Ross Morgan, Meteorologe auf dem bemannten Wettersatelliten »Boreas«, hat von Anfang an einen schweren Stand. Seine Vor...
13 downloads
569 Views
797KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Ross Morgan, Meteorologe auf dem bemannten Wettersatelliten »Boreas«, hat von Anfang an einen schweren Stand. Seine Vorgesetzten verlangen von ihm, Mitarbeiter zu bespitzeln. Als er sich weigert, droht man ihm mit Repressalien. Morgan hat inzwischen auf Umwegen erfahren, daß seine Vorgesetzte, die Kommandantin des Wettersatelliten, eine Militärangehörige ist, denen der Aufenthalt im Weltraum untersagt ist. Die Anweisungen der Kommandantin werden immer befremdlicher. Die Stimmung an Bord des Satelliten ist zum Zerreißen gespannt. Es kommt zu Auseinandersetzungen, die im Grunde der Auftakt zu gefährlichen militärischen Aktionen sind. Nur durch das Eingreifen einer äußeren Macht kann globales Unheil abgewendet werden.
In der Reihe der Ullstein Bücher: SCIENCE-FICTION-STORIES 43 (Ullstein Buch 3096) Erzählungen von Eric Frank Russell, John W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 44 (Ullstein Buch 3102) Erzählungen von Kris Neville, J. T. McIntosh, Larry Niven SCIENCE-FICTION-STORIES 45 (Ullstein Buch 3109) Erzählungen von Robert Bloch, Robert U. Chambers, Isaac Asimov, Clifford D. Simak, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 46 (Ullstein Buch 3118) Erzählungen von Cordwayner Smith, Eric Frank Russell, H. Beam Piper, Gregory Benford SCIENCE-FICTION-STORIES 47 (Ullstein Buch 3130) Erzählungen von Eric Frank Russell, John. W. Campbell, Arthur Conan Doyle, Arthur C. Clarke SCIENCE-FICTION-STORIES 48 (Ullstein Buch 3139) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings SCIENCE-FICTION-STORIES 49 (Ullstein Buch 3148) Erzählungen von Larry Niven, Gerald Jonas, Theodore Sturgeon, Ron Goulart, Arthur Sellings
Ullstein Buch Nr. 3154 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: STORMTRACK Aus dem Amerikanischen von Helmut Axmann
Umschlagillustration: Dell Copyright © 1974 by James E. Sutherland Übersetzung © 1975 by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03154 4
James Sutherland
Signale aus dem Kosmos SCIENCE-FICTION-Roman
Herausgegeben von Walter Spiegl
ein Ullstein Buch
Für Dr. Robin Scott Wilson und Leslie Kay Swigart
1 Die Stadt waberte förmlich in der Morgenhitze. Er sah es, als er aus der Einwegbahn stieg. Hitzeschwaden stiegen von dem staubigen Pflaster hoch und ließen die Gebäude in der Sonne zittern wie eine Herde erschöpfter, hechelnder Tiere. Der Anblick des alles überragenden Regierungsgebäudes erinnerte Ross an den Zweck seines Hierseins. Er hatte keine Wahl; einmal wöchentlich mußte er sich bei ihnen melden. Es ist dasselbe wie Strafaussetzung auf Bewährung, dachte Ross. Nur – ich bin doch kein Verbrecher. Oder? Er warf einen Blick auf seine Uhr. Noch zwei Minuten. Er war wie gewöhnlich in Eile, die festgesetzte »Besprechung« mit dem Computer nicht zu verpassen, denn das hätte peinliche Folgen gehabt. Während er sich durch die Menschenmenge vor dem Haupteingang kämpfte, fragte er sich, was geschehen würde, wenn er den Termin einfach einmal ausfallen ließe oder die Bahn Verspätung hätte. Aber er kannte die Antwort. Er wäre sofort seine Stellung los. Oder, besser gesagt, seine Arbeitslosigkeit. Ich mache lieber weiter, sagte er zu sich selbst.
Der Wetterdienst war in einigen Büros im Erdgeschoß des Gebäudes untergebracht. Ross begab sich ins Personalbüro und blickte sich um. Die Szene war ihm wohlvertraut. Scharen hoffnungsvoller Arbeitsuchender lungerten an den Wänden des Büros. Abgewiesene Bewerber standen mit mürrischer Miene mitten im Raum. Beide Gruppen warfen Ross argwöhnische Blicke zu, als er sich vordrängte und vor dem Pult der Hauptsekretärin stehenblieb. Ross wußte, was sie dachten: Was ist denn an dem Besonderes dran, daß er sich nicht wie wir anzustellen braucht? Ross hätte es ihnen gern gesagt. An ihm war gar nichts Besonderes dran. Die Hauptsekretärin war ein junges hübsches Mädchen, das die Identitätskarte von Ross entgegennahm und einen Vermerk darauf anbrachte, daß er seinen Termin eingehalten habe. Während sie die Karte in der einen Hand hielt, ging sie mit der anderen eine Liste neuer Stellungsangebote durch. Gegen seinen Willen fühlte Ross, wie sein Herz schneller schlug. Er sagte sich selbst, wie lächerlich seine Aufregung war. Schließlich lautete die Antwort jedesmal gleich: Nichts. Warum sollte sich diese Woche und dieser Tag von den vorhergegangenen zwei Dutzend Wochen und Tagen unterscheiden? Es gab keinen Grund dafür; und doch begann er aufgeregt
zu zittern, als das Mädchen hinter dem Schreibtisch die Liste hinlegte und aufblickte. »Bedaure, Mr. Moran«, sagte sie. »In der Liste für Stellenangebote gibt es nichts Neues.« Sie reichte ihm die Karte zurück und schenkte ihm einen Blick berufsmäßigen Mitgefühls. »Würden Sie das bitte noch einmal überprüfen?« stieß er hervor und hoffte, daß ihm seine plötzliche Verzweiflung nicht allzu deutlich anzumerken war. »Gewiß«, sagte sie und führte die Karte in einen Tischcomputer ein, der direkt mit dem Hauptquartier des Wetterdienstes in Washington verbunden war. Es bestand immer noch die kleine Chance, daß der Wetterdienst für ihn eine Beschäftigung gefunden hatte und die Liste unvollständig war. Ross bemerkte, daß die Sekretärin seine Gesichtszüge intensiv betrachtete. »Moran ... Moran ...« flüsterte sie leise vor sich hin, als ob sie der Name an etwas erinnerte. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Natürlich! Vor zwei Jahren hatte ich mit jemand namens Moran zu tun. Sie sehen ihm sehr ähnlich, müssen Sie wissen – dieselbe Größe, dasselbe dunkle Haar, dieselben Augen. Er war auch beim Wetterdienst – als Pilot.« »Erinnern Sie sich an seinen Namen?« »Hm. Sam«, sagte das Mädchen nach einem Augenblick der Überlegung. »Sam Moran. Sind Sie irgendwie mit ihm verwandt?«
»Ja. Er war mein Bruder.« »War?« fragte das Mädchen neugierig. »Sam starb im vorigen Juli bei Guam.« »Oh, das tut mir leid. Ich wußte nichts davon«, sagte sie verlegen. Der Computer begann jetzt, eine Liste auszudrucken: WETTERDIENST DER VEREINIGTEN STAATEN Washington, District Columbia Ross' Blick glitt über die Aktennummer, seine Adresse in Los Angeles und das Datum des Eintritts seines zweiundzwanzigsten Geburtstags. Zum Teufel! Alles war beim alten. Er las: Bewerbungsstand: Angestellt Entlohnung: Unterstützung Beschäftigungsstand: In Reserve Ross seufzte enttäuscht, bedankte sich für die Überprüfung und verließ den Raum. Sekunden später stand er auf der Straße. Mit einem plötzlichen Gefühl von Neid betrachtete er die vorüberhastenden Passanten. All die Leute hatten eine bestimmte Eigenschaft, die Ross auch zu besitzen wünschte. Alle wissen, was sie sind und wohin sie gehen, dachte er. Sie treiben nicht nur einfach dahin.
Er setzte sich in Bewegung, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Nachdem die einzige Verpflichtung, der er allwöchentlich nachkommen mußte, erledigt war, blieb die übrige Zeit völlig zu seiner Verfügung. In der Nähe des Eingangs zum Bahnhof sprach ihn ein hohläugiges Mädchen im Teenageralter an und bettelte um Geld. Wortlos händigte ihr Ross seine letzte Dollarnote aus, und sie verschwand wieder in der Menge. Er bestieg die Einwegbahn nach San Fernando Valley. Das Wageninnere war alt, staubig und gerammelt voll mit erschöpften Angestellten, die die Nachtschicht hinter sich hatten und nach Hause strebten. Es gab keine Sitzplätze mehr, und die Zeit reichte gerade aus, um sich an der Stange einen Halt zu verschaffen, ehe der Zug anfuhr. Ross hatte keinen Blick für die müden Gesichter und den Schmutz um ihn herum. Seine Gedanken umkreisten die Szene im Büro des Wetterdienstes, die sich klar und scharf immer wieder vor seinem inneren Auge abspielte. »Bedaure, Mr. Morgan. In der Liste für Stellenangebote gibt es nichts Neues.« »Würden Sie das bitte noch einmal überprüfen?« »Gewiß.« Gewiß, alles war einfach, wenn man eine Dauerstellung, ein eigenes Nest und Freiheit besaß. Aber al-
les wurde zum Problem, wenn man mit dem Vermerk Reserve gebrandmarkt war und bei Verwandten wohnte, die einen nur deshalb duldeten, weil sie das Kostgeld und die Zimmermiete für ihre eigenen Kinder brauchen konnten. Das Gefühl der Trostlosigkeit wollte Ross auch nicht verlassen, als sich der Zug durch die Hügel Hollywoods hinabwand und schließlich durch die Täler des flachen Landes brauste. Die erste Station näherte sich, und Ross merkte, daß er weder Kraft noch Lust hatte, nach Hause zurückzukehren. Er konnte das enge Haus mit der schreienden Kinderschar und den grämlichen, feindseligen Eltern jetzt nicht ertragen. Nur raus hier, dachte er. Irgendwo im Grünen ein stilles Plätzchen suchen, wo man sich hinsetzen und nachdenken konnte. Es dauerte einige Minuten, bis er sich zum Ausgang durchgezwängt hatte. Dann stand er vor dem Aufzug, der ihn zur ebenen Erde hinunterbringen sollte. Irgend etwas bewog ihn, an den Rand der Plattform zu treten. An das Geländer gelehnt, blickte er über die riesige Stadt, die das San Fernando Valley von einer Seite bis zur anderen lückenlos ausfüllte. Schwaden gelblichen Dunstes bedeckten weite Gebiete, aber hier und dort glänzten Türme durch den
Smog und stießen zum Himmel empor wie riesige Metallfinger, die das Licht der Oktobersonne suchten. Ein Hubschrauber schickte sich zur Landung auf dem Dach eines der Bürogebäude an. Gegen seinen Willen begann Ross, nach den Häusern, Straßen, Parks und Geschäften auszuschauen, in deren Nachbarschaft er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Da drüben war die Schule, die er mit seinem Bruder zusammen besucht hatte. In der Nähe mußte das Haus sein – oder war der ganze Block abgerissen worden? Das spielte jetzt alles keine Rolle mehr. Ein riesiger Ameisenhaufen, dachte er verzweifelt. Und es geht endlos weiter und weiter und weiter ... »'tschuldigung, mein Junge«, brummte ein stämmiger Arbeiter, der ihn angerempelt hatte. Die Worte rissen ihn aus seinen Träumereien. Er wußte plötzlich, wo das Plätzchen war, das er suchte, und eilte zum Bus. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen trug die Gegend, die er aufsuchte, den Namen »Farntal«, obwohl dort keine Farne wuchsen und das Tal nicht mehr war als eine kleine Einbuchtung in den Hügeln. Die Sonne, die täglich auf den Friedhof niederbrannte, das Gras austrocknete und die Grabsteine
wärmte, hatte den Zenit bereits überschritten. Ross fühlte, wie seine Finger bei der Berührung des glatten Marmors, aus dem der Grabstein seines Bruders bestand, zitterte. Seine Augen wanderten über den Stein und blieben bei der frisch eingravierten Inschrift hängen: Samuel W. Moran 1971–1995 Er lehnte sich gegen den Stamm einer kühlen Schatten spendenden Ulme. Ja, dies hier war ein friedliches Fleckchen, das ihm vertraut war und ihn nahezu anheimelte. Alle paar Wochen kam er mit dem Bus hierher, manchmal, um dem Smog und der Hitze zu entgehen, manchmal auch, um der Enge seines Zimmers zu entfliehen. Er setzte sich neben eine knorrige Wurzel. Ach, Sammy, das war nun schon das vierte Mal in diesem Monat, daß ich in dieses verdammte Büro gepilgert bin, dachte Ross. Was soll ich nur tun? Eine Brise bewegte das dürre Gras. Diese Reservestellung macht mich noch ganz fertig, Sammy. Und es gibt keinen Ausweg. Ich hätte diesen Vertrag nie unterzeichnen dürfen. Ross lächelte traurig. Sammy war es gewesen, der
ihm bei seinem Schulabgang vor fünf Monaten abgeraten hatte, den Kontrakt mit dem Wetterdienst zu unterzeichnen, und hatte ihm von seinen eigenen Erfahrungen mit dem Dienst berichtet. Sammy konnte nicht wissen, daß von den hundert Mitschülern aus Ross' Klasse nur ein rundes Dutzend Arbeitsangebote erhalten hatte. Anscheinend waren Meteorologen nicht gefragt. Man stürzte sich entweder auf das erstbeste Angebot, oder man mußte jahrelanges Warten in Kauf nehmen. Ross wollte nicht warten. Er unterschrieb. Der Wetterdienst gab ihm viele schöne Worte, ein Mindestgehalt und stellte ihn in Reserve. Inzwischen war fast ein halbes Jahr verstrichen. Die Stille, die ihn umgab, ließ seine Gedanken abschweifen. Er starrte auf den neuen Grabstein und fragte sich, wie er es schon oft getan hatte: Wie war das Ende, Sammy? Er kannte nur die oberflächlichsten Details. Der Wetterdienst hatte wissen wollen, ob ein fürchterlicher Taifun im Zentralpazifik auch die Insel Guam heimsuchen werde. Sein Bruder war mit einem Spezialflugzeug, ausgerüstet mit Radar und Computer, mitten in den Taifun geflogen. Das Flugzeug war Opfer einer sogenannten »explosiven Dekompression« geworden: Im Auge des Zyklons war der Rumpf zerborsten. Als der Sturm
vorbei war, hatte man seine Leiche gefunden. Das war alles, was Ross darüber wußte; doch die Träume, die ihn immer wieder heimsuchten, waren lebendiger: ein unbeschreiblicher Sturm, der grelle Feuerschein der Explosion und dann der Sturz, ein Sturz, der ewig währte. Als der Bus gegenüber dem Haus anhielt, das seiner Tante und seinem Onkel gehörte, war die Sonne schon im Untergehen begriffen. Die ersten Straßenlaternen flammten auf. Er erwartete, wie üblich von einer Schar tobender und lärmender Kinder empfangen zu werden; schon seit langem hatte seine Tante alle Erziehungsversuche aufgegeben. Die Stille, die im Haus herrschte, beunruhigte ihn. Beklommen fragte er sich, was wohl schiefgelaufen sein mochte. Vielleicht hatte sich eines der Kinder den Arm gebrochen, oder Onkel Herbert war aus seiner Stellung geflogen. Er öffnete die Tür. Tante Louise, die im Vorraum stand und damit beschäftigt war, eine Schale mit billigem Zuckerzeug zu füllen, blickte überrascht auf. »Ach, du bist es. Wo hast du denn gesteckt? Während du weg warst, ist dies hier für dich abgegeben worden.« Sie überreichte ihm ein kleines, stramm verschnürtes Päckchen. Ross hatte einige Mühe, es zu öffnen. »Es ist Sammys Taschenlampe!« Er drehte das fla-
che, zerbeulte Aluminiumding in der Hand und betrachtete die Gravur: S. W. M. Tante Luise nickte. »Der Mann, der es abgegeben hat, sagte, es sei letzte Woche an der Küste von Guam angeschwemmt worden.« Stumm wog er die Lampe in der Hand. Dann steckte er sie in die Jackentasche und folgte seiner Tante in die Küche. Dort saß Onkel Herbert und las in der Zeitung. Ross setzte sich ihm gegenüber, und seine Tante stellte ihm eine Schüssel mit dünner Gemüsesuppe hin. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, daß der Oktober zu Ende ging. Die Regierung rationierte in der Mitte und gegen Ende des Monats jedesmal die Fisch- und Fleischzuteilung. Heute war die Miete fällig. Er wußte es, und sein Onkel schnitt das Thema gleich zu Beginn des Essens an. »Kann ich morgen zahlen?« fragte Ross zögernd. »Meinetwegen. Arbeitest du ab morgen?« »Nein. Ich bin noch als Reserve eingeteilt.« Seine fruchtlosen Gänge zum Wetterdienst schienen seine Verwandten jedesmal zu der gleichen Frage zu veranlassen: Hast du Arbeit? Sein Kopfschütteln pflegte wieder andere Fragen nach sich zu ziehen, Fragen, die oft ätzend und bitter waren. Und das ging immer hin und her mit Frage und Antwort, bis alle beleidigt waren. Ein Funken brachte die Abneigung
zum Glimmen, und ehe sich's alle versehen hatten, war aus der Glut ein hochaufflackerndes Feuer geworden. »Ich werde nie verstehen, wieso ein kräftiger und intelligenter Bursche wie du noch keine Anstellung hat«, hörte er seine Tante sagen. Das Wort Bursche empfand er wie eine Ohrfeige. Er hielt sich mühsam zurück. »Ich bin angestellt«, erklärte er. »Wir haben dieses Thema jetzt schon hundert Mal durchgehechelt, und ich habe keine Lust –« »Aber du arbeitest nicht. Du sagst zwar, du hast eine Anstellung, aber du sitzt die ganze Zeit zu Hause 'rum«, sagte Onkel Herbert und legte die Zeitung auf die Seite. Es war wieder mal soweit. Die Debatte der Woche, dachte Ross. »Der Wetterdienst hat mich als Reserve eingeteilt«, führte er geduldig aus. »Genauso, wie er es mit Dutzenden anderer gemacht hat. Wenn sich eine Arbeitsmöglichkeit ergibt, werde ich berücksichtigt. Das hat mir heute die Sekretärin mitgeteilt.« »Hat sie dir auch mitgeteilt, daß die Regierung keinen Finger rührt?« fragte der Onkel. »Die lassen dich ewig herumhocken. Du solltest einen Vertrag mit einer privaten Firma abschließen, einer Luftfahrtgesellschaft oder so.«
»Aber ich habe doch schon einen Vertrag mit dem Wetterdienst. Er erstreckt sich über einen Zeitraum von fünf Jahren, beginnend mit dem Tag meiner Schulentlassung. Er enthält eine Klausel, die alle Nebenbeschäftigungen ausschließt. Ausschließt! Sieh mal«, fuhr Ross in bittendem Tonfall fort, »laß uns doch das Thema wechseln. Ich zahle meine Miete pünktlich. Was wollt ihr mehr?« Mehr Geld. Ross wußte, daß sich sein Kostgeld erhöhen würde, sobald sein Einkommen gestiegen war. Und er konnte in absehbarer Zeit nicht ausziehen. Das Wohnungskontrollamt hatte für Wohnungen in Südkalifornien eine Wartezeit von neun Monaten festgesetzt. »Ach, Ross«, seufzte Louise, »wir machen uns Sorgen um dein Wohlergehen.« Ross schnaubte spöttisch. Mißmutig setzte Louise ihre Rede fort. »Ich habe deiner Mutter am – am Totenbett versprochen, daß ich für dich und Samuel alles tun wolle, um euch zu anständigen Menschen heranzuziehen –« Die Tante verstummte. Ein peinliches Schweigen trat ein. Der Onkel betrachtete Ross mit einer Miene, die Mißtrauen ausdrückte. »Warst du heute wirklich im Büro des Wetterdienstes? Oder hast du nur angerufen und bist dann herumgestrolcht?« fragte er leise. Er schüttelte den Kopf.
»Ich kenne mich nicht aus mit dir. Immer treibst du dich irgendwo herum. In solchen Augenblicken verliere ich die Hoffnung, daß du dich jemals ändern wirst.« Vielen Dank für das Vertrauen, dachte Ross. Diese Diskussion ist genau das, was der Arzt zur Krönung eines schönen Tages verordnet hat. Ross starrte geradeaus. Seine Wut galt weniger der Tante und dem Onkel als ihm selbst. Hätte er doch seinen Mund gehalten! Der Onkel brabbelte weiter, während Tante Louise das schmutzige Geschirr einsammelte und in die Spülmaschine steckte. Die Türklingel schrillte und unterbrach die spannungsgeladene Szene. Der Onkel und die Tante tauschten Blicke; dann stand der Onkel auf und ging steifbeinig hinaus. Bleich und erschrocken kam er wieder. »Was ist los, Liebling?« Tante Louise schaute zur Tür. »Haben die Kinder etwas –« Der Onkel schüttelte den Kopf. »Da ist ein Mann, der dich sprechen will, Ross.« »Vom Wetterdienst?« fragte Ross erstaunt. Es war eine späte Tageszeit dafür, ihn abzuberufen. »Nichts dergleichen.« Die Stimme des Onkels kam wie aus weiter Entfernung. »Der Mann ist vom FBI.«
2 Agent Daniel Webster Carmichael vom Federal Bureau of Investigation musterte Ross von Kopf bis Fuß. »Für einen Amateur«, sagte er, »sind Sie aber ziemlich gerieben. Der Trick mit der Bahn hat mir ganz schön das Nachsehen gegeben. Den Rest des Tages habe ich damit verbracht, Sie wieder aufzustöbern.« In dem trüben Licht, das die Lampe über dem Eingang spendete, entsprach Carmichael Zoll für Zoll den Vorstellungen, die sich Ross aufgrund zahlreicher Kinobesuche von einem Geheimdienstmann machte: ein Mensch mittleren Alters, kräftig und mit einem grauen Anzug bekleidet, unter dem sich die Pistole abzeichnete. »Nun ja, Sie haben mich gefunden.« Der Mann griff in seine Jacke, und für einen kurzen Moment fürchtete Ross, der Griff gelte seiner Waffe. Statt dessen zog der Agent einen großen Umschlag hervor, den er Ross kommentarlos überreichte. Ross riß den Umschlag an einem Ende auf, und eine ganze Anzahl Papierbögen fielen ihm entgegen. Obenauf lag ein Dokument, das mit einem amtlich aussehenden Siegel und einer Menge von Unterschriften versehen war. Darunter lag ein Brief. Die Beleuchtung reichte nicht aus, um die Einzelheiten ent-
ziffern zu können; doch der Briefkopf bestand aus den fettgedruckten Lettern VEREINIGTE STAATEN VON AMERIKA: ERMÄCHTIGUNG ZUM ABTRANSPORT UND ZUR RÜCKFÜHRUNG EINER PERSON. Ross stieß einen Pfiff aus. »Höchst eindrucksvoll. Stehe ich unter Arrest?« »Nein. Es sei denn, Sie verweigern die Durchführung der Anweisungen, die diese Ermächtigung enthält. Auf jeden Fall werden Sie mich begleiten.« »Scheint so«, sagte Ross finster. »Wo soll's also hingehen?« Carmichael zuckte die Achseln. »Die Reisepapiere haben Sie. Ich habe alles gesagt, was ich sagen sollte. Bitte regeln Sie Ihre Angelegenheiten und packen Sie Ihre Sachen zusammen. Das Fahren überlassen Sie besser mir«, schloß er lächelnd. »Anscheinend habe ich keine große Wahl«, sagte Ross. »Ich glaube nein.« Ross lehnte sich gegen den Türrahmen und überlegte, was er jetzt tun sollte. Die ganze Situation schien so verwirrend und undurchsichtig; doch in Wirklichkeit hatte er nur zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Er konnte einfach mit Carmichael mitgehen oder sich weigern und im Haus bleiben. Wie lange? Wieviel Zeit mochte Carmichael zur Be-
schaffung einer Gerichtsverfügung brauchen? Nicht viel, vermutete Ross. Er straffte sich. »In Ordnung.« Eine Minute später war er damit beschäftigt, seine Sachen in zwei schäbige alte Koffer zu stopfen. Hemden, Pullover, seinen alten Anzug, Schuhe, Socken, einige Bücher und seinen Rasierapparat – das war alles. Ross stellte überrascht fest, wie wenig er eigentlich besaß und wie schnell seine Habe verstaut war. Er brachte die Koffer hinunter. Dort war Carmichael dabei, mit seiner Tante zu sprechen, während der Onkel die Ermächtigung genau studierte. Keiner von beiden wußte ihm viel zu sagen. Carmichael brachte das Gepäck im Kofferraum eines schweren Turbinenwagens unter, den er vor dem Haus geparkt hatte. Mit einem dumpfen Laut schloß sich der Kofferraumdeckel, während Onkel und Tante mit unsicheren Stimmen ein Lebewohl sagten. Ross versprach ihnen zu schreiben. Sie winkten dem Wagen nach, der mit Ross und Carmichael zur südlichen Autobahneinfahrt davondonnerte. »Nette Leute«, sagte Carmichael und blickte in den Rückspiegel. Ross nickte, während Gedanken unbestimmter Art in seinem Kopf kreisten. »Wann ich sie wohl wieder-
sehen werde?« fragte er mit einem Blick auf Carmichael. »Wenn Sie mich fragen, was man mit Ihnen vorhat, dann kann ich Ihnen nur ehrlich sagen – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich Sie zum Flughafen bringen soll.« Der Turbinenwagen brauste durch den dichten Verkehr in südlicher Richtung weiter. »Aber warum? Warum gerade ich?« fragte Ross nach einer Weile. »Wer weiß?« »Was verbergen Sie vor mir?« drängte Ross. »Was ist schiefgelaufen?« Carmichael drehte sich in seinem Sitz um. »Glauben Sie mir, ich weiß es nicht. Man hat mir nicht viel über Sie gesagt und was man mit Ihnen vorhat. Ich soll Sie befördern, sonst nichts. Hier ist schon der Flughafen.« Der Wagen bog in die Ausfahrt ein. Stirnrunzelnd nahm Ross das Dokumentenbündel in die Hand und ging den Inhalt in der Hoffnung durch, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der einen Hinweis auf sein Ziel oder seine Situation enthielt. Er fand außer unverständlichen juristischen Formulierungen einen vom Computer gedruckten Flugschein mit Reservierung, der auf eine obskure Fluggesellschaft namens Transit Lines ausgestellt
war. Er wollte schon weitersuchen, als sein Blick auf den Preis des Flugscheins fiel. Seine Augen weiteten sich. »Dreitausendsiebenhundertsechzig Dollar!« Er schnappte nach Luft. Carmichaels Ton wurde respektvoll. »Sie fallen offenbar unter die Kategorie der Sehr Wichtigen Personen, Mr. Moran. Ich werde Sie ab jetzt mit Sir anreden.« »Nicht nötig. Sagen Sie mir lieber, wie weit man mit einem 3760-Dollar-Flugschein kommen kann.« »Jedenfalls weiter, als ich Sie jetzt bringe«, antwortete Carmichael. Er verlangsamte die Fahrt und parkte den Wagen schließlich vor einem kleinen Schalter, auf dem die Worte Transit Lines aufgemalt waren. Ein kleines Häufchen Gepäck stand daneben. Carmichael übergab Ross' Koffer einem Gepäckträger, ließ den Flugschein entwerten und drängte Ross in den wartenden Aufzug, bevor dieser die Gelegenheit wahrnehmen konnte, auf der Informationstafel das Flugziel abzulesen. Im Aufzug warf der FBIMann einen besorgten Blick auf seine Uhr. »Wir sind spät dran«, sagte er. »Hoffentlich haben sie die Rampe noch nicht zurückgezogen.« Die Tür des Aufzugs öffnete sich, und Ross sah Carmichael lächeln. »Geschafft«, sagte er zu Ross. »Das hier ist Ihr
Transportmittel. Bis hierher sollte ich Sie bringen. Viel Glück.« Er drückte Ross kurz die Hand und war sofort wieder im Aufzug verschwunden. Ein Flugangestellter begleitete Ross zur Rampentür, von wo aus Ross einen Blick auf seine »Transportgelegenheit« erhaschen konnte. Sie war weiß, gigantisch und mit flossenartigen Stummelflügeln versehen. Das Dröhnen riesenhafter Triebwerke erinnerte an schwere Artillerie. Er stieg durch eine Luke ins Schiffsinnere, wo er sich überrascht umblickte. Nach den äußeren Dimensionen des Schiffes hatte Ross erwartet, einen großen Innenraum mit vielen hundert Sitzen vorzufinden. Doch die Kabine war in ihren Ausmaßen eher dem Inneren einer ausgedrückten Zahnpastatube vergleichbar. Einige Doppelsitze ließen einen schmalen Mittelgang frei, durch den sich Ross seitlich zwängen mußte. Er fand schließlich einen freien Sitz am Mittelgang und warf seinen Mantel über die Lehne. »Tut mir leid«, sagte eine Frauenstimme neben ihm, »aber das ist mein Platz.« Ross wandte sich um. Er erblickte ein ovales Mädchengesicht, das von blondem Haar umrahmt war. Ein Silbergürtel kontrastierte mit ihrem ultramarinblauen Anzug. Zwei dunkelgraue Augen sahen ihn ruhig an.
Ross ließ sich auf dem freien Nachbarsitz direkt neben einem dicken, dreifach verglasten Beobachtungsfenster nieder. Das Mädchen dankte ihm. Ross lehnte sich in die bequemen schaumgepolsterten Kissen zurück und dachte, daß sich die Sache gar nicht so schlecht anließ. Wohin es auch immer gehen mochte. »Ist dies Ihr erster Flug?« fragte das Mädchen. Ihre Stimme war sanfter geworden. »Nein«, erwiderte Ross, »ich bin schon ein paar Mal geflogen.« Die Auskunft schien sie etwas zu beruhigen. »Für mich ist es das erste Mal.« Sie lächelte nervös. »Der Blick ist wahrscheinlich sehr schön.« Ross nickte vage. Der Blick worauf denn, fragte er sich. »Sie wissen schon«, sagte sie. »Die Hauptstation.« »Die Hauptstation?« Verwirrt runzelte Ross die Stirn. »Ich habe noch nie davon gehört.« Das Mädchen starrte ihn mit großen Augen an. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen.« Das Flugzeug setzte sich in Bewegung. Das Rütteln schien in einem vergessenen Winkel von Ross' Gehirn eine Erinnerung zu lösen. Hauptstation. Ross schloß die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Die Stimme der Stewardeß riß ihn aus seinen Gedanken. »Wir heißen Sie willkommen beim Transit-
Lines-Flug Nummer vier. In siebenundfünfzig Minuten werden wir an der Hauptraumstation anlegen.« Natürlich, dachte Ross. Raumstation. Dreihundertfünfzig Kilometer über der spanischen Küste schalteten die Triebwerke des Schiffes sich planmäßig aus. Mit einer Geschwindigkeit von 36 000 km/h trieb Flug Nummer vier seinem Ziel entgegen. Ross fühlte, daß das Gewicht, das ihn anfangs in den Sitz gepreßt hatte, nach und nach gewichen war. Ein Gefühl ungeheurer Leere begann sich in seinem Magen auszubreiten. Er blickte zu seiner Freundin auf dem Nebensitz hinüber. Es schien ihr nichts auszumachen. Sie schaute neugierig durch die Fensterluke. »Da sind Orion und Gemini«, sagte sie begeistert. »Es ist wunderschön. Aber Sie sehen ja so bleich aus. Wenn Sie die Anschnallgurte lösen, ist die Schwerelosigkeit nicht so schlimm.« »Danke«, sagte er. Es half wirklich. »Keine Ursache. Wenn Ihnen der Druckwechsel in der Kabine Kopfschmerzen verursacht, können Sie von mir ein paar Aspirin bekommen.« »Sie sind gut ausgerüstet.« »Ich nehme das als Kompliment entgegen. Aber es gehört in Wirklichkeit zu meinem Beruf. Ich soll bei der medizinischen Abteilung der Hauptstation mitarbeiten.«
»Als Krankenschwester?« erkundigte sich Ross. »Wo denken Sie hin«, sagte sie ein wenig beleidigt. »Meine Aufgabe ist es, den Einfluß der Schwerelosigkeit auf Erkrankungen des Herzens zu erforschen.« »Könnte ich jetzt ein Aspirin haben? In meinem Kopf dröhnt es.« Sie legte ihm eine weiße Tablette auf die Handfläche. »Ich sage der Stewardeß, sie soll Ihnen einen Ballon Wasser bringen.« Nach einer kurzen Weile war das Kopfweh verschwunden. Inzwischen hatte sich das Schiff der Hauptstation genähert und traf die Vorbereitungen zum Anlegen. In immer enger werdenden Kreisen glich es seine Geschwindigkeit der radförmigen, kreisenden Raumstation an. »Noch dreißig Sekunden bis zum Ankoppeln«, gab der Pilot durch. Ross begann, wieder etwas wie eine geringe Schwerkraft zu spüren. Er warf einen Blick durch das Fenster und sah endlose Flächen von Aluminium, die die ganze Fensterfläche einnahmen. Einer glitzernden Arche gleich drehte die Raumstation ihre majestätischen Kreise. »Noch zehn Sekunden«, ertönte die Stimme des Piloten. Eine flexible, röhrenförmige Gangway schob sich aus der Mitte der Raumstation und machte mit deut-
lich hörbarem Klicken an der Ausstiegsluke des Schiffes fest. Die Luke schwang auf, und ein Schwall frischer, fremdartig schmeckender Luft drang in die Kabine. Ross bemerkte einen leichten Geruch nach Ozon und Maschinenöl. »Kopplungsmanöver beendet«, gab der Pilot durch. »Die Passagiere werden gebeten, ihre Gurte abzuschnallen und sich zum Ausstieg in die Raumstation fertigzumachen.« Ross betrachtete nachdenklich das Gestänge und Drahtwerk der Station. Ist das möglich, fragte er sich. Soll das mein Bestimmungsort sein? Unruhe war jetzt unter die Passagiere gekommen, die sich beeilten, ihr Gepäck zu nehmen und den Ausgang zu erreichen. Ross riß sich zusammen und griff nach seinen Koffern. Transit-Lines-Flug Nummer vier von Los Angeles Stadtflughafen zur in Kreisbahn um die Erde befindlichen Hauptstation der Internationalen Raumverwaltung war am Ziel.
