfte begeben hatten. Als Gnadenakt hatte Sobek die Tötung des geschundenen Jarvis verkaufen wollen, und noch immer hallten die Worte des bizarren Außerirdischen in Cloud nach: »Es ist zu spät«, hatte er den Zustand des zellgeschädigten GenTec kommentiert. »Das dort ist wertlos.« Und seine Tat hatte der Hirte mit den Worten begründet: »Es ist ein Gefallen. Dies war alles, was ich noch für ihn tun konnte.« Cloud erinnerte sich, wie er mit leiser, kalter Stimme erwidert hatte: »Das werde ich dir nie vergessen. Niemals!« Und das war die Wahrheit. Diese Untat würde er niemals vergessen, geschweige denn vergeben. Sein Verhältnis zu dem Wesen, dem die RUBIKON II wirklich gehörte - ja, es war purem Größenwahn entsprungen, auch nur zeitweise anzunehmen, ein Technik-Wunder wie das im AquaKubus gefundene Raumschiff könne tatsächlich von Menschenhand gezähmt und nach Belieben
benutzt werden -, war von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an gespalten gewesen. Hin und her
gerissen hatte sich Cloud von dem »knöchernen Hirten« gefühlt.
Sie nennen sich selbst Foronen, rief er sich ins Gedächtnis. Gewöhne dich endlich daran. Gewöhne
dich an den wahren Namen dieser Ungeheuer!
Er war so voller Zorn, wie nur einmal zuvor in seinem Leben. Das noch nicht wirklich lange
währte, nicht biologisch gesehen jedenfalls. Achtundzwanzig. Er war 28 Jahre alt - nur der von
Darnok initiierte Zeitsprung hatte ihn und die GenTecs ganze 211 Jahre weit in die Zukunft
geschleudert!
Damals hatte er sich vergleichbar mies gefühlt. Damals, vor erlebten 22 Jahren - als ihn die
Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte.
Nathan Cloud.
Vermisst, verschollen auf einem fremden Planeten.
Er und drei andere Astronauten, die nahe des marsianischen Hellas Planitia gelandet und dort ihre
Forschungsarbeit im Dienste der Menschheit aufgenommen hatten...
Wolinow, Jeunet und Oyama, geisterte es durch Clouds Gehirn.
Er konnte die Namen der Teilnehmer von Mission I im Schlaf aufsagen. Sie waren mit seinem
Vater verschwunden. Spurlos. Und unter so mysteriösen Umständen, dass Amerika in der Folge das
größte und geheimste Projekt seiner Geschichte auf den Weg gebracht hatte.
Mission II.
Mit einem Commander namens John Cloud.
Und mit gentechnisch optimierten Klonen an Bord der RUBIKON I, die für alle Eventualitäten
ausgerüstet zu sein schienen - notfalls sogar, um einen kleinen Krieg auf dem Mars zu entfesseln.
Gegen eine unbekannte Gefahr, hinter der durchaus auch etwas Intelligentes vermutet wurde. Eine
aggressive Marslebensform mit Grips in der Birne.
Die nichts Besseres zu tun hatte, als Dad und den drei anderen drastisch klar zu machen, dass sie dort, wo sie ihre Fußstapfen im roten Sand hinterließen, nicht willkommen waren! Cloud merkte kaum, wie er den Kopf schüttelte. Die Erinnerungen drohten, ihn hinwegzuspülen und ihm sogar den Blick für die aktuelle Realität - den Toten vor seinen Füßen - zu verstellen. Er gab sich einen Ruck, hallte die Hände zu Fäusten und wandte sich dem monströsen Wesen zu, von dem inzwischen klar war, dass es nicht länger nur aus gefärbtem Licht bestand - kein bloßes Hologramm mehr war. »Worauf wartest du?«, fauchte er Sobek an. »Warum bringst du mich nicht auch um?« Der Hirte stand nur wenige Schritte von ihm entfernt vor einem von insgesamt sieben kreisförmig angeordneten Sitzen. Auf denen fünf andere saßen wie er. Andere, die fast identisch aussahen. Und ebenso viel Verdorbenheit, ebenso viel eiskaltes Kalkül ausstrahlten. Sobek, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona, Siroona, zählte Cloud im Geiste die Namen der anderen Foronen auf, jener Sieben, die von den Vaaren als gottgleiche Geschöpfe, als ihre »Hirten« verehrt worden waren - oder immer noch wurden. Über die gegenwärtige Situation im Aqua-Kubus war Cloud nichts bekannt - nur dass der Kubus als solcher »Amok lief«, seit die RUBIKON II aus ihm entführt worden war. Der gigantische, durchs All irrende Wasserwürfel mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde hatte - glaubte man Cy und Algorian (Siehe Bad Earth Band 12 + 13) - damit begonnen, bewohnte Welten in sich zu absorbieren. Und damit alles Leben auf den betroffenen Planeten zu ertränken... »Es wäre einfach, du hast Recht«, grollte Cloud der Stimme des Foronen entgegen. Sobek sprach nicht laut, dennoch schienen seine Worte bis in den entferntesten Winkel der Schiffszentrale zu reichen. Die runde Membran in der unteren Hälfte seines »Gesichts« zitterte leicht wie die Bespannung eines antiquierten Lautsprechers. »Aber welchen Nutzen hätte ich davon?« Für Sobek schien alles ein nüchternes Abwägen von Aufwand und Nutzen zu sein. In der kurzen Zeit, die Cloud ihn kannte - ein Wort, das in diesem Zusammenhang geradezu absurd übertrieben wirkte -, hatte es noch keinen Moment gegeben, der auch nur die Wahrscheinlichkeit nahe legte, dass Foronen über Charaktereigenschaften verfügten, die mit Mitleid vergleichbar waren. Und die sie aus anderen als rein pragmatischen Gründen handeln ließen. Oder war diese Aura von Unnahbarkeit nur ein Schutzschild, mit dem sich Sobek umgab, weil er in
Cloud und den anderen Menschen keine gleichwertigen Gegenüber sah.
Nur Mittel zum Zweck. Wir sind nur seine Werkzeuge. Im besten Fall Kundschafter, wie jüngst
geschehen - damit er sich nicht selbst in Gefahr bringen muss...
Nein, es war kein bloßer Schutzschild.
Den Beweis hatte er vor wenigen Minuten geliefert, als er Jarvis durch den Amorphen »erlösen«
ließ.
Hilflos dabei zusehen zu müssen, wie ein Freund umgebracht wurde, hatte eine hässliche Wunde in
Cloud gerissen - eine Wunde, die sich nicht mehr schließen wollte.
Aber vielleicht war es auch ein heilsamer Schock gewesen. Denn bis zu diesem Moment hatte er, so
ehrlich musste er sich selbst gegenüber sein, offenbar gehofft, in Sobek - und den Foronen generell
- etwas anderes als gewissenlose Feinde zu sehen.
Vorbei.
»Sei demütig!«, riss ihn Sobeks Stimme aus den Gedanken. »Du wirst mir noch danken - sobald du
anfängst zu verstehen.«
Mit diesen Clouds Zorn noch mehr nährenden Worten verwies der Forone auch ihn aus der
Zentrale. »Geh jetzt! Finde zu dir! Begreife!«
»Was passiert mit...?« Clouds Blick zuckte noch einmal zum Leichnam des Freundes, der fast zur
Unkenntlichkeit verändert war. Wofür aber nicht Sobek, sondern der Gendefekt des Klons
verantwortlich war.
»Darüber entscheidest du, wann immer du willst. Die sterblichen Überreste werden so lange
verwahrt.«
Verwahrt.
Wie ein Ding.
Zu Wut gesellte sich - fast unmerklich - Hass.
Cloud wandte sich mit einem Ruck ab und verließ das Herz der RUBIKON II, die noch einen
anderen Namen hatte.
SESHA.
Das Seelenschiff.
Kaum hatte er die Zentrale mit den Hirten hinter sich gelassen, wurde ihm erst richtig bewusst, was
sich ereignet hatte.
Nicht nur Jarvis, auch Resnick war tot. Und vieles sprach dafür, dass Aylea, das Mädchen von der
Erde, das Betreten des
Hirten-Schiffes ebenfalls nicht überlebt hatte. Vor Clouds Augen war sie verschwunden, hatte sich
in Luft aufgelöst, und Sobek zeigte keinerlei Bereitschaft, dieses Verschwinden zu kommentieren.
»Sei demütig!«
Eindringlicher als diese Floskel des Hirten konnte wohl nichts verdeutlichen, wofür er sich hielt.
Und was er in all jenen sah, die der Zufall - oder das Schicksal - an Bord seines Schiffes gewürfelt
hatte...
Über der Metrop Washington wölbte sich ein strahlend heller Himmel, an dem trotz schwacher Bewölkung und klarer Luft keine Sonne zu erkennen war. Aber daran hatten sich die Menschen gewöhnt, die sich durch die Straßenschluchten bewegten. Sie kannten nichts anderes. Bei Tag war der Himmel sonnenlos, bei Nacht das Firmament seiner Sterne beraubt. Seit mehr als zwei Jahrhunderten. Seit die Satelliten ihre Arbeit aufgenommen und den Planeten hinter einem Schirm verborgen hielten, der ihn den Blicken entzog. Ein Nebeneffekt, mehr nicht, wusste Arabim. Der Herr der Erde ruhte in einem Becken, das perfekt auf seine Bedürfnisse abgestimmt war, was Bequemlichkeit und anderweitige Belange anging. Von dieser Bodenvertiefung aus, konnte er fast jeden Punkt auf der Erde betrachten. Und wenn er wollte sogar noch über die Grenzen des Planeten und des solaren Systems hinaus schauen.
Der Schlüssel zu dieser »Weitsicht« lag im Boden der höchsten Etage seiner Residenz verborgen. Das Gigahirn. Eine spezielle Züchtung, wie sie in jedem der über den Globus verstreuten Master-Türme zu finden war - aber nirgendwo sonst in dieser Perfektion. Bodor hatte es zu spüren bekommen. Der Verräter Bodor, der Entartete, wie Arabim ihn in Gedanken nannte, wenn er sich nicht gerade eines anderen Ausdrucks bediente, der dem Wortschatz der Erde und der Menschen entstammte. Bastard. Verräter. Entarteter. Bastard. All dies traf auf Bodor zu, auch jetzt noch, da Bodor Teil der Vergangenheit geworden war und keinen Platz mehr in der Gegenwart hatte. Es hätte nur einer geringfügigen Korrektur in der Zeit bedurft, um ihn wieder zum Leben zu erwecken - obwohl er auf Arabims Geheiß hin exekutiert worden war. Nicht alles ist korrigierbar, dachte der Keelon, während er kraft seines Magoos eine routinemäßige Verjüngung seiner Zellen einleitete. Und beileibe nicht alles möchte ich korrigiert wissen. Zu den Dingen, die er nicht rückgängig machen wollte, gehörte Bodors Ende. Es war verdient. Und würde somit Realität bleiben. Ganz oben auf der Liste der Dinge, an deren Änderung und Korrektur (oder ihrem UngeschehenMachen) er durchaus ein Interesse gehabt hätte, die aber nicht zu ändern waren, stand das Getto. Oder Peking, wie es einmal geheißen hatte. Die Zerstörung der dortigen Residenz und damit der Tod der darin befindlichen Master konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden - nicht ohne unabsehbare Folgen zu provozieren, die möglicherweise noch schwer wiegender gewesen wären als der Verlust einer Residenz und der von ihr behüteten Bevölkerung. Noch immer nicht vollständig auf geklärte Phänomene, die mit den getöteten Keelon und ihrem Magoo in Zusammenhang stehen mussten, verhinderten bis heute ein Betreten der Getto-Zone durch einen Master. Und die immer noch präsente Strahlung dort störte selbst die Hochtechnik, die auf der Erde Einzug gehalten hatte. Innerhalb der Zone ohnehin - aber selbst eine Beobachtung von außen, aus dem Orbit, war starken Einschränkungen unterworfen. Der ganze Landstrich rund um das zerstörte Raumschiff - die Residenz - litt noch immer unter den Auswirkungen der Anomalien, die so tief ins Geflecht der Zeit hineinwirkten, dass nur ihre Isolation als Lösung übrig geblieben war. Die Master hatten sich damit arrangiert und auf dem Boden der ehemaligen Millionenstadt ein Asyl installiert, in das all jene abgeschoben wurden, die der neuen Ordnung im Wege standen. Doch mittlerweile betrachtete Arabim auch diesen Zweck als überholt. Das Getto hatte sich als Brutzelle möglicher Revolten entpuppt - dem wollte er für alle Zukunft entgegenwirken. »Was hältst du von meiner Idee?«, wandte er sich an ein Geschöpf, das unweit von seiner Bodenmulde in einem leise, dafür umso zorniger summenden Hochenergiekäfig lag. Dieses andere Wesen ähnelte ihm grob, jedoch war die Farbe seiner Haut nicht lackschwarz wie bei einem gesunden Keeton, der in der Blüte seiner Jahre stand, sondern aschgrau, fast schorfig. Es lag ermattet in der sehr viel primitiveren Ausführung eines Ruhebeckens, und sämtliche seiner über die Vorderseite des Rumpfs verteilten Augen waren geschlossen. Arabim ließ sich davon nicht täuschen. »Ich weiß, dass du mich hörst. Ich weiß, dass du wach bist, also: Was hältst du von meiner Entscheidung, das Getto betreffend, Darnok?« Lange herrschte Schweigen. Doch schließlich reagierte der Gefangene hinter den Gittern, die sein Magoo eindämmten und auch sonst an seinen Kräften zehrten. »Was ist nur... aus dir geworden?«, drang seine leise Stimme aus dem Kerker. Aus den Tiefen von Arabims Körper löste sich ein Fauchen, das dem Seufzer eines Menschen ähnelte. »Dich sollte weniger erschüttern, was ich heute schon bin, als vielmehr das, was ich vorhabe zu werden.« Darnok erwiderte nichts mehr darauf, und Arabim widmete sich wieder der Betrachtung des Himmels.
Und dessen, was dahinter lag.
Er erwachte.
Wo - bin ich?
Was - geschieht? Stille.
Dunkelheit.
Leere.
WO BIN ICH? Da war Panik. Und ganz allmählich eine bestürzende Erkenntnis. Augen kamen ihm in Erinnerung.
Die Augen eines Mannes namens Nathan Cloud. Eingefroren in eine Masse, die seit wie vielen
Jahren verhinderte, dass dieser Mann, der inzwischen einen fast gleichaltrigen Sohn hatte... dass
dieser Mann verweste und zu einem Skelett zerfiel.
Oder auch nur starb.
Ja, der Erwachte erinnerte sich an die Augen, die offen gestanden und in einer Weise gestarrt
hatten, wie nur etwas Lebendiges, etwas über all die Jahre bei Bewusstsein Gebliebenes starren
konnte.
Er erinnerte sich an den Ausdruck darin, der ihm Rätsel aufgegeben, ihn aber nie mehr losgelassen
hatte.
Jetzt.
Jetzt erst dämmerte ihm das ganze Ausmaß dessen, was er darin gesehen und gelesen hatte.
Mehr als Verzweiflung.
Mehr als die Müdigkeit einer halben Ewigkeit.
Mehr als Angst und erloschene Hoffnung...
Der gerade Erwachte begriff es im selben Moment, als die Finsternis um ihn herum floh. Als es
Licht wurde, und er das ganze Ausmaß seiner eigenen Verdammnis begriff.
Und sich eine Stimme in ihm meldete, die ihn in einer Sprache begrüßte, die er nie erlernt hatte,
aber auf Anhieb verstand. »Ich wurde neu programmiert und stehe dir von nun an zur Verfügung.
Ich ziehe mich jetzt zurück und stehe dir helfend zur Seite. Du wirst es kaum bemerken.«
Nach diesen Worten brandete anderer Lärm, stürmten andere Klänge auf ihn ein - diesmal von
außerhalb. Bevor er sich ihnen stellte, kehrten seine Gedanken noch einmal zu Nathan Cloud zurück.
Das, was alles andere in den Augen des Eingekerkerten, des in künstlichem »Eis« Eingefrorenen
überstrahlt hatte, war etwas anderes als Verzweiflung, Müdigkeit, Einsamkeit, Angst oder
erloschene Hoffnung gewesen.
Etwas, das dem Erwachten in diesem Augenblick vorkam wie ein Blick in einen Spiegel, der ihm
seine eigene Zukunft aufzeigte.
Das, was auch ihm drohte.
Weil kein Mensch für das geschaffen war, was hier oder bei Nathan Cloud in Gang gesetzt worden
war.
Der Erwachte wünschte sich einen Mund, um schreien zu können.
Es war nicht das einzige Sehnen, das unerfüllt blieb.
Obwohl es heller und heller wurde, obwohl die Stimme immer klarer zu ihm vordrang, versuchte er
sich in den Zustand vor dem Erwachen zurückzuziehen.
Vergebens.
Die Erkenntnis, was geschehen war, stand ebenso klar in seinem Bewusstsein, wie die Konsequenz,
die sich daraus ergab.
„Du hast jetzt einen Namen«, sagte die Stimme.
Und dann erfuhr er, noch vor John Cloud, was Foronen unter einem »Gefallen« verstanden.
Darnok hob schwach die Lider. Nur einen winzigen Spalt weit, denn heiß und fiebrig zirkulierte das Blut in ihm. Körper und Geist waren wie taub. Er war am Boden zerstört. Die Hoffnung, die ihn noch bis vor kurzem durchpulst hatte, war brutal erstickt worden, als John Cloud in den Raum gekommen war, in dem der Käfig stand. Und wo Arabim residierte. Es war die Art und Weise gewesen, wie der Freund aufgetreten war, die Darnok endgültig klar machte, dass es für ihn selbst kein Entrinnen aus den Klauen des Obersten der Keelon geben würde. Des Masters der Master - wie sich Arabim in erschütterndem Hochmut nannte. Cloud war gegangen, ihm war die Flucht gelungen - zusammen mit anderen, unbekannten Personen und einem Ding... und dabei hatte er ihn, Darnok, zurückgelassen. Vergessen. Ich war es ihm nicht wert, um mich zu kämpfen... Die seltsamsten und zugleich niederschmetterndsten Gedanken durchflackerten ihn. Obwohl er die Augen jetzt so weit offen hatte, dass er den begrünten Raum jenseits der Stäbe sehen konnte - bis dorthin, wo Arabim in seiner Mulde kauerte - war es seinem Geist kaum möglich, Anker im Jetzt zu werfen. Immer wieder driftete sein Bewusstsein ab. Floh in Erinnerungen. Er wollte nicht jetzt sein. Die Gegenwart stieß ihn ab. Und an eine Zukunft glaubte er nicht mehr. An keine jedenfalls, die er noch in irgendeiner Form hätte mitprägen, mitgestalten können... Bodor. Erneut sah er den Laichbruder sterben. Arabim hatte das Exempel vor seinen Augen demonstriert. Ein Keelon hatte einen Keelon getötet! Schon allein das war ein Tabubruch ersten Grades - zugleich aber auch nur ein Abglanz der sonstigen Verfehlungen, derer sich nicht nur Arabim, sondern alle »Master« schuldig gemacht hatten. Sie haben den Untergang Roogals vorgetäuscht, um mit allem abzuschließen, wofür wir Keelon einst standen. Sie haben sich an Machtgier berauscht und die Bevölkerung eines bis dato primitiven Planeten zu ihren Verbündeten, Werkzeugen - wie auch immer man es nennen wollte - gemacht, um ein neues Reich aufzubauen. Das Reich der Erinjij. Aber wer - und wie viele Keelon hatten sich an diesem ungeheuerlichen Vergehen wider den Kodex beteiligt? Und was war aus den alten Keelon, der Bevölkerung eines ganzen Planeten, geworden? Es gab nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass Arabim sämtliche Keelon auf seine Pläne hatte einschwören können. Die Master, die in den rings um die Erde verstreuten Residenzen lebten, mochten nach Hunderten, vielleicht Tausenden zählen - aber gewiss nicht nach Millionen! Was ist aus meinem Volk geworden? Ein Gedanke, von beispielloser Furcht begleitet. Die bloße Vorstellung, Arabim könnte den Tod von Abermillionen Artgenossen wissentlich in Kauf genommen haben, um seine abscheulichen Pläne durchzusetzen, ließ ihn zu einem in der Geschichte der Keelon nie da gewesenen Monster mutieren. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Lisee. Das nächste bittere Bild, das aus den Klüften der Vergangenheit aufstieg, aus seinem Gedächtnis, seinem Unterbewusstsein. Wo sie so lange einen Platz haben würde, wie er selbst existierte. Er konnte sie nicht vergessen. Nie hatte er einen Verlust grausamer, unersetzlicher empfunden als den ihren... So weit war seine Sehnsucht nach der verlorenen Liebe gegangen, dass ihm sogar seine Wahrnehmung einen Streich gespielt hatte, als er nach der Vernichtung des Karnuts in der Oortschen Wolke und seinem Wiederwachen auf der Erde für einen flüchtigen Moment geglaubt hatte, sie stünde vor ihm. Dabei war es nur ein anderer weiblicher Keelon gewesen - einer von denen, die sich Master nannten. Einer von denen, die nicht einmal davor zurückschreckten, die eigene Art zu verraten. Und ihrer Machtgier zu opfern. Darnok verdrängte Lisees Bild aus seinem Geist. »Warum?« Plötzlich stand Arabim neben dem Käfig. »Warum quälst du dich selbst? Ich bin immer noch dein Zeesta - wenn du es nur willst.« »Du bist ein Ungeheuer. Und ich verachte dich!«
»Weil ich Bodor töten ließ?«
»Du gibst die Antwort selbst«, antwortete Darnok. »Das zeigt, dass du weißt, wozu du geworden
bist. Ach, Arabim...«
»Bodor war nicht mehr Herr seiner Sinne.«
»Und du bist es? Ihr seid es?«
»Wie denkst du über deine eigene Spezies, Darnok, mein Sohn? Welchen Platz im Gefüge der
galaktischen Mächte würdest du ihr zuordnen? Und glaubst du, wir wurden unseren Möglichkeiten
in der Vergangenheit auch nur annähernd gerecht? Ist es nicht vielmehr so, dass wir unser Potenzial
unentschuldbar vernachlässigten, indem wir uns freiwillig auf nur eine Welt beschränkten, einen
Planeten von unzähligen?«
»Nenne mich nie wieder Sohn!«
»Wie denkst du über unser Volk?« Arabim blieb unerschütterlich. Er stand vor dem Käfig, und die
Dinge, die seinen Körper schmückten, kleideten, waren Darnok ebenso fremd wie die Person
darunter.
