Thomas Jeier
Sie hatten einen Traum
UEBERREUTER
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Thomas Jeier
Sie hatten einen Traum
UEBERREUTER
ISBN 3-8000-2999-5 Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Umschlaggestaltung von FineLine, 1040 Wien, unter Verwendung von Fotos von Corbis (Martin Luther King) und Getty Images (Pärchen) Abdruck von Auszügen aus der Rede Martin Luther Kings »Ich habe einen Traum« mit freundlicher Genehmigung © Patmos Verlag GmbH & CoKG/Benziger Verlag, Düsseldorf und Zürich Copyright © 2003 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Druck: Ueberreuter Print Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at
Thomas Jeier wurde 1947 in Minden/Westfalen geboren. Er wuchs in Frankfurt am Main auf und lebt heute bei München und »on the road« in den USA und Kanada. Mit seinen historischen Romanen, die in etliche Sprachen übersetzt wurden, hat er auch bei Erwachsenen großen Erfolg. Er erhielt mehrere Preise, darunter den Friedrich-Gerstäcker-Preis für das beste Abenteuerbuch des Jahres, den Eimer Kelton Award für sein Gesamtwerk und eine Auszeichnung der texanischen Regierung. Die junge Schwarze Audrey Jackson verliebt sich in Edward, einen Mitarbeiter Martin Luther Kings, der nach Birmingham gekommen ist, um gewaltfrei gegen die Willkür der Weißen zu protestieren. Audrey schließt sich dieser Bewegung an und nimmt teil am legendären Protestmarsch, bei dem die Behörden mit brutaler Gewalt gegen die Bürgerrechtler vorgehen. Doch Audrey glaubt an den Sieg der Liebe – und den Triumph der Menschlichkeit.
Wir haben gelernt, wie Vögel zu fliegen und wie Fische zu schwimmen, aber wir haben die einfache Kunst nicht erlernt, als Brüder zusammenzuleben.
Martin Luther King Jr.
1
Audrey Jackson zitterte vor Angst. Sie war allein auf dem Highway und hielt das Lenkrad ihres Plymouth mit beiden Händen umklammert. Ihr Blick wanderte nervös durch die Dunkelheit. Wie bedrohliche Schatten flogen die Reklametafeln an ihr vorbei. Die Luft war feucht und schwül und der Mond lag hinter dunklen Wolken verborgen. Dunstschwaden zogen über die Felder und verfingen sich in den Bäumen am Straßenrand. In den wenigen Gebäuden brannte kein Licht. Die schwarzen Farmer wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Das Brummen des Motors und das Singen der Räder auf dem nassen Asphalt waren die einzigen Geräusche in der ungewöhnlich dunklen Februarnacht. Kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn. An der Straße zwischen Bessemer und Birmingham trieb der Ku-Klux-Klan sein Unwesen, ein weißer Geheimbund, der seit hundert Jahren bestand und gewaltsam gegen alle Schwarzen vorging. Die Kapuzenmänner überfielen wehrlose Männer und Frauen und zündeten Farmhäuser und Scheunen an. Wenn Audrey in die Hände dieser Mörder fiel, hatte sie keine Gnade zu erwarten. Audrey blickte in den Rückspiegel. Ihre Augen waren ungewöhnlich groß und leuchteten weiß. Sie war neunzehn und wirkte sogar in ihrem einfachen Kleid und der Strickjacke wie eine junge Dame. Ihr gelocktes Haar reichte bis auf die Schultern. Auch weiße Männer drehten sich heimlich nach ihr um, wenn sie in ihrem Sonntagskleid aus der Kirche kam und ihre Freundinnen umarmte. Ihre schwarze Haut glänzte im schwachen Licht der Armaturen. Sie hatte Betty Ann besucht, ihre zwei Jahre
jüngere Freundin, und war auf dem Rückweg nach Birmingham. Betty Ann war die Tochter eines Stahlarbeiters und so impulsiv, dass Audrey manchmal Angst um sie bekam. Das Mädchen hatte alle Zeitungsberichte über die Protestaktionen in Montgomery und Albany gesammelt und war fest entschlossen, an den Freiheitsmärschen teilzunehmen, falls die Bewegung jemals nach Birmingham kam. Martin Luther King, ein Pastor aus Atlanta, setzte sich für die Gleichberechtigung ein und hatte die Schwarzen ermuntert, gegen die Willkür der Weißen zu protestieren. Im Fernsehen und in den Zeitungen wurde ausführlich über ihre gewaltlosen Demonstrationen berichtet. »Ich habe keine Angst«, behauptete Betty Ann. »Die Polizei kann uns nichts anhaben, wenn wir uns friedlich verhalten! Wir müssen uns wehren, Audrey!« »Und was ist mit dem Klan?«, fragte Audrey. »Die Kapuzenmänner scheren sich nicht darum, ob wir uns friedlich verhalten! Neulich haben sie einen Farmer und seine Frau verprügelt, hast du das vergessen? Sie haben die Farm niedergebrannt und das Vieh vertrieben! Die beiden kommen nie wieder auf die Beine!« Betty Ann blätterte in ihrem Album mit den Zeitungsausschnitten. »Der Klan kann nicht überall sein. Aber wenn Martin Luther King und seine Leute nach Birmingham kommen, werden wir ihn besiegen! In der Zeitung haben sie seine Predigt abgedruckt.« Sie fand den Ausschnitt und las vor: »Ich glaube, dass selbst der schlimmste Befürworter der Rassentrennung zu einem Befürworter des friedlichen Miteinanders von Schwarz und Weiß werden kann!« Ihre Augen leuchteten. »Stell dir vor, du gehst auf dieselbe Schule wie die Weißen und die weißen Jungs quatschen dich nicht mehr blöd an, wenn sie dich sehen!«
»Dagegen kann auch Martin Luther King nichts tun!«, erwiderte Audrey lächelnd. Sie deutete auf ein Zeitungsbild, das weiße Schüler bei einem Protestmarsch gegen die Aufhebung der Rassentrennung zeigte. Die Gesichter der Kinder waren voller Hass. »Geh den Weißen aus dem Weg und du bekommst keinen Ärger! Du weißt doch, wie es den schwarzen Schülern in Little Rock ergangen ist. Ohne die Nationalgarde wären die niemals in die High School gekommen! Die Weißen hätten sie erschlagen!« Audrey stammte aus einer besser gestellten Familie. Ihre Eltern führten einen Gemischtwarenladen in Birmingham. Sie waren angesehene Leute im schwarzen Viertel. Ein Massenprotest wie in Montgomery oder Alabama würde ihre Welt zum Einstürzen bringen. »Ich verstehe diesen Martin Luther King nicht«, sagte ihr Vater. »Warum will er alles verändern? Uns geht es doch nicht schlecht! Was macht es schon, wenn wir in den Bussen hinten sitzen müssen? Ändert es irgendwas, wenn wir im Drugstore einen Milchshake bestellen dürfen? Durch seinen Protest macht er alles nur noch schlimmer! Ich glaube, er will sich nur in den Vordergrund spielen! Was meint ihr, was passiert, wenn er sich in Birmingham mit der Polizei anlegt? Wir werden alle darunter leiden! Nein, nein, er soll in Atlanta bleiben!« Das Angebot, die Nacht im Haus ihrer Freundin zu verbringen, hatte Audrey abgelehnt. Obwohl sie große Angst vor dem Klan hatte, wollte sie so schnell wie möglich nach Hause. Bis nach Birmingham waren es nur ein paar Minuten und es würde schon nichts passieren. Doch während sie allein durch die Sternenlose Nacht fuhr, tauchten schreckliche Bilder vor ihren Augen auf: Weiße Kapuzenmänner, die brennende Kreuze in den Boden rammten. Weiße Männer, die ein schwarzes Mädchen bespuckten und schmutzige Bemerkungen
machten. Der Ku-Klux-Klan wollte, dass sich die »Nigger« den Weißen unterordneten. Im Rückspiegel erschien ein Wagen. Ein Scheinwerfer war schwächer als der andere, bohrte sich mit einem grellen Lichtstrahl in ihre Augen. Sie nahm den Fuß vom Gas und fuhr so dicht wie möglich am Straßenrand entlang. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen, als der Wagen sie überholte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen gelangweilten Weißen, der sich gar nicht darum kümmerte, wer sie war. Er blickte stur geradeaus und paffte eine Zigarre. Erleichtert beobachtete sie, wie er in der Dunkelheit verschwand. Sie steuerte den Plymouth nach links und folgte dem weißen Mittelstreifen einen Hügel hinauf. In der Ferne waren bereits die Lichter von Birmingham zu erkennen. Sie lockerte den Griff um das Lenkrad, redete sich ein, dass nun nichts mehr passieren konnte. Später würde sie sich Vorwürfe machen, nicht schneller gefahren oder in einen der Feldwege abgebogen zu sein. Dann wäre sie dem Pick-up, der hinter ihr auftauchte, vielleicht entkommen. Vielleicht war es auch ein Fehler, ausgerechnet in dem Augenblick nach links zu blicken, als der Kleinlaster sie überholte. So merkten die beiden Männer auf der Vorderbank sofort, dass sie eine Schwarze war. Das Licht der Armaturenbeleuchtung spiegelte sich auf ihren hohen Wangenknochen. Nur für einen Sekundenbruchteil sah sie das Gesicht des Beifahrers. Lange genug, um einen harmlos aussehenden Burschen mit kurz geschorenem Haar und aufgeblasenen Wangen zu erkennen. Er grinste frech. Sie wandte sich rasch ab und hörte im selben Augenblick, wie der Motor des Pick-ups aufheulte. Der Kleinlaster fuhr mit quietschenden Reifen an ihr vorbei. Sie glaubte schon, die weißen Männer würden sie in Ruhe lassen und weiterfahren, als die Bremslichter des Pick-ups aufleuchteten und der Wagen sich quer stellte. Es gab keine
Möglichkeit, daran vorbeizufahren. In panischer Angst trat Audrey auf die Bremse. Ihr Plymouth schleuderte nach rechts, streifte die Ladeklappe des Pick-ups und rutschte mit dem rechten Vorderrad in den Straßengraben. Sie fiel nach vorn und prallte gegen das Lenkrad. Stechender Schmerz durchzuckte ihre Brust. Sie schaffte es nicht mehr, die Türen zu verriegeln. Noch bevor sie den Knopf berührt hatte, waren die jungen Burschen heran und rissen ihre Tür auf. Ihre Augen waren voller Hass und Hohn. »Hast du das gesehen, Steve?«, rief der Beifahrer in gespielter Entrüstung. »Die verdammte Niggerschlampe hat unseren Pick-up gerammt! Das hat sie absichtlich getan, Steve, nicht wahr?« »Das glaube ich auch«, meinte Steve, ohne den Blick von Audrey zu nehmen. Er war größer und schlanker als sein Beifahrer und sein Grinsen wirkte überheblich. »Sie will wohl, dass wir ihr eine Abreibung verpassen! Zieh sie aus dem Wagen, Duncan!« Audrey wich ängstlich vor den Männern zurück. Das Scheinwerferlicht des Pick-ups ließ sie wie bedrohliche Riesen aussehen. Sie waren noch jung, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als sie, und trugen ölverschmierte Overalls. Der Fahrer hatte eine Baseballkappe in den Nacken geschoben. Ihre Gesichter waren weiße Flecken in dem Halbdunkel und wirkten im künstlichen Licht der Scheinwerfer seltsam fahl. Ihr Atem roch nach Alkohol. Duncan griff nach dem Mädchen und zerrte es aus dem Wagen. Er hielt sie an den Oberarmen fest und sagte: »Jetzt werden wir dir zeigen, was es heißt, den Pick-up anständiger weißer Bürger zu rammen!« Er stieß sie gegen den Wagen und zeigte kein Mitleid, als sie rückwärts gegen die Tür prallte und mit schmerzverzerrter Miene zu Boden sank. Ihr Entsetzen war so groß, dass sie nicht einmal weinen konnte. Duncan versetzte
ihr einige heftige Tritte mit seinen Cowboystiefeln. »Wir sollten sie am nächsten Baum aufknüpfen, Steve«, schimpfte er, »so wie es die Klanmänner mit den verdammten Niggern machen!« In seinen Augen brannte ein gefährliches Feuer, wie bei einem Soldaten, der zum ersten Mal im Gefecht war und die Nerven verlor. »Ich weiß was Besseres!«, erwiderte Steve. Er war nüchterner als sein Kumpan und schien genau zu wissen, was er tat. Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Hol das Abschleppseil!« »Was hast du vor, Steve?« »Wir machen es wie die Cowboys in den Westernfilmen. Die binden ihre Feinde mit dem Lasso ans Sattelhorn und schleifen sie quer über die Prärie! Mal sehen, ob die Niggerschlampe das durchhält! Wo bleibt das verdammte Abschleppseil, Duncan?« »Ich geh schon, Steve!« Der Beifahrer verschwand in der Dunkelheit und kehrte mit dem ölverschmierten Seil zurück. Erst jetzt schien er zu kapieren, was sein Kumpan vorhatte. »He, die wird ganz schön Augen machen, wenn wir sie durch Birmingham ziehen! Hoffentlich kapieren die Nigger dann endlich, dass sie uns in Ruhe lassen sollen!« Er betrachtete das Abschleppseil. »Hast du gehört, was in Montgomery los ist? Da bedienen sie die Nigger in den Drugstores! Und in den Bussen dürfen sie vorne sitzen! Hat alles dieser Obernigger auf dem Gewissen, dieser…« »Martin Luther King«, ergänzte Steve grimmig, »den erwischen wir auch noch! Worauf wartest du, Duncan? Binde die Schlampe an den Pick-up! Und mach einen anständigen Knoten, kapiert?« Audrey hörte die Worte des jungen Weißen und glaubte sich in einem bösen Traum. Dies konnte nicht die Wirklichkeit sein. Nicht einmal zwei Mistkerle wie diese beiden waren dazu fähig, einen so grausamen und kaltblütigen Mord zu begehen.
Gleich würde sie aufwachen und sich in ihrem Zimmer wiederfinden. Ihre Mutter würde sie ermahnen, endlich aufzustehen, sonst käme sie zu spät in die Schule und der Direktor würde ihr kündigen. Audrey arbeitete als Sekretärin in der schwarzen High School. Doch die Stimmen der beiden Männer blieben und sie spürte, wie Duncan das Abschleppseil um ihren Körper schlang und es auf ihrem Rücken verknotete. Seine Tritte hatten alle Kraft aus ihrem Körper gepresst und sie war unfähig sich zu wehren. Durch den Nebel, der sich vor ihren Augen gebildet hatte, sah sie den Beifahrer zum Pick-up gehen und das andere Ende des Seiles an die hintere Stoßstange binden. Ein verzweifeltes Stöhnen kam über ihre Lippen. Sie wollte nach dem Seil greifen, den Knoten über ihrer Hüfte lösen, und schaffte es nicht einmal, die Finger zu bewegen. Die Weißen hatten ihre Widerstandskraft gebrochen und würden sie töten. Man würde ihre Überreste auf der Straße finden und jeder würde von einem bedauerlichen Unfall sprechen. Sie schloss die Augen und ergab sich in ihr Schicksal. Die Stimmen der beiden Weißen drangen wie aus weiter Ferne zu ihr. Sie betete leise. Wenn der allmächtige Gott wollte, dass sie schon als junge Frau zu ihm kam, gab es keinen Grund, sich dagegen aufzulehnen. Er würde sie beschützen und sie mit seiner Gnade umfangen. »Lieber Gott, bitte mach, dass es schnell vorbei ist!«, sagte sie. »Und kümmere dich um meine Eltern und um Betty Ann! Sag ihnen, dass ich bei dir im Himmel bin und keine Schmerzen erleide!« Sie hörte, wie einer der beiden Männer den Pick-up startete. »Vater unser, der du bist im Himmel…« Flackerndes Licht öffnete ihre Augen. Sie drehte den Kopf und sah einen Polizeiwagen neben dem Pick-up stehen. Das Warnlicht war eingeschaltet und warf grelle Blitze in die Dunkelheit. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte einen
stämmigen Deputy Sheriff, der langsam aus seinem Wagen stieg und kopfschüttelnd in ihre Richtung blickte, bevor er sich an die Burschen im Pick-up wandte. Eine Taschenlampe flammte auf. »Hallo, Jungs!«, begrüßte er sie in seinem breiten Südstaatenslang. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als euch nachts auf dem Highway rumzutreiben? Im Kino läuft ein neuer Film mit John Wayne.« »Den kann ich nicht leiden«, erwiderte Steve, als gäbe es das schwarze Mädchen gar nicht. »Randolph Scott ist viel besser!« »Und Gary Cooper«, rief Duncan vom Beifahrersitz. »Haben Sie ›High Noon‹ gesehen, Sheriff? Das war ein Film, kann ich Ihnen sagen!« »Halt die Klappe, Duncan!«, wies der Deputy Sheriff ihn zurecht. Er schien die beiden Burschen zu kennen. »Und binde die verdammte Negerin los! Ihr habt euren Spaß gehabt, das reicht. Alles andere gibt nur Scherereien.« Er drehte sich zu Audrey um und ließ erkennen, dass er genauso wenig von ihr hielt wie die Männer. Seine Augen waren kalt und abweisend. »Hast du gehört, Duncan? Ich will, dass ihr sie losbindet und verschwindet!« »Geht in Ordnung, Sheriff!«, meinte Duncan eingeschüchtert. »Wir wollten ihr nur ein wenig Angst einjagen!« Er stieg aus dem Pick-up und befreite Audrey von dem Abschleppseil. Nachdem er es von der Stoßstange gezogen und auf die Ladefläche des Kleinlasters geworfen hatte, stieg er wieder ein. Er legte seinen Arm ins offene Fenster und vermied es, den Deputy anzublicken. »Und jetzt verschwindet! Fahrt endlich nach Hause und bleibt von meiner Straße weg! Ich hab schon genug Ärger am Hals!« »Wird gemacht, Sheriff«, gehorchte Steve. Er wendete den Pick-up und fuhr rasch davon. Die Rücklichter tanzten durch
die Dunkelheit und erloschen, als er über den Hügel verschwand. Der Deputy wartete, bis das Motorengeräusch verklungen war, und richtete den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf Audrey. Er bewegte sich aufreizend langsam und machte keinerlei Anstalten, ihr zu helfen. »Und du steigst besser in deine Schrottkarre und haust ab, bevor ich dich wegen Landstreicherei festnehme und ins Gefängnis werfe! Kein Wunder, dass die Jungs auf dumme Gedanken kommen! Geh zu deinen Leuten!« Audrey wusste, dass es keinen Zweck hatte, sich gegen den Deputy aufzulehnen. Wenn eine schwarze Frau von weißen Männern belästigt wurde, war immer sie schuld. Sie konnte froh sein, dass er sie laufen ließ. Es gab auch Polizisten, die diese Gelegenheit ausgenützt und sie vergewaltigt hätten. Der Deputy beließ es bei einem Blick, der von Lüsternheit und Abscheu geprägt war. Sie erhob sich und ging stöhnend zu ihrem Wagen. Ihre Rippen schmerzten höllisch. Sie presste eine Hand auf die Stelle, an der sie Duncans Fußtritt getroffen hatte, und lehnte sich gegen den Kotflügel ihres Plymouth. Zu ihrer Erleichterung sah sie, wie der Deputy in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Erst als das flackernde Warnlicht hinter dem Hügel verschwunden war, begann sie zu weinen. Sie verbarg ihr Gesicht in beiden Händen und ließ den Tränen freien Lauf. Den Truck aus dem nahen Stahlwerk, der mit röhrendem Motor an ihr vorbeibrauste, bemerkte sie kaum. Sie war dem Tod knapp entronnen. Nur das Auftauchen des Deputy Sheriffs hatte sie vor einem grausamen Ende bewahrt. Die Erkenntnis, dass ein schwarzes Leben weniger wert war als zur Zeit der Sklaverei im 19. Jahrhundert, traf sie wie ein Schlag. Weiße Männer hatten sie bedrängt und beschimpft, aber niemals zuvor war sie auf diese Weise bedroht und gequält worden.
Sie rieb sich die Tränen vom Gesicht und stieg in den Plymouth. Mit brennenden Augen starrte sie in die Dunkelheit. Sie verdrängte die Schmerzen und startete den Motor. Im Rückwärtsgang versuchte sie aus dem Graben zu kommen. Vergeblich. Sie sank erschöpft nach vorn und stützte sich mit der Stirn auf das Lenkrad. Sie nahm den Kopf erst hoch, als sie das Motorengeräusch eines fremden Wagens hörte und grelles Scheinwerferlicht durch ihre Windschutzscheibe fiel. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie ein alter Cadillac hielt und ein Mann ausstieg. »O nein, nicht schon wieder!«, flüsterte sie in panischer Angst.
2
Ihre Angst war unbegründet. Der junge Mann, der neben ihren Wagen trat und sich neugierig zu ihr herunterbeugte, war schwarz. Im schwachen Licht der Scheinwerfer erkannte sie ein schmales Gesicht mit ausdrucksvollen Augen. Unter seinem Kinn war eine Narbe. »Entschuldigen Sie, Miss!«, meinte er, als er ihr verstörtes Gesicht sah, »ich wollte Sie nicht erschrecken! Hatten Sie einen Unfall? Ihnen ist doch nichts passiert?« Audrey schüttelte den Kopf. Sie kauerte verängstigt auf ihrem Sitz, die Arme vor der Brust verschränkt. Der Ausdruck ihrer Augen erinnerte den jungen Mann an ein Wild, das man in die Enge getrieben hat. Zögernd antwortete sie: »Ich bin okay, Mister.« »Edward. Ich bin Edward Hill aus Chicago.« Er lächelte. »Und sagen Sie bloß nicht Eddy zu mir! Das würde mich an den Ziegenbock meiner Großeltern erinnern und der war so ziemlich das störrischste und gemeinste Wesen in ganz Illinois!« Er schüttelte ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss!« »Audrey Jackson«, erwiderte sie freundlich. Die Erleichterung, einem höflichen und gebildeten Mann wie ihm zu begegnen, war ihr deutlich anzumerken. »Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist!«, schwindelte sie ohne ihn anzublicken. Sie wollte ihn nicht mit ihrem Erlebnis belasten. »Plötzlich ist mein Wagen ins Schleudern gekommen! Würden Sie mir helfen, ihn aus dem Graben zu fahren? Ich bin keine besonders gute Autofahrerin…«
»Natürlich«, erklärte er bereitwillig. »Sieht so aus, als hätte Ihr Wagen nicht mal eine Beule abbekommen. Hoffentlich ist der Achse nichts passiert!« Er half ihr heraus und blickte verwundert auf ihr schmutziges und zerrissenes Kleid. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser jungen Frau. »Was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht wehgetan haben?« »Ein paar Prellungen, weiter nichts«, beruhigte sie ihn. Edward ahnte, dass sie die Unwahrheit sagte, und musterte sie lange, bevor er in den Wagen stieg. Vielleicht hatte ihr Freund sie geschlagen und sie war davongelaufen. Aber das ging ihn nichts an. Er startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Obwohl er den Gashebel nur langsam durchdrückte, bewegte sich der Plymouth kaum vom Fleck. Der Graben war zu tief. Er schob den Schalthebel zurück und seufzte: »Der Wagen sitzt fest. Ich muss Sie rausziehen. Ich hole das Abschleppseil.« Während er sich am Kofferraum seines Cadillacs zu schaffen machte, klopfte sich Audrey rasch den Staub aus den Kleidern. Sie hatte seinen kritischen Blick bemerkt. Ihre Rippen schmerzten bei jeder Bewegung und es kostete sie viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen. »Und Sie kommen wirklich aus Chicago?« »Chicago, Illinois«, bekräftigte er, »dort bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mein Vater arbeitet auf dem Güterbahnhof vor der Stadt. Er ist mächtig stolz auf mich, weil ich das College geschafft habe.« Er lächelte. »Zum Glück weiß er nicht, wie schlecht meine Noten waren. Wohnen Sie in Birmingham?« »Bei meinen Eltern. Sie haben einen Gemischtwarenladen im schwarzen Viertel, ein paar Blocks hinter der Baptistenkirche.« Sie beobachtete, wie er den Kofferraum schloss und hinter dem Wagen hervorkam. Er war ein vornehmer Mann. Sein Anzug
saß wie angegossen und seine Schuhe glänzten. »Ich arbeite als Sekretärin in unserer High School. Zum College hat’s leider nicht gereicht. Ich hab drei Geschwister und meine Eltern drehen jeden Penny um! Vielleicht schafft es mein jüngerer Bruder!« Er kehrte mit dem Abschleppseil zurück. »Um diese Zeit sollten Sie eigentlich gar nicht mehr unterwegs sein, Audrey. An diesem Highway soll der Ku-Klux-Klan sein Unwesen treiben, wissen Sie das nicht? Der Alte an der Tankstelle hat mich ausdrücklich gewarnt! Sie können von Glück sagen, dass Ihnen nicht mehr passiert ist.« Er hielt inne. »Audrey! Was ist denn? Hab ich was Falsches gesagt? Ich hab Ihnen doch keine Angst eingejagt?« Sie starrte auf das Abschleppseil in seinen Händen und stolperte rückwärts gegen ihren Wagen. Ihre Augen waren starr vor Angst und sie zitterte am ganzen Körper. Sie begann zu weinen. »Um Gottes willen, Audrey! Ich wollte Ihnen keine Angst machen, ganz bestimmt nicht!« Er ließ das Seil fallen und eilte zu ihr, wusste nicht, ob er sie in die Arme schließen und trösten sollte. Unbeholfen blieb er stehen. Er streckte die Arme nach ihr aus und ließ sie wieder sinken. »Audrey! Was ist mit Ihnen los?« Sie schüttelte sich und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Es ist meine Schuld, Edward. Ich habe Sie belogen. Ich wollte nicht zugeben, dass diese Männer… Mich haben zwei Männer überfallen! Zwei junge Kerle in einem Pick-up. Sie wollten mich mit einem… Abschleppseil… an ihren Wagen binden und zu Tode schleifen! Einer hat mir in die Rippen getreten! Wenn der Sheriff nicht vorbeigekommen wäre… Es war ganz furchtbar, Edward!« Sie blickte ihn mit ihren verweinten Augen an und schlang ihre Arme um seine Hüften, als wären sie seit vielen Jahren
miteinander vertraut. Er erwiderte die Umarmung zögernd. Seine sanften Hände, die tröstend über ihren Rücken strichen, vertrieben ihre Angst und den Schock. Nach einer Weile löste sie sich von ihm und ordnete nervös ihre Haare. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und beeilte sich das Abschleppseil an ihrem Plymouth zu befestigen. Das andere Ende band er an den Cadillac. »Und Sie sind wirklich okay?«, fragte er. Sie nickte stumm. Edward blieb unschlüssig stehen. Am liebsten hätte er sie noch einmal in die Arme genommen. »Und der Sheriff hat Ihnen nicht geholfen?«, meinte er. »Er hat diese Burschen laufen lassen? Er hat nicht mal Ihren Wagen aus dem Graben gezogen?« »Ich kann froh sein, dass er mich nicht wegen Landstreicherei festgenommen hat«, erwiderte sie bitter. »In Alabama ist noch kein Weißer, der einen Neger geschlagen hat, verhaftet worden!« »In Chicago auch nicht«, sagte er. »Aber das wird sich bald ändern! Haben Sie gehört, was in Montgomery passiert ist? Die Schwarzen haben so lange die Busse boykottiert, bis sie vorn sitzen durften. Die Gesellschaft ging beinahe bankrott! Über achtzig Prozent der Passagiere sind Schwarze! Wir haben mehr Macht, als viele denken! In Montgomery gibt es kaum noch ›Nur für Weiße‹-Schilder! Irgendwann wird es in ganz Amerika so sein, Audrey!« »Nicht in Birmingham, Edward. Hier gibt’s den Ku-KluxKlan und weiße Mistkerle wie diesen Steve und diesen Duncan, die mich überfallen haben! Und wenn es neue Gesetze gäbe, würde niemand sie einhalten. Hier sieht die Polizei tatenlos zu, wenn die Kapuzenmänner unschuldige Schwarze aufhängen! Daran könnten nicht mal Martin Luther King und seine Leute was ändern. Vielleicht ist es auch besser so.« »Wieso?«
»Immer wenn sich was verändert, gibt es Ärger«, wiederholte Audrey die Worte ihres Vaters. »Es gäbe einen jahrelangen Krieg, der viele von uns ruinieren würde. Meine Eltern haben einen Laden, die würden bestimmt nicht mitmachen.« »Und Sie? Sie sind noch jung!« »Soll ich mich deswegen von einem Polizisten zu Tode prügeln lassen? Oder von der Nationalgarde? Unser Polizeichef sieht bestimmt nicht tatenlos zu, wenn es einen Aufstand gibt! Der hetzt die Hunde auf uns, und wenn es hart auf hart geht, lässt er schießen! Ich habe in der Wochenschau gesehen, wie sie den Bus der Freedom Riders mit Benzin übergossen und angesteckt haben! Ein Wunder, dass da jemand heil rausgekommen ist!« »Ich war dabei.« »Wie bitte?« »Ich war dabei«, wiederholte Edward. »Ich war ein Freedom Rider. Ich war in Anniston, als der weiße Mob die Reifen zerstach, und ich war einer der Letzten, die aus dem Bus entkamen, als sie die Brandbombe durch die Hintertür warfen. Ich bin einer von denen, die es nicht ertragen können, dass wir wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Es muss sich was ändern!« Audrey ging einige Schritte auf ihn zu und starrte ihn an. »Sie arbeiten für Martin Luther King, nicht wahr? Sie kommen nach Birmingham, weil hier die nächsten Proteste stattfinden sollen.« »Wir reden später darüber, Audrey«, sagte Edward, als hätte er Angst, dass man ihn hier draußen hören könnte. Er stieg rasch in seinen Cadillac und ließ den Motor an. Im Rückwärtsgang zog er den Plymouth aus dem Graben. Er stieg aus, löste das Abschleppseil, wickelte es zusammen und untersuchte das rechte Vorderrad des Plymouth. »Alles okay«, zeigte er sich zufrieden, »die Achse scheint nichts
abbekommen zu haben.« Er ging zum Cadillac und warf das Abschleppseil in den Kofferraum. »Ich begleite Sie nach Hause, okay? Ich fahre hinter ihnen her.« Er öffnete die Wagentür. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich, Audrey. Ich will nur nicht, dass Ihnen etwas passiert.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Edward. Ohne Sie hätte ich die ganze Nacht hier festgesessen!« Sie stieg in ihren Wagen und blickte aus dem offenen Fenster. »Es sind nur ein paar Meilen!« Der Motor des Plymouth heulte auf und sie steuerte ihn langsam auf die Lichter jenseits der Felder zu. Im Rückspiegel sah sie, dass Edward dicht hinter ihr blieb. Einen Mann wie ihn hatte sie noch nie getroffen. Er trug einen dreiteiligen Anzug wie die Geschäftsleute, die während der Mittagspause aus dem neuen Hochhaus der Bank of Savings kamen, und war doch ganz anders. Sehr nachdenklich und ruhig, aber auch mutig und entschlossen, wenn es um die Gleichberechtigung der Schwarzen ging. Seine Berührung war warm und liebevoll gewesen. Sie schämte sich jetzt noch dafür, ihn wie ein junges Mädchen umarmt zu haben. Doch sie bereute ihr Vorgehen kein bisschen. Er war ein außergewöhnlicher junger Mann und sie hatte jetzt schon Angst, sich für immer von ihm verabschieden zu müssen. Sie bremste leicht, als die ersten Häuser von Birmingham am Straßenrand auftauchten. »The Magic City« stand in großen Lettern über dem Eingang zum Straßentunnel. Sie fragte sich, was an Birmingham magisch sein sollte. Die Stadt war hässlicher als Montgomery und Mobile und lebte von den Stahlwerken, deren Schornsteine wie drohende Finger in den nächtlichen Himmel ragten. Die Lichter einer Bierreklame leuchteten über dem Eingang zu einer Bar. Die Straßen waren leer, als wären die Bewohner vor einer drohenden Katastrophe geflohen, und wenn Audrey daran dachte, warum Edward in
die Stadt gekommen war, erschien ihr dieser Vergleich gar nicht so abwegig. Wenn Martin Luther King und seine Leute in Birmingham waren, stand tatsächlich großes Unheil bevor. Hier würde die Polizei niemals nachgeben und der Ku-KluxKlan würde alles daran setzen, eine mögliche Protestaktion mit allen Mitteln zu unterbinden. Audrey gehörte zur überwiegenden Mehrheit der Schwarzen, die ihr Schicksal geduldig ertrugen. Sie war keine Heldin, spürte keinen Zorn wie Betty Ann, die nur darauf wartete, an einer solchen Protestaktion teilnehmen zu können. Sie nahm die Rassentrennung als etwas hin, das nicht geändert werden konnte, und hatte sich mit der Welt, wie sie in Birmingham aufgeteilt war, abgefunden. Die Weißen lebten in ihrer »Nur für Weiße«-Welt und die Schwarzen in ihrer »Black Community«, die auf einige Straßenzüge, Häuserblocks, Schulen, Läden, Kinos und die hinteren Sitzbänke der Stadtbusse beschränkt war. Jeder hatte seinen Platz, und solange es nicht zu gewalttätigen Aktionen wie in dieser Nacht kam, hatte Audrey nichts dagegen einzuwenden. Ihre Eltern verdienten gut, sie hatte einen Job und es fehlte ihnen an nichts. Sie bog von der Hauptstraße ab und erreichte das schwarze Viertel im Westen der Stadt. In ihrem Rückspiegel leuchteten die Scheinwerfer des Cadillacs. Es war bereits nach Mitternacht und keines der Häuser war noch beleuchtet. Die wenigen Straßenlampen verbreiteten ein trübes Licht und ließen die schmucklosen Wohnblocks und verfallenen Holzhäuser noch armseliger erscheinen. Auf dem Gehsteig vor einem der Apartmenthäuser lag ein umgestürztes Dreirad. Das Haus ihrer Eltern, ein zweistöckiger Bau aus solidem Stein, den ihr Vater eigenhändig verputzt hatte, lag hinter einem der eingezäunten Sportplätze, zwischen einem mehrstöckigen Wohnblock und einer Tankstelle. Über dem Schaufenster ihres
Gemischtwarenladens hingen Coca-Cola-Reklametafeln. Sie parkte vor dem Eingang und griff nach ihrer Handtasche. Beim Aussteigen spürte sie ihre geprellten Rippen und sie musste sich mit dem Rücken gegen die Wagentür lehnen, bis der Schmerz nachließ und sie wieder atmen konnte. »Alles in Ordnung?«, fragte Edward besorgt. Er war aus seinem Cadillac gestiegen und hielt den Zündschlüssel in der Hand. »Soll ich nicht doch lieber einen Arzt rufen? Wer weiß, wie schwer diese Mistkerle Sie erwischt haben! Soll ich Ihre Eltern wecken?« Audrey konnte schon wieder lächeln. »Nein, nein, ich hab nur vergessen, dass ich mich nicht so ruckhaft bewegen darf.« Sie verschloss die Wagentür. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Edward! Das war sehr freundlich von Ihnen! Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte. Nächstes Mal fahre ich früher nach Hause.« Edward war mit seinen Gedanken längst woanders. »Hören Sie, Audrey«, meinte er, »wenn ich Sie vorhin erschreckt habe, tut es mir Leid. Ich hätte daran denken sollen, dass Birmingham ein gefährliches Pflaster ist. Hier haben die Menschen besonders große Angst. Ich hätte es Ihnen vielleicht etwas vorsichtiger beibringen sollen. Martin Luther King und seine Leute kommen tatsächlich hierher. Sie wollen eine große Protestaktion starten, um der Rassentrennung endgültig den Kampf anzusagen. Die Schwarzen sind es leid, Menschen zweiter Klasse zu sein! Sie müssen endlich aus ihrer Gleichgültigkeit erwachen und für ihre Rechte kämpfen!« »Und wie soll das gehen?«, fragte Audrey leise. »Sollen wir uns Kutten überstülpen und gegen den Klan in den Krieg ziehen? Sollen wir mit Knüppeln und Steinen gegen die Polizei vorgehen? Mit der gewaltlosen Methode kommen Sie in Birmingham nicht weit. Was in Montgomery oder Albany
funktioniert hat, geht hier noch lange nicht! Hier verstehen die Weißen keinen Spaß!« »Das weiß ich, Audrey. Das wissen wir alle. Aber wir dürfen nicht länger zusehen, wie Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe zu niederen Wesen abgestempelt werden. Die Freiheit ist das höchste Gut des Menschen und es ist unsere Pflicht, dafür zu kämpfen. Sie brauchen keine Angst zu haben, Audrey! Wir werden auch in Birmingham auf jegliche Gewalt verzichten und Sie werden sehen, dass wir stark genug sind, um auch einen Gouverneur Wallace oder einen Polizeichef Bull Connor zu überzeugen. Liebe ist stärker als Hass. Wir kämpfen nicht gegen die Weißen, sondern gegen das Böse. Das Ziel unserer Aktionen ist es, mit den Weißen in Frieden und Freundschaft zu leben. Deshalb verzichten wir auf jegliche Gewalt. Nur wer Liebe sät, kann Liebe ernten. So ähnlich steht es schon in der Bibel. Ich weiß, ich höre mich wie ein Prediger an, aber mir liegt sehr viel daran, dass Sie mich verstehen. Sie haben Angst, das ist ganz natürlich. Ich weiß, dass es für viele Schwarze bequemer wäre, alles so zu lassen, wie es ist. Doch eine innere Stimme sagt mir, dass wir die Ungerechtigkeit auf dieser Welt nicht länger hinnehmen dürfen. Ich war bei den Freedom Riders, obwohl mir klar war, dass ich mein Leben aufs Spiel setze. Ich wollte der ganzen Welt zeigen, wie die Schwarzen im amerikanischen Süden behandelt werden. Wir dürfen jetzt nicht aufgeben, Audrey!« Er merkte, wie sehr er sie mit seinem langen Vortrag verwirrt hatte, und lächelte schwach. »Darf ich Sie wiedersehen, Audrey?« Nach seiner Predigt hatte sie eine solche Frage nicht erwartet. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Um mir von Martin Luther King und seinem gewaltlosen Protest gegen die Weißen zu erzählen? Oder soll das eine Einladung zu einem Date sein?«
»Beides«, räumte er mit einem unsicheren Lächeln ein. »Wir könnten zusammen ins Kino gehen! Oder einfach nur in der Gegend rumfahren. In meinem Cadillac ist genug Platz. Ich hab ihn von meinem Großvater geerbt, ein ziemlich betagter Schlitten, und immer wenn ich bremse, quietscht er wie eine alte Dampflok, aber die Sitze sind bequem und das Radio funktioniert auch noch. Darf ich Sie abholen, Audrey? Sagen wir, um sechs Uhr?« Audrey lächelte zurück. »Aber nur, wenn Sie mir versprechen, nicht den ganzen Abend über Politik zu sprechen!« Sie gab ihm die Hand. »Also abgemacht, Edward! Morgen Abend um sechs!«
3
Audrey blieb vor der Haustür stehen und wartete, bis der Cadillac auf die Fourth Avenue abgebogen war. Das Motorengeräusch verlor sich in dem geschäftigen Lärm, der wie eine Dunstglocke über der Hauptstraße des schwarzen Viertels hing. Sobald die schwarzen Geschäftsleute ihre Firmen und Läden verließen, öffneten die Nachtlokale und Zuhälter und leichte Mädchen bevölkerten die Gehsteige. Nur eine Straße weiter regierte der Rat Killer in seinem Shoeshine Parlor, ein skrupelloser Geschäftemacher, der sich hinter der Fassade seines Schuhputzbetriebs versteckte und an fast allen schmutzigen Geschäften im Rotlichtbezirk beteiligt war. Selbst weiße Männer sollten zu seinen Kunden gehören. »Wo Armut herrscht, hat die Moral wenig Platz«, hatte ihr Vater einmal gesagt, obwohl er bedauerte, dass sein Laden nicht an der Hauptstraße lag. Dort wäre das Geschäft besser gegangen. Seiner Tochter hatte er verboten, sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Fourth Avenue sehen zu lassen. Sie öffnete die Tür und blieb in dem dunklen Hausflur stehen. Im Parterre lagen der Laden und das dazugehörige Lager, im ersten Stock wohnten ihre Eltern und ihre beiden Brüder, der vierjährige Robin und der sechsjährige Napoleon. Ihre Schwester, die zwölfjährige Alberta, hatte ein Zimmer im zweiten Stock, neben der kleinen Wohnung, die Audrey sich eingerichtet hatte. Obwohl die Türen keine Fenster hatten, verzichtete sie darauf, das Flurlicht einzuschalten. Zögernd betrat sie die hölzerne Treppe. Fast jede Stufe knarrte und es gab keine Möglichkeit, lautlos in den zweiten Stock zu steigen.
Dennoch hoffte sie, unbemerkt an der Wohnung ihrer Eltern vorbeizukommen. Durch das kleine Fenster im ersten Stock fiel schwaches Licht. Das Knarren der brüchigen Stufen hallte unheilvoll durch das schmale Treppenhaus. Sie hatte gerade den ersten Absatz erreicht, als die Wohnungstür ihrer Eltern aufging und ihre Mutter in den Lichtschein trat. Sie war eine kräftige Frau mit ausdrucksvollem Gesicht und lebhaften Augen. Ihr geblümtes Nachthemd reichte bis auf den Boden. »Audrey, bist du das?« Ihren Namen nannte Nellie Jackson nur, wenn sie besorgt oder wütend war, sonst sagte sie »Honey« oder »Baby« zu ihrer Tochter. »Ja, Mom«, erwiderte Audrey schuldbewusst. »Es ist ein bisschen später geworden. Du weißt doch, wie das ist, wenn Betty Ann und ich zusammen sind. Wir haben gar nicht gemerkt, wie es dunkel wurde.« Sie spürte ihre schmerzenden Rippen und hielt sich am Geländer fest. »Ich wollte euch nicht wecken, Mom.« »Ich habe nicht geschlafen, Audrey.« In ihrer Stimme klang leichter Ärger, aber auch Sorge mit. »Wo warst du so lange? Wir haben uns schon Sorgen gemacht! Es ist gleich halb eins!« »Ich weiß, Mom. Ich hab zu spät auf die Uhr gesehen.« »Ich hab gedacht, es wäre was passiert!« Audrey ließ das Geländer los und verzog das Gesicht. Immer wenn sie sich in eine bestimmte Richtung bewegte, wurde der Schmerz stärker. Duncan hatte ganze Arbeit geleistet. Sie versuchte den Schmerz vor ihrer Mutter zu verbergen und senkte den Kopf. Die blauen Flecken würden tagelang zu sehen sein. »Was ist mit deinem Kleid?«, fragte ihre Mutter scharf. »Was soll damit sein?« Sie blickte an sich hinunter und erschrak, als sähe sie die Risse und den Schmutz zum ersten
Mal. »Ach, das! Ich… ich bin gefallen, Mom. Das krieg ich wieder hin.« »Lüg mich nicht an, Audrey!« Audrey begann zu weinen. »Ich… ich bin überfallen worden, Mom! Diese Kerle… sie haben mich aus dem Auto gezogen und wollten mich… sie wollten mich umbringen, Mom! Der eine hat mich getreten! Wenn die Polizei nicht gekommen wäre… Der Deputy hat sie weggejagt… Er hat sie nicht mal festgenommen!« Nellie Jackson kam die Treppe herunter und nahm ihre Tochter in die Arme. Ihr Blick war voller Fürsorge. »Warum sagst du das nicht gleich, Baby?« Sie wischte ihr die Tränen vom Gesicht und fragte besorgt: »Sie haben dich doch nicht…« Sie blickte auf das schmutzige Kleid und blickte sie in aufkommender Panik an. »Sag mir die Wahrheit, Baby! Haben sie dich unsittlich berührt?« »Nein, Mom.« »Du sollst die Wahrheit sagen!« »Sie haben mich nicht vergewaltigt, Mom!« Audrey hatte ihre Fassung wiedergefunden und löste sich von ihrer Mutter. »Sie wollten mich zu Tode schleifen! Wenn der junge Mann nicht…« »Welcher junge Mann?«, erklang die dunkle Stimme ihres Vaters. Er war unbemerkt in der Tür erschienen und blickte auf seine Frau und seine Tochter hinab. Mit seinem kantigen Gesicht und den funkelnden Augen wirkte er strenger, als er in Wirklichkeit war. »Was ist passiert, Audrey? Wo warst du die ganze Zeit?« »Zwei Weiße haben sie überfallen«, sagte Nellie Jackson, bevor Audrey antworten konnte. »Aber es ist nichts passiert, Honey, nicht wahr?« Sie blickte ihre Tochter an. Audrey nickte stumm und wagte nicht ihrem Vater in die Augen zu sehen. »Der Sheriff hat die Burschen vertrieben.« Ihre Mutter
lächelte schwach. »Es ist alles in Ordnung, Emory! Der Sheriff war rechtzeitig da! Ein heißes Bad und unser Baby ist wieder okay! Stimmt’s, Honey?« »Ja, Mom«, sagte Audrey gehorsam. Emory Jackson brauchte einige Zeit, um die Nachricht zu verdauen. Er setzte mehrmals zu einer Antwort an, bevor er hilflos die Arme hob und seiner Tochter vorwarf: »Wie oft hab ich dir gesagt, nicht bei Dunkelheit durch die Gegend zu fahren! Warum hörst du nicht auf mich? Du weißt doch, dass die Klansmänner unterwegs sind! Die machen auch vor einem Mädchen nicht Halt!« »Ich weiß, Daddy! Ich weiß! Ich hätte früher losfahren sollen.« Sie sah ihn noch immer nicht an. »Aber es ist ja noch mal gut gegangen. Edward hat mich nach Hause begleitet, ein junger…« »Edward? Wer ist Edward?«, unterbrach ihr Vater sie. »Edward Hill«, antwortete sie schüchtern. »Ein junger Mann, ein paar Jahre älter als ich. Er kam zufällig vorbei, als die Weißen weg waren. Er hat mir geholfen, den Plymouth aus dem Graben zu ziehen. Dem Wagen ist nichts passiert, Daddy! Edward hat mich nach Hause begleitet. Er arbeitet für Martin Luther King…« »Auch das noch!«, stöhnte ihr Vater. »Dann stimmt es also doch! Martin Luther King und seine Leute sind in Birmingham und wollen hier die gleiche Aktion wie in Montgomery und Albany durchziehen. Das hat uns gerade noch gefehlt!« Er blickte seine Tochter an. »Sag bloß, er hat versucht, dich mit reinzuziehen?« »Emory!«, mischte sich Nellie Jackson ein. »Das spielt doch jetzt wirklich keine Rolle! Deine Tochter kann von Glück sagen, dass die weißen Männer sie nicht zu Tode geprügelt haben! Wie kannst du da mit so etwas anfangen? Hauptsache,
der junge Mann hat dafür gesorgt, dass sie sicher nach Hause kommt!« »Ich möchte wissen, mit wem meine Tochter ausgeht!«, blieb Emory Jackson stur. »Solange sie ihre Beine unter meinen Tisch streckt, habe ich ein Recht dazu! Und wenn dieser dahergelaufene Jüngling glaubt, meine Tochter zu einem Sit-in überreden…« »Emory!«, rief Nellie Jackson noch einmal. »Darüber können wir morgen reden. Du siehst doch, wie sehr Audrey unter der Sache leidet!« Sie senkte ihre Stimme. »Außerdem weckst du die Kinder auf!« »Okay, okay, ich geh ja schon!«, meinte Emory Jackson aufgebracht und verschwand in der Wohnung. »Aber morgen möchte ich wissen, was es mit diesem… diesem Edward auf sich hat!« Nellie Jackson lächelte hintergründig. »Dein Vater meint es nicht so«, tröstete sie ihre Tochter. »Er macht sich Sorgen, das ist alles! Er hat Angst um dich! Und ich ehrlich gesagt auch!« Ihre Miene wurde ernst. »Und du bist sicher, dass dir nichts passiert ist? Wenn du willst, rufe ich den Doktor. Doc Snyder kommt auch nachts, wenn es sein muss. Hast du große Schmerzen, Baby?« »Es geht schon, Mom. Nur ein paar blaue Flecken.« »Kannst du morgen arbeiten?« »Es ist nicht schlimm, Mom.« Audrey sagte ihrer Mutter gute Nacht und stieg in den zweiten Stock hinauf. Vor ihrer Tür blieb sie stehen und wartete, bis ihre Mutter das Licht gelöscht und den Flur verlassen hatte. Erleichtert betrat sie ihre Wohnung. Aus dem Zimmer ihrer Schwester drang leises Schnarchen. Sie ging in die Küche, zog die Milchflasche aus dem Kühlschrank und nahm einen tiefen Schluck. Mit der Flasche in der Hand trat sie ans Fenster und blickte hinaus.
Die Straße lag verlassen im trüben Licht der Lampen. Selbst die Tankstelle war geschlossen. Ein herrenloser Hund stöberte in den Abfallbeuteln vor einem Apartmenthaus und rannte jaulend davon, als er mit der Schnauze in einige Glasscherben stieß. Der leichte Wind trieb eine alte Zeitung über den Gehsteig. Sie verfing sich hinter der Stoßstange eines aufgebockten Lieferwagens, segelte zu Boden und flatterte in einen Hauseingang. Audrey trank den Rest der Milch und stellte die leere Flasche auf die Fensterbank. Ohne den Blick von der Straße zu nehmen zog sie ihre Strickjacke aus. Sie blickte dem Hund nach, der in einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern verschwand, und seufzte unterdrückt. Wie begrenzt ihre Welt doch war! Sie reichte von der Fourth Avenue bis zum Busbahnhof, dahinter begannen die Geschäftsviertel der Weißen. Beide Welten waren durch unsichtbare Grenzen voneinander getrennt. Bereits in der Innenstadt war sie eine Fremde, betrachteten die Weißen sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Abscheu, so wie man eine Ziege betrachten würde, die sich ins Wohnhaus verirrt hatte. Seit dem Bürgerkrieg vor hundert Jahren hatte sich kaum etwas verändert. Zwar gab es keine Sklavenhalter und Aufseher mehr, doch die strengen Gesetze und die Bürokratie, die während der so genannten Reconstruction nach dem Ende des Bürgerkriegs gekommen waren, verhinderten die von Präsident Abraham Lincoln geplante Befreiung der Schwarzen. Der Süden wehrte sich mit aller Macht gegen die »Ausbeuter« aus dem Norden und sorgte mit Privatarmeen und Geheimbünden dafür, dass die »verdammten Nigger« auf der untersten gesellschaftlichen Stufe blieben. Wie jedes schwarze Mädchen kannte auch Audrey die Geschichte des Ku-Klux-Klan. Ihr Vater hatte ihr beizeiten von den vermummten Klansmännern erzählt und sie schon als
kleines Kind vor ihren Überfällen gewarnt. Im Moment war der KKK, wie der Geheimbund auch genannt wurde, stärker denn je. Die Protestmärsche, Boykotte und Sitzstreiks der Schwarzen waren den meisten Weißen im Süden ein Dorn im Auge und die Klansmänner brauchten sich nicht einmal zu verstecken. Wenn sie einen Schwarzen verprügelten oder umbrachten, mussten sie keine Strafe befürchten. Das Gesetz war auf ihrer Seite. Am schlimmsten war Gouverneur Wallace. Er hatte sich nach seiner Amtseinführung auf die Stufen des Kapitols gestellt und lautstark die Rassentrennung befürwortet. Audrey erinnerte sich noch genau an seine Worte: »Rassentrennung jetzt! Rassentrennung morgen! Rassentrennung für immer!« Eine bewusste Abwandlung des Ku-Klux-Klan-Mottos: »Hier gestern! Hier morgen! Hier für immer!« Audrey ging ins Bad und duschte gründlich, als könnte sie die Erinnerung an die Worte des Gouverneurs und die furchtbaren Geschichten, die über den Klan im Umlauf waren, aus ihrem Gedächtnis waschen. In Montgomery hatten sie eine weiße Frau und einen elfjährigen schwarzen Jungen aus einem Auto gezerrt und so schwer verletzt, dass der Junge einen Tag später gestorben war. Die Frau, eine zwanzigjährige Jüdin, die während des Busstreiks geholfen hatte, die schwarzen Kinder zur Sonntagsschule zu bringen, lag ein halbes Jahr im Krankenhaus und litt noch Monate später unter den Verletzungen. Nachdem sie in ihr Zimmer zurückgekehrt und ihr Nachthemd angezogen hatte, setzte Audrey sich auf den Bettrand. Sie stützte den Kopf in die Hände und versuchte vergeblich die quälenden Gedanken zu vertreiben. Das schreckliche Erlebnis auf dem Highway, das Treffen mit ihrer Freundin und die Begegnung mit Edward ließen Bilder aus ihrem Bewusstsein aufsteigen, die sie längst verdrängt hatte.
Sie erinnerte sich, die Freedom Riders im Fernsehen gesehen zu haben. Allein der Gedanke, dass ihr neuer Freund in dem Bus gewesen war, den die aufgebrachten Weißen überfallen hatten, trieb ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Die Bilder waren auf den Titelseiten der großen Zeitungen gewesen und um die ganze Welt gegangen: der brennende Bus auf dem Highway, der von der johlenden Menge vor Anniston aufgehalten und mit einer Brandbombe ausgeräuchert worden war. Die weißen Männer im Busbahnhof von Birmingham, die einige der Passagiere krankenhausreif geschlagen hatten. Einer der Passagiere musste mit fünfzig Stichen genäht werden, ein anderer blieb sein Leben lang gelähmt. Die Polizei erschien eine halbe Stunde später und machte keine Anstalten, die Täter zu verhaften. Polizeichef Bull Connor sagte, seine Männer seien wegen des Muttertags nicht am Busbahnhof gewesen. Betty Ann glaubte, dass die Polizei und der Ku-Klux-Klan gemeinsame Sache machten. »Die stecken alle unter einer Decke!«, schimpfte sie. »Aber wir werden dennoch siegen! Unser Protest wird sie in die Knie zwingen!« Audrey löschte das Licht und legte sich ins Bett. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit. Bisher hatte sie sich kaum mit den Protestaktionen der Schwarzen beschäftigt. In ihrer kleinen Welt fühlte sie sich einigermaßen sicher. Erst an diesem Abend hatte sich einiges verändert. Sie hatte einen jungen Mann getroffen, der mit Martin Luther King zusammenarbeitete. Einen Freedom Rider, der sie nicht nur wegen seiner politischen Aktivitäten durcheinander brachte. Mit dem Gedanken an sein verschmitztes Lächeln schlief sie ein.
4
Die Ullman High School gehörte zu den wenigen weiterführenden Schulen, die es für schwarze Kinder in Birmingham gab, ein schmuckloses Gebäude im schwarzen Viertel mit einem eingezäunten Schulhof und einem Sportplatz. Audrey nahm den Bus und setzte sich auf eine der hinteren Bänke, obwohl außer dem Fahrer kein einziger Weißer zu sehen war. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, was wohl passieren würde, wenn sie sich auf eine der vorderen Bänke setzte. Würde der Fahrer anhalten und die Polizei rufen? Würde man sie ins Gefängnis sperren so wie Rosa Parks in Montgomery? Auf dem Schulhof wartete ein Lehrer und forderte die Kinder auf, sich in der Eingangshalle zu versammeln. »Beeilt euch!«, rief er ihnen ungeduldig zu. »Der Direktor hat euch etwas zu sagen!« »Hallo, John!«, begrüßte Audrey ihn erstaunt. »Was ist denn los?« »Wirst du gleich hören«, erwiderte John Glenn, der Englischlehrer. Anscheinend wollte er die Kinder nicht erschrecken. Er blickte an Audrey vorbei, als hätte er Angst vor einem unwillkommenen Besucher, und bedeutete ihr, so schnell wie möglich ins Schulhaus zu gehen. »Beeil dich! Der Chef wartet auf dich!« Claude A. Wesley, der Direktor der Ullman High School, stand auf einem Podest in der Eingangshalle und gestikulierte aufgeregt, als sie die Halle betrat. »Morgen, Chef«, begrüßte sie ihn nervös. Sie deutete auf die vielen Kinder, die
erwartungsvoll herumstanden oder auf den Treppen saßen. »Ist was passiert?« Der Direktor, ein stämmiger Mann mit einem breiten Gesicht, überhörte ihre Frage. »Gut, dass Sie kommen, Audrey! Kümmern Sie sich um Cynthia, ja? Sie sitzt da drüben auf der Treppe. Sie hat mitbekommen, was passiert ist, und weint die ganze Zeit!« Cynthia Dianne war die Adoptivtochter des Direktors, ein vierzehnjähriges Mädchen mit großen Augen und einer hellgrünen Schleife im dichten Haar. Sie war kleiner als die meisten anderen Mädchen ihres Alters und sah jünger aus. »Hallo, Cynthia!«, begrüßte Audrey sie betont fröhlich. »Darf ich mich zu dir setzen?« Das Mädchen blickte auf und rückte wortlos zur Seite. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen und ihre Nase tropfte. Audrey reichte ihr ein Taschentuch und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Sieht so aus, als wollte dein Vater eine Rede halten!« Claude A. Wesley stand auf seinem Podest und bat die Kinder um Ruhe. Ein rascher Blick überzeugte ihn davon, dass Audrey neben seiner Tochter saß. »Guten Morgen«, begrüßte er die Kinder ernst, und ohne auf eine Erwiderung seines Grußes zu warten, fuhr er fort: »Ich hab euch in die Halle kommen lassen, um euch etwas Wichtiges mitzuteilen. Wie ich erfahren habe, hat gestern ein Treffen des Ku-Klux-Klan in West End stattgefunden.« Jeder Schüler kannte den Geheimbund und schreckte allein bei der Erwähnung seines Namens zusammen. »Die Klansmänner wollen heute Mittag durch die Innenstadt marschieren! Ich glaube nicht, dass sie sich ins schwarze Viertel wagen, aber ich möchte euch dennoch bitten, das Schulhaus nicht zu verlassen. Nicht einmal während der Pause. Es ist zu gefährlich! Bleibt bitte in euren Klassenzimmern und gehorcht euren Lehrern! Bis heute
Nachmittag wissen wir, ob es sicher ist, den Bus nach Hause zu nehmen!« Seinen Worten folgte eine betretene Stille. Die Kinder wussten, wie es ihnen ergehen würde, wenn sie den Klansmännern in die Hände fielen. Cynthia klammerte sich an Audrey. »Ich hab Angst!«, sagte sie. »Der Klan will sich an uns rächen, weil wir Martin Luther King und seine Leute nach Birmingham gerufen haben!« »›Das gibt Krieg!‹, hat mein Vater gesagt!« Sie blickte Audrey ängstlich an. »Bringen sie mich um, Audrey? Töten sie mich, weil ich die Tochter des Direktors bin?« »Unsinn«, beruhigte Audrey das Mädchen, »gerade weil du die Tochter des Direktors bist, werden sie nicht wagen dir etwas anzutun!« »Und was ist mit Sarah Lee?«, fragte Cynthia besorgt. »Sie ist nicht in die Schule gekommen! Meinst du, der Klan hat sie erwischt? Ihr großer Bruder ist letztes Jahr von den Klansmännern verprügelt worden! Sie hat Angst, dass sie ihn noch einmal überfallen! Was ist, wenn sie Sarah Lee entführt haben, um ihren Bruder aus dem Haus zu locken?« »Sarah Lee? Sarah Lee Thornton?«, fragte Audrey. Sie erinnerte sich an ein schmächtiges Mädchen mit langen Zöpfen. »Und sie ist heute nicht in die Schule gekommen? Sie ist bestimmt krank. Ich bin sicher, ihre Mutter hat angerufen und sie entschuldigt.« »Gestern war sie noch gesund«, meinte Cynthia. »Ich erkundige mich, ja?«, versprach Audrey dem Mädchen und schob es ins Klassenzimmer. »Und jetzt ab in den Unterricht! Sonst verpasst du noch deine Englischstunde!« Sie wartete, bis die Tür hinter Cynthia zugefallen war, und ging ins Büro. Dort suchte sie die Nummer der Thorntons heraus. Sie wählte und ließ es mehrmals klingeln. »Hat Mrs. Thornton bei
Ihnen angerufen, Chef?«, fragte sie den Direktor, als er hereinkam. »Sarah Lee ist nicht in die Schule gekommen!« »Sarah Lee Thornton?«, wunderte sich Claude A. Wesley. »Nein, hier hat niemand angerufen. Sind Sie ganz sicher, dass sie nicht erschienen ist? Sie kommt mit dem Schulbus, wissen Sie?« »Cynthia hat sie nicht gesehen.« Der Direktor nickte. »Die beiden sind befreundet. Ihr Bruder ist kurz vor Weihnachten vom Klan überfallen worden. Er kann von Glück sagen, dass sie ihn nicht umgebracht haben. Aber davon haben Sie sicher gehört.« Er seufzte leise, als er daran dachte, wie die Mutter des Mädchens tränenüberströmt bei ihm in der Sprechstunde gesessen hatte. »Haben Sie bei ihr angerufen?« »Gerade eben. Es meldet sich niemand.« »Dann sind sie bestimmt auf dem Acker«, versuchte der Direktor sich selbst zu beruhigen. »Die Thorntons haben eine Farm.« »Im Februar?«, fragte Audrey verwundert. Claude A. Wesley gab sich einen Ruck. »Sie haben Recht, Audrey. Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen. Es ist gut möglich, dass ihnen etwas passiert ist. Ich fahre bei ihnen vorbei.« »Sie können hier nicht weg«, hielt Audrey den Direktor zurück, »die Kinder würden nur Angst bekommen, wenn sie nicht mehr hier sind. Und die Lehrer müssen auch bleiben. Ich fahre!« »Das lasse ich nicht zu! Es ist viel zu gefährlich!« Audrey hütete sich von den Ereignissen der letzten Nacht zu berichten. Sie versuchte tapfer ihre Angst zu verbergen. »Ich nehme die Hauptstraße, da begegne ich den Klansmännern bestimmt nicht. Wenn Sie mir den Pick-up geben und ich mir ein Kopftuch umbinde, hält mich jeder für eine Farmersfrau.«
»Okay, meinetwegen. Aber meiden Sie die Innenstadt und fahren Sie bloß nicht über irgendwelche Feldwege! Wer weiß, wo sich die Kuttenträger überall verstecken!« Er lächelte zaghaft. »Ich würde gern dabei sein, wenn die Klansmänner vor dem Jüngsten Gericht stehen! Was meinen Sie, was Gott zu ihnen sagt?« »Ich glaube nicht, dass Gott sie empfangen wird.« »Da haben Sie Recht«, meinte der Direktor. Audrey ließ sich den Schlüssel des Pick-ups geben und verließ das Schulhaus durch den Hintereingang. Der Kleinlastwagen stand neben dem Chevy des Direktors auf dem Parkplatz. Sie stieg ein, band sich das Kopftuch seiner Frau um, das auf der Rückbank lag, und brauste davon. Mit klopfendem Herzen lenkte sie den Wagen aus dem schwarzen Viertel hinaus. Über den Highway 31 fuhr sie durch das hügelige Farmland nach Norden, weitab vom gefährlichen Bessemer Highway und der Straße zum Flughafen, an der das Büro der Eastview Klavern lag. So hieß das Hauptquartier des Ku-Klux-Klan in Birmingham. Über den Feldern stieg die Sonne empor. An jedem anderen Morgen hätte sich Audrey über die leuchtenden Wiesen und das silberne Glitzern des Flusses gefreut. Einige Kühe standen gelangweilt vor einem Futtertrog und blickten nicht einmal auf, als sie an ihnen vorbeifuhr. Vor einer Scheune grasten Pferde. Das Coca-Cola-Schild über dem Eingang eines einsamen Ladens spiegelte das Sonnenlicht. Auf der Veranda saß ein weißer Mann im Schaukelstuhl. Ein gefleckter Hund schlief zu seinen Füßen. Der trügerische Anblick eines ländlichen Friedens, den es nur für die weiße Bevölkerung gab. Die Angst um Sarah Lee beherrschte ihr ganzes Denken und ließ wenig Raum für eigene Sorgen. Nur einmal, als sie von zwei Farmarbeitern in einem Pick-up überholt wurde, dachte sie an die weißen Männer, die sie überfallen hatten. Duncan
und Steve, sie würde die Namen niemals vergessen. Sie hatte selten so viel Hass in den Augen eines Menschen gesehen wie bei Steve. Er war der Anführer. Duncan war ein dummer Junge, der seine schmutzigen Fantasien auslebte. Wenn morgen jemand auf Frauen mit roten Haaren schimpfte, würde er sich eine »rote Hexe« schnappen. Aber er war gefährlich und schreckte nicht vor Mord zurück. Sie blickte in den Rückspiegel und rückte das Kopftuch zurecht. Die beiden Kerle würden sich bestimmt nicht durch ihre Verkleidung täuschen lassen. Ihre Hände verkrampften sich um das Lenkrad und sie schloss für einen winzigen Moment die Augen. Warum hatten die Eltern von Sarah Lee nicht angerufen? Wo war das Mädchen? Sie fuhr schneller und bog auf den schmalen Feldweg ab, der zum Farmhaus der Thorntons führte. Es lag verlassen zwischen einigen Bäumen. In einem Pferch grunzten Schweine. Hühner stoben gackernd auseinander, als sie auf den Hof fuhr und aus dem Pick-up sprang. »Mr. Thornton!«, rief sie, noch bevor sich die Staubwolke gelegt hatte. »Sarah Lee!« Außer dem Bellen eines Hundes, der neben dem Hühnerstall lag und gleich wieder verstummte, erhielt sie keine Antwort. Sie näherte sich zögernd dem Haus und öffnete das Fliegengitter. »Mr. Thornton! Ich bin’s, Audrey Jackson von der Ullman High School! Wo sind Sie?« Sie öffnete die Tür und blieb abwartend stehen. Ihre Augen suchten den einzigen Raum der armseligen Hütte ab. Die Thorntons waren nicht zu Hause. Sie blickte hinter die Vorhänge der beiden Schlafquartiere, eines für die Eltern, das andere für Sarah Lee und ihren Bruder, und sah, dass die Betten nicht gemacht waren. »Mr. Thornton! Mrs. Thornton! Sarah Lee! Michael! Sie brauchen keine Angst zu haben! Ich bin’s, Audrey Jackson! Der Direktor schickt mich! Wir machen uns Sorgen um Sarah Lee! Sie ist nicht in der Schule!«
Audrey trat an den gusseisernen Herd und betrachtete die schmutzige Pfanne. Sie war an diesem Morgen gebraucht worden. Auf dem Küchentisch standen eine Schüssel mit Haferbreiresten und leere Kaffeebecher. Die Thorntons hatten gefrühstückt und Mrs. Thornton war nicht mehr dazu gekommen, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu waschen. Die Schultaschen der beiden Kinder lagen auf dem Boden. Aber es gab keine Anzeichen dafür, dass Fremde im Haus gewesen waren und die Thorntons gewaltsam verschleppt hatten. »Mr. Thornton!«, rief sie noch einmal. »Vertrauen Sie mir! Ich bin Audrey Jackson!« Wenige Meter von Audrey entfernt tat sich der Boden auf. Eine Klapptür schwang langsam nach oben und das Gesicht von Alex Thornton erschien in der Öffnung. In seinen Augen stand Furcht. Sein schmaler Oberlippenbart zitterte. Er war ein eher schmächtiger Mann mit einem schmalen Gesicht und ausgeprägten Wangenknochen. Er trug einen Overall und eine Baseballmütze. »Audrey Jackson«, meinte er heiser. »Sind Sie allein?« Audrey war erleichtert. »Mr. Thornton! Gott sei Dank! Wir dachten schon, Ihnen wäre etwas passiert! Sie haben nicht angerufen!« Sie deutete auf das Telefon. »Abgehoben haben Sie auch nicht!« In ihrer Stimme lag kein Vorwurf. »Wo ist Sarah Lee? Sie ist nicht in die Schule gekommen! Es geht ihr doch gut oder?« Alex Thornton kletterte aus seinem unterirdischen Versteck. Hinter ihm erschienen seine Frau und seine Kinder. Sarah Lee zitterte vor Angst und klammerte sich an den langen Rock ihrer Mutter. Auch ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Sarah Lee bleibt heute zu Hause«, sagte der Farmer. Er wirkte etwas verlegen, schien sich dafür zu schämen, vor lauter Angst in ein Versteck gekrochen zu sein. »Wir waren wegen Mike da unten«, erklärte er. »Wir hatten Angst, dass die Klansmänner
kommen und ihn noch mal… verprügeln.« Audrey blickte in das Verlies hinab und erkannte einen Jungen im Rollstuhl. Alex Thornton blickte auf seinen Sohn und versprach: »Ich bin gleich bei dir, Michael, okay?« Audrey spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte. »Tut mir Leid das mit Ihrem Sohn, Mr. Thornton!« Sie verdrängte den Gedanken, dass sie einem solchen Schicksal nur um Haaresbreite entgangen war. Auch sie hätte im Rollstuhl enden können. »Soll ich Ihnen helfen, Michael aus dem Versteck zu heben?« »Das schaffen wir schon«, winkte Alex Thornton ab. In seiner Stimme klang Verbitterung mit. Er blickte zur Tür und versteckte seine Angst hinter einer mürrischen Miene. »Tut mir Leid, dass Sie zu uns rausfahren mussten, Audrey. Meine Frau wollte nicht, dass ich ans Telefon gehe. Stimmt’s, Martha?« Martha Thornton nickte zaghaft. »Der Klan, wissen Sie? Ein Freund aus Birmingham hat uns gewarnt. Die Klansmänner haben die ganze Nacht in einer Bar gefeiert und wollen heute marschieren!« Er blickte wieder auf seinen Sohn. »Ich will nicht, dass noch was passiert!« »Das verstehe ich, Mr. Thornton.« Audrey blickte in das traurige Gesicht des Jungen und hätte ihn gern getröstet, wusste jedoch, dass es keine Worte gab, die seinen Schmerz lindern konnten. »Der Direktor hat sicher Verständnis dafür, dass Sarah Lee heute zu Hause bleibt. Er weiß, dass der Klan marschiert, und hat die Schüler gewarnt. Er ist Ihnen bestimmt nicht böse.« Sie lächelte. »Ich sag ihm, dass sie morgen wieder kommt, okay?« Alex Thornton nickte scheinbar geistesabwesend. Sein Blick war auf die halb offene Tür gerichtet. »Haben Sie die Klansmänner gesehen? Ich glaube, dass sie wieder auf einen Mord aus sind! Wenn sie getrunken haben, sind sie am gefährlichsten!«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, beruhigte Audrey den Farmer. »Soweit ich weiß, bleiben sie in Birmingham. Sie wollen durch die Innenstadt marschieren. Heute Mittag ist alles vorbei.« Martha Thornton löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie ging zum Herd. »Möchten Sie einen Kaffee, Audrey? Ich setze sowieso frisches Wasser auf. Sie bleiben doch?« Audrey schüttelte den Kopf. »Sehr nett von Ihnen, Mrs. Thornton, aber ich muss in die Schule zurück.« Sie verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und gab Sarah Lee einen freundschaftlichen Klaps. »Bis morgen, Sarah Lee! Mach deine Hausaufgaben, ja?« Sie verließ das Haus und stieg in den Pick-up und fuhr auf den Highway zurück. Die Sonne leuchtete auf den Feldern und dem Asphalt und verfing sich in den Bäumen am Straßenrand. Audrey zog ihr Kopftuch tiefer in die Stirn und hielt die Luft an, als ihr ein Lastwagen mit Landarbeitern entgegenkam. Sie standen auf der Ladefläche, Mistgabeln und andere Geräte in den Händen, und beachteten sie kaum. Vor dem Laden mit dem Coca-Cola-Schild schlief der Alte noch immer in seinem Schaukelstuhl. Sein Hund hob neugierig den Kopf, als er ihren Pick-up vorbeifahren hörte. Über die Hauptstraße und ohne den Klansmännern zu begegnen erreichte Audrey die Schule. Sie war froh, als sie den umzäunten Schulhof erreicht hatte und den Pick-up neben dem Eingang parkte. Erleichtert kehrte sie ins Schulhaus zurück.