3 »Sind Sie Mr. Ross Moran?« Ross nickte dem Uniformierten zu, der ungeduldig am Schiffsausgang wartete. »Der bin ich.« »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir. Ich habe schon Auftrag für die vorläufige Unterbringung Ihres Gepäcks gegeben. Hier lang, bitte.« Ross fühlte sich im Augenblick zu erschöpft, um Fragen zu stellen oder sich auf Diskussionen einzulassen. Ergeben folgte er seinem Führer zum Aufzug, der sie in ununterbrochener Fahrt vom Mittelpunkt der Station zu den äußeren Bereichen brachte. Ross spürte, wie er sein Gewicht allmählich wiedererlangte. Als sie den Aufzug verließen, schien wieder normale Schwerkraft zu herrschen. Die Hauptstation war völlig verschieden von dem, was sich Ross vorgestellt hatte. Trotz peinlicher Sauberkeit, die überall herrschte, und trotz der Betriebsamkeit der vielen Männer und Frauen, die durch die Gänge eilten, gewann man den Eindruck einer gelösten und fast heiteren Atmosphäre. Alle Besatzungsmitglieder strahlten großes Selbstvertrauen aus. Es fiel Ross nicht schwer zu vergessen, daß er sich sechzehnhundert Kilometer über der Erde befand. Er konnte sich ohne weiteres vorstellen, er schlendere
durch die Straßen einer der aufblühenden neuen Städte in Kanada oder Südamerika. Sie gingen an einer ganzen Anzahl von Geschäften und Restaurants vorbei, ehe sie zu einem Messingschild mit der Aufschrift: D. K. Gurvitsch, Leitender Direktor, IRV kamen. Der Begleiter verabschiedete sich. Ross betrat einen getäfelten Raum mit einem Schreibtisch, hinter dem sich ein Mann mittleren Alters erhob, auf Ross zuging und seine Hand zum Gruß ausstreckte. »Mr. Moran? Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Dimitri Gurvitsch.« Er schüttelte Ross kräftig die Hand und lächelte breit. »Ich freue mich auch, Sie endlich kennenzulernen«, erwiderte Ross. »Vermutlich sind Sie der Mann, dem ich diesen Ausflug zu verdanken habe.« Das Lächeln verschwand aus Gurvitschs Gesicht. Er führte Ross zu einem Stuhl neben dem Schreibtisch und nötigte ihn, Platz zu nehmen. »In gewisser Weise, ja«, sagte Gurvitsch gedehnt. Sein russischer Akzent verlieh seinen Worten Gewicht und Bedeutung. »Ich möchte mich entschuldigen für die abrupte Art und Weise, in der man Sie hierhergebracht hat, und Sie haben allen Grund, ungehalten zu sein. Die letzten paar Stunden müssen für Sie – äh – ungemütlich gewesen sein.« »Das kann man wohl sagen.«
»Bitte glauben Sie mir, daß ich Operationen dieser Art überhaupt nicht schätze – wenn ich auch glaube, daß die Methode in diesem Fall prinzipiell gerechtfertigt war.« Ross machte kein Hehl aus seinen Zweifeln. »Bitte erlauben Sie mir, Ihnen meine Situation zu erklären«, fuhr Gurvitsch fort. »Vor zwanzig Stunden wurde ich plötzlich vor die Aufgabe gestellt, für einen Meteorologen auf einem unserer Wettersatelliten Ersatz zu beschaffen. Die Zeit reichte einfach nicht, um den üblichen umständlichen Behördenweg zu beschreiten. Deshalb rief ich einen alten Freund an und erklärte ihm, daß ich einen jungen und intelligenten Mann brauche, der die nötige Ausbildung und Wendigkeit besitzt.« Gurvitsch musterte Ross mit kühlen und festen Blicken. »Der Freund hat Sie empfohlen. Ich bin geneigt, seiner Empfehlung zu folgen.« Ross nickte. Dann erkundigte er sich argwöhnisch nach seinem Wohltäter. »Es war einer der Ausbilder an Ihrer Universität. Er zieht es vor, ungenannt zu bleiben.« »Dann geht es mir wie David Copperfield«, murmelte Ross kopfschüttelnd. »Aber wozu denn diese ganze Geheimnistuerei mit dem FBI und so weiter?« »Damit habe ich nichts zu tun«, antwortete Gur-
vitsch abwehrend. »Meine Vorgesetzten in der IRV wollten es so.« »Aber ich kann keinen Grund dafür erkennen.« »Ich gebe Ihnen zwar recht, jedoch –« Ein müder Ausdruck trat in sein Gesicht. Wieder ruhte sein Blick forschend auf Ross. »Ich will Ihnen das Problem so darstellen, wie man es mir erklärt hat. Jeden Tag wächst die Erdbevölkerung, und jeden Tag werden die Lebensmittel knapper. Bis jetzt konnten Hungerkatastrophen dadurch weitgehend abgewandt werden, daß ein Netz von Beobachtern auf der Erde und im Raum das Wetter und seine Auswirkung auf die landwirtschaftliche Produktion sorgfältig beobachtet hat. Ohne dieses Datenmaterial ist eine langfristige Planung unmöglich. Hungersnöte wären die unvermeidliche Folge. Jede Einzelheit hängt mit einer anderen zusammen. Das Ganze ist empfindlich wie ein Kartenhaus. Entfernt man auch nur einen winzigen Teil, so bricht das ganze Gebäude zusammen. Im Augenblick existiert solch ein schwacher Punkt, und zwar auf dem Beobachtungssatelliten. Ich muß die Lücke sofort schließen.« »Sie haben sich den falschen Mann ausgesucht«, protestierte Ross. »Ich bin kein Fachmann, sondern habe gerade erst die Universität hinter mich gebracht. Hat Ihnen ihr Freund denn nicht gesagt, daß ich über keinerlei Erfahrung verfüge?«
Gurvitsch wischte den Einwand weg. »Erfahrung ist nicht der entscheidende Faktor. Sie können sich fehlende Kenntnisse im Kurzverfahren aneignen. Ich weiß aus Ihrer Akte, daß Sie mit den technischen Geräten vertraut sind. Aber Sie besitzen eine noch weit wichtigere Qualität, nämlich Anpassungsfähigkeit. Sie sind mit den Ereignissen, die Sie unfreiwillig hierhergebracht haben, gut fertig geworden.« »Unfreiwillig – das stimmt.« »Dann halten Sie unser Vorgehen wahrscheinlich für einen Gewaltakt. In Wirklichkeit war es ein Test.« »Ein Test?« »Genau.« Gurvitsch erhob sich. »Sie haben ihn bestanden. Meiner Meinung nach würden Sie ein gutes Besatzungsmitglied abgeben; aber die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen. Überlegen Sie es sich gut. Vielleicht möchten Sie gern mehr von dem Leben auf der Hauptstation sehen und sich auf diese Weise mit den Lebensbedingungen auf einem Erdsatelliten vertraut machen.« Ross war hundemüde; doch seine Neugier gewann schließlich die Oberhand. »Schön«, sagte Gurvitsch, »ich habe auch gleich den richtigen Führer für Sie.« Sein Anruf zitierte einen hochgewachsenen jungen Mann mit struppigem blondem Haar herbei, hinter dessen randloser Brille blaue Augen durchdringend hervorblickten. Der Di-
rektor stellte ihn als Timothy Diehle, Doktor der Medizinwissenschaft, vor. »Doktor«, wies ihn Gurvitsch an, »bitte begleiten Sie Mr. Moran, wohin immer er zu gehen wünscht, und beantworten Sie seine Fragen über Boreas.« »Boreas – was ist das?« fragte Ross. »Nichts anderes als die Wetterstation. Sie ist nach dem griechischen Gott des Nordwindes benannt, da ihr Hauptbeobachtungsgebiet in der Arktis liegt.« Tim begleitete Ross aus dem Zimmer des Direktors. »Boreas ist viel kleiner als die Hauptstation, aber da die Besatzung aus nur zwölf Mitgliedern besteht, ist genügend Platz für alle da.« »Sie arbeiten also auf Boreas?« »Sie können ruhig Tim zu mir sagen.« »Ich heiße Ross. Du arbeitest also auf der Wetterstation?« »Ja. Ich habe gerade Landurlaub.« Er gab Ross eine detaillierte Beschreibung der Mannschaft auf Boreas, des Satelliten, der die Erde in einer Entfernung zwischen viertausend und fünfundvierzigtausend Kilometer umkreiste. »Es ist dort manchmal ein wenig einsam«, erzählte Tim. »Boreas hat seine Nachteile, aber es ist ein hübsches Plätzchen, um sich von der Erde zurückzuziehen.« »Sprichst du jetzt im Ernst?« »Warum nicht?« erwiderte Tim nachdenklich.
»Von hier oben ist der Ausblick prächtig – Städte, Ozeane und Wolken. Doch wenn man hinunterkommt, sieht man die Realität. Die Wolken bestehen aus stinkendem Rauch, die Ozeane sind voll Öl und Abwasser, und die Städte gleichen Dschungeln. Als ich vor zwei Jahren auf Boreas anfing, wußte ich noch nicht, welche Fortschritte die Menschheit in der Zerstörung des Planeten gemacht hat. Jetzt ist es mir gleichgültig, ob ich jemals wieder zur Erde zurückkehre. Ich habe den Weltraum lieben gelernt. Es ist der einzige Ort, den sie noch nicht verseucht haben.« Sätze dieser Art sollte Ross später noch oft von vielen anderen Besatzungsmitgliedern zu hören bekommen. »Wenn eines Tages irgendeine Katastrophe die ganze Menschheit ausrottet, dann bleiben nur noch die Leute in den Satelliten übrig«, fuhr Tim fort. »Manchmal ängstigt mich dieser Gedanke.« Sie betraten nun einen großen, überfüllten Versammlungsraum. Zigarettenrauch lag in der Luft. Hinter einem Rednerpult stand ein Mann und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Ein großes Transparent trug die Aufschrift: Willkommen beim Kongreß der Radioastronomen! »Meine Damen und Herren!« rief die Gestalt hinter dem Pult, »bitte nehmen Sie Platz!«
»Das ist Dr. Alfred Nystrom«, erklärte Tim. »Er ist der Astronom von Boreas.« Er winkte zum Pult hin, und trotz des Trubels und des Gedränges wurde sein Wink wahrgenommen und erwidert. »Dr. Nystrom ist ein alter Hase, während die meisten der Delegierten zum erstenmal an Bord einer Raumstation sind. Sie sind ganz schön aufgeregt.« Schließlich hatten die Delegierten ihre Plätze gefunden, und Ross hatte Gelegenheit, den Mann hinter dem Pult genauer ins Auge zu fassen. Er schien die Fünfzig überschritten zu haben und war nahezu kahl, aber er hatte eine kräftige Gestalt, eine feste Stimme und legte den Delegierten gegenüber eine rührende Geduld an den Tag. Tim beugte sich zu Ross hinüber. »Ich muß noch etwas – äh – erledigen. Bin in einer Minute wieder zurück.« Ross lehnte sich in seinen gepolsterten Stuhl zurück und döste mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Die Minute, von der Tim gesprochen hatte, hatte sich fast zu einer halben Stunde ausgedehnt, als der Beifall aufrauschte. Die Rede, von der Ross nur Bruchstücke mitbekam, war beendet. Tim war nirgends zu sehen. Ende der Führung, dachte Ross und erhob sich. Dr. Nystrom kam auf Ross zu. In seiner Begleitung befand sich ein Mann mit leicht orientalischen Ge-
sichtszügen. Der Astronom stellte sich selbst und seinen Begleiter in der liebenswürdigsten Weise vor. »Mein alter Freund, Dr. Ahn Il Kim. Er hat früher auf der Universität von Korea gelehrt, aber die U.S.Luftwaffe hat ihn nach Denver verschleppt. Er forscht jetzt ganz geheim.« Nachdem alle einen Händedruck miteinander getauscht hatten, fragte Dr. Nystrom Ross, ob er schon gegessen habe. »Ich konnte nicht einmal mein Abendessen beenden«, erwiderte Ross. »Dann kommen Sie doch mit uns! Reden regt meinen Appetit immer sehr an, und Sie sollten hier nicht weggehen, ohne die Küche der Hauptstation ausprobiert zu haben. Tim wird uns schon finden.« Das Restaurant war im Stil eines Pariser Cafés eingerichtet. Dr. Nystrom winkte einigen Astronomen zu, die seine Gegenwart mit freundlichen Zurufen quittierten. »Denen wird die gute Laune auch noch vergehen, wenn sie erst mal vom Essen gekostet haben«, lächelte Dr. Nystrom. »Sie müssen wissen, daß die Mahlzeiten aus synthetisch hergestellten Nahrungsmitteln zubereitet werden.« »Warum kann ich kein normales Essen haben?«, fragte Ross. »Es wäre zu teuer, Lebensmittel von der Erde hier
heraufzutransportieren. Keine Sorge, man wird nicht krank davon. Aber man muß aufpassen, was man bestellt. Am besten ist unseren Chemikern die Herstellung einfacher Mahlzeiten wie zum Beispiel Käseomelett gelungen. Steak und Fisch sind chemisch zu kompliziert aufgebaut.« Ross folgte der Empfehlung Dr. Nystroms. Mit unendlicher Vorsicht kostete er ein kleines Stückchen und war angenehm überrascht. Vom Nebentisch, wo Steak und Salm serviert worden war, kamen ärgerliche Laute. Ross hatte seinen Teller im Nu leergegessen. »Bestellen Sie ruhig noch einen«, schlug eine freundliche Stimme vor. »Hier ißt man Käseomelett oft und gern.« Die Stimme gehörte zu Direktor Gurvitsch, der neben Ross getreten war. »Feingefühl ist nicht gerade die Stärke von Mr. Gurvitsch«, sagte Dr. Nystrom. Dann drehte er sich zu dem Russen um. »Dimitiri! Mr. Moran hat sich noch nicht entschieden, ob er den Posten annehmen will oder nicht. Er ist mein Gast.« »Ach, Sie kennen meine Situation?« fragte Ross den Astronomen. »Jedermann auf Boreas weiß, daß wir nach einem neuen Meteorologen suchen. Als ich Sie mit Tim zusammen sah, vermutete ich gleich, daß Sie es sind – oder vielmehr werden sollen und noch überlegen.«
Ross fühlte Dr. Nystroms Blick abschätzend auf sich gerichtet, und er fragte sich, wie sein Urteil wohl ausfallen mochte. Hoffentlich gut, dachte er, denn er begann diesen Mann sympathisch zu finden. »Ich weiß noch nicht, ob ich das Angebot annehmen soll oder nicht«, sagte Ross düster. »Ich habe zwar keine große Lust, wieder nach Hause zurückzukehren, aber die ganze Angelegenheit war von Anfang an so seltsam.« Er dachte an seinen unfreiwilligen Flug hierher. Dr. Nystrom entzündete seine Bruyèrepfeife. »Anscheinend haben in Ihrem Fall höchste Stellen die Hand im Spiel gehabt. Aber das ist keine Seltenheit. Am Weltraum sind noch mehr Institutionen interessiert als der Wetterdienst. Da ist zuerst einmal die IRV, die Internationale Raumverwaltung, die von den Sowjets und den Amerikanern unter UN-Aufsicht gemeinsam geführt wird. Dann folgen die Gruppen mit speziellen Interessen: die Raumfahrtfirmen, die Kommunikationsindustrie und so weiter.« »Und meine Arbeitgeber«, sagte Dr. Ahn ruhig. »Ja, das Militär. Nach dem Vertrag von Wien ist der Raum für das Militär gesperrt – aber dort an der Bar können Sie einen Zwei-Sterne-General sehen. Der Wiener Vertrag verbietet nur die Anwesenheit von niedrigen Dienstgraden und läßt die höheren Offiziere unbehelligt.« Er zog an seiner Pfeife. »Es ist schwer
zu sagen, welche der Interessengruppen in Ihrem Fall die Hand im Spiel gehabt hat – aber irgendeine war es sicher!« Ross hörte nur mit halbem Ohr hin. Die Entscheidung, die er zu treffen hatte, belastete ihn und blokkierte alle anderen Gedanken. Plötzlich wußte er, was er zu tun hatte. Er wollte nicht mehr auf die Erde zurück. »Ich nehme den Posten an«, sagte er mit fester Stimme. Jetzt war ihm wohler. Die begeisterte Reaktion von Dr. Nystrom fegte seine letzten Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung fort. »Wundervoll! Ich war davon überzeugt, Sie würden Boreas nicht für irgendeine langweilige erdgebundene Arbeit opfern. Ich wünschte nur, daß noch mehr meiner geschätzten Kollegen Ihre Entschlußfreudigkeit besäßen – dann sähe manches anders aus!« Gurvitsch fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen. Er gratulierte Ross zu seinem Entschluß, versprach die bürokratischen Angelegenheiten regeln zu lassen, und verabschiedete sich. Tim tauchte auf. Das Mädchen in seiner Begleitung war keine andere als Ross' Reisegefährtin. Ihr Name war Christine Reney. Sie hatte ihren ultramarinblauen Anzug mit der weißen Ärztetracht vertauscht, und
für einen Augenblick beneidete Ross seinen Kollegen um die Gesellschaft der gutaussehenden Forscherin, die munter mit Tim plauderte. Das Tischtelefon läutete, und Dr. Nystrom griff nach dem Hörer. Sein Gesicht verdüsterte sich, und ärgerlich knallte er den Hörer auf die Gabel. »Das war die Flugabteilung«, grollte er. »Für uns drei steht ein Schiff bereit, das uns nach Boreas bringen soll. Sofort.« Er deutete auf Ross und Tim. »Das ist doch unmöglich«, sagte Tim. »Ich habe Ausgangserlaubnis für vier Tage. Heute ist erst der zweite Tag!« »Das geht mir genauso«, sagte Dr. Nystrom grimmig, »aber Befehl ist Befehl. Es ist besser, wir gehen.« »Wessen Befehl ist das?« fragte Tim. »Evas Befehl?« »Genau.« Die kleine Runde brach auf. Dr. Ahn verabschiedete sich mit einer knappen Verbeugung. Christine begleitete die drei bis zum Aufzug. Tim drückte fest ihre Hand, bis sich die Tür des Aufzugs schloß. Man sah ihm an, daß ihm die Trennung schwerfiel. Der Aufzug brachte sie in einen verglasten Wartebereich in der schwerelosen Mitte der Station. Direkt vor ihnen schwebte ein seltsames Gefährt. Es handelte sich, wie Ross erfuhr, um ein altes Raumschiff, das nicht mehr in die Atmosphäre zurückkehren durfte. Man hatte es seiner Flügel beraubt, mit Zusatzraketen
versehen und zur Raumfähre erklärt. Es war das Schiff, das die drei innerhalb von vier Stunden nach Boreas bringen sollte. Tim und Ross betraten das Schiff durch den mittleren Eingang. »Wo ist Dr. Nystrom?« fragte Ross. »In der Pilotenkabine«, antwortete Tim. »Er steuerte das Schiff.« Ross' runzelte die Stirn. »Funktionieren diese Schiffe nicht automatisch?« Tim lächelte zum erstenmal, seit er sich von Christine am Aufzug verabschiedet hatte. »Gewiß, aber die Automatik kann abgestellt werden. Dann ist das Schiff von Hand zu steuern. Das ist Dr. Nystroms größte Spezialität. Genau wie ein altgedienter Pilot von damals liebt er nichts mehr, als den Steuerknüppel selbst zu bedienen. Da kommt das Zehn-Sekunden-Warnlicht. Schnall dich fest.«
4 Als Dr. Nystrom die Schiffstriebwerke abgeschaltet hatte, stellte Ross die Lehne seines Sitzes weit zurück und fiel sofort in einen tiefen traumlosen Schlaf. Genau drei Stunden später wachte er auf. Es bot sich ihm ein ungewöhnlicher Anblick. Als er seine Augen öffnete, fiel ihm als erstes ein leises und regelmäßiges Tip-tip-tip in der Kabine auf, ein Geräusch, das ihn an das Klopfen von Regen auf ein Blechdach erinnerte. Regen? dachte er. Hier? Unmöglich. Es war kein Regen. Es war vielmehr Tim, der an einem ausziehbaren Tischchen auf einer Reiseschreibmaschine klapperte. Ross bemerkte, daß Tim sich am Sitz festgeschnallt hatte, denn in dem Schiff herrschte Schwerelosigkeit. Ross konnte von Tim nicht viel mehr sehen als seine Stiefel, die aus einer weißen Wolke herausragten. Er war von dieser Wolke völlig eingehüllt. Für einen Augenblick hatte Ross den Eindruck, daß Tim von einem Schwarm riesiger weißer Schmetterlinge umgeben sei, die sich jeden Moment auf ihm niederlassen würden, während er selbstvergessen auf seiner Maschine vor sich hinschrieb. Nach einer Weile erkannte Ross, daß die Schmetter-
linge nichts anderes als zahllose beschriebene Papierblätter waren, die in der Schwerelosigkeit des Schiffes an dem Platz schwebten, den ihnen Tim gegeben hatte. Ross warf einen Blick auf ein Blatt, das in seiner Nähe schwebte; er vermutete, es werde sich um einen Brief oder um einen Aufsatz für irgendeine medizinische Zeitschrift handeln. Statt dessen sah er die Absätze und Anführungszeichen, die für einen Dialog typisch waren. Ross vertiefte sich in eines der Blätter. Es handelte von zwei Personen – einem Detektiv und einer alten Frau – die über einen Mord diskutierten. »Schreibst du an einem Kriminalroman?« fragte Ross. Das Tip-tip-tip verstummte. »Ach, du bist aufgewacht«, drang Tims Stimme aus der Wolke; es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Plötzlich geriet Bewegung in die Wolke. Sie wurde immer dünner, da Tim die Blätter eines nach dem anderen einzusammeln begann. »Neunzig, einundneunzig. Ah, zweiundneunzig«, sagte Tim und schnürte sein Werk zu einem Bündel zusammen. »Nun sag schon!« drängte Ross. Tim nickte. »Nun, es ist kein großes Geheimnis. Schreiben ist meine Nebenbeschäftigung. Sie füllt die freie Zeit auf Boreas aus, und wenn ich eine dieser Romane einmal verkaufen kann ... egal, es hält einen
jedenfalls davon ab, endlose Stunden aus dem Fenster zu starren. Was sieht man denn schon?« Die Erde – ein riesiger weißer Halbmond – und die Sterne. Noch ein anderes Objekt war für Ross deutlich zu sehen: ein glänzender Lichtpunkt in einer polaren Kreisbahn. Tim dachte nach. »Nichts anderes kann so hell sein. Es muß sich um die bemannte Raumstation handeln, die unter dem Namen Basketball bekannt ist. Wenn wir ein starkes Fernrohr an Bord hätten, könntest du einen riesigen Aluminiumballon erkennen, der wie ein geflickter Basketball aussieht. Das Militär benützt ihn meines Wissens zur Reflexion von Laserstrahlen oder so.« Sie beobachteten den Satelliten, wie er langsam südwärts über die gefrorenen Steppen Rußlands hinwegzog. »Dr. Nystrom hat mir erzählt, daß der Weltraum für militärische Zwecke gesperrt ist«, sagte Ross, der sich an das Tischgespräch mit dem Astronomen erinnerte. »Nur für militärische Waffen«, entgegnete Tim. Er begann, seine Schreibmaschine einzupacken. »Das ist ein feiner Unterschied.« Tim öffnete den Mund zu einer Antwort, aber das Warnsignal unterbrach ihn, und beide beeilten sich, die Sitzgurte festzuschnallen. Dann donnerten die Düsen los.
Der Ausblick änderte sich jetzt. Die Erde verschwand langsam, und Ross konnte den ersten Blick auf Boreas werfen. Die Station ähnelte einer Stahltrommel, die sich geräuschlos um eine Achse dreht. Das ist mein Zuhause, dachte Ross. In seine Hochstimmung mischte sich ein wenig Angst. Das Schiff lief auf ein Landungsdock auf. Man hörte ein Geräusch wie von einer zuschlagenden Autotür. Dann betrat Dr. Nystrom zum erstenmal während des ganzen Fluges die Hauptkabine. »Jetzt vorsichtig«, sagte er, als sich die Luke öffnete. Ein leises Pfeifen verriet den Ausgleich des Luftdrucks. Ross stieg über eine Schwelle in den Versorgungsraum der Station, wo Pumpen und Rohrleitungen die Station mit den vier lebenswichtigen Substanzen und Energien versorgten: nämlich mit Elektrizität, Wasser, Sauerstoff und ComputerFunktionen. Überall war in großen Lettern das Wort WARNUNG angeschrieben. Ross wartete nervös, bis Dr. Nystrom und Tim mit seiner Schreibmaschine unterm Arm auftauchten. Über eine kurze Leiter erreichten sie den Schwerkraftbereich von Boreas. Ross landete sanft auf den Beinen. Die durch den Rotationseffekt simulierte Schwerkraft war zwar geringfügig, dachte Ross, aber einer völligen Schwerelosigkeit bei weitem vorzuziehen. Sie standen in einem engen weißen Vorraum, der
zu einem breiteren Korridor führte. Ross hörte die willkommenen Laute menschlicher Stimmen. Kurz darauf wurde er den Eigentümern dieser Stimmen vorgestellt. Es waren zu viele Namen, um sie sich beim erstenmal alle merken zu können. Ross entsann sich nur eines Ehepaars namens Joel und Myra Colbert, deren Aufgabe die Auswertung von Satellitenfotos war. Eine ganze Schar von IRV-Funktionären, die eine Besichtigung der Station hinter sich hatten, wartete darauf, daß die Raumfähre wieder aufgetankt würde, um sie zur Hauptstation zurückzubringen. Ross lehnte Myras Einladung zu einer Tasse Kaffee ab. Der kurze Schlummer in der Fähre war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen. Ross merkte, daß er tatsächlich am Rand der Erschöpfung stand. Er hatte nur noch den Wunsch, sein Zimmer zu finden, zu duschen und eine Ewigkeit zu schlafen. »Hältst du Boreas für ein Hotel?« fragte Tim und schüttelte zweifelnd den Kopf. »Zuerst mal mußt du dich eintragen lassen.« »Ich glaube, das werde ich nicht tun.« »Du mußt dich bei der Stationskommandantin Eva Keough melden«, sagte Tim. »Und dann mußt du den Papierkram hinter dich bringen.« Ross warf Tim einen Blick zu, der diesen zurückfahren ließ. »Nimm den Rat eines altgedienten Man-
nes an, Ross. Wenn du dich weigerst, gibt es Schwierigkeiten. Man kann das Ganze auch als Zeremoniell betrachten.« Ross hatte eine andere Bezeichnung dafür, aber da er trotz seiner Müdigkeit noch immer auf Boreas neugierig war, willigte er ein. Der Verwaltungssektor von Boreas lag auf der entgegengesetzten Seite der Station. Er bestand aus einem einzigen großen Büroraum, der zwischen Lagerräumen, Schränken, Kisten und einem Gewirr von endlosen, ineinander verschlungenen Rohren und Leitungen eingeklemmt war. In dem Büro saß ein Mann hinter einem Datenschreiber und fütterte den Computer. Er übersah die Anwesenheit der beiden geflissentlich. »Ich möchte zu Mrs. Keough«, sagte Ross schließlich gähnend. Ohne von seinem Apparat aufzusehen, erwiderte der Mann mit barscher Stimme, daß die Kommandantin jetzt keine Besucher empfange. »Kommen Sie später wieder«, fügte er frostig hinzu. Ross zuckte die Achseln und wollte dieser Aufforderung nachkommen. Doch Tim hielt ihn zurück und trat so dicht ans Pult heran, daß sein breiter Schatten darüber fiel.
Der Mann hinter dem Pult wurde ärgerlich. »Ich habe später gesagt!« Tim rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Schließlich blickte der Mann wütend auf. Ross schätzte ihn auf Ende dreißig. Der gutgeschnittene teure Anzug konnte nicht seine Hinfälligkeit verbergen. Die stechenden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er heftete den Blick auf Ross und musterte ihn herablassend. »Wer ist das?« »Ross Moran, unser neuer Meteorologe«, antwortete Tim. »Glauben Sie nicht, daß ihn jemand in seine Arbeit einweisen sollte?« »Nicht jetzt, Diehle. Die Kommandantin ist beschäftigt.« »Und was ist mit Ihnen?« »Ich habe auch zu tun.« Er wandte sich wieder dem Computer zu. »Hören Sie mal«, sagte Tim, »irgend jemand sollte sich um ihn kümmern. Die IRV hat ihn nicht zum Spaß hierher bringen lassen.« Der Mann drückte Tim ein Bündel Formulare in die Hand. »Er soll dies hier unterschreiben. Ich rufe jetzt Hanks.« Mit diesen Worten drückte er eine Taste des Intercom und nahm seine Tätigkeit am Computer wieder auf, ohne die beiden noch eines Blickes zu würdigen. Tim kochte vor Wut.
Als sie wieder im Korridor waren, legte er los. »Dieser aufgeblasene kleine –« »Wer war denn das?« unterbrach ihn Ross in der Absicht, ihn von unbedachten Äußerungen abzuhalten. »Der Assistent der Kommandantin. Er heißt Julian Martino, aber auf Boreas hat er auch noch einige andere Namen.« Was Ross nicht geschafft hatte, brachte ein Mann in gelbkarierten Hosen und dickem Wollpullover ohne Mühe fertig. Tims Laune besserte sich bei seinem Anblick sofort. Der Mann war Jonathan Hanks. »Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er herzlich zu Ross. »Ich bin der Mann, den Sie ersetzen sollen. Ich hoffe, Sie halten es länger aus.« »Sie haben gekündigt?« fragte Ross mit erwachender Neugier. »Nicht ganz. Man hat mich gestern rausgeworfen.« Er schaute auf seine Uhr. »Wir müssen uns etwas beeilen. Ich zeige Ihnen jetzt, was Sie zu tun haben, und lasse Sie dann in Frieden.« Tim verspürte Hunger und entschuldigte sich. Hanks ging mit Ross weiter, bis sie vor einer Wand standen, in der sich ein rundes Loch befand. Ross blickte in eine lange Röhre, an deren entgegengesetztem Ende eine Luke zu sehen war.
»Hier unten«, erklärte Hanks, »liegt der NullBereich der Station, der Ort, an dem Sie, mein Freund, Ihr Gehalt verdienen werden. Schauen Sie mir jetzt gut zu – es ist nicht ganz einfach beim erstenmal.« Hanks bückte sich und faßte nach einem Handgriff. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung schwang er sich in die Verbindungsröhre und schwebte mühelos zu der Luke. Ross war nicht ganz so beweglich, aber er schaffte es, ohne öfter als einmal gegen einen der herausragenden Handgriffe zu stoßen. Inzwischen hatte Hanks schon die Luke geöffnet, und beide schwebten in einen winzigen Raum, der das meteorologische Labor mit dem Sektor für Radioastronomie verband. In der Spantenwand, direkt gegenüber der Luke, bemerkte Ross eine schwer verriegelte und verbarrikadierte Tür. »Da stecken Sie Ihre Nase besser nicht hinein«, sagte Hanks. »Das ist der Zugang zum Reaktor.« Hanks führte Ross weiter in das meteorologische Labor. »Die Wetterstation!« verkündete Hanks. Ross blickte sich beeindruckt um. Der nahezu kugelförmige Raum war mit hochempfindlichen elektronischen Instrumenten vollgestopft. Da sich das Labor im schwerelosen Sektor der Station befand, hatte man jeden Quadratzentimeter der sphärisch gekrümmten Wände ausgenützt, um die ausgeklügelte Apparatur unterzubringen.
»Das ist noch gar nichts«, sagte Hanks und deutete auf eine weitere Luke. Ross steckte seinen Kopf hindurch. Dann stieß er sich ab und befand sich eine Sekunde später inmitten einer riesigen Blase aus Plexiglas, die aus dem Metallrumpf der Station ragte. In diesem Turm waren fast ein Dutzend weitreichender Teleskope, Filmkameras, Kameras und eine vortreffliche Infrarot-Antenne eingebaut. Das dazugehörige Kontrollsystem reagierte unglaublich exakt, und Ross testete einige Minuten lang die Hydraulik. Als er den Turm wieder verlassen hatte, spürte er auf einmal das Gewicht der Verantwortung, das bleischwer auf ihm zu lasten begann. »Pah! Diese Apparate werden Sie nicht im Stich lassen«, beruhigte ihn Hanks. »Ich hatte keinen einzigen Ausfall. Die Geräte sind erstklassig.« Dann war es also nicht Unfähigkeit, die zu Hanks' Entlassung geführt hatte, dachte Ross verwirrt. Warum muß dieser Mann dann gehen? Und warum muß ich seine Stelle einnehmen? Hanks strich mit der Hand über die tadellos funktionierenden Reihen der Skalen, Meßuhren und Kontrolleuchten. »Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Der Computer regelt alle Einzelheiten. Sie brauchen sich während Ihrer Arbeit um die Apparate gar nicht zu kümmern, Ross.«
»Aber wo ist der Haken, Hanks?« fragte Ross. »Es gibt doch einen Haken?« Hanks nickte. »Ist es Julian Martino oder Eva Keough?« »Vor allem die Frau. Sie hat mich gefeuert.« Ross vermißte zu seiner Überraschung jede Spur von Bitterkeit in Hanks' Tonfall. Das änderte sich auch nicht, als Hanks nach einem tiefen Atemzug fortfuhr: »Sie würde es glatt wieder tun.« »Ich besitze nicht Ihre praktische Erfahrung«, sagte Ross. »Aber ich habe studiert, und ich habe auch einen Vertrag.« »Glauben Sie etwa, ich nicht?« Ross' Verblüffung steigerte sich. »Aber dann bestand doch kein Grund –« »Stimmt«, sagte Hanks matt. »Tatsache ist jedoch, daß ich mich jetzt nach einer neuen Arbeit umsehen muß. Deshalb erzähle ich Ihnen das Ganze. Es könnte Ihnen genauso gehen wie mir. Die Kuppel ist kein Elfenbeinturm.« Die Tür zur Wetterstation öffnete sich, und eine wohlbekannte Gestalt in einem perfekt sitzenden Anzug erschien in der Türöffnung. »Haben Sie Ihre Sachen gepackt, Hanks?« fragte Julian Martino. »Das Fährschiff wartet.« »Nur keine Sorge, ich bleibe schon nicht hier.« Hanks lächelte Ross ermutigend zu und begab sich
zur Beförderungsröhre, wodurch er ein Zusammentreffen mit Martino an der Tür geschickt vermied. Martino beobachtete seinen Abgang. Sein Gesichtsausdruck blieb kalt und gefühllos, bis er die Luke ins Schloß fallen hörte. In diesem Moment sah Ross ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln um Martinos Mundwinkel spielen. Dann drehte sich der Mann um und ließ Ross allein im Labor.
5 Während er versuchte, das Flugzeug unter seine Kontrolle zu bringen, türmten sich rings um ihn graue Wolkenmassen auf und schlossen ihn ganz ein ... Der Taifun wirbelte die quellenden Haufenwolken durcheinander, bis sie einen kompakten, undurchdringlich dunklen Vorhang bildeten ... Wie eine Felsenklippe, die vom Himmel herabhängt, dachte er einen Augenblick und zog das Flugzeug in einer steilen Kurve hoch. Der alte Jet sträubte sich, er zitterte und ächzte ... Er hörte ihn aufbrüllen wie ein wildes Tier, als er sich aufwärts schraubte und dadurch Menschen und Geräte, Magnetbänder und Bücher in das Heck der Maschine beförderte ... Dann jagten warme Luftmassen, die der Orkan vom Boden angesaugt hatte, an der schwarzen Wolkenwand hoch und rüttelten mit der Kraft eines Riesen am Backbordruder. Eine Kontrolleuchte glühte rot auf ... Eines der Triebwerke versagte ... Die Turbinenlager liefen heiß ... Ohne zu zögern drehte er an Schaltern, reduzierte die Drehzahl des versagenden Triebwerks und verlagerte die Belastung auf die beiden restlichen Turbinen. Das war ein Fehler. Er hörte, wie ein Stöhnen durch den Rumpf ging ...
das Knirschen von Metall ... erst leise, dann ein reißendes Geräusch wie von altem Leinen ... Jemand schrie gellend auf, und die Maschine stürzte in die Wolkenmassen, dem einzigen Ort der Ruhe im Umkreis von zweihundert Kilometern. Das Auge des Zyklons ... eine Stätte der Zuflucht, dachte er. Die Wolken wurden dünner ... Das Dunkel lichtete sich ... Die Wolken nahmen erst die Färbung von Zinn, dann von Silber an ... Geschafft, dachte er. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen schlug über ihm zusammen und steigerte sich zu einem entsetzlichen Kreischen ... der Rumpf begann zu splittern ... Graues Licht drang ins Cockpit ... Er drehte sich um und erstarrte. Das gesamte Heck fehlte. Niemand fütterte die Computer, niemand saß am Funkgerät, niemand beobachtete den Radarschirm ... Alles war verschwunden ... Metallfetzen rissen sich los und wirbelten in die helle Luft ... Die Wolken lagen zwar hinter ihm, doch im Auge des Zyklons hatte der explosive Unterdruck die Maschine zerrissen. Er nahm noch einen Streifen blauen Himmels wahr ... Sonnenstrahlen überfluteten ihn ... Er stürzte in den offenen Luftschacht, und dann schmetterte sein Kopf gegen etwas entsetzlich Hartes und Scharfes.
Ross wachte auf. Es roch nach Angst. Panik erfaßte ihn, während er die Halbwelt zwischen Schlaf und Wachen, Traum und Bewußtsein durchquerte, und er schlug wild um sich, bis er sein neues Heim erkannte. Schweiß bedeckte seinen Körper. Von einem nahen Bord leuchtete bläulich das Zifferblatt einer Uhr. 6.54 Uhr. Er legte sich zurück. Der Morgen auf Boreas hatte begonnen; es war fast Zeit, an die Arbeit zu gehen. Seine Gedanken kehrten zu dem Traum zurück, der ihn so lebensnah gepackt hatte. Er fragte sich, ob das Ende wirklich so gekommen war – schnell, brutal und unausweichlich. Die Uhr schlug sieben, schwieg und schlug nochmals. Er richtete sich auf, um sie abzustellen und schoß fast bis zur Decke empor. Langsam und sanft schwebte er wieder hinab. Ich muß auf diese verminderte Schwerkraft aufpassen, dachte er. Obwohl er den Wecker absichtlich besonders früh gestellt hatte, und sich rasch anzog, hörte er schon die Stimmen der anderen Frühaufsteher und spürte den Geruch von Kaffee und Schinken in der Luft. In der Küche diskutierten Tim und Joel Colbert bereits beim Frühstück. Mrs. Colbert konzentrierte sich auf eine Nachrichtensendung von der Erde. Ross häufte eine
Portion Rührei auf seinen Teller, goß sich sehr behutsam eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben die Frau. »Guten Morgen«, sagte sie und stellte die Nachrichten leiser. »Sie werden froh sein zu hören, daß Sie der erste Neuankömmling sind, dem es gleich beim ersten Versuch glückt, sich eine Tasse Kaffee einzuschenken. Die Neuen überschätzen meist die bei uns herrschende Schwerkraft und bekleckern das ganze Deck. Ich gratuliere!« Myra Colbert war eine große, ziemlich mütterliche Erscheinung, und Ross verlor schnell seine Scheu. Sie hörten eine Weile den Nachrichten zu. Der Sprecher auf dem Bildschirm sagte einen neuen Asiatischen Krieg voraus. Der Kontinent hatte wieder ein Dürrejahr erlebt. Angesichts der wachsenden Bevölkerungszahl und der sinkenden Lebensmittelproduktion forderten die chinesischen Führer, daß ein Teil Australiens für chinesische Auswanderer geöffnet werde. Die UN sei zu einer Sondersitzung zusammengetreten, sagte der Sprecher mit ernster Miene und ging zur nächsten Meldung über. »Au weh!« rief Myra Colbert aus. »Ich bin sehr froh, hier oben zu sein. Wenn die Schießerei losgeht, wird hoffentlich niemand an der guten alten Boreas Anstoß nehmen.« Sie erhob sich und stellte den Fernseher ab.