Er müsste lange schon tot sein. Kein Keelon wurde je so alt, wie er fraglos ist. Aber er wirkt jünger
als damals, da ich ihn zuletzt sah, bevor ich Roogal verließ - zusammen mit Lisee... Arabim hütete
noch mehr als ein Geheimnis.
Vielleicht bekäme ich Antworten. Jede Antwort, nach der es mich verlangt. Aber der Preis wäre
hoch, zu hoch. Ich müsste werden wie er. Müsste alle Werte abstreifen, mit denen ich auf wuchs, an
die ich glaube, weil ihre Summe mich ausmacht, mich, Darnok...
Und die Arabim ihn einst selbst gelehrt hatte!
Was war aus seinem Lehrer und Mentor geworden? Wie hatte er sich so von seinen eigenen
Maßstäben entfernen können?
»Ober das Volk, das ich kannte und dem ich mich - noch immer - zugehörig fühle, denke ich nur
Gutes«, erwiderte Darnok nach kurzem Überlegen. »Aber dieses Volk existiert nicht mehr. Obwohl
du vor mir stehst, war mir noch nie so bewusst wie jetzt. dass ich wirklich der Letzte meiner Spezies
bin.«
»Wir wussten, wie du denkst. Und wie schwer zu überzeugen du bist - wenn überhaupt. Deshalb
war es nötig, dich damals fortzuschicken. Die Mission, die du selbst mitinitiiert hast, bot sich dafür
an.«
»Ich ging damals nicht allein.«
»Lisee ging mit dir.«
»Sie ist tot. Alle, die ich liebte, sind tot. Alle Freunde und Weggefährten meiner Jugend.«
»Ich lebe.«
»Was immer du auch sein magst - wie immer du dich nennen magst... Du bist eines ganz gewiss
nicht: der Arabim, der einmal war! Der Arabim, den ich kannte, ist mit Roogal untergegangen - und
ich trauere um ihn.«
Einen Moment wirkte der Keelon jenseits der Stäbe betroffen.
Dann wandte er sich wortlos ab...
Cloud blieb abrupt stehen. In ihm brodelte die Wut. Er war voller Zorn, voller Verlangen, etwas zu
tun, was er noch niemals zuvor so inbrünstig gewollt hatte: einem anderen Menschen an die Gurgel
zu gehen!
Mensch!
Die größtmögliche Verachtung, zu der er fähig war, schwang in diesem Gedanken mit.
Sein Zorn richtete sich gegen keinen Menschen, sondern gegen etwas völlig anderes. Etwas, das
sich intelligent schimpfte, aber von Moral offenbar nie etwas gehört hatte.
Weil es kein Mensch war?
Er spürte, wie er vibrierte. Mitten auf einem der endlosen Gänge von SESHA - seit er hier zur
Marionette degradiert worden war, weigerte sich etwas in ihm, von dem Schiff als der RUBIKON II
zu denken -, umgeben von Wänden, Wänden, Wänden!
Er kam sich vor wie ein eingesperrtes Tier. Wie eines von mehreren Insekten, die nur noch am
Leben waren, weil man sie nicht zu Ende studiert hatte. Weil es noch Kleinigkeiten in ihrem
Verhalten gab, über die sich der Hirte Sobek nicht völlig schlüssig war. Sobald sich dies aber - in
Kürze - geändert hatte, würde auch ihre Daseinsberechtigung enden.
Wie die von Jarvis.
Auch Resnick war tot. Jarvis hatte es mit seinen letzten Atemzügen verraten. Und auch um ihn
trauerte Cloud. Aber im Geist vor sich sah er immer wieder nur Jarvis. Es war die Art und Weise
wie der GenTec umgekommen war. Es war die kalte Menschenverachtung, die Sobek an seinem
Beispiel demonstriert hatte...
Er hatte wirklich gute Lust, ihm den Hals umzudrehen!
»Aber dafür werde ich kaum die Gelegenheit bekommen...«, murmelte er im Selbstgespräch.
Eine Selbsterkenntnis von hoher Wahrscheinlichkeit. Aber seine Wut, sein heiliger Zorn ließ sich
davon nicht beeindrucken.
Eine Weile stand Cloud noch mit geballten Fäusten nur da.
Niemand sah ihn so - die Schiffs-KI mit ihren allgegenwärtigen Augen vielleicht ausgenommen.
Niemand kam an ihm vorbei, von nirgendwo her klangen Stimmen.
Dieses Schiff war in seiner unvorstellbaren Größe nichts anderes als ein gigantischer Sarg. Und
Cloud wünschte, er hätte eine Möglichkeit besessen, dies auch dem Hirten klar zu machen.
Denn es war Sobeks Sarg.
Und wenn einer so alt ist, dass er eigentlich längst tot sein sollte, dann bin nicht ich das oder ist es
Scobee, sondern dieses Ungeheuer!
Er entschied, nicht in seine Kabine zu gehen.
Er entschied, es noch einmal darauf anzulegen.
Auf Konfrontation.
Ganz gleich, wie hoch der Preis sein würde, den er dafür zahlen musste.
Er machte kehrt und ging zur Zentrale zurück. Zu Sobek und dem Zirkel der holografischen
Hirten...
»Davon habt ihr nichts erzählt.«
Es dauerte eine Weile, bis Scobee begriff, was Jelto gesagt hatte. Er war ihr in die Kabine gefolgt,
statt sein eigenes Quartier aufzusuchen. Offenbar hatte er gespürt, dass sie jetzt jemanden brauchte.
»Wovon haben wir nichts erzählt?«, fragte sie begriffsstutzig.
»Wie es hier zugeht - auf diesem Schiff. Ich möchte zurück in meinen Wald. Geht das?«
Sie löste sich endgültig aus ihrer Versunkenheit und fragte sich, ob die naive Art, mit der er sprach,
das war, was er auch tatsächlich dachte - oder ob er sie nur damit aus der Reserve locken wollte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das geht nicht. Es tut mir Leid. Ich weiß, dass wir
dich in diese Lage gebracht haben. Ohne uns wäre nie geschehen, was geschah. Aber jetzt ist es zu
spät. Selbst wenn es eine Möglichkeit zur Rückkehr gäbe - ich bezweifle, dass sie dich in Ruhe
ließen. Du hast zu viel gesehen und gehört. Alles spricht dafür, dass solches Wissen auf der Erde
unter der Decke gehalten werden soll. Du wärst eine stete Gefahr, und so wie wir die Master kennen
gelernt haben, werden sie dir dieses Zuviel an Wissen nicht durchgehen lassen.«
»Du meinst, sie würden mich töten?«
»Vielleicht nicht töten - aber dich all deiner Erinnerungen berauben, mit denen sie nicht
einverstanden sind.«
Jeltos bronzene Haut begann stärker zu leuchten, die Aura jedoch, die ihn mitunter in grelles Licht
badete, ließ er nicht zum Ausbruch kommen. Doch auch so erzeugte er in Scobee das Gefühl von
Fremdheit, das sie manchmal vergaß, wenn er sich völlig zurücknahm und dann wie ein ganz
normaler Mann vor ihr stand.
Aber das war er nicht, und sie würde lernen müssen, dies zu akzeptieren.
Zumal sie selbst keine »normale« Frau war.
Genau wie Jelto war auch sie in vitro gezeugt worden - in einem Genlabor. Nur mit anderen
Zielsetzungen. Während Jeltos Bestimmung in der Hege und Pflege eines riesigen bewaldeten Areals bestanden hatte und er dafür offenbar sogar mit ans Parapsychische grenzenden Talenten ausgestattet worden war, beschränkten sich ihre eigenen Fähigkeiten auf Bodenständigeres: Sie besaß »übermenschliche« Körperkräfte und eine Konstitution, die ihr selbst unter rauesten Bedingungen ein Überleben sicherte - notfalls konnte sie sich sogar in einen winterschlafähnlichen Zustand zurückziehen. Ihr Stoffwechsel war dann kaum noch messbar, ebenso ihre Atmung, ihr Herzschlag oder ihre Hirnaktivität. Aber der Clou ist, dachte sie selbstironisch, dass ich im Dunkeln keine Kerze brauche. Ich zünde mir einfach ein Lichtlein in meinen Augen an. Was nichts anderes hieß, als dass sie ihre Sehfrequenz beliebig variieren konnte, bis hin zur Infrarotwahrnehmung ihrer Umgebung. »Würde es dich sehr überraschen oder enttäuschen«, fragte der Florenhüter, »wenn ich dir sage, dass ich das in Kauf nehmen würde - wenn ich nur wieder zurück könnte?« Sie dachte darüber nach, während sie an ihm vorbei auf die nackten Wände des kleinen, spartanisch und sehr gewöhnungsbedürftig eingerichteten Raumes starrte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Enttäuscht wäre ich sicher nicht. Ich glaube, ich verstehe dich vielleicht besser, als du denkst.« Ohne dass sie es wollte, irrten ihre Gedanken zurück zu Jarvis und Resnick... Sie schrammten sie aber nur - und wanderten dann weiter zu einem anderen Gesicht. Einem Mann, an den sie nur noch mit Abscheu denken konnte, obwohl sie hoffte, sich nun endgültig aus seinem Bannstrahl befreit zu haben: Reuben Cronenberg. Sie wusste nicht einmal, ob der Ex-NCIA-Chef, der auch ihr Ex-Liebhaber war - sie fröstelte unter der Erinnerung an gemeinsame Nähe und Intimität -, überhaupt noch am Leben war. Zuletzt hatte sie ihn in Bodors Residenz, in einem der umgestalteten Äskulap-Schiffe der Master gesehen. Aber dann waren sie getrennt worden. Sie hatte begreifen müssen, wer hinter der über zweihundert Realjahre zurückliegenden Invasion der Erde gesteckt hatte - Wesen wie Darnok, Keelon! -, und dann war ein Kommando aufgetaucht, das erst Bodor und dann sie überwältigt und weggebracht hatte. Hin zu einer anderen Residenz, wo der Master der Master, der Herr der Herren, seine Fäden zog. Und wo auch Darnok gefangen gehalten wurde. Scobee musste oft daran denken, wie es erst für ihn gewesen sein musste, als er erkannt hatte, welchem Betrug er aufgesessen war. Bis dahin hatte Darnok geglaubt, die Vernichtung seines Heimatplaneten Roogal ginge auf das Konto der Menschen - der Erinjij. Nun stellte es sich so dar, dass die Menschen Roogal zwar zerstört hatten, aber offenbar auf Befehl der Keelon selbst. Denen es damit gelungen war, ihre Spuren nahezu zu verwischen und jeden Verdacht von sich zu wenden. Aber welcher Keelon?, dachte Scobee. Sie bezweifelte, dass mehr als eine Elite, ein Bruchteil der ursprünglichen Roogal-Bevölkerung zur Erde umgezogen war, um hier ihren Machtgelüsten zu frönen. Was war aus den Tausenden, Hunderttausenden übrigen geworden? Hatten die Master-Keelon sie etwa tatsächlich in den Tod geschickt? Waren diejenigen, die heute über ein »Stiefvolk« regierten und sich anschickten, weite Bereiche dieses galaktischen Spiralarms zu erobern, etwa wirklich so skrupellos, ihre eigene Spezies bis auf einen kleinen Teil zu dezimieren, der seinen kosmischen Verschwörungen und Träumen nachhing? Und wie hatten die Keelon ein solches Unterfangen überhaupt angehen können? Nach Darnoks Erzählungen hatte Scobee niemals das Gefühl gehabt, dass sein Volk über die technischen und logistischen Voraussetzungen verfügte, um ein solches Unternehmen in Angriff zu nehmen. Waren die Keelon am Ende doch nicht die wahren- oder einzigen -Master? Gab es eine Graue Eminenz im Hintergrund, die das erforderliche Instrumentarium beigesteuert hatte? Und wenn ja, wer kam dafür in Frage? »Erzähl mir von den Männern, die gestorben sind - Resnick und Jarvis«, riss Jelto sie aus ihren Gedanken. »Wie kamen sie zum Mars?« Scobee zuckte die Achseln. Es war keine Zeit geblieben, das zu erfahren. Der Tod war schneller gewesen, und wie immer hatte er gründliche Arbeit geleistet. Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment klopfte es laut gegen das Trennschott ihrer Kabine. Sie zuckte zusammen - woran sie erkannte, wie stark die jüngsten Ereignisse sie angegriffen hatten.
John, dachte sie. Er konnte also auch nicht allein sein.
Sie stand auf und berührte eine dunkelrot markierte Fläche neben der Tür. Sie glitt auf.
»Komm rein«, sagte sie...
ehe sie begriff, wer wirklich vor ihr stand.
»Ich... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber... verdammt, ich hasse es schon jetzt! Kann mir
nicht jemand diese beschissenen Klamotten vom Leib reißen?«
Die Unterhaltung mit Darnok strengte ihn zunehmend an. Und im gleichen Maße schwand die
Geduld, die Arabim anfänglich für den »Heimkehrer« aufgebracht hatte.
Darnok war ein Keelon, der das alte Leben personifizierte, die alten, überholten Werte. Innerhalb
der neuen Gesellschaftsordnung und Hierarchie war er ein Anachronismus.
Die Vorstellung, ihn überzeugen oder gar integrieren zu können, war von Anfang an unrealistisch
gewesen.
Warum lebt er dann noch? Sollte ich ihn nicht erlösen? Wie Bodor?
Der Gedanke rief ihm in Erinnerung, als was Darnok ihn betrachtete.
Als Monster.
Arabim war sich nicht sicher, ob er diesen Vorwurf überhaupt entkräften wollte. Es war die
Begrenztheit seines Horizontes, die Darnok zu diesem Urteil bewogen hatte.
Arabims Horizont war stark erweitert. Er sah über den Tellerrand hinaus. Er hatte den Keelon nicht
geschadet, sondern ihnen neue Perspektiven eröffnet. Einer kleinen Schar Keelon zumindest.
Er hatte ihnen eine Vision geschenkt - und sie dafür begeistert. Er liebte sein Volk. Aber er hasste
den Gedanken, dass es immer noch auf Roogal vegetieren und gegen die Unbilden der Natur
ankämpfen würde, wenn die Loge ihm das nicht erspart hätte.
Er zog sich in seine Mulde zurück und kommunizierte zunächst mit den anderen Türmen. Er
tauschte Nachrichten aus, empfing Meldungen von allen Orten der Erde, des Sonnensystems und
den Außenstellen des expandierenden Reiches, das nur vordergründig den Menschen gehörte.
All dies dauerte nur Minuten. Er war es gewohnt, sich schnell und effizient einen Überblick zu
verschaffen.
Routinemäßig ließ er seinen Geist auch zu ihr wandern, die ihm lange gute Dienste geleistet hatte.
Mit ihrer Hilfe hatte er die gesamte Flucht von John Cloud, Scobee, Jelto, Aylea und jenem Ding
verfolgen können, als wäre er selbst einer der Flüchtenden gewesen - aus Washington hinaus, über
Skytown bis hin zu jener unbekannten Station am Meeresgrund.
John Clouds Verbindung zu dem fremden Schiff, das im Sonnensystem für Furore und Aufruhr
sorgte, war ihm von Anfang an klar gewesen. Die Flucht eröffnete ihm die Möglichkeit, einen
Spion an Bord zu schleusen. Deshalb, nicht der Drohung des Dings wegen, hatte er sie fliehen
lassen.
Doch sein Plan war nicht aufgegangen.
Nach Verlassen der Kapsel, die sie aus der Tiefsee zurück zum Schiff gebracht hatte, war die
Verbindung zwar nicht abgerissen, aber ihr Wert extrem eingeschränkt worden.
Seither hörte Arabim nichts mehr durch die Ohren des Spions -und die fernen Augen sahen ein
immergleiches Bild: ein kahler, schwach erhellter Raum, in dessen Mitte sie in einem Fesselfeld
schwebte.
Ein Mädchen, das nicht wusste, wie ihm geschah.
Eine Bürgerin der Erde, die all ihre Privilegien verloren und ins Getto abgeschoben worden war...
Wo sie mit John Cloud zusammengetroffen war.
Sie war rührend in ihrer Unschuld und ahnte nicht einmal, dass sie ihre neuen Freunde verriet.
Arabim hatte sie noch nicht ganz aufgegeben. Möglicherweise waren alle nach ihrem Transfer auf
das fremde Schiff in vergleichbarer Weise isoliert worden wie das Mädchen.
Möglicherweise würde diese Isolation jeden Moment enden, und dann konnte er sich doch noch
dort umsehen, wohin sonst kein Auge reichte.
Er wollte endlich wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Wer die Erinjij narrte. Das Schiff durfte auf keinen Fall entkommen, eine Verbreitung der Koordinaten des Solaren Systems nicht hingenommen werden. Arabim wusste, was er seiner Stellung und der Vision von einem mächtigen Erinjij-Keelon-Reich schuldig war. Jeder potentielle Feind musste vernichtet, jede potentielle Bedrohung im Keim erstickt werden. Und weil er dies wusste, gab er, kaum dass Mars ein Phänomen meldete, das nur auf das Fremdschiff zurückgehen konnte, augenblicklich den Befehl zur Offensive. Der größten, die jemals innerhalb des irdischen Sonnensystems stattgefunden hatte.
Scobee starrte den Amorphen an wie einen Geist.
Sie kannte ihn seit ihrem Ausflug zur Erde, seit sie und Cloud in der Foronen-Station am Grunde
der Tiefsee aus der Transportkapsel gestiegen waren - und von diesem Ding verfolgt worden waren.
Erst später hatte der Amorphe sich als ihr Helfer und Beschützer demaskiert...
Ehe er, wieder zurück auf der RUBIKON, zum kaltblütigen Mörder an Jarvis geworden war.
Auf Sobeks Befehl hin war er wie eine gigantische Amöbe über den sterbenskranken GenTec
gekrochen und hatte ihn - wie Sobek es formulierte - erlöst.
Das Schlimme war, dass Scobee immer noch geschworen hätte, dass der Forone die Möglichkeit
besessen hätte, Jarvis zu retten, zu heilen! Die Wissenschaft der Hirten war, daran zweifelte sie
nicht eine Sekunde, der menschlichen auch in der Gen-Technik himmelweit überlegen.
Gerade der Amorphe hatte es auf der Erde demonstriert: Aus winzigen Zellproben hatte er in einem
»körpereigenen Labor« binnen Sekunden Klon-Kopien von Cloud, Jelto und ihr selbst hergestellt.
(siehe Bad Earth Band 18: »Endstation der Träume«)
Ein Bild, das Scobee ebenso wenig je vergessen würde wie das des feigen Mordes an Jarvis.
»Verschwinde!«, schrie sie. »Verschwinde, bevor ich...«
Es war ein Reflex.
Erst als die Worte bereits über ihre Lippen gekommen waren, realisierte sie, wie der Amorphe zu
ihr gesprochen hatte.
Nicht nur die flapsige Art passte absolut nicht zu ihm, sondern in erster Linie war der Klang dieser
Stimme völlig anders als gewohnt.
Sie passte zu einem anderen.
Zu seinem Opfer. Zu dem, den er umgebracht hat.
Wie vom Donner gerührt stand sie da, und selbst Jelto, der mit alldem weniger vertraut war, begriff,
dass etwas an dieser Begegnung nicht stimmte.
Und dann hörte er mit wachsender Verwirrung, wie Scobee, die einen fahrigen Schritt auf den
Amorphen zumachte, stammelte: »Jarvis? Sag, dass das kein schlechter Witz ist! Jarvis! Bist du
das?«
2. »Sie rotten sich zusammen. Sie massieren ihre Kräfte.«
Cloud schnappte die Sätze in dem Moment auf, als er die Zentrale betrat. Worte, die nicht an ihn
gerichtet waren, aber die ihn augenblicklich beunruhigten - und ihm ins Gedächtnis zurückriefen,
wo er sich befand: nicht nur an Bord von SESHA, wie die Foronen die RUBIKON II nannten,
sondern auch immer noch im interplanetaren Raum des irdischen Sonnensystems. Nahe Mars, wo
die Station geborgen worden war, die einst seinem Vater, Nathan Cloud, und drei anderen
Astronauten zum Verhängnis geworden war.
Die Hinterlassenschaft der Hirten, mit der alles begann - zumindest alles, was mich persönlich
betrifft!