5
Die Demonstration des Ku-Klux-Klan verlief ohne Zwischenfälle. Wie unheimliche Mönche zogen die vermummten Gestalten durch die Innenstadt und schwenkten Südstaatenflaggen und Sternenbanner. Ihre Kutten leuchteten in der Morgensonne. Die Autofahrer traten bereitwillig auf die Bremse, wenn die Klansmänner eine Kreuzung überquerten, und warteten geduldig, bis die Straße wieder frei war. Sie hatten großen Respekt vor den Männern des Ku-Klux-Klan. Einige Fußgänger schlossen sich dem Protestmarsch an. Obwohl es sich um keine genehmigte Demonstration handelte, blieben die Polizisten neben ihren Streifenwagen stehen und sahen stillschweigend zu. Aus dem Radio erfuhr Audrey wenig über den Protestmarsch. WENN, der schwarze Sender der Stadt, brachte eine Sondersendung über Chuck Berry und hütete sich, die Stimmung gegen den Klan zu schüren. Jede Verunglimpfung hätte eine heftige Reaktion des Geheimbunds zur Folge gehabt und die Radiostation in Gefahr gebracht. Stattdessen beschränkte sich der Discjockey Tall Paul auf die scheinbar harmlose Bemerkung, der Verkehr in der Innenstadt habe sichtbar nachgelassen und es gebe keine Behinderungen. Die Schwarzen verstanden auch so, dass der Klan aus der Innenstadt verschwunden und die Gefahr vorüber war. Audrey war am späten Nachmittag aus der Schule gekommen. Ihre Angst war verflogen. Der Pfarrer einer nahen Kirche hatte in der Ullman High School angerufen und dem Direktor mitgeteilt, dass die Demonstration beendet war und die Klansmänner in die weißen Vororte zurückgekehrt waren.
Die Schulbusse waren ungehindert zur schwarzen High School durchgekommen und die meisten Kinder hatten den Klan auf der Heimfahrt schon vergessen. Audrey war erleichtert. Sie freute sich für die Thorntons, die wieder aus ihrem Versteck kommen und darauf hoffen konnten, dass die Klansmänner sie in Ruhe ließen. Die Kapuzenmänner würden genug damit zu tun haben, sich auf Martin Luther King und seine geplanten Protestaktionen vorzubereiten. Der Stachel, den er den Weißen in Montgomery ins Fleisch getrieben hatte, saß tief. Bei einem Becher Kaffee, den Audrey wie jeden Nachmittag in der Küche trank, warnte ihre Mutter sie eindringlich davor, sich noch weiter mit ihrem neuen Freund einzulassen. »Ich will dir keine Vorschriften machen, Baby, das weißt du hoffentlich«, sagte sie. Ihre Augen waren so klar, dass Audrey ihr Spiegelbild darin sehen konnte. »Aber dein Vater ist nicht gerade glücklich darüber, dass du dich mit diesem jungen Mann triffst. Wir sorgen uns um dich! Denk daran, was gestern Nacht passiert ist! Wenn die Klansmänner erfahren, dass du dich mit einem Mitarbeiter der SCLC triffst, geschieht noch was!« SCLC stand für »Southern Christian Leadership Conference«, die Vereinigung von schwarzen Pfarrern, Lehrern und Rechtsanwälten, die sich für eine Beendigung der Rassentrennung einsetzte und die Aktionen in Montgomery und Albany geleitet hatte. Martin Luther King war ihr Präsident. »Ich weiß, Mom«, beruhigte Audrey ihre Mutter. »Und ich hab bestimmt nicht vor, für Martin Luther King zu arbeiten! Ich bin froh, dass ich meinen Job in der Schule habe! Dort kann ich mehr für die Schwarzen tun als auf der Straße!« Sie dachte an ihren Besuch bei den Thorntons und nahm rasch einen Schluck von ihrem Kaffee, um ihre besorgte Miene zu verbergen. Ihre Mutter brauchte nichts von ihrem morgendlichen Ausflug zu wissen. »Es ist nur… Edward hat
mir geholfen. Ohne ihn hätte ich nicht gewusst, wie ich nach Hause komme! Ich durfte ihm die Verabredung nicht abschlagen!« Sie lächelte und berührte ihre Mutter am Arm. »Es ist kein richtiges Date, Mom! Ich möchte mich nur bei Edward bedanken. Wir wollen ins Kino gehen oder in den Drugstore.« Sie stellte den leeren Becher in den Spülstein. Als sie den zweifelnden Blick ihrer Mutter bemerkte, fügte sie hinzu: »Ich bin kein Baby mehr, Mom! Ich bin neunzehn! Manche Frauen sind in meinem Alter schon verheiratet! Ich weiß, dass Dad gegen Edward ist. Der Junge, der ihm gefällt, muss erst geboren werden!« Nellie Jackson lächelte schwach. »Ich weiß, Honey. Dad will nicht, dass du in dein Unglück rennst, das ist alles.« »Ich will ihn ja nicht heiraten.« »Das geht oft schneller, als man denkt! Weißt du, wie lange Dad und ich uns kannten, als wir heirateten? Ganze sechs Monate! Und du brauchst nicht zu glauben, dass mein Dad anders war! Der brauchte ein Jahr, um sich an Emory zu gewöhnen!« Das Fliegengitter klappte auf, und Audreys Brüder stürmten in die Küche. Der vierjährige Robin deutete wütend auf seinen zwei Jahre älteren Bruder. »Napoleon will mir nicht den Baseball geben, Mom!«, jammerte er. »Ich will auch mal damit spielen!« Napoleon streckte ihm die Zunge raus, und Robin revanchierte sich mit einem schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein. Die beiden begannen eine wüste Rauferei und stießen einen Stuhl um. »Aufhören! Sofort aufhören!«, ging Nellie Jackson dazwischen. Sie trennte die beiden Streithähne und nahm Napoleon den Handschuh und den Baseball ab. »So, die Sachen bleiben im Küchenschrank, bis ihr euch beruhigt habt! Ab nach draußen!«
Die Jungen verschwanden und Audrey verkniff sich mühsam ein Grinsen. Ihre Brüder ließen keinen Tag ohne Rauferei vergehen. Robin beschwerte sich, weil Napoleon lieber mit den älteren Jungen auf der Straße spielte, und Napoleon beklagte sich über die angebliche Bevorzugung seines jüngeren Bruders. Als ob es keine anderen Sorgen gäbe! Aber davon wussten die jungen Schwarzen nichts. Sie wuchsen im schwarzen Viertel auf, nahmen die Rassentrennung wie etwas hin, das Gott geschaffen hatte, und dachten nicht mal daran, für die Gleichberechtigung auf die Straße zu gehen. Selbst Audrey hatte nie einen Gedanken daran verschwendet. Audrey spülte die leeren Becher ab und stellte sie in den Küchenschrank zurück. Das spitzbübische Gesicht ihrer zwölfjährigen Schwester erschien in der Tür. Mit ihren kurzen Locken und in dem ölverschmierten Overall sah sie wie ein Junge aus. »Hey, Audrey!«, grüßte Alberta schnippisch. »Ich hab gehört, du hast einen neuen Freund! Krieg ich dein Zimmer, wenn du heiratest?« »Dummkopf!«, wiegelte Audrey spöttisch ab. »Pass lieber auf, dass sich kein Mädchen an dich ranmacht! Arbeitest du immer noch auf der Tankstelle? Ich dachte, das machen nur Jungen!« »Ich kenn mich mit Autos aus«, widersprach Alberta stolz. »Wenn ich groß bin, übernehm ich die Tankstelle und fahr in einem weißen Cadillac durch die Gegend! Oder in einer Corvette! Dann verdien ich dreimal so viel wie du in deiner blöden Schule!« »Alberta!«, wies Nellie Jackson ihre Tochter zurecht. Audrey verließ lachend die Küche und stieg in den zweiten Stock hinauf. Sie war froh, ihrem Vater nicht begegnet zu sein. Normalerweise half sie ihm um diese Zeit im Laden, packte neue Waren aus oder bediente Kunden. Ihre Mutter hatte ihr erlaubt, in ihrem Zimmer zu bleiben. Sie wusste wohl selber,
wie leicht Emory Jackson in Rage geraten konnte, wenn es um einen neuen Freund seiner Tochter ging, und wollte einen Streit vermeiden. Auch Audrey konnte sehr hitzköpfig sein, wenn man ihr Unrecht tat. »Bis morgen hat er sich beruhigt«, versprach sie. Tall Paul brachte einen Bo-Diddley-Song und ein Interview mit einer schwarzen Köchin aus Atlanta an, deren Soul Food von Martin Luther King und anderen prominenten Männern geschätzt wurde. Ihr gebratenes Huhn schmeckte so köstlich, dass man ihr empfohlen hatte, ein Kochbuch zu veröffentlichen. Audrey lief das Wasser im Mund zusammen, als sie das Rezept hörte. Nachdem sie heiß gebadet und ihre Haare gewaschen hatte, brauchte sie eine halbe Stunde, um sich für ein Kleid zu entscheiden. Dabei hingen nur drei Kleider und zwei Röcke in ihrem Schrank. Sie entschied sich für das grüne Rüschenkleid mit der gelben Rose am Kragen. Auf den breitkrempigen Hut mit den bunten Federn verzichtete sie. Mit einer Kopfbedeckung ließ sie sich nur in der Kirche blicken. Die dauergewellten Haare waren ihr ganzer Stolz und sie hoffte, dass Edward genauso davon angetan war. »Für ein Mädchen, das sich nur bedanken will, brauchst du ganz schön lange«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Natürlich war diese Antwort eine Notlüge gewesen. Ihr Herz klopfte, wenn sie an den jungen Mann aus Chicago dachte, und sie wollte so schön wie möglich aussehen. Sie trug Make-up auf und malte sich die Lippen an. Etwas zu rot vielleicht, aber sie liebte kräftige Farben. Sie schnitt eine Grimasse und verstaute die Schminksachen in einer Schublade. Zufrieden schlüpfte sie in ihre Stöckelschuhe. Im Radio sangen die Drifters, als sie ans Fenster trat und zur Tankstelle hinunterblickte. Ihre Schwester beugte sich über den Motor eines Buick und prüfte den Ölstand.
Pünktlich um sechs Uhr klingelte es. Sie griff nach ihrer Handtasche und ging nach unten. Auf der Treppe hörte sie, wie ihre Mutter die Haustür öffnete und Edward in die Küche bat. Lieber Gott, lass Dad im Laden bleiben, dachte sie. Sie griff sich an die Haare und trat in die Küche. »Guten Abend, Edward!« »Audrey! Sie sehen himmlisch aus!«, erwiderte er. Seine Augen strahlten. Er trug einen knitterfreien Anzug mit dunkler Krawatte und duftete nach Rasierwasser. »Ich hab Ihrer Mutter gesagt, dass sie keine Angst zu haben braucht. Ich werde Sie nicht entführen. Oder vielleicht doch?« Er blickte Mrs. Jackson an und fügte schnell hinzu: »Ich passe gut auf Ihre Tochter auf, Mrs. Jackson. Wir gehen ins Kino und essen Hamburger im Drugstore, wenn Audrey nichts dagegen hat. Um elf ist sie zu Hause!« Nellie Jackson war dem Charme des jungen Mannes längst erlegen. »Sie sind ein aufrichtiger Junge, Edward, das spüre ich!« Audrey war froh, dass ihr Vater auch jetzt im Laden blieb und sie ohne eine größere Diskussion davonkamen. Nellie Jackson hatte ihrem Mann verboten sich einzumischen: »Bleib du im Laden, Emory! Ich mache das schon! Wenn er sie zu einem zweiten Date abholt, kannst du immer noch mit ihm reden! Warum die Pferde scheu machen, wenn die Sache vielleicht nach einem Treffen vorbei ist?« Nellie Jackson war eine praktische Frau. »Und nun geht! Ich verlasse mich auf Sie, Edward!« Audreys jüngere Brüder standen grinsend vor der Tür und Alberta blickte neidisch von der Tankstelle herüber, als ihre Schwester mit Edward in den Cadillac stieg. Der Motor blubberte laut. Sie fuhren drei Querstraßen nach Norden und parkten vor einem Kino. Die Neonbuchstaben leuchteten im Dämmerlicht. »A Touch of Mind« stand in voller Breite über
dem Eingang. »Mit Cary Grant und Doris Day«, meinte er. Wenn er lächelte, bildeten sich kleine Grübchen neben seinen Mundwinkeln. »Oder wollten Sie lieber was anderes sehen? Ein paar Straßen weiter läuft ein Western.« »Cary Grant ist okay«, erwiderte Audrey, obwohl sie den Film vor einigen Monaten gesehen hatte und sich gerne mal einen Western anschaute. Bei dem Gedanken, dass sie Händchen haltend einer Schießerei zusahen, musste sie lachen. »Ein ›Hauch von Nerz‹, hm?«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage des jungen Mannes. »Einen Nerzmantel werde ich wohl nie besitzen.« »In Alabama brauchen Sie sowieso keinen«, meinte Edward amüsiert. »In Chicago wären wir froh, wenn wir solche warmen Winter hätten.« Er zog den Zündschlüssel und öffnete die Fahrertür. »Kommen Sie, Audrey! Wir sind spät dran! Es ist gleich sieben!« Edward half ihr beim Aussteigen und entdeckte einen schwarzen Jungen, der scheinbar gelangweilt vor einem Hauseingang lehnte. Er war ungefähr zwölf Jahre alt, trug sein Hemd über der Hose und eine Baseballkappe mit dem Logo der New York Yankees. »He, Buddy! Willst du dir einen halben Dollar verdienen?« Der Junge nahm die Hände aus den Taschen und kam langsam näher. Nachdem er Edward und Audrey ausgiebig gemustert hatte, sagte er: »Ich heiße Jay-Jay, okay? Und dein Buddy bin ich erst, wenn du gezahlt hast! Was soll ich für den Dollar tun?« »Ich hab von einem halben Dollar gesprochen«, erwiderte Edward grinsend. Er mochte den Jungen, trotz seiner Arroganz und seines aufreizenden Benehmens. »Wenn der Cadillac noch hier steht, wenn wir aus dem Kino kommen, lass ich mit mir reden.«
»Ich soll auf den Schlitten aufpassen?« Jay-Jay musterte den Wagen und zuckte lässig mit den Schultern. »Geht klar, Meister!« »Ich heiße Edward. Und das ist Audrey.« Jay-Jay machte sich nicht die Mühe, die beiden anzusehen. »In Ordnung, Edward. Die Hälfte im Voraus, okay?« Er hielt eine Hand auf und ließ den Vierteldollar, den Edward ihm zuwarf, in der Hosentasche verschwinden. »Hast du ‘ne Kippe für mich?« »Bist du nicht zu jung dafür?« »Schon gut, Edward. Bis nachher, okay?« Der Junge kehrte in den Hauseingang zurück und verschmolz mit der Dunkelheit. »Seltsamer Vogel«, meinte Edward. Sie überquerten die Straße und kauften zwei Eintrittskarten. Das Kino lag außerhalb des schwarzen Viertels und sie waren wie alle »Farbigen« gezwungen, sich auf den Balkon zu setzen. Sie teilten sich eine Coke und lachten beide, als die Vorschau eines Western gezeigt wurde. In der kurzen Pause wechselten sie kaum ein Wort, ob aus Verlegenheit oder Angst, etwas Falsches zu sagen, wusste Audrey nicht. Sie war nervös. Obwohl Edward keine Anstalten machte, ihr den Arm um die Schultern zu legen oder nach ihrer Hand zu greifen, spürte sie seine Zuneigung. Von ihm ging eine Wärme aus, die sie wie ein schützender Mantel umfing und ihr auch ohne Zärtlichkeiten deutlich machte, wie sehr er sie mochte. Wenn sich ihre Blicke begegneten, lächelten beide. Die Grübchen neben seinen Mundwinkeln waren auch im Halbdunkel zu sehen. Er war ein bemerkenswerter junger Mann und ganz anders als die Jungen, die sie bisher gekannt hatte. Viel ruhiger und erwachsener und nicht so aufdringlich wie die Angeber, die schon bei der ersten Verabredung versuchten, sie zu küssen oder sogar noch mehr verlangten. »Du bist schöner als Doris
Day«, meinte er leise, als der Film zu Ende war. Ein scheinbar beiläufiger Satz, der ihr mehr bedeutete als jedes andere Kompliment. Jay-Jay wartete neben dem Cadillac, als sie das Kino verließen. Er verzog keine Miene. »Wie wär’s, wenn du einen Vierteldollar drauflegst?«, empfing er sie lässig. »Oder einen halben?« »Du bekommst einen ganzen, wenn du ‘ne Stunde dranhängst«, versprach Edward. »Wir wollen noch was trinken gehen, in einem Drugstore unten an der Fourth Avenue.« Als er den furchtsamen Ausdruck in Audreys Gesicht bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Du brauchst keine Angst zu haben! Elmos Drugstore liegt eine ganze Meile vom Rotlichtbezirk entfernt!« »Ich kenn den Laden«, sagte Jay-Jay. »Darf ich mitfahren?« Edward öffnete die Fahrertür. »Klar.« Jay-Jay kroch auf die Rückbank und lächelte zufrieden. Doch als Edward und Audrey eingestiegen waren, trug er wieder seine arrogante Miene zur Schau. »Nicht übel, der Karren«, meinte er. »Ich dachte, solche Schlitten können sich nur Weiße leisten!« »Hab ich von meinem Großvater in Chicago bekommen. Da fahren die Weißen solche Wagen auf den Schrottplatz!« Er blickte in den Spiegel. »Wo kommst du her, Jay-Jay? New York? New Jersey?« »Brooklyn«, antwortete der Junge. »Bin kurz vor Weihnachten nach Alabama gekommen. Als mein Vater abgehauen ist, wollt mich meine Mutter nicht mehr haben. Wie ich sie kenne, hängt sie längst wieder an der Flasche! Sie hat mich zu meiner Tante geschickt, die wohnt hinter Oxmoor auf dem Land, aber da hab ich’s keine drei Wochen ausgehalten! Die Alte wollte, dass ich ihr auf dem Acker helfe und abends
um sieben ins Bett geh. Jetzt häng ich in der Stadt rum und verdien mir mein Geld selber!« »Und wo schläfst du?« »Im Sommer ist es warm, da deck ich mich mit dem Himmel zu. Und wenn’s mal kalt wird, kriech ich bei ‘nem Freund unter.« »Hast du viele Freunde?« »Was man so Freunde nennt. Bist du beim FBI?« »Wieso?« »Weil du mir ‘n Loch in den Bauch fragst.« Edward parkte einen Block vom Drugstore entfernt und half Audrey aus dem Wagen. »Wir sind in einer Stunde zurück, okay?« »Geht klar, Meister.« »Edward.« »Schon gut. Edward.« Audrey und Edward gingen in den Drugstore und setzten sich an einen Ecktisch. Sie bestellten Cheeseburger mit Pommes frites und Coke. »Weißt du was?«, sagte Edward. »Wenn’s nach mir ginge, könnten wir das jeden Abend machen!« Er lächelte zärtlich und griff nach Audreys Händen. »Du bist das schönste und wunderbarste Mädchen, das ich jemals getroffen habe! In ganz Chicago gibt…« Der Kellner brachte die Cokes und ihre Hände lösten sich voneinander. »In ganz Chicago gibt es…«, sagte Audrey. »Ich bin gern mit dir zusammen, Audrey.« Audrey spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und griff erneut nach seiner Hand. »Ich auch, Edward!«, erwiderte sie.
6
Das Schaufenster des Drugstores explodierte in einem Scherbenregen, noch bevor Audrey und Edward den aufheulenden Motor des Pick-ups hörten. Ein faustgroßer Stein polterte über den Boden und blieb unter einem Tisch liegen. Die beiden Männer am Tresen sprangen entsetzt von ihren Barhockern und der Angestellte in der weißen Uniform, der gerade dabei war, zwei Kugeln Vanilleeis in Limonadengläser zu füllen, starrte mit offenem Mund zur Tür. Er sah den Schatten eines Pick-ups und glaubte das höhnische Gelächter des weißen Fahrers zu hören. Audrey war viel zu entsetzt um zu schreien. Sie ließ sich fallen und hielt beide Hände über den Kopf. Edward warf sich schützend über sie. Er wartete, bis das Klirren der fallenden Scherben verstummt war, und stand zögernd wieder auf. Dann half er Audrey vom Boden hoch und nahm sie in den Arm. »Alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. »Dir ist doch nichts passiert?« Er löste sich vorsichtig von ihr und blickte sie fragend an. »Ich bin okay, Edward!«, antwortete sie etwas außer Atem. Sie wischte einige Scherben von ihrem Kleid und nickte dankbar, als Edward ihr die Splitter aus den Haaren zupfte. Mit einem Taschentuch säuberte er seinen Anzug. »Wer war das, Edward?« »Der verdammte Klan, wer sonst?«, schimpfte einer der Männer am Tresen. Er schüttelte drohend eine Faust. »Jetzt wagen sich diese Verbrecher schon in unser Viertel!« »Man sollte die Schweine umbringen!«, rief der andere mit unverhohlener Wut. Er war noch jung, vielleicht siebzehn oder
achtzehn, und trug eine schwarze Lederjacke über seinen Jeans. Edward schüttelte langsam den Kopf. »Das bringt nichts, Leute!«, sagte er leise. »Wenn wir mit Gewalt antworten, stellen wir uns auf eine Stufe mit den Klansmännern. Oder wollt ihr brennende Kreuze in der Stadt aufstellen? Wollt ihr unschuldige Weiße aus ihren Häusern zerren und an einem Telegrafenmast aufknüpfen? Denkt daran, was Jesus gesagt hat: ›Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen!‹ Wir können dem Hass der Klansmänner nur mit Liebe begegnen!« »Du sprichst wie ein verdammter Pfarrer!«, sagte der Mann in der Lederjacke. »Wie dieser Martin Luther King! Willst du stillhalten, bis die Kapuzenmänner dich an ein brennendes Kreuz hängen?« »Wir werden siegen«, antwortete Edward. Es klang beinahe feierlich. »Wir werden Demütigungen erdulden ohne uns zu rächen und Schläge hinnehmen ohne zurückzuschlagen. Die Gerechtigkeit ist stärker als das Unrecht, das diese Weißen begehen. So habe ich es von Martin Luther King gelernt.« Er verhehlte seinen Stolz nicht. »Kommt am Sonntag in die Sixteenth Street Baptist Church! Dort werdet ihr den Mann hören, der uns in diesem Kampf beistehen wird! Ein Kampf, der ohne Waffen geführt wird! Aber auch ein Aufbegehren gegen das Unrecht, das uns die Weißen zufügen! Wir sind stärker, als ihr denkt.« »Dann stimmt es also«, kam die Antwort. »Martin Luther King und seine Leute kommen tatsächlich nach Birmingham! Du gehörst dazu, stimmt’s? Warum kommt ihr ausgerechnet hierher?« »Weil es keine andere Stadt gibt, in der die Rechte der Schwarzen so mit Füßen getreten werden! Oder gibt es hier Schulen, in denen weiße und schwarze Schüler friedlich
nebeneinander sitzen? Das Gesetz ist längst rechtsgültig! Dürfen Schwarze in den Stadtparks spazieren gehen? Dürfen sie am selben Tresen wie die Weißen sitzen? In Birmingham ist die Lage am schlimmsten, deshalb will Martin Luther King hier ein Zeichen setzen. Kommt am Sonntag in die Kirche und hört, was er zu sagen hat!« »Da bin ich aber gespannt«, meinte der Mann. »Nur ein Narr hält die Backe hin, wenn der Klan kommt!« »Gewalt bringt nichts«, warnte Edward eindringlich. Er hob Audreys Handtasche auf und schob ihr den Stuhl hin. Nachdem sie sich zögernd gesetzt hatte, nahm er selbst Platz. Er griff nach ihrer rechten Hand, eher beruhigend als zärtlich, und drückte sie. Der Angestellte verzichtete darauf, die Polizei zu rufen. Es hätte sowieso keinen Zweck gehabt. Die Polizisten hätten eine »Anzeige gegen Unbekannt« aufgenommen und das Formular zerrissen, sobald sie um die nächste Ecke waren. So war es in dem Eisenwarenladen in Mississippi gewesen, in dem er vor einigen Monaten gearbeitet hatte. Er kehrte geduldig die Scherben auf und verdeckte das Loch in der Scheibe mit Packpapier. »Hast du was gesehen?«, fragte er Jay-Jay. Der Junge war hinter dem Cadillac in Deckung gegangen und wagte sich nur zögernd hervor. »Zwei weiße Männer in einem Pick-up«, antwortete Jay-Jay. »Ich kenn die beiden! Üble Burschen! Willst du die Namen wissen?« Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Schon gut.« Er verschwand in der Küche und kehrte mit den Cheeseburgern für Edward und Audrey zurück. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt. »Ich hoffe, euch ist nicht der Appetit vergangen. Bezahlen müsst ihr auf jeden Fall, sonst krieg ich Ärger mit dem Chef!« Er stellte die Teller hin. »Ich bring euch zwei neue Cokes, okay?«
Audrey hatte sich von ihrem Schrecken erholt und nickte dankbar. »Es geht schon wieder«, beantwortete sie Edwards fragenden Blick. Sie verriet ihm nicht, dass ihr der Appetit tatsächlich vergangen war und sie am liebsten nach Hause gerannt wäre. Vergeblich sehnte sie die romantische Stimmung vor dem Zwischenfall zurück. Der Zauber war verflogen. Der Ku-Klux-Klan, oder wer immer hinter dem gemeinen Anschlag steckte, hatte sie aus einem schönen Traum gerissen. »Es tut mir Leid«, sagte Edward leise. Sie aßen ihre Cheeseburger und nickten den beiden Männern am Tresen zu, die schon bald das Lokal verließen. Der Angestellte verzog sich in die Küche, ließ sich auf einen Hocker fallen und nippte an einer Bierflasche. »Ruft mich, wenn ihr soweit seid!«, rief er Audrey und Edward zu. »Um zehn mach ich dicht!« »In Ordnung. Aber mach mir vorher noch einen Cheeseburger zum Mitnehmen, ja? Mit reichlich Pommes frites und Ketchup!« »Meinetwegen«, kam die mürrische Antwort. »Jay-Jay«, sagte Edward zu Audrey und deutete zur Eingangstür. »Ich glaube nicht, dass der Junge schon was gegessen hat.« Er trank von seiner Coke. »Eine Schande, dass er sich den ganzen Tag auf der Straße rumtreibt! Ein Junge wie er sollte in die Schule gehen, damit er mit den weißen Kindern mithalten kann!« »Er ist nicht der einzige Junge, der auf der Straße lebt!«, erwiderte sie. »Im Norden soll es eine ganze Bande von Jugendlichen geben! Alles Schwarze, die geschworen haben, den Weißen die Häuser anzuzünden! Sogar Zehnjährige sind dabei! Der Klan hat geschworen sie aufzuhängen, wenn er sie auf frischer Tat erwischt!« »Er hat Unrecht, Audrey«, widersprach Edward. Er spülte den letzten Bissen seines Cheeseburgers mit einem Schluck
Cola hinunter und wischte sich den Mund ab. »Wir müssen endlich begreifen, dass wir Schwarzen die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen haben! Du hast gehört, was ich zu den Männern am Tresen gesagt habe. Martin Luther King und seine Leute kommen nach Birmingham, um gegen das Unrecht in dieser Stadt zu protestieren. Es ist höchste Zeit, den Weißen und auch dem Klan zu zeigen, dass es nur Frieden geben kann, wenn die Menschen aufeinander zugehen.« »Du darfst so reden«, erwiderte Audrey müde. Sie ließ den halben Cheeseburger stehen. »Du warst auf dem College. Du kennst Martin Luther King und hast keine Angst! Aber was können junge Frauen wie ich schon tun? Oder Kinder? Sollen wir Märtyrer spielen und uns aufhängen oder einsperren lassen? Ich bin keine Heldin, Edward. In ganz Birmingham gibt es keine Helden. Fred Shuttlesworth vielleicht. Aber selbst der Reverend wäre letzte Weihnachten beinahe gestorben! Er kann von Glück sagen, dass er nicht zu Hause war, als die Bombe in seinem Haus explodierte! In Birmingham ist alles anders! Hier fackelt der Klan nicht lange!« Edward nickte. »Ich will dich nicht bekehren, Audrey. Aber so wie du reden die meisten Schwarzen, bevor sie Martin Luther King gehört haben. Hör dir wenigstens an, was er zu sagen hat!« »Am Sonntag? Nach der Kirche?«, fragte sie zögernd. »Ich könnte dich abholen«, sagte Edward schnell. »Deine Eltern haben sicher nichts dagegen, wenn ich dich in die Kirche begleite. Ich stelle dich Martin Luther King vor! Er freut sich bestimmt, mit dir ein paar Worte wechseln zu können! Ralph Abernathy ist auch da, der Reverend aus Montgomery. Er kümmert sich um die Finanzen der SCLC. Die Aktionen kosten viel Geld. Wenn wir nicht Leute wie Harry Belafonte hätten, du weißt schon, der Sänger, der mit ›Banana Boat‹ in der Hitparade war, dann könnten wir längst
einpacken. Martin und Ralph haben die SCLC gegründet. Du musst dabei sein, wenn sie reden! Nicht mir zuliebe, sondern deinetwegen. Sie kämpfen für unsere Rechte!« Audrey wagte nicht daran zu denken, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie nach dem Gottesdienst in der Kirche blieb. Dennoch willigte sie ein. Sie hatte viel über Martin Luther King gehört und war neugierig, ob er wirklich so ein guter Redner war, wie manche Leute sagten. Von Fred Shuttlesworth und Ralph Abernathy, den unbeugsamen Pfarrern aus Birmingham und Montgomery, wusste sie nur, dass sie nicht davor zurückschreckten, für ihre Überzeugung ins Gefängnis zu gehen. Ihr Vater hatte so manches Mal über den streitlustigen Shuttlesworth geschimpft, doch in seiner Stimme hatte auch Respekt mitgeschwungen. »Feige ist er nicht!«, hatte er gesagt. Vielleicht plagte ihn sogar ein schlechtes Gewissen, weil er tief in seinem Inneren wusste, wie selbstsüchtig und vielleicht auch feige es war, den Protest der Kirche zu überlassen. Nur wenige Schwarze waren so zufrieden wie Jackson und seine Familie. Ohne es zu wollen hatte Edward seiner Freundin ins Gewissen geredet. Was Betty Ann in zwei oder drei Jahren nicht geschafft hatte, war ihm an zwei Abenden gelungen. Mit wenigen Worten hatte er fertig gebracht, dass sie sich schuldig fühlte. »Wie bist du zur SCLC gekommen?«, wollte sie wissen. »Ich denke, du kommst aus Chicago. Gibt es dort auch einen Klan?« »Unrecht gibt es überall, auch in Chicago«, antwortete Edward bedächtig. »Es gibt keinen Platz auf dieser Erde, an dem ein Schwarzer die gleichen Rechte wie ein Weißer hat. Weder in Afrika und Europa und schon gar nicht in Amerika. Aber in Chicago ist es nicht so schlimm wie in Mississippi oder Alabama. In den Südstaaten glauben die meisten Weißen immer noch, dass wir ihnen zu dienen hätten, weil unsere
Vorfahren auch Sklaven waren. Deshalb bekommen die schwarzen Arbeiter weniger Lohn als ihre weißen Kollegen. Das ist sogar in Chicago so. Wenn meine Mutter nicht für eine weiße Familie geputzt hätte, wären wir nie mit unserem Geld ausgekommen. Und meine Eltern sind sehr sparsam. Sie haben jeden Penny für meine Ausbildung gespart. Ich bin ihnen sehr dankbar. Sie haben sich nie unterkriegen lassen und immer gehofft, dass es mir besser gehen wird.« »Und wie bist du aufs College gekommen?«, fragte Audrey. »Studieren kostet viel Geld!« Sie lächelte zaghaft. »Es sei denn, du hast bei den Chicago Bears gespielt.« »Zum Football tauge ich nicht«, meinte er fröhlich, »und zu einem guten Basketballspieler fehlt mir ein halber Meter. Aber ich hab einen Wettbewerb gewonnen, einen literarischen Wettbewerb.« Das Geständnis schien ihm schwer zu fallen. »Ich hab die beste Kurzgeschichte geschrieben und ein Stipendium gewonnen. Nichts Besonderes«, winkte er ab, als er das Glitzern in ihren Augen bemerkte, »nur eine Geschichte. Ich hatte viel Glück!« »Dann bist du ein… Schriftsteller!«, staunte sie. »Mein Gott, und ich dachte, du wärst Pastor oder so was! Was war das für eine Geschichte? Wurde sie veröffentlicht? Darf ich sie mal lesen?« »Pastor werde ich vielleicht noch«, räumte er ein, »ich hab Theologie und Literatur studiert und hoffe, dass ich nächstes Jahr in unserer Gemeinde anfangen kann. Wir wohnen im Süden von Chicago, da sind die Baptisten stark vertreten. Und Schriftsteller?« Sein Lächeln wurde noch verlegener. »Ich weiß nicht, ob ich genug Talent habe. In der Geschichte hab ich über mich geschrieben. Eigentlich war es gar keine richtige Geschichte. Ich hab von mir und meiner weißen Freundin erzählt.«
»Du hattest eine weiße Freundin?«, rief Audrey so laut, dass der Angestellte seinen Kopf aus der Küche streckte. In Birmingham war es undenkbar, dass ein schwarzer Junge mit einem weißen Mädchen ging. Er durfte eine Weiße nicht einmal ansprechen. »Ich war damals sieben«, gestand Edward. »Doris war ein Jahr jünger. Ihr war meine Hautfarbe egal, wir haben nicht einmal darüber gesprochen. Ihr Vater war im Krieg gefallen, irgendwo im Südpazifik. Ihre Mutter hatte sich mit einem Handelsvertreter eingelassen, der ständig unterwegs war und nur alle paar Wochen nach Hause kam und ihr nie genügend Geld gab. Ich glaube, sie ließ sich auch mit anderen Männern ein, sonst wäre sie nie über die Runden gekommen. Sie war eine freundliche Frau. Sie wohnte in einem Mietshaus hinter dem Güterbahnhof und sah manchmal aus dem Fenster, wenn wir an den Gleisen spielten. Sie war immer fröhlich, so wie ihre Tochter. Ich muss oft an sie denken. Wenn alle Weißen so wären wie Doris und ihre Mutter, wäre die Welt besser. Leider standen sie bei den anderen Bewohnern des Hauses nicht besonders gut da.« »Weil… weil die Mutter sich an fremde Männer verkaufte?«, fragte Audrey. »Weil Doris mit einem schwarzen Jungen spielte?« Edward zuckte mit den Schultern. »Weil sie anders waren. Sie waren anders als die übrigen Weißen. In den Südstaaten hätten sie es mit dem Klan zu tun bekommen, da bin ich ganz sicher.« »Weißt du, was aus ihnen geworden ist?« »Sie sind nach Westen gezogen. Im selben Jahr, als ich in die High School kam. Ich hab nie mehr was von ihnen gehört. Ich hoffe, die Mutter hat einen reichen Filmproduzenten in Hollywood geheiratet und wohnt in einer großen Villa mit Swimmingpool.«
»Ich wollte nie nach Hollywood«, gestand Audrey. »Auch nicht nach Chicago oder New York. Mir gefällt es im Süden. Komisch, nicht wahr? Woanders ginge es uns wahrscheinlich besser.« Edward rief den Angestellten herbei, ließ sich die Tüte mit dem Cheeseburger und den Pommes frites geben und zahlte die Rechnung. »Du bist hier aufgewachsen«, sagte er zu Audrey, »der Süden ist deine Heimat. Vor den Problemen kannst du sowieso nicht weglaufen. Sie holen dich überall ein. Die Schwarzen werden erst frei sein, wenn es ein Gesetz gegen die Rassentrennung gibt und das durchgesetzt wird, was in der amerikanischen Verfassung steht: Alle Menschen sind gleich geschaffen. Solange es anderen Schwarzen schlecht geht, haben wir alle darunter zu leiden. Deshalb ist es so wichtig, dass möglichst viele Schwarze bei unserem Protest mitmachen.« Er ließ ein Trinkgeld liegen und blickte sie an. »Du lässt mich doch nicht im Stich?« »Ich gehe mit dir in die Kirche«, versprach sie, »aber ich weiß nicht, ob ich zur Freiheitskämpferin tauge.« Sie versteckte ihre Unsicherheit hinter einem Lächeln. »Ich glaube, da hältst du dich besser an meine Freundin. Betty-Ann würde sofort mit dir in den Kampf ziehen! Wenn du willst, stelle ich sie dir vor. Ich wollte sie morgen Mittag sowieso besuchen. Sie wohnt in Bessemer…« »Dann bist du gestern von ihr gekommen?«, erkannte Edward. »Wenn ich du wäre, würde ich mich von der Straße fernhalten.« »Wenn du mitkommst, hab ich keine Angst.« »Ich begleite dich gerne.« Er lächelte sie an und etwas von dem Zauber kehrte zurück. Edward schien eine magische Kraft zu besitzen, die sich wie angenehme Wärme in ihrem Körper ausbreitete und ihr das Gefühl gab, den jungen Mann jahrelang zu kennen.
»Ich muss dichtmachen«, rief der Angestellte. »Es reicht schon, dass ich dem Chef von der Scheibe erzählen muss. Wenn ich Überstunden mache, schmeißt er mich raus! Morgen früh ab sieben Uhr, okay?« Die beiden verabschiedeten sich und gingen nach draußen. Trotz der vorgerückten Stunde war es noch angenehm warm. Jay-Jay war außer sich vor Freude, als Edward ihm die Tüte mit dem Cheeseburger und den Pommes frites gab, und blickte ihm zum ersten Mal in die Augen. »Und ich dachte schon, ihr lasst mich verhungern«, bemerkte er beinahe euphorisch. Edward steckte ihm einen Dollar in die Hosentasche. »Ich nehme an, du willst heute Nacht nicht bei deiner Tante schlafen.« »Richtig geraten, Meister.« »Edward.« »Meinetwegen. Edward.« »Wie wär’s mit einem Motelbett? Bei mir ist genug Platz.« »Ehrlich?«, wunderte er sich. »Steig ein!« Jay-Jay stieg in den Wagen und machte sich heißhungrig über den Cheeseburger her. Er schien den ganzen Tag nichts gegessen zu haben. »Die weißen Dreckskerle, die das Fenster eingeworfen haben«, meinte er mit vollem Mund, »die kenn ich.« Edward blickte fragend in den Rückspiegel. »Der Typ am Steuer war Steve Goblett. Der andere heißt Duncan. Seinen Nachnamen kenn ich nicht. Die beiden arbeiten im Stahlwerk an der Bessemer Road. Beim Klan kennt sie jeder.« Edward wechselte einen raschen Blick mit Audrey. »Du bist gut informiert für einen Jungen, der erst drei Monate in der Stadt ist.« »Man tut, was man kann.«
»Wir reden nachher weiter, okay?« Sie parkten vor dem Laden der Jacksons und Jay-Jay blickte rasch weg, als er sah, wie Edward dem Mädchen einen flüchtigen Kuss auf die Wange gab. »Ich seh dich morgen, Audrey!« »Ich warte nach dem Mittagessen auf dich, Edward.« Das Mädchen stieg aus, blickte sich noch einmal um und winkte ihm zu. Jay-Jay grinste über beide Backen. »Für ‘nen Typen aus dem Norden hast du gar keinen üblen Geschmack!«, meinte er frech.
7
»Wann bist du gestern Abend nach Hause gekommen?«, fragte Emory Jackson missmutig, als er mit seiner Frau und seiner ältesten Tochter allein am Küchentisch saß. Alberta war gleich nach dem Frühstück zur Tankstelle gegangen und Napoleon und Robin spielten im Wohnzimmer mit Bausteinen. »Kurz vor elf«, antwortete Audrey, die schon vor dem Frühstück gewusst hatte, dass ihr Vater auf Edward zu sprechen kommen würde. Sein mürrischer Gesichtsausdruck, als er zur Tür hereingekommen war, hatte sie gewarnt. »Und es ist nichts passiert!«, fügte sie gereizt hinzu. »Wir waren im Kino und haben im Drugstore einen Cheeseburger gegessen und dann hat er mich nach Hause gebracht.« Sie hütete sich ihm zu sagen, dass der Drugstore in der Fourth Avenue lag und ein Stein das Schaufenster zertrümmert hatte. »Edward ist in Ordnung, Daddy! Frag Mom, die hat mit ihm gesprochen! Er ist… er ist ein Gentleman!« »Auch ein Gentleman benimmt sich daneben«, erwiderte ihr Vater. Er fing einen vorwurfsvollen Blick seiner Frau auf und reagierte mit einer unwirschen Handbewegung. »Ich weiß, ich weiß, ich soll dem Jungen eine faire Chance geben und ihn nicht gleich in Grund und Boden verdammen. Ich bin kein Unmensch, Audrey! Ich hab nichts dagegen, wenn du dich mit einem Jungen triffst. Solange er schwarz ist und sich zu benehmen weiß, darf er dich um ein Date bitten. Aber dieser… dieser Edward kommt aus Chicago! Weißt du, wo Chicago liegt? Und wie groß diese Stadt ist? Das ist eine andere Welt! Das Leben dort ist mit unserem nicht zu vergleichen! Genauso gut könnte Chicago auf dem Mond liegen! Die Menschen aus
Chicago sind anders, auch die Schwarzen, und selbst wenn der Junge so anständig ist, wie deine Mutter sagt, hat er doch ganz andere Vorstellungen vom Leben. In Birmingham würde er sich niemals einleben! Und du wärst in Chicago verloren! Das würde nicht gutgehen!« »Darum geht es doch gar nicht, Daddy!«, widersprach Audrey. Ihre Mutter räumte das Geschirr ab und gab ihr mit einem verstohlenen Blick zu verstehen, ihren Vater nicht übermäßig zu reizen. »Wir haben uns einmal getroffen, weiter nichts, und es war nicht mal ein richtiges Date. Ich wollte mich nur dafür bedanken, dass er mich vorgestern nach Hause gebracht hat. Wenn er unseren Wagen nicht aus dem Graben gezogen hätte, wären die Weißen vielleicht zurückgekommen!« Sie verschwieg ihre wahren Gefühle für Edward und war froh, dass ihr Vater nichts von dem gemeinen Anschlag der Weißen auf den Drugstore wusste. »Okay, er holt mich nach dem Essen ab und wir fahren zusammen zu Betty Ann, aber das heißt noch lange nicht, dass wir jetzt befreundet sind und uns alle paar Tage sehen.« »Du triffst ihn heute Mittag schon wieder? Du willst mit ihm nach Bessemer fahren?« Seine Miene wurde streng. »Das lasse ich auf keinen Fall zu, Audrey! Ich will nicht, dass du mit dem Jungen über diesen gefährlichen Highway fährst! Was ist, wenn dich der Klan überfällt? Hast du denn noch nicht genug? Er arbeitet für Martin Luther King, das hast du selbst gesagt! Was meinst du, was der Klan mit euch anstellt, wenn er euch erwischt? Nein, du bleibst hier! Der Mann ist kein Umgang für dich! Mag sein, dass er es wirklich ehrlich meint, aber er gehört zu Martin Luther King und das reicht mir völlig! Mit einem solchen Mann gibt es nur Ärger!« »Dass er für die SCLC arbeitet, ist nur ein paar Leuten bekannt, Daddy!« Audrey wusste selbst, wie riskant es war, sich mit einem Mitarbeiter Martin Luther Kings sehen zu
lassen, und es fiel ihr schwer, die Einwände ihres Vaters zu entkräften. »Außerdem sind wir vorsichtig! Wir bleiben nur zwei oder drei Stunden bei Betty Ann, und wenn es sein muss, nehmen wir einen Umweg. Ich bin vor dem Abendessen zu Hause, Daddy, ehrlich!« »Ich will nicht, dass er dich mit diesem politischen Kram belästigt! In Birmingham können wir keine Proteste gebrauchen! Du weißt, wie ich darüber denke, Audrey. Weißt du nicht mehr, was mit Reverend Shuttlesworth passiert ist? Sie haben ihm das Haus zerbombt und seine Kirche haben sie in die Luft gejagt!« Audrey warf einen Hilfe suchenden Blick auf ihre Mutter. »Wir haben kaum über Politik gesprochen, Daddy! Er will mich nicht bekehren! Wir haben über ganz andere Dinge gesprochen. Über das Leben in Chicago und wie er sein Stipendium fürs College bekommen hat.« Sie sah, wie die Zornesfalten von der Stirn ihres Vaters verschwanden, und schöpfte Hoffnung. »Er hat eine Kurzgeschichte geschrieben, Daddy! Er hat einen literarischen Wettbewerb gewonnen! Vielleicht wird er mal ein berühmter Schriftsteller! So einen Jungen kannte ich noch nie!« »Lass dich von so was nicht blenden!«, meinte ihr Vater, aber es klang nicht mehr so grimmig und Audrey glaubte sogar, ein verständnisvolles Lächeln in seinen Augen zu sehen. »Ich kannte mal einen Musiker, ein Schwarzer aus Lafayette, der spielte den Blues wie Muddy Waters, und trotzdem wurde er von einigen Weißen verprügelt. Und der hatte mit Politik gar nichts im Sinn…« Nellie Jackson ließ Wasser ins Spülbecken und drehte sich zu ihrem Mann um. »Lass sie gehen, Emory! Dieser Edward ist ein verantwortungsvoller Junge, der passt auf unsere Audrey auf!« »Wir sind spätestens um vier zurück«, versprach Audrey.
Ihr Vater lehnte sich zurück und hakte die Daumen hinter seine Hosenträger. »Also meinetwegen! Aber ich will ein paar Worte mit dem jungen Schriftsteller reden, bevor ihr fahrt, verstanden?« »Natürlich, Daddy.« Sie stand auf und küsste ihren Vater auf die Stirn. »Ich wusste doch, dass du nicht so griesgrämig bist, wie du manchmal tust!« Sie bedankte sich mit einem Lächeln und war froh, als ihre Brüder in die Küche gestürmt kamen und Robin sich lautstark darüber beklagte, dass Napoleon den Fernseher abgeschaltet hatte. Wenn ihr Vater abgelenkt war, hatte er keine Zeit, seine Entscheidung zu bereuen. Sie konnte von Glück sagen, dass es nicht zu einer hitzigen Debatte gekommen war. Die Zeit bis zum Mittagessen verbrachte Audrey im Warenlager. Sie überprüfte die Lieferungen des vergangenen Tages und kümmerte sich um die Buchhaltung. Das tat sie jeden Samstag. In einer Ecke des Lagers hatte sie sich ein kleines Büro eingerichtet. Ein schlichter Holztisch und ein Küchenstuhl, ein Schrank für den Papierkram und eine Schreibmaschine, die ihr den letzten Nerv raubte, weil das »n« immer klemmte. Im Laden war viel los und sie sah ihren Vater kaum. Erst beim Mittagessen ließ er sich blicken und ermahnte sie: »Und vergiss nicht, mir den jungen Mann vorzustellen! Ich will wissen, mit wem du ausgehst!« Edward klingelte um kurz vor eins und beeindruckte ihren Vater – auch wenn er das niemals zugegeben hätte. Er trug einen Anzug, eine dunkle Krawatte und schwarze Schuhe, wie Martin Luther King und Ralph Abernathy, und vermied es, über Politik zu sprechen, als er Emory Jackson im Laden besuchte. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen«, ein paar Floskeln aus dem Benimmbuch und ein artiger Diener, als er ihm die Hand schüttelte, damit machte man Eindruck bei einem strengen Mann wie Emory Jackson. Audrey stand neben
ihm und versuchte vergeblich ihre Nervosität zu verbergen. Als ihr Vater sagte: »Ich habe gehört, Sie arbeiten für Martin Luther King. Glauben Sie nicht, dass wir in Birmingham allein mit unseren Problemen zurechtkommen?«, wäre sie am liebsten im Boden versunken, aber Edward blieb ruhig und antwortete gelassen: »Der Reverend Fred Shuttlesworth hat uns gebeten nach Birmingham zu kommen. Doch die Entscheidung, ob wir ihm helfen sollen, die Lebensbedingungen in dieser Stadt zu verbessern, will er der schwarzen Bevölkerung überlassen. Morgen nach dem Gottesdienst spricht Martin Luther King in der Sixteenth Street Church zu den Leuten.« »Er ist schon hier?«, fragte Emory Jackson verwundert. Seine Lippen wurden schmal. »Das hätte man uns eher sagen sollen!« »Damit der Klan davon erfährt?« Edward schüttelte den Kopf. »Martin Luther King will nicht, dass wir die Weißen unnötig in Rage bringen. Er weiß, dass einige Schwarze gegen die Aktivitäten der SCLC sind, und möchte mit ihnen sprechen, bevor er den Protest öffentlich macht. Sie haben viel zu verlieren, Mr. Jackson, das weiß ich. Ich versichere Ihnen jedoch, dass Martin Luther King und seine Leute sofort wieder abreisen, wenn sich die Mehrheit der schwarzen Bürger gegen unsere Pläne ausspricht.« »Wir werden sehen«, erwiderte Emory Jackson griesgrämig. Er blickte seine Tochter an. »Versprechen Sie mir, dass Sie auf meine Tochter aufpassen, Edward! Ich war dagegen, dass sie sich mit Ihnen trifft, das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie für Audrey getan haben, aber ich möchte nicht, dass Sie die Situation ausnützen oder sie für Ihre politischen Pläne missbrauchen! Versprechen Sie mir das!«
»Das ist doch selbstverständlich, Mr. Jackson. Ich verspreche es beim Andenken meiner seligen Großmutter! Spätestens um vier Uhr bringe ich Ihre Tochter zurück!« Er lächelte Audrey von der Seite an. »Sie ist viel zu hübsch um in die Politik zu gehen!« Audrey war froh, als sie endlich im Cadillac saßen und in südwestlicher Richtung aus der Stadt fuhren. Bis sie auf dem Bessemer Highway waren, fiel kein Wort zwischen ihnen. Edward schien in Gedanken versunken und sie brauchte einige Zeit, um sich von der angespannten Stimmung im Laden zu erholen. Ganz zu schweigen von dem unerwarteten Kompliment, das ihr das Blut in den Kopf getrieben und sie beinahe aus der Fassung gebracht hatte. Ein unsichtbares Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Wo ist Jay-Jay?«, fragte sie, nur um etwas zu sagen. »Unterwegs«, antwortete Edward, »ein paar Aufträge erledigen, was immer das zu bedeuten hat. Heute Abend kommt er wieder. Ich glaube, es gefällt ihm in dem Motel!« Er lachte. »Du hättest sehen sollen, was für einen Berg Pfannkuchen er zum Frühstück verschlungen hat! Morgen nach der Kirche will er ein Picknick mit uns veranstalten. Wir sollen die Hühnchen nicht vergessen.« Sie verhehlte ihre Freude nicht. »Ihr wollt mich mitnehmen? Dann soll ich wohl morgen Nachmittag einen großen Korb mit Hühnchen, Sandwiches, Schokolade und Obst bereithalten?« »Darüber würden wir uns sehr freuen«, erwiderte Edward mit einem Augenzwinkern. »Wir bringen den Champagner, okay?« Audrey konnte sich denken, was ihr Vater dazu sagen würde, wenn sie ausgerechnet am Sonntag mit einem jungen Mann ausging. Der Sonntag war Familientag, besonders im ländlichen Süden, wo man mehr Wert auf Tradition legte als in den großen Städten des Nordens. Doch sie wollte nicht auf den Ausflug verzichten und vertraute auf ihre Überredungskunst
und das weiche Herz ihrer Mutter, die ihr sicher wieder helfen würde. Bestimmt erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend, als sie sich Hals über Kopf in ihren späteren Mann verliebt und ihn schon beim ersten Date geküsst hatte. Das wusste Audrey aus einem Liebesbrief ihrer Mutter, der ihr zufällig in die Hände gefallen war. Sie hatte den ersten Absatz gelesen und ihn schnell wieder in den Schuhkarton gepackt, in dem die alten Fotos lagen. Niemals würde sie ihren Eltern verraten, dass sie den Brief gesehen hatte. »Ich freue mich auf morgen!«, sagte Audrey. Sie strahlte, als er sie mit seinen dunklen Augen anblickte. Seit vielen Monaten war sie nicht mehr so glücklich gewesen. Nicht einmal, als sie an der Stelle vorüberkamen, an der immer noch die Bremsspuren ihres Plymouth auf dem Asphalt zu sehen waren, geriet sie aus dem Gleichgewicht. Die Nähe ihres Freundes gab ihr eine Sicherheit, die sie bei keinem anderen Jungen gefühlt hatte. Betty Ann wohnte in einem kleinen Holzhaus am Stadtrand von Bessemer, zusammen mit ihren Eltern, ihren Großeltern und einer Tante, die an chronischer Bronchitis litt und den ganzen Tag hustete. Sie war groß und schlank und bewegte sich etwas ungelenk. Ihre Haare waren kurz geschnitten. Ihr dunkler Rock reichte bis zu den Knien, ein Zipfel der weißen Bluse hing über den Gürtel. Sie sagte: »Hi, Audrey! Alles klar?«, und begrüßte Edward mit unverhohlener Neugier: »Und du bist also der hübsche Junge, der Audrey vor dem sicheren Tod gerettet hat!« Audrey bereute bereits, am Telefon so offen zu ihrer Freundin gewesen zu sein, und war froh, dass niemand bemerkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Edward Hill«, stellte er sich vor. »Audrey hat mir eine Menge über dich erzählt.« Sie folgten dem Mädchen ins Haus und begrüßten die Großfamilie, die wie jeden Sonntagnachmittag vor dem
Fernseher saß und über das »blöde Programm« lästerte, das »sowieso nur von Weißen gemacht wird«. Dann folgten sie Betty Ann in ihr Zimmer. Es war so klein, dass Audrey und Edward sich aufs Bett setzen mussten. Betty Ann wollte noch einmal wissen, was Audrey auf dem Nachhauseweg passiert war, und reagierte so impulsiv wie am Telefon. »Da habt ihr’s!«, erwiderte sie. »Die Weißen werden immer dreister! Wenn das so weitergeht, mordet der Klan bald am helllichten Tag! Es wird höchste Zeit, dass wir auf die Barrikaden gehen! Wir dürfen nicht mehr zusehen, wenn einer von uns erniedrigt wird oder sich der Klan an einem Unschuldigen vergreift! Wir sind menschliche Wesen, so wie die Weißen, und dieses Land ist groß genug für uns alle!« Sie wandte sich an Edward, der überrascht die Augenbrauen hochgezogen hatte. Ein siebzehnjähriges Mädchen, das so entschlossen für die Bewegung eintrat, hatte er noch nie getroffen, nicht einmal im Bekanntenkreis von Martin Luther King und Ralph Abernathy. »Wann wollt ihr mit den Protesten anfangen?«, kam Betty Ann direkt zur Sache. »Wie kann ich helfen? Ich möchte mitmachen.« »Wir dürfen auf keinen Fall überstürzt vorgehen«, ermahnte Edward das Mädchen. »Die Protestaktion in Birmingham muss gut vorbereitet sein, sonst geht es uns wie in Albany. Dort haben wir an mehreren Fronten gekämpft. In Birmingham müssen wir uns auf ein Ziel konzentrieren.« Ohne es zu merken benutzte er die Worte von Martin Luther King. »Wir müssen verhindern, dass Bull Connor zum Bürgermeister gewählt wird. Über vierzig Prozent aller Einwohner von Birmingham sind schwarz. Wenn sie sich alle für die Wahl registrieren lassen, werden wir es schaffen.« »Bull Connor ist ein gefährlicher Mann«, sagte Betty Ann. »Hast du gewusst, dass er mal Stadionsprecher bei einem Baseballverein war?« Sie holte ihr Fotoalbum unter dem Tisch
hervor und suchte nach dem Zeitungsausschnitt. »Hier. Und vor ein paar Jahren soll er mit einer Sekretärin in einem Motel gewesen sein, obwohl er verheiratet ist und ständig damit angibt, wie moralisch seine Familie ist. Die meisten Schwarzen glauben, dass er mit dem Ku-Klux-Klan unter einer Decke steckt, sonst würde der Klan hier nie demonstrieren! Der Mistkerl hat gute Beziehungen zum Gouverneur. Würde mich nicht wundern, wenn er an irgendwelchen Fäden zieht, um die Wahl zu gewinnen.« Sie betrachtete ein Foto, das Bull Connor während der Protestaktionen der Freedom Riders zeigte. »Du warst dabei, als sie den Bus angesteckt haben, was? Wie bist du da rausgekommen?« Edward wechselte einen raschen Blick mit Audrey, war wohl verstimmt darüber, dass sie ihrer Freundin so viel erzählt hatte, und winkte ab. »Ich hatte viel Glück.« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hoffe, du bist etwas verschwiegener als deine Freundin! Bull Connor und der Ku-Klux-Klan dürfen nicht erfahren, was wir vorhaben! Dass wir hier sind, weiß sicher schon die ganze Stadt. Aber unsere Aktionen müssen geheim bleiben!« »Geht klar«, meinte Betty Ann beinahe verschwörerisch. »Aber ich will dabei sein, wenn es losgeht! Ich kenne alle Reden von Martin Luther King auswendig und weiß, wie er denkt. Er braucht jeden Mann und jede Frau, wenn wir Erfolg haben wollen!« Sie nickte in Richtung ihrer Freundin. »Ich rede schon seit Monaten auf Audrey ein. Sie darf nicht untätig herumsitzen, wenn sich andere Schwarze für unsere Freiheit einsetzen! Wann geht es los?« Edward überlegte, was er Betty Ann sagen sollte, und entschied sich für die Wahrheit: »Einen Monat vor Ostern, da trifft es die weißen Geschäftsleute am empfindlichsten! Wir boykottieren die Geschäfte in der Innenstadt. Wenn kein Schwarzer mehr einkauft, gehen sie bankrott. Aber alles hängt
davon ab, wie die Schwarzen in Birmingham auf unseren Vorschlag reagieren.« Er berichtete von der Ansprache, die Martin Luther King in der Sixteenth Street Church halten würde, und versprach sogar, das Mädchen abzuholen, als er erfuhr, dass ihre Familie keinen Wagen besaß. »Ich komme gleich wieder«, sagte Audrey, ohne dass Edward oder ihre Freundin reagierten. Sie ging nach draußen und trat auf die Veranda, atmete die schwere Luft, die von den Stahlwerken über Bessemer zog. Nur mühsam unterdrückte sie ihren Ärger. Die Gemeinsamkeiten zwischen Betty Ann und Edward machten ihr mehr zu schaffen, als sie sich eingestehen wollte. Unsinn, dachte sie. Betty Ann ist zu jung für ihn. Sie sind auf der gleichen Wellenlänge, weiter nichts. Sie trat wütend einen Stein von der Veranda und lehnte sich an das Geländer. Der Wind trieb feinen Sand gegen die Hauswand und wehte entwurzeltes Gestrüpp gegen ihre Beine. Über den nahen Highway fuhr ein Pick-up. Nach einer Weile hörte sie die Stimme von Betty Anns Mutter: »Soll ich euch was von dem Apfelkuchen bringen, Schätzchen? Mit Vanilleeis? Was bist du für eine Gastgeberin, Betty Ann?« Und als Audrey ins Haus zurückkehrte: »Audrey, bist du so lieb und nimmst das Tablett mit dem Apfelkuchen und dem Kaffee mit? Ihr habt doch sicher Hunger!« Audrey griff nach dem Tablett und kehrte ins Zimmer ihrer Freundin zurück. »Okay!«, meinte sie barsch. »Jetzt wird Kaffee getrunken und so lange will ich nichts mehr von der verdammten Protestaktion hören! Die Welt könnt ihr später retten!« »Aye, Captain!«, gehorchte Edward und schenkte Kaffee ein.