Wie Ross später erfuhr, war dies ein Ritus, der für die Meteorologen den Beginn des Tagwerks ankündigte. Ross machte sich auf den Weg zu seiner Kuppel. Er fühlte in sich eine Hochstimmung und ein Selbstvertrauen wie schon lange nicht mehr. In der Kuppel überprüfte er zweimal sorgfältig die Positionsmeßgeräte, die Teleskopkontrollen und die Endrelais, ehe er sich bei Joel Colbert meldete. »Aktivieren Sie den Monitor«, gab dieser durch. Die Colberts waren in ihrem eigenen Labor dabei, mit minutiöser Geduld die Stromkreise ihrer Farbfernsehschirme zu überprüfen. »In Ordnung«, sagte Myra Colbert. »Ross, schalten Sie jetzt Ihren Schirm ein; es kann losgehen.« Ein strahlend helles Farbbild des Planeten Erde wurde sichtbar. Es war ein Doppel des Bildes, das die Colberts vor sich hatten. Der Anblick war unglaublich schön. Während eine Erdhälfte im Schatten lag, leuchtete die Sonnenseite in herrlichem Aquamarin, das mit elfenbeinfarbenen Wolkenwirbeln und den ockergelben Flecken des Festlandes gemustert war. Zwischen den Wolkenbänken Europas und Nordamerikas spiegelte der Atlantik das Sonnenlicht wieder. Asien und der Pazifik lagen noch im Dunkeln. Ross wandte seine Aufmerksamkeit jetzt der zentralen Zone des Arktischen Ozeans zu. Dieses gefro-
rene Meer war für den Meteorologen das wichtigste Gebiet auf der Erde. Hier war die Wetterküche für die ganze Welt. Die Umlaufbahn der Boreas eignete sich vortrefflich zur Beobachtung der nördlichsten Regionen. Von seiner Kuppel aus würde Ross die hochempfindlichen Geräte auf die Wetterkessel richten, Stürme beobachten, Änderungen von Lufttemperatur und Windrichtung melden oder einen Blizzard verfolgen und seine mutmaßliche Entwicklung durchgeben. »Mein Bildschirm ist eingeschaltet«, meldete er. »Sind Sie bereit?« Sie waren bereit. Ross und die Colberts hielten über Fernsehen und Intercom Verbindung und bildeten auf diese Weise ein elektronisches Team. In gemeinsamer Arbeit untersuchten sie die Wolkenbildung über der Arktis. Ross hatte anfangs einige Mühe, mit ihren Instruktionen Schritt zu halten. Sein Schulwissen war schon etwas angestaubt. Doch allmählich faßte er wieder Fuß. »Heh! Ich habe ›halt‹ gesagt! Aufwachen!« rief Joel plötzlich scharf. Ross drehte zurück und blickte auf den Schirm. Da, inmitten einer weißen Wolkendecke, erkannte er die für ein Tiefdruckgebiet typische muldenförmige Vertiefung.
»Das haben wir gemeint«, sagte Myra. »Hängen Sie den Tagträumen nach?« »Ein wenig«, gab Ross zu. Er schaute wieder auf den Schirm. »Ob das eine Sturmzelle ist?« »Schon möglich«, erwiderte Joel. Ross schaltete eine stärkere Vergrößerung ein. Ja, die dicken Seitenwände waren für eine Sturmzelle charakteristisch. Es handelte sich offenbar um eine Zone niedrigen Luftdrucks, die zum zentralen Ausgangspunkt für einen regelrechten arktischen Eissturm werden konnte oder im Lauf der nächsten Stunden spurlos verschwinden würde. So etwas war immer schwer vorauszusagen. Ross schoß mit der Infrarotkamera eine Reihe von Bildern, nahm einige Messungen vor und fütterte die Daten dem Computer ein. Innerhalb von Sekunden kam die Vorhersage. Der Sturm würde sich innerhalb einer Woche zu einem südwärts ziehenden Orkan auswachsen und der Seefahrt sehr zu schaffen machen. »Okay!« kam die Stimme Joels durch das Intercom. »Wir wollen von allem Kopien anfertigen, damit sie zur Erde gefunkt werden können.« Ross nahm die belichteten Aufnahmen und begab sich zum Entwicklungsgerät hinüber, das an der Laborwand angebracht war. Er schaltete das Gerät ein, schob die Kassetten mit den Fotos hinein und trat zurück.
Nichts geschah. Was zum Teufel ...? Ross drückte nochmals auf den Einschaltknopf. Die Maschine summte schwach, doch sonst tat sich nichts. Abermals drückte Ross auf den Knopf. Ein rotes Signal leuchtete auf: WARM. Er stutzte. Warm? Der Entwickler konnte sich doch nicht überhitzen – oder doch? Gerade, als er sich an jemand um Rat wenden wollte, sah er den Temperaturregler und stellte ihn um zehn Grad niedriger ein. Noch immer geschah nichts. Ross nahm die Kassetten wieder heraus, achtete darauf, daß alle Kontrollämpchen aufleuchteten, und schob die Bilder wieder hinein. Dann drückte er auf den Knopf. Nichts. Ross fluchte verbittert. Da leuchtete ein neues Signal auf: ENTWICKLUNG LÄUFT. Schon besser, dachte Ross. Aus dem Gerät kam jetzt ein gleichmäßiger, lautloser Summton, während der Film chemisch behandelt wurde und sich zu Negativen entwickelte. Das Signal erlosch und wurde durch ein anderes ersetzt. ENTWICKLUNG ABGESCHLOSSEN. Die Kassetten wurden getrocknet und ausgeworfen.
Er ergriff sie mit der einen Hand, stieß sich mit der anderen in Richtung auf die Tür ab und suchte das Labor der Colberts auf. Joel und Myra waren gerade eifrig dabei, ihren Teil des Sturmberichts an die Erde auszuarbeiten. Joel nahm die Kassetten entgegen und legte sie vorläufig zur Seite, um die Aufmerksamkeit von Ross auf einen Farbdruck zu lenken, der auf der linken Seite einen ungewöhnlichen Fleck aufwies. »Staub auf der Linse?« »Das habe ich zuerst auch gehofft«, sagte Joel. »Aber es scheint etwas Ernsteres zu sein. Dieser Fleck rührt vom Aufschlag eines Mikrometeors her. Das bedeutet, daß die Linse des betreffenden Teleskops ausgewechselt werden muß, ehe wir weitermachen können.« Ross seufzte. Er wußte, was auf ihn zukam. Es war eine Arbeit von fünf Stunden, die Verkleidung des Teleskops abzumontieren, die beschädigte Linse zu ersetzen, die Verkleidung wieder anzubringen und das Gerät neu einzustellen und auszurichten. Myra schenkte ihm einen mitleidigen Blick. »Machen Sie sich nichts draus. Wir warten, bis Sie fertig sind. Schönen Dank für die Entwicklung des Films.« Ross machte sich sofort ans Werk. Mitten in der Arbeit klingelte das Intercom. Ross ließ die Linsen frei in der Luft schweben und meldete sich. »Moran hier.«
Für einen Augenblick drang aus dem Lautsprecher ein lautes Stimmendurcheinander, aus dem nach kurzem eine Einzelstimme klar hervortrat. »Ross, hier ist Joel. Hören Sie, da ist etwas in Ihrer Abteilung schiefgelaufen.« »Was meinen Sie damit?« »Erinnern Sie sich an die Filmkassetten, die Sie mir gebracht haben?« Ross erinnerte sich gut. Sein Herz schlug schneller. »Irgend etwas scheint damit nicht zu stimmen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber Myra kann auf den Bildern nichts erkennen.« Einen Moment lang war die Leitung tot. Dann hörte Ross die schneidende Stimme Julian Martinos. »Moran, ich möchte Sie sofort in meinem Büro sehen. Lassen Sie alles stehen und liegen und beeilen Sie sich gefälligst.« Nach einer eisigen Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie können mit Erklärungen dienen. Die Kommandantin hat mir mitgeteilt, daß Sie auch mit Ihnen sprechen will, wenn wir beide miteinander fertig sind.«
6 Julian Martino schien kurz vor einer Explosion zu stehen. »Setzen Sie sich«, befahl er. Seine ganze Wut schien in diese drei Worte zu münden. Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr einige kleinere Gegenstände. »Erkennen Sie dies hier wieder?« grollte er. »Das sind die Filmkassetten, die ich Joel Colbert übergeben habe«, antwortete Ross. Er fragte sich, worauf Martino herauswollte. »Das sind die Kassetten – sehr richtig«, sagte Martino mit einem Anflug von Sarkasmus. Er löschte die Deckenbeleuchtung. Ross hörte einen Projektor surren, und einen Augenblick später sah er eins seiner Fotos auf einem Bildschirm. Es war verschwommen, und die Farben schienen irgendwie falsch zu sein. Anscheinend hatte Martino versäumt, den Projektor scharf einzustellen, und Ross wartete nervös auf die entsprechende Korrektur. Ross drehte sich nach Martino um, der seinen Blick mit kaum verhohlener Feindseligkeit erwiderte. »Ich weiß, was Sie jetzt denken; aber der Projektor ist richtig eingestellt. Wollen Sie noch ein Bild sehen?« Er drückte auf einen Knopf.
Das nächste Bild stellte Ross vor ein völliges Rätsel. Verschwommene Farbstreifen mischten sich mit einer grießartigen Masse. Das Licht flammte wieder auf. Martino warf die Kassetten mit einer ausholenden Geste in den Papierkorb. »Wertloses Zeug. Hunderte von Dollar und Stunden wertvoller Arbeit für nichts und wieder nichts vertan. Und warum? Weil Sie nicht imstande sind, einen tadellos funktionierenden automatischen Entwickler zu bedienen.« Ross hielt sich mühsam zurück. In seinem Magen breitete sich ein leeres Gefühl aus. »Der Entwickler ist einwandfrei in Ordnung. Er hat noch nie in irgendeiner Weise versagt. Das heißt – bis jemand die Betriebstemperatur um zehn Grad verstellt hat. Wahrscheinlich haben Sie keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« »Ich war es. Der Entwickler hat sich überhitzt, und ich habe –« »Falsch, Mr. Moran, er hat sich nicht überhitzt. Er kann sich nicht überhitzt haben, da Sie nicht einmal so lange gewartet haben, bis er sich aufgewärmt hatte.« Ross schloß die Augen. Warm. Die Maschine hatte sich also aufgewärmt. Er hätte es wissen müssen. »So kam es, daß der Film nicht vollständig entwikkelt wurde und jetzt wertlos ist«, sagte Ross ungläubig zu sich selbst.
Martino blickte auf ihn hinab. »Ich bin an Ihren Ausreden nicht interessiert. Entschuldigungen kümmern mich nicht. Alles, was ich will, ist, daß die Erde planmäßig die Wetterdaten von uns erhält. Dazu ist die Zusammenarbeit aller erforderlich, und niemand kann sich ausschließen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Ich versichere Ihnen, daß es Ihnen leid tun wird, wenn so etwas noch einmal vorkommt. Sie können jetzt gehen, aber vergessen Sie nicht, daß die Kommandantin Sie in einer Stunde erwartet. Eine Stunde, das sind sechzig Minuten, Mr. Moran.« Ross brütete finster über einer Tasse kaltgewordenen Kaffees. Seine Gedanken liefen verzweifelt im Kreis. Er blickte auch nicht auf, als sich jemand zu ihm an den Küchentisch setzte. »So schlimm kann es doch gar nicht sein«, sagte Tim. »Vermutlich nicht«, stimmte Ross zu. »Das Schlimmste daran ist, daß ich es tatsächlich verbockt habe. Es war vollkommen in Ordnung, daß mich Martino zusammengestaucht hat.« »Ich bin an seiner Tür vorbeigegangen und habe ihn schreien gehört.« Tim stieß einen Pfiff aus. »Für diese Art der Menschenbehandlung gibt es keine Rechtfertigung.«
Ross nippte am Kaffee und stellte ihn angeekelt auf die Seite. »Ich dachte, ich könnte ihn beruhigen, aber er hat mir keine Chance zu irgendeiner Erklärung oder Entschuldigung gegeben. Er hat mich einfach niedergewalzt.« »Ja, das ist genau sein Stil.« Tim nickte. »Er versucht mit aller Gewalt, sich den Ruf eines tüchtigen Verwaltungsbeamten zu verschaffen. Du weißt schon – der Mann, bei dem alles klappt. Der über Leichen geht. Auf diese Weise kommt sein Name ins Gespräch.« »Hinter was ist er her?« »Ich wette zehn zu eins, daß er es auf den Posten des Kommandanten abgesehen hat.« Ross glaubte, aus Tims Tonfall den Ausdruck einer alten Feindschaft herausspüren zu können, einer Feindschaft, deren Ursprung weit zurückliegen mußte. »Martino als Kommandant der IRV?« Ross wurde es unbehaglich bei diesem Gedanken. »Aber sicher. Er ist auf den Posten von Eva Keough scharf. Momentan ist er ja nicht mehr als ihr Henkersknecht.« Ross lächelte grimmig. »Das macht er ja ganz gut.« »Er kann nichts tun, als dich anzuschreien und zu hoffen, daß du durchdrehst.« »Moment mal – schließlich war doch ich derjenige, der Mist gebaut hat.«
»Sei nicht so schnell zur Hand, den Mann zu verteidigen«, entgegnete Tim. »Was willst du damit sagen?« fragte Ross scharf. »Nun, Joel Colbert war ganz schön wütend über die Angelegenheit. Ich mußte ihm ein Beruhigungsmittel geben. Er hat mir erzählt, daß diese Filme gar nicht so wichtig sind, wie Martino dich glauben machen will. Er und Myra haben den Bericht schon fix und fertig. Die Bilder sind nur Illustrationsmaterial, und Joel war furchtbar aufgebracht, weil Martino so viel Wind um nichts gemacht hat.« »Aber wozu sollte diese Dampfwalzen-Masche denn gut sein? Wollte er mich wütend machen?« Tim zuckte die Achseln. »Wenn man nach dem äußeren Schein urteilt, muß die Antwort ›ja‹ lauten.« »Aber du weißt es besser, nicht wahr? Los, du Meisterdetektiv, rück schon 'raus damit!« drängte Ross. Tim lachte. »Ich schreibe doch nur Kriminalromane.« »Du weichst aus.« »Also schön, weil du so sehr darauf beharrst, werde ich's dir erzählen. Aber es wird dir nicht gefallen.« »Nun sag schon.« Der heitere Tonfall war aus Tims Stimme völlig verschwunden. »Ich glaube, daß er versucht hat, dich einzuschüchtern und so in die Enge zu treiben, daß du nur noch zu seinen Bedingungen herauskannst.« »Du hast recht, ich bin davon nicht gerade erbaut –
zumal ich jetzt gleich bei Kommandantin Eva Keough vorreiten muß.« Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Wenn sie mich nach Martinos Methode behandelt, dann habe ich darauf die beste Erwiderung, die es gibt – nämlich die Wahrheit.« »Darauf würde ich mich nicht allzu sehr verlassen«, warnte Tim. »Sie hat viel Einfluß, und es könnte dir so gehen wie Hanks. Aber nimm dir's nicht zu Herzen. Vielleicht kannst du herausfinden, was mit Eva Keough eigentlich los ist. Die meisten glauben, sie ist von Natur aus unfreundlich.« »Und du glaubst das nicht?« »Überhaupt nicht«, antwortete Tim gelassen. Eckig. Das war der erste Eindruck, den Ross von Eva Keoughs Gesicht empfing. Glatt und faltenlos spannte sich die Haut; die Kommandantin hatte nichts von der Molligkeit aufzuweisen, die Frauen in ihrem Alter oft eigen ist. Auch mit zweiundfünfzig war Eva Keough noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Sie mußte einmal sehr schön gewesen sein, dachte Ross, und etwas davon war auch jetzt noch zu ahnen, wenn ihr Gesicht wie bei Ross' Eintritt einen energischen Ausdruck annahm. Ross rief sich Tims Ratschläge ins Gedächtnis und nahm sich vor, gelassen zu bleiben. Doch ihr silberweißes kurzes Haar und ihre makellose IRV-Uniform
mochte vielleicht eine übertriebene Strenge vortäuschen. Taktvoll vermied sie es, die Angelegenheit mit den Filmkassetten zu erwähnen. »Mr. Gurvitsch hatte mir freundlicherweise eine Kopie Ihrer Universitätszeugnisse zukommen lassen«, sagte sie in kühlem Ton. »Ich war von Ihrer akademischen Qualifikation beeindruckt und habe Ihrer Aufnahme hier an Bord zugestimmt.« »Danke«, sagte Ross so unverbindlich wie möglich. »Sie sind sich selbstverständlich der Tatsache bewußt, daß die IRV Ihnen als Gegenleistung für Ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Meteorologie ein beträchtliches Gehalt zahlt. Sie hätten es auf der Erde schwer, eine ähnliche Stellung zu bekommen.« Bestürzt nickte Ross. »Sie brauchen nicht gleich zu erschrecken«, sagte sie herzlich. »Ich bin sicher, daß wir uns verstehen werden. Das ist sehr wichtig. Ihr Vorgänger, Mr. Jonathan Hanks, wollte das nicht einsehen. Er war unfähig, auf andere Besatzungsmitglieder einzugehen und verursachte andauernd Reibereien. Ich habe ihn wiederholt gewarnt, aber –« Ross hob die Augenbrauen. Das sah Hanks gar nicht ähnlich. Die Kommandantin bemerkte seine Reaktion. »Vielleicht hat er Ihnen gegenüber andere Gründe für
seine Entlassung angegeben. Die Hauptsache ist, Sie vermeiden seine Verhaltensweise.« Ross nickte geistesabwesend. Er hatte das Gefühl, daß sie mit etwas zurückhielt. »Ich habe von Reibereien gesprochen«, fuhr sie fort. »Sie werden inzwischen schon bemerkt haben, daß sich trotz meiner Bemühungen eine – wenn auch leise – Zwietracht hier an Bord eingeschlichen hat. Die Mannschaft ist in Cliquen zerfallen.« »Meine Arbeit hält mich die ganze Zeit in Atem«, wich Ross aus. »Natürlich, Sie sind hier neu, und diese Probleme lassen Sie wahrscheinlich kalt.« »Ich kann schon sehen, daß diese Probleme wichtig sind«, beeilte sich Ross zu versichern. »Ich hatte nur noch keine Zeit, alle Kollegen kennenzulernen und ihnen zuzuhören.« »Ich habe nichts gegen eine ernsthafte Meinungsäußerung. Aber wenn die Arbeit darunter leidet, muß ich Gegenmaßnahmen ergreifen.« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Ich tue so etwas sehr ungern. Aber meine Position als Vorgesetzte läßt mir keine andere Wahl. Aufgrund meines Ranges bin ich meist die letzte, die es merkt, wenn sich an Bord etwas zusammenbraut – und dann kann es zu spät sein. Ich suche nach einem Weg, von problematischen Entwicklungen Kenntnis
zu erhalten, ehe sie sich ausweiten und die Produktivität der Arbeit ungünstig beeinflussen.« Oder, anders ausgedrückt – sie suchte nach einem Spitzel, dachte Ross, einem Informanten. Ihre Stimme wurde weich. »Meine Arbeit läßt mir zuwenig Gelegenheit, mich diesen ernsten Problemen im notwendigen Umfang zu widmen.« Will sie mich etwa persönlich auffordern? dachte Ross. Ihn fror bei dem Gedanken. »Ich suche«, fuhr sie fort, »eine Vertrauensperson – jemanden wie Sie. Sie besitzen Intelligenz und ein selbständiges Urteil. Sie sehen genau wie ich die Gefahren, die von dieser Cliquenbildung ausgehen. Alles, was Sie tun müßten, wäre, sich ein bißchen umzusehen und umzuhorchen.« Ross hielt sich nur mühsam zurück. Er hatte noch nie eine so beleidigende Einladung erhalten. »Ich glaube nicht, daß ich der richtige Mann für so etwas bin.« »Ich fürchte, Sie verstehen nicht recht.« Ihre Augen waren schmal geworden. »Ich glaube, ich verstehe Sie sehr wohl.« »Wer hat Ihnen etwas erzählt?« zischte sie. Ross schwieg. »Wer war es?« fragte sie wütend. »Diehle? Nystrom?« Ross bewunderte seine Selbstbeherrschung. »Wie
gesagt, ich bin hier neu, und meine Arbeit nimmt mich vollkommen in Anspruch.« »Moran, Sie machen einen ernsten Fehler.« Ihre Stimme klang kraftlos. Sie hatte den Kampf verloren. Lächerlich, dachte Ross, während er am Teleskop weiterbastelte. Was bildet diese Frau sich eigentlich ein? Sie glaubt, sie braucht nur mit den Fingern zu schnippen, und Ross Moran, Geheimagent und Vertrauensmann der Kommandantin, ist zur Stelle. Er fragte sich, an wieviel Besatzungsmitglieder sie noch herangetreten war und wieviel angebissen hatten. Hatten die Wände Ohren? Er riß sich zusammen. Nur kein Verfolgungswahn, sagte er zu sich selbst, und arbeitete weiter. Er spürte jetzt heftig den Schmerz, der von einer Verletzung an seiner rechten Hand ausging. In einem Moment der Unachtsamkeit war er mit dem Schraubenzieher ausgerutscht und hatte die blutende Wunde zunächst ignoriert. Er verließ das Labor und machte sich auf die Suche nach einem Verbandskasten, den er im nächsten Gang neben dem Feuerlöscher vermutete. Doch die Wand war leer. Blut floß aus der Schnittverletzung. Die medizinische Station lag auf der anderen Seite von Boreas; der weite Weg lohnte sich nicht. Vielleicht ist der Verbandskasten bei Dr. Nystrom, dachte Ross. War das
nicht seine Stimme, die aus der astronomischen Abteilung herüberklang? Die Tür des Labors war einen Spalt weit geöffnet. Ross hörte das Summen der Geräte und ein leichtes »Bumms«, mit dem etwas immer wieder gegen die Tür prallte. Er rief nach Dr. Nystrom. Bumms! Ross stieß die Tür auf. Der Raum war leer. Plötzlich schoß etwas mit unglaublicher Geschwindigkeit an Ross vorbei, drehte ein paar spektakuläre Kurven, schoß wieder auf ihn zu, verhielt und setzte sich. Ross starrte auf das smaragdgrün glänzende Geschoß. Der Kolibri blinzelte zurück. Ross nahm ihn behutsam in die unverletzte Hand, und der Vogel ließ es sich protestlos gefallen. Er sah sich in dem Raum um. Ein Vogelkäfig hing von der Decke; doch ein Verbandskasten war nicht zu entdecken. Nach längerer Suche fand ihn Ross hinter der Tür. Er versorgte seine Hand und wollte das Labor gerade verlassen, als er fast mit Timothy Diehle zusammenstieß. Ross grüßte ihn überrascht. »Ich habe dich in der Arztstation vermutet.« »Und ich dachte, du seist bei Eva Keough«, erwiderte Tim. »Ist Dr. Nystrom da?« »Nein. Ich dachte zuerst auch, er sei da.«
»Was ist mit dir los, Ross? Du bist ja ganz durcheinander. Hat Eva dir sehr zugesetzt?« »Eigentlich nicht.« Er gab Tim eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs, ohne jedoch ihre Aufforderung zu Spitzeldiensten zu erwähnen. Es ist am besten, die Angelegenheit so bald wie möglich zu vergessen, dachte er. »Ja, so ist sie«, stimmte Tim zu. »Sie verliert niemals ihre Beherrschung.« Ross verzog das Gesicht. »Martino gleicht das völlig wieder aus.« »Wie wahr. Sie bilden ein richtiges Team. Es wäre komisch, wenn dahinter nicht so viel Methode stekken würde. Sie versuchen es mit jedem auf die gleiche Tour. Gibst du mir Bescheid, wenn Dr. Nystrom zurückkommt?« Ross versprach es und kehrte zu seinem Teleskop zurück. Während er die Azimut-Kontrollen einstellte, fielen ihm plötzlich siedend heiß Tims Worte ein: Sie versuchen es mit jedem auf die gleiche Tour. Mit jedem. War denn so etwas möglich? Es bedeutete, daß Eva Keough und Julian Martino irgendwann auch an Tim herangetreten waren und auch ihn zu Spitzeldiensten aufgefordert hatten. Ross fragte sich, welches Besatzungsmitglied von Tim hätte beobachtet werden sollen. Etwa Dr. Nystrom?
Nein. Und doch – die Kommandantin hatte gerade diesen Namen mit unverkennbarer Heftigkeit ausgesprochen. Dann fiel ihm ein, daß sie im gleichen Atemzug auch Tims Namen genannt hatte. Anscheinend war Tim also nicht auf ihren Vorschlag eingegangen. Aber die Vermutung, daß auch er zu Spitzeldiensten gedrängt werden sollte, blieb bestehen. Die Saat des Argwohns war gesät, der Keim des Mißtrauens gepflanzt. Dann durchfuhr ihn ein eisiger Schrecken. Tim hatte ihn unmittelbar nach dem Gespräch mit der Kommandantin aus dem Labor von Dr. Nystrom kommen sehen. Nahm Tim am Ende gar an, er sei der Informant Evas geworden? Glaubte Tim vielleicht, er habe Dr. Nystroms Sachen nach belastendem Material durchwühlt? Er konnte Tim einen derartigen Trugschluß nicht übelnehmen. Der Augenschein sprach gegen Ross. Unter den gegenwärtigen Umständen hatte Tim guten Grund zu der Annahme, daß Ross für die Kommandantin arbeitete.
7 Es war offensichtlich, daß irgend etwas Dr. Nystrom beschäftigte. »Er ist fast zum Einsiedler geworden«, sagte Ross. Es war eine Woche nach der Unterredung mit Eva Keough. Ross hatte das Gefühl, Tims Vertrauen soweit wiedergewonnen zu haben, daß er mit ihm Themen von beiderseitigem Interesse besprechen konnte. Sie saßen in der Kombüse am Tisch. »Sicher, ich habe es auch bemerkt«, sagte Tim. »Er arbeitet den ganzen Tag in seinem Labor. Auf jeden Fall ist die Tür die ganze Zeit verschlossen. Aber ich glaube nicht, daß es unbedingt etwas Besonderes zu bedeuten hat.« »Er verhält sich völlig anders als auf der Hauptstation«, konterte Ross. »Man bekommt ihn kaum zu Gesicht, und wenn, dann blickt er besorgt drein.« »Das heißt, er ist in seinem radioastronomischen Labor hart an der Arbeit. Ich muß allerdings zugeben, daß es sich um etwas sehr Wichtiges handeln muß, wenn er darauf achtzehn Stunden des Tages verwendet.« Tim unterbrach sich, denn der Mann, von dem die Rede war, betrat soeben den Raum. »Hier seid ihr also!« rief Dr. Nystrom aus. »Die
ganze Mannschaft sucht euch. Ich frage mich, warum sie nicht zuerst hier hereingeschaut haben.« »Wo kann man denn sonst Kaffee bekommen und sich unterhalten, wenn es so früh am Tag ist? Doch was soll die ganze Aufregung?« »Eva hat im Saal eine Versammlung einberufen. Nur ihr beide fehlt noch.« Mit einem Schlag ging in der Kombüse das Licht aus, und die Notbeleuchtung schaltete sich ein. In den Gängen und sogar im Saal war es dasselbe. Die Besatzung saß oder stand an einer Reihe von Tischen. Die Kommandantin hatte den Vorsitz. Als Ross, Tim und Dr. Nystrom schließlich Stühle gefunden hatten, begann sie zu sprechen. »Ich habe Sie von Ihren Arbeitsplätzen hergebeten, weil sich etwas ereignet hat, das uns alle betrifft. Boreas arbeitet im Augenblick mit Notstromaggregaten, da ich die Stillegung des Reaktors angeordnet habe. Eines der wichtigsten Plutoniumelemente droht kritisch zu werden und macht die weitere Benützung des Reaktors gefährlich. Ich habe die Erlaubnis eingeholt, alle Arbeiten einzustellen, bis der Stab ausgetauscht ist.« In dem düster beleuchteten Saal erhob sich ein Stimmengemurmel. »Das bedeutet jedoch keinen Urlaub«, fuhr die Kommandantin kalt fort. »Ganz im Gegenteil. Unter
normalen Umständen wäre die Durchführung der Reparatur die Angelegenheit der Hauptstation. Bis zum Eintreffen des Reparaturteams würden drei Tage vergehen. So lange können wir nicht warten. Ich habe deshalb beschlossen, das kritische Element gegen ein Element aus unseren eigenen Vorräten auszutauschen. Als Operationsbasis dient das Versorgungsschiff. Die Aktion steht unter dem Befehl meines Assistenten Julian Martino. Er und der Elektronikspezialist der Station, Alan Essenfield, sind genau instruiert worden. Dr. Nystrom wird ihnen helfen. Ross Moran wird die Aktion vom Versorgungsschiff aus beobachten.« »Ich wußte gar nicht, daß du dich freiwillig gemeldet hast«, flüsterte Tim. »Ich auch nicht«, erwiderte Ross, als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Kurz darauf betrat Ross das Innere des Versorgungsschiffes. Martino gab ihm kurz Bescheid über den Verlauf der Aktion. Ross' Aufgabe bestand vorwiegend darin, den Fortschritt der Arbeiten zu verfolgen und Meldungen an den Satelliten durchzugeben, während die anderen drei sich draußen in ihren Raumanzügen bewegten. Er hatte insgeheim gehofft, selbst aktiv mitwirken zu können, aber Martino zerstörte seine Hoffnungen schroff.
»Sie bleiben im Schiff und halten beide Augen offen. Lassen Sie uns nicht aus Ihrem Blickfeld.« Kurze Zeit später hatte das Schiff die Boreas umrundet, und der massive Stahlklotz des Reaktors kam in Sicht. Dr. Nystrom legte an der Spitze der sechzig Meter langen Achse an, die aus dem nichtrotierenden Bereich des Satelliten hervorragte. Ross half ihm und Martino beim Anlegen der weißen Druckanzüge, während Alan Essenfield mit geübten, flinken Bewegungen in den seinigen schlüpfte, den Bleizylinder mit dem neuen Plutoniumelement aufnahm und die kleine Gruppe schließlich zur Ladeluke führte. Der Riegel wurde aufgeschoben, und die drei trieben in den Raum. Ross begab sich eilig in den Führerstand des Schiffes, der in einer durchsichtigen Plastikkuppel untergebracht war. Er stellte die Funkverbindung zwischen den Männern draußen und dem Satelliten her und brachte das Schiff in eine Position, die ihm den optimalen Überblick ermöglichte. »Wir sind soweit«, kam Dr. Nystroms Stimme krächzend aus dem Lautsprecher. Sehr zuversichtlich klang das nicht, dachte Ross. Die drei Gestalten hatten inzwischen vor dem Reaktor haltgemacht. Sie waren sorgfältig darauf bedacht, mit dem Plutoniumstab vorsichtig umzuge-
hen, auch wenn er in einem Schutzbehälter untergebracht war. »Essenneid und Martino öffnen die äußere Verriegelung«, meldete Dr. Nystrom eine Minute darauf. Sie warteten, während Dr. Nystrom Martino einen Behälter überreichte, der dazu bestimmt war, den ausgestrahlten Plutoniumstab aufzunehmen. Mit einer Spezialgreifvorrichtung sollte Essenfield nach Öffnung der inneren Verriegelung das schadhafte Element in diese Schutzhülle praktizieren. Danach sollte das neue Element aus seinem Behälter entnommen und anstelle des alten Brennstabes eingesetzt werden. Wie beim Auswechseln von Zündkerzen, dachte Ross. »Äußere Verriegelung geöffnet«, gab Dr. Nystrom durch. »Jetzt öffnet Essenfield die innere und –« Die Wucht herauspuffenden komprimierten Gases erfaßte Essenfield direkt von vorn und wirbelte ihn in den Raum. Er ruderte wild mit den Armen. Der Sog des Gases war stark genug, den Plutoniumstab aus dem Reaktor mit sich zu reißen. Wie eine schwarze Giftschlange schoß er aus der offenen Luke. Dr. Nystrom schrie eine Warnung. Vermutlich hatte Martino den Schrei nicht gehört. Er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den Versuch, den Deckel von seinem Behälter abzunehmen. Als er an dem klemmenden Verschluß ne-
stelte, machte er mit seinem Arm eine Bewegung zur Sichtscheibe seines Helms. Dieser Umstand rettete ihm das Leben. Der Plutoniumstab schmetterte gegen seinen linken Unterarm und Ellbogen, wo sein Druckanzug zu einer teerigen Masse zerschmolz. Der Stab übertrug seine Bewegungsenergie auf den Mann, der hilflos um die eigene Achse zu kreisen begann. Dr. Nystrom packte ihn am Arm und rief nach Alan Essenfield. Ross konnte alles beobachten. Eine Sekunde lang starrte er erschrocken auf die Szene, dann ließ er seine Hand zur roten Taste des Funkgeräts gleiten. Sein Tastendruck ließ auf dem Computerschirm der Boreas die Worte NOTFALL NOTFALL NOTFALL aufleuchten, und gleichzeitig erfaßten konzentrierte Bündel blauweißen Lichts die drei Männer. Dr. Nystrom schleppte den um sich schlagenden Körper Martinos zur offenstehenden Luftschleuse des Schiffes. Ross hörte, wie das Schloß einschnappte und die Innentür aufging. »Helfen Sie mir, ihn aus dem Anzug zu ziehen«, befahl Dr. Nystrom.
Ross sprang hinzu und arbeitete an dem Seitenverschluß des Anzugs. Dr. Nystrom schraubte den Helm ab und wandte sich dem Führerstand zu. Ross befreite den Verletzten, der inzwischen bewußtlos geworden war, vollends aus seinem Druckanzug. Dr. Nystrom machte sich daran, das Schiff zu starten. »Halt!« rief Ross. »Was ist mit Essenfield?« »Wir holen ihn später«, antwortete Dr. Nystrom. Seine Finger drückten die Kontrolltasten, und Ross spürte, wie das Schiff beschleunigte. Sie bewegten sich eine Weile vorwärts, dann lenkte Dr. Nystrom das Schiff zur Anlegerampe und öffnete die Ladeluke. Ross hob den bewußtlosen Körper Martinos auf und trug ihn in die Station. Tim schnappte nach Luft, als er den blutigen, strahlenverbrannten Arm zu sehen bekam. »Los, wir bringen ihn zur Krankenstation«, sagte er. Als sie dort angekommen waren, machte sich Tim mit schnellen und dennoch behutsamen Griffen an dem Bewußtlosen zu schaffen, und schon nach einer kurzen Weile belebte sich der Puls Martinos. Dann begann er zu flattern. Verzweifelt stülpte Tim eine Sauerstoffmaske über das Gesicht des Verletzten und injizierte eine klare Flüssigkeit in die Vene des linken Oberarms. »Das müßte ihn stabilisieren«, sagte er, als er den Puls wieder stärker spürte.
Niemand hatte bemerkt, daß die Kommandantin Eva Keough inzwischen den Raum betreten hatte. »Gut«, sagte sie teilnahmslos. »Bleiben Sie bei ihm.« Tim nickte. »Selbstverständlich. Er sollte in die Klinik der Hauptstation verlegt werden. Dort sind sie darauf eingerichtet, Strahlenverbrennungen angemessen zu behandeln.« »Nein«, sagte Eva Keough. »Wie? Hier kann er nicht bleiben!« drängte Tim. »Ich habe gesagt, er bleibt hier. Er wird ohne meine ausdrückliche Genehmigung nicht verlegt!« »Aber, Kommandantin –« »Ich denke, Ihr Patient wird über die Runden kommen«, sagte sie bestimmt. Ross hatte einen Wutausbruch Tims erwartet. Der Arzt wandte seine Aufmerksamkeit jedoch seinem Patienten zu, der zu stöhnen begann. Tim gab ihm noch eine Injektion. Dann säuberte er die Wunde, indem er aus einer Sprühdose Plastikschaum daraufsprühte. Die verkohlten Reste des Anzugs wurden nach oben geschwemmt, und Tim konnte die Wunde verbinden. Ross machte sich auf den Weg zum Saal. Als er eintrat, vernahm er die besorgte Stimme Dr. Nystroms. »... aber der Mann ist schwer verletzt«, protestierte Dr. Nystrom.
»Ich weiß das, und ich weiß ihr Angebot, Martino zur Hauptstation zu überführen, zu schätzen«, entgegnete die Kommandantin. »Aber ich habe entschieden, daß er vorläufig hierbleibt.« »Das ist eine gravierende Fehlentscheidung, Kommandantin. Ich bitte Sie, das noch einmal zu überdenken.« »Ich habe volles Vertrauen in die Fähigkeiten unseres Arztes. Teilen Sie dieses Vertrauen vielleicht nicht, Dr. Nystrom?« Dr. Nystrom schnaubte. »Das ist völliger Unsinn.« »Seien Sie doch ehrlich. Ist es nicht so, daß Sie in Wirklichkeit die Fähigkeiten aller Mannschaftsmitglieder in Zweifel ziehen – mit Ausnahme Ihrer eigenen?« Was für ein Unsinn, dachte Ross. Dr. Nystrom schoß das Blut ins Gesicht. »Sie sind doch nur gekränkt«, fuhr Eva Keough fort, »weil Ihre berufliche Arbeit unterbrochen worden ist. Nein? Dann erklären Sie mir einmal, warum Sie so scharf darauf waren, einen Platz bei der Reparaturgruppe zu erhalten? Liegt Ihnen diese Nova so sehr am Herzen?« »Überhaupt nicht. Aber da Sie das Thema schon angeschnitten haben – finden Sie es nicht auch seltsam, daß Sie die Energie lahmlegen lassen zu einem Zeitpunkt, an dem ich Sie gebeten habe, in meinem Labor
ungestört durcharbeiten zu dürfen? Und diese Maßnahme mußte unbedingt so eilig durchgeführt werden, daß man nicht einmal auf ausgebildete Nuklearspezialisten warten konnte. Sie haben Amateure hinausgeschickt. Einer davon ist verletzt worden, und jetzt –« »Ich glaube, es ist weder Ort noch Zeit, darüber zu diskutieren. Sollten Sie jedoch darauf bestehen, so muß ich Sie daran erinnern, daß Sie nach den Vorschriften der IRV wegen Widersetzlichkeit belangt werden können. Ich rate Ihnen, sich das gut zu überlegen, Dr. Nystrom.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und schritt aus dem Saal. Dr. Nystrom setzte sich auf einen Stuhl und starrte düster in eine Ecke. »Sie würde ihre Drohung nicht wahrmachen, oder?« fragte Ross. »Nein, das ist unwahrscheinlich«, antwortete Dr. Nystrom. »Denn eine Untersuchung würde schließlich auch ihre Rolle in dem ganzen Schlamassel beleuchten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie eine derartige Publizität wünscht. Aber es gibt eine Einzelheit, die wir beide vollkommen übersehen haben. Wir hätten eigentlich wieder in das Schiff zurückkehren und Essenfield an Bord holen sollen.« Ross nickte. »Er ist noch draußen. Ist alles in Ordnung mit ihm?«
»Ja. In der Aufregung habe ich vergessen, daß er noch draußen beim Reaktor war. Aber das ist nicht weiter schlimm. Alan ist ein alter Raumhase. Seit fünf Minuten ist er wieder auf Boreas.« Ross rechnete. »Dann war er also fünfundfünfzig Minuten allein draußen.« »Er ist inzwischen nicht müßig gewesen«, fuhr Dr. Nystrom fort. »Er hat den herausgeschleuderten Plutoniumstab in dem Behälter untergebracht. Und dann hat er zu Ende geführt, was unsere eigentliche Aufgabe war.« »Sie wollen damit sagen, daß er das neue Element eingesetzt hat? Ganz allein?« »Haben Sie nicht bemerkt, daß sich die Normalbeleuchtung wieder eingeschaltet hat?« fragte Dr. Nystrom lächelnd. Tatsächlich fluoreszierte von der Decke strahlende Helligkeit anstelle des düsteren Blaus der Notbeleuchtung. Zum erstenmal fiel Ross die Farbenpracht der Wandmalerei im Versammlungsaal auf. Dr. Nystrom kramte in seinen Taschen nach Pfeife und Tabak. Nachdem er die Pfeife angesteckt hatte, fuhr er fort. »Verstehen Sie, was das bedeutet? Es hat sich herausgestellt, daß Eva Keough die Sachlage völlig richtig beurteilt hat. Es war kein Ingenieurteam nötig, um die Brennzelle auszutauschen.