In diesem Moment, da er stehen blieb und sich von dem Geschehen fesseln ließ, das sich in der
Holosäule zwischen den Kommandositzen abzeichnete, wurde ihm bewusst, was er mit Resnicks
und Jarvis' Tod noch verloren hatte.
Wissen.
Gewissheit.
Sie waren an dem Ort gewesen, an dem sein Vater vor mehr als zweihundert Jahren verschwunden
war. Nicht auszuschließen, dass sie Spuren, Hinweise auf dessen Schicksal gefunden hatten...
Aber die Frist, die Jarvis verblieben war, hatte nicht ausgereicht, dieses Wissen an Cloud
weiterzugeben.
Du vergisst eines, rief sich Cloud wider strebend in Erinnerung, den Blick weiterhin auf das
Geschehen in der Säule gerichtet. Die Station befindet sich jetzt an Bord. Mit Sobeks Erlaubnis
könntest du...
Sobeks Erlaubnis!
Ein Gefühl wie Sodbrennen kroch ihm die Speiseröhre empor. Er ballte die Fäuste, gab seine Starre
auf und ging auf das Podest mit den sieben Sarkophag-Sitzen zu. die allesamt offen waren, nicht
geschlossen, wie Cloud es selbst schon erlebt hatte. Sie sahen aus wie wuchtige, aber relativ
normale Sitzmöbel, nur die Gestalten darin wirkten alles andere als normal.
Ich werde mich nie an den Anblick Außerirdischer gewöhnen, dachte er. Oder doch?
Wahrscheinlich würde er gar nicht mehr lange genug leben, um dies zu erfahren...
Warum bist du zurückgekehrt?«
Einer der sieben Sitze drehte sich jäh um 180 Grad, Sobek - Cloud nahm an, dass es Sobek war,
aber es fiel ihm schwer, überhaupt Unterscheidungsmerkmale an den sechs versammelten Hirten
auszumachen - stemmte sich aus der wuchtigen Konstruktion.
Er war selbst wuchtig und wirkte wie ein perfekt organisierter, nur aus Muskeln und Gelenken
bestehender, gut geölter Apparat.
Nein, korrigierte sich Cloud, eher wie das Schreckgespenst eines Gruselkabinetts.
Die Hirten hatten trotz ihrer Kompaktheit etwas Skelettöses. Noch immer war nicht klar zu
erkennen, ob sie überhaupt eine Haut im menschlichen Sinne besaßen, oder ob die Oberfläche ihrer
Körper nicht vielmehr aus etwas Chitinösem, Knorpeligem bestand.
Oder einfach blankem Knochen, dachte Cloud.
Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Sobek zu berühren - und wusste auch nicht, ob er dies
anstrebte. Eher nicht.
Andererseits...
Er war sich bewusst, dass er möglichst viel über seinen Gegner in Erfahrung bringen musste, wollte
er die Hoffnung aufrechterhalten, vielleicht doch noch eine Schwachstelle bei ihm zu finden.
Und dann? Was machst du, wenn du eine solche findest?
Die Einwürfe seines eigenen Selbst machten ihn noch ärgerlicher, wühlten ihn noch stärker auf, als
es ohnehin schon der Fall war.
Cloud wartete, bis Sobek nach mehreren wuchtigen Schritten unmittelbar vor ihm stand. Für
Momente hegte er dabei die Befürchtung, der Forone würde überhaupt nicht stehen bleiben,
sondern ihn einfach über den Haufen rennen. Der Stopp erfolgte ansatzlos, und Cloud begriff, das
dies wohl auch zu dem Psychospielchen gehörte, mit dem der Hirte ihn traktierte, seit er sich zu
erkennen gegeben hatte.
Das Verbreiten von Schrecken schien von Sobek als geeignetes Mittel betrachtet zu werden, sich
Respekt zu verschaffen.
In der Sekunde, da sich Cloud dessen bewusst wurde, ging ein Ruck durch ihn hindurch, und er
beschloss, dieser Taktik einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Dem kam entgegen, dass er tatsächlich genug hatte. Genug von Ängsten,
Einschüchterungsversuchen, Gängeleien, Drohungen und Spielchen!
Was - außer seinem Leben - hatte er schon zu verlieren?
Er lachte auf, was den Foronen, der ihn keine zwei Meter voraus um gut zwei Köpfe überragte,
spürbar irritierte.
Von Sarkasmus hatte Sobek vermutlich nie etwas gehört. Vom Mut der Verzweiflung ebenso wenig. »Was willst du?«, dröhnte es Cloud in der Sprache entgegen, die er niemals gelernt hatte und dennoch so gut verstand wie die, mit der er aufgewachsen war. Er starrte auf das Gesicht, das keine Augen hatte und allem Anschein nach dennoch sah, und wieder wollte die Verunsicherung in ihm aufsteigen. Aber er wehrte sich, kämpfte erfolgreich dagegen an. »Wie wäre es mit einer Prise Respekt?«, knurrte Cloud. »Für den Anfang zumindest.« Sobek machte noch einen Schritt auf Cloud zu, sodass nur noch eine knappe Armlänge sie trennte. Der Hirte war Gestalt gewordene Drohung, die ihn wie eine zwar unsichtbare, dafür aber umso fühlbarere Aura umgab. Aber zum ersten Mal überwog in Cloud beim Anblick des Extraterrestriers die Faszination, nicht mehr die lähmende Furcht. Obwohl ihn das komplette »Gesicht« des Foronen anzustarren schien und seinen Blick förmlich fesselte, gelang es Cloud, an dem Hirten vorbei zur Zentrale-Mitte zu schauen. Wo immer noch das Hologramm existierte und in dem eine Unzahl von irdischen Raumschiffen zu sehen war, manche nur als farbige Markierungen, einige wenige so weit vergrößert, dass sogar die Schiffsnamen zu lesen waren. Erinjij-Schiffe. Menschen-Schiffe. DUBLIN, TROJA, DAVINCI, DAEDALOS... Begriffe, wie sie nur auf der Erde und unter Menschen Bedeutung besaßen. Wie hatte es so weit kommen können? Eine Frage, die Cloud immer noch quälte - auf der Erde hatte er nur einen kurzen Blick auf die Wahrheit werfen können. Er wusste nun, wer die Master waren, die in den Residenzen der Metrops auf die Menschheit des 23. Jahrhunderts einwirkten und ihr Ziele diktierten, von denen noch immer nicht sicher war, ob sie auch dem ureigenen Wollen dieser neuen Menschheit entsprachen. Er hatte erfahren, dass es mindestens einen Ort gab, an dem Menschen untergebracht wurden, die nicht ins System der neuen Erde passten: das Getto oder die Zone, wie es auch genannt wurde. Er wusste, wie diese Sammelstelle der Geächteten, Rechtlosen nach der Vernichtung Pekings und des kompletten Umlands entstanden war. Aber er wusste noch immer nicht, wie es dazu hatte kommen können, dass es laut Ayleas Aussage nur noch rund 150 Millionen Erdbewohner gab, verteilt über 74 Metrops! Was war aus all den anderen Großstädten geworden, was aus den Klein- und Mittelstädten, den Dörfern? Aylea schilderte die Erde, auf der sie zehn Jahre lang in einem ungetrübten Idyll gelebt hatte, als
einen Globus umspannenden Garten Eden.
Die Schattenseite des Paradieses war ihr erst klar geworden, als sie wie eine Geschwulst aus dem
»Körper« ihrer Metrop, ihrer Familie herausgeschnitten und isoliert worden war.
Aylea, dachte Cloud.
»Aylea«, sagte er. »Ich lasse mich nicht länger abspeisen. Wenn ich - wenn wir - deine Gefangenen
sind, dann schaff Klarheit! Schließ uns weg! Tu, was du glaubst tun zu müssen. Aber bleib einer
Linie treu und hör auf mit diesem gottverdammten Zickzackkurs!«
»Du redest wirr.«
»Und du verhältst dich wirr! Auch nicht besser, oder?«
Sobek schwieg. Die Holo-Hirten hinter ihm füllten ihre Sitze wie damit verwachsene Statuen. Das
Gesicht von zweien wies ohnehin in Clouds Richtung, die anderen machten keine Anstalten, den
Kopf zu drehen.
Als wollten sie mir zeigen, was ich für sie bin: nichts! Und Sobek?
Sekundenlang stand er nur stumm da.
Dann erzitterte die Membran erneut. »Was erwartest du?«, fragte der Forone. »Aufklärung.«
»Worüber.«
»Über einiges.« Cloud überlegte, wo er anfangen sollte. »Zunächst über meinen Status.«
»Du bist geduldet.«
»Und das bedeutet?«
»Du kannst dich frei bewegen«, erklärte Sobek.
»Was auch immer einer wie du unter frei versteht...«
»Möchtest du einen anderen Status?«
Cloud stemmte die Fäuste in die Hüften. Er überlegte, ob er sich veralbert vorkommen sollte. Die
Situation drohte ins Surreale abzugleiten.
»Wenn ich die Wahl habe - natürlich!« »Welchen?«, erkundigte sich der Forone gleichmütig.
»Wie wär's mit... gleichberechtigt?« In den Kreis der Holo-Hirten kam jäh Bewegung.
Eine der Projektionen erhob sich ähnlich geschmeidig wie der reale Sobek zuvor schon aus ihrem
Sitz. Mit raumgreifenden Schritten trat sie neben Sobek, streckte dabei die krallenbewehrte Hand
aus und bohrte den leicht gebogenen Nagel blitzschnell in Clouds Brustbein.
Die Klaue verschwand komplett darin, und es kostete Cloud alles, was er an Selbstbeherrschung
aufbieten konnte, um nicht zusammenzuzucken und für sich selbst zu realisieren, dass er nur ein
Trugbild vor sich hatte. Dass auch der scharfe, geschwungene Krallennagel nichts anderes war als
Gaukelei.
Gleichzeitig aber schob sich wie von selbst die Frage an die Oberfläche seines Denkens, was
geschehen wäre oder geschehen würde, wenn Sobek auf die gleiche Idee kam.
Die Hände eines Foronen waren tödliche Waffen - zumindest für so »weiche« Lebewesen wie den
Menschen...
»Was maßt er sich an, dieser...?«, schnarrte eine noch dunklere Stimme als die Sobeks.
Dessen Erwiderung, mit der er den eigenen Artgenossen unterbrach, überraschte Cloud völlig.
»Er wird Respekt lernen, doch dafür sollten wir auch die Voraussetzungen schaffen, Mecchit.
Bislang haben wir nichts getan - nichts aus seiner Sicht -, um uns seinen Respekt zu verdienen.«
Viele Schläge seines trommelnden Herzens lang glaubte Cloud, der Forone mache sich lustig über
ihn. Letztlich war es die Reaktion des Hologramms, das Sobek Mecchit nannte, die Cloud eines
anderen belehrte.
»Es ist deine Entscheidung«, sagte Mecchit. »Aber wisse, dass es Grenzen gibt, deren
Überschreitung wir nicht dulden werden.«
Mit diesen Worten - dieser Drohung? - wandte sich der Holo-Hirte ab und kehrte zu dem
verlassenen Sitz zurück, wo er augenblicklich erstarrte.
»Ich...«, setzte Cloud unbehaglich an. Er spürte, dass etwas geschehen war, womit nicht nur er
niemals gerechnet hätte, sondern was auch die Hirten selbst überrascht zu haben schien.
Sobek hatte Position bezogen - offenbar gegen ihren Willen.
Warum?
»Es ist Zeit, Dinge zu klären«, sagte Sobek. »Missverständnisse auszuräumen.«
Cloud furchte die Stirn. Er versuchte zu begreifen, vorauszuahnen, was Sobek ihm damit sagen
wollte. »Von welchen Missverständnissen sprichst du?«
»Es gibt mehrere. Fangen wir mit dem an, dass dich in mir ein Monster sehen lässt.«
Er drehte sich halb, sodass sein »Gesicht« zu der Wandöffnung zeigte, durch die Cloud selbst
Minuten zuvor gekommen war.
Dort entstand Bewegung.
Der Amorphe, dachte Cloud, und ihm rann ein Schauer über den Rücken, weil er dem Bild, das sich
wie eine Doppelbelichtung vor die dunkle, humanoide Gestalt schob, einfach nicht entgehen
konnte: Das Bild, das dieses Konstrukt zeigte, wie es über Jarvis herfiel und ihn...
»Ich habe ihn gerufen«, sagte Sobek. »Er wird dir alles erklären. Er ist nun soweit - übrigens wissen
deine Gefährten es bereits...«
Je mehr der Forone redete, desto weniger verstand Cloud.
Bis sich vor seinen Augen der konturlose Schädel des Humanoiden verwandelte.
Zur Totenmaske wurde.
Deren Lippen sich plötzlich bewegten und aus dem Jenseits zu ihm sprachen...
»Nicht gerade das, was ich mir selbst erhoffte, Commander - aber letztlich wohl doch besser als
das, was sonst auf mich gewartet hätte.«
Die Zeit schien zu gerinnen, den Atem anzuhalten, für immer in einem Frostwind zu gefrieren, der
von jenseits der Grenzen des Universums heranbrauste.
Da stand der Amorphe, und der stets Gesichtslose besaß plötzlich die Andeutung einer
Physiognomie!
»Jarvis...«, rann es über Clouds Lippen - und er wusste immer noch nicht, ob Sobek ihn nur
verhöhnen wollte und mit seinen Gefühlen Schindluder trieb.
Ein schmales Antlitz, eine scharfrückige Nase, leicht nach oben gezogene Brauen... Selbst die
streng nach hinten gekämmten, fast wie eine Kappe anliegenden Haare waren erkennbar
ausgebildet.
Aber schon Sekunden später verschwamm alles, verlor seine Stabilität, die Oberfläche des
anthrazitfarbenen Hirtenkonstrukts kräuselte sich wie etwas Flüssiges, Quecksilbriges und fand zu
ihrer gewohnten groben Form zurück.
Doch auch nachdem die verblüffende Detailverliebtheit geschwunden war, fühlte sich Cloud
außerstande, aus dem Gesehenen einen Schluss zu ziehen.
»Was... soll das, verdammt!«, stieß er schließlich hervor.
Der Ausruf war unbeherrscht und eher an Sobeks Adresse gerichtet als an den Amorphen, der
seinem Wissensstand zufolge nichts anderes war als eine unfassbar hoch entwickelte Maschine.
Nein, eigentlich eine Waffe, Monts Rüstung...
Sobek hatte nach ihrer Rückkehr an Bord von SESHA offenbart, dass es sich bei dem Amorphen
um ein Ebenbild dessen handelte, was Sobek selbst - und was selbst die holografischen
Darstellungen der anderen fünf noch lebenden Hirten an ihren Körpern trugen - kleidete: eine
Rüstung. Eine zu unglaublichen Dingen fähige Konstruktion, die sich offenbar beliebige Form zu
geben vermochte...
Selbst das Gesicht eines Toten!
Erst mit enormer Verspätung sickerten die Worte, die aus der Rüstung gedrungen waren, in Clouds
Bewusstsein.
»Nicht gerade das, was ich mir selbst erhoffte, Commander...«
Der Amorphe überbrückte die letzte Distanz, die noch zwischen ihnen lag. Aber die Fremdheit
wollte trotz des Gehörten nicht weichen.
Cloud wandte leicht den Kopf, starrte zu Sobek. »Erklär's mir! Erklär mir, was das soll!«
Sobeks Züge waren so undeutbar wie das Nicht-Gesicht, das sich nur Zentimeter von seinem
befand.
»Die Schädigung war zu weit fortgeschritten, um mehr für ihn zu tun. Es gab und gibt eine
Alternative: Wir können seinem Leichnam Zellen entnehmen und mit Bordmitteln versuchen, die
Defekte zu beheben - ein langwieriger Akt, aber letztlich machbar. Das Resultat wäre ein Mensch,
der zwar aussähe wie der, den du verloren hast, aber der es dennoch nicht wäre. Geist ist nicht
klonbar. Auch von uns nicht.«
Cloud versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Das Gehörte und Gesehene. Und langsam - zäh und
mühsam - fügte sich ein Detail zum anderen, bis ihm schließlich dämmerte, was Sobek, was Jarvis,
ihm sagen wollten.
Langsam wandte sich sein Blick wieder dem Amorphen zu.
Aber das, was er sah, das, was er bei dem Anblick fühlte, war purer Widerwille.
Pure Nichtakzeptanz.
Wie, zur Hölle, sollte er denn damit umgehen, dass der tot geglaubte Freund nun doch wieder vor
ihm stand...?
»Ich weiß nicht, ob du ihm - und uns - damit einen Gefallen getan hast. Wie ist das überhaupt möglich?« Cloud kämpfte gegen den Sog an, der ihn zu Boden ziehen wollte. Am liebsten hätte er ihm nachgegeben. »Jarvis... Alter Junge... Das geht nicht gegen dich, falls du mich hörst und falls du... wirklich da drin steckst. Es ist nur...« »Ich bin kein alter Junge, John. Und glaub mir, ich hab's mir nicht ausgesucht. Es ist noch viel mehr mit mir passiert, als ich zuerst dachte. Ich brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden,
nicht nur in diesem... Körper, auch in mir selbst.«
»Was heißt das?«
Da waren plötzlich Lippen in dem ansonsten unmarkant bleibenden dunklen »Gesicht«. Lippen, die
sich bewegten, wenn auch seltsam asynchron.
»Es sind Dämme gebrochen, John.« »Dämme?«
»Wir wurden manipuliert. So weit ich zurückdenken kann, wurden wir manipuliert. Ich, Resnick,
Scobee...« Er hielt inne. »Wieso ist Scobee eigentlich nicht erkrankt? Ich dachte, es beträfe alle
GenTecs. Ich...«
»Was meinst du mit >gebrochene Dämme«, unterbrach Cloud. Er klammerte sich an den Dialog
mit dem Ding, mit... Jarvis.
»Wir wurden betrogen. Verarscht, John. Diese Schweine! Ich dachte, ich wüsste Bescheid über
mein Leben. Über all die Jahre, die ich... die ich gar nicht wirklich hatte!«
»Du weißt es...«, murmelte Cloud rau. Ein Ruck durchlief den Amorphen. »Heißt das, du...?«
»Stob hat es mir gesagt, als du und Resnick schon aus der RUBIKON verschwunden wart... Ich
schätze, du und sie, ihr solltet euch mal unterhalten. Sie hat dir einiges beizubringen.«
Jarvis schwieg.
Jarvis?
Cloud erinnerte sich an die Vorbehalte, die er hin und wieder gegen Jarvis gehegt hatte, als er in
diesem noch »nur« den Klon gesehen hatte, das genetisch optimierte Mitglied seiner Crew. Im
Nachhinein erschienen ihm die Vorurteile von damals wie ein Klacks gegenüber den Gedanken, die
ihm jetzt bei Jarvis' Anblick durch den Kopf gingen.
Das Bedürfnis, den wieder gefundenen Gefährten in die Arme zu schließen - wäre das überhaupt
möglich, ohne von dem Konstrukt zerquetscht zu werden? -, und das, was er statt des Gefährten
sah, stritten miteinander.
Sobek schritt ein.
»Kommen wir zu Missverständnis zwei«, sagte er.
Aus seiner Rüstung brach gleißendes Licht hervor.
Cloud stöhnte geblendet auf, hatte das Gefühl zu fallen. Als er wieder sehen konnte, hatte die
Umgebung gewechselt. Er befand sich nicht mehr in der Zentrale.
Sobek stand neben ihm, und wenige Schritte entfernt schwebte ein Kind, ein Mädchen von zehn
Jahren...
Ihn blendete das Licht nicht. Dafür waren seine Augen zu anders.
Aber auch Jarvis war ratlos, blickte auf die Stelle, wo Cloud gerade noch gestanden und dann von
Sobek mitgenommen worden war.
Beide waren verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Andere drängten in die Zentrale. Scobee mit Jelto im Gefolge.
»Wo ist er?«, fragte sie. »Wo ist John? Ich war bei seiner Kabine, aber er hat nicht reagiert, als ich
Einlass verlangte. Ich dachte, er wäre hier. Wo sonst sollte er...«
»Er war hier«, bestätigte Jarvis und berichtete, was geschehen war.
»Verschwunden?«, echote Scobee alarmiert. Ihr Blick suchte die Mitte der Zentrale, wo sich auch
etwas verändert hatte. Keiner der Sitze war mehr besetzt, nicht einmal mit Pseudo-Hirten. »Leer.
Als wären alle gegangen - bis auf uns.«
»Es kam auch für mich überraschend«, äußerte Jarvis, während sein Bewusstsein ständig neue
Bereiche, ständig neue Möglichkeiten der Hülle ertastete, in die es gepflanzt worden war. »Ich hatte
nicht einmal mehr Gelegenheit, ihm zu sagen, dass ich seinen Vater gefunden habe...«
»Aylea!
»Sie kann dich nicht hören«, sagte Sobek.
»Was hast du ihr angetan? Und warum?
Sie ist, verdammt noch mal, ein Kind!« »Möchtest du nicht wissen, was das
Kind dir angetan hat?«
Was für ein seltsamer Ort, dachte Cloud. Und was soll jetzt diese Andeutung schon wieder?