8
Audrey war guter Dinge, als sie ihre Familie am nächsten Morgen zur Kirche steuerte. Auf der Rückfahrt von Bessemer nach Birmingham hatte Edward einen Arm um ihre Schultern gelegt und sich dafür entschuldigt, sie im Haus ihrer Freundin vernachlässigt zu haben: »Wenn ich einmal anfange über Politik zu reden, höre ich nicht mehr auf. Ich hoffe, du verzeihst mir!« Vor dem Haus ihrer Eltern drückte er sie flüchtig an sich und blickte sie so warmherzig an, dass sie ihn am liebsten auf den Mund geküsst hätte. »Und vergiss nicht unser Picknick! Gleich nach der Kirche fahren wir los! Ich hoffe, dein Vater hat nichts dagegen…« Natürlich hatte ihr Vater etwas gegen den sonntäglichen Ausflug seiner Tochter. Er wiederholte die Einwände, die Audrey schon kannte, betonte lautstark, dass der Sonntag der Familie gehöre und sie doch gleich ausziehen könne, wenn sie nicht einmal zum Mittagessen bleibe. »Du hast wohl vergessen, dass unsere zweite Verabredung auch an einem Sonntag stattfand«, nahm seine Frau ihm lachend den Wind aus den Segeln, »wir waren im Kino, irgendwas mit Errol Flynn, daran kann ich mich noch genau erinnern!« Ihr Vater verschwand brummend im Wohnzimmer und ließ sich erst zum Abendessen wieder sehen. »Errol Flynn«, meinte er mit einem kaum sichtbaren Grinsen, »den Aufschneider konnte ich noch nie leiden!« Audrey parkte in einer Seitenstraße und sie gingen die letzten Meter zu Fuß. Wie alle Kirchgänger waren sie festlich gekleidet. Emory Jackson und seine Söhne trugen schwarze Anzüge und blütenweiße Hemden mit dunklen Krawatten und
ihre blank geputzten Schuhe funkelten in der Morgensonne. Nellie Jackson und Audrey hatten sich sorgfältig geschminkt und ihre prächtigsten Kleider angezogen. Der breitkrempige Hut mit der bunten Feder ließ Audrey wie eine vornehme Lady erscheinen. »Du wirst Edward gefallen, Honey!«, bemerkte ihre Mutter, als sie Audrey die Treppe herunterkommen sah. »Ich hab den Picknickkorb schon gepackt, dann könnt ihr nachher gleich weiter, okay?« Vor der Kirche blieben sie stehen und unterhielten sich mit einigen Nachbarn. Wie ein uneinnehmbares Bollwerk ragte die Sixteenth Street Baptist Church hinter ihnen aus dem Häusermeer des Schwarzenviertels. Ein Zufluchtsort für die Bewohner des Ghettos, die jeden Sonntag über die breite Treppe zum Eingang stiegen und in der festlichen Umgebung ihre Sorgen vergaßen. Die Türme zu beiden Seiten des klobigen Backsteinbaus schienen zu einer Festung zu gehören. Audrey erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich als kleines Mädchen vor der Kirche gefürchtet hatte. Sie hatte bitterlich geweint, wenn ihre Mutter sie in den Schatten der mächtigen Türme getragen hatte. Auch als junge Erwachsene fühlte sie sich noch unwohl. Von der Kirche ging etwas Bedrohliches aus und sie war jedes Mal froh, wenn sie im Innenraum war und die tröstliche Nähe des Altars und des Kreuzes spürte. Sie begrüßte den Direktor der Ullman High School, der mit seiner Familie auf den untersten Stufen der Treppe stand, und lächelte Cynthia zu, die in ihrem weißen Kleid und mit der blassgrünen Schleife im gelockten Haar wie eine kleine Prinzessin aussah. Wegen der Ansprache, die Martin Luther King nach dem Gottesdienst halten würde, fiel die Sonntagsschule aus und die Kinder durften mit den Erwachsenen die Kirche besuchen. »Ich glaube, es wird Zeit«, mahnte Emory Jackson. Er wartete geduldig, bis sich seine Frau bei ihm einhakte. Dann stiegen die Jacksons feierlich die
Treppen zur Kirche empor. Der sonntägliche Kirchgang lief nach festen Regeln ab. Vor der Eingangstür wartete Edward. Er begrüßte die Familie mit einer tiefen Verbeugung und entschuldigte sich höflich, bevor er Audrey hinter einen der Pfeiler entführte. »Audrey! Du siehst großartig aus!«, meinte er begeistert. Nur die anderen Kirchgänger hielten ihn davon ab, sie herzlich zu umarmen. »Wartest du bis nach der Ansprache? Ich stelle dich Martin Luther King vor. Ich hab ihm schon von dir erzählt. Er freut sich auf dich. Er will unbedingt wissen, welches Mädchen mir den Kopf verdreht hat!« Audrey spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg, und lächelte verlegen. Sie nickte einer Bekannten zu, die neugierig zu ihnen herübersah und fragte: »Wo ist Betty Ann?« Sie bemühte sich vergeblich, ihrer Stimme einen beiläufigen Klang zu geben. »Kommt sie zum Picknick mit?« Sie blickte sich suchend um. »Und wo steckt Jay-Jay? Er wollte doch unbedingt bei unserem Ausflug dabei sein! Sag bloß, er hat sich aus dem Staub gemacht!« »Keine Ahnung«, antwortete Edward, »bis gestern Abend war er noch da. Nach dem Essen wollte er einen Freund besuchen und gleich wieder zurückkommen. Du weißt ja, wie Jay-Jay ist. Aber er hat sich die ganze Nacht nicht sehen lassen und zum Frühstück ist er auch nicht aufgetaucht. Ich würde mir keine Sorgen um den Jungen machen, Audrey. Jay-Jay kommt besser auf der Straße zurecht als die meisten Erwachsenen.« Er reichte ihr seinen Arm und führte sie in die Kirche. »Betty Ann ist schon drin«, flüsterte er. »Ich seh dich nach dem Gottesdienst, okay? Warte vor dem Eingang auf mich!« Audrey setzte sich neben ihre Eltern, die ungeduldig einen Platz für sie freigehalten hatten, und fing einen vorwurfsvollen Blick ihres Vaters auf. »Hat er dich geküsst?«, fragte Alberta
leise und Audrey stieß ihr einen Ellbogen in die Seite. Die Kirche war voller als sonst. Sogar auf dem Balkon mussten einige Besucher stehen. Der Chor sang »All Things Come of Thee, O Lord, And of Thine Own Have We Given Thee«, und eine ältere Dame in einem pinkfarbenen Kostüm breitete die Arme aus und rief inbrünstig: »Amen!« Der Reverend betete mit seiner Gemeinde und verkündete: »Dies ist der Tag des Herrn, dies ist der Tag, an dem wir seinen Namen preisen. Gelobt sei Gott! Gelobt sei Jesus Christus!« Aus der Gemeinde schallte es »Amen!« und »Oh yeah!« Als zwei Männer in schwarzen Anzügen die Kirche betraten und nach einem kurzen Gebet an der Wand stehen blieben, ging ein Raunen durch die Kirche. Der Mann mit dem Oberlippenbart war Martin Luther King und sein Begleiter, ein stämmiger Mann mit einer dunklen Hornbrille, hieß Wyatt T. Walker und war sein Assistent. Wie fast alle anderen Kirchgänger musterte auch Audrey den berühmten Pfarrer und Rechtsanwalt aus Georgia. Er war kleiner, als sie gedacht hatte, und wirkte auf den ersten Blick eher unscheinbar. Doch schon beim zweiten Hinsehen erkannte sie das Glimmen in seinen Augen, den Schein einer lodernden Fackel, die tief in seiner Seele zu flackern schien. Dieser Mann war zu allem entschlossen, das sah man, und die Kraft Gottes schien wie ein belebendes Elixier durch seinen Körper zu fließen. Sein »Amen!« schallte wie ein Anfeuerungsruf durch die Kirche und sein »Hallelujah, Lord!« rüttelte die Gemeinde auf. In seiner Gegenwart sang sogar der Chor lauter und nur der Reverend wirkte nervöser als sonst, stolperte über den Teppich vor dem Altar und musste sich mit beiden Händen festhalten. Seine Predigt war nicht so kraftvoll, wie man es von ihm gewohnt war, und als er aus der Bibel zitierte, blickte er unsicher zu Martin Luther King und seinem Begleiter hinüber. Während der Chor die erste Strophe eines bekannten Liedes
sang, wischte er sich heimlich den Schweiß von der Stirn. »Hallelujah!«, triumphierte die pinkfarbene Lady. »Gelobt sei Jesus Christus!« Nach Edward suchte Audrey vergeblich. Später erfuhr sie, dass er mit den Kindern auf der Empore gestanden hatte. Betty Ann saß bei ihren Eltern. Edward hatte die ganze Familie in seinem Cadillac abgeholt und zur Kirche gefahren. Nach Bessemer würde sie mit dem Bus zurückkehren. »Und nun gehet hin in Frieden!«, sprach der Pastor den Segen und der Chor sang ein vielstimmiges Lied, das von überschwänglichen »Yeahs« und »Hallelujahs« begleitet wurde. Die pinkfarbene Lady breitete ihre Arme aus und drehte sich mit erhobenem Gesicht und geschlossenen Augen im Kreis. Manche Kirchgänger fühlten sich Gott erst verbunden, wenn sie in Ekstase gerieten und seine Kraft und seine Weisheit mit allen Sinnen erfuhren. Audrey war viel zu aufgeregt um sich zu vergessen, wartete ungeduldig, bis der Pastor die Gemeinde zum Bleiben aufforderte und Martin Luther King vor den Altar trat und seine kräftige Stimme erhob. Schon nach den ersten Worten erkannte sie, warum Edward und viele andere Menschen so von diesem Mann begeistert waren. Wenn er sprach, wurde aus dem Glimmen in seinen Augen ein loderndes Feuer, und wenn er seine Arme hob und ein »Amen!« oder »Right« erschallen ließ, wiederholte die ganze Gemeinde seine Worte. Dieser Mann war zum Predigen geboren. »Und ich frage euch«, erhob er seine kräftige Stimme, »warum kommen wir ausgerechnet nach Birmingham? Ich will es euch sagen. Weil die Menschenrechte in dieser Stadt mit Füßen getreten werden! Denn was würde passieren, wenn ihr in den Stadtpark gehen würdet? Wenn ihr versuchen würdet, euch an dieselbe Theke in einem Drugstore zu setzen wie die Weißen? Und was, glaubt ihr, würde geschehen, wenn ihr in eine weiße Kirche gehen und
versuchen würdet, dort zu beten? Die Polizei würde euch festnehmen, nicht wahr? Jawohl, sie würde euch ins Gefängnis sperren, denn ihr seid schwarz und es ist euch verboten, neben einem Weißen zu sitzen! Nicht einmal in der Kirche, denn die Weißen würden zwar behaupten Christen zu sein, in ihrer Kirche aber dieselbe Rassentrennung praktizieren wie in einem Drugstore oder einem Kino! Deshalb bin ich hier, liebe Gemeinde. Und weil mich mein guter Freund, der Reverend Fred Shuttlesworth, gerufen hat! Er weiß, was es heißt, als Schwarzer in Birmingham zu leben. Hat man vor sieben Jahren nicht sein Haus zerbombt? Und hat man im selben Jahr nicht seine Kirche gesprengt? Haben nicht dieselben weißen Männer, die sich aufrichtige Christen und Amerikaner nennen, seine arme Frau überfallen und beinahe zu Tode geprügelt?« Er wartete geduldig, bis sich die Aufregung unter den Zuhörern gelegt hatte, und schien jeden Einzelnen anzusehen, als er fortfuhr: »Ihr wisst selbst, was man euch in dieser Stadt angetan hat. Oder gibt es einen unter euch, nur einen einzigen Mann, der in einem der Stahlwerke arbeitet und einem Weißen sagen kann, was er zu tun hat? Gibt es einen, der mehr verdient als sein weißer Kollege? Behandelt euch der Mann, der für die Sicherheit in Birmingham verantwortlich ist, nicht wie lästiges Ungeziefer, das man vernichten sollte? Hat dieser Bull Connor nicht geschworen, alle unwürdigen Neger in den Dreck zu stoßen und am nächsten Ast aufzuknüpfen, wenn sie aufbegehren? Ich verspreche euch: So weit wird es nicht kommen! Nein, so weit wird es niemals kommen! Nicht in Birmingham, Alabama, und nicht in Jackson, Mississippi! Weder in Alabama noch in Georgia oder Mississippi oder irgendeinem anderen Staat! Denn die Macht der Liebe ist stärker als aller Hass! Jawohl, unsere Liebe wird die bösen Gedanken dieser verblendeten Menschen besiegen!«
Audrey spürte, wie ein leichter Schauer über ihren Körper lief. Die Worte des Predigers wühlten sie auf, und wenn sie ihre Eltern und Geschwister ansah, erkannte sie, dass auch sie von der Leidenschaft des Mannes beeindruckt waren. Selbst ihren Vater schienen seine Worte tief zu berühren, obwohl er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er den Blick seiner Tochter spürte. Ein Mann sprang auf und rief: »Yeah!« Die pinkfarbene Lady ließ ihr »Hallelujah!« erschallen. Audrey blieb ruhig und zwang sich, nüchtern über die Worte des Pastors aus Atlanta nachzudenken. Wo blieben seine Argumente? Was wollte er tun, um die Rassentrennung in Birmingham zu bekämpfen? Sie hatte einige der Zeitungsausschnitte im Album ihrer Freundin gelesen und bezweifelte, dass man den Ku-Klux-Klan mit Liebe besiegen konnte. Wer sich gegen die Kapuzenmänner wandte, riskierte einen grausamen Tod, und wenn es einen Massenaufstand gab, richtete der Klan ein Blutbad an und die Polizei half ihm dabei! Martin Luther King hatte in Montgomery gesiegt, aber was war in Albany geschehen? Und in Birmingham war der Geheimbund mächtiger als in jeder anderen Stadt, das hatte er doch selbst gesagt. »Ich weiß, was ihr denkt«, schien Martin Luther King ihre Gedanken zu lesen. »Ich sehe den Zorn in euren Augen und höre euch sagen: Was können wir gegen die Übermacht der Weißen und den Ku-Klux-Klan schon ausrichten? Wir werden alle sterben, wenn wir uns gegen diese Männer zur Wehr setzen! Ich aber sage euch: Gegen unsere Waffen haben die militanten Weißen nicht den Hauch einer Chance! Denn unsere Waffe ist die Liebe! Die bedingungslose Liebe und das Vertrauen in den guten Kern, der auch in einem schlechten Menschen schlummert. Selbst in einem Gouverneur Wallace und einem Bull Connor! Mit gleicher Münze heimzuzahlen, würde den Hass nur vermehren. Wir müssen stark genug sein,
um die Kette des Hasses zu zerreißen, und das kann nur geschehen, wenn wir die Liebe zum Mittelpunkt unseres Lebens machen. Ich meine nicht die Liebe, wie sie zwischen einem Mann und einer Frau besteht. Ich spreche von der Liebe unseres Herrn, die im Herzen eines Menschen wirkt. Eine uneigennützige Liebe, die keinen Unterschied zwischen würdigen und unwürdigen Menschen macht. Die in jedem Menschen, dem sie begegnet, den Nächsten sieht. Die auch in einem Feind einen Mitmenschen sieht. Der Charakter vieler Weißer ist durch die Rassentrennung entstellt, ihre Seele ist krank. Sie brauchen unsere Liebe, damit ihre Spannungen, Unsicherheiten und Ängste beseitigt werden. Lasst uns diesen Menschen mit Liebe begegnen, so wie Jesus seinen Feinden gegenübergetreten ist! Lasst uns dem Beispiel des Herrn folgen, denn er ist das Licht in der Finsternis und stark genug, die Saat des ewigen Friedens in dieser Stadt aufgehen zu lassen!« Audrey sah Schweißtropfen auf der Stirn des Pastors und spürte, wie er um die Zustimmung der Gemeinde rang. Die Menschen waren begeistert von seiner Ausstrahlung und begleiteten seine Worte mit Begeisterungsrufen und doch gab es auch ungläubige und verzweifelte Blicke und ein Mann erhob sich gar und rief: »Wollen Sie die weißen Mörder mit Liebe besiegen? Wollen Sie den Ku-Klux-Klan mit schönen Worten vertreiben? Sagen Sie uns, was Sie vorhaben, Mr. King, und vertrösten Sie uns nicht mit schönen Worten! Was soll geschehen?« Martin Luther King schien auf einen solchen Zuruf gewartet zu haben. Über sein Gesicht zog ein Lächeln und er antwortete: »Sie haben Recht, mein Freund, es genügt nicht, den Feind mit schönen Worten zu beeindrucken! Und wenn ich von Liebe spreche, meine ich damit auch nicht, dass wir tatenlos zusehen sollen, wie der Ku-Klux-Klan unschuldige
Menschen aufhängt! Unser Widerstand ist aktiv! Auch wenn wir auf den Einsatz von Gewalt verzichten und darauf bestehen, dass alle unsere Leute ihre Waffen abgeben, sind unser Geist und unsere Gefühle immer aktiv. Wir versuchen unsere Gegner zu überzeugen, dass sie im Unrecht sind. Wir leisten gewaltlosen Widerstand gegen das Böse! Durch unseren Protest und unsere Boykotte wecken wir bei unseren Gegnern ein Gefühl der Scham. Unser Ziel ist die Aussöhnung mit allen Weißen, die Gründung einer neuen Gemeinschaft.« Ein ungläubiges Raunen lief durch die Zuhörer. Audrey fragte sich, was ein Bull Connor wohl anordnen würde, wenn die Schwarzen gewaltlosen Widerstand leisteten. Was der Klan tat, wenn er von der Ansprache des Pastors erfuhr. »Ich baue keine Luftschlösser, meine Freunde!«, fuhr Martin Luther King fort, »und ich bin nicht der Erste, der diese Methode anwendet. Vor einigen Jahren zweifelte ich selbst an der Macht der Liebe. Ich konnte nicht glauben, dass Bibelworte wie ›Dem biete die andere Backe dar‹ und ›Liebe deine Feinde‹ auch für Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und ganze Nationen gelten. Mahatma Gandhi hat mich eines Besseren belehrt! Die gewaltlose Revolution dieses tapferen Inders, der die englische Vorherrschaft in seinem Land brach ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, überzeugte mich, wie stark die göttliche Liebe sein kann! Die Bergpredigt mit ihrer erhabenen Lehre von der Liebe und Gandhis Methode des gewaltlosen Widerstands haben mir den Weg gezeigt, den ich gehen muss. Ein Weg, den wir alle gehen müssen, wenn unser Leben wieder lebenswert sein soll.« Martin Luther King zog ein weißes Tuch aus seiner Hosentasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er beobachtete zufrieden, wie beeindruckt die meisten Zuhörer von seinen Worten waren. Nachdem das aufgeregte Gemurmel verstummt war, fuhr er fort: »Ich will euch sagen, wie wir die
Herrschaft des Bösen in Birmingham beenden können.« Seine Stimme klang jetzt noch fester und entschlossener. »Wir gründen eine Armee! Zusammen mit dem Alabama Christian Movement for Human Rights meines Freundes Fred Shuttlesworth, seiner christlichen Bewegung, die schon seit einigen Jahren für die Menschenrechte kämpft, stellen wir eine Armee auf! Nein, meine Freunde, ich zögere nicht, unsere Bewegung eine Armee zu nennen, denn sie ist eine besondere Armee, mit keiner anderen Ausrüstung als ihrer Aufrichtigkeit, keiner Uniform außer ihrer Entschlossenheit, keinem Waffenarsenal außer ihrem Glauben, keiner Währung außer ihrem Gewissen. Wer sich dieser Armee anschließen will, möge nach vorne treten und die Erklärungen unterschreiben, die mein Mitstreiter, Mr. Wyatt T. Walker, bereithält. Darin verpflichtet sich jeder Teilnehmer auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten, im Geist der Liebe zu gehen und zu sprechen, persönliche Wünsche zu opfern, um allen Menschen zur Freiheit zu verhelfen und im Sinne unseres Herrn zu handeln. Amen.« Während die ersten Männer und Frauen nach vorn gingen und das Formular unterschrieben, erklärte Martin Luther King, dass er sein »Project C« nach der bevorstehenden Bürgermeisterwahl mit Sit-ins in den Kaufhäusern und Drugstores und ersten Protestmärschen beginnen würde. Das ›O‹ stand für »Confrontation«. Audrey beobachtete, wie ihr Vater mürrisch den Kopf schüttelte und etwas sagte, das sie nicht verstand. Ihre Mutter blickte ratlos in die Runde. Sie gehörten zu den wenigen Leuten, die sitzen blieben und sich nicht von der Begeisterung, die Martin Luther King geweckt hatte, anstecken ließen. Audrey war unschlüssig. Ein Teil von ihr wollte aufspringen und ihrer Freundin Betty Ann folgen, die zu den ersten gehörte, die das Formular unterschrieben, ein
anderer Teil spürte den strengen Blick ihres Vaters und verharrte auf der Kirchenbank. Sie saß immer noch an ihrem Platz, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, als Edward lächelnd neben ihr auftauchte und sagte: »Komm, Audrey, ich stelle dich Mr. King vor! Sie erlauben doch, Mr. und Mrs. Jackson…« Er wartete, bis sie aufgestanden war und sich bei ihm eingehakt hatte, und führte sie zum Altar.
9
Obwohl Audreys erste Begegnung mit Martin Luther King nur wenige Minuten dauerte, würde sie ihr immer im Gedächtnis bleiben. Sie erinnerte sich an seinen entschlossenen Blick, seine braunen Augen, die selbst in ernsten Augenblicken viel von seiner Wärme und Güte verrieten, seinen festen Händedruck und den herben Duft seines Rasierwassers. Ihre Unterhaltung wurde von aufgeregten Kirchgängern unterbrochen, die mehr über Project C wissen wollten und ihn mit Fragen bestürmten. Und doch nahm er sich die Zeit, ihre Hand zu schütteln und zu sagen: »So sieht also das Mädchen aus, das unserem Edward den Kopf verdreht hat!« »Audrey Jackson«, stellte sie sich vor, »ich habe schon viel von Ihnen gehört, Dr. King.« Das klang ziemlich banal und ihr fielen später tausend andere Sätze ein, doch sie war in diesem Augenblick zu aufgeregt um etwas Geistreiches zu sagen. In der Gegenwart des bekannten Predigers, den sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte, war sie kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen. »Ihre Rede war sehr… sehr leidenschaftlich, Dr. King.« »Es freut mich, dass sie Ihnen gefallen hat. Ich bin glücklich, einige Menschen dazu gebracht zu haben, sich für unsere Bewegung zu begeistern.« Er wies auf die vielen Menschen, die das Formular unterschrieben. »Nur wenn sich die Mehrheit der schwarzen Bürger unserer Armee der Liebe anschließt, haben wir eine Chance, den Hass in dieser Stadt zu besiegen.« Er musterte sie eine Weile. »Glauben Sie an Jesus, Miss Jackson?« »Ich verstehe nicht, Dr. King…«
»Eine dumme Frage, nicht wahr? Natürlich glauben Sie an Jesus. Alle Menschen, die diese Kirche besuchen, glauben an den Sohn Gottes. Aber die wenigsten sind bereit, so zu leben wie er. Jesus Christus war ein tapferer Mann, obwohl er niemals eine Waffe in den Händen hielt. Er war ein Soldat des Friedens. Er war bereit, für seinen Glauben an die Zukunft in den Tod zu gehen. Kein Soldat hat jemals solchen Mut gezeigt! Jesus blickte seinen Mitmenschen in die Augen und sagte: ›Liebet eure Feinde! Segnet die, die euch verfluchen! Betet für die, die euch beleidigen!‹ Solche Worte kann nur ein Mann sprechen, der mit seinem ganzen Herzen an die Macht der Liebe glaubt. Nur wenn wir seiner Spur folgen, Miss Jackson, können wir diesen Kampf gewinnen. Nur wenn wir uns an den Händen fassen und dieselben Lieder singen, können wir den Hass in Birmingham überwinden!« Er lachte kurz. »Aber ich fange schon wieder an zu predigen. Ich nehme an, ich kann gar nicht mehr anders. Ich habe gehört, Sie wollen heute Nachmittag ein Picknick veranstalten?« »Das stimmt, Dr. King.« Sie blickte Edward an. »Wir wollen ins Grüne fahren und ein bisschen frische Luft schnappen.« Wieder so ein einfallsloser Satz. Fühlte sie sich schuldig, weil sie kein Formular unterschrieben hatte? Sie war überzeugt, dass Martin Luther King ihr mit seiner Erklärung ins Gewissen reden wollte. Ihm war bestimmt nicht entgangen, dass sie sitzen geblieben war. Doch in diesem Augenblick war sie viel zu verwirrt um eine Entscheidung zu treffen. Sie bewunderte Betty Ann, die ohne zu zögern zum Altar gegangen war und das Formular unterzeichnet hatte, und verfluchte ihre eigenen Zweifel. Sie war zu feige, um für eine bessere Zukunft aller Schwarzen auf die Straße zu gehen. Sie klammerte sich an das bisschen Glück, das ihre Eltern sich mühsam erarbeitet hatten, und dachte nicht daran, sich für die vielen anderen Menschen im Schwarzenviertel einzusetzen, denen es schlechter als ihrer
Familie ging. Sie hatte Angst, ihr gewohntes Leben aufgeben zu müssen. Dachte sie wie ihr Vater? Wollte sie, dass alles so blieb, wie es war? »Es tut mir Leid, Dr. King!«, sagte sie mit erstickter Stimme und rannte davon. Vor der Kirche lehnte sie sich auf das breite Treppengeländer und seufzte kummervoll. Sie spürte die neugierigen Blicke der anderen Kirchgänger und bemerkte, wie ihr Vater sie missbilligend ansah. Sie riss sich zusammen und war froh, dass Edward in diesem Augenblick aus der Kirche kam und ihr ein Lächeln entlockte. »Komm, wir gehen ein Stück!«, sagte er und führte sie die Treppe hinab. Ihren Eltern gab er durch ein knappes »Alles in Ordnung, Mr. Jackson!« zu verstehen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. »Wir kommen nachher bei Ihnen vorbei!« Abseits der Kirchgänger, die wie nach jedem Gottesdienst vor der Kirche stehen blieben und Neuigkeiten austauschten, legte Edward seiner Freundin einen Arm um die Schultern. Er hatte längst erkannt, welche Gedanken sie plagten. »Mach dir keine Vorwürfe, Audrey! Niemand will dich oder deine Familie unter Druck setzen! Ich habe gesehen, was ihr euch aufgebaut habt. Ich kann mir vorstellen, wie schwer euch die Entscheidung fallen muss, dieses Glück aufs Spiel zu setzen! Lass dir Zeit, okay?« Sie blieb stehen und wischte sich einige Tränen aus den Augen. »Ich fühle mich so… so schäbig, Edward! Martin Luther King hat Recht, wenn er sagt, dass wir Jesus bedingungslos folgen müssen, wenn wir wirklich glücklich und zufrieden sein wollen. Aber ich bringe es einfach nicht fertig, in eure… eure Armee einzutreten.« Sie kramte ein Taschentuch hervor und schnauzte sich. »Versuch mich zu verstehen, Edward! Versuch meinen Vater zu verstehen! Er hat sein ganzes Leben gearbeitet, um uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Laden, das Haus… warum soll er das alles
aufs Spiel setzen, um einen aussichtslosen Kampf gegen die Weißen zu führen? Eine Armee der Liebe… die Weißen lassen es sich bestimmt nicht gefallen, dass ihr protestiert! Die Polizei wird die Anführer festnehmen und ins Gefängnis sperren und der Ku-Klux-Klan… der Klan wird brennende Kreuze aufstellen und unschuldige Menschen ermorden!« »Die Macht der Liebe ist stärker als aller Hass«, wiederholte Edward die Worte seines Lehrers. »Denke an Jesus Christus! Auch er stand in seiner schwersten Stunde einer Übermacht von bewaffneten Männern gegenüber und doch hat er triumphiert!« »Jesus war vollkommen! Er verwandelte Wasser in Wein und stand von den Toten auf! Welche Wunder willst du tun, um die Weißen zu besiegen? Glaubst du wirklich, dass uns die Weißen einmal als gleichwertige Menschen betrachten werden? Dass die beiden Kerle, die mich überfallen haben, ihren Hass vergessen?« Sie schüttelte den Kopf und seufzte leise. »Ich möchte es so gerne glauben, Edward, aber ich kann nicht. Ich kann nicht.« Er nahm den Arm von ihren Schultern und führte sie zur Kirche zurück. »Eines Tages wirst du daran glauben, da bin ich ganz sicher. Mach dich nicht verrückt! Auch Martin Luther King brauchte lange, bis er den Mut fand, diesen Weg zu gehen.« Er blieb stehen und betrachtete sie. »Das Kleid steht dir wirklich gut, Audrey! Ich wette, heute würde sogar Mary Wells neben dir verblassen!« Audrey war nicht auf ein solches Kompliment gefasst und wusste nicht, was sie sagen sollte. Mary Wells gehörte zu den wenigen schwarzen Sängerinnen, die weit oben in den Charts standen, und ihre Fotos hingen bei fast allen schwarzen Teenagern an der Wand. »Hi, Cynthia«, lenkte Audrey schnell ab, als sie die Tochter des Direktors entdeckte. Das Mädchen unterhielt sich angeregt mit drei Freundinnen. Zwei der
Mädchen, Carol Denise McNair und Addie Mae Collins, sangen wie Cynthia im Kinderchor der Kirche, das andere Mädchen kannte Audrey nur vom Sehen. »Wie geht’s dir?«, sagte sie zu Cynthia. »Sind deine Eltern hier?« Cynthia deutete auf die Erwachsenen, die in kleinen Gruppen vor der Kirche standen und sich unterhielten. »Die sind irgendwo da drüben. Hast du schon von unserem Konzert gehört? Pastor Cross hat uns versprochen, dass wir am Ostersonntag für die Erwachsenen singen dürfen! Wir geben ein richtiges Konzert!« »Das freut mich«, erwiderte Audrey. »Wenn Edward noch hier ist, kommt er bestimmt auch!« Sie blickte ihren Freund an und spürte einen leichten Stich, als sie daran dachte, dass er ihre Stadt irgendwann verlassen würde. »Hast du von Sarah gehört?« »Sarah Lee? Die ist okay. Ich hab gestern Morgen lange mit ihr telefoniert und ihr gesagt, dass sie keine Angst mehr zu haben braucht. Jetzt hat der Klan bestimmt andere Sorgen! Glaubst du, wir können die Klansmänner vertreiben? Ich hab gehört, was Dr. King gesagt hat. Meinst du, die Kapuzenmänner laufen davon, wenn Martin Luther King und seine Leute auf die Straße gehen? Addie Mae sagt, dass sie alle Schwarzen aufhängen!« »Das ist nicht wahr!«, wehrte sich Addie Mae. Mit ihrer Brille und den krausen Haaren wirkte sie jünger als Cynthia, obwohl sie im selben Jahr geboren war. »Ich hab nur gesagt, dass sie jeden aufhängen, der gegen sie ist. Das weiß ich von meinem Daddy!« »Glaub mir, wir tun alles, damit so etwas nicht mehr passiert!«, meinte Edward. »Irgendwann kommt der Tag, an dem sich Weiße und Schwarze verstehen werden. Dann ist es egal, welche Hautfarbe du hast. Du wirst es erleben, das
verspreche ich dir! Aber du musst jeden Tag zum lieben Gott beten! Tust du das?« »Wir beten jeden Tag, Mister. Vor jedem Essen und in der Schule. Und sonntags gehen wir in die Kirche. Ich hab in diesem Jahr noch keine Sonntagsschule verpasst, stimmt’s, Cynthia?« »Ich auch nicht«, meinte die Tochter des Direktors. Audrey war froh, dass Edward ihr zu Hilfe gekommen war. Allein hätte sie bestimmt eine falsche Antwort gegeben. »Wir sehen uns morgen in der Schule«, verabschiedete sie sich von Cynthia.» Sag deinen Eltern einen schönen Gruß von mir, ja?« »Mach ich, Audrey. Bis bald!« Das kurze Gespräch mit den Mädchen hatte Audreys Gemütslage erheblich verbessert. Sie konnte schon wieder lachen, als sie neben Edward in seinem Caddy saß, und freute sich auf das bevorstehende Picknick. Das letzte Picknick hatten sie mit ihren Nachbarn im Sommer veranstaltet. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, weil Robin und Napoleon den heißen Kakao über dem ausgebreiteten Tischtuch ausgegossen hatten. Mit einem jungen Mann war sie noch nie im Grünen gewesen. Die wenigen Jungen, mit denen sie ausgegangen war, hatten sie ins Kino, in einen Drugstore oder in ein Tanzlokal geführt. Ihre Namen hatte sie vergessen. Edward war der erste Mann, der mehr als nur ein leichtes Kribbeln in ihrem Bauch verursachte. »Du kannst gut mit Kindern umgehen«, sagte sie, als sie am Kelly Ingram Park vorbeifuhren. »Wo hast du das gelernt?« Er hatte beide Hände auf dem Lenkrad liegen. »Ich hab mich schon in Montgomery und Alabama um die Kinder gekümmert. Sie haben Angst um ihre Eltern. Manche glauben sogar, dass alle Erwachsenen, die gegen die Weißen protestieren, auf den elektrischen Stuhl kommen und sterben
müssen. Ich musste ihnen Mut machen. Ich habe viel mit ihnen gesungen und gebetet.« Sie lächelte. »Nur mit Jay-Jay kommst du nicht zurecht! Ich glaube, der ist uns allen über! Ich möchte wissen, wo er steckt!« »Jay-Jay ist ein Überlebenskünstler«, erwiderte Edward. Er machte sich kaum Sorgen um den Jungen. »Der meldet sich schon, wenn er was von uns will. Einer wie er geht nicht unter!« »Hoffen wir’s«, meinte Audrey. Sie wartete, bis Edward vor dem Haus ihrer Eltern geparkt hatte, und rannte hinein, um den Picknickkorb zu holen. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause. »Gott sei Dank!«, seufzte sie, nachdem sie den Korb auf den Rücksitz gestellt hatte. »Ich glaube, mein Vater hat heute schlechte Laune!« »Wegen Martin Luther King?« Audrey nickte. »Die Sache macht ihm ziemlich zu schaffen. Du darfst ihm nicht böse sein! Er ist kein Feigling! Er hat im Zweiten Weltkrieg gegen die Japaner gekämpft! Jetzt hat er Angst um uns! Er will nicht, dass wir mutwillig unsere Zukunft zerstören!« »Er wird seine Meinung ändern«, war Edward sicher. »Das glaube ich nicht. Daddy kann ziemlich stur sein.« Edward bog in eine Tankstelle und wartete geduldig, bis der schwarze Angestellte seinen Wagen vollgetankt hatte. Er bezahlte und wollte gerade wieder losfahren, als Jay-Jay einstieg und es sich auf dem Rücksitz bequem machte. »Hallo, Leute!«, meinte er. »Ich dachte schon, ihr wollt ohne mich losfahren!« »Jay-Jay!«, erschrak Audrey. »Wo kommst du denn her?« Der Junge trug dieselben Sachen wie vor zwei Tagen und hatte seine Baseballmütze tief in die Stirn geschoben. »Ich war unterwegs. Wichtige Sache! Wenn du auf der Straße überleben
willst, brauchst du Stammkunden! Verlässliche Leute. Ohne Stammkunden kannst du einpacken! Hab ich in New York City gelernt.« »Was für Stammkunden?«, fragte sie. Sie drehte sich zu dem Jungen um. »Du machst doch keine krummen Sachen, oder?« Jay-Jay grinste unter seiner Baseballmütze. »Schon mal mit ehrlicher Arbeit reich geworden? Für das Kleingeld, das ich Leuten wie euch abluchse, krieg ich nicht mal ‘n Abendessen!« »Du kommst ins Gefängnis, wenn du gegen das Gesetz verstößt!«, sagte Audrey. »Ein paarmal hast du vielleicht Glück, aber irgendwann erwischen sie dich und dann landest du hinter Gittern! Warum gehst du nicht zu deiner Tante? Die hilft dir bestimmt! Geh in die Schule und lern was! Mit einer anständigen Ausbildung verdienst du genug Geld! Dann kannst du dir ‘ne Wohnung leisten und im Laden einkaufen! Du brauchst dich nicht mehr auf der Straße herumzutreiben! Denk darüber nach!« »Du klingst wie dieser Pinguin, der mir in Brooklyn an die Wäsche wollte, diese Schwester Sowieso!«, erwiderte Jay-Jay schnippisch. »Die wollte mir doch tatsächlich weismachen, dass ich nur in den Himmel komm, wenn ich ins Kloster geh! Ich lach mich kaputt. Wer sagt denn, dass ich in den Himmel will?« »Kein Mensch redet von einem Kloster!«, mischte sich Edward ein. Er war auf die Hauptstraße gebogen und fuhr langsam nach Südosten weiter. »Wir wollen nur, dass du nicht vor die Hunde gehst. Was ist das für ‘n Stammkunde, für den du arbeitest?« »Betriebsgeheimnis.« »Haben wir dich vielleicht verraten? Haben wir dir eine Klosterschwester auf den Hals gehetzt? Wir sind deine Freunde, Mann!« »Ich darf seinen Namen nicht sagen.«
»Ein Schwarzer?« »Was denn sonst?« »Was machst du für ihn? Botengänge?« »So was Ähnliches.« Jay-Jay blickte vorwurfsvoll unter seiner Mütze hervor. »Was soll das werden, Meister? Ein Verhör?« »Edward.« »Was?« »Ich heiße Edward.« »Ach, lass mich in Ruhe!« Edward verkniff sich ein Lächeln. Ohne ein weiteres Wort fuhr er zur Fourth Avenue und hielt mitten im Rotlichtbezirk neben einem Lincoln Continental. Er deutete auf den Schuhputzladen an der Ecke 17th Street und fragte: »Wohnt der Kerl vielleicht hier?« Audrey erschrak. Wie fast alle Schwarzen wusste sie, wer diesen Schuhputzladen als Tarnung benutzte. Es war ein offenes Geheimnis, dass der Rat Killer im Hinterzimmer mit Rauschgift, Schnaps und leichten Mädchen handelte. Sogar Stars wie Sam Cooke und B. B. King vergnügten sich nach einer Show bei ihm. »Der Typ heißt Charles Barnett, nicht wahr? In Birmingham nennen sie ihn den ›Rat Killer‹, weil er vor einigen Jahren noch als Kammerjäger gearbeitet und Ungeziefer vernichtet hat. Ein großer Schwarzer mit gelackten Haaren und einer goldenen Taschenuhr und genug Dollarscheinen in seinem Maßanzug, um ganz Alabama zu kaufen! Arbeitest du etwa für diesen Gauner?« »Den Rat Killer hab ich nie gesehen«, antwortete Jay-Jay. »Aber seine Leute! Weißt du nicht, wie gefährlich diese Burschen sind? Die schrecken vor nichts zurück! Die bringen dich um, wenn du ihnen im Weg bist, und kein Gericht der Welt verurteilt sie dafür! Rat Killer ist ein Gangsterkönig! Er
handelt mit jedem, der ihm Geld verspricht, mit Weißen und Schwarzen, und wir haben sichere Beweise dafür, dass er Spitzeldienste für die Polizei übernimmt! Er steckt mit Bull Connor unter einer Decke! Manche Leute behaupten sogar, dass er für den Klan arbeitet!« »Für einen Mann, der erst seit wenigen Tagen in der Stadt ist, weißt du erstaunlich gut Bescheid«, erwiderte Jay-Jay amüsiert. Die Fahrertür des Lincoln Continental ging auf und ein Mann in grauer Chauffeursuniform stieg aus. Ein Schwarzer. Er ging dienstbeflissen um die Limousine herum und öffnete eine der hinteren Türen. Den Cadillac schien er erst jetzt zu bemerken. Er sagte etwas zu dem Mann auf dem Rücksitz und rückte eifrig seine Krawatte zurecht, als sein Fahrgast ausstieg. »Runter!«, rief Edward erschrocken und Jay-Jay war schlau genug, sich ohne Widerrede zwischen die Sitze fallen zu lassen. Mit der rechten Hand schob Edward eine alte Wolldecke über ihn. Ein elegant gekleideter Mann stieg aus dem Lincoln Continental. Audrey erkannte ihn sofort. Sie hatte sein Bild mehrmals in der Zeitung gesehen, zuletzt im Dezember, als er auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung eine großzügige Summe für ein neues Krankenhaus gespendet hatte. Der Rat Killer! Er war kleiner, als sie gedacht hatte, und trug seinen Spazierstock wie englische Offiziere in einem Abenteuerfilm. Sein Gesicht wirkte kantig und streng. Noch bevor Edward auf die Idee kommen konnte, auf den Gashebel zu treten und zu fliehen, tauchte er vor seinem Fenster auf und wartete, bis er es heruntergekurbelt hatte. »Sie arbeiten für Martin Luther King, nicht wahr?« Seine Stimme klang erstaunlich sanft. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, junger Mann: Verschwinden Sie oder ich rufe augenblicklich die Polizei! Ich mag es nicht, wenn man hinter mir herschnüffelt!«
»Und ich mag es nicht, wenn ein Schwarzer gemeinsame Sache mit Bull Connor macht!«, erdreistete sich Edward zu sagen. »Verschwinden Sie!«, sagte der Rat Killer noch mal. Diesmal ließen seine Worte keine Widerrede zu und Edward beeilte sich, den Wagen über die Fourth Avenue nach Nordosten zu lenken. »Du kannst wieder rauskommen«, sagte er zu Jay-Jay, als sie die Hauptstraße erreicht hatten.
10
»Dem hast du’s aber ganz schön gegeben«, meinte Jay-Jay grinsend, als sie die Außenbezirke von Birmingham erreicht hatten. »Heiße Kiste, die Sache mit Bull Connor! Du kannst froh sein, dass er dir keine Knarre an die Stirn gedrückt hat!« Er zog am Schirm seiner Baseballmütze und bemühte sich seine Nervosität zu verbergen. »Rat Killer ist ‘ne große Nummer! Der kennt keine Verwandten, wenn er einen auf der Liste hat. Ich hab selbst gesehen, wie seine Leute einen Mann verprügelt haben. Einen Schwarzen! Ein Musiker, der seine Schulden nicht bezahlen konnte. Sie haben ihn windelweich geschlagen und ihn zwischen den Mülltonnen liegen lassen. Ich hab’s gesehen, Mann!« »Und wieso lässt du dich mit ihm ein? Die machen mit dir genau dasselbe, wenn du Mist baust! Schon mal drüber nachgedacht? Einem Mann wie Rat Killer ist es egal, wie alt du bist.« Jay-Jay winkte ab. »Ich kenn den Typ doch kaum. Hab nie mit ihm gesprochen. Ich hab ein paar Botengänge für seine Handlanger übernommen, weiter nichts. Keine große Sache!« »Ich würde ihm trotzdem aus dem Weg gehen. Wegen der paar Dollar lohnt es sich bestimmt nicht, für einen Gangster zu arbeiten. Such dir einen anständigen Job, Jay-Jay, das bringt mehr!« »Und was soll ich tun? Weißen Angebern die Schuhe putzen? Einen Gepäckkarren am Bahnhof schieben? Ich brauch Kohle, Mann, richtige Kohle, und die bekomm ich nur, wenn ich früh genug die richtigen Quellen anzapfe. Ich will was Besseres werden als mein Vater oder meine Mutter. Also komm mir
nicht mit diesen Sprüchen! Von wegen geh in die Schule und lern was und mach einen Diener, wenn du mit dem weißen Gentleman sprichst!« Er blieb eine Weile stumm sitzen, dann beugte er sich zur Seite und hob das karierte Tuch auf dem Picknickkorb hoch. »He, ist das Thunfisch auf den Sandwiches? Mit Majonäse, Tomaten und dem ganzen Zeug? Ich nehm mir schon mal eins, okay?« »Du wirst schön die Finger von den Broten lassen!«, warnte Edward grinsend. »Die gibt’s erst, wenn wir einen Platz gefunden haben! Nimm dir ‘ne Cola!« Er beobachtete im Rückspiegel, wie Jay-Jay eine Flasche öffnete und gierig trank. Zu Audrey sagte er: »Ich hab gedacht, wir fahren den Highway 31 raus. Da gibt’s viel Wald und wir können uns zwischen den Bäumen verstecken.« Audrey wusste, was er meinte. Die öffentlichen Picknickplätze waren für Schwarze verboten und am Straßenrand boten sie eine willkommene Zielscheibe für den Klan und andere streitlustige Weiße. Sie ballte die Faust. Früher hätte sie nie darüber nachgedacht. Erst seit sie Edward kannte und Martin Luther King gehört hatte, wurde ihr bewusst, wie wenig Rechte sie hatten. Sie verdrängte die dunklen Gedanken und blickte Edward an. »Letztes Mal waren wir auch im Wald«, sagte sie, »ein paar Meilen aus Birmingham raus und dann links in die Büsche. Da kommt keiner hin!« Edward merkte, wie verstört sie war, sagte aber nichts. Audrey würde ein paar Tage brauchen, um über die Predigt von Martin Luther King nachzudenken. Sie war nicht so impulsiv wie Betty Ann, die am liebsten sofort in einen heiligen Krieg gezogen wäre. In Albany war es ähnlich gewesen. Die meisten Schwarzen waren so daran gewöhnt, von den Weißen unterdrückt zu werden, dass sie sich ein anderes Leben kaum noch vorstellen konnten. Nach dem Bürgerkrieg,
vor ungefähr hundert Jahren, war es ähnlich gewesen. Da gab es befreite Sklaven, die zu ihren Herren zurückkehrten, weil sie mit der Freiheit nichts anzufangen wussten. Sie wollten lieber in Knechtschaft leben. Sie ließen die Stadt hinter sich und fuhren über den Highway 31 nach Norden. Auf der Straße war wenig Verkehr. Aus den Schornsteinen der Stahlwerke zog Rauch herüber und legte sich als grauer Schleier über die Felder. Birmingham war eine hässliche Industriestadt und selbst in den ländlichen Vororten und auf den weit verstreuten Farmen war der Schmutz zu spüren. Der weiße Mann saß wieder auf der Veranda, den gefleckten Hund zu seinen Füßen, als sie an dem Laden mit dem CocaCola-Schild vorbeifuhren. Er kümmerte sich nicht um sie, hob nicht einmal den Kopf. Audreys Gedanken wanderten zu den Thorntons, die ein paar Meilen weiter nördlich wohnten. Sie hatten so verängstigt gewirkt, als sie aus ihrem Versteck geklettert waren, dass sie sich ernsthafte Sorgen machte. Selbst wenn der Klan nicht zurückkehrte, war die Gefahr groß, dass der gemeine Überfall auf Michael die ganze Familie in die Knie zwang. Ihre Augen waren voller Schmerz gewesen, als sie den Jungen im Rollstuhl angesehen hatten. Sie tröstete sich damit, dass Cynthia erzählt hatte, es gehe den Thorntons gut, sie hätten keine Angst mehr. »Hier geht’s nach links«, sagte Audrey, als sie den schmalen Feldweg erkannte, über den sie im letzten Sommer gefahren waren. »Und dann nach rechts in den Wald rein! Gleich die erste Lichtung!« Sie drehte sich zu dem Jungen um. Er nuckelte stumm an seiner Colaflasche. »He, Jay-Jay! Bist du noch da?« »Ich hab Hunger«, kam die mürrische Antwort. Sie breiteten das karierte Tischtuch auf der Lichtung aus, die Audrey ihnen zeigte. Zwischen den Bäumen war nichts von
der nahen Stadt zu spüren. Der Highway schien meilenweit entfernt zu sein. Die Stille vertrieb Audreys sorgenvollen Gedanken und zauberte ein zufriedenes Lächeln auf ihr Gesicht. Es tat gut, dem Alltag und den täglichen Sorgen zu entfliehen. Bei der Vorstellung, dass sie Edward und Jay-Jay beinahe schon zur Familie zählte, errötete sie. Zum Glück konnte Edward ihre Gedanken nicht lesen. Oder doch? »So was hab ich schon jahrelang nicht mehr gemacht«, sagte er, »das letzte Mal mit meinen Eltern, mein Gott, das ist schon eine halbe Ewigkeit her! Am Lake Michigan.« Edward sprach ein kurzes Gebet, bevor sie aßen und Jay-Jay sich heißhungrig über ein Thunfisch-Sandwich hermachte. Er kaute mit vollen Backen, spülte die Bissen mit Coca-Cola hinunter und griff nach einem Hühnchenteil, bevor ein anderer es nehmen konnte. Erst dann aß er von dem Kartoffelsalat, den Audreys Mutter in ein Glas gefüllt hatte. Zum Nachtisch teilten sie sich eine halbe Wassermelone. »Nicht übel«, lobte Jay-Jay, »so ‘n gutes Essen hab ich schon lange nicht mehr bekommen! Noch besser als der Cheeseburger aus dem Drugstore!« Er stützte sich auf die Ellbogen und leckte sich über die Lippen. »Wie wär’s mit einem Spielchen?«, fragte Edward, nachdem sie den Korb mit den Essensresten im Wagen verstaut hatten. »Poker? Ich bin gut im Pokern«, sagte Jay-Jay. Edward öffnete den Kofferraum und warf ihm einen Baseballschläger zu. Der Junge fing ihn geschickt auf. »Baseball«, erwiderte Edward, griff nach dem Ball und reichte Audrey den Lederhandschuh. »Wollen doch mal sehen, was du so draufhast!« »Baseball ist was für Weiße!« »Das haben sie von Football auch gesagt!« Audrey zog den festen Handschuh an und baute sich hinter dem Jungen mit dem Schläger auf. Sie kannte die Regeln, hatte schon einige Male mit ihrem Vater und ihrem älteren Bruder
gespielt. Ihr Vater warf den Ball so schwach, dass sie keine Mühe hatte, ihn zu fangen, wenn Napoleon ihn verfehlte. Edward legte mehr Kraft in seine Würfe. Von seinem ersten Schlag wurde sie beinahe umgeworfen. Jay-Jay traf erst beim siebten Mal und reckte triumphierend den Schläger in die Höhe. »Um mich zu schlagen, musst du schon früher aufstehen!«, tönte er. Sie spielten, bis die Sonne weit nach Westen gewandert war und die Lichtung vollkommen im Schatten lag. Obwohl Audrey erschöpft war, fühlte sie sich seltsam beschwingt. »So einen schönen Sonntag hab ich schon lange nicht mehr erlebt«, sagte sie und erschrak, als sie Edward umarmte und ihn auf beide Wangen küsste. »Nicht so stürmisch!«, lästerte Jay-Jay. Ihre gute Laune verging erst, als sie über den Feldweg zum Highway fuhren und Audrey eine dunkle Rauchwolke über dem Wald aufsteigen sah. »Das kommt von den Thorntons!«, erkannte sie sofort. »Lass uns bei den Thorntons vorbeifahren! Am Highway nach links und dann zwei oder drei Meilen nach Norden!« »Der Klan?«, fragte Jay-Jay nervös. »Sieht ganz so aus«, antwortete Edward besorgt. Er steuerte den Cadillac auf den Highway und trat den Gashebel durch. Audrey hielt sich mit beiden Händen an der Halteschlaufe fest, als sie zur Farm der Thorntons abbogen und ins Schleudern gerieten. Auf dem Feldweg waren frische Reifenspuren zu erkennen. Edward schonte den Caddy nicht, trieb ihn mit Vollgas durch die Schlaglöcher und hielt mit quietschenden Bremsen auf dem Hof. Sie kamen zu spät. Das Farmhaus und der Hühnerstall waren abgebrannt, nur die Scheune war verschont worden. Von den schwelenden Trümmern stieg beißender Rauch auf. Der Hund lag zwischen einigen Brettern, in seinem verkohlten Fell waren mehrere Einschusslöcher zu sehen. Einige Hühner liefen
ziellos umher und gackerten nervös. Neben den Überresten des Hauses erhob sich ein brennendes Kreuz, das sichtbare Zeichen dafür, dass der Ku-Klux-Klan die Thorntons heimgesucht hatte. »Mein Gott!«, stieß Audrey entsetzt hervor. Sie hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase und blickte fassungslos auf das Chaos. »Sarah Lee! Michael! Sie können doch nicht…« Sie rannte über den Hof, suchte zwischen den schwelenden Trümmern nach der Falltür und wich zurück, als die Hitze und der Rauch unerträglich wurden. »Sarah Lee! Michael!«, schrie sie verzweifelt. »Mr. Thornton! Mrs. Thornton! Wo sind Sie?«, rief Edward. Jay-Jay sagte gar nichts. Er starrte mit geweiteten Augen auf das brennende Kreuz, schien erst jetzt zu verstehen, dass es den Ku-Klux-Klan wirklich gab und die Schreckensgeschichten nicht erfunden waren. Seine Augen füllten sich langsam mit Tränen. »Mr. Thornton! Sind Sie hier irgendwo?« Die Scheunentür öffnete sich und die Thorntons traten zögernd ins Freie. Ihre Gesichter waren rußgeschwärzt und ihre Kleidung hing in Fetzen herunter. Alex Thornton hielt eine Schrotflinte in beiden Händen. Seine Frau schob den Jungen im Rollstuhl. Sarah Lee klammerte sich mit verstörtem Blick an ihre Mutter. Alex Thornton ließ die Schrotflinte sinken und sagte: »Ihr kommt zu spät, Leute! Wir können von Glück sagen, dass wir noch am Leben sind! Sie wollten uns alle aufhängen! Die ganze Familie!« Edward holte eine Wasserflasche aus dem Wagen und gab den Thorntons zu trinken. Audrey umarmte die weinende Sarah Lee. »Sie kamen vor ein paar Stunden«, berichtete Alex Thornton, nachdem er aus der Flasche getrunken hatte, »vier Männer in weißen Kutten und zwei junge Kerle in einem Pickup. Zum Glück haben sie unser Versteck nicht gefunden! Wir
sind sofort rein, als wir sie kommen sahen, und erst wieder raus, als wir halb erstickt waren! Sie haben Amber umgebracht, nicht wahr?« »Den Hund?« Edward nickte. »Sie haben ihn erschossen.« Alex Thornton zeigte keine Regung. »Das dachte ich mir! Wir haben gehört, wie sie geschossen haben. Die Kerle mit dem Pick-up waren betrunken!« Er hielt die Schrotflinte hoch. »Ich hätte sie über den Haufen geschossen, wenn sie in unser Versteck gekommen wären! Ohne zu zögern! Ich schwöre es, ich hätte zwei oder drei von ihnen mitgenommen, bevor sie uns aufgehängt hätten! Das sind keine Menschen! Das sind wilde Tiere!« »Sie haben großes Glück gehabt, Mr. Thornton«, sagte Edward ruhig. »Haben Sie was abbekommen? Sind Sie verletzt? Wenn Sie wollen, bringen wir Sie ins Krankenhaus nach Birmingham!« Alex Thornton schüttelte resigniert den Kopf. »Diese Stadt betrete ich nie mehr! Und meine Familie auch nicht! Wir ziehen weg, heute Abend noch! Hier bleibe ich keine Minute länger!« »Sie wollen weg?«, erschrak Audrey. »Aber Sie können doch nicht alles stehen und liegen lassen! Was ist mit Ihrer Farm?« »Was soll mit ihr sein?« Das Lächeln des Farmers wirkte kalt und unnachgiebig. »Wegen der paar Hühner und der Milchkuh im Stall bleibe ich bestimmt nicht! Was meinen Sie, was passiert, wenn wir das Haus wieder aufbauen? Sie zünden es noch mal an und dann haben wir vielleicht nicht so viel Glück. Nein, wir ziehen weiter. Ich hab etwas Geld gespart, das hab ich in Mikes Rollstuhl versteckt, und die Kuh und die Hühner sollen sich die Nachbarn holen. Den Wagen hab ich im Stall geparkt.« Sein Lächeln verstärkte sich. »So schlecht geht es uns gar nicht.«
»Sie brauchen frische Kleider«, versuchte Edward den Farmer umzustimmen, »was zu essen und zu trinken! Denken Sie an die Kinder! Sie können doch nicht Hals über Kopf von hier verschwinden!« »Ich kann«, erwiderte er grimmig. Seine Stimme wurde noch fester und entschlossener. »Weiß Gott, ich kann! Wir fahren so lange nach Norden, bis wir keine brennenden Kreuze mehr sehen!« »Was ist mit der Schule?«, fragte Audrey. Sie strich Sarah Lee über die Haare und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. »Sie dürfen nicht aufgeben, Mr. Thornton! Bleiben Sie hier! Wir dürfen vor dem Klan nicht in die Knie gehen! Wir müssen uns wehren!« Ohne es zu merken sprach sie plötzlich wie ihre Freundin aus Bessemer. »Wenn wir aufgeben, wird der Terror immer größer!« »Ihr wart nicht hier, als die Klansmänner kamen«, erwiderte Alex Thornton ruhig. »Ihr habt nicht gesehen, wie sie Mike zum Krüppel geschlagen haben! Ihr habt dieses verdammte Feuer nicht gespürt! Das war schlimmer als in der Hölle!« Seine Gestalt straffte sich. »Nein, wir gehen! Wir gehen und das ist endgültig!« »Rufen Sie im Gaston Motel an, wenn Sie Hilfe brauchen!«, rief Edward dem Farmer nach. »Ich heiße Edward Hill. Verlangen Sie nach mir oder hinterlassen Sie eine Nachricht! Wenn Sie wollen, wickeln wir den ganzen Papierkram für Sie ab! Da gibt es immer was zu erledigen! Sie bekommen Ärger mit den Behörden, wenn Sie einfach weggehen! Okay?« »Auf das bisschen Ärger kommt es auch nicht mehr an«, erwiderte der Farmer missmutig. Er öffnete die Stalltür und hob seinen kranken Sohn in den rostigen Pick-up. Den Rollstuhl band er auf der Ladefläche fest. Er half seiner Frau und seiner Tochter in den Wagen und blieb neben der Fahrertür stehen. »Vielen Dank«, brummte er und man sah,
dass er den Tränen nahe war. »Wer weiß? Vielleicht komme ich auf Ihr Angebot zurück. Auf Wiedersehen!« Er stieg ein und drehte den Zündschlüssel. Ohne zu hupen oder zu winken fuhr er mit seiner Familie vom Farmhof. »Scheiße!«, fluchte Jay-Jay heiser. »Die haben verdammtes Glück gehabt, dass die Klansmänner sie nicht umgelegt haben!« Audrey blickte dem Pick-up der Thorntons nach, bis er zwischen den Hügeln verschwunden war. Ihre Augen brannten von dem vielen Rauch und die Tränen vermischten sich mit dem Ruß auf ihrem Gesicht. Sie spürte Edwards Arm um ihre Schultern und schmiegte sich an ihn. »Jay-Jay hat Recht«, sagte sie nach einer Weile, »die Thorntons haben Glück gehabt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Klan das Versteck gefunden hätte!« »Wäre nicht das erste Mal, dass die Kapuzenmänner eine ganze Familie umbringen«, erwiderte Edward. »In Mississippi haben sie einen Mann und eine Frau und zwei kleine Kinder aufgehängt!« Über seine Wangen rannen Tränen. »Wyatt T. Walker, der Sekretär von Dr. King, hat die Leichen gesehen. Er muss jedesmal weinen, wenn er davon erzählt, und er erzählt fast jeden Tag davon. Ich glaube, so ein schrecklicher Anblick verfolgt einen das ganze Leben.« »Ich werde dieses Bild auch nicht vergessen«, sagte Audrey. Sie kehrte mit Edward und Jay-Jay zum Caddy zurück. Auf der Rückfahrt zur Hauptstraße redeten sie kein Wort. Es dämmerte bereits und dunkle Schatten lagen über den Hügeln. In der Ferne flackerten die Lichter einer Farm auf, einer weißen Farm, deren Bewohner nichts zu befürchten brauchten. Auf dem Highway waren sie mit dem Caddy fast ganz allein. Ein Scheinwerferpaar tauchte in der Ferne auf und blendete Audrey so stark, dass sie die Augen schließen musste. Steve und Duncan, schoss es ihr durch den Kopf, die beiden Kerle,
die sie überfallen hatten, waren bei den Männern gewesen, die Thorntons Farm niedergebrannt hatten! Sie hörte, wie ein Pickup an ihnen vorbeiröhrte, und wartete angsterfüllt darauf, dass seine Bremsen quietschten und sie die Lichter im Rückspiegel sah. Doch nichts geschah. Der Pick-up verschwand in der Dunkelheit. »Gott sei Dank!«, atmete sie auf. Sie entkrampfte sich und wartete ungeduldig darauf, dass sie das Ortsschild von Birmingham erreichten. Als sie vor dem Laden ihrer Eltern hielten, stieg sie ohne ein Wort zu sagen aus dem Wagen und rannte ins Haus.
11
Audrey war gerade dabei, den Kaffee aufzusetzen, als das Telefon klingelte. Sie ließ den Topf mit dem heißen Wasser stehen und rannte ins Wohnzimmer. Aufgeregt nahm sie den Hörer ab. »Hallo?« So früh rief selten jemand bei ihnen an und sie konnte sich denken, wer am anderen Ende war. »Hallo, Audrey!«, erklang die vertraute Stimme ihres Freundes. »Hier ist Edward! Entschuldige, dass ich so früh anrufe! Jay-Jay ist verschwunden!« »Jay-Jay? Seit wann?« »Heute Nacht. Um kurz nach Mitternacht lag er noch in seinem Bett, da hab ich auf die Uhr gesehen. Heute Morgen war er weg!« »Er hat nicht mal gefrühstückt?« »Er ist verschwunden, Audrey! Und diesmal mache ich mir wirklich Sorgen! Die Sache auf der Farm hat ihm schwer zu schaffen gemacht! Er hat den ganzen Abend auf den Ku-KluxKlan geschimpft und geschworen, es den weißen Verbrechern heimzuzahlen! Ich hab Angst, dass er irgendeine Dummheit begeht!« »Das glaube ich nicht, Edward!« Audrey hörte, wie ihr Vater aus dem Badezimmer kam und im Schlafzimmer verschwand. »Er ist wieder auf der Straße, auf fremde Autos aufpassen oder bei einem seiner Stammkunden! Du hast doch gehört, was er will! Vom Picknicken und Baseballspielen wird er nicht reicher!« Edward seufzte betrübt. »Ich mache mir Vorwürfe, Audrey! Ich hätte mich mehr um ihn kümmern sollen! Besonders gestern Abend! Ich hab stundenlang mit Martin Luther King
und seinen Leuten telefoniert und viel zu spät bemerkt, wie aufgewühlt er war! Er hat dauernd von dem brennenden Kreuz gesprochen! Wie er sich an dem Klan und allen anderen Weißen rächen will! Er fürchtet sich, Audrey, deshalb ist er so wütend. Und wie ich ihn kenne, stellt er irgendeine Dummheit an! Ich hätte länger mit ihm sprechen sollen, Audrey! Ich hab ihn im Stich gelassen!« »Wir finden ihn, Edward. Er treibt sich irgendwo im schwarzen Viertel herum. Woanders kann er gar nicht sein. Ruf mich in der Schule an, wenn du ihn gefunden hast! Und wenn nicht, hol mich ab, dann suchen wir gemeinsam weiter. Ich kenne mich aus!« »Ich mach mir wirklich Sorgen, Audrey!« »Wir finden ihn!« »Okay. Bis später.« Audrey legte den Hörer auf und kehrte in die Küche zurück. Ihre Eltern und ihre Geschwister saßen bereits am Frühstückstisch. »Das war dein neuer Freund, stimmt’s?«, rief Napoleon frech. Robin trank von seinem Kakao und grinste breit. Ihr Vater blickte sie vorwurfsvoll an und sagte: »Du wirst den jungen Mann nicht mehr treffen! Nach der Schule kommst du nach Hause, hast du mich verstanden? Mit diesem Edward kriegst du nur Ärger! Ich weiß, er ist ein netter Junge und er sieht gut aus, aber er ist politisch verblendet und stürzt uns alle ins Unglück, wenn wir nicht aufpassen!« Er stocherte in seinem Hirsebrei herum. »Ich hab gehört, was Martin Luther King gesagt hat! Er ist ein guter Prediger, das muss man ihm lassen! Er kann die Menschen überzeugen! Aber mich nicht! Die Weißen kann man nicht besiegen, die werden uns immer überlegen sein! Wenn er in Birmingham ein Streichholz entzündet, wird ein riesiger Flächenbrand daraus! Wir werden unser Haus und unseren Laden verlieren und können von
Glück sagen, wenn wir am Leben bleiben! Nein, du wirst diesen Jungen nicht mehr treffen! Ich verbiete es dir, Audrey!« »Ich bin neunzehn Jahre alt, Daddy!«, widersprach sie. »Ich bin kein kleines Mädchen mehr! Und ich muss ihn heute treffen um nach Jay-Jay zu suchen!« Sie setzte sich und griff nach der Gabel. »Ein kleiner Junge, den er von der Straße geholt hat. Er ist spurlos verschwunden!« Sie verschwieg ihm, wie der Junge sein Geld verdiente und was sie auf der Farm der Thorntons gesehen hatten. Noch hatte sich in ihrem Viertel nicht herumgesprochen, wen der Klan am vergangenen Nachmittag besucht hatte. »Misch dich da nicht ein, Audrey! Von meinem Vater habe ich gelernt, dass man sich nur um seine eigenen Sachen kümmern soll. Mit dieser Einstellung bin ich immer gut gefahren. Denk an deine Familie! Denk daran, was deinen Eltern und deinen Brüdern passieren könnte, wenn du dich mit den Martin-Luther-King-Leuten einlässt! Der Klan hat seine Augen überall!« »Das weiß ich, Daddy!« Sie war versucht, ihm von dem brennenden Kreuz auf der Thornton-Farm zu erzählen, und entschied sich dagegen. Es hätte ihn nur noch mehr aufgeregt. Sie wusste ja selbst nicht, auf welcher Seite sie stand. Auch sie hatte der Anblick des Kreuzes und die Angst in den Augen der Thorntons verunsichert. Sie verstand den Farmer. Manchmal war es besser, vor einer Bedrohung davonzulaufen. Es hatte nichts mit Feigheit zu tun. Sie fand es mutig, ohne ein festes Ziel nach Norden zu ziehen und neu anzufangen. Nach dem Frühstück verschwand ihr Vater brummend im Laden. Ihre Mutter hatte mit ihren Brüdern zu tun, die wieder einmal stritten. Alberta war längst gegangen. »Bye, Mom«, rief sie, während sie die Haustür öffnete und zum Wagen ging. Auf der Fahrt zur Schule schaltete sie das Radio ein. Tall Paul brachte die neusten Hits von Sam Cooke und Mary Wells und
eine Ballade der Drifters. Morgens hatte der Discjockey immer die besten Sprüche auf Lager. Audrey war froh, etwas abgelenkt zu werden, und lachte viel. In den Nachrichten ging es um ein neues Gesetz zur Altersversorgung, das Präsident Kennedy dem Kongress vorgeschlagen hatte, und die Streiks in einer Autofabrik in Detroit. Kein Wort von dem heimtückischen Überfall des Klan. Im Schulhof begegnete ihr Cynthia. Das Mädchen lehnte an einer Wand, die grüne Schleife im Haar und die Augen voller Tränen. »Sarah Lee ist weg«, meinte sie traurig, »ich hab sie heute Morgen angerufen und es hat niemand abgenommen! Mein Daddy sagt, dass die Thorntons in eine andere Stadt gezogen sind! Sie haben Angst vor dem Klan!« Sie rieb sich die Tränen aus den Augen. »Wir haben auch Angst vor dem Klan und fahren nicht weg! Warum laufen die Thorntons davon, Audrey?« Audrey nahm sie in den Arm und strich ihr beruhigend über das dichte Haar. »Du weißt doch, was Mike passiert ist. Er sitzt im Rollstuhl. Die Thorntons wollen, dass er gesund wird, und das geht nur im Norden. Dort dürfen die Schwarzen auch in die guten Krankenhäuser! Aber du brauchst nicht traurig zu sein! Sarah Lee schreibt dir bestimmt einen Brief, und wenn du mal eigenes Geld verdienst, steigst du in den Zug und besuchst sie!« »Meinst du, ich verdien mal so viel Geld, dass ich mir eine Fahrkarte kaufen kann, Audrey? Bis zu Sarah Lee und zurück?« Audrey löste sich von ihr und lächelte aufmunternd. »Wenn du immer fleißig bist und deine Hausaufgaben machst, bestimmt!« Der Schultag verging quälend langsam. Immer wieder unterbrach Audrey ihre Arbeit und blickte grüblerisch zum Fenster hinaus. Beging Jay-Jay eine Dummheit? Mehrmals war
sie versucht, bei Edward im Motel anzurufen, aber der war sowieso unterwegs, außerdem sah der Direktor es nicht gern, wenn seine Angestellten mit Verwandten oder Bekannten telefonierten. Nach dem Unterricht wartete Edward im Schulhof. Er saß auf einer flachen Mauer und hielt sein Gesicht in die Sonne. Als er Audrey kommen sah, sprang er auf und nahm sie flüchtig in den Arm. Er küsste sie auf die Wange und sagte: »Ich hab ihn nicht gefunden! Ich war sogar beim Rat Killer und hab einen seiner Männer ausgequetscht! Niemand hat ihn gesehen! Ich dachte, wir fahren mal zu seiner Tante raus, vielleicht hat die eine Ahnung!« »Warum rufst du sie nicht an?« »Die Auskunft hatte keine Nummer.« »Weißt du, wie sie heißt? Und wo sie wohnt?« Er zog einen Zettel aus seiner Jackentasche und las vor: »Amanda Clayborn, Route 12 A, Oxmoor, Alabama. Irgendwo im Süden, hab ich mir sagen lassen. Sechs oder sieben Meilen.« »Ich kenn die Straße«, erwiderte sie. »Die Second Avenue runter und am Gefängnis vorbei, dann kommen wir direkt hin.« Sie folgte Edward zum Cadillac und zögerte dann. »Mein Vater hat mir verboten, mit dir zu fahren. Ich soll mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen. Er ist mächtig wütend, weil Martin Luther King hier alles durcheinander bringt.« Edward sah sie besorgt an. »Ich zwinge dich zu nichts, Audrey! Und ich hatte niemals vor, dich für meine politischen Ideen einzuspannen. Ich bin gern mit dir zusammen, das ist alles! Mit Martin Luther King hat das nichts zu tun!« Er öffnete die Beifahrertür. »Ich bin dir nicht böse, wenn du zu Hause bleiben willst.«
»Daddy will, dass ich überhaupt nicht mehr mit dir ausgehe«, sagte Audrey und fügte trotzig hinzu: »Ich hab ihm gesagt, dass ich alt genug bin, um selbst zu entscheiden, mit wem ich mich treffe!« Sie stieg in den Wagen. »Wir können Jay-Jay doch nicht im Stich lassen! Wir müssen ihn finden, bevor er irgendwas Dummes anstellt! Es ist mir egal, ob ich Ärger bekomme! Meine Mutter kriegt das schon wieder hin! Die wickelt Daddy um den Finger!« Sie fuhren vom Schulhof und auf die Second Avenue. Edward klappte die Sonnenblende herunter. »Ich rede noch mal mit deinem Vater! Gleich wenn wir zurückkommen! Ich verspreche ihm hoch und heilig auf dich aufzupassen!« Er bremste vor einer roten Ampel und blickte sie mit einem unsicheren Lächeln an. »Du bist das netteste Mädchen, das ich jemals getroffen habe, Audrey, und ich denke nicht daran, dich so einfach aufzugeben!« Sie legte dankbar eine Hand auf seinen rechten Oberschenkel, erschrak und zog sie hastig wieder zurück. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, sagte sie: »Da vorn am Gefängnis vorbei und quer rüber auf den Highway! Dann noch ein paar Meilen nach Süden!« Auf der Straße nach Oxmoor war wenig los. Außer einem weißen Farmer auf einem modernen Traktor und einem Schulbus begegnete ihnen kein Fahrzeug. Die Sonne fiel durch das Beifahrerfenster und überzog Audrey und Edward mit einem hellen Streifen. Die Route 12 A war eine schmale Landstraße mit zahlreichen Schlaglöchern, die über die offenen Felder und zwischen einigen Hügeln hindurch in ein lang gestrecktes Tal führte. Am Ufer eines mit verfilztem Gestrüpp überwachsenen Baches, keine hundert Meter von der Straße entfernt, stand das Farmhaus der Amanda Clayborn, eine armselige Hütte mit Giebeldach und einer breiten Veranda, die
von windschiefen Balken getragen wurde. Neben der Haustür stand ein Schaukelstuhl. Noch während Audrey aus dem Cadillac stieg, hörte sie das Fliegengitter klappen und Schritte auf der Veranda. Eine Frau, ungefähr vierzig und mit einem Kopftuch, stand vor der Tür und ließ die Hände mit der Schrotflinte sinken. »Und ich dachte schon, der verdammte Klan hätte sich zu mir verirrt«, schimpfte sie. »Ich hab mir geschworen, ein paar dieser Kapuzenmänner zur Hölle zu schicken, bevor sie mich teeren und federn!« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und betrachtete die Neuankömmlinge durch ihre Nickelbrille. »Wer seid ihr? Hat der Junge was angestellt? Würde mich nicht wundern, wenn der Klan ihn erwischt und an einen Baum gehängt hätte!« Audrey und Edward stellten sich vor und wurden von der Farmersfrau mit einem kräftigen Handschlag begrüßt. Ihre Hände waren schwielig von der harten Arbeit. »Kommt rein, Leute, ich hab frischen Kaffee auf dem Herd, und wenn ich mich recht erinnere, hab ich noch einen Rest Apfelkuchen im Kühlschrank!« Die Frau führte sie ins Haus, das aus einer großen Küche und zwei Schlafzimmern bestand, und deutete auf den Ecktisch. »Setzt euch, Leute, setzt euch! Soll niemand sagen, ich geb meinen Gästen nichts zu essen und zu trinken.« Sie schenkte Kaffee ein und verteilte den Apfelkuchen. »Es geht um den Jungen, was?« Edward nickte. »Wir kümmern uns ein wenig um ihn. Gestern waren wir picknicken und die letzten beiden Nächte hat er bei mir im Motel geschlafen. Ich arbeite für Martin Luther King.« Er erzählte der Farmersfrau von dem grausamen Anblick, den Jay-Jay auf der Thornton-Farm zu sehen bekommen hatte, und fügte hinzu: »Wir haben alles abgesucht. Wir dachten, er wäre bei Ihnen.«
»Bei mir?« Amanda Clayborn lachte nervös. »Jay-Jay war nur ein paar Wochen bei mir! Den könnte ich nicht mal mit einem dieser modernen Traktoren halten! Reinste Zeitverschwendung von meiner Schwägerin, ihn hierher zu schicken! Auf der Straße leben und die Leute beklauen, das hätte er auch in Brooklyn haben können! Nein, hier ist er nicht! Ich hab ihn seit Wochen nicht gesehen!« Edward nahm einen Schluck von seinem Kaffee und aß ein Stück Apfelkuchen. »Der Kuchen schmeckt großartig«, lobte er kauend. Er ließ die Gabel sinken. »Wir machen uns große Sorgen um Jay-Jay, Mrs. Clayborn! Ich glaube, dass er sich an den Weißen rächen will. Haben Sie keine Ahnung, wo er sein könnte?« Die Farmersfrau schüttelte den Kopf. »Ich hab doch selbst schon versucht, den verdammten Bengel zu finden. Die Polizei könnt ihr vergessen, die freut sich über jeden Nigger, der verloren geht! Von einer Bekannten in der Stadt hab ich erfahren, dass er sich in Birmingham auf der Straße rumtreibt. Wär besser, er bliebe auf der Farm oder er ginge zur Schule! Ich hab versucht, ihm Disziplin einzubläuen, aber das klappte wohl nicht.« Audrey schmunzelte. »Jay-Jay hat sich beschwert, dass er jeden Morgen früh aufstehen und auf dem Acker arbeiten musste!« »Na und?«, fauchte sie. »Von nichts kommt nichts, hab ich gelernt. Aber was soll aus einem Jungen schon werden, der bei meinem Bruder und dieser Schlampe aufwächst? Robbie, so heißt mein Bruder, der hat sich doch nie um ihn gekümmert! Der hat die paar Kröten, die er auf dem Bau verdient hat, lieber mit Weibern durchgebracht! Und Mary, das ist seine Ex, die hing schon an der Flasche, als er sie geheiratet hat! Ein wahrer Jammer, dass er sie genommen hat! Ich habe Robbie gleich
gesagt, er soll ihr keine Kinder machen. Dann kam irgendwann Jay-Jay auf die Welt.« »Er ist ein guter Junge«, meinte Audrey sanft. »Sie hätten sehen sollen, wie die beiden Baseball gespielt haben!« Sie blickte Edward an. »Auf der Fourth Avenue kommt er nur auf dumme Gedanken! Ich glaube, er hat noch eine Chance, wenn er sich endlich am Riemen reißt! Wir müssen ihn finden, Mrs. Clayborn!« »Ich kann ihn nicht festbinden, Audrey! Wenn er nicht freiwillig bleiben will, soll er meinetwegen zum Teufel gehen!« Sie stand wütend auf und stellte ihren leeren Kaffeebecher in den Spülstein. Aber selbst von hinten sah man ihr an, dass sie anders dachte. Als sie sich umdrehte, hatte sie Tränen in den Augen. »Findet ihn, Leute! Und bringt ihn meinetwegen in Handschellen auf die Farm zurück! Ich hab dem Jungen nicht viel zu bieten, aber ich will verdammt sein, wenn ich nicht mehr kann als mein Bruder!« »Wir bemühen uns, Mrs. Clayborn«, versprach Edward, als sie sich verabschiedeten und auf die Veranda traten. »Ich würde Sie ja anrufen, aber die Auskunft hatte keine Nummer von Ihnen!« Die Farmersfrau winkte ab. »Ich hab kein Telefon. Hab nie eins gehabt. Kostet nur Geld und bringt ‘ne Menge Ärger! Ich hab keine Lust, alle paar Stunden von der Bank angerufen zu werden!« »Da ist was dran«, lachte Edward. »Wir melden uns, okay?« Sie wendeten vor der Veranda und ließen die Farmersfrau in einer Staubwolke zurück. Auf dem Highway schlug Edward wütend auf das Lenkrad. »Verdammt! Wo steckt der Junge bloß? Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Fällt dir nichts ein?«
Audrey überlegte lange und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, wo er sein könnte. Es sei denn…« »Es sei denn… was?« »Es sei denn, er hängt bei den Scorpions rum, das ist ‘ne Bande in der Seventh Avenue, zwischen der 14th und 15th Street, nur ein paar Blocks von deinem Motel entfernt. Aber das bezweifele ich. Die Scorpions sind keine richtige Jugendbande, weißt du, nicht so wie die Gangs in Chicago oder New York. Sie sind viel jünger.« Edward schöpfte wieder Mut. »Fragen kostet nichts! Wir fahren gleich mal hin und spüren die Burschen auf! Wenn wir ihn dort nicht finden, bring ich dich nach Hause und fahr noch mal auf die Fourth Avenue. Der Rat Killer weiß bestimmt, wo er sich rumtreibt.« Unwillkürlich beschleunigte Edward den Cadillac. Die Sonne stand bereits weit im Westen und die Bäume am Straßenrand warfen lange Schatten. Zahlreiche Wagen kamen ihnen entgegen. Angestellte und Arbeiter, die in den Vororten wohnten. Ein Viehtruck röhrte an ihnen vorbei und ließ den Cadillac erzittern. Über die 14th Street fuhren sie zur Seventh Avenue hinauf. Sie parkten vor einem Laden und sahen einige Jungen auf der Treppe vor einem Hauseingang sitzen. Sie trugen Jeans und TShirts und rauchten ungeniert, obwohl keiner von ihnen älter als zwölf sein konnte. »Gehört ihr zu den Scorpions?«, fragte Edward. »Wer will das wissen?«, fragte der Anführer, ein kräftiger Junge mit abstehenden Ohren. Er trug ein Goldkettchen um den Hals und zwei Armbanduhren am linken Handgelenk. Edward zog einen Fünf-Dollar-Schein aus seiner Hosentasche und faltete ihn der Länge nach. »Wir suchen einen Jungen. Jay-Jay. Zwölf Jahre, fast so arrogant wie ihr.