Alan konnte die ganze Operation allein durchführen. Ein einzelner Mann. Und ich neige allmählich zu der Annahme, daß sie auch mit ihren Äußerungen über meine Arbeitseinstellung recht hat. Vielleicht habe ich mich wegen der Nova in das Reparaturteam gedrängt.« »Daran kann ich keine Sekunde glauben«, erwiderte Ross. »Und ich habe Sie alle drei beobachtet, als es geschah. Sie haben getan, was Sie konnten.« »Danke«, sagte Dr. Nystrom. »Vielleicht sehe ich Gespenster. Im übrigen ist mir diese Nova tatsächlich sehr wichtig. Wenn sie meine Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigt hätte, läge Martino vielleicht nicht mit der schrecklichen Verbrennung in der Krankenstation.«
8 Ross stand hinter einer niedrigen Granitmauer und ließ seinen Blick über die endlose See schweifen. Die Brandung schäumte gegen eine ferne Küste. Die Sonne stand am Horizont wie ein karmesinrotes Schiff. Wenn Ross die Szene hinter halbgeschlossenen Lidern verschwimmen ließ, machte sie den Eindruck, real zu sein. Jedenfalls war sie real genug, um ihn die Tatsache vergessen zu lassen, daß er sich in der Panoramabibliothek von Boreas befand. Die Stimmung war perfekt. Ross schloß die Augen und versuchte sich zu entspannen. Aber es war leichter, eine friedliche Illusion an die Wand zu projizieren, als den harten Spannungsknoten zu vergessen, in dem sich sein Magen zusammenkrampfte. Seit dem Unfall beim Reaktor waren einige Wochen verstrichen. Eva Keough hatte sofort die gefährliche Stimmung erkannt, die sich an Bord auszubreiten begann, und Arbeitserleichterungen angeordnet. Der Dienstplan wurde entschärft, und auf schwierige Sonderaufgaben wurde verzichtet. Julian Martino war weiterhin ans Bett gefesselt. Eine Zeitlang schien das Leben ganz normal zu verlaufen, und manchmal machte es sogar Spaß.
Dann schlich sich das Gefühl allmählich wieder ein. Das Gefühl von Angst. Ross spürte es jetzt am eigenen Leib. Er erschrak bei unerwarteten Geräuschen und fuhr zusammen, wenn ihn jemand unvermutet ansprach. Schon ein freundlicher Gruß konnte ihn aus der Ruhe bringen. Er wartete auf einen Knall, der niemals kam, und er wußte nicht einmal, warum er wartete. Die Musik von Mozart wurde leiser, und er hörte, wie sich von hinten feste Schritte näherten. »Du machst den Eindruck eines Menschen, der es sich gutgehen läßt«, sagte Tim. »Mehr, als du dir vorstellen kannst«, sagte Ross erleichtert. »Ich habe die Panoramabänder schon selbst benutzt, aber diese besondere Szene noch nicht.« »Sie ist gar nicht so übel. Setz dich doch hin und laß dich von deiner Phantasie davontragen.« »Das klingt nicht schlecht.« Tims Tonfall war abwesend und unpersönlich, und Ross fragte, ob es wohl Schwierigkeiten mit Martino gäbe. Tim verneinte. »Was ist dir dann über die Leber gelaufen?« forschte Ross. »Sieht man's mir an? Ja? Nun ja, du hast recht. Es handelt sich um eine rätselhafte Angelegenheit, und
wenn du mich nicht danach gefragt hättest, hätte ich die Sache gar nicht erwähnt.« »Schon gut, kommt jetzt zur Sache«, lachte Ross. »Es ist ziemlich ernst. Als ich vor einer Weile Dr. Nystrom besuchen wollte, stand seine Tür einen Spalt breit auf; doch er selbst war nicht anwesend.« »Das ist doch nichts Besonderes«, sagte Ross, der sich an sein eigenes Erlebnis mit dem Kolibri erinnerte. »In der Nähe der Tür konnte ich es riechen.« »Es? Was meinst du damit?« Ross wurde von dem Argwohn beschlichen, daß ihn Tim auf den Arm nehmen wollte. »Ich meine diesen seltsamen Geruch. Es roch unverkennbar nach –« Tim suchte das richtige Wort – »– nach Kiefernnadeln.« »Ist das alles?« »Nein, warte doch. Zuerst dachte ich, es käme von einem Luftverbesserer mit Kiefernnadelduft oder etwas ähnlichem. Aber dann fiel mir ein, daß die IRV stark riechende Substanzen von allen Raumfahrzeugen verbannt hat, weil die Lufterneuerungsanlagen diese Gerüche nicht verkraften. Vermutlich sind die Filtereinsätze zu empfindlich. Diese Anordnung gilt ohne Ausnahme.« »Hoffentlich«, bemerkte Ross. »Wenn das Belüftungssystem versagt, können wir uns nicht mehr lan-
ge am Leben halten. Vielleicht hat jemand ein Rasierwasser geschmuggelt?« Tim dachte nach. »Ich glaube nicht, daß Dr. Nystrom es riskieren würde, mit so etwas geschnappt zu werden. Wenn Eva es entdecken würde, wäre es mit seiner Arbeit auf Boreas vorbei. Die IRV kennt da keinen Spaß. Sogar meine medizinischen Sprays sind auf besondere Weise neutralisiert, damit es keinen Ärger gibt.« »Wenn du meinst, daß ich – okay, wir wollen der Sache gleich mal nachgehen«, seufzte Ross. Er drehte an einem Schalter, und Meer und Sonne verschwanden von den Wänden. Einige Minuten später standen sie vor dem radioastronomischen Labor. »Genau hier war es«, sagte Tim fest. Ross amtete prüfend die Luft ein. »Ich rieche nichts Ungewöhnliches«, sagte er zu Tim. Ross war stolz auf seine empfindliche Nase. »Jedenfalls war es hier«, beharrte Tim. »Und es war so real wie die Tannen und Kiefern beim Zelten in den Rocky Mountains. Ich versichere dir, daß es keine Einbildung war.« Ross äußerte die Vermutung, daß die Luftreiniger diesen besonderen Geruch ausgeströmt hätten. Doch dann kam ihm eine andere Idee, und er überredete Tim, mit ihm in den Panoramaraum zurückzugehen.
Dort wählte Ross eine besondere Szene aus und legte das Band in das Projektionsgerät. Das kahle Weiß der Wände verwandelte sich in ein dunkles Grün. Von irgendwoher schien eine Brise zu kommen, die die Zweige leise bewegte. Sie befanden sich auf einer Waldlichtung. »Spürst du jetzt den Waldgeruch?« fragte Ross. Tim nickte versunken. Dann schreckte er hoch und schüttelte heftig den Kopf. »Ich merke jetzt, worauf du hinauswillst. Du meinst, ich hätte an Kiefernbäume gedacht – und mir dann eingebildet, sie auch zu riechen?« »So ähnlich. Autosuggestion.« »Wahrscheinlich war es ziemlich dumm von mir, über die Sache zu reden«, sagte Tim leise und verlegen. »Tut mir leid, dich gestört zu haben.« Ross saß noch lange da, als Tim gegangen war, und dachte nach. Er bezweifelte die Erzählung seines Freundes nicht, so befremdlich sie auch klingen mochte, und seine Neugierde war stark genug, um ihn noch einmal vor Dr. Nystroms Labor zu führen. Abermals konnte er nichts Besonderes riechen. Der Ort war still und leer. Fast still. Ross konnte das Surren der elektronischen Geräte aus dem Raum des Radioastronomen hören, und er dachte, daß ein Besuch bei dem Wissenschaftler seinen Nachforschungen vielleicht dienlich sein könne.
»Wer ist da?« fragte Dr. Nystrom erschrocken, als Ross an die Tür klopfte. Als sich Ross zu erkennen gab, wurde er sofort eingelassen. »Ich hatte gefürchtet, es sei jemand anders«, entschuldigte sich Dr. Nystrom. »Ich freue mich jedenfalls, daß Sie hier sind. Es gibt etwas, das ich Ihnen zeigen wollte.« Ross folgte ihm durch sein phantastisches Reich aus Oszilloskopen und Verstärkern zu einem kleinen Apparat, der an der Wand befestigt war. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine Kaffeemaschine. »Trinken Sie doch einen Kaffee, während ich den Käfig von Whit reinige.« »Whit? Ist das der Name Ihres Kolibris?« »Genau. Da Sie ihm schon einmal begegnet sind, kann ich die Vorstellungsformalitäten wegfallen lassen«, sagte Dr. Nystrom und machte sich an die Reinigung des Gehäuses. Whit verfolgte die Prozedur mit Mißtrauen und umkreiste den Käfig mit wildem Flügelschlag, ehe er sich wieder hineinbequemte. »Jedesmal zieht er eine Schau ab«, sagte Dr. Nystrom. »Genau wie sein Namensvetter Walt Whitman, der Dichter. Obwohl das wahrscheinlich der einzige Charakterzug sein dürfte, den sie gemein haben.« »Er erinnert mich überhaupt nicht an irgendeinen Poeten, den ich kenne«, antwortete Ross, während er
dankbar den warmen Ballon mit Kaffee entgegennahm. Die Luft im Labor war angenehm kühl, der Kaffee heiß, und für eine Weile vergaß Ross den eigentlichen Grund seines Hierseins. »Tim möchte gern mit Ihnen sprechen«, erinnerte er sich plötzlich. Dr. Nystrom nickte. »Er ist schon seit Wochen hinter mir her und will mich ärztlich untersuchen. Aber ich hatte einfach noch keine Zeit, seit ich die Nova im Sternbild Auriga entdeckt habe und beobachtete.« »Er hat es erwähnt.« »Hat er Ihnen auch erzählt, daß die Universität von Oxford bereit ist, mit mir die Beobachtungsdaten auszutauschen? Die Universität hat bei der IRV durchgesetzt, daß ein kleiner Relais-Satellit eigens zum Zweck der Datenübermittlung zwischen Boreas und Oxford in die Umlaufbahn geschickt wird. Radioastronomen aus aller Welt wollen sich an der Beobachtung beteiligen. Ist das nicht großartig?« Er überschlug sich förmlich vor Begeisterung und erging sich eine ganze Weile in den Einzelheiten des Projekts. Ross war jedoch nicht imstande, den Enthusiasmus Dr. Nystroms im vollen Umfang zu teilen. Was war denn schon Faszinierendes an einem Stern, der in vielen Lichtjahren Entfernung explodierte? Es betraf weder seine noch die Angelegenheiten der Erde. Was hatte diese Explosion beispielsweise mit dem
drohenden Ausbruch eines Krieges zwischen China und Australien zu tun? Ross fragte Dr. Nystrom danach. »Ich gebe zu, daß es sehr wenig mit unseren Angelegenheiten zu tun hat«, erwiderte Dr. Nystrom nach einer Minute. »Aber einige Leute scheinen sich doch davon betroffen zu fühlen, wie ich heute erfahren mußte. Die Kommandantin Eva Keough hat mich zu überreden versucht, auf den Relais-Satelliten zu verzichten.« Ross runzelte die Stirn. »Würde diese Maßnahme das Ende Ihres Projekts bedeuten?« »Eigentlich schon. Ohne den Übertragungssatelliten fehlt mir der direkte Kontakt zur Bodenstation, der für diese Arbeit notwendig ist.« »Inwiefern sollte der Satellit denn stören?« »In keiner Weise, soweit ich es beurteilen kann. Aber sie beharrt darauf, daß sich die Umlaufbahn des Satelliten so verändern könnte, daß dadurch der ›Basketball‹ und seine Mannschaft gefährdet würden.« »Das klingt ganz vernünftig.« »Es wäre vernünftig«, sagte Dr. Nystrom, »wenn der Weltraum nicht so riesig wäre. Die voraussichtlichen Umlaufbahnen sind mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt. Die Möglichkeit eines Zusammenstoßes ist unvorstellbar gering.«
Ross leerte seinen Kaffeeballon. »Warum bitten Sie nicht einfach die Internationale Raumverwaltung, den Bedenken der Kommandantin nachzugehen? Soviel ich mich erinnern kann, ist die IRV für die Sicherheit sämtlicher Raumfahrzeuge verantwortlich.« »Ein Untersuchungsausschuß hat schon zu meinen Gunsten entschieden, aber sie versucht mich noch immer umzustimmen. Als ob die Sache nicht warten könnte. Sie will, daß der Satellit sofort aus dem Umlauf genommen wird.« »Hat sie denn aus Julian Martinos Unfall nicht gelernt, daß man die Dinge nicht überstürzen soll?« wunderte sich Ross. Dr. Nystrom hob die Augenbrauen. »Sie behauptet, der Plutoniumstab wäre nur deshalb herausgeschleudert worden, weil bei der letzten Reinigung des Reaktors etwas Kohlendioxyd zurückgeblieben sei – jedenfalls genug, um Julian Martino fast umzubringen. Vermutlich will sie darauf hinaus, daß auch die Experten Fehler machen und sie deshalb die Sache genauso gut selbst in die Hand nehmen kann.« »Lassen Sie den Satelliten entfernen?« Dr. Nystroms Antwort bestand in einem heftigen Kopfschütteln. »Warum sollte ich meine Arbeit noch einmal unterbrechen, nur, weil sie spinnt. Die IRV soll das Ganze für mich regeln.« Es beeindruckte Ross, daß Dr. Nystrom fest genug
an sich und seine Arbeit glaubte, um den Zorn eines Vorgesetzten zu riskieren. Und er fragte sich, ob er denselben Mut gehabt hätte, denn es dämmerte ihm, daß er bald gezwungen sein könnte, den Beweis dafür anzutreten.
9 Das Monster wuchs. Seit fünf Nächten und sechs Tagen hatten sie beobachtet, wie es willkürlich und unvorhersehbar Wirbel niedrigen oder hohen Luftdrucks bildete, bis sich der Sturmbereich über fast zweitausend Kilometer erstreckte. Das Unwetter schöpfte seine Kraft aus den Strahlen der Wintersonne, und an seiner Peripherie tobten furchtbare Eisstürme. Sie beobachteten, photographierten, vermaßen und sondierten fast eine Woche lang, ehe sie die weitere Entwicklung überschauen konnten. Doch dann gab es keinen Zweifel mehr. Dieses Monster, dieser entsetzliche Orkan, war in seiner Ausdehnung zu riesenhaft und in seiner Kraft gewaltig, um sich auf das Gebiet der Arktik zu beschränken. Das Ungeheuer würde sich nach Süden wenden. Ross betätigte die Hydraulik, und das Teleskop wurde mit einem öligen Zischen eingefahren. Er entnahm dem Teleskop die belichteten Filmkassetten und wollte sie entwickeln, aber seine Gedanken waren noch beim Unwetter. Von seiner Beobachtungskuppel aus ließ sich der Sturm verhältnismäßig leicht lokalisieren. Er bildete einen grauen Fleck, der fast genau über dem Mittelpunkt der nördlichen Erdhalbkugel lagerte. Doch
noch vor einem Monat hätten seine ungeübten Augen die verwaschenen Umrisse des Orkans nicht von der Umgebung zu unterscheiden vermocht. Er warf einen Blick auf den Zeitanzeiger. 31. Dezember 1995, 00.01 Uhr. Die erste Minute des letzten Tages im Jahr. In vierundzwanzig Stunden würde man das Jahr 1996 schreiben. Ross lächelte. Das neue Jahr würde ihn nicht auf Boreas antreffen. Auf der Hauptstation sollte ein riesiges Neujahrsfest stattfinden, und er würde dabeisein. Tim hatte schon vor Wochen zwei Einladungen organisiert, und sie sahen dem Fest beide erwartungsvoll entgegen. Zum erstenmal seit zwei endlosen Monaten würden sie Boreas verlassen. Tim freute sich auf ein Wiedersehen mit Christine. Ross war froh, überhaupt neue Gesichter zu sehen, Menschen, die mit Boreas nichts zu tun hatten. Kabinenkoller, hatte es Tim einmal genannt. Das Gefühl, in engen Räumen mit einer kleinen Anzahl Menschen zusammengesperrt zu sein. Nach einer Weile machen einen die Eintönigkeit und die Isolation fertig. Kabinenkoller. Ross hoffte, daß ein entspannter Aufenthalt in der Hauptstation ihn wieder ins Lot bringen würde. Das einzige, jedoch nicht unbeträchtliche Hindernis war das Transportproblem. Nach dem normalen Fahrplan verkehrte das Versorgungsschiff einmal in der
Woche, und die nächste Fahrt sollte in vier Tagen stattfinden. In vier Tagen war das Fest schon Vergangenheit. Die Lösung, die sich aufdrängte, konnte nur darin bestehen, daß man den Fahrplan zwischen Boreas und der Hauptstation entsprechend abänderte. Doch die einzige Person, die dazu berechtigt war, weigerte sich. Ross gab die entwickelten Filme im Büro der Colberts ab und eilte zur Krankenstation hinüber, um Tim zu fragen, ob die Kommandantin ihre Meinung geändert habe. In den Korridoren war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet, und Ross fragte sich, ob er zu dieser späten Stunde jemanden antreffen würde. Er hatte Glück. »Nur herein«, tönte Tim mit unheilschwangerer Stimme. »Der Doktor ist da.« Ross trat ein. »Sie verrichten Ihren Dienst aber zu seltsamen Tageszeiten, Herr Doktor.« »Genau wie du auch«, erwiderte Tim. »Ich habe ein wenig Inventur gemacht und dabei festgestellt, daß ein Karton mit Sauerstoffflaschen fehlt. Hilfst du mir im Zentrallager suchen?« Dabei machte Tim eine Kopfbewegung zu dem Vorhang hin, der quer durch die Krankenstation gezogen war. Dahinter waren schwere, regelmäßige Atemzüge zu vernehmen. Ross verstand. Erleichtert folgte er Tim in einen großen Raum in der Nähe der Versorgungsdecks.
»Ich bin froh, daß du mich gleich verstanden hast«, sagte Tim. »Vielleicht haben die Wände auf Boreas keine Ohren, aber mein Patient hat sicherlich welche.« »Du glaubst tatsächlich, daß dein Patient lauscht?« Tim nickte ernst. »Jetzt übertreibst du aber«, sagte Ross leichthin. »Wenn du so weitermachst, ist es kein Wunder, wenn du den Kabinenkoller kriegst.« »Ich leide noch nicht an Verfolgungswahn«, wehrte sich Tim. »Ich will aber auch niemand Gelegenheit geben, mich zu belauschen.« »Weißt du, daß du ganz verängstigt aussiehst?« fragte Ross, dessen Bestürzung wuchs. Zum erstenmal fiel ihm auf, daß der übliche optimistische Gesichtsausdruck Tims einer gehetzten und abgespannten Miene gewichen war. »Ich weiß«, gab Tim zu. »Das ist so, seit das Versorgungsschiff neulich von der Hauptstation zurückgekehrt ist.« »Du meinst seit letztem Donnerstag?« Tim nickte. »Du erinnerst dich doch sicher an Jonathan Hanks?« fuhr er fort. »Er hat auf der Hauptstation einen neuen Posten gefunden. Seine Aufgabe ist die Reparatur und Wartung der Medizincomputer, in denen auch die Lebensgeschichten der Patienten ge-
speichert sind. Hanks hat die Gelegenheit wahrgenommen und sich die Informationen über Eva Keough und Julian Martino ausdrucken lassen.« Ross runzelte die Stirn. »Ist denn das nicht ungesetzlich?« »Nein, es gibt kein entsprechendes Gesetz, da der Code sowieso nur dem Ärztestab bekannt ist. Hanks hat den Code herausgefunden. Als er die Informationen gelesen hatte, war er zu mitgenommen, um sie verwerten zu können. Statt dessen schrieb er mir einen Brief, der alle Einzelheiten enthält.« »Gallensteine und Blinddarmentzündung?« Tim warf ihm einen kalten Blick zu. »Wohl kaum. Nach den Informationslisten handelt es sich bei beiden um Militär-Offiziere der NATO, die in den späten achtziger Jahren ihre Ämter niedergelegt haben, um in die IRV einzutreten; denn nach den IRVBestimmungen können nur Zivilisten aufgenommen werden.« »Das klingt logisch«, antwortete Ross. »Der Wiener Vertrag verbietet militärische Tätigkeit im Weltraum, und deshalb traten sie zurück. Was ist daran problematisch?« »Gerade das. Ein einfacher Rücktritt macht, wie Hanks herausgefunden hat, aus einem Militärangehörigen noch keinen Zivilisten. Er untersteht weiterhin der Militärbehörde.«
»Dann verletzen beide die IRV-Bestimmungen, indem sie an Bord der Boreas arbeiten.« »Und niemand scheint sich darum zu kümmern«, fügte Tim hinzu. »Doch wir müssen jetzt die Sauerstoffbehälter finden.« Die beiden Männer mußten sich durch ein Labyrinth schmaler Durchgänge zwischen den Lagervorräten durcharbeiten. Die Stapel reichten bis zur Dekke. Manchmal fanden sie ihren Weg von Vorräten blockiert, die erst kürzlich geliefert worden waren und noch nicht an ihrem endgültigen Platz standen. Ross fielen drei riesige eiserne Sauerstoffbehälter auf, die ihm den Weg versperrten. Jeder der Behälter war plombiert und mit einem strengen Hinweis bedruckt, daß er nur für das Versorgungsschiff verwendet werden dürfe. Die Behälter wogen schwer. Eine dünne Staubschicht bedeckte ihre Oberfläche. Schließlich stieß Tim auf die gesuchten Sauerstoffzylinder, die nichts anderes als Kleinausgaben der von Ross entdeckten Riesenbehälter waren. »Martino bekommt jetzt einige Minuten Sauerstoffbeatmung, dann können wir uns auf den Weg machen«, sagte Tim. »Auf den Weg machen? Willst du damit sagen –?« fragte Ross zögernd. »Auf den Weg zur Hauptstation«, triumphierte
Tim. »Die Kommandantin hat meinem Antrag auf Fahrplanänderung stattgegeben.« »Das ist ja kaum zu fassen. Wie hast du das geschafft?« »Es ist nicht mein Verdienst?«, antwortete Tim. »Sie hat beschlossen, daß Martino auf der Hauptstation bestrahlt werden solle – und auf einmal war eine Änderung des Fahrplans möglich.« Sie machten sich auf den Rückweg zur Krankenstation. Martino war während ihrer Abwesenheit eingeschlafen und schnarchte friedlich vor sich hin, als ihn Tim so leise wie möglich an das Sauerstoffgerät anschloß. Dann begann Tim, den Schreibtisch aufzuräumen. Plötzlich stutzte er. »Das ist aber seltsam«, stieß er hervor. In fliegender Hast wühlte er die Papiere und Ordner durch. Dann legte er sie beiseite. Ein besorgter Ausdruck trat in sein Gesicht. »Er ist verschwunden«, flüsterte er. »Wovon sprichst du denn?« »Von Hanks' Brief. Er ist weg. Ich hatte ihn unter meine Buchmanuskripte gesteckt. Während wir die Sauerstoffzylinder geholt haben, muß jemand meine Papiere durchsucht und den Brief gestohlen haben.« Der Aufenthalt im Weltraum hatte für Ross bereits den Reiz der Neuigkeit verloren. Er und Tim zählten
die Stunden, bis das automatisch gesteuerte Versorgungsschiff an der Hauptstation anlegte. Einzig Julian Martino schien die Reise zu genießen und blickte durch die Sichtluke interessiert nach den vorbeiziehenden Sternen. Sein Gesundheitszustand schien sich erstaunlich gebessert zu haben. An der Anlegestelle der Hauptstation wartete schon Christine. Sie empfing Ross mit einem schnellen, herzlichen Händedruck und Tim mit einem endlos dauernden Kuß. »Ich freue mich sehr, euch beide wiederzusehen«, sagte sie schließlich mit strahlenden Augen. »Das Fest hatte gerade begonnen – und ihr macht den Eindruck, als ob ihr ein Fest brauchen könntet.« »Ein glückliches neues Jahr«, wünschte Tim. »Aber im Augenblick bin ich eher hungrig. Die Restaurants werden doch nicht etwa während der Feiertage geschlossen haben?« »Wahrscheinlich nicht. Ich kenne um die Ecke ein kleines Lokal.« »Bringen Sie uns hin«, sagte Ross. Es stellte sich heraus, daß »um die Ecke« einen Weg von fast einem Kilometer durch überfüllte Straßen und Korridore bedeutete. Das Lokal war in der Tat klein und vollgepfropft mit feiernden Piloten, Wartungspersonal, Wissenschaftlern, Funktionären und Verwaltungsangestellten der IRV. Tim seufzte.
»Es ist hier immer so voll«, versicherte Christine. Sie überreichte dem Geschäftsführer eine Karte. »Aber ich habe uns Plätze reservieren lassen.« Der Mann geleitete sie zu ihrem Tisch, und der Kellner nahm die Bestellungen entgegen. Alle Tische waren mit Trauben vorwiegend junger Leute umgeben, die in der grauweißen Uniform der IRV steckten. Die Touristen waren an ihrer bunten Kleidung zu erkennen. »Sieht ganz nach einem Jugendtreffen aus«, bemerkte Ross und musterte die anderen Gäste. »Jeder, der Urlaub erhalten konnte, ist hierhergekommen«, erklärte Christine. »Und jeder, der sich die Flugkarte von der Erde leisten konnte.« Ross erkannte in der Menge ein bekanntes Gesicht und stand auf. »Ein glückliches neues Jahr, Dr. Ahn«, sagte er. »Oh, hallo, Ross!« Dr. Ahn verneigte sich leicht. Er erzählte Ross, daß er hier sei, um die Möglichkeit der Einrichtung einer kleinen Forschungsstelle für die U.S.-Luftflotte zu überprüfen. »Viel Verwaltungskram«, sagte Dr. Ahn. »Man gewöhnt sich mit der Zeit daran«, erwiderte Ross. »Die Bürokratie wird zu einem natürlichen Bestandteil des Alltags.« »Wie wahr, wie wahr«, seufzte Dr. Ahn. »Aber hier oben kann man wenigstens den ganzen irdischen
Kummer vergessen und fröhlich feiern. Keiner, der hier ist, hat es eilig, auf die Erde zurückzukehren.« »Sprechen Sie jetzt von den Auseinandersetzungen zwischen China und Australien? Hat die UN die Streitigkeiten denn nicht beigelegt?« Dr. Ahn schüttelte den Kopf. »Die Verhandlungen sind abgebrochen worden. Keine der beiden Seiten zeigt Kompromißbereitschaft. Die Delegierten sind in ihre Länder zurückgekehrt.« »Das wußte ich noch nicht«, sagte Ross. Seit er sich im Raum aufhielt, hatten die Ereignisse auf der Erde für ihn mehr und mehr an Bedeutung verloren. Die Angelegenheiten der Boreas wurden davon nicht betroffen. Doch die Auseinandersetzungen zwischen den zwei stolzen und mächtigen Nationen konnten tiefergehende Auswirkungen zeitigen. »Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen?« fragte er Dr. Ahn. »Wie es weitergeht? Die Chinesen brauchen Raum für das hungernde Volk. Australien besitzt genug freies Land, aber es verweigert den Chinesen die Einwanderung. Beide Seiten sind an einem Scheideweg angelangt und können nicht mehr zurück. Krieg oder Nachgeben – und keiner von beiden wird nachgeben. In einer Woche wird man weitersehen. In der Zwischenzeit besteht kein Grund, Trübsal zu blasen. Es
gibt genug Arbeit, um uns munter zu halten. Im übrigen wollte ich Dr. Nystrom meine Neujahrswünsche überbringen. Aber ich sehe gerade, daß es für mich Zeit wird, zu einer Konferenz zu eilen.« »Dr. Nystrom ist gar nicht hier«, sagte Ross. Dr. Ahn wühlte in seinen Taschen und brachte schließlich eine kleine Metallschachtel zum Vorschein, die mit schwarzen Plastikstreifen versiegelt war. »Das ist ein Neujahrsgeschenk für Dr. Nystrom«, erklärte er. »Es handelt sich um sechs neuartige, hochempfindliche Infrarotfilme, mit denen sich entscheidende Aufnahmen von der Nova Aurigae herstellen lassen. Wissen Sie, wann er wieder zurückkommt?« »Zurückkommt?« fragte Ross verwundert. »Ja, denn ich würde ihm diese Filme gern selbst überreichen«, sagte der Wissenschaftler. »Ich verstehe nicht recht«, antwortete Ross. »Dr. Nystrom befindet sich an Bord der Boreas. Er ist dort geblieben, weil er seine Arbeit abschließen will.« Dr. Ahn atmete überrascht ein. »Aber das ist unmöglich!« »Ich weiß genau, daß an Bord des Versorgungsschiffes nur drei Personen waren: Julian Martino, Tim und ich. Ein anderes Schiff verkehrt nicht.« »Aber ich habe Dr. Nystrom doch vor zehn Minuten vor diesem Restaurant gesehen!«
10 Eine kurze Weile standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber und betrachteten einander. Ross überdachte die letzte Bemerkung des zartwüchsigen Asiaten. »Ich weiß nicht, wie das möglich sein soll«, sagte Ross schließlich. »Sind Sie ganz sicher?« fragte der Wissenschaftler fast kleinlaut. »Hundertprozentig«, bestätigte Ross. »Es kommt nur eine begrenzte Anzahl von Schiffen in Frage, die über die Feiertage alle anderweitig gebraucht werden. Wenn Dr. Nystrom nicht in unserem Schiff war – was ich genau weiß – dann muß er sich noch auf Boreas befinden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.« Dr. Ahn erstarrte. Dann hellte sich seine Miene auf, als ob er etwas begriffen habe. »Sie haben natürlich recht«, sagte er hastig. »Wie dumm von mir, daß ich nicht gleich daraufgekommen bin. Ich muß mich geirrt haben. Der Mann, den ich gesehen habe, war eben nicht Dr. Nystrom. Das ist die einzig vernünftige Erklärung, nicht wahr?« Ross stimmte zu, aber ein unklares Gefühl von Mißtrauen blieb in ihm zurück. Er hatte den leisen Verdacht, daß Dr. Ahn aus irgendwelchen unbekann-
ten Gründen seinen Irrtum zu schnell zugegeben habe. »Ach du meine Güte«, rief Dr. Ahn aus und schaute auf seine Armbanduhr. »Ich bin schon zu spät dran. Mr. Gurvitsch gehört nicht zu den Leuten, die man warten lassen sollte. Darf ich Ihnen den Film für Dr. Nystrom anvertrauen? Ich danke Ihnen sehr.« Im Nu war der kleine Asiate verschwunden, und Ross hielt die Metalldose in der Hand. Ein unbehagliches Gefühl hatte ihn beschlichen; er wußte selbst nicht, warum. Er kämpfte sich wieder zu seinem Tisch zurück und beschloß, den Vorfall nicht zu erwähnen, da er ihm doch als zu unbedeutend erschien. Die neugierigen Blicke von Christine und Tim beantwortete er mit einem Achselzucken. Doch die beiden ließen nicht locker. »Er brütet etwas aus«, sagte Tim zu Christine. »Woher willst du das wissen?« fragte sie. »Ich kenne ihn und weiß genau, daß es unter seiner ruhigen Oberfläche brodelt«, antwortete Tim. »Nun sag schon, Ross, was ist geschehen?« »Warum bist du so neugierig?« wehrte sich Ross. »Du siehst so verstört aus.« Tim betrachtete ihn prüfend. »Es ist nichts«, versicherte Ross. »Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Christine
zu Ross. »Tim ist so sehr mit seinen Kriminalromanen beschäftigt, daß er sich schon selbst für einen Detektiv hält.« Ross mußte lächeln. »Also gut, du alter Sherlock Holmes, ich will dir's verraten. Dr. Ahn hat hier auf der Hauptstation jemanden gesehen, der ihn an Dr. Nystrom erinnert hat. Ich habe ihm lediglich mitgeteilt, daß Dr. Nystrom im Augenblick bei seiner Arbeit auf Boreas ist. Das war alles.« Christine wollte etwas sagen, aber das Erscheinen des Kellners hinderte sie daran. Während der Mann die Platten, Teller, Schüsseln und Bestecke auf den Tisch stellte, fiel Ross die Warnung Dr. Nystroms ein, bei der Bestellung des synthetischen Essens vorsichtig zu sein. Doch schmeckten ihm die garnierten Krabben, die er bestellt hatte, ausgezeichnet. Er freute sich, Dr. Nystrom einen Tip geben zu können, der es diesem ermöglichte, von seinem ewigen Käseomelett loszukommen. Gleich nach dem Essen erhob sich Christine. »Ich muß mich umziehen«, sagte sie. »Bitte nicht«, bat Tim. »Du siehst in deinem weißen Mantel wunderbar aus.« »Mag sein«, erwiderte Christine, »aber der Ärztekittel und die komischen weißen Schuhe passen nicht zu einem Fest. Ich komme mir darin altjüngferlich vor.«
»Du siehst wirklich wunderbar aus«, wiederholte Tim. »Aber wie du willst. Wir warten dort auf dich.« »Sperr deine Augen weit auf, sonst erkennst du mich nachher nicht.« Sie verschwand in Richtung des Eingangs. »Ich finde dich überall!« rief ihr Tim nach. Er seufzte. »Ist sie nicht eine Wucht?« fragte er Ross. »Umwerfend«, bestätigte Ross. »Du kannst glücklich sein.« »Sie ist das Schönste, das mir im Leben passiert ist.« »Wie hast du sie denn kennengelernt?« »Wir waren zwei Jahre lang am Lehrinstitut für Medizin in derselben Klasse.« Tims Stimme wurde weich. »Das waren zwei großartige Jahre. Sie war die mutigste von uns allen. Es gab nichts, das Christine Reney erschüttern konnte. Wenn wir in der Anatomie in den Kadavern wühlen mußten, war sie die einzige, die nicht grün im Gesicht wurde.« »Das klingt ja bezaubernd«, meinte Ross. »Entschuldige bitte. Ich war ganz in Gedanken. Nun, sie hat sich für die wissenschaftliche Laufbahn entschieden, während ich mich mehr der praktischen Arbeit zugewandt habe. Ich habe sie dann aus den Augen verloren, bis ich sie auf der Hauptstation wiedergesehen habe. Ich hatte schon fast vergessen, wie toll sie ist. So, wie es jetzt steht, vermisse ich sie jede Minute, in der sie nicht bei mir ist.«
»Auch im Moment?« Tim nickte ernst. »Aber im Moment trifft es sich gut, daß sie fort mußte. Während du mit Dr. Ahn gesprochen hast, habe ich einen Anruf von Jonathan Hanks erhalten. Er will mir etwas mitteilen.« »Will er dich allein sprechen?« »Nein. Ich habe ihm gesagt, daß du den Inhalt des Briefes kennst.« »Hast du auch Christine von dem Inhalt erzählt?« Tim schüttelte den Kopf. »Dann weiß sie auch von dem Diebstahl nichts?« »Nein. Ich vermeide das Thema, wenn sie dabei ist. Ich will nicht, daß sie mit hereingezogen wird. Wenn ich auch nicht genau weiß, was das Ganze zu bedeuten hat, so bin ich doch sicher, daß es etwas zu bedeuten hat – und zwar nichts Gutes. Die Kommandantin und Martino geben sich nicht mit Kleinigkeiten ab.« »Das ist mir auch klar. Aber vielleicht sind die Motive schlichter. Vielleicht wollen sie nur die Steuern hinterziehen.« Tim lachte, doch wurde er gleich wieder ernst. »Daran habe ich zuerst auch gedacht. Aber bedenke doch, welches Risiko sie dafür eingehen würden. Nach der Satzung der IRV wären sie ihre Stellung los, und ihr berufliches Ansehen würde darunter leiden. Ganz zu schweigen von den Auseinandersetzungen
zwischen der IRV und den Militärbehörden, die ein solcher Skandal hinter sich herziehen würde.« »Glaubst du wirklich, daß man so scharf vorgehen würde?« fragte Ross. »Natürlich liegt vieles im argen«, gab Tim zu. »Wahrscheinlich mehr, als wir wahrhaben wollen. Und deshalb möchte ich nicht, daß Christine darin verwickelt wird. Wenn ihr etwas zustößt, mache ich mir Vorwürfe. Nein, ich bin fest entschlossen, sie aus der ganzen Affäre herauszuhalten.« »Ein lobenswerter Vorsatz«, sagte eine tiefe Stimme hinter Ross. Erschrocken fuhr er herum. Jonathan Hanks war so lang und dünn, wie ihn Ross vor Monaten auf Boreas kennengelernt hatte. Seinen linken Arm trug er in einer festen, glatten Plastikröhre. Hank wandte sich an Tim: »Schlau von dir. Eine Verschwörung sollte so wenig Mitglieder wie möglich haben.« Ross wurde bleich. Er war sicher, daß Hanks' Bemerkung im ganzen Lokal zu hören war, denn wenn Hanks eines besaß, dann war es ein kräftiger, tragender Baß. Doch einige verstohlene Blicke überzeugten Ross, daß niemand aufmerksam geworden war. Die Gäste hatten es wohl als Scherz aufgefaßt. Hanks ließ sich in seinen Stuhl fallen. »Ein glückliches neues Jahr«, wünschte er mit viel Herzlichkeit in der Stimme.