»Sie kann keiner Fliege etwas zu Leide tun! Wo sind wir überhaupt? Wohin hast du uns gebracht?«
Cloud schüttelte frustriert den Kopf. »Nein, ich frage gar nicht erst, wie du es getan hast...«
»Wir sind in einem Hochsicherheitsbereich von SESHA.«
»Ich dachte, das wäre jeder Bereich innerhalb des Schiffes.«
»Wie kannst du nur glauben, SESHA zu kennen?« In Sobeks Stimme schwang Verachtung und
auch Unglaube mit.
»Ich habe das Schiff gesteuert - schon vergessen?«
»Du dachtest, du hättest die Kontrolle. In Wahrheit gab es stets eine Instanz über dir.«
Cloud erinnerte sich an das Wüten des Schiffes in der Oortschen Wolke und später auf Höhe der
Plutobahn, an SESHAs Massaker an Erinjij-Streitkräften. Es half ihm, Sobek unvermindert kritisch
zu sehen - trotz dessen Versuchen, die »Missverständnisse« zwischen ihnen auszuräumen.
Er konzentrierte sich auf Aylea. Das Mädchen hing waagrecht in der Mitte des Raumes, in dem sie
sich befanden, und schwebte dort etwa einen Meter über dem Boden auf einem unsichtbaren
Polster.
Es war noch nicht wirklich viel Zeit vergangen, seit sie voneinander getrennt worden waren.
Dennoch hatte Cloud das Gefühl, dass die Zehnjährige sich rein äußerlich in dieser kurzen Spanne
verändert hatte. Sie wirkte gereifter, irgendwie unnahbar. Aber das konnte auch an dem Schimmer
liegen, der sie umgab, der ihr Gesicht in ein unwirkliches Licht tauchte.
»Kann ich zu ihr?«, fragte Cloud zögernd.
Sobek verneinte.
»Warum nicht?«»Sie wurde von mir isoliert.«
»Weil sie eine Gefahr ist.« Clouds Stimme troff vor Sarkasmus.
»Du zweifelst daran?«
»Es ist der pure Irrwitz, einen wie dich in Zusammenhang mit einem Kind von einer Bedrohung
sprechen zu hören.«
»Wäre das Kind alleine gekommen, hättest du Recht«, gestand Sobek ein.
»Aylea kam mit uns. Uns hast du aber nicht >isoliert<.«
»Ich meine etwas anderes, wenn ich von alleine spreche.«
»Unter Menschen erleichtert es die Kommunikation, wenn man sagt, was man meint«, sagte Cloud
genervt.
»Ich hatte bislang nicht den Eindruck, als wärt ihr Meister in Sachen Verständigung untereinander«,
gab Sobek trocken zurück.
»Aylea«, lenkte Cloud die Sprache auf das eigentliche Thema zurück. »Was genau wirfst du ihr
vor?«
»Benutzt worden zu sein.«
»Von wem?«
»Von denen, die sich Master nennen«, erklärte der Forone. »Du hast einem von ihnen auf der Erde
gegenübergestanden. Wahrscheinlich sogar demjenigen, der an der Spitze der Machtpyramide
steht.«
»Arabim. Was weißt du darüber?«
»Alles, was auch du weißt.« Sobek hob den Arm und tippte mit einem seiner gekrümmten,
krallenartigen Finger gegen Clouds Brust.
Er tat dies sanft, sonst wäre eine schwere Verletzung kaum zu vermeiden gewesen.
Cloud wich einen Schritt zurück.
»Da drin...« Sobeks Membran vibrierte und veränderte dabei erstmals auch ihre Farbe - aus
dunklem Rot wurde blasses Grau. »... sind meine Spione.«
Cloud schluckte. Er hatte es beinahe verdrängt - weil er es hatte vergessen wollen.
Fakt aber war: In seinem Blut kreisten noch immer Protopartikel. Und Sobek hatte ihm schon
einmal zu verstehen gegeben, dass genau diese Teilchen es dem Hirten ermöglichten, Einfluss auf
Cloud zu nehmen - zumindest aber über dessen Tun informiert zu sein.
»Deine Spione... Heißt das, du warst in der Lage, über sie meinen Weg auf der Erde zu verfolgen?
Der Schattenschirm. Ich dachte, er würde...«
»Du denkst richtig. Er hat den direkten Datentransfer unterbunden. Auch mit der Rüstung stand ich
während eures Aufenthalts hinter dem Schild nicht permanent in Verbindung. Aber als ihr
zurückgekehrt seid, wurde mir alles überspielt. Ich bin auf demselben Stand wie du, was die
Verhältnisse auf deiner Heimatwelt angeht. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich bin
weiter. Ich habe den Vorteil, auf Wissen und Erfahrungen zurückgreifen zu können, die dir fehlen.«
»Und das heißt? Klartext!« Cloud war selbst verblüfft über seine Forschheit.
»Es gibt Ungereimtheiten in dem, was Arabim dir mitteilte.«
»Ungereimtheiten.«
»Ich zweifele, dass er seine Karten vollständig offen legte.«
Cloud wurde schmerzlich daran erinnert, dass sich Darnok noch immer in Arabims Gewalt befand.
»Ich glaube nicht, dass ich verstehe...«
Sobek wandte sich Aylea zu. »Sie war seine Spionin.«
Cloud hatte das Gefühl, dass der Forone nach dieser Behauptung zu weiteren Erklärungen ausholte.
Stattdessen aber drangen die Worte aus der Membran: »Wir müssen zurück. Unverzüglich.«
»Warum?«
»Wir werden angegriffen.«
Erneut ergoss sich Licht aus der Rüstung, und dann...
»John! Wo kommst du her?« Während Sobek sich ohne Erklärung abwandte und zum Podest schritt, kämpfte Cloud gegen das unangenehme Geblendetsein an - und gegen ein leichtes Schwindelgefühl. Wie bei jedem speziellen Transportsystem der Hirten zuvor fragte er sich auch hierbei, ob der menschliche Organismus es überhaupt gefahrlos und unbeschadet nutzen konnte. Möglicherweise rief es verdeckte Schäden hervor, deren Spätfolgen erst künftig spürbar wurden... Er verdrängte diese Sorge. Scobee stand vor ihm, bemerkte sein Handicap, hatte die Hände an seine Oberarme gelegt, als wollte sie ihn stützen. »John!« »Schon gut...« Er streifte ihre Berührung ab. Sie war nicht allein, Jelto und Jarvis waren bei ihr. Jarvis... Augenblicklich hatte er einen metallischen Geschmack im Mund. Was ihm die innere Abneigung verdeutlichte, die er mit dem neuen Erscheinungsbild des GenTec verband. Als was hatte er ihn zu betrachten? Als totes Ding, in dem nun aber Jarvis' Gedanken nisteten? Dieser von Sobek zur Verfügung gestellte Ersatzkörper lebte definitiv nicht, wie hatte sich Cloud also Jarvis' neue Existenz vorzustellen? Über welche Möglichkeiten der sinnlichen Außenwahrnehmung verfügte er? Oder war Jarvis eigentlich ein Gefangener, eingekerkert in dieses Hirten-Konstrukt, zwar fähig, sich nach außen bemerkbar zu machen und seine Außenwelt wahrzunehmen, aber nicht wirklich Herr über diese Hülle? Es bedurfte einiger Aufarbeitung, ehe er einem Jarvis in dieser Form wieder vorurteilsfrei würde gegenübertreten können. War ihm Scobee, was das anging, voraus? Fast schien es so, denn als sie sich von ihm löste, trat sie neben den Amorphen - Jarvis!, erinnerte sich Cloud - und hakte sich bei ihm wie bei einem guten Freund ein. Cloud versuchte, sich die Scham, die er plötzlich empfand, nicht anmerken zu lassen. »Ich war bei Aylea.« Es war Jelto, der ausrief: »Wo? Wo ist sie? Geht es ihr gut?« Cloud hatte den Florenhüter selten so aufgewühlt erlebt. Ihm war nicht entgangen, dass sich zwischen ihm und dem Mädchen eine beachtliche Sympathie entwickelt hatte. Offenbar ging diese sogar noch weiter, als vermutet. Freundschaft... So wie Jelto reagierte nur jemand, den eine tiefe Freundschaft und Zuneigung mit
einem anderen verband.
»Ich kam nicht dazu, mich zu vergewissern. Wir sind vorher zurückgekehrt. o Er schilderte knapp,
was passiert war.
»Angegriffen?«, reagierte Scobee am Ende zweifelnd. »Hier ist nicht das Mindeste von einem
Angriff festzustellen. Wir...«
»Setzt euch!« Sobeks dunkles Organ unterbrach sie so jäh, als entzöge er ihr mit unbekannten Mitteln die Luft, die
den Schall ihrer Stimme hätte transportieren können.
Cloud und Scobee tauschten Blicke. Jelto duckte sich, zog den Kopf leicht zwischen die Schultern.
Nur an Jarvis schienen die Worte wirkungslos abzuprallen.
Bevor jemand gehorchen oder widersprechen konnte, blähte sich die Holosäule zwischen den
Kommandositzen auf ihren doppelten Durchmesser auf, und was schon die ganze Zeit über klein
darin sichtbar gewesen war, explodierte regelrecht zu einer Größe, die auch die letzten Zweifel
beseitigte, dass das Rochenschiff der Hirten in Bedrängnis geriet.
»Grundgütiger Himmel...«, seufzte Cloud.
Im nächsten Moment raste SESHA eine Welle der Vernichtung entgegen.
3. Eine gewaltige Erschütterung brachte SESHA zum Erbeben, lange bevor Cloud oder Scobee oder Jelto auch nur eine Chance hatten, einen der Sitze zu erreichen. Beharrungskräfte kamen durch. Cloud sah sich in ein Geschoss verwandelt, als er den Bodenhalt verlor und mit enormer Geschwindigkeit auf die nächste Wand zuraste. Das überlebe ich nicht!, durchzuckte es ihn. Da packte ihn etwas am linken Fußgelenk. Der Ruck, der seinen Körper durchlief, drohte, das Bein vom Rumpf zu trennen, so brutal heftig erfolgte er. Aber er rettete ihm auch das Leben. Gleichzeitig ergoss sich eine Lichtflut über die Zentrale - ganz anders als die Helligkeit, die den Akt begleitet hatte, mit dem Sobek ihn aus der Zentrale und wieder zurückbefördert hatte. Ein entsetzlicheres Grün als das, das aus der Holosäule hervorflutete, hatte Cloud noch niemals gesehen. Es verursachte fühlbare Schmerzen. Seine Nervenbahnen schienen unter Hochspannung zu stehen. Er erwartete jeden Moment einen alles beendenden Kurzschluss in seinem Gehirn... Aber der blieb aus. Stattdessen hörte er andere Schreie, als seinen eigenen, als er hart zu Boden fiel. Reflexartig rollte er sich ab. Der Widerstand an seinem Fuß schwand. Cloud erhaschte gerade noch einen Blick auf den zurückschnellenden Tentakel, der sich als Ableger von Jarvis entpuppte, als Auswuchs des Amorphen - einer von dreien. Zwei weitere endeten bei Scobee und Jelto, beziehungsweise zogen sich gerade von ihnen zurück. Auch sie lagen bereits am Boden. Sobek rief: »Auf die Plätze! Die nächste Welle kann jeden Augenblick eintreffen.« Etwas schwang in seiner Stimme mit. Etwas selten... nein, etwas noch nie Gehörtes. Scobee war als Erste auf den Beinen. Unverletzt, wie es schien. Auch Jelto bewies beachtliche Nehmerqualitäten, während Cloud nur humpeln konnte. Scobee erkannte seine Misere, schwenkte von der eingeschlagenen Richtung ab und eilte neben ihn, um ihn zu stützen. Sie schlang seinen linken Arm um ihren Hals und trug ihn förmlich auf die Sitze zu. Sekunden später ließ sie ihn in einen davon gleiten, nahm selbst unmittelbar daneben Platz, und aus den Augenwinkeln erkannte Cloud, dass auch Jelto mittlerweile saß. Der Florenhüter stellte keine Fragen Sein mit Sicherheit ebenfalls geprellter und geschundener Körper arbeitete wie ein Uhrwerk. »Sobek...«, setzte er an. Im nächsten Moment schon schloss sich der Deckel« des Sarkophags. Clouds Wahrnehmungsspektrum erweiterte sich schlagartig. Er war nicht länger auf die Holosäule angewiesen, um Daten darüber zu erhalten, was sich in der Weltraumumgebung des Rochenschiffs abspielte. Er sah es jetzt mit den Cyber-Sinnen von SESHA, die eine unbekannte Schnittstelle in seinem Gehirn bedienten und mit einem optimal dosierten Datenstrom versorgten.
Gleichzeitig vereinfachte es uns die Kommunikation mit Sobek, dessen Gedankenketten mit der
gleichen Selbstverständlichkeit wie jede andere Information zu ihm gelangten.
Erstaunlich, hallte die Stimme des Foronen durch Clouds Kopf. Ich hätte erwartet, dass sie länger
benötigen, um dieses Level zu entblößen.
Obwohl die Wortwahl als solche keine Erklärung beinhaltete, verstand Cloud sofort den Konsens,
in dem sie stand. Von überall her strömten Informationen. Demnach hatten die Menschen schon
einmal versucht, SESHA außer Gefecht zu setzen und es seiner Wehrhaftigkeit zu berauben.
Für kurze Zeit war dies gelungen - bis Sobek als Initialzünder das komplette Schiff auf einen
höheren und unangreifbaren Energielevel gehoben hatte. Unangreifbar?
Cloud spürte Sobeks Verblüffung. Mehr noch: Er fühlte Respekt denjenigen gegenüber, die SESHA
erneut in Bedrängnis brachten.
Vielleicht liegt es an ihr... Vielleicht funktioniert die Abschirmung nicht so perfekt, wie ich
geglaubt habe. Dann hilft nur noch, sie zu...
TÖTEN? Cloud brüllte seinen Gedanken regelrecht hinaus. Er hatte intuitiv begriffen, wen Sobek
meinte: Aylea. Aber er würde nicht zulassen, dass sie geopfert wurde. Er würde nicht...
Die Alternative ist Abzug, signalisierte Sobek überraschend einen Hauch von
Kompromissbereitschaft. Wir müssen das System sofort verlassen. Ich variiere noch einmal den
Dimensionsschirm, der die Arche verdichtet. Aber wenn sie einmal verstanden haben, wie der
Schild zu überlisten ist, wird es nicht lange dauern, bis sie uns erneut orten.
NEIN! Wieder spürte Cloud das Aufbegehren regelrecht aus sich herausplatzen.
Ihm schlug Verständnislosigkeit entgegen. Nicht nur von Sobeks Seite. In diesem Zustand,
eingeschlossen in den Sarkophag, war er auch mit Scobee und Jelto vernetzt. Möglicherweise sogar
mit dem Geist der übrigen Hirten.
Sein eigenes Bewusstsein blickte über die Grenzen des Schiffes hinaus. Staunend.
Beeindruckt von dem, was es sah. Von dem kosmischen Hauch, der es streifte...
Er hatte sich der Unendlichkeit nie näher gefühlt als in den Augenblicken der völligen
Verschmelzung mit SESHA.
Ob es für Jarvis in seinem neuen Körper ähnlich ist?, durchfuhr es ihn.
Zu ihm hatte er keinen vergleichbaren Zugang wie zu Sobek, Jelto und Scobee - ein Indiz dafür,
dass Jarvis in keinem der Sitze Platz genommen hatte.
Und eine vertane Chance, die Kluft zu ihm zu verringern... Aber es blieb keine Zeit für Bedauern. NEIN!, wiederholte er an Sobek gewandt. Wir können noch nicht aus dem Sonnensystem verschwinden! Wir können Darnok nicht einfach zurücklassen! Er zögerte und fügte dann hinzu: Da ich nicht erwarte, dass du etwas aus Nächstenliebe tust, tu es aus Egoismus! Bedenke die Möglichkeiten, die ein Geschöpf wie er selbst den Foronen eröffnet... John Cloud hatte keine Ahnung.
Keine Ahnung, ob er in diesem Moment nicht dabei war, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.
Aber es war ihm schlichtweg gleichgültig. Es ging um Darnok. Er konnte und wollte nicht zulassen,
dass der Freund in den Fängen derer zugrunde ging, die ihm ohnehin schon mehr angetan hatten, als
man einem fühlenden Wesen antun durfte.
Rette ihn! Ich weiß, dass du es kannst! Ich weiß, dass SESHA mehr vermag, als vor einer
scheinbaren Übermacht zu flüchten...
Warum sollte ich etwas Unersetzliches riskieren?, beschied Sobek mit unverblümt strikter
Ablehnung in seinen Gedanken. Wo bliebe die Relation? Niemand bei Verstand ließe sich auf einen
solchen Handel ein: ein Geschöpf gegen die Zukunft der Foronen. Lächerlich!
Dein letztes Wort?
Sobek schwieg...
Das Bild des äußeren Weltraums, in den nicht nur SESHA, sondern auch der FEIND eingebettet war, war von abstruser Schönheit. Sobek fühlte sich ins Damals versetzt. Beruhigende Impulse
erreichten ihn. Die Erwachenden in den Stasis-Blöcken spürten sein Dilemma - aber letztlich ging
es ihnen nicht besser.
Die Zeit vor der Stasis hatte tiefe Wunden hinterlassen. SESHA hatte exakte Daten über die Dauer
des Schlafs geliefert, und die Überprüfung der Galaxienbewegung bestätigte die erhaltenen Werte.
Es war Jahrzehntausende her, seit die Sieben Hohen der Foronen den Langzeitplan zur Errettung
ihrer Art initiierten. Seit ihrem Rückzug in das verhasste Medium...
Ursprünglich war eine noch längere Frist veranschlagt worden. Um ganz sicher zu gehen. Um die
Risiken nach der Rückkehr auf die Bühne der Mächtigen auf ein Minimum zu reduzieren.
Doch die Ereignisse hatten die KI handeln lassen. Das Erscheinen der Menschen in der Ewigen
Stätte hatte eine Initialzündung bewirkt, die zunächst Sobek aus dem Schlaf geweckt hatte und nun
andere folgen ließ.
Am Ende dieses Prozesses, den nichts und niemand gefährden durfte, stand die Rückkehr. Die
Rückkehr an den Ort der schmerzlichsten Niederlage, die die Foronen jemals hatten erleiden und
hinnehmen müssen...
Die Gedanken an die Alte Heimat - zugleich die einzige - pulsten wie Stroboskoplicht durch Sobeks
Gedanken. Schnitten tief ins Fleisch der Erinnerung.
Vordergründig setzte er sich mit der unmittelbaren Bedrohung auseinander.
SESHA trieb inmitten eines inzwischen vollständig geschlossenen Riegels menschlicher
Raumschiffe.
Schlachtschiffe - es waren ausschließlich nur für den Kampf, für die bewaffnete
Auseinandersetzung konstruierte Schiffe.
Wie damals. Wie bei den Virgh.
Der uralte Feind.
Sobek überprüfte die Verschiebung der Arche zwischen den Dimensionen und spürte, wie
Gravowellen an ihrer Hülle entlang leckten wie die Ausläufer eines unendlichen Sternenozeans an
den Gestaden einer Insel.
Seit der ersten Angriffswelle war kaum Zeit verstrichen.
Ich muss handeln bevor sie was auch immer gegen uns einsetzen!
Er hatte sich von den zurückliegenden Erfolgen einlullen lassen. Flexibilität war das größte
Kompliment, das man einem Feind machen konnte. Und die Menschen, das Volk, dem auch John
Cloud angehörte - John Cloud, in dessen Blut die Proto-Partikel der Luuren kreisten -, bewiesen
hier ein Übermaß an Anpassungsfähigkeit gepaart mit Geschwindigkeit.
Es war ein Fehler, die Station zu bergen und sich so zu entblößen. Sie haben den Moment genutzt,
als die Wälle fielen. Sie haben SESHA vermessen und den Rückzug hinter die Tarnung nach
verfolgt - irgendwie. Und seither passen sich ihre Ortungen stetig dem jeweiligen Energielevel an.
auf dem wir agieren...
Ein Teufelskreis, aus dem es nur einen Ausweg gab.
Nicht, dass er Skrupel empfunden hätte - dies war nun wirklich kein hervorstechender Charakterzug
seiner Art -, aber so nah bei einem Planeten konnte es beim Einsatz bestimmten Waffen
Komplikationen geben, die nicht nur die Stabilität des kompletten Sonnensystems gefährdeten,
sondern die auch auf SESHA zurückschlagen konnten.
Während Sobek mit einem Bruchteil seiner Sinne und seines Verstandes John Clouds Flehen hörte,
wog er den Einsatz der Mittel ab.
Torrel? Ja.
Denn die Kontinuumwaffe, das gewaltigste und zugleich tückischste Mittel, über das SESHA
verfügte, klammerte er aus.
Noch...
Aber Torrel, die Waffe, die er schon einmal erfolgreich gegen Erinjij eingesetzt hatte, bot sich an,
obwohl die Zahl der zu bestreichenden Objekte diesmal ungleich höher war.
Die Flotte, die SESHA umschwärmte, hätte genügt, ein kleines, nicht allzu hoch entwickeltes
Sternenreich zu erobern.
SESHA aber war nur eine Zuflucht, ein Versteck, das sich in ein anderes, größeres Versteck
zurückgezogen hatte, um eines Tages...