Trägt eine Baseballkappe der New York Yankees. Habt ihr ihn irgendwo gesehen?« »Die Yankees mochte ich noch nie«, sagte jemand. »Halt’s Maul!«, wies ihn der Anführer zurecht. Sein Blick war auf den Fünf-Dollar-Schein gerichtet. »Ja, der war hier. Vor drei oder vier Stunden. Wollte den großen Macker rauskehren und uns zeigen, wo’s langgeht! Ich wollte ihm gerade eine langen, da kam dieser Chevy vorbei, neustes Modell, und zwei Weiße sprangen raus und nahmen ihn mit!« »Sie haben ihn entführt?«, fragte Edward entsetzt. Der Junge zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich nehm an, dass sie rausgekriegt haben, was er ausgefressen hat. Er hat die Scheiben bei irgendwelchen Mackern eingeworfen, wissen Sie? Damit hat er die ganze Zeit bei uns geprahlt! Ich will mit der Sache nichts zu tun haben! Wir haben hier genug Mist am Hals!« »Wie sahen die Weißen aus? Habt ihr euch das Kennzeichen gemerkt? Wohin sind sie gefahren?«, wollte Edward wissen. »Weiß nicht«, erwiderte der Junge. »Krieg ich den Schein?« »Hier«, resignierte Edward und gab ihm das Geld. Er wusste, auch für einen Zwanziger würde ihm der Anführer nicht mehr verraten, schon aus Angst, die Weißen könnten zurückkehren und sich an ihm rächen. Im Wagen sank Edward erschöpft aufs Lenkrad. Audrey starrte mit feuchten Augen nach vorn. »Sie haben ihn entführt!«, sagte Edward heiser. »Wir kommen zu spät! Die verdammten Kerle haben ihn entführt!«
12
Die Sorge um Jay-Jay lag wie eine schwere Bürde auf Audreys Schultern. Den Jungen in der Gewalt des Ku-Klux-Klan zu wissen schnürte ihr die Luft ab und machte es ihr unmöglich, etwas zu sagen. Wie ein hilfloses Bündel hing sie auf dem Beifahrersitz, die Augen starr nach vorn gerichtet und beide Hände unter den Oberschenkeln. Erst als Edward vor dem Gaston Motel hielt und einen Augenblick sitzen blieb um Luft zu holen, löste sich ihre Verkrampfung. »Was hast du vor?«, fragte sie mit belegter Stimme. »Meinst du, Jay-Jay ist…« Es war ihr unmöglich, den Satz zu Ende zu sprechen. »Er ist doch nicht…« »Ich weiß es nicht, Audrey«, erwiderte Edward ehrlich. Es dämmerte bereits und das schmutzige Licht der Straßenlampen hing wie ein Schleier über seinem Gesicht. »Die Polizei kann ich nicht rufen. Die macht gemeinsame Sache mit dem Klan und lacht mich wahrscheinlich aus. Selbst wenn ich einen ehrlichen Polizisten erwische, passiert nichts. Wir haben keine Beweise! Wir wissen nicht mal, ob er entführt worden ist! Wer weiß, vielleicht ist er freiwillig zu den Männern in den Wagen gestiegen?« »Das glaubst du doch selbst nicht!« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, das glaube ich selbst nicht. Die Kerle wollen ihm einen Denkzettel verpassen!« »Wir müssen was tun, Edward!« Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür. »Ich spreche mit unseren Leuten, die wissen bestimmt eine Lösung!« Er blickte sie entschlossen an. »Warte hier auf mich! Ich bin gleich
zurück, dann bring ich dich nach Hause! Ich hab’s versprochen. Dein Vater bringt mich um, wenn ich dich in die Sache reinziehe!« »Ich lasse Jay-Jay nicht im Stich!« Aber Edward war schon ausgestiegen und verschwand in dem flachen Gebäude. Audrey blickte ihm neugierig nach. Durch die Glastür sah sie, wie er mit zwei Männern sprach. Der eine war Fred Shuttlesworth, der Pastor aus Birmingham. Den anderen Mann kannte sie nicht. Es gab einen aufgeregten Wortwechsel und Edward hob mehrmals in einer hilflosen Geste die Hände. Fred Shuttlesworth redete beschwichtigend auf ihn ein. Audrey nahm an, dass der Pastor auch nicht wusste, wie man den Kidnappern beikommen konnte, und ihn bat, das Schicksal des Jungen in Gottes Hände zu legen. Was sollten sie tun, wenn nicht mal der Pastor einen Ausweg wusste? Sie öffnete die Beifahrertür und blieb unschlüssig stehen, wollte in das Gebäude laufen und Fred Shuttlesworth an beiden Schultern packen: »Tun Sie doch irgendwas, Pastor! Wir dürfen den Jungen nicht sterben lassen! Jay-Jay ist unser Freund! Wir müssen ihn befreien!« Dann dachte sie daran, wie oft Fred Shuttlesworth mit dem Ku-Klux-Klan aneinander geraten war, und stieg wieder ein. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was es hieß, in die Hände der Klansmänner zu fallen. Er würde bestimmt nicht zulassen, dass dem Jungen etwas geschah. Er wusste einen Ausweg, ganz bestimmt! Sie blickte wieder zu dem Motel hinüber und sah, wie das Mädchen an der Rezeption einen Anruf entgegennahm und den Hörer an Edward weiterreichte. Edward griff zögernd danach. Er hatte keine Ahnung, wer am anderen Ende war. Nicht einmal seine Eltern wussten, in welchem Motel er sich aufhielt. Sie wussten nur, dass er im Süden war. »Hallo?«, meldete er sich vorsichtig. Er erwartete eine wüste Beschimpfung, einen Weißen, der auf irgendeine
Weise seinen Namen herausbekommen hatte und ihm einen Denkzettel verpassen wollte. »Hallo?«, sagte er noch einmal. »Ist da jemand?« »Edward? Edward Hill?«, erwiderte eine Stimme. Ein Weißer, das erkannte Edward schon an diesen wenigen Worten. Er gab sich keine Mühe, seinen vornehmen Bostoner Akzent zu verbergen. »Der junge Mann, der mit dem Mädchen unterwegs ist?« »Woher wissen Sie das? Wer sind Sie?« »Nennen Sie mich Floyd!«, antwortete die Stimme. »Ich gehöre nicht zum Klan! Ich bin keiner von diesen Spinnern, die Bomben legen und unschuldige Menschen ermorden! Ich meine es gut mit Ihnen!« In seiner Stimme lag eine Ernsthaftigkeit, die Edward daran hinderte, den Hörer aufzulegen. Der Fremde meinte es ehrlich, das spürte er instinktiv. »Ich bin froh, dass ich Sie erreiche«, fuhr die Stimme fort. »Sie suchen nach dem schwarzen Jungen, der heute Mittag entführt wurde, nicht wahr?« »Jay-Jay! Was wissen Sie über ihn? Wo ist er?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Floyd und raubte Edward für einen Augenblick jede Hoffnung. »Aber ich kann es mir denken! Der Chevrolet, in dem er entführt wurde, gehört einem gewissen Robert E. Chambliss. Beim Klan ist er als Dynamite Bob bekannt. Wir nehmen an, dass er die Bombe gelegt hat, die vor einigen Monaten im Haus von Fred Shuttlesworth explodiert ist.« »Sie nehmen an? Gehören Sie zum FBI?« »Zu wem ich gehöre, tut nichts zur Sache.« Seine Stimme war ruhig und eintönig, passte nicht zu den brisanten Neuigkeiten, die er überbrachte. »Dynamite Bob und drei seiner Kumpane, Bobby Frank Cherry, Herman Frank Cash und Thomas E. Blanton, haben so etwas wie eine Zweigstelle des Ku-Klux-Klan gegründet. Ihnen ist die Vorgehensweise
der Eastview Klavern zu lasch. Sie treten offen dafür ein, alle Schwarzen umzubringen! Und sie wollen alle Katholiken, Juden und alle Fremden, die ihnen nicht in den Kram passen, aus dem Land jagen! Gefährliche Männer! Sie nennen sich »Cahaba Boys«. Haben Sie den Namen schon mal gehört?« Edward blickte zu Fred Shuttlesworth und Ralph Abernathy hinüber, dem streitbaren Pastor aus Montgomery. Die Männer saßen am Fenster und hörten ihn nicht. »Ich hab den Namen in der Zeitung gelesen. Brutale Burschen, nicht wahr?« Er zögerte einen Augenblick, versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Jay-Jay in der Gewalt solcher Männer war. »Sie glauben doch nicht, dass die Cahaba Boys den Jungen entführt haben?« »Ich glaube es nicht. Ich weiß es«, antwortete Floyd nüchtern. »Sie wollen ein Exempel an dem Jungen statuieren! Hören Sie mir gut zu, Edward! Wenn Sie Jay-Jay lebend zurückhaben wollen, müssen Sie sich beeilen! Aber erzählen Sie niemand davon! Dr. King und seine Leute werden beschattet! Sie können sich ungehindert bewegen! Fahren Sie zur Cahaba Bridge! Dort treffen sich die Cahaba Boys. Unter der Brücke schütten sie sich mit Bier voll und hecken ihre teuflischen Pläne aus. Wenn Sie den Jungen haben und er ist noch am Leben, dann befindet er sich dort! Ich kann Ihnen leider nicht helfen. Fahren Sie gleich los!« »Aber ich kann doch nicht…« »Es ist Ihre einzige Chance, Edward!« Edward legte auf und ging zur Tür. »Ich muss noch mal weg, Audrey nach Hause bringen«, sagte er zu Fred Shuttlesworth und Ralph Abernathy. »Vielleicht finde ich den Jungen ja irgendwo!« »Seien Sie vorsichtig, Edward!«, warnte der Pastor aus Birmingham. »Ich verspreche Ihnen alle Anstrengungen zu unternehmen, um den Jungen zu retten! Ich berate mich gerade
mit Ralph darüber. Wir hoffen alle, dass sie ihm nur etwas Angst einjagen wollen. Wenn sie ein Kind töten, bringen sie auch einen Teil der weißen Bevölkerung gegen sich auf. Das wollen sie nicht. Nicht jetzt, so kurz vor der Bürgermeisterwahl.« »Der Klan ist zu allem fähig«, sagte Edward. Er verließ das Motel und ließ sich neben Audrey in den Wagen fallen. Während er den Motor startete und wendete, berichtete er in wenigen Sätzen von dem geheimnisvollen Anruf. Audrey blickte ihn ungläubig an. »Floyd? Ein weißer Mann?« »So hört er sich jedenfalls an. Er sagt die Wahrheit, Audrey, das hab ich irgendwie im Gefühl! Außerdem ist es die einzige Spur, die wir haben. Ich werde mich mal an der Cahaba Bridge umsehen. Sobald ich dich nach Hause gebracht habe, fahre ich hin.« »Kommt gar nicht in Frage!«, entschied sie. »Ich fahre mit!« »Aber das ist viel zu gefährlich! Ich hab versprochen, dich nicht in die Sache hineinzuziehen! Was meinst du, was die Cahaba Boys mit uns machen, wenn sie uns erwischen? Nein, ich bring dich zurück! Dein Vater bringt mich um, wenn dir was passiert!« »Ich komme mit!«, erwiderte Audrey trotzig. »Und weder du noch mein Vater werden mich daran hindern! Ich würde mir mein Leben lang Vorwürfe machen, wenn ich nicht mitfahren würde!« Sie seufzte. »Hätten wir uns doch bloß um Jay-Jay gekümmert!« Edward sah ein, dass er sie nicht umstimmen würde, und gab klein bei. »Okay, aber du hältst dich zurück! Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir da heil wieder rauskommen wollen! Ich werde auf keinen Fall dein Leben riskieren! Wir wissen nicht, wer Floyd ist. Es könnte sein, dass er uns in eine Falle lockt!«
»Ich passe auf. Ich verspreche es.« Edward wendete den Wagen und fuhr über den Red Mountain nach Süden. Er war schon ein paarmal über die Cahaba Road gefahren und wusste, wo die Brücke lag. Die Sonne war untergegangen und die Straße lag dunkel und unheimlich vor ihnen. Audrey kniff die Augen gegen die grellen Scheinwerfer der Wagen zusammen, die über die Hügelkuppen kamen, und atmete unmerklich auf, wenn sie an ihrem Caddy vorbeifuhren und in der Nacht verschwanden. Sie versuchte angestrengt ihre Angst vor Edward zu verbergen. Es war erst drei Tage her, dass sie von den Kerlen im Pick-up überfallen worden war, und allein der Gedanke, wieder in eine so aussichtslose Lage zu kommen, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. Wie musste erst Jay-Jay leiden, wenn er tatsächlich den Cahaba Boys in die Hände gefallen war? Was war, wenn unter der Cahaba Bridge ein Kreuz brannte und sie den Jungen gerade am nächsten Brückenpfeiler aufknüpften? »Warum tun sie das?«, fragte Audrey niedergeschlagen. »Warum vergreifen sie sich an einem unschuldigen Jungen? Wir leben doch nicht im Mittelalter! Dies sind die Vereinigten Staaten von Amerika und wir leben im zwanzigsten Jahrhundert! Das Land, in dem die Freiheit des Einzelnen als höchstes Gut betrachtet wird. So steht es in den Schulbüchern. Wie kommen Menschen wie diese Cahaba Boys dazu, uns so zu behandeln?« Edward nahm den Blick nicht von der Straße. »Was hat Hitler angetrieben? Warum hat er die Juden umbringen lassen? Was war mit Stalin oder diesem Stammesfürst in Afrika, der seine Gegner den wilden Tieren vorgeworfen hat? Wir sind nicht so zivilisiert, wie wir immer tun, Audrey! Das Böse lauert überall und hat Menschen wie Dynamite Bob für sich vereinnahmt! Ich bete täglich für diese Irregeleiteten! Nur das Gebet bringt uns weiter!«
»Du hast einen starken Glauben«, sagte Audrey, nachdem sie länger darüber nachgedacht hatte. »Auch ich glaube an Gott, doch wenn ich an Jay-Jay denke oder die vielen Unschuldigen, die vom Klan ermordet wurden, zweifele ich manchmal an ihm. Was ist das für ein Gott, der so etwas zulässt? Wie kann er den Schwarzen so etwas antun? Sind wir keine Menschen für ihn?« »Vor Gott sind alle Menschen gleich«, antwortete Edward. »Unglücke passieren überall, bei den Schwarzen und den Weißen.« Er dachte eine Weile nach. »Ich weiß auch nicht, warum er uns auf eine so harte Prüfung stellt.« Die Cahaba Bridge war ein schmuckloses Bauwerk mit massiven Pfeilern und eisernen Gerüsten, die bogenförmig zu beiden Seiten der Straße emporragten und sich unheilvoll vor dem dunklen Himmel abhoben. Entwurzeltes Gestrüpp trieb über die Straße und verfing sich im Geländer. Vom Flussufer leuchtete schwacher Lichtschein herauf. »Da sind sie«, sagte Edward leise ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Er lenkte den Wagen im normalen Tempo über die Brücke und hielt erst eine halbe Meile dahinter an, vor dem Eingang zu einem Campingplatz mit schäbig aussehenden Wohnwagen. Vor dem verschlossenen Büro leuchtete ein Telefon im trüben Licht. »Bleib hier und ruf bei unseren Leuten an, falls irgendetwas Unerwartetes geschieht.« Er wollte ihr die Nummer des Gaston Motels aufschreiben, doch sie schüttelte energisch den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage! Ich lasse dich nicht allein gehen!« Er hatte sich schon gedacht, dass sie dabei sein wollte, und machte gar nicht erst den Versuch, sie umzustimmen. Mit leiser Stimme warnte er sie noch einmal vor den Folgen. »Bleib dicht hinter mir und sei so leise wie möglich! Wenn die Cahaba Boys wirklich da unten sind, dürfen sie uns nicht entdecken! Keinen Laut, hörst du? Egal, was du siehst! Ich
lasse mir was einfallen, wenn sie den Jungen haben. Lauf sofort zum Wagen zurück, wenn ich es dir sage! Ich will nicht, dass sie dich erwischen! Die Cahaba Boys sind schlimmer als die Kerle, die dich überfallen haben!« »Und was ist mit dir?«, fragte Audrey besorgt. »Kümmere dich nicht um mich, verstanden?« Im Schatten einiger dunkler Bäume kehrten sie zur Brücke zurück. Sie gingen hintereinander und traten so leise wie möglich auf. Als ein Lieferwagen über die Brücke fuhr und das Licht seiner Scheinwerfer über das Gitterwerk und den brüchigen Asphalt flackerte, gingen sie hinter einem dichten Gestrüpp in Deckung. Mit klopfenden Herzen arbeiteten sie sich bis zu der Brücke vor. Neben dem Geländer führte ein schmaler Pfad zum Ufer hinunter. Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und schüttete sein blasses Licht auf den Pfad. Im Sand waren frische Spuren zu sehen, ein deutliches Zeichen dafür, dass die Männer denselben Weg genommen hatten. Sie stiegen langsam über den Pfad hinab, bis sie freie Sicht zum Flussufer hatten, und verbargen sich zwischen dem Gestrüpp. Audrey war froh, ihre dunkle Bluse angezogen zu haben, und dankte Gott für ihre schwarze Hautfarbe, die sie vor den Blicken der weißen Männer schützte. Was sie im unruhigen Licht der Sturmlampen sah, die unter der Brücke im Gras standen, raubte ihr beinahe den Atem. Vier Männer in weißen Kutten standen breitbeinig vor dem gefesselten Jungen und lachten ihn aus. Sie hatten ihre Kapuzen abgenommen und gaben sich keine Mühe, ihren Hass zu verbergen. Einer der Männer hielt ein Gewehr in den Händen, ein anderer schwang eine Peitsche. »Dir werde ich’s zeigen, Niggerbengel!«, fuhr er den Jungen an und ließ den ledernen Riemen auf seinen Rücken klatschen. Jay-Jay war unfähig sich zu wehren, stöhnte wie ein verwundetes Tier. Er
hatte keine Kraft mehr, um Hilfe zu rufen, und seine Tränen waren längst verbraucht. »Ich schlag dich tot, verdammt!« Audrey schlug eine Hand vor ihren Mund, um nicht laut loszuschreien, und griff nach Edwards Arm. »Leise!«, flüsterte Edward dicht neben ihr. »Kein Wort!« Sie atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Wenn sie jetzt die Nerven verlor, waren sie in wenigen Augenblicken auch gefesselt und erlitten dasselbe Schicksal wie der Junge. »Wir dürfen Jay-Jay nicht im Stich lassen!«, flehte sie. »Warum halten wir uns so lange mit dem Niggerbengel auf?«, fragte der Mann mit dem Gewehr. »Wenn’s nach mir ginge, hätten wir ihm zwei Stangen Dynamit in sein verlogenes Maul gesteckt und ihn irgendwo in die Luft gejagt! Wär ein schönes Feuerwerk geworden! Was sollen die verdammten Stricke, Bobby?« Bobby Frank Cherry, registrierte Audrey, einer der Cahaba Boys. Dann war der Mann mit dem Gewehr sicher Dynamite Bob. Er war der Anführer des Haufens. »Macht doch viel mehr Spaß«, erwiderte Cherry, »wir verschnüren ihn wie ein Postpaket, verpassen ihm eine tüchtige Abreibung und schicken ihn an den Absender zurück. Der Teufel freut sich bestimmt über die Post!« »Du bist ein verrückter Hund«, meinte einer der anderen beiden Männer. »Warum schnappen wir uns nicht diesen Martin-Luther-Fuck-You-King und seinen ganzen verdammten Haufen und hängen sie wie Girlanden an die Brücke! Dort ist genug Platz. Der Bengel ist doch Kleinvieh! Na schön, er hat ‘ne Scheibe eingeworfen, aber wenn wir ihn an der Brücke aufknöpfen, kräht kein Hahn nach ihm! Um so einen Niggerbengel kümmert sich doch keiner!« »Kleinvieh macht auch Mist!«, tönte Dynamite Bob, ein untersetzter Mann in den Fünfzigern. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet, das sah man auch im Licht der
Sturmlampen. »Oder wollt ihr den Bengel davonkommen lassen? Aus Nissen werden Läuse!« Er lachte dröhnend und griff nach der Bierdose, die neben ihm auf einem Felsbrocken stand. Nachdem er einen tiefen Schluck genommen hatte, sagte er: »Irgendwann lass ich die ganze verdammte Niggerbrut mit einer Sprengladung verrecken, das verspreche ich euch! Und die verfluchten Juden dazu! Die haben den Namen unseres Herrn missbraucht, wisst ihr das? Die nehmen aufrechten Amerikanern die Arbeit weg! Ich sage euch, wir müssen endlich aufräumen in dieser Stadt! Wenn dieser Martin-LutherFuck-You-King wirklich in Birmingham ist, müssen wir ihn aus seinem verdammten Motelzimmer bomben. Dann ist endgültig Schluss mit dem Zauber, das garantiere ich euch! Stopft dem schwarzen Mistkerl das Maul!« Bobby Cheny lachte gehässig und versetzte dem gefesselten Jungen einen Fußtritt. »Und was machen wir mit dieser Ratte?« »Wirf ihn in den Fluss!«, antwortete Dynamite Bob und spuckte in den Sand. »Schick den verfluchten Bengel zu den Fischen!«
13
Jay-Jay bäumte sich stöhnend auf und stieß einen beinahe unmenschlichen Schrei aus, als der Klansmann ihn packte und wie ein Bündel mit Lumpen in den Fluss warf. Das Wasser erstickte seinen Hilferuf und umklammerte ihn wie ein Ungeheuer, das eine Beute packt und mit eisernen Klauen umfangen hält. Er versuchte den Kopf über Wasser zu halten und sich von den Fesseln zu befreien, doch der Fluss war stärker und trieb ihn mit der Strömung fort. Aus diesem nassen Grab schien es kein Entrinnen zu geben. Er stieß sich mit den gefesselten Beinen nach oben, reckte seinen Kopf aus dem Wasser und wurde von einer unsichtbaren Kraft wieder nach unten gezogen. Das schadenfrohe Gelächter der Cahaba Boys und das verächtliche »Fuck you, Nigger-Boy! Schönen Gruß an die Fische!« von Bobby Frank Cherry begleiteten ihn in die Dunkelheit. Audrey konnte von Glück sagen, dass gerade ein Truck über die Brücke rumpelte und niemand ihren Entsetzensschrei hörte. Sie sprang aus ihrem Versteck und wollte schreiend zum Flussufer laufen und sich auf die weißen Männer stürzen. Noch bevor sie den ersten Schritt tun konnte, zog Edward sie hinter das Gestrüpp. Er presste ihr eine Hand auf den Mund und redete leise auf sie ein: »Nicht schreien, Audrey! Bitte nicht schreien! Sie dürfen nicht wissen, dass wir hier sind!« Sie wand sich wie ein gefangenes Tier in seinen Armen. »Wir holen Jay-Jay aus dem Fluss! Beruhige dich! Wir holen ihn da raus!« Sie verdrängte die Panik und nickte widerwillig. Verzweifelt deutete sie zum Fluss hinunter, wo der Junge mit aller Macht
gegen das Ertrinken kämpfte. Die Cahaba Boys schienen ihn schon vergessen zu haben. Dynamite Bob leerte seine Bierdose und schleuderte sie dem Jungen hinterher. Bobby Frank Cherry griff nach einer Sturmlampe und verriet, dass seine Frau auf ihn warte und bestimmt schon sauer sei, weil er wieder so spät nach Hause komme. »Lasst uns verschwinden«, sagte Thomas E. Blanton, ein hagerer Mann mit einem auffallend blassen Gesicht. »Ich hab Hunger und will mir noch ‘nen Hamburger holen!« Edward nahm Audrey bei der Hand und kletterte zur Straße hinauf. Am Brückengeländer blieben sie schwer atmend stehen. »Wie kommen wir zum Fluss runter?«, drängte er. »Du kennst dich hier doch aus! Gibt’s eine Straße zum Fluss?« Audrey zwang sich zur Ruhe und überlegte angestrengt. Das letzte Mal war sie vor einigen Monaten am Cahaba River gewesen. Sie schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie sie über die Brücke gefahren waren, an dem einsamen Campingplatz vorbei und zu einer Stelle, an der ihr Vater die Angel ausgeworfen hatte. »Hinter dem Campingplatz!«, erinnerte sie sich. »Fünfzig Meter! Vielleicht auch hundert! Die Sandstraße zur Bootsrampe!« Sie rannten los, weg von dem Pfad, über den die weißen Männer kommen würden, und im Schatten der Bäume am Fluss entlang. Vorbei an dem türkisfarbenen Chevy mit den weißen Streifen, der einem der Cahaba Boys gehören musste, und zu ihrem Cadillac, der viel zu auffällig neben dem Eingang des Campingplatzes stand. Sie konnten nur hoffen, dass die weißen Männer nicht auf ihn aufmerksam wurden. In Windeseile holte Edward eine Taschenlampe aus dem Kofferraum. Sie waren in der Dunkelheit verschwunden, bevor Dynamite Bob als Erster die Straße erreichte und fragte: »Hat einer von euch noch ‘n Bier?«
Über die Sandstraße rannten Audrey und Edward zum Fluss hinab. Sie wussten nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit Cherry den Jungen in den Cahaba River geworfen hatte, waren viel zu aufgeregt um darüber nachzudenken, ob sie den treibenden Jungen vielleicht bereits überholt hatten. Sie würden Jay-Jay retten, eine andere Möglichkeit kam gar nicht in Frage! Edward knipste die Taschenlampe an und leuchtete in den Fluss. Wie ein weißer Schatten wanderte der Lichtkegel über das Wasser. Audrey kletterte auf den Bootssteg und zog ein Paddel aus einem Kanu, das neben einem Ruderboot an einen Pfosten gebunden war. Sie blickte angestrengt auf den Fluss hinaus und suchte nach dem Jungen, dachte nicht daran, dass er vielleicht längst untergegangen war. »Siehst du was?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Nichts«, antwortete Edward ebenso leise. Er lief unruhig am Ufer entlang, leuchtete hinter einen entwurzelten Baumstamm, der sich im Schilf verfangen hatte, und schüttelte den Kopf. »Wir müssen ihn finden, Audrey! Jay-Jay darf nicht sterben!« Er leuchtete weit auf das Wasser hinaus und fing eine treibende Holzkiste mit seinem Lichtkegel ein. »Wo steckst du, Jay-Jay?« Audrey sah, wie etwas Dunkles aus dem Fluss emportauchte. Wie ein Tier, das nach Luft schnappte. »Edward! Da drüben!«, schrie sie. »Neben dem Treibholz!« Sie rannte zum Ende des Bootsstegs und fischte mit dem Paddel nach dem treibenden Etwas, hielt sich mit der freien Hand an einem Pfosten fest, um nicht ins Wasser zu fallen. Der Lichtkegel der Taschenlampe zuckte über das dunkle Wasser und erfasste das Bündel. »JayJay! Das ist er!«, jubelte sie, als sie das Gesicht des Jungen erkannte. Sie erwischte ihn mit dem Paddel und zog ihn zum Bootssteg, ließ das Paddel fallen und beugte sich mit beiden Armen zu ihm hinunter. »Hilf mir, Edward! Hilf mir!« Edward war bereits neben ihr und half ihr dabei, den bewusstlosen Jay-
Jay an Land zu ziehen. Er zog sein Taschenmesser hervor, befreite Jay-Jay von seinen Fesseln und begann mit der künstlichen Beatmung, wie er sie in einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Martin Luther King hatte darauf bestanden, dass er eine solche Ausbildung machte, und jetzt war er dankbar dafür. Jay-Jay bäumte sich auf und spuckte Wasser. Er erbrach sich würgend und öffnete wimmernd die Augen. »Es wird alles gut, Jay-Jay!«, sagte Audrey leise. »Die weißen Männer sind weg! Du brauchst keine Angst mehr zu haben!« Sie trugen den Jungen zum Wagen und legten ihn auf den Rücksitz. Mit einer Wolldecke aus dem Kofferraum deckten sie ihn zu. Jay-Jay zitterte vor Kälte und weinte leise. Seine Augen waren offen und blickten vor Angst geweitet in die Dunkelheit. Audrey streichelte sein nasses Haar und versuchte mit einem Lächeln die Spannung zu lösen. »Du hast deine Baseballkappe verloren«, sagte sie. »Aber das macht nichts! Wir kaufen dir eine neue. Von den Yankees.« Der Junge ließ nicht erkennen, ob er sie verstand. Audrey berührte ihn sanft an der Stirn und schloss die Tür. Bedrückt stieg sie zu Edward in den Wagen. »Wir bringen ihn zu Doc Snyder«, sagte sie, »einen Block hinter unserem Haus an der 15th Street. Den kenne ich schon, seit ich auf der Welt bin. Er macht Jay-Jay wieder gesund.« Edward nickte stumm und lenkte den Wagen die steile Straße hinauf. Plötzlich tauchten unmittelbar vor ihnen Scheinwerfer aus der Dunkelheit auf. Audrey hielt erschrocken die Luft an. Edward bremste so stark, dass sie beide nach vorn fielen und Jay-Jay schmerzerfüllt auf der Rückbank seufzte. Die Cahaba Boys, schoss es Audrey durch den Kopf, sie haben uns entdeckt! Ihre Hand berührte den Türgriff und sie war kurz davor, die Nerven zu verlieren, als die Lichter des anderen Wagens nach links wanderten und ein heller Station Wagon an
ihnen vorbeifuhr. Für einen Augenblick waren die Gesichter eines Mannes und einer jungen Frau zu erkennen. Edward fuhr erleichtert weiter und bog auf die Hauptstraße. In zügigem Tempo fuhren sie nach Birmingham zurück. Es war bereits nach einundzwanzig Uhr, als sie das Schwarzenviertel erreichten und vor der Praxis des Arztes parkten. Doc Snyder wohnte in einem baufälligen Holzhaus, von dem die weiße Farbe abblätterte, und erschien in einem Bademantel und Hausschuhen in der Eingangstür. Er war ein dürrer Mann, manche würden sagen, ein Knochengestell, und sein Gesicht mit den kantigen Wangen und den schmalen Augen erinnerte an einen Raubvogel. Er hustete stark. »Audrey! Was gibt’s? Ich wollte gerade ins Bett gehen. Mir geht’s nicht besonders gut, weißt du?« Audrey entschuldigte sich mit einem Lächeln und drehte sich zu Edward um. Er hielt den verletzten Jungen in den Armen und blieb abwartend stehen. »Jay-Jay ist verletzt«, sagte sie. »Der Klan wollte ihn umbringen und hat ihn in den Fluss geworfen! Wir haben ihn gerade noch rechtzeitig rausgefischt!« Sie blickte den Jungen an. »Kümmern Sie sich um ihn, Doc! Ich weiß nicht, wohin wir ihn sonst bringen sollen! Er braucht dringend Hilfe!« »Das sehe ich«, erwiderte Doc Snyder mürrisch. Sein hageres Gesicht erweckte den Eindruck ständiger schlechter Laune. »Bringt ihn ins Behandlungszimmer!« Seine Praxis war im größten Zimmer des Hauses untergebracht, das er allein bewohnte. Seine Frau hatte sich schon nach wenigen Monaten scheiden lassen und war nach Atlanta gezogen. Er wartete, bis Edward den Jungen auf das Bett gelegt hatte, und machte sich sofort an die Untersuchung. »Audrey! Geh in die Küche und wärme die Gemüsesuppe von heute Mittag auf! Unser junger Freund braucht was Heißes, wenn er wieder zu sich kommt.«
Audrey war an den Befehlston des Doktors gewöhnt und gehorchte. Die Küche war erstaunlich sauber und aufgeräumt für einen Männerhaushalt und der Topf mit der Suppe stand abgedeckt im Kühlschrank. Nachdem sie ihn auf den Herd gestellt und das Gas entzündet hatte, kehrte sie in die Praxis zurück. »Wie geht es ihm?«, fragte sie ungeduldig. »Wird er wieder ganz gesund? Jay-Jay muss doch nicht ins Krankenhaus, oder?« Doc Snyder war dabei, die blutigen Striemen des Jungen mit einer übel riechenden Salbe einzuschmieren, und schüttelte den Kopf. »Nein, Audrey! Aber ich wäre euch sehr verbunden, wenn ihr draußen warten würdet! Geht in die Küche und passt auf, dass die Suppe nicht überkocht!« Er warf ihr die nassen Überreste des Hemdes zu, das Jay-Jay getragen hatte. »Und wirf die Lumpen in den Mülleimer! Ich geb ihm eins von meinen Hemden. Neue Schuhe und eine Hose muss ich ihm erst besorgen.« Und eine Baseballkappe, dachte Audrey. »Das übernehme ich«, erwiderte sie, »ich bring Ihnen die Sachen nach der Schule vorbei.« Sie zögerte. »Er bekommt doch keine Lungenentzündung?« Doc Snyder wurde ungeduldig. »Nein! Und jetzt raus! Dies ist eine Arztpraxis und kein Kindergarten, in dem ständig gequasselt wird! Schlimm genug, wenn ich um diese Zeit noch arbeiten muss! Eigentlich gehöre ich ins Bett mit meinem Husten!« »Ich koch Ihnen einen heißen Tee«, versprach Audrey und zog Edward am Jackenärmel aus dem Zimmer. Sie schloss die Tür. »Doc Snyder meint es nicht so«, klärte sie ihren Freund auf, »der tut nur so, als hätte er ständig schlechte Laune. Der denkt nur an seine Patienten! Du hast ja gesehen, er hat nicht mal gefragt, wer die Behandlung bezahlt!« Sie ging in die
Küche und setzte Wasser auf. »Willst du auch einen Tee? Irgendwas mit Kräutern.« »Hauptsache, heiß«, erwiderte Edward dankbar. Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch und sah zu, wie sie drei Becher aus dem Schrank holte. »Dein Vater ist bestimmt wütend«, sagte er, »und bis zu einem gewissen Grad kann ich ihn sogar verstehen. Ich wäre auch nervös, wenn meine Tochter so spät nach Hause kommt. Egal, ob sie neun oder neunzehn ist. Dazu ist diese Stadt viel zu gefährlich! Wenn er die Sache mit Jay-Jay erfährt, sperrt er dich ein!« Sein Lächeln wirkte wenig zuversichtlich. »Ich werde mit ihm reden! Gleich nachher!« »Das wirst du schön bleiben lassen!«, entschied Audrey. Seitdem sie wusste, dass Jay-Jay überleben würde und in fachkundiger Behandlung war, hatte sie zu ihrem alten Selbstbewusstsein gefunden. »Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen! Ich bin neunzehn! Als Mann wäre ich erwachsen genug, um für dieses Land in den Krieg zu ziehen!« Sie stellte die Becher so fest auf den Tisch, dass der Tee überschwappte. »Ich verehre meinen Vater und habe Respekt vor ihm, aber ich lasse mir nicht von ihm vorschreiben, mit wem ich ausgehe und wann ich nach Hause komme! Jay-Jay ist unser Freund! Ich durfte ihn nicht allein lassen!« Ihre Augen blitzten. »Ich habe lange genug die Augen zugemacht! Es geht nicht nur um die Rechte dieses Jungen! Es geht darum, ob ich morgen früh noch in den Spiegel schauen kann!« Edward verkniff sich ein Lächeln. »Das hätte Martin Luther King nicht schöner sagen können!« Er blickte sie an. »Soll das etwa heißen, dass du unserer Armee des Friedens beitreten willst?« »Das hab ich doch längst getan, oder?« Sie nahm die Suppe vom Feuer, drehte das Gas ab und stellte den Topf auf einen Untersetzer. »Oder willst du, dass ich offiziell unterschreibe?«
Doc Snyder schlurfte in die Küche. Er trank von dem heißen Tee und sagte: »Die Suppe brauch ich nicht. Ich hab dem Jungen ein Schlafmittel gegeben. Er hat Glück gehabt. Die Prellungen sind sicher schmerzhaft, aber es ist nichts gebrochen und die offenen Stellen vernarben schnell. Er ist noch jung.« Er hustete ein paarmal und wischte sich den Mund mit einem sauberen Taschentuch aus seinem Bademantel ab. »Ich nehme nicht an, dass dieser Jay-Jay einen festen Wohnsitz oder Verwandte hat.« »Eine Tante«, erwiderte Edward, »auf einer Farm in der Nähe von Oxmoor. Die regt sich nur unnötig auf, wenn wir ihr Bescheid sagen. Und Geld hat sie wahrscheinlich auch zu wenig. Die Behandlungskosten übernimmt die SCLC. Ich arbeite für Martin Luther King. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen das Geld sofort!« »Darum geht’s doch gar nicht!« Die Miene des Doktors wurde noch mürrischer. »Ich verhungere schon nicht, wenn ich mal was umsonst mache.« Er blickte in seinen Tee, als gäbe es dort etwas zu entdecken. »Sie haben ihn ausgepeitscht, nicht wahr?« Edward dachte an die Worte des geheimnisvollen Floyd und beschloss dem Arzt so wenig wie möglich zu sagen. »Der Klan. Es ist besser, wenn Sie nicht zu viel wissen. Die Kapuzenmänner glauben, dass er tot ist. Machen Sie sich keine Sorgen, Doc! Niemand hat gesehen, dass wir den Jungen aus dem Fluss gezogen und zu ihnen gebracht haben. Sobald er gesund ist, holen wir ihn ab. Wie lange wird das dauern, Doc?« »Er ist ein zäher Bursche«, antwortete der Doktor, »zwei bis drei Tage. Aber Schmerzen wird er noch eine ganze Weile haben.« Er blickte gedankenvoll ins Leere und sagte dann: »Ich hab Martin Luther King in der Kirche gehört. Gestern wusste ich nicht so recht, was ich davon halten sollte. Ich meine, mir geht es gut und ich bin kaum in der Stadt und
vergesse manchmal ganz, dass es Menschen gibt, die anders aussehen als wir. Aber solange so etwas geschieht…« Er blickte zum Behandlungszimmer. »Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, den Mund aufzumachen!« »Wir brauchen endlich Gerechtigkeit«, stimmte Edward ihm zu. »Gott kann nicht gewollt haben, dass eine Rasse der anderen überlegen ist. Warum sollten Weiße besser als Schwarze sein? Welcher Hochmut befällt diese Ritter des KuKlux-Klan, wenn sie erklären, Juden und Katholiken seien keine vollwertigen Menschen? Die Gesetze der Rassentrennung sind ungerecht, weil sie mit den sittlichen Gesetzen, wie wir sie aus der Bibel kennen, nicht vereinbar sind!« Er lächelte. »Tut mir Leid. Wenn man ständig einen Mann wie Martin Luther King um sich hat, kommt man leicht ins Predigen. Ich wollte Sie nicht langweilen, Doc.« »Sie langweilen mich nicht, junger Mann«, erwiderte der Arzt und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein kaum sichtbares Lächeln über sein Gesicht. Dann kehrte seine schlechte Laune zurück. »Aber jetzt wird es langsam Zeit, dass Sie gehen! Ich hab keine Lust, morgen den ganzen Tag im Bett zu liegen!« »Sorry«, entschuldigte sich Edward. Er wechselte einen Blick mit Audrey und stand auf. »Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie sich um den Jungen kümmern!« Audrey schüttelte dem Doktor die Hand. »Ich komme morgen mit den Kleidern vorbei.« »Mach das, Audrey! Und jetzt lasst mich endlich schlafen!« Der Doktor hielt ihnen die Tür auf und brummte zufrieden, als sie das Haus verließen. Edward öffnete die Fahrertür und blickte Audrey über das Autodach an. »Hast du das ernst gemeint?«, fragte er zögernd. »Ich meine, willst du wirklich mitmachen? Ich möchte nicht, dass du dich nur meinetwegen dazu entschließt. So eine Entscheidung muss tief aus dem
Herzen kommen! Ich wäre dir nicht böse, wenn du zu Hause bleibst, Audrey! Dein Vater sieht es bestimmt nicht gern, wenn du dich unserem Protest anschließt. Ich möchte eure Familie nicht in die Enge treiben.« »Ich tue es weder für dich noch für mich«, erwiderte Audrey. Sie sank auf den Beifahrersitz und zog die Tür zu. »Ich tue es für Jay-Jay und weil ich diese Ungerechtigkeit nicht mehr ertrage! Mag sein, dass du mir die Augen geöffnet hast. Soll ich nach dem, was wir heute gesehen haben, vielleicht zur Tagesordnung übergehen? Ich werde diese Bilder niemals vergessen, Edward!« »Ich auch nicht, Audrey!« Er griff nach ihrer Hand, während er den Wagen wendete und zum Haus von Audreys Eltern fuhr.
14
Beim Anblick der erleuchteten Fenster im ersten Stock verspürte Audrey ein mulmiges Gefühl. Obwohl sie auf eine Standpauke ihres Vaters gefasst war, hatte sie gehofft, dass ihre Eltern schon zu Bett gegangen wären. »Vielleicht ist es besser, wenn ich mit ihm rede?«, sagte Edward besorgt. Sie antwortete: »Ich bin ein erwachsener Mensch und habe das Recht auf eine eigene Meinung!« Das klang mutiger und entschlossener, als sie sich in Wirklichkeit fühlte, und sie war froh, dass ihr Freund nicht das unsichere Flackern in ihren Augen sehen konnte. Sie verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss und öffnete rasch die Beifahrertür, um nicht schwach zu werden und weinend in seine Arme zu sinken. Auf wackligen Beinen ging sie zum Haus und kramte ihren Schlüssel hervor. »Wir sehen uns bei Doc Snyder! Gleich nach der Schule!«, hörte sie Edward rufen, bevor er davonfuhr. Ihre Eltern waren bereits im Hausflur. Ihr Vater stand wie ein Racheengel auf der Treppe, den Bademantel über dem Schlafanzug verschnürt, und schnaubte vor Wut. Ihre Mutter hielt ihn am rechten Arm fest und versuchte ihn zu beschwichtigen. »Wo kommst du her?«, begann er mit seinen Vorwürfen. »Hab ich dir nicht verboten, mit diesem Edward auszugehen? Hab ich denn gar nichts mehr zu sagen? Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?« Sie kam sich wie eine Diebin vor, die man auf frischer Tat ertappt hatte. »Ich weiß, Daddy. Du hast es mir verboten. Aber ich bin eine erwachsene Frau. Ich arbeite und verdiene mein eigenes Geld! Du kannst mir nicht verbieten, mit einem jungen Mann auszugehen! Nicht, wenn er so anständig ist wie
Edward!« Sie sah, wie ihrem Vater das Blut in den Kopf stieg, und sprach schnell weiter. »Einen anständigeren Mann finde ich auf der ganzen Welt nicht, Daddy! Er will Pastor werden! Was ist daran falsch, wenn ich mit ihm ausgehe? Es ist noch nicht mal elf Uhr und er hat mich bis vor die Haustür gefahren! Was willst du denn noch? Soll er dir schriftlich geben, dass er mich nicht verführt?« Nellie Jackson zog hörbar die Luft ein. »So spricht man nicht mit seinem Vater, Audrey!«, wies sie Audrey zurecht. Und zu ihrem Mann: »Sie hat es nicht so gemeint, Emory! Bitte! Ihr seid beide nervös! Erinnere dich daran, wie wir in ihrem Alter waren!« »So habe ich jedenfalls nie mit meinem Vater gesprochen!«, erwiderte Emory Jackson erregt. Er ging zwei Stufen auf Audrey zu und blieb nur stehen, weil seine Frau ihn festhielt. »Wenn du ein paar Jahre jünger wärst, würde ich dir eine runterhauen! Was fällt dir eigentlich ein? Du hast nicht das Recht, in so einem Ton mit mir zu sprechen! Es geht nicht darum, ob ich Edward leiden kann und ob ich Angst habe, dass er dich verführt! Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich ihn für einen anständigen Jungen halte! Aber er gehört zu Martin Luther King und ich habe keine Lust, in einen blutigen Kampf zwischen Schwarzen und Weißen hineingezogen zu werden! Und das ist genau das, was uns bevorsteht, wenn diese Leute wahrmachen, was Dr. King in der Kirche angekündigt hat! Es kommt zu einem Krieg und es wird Tote geben! Und solange du mit einem von Martin Luther Kings Leuten ausgehst, sind wir in großer Gefahr!« »Ich habe keine Angst, Daddy! Und ich habe auch keine Lust mehr, mir alles gefallen zu lassen, was die Weißen uns zumuten! Es geht um Mädchen wie Sarah Lee Thornton oder Cynthia Wesley! Sie sollen es mal besser haben als wir! Weißt du, dass die Thorntons nach Norden geflohen sind? Sie sind
vor dem Ku-Klux-Klan weggelaufen! Cynthia hat den halben Tag geheult, weil ihre Freundin nicht mehr da ist! Wir dürfen nicht mehr wegsehen, Daddy!« »Er hat dich also rumgekriegt!«, schimpfte Emory Jackson so laut, dass seine Frau ängstlich in den ersten Stock hinaufsah, wo Napoleon und Robin schliefen. »Hab ich’s mir doch gedacht! Er hat dich mit seinem politischen Schwachsinn bedrängt, bis du ja gesagt hast! Sag bloß, du hast das Papier unterschrieben!« »Ich habe gar nichts unterschrieben, Daddy!« »Hast du denn vollkommen den Verstand verloren, Audrey? Du denkst an Sarah Lee Thornton und Cynthia Wesley, aber was ist mit deinen Brüdern? Was ist mit Napoleon und Robin und was ist mit deiner Schwester? Willst du, dass der Klan sie am nächsten Baum aufknüpft? Willst du, dass einer von ihnen im Rollstuhl landet? Und was ist mit uns? Sollen wir unser Geschäft verlieren? Soll unsere ganze Zukunft draufgehen, nur weil du die Heldin spielen willst? Das lasse ich nicht zu, Audrey! Ich dulde nicht, dass du unsere ganze Familie ins Unglück stürzt! Du bist keine Freiheitskämpferin!« »Das hat doch niemand gesagt, Daddy!«, versuchte Audrey ihren Vater zu besänftigen. »Der Klan hätte viel zu tun, wenn er alle Leute umbringen würde, die gegen die Weißen protestieren wollen! Weißt du, wie viele Schwarze bei Martin Luther King unterschrieben haben, Daddy? Über tausend! Vielleicht ist es wirklich so, wie Dr. King sagt, dass die Zeit gekommen ist, um unsere Rechte einzufordern! In der Verfassung steht, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, ungeachtet ihrer Hautfarbe…« »Ich wusste es!«, polterte ihr Vater dazwischen. »Ich wusste, dass er dich mit diesem politischen Müll zuschüttet! In der Verfassung steht auch, dass Verbrecher für ihre Taten bestraft
werden! Und was passiert mit den Klansmännern, die unschuldige Schwarze aufhängen oder zu Tode prügeln? Sie werden freigesprochen! Papier ist geduldig, Audrey! In der Wirklichkeit sieht manches anders aus, als es sich Dr. King und seine Leute vorstellen! Wir wissen, wie es in Birmingham zugeht! Wir wissen, dass der Bürgermeister und die Polizei mit dem Klan unter einer Decke stecken! Sogar der Gouverneur stellt sich vor die Fernsehkameras und sagt ungestraft, dass er die Schwarzen für eine minderwertige Rasse hält! Gegen so eine Übermacht kommen wir nicht an, Audrey! Vielleicht in dreißig oder vierzig Jahren, aber nicht jetzt! Denk an deine Familie! Halte dich da raus! Lass dich von diesem Edward nicht blenden! Nur weil er dir schöne Augen macht, heißt das noch lange nicht, dass du ihm blind hinterherlaufen musst! Das dulde ich nicht, Audrey! Hast du mich gehört?« Audrey ahnte, dass ihrem Vater mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen war. Geschweige denn mit der vollen Wahrheit! Sie wagte nicht einmal sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn sie ihm gestand, dass sie zur Cahaba Bridge gefahren und die gefährlichsten Männer des Ku-Klux-Klan belauscht hatte! Er würde die Nerven verlieren! Er würde den ganzen Block mit seinem Geschrei aufwecken! Und ihre Mutter würde einen Weinkrampf bekommen und auf der Treppe zusammenbrechen. Allein der Gedanke daran ließ Audrey erschaudern. Aber durfte sie ihren Eltern böse sein? Sie hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt um Jay-Jay zu helfen! Ein falscher Schritt, ein leiser Schreckensruf und die Cahaba Boys hätten Edward und sie kaltblütig erschossen! »Ich vertraue Edward«, sagte sie ruhig. »Und ich laufe ihm nicht blind hinterher! Ich mag ihn und lasse mich durch niemand davon abbringen, mit ihm auszugehen!« Sie schnaufte tief und war darauf vorbereitet, sich eine Ohrfeige einzufangen. Warum musste sie ihren Vater auch ständig
reizen? Sie bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Ich will keinen Streit, Daddy! Und ich werde nie etwas tun, was meiner Familie schadet! Ich liebe euch, das wisst ihr doch! Darf ich jetzt ins Bett gehen?« »Wir reden morgen weiter!«, erklärte ihr Vater bestimmt. »Und glaub ja nicht, dass du dich so einfach davonstehlen kannst! Ich werde nicht zulassen, dass du etwas tust, was du später bereuen wirst! Auf gar keinen Fall!« Er drehte sich um und kehrte ohne ein weiteres Wort in seine Wohnung zurück. Für einen Augenblick sah Audrey die Köpfe ihrer Brüder in der Tür. »Gute Nacht, Honey«, wünschte ihr die Mutter. »Sei nicht so streng mit deinem Vater, hörst du? Er will nicht, dass unserer Familie etwas passiert! Und tritt etwas kürzer mit Edward! Daddy hat Recht! Er bringt dich vielleicht dazu, etwas Unüberlegtes zu tun, und das willst du doch nicht, oder? Entschuldige dich morgen bei ihm!« »Gute Nacht, Mom!« Audrey ging an ihrer Mutter vorbei und stieg in den zweiten Stock hinauf. Sie trank von der kalten Milch im Kühlschrank und starrte aus dem Fenster. So wie vor ein paar Tagen, als Edward sie zum ersten Mal nach Hause gebracht hatte. Doch ihre Gedanken waren anders. Damals hatte sie nicht im Traum daran gedacht, bei den Protesten gegen die Weißen mitzumachen. Jetzt war sie nicht mehr sicher. Das brutale Vorgehen der Cahaba Boys hatte sie wütend gemacht. Hätte der geheimnisvolle weiße Anrufer ihnen nicht einen Tipp gegeben und hätten sie nicht das Glück gehabt, Jay-Jay im Fluss zu entdecken, wäre er einen grausamen Tod gestorben. Wer war dieser Floyd? Wie kam ein Weißer dazu, einem Mitarbeiter von Martin Luther King zu helfen? Natürlich gab es Weiße, die für die Gleichberechtigung der Rassen waren und das rücksichtslose Vorgehen des Ku-Klux-Klan nicht guthießen oder zumindest dafür eintraten, die strengen
Rassengesetze zu lockern, aber niemand war bisher so weit gegangen, die Klansmänner zu verraten. Floyd hatte sein Leben für sie riskiert! Wenn der Klan herausbekam, dass er im Gaston Motel angerufen hatte, würde man ihm den Verrat auf blutige Weise heimzahlen. Man würde ihn genauso kaltblütig umbringen wie einen schwarzen Farmer. Sie stellte die Milch zurück und löschte das Küchenlicht. In ihrem wollenen Nachthemd kroch sie ins Bett. Obwohl es draußen noch warm war und sie vergessen hatte, am Morgen ihr Zimmerfenster zu öffnen, spürte sie, wie kalte Schauer über ihre Haut krochen. Sie zog die Decke bis zum Kinn und starrte in die Dunkelheit. Vergeblich versuchte sie einzuschlafen. Sie war zu aufgewühlt, um die Augen zu schließen und an nichts zu denken. Nach einer Weile richtete sie sich auf. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und hieb wütend auf die Matratze ein. Verdammt, warum vertrugen sich die Menschen nicht? Warum war die Welt so schlecht, wie sie war? Von der Straße drang das Röhren eines Kleinlasters herauf. Sie stand auf und trat erschrocken an das dunkle Fenster. Ihre Hände berührten das trübe Glas und sie erkannte einen weißen Pick-up, der mit laufendem Motor neben ihrem Plymouth hielt. So leise wie möglich schob sie das Fenster einen Spalt nach oben. Sie spähte nach unten und sah, wie der Beifahrer ausstieg und neben ihrem Wagen stehen blieb. Ein Weißer! Selbst im schmutzigen Licht der Straßenlampen erkannte sie Duncan, einen der beiden Kerle, die sie auf dem Bessemer Highway überfallen hatten. Er trug denselben Overall wie vor einigen Tagen und schwankte leicht, als er sich auf die Kühlerhaube stützte. »Ich werd verrückt«, rief er so laut, dass Audrey es hören konnte, »der Karren gehört der Schlampe, die wir neulich eingefangen haben! Wir hätten ordentlich unseren Spaß gehabt, wenn der Deputy nicht gekommen wäre! Zehn Minuten später und er hätte sie von der Straße kratzen
können!« Sein derbes Lachen drang unheimlich zu Audrey hoch. »Was meinst du, Steve? Wohnt die hier irgendwo? Mann, die würde Augen machen, wenn ich bei ihr klingele, was?« »Klar«, kam die nüchterne Antwort aus dem Pick-up, »und eine Minute später sind hundert Nigger bei dir und reißen dir den Arsch auf. Wir sind im Niggerviertel, Mann! Schon vergessen? Steig lieber ein, bevor du ‘nen Knüppel ins Gesicht bekommst! Mach schon, die Schlampe läuft uns nicht davon! Die läuft uns irgendwann über den Weg! Und wenn nicht, suchen wir ‘ne andere! Eine Niggerschlampe ist wie die andere, das weißt du doch!« Duncan trat gegen den linken Vorderreifen des Plymouth. »Ich hab keine Angst vor Niggern!«, meinte er großspurig. »Sollen sie doch kommen, wenn sie was von mir wollen!« Er klopfte auf die Seitentasche seines Overalls. »Ich zieh ihnen eins mit dem Schraubenschlüssel über!« Er drehte sich zu seinem Kumpan um und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. »Worauf wartest du noch, Mann? Nimm die Knarre und komm! Irgendwo muss die Schlampe ja sein! Wir finden sie, und wenn wir das ganze Viertel durchkämmen müssen!« »Entweder steigst du jetzt ein oder ich lass dich allein in den Slums zurück!«, rief Steve Goblett ungeduldig. »Dann wirst du schon sehen, was du gegen die Nigger ausrichten kannst! Komm endlich! Wenn wir Mist bauen, nimmt uns der Klan nie!« »Und die Schlampe? Ich will sie haben, verdammt!« »Ich besorg dir eine andere«, erwiderte Steve Goblett. »Und jetzt steig ein!« Er ließ den Motor aufheulen und fuhr ein paar Meter. »Was ist mit dir, Mann?« »Ich komm ja schon«, brummte Duncan widerwillig. Er zog sich in den Pick-up und bekam gerade noch die Beifahrertür
zu, bevor der Wagen davonschoss und in der Dunkelheit verschwand. Audrey schloss das Fenster und sank benommen auf einen Stuhl. Minutenlang starrte sie ins Leere, die abfälligen Worte der Männer als dumpfes Echo in den Ohren. »Verdammte Niggerschlampe! Verdammte Niggerschlampe!« Wie ein flammender Keil fraßen sich die Worte in sie hinein. Bittere Tränen rannen aus ihren Augen und hinterließen schmutzige Spuren auf ihren Wangen. »Verdammte Niggerschlampe! Verdammte Niggerschlampe!« Mit dem Ärmel ihres Nachthemds wischte sie ihr Gesicht trocken. »In der Hölle sollen sie schmoren, diese gemeinen Kerle!«, stieß sie hervor. »Wenn sie tot vor mir auf dem Boden lägen, würde ich lachen und auf sie spucken!« Die Tür ging auf und Alberta kam gähnend ins Zimmer. »Audrey! Was ist denn?«, fragte sie verschlafen. »Hast du gerufen? Ich hab geträumt, dass du dich mit Daddy streitest!« Sie schlurfte näher und blieb erstaunt vor ihr stehen. »He, warum liegst du denn nicht im Bett? Kannst du nicht schlafen? Ist was passiert?« Audrey erwachte aus ihrer Benommenheit und erkannte ihre jüngere Schwester. Um sie nicht zu erschrecken, sagte sie: »Es ist nichts, Alberta! Ich hab auch schlecht geträumt. Muss am Wetter liegen. Leg dich wieder hin, du musst morgen früh raus!« »Du bist okay, hm?« »Ich bin okay. Ehrenwort!« Audrey wartete, bis ihre Schwester gegangen war, und kroch unter ihre Bettdecke. Erschöpft ließ sie den Kopf auf das Kissen sinken. Zum zweiten Mal an diesem Abend versuchte sie einzuschlafen. Doch der Schock, die beiden Männer im Pick-up wiedergetroffen zu haben, und die Gewissheit, dass ihr Vater Recht hatte und sie ihre Familie tatsächlich in Gefahr
brachte, hinderten sie daran, die Augen zu schließen. Sie hatte die beiden Männer gegen sich aufgebracht. Wenn sie herausfanden, dass sie mit einem Mitarbeiter von Martin Luther King zusammen war, und wenn der Klan aufdeckte, dass sie die Cahaba Boys an der Nase herumgeführt und JayJay gerettet hatte, war sie in Gefahr. Ohne dass sie es wollte, war sie zu einem wichtigen Mosaiksteinchen in der Auseinandersetzung zwischen Schwarz und Weiß geworden. Eine Rolle, die ihr viel zu gewaltig schien. Sie war nicht stark genug, um gegen den Ku-Klux-Klan zu kämpfen. Ihr Glaube war zu schwach, um das zu tun, was Martin Luther King von seinen Anhängern verlangte: die Weißen mit gewaltlosen Mitteln zu bekämpfen und auf die Stärke des Herrn zu hoffen. Sie betete leise. Das Gebet, das sie jeden Abend vor dem Einschlafen sprach, und dann: »Ich vertraue dir, Herr! Du wirst mich auf dem Weg leiten, der in eine bessere Zukunft führt! Du wirst darauf achten, dass meinen Eltern und meinen Geschwistern nichts passiert! Du wirst deine schützende Hand über Edward halten! Beschütze mich in dieser schwierigen Lage! Ich weiß nicht, warum du die Kapuzenmänner gewähren lässt! Sie berufen sich auf deinen Namen. Sie glauben in deinem Namen zu handeln, wenn sie unschuldige Schwarze zu Tode foltern! Das kann nicht sein, Herr! Ich weiß, dass alles einen Sinn hat, was du tust, und ich weiß, dass ich eines Tages erfahren werde, warum wir durch dieses tiefe Tal gehen mussten. Ich fürchte mich nicht davor. Ich versuche stark zu sein. Weil ich weiß, dass du die Menschen beschützt, die im Recht sind! Beschütze Martin Luther King, der mit friedlichen Mitteln erreichen will, was mit Waffengewalt niemals geschafft wurde! Beschütze Edward, der in seinem Sinne handelt! Beschütze meine Eltern und meine Geschwister, die nicht wissen, welche schrecklichen Bilder ich gesehen habe, und lass sie nicht für etwas leiden, was ich verschuldet habe!
Schenke uns den Frieden, nach dem wir uns so lange sehnen! Amen!« Erst jetzt schloss sie die Augen und schlief ein. Das Licht des aufgegangenen Mondes schien zum Fenster herein und warf einen silbernen Schatten auf ihr Bett und den Boden. Sie seufzte leise und zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein zartes Lächeln über ihre entspannten Gesichtszüge.
15
Gleich nach der Schule fuhr Audrey zu Woolworth und kaufte einige Sachen für Jay-Jay. Weil es keine Baseballmütze mit dem Schriftzug der New York Yankees gab, begnügte sie sich mit dem Logo eines anderen Clubs, den sie nicht kannte. Die Verkäuferin war schwarz und bediente sie freundlich. Mit den Kleidungsstücken und einer Packung Kaugummi fuhr Audrey zu Doc Snyder. Sie parkte hinter Edwards Cadillac in einer Seitenstraße und blickte sich ängstlich um, bevor sie an die Haustür klopfte. Doc Snyder ließ sie hustend ein. Er brummte missmutig vor sich hin und führte sie in den Behandlungsraum. »Der Junge schläft«, sagte er, »ich hab ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben. Wird noch einige Tage dauern, bis er wieder vollständig auf dem Damm ist!« Er warf einen Blick auf Jay-Jay und sah Audrey an. »Wollt ihr ‘nen Tee? Ich hab welchen auf dem Herd!« »Gern«, erwiderte Audrey. Sie legte die Tüte mit den Kleidungsstücken auf einen Stuhl und begrüßte Edward. »Mein Vater war ziemlich wütend«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage. »Ich glaube, er hat Angst. Angst, dass sich zu viel verändert und unserer Familie etwas passiert!« Sie löste sich von ihrem Freund und blickte ihn besorgt an. »Ich habe auch Angst!« »Wir haben alle Angst«, sagte Edward. »Aber es muss sich etwas ändern! Oder willst du zulassen, dass so etwas noch einmal passiert?« Er ging durch das Zimmer und blieb lächelnd vor der Liege mit Jay-Jay stehen. »Wenn er schläft, sieht er wie ein ganz normaler Junge aus, nicht wahr? Als
könnte er kein Wässerchen trüben! Dabei hat er es faustdick hinter den Ohren!« »Er ist ein guter Junge«, meinte Audrey. »Wenn er erst mal in besserer Gesellschaft ist, kann er es weit bringen! Ich wette, er ist schlauer als die meisten Jungen an unserer High School!« »Da draußen lernt man eine ganze Menge«, erwiderte Edward. Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Vor einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite saßen einige Jungen und rauchten. Sie waren jünger als Jay-Jay. »Vor allem, wie man überlebt! Wer zu schwach ist, kommt unter die Räder! Jay-Jay ist ein gerissener Bursche, den wirft so schnell nichts um.« »Die Cahaba Boys hätten ihn beinahe geschafft«, erinnerte Audrey. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne. Ihr schauderte, wenn sie an die letzte Nacht dachte. »Hat sich Floyd wieder gemeldet?« »Nein«, antwortete Edward, »und es hat anscheinend niemand gemerkt, dass wir Jay-Jay hierher gebracht haben. Heute Morgen hab ich mit Ralph Abernathy über den Jungen gesprochen. Du weißt schon, der Pastor aus Montgomery. Er hat vorgeschlagen, ihn bei seiner Tante zu verstecken. Noch besser wäre es, wenn er nach Brooklyn zurückkehren könnte. Aber das geht nicht. Wenn die Cahaba Boys herausfinden, dass er am Leben ist, setzen sie bestimmt alles daran, ihn doch noch umzubringen.« »Und wenn der Klan von seiner Tante weiß?« Edward zuckte mit den Schultern. »Jay-Jay ist nirgendwo sicher, nicht mal in meinem Motelzimmer. Keiner von uns ist sicher, solange ein Weißer nicht zur Verantwortung gezogen wird, wenn er einen Schwarzen ermordet hat! Wenn der Klan eine Bombe in unserem Motel legt, fliegen wir alle in die Luft!« Er wirkte entschlossen. »Sollen wir deswegen aufgeben? Dr. King glaubt daran, dass selbst die Klansmänner
ihren Hass überwinden können. ›Der Glaube versetzt Berge‹, heißt es in der Bibel. Wenn wir Gott vertrauen und uns gewaltlos gegen den Hass des Ku-Klux-Klan auflehnen, legen wir den Grundstein für ein neues Amerika. Ein Amerika, in dem sich Weiße und Schwarze vertragen!« »Ich glaube nicht, dass Verbrecher wie die Cahaba Boys dazu fähig sind, mit uns in Frieden zu leben«, sagte Audrey. »Ich habe gesehen, wie sie den Jungen behandelt haben. Sie wollten ihn kaltblütig umbringen! Das sind schlechte Menschen! Die kennen keine Skrupel! Die lachen uns aus, wenn wir protestieren und fromme Lieder singen!« Sie wurde sich ihrer Hilflosigkeit bewusst und spürte eine unbändige Wut in sich aufsteigen. »Am liebsten würde ich die Klansmänner alle umbringen! Man sollte sie am nächsten Baum aufknüpfen, so wie sie es mit uns tun!« »Und was wäre damit gewonnen?«, erwiderte Edward ruhig. »Der Hass der Weißen würde noch größer werden und es käme zu blutigen Straßenkämpfen! Gewalt erzeugt Gegengewalt! Nein, nur unser Glaube und unsere Liebe können den Hass besiegen! ›Liebet eure Feinde!‹, predigt Jesus. ›Segnet, die euch verfluchen! Bittet für die, die euch beleidigen!‹ Dies müssen wir leben! Wir müssen dem Hass mit Liebe begegnen, sonst gibt es niemals Frieden! »Christentum in Aktion« nennt Martin Luther King diese Vorgehensweise. Auch Liebe kann Widerstand sein!« »Und du meinst, die Schwarzen, die sich eurer Armee anschließen, halten sich daran? Wie will Martin Luther King diese Leute überreden, auf Gewalt zu verzichten? Sobald sie einen Klansmann in ihre Gewalt bekommen, schlagen sie ihn tot! Ich würde es vielleicht selbst tun!« »Du würdest es nicht tun!«, widersprach Edward. Er ging auf sie zu und berührte ihre Arme. Sein Blick war voller Zuneigung. »Du kannst keinem Menschen wehtun, Audrey!