»Ebenfalls«, erwiderte Tim, wobei er Hanks' linken Arm betrachtete. »Wie ist das geschehen?« »Mein gestutzter Flügel? Ein Leitungsrohr ist darauf gefallen.« »Ein schlechtes Jahr für linke Arme«, bemerkte Ross. Tim nickte. »Ach, nicht mehr als ein kleiner Kratzer«, wehrte Hanks ab. »Aber dem Arzt gefiel die Sache nicht, und er steckte mich für einen Tag ins Bett, um festzustellen, ob ich auch innere Verletzungen davongetragen habe. Ich hatte keine.« »Aber – du hast den Unfall gar nicht in deinem Brief erwähnt«, sagte Tim. »Wie gesagt, es ist nicht weiter schlimm.« Hanks zuckte mit den Achseln. »Etwas anderes hat meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. In meiner Station gab es einen Burschen, den die Ärzte mit ›Winters‹ anredeten. Mir war, als ob ich ihm schon einmal begegnet sei. Lange Zeit konnte ich ihn nirgends unterbringen. Dann fiel mir ein, daß er sich damals Thorton genannt hatte. Er hatte bei der Montage von Boreas als Elektronikspezialist gearbeitet. Das ist jetzt fünf Jahre her.« »Und was stimmt mit ihm nicht?« fragte Ross. »Nun«, fuhr Hanks fort, »ich verwickelte ihn in ein Gespräch. Er behauptete, auf ›Basketball‹ als LeckAbdichter zu arbeiten. Was hat ein hochqualifizierter
Elektronik-Spezialist auf dem alten ›Basketball‹ zu suchen? Er log mit jedem Wort. Und um das Maß voll zu machen, gab er eine Verbrennung, die eindeutig vom Mikroschweißen herrührte, als Sonnenbrand aus.« »Mikroschweißen dient doch zur Herstellung elektronischer Teile«, wunderte sich Ross. »Eben!« rief Hanks. »Das hat noch nichts zu sagen«, wandte Tim ein. »Vielleicht hat er einen Fernsehempfänger für die Mannschaft zusammengebastelt.« »Das bezweifle ich. Derartige Ausrüstungsteile werden in einem einzigen Stück geliefert. Nein, Mikroschweißen wird bei größeren Projekten angewandt. Thorton hat auf dem ›Basketball‹ Monate verbracht, wie ich seiner Akte entnehmen konnte.« »Ich blicke überhaupt noch nicht durch«, sagte Tim. »Ich sehe nur, daß eine Menge Leute lügen.« »Und die IRV kümmert sich in keiner Weise darum«, ergänzte Ross. »Es scheint so«, bestätigte Hanks. »Was sollen wir tun?« »Was können wir denn tun?« fragte Tim. »Zu Gurvitsch gehen«, schlug Ross vor. »Er ist leitender Direktor bei der IRV. Ich wette, es wird ihn interessieren.« »Ich weiß nicht recht«, zögerte Hanks. »Wenn wir
uns geirrt haben und sich alles als rechtmäßig herausstellt, kommen wir in Teufels Küche. Wir haben noch nicht genug Beweise.« »Man kann doch solche Informationen nicht einfach für sich behalten«, ereiferte sich Ross. Sein Interesse war jetzt angestachelt. Er fühlte, wie sein Gaumen trocken wurde und sein Herz schneller schlug. »Auf die Dauer wird das auch nicht notwendig sein, Ross«, tröstete ihn Hanks. »Aber eine Weile müssen wir noch stillhalten. So, wie mein Arm aussieht, ist mein Aufenthalt in der Hauptstation beendet. Ich soll morgen das nächste Flugzeug nach London nehmen.« »Das ändert alles«, sagte Tim enttäuscht. »Nicht alles«, widersprach Hanks. »Ich lasse euch meine Adresse zukommen. Und ihr beide haltet Augen und Ohren offen, achtet auf Klatsch und Gerüchte und teilt mir alles Wesentliche mit. Ich werde dem nachgehen und der IRV schließlich einen ausführlichen Bericht unterbreiten.« Hanks schaute von einem zum andern. »Seid ihr damit einverstanden?« Es blieb ihnen nichts übrig, als zuzustimmen. »Aber werden unsere Informationen in ein oder zwei Monaten heiß genug sein, um die IRV zu einer Untersuchung zu veranlassen?« zweifelte Ross. »Glaubt mir«, versicherte Hanks, »wenn sich irgend etwas Verdächtiges herausstellt, wird die IRV
handeln – und zwar schnell. Sie wird zwar bürokratisch verwaltet, aber wenn die Beweise offensichtlich sind, wird sie reagieren.« Trotz seiner Zweifel mußte sich Ross eingestehen, daß Hanks' Plan die größte Aussicht auf Erfolg bot. Eine voreilige Aktion konnte sie alle drei in unvorhersehbare Gefahr bringen. Er begriff, daß sie in Zukunft sehr auf der Hut sein mußten. »Ist jetzt alles geklärt?« fragte Tim ungeduldig. »Gut. Die Party beginnt gerade, und ich glaube, wir können etwas Abwechslung vertragen.« Es erhob sich kein Widerspruch, und sie begaben sich zum großen Saal, in dem das Fest bereits in vollem Gang war. Aus dem überfüllten Raum schlugen ihnen Musik und Gelächter entgegen. Die Beleuchtung war mehr als nur gedämpft – sie war praktisch überhaupt nicht vorhanden. »Ich kann gar nichts sehen«, beschwerte sich Tim. »Ich auch nicht«, sagte Ross. »Aber das ist ja der Witz bei der Sache.« »Dann kämpft ab jetzt jeder für sich selbst.« Tim begann zum Takt der Musik zu klatschen. Die Stunden flogen vorbei. Ross zählte sie nicht. Unermüdlich spielte die Band Stück für Stück, und Ross begann sich zu fragen, ob hier vielleicht Roboter spielten.
Der Gedanke erheiterte ihn, und er spürte die Wirkung des Neujahrspunsches und der Zigaretten. Ross war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er tanzte mit einer ungewöhnlich anziehenden jungen Frau, eine Stewardeß des Flugbootes. Ihr hautenges Trikot phosphoreszierte in leuchtendem Orange, und bei jeder Bewegung schien ein Schauer von Sternschnuppen über ihren Körper zu gleiten. Er hätte gern ihren Namen gewußt und wollte sie gerade danach fragen, als er eine Hand auf der Schulter spürte. Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Stewardeß, und Ross fuhr herum. Da stand noch ein Mädchen. Ein grauer Samtanzug paßte zu ihren grauen Augen. Blondes Haar umrahmte das Gesicht. Plötzlich erinnerte sich Ross. »Christine!« rief er aus. »Sie sehen umwerfend aus!« Sie lächelte. »Ich freue mich, daß Ihnen mein Anzug gefällt. Aber ich bin nicht hierhergekommen, um mich bewundern zu lassen. Tim und ich haben Sie überall gesucht.« »Ich war die ganze Zeit hier.« »Ich verstehe. Ich störe Sie wirklich ungern, aber ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« »Kann das nicht warten?« »Leider nein. Tim hat vor etwa einer Stunde erfahren, daß ihr beide auf Boreas zurückmüßt. Der Urlaub ist gestrichen.«
»Das darf nicht wahr sein! Es muß sich um einen Irrtum handeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist kein Irrtum. Der Befehl kam vor etwa einer Stunde. Wir standen gerade mit einigen Freunden um den Punsch herum, als Julian Martino auftauchte und Tim die Anweisung übergab.« Ross fühlte, wie heißer Zorn in ihm hochstieg. »Er war es also! Das ist typisch für ihn – er kann es nicht sehen, daß sich Menschen amüsieren. Er muß dazwischenschlagen –« Christine hob die Hand. »Warten Sie noch!« Sie zog ihn in die Vorhalle, und in eine kurze Atempause der Musik fielen ihre Worte klar und verständlich. »Es war nicht Martino, der das Schiff zurückbeordert hat, und auch nicht Eva Keough. Jemand anders hat den Anlaß dazu gegeben.« »Wer denn?« fragte Ross verwirrt. »Wer ist daran schuld?« »Dr. Nystrom.« Sie schwieg einen Moment. »Er hat um die Urlaubssperre gebeten und die Anweisung unterzeichnet. Wenn Sie so wollen, dann ist es seine Schuld.« Kurz darauf schloß sich die Luke der Versorgungsfähre hinter ihm. Zwanzig Minuten später befanden sich Martino, Tim und er im offenen Raum.
11 »Tot? Sind Sie sicher?« Ross' Frage schien den Raum zu füllen und sich in dem Labyrinth astronomischer Geräte zu verfangen. »Ganz sicher«, antwortete Dr. Nystrom leise. »Aber ... wie konnte das geschehen?« fragte Tim. Dr. Nystrom ließ eine Pause verstreichen, ehe er antwortete. »Ich habe wirklich keine Ahnung, warum der Relais-Satellit plötzlich tot ist und keine Signale mehr aussendet. Eben hatte er noch eine ganze Fülle von Datenmaterial übermittelt, und im nächsten Augenblick herrschte totales Schweigen. Ich konnte nicht das geringste Signal mehr empfangen. Sogar die Trägerwellen fielen aus.« »Könnte es nicht an einem ausgebrannten Transistor oder etwas Ähnlichem liegen?« fragte Ross. Dr. Nystrom überreichte den beiden zwei Behälter mit Kaffee. »Daran habe ich anfangs auch gedacht – eine kleinere Störung. Aber der Satellit war in allen seinen Systemen parallel konstruiert, so daß die Reserveeinheiten die Aufgaben übernommen hätten. Auf jeden Fall ist, was auch immer die Ursache sein mag, der gesamte Mechanismus in Mitleidenschaft gezogen.
Dann drehte ich durch. Ich brauchte dieses Datenmaterial unbedingt für meine Beobachtungsarbeit an der Nova. Ich ging zur Kommandantin und beantragte, daß ich das Versorgungsschiff benutzen dürfte, um die Ursache der Störung selbst herauszufinden. Ich hatte nicht daran gedacht, daß euer Urlaub dadurch unterbrochen würde. Ich bitte um Entschuldigung.« Ross' Zorn verrauchte, als er Dr. Nystrom sagen hörte: ›Dann drehte ich durch‹. Er verstand die Reaktion des Astronomen. Wahrscheinlich hätte er sich in der gleichen Situation ähnlich verhalten. »Vergessen Sie's!« sagte er freundlich zu Dr. Nystrom. »Das einzige, was ich nicht verstehen kann, ist, daß Sie so eigensinnig darauf bestehen, mit dem Schiff allein loszuziehen«, sagte Tim. »Ich weiß, das ist keine Sache für Amateure. Aber ich glaube, ich schaffe es allein. Die meisten Kontrollsysteme arbeiten auf Computerbasis. In einem Notfall könnten vermutlich auch Sie mit dem Schiff umgehen.« »Ich würde es zumindest versuchen«, antwortete Tim. »Aber das meine ich ja gerade. Was wird aus Ihnen, wenn ein Notfall eintritt?« »Ich würde versuchen, damit fertigzuwerden«, schmunzelte Dr. Nystrom.
»Zwei Leute hätten mehr Chancen«, beharrte Tim. »Schon möglich. Aber ich möchte nicht die Verantwortung für das Leben eines anderen übernehmen. Alles in allem ist mein Vorschlag der einfachste. Und was soll das düstere Gerede von einem Notfall? Ich habe volles Vertrauen in die Ausrüstung.« »Der Satellit hat auch versagt«, gab Ross zu bedenken. »Nur deshalb, weil kein Mensch an Bord war«, entgegnete der Astronom. »Es war niemand da, der die Störung kommen sah und gleich in den Anfängen unterbinden konnte. Eine Maschine kann derartige Entscheidungen nicht treffen – aber ein Mensch kann es.« »Nein«, fuhr er fort, »sobald das Schiff aufgetankt und fahrbereit ist, werde ich meinen störrischen kleinen Satelliten persönlich aufsuchen.« »Da müssen Sie sich wahrscheinlich noch eine Weile gedulden«, teilte ihm Ross mit. Er erklärte dem Astronomen, daß sie auf der Rückreise zu Boreas festgestellt hatten, daß der Sauerstoffvorrat in den großen Behältern einen gefährlich niedrigen Stand erreicht hatte. »Als das Schiff hier angelegt hat, war der Vorrat auf drei Stunden zusammengeschrumpf«, erzählte Ross. »Tim hat einen Antrag auf Installation neuer Tanks aus den Lagervorräten ausgefüllt.« »Danke«, sagte Dr. Nystrom, »damit haben Sie mir
sehr geholfen. Ich hoffe nur, daß diese neue Verzögerung nicht allzu viele Stunden in Anspruch nimmt.« Die Kompliziertheit eines Raumfluges von einer Umlaufbahn zur anderen ließ dem Kurs, den Dr. Nystrom ausgearbeitet hatte, wenig Spielraum. Das Rendezvous mit dem Satelliten erforderte eine unglaubliche Koordination von Treibstoffverbrauch, Geschwindigkeit und Richtung. Der Umstand, daß der Satellit keine Signale mehr aussandte, erschwerte die Aktion zusätzlich. Dr. Nystrom würde auf Radar und ›blinde‹ Navigation angewiesen sein. Die geschätzte Dauer des Ausflugs von Abflug bis zur Rückkehr zu Boreas betrug vierundsiebzig Stunden. »Jede Minute, die ich hier warten muß, fügt neue Komplikationen hinzu«, brummte Dr. Nystrom. Es war klar, daß er dem Flug mit nur schlecht verhohlener Begeisterung entgegensah. »Ich will lieber mal nachsehen, warum es so lange mit den Vorbereitungen dauert.« Mit diesen Worten packte er drei größere Bündel und ging auf die Tür zu. Ross und Tim folgten ihm. »Sie sind immerhin drei Tage unterwegs«, bemerkte Ross. »In dem Bündel sind Socken und Unterwäsche, und in dem anderen wissenschaftliche Zeitschriften«, erklärte der Astronom. »Ich bin während der Arbeit mit der Nova kaum zum Lesen gekommen. In den
Mußestunden, die vor mir liegen, kann ich einiges wieder aufholen.« Sie standen jetzt vor dem Eingang zum Führerstand des Schiffes. Vom Heck des Schiffes hörte man Geräusche. »Sie arbeiten immer noch daran«, resignierte Dr. Nystrom. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so lange dauert.« Ross blickte auf seine Uhr. »Seit unserer Ankunft sind nicht mehr als anderthalb Stunden vergangen. Das Wartungspersonal weiß sicher darüber Bescheid, daß Sie es eilig haben.« »Sie haben wahrscheinlich recht, ich sollte nicht nörgeln. Zumal ich ja lang genug weg sein werde.« »Ich wundere mich, daß es Ihnen gelungen ist, das Schiff für so lange Zeit zu ergattern«, sagte Tim. »Ich glaube nicht, daß es den Dienstplan allzu sehr durcheinander bringt«, erwiderte Dr. Nystrom. Er schien auf die Arbeitsgeräusche aus dem Schiffsinnern zu lauschen. »Ich meine, es ist erstaunlich, daß Eva Keough ohne weiteres die Erlaubnis erteilt hat, Ihnen das Schiff ganz allein zu überlassen.« »Ich mußte sie gar nicht groß überreden«, sagte Dr. Nystrom. »Als ich sie darum bat, stimmte sie sofort zu.« »Und Sie finden das nicht höchst erstaunlich?«
»Nein, was sollte daran erstaunlich sein?« Tim schwieg einen Augenblick. Dann sagte er langsam: »Es scheint mir seltsam, daß sie ausgerechnet auf Ihre Wünsche so schnell eingeht. Wie Sie wissen, sind Sie beide nicht gerade die dicksten Freunde.« »Sehr richtig«, antwortete Dr. Nystrom. »Jedenfalls steht die Tatsache fest, daß sie die Rückkehr des Versorgungsschiffes befohlen hat.« »Das haben wir gemerkt. Vielleicht hat sie sich Ihrem Standpunkt angenähert. Das wäre mal eine nette Abwechslung.« »Weiß Gott. Aber irgendwie kann ich nicht so recht daran glauben, Tim. Wahrscheinlich hatte sie nur die Möglichkeit im Auge, mich für einige Tage vom Leib zu haben.« »Das ist bedauerlich«, sagte Ross. »Ich kenne die Kommandantin nun schon seit einiger Zeit«, fuhr Dr. Nystrom gleichmütig fort, »und ich verstehe ihre Motive inzwischen etwas besser. Als ich ihr Büro betrat, schien sie über einem Problem zu grübeln. Zweifellos wollte sie ungestört nackdenken und sagte deshalb zu allem ja und amen. Dann schob sie mich hastig hinaus und schloß hinter mir fest die Tür.« Ross spürte die Enttäuschung, die in der Stimme Tims mitschwang, als er sagte: »Und ich hatte schon
gehofft, sie sei auf dem Weg, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und ihr beizulegen. Boreas könnte nach all diesen Monaten der Anspannung etwas Harmonie und Frieden gut gebrauchen.« »Es wäre eine großzügige Geste gewesen«, stimmte Dr. Nystrom zu, »wenn nicht etwas anderes hinter ihrer Großzügigkeit gesteckt hätte. Aber vielleicht schaffte meine Abwesenheit tatsächlich eine entspanntere Atmosphäre, in der Sie Ihre Meinungsverschiedenheiten mit ihr regeln können.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Tim zweifelnd. Dr. Nystrom grinste Tim ermutigend zu. »Ich weiß, daß Sie und die Kommandantin nie ein Herz und eine Seele werden können – aber einen Schritt in dieser Richtung sollten Sie unbedingt versuchen. Die feindselige Stimmung an Bord würde sich etwas beruhigen, und Sie haben selbst gesagt, daß das erfreulich wäre.« »Ja, das habe ich gesagt – aber es müßte schon ein Wunder geschehen, um aus Boreas ein angenehmes Plätzchen zu machen. Ich habe das Gefühl, daß die jetzigen Zustände der Kommandantin in den Kram passen. Sie gibt sich keine große Mühe, das Betriebsklima zu ändern.« Dr. Nystrom nickte. »Vielleicht ist es nur ein Wunschdenken von mir«, räumte er ein. »Doch ich habe das Gefühl, daß sie in
Wirklichkeit ein anständiger Mensch ist. Aber etwas, das sie tief in sich verborgen hält, hat sie zu ihrer jetzigen Haltung gebracht. Wenn man zu ihrem Kern vordringen könnte –« Einige Sekunden lang herrschte Schweigen. Dr. Nystrom schaute von Ross zu Tim. »Vielleicht haben Sie recht, und ich mache mir Illusionen. Aber es ist einen Versuch wert. Wie schade wäre es doch, wenn man die passende Gelegenheit versäumen würde.« Inzwischen hatten die Arbeitsgeräusche aus dem Schiffsinnern aufgehört, und eine Sekunde danach verkündete der Lautsprecher, daß das Schiff für seine lange Schleife um die Erde bereit sei. »Ich will mir Ihren Vorschlag überlegen«, versprach Tim. »Tun Sie das«, rief Dr. Nystrom zurück. Er hastete mit seinen Gepäckstücken über den Landungssteg. Ross hörte, wie sich die Luke öffnete, als ihm ein Gedanke siedend heiß durch den Kopf schoß. »Heh!«, rief er über das Landungsdeck. »Was soll inzwischen aus Whit werden?« Im Trubel der Ereignisse hatte niemand an Dr. Nystroms kleinen Liebling gedacht. Vom Ende des Stegs kam ein Kichern. »Keine Sorge, Ross. Wissen Sie, ich habe es nicht übers Herz gebracht, ihn hier allein zurückzulassen. Whit begleitet mich.«
»Wo ist er denn?« »Hier.« Noch ehe sich die Luke schloß, sah Ross unter dem zurückgeschlagenen Tuch des dritten Gepäckstücks einen Käfig, aus dem ein winziger Vogel in das Innere des Schiffes schoß. »Sehen Sie, Ihre Sorgen sind überflüssig. Ich reise nicht allein.«
12 Als Ross am nächsten Morgen erwachte, war er kaum imstande, sich zu bewegen. Sechs Stunden zuvor war er vom Surren der Klimaanlage über seinem Bett eingeschlafen. Jetzt dröhnte es in seinen Ohren wie der Niagarafall. Seine Gelenke schmerzten, und in seinem Bauch rumpelte es bedrohlich, als er sich hinzusetzen versuchte. Nachdem er sich lustlos angekleidet hatte, begab er sich automatisch auf den Weg zur Frühstücksküche. Als er die Kombüse betrat, traf ihn der Geruch nach Essen wie ein Keulenschlag. Sein Magen drohte sich umzudrehen, und seine Innereien zuckten. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Ross suchte schleunigst in der Krankenstation Zuflucht. Zum Glück war Tim anwesend. Er warf einen Blick auf Ross und steckte ihm ein Thermometer unter die Zunge. Eine Sekunde später las er die Temperatur ab. »Genau vierzig Grad«, sagte Tim. Er verglich die Krankheitssymptome mit einer Liste. Schließlich beugte er sich in seinem Stuhl vor und stemmte die Ellbogen auf die glänzende Schreibtischplatte. »Intestinalinfluenzvirus«, sagte Tim. »Auch Darmgrippe genannt.«
Das wird es wohl sein, dachte Ross, während er die Versuche seines Inneren fühlte, mit sich selbst ins reine zu kommen. »Hab ich noch nie gehabt. Ist es schlimm?« »Das kommt darauf an. Hast du irgend etwas gegessen?« Ross schüttelte voll Abscheu den Kopf. »Das vereinfacht die Heilung«, meinte Tim. Er entnahm dem kleinen, aber hochwirksamen Arzneivorrat eine durchsichtige Plastikflasche, die zur Hälfte mit riesigen weißen Pillen gefüllt war. »Nimm eine sofort, und in einer Stunde eine weitere.« Ross zögerte; dann spülte er die Pille hinunter. Sein Magen reagierte mit wilden Zuckungen, bis schließlich der gewünschte beruhigende Effekt eintrat. »Jetzt geht es besser, danke«, sagte er. Der Schmerz begann sich aus seinem Körper zurückzuziehen. »Du hast diesen speziellen Virus vermutlich auf der Hauptstation aufgeschnappt«, meinte Tim. »Es kommen so viele Besucher von der Erde. Zum Glück ist die Krankheit erst nach unserer Reise ausgebrochen und nicht während –« Ross verbannte diesen Gedanken aus seinem Kopf. »Wie geht's jetzt weiter?« fragte er mit krächzender Stimme. »Du wirst für vierundzwanzig Stunden aus dem Dienstplan genommen, damit du nicht überall he-
rumstreichst und alle ansteckst. Du gehst jetzt erst mal ins Bett. Wenn ich meine Runde gemacht habe, werde ich nach dir sehen.« »Deine Runde? Hat noch jemand Grippe?« »Noch niemand«, antwortete Tim. »Ich muß Julian Martino seine Injektionen verabreichen, um die Strahlenvergiftung aufzuhalten, die er bei dem Unfall erlitten hat. Wenn sich die Kommandantin doch nur überzeugen ließe, daß er in die Klinik der Hauptstation gehört!« »Warum ordnest du nicht einfach seine Überführung an?« Tim schüttelte resigniert den Kopf. »Er möchte selbst hierbleiben. Er und Eva Keough – das ist zu viel Widerstand. Julian Martino kann nirgendwohin verlegt werden.« Ross verbrachte den Morgen und den Nachmittag in einem unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte, um eine der weißen Pillen zu nehmen. Die Zeit schien elastisch zu sein; mal dehnten sich die Minuten, mal rasten die Stunden vorbei. Nur undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, daß außerhalb seiner Klause der Arbeitsalltag seinen Lauf nahm. Die Geräusche sagten ihm nichts. Boreas war für ihn nicht mehr als ein ferner Traum, den er einmal gewußt und dann wieder vergessen hatte. Ein
heißer tropischer Wind schien ihn zu wiegen, und er schlief wieder ein. Hände packten seine Schultern und schüttelten ihn. Nicht gerade derb, aber auch nicht unbedingt zart, wie sein erwachendes Bewußtsein registrierte. Die Hände griffen zweckgerichtet zu. Welchen Zweck mochten sie wohl verfolgen? Den Zweck, einen aufzuwecken, kam die Antwort aus einem anderen Teil seines Gehirns. Man will mich aufwecken. Ross öffnete die Augen und blinzelte in die Helligkeit. Die Hände hörten auf, ihn zu schütteln, und er vernahm das Gemurmel vieler Stimmen. »Ross!« hörte er jemand sagen. »Ross!« Die Stimme schwamm davon. »Er antwortet nicht«, sagte eine andere Stimme. »Die Wirkung der Pillen müßte jetzt vorbei sein«, antwortete die erste Stimme. »Ross! Wach doch auf!« Das verschwommene Bild vor seinen Augen gewann allmählich Gestalt. »Tim, was soll die ganze Aufregung?« fragte Ross mit erstaunlich klarer und fester Stimme. »Was ist los?« Das Geschnatter vieler Stimmen antwortete ihm. Ross setzte sich aufrecht hin. Der Raum war voll mit Menschen. Neben ihm stand natürlich Tim. Die Colberts betrachteten ihn mit einem besorgten Ausdruck.
Nahe der Tür erblickte er eine Gestalt in einer schwarzen Uniform. Es war die Kommandantin Eva Keough. »Ross, kannst du mich deutlich verstehen?« Tim beugte sich über ihn. »Natürlich«, erwiderte Ross etwas beleidigt. »Oder glaubst du vielleicht, ich sei taub?« »Die Medizin, die ich dir verschrieben habe, ist verdammt stark. Ich dachte, du seist noch erschöpft.« »Nur ein bißchen schläfrig. Ich fühle mich jetzt wieder gut«, antwortete Ross. Er deutete auf die Versammlung. »Halten hier alle Krankenwache an meinem Bett?« »Es gibt natürlich einen Grund für die Zusammenkunft. Du kannst mir glauben, daß ich dich nicht vorzeitig geweckt hätte, wenn der Grund nicht sehr triftig wäre.« Tim trat beiseite und machte Eva Keough Platz. »Glauben Sie, daß Sie bald wieder auf den Beinen sind, Mr. Moran?« fragte sie freundlich. »Geben Sie mir eine Minute Zeit, um mich anzuziehen«, sagte Ross. »Ausgezeichnet. Ich hatte es gehofft.« Die Art und Weise, in der sie ihre Sätze betonte, verlieh ihnen etwas Geheimnisvolles. Ross fühlte sich veranlaßt zu fragen, was denn schiefgegangen sei. »Hier ist soweit alles in Ordnung. Auf der Erde
sieht es jedoch ganz anders aus. Eines der Passagierflugboote mußte im Arktischen Ozean nördlich von Kanada notlanden.« »Hat jemand überlebt?« »Das weiß niemand. Der Kontakt mit dem Flugboot ist seit dem Moment unterbrochen, als es in die Atmosphäre eintrat und seine Triebwerke explodierten. Das Schiff ist vermutlich in der Nähe von Meighen Island aufgeschlagen.« Der Arktische Ozean nördlich von Kanada. In Ross tauchte eine Erinnerung auf. »Der Sturm«, sagte er. »Hat sich nicht ein Sturm in der Arktis gebildet? Ich erinnere mich, Aufnahmen des Tiefdruckgebiets gemacht zu haben.« Joel Colbert ergriff das Wort. Er gab eine detaillierte und lebendige Schilderung des Orkans, der in beißender Kälte die Eiskristalle wie Geschosse vor sich herjagte. Es war das erschreckende Bild einer rücksichtslosen, grausamen Natur, in deren eisigem Griff alles Leben in kurzer Zeit erlöschen mußte. »Ausgerechnet dort sind sie hineingeraten?« fragte Ross erschrocken. »Ja, mitten in den Orkan«, bestätigte die Kommandantin. »Man hat zwar einen Rettungstrupp auf die Beine gebracht, aber da der genaue Ort der Bruchlandung nicht bekannt ist, können die Retter nicht wirkungsvoll eingesetzt werden. Wir haben nur eine
grobe Schätzung, wo das Schiff niedergegangen sein könnte.« »Wir?« »Die IRV hat Boreas die Aufgabe übertragen, das Schiff zu finden«, erklärte Myra Colbert. »Joel und ich haben die ersten Sondierungen schon vorgenommen, aber zwei Leute werden damit nicht fertig.« »Und ich soll dabei helfen?« fragte Ross. »Das ist der Zweck unserer Versammlung«, bestätigte Eva Keough. »Es handelt sich um eine Bitte und nicht um einen Befehl.« »In Ordnung«, sagte Ross ohne Zögern. »Wann kann er losgehen?« »Sobald Sie in der Beobachtungskuppel sind und die Kameras einschalten, Mr. Moran.« Acht Tage danach wuchs das Monster immer noch. Mit furchtbarer Kraft dehnte es sich nach Süden und Osten aus. Entfernungen bedeuteten nichts für den Sturm. Seine Eiswinde griffen über den Arktischen Ozean wie die Beine eines riesenhaften Lebewesens und wühlten die Oberfläche auf. Ein arktischer Alptraum, dachte Ross. Und irgendwo in dieser weißen Eishölle lag ein kleines, unbedeutendes Fetzchen Metall. Irgendwo. Zahllose Stunden der Suche hatten es noch nicht ermitteln können, obwohl die Aktion jetzt
aufs äußerste intensiviert worden war. Der Sturm hatte seine Gefangenen gut versteckt. Wenn es überhaupt Gefangene gab, dachte Ross. Wenn er das Wüten des Orkans verfolgte, so kamen ihm daran berechtigte Zweifel. Es war außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft, daß irgendein Lebewesen die unaufhörlichen Angriffe tobender Eismassen ohne besonderen Schutz über längere Zeit aushalten konnte. Der zerborstene Schiffsmantel konnte diesen Schutz kaum bieten. »Etwas Neues?« fragte Myra Colbert über das Intercom. »Nichts«, antwortete Ross, nachdem er die Ergebnisse der letzten zwei Stunden noch einmal durchgesehen hatte. »Noch kein Nachlassen des Unwetters im Gebiet vor Meighen Island. Es sieht sogar schlechter aus denn je. Ich frage mich, wie ein Bodentrupp da durchkommen soll.« »Die Windgeschwindigkeit beträgt in dieser Gegend einhundertsechzig Kilometer pro Stunde«, sagte Myra Colbert nach einer Pause. »Diesen Stürmen kann kein Flugzeug trotzen.« In seinem Innern stimmte Ross zu, und die schmerzliche Erinnerung an einen anderen Flug in einen anderen Sturm stieg in ihm hoch. Es sind schon genug Menschen umgekommen, dachte er. Warum sollen es noch mehr werden?
»Ja, es muß ein Oberflächensuchtrupp ausgesandt werden«, sagte Ross. »Aber sie werden es schwer haben in den Eisfeldern, die der Wind vor sich hertreibt. Sie sollten diesen Rat zur Erde durchgeben.« »Das ist ein guter Vorschlag, aber ich bin nicht diejenige, die mit der Erde Verbindung hält. Eva Keough hat Anweisung gegeben, daß alle Beobachtungen über ihr Büro zur Erde gehen sollen.« »Das scheint mir einen Zeitverlust zu bedeuten.« Myra Colbert war geduldig. »Da kann man gar nichts machen. Die Kommandantin hat sehr energisch darauf bestanden. Sie will die erste sein, die von einem Erfolg erfährt.« »Sie sollte das Ganze nicht so verzögern. Der Sturm ist in den letzten Stunden schlimmer geworden. Ich habe alles Menschenmögliche versucht, um die Erdoberfläche sichtbar zu machen, aber diese Wolkenschichten sind für jedes Instrument undurchdringlich.« Ross schwieg eine Weile. »Es ist hoffnungslos. Ich kann nicht ein einziges Detail erkennen. Vielleicht in ein oder zwei Tagen, wenn sich der Sturm etwas gelegt hat –« »Dann gibt es keine Überlebenden mehr«, sagte Myra Colbert. »Ich weiß, aber was kann man denn noch tun? Diese Sturmwolken lagern über dem Arktischen Ozean
wie eine richtige Mauer. Ich gebe Niederlagen nicht gern zu, aber in diesem Fall bleibt mir nichts anderes übrig.« »Haben Sie wirklich alles versucht? Wie steht es mit den Infrarot-Kameras?« drängte Joel Colbert. »Ich habe gleich am Anfang Infrarotaufnahmen gemacht. Dieses Verfahren eignet sich jedoch nur zur Feststellung größerer Warmlufteinbrüche. Ein Körper von der Größe des Flugbootes hinterläßt auf dem Film keine Spuren.« Joel Colbert schwieg lange. Dann kam seine Stimme müde und resigniert aus dem Lautsprecher. »Wenn es so ist, muß ich Ihnen zustimmen. Ich werde die Kommandantin sofort unterrichten.« Wie zu erwarten, war die Kommandantin nicht gerade erfreut. Sie nahm die Meldung mit Befremden entgegen und überschüttete Ross und die Colberts mit einer Menge Fragen, als ob sie diese für das Unwetter persönlich verantwortlich machen wollte. Ross zügelte sein Temperament und erläuterte seinen Entschluß noch einmal. »In Ordnung«, sagte die Kommandantin, als er fertig war. »Ich sehe, daß es im Moment sinnlos ist, mit den Beobachtungen fortzufahren. Ich werde es meinen Vorgesetzten auf der Erde durchgeben. Sie drei sollten sich jetzt ausruhen, denn in acht Stunden wird die Suche wieder aufgenommen.«
Ross atmete auf. Er fühlte sich völlig zerschlagen und wußte, daß er kurz vor einem Zusammenbruch stand. Im Augenblick brauchte er Schlaf mehr als alles andere. Müde hob er die Hand, um das Intercom auszuschalten. Da drang noch einmal die Stimme Eva Keoughs aus dem Lautsprecher. »Mr. Moran, Ihre Station verfügt über die modernste Fotoausrüstung. Sollte der Fall eintreten, daß irgendeine weniger gut ausgerüstete Mannschaft das Flugboot lokalisiert, dann wird man mir einige peinliche Fragen über die Qualifikation meiner Leute stellen. Beten Sie, daß dieser Fall nicht eintritt.« Mit dieser Warnung schaltete sich das Intercom aus. Ross schleppte sich in seine Kabine und warf sich auf sein Lager. Sein Körper verlangte nach Schlaf, aber seine Gedanken wollten nicht zur Ruhe kommen. War es richtig gewesen, die Suche abzubrechen, während es noch Überlebende geben konnte? Hatte er alle Möglichkeiten ausgeschöpft? Hatte er nichts übersehen? Irgend etwas störte ihn und wollte in seiner Erinnerung Gestalt annehmen. Ross versuchte sich zu konzentrieren. Da war doch noch etwas ... Plötzlich sprang er auf und lief zu seiner Jacke, die er achtlos über einen Stuhl geworfen hatte. Er griff in
die Tasche, und seine Finger schlossen sich um einen kleinen Metallbehälter – Dr. Ahns Geschenk an Dr. Nystrom. Der Film! Sein Gehirn lief jetzt auf Hochtouren, als er sich an die Worte des asiatischen Wissenschaftlers erinnerte: Sechs neuartige, hochempfindliche Infrarotfilme. Ross rannte zur Beobachtungskuppel und lud die Filme einen nach dem andern in die Infrarot-Kamera, die er mit Hilfe des Suchers auf das Gebiet vor Meighen Island richtete. Der Blick durch den Sucher zeigte nichts als graue Wolkenbänke, doch der Infrarotfilm würde die Gegend auf seine spezielle Weise sichtbar machen – nicht durch die Aufzeichnung von Hellund Dunkeltönen, sondern durch Ablichtung von Wärme und Kälte. Er schaltete die Kamera ein. Man hörte es sechsmal in schneller Reihenfolge klicken, dann war der Satz komplett. Die Negative wurden ausgeworfen, Ross steckte sie in den Behälter und eilte zum Entwicklungsraum, denn er wollte diese wichtigen Filme von Hand entwickeln. In wenigen Minuten war es soweit. Ross legte die entwickelten feuchten Negative auf eine von unten beleuchtete Glasplatte. Ein Vergrößerer machte jedes Detail sichtbar. Die Negative boten einen befremdlichen Anblick. Schlieren von Gold und Scharlachrot bildeten die
Luftströmungen unterschiedlicher Temperatur ab. Der kalte Fels von Meighen Island war als anthrazitfarbener Fleck zu erkennen. Ross sah, daß Dr. Ahn nicht zu viel über die Qualität der Filme erzählt hatte. Es grenzte an Zauberei. Das Unwetter schien durchsichtig wie Glas geworden zu sein, und die Oberfläche der Erde zeigte sich in allen Einzelheiten. Der erste und zweite Film zeigten nichts Interessantes. Ross wollte den dritten gerade zur Seite legen, als ihm ein gelber Punkt am Bildrand auffiel. Er betrachtete den Punkt nochmals durch einen Vergrößerer. Die Form war unverkennbar: ein Projektil mit Stummelflügeln, das auf einer Seite verbogen und aufgerissen war. Den ovalen Fleck, der die Spindel umgab, deutete Ross als Schmelzwasser. Das dunkle Gelb des Flugbootes bewies eindeutig, daß von dem Wrack noch Wärme ausgestrahlt wurde. Die Chancen, Überlebende zu finden, waren gestiegen ... Aufgeregt schaltete Ross das Intercom ein. Aus dem Büro der Kommandantin kam keine Antwort. Dann versuchte er es mit dem Raum des Assistenten – ebenfalls erfolglos. Ross nahm die Negative an sich und rannte hinaus. In den Korridoren herrschte Schweigen. Die trübe Nachtbeleuchtung gab ein düsteres Licht. Ross fühlte, wie sich eine große Leere in ihm ausbreitete. Schliefen denn alle auf Boreas? Er schlug die
Richtung zur zentralen Funkstation ein und hoffte, dort auf einen Menschen zu treffen. Die Tür zur Zentrale war zu, aber nicht verschlossen. Ross trat ein und fand den Raum leer. Ein Fernschreiber klapperte vor sich hin. Ross griff nach einem Mikrophon und drückte auf den Sendeknopf. Während er wartete, kam ihm undeutlich zu Bewußtsein, daß er sich mit seinem Verhalten über Autorität und Rangfolge hinwegsetzte. Sekunden später hörte er die sachliche Meldung einer Bodenstation. »Nordamerikanische Luftrettungsdivision. Bitte kommen, Boreas!« Ross gab seinen Namen und den Längen- und Breitengrad des Wracks durch. »Halt!« sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Spricht dort nicht die Kommandantin Keough?« »Nein«, antwortete Ross müde. »Ich bin einer der Meteorologen. Genügt das?« »Gewiß. Bitte geben Sie noch einmal die Koordinaten der Wrackposition durch.« Ross hörte am anderen Ende mehrere Stimmen durcheinanderreden, dann meldete sich der Sprecher wieder. »Das ist ja schrecklich. Sobald der Sturm nachgelassen hat, schicken wir ein Such- und Rettungsflugzeug aus.« »Sie können nicht so lang warten«, drängte Ross. »Die Überlebenden müssen sofort geborgen werden.«
»Wir verstehen Ihre Gefühle, Mr. Moran. Aber es existiert tatsächlich kein Flugzeug, das bei diesem Sturm sicher landen und starten kann. Mit einer weiteren Bruchlandung wäre niemandem gedient. Nein, wir sind leider gezwungen abzuwarten.« Ross ließ die Negative enttäuscht auf den Tisch fallen. Bittere Resignation stieg in ihm hoch. Die Reaktion der Bodenstation machte seine ganze Arbeit sinnlos. Bis das Rettungsflugzeug starten konnte, würden alle Überlebenden tot sein. Er schleppte sich in seinen Raum zurück und fiel sofort in den Schlaf der Erschöpfung.