War es doch der falsche Zeitpunkt für eine Rückkehr? Auch ohne Virgh? Sind Erinjij noch größerer
Abschaum als die Pest von Samragh? Sein Geist tastete nach den Artgenossen in den Blöcken aus Roon-Materie. Er spürte ihre
Vorbehalte, ihr Unverständnis über sein Zögern. Aber war es so falsch, alle Eventualitäten in die
Waagschale zu werfen? Niemand wusste und konnte sagen, was sie in Samragh erwartete. Es war
nicht undenkbar, dass sie auf Verbündete angewiesen sein würden - trotz der verstrichenen
Jahrzehntausende.
Erinjij sind keine potentiellen Verbündeten!
Von ein paar wenigen vielleicht abgesehen...
Und Keelon?
Jener eine Keelon?
Das Hin und Her, das Abwägen der Argumente dauerte genau bis zum Aufbau der zweiten Welle,
die auf SESHA zubrandete.
Als sie kam, variierte die Schiffs-KI erneut den Level, auf dem die Arche operierte. Und obwohl
nur die Spitzen der Belastung durch den Schirm kamen, war feststellbar, dass sich die Intensität
gegenüber dem ersten Angriff gesteigert hatte.
Sobek nutzte die gesamte Außenhülle des Schiffes, um Torrel breit gefächert abzustrahlen.
Für die Menschen in ihren Einheiten musste es aussehen, als bräche aus dem scheinbaren Nichts
heraus, das sie selbst ins Visier genommen hatten, ein unheilvolles Licht hervor, das gegen ihre
Schilde leckte, sie durchdrang und...
Sie durchdringen sollte, korrigierte sich Sobek.
Doch zu seiner Überraschung absorbierten die Erinjij-Schirme einen Großteil Torrels, dessen
Strahlung sie zum Selbstmord treiben sollte.
Sie haben auch darauf eine Antwort gefunden. Sie haben ihre Lehren aus dem Verlust jenes Schiffes
gezogen, das Torrel noch völlig wehrlos ausgeliefert war! Als gebe es einen allumfassenden Pool in
diesem System, das sämtliche Niederlagen binnen kürzester Frist auswertet und nachträglich in
Siege umwandelt. Ihre Einheiten werden offenbar permanent mit dem neuesten Stand aller
Auswertungen versorgt und so in die Lage versetzt, SESHA Paroli zu bieten...
Ein Grund mehr, den Rückzug anzutreten und die Arche nicht länger zu gefährden!
Endlich nimmst du Vernunft an...
Täuschte er sich, oder war das Siroona, die seine Beschlussfindung kommentierte?
Du weißt, warum ich zögere, wandte er sich spontan an sie. Lies in mir, und du verstehst es.
Ich sehe und verstehe - aber denk an die Ewige Stätte. Denk an das, was wir initiiert haben, um
nach unserem Erwachen gegen die Virgh bestehen zu können. Halte nicht Ausschau nach
Verbündeten, die wir vielleicht gar nicht benötigen. Wir sind stark genug, es aus eigener Kraft zu
schaffen, uns zu behaupten. Denk an die Ewige Stätte. Denk an Taurt. Er wartet. Die Daten in den
Speichern beweisen, dass er überdauert und seinen Auftrag erfüllt hat. Wir müssen zurückkehren.
Wir müssen dem Plan folgen, den wir einst gemeinsam erdachten! Vergiss diese Menschen. Es
gefährdet alles!
Sie hatte Recht.
Nur SESHA war wichtig und das, was sich in der Arche befand.
Er führte eine Schnelldiagnose der Systeme durch. Die KI beruhigte ihn. Keine Schäden. Vitalwerte
unangetastet. Die anderen Hirten und er wussten, worauf sich diese Aussage bezog. Im Nachsatz
aber relativierte die KI ihre Aussage: Künftige Schäden nicht auszuschließen.
Torrel... Was hatte Torrel zwischenzeitlich erreicht?
Feindstatus?
Die Außenwahrnehmung beantwortete seine Frage noch bevor die KI es tat.
Die zuvor perfekt geordnete Formation der Erinjij-Schiffe, die SESHA über dem vierten
Systemplaneten gestellt hatten, war in Auflösung begriffen. Offenbar stiftete die Strahlung, die
SESHA freisetzte und die auf ihrem Höhepunkt Lebewesen normalerweise in die Selbstzerstörung
trieb, zumindest Unruhe unter den Besatzungen.
Im Randgebiet der »Schale«, die sich um SESHA geschlossen hatte, kam es in diesem Augenblick
sogar zur Kollision zweier Schiffe, die schwerste Schäden nach sich zog, aber nicht zur
Totalvernichtung führte.
Sie haben Navigationsprobleme. Wahrscheinlich ist auch ihre Ortung beeinträchtigt. Das bedeutet...
Er traf seine Entscheidung.
Er war die Oberste Instanz an Bord - sie waren noch sechs, aber er war es, dessen Stimme am Ende
den Ausschlag gab. So war es immer gewesen...
Die Planetennähe - das zerbrechliche Gefüge der Gravitationslinien innerhalb eines Sonnensystems
- wollte er noch immer nicht gefährden.
Verbündete, wisperte es in seinem Geist, sie könnten irgendwann noch einmal wichtig werden.
Aber ganz ohne ein »Abschiedsgeschenk« wollte er sich auch nicht zurückziehen.
Er wies die KI an, was zu tun sei. Sie gehorchte und handelte.
Als die Antimaterietorpedos eine Lücke in die Wand aus Erinjij-Schiffen rissen, beschleunigte
SESHA fast aus dem Stand auf Maximalwerte und pflügte durch den Gluthauch, der dort leuchtete,
wo eben noch waffenstarrende Angreifer-Schiffe voller denkender, fühlender Besatzungen gekreuzt
hatten.
Sobek verschwendete keinen Gedanken an Schicksale.
Torrel hatte versagt, Brachialgewalt hingegen brachte das gewünschte Ergebnis.
Dann war SESHA jenseits der Einschnürung aus Erinjij-Schiffen und beschleunigte parallel zur
Systemachse.
Weg! Nur fort...
Noch immer hörte Sobek den Menschen John Cloud an ein Wesen erinnern, das er als seinen
Freund betrachtete und nicht aufgegeben wollte.
Darnok.
Ein Keelon.
Einer der Master, die SESHA an den Rand des Untergangs getrieben hatten. Mit ebenso
bewunderns- wie verachtenswerter Raffinesse.
Fernab des letzten Systemplaneten bremste die Arche jäh ab.
Verständnislosigkeit brandete Sobek aus den Reihen seiner Artgenossen entgegen.
Was tust du?
Er öffnete ihnen seine Gedanken. Sie akzeptierten - mit Vorbehalt.
Dieses Risiko schien ihnen kalkulierbar.
Und während Sobek beiläufig den Verwünschungen lauschte, mit denen John Cloud ihn bedachte,
nahm SESHA Kurs auf den gewaltigen Verteidigungswall, den die Erinjij im Begriff waren, um
ihre Heimat zu errichten. Ein Ort, fernab ihrer Sonne gelegen, in ganz und gar eisigen, lichtarmen
Gefilden.
Die Menschen waren nicht die Ersten, die sich diesen Bereich mit seinen ganz speziellen
Bedingungen zunutze machen wollten.
Vor ihnen hatten es schon Foronen getan - dieselben, die die Stützpunkte auf Mars und Erde
errichtet hatten, in grauer Vergangenheit, als dieser Seitenarm einer den Foronen fremden Galaxis
gesichert werden musste...
Ebenso jäh, wie sie Fahrt aufgenommen hatte, bremste SESHA wenig später auch wieder ab. Dieses »wenig später« hatte das Schiff Abermilliarden Kilometer weit in den Raum katapultiert. Bis hinzu der »Schale«, die sich kugelförmig um das gesamte System aus Sonne und Planeten angeordnet hatte - vor Jahrmilliarden. Ein seltenes Phänomen, wie Sobek wusste - aber dieser kleine gelbe Stern mit seinen Umläufern strotzte ohnehin vor Eigenarten, die letztlich dazu geführt hatten, dass die Foronen sich einst entschieden hatten, hier Basen anzulegen. Zu einer Zeit, als noch nicht sicher war, ob der große Plan überhaupt realisiert werden konnte. Noch vor der Entdeckung der Luuren, vor der Integrierung der Heukonen, vor... Sobek unterdrückte die rumorenden Erinnerungen. Mit Hilfe der KI machte er sich sämtliche Daten aus der geborgenen Station zugänglich, verglich sie mit den bereits in den Speicherbänken verankerten Alt-Informationen und ermittelte zielsicher die Position des Objekts, das er als vorübergehenden Hafen nutzen wollte.
SESHA steuerte darauf zu.
Kein Erinjij schien davon Kenntnis zu erlangen.
Und auch kein Keelon-Master.
Um das aber auch weiterhin sicherzustellen, musste sich Sobek einem aufgeschobenen Problem
widmen.
Einem Menschenkind, das behandelt werden musste - notfalls sogar sterben...
4. Der Sitz öffnete sich und schwang gleichzeitig herum. Zum Zentrum hin. Zu der Säule aus Licht und Informationen, die sich vom Boden des Podestes bis hinauf zur Decke spannte. Die Öffnung der »Sarkophage« ermöglichte zugleich die Betrachtung der anderen, die mit Cloud Platz genommen hatten. Scobee, Jelto... Sobek! Drei Sitze waren verwaist. Warum die Hologramme der übrigen Hirten verblasst waren, wusste Cloud nicht, Fakt aber war, dass sich diese Geister zurückgezogen und ausschließlich Sobek das Feld überlassen hatten. Nicht zum ersten Mal machte Cloud sich Gedanken über die Sonderrolle, die Sobek unter den Hirten einnahm. Er schien - wie Arabim auf der Erde, Arabim, der Master der Master - eine Führungsrolle unter diesen Mächtigen ein zunehmen. Unter den Foronen, wie sie sich selbst nannten. Die Verbindung zu SESHA erlosch mit der Öffnung der Sitze. Hatte Cloud sich zuvor beinahe körperlos gefühlt, als pures Bewusstsein, so wurde er sich der Beschränkungen seiner Physis nun umso schmerzlicher bewusst. Schon rein körperlich, dachte er mit einem Seitenblick auf Sobek, wäre er dem Hirten chancenlos unterlegen gewesen. Und wenn schon? Willst du dich mit ihm prügeln? Glaubst du, er wäre »handfesten« Argumenten, warum Darnok befreit werden muss, zugänglicher? Nein, das bezweifelte er. Basierend auf die letzten Wahrnehmungen während der Verschmelzung mit SESHA, fragte er: »Wo sind wir? Wir haben an Fahrt verloren. Ich wage kaum zu hoffen, dass du es dir doch noch anders überlegt hast...« »Es bleibt dabei«, erwiderte Sobek. »Ich kann SESHA nicht riskieren. Niemand wäre das wert.« Cloud zitterte vor Enttäuschung - und Anspannung. Manchmal kam es ihm vor, als könnte er sich in seine ungeliebte Rolle fügen, als könnte er mit der Ohnmacht leben, zu der er in Sobeks Dunstkreis verurteilt war. Aber dann wiederum gab es Phasen, in denen er an dieser auferzwungenen Passivität zu ersticken glaubte. »Du willst also den Schwanz einziehen und einfach abhauen... Wohin?« »Eines verbindet uns«, wich Sobek aus. »Ach ja? Und was?« »Die Bedeutung, die wir dem Begriff >Heimat< zuweisen.« Cloud fluchte in einer Weise, dass selbst Sobek es als Fluch erkennen musste. »Das ist es, was ich einfach nicht kapiere!«, brach es aus Cloud hervor. Er blickte kurz zu Scobee und Jelto, bemerkte, dass er jemanden vergessen hatte und beugte sich so weit nach rechts, dass er um die Sitzlehne herumschauen konnte, dorthin, wo Jarvis wie ein düsteres Denkmal aufragte. Die Frage, die ihm auf der Zunge lag - »alles klar bei dir, G.T.?« - unterdrückte er. Stattdessen wandte er sich wieder an Sobek. »Manchmal redest du und benimmst dich wie ein Mensch... Oder sagen wir lieber: menschlich. Im vollen Umfang der Bedeutung dieses Wortes. Aber in der nächsten Sekunde schon tust oder sagst du etwas, das jeden guten Eindruck zunichte macht! Wie soll man damit klar kommen? Wie soll man Typen wie dir verklickern, was Loyalität bedeutet? Warum es mir - uns! - so wichtig ist, keinen Freund im Stich zu lassen. Selbst wenn seine Rettung mit Risiken verbunden wäre...« Statt einer Antwort, veränderte sich plötzlich die Darstellung in der Bildsäule. Cloud erwartete unwillkürlich das Heranzoomen von Verfolgerraumschiffen - doch das Objekt, das in der dreidimensionalen Wiedergabe stark vergrößert wurde, war nur ein Brocken Fels, über den sich ohne Vergleichsparameter nicht einmal sagen ließ, ob er groß oder Mein war. »Wie ich das hasse«, fauchte Scobee von schräg gegenüber.
Cloud warf ihr einen fragenden Blick zu.
Die Erklärung für ihre Äußerung folgte auf den Fuß. »Könnt ihr beide euch nicht einmal in einer
verständlichen Sprache unterhalten? Damit man auch einmal etwas von euren superinteressanten
Diskussionen mitbekommt?«
Da wurde Cloud erst bewusst, dass er im Dialog mit Sobek wieder in den Hirten-Slang verfallen
war. »Es tut mir Leid.«
»Was ist das für ein Brocken?«
Er zuckte die Achseln. Was sollte er auf Scobees Frage antworten? Er wusste es ja selbst nicht.
»Sobek? Wohin hast du uns gebracht?« Die Sonne war zu einem winzigen Punkt unter zahllosen
anderen geworden.
Eine Kamera schien den Brocken zu umrunden und ermöglichte es so, ihn von allen Seiten zu
begutachten. Seine Schroffheit und andere Details legten bei längerem Betrachten doch die
Vermutung nahe, dass es sich um ein großes Objekt handelte. Ein richtig großes.
Plötzlich veränderte sich seine Darstellung. Als würden Röntgenstrahlen sein Innererstes bloßlegen,
wurden schattenhafte Strukturen sichtbar, tief in den Fels eingebettet.
Jelto stieß hervor: »Das... das ist kein gewöhnlicher Fels!«
Kein gewöhnlicher Fels, nein. Scobee zwang sich, sitzen zu bleiben, nicht aufzustehen und hinüber zu Jarvis zu gehen, dem sie sich in diesen Momenten verbundener fühlte als Cloud, der es schon wieder getan hatte. Der sich wieder jenes fremdartig abstoßenden Idioms bediente, den der Übersetzerchip hinter ihrem Stirnknochen -war es wirklich erst wenige Wochen her, seit Darnok ihn dort eingesetzt hatte? außerstande war, in verständliche Worte umzuwandeln. Der Chip war mit sämtlichen Sprachen von CLARON gespeist, darüber hinaus mit Keelonisch, Darnoks Muttersprache. Aber schon im AquaKubus, wo sie auf das Artefakt SESHA gestoßen waren, hatte er versagt. Weder die Bildtelepathie der Vaaren, noch die Unterwasser-Lautmalereien der Luuren oder Heukonen waren von ihm erkannt worden. Externe Hilfsmittel hatten zur Verständigung herhalten müssen. Gerätschaften aus Protomaterie. Protomaterie. Bis heute verstand Scobee nicht, was sich wirklich hinter diesem Begriff verbarg, der weniger eine Technologie umschrieb als vielmehr... ja, als vielmehr Magie. Magie kam dem, was die Luuren mit ihrer speziellen Psi-Begabung erschufen, wesentlich näher. Dabei war Parakraft eine durchaus rechenbare Größe für Scobee, hatte sie doch schon auf der Erde vor dem Start von Mission II durchaus Kontakt damit gehabt. Die Erforschung und Nutzung von Telepathie war schon im Jahr 2041 so weit gediehen gewesen, dass eine Kopplung zwischen ihr und einem aus ihrer Vorlage entstandenen Klon möglich wurde. Das Telepathenmädchen Scobee - ein äußerliches Spiegelbild ihrer selbst - war zusammen mit zwei weiteren Telepathen, denen Jarvis und Resnick zugeordnet wurden, in einer Geheimbasis in der Nevadawüste dafür eingesetzt worden, jederzeit über die Verhältnisse an Bord der RUBIKON I informiert zu sein. Später, nach der planmäßigen Landung, sollte dieses Espern sie auch auf dem Mars selbst begleiten, um zeitverlustfrei Situationsbilder zur Erde zu übertragen. Funk hätte mehrere Minuten benötigt, um die Millionen Kilometer Distanz zu überbrücken - Gedankenübertragung funktionierte zeitverlustfrei. Scobee spürte, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten, als sie an das Mädchen Scobee denken musste. An die Telepathin, die wie Cronenberg, Palmer und Hays in einem Stasebehälter zwei Jahrhunderte überwunden hatte... Allerdings nur als mumifizierter Leichnam, dessen Zerfall auch die Stase-Bedingungen nicht hatten aufhalten können. Der telepathische Klon hatte unter demselben Gendefekt gelitten, der auch Resnick und Jarvis zum Verhängnis geworden war. Unwillkürlich blickte sie zu Jarvis. Zu dem Ding, das er geworden war. Es war ihr egal. Das Äußere spielte für sie keine Rolle, alles, was zählte, war, dass er noch existierte
- irgendwie. Sie zog Trost daraus, fühlte sich Jarvis nahe. Genau wie sie sich Jelto nahe fühlte.
Wir Klone müssen schließlich zusammenhalten.
Cloud passte nicht so recht in diese Gemeinschaft. Aber er war auch nicht mehr der distanzierte
Vorgesetzte, der er ganz zu Beginn ihrer Begegnung gewesen war. Es hatte sich Nähe zu ihm
aufgebaut, Vertrautheit und Vertrauen, was aber auch immer wieder Belastungsproben unterworfen
war - zuletzt, als sie unfreiwillig zu Cronenberg übergelaufen war.
Verständlich - aus Clouds Sicht.
Sie brauchte ihn nur anzusehen, mit ihm zu sprechen, um zu merken, dass das gute Verhältnis, das
sie vor den Getto-Geschehnissen ausgezeichnet hatte, noch längst nicht wieder erreicht war. Er
betrachtete sie immer noch mit Skepsis, mit einer gehörigen Portion Misstrauen.
Was erwartest du? Und er hat nicht einmal Unrecht. Solltest du je wieder vor Cronenberg treten... Ich verwette meine »Designerklamotten«, du wirst ihm augenblicklich wieder hörig sein. Das Gehorsams-Gen in dir lässt dir gar keine andere Wahl. Dieser verdammte Schweinehund hat sich in mich von Hays eine hübsche Rückversicherung einbauen lassen. Selbst wenn ich ihm all das heimzahlen wollte, was er mir über Jahre hinweg antat - ich könnte es nicht. Ich könnte nicht die Hand gegen ihn erheben. Ein noch so leises Wort von ihm, und ich kusche. Ich kusche! Wie sehr sie ihn dafür verachtete. Aber vielleicht lebte er schon längst nicht mehr. Ihr letzter Kontakt zu ihm hatte in Bodors New Yorker Residenz stattgefunden. (siehe Bad Earth Band 22: »Im Herzen der Macht«) Sie allein war dort vor den größenwahnsinnigen Keelon-Master Bodor getreten, Cronenberg und Palmer hatten in der Zelle zurückbleiben müssen. Dann war jenes Überfallkommando, in Arabims Auftrag aufgekreuzt, Bodors Komplott war aufgedeckt und bestraft worden. Man hatte sie in denselben Gleiter verfrachtet, der auch den gefangenen und seiner Macht beraubten Keelon nach Washington transportiert hatte. Unterwegs hatte sie das Bewusstsein verloren. Über Cronenbergs weiteres Schicksal war ihr nichts bekannt. Vielleicht hatte man ihn nach dem Verschwinden Bodors einfach in der Zelle vergessen. Vielleicht war er dort mit Palmer elendig verhungert oder verdurstet... Sie bemerkte einen feuchten Schimmer, der plötzlich ihre Sicht trübte. Verrückt. Dieser verdammte Schweinehund schaffte es tatsächlich, ihr selbst über eine Entfernung von, sie wusste nicht wie vielen Astronomischen Einheiten hinweg, noch Tränen in die Augen zu treiben! Sie achtete darauf, dass keiner sonst es bemerkte und blinzelte sie weg. Dann stand sie auf und ging mitten durch die Hologramm-Säule hindurch auf Sobek zu - und tat mit ihm das, was sie bei Cronenberg nicht vermochte. In diesem Moment war sie nicht sie selbst. Etwas in ihr, ein winziger Tropfen Erlebnis, Wahrnehmung, wie immer man es bezeichnen wollte, brachte das emotionale Fass zum Überlaufen. Und schon während sie sich hinreißen ließ, ahnte sie, dass sie damit ihr Todesurteil unterschrieb...
Im Nachhinein war er sich sicher, es gespürt, vorausgeahnt, zu haben.
Kurz bevor Scobee die Nerven verlor, sah Cloud flüchtig zu ihr. Ihre Augen waren vollständig
schwarz gewesen, eine Iris hatte sich darin nicht mehr abgezeichnet, auch nicht das übliche Weiß
der Pupille...
Und dann stand sie auch schon auf...
Im ersten Moment konnte er nur wie erstarrt zuschauen, als sie die Lichtsäule durchschritt und sich
auf Sobek warf. Der Forone schien von dem Angriff ebenso überrascht zu werden. Es vergingen
mehrere Augenblicke, in denen Scobee bereits an ihm zerrte und auf ihn einprügelte, ehe endlich
auch in ihn Bewegung kam.