Und ich werde dafür sorgen, dass dir niemand wehtut!« Er zog sie sanft zu sich heran und küsste sie auf den Mund. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, eher zärtlich und zurückhaltend, und seine Hände streichelten sanft über ihren Hals und ihren Rücken. »Ich hab dich sehr lieb«, flüsterte er, »das wollte ich dir schon lange sagen!« Sie schmiegte sich an seine Brust und lächelte zufrieden. »Ich hab dich auch lieb, Edward! Ich hab dich schon gemocht, als du mich zum ersten Mal nach Hause gebracht hast.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und wollte den Kuss erwidern, als das Heulen einer Sirene die Stille zerriss. Ein Polizeiwagen! Die Sirene verstummte röchelnd und man hörte, wie der Wagen mit quietschenden Bremsen vor dem Haus des Arztes hielt. Die Türen wurden aufgerissen und wieder zugeschlagen. Zwei Männerstimmen erklangen. »Da wohnt er«, sagte der eine und der andere antwortete: »Kaufen wir uns den verdammten Burschen!« Audrey und Edward traten ans Fenster und blickten vorsichtig nach draußen. Sie sahen, wie zwei Polizisten näher kamen. Ein korpulenter Bursche mit hochrotem Gesicht, die linke Hand am Schlagstock, und sein junger Kollege, eher milchgesichtig und ein forsches Lächeln in den Augen. »Die sind bestimmt hinter Jay-Jay her«, erschrak Audrey. »Woher wissen sie, dass er hier ist? Die sollten sich lieber um die Cahaba Boys kümmern!« »Die machen mit dem Klan gemeinsame Sache«, erwiderte Edward. »Irgendwie müssen die Cahaba Boys herausbekommen haben, dass wir Jay-Jay aus dem Fluss gezogen haben! Die können sich ja denken, dass er Hilfe braucht, und so viele Ärzte gibt es im Schwarzenviertel nicht. Wir hätten ihn in eine andere Stadt bringen sollen, nach Montgomery oder Mobile.«
Doc Snyder erschien mit dem heißen Tee, als die Polizisten klopften. »Polizei!«, warnte Edward ihn leise. »Sie sind hinter Jay-Jay her! Wir müssen ihn wegschaffen!« Er beugte sich über den Jungen und versuchte ihn wachzurütteln. »Jay-Jay! Wach auf! Wir müssen weg!« Er schüttelte ihn sanft. »Komm schon, Jay-Jay!« Der Junge regte sich stöhnend, aber seine Augen blieben geschlossen und er entspannte sich gleich wieder. »Das hat keinen Zweck«, flüsterte der Arzt, »das Beruhigungsmittel ist zu stark! Ihr müsst ihn tragen! Nehmt den Hinterausgang, da ist niemand!« Einer der Polizisten rüttelte an der Tür. »Mach endlich auf, Boy! Wir wissen, dass du zu Hause bist! Sperr auf oder wir treten die Tür ein! Wenn du nichts zu verbergen hast, passiert dir nichts! Ich geb dir zehn Sekunden! Eins…« Edward schnappte sich den schlafenden Jungen, der eines der langen Nachthemden des Arztes trug, und warf ihn sich über die Schulter. Audrey nahm die Tüte mit der neuen Kleidung mit. Sie schlichen aus dem Behandlungszimmer und liefen zur Hintertür. Gerade noch rechtzeitig hörten sie, dass sich Schritte näherten. Der junge Polizist war misstrauisch geworden und lief um das Haus herum. Durch das Fenster beobachteten sie, wie er seinen Schlagstock zog und leise auf die Hintertür zukam. »Nach oben!«, flüsterte Doc Snyder. »Klettert aus dem Fenster im Schlafzimmer und versteckt euch auf dem Dach!« Sie stiegen die Treppe hinauf und huschten ins Schlafzimmer. Im Erdgeschoss öffnete Doc Snyder die Haustür und der Polizist mit dem roten Gesicht kam herein in den Flur. Im selben Augenblick trat sein junger Kollege ungeduldig gegen die Hintertür und stieß sie nach innen. »Hast du ein schlechtes Gewissen?«
»Ich musste mir erst die Schuhe anziehen«, redete sich der Arzt heraus, »ich war im Bad, wissen Sie, und da ziehe ich immer…« »Halt keine Volksreden, Boy!«, wies der ältere Polizist den eingeschüchterten Arzt zurecht. Das herablassende »Boy«, ein Wort aus der Sklavenzeit, benutzte jeder Weiße, der einen Schwarzen beleidigen wollte, auch wenn ein erwachsener Mann vor ihm stand. »Ich denke, ihr Nigger lauft alle barfuß rum?« Er lachte schallend und blickte sich suchend um. »Wo steckt der Junge?« »Welcher Junge?«, fragte Doc Snyder scheinbar verwundert. »Nennt sich Jay-Jay, ein rotzfrecher Bursche! Ungefähr zwölf. Er hat die Fensterscheibe eines weißen Gentleman eingeworfen und es liegt eine Anzeige gegen ihn vor! Er hat sich mit einigen Niggern aus dem Nachbarviertel geprügelt und ordentlich was abgekriegt! Wir nehmen an, dass er bei einem Arzt untergekrochen ist! Na, was ist? Ist der Junge hier? Du hast ihn, was? Sonst hättest du uns früher aufgemacht! Den verdammten Scheiß mit den Schuhen kannst du einem anderen erzählen!« Audrey stand im Schlafzimmer des Arztes, den Kopf in der angelehnten Tür, und hörte mit klopfendem Herzen, wie die Polizisten den Arzt in die Enge trieben. Edward hatte den schlafenden Jungen auf das Bett gelegt und zog ihm rasch die neuen Kleider an. Die Baseballmütze und den Kaugummi steckte er in seine Jackentasche. Er schob das Nachthemd und die Tüte unters Bett und legte sich den Jungen wieder über die Schulter. »Komm!«, forderte er Audrey mit gedämpfter Stimme auf. »Wir müssen so schnell wie möglich hier raus! Mach das Fenster auf! Beeil dich!« Widerwillig löste sie sich von der Tür. Sie hatte große Angst, dass die Polizisten dem Doktor etwas antaten, aber außer ihren lauten Stimmen war nichts zu hören. Sie schob so leise wie
möglich das Fenster hoch und stieg auf das schräg abfallende Dach. Edward reichte ihr den Jungen nach draußen. Sie legte ihn auf die morschen Ziegel und duckte sich, damit die Jungen auf der anderen Straßenseite sie nicht entdeckten. Edward folgte ihr und kauerte sich neben sie. Unter ihnen stand die Hintertür offen und sie konnten deutlich hören, was die Polizisten sagten. »Und wer hat hier gelegen?«, war die Stimme des älteren Mannes zu hören. Anscheinend stand er im Behandlungszimmer. »Hier hat doch jemand gelegen? Und für wen ist der verdammte Tee? Drei Becher! Du bist nicht allein, was? Du hast gelogen, stimmt’s? Weißt du, was darauf steht, Nigger-Boy?« »Ich hab nicht gelogen, Officer«, antwortete die heisere Stimme des Arztes. »Um diese Zeit kommt immer der alte Mr. Wilkes mit seiner Frau zu mir. Zwei Leute aus der Nachbarschaft. Ich dachte, ich gieße einen heißen Tee auf. Ich hab sie mit meinem Husten angesteckt, wissen Sie? Heißer Tee mit Honig wirkt wahre Wunder. Ich hab gestern noch zu Mr. Wilkes gesagt…« »Erzähle keine Märchen!«, fiel der Polizist ihm ins Wort. »Ich glaub dir kein Wort! Ich glaub, dass du hier irgendjemand versteckt hast! Sieh dich mal um, Lucky! Wenn du den verdammten Jungen findest, prügelst du ihn die Treppe runter!« »Aber Sie können einen kleinen Jungen doch nicht prügeln!«, ließ sich Doc Snyder zu einer Antwort hinreißen. »Ich meine, wenn er wirklich nur eine Scheibe eingeschlagen hat, ist das sicher schlimm und ich verstehe ja, dass Sie ihn zur Rechenschaft ziehen wollen, aber Sie müssen ihn doch nicht prügeln!« »Das musst du schon uns überlassen, Doc!«, sagte der ältere Polizist. »Lucky! Worauf wartest du noch? Zieh endlich los!«
Audrey nahm an, dass Doc Snyder nur so viel redete, um ihnen einen Vorsprung zu verschaffen, und lächelte dankbar. Gleichzeitig sah sie sich nach einem Fluchtweg um. Es war durchaus möglich, dass der Polizist aus dem Fenster sah und sie entdeckte. Und das durfte auf keinen Fall passieren! Um Edward und sich selbst hatte sie weniger Angst. Man würde sie ein paar Tage ins Gefängnis sperren und dann wieder freilassen. Ihre Sorge galt dem Jungen. Wenn die Polizisten wirklich mit dem Ku-Klux-Klan unter einer Decke steckten, war er in großer Gefahr. Sie kroch auf den Knien zurück und zog vorsichtig das Fenster nach unten. Die Schritte des jungen Polizisten waren auf der Treppe zu hören. Wie ein gehetztes Tier blickte sie sich um. In dem schmalen Durchgang, der das Haus des Arztes von dem benachbarten Wohnblock trennte, lag eine Leiter. Wenn es ihr gelang, nach unten zu klettern und die Leiter für Edward und den Jungen gegen das Haus zu lehnen, entkamen sie vielleicht. Sie erzählte Edward leise von dem Plan und schüttelte den Kopf, als er selbst gehen wollte. »Du bist zu schwer für das Abflussrohr!« Mit einem leichten Lächeln, das ihre Angst verbergen sollte, schlich sie zum Rand des Daches. Das Abflussrohr führte an der Wand entlang nach unten und sie konnte auf das Verandadach und auf den Boden springen, um Zeit zu gewinnen. Am schwierigsten war es, über den Rand des Daches zu klettern und einen festen Halt für ihre Füße zu finden. Nach mehreren Versuchen schaffte sie es. Sie waren auf der Rückseite des Hauses und die Leute auf der Straße konnten sie nicht sehen. Das Abflussrohr, das von der Dachrinne nach unten führte, knarrte, als Audrey es zu fassen bekam. Sie hielt erschrocken den Atem an. Das Geräusch war so laut gewesen, dass sie Angst hatte, die Polizisten könnten es gehört haben. Aber der
ältere Officer war laut und niemand hatte etwas gehört. Zitternd vor Angst kletterte sie auf das Verandadach. Sie blieb heftig atmend sitzen und lauschte einen Augenblick. Außer der wütenden Stimme des älteren Polizisten war nichts zu hören. »Verdammt, Lucky! Warum brauchst du so lange? Hast du was gefunden?« Audrey ging in die Hocke und sprang in den Durchgang, federte auf dem harten Betonboden ab. Sie griff nach der Leiter, wuchtete sie gegen das Haus und war froh, als Edward nach der oberen Sprosse griff und sie behutsam gegen das Dach lehnte. Mit dem schlafenden Jungen auf den Schultern kletterte er nach unten. Kaum hatte er die unterste Sprosse erreicht, ging das Dachfenster auf und das Gesicht des jungen Polizisten erschien in der Öffnung. »Hier ist auch nichts, Sergeant! Das heißt, warte mal, da drüben steht ‘ne Leiter! He, die sind abgehauen!« Noch bevor der Polizist ausgesprochen hatte, rannten Audrey und Edward mit Jay-Jay davon. Sie flohen durch eine angelehnte Tür in den Wohnblock und stiegen die Treppen bis zum obersten Stockwerk empor. Edward stöhnte unter der Last des Jungen. Im vierten Stock führte eine eiserne Treppe nach ganz oben. Sie mussten eine verrostete Luke aufstoßen, um auf das flache Dach zu kommen. Sie kletterten hinaus und verschlossen die Luke. »Wir müssen weiter!«, drängte Edward. »Hier können wir nicht bleiben!« Er hörte den Jungen stöhnen und fragte leise: »Jay-Jay! He, Jay-Jay! Bist du wach?« Aber er gab keine Antwort und Edward blieb nichts anderes übrig, als ihn weiter zu schleppen. Audrey widerstand der Versuchung, nach unten zu sehen, und folgte ihnen. Sie hetzten über das Dach, an qualmenden Schornsteinen und steinernen Schächten vorbei, und stiegen auf eines der benachbarten Häuser, das direkt an den
Wohnblock anschloss. Immer weiter liefen sie, von einem Dach zum anderen, bis sie eine offene Luke fanden und durch ein anderes Treppenhaus nach unten stiegen. Unterwegs begegneten sie einer weißhaarigen Frau, die sie neugierig ansah, aber nichts sagte. Neben einem Gemüseladen erreichten sie die Straße. »Da drüben ist das Motel«, meinte Edward erleichtert, als er den flachen Bau erkannte, »da sind wir erst mal sicher!« Er wollte hinter einem Bus die Straße überqueren und wurde von Audrey unsanft zurückgehalten und in den Gemüseladen gezogen. »Die Polizei!«, stieß sie in panischer Angst hervor. Edward verstand und ging in die Hocke, ließ den Jungen so sanft wie möglich auf den Boden gleiten. Audrey kauerte neben ihm, während der Streifenwagen an dem Laden vorbeifuhr und auf die Fifth Avenue verschwand. »Ist ‘ne lange Geschichte«, sagte Edward, als er die erstaunten Gesichter des Gemüsehändlers und seiner Kunden sah. »Der Junge hat sich mit einigen Weißen angelegt, wissen Sie? Einige Klansmänner haben ihn verprügelt. Wir mussten ihn zum Arzt bringen und er hat ein starkes Schlafmittel bekommen, aber jetzt ist die Polizei hinter ihm her und wir wissen nicht…« Er erkannte, dass sie die Wahrheit niemals glauben würden, und winkte erschöpft ab. »Ist auch egal. Verraten Sie uns nicht, ja?« Er schulterte den Jungen und verließ den Laden. Audrey entschuldigte sich mit einem Lächeln bei den Leuten und folgte Edward. Sie überquerten die Straße und erreichten das Motel.
16
Audrey knipste eine der beiden Nachttischlampen an und ließ sich in einen Sessel fallen. Die schweren Vorhänge waren zugezogen und das Licht der kleinen Lampe kam kaum gegen die Dunkelheit an. Erschöpft beobachtete sie, wie Edward den Jungen auf das Bett sinken ließ und die Baseballkappe auf den Nachttisch legte. Jay-Jay stöhnte im Schlaf, als er auf seinen Wunden zu liegen kam. Der Arzt hatte einen festen Verband angelegt, aber es würde noch einige Tage dauern, bis die Schmerzen nachließen. »Ich bin froh, dass Doc Snyder ihm ein starkes Mittel gegeben hat«, sagte Edward, »sonst hätte er die Flucht niemals durchgehalten! Ein paar Peitschenhiebe mehr und er wäre gestern im Fluss gestorben! Armer Junge!« »Jay-Jay ist sehr tapfer«, meinte Audrey. »Was auf der Thornton-Farm geschehen ist, muss ihn mehr aufgeregt haben, als wir dachten. Er wollte sich an allen Weißen dafür rächen!« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Er hat sich mit dem Klan angelegt!« Edward griff nach dem Telefonhörer und ließ sich ein Amt geben. »Hast du die Nummer von Doc Snyder?«, fragte er. Sie gab ihm die Nummer und er wählte. Es dauerte eine Weile, bis der Arzt den Hörer abnahm. »Hallo, Doc! Edward Hill. Wir haben es geschafft, der Junge ist in Sicherheit. Wie geht es Ihnen, Doc?« »Sie haben mir nichts getan«, antwortete der Arzt heiser. »Ich hab den Cops gesagt, dass die Leiter schon seit gestern am Haus lehnt, weil ich die Wände streichen will. Sie können sich ja vorstellen, was sie geantwortet haben. Übel beschimpft haben sie mich und ›Nigger‹ war noch das Harmloseste, was
ich zu hören bekam. Aber sie haben mich nicht geschlagen. Dazu hatten sie es viel zu eilig! Sie wollten unbedingt den Jungen haben!« »Jay-Jay liegt in meinem Bett«, beruhigte Edward den Arzt, »hier findet ihn so schnell keiner. Sollen wir den Verband wechseln? Kann sein, dass er unterwegs was abbekommen hat. Wir mussten über die Hausdächer fliehen, das war ziemlich anstrengend.« Doc Snyder überlegte nur ein paar Sekunden. »Rufen Sie mich morgen früh an und sagen Sie mir, wie’s ihm geht. Falls sich die Wanden entzündet haben, komme ich mit Salbe vorbei. Und jetzt lassen Sie ihn schlafen! Das Mittel wirkt noch eine ganze Weile.« »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Doc. Sie sind mutig!« »Unsinn!«, widersprach Doc Snyder. »Mein Urgroßvater, der war mutig! Er war Sklave auf einer Plantage in Georgia und ließ sich lieber zu Tode prügeln, als einen Jungen zu verraten, der etwas Brot gestohlen hatte!« Er schnaufte tief. »Passen Sie auf den Jungen auf, ja? Und rufen Sie mich an, wenn’s nicht besser wird!« Das versprach Edward. Er verabschiedete sich und legte den Hörer auf. Er berichtete Audrey, was Doc Snyder gesagt hatte. »Sein Urgroßvater war Sklave?«, fragte sie bestürzt. »Alle unsere Vorfahren waren Sklaven«, antwortete Edward, »hast du das vergessen? Die Weißen haben Männer, Frauen und Kinder aus Afrika geholt und wie Vieh auf ihre Schiffe verladen. Ich hab das Tagebuch eines Sklaven gelesen. Ein Krieger der Asante, der seiner Familie entrissen und bewusstlos auf ein Segelschiff gebracht wurde. Während der Überfahrt wurden die Schwarzen angekettet. Es waren so viele Gefangene auf den Schiffen, dass sie sich kaum bewegen konnten. Wenn einer krank wurde, warfen ihn die weißen Männer über Bord, auch Frauen und Kinder. In Amerika
wurden sie verkauft. Sie mussten auf den Baumwollplantagen arbeiten und konnten froh sein, wenn sie überlebten.« »Ich weiß«, erwiderte Audrey leise. Ihr Großvater hatte oft von dieser schrecklichen Zeit erzählt und sie ermahnt, die Bilder dieser Zeit in ihrem Herzen zu tragen. »Wer die Vergangenheit vergisst, hat die Zukunft nicht verdient«, war einer seiner Lieblingssätze gewesen. Sie hatte die Erzählungen nicht vergessen, aber verdrängt. Edward schrieb einen Zettel für den schlafenden Jungen und legte ihn auf den Nachttisch. »Ich glaube, wir können ihn eine Weile allein lassen. Er braucht dringend Ruhe.« Er lächelte. »Und wir haben uns, denke ich, einen starken Kaffee verdient! Komm, wir gehen ins Lokal rüber, da haben sie den besten Apfelkuchen der Welt. Ich meine gleich nach dem, den meine Mutter macht!« Audrey war einverstanden und merkte erst jetzt, wie sehr sie die Aufregungen der letzten Stunden mitgenommen hatten. Die überstürzte Flucht aus dem Haus des Arztes hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie geglaubt hatte. Oder war es die Angst, die ihr so zusetzte? Mit aller Macht sträubte sie sich gegen die Vorstellung, was mit Jay-Jay passiert wäre, wenn die Polizisten ihn erwischt hätten. Sie arbeiteten mit dem Klan zusammen, daran bestand kein Zweifel, wenn man erlebt hatte, wie sie mit Doc Snyder umgegangen waren, und sie hätten ihn bestimmt zu den Cahaba Boys gebracht. Warum passierte so etwas? Amerika war keine Diktatur. Sie lebten im zwanzigsten Jahrhundert, in einem Land, das stolz auf seine Demokratie war! Warum gab es keine Gerechtigkeit in diesem Land? Sie betraten den Coffee Shop und setzten sich an einen der hinteren Tische. Es waren kaum Gäste im Lokal. Von der niedrigen Decke hingen Lampen und beleuchteten die braunen Tische und die dunkelroten Plastikbänke. Es roch nach demselben Putzmittel wie in dem Motelzimmer. Sie bestellten
Kaffee und Apfelkuchen und hatten gerade den ersten Bissen gegessen, als Martin Luther King und Ralph Abernathy das Lokal betraten. Sie trugen die schwarzen Anzüge und schwarzen Krawatten, ohne die man sie selten in der Öffentlichkeit sah, und blieben neben ihrem Tisch stehen. »Hallo, Edward!«, grüßte Dr. King freundlich. »Audrey, nicht wahr? Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« »Natürlich«, sagte Edward und die Pastoren setzten sich und bestellten Kaffee. Martin Luther King lächelte das Mädchen an. »Ich freue mich, dass Sie sich entschlossen haben bei uns mitzumachen, Audrey! Das ist Mr. Ralph Abernathy, ein guter Freund aus Montgomery. Er ist Vizepräsident der SCLC, was immer das bedeuten mag. Wir geben nicht viel auf solche Posten, aber ohne Organisation ist eine Aktion wie Project C nicht durchführbar.« Audrey war verlegen, weil sie keines der Formulare unterschrieben hatte, die Martin Luther King in der Kirche verteilt hatte, ließ sich aber nichts anmerken. Sie trank von ihrem Kaffee und hörte, wie Edward sagte: »Jay-Jay ist in meinem Zimmer.« Er berichtete von ihrer überstürzten Flucht aus dem Haus des Arztes und fügte hinzu: »Ich behalte ihn ein paar Tage hier. Im Motel ist er einigermaßen sicher. Zu seiner Tante will er nicht.« Er stocherte in seinem Apfelkuchen herum. »Ich hab Angst, dass die Cahaba Boys hinter ihm her sind. Irgendwie haben sie herausgefunden, dass er noch am Leben ist. Ich möchte ihn beschützen.« »Vollkommenen Schutz gibt es nicht, solange die Gesetze so sind, wie sie sind«, sagte Ralph Abernathy, »nicht einmal für die Frauen und Kinder.« Er war ein korpulenter Mann mit einem breiten Gesicht, schmalen Augen und einem Schnurrbart. Von Edward wusste Audrey, dass er zu den Mitbegründern der SCLC gehörte und sich um die Finanzen der Vereinigung kümmerte. »Wir helfen dem Jungen am
besten, wenn wir Project C durchführen, wie wir es geplant haben. Wenn der Präsident die Gesetze ändert, wird auch die Polizei zur Vernunft kommen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber in naher Zukunft. Der Junge wird es erleben. Es geht nicht nur um uns Schwarze, es geht um ganz Amerika! Wenn wir verlieren, geht dieses Land vor die Hunde! Dann siegt die Gewalt, wie sie immer in Amerika gesiegt hat! Alle Erfolge, über die in den Schulbüchern geschrieben steht, basieren auf Gewalt – die Eroberung des Westens, der Aufschwung des Südens, der Bau der Eisenbahn… Nur wir Schwarze können Amerika noch retten, weil wir die Gewaltlosigkeit zurückbringen. Ist es nicht so, Martin?« Martin Luther King nickte. »Aber der Weg ist sehr dornenreich und einige von uns werden Opfer bringen müssen. Das bewundere ich so an Mahatma Gandhi. Vor über dreißig Jahren protestierten 2.500 Inder gegen das Salzmonopol der Briten in den Salzbergwerken von Darshana. Sie marschierten zum Bergwerk und blieben schweigend vor dem Stacheldrahtzaun stehen. Als die ersten Menschen durch den Graben wateten, ging ein Aufschrei durch die Polizisten und sie knüppelten mit ihren Schlagstöcken auf die Leute ein. Keiner der Demonstranten wehrte sich. Und doch trugen sie am Ende den Sieg davon! Die Engländer mussten erkennen, dass es kein Mittel gegen den gewaltlosen Widerstand gab. Indem sie wehrlose Menschen schlugen, stellten sie ihre eigene Hilflosigkeit bloß. Sie fanden heraus, dass ihr brutales Vorgehen falsch war und an der großen Macht der Liebe scheitern musste. Gandhi nannte sie ›satyagraha‹, ›die Macht, die aus der Wahrheit kommt und in der Liebe ihre Anwendung findet‹. Ich bewundere Mahatma Gandhi!« »Ich weiß nicht, ob ich so tapfer wäre«, meinte Audrey ehrlich. Sie dachte daran, welche Schmerzen der Junge ausgehalten hatte, und blickte Martin Luther King direkt an.
»Wären Sie bereit, für die Gleichberechtigung der Schwarzen zu sterben, Dr. King?« Der Pastor überlegte eine Weile. »Wie jeder andere Mensch würde ich gerne lange leben«, sagte er dann. »Aber das macht mir keine Sorgen. Ich möchte nur den Willen Gottes tun. Ich möchte den hohen Berg besteigen, der vor uns liegt, und auf die sonnige Seite blicken. Ich weiß nicht, ob ich diese Täler jemals erreichen werde, aber ich möchte sie zumindest erblicken. Vor dem Tod habe ich keine Angst. Gott ruft mich, wenn er es für richtig hält.« Ralph Abernathy stimmte ihm zu und lächelte hintergründig. »Vor Gott sind wir alle gleich. Schon deshalb habe ich keine Angst vor dem Jenseits. Ich freue mich schon auf die Gesichter der Klansmänner, wenn Gott zu ihnen sagt: ›Ihr seid nicht besser und nicht schlechter als diese schwarzen Männer!‹ Sie werden ziemlich wütend sein und sich daran erinnern, dass sie die Schwarzen nicht einmal in ihren Kirchen geduldet haben. Ausgerechnet der Klan, der sich ständig auf das Wort Gottes beruft!« »Der erste Schritt, in dieser Stadt für Gerechtigkeit zu sorgen, ist, die Schwarzen als Wähler eintragen zu lassen«, sagte Martin Luther King. »Sie machen zwei Fünftel aller Stimmberechtigten in Birmingham aus und doch lässt sich nur ein Achtel in die Wahllisten eintragen. Am 5. März stehen drei Männer zur Wahl: Albert Boutwell, Bull Connor und Tom King. Und Bull Connor darf auf keinen Fall zum Bürgermeister gewählt werden! Er ist der größte Rassist, den ich kenne! Auch Boutwell und King sind für die Rassentrennung, aber nicht so radikal wie der Polizeichef. Sie gehen vielleicht auf unsere Forderungen ein, wenn wir genügend Druck hinter unsere Protestaktionen legen.« »Wie viele Freiwillige haben wir schon?«, fragte Edward.
»Ungefähr dreihundert«, antwortete Martin Luther King, »aber es werden täglich mehr, und wenn die Wahl eine klare Entscheidung bringt, können wir sofort loslegen.« Er wandte sich an Audrey. »Edward hat Recht. Sie sind eine tapfere junge Frau! Es gehörte eine Menge dazu, dem Jungen unter der Brücke zu helfen!« »Ich hab nicht darüber nachgedacht«, räumte sie ein. Sie fühlte sich nicht als Heldin. »Sollte ich ihn vielleicht ertrinken lassen? Jay-Jay ist unser Freund und diese Männer hatten ihn beinahe zu Tode geprügelt! Hätten Sie zugesehen, wie Jay-Jay ertrinkt?« »Nein, das hätte ich nicht«, antwortete Martin Luther King ernst. »Aber ich kenne Männer, die nicht mal angehalten hätten, wenn sie die Cahaba Boys gesehen hätten. Sie haben wie die Inder gehandelt, von denen ich erzählt habe. Gott war auf Ihrer Seite!« »Amen«, stimmte Ralph Abernathy zu. »Da fällt mir ein, Martin, wir haben gleich ein Meeting mit Fred und Wyatt. Zimmer 30.« »Ja, es wird Zeit«, entschuldigte sich Dr. King. Er stand auf und schüttelte Audrey die Hand. »Ich freue mich, Sie kennen gelernt zu haben, Miss, es war mir ein außerordentliches Vergnügen.« Die Pastoren unterschrieben ihre Rechnungen und verließen den Coffee Shop. Audrey fühlte sich wie ein junges Mädchen, das man vor versammelter Klasse gelobt hat. »Jetzt gehöre ich wohl zu euch«, sagte sie. »Bringst du mich zu meinem Wagen?« Sie zahlten und kehrten ins Motelzimmer zurück, um nach Jay-Jay zu sehen. Seine Atemzüge gingen regelmäßig. »Der ist morgen wieder auf dem Damm!«, meinte Edward zuversichtlich. Audrey blickte einige Zeit auf ihn hinab und merkte gar nicht, wie sie und Edward sich immer näher kamen.
Eine Hand fand die andere und seine Wärme strömte in ihren Körper und löste ein unstillbares Verlangen aus. Sie schlang beide Arme um seinen Hals und küsste ihn. Es war ein inniger und leidenschaftlicher Kuss. Ihr Körper drückte gegen seinen Unterleib und ihre Knie begannen zu zittern. Seine Hände berührten ihre Schulterblätter, strichen über ihren Rücken und fanden ihre Oberschenkel. »Ich liebe dich, Edward«, flüsterte sie erregt, »ich liebe dich wirklich!« Ein leises Stöhnen des Jungen holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie lösten sich voneinander und Audrey strich verlegen ihren Rock glatt. Edward griff nach ihren Händen. »Wir haben viel Zeit, Audrey«, sagte er leise, »ein ganzes Leben, wenn du willst!« Auf dem Weg zu ihren Wagen sprachen sie kaum. Zu überwältigend waren die Gefühle, die beide bewegten. Im Haus des Doktors brannte kein Licht und sie verzichteten darauf, an seine Tür zu klopfen. »Ich rufe dich an«, versprach Edward, als er sich von ihr verabschiedete. Sie küsste ihn sanft auf die Lippen und stieg in ihren Plymouth. Während sie davonfuhr, sah sie ihn im Rückspiegel vor seinem Cadillac stehen und winken. »Edward«, flüsterte sie seinen Namen zärtlich. Dies war der wichtigste Tag in ihrem Leben, das würde sie noch viele Jahre später behaupten. Diesmal wartete ihr Vater nicht im Hausflur und sie erreichte ungehindert ihr Zimmer. Sie trank etwas kalte Milch, wie sie es jeden Abend vor dem Schlafengehen tat, und schlief friedlich in den nächsten Tag hinein. Ihre Eltern schienen es leid zu sein, jeden Morgen über Martin Luther King und die Rassentrennung zu diskutieren, und beschränkten sich auf belanglose Dinge. Nur der freche Napoleon fragte: »Hast du deinen Freund geküsst? So richtig auf den Mund, wie die Leute im Fernsehen?« Emory Jackson wies ihn scharf zurecht: »Hast du heute keine Schule, Napoleon? Wenn ich du wäre,
würde ich schleunigst meine Sachen packen!« Und Alberta meinte leise: »Sag bloß, du liebst den Kerl wirklich?« Dann kam der 5. März und für Audrey brach eine Welt zusammen. Bei der Bürgermeisterwahl gab es kein eindeutiges Ergebnis und es wurde eine neue Wahl für den 2. April festgelegt, diesmal nur zwischen Albert Boutwell und Eugene »Bull« Connor. Sobald Audrey davon hörte, rief sie bei Edward im Gaston Motel an. »Mr. Hill ist abgereist«, bekam sie zu hören, »vor ungefähr einer Stunde!« Ob er denn keine Nachricht hinterlassen habe, wollte sie wissen und die Stimme antwortete: »Leider nicht, Miss.« Auch Martin Luther King und Ralph Abernathy hatten das Motel verlassen. »Aber das kann nicht sein«, sagte Audrey noch, als sie den Hörer bereits aufgelegt hatte. »Er hätte mich bestimmt angerufen!« Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein und warf sich weinend aufs Bett. Den ganzen Abend ließ sie sich nicht bei ihrer Familie blicken. Sie heulte die ganze Nacht und zog die Möglichkeit gar nicht in Betracht, dass Edward vielleicht keine Möglichkeit gehabt hatte, ihr Bescheid zu sagen. Für ein Telefongespräch ist immer Zeit, sagte sie sich. Am nächsten Morgen duschte sie doppelt so lange wie sonst, um einigermaßen erholt zum Frühstück zu erscheinen. Sogar die teure Creme, die sie sonst nur vor einem Date auftrug, benutzte sie. Doch ihr gepflegtes Aussehen konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie kaum geschlafen hatte und sehr traurig war. »Ich hab keinen Hunger, Mom«, seufzte sie beim Anblick der gebratenen Eier. Ihr Vater war froh, dass sich seine Probleme auf so einfache Weise gelöst hatten. »Hör mal, Audrey«, meinte er, »vielleicht ist es so am besten. Für uns alle, meine ich. Martin Luther King hat wohl erkannt, dass er in Birmingham nicht gewinnen
kann, und Edward…« Er trank geräuschvoll von seinem Kaffee. »Nun, es gibt noch andere Jungen außer Edward. Jungen, die besser zu dir passen. In ein paar Tagen bist du drüber weg, glaube mir!« »Bin ich nicht!«, rief sie so laut, dass ihre Mutter erschrocken zusammenzuckte. Sie knallte den Kaffeebecher auf den Tisch und rannte nach draußen. Im Auto starrte sie minutenlang ins Leere, die Augen voller Tränen, bevor sie den Motor anließ und zur Schule fuhr. »Bist du traurig?«, fragte Cynthia Wesley im Schulhof. »Nur ein bisschen«, antwortete Audrey. »Ich auch«, sagte Cynthia, »ich weine immer, seit Sarah Lee weggezogen ist.« Der ersehnte Anruf kam vor der Mittagspause. Sie riss ihrer Kollegin beinahe den Hörer aus der Hand, als sie »Für dich, Audrey!« hörte. »Edward?«, rief sie aufgeregt. »Bist du’s, Edward?« »Audrey? Gott sei Dank, endlich erreiche ich dich! Ich wollte dich nicht erschrecken! Wir mussten überstürzt abreisen wegen der Wahl. Bull Connor würde sich wie ein Geier auf uns stürzen, wenn wir blieben, um daraus Kapital für seine Wahl zu schlagen. Dr. King hält es für besser, wenn wir am 2. April nach Birmingham zurückkehren, wenn die Wahl entschieden ist. Dann sind es immer noch zwei Wochen bis Ostern. Wir haben Project C nicht aufgegeben, Audrey! Wir haben es nur verschoben!« Sie weinte leise in den Hörer hinein. »Warum hast du nicht angerufen, Edward? Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Du wärst abgereist, haben sie im Motel gesagt, und ich dachte schon…« »Ich bin nicht durchgekommen, Audrey. Ich hab’s ein paarmal versucht, aber es war dauernd besetzt, und dann musste ich einige Sachen für Dr. King erledigen und… ich liebe dich, Audrey.«
»Ich liebe dich auch!« Sie spürte den neugierigen Blick ihrer Kollegin, kümmerte sich aber nicht darum und wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. »Wo ist JayJay, Edward? Der Junge?« »Verschwunden… so wie damals. Als ich ins Motelzimmer kam, war er verschwunden. ›Macht euch keine Sorgen!‹, stand auf einem Zettel. Ich soll dir sagen, dass die Baseballkappe okay ist.« »Das ist gut.« »Hör zu, Audrey! Ich muss weiter! Mach dir keine Sorgen, ja? Geh kein unnötiges Risiko ein! Jay-Jay kommt schon allein zurecht, den wirft so schnell nichts aus der Bahn! Bis bald, Audrey!« »Bis bald, Edward!« Sie legte auf und griff dankbar nach der kalten Flasche Coca-Cola, die ihre Kollegin auf den Schreibtisch stellte. »Zur Feier des Tages«, sagte das Mädchen grinsend.
17
Wenn Edward in der Schule anrief, und das kam ungefähr jeden zweiten Morgen vor, verscheuchte Audrey ihre junge Kollegin mit einer ungeduldigen Handbewegung. Sogar der Direktor zeigte sich nachsichtig und blieb in seinem Büro. Dabei wusste selbst der Hausmeister, dass sie in den jungen Mitarbeiter von Martin Luther King verliebt war. Sie machte kein Hehl aus ihren Gefühlen und sprach in jeder freien Minute über ihn. »Wie ein verliebter Teenager«, lachte die Kollegin, die selbst noch ein halbes Kind war und alle paar Wochen von einem anderen Jungen schwärmte. Audrey genoss ihre Verliebtheit und fühlte sich seltsam beschwingt, seit Edward ihr seine Liebe gestanden hatte. Er wartete ungeduldig darauf, nach Birmingham zurückzukehren, und gestand ihr, eine neue Kurzgeschichte angefangen zu haben. »Es geht um eine junge Frau, die gegen die Rassentrennung kämpft«, verriet er, »vielleicht wird sogar ein Roman daraus. Mehr wird noch nicht verraten! Aber die Frau, um die es geht, ist sehr hübsch und am Schluss heiratet sie einen jungen Pastor aus Chicago. Ich hoffe es jedenfalls…« Audrey wurde immer verlegen, wenn er so ehrlich war, und bewunderte ihn für die Fähigkeit, seine Gefühle in schöne Worte zu kleiden. Gegen seine Liebeserklärungen kamen ihr Worte wie »Ich liebe dich!« beinahe banal vor. Sie sagte es dennoch und schämte sich nicht für ihre Offenheit. Spätestens seit er in Atlanta war, glaubte sie, ohne ihn nicht mehr leben zu können. Ein Zustand, den sie bisher nur aus dem Kino gekannt hatte. Eine Erfindung der Studios in Hollywood, die solche Gefühle für Stars wie Paul Newman und Liz Taylor ersannen,
um möglichst viele Leute mit ihren romantischen Märchen in die Theater zu locken. Über seine Arbeit sprach Edward wenig. Er wusste, dass sie noch ein wenig Zeit brauchte, um sich endgültig über ihre Rolle im Kampf gegen die Rassentrennung klar zu werden, und wollte sie nicht bedrängen. Doch einmal war seine Freude zu groß. »Gestern waren wir auf einer Benefizveranstaltung mit Harry Belafonte. Er ist mit Martin Luther King befreundet. Stell dir vor, er hat über 30.000 Dollar für uns gesammelt! Das Geld brauchen wir, um die Kaution für unsere Leute zu bezahlen, falls sie eingesperrt werden! Ist das nicht wunderbar? Endlich kommen wir weiter!« Audrey wusste nicht, was sie antworten sollte. »Ich weiß nicht, Edward. Ich bin immer noch skeptisch. Warum wollt ihr, dass eure Leute ins Gefängnis gehen? Was passiert, wenn die Weißen sie nicht mehr laufen lassen? Du weißt doch, wie sie in Alabama die Gesetze verdrehen! Du weißt doch gar nicht, ob euer Project C noch steht, wenn ihr nach Birmingham zurückkommt!« »Ich hab nicht gesagt, dass es einfach wird«, sagte Edward. »Ich weiß auch, dass uns einige Leute schon vergessen haben. Aber solange uns bekannte Künstler wie Harry Belafonte unterstützen und solange Präsident Kennedy auf unserer Seite ist, dürfen wir nicht aufgeben! So eine Chance kommt nicht wieder!« Audrey dachte über seine Worte nach und sprach mit Betty Ann darüber. Seit Edward die Stadt verlassen hatte, war sie wieder öfter mit ihrer Freundin zusammen. »Keine Bange«, meinte Betty Ann, »ich sorge schon dafür, dass uns die Leute nicht abspringen! Ich schicke jede Woche dreihundert Briefe raus. Wir haben die Adressen aufgeschrieben und ich hab Dr. King versprochen, dass ich mich darum kümmere. Das Geld für die Briefmarken hat er mir dagelassen. Wenn’s mir
ausgeht, nehm ich mein Taschengeld.« Sie blickte Audrey herausfordernd an. »Ehrlich gesagt, du könntest mir ruhig dabei helfen! Beim Schreiben und Verschicken, meine ich! Du bringst die Briefe zur Post, okay?« Und da Betty Ann ihr gar nicht die Gelegenheit gab, sich dagegen zu wehren, fuhr sie jeden zweiten Nachmittag nach Bessemer hinaus und half ihr beim Schreiben und Eintüten der Briefe. Ihre Freundin formulierte sie selbst, benutzte aber Zitate von Martin Luther King und Fred Shuttlesworth, um die Leute besser motivieren zu können. In ihren Sammelalben waren die Wortlaute fast aller Reden zu finden, die Pastoren wie Dr. King und Dr. Shuttlesworth während der letzten zwei Jahre gehalten hatten. Jedes Schreiben beendete Betty Ann mit den Worten: »Ich hoffe inständig, dass Sie unserer Idee gewogen bleiben und mit unserer Armee des Friedens marschieren, sobald Martin Luther King zurückkehrt und dazu aufruft! Möge Gott uns alle beschützen und uns Kraft für einen erfolgreichen Widerstand geben! B. A. P.« »Du bist sehr mutig, Betty Ann Palmer!«, lobte Audrey ihre Freundin. »Du warst eine der Ersten, die bei Dr. King unterschrieben haben. Manchmal habe ich Angst um dich. Was ist, wenn dir der Klan auf die Schliche kommt? Die haben ihre Leute auch bei der Post sitzen. Wenn einer von denen einen Brief aufmacht?« Betty Ann grinste selbstgefällig. »Deshalb unterschreib ich nicht mit meinem Namen! B. A. P. das kann sonst wer sein!« Ihr Grinsen verstärkte sich. »Außerdem musst du gerade reden! Belauscht die gefährlichsten Klansmänner, die es gibt, und zieht den armen Jay-Jay aus dem Cahaba River und will mir erzählen, dass ich mutig bin! Weißt du, was Dr. King über dich gesagt hat? Du wärst die mutigste Frau, die er seit Rosa Parks getroffen hat!«
»Rosa Parks? Die Frau, die mit dem Busboykott in Montgomery angefangen hat?« Audrey stieg das Blut ins Gesicht und sie wurde verlegen. »So schlimm war’s nicht. Es ist mir ja nichts passiert!« Ihren Eltern verschwieg Betty Ann, wie aktiv sie am Project C von Martin Luther King beteiligt war. Und wenn Audrey das Haus verließ und ihr Vater rief: »Willst du schon wieder zu Betty Ann?«, antwortete sie lachend: »Von den Männern will ich nichts mehr wissen!« Sie verriet nicht einmal ihrer Schwester, dass Edward fast jeden Morgen in der Schule anrief. Warum sollte sie unnötig Öl ins Feuer gießen? Die zweite Bürgermeisterwahl fand in wenigen Wochen statt und dann war es immer noch früh genug, ihrer Familie reinen Wein einzuschenken. Selbst die furchtbaren Bilder, die Audrey und Betty Ann am Freitag vor der Wahl sahen, verschwiegen sie ihren Familien. Die Ereignisse jenes Tages brannten sich wie ein quälender Albtraum in ihr Gedächtnis ein. Am Nachmittag dieses Schwarzen Freitags, wie sie ihn später nannten, wartete Betty Ann aufgeregt vor der Schule. »He, wo kommst du denn her?«, fragte Audrey verwundert. »Ich dachte, wir wollten uns bei dir treffen! Deine Mutter wollte Pudding machen!« Betty Ann wartete, bis ihre Freundin den Plymouth aufgesperrt hatte und sie im Wagen saßen. »Ich habe Jay-Jay gesehen!«, platzte sie heraus. »Er muss es gewesen sein! Er hatte die Baseballkappe auf, von der du erzählt hast! Ich war gerade auf dem Heimweg von der Fabrik und hab ihn vom Bus aus gesehen! An der Abzweigung zur Thompson-Farm. Er ist hinter die Bäume gerannt, als wir um die Ecke kamen, aber ich hab ihn genau erkannt! Am Bessemer Highway, Audrey! Da gibt es weit und breit kein Haus und keinen Laden! Möchte wissen, was er da wollte. Ich hab den Fahrer gefragt, ob er mich rauslässt, aber der war stur. ›Ich muss mich an die
Vorschriften halten‹, sagte er. Also bin ich schnell nach Hause, die Taschenlampe holen, und hab den nächsten Bus in die Stadt genommen. Zu Fuß wär ich sowieso nicht weit gekommen.« Sie deutete ungeduldig nach vorn. »Worauf wartest du, Audrey? Lass uns endlich fahren!« Audrey ließ zögernd den Motor an und steuerte den Plymouth vom Schulhof. Sie wollte ihrer Freundin sagen, dass es viel zu gefährlich war, auf dem Bessemer Highway anzuhalten und nach dem Jungen zu suchen. In der Gegend war jeder zweite Weiße ein Klansmann und sie wusste aus eigener Erfahrung, wie eine Begegnung mit aufgebrachten Weißen ausgehen konnte. Dann dachte sie an Jay-Jay, wie er verängstigt durch das Unterholz kroch, und hielt den Mund. Schweigend fuhr sie durch die weißen Vororte nach Südwesten. Sie erreichte den Stadtrand und lenkte den Plymouth auf den zweispurigen Highway. Wie jeden Freitagnachmittag war reger Verkehr. Sie wurde ruhiger und sagte sich, dass selbst der Ku-Klux-Klan es nicht wagen würde, sie vor so vielen Zeugen zu belästigen. »Seit wann rauchst du?«, fragte sie, als Betty Ann nach einer Zigarette griff. »Seit ich bei Dr. King unterschrieben habe«, antwortete sie nervös. »Irgendwann hätte ich sowieso damit angefangen. Ohne das Zeug stehe ich die Sache nicht durch! Und du? Irgendein Laster musst du doch haben?« Sie grinste schwach. »Ich meine außer diesem Edward, mit dem du neuerdings durch die Lande ziehst! Liebst du ihn wirklich? Denkst du etwa daran, ihn zu…« »… heiraten?« Audrey vergaß für einen Augenblick ihre Besorgnis und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich glaube schon. Ich werde in drei Monaten zwanzig, schon vergessen? Mit zwanzig bekam meine Großmutter ihr zweites Kind und meine Mutter war auch längst verheiratet! Außerdem gefällt mir Edward! Und ich gefalle ihm! Er ist der beste Junge, den
ich jemals getroffen habe!« Sie senkte verlegen den Kopf. »Neulich haben wir uns geküsst, so richtig geküsst, wie sie es im Kino tun! Da hat er mir gesagt, dass er mich liebt, und ich hab ihm dasselbe gesagt…« »Da drüben«, unterbrach Betty Ann sie aufgeregt, »da drüben hab ich Jay-Jay gesehen!« Sie deutete auf einen Feldweg, der neben einer verfallenen Hütte abzweigte und quer durch einen Kartoffelacker nach Süden führte. Ein zerbeultes Schild wies darauf hin, dass der Feldweg zum Privatbesitz der ThompsonFarm gehörte und Unbefugten das Befahren nicht gestattet war. Audrey stieg auf die Bremse. »Da dürfen wir nicht rein! Wenn uns die Besitzer erwischen, rufen sie bestimmt die Polizei! Oder sie hetzen die Hunde auf uns!« Sie überlegte nur kurz und steuerte den Wagen hinter die Hütte. Zwischen dem Gestrüpp war er kaum zu sehen. »So denken sie, jemand hätte seine Schrottkarre entsorgt. Das machen die meisten Leute so. Bist du sicher, dass es hier war?« »Ganz sicher«, bestätigte Betty Ann. Sie stiegen aus und Betty Ann deutete auf das Wäldchen, das jenseits des Kartoffelackers einen steilen Hang bedeckte. »Er war da drüben, am Waldrand!« »Wie lange ist das her?« »Ungefähr drei Stunden. Ich weiß, ich weiß, er ist wahrscheinlich längst über alle Berge, aber versuchen müssen wir es! Er ist vielleicht in großer Gefahr! Kein Mensch treibt sich freiwillig in dieser öden Gegend rum! Ein Schwarzer schon gar nicht! Auf der Thompson-Farm hält der Klan seine großen Meetings ab!« Audrey nahm an, dass auch Jay-Jay davon gehört hatte. Selbst wenn nicht, musste er wissen, dass der Bessemer Highway durch Klan-Gebiet führte und es nicht ratsam war, sich dort herumzutreiben. »Möchte wissen, was er vorhat«,
überlegte sie, »seine Tante wohnt woanders. Ob er irgendwas entdeckt hat? Eine Spur? Er will sich doch nicht schon wieder mit dem Klan anlegen?« »Wenn wir nicht nachsehen, finden wir es nie heraus«, erwiderte Betty Ann. »Die Polizei können wir nicht rufen! Lass uns bis zum Waldrand gehen, okay? Wenn wir ihn dort nicht sehen, fahren wir zu mir heraus und halten Kriegsrat, okay? Los, am Zaun entlang und durch das hohe Gestrüpp, dort sieht uns keiner…« Obwohl sich die Mädchen davor fürchteten, von den Thompsons oder irgendeinem anderen Weißen entdeckt zu werden, rannten sie los. Die Sorge um Jay-Jay ließ sie ihre eigene Angst vergessen. Sie huschten geduckt an dem verwitterten Zaun entlang, der die Felder der Thompson-Farm vom Highway trennte, und rannten durch das Gestrüpp, das sich abseits der Felder am Rande eines zugewachsenen Sumpfgebiets erhob. Bis zum Waldrand waren es knapp dreihundert Meter. Sie drehten sich nicht um und zwangen sich nicht daran zu denken, dass ein vorbeifahrender Autofahrer sie entdecken und anhalten könnte. Sie rannten weiter, bis sie die ersten Bäume erreicht hatten, und ließen sich erschöpft auf den weichen Waldboden fallen. Audrey blickte zur Straße zurück und war erleichtert, kein Auto am Straßenrand oder auf dem Feldweg zu sehen. Sie waren unentdeckt geblieben. »Wir sind verrückt, weißt du das?«, sagte sie zu ihrer Freundin. »Wenn mein Vater wüsste, was ich hier mache, würde er mich drei Monate in ein dunkles Zimmer sperren!« »Und ich dürfte mich für den Rest ihres Lebens um meine Tante kümmern«, erwiderte Betty Ann. »Ihr Husten ist wieder schlimmer geworden! Ich glaube, sie verträgt das Klima nicht! Wenn wir Geld hätten, würden wir sie nach Colorado schicken!«
Sie standen auf und blickten sich suchend um. »Wenn er hier gewesen wäre, müssten noch irgendwo Spuren sein«, überlegte Audrey laut. »Bist du sicher, dass er in den Wald gelaufen ist?« »Er war auf dem Feldweg, als wir vorbeikamen«, antwortete Betty Ann. »Wo sollte er denn sonst hin? Wenn er seine Sinne beisammen hat, ist er im Wald. Ob er das Schild gelesen hat? Er kann doch lesen, oder? Dann muss er doch wissen, dass die Gegend gefährlich ist!« »Vielleicht hat er sich verlaufen«, hoffte Audrey, »und ist längst wieder in Birmingham!« Aber sie glaubte nicht daran, vermutete eher, dass er losgezogen war, um es mit dem Klan aufzunehmen. Jay-Jay war verrückt genug, so etwas zu wagen. Auch wenn die Cahaba Boys ihm gezeigt hatten, dass der Klan stärker war. Sie liefen ein paar Meter in den Wald hinein und blieben erschrocken stehen. Hinter ihnen erklang das Brummen starker Motoren. Sie liefen zum Waldrand zurück und spähten durch das dichte Unterholz auf den Feldweg, über dem plötzlich eine große Staubwolke hing. Ein ganzer Konvoi von Pick-ups und Personenwagen, sogar einige Lastwagen fuhren zwischen den Feldern hindurch zur Thompson-Farm. An den meisten Wagen hingen amerikanische Flaggen. Der Motorenlärm klang bedrohlich und die Abgase zogen wie eine giftige Wolke zum Waldrand. »Der Klan!«, stieß Betty Ann entsetzt hervor. »Sie halten ein Meeting ab! Gott sei Dank haben sie deinen Wagen nicht gesehen!« »Jay-Jay!«, flüsterte Audrey ängstlich. Sie duckten sich tief ins Unterholz, wagten kaum sich zu bewegen, obwohl der Konvoi in sicherer Entfernung an ihnen vorbeizog. Audrey fühlte sich an einen Film aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert, an die Bilder von Lastwagen, Panzern und
Jeeps, die über verwahrloste Felder in irgendeine Schlacht rollten. Dieser Konvoi wirkte ähnlich Furcht erregend auf sie, ließ sie Männer in weißen Kutten und mit gefährlichen Waffen sehen, die nur darauf walteten, von ihren Wagen springen und sie erschießen zu können. Doch die meisten Klansmänner trugen zivile Kleidung und niemand ahnte, dass sie am Waldrand in Deckung lagen. Einer der letzten Wagen, die auf den Feldweg abbogen und zur Thompson-Farm fuhren, war ein weißer Pick-up. Audrey erkannte ihn auf Anhieb, trotz des vielen Staubs, der in dichten Schwaden über die Felder zog. »Da kommen die beiden Kerle, die mich umbringen wollten!«, sagte sie. »Die schießen mich kaltblütig über den Haufen, wenn sie mich finden!« Sie suchte nach der Hand ihrer Freundin und hielt sich daran fest. »Komm, wir verschwinden! Wir hätten gar nicht herkommen dürfen, Betty Ann!« »Warte noch!«, hielt Betty Ann sie zurück. Auch ihr stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Wenn wir über den Kartoffelacker laufen, entdecken sie uns! Da kommen bestimmt noch mehr Klansmänner! Lass uns im Wald bleiben, da sind wir sicher! Sobald es dunkel ist, verschwinden wir!« Sie zog Audrey in den Wald hinein und blieb neben einem umgestürzten Baumstamm stehen. »Meinst du, Jay-Jay hat sich hier irgendwo versteckt? Er macht doch keine Dummheiten, oder? Ein zweites Mal lassen ihn die Klansmänner nicht laufen! Die nageln ihn an ein brennendes Kreuz oder knüpfen ihn an einem Baum auf!« »Jay-Jay ist alles zuzutrauen«, sprach Audrey ihre Befürchtung aus. »Vielleicht ist er noch in der Nähe!« Sie lief weiter in den Wald hinein und rief mit gedämpfter Stimme nach ihm. »Jay-Jay! Wo steckst du? Komm aus deinem Versteck! Der Klan hält ein Meeting ab! Wir müssen schleunigst verschwinden! Jay-Jay!«
Aus lauter Angst, der Junge könnte den Klansmännern in die Arme laufen, drangen die Mädchen immer tiefer in den Wald. Es ging steil nach oben und sie blieben alle paar Meter stehen, um zu Atem zu kommen und sich umzusehen. Einmal sprang ein Eichhörnchen direkt vor Audrey auf den Boden und sie unterdrückte mühsam einen Schrei. Von Jay-Jay war nichts zu sehen. Sie kletterten über ein weites Geröllfeld und erreichten schnaufend die Hügelkuppe. Dort blieben sie stehen. Angestrengt lauschten sie in den Wald hinein. Außer dem Wind, der in den lichten Laubbäumen rauschte, war nichts zu hören. Die letzten Sonnenstrahlen verfingen sich in den Baumkronen. Irgendein kleines Tier raschelte im Laub. »Hier ist es… richtig unheimlich!«, flüsterte Audrey. Ihre Angst wurde stärker. Sie schwankte zwischen dem Impuls, überstürzt die Flucht zu ergreifen und zum Wagen zu rennen, und dem Wunsch, so lange nach Jay-Jay zu suchen, wie sie nicht in unmittelbarer Gefahr schwebten. Doch wer sagte ihr, dass die Klansmänner sie nicht längst entdeckt hatten und irgendwo hinter den Bäumen auf sie warteten? Was war, wenn Steve und Duncan sie überraschten? Sie blieb im Unterholz stehen und schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck, Betty Ann! Es ist zu gefährlich! Was hat Jay-Jay davon, wenn sie uns erwischen und an einen Baum hängen?« »Nur noch ein paar Meter«, sagte Betty Ann, »damit wir ganz sicher sind! Wenn Jay-Jay noch hier ist und von den Klansmännern geschnappt wird, machen wir uns ein Leben lang Vorwürfe! Bis da vorn, okay?« Sie ging langsam weiter und blieb so plötzlich stehen, als wäre sie gegen eine Backsteinmauer gelaufen.
18
Audrey hob die Baseballkappe auf und betrachtete sie mit feuchten Augen. »Jay-Jay«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Dann straffte sich ihre Gestalt. Sie steckte die Mütze hinter ihren Gürtel und blickte Betty Ann grimmig an. »Ich gehe nicht eher hier weg, bis ich Jay-Jay gefunden habe! Und wenn es die ganze Nacht dauert! Ich lasse nicht zu, dass der verdammte Klan ihn umbringt!« Zusammen gingen sie noch tiefer in den Wald hinein. Obwohl es bereits dunkel wurde, suchten sie jeden Fleck nach Jay-Jay ab. Sie streiften durch das Unterholz und stiegen in unwegsame Mulden hinab. Der Junge war nirgendwo zu sehen. Zwischen einigen Felsen, die moosbehangen aus dem feuchten Waldboden ragten, blieben sie stehen. »Es wird zu dunkel«, sagte Betty Ann, »und ich traue mich nicht die Taschenlampe anzumachen! Wer weiß, wo sich die Klansmänner rumtreiben!« Ein dumpfes Geräusch durchdrang die Nacht. Schweres Hämmern, wie von einem Vorschlaghammer, dazwischen Stimmen, aber so weit entfernt, dass sie kein Wort verstanden. Plötzlich flammte Licht auf, als hätte man irgendwo im Wald einen Scheinwerfer eingeschaltet. Wie eine gelbe Nebelwolke verlor sich der Lichtschein zwischen den Bäumen. Audrey zuckte unwillkürlich zusammen. Sie fühlte sich an eine Großbaustelle erinnert, die an einem einsamen Highway die Nacht erhellte, obwohl sie wusste, dass es in dieser abgelegenen Gegend keine Baustelle geben konnte. Der Klan, schoss es ihr durch den Kopf.
Wie unter einem inneren Zwang gingen die Mädchen weiter. Sehr langsam und darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu verursachen. Bis zum Ende des Waldes waren es nur ein paar Meter. Sie blieben hinter zwei besonders kräftigen Bäumen stehen, deren Stämme über dem Boden zusammengewachsen waren, und blickten mit großen Augen in ein weites Tal hinab. Was sie dort sahen, war so schrecklich, dass sie wie zwei verängstigte Kinder erstarrten. Jetzt spürten sie auch den kühlen Abendwind, der zwischen den Bäumen im Unterholz raschelte und sich unter ihren knielangen Röcken verfing. Die Klansmänner hatten ihre Wagen zu einem großen Rechteck gefahren und alle Scheinwerfer eingeschaltet. Ihr Licht erhellte den Innenraum dieser Wiese, die sich bis zum Waldrand auf der anderen Seite erstreckte. Zwischen den Autos waren die Klansmänner zu sehen, die bereits ihre weißen Kutten angelegt hatten und sich wie Gespenster im Scheinwerferlicht bewegten. Einige Männer standen beisammen und unterhielten sich, als wären sie auf einem Picknick oder einem Jahrmarkt. Am Kopfende des Rechtecks ragte ein großes Holzkreuz aus dem Boden. Davor war ein Podium errichtet worden mit einem Altar, auf dem ein goldenes Kreuz und zwei Vasen mit Blumen standen, und einem Rednerpult. Einer der Klansmänner testete das Mikrofon, das an eine Batterie angeschlossen war, und rief mehrmals »One, two, three« hinein. Er nickte zufrieden, als die Lautstärke stimmte. Audrey spürte, wie ihr Mund trocken wurde. So viele vermummte Klansmänner auf einmal hatte sie noch nie gesehen. Bevor sie die Cahaba Boys unter der Brücke belauscht hatte, waren ihr die Männer in den weißen Kutten nur im Fernsehen und in der Zeitung begegnet. Sie waren ungefähr hundert Meter vom Schauplatz des seltsamen Geschehens entfernt und die Klansmänner wirkten aus dieser
Entfernung eher unwirklich, wie Gestalten aus einem Gruselfilm oder der Geisterbahn. Dazu passte auch das dröhnende Lachen eines untersetzten Mannes, der seine Kapuze in der linken Hand hielt und sich mit einem Sturmfeuerzeug eine Zigarre anzündete. Im flackernden Lichtschein des Feuerzeugs glaubte sie Dynamite Bob zu erkennen, den Anführer der Cahaba Boys. Sie kniff die Augen zusammen, um im Licht der Scheinwerfer besser sehen zu können, und erkannte Bobby Frank Cherry neben ihm, den hässlichen Mann, der Jay-Jay ausgepeitscht und in den Fluss geworfen hatte. »Die Cahaba Boys«, flüsterte sie ihrer Freundin zu, »der Mann mit der Zigarre und der Kerl, der neben ihm steht!« Sie blickte wie gebannt auf die beiden Männer und ging rasch in Deckung, als Dynamite Bob den Kopf wandte und zufällig in ihre Richtung sah. Sie lehnte sich gegen den Baum und brauchte einige Zeit, um sich vom Anblick der Cahaba Boys zu erholen. Dynamite Bob und Bobby Frank Cherry schienen keinen Funken Gefühl in sich zu haben, das sah man ihren einfältigen und groben Gesichtern an und das hatten sie unter der Cahaba Bridge auf nachhaltige Weise bewiesen. Aus ihrem Pick-up stiegen Steve und Duncan. Audrey erkannte sie sofort. Sie waren die einzigen Männer, die keine weißen Kutten trugen, und bewegten sich ein wenig schüchtern zwischen den meist älteren Klansmännern. Dynamite Bob schlug Steve Goblett freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Jungs wie euch können wir brauchen! Ihr packt wenigstens an, wenn es darum geht, die Niggerbrut auszurotten!« Er sprach so laut, dass ihn auch die Mädchen hören konnten. »Jetzt weiß ich, was das alles zu bedeuten hat«, flüsterte Betty Ann, die auf unerklärliche Art fasziniert vom Anblick der vielen Kapuzenmänner war. »Sie nehmen die beiden
Jungen in den Klan auf! Ich habe darüber gelesen, in einem alten Buch über den Ku-Klux-Klan, das ich in der Bibliothek gefunden habe. Der Mann, der das Buch geschrieben hat, war bei einer Zeremonie dabei. Da geht es feierlicher zu als bei der Vereidigung des Präsidenten! Das hab ich von Wyatt, dem Sekretär der SCLC. Der hat ständig Witze über den Klan gemacht. ›Das Böse verliert seine Klauen, wenn man darüber lacht!‹, hat er immer behauptet.« Audrey hörte ihr kaum zu. Ihre Aufmerksamkeit galt den Klansmännern, die sich in der Mitte des Rechtecks versammelten und ihre Kapuzen überzogen. Eine innere Stimme befahl ihr so schnell wie möglich zu verschwinden, aber sie war unfähig, sich von dem schrecklichen Anblick loszureißen, und verfolgte das Geschehen wie unter Zwang. Betty Ann schien es ähnlich zu gehen. Jay-Jay war nirgendwo zu sehen und die Erleichterung, ihn in Sicherheit zu wissen, machte sie neugierig. Wie einen Kinobesucher, der riesige Angst vor Monstern hat und dennoch fasziniert auf die Leinwand starrt und ungeduldig darauf wartet, dass sich ein Ungeheuer blicken lässt. Und wie die Regisseure von Gruselfilmen liebte auch der Klan spektakuläre Effekte. Unter den beschwörenden Worten des Anführers traten zwei vermummte Gestalten vor das große Holzkreuz und setzten es in Brand. Hungrig leckten die Flammen an dem trockenen Holz empor. Wieder erklang eine Beschwörungsformel, die Audrey nicht verstand, dann stieg der Anführer auf das Podium und ein anderer Klansmann rief heiser ins Mikrofon: »Der Imperial Wizard der weißen Ritter des Ku-Klux-Klan!« »Robert Shelton«, erklärte Betty Ann leise, »der Imperial Wizard. So nennen sie den obersten Anführer. Er soll noch niemals gelächelt haben, sagt Wyatt. Er kommt aus Tuscaloosa. Arbeitet als Manager für B. F. Goodrich, du weißt
schon, die Reifenfirma. Die Kerle sitzen überall! Weißt du, wovor er die Weißen warnt? Sie sollen sich keine schwarzen Babysitter mehr nehmen! Die würden sich in den Finger schneiden und mit ihrem Blut das Essen der Babys vergiften! Der Bursche ist krank!« Robert Shelton trat an das Rednerpult und klopfte ein paarmal gegen das Mikrofon, bevor er zu reden begann. Im Scheinwerferlicht der vielen Wagen und im flackernden Schein des brennenden Kreuzes wirkte sein Gesicht noch hagerer und ernster als sonst. Audrey kannte nicht einmal den Namen dieses Mannes und doch spürte sie die Macht und den bösen Zauber, die von ihm ausgingen. Er hatte die Klansmänner im Griff. Sogar die Cahaba Boys lauschten ergriffen, als die Zeremonie begann. »Eure Exzellenz«, rief einer der Klokards, wie der Klan seine Redner und herumziehenden Prediger nannte. »Der heilige Altar des Klan ist bereitet, das feurige Kreuz erleuchtet unsere Welt.« »Treuer Klokard, warum das brennende Kreuz?« »Dies ist das Symbol unserer selbstlosen und leidenschaftlichen Hingabe an die Aufgabe, der wir uns verschrieben haben.« Der Wortwechsel dauerte mehrere Minuten, dann trat der Imperial Wizard vor den Altar, berührte das goldene Kreuz und stimmte ein Lied an, das alle Klansmänner auswendig kannten. »Home, home, country and home«, sangen sie, »Klansmen we’ll live and die for our country and home!« Heimat, Heimat, unser Vaterland und die Heimat! Wir leben und sterben für unser Vaterland und die Heimat! Kaum war der letzte Ton verklungen, sprach der Imperial Wizard ein langes Gebet, in dem er mehrmals Gott beschwor und die Ideale von Jesus Christus als vorbildlich für jeden aufrechten Klansmann hinstellte. »Gott rette unsere Nation! Und hilf uns, eine Nation
zu sein, die es verdient, auf dieser Erde zu bestehen! Nähre die heilige Flamme des Patriotismus für unser Land und unsere Regierung! Gib unserem Imperial Wizard die Klugheit und Weisheit, uns zu führen, denn er lehrt uns, für die Rechte unseres Volkes zu kämpfen! Amen!« Audrey glaubte sich in einem Albtraum und wartete sehnsüchtig darauf, von ihrer Mutter oder Schwester geweckt zu werden, aber der Gottesdienst des Ku-Klux-Klan war bittere Wirklichkeit. »Das ist Gotteslästerung«, flüsterte sie entsetzt. »Sie gebrauchen den Namen Gottes, um ihre grausamen Taten zu rechtfertigen! Gott wäre niemals damit einverstanden, dass sie unschuldige Menschen ermorden! Wer weiß? Vielleicht ist Gott sogar schwarz? Oder er wechselt täglich die Farbe?« Der Gedanke gefiel ihr und sie musste trotz ihrer misslichen Lage lachen. Betty Ann reagierte nicht. Nur ihr ungläubiger Blick verriet, was sie von den Worten des Imperial Wizard hielt. »Wir sind eine christliche Organisation«, verkündete Robert Shelton mit seiner scharfen, viel zu kalten Stimme. »Wir sind der Hort einer Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in brüderlicher Eintracht nach dem Guten und Schönen zu suchen! Wir sind demokratisch und gerecht! Wir handeln nach der Verfassung dieses Landes und sind dazu auserkoren, diese Nation vor dem Einfluss des Bösen zu retten! Denn weder die Konservativen noch die Liberalen bewahren diese Nation vor dem Untergang, es sind einzig und allein die Patrioten, die sich uneingeschränkt und im Glauben an Gott zu ihrem Land bekennen!« »Amen!«, riefen die Zuhörer begeistert. »Dieses Land wurde von weißen Protestanten gegründet«, fuhr der Imperial Wizard fort, »und nur diese Menschen haben das Recht, Amerika als ihre wahre Heimat zu betrachten. Wir wollen nicht, dass andere Rassen oder Menschen eines anderen Glaubens zu uns kommen! Wir, die Weißen aus dem
amerikanischen Süden, wurden von Gott an die oberste Stelle gesetzt und kein Mensch wird uns diesen Platz nehmen! Und lasst mich eines klarstellen: Wir sind der beste Freund des Niggers, wenn er seinen angestammten Platz einnimmt und danach strebt, ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft zu sein, und sich nicht von den Traumtänzern des amerikanischen Nordens für ihre Interessen einspannen lässt. Nein, wir haben nichts gegen die Nigger, aber ich sage auch dies: Wir lassen uns nicht von ihnen ins Gesicht spucken, so wie es dieser Martin Luther King und seine Leute tun! Wir werden diese schwarze Brut mit allen Mitteln bekämpfen! Denn wie kann ein Nigger denken, er habe die gleichen Rechte wie ein Weißer? In Afrika, dem reichsten Land der Erde, hat er es nicht einmal geschafft, einen Wolkenkratzer zu bauen! Warum, so frage ich euch, hat Gott dem Nigger eine schwarze Haut gegeben? Auch er weiß, dass uns diese Rasse unterlegen ist!« Robert Shelton legte eine kunstvolle Pause ein, die von begeisterten Rufen wie »Amen!« und »So will es der Herr!« unterbrochen wurde, und senkte demütig den Kopf: »Herr, wir danken dir, dass du uns eine weiße Hautfarbe gegeben hast! Wir sind die wahren Vertreter deines Glaubens und haben uns in diesem abgeschiedenen Tal versammelt, um deinen Namen zu preisen! Aber wir sind auch hier, um zwei junge Männer in unseren geheimen Bund aufzunehmen, die in den vergangenen Wochen bewiesen haben, wie sehr sie sich unseren Lehren verbunden fühlen! Steve Goblett und Duncan Mills! Tretet näher und kniet vor dem brennenden Kreuz, dem Symbol unserer wahren Hingabe!« Audrey und Betty Ann hatten der Rede des Imperial Wizard fassungslos zugehört und beobachteten genauso ungläubig, wie Steve Goblett und Duncan Mills vor dem brennenden Kreuz in die Knie gingen. Wie konnten Menschen so verblendet sein,
dass sie das Symbol des heiligen Kreuzes für ihre niederen Zwecke missbrauchten? War Jesus nicht für alle Menschen am Kreuz gestorben? Wie kamen diese Menschen dazu, sich als die Bewahrer des einzig gültigen Glaubens zu preisen? Sie wechselte einen schnellen Blick mit Betty Ann und sah wieder zu dem brennenden Kreuz hinab, in dessen Schein die weißen Männer ihren Eid leisteten. »Ihr habt die Fragen des Klokards beantwortet«, sagte der Imperial Wizard. »Ihr seid amerikanische Bürger weißer Hautfarbe und christlichen Glaubens. Ihr wendet euch gegen alle fremden und andersartigen Einflüsse, die unserem Land schaden und unsere Verfassung untergraben. Ihr habt die Überlegenheit der weißen Rasse erkannt und wollt sie unter Einsatz eures Lebens verteidigen. Ihr kennt die Gesetze des Klan und achtet die hehren Ziele unserer Gemeinschaft. Ihr besitzt das leidenschaftliche Herz und den unerschütterlichen Mut der Klansmänner, die sich heute hier versammelt haben.« Er trat erneut vor den Altar und berührte das goldene Kreuz. »Darum lasst uns beten! Gott der Ewigkeit! Beschütze und führe unser großartiges Land! Halte deine schützenden Hände über unsere Häuser und unsere Arbeitsplätze! Denn du bist der einzig wahre Gott und der Vater unserer Gemeinschaft in Ewigkeit! Amen!« Er verharrte einige Augenblicke in andächtigem Schweigen und trat dann vor Steve Goblett und Duncan Mills. »Und nun sprecht mir nach: Ich schwöre den Weißen Rittern des Ku-Klux-Klan unbedingte Gefolgschaft und Gehorsam, schwöre auf die amerikanische Flagge und die amerikanische Verfassung und im Angesicht des brennenden Kreuzes, die hehren Ziele dieser Gemeinschaft zu verteidigen…« Die weißen Männer, die Audrey überfallen hatten, sprachen jedes Wort des Imperial Wizard nach und reckten stolz die Fäuste, als der Klokard ihnen die weißen Kutten anzog und die
Kapuzen überstülpte. Audrey und Betty Ann erkannten, dass es höchste Zeit war, ihr gefährliches Versteck zu verlassen. »Komm, wir gehen!«, sagte Audrey leise, doch ausgerechnet in diesem Augenblick lösten sich zwei Klansmänner aus der Menge und kamen in ihre Richtung. Sie marschierten zielstrebig auf den Waldrand zu. Einer von ihnen zog einen Revolver unter seiner Kutte hervor. »Sie haben uns entdeckt!«, flüsterte Audrey entsetzt. »Das kann nicht sein!«, erwiderte Betty Ann. »Wir haben beide dunkle Sachen an! Die können uns niemals gesehen haben!« »Wenn wir weglaufen, sehen sie uns auf jeden Fall!« Die Mädchen blieben unschlüssig in ihrem Versteck, ängstlich darauf gefasst, von den beiden Klansmännern entdeckt und erschossen zu werden. Zitternd warteten sie darauf, dass ein Wunder geschah. Audrey betete leise und verfluchte ihren Leichtsinn, die Klansmänner bei einer so wichtigen Zeremonie beobachtet zu haben. Betty Ann schien zu Stein erstarrt, blickte mit großen Augen auf die Klansmänner. Ein dritter Klansmann kam ihnen zu Hilfe. Er schien aus dem Nichts aufzutauchen, stand plötzlich vor seinen beiden Kameraden und nahm seine Kapuze ab, als diese erschrocken zusammenfuhren. »Wo wollt ihr denn hin?«, fragte er scheinbar arglos. Er deutete auf den Revolver. »Wollt ihr einen Hasen schießen?« »Floyd! Hast du uns erschreckt!«, erwiderte einer der beiden Klansmänner. »Sag bloß, das warst du, den ich gerade am Waldrand gesehen habe? Ich dachte schon, da belauscht uns jemand! Mann, dem hätte ich das Fell über die Ohren gezogen!« Floyd lachte. »Das wäre dir aber schlecht bekommen! Nee, da habt ihr den Falschen aufs Korn genommen! Außer ein paar
Hasen hab ich niemanden im Wald gesehen.« Er legte dem Mann eine Hand auf die Schulter und führte ihn zurück. »Komm, wir gehen zu den anderen, sonst trinken die uns noch das ganze Bier weg!« Mit angehaltenem Atem beobachteten Audrey und Betty Ann, wie die Klansmänner sich von ihrem Versteck entfernten. Erst als sie bei den Wagen waren, wagten sie wieder zu atmen. »Floyd!«, erklärte Audrey. »Der Weiße, der uns verraten hat, dass Jay-Jay bei den Cahaba Boys ist! Er hat ihm das Leben gerettet!« »Und uns auch«, sagte Betty Ann erleichtert.