13 Ross war der Held des Tages. Es traf ihn am nächsten Morgen völlig überraschend, nachdem alles wie sonst begonnen hatte. Nach einem von ihm als völlig ungenügend empfundenen Schlaf, schwankte er ungewaschen und unrasiert zur Küche. Er brauchte im Moment nichts mehr als eine Tasse heißen Kaffees. Verschwommen sah er eine große Gestalt in einem weißen Mantel auf sich zueilen, die ihm schon von weitem irgend etwas zurief. Es war Tim. »Ich habe gerade davon erfahren«, erzählte er aufgeregt. »Das war eine große Leistung. Wirklich großartig.« Ross starrte ihn verblüfft an. »Ich rede davon, daß du das Wrack gefunden hast, Mann!« begeisterte sich Tim und schlug Ross auf den Rücken. »Alle Welt spricht darüber und nennt dich ein richtiges Genie. Ich lade dich zu einem Drink ein. Komm!« »Kaffee?« »Zu allem, was du willst.« Ein kleines Empfangskomitee erwartete ihn. Die Colberts erhoben sich bei seinem Eintritt und klatschten. Ross war verstört.
»Machen Sie doch nicht so ein Gesicht!« rief ihm Myra Colbert zu. »Sie sind jetzt berühmt und müssen sich dreinfügen. Nur keine falsche Bescheidenheit!« »Moment mal«, sagte Ross. »Bevor man mich als Helden feiert, sollte man sich darauf besinnen, daß ich nichts weiter getan habe, als diese Bilder aufzunehmen. Und es war noch nicht einmal mein eigener Film. Vielmehr hat mir jemand –« »Das spielt alles überhaupt keine Rolle, Ross. Sie waren derjenige, der das Schiff gefunden hat, und das allein zählt. Sie haben weitergemacht, als die anderen schon aufgegeben hatten und die Verunglückten ihrem Schicksal überlassen wollten.« Ein Gefühl der Verlegenheit breitete sich in Ross aus, als so viel Lob über ihn ausgeschüttet wurde; doch Myra Colberts letzter Satz machte ihn hellwach. »Wollen Sie damit sagen, daß – daß es wirklich Überlebende gibt?« »Sieben von neunundfünfzig sind durchgekommen«, erklärte Joel Colbert. »Sie waren lebende Eiszapfen – aber lebend.« »Ich verstehe noch nicht ganz«, wunderte sich Ross. »Wie konnte ein Flugzeug durch den Sturm kommen?« »Das ist das Beste daran«, sagte Tim. »Man hat einen Weg gefunden, völlig unbehelligt durch den Sturm zu dem Wrack vorzudringen. Ein sowjetisches U-Boot konnte mit Hilfe deiner Positionsangaben
zehn Meter vom Unfallort durch die Eisfläche brechen und auftauchen.« »Das ist die beste Nachricht, die ich je erhalten habe«, strahlte Ross. »Trink deinen Kaffee schnell aus. Eine der Nachrichtenagenturen wollte dich sprechen, sobald du auf den Beinen bist«, sagte Myra Colbert. Ihre aufgeregte Stimme klang in dem kleinen Raum wie eine Alarmglocke. Der Reporter war höflich und ausdauernd. Er legte Wert auf jedes Detail. Eine Stunde dauerte das Ferngespräch mit der Erde, ehe sich der Mann zufriedengab. Mit einem Seufzer legte Ross den Hörer auf die Gabel. Mit etwas Glück, dachte er, ist meine Rolle bei der Rettungsaktion bald vergessen, und ich kann wieder meiner Arbeit nachgehen wie zuvor. Er überlegte weiter, daß in einer Zeit, da sich zwei große Nationen waffenklirrend gegenüberstanden, die Entdeckungen eines jungen Meteorologen in einer fernen Raumstation nicht von übermäßigem Interesse sein würden. Er sollte recht behalten. Sein Name wurde ein paar Mal in den Nachrichten erwähnt und dann vergessen. Die Mannschaftsmitglieder der Boreas begannen ihn wieder als ihresglei-
chen zu behandeln. Drei Stunden nach dem Interview ließ ihn die Kommandantin zu sich rufen. Ross fragte sich, was sie wohl dazu zu sagen hatte. Sie kam schnell zum Kern der Sache. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Man hat mich unterrichtet, daß Sie für die Auffindung des Wracks verantwortlich sind?« »Ja.« »Dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Findigkeit. Ich bin erfreut, daß es einem meiner Leute schließlich doch gelungen ist, das Flugboot zu entdecken. Eines jedoch stört mich dabei. Sie können sich wahrscheinlich denken, was ich meine.« Hält sie mich etwa für einen Hellseher? fragte sich Ross im stillen. Wenn ja, dann hat sie sich geirrt, dachte er weiter und betrachtete ihr abweisendes, glattes Gesicht. Ihre Augen waren fest auf ihn gerichtet, ihr Mund bildete einen Strich, ihre Haare waren perfekt frisiert. Sie war vollkommen ruhig und hatte sich absolut in der Gewalt. Ross wurde nervös. »Ich fürchte, nein«, antwortete er. »Dann darf ich vielleicht Ihr Gedächtnis auffrischen, Mr. Moran. Ehe Sie mit der Suche nach dem Wrack begonnen haben, hatte ich Sie angewiesen, alle Entdeckungen über mich zu leiten. Erinnern Sie sich daran?«
Ross nickte, und sie sprach weiter. »Warum sind Sie dann meiner Anweisung nicht nachgekommen? Warum wurde ich von Ihnen nicht informiert?« »Ich dachte, Sie würden schlafen.« »Sie dachten?« sagte sie ausdruckslos. »Ihr Büro war geschlossen, soviel ich mich erinnern kann. Ebenso das Büro ihres Assistenten. Als ich die Filme entwickelt hatte, war weit und breit niemand zu finden. Es blieb mir keine andere Wahl, als selbst Verbindung zur Erde aufzunehmen.« »War das nicht ein bißchen unverschämt?« fragte sie. »Ich glaube nicht«, erwiderte Ross mit fester Stimme. »Hat es Sie nicht gestört, daß Sie keine Erlaubnis besaßen?« »Ich wußte nicht«, entgegnete Ross, »daß ich in einem Notfall eine Erlaubnis brauche.« Jetzt drückte seine Stimme Ärger aus. Das hatte eine gewisse Wirkung. Sie ließ die starre Maske fallen. »Sie sind unsachlich«, fauchte sie zurück. »Ich wollte aus gutem Grund noch vor anderen Dienststellen informiert werden. Was wäre gewesen, wenn Sie sich geirrt hätten und Ihre Daten falsch gewesen wären? Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, welchen Schaden Sie angerichtet hätten?«
Ross hatte nicht darüber nachgedacht, da ja das Gegenteil so offensichtlich eingetreten war. Die Kommandantin hatte ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen und ihre Maske aufgesetzt. »Dann werde ich Ihnen sagen, was passiert wäre. Nicht Sie wären der Blamierte gewesen, sondern ich. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich bin für alles, was auf Borea vorgeht, voll verantwortlich – für die Daten, die Mannschaft und die Maschinen. Sie haben mich und meine Position aufs Spiel gesetzt, indem Sie so selbstherrlich gehandelt haben.« Sie warf Ross einen warnenden Blick zu. »Das ist schon das zweite Mal, daß Sie sich einen unentschuldbaren Fehler leisten – einen Fehler, den ich weder dulden noch vergessen kann. Ich werde in Zukunft nicht mehr ruhig zusehen, Mr. Moran. Sollten Sie sich noch einmal eine derart schwerwiegende Verfehlung zuschulden kommen lassen, wäre ich gezwungen, Sie aus der Mannschaft der Boreas zu entfernen.« »Ich habe verstanden«, murmelte Ross höflich. Er hatte diese Drohung schon die ganze Zeit erwartet und war tief in seinem Innern weit davon entfernt, sich zu fürchten. Er wußte, daß er richtig gehandelt hatte, als er sich auf eigene Faust mit der Rettungsstation in Verbindung gesetzt hatte. Sein Vorgehen durfte nicht nach Vorschriften beurteilt werden, die diesem Ausnahmefall nicht gerecht werden konnten.
Trotz der Kritik durch die Kommandantin Eva Keough war Ross auf seine Handlungsweise stolz. Zum erstenmal seit Monaten vertraute er seinem eigenen Urteil. Er war unerschütterlich davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben, und fühlte sich doch auf seltsame Weise mit den Ansichten der Kommandantin verbunden. Er hatte kein Interesse daran, sie nochmals herauszufordern. Die Unterhaltung war hiermit wohl beendet. Ross bemühte sich verzweifelt, das unbehagliche Schweigen zu brechen und einen würdigen und gnädigen Abgang zu finden. Es fiel ihm nichts Geeignetes ein. Er erhob sich und spürte, wie ihre Augen forschend auf ihm ruhten und seine Verlegenheit wahrnahmen. Auf dem Weg zur Tür blieb er stehen. »Hätten Sie Interesse daran, die Filme zu sehen? Sie sind von hervorragender Qualität.« »Nein«, antwortete die Kommandantin, die sich bereits wieder ihrer Arbeit auf dem Schreibtisch zugewandt hatte. Ross war gerade im Begriff, die Tür zu schließen, als ihn ihre Stimme noch einmal zurückhielt. »Einen Moment, Mr. Moran. Da ist noch ein Punkt, den ich gern geklärt hätte. Wie kamen diese Filme in ihren Besitz?« Ross erklärte es, und die Kommandantin hörte ge-
nau zu. Sie machte sich einige Notizen und fragte dann: »Sie sagten, dieser Film sei eine Neuentwicklung, im Versuchsstadium und hochempfindlich – und dennoch hat Ihnen dieser – wie heißt er doch gleich – Dr. Ahn den Film ausgehändigt?« »Mit der Bitte, ihn an Dr. Nystrom weiterzugeben.« »Ich frage mich, ob die U.S.-Luftwaffe davon weiß, daß mit ihrem Eigentum so großzügig umgegangen wird?« Ross zuckte die Achseln. »Da die Filme auf dem Gebiet der Radioastronomie verwendet werden sollten, hielt Dr. Ahn unseren Astronomen wohl für den geeigneten Mann, sie zu erproben.« »Ja, das könnte zutreffen. Danke, ich brauche Sie jetzt nicht mehr.« Es war das erstemal seit Dr. Nystroms Abflug vor mehr als fünfzig Stunden, daß Ross wieder an ihn dachte. Er fragte sich, ob der raumkreuzende Wissenschaftler sein Ziel erreicht habe und ob er sich schon wieder auf dem Heimflug befinde. Ross beschloß, den Mann aufzusuchen, der darüber etwas wissen konnte. »Ich habe noch keinerlei Nachricht«, sagte Tim. »Überhaupt keine Funkverbindung?« »Das ist kein Grund zur Besorgnis«, beruhigte ihn Tim. »Er hat alle Hände voll zu tun, das Schiff zu steuern, das Radar zu bedienen und die Navigation
vorzunehmen. Wahrscheinlich hat er nicht halb so viele Ruhepausen, wie er dachte.« »Dann machst du dir also überhaupt keine Sorgen?« Tim schüttelte den Kopf. »Wenn es jemand anders wäre, der das Schiff steuert, müßte ich ›ja‹ sagen. Bei Dr. Nystrom gelten andere Maßstäbe. Meiner Meinung nach versteht er mehr von Raumfahrt als irgendeiner dieser Piloten, die du auf der Hauptstation gesehen hast und die das Zweifache seines Gehalts beziehen. Er weiß immer genau, was er zu tun hat, und erlaubt sich keine Nervosität.« Ross mußte Tim zustimmen, wenn er an Dr. Nystroms Haltung während des Reaktorunfalls dachte. »Er zeigte damals keine Spur von Panik.« Tim nickte. »So ist er immer. Stark und gesund. Er wäre der perfekte Patient, doch er wird nie krank.« Tim lächelte. »Dr. Nystrom ist schon eine Persönlichkeit. Die einzige, die sich mit ihm messen kann, ist unsere heißgeliebte Kommandantin.« »Es überrascht mich, so etwas gerade von dir zu hören.« »Nun ja«, sagte Tim mit einem etwas gequälten Lächeln, »ich versuche meine Meinung über sie zu ändern, wie es Dr. Nystrom vorgeschlagen hat.« »Dann hast du damit anscheinend mehr Glück als ich«, seufzte Ross. »Ich hatte gerade eine Auseinan-
dersetzung mit ihr. Sie hat mich abgekanzelt, weil ich sie nicht als erste von der Entdeckung des Wracks benachrichtigt habe.« Tim lehnte sich in seinem Stuhl ruckartig vor. Seit dem Beginn ihrer Unterhaltung wuchs in Ross der Verdacht, daß Tim etwas verschwieg. Er hatte recht. Der junge Arzt schien plötzlich am Ende zu sein. »Ich habe dich angelogen«, sagte er verzagt. »Meine Meinung über die Kommandantin hat sich nicht im geringsten geändert. Tatsächlich glaube ich, daß es mit ihr noch schlimmer wird als je zuvor. Vor einer Weile hat sie angeordnet, daß Julian Martino seine tägliche Injektion nicht mehr erhalten dürfe. Stell dir vor! Kein Wort der Erklärung. Ich mußte seine Arznei, seine Spritzen und seine Krankenberichte zusammenpakken. Um sechs Uhr muß ich sie bei ihr abliefern.« »Wie wichtig sind seine Arzneien?« »Sehr wichtig. Ein Mensch, der eine derartige Strahlenverbrennung erlitten hat, wird nicht in einem oder zwei Monaten gesund. Er muß fast ein Jahr lang behandelt werden. Wenn man ihm seine Arznei wegnimmt, stirbt er.« »Ich weiß nicht, warum sie so etwas tun sollte. Hat sie gesagt, daß Martino überhaupt keine Injektion mehr bekommen dürfe?« »Nicht direkt. Nur, daß ich sie nicht mehr verabreichen und in der Krankenstation vorrätig haben darf.«
»Dann soll er wahrscheinlich von Boreas weggebracht werden«, vermutete Ross. »Die Medizin gehört zu seinem Reisegepäck.« »Ich räume diese Möglichkeit ein«, erwiderte Tim. »Das war auch mein erster Gedanke. Aber dann fragte ich mich, an welchem Ort, an den Martino gebracht werden könnte, wohl ein solcher Arzneimangel herrscht, daß er die Spritzen mitbringen muß. Auf jeder Raumstation der IRV ist für ärztliche Hilfe gesorgt. Das gilt selbst für die kleinsten Schiffe. Ihr Verhalten ergibt keinen rechten Sinn, wie man es auch betrachten mag. In dem logischen Gebäude fehlt irgendein Stein – und wie es aussieht, kein ganz kleiner.«
14 Der Rhythmus seines Alltags ließ Ross manchmal vergessen, wo er sich befand. Die Ausstattung der Station erzeugte die Vorstellung, daß sich Boreas nicht in einer langgestreckten elliptischen Bahn um die Erde bewegte, sondern selbst auf festem Boden stand. Ross konnte sich ohne weiteres einbilden, er lebe wieder in einem der Komplexe seiner Universität in Pasadena, Kalifornien, die sich aus einer Kombination von Schlafraum, Klassenzimmer und Laboratorium aufgebaut hatten. Er konnte sich erinnern, ganze Wochen innerhalb dieser Baukomplexe verbracht zu haben, ohne ein einziges Mal ins Freie zu gehen und das Sonnenlicht zu sehen. Essen, Schlafen, Studieren, ja sogar Tanzen und Kinobesuche hatten sich innerhalb des Gebäudes abgespielt. Abgesehen von Unterschieden hinsichtlich der Schwerkraft war die Ähnlichkeit einer Raumstation schon derartig angepaßt, daß es eines besonderen Ereignisses bedurfte, ihn daran zu erinnern, daß es ein weiter Weg war von der Erde bis zur Boreas. Das Ereignis trat eine Stunde nach seinem Gespräch mit Tim ein. Ross war damit beschäftigt, die Dunkelkammer aufzuräumen, in der er die Filme entwickelt hatte. Er
hatte den Raum in einem wüsten Zustand vorgefunden. Chemikalien und Geräte lagen in großen Wasserpfützen. Die von unten beleuchtete Platte des Vergrößerungstisches war mit einer schmierigen Masse von Entwicklerlösung bedeckt. Überall standen naßgespritzte, unverschlossene Fläschchen und Säureballons herum. Mit einem feuchten Schwamm versuchte Ross, die rätselhaften Wasserspuren zu beseitigen. Als er sich dem Wasserhahn zuwandte, erkannte er des Rätsels Lösung. In einem dünnen, durchsichtigen Strahl rann das Wasser auf den Boden. Während auf der Erde der tiefergelegene Abfluß die Rinnsale aufgenommen und weitergeleitet hätte, bewirkte hier die mangelnde Schwerkraft einen gänzlich unerwarteten Effekt. Das Wasser spritzte vom Boden mit Tausenden von Tröpfchen hoch in die Luft, von wo es langsam niederschwebte, um abermals in tausend Teilchen zu zersprühen. Ross betrachtete vollkommen fasziniert das prächtige Schauspiel, das ein so schlichter Stoff wie Wasser mit Hilfe der verminderten Schwerkraft aufführen konnte. Schließlich riß er sich los und wandte sich den flachen Schüsseln zu, in denen die drei Filme schwammen, die er noch nicht untersucht hatte. Aus purer Neugierde hielt er sie gegen das Licht. Er stutzte.
Ross legte eines der Fotos unter den Vergrößerer, um es näher zu untersuchen. In der Mitte von einem der Negative zeigte sich ein pfenniggroßer kreisrunder Fleck. Ross hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen, und er schaltete die stärkste Vergrößerungsstufe ein. Der Fleck besaß tatsächlich eine vollkommene Kreisform, deren äußerer Rand sich scharf und übergangslos gegen den Sturm abgrenzte. Es dauerte einige Minuten, ehe Ross die Antwort fand. Das Objekt mußte hoch über dem Sturm und der Atmosphäre schweben, da andernfalls in der unmittelbaren Umgebung eine Wärmestrahlung vorhanden sein müßte. Vermutlich handelte es sich um einen Satelliten. Seine Größe und seine arktische Position ließen nur einen einzigen Schluß zu. Ross hatte unabsichtlich den Satelliten namens ›Basketball‹ auf den Film gebannt. Doch das seltsamste war für Ross, daß sich im Inneren des Satelliten ein dunkler Schatten abzeichnete. Doch war seine Form trotz des Vergrößerers zu verschwommen, als daß Einzelheiten zu erkennen gewesen wären. Ein dreimaliger lauter Klingelton ließ Ross zusammenschrecken. Das Intercom hatte sich gemeldet. Nervös drückte Ross auf die Sprechtaste. »Ist Ross dort?« flüsterte es aus dem Lautsprecher.
»Am Apparat«, antwortete Ross. »Mit wem spreche ich?« »Hier ist Tim.« »Wie wäre es, wenn du etwas lauter sprechen würdest?« »Ich kann jetzt nicht. Bist du im Moment sehr beschäftigt?« »Nein. Um was geht es denn?« Ein Klicken aus dem Lautsprecher verriet, daß Tim am anderen Ende abgeschaltet hatte. Noch ehe eine Minute verstrichen war, steckte Tim den Kopf zur Tür herein, sah sich um und schloß die Tür wieder sorgfältig hinter sich. Seine Miene verriet ernste Besorgnis. »Ich glaube, daß mein Intercom abgehört wird«, sagte er, noch immer flüsternd. »Und deines wahrscheinlich auch.« »Woher willst du das wissen?« zweifelte Ross. »In dem Moment, als ich eingeschaltet hatte, hörte ich den Atem eines Menschen, und kurz darauf ein Summen, das wohl von einem Tonbandgerät stammt.« »Aber warum hast du dich denn so angestrengt zu flüstern, wenn sowieso alles aufgenommen wird?« fragte Ross. »Wahrscheinlich ganz instinktiv. Obwohl es natürlich sinnlos war.«
Der Blick, den Ross Tim zuwarf, mußte wohl etwas skeptisch gewesen sein, denn Tim beeilte sich hastig zu versichern, daß er nicht übergeschnappt sei. »Ich schwöre dir, es hat sich alles genau so abgespielt, wie ich es dir erzählt habe.« »In letzter Zeit halte ich hier an Bord auch alles für möglich«, sagte Ross. »Ich bin froh, daß du verstehst.« »Das habe ich zwar nicht behauptet, aber lassen wir jetzt das Thema. Was hast du auf dem Herzen?« »Ich habe eben die neuesten Nachrichten über das Wrack gehört.« Tim schwieg eine Weile und betrachtete seine Finger, die unruhig auf der Tischplatte trommelten. Als er sein Gesicht wieder Ross zuwandte, schien alle Farbe daraus gewichen zu sein. »Jonathan Hanks ist tot.« Die Worte standen im Raum. Ross' Augen weiteten sich vor Schreck und Unglauben. »Ja, es ist wahr. Er starb beim Absturz des Flugbootes. Sein Name stand auf der Liste der Opfer. Ich habe mich durch einen Anruf bei der Hauptstation vergewissert. Am ersten Januar hat er das Flugboot nach London genommen.« »Erinnerst du dich, was er vor seinem Aufbruch nach England gesagt hat?« fragte Tim. »Er wollte dort so lange bleiben, bis er genügend Beweise gesammelt
hat, um der IRV einen überzeugenden Bericht unterbreiten zu können.« Ross erinnerte sich wieder an die Szene in dem kleinen Lokal mit den runden Tischchen, den feiernden Touristen und der Unterhaltung mit Hanks. »Damit ist der Plan erledigt«, sagte Ross. »Hanks hatte mehr Information als irgendeiner von uns. Ich frage mich, ob er Aufzeichnungen hinterlassen hat?« Tim schüttelte den Kopf. »Er war schlau genug, nichts Schriftliches niederzulegen. Nein, Hanks hatte ein gutes Erinnerungsvermögen, auch für Einzelheiten. Was er gehört oder gesehen hat, pflegt er an dem sichersten Ort aufzubewahren, den es gibt: nämlich in seinem Kopf ...« »Dann ist alles aus. Die Informationen sind mit ihm zusammen verlorengegangen. Wir haben kein Material, mit dem wir weiterarbeiten können.« »Ich muß zugeben, daß es so aussieht. Es hat den Anschein, als ob wir wieder am Anfang stehen.« »Wir besitzen eine lange Liste von Verdachtsmomenten«, seufzte Ross, »aber kein Körnchen eines Beweises. Und Beweise werden wir brauchen – gutes und solides Tatsachenmaterial gegen Martino und die Kommandantin, das jeder Nachprüfung standhält.« Ross hatte sich in Zorn geredet. »Wutausbrüche schaffen auch keine Beweise herbei«, ermahnte ihn Tim.
»Ich kann mir nicht helfen«, ärgerte sich Ross. »Es macht mich verrückt, wenn ich daran denke, daß die beiden mich dauernd auf die Vorschriften hinweisen und dabei selbst während jeder Sekunde, die sie sich an Bord befinden, die Vorschriften grob verletzen. Was für ein Wahnsinn!« Mit angespannten Muskeln stand Ross eine Weile da. Dann verließ ihn die Wut so schnell, wie sie gekommen war. Er schaute Tim an. »Jetzt bin ich dran, dir zu versichern, daß ich nicht übergeschnappt bin«, sagte er in einem ruhigeren Ton. »Du hast wahrscheinlich recht, und wir müssen von vorn anfangen – wir beide allein und ohne Hilfe.« »Diese Antwort hatte ich von dir erhofft«, freute sich Tim. »Die Informationen, die Hanks herausknobelte, können wir uns auch verschaffen. Da bin ich ganz sicher.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit für mich. Ich brauche für Martinos Arzneien noch einen passenden Karton. Hilfst du mir, im Zentrallager einen zu suchen?« »Ja, ich komme mit. Das Lager ist groß.« »Danke, Ross.« »Keine Ursache. Ich tue alles für Martinos Abgang.« Das Zentrallager lag nicht weit von der Dunkelkammer.
»Ich brauche eine Schachtel mittlerer Größe«, sagte Tim. »Ruf mich, wenn du etwas gefunden hast.« Ross begann die Suche bei dem Stapel mit Elektroteilen und Treibstoffbehältern, doch alle Kartons waren säuberlich in Plastik verpackt und verschlossen. Eine Kiste von geeigneter Größe, die er für leer hielt, erwies sich beim Aufheben als mit schweren Messingteilen gefüllt. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit der Schulter gegen einen harten, kalten Gegenstand. Ross rieb sich die schmerzende Stelle und blickte sich neugierig um. Der metallische Gegenstand war nichts anderes als einer von drei großen Sauerstoffbehältern. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Ross runzelte die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. Die Sauerstoffbehälter hatten einen noch unversehrten Verschluß. Dicker Staub lagerte auf ihnen. Kalte Furcht kroch in ihm hoch, und er rief laut nach Tim. Diese Behälter ... Tim erschien mit einem kleinen Karton. »Du brauchst nicht so laut zu schreien«, sagte er, »ich habe schon etwas Passendes gefunden.« Statt einer Antwort wies Ross auf die Zylinder. »Sind das nicht die Sauerstofftanks, die für Dr. Nystroms Schiff bestimmt waren?« »Als ich merkte, daß der Sauerstoffvorrat zu Ende ging, habe ich einen Antrag auf Erneuerung gestellt.«
Tim klopfte mit den Knöcheln gegen das Metall. »Das hier sind die leeren Behälter.« »Und warum sind sie dann noch verschlossen und staubbedeckt von ihrer monatelangen Lagerung?« wollte Ross wissen. Tim reckte den Hals. »Das ist seltsam, allerdings«, gab er zu. »Die Wartungsmannschaft muß statt dieser drei Zylinder andere zum Austausch verwendet haben. Es gibt ein Verzeichnis über derartige Prozeduren. Es hängt wahrscheinlich am Hauptdock.« Tim hatte recht. Das Verzeichnis war so an der Wand neben dem Eingang angebracht, daß jeder Vorbeigehende seinen Bedarf an Vorräten darauf niederschreiben konnte. Tim ging die Liste durch, bis er auf seine eigenen Eintragungen stieß. »Nach dieser Liste sind die Sauerstoffvorräte des Schiffes schon seit zwei Monaten nicht erneuert worden. Und noch etwas: Schau dir mal an, was aus meinem eigenen Antrag auf Sauerstofferneuerung geworden ist.« Er händigte Ross die Liste aus. Ross las Tims in der üblichen Form gestellten Antrag auf Austausch von drei Sauerstoffzylindern. Der unmißverständliche Auftrag war dick und kreuzweise durchgestrichen, und jemand hatte die Worte »Antrag abgelehnt« hinzugefügt. Jetzt wurde Ross alles klar. Dr. Nystrom hatte den
Flug angetreten, ohne zu wissen, daß der Sauerstoffvorrat schon fast erschöpft war. Eine einfache Rechnung ergab, daß der Astronom noch für höchstens zwölf Stunden Atemluft hatte. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt waren aber schon über sechzig Stunden verstrichen. Ross wunderte sich nicht mehr darüber, daß die Verbindung mit dem Schiff abgebrochen war. Irgend jemand hatte dafür gesorgt. Es handelte sich um einen schlichten und eindeutigen Mordanschlag. Ein Mensch ohne Sauerstoff mußte ersticken. Als Ross in seinen Überlegungen so weit gekommen war, wurde die Tür aufgestoßen, und eine Schar dunkel gekleideter Männer fielen mit dem Ruf »Da sind sie!« über die beiden her. Ross fühlte sich von mehreren starken Armen gepackt und zur Wand gezerrt. Sein Kopf schlug krachend gegen ein eisernes Schott, und sein Bewußtsein schwand ... Der rote Nebel vor seinen Augen wurde allmählich lichter, und Ross erkannte die Gesichtszüge der Kommandantin Eva Keough. Sie stand inmitten einiger Männer, die wie sie enganliegende schwarze Kleidung, Halbstiefel und enge schwarze Gürtel mit Pistolenhalftern trugen. Ross versuchte, Tim zu entdecken. Die Drehung des Kopfes schmerzte ihn, und er stöhnte leise auf. »Ach, Sie sind aufgewacht«, sagte Eva Keough.
»Doch das spielt keine große Rolle, denn Sie werden Boreas bald verlassen – für immer verlassen.« »Wie meinen Sie das? Wollen Sie mich umbringen, wie Sie es mit Dr. Nystrom getan haben?« fragte Ross ächzend. »Wir können es uns kaum leisten, ein weiteres Schiff zu opfern. Das war ein Scherz, Mr. Moran!« »Wie kann der Tod eines Menschen scherzhaft sein? Ich glaube nicht, daß das Gericht so humorvoll sein wird.« Eva Keough lächelte und erklärte geduldig: »Es wird keine Gerichtsverhandlung geben, Mr. Moran, denn Dr. Nystrom starb im Zuge einer militärischen Aktion. Die Aktion, die Sie gerade miterleben, bildet den nächsten Abschnitt.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Aber ich weiß, daß Sie für die IRV arbeiten, und daß die IRV sie über den Tod Dr. Nystroms vernehmen wird.« »Sie haben mir nicht zugehört«, erwiderte Eva Keough. »Ich sagte, es handle sich um eine Aktion der Vereinigten Streitkräfte. Meine Zugehörigkeit zur IRV ist aufgehoben. Von jetzt an trage ich wieder den Rang eines Offiziers.« »Damit verletzen Sie den Wiener Vertrag«, schrie Ross. »Der Vertrag ist ein Stück Papier«, entgegnete Eva Keough kalt.
»Ich wette, die IRV denkt darüber anders.« »Die IRV ist hilflos. Andernfalls wäre diese Aktion unnötig. Sie können sicher sein, daß ich nicht beabsichtige, Sie an einen sicheren Ort zu bringen. Genausogut könnte ich alles beim alten lassen.« »Ich werde überhaupt nirgends hingehen«, brüllte Ross. »Ich habe meine Rechte als Staatsbürger!« Sie schüttelte den Kopf. »Sie besitzen keinerlei Rechte. Es handelt sich hier um eine Angelegenheit der nationalen –« sie verbesserte sich rasch, »– der Weltsicherheit. Folglich stehen Sie unter Kriegsrecht.« »Das glaube ich Ihnen nicht. Wo ist Tim?« »Colonel Martino verhört ihn gerade. Sie brauchen sich über ihn keine Gedanken zu machen.« »Aber ich mache mir welche. Was liegt gegen Tim vor?« »Er steht unter dem Verdacht, mit dem Feind zu konspirieren. Genau wie Sie auch.« »Das ist das Verrückteste, das ich jemals gehört habe.« Sie schwieg eine Weile. »Sie geben doch zu, daß Sie in enger Verbindung mit Dr. Nystrom stehen?« fragte sie dann. »Ja, natürlich. Bis Sie ihn umgebracht haben.« Ihre Stimme war voll Zorn. »Ihre ›enge Verbindung‹ ist nichts anderes als ein Agentenring, der die höheren Positionen von Regierung und Wissenschaft,
besonders bei der IRV, unterwandert hat. Bis ihnen der Militärische Nachrichtendienst auf die Schliche gekommen ist, haben diese Agenten ungehindert auf der Erde und im Raum arbeiten können. Sie lebten jahrelang völlig unverdächtigt mitten unter uns und holten mit Hilfe einer neuen Fernwaffe zum Schlag gegen die Regierungszentren der Welt aus.« »Sie glauben im Ernst, daß Dr. Nystrom in eine solche Verschwörung verwickelt war?« »Eine weitere Ihrer ›engen Verbindungen‹, nämlich der Mann, den Sie als Jonathan Hanks kennen, hat das zugegeben.« »Hanks?« wunderte sich Ross. »Hanks ist doch bei dem Absturz des Flugbootes ums Leben gekommen!« »Ja, er hat für seine Taten gebüßt. Aber zuvor konnte ihn der Sicherheitsoffizier des russischen UBootes noch verhören.« »Ausgeschlossen«, sagte Tim fest. »Weder er noch Dr. Nystrom waren Spione. Auch Tim ist keiner.« »Sie sollten ihn nicht so voreilig verteidigen. Der Militärische Nachrichtendienst ist im Besitz eines Briefes, den Hanks an Mr. Diehle geschrieben hat. Der Inhalt belastet beide sehr.« Ross erschrak. Der Brief! Jetzt wußten sie alles über diese Sache. Aber warum machten sie so viel Aufhebens davon? »Hanks gestand dem sowjetischen Sicherheitsoffi-
zier noch mehr Einzelheiten. Er hat zum Beispiel zugegeben, daß der Koreanische Astronom Dr. Ahn Mitglied des Spionagerings ist. Er wurde soeben verhaftet und wird gerade in Denver verhört. Seine Geständnisse haben ein weiteres Detail enthüllt, von dem wir allerdings schon seit einiger Zeit wußten – nämlich, daß über der Erde im Weltraum eine Waffe versteckt gehalten wird. In einigen Stunden wird er uns die Position verraten haben. Und dann«, fügte sie triumphierend hinzu, »werden wir uns damit beschäftigen.« Ihre Augen leuchteten. Ross hörte, wie eine Tür aufgestoßen wurde. Schroffer Stimmenwechsel drang zu ihm, und dann wurde Tim von Julian Martino in den Raum gestoßen. Der Colonel stellte Tim neben Ross, trat einige Schritte zurück und zog seine Waffe. Er richtete die Mündung zuerst auf Tim und dann auf Ross. Tim machte auf Ross einen sehr erschöpften Eindruck, und es schien ihm, als ob man seinen Freund unter Drogen gesetzt hätte, um ihm die Zunge zu lösen. Tim schwankte und blinzelte ins Licht. »Hat er etwas Wichtiges gesagt?« fragte Eva Keough. »Nein«, antwortete Martino finster. »Er wußte lediglich, daß wir während unserer Zugehörigkeit zur IRV Militäroffiziere waren.«
»Das ist alles?« forschte sie eindringlich. »Was ist denn mit dem Brief und mit Hanks?« »Nichts«, erwiderte Martino. »Die Wirkung der Droge müßte bald nachlassen.« Tim schüttelte den Kopf. Sofort richtete Martino die Waffe auf ihn und spannte den Abzug. »Sie sind aber ziemlich nervös«, stellte Eva Keough fest. »Geben Sie mir das Ding, ehe es losgeht.« Ross beobachtete die Übergabe der Waffe mit Interesse. Schon Martino schien wenig Übung im Umgang mit der Automatik zu haben; doch für Eva Keough schien sie einen völlig unbekannten Gegenstand darzustellen. Sie hielt die Waffe in den Händen, als handle es sich um einen Rechenschieber oder um eine Tasse Kaffee. Ross fühlte, wie eine leichte Erschütterung durch die Station ging. »Unser Schiff hat angelegt«, sagte Martino mit zufriedenem Lächeln. »Genau nach Plan.« Eva Keough schaute zu Ross hin. »Ich werde Sie jetzt woanders hinbringen lassen. Dort werde ich Ihnen einige Fragen stellen.« Ross warf einen Blick zu Tim hinüber, der zurückblinzelte. Gott sei Dank, frohlockte er innerlich. Ich habe nicht die geringste Lust, mit diesen Irren allein zu sein. »Bitte stellen Sie sich neben den Eingang«, wies ihn
Eva Keough an. »Wenn sich die Tür öffnet, treten Sie ein und –« In ihrem Tonfall war etwas, das Ross schon sein ganzes Leben lang an Lehrern, Polizisten und Beamten gestört hatte. Er beschloß, nicht blindlings in ihr sorgfältig vorbereitetes Gefängnis zu gehen. »Nein«, schrie er aus Leibeskräften. »Nein, nein! NEIN!« Erschrocken riß die Frau die Waffe hoch und zielte auf sein Gesicht. Eine Sekunde lang fummelte sie an der schweren Automatik, dann krümmte sich ihr Mittelfinger um den Abzug und drückte ab. Ross hörte ein schwaches Klicken. Keine Explosion, die sein Gehirn in Stücke riß, folgte. Die Zeit schien stillzustehen. Ross begriff, daß er noch am Leben war. Die ungeübten Finger Eva Keoughs hatten versehentlich den Sicherungshebel umgelegt. Der Abzug war gesperrt. Er wollte Tim darauf hinweisen; aber der Arzt hatte die Situation schon erfaßt und hechtete mit einem gewaltigen Sprung vorwärts. Die Frau versuchte verzweifelt abzudrücken. Tim prallte auf sie. Die Wucht des Aufpralls schleuderte sie gegen Martino. Die Waffe flog durch die Luft. Tim war noch immer in Aktion. Er stieß die Automatik von Martinos ausgestreckter Hand fort und stürzte sich geduckt auf die schwarzuniformierten
Männer. Seine breiten Schultern mähten die überraschten Wachen links und rechts nieder. Ross sah, wie einer der Männer zu seinem Pistolenhalfter griff. Er wollte sich auf ihn stürzen, aber Tim kam ihm zuvor. Ein linker Haken schickte den Uniformierten zu Boden. Tim schaute nach Ross und wies auf eine offenstehende Tür. »Hau ab!« brüllte er. Ross zögerte. Tim war sieben bewaffneten Leuten hoffnungslos unterlegen. Doch daran würde auch das Eingreifen von Ross nichts helfen können. »Geh schon!« brüllte Tim. »Hau endlich ab!« Es war sein Ernst. Ross drehte sich um und rannte durch die Tür, die er hinter sich zuwarf. Über eine Leiter rutschte er in einen verlassenen Korridor. Hinter sich hörte er, wie die Tür aufflog. Schüsse peitschten durch die Gänge und brachen sich in einem vielfältigen Echo. Ross duckte sich in einen Seitengang. Die Schüsse klangen jetzt entfernter. Noch ein vereinzelter Knall, dann herrschte Stille. Plötzlich wieder Schüsse, ganz in seiner Nähe. Man hatte ihn entdeckt. Ross wußte nicht, wo er war und wohin er sich wenden sollte. Die Korridore sahen alle gleich aus. Er rannte um sein Leben. Die Lungen drohten zu bersten. Sein Herzschlag dröhnte durch
seinen Körper wie der Kolben einer riesigen Maschine in einer leeren Fabrikhalle. Und sein Bewußtsein formte immer wieder die Worte: Sammy, Sammy, waren deine letzten Sekunden genauso?