Endlich? Was, zur Hölle, denke ich da?
Die Starre fiel von Cloud ab. Er stemmte sich aus dem Sitz, wollte an Scobee appellieren und
gleichzeitig auch handgreiflich dafür sorgen, dass sie von Sobek abließ...
Der Forone kam ihm zuvor.
Ansatzlos erfolgte sein Schlag.
In dem Bruchteil einer Sekunde davor sah Cloud gerade noch, wie sich die Rüstung entlang seines
Armes ausdehnte, wie sie jäh auch seine Klauenhände überwucherte...
Und dann traf genau dieser Arm, diese Faust Scobee von schräg unten herauf mit solcher Gewalt,
dass Cloud geschworen hätte, Knochen bersten zu hören.
Im selben Moment flog Scobee bereits mit rudernden Gliedmaßen durch die Luft und landete, als
wäre selbst dies Absicht, exakt vor Jarvis' Füßen!
Der Amorphe machte noch einen Versuch, sie aufzufangen, ihren Aufprall zu verhindern - aber es
misslang. So heftig der Hieb an sich gewesen war, so ungebremst erfolgte auch der Aufschlag auf
dem Metallboden.
Scobee keuchte dumpf auf. Und Cloud war immer noch völlig perplex, verharrte vor dem Foronen,
der selbst im Sitzen so groß war wie Cloud stehend. »Verdammt, Sobek!«
Mehr konnte er nicht sagen, im Grunde galt sein Fluchen nicht dem Hirten, sondern der
personifizierten Unvernunft.
Er hatte Scobee noch nie so erlebt. Sie war immer ein Ausbund an Selbstbeherrschung gewesen,
konnte bestimmte Stressfaktoren sogar bewusst steuern und gezielt einsetzen, wenn es ihr bei der
Bewältigung von Aufgaben half. Aber hier... hier hatte sie zweifellos nur eines gehabt: einen
folgenschweren Blackout!
Ausgerechnet sie.
Sobek thronte stumm wie ein Götze vor Cloud. Und dann wiederholte sich warnungslos das, was
schon einmal geschehen war.
Licht brach aus seiner Rüstung und hüllte Cloud ein.
Im nächsten Moment war er wieder dort, wo sie schon einmal gestanden hatten. Er und der Hirte.
»Bring mich sofort zurück!«, verlangte Cloud.
Er spürte, wie auch er dabei war, die Fassung zu verlieren. Natürlich interessierte ihn auch Aylea,
die nur wenige Meter entfernt schwebte. Aber noch wichtiger war ihm in dieser Sekunde Scobee. Es
war nicht auszuschließen, dass Sobeks Hieb sie umgebracht hatte. Cloud hatte noch nie etwas
Mörderischeres gesehen als diesen Schlag. Zumal es ihm vorgekommen war, als würde die Rüstung
des Hirten dessen Kraft noch potenzieren.
Tödlich. Ein solcher Hieb konnte nur tödlich sein.
Bei einem normalen Menschen mag das sein, versuchte er sich zu beruhigen. Aber Scobee ist hart
im Nehmen. Sie lässt sich nicht so leicht umbringen. Verdammt, ich wäre mächtig sauer, wenn sie
es doch täte!
»Zurück? Natürlich. Aber zunächst...« Sobek packte Cloud am Arm, packte ihn mit derselben
Hand, die kurz zuvor den mörderischen Hieb gegen Scobee geführt hatte, und zwang ihn dazu, mit
ihm das Feld zu durchschreiten, das die schwebende Aylea umgab.
»Es wäre einfacher, sie über Bord zu werfen«, kommentierte Sobek den Vorstoß. »Stattdessen
wähle ich den schwereren Weg.«
Es blieb Cloud unklar, warum er dies sagte - und erst recht, was er damit meinte.
»Bleib hier stehen! Sieh zu, was geschieht!«
Die Umklammerung löste sich von John Clouds Arm, dennoch harrte er aus.
»Scobee«, stieß er hervor. »Ich muss wissen, wie es ihr geht. Danach kannst du mir zeigen, was
auch immer du willst. Aber...«
»Sie wird es schon überleben. Ich habe darauf geachtet.«
Es drang so lapidar aus der Membran, dass Clouds Befürchtungen eher größer wurden als
schwanden.
Allmächtiger!, dachte er. Und von dir gibt es gleich mehrere? Gnade uns Gott, wenn auch die erst
einmal so real sind wie du...
5. Eine Stunde verstrich. Cloud blieb verschwunden.
»Diesmal ist es anders als beim ersten Mal«, sagte Jelto. Er hatte es, wie im Übrigen auch Scobee,
nicht gewagt, sich noch einmal in einem der Sitze niederzulassen, die einen Menschen Teil von
etwas werden ließen, das man gar nicht sein wollte. »Sie bleiben länger weg, als gut sein kann.
Vielleicht...«
Er verstummte, aber Scobee brauchte ihn nur anzusehen, in seinem völlig offenen Gesicht zu lesen,
um zu wissen, was er sagen wollte.
Vielleicht ist er schon gar nicht mehr am Leben.
Eine Befürchtung, die sie teilte.
Wo hatte ich nur meinen Verstand deponiert?, dachte sie. Wie konnte ich mich so vergessen?
Bloßes Atmen genügte, um ihr Schmerzen durch den Oberkörper zu peitschen. Wenn sie Glück
hatte, waren die Rippen nur angeknackst, nicht tatsächlich gebrochen. Wenn das Pech es allerdings
wollte, war noch einiges mehr verletzt worden, als sie jetzt schon überblicken konnte... Dabei hatte
sie noch unverschämtes Glück gehabt!
Glück...?
Nein, dachte sie. Das Glück hat mich spätestens mit der Landung des Äskulap-Schiffes auf dem
Mars verlassen. Von da an ging es stetig bergab.
Sie wusste, dass dies nicht die ganze Wahrheit war - und klammerte sich auch an diesen Strohhalm.
Denn in Wahrheit hatte sie gerade seit der Entführung im Äskulap ein unverschämtes Glück gehabt.
Mochte die Situation, der Schlamassel, in den sie geraten war, auch noch aus aussichtslos
erschienen sein, sie war immer wieder daraus entkommen. Sie hatte überlebt. Sie hatte sogar etwas
so Unmögliches möglich gemacht, wie den Weg zurück zur Erde zu finden - wo ihr dann allerdings
das Heft des Handelns aus der Hand genommen worden war. Ebenso wie Cloud.
Pech? Nein, Pech war etwas anderes. Jarvis konnte ein Lied davon singen. Und Resnick...
Jarvis sagte mit der Stimme des Amorphen: »Ich hoffe, ihr glaubt nicht, ich sei völlig untätig. Ich
bemühe mich, mir diesen Körper so zu erschließen, dass ich euch eine Hilfe sein kann. Aber das
alles ist mir selbst noch so fremd. Ich fühle mich wie in einer Wohnung, die nichts, absolut gar
nichts mit meinem Einrichtungsgeschmack zu tun hat. Vielleicht sollte ich ein paar Bilder an die
Wände nageln...«
Während er sprach, wurde Scobee bewusst, wie sehr sie Jarvis' Sprüche vermisst hatte. Hätte es
noch den geringsten Zweifel gegeben, dass er in dieser Hülle steckte, nach diesen Worten wären sie
beseitigt gewesen.
»Vielleicht solltest du dir einfach eine schönere Wohnung suchen«, gab sie zähneknirschend zurück
- selbst das Sprechen verursachte Schmerzen.
»Ich glaube, ich könnte mich überreden lassen, wenn du noch ein Zimmerchen frei hättest.« Etwas
wie Lachen drang aus den Tiefen des roboterhaften Konstrukts.
Scobee schloss die Augen und sah Jarvis feixend vor sich - den Jarvis, den sie verloren hatten.
»Kommt nicht in Frage«, sagte sie. »Mit einem Macho wie dir teile ich nicht mein Allerheiligstes,
nicht einmal zur Untermiete. Noch weniger als dir meine Gedanken zu verraten, möchte ich deine
erfahren... Bei aller Freundschaft, versteh das bitte. Aber klopf doch mal bei Jelto an...«
Der Florenhüter machte ein absolut ratloses, verständnisloses Gesicht. Bevor er etwas erwidern
konnte, raste eine Lichtwoge durch die Zentrale, wie immer ohne die geringste Vorwarnung.
Jeltos Augen hatten die wenigsten Probleme, sich mit dem blendenden Schein zu arrangieren. So
sah er noch vor den anderen, wer in Sobeks Gefolge materialisiert war. Nicht nur Cloud, völlig
unversehrt, sondern auch...
»Aylea!«, rief der Florenhüter. »Kleines!«
Nichts konnte ihn daran hindern, ihr entgegenzueilen und sie wie nach ewig langer Trennung in die
Arme zu schließen.
Scobees Blick hatte sich auch wieder geklärt. Sie musterte das Mädchen, bevor sie sich Cloud
widmete oder Sobek auch nur eines Blickes würdigte. Aylea wirkte etwas desorientiert, ansonsten
aber unversehrt.
Scobee wartete, bis Jelto das Mädchen aus seiner überschwänglichen Umarmung entließ, dann
verlieh auch sie ihrer Freude über die Rückkehr Ausdruck, küsste Aylea sacht rechts und links auf
die Wange und streichelte ihre Oberarme.
»Geht es dir gut?«
Große Augen starrten sie an. Es folgte ein Kopfschütteln und ein ängstlicher Blick hinüber zu
Sobek.
Sofort erwachte in Scobee wieder das Verlangen, sich auf den Foronen zu stürzen, der so
selbstgefällig und über die Gefühle anderer hinweg agierte. Aber der stetig in ihr pochende Schmerz
erinnerte sie noch rechtzeitig an die unausweichlichen Folgen jedes Versuchseiner Attacke.
Kalt musterte sie den Hirten und schnarrte: »Na, Kinderschreck, zufrieden mit dir?«
Sie wusste, dass er sie verstand - im Gegensatz zu ihr beherrschte er die Sprache seines Gegenübers,
dafür hatte es etliche Indizien gegeben.
Wenn sie überhaupt etwas erwartete, dann war es eine Gänsehaut erzeugende Erwiderung in
fauchendem Hirten-Idiom, die sie nur verstand, wenn Cloud sich als Dolmetscher betätigte.
Aber Sobek verblüffte sie einmal mehr, indem er klar verständlich artikulierte: »Sehr zufrieden, ja.
Und ihr solltet es auch sein, wenn euch wirklich etwas an dem Keelon namens Darnok liegt. Ich bin
bereit, es zu wagen. Allerdings muss dafür noch eine winzige Voraussetzung geschaffen werden...«
Mit diesen Worten entriss er Cloud etwas, das dieser in der Hand hielt und das wie eine matte,
farblose, übergroße Murmel oder Perle aussah. Er verschwand in einem Lichtblitz, diesmal aber
alleine, ohne Cloud...
Sobek kehrte schon zwei, drei Minuten später zurück, als Cloud noch voll damit beschäftigt war zu
schildern, was es mit Ayleas ebenso erfreulicher wie unverhoffter Wiederkehr für eine Bewandtnis
hatte...
»Er hat was getan?« »Er hat sie operiert... Oder was Foronen unter einer Operation verstehen. Ich konnte zusehen. Ich musste zusehen. Es war noch merkwürdiger als seinerzeit im Kubus, als Darnok an uns herumdokterte. Es war gespenstig. Erspare mir Details - zumindest so lange Aylea dabei ist. Ich möchte nicht, dass sie...« »Ich kann einiges vertragen«, fiel ihm das Mädchen selbst ins Wort. »Außerdem will ich es auch wissen! Was ist passiert? Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass wir irgendwo ankamen... Ist das hier das Raumschiff, von dem ihr gesprochen habt? - Und dann wurde mir schwummerig. Ich fand mich in einem sterilen, kahlen Raum wieder. Zwischendurch schlief ich, und einmal, als ich wach wurde, glaubte ich, Stimmen zu hören...« »Vielleicht hast du mich und Sobek bemerkt«, sagte Cloud. »Ich weiß es nicht.« »Was sollte das Ganze überhaupt?«, entrüstete sich Scobee. »Warum wurde Aylea überhaupt von uns getrennt? Diese Story von der angeblichen Spionin stinkt doch zum Himmel!« »Das dachte ich auch«, stimmte Cloud zu. »Bis Sobek das aus ihrem Kopf entfernte, was ihr vielleicht vorhin kurz gesehen habt - bevor er damit verschwand.« »Die Perle?« Jelto stand hinter Aylea und hatte väterlich seine Hände auf ihre Schultern gelegt. »Das, was darin ist«, präzisierte Cloud. »Er hat...« Noch einmal vergewisserte er sich mit einem Blick auf Aylea, dass er es ihr auch tatsächlich zumuten konnte. »Er hat ein Stück Gewebe aus ihrem Gehirn entfernt. Etwas, was bei ihrer Geburt noch nicht Teil von ihr war, wie er sich ausdrückte. Es wurde erst später hinzugefügt.« Scobee hatte am Boden Platz genommen. Das Stehen strengte sie an. Cloud hoffte, dass sie bald wieder auf dem Damm sein würde. »Hinzugefügt?«, fragte sie. »Wie Sobek schon sagte: Er hat Zugriff auf alles, was die Rüstung... Jarvis... ihm an Informationen von der Erde mitbrachte - und er weiß offenbar dank der Protopartikel in mir auch absolut alles, was ich weiß.« »Alles? Deine geheimsten Gedanken?« Scobee verzog erst das Gesicht, blickte dann zu Jarvis, und plötzlich lächelte sie, ohne dass Cloud auch nur ahnte, worauf sich dieses Schmunzeln bezog. Er wusste nicht, was sich in seiner Abwesenheit in der Zentrale zugetragen hatte, vielleicht hätte er es dann verstanden. »Nein, das hoffe ich nicht«, wiegelte er ab. »Ich rede von Wissen, nicht von Gedanken.« »Wieg dich besser nicht in Sicherheit...«
»Nein, ich weiß, was ich von Sobek zu halten habe.«
Wusste er das wirklich?
»Weiter im Text«, sagte Cloud. »Das entfernte Gewebestück war durchwoben mit Nanostrukturen.
Es erfüllte eine ganz bestimmte Funktion. Aylea ahnt es vielleicht...?«
Das Mädchen verneinte. Tastete dann unwillkürlich über ihren Hinterkopf, als versuchte sie, die
Narbe zu finden, die die Stelle verriet, an der Sobek in ihren Schädel eingedrungen war. Offenbar
wurde sie nicht fündig.
»Es hat etwas mit einem Spiel namens Packa zu tun«, sagt Sobek. »Und mit dem Zugang in ein
telepathisches Netzwerk, das weit über die Grenzen der Erde, weit über die Grenzen des
Sonnensystems hinausreicht...«
»Packa!«, keuchte Aylea betroffen, und plötzlich stand ihr die Panik ins Gesicht geschrieben - nicht
bloße Angst, es war nackte Panik.
»Beruhige dich!«, sagte Jelto. Und an die anderen gewandt: »Ich weiß über das Packa-Spiel
Bescheid, sie hat mit mir darüber gesprochen, als ich sie fragte, weshalb sie im Getto gelandet ist.«
Sie hatte es auch Cloud erzählt, in dürren Worten, als sie gemeinsam in Sadakos Organisation
Obhut gefunden hatten.
»Eine biotechnologische Schnittstelle - etwas anderes kann es nicht sein. Mit Hilfe dieses
Implantats können Erdenbürger in ein Netz eintauchen, das ähnlich aufgebaut ist wie das antike
World Wide Web, mit dem am Ende des 20. Jahrhunderts alles begann... Hier sprechen wir aber
von einer perfiden Abart, denn dieses Netz erlaubt keineswegs das Eintauchen in rein fiktive, in
virtuelle Gestalten und Landschaften. Packa ist ein Echt-Spiel, es läuft nicht nur in Echtzeit, live
sozusagen, sondern es ist mit realen Personen aus Fleisch und Blut gekoppelt. Offenbar haben die
Menschen Welten unterworfen und deren Bewohner geknechtet, einzig zu dem Zweck, ein Spiel
bestücken zu können!«
Es war das erste Mal, dass Scobee davon hörte. Sie war blass geworden, sagte aber nichts.
»Was hat Sobek mit dem entfernten Hirnstück vor?«, fragte Aylea - ihre Stimme zitterte leicht.
Vielleicht fühlte sie sich ja auch eines Teils von sich beraubt.
»Ich weiß es nicht. Ich hoffe, er sagt es uns, wenn er zurückkommt. Beruhigend ist jedenfalls, dass
das Entfernen offenbar keine negativen Folgen für deine Gesundheit hat... Oder fühlst du dich in
irgendeiner Weise versehrt, eingeschränkt?«
»Ich merke keine Veränderung, gar keine.«
»Grund für die Entfernung war, dass Sobek offenbar der Meinung ist, die Schiffe, die uns über dem
Mars trotz errichteter Schilde so zielsicher aufspüren konnten, seien von dir auf die richtige Fährte
gesetzt worden.«
Aylea blickte sie der Reihe nach aus ihren großen Augen an - ungläubig.
»Ich wollte es auch zuerst nicht glauben. Aber vielleicht ist ja tatsächlich etwas dran. Sobek sagt,
die Master könnten das Biokonstrukt dafür missbrauchen, deinen Aufenthaltsort anzumessen. Da es
telepathisch geschieht, scheint auch seine versuchte Abschirmung nicht lückenlos funktioniert zu
haben. Jedenfalls wollte er die Gefahr beseitigen, bevor...«
»Bevor?« Scobee streckte ihm den Arm entgegen. Er verstand, ergriff ihre Hand und zog die Frau
in den Stand. Sie stöhnte leise.
»Schmerzen?«, fragte er. »Dein Flug, vor allem deine Landung, sah beeindruckend aus. Ich dachte
nicht, dass du überhaupt wieder auf die Beine kommst.«
»Bevor...?«, wiederholte sie, ohne auf die Frage nach ihrer Befindlichkeit einzugehen.
»...er uns hilft, Darnok zu befreien«, ergänzte Cloud. »Du hast ihn doch gehört.«
»Gehört, ja. Allein, mir fehlt der Glaube.«
»Ich schätze, diese >Freundschaft< hält ein Leben lang«, sagte Cloud lächelnd in Anspielung auf
das getrübte Verhältnis zwischen Scobee und dem Foronen.
»Dann hoffe ich, dass ich Mittel und Wege finde, sein Leben drastisch zu verkürzen.«
Er dachte keine Sekunde darüber nach, ob sie es ernst meinte - er wusste, dass sie das tat.
Darm kehrte Sobek zurück.
»Es kann losgehen. Ich habe das operativ entfernte Hirnteil mit einer Transportkapsel zu einer
Station auf der anderen Hemisphäre der Wolkenschale geschickt. Wenn meine Vermutung stimmt,
werden die Erinjij SESHA von nun ab unbehelligt lassen und sich diesen Koordinaten zuwenden -
wo eine unangenehme Überraschung auf sie wartet«, sagte er, dann wandte er sich Cloud zu. »Das schenkt uns die nötige Frist, um in Sachen Darnok aktiv zu werden. Du und ich, wir beide werden das erledigen. Alle anderen würden nur stören.« 6. Unmittelbar nach Sobek kehrten auch die Geister der anderen Hirten zurück. Stumm nahmen sie ihre Range ein. Nur zwei Sitze blieben unangetastet. Als hätten sie den Ort ohne ihren Vorreiter gemieden, durchzuckte es Cloud. Als wäre Sobek der Magnet, der sie anzieht... »Wohin soll ich dich begleiten?«, fragte er den mutmaßlichen Anführer der Hirten.
»Zu der Welt auf der du geboren wurdest.«
»Zur Erde? Du und ich allein?« Er war selten so begriffsstutzig gewesen wie in diesem Moment.
»Wie soll das gehen?« Und dann dämmerte es ihm. »Du willst eine der Kapseln besteigen? Du
willst...«
»Bis hierhin ist es richtig. Spare dir weitere Spekulationen, sie können nur falsch sein. Du besitzt zu
wenig Wissen. Du wirst mir vertrauen müssen, wenn dir wirklich an ihm liegt.«
Vertrauen und Sobek - zwei Begriffe wie Feuer und Wasser.
Cloud schüttelte sich unwillkürlich. Scobee trat neben ihm. Wer es nicht besser wusste, hätte ihr
nicht angesehen, dass sie Blessuren aus ihrer letzten Begegnung mit Sobek davon getragen hatte.
Sie ließ sich nichts anmerken, und Cloud konnte nicht umhin, ein warmes Gefühl im Bauch zu
registrieren. Die Art ihres Auftretens nötigte ihm Respekt ab, mehr als das...
»Uns liegt an Darnok«, sagte sie. »Sehr viel. Er wurde unser Freund. Ohne ihn hätten wir niemals
den Weg zurück zur Erde gefunden. Ohne ihn wären wir längst schon tot.« Sie schürzte die Lippen.
»Aber ich hege beträchtliche Zweifel, dass du es ernst meinst mit deinem Angebot - zumal es
abstrus klingt.«
Erst jetzt wurde Cloud bewusst, dass Sobek noch immer Entgegenkommen demonstrierte, indem er
sich nicht seiner, sondern ihrer Sprache bediente. Sodass auch alle anderen außer Cloud ihn
verstehen konnten.