19
Jay-Jay tauchte am Tag der Bürgermeisterwahl wieder auf. Er saß auf einem Kotflügel des Plymouth, als Audrey aus dem Schulgebäude kam, und grinste frech. »Hallo, Audrey!«, grüßte er. »Lädst du mich zu ‘nem Cheeseburger ein? Mit ‘ner Extraportion Pommes? Hab seit gestern Abend nichts mehr gegessen!« Audrey ließ sich ihre Erleichterung, den Jungen gesund wiederzusehen, nicht anmerken. »Barney’s Drugstore in der Sixth Avenue? Die machen die größten Cheeseburger, die ich kenne. Doppelt Käse, viel Zwiebeln und reichlich Ketchup und Senf!« »Hört sich gut an«, erwiderte Jay-Jay. Er stieg in den offenen Wagen und kurbelte das Fenster herunter. Die Sonne stand tief und hatte den Wagen aufgeheizt. »Was macht Edward? Halt den Kerl fest, wenn du hier rauskommen willst! Wenn er sich anstrengt, wird er ein berühmter Pastor, und du kannst dir schöne Kleider kaufen und mit den Kindern im Park spazieren gehen!« Audrey musste lachen. »Dazu müssten wir verheiratet sein! Was ist mit dir? Keine Lust, wieder auf die Schule zu gehen? Wenn ich du wäre, würde ich zu deiner Tante ziehen und die High School fertig machen. Dann kriegst du einen anständigen Job und kannst einen Cheeseburger nach dem anderen essen!« »Und muss mir den ganzen Tag das Geplärre dieser Schreckschraube anhören! Nee, zu der bringen mich keine zehn Pferde zurück! Ich werd niemals ein Farmer sein! Eher penn ich auf der Straße!«
»So schlimm ist sie nicht«, widersprach Audrey. »Ein bisschen ruppig vielleicht, aber sonst ganz okay. Wenn du ein bisschen nett zu ihr bist, brät sie dir ‘nen Riesenburger!« Audrey steuerte den Wagen vom Schulhof. Während sie an einer Ampel wartete, griff sie nach hinten und nahm die Baseballkappe vom Rücksitz. »Hier! Ich nehm an, die hast du verloren.« »He!«, freute sich der Junge. »Wo hast du die gefunden?« »Die hab ich dem Klan vor der Nase weggeschnappt!« Die Ampel schaltete auf Grün und sie fuhr langsam weiter. »Warum bist du weggelaufen, Jay-Jay? Was hattest du auf der Thompson-Farm zu suchen? Wolltest du dich mit dem Klan anlegen? Dir hätte sonst was passieren können!« Sie blickte den Jungen besorgt an. »Warum bist du nicht im Motel geblieben? Du warst krank! Edward hätte sich um dich gekümmert, ganz bestimmt!« »Hätte er mich nach Atlanta mitgenommen? Hätte er mir das Motelzimmer bezahlt?« Jay-Jay setzte die Baseballkappe auf und zog sie in die Stirn. »Er hätte mich zu meiner Tante Amanda geschickt, das hätte er getan! Nee, ich komm schon allein zurecht!« »Außer du bist abgebrannt!« »Hab ‘nen Durchhänger, das ist alles!« Barney’s Drugstore war ein unscheinbarer Laden, in dem eine junge Schwarze mit blond gefärbten Haaren bediente. Sie brachte Jay-Jay einen Cheeseburger mit doppelt Käse und extra viel Zwiebeln und so viel Ketchup, dass er beim Essen links und rechts aus seinen Mundwinkeln lief. Audrey gab sich mit einem Hot Dog zufrieden. Zum Nachtisch bestellte Jay-Jay einen doppelten Milchshake mit Vanille. »So lässt es sich leben«, seufzte er zufrieden. »Setzt du mich an der 17th Street ab?«
Audrey trank langsam von ihrer Cola. Obwohl sie mit ihren Eltern nie darüber gesprochen hatte, schlug sie vor: »Du könntest bei uns wohnen! Robin und Napoleon, das sind meine Brüder, haben bestimmt nichts dagegen, dass du mit in ihr Zimmer ziehst.« »Und was sagen sie, wenn der Klan ‘ne Bombe in ihr Zimmer wirft? Die Cahaba Boys haben es auf mich abgesehen, das hast du doch gemerkt! So schnell geben die nicht auf! Nee, auf der Straße bin ich sicherer!« »Und wenn du zurück nach Brooklyn gehst?« »Was soll ich in New York? Da gibt’s an jeder Straßenecke so einen wie mich! Da hab ich keine Chance! Nee, ich bleib hier! Vielleicht setzt Edward neue Gesetze durch! Dann sperren sie die Cahaba Boys ein!« Er schien erst jetzt richtig zu verstehen, was sie ihm angetan hatten. »Die wollten mich umbringen, Audrey!« »Ich weiß«, sagte sie leise. »Die wollten mich wie einen nutzlosen Köter im Fluss versenken!« Jay-Jay zog die Mütze noch tiefer in die Stirn, damit niemand seine Tränen sah. »Und ich gehe jede Wette ein, dass sie damit auch vor Gericht durchgekommen wären! Höchste Zeit, dass ihnen mal jemand den Marsch bläst! Ich bin jedenfalls dabei, wenn wir die verdammten Kapuzenmänner davonjagen!« Audrey trank ihr Cola aus und nickte beiläufig, als die Bedienung mit der Rechnung kam. Sie studierte die Zahlen. »Warum warst du auf der Thompson-Farm?«, fragte sie noch einmal. »Wolltest du dich tatsächlich mit dem Ku-Klux-Klan anlegen?« »Zuerst schon«, räumte Jay-Jay ein. »Ich wär mit einem Knüppel auf die Mistkerle losgegangen!« Seine Hände waren zu Fäusten geballt und seine Tränen waren ohnmächtiger Wut gewichen. »Sie wollten mich umbringen! Soll ich mir das
vielleicht gefallen lassen?« Er sprach jetzt so laut, dass sich die anderen Gäste nach ihm umdrehten. Erst als Audrey nach seinen Händen griff, wurde er ruhiger. Er entspannte sich langsam. »Ich war auf der Thompson-Farm, das stimmt! Jemand hat mir gesteckt, dass sich der Klan auf der großen Lichtung trifft. Ich wollte irgendwas tun, um ihnen die verdammte Sache heimzuzahlen! Keine Ahnung, was ich getan hätte! Aber dann sah ich die vielen Autos und bin weggerannt. Immer am Fluss entlang, bis nach Birmingham! Wenn ich gewusst hätte, dass du auch dort bist… He, was hast du eigentlich dort gemacht? Bist du lebensmüde?« Sie lächelte schwach. »Sieht ganz so aus, was? Betty Ann hat dich gesehen, das ist meine Freundin. Sie hat gesehen, wie du über den Kartoffelacker gerannt bist, und da haben wir nach dir gesucht! Wir müssen aneinander vorbeigelaufen sein! Stattdessen sind wir beinahe den Kapuzenmännern in die Arme gerannt! Sie haben große Reden geschwungen und die beiden Männer, die mich überfallen haben, in den Klan aufgenommen!« »Ihr habt die Klansmänner belauscht?« Jay-Jay blickte das Mädchen mit großen Augen an. »Mann, ihr seid ja noch verrückter als ich! Und was wär passiert, wenn sie euch erwischt hätten?« »Dann wären wir beide tot«, sagte Audrey ernst. Sie bezahlte die Rechnung und fuhr den Jungen zur 17th Street. »Bis bald«, verabschiedete sich Jay-Jay. Er war schon wieder obenauf und trug sein freches Grinsen im Gesicht. »Und danke für den Cheeseburger, der war erste Sahne!« Er schlug die Tür zu, bevor Audrey etwas sagen konnte, und rannte davon. Sie blieb am Straßenrand stehen und beobachtete im Rückspiegel, wie er in einem Hauseingang verschwand. Nachdenklich stützte sie sich mit den Unterarmen auf das
Lenkrad. Die letzten Tage waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Die Versammlung des Ku-Klux-Klan, die wundersame Rettung vor einem grausamen Tod durch einen Weißen in der Kutte des Klan, die vergebliche Suche nach dem Jungen und, was am schlimmsten war, das ständige Versteckspiel vor ihren Eltern, denen sie kein Wort von ihrem nächtlichen Abenteuer auf der Thompson-Farm verraten hatte. Niemandem hatte sie davon erzählt. Und die ständige Angst davor, dass die Klansmänner ihr auf die Spur gekommen waren und nur darauf warteten, sie umzubringen. Und der einzige Mensch außer Betty Ann, dem sie sich anvertrauen konnte, war nicht da. »Edward«, seufzte sie. »Ich brauche dich, Edward!« Sie sah einem jungen Liebespaar zu, das eng umschlungen vor einem Laden stand, und wandte sich rasch ab. Wenn man unglücklich war, schmerzte das Glück der anderen. Sie ließ das Bremspedal los und fuhr davon. In dieser Stimmung wollte sie nicht nach Hause fahren. Sie würde ein paar Runden drehen, ehe sie bei ihren Eltern auftauchte. Sie hatten keine Ahnung, von welchen Sorgen ihre Tochter geplagt wurde, und Audrey hatte nicht vor, ihnen die Wahrheit zu verraten. Sie glaubten, dass alles wieder beim Alten war und Martin Luther King und seine Leute nicht mehr nach Birmingham zurückkommen würden. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn Edward zurückkam und sie erkennen mussten, dass Dr. King nicht vorhatte, Project C abzublasen. Und was würden sie sagen, wenn ihre Tochter aktiv bei den Protesten mitmachte? Im Radio sangen Ruby and the Romantics. »Our Day Will Come« hieß ihr großer Hit und Tall Paul machte sich einen Spaß daraus, mit dem Song auf die Bürgermeisterwahl anzuspielen. »Our day will come! He, ich wette, das singen auch die Kandidaten der Bürgermeisterwahl. Unser Tag wird kommen! Wir warten bereits gespannt darauf, wer gewonnen
hat! In Kürze wissen wir mehr, meine Freunde, und bis es so weit ist, leg ich ein paar starke Scheiben auf den Plattenteller, die hauen euch glatt vom Hocker, kann ich euch sagen! Hier sind die Drifters mit einem Song von ihrer aktuellen LP…« Audrey bog in die l6th Street und fuhr langsam an der Baptistenkirche vorbei. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte das braune Backsteingebäude noch vertrauter als sonst, wie ein sicherer Hort inmitten einer feindseligen Umgebung. Einem plötzlichen Impuls folgend hielt sie an und ging hinein. Bis auf eine weißhaarige Frau, die in der ersten Reihe saß und in der Bibel las, war die Kirche leer. Die andächtige Stille umfing Audrey wie ein schöner Traum, der sie aus der Wirklichkeit entführte und in einem Paradies absetzte. Die bunten Fenster leuchteten im Abendlicht und zauberten bunte Schatten auf den Boden. Ihre Schritte hallten als dumpfes Echo durch die Kirche, als sie zum Altar ging und andächtig zu dem schlichten Holzkreuz emporblickte. Bei Gott fühlte sie sich geborgen. Sie sprach ein leises Gebet und hielt ihr Gesicht in einen bunten Sonnenstrahl, der durch eines der Fenster auf den Altar fiel. »Amen!«, flüsterte sie. Als sie sich umdrehte, sah sie eine dunkle Gestalt in der Eingangstür stehen und sie ging zuerst langsam und dann immer schneller auf sie zu. »Edward!«, sagte sie dankbar, als sie in seine Arme fiel und seine warmen Lippen spürte. »Edward! Du bist zurück! Woher hast du gewusst, wo ich bin?« »Ich wusste es nicht«, erwiderte er, als sie nach draußen gingen. Sie blieben auf der Treppe stehen und küssten sich noch einmal, diesmal ausführlicher und ohne die Passanten zu beachten, die sich neugierig nach ihnen umdrehten. »Ich wollte beten, bevor ich dich anrufe, und dann sah ich deinen Wagen vor der Kirche stehen! Du hast mir so gefehlt, Audrey! Ich liebe dich, ich liebe dich wirklich!« Er küsste sie auf beide
Augen und sonnte sich in ihrem sanften Lächeln. »Hast du schon gegessen? Wie wär’s mit einem doppelten Cheeseburger mit Extrapommes?« Audrey musste lachen. »Dasselbe hat mich Jay-Jay vor einer Stunde gefragt. Ich komme gerade von Barney’s. Aber gegen einen Kaffee hätte ich nichts einzuwenden!« Sie fuhren zu dem Drugstore, in dem sie nach ihrem ersten Date gewesen waren, und Edward bestellte einen Cheeseburger. Audrey beließ es bei Kaffee und genoss die Nähe ihres Freundes, sein Lächeln, seine sanfte Stimme, seine warmen Hände, wenn er sie über den Tisch hinweg berührte. Sie erzählte von Jay-Jay und ihrer Begegnung mit dem Ku-Klux-Klan und berichtete, wie der geheimnisvolle Weiße sie vor den Kapuzenmännern gerettet hatte. »Floyd trug eine Kutte?«, fragte Edward ungläubig. »Dann muss er sich beim Klan eingeschlichen haben! Ein Undercoveragent! Aber das FBI steht eher auf der Seite des KKK! Vielleicht ein abtrünniger Agent oder einer von Kennedys Leuten! Oder ein Zeitungsmann! Der Präsident ist auf unserer Seite! Er wartet nur darauf, dass wir endlich erfolgreich sind, dann bringt er die neuen Gesetze ein!« Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf. »Du bist verrückt, Audrey! Die Klansmänner hätten euch am nächsten Baum aufgeknüpft, wenn sie euch erwischt hätten! Die bringen auch Frauen und Kinder um, das weißt du doch! Versprich mir, dass du so was nicht mehr tust! Ich würde mir für alle Zeiten Vorwürfe machen!« »Ich weiß«, erwiderte Audrey, »normalerweise wären wir gar nicht auf die Idee gekommen. Es war nur wegen Jay-Jay. Sollten wir vielleicht zusehen, wie der Junge in den sicheren Tod rennt?« »Jay-Jay hat sieben Leben«, lachte Edward.
»Und mich bewacht ein ganz besonderer Schutzengel, wenn du nicht bei mir bist!«, sagte Audrey. »Gott will nicht, dass wir getrennt sind!« Sie küssten sich über den Tisch hinweg und stießen beinahe ihren Kaffeebecher um. »Was hast du in Atlanta getan? Hast du deine neue Story fertig?« Sie fühlte sich beschwingt. »Ich bin gespannt, was du aus mir gemacht hast!« »Du bekommst das Manuskript als Erste zu lesen!«, versprach Edward. »Du hast doch nichts dagegen, dass ich dich zur Hauptfigur gemacht habe? Ich hab dir natürlich einen anderen Namen gegeben und dein Aussehen ein wenig verändert.« »Bin ich hübscher als in Wirklichkeit?«, fragte sie lachend. »Das geht wohl kaum! Du siehst wunderbar aus!« »Danke«, erwiderte Audrey glücklich. Noch nie hatte sie sich in der Gesellschaft eines anderen Menschen so wohl und so geborgen gefühlt. Sie erwiderte seinen Händedruck. »Und sonst? Seid ihr vorangekommen? Wisst ihr schon, wie ihr vorgehen wollt?« Ihre Stimme klang ernst. »Was ist, wenn Bull Connor die Wahl gewinnt? Er duldet bestimmt nicht, dass ihr auf die Straße geht und protestiert. Er sperrt euch alle ins Gefängnis!« »Darauf sind wir vorbereitet. Wenn er uns einsperren lässt, gehen wir ins Gefängnis. Wenn er den Klan auf uns hetzt, erdulden wir die Schläge und die Peitschenhiebe. Wir sind sogar bereit in den Tod zu gehen, wenn Gott das von uns verlangt. Wir werden nicht zurückschlagen. Die Macht der Liebe ist stärker, als die meisten Menschen denken!« »Nicht stark genug, um den Ku-Klux-Klan zur Vernunft zu bringen!«, befürchtete Audrey. »Ich habe die Klansmänner gesehen! Ich habe gehört, was dieser Robert Shelton gesagt hat! In seinen Worten war so viel Hass, dass er niemals
nachgeben wird! Glaubst du, solche Fanatiker ändern sich jemals?« »Wir müssen fest daran glauben, Audrey«, erwiderte Edward. »Ich weiß, manchen Leuten fällt es schwer, das Gute in diesen weißen Fanatikern zu sehen. Aber auch sie sind von Gott geschaffen worden. Wenn wir ihre Seele berühren, ändern sie ihre Meinung. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann!« Sie hielt eine Hand über ihren Kaffeebecher, als die Bedienung nachschenken wollte, und schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst, Edward! Ich habe große Angst, dass dir etwas passiert! Dass irgendjemand die Nerven verliert und es zu einem Krieg kommt!« »Gott wird uns beistehen«, glaubte er. »Manchmal ist selbst Gott nicht stark genug«, gab Audrey zu bedenken. »Im Zweiten Weltkrieg hat er zugelassen, dass die Deutschen sechs Millionen Juden umgebracht haben! Die Zahl hab ich in der Zeitung gelesen. In Korea hat er zugesehen, wie viele tausend Soldaten starben! Warum verhindert er nicht, dass Menschen gegeneinander kämpfen? Was ist, wenn er uns nicht beisteht? Wenn er duldet, dass der Klan alle Schwarzen umbringt?« »Gott ist gerecht«, erklärte Edward. »Er wird niemals zulassen, dass das Böse über das Gute siegt! Immer, wenn er eine Tragödie zulässt, wächst etwas Schönes und Gutes aus den Trümmern! Wir sind Menschen, Audrey, wir haben einen Verstand! Jede Anwendung von Gewalt wäre eine bittere Niederlage! Wir müssen an die Liebe glauben!« »Ich glaube an die Liebe«, sagte Audrey lächelnd, »an unsere Liebe! Und es gäbe kein schöneres Geschenk für mich als Frieden zwischen Weißen und Schwarzen. Ich will, dass der Ku-Klux-Klan verschwindet! Ich will, dass endlich dieser Hass aufhört!«
Es war bereits dunkel, als sie den Drugstore verließen. »Ich fahre besser gleich nach Hause«, verabschiedete sich Audrey von Edward. »Sonst gibt es noch Ärger! Mein Dad wird bestimmt wütend, wenn er hört, dass Martin Luther King zurückgekommen ist! Und wenn er erfährt, dass ich mit dir zusammen war, dreht er durch!« Sie deutete ein Lächeln an. »Ich bringe ihm die Wahrheit lieber schonend bei.« Sie blieben vor ihrem Wagen stehen. »Holst du mich morgen von der Schule ab?« Er nahm sie in die Arme und küsste sie. »Natürlich! Ich bin froh, dass du mich nicht vergessen hast!« Er küsste sie noch einmal und strich ihr zärtlich über die Haare. Dann stiegen sie beide in ihre Wagen und fuhren davon.
20
Am 3. April erschienen die Birmingham News mit einer farbigen Titelseite. Über einer goldenen Morgensonne, die über der Skyline von Birmingham emporstieg, stand die Schlagzeile: »Ein neuer Tag dämmert für Birmingham«. Albert Boutwell, der unscheinbare Rechtsanwalt mit der Nickelbrille, hatte die Bürgermeisterwahl gewonnen. »Ich werde mit den Bürgern in allen Stadtteilen sprechen«, versprach der ernste Mann in einer ersten Reaktion, »wir sind unterwegs zu besseren Zeiten!« Seinen Sieg verdankte er vor allem den zehntausend Schwarzen, die sich in die Wählerlisten eingetragen und für ihn gestimmt hatten. Sein Vorsprung vor Eugene Bull Connor betrug nur achtzehntausend Stimmen. »Was wollt ihr noch mehr?«, fragten viele schwarze Geschäftsleute, unter ihnen Audreys Vater, und sogar einige Pastoren meinten: »Da habt ihr euren Sieg! Albert Boutwell ist ein fairer Mann! Er vertritt auch die schwarzen Interessen!« Doch Bull Connor gab sich nicht geschlagen. Er schwor vor seinen fanatischen Anhängern, bis zum offiziellen Ende der Wahlperiode im Amt zu bleiben, auch wenn sein Nachfolger schon feststand. Und solange er etwas zu bestimmen hatte, würde sich die Politik nicht ändern. Audrey las die Zeitung in der Schule und war so in die Lektüre vertieft, dass sie Cynthia Dianne Wesley zunächst gar nicht bemerkte, die leise weinend auf der Treppe in der Eingangshalle saß. Erst als sie den Artikel zu Ende gelesen hatte und die Zeitung weglegte, entdeckte sie das Mädchen. Es trug ein geblümtes Kleid und die hellgrüne Schleife im Haar,
die es zusammen mit seinen Freundinnen bei Woolworth’s gekauft hatte. »Cynthia! Was ist denn?« »Ich will, dass Sarah Lee wiederkommt«, jammerte das Mädchen. »Ich hab gestern einen Brief von ihr bekommen. Sie wohnt jetzt in Indianapolis und geht dort in eine Schule, in der Schwarze und Weiße zusammen lernen! Zuerst konnte ich’s gar nicht glauben, aber sie sagt, dass sie eine weiße Freundin hat, die Rosalee heißt, und dann muss es ja wohl stimmen. Ihr Vater arbeitet in einer Fabrik und ihre Mutter bedient jeden Abend in einem Drugstore. Stell dir vor, sie haben sich einen neuen Fernseher gekauft! Ihr geht es richtig gut, aber ich will trotzdem, dass sie nach Birmingham zurückkommt! Hier kann ihr Vater doch im Stahlwerk arbeiten und für ihre Mutter gibt’s auch Arbeit!« Audrey reichte dem Mädchen ein sauberes Taschentuch und wartete, bis sie sich die Tränen weggewischt hatte. »Sie kommt dich bestimmt mal besuchen! Und wenn ihr beide älter seid, macht es sowieso keinen Unterschied, wie weit ihr auseinander wohnt. Dann könnt ihr euch jederzeit treffen! Sei froh, dass es ihr gut geht, Cynthia! Du weißt doch, wie es ihrem Bruder ergangen ist und was mit der Farm passiert ist! Für die Thorntons war es bestimmt besser, aus Birmingham wegzuziehen. Schreib Sarah Lee einen Brief und richte ihr einen schönen Gruß von mir aus!« Die Tochter des Direktors versprach es und konnte schon wieder lachen, als sie den anderen Mädchen zum Schulbus folgte. Audrey brachte die Zeitung ins Büro zurück und räumte ihren Schreibtisch auf. Vor ihrem Wagen wartete Edward auf sie. Er war die paar Blocks zu Fuß gegangen und bat sie auf einen Kaffee ins Gaston Motel mitzukommen. Er hielt die Zeitung mit der aufgehenden Sonne in der Hand und wirkte ungewöhnlich ernst. »Ich wollte dir nur sagen, dass es morgen losgeht«, sagte er im Coffee Shop, »wir starten Project C. Das
bedeutet viel Arbeit und ich werde kaum Zeit für dich haben. Aber das bedeutet nichts! An meinen Gefühlen zu dir hat sich nichts geändert! Ich liebe dich, Audrey! Das wollte ich dir noch einmal sagen! Und sobald unser Projekt beendet ist, bin ich nur noch für dich da!« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Audrey. »Ich weiß doch, wie wichtig Project C ist und wie viel Arbeit du hast!« Sie dachte einen Augenblick daran, ihm ihre Hilfe anzubieten, und verwarf den Gedanken, als sie sich vorstellte, wie ihre Eltern reagieren würden. Anders als Betty Ann konnte sie sich nicht dazu überwinden, offiziell am Project C mitzuarbeiten. Sie half ihrer Freundin Briefe zu verschicken, versteckte Jay-Jay vor dem Klan, brachte sich sogar in Lebensgefahr, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, doch sie scheute immer noch davor zurück, ihre Unterschrift unter das Formular der SCLC zu setzen. »Sag mir, wenn ich dir irgendwie helfen kann!«, bot sie dennoch an und merkte gar nicht, wie paradox ihr Vorschlag war. Sie blickte nach draußen und sah, wie Martin Luther King und Ralph Abernathy auf einen jungen Schwarzen einredeten. »Einer von Fred Shuttlesworths Leuten«, erklärte Edward. »Manche seiner Anhänger wollen nicht, dass wir uns einmischen. Sie wollen abwarten, was der neue Bürgermeister tut. Dr. King sagt, dass sich gar nichts verändern wird. Albert Boutwell ist besser als Bull Connors, aber er tritt für die Rassentrennung ein und denkt nicht daran, die Gesetze aufzuheben. Der Klan ist zu mächtig! Nein, wenn wir in Birmingham etwas verändern wollen, müssen wir auf die Straße gehen. Morgen Nachmittag fangen wir an. Ungefähr dreißig Leute, die unser Formular unterschrieben haben, setzen sich an die Imbisstheken in den Kaufhäusern. Mal sehen, was dann geschieht. Sie werden sich nicht wehren, wenn die Polizei kommt, und sind sogar bereit ins Gefängnis zu gehen.«
Vor dem Coffee Shop stiegen Martin Luther King und Ralph Abernathy in einen Wagen und fuhren davon. Edward ergriff Audreys Hände und lächelte sie an. »Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, Audrey! Du warst tapferer als die meisten Männer und Frauen, die für uns arbeiten! Auch wenn du das Formular nicht unterschreibst, hast du uns sehr geholfen! Ich melde mich, sobald ich kann, ja? Hab keine Angst! Selbst der Ku-Klux-Klan ermordet keine Menschen auf offener Straße! Ich bin überzeugt, dass wir mit Project C erfolgreich sein werden und dass sich einiges in Birmingham ändern wird! Wir müssen daran glauben!« Sie verabschiedeten sich und Audrey fuhr nachdenklich nach Hause. Ohne ihre Eltern zu begrüßen sperrte sie sich in ihrem Zimmer ein. Sie setzte sich auf den Bettrand, die Hände auf die Patchworkdecke gestützt, die sie von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte, und starrte betreten zu Boden. Ihre Gedanken verwirrten sie. Sie fürchtete sich davor, zu ihrem Vater in den Laden zu gehen. Er hatte sicher schon gehört, dass Martin Luther King und seine Leute nach Birmingham zurückgekommen waren. Selbst wenn sie ihm versicherte, das Formular nicht unterschrieben zu haben, würde er die Nerven verlieren. Und sie war nicht in der Stimmung, einen solchen Krach durchzustehen. Einen Augenblick dachte sie daran, sich in ihren Plymouth zu setzen und davonzufahren, dann ging sie mutig die Treppe hinunter und betrat den Laden. Ihr Vater war zwischen den Regalen, die sich hinter der Theke bis zur Wand zogen. »Da bist du ja endlich!«, begrüßte er sie mürrisch. »Du könntest dich mal wieder um die Buchhaltung kümmern! Wir sind einen halben Monat zurück!« Er kam nach vorn, ein Klemmbrett in der linken Hand, und blickte sie streng an. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, Audrey! Martin Luther King und seine
Leute sind zurück und du hast dich wieder mit Edward getroffen! So ist es doch, nicht wahr?« Sie nickte betreten, erwartete einen heftigen Gefühlsausbruch ihres Vaters, und blickte ihm überrascht nach, als er wortlos zwischen den Regalen verschwand. Er notierte eine Zahl auf seinem Klemmbrett und kehrte zurück. Seine eisige Miene war noch schlimmer als der wütende Gesichtsausdruck, den er bisher gezeigt hatte, wenn es um Edward ging. »Das hast du deiner Mutter zu verdanken«, beantwortete er ihre unausgesprochene Frage. »Sie hat einen Narren an diesem Edward gefressen. Weiß der Teufel, was sie an dem Kerl findet!« Er legte das Klemmbrett in eine Schublade und stützte sich auf die Theke. »Aber es war nicht die Rede davon, dass du kaum noch zu Hause bist und deine Arbeit vernachlässigst!« Jetzt blitzten seine Augen wieder und seine Stimme hatte die übliche Lautstärke erreicht. »Ich werde auf keinen Fall dulden, dass du dieses Formular unterschreibst und bei den Protestaktionen mitmachst! Hast du mich verstanden?« »Ja, Dad.« »Ich weiß, dass sich Martin Luther King nicht aufhalten lässt! Er hat es sich in den Kopf gesetzt, die armen Nigger von ihrem Joch zu befreien, und ich kann nicht verhindern, dass er seine Show in Birmingham abzieht. Er ist ein eitler Selbstdarsteller! Er will, dass im Fernsehen über ihn berichtet wird! Wie kommt dieser Pastor aus Atlanta eigentlich dazu, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen? Warum fordert er ahnungslose Jugendliche auf, sich gegen die weiße Obrigkeit aufzulehnen? Wir brauchen keinen Fremden, der für uns die Kastanien aus dem Feuer holt! Gewaltloser Widerstand, dass ich nicht lache! Sobald sie auf die Straße gehen, hetzt Bull Connor seine Hunde auf sie!« »Das siehst du falsch, Dad!«, widersprach Audrey ihrem Vater. »Ich habe mit Martin Luther King gesprochen! Er ist
nicht eitel! Er ist ein Gerechtigkeitsfanatiker! Er sagt, dass alle Menschen gleich sind. So wie es in der Verfassung steht. Er will die Weißen mit seinem gewaltlosen Widerstand überzeugen! In jedem Menschen ist Liebe, sagt er! So wie Gandhi in Indien! Er hat die Engländer vertrieben ohne einen einzigen Schuss abzufeuern, hast du das gewusst? Ich glaube, Martin Luther King würde sogar sein Leben opfern, um die Rassentrennung aufzuheben!« »Wenn er unbedingt den Märtyrer spielen will, meinetwegen! Ich werde auch manchmal wütend, wenn ich daran denke, wie die Weißen uns behandeln, und den Ku-Klux-Klan würde ich am liebsten auf den Mond schießen! Aber was können wir dagegen tun? Die Weißen haben das Gesetz auf ihrer Seite; sie werden Martin Luther King einsperren und alles wird so bleiben wie bisher, da gehe ich jede Wette ein! Und der Klan wird sich an allen Schwarzen rächen, die ihm geholfen haben! Ich habe keine Lust, mir von den Klansmännern den Laden wegbomben zu lassen! Also halte dich gefälligst von King und seinen Leuten fern! Und lass dich nicht mit Edward auf der Straße sehen! Halte unsere Familie da raus, hörst du? Sonst schicke ich dich zu meinem Bruder nach Mobile, bis die ganze Sache vorüber ist! Und jetzt geh endlich ins Büro und erledige die Buchhaltung! Mach schon!« Audrey war froh, dass es zu keiner lautstarken Auseinandersetzung gekommen war, und verzog sich in ihr kleines Büro. Um nicht über die quälenden Probleme nachdenken zu müssen, stürzte sie sich in die Arbeit. Beim Abendessen wechselte sie nur ein paar belanglose Worte mit ihren Eltern und ihren Geschwistern und reagierte nicht auf das schnippische »Na? Immer noch verliebt?« ihrer Schwester. Dann kehrte sie ins Büro zurück und erledigte den Rest der Buchhaltung. Spätabends ging sie ins Bett. Sie schlief sofort ein und wachte nur einmal auf, als sie glaubte, den Pick-up der
jungen Klansmänner vor dem Fenster zu hören. Aber ihre Einbildung hatte ihr einen Streich gespielt und die Straße lag verlassen unter ihr. Während der Mittagspause in der Schule erhielt sie einen Anruf von Betty Ann. »Hallo, Audrey! Ich hab mir heute Nachmittag frei genommen! Ich geh zu Newbeny’s und mach bei dem Sit-in mit. Kommst du auch? Du darfst uns nicht im Stich lassen, Audrey!« Audrey wand sich vor Verlegenheit. »Ich kann nicht, Betty Ann, das weißt du doch! Mein Vater würde mich umbringen!« Ihre Freundin reagierte mit betretenem Schweigen und Audrey fügte schnell hinzu: »Ich bete für dich, Betty Ann! Sei mir nicht böse!« »Überleg’s dir noch mal, Audrey!« Ihre Freundin legte auf und Audrey hielt sekundenlang den Hörer in der Hand und starrte aus dem Fenster. Erst als der Direktor den Raum betrat und nach einem Aktenordner fragte, legte sie auf. »Natürlich, sofort, der steht da drüben«, meinte sie verwirrt. Nach der Schule blieb sie lange im Wagen sitzen, den linken Ellbogen im offenen Fenster, dann ließ sie den Motor an und fuhr in die Stadt. Sie parkte am Straßenrand und ging zu Newbeny’s, einem der großen Kaufhäuser in der Innenstadt von Birmingham. Schon von weitem erkannte sie die Menschenmenge vor dem zweistöckigen Laden. Sie zögerte, dachte einen Augenblick daran, zu ihrem Wagen zurückzukehren und nach Hause zu fahren, und beschleunigte dann ihre Schritte. Vor dem Kaufhaus standen weiße und schwarze Passanten und starrten ungläubig über die Auslage im großen Schaufenster hinweg. Audrey drängelte sich nach vorn und hielt die rechte Hand über ihre Augen, um besser sehen zu können. Die Sonne stand schon tief und spiegelte sich in dem Fenster. Ihr Atem stockte,
als sie die jungen Schwarzen an der Theke im Coffee Shop erkannte. Sie saßen auf den roten Drehstühlen und warteten geduldig darauf, bedient zu werden. Die Bedienung, eine junge Frau mit aufgetürmten Haaren und einem viel zu stark gepuderten Gesicht, bewegte sich nicht. Sie stand teilnahmslos am Ende der langen Theke und sprach mit dem Manager, einem nervösen Mann mit Halbglatze und Nickelbrille. Er drehte das Licht ab und Audrey glaubte zu erkennen, wie er zu den Schwarzen sagte: »Wir haben geschlossen! Gehen Sie nach Hause!« Betty Ann blieb sitzen, die Unterarme auf die Theke gestützt, und dachte nicht daran, der Aufforderung des Managers zu folgen. Ihr Blick war fest und unnachgiebig. Auf diesen Augenblick hatte sie viele Monate gewartet und sie war nicht bereit, nach wenigen Minuten aufzugeben. Audrey war sehr stolz auf ihre Freundin und verspürte gleichzeitig große Scham, weil sie es nicht fertig brachte, sich an der Aktion zu beteiligen. »Ich bin feige!«, sagte sie so laut, dass sich einige Schwarze nach ihr umdrehten. »Verdammt, ich bin feige!« Doch gerade, als sie sich entschlossen hatte zu Betty Ann in das Kaufhaus zu gehen, rauschte ein Pick-up heran und sie brauchte sich nicht einmal umzudrehen um zu wissen, dass Steve Goblett und Duncan Mills vor dem Kaufhaus hielten und ausstiegen. Sie duckte sich und beobachtete durch das Fenster, wie die beiden Klansmänner das Kaufhaus betraten und die Schwarzen belästigten. Die Tür war nicht zugefallen und man konnte hören, was sie sagten. »Ich glaub, ich hab was auf den Augen!«, spottete Duncan Mills. »Sitzen da wirklich Nigger?« Er schlug einem der jungen Männer hinter das rechte Ohr. »He, hast du was auf den Ohren, Boy? Ob ihr Nigger seid, will ich wissen! Mach das Maul auf, verdammt!«
Der junge Mann schwieg. Duncan Mills versetzte ihm eine Ohrfeige und lachte, als der Schwarze beinahe das Gleichgewicht verlor. Er blickte seinen Kumpan an. »Was sagst du dazu, Steve? Was fällt diesen Scheißniggern ein, sich auf unsere Stühle zu setzen?« Er versetzte Betty Ann einen Stoß. »Schau dir die Schlampe an! Ich hätte große Lust, ihr eine zu verpassen!« Audreys Kehle wurde eng. Der Drang, schreiend in das Kaufhaus zu laufen und mit den Fäusten auf die Klansmänner loszugehen, wurde beinahe unerträglich. »Geben Sie mir einen Milchshake!«, hörte sie Steve Goblett sagen. Die Bedienung fragte: »Mit Vanille und Schokostreuseln?« Und Steve nickte und grinste schadenfroh, als er den großen Becher in den Händen hielt. Mit einer aufreizend langsamen Bewegung goss er die zähe Flüssigkeit über Betty Anns Kopf. Sie schloss die Augen und verzog ansonsten keine Miene. Der Milchshake lief über ihr Gesicht und breitete sich auf ihrem Kleid aus. Das höhnische Gelächter der Klansmänner klang wie ein Echo in Audreys Ohren. Unbändiger Zorn stieg in ihr hoch. Sie begann zu weinen und ihre Stimme überschlug sich fast, als sie schrie: »Lasst sie in Ruhe, ihr verdammten Mistkerle! Lasst meine Freundin in Ruhe!« Steve Goblett fuhr herum und erkannte Audrey zwischen den Schaulustigen. »He, wen haben wir denn da?«, rief er seinem Kumpan zu. »Ist das nicht die Schlampe, die wir auf dem Highway aufgegriffen haben?« Duncan Mills verzog sein Gesicht und lachte breit. »Nicht zu fassen, das ist sie! Ich glaube, die hat auf uns gewartet, Steve! Wie geht’s dir, Niggerschlampe? Bist du so heiß auf uns?« Audrey konnte ihren Zorn nicht länger unterdrücken und rannte auf den Eingang zu. »Ihr verdammten Schweine! Betty Ann hat euch nichts getan!« Sie wollte das Kaufhaus stürmen
und wurde von einem kräftigen Schwarzen festgehalten. »Das bringt doch nichts! Die schlagen dich tot!«, hörte sie ihn flüstern. Sie versuchte sich loszureißen, wand sich schreiend und weinend in seinem festen Griff und gab erst auf, als das Sirenengeheul einiger Streifenwagen durch die Häuserschluchten drang. Die Polizeiwagen hielten vor dem Kaufhaus und einige Polizisten drängten die Schaulustigen gewaltsam zur Seite. »Zurück! Zurück! Machen Sie Platz! Dies ist ein Polizeieinsatz!«, riefen sie. Audrey wurde angerempelt und prallte gegen einen parkenden Lieferwagen. Sie hielt sich am Rückspiegel fest und beobachtete fassungslos, wie die Schwarzen mit den Händen über dem Kopf aus dem Kaufhaus kamen. Wie Schwerverbrecher wurden sie abgeführt und in die Polizeiwagen gestoßen. Betty Ann sah bemitleidenswert aus. »Versau mir bloß nicht den Wagen!«, schrie ein Polizist sie an und forderte einen jüngeren Kollegen auf, Servietten aus dem Lokal zu holen. Betty Ann wischte sich notdürftig ab und stieg in den Wagen. Sie weinte nicht. »Betty Ann!«, rief Audrey verzweifelt. »Betty Ann! Wir holen dich raus!« Hinter den Polizisten erschienen Steve Goblett und Duncan Mills auf dem Bürgersteig. Sie schienen Audrey schon wieder vergessen zu haben. »Haltet euch da raus!«, blaffte sie ein Sergeant an und die beiden stiegen rasch in ihren Pick-up und fuhren davon. Audrey wartete, bis der Pick-up und die Streifenwagen verschwunden waren, und kehrte zu ihrem Plymouth zurück. Von innen verriegelte sie alle Türen. »Betty Ann, das hab ich nicht gewollt!«, sagte sie leise. Sie brach über dem Lenkrad zusammen und weinte, bis keine Tränen mehr kamen. Dann fuhr sie langsam zurück.
21
Am späten Vormittag holte Audrey ihre Freundin vom Gefängnis ab. Edward hatte sie in der Schule angerufen und ihr mitgeteilt, dass ein Mitarbeiter von Martin Luther King die Kaution für die zwanzig Gefangenen bezahlt hatte. Betty Ann wirkte blass und erschöpft, aber in ihren Augen war immer noch das Feuer, das sie während des Sit-ins im Kaufhaus erfüllt hatte. »Betty Ann!«, begrüßte Audrey sie überschwänglich. Sie schloss ihre Freundin in die Arme und drückte sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ich lasse dich nicht mehr allein, das verspreche ich dir!« Sie löste sich von ihr und blickte ihr besorgt in die Augen. »Haben sie dich gut behandelt, Betty Ann? Bist du gesund? Sie haben dich doch nicht geschlagen, oder? Ich habe gesehen, wie dieser Steve dir einen Milchshake über den Kopf gegossen hat! Ich schäme mich so sehr, Betty-Ann! Ich hätte dir helfen sollen!« »Halb so schlimm«, tat Betty Ann den Zwischenfall mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »So können sie mich nicht aufhalten!« Sie winkte einigen anderen Schwarzen zu, die mit ihr im Gefängnis gewesen waren, und entdeckte Edward, der in einiger Entfernung an seinem Cadillac lehnte. »Hallo, Edward! Sie haben uns nichts getan! Es ist alles okay!« Sie ging auf ihn zu und drückte seine Hand. »Vielen Dank, dass ihr uns rausgeholt habt!« »Dafür haben wir das Geld gesammelt«, sagte Edward. Die Mädchen stiegen in den Cadillac. »Wie wär’s mit einem fetten Cheeseburger?«, fragte er Betty Ann. »Im Gefängnis hast du
bestimmt nur Haferbrei und dünnen Kaffee bekommen, stimmt’s?« »Haferbrei? Das Zeug schmeckte wie Altpapier!« »Dann fahren wir zu Barney’s.« Unterwegs sagte Audrey kein Wort. Ihre Freude, die Freundin gesund wiederzusehen, wurde von dem wachsenden Schuldgefühl überschattet, ihr nicht geholfen zu haben. Und sie war eifersüchtig, weil Edward sich ständig mit Betty Ann unterhielt und sie vergessen zu haben schien. Die beiden sprachen wie Verschwörer miteinander, arbeiteten für ein Projekt, an dem Audrey nicht beteiligt war. Und obwohl Edward betont hatte, dass er großes Verständnis für sie und ihre Eltern empfand, spürte sie einen leichten Vorwurf in der Art, wie er sie behandelte. Oder bildete sie sich das ein? Als er den Wagen vor dem Drugstore parkte und ihr heraushalf, war seine Berührung zärtlich wie immer und in seinem Lächeln schien ein Versprechen zu liegen. Audrey hatte keinen Hunger. Sie beobachtete, wie Betty Ann ihren Cheeseburger verschlang, und trank lustlos von ihrem Kaffee. Die Ereignisse des vergangenen Abends waren ihr auf den Magen geschlagen. Sie durfte nicht länger zögern! Wenn ihre beste Freundin ihre Gesundheit aufs Spiel setzte, um die Gleichberechtigung der Schwarzen durchzusetzen, war es eine Sünde, sich feige im Hintergrund zu halten. Sie war zwei Jahre älter als Betty Ann. Sie war stark genug, den Druck auszuhalten, der auf alle Beteiligten von Project C ausgeübt wurde. Es ging nicht nur darum, den eigenen Unmut über die Benachteiligung der Schwarzen auszudrücken. Die Zukunft aller Schwarzen in Amerika stand auf dem Spiel. Project C war ein historisches Unternehmen, über das man später in den Geschichtsbüchern lesen würde, das ahnte sie jetzt schon, und es war ihre Pflicht, dabei mitzumachen!
Der Anblick ihrer Freundin, die sich lachend den Ketchup vom Kinn wischte und trotz ihrer Erlebnisse im Kaufhaus und der Nacht im Gefängnis großen Optimismus ausstrahlte, erfüllte sie mit neuer Kraft. Die Gewissheit, sich gegen den Willen ihrer Eltern für diese große Sache einsetzen zu müssen, wurde immer stärker. Natürlich hatte sie große Angst davor, nach Hause zu gehen und ihrem Vater zu eröffnen, dass sie bei den Protestaktionen mitmachen würde. Er würde toben und sie konnte froh sein, wenn er sie nicht zwang, zu ihrem Onkel nach Indianapolis zu ziehen. Aber sie konnte nicht mehr anders. Sie würde die Hand ihrer Freundin ergreifen und gemeinsam mit ihr und vielen anderen Schwarzen für eine bessere Zukunft kämpfen! Noch tat sie ihre Entscheidung nicht kund. Sie wollte die Auseinandersetzung mit ihrem Vater abwarten und erst dann das Formular unterschreiben. »Ich ruf dich an«, versprach Edward, als sie ihn zum Abschied flüchtig küsste. Sie stieg aus und wartete, bis Betty Ann auf den Vordersitz geklettert und der Cadillac in der nächsten Querstraße verschwunden war. Mit gemischten Gefühlen wandte sie sich zur Haustür. Sie drehte sich noch einmal um und erstarrte. Hinter dem Sportplatz parkte ein weißer Pick-up. Steve Goblett und Duncan Mills? Sie kniff die Augen gegen die Sonne zusammen, konnte aber nicht erkennen, ob es sich um den Wagen der Klansmänner handelte. Unsinn, dachte sie, die wagen sich nicht am helllichten Tag ins Schwarzenviertel. Doch ihr Magen verkrampfte sich, als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufstieg, und sie setzte rasch einen Kamillentee auf um sich zu beruhigen. Vielleicht hab ich zu viel Kaffee getrunken, überlegte sie und verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie trat ans Küchenfenster und blickte auf die Straße hinaus. Der Wagen war verschwunden. Sie schüttelte
ungläubig den Kopf und sagte leise: »Guter Gott, jetzt seh ich schon Gespenster!« Ihre Eltern hatten nicht gemerkt, dass sie nach Hause gekommen war, und sie schob den Zeitpunkt der drohenden Auseinandersetzung immer weiter hinaus. Sie dachte sogar daran, ihre Absicht, sich an den Protestaktionen zu beteiligen, ganz zu verheimlichen. Die Flucht vor dem Ku-Klux-Klan hatte sie ihren Eltern auch verschwiegen. Aber ihr Herz sagte ihr etwas anderes. Sobald sie den Tee ausgetrunken hatte, ging sie nach unten und betrat den Laden ihrer Eltern. Ihr Vater verabschiedete sich gerade von einer Kundin. Als sie gegangen war, blickte er seine Tochter verwundert an. »Ich dachte, du bist noch in der Schule!« »Ich hab Betty Ann vom Gefängnis abgeholt«, gestand sie, »sie war bei den Leuten, die sie im Kaufhaus festgenommen haben.« Er schob die Schublade der Registrierkasse zu. »Ich hab davon gehört. Da siehst du, was passiert, wenn man sich gegen die Weißen auflehnt! Der Gouverneur, der Bürgermeister, der Polizeichef, der Klan… sie stecken alle unter einer Decke und haben das Gesetz auf ihrer Seite! Die sperren dich so lange ein, bis dir die Lust am Protestieren vergangen ist! Sit-ins. Mein Gott, mit dem Kinderkram erreicht man doch nichts! Ich hätte Martin Luther King und seine Leute für klüger gehalten. Wenn sie so weitermachen, stürzen sie uns alle ins Unglück! Wie geht es ihr?« »Sie ist sehr tapfer«, antwortete Audrey. »Sie denkt gar nicht daran, aufzugeben! Sie ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass wir uns dem gewaltlosen Widerstand von Martin Luther King anschließen müssen, wenn wir andere Gesetze haben wollen.« Sie holte tief Luft. »Und das glaube ich inzwischen auch! Sei mir nicht böse, Dad! Ich habe gesehen, wie zwei weiße Männer Betty Ann einen Milchshake über den Kopf
gegossen haben! Dann kamen die Cops! Ich darf sie nicht allein lassen, Dad! Ich muss ihr helfen! Wir dürfen nicht mehr wegsehen! Wir müssen was tun, sonst werden uns die Weißen auch die nächsten hundert Jahre wie Abschaum behandeln!« Emory Jackson blickte seine Tochter verständnislos an. Ihre Worte drangen wie zäher Honig in seine Gedanken und es dauerte eine ganze Weile, bis er ihren Sinn erfasste. Audrey wartete auf ein Donnerwetter und schaute an ihrem Vater vorbei aus dem Fenster, um die Veränderung in seinen Augen nicht sehen zu müssen. Nur deshalb sah sie den weißen Pickup vor dem Laden halten. Das Seitenfenster wurde heruntergekurbelt und eine Hand erschien in der dunklen Öffnung. Ein hölzerner Kasten mit einer glimmenden Zündschnur flog auf sie zu, eine leuchtende Spur hinterlassend, und sie rannte zu ihrem Vater und schrie: »Daddy! Daddy! Sie werfen eine Bombe!« Wie in Zeitlupe erreichte sie ihren Vater und warf ihn zu Boden, gerade noch rechtzeitig, bevor das Schaufenster zersplitterte und die Brandbombe mitten im Laden explodierte. Die Flammen breiteten sich nach allen Seiten aus, verwandelten den Laden in eine lodernde Flammenhölle. In unendlich weiter Ferne hörte Audrey ihre Mutter und ihre Brüder schreien. »Mama!«, rief der kleine Robin entsetzt. »Raus! Raus! Ich ruf die Feuerwehr!«, war die Stimme ihrer Mutter zu hören. Audrey beugte sich zu ihrem Vater hinab. »Daddy! Daddy! Was ist mit dir?« Er musste bei dem Sturz gegen ein Regal geprallt und ohnmächtig geworden sein. Sie griff ihm unter die Arme und schleifte ihn hinter der Theke hervor. Prasselnde Flammen schlugen ihr entgegen. Sie zerrte den leblosen Körper ihres Vaters über den Boden und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus der Flammenhölle. Verzweifelt griff sie nach einem Lappen und hielt ihn sich vor
den Mund, um gegen den Rauch geschützt zu sein. Sie ächzte und keuchte und spürte die unerträgliche Hitze. Sie blieb gebückt stehen und sah, dass der Weg ins Haus noch frei war. Entschlossen machte sie weiter. Sie warf den Lappen ins Feuer und zog ihren Vater mit beiden Armen über die wenigen Stufen. Vor ihr klappte die Tür auf und ihre Mutter erschien, einen Feuerlöscher in der Hand. Schluchzend drückte sie auf den schwarzen Hebel. Das Feuer wich zurück, schmolz unter dem weißen Schaum. Mit vereinten Kräften zogen sie den Vater ins Haus und auf die Straße hinaus, weg von den Flammen, die immer noch aus dem Laden züngelten. Dann erschien die Feuerwehr und das Feuer erstickte qualmend unter dem Wasser. »Einen Krankenwagen, wir brauchen einen Krankenwagen!«, rief Audrey und rollte ihren Vater auf die Seite, wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Sie legte ihre Wange an sein Gesicht, weinte stockend und seufzte: »Das wollte ich nicht, Daddy! Das wollte ich nicht!« Sie strich über seine heißen Wangen, hielt Ausschau nach einem Arzt und beobachtete erleichtert, wie ein Krankenwagen vor dem Bordstein hielt und zwei Sanitäter mit einer Bahre auf sie zurannten. »Er ist bewusstlos«, sagte sie, »er muss gegen ein Regal geprallt sein!« »Wir tun, was wir können«, sagte einer der beiden Sanitäter, ein Weißer, der keinen Unterschied zwischen den Hautfarben zu machen schien. »Nun fass doch endlich mit an!«, forderte er seinen Begleiter auf, der wohl anders dachte und abfällig das Gesicht verzog, als er Audreys verletzten Vater sah. Er half seinem Kollegen, den bewusstlosen Mann auf die Bahre zu legen und in den Krankenwagen zu heben. »Emory! Du musst wieder gesund werden, hörst du?«, bat Audreys Mutter eindringlich. Sie kletterte hinter ihrem Mann in den Krankenwagen und sagte: »Kümmere dich um die Jungen,
Audrey! Ich fahre mit Dad ins Krankenhaus! Ich rufe dich an, sobald ich weiß, was mit ihm geschieht, okay?« »Ja, Mom«, gehorchte sie kleinlaut. Sie fühlte sich schuldig, obwohl der Überfall der beiden Klansmänner nichts mit ihren nächtlichen Abenteuern zu tun hatte. Steve Goblett und Duncan Mills hatten ihren Plymouth gesehen und wohl beschlossen, ihren Job doch noch zu Ende zu führen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie ihr nicht aufgelauert und sie vergewaltigt hatten. In Gedanken verfluchte sie die beiden Weißen und ihren hinterhältigen Anschlag. Und sie schimpfte auf die Polizei, die es nicht einmal für nötig hielt, mit ihr zu reden. Die beiden Officers, die aus dem Streifenwagen gegenüber gestiegen waren, blickten kopfschüttelnd auf die qualmenden Überreste des Ladens und einer meinte verächtlich: »Da können wir nichts machen, Partner.« Audrey schloss ihre Brüder in die Arme und redete beruhigend auf sie ein. »Geht in euer Zimmer!«, sagte sie nach einer Weile. »Jetzt kann euch nichts mehr passieren! Das Feuer ist aus!« Sie gab ihnen einen aufmunternden Klaps und lächelte ihrer Schwester zu, die von der Tankstelle herübergerannt war und erschöpft auf einem Kotflügel des Plymouth saß. Der Wagen hatte nichts abbekommen. »Mach dir keine Sorgen, Alberta! Daddy hat nichts Schlimmes! Der wird bald wieder entlassen, ganz bestimmt!« Alberta beobachtete, wie die Feuerwehrleute den Bürgersteig abspritzten und die Schläuche aufrollten, und schüttelte den Kopf. »Den Laden können wir zusperren«, meinte sie traurig, »das Feuer hat alles zerstört! Meinst du, wir kommen jemals wieder auf die Beine? Das schaffen wir nie, Audrey!« »Immer mit der Ruhe«, beruhigte Audrey ihre Schwester. »Das kriegen wir wieder hin! So viele Waren sind nicht verbrannt! Wenn uns die Nachbarn helfen, können wir in ein paar Tagen wieder aufmachen!« Sie stieg über die Scherben
des zertrümmerten Schaufensters in den Laden hinein und blickte sich um. Vielleicht waren ihre Worte doch etwas voreilig gewesen. Die Hitze war immer noch zu spüren und es stank nach verbranntem Holz und geschmolzenem Plastik. Der Boden war mit Abfällen bedeckt. Es würde einige Tage dauern, bis sie den Laden gesäubert hatten. Wie lange der Gestank bleiben würde, wusste sie nicht. Doch sie ließ sich nicht entmutigen. »Hilfst du mir beim Aufräumen?«, fragte sie, nachdem sie sich von dem Anblick des qualmenden Ladens erholt hatte. »Ich glaube, da wartet ‘ne Menge Arbeit auf uns! Hol einen Besen!« Audrey stürzte sich in die Arbeit, als könnte sie dadurch die Sorge um ihre Familie vertreiben. Sie hatte große Angst davor, dass ihr Vater ernsthaft verletzt war, und ließ die Tür zur Wohnung weit offen stehen, damit sie das Telefon nicht überhörte. Auch ihre Schwester unterbrach ihre Arbeit alle paar Minuten und warf einen nervösen Blick zur Tür. Napoleon und Robin waren in ihrem Zimmer. Nachdem die Mädchen den größten Schmutz beseitigt und die meisten Waren in Kisten verpackt hatten, damit keine Plünderer angelockt wurden, sperrten sie das Geld aus der Registrierkasse in den kleinen Safe, der unter dem Schreibtisch im Büro versteckt war, und gingen in die Küche. Sie wuschen sich die Hände und setzten sich erschöpft an den Tisch. Kaum saßen sie, klingelte das Telefon. Audrey sprang auf nahm den Hörer ab. »Mom?«, rief sie aufgeregt. »Mom! Bist du das?« Und als ihre Mutter antwortete: »Wie geht es Dad? Er wird doch wieder gesund, oder? Er ist doch okay? Sag was, Mom!« Aus dem Telefon war leises Schluchzen zu hören, dann hörte man, wie sich jemand schneuzte. »Eurem Vater geht es gut«, sagte Nellie Jackson. »Er hat eine leichte Gehirnerschütterung und der Rauch ist ihm auf die Lunge geschlagen, aber morgen
oder übermorgen darf er wieder nach Hause!« Sie schluchzte wieder, diesmal heftiger. »Ich mach mir große Sorgen, Audrey!« »Aber ich denke, es ist alles okay?«, wunderte sich Audrey. »Eine Gehirnerschütterung ist nicht schlimm, die geht schnell vorbei! Weißt du noch, letztes Jahr? Da ist Napoleon vom Fahrrad gefallen, er hatte auch eine Gehirnerschütterung. Er musste…« »Das ist es nicht«, schnitt ihre Mutter ihr das Wort ab. »Dad ist wieder bei Bewusstsein und es geht ihm einigermaßen gut, den Umständen entsprechend, sagen die Ärzte. Aber er… er hat mir gesagt, dass du bei den Protesten mitmachst! Wie kannst du uns so was antun, Audrey? Willst du, dass der Klan noch mal kommt und deinen Vater umbringt? Willst du das?« Ihr Weinen ging in hysterisches Schluchzen über und Audrey wartete betreten, bis sich ihre Mutter wieder gefasst hatte. »Er will dich nicht mehr sehen, Audrey! Er will, dass du ausziehst! Er sagt, dass wir nur überfallen wurden, weil du mit Edward zusammen bist! Warum machst du das, Audrey? Denk doch an unsere Familie!« Audrey wechselte einen raschen Blick mit Alberta, die müde auf einem Küchenstuhl saß und fragend die Augenbrauen hochzog, und suchte nach den richtigen Worten. »Ich weiß, wer den Brandsatz geworfen hat«, sagte sie, »das waren die beiden Männer, die mich auf dem Highway überfallen haben! Sie haben herausgefunden, wo ich wohne! Ich kann nichts dafür, Mom! Dass ich mit Edward zusammen bin, hat nichts damit zu tun!« Das Schluchzen ihrer Mutter ließ nach und sie sagte schnell: »Ich liebe euch, Mom! Ich liebe euch alle! Und ich möchte nicht, dass euch etwas passiert! Aber ich darf Betty Ann nicht allein lassen! Wir tun nichts Böses! Wir wollen nur die Rechte, die uns in der Verfassung zugesichert werden! Wir wenden keine Gewalt an und wir lassen uns nicht provozieren!
Wir müssen endlich aufwachen, Mom! Wenn wir alle protestieren, kann uns gar nichts passieren! Selbst der KuKlux-Klan kann nicht alle Schwarzen umbringen! Martin Luther King sagt, dies ist unsere letzte Chance! Wir müssen handeln, wenn wir friedlich mit den Weißen zusammenleben wollen! Wir haben Gott auf unserer Seite!« »Martin Luther King hat nur Unheil über uns gebracht!«, erwiderte ihre Mutter unter Tränen. »Wenn er nicht zurückgekommen wäre, hätten sie unseren Laden gar nicht angezündet! Sei vernünftig, Audrey! Überlass die Proteste den Politikern und Pastoren! Bleib zu Hause! Ich hab nichts gegen Edward, aber wenn du ihn unbedingt treffen willst, warte damit, bis Martin Luther King die Stadt verlassen hat! Denk an deine Familie, Audrey! Ich bitte dich!« »Ich… ich kann nicht, Mom!« »Dann pack deine Sachen und geh!«, rief ihre Mutter schluchzend. »Ich möchte dich nicht mehr sehen, hörst du? Wenn ich nach Hause komme, möchte ich dich nicht mehr sehen!« Sie legte auf und Audrey ließ benommen die Hand mit dem Hörer sinken. Als sie den fragenden Blick ihrer Schwester sah, sagte sie: »Es wird alles wieder gut, Alberta! Es wird alles wieder gut!«
22
Fünf Minuten später klingelte das Telefon erneut. Mom, vermutete Audrey, sie will mir sagen, dass sie es nicht so gemeint hat! Ich soll gleich ins Krankenhaus kommen und mit Dad sprechen! Dann soll ich mit ihr nach Hause fahren! Sie nahm überhastet den Hörer ab und erschrak, als sich eine männliche Stimme meldete. »Audrey Jackson?«, vergewisserte sich der Fremde. »Am Apparat«, antwortete Audrey zögernd. »Hier ist Floyd. Sie haben von mir gehört, nicht wahr?« Seine Stimme klang ruhig und vertrauenswürdig. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich den Anschlag nicht verhindern konnte. Niemand beim Klan wusste, was die beiden Jungen vorhatten. Es tut mir Leid! Ich konnte wirklich nichts tun! Ich hoffe, Ihr Vater wird bald wieder gesund!« Er legte eine kurze Pause ein und sagte dann: »Wir werden diesen Kampf gewinnen, Audrey! Hier geht es nicht um Schwarz oder Weiß, es geht um die Rechte, die jedem Amerikaner in unserer Verfassung zugesichert werden, und es geht um Gerechtigkeit! Nicht alle Weißen sind Verbrecher, Audrey!« »Wer sind Sie, Floyd? Warum helfen Sie uns?« »Auf Wiedersehen, Audrey.« Audrey hörte, wie der geheimnisvolle Fremde auflegte, und behielt den Hörer in der Hand, bis nur ein dumpfes Brummen zu hören war. Sie ignorierte den neugierigen Blick ihrer Schwester. »Schick Napoleon und Robin ins Bett«, bat sie, »und geh in dein Zimmer! Ich mach hier weiter. Ich kann sowieso nicht schlafen.«
»Warum hörst du nicht auf Daddy?«, fragte Alberta vorsichtig. »Warum lässt du Martin Luther King seinen Kram nicht alleine machen! Du siehst doch, was passiert, wenn du dich einmischst! Ich hab keine Lust, von diesen verdammten Kapuzenmännern aufgeknüpft zu werden!« »Geh ins Bett, Alberta!« Alberta wollte etwas sagen, überlegte es sich anders und verließ wortlos die Küche. Aus der Wohnung im ersten Stock hörte man, wie sie Napoleon und Robin dazu brachte, sich auszuziehen, ins Bad zu gehen und sich ins Bett zu legen. Audrey ging in den Flur. Sie dachte daran, nach oben zu gehen und sich bei ihrer Schwester zu entschuldigen, und blieb unschlüssig stehen. »Daddy geht es gut«, hörte sie ihre Schwester sagen. »Ihr braucht keine Angst zu haben! In ein paar Tagen haben wir den Laden wieder aufgebaut! Nein, nein, die bösen Männer kommen nicht wieder! Schlaft schön! In ein paar Stunden ist Mom zurück!« Dann knarrten wieder Stufen und im zweiten Stock klappte die Wohnungstür. Audrey seufzte leise und kehrte in die Küche zurück. Sie füllte einen Eimer mit heißem Wasser, warf den Putzlumpen hinein und ging in den Laden. Die Hitze hatte deutlich nachgelassen und der Staub war durch das zerbrochene Fenster abgezogen. Sie schaltete das Licht ein, wunderte sich darüber, dass es noch funktionierte, und machte sich daran, die Regale, die Verkaufstheke und den Boden zu wischen. Alle paar Minuten ging sie in die Küche und tauschte das Wasser aus. Sie schuftete ohne Unterlass, arbeitete sich systematisch durch den ganzen Laden und hatte nach zwei Stunden das Gefühl, kaum vorangekommen zu sein. Mit dem Unterarm wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Schon um nicht nachdenken zu müssen, stürzte sie sich erneut in die Arbeit. Sie schraubte die verkohlten Regalbretter ab und stapelte sie neben der Tür auf dem Boden.
Als sie das erste Mal auf die Uhr blickte, war es kurz nach Mitternacht. Sie blieb vor der Öffnung im Schaufenster stehen und hielt ihr Gesicht in den lauen Wind, atmete die frische Luft, die mit dem Nachtwind in den Laden wehte. In Gedanken sah sie noch einmal den weißen Pick-up aus einer Seitenstraße kommen. Sie duckte sich unwillkürlich und begann leise zu weinen, als sie daran dachte, wie sie ihren Vater zu Boden gerissen hatte. Sie trat wütend gegen den Wassereimer und verfluchte den Ku-Klux-Klan, Steve Goblett und Duncan Mills. Sie arbeitete weiter, rutschte mit dem Scheuerlappen auf dem Boden herum, bis ihre Arme erlahmten und sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nach einiger Zeit lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und schloss die Augen. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Sie versank in einem Traum, an den sie sich später kaum noch erinnern konnte, und wurde gegen zwei Uhr von ihrer Mutter geweckt. »Honey!«, hörte sie die vertraute Stimme. »Wach auf, Honey! Ich bin’s, Mom!« Sie öffnete die Augen und blinzelte in das grelle Licht. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich daran erinnerte, was geschehen war. »Mom!«, rief sie überrascht. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und stand langsam auf. »Ich geh schon, Mom, gib mir ein paar Minuten, dann bin ich weg!« Sie ging benommen zur Tür und stolperte über die Stufen. Mit beiden Händen stützte sie sich an der Wand ab. »Ich hol nur meine Tasche! Gleich bin ich weg!« »Red keinen Unsinn, Honey!«, hielt die Stimme ihrer Mutter sie zurück. »So hab ich es nicht gemeint!« Nellie Jackson folgte ihrer Tochter und schloss sie in die Arme. »Ich hab dich doch lieb! Dad und ich, wir haben dich beide lieb! Wir wollen nur nicht, dass dir was passiert! Du hast doch gesehen, was der Klan uns angetan hat! Geh erst mal ins Bad und stell dich unter
die heiße Dusche! Du siehst ja furchtbar aus!« Sie lachte schüchtern und blickte sich im Laden um. »Das hat doch morgen noch Zeit!« Audrey war zu müde, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen, und nickte nur. Ihr reichte es, dass ihre Mutter nicht mehr wütend war und sie das vertraute »Honey« hörte. »Wie geht es… Dad?«, fragte sie leise. »Wird… wird er wieder… gesund?« »Er ist schon beinahe wieder der Alte! Er braucht Ruhe, das ist alles! Geh ihn morgen nach der Schule besuchen und entschuldige dich bei ihm! Und versprich ihm, dass du nicht mehr protestieren gehst! Tu mir den Gefallen, Honey! Sei vernünftig, ja?« »Ich kann nicht, Mom! Ich… ich kann nicht…« »Sprich mit ihm, dann erledigt sich der Rest von selbst!«, ließ ihre Mutter sich nicht entmutigen. »Ich will keinen Krach in der Familie! Denk an Alberta und die Jungen! Sprich dich mit ihm aus!« »Ja, Mom!« Audrey stieg in den zweiten Stock hinauf und war viel zu erschöpft, um ihre Kleider auszuziehen und sich unter die Dusche zu stellen. Sie schaffte es gerade noch, sich auf ihr Bett fallen zu lassen, und schlief augenblicklich ein. Am nächsten Morgen wusch sie sich umso gründlicher. Sie ließ das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln, trocknete sich gründlich ab und zog frische Kleider an. Sie war spät dran und ihre Mutter und Geschwister saßen bereits beim Frühstück. »Ich hab wenig Zeit«, entschuldigte sie sich, »ich muss gleich weiter!« Sie trank hastig etwas Kaffee, schnappte sich einen Toast und rannte davon. In der Schule überschüttete man sie mit Fragen. »Ich hab gehört, bei euch ist eine Bombe explodiert! Seid ihr alle gesund?«; »Wie geht es deinen Eltern und deinen
Geschwistern?«; »Es war keine Bombe? Was dann?«; »Was ist ein Brandsatz? Hast du gesehen, wer ihn geworfen hat?« Und Claude A. Wesley, der Direktor, wollte sie sogar nach Hause schicken. »Bleib für den Rest der Woche zu Hause! Ihr habt doch jetzt sicher andere Sorgen!« Sie schüttelte energisch den Kopf und sagte: »Ich bin okay! Wir schaffen das auch so! Ich fühle mich besser, wenn ich arbeite!« Doch der Gedanke an den gemeinen Anschlag und die Reaktion ihrer Eltern ließ sie nicht los. Sie war fest entschlossen, ihre Freundin im Kampf gegen die Unterdrückung zu unterstützen und hatte ein mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte, wie sehr ihre Eltern und ihre Geschwister unter dieser Entscheidung litten. Während der Pause traf sie Cynthia. »Na, hast du Sarah schon geschrieben?«, fragte sie und das Mädchen antwortete: »Na klar, einen ganz langen Brief, und sobald ich genug Geld gespart habe, besuche ich sie!« Audrey freute sich, wie gut Cynthia die Trennung von ihrer Freundin verkraftet hatte. »Und was macht der Chor?«, fragte sie. »Probt ihr fleißig?« Cynthia nickte begeistert. »Du bist doch dabei, wenn wir am Ostersonntag in der Kirche singen? Das wird ein tolles Konzert!« »Natürlich bin ich dabei und ich werde ganz laut klatschen!«, versprach Audrey. Sie mochte die Tochter des Direktors, die Unbekümmertheit, mit der sie nach der Flucht ihrer besten Freundin in die Zukunft sah, und ihr fröhliches Lachen, wenn sie von dem Konzert des Kinderchors am Ostersonntag sprach. Die Stimmen der Kinder durften in der gewalttätigen Atmosphäre, die der Ku-Klux-Klan verbreitete, nicht verstummen. Sie waren die Hoffnung des amerikanischen Südens, die schwarzen und weißen Kinder. Wenn sie den Hass überwanden, der beide Rassen trennte, würde es keinen Ku-
Klux-Klan mehr geben. Und Martin Luther King konnte mit seinem gewaltfreien Protest den Weg für diese friedliche Zukunft ebnen. In der Schule versuchte Audrey vergeblich ihren Freund ans Telefon zu bekommen. Der Besitzer des Gaston Motels sagte ihr, dass Edward unterwegs war und er keine Nachricht hinterlassen hatte. Audrey beschloss bei ihm vorbeizufahren, bevor sie ihren Vater im Krankenhaus besuchte. Der junge Mann im Büro schüttelte den Kopf und versicherte ihr, dass Edward noch nicht zurückgekehrt war. Sie ging in den Coffee Shop und hörte ein gelangweiltes »Hier war keiner!« von der Bedienung. Audrey erinnerte sich daran, wie sie Edward in der Kirche getroffen hatte, und fuhr zur Sixteenth Street Baptist Church. Der Cadillac ihres Freundes war nirgendwo zu sehen. Sie stieg aus, ging die Treppen zur Eingangstür hinauf und öffnete sie. Aus der Kirche tönte ihr vielstimmiger Kindergesang entgegen. Sie blieb eine Weile stehen und genoss den harmonischen Klang der jungen Stimmen, vergaß für einen Augenblick sogar, warum sie die Kirche betreten hatte. Langsam ging sie zwischen den Sitzreihen entlang. Außer einer weißhaarigen Dame, die in der ersten Reihe saß und leise betete, war niemand zu sehen. Sie drehte sich um und blickte zur Empore hinauf. Die Kinder standen vor der großen Orgel und sangen »Rock of Ages« mit einer solchen Leidenschaft, dass sie eine Gänsehaut bekam. Der Pastor stand am Geländer und gab den Takt vor. Sie winkte Cynthia zu, die mit ihrer grünen Schleife im Haar links außen stand und sich riesig freute, als sie Audrey erkannte. Neben ihr sangen Addie Mae Collins, das Mädchen mit der dicken Hornbrille, das Audrey einmal vor der Kirche getroffen hatte, und Carole Robinson und Carol Denise McNair, zwei weitere Freundinnen, die sie nur vom Sehen
kannte. Mit ihrer kunstvollen Dauerwelle wirkte Carol Denise älter als ihre elf Jahre. Die vierzehnjährige Carole sah wesentlich jünger aus. Alle vier Mädchen trugen grüne Schleifen im Haar und waren mit Begeisterung bei der Sache. Audrey wartete, bis sie den Choral zu Ende gesungen hatten, und winkte den Mädchen zu. Dann sprach sie ein kurzes Gebet und verließ die Kirche. Auch Gott wusste keine Antwort auf ihre Fragen. Sie nahm an, dass er von ihr erwartete, selbst mit ihrem Vater ins Reine zu kommen, und stieg entschlossen in den Plymouth. Vor dem Krankenhaus verlor sie ihre Selbstsicherheit. Sie stieg zögernd aus und blickte mit gemischten Gefühlen an den schmucklosen Mauern empor. Ihre Kehle wurde eng und ihre Stimme klang heiser, als sie nach dem Zimmer fragte, in dem ihr Vater untergebracht war. Auf der Station nickte ihr eine Schwester höflich zu. Sie klopfte an die Tür und betrat schüchtern das Krankenzimmer, begrüßte die anderen Männer, die dort untergebracht waren, und lächelte ihrer Mutter zu, die neben dem Bett ihres Vaters saß und seine linke Hand hielt. Emory Jackson war bei vollem Bewusstsein und saß aufrecht im Bett. »Hallo, Dad!«, sagte Audrey zu ihrem Vater. »Ich hab gehört, dir geht es besser! Bekommst du alles, was du willst?« »Mir geht es gut«, erwiderte ihr Vater. Er war müde und gereizt und machte kein Hehl aus seiner schlechten Laune. Sein Gesicht wirkte noch kantiger als sonst. »Sobald ich hier rauskomme, räumen wir den Laden auf, Audrey! Ich hoffe, du hilfst uns dabei! Das ist sinnvoller, als gegen den Klan zu marschieren!« »Wir marschieren nicht gegen den Klan«, erwiderte sie. »Wir protestieren gegen alle Weißen, die an die Überlegenheit ihrer Rasse glauben! Wir wollen nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Keine ›Nur für Weiße‹-Schilder mehr!«
»Da hast du’s«, wandte Emory Jackson sich an seine Frau, »jetzt redet sie schon so geschwollen wie Martin Luther King!« Und zu seiner Tochter: »Reiß dich zusammen, Audrey! Reicht es denn nicht, dass sie unseren Laden abfackeln? Willst du, dass sie das nächste Mal mit Gewehren kommen und uns alle erschießen? Willst du, dass deine Eltern und Geschwister sterben?« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Audrey! Gestern Abend wollte ich dich aus dem Haus werfen, so verbittert war ich! Du hast es deiner Mutter zu verdanken, dass ich’s mir anders überlegt habe! Sie hat mir gesagt, dass du dich entschuldigen wirst! Sie hat mir versprochen, dass du dich nicht mehr mit diesem Edward treffen wirst! Ist das wahr, Audrey?« Audrey senkte den Blick: »Es tut mir Leid, Dad! Dass sie den Laden angezündet haben und dass ich euch solchen Kummer bereiten muss! Ich kann nicht anders! Es ist nicht wegen Edward. Ich tue es für uns! Ich würde den Glauben an mich verlieren, wenn ich jetzt aufgäbe!« In die angespannte Stille, die ihren Worten folgte, klopfte es. Zwei Männer betraten das Krankenzimmer. Martin Luther King und Edward! Audrey starrte sie mit großen Augen an und war viel zu überrascht, um sie zu begrüßen. Ihre Eltern schienen verwirrt. »Mr. und Mrs. Jackson«, grüßte Martin Luther King höflich. Er lächelte Audrey aufmunternd zu. »Entschuldigen Sie, wenn wir stören, aber wir haben von dem Unglück gehört, das Ihnen widerfahren ist! Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser!« Er blieb vor dem Bett stehen und wartete eine Weile, bis sich Emory Jackson und seine Frau gefasst hatten. »Ich wollte Ihnen persönlich gute Besserung wünschen und die Nachricht überbringen, dass die SCLC alle Kosten übernehmen wird. Unsere Gesellschaft hat ein Spendenkonto für solche Fälle eingerichtet und ich bin befugt, Ihnen einen Scheck zu geben.