15 Keuchend lehnte sich Ross von innen gegen die Tür seines Zimmers. Er hätte keinen Schritt mehr tun können. Seine Beine versagten ihm den Dienst. Er verriegelte die Tür und ließ sich langsam zu Boden sinken. Für den Augenblick war es ihm gelungen, seinen Verfolgern zu entkommen. Wie lange konnte es noch dauern, bis sie ihn aufstöberten? Zum Glück glich Boreas mit seiner dreidimensionalen Komplexität von Korridoren, Hallen und Passagen einem Labyrinth, das einem Flüchtigen einige Chancen bot, sich eine Zeitlang zu verstecken. Ross kämpfte seine Panik nieder. Im Moment war sein Zimmer das geeignetste Versteck – es gab eine verschließbare Tür und fließendes Wasser, Dinge, auf die es bei einem längeren Aufenthalt ankam. Er blickte sich um. Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Der Inhalt sämtlicher Schubladen war durch das ganze Zimmer verstreut. Das Unterste war nach oben gekehrt. Jeder Winkel war durchsucht worden. Es schien jedoch nichts zu fehlen. Ross' Verstand arbeitete wieder völlig klar. Er überlegte. Kein Geräusch außer dem Surren des Ventilators. Keine Schritte, keine Stimmen, keine Schüsse. Das konnte zweierlei bedeuten. Entweder hatten sie
die Suche nach ihm aufgegeben, oder sie hatten sich zurückgezogen, um mit einer systematischen Durchsuchung der ganzen Station zu beginnen. Ross konnte sich nicht vorstellen, daß eine Frau wie Eva Keough einfach aufgegeben hatte. Es war viel wahrscheinlicher, daß sie sich daran machten, Boreas bis in den letzten Winkel zu durchsuchen und notfalls auseinanderzunehmen. Er dachte über seinen nächsten Schritt nach. Auf die Dauer würde er ein besseres Versteck finden müssen. Aber wo? Die Möglichkeiten waren nicht gerade zahlreich und vielversprechend. Er konnte sich zum Beispiel hinter das Gitter des Ventilators quetschen, oder in die schmale Lücke zwischen Bett und Fußboden kriechen. Wahrscheinlich würden ihn die Schwarzuniformierten dort nicht entdecken, wenn sie kamen. Und sie würden bestimmt kommen. Im Moment konnte er nichts tun, als das Unvermeidliche zu erwarten. »Ross Moran«, plärrte es aus den Stationslautsprechern. »Ross Moran«, wiederholte Eva Keough. Die Lautsprecher verstärkten ihr Stimmvolumen um das Zwanzigfache. »Sie haben genau drei Minuten, um zur Schiffsanlegestelle zu kommen und sich zu ergeben. Wir treffen soeben die Vorbereitungen zum Abflug. Ich habe vor, die Station zu räumen. Die Elektrizität wird abgestellt, und der Sauerstoff wird in den
Weltraum gelassen. Jetzt bleiben Ihnen noch zwei Minuten und fünfundvierzig Sekunden.« Ross überlegte, welche Folgen es hätte, wenn Eva Keough ihre Drohungen wahrmachen würde. Der Entzug der Elektrizität schien ihm von geringer Bedeutung. Licht, Wasserumlaufpumpe und die zur Erzeugung von künstlicher Schwerkraft notwendige Rotation würde ausfallen. Doch diese Drohungen verblaßten gegen die Folgen, die ein Entweichen der Atemluft in den Weltraum nach sich ziehen würde. Ross dachte schauernd an das Ende, das Dr. Nystrom genommen hatte. Sollte er aufgeben? Tim hatte sein Leben für Ross' Flucht eingesetzt. Nein, er mußte jetzt durchhalten. Alles andere wäre Verrat an Tim. »Noch zwei Minuten. Ich stelle den Reaktor ab. Ergeben sie sich!« Die Deckenbeleuchtung flackerte. Ross schätzte, daß ihm noch etwa eine Minute Licht blieb, um das Durcheinander in seinem Zimmer zu durchsuchen. Er fand Sammys Taschenlampe im selben Moment, als der Lautsprecher wieder zu dröhnen begann. »Noch eine Minute, Mr. Moran«, ertönte Eva Keoughs Stimme, die eine Spur von Ärger verriet. »Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren. Machen Sie doch keinen Unsinn. Werfen Sie nicht leichtsinnig Ihr Leben weg.«
Mehr sagte sie nicht. Kurz danach verlöschten die nur noch schwach glühenden Fluoreszenzröhren ganz. Tim saß am Bettrand und hielt die brennende Taschenlampe in der Hand. Sie vermittelte ihm das Gefühl, von den Energiequellen der Boreas unabhängig zu sein – ein Gefühl, das eher psychologischer als realer Natur war. Alarmierend war das allmähliche Nachlassen des Luftstroms aus dem Ventilator. Dann versagten die Pumpen, und es herrschte Stille. Plötzlich drang, erst schwach, dann immer stärker werdend, ein unangenehmes Geräusch an sein Ohr. Er lauschte. Sauggeräusche. Die Luft begann aus dem Zimmer zu entweichen. Ross sprang auf und schloß die Luke des Ventilationsschachtes. Ein lautes Zischen aus dem Korridor verriet ihm, daß auch draußen der Luftvorrat schwand. Dann reagierte das automatische Luftdruck-Kontrollsystem der Station, und eine Reihe dicht schließender Schotts fiel zu. Schwere Verriegelungen klickten. Boreas war jetzt in mehrere selbständige Abschnitte unterteilt. Für den Moment konnte sich Ross sicher fühlen. Aus der Ferne hörte Ross das Donnern von Raketentriebwerken. Eva Keough und ihre Mannschaft hatten die Station verlassen. Ab jetzt war er allein – einge-
sperrt in seiner winzigen, sauerstoffgefüllten Zelle. Ross konnte sich leicht ausrechnen, wieviel Atemluft ihm noch zur Verfügung stand. Schon jetzt spürte er, wie jeder Atemzug unbefriedigender wurde. Es war Zeit zu handeln. Am Ende des Korridors befand sich ein Notsauerstoffvorrat, der für Ross das Ziel Nummer eins darstellen mußte. Wenn er erst einmal im Besitz eines tragbaren Atemgeräts war, konnte er sich weitergehende Schritte überlegen, die eine vernünftige Aussicht auf Erfolg boten. Er stieß entschlossen die Tür seines Zimmers auf. Zischend glich sich der Druck aus, und Ross rannte in der dünnen Luft zu dem Atemgerät, das in einem durchsichtigen Plastikbehälter lag. Er zerschlug die Hülle, ergriff das Gerät und aktivierte die Atemmaske. Dann genoß er eine Weile das Wohlgefühl, kühles trockenes Oxygen zu schmecken. Ross schnallte sich den Sauerstoffzylinder auf den Rücken und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Korridor gleiten. Die Türen waren verschlossen. Sein Versuch, sie mit den bloßen Händen zu öffnen, stellte sich schnell als sinnlos heraus. Solange der Luftdruck nicht normal war, würde die Automatik alle Türen eisern verschlossen halten. Ross starrte düster vor sich hin. Er war also aus dem kleinen Gefängnis seines Zimmers nur in das größere des Korridors geflohen.
Es gab nur einen Weg hinaus. Die Ventilationsanlage. Die Schächte durchzogen die gesamte Station. Ihre Verzweigungen verbanden alle Räume und Gänge von Boreas miteinander. Sie waren eng und verschlungen, aber Ross wußte, daß er keine andere Wahl hatte. Auf seinem Bett stehend entfernte er das Gitter des Schachtes und legte auf diese Weise eine Öffnung frei, die gerade seiner Schulterbreite entsprach. Zusammen mit dem umgeschnallten Atemgerät paßte er nicht in diesen schmalen Schlauch. Er behielt die Atemmaske vor dem Mund, setzte die Sauerstoffflasche ab und schob sie zuerst in den Schacht. Dann kroch er Zentimeter für Zentimeter hinterher. Das Licht der Taschenlampe erzeugte an den glatten Wänden seltsame Reflexe. Nach einigen Metern erreichte er einen wesentlich höheren und breiteren Schacht, dem er hoffnungsvoll folgte, bis der Sauerstoffzylinder auf einen Widerstand stieß. Ein lückenlos über die ganze Breite des Tunnels gespanntes Stahlnetz versperrte den Weg. An Umkehren war nicht zu denken. Ross hatte wenig Lust, rückwärts kriechend in eine Turbine zu geraten. Das Hindernis mußte beseitigt werden, und zwar bald, denn nach der Anzeige des Meßgeräts reichte der Sauerstoffvorrat für nicht viel mehr als vierzig Minuten. Verzweifelt suchte er eine Lösung.
Er brauchte ein Werkzeug. Die Sauerstoffflasche! Mit ihr als Rammbock konnte er versuchen, das Netz zu zerreißen – ein gewagtes Manöver, denn das Innere des Behälters stand unter hohem Druck. Er hatte von Raumfahrern gehört, die eine Sauerstoffflasche hatten fallen lassen. Es war, als ob eine Stange Dynamit explodierte. Der Vorratsanzeiger sank auf drei Minuten. Ross packte den Zylinder mit beiden Händen, schloß instinktiv die Augen und rammte ihn mit aller Kraft gegen das Netz. Das Netz zerriß mit einem Knall. Nach einigen Metern entdeckte er einen vergitterten Schacht, der auf einen Tunnel hinausführte. Mit Hilfe der Flasche zerschlug er das Gitter. Er kroch hinaus und befand sich in der Vorratskammer. Ross nahm den Weg durch die Tür, durchquerte Kombüse und Speiseraum und eilte zum Vorraum, wo er ein neues Atemgerät vorfand. Über eine Leiter erreichte er das Anlegedock, in dessen Nähe er einen Ersatzkontrollraum kannte. Von dort aus mußte Eva Keough die Energieversorgung von Boreas lahmgelegt haben. Binnen einer halben Stunde hatte sich Ross mit den Reglerkreisen so vertraut gemacht, daß er den Versorgungsprozeß wieder in Gang bringen konnte. Als erstes flammte die Beleuchtung auf; dann
pumpte die Klimaanlage frischen Sauerstoff in die Station. Als Ross hörte, daß die verriegelten Schotts Abschnitt nach Abschnitt wieder freigaben, setzte er die Atemmaske ab. Er holte tief Luft und reckte sich. Es war ein großartiges Gefühl. Die Station war wieder zum Leben erwacht. Er wandte sich vom Kontrollbord ab und wollte den Raum verlassen, als er durch das Beobachtungsfenster einen Lichtschein wahrnahm, der ihn an das Blinkzeichen der Navigationsleuchte eines Raumschiffes erinnerte. Er sagte sich, daß es sich um eine Spiegelung einer der Kontrolleuchten handeln müsse. Die Erklärung war logisch, aber falsch. Ross hörte die charakteristischen Metallgeräusche eines anlegenden Schiffes. Mit einem Blick auf die abgestumpften Flügel hatte er jeden Zweifel in sich beseitigt. Nach neunundsechzig Stunden war das lange vermißte Versorgungsschiff zurückgekehrt. Dr. Alfred Nystrom stand im Ersatzkontrollraum und betrachtete eingehend den kreisrunden Fleck auf dem Infrarotfilm. »Wenn dieser Fleck den ›Basketball‹ darstellt«, sagte er, »– und ich vermute nichts anderes –, und wenn im Innern tatsächlich ein größerer Mechanismus verborgen ist, dann paßt alles zusammen.«
Ross dachte einen Moment nach. »Ich glaube, Sie haben recht. Es muß sich um einen Laser handeln.« »Ich habe die Daten ein paar Mal durch den Computer laufen lassen. Das Resultat war immer das gleiche. Als der Relaissatellit fünfzehn Kilometer vom ›Baseball‹ entfernt war, verstummte er. Anscheinend hatte seine Nähe die Mannschaft des ›Basketball‹ beunruhigt und –« »– und sie haben das Feuer eröffnet«, ergänzte Ross den Gedankengang des Astronomen. »Es gibt keine andere Erklärung für den Zustand, in dem ich den Relaissatelliten vorgefunden habe. Er war zu einer formlosen Masse zusammengeschmolzen.« Ross sah keinen Grund zu widersprechen. Er hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, Dr. Nystrom lebendig wiederzusehen. Es war ihm, als ob er zu einem Geist spräche. Dr. Nystrom wußte noch mehr zu berichten. Das Raumschiff, das Eva Keough und ihre Leute fortgebracht hatte, war auf dem Weg zum ›Basketball‹. Der Astronom hatte seinen Kurs mit Hilfe des Radars verfolgen können. Der nächste Schritt, den Dr. Nystrom vorhatte, versetzte Ross einen neuen Schock. Er hatte die Absicht, Eva Keough zu folgen. »Sie manövrieren sich damit genau in die Situation, in der sie Sie haben will«, protestierte Ross. »Sie hat zugegeben, daß die Anordnung, das Schiff ohne Sau-
erstoff fliegen zu lassen, von ihr stammt. Wenn sie einen Laser hat, dann wird sie mit Ihnen dasselbe machen wie mit dem Relaissatelliten.« »Falls sie einen Laser hat – das ist der springende Punkt. Vielleicht ist es gar kein Laser. Ich will es herausfinden«, sagte er trocken. »Der Treibstoffvorrat des Versorgungsschiffs reicht aus, und ich habe das Überraschungsmoment auf meiner Seite.« »Das stimmt. Für Eva Keough sind Sie der verstorbene Dr. Nystrom.« Der Astronom lächelte bei dem Gedanken. »Sie wird vermutlich recht überrascht sein, mich in derart guter Verfassung wiederzusehen.« »Ich habe ja dieselbe Erfahrung mit Ihnen gemacht«, sagte Ross, »und es interessiert mich zu sehen, ob sie genauso reagiert.« Es dauerte eine Weile, ehe Dr. Nystrom begriff, was Ross damit meinte. »Halt, Ross! Niemand hat gesagt, daß Sie mitkommen sollen!« Er warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Sie meinen es anscheinend ernst?« Ross nickte. Er hatte diesen Entschluß gefaßt und würde sich um nichts in der Welt davon abbringen lassen. »Sie wissen, daß es Ihnen genauso gehen könnte, wie Sie es mir prophezeit haben?« fragte Dr. Nystrom. »Ein Laserstrahl kennt keine Unterschiede.«
»Ich habe gerade eine Schießerei hinter mir«, antwortete Ross. »Der Gedanke daran ängstigt mich nicht halb so sehr wie die Möglichkeit, auf Boreas allein zurückzubleiben.« Schließlich gab Dr. Nystrom sein Einverständnis, und Ross machte sich auf den Weg zum Anlegedock. Dr. Nystrom rief ihn zurück. »Das Schiff kann nicht starten, ehe wir nicht alle Sauerstoffbehälter an Bord gefüllt haben.« »Soviel ich weiß, befinden sich die drei grünen Zylinder noch im Zentrallager«, antwortete Ross. »Es gibt noch mehr davon. Andernfalls wäre ich jetzt nicht so gesund und munter. Der einzige Umstand, der mir das Leben gerettet hat, war die Tatsache, daß Eva Keough nicht daran gedacht hat, daß sich fünf Raumanzüge in dem Schiff befinden. Jeder enthält in den Trageflaschen Sauerstoff für zwölf Stunden. Sie sind alle leer und müssen wieder aufgefüllt werden. Eva Keough soll ihre Fehler allein machen«, sagte Dr. Nystrom grimmig lächelnd. »Ich denke nicht daran, ihrem Beispiel zu folgen.«
16 Der Zeitpunkt der Begegnung mit dem Satelliten war nahegerückt. Ross nahm mit einem Seufzer das Fernrohr von den Augen. »Noch keine Spur vom ›Basketball‹«, meldete er Dr. Nystrom. »Das entspricht meinen Erwartungen«, antwortete der Astronom. »Er wird so lange unsichtbar bleiben, bis er aus dem Erdschatten tritt.« Das Schiff und der Satellit schwebten beide über der Nachtseite der Erde. Das erste Licht der Dämmerung näherte sich. Nervös starrte Ross wieder durch das Fernglas in den leeren Raum. Nichts außer den Sternen und der halben Scheibe des Mondes war zu sehen. Das Schiff, der Satellit und die Erde blieben in tiefes Dunkel getaucht. Der Gedanke, daß sich der ›Basketball‹ in dieser Sekunde unentdeckt in unmittelbarer Nachbarschaft des Schiffes befinden konnte, beunruhigte Ross. Vielleicht betrug die Entfernung nicht mehr als ein paar Meter, und der auf das Schiff gerichtete Laser wurde gerade auf Betriebstemperatur aufgewärmt. Ross wünschte, er hätte Dr. Nystrom dazu überreden können, das Schiffsradar zu benutzen und auf diese Weise die Position des Satelliten eindeutig festzustellen.
Vor fünf Stunden hatten sie Boreas verlassen. Dr. Nystroms Absicht war es, sich dem ›Basketball‹ unbemerkt zu nähern. Das bedeutete, daß Licht, Funk und Radar ausgeschaltet bleiben mußten. Ross hatte nicht die leiseste Ahnung, wo der Satellit auftauchen konnte. Er sah nichts als tintenschwarze Nacht, und trotz Dr. Nystroms Versicherungen, der Satellit würde deutlich und rechtzeitig zu erkennen sein, nagten in ihm leise Zweifel. Über dem östlichen Rand der Erde wurde es hell, und schließlich kletterte eine riesige gelb-weiße Scheibe über die dünne, durchsichtige Schicht der Atmosphäre. »Sonnenaufgang«, verkündete Dr. Nystrom triumphierend. »Legen Sie jetzt das Fernglas weg, Ross, und schauen Sie nach vorn links.« Ross drehte sich um. Der Astronom hatte recht. Eine kleine Metallkugel reflektierte in ungefähr zwanzig Kilometer Entfernung das Sonnenlicht. Ein kurzes Einschalten des Triebwerks verkürzte die Entfernung um die Hälfte. Es war tatsächlich der ›Basketball‹, der von einer münzgroßen Scheibe auf das Ausmaß einer stattlichen Orange angewachsen war. Mit ausgeschaltetem Triebwerk schwebte das Schiff langsam auf die gleißende Kugel zu. Unter ihnen leuchtete der Stille Ozean in tiefem
Blau, von dem sich verstreute weiße Wolken abhoben. Zur Rechten erkannte Ross die australische Küste. Der Horizont verschwamm in Dunst und Wolkenschichten. Der Kurs des Schiffes verlief geradewegs in südlicher Richtung. Ross hörte ein Klicken in der Kabine und drehte sich um. Dr. Nystrom hatte das Funkgerät eingeschaltet und richtete die Empfangsantenne auf den ›Basketball‹. »Es scheint dort irgendeine Aufregung zu geben«, berichtete er eine Minute später, den Hörer an sein Ohr gepreßt. »Sind wir entdeckt?« fragte Ross zögernd und drehte sich rasch wieder zu dem Satelliten um. Nichts hatte sich verändert. Der ›Basketball‹ zeigte sich als riesiges, aus Aluminiumfolie zusammengeschweißtes rundliches Objekt, das trotz seines kompakten Aussehens nichts anderes als ein aufgeblasener hohler Ballon war. »Ich glaube nicht, daß sie uns geortet haben«, antwortete Dr. Nystrom. »Ich konnte einen regen Funkverkehr mit der Erde und einige verschlüsselte Funksprüche aufnehmen. Es gibt aber kein Anzeichen dafür, daß unsere Anwesenheit entdeckt ist.« Ich kann nicht verstehen, daß sie uns nicht entdeckt haben, dachte Ross. Wir sind doch nur zehn Kilometer voneinander entfernt!
»Einen Moment«, sagte Dr. Nystrom aufgeregt. »Der Funkverkehr wird dichter. Ich höre alles. Da – jemand gibt eine Anweisung zum Start. Jetzt kommt die Bestätigung.« »Was hat das zu bedeuten?« »Ich habe keine Ahnung«, erwiderte der Astronom. »Haben Sie Angst?« »Ich weiß nicht. Nach allem, was Sie mir über das Schicksal Ihres Relaissatelliten erzählt haben, sollte ich eigentlich Angst bekommen.« »Ich gebe Ihnen recht«, sagte Dr. Nystrom sachlich. »Wir haben keinen Anlaß, uns noch länger hier herumzutreiben.« Seine Hand zitterte etwas, als er sie nach dem Startknopf ausstreckte. Er sollte die Bewegung nicht zu Ende führen. Der ›Basketball‹ explodierte. Die Aluminiumfolie dehnte und verformte sich. Dann zerriß sie lautlos. Unzählige Fetzen aus Aluminiumfolie fegten wie Blätter im Herbstwind davon. An der Stelle, wo einmal der ›Basketball‹ gewesen war, glänzte ein riesiges metallisches Insekt in der Morgensonne. Ross lehnte sich weit vor und starrte auf die furchterregende Erscheinung. Die Maschine besaß ein zylindrisch geformtes Ende, das in einen Komplex von Düsen auslief. Das andere Ende bestand aus einer verwirrenden Fülle von Antennen,
Sonden und durchsichtigen Blasen und ähnelte am ehesten einem tausendfach vergrößerten Spinnenkopf. Das Objekt drehte sich langsam im Raum und bewegte wie spielerisch seine Fühler. Einige beklemmende Sekunden lang richtete es eine seiner Antennen direkt auf das Versorgungsschiff, und Ross erwartete jeden Moment den grellen Lichtschein eines Lasers. Die Maschine schien jedoch an dem Raumschiff nicht interessiert zu sein. Wahrscheinlich betrachtete sie das Schiff nur als einen der Aluminiumfetzen. Sie drehte sich ruhig weiter, richtete sich in nördlicher Richtung aus und legte die Antennen an. Ein sonnenheller Strahl fuhr aus dem Düsensystem des Metallobjekts. Einen Herzschlag später war die Maschine nur noch als ferner Lichtpunkt wahrzunehmen. »Was für ein tolles Raumschiff«, sagte Dr. Nystrom bewundernd. »Dieses Schiff hat also den Relaissatelliten zerstört«, stellte Ross fest. Dr. Nystrom nickte ehrfürchtig. »Ich habe noch nie etwas ähnliches gesehen. Es muß das erste seiner Art sein. Anscheinend wurde es vor unserer Nase im Innern des ›Basketball‹ gebaut.« Dr. Nystrom war gerade im Begriff, den Kopfhörer
abzulegen und das Funkgerät auszuschalten, als ein schwaches Geräusch seine Aufmerksamkeit fesselte. »Äußerst ungewöhnlich«, murmelte er. »In der Nähe arbeitet ein sehr schwacher Sender, wahrscheinlich das Sprechgerät eines Raumanzugs.« Der Astronom bestimmte die Position des Senders. »Zehn Kilometer von hier«, sagte er. »Ich würde das Ding gern in näheren Augenschein nehmen.« Ross nickte, und das Schiff trieb gemächlich zwischen den Aluminiumfetzen vorwärts, bis ein Objekt in Sicht kam. »Es ist tatsächlich ein Raumanzug«, bestätigte Ross. »Das fremde Raumschiff hat etwas zurückgelassen.« Im Innern des Raumanzugs bewegte sich ein Mensch, der die Anwesenheit des Schiffes offenbar nicht bemerkt hatte. Dr. Nystrom öffnete die große Ladeluke. Durch geschicktes Manövrieren erreichte er, daß das Schiff durch seine Eigenbewegung den Menschen in sich aufnahm. Dann schloß er die Luke wieder und stellte den alten Luftdruck her. Ross kletterte zu der Gestalt im Raumanzug. Er sah, daß die Sichtscheibe beschlagen war, und öffnete alarmiert den Helm. »Mein Gott«, rief er Dr. Nystrom zu, »es ist Tim.« Tim öffnete ein verschwollenes Auge. »Mach nicht soviel Lärm«, sagte er mühsam atmend. »Mir geht es ausgezeichnet.«
»Du bist ein elender Lügner«, antwortete Ross, während er Tim aus dem Raumanzug zerrte. Dann pfiff er durch die Zähne. Der Anblick war erschrekkend. Tim war am ganzen Körper mit Abschürfungen und blauen Malen übersät und mit Blut verkrustet, das aus einer Schußwunde an seinem rechten Oberarm stammte. Ross schüttelte den Kopf. »Dich hat es richtig erwischt!« »Das kommt davon, daß ich nicht reden wollte«, stöhnte der Arzt. »Zuerst wußte ich gar nicht, was sie von mir wollten. Und dann hat mir ihre unhöfliche Art die Lust zur Zusammenarbeit genommen.« Als der Astronom hinzutrat, kostete es Tim sichtlich Mühe, den Kopf zu drehen. »Sind Sie es, Dr. Nystrom?« »Kein anderer«, kam die Antwort. »Soeben habe ich die Hauptstation benachrichtigt. Die Krankenstation ist in Bereitschaft, Sie zu empfangen.« »Ein deprimierender Gedanke.« Ross schleppte den Koffer für Erste Hilfe heran und begann, Tims Schußverletzung zu behandeln. Tim lächelte blaß und lehnte sich zurück. »Meine Kollegen werden mir nicht glauben, daß mich ein Meteorologe anästhetisiert hat. Ein Niedergang der ärztlichen Kunst.« »Willst du es lieber selbst tun?« fragte Ross. »Nein, ich genieße den Austausch der Rollen sehr.
Da wir gerade von Rollen sprechen – Eva Keough hält Sie für einen Spion, Dr. Nystrom. Hat sie damit recht?« »Was meinen Sie selbst dazu?« »Ich wußte, daß Sie keiner sind«, sagte Tim. »Aber wie kommt der Militärische Nachrichtendienst auf diese Idee?« »Wahrscheinlich durch dieselbe Art von Logik, durch die Sie in die Sache hereingezogen worden sind.« »Die sind alle verrückt!« stellte Tim fest. »Sie löcherten mich auf Boreas und auf dem ›Basketball‹ ständig mit einer einzigen Frage: Wo befindet sich die Zentrale des Agentenrings? Sie glauben fest an die Existenz einer geheimen Basis.« »Auch zu mir hat Eva Keough davon gesprochen«, bestätigte Ross. »Ich wüßte gern, was du ihnen erzählt hast.« »Den Verband nicht so straff anlegen!« befahl Tim in sachlichem Ton. Dann fuhr er fort: »Ich sagte, die Zentrale sei auf Atlantis oder einem ähnlich sagenumwobenen Ort. Zuerst wußte Martino nicht, was er davon halten sollte. Doch er kam rasch dahinter, und ich mußte fürchten, noch einmal mit seiner Fünfundvierziger Bekanntschaft zu machen.« Ross befestigte die Bandage und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu betrachten.
»Zum Glück ist dieses Los an dir vorbeigegangen«, sagte Ross stirnrunzelnd, »sonst wärest du noch länger meinen ärztlichen Künsten ausgesetzt gewesen.« »Der Verband sitzt wunderbar, ich danke dir«, lobte Tim. Dann erzählte er weiter. »Als ich mit Martino gerade an diesem Punkt angelangt war, stürzte Eva Keough herein und befahl, mich in Ruhe zu lassen. Sie verkündete, daß Dr. Ahn unter dem Einfluß von Drogen zusammengebrochen sei. Seine Aussage hat sie ziemlich aufgewühlt. Sie beschloß, die geheime Spionagezentrale sofort zu zerstören. Ich wurde in einen Raumanzug gesteckt und durch die Luke hinausgestoßen. Das nächste, an das ich mich erinnern kann, seid ihr beide. So klein ist das Universum.« »Was hat Dr. Ahn im einzelnen gesagt?« fragte Dr. Nystrom. »Die Drogen müssen ihn völlig durcheinandergebracht haben. Er sagte, Boreas sei die Zentrale. Eva Keough ist noch verwirrter, denn sie hat ihm geglaubt.« »Sind Sie sicher, daß jetzt Boreas ihr Ziel ist?« fragte Dr. Nystrom rasch. »Ja, unsere alte Heimat«, bestätigte Tim. »Es wird nicht viel von ihr übrigbleiben.« »Wie meinen Sie das?« »Evas Schiff ist schwer bewaffnet.« Dr. Nystrom nahm Ross auf die Seite und teilte ihm flüsternd mit, daß er die Navigationsautomatik
auf Kurs zur Hauptstation eingestellt habe. »Der Computer bringt euch beide innerhalb einer Stunde zur Hauptstation.« »Uns beide?« wunderte sich Ross. »Kommen Sie denn nicht mit?« »Noch nicht. Ich habe noch auf Boreas zu tun.« »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Eva Keough wird Sie in die Luft jagen.« »Dann muß ich sie eben davon abhalten.« Ross sah, daß Dr. Nystrom fest entschlossen war. Er hatte jetzt eine unangenehme Entscheidung zu treffen. So sehr ihm auch der Gedanke mißfiel, Tim allein zur Hauptstation zu schicken, so wenig wollte er Dr. Nystrom im Stich lassen. »Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte ihn sein Freund. »Ich kann gut auf mich selber aufpassen. Achte lieber darauf, daß Eva Keough Dr. Nystrom nichts antut.« Ross fand schließlich einen passenden Raumanzug. Nachdem er ihn angelegt hatte, betrat er zusammen mit Dr. Nystrom die Luftschleuse und schloß die innere Tür. Einen Augenblick danach öffnete sich die Außenluke. Kraftvoll stieß sich Ross ab und schwebte weit in den Raum hinaus. Eine Minute später zündeten die Triebwerke des Schiffes, das auf einer kurzen Tangentialkurve in Richtung Hauptstation davonflog.
Ross blickte sich um. Wo war Dr. Nystrom? fragte er sich. Und wo war das Flugboot, das sie zu Boreas bringen sollte? Ross begann sich unbehaglich zu fühlen. Mit wachsender Verzweiflung suchte er den Raum nach einer Gestaltung im Druckanzug oder nach einem kleinen Flugboot ab. Doch der Raum war, von einigen Aluminiumfetzen abgesehen, leer. Ross schaltete das Sprechgerät seines Raumanzugs ein und sandte einen Ruf aus. Im Kopfhörer blieb es still. Er trieb allein im Raum. Fünfzehnhundert Kilometer unter ihm strahlte die Erde in Azurblau und Smaragdgrün. Ruhig zog der Halbmond seine Bahn durch das samtige Schwarz. Ross hielt die Augen geschlossen. Er spürte, wie seine Kehle trocken wurde. Plötzlich richtete sich jedes Haar seines Körpers einzeln auf. Seine Haut brannte, und ein krampfartiger Schmerz schoß durch seinen Körper. In Ross baute sich ein hohes elektrisches Spannungsfeld auf. Die Energiezellen meines Anzugs brennen durch, dachte Ross. Im nächsten Augenblick werde ich elektrisch hingerichtet. Was für eine komische Art zu sterben. Der Himmel spaltete sich und verschluckte ihn.
17 Ross merkte, daß er bewegt worden war. Vor seinen Augen verschwamm ein Gewirr von Linien, Ecken und glitzernden Oberflächen. Dann prägten sich die einzelnen Elemente deutlicher aus, und er erkannte seine Umgebung. Es war das radioastronomische Labor Dr. Nystroms. An den Wänden befanden sich die Schalttafeln der Computer und die Konsolen der Verstärker. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums stand Dr. Nystrom, dessen rechte Hand auf einem in die Wand eingelassenen Kontrollbord ruhte. Mit der Linken gab er Ross Zeichen. Ross löste die Bindungen seines Anzugs und nahm den Helm ab. Es wurde ihm verschwommen bewußt, daß der Astronom eine ganze Anzahl von Fragen auf ihn abschoß. Doch er fühlte sich zu einer Antwort nicht in der Lage, denn er war viel zu sehr mit den Fragen beschäftigt, die er sich selbst stellte. Wie war er hierhergekommen? Und wie konnte Dr. Nystrom hier anwesend sein? War er überhaupt hier? Oder handelte es sich nur um eine besonders eindringliche Halluzination, verursacht durch den Elektroschock?