Suchte er wirklich den Schulterschluss? Suchte er ein Auskommen mit jedem Einzelnen von ihnen?
Nein, dachte Cloud. So gerne ich es glauben würde. Aber wir sind nichts für ihn.
Das mochte überspitzt formuliert sein, aber es war besser, keine Hoffnung in einen aufrichtigen
Gesinnungswandel des Foronen zu setzen, als bei nächster sich bietender Gelegenheit wieder
enttäuscht und auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden.
»Ich teile Scobees Skepsis«, sagte er ruhig.
»Es ist eure Entscheidung. Vielleicht fühlt er sich sogar wohl - unter seinesgleichen. Vielleicht
wollte er gar nicht befreit werden...«
Spielchen, dachte Cloud. Er fängt schon wieder an, Spielchen zu spielen.
»Ich traue dir einiges zu«, sagte er. »Aber du und ich - wir beide allein, wie sollte das
funktionieren? Wir stünden einem ganzen Planeten gegenüber!«
»Ich kann SESHA nicht riskieren - bei dieser Feststellung bleibt es.«
»Aber dein eigenes Leben würdest du riskieren?« Cloud machte keinen Hehl aus seinem Argwohn.
»Sobek, der Menschenfreund...?«
»Vielleicht auch nur der Keelonfreund. Wie du schon sagtest. Einer, der die Zeit ohne technische
Hilfsmittel zu manipulieren vermag, stünde SESHA gut zu Gesicht auf dem Weg, den sie nehmen
wird.«
»Von welchem Weg redest du?«
»Alles zu seiner Zeit. Also?«, drängte der Forone.
»Du willst das Schiff nicht riskieren... aber wie willst du ihn dann aus den Fängen der Master
befreien? Nur mit SESHA gibt es überhaupt den Hauch einer Chance...«
»Sagt wer?«
»Sage ich.«
Nicht nur Scobee und Jelto pflichteten hei, auch von dem Amorphen - Jarvis! - kam Zustimmung.
Ob sich Sobek davon allerdings beeindrucken ließ, durfte bezweifelt werden. Er forderte sie auf,
ihm zu folgen und trat mit ihnen vor die Holosäule, in der immer noch der Felsbrocken schwebte -
vor dem Hintergrund des samtschwarzen Alls.
»Ist das ein Bestandteil der Oortschen Wolke, der Kugelschale, die das Sonnensystem umgibt?«
»Ja«, bestätigte der Forone. »Eine Kugel, die so viele Einzelfragmente enthält wie diese Galaxis
Sonnen besitzt - natürlich schwankt ihre Größe enorm. Das hier ist einer der größten Brocken. Er
hat eine Länge von 37 Kilometern und ist 18 Kilometer dick.«
Cloud holte unwillkürlich Luft und hielt sie an, bis es ihm bewusst wurde. Die Größe des Objekts,
das von der Holosäule gezeigt wurde, war schwer schätzbar gewesen - mit solchen Dimensionen
hatte er jedoch keinesfalls gerechnet.
Wieder, wie schon einmal, veränderte sich die Darstellung des Asteroiden.
Plötzlich schien er seine feste Struktur zu verlieren, und sie erhielten Einblick in seinen Aufbau.
»Vorhin war ich mir nicht sicher«, sagte Cloud. »Aber jetzt würde ich wetten, es handelt sich um
eines der Objekte, wie die Menschen es an verschiedenen Koordinaten der Wolke gezielt zu
beseitigen begonnen haben...«
Während Jelto und Aylea nicht wussten, wovon er sprach, verstand Scobee sehr genau. Sie nickte.
»Aber ebenso zweifelsfrei auch eines, das noch nicht gefunden und als Gefahr lokalisiert wurde.
Sonst wäre schon ein Erinjij-Kommando hier.«
»Bei den Ausmaßen der Wolke wird es noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte eurer Zeitrechnung dauern,
bis sie jede einzelne Hinterlassenschaft entdeckt haben«, sagte Sobek. »Vielleicht werde ich ihnen
die Arbeit erleichtern. Wir werden sehen...«
»Hinterlassenschaft?«, fragte Cloud. »Du meinst...?«
»Sie gehen auf uns zurück - genau wie die größeren Stationen auf dem dritten und vierten
Planeten.«
»Wann und wozu hattet ihr sie errichtet? Standet ihr jemals in echtem Kontakt mit Menschen? Ich
meine... habt ihr euch ihnen jemals zuerkennen gegeben?«
»Nein. Wozu? Aber das Studium der einheimischen Arten ist unabdingbar, wenn man Basen
errichtet, ganz gleich, ob der Planet Erde heißt oder Luur...«
Luur!
Cloud war sich sicher, dass Sobek nicht nur zufällig ausgerechnet diesen Namen erwähnte. Er
wusste, dass sie etwas damit anfangen konnten.
Luur wie Luuren...
»Ich war dort«, sagte Jarvis in diesem Augenblick. »Zusammen mit Resnick. Es war die erste
Station, zu der es uns verschlug, nachdem wir Opfer der Kapsel wurden...«
»Ich weiß«, sagte Sobek. »Ich habe euch dorthin geschickt. Habt ihr an einen Unfall geglaubt, an
ein Versehen? Es war Teil meiner Strategie zum damaligen Zeitpunkt. Ich unterzog euch
Eignungsprüfungen, ohne dass ihr es geahnt habt. Sowohl die, die gingen, testete ich, als auch die,
die blieben.«
»Bis du auch uns rausgeschmissen hast - Richtung Erde«, knurrte Cloud.
Aber er wollte nicht über die Vergangenheit sprechen. Er wollte Sobeks Plan, Darnok betreffend,
erfahren. Und auch die Theorie wollte er möglichst rasch hinter sich lassen und sich der praktischen
Umsetzung widmen, falls Sobeks Vorstellungen auch nur annähernd Aussicht auf Erfolg
versprachen.
»Luur war kein Ruhmesblatt«, fuhr Jarvis unerschütterlich fort. »Ich dachte, die Vaaren hätten den
Ur-Luuren angetan, was...«
»Schweig!«
Niemand, auch Jarvis nicht, hatte den Hirten jemals so durchdringend schreien hören. Es war mehr
als eine Aufforderung, mehr sogar noch als ein Befehl...
Cloud konnte spüren, welche Drohung in diesem einen Wort mitschwang. Eine Drohung, die sich
allein gegen Jarvis richtete. Sie lautete: Ein Gefallen kann auch widerrufen werden, überlege dir
gut, was du von dir gibst.
»Tu, was er sagt«, wandte sich Cloud an den Freund.
Gleichzeitig nahm er sich vor, das Thema bei anderer Gelegenheit, wenn Sobek nicht zugegen war,
noch einmal ausführlich zu erörtern. Wie so viele andere Themen auch.
»Begleite mich«, wandte sich Sobek in nun normaler Lautstärke und normalem Tonfall an Cloud.
»Obwohl ich den Spion aus dem Menschenkind entfernt habe, bleibt ein Restrisiko, dass Keelon und Menschen noch über weitere Wege verfügen, SESHA aufzuspüren. Je kürzer wir in dem Gebiet des Feindes verweilen, desto besser.« »Du hast immer noch nicht deine Strategie offen gelegt, wie wir Darnok aus der Höhle des Löwen befreien wollen.« »Wir haben einen Versuch«, sagte Sobek. »Dazu müssen wir ins Innere der Station.« Er streckte den Arm aus, zeigte auf den gigantischen Felsen, der vor ihnen im ewigen Dunkel der Weltraumnacht trieb. »Und wie geht es von dort aus weiter?« »Ich zeige es dir.« Sobek senkte den einen Arm und hob den anderen, streckte Cloud seine Hand entgegen, wie einem Kind, das der Führung bedarf. »Ich würde es nicht anbieten, wenn es keine Erfolgschance hätte. Also?« »Er hätte Politiker werden sollen«, zischte Scobee ihm zu. »Ich habe noch nie jemanden sich so konsequent um jede verbindliche Antwort herum winden sehen wie Sobek!« Dem hatte Cloud nichts hinzuzufügen - außer: »Einverstanden. Wenn das die einzige Möglichkeit ist, dich zur Hilfeleistung zu bewegen, dann lass uns aufbrechen. Wohin auch immer...«
Als sie sich der Kapsel überantworteten, als der Sog sie erfasste und ins Innere zog, hielt Cloud es kurzzeitig für möglich, dass Sobek das spezielle Transportsystem des Rochenschiffes dafür verwenden würde, exakt dorthin zurückzukehren, von wo Cloud, Scobee, Jelto und Aylea - und der Amorphe, der jetzt Jarvis war - erst kürzlich gekommen waren. Zur Erde. Zur Tiefseestation der Foronen. Aber dem war nicht so. Sie wechselten tatsächlich auf den Asteroiden über - in seinen Kern. Wo sich ein eindrucksvolles Bauwerk verbarg. Eine Station, gewaltiger als die auf der Erde. Sobek verließ die Kapsel noch vor Cloud, der ihm aber unmittelbar folgte. Ganz frei machen von einem befremdlichen Gefühl konnte er sich dabei nicht. Die alleinige Gesellschaft des Hirten hatte etwas Atemberaubendes - und war ungefähr so beglückend wie schweres Asthma. Sobek ließ ihm keine Pause. Auf schnellstem Weg führte er ihn vom »Kapselbahnhof« zu einem gewaltigen Hohlraum, in dem nur ein einziges Objekt lagerte. Seit wie langer Zeit schon? Cloud kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, speziell über den Umstand, dass das irdische Sonnensystem dermaßen viele Relikte einer außerirdischen Spezies beherbergte. Nicht nur auf Mars und Erde, auch hier an seiner äußersten Grenze, fast schon auf halber Strecke zum nächsten Fixstern... »Ein Schiff«, flüsterte er beeindruckt. »Ein Raumschiff!« Sobek bediente einige Sensoren an seiner Rüstung. Im nächsten Moment erwachte der zunächst tot anmutende Koloss zum Leben. An der unteren linken Flanke des rautenförmigen Gebildes, das aus ähnlichem Stahl wie SESHA zu bestehen schien, aber gänzlich anders gestaltet war, entstand eine Öffnung. Eine Rampe fuhr aus, eine Luke öffnete sich, breit und hoch genug um sowohl Sobek, als auch Cloud, der neben dem Foronen ging, problemlos gleichzeitig passieren zu lassen. Sie erreichten das Cockpit binnen weniger Minuten, und allmählich dämmerte Cloud, was Sobek vorhatte. SESHA war ihm zu wertvoll, durchaus verständlich. »Woher hast du von der Existenz dieses Schiffes gewusst?«, wandte er sich an den Hirten, der bereits in einer speziellen Sitzkonstruktion Platz genommen hatte, die sich seinen Körperumrissen anpasste - genau wie es kurz darauf in einem anderen Sitz geschah, den Cloud wählte. Augenblick wurde das Summen der elektrischen Aktivität lauter. Cloud machte sich nichts vor. Er war beeindruckt. Technik, die nach einer Zeit, die vermutlich in Jahrtausenden, zumindest aber in einigen Jahrhunderten bemessen werden musste, immer noch funktionierte, immer noch auf Anhieb »ansprang«, war ein kleines Wunder.
Dennoch wurde ihm allmählich die Tragweite ihres Vorhabens bewusst. Und sein kurzzeitig
aufgelebter Optimismus schmolz dahin. Mit SESHA hätte er sich einen Erfolg ausgerechnet, mit
diesem namenlosen Schiff hingegen...
Das Aufdröhnen der Triebwerke brachte seinen ganzen Körper zum Kribbeln.
Sekunden später schoss das Raumschiff aus seinem Hangar, und vor Cloud und Sobek entfaltete
sich ein Hologramm, das ein seltenes Bild zeigte: das Rochenschiff im Schatten des Asteroiden.
Erst da wurde ihm endgültig bewusst, in was für eine vergleichbare Nussschale er sich zusammen
mit Sobek begeben hatte.
Im nächsten Moment war für solche Empfindungen kein Raum mehr.
Die »Nussschale« vollführte einen Sprung, der sie über mehr als ein Lichtjahr beförderte - exakt in
den Orbit um den unsichtbaren Planeten.
Das Hologramm zeigte eine Erde, die das bloße Auge nicht wahrzunehmen vermochte. Rein optisch
betrachtet, besaß das Sonnensystem nicht mehr neun Planeten wie in der Zeit, in der Cloud geboren
worden war, sondern lediglich noch sieben. Der Jupiter - der ehemals größte und massereichste -
hatte sich 2041 in ein Portal verwandelt, in ein künstlich geschaffenes wurmlochartiges Gebilde,
das den Invasoren als Abkürzung in den solaren Raum gedient hatte.
Und die Erde war der zweite Planet, der seither fehlte. Nicht wirklich, aber dem Anschein nach.
Cloud - er fühlte sich unbehaglich in dem Raumanzug, den Sobek ihm aufgenötigt hatte, aber er
fügte sich - glaubte längst nicht mehr, dass das Dunkelfeld, das die Erde umschloss, nur
»Versteckgründe« hatte. Und jetzt, in unmittelbarer Reichweite, nutzte er die Gelegenheit, Sobek
nach dessen Meinung zu befragen.
»Woraus besteht dieser Schild? Du willst ihn durchstoßen, also musst du ihn auch analysiert haben.
Die Transportkapseln konnten ihn mühelos >umgehen< - kann dieses Schiff es auch?«
»Dieses Schiff«, wie Cloud ihr Fahrzeug nannte, lag ebenfalls, wie der Hirte erklärt hatte, unter
einem Tarnfeld. Es war anders geartet als SESHAs Schilde, aber offenbar erfüllte es seinen Zweck.
Bislang war noch kein Erinjij-Schiff in die Nahortung gekommen...
»Der Schirm setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen«, sagte Sobek, als Cloud kaum
noch eine Antwort erwartete. »Eine davon hat mit Zeit zu tun - eine Verschiebung der Konstante....
Noch während Sobek sprach, wusste er, woran ihn das erinnerte.
»Die Vakuumkugel im Herzen von Tovah'Zara«, entfuhr es Cloud. »Dort, wo ihr SESHA versteckt
hattet. Täusche ich mich, oder habt ihr mit dort mit Vergleichbarem gearbeitet?«
»Du täuschst dich nicht. Die Foronen experimentierten viel mit der Zeit, wir errangen jedoch nie die
Virtuosität der Keelon.«
»Was fällt dir sonst noch auf?«
»Eine Komponente, die Einfluss auf die Gehirntätigkeit von Lebewesen nehmen kann«, sagte
Sobek. »Sie wirkt anregend. Stimulierend.«
»Intelligenzerhöhend?«
»Unter Umständen...«
Das erklärt vielleicht Ayleas unglaubliche Klugheit. Und ich habe schon Komplexe bekommen.
Cloud dachte an die nur noch 150 Millionen Menschen, die die Erde bevölkerten, wenn er den
Zahlen trauen durfte, die er von Aylea - und auch von Shen Sadako - erhalten hatte. Es gab
wesentlich mehr Menschen über das gesamte Sonnensystem verteilt, aber auf der Erde waren es
angeblich nur noch 150 Millionen.
Die Creme de la Creme?
Die absolute Elite?
Aber wie, auf welchen abgründigen Wegen, war sie über die Jahrhunderte herausgefiltert worden...
Und warum?
Ein Zipfel, dachte er. Ich habe immer noch nicht mehr als einen Zipfel der Wahrheit zu fassen
bekommen.
Gewaltsam musste er sich auf den Grund konzentrieren, dessentwegen sie wirklich gekommen
waren.
Darnok.
Der Dinosaurier unter den Keelon.
Einer, der an den neuen Realitäten zerbrechen musste, wenn sie ihn nicht...
»Schaffst du es, den Schirm zu durchdringen? Mit diesem Schiff?«, wandte er sich in zunehmender
Nervosität an den Hirten.
»Nein.«
»Nein? Warum sind wir dann...?«
»Du bist zu ungeduldig. Warte... Es passiert immer wieder. Ich habe es während deiner
Abwesenheit, deines Aufenthalts auf dem unsichtbaren Planeten, mehrfach beobachtet. Die
Ferntaster von SESHA ermittelten eine immer gleiche Dauer dieses Vorgangs.«
»Welches Vorgangs? Bei allem, was mir heilig ist, Sobek, wenn du nicht gleich...«
»Da! Sieh genau hin!«
Auf dem Holoschirm, der die Umgebung des Rautenschiffs wiedergab, bildete sich plötzlich eine
schattenhafte Kugel ab.
Die Erde!
Eine Simulation - oder eine Wiedergabe mittels unbekannter Ortungsstrahlen?
Cloud wollte es gerade fragen, als sich in den Schatten eine Öffnung bildete, auf die das
»Kameraauge« heranzoomte.
Ein... Fenster.
Cloud spürte, wie ihn die Erregung packte. So ein »Fenster« hatte er schon einmal gesehen – nur
von der anderen Seite. Von der Erdoberfläche aus.
Und im nächsten Augenblick schob sich etwas daraus hervor.
Ein Körper aus Abertonnen Metall. Ein...
Raumschiff der Erinjij!
Es tauchte aus den Schatten hervor, durch eine gezielt im globalen Schild geschaltete Lücke,
beschleunigte und verschwand in den Weiten des Systems.
»Bist du bereit?«
Cloud konnte nichts erwidern, nur nicken. Er wusste jetzt, welchen Weg Sobek gehen wollte.
Schon im nächsten Augenblick stürzte das Foronen-Schiff auf die noch immer offene Lücke im
Erdschild zu.
»Uns bleiben noch zwanzig deiner Sekunden«, erläuterte Sobek. Seine Membran hatte sich
dunkelrot verfärbt und schien irgendwie »dicker« (stärker durchblutet?), als zuvor. Ein bizarrer
Gedanke durchzuckte Cloud bei diesem Anblick: Was wäre geschehen, wenn er mit der Spitze
eines Messers in dieses Körperteil des Hirten gestochen hätte? Wie sah das Blut eines Foronen aus?
Rot wie das eines Menschen, oder...
Das Rautenschiff beschleunigte noch immer und schoss auf den Schlund zu, hinter dem eine fremd
gewordene Erde lag...
und ein Käfig, mit einem Freund, der nur noch eine Hoffnung hatte: sie!
Das Holofeld der Außenübertragung teilte sich plötzlich, zeigte links weiterhin das Fenster und
rechts eine andere, eine Erde, wie Cloud sie vor dem Zeitsprung gekannt hatte: ein blaues Juwel,
das sich vor samtschwarzem Hintergrund drehte!
»Woher...?«
»Es ist eine Aufzeichnung. Sie entspricht dem Planeten, wie er vor langer Zeit von meinem Volk
kartographiert wurde. Ich habe mir gestattet, die Daten anhand der Informationen zu aktualisieren,
die meine Kundschafter mit zurück zu SESHA brachten. Dort... siehst du die Markierung? Dort
liegt die Metrop Washington. Wir werden...«
Das Schiff erreichte die »Schwelle«, die Grenze im Schild, die sie überwinden mussten, um auf die
andere Seite zu gelangen. Aber trotz Sobeks 20-Sekunden-Prognose, die noch nicht überschritten
war, erreichten sie die Erde der Keelon-Master nie...
Das Schiff wurde warnungslos zurückgeschleudert, obwohl das Fenster scheinbar immer noch freigeschaltet war! Wie ein flacher, so geschickt über eine Wasseroberfläche geworfener hüpfender Stein, dass er nicht versinken konnte. Der Versuch, das Fenster im Schattenschirm zu durchdringen, scheiterte und alarmierte darüber hinaus Kräfte, die sich bis dahin im Verborgenen gehalten hatten. Aus Richtung des ebenfalls unsichtbaren Mondes stieß plötzlich ein kleiner Verbandwaffenstarrender Erinjij-Schiffe auf den Foronen-Raumer zu. Sobeks Klauen huschten über ein virtuelles Sensorfeld. »Es war ein Versuch.« Vielleicht wollte er mehr sagen, aber die gebündelte Feuerkraft des Verbandes kam ihm zuvor. Das Schiff bockte wie ein störrisches Tier. Sobeks nächster Kommentar lautete: »Unser Schild kollabiert. Wir steigen aus. Es macht keinen Sinn.« »Wir steigen aus?« Cloud achtete nicht darauf, dass Hysterie seine Stimme verfärbte. Er fühlte sich von Sobek gepackt, während der Holoschirm, der den Weltraum und den feindlichen Verband wiedergab, plötzlich flackerte und schließlich ganz in sich zusammenfiel. Es wurde finster. Und als die Lichtflut durch die Wände brach, war Clouds einziger Gedanke: Verrückt! So kann es doch nicht enden! Sobek hätte sich nie...
...auf ein solches Himmelfahrtskommando eingelassen, wenn er nicht...
Cloud stockte, als er begriff, dass er nicht mehr in dem unter Strahlenfeuer verglühenden Foronen-
Schiff war, sondern im freien Weltraum trieb.
Neben Sobek.
Die Rüstung!, schoss es ihm durch den Sinn. Er hat uns in letzter Sekunde mit seiner Rüstung
teleportiert.
Aber die Reichweite war wenig erfreulich.
»Und nun?«, fragte Cloud.
Keine Reaktion...
Doch kurz darauf löste sich ein Schatten aus dem Dunkel.
Etwas näherte sich, wurde riesengroß und nahm vertraute Kontur an. SESHA!
Noch nie hatte sich Cloud so glücklich gefühlt, den Rochen zu sehen. Noch nie. Und dann sprang
Sobek erneut.