Edward hat bereits eine Firma beauftragt, das Schaufenster zu ersetzen und Ihren Laden neu einzurichten, Ihre Erlaubnis vorausgesetzt, und sie haben zugesagt, bereits morgen mit der Arbeit zu beginnen.« Emory Jackson konnte sich nicht freuen, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die vor Dankbarkeit strahlte. »Vielen Dank. Aber das ändert nichts daran, dass ich dieses Project C, wie Sie es nennen, für falsch halte! Dieses Unglück wäre niemals passiert, wenn Sie meine Tochter nicht überredet hätten!« Er blickte Edward vorwurfsvoll an. »Sehen Sie denn nicht, was Sie anrichten? Sie hetzen den Klan gegen uns auf! Warum lassen Sie nicht alles so, wie es ist? Ich weiß, wir werden von den Weißen unterdrückt! Sie verbieten uns, in den Drugstores der Innenstadt einen Hamburger zu essen, und wollen, dass wir getrennte Toiletten benutzen! Na und? Irgendwann wird Gott dafür sorgen, dass wir die gleichen Rechte haben! Wir sollten ihm nicht ins Handwerk pfuschen! In Birmingham gehen die Uhren anders!« »Ich verstehe Ihre Bedenken«, erwiderte Dr. King. »So wie Sie denken einige Schwarze in dieser Stadt und ich bin ihnen nicht einmal böse deswegen. Sie denken an ihre Familien, an ihre Arbeit, an das Geschäft, das sie mühsam aufgebaut haben. Aber ich glaube nicht, dass wir Gott die ganze Arbeit überlassen sollten. Ich habe einmal gesagt: ›Es kann eine Zeit kommen, in der wir mit unserem Schweigen einen Verrat begehen.‹ Diese Zeit ist da! Wenn wir jetzt schweigen würden, wäre Jesus nur ein Träumer, der umsonst auf die Erde gekommen ist!« Er ließ seine Worte wirken und fügte hinzu: »Ich will Sie nicht mit meinen Predigten langweilen, Mr. Jackson! Ich möchte Sie nur bitten, auch uns zu verstehen. Mit unserem gewaltlosen Protest wenden wir uns gegen das Böse. Ich weiß, dass einige Leute darüber lachen, dass wir die andere Wange hinhalten, wenn wir geschlagen werden. Auch über
Gandhi haben sie sich lustig gemacht. Weil sie nicht verstehen, dass wir nicht nur gegen das Böse, sondern auch gegen die Gewalt kämpfen. Durch unseren gewaltlosen Protest wollen wir ein Gefühl der Scham auf der anderen Seite wecken. Wir wollen die Seelen der Klansmänner berühren und ich sage Ihnen, auch diese gewalttätigen Männer haben eine Seele. Der Tag wird kommen, an dem sie erkennen müssen, dass es nicht nur um Schwarze und Weiße geht! Wir kämpfen für die Gerechtigkeit auf der ganzen Welt, denn nur, wenn wir alle zusammenhalten, kann es eine Zukunft geben!« »Und was ist mit den Schwarzen, die für diese Ideale leiden müssen?«, fragte Emory Jackson bitter. »Was ist, wenn ich meine Tochter verliere? Geben Sie mir dann auch einen Scheck?« Martin Luther King ließ sich nicht beirren und zog eine Bibel aus seiner Jackentasche. Er zitierte aus der Bergpredigt: »Selig sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden!« Er deutete ein Lächeln an. »Ich habe Ihnen nicht nur einen Scheck mitgebracht, Mr. Jackson! Ich möchte Ihnen diese Bibel schenken! Aus ihr schöpfe ich die Kraft, die ich für meinen Kampf gegen das Unrecht brauche! Möge sie Ihnen die Kraft geben, unsere Motive besser zu verstehen! Gott steht bei allen unseren Aktionen an erster Stelle! Denken Sie bitte daran, Mr. Jackson! Amen!« »Amen!«, wiederholte Nellie Jackson. Und nach einer ganzen Weile, als Martin Luther King und Edward längst gegangen waren und Audrey sich bereits auf dem Heimweg befand, sagte auch Emory Jackson leise: »Amen!«
23
Der Protestmarsch am Gründonnerstag begann in der Sixteenth Street Baptist Church. Audrey sah ihre Freundin in der offenen Eingangstür stehen, als sie die Stufen hinaufstieg, und umarmte sie stumm. »Ich wusste, dass du mich nicht allein lassen würdest«, hörte sie Betty Ann leise sagen. »Hab keine Angst, die Nacht im Gefängnis war halb so schlimm!« Die Mädchen betraten die Kirche und schüttelten die Hände der anderen Teilnehmer, die im Vorraum warteten. Über dreißig Schwarze waren gekommen und es strömten immer noch mehr Menschen herbei, die bei der Demonstration mitmachen wollten. Sogar zwei Weiße waren dabei. Sie studierten in Kalifornien und hatten ihre Eltern in Florida besucht. In Birmingham waren sie aus dem Bus gestiegen und zur Sixteenth Street Baptist Church gegangen. Sie wussten mehr über die Freiheitsbewegung als Betty Ann. »Dieser Protest betrifft uns alle«, sagte einer der beiden Studenten. Edward erschien im Vorraum und umarmte Audrey liebevoll. »Ich freue mich, dass du hier bist!«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich hab dich sehr lieb!« Er begrüßte Betty Ann und wandte sich an die Demonstranten: »Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid! Dies ist einer von mehreren Protestmärschen, die wir in dieser Woche durchführen, das wisst ihr sicher. Sobald wir die Kirche verlassen haben, wenden wir uns nach links und gehen dann rechts die Seventh Avenue hinunter. Vor der City Hall knien wir nieder und beten. Ihr habt alle unser Formular unterschrieben und wisst, worauf es ankommt! Was auch passiert, selbst wenn die Polizei mit Schlagstöcken auf uns losgeht oder die Hunde von der Leine lässt – ihr wehrt
euch nicht! Wir wenden keine Gewalt an! Nur wenn unser Widerstand gewaltlos bleibt, haben wir eine Chance, diesen Kampf zu gewinnen! Ihr habt gehört, was Martin Luther King gepredigt hat! Gott ist auf unserer Seite! Alle rechtschaffenen Menschen auf dieser Erde unterstützen uns! Habt keine Angst, meine Freunde! Euer Mut wird belohnt werden, an dem Tag, an dem eure Kinder mit den Kindern eurer weißen Nachbarn spielen werden! An dem Tag, an dem ihr euch mit euren weißen Freunden zum Barbecue treffen werdet! Manche Leute sagen, dass wir Träumer sind. Aber wir sind nicht allein, meine Freunde, und wie ihr seht, gibt es auch Weiße, die an unserer Seite marschieren! Die Liebe wird siegen! Denkt immer daran! Wir marschieren für die ganze Welt!« Audrey griff nach einem der Schilder, die Edward bereitgestellt hatte. FREEDOM stand in großen Lettern auf dem weißen Karton. FREIHEIT. Sie war stolz, eines dieser Schilder tragen zu dürfen, und war fest davon überzeugt, sich richtig entschieden zu haben. Es war ihre heilige Pflicht, zu marschieren! Auch wenn ihre Eltern sie dann verstießen! Martin Luther King und Edward hatten vor dem Krankenhaus auf sie gewartet und der Pastor hatte ihr versichert, dass ihr Vater einsehen würde, dass sie das Richtige taten. »Er ist in einer schwierigen Lage. Die meisten schwarzen Geschäftsleute denken wie er. Warum soll man etwas ändern, wenn man selbst nicht in akuter Gefahr schwebt? Aber er wird seine Meinung ändern, das verspreche ich Ihnen. Alle Schwarzen werden auf unserer Seite sein, wenn sie erkennen, wie stark die Liebe sein kann!« Edward führte die Marschierer an. »Gott sei mit uns!«, sagte er, bevor er die Kirche verließ und die Schwarzen zur Seventh Avenue führte. »Amen!«, antworteten die Teilnehmer. Betty Ann stimmte das Lied an, das zur Hymne ihrer Bewegung geworden war, und sang aus voller Kehle: »We shall
overcome, we shall overcome, we shall overcome some day!« Eines Tages werden wir unsere Träume verwirklicht haben. Und alle anderen antworteten mit dem Refrain: »Oh, deep in my heart I do believe, we shall overcome some day!« Tief in meinem Herzen glaube ich daran. Das Lied gab ihnen Kraft, nahm die Angst, die viele von ihnen beim Verlassen der Kirche empfunden hatten. »We shall all be free«, sang Audrey laut die dritte Strophe mit, »we shall all be free, we shall all be free some day!« Eines Tages werden wir alle frei sein. Sie lief dicht neben Betty Ann, bewunderte die Entschlossenheit ihrer Freundin, die ihr »We shall overcome« wie einen Schwur erklingen ließ. Solange sie im Schwarzenviertel waren, machte Audrey sich keine Sorgen. Die vielen Schaulustigen, die aus den Häusern traten und die Gehsteige säumten, waren auf ihrer Seite und riefen ihnen aufmunternde Worte zu. »Freiheit! Freiheit!«, fielen sie in die Rufe der Marschierer ein. Doch dann näherten sie sich der City Hall, dem Rathaus von Birmingham, und ihr Protestmarsch wurde zum Spießrutenlaufen. Die ersten Weißen ließen sich blicken, schwangen drohend ihre Fäuste und belegten sie mit Schimpfwörtern und Verwünschungen. »Warum bleibt ihr nicht in euren Hütten, ihr verdammten Nigger?«, rief eine Frau, die sich zu Hause wahrscheinlich liebevoll um ihren Mann und ihre Kinder kümmerte. »Nehmt eure Schilder und verschwindet!« Zwei junge Männer, die in einem baufälligen Chevy unterwegs waren, zeigten den Marschierern den ausgestreckten Mittelfinger. Einige Kinder warfen mit Steinen. Hinter den Fenstern der umliegenden Häuser waren weiße Gesichter zu sehen. »Verdammtes Niggerpack!«, schimpfte ein Jugendlicher. »Geht nach Hause oder wir prügeln euch aus der Stadt!« Ein älteres Ehepaar wandte sich entrüstet ab. »Wollen wir uns das gefallen lassen?«, hörte Audrey jemanden rufen.
»Wo ist der Klan? Warum knüpft niemand diesen Martin Luther King auf? Schießt die verdammten Nigger über den Haufen!« Ein Schuss fiel, gleich darauf fluchte eine weibliche Stimme und der aufgebrachte Weiße verschwand in einem der Häuser. »Überlasst sie der Polizei!«, mahnte ein Weißer. »Die kümmern sich um das schwarze Pack!« Audrey spürte, wie sich Angst in ihr ausbreitete. Ihre Hände, die das Schild mit der Aufschrift FREEDOM hielten, wurden schwach. »Hör einfach nicht hin!«, munterte Betty Ann sie auf. »Die Liebe ist stärker als der Hass! Das hat Martin Luther King uns gelehrt!« Audrey zweifelte an diesen Worten, glaubte nicht daran, dass einer der aufgebrachten Weißen seine Meinung ändern könnte. Wenn sie in die verzerrten Fratzen dieser Menschen blickte, war es schwer, an die Macht der Liebe zu glauben. Doch sie hielt durch und ging weiter, obwohl sie am liebsten umgekehrt und davongerannt wäre. »We shall overcome«, bekämpfte sie ihre Schwäche, »we shall overcome some day!« Von den Klansmännern in ihren weißen Kutten war nichts zu sehen. Die Marschierer wussten nichts von der Abmachung, die Bull Connor und der Ku-Klux-Klan getroffen hatten, und wunderten sich darüber. Normalerweise hätte der Klan die Gelegenheit genützt, um ein Exempel zu statuieren und es den protestierenden Schwarzen heimzuzahlen. Aber die Klansmänner hielten sich an die Abmachung und zogen sich in ihre Wohnungen und Versammlungsräume zurück. Sie würden losschlagen, sobald Project C gescheitert war. Das dreiste Vorgehen dieses Martin Luther King durfte nicht ungesühnt bleiben, munkelte man in der gefürchteten Eastview Klavern. Sobald Bull Connor aufgeräumt hatte, würde man ein Zeichen setzen, das die Schwarzen niemals vergessen würden. Man würde die verdammten Nigger in ihre Schranken weisen. Amerika gehörte allein den Weißen!
Vor der 19th Street, im Schatten der Busstation, wurden die Schwarzen von der Polizei aufgehalten. Zwei Streifenwagen blockierten die Seventh Avenue. Die Polizisten hatten ihre Helme aufgesetzt und hielten ihre Schlagstöcke bereit. Ihre Gesichter wirkten hart und entschlossen. Einige der Männer grinsten still in sich hinein, als freuten sie sich darauf, die protestierenden Schwarzen mit ihren Schlagstöcken zu bearbeiten. Edward ließ sich nicht beirren. Er kniete vor den Polizisten nieder und sprach ein Gebet. Die anderen Marschierer folgten seinem Beispiel. Audrey griff nach der freien Hand ihrer Freundin und sagte: »Amen!« »We shall overcome«, stimmte Betty Ann noch einmal an, »we’ll walk hand in hand.« Wir gehen Hand in Hand. Sie stand auf, zog Audrey hoch und blickte furchtlos nach vorn, als einer der Polizisten »Okay, das reicht, ihr Nigger!« sagte und Edward eine Hand auf die Schulter legte. Unter dem inbrünstigen Gesang der Schwarzen und dem schadenfrohen Beifall der Weißen ließ sich Audreys Freund abführen. Die Polizisten stießen ihn in einen der bereitstehenden Lieferwagen. Audrey wollte aufbegehren, sich von Betty Ann losreißen und zu den Polizisten laufen, aber ihre Freundin hielt sie zurück. »Keine Gewalt!«, hörte sie Betty Ann sagen. »Selbst wenn ihr geschlagen und gedemütigt werdet… keine Gewalt! Unsere Opfer sind nicht umsonst!« Ihre Augen glänzten, zeigten den anderen, wie mutig und entschlossen sie war. »We shall all be free«, erklang die dritte Strophe ihrer Hymne. Wir werden alle frei sein! Ein Marschierer nach dem anderen wurde festgenommen und in den Lieferwagen geschoben. Die anderen ließen sich nicht beirren und sangen weiter. Beinahe trotzig schallte ihr »We shall all be free!« den Polizisten entgegen. Dann war der
Lieferwagen voll und ein Teil der uniformierten Männer rückte ab. Die Besatzungen der beiden Streifenwagen blieben und schlugen mit ihren Gummiknüppeln auf einige Demonstranten ein. Eine Frau brach weinend zusammen. »Haut ab! Geht nach Hause!«, schrien die Polizisten, dann stiegen sie in ihre Streifenwagen und fuhren davon. »We shall overcome«, sangen die Schwarzen weiter, bis ihre Stimmen heiser wurden und einer der Männer entschied: »Es ist vorbei, Leute! Geht nach Hause!« Erschöpft kehrten Audrey und ihre Freundin ins Schwarzenviertel zurück. Sie setzten sich auf die Stufen vor der Sixteenth Street Baptist Church, die Schilder immer noch in den Händen, und blinzelten in die tief stehende Sonne. Orangefarbener Glanz lag über den düsteren Gebäuden des Viertels und ließ die Mauern der Kirche in einem dunklen Braun erstrahlen. »Wir kommen nicht voran«, sagte Betty Ann enttäuscht, »wenn das Fernsehen nicht dabei ist, erfährt niemand von unseren Protesten! Wir müssen die Welt aufrütteln, hat Ralph Abernathy gestern gesagt. Wie sollen wir die Welt aufrütteln, wenn niemand von uns weiß?« Nachdem sie die Schilder im Vorraum der Kirche verstaut hatten, verabschiedeten sich die Mädchen voneinander. Beide waren hundemüde. Seitdem Betty Ann für die SCLC arbeitete, durfte sie in einem der Gästezimmer im Gaston Motel übernachten, wenn es zu spät war, um nach Hause zurückzukehren. »Komm in der Mittagspause rüber«, bat sie ihre Freundin, »ich glaube, morgen ist ein wichtiges Meeting!« Sie schüttelte ihre Hand und lächelte. »Du willst doch nicht kneifen, oder? Du bist doch dabei?« »Wenn ich morgen noch in Birmingham bin«, antwortete Audrey mit einem säuerlichen Lächeln. »Ich hab das Gefühl, mein Daddy schickt mich auf den Mond, wenn er erfährt, dass ich bei einem Protestmarsch dabei war!« Ihre Wege trennten
sich und Audrey kehrte nach Hause zurück. Ihre Eltern beachteten sie kaum. Es gab kein Donnerwetter und keinen Streit und selbst beim Abendessen kam das Gespräch nicht auf das heikle Thema. Emory Jackson war mürrisch wie immer und brummte nur, als Audrey ihm die Schüssel mit den süßen Kartoffeln reichte. Ihre Mutter hielt den Kopf gesenkt und kämpfte mit den Tränen. Nur Napoleon und Robin ließen sich von der gedrückten Stimmung nicht beeindrucken und stritten lauthals um den Pudding. »Jetzt reicht’s aber!«, schimpfte Nellie Jackson und nahm ihnen die Schüssel ab. »Geht in euer Zimmer, aber schnell! Den Pudding könnt ihr morgen essen! Wenn ihr brav seid! Verstanden?« »Aber wir haben doch gar nichts gemacht!«, meinte Napoleon. »Ihr sollt verschwinden!«, schrie Nellie Jackson so laut, dass selbst ihr Mann zusammenzuckte. Napoleon und Robin zogen weinend davon. Sie begann zu schluchzen. »Mein Gott!«, wandte sie sich an ihren Mann und an Audrey. »Warum redet ihr nicht miteinander? Das ist ja nicht auszuhalten! Wir sind eine Familie, habt ihr das vergessen? Gott verdammt, wir sind eine Familie!« »Tut mir Leid«, erwiderte Audrey leise. Am nächsten Morgen beschränkte sie ihr Frühstück auf einen Becher Kaffee. Sie trank ihn im Stehen und umarmte ihre Mutter wortlos, bevor sie in die Schule fuhr. Die Arbeit fiel ihr schwer. Sie war unkonzentriert und sie musste ständig an Edward denken, der mit den anderen Marschierern im Gefängnis saß. Ob Martin Luther King die Kaution schon bezahlt hatte? Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich vorgestellt, wie es sein musste, auf einer harten Pritsche in einer Zelle zu übernachten.
»Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei«, sagte Direktor Wesley am späten Vormittag. Er wusste, dass Audrey bei dem Protestmarsch dabei gewesen war, und hatte Verständnis für ihre Unruhe. »Heute passiert sowieso nichts mehr!« Er verabschiedete sie lächelnd. »Frohe Ostern! Passen Sie auf sich auf!« Audrey stieg in ihren Plymouth und fuhr zum Gaston Motel. Vor dem Coffee Shop traf sie Edward und Betty Ann. Sie umarmte ihren Freund und küsste ihn ungeniert. »Edward! Du bist frei! Ich hatte Angst, du musst Ostern im Gefängnis bleiben!« Sie blickte ihre Freundin an. »Hi, Betty Ann! Ich hab den Nachmittag frei bekommen, was sagst du dazu?« Die Wiedersehensfreude hatte ihre Stimmung erheblich gebessert. »Habt ihr schon gegessen?« »Wir haben Sandwiches bestellt«, antwortete Edward. »Wir haben ein wichtiges Meeting in Zimmer 30. Unser Kriegszimmer!«, fügte er lächelnd hinzu. »Da fallen die wichtigen Entscheidungen. Dr. King will mit uns reden. Es geht um die nächsten Aktionen.« Audrey folgte ihren Freunden in das überfüllte Motelzimmer. Außer Martin Luther King waren Ralph Abernathy, Fred Shuttlesworth und über zwanzig andere wichtige Leute in dem kleinen Raum. Die Diskussion war bereits in vollem Gange. Audrey nickte den Männern freundlich zu und setzte sich auf die Fensterbank. »Ralph und ich haben beschlossen, uns morgen festnehmen zu lassen«, sagte Martin Luther King gerade. »Morgen ist Karfreitag, ein Tag von symbolischer Bedeutung für alle Christen, und wir wollen unsere Körper als Blutzeugen in diesem Kreuzzug darbieten! Ich weiß, das klingt etwas übertrieben, aber was bleibt uns anderes übrig? Bisher war Project C erfolglos. Kaum eine Fernsehstation und nur wenige liberale Zeitungen im Norden haben über unsere Aktionen berichtet. Nur wenn wir etwas Außergewöhnliches
tun, bringen wir das Fernsehen und die Presse dazu, uns in den Sieben-Uhr-Nachrichten und auf den Titelseiten zu bringen! Wir brauchen die Öffentlichkeit, wenn wir etwas erreichen wollen!« Alle waren einverstanden, doch am Abend erhielt Martin Luther King einen Anruf und erfuhr, dass die Stadtverwaltung bares Geld sehen wollte, wenn eine Kaution für die Gefangenen verlangt wurde. Bisher hatte es ausgereicht, wenn bei größeren Beträgen ein verlässlicher Bürge für die Summe unterschrieben hatte. »Das ist ein ernster Schlag für unsere Bewegung«, sagte Martin Luther King, als sie sich am nächsten Morgen im »Kriegszimmer« trafen. »Wie sollen wir die Beträge für die Gefangenen aufbringen? Wo wollt ihr die Summe hernehmen, die man für Ralph und mich festsetzen wird?« Er zündete sich eine Zigarette an, was er selten in der Öffentlichkeit tat, und lief nervös auf und ab. In seine Stirn hatten sich tiefe Sorgenfalten gegraben. Seine Verzweiflung war im ganzen Raum zu spüren. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und sah seine Freunde fragend an. Audrey spürte die Hoffnungslosigkeit, die sich im Zimmer ausgebreitet hatte, und wechselte einen Blick mit Betty Ann, die auf der Sofalehne saß und ratlos zu Boden sah. Selbst Fred Shuttlesworth, der die Stadtverwaltung von Birmingham am besten kannte, wusste nicht, was er sagen sollte. Endlich ergriff einer der engsten Vertrauten von Martin Luther King das Wort: »Unter diesen Umständen kannst du nicht ins Gefängnis gehen, Martin!«, sagte er. »Wir brauchen viel Geld. Wir brauchen es jetzt. Du bist der Einzige, der die Verbindungen hat, um es aufzutreiben. Wenn du ins Gefängnis gehst, sind wir verloren! Dann ist auch die Schlacht von Birmingham verloren! Du darfst nicht gehen!« Martin Luther King zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte unentschlossen in die Runde. »Lasst mich einen
Augenblick nachdenken«, sagte er beinahe flüsternd. Er ging in den Nebenraum der kleinen Suite. Seine Mitarbeiter blieben schweigend zurück. Audrey suchte die Hand ihrer Freundin und drückte sie fest. Jeder in Zimmer 30 wusste, dass Martin Luther King eine Entscheidung von weit reichender Bedeutung treffen musste. Von seiner Antwort hing das Wohl des ganzen Unternehmens ab und das Schlimme war, dass niemand sagen konnte, welcher Entschluss der richtige sein würde. Nervös warteten sie auf die Rückkehr des Pastors. Als er zurückkam, richteten sich alle Augen auf ihn. »Über dreihundert Menschen sitzen noch im Gefängnis«, sagte er. »Tausende von Schwarzen warten darauf, dass wir in die Tat umsetzen, was ich so leidenschaftlich gepredigt habe. Wie könnte ich diesen Menschen erklären, dass ich mich der Festnahme entziehe? Wie würde das Land über einen Mann urteilen, der Hunderte ermutigt hat, ein ungeheures Opfer zu bringen, und sich dann drückt? Ich werde gehen, meine Freunde! Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß nicht, woher das Geld kommen wird! Aber ich werde gehen. Ich muss mich durch diese Tat zu meinem Glauben bekennen!« Ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hätte, fassten sich die Menschen an den Händen und sangen »We shall overcome«. Audrey war endgültig davon überzeugt, dass sie auf dem richtigen Weg war.
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Noch am selben Tag, dem Karfreitag des Jahres 1963, marschierten Martin Luther King, Ralph Abernathy und fünfzig andere Schwarze zur City Hall Die Pastoren trugen Overalls, als sie die Sixteenth Street Baptist Church verließen. Ihre Gesichter waren von großer Ernsthaftigkeit geprägt und in ihren Augen brannte eine Entschlossenheit, wie Audrey sie noch bei keinem anderen Menschen gesehen hatte. Sie waren besondere Männer, wurden von dem festen Glauben angetrieben, mit ihrem Handeln ein ganzes Volk retten zu können. Sie trugen keine Schilder, um die Polizei nicht unnötig zu reizen, und blieben sogar an den roten Ampeln stehen. Der Refrain von »We Shall Overcome« begleitete sie über die Seventh Avenue und bis zur Kreuzung 17th Street. Audrey und Betty Ann und auch Edward waren nicht bei den Marschierern. Martin Luther King hatte ihnen empfohlen, im Hintergrund zu bleiben und Fred Shuttlesworth bei der Arbeit für die SCLC zu helfen, solange er im Gefängnis saß. Doch sie wollten wenigstens in der Nähe sein, wenn es zu der historischen Begegnung zwischen Martin Luther King und Bull Connor kam. Der Polizeichef würde bestimmt nicht zulassen, dass die Anführer des »Negeraufstandes«, wie er Project C nannte, ihn mit ihrem Marsch demütigten. In angemessener Entfernung liefen sie hinter den Demonstranten her. Sie mischten sich unter die vielen Schaulustigen und gingen hinter einem geparkten Auto in Deckung, als die Polizei mit einem Aufgebot nahte und die Kreuzung an der 17th Street sperrte. Aus den Streifenwagen und den
Lieferwagen sprangen Beamte mit Schlagstöcken und Bull Connor höchstpersönlich stieg aus einer schwarzen Limousine. Der Polizeichef war ein untersetzter Mann mit klobigem Schädel und weißen Haaren. Unter der Krempe seines Strohhuts und hinter den dicken Gläsern seiner Brille waren seine Augen kaum zu sehen. Er bewegte sich wie ein Mann, der sich seiner Macht voll bewusst ist, und ließ schon durch seine Körpersprache erkennen, was er von den protestierenden Schwarzen hielt. Wie ein uniformierter Polizist, der endlich einen stadtbekannten Raser erwischt hat, bewegte er sich auf Martin Luther King zu. »Haben Sie was auf den Ohren, Nigger-Boy?«, meinte er abfällig. »Die Stadt Birmingham hat ein Demonstrationsverbot verhängt und das gilt auch für verdammte Nigger wie dich!« Er schob seinen Strohhut in den Nacken und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ohne seinen abfälligen Blick von King zu nehmen, wandte er sich an einige Polizisten: »Nehmt die Nigger fest und sperrt sie ein!« Er musste grinsen. »Das wär’s dann wohl, Nigger-Boy! Die Show ist vorbei!« Audrey sah, wie die Polizisten auf Martin Luther King und Ralph Abernathy zugingen und die beiden Pastoren an den Hemdkragen packten. Man fesselte sie mit Handschellen, wie zwei Schwerverbrecher, und brachte sie zu einem Lieferwagen. Sie leisteten keinen Widerstand. Auch die anderen Schwarzen ließen sich willenlos von der Polizei abführen. Audrey beobachtete einen jungen Mann, der nicht einmal die Hände hob, als ein Polizist mit dem Schlagstock auf ihn eindrosch, und zuversichtlich lächelte, als man ihn in den Lieferwagen stieß. »We shall overcome«, sangen einige Schwarze selbst jetzt noch. »Wir werden diesen Kampf gewinnen!«, meinte Betty Ann zuversichtlich. »Sie können Martin Luther King nicht besiegen! Nicht einmal mit einer Kugel oder einem Strick
könnten sie ihn aufhalten! Seine Lehre wird überleben! Hast du gesehen, wie stolz sie waren, als die Polizei sie abführte? Martin Luther King. Ralph Abernathy. Irgendwann stehen ihre Namen in den Schulbüchern…« Die Mädchen kehrten zur Kirche zurück. Ein Pastor wartete vor dem Altar und sprach ein Gebet mit ihnen und den anderen Schwarzen, die diesmal nicht mitmarschiert waren, und erteilte ihnen den Segen. Im Vorraum verabschiedete sie sich von Betty Ann. Der Bus nach Bessemer ging in zwanzig Minuten und Betty Ann hatte ihren Eltern versprochen, über Ostern zu Hause zu bleiben. Sie hatten nichts dagegen, dass ihre Tochter bei den Protestaktionen mitmachte. »Pass auf dich auf, du bist alt genug!«, mehr hatte ihr Vater nicht gesagt. Er war der Meinung, dass man ab einem bestimmten Alter für sich selbst verantwortlich war. »Ich hab mit vierzehn auf der Straße gelebt«, sagte er zu seiner Frau, »du musst dich allein durchschlagen, wenn du’s zu was bringen willst!« Die Tante hatte Betty Ann in den Arm genommen und gesagt: »Diese Protestmärsche sind nichts für kleine Mädchen!« Nachdem Betty Ann gegangen war, brachte Edward seine Freundin zum Wagen. »Ich rufe dich an, wenn sich was tut«, versprach er. »Ich hoffe, es läuft alles so, wie Dr. King sich das vorstellt.« Er war besorgt und kaum bei der Sache, als Audrey ihn zum Abschied küsste. »Ich hoffe, wir kriegen das Geld zusammen. Wyatt will sich mit Harry Belafonte in Verbindung setzen.« Audrey stieg ein und kurbelte das Fenster hinunter. »Es wird schon klappen! Dr. King hat sich alles gut überlegt.« Sie startete den Plymouth und winkte ihm lächelnd zu, aber er hatte sich bereits abgewandt und überquerte gedankenverloren die Straße. Audrey wusste, er machte sich große Sorgen; er glaubte nicht daran, dass sie den hohen Betrag, den das Gericht für Kings Freilassung fordern würde, auftreiben konnten. Auch
ein erfolgreicher Künstler wie Harry Belafonte verfügte nicht über unbegrenzte Mittel. »Wenn ich nur irgendwas tun könnte«, stieß sie frustriert hervor. Enttäuscht fuhr sie nach Hause und parkte vor dem elterlichen Laden. Die Handwerker waren bereits da gewesen und hatten alle Spuren des Feuers beseitigt. Es gab eine neue Theke, und auf den Regalen stapelten sich neue Waren. In der neuen Schaufensterscheibe spiegelte sich die Sonne. Die SCLC hatte alles bezahlt, gegen den Willen ihres Vaters, der missmutig brummte, wenn man ihn auf den Anschlag ansprach und dem Pastor einer benachbarten Gemeinde Recht gab, der öffentlich gefordert hatte, dass Martin Luther King und seine Leute die Stadt verließen. Am Osterwochenende wurde nicht über dieses Thema gesprochen, weder bei den Jacksons noch bei den meisten anderen Familien. Man feierte die Auferstehung des Herrn, saß mit seinen Verwandten beim Essen zusammen und schwelgte in Erinnerungen. Emory Jackson erzählte von seinem Urgroßvater, der im Wilden Westen gelebt hatte und bei einem Überfall der berüchtigten Dalton-Bande mitgemacht haben wollte, und Nellie Jackson träumte von der Krone, die sie als schönstes Mädchen eines High-School-Balls gewonnen hatte. »Eure Mutter war eine Schönheitskönigin!«, betonte ihr Mann. »Ich heirate nie«, meinte Alberta, »mir ist es egal, wie ich aussehe!« Napoleon und Robin waren drüben auf dem Sportplatz und spielten Baseball. Audrey war viel zu nervös, um sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Edward, den Mitarbeitern von Martin Luther King und den Menschen im Gefängnis. Wyatt T. Walker, der Sekretär der SCLC, würde sicher alle Hebel in Bewegung setzen, um einen größeren Betrag aufzutreiben, und Edward und die Studenten, die Martin Luther King in Birmingham angeheuert hatte,
würden ihm dabei helfen. Aber wie erging es Martin Luther King und Ralph Abernathy in der Zwischenzeit? Würde man sie fair behandeln oder würde Bull Connor seine Macht ausnützen und sie misshandeln? Seit sie gesehen hatte, wie der Polizeichef mit Dr. King umgegangen war, traute sie ihm alles zu. Und wie wurden die Gefangenen mit dem Druck fertig, dem sie in der Gefangenschaft ausgesetzt waren? Welche Gedanken gingen ihnen durch den Kopf? Wenn das Geld nicht kam, würde man sie wochenlang festhalten. Sie stellte sich vor, wie Martin Luther King in einer Einzelzelle saß, allein mit der Dunkelheit und seinen düsteren Gedanken und nur von der Hoffnung erfüllt, dass Gott auf seiner Seite war und ihn nicht vergaß. Wie lange würde Dr. King durchhalten? Und was würden seine Anhänger tun, wenn er im Gefängnis bleiben musste? Zum Gottesdienst am Sonntagvormittag zog Audrey ihr festliches Kleid mit den grünen Rüschen an. Sie war am Samstag beim Friseur gewesen und hatte sich eine neue Dauerwelle legen lassen. Mit den dunklen Haaren, die schwungvoll bis auf ihre Schultern fielen, und dem breitkrempigen Hut mit der bunten Feder sah sie wie eine Königin aus. Das behauptete ihre Mutter, als sie aus ihrem Zimmer kam, und etwas Ähnliches sagte Edward, als er in der Tür wartete, um Audrey zur Kirche mitzunehmen. Ihre Eltern hatten nichts dagegen, dass sie mit Edward ging, hatten allerdings darauf bestanden, dass sie den Nachmittag mit ihrer Familie verbrachte. »Das gehört sich so, Audrey!« Im Cadillac küssten sich Audrey und Edward so leidenschaftlich, dass sie beinahe ihren Hut verloren hätte. Sie hatte ihn kunstvoll mit schwarzen Nadeln befestigt, damit er nicht herunterfiel. Sie lachten beide und er sagte: »Du siehst wunderbar aus, Audrey!«
Während der Fahrt kehrte die Erinnerung an Martin Luther King und Ralph Abernathy zurück. Anscheinend war den Pastoren kein Leid geschehen. Coretta King, die Frau des Pastors, hatte mit Präsident Kennedy telefoniert und die Zusicherung bekommen, dass man sich auf höchster Ebene um die Sache kümmern würde. Harry Belafonte bemühte sich das Geld aufzutreiben und hatte bereits einige Zusagen. »Die Sache sieht nicht übel aus«, versicherte Edward, als sie zur Kirche fuhren, »endlich geschieht etwas. Überall in Amerika spricht man über Dr. Kings Festnahme. Die Zeitungen berichten darüber. Sogar in der Chicago Tribune gab es einen großen Artikel! Jetzt muss sich die Regierung um uns kümmern!« Mit neuem Optimismus begleitete Audrey ihren Freund in die Kirche. Ihr strahlendes Lächeln fiel sogar ihrer Schwester auf, die leise raunte: »He, du siehst Spitze aus! Wie eine richtige Lady!« Sie war stolz, am Arm ihres Freundes die Sixteenth Street Baptist Church zu betreten, und rief fröhlich: »Amen!«, als der Pastor die Gemeinde begrüßte. Es gab wieder Hoffnung, das spürte sie ganz deutlich. Dazu passte auch das halbstündige Konzert, das der Kinderchor nach dem Gottesdienst gab. Mit fröhlichen Gesichtern standen die Kinder vor dem Altar und sangen zum Klang der Orgel. »Das Mädchen ganz links, die mit dem weißen Kleid und der grünen Schleife, das ist Cynthia!«, flüsterte Audrey ihrem Freund zu. »Siehst du ihre Freundinnen? Addie Mae, Carol Denise und Carole. Sie tragen alle grüne Schleifen! Ihr Erkennungszeichen!« »Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Geheimbund gegründet habt!«, sagte Edward. »Trägst du deswegen ein grünes Kleid?« Mit überschwänglichen »Hallelujah!« und »Amen!« bedankten sich die Erwachsenen bei den Kindern. Vor der Kirche schlossen die stolzen Eltern ihre Söhne und Töchter in
die Arme. Wie nach jedem Gottesdienst unterhielt man sich mit dem Pastor und den anderen Leuten und die heiße Luft war vom Gelächter der Kirchgänger erfüllt. Doch die Fröhlichkeit verflog schnell, wenn die Sprache auf Martin Luther King, Ralph Abernathy und die anderen Menschen im Gefängnis kam, und nur der Kinder willen bemühte man sich, die gute Stimmung beizubehalten. Während des Gottesdiensts hatte der Pastor ein Gebet für die Menschen im Gefängnis gesprochen und Gott darum gebeten, sie in die Freiheit zu entlassen und die schwarzen Bewohner von Birmingham vor einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Weißen zu bewahren. Der Pastor der Sixteenth Street Baptist Church gehörte zu den Menschen, die auf der Seite von Martin Luther King standen, äußerte seine Meinung aber nicht zu laut, um nicht das Opfer eines Bombenanschlags zu werden. Sein Kollege Fred Shuttlesworth war nur knapp dem Tod entronnen. Zwei Tage nach Ostern verabredeten sich Audrey und Edward im Coffee Shop des Gaston Motels. Sie teilten sich ein Thunfisch-Sandwich und tranken heißen Kaffee. »Ich brauche dich«, sagte Edward. Er zeigte ihr eine Zeitung, in der acht Vertreter der führenden Kirchen eine große Anzeige geschaltet hatten. Ein Bischof der katholischen Kirche, ein Rabbi der jüdischen Gemeinde, ein anerkannter Reverend der Baptisten und andere Würdenträger. Sie kritisierten die Demonstrationen, beschimpften Martin Luther King und seine Leute als Gesetzesbrecher, Extremisten und Anarchisten. Audrey schoss das Blut ins Gesicht, als sie die Schmähungen las. »Das ist nicht fair!«, schimpfte sie aufgebracht. »Wie kommen diese Männer dazu, uns zu kritisieren? Wollen sie, dass die Schwarzen unterdrückt werden?« Sie schüttelte den Kopf, blickte wütend in ihren Kaffeebecher und schien für einen Augenblick jede Hoffnung verloren zu haben. Ihre
Stimme wurde leise. »Hat Martin Luther King die Zeitung gesehen?« Edward nickte. »Wir haben sie ihm in die Zelle geschmuggelt, in der Nacht von Sonntag auf Montag. Und heute hat er geantwortet! Sein Anwalt durfte zu ihm und hat mir den Brief gegeben.« Er öffnete eine Aktentasche und zog eine Zeitung, Fetzen von Toilettenpapier und ein paar Briefumschläge heraus. »Mehr hatte er nicht.« Die Zeitungsränder und die Papierfetzen waren dicht beschrieben. »Ich wollte dich bitten, die Schnipsel in die richtige Reihenfolge zu bringen und den Brief abzuschreiben. Ich hab eine Schreibmaschine in meinem Zimmer stehen. Wegen der Kurzgeschichte, du weißt schon!« Er lächelte kurz. »Würdest du das tun? Jetzt gleich? Ich will den Brief so schnell wie möglich an die Kirchenmänner schicken und an einige Zeitungen verteilen.« Natürlich erklärte Audrey sich bereit, seine Bitte zu erfüllen. Sie gingen in sein Zimmer und sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch neben dem Fenster und spannte ein weißes Blatt Papier in die Maschine. Martin Luther Kings Schrift war einfach zu lesen, selbst auf dem zerknitterten Toilettenpapier. Sie suchte nach dem Anfang des Briefes und legte los: »Meine lieben Amtsbrüder: Hier im Gefängnis von Birmingham kam mir Ihr Schreiben in die Hände, in dem Sie unsere Aktivitäten als ›unklug und zeitlich ungelegen‹ bezeichnen.« Im ersten Teil seines langen Briefes erklärte Martin Luther King den Kirchenmännern, warum er nach Birmingham gekommen war. Sie hatten ihm vorgeworfen, sich in die Angelegenheiten anderer Gemeinden einzumischen. »Ich kann nicht untätig in Atlanta herumsitzen ohne mich darum zu kümmern, was in Birmingham geschieht. Wenn irgendwo Unrecht geschieht, ist überall die Gerechtigkeit in Gefahr. Wer in den Vereinigten Staaten lebt, kann nirgendwo innerhalb seiner Grenzen als
Außenseiter angesehen werden.« Auf die Frage, ob Verhandlungen denn nicht besser gewesen wären, antwortete er: »Gerade das ist ja der Zweck unserer gewaltlosen Handlungsweise: Sie will eine Krise herbeiführen, um damit eine Stadt, die sich bisher hartnäckig gegen Verhandlungen gewehrt hat, zu zwingen, sich mit den Problemen zu beschäftigen.« Audrey merkte kaum, wie Edward das Zimmer verließ und mit Kaffee zurückkehrte. Er stellte ihr wortlos den Becher hin und ging wieder nach draußen. Sie war von den eindringlichen Worten des Pastors tief beeindruckt und ahnte schon beim Schreiben, dass dieser Brief aus dem Gefängnis von Birmingham eine große Wirkung haben würde. Vielleicht sind Worte doch stärker als Taten, überlegte sie. Besonders beeindruckt war sie von dem Satz: »Die Völker Asiens und Afrikas bewegen sich mit der Geschwindigkeit von Düsenjägern auf das Ziel politischer Unabhängigkeit zu, wir aber kriechen noch im Tempo eines Einspänners dahin, um eine Tasse Kaffee in einem Drugstore trinken zu dürfen.« Martin Luther King fuhr fort: »Sicherlich ist es für die Menschen, die den quälenden Stachel der Rassentrennung nie gespürt haben, sehr leicht, ›Warte!‹ zu sagen. Aber wenn Sie erlebt haben, wie der brutale Mob Ihre Väter und Mütter, Ihre Brüder und Schwestern nach Laune lyncht und ertränkt; wenn Sie gesehen haben, wie hasserfüllte Polizisten ungestraft Ihre schwarzen Brüder und Schwestern beschimpfen, mit Füßen treten, misshandeln und sogar umbringen; wenn Ihnen plötzlich die Zunge nicht mehr gehorcht und Sie bei dem Versuch, Ihrer sechsjährigen Tochter zu erklären, warum sie nicht in den Vergnügungspark gehen darf, für den gerade im Fernsehen geworben wurde, zu stammeln anfangen und Sie Tränen in ihren Augen aufsteigen sehen; wenn sie hört, dass farbige Kinder den Park nicht betreten dürfen; wenn Sie tagein,
tagaus durch die quälenden Schilder ›Nur für Weiße‹ und ›Nur für Schwarze‹ gedemütigt werden; wenn Sie immer wieder gegen das erniedrigende Gefühl ankämpfen müssen, ein Niemand zu sein – dann werden Sie verstehen, warum es uns so schwer fällt zu warten!« Auf vielen Seiten erklärte Martin Luther King den Geistlichen seine Motive. Auf den Vorwurf, ein Extremist zu sein, der auch zu äußersten Mitteln griff, um sein Ziel zu erreichen, antwortete er: »War nicht Jesus ein Extremist der Liebe? ›Liebet eure Feinde! Segnet die, die euch verfluchen! Tut wohl denen, die euch hassen!‹ War nicht Abraham Lincoln ein Extremist? »›Diese Nation kann nicht weiterleben – zur Hälfte Sklaven, zur Hälfte Freie!‹« Er beklagte sich über die Rolle der weißen und der schwarzen Kirche, weil sie ihn nicht unterstützte. »Um des Friedens und der Brüderlichkeit willen, Ihr Martin Luther King«, schloss er den Brief. Audrey lehnte sich zurück und trank von dem Kaffee, der inzwischen lauwarm geworden war. Sie las den Brief noch einmal durch und nickte zufrieden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte sie noch nicht, dass bereits einige Tage später über eine Million Menschen den Brief aus dem Gefängnis von Birmingham gelesen haben würden. Und dass eine Entscheidung dicht bevorstand.
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Am 20. April durften Martin Luther King und Ralph Abernathy das Gefängnis verlassen. Harry Belafonte hatte eine größere Geldsumme gesammelt, um die Anführer des Project C aus der Gefangenschaft zu befreien. Wyatt T. Walker holte die beiden Pastoren vom Gefängnis ab und brachte sie zum Gaston Motel, wo Audrey, Betty Ann, Edward und die Mitarbeiter der SCLC auf sie warteten. Sie sangen »We shall overcome« und klatschten rhythmisch, als die Pastoren eintraten. Fred Shuttlesworth, der während der letzten Tage stark abgenommen hatte, umarmte die Freunde und sagte: »Willkommen zu Hause!« Doch Martin Luther King wollte von einer Wiedersehensfeier nichts wissen. Er nahm ein paar Bissen von einem Sandwich, trank von dem Kaffee, den man ihm anbot, und war mit seinen Gedanken schon wieder bei Project C. Seine Vertrauten berichteten, was in der Zwischenzeit passiert war, und vergaßen nicht, den überwältigenden Erfolg seines Briefes aus dem Gefängnis von Birmingham zu erwähnen. Dann raffte King sich auf und sprach zu den Versammelten: »Meine Freunde, ich danke euch für die Unterstützung und die Gebete. Ich freue mich, wieder bei euch zu sein. Aber unser Kampf gegen die Unterdrückung ist noch nicht zu Ende! Obwohl die Medien von unseren Aktionen berichten und mein Brief in den größten Zeitungen des Landes zu lesen ist, sind wir keinen Schritt weitergekommen. Es wird Zeit, die Schüler auf die Straße zu schicken! Natürlich wird man uns deswegen kritisieren! Aber wir brauchen eine neue Dimension, wenn wir Erfolg haben wollen!«
Audrey gehörte zu den Mitarbeitern von Martin Luther King, die während der folgenden Tage in die Schulen gingen und die Kinder baten, ihr nach dem Unterricht in der Eingangshalle zuzuhören. Sie erzählte ihnen von dem kühnen Plan und war überrascht, mit welcher Begeisterung die Kinder bereit waren, an den Demonstrationen teilzunehmen. Sie betrachteten Project C als großes Abenteuer, sahen aber auch den ernsten Hintergrund und waren sich der Gefahr bewusst, in die sie sich begaben. »Wir wollen die gleichen Rechte wie die weißen Kinder haben«, rief ein Junge und ein Mädchen antwortete: »Ich will in den Vergnügungspark, ich will endlich in den Vergnügungspark!« Im Schulhof beobachtete Audrey, wie ein Vater eindringlich auf seinen Sohn einredete und ihm verbot, an den Friedensmärschen teilzunehmen. »Daddy«, antwortete der Junge, »ich will dir nicht widersprechen, aber ich habe einen Schwur geleistet. Wenn du mir Hausarrest gibst, klettere ich aus dem Fenster! Ich mache nicht nur mit, weil ich frei sein will. Ich will Freiheit für dich und Mama und ich will, dass ihr diese Freiheit erlebt, bevor ihr sterbt!« Die Mitarbeiter der SCLC brachten den Kindern bei, was gewaltloser Widerstand bedeutete, und man setzte den 2. Mai für den ersten Protestmarsch fest. »D-Day«, scherzte ein Lehrer, in Erinnerung an den legendären Tag, an dem die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs in Europa gelandet waren, und der Name prägte sich allen ein. Audrey und Betty Ann gehörten zu den Betreuern der vielen Kinder, die sich am Nachmittag des 2. Mai in der Sixteenth Street Baptist Church und in vielen anderen Kirchen des Schwarzenviertels versammelten. Sie redeten mit ihnen, machten ihnen Mut und stellten erstaunt fest, dass die Kinder keinen Zuspruch brauchten. Ihr jugendlicher Enthusiasmus nahm ihnen alle Angst. Sie waren bereit, für eine bessere Zukunft auf die Straße zu gehen und Schmerzen zu ertragen. »Nehmt euch ein
Beispiel an diesen Kindern!«, predigte Martin Luther King am selben Abend. »Ihre Herzen waren voller Fröhlichkeit, als sie von den Polizisten in die Lieferwagen gestoßen wurden! Habt ihr das Mädchen gesehen, sieben oder acht Jahre alt, das mit seiner Mutter marschierte? Ein Polizist beugte sich belustigt zu ihr herab und fragte mit vorgetäuschter Strenge: ›Was willst du?‹ Das Mädchen blickte ihn unerschrocken an und antwortete: ›Freiheit!‹ Selbst die Trompete des Erzengels Gabriel hätte in diesem Augenblick nicht lauter erklingen können!« Beinahe tausend Kinder wurden an diesem Tag mit Lieferwagen, Schulbussen und Streifenwagen in die Gefängnisse gebracht. Am nächsten Tag, einem Freitag, war eine neue Demonstration angesetzt und wieder kamen die Kinder in Scharen. Die Bewegung hatte alle Schwarzen ergriffen und selbst Audreys Vater räumte beim Frühstück ein, dass Martin Luther King mit seinen Protesten etwas bewegte: »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, unsere Kinder einer so großen Gefahr auszusetzen, aber er hat etwas mit seinem gewaltlosen Widerstand erreicht. Im Fernsehen kommt nichts anderes mehr. Eine Kundin hat mir gesagt, dass Birmingham auf der Titelseite der New York Times war! Heiliger Moses, vielleicht hat dieser Martin Luther King doch Recht!« »Danke, Daddy!« Audrey lächelte glücklich und drückte die Hand ihrer Mutter, als sie das Haus verließ. Sie fuhr zur Sixteenth Street Baptist Church und parkte hinter dem Gebäude. Sie betrat die Kirche durch den Hintereingang. In einem Nebenraum stand Betty Ann und rauchte nervös. Beide Mädchen hatten beschlossen, an diesem Tag selbst an dem Friedensmarsch teilzunehmen. »Da draußen wartet jemand auf dich«, meinte sie. »Edward?«, fragte Audrey erstaunt. Ihr Freund hatte während der Mittagspause in der Schule angerufen und ihr gesagt, dass
er die Kinder in einer anderen Kirche betreuen würde. »Hab keine Angst«, meinte er aufmunternd, »wir sind kurz vor dem Ziel!« Sie betrat die Kirche und blieb verwundert stehen. Im Mittelgang, nur ein paar Schritte vom Altar entfernt, wartete Jay-Jay. Er hielt seine neue Baseballkappe in einer Hand und grinste frech. »Hi, Audrey«, meinte er, »wie geht’s immer so? Ich hab gehört, ihr braucht Leute, die keine Angst haben! Nun, hier bin ich!« Er wurde ernst. »Ihr habt doch nichts dagegen, dass ich mitmache?« »Jungs wie dich können wir immer brauchen«, antwortete Audrey. Sie ging auf Jay-Jay zu und umarmte ihn erfreut. Ihm war offensichtlich nicht besonders wohl dabei. »Wo bist du die ganze Zeit gewesen, Jay-Jay? Ich dachte schon, du wärst nach Brooklyn zurückgegangen! Hier war so viel los, da hatten wir gar keine Zeit, nach dir zu suchen! Du hattest doch keinen Ärger mit dem Klan?« Er löste sich von ihr und fuhr sich mit der freien Hand durch die Haare. »Dann wär ich wohl kaum noch am Leben! Nee, ich kenn Verstecke, von denen hat der Klan noch nie was gehört! Und meine Stammkunden haben mich über Wasser gehalten.« Er deutete mit dem Daumen auf die vielen anderen Kinder, die sich in der Kirche versammelt hatten. »Ihr habt ordentlich was in Gang gebracht! Auf der Fourth Avenue sagen sie, dass die Kaufleute in der Innenstadt kurz davor sind, in die Knie zu gehen! Lange halten die nicht mehr durch, das ist mal sicher. Was läuft heute?« Audrey erklärte ihm, dass der Protestmarsch in die Innenstadt führen sollte und man es darauf anlegte, möglichst viele Kinder von der Polizei verhaften zu lassen. »Wenn kein Platz mehr in den Gefängnissen ist, muss irgendwas geschehen, sagt Dr. King.«
»Wenn er sich da mal nicht ins eigene Fleisch schneidet«, erwiderte Jay-Jay. »Ich hab die Cops belauscht. Die sind richtig sauer auf euch und wollen sogar auf Kinder einschlagen! Die Leute vom Rat Killer sagen, dass Bull Connor die Hunde von der Leine lassen will! Bull macht keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen! Der legt uns um, wenn es sein muss!« »Und du willst trotzdem mitmachen?« Er fand sein freches Grinsen wieder. »So schnell lass ich mich nicht unterkriegen! Wer soll die Kids denn bei Laune halten, wenn ich nicht dabei bin?« Er deutete auf einige Kinder. »Die kippen doch aus den Latschen, wenn sie in den Knast kommen!« »Du weißt, was dich erwartet?« »Vielleicht besser als ihr alle! Und es würde mich in den Fingern jucken, den verdammten Cops eine Bombe in den Wagen zu werfen!« Er lachte, als er Audreys erschrockene Miene sah. »Keine Angst, ich hab keine dabei! Auch keine Knarre und kein Messer! Ich hab den Brief gelesen, den Martin Luther King aus dem Knast geschrieben hat! Na ja, nicht alles, hab nur die Hälfte verstanden. Das Ding war in der Zeitung abgedruckt, mit der ich mich gestern Nacht zugedeckt hab. Ich will sehen, ob er Recht hat, verstehst du? Ich will dabei sein, wenn die Weißen in die Knie gehen! Vielleicht nehm ich dann sogar einen richtigen Job an. Wenn ich wirklich so viel Zaster bekomm wie die Weißen…« Audrey und Betty Ann marschierten in der ersten Reihe. Gleich dahinter gingen Jay-Jay und einige Jungen aus der Ullman High. »We shall all be free some day«, sangen die Kinder. Jay-Jay war der Einzige, der den Text von »We Shall Overcome« nicht auswendig kannte. Audrey drehte sich alle paar Meter nach dem Jungen um. Sein zuversichtliches Grinsen machte ihr Mut. Jay-Jay schien am wenigsten Angst
vor der Polizei zu haben, obwohl er am meisten zu befürchten hatte. Wenn einer der Polizisten mit dem Klan unter einer Decke steckte und ihn erkannte, war er in höchster Gefahr. Audrey wurde übel, als sie daran dachte, dass der Klan ihn erwischen könnte. Die Polizisten warteten zwischen der 18th und 19th Street und schon beim ersten Blick in ihre grimmigen Gesichter erkannte Audrey, dass es diesmal besonders schlimm werden würde. Die uniformierten Männer wirkten entschlossener als sonst und hatten Mühe, ihre Hunde unter Kontrolle zu halten. Die Schäferhunde zerrten wütend an den Leinen und zeigten ihre scharfen Zähne. Quer über der Straße parkte ein Spritzenwagen. Die Feuerwehrleute hielten den schweren Schlauch und schienen darauf zu warten, dass jemand »Wasser los!« brüllte. An der 19th Street standen einige Schaulustige. »Brennt es irgendwo?«, fragte eine ältere Dame verwundert. Ein junger Mann schüttelte den Kopf. »Wie im Krieg! Und ich dachte, die lassen nur noch Kinder marschieren!« »Verdammt, das wird ‘ne harte Sache!«, hörte Audrey die Stimme von Jay-Jay. »Ich hätt mir ‘nen Regenmantel klauen sollen!« Im gleichen Augenblick wurden Befehle gebrüllt und in der Innenstadt von Birmingham brach das Inferno los. Wütende Polizisten stürzten sich mit erhobenen Gummiknüppeln auf die Kinder und die Erwachsenen, die sich dem Protestzug angeschlossen hatten. Ein geifernder Hund riss sich von der Leine und fiel ein schreiendes Mädchen an. Jay-Jay versetzte dem Hund einen Fußtritt und schob das Kind in die Arme eines Erwachsenen. Aus einem Megafon tönte der blecherne Befehl »Wasser los!« und aus dem Schlauch schoss ein dichter Wasserstrahl, der sich wie ein mächtiges Schwert in die Masse der Demonstranten bohrte. Die Wucht des Wassers warf mehrere Kinder zu Boden, trieb sie wie Abfall über den
Asphalt und schleuderte sie gegen parkende Autos. Einigen Kindern riss der Wasserstrahl die Kleider vom Leib. »Zeigt es den verdammten Niggern!«, rief jemand. Der Refrain von »We Shall Overcome« erstarb in dem höllischen Lärm. Audrey stolperte und fiel zu Boden, riss sich das rechte Knie auf und wurde von dem Wasserstrahl getroffen. Sie wurde über die Straße gepeitscht, prallte gegen eine Hauswand und spürte, wie die Luft aus ihrem Körper gepresst wurde. Einen Augenblick war sie unfähig zu denken oder sich zu bewegen. Sie versank in tiefschwarzer Dunkelheit, hörte die Schreckensschreie der Kinder wie aus weiter Ferne. Dann wurde der Druck schwächer und sie öffnete die Augen. Ein paar Meter vor ihr lag Betty Ann. Sie klammerte sich mit beiden Händen an die Stoßstange eines Chevy und schien mit ihren Schreien das Tosen des Wassers und das Bellen der Hunde übertönen zu wollen. Der Wasserstrahl drückte eine Fensterscheibe des Wagens ein und wanderte weiter, ließ sie triefend und weinend auf der Straße zurück. Audrey kroch zu ihr und nahm sie in den Arm, strich ihr das Wasser aus dem Gesicht und sagte: »Du bist okay, Betty Ann!« In die Schreckensrufe der Kinder mischte sich das Heulen der Polizeisirenen. Audrey blickte auf und beobachtete, wie die ersten Kinder zu den Lieferwagen und Schulbussen gebracht wurden. Das entsetzte Gesicht eines jungen Mädchens brannte sich in ihr Gedächtnis. Sie stand offensichtlich unter Schock, sie konnte nicht weinen oder schreien und wurde von einem Polizisten in einen Schulbus gestoßen. »Bringt das verdammte Niggerpack zum Gefängnis!«, rief ein Sergeant. »Macht schon! Befehl von oben!« Aus der Gischt, die wie trüber Nebel über der Straße hing, torkelte Jay-Jay auf sie zu. Er schaffte es hinter den Chevy und hielt sich an einem Kotflügel fest. »So ‘ne Scheiße hab ich noch nie erlebt!«, stieß er keuchend hervor. Er drehte den Kopf
und sah Audrey und Betty Ann auf dem Boden sitzen. »He, seid ihr okay? Habt ihr gesehen, wie sie dem Mädchen die Kleider runtergerissen haben? Mann, wenn ich eine Knarre hätte, würde ich sie alle erschießen! Warum wehren wir uns nicht, verdammt? Die bringen uns alle um!« Der Wasserstrahl trommelte erneut auf den Chevy und er ging blitzschnell hinter dem Wagen in Deckung. Als er den Kopf hob, sah er zwei Gespenster aus dem Wassernebel auftauchen. Zwei dunkle Gestalten, die aufgeregt auf die beiden Mädchen deuteten. Steve Goblett und Duncan Mills! Sie scherten sich einen Teufel um die Anordnung des Klan, sich vorerst aus dem Kampf herauszuhalten, und waren begierig darauf, sich an den »verdammten Niggern« zu rächen. »Siehst du die Schlampe?«, rief Duncan Mills in den Lärm. »Die schickt uns der Himmel, Mann! Diesmal machen wir sie fertig!« Jay-Jay reagierte blitzschnell. Er rannte zu den beiden Mädchen und zog sie vom Boden hoch. »Schnell! Weg hier!«, rief er ihnen zu. »Da kommen die beiden Typen, die dich umbringen wollten!« Audrey drehte sich um und sah die hassverzerrten Gesichter der jungen Klansmänner. Sie kamen über die Straße gerannt, waren keine zwanzig Meter von ihnen entfernt. Vor lauter Entsetzen war sie unfähig sich zu bewegen. Diesmal haben sie mich, schoss es ihr durch den Kopf, die Mistkerle bringen mich um! Ausgerechnet ein Wasserstrahl des Birmingham Fire Department rettete ihr das Leben. Er fegte wie ein Irrwisch über die Seventh Avenue und riss Steve Goblett und Duncan Mills von den Beinen. Fluchend landeten sie zwischen den schreienden Kindern. »Worauf wartet ihr noch, verdammt?«, schrie Jay-Jay die Mädchen an. »Wo hast du den Plymouth
stehen, Audrey? Du hast den Wagen doch dabei, oder? Mach schon, wir schaffen es!« Zu dritt flohen sie vor den wütenden Klansmännern. Der Wasserstrahl hatte sie hart getroffen und bei jedem Schritt verspürten sie brennende Schmerzen. Zum Glück war keiner von ihnen ernsthaft verletzt. Außer ein paar blutigen Schrammen und der Übelkeit, die der Wasserstrahl hinterlassen hatte, war ihnen nichts passiert. Sie rannten zur Sixth Avenue und in den Kelly Ingram Park und blieben erschöpft neben einem Baum stehen. Als sie sich umdrehten, waren die Klansmänner nicht mehr zu sehen. »Wo sind die Scheißkerle?«, rief Jay-Jay verwundert. Er atmete schwer und hielt sich seinen rechten Oberschenkel. Der Wasserstrahl hatte ihn härter getroffen, als er angenommen hatte. »Verdammt, die Typen haben sich doch nicht in Luft aufgelöst?« »Wir haben sie abgehängt«, hoffte Betty Ann. »Das glaubst du doch selbst nicht«, meinte Audrey. Jay-Jay deutete zur 17th Street. »Da sind sie! Sie haben den Pick-up geholt!« Sie rannten weiter. »Der Wagen, Audrey! Wo steht dein Wagen? Wenn wir den nicht erreichen, sind wir geliefert!« »Hinter der Kirche!«, keuchte Audrey. Sie stürmten auf die andere Seite des Parks, zur l6th Street, und blieben unschlüssig am Straßenrand stehen. Jay-Jay deutete auf eine Lücke zwischen den Häusern. »Da durch! Da gibt’s einen Hinterhof! Da können wir uns verstecken!« Die Mädchen folgten Jay-Jay durch den schmalen Gang und erreichten einen schmutzigen Abstellplatz voller Abfall. Neben der Tonne, die hoffnungslos überfüllt war, lag eine verrostete Nähmaschine. Eine Ratte verschwand unter einem Gestrüpp. Ein baufälliger Holzzaun trennte den Abstellplatz von der Straße.
»Hier sind wir sicher!«, glaubte Jay-Jay. Doch kaum waren sie wieder zu Atem gekommen, hielt der weiße Pick-up mit quietschenden Bremsen vor dem Haus und sie waren gezwungen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Jay-Jay trat den Holzzaun ein und sie flohen in panischer Angst auf die Sixth Avenue. In Windeseile rannten sie zu dem Wagen. Audrey sperrte mit zitternden Händen die Fahrertür auf und sie saßen in dem Plymouth und verriegelten die Türen, noch bevor Steve Goblett und Duncan Mills sie entdeckt hatten. Audrey versuchte mehrmals die Zündung anzuwerfen, verzweifelte fast, als der Motor nicht ansprang, und ließ ihn laut aufheulen, als er endlich reagierte. Sie drückte den Schalthebel nach oben und gab Gas. Der Wagen schoss nach vorn und streifte den Bordstein. Sie ließ ihn auf die Sixth Avenue schlittern ohne das Gas wegzunehmen und hätte beinahe einen weißhaarigen Mann über den Haufen gefahren, der mit zwei Taschen beladen über die Straße schlich. Mit schweißnassem Gesicht fuhr sie weiter. Als sie in den Rückspiegel blickte, sah sie den weißen Pick-up. »Jetzt haben sie uns!«, stöhnte sie.
26
Von panischer Angst getrieben, lenkte Audrey den Wagen aus der Stadt hinaus. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen umklammert und trat das Gaspedal voll durch. Aus ihren Haaren triefte das Wasser. Neben ihr saß Betty Ann und hielt sich am Armaturenbrett fest. Auf der Rückbank kauerte JayJay, die nasse Mütze in der Stirn. Wie er es geschafft hatte, sie in dem Chaos nicht zu verlieren, wusste er selbst nicht. Sie waren erschöpft und die Mädchen litten unter den Nachwirkungen der wuchtigen Schläge, die sie von dem Wasserstrahl abbekommen hatten. Betty Ann rang keuchend nach Luft und beruhigte sich nur langsam. Audrey hatte das Gefühl, einen schweren Faustschlag in die Magengrube bekommen zu haben. Sie war nahe daran, sich zu übergeben. Jay-Jay rief: »Schneller, Audrey! Fahr schneller! Die Scheißkerle sind dicht hinter uns!« Der weiße Pick-up nahm fast den ganzen Rückspiegel ein. Wie ein wildes Tier, das eine wehrlose Beute verfolgte, hing er hinter dem Plymouth. Audrey schnitt die Kurven ohne auf den Gegenverkehr zu achten, ging selbst an einer belebten Kreuzung nicht vom Gas. Ein Radfahrer stürzte vor Schreck zu Boden, ein Fußgänger schüttelte drohend die Faust und der Fahrer eines Lieferwagens konnte gerade noch rechtzeitig bremsen. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen. Die meisten Polizisten waren zu den Demonstrationen in der Innenstadt beordert worden und so gab es niemanden, der sie aufhalten konnte. Aus der Second Avenue tauchte ein Bus auf und Audrey riss mit aller Kraft das Steuer nach links. Der Plymouth geriet ins
Schleudern und legte sich bedrohlich auf die Seite. Der Busfahrer trat auf die Bremse und hupte laut. Audrey schaffte es, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, und bog auf den Highway nach Montgomery ab. Auf ihrer Stirn glänzte der Schweiß. Ein rascher Blick in den Rückspiegel verriet ihr, dass Steve Goblett und Duncan Mills noch hinter ihnen waren. »Die geben nicht auf, Audrey!«, rief Jay-Jay. Er starrte durch das Rückfenster und glaubte zu sehen, wie einer der beiden Klansmänner nach einer Schrotflinte griff. »Die wollen auf uns schießen! Wir müssen sie abhängen!« »Schneller geht’s nicht, verdammt! Der Wagen ist zu langsam!« Audrey saß nach vorn gebeugt hinter dem Steuer, als könnte sie den Wagen durch ihre Haltung beschleunigen, und raste an einigen verfallenen Häusern vorbei. Ihr Blick ging zu Betty Ann, die zitternd auf dem Beifahrersitz kauerte und zum ersten Mal richtige Angst zu haben schien. Im Innenspiegel waren die geweiteten Augen von Jay-Jay zu sehen. »Wir müssen es schaffen!«, stieß sie hervor. »Die Klansmänner dürfen nicht gewinnen!« Die Sorge um Betty Ann und Jay-Jay verlieh Audrey neue Kraft. Mit der linken Hand wischte sie sich den Schweiß vom Gesicht. Im Seitenspiegel tanzte der weiße Pick-up. Sie würde sich von diesen Klansmännern nicht wie ein wehrloses Kalb zur Schlachtbank führen lassen! Sie würde kämpfen! Vielleicht gelang es Betty Ann und Jay-Jay, in den Wald zu fliehen, wenn sie anhielt und auf ihre Verfolger losging! In diesem Augenblick hatte sie keine Angst vor dem Tod. Die Sorge um ihre Freundin und den Jungen war größer als alle Furcht. Einen Augenblick dachte sie an die Worte ihres Vaters, der sie eindringlich davor gewarnt hatte, sich mit dem Ku-Klux-Klan einzulassen. Etwas Schweres schlug gegen ihren Wagen. »Sie rammen uns!«, rief Jay-Jay von der Rückbank. Sie blickte in den
Spiegel und sah, wie der Kleinlaster immer näher kam und mit voller Wucht gegen ihre Stoßstange prallte. Der Plymouth wurde nach vorn geschleudert. Sie behielt die Kontrolle über ihren Wagen und drückte noch fester auf den Gashebel. »Der Pick-up ist stärker!«, sagte sie mehr zu sich selbst. »Gleich überholen sie uns!« Sie blickte nach vorn, zermarterte sich das Hirn nach einem Ausweg. Eine halbe Meile vor ihr wand sich der Highway in zahlreichen Kurven zum Red Mountain hoch und verschwand zwischen den Bäumen. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, den Verfolgern zu entkommen, dann in dem Wäldchen. Vielleicht gelang es ihr, den Wagen auf einen Waldweg zu steuern und einen kleinen Vorsprung zu gewinnen. Dann konnten sie sich im Unterholz verstecken oder sie konnte die Klansmänner ablenken und Betty Ann und Jay-Jay die Flucht ermöglichen. »Haltet euch gut fest!«, rief sie ihnen zu, als sie den Wald erreichten. Sie drehte das Steuer nach rechts, schlitterte mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen in einen schmalen Waldweg und brachte den Wagen auf der zerfurchten Piste in die Spur. Ihr Manöver kam so plötzlich, dass die Verfolger an der Abzweigung vorbeifuhren und mitten auf dem Highway wenden mussten, um dem Plymouth folgen zu können. Aber das sah Audrey nicht. Ihr Wagen war in eine dichte Staubwolke gehüllt und sie hoffte, dadurch etwas Abstand zu ihren Verfolgern zu gewinnen. »Kennst du dich hier aus, Betty Ann?«, rief sie ihrer Freundin zu. Die schüttelte nur den Kopf, stützte sich mit beiden Händen am Armaturenbrett ab und schrie schmerzerfüllt auf, als der Plymouth über einige Steine polterte und sie nach vorn geschleudert wurde. »Bist du okay?«, rief Audrey ängstlich und Betty Ann nickte. Plötzlich war der Wald zu Ende. Audrey erkannte beinahe zu spät, dass der Weg scharf nach rechts abbog. Sie trat heftig auf
die Bremse. Der Plymouth pflügte durch das Unterholz, prallte gegen einen Baum, drehte sich einmal um die eigene Achse und blieb mit qualmenden Bremsen im Gestrüpp stehen. Audrey sank über dem Lenkrad zusammen und weinte leise. Betty Ann stöhnte vor Schmerzen. »Verdammt! Ich hab was abbekommen!«, fluchte Jay-Jay. Er griff sich an die blutende Stirn. Eine gewaltige Staubwolke zog durch den Wald und legte sich über den Wagen. Obwohl alle Fenster geschlossen waren, drang Staub in den Innenraum und brachte Audrey, Betty Ann und Jay-Jay zum Husten. Den weißen Pick-up sahen sie kaum. Wie ein dunkler Schatten röhrte er durch den Staub und in die felsige Schlucht, die sich unterhalb der scharfen Kurve auftat. Steve Goblett war viel zu überrascht um zu schreien. Duncan Mills ließ die Schrotflinte fallen und starrte in den Abgrund, der mit rasender Geschwindigkeit näher kam. Der Pick-up prallte gegen einen Felsvorsprung, knallte mit voller Wucht auf dem felsigen Grund auf und explodierte in einer gewaltigen Feuerwolke. Die Klansmänner waren längst tot, als die Flammen aufloderten und ihren Wagen verschlangen. Audrey, Betty Ann und Jay-Jay traten an den Rand der Schlucht und blickten benommen in die Tiefe. Sie fühlten kein Mitleid mit den Toten, aber auch keinen Triumph über ihr unfreiwilliges Manöver und ihren Sieg. Gott hatte die jungen Klansmänner gerichtet. Er hatte ihr Lenkrad geführt, als sie in den Waldweg abgebogen waren. »Gegen die beiden hätte auch Martin Luther King keine Chance gehabt«, sagte Betty Ann heiser, »die hätten sich niemals bekehren lassen! Deshalb hat Gott sie in den Tod getrieben!« Jay-Jay presste ein Taschentuch auf seine Wunde. »Was machen wir jetzt?«, fragte er. »Die sperren uns in die Todeszelle, wenn sie rausbekommen, dass wir dabei waren!
Die drehen die Sache so, dass wir schuldig sind! Die machen uns fertig, Mann!« »Zuerst bringen wir dich zu Doc Snyder«, sagte Audrey, die sich erstaunlich schnell von ihrem Schrecken erholt hatte. »Er soll deine Wunde nähen.« Sie deutete auf seine blutige Stirn. »Ist sicher nur eine Platzwunde, aber sicher ist sicher. Und dann liefere ich dich höchstpersönlich bei deiner Tante ab! Solange die Friedensmärsche laufen, bist du bei ihr am sichersten! Wenn du ihr nicht auf die Nerven gehst, wird sie dich wie einen erwachsenen Menschen behandeln, das hat sie mir hoch und heilig versprochen!« »Na toll«, meinte Jay-Jay, der sich immer wieder nach vorn beugte und in die Schlucht hinabblickte. Aus dem Wrack des Pick-ups stieg dunkler Qualm. »Tante Amanda, die fehlte mir noch! Ich hab keine Lust, auf dieser verdammten Farm zu versauern!« »Ist doch nur für ein paar Wochen«, redete Audrey auf ihn ein. »Sobald die Protestmärsche vorüber sind, kannst du machen, was du willst! Dann ist die Polizei vielleicht auf unserer Seite. Die Cahaba Boys sind immer noch hinter dir her, vergiss das nicht!« Jay-Jay kehrte langsam zum Wagen zurück. »Meinetwegen. Die letzten Tage waren wirklich ein bisschen stressig. Aber nur, wenn sie mich in Ruhe lässt!« Er blieb vor dem zerbeulten Wagen stehen. »Und was ist, wenn wir hier nicht rauskommen?« Doch der Plymouth lief noch und es bereitete Audrey kaum Schwierigkeiten, ihn auf den Waldweg zurückzulenken. Außer ein paar Dellen hatte er nichts abbekommen. Sie fuhr nach Birmingham zurück und lieferte Jay-Jay bei Doc Snyder ab. Der Arzt verzog mürrisch das Gesicht, als er den Jungen erblickte, und stöhnte: »Jay-Jay! Bist du unter eine Dampfwalze gekommen?«
»Wir waren in der Stadt dabei«, antwortete Audrey. Sie hütete sich von der Verfolgungsjagd im Wald zu erzählen und hatte auch Betty Ann und Jay-Jay eingeschärft, darüber zu schweigen. Sie blickte an sich herunter. »Deshalb sehen wir so furchtbar aus! Sie haben das Wasser aufgedreht und die Hunde losgelassen! Wir haben noch Glück gehabt!« Sie deutete auf den Jungen, der inzwischen auf einem Stuhl saß und die Untersuchung des Arztes widerwillig über sich ergehen ließ. »Ist es schlimm?« »Eine Platzwunde«, bestätigte Doc Snyder. »Aber es könnte sein, dass er eine leichte Gehirnerschütterung hat. Ich behalte ihn besser eine Nacht hier.« Er grinste in sich hinein, während er nach einem Pflaster suchte. »Noch mal wird die Polizei nicht kommen! Die hat jetzt bestimmt andere Sorgen!« Er lächelte. »Morgen Mittag kannst du ihn abholen! Ich hänge seine Kleider auf die Leine, solange er hier ist.« Er schickte den Jungen ins Bad. »Ich hab von der Brandbombe gehört. Alles wieder okay?« Audrey nickte. »Das haben wir Martin Luther King zu verdanken. Die SCLC hat die Kosten übernommen.« Sie ging mit Betty Ann zur Tür. »Aber wenn wir nicht bald nach Hause fahren und uns waschen und frische Kleider anziehen, holen wir uns eine schwere Erkältung und wir müssen alle bei Ihnen bleiben!« Die Mädchen verabschiedeten sich von Jay-Jay und fuhren zu Audrey nach Hause. Nach einer heißen Dusche ging es ihnen besser. Audrey versicherte ihren Eltern, dass nichts passiert war, und war froh, als sie nicht weiter nachfragten. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn ihr Vater von der Verfolgungsjagd erfuhr. Sie lieh ihrer Freundin frische Unterwäsche und einen Overall und schlüpfte in einen bequemen Trainingsanzug. Nachdem sie heißen Tee getrunken
und noch einmal über alles geredet hatten, brachte sie den Wagen zur Tankstelle und spritzte ihn mit dem Schlauch ab. »Bist du über einen Acker gefahren?«, fragte Alberta verwundert, als sie den schmutzigen Wagen sah. Sie strich mit der flachen Hand über das eingedrückte Blech. »He, du hattest einen Unfall!« »Nichts Ernstes«, wiegelte Audrey ab. Sie bemühte sich um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck. »Ich bin den Bordstein hoch und hab eine halbe Mauer mitgenommen, weiter nichts!« Sie lachte. »Kein Wort! Sonst regt sich Dad nur auf! Wenn du so ‘ne gute Mechanikerin bist, wie du immer tust, kannst du das Blech ja ausbeulen. Ich spendier dir ‘nen Cheeseburger dafür!« »Mit doppelt Käse, sonst geht gar nichts«, erwiderte Alberta. »Vielfraß«, meinte Audrey. Noch am selben Abend berichtete sie Edward von der Verfolgungsjagd. Als sie beschrieb, wie der Pick-up durch den Staub gebraust und in den Abgrund gestürzt war, und als sie stammelnd davon erzählte, wie ein riesiger Flammenpilz aus dem Wagen geschossen und die halbe Schlucht ausgefüllt hatte, wurde ihr die ganze Tragweite des Unfalls bewusst. »Oh, Edward, es war so furchtbar!« Sie schmiegte sich in seine Arme und weinte lange. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Sie sind tot, Edward! Ich hab ihnen alles Schlechte gewünscht, aber ich wollte doch nicht… sie sind nur in die Schlucht gestürzt, weil wir so viel Staub aufgewirbelt hatten!« »Und wenn das nicht passiert wäre, hätten sie euch umgebracht! Ihr braucht euch nichts vorzuwerfen, Audrey! Steve Goblett und Duncan Mills waren dafür bekannt, dass sie betrunken durch die Gegend fuhren. Denen weint keiner eine Träne nach!«
So war es tatsächlich. Die Birmingham News vom nächsten Morgen berichteten unter der Überschrift »Betrunken in den Tod« über den Unfall und neben den High-School-Fotos der jungen Klansmänner stand, dass man Steve Goblett und Duncan Mills am Morgen in einer Bar gesehen hatte. Die Polizei verzichtete darauf, den tragischen Unfall genauer zu untersuchen, und auch sonst schien der Tod der jungen Männer auf geringes Interesse zu stoßen. Steve Goblett hatte seine Eltern schon früh verloren und die Eltern von Duncan Mills wohnten in Los Angeles und kamen nicht mal zur Beerdigung nach Birmingham. »Na siehst du«, meinte Edward, »dir passiert nichts!« Audrey blieb den ganzen Samstag zu Hause. Edward hatte ihr empfohlen, sich von den Strapazen des vergangenen Tages zu erholen und sich von den Demonstrationen fernzuhalten. »Das gilt auch für Betty Ann!«, betonte er. »Ihr habt eine Menge durchgemacht und ich will nicht, dass ihr euch in Gefahr begebt! Bleibt zu Hause und ruht euch aus!« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es sieht nicht schlecht aus, Audrey! Ich darf es eigentlich gar nicht sagen, aber heute Nachmittag treffen sich Martin Luther King und Ralph Abernathy mit den weißen Geschäftsleuten! Scheint so, als würden sie endlich nachgeben! Unsere Proteste zeigen Wirkung, und dass kaum noch jemand bei ihnen einkauft, macht ihnen schwer zu schaffen. Wenn wir Glück haben, kommt endlich was in Gang! Die Bilder von unseren Protesten sind um die Welt gegangen und die Stimmung in der Bevölkerung hat sich gewandelt. Sogar die meisten Weißen sind jetzt dafür, dass sich was ändert! Präsident Kennedy will in seiner nächsten Pressekonferenz darüber sprechen! We shall overcome, Audrey! Wir werden es schaffen!« Doch die Demonstrationen am Samstagnachmittag schienen das Gegenteil zu beweisen. Bull Connor gab nicht auf und
kümmerte sich nicht um die öffentliche Meinung, die ihm immer kritischer gegenüberstand. Er ließ einen Panzerwagen gegen die Demonstranten vorrücken und wies die Feuerwehr an, den Wasserstrahl so scharf einzustellen, dass er die Rinde von den Bäumen riss. Fred Shuttlesworth, der an diesem Tag bei den Marschierern war, wurde ernsthaft verletzt und mit der Ambulanz ins Krankenhaus gebracht. »Mir wäre es lieber gewesen, ein Leichenwagen hätte ihn geholt!«, sagte Bull Connor öffentlich. Nach dem Mittagessen wollte Audrey bei Jay-Jay vorbeigehen, aber noch bevor Doc Snyder die Tür öffnete, wusste sie, wie er sie empfangen würde: »Hallo, Audrey, JayJay ist gegangen. Er hat mir gesagt, dass er es sich anders überlegt hätte. Er würde es keine zwei Tage bei seiner Tante aushalten. Du bräuchtest dir aber keine Sorgen zu machen, er käme schon zurecht. Seltsamer Junge, dieser Jay-Jay!« Sie zog unverrichteter Dinge wieder ab und rief Betty Ann an, um ihr vom Verschwinden des Jungen zu berichten. »Das hab ich mir gedacht«, sagte Betty Ann. »Er ist nicht der Typ, der bei seiner Tante auf einer Farm lebt. Den bringst du nie von der Straße weg! Vielleicht später mal, wenn er älter ist. He, gehst du morgen wieder mit? Morgen ist ganz wichtig!« Gleich nach der Kirche beteiligten Audrey und Betty Ann sich an einem Protestmarsch, bei dem ein Sieg gegen das Böse im Menschen errungen wurde, der alle Beteiligten zum Strahlen brachte. Ein kleiner Teilerfolg nur, aber genug, um alle Beteiligten zum Strahlen zu bringen. Auch Edward war diesmal dabei. Reverend Charles Billups führte den Marsch an. Sie gingen von der New Pilgrim Baptist Church zum Birmingham City Jail, wo sie für die eingesperrten Schwarzen beten wollten. Die Marschierer sangen »We shall overcome« und waren bereit, die Schmerzen zu ertragen, als sie die Polizisten mit den Hunden und die Feuerwehrleute mit den
Wasserschläuchen vor dem Gefängnis sahen. Bull Connor stoppte den Marsch und sagte zu dem Reverend: »Kehrt um, ihr verdammten Nigger!« Charles Billups weigerte sich und kniete nieder um zu beten. Audrey und Betty Ann, die in der ersten Reihe marschiert waren, taten es ihm nach. »Stellt das Wasser an, verdammt!«, befahl der Polizeichef und Audrey schloss die Augen, stellte sich mit ihrem Körper und ihrer Seele gegen die Polizei. Doch nichts geschah. Weder die Polizisten noch die Feuerwehrleute gehorchten dem Befehl des Polizeichefs. Sie blieben regungslos stehen, die Schlagstöcke nach unten gerichtet und die schlaffen Wasserschläuche in den Händen, als wären sie hypnotisiert. »Ihr sollt das verdammte Wasser aufdrehen, verdammt! Vorwärts!« Noch immer regte sich keine Hand. Audrey stand auf, zog Betty Ann mit nach oben und ging langsam weiter. Edward und die anderen Schwarzen folgten ihnen. Leise singend marschierten sie an den Polizisten und Feuerwehrleuten vorbei, ohne dass diese eingriffen. Bull Connor war unfähig, irgendetwas gegen die Befehlsverweigerung seiner Männer zu tun, gab schließlich auf und verkroch sich fluchend in seinen Wagen. Die Schwarzen knieten vor dem Gefängnis nieder und beteten für die Gefangenen. »Du hast uns den Weg gewiesen, Herr«, bedankte sich Billups bei Gott, »du hast diesen Männern gezeigt, dass die Macht der Liebe stärker sein kann als aller Hass. Dafür danken wir dir!« »Amen!«, erwiderte Audrey. Sie schloss die Augen und diesmal waren es Tränen des Glücks, die über ihre Wangen liefen.
27
Edward wartete auf dem Parkplatz, als Audrey am Freitag, dem 10. Mai 1963, die Schule verließ. Er lehnte an seinem Cadillac und strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben es geschafft, Audrey!«, verkündete er feierlich, »die Geschäftsleute haben nachgegeben! Unser Protest war nicht umsonst!« Sie ließ ihren Plymouth stehen, stieg zu ihm in den Wagen und hörte staunend zu, als er die Zusagen der weißen Geschäftsleute von Birmingham aufzählte: 1. Innerhalb von neunzig Tagen würde es an den Imbisstheken, in Toiletten, Ankleidekabinen und an Trinkbrunnen keine Rassentrennung mehr geben, die Schilder »Nur für Weiße« und »Nur für Farbige« würde man abmontieren. 2. Innerhalb von sechzig Tagen würden Schwarze auch in den Berufszweigen zugelassen, die ihnen bisher verschlossen waren. 3. Die Gerichte würden mit den Rechtsanwälten der Bürgerrechtsbewegung zusammenarbeiten und sich bemühen, alle inhaftierten Schwarzen gegen eine Bürgschaft oder Kaution freizulassen. 4. Innerhalb von zwei Wochen würden sich Schwarze und Weiße an einen Tisch setzen um Vereinbarungen zu treffen, die weitere Demonstrationen und Protestmärsche verhindern sollten. »Jetzt gehen unsere Träume endlich in Erfüllung, Audrey!« »Und du meinst, die Weißen halten sich daran?«, erwiderte sie misstrauisch. »Der Klan lässt sich das bestimmt nicht gefallen!« Edward küsste sie sanft. »Es ist ein erster Schritt, Audrey! Präsident Kennedy hat versprochen, so schnell wie möglich eine Gesetzesvorlage in den Kongress einzubringen! Selbst
wenn es Rückschläge gibt… jetzt ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten! Du wirst sehen, in drei Jahren gibt es den Klan nicht mehr!« »Das wäre schön«, meinte sie hoffnungsvoll. Sie griff nach seiner Hand und erschauderte, als sie an die Klansmänner und das brennende Kreuz auf der Thompson-Farm dachte. Wenn es den Klan nicht mehr gab, brauchte Jay-Jay sich nicht mehr zu verstecken und die Thorntons konnten nach Birmingham zurückkehren. Cynthia würde sich bestimmt freuen, wenn Sarah Lee wieder zu ihr in die Klasse kam. »Ich bin froh, dass wir auf die Straße gegangen sind, Edward!«, sagte sie. »Ohne Martin Luther King wäre hier alles noch wie früher und ich würde Betty Ann auslachen, weil sie für die SCLC arbeiten will!« »Du hast viel für unsere Bewegung getan«, lobte Edward. »Du hast dein Leben riskiert um Jay-Jay zu retten! Du hast dich gegen deinen Vater gestellt um unseren Zielen zu dienen! Dafür sind dir viele Schwarze dankbar! Wir alle wissen, dass du dir Vorwürfe machst, weil Steve Goblett und Duncan Mills auf so grausame Weise in den Tod gestürzt sind, aber du konntest nichts dafür! Gott hat sich diese Strafe für die beiden Verbrecher ausgedacht!« Audrey blickte aus dem Fenster. Cynthia Wesley ging an ihrem Wagen vorbei, die grüne Schleife im Haar, und hielt lachend ihren Saxofonkoffer hoch. Sie spielte seit einigen Monaten im Schulorchester. Zwei Jungen streckten dem Mädchen die Zunge raus. Ein Lehrer stieg in seinen Wagen und fuhr vom Parkplatz. »Sie wollten mich umbringen!«, sagte Audrey. »Sie hatten den Tod verdient! Aber ich wollte nicht, dass sie auf diese Weise sterben. Meinst du wirklich, Gott hat sie in die Schlucht gelockt?«
»Ich weiß es nicht«, meinte Edward ehrlich. Er lenkte den Wagen vom Schulgelände und fuhr nach Süden. »Warum hat er zugelassen, dass der Klan so viele Menschen auf grausame Weise quält und umbringt? Warum hat er den Menschen unterschiedliche Hautfarben gegeben? Warum lässt er zu, dass wir Kriege führen? Wer kann schon sagen, dass er Gott versteht.« »Er hat dich und mich beschützt! Er hat über meinen Vater gewacht, als der Brandsatz explodierte! Er hat auf Jay-Jay aufgepasst! Manchmal hat er ein Einsehen mit uns Menschen, glaubst du nicht auch? Er hat dafür gesorgt, dass Martin Luther King in unserer Stadt erfolgreich war! Dafür bin ich ihm dankbar.« An diesem Abend trafen sich Audrey und Edward mit allen Teilnehmern an Project C zu einem Dankgottesdienst in der Sixteenth Street Baptist Church. Martin Luther King dankte Gott für seine Hilfe und ermahnte die Schwarzen, wachsam zu bleiben und über den Frieden zu wachen. Nach einem Gebet, das die Gemeinde mit einem vielstimmigen »Amen!« beantwortete, sangen sie gemeinsam »We shall overcome« und umarmten einander, glücklich darüber, die schwere Zeit der Protestaktionen und Friedensmärsche unbeschadet überstanden zu haben. Doch schon am nächsten Tag wurde deutlich, dass der Kampf um die Gleichberechtigung noch nicht vorüber war. Audrey und Edward kamen von einer Spazierfahrt und wollten gerade in die 15th Street abbiegen, als eine gewaltige Explosion das Gaston Motel erschütterte. Edward fuhr an den Straßenrand und sie sprangen aus dem Wagen. Noch bevor sie das Motel erreicht hatten, waren die Sirenen der Polizei und der Feuerwehr zu hören. »Was ist passiert?«, fragte Edward den verstörten Hausmeister, der mit rußgeschwärztem Gesicht aus dem Büro kam.
»Eine Bombe… in Zimmer 30…«, stammelte er. »Zum Glück war niemand drin. Dr. King… ist nach Atlanta geflogen und… und Mr. Abernathy und Mr. Walker… sind heute Nachmittag abgefahren…« »Der Klan«, sagte Edward, als der Hausmeister im Coffee Shop verschwunden war. »Sie wollten Martin Luther King umbringen!« Er griff nach Audreys Hand. »Ich bring dich besser nach Hause!« Audrey war einverstanden und verabschiedete sich mit einer flüchtigen Umarmung von ihm, als sie vor dem Laden ihrer Eltern hielten. Sie ging nach oben, ohne sich bei ihren Eltern zurückzumelden, und verbrachte die halbe Nacht am offenen Küchenfenster. Auch ohne auf der Straße zu sein ahnte sie, was in der Stadt passierte. Die Schwarzen rebellierten! Schwarze Jugendliche warfen Steine auf Polizeiwagen, legten Feuer und fingen Schlägereien mit den Weißen an. So war es am Montag in der Zeitung zu lesen. Aber dort stand auch, was Präsident Kennedy in seiner Pressekonferenz gesagt hatte: »Ich werde nicht zulassen, dass es zum Ausbruch von Gewalttätigkeiten kommt!« Noch am Samstag beorderte er dreitausend Soldaten nach Birmingham und drohte an, die Nationalgarde von Alabama unter Bundeskontrolle zu bringen. Die radikalen Maßnahmen brachten sogar den Ku-Klux-Klan zum Schweigen, der ebenfalls am Samstag in Bessemer getagt und sich mit flammenden Reden gegen die Abmachungen zwischen weißen Geschäftsleuten und schwarzen Bürgerrechtlern gewandt hatte. »Wenn ihr heute Abend nach Hause fahrt«, hatte der Sprecher der Eastview Klavern seine Leute verabschiedet, »fahrt vorsichtig, aber fahrt jeden Nigger tot, dem ihr begegnet!« Einige Tage später zog Ruhe in Birmingham ein. Die Behörden zwangen Eugene Bull Connor von seinem Posten zurückzutreten und selbst der erzkonservative Gouverneur
Wallace verkniff sich seine Hassreden. Präsident Kennedy hatte die Unbelehrbaren unter den Weißen mundtot gemacht. Martin Luther King und seine Leute räumten endgültig das Feld und auch Audrey und Edward waren gezwungen, noch einmal Abschied zu nehmen. »Es ist nur für ein paar Monate«, versprach Edward. Sie lagen angezogen auf seinem Bett und blickten einander zärtlich an. »Sobald Dr. King mich nicht mehr braucht und ich eine Anstellung als Pastor habe, heiraten wir.« Er küsste sie auf die Nase und lächelte. »Vorausgesetzt, deine Eltern sind einverstanden!« »Dad hat nichts gegen dich«, erwiderte sie. »Neulich hat er sogar zugegeben, dass es richtig war, auf die Straße zu gehen. Nun ja, nicht direkt zugegeben, aber er hat gesagt, dass wir einiges in Birmingham bewirkt und die Schwarzen jetzt mehr Rechte hätten. Er hat sogar versprochen zur Wahl zu gehen! Kennedy ist ein guter Mann, hat er gesagt, der tut was für uns Schwarze! So was hätte er vor ein paar Wochen nie gesagt!« Edward strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Meine Eltern lieben dich! Ich hab ihnen so viel von dir erzählt, dass sie es gar nicht erwarten können, dich endlich kennen zu lernen!« »Werden wir nach Chicago gehen?«, fragte sie. Er zuckte die Achseln. »Wohin die Kirche mich schickt. Chicago, Washington, Atlanta, vielleicht auch Detroit oder Kansas City. Oder hast du Angst, irgendwo in der Fremde mit mir anzufangen?« »Ich geh überallhin«, antwortete sie. »Außer nach Alaska!« Edward verließ die Stadt am nächsten Morgen und in Audreys Leben kehrte der Alltag wieder ein. Ungeduldig wartete sie in jeder Mittagspause auf den Anruf von Edward, der sich mit Martin Luther King in Atlanta aufhielt und ihr voller Stolz berichtete, dass er den Roman über die junge
Freiheitskämpferin so gut wie fertig habe. »Nur das Kapitel mit dem Happy End fehlt noch«, sagte er. Audrey verstand die Andeutung und verriet ihm, dass ihre Mutter bereits an einem Brautkleid nähte. »Mom ist aufgeregter als ich«, gestand sie. Nellie Jackson war begeistert von der bevorstehenden Hochzeit. Sie freute sich darauf, ihre zahlreichen Verwandten wieder zu sehen, und verdrängte den Gedanken, dass ihre Tochter in eine andere Stadt ziehen würde, wahrscheinlich einige hundert Kilometer von Birmingham entfernt. Emory Jackson fragte Audrey jeden Morgen, ob sie sich diese Sache auch gründlich überlegt habe, und nickte mürrisch, wenn sie ihm lächelnd versicherte, dass sie Edward über alle Maßen liebte. Auch Betty Ann würde die Stadt verlassen. Das erfuhr Audrey an einem lauen Sommerabend, als sie mit ihr auf der Veranda in Bessemer saß und Vanilleeis löffelte. »Stell dir vor, ich werde im Büro von Dr. King arbeiten«, freute sie sich, »in Atlanta! Mom meint, ich wär noch zu jung um in eine andere Stadt zu gehen, aber ich krieg ein Zimmer bei Dr. Kings Sekretärin und sie hat versprochen, sich um mich zu kümmern, bis ich volljährig bin!« Audrey freute sich: »Vielleicht ziehen wir auch nach Atlanta, dann kannst du uns besuchen! Edward will als Pastor arbeiten.« Sie leckte den Löffel ab und lachte befreit. »Ich bin richtig froh, dass wir die Sache endlich hinter uns haben!« Betty Ann wurde ernst. »Ich traue dem Frieden nicht, Audrey! Die Cahaba Boys haben bestimmt noch was auf der Pfanne! Wir müssen wachsam sein, sonst passiert ein Unglück! Gestern hab ich geträumt, dass der Klan ein kleines Mädchen aufhängt!« »Jetzt nicht mehr«, widersprach Audrey. »Präsident Kennedy würde dafür sorgen, dass die Mörder vor Gericht kommen und
zum Tode verurteilt werden! Bull Connor ist nicht mehr im Amt!« »Wir müssen aufpassen«, sagte Betty Ann noch einmal. Einige Tage später verkündete ein Regierungssprecher, dass Präsident Kennedy den Entwurf eines neuen Bürgerrechtsgesetzes in den Kongress eingebracht habe. »Jetzt kommt endlich Bewegung in die Sache«, sagte Edward am Telefon. Er verriet Audrey, dass ein bekannter Bürgerrechtler auf die Idee gekommen war, das Gesetz mit einem Marsch auf Washington zu unterstützen. Viele tausend Schwarze aus allen Teilen des Landes sollten in die Hauptstadt kommen und an einer Kundgebung teilnehmen. »Dr. King ist begeistert«, sagte Edward, »er will eine Rede in Washington halten! Am 28. August ist es so weit. Wir haben schon mit den Vorbereitungen begonnen…« Betty Ann war fest entschlossen, mit einigen Freunden nach Washington zu fahren, und auch Audrey dachte daran, an dieser historischen Kundgebung teilzunehmen. Doch ihr Vater hatte Angst, dass der Klan sie unterwegs überfallen würde, und sie entschied sich, ihm diesmal nicht zu widersprechen. »Er soll auch mal seinen Willen haben«, erklärte sie ihrer Freundin scherzhaft. Edward verstand sie und versprach ihr spätestens im September nach Birmingham zurückzukehren. »Wie wär’s, wenn wir die Hochzeit am Unabhängigkeitstag feiern?«, meinte er. Audrey war einverstanden, hatte aber Tränen in den Augen, als sie Betty Ann und ihren Freunden im August zuwinkte. Sie hatten ihren klapprigen VW-Bus mit Schlafsäcken und Proviant beladen und fuhren singend über den Bessemer Highway davon. »Du siehst mich bestimmt im Fernsehen!«, rief Betty Ann ihr zum Abschied zu. Audrey blickte ihnen nach, bis der VW-Bus hinter dem nächsten Hügel verschwunden war, dann stieg sie in ihren Plymouth und fuhr
langsam nach Birmingham zurück. Schon jetzt bereute sie, Betty Ann nicht nach Washington begleitet zu haben. Am 28. August saß Audrey mit der ganzen Familie vor dem Fernseher. Die Bilder aus der Hauptstadt waren so eindrucksvoll, dass selbst Emory Jackson sich verstohlen einige Tränen aus den Augen wischte und seine Frau laut schniefte und sagte: »Das ist wunderbar, das ist einfach wunderbar!« Audrey schwieg und musste lächeln, als sie daran dachte, was ihre Freundin zum Abschied gesagt hatte. Wie sollte sie Betty Ann in dieser Menschenmenge finden? Über eine viertel Million Menschen hatte sich vor dem Lincoln Memorial in Washington versammelt. Nicht nur Schwarze aus allen Teilen des Landes, auch zahlreiche Weiße, über fünfzigtausend, wie der Nachrichtensprecher sagte. Pastoren, Studenten, Handwerker, Fabrikarbeiter, Farmer, Hausfrauen. Aktive Bürgerrechtler und einfache Menschen, die zum ersten Mal an einer Kundgebung teilnahmen. Berühmte Schwarze wie Jackie Robinson, der erfolgreiche Baseballspieler, Harry Belafonte, Mahalia Jackson, die bekannte Gospelsängerin, und Sammy Davis Jr. der Schauspieler. Berühmte Weiße wie die Protestsänger Bob Dylan und Joan Baez und die Schauspieler Burt Lancaster und Charlton Heston. Verantwortliche einiger großen Kirchen, die bisher meist neutral geblieben waren. Alle diese Menschen und Millionen von Zuschauern an den Fernsehgeräten und Radioapparaten lauschten den Reden der Sprecher und den Gospelsongs von Mahalia Jackson und blickten erwartungsvoll zum Rednerpult, als Martin Luther King vor das Mikrofon trat und schon nach wenigen Minuten sein Manuskript zur Seite legte. »Heute sage ich euch, meine Freunde«, rief er den vielen Menschen zu, »trotz der vielen Schwierigkeiten von heute und morgen habe ich einen Traum. Es ist ein Traum, der tief verwurzelt ist im amerikanischen Traum. Ich habe einen
Traum, dass eines Tages diese Nation sich erheben wird und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen sind!« Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt. Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilen wird. Ich habe einen Traum. Ich habe einen Traum, dass eines Tages in Alabama, mit seinen bösartigen Rassisten, mit einem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie ›Intervention‹ und ›Annullierung der Rassenintegration‹ triefen, dass eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen die Hände schütteln mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüder und Schwestern. Ich habe heute einen Traum. Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden und alles Fleisch wird es sehen. Das ist unsere Hoffnung. Mit diesem Glauben kehre ich in den Süden zurück. Mit diesem Glauben werde ich fähig sein, aus dem Berg der Verzweiflung einen Stein der Hoffnung zu hauen. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein, die schrillen Missklänge in unserer Nation in eine wunderbare Symphonie der Brüderlichkeit zu verwandeln. Mit diesem Glauben werden wir fähig sein,
zusammen zu arbeiten, zusammen zu beten, zusammen zu kämpfen, zusammen ins Gefängnis zu gehen, zusammen für die Freiheit aufzustehen, in dem Wissen, dass wir eines Tages frei sein werden. Das wird der Tag sein, an dem alle Kinder Gottes diesem Lied eine neue Bedeutung geben können: ›Mein Land, von dir, du Land der Freiheit, singe ich. Land, wo meine Väter starben, Stolz der Pilger, von allen Bergen lasst die Freiheit erschallen.« Soll Amerika eine große Nation werden, dann muss dies wahr werden. So lasst die Freiheit erschallen von den gewaltigen Gipfeln New Hampshires. Lasst die Freiheit erschallen von den mächtigen Bergen New Yorks, lasst die Freiheit erschallen von den hohen Alleghenies in Pennsylvania. Lasst die Freiheit erschallen von den schneebedeckten Rocky Mountains in Colorado. Lasst die Freiheit erschallen von den geschwungenen Hängen Kaliforniens. Aber nicht nur das, lasst die Freiheit erschallen von Georgias Stone Mountain. Lasst die Freiheit erschallen von Tennessees Lookout Mountain. Lasst die Freiheit erschallen von jedem Hügel und Maulwurfshügel Mississippis, von jeder Erhebung. Lasst die Freiheit erschallen! Wenn wir die Freiheit erschallen lassen – wenn wir sie erschallen lassen von jeder Stadt und jedem Weiler, von jedem Staat und jeder Großstadt, dann werden wir den Tag beschleunigen können, an dem alle Kinder Gottes -schwarze und weiße Menschen, Juden und Heiden, Protestanten und Katholiken – sich die Hände reichen und die Worte des alten Negrospirituals singen können: »Endlich frei! Endlich frei! Großer, allmächtiger Gott, wir sind endlich frei!«
28
Als am Freitagmorgen das Telefon klingelte und die junge Sekretärin »Für dich, Audrey!« rief, war Audrey fest davon überzeugt, dass Edward am anderen Ende war. Doch die Stimme gehörte einem Weißen. »Hier spricht Floyd«, meldete er sich. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie in der Schule anrufe, aber es ist sehr wichtig und ich habe wenig Zeit!« Er klang nervös und gehetzt, als hätte er Angst, jeden Augenblick entdeckt zu werden. »Ich möchte Sie warnen, Audrey! Die Cahaba Boys führen irgendetwas im Schilde! Etwas Ernstes! Ich habe gehört, wie Bob Chambliss und Bobby Cherry über Dynamit gesprochen haben. Mehr weiß ich leider nicht. Ich habe das FBI und die Polizei informiert, aber das FBI arbeitet mit dem Klan zusammen und bei der Polizei hat sich seit Bull Connor wenig verändert. Passen Sie auf den Jungen auf, Audrey! Jay-Jay heißt er, glaube ich. Und sagen Sie Martin Luther King und seinen Mitarbeitern Bescheid!« »Wer sind Sie, Floyd?«, fragte Audrey nervös. »Woher wissen Sie das alles? Wie haben Sie herausgefunden, wo ich arbeite?« Aber Floyd hatte bereits aufgelegt. Sie ließ den Hörer sinken und schüttelte den Kopf, als sie den besorgten Gesichtsausdruck ihrer Kollegin bemerkte. »Ein Mitarbeiter von Dr. King«, log sie, »ich soll eine Rede abschreiben.« Sie verließ das Büro, um ungestört nachdenken zu können, und trat an eines der Fenster in der Eingangshalle. Wer war dieser Floyd? Wie konnte er behaupten, das FBI arbeite mit dem Klan zusammen, wenn er selbst für die Regierung arbeitete und sich bei den Kapuzenmännern eingeschlichen hatte? Oder
war er gar kein Spion? Vielleicht ein Reporter, der eine Story über die dunklen Machenschaften des Ku-Klux-Klan schreiben will, überlegte sie. Aber er hatte sie auf die Spur der Cahaba Boys gebracht und ihnen ermöglicht, den Jungen zu retten. Sie tat gut daran, seine Warnung ernst zu nehmen. Die Tür eines Klassenzimmers ging auf und Cynthia Wesley kam heraus. »Hallo, Audrey!«, grüßte sie fröhlich. »Ich soll das Lexikon aus dem Büro holen, das mit dem schwarzen Einband.« Audrey löste sich von ihren quälenden Gedanken. »Hallo, Cynthia! Warte hier, ich bring’s dir!« Sie ging ins Büro, zog das Lexikon aus dem Regal und gab es dem Mädchen. Es trug ein einfaches Kleid und eine Strickjacke. Die Schleife fehlte diesmal. »Kommst du übermorgen in den Elf-Uhr-Gottesdienst?«, fragte Cynthia. »Am Sonntag ist Youth Day und wir dürfen wieder singen, nach der Sonntagsschule! Pastor Cross sagt, dass ich eine schöne Stimme habe.« »Natürlich komme ich in die Kirche«, versprach Audrey. »Und jetzt geh in den Unterricht zurück, sonst schimpft deine Lehrerin!« In der Mittagspause telefonierte Audrey mit Edward. Sie wartete, bis ihre Kollegin den Raum verlassen hatte, und erzählte ihm, was Floyd gesagt hatte. Ihr Freund war sehr besorgt und versicherte ihr, dass er Martin Luther King sofort informieren werde. »Aber viel können wir nicht tun, Audrey! Solange keine Straftat vorliegt, dürfen die Behörden nicht eingreifen. Selbst wenn die Polizei auf unserer Seite wäre, dürfte sie das nicht. Wir brauchen Beweise! Ich bin sicher, Floyd versucht alles um sie zu bekommen. Er ruft sicher noch mal an, wenn er herausbekommen hat, was der Klan plant!« Den Nachmittag und die halbe Nacht verbrachte Audrey damit, nach Jay-Jay zu suchen. Ihren Eltern schwindelte sie
vor, mit einer Freundin ins Kino zu gehen. Sie sollten sich keine unnötigen Sorgen machen. Sie fuhr alle Straßen des Schwarzenviertels ab, fragte in Lokalen und Läden nach dem Jungen und wagte sich sogar auf die Fourth Avenue. Zwei Schwarze in Lederjacken pfiffen ihr nach, und als sie beim Rat Killer hielt und einen Mann nach Jay-Jay fragte, lachte man sie ungeniert aus. »Geh nach Hause, Mädchen!«, lästerte er abfällig, »hier hast du nichts zu suchen!« Den Jungen hatte niemand gesehen. Jay-Jay war spurlos von der Bildfläche verschwunden. Ein gutes Zeichen, wie Audrey glaubte. Offensichtlich hatte Jay-Jay erfahren, dass die Cahaba Boys einen Anschlag planten, und war rechtzeitig auf Tauchstation gegangen. Er war sicher schlau genug, um sich nicht erwischen zu lassen. Obwohl er erst seit ein paar Monaten in der Stadt war, schien er jedes Versteck zu kennen. So leichtsinnig wie damals, als er den Klansmännern in die Hände gefallen war und beinahe den Tod gefunden hatte, würde er nicht mehr sein. Auch in dieser Nacht schlief Audrey wenig. Sie stand am Küchenfenster, die Milchflasche in der Hand, und blickte sorgenvoll in die Dunkelheit. War der Krieg zwischen Weißen und Schwarzen denn niemals vorbei? Wollte der Klan, dass noch mehr Menschen starben und die Gewalt wieder die Oberhand gewann? Was hatten die Cahaba Boys vor? Sie wusste keine Antworten auf diese Fragen und ging ins Bett. Erschöpft schlief sie ein. Sie träumte von Cynthia Wesley, sah sie mit ihren Freundinnen, der jungen Denise McNair, der etwas fülligen Carole Robinson und der frechen Addie Mae Collins, vor der Orgel stehen und »We shall overcome« singen: »We are not afraid, we are not afraid, we are not afraid some day.« Beim Frühstück saß sie mit ihren Eltern zusammen. »Ich bin froh, dass alles so gekommen ist«, sagte ihre Mutter. »Stell dir
vor, bei Woolworth darf ich jetzt in denselben Ankleideraum wie die weißen Frauen! Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das schafft!« »Und was hast du davon?«, erwiderte Emory Jackson. »Ist das Kleid, das du gekauft hast, deswegen billiger? Mir ist es egal, wo ich mich umziehe oder von welchem Brunnen ich trinke.« Aber seine Augen sagten etwas anderes und er konnte nicht verhehlen, dass er stolz auf seine Tochter war. »Immerhin heiratet sie einen Pastor«, sagte er zu seiner Frau, »das können nicht viele Eltern von ihrer Tochter sagen. Sie ist etwas Besonderes!« Nach dem Frühstück fuhr Audrey zu ihrer Freundin nach Bessemer. Betty Ann war gerade dabei, einen Zeitungsbericht über den Marsch auf Washington auszuschneiden und in ihr Album zu kleben. »War die Rede von Martin Luther King nicht wunderbar?«, fragte sie. »Ich kann es gar nicht erwarten, für ihn zu arbeiten.« »Wann soll’s denn losgehen?« »In zwei Wochen«, antwortete sie. »Meine Eltern haben schon das Busticket gekauft und ich darf das Geld von meinem Sparbuch behalten, damit ich mir ein paar neue Kleider kaufen kann. In Atlanta tragen sie andere Sachen als hier. Hab ich dir schon gesagt, dass ich ein Gehalt von Dr. King bekomme? Wenn ich älter bin, miete ich mir eine Wohnung, und wenn ich genug gespart habe, kaufe ich mir ein Auto, so eines wie deinen Plymouth!« Audrey musste lachen. »Und nach zwei Tagen bleibst du mit der Schrottkiste auf einem Highway liegen! Kauf dir lieber ein anständiges Auto, einen Station Wagon für deine vielen Kinder!« »So schnell heirate ich nicht«, meinte Betty Ann etwas schnippisch, »dafür hab ich keine Zeit. Im Büro von Dr. King gibt es genug zu tun. Vielleicht darf ich ja nach Washington
mit, wenn er den Präsidenten trifft, oder nach New York zu Harry Belafonte…« »Hauptsache, du bleibst auf dem Teppich! Nicht dass du mit einem bekannten Politiker oder einem Sänger durchbrennst…« »Keine Bange!«, beruhigte Betty Ann ihre Freundin. Sie klappte das Album zu und hielt es mit beiden Händen fest, wie einen wertvollen Schatz. Ihre Miene verdüsterte sich, als sie daran dachte, was Audrey ihr am Telefon erzählt hatte. »Gestern Abend waren die Cahaba Boys in Bessemer«, sagte sie. »Einige Leute haben den Chevy von Dynamite Bob erkannt, den türkisfarbenen mit den weißen Streifen. Bobby Cherry war bei ihm. Man hat sie beobachtet. Sie haben sich mit zwei anderen Männern auf einem Campingplatz getroffen, draußen am Stadtrand. Sie haben irgendwas vor, das ist mal sicher!« »Thomas Blanton?«, fragte Audrey beunruhigt. »Hieß einer der beiden Männer, die sie getroffen haben, Thomas Blanton? Er war dabei, als sie Jay-Jay in den Fluss warfen. Widerlicher Kerl!« Betty Ann wusste es nicht. »Keine Ahnung. Ich hab nur die anderen beiden Namen gehört. Wenn’s um den Klan geht, traut sich doch keiner was zu sagen.« Sie legte das Album ins Regal und blieb neben ihrem Schreibtisch stehen. »Weiß Dr. King Bescheid? Hast du ihm gesagt, dass dieser Floyd angerufen hat?« »Na klar. Aber Martin Luther King und seine Leute können wenig tun. Solange keine Straftat vorliegt, kann man die Leute nicht festnehmen, sagt Edward.« Sie senkte den Kopf und überlegte krampfhaft. »Wenn ich nur wüsste, was sie vorhaben! Floyd sagte, dass die Cahaba Boys über Dynamit gesprochen haben. Vielleicht sind sie ja gar nicht mehr hinter Jay-Jay her! Was ist, wenn sie wieder eine Bombe werfen wollen, so wie im Gaston Motel?«
»Das wagen sie nicht«, hoffte Betty Ann. »Wenn sie so was noch mal versuchen, schickt Präsident Kennedy die Nationalgarde und gegen die hat auch der Klan keine Chance!« Mrs. Palmer kam herein und stellte zwei Gläser mit gesüßtem Eistee auf den Tisch. »In einer halben Stunde gibt es Essen«, sagte sie, »du bist natürlich eingeladen, Audrey!« Betty Ann war in Gedanken versunken und beachtete ihre Mutter kaum. »Es darf keine Gewalt mehr geben!«, erklärte sie, als ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte. »Was sollen wir bloß tun?«, fragte Audrey verzweifelt. »Ich hab keine Ahnung«, antwortete Betty Ann ehrlich. Am nächsten Morgen, dem 15. September 1963, war Audrey schon vor ihren Eltern und ihren Geschwistern in der Sixteenth Street Baptist Church. Sie hatte Pastor John Cross versprochen, vor dem Elf-Uhr-Gottesdienst im Büro auszuhelfen, und war gerade damit beschäftigt, die Predigt noch mal abzutippen, als die ersten Kinder zur Sonntagsschule eintrafen. Sie waren sehr aufgeregt und plapperten wild durcheinander. Der Youth Day war ein ganz besonderer Tag, auch für die Kinder, die nicht im Chor sangen, und alle freuten sich auf den Gottesdienst. »Sind Cynthia, Carole und Addie Mae schon da?«, fragte Denise. Sie trug einen Mantel über ihrem Sonntagskleid und einen flachen Hut und die grüne Schleife in ihren kunstvoll frisierten Haaren leuchtete hell. Audrey blickte nach draußen und sah, wie Cynthia und Addie Mae die l6th Street überquerten. Sie warfen ihre kleinen Handtaschen wie Bälle hoch und fingen sie kichernd wieder auf. »Da kommen Cynthia und Addie Mae«, sagte Audrey. »Carole ist noch nicht da.« Sie musterte das Mädchen. »Du siehst wie eine Dame aus, Denise! Ich wollte, ich hätte deine Haare!« »Die frisiert meine Mutter«, erwiderte das Mädchen stolz. »Sie macht auch die Haare von meinen beiden Tanten. Sie
wollte mal Friseuse werden, aber dann ist sie doch Lehrerin geworden.« Cynthia und Addie Mae betraten das Büro. »Hi, Audrey! Hi, Denise!«, rief Cynthia ausgelassen. Auch sie trug ihre grüne Schleife im Haar und strahlte über das ganze Gesicht. Wie kaum ein anderes Mädchen hatte sie sich auf den Youth Day gefreut. Zum ersten Mal durfte sie ein Solo singen. »Kommst du in den Gottesdienst?«, fragte sie. »Das zweite Lied singe ich ganz allein!« Audrey erwiderte ihr Lächeln. »Um nichts in der Welt würde ich das versäumen! Ich tippe nur die Predigt fertig ab. Pastor Cross hat einiges geändert. Wie ich ihn kenne, hält er sich sowieso nicht an seinen Text. Er spricht am liebsten frei, so wie Dr. King.« »Dann bis später, Audrey!« Die Mädchen verschwanden und Audrey machte sich an die Arbeit. Sie brachte die fertigen Seiten zu Pastor Cross und machte einen Knicks, bevor sie sein Zimmer verließ. Im Vorraum begegnete ihr Carole Robinson, die wieder mal zu spät kam und mit wehendem Mantel zur Sonntagsschule rannte. Audrey blickte ihr lächelnd nach. Carole hatte es immer eilig. Sie trug zum ersten Mal mittelhohe Absätze und konnte kaum das Gleichgewicht halten. Im Büro beantwortete Audrey einige Anrufe. Sie hatte die meiste Arbeit erledigt und ließ sich Zeit. Sie winkte Betty Ann zu, die mit ihren Eltern vor dem Haupteingang wartete, und trank von der frischen Limonade, die auf einem Tisch neben der Tür stand. Hätte Audrey in diesem Augenblick aus einem der Fenster im östlichen Flügel der Kirche geblickt, hätte sie den türkisfarbenen Chevrolet mit den weißen Streifen bemerkt, der kurz nach zehn an der Seventh Avenue parkte, und alles wäre vielleicht anders gekommen. Aber niemand sah, wie
Robert E. Chambliss alias Dynamite Bob aus seinem Wagen stieg und zehn Stangen Dynamit unter die Kirchentreppe legte. Ungefähr zur selben Zeit verließen die elfjährige Carol Denise McNair und die vierzehnjährigen Carole Robinson, Addie Mae Collins und Cynthia Dianne Wesley ihr Klassenzimmer. Sie betraten den Umkleideraum im nordöstlichen Teil der Kirche, um sich für den Gottesdienst zurechtzumachen. Alle vier Mädchen trugen strahlend weiße Kleider, wie es für die jungen Damen üblich war, die den Erwachsenen ihre Plätze zeigten. Danach würden sie die Treppe zum Chor hinaufsteigen. Addies kleine Schwester Sarah stand am Waschbecken und wusch sich die Hände. Um 10.20 Uhr kam Bernadine Mathews in den Umkleideraum. Das Mädchen war von seiner Lehrerin geschickt worden, ihre Freundinnen ins Unterrichtszimmer zurückzuholen. »Ich komme gleich«, meinte Cynthia, »meine Haare sitzen noch nicht richtig!« »Wer Gott nicht gehorcht«, mahnte Bernadine in gespieltem Ernst und mit erhobenem Zeigefinger, »lebt nur halb so lange!« Kaum war sie gegangen, erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude. Es war genau 10.22 Uhr. Die Wand der Sixteenth Street Baptist Church stürzte ein, bunte Fenster zersplitterten und Türen flogen aus den Rahmen. Eine riesige Staubwolke wallte aus der Kirche und hüllte die braunen Wände ein. Vor der Kirche wurde ein Autofahrer aus seinem Wagen geschleudert und ein schwarzer Passant, der gerade seine Frau von einer Telefonzelle aus anrief, wurde durch die offene Tür in eine Reinigung geworfen, den abgerissenen Hörer in der linken Hand. Cynthia Dianne Wesley, Carol Denise McNair, Carole Robinson und Addie Mae Collins waren auf der Stelle tot; sie starben durch die gewaltige Druckwelle und die einstürzende
Mauer. Sarah Collins überlebte wie durch ein Wunder, kroch aus den Trümmern und rief verzweifelt: »Addie! Addie! Addie!« Maxine McNair, die Mutter der toten Denise, schrie hysterisch und Claude A. Wesley, der Adoptivvater von Cynthia, der sich zwei Häuserblocks entfernt die Schuhe putzen ließ, flüsterte entsetzt: »Das ist unsere Kirche!«, und rannte in die Staubwolke. Audrey lief nach unten und blickte mit geweiteten Augen auf die toten Mädchen und die über zwanzig Verletzten. »Cynthia!«, schrie sie. »Cynthia! Du bist nicht tot!« Von draußen waren die Sirenen der Polizei und der Krankenwagen zu hören. Mit brennenden Augen und halb benommen von dem Staub, der in dichten Schwaden durch die Kirche zog und sich schwer auf ihre Lungen legte, beobachtete Audrey, wie die Sanitäter die toten Mädchen auf Bahren aus den Trümmern trugen. Die verzweifelten Schreie der Angehörigen und das Stöhnen der Verwundeten erfüllten die Luft. Audrey sah die starren Gesichter ihrer Eltern und Geschwister und schloss weinend Betty Ann in die Arme, die mit zerfetzter Bluse aus dem Staub auf sie zukam. »Es… es wird niemals aufhören«, sagte Audrey zu ihrer Freundin. »We are not afraid some day!«, sang Betty Ann heiser. Zur Beerdigung der Mädchen kamen über achttausend Menschen, darunter zahlreiche Weiße, die nach diesem feigen Mord nicht mehr nur schweigend zusehen wollten. Audrey war unter den vielen Trauernden in der Sixteenth Street Baptist Church und starrte mit verweinten Augen auf die Särge der Mädchen. Neben ihr standen Edward, der noch am Sonntag aus Atlanta gekommen war, und Betty Ann. Martin Luther King betrat die Kanzel und sprach zur Trauergemeinde. Seine Worte wurden in die ganze Welt übertragen. »Diese Kinder«, klagte er mit fester Stimme an, »harmlos, unschuldig und wunderschön, wurden zu Opfern eines der niederträchtigsten
und abscheulichsten Verbrechen, das jemals gegen die Menschlichkeit begangen wurde. Aber sie starben ehrenvoll. Sie sind die Märtyrerinnen eines heiligen Kreuzzuges für Freiheit und menschliche Würde. Sie starben nicht vergeblich. Das unschuldige Blut dieser kleinen Mädchen könnte die erlösende Kraft sein, die neues Licht in diese dunkle Stadt bringt. Die Bibel sagt: »Ein kleines Kind wird sie führen.« Der Tod dieser kleinen Mädchen könnte den ganzen Süden von der dunklen Straße der Unmenschlichkeit auf die helle Straße von Frieden und Brüderlichkeit führen. Dieses tragische Ereignis könnte dem weißen Süden sein Gewissen wiedergeben.« Audrey hörte ergriffen zu, als Martin Luther King die verzweifelten Eltern tröstete: »Der Tod ist keine Sackgasse, der die Menschen ins Nichts führt, er ist eine offene Tür zum ewigen Leben!« Sie folgte dem Trauerzug, der sich über die Sixteenth Avenue bewegte, und sang »We shall overcome«. »Am Ende unseres Weges wird Licht sein«, hörte sie Edward sagen, und als sie sein Lächeln sah und den Druck seiner Hand spürte, als sie Jay-Jay inmitten der Trauernden entdeckte, da wusste sie, dass die Liebe immer stärker sein würde, stärker als alles andere auf der Welt.
Was danach geschah
Die Ermordung von Cynthia Dianne Wesley, Carol Denise McNair, Carole Robinson und Addie Mae Collins gehört zu den niederträchtigsten Verbrechen der amerikanischen Geschichte. Die ganze Welt sah die Bilder aus Birmingham und war entsetzt über das kaltblütige Vorgehen des Ku-KluxKlan. Noch unglaublicher aber waren die Ereignisse, die dem feigen Anschlag folgten. Denn obwohl Robert E. Chambliss als Bombenleger überführt wurde, dauerte es noch sechsundzwanzig Jahre, bis er für sein entsetzliches Verbrechen verurteilt wurde. Natürlich wurde er nach dem Anschlag festgenommen und wegen Mordes und des unerlaubten Besitzes von Dynamit angeklagt. Aber das Gericht verkündete am 8. Oktober 1963 ein »Nicht schuldig«, was den Mord betraf. Für den unerlaubten Besitz von Sprengstoff wurde er zu einer Strafe von hundert Dollar und sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Zwei Jahre später glaubte das FBI genügend Beweise gesammelt zu haben, um Robert E. Chambliss, Bobby Frank Cherry, Thomas E. Blanton und Herman Frank Cash erneut wegen Mordes anzuklagen. J. Edgar Hoover, der langjährige FBI-Direktor, vereitelte eine Festnahme. Ihm wurden später Kontakte zum Ku-Klux-Klan nachgewiesen. 1968 wurde die Akte des »Sixteenth Street Baptist Church Bombing« geschlossen. Doch die Cahaba Boys freuten sich zu früh. 1971 beschäftigte sich Bill Baxley, der neue Generalstaatsanwalt von Alabama, erneut mit dem Fall. Mit neuen Beweisen, vor allem heimlichen Tonbandaufnahmen und Aussagen von Familienmitgliedern und ehemaligen Freunden der
Angeklagten, gelang es ihm, den Haupttäter zu überführen. Am 18. November 1977 wurde der inzwischen 73-jährige Robert E. Chambliss wegen Mordes zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Er starb am 29. Oktober 1985 in einem Gefängnis in Alabama. Die Ermittlungen konzentrierten sich nun auf die anderen drei Mörder. Herman Frank Cash starb 1994 und entzog sich auf diese Weise einer Verurteilung. Am 17. Mai 2000 standen Thomas E. Blanton und Bobby Frank Cherry wieder vor Gericht. Inzwischen hatte das FBI eindeutig bewiesen, dass die Cahaba Boys für den Anschlag verantwortlich waren. Blanton erhielt am 1. Mai 2001 eine lebenslange Haftstrafe. Erst ein Jahr später verurteilte ein Gericht den 71-jährigen Bobby Frank Cherry zu derselben Strafe. Der Mord an den vier Mädchen war endlich gesühnt!
Die Fakten
Der Freiheitskampf der amerikanischen Schwarzen begann mit dem Transport der ersten Sklaven in die USA. Bereits im 17. Jahrhundert wurden afrikanische Männer, Frauen und Kinder nach Amerika entführt, um dort auf den Baumwoll- und Reisplantagen zu arbeiten. Die protestantische Mehrheit der amerikanischen Siedler betrachtete diese Sklaven als minderwertige Wesen. Gott bevorzugte die weiße Rasse, so ihre feste Überzeugung, und hatte die Schwarzen geschaffen, damit sie den Weißen dienten. Der Kernsatz der amerikanischen Verfassung, alle Menschen seien gleich geboren, bezog sich in ihren Augen nur auf die Weißen, die »wirklichen« Menschen. 1669 wurde ein Gesetz verabschiedet, das besagte: »Wenn ein Sklave nicht auf seinen Herrn hört oder die Befehle anderer, die ihn beaufsichtigen, nicht befolgt und die Zwangsgewalt dieser Person seinen Tod herbeiführt, soll diese Tat nicht als Verbrechen bestraft werden.« Doch schon damals gab es Weiße und Schwarze, die sich gegen diese Herabsetzung der Schwarzen wehrten. Thomas Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, wollte den Satz »Es ist unehrenhaft, ein Sklave zu sein« in die Verfassung aufnehmen, wurde aber von den Abgeordneten aus dem ländlichen Süden überstimmt. In den Aufzeichnungen von Thomas Jefferson ist zu lesen: »Ich fürchte um mein Land, wenn ich daran denke, dass Gott gerecht ist und sein Urteilsspruch einmal kommen muss.« Im frühen 19. Jahrhundert wagten mehrere Schwarze, unter ihnen der Freiheitskämpfer Nat Turner, einen Aufstand und wurden von den Weißen gnadenlos bestraft.
Noch vor dem Bürgerkrieg (1861-1865) gab es auch unter den Weißen so genannte »Abolitionisten«, die sich öffentlich gegen die Sklaverei wandten und den Sklaven sogar halfen, von den Plantagen in den sicheren Norden und nach Kanada zu fliehen. Über die »Underground Railroad«, ein Netz von Fluchtwegen mit schwarzen und weißen Helfern, entkamen sie der Zwangsherrschaft. (Nachzulesen in meinem Roman »Hinter den Sternen die Freiheit«, der 2002 bei Ueberreuter erschien.) Der amerikanische Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten wurde vor allem geführt, um die Vormachtstellung des industriellen Nordens zu sichern. Er wandte sich aber auch gegen die Unterdrückung der schwarzen Minderheit und brachte die ersten Gesetze gegen die Sklaverei auf den Weg. Nach dem Sieg des Nordens erklärte Präsident Abraham Lincoln alle Schwarzen zu vollwertigen Bürgern und sicherte ihnen das Wahlrecht zu. Zwei Anordnungen, die der Süden noch im 20. Jahrhundert missachtete. Während des Wiederaufbaus nach dem Bürgerkrieg, der so genannten »Reconstruction« (1865-1877), formierte sich der Ku-KluxKlan, ein Geheimbund fanatischer Südstaatler, die mit Gewalt gegen die schwarze Bevölkerung vorgingen. Vermummte Gestalten in weißen Kutten peitschten Schwarze aus, töteten unschuldige Männer, Frauen und Kinder und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Ihre brennenden Kreuze wurden zum Symbol der gewaltsamen Unterdrückung. Ein offizielles Verbot, das 1871 von Präsident Ulysses S. Grant erlassen wurde, ließ das »unsichtbare Imperium« des Klan nur vorübergehend von der Bildfläche verschwinden. 1915 lebte der Geheimbund in Georgia wieder auf. Die Bevölkerung des Südens ließ ihn gewähren, lebte sie doch in dem festen Glauben, der Schwarze sei ein Tier, das außerhalb der Gesellschaft zu leben und dem weißen Herrenmenschen zu
dienen habe. Die Schwarzen wurden auch im 20. Jahrhundert gezwungen, in Slums zu leben, minderwertige Jobs anzunehmen, den Weißen überall den Vortritt zu lassen und die »Nur für Weiße«- und »Nur für Farbige«-Schilder zu beachten. Ein Verbrechen an einem Schwarzen blieb vor allem im Süden ungesühnt. Die erste schwarze Organisation, die sich um die Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner bemühte, war die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Sie wandte sich mit aller Macht gegen die ungesühnten Lynchmorde an unschuldigen Schwarzen, unterstützte angeklagte Schwarze vor Gericht und setzte sich öffentlich für eine Gleichstellung der Schwarzen und ihr Wahlrecht ein. Den massiven Protesten der NAACP war auch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu verdanken, die es schwarzen Kindern erlaubte, eine weiße Schule zu besuchen. Der Süden missachtete dieses Gesetz und erließ ein »Southern Manifesto«, das den Behörden vorschrieb, den Bundesentscheid zu umgehen. 1957 versuchte die weiße Menge, die schwarze Schülerin Elizabeth Eckford daran zu hindern, die High School zu besuchen, und 1957 sah Präsident Eisenhower sich gezwungen, Soldaten einzusetzen, um schwarzen Schülern den Zugang zu einer weißen Schule im amerikanischen Süden zu ermöglichen. Zum Führer der Bürgerrechtsbewegung, die in den fünfziger Jahren begann, sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen aufzulehnen, wurde Martin Luther King Jr. Er wurde am 15. Januar 1929 als Sohn eines schwarzen Baptistenpastors in Atlanta (Georgia) geboren und wuchs in einer behüteten Umgebung auf. Nach der High School studierte er Soziologie am Morehouse College in Atlanta, der einzigen Hochschule für Schwarze. Er beschloss Pastor zu werden und predigte 1946 erstmals in der Ebenezer Baptist Church seines Vaters. Im
Crozer Theological Seminary in Chester (Pennsylvania) studierte er Theologie. Er las die Schriften von Mahatma Gandhi und wurde zu einem aufrichtigen Bewunderer des indischen Pazifisten. An der Boston University erhielt der angehende Pastor im Jahr 1955 seine Doktorwürde. Zwei Jahre zuvor, am 18. Juni 1953, hatte er Coretta Scott geheiratet. Am 1. September 1954 trat Dr. Martin Luther King Jr. seine erste Pfarrstelle in der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery (Alabama) an. Auch in dieser Stadt wurden die Schwarzen systematisch unterdrückt. Am 1. Dezember 1955 weigerte sich die Schwarze Rosa Parks, ihren Sitzplatz in einem Stadtbus für einen Weißen frei zu machen. Sie wurde festgenommen. Martin Luther King gehörte zu den Pastoren, die alle Schwarzen der Stadt zu einem Busboykott und dem gewaltlosen Widerstand gegen die weißen Behörden aufriefen. Als Präsident der neu gegründeten Montgomery Improvement Association setzte er sich vehement für die Befreiung von Rosa Parks ein. Selbst als am 30. Januar 1956 eine Bombe auf der Veranda seines Hauses explodierte, sagte er: »Wir müssen der Gewalt mit Gewaltlosigkeit begegnen! Wir müssen Hass mit Liebe beantworten!« Nach einem Jahr zeigte der Boykott endlich den gewünschten Erfolg. Die Rassentrennung in den öffentlichen Verkehrsmitteln wurde aufgehoben. Doch die weißen Fanatiker gaben sich noch lange nicht geschlagen. In Birmingham bombardierten sie das Haus des Pastors Fred Shuttlesworth und der Ku-Klux-Klan schüchterte die aufbegehrenden Schwarzen mit willkürlichen Gewaltakten und Lynchmorden ein. Um den Protest der Schwarzen in organisierte Bahnen zu lenken, gründete man die Southern Christian Leadership Conference (SCLC). Martin Luther King war ihr erster Präsident, Ralph Abernathy und Wyatt T. Walker wurden zu seinen engsten Mitarbeitern. Sie
unterstützten die meist jungen Schwarzen, die bereits 1957 zu Protestaktionen aufriefen und sich mit Sit-ins in Drugstores, Hotels, Kinos, Büchereien und anderen öffentlichen Gebäuden gegen die Diskriminierung wandten. Die SCLC, NAACP, der Congress On Racial Equality (CORE) und das neue Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) standen auch hinter den »Freedom Rides«, die 1961 für Aufsehen sorgten. Um gegen die Rassentrennung zu protestieren, die in den Überlandbussen vorherrschte, wollte man zwei Busse mit jungen Schwarzen und Weißen durch den Süden schicken. Die Weißen würden versuchen, die Warteräume und Toiletten mit dem »Nur für Farbige«-Schild zu benutzen, und die Schwarzen würden die Türen mit dem »Nur für Weiße«-Schild öffnen. Aufgebrachte Klansmänner stoppten den einen Bus in Anniston (Alabama), warfen einen Brandsatz ins Innere und verprügelten die Insassen. Am Muttertag des Jahres 1961 sah die Polizei dann zu, wie wütende Weiße die Passagiere des anderen Busses niederknüppelten. Einer der Schwarzen fiel ins Koma. Dennoch behielt Martin Luther King seine Strategie des gewaltfreien Widerstands aufrecht. Im Februar 1963 ging er nach Birmingham (Alabama), der berüchtigtsten Stadt des amerikanischen Südens. Hier war der Widerstand gegen die schwarze Bürgerrechtsbewegung am größten. Dennoch entschlossen sich Martin Luther King und seine Mitarbeiter, dieser Übermacht mit friedlichen Protestmärschen und Sit-ins zu begegnen. Die Polizei ging rigoros vor und die Gefängnisse füllten sich mit Schwarzen. Auch Martin Luther King wurde festgenommen und schrieb seinen berühmten »Letter from Birmingham Jail« an jene Pastoren, die mit seinen Aktionen nicht einverstanden waren. Unter dem Druck der Regierung John F. Kennedys gab die Stadt im Sommer 1963 nach.
Am 28. August 1963 versammelte sich über eine viertel Million Menschen in Washington, D.C. um die Inkraftsetzung der neuen Bürgerrechtsgesetze zu beschleunigen. Martin Luther King hielt seine berühmte Rede »Ich habe einen Traum«. Seine Worte gingen wie die Botschaft eines Propheten um die Welt. Doch sein Optimismus war verfrüht, denn auch im Herbst dieses Jahres regierte die Gewalt. Am 15. September bombardierten die Cahaba Boys die Sixteenth Street Baptist Church. Am 22. November wurde Präsident John F. Kennedy von einem Attentäter ermordet. 1964 erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Obwohl die Bürgerrechtsgesetze im Juli 1964 in Kraft getreten waren, herrschte immer noch Unrecht und King fühlte sich ermutigt seine Proteste weiterzuführen. In Selma (Alabama) setzte er sich für das Wahlrecht der schwarzen Bevölkerung ein. Sheriff Jim Clark ließ die Demonstranten mit Gewalt vertreiben. Am Sonntag, dem 7. März 1965, wollte Martin Luther King einen Protestmarsch von Selma nach Montgomery durchführen, aber die Polizei hatte rechtzeitig von seinem Plan erfahren und trieb die Marschierer an der Edmund Pettus Bridge mit Tränengas und Knüppeln zurück. Am 9. März wurde James Reeb, ein Pastor aus Boston, von weißen Radikalen angepöbelt. Er bekam einen Schlag auf den Kopf und starb im Krankenhaus. Sein sinnloser Tod bestärkte Martin Luther King und zahlreiche Menschen aus allen Teilen des Landes, den Marsch noch einmal zu versuchen und die Willkür des militanten Gouverneurs Wallace zu brechen. Am Sonntag, dem 21. März 1965, war es so weit. Martin Luther King und seine dreitausend Anhänger marschierten über die Edmund Pettus Bridge. Diesmal wurden sie von der Nationalgarde beschützt. Auf dem letzten Stück des Weges bekamen sie Beistand von über zehntausend Demonstranten, darunter auch bekannte Sänger wie Harry Belafonte und Joan
Baez. Am 25. März sprach Martin Luther King vor dem Kapitol. Gouverneur Wallace weigerte sich, die Petition der Schwarzen für ein generelles Wahlrecht anzunehmen, aber seine Reaktion ging im Jubel der versammelten Marschierer unter, die ihre Aktion als triumphalen Erfolg feierten. Kein halbes Jahr später unterschrieb Präsident Lyndon B. Johnson die Voting Rights Bill. Die Gleichstellung der Schwarzen war damit noch längst nicht gewährleistet. Im amerikanischen Süden wehrte man sich noch immer vehement gegen die neuen Gesetze. Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King vor dem Lorraine Motel in Memphis (Tennessee) von einem weißen Attentäter erschossen. Doch seine Idee lebt weiter. Seinem Erbe ist es zu verdanken, dass der amerikanische Süden in eine neue und bessere Zukunft blickt. Zu seinen Ehren wird an jedem dritten Montag im Januar »Martin Luther King’s Birthday« gefeiert, zum Andenken an einen großen Mann.
Nachwort
Ich interessiere mich seit meiner Kindheit für die Geschichte der USA. Für dieses Buch war ich monatelang in den amerikanischen Südstaaten und in Birmingham (Alabama) unterwegs. Ich sprach mit schwarzen Zeitzeugen, stöberte in Bibliotheken und Archiven, studierte die alten Fernsehberichte und Zeitungsartikel und stand im Kelly Ingram Park und in der Sixteenth Street Baptist Church und stellte mir vor, wie es damals gewesen sein muss. Das ist meine Art, für ein Buch wie »Sie hatten einen Traum« zu recherchieren. Seit jenem heißen Sommer hat sich viel in Birmingham geändert und Weiße und Schwarze leben heute friedlich nebeneinander. Der Ku-Klux-Klan arbeitet nur noch im Verborgenen und kann die Liberalisierung des amerikanischen Südens nicht länger verhindern. Obwohl es bis zur völligen Gleichberechtigung immer noch ein weiter Weg ist. Zu den Fachbüchern, die ich für diesen Roman gelesen habe, gehören unter anderem folgende Werke: »Carry Me Home« von Diane McWhorter, »The Autobiography of Martin Luther King Jr.« von Martin Luther King, »The Civil Rights Movement« von Paul A. Winters, »Eyes on the Prize« von Juan Williams, »My Soul Is A Witness« von Bettye C. Thomas und V. P. Franklin, »Martin Luther King Jr.« von Brendan January, »Freedom Bound« von Robert Weisbrot, »Ich habe einen Traum« von Martin Luther King, »The Fiery Cross« von Wyn Craig Wade, »Hooded Americanism« von David M. Chalmers und »The Invisible Empire« von Albion W. Tourgee sowie zahlreiche Zeitschriften, Zeitungen und Websites.
Wer mehr über meine Person und meine Arbeit wissen möchte, schreibt an Thomas Jeier c/o Verlag Carl Ueberreuter Alser Straße 24, Postfach 306 A-1091 Wien oder schlägt meine Website im Internet auf: www.jeier.de
Ich bitte um Verständnis, wenn meine Antwort auf sich warten lässt. Ich bin oft unterwegs, um für meine Bücher zu recherchieren.
Thomas Jeier