Doch Ross wußte genau, daß es sich weder um eine Halluzination noch um eine Illusion oder einen Traum handelte. Das Labor war aus festem und solidem Material. Bis auf eine Ausnahme wich nichts von der Normalität ab: Ross hatte von einem Herzschlag zum anderen etwa fünfzigtausend Kilometer zurückgelegt. Und irgendwie stand er jetzt im astronomischen Labor von Boreas. Dr. Nystrom hielt mitten im Satz inne. »Sie haben mir überhaupt nicht zugehört«, stellte er sachlich fest. Ross musterte den Astronomen. »Sie haben mich bis jetzt hinters Licht geführt.« Dr. Nystrom schwieg. »Eva Keough hatte recht«, fuhr Ross in einer Mischung aus Wut und Selbstbeherrschung fort. »Sie waren die ganze Zeit ein Spion.« Die Anschuldigung wischte die gelassene Haltung Dr. Nystroms weg. »Sie wissen, daß das völliger Unsinn ist. Eva Keough hat keineswegs recht – sie liegt vielmehr total daneben. Sie hat sich durch die Panikmache ihrer Vorgesetzten und Mitstreiter und durch ihre eigenen Befürchtungen aus der Ruhe bringen lassen.« »Wollen Sie mir das ernstlich weismachen?« fragte Ross bitter. »Lassen Sie sich von den Alarmreaktionen der an-
deren nicht um Ihren klaren Verstand bringen, Ross!« beschwor ihn Dr. Nystrom. »Mir scheint, Eva Keough hat gute Gründe für ihre Haltung.« Ross deutete mit dem ausgestreckten Arm auf das Kontrollbord in der Wandnische. »Dieses Schaltbrett habe ich noch nie gesehen. Die Wand war immer glatt. Was halten Sie hier verborgen? Ist es die Waffe, von der sie gesprochen hat?« »Nein«, antwortete Dr. Nystrom ruhig. »Sie und Eva irren sich. Dieses Schaltbrett gehört zu einem Transportsystem, gleichgültig, was der Militärische Nachrichtendienst darüber denken mag. Diese Vorrichtung hat Sie hierher gebracht, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie das als feindseligen Akt betrachten.« »Was für einen Zweck hat dieses Transportsystem dann?« »Es unterstützt gelegentlich meine Arbeit. Ich bin hauptsächlich Beobachter«, erklärte Dr. Nystrom. »Ich bin es seit geschlagenen dreißig Jahren. Ich beobachte vor allem Menschen und Ereignisse. Ich habe gewartet –« »Worauf?« fragte Ross argwöhnisch. »Ich habe auf den Zeitpunkt gewartet, an dem ich meine Rolle aufgeben und heimkehren kann.« »Spion oder Beobachter – wo ist da der Unterschied?« Ross schaute den Astronomen fest an. »Das läuft doch auf das gleiche hinaus.«
»Keineswegs, Ross. Der Unterschied liegt im Zweck. Ich habe nie in feindlicher Absicht gehandelt.« Ross' Zweifel waren damit noch nicht beseitigt. »Aber für wen führen Sie denn Ihre Beobachtungen durch?« beharrte er. »Oder, einfacher ausgedrückt – wo sind Sie zu Hause?« Dr. Nystrom nahm ein Buch zur Hand und blätterte darin. Es war ein astronomisches Werk. Bei einem Diagramm der Milchstraße hielt er inne und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Gebiet großer Sterndichte. »Dort«, sagte er schlicht. Ihre Welt war anders als die Erde. Sie kreiste im Zentrum der Galaxis um eine gewaltige Sonne, einen alternden Roten Riesen. Ihr Planet bot ihnen trostlose und furchtbare Lebensbedingungen. Unüberwindliche Risse und Schluchten spalteten die Kruste des Planeten, so daß ihre Wohnsiedlungen mehr oder weniger isoliert voneinander existierten. Unaufhörlich fegten Staubstürme über die alptraumhafte Landschaft. Schon früh im Lauf ihrer Geschichte hatten sie das Prinzip des fahrzeuggebundenen Transports aufgegeben und statt dessen Pforten benutzt. Es handelte sich dabei um Energiefelder, die imstande waren, die
Raumstruktur an bestimmten Orten aufzulösen. Dadurch wurde es möglich, zwischen solchen Pforten ohne Zeitverlust zu reisen. Dank der Pforten war jeder Punkt des Universums nicht mehr als einen Schritt vom andern entfernt. Innerhalb von Jahrmillionen verfeinerten sie die Technik der Pforten bis zur Perfektion. Die Geschichte ihrer Isolierung lastete schwer auf ihnen, und so dehnten sie den Bereich der Pforten auf andere Planeten ihres Sonnensystems aus. Doch sie stießen nur auf öde, unbelebte Welten. Besessen vom Forschungsdrang übersprangen sie mit Hilfe der Pforten die Kluft zum nächsten Sonnensystem, wo neue Enttäuschungen auf sie warteten. Doch sie ließen sich nicht entmutigen und weiteten den Pfortenverband bis zum Rand der Galaxis aus. Überall suchten sie nach Leben und fanden nichts als Felsen, Wolken und Wüste. Ihr Suchen wurde immer gehetzter. Verzweifelt reisten sie durch die Tiefen des Raums. Ihre Angst wuchs. Waren sie allein in der Galaxis? Ein Verband von Pforten führte in einen der äußeren Arme der galaktischen Spirale. Sie stießen auf eine gelbe Normalsonne und neun Planeten. Einer davon war bewohnt. Nach Jahrtausenden ergebnislosen Suchens versetzte ihnen die plötzliche Begegnung mit intelligen-
ten Lebewesen einen Schock, und sie zogen sich sofort wieder zurück. Sie waren sehr vorsichtig und ließen sich Zeit. Geduldig beobachteten sie die neue Welt von der Ferne. Dann sandten sie Kundschafter unter die Menschen. Ein helles Klingelzeichen aus dem fremdartigen Kontrollbord in der Wand unterbrach Dr. Nystroms Erzählung, und Ross vermutete, daß es etwas mit der Kontrolle des Pfortenfeldes zu tun haben mußte. »Entschuldigen Sie«, sagte der Astronom und eilte mit besorgter Miene zu der Schalttafel hin. Ross' Gedanken kreisten um die Neuigkeiten, die er gerade gehört hatte. Er fragte sich, welche Rolle ihm selbst und anderen bei der Ausführung des großartigen Plans zugedacht war. Er wußte, daß die Ereignisse, die zu diesem Treffen in dem astronomischen Labor geführt hatten, die ganze Menschheit betrafen. Die Menschheit ist wieder einmal am Scheideweg, dachte er. Tief in seinem Innern fühlte er eine eisige Kälte. Er hegte starke Zweifel an der Fähigkeit der Mächtigen, mit der Situation auf angemessene Weise fertig zu werden und richtig zu reagieren. Der bisherige Verlauf der Geschichte trug nichts zur Ermutigung bei; Ross brauchte nur an Eva Keough zu denken. Ein neues Klingelzeichen vom Schaltbrett her riß
Ross aus seinen Gedanken. Dr. Nystrom hatte einen Bildschirm aktiviert. Inmitten eines Suchgitters bewegte sich ein einzelner roter Fleck. Dr. Nystrom deutete mit dem Zeigefinger auf den wandernden karmesinroten Punkt. »Das Kriegsschiff«, sagte er. In seiner Stimme lag Nervosität. »Es macht Jagd auf uns.«
18 Das Kriegsschiff erschien am Himmel als wandernder heller Stern unter Sternen. Seine Existenz war unübersehbar. »Es begibt sich in eine parallele Umlaufbahn«, erklärte Dr. Nystrom nach einem Blick auf das Suchgitter des Schirms. »Vielleicht kann ich auf seine Wellenlänge gehen –« Während der Astronom das Funkgerät bediente, konzentrierte Ross seine Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Das dreihundert Kilometer entfernte Schiff war jetzt in seinen Details zu erkennen, und Ross verglich es wieder mit einer Spinne, die im Raum hing. Er zog einen langen, grellen Feuerschweif hinter sich her. Die Kabinenfenster waren beleuchtet. Eva Keough hielt es nicht für nötig, die Annäherung an Boreas heimlich durchzuführen. Sie war sich ihrer Sache sicher und vertraute offensichtlich der Stärke ihrer Waffen. Mit Boreas würde sie keine Mühe haben. Dr. Nystrom sagte, als ob er Ross' Gedanken gelesen hätte: »Wenn Sie fort wollen, dann sagen Sie es bitte. Der Angriff erfolgt bald und vermutlich ohne Vorwarnung.« »Ich habe gerade daran gedacht«, antwortete Ross.
»Boreas hat keine Chance, genau wie der Relaissatellit. Sie wissen das.« »Das ist richtig, Ross. Aber Sie übersehen eines: Der Relaissatellit hatte keine Chance, weil er nicht denken konnte. Er war nichts als eine Maschine. Mit Boreas ist es etwas anderes. Solange ich an Bord bin, kann ich für die Station denken.« »Wir sollten beide verschwinden«, drängte Ross. »Ich wiederhole: Wenn Sie gehen wollen, dann sagen Sie es rechtzeitig.« »Und Sie?« »Ich bleibe.« Dr. Nystroms Entschluß schien endgültig zu sein. Der Astronom wandte sich wieder dem Funkgerät zu. Warum wollte er bleiben, dachte Ross. Warum war Boreas für ihn so wichtig? Und welche Bedeutung konnte die Erde für den Angehörigen einer Rasse haben, die sich ohne Rücksicht auf die Lichtgeschwindigkeit durch das ganze All bewegen konnte? Was für außergewöhnliche Wesen mußten die Fremden sein, dachte Ross. Er erinnerte sich an altgriechische Sagen, in denen sich Götter in die Angelegenheiten der Menschen mischten. Meist war der Ausgang tragisch. Doch es handelte sich ja nur um Sagen. Dies hier war jedoch lebendige Wirklichkeit. Hier prallten Menschheit und außerirdische Wesen zusammen. Wenn es Eva Keough gelingen sollte, die
Pforte zu zerstören und Dr. Nystrom zu töten, dann wären Vergeltungsschläge aus dem All die unvermeidliche Folge. Doch ebensowenig würde sich die Erde mit einer Niederlage abfinden können. Es mußte eine andere Lösung gefunden werden, dachte Ross mit wachsender Panik. Es war ihm klar, daß er in den Augen eines jeden Menschen als Verräter gelten würde, wenn er Dr. Nystrom half. Es wäre der größte Verrat aller Zeiten. Und doch konnte er Dr. Nystrom nicht auf Boreas allein lassen, ohne gegen sein Gewissen zu handeln. »Ich habe mich entschlossen«, teilte er Dr. Nystrom mit. »Ich bleibe. Was können wir tun?« »Ich habe versucht, mit dem Kriegsschiff Funkverbindung herzustellen, habe aber keine Antwort erhalten. Wir müssen ihnen den ersten Schritt überlassen.« Das Kriegsschiff hatte seine Haupttriebwerke ausgeschaltet und schwebte langsam näher. Dann drehte es, und Ross konnte beobachten, wie sich Luken öffneten und Antennen aus dem Schiffsinneren hervorwuchsen. Er sah näher hin. »Aus dem Bug schiebt sich ein langer Stab«, sagte Ross. »Ich sehe es«, antwortete Dr. Nystrom. »Ich habe einen der Pfortenschirme direkt darauf gerichtet.« Ross stellte sich neben den Astronomen. Der Pfortenschirm zeigte ein klares Bild. Dr. Nystrom wählte
eine noch stärkere Vergrößerung. Der Stab schien näherzurücken und füllte schließlich die ganze Bildfläche. Eine monströse Apparatur schien direkt auf den Schirm zu zielen. »Der Laser«, stellte Dr. Nystrom fest. »Legen Sie lieber den Raumanzug an, Ross. Wenn die Station durchlöchert ist, wird die Luft aus dem Labor entweichen.« »Wie steht es mit der Elektrizität?« Ross nahm die Sauerstoffflaschen, schnallte sie auf den Rücken und schloß den Helm. Dann stellte er den Kopfhörer ein und prüfte besorgt den Sauerstoffvorrat. Er reichte für eine Dreiviertelstunde. Noch während er die Meßuhr beobachtete, fiel die Nadel von fünfundvierzig auf vierundvierzig Minuten. Dr. Nystrom meldete sich über das Sprechgerät. »Die Elektrizitätsversorgung ist von der Atemluft unabhängig. Mit der Pforte ist es dasselbe.« Schweigend betrachteten sie den Bildschirm. Das Kriegsschiff zog einige der Sonden wieder ein und streckte andere hinaus. Man konnte leicht vergessen, daß es sich um ein künstliches Gebilde handelte, dachte Ross. Das Schiff fuhr eine breite Antenne aus und richtete sie auf Boreas. »Hallo Boreas!« tönte es aus dem Radio. »Dr. Nystrom, bitte melden Sie sich. Wir wissen, daß Sie an
Bord sind, denn wir haben Signale Ihres Sprechgeräts aufgefangen.« »Hier ist Dr. Nystrom«, hörte Ross über den Kopfhörer. »Vermutlich spricht dort Eva Keough. Wir können uns die Formalität sparen. Was wollen Sie?« »Aber Dr. Nystrom! So eine dumme Frage«, sagte Eva Keough mit einer Stimme, als spräche sie zu einem störrischen Kind. »Sie sollen sich ergeben und wegen Spionage vor Gericht gestellt werden.« »Nein.« Das war die ganze Antwort; doch Ross konnte den Ärger und die Entschlossenheit Dr. Nystroms heraushören. »Ich warne Sie, Dr. Nystrom. Auf die Dauer wird Ihnen Ihr – wie soll ich es ausdrücken – Ihr besonderer Status nichts helfen.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, erwiderte der Astronom. »Versuchen Sie nicht auszuweichen«, fauchte Eva Keough. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Es ist keine Zeit für lange Vorreden. Wahrscheinlich haben Sie Ihre Lage noch nicht klar erfaßt. Ich will sie Ihnen erklären. Der Spionagering, den Sie aufgebaut haben, ist gesprengt. Eines der Mitglieder ist tot, ein anderes hat alles gestanden. Alles, Dr. Nystrom! Wir wissen genau über Sie Bescheid. Dank Dr. Ahn besitzen wir eine ausführliche Beschreibung Ihrer Machenschaften.«
»Dann wissen Sie auch, daß es keinen Grund zur Anwendung von Gewalt gibt«, entgegnete Dr. Nystrom. »Im Gegenteil. Ich sehe sehr gute Gründe, und ich werde Gewalt anwenden, wenn Sie sich nicht ergeben.« Dr. Nystrom hielt die Hand vor das Mikrophon und wandte sich zu Ross um. »Wenn Dr. Ahn wirklich ein ›Geständnis‹ abgelegt hat, dann wissen sie vielleicht auch über die Pforte Bescheid.« »Daran habe ich auch gedacht«, sagte Ross. »Sie könnten Eva Keough die Pforte als Preis für Ihre Freiheit anbieten.« »Ich habe Bedenken, die Pforte in ihre Hände fallen zu lassen. Nein, ich sehe keinen Ausweg aus dieser Situation.« Er gab das Mikrophon wieder frei. »Mein Entschluß steht fest. Ich werde mich weder ergeben, noch die Station verlassen.« »Dann ist Ihnen nicht mehr zu helfen. Und wie steht es mit Ihnen, Mr. Moran? Ich muß Ihnen mitteilen, daß die Vereinten Nationen mich ermächtigt haben, Boreas zu vernichten, wenn dies notwendig werden sollte.« Ross hatte gehofft, sich aus dem direkten Gespräch heraushalten zu können. Doch mit seinen nächsten Worten legte er sich endgültig fest. »Ich bleibe bei Dr. Nystrom«, hörte er sich sagen.
»Das ist sehr bedauerlich. Ich hatte gehofft, Sie würden die Lage klar sehen und die richtige Seite wählen.« »Ich habe richtig gewählt.« Er wollte noch mehr sagen, aber im Lautsprecher knackte es, und die Sprechverbindung war abgerissen. Auf dem Bildschirm sah er, wie der Laser herumschwang und rötlich zu glühen begann. Das Gerät sandte einen gleißenden, scharf gebündelten Lichtstrahl aus, der eine Seite der Station aufriß. Das Glühen wurde zunächst schwächer, während der Laser sich abkühlte. Dann feuerte er wieder. Diesmal saß der Einschlag näher. Das Metall der Laborwand kochte. Ein Loch erschien in der Wand und im gegenüberliegenden Schott. Pfeifend entwich die Luft in den Weltraum. Der Laser feuerte wieder. Ein weißglühender Fleck neben der Schalttafel der Pforte blendete Ross. Er schrie dem Astronomen eine Warnung zu. Dann schmolz das Metall. Milchiger Qualm erfüllte den Raum. Der Laser pausierte ... Und feuerte abermals. Der Einschlag saß einen Meter neben Dr. Nystrom, der sich duckte. »Sie müssen eine neuartige Zielvorrichtung haben«, sagte er heiser.
Ross nickte und schaute zu, wie sich die Einschläge der Pforte näherten. Ein weiterer Schuß streifte fast den Astronomen und verwandelte die Leuchtkörper zu einer undefinierbaren Masse. »Wir müssen uns wehren«, schrie Ross. »Wie denn?« Dr. Nystroms Stimme klang hohl und resigniert. »Boreas ist unbewaffnet.« Der Laser feuerte wieder. In wenigen Augenblikken würden sie erledigt sein. Ross hatte eine Idee. Am Ende des Korridors lag die Notstation. Im Nu war er wieder zurück. Verständnislos starrte Dr. Nystrom auf die große Feueraxt, die Ross in den Händen hielt. »Schalten Sie die Pforte ein und transportieren Sie mich in die Nähe des Lasers!« drängte Ross. »Ich will ihn mit diesem Beil zerschmettern.« Drohend schwang Ross das schwere Werkzeug. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete der Astronom das ungewohnte Bild des axtbewehrten Mannes. Dann schmunzelte er leicht und setzte rasch die Pforte in Betrieb. Der Laser feuerte. Kühlte ab. Und feuerte wieder ... »Fertig!« rief Dr. Nystrom und griff nach dem Schalter. Ross bereitete sich auf den Elektroschock vor. Nichts geschah. »Ross«, sagte Dr. Nystrom, »es ist unmöglich.
Draußen ist keine Schwerkraft und nichts, das Ihnen ein Gegengewicht gibt. Wenn Sie versuchen, die Axt zu heben, schlagen Sie nichts als Purzelbäume in die Gegenrichtung.« Aktion und Reaktion: das dritte Newtonsche Gesetz. »Ich verstehe.« Enttäuscht blickte Ross auf die betriebsbereite Pforte. Doch, es gab einen Weg! »Warum nicht umgekehrt? Ich meine, warum sollte man den Laser nicht hierher transportieren?« »In das Labor?« fragte Dr. Nystrom. Seine Stimme zitterte. »Ich müßte das Massengleichgewicht verändern, um den Kraftabfluß auszugleichen.« Er machte sich an der Schalttafel zu schaffen. Das Raumschiff feuerte. Durch ein Leck konnte Ross ihren Gegner sehen – einen hellen, feuerspeienden Fleck inmitten der Sterne. »Die Pforte ist direkt auf den Laser gerichtet«, verkündete Dr. Nystrom. »Halten Sie sich gut fest!« Ross stemmte die Füße gegen den Boden. Er fühlte, wie das elektrische Spannungsfeld von ihm Besitz ergriff. Die Raumstruktur des Universums wurde verändert. Das Labor und der Laser lagen übergangslos in derselben Raumfalte. Ross hob die Axt. Mitten im Labor gewann der Laser Gewalt. Die komplizierte Vielfalt seiner Bauelemente glitzerte ge-
fährlich in dem unsteten Licht. Unbeholfen schlug Ross zu. Der Stiel entglitt seinen Händen. »Zurück, Ross!« schrie Dr. Nystrom gellend. Die Pforte kehrte den Kraftfluß um. Die Raumstruktur normalisierte sich. Die alten Entfernungen galten wieder. Ross und Dr. Nystrom drängten sich um den Bildschirm. Da, im Bug des Raumschiffs, stand der Laser. Alles vergeblich, dachte Ross verzweifelt. Dr. Nystrom stellte eine stärkere Vergrößerung ein. Jetzt war es deutlich zu sehen. Die Schneide der Axt steckte tief im Laser, der einen Augenblick später im Schiffsinnern verschwand. Kurz danach meldete sich das Sprechgerät. »Alle Achtung, Dr. Nystrom. Ich weiß nicht, wie Sie das zustandegebracht haben. Vermutlich hat uns Dr. Ahn doch einige Einzelheiten vorenthalten. Aber das spielt keine Rolle. Wir sind auf Überraschungen vorbereitet. Ihre Zauberkunststücke werden Ihnen wenig helfen. Ich habe gerade die Anweisung erhalten, Sie zum letzten Mal zur Übergabe aufzufordern. Ergeben Sie sich!« »Kommandantin«, antwortete der Astronom, »das ist eine vielschichtige Angelegenheit. Vielleicht könnten wir in einigen Punkten einen Kompromiß erzielen?« »Auf gar keinen Fall. Dies ist ein Ultimatum«, sagte
Eva Keough. »Ich würde gegen meine Dienstpflichten verstoßen, wenn ich auf Sie eingehen würde. Ich habe ein unangenehmes Gefühl, wie so ein ›Kompromiß‹ aussehen könnte.« Es erfolgte keine weitere Warnung. Drei Projektile verließen das Kriegsschiff und beschleunigten in Richtung auf Boreas. Sie waren zu schnell, als daß Dr. Nystrom sie hätte auffangen können. »Ich kann sie nicht anpeilen«, rief der Astronom Ross zu. Sie schlugen gleichzeitig ein. Das eine Geschoß explodierte im Vorratsdeck. Das zweite detonierte mit dumpfem Knall im rotierenden Schwerkraftbereich der Station. Das dritte verfehlte das Labor weit, traf eine Parabolantenne, zerriß sie in zwei Teile und zerstörte den Reaktor. Die Kontrolleuchten der Pforte erloschen. Boreas war jetzt hilflos. Es gab keinen Weg zurück. Sie saßen in der Falle. Seltsamerweise schien Dr. Nystrom darüber anders zu denken. Kopf und Arme waren in einem Gewirr von Drähten und Elektronikteilen verschwunden. Dann flammte ein Mikroschweißgerät auf. Ross erschien alles so sinnlos. »Dr. Nystrom«, sagte er müde, »lassen Sie 's gut sein. Ich habe soeben einen Blick hinaus geworfen. Der Reaktor ist getroffen.« »Ich habe das bereits am Ausfall der Pforte gemerkt«, kam die Antwort. »Und ich hatte gefürchtet,
daß auch die Brennstoffzellen in Mitleidenschaft gezogen sind. Doch die sind noch in Ordnung. Ich habe die Leitungen angeschlossen.« Das Schweißgerät wurde ausgeschaltet, und Dr. Nystrom tauchte wieder auf. Die Kontrolleuchten hatten wieder zu blinken begonnen. »So ist es schon besser«, meinte Dr. Nystrom. Er drehte sich zu Ross um. »Das Kriegsschiff wird jeden Moment merken, daß Boreas überlebt hat. Sie werden zum letzten Schlag ausholen. Deshalb habe ich vor, Sie mit Hilfe der Pforte zur Erde zu senden.« »Das klingt vernünftig. Und Sie folgen mir, nicht wahr?« Dr. Nystrom schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht riskieren, daß die Pforte Eva Keough in die Hände fällt.« Seine Stimme schwankte. »Das wäre einfach – einfach unausdenkbar.« »Aber es geschieht noch Schlimmeres, wenn Sie nicht mit mir kommen. Sie sind der einzige, der diesem Wahnsinn ein Ende bereiten kann. Sie müssen den Leuten alles erklären, damit sie wissen, daß Sie keine Bedrohung für die Erde darstellen. Ich glaube Ihnen zwar, aber ich bin der einzige Augenzeuge. Niemand auf der Erde kann Bescheid wissen, wenn Sie selbst tot sind.« »Die Brennstoffzellen sind noch voll genug, um einen weiteren Transport mit der Pforte zu ermögli-
chen«, drängte Dr. Nystrom. »Aber ich bezweifle, daß die Reserven stark genug sind, um bis zum Sonnensystem von Centauri zu reichen. Wahrscheinlich kommen wir über unser Sonnensystem nicht hinaus. Sie müssen Boreas verlassen.« Ross wollte antworten, aber der Bildschirm lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Das Kriegsschiff hatte ein großes Objekt in den Raum entlassen. Es schwebte einige Sekunden bewegungslos. Dann wurde es von einem Düsenantrieb machtvoll in Richtung auf Boreas beschleunigt. »Sie sollten sich jetzt lieber darauf konzentrieren«, rief Ross mit lauter Stimme. »Das ist ihr Vernichtungsschlag.« Ein atomarer Vernichtungsschlag. Dr. Nystrom richtete die Pforte aus. Es gelang ihm, die Bombe anzupeilen. Die Kontrolleuchten blinkten, die Pforte war bereit. Doch Dr. Nystrom zögerte. Ross konnte sehen, wie sich das Kriegsschiff zurückzog. Es muß sich um eine Wasserstoffbombe handeln, dachte Ross. Er konnte sie jetzt schon mit bloßem Auge erkennen. Sie hatte die Größe einer Einwegbahn und kam unaufhaltsam näher. »Dr. Nystrom«, rief Ross. Der Astronom schien gelähmt zu sein. Seine Hand ruhte reglos über der Schalttafel. Drohend und häßlich näherte sich die Bombe. In wenigen Sekunden würde sie einschlagen.
Dr. Nystrom bewegte sich. Seine behandschuhte Rechte drückte immer wieder krampfartig die Aktivierungstaste der Pforte, bis alle Kontrolleuchten erloschen waren. Die Pforte war tot. Ross richtete den Blick durch die zerfetzten Wände von Boreas in den Raum hinaus, wo die halbe Scheibe des Mondes zwischen den Sternen hing. Plötzlich erstrahlte auf der unbeleuchteten Mondhälfte ein sonnenheller Feuerball, wuchs und überglänzte den vollen Mond, ehe die Helligkeit wieder zurückging. Ross stand starr. Es gab in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel einer ähnlich machtvollen Demonstration. Langsam verglühte der letzte Schein, und der Erdtrabant hatte sich in einen Halbmond zurückverwandelt. Das Kriegsschiff stoppte fünfhundert Kilometer von Boreas entfernt. Dr. Nystrom blickte auf. »Ich glaube, sie werden mit uns Verbindung aufnehmen.« Er betrachtete besorgt die Pforte. »Ich will sehen, ob ich sie reparieren kann.« Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig, denn aus dem Lautsprecher drang Eva Keoughs resignierte Stimme. Als sie zu Ende gesprochen hatte, stellte Dr. Nystrom seine Bedingungen. Sie hörte widerspruchslos zu. Innerhalb einer Minute kam eine Einigung zustande.
Die Schlacht von Boreas war geschlagen. Doch es stand ein weit wichtigerer Kampf bevor, dessen Ausgang über die Zukunft der Menschen entscheiden würde.
19 Die Offiziersmesse lag mittschiffs. Die Konstrukteure des Kriegsschiffs hatten sie so geplant, daß sie mit wenig Aufwand in einen Versammlungssaal verwandelt werden konnte. Aber es war deutlich zu sehen, daß sie nicht mit einer Versammlung dieses Ausmaßes gerechnet hatten. Das Auditorium war dicht gefüllt mit Menschen, deren Gesichtszüge Ross zum Teil kannte: Diplomaten, UN-Gesandte, IRV-Funktionäre und Staatsmänner. Viele von ihnen mußten sich mit Kisten, Schachteln oder dem blanken Fußboden als Sitzgelegenheit begnügen. Insgesamt neun Flugboote hatten inzwischen angelegt, und weitere waren angekündigt. Mit der gleichen Ungeduld wie alle anderen erwartete Ross die Ansprache Dr. Nystroms. Myra und Joel Colbert, die seit der gewaltsamen Räumung von Boreas Gefangene Eva Keoughs gewesen waren, hatten allerdings dankbar in der Fähre zur Hauptstation Platz genommen. Die Strapazen der Gefangenschaft hatten beide gezeichnet. Ross lauschte den Gesprächen der Staatsoberhäupter. Es war entnervend und enttäuschend. Ihre Unterhaltungen bewegten sich zwischen Klatsch und
haltlosen Vermutungen. Die Staatsmänner spiegelten genau den Rest der Menschheit wider. Ross übte Zurückhaltung und gab keine Auskünfte. Sein bruchstückhaftes Wissen konnte den Gerüchten nur neue Nahrung geben. Außerdem hatte ihm Dr. Nystrom ebensowenig wie den anderen etwas über seine Ansprache mitgeteilt. Das Stimmengewirr verstummte. Dr. Nystrom hatte den Raum betreten. Seine Haltung war zuversichtlich, als er unter zaghaftem Beifall und nervösem Geflüster das Rednerpult betrat. Viele drängten sich nach vorn, um ihn von der Nähe zu sehen, denn es hatte geheißen, er sei ein sehr ungewöhnliches Individuum. Er begann mit der Schilderung der Geschichte seiner eigenen Rasse, wie sie Ross schon gehört hatte. Er beschrieb den unwirtlichen Lebensraum seines Planeten und erzählte, wie es zur Erfindung der Pforten gekommen war. Nachdem er die Wirkungsweise der Pforten im einzelnen dargestellt hatte, sprach er von der galaktischen Suche seiner Rasse nach Leben, einer Suche, die mit der Entdeckung der Erde ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Ross stellte fest, daß Dr. Nystrom gut in Form war. Seine Stimme klang klar und kräftig, und sein Körper zeigte keine Anzeichen von Ermüdung. Wenn man
berücksichtigt, was er gerade durchgemacht hatte, war dieser Umstand mehr als erstaunlich und machte auf die Delegierten wahrscheinlich einen größeren Eindruck als die Beschreibung der Pforte. Die Erzählung Dr. Nystroms nahm Ross wie beim erstenmal gefangen. Besonders faszinierend fand er die Mitteilung, daß die einzelnen Lebewesen dieser Rasse ein weit höheres Alter erreichten als ein Mensch. »Ich gelte bei meiner Rasse als relativ jung«, führte Dr. Nystrom aus, »aber ich bin schon einige Jahrhunderte älter als das älteste Versammlungsmitglied in diesem Saal.« Diese Mitteilung löste eine beträchtliche Verwirrung unter den Delegierten aus. Dr. Nystrom ließ ihnen Zeit zur Diskussion. Als wieder Ruhe eingekehrt war, stellten die Delegierten fest, daß Dr. Nystrom bei einem neuen Punkt seiner Ausführungen angelangt war. Er hatte eine riesige Landkarte von Australien aufgerollt. Dann ergriff er wieder das Wort: »Ein sinnloser und furchtbarer Krieg steht diesem Gebiet der Erde bevor. Die Auseinandersetzung droht, weil eine andere Nation in der Bevölkerungszahl zu stark zugenommen hat, um ihre Angehörigen weiterhin zu kleiden und zu nähren. Sie halten die Auswanderung
nach Australien für die beste Lösung. Die Australier sind anderer Ansicht. Sie bereiten sich darauf vor, den Ansturm von Auswanderern abzuwehren. Wir wissen, daß es zu einer Katastrophe kommen muß. Und überall auf der Erde bahnt sich auf die Dauer eine ähnliche Entwicklung an. Wenn die Kontinente überfüllt sind, wird man nach anderen Auswegen suchen. Der Mond und die Planeten des Sonnensystems sind unbewohnbar und lebensfeindlich. Die Sterne sind so weit entfernt, daß ein Raumschiff hundert und mehr Jahre allein für den Hinflug benötigen würde.« Dr. Nystrom legte eine Pause ein. Ross hörte zustimmendes Gemurmel. Den Delegierten waren die Verhältnisse ihrer eigenen Länder nur zu gut bekannt. Sie wußten von dem Hunger, dem Gefühl der Heimatlosigkeit und der wachsenden Verzweiflung der sieben Milliarden, die die Erde bevölkerten. »Sie werden sicher verstehen, worauf ich hinaus will. Meine eigene Rasse ist zwar langlebig, aber ihre Bevölkerungszahl ist niedrig. Durch die Pforte haben sich uns Milliarden neuer Planeten erschlossen. Aber wir sind zu wenige, um den neuentdeckten Welten mehr als eine kurze Besichtigung zukommen zu lassen. Andererseits hat die Erde viel zu viele Menschen. Ihre Zivilisation bricht allmählich auseinander, da die Massen nicht mehr ernährt werden können.«
Einer der UN-Delegierten war aufgesprungen. »Wenn ich Sie recht verstehe, dann wollen Sie eine Art Übereinkommen zwischen Ihrer und unserer Rasse vorschlagen?« »Ja«, antwortete Dr. Nystrom. »Mir schwebt eine gleichberechtigte Partnerschaft vor, die die Erforschung und Kolonisation der Planeten zum Gegenstand hat, die wir dank der Pforte entdeckt haben. Tausende davon sind bewohnbar und warten auf Erkundungstrupps. Es sind Welten, auf denen Menschen ohne raffinierte Überlebens-Maschinerie existieren können.« Ein weiterer Delegierter ergriff das Wort. »Glauben Sie im Ernst, daß irgendein vernünftiger Mensch sich einer Ihrer – Ihrer Pforten anvertraut, um nachher vielleicht in einer Wüste oder einem Dschungel zu landen?« »Es gehört sicher Mut dazu. Aber die Städte auf der Erde sind im Moment selber Dschungel. Ich bin durch die Straßen von Kalkutta, Rio, Tokio und New York gegangen. Oft war es gefährlicher als auf unbewohnten Welten. Niemand soll zur Auswanderung gezwungen werden. Doch es werden sich genug kühne und ruhelose Seelen finden, die dazu bereit sind und die ein neues Leben anfangen wollen. Sonst wäre meine Einschätzung des Menschengeschlechts völlig falsch.«
Ein älterer Diplomat meldete sich zu Wort. »Ich habe genug gehört, um überzeugt zu sein. Doch Sie haben uns ein Angebot gemacht, dessen Wert astronomisch zu beziffern ist. Welchen Preis verlangen Sie dafür?« »Partnerschaft hat keinen Preis«, antwortete Dr. Nystrom, »außer gegenseitigem Respekt und Vertrauen.« Damit war die Ansprache beendet. Die Delegierten erhoben sich von ihren Plätzen und teilten sich in erregt diskutierende Gruppen auf. Ross begab sich zu Dr. Nystrom. »Ich bin gespannt, wie die Staatsmänner reagieren«, sagte der Astronom. »Ich glaube, daß sie grundsätzlich mit Ihren Vorschlägen einverstanden sein werden«, vermutete Ross. »Ich hoffe es.« Ehe Ross sich zu diesem Thema weiter äußern konnte, trat ein Bote hinzu und teilte den beiden mit, daß Eva Keough um eine kurze Unterredung gebeten habe. Zögernd stimmte Dr. Nystrom zu. Nach einigem Überlegen nickte auch Ross. Eva Keough hatte keine gute Zeit hinter sich. Zuerst war sie vom Militär zum Rückzug gezwungen worden. Dann hatte sie das Schiffskommando abge-
ben müssen. Die IRV hatte das riesige Kriegsschiff beschlagnahmt und sie unter Arrest gestellt. Vor ihrer Kabine hielt ein Posten Wache. Ihre kühle Gelassenheit war dahin. Ihre Stimme zitterte, als sie Dr. Nystrom um Verzeihung bat. »Was vorbei ist, ist vorbei«, antwortete der Astronom. »Sie mußten in mir eine Bedrohung für die Menschheit sehen und haben entsprechend reagiert. Es trifft Sie keine Schuld.« Ross hörte keinen falschen Ton aus der Antwort heraus. Dr. Nystrom meinte es, wie er es sagte.
20 Zwei Tage danach saß Ross mit Dr. Nystrom, Tim und Christine in dem kleinen Lokal auf der Hauptstation beim Frühstück. Strahlend zeigte die junge Ärztin einen Verlobungsring vor. »Ist Tim nicht gräßlich?« sagte sie glücklich. »Stellen Sie sich vor, er hat den Ring ein ganzes Jahr in der Tasche mit sich herumgetragen, ehe er mich gefragt hat.« Sie versetzte ihm einen scherzhaften Boxhieb. »He, was bist denn du für eine Ärztin?« wehrte sich Tim. »Ich bin schließlich ein verwundeter Mann!« Christine wandte sich lächelnd an Ross und Dr. Nystrom. »Sobald der verwundete Kriegsheld genesen ist, gehen wir nach Sidney. Dort wird die erste Pforte für die Auswanderung eingerichtet.« Ross lachte. »Das Universum ist wirklich klein. Auch ich spiele mit dem Gedanken auszuwandern. Man wird auf den neuen Planeten Meteorologen brauchen. Außerdem habe ich eine Idee. Ich will einen interplanetarischen Wetterdienst einrichten.« Tim warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Seit wann ist Wetter interplanetarisch?« »Dr. Nystrom hat mir einiges über die neuen Planeten erzählt, das mir zu denken gegeben hat. Wenn
die Pforte Menschen und Materie von Planet zu Planet transportieren kann, dann sollte sie auch imstande sein, Wetter zu transportieren. Zum Beispiel könnte unerwünschter Regen von einem feuchten Dschungelplaneten zu einer trockenen Wüstenwelt übermittelt werden.« »Und umgekehrt trockene Wärme in ein feuchtheißes Klima.« Tim nickte. »Warum tun wir uns nicht zusammen?« fragte Ross. »Wir haben uns zunächst für ein Jahr nach Sidney zum medizinischen Auswanderungsdienst verpflichtet, wo wir Kolonisten betreuen sollen. Dann können wir nachkommen.« Christine schaute über den Tisch hinweg besorgt zu Dr. Nystrom hin, dessen Blick sich geistesabwesend in der Ferne verlor. »Stimmt etwas nicht?« fragte sie. Er seufzte. »Ich soll morgen in Los Angeles vor führenden Medizinern der IRV einen Vortrag über extraterrestrische Biologie halten. Hier in meiner Aktenmappe habe ich zwar Hunderte von Notizen, aber in Wirklichkeit weiß ich noch nicht, was ich sagen soll.« Ross überlief es kalt, als er an die Herkunft Dr. Nystroms erinnert wurde. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie kein ... kein ...« »Kein richtiger Mensch sind?« ergänzte dieser lä-
chelnd. »Nun, in gewisser Hinsicht bin ich inzwischen ein Mensch geworden. Doch ich darf Ihnen versichern, daß die äußerliche Ähnlichkeit gering ist und nur durch jahrelange Plastikoperationen erzielt werden konnte. Das gleiche gilt für meine beiden Gefährten, die Ihnen als Dr. Ahn und als Jonathan Hanks bekannt sind.« »Ich hatte nicht die leiseste Ahnung«, murmelte Ross. »Unsere inneren Organe«, fuhr der Außerirdische fort, »sind von den menschlichen völlig verschieden. Jeder Chirurg, der mich unter sein Messer bekommen hätte, hätte das sofort festgestellt. Deshalb war es unsere Hauptsorge, keinem Arzt in die Hände zu fallen.« »Sie waren immer ein Musterbeispiel an Gesundheit«, schmunzelte Tim. Dr. Nystrom lächelte etwas gequält. »Sie haben keine Ahnung, in was für Schwierigkeiten wir immer wieder gekommen sind. Zum Beispiel hat sich Dr. Ahn im Winter einmal im Rocky Mountain Nationalpark verirrt. Um ihn vor dem Erfrierungstod zu retten, mußte ich ihn mit Hilfe der Pforte nach Boreas transportieren – was ist daran so komisch, Tim?« »Nichts weiter – ich habe mich nur an Belehrungen über eingebildete Ozongerüche erinnert«, antwortete Tim mit einem Blick auf Ross.
»Nun ja«, fuhr Dr. Nystrom fort, »als das sowjetische U-Boot den verunglückten Hanks aufgelesen hat, war die Maskerade vorbei. Nach internationalem Seerecht mußte der Schiffsarzt eine Autopsie vornehmen. Der Militärische Nachrichtendienst zählte eins und eins zusammen und verhaftete Dr. Ahn.« Ein uniformierter Flugbetreuer trat an den Tisch. »Dr. Alfred Nystrom? Mr. Ross Moran? Ihr Flugboot geht in zehn Minuten.« Eine Stewardeß führte sie zu ihren Plätzen. Die Kabinentür schloß sich lautlos. Die Triebwerke schalteten sich ein, und das Schiff begann sich langsam vorwärts zu bewegen. Dann stoppte es mit einem plötzlichen Ruck. Die Kabinentür ging auf, und der Uniformierte von vorhin erschien in der Öffnung. »Dr. Nystrom!« rief er. »Ihre Freunde in dem Lokal sagten, Sie hätten dies hier vergessen.« Der Angesprochene nahm verlegen lächelnd die Aktenmappe mit den Notizen entgegen. »Ich danke Ihnen.« Ross blickte sich in der Kabine um und sah, daß sich alle Passagiere umgedreht hatten und sich an der Verlegenheit des berühmten Dr. Alfred Nystrom weideten. Jetzt wäre der rechte Moment, dachte Ross, zu wetten, daß Dr. Nystrom lieber in den Boden versinken
möchte als diesen grinsenden Gesichtern ausgesetzt zu sein. »Wie konnte ich nur alle meine Notizen vergessen?« flüsterte Dr. Nystrom. Als das Schiff wieder Fahrt aufnahm, ließ er sich in den Sitz zurückfallen, und Ross hörte ihn murmeln: »Früher hätte ich solche Fehlleistungen entschuldigen können, indem ich gesagt hätte: ›Tut mir leid, ich bin ja schließlich nur ein Mensch ...‹« Dr. Nystrom kroch in sich zusammen. »Ich fürchte, ich gehe schweren Zeiten entgegen.«