Er hatte SESHA gerufen, und das Schiff hatte sie geborgen.
Wenig später nahm es Fahrt auf und hielt auf die Oortsche Wolke zu.
Ein kritischer Moment. Allem Anschein nach wollte Sobek das Sonnensystem endgültig verlassen.
Aber die waffenstarrenden Festungen, die von den Erinjij zwischenzeitlich auf Hunderten, vielleicht
Tausenden Asteroiden errichtet worden waren, stellten eine auch für SESHA nicht zu
unterschätzende Gefahr dar...
Die Holosäule zeigte eine plötzliche Lichtflut inmitten der Wolkenschale. Eine verheerende
Explosion.
»Wie ich sagte. Sie erwartet eine unangenehme Überraschung, wenn sie Ayleas entferntem Hirnteil
folgen«, dröhnte Sobeks Membran.
»Du hast...?« Kopfschüttelnd wandte sich Cloud an ihn.
»Ich habe die dortige Station meines Volkes gesprengt, ja - eigentlich ein Entgegenkommen an die
Erinjij, denn sie haben offenbar begonnen, selbst nach Foronen-Stationen zu suchen, um sie
unschädlich zu machen... und ohne zu wissen, dass es Foronen-Stationen sind.«
Entgegenkommen bedeutete für Sobek ganz offensichtlich das Gleiche wie Gefallen.
SESHA jedenfalls hielt genau auf den Ort der Explosion zu, die wahrscheinlich etliche
Menschenleben gefordert hatte- die Besatzungen von Erinjij-Schiffen, die auf die Jagd nach
SESHA geschickt wurden.
Im nächsten Augenblick blitzte es an Dutzenden weiteren Stellen der Wolkenschale auf.
»Was...?«, entfuhr es daraufhin Scobee, die sich bislang schweigsam verhalten hatte.
»Es wird sie eine Zeitlang beschäftigen«, erklärte Sobek lapidar. »Mehr als das.«
Dann durchstieß SESHA eine der gesprengten Lücken in der gigantischen Verteidigungsschale und
stieß in den freien, interstellaren Raum vor.
Ohne Darnok.
Ohne den Freund, für den es damit keine Hoffnung mehr gab...
SESHA beschleunigte mit Werten, wie Cloud sie als Kommandant dieses Fabelschiffes nie auch
nur annähernd erreicht hatte.
Sobek hatte ihn, Scobee, Jelto, Aylea und selbst Jarvis nach Verlassen des Solaren Systems aus der
Zentrale verbannt.
Stunden verstrichen, erfüllt von meist düsterem Schweigen.
Selbst Jarvis, der Darnok sooft verwünscht hatte, war deprimiert.
Irgendwann sagte er: »Ich habe es dir noch nicht gesagt. Es ergab sich noch keine Gelegenheit.
Aber du solltest mit Sobek sprechen und ihn um Erlaubnis fragen. Er wird sie dir bestimmt nicht
verwehren. Nicht nach dem, was er beinahe für uns getan hätte.«
»Wovon redest du?«, fragte Cloud. Jarvis sagte es ihm.
Und Cloud fühlte, wie die alte Wunde aus Kindheitstagen wieder aufbrach, als wäre sie nie wirklich
verheilt...
Jarvis führte ihn zu dem Ort, an dem sie sich stapelten. Dutzende, Hunderte von Blöcken, in denen
Menschen die Zeit überdauert hatten. Bei lebendigem Leib, aber zugleich auch lebendig begraben.
Cloud blieb stehen. Plötzlich wurden ihm die Knie weich, drohten seine Beine ihm den Dienst zu
versagen.
Das absonderliche Geschöpf, an das er bereit war, sich zu gewöhnen, dass ihm aber immer noch so
viel Toleranz abverlangte, sagte: »Wir können es auch verschieben. Ich verstehe, wenn es dir
Probleme bereitet, ihm gegenüberzutreten.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich selbst Mut zuzusprechen. »Nein. Es geht
schon... Du hast gesagt, seine Augen seien offen? Er hätte dich... angestarrt?«
»Ich weiß wirklich nicht, ob es klug ist...«
»Weiter! Bring mich zu ihm. Bitte. Ich kann jetzt nicht umkehren.«
Jarvis schien es zu verstehen, denn er setzte den Weg fort, vorbei an Menschen unterschiedlichster
Epochen.
Cloud erinnerte sich, was Sobek ihm gesagt hatte, als er ihn nach den konservierten Chinesen aus
der Zeit der Han-Dynastie befragt hatte, denen er auf dem Grund des Erdozeans begegnet war.
Proben. Stichproben, hatte er sie genannt. Vor rund zweitausend Jahren waren Menschen von der
Erde in die Gewalt von Foronen geraten und von diesen wie Insekten behandelt worden. »Haltbar«
gemacht für die Nachwelt. Aber warum? Und warum war Vergleichbares auf dem Mars geschehen?
Für wen waren diese Proben angefertigt worden, und zu welchem Zweck?
Zweitausend Jahre.
Cloud wusste wenig über den Plan der Foronen, aber eines war sicher: SESHA war länger im
Kubus versteckt gewesen als zwei Jahrtausende. Viel, viel länger.
Würde er jemals exaktes Wissen darüber erhalten? Über den Kubus? Über die Stationen auf Mars
und Erde? Über den Sinn des Ganzen?
»Weiter«, bat Cloud, als Jarvis langsamer wurde. »Weiter...«
Da blieb der quecksilbrige Humanoide mit der ölig schwarzen Haut plötzlich vor einem der Blöcke
stehen und winkte Cloud zu sich.
Wortlos.
Denn es bedurfte keiner Worte. Da lag er.
Während John Clouds Puls von einem Schlag auf den nächsten sein Tempo verdoppelte, während ihm Hitze ins Gesicht schoss und die Innenflächen seiner Hände feucht wurden, blickte er auf den Mann, der ihm in einer Weise ähnlich sah, dass ihm ganz flau im Magen wurde. Er konnte gar nicht anders, als gedanklich in die Position dieses Mannes zu wechseln, plötzlich selbst eingeschlossen wie in Bernstein da zu liegen und seit einer kleinen Ewigkeit nur zu starren - immer geradeaus zu starren, unfähig, in die Dunkelheit geschlossener Lider zu flüchten. Er kann nicht wach, kann nicht bei Bewusstsein sein!, wisperte es in Cloud. Vor ihm lag ein Toter. Eine unbekannte Automatik hatte Nathan Cloud, seinen Vater, getötet und dann in einen dieser Blöcke eingeschlossen. Das alles, ringsum, waren Tote. Proben. Proben, hatte Sobek sie genannt. Er merkte erst, dass er die Arme ausgestreckt hatte, als seine Hände die Substanz berührten, in der sein Vater ruhte. Sein Gesicht war entspannt. Wenigstens schien er keine Qualen erlitten zu haben, bevor... »Du darfst dir nichts vormachen«, sagte Jarvis - das Jarvis-Ding! »Du wolltest hierher kommen, du wolltest damit konfrontiert werden - jetzt stell dich ihm auch. Er lebt. Ich wusste es schon beim ersten Mal, als Resnick und ich ihn fanden. Und ich weiß es jetzt noch sicherer. Mein Körper verrät es mir. Ich kann das Leben fühlen, das darin schläft. Und noch mehr. Ich sehe, dass er wach ist. Dass er uns wahrnimmt. Er ist...« »Schluss! Halt die Klappe! Ich will nicht, dass du...« Cloud verstummte voller Scham. »Okay, das wollte ich nicht.« Er zog seine Linke von dem Block zurück und berührte stattdessen Jarvis, der sich genauso kühl, genauso kalt und hart anfühlte. »Ich entschuldige mich.« »Das ist nicht nötig. Ich glaube, ich verstehe sehr gut.« Cloud wandte sich wieder dem Mann zu, der sein Vater war. Der ihn anstarrte. Und sah. Aber er kann unmöglich begreifen, wer vor ihm steht. Wer zu ihm hineinstarrt. Unmöglich... »Du bist dir ganz sicher?« »Ich bin mir ganz sicher«, bekräftigte Jarvis. Niemand sonst war bei ihnen - abgesehen von all den anderen Opfern der Foronen, die Nathan Clouds Schicksal teilten. »Wolinow, Oyama und Jeunet müssen hier auch irgendwo stecken...« Sie hatten Mission I gemeinsam mit Nathan Cloud bestritten. Mission I, die in einem vollkommenen Desaster geendet und damit letztlich Mission II initiiert hatte. Vater und Sohn begegnen sich nach - aus meiner Warte - gefühlten zwei Dutzend Jahren... und aus seiner Sicht - falls er denn wirklich all die Zeit wach war, was unvorstellbar ist - nach mehr als zwei Jahrhunderten! Der Sohn erkennt den Vater, der kaum älter als er selbst ist... aber der Vater kann nicht wissen, wer vor ihm steht. Ich bin ein Fremder für ihn. Vielleicht hält er mich sogar für jemanden, der ihm Böses will. Jarvis an meiner Seite wirkt gewiss nicht vertrauensbildend... »Ich werde mit Sobek sprechen«, beschloss John Cloud laut denkend. »Ich muss mit ihm sprechen! Wenn jemand diese Dinger öffnen kann, ohne dass den darin Befindlichen Schaden erwächst, dann er. Verdammt, wer, wenn nicht der, der dieses Verfahren erfunden hat, könnte es perfekt genug beherrschen, um meinen Vater wieder ins Leben... ins wirkliche Leben zurückzuholen?« Eine Weile herrschte Schweigen. Dann drang die künstlich modulierte Stimme aus Jarvis neuem Körper und sagte: »Überleg dir das gut.« »Überlegen? Was gibt es da zu überlegen?« »Ich sehe nicht mehr wie früher. Meine Sinne haben sich gewandelt. Es führte zu weit, es dir beschreiben zu wollen. Aber auf dem Mars, als ich mit Resnick vor deinem Vater stand... nun... du kannst noch auf die Weise sehen, wie ich damals sah. Nutze es. Tu, was ich tat! Beug dich vor, geh ganz nah an sein Gesicht und... und sag mir, was du siehst.« Die Tatsache, dass er Jarvis noch niemals so hatte stammeln hören, bewog Cloud dazu, dem Rat zu folgen. Er hatte das Gefühl, mit dem Gesicht gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen zu müssen, aber schließlich war er so nah wie möglich vor dem Antlitz seines Vater, das leicht verschwommen wirkte, wie unter hellem Eis. Sekunden, Minuten verstrichen. Zeit, in der sich etwas wie ein Knoten in seinem Magen
zusammenzog.
Und als er sich schließlich wieder schwerfällig aufrichtete, so mühsam, als lägen Zentnergewichte
auf seinen Schultern, hatte er begriffen, worauf Jarvis hinauswollte.
Wovor er ihn gewarnt hatte.
»Ich hätte es selbst wissen müssen«, flüsterte er. »All die Jahre...«
All die Jahre in vollkommener Starre. Aber wach.
Mit offenen Augen.
Nathan Cloud mochte geschlafen haben - irgendwann gewöhnte sich das Bewusstsein gewiss daran
und war ein Mensch so übermüdet, dass er einschlafen musste, ganz gleich, ob die Lider
geschlossen waren oder nicht.
Aber wenn Nathan Cloud erwachte, war er immer noch dort gewesen, wo er jetzt war.
Hatte er sich immer noch nicht bewegen können und immer auf dieselbe Umgebung starren
müssen.
Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte.
Wach, aber hilflos, gefangen in ständig kreisenden Gedanken, Erinnerungen, und erschüttert von
enttäuschten Hoffnungen, zerfressen von Selbstvorwürfen und Schuldzuweisungen...
»Ich verstehe«, murmelte Cloud. Dann wandte er sich ab und ging langsam den Weg zurück, den er
gekommen war.
Genau wie Jarvis, als dieser noch Augen besessen hatte, lebendige Augen, hatte er den Ausdruck im
Blick seines Vaters bemerkt - und verstanden.
Es schnürte ihm die Kehle zu, aber er war sich sicher, sich nicht geirrt zu haben. Zumal es nur
logisch war.
O Dad...
Er wünschte, er hätte es ändern und die Zeit zurückdrehen können. So aber würde ein Erwecken
und Befreien seines Vaters nur ein typischer Gefallen des Hirten Sobek werden.
Einer mit einem ganz bitteren Beigeschmack.
Denn der Nathan Cloud, der dort in einem der Blöcke lag, am Sterben ebenso gehindert wie am
Leben, war nicht mehr der Nathan Cloud, der sich von seiner Familie verabschiedet und zum Mars
geflogen war.
Jener Nathan Cloud, den er gerade verlassen hatte, würde ihn vermutlich nicht einmal erkennen,
wenn man ihm sagte, dass sein Sohn nach so vielen Jahren vor ihm stand.
Das irre Glitzern in den Augen des Gefangenen sprach Bände...
Boreguir blickte sich um.
Der Mensch namens John Cloud war gegangen. Er war alleine im Raum, im Leib eines riesigen
Gebildes, das »Raumschiff« genannt wurde.
Bureguir mochte dieses Raumschiff nicht. Die Atemluft roch schlecht und schmeckte schal. Alles,
was er um sich hörte und sah, erregte seinen Unwillen. Es war widerwärtig. Instinktiv fuhren seine
Stacheln eine Handbreit aus dem ledernen Rückenpanzer.
Was hatte er hier zu suchen? Warum hatten ihn die mächtigen Besitzer dieser Räumlichkeiten nicht
schon längst getötet?
Er war seinem Ziel, das er mit jeder Faser seines Körpers anstrebte, um keinen Deut näher
gekommen.
Boreguir hatte nach Hause gewollt, zurück auf die Heimatwelt Saskana. Stattdessen saß er in dem
Raumschiff fest und spürte dessen ungeheure, nicht eindeutig identifizierbare Präsenz.
Es gab nur eine Möglichkeit, dem bedrückenden Gefühl, das sich um Leib und Seele gelegt hatte,
zu entkommen. Er musste einen Platz zur inneren Einkehr finden.
Dazu musste er zum Vergessenen werden.
Boreguir setzte sich und atmete tief ein. Mein Körper ist leicht, dachte er. Leichter als Luft, leichter
als ein Gedanke, leichter als Licht. Er schloss die Augen und bannte das Bild des Raumschiffes aus
seinem Bewusstsein. Ich bin alleine. Nichts ist um mich. Nichts ist wirklich. Weil ich alleine bin,
sehe ich nichts. Weil ich nichts sehe, kann mich niemand sehen. Niemand kann mich hören, riechen, ertasten oder schmecken. Ich bin nicht da; die Beine, die sich bewegen, existieren nicht. Die Hände, die ich ausstrecke, existieren nicht. Der Kopf, mit dem ich denke, existiert nicht. Ich habe vergessen. Ich bin vergessen. Boreguir erhob sich. Er ging auf das nächste Tor zu und flüsterte heiser: »Ich bin nichts und
niemand. Ich bin ein Schatten, ein Hauch, ein flüchtiger Gedanke. Öffne dich.«
Das Schott fuhr auseinander.
Boreguir trat hindurch und wanderte davon, tiefer ins Innere des Schiffes, ätherisch leicht, vorbei an
Sobek, der ihn nicht sah.
Niemand sah ihn; niemand, nicht einmal SESHA, konnte seine Existenz erspüren.
Boreguir war zum Vergessenen geworden.
Sein Zeitempfinden war gestört. Ausgerechnet sein Zeitempfinden!
Dräuende Schatten vernebelten seinen Verstand. Der Käfig erstickte ihn zusehends. Er war sicher,
sein Magoo - die Fähigkeit, eins zu werden mit dem Strom der Zeit und so selbstverständlich auf
ihm zu schwimmen, wie er atmete, wie er aß und trank - für immer verloren zu haben. Der Käfig
hatte ihm alles genommen. Auf Arabims Befehl hin.
Arabim.
Der Herr der Herren.
Der vermeintlich väterliche Freund und Zeesta, der sich als Ungeheuer entpuppt hatte - als Keeton
ohne Würde, ohne Kodex, ohne Ehre!
Aber da war immer noch ein Funke in Darnok, schwelte immer noch ein winziges Feuer, das ihm
die Kraft gab, sich nicht völlig aufzugeben. Noch nicht jedenfalls.
Denn er wollte es erleben.
Wollte Arabims Entsetzen sehen, wenn...
Darnok atmete tief und entsagungsvoll durch die Poren seiner Haut ein - und ebenso
leidenschaftlich wieder aus.
wenn Algorian das Geschenk öffnete, das er ihm zum Abschied überlassen hatte.
Einst, vor einer schieren Ewigkeit, nahe Crysral, nahe der Hauptwelt der Vereinigten Feinde der
Erde...
Epilog Als Sobek sie in die Zentrale befahl, wusste niemand, was sie dort erwarten würde. Alles war
möglich.
Doch das, das sie dort erwartete, verblüffte die, die es kannten, ebenso wie die, die es noch nie
vorher gesehen hatten.
Eine Wand füllte das Zentrale-Hologramm aus. Füllte die komplette Bildsäule.
Eine Wand aus Wasser.
»Wir sind am vorläufigen Ziel unserer Reise«, erklärte Sobek, umringt von den Geistern der
anderen Hirten. »Nur noch eine kleine Etappe...« Er gebot Cloud und den anderen, näher zu treten.
»Ich war mir sicher, es würde euch interessieren.«
»Tovah'Zara...«, flüsterte Scobee fast andächtig. »Das ist doch der Kubus - oder?«
»Er ist es.«
Wenig später durchstieß SESHA die unsichtbare Wand, die das Wasser bändigte, es in Form hielt
und vor der Kälte des Alls, vor dem Gefrieren, schützte.
Schneller als jemals zuvor - schneller noch als während ihrer Flucht aus dem Kubus - durchpflügte
der Rochen das flüssige Lebensmedium der Vaaren, Luuren, Heukonen und zahlreicher namenloser,
unbekannter Spezies, die im Kubus angesiedelt waren. Die bizarrsten, skurrilsten Formen und
Konstruktionen huschten an SESHA vorbei, aber nirgends gab es ein Hindernis oder auch nur
Anlass für eine Verzögerung.
Binnen kürzester Frist erreichte das Schiff der Foronen den Mittelpunkt des Würfels.
Den Ort, den die Vaaren die »Ewige Stätte« nannten.
Eine vakuumleere Hohlkugel von einer Lichtsekunde Durchmesser, aus einem karmesinroten
Energiegeflecht bestehend. Es wies riesige Lücken auf, durch die aber kein Wasser Zugang ins
Innere fand.
SESHA hingegen schlüpfte so selbstverständlich durch die Maschen, wie Cloud es schon einmal
erlebt hatte.
»Wir sind da«, sagte Sobek, als sie zum Mittelpunkt der Kugelsphäre vorgedrungen waren und die
Bildsäule nichts als leere Weite ins Innere von SESHA trug.
Ein ungeheuerlicher Verdacht keimte plötzlich Cloud. Sofort wandte er sich an Sobek. »Du willst
doch nicht etwa das Schiff erneut einmotten? Mit uns allen darin?«
Sobek lachte auf.
War es ein Lachen?
Es klang jedenfalls schaurig.
»Lass uns beginnen«, verlangte der Chor der Holo-Hirten.
»Kontakt ist hergestellt. Es ist alles vorbereitet. Wir können beginnen«, meldete sich erstmals seit
langer Zeit die Stimme der KI.
»Ich wusste immer, dass wir uns auf
Taurt verlassen können«, sagte Sobek. Taurt?, dachte Cloud. Wer ist Taurt. Beginne!«
In Sobeks Ruf hinein spürte Cloud plötzlich, wie sein Körper sich aufzulösen schien. Wie jedes
Molekül, jedes Atom eine Idee weit verschoben wurde...
Aber das war nur eine unmaßgebliche Begleiterscheinung des wahren Effekts, der ihn und Scobee
und alles andere Leben an Bord der RUBIKON II nicht betraf.
Sondern...
Sekunden nachdem das sonderbare Gefühl gewichen war, rief Aylea plötzlich: »Ach du grüne
Neune!«
Und als Cloud ihrem ausgestreckten Arm folgte, sah auch er, sahen alle, was sich verändert hatte.
Ein Defekt in der Bildsäule. »Sobek...«, flüsterte Cloud.
Der Hirte stand ganz nahe. Sein Gesicht war starr wie stets, und doch meinte Cloud in dieser
Sekunde ein Lächeln darauf zu sehen. Ein stolzes, zufriedenes, absolut glückliches Lächeln.
»Es ist wahr«, sagte Forone. »Es ist wahr.«
Cloud schüttelte nur den Kopf. Scobee tauchte neben ihm auf.
»O mein Gott!«, flüsterte sie.
Es ist wahr.
Die Worte wollten nicht verhallen.
Und während Clouds Blick nicht lassen konnte von dem Bild, das die Säule zeigte, dämmerte ihm
ganz allmählich, dass es wirklich wahr war - und dass er soeben erfahren hatte, wofür diese riesige,
ehemals leere Kugel eigentlich gebaut worden war.
Rings um die RUBIKON II trieben Dutzende identisch aussehender Schiffe, Dutzende SESHAs.
Eine ganze Flotte von Giganten.
»O mein Gott!«, wiederholte Cloud Scobees Worte.
Ohne auch nur zu ahnen, was da auf sie zukam...
ENDE Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne. Wo gute Unterhaltung zu Hause ist. Sie finden uns im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich.