Zarvora Cybeline, oberste Drachenbibliothekarin von Rochester, hat das Unmögliche wahr gemacht: In einer Welt, in der j...
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Zarvora Cybeline, oberste Drachenbibliothekarin von Rochester, hat das Unmögliche wahr gemacht: In einer Welt, in der jede höhere Technologie von den großen Religionen geächtet ist, entwickelt sie eine Rechenmaschine, die ganz aus Menschen besteht Denn sie weiß, daß der Menschheit vom Himmel eine schreckliche Gefahr droht, die sie nur abwenden kann, wenn es ihr gelingt, die Geheimnisse der Vergangenheit zu ergründen. Aber nicht alle begreifen den Ernst der Lage. Der ewige Student Johnny Glasken möchte am liebsten weiter Jagd auf schöne Frauen machen und seine Zeit in den Tavernen verbringen. Da verliebt sich die junge Lemorel Milderellen in ihn, eine Frau, die zu seinem Erstaunen besser mit der Waffe umzugehen weiß als er. Noch ahnt Johnny nicht, daß es ihm bestimmt ist, im Kampf gegen die geheimnisvollen Mächte am Himmel eine entscheidende Rolle zu spielen... »Übermütige Unterhaltung, wunderbar komplex -eine Mischung aus Seifenoper und Shakespeare...« DENVER POST
Sean McMullen
Seelen in der Grossen Maschine Greatwinter 1 Für Jack Dann, der in Australien so vieles möglich gemacht hat. Dank an: Jack Dann ■ John de la Lande Peter McNamara ■ Trish Smyth INHALT Prolog ............................................. 9 1 Kämpen............................................ 11 2 Kapitale............................................ 45 3 Knospende Liebe..................................... 75 4 Gefangen........................................... 117 5 Kode .............................................. 151 6 Der Ruf............................................ 187 7 Coup .............................................. 218 8 Kampf .'............................................ 262 9 Katastrophe......................................... 295 10 Chrysalis ........................................... 327 11 Zauberei............................................ 377 12 Uhrmacher ......................................... 427 13 Chaos.............................................. 473 14 Gefallene........................................... 527 15 Konversion ......................................... 587 -2PROLOG Das Mädchen bewegte sich mit der ruhigen Selbstsicherheit einer Diebin, die wußte, daß sie ungestört bleiben würde. Die Besatzung des hundert Meter hohen Turms hatte die Signalfeuerplattform an seinem Gipfel verlassen, und das Riesenauge ihres Empfangsteleskops starrte mit leerem Blick zu einem Turm am östlichen Horizont hinüber. Das Fernmeldeteleskop war zwar so angebracht, daß es unentwegt ostwärts Ausschau nach Signalen vom Numurkaher Turm her hielt, ließ sich aber zu Justierungs- und Wartungszwecken um ein paar Grad schwenken. Das Mädchen löste die Feststellschrauben des großen Fernrohrs und richtete das Objektiv dann
langsam dorthin aus, wo gerade der Mond aufging. Eine Kolbenuhr an der Wand schlug Viertel vor zehn. Die Kalenderrollen daneben zeigten den 26. September des Jahres 1684 nach dem Großen Winter an. Die Mondoberfläche war das gewohnte Wirrwarr von Kratern und Gebirgen, dazu das zarte Filigranmuster vorzeitlichen Tagebaus. Mit einigen geschickten Drehungen löste das Mädchen das Standard-Okular. Ihre eigene Anordnung von Linsen und Meßschrauben anzubringen und einzustellen dauerte jedoch länger. Die Uhr schlug die zehnte Stunde nach Mittag. Der Mond stand fünf Grad über dem Horizont, als das Mädchen schließlich fertig war. Die stärkere Vergrößerung lieferte ein verwaschenes, in den Luftströmungen waberndes Bild. Da der Mond nicht mehr ganz voll war, bildeten sich Schatten an den Rändern, genau dort, wo sie sie brauchte. Sie richtete die Fadenkreuze in ihrem Okular aus, sah auf die Uhr und maß die Länge eines Schattens, den eine Tagebaugrube warf. Ihr stockte der Atem, und sie mußte ihre Aufregung unterdrücken. Sie wiederholte die Messung und nahm sie dann noch einmal mit dem anderen Auge vor. Die Ergebnisse stimmten überein. Die Uhr schlug Viertel nach zehn. Das Mädchen notierte flugs die Werte, wählte einen anderen Schatten und stellte weitere Messungen an. Um halb elf stand der Mond schon fast zehn Grad über dem Horizont. Die Zeit schien schneller zu vergehen, als sie einen dritten Grubenschatten maß - und -3dann hatte eine der Drehscheiben, die das Teleskop trugen, ihre Maximalhöhe erreicht und ließ sich nicht weiterdrehen. Der Blick auf den lunaren Tagebau glitt aus dem Sichtfeld des Okulars. Das Mädchen senkte das Fernrohr wieder, brachte das Standard-Okular wieder an, richtete das Objektiv wieder auf die Signalfeuerplattform des Numurkaher Turms und brannte die ganze Zeit darauf, sich die Meßwerte noch einmal anzusehen. Ein paar überschlägige Berechnungen bestätigten, was sie bereits vermutet hatte: Die erste der drei Tagebaugruben, die sie vermessen hatte, war signifikant tiefer als ein Jahr zuvor. Sie sah sich noch ein letztes Mal auf der Signalfeuerplattform um, ging dann zum Treppenhaus und begann den langen Abstieg. Den ganzen Weg hinab überlegte sie hektisch hin und her, was die fünfprozentige Vertiefung eines Kratzers auf der Mondoberfläche bedeuten mochte. Als sie hinaustrat auf die stillen Straßen der Binnenhafenstadt, blieb sie kurz stehen und sah zum Mond hinauf. Es war eine ausgesprochen bedeutsame Entdeckung, aber dennoch durfte sie niemandem davon erzählen. Ihr ganzes Leben glich zusehends einem Katalog von Geheimnissen, die sie mit keiner Menschenseele teilen durfte. »Fantastisch. Auch nach zweitausend Jahren funktionieren ihre Maschinen immer noch«, sagte Zarvora Cybeline. Dann wandte sie sich dem mondbeschienenen Gebäudekomplex zu, in dem die Bibliothek der Technischen Hochschule von Echuca untergebracht war. »Es wird Zeit, daß ich mir selber auch eine Maschine baue.« - io -
I Kämpfen Bis zum siebten Zug hatte Fergen bei den Figuren auf dem Brett kein verdächtiges Muster entdeckt. Er war ein vorzüglicher Kämpen- Spieler und hatte sich auch noch die ausgefallensten Strategien und Szenarien eingeprägt. Die Hoheliber zog einen Bauern vor, um Fergens Bogenschützen zu bedrohen. Der Zug war die reine Dreistigkeit, eine billige Finte, die ihn dazu verleiten sollte, den Schuß des Bogenschützen zu vergeuden. Er schob den Schützen beiseite, so daß die Flanke seines Springers gedeckt war. Die Hoheliber lehnte sich zurück und betätigte die stummen Tasten eines alten Cembalos, das man entzweigesägt und mit Bolzen an der Wand ihres Arbeitszimmers befestigt hatte. Fergen rieb sich Putzstaub von den Fingern. Die Spielfiguren waren ebenso damit bedeckt wie das Brett, die Möbel und der Fußboden. Hier sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Drähte hingen aus Löchern in der Decke, durch Lücken in der Wandverkleidung sah man halb fertiggestellte Apparaturen aus Stan-
gen, Rollen, Hebeln, Klinken, Zahnrädern und Achsen, und weitere mechanische Vorrichtungen aus Messing und Stahl ragten aus Löchern im Boden. Hin und wieder regte sich einer der Mechanismen. Fergen widmete dem Spiel seine ungeteilte Aufmerksamkeit, Hoheliber Zarvora aber klimperte gedankenverloren auf den Cembalotasten und blickte nur selten einmal aufs Brett. Ein Gefüge aus Dutzenden markierten Zahnrädern richtete sich leise ratternd neu aus. Diese ganzen Vorrichtungen seien Bestandteile eines Fernmeldesystems, hatte die Hoheliber erklärt. Libris, die Staatsbibliothek, sei mittlerweile so groß, daß sie sich nicht mehr allein mit Hilfe von Schreibern und Boten verwalten ließe. Die Hoheliber beugte sich vor und nahm einen Springer zur Hand. Mit dem Sockel der Figur stieß sie erst einen, dann einen zweiten eigenen Bauern um. Fergen hatte nie bemerkt, was für kleine, blasse Hände die Hoheliber hatte. Ihr Springer schlug noch einen weiteren eigenen Bauern, ehe er kehrtmachte und endlich auf eine gegnerische Spielfigur losging. So eine große, achtunggebietende Frau, und dann hat sie so kleine Hände, dachte Fergen wie gebannt. Der Springer stieß noch einen weiteren eigenen Bauern beiseite; dann fiel sein König. Einen Moment lang starrte er das Gemetzel auf dem Spielbrett an, der Schock angesichts der Niederlage setzte erst mit leichter Verzögerung ein. Vor Wut, Erstaunen, Argwohn, Unverständnis und Furcht wußte er nicht, wo ihm der Sinn stand. Schließlich sah er zur Hoheliber auf. »Ich muß mich noch einmal dafür entschuldigen, wie es hier aussieht«, sagte sie in dem unnahbaren, dabei aber zwanglosen Ton, den sie selbst dem Bürgermeister gegenüber anschlug. »Hat das Chaos hier drinnen Eure Konzentration beeinträchtigt/« »Ganz und gar nicht«, erwiderte Fergen und rieb sich die Augen, hinter denen sich erste Anzeichen einer Migräne bemerkbar machten. »Ich könnte auch in einem Kuhstall spielen und würde doch jeden beliebigen Gegner aus der uns bekannten Welt in unter fünfzig Zügen schlagen. Wißt Ihr, wann ich das letzte Mal eine Partie Kämpen verloren habe?« Die Frage war rhetorisch gemeint, aber die Hoheliber kannte die Antwort. »1671 GW« Sie klimperte weiter auf der stummen Klaviatur. Die mit weißen Punkten markierten Zahnräder klickten und ratterten in ihrem Gestell aus poliertem Holz. »Und jetzt ist es 1696«, sagte er wehmütig. »Und ich habe schon einige Male gegen Euch gespielt, aber solche Züge kenne ich überhaupt nicht von Euch.« »Ich habe geübt«, sagte die Hoheliber leichthin. »Ihr laßt Euch bei jedem Zug viel Zeit, aber was sind das dann auch für Züge! Ich habe in dieser Partie mehr gelernt als in den hundert zuvor. Ihr könnt meinen Titel haben, Hoheliber Zarvora. Ich weiß wahre Meisterschaft zu würdigen, wenn ich sie sehe.« Die Hoheliber betätigte immer noch die stummen Tasten und sah zu den Zahnrädern hinüber. Die selben schlanken, selbstsicher zupackenden Finger, die seinen König mit solcher Leichtigkeit zu Fall gebracht hatten, huschten nun in Mustern, die Fergen nichts sagten, über die leise klappernde Klaviatur. »Ich bin bereits Hoheliber, Bibliothekarin des Bürgermeisters«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Libris, meine Bibliothek, ist die größte der Welt und das Zentrum eines Bibliotheksverbunds, der sich über zahlreiche Stadtstaaten erstreckt. Zu meinem Stab gehören mehr als halb so -4viele Personen wie zu dem des Staatspalastes. Was sollte mich also an Eurem Posten reizen?« »Aber ... aber ein Brettspiel-Staatsmeister steht doch rangmäßig über einer bloßen Bibliothekarin«, stotterte Fergen. »Nur der heraldischen Konvention nach, Fras Staatsmeister. Ich spiele gerne Kämpen, aber meine Bibliothek bedeutet mir mehr. Ich werde niemandem von Eurer Niederlage erzählen.« Fergens Gesicht war rot angelaufen. Sie hätte sein Amt übernehmen können, wollte es aber nicht! Sollte das eine Beleidigung sein? Gab es Gründe für ein Duell? Die Hoheliber galt als
ausgezeichnete Schützin mit der Steinschloßpistole und hatte bei Duellen im Rahmen der Modernisierung der riesigen Bibliothek bereits etliche ihrer Untergebenen getötet. »Mögt Ihr noch eine Partie spielen?« fragte die Hoheliber, die ihn nun ansah, aber immer noch die Tasten anschlug. »Mein Kopf ... fühlt sich an, als hätte man ihn als Amboß benutzt, Frelle Hoheliber.« »Nun, dann kommt doch später wieder«, sagte sie, tippte die Kurzform des Befehls / KÄMPEN: GESAMTVERARBEITUNGSZEIT? / ein und betätigte dann mit dem Fuß einen Hebel. Fergen hörte innerhalb des Mauerwerks gespannte Drähte sirren und Hebel und Zahnräder klappern. »Von mir könnt Ihr nichts mehr lernen«, sagte er resigniert. »Ihr seid der beste Gegner, den ich habe«, entgegnete die Hoheliber. »Ich glaube -« Sie verstummte mitten im Satz und starrte die Reihe der Zahnräder an. »Entschuldigt mich bitte, da ist etwas, um das ich mich kümmern muß«, sagte sie mit plötzlich angespannter Stimme. »Haben die Punkte da auf den Zahnrädern gerade etwas gemeldet?« »Ja, ja, das ist ein einfacher Kode«, sagte sie, erhob sich schnell und nahm ihn beim Arm. »Einen angenehmen Nachmittag noch, Fras Staatsmeister, und mögen Eure Kopfschmerzen schnell vergehen.« Fergen rieb sich den Arm, als ihn der Diener der Hoheliber hinausgeleitete. Die Frau hätte ihn ja fast emporgehoben! Erstaunliche Kräfte, für Fergen aber nicht verblüffender als ihr Sieg auf dem Kämpenbrett. Zarvora riß ein kleines Brett in der Täfelung beiseite und zog an einem der Drähte, die vom Dach herabhingen. Wenig später ertönte aus -5den Messingplatten in der Wandvertiefung ein metallisches Zwitschern und Klappern. »Hier Systemsteuerung, Hoheliber«, meldete sich aus der Ferne eine hohl klingende Stimme. »In welchem Status ist der Kalkulor?« fragte die Hoheliber barsch. »Status HALTEMODUS«, antwortete das ferne Gegenüber. »Was ist jetzt gerade im Anforderungsregister?« »MODUS: KÄMPEN; BEFEHL: GESAMTVERARBEITUNGS-ZEIT?« »Und im Antwortregister?« »46:30,4, Hoheliber.« »Sechsundvierzig Stunden für eine zwanzigminütige Partie Kämpen, Fras Steuerer?« brüllte Zarvora, die für einen seltenen Moment die Beherrschung verlor. »Erklärt mir das!« Es entstand eine Pause, nur unterbrochen vom Rattern der Zahnräder. Zarvora trommelte mit den Fingern an die Wand und starrte auf eine Schiefertafel, auf der sie »46:30,4« notiert hatte. »Systemsteuerung, Hoheliber. Die Register des linken wie auch des rechten Prozessors bestätigen diesen Wert.« »Wie kann es sein, daß beide Prozessoren auf die gleiche absurde Zeitangabe kommen?« »Nun ... ja, das ist schon seltsam, aber das ist so ein Fehler, wie er selbst erfahrenen Schreibern einmal unterläuft.« »Der Kalkulor ist aber kein erfahrener Schreiber, Fras Lewrick. Im Rechnen ist er hundertmal leistungsfähiger, und mit den eingebauten Überprüfungen müßte er eigentlich absolut fehlerfrei arbeiten. Ich will, daß er genau in dem Zustand angehalten wird, in dem er sich bei der letzten Berechnung befand.« »Das ist nicht möglich, Hoheliber. Viele Komponenten des Korrektors waren bei Spielende erschöpft. Sie wurden von Reservekomponenten abgelöst.« Zu spät, dachte Zarvora. »Dann lassen wir jetzt eine Stunde lang Diagnoseberechnungen laufen«, sagte sie. »Und Ihr wechselt keine erschöpften Komponenten mehr aus. Wenn welche an ihrem Pult zusammenbrechen, soll man sie markieren, ehe sie ausgetauscht werden.« »Hoheliber, der Kalkulor ist müde. Das wäre nicht klug.« »Der Kalkulor besteht aus Menschen, Fras Lewrick. Menschen werden müde, der Kalkulor aber wird lediglich langsamer.«
-6»Ich bin doch ständig da unten drin. Er hat Stimmungen, hat Gefühle -« »Ich habe den Kalkulor konstruiert, Lewrick! Ich weiß besser als irgendwer sonst, wie er funktioniert.« »Wie Ihr wünscht, Hoheliber.« Zarvora rieb sich die Schläfen. Jetzt hatte sie auch Kopfschmerzen, aber dank des langen, vibrierenden Drahts unter der Messingplatte bemerkte niemand etwas von ihren Beschwerden. »Ihr wollt mir damit doch irgendwas sagen, Fras Lewrick. Was ist es? Und seid bitte aufrichtig.« »Der Kalkulor gleicht einer Flußgaleere oder einer Armee, Frelle Hoheliber. Er hat einen gewissen ... Geist, eine Seele. Damit meine ich, äh: Genau wie eine Flußgaleere mehr ist als nur ein Haufen Planken und Ruderer, ist der Kalkulor auch mehr als nur eine leistungsfähige Rechenmaschine. Wenn er müde wird, läßt er vielleicht hin und wieder eine fehlerhafte Berechnung passieren, statt sich die Mühe zu machen, sie noch einmal von vorne zu beginnen.« »Er ist nicht lebendig«, entgegnete die Hoheliber eindringlich. »Er ist weiter nichts als eine simple, leistungsfähige Maschine. Das Problem ist menschlichen Ursprungs.« »Sehr wohl, Hoheliber«, sagte Lewrick förmlich. »Soll ich die Korrelator-Komponenten auspeitschen lassen?« »Nein! Tut nichts Ungewöhnliches. Überprüft nur jedes einzelne Funktionsregister auf beiden Seiten der Maschine, während Ihr die Diagnoseberechnungen laufen laßt. Wir müssen ihn dazu bringen, daß er den Fehler wiederholt, und dann die schuldige Abteilung isolieren. Ach ja, und laßt einen Krug Turnierbier in jede Zelle bringen, wenn die Komponenten wegtreten dürfen. Der Kalkulor hat bis zu diesem Fehler gut gespielt.« »Das würde den Missetäter nur ermuntern, Hoheliber.« »Mag sein, aber harte Arbeit soll belohnt werden. Das Problem ist eine Lücke in meiner Konstruktion, Fras Lewrick, nicht die Komponente, die aufgrund dieser Lücke Schwierigkeiten macht. Wir könnten sämtliche Komponenten auf den Hof führen und standrechtlich erschießen lassen, aber die Lücke bliebe dennoch bestehen und würde nur darauf warten, daß irgendeine neue, frischausgebildete Komponente hineinschlüpft.« -6Libris war die Staatsbibliothek von Rochester. Ihr steinerner Signalfeuer-Leuchtturm ragte über zweihundert Meter in den Himmel und beherrschte die Silhouette der Stadt. Inoffiziell wurde die Macht der Hoheliber von Libris nur noch von der des Bürgermeisters übertroffen, und sie kontrollierte einen Verbund von Bibliotheken und Bibliothekaren, der sich über Dutzende Stadtstaaten und Tausende Kilometer erstreckte. In vieler Hinsicht aber war die Hoheliber mächtiger als der Bürgermeister. In den Stadtstaaten des Südostens gab es keine vorherrschende Religion, und der Bibliotheksverbund hatte in vielem die Rolle einer einflußreichen Geistlichkeit eingenommen. Das Bildungs-, Fernmelde- und Verkehrswesen der Stadtstaaten der Südostallianz unterstand der diskreten, aber zupackenden Koordination der Hoheliber von Rochester. Rochester selbst war kein mächtiger Staat; und die übrigen Stadtstaaten der Südostallianz beließen es bewußt dabei, daß es nicht viel mehr war als ein Versammlungsort, eine politische Zweckmäßigkeit. Benachbarte Stadtstaaten wie Tandara, Deniliquin und Wangaratta hatten die wahre Macht inne und übten sie in den Kammern des Konziliums von Rochester auch schamlos aus. Der Verfassung nach war Rochesters Bürgermeister Jefton der Oberbürgermeister des Konziliums, in der Praxis jedoch war er für seine Amtskollegen fast ebenso unbedeutend wie das Gesinde, das den Boden schrubbte, die Wandteppiche abstaubte und den mächtigen Tisch aus rotem Flußeukalyptus polierte, an dem die Versammlungen abgehalten wurden. Libris war der Grund dafür, daß Rochester schwach gehalten wurde. Ein mächtiger Stadtstaat, der den ausgedehnten und einflußreichen Bibliotheksverbund kontrollierte, wäre bald stark genug geworden, um die ganze Allianz zu beherrschen. Eben das wollte das Konzilium verhindern. Zarvora war erst kürzlich in ihr Amt eingesetzt worden, als Nachfolgerin eines Mannes, der achtzig Jahre älter war als sie. Mit vierundzwanzig Jahren war sie Silberdrache geworden und hatte zwei Jahre später den Golddrachenrang übersprungen, um direkt zum Schwarzdrachen ernannt zu werden - dem Rang eines Hohelibers. Dabei hatte auch Glück eine Rolle gespielt:
Bürgermeister Jefton war ebenfalls jung und ehrgeizig, und er war es leid, sich von alten Frauen und Männern sagen zu lassen, was er zu tun hatte und was nicht. Zarvora bot ihm die Chance, Rochesters Macht zu mehren, und lieferte dazu auch einige radikale, aber durchaus praktikable Vorschläge. Er empfahl sie dem Konzilium und ermöglichte ihr, im Kreis der Bürgermeister vorzusprechen. -7Sie kündigte an, sowohl Libris als auch das Signalfeuernetzwerk binnen dreier Jahre in die finanzielle Unabhängigkeit zu führen oder aber zurückzutreten. Die Bürgermeister waren beeindruckt und beriefen sie auf den Posten. Zarvora wurde im Jahre 1696 nach dem Großen Winter zur Hoheliber ernannt, und tiefgreifende Veränderungen folgten. Die Tigerdrachen, die interne Wachmannschaft von Libris, wurde auf die dreifache Personalstärke aufgestockt, und eine ihrer Abteilungen, die sogenannten Schwarzen, bildeten nun eine Geheimpolizei. Libris wurde teilweise um- und ausgebaut, und Personal und Bücher wurden in andere Bereiche verlegt. In den Werkstätten der erweiterten Bibliothek schufteten die Handwerker Tag um Tag und Monat um Monat in Zwölfstundenschichten, bauten seltsame mechanische Vorrichtungen und Möbelstücke. Tischler, Schmiede und Uhrmacher wurden von weither angeworben, und die Edutoren der Hochschule wurden beauftragt, entlegene Probleme der Symbolischen Logik zu lösen. Weite Bereiche von Libris wurden von der Außenwelt abgeschottet. Zarvora erklärte, Libris sei zu groß geworden, als daß man es noch manuell verwalten könne, und deshalb habe man eine große, aus Schreibern, Dienern und Bibliothekaren bestehende Fernmeldeund Koordinationsabteilung aufgebaut, welche die Buchbestände verwalten und die Aktivitäten der Bibliothek aufeinander abstimmen solle. Und tatsächlich arbeitete Libris binnen weniger Monate schon sehr viel effizienter, und die Bürgermeister vermochten Ende 1696 schon erhebliche Einsparungen bei den Betriebskosten zu erkennen. Auch beim Personal gab es in Libris durchgreifende Änderungen. Bei den Rot- und Gründrachenprüfungen wurden nun Kandidaten mit Kenntnissen in Mathematik und Mechanik bevorzugt, nicht mehr nur solche, die sich in Bibliothekswissenschaft und den Klassikern auskannten. Kein neuer Mitarbeiter war älter als 35 Jahre, und viele nutzten die Möglichkeit, sich an der Universität von Rochester fortzubilden. Diese Veränderungen trafen bei weitem nicht auf einhellige Zustimmung, aber die Hoheliber trieb sie entschlossen und rücksichtslos voran. Sie nutzte ihren Einfluß, wo sie nur konnte, focht Duelle aus, ließ Beamte ermorden ... und sorgte sogar dafür, daß die Rechenkundigeren unter ihren Gegnern in eine ganz neue Form der Zwangsarbeit verschleppt wurden. Wenn diejenigen, die ihr im Wege standen, Libris nicht angehörten, mußte sie andere Mittel und Wege finden, sie kaltzustellen. Im Falle von -7Fertokli Fergen, dem Brettspielstaatsmeister von Rochester, hatte sie zu einer Demütigung gegriffen. Der Ruf zog im Schrittempo übers Land, sichtbar nur anhand der Lebewesen, die er mit sich fortriß. Er zog nach Südosten, und in seinem Einflußbereich von zehn Kilometern folgten ihm Hunde, Schafe, hin und wieder Pferde und ab und zu auch ein Mensch. Obwohl er in weiter Ferne, in den Trockengebieten von Willandra, seinen Ausgang genommen hatte, wanderte keins der Tiere, die ihm zunächst gefolgt waren, nun immer noch unter seinem Bann, und es war auch keines von ihnen mehr am Leben. Nur wenige Wesen, die der Ruf mit sich fortzog, trafen je an seinem Ursprung ein. Ettenbar war ein Hirte aus dem Südmaurenreich und führte nahe des Grenzflusses zwischen den Ländereien des Emirs und dem Stadtstaat Rutherglen ein riskantes Leben. Seine Schafe weideten friedlich in einem Rund, an den Pflock geleint, den er an diesem Morgen eingeschlagen hatte. Seine Emus aber gingen mit weitausgreifenden, tänzelnden Schritten ungehindert zwischen den Schafen einher, ganz Hals, Beine und zottiges Federkleid. Zu ihren Füßen trippelten Hühner. Eine Regung in der Ferne ließ Ettenbar aufmerken: ein streunender Schafbock ohne Haltestrick. Auf Schafe ohne Haltestrick war eine Belohnung ausgesetzt, und streunende Schafe, die kein
Brandzeichen trugen, durfte behalten, wer sie einfing. Ettenbar machte sich von dem Pflock los und begann sich an den Merinobock mit dem gewundenen Gehörn heranzupirschen. Der Schafbock war wachsam. Als Ettenbar näherkam, trabte er in sichere Entfernung davon. Nun näherte sich Ettenbar über die Flanke und löste dabei seine Bolas. Das streunende Schaf hielt weiterhin Abstand. Ettenbar schlich näher, trieb es zu einer Stelle, an der ein paar Sträucher ihm Deckung boten. Der Trick funktionierte. Als er noch fünfzig Meter entfernt war, wirbelte er seine Bolas, warf - und fing den streunenden Schafbock an den Hinterläufen. Als er hinging, um seine strampelnde und blökende Beute einzusammeln, brandete der Ruf über ihn hinweg. Einen flüchtigen Moment lang blieb Ettenbar noch eine Wahl, wenn auch eine Wahl mit nur einem möglichen Ergebnis. Doch er verriet sich selbst, nahm seine Schwäche hin und schwelgte darin und das alles in Gedankenschnelle. Seine Disziplin und Selbstbeherrschung waren wie -8weggefegt, seine Schritte verlangsamten sich, und er wandte sich um und ging gen Südosten davon. Der Schafbock beeilte sich ebenfalls zu folgen, kam aber mit den um seine Hinterläufe geschlungenen Bolas dem Ruf nicht so schnell hinterher. Ettenbars Schafe lockte der Ruf ebenfalls fort, aber sie kamen nur so weit, wie ihre Haltestricke reichten. Seine Emus sahen ihnen dabei fragend zu, die Köpfe mit vogelhafter Neugier zur Seite geneigt. Sie waren zwar viel größer als die Schafe, als Vögel aber immun gegen den Ruf. Sämtliche Säugetiere, die größer waren als eine große Katze, wurden fortgezogen, nie aber Vögel oder Reptilien. Hindernisse nur schemenhaft wahrnehmend, ging Ettenbar weiter. Er durchwatete Wasserläufe, purzelte Abhänge hinab, erklomm Felswände und stolperte über gepflügte Äcker. Er kam an einem Bauern vorbei, der sich dagegen sträubte, vom Ruf nach Südosten fortgezogen zu werden. Den Mann hielt ein Leibanker, der von einem Zeitschalter aus Rohleder zehn Minuten nachdem ihn der Ruf erfaßt hatte, ausgeworfen worden war. Der Bauer würde überleben, Ettenbar dagegen war der Welt bereits verloren gegangen, war, weil er sich frei bewegen konnte, praktisch schon ein toter Mann. Vor ihm lag der breite, braune Fluß, der die Grenze markierte. Ettenbar watete hinein und schwamm dann los. Nicht einmal ein Viertel der Lebewesen, die der Ruf mit sich gezogen hatte, überlebte die Durchquerung dieses Stroms, Ettenbar aber ging am Südufer wieder an Land und wankte weiter. Als er fünf Kilometer auf das Gebiet des christlichen Stadtstaats Rutherglen vorgedrungen war, lief er blindlings in ein dichtes Brombeergestrüpp. Die dicke Lederkleidung und die Hirtenstiefel, derentwegen er im Fluß fast ertrunken war, schützten ihn nun vor dem Schlimmsten, das ihm die Dornen antun konnten, aber jetzt konnte er nicht einmal mehr mit dem langsamen Schrittempo des Rufs mithalten. Der Ruf lockte ihn weiterhin, und der Hirte mühte sich zu folgen, und die Dornen rissen ihm derweil Gesicht und Hände auf. Schließlich hatte er sich mit den Beinen so im Gestrüpp verheddert, daß er nicht mehr weiterkam. Drei Stunden später zog der Ruf schließlich vorüber und gab ihn frei. Ettenbar kam zu sich. Er war durchnäßt, er fror, er blutete und war vollkommen erschöpft. Die Sonne stand tief, fast von aufziehenden Wolken verborgen. In dem einen Moment war er noch auf den Schafbock zugegangen, den er gefangen hatte, und dann ... der Ruf hatte ihn verschont! Mit blutenden Fingern zog er sein Messer und schnitt seine Beine aus den Dornenranken frei. Er strauchelte aus dem Gestrüpp, warf sich -8zu Boden und dankte Allah, daß er ihm das Leben wiedergegeben hatte. An der untergehenden Sonne orientierte er sich, wo Nordosten war, und machte sich dann auf den Heimweg. Er schämte sich zwar, daß der Ruf ihn ohne sein Halteseil erwischt hatte, schritt ansonsten aber stolz einher. Der Ruf hatte ihn freigegeben, in den Augen Allahs war er gesegnet. Erst als er am Fluß ankam, wurde ihm klar, wo er war. »Hey, Rufdreck!« schrie jemand hinter ihm. Er zögerte kurz und lief dann in Richtung Flußufer los. Ein Schuß knallte, und vor ihm stob Erdreich auf. Ettenbar blieb stehen und drehte sich mit erhobenen Händen um.
Drei bärtige, blutverkrustete Schreckgespenster kamen auf ihn zu. Es waren keine Grenzsoldaten, sondern menschliche Aasgeier, die nach Vieh suchten, das bei dem Versuch, dem Ruf zu folgen, im Fluß ersoffen war. Ettenbar sah, daß nur einer von ihnen eine Schußwaffe bei sich trug, und zu spät wurde ihm klar, daß er hätte fliehen können, während die Muskete nachgeladen wurde. Die Männer trugen fleckiges Ölzeug und Kniebundhosen aus dickem Wollflanell und stanken nach Hammelfett und Blut. Durch ausgefranste Löcher zeigten sich drei grindige Kniepaare. Sie waren gerade dabei gewesen, ersoffene Schafe an Land zu ziehen und für die Märkte von Rutherglen zu schlachten, als Ettenbar in Sicht gekommen war. Prakdor lud seine Waffe nach, und Mikmis und Allendean beäugten derweil ihre Beute. Prakdor war zwar ihr Anführer, überließ das Reden aber meistens Mikmis. Er hatte früher einmal in der Armee seines Bürgermeisters gedient und wußte daher, was denen blühte, die sich allzu lautstark zu Wort meldeten. »Ein Schafficker aus dem Südmaurenreich«, bemerkte Mikmis, als sie Ettenbar an Händen und Füßen fesselten. »Gefangenhalten? Lösegeld?« fragte Allendean. »Lösegeld? Für einen Schafficker? Da würden wir ja nicht mal die Kosten für die Fesseln reinkriegen. Nein, laßt ihn uns lieber nach Wahgunyah bringen und als Ruderer an einen Kahnbesitzer verticken.« »Wahgunyah. Das ist weit«, murrte Allendean. »Er ist kräftig. Für den kriegen wir fünfundzwanzig Silbernobel.« Ettenbar sah währenddessen über den Fluß zu den Feldern und Weiden seiner Heimat hinüber. Bis zu diesem Tag hatte er sich nie weiter als dreißig Kilometer von seinem Geburtsort entfernt, und jetzt erschien es eher unwahrscheinlich, daß er dieses Land je wiedersehen würde. »Jorah«, murmelte er. »Was sagt er?« fragte Allendean. »Jorah - so nennen die Südmauren den Ruf«, sagte Prakdor. »Das bedeutet > Veränderer des Lebens. <« »Scheiße, da hat er wohl recht«, gluckste Mikmis. »Gib deinen Lämmern einen Abschiedskuß, du Schafficker.« Die drei Männer brachen in rauhes Gelächter aus. »Hey, ob der wohl zählen kann?« rief Mikmis plötzlich. »Kannst du zählen? Ah ... Prakdor, weißt du, wie man das sagt?« »Vu numerak, isk vu mathemator7.« fragte Prakdor im Dialekt des benachbarten Südmaurenreichs. Ettenbar nickte stolz. Die örtliche Moschee unterhielt eine gute Schule. »Dann kann er also zählen! Ich habe gehört, der Hegemeister zahlt einen Goldroyal für jeden Südmauren, der zählen kann - und zwei, wenn er auch noch Austarisch spricht.« »Das können Schafficker nicht«, murrte Allendean. »Mann, du Schwachkopf, das ist immer noch viermal so viel, wie er als Ruderer bringen würde.« Sie wandten sich an Prakdor, der es sich durch den Kopf gehen ließ und dann nickte. »Wir nehmen ihn mit ins Lager und machen ihn sauber. Mikmis, du gehst nach Wahgunyah und sprichst beim Hegemeister vor.« Nichts symbolisierte die Macht und Autorität von Libris besser als die großen Signalfeuer-Leuchttürme in jeder Stadt. In Rutherglen stand der Turm auf dem Gelände der Technischen Hochschule, der Unitech, allerdings ein gutes Stück abseits der dortigen Bibliothek. Lemorel war zielstrebig die mit Kopfstein gepflasterten Campusstraßen hinabgegangen, doch aus irgendeinem Grund blieb sie nun stehen und sah zu dem Turm hinauf. Seine Verkleidung aus getünchtem Holz zeichnete sich leuchtend weiß vor dem Wolkenhimmel dieses Spätwinternachmittags ab. Weiße Rauchfahnen stiegen aus den Abzügen an seinem First. Sie stammten von den Magnesiumfackeln, die der Leuchtfeuer-Maschinerie bei fehlendem direktem Sonnenschein Licht lieferten. Ein Signal war nach Westen, 1 nach Numurkah, ausgerichtet und wurde von dort aus weiter südwestlich nach Rochester übertragen. Für die Entfernung, die so eine Nachricht im Nu zurücklegte, hätte Lemorel Monate
oder gar Jahre gebraucht... aber egal. Heute würde sie einen weiteren Schritt auf ihrer Reise in die Hauptstadt unternehmen. Daß Lemorel an diesem Tag nicht verschleppt wurde, verdankte sie ihrem Status als Bibliothekarin. Fünf Männer in abgetragenem Ölzeug lungerten am Eingang der Unitech herum und starrten auf ein Blatt Mangelpapier, bei dem es sich um einen Stadtplan handeln mochte. Sie sahen aus wie Landarbeiter auf Wanderschaft, die versuchten, sich in einer fremden Stadt zurechtzufinden. »Lemorel Milderellen, Gelbdrachen-Bibliothekarin«, flüsterte einer von ihnen, als Lemorel durchs Tor schritt. Ein anderer schüttelte den Kopf. »Laßt sie gehen.« »Sie hat an der Unitech den Mathematik-Preis gewonnen«, beharrte der erste. »Wenn wir auch nur eine Weißdrachen-Bibliothekarin entführen, werden wir garantiert hingerichtet. Wer ist der nächste?« »Joakim Skinner. Hilfsedutor für Rechnungswesen.« »Der schon eher. Den mal vormerken.« »Fünf. Der bringt fünf.« »Fünf reicht doch. Das macht für jeden von uns zwei Goldroyal.« »Der Schutzmann da glotzt uns schon wieder an«, meldete der hagere, großgewachsene Kerl, der für sie Schmiere stand. »Dann sollten wir uns ein Kaffeehaus suchen und mal ein Weilchen abwarten.« Sie hatten die Farbe des Armbands nicht bemerkt, das die Bibliothekarin trug. Lemorel war erst an diesem Nachmittag in den Orangedrachenrang befördert worden. Diese Beförderung hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erfolgen können, denn es war gerade ein Regionalinspektor in der Stadt. Libris rekrutierte Bibliothekare von außerhalb Rochesters ab dem Rang eines Rotdrachens. Lemorel standen noch mindestens zwei Jahre bevor, bis sie zu dieser Prüfung zugelassen werden konnte, doch seit Zarvora das Amt der Hoheliber übernommen hatte, ließen sich Beförderungen beschleunigen. Rutherglen war seit Anbeginn der geschichtlichen Aufzeichnungen das Herzland des Weinbaus, und der Lebensrhythmus dort war eng verbunden mit den Kreisläufen rund um die Traubenlese. Nun war Spätwin — 10 ter, die Zeit, in der man Ausbesserungen vornahm und Fässer baute, im freien Waldland des Südens wilde Emus jagte und an den Abenden am Feuer bei alten Jahrgängen lange philosophische Gespräche führte. Bunte Fähnchen, Girlanden und Tannengrün schmückten anläßlich des Weinfestes die Türen der meisten Wohnhäuser und Geschäfte. Außer Sicht probte irgendwo auf einem Dach eine Musikkapelle. Lemorel bemerkte, daß das Kornetton leicht verstimmt war und die beiden Schneckenhornbläser offenbar schon allzu tief ins Glas geschaut hatten. Kochstellenrauch, der nach Schmorgerichten und Backwaren duftete, hing über den Straßen und mischte sich mit dem Nebel. Überladene Dreiräder knarrten und rumpelten auf ungefederten Holzreifen die Rufseite der Straße entlang. Es hatte seit über drei Wochen keinen Ruf mehr gegeben, erinnerte sich Lemorel, als ihr Rufzeitschalter mit einem Klappern warnte, daß sein Uhrwerk in einer Minute abgelaufen sein würde. Mit einem Griff an ihre Taille stellte sie den Rücksetzknopf auf eine halbe Stunde und zog die Uhrfeder wieder auf. Ein Ruf stand bald bevor, und sie hoffte, daß er nicht ausgerechnet während ihres Vorstellungsgesprächs kam. Die Hausfassaden an der Nordseite der Straße waren tür- und fensterlose Mauern aus Altstein, Teerziegeln und roten Schindeln. Jede Straße hier hatte eine solche kahle Seite. Wenn ein Ruf kam, gingen diejenigen, die sich gerade in den Häusern aufhielten, zu der undurchbrochenen Mauer hinten im Haus und taperten dort ohne Sinn und Verstand, aber immerhin in Sicherheit auf und ab. Kein Fenster und keine Tür wies in die Richtung des Rufs. Genau wie die Leute hier, dachte Lemorel: Auf der einen Seite freundlich und offenherzig und auf der anderen verständnislos und abweisend. Wer sie auf Anhieb erkannte, wandte schnell den Blick ab. Lemorel phantasierte, sie selbst sei der Ursprung des Rufs, eine niedere Gottheit, gegen die sich die Menschen zu schützen versuchten, indem sie ihr die kahle
Seite, die kalte Schulter zeigten. Das war zwar ein altes, längst fade gewordenes Gedankenspiel, aber ihre einzige Wehr gegen die Bürger der Stadt, die ihr aus dem Weg gingen. In der Ferne erblickte sie das Wanderers Rast, ein Wirtshaus für bessergestellte Reisende. Dort wurde sie vom Regionalinspektor erwartet. Um vier Uhr hatte sie einen Termin bei ihm. Der große Zeiger der Uhr auf dem Staatspalast war schon bei der Ziffer angelangt, aber das Glockenspiel hatte noch nicht begonnen. Lemorel verlangsamte ihre Schritte. - 11 Ob es nun um Prüfungen, Termine oder Duelle ging: Entscheidend war immer das richtige Timing. Für Lemorel war dies eine Chance, in Würde zu entfliehen. Als Bibliothekarin, die im Ruf stand, eine gute Schützin zu sein, konnte sie vielleicht nach Libris gelangen, ohne sich auf die langen Irrwege des Protokolls einlassen zu müssen. Die neue Hoheliber war ebenso erfrischend jung wie ihr Amtsvorgänger lähmend alt gewesen war. Jahrhundertealte Traditionen wurden über Bord geworfen, und den Jungen und Fähigen bot sich eine Chance. Lemorel arbeitete in der Bibliothek der Technischen Hochschule Rutherglen, die wie alle Bibliotheken der Südostallianz Libris angeschlossen war. Als Lemorel in den Weißdrachenrang befördert worden war, den niedrigsten Rang für Bibliothekare, war der Hoheliber von Libris seit einundvierzig Jahren im Amt und einhundertsechs Jahre alt. Er starb noch im selben Jahr, und Zarvora Cybeline wurde seine Nachfolgerin. Zarvora war dynamisch und ehrgeizig, hatte an der Hochschule von Rochester einen Abschluß in Angewandter Algebra gemacht... und war gerade einmal sechsundzwanzig. Am Tag nach ihrem Amtsantritt hatte sie den Kämpen des stellvertretenden Hohelibers in einem Duell getötet und binnen Monatsfrist drei Viertel der alten Führungsebene in die Verbannung geschickt. Lemorels Aushilfsjob in einem öden, bürokratischen Beruf hatte sich mit einem Mal in eine fabelhafte Aufstiegschance verwandelt. Lemorel sah zum Glockenturm hinauf und zitterte in der stillen, kalten Luft. Der Zeiger stand nun direkt über der Vier. Mittlerweile mußte der Bolzen am Stunden-Zahnrad gegen den Auslösehebel der Glockenspieltrommel drücken. An einem Flaschenzug angebrachte Gewichte würden die Trommel bald drehen, und die Stifte auf ihrer Oberfläche würden eine weitere Hebelmechanik in Gang setzen und mit Sprungfedern versehene Hämmer dazu bringen, auf Messingglocken eine Melodie zu spielen. Lemorels Vater hatte den ganzen Mechanismus jahrelang gewartet, und einige ihrer frühsten Erinnerungen galten dem Inneren dieser Turmuhr. Mittlerweile war es ihrem Vater verboten, dort zu arbeiten, und allmählich ließ die Genauigkeit des Uhrwerks nach. In der Ferne ertönte ein gedämpftes Klappern, und dann begann das Glockenspiel. Das Herz schlug Lemorel bis zum Hals, als sie den Schankraum des Wirtshauses betrat und einen beleibten Mann erblickte, der ein legeres, kastanienbraunes Gewand und das silberne Dienstabzeichen der Auf- 11 Sichtsbehörde trug. Er zwirbelte sich die gewichste Kinnbartspitze und runzelte die Stirn. Beim letzten Glockenschlag durchmaß sie den Raum. Vellum Drusas hatte eine Reihe von Weinanbauorten, die er nach Möglichkeit jeden Winter besuchte. Das war eine angenehme Jahreszeit, denn die Einheimischen hatten Zeit und freuten sich über Besuch von außerhalb. Seine Reisen waren natürlich zuallererst durch einen dienstlichen Anlaß gerechtfertigt, und obzwar Drusas geistig vielleicht etwas träge war, war er doch nicht so dumm, seine Reiseerlaubnis in irgendeiner Hinsicht zu mißbrauchen. Wenn er auch nur ein klein wenig arbeitete, um seine Reise in seine Lieblingsweinanbauorte zu rechtfertigen, so arbeitete er doch immerhin. Der Schankraum war voller Winzer und Kunsthandwerker von außerhalb, die sich zum winterlichen Weinfest hier eingefunden hatten. Das war auch der Anlaß für Drusas' Aufenthalt in der Stadt. Der Qualm der Sonnenblumenöllampen und der zahlreichen Pfeifen hing in der warmen Luft, und es wurde laut und schrill durcheinander geredet. Das lag weniger daran, daß die Sprecher betrunken gewesen wären, sondern vielmehr daran, daß sie es gewöhnt waren, einander auf dem freien Feld etwas zuzubrüllen. Die Bauern wanden und kratzten sich, waren es
nicht gewöhnt, gestärkte Hemden und enge Hosen aus aufgerauhter Baumwolle zu tragen. Manche beäugten argwöhnisch die Kolbenuhr, die hier statt Sonne, Mond und Sternen den Lauf der Zeit markierte. Drusas sah ebenfalls auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Wenn sich die Bibliothekarin verspätete, würde ihm keine Zeit mehr bleiben, sich unter die Weinbauern zu mischen und ihnen eine Einladung für den Weinverkostungswettbewerb an diesem Abend abzuschwatzen. »Auf 1681!« rief jemand, und die meisten im Schankraum hoben die Kelchgläser. Ja, das war tatsächlich ein ausgezeichneter Jahrgang gewesen; Drusas hatte selbst noch neun Flaschen des berühmten '81er Barioch Shiraleng im Keller - die zehnte hatte er an dem Tag geköpft, an dem er stellvertretender Oberliber geworden war. Der Wert der Flaschen war seit dem Kauf um das Fünfzehnfache gestiegen. Draußen begann das Glockenspiel, und als die Uhr die vierte Stunde schlug, stand mit einem Mal eine junge Frau vor Drusas. Er sah große, dunkle, ernst blickende Augen in einem hübschen, runden Gesicht, umrahmt von geflochtenem und hochgestecktem schwarzem Haar. Ihre - 12 ^1 Hemdbluse war in dem vom örtlichen Oberliber vorgeschriebenen hellen Veilchenblau gehalten, und ihr Regencape aus Ölzeug war offenbar schon lange in Gebrauch. Sie verbeugte sich mit einer flinken, vogelartigen Bewegung und händigte ihre Papiere aus. Drusas nahm sie entgegen, bemerkte, daß die junge Frau außer Haarspangen keinen Schmuck trug und daß ihr Waffengurt strikt funktionellen Charakter hatte. Eine typische ehrgeizige Jungbibliothekarin, schloß er. »Frelle Milderellen?« fragte er. »Ja, Fras Inspektor.« »Ihr kennt mich vom Sehen?« »Ihr habt mir letztes Jahr bei einer Zeremonie in Wangaratta den Gelbdrachenrang verliehen.« »Ach ja, da gab es viele Verleihungen und nur einen Verleiher. Aber vielleicht war ich ja schlicht und einfach unvergeßlich, hm?« Er zwinkerte ihr zu und schenkte ihr einen leicht lüsternen Seitenblick. Lemorel reagierte nicht darauf, errötete nicht einmal. Drusas senkte den Blick schnell auf ihre Papiere. Ein Diplom der örtlichen Technischen Hochschule, ein Waffenschein ... »Orangedrache«, sagte er und wies damit eifrig auf einen offenkundigen Fehler hin, um zu zeigen, daß er auf dem Quivive war. »In Eurem Gesuch von heute morgen stand, daß Ihr Gelbdrache seid.« »Ich wurde heute befördert, Fras Inspektor.« »Ganz ohne Zeremonie?« »Ja, Fras Inspektor. Ich habe mich gegen den Willen meines Oberlibers für die Einstufungsprüfung gemeldet. Weil ich die Prüfung bestanden habe, stand mir eine Beförderung zu, aber -« »Aber weil Ihr auf eigenes Ersuchen hin befördert wurdet, habt Ihr automatisch auf eine Gehaltserhöhung und eine Verleihungszeremonie verzichtet. Apropos: Glückwunsch!« Er lehnte sich zurück und trank aus einem blauen Kristall-Kelchglas einen Schluck Frostwein. Dann las er weiter, und als er bei ihrem polizeilichen Führungszeugnis angelangt war, wurde ihm ausgesprochen mulmig zumute. Dort stand, daß sie ein Kampf-ordal überlebt hatte. Man hatte ihn gewarnt, in Rutherglen gebe es einen Sonderfall, und das hier mußte er sein. Lemorel sah, daß ihm die Farbe aus dem Gesicht wich. Sie atmete tief durch und faltete die zitternden Hände hinter dem Rücken. »Frelle Milderellen, Ihr habt hervonagende Leistungen vorzuweisen«, sagte Drusas langsam. »Bestnoten in Eurem Jahr an der Unitech, - 12 Handfeuerwaffen-Schützenkönigin auf dem hiesigen Jahrmarkt - zweimal - und mit neunzehn schon Orangedrache. Ihr ersucht darum, mit Eurem gegenwärtigen Dienstgrad nach Libris versetzt zu werden, dabei aber weiterhin dem Stab der Unitech anzugehören. Das ist nicht möglich.« Nicht einmal das rauhe Geplänkel der anderen Zecher konnte das frostige Schweigen füllen, das nun für einen Moment folgte.
»Der Oberliber der Unitech hat mir versichert, das sei durchaus machbar.« »Es ist auch machbar, aber nur wenn er Euren Posten als Orangedrachen ebenso wie Euch persönlich dauerhaft nach Libris versetzt. Libris hat in letzter Zeit eine ganze Menge Bibliothekare aus dem ganzen Land geschluckt. Euer Oberliber mag ja willens sein, Euch, Lemorel Milderellen, gehen zu lassen, aber ich bezweifle, daß er auf das Recht verzichten wird, Eure Stelle neu zu besetzen.« »Heißt das, mein Gesuch ist damit abgelehnt?« Sie verhielt sich höflich und ehrerbietig, aber irgend etwas an ihr machte den rundlich-behaglichen Drusas nervös. Es war weniger die Gefahr, daß sie ihn aus irgendeiner dunklen Gasse heraus erschoß, als vielmehr, daß sie sich in zwanzig Jahren an ihn erinnern würde, wenn sie Golddrache in Libris war. »Abgelehnt? Nein, um Himmels willen, nein«, lachte er. »Wir müssen Euren Fall nur noch etwas ausführlicher diskutieren. Es gibt viele Wege, die man beschreiten könnte, und Ihr müßt den richtigen beschreiten. Andernfalls fiele das auf mich als Euren Berater zurück. Kommt, setzt Euch. Frostwein? Honiggebäck?« Lemorel setzte sich an seine Seite, so wachsam und geschmeidig wie eine Katze bei einem Fremden, der nach Hund roch. Sie nahm sich einen Honigkeks. »Dann laßt uns doch einmal Tacheles reden, Frelle. Warum wollt Ihr denn unbedingt nach Libris? Um einem Geliebten zu folgen? Um nörgelnden Eltern zu entfliehen? Oder etwa tatsächlich, um beruflich voranzukommen?« »Spielt das wirklich eine Rolle, Fras Inspektor?« »Aber sicher doch. Den weiten Weg nach Libris zu gehen ist ein drastischer Schritt. Wie ist es denn nun um Eure Lebensumstände bestellt?« Lemorel brauchte einen Moment, um die Worte zu sammeln - Worte, die sich nicht mildern ließen, es sei denn, sie log. Und daß sie nicht lügen würde, hatte sie sich fest vorgenommen. - 13 »Ich habe bei zwei Duellen und einer Fehde insgesamt neun Männer und eine Frau erschossen. Und ein Freund hat sich meinetwegen umgebracht. Ich stehe unter dem Schutz der Justiz, aber meine Familie ist in fünf Stadtstaaten von den Angehörigen der Toten geächtet worden. Die Geschäfte meines Vaters leiden darunter, Fras Inspektor, aber wenn ich ins Exil gehe und mich dabei weit genug entferne, wird die Ächtung wieder aufgehoben.« Drusas lief es kalt über den Rücken, und er trank schnell seinen Frostwein aus. Der kam ihm mit einem Mal so lasch vor wie Zuckerwasser, und daher bestellte er sich schnell ein Glas Schwarzfaßbrandy. »Diese, äh, Erschießungen ... ich nehme an, die entsprachen alle den Regeln des Gesetzes über Streit und Versöhnung von 1462 GW?« »Ja, Fras Inspektor.« Das Gesetz über Streit und Versöhnung war ein Vermächtnis des alten Riverina-Reichs und sollte die Zahl gewaltsamer Zwischenfälle verringern, indem es die Gewalt in bestimmte Bahnen lenkte und mit Ritualen und Regeln versah. Das Tragen von Waffen war weniger auf die gebildeten, herrschenden Schichten beschränkt, als es vielmehr von ihnen verlangt wurde. Schußwaffen symbolisierten Recht und Macht, und daher mußten diejenigen, die Macht ausübten und Recht sprachen, Schußwaffen tragen und in ihrem Gebrauch geübt sein. Das letzte Rechtsmittel gegen eine gerichtliche Entscheidung war das Kampfordal, bei dem sich entweder die Disputanten selbst oder von ihnen berufene Kämpen einen gerichtlichen Zweikampf lieferten. Die Todesstrafe wurde unweigerlich gegen jeden verhängt, der dieses System arrangierter Duelle außer acht ließ, und für deren Familien gab es ein System ruinöser Geldstrafen. Es geschah nicht oft, daß ein Streit schließlich in einem Kampfordal aus-gefochten wurde, aber es kam durchaus vor. »Ah, nun denn - und warum Libris?« fragte Drusas. »Warum nicht eine Bibliothek in einem nähergelegenen Stadtstaat, der Eure Familie nicht geächtet hat?« »Ich bin in den benachbarten Stadtstaaten bekannt wie ein bunter Hund. Und Libris ist groß genug und weit genug entfernt, damit ich dort unerkannt leben kann.«
Das klang für Drusas ausgesprochen vernünftig. »Orangedrache«, sagte er, hielt dann inne und betrachtete aufmerksam seinen Brandy. »Das macht schon einen Unterschied.« Lemorel beugte sich gespannt, neugierig, wißbegierig vor. Drusas - 14 zuckte unwillkürlich zurück und dachte: So würde sie sich bewegen, wenn sie sich mit mir duellieren würde. Ja, im Grunde tat sie gerade genau das. »Ich kann die Regeln nicht ändern, aber ich kann Kandidaten für die Einstufungsprüfungen in Libris empfehlen. Ihr seid Orangedrache, also seid Ihr theoretisch berechtigt, jederzeit die Rotdrachenprüfung abzulegen. Euer Oberliber wäre wahrscheinlich nicht damit einverstanden, aber wenn Ihr nach Libris kommt, spielt das ja im Grunde auch keine Rolle mehr, nicht wahr?« »Den Vorschriften nach beträgt die Wartezeit mindestens zwei Jahre.« »Nein, die empfohlene Wartezeit beträgt zwei Jahre. Es hat einmal einen Fall gegeben, das war, äh, 1623, da hat man einen Kandidaten zu Unrecht 47 Jahre lang im Rang eines Gelbdrachen belassen. Als der Fall schließlich dem Regionalinspektor zu Ohren kam, wurde der Mann nach nur wenigen Minuten vom Orangedrache zum Rotdrachen befördert. Euer Fall liegt natürlich anders, aber Ihr könnt zur Rotdrachen-Prüfung nach Libris aufbrechen, sobald Ihr hier abreisen könnt. Und wenn Ihr die Prüfung besteht, werdet Ihr befördert. Dann könnte Euer ehemaliger Oberliber Eure Gelbdrachenstelle neu besetzen, und alle wären glücklich und zufrieden.« Er lehnte sich großmütig lächelnd zurück. Lemorel brauchte einen Moment, bis sie begriff, daß er ihr helfen wollte. »Fras Inspektor, ich danke Euch -« »Nein, dankt mir bitte noch nicht. Ich muß mich erst davon überzeugen, daß Ihr auch nur den Hauch einer Chance habt, diese Prüfungen zu bestehen. Also, wie steht es mit Euren Schießkünsten - ach, nein, daran kann ja kaum ein Zweifel bestehen. Zu Euren Studienfächern an der Unitech gehört auch Mathematik, gut, das wird der Hoheliber gefallen. Nur ein Schein in Bibliotheksgeschichte, und nur eine Prüfung in Heraldik bestanden ... Aber das spielt vielleicht auch gar keine Rolle. Diener!« Ein schlaksiger junger Mann von Mitte zwanzig mit einer dicken Drahtgestellbrille auf der Nase kam hinter Lemorel herbeigeeilt und brachte ein kleines Schreibpult. Er klappte dessen Beine aus, entkorkte das Tintenfaß und hielt Drusas eine Auswahl frisch zurechtgeschnittener Gänsekiele hin. Der Inspektor griff mit schwungvoller Geste zu und begann zu schreiben. - 14 »Habt Ihr gültige Grenzpapiere/« fragte er. »Ja, Fras Inspektor, ich kann heute abend noch abreisen.« »Heute abend noch? Nun, dann sei dem so.« Er schrieb schnell ein paar Vermerke, und sein Diener brachte derweil am Feuer etwas Siegelwachs zum Schmelzen. »Diener, bring das zum Signalfeuerturm der Unitech und sorge dafür, daß es heute abend noch übertragen wird. Lemorel, das ist für Euch.« Nur neun Minuten, nachdem sie das Wirtshaus verlassen hatte, packte Lemorel bereits in einem Zimmer über Milderellen - Beste Linsen und Uhrwerke ihr Gepäck. Der besorgte Petari Milderellen stand in der Tür. »Aber der Zug fährt schon um fünf, Lern. Du hast gar keine Zeit mehr, eine Fahrkarte zu kaufen.« »Ich bin Jemli auf dem Heimweg begegnet und hab sie zum Bahnhof geschickt, damit sie für eine Zelle bezahlt.« »In dieser ganzen Hektik wirst du bestimmt irgendwas vergessen.« »Der nächste Zug fährt erst in einer Woche, Papa, und bis dahin kann ich nicht warten.« Sie schnallte den Rucksack zu und hob ihn hoch. Jetzt sah Petari, wie aufgeregt sie war. »Na dann beeil dich und lauf zum Bahnhof. Ich komme gleich nach.« Lemorel polterte mit dem schweren Rucksack die Treppe hinab, stieß sich am Türrahmen die Hand, lief dann unbeholfen die Straße hinunter und mühte sich dabei, die Arme durch die Trageriemen zu bekommen. Petari holte noch schnell etwas aus seinem Geschäft und lief seiner Tochter dann hinterher. »Lern, das ist für dich!« rief er, als er sie eingeholt hatte.
Es war eine doppelläufige, lange Morelac Kaliber 34. Lemorel blieb stehen und riß vor Erstaunen die Augen auf. »Lauf weiter, lauf«, schnaufte ihr Vater und hielt ihr die Pistole dabei unwillkürlich hin wie einem Esel eine Möhre. »Nach dem Stil der Filigranarbeiten auf dem Griff würde ich sagen, sie stammt aus dem späten 15. Jahrhundert. Es ist ein Geschenk ... Ein Büchsenmacher war mir noch einen Gefallen schuldig ... Ich hab doch das Zielfernrohr für den Bürgermeister von Tocumwal gebaut. Die Läufe ... sind ausgezeichnete Schmiedearbeit. Er hat die ursprünglichen Schnappschloß-Schlagbolzen durch moderne Steinschlösser ersetzt.« - 15 Die Waffe war alt, aber stilvoll und stand bei Bibliothekaren und Verwaltungsbeamten in hohem Ansehen. Sie war viel schwerer als die Pistole Kaliber 25, mit deren Hilfe sich Lemorel in Verruf gebracht hatte, und sie war zwar nicht so kostspielig wie die Waffen der Elite, erweckte aber den Anschein, daß sich Lemorel große Mühe gegeben hatte, eine seltene, für ihre Schußgenauigkeit berühmte Pistole zu finden und aufzuarbeiten. »Danke für alles, Papa«, sagte Lemorel nach Luft schnappend. »Du bist wirklich gut zu mir gewesen. Und ich habe dir nur ... Kummer und Leid gebracht. Würdest du bitte -« »Das Grab deiner Mutter und das von Jimkree mit Blumen schmücken ... ja, das werde ich«, stieß er keuchend, ganz außer Atem hervor. »Falls die Hoheliber ... irgendwelche Aufträge an Linsenschleifer oder Uhrmacher zu vergeben hat... dann erwähne bitte meinen Namen. He, die treten schon in die Pedale. Beeil dich, auf Wiedersehen, Lern!« Der Galeerenzug war etwa mannshoch und bestand aus einem mit Wachstuch bezogenen Holzgestell. Er hatte die Gestalt eines stromlinienförmigen, gegliederten Wurms auf Rädern, und auf dem Dach hatte er einen Laufsteg mit einem schmalen Geländer. Da er von menschlicher Muskelkraft angetrieben wurde, beschleunigte er nur langsam. Lemorel kletterte über die Steinmauer des Bahnsteigs, und Petari half ihr dabei. Sie drehte sich noch einmal um, umarmte ihn kurz und lief dann neben dem beschleunigenden Zug her zu der Stelle, an der Jemli wartete. Jemli gab ihr die Fahrkarte und einen kleinen Stoffbeutel, dann verabschiedeten sich die Schwestern voneinander, und Lemorel stieg auf das Dach des Zugs. Jemli lief bis zum Ende des Bahnsteigs neben dem Zug her und wünschte ihr viel Glück. Lemorel kniete sich hin, schnappte nach Luft und winkte zurück. Als der Zug dann zwischen den Häusern von Rutherglen hindurchfuhr, geleitete der Zugbegleiter sie zu ihrer Zelle, und sie stieg durch die Dachluke ein. Sie ließ sich auf dem Sitz nieder, und er stellte mit einem speziellen Schlüssel den Zähler neben ihren Pedalen auf Null. »Ihr kennt die Regeln?« fragte er durch die Luke. »Immer zwei Stunden treten und eine Stunde Ruhepause, solange der Zug in Bewegung ist.« »Wenn Ihr mehr arbeitet, wird Euch das gutgeschrieben, und wenn Ihr weniger arbeitet, wird Euch das abgezogen. Erster Halt in fünf Stunden.« Der Zug ratterte weiter durch die Stadt, und Lemorel versuchte durch - 3i die Fensterläden ihrer Zelle das Geschäft ihres Vaters und die Bauten der Unitech zu erkennen. Unübersehbar war nur das Gebäude, an dem all ihre Hoffnungen und Ambitionen hingen - der Signalfeuer-Leuchtturm. »Wieder alles falschgemacht«, murmelte Lemorel, als sie dort saß und schwitzte. »Ich habe mich nicht richtig von Papa verabschiedet, und ich habe Jemli keinen Abschiedskuß gegeben.« Sie ließen die Stadtmauer hinter sich und fuhren hinaus aufs Land, durch Weingärten und Wiesen, auf denen angepflockte Schafe und frei weidende Emus grasten. Lemorel kannte die Gegend gut, aber nicht aus der Sicht dieser Gleitbahnstrecke. Einen Moment lang starrte sie eine große, weißgetünchte Scheune mit einem Dach aus Baumrinde und Schindeln an. So ein großes Haus, in Rochester sind alle Häuser bestimmt mindestens genauso groß, dachte sie, während sich in ihrem Hinterkopf bereits ein vages Unbehagen bemerkbar machte. Warum kam ihr diese Scheune bekannt vor? Etwas abseits stand ein viel kleinerer Schuppen, in den ein Bauer gerade von einem Wagen aus mit einer Forke Heu auf einen Heuboden verlud. Sie
fuhren so nah vorbei, daß Lemorel sehen konnte, daß sein Pferd an einem Zaun angebunden war und der Bauer einen eigenen Zeitschalter und Leibanker hatte. Das war töricht. Wenn ein Ruf kam, würde der Mann schnurstracks von seinem Wagen steigen und dabei Gefahr laufen, seinen Zeitschalter zu beschädigen. Wenn das geschah, konnte nur ein Beinbruch ihn noch retten. Auch der Schuppen kam ihr bekannt vor. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, nachts, in fernem Fackelschein! Plötzlich von Abscheu gepackt, knallte Lemorel den Fensterladen zu und biß die Zähne zusammen, um sich gegen eine Woge der Übelkeit anzustemmen. Sie krampfte sich zusammen. Das nackte Grauen schien mit Myriaden Spinnenbeinchen über sie hinwegzukrabbeln, während der Galeerenzug ratternd das Gleis entlangschaukelte. Klick, klick, klick, klick, erinnerte sie der Zähler zwischen ihren Beinen daran, daß sie nicht in die Pedale trat. Sie fragte sich, wie lange es ihr wohl schon so ging, während weiter unerwünschte Bilder auf sie einströmten. Je mehr sie strampelte, desto schneller fuhr der Zug, sagte sie sich, lehnte sich auf dem Sitz zurück und trat kräftig in die Pedale. Irgendwo unter ihr heulte ein Getriebe auf. »Ich fahre nach Libris. Ich fahre nach Libris. Ich fahre nach Libris«, sang sie leise zum Rattern der Räder auf dem Gleis. - 16 Bei geschlossenen Fensterläden war es dunkel in ihrer Kabine, so dunkel wie in jener Nacht, als »Nein! Denk an was anderes, an irgendwas anderes!« Sie tastete nach dem kleinen Stoffbeutel, den Jemli ihr gegeben hatte. Darin befand sich ein achtzackiger Silberstern an einer dünnen Halskette, eben die Art von leicht geschmacklosem Schmuckstück, wie man es von einer naiven kleinen Schwester als Geschenk erwarten konnte. Lemorel betastete den kleinen Stern mit einer plötzlichen Anwandlung von Wehmut und Bedauern. Sie versuchte tatsächlich, zwei sehr schlimmen Jahren zu entfliehen und ihre verlorene Unschuld wiederzuerlangen. Sie beugte sich kurz vor und legte sich die Halskette an. Als sie sich wieder zurücklehnte, um weiter in die Pedale zu treten, ruhte der Stern kühl auf ihrer Haut. Der Ruf, der Ettenbar, den Hirten aus dem Südmaurenreich, aus seinem Leben gerissen und in ein neues Schicksal geschleudert hatte, brach gut zehn Minuten nach der Abfahrt des Tretzugs über Rutherglen herein. Vellum Drusas saß immer noch im Schankraum der Wirtschaft und starrte Lemorel hinterher, als der Erzbischof von Numurkah zu ihm trat. »Verbindet Ihr das Angenehme wieder einmal mit dem Dienstlichen, Vellum?« fragte der Geistliche mit schriller Stimme und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Drusas zuckte zusammen, ohne aber sein Getränk zu verschütten. »Ach, James, guten Tag«, sagte er, erhob sich halb und küßte den Bischofsring. »Wir haben uns ja seit ... zwei Jahren nicht gesehen!« »Anderthalb. Seit dem Erntesegen in Shepparton.« »Wie konnte ich das vergessen! Redsker hatte seine Scheune mit Mistelzweigen geschmückt und seine Landarbeiter als Weinfeen verkleidet.« Der Erzbischof ließ sich auf dem Sitz neben Drusas nieder, nachdem er ihn mit den Troddeln an seiner Schärpenschleppe abgestaubt hatte. Wären die beiden gleich gekleidet gewesen, hätte man sie für Zwillinge halten können. »Wer war denn das Drachenmädchen?« »Ach, das war nur Lemorel, das hiesige Sorgenkind. Ich habe sie zur Rotdrachenprüfung nach Libris geschickt.« »Lemorel? Lemorel Milderellen?« - 16 Drusas nickte. »Mein lieber Vellum, sie hat dafür gesorgt, daß ein Großteil des Hofs der Voyander lange vor Ablauf der ihnen zugewiesenen Lebensspanne vor ihren Schöpfer treten mußten.« »Es war eine legale Fehde.« »Sei's drum, aber eine so alte und edle Familie, und sie haben so wunderbaren Honigwein gemacht. War es wirklich klug, sie nach Libris gehen zu lassen?«
»Es war vielleicht das Klügste, was man in diesem Fall tun kann, lieber Erzbischof. Irgend jemandes Kämpe wird sie bald erschießen. Ein seltsames Mädchen, der Hoheliber gar nicht mal unähnlich. Ja, vielleicht wird die Hoheliber von ihrer Hand erschossen. Ich gebe die Hoffnung nicht auf.« »Also bitte, Vellum, das ist keine christliche Einstellung«, lachte der Erzbischof und drohte ihm mit dem Zeigefinger. »Guter Fras, Ihr macht Euch ja keinen Begriff davon, was diese Frau dem Bibliotheksdienst angetan hat. Libris wird komplett auf den Kopf gestellt. Die ehrenwertesten und edelsten Farbdrachen wurden erschossen, in die Verbannung geschickt oder degradiert.« »Hat irgend jemand diesen Verlust bemerkt?« »James! Wie könnt Ihr bloß so etwas sagen? Die Grundsteine Eurer Kathedrale tun weiter nichts, als still an Ort und Stelle zu stehen, doch wo wäre das restliche Gebäude ohne sie?« »Oh, da stimme ich Euch zu, aber ein Gebäude besteht aus mehr als nur aus seinem Fundament. Guter Fras, Ihr seid doch noch auf Eurem alten Posten, also wird Tugend wohl immer noch belohnt.« Der Erzbischof lehnte sich auf der Bank zurück, streckte sich und sah Drusas unter buschigen Augenbrauen hervor an. »Was sind denn Eure Pläne für heute abend? Doch hoffentlich nichts Dienstliches, oder?« »Nun, da findet ein Weinverkostungswettbewerb statt. Seid Ihr eingeladen?« »Oh ja, selbstverständlich ... Aber ich habe zu tun. Das Leben kann so grausam sein, lieber Vellum. Ich muß zum Broadbank-Gut hinausreiten und für den bischöflichen Keller einige private Käufe tätigen.« Drusas bekam große Augen, und vor Vorfreude beschleunigte sich sein Puls. »Eure Pflichtergebenheit verschlägt mir geradezu den Atem«, sagte er vorsichtig, sich nur allzu bewußt, daß er hier einen sehr großen Fisch an einer sehr dünnen Angelschnur hielt. - 17 »Ich hatte gehofft, Euch als Weinverkoster mitnehmen zu können, Fras Vellum, aber da ich nun sehe, daß Ihr einen Preis gewinnen wollt -« »Was ist ein Preis schon verglichen mit einem Freundschaftsdienst, Fras James? Es wäre mir eine große Freude, Euch zu helfen.« »Wir brechen binnen einer Stunde auf.« »Ausgezeichnet. Wie wäre es vorher noch mit einem Frostwein, um den Gaumen schon einmal einzustimmen?« »O welch Versuchung, Ihr seid ja der Ruf in Person! Weiche von mir, Gehörnter!« »Seit wann steckt denn der Teufel hinter dem Ruf?« Der Erzbischof zog die Stirn in Falten. »Fraenkos Häresie ist wieder im Umlauf. Es wird ein Konzil der Oberbischöfe geben, das dazu Stellung nehmen soll. Ich bin natürlich nur ein Erzbischof, aber ich kann Euch verraten, daß sich nichts ändern wird.« »Dann gilt der Ruf also auch weiterhin als von Gott gesandt?« »Ja und nein. >Du sollst an den Verlockungen des Rufs keine Freude empfinden< und >Du sollst nicht verzweifeln, wenn du dem Ruf erliegst< bleiben im Katechismus. Der Ruf wird als etwas aufgefaßt, das man mit der Verlockung vergleichen kann, die von einer Flasche erstklassigen Weins ausgeht: Die Sünde wurzelt in den eigenen bösen Absichten, und die Flasche Wein trifft keine Schuld daran.« »Und was ist die Buße für diese Sünde?« »Bei mir, nun ja, fünf Silbernobel in die Almosenbüchse und eine Woche lang zweimal täglich die Miserablia aufsagen. Wenn Ihr aber bei einem Neufraenkoniker beichtet, müßt Ihr womöglich zwei Goldroyal in deren Kampagnenkasse spenden und einen Monat lang ein härenes Hemd tragen.« »Das entspricht so ungefähr dem Unterschied zwischen Onanie und Ehebruch.« »Dann hattet Ihr also schon Gelegenheit, für beides zu büßen? Schämt Euch! Und Glückwunsch -« In diesem Moment erfaßte der Ruf den Schankraum. Der Erzbischof ergab sich einem privaten, gut eingeübten Taumel verbotener Freuden. Drusas gelang es noch, sich selbst zu versichern, daß er nichts dagegen ausrichten konnte, was er da empfand, und dann verfiel auch er in den gleichen
Tagtraum. Sie erhoben sich langsam von ihren Stühlen und gingen gedankenverloren quer durch den Schankraum nach Südosten. Bauer, Erzbischof, Bibliothekar, Dienstmagd, Koch und Winzer alle - 18 drängten sie sich an der Wand und wären nie auf den Gedanken gekommen, quer durch den Raum zur Tür in der Nordwestwand zu gehen, so blind war ihr Verlangen, gen Südosten zu ziehen. Zwei Straßen weiter waren die fünf Fremden, die sich Lemorel zuvor als mögliches Entführungsopfer ausgeguckt hatten, in einem Kaffeehaus in Sicherheit. Da es noch Geschäftszeit war, waren die meisten Leute drinnen oder sicher angeleint. Einen Laternenanzünder erwischte es im Freien, und er wandte sich nach Südosten, ging durch die Straßen und Gassen und dann zum Stadttor hinaus. Einen Augenblick später setzte ein Rufzeitschalter einen Auslöser in Gang, und das Tor fiel polternd zu. Der Laternenanzünder ging über freies Weideland, neben einem Hund her, der nur Stunden zuvor noch neben einem gewissen Schafhirten aus dem Südmaurenreich hergetrabt war. Geronnenes Blut von den Brombeerdornen klebte in seinem Fell. Doch obwohl er sich diesem Todeszug angeschlossen hatte, war der Laternenanzünder in Sicherheit. An seiner Taille tickte ein Zeitschalter, der bereits vierzig Minuten seines einstündigen Zyklus hinter sich hatte. Der Mann ging gerade durch einen Weingarten, als die Zeit ablief und der Zeitschalter einen an einem Gurt befestigten Haken auswarf. Dieser blieb an einem Pfosten hängen, und der Mann blieb stehen und zerrte an dem Haltegurt, wollte weiter nach Südosten. Der Ruf hielt drei Stunden lang an. Erst nach Sonnenuntergang war er endlich vorüber, und der Laternenanzünder schüttelte den Kopf, fluchte, stellte seinen Zeitschalter neu und machte sich dann auf den Weg zurück in die Stadt. In gewisser Weise hatte er Glück gehabt. Der Ruf hielt nachts stets eine ganze Weile inne, während er seine Opfer noch im Griff hatte. Es hätte durchaus passieren können, daß der Mann auf dem kalten, freien Weideland geblieben und am nächsten Morgen weitergewandert wäre, wenn der Ruf bis dahin nicht über ihn hinweggegangen wäre. Aufziehende Wolken verbargen den Sternenhimmel und tauchten den Abend in tiefere Düsternis, und nicht einmal an den Straßenecken brannten Laternen. Ein kalter, feiner Nieselregen hielt die Leute davon ab, vor die Tür zu gehen, und viele gingen früh zu Bett. Die Fremden verließen das Kaffeehaus und zogen dabei ihre Zeitschalter auf. »Genau der richtige Zeitpunkt für einen Ruf«, kicherte einer, als sie ihr gemietetes Ponygespann losmachten. »Ja, und erstaunlich viele Leute werden unachtsam mit ihren Haltestricken gewesen sein«, sagte der größte von ihnen. - 18 Jaas war Verkäufer im Großmarkt an der Bahnstrecke. Er war ledig, mittleren Alters, lebte allein und war gerade nach Hause gekommen, als der Ruf über ihn hinwegzog. Als er in seinem dunklen Haus wieder zu sich kam, fror er und hatte Hunger. Er brauchte zehn Minuten dafür, die Zunderbüchse zu finden, die er drei Stunden zuvor hatte fallenlassen, und zündete dann eine Öllampe an. Im Licht der rußigen Olivenölflamme holte er eine Lammwurst aus der Speisekammer, zog sich seinen Lieblingsstuhl an den Tisch, setzte sich und legte die Füße hoch. Die Schatten seiner Füße bildeten an der Wand die Karikatur eines Kopfes, und er schnitt sich eine Scheibe von der Wurst ab. Dieser Schattenkopf war seit Jahren sein stummer, treuer Tischgenosse. »Was nützt es, ein freier Mann zu sein, wenn man nicht ganz zwanglos essen darf?« fragte er den Schatten, der daraufhin mit einer Fußbewegung ernst nickte. Es klopfte an der Tür. »Rufzählung!« »Ich bin da!« rief Jaas. »Rufzählung!« beharrte die Stimme. »So ein Blödmann«, grummelte Jaas, nahm die Füße vom Tisch und ging zur Tür. »Hier bin ich, bist du jetzt zufrieden -« Als er die Tür aufstieß und im Licht seiner Lampe dort stand, bekam er einen Fausthieb auf den Solarplexus, der ihn schnell und still zu Boden streckte. Binnen einer Minute war er geknebelt,
gefesselt und in einem Sack verstaut. Mabak ließ draußen neben dem Brennholz einen gerissenen Haltegurt an einem Geländer zurück, während die anderen Jaas auf ihren Wagen luden. Wenn der richtige Rufzähler vorbeikam, würde er daraus schließen, daß Jaas einem schadhaften Gurt zum Opfer gefallen war. Jemlis Edutor arbeitete spät noch in seinem Büro, um die durch den Ruf verlorene Zeit wieder wettzumachen. Nur irgendeinen seiner Studenten erwartend, rief er »Herein!« als es an der Tür klopfte, und wandte sich nicht einmal zu seinen Besuchern um. Ähnlich erging es einem Steuerbeamten, der ebenfalls auf der Liste der Entführer stand. Bei den letzten beiden gingen sie ohne jede Heimlichkeit zu Werke. Das Gespann wurde vor der Hauptwache festgemacht, und drei der Entführer gingen hinein. Ihre Papiere trugen das Siegel von Libris, ein über einem Dolch zugeschlagenes Buch. Der Polizeichef selbst hatte Dienst, und ihm zitterten die Hände, als er das Siegel erbrach und den Befehl las. Zwei sich krümmende und windende Leiber wurden in Säcken hinausgetragen, und - 19 der Polizeichef vermerkte im Wachstubenbuch hinter ihren Namen: »Kurz vor Ruf ohne Halteseile entflohen.« Als der Laternenanzünder seine Runde begann, war das Ponygespann schon zu der acht Kilometer weiten Fahrt über die flache, nebelverhangene Straße zu den Flußkais von Wahgunyah aufgebrochen. Die richtigen Rufzähler waren ebenfalls auf ihren Runden unterwegs und prüften, ob Bürger verschwunden waren. Sie vermeldeten eine schreckliche Tragödie, fünf Menschen waren dem Ruf zum Opfer gefallen, und der Bürgermeister von Rutherglen gab eine Proklamation heraus, in welcher der sachgemäße Gebrauch und die Wartung der Ruf-Haltegurte und Leibanker erklärt wurde. Diese wurde eine halbe Stunde lang von den Ausrufern in den nebelverhangenen Straßen bekanntgegeben. Christliche, islamische und gentheistische Gottesdienste wurden zum Andenken an die fünf Männer abgehalten, und man betete, irgendein Zaun, ein Gestrüpp oder eine segensreiche Mauer möge sie dem Ruf entreißen. In Wahgunyah lag ein Ruderlastkahn am Kai bereit, und Schmiergeld hatte dafür gesorgt, daß keine Fragen gestellt wurden. Als das Ponygespann eintraf, wurden fünf Säcke verladen und unter einer Plane verstaut. Die Entführer stießen sich mit dem Kahn vom Kai ab und ruderten hinaus in die Dunkelheit. Der größte von ihnen wischte das Kondenswasser von der Konkavlinse der Buglampe und schraubte den Docht hoch. Ein schummriger, aber zielgerichteter Lichtstrahl leuchtete den vor ihnen liegenden Fluß nach Untiefentonnen und Baumstümpfen ab. Als die Kais außer Sicht waren, wurden die Säcke aufgeschnürt, und die Gefangenen mußten rudern helfen. »Ich bin für ein Leben als Ruderer nicht gebaut«, sagte Jaas mürrisch. »Auf diesem Fluß gibt es keinen einzigen Kahnbesitzer, der für mich gutes Geld zahlen würde.« »Das Rudern macht ja auch nicht deinen Wert aus«, sagte der große Mann. »Aber was dann?« »Ihr könnt alle zählen. Der Hegemeister zahlt gut für jeden, der zählen kann.« »Der Hegemeister!« rief der Steuerbeamte überrascht. »Seit wann ist der Hegemeister denn hinter was anderem her als gestohlenen Kurzwaren?« »Der Preis beträgt zwei Goldroyal für jeden Menschen, der zählen kann und Austarisch spricht. Wir haben schon eine Menge südmaurische - 19 Lehrer aus Moscheen an der Grenze eingesackt. In den letzten fünf Monaten waren es siebzehn Mann, und neun von denen haben Austausch gesprochen. Das macht vierundzwanzig Goldroyal -« »Mabak!« bellte der Anführer. »Halt die Schnauze, oder du kriegst 'n Knebel rein.« Der große Mann schnaubte und spuckte in den Fluß, gehorchte aber. Hundertfünfzig Kilometer weiter westlich, in Rochester, wurde die Maschine, die sie bald verschlingen würde, für die Nacht abgeschaltet. Nachdem sie der Hoheliber jenen Sieg beim Kämpen ermöglicht hatte, löste sie sich nun in ihre erschöpften Einzelteile auf.
Als die Zellentür hinter ihnen ins Schloß fiel, ließen sich die vier Männer erschöpft fallen - zwei auf die unteren Etagenbetten und zwei auf das Stroh, das den Steinboden bedeckte. »Ich hab euch ja gesagt, daß es ein schlimmer Tag wird«, sagte ADDIERER 17. »Jedesmal, wenn wir neun Dutzend alle am späten Nachmittag zusammengerufen werden, kann man sicher sein, daß die Korrelationskomponenten herhalten müssen wie der Türklopfer an einem Hurenhaus.« MULTIPLIKATOR 8 lag mit geschlossenen Augen und zuckenden Fingern auf dem Boden. »Wir brauchen mehr Multiplikatoren«, sagte er. »Unter Vollast kommt das alles zur Überprüfung zu uns, und diesen Streß halten wir nicht mehr lange aus.« Sie lagen ein paar Minuten lang schweigend da, und dann setzte sich ADDIERER 17 auf die Kante seines Etagenbetts. Die Bewegung ließ ihn ein wenig ins Wanken geraten, und dann schüttelte er den Kopf und stand auf. »Will wer was essen?« fragte er, bekam als Antwort aber nur Ächzen und Gemurmel zu hören. Er schlurfte durchs Stroh und öffnete die aus Latten bestehende Speisekammertür. »Warmer Eintopf!« sagte er erstaunt. »Und frisches Brot und ein Krug voll Bier.« »Bürgermeisterbräu?« fragte PORT 3A. »Nein, nur Turnierbier.« »Immer nur dieses Turnierbier. Wieso kriegen wir nichts Stärkeres?« »Aus dem gleichen Grund, aus dem die Kavelare das beim Turnier - 20 trinken müssen«, sagte FUNKTION 9. »Wir sollen uns erfrischen, nicht besaufen. »Gibst du mir bitte einen Napf Eintopf, ADD?« Als rangniederste Komponente der Zelle war ADDIERER 17 Diener der anderen und führte ihren Haushalt. Er begann die Suppe auszuteilen. »Frisches Stroh, saubere Decken, und sie haben sogar Schwefel verbrannt, um das Ungeziefer zu töten«, bemerkte er. »Die belohnen uns.« »Ich habe eher Schläge erwartet«, sagte MULTIPLIKATOR 8 und rieb sich die Hände, um das Zittern loszuwerden. »So wie die uns im Schulungssaal ausgefragt haben, nachdem wir den Kalkulor verlassen hatten, dachte ich, die Maschine hätte einen Fehler gemacht.« »Nee, ich weiß noch, daß ich auf meinem Rahmen ein ganz normales HALTEMODUS bekommen habe«, sagte PORT 3A. »Wenn irgendwas nicht stimmt, senden sie ein STOP.« Eine Zeitlang aßen sie schweigend, und dann schaute eine Rotdrachen-Bibliothekarin kurz zur Abendinspektion herein. Sie teilte ihnen mit, daß im Kalkulorsaal vor dem nächsten Arbeitseinsatz einiges umgestellt werden müßte und daß es einen Probelauf geben würde, damit sich alle an die neue Anordnung gewöhnen konnten. ADDIERER 17 tupfte seinen Napf mit einem trockenen Stück Brot sauber und goß dann etwas Bier hinein. Die anderen aßen noch, denn ihre geschwollenen Hände taten ihnen so weh, daß es ihnen schwerfiel, einen Löffel zu halten. »Ich frage mich immer noch, wozu das alles gut sein soll«, sagte ADDIERER 17 nach dem ersten Schluck. MULTIPLIKATOR 8 ächzte höhnisch und streckte die Hand nach dem Bierkrug aus. »Die wollen uns damit quälen, was denn sonst? Das ist eine neue Form der Bestrafung für Verbrecher«, sagte er und goß sich Bier in seinen Eintopf. »Da bin ich anderer Meinung«, sagte FUNKTION 9. »Ich war Edutor an der Universität von Oldenberg, und ich habe nie auch nur eine Kupfermünze gestohlen - oder mich irgendwie politisch geäußert. Ich bin einfach nur nach dem Abendessen in den Arkaden spazierengegangen, und da haben sie mir hinterrücks einen Schlag verpaßt! Und als sie mir die Augenbinde abnahmen, war ich hier.« »Vielleicht war irgendein Rivale scharf auf deinen Job.« »Eine derartige Rivalität um den Lehrstuhl für Grundlagenarithmetik hat es nie gegeben. Nein, ich glaube, ich wurde absichtlich entführt, um - 20 -
hier zu arbeiten. Sieben der zehn FUNKTIONEN wurden von Provinzhochschulen hierher verschleppt, und alle Gefangenen, die hier arbeiten, hatten früher in ihrem Beruf irgend etwas mit Arithmetik zu tun. Außerdem kommen die meisten Leute hier aus Verhältnissen, die ... na ja, es wird sie niemand groß vermissen. Verbrecher, Einzelgänger, Menschen ohne Freunde, Leute, deren Angehörige zu arm sind, um Nachforschungen anstellen zu lassen, und Nichtsnutze, deren Angehörige so reich sind, daß sie Beamte bestechen können, damit die keine Nachforschungen anstellen. Jeder, dem man schnell beibringen kann, wie das mit den Kugeln, Gestellen und Hebeln des Kalkulors funktioniert, ist hier willkommen. Und für viele ist es das beste Zuhause, das sie je hatten.« »Jemanden wie dich würde man doch bestimmt vermissen«, sagte MULTIPLIKATOR 8. »Nicht unbedingt. Meine Frau hatte einen Liebhaber, einen romantischen Dandy ohne Geld. Jetzt, da ich weg bin, haben sie das Haus, meine Bibliothek und ein Gut, das fünfunddreißig Goldroyal wert ist -und sie haben einander. Nein, mich vermißt keiner. Mich haben sie wirklich gut ausgesucht.« PORT 3A war schon eingeschlafen, ohne sein Bier angerührt zu haben, als ADDIERER 17 anfing, die Näpfe einzusammeln. Er hob die Beine des völlig erschöpften Mannes aufs Bett, deckte ihn zu und trank dann sein Bier aus. Der Gongschlag kündigte an, daß in einer halben Stunde das Licht gelöscht würde. »Hat einer Zeit für 'ne Partie Kämpen?« fragte ADDIERER 17, als er die Näpfe in der Speisekammer aufstapelte. »Zeit habe ich jede Menge«, sagte MULTIPLIKATOR 8. »Der Richter hat mir neun Jahre aufgebrummt.« »Und zwar, weil du Schiffsregister manipuliert hast, wenn ich mich recht erinnere«, fügte FUNKTION 9 hinzu. »So wie du es geschildert hast, war es ein sehr cleverer Plan. Der Berichtiger, der dir auf die Schliche gekommen ist, muß ein sehr fähiger Mathematiker gewesen sein.« »Bin dem Scheißkerl nie begegnet«, erwiderte MULTIPLIKATOR 8, während ADDIERER 17 schon die Spielfiguren auf dem Brett aufstellte. »Wie aus heiterem Himmel kamen die Schutzleute mit ein paar Dutzend Seiten Mangelpapier an, auf denen gezeigt wurde, wie es mir gelungen war, von tausend Goldroyal, die durch meine Hände gingen, jeweils - 21 einen Royal für mich abzuzweigen. Die Kerle, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben auch aus den Schiffsladungen geklaut, aber von denen ist keiner hier. Das ist nicht fair, verdammt noch mal!« »An denen war der Gebieter des Kalkulors nicht interessiert. Du hast mit Hilfe von Arithmetik gestohlen, und die haben nur was aus der Ladung geklaut. Du bist hier, weil du bei deinem Verbrechen bewiesen hast, daß du mit Zahlen umgehen kannst.« MULTIPLIKATOR 8 wandte sich dem Spielbrett zu und zog einen der beiden Strohhalme aus der Faust von ADDIERER 17. Es war der längere, und er seufzte zufrieden und setzte mit einem Bauern zum Eröffnungszug an. »Dann ist ja heute doch noch irgendwas gut für mich ausgegangen«, sagte er. FUNKTION 9 kletterte auf sein Etagenbett und begann in einer Lehrbroschüre zu blättern. »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, MULT, daß der Revisor, der dir auf die Schliche gekommen ist, in Wirklichkeit der Kalkulor gewesen sein könnte?« fragte er ganz beiläufig. Nein, dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. MULTIPLIKATOR 8 zuckte so heftig zusammen, daß er das Spielbrett umkippte. »Ich - ja, ja, das klingt schlüssig«, sagte er und staunte über die deduktiven Fähigkeiten von FUNKTION 9. »Der Kalkulor würde nicht lange brauchen, um das zu durchschauen. Aber wieso ist er ausgerechnet auf mich gekommen?« »Er hat wahrscheinlich ein paar Monate lang die Frachtregister aller Binnenhäfen auf Unregelmäßigkeiten hin überprüft. Dein System war für menschliche Prüfer nicht zu durchschauen, weil niemand die Zeit hat, sich die Register in allen Einzelheiten anzusehen. Der
Kalkulor aber hat viel mehr Geduld und Rechenkraft als die Sterblichen, aus denen er besteht - als wir!« »Was zum Teufel sagst du da?!« »Hinter dem Kalkulor steckt wahrscheinlich eher ein sehr ausgefuchster Edutor oder Edelmann als der Teufel. Stell dir das doch bloß mal vor: Wenn der Bürgermeister die abertausend Löcher stopfen könnte, durch die seine ganzen Steuern und Abgaben verschwinden, könnte er seine Einnahmen glatt verdoppeln.« »Das ist also Sinn und Zweck des Kalkulors«, sagte MULTIPLIKATOR 8 ehrfürchtig und half dann ADDIERER 17, das Spielbrett wieder - 22 aufzubauen. »Also, das macht mich in gewisser Weise stolz. Das ist, als würde ich dem Bürgermeister als Soldat dienen.« »Bloß daß sie bei der Armee auf dich schießen«, sagte ADDIERER 17 und streckte seinen Unterarm vor, um eine gut verheilte, aber häßliche Narbe zu zeigen. »Ha, versuch mal hier auszubrechen, dann wirst du schon sehen, auf wen sie schießen. Diesmal fängst du an, ADD. Ich war's, der das Brett umgekippt hat.« In sieben Zügen gelang es MULTIPLIKATOR 8, mit einem Springer zwei Bauern und den gegnerischen Läufer zu schlagen. Damit gab er seinen eigenen Läufer einem gegnerischen Bogenschützen preis, der die Wertung »bereit« trug. ADDIERER 17 drehte den Bogenschützen um und nahm den Läufer vom Brett. »Mist, ich vergesse immer wieder, was Bogenschützen alles können«, murrte MULTIPLIKATOR 8. »Ich fände es ja klasse, wenn mir der Kalkulor diese Entscheidungen abnehmen würde.« »Aber dann wärst ja nicht mehr du es, der da spielt«, wandte ADDIERER 17 ein. »Die Idee hat aber einiges für sich«, sagte FUNKTION 9 und sah von seiner Broschüre auf. »Beim Kämpen hat man es immer mit Mustern und Werten zu tun. Und der Kalkulor kann alles bearbeiten, was sich auf Zahlen zurückführen läßt.« MULTIPLIKATOR 8 überprüfte die Stellung seiner eigenen Bogenschützen, stellte aber fest, daß keiner von ihnen über ein würdiges Ziel verfügte. Gereizt drehte er einen um und schoß einen eigenen Bauern ab. »Der Kalkulor könnte dem Staatsmeister bestimmt einen harten Wettkampf liefern«, murmelte er. »Dazu wird es wahrscheinlich nie kommen«, sagte FUNKTION 9. »Wenn er Verbrecher schnappen kann, kann man ihn für viel wichtigere Dinge nutzen als fürs Kämpen-Spielen.« »Als da wären?« »Das versuche ich gerade rauszukriegen. Was genau kann man mit einer immens großen Rechenkapazität anstellen? In einem der wenigen erhaltenen Fragmente aus der Zeit vor dem Großen Winter wird erwähnt, daß man damals Rechenmaschinen für alles mögliche genutzt hat, von der Schiffssteuerung bis hin zum Brotrösten. Die meisten Edutoren würden einem erzählen, der Autor hätte das irgendwie allegorisch gemeint, - 22 aber nachdem ich jetzt schon ein ganzes Jahr hier verbracht habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher.« FUNKTION 9 versank in Gedanken. Die Springer von MULTIPLIKATOR 8 schlugen einen gegnerischen Turm, aber dabei hatte er nicht an einen Bogenschützen gedacht, den ADDIERER 17 in zwei Zügen um 270 Grad gedreht hatte - so daß er diagonal schießen konnte. Damit erschoß er den gegnerischen König, der sechs Felder entfernt stand. MULTIPLIKATOR 8 verfluchte alle Bogenschützen, und dann kam der diensthabende Rotdrache und löschte die Lampe, die ihre Zelle durch einen Glasklotz hindurch erhellte. »Ich prophezeie euch was«, sagte FUNKTION 9, und in der Dunkelheit unter ihm ertönte ein fragendes Ächzen. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird man den Kalkulor um mindestens das Dreifache vergrößern. Und außerdem wird er dann auch jeden Tag rund um die Uhr arbeiten, im Schichtbetrieb.« »Und was soll das bringen?« murmelte MULTIPLIKATOR 8 schläfrig.
»Was bringt denn schon ein Bürgermeister, der niemals schläft?« - 23 2 KAPITALE Lemorel erblickte den Signalfeuer-Leuchtturm von Libris eine Stunde bevor die Mauern von Rochester in Sicht kamen. Sie spähte gerade durch den Sichtschlitz neben ihrer Kopfstütze hinaus in den Wald, während der Galeerenzug um eine lange Kurve fuhr, und mit einem Mal ragte er da wie eine riesige Speerspitze über den Baumkronen auf. Sie genoß den Anblick des weißen Turms einen Moment lang und trat dann noch kräftiger in die Pedale, um etwas zu dem Schwung beizutragen, den die übrigen Fahrgäste erzeugten. Der Zug fuhr nicht allzu schnell. Es waren ungewöhnlich viele Alte, Unsportliche und Faule an Bord, und die willens und fähig waren, in die Pedale zu treten, mußten sich gehörig abstrampeln. Einige Minuten später erreichten sie die Grenze des Stadtstaates Rochester. Die Stadt Rochester war zwar die Hauptstadt der Südostallianz, der dazugehörige Stadtstaat aber umfaßte nur ein sehr kleines Territorium. Die vorderen und hinteren Schützen zogen die Bremsen fest, und als sich die Bremsbacken gegen die Räder preßten, kam der Zug stotternd zum Stehen. Lemorel sank auf ihrem Sitz zusammen, ihr Hemd kalt vor Schweiß. Als sie schließlich aufstand und sich streckte, war sie unsicher auf den Beinen. Der Bahnhofsvorsteher kam gemessenen Schritts aus seinem Büro, ein dünner, knochiger Mann, bei dessen Anblick Lemorel unwillkürlich an die Watvögel denken mußte, die an den Bewässerungskanälen von Rutherglen lebten. Vom hinteren Schützen nahm er das Bordbuch entgegen, überflog kurz die Zahlen und inspizierte dann die Schlagzähler der führenden Fahrgäste. Zu Lemorel kam er ganz zuletzt. Als er sich bückte, um ihren Zähler abzulesen, schoß sein Kopf nach vorn, während seine Schultern gerade blieben, so als würde er die Ziffern aufpicken. »Sehr gut, sehr gut, sehr gut«, sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. »Ein richtig kräftiges Mädchen, hm?« Lemorel nickte. »Im Bordbuch steht... da steht, daß Ihr die Fahrt wahrscheinlich mit einem Guthaben beenden werdet - mit einem Guthaben von mindestens - 23 fünf Silbernobeln. Also, Ihr liegt hier im Zug auf Platz drei, bei den weiblichen Fahrgästen aber auf Platz eins, und deshalb dürft Ihr auch als erste gehen. Los, geht schon!« Sie schlurfte von dannen, in Richtung Abort. Harte Arbeit wurde hier nicht nur mit einem Reiseguthaben belohnt. Der bevorzugte Zutritt zu den Toiletten an jeder Haltestelle war ein weiterer Anreiz dafür, sich beim Antrieb des Zugs ordentlich ins Zeug zu legen. Lemorel löste vor dem Spiegel, unter dem Oberlicht ihr Haar. Es war die letzte Gelegenheit vor der Endstation Rochester, sich noch einmal etwas frisch zu machen. Aufmerksam betrachtete sie ihr Spiegelbild. Noch keine Falten im Gesicht... aber ein graues Haar. Und da noch eins! Sie zupfte sich noch fünf weitere aus, ehe sie ihr Haar wieder hochband. Sie roch verschwitzt, und ihre Kleider waren klamm, aber wenigstens würde sie keinen ungepflegten Eindruck machen. Nachdem sie sich dann am Kiosk mit Wasser und Pinienkernkeksen eingedeckt hatte, überprüfte der Zollinspektor bereits ihren Rucksack. Wenn der Bahnhofsvorsteher ein Storch war, war dieser Mann ein Frettchen: klein, agil und mit scharfen Augen. »Ihr könnt Euch eine doppelläufige Morelac leisten, fahrt aber dennoch mit dem Galeerenzug?« sagte er und drehte mit flinken, tänzelnden Fingern ihre abgenutzte, aber auf Hochglanz polierte Pistole hin und her. »Ein Geschenk meiner Familie, Fras Inspektor«, erwiderte sie und hielt den Blick dabei auf den Bahnsteig gesenkt, statt dem Mann in die Augen zu sehen. »Na, wohl eine reiche Familie. Aber das geht mich ja auch nichts an.« Der Inspektor schlug ihren Reisepaß auf. »Orangedrache - und das mit gerade mal neunzehn Jahren. Beeindruckend.« Der Zeitschalter an Lemorels Leibanker gab ein Warnsignal von sich, und sie setzte ihn zurück und zog ihn wieder auf. Der Inspektor lachte. »Das ist jetzt nicht mehr nötig, Orangedrache Milderellen. Ihr seid hier in der Nullzone Rochester. In diesen kleinen Stadtstaat kommt der Ruf nie.«
»Kein Ruf, Fras Inspektor?« fragte sie, aus keinem besseren Grunde als dem, sich in Konversation mit einem Fremden zu üben. »Kein Ruf, Frelle, aber viele Gefahren. Der Abschaum des ganzen Südostens tummelt sich in Rochester. Die hierherkommen, weil sie es mit dem Aufziehen eines Rufzeitschalters nicht so genau nehmen, nehmen es auch mit der Moral nicht so genau. Für die ist Rochester genau das Richtige. Ich sehe zu, daß ich jedes Jahr auch einmal in die benach - 24 barten Stadtstaaten fahre, damit der Ruf meinem Herzen wieder Kraft verleihen kann. Jeder sollte das tun, zumal eine so junge, unschuldige Frau wie Ihr. Werdet Ihr in Libris arbeiten?« »Ja«, hauchte sie, fast außer sich vor Stolz darüber, daß er sie als unschuldig bezeichnet hatte. »Dann hört auf meinen Rat und zieht in die Herberge von Libris. Meidet die Stadt. In Rochester herrscht die Verdammnis.« Er gab ihr die Steinschloßpistole zurück. »Und wenn Euch irgendein liederlicher Kerl in einer Gasse anspricht und Euch unsittliche Anträge macht, schießt Ihr ihn einfach mit dieser schönen Pistole über den Haufen. Laßt Euch gar nicht erst auf ein Gespräch ein. Ihr seid eine Drachenbibliothekarin, und einer Drachenbibliothekarin glauben die Richter aufs Wort. Könnt Ihr schießen?« »Aber sicher. Ich - ich habe schließlich die Orangedrachenprüfung bestanden.« »Ach ja, aber denkt daran: Immer schön in Übung bleiben. Ihr solltet nie zögern, zu Eurer Verteidigung auf jemanden zu schießen, schon gar nicht in Rochester.« »Es ist ein Trost zu wissen, daß nicht alle Einwohner von Rochester schlecht und böse sind, Fras Inspektor«, erwiderte sie. Er errötete. Sein Diener stellte an einem tragbaren Schreibpult einen Passierschein aus, und der Inspektor sah ihm währenddessen über die Schulter und nannte ihm aus dem Gedächtnis die einzelnen Gegenstände und ihren jeweiligen Wert. »Ich habe den Wert Eurer Morelac vermerkt«, sagte er, als er Lemorel den Schein aushändigte. »Das moderne Steinschloß mindert natürlich ihren Wert als Antiquität.« Er zwinkerte ihr zu. »Ihr seid nur ein armes Mädchen vom Lande, dessen Familie wahrscheinlich lange für diese Waffe gespart hat.« »Danke, Fras Inspektor, vielen Dank. Ich werde in Rochester sehr vorsichtig sein.« Als sie sich wieder auf ihrem Sitz festschnallte, versuchte Lemorel sich darüber klar zu werden, was gerade geschehen war. Jemand hatte ihren Namen gelesen, ohne sie zu fragen, ob sie die Lemorel Milderellen sei. Ob sie schießen könne, hatte er sie gefragt. Wunderbar! Vielleicht war sie tatsächlich schon weit genug gereist, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen. Sie betastete den kleinen, achtzackigen Stern an ihrem Hals. Der Inspektor war wahrscheinlich Gentheist. Gentheisten glaubten, ihre - 24 Götter hätten den Ruf gesandt, damit er den Charakter der Menschheit festige. »Alles bereit!« rief der hintere Schütze, und Lemorel trat mit aller Kraft in die Pedale. Die Schützen vorn und hinten lösten die Bremsen, und der aus fünf Waggons bestehende Zug setzte sich in Bewegung. »Abfahrt!« rief der hintere Schütze, als die Bremsbacken die Räder freigaben. Der Zug nahm Fahrt auf. Nun waren sie also in der Nullzone. Ein Leben ohne Ruf war für Lemorel nicht vorstellbar. Wie sollte sie mit dem Gedanken zurechtkommen, daß sie sich nie mehr davor hüten mußte, auf Nimmerwiedersehen davonzugehen? Konnte sie es sich leisten, sich während ihres Aufenthalts in Rochester ihre Überlebenspraktiken abzugewöhnen? Wie lange würde sie dort bleiben? Würde sie Rochester tatsächlich hin und wieder verlassen müssen? Rochester erhob sich auf einer weiten Ebene, die geprägt war von kleinwüchsigen Eukalyptuswäldern. Die Umgebung der Stadt war allerdings für die Landwirtschaft gerodet. Die Gleitbahn führte unvermittelt aus dem Wald heraus auf Ackerland und durch Weingärten, und hier und da sah man befestigte Herrenhäuser. Dann kam es also sogar hier zu Überfällen von Freibeutern, dachte Lemorel, als sie die Mauern und Schießscharten sah. Und auf dem Gelände jedes Herrenhauses ragte ein kleiner Signalfeuer-Leuchtturm empor.
Die Mauern der Stadt bestanden aus streifig-grauem Altstein und waren mit Zinnen bewehrt. Die Stadt selbst befand sich auf einer Insel inmitten eines nicht allzu tiefen Sees, den eine hölzerne Straßenbrücke und zwei Gleitbahn-Jochbrücken überspannten. Lemorel schaute in ihren Reiseführer, während sie in die Pedale trat und der Zug ratternd über die Äcker und Weiden sauste. Die ummauerte Innenstadt hatte einen ungefähr ovalen Grundriß und maß acht mal dreizehn Kilometer. Die überzählige Bevölkerung hatte sich in einer Reihe von Vororten angesiedelt, die sich das halbe Seeufer entlang erstreckten. An der äußeren Stadtmauer stieg ein Weichensteller zu, der den Zug auf den Rangierbahnhöfen durch ein Labyrinth von Haltepunkten und Signalen lotste. Große Windzug-Triebwerke ragten über ihnen auf, deren spiralförmig lackierte Rotoren sich träge in der sanften Brise drehten. Muskulöse Bahnarbeiter blickten verächtlich von ihren bulligen Rangierloks herab. Dann wich das wilde Durcheinander der Jochbrücke über den See, und das Holpern hörte auf. Ein Torbogen in der Mauer bildete - 25 Jen Zugang zur Stadt, und der Zug fuhr im Schrittempo hindurch. Die Endstation Rochester war ein langgestreckter, überdachter Kopfbahnhof, der neben den Bahnsteigen ein Labyrinth aus Sperren, Schranken, Zäunen und kleinen Büros beherbergte. Lemorel löste ihren Sitzgurt und ging dann steifbeinig neben dem Zug auf und ab, während sie darauf wartete, daß ein Beamter ihren Zähler ablas. Abzüglich Einreisesteuer und Waffengebühr hatte sie auf dieser Fahrt drei Silbernobel verdient. Ganz langsam, ihre Beine schwer wie Blei, passierte sie anschließend die Bahnsteigschranke, den Zollschalter, den Einreisesteuerschalter, den Schalter der städtischen Polizei und schließlich die Schranke hinaus in die Stadt. Inmitten des Durcheinanders der hochgehaltenen Namensschilder entdeckte sie eines, auf dem MILDERELLEN - ORANGEDRACHE stand. Lemorel ging zu der Frau, die es hielt. Sie war fünf oder sechs Jahre älter als Lemorel und hatte braunes, geflochtenes Haar. Der rechte Ärmel ihrer Bibliothekarsuniform war mit einer Blaudrachenbinde versehen. »Guten Abend, ich bin Lemorel Milderellen«, sagte sie tapfer lächelnd und setzte dann ihren Rucksack ab. Die Frau erwiderte das Lächeln, sagte aber nichts. Vielmehr hielt sie ihr ein Kärtchen hin: ICH WÜNSCHE EINEN GUTEN MORGEN / TAG /ABEND. ICH BIN DARIEN VIS BABESSA, BLAUDRACHE. ICH HASE KEINE STIMME, FREUE, BITTE ÜBT NACHSICHT MIT Min. ICH SOLL EUCH NACH LIBRIS BRINGEN. ES SINV DREI KILOMETER BIS DORTHIN. »Drei Kilometer«, wiederholte Lemorel, die nur noch mit Müh und Not aufrecht stehen konnte. Was würde ein richtiges Mädchen vom Lande jetzt tun? Weinend zusammenbrechen oder stillschweigend leiden? Lemorel beschloß zu leiden. Sie atmete noch einmal tief durch und schulterte ihren Rucksack. Darien wies mit einer Handbewegung auf die Straße und ging los. Als sie den Bahnhof hinter sich gelassen hatten, zeigte sie Lemorel ein zweites Kärtchen. BIEGT AN DER NÄCHSTEN STKASSENECKE LINKS AB. GEHT IN DAS KAFFEEHAUS BAHNWÄRTERS BR.AU. »Meinetwegen können wir gern noch weitergehen«, sagte Lemorel, wenngleich gezwungen. ICH MUSS EUCH VOR EURER ANKUNFT NOCH UBER. LIBRIS INFORMIEREN, stand auf der Rückseite des Kärtchens. - 25 Sie brauchte Lemorel nicht lange zu überreden. Die Mauern des Kaffeehauses waren aus geschrubbten roten Ziegeln, der Boden aus Altstein, und an den Wänden funkelten mit Goldfäden durchwirkte nordmaurische Gobelins. Weihrauch, Kaffeeduft und ein halbes Dutzend Sorten Rauchkraut drangen auf Lemorels Sinne ein, als sie den Schankraum betrat. Mit tränenden Augen ließ sie sich von einem in einen Jesalakan gewandeten Kellner an einen Fenstertisch geleiten. Erst als sie ihren Becher Rockhampton Ebony halb ausgetrunken hatte, fiel ihr wieder ihre stumme Begleiterin ein. Darien saß geduldig da, betastete aufgefächerte Kärtchen und sah dem Verkehr draußen vor dem Fenster zu.
»Beherrscht Ihr die Portington-Zeichensprache?« fragte Lemorel. Darien riß den Kopf herum, die zuvor so ruhig blickenden Augen nun weit aufgerissen. »Ja, ja«, sagte sie sofort in Gebärdensprache. »Aber woher könnt Ihr das? Diese Sprache wird doch nur den Tauben und Stummen beigebracht.« »Die Eltern eines Freundes von mir waren beide taubstumm. Und ich habe genug aufgeschnappt, um mich ein wenig zu unterhalten.« Darien schaukelte auf ihrem Sitz vor und zurück und ließ die Hände ein wenig kreisen, während sie nach Worten suchte. »Ich bin seit neun Jahren in Libris«, gab sie durch Zeichen zu verstehen, so überwältigt, daß ihr nichts anderes einfiel. »Ich bin seit zwei Jahren Bibliothekarin«, erwiderte Lemorel. »In ganz Libris sind wir beiden die einzigen, die diese Zeichensprache behenschen.« Auf Dariens Gesicht zeigte sich etwas, das an heftiges Verlangen grenzte. »Ich hoffe, wir können Freundinnen werden, Frelle Lemorel. Ich würde diese verdammten Karten sehr gerne hin und wieder beiseite legen können.« Eine Freundin. Diese Aussicht gefiel Lemorel besser, als sie zuzugeben wagte. »Ich arbeite noch nicht in Libris, Frelle. Ich bin hergekommen, um die Rotdrachenprüfung abzulegen. Wo finde ich hier eine Herberge?« »In meinen Räumen in der Herberge von Libris ist noch ein Lager frei«, bedeutete Darien ihr so schnell, daß Lemorel kaum folgen konnte. »Ich möchte Euch nicht zur Last fallen -« »Nein, nein, ich bestehe darauf. Bitte sagt, daß Ihr bei mir wohnen werdet.« - 26 »Also ... es wäre schon eine Erleichterung, wenn ich mich vor der Prüfung nicht auch noch darum kümmern müßte, eine Unterkunft zu finden. Wann findet die Prüfung denn statt, wißt Ihr das?« »Morgen nachmittag.« Lemorel hielt sich an der Tischkante fest, weil sie das Gefühl hatte, nach hinten zu kippen. »So bald?« »Es gibt Schwierigkeiten mit den Arbeitsabläufen in Libris, Frelle Lemorel. Wir brauchen dringend neues Personal. Die Hoheliber hat eine ... eine geheime Maschine, von der die meisten Leute wissen, die aber bisher nur ihre engsten Getreuen schon einmal gesehen haben. Diese Maschine wickelt angeblich den Signalfeuerverkehr mit nie dagewesener Effizienz ab, aber in letzter Zeit hat sie Fehler produziert.« »Wenn man mir ein paar Tage Zeit ließe, um mich auszuruhen und vorzubereiten, hätte ich eine größere Chance, die Prüfung zu bestehen und Mitarbeiterin in Libris zu werden, um dann bei dieser Maschine helfen zu können.« »Das mag sein, Frelle, aber der Prüfer hat nur morgen Zeit. Er muß ebenfalls an der Maschine arbeiten. Kommt jetzt, ich bringe Euch zu meiner Unterkunft und zeige Euch dann die Bäder und den Speisesaal. Wenn Ihr gebadet, gegessen und Euch ausgeruht habt, macht Ihr Euch bestimmt nicht mehr solche Sorgen wegen der Prüfung.« »Ein Bad ist kein Ersatz für eine gute Vorbereitung«, sagte Lemorel und erhob sich. Darien unterschrieb ein Papier mit dem Wappen von Libris darauf, das der Kellner brachte, und hob dann Lemorels Rucksack hoch. Als sie ihn sich auf den Rücken hievte, schwankte sie kurz unter der unerwarteten Last, und dann machten sie sich über die Kopfsteinpflasterstraßen auf den Weg nach Libris. Draußen vor dem Kaffeehaus wurden die Schatten länger, denn der Abend nahte. Niemand trug hier einen Rufanker, wie Lemorel auffiel, und wenn dennoch ein Ruf über die Stadt hereingebrochen wäre, hätten die Mauern die Menschen daran gehindert, allzuweit zu laufen. Dennoch war es ein Gefühl, als wäre man der einzige bekleidete Mensch bei einem Nudistentreffen, und selbst in dem berüchtigten Nudistenlager in Hansonville trugen die Gäste angeblich immer noch ihre Leibanker. Hier aber gab es keinerlei Leibanker, keine Geländer zum Anbinden der Haltegurte, keine Schutzwände, nichts! Allein der Gedanke erschien irgendwie liederlich. Vielleicht war das der Grund für die laxeren Moralvorstellungen hier in Rochester.
Ein ebenholzfarbener Koorie, der einen drei Meter langen Speer trug und lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet war, ging vorüber und unterhielt sich dabei angeregt mit zwei Händlern und einem Mann, der eine Bahnwärteruniform trug. Verschleierte Frauen aus dem Südmaurenreich spazierten in Grüppchen vorbei; schwer und hoch beladene Lastenträger trabten dahin. Schiebedreiräder zogen die Oberschicht der Stadt auf leichten, offenen Wagen durch die Straßen, und bewaffnete Eskorten hielten derweil im Gedränge nach möglichen Hinterhalten Ausschau. Lemorel fiel auf, daß niemand sie anrempelte. Sie hatte erwartet, sich durch das abendliche Gedränge kämpfen zu müssen, doch den beiden Bibliothekarinnen machte man überall, wohin sie gingen, den Weg frei. Ein gentheistischer Prediger, der einen zerlumpten Jesalakan trug, rief mit heiserer, aber durchdringender Stimme einem Grüppchen von Müßiggängern zu: »... und wehe denen, die dem Ruf versuchen zu entfliehen und deren Seele so verweichlicht, daß sie ...« Seine Stimme verlor sich bald im Hintergrundlärm der Rufe der Händler, die beste Baumwolle, beste Seide, beste Wollteppiche, beste Tomaten, beste Blutbohnen, beste Sandalen und bestes Schießpulver feilboten. Weiter vorn in der Menge stand ein weiterer Prediger, seinem schwarzen Gewand und Schnallenhut nach zu urteilen ein hinterwäldlerischer christlicher Sektierer. »In seiner Weisheit läßt Gott diesen Ort der Verdammnis bestehen, damit die Tugendhaften sehen können, wie das Leben ohne den Ruf sein kann, der sie auf Seinem Pfade leitet. Da Ihr das nun gesehen habet, meine Freunde, sage ich Euch: Verlasset diese Wirkungsstätte des Teufels, kehret ab von diesem ...« »Feingebäck, Makronen, Pinienkernkekse, geröstete Makadamianüsse!« »Schlagbolzen! Nagelneue Schlagbolzen!« Darien stupste Lemorel an, um auf sich aufmerksam zu machen, und sagte dann in Zeichensprache: »Das ist eine wilde Gegend hier, aber es ist der kürzeste Weg.« Rangierer zogen in Gruppen umher. Ihre Beine waren von der Arbeit auf den pedalbetriebenen Rangierlokomotiven geradezu unförmig muskulös und füllten die blauen Uniformhosen prall aus. Huren räkelten sich in den höher gelegenen Fenstern, die jeweils mit einem Zunftzeichen beflaggt waren, und Kuppler liefen mit entsprechenden Zunftzeichenflaggen durch die Menge der Passanten. Keifende Höllenprediger wünschten den Frauen Tod und Teufel an den Hals, und die entblößten daraufhin kurz ihre Brüste oder ihren Po. Jemand zupfte Lemorel am Ärmel. »Ein Mädchen aus dem Südmaurenreich, lieber Fras, die entflohene Konkubine eines Wimmeraners, sehr geschickt und erfahren, was -« Der Kuppler hielt mit einem Keuchen inne, als Lemorel sich zu ihm umwandte und er seinen Irrtum erkannte. Er verbeugte sich, zog den Kopf ein, wich zurück und stammelte dabei: »Pardon, Frelle. Habt Erbarmen, Frelle. Einen schönen Abend wünsche ich Euch, Frelle.« Darien lachte lautlos. »So schlecht kann ich doch gar nicht aussehen«, sagte Lemorel. Darien schüttelte den Kopf. »Das liegt an der Uniform aus Rutherglen. Im Dämmerlicht sieht sie so ähnlich aus wie die eines Bahnarbeiters.« Mitten auf der Straße feuerten fünf Bahnarbeiter einen von hier aus nicht sichtbaren Kollegen in einem Schlafzimmer in einer oberen Etage an. Daraufhin tönte dröhnendes Gelächter und empörtes Kreischen ob schmutziger Hände herab. In einem Fenster daneben hielt eine dralle junge Frau ihre prallen, zielscheibenartig geschminkten Brüste erst den Bahnarbeitern, dann Lemorel entgegen. »Ich brauche dringend eine neue Uniform«, murmelte Lemorel, aber Darien hörte gut und verstand, was sie sagte. »Ich leihe Euch eine von mir«, sagte Darien mit ihren Händen. Das Angebot, etwas so Persönliches wie eine Uniform geliehen zu bekommen, jagte ein eigenartiges, prickelndes Gefühl durch Lemorels erschöpften Körper. Eine Gruppe hünenhafter Rangierer aus dem Zentralbund kam ihnen in einer Reihe entgegen, die sich plötzlich in der Mitte teilte, um sie durchzulassen, wobei sich die Arbeiter übertrieben verbeugten und Lemorel zuriefen: »Brei!, breil Frelle hufchen!«
»Sie sagen, Ihr seid ein hübsches Mädchen«, sagte Darien, die nett sein wollte, in Gebärdensprache, aber Lemorel verstand ihre Sprache gut genug, um mitzubekommen, daß die Männer sie für eine Rangiererin gehalten hatten. Über den Dächern ragte der riesige Signalfeuerturm von Libris auf, und es dauerte nicht mehr lange, dann kamen sie zu den Mauern des - 28 Bibliothekskomplexes. Darien regelte am Eingang für sie beide die Formalitäten, und dann gingen sie auf schnellstem Wege zu Dariens Wohngemächern. Während Lemorel badete, nahm ihre neue Freundin anhand ihrer Uniform ihre Maße. Als dann die Glocken des Refektoriums läuteten, hatte Darien eine ihrer Librisuniformen mit Heftstichen auf Lemorels Größe umgenäht. Lemorel, die sich in dem geborgten Bademantel unsicher und verletzlich fühlte, nahm das graue Gewand und kleidete sich hinter einem mit stilisierten Warialdablüten geschmückten Paravent um. Als sie wieder zum Vorschein kam, klatschte Darien Beifall. »Ich gehöre hier noch nicht dazu«, sagte Lemorel unsicher. »Und morgen wird irgendein Prüfer alles mögliche unternehmen, damit ich schnell wieder meine alte Uniform anziehen muß.« Darien hob die Hände und sagte in Gebärdensprache: »Ich kenne Euren Prüfer, Lern. Ihr müßt keine Angst vor ihm haben. Er hat einen leicht schroffen Ton am Leib, ist aber ausgesprochen fair. Denkt immer daran: Es liegt in unserem ureigenen Interesse, Euch zu engagieren.« »Vielleicht bin ich aber nicht gut genug. Ich habe Schwächen in Heraldik.« »Dann engagiert halt einen Heraldiker. Ich habe drei, die für mich arbeiten. Auf Heraldik könnt Ihr verzichten, wenn Ihr eine hervorragende Mathematikerin seid.« »Echt? Das geht?« »Ja, das geht. Die Hoheliber sucht dringend Drachenbibliothekarinnen mit guten Mathematikkenntnissen.« »Aber das führt doch sicherlich zu Unausgewogenheiten im Betrieb von Libris.« »Das hat es bereits, Frelle Lemorel. Sollen wir in den Speisesaal gehen, statt hier zu kochen?« »Nur eine Frage noch. Ihr habt gesagt, daß drei Heraldiker für Euch arbeiten?« »Ja.« »Wie viele Leute habt Ihr denn sonst noch unter Euch?« » Fünfundzwanzig.« »Und dennoch holt Ihr mich, einen rangniederen Neuling, vom Bahnhof ab? Eine Führungskraft wie Ihr?« »Die ersten Eindrücke eines Neulings erweisen sich oft als prägend. Die Fraktion der Hoheliber könnte es sich nicht leisten, daß Euch irgendein unbedarfter Jüngling irgendwelchen Blödsinn erzählt, und wir könnten es uns genausowenig leisten, daß Euch irgendein Gesandter der Restaurationsfraktion von Libris Lügengeschichten auftischt. Wir schätzen Euch, und wir wollen, daß Ihr das wißt.« Hoheliber Zarvora hatte zwei Jahre nach dem Tod von Bürgermeister Jeftons Vater die Leitung von Libris übernommen. Sie hatte sich große Mühe gegeben, die Aufmerksamkeit und das Vertrauen des Jungen zu gewinnen, hatte ihn in Erstaunen versetzt, indem sie Mondfinsternisse vorhersagte, und hatte ihn sehr ergötzt, indem sie die Geheimkodes des Adels knackte. Als sie dann begann, ihm Reichtum und große Macht zu versprechen, hörte er bereitwillig zu. Die Hoheliber zählte offiziell zu den Privatedutoren des Monarchen, und daher wunderte sich niemand über die stundenlangen Tutorien in ihrem Arbeitszimmer. »Wir brauchen einen glorreichen Krieg, um die Würde des Throns wiederherzustellen«, verkündete Jefton, als Zarvora gerade versuchte, ihm ein neues Programm zu erklären, mit dem man Steuerhinterziehern auf die Schliche kommen konnte. »Ich gebe zu, es ist tröstlich zu sehen, daß sich die Staatskasse zur Abwechslung auch einmal füllt, aber damit erwirbt man sich keinen Respekt. Schaut Euch diese entschlüsselte Depesche an: Die bezeichnen mich hier als Geizkragen und Hasenfuß!« »Das stammt vom Bürgermeister von Tandara. Sehr unhöflich von ihm.« »Ich will, daß man mich mit Respekt behandelt.«
»Er ist ein gefährlicher Mann. Es ist besser, wenn er Euch verachtet oder ignoriert, als wenn er Euch mit Respekt behandelt und Euch Attentäter auf den Hals schickt.« Jefton verschlug es den Atem. Zarvora betätigte weiter ihre Klaviatur. Ihre Einstellung ging Jefton allmählich gegen den Strich. »Ich erwäge einen Feldzug gegen die Südmauren«, verkündete er mit lauter, aber gezwungen wirkender Stimme. »Dafür habt Ihr nicht genügend Truppen und Kavelare«, erklärte ihm Zarvora geduldig, ohne sich etwaiges Erstaunen anmerken zu lassen. »Der Adel und die Kavelare von Rochester würden Euch zur Hilfe eilen, wenn es so aussähe, also ob die Südmauren obsiegen würden, aber wenn Ihr selbst diesen Krieg vom Zaun brecht, werdet Ihr alsbald vor einem Richtblock knien, und Euer eigener Adel wird gemeinsam mit den Abgesand - 29 ten aus dem Südmaurenreich darüber wachen, daß der Henker sein Werk verrichtet.« Jefton schnippte frustriert gegen den Flügel einer mechanischen Eule. Daraufhin ratterte die Reihe der mit Punkten markierten Zahnräder in ein neues Muster. »Bitte nicht mit dem Kalkulor herumspielen, Bürgermeister, er läßt sich sehr leicht durcheinanderbringen. Eines Tages werde ich Euch eine Armee bereitstellen, die sich von niemandem aufhalten läßt.« Bockig schnippte Jefton noch einmal den Flügel an, aber Zarvora hatte an ihrer Tastatur bereits den Befehl HALTEMODUS eingegeben, und daher geschah nichts. Es war sinnbildlich für seine Regentschaft: Alles, was er tat, wurde konterkariert. »Entschuldigt bitte, Hoheliber«, sagte er, ging ans Fenster und sah hinaus über die Schieferdächer, um seine Scham zu verbergen. »Ich phantasiere laut vor mich hin, wenn ich vom Krieg spreche. Phantasien sind der einzige Ort, an dem ich mich von meinen Peers befreien kann. Selbst wenn ich genug Geld für ein größeres Heer hätte, könnte ich keines aufstellen, denn sie würden das Dekret über die Aushebung zerreißen, ehe noch die Tinte getrocknet wäre.« »Vielleicht braucht Ihr gar kein größeres Heer«, sagte Zarvora, während sie weitere Befehle eintippte. Sie beließ die Worte in der Schwebe. Nach kurzem Zögern wandte sich Jefton um. »Soll das eine leere Versprechung sein?« fragte er. »Habe ich Euch je leere Versprechungen gemacht?« erwiderte sie, immer noch tippend. »Ich könnte Euch etwas vorführen, wenn Ihr Euch ans Kämpenbrett setzen würdet. Der Kalkulor ist ein ausgezeichneter Kämpenspieler, und ich werde Euch demonstrieren -« Mit einem Mal erstarrte sie, die markierten Zahnräder im Blick. »Kämpen?« rief Jefton verblüfft. »Er kann Finsternisse vorhersagen, Verbrecher überführen und Geheimkodes knacken - und jetzt habt Ihr ihm auch noch beigebracht, Kämpen zu spielen? Das ist ja, als hätte ich einen zahmen Gott zu meiner Verfügung.« »Es scheint da ein Problem zu geben«, murmelte Zarvora und sah mit finsterem Blick zu den Zahnrädern hinüber. »Der Gott mag ja zahm sein, aber es geht ihm gerade nicht gut.« Jefton überlegte kurz. »Ihr meint, er hat einen Fehler gemacht? Vielleicht war er abgelenkt durch die ganzen Buchverwaltungsarbeiten, die er für Libris erledigt.« - 29 »Der Kalkulor arbeitet im Moment keine Hintergrundprozesse ab, Bürgermeister. Er ist ausschließlich mit den Aufgaben beschäftigt, die ich von diesem Zimmer aus in Auftrag gebe.« Zarvora tippte weitere Probeberechnungen ein. Daran, daß sie große Augen bekam und die Fäuste ballte, war zu erkennen, daß der Kalkulor noch etliche weitere Fehler machte. »Seine Zuverlässigkeit scheint mir fraglich«, bemerkte Jefton. »Wie soll ich ihm denn die Verteidigung des Reichs anvertrauen, wenn er schon an einfachen Berechnungen scheitert?« »Indem er unredlichen Schreibern auf die Schliche kommt, hat er Euch bereits mehr zusätzliche Einnahmen verschafft, als eine dreißigprozentige Steuererhöhung eingebracht hätte«, erklärte Zarvora immer noch geduldig. »Und er hat Euch auch zu Beliebtheit verholfen. Euer Volk mußte gar nichts dazubezahlen, konnte aber dennoch erleben, daß Missetäter bestraft wurden. Außerdem
ermöglicht er Euch, Euren Adel auszuspionieren, und das über eben die Geheimkodes, mit denen man versucht, Dinge vor Euch zu verheimlichen.« »Vielleicht wird der Kalkulor nachlässig, wenn er müde ist. Gönnt ihm öfter mal eine Ruhepause. Das könnte das Problem beheben. Meinen Beratern fallen auch oft die Augen zu, wenn sich Besprechungen endlos hinziehen.« »Ihr versteht das nicht, Bürgermeister. Der Kalkulor wird nicht müde, so wie wir, und er ist gar nicht in der Lage, Fehler zu begehen. Wenn die Schwerverbrecher, die ihn antreiben, müde werden, arbeitet er langsamer, aber an seiner Genauigkeit dürfte sich eigentlich nichts ändern.« »Dürfte?« »Wird sich nichts ändern, wenn ich erst einmal herausgefunden habe, wo es hakt. Wenn er voll funktionsfähig ist, wird er aus drei Komponententeams bestehen, die alle acht Stunden ausgetauscht werden. Dann wird Euch der Kalkulor ein Berater sein, der nie schläft und nie stirbt. Und darüber hinaus wird er auch über keinerlei Privatmeinungen oder persönliche Interessen verfügen, die Einfluß auf seine Ratschläge haben könnten.« Trotz seiner Jugend und obwohl er seinen Rang seiner Geburt verdankte, war Jefton ebenso scharfsinnig wie ein viel erfahrenerer Herrscher. Stets durchdachte er sehr sorgfältig die möglichen Folgen ihm erteilter Ratschläge, schritt aber, wenn er sich erst einmal entschieden hatte, entschlossen zur Tat. Angesichts der Vorteile, die ihm der erwei - 30 terte Kalkulor bot, hatte es nicht lange gedauert, sein Vertrauen zu gewinnen. »Die Dienste des Kalkulors müssen mir spätestens zum Monatsende zur Verfügung stehen«, verkündete er nach kurzem Nachdenken. »Aber Bürgermeister, die Ursache der Fehler -« »Die Fehler interessieren mich nicht. Falls sie auftreten, wenn die Komponenten müde sind, müßte sich das Problem doch beheben lassen, indem man die Komponenten austauscht, bevor sie überhaupt ermüden.« »Aber dann bliebe immer noch diese Schwachstelle im System.« »Ich kenne Euch, Hoheliber. Ihr seid eine Perfektionistin, und das ist jemand, der mehr tut, als zum Erreichen eines Ziels nötig ist. Der Kalkulor kann also Kämpen spielen, ja? Mir ist aufgefallen, daß Fergen in letzter Zeit miserable Laune hat, und von meinen Lakaien habe ich erfahren, daß er Euch hier in diesem Zimmer besuchte. Ich nehme an, man hat insgeheim Kämpen gespielt, und der Kalkulor hat ihm eine vernichtende Niederlage beigebracht.« »Ich wollte Euch davon erzählen, sobald der Fehler -« »Ausgezeichnet! Wenn er so gut Kämpen spielt, kann er auch politische Intrigen aufdecken. Denkt daran, Hoheliber: bis Monatsende. Wenn Ihr ihn bis dahin nicht zum Laufen bekommt, werde ich eine Edutorenkommission von der Universität hierher entsenden.« Zarvora war sprachlos. Eine Edutorenkommission! Bei dem Gedanken, jemand könnte herausfinden, wozu der Kalkulor in der Lage war, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Ich muß jetzt zurück in den Palast, Hoheliber. Was soll ich wegen der beleidigenden Depesche unternehmen?« »Schöpft Mut daraus, Bürgermeister. Sie erkennen damit an, daß Ihr durchaus in der Lage seid, mit Eurer Staatskasse zu haushalten und nicht bei ihnen ankommen werdet, um Euch Geld zu leihen. Solange Ihr so harmlos und sparsam wirkt, wird man Euch Rochester regieren lassen, ganz so, wie Ihr es wünscht.« Als Jefton gegangen war, befahl Zarvora, den Kalkulorsaal zu räumen. Dann eilte sie die sieben Treppen aus ihrem Arbeitszimmer hinab, um persönlich vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Systemsteuerer Lewrick erwartete sie bereits. »Wir müssen alles überprüfen«, verkündete sie. »Jedes einzelne Zahn - 30 rad, jedes Drahtseil, jedes Register, jede Übertragungsleitung und jede Entschlüsselungstabelle. Jede einzelne Kugel auf sämtlichen Abakus und jeden einzelnen Radzahn in sämtlichen Übersetzern.« »Schon wieder ein Fehler, Frelle Hoheliber?«
»Fünf Fehler - und das, während ich es dem Bürgermeister vorgeführt habe.« »Oh, ich verstehe. Verliert er allmählich den Glauben an unsere Maschine?« »Ganz im Gegenteil. Er war so beeindruckt, daß er sie bis zum Monatsende voll einsatzbereit haben will. Seiner Meinung nach werden die Fehler verschwinden, wenn man einen Schichtwechsel vornimmt, bevor die Komponenten ermüden.« »Eine gute Idee, der Bürgermeister ist ein kluger Mann.« Wütend packte Zarvora den kleinen Lewrick beim Kragen und hob ihn hoch, bis sie ihn auf Augenhöhe hatte. »Ich habe ganz genau Buch geführt über diese Fehler, Fras Lewrick, und zwar mit Hilfe der Kolbenuhr in meinem Arbeitszimmer. Die Fehler treten immer früher in der Schicht auf. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Er lächelte nervös und nickte. Sie setzte ihn wieder ab. »Nun ja, das kleine Ungetüm wird offenbar faul«, sagte er und richtete seine Kleider wieder. »Es ist nicht lebendig! Es hat einen Defekt, und der wird immer schlimmer. Wenn der Kalkulor in Betrieb genommen wird, bevor wir diesen Defekt finden, wird Jefton ein paar sehr dumme Ratschläge erhalten - die er blindlings befolgen wird, weil er dem Kalkulor viel zu sehr vertraut.« »Geschieht ihm ganz recht. Was mischt er sich auch immer in unsere Arbeit ein«, sagte Lewrick mit einem Achselzucken. »Nach dem ersten gravierenden Fehler wird er uns wieder in Ruhe lassen.« »Nach dem ersten gravierenden Fehler wird er eine Edutorenkommission von der Universität hierher entsenden«, entgegnete Zarvora grimmig lächelnd. »Edutoren? Hier?« rief Lewrick erst ungläubig, dann entsetzt, als ihm klar wurde, welche Konsequenzen das haben mochte. »Edutoren, hier, Fras Lewrick.« »Um Himmels willen, nein! Die würden das nicht verstehen. Die würden versuchen zu beweisen, daß es gar nicht funktionieren kann. Das - 31 Geheimnis würde gelüftet, und die verdammten Adeligen und Angehörigen würden versuchen, einige unserer besten Komponenten zu befreien.« »Soweit wird es aber nur kommen, wenn wir diese Fehler nicht in den Griff bekommen. Kommt, wir überprüfen jetzt erst mal die Abakus auf jedem einzelnen Pult.« Sie fingen in der hintersten Pultreihe des rechten Prozessors an und arbeiteten sich dann langsam vor. Nach einer Stunde hatten sie weiter nichts gefunden als einen versteckten Beutel Walnüsse und einige obszöne Schmierereien. »Die Mechanismen sind in ausgezeichnetem Zustand, Fras Lewrick«, sagte Zarvora, als sie an der Wand angelangt waren, die die FUNKTIONS-Abteilung von den gewöhnlichen Komponenten trennte. »Man kann Euch nur dazu gratulieren, daß Ihr die Maschine so gut instand haltet.« »Ich liebe den Kalkulor, gute Frelle«, gestand er, als sie die Radzähne eines Übersetzers prüften. »Wenn ich mir vorstelle, wie eine lärmende Edutorenmeute in diesen Saal eindringt, ignorantes Zeug schwafelt und mit ihren dreckigen Fingern die Zahnräder hier betatscht... dann schüttelt es mich vor Wut. Ich glaube, ich werde heute abend meine Waffe putzen und die Sporthalle aufsuchen.« »Eure Loyalität ist bewundernswert, Fras Lewrick, aber Ihr würdet Eure Zeit sinnvoller einsetzen, wenn Ihr versuchen würdet, den Fehler zu finden. Wir wissen, daß der linke und der rechte Prozessor die gleichen falschen Antworten liefern, und das obwohl sie durch zwei drei Meter hohe Vorhänge voneinander getrennt sind - und auf dem Korridor dazwischen Farbdrachen patrouillieren. Und dennoch müssen die Komponenten auf den beiden Seiten irgendwie miteinander kommunizieren.« »Würdet Ihr Euch lieber duellieren als zuzulassen, daß der Kalkulor entweiht wird, Frelle Hoheliber?« »Das habe ich bereits getan. Also, wenn zwei Komponenten kleine Spiegel hätten, könnten sie sich damit an der Saaldecke etwas signalisieren. Die Komponenten sollen sich bei Dienstantritt nackt
ausziehen und bekommen dann neue Uniformen. Es darf nichts Spiegelndes hereingeschmuggelt werden.« »Jawohl, Hoheliber.« »Auch Husten oder Räuspern oder das Summen von Melodien könnte ein Kode sein. Sorgt dafür, daß in der nächsten Schicht sämtliche - 32 Komponenten geknebelt werden. Ich würde die beiden Prozessoren gern in getrennte Säle verlegen, aber die dazu nötigen Umbauarbeiten würden Monate dauern und das Verarbeitungstempo beeinträchtigen. Sorgt dafür, daß die Komponenten gut ausgeruht sind, Fras Lewrick. Wir werden morgen eine zehnstündige Testreihe durchführen.« Der Prüfer war kaum zehn Jahre älter als Lemorel und entsprach so gar nicht ihrer Vorstellung von einem Silberdrachen-Bibliothekar. Er wurde schon grau, war abgehärmt und unrasiert. Seine Kleider waren in Unordnung und sahen aus, als hätte er darin geschlafen. An den Armein hatte er Tinten- und Kaffeeflecken. »Orangedrache Milderellen?« fragte er, als sie hereinkam, und sah von einem Wust von Formularen und anderen Schriftstücken hoch. »Ja, Fras Assessor.« »Nehmt bitte Platz«, sagte er und schlug ihre Akte auf. »Gute Noten in Mathematik, ja sogar sehr gute. Ihr wart dreimal Jahrgangsbeste, wie ich sehe.« Dann runzelte er plötzlich die Stirn. »Ihr habt zweimal die Regionalmeisterschaft im Schießen gewonnen und bei einem Duell den Gerichtskämpen erschossen - das ist besorgniserregend.« Lemorel wurde von Entsetzen gepackt und fragte sich mit einem Mal, ob man sie überhaupt zur Prüfung zulassen würde. Doch ohne ein weiteres Wort zu verlieren schloß der Prüfer ihre Akte und fischte aus dem Durcheinander auf seinem Schreibtisch zwei Fragebögen hervor. »Beantwortet bitte diese Prüfungsfragen, sobald ich Euch sage, daß Ihr damit anfangen sollt«, sagte er und reichte Lemorel die Bögen zusammen mit einer Schiefertafel für Entwürfe. »Seid Ihr verheiratet?« »Nein, Fras -« »Ist auch besser so. Ich war verheiratet, aber meine Frau hat mich sitzenlassen. Sie hat geglaubt, ich hätte in Libris eine andere, weil ich immer so spät erst von der Arbeit nach Hause kam. Ha! Schön wär's. Rosa!« Eine zierliche junge Frau mit großen Augen und langem schwarzem Haar kam aus einem anderen Büro hereinscharwenzelt. Sie lächelte Lemorel an. Ihr Gewand trug das Doppelstreifenabzeichen einer Bibliotheksgehilfin. »Rosa, diese Kandidatin wird gleich vor zwei Zeugen die Rotdrachenprüfung ablegen. Bring deine Arbeit hierher und gib der Frelle alles, was sie braucht: Kaffee, Kopfschmerzpulver, was auch immer.« - 32 Rosa führte Lemorel zu einem Tisch, auf dem eine mit einem Eichstempel versehene Sanduhr stand. »Achtet gar nicht auf ihn«, flüsterte sie. »Er arbeitet zuviel und kriegt nicht genug Schlaf. Also, wenn ich gleich die Sanduhr umdrehe, habt Ihr genau eine Stunde lang Zeit. Seid Ihr soweit?« Lemorel nickte. »Ab ... jetzt!« Auf dem ersten Blatt standen zehn mittelschwere Aufgaben, auf dem zweiten fünf richtig schwierige. Die anbrandende Panik niederringend, suchte sich Lemorel die einfachsten Aufgaben aus, markierte sie in der Reihenfolge ihrer Schwierigkeit und legte los. Die ersten vier Aufgaben löste sie im Kopf, jonglierte im Geiste mit Zahlen und krakelte die Lösung hin, ohne sie noch einmal zu überprüfen. Der Sand rieselte auf ein Häufchen, das bedrohlich schnell wuchs. Gruppentheorie, Integralrechnung, Matrizenalgebra - einige der Verfahren konnte sie nur erraten, andere hatte sie studiert. Sie rundete Ergebnisse auf und ab, trug Werte ein, an die sie sich aus Tabellen erinnerte, und ermittelte Näherungswerte anhand mit Kreide skizzierter Kurven. Im Hintergrund flüsterte der Silberdrache mit Rosa.
»Wenn sie uns schindet wie Sklaven, wie kann sie dann erwarten, daß ich diese Quote erfülle? Glaubt sie denn, Gründrachen wüchsen auf Bäumen? Für zehn Komponenten brauchen wir jeweils einen Gründrachen zur Betreuung, und dennoch will sie, daß die Maschine in den nächsten zehn Monaten auf über tausend Komponenten anwächst.« Lemorel war mittlerweile der Verzweiflung nah, und als die Sanduhr abgelaufen war, war die letzte Aufgabe noch ungelöst. Der Silberdrache klagte weiter im Flüsterton über seine Arbeitslast und darüber, daß ihm gar keine Zeit bliebe, sein offenbar üppiges Gehalt auszugeben. »Die Zeit ist um!« verkündete Rosa, langte über den Tisch und nahm Lemorel die Papiere und die Schiefertafel ab. Sie reichte sie dem Prüfer. Der setzte sich auf, streckte sich und begann die Lösungen zu benoten. Jetzt würde man sie nach Rutherglen zurückschicken, da war sich Lemorel absolut sicher. Sie zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, und hielt die Tränen zurück. »Also ... erster Bogen: Sechsundneunzig Prozent, das ist gut. Zweiter Bogen: Zweiundfünfzig Prozent. Gerade mal so bestanden«, schloß er mit einer schwungvollen Bewegung seines Füllfederhalters und sah dann mit einem Lächeln hoch. »Herzlichen Glückwunsch, das war jetzt recht kurz - 33 fristig anberaumt, aber eine gewisse Zwanglosigkeit ist hier gerade in Mode.« »Habe ich bestanden, Fras Assessor?« »Natürlich. Willkommen in Libris.« »Aber das war doch alles nur Mathematik.« »Frelle, wir arbeiten hier alle unter Hochdruck, um das zu leisten, was die Hoheliber uns abverlangt. Schaut Euch meinen Schreibtisch an: Früher haben sich neun Leute um all das gekümmert, und jetzt erledige ich es ganz alleine, nur mit ein paar Gehilfen.« Er krakelte etwas auf ein Formular, unterschrieb es und reichte es Lemorel. »Fras Silberdrache -« »Dargetty, Tarrin Dargetty.« »Fras Tarrin, das bedeutet mir sehr viel, das muß ich Euch einfach sagen. In Libris zu arbeiten ist seit Jahren mein großer Traum.« »Freut mich zu hören, Frelle Lemorel, denn außer zu arbeiten werdet Ihr hier in Libris auch nichts tun - allenfalls schlafen und essen, wenn Ihr Glück habt. Also, es hat mich sehr gefreut, Euch kennenzulernen, aber Ihr müßt Euch jetzt beeilen, wenn Ihr den Diener des Kanzlers noch erwischen wollt, ehe er für heute abschließt.« »Fras Dargetty, kennt Ihr denn nicht einmal die Dienstzeiten in Libris?« meldete sich Rosa zu Wort. »Es ist noch nicht einmal vier Uhr, sie hat noch über eine Stunde Zeit.« Dargetty saß einen Moment lang vollkommen reglos da und sah dann langsam zu der Kolbenuhr hoch. Dann wandte er sich an Rosa. »Hast du Frelle Milderellen soeben innerhalb einer Stunde zwei Prüfungen absolvieren lassen?« fragte er. Lemorel blinzelte verständnislos. Rosa schnappte nach Luft. »Au Backe! Ah, na ja ... Ihr habt mir aber auch nichts gesagt!« »Du wirst hier nicht nur dafür bezahlt, daß du Anordnungen befolgst, sondern auch dafür, daß du mal mitdenkst«, sagte Tarrin und hielt sich den Kopf. »Auf dem einen Bogen ist eine rote Kopfzeile und auf dem anderen eine grüne.« »Ich komme da gerade nicht mit«, sagte Lemorel besorgt. »Bin ich jetzt Rotdrache?« »Ihr wart es nur so lange, wie ich gebraucht habe, den zweiten Bogen auszuwerten. Ihr seid jetzt Gründrache. Ach, Mist, wo sind denn die Vorschriften? >Falls ein Prüfling in Ohnmacht fällt, einen Herzanfall erleidet, - 33 ein Kind gebärt oder aus einem anderen triftigen Grund nicht in der Lage ist, einen Prüfungsbogen fertig auszufüllen, darf die Note - nach freiem Ermessen des Prüfers - um einen Prozentsatz erhöht werden, der dem Prozentsatz der noch verbliebenen Zeit entspricht. < Das wären in Eurem Fall
einhundertvier Prozent... Nein, das reicht auf gar keinen Fall. Und ich bin mir sowieso nicht sicher, ob diese Klausel auch bei Schlamperei bei der Aufsicht greift.« »Das mit der Kindsgeburt erscheint mit eher unwahrscheinlich.« »Oh, ganz und gar nicht, der Prüfungsstreß scheint das auszulösen. Das kommt offenbar alle paar Jahrzehnte mal vor - im Schnitt.« »Wieso addieren wir nicht einfach die beiden Noten und werten den Notenschnitt?« schlug Rosa vor. »So bekäme sie dann zweimal gut oder befriedigend und hätte nicht eine Prüfung mit Auszeichnung und eine nur gerade mal so bestanden.« Tarrin sah hoch und faltete die Hände. »Ich weiß, sie könnte noch eine weitere Prüfung für den Gründrachen ablegen. Frelle Milderellen, was haltet Ihr davon - Rosa, fang sie auf!« Sie halfen Lemorel zurück auf ihren Stuhl. Rosa blieb bei ihr, und Tarrin ging hinaus, um einen Diener aufzutreiben, der ihnen Kaffee bringen sollte. Nach ein paar Minuten ging es Lemorel schon wieder besser. »Ich bin auf dem Flur dem Kanzler begegnet und habe ihm erzählt, was passiert ist«, verkündete Tarrin, als er einen dampfenden Becher schwarzen Kaffee vor dem frischgebackenen Gründrachen absetzte. »Er hat gesagt, er billige die Note Eins bei der Rotdrachen- und die Note Drei bei der Gründrachenprüfung, allerdings unter der Bedingung, daß Ihr die zweite Prüfung wiederholen könnt, wenn Ihr wollt.« »Eine Drei reicht mir vollkommen, Fras Tarrin. Aber seid Ihr sicher, daß ich nicht auch noch andere Tests bestehen muß?« Tarrin rieb sich mit einer Hand übers Gesicht und ließ sich dann auf seiner Schreibtischkante nieder. »Ihr habt gerade die Prüfung zum Gründrachen bestanden, Frelle, und das war's.« »Aber was ist mit Wappenkunde und Bibliothekswissenschaft?« »Mathematik ist heutzutage in Libris das einzige, worauf es ankommt -jedenfalls bei der Arbeit, die Ihr verrichten werdet. Ihr habt in Mathematik die Gründrachenprüfung bestanden und seid nun also Gründrachen-Bibliothekarin. Ich weiß, diese Auszeichnung sollte eigentlich mit bestimmten Ritualen und Zeremonien begangen werden, aber für all das - 34 haben wir keine Zeit. Ach ja, es tut mir leid. Ich erinnere mich noch ganz genau an meine eigene Ernennung zum Gründrachen, an der damals tausend Drachenbibliothekare, Edutoren und Bibliotheksgehilfen teilgenommen haben, unter dem Vorsitz des damaligen Hoheliber, im ehemaligen Festsaal, aber in diesem Saal befindet sich mittlerweile - nun, das werdet Ihr ja noch früh genug sehen. Also, Rosa, dann versuch doch mal wiedergutzumachen, was du Frelle Milderellen angetan hast, und bring dem Diener des Kanzlers ihre Papiere.« »Was ich ihr angetan habe? Ihr wart doch derjenige, der -« »Liefere bitte einfach nur die Papiere ab, und bring das grüne Armband mit. Ja?« »Eine Frage nur«, sagte Lemorel, als Rosa gegangen war. »Als Ihr das mit meinen Duellen gelesen habt, wirktet Ihr besorgt. Wird sich meine Vergangenheit hier, äh, nachteilig für mich auswirken?« »Nein, ganz im Gegenteil. Wenn Ihr als Rotdrache mit derartigen Schießleistungen hierhergekommen wärt, hätte Vardel Griss Euch so schnell für ihre Tigerdrachen angefordert, wie sie beim Kanzler hätte vorsprechen können. Sie steht ebenfalls unter dem Druck, daß sie ihre Einstellungsquote erfüllen muß. Jetzt aber seid Ihr zu hochrangig, um noch Tigerdrachenrekrutin werden zu können, und daher kann ich Euch in die Abteilung Systemplanung entsenden.« Lemorel war zu erschöpft, um darauf etwas zu erwidern, saß nur da und starrte den sich abkühlenden Kaffeebecher an. Tarrin zuckte ein paarmal nervös, biß dann die Zähne zusammen, stand auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Es war eine sanfte Berührung, und seine Hand zitterte, und er roch nach muffigen Kleidern und Kaffee. Hier ist jemand, der noch weniger in vornehme Gesellschaft paßt als ich, sagte sich Lemorel. Er hustete und räusperte sich.
»Frelle Lemorel, vertraut mir, das ist für Euch der bessere Weg. Nach fünf Jahren bei der Systemplanung wird man Euch zum Silberdrachen ernennen, das garantiere ich Euch. Und übrigens möchte ich, daß Ihr Euch an der Universität einschreibt und promoviert.« »Ich - äh, ja. Wie lange dauert das denn?« »Drei Jahre normalerweise, aber ich werde dafür sorgen, daß die Prüfungen vorgezogen werden. Ich brauche elf neue Blaudrachen, die in der, äh, besonderen Rechenabteilung der Hoheliber als leitende Regulatoren tätig sein sollen, und um zum Blaudrachen befördert zu werden, - 35 müßt Ihr mindestens schon dabei sein, einen akademischen Grad zu erlangen.« Rosa kam wieder und verkündete, daß Lemorel das grüne Armband nicht durch einen Stellvertreter verliehen werden dürfe. Völlig erschöpft trottete Lemorel zum Büro des Kanzlers, wo ein Blaudrache versuchte, zumindest einen kleinen Teil der alten Zeremonie zu befolgen, indem er einige Zeilen aus der Verleihungsurkunde vorlas und Lemorel das grüne Armband auf einem ausgeblichenen roten Kissen überreichte, das nur einen Augenblick zuvor noch auf seinem Stuhl gelegen hatte. Tarrin, Rosa und die Bibliothekare, die in einer Schlange auf die Aushändigung ihrer Lohntüten warteten, klatschten Beifall. »Wo seid Ihr denn untergebracht?« fragte Tarrin, als sie auf den Korridor aus blauem Sandstein hinaustraten. »In der Herberge«, antwortete Lemorel nuschelnd. »Darien vis Babessa ... läßt mich bei sich übernachten.« »Ah ja, die große Sprachkundlerin, ein Blaudrache. Was Zahlen angeht, allerdings nicht besonders begabt. Rosa, du geleitest Frelle Milderellen zu ihrer Unterkunft, sie sieht wirklich nicht gut aus. Schlaft morgen aus, Frelle, erscheint frühestens um sieben Uhr zum Dienst. Ich werde Euch Euren Vorgesetzten vorstellen, und dann müßt Ihr auch noch die Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen.« »Verschwiegenheitserklärung?« »Ja, Frelle. Und auf Eidbruch steht die Todesstrafe.« Closter und Lermai schoben ihren überladenen Bücherkarren den langen Korridor hinab, der vom Rückstandslager zur Katalogabteilung führte. Normalerweise unternahmen sie diese Fahrt alle zwei Monate, seit etlichen Wochen aber mußten sie sie neunmal täglich antreten. Die beiden ältlichen Bedienten waren eingestaubt und verschwitzt. »Bald wird es gar keine Rückstände mehr geben«, sagte Lermai, als sich Closter über ihre Arbeitslast beklagte. »Dann können wir es wieder etwas ruhiger angehen lassen.« »Keine Rückstände? Keine Rückstände?« erwiderte Closter. »Was ist eine Katalogabteilung ohne ihre Rückstände? Die neue Hoheliber hat keinerlei Respekt vor Traditionen. Sie ist einfach zu ... neu.« »So neu nun auch nicht mehr. Sie ist immerhin schon seit drei Jahren hier.« »Drei Jahre? Ha! Ihr Vorgänger war fünfundneunzig Jahre lang hier. Der ist als kleiner Junge hierhergekommen und hat sich dann hochgearbeitet. Einundvierzig Jahre lang Hoheliber! Unter seiner Ägide wurden Traditionen noch geachtet.« Sie stapften schweigend noch ein paar Meter weiter, dann nieste Lermai in seinen Ärmel. Eine Staubwolke wirbelte auf, und daraufhin mußte auch Closter niesen. »Und das alles nur wegen dieser Fernmeldemaschine«, murrte Closter und fuchtelte den Staub fort. »Alle Bücher müssen in den Hauptkatalog aufgenommen werden, weil die Maschine nur Bücher finden kann, die katalogisiert sind. Männer und Frauen schuften für eine Maschine! Ha! Ganz Libris verwandelt sich mehr und mehr in eine Maschine! Und was sind wir?« »Bibliotheksbedienstete der Klasse Orange, Unterabteilung fünf-« »Nein, nein, du Dummkopf, wir sind Maschinen, das meine ich. Obwohl wir lebendige Menschen sind, die atmen und reden und niesen, macht die Hoheliber Maschinen aus uns.« Als sie die Katalogabteilung betraten, merkten sie sofort, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. An den langen Reihen der hoch beladenen Schreibtische regte sich kein einziger der
Katalogbearbeiter. Aus dem Büro des Leiters der Katalogabteilung drang ein hitziger Wortwechsel. »Die Hoheliber ist hier«, flüsterte ein Gelbdrache und hielt sich einen Zeigefinger vor die Lippen. »Ich verlange nicht, ich befehle!« brüllte Zarvora hinter der Bürotür. »Das hier ist meine Abteilung! Und ich werde sie nicht anders leiten, nur weil das Eurer verdammten Scheißmaschine in den Kram paßt!« brüllte der Leiter der Katalogabteilung mit schriller Stimme zurück. »Es ist meine Bibliothek! Ihr werdet tun, was mein System verlangt!« »Ich fordere Euer System! Ich fordere Euch!« kreischte der Leiter der Katalogabteilung. Als sie das hörten, zuckten die Katalogbearbeiter zusammen, und Closter und Lermai gingen hinter ihrem Karren in Deckung. Die Tür des Büros wurde aufgestoßen. »Entweder Ihr trefft Euch mit mir im Morgengrauen in den Arkaden zum Duell, oder Ihr könnt Euch schon mal seelisch darauf vorbereiten, daß Ihr bald in der Verbannung als Kettensträfling Gleitbahngleise verlegt!« rief Zarvora, als sie hinauseilte. Sie ging an Closter und Lermai vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und knallte dann die Tür hinter sich zu. Der Leiter der Katalogabteilung kam aus seinem Büro. Er hielt ein paar schmutzige, zerrissene Papierbogen in der Hand. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen, und sein grauer Haarschopf war zerzaust. »Sie hat doch tatsächlich meine Ausgabe der Katalogisierungsregeln zerrissen!« rief er einem stämmigen jungen Blaudrachen zu. »Horak, Ihr müßt Euch als mein Kämpe mit ihr duellieren.« »Mit Hoheliber Zarvora?« erwiderte Horak, ohne sich zu erheben. »Tut mir leid, lieber Fras. Ich würde mich für Euch duellieren, aber von Selbstmord war nie die Rede.« Dem Leiter der Katalogabteilung traten fast die blauen Augen aus dem Kopf, und Horak wich erschrocken zurück. »Verräterischer Schuft! Ich habe Euch zum Blaudrachen ernannt, und ich kann Euch auch wieder zum Weißdrachen degradieren.« Horak brachte ein grimmiges Lächeln zuwege. »Lieber ein lebender Weißdrache als ein toter Blaudrache.« Der Leiter der Katalogabteilung schleuderte ihm die zerrissenen Papierbogen ins Gesicht. »Hinaus! Sofort!« schrie er und zeigte zur Tür. Horak erhob sich von seinem Schreibtisch und ging zum Hauptausgang. »Viel Spaß bei Eurem neuen Job als Kettensträfling!« rief er, als er die Tür hinter sich zuzog. Der Leiter der Katalogabteilung schleuderte ihm einen Thesaurus hinterher. Der flog nicht weit genug und stieß einen Stapel Bücher von dem Karren. »Die Hoheliber ist wütend wegen irgendwas«, flüsterte Closter, als sie die Bücher wieder aufsammelten, »und mit den Rückständen der Katalogabteilung hat es nichts zu tun. Angeblich ist mit der Fernmeldemaschine irgendwas nicht in Ordnung. Angeblich hat ein böser Geist von ihr Besitz ergriffen.« Lermai riß erstaunt den Mund auf. Die große Maschine war, soweit die Bibliothekare und ihre Gehilfen wußten, nur eine Fernmeldeeinrichtung, aber es war ein so großes und komplexes Gebilde, daß sie begonnen hatten, es wie einen lebendigen - und ranghöheren - Mitarbeiter zu behandeln. »Warum holt man keinen Priester und läßt ihn einen Exorzismus durchführen?« fragte Lermai. »Warum? Warum? Weil es so eine Maschine seit der Zeit vor dem Großen Winter nicht mehr gegeben hat«, antwortete Closter und gab - 36 sich aufgebracht. »Die Kunst, Maschinen von bösen Geistern zu befreien, ist schon so lange vergessen, daß wir kein einziges Buch mehr über die Gebete und Zeremonien haben, die es dabei einzuhalten gilt.« Von einer Ecke der Katalogabteilung aus hatten Tarrin und Lemorel das ganze Drama mitangesehen; sie waren während der Führung des frischgebackenen Gründrachens durch die einzelnen Abteilungen von Libris dort aufgehalten worden. Als Closter und Lermai dann die
heruntergefallenen Bücher wieder aufsammelten, nahm Tarrin seine neue Mitarbeiterin beim Arm und schlüpfte schnell mit ihr durch eine Hintertür auf einen Korridor. »So was kommt hier häufig vor«, sagte Tarrin mit einem Achselzucken, als ihn die anderen nicht mehr hören konnten. »Die Hoheliber führt Reformen ein, die gewissen Gruppen in Libris gegen den Strich gehen. Die Leute müssen sich jetzt bei ihrer Arbeit an Zeitpläne und Fristen halten, und das bei Leuten, die in ihrem ganzen Leben noch keinen Zeitplan und keine Frist eingehalten haben. Wie Ihr gerade gesehen habt, birgt unser Beschwerdesystem gewisse Gefahren. Eine gegen die Hoheliber gerichtete Beschwerde muß der Hoheliber persönlich vorgetragen werden, ehe sie beim Bürgermeister eingereicht werden kann. Der Hoheliber steht es dann frei, denjenigen zu fordern und das bedeutet, es kommt zu einem Duell. Man könnte dafür einen Kämpen benennen, aber wenn die Hoheliber diesen Kämpen tötet, hat sie das Recht, einen Widerruf der Beschwerde zu verlangen. Und wenn man sich weigert zu widerrufen, muß man persönlich gegen sie antreten.« »Das ist in der Südostallianz überall so.« »Ja, das ist es, aber in Libris ist es in letzter Zeit viel häufiger vorgekommen. Die Hoheliber hat neunzehn Kämpen getötet - und auch zwei Golddrachen, die es vorzogen, sich persönlich mit ihr zu duellieren. Sie ist eine äußerst treffsichere Schützin und sehr leicht reizbar. Andererseits aber ist sie bei unseren Jungdrachen sehr beliebt. Sie setzt Dinge in Bewegung und ist bei dem, was sie tut, ausgesprochen tüchtig.« Sie kamen nun in einen eben erst renovierten Bereich mit Oberlichtern und frisch geweißten Wänden. Tarrin mußte an drei Türen bei den Wachen für sie beide den Durchgang quittieren, und schließlich betraten sie ein Büro, an dessen Eingang in grober Schablonenschrift SYSTEMSTEUERER stand. Tarrin stellte Lewrick vor, der lächelte und Lemorel die Hand küßte und dann bei seinem Diener Kaffee bestellte. Lewrick - 37 roch ein wenig nach Badesalz und erschien Lemorel als einer jener Menschen, die man einfach gernhaben mußte. »Milderellen, ach ja, der Aufsatz über die Ausbreitung des Rufs«, sagte Lewrick, als er ihr einen Rohrstuhl brachte. »Ausgezeichnete Arbeit. Habt Ihr die mathematischen Grundlagen selbst errechnet?« »Ja, Fras Lewrick. Ich habe fünf Monate dafür gebraucht.« »Monate? Ich hätte Jahrzehnte dafür gebraucht - das heißt, wenn ich es allein gemacht hätte. Ich hätte es natürlich binnen weniger Tage erledigen können, wenn ich den ... nun ja, das werdet Ihr ja gleich sehen.« Er kramte in den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch und reichte ihr dann ein Klemmbrett mit einem Formular darauf. Es war die bereits erwähnte Verschwiegenheitserklärung. »Ihr werdet gleich von einer streng geheimen Maschine erfahren«, erklärte Tarrin. »Lest Euch dieses Formular bitte durch und unterschreibt an der markierten Stelle.« Lemorel las. Es war eine vom Bürgermeister erlassene Verfügung, die aber nur für den internen Gebrauch in Libris bestimmt war. Ein Ding namens Kalkulor wurde in fast jeder Klausel erwähnt, und auf beinahe sämtliche Regelverstöße stand die Todesstrafe. Die übrigen Verstöße wurden mit lebenslanger Haft in eben diesem Kalkulor geahndet, aber der Text enthielt keinerlei Anhaltspunkte dazu, worum es sich bei diesem Kalkulor handeln mochte. Lemorel nahm den Gänsekiel, den Lewrick ihr hinhielt, und tunkte die Feder in ein Tintenfaß aus Porzellan, das vom Maul eines silbernen Drachen gehalten wurde. Ein Tintentropfen landete auf dem Formular aus Mangelpapier. »Keine Sorge, Frelle - Ihr könnt hier hingerichtet werden, ganz egal, ob Ihr das Formular unterschreibt oder nicht«, sagte Tarrin und griff nach einer Streusandbüchse. Lemorel unterschrieb. »Herzlich willkommen in unserer Familie«, sagte Lewrick feierlich, während Tarrin Sand auf die noch feuchte Tinte streute. »Und als erstes müßt Ihr das allerwichtigste Familienmitglied kennenlernen -« »Das Farbdrachen schneller frißt, als ich sie anwerben kann«, warf Tarrin ein. »Ich habe das alles schon gesehen, ich bleibe hier.« Er ließ sich an Lewricks Schreibtisch nieder, zog an einer von der
Decke herabhängenden Kordel, nahm dann eine Lochstreifenspule zur Hand und fing an, den Kode anhand der Lochmuster abzulesen. Lewrick schloß eine dicke Eisenholztür auf und führte Lemorel einen - 38 unbeleuchteten, mit Kalksteinplatten ausgekleideten Korridor entlang in eine andere Kammer. Zwei Tigerdrachen salutierten bei ihrem Eintreten, wachsame und muskulöse junge Männer, beide mit zwei doppelläufigen Steinschloßgewehren bewaffnet. Für Lemorel war nicht zu übersehen, daß sie diese Waffen nicht nur zur Schau trugen. »Die Maschine der Hoheliber trägt den Namen Kalkulor. Es ist eine Rechenmaschine, und zwar eine ganz außerordentlich leistungsfähige und vielseitige«, erklärte Lewrick und wies dabei auf eine kleine Tür, vor der ein dicker Filzvorhang hing. »Sie kann innerhalb weniger Tage Aufgaben erledigen, an denen ein einzelner Schreiber womöglich jahrelang herumtüfteln müßte.« Er schob den Vorhang beiseite, und Lemorel trat hinaus auf eine Beobachtungsplattform. Diese war hoch an einer Wand des Kalkulorsaals angebracht, direkt über der doppelten Trennwand zwischen dem linken und dem rechten Prozessor. Die unterschiedlichsten Eindrücke stürmten auf Lemorel ein: ein Saal voller Studenten bei einer Prüfung, ein Wettweben auf dem Jahrmarkt, ein Weingarten voller Pflücker bei der Lese ... doch im Grunde ließ sich nichts davon hiermit vergleichen. Der Kalkulor war ein Nachhall von etwas beinahe Unbegreiflichem aus einer fernen Vergangenheit. Es war eine Maschine, so wie eine Flußgaleere oder ein Galeerenzug, und doch viel mehr als das. Das hier war nicht nur eine Vorrichtung zur Beförderung von Lasten, es vervielfachte die Fähigkeiten desjenigen, der es benutzte. »Also, Frelle Milderellen, wie findet Ihr unsere große Maschine?« fragte Lewrick eifrig, wie ein stolzer Vater, der ein begabtes Kind vorstellt. »Das ist - ein Gerät, das das Gehirn verstärkt, so wie ein Fernrohr das Auge verstärkt«, sagte sie langsam, wie gebannt von dem, was sie hier sah. »Sehr gut, eine überaus treffende Analogie!« rief Lewrick aus. »Das muß ich mir aufschreiben. Kommt, wir gehen zurück ins Büro.« Auf dem Rückweg begann er ihr einige Grundzüge der Konstruktion zu erklären, doch sie waren schon wieder bei Tarrin, ehe er auch nur erläutert hatte, nach welchem Schema die Schichtarbeit der Kalkulor-Komponenten ablief. »Als Gründrache werdet Ihr bei der Systemplanung arbeiten - äh, das heißt, wenn Ihr arbeitet. Wenn Ihr nicht arbeitet, werdet Ihr an der Universität studieren, hoffe ich doch?« »Sie ist bereits eingeschrieben«, versicherte ihm Tarrin. - 38 »Ausgezeichnet. Für unsere Erweiterungsarbeiten brauchen wir jedes Jahr mehr Blaudrachen-Bibliothekare, als Libris früher in hundert Jahren ernannt hat.« »Apropos: Ich habe da eine interessante Neuigkeit«, sagte Tarrin. »Dürfte ich an meinem Schreibtisch sitzen, wenn Ihr sie mir überbringt?« fragte Lewrick hoffnungsfroh, rieb sich die Hände und verbeugte sich knapp. »Oh, Verzeihung«, erwiderte Tarrin und wischte, als er aufstand, mit seinem Ärmel einen Kaffeering weg. »Euch werden bald die Dienste des Leiters der Katalogabteilung zugeteilt.« Lewrick runzelte argwöhnisch die Stirn. »Als Drache oder als Komponente?« »Als Komponente.« »Ausgezeichnet! Ausgezeichnet!« rief Lewrick und schlug mit den flachen Händen auf seine lederne Schreibtischunterlage. »Er mag ja seine Fehler haben, aber er hat ein sehr gutes Zahlengedächtnis. Er kann als Lernfunktion im linken Prozessor -« Ein lautstarkes Pochen an der Tür unterbrach ihn, und ehe Lewrick etwas sagen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Hoheliber Zarvora schritt herein. »Fras Tarrin, die Wache sagte, Ihr seid hier. Wer ist das?« »Gründrache Lemorel Milderellen«, sagte Tarrin, und Lemorel stand auf und verneigte sich gewandt.
»Milderellen ... Demographische Analyse der Rufvektoren im Südosten, ja, ein guter Aufsatz.« Sie wandte sich an Tarrin. »Aber soweit ich mich erinnere, habe ich ihren Namen erst vorigen Monat auf der Liste der Beförderungen zum Orangedrachen gesehen.« »Ich habe sie am Tag ihrer Ankunft geprüft und dann gleich zweimal befördert«, erklärte Tarrin. »Da habe ich Euch einen ganz schönen Schock versetzt, stimmt's nicht, Frelle? Eine ziemliche Tortur. Sie ist in meinem Büro in Ohnmacht gefallen.« »Dann zieht mal das über und versucht, dabei nicht in Ohnmacht zu fallen«, sagte Zarvora und warf Tarrin ein goldfarbenes Armband hin. »Der Leiter der Katalogabteilung hat mich gefordert, konnte dann aber keinen Kämpen benennen. Jetzt übernehmt Ihr die Leitung der Katalogabteilung.« Tanin machte den Mund auf und wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus. Zarvora wandte sich an Lemorel. »Es ist ein Schock, wenn man unerwartet befördert wird, nicht wahr?« »Ja, Frelle Hoheliber.« »Aber meine Arbeit als Prüfer! Da ist niemand qualifiziert genug, die zu übernehmen!« protestierte Tarrin. »Dann müßt Ihr eben beide Ämter ausüben. Ernennt Eure Schreiberin zum Weißdrachen. Sie kennt sich mit den Arbeitsabläufen in Eurem Büro aus. Schickt sie auf die Verwaltungsfachhochschule, erhöht ihr Gehalt, was auch immer, Hauptsache, in beiden Dienststellen läuft alles reibungslos.« »Darf ich sie nicht zur Leiterin der Katalogabteilung ernennen?« »Nein.« Lewrick lachte. »Darf ich der erste sein, der Euch zu Eurem neuen Posten gratuliert?« »Hoheliber, das ist unmöglich -« »Fras Tarrin, es ist ganz einfach. Sorgt nur dafür, daß die Katalogbearbeiter ihrer Arbeit nachkommen. Spaltet die etablierten Gruppen auf und steckt jeden, der Arger macht, in den Kalkulor.« »Oh ja«, sagte Lewrick. »Dort sind sie höchst willkommen.« »So einfach ist das nicht, Frelle Hoheliber!« »Fras Tarrin, hört mir zu. Die Katalogabteilung muß bis zum Jahresende an das Datenspeicherungsregister des Kalkulors angeschlossen sein. Mein Diener hat ein paar Papiere, die Ihr unterschreiben müßt, und eine Urkunde, die Ihr in Eurem Büro aufhängen könnt.« »Aber man wird mich fordern.« »Na und? Macht es wie ich: Knallt sie alle ab.« »Aber ich bin ein grottenschlechter Schütze.« »Dann engagiert einen Kämpen.« Die Hoheliber ging. Eine geschlagene Minute lang herrschte Schweigen im Raum. »Eine wunderbare Dame, die Hoheliber«, sagte Lewrick. »Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich ihr den Hof machen.« »Ihr seid entweder verrückt oder senil - oder beides«, sagte Tarrin und rieb sich die Schläfen. »Frelle Lemorel, es tut mir leid, aber ich kann Eure Führung durch Libris nicht fortsetzen, aber immerhin habe ich Euch bis zu Eurem Abteilungsleiter gebracht, Golddrache Lewrick MacKention.« »Wir sehen uns bei der nächsten Vorstandssitzung!« rief Lewrick 39 noch, als Tarrin ging. Der frischgebackene Leiter der Katalogabteilung knallte die Tür hinter sich zu. »Das ist alles ein Mordsstreß, meine liebe Frelle«, sagte Lewrick freundlich und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Die Hoheliber braucht die Rechenkraft sowohl für Vorhaben des Bürgermeisters als auch für ihre eigenen Forschungen. Der Ausbau des Kalkulors hat sich schon als sehr störend für den Betrieb erwiesen, aber jetzt ist noch etwas Schlimmeres hinzugekommen. Auf den Kalkulor ist neuerdings kein Verlaß mehr, und wir wissen nicht, wie es dazu kommen
konnte. Frelle Zarvoras Nerven sind bis zum Äußersten gespannt, und wir, ihre Untergebenen, sind alle völlig überarbeitet.« Ich bin der Hoheliber persönlich begegnet, dachte Lemorel, die seinen Worten kaum folgte. Und die Hoheliber hat tatsächlich meinen Aufsatz über die Rufvektoren gelesen - und konnte sich sogar noch daran erinnern. »Wie lange ist der Kalkulor denn schon in Betrieb?« fragte sie und riß sich damit aus diesem Tagtraum. »Ist er noch gar nicht. Wir haben monatelang Probeläufe gefahren und sogar schon einige wichtige Projekte für den Bürgermeister durchgeführt, aber richtig betriebsbereit ist er noch nicht. Es gab Pläne für eine feierliche Inbetriebnahme, aber das wurde alles vertagt. Er produziert neuerdings seltsame Fehler - aber dazu später mehr. Kommt, laßt uns einen Schreibtisch für Euch finden. Der Mensch braucht einen eigenen Schreibtisch, genau wie er ein eigenes Bett braucht. Schreibtische sind etwas sehr Persönliches, findet Ihr nicht auch?« Erst zwei Stunden nach Sonnenuntergang kehrte Lemorel schließlich in Dariens Gemächer zurück, ließ sich auf das freie Bett fallen und schlief auf der Stelle ein. Eine Stunde darauf kam Darien herein, sah die schlaff auf dem Bett ausgestreckte Gestalt und schüttelte den Kopf. Lemorel wachte nicht auf, als ihr die Stiefel ausgezogen und eine Decke über sie gebreitet wurde. - 40 3 KNOSPENDE LIEBE FUNKTION 9 erkannte die Zahlenfolge, als sie auf den Rollen seines Empfangsregisters erschien. Der Kalkulor hatte diese Folge schon ein Dutzend Mal abgearbeitet, aber diesmal gab es einen leichten Rundungsfehler. Zahlreiche Tests wurden durchgeführt, die Herren des Kalkulors waren aus irgendeinem Grund hochgradig nervös, und andere Komponenten waren schon ausgepeitscht worden, sowohl wegen versehentlicher als auch wegen bewußter Fehler. Für versehentliche Fehler war FUNKTION 9 zu geschickt und erfahren, und seine bewußten Fehler beließ er lieber unbemerkt. Er verarbeitete die Zahlen und leitete die Ergebnisse an den Gründrachen weiter, der die Oberaufsicht über die Korrelationskomponenten führte. Dazu stellte er ein Hebelregister so ein, daß es seinen Lösungen entsprach, und betätigte dann das unter dem Pult angebrachte Übertragungspedal. Der Kalkulor war so aufgebaut, daß die beiden voneinander unabhängigen Prozessoren wechselseitig ihre Arbeit überprüften. Ihre jeweilige Korrelations-Unterabteilung leitete die Ergebnisse an die zentrale Überprüfungseinheit weiter, und wenn die Resultate voneinander abwichen, wurden die betreffenden Berechnungen wiederholt. FUNKTION 9 hatte ein gutes Gedächtnis und wußte, daß einige der an der Maschine durchgeführten Tests aufgrund von Rundungsfehlern und dergleichen ein ungültiges Ergebnis erbracht hatten, aber dennoch kamen sie nicht zur Wiederverarbeitung zurück. Er wußte, daß das seltsam war, unternahm aber nichts wegen der Fehler. Es stand ihm nicht der Sinn danach, ausgepeitscht zu werden. Der Korrektor saß einige Meter von FUNKTION 9 entfernt hinter einer Trennwand, und die Komponente konnte das Klicken hören, mit dem er die Daten in sein Register einspeiste, um sie dann an die Überprüfungseinheit weiterzuleiten - woraufhin ein leiser, dumpfer Schlag und dann das Sirren gespannter Drähte ertönte. Einen Augenblick später hörte FUNKTION 9 bei dem Korrektor auf der anderen Seite ebenfalls einen leisen, dumpfen Schlag, der ihn begleitende Akkord klang jedoch ein klein wenig anders. Ein weiterer Schlag, und diesmal glich der Akkord - 40 dem auf seiner Seite. FUNKTION 9 lächelte, soweit sein Knebel es ihm ermöglichte. Von der Überprüfungseinheit wurden die Ergebnisse an den Systemsteuerungsraum weitergeleitet, wo Lewrick und ein Team von Blau- und Gründrachen sie analysierten. Die Bibliothekare innerhalb des Kalkulors waren sorgfältig von jenen abgeschirmt, die den Output überprüften, und natürlich wußte keiner von ihnen, warum diese Tests durchgeführt wurden. Lemorels erster Arbeitseinsatz in Libris gehörte ebenfalls zu diesem großen Systemcheck. Zahlenkolonnen wurden eingespeist und verarbeitet, wobei abwechselnd der linke und der rechte
Prozessor deaktiviert wurde. Das Ergebnis stimmte in etwa mit den Erwartungen überein: Beide Prozessoren lieferten nach keinem erkennbaren Muster unterschiedliche Fehler. Gruppen von Drachenbibliothekaren wurden als Komponenten eingesetzt, konnten aber auch nachdem sie sich die Sache von innen angesehen hatten, keine Möglichkeit entdecken, wie man das System hätte stören können. Der Kalkulor wurde wieder im Normalbetrieb hochgefahren, doch nach einer Woche traten erneut Fehler auf. Der Berg unerledigter wichtiger Arbeit wuchs und wuchs. Trotz dieser Atmosphäre, die von einer immensen Arbeitslast, erhitzten Gemütern und undurchdringlicher Geheimhaltung geprägt wurde, war Lemorel glücklich. Als Neuling setzte man sie lediglich bei der Analyse des Kalkulor-Outputs ein. Während andere sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen und über die Aufgabenverteilung stritten, arbeitete Lemorel flink und akkurat im Hintergrund ihre Berechnungen ab. Endlich hatte sie ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Hier konnte sie mit der Maschine der Hoheliber verschmelzen. Sie beschloß, Dariens Angebot anzunehmen, das Zweizimmerapartment in der Herberge von Libris dauerhaft mit ihr zu teilen. Es war zwar eine lange Klettertour bis hinauf ins Obergeschoß, aber dort bot sich ihnen ein fabelhafter Ausblick auf die Palastgärten, den See und die Farmen und Wälder dahinter. Darien und Lemorel kamen blendend miteinander aus, zum einen, weil die Gebärdensprache sie verband, aber auch, weil beide wußten, wie es war, ein Außenseiter zu sein. Der Markt von Rochester lag zwischen der Gleitbahn-Endstation und der Hochschule und trug so auch dazu bei, die wohlhabenden Klassen der Oststadt von den übrigen zu trennen. Auf dem Markt konnte man die - 41 ganze bekannte Welt durchstreifen - und noch einiges mehr, südmaurische Teppiche, aus gefärbter Wolle und Emudaunen gewoben, bildeten, an gestaffelten Gerüsten hängend, ein farbenprächtiges Fassadenstädtchen. Meisterlich geschneiderte Kleider aus Griffith sorgten für regen Zulauf an den Ständen des Zentralbunds, während die Uhr- und Büchsenmacherstände aus den Stadtstaaten Wangaratta, Shepparton und Rutherglen mehr Fremde als Einheimische anlockten. Es gab frisches Obst und Gemüse von den Farmen am Stadtrand und nordmaurischen Kaffee aus den nördlichsten Regionen der bekannten Welt. An ihren freien Tagen gingen Darien und Lemorel oft auf den Markt. Nachdem sie sich mit Lebensmitteln eingedeckt hatten, besuchten sie die Trödlerstände auf der Hochschulseite. Darien kaufte dort stets Bücher in obskuren Sprachen oder Klassiker in älteren Formen des Anglaischen, während Lemorel nach Werken über Mathematik und Naturphilosophie suchte. Die Händler legten ihnen manchen interessanten Titel zurück. Lemorel trug ihr Haar nun offen, zog sich hinter die dunklen, gewellten Kaskaden zurück, die in Rutherglen niemand je hatte frei herabwallen sehen. Ein neues Image mußte schließlich auch mit einem neuen Äußeren einhergehen. Darien überredete sie, sich ein bunt gemustertes Cargelligotuch zu kaufen und sich ihre Uniform aus Cowraseide von einem Schneidermeister fertigen zu lassen, bei dem auch einige Führungskräfte von Libris arbeiten ließen. Und während die Wochen ins Land gingen, dachte der jüngste Gründrache darüber nach, sich neue Waffen zuzulegen. »Ein Paar Duell-Wurfmesser oder eine langläufige Luntenschloßmuskete, die schon bessere Tage gesehen hat«, sagte Lemorel, als sie vor Tantyrak stand, dem ehemaligen Hofpulverhändler des Emirs von Cowra. »Ich bin gut im Messerwerfen, und die machen einen eleganten Eindruck.« Darien hob erschrocken die Hände. »Würdest du dich denn jemals mit Wurfmessern duellieren wollen?« »Auf keinen Fall!« »Dann kauf sie nicht.« »Dann muß es die Muskete sein.« »Was willst du als Bibliothekarin denn mit einer Muskete?« »Sie hat Filigranarbeiten aus Inglewood am Lauf und Grünsteinintarsien am Schaft. Damit komme ich vielleicht in das Gardekorps.« »Damit kommst du eher ins Exekutionskommando für hochgestellte Delinquenten.«
- 42 Lemorel nahm die Muskete aus dem Waffenständer. Tantyrak verneigte sich lächelnd und rieb sich die Hände. »Die hatte ursprünglich mal ein Schnappschloß, das sieht man an den Löchern hier und da. Das wurde ausgebaut und durch ein Luntenschloß ersetzt, für einen Musketier aus Deniliquin. Siehst du das eingebrannte Wappen von Deniliquin da auf dem Schaft, das irgendwer versucht hat wegzufeilen?« »Die hat man wahrscheinlich irgendeinem Gefallenen auf einem Schlachtfeld abgenommen. Und wieso hat man das Schnappschloß ausgebaut?« »So ist sie zuverlässiger und läßt sich leichter nachladen. Eine glimmende Lunte verheißt einen sicheren Schuß. Ein paar Funken aus einem Schnapp- oder Steinschloß können bedeuten, daß es nur Klick macht, wenn dein Leben von einem Bumm abhängt. Andererseits kannst du mit einem gut gepflegten Schnappschloß unter einem Regenumhang auch dann noch feuern, wenn alle anderen Waffen längst abgesoffen sind. Fras Tantyrak, was soll sie kosten?« »Ah, eine sehr schöne Waffe, Frelle, ganz besonders mit dem neuen Luntenschloß. Neunundvierzig Silbernobel.« »Eine abscheuliche Waffe, ich kann Luntenschlösser nicht ausstehen. Immer dieser stinkende Luntenqualm, und dann gehen sie auch noch ständig aus. Habt Ihr das ursprüngliche Schnappschloß noch?« »Leider, Frelle, hatte der ungläubige Hundsfott von Vorbesitzer keinerlei Hochachtung vor der Eleganz und Vortrefflichkeit eines Schnappschlosses.« »Fünfzehn Nobel.« »Fünfzehn Nobel? Frelle, allein die Grünsteinintarsien auf dem Schaft sind schon mehr wert als fünfzehn Nobel.« Nach zehnminütigem Feilschen hatte Lemorel die Waffe schließlich für siebenunddreißig Silbernobel erstanden, beharrte aber auch noch, als sie außer Hörweite des Händlers waren, darauf, geneppt worden zu sein. »Ich werde drei Monate dafür brauchen, das Schnappschloß nachzubauen.« »Du?« »Warum nicht? Ich habe eine Werkzeugtasche voller Feilen, Sägen und dergleichen dabei. Schließlich bin ich die Tochter eines Uhrmachers.« »Warum läßt du das nicht in den Werkstätten von Libris machen?« - 42 »Darien, ich arbeite den ganzen Tag mit dem Kopf. Um mich zu entspannen, muß ich auch mal irgendwas mit den Händen machen.« Sie gingen bei einer Gießerei vorbei, und Lemorel bestellte Metallplatten und Federn für ihr Schnappschloß. Während der Schmied Maß nahm und Skizzen anfertigte, sah sich Darien in der Werkstatt um. Dort stand ein kleiner Schmiedeofen, der mit Anthrazit befeuert wurde, wie die Gesetze und die Heiligen Schriften es vorschrieben. An Wandhaken hingen Kettenglieder von Dreirädern, und auf den Regalen stapelten sich Zahnräder, Ritzel, Nocken und Radachsen. Dann hingen dort auch etliche größere und schwerere Ketten, die der Reparatur harrten, Ketten, die nur von Galeerenzügen stammen konnten. Es gab da also mehr zu tun, als die Gleitbahn-Werkstätten am Nordufer des Sees schafften. Das deutete normalerweise auf bereits stattfindende oder bald bevorstehende Kämpfe hin. Windzüge verkehrten beinahe kostenlos, waren aber langsam und vom Wetter abhängig. Galeerenzüge waren teuer, aber schnell, und mit Schnelligkeit gewann man des öfteren Kriege. Ein Trupp bewaffneter Läufer marschierte draußen vorbei, den Markt-Revisor und seinen Buchhalter eskortierend. Hoch aufragende orangenfarbene Federn ließen sie aus der wogenden See der Köpfe hervorstechen, ihre Kernlederpanzer knarrten beim Marschieren, und ihre mit einem Messingknauf versehenen Offiziersstöcke schlugen bei jedem zweiten Schritt im Gleichklang aufs Pflaster. Der Revisor trug seine Amtsstandarte, und sein Buchhalter folgte ihm mit dem in Leder gebundenen und mit Goldschnitt versehenen Händlerverzeichnis unter dem
Arm. Etliche Diener trugen ihnen Aktenkisten hinterher, und ihnen folgten weitere bewaffnete Läufer und ein mürrisch dreinschauender Gefangener. Darien erkannte ihn nicht, bemerkte aber, daß er eine Schiffermütze des Flußhändlerverbandes trug. Wahrscheinlich ein Strohmann des Hegemeisters. Die Umstehenden pfiffen und zischten ihn aus. Der Revisor hatte in den vergangenen Monaten betrügerische Machenschaften in erstaunlichem Umfang aufgedeckt, woraufhin zwei Untergrund-Kartelle aufgeflogen waren, und sogar dem mächtigen Hegemeister schwammen allmählich die Felle davon. Dieser Schlag gegen das organisierte Verbrechen auf dem Markt von Rochester hatte zu Preissenkungen und auch zu einer Verringerung der Gemeinkosten geführt, so daß rechtschaffene Händler davon profitierten. »Könntest du das mit nach Libris nehmen, Dar?« Darien wandte sich - 43 an der Tür um, und Lemorel drückte ihr die Muskete und einen Weidenkorb in die Hände. »Ich muß jetzt weiter zur Uni.« Mit vollen Händen konnte Darien nichts darauf erwidern. Die Universität begann gut anderthalb Kilometer außerhalb der Mauern von Libris und war fast ebenso alt wie die Staatsbibliothek. Ihre wunderschönen Gärten waren berühmt, und seit über tausend Jahren wurden dort Bürgermeister und Hoheliber ausgebildet. Die schiere Größe der Hochschule hatte für Lemorel etwas sehr Beruhigendes. Kein Mensch dort kannte sie, und sie konnte einfach nur in aller Ruhe dasitzen und den Edutoren dabei zuhören, wie sie Theoreme entwickelten und mathematische Beweise darlegten, so als wäre sie die ehrbare Tochter reicher Eltern aus dem Südosten der Stadt. Sie bekam tatsächlich eine zweite Chance im Leben. In Libris trug man ihr tagtäglich Dutzende unverständlicher Aufgaben in formaler Logik und Mengenlehre auf und bildete sie sogar zur Kalkulorkomponente aus. Tarrin wirkte zusehends abgespannter, und Lewrick schnauzte jeden an, der in seiner Gegenwart das Wort »Edutor« fallenließ. Einmal hatte Lemorel sogar den Bürgermeister höchstpersönlich gesehen, wie er aus den Räumen der Hoheliber kam. Monate vergingen, aber worin auch immer das Problem bestand, man kam seiner Lösung nicht näher. Lemorels Schnappschloß nahm nach vielen Abenden am heimischen Herd allmählich Gestalt an, und im Dezember erprobte sie die fertig restaurierte Muskete auf dem Schießstand von Libris. »Und der Kalkulor führt doch ein Eigenleben«, beharrte Lewrick, während Zarvora vor ihm im Zimmer auf und ab schritt. »Ich habe ihn konstruiert, bis hin zur letzten Kugel auf dem Abakus der niedersten Komponente«, entgegnete die Hoheliber. »Er kann kein Eigenleben führen.« Einhundertdreißig Meter entfernt spähte ein Scharfschütze, der neben einem Wasserspeier auf dem Dach von Libris kauerte, über Kimme und Korn einer Steinschloßmuskete. Seine Zielperson ging ständig auf und ab, und daher konnte er für einen mit Sicherheit tödlichen Schuß nicht gut genug zielen. »Hoheliber, Ihr habt Überreste der alten Wissenschaft verwendet, und wir wissen, daß vor dem Großen Winter einige Maschinen durchaus ein Eigenleben führten. Vielleicht waren eher die Strukturen der Maschinen lebendig und weniger ihre Kugeln und Drähte. Und indem Ihr auf - 43 die alten Strukturen zurückgegriffen habt, habt Ihr vielleicht versehentlich irgendeine Form von Leben wiedererschaffen. Vielleicht tragen die Daten, die Ihr über die Tastatur in den Kalkulor einspeist, zu seiner Ausbildung bei. Bedenkt, manches davon ist astrologischer Natur.« »Nein, nein, nein!« beharrte Zarvora, setzte sich an den Kämpentisch und schlug auf die Tischkante. »Es wurden ausschließlich astronomische Daten in den Kalkulor eingespeist: die Stellungen der Planeten zueinander, die Bewegungen des Mondes, die Bewegungen kleinerer Himmelskörper. Die Gleichungen, die diese Bewegungen beschreiben, sind in modernem Südmaurisch abgefaßt und beruhen darauf, daß alle Umlaufbahnen eine elliptische Form haben. Das ist exakte, nachprüfbare Wissenschaft.« »Aber astrologische Einflüsse könnten -« »Nein! Das hier ist Astronomie, kein Hokuspokus.«
Der Scharfschütze zielte nun auf eine Stelle knapp oberhalb des Kopfes der sitzenden Zarvora und wartete darauf, daß sich der leichte Wind legte. Dann zählte er langsam bis drei und drückte ab. Mit einem lauten Klicken schlug der Hahn mit dem Feuerstein auf die Batterie, aber der Pfannendeckel hob sich nicht, und die Muskete ging nicht los. Zarvora stand auf und begann wieder auf und ab zu gehen. Mit einem leisen, aber wortgewaltigen Fluch löste der Scharfschütze einen kleinen Schraubendreher aus einem Ring an seinem Gürtel und lockerte eine Schraube an der Pfannendeckelhalterung. »Ich habe eine Theorie über den Großen Winter - daß sich nämlich seine Wiederkehr anhand der Planetenbewegungen vorhersagen läßt«, erläuterte Zarvora. »Mit Hilfe des Kalkulors habe ich errechnet, wann ein zweiter Großer Winter bevorsteht.« Lewrick starrte sie entgeistert an. »Aber das kann nicht sein!« rief er. »Der Große Winter wurde durch vorzeitliche Waffen ausgelöst, durch Bomben, die dort, wo sie explodierten, einen >nuklearen Winter< zur Folge hatten. Diese Bomben wurden zu oft eingesetzt, und daraufhin gefror für Jahrzehnte der gesamte Planet.« »Falsch, Fras Lewrick. Es kann und es wird wieder passieren, und zwar bald. Und wir haben großes Glück.« »Glück?! Was hat unsere Vernichtung denn mit Glück zu tun?« »Vor einer großen Katastrophe gewarnt zu werden ist wertvoller als ganze Wagenladungen Gold und bringt einem mehr Macht als die gewaltigste Armee. Ich brauche noch genauere Angaben über den Zeitpunkt - 44 der Wiederkehr des Großen Winters, aber selbst der Kalkulor wird Jahre dafür brauchen, mir die zu liefern. Und bei derart langwierigen und komplexen Berechnungen wäre auch nur ein Fehler pro Monat nicht tolerabel. Die Verwaltungsaufgaben, die der Kalkulor übernimmt, verzögern meine Forschungen noch zusätzlich, aber immerhin verdienen wir damit die Kosten für seinen Betrieb.« »Vielleicht solltet Ihr mit dem Kalkulor sprechen, Hoheliber, ihn zu größerer Sorgfalt auffordern.« »Wenn ich der Meinung wäre, daß er ein Eigenleben führte, würde ich ihm dienen, statt ihn um irgendwas zu bitten. Aber er ist ja weiter nichts als ein besserer Rechenschieber.« »Hoheliber, wie kann ich Euch bloß überzeugen? Ihr sitzt hier oben und tippt Eure Befehle ein, aber drunten im Kalkulorsaal kann man in den Mustern, die die Kugeln auf den großen Abakusgestellen über den Pultreihen bilden, Rhythmen erkennen. Das Wispern der hin und her sausenden Kugeln scheint oft tatsächlich Worte zu bilden, bloß daß ich nicht verstehe, was sie bedeuten. Akkorde erklingen im Schwirren der Drähte, wenn die beiden Prozessoren zum gleichen Ergebnis kommen, und Disharmonien, wenn die Ergebnisse voneinander abweichen und sie noch einmal von vorne anfangen müssen. Überall im Saal kann man den Pulsschlag des Lebens hören.« »Akkorde, Fras Lewrick?« schrie Zarvora und wirbelte so abrupt zu ihm herum, daß er erschrocken zurückzuckte. Der Scharfschütze zielte nun auf Zarvoras Brust, da ein Querbalken ihren Kopf verbarg. »Dann kommt mit runter und zeigt mir, wo -« Die Kugel durchschlug eine Fensterscheibe aus Bleiglas und anschließend den Hinterkopf Lewricks, der sich gerade erhoben hatte. Einen Augenblick später sah der Attentäter, wie das Fenster inmitten des Qualms seines Schusses nach außen zerplatzte. Ihm verschlug es vor Erstaunen den Atem, und er konnte sich nicht erklären, was da passiert war. Statt sich schnell vom Dach abzuseilen, reckte er hinter dem Wasserspeier den Kopf, um besser sehen zu können. Und was er dann sah, war die Hoheliber, die inmitten von Glasscherben und Bleistreifen auf dem Dach kniete - und dann das Mündungsfeuer ihrer Steinschloßmuskete. Sechs Stunden später zitterte Zarvora immer noch, als sie im Kalkulorsaal zwischen den beiden Prozessoren stand. Lewricks Mörder stammte nicht aus Libris, und niemand vermochte seinen Leichnam zu identifi - 44 -
zieren. Es bestand jedoch nicht der geringste Zweifel daran, daß der Systemsteuerer von einer Kugel getroffen worden war, die ihr gegolten hatte. Die Traditionalisten von Libris bedienten sich nun nicht mehr nur der Petitionen, Resolutionen und Duellen, um Zarvoras Modernisierungsmaßnahmen aufzuhalten. Hinter den Trennwänden links und rechts mühten sich die Komponenten der beiden Prozessoren mit einem diagnostischen Problem ab. Wie Lewrick gesagt hatte, gab der Kalkulor bei voller Auslastung ein schwirrendes, surrendes Geräusch von sich, das keinem anderen Laut auf der Welt auch nur entfernt ähnelte. Das Sausen und Klicken zehntausender Abakuskugeln begleitete das leise Rattern und Klappern der Zahnräder und Registerhebel, und die zahlreichen Stränge der Übertragungsdrähte summten und sirrten in seltsamen Akkorden, aus denen sich manchmal irritierende Melodien bildeten. Zarvora stand vollkommen reglos da und atmete flach. In der Nähe ertönte ein tiefer Akkord, als sich die Ausgabedrähte des rechten Prozessors an der Schranke der Überprüfungseinheit spannten. Kurz schwirrte ein Getriebe, dann wurde eine Hebelbank freigegeben, und die einzelnen Hebel wurden von den Drähten in die Positionen »Ja« oder »Nein« gezogen. Während die Hebel noch einrasteten, gaben die Ausgabedrähte des linken Prozessors den gleichen Akkord von sich. Die beiden Prozessoren waren bei irgendeinem Teil der diagnostischen Berechnungen zum gleichen Ergebnis gekommen. Die Ausgaberegister wurden nicht von Gefangenen überwacht, sondern von Gründrachen-Bibliothekaren. Zarvora war der Auffassung gewesen, daß diese Arbeit zu wichtig sei, um sie Komponenten anzuvertrauen, aber vielleicht hatte sie sich da getäuscht. Farbdrachen stand es frei, insgeheim zu konspirieren - beim Essen, in der Schänke, im Bett. Sie lebten nicht in der gleichen Angst vor Strafe wie die Komponenten. Bei ihnen konnten gewisse Nachlässigkeiten einreißen. Wieder gaben die Ausgabedrahtstränge des rechten Prozessors einen Akkord von sich - doch diesmal klangen die Drähte des linken ein klein wenig anders! Zarvora öffnete erwartungsvoll den Mund. Ehe das Getriebe des rechten Prozessors die dazugehörige Hebelbank freigab, lockerten sich die Drähte des linken erneut, und hinter der linken Trennwand hörte man, wie ein Register zurückgesetzt wurde. Wiederum spannten sich die Drähte des rechten Prozessors, doch diesmal glich der Akkord dem des linken Prozessors. Der im linken Prozessor tätige Gründrache - 45 paßte seinen Output an den des rechten Prozessors an, indem er den Klang der Übertragungsdrähte entsprechend stimmte, wenn diese unter Spannung standen. Lemorel bemerkte in den oberen Geschossen und auf den Dächern von Libris eine ungewöhnliche Betriebsamkeit, als sie von zwei grimmig dreinblickenden Tigerdrachen aus dem Bibliothekskomplex herauseskortiert wurde. Innerhalb des Kalkulors war nichts Ungewöhnliches vorgefallen, und so weit sie wußte, war er immer noch in Betrieb. Kurz bevor die Tigerdrachen gekommen waren, war die Hoheliber an Lemorels Schreibtisch vorbeigegangen, aber auch das war nicht weiter ungewöhnlich. Gleich hinter dem Hauptausgang lief eine Gruppe von gut dreißig Bibliothekaren aufgescheucht umher, und Lemorel erkannte Hirolec Var aus der Systemplanungsabteilung. Als die Tigerdrachen sie freigaben, drängten sich die anderen um Lemorel. »Hirolec, was ist denn passiert?« fragte sie. »Wir dachten, Ihr wüßtet das vielleicht«, sagte er sichtlich enttäuscht. »Die Dienerin von Oberliber Jandrei sagt, sie habe zwei Schüsse gehört, und dann sei eine Glasscheibe zerbrochen«, sagte ein Rotdrache aus der Präsenzbibliothek. »Manche sagen, die Hoheliber sei ermordet worden«, sagte Hirolec. »Aber ich habe sie gerade erst vor fünf Minuten gesehen. Sie ist an meinem Schreibtisch vorbeigegangen«, entgegnete Lemorel. Es folgte ein gemeinsamer Aufschrei, alle riefen durcheinander. Dann brachte Lemorel also doch Neuigkeiten: Die Hoheliber war am Leben. Die Bibliothekare warteten auf dem Platz vor dem Haupteingang. Weitere zwanzig Grün- und Blaudrachen wurden hinausbefördert, einzeln und in
Gruppen. Von ihnen erfuhr man, daß die Hoheliber einen Mordanschlag überlebt hatte. Die Fratzen der Wasserspeier grinsten im Licht des Spätnachmittags zu ihnen hinab, und hin und wieder sahen die auf dem Dach patrouillierenden Tigerdrachen zu ihnen hinunter. Zusätzliche Wachmannschaften wurden aus dem Staatspalast herbeordert und marschierten mit ihren Hellebarden über das Sternenmosaik des Platzes. Sie trugen ihre gelbe Galauniform, die rote Streifen aufblitzen ließ, wenn sie die Arme schwangen. Nach einer Stunde ging Lemorel nach Hause. Ihre Dienste wurden offenkundig bis auf weiteres nicht benötigt, und die Sonne stand schon - 46 tief am Himmel. Darien war schon da, wußte aber auch nichts Näheres über die Ereignisse des Nachmittags. »Zwei Schüsse und eine geplatzte Glasscheibe in der Nähe der Arbeitszimmer unterm Dach«, berichtete Lemorel, während sie eine Pastinake für die Suppe schnippelte. »Die Hoheliber ist noch am Leben, und alle Großdrachen aus dieser Ebene wurden lebendig gesehen, seit die Schüsse abgefeuert wurden.« »Vielleicht haben die Tigerdrachen einen Eindringling erschossen«, erwiderte Darien in Gebärdensprache mit mehlbestäubten Fingern. »Ja, vielleicht. Die Hoheliber würde sich mächtig aufregen, wenn es einem Eindringling gelingen sollte, so nah an ihre Gemächer heranzukommen. Sie hat gern alles unter Kontrolle.« »Irgendwelche Fortschritte bei der Störung des Kalkulors?« »Nein, noch nicht. Es ist ausgesprochen entmutigend, aber wir dürfen nicht aufgeben.« Lemorel goß aus einem Krug etwas '91er Rutherglen Broadbank in die Suppe, und Darien schob ihre Honigkekse zum Backen in den Ofen. Hin und wieder klopften andere Bibliothekare bei ihnen an, erkundigten sich, ob es Neuigkeiten gebe, und brachten die neusten Gerüchte. Nach dem Abendessen nahm Lemorel ihr Schnappschloß auseinander, um eine Nut breiter zu feilen. Darien versuchte etwas zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Statt dessen packte sie ihren Leibankergürtel und Rufzeitschalter aus und baute sie auseinander, um sie zu warten. Der Mechanismus war in gutem Zustand, und daher war die Arbeit schnell getan. Lemorel baute das Schnappschloß wieder zusammen, und als sie den Abzug betätigte, schnellte der Hahn nach vorne, und Funken sprühten in die Pfanne. Die Muskete, die sie vor Monaten gekauft hatte, war nicht mehr wiederzuerkennen. Den Lauf hatte sie poliert, bis er glänzte wie bei einer Waffe der Palastwache, und sie hatte einen neuen Schaft geschnitzt, der maßgenau zu ihren Armen und ihrer Schulter paßte. »Ich muß oft an den Ruf denken«, sagte Darien mit müden, ölverschmierten Fingern. »Es wird einfach nur ganz schnell dunkel um mich, und dann wache ich sofort wieder auf. Mit meinem sonstigen Leben hat es anscheinend nichts zu tun, aber dennoch ist es ein aufregendes Gefühl.« Ganz entspannt und zufrieden mit ihrer Arbeit an dem Schnapp - 46 schloß erwiderte Lemorel, ohne darüber nachzudenken: »Es gibt etwas in meiner Vergangenheit, das so ähnlich ist wie der Ruf. Immer wenn mich der Ruf überkommt, versetzt er mich zurück in genau diesen Augenblick. Ich ...« Sie fing sich wieder. »Ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl mit Sandseife wegschrubben.« Darien richtete sich auf. »Erzähl mir davon, Lern. War es ein Geliebter?« »Nicht nur ein Geliebter, ich ... Müssen wir wirklich darüber reden?« Sie spannte erneut das Schnappschloß und feuerte einen Funkenregen auf den Sternenhimmel jenseits des offenstehenden Fensters. »Ich wünschte, ich könnte eine Waffe auf meine Erinnerungen richten und sie einfach wegpusten.« Darien ging quer durchs Zimmer zu Lemorel, legte ihr eine Hand auf die Wange und drehte sacht ihren Kopf vom Fenster fort. »Da lebte ein ziemlicher Rabauke in meiner Straße, als ich klein war«, sagte sie in Gebärdensprache, die Finger ganz nah vor Lemorels Gesicht. »Der hat mich immer gejagt und grausame Dinge mit mir angestellt, weil er wußte, daß ich nicht schreien konnte. Aus Angst vor
ihm habe ich Alpträume bekommen und habe mich kaum noch vor die Tür getraut. Ich blieb mehr und mehr drinnen und las. Meine Hausaufgaben machte ich irgendwann so gut, daß ich Stipendien bekam. Vor fünf Jahren habe ich ihn wiedergesehen, als ich meine Familie besuchte. Er war Holzfahrer geworden, hing an der Flasche und hatte schon einige Male im Knast gesessen. Und ich war Blaudrache.« »Was willst du mir damit sagen?« »Man sollte immer mal wieder auf seine alten Probleme zurückblicken, auch wenn es wehtut. Denn sie werden im Laufe der Zeit immer kleiner.« »Meine Vergangenheit ist schlimmer als ein Alptraum, Dar. Es gibt da einen blutbespritzten Dämon -« »Allzu schlimm kann er dich nicht verletzt haben. Du hast keine Narben.« »Dieser Dämon bin ich.« Darien wich händeringend einen Schritt zurück. Die Muskete in den Armen haltend, als wäre sie ihr einziger Freund auf der ganzen Welt, schloß Lemorel die Augen und lehnte sich an die Rückenlehne des Korbsessels. »Ich möchte nicht, daß auch du dich noch vor mir fürchtest«, sagte - 47 sie, und eine Hand begann ihr übers Haar zu streichen. Es war eine sonderbar sanfte Berührung, eher das besänftigende Streicheln einer Krankenschwester als die prickelnde Zärtlichkeit einer Geliebten. Mit geschlossenen Augen hörte Lemorel sich schließlich ins Nichts hinein sagen: »Ich werde dir erzählen, was mich so an den Ruf erinnert. In meinem letzten Jahr auf der Mittelschule hatte ich einen Freund namens Semidor. Er war ... ein wenig affektiert: ein Dichter, ein Künstler. Stell dir jemanden vor, der nicht besonders gut in der Schule ist, aber wahnsinnig gern ein großer Gelehrter werden möchte. So war er. Ich war damals ein sehr lernbegieriges Mädchen, war mathematisch begabt und trug mein Haar streng nach hinten gebunden. Meine Mutter war gestorben, als ich acht Jahre alt war, und mein Vater hatte meine Schwester und mich großgezogen, als wären wir seine Lehrlinge. Ich wurde eine ziemlich gute Schützin, weil ich immer seine Waffen ausprobierte, und ich kannte mich mit Uhrwerken aus und mit der Mathematik der Linsen, und ich glaube, ich habe mein Äußeres ein wenig vernachlässigt. Ich war also genau das richtige Mädchen für einen exzentrischen Schüler wie Semidor, und etwa zwei Jahre lang hielten wir Händchen und gingen miteinander. Für mich war das einfach nur eine angenehme Freundschaft, für ihn aber viel mehr. Leider war ich zu jung, um das zu begreifen. Und allmählich entwickelten wir uns auseinander: Während er davon träumte, so was wie ein Troubadour zu werden, träumte ich davon, dem Dienst der Drachenbibliothekare beizutreten. Ein Mädchen vom Lande, das nicht ganz dumm ist, kann nur ins Kloster gehen oder in die Bibliothek, weiter gibt es da doch nichts. Dennoch blieben wir zusammen, vielleicht aus alter Gewohnheit. Wir machten den Mittelschulabschluß, und ich wurde von der Bibliothek der Technischen Hochschule von Rutherglen als Weißdrache eingestellt. In meiner Freizeit studierte ich nach Kräften. Semidors Eltern bezahlten ihm ebenfalls das Studium dort, vielleicht, um ihn davon abzuhalten, ein fahrender Sänger zu werden. Nach einiger Zeit freundete ich mich mit einigen Drachenbibliothekaren an. Sie ermutigten mich, ein bißchen mehr unter Leute zu gehen, sogar auf Jahrmärkte und zu Tanzveranstaltungen. Semidor weigerte sich mitzukommen. Seiner Meinung nach tat ein gebildeter Mensch so etwas nicht. Am letzten Tag des Erntedankfestes gab es ein Wettschießen mit Handfeuerwaffen, und ich habe gewonnen. Bei dem Fest an diesem - 47 Abend war ich ein wenig betrunken, und ein junger Mann namens Brunthorp hat mir den Hof gemacht. Er verstand seine Sache, das ist mir später klargeworden. Er schenkte mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit, machte mir ganz nebenbei Komplimente, hörte sich alles an, was ich zu erzählen hatte, und ging auch darauf ein. Nachdem ich mir jahrelang Semidors hochtrabendes Gerede und
seine Gedichte angehört hatte, war das für mich eine angenehme Abwechslung. Bald lagen wir uns in den Armen und küßten uns, und dann führte er mich aus der Scheune hinaus auf eine nahegelegene Wiese. In einem kleinen Schuppen gab es da einen Heuboden, und er tat ganz erstaunt, als er den entdeckte. Wir legten uns hin und fingen an, uns sehr leidenschaftlich zu liebkosen. Ich dachte an Semidor. Ich wollte ihm treu sein, aber in einem seltsamen Moment der Hingabe schaffte ich es, daß ich wütend auf ihn wurde, und redete mir ein, er hätte meine Treue nicht verdient. Das ist es, was mich an den Ruf erinnert - dieser kurze Augenblick der Hingabe, diese Entscheidung, etwas Tadelnswertes zu tun. Der Ruf weiß, daß ich mich ihm jedesmal wieder hingeben werde, und das hasse ich.« Lemorel schlug die Augen auf und sah zu Darien hoch. »So, jetzt weißt du es.« »Du haßt den Ruf, und dennoch erforschst du ihn?« fragte Darien in Gebärdensprache. »Ich erforsche ihn, um seine Macht zu brechen.« »War es so schlimm auf dem Heuboden?« Lemorel schaute wieder hinaus in den Nachthimmel. »Ich habe Ja gesagt. Er hat mir zwischen die Schenkel gelangt und hat sich dann auf mich draufgelegt. Ich war völlig verkrampft, und es hat ziemlich wehgetan. Er hat mich gefragt, ob es mein erstes Mal wäre. Ich habe es zugegeben und gesagt, ich hätte nicht erwartet, daß es so wehtun würde. Er hat gesagt, ich würde mich ganz wunderbar anfühlen, aber das hat mich auch nicht groß aufgemuntert. Das war es, glaube ich: Schmerzen, Verwirrung und eine Menge Schuldgefühle, weil ich Semidor betrogen hatte. In den nächsten Tagen plagten mich Angst und Gewissensbisse, und ich beschloß, wenn ich schwanger geworden wäre, sollte es so aussehen, als wäre es von Semidor. Doch das war nicht so einfach, wie es sich anhört. Er hatte seltsame Vorstellungen, was die Reinheit der romantischen Liebe anging. Ich mußte mich ihm einige Nächte lang regelrecht aufdrängen, aber schließlich gelang es mir, ihn zu verführen. Und glück - 48 licherweise wurde ich weder von dem einen noch von dem anderen schwanger. Bald beschloß Semidor, daß die Leidenschaft in einer reinen romantischen Liebe durchaus ihren Platz hat - aber keine Kinder. Wir fingen an, uns bei unseren Liebkosungen mit Schafdarm zu schützen. Es schien sich alles wieder einzurenken.« Lemorel schlug die Augen wieder auf und wandte sich zu Darien um. Ihre Finger schwirrten kurz durch die Luft. »Semidor hat es also herausgefunden.« »Ja, das hat er, und dann ging alles schief. Ich habe mich auf mein Studium an der Unitech gestürzt und auf meine Gelbdrachenprüfung konzentriert. Und ich hatte Glück. In Mathematik bin ich eine Naturbegabung, und genau zu dieser Zeit suchte Hoheliber Zarvora die ganze bekannte Welt nach Bibliothekaren mit Mathematikkenntnissen ab.« In der Ferne hörten sie Stiefel im Gleichschritt eine Treppe hinaufmarschieren. »Aber genug von meiner Vergangenheit«, schloß Lemorel. »Wie war denn dein erstes Mal?« Darien blinzelte entsetzt und verbarg die Hände hinter dem Rücken. Der Stiefellärm wurde lauter, erscholl nun in ihrem Flügel der Herberge. »Laß mich raten - war es ein Drache hier aus Libris?« fragte Lemorel mit einem wissenden Grinsen. Dariens Hände kamen wieder zum Vorschein. »Ich hatte die ganze Zeit alles voll unter Kontrolle. Ich habe ihn vorher ordentlich betrunken gemacht, und er weiß bis heute nicht, was er dann getan hat.« »Ach, Darien, was warst du doch für ein kluges Mädchen.« »Mädchen? Das war dieses Jahr im Januar!« Lemorel brach in Gelächter aus, und Darien klatschte in die Hände. Die marschierenden Stiefel waren nun auf dem Treppenabsatz ihrer Etage angelangt, und die beiden Frauen setzten sich erschrocken auf, als die Marschierenden ihren Korridor herabtrampelten und vor ihrer Tür stehenblieben. Dann ertönte ein eindringliches Pochen, das eher auf den Schlag einer Faust schließen ließ als auf das höfliche Anklopfen mit einem Fingerknöchel. Lemorel gab Darien die nicht geladene Muskete und ging zur Tür. Draußen standen drei Tigerdrachen, alle männlichen
Geschlechts und bewaffnet. Sie waren offenkundig angespannt, aber nicht, weil sie vor dieser Tür standen. »Lemorel Milderellen?« fragte der Führer der Gruppe. - 49 »Ja, das bin ich.« »Ihr seid aufgrund eines Kampfordais im Stadtstaat Rutherglen als Reservegerichtskämpe registriert.« »Ja, das stimmt.« »Legt Eure Drachenuniform an, Frelle Milderellen.« »Ich ... Könnt Ihr mir nicht sagen, warum?« »Befehl der Hoheliber. Dem Gesetz zufolge müssen zivile Exekutionskommandos von einem Gerichtskämpen befehligt werden.« Sie eskortierten Lemorel nach Libris. In einem der kleineren Versammlungsräume in der Nähe des Kalkulorsaals übergab man ihr das Kommando über eine Gruppe von dreiundzwanzig Blaudrachenbibliothekaren. Der Marschall von Libris kam herein, schloß einen Waffenschrank auf und gab jedem von ihnen eine Luntenschloßmuskete von Tolleni. Nachdem sie die Waffen überprüft und geladen hatten, nahm der Marschall sie ihnen wieder ab, fügte eine Muskete hinzu, die er gehalten hatte, und nahm eine andere heraus. Dann teilte der Diener die Waffen ein zweites Mal aus. »Eine könnte nicht geladen sein«, erklärte der Marschall, während ein Rotdrache mit einem Wachsstock die Lunten entflammte. Es war nicht nötig, näher darauf einzugehen. Lemorel beäugte mißtrauisch ihre Muskete. Tarrin kam herein, ein blaues Armband in der Hand. Er ging zu Lemorel und bat sie, den Arm auszustrecken. »Das ist eine provisorische Beförderung«, erklärte er, als er das blaue Tuch über ihrem grünen Armband feststeckte. »Unseren Akten zufolge seid Ihr ein registrierter Gerichtskämpe und Scharfrichter. Nach den internen Vorschriften von Libris darf nur ein Blaudrache so ein Kommando befehligen. Die Hoheliber wünscht die sofortige Aufstellung eines Exekutionskommandos, und so schnell konnten wir niemanden mit den entsprechenden Qualifikationen finden.« Er erhob die Stimme. »Vor diesen Zeugen erhebe ich Euch, Lemorel Milderellen, hiermit in den einstweiligen Rang eines Blaudrachen.« Der Marschall, der Luntenanzünder und das restliche Exekutionskommando brachten inmitten der Luntenrauchschwaden ein dreifaches Hoch auf sie aus. Bei jeder Beförderung wird die Zeremonie hier noch informeller und noch bizarrer, fand Lemorel. - 49 Die Komponenten waren in Zellengruppen im hinteren Bereich des Kalkulorsaals angetreten. Der Bereich, in dem die Pulte des Kalkulors standen, nahm vorn im Raum allenfalls ein Viertel des vorhandenen Platzes ein. Die Komponenten waren in zwei Gruppen aufgeteilt, die links und rechts des Mittelganges standen. Die Hoheliber ging ungeduldig zwischen den beiden Reihen hin und her. »Ich wette, sie hält uns gleich einen Vortrag über irgendeine verfluchte neue Konfiguration«, flüsterte MULTIPLIKATOR 8, und PORT 3A nickte müde. Mit einem Mal ging eine Seitentür auf, und zwei Dutzend Blaudrachen kamen mit Flintenschloßmusketen bewaffnet hereinmarschiert. Die Lunten glommen und qualmten bereits. Und während die Komponenten noch verblüffte Blicke tauschten, wurden die vier Gründrachen hereingeführt, die abwechselnd die Ausgaberegister bedienten. Ihnen waren die Hände gefesselt, und sie waren geknebelt. Man sah ihnen an, daß sie erst kürzlich gefoltert worden waren. »Das sind Farbdrachen«, zischte ADDIERER 17. »Das sind hochrangige Farbdrachen«, bemerkte MULTIPLIKATOR 8. »Sie binden sie ans Haltegeländer«, stieß PORT 3A hervor. »Sie werden sie erschießen«, flüsterte FUNKTION 9. Die Hoheliber gab noch einen weiteren Befehl, und die Farbdrachenmusketiere stellten sich in zwei Zwölferreihen auf, und die vordere Reihe kniete sich hin. »Es spricht die Hoheliber!« brüllte der Systemherold.
»Systemoffiziere, Farbdrachen, Verarbeitungskomponenten - alle Seelen, die gemeinsam den Kalkulor bilden«, begann Zarvora, und ihre Worte hallten von den Steinmauern wider. »Ihr seid hier versammelt, um Zeugen der Bestrafung vierer Farbdrachen zu werden. Diese Bibliothekare, erfahrene Fachleute, haben sich dazu verschworen, die Arbeitsleistung des Kalkulors zu vermindern. Sie ließen sich dabei nicht von Habgier leiten und auch nicht von verräterischen Motiven, sondern lediglich von purer Faulheit. Wenn am Ende einer langwierigen Berechnung Fehler auftauchten, gelang es ihnen, nicht übereinstimmende Ergebnisse bei der Überprüfung so aufeinander abzustimmen, daß die Berechnung nicht wiederholt werden mußte. »Du!« bellte sie und zeigte auf MULTIPLIKATOR 8. »Wenn du Soldat wärst und man dich dabei erwischen würde, daß du auf Wache schläfst - was wäre dann wohl die Strafe?« - 50 MULTIPLIKATOR 8 sah sich hoffnungsvoll um, aber hinter ihm stand niemand. »Ah, eine sehr schwere Strafe«, stotterte er. »Der Dienst im Kalkulor des Bürgermeisters unterscheidet sich nicht vom Dienst in der Armee des Bürgermeisters«, fuhr Zarvora fort. »Und auch die Strafe für eine Pflichtverletzung ist die selbe.« Sie wandte sich an die Musketiere. »Präsentiert das Gewehr!« Die beiden Musketierreihen streckten ihre Waffen vor, auf daß die Hoheliber sie inspizieren konnte. »Entsichern!« Die zu Tode verängstigten Gefangenen rangen mit ihren Fesseln, und zwei Dutzend Abzüge wurden laut klickend entsichert. »Legt an!« brüllte Zarvora, und die Musketen wurden in einem Wirbel aus blauem Luntenqualm gehoben. Obzwar zwei Musketen bei der nun folgenden Salve versagten, hingen, als sich der Rauch lichtete, vier gefesselte Leichen am Haltegeländer. Ein Blaudrache kappte die Seile, die sie hielten, und dann luden zwei ältere, völlig verängstigte Bibliotheksgehilfen sie auf einen Bücherkarren und schoben sie durch die Seitentür aus dem Raum. Zarvora wandte sich noch einmal an die Versammelten. »Sowohl bei Farbdrachen als auch bei Komponenten dulde ich eine ganze Menge: Liebschaften, Schwarzmarkthandel mit Luxusartikeln, all das, was in einem Gefängnis offiziell verboten ist, aber stillschweigend geduldet wird. Ihr werdet hier hart rangenommen, und ich stehe nicht an, gute Arbeit auch zu belohnen. Was ich aber unter keinen Umständen dulden werde, ist, dass sich jemand an dem Kalkulor zu schaffen macht.« Sie ging zwischen den beiden Gruppen auf und ab, die Hände unterm Cape verborgen, und bis auf das leise Rascheln des Stoffs war es mucksmäuschenstill. »Diese Farbdrachen haben sich an dem System zu schaffen gemacht, um sich und Euch die Arbeit zu erleichtern«, sagte sie und zeigte auf die Einschüsse in der Mauer und die Blutflecken. »Mein Leben haben sie dadurch allerdings monatelang erheblich erschwert, und dafür haben sie bezahlt. Folgt nicht ihrem Beispiel. Ihr seid jetzt entlassen, geht zurück in Eure Zellen.« Die Komponenten strömten aus dem Saal, und Zarvora besprach sich mit Lewricks Nachfolger. FUNKTION 9 spürte, daß ihm jemand in den Rücken stupste. »Ja, MULT, was ist denn?« - 50 »Ich heiße Dolorian«, flüsterte eine hübsche Gelbdrachen-Bibliothekarin. »Hättest du nicht Lust, mit mir ein paar freiwillige Sonderschichten zu schieben, Fras FUNKTION ? Die Hoheliber hätte, wie wir gerade gehört haben, nichts dagegen.« Sobald die Komponenten den Kalkulorsaal verlassen hatten, wurde eine separate Versammlung der Grün- und Blaudrachen einberufen. Lemorel blieb bei den Blaudrachen, während diese in einem Vorraum auf die Hoheliber warteten. Viele von ihnen waren offenkundig sehr betrübt, da sie zum ersten Mal auf einen Menschen geschossen oder jemanden getötet hatten. Als Zarvora zurückkam, war sie sehr viel ruhiger. »Wie Ihr Euch vielleicht schon gedacht habt, haben wir gerade bei der Zuverlässigkeit des Kalkulors einen wichtigen Durchbruch erzielt«, erklärte Zarvora. »Der Kalkulor ist das bestgehütete Geheimnis des gesamten Staates. Selbst Höflinge, die einem verraten könnten, wie oft
der Bürgermeister heute nacht seine Mätresse bestiegen hat, könnten einem nur sehr vage Auskunft über das Wesen und den Zweck des Kalkulors geben. Der Kalkulor ist eine strategische Maschine von immenser Leistungsfähigkeit; er kann Rochesters Reichtum und Macht verhundertfachen und muß deshalb allerstrengstens geheimgehalten werden. Meine Maschine ist dazu bestimmt, für den Wohlstand und die Sicherheit von Rochester unentbehrlich zu werden. In ein paar Tagen, nach einigen weiteren Tests, wird sie offiziell ihren Betrieb aufnehmen und von da an rund um die Uhr in je drei Achtstundenschichten laufen. Dazu wird es erforderlich sein, daß sowohl Komponenten als auch Farbdrachen diese Schichten beaufsichtigen. Von Euch allen wird erwartet, daß Ihr Schichtdienst leistet, allerdings wird der Dienst der unbeliebten Schichten turnusmäßig wechseln. Ihr alle seid für das zuverlässige Funktionieren des Kalkulors von entscheidender Bedeutung. Das ist der Grund, weshalb Ihr binnen weniger Jahre aufgestiegen seid wie andere sonst nur in Jahrzehnten. Ihr alle seid fähige Mathematiker, und der Kalkulor wird Eure mathematischen Fähigkeiten im gleichen Maße vervielfachen, wie eine Bombarde es einem einzelnen Artillerietrupp ermöglicht, eine ganze Festungsmauer zu zerschmettern. Ihr werdet mehr damit beschäftigt sein, Rochester zu regieren, als der Bürgermeister selbst, aber wenn Ihr irgend jemandem außer Euren Kollegen hier auch nur ein Sterbenswörtchen davon venatet, werden sich bald vierundzwanzig Musketen auf Euch richten.« - 51 »Fünf Tage ohne einen einzigen Fehler«, sagte Zarvora, als sie Bürgermeister Jefton einen großen, silbernen Schlüssel auf einem Samtkissen überreichte. »Wir können dem Kalkulor nun vertrauen und seinen Ergebnissen Glauben schenken.« Die Umbauten in ihrem Arbeitszimmer waren abgeschlossen, sämtliche mechanischen Vorrichtungen und Bedienungselemente installiert und gereinigt und der Staub beseitigt. Das Fenster war repariert, und im ganzen Raum roch es nach Öl und Möbelpolitur. Jefton nahm den schweren Schlüssel entgegen und betrachtete ihn argwöhnisch. In Regalen standen kleine silberne Tiere bereit, Nachrichten zu übermitteln, und von der Decke hingen verschiedenfarbene Samtkordeln. »Der kommt in das Schloß dort, Bürgermeister«, erklärte Zarvora, »und dann eine halbe Drehung nach rechts.« »Mir ist sehr danach, eine Ansprache zu halten«, sagte Jefton. »Dieses Ding ist so bedeutsam und genial. Die feierliche Inbetriebnahme sollte eigentlich vor dem gesamten Hof stattfinden und nicht nur hier mit Euch als einziger Zeugin. Aber die Geheimhaltung ist derzeit unser einziger Schild und Schutz. Zum Ruhme Rochesters nehme ich hiermit diese Maschine in Dienst.« Jefton drehte den Schlüssel um. Ein Zahnradgetriebe setzte sich in Bewegung, verharrte, bewegte sich erneut. »Das ist alles?« fragte Jefton, der eine unterhaltsamere Vorführung erwartet hatte. »Könnt Ihr ihn nicht dazu bringen, daß er diese kleinen mechanischen Tiere in Bewegung setzt oder die Glöckchen läuten läßt?« »Er ist bereits mit wichtiger Arbeit beschäftigt«, erklärte Zarvora und hielt Jefton ein Tablett mit seinem Weinpokal entgegen. »Ich habe ihn so konfiguriert, daß er, sobald Ihr den Schlüssel umdreht, beginnt, Eure neue Armee zu planen.« Sie erhoben ihre Wein- und Wasserpokale und stießen auf den Kalkulor an. »Und es wird jetzt doch hoffentlich keine Fehler mehr geben, oder?« sagte Jefton. »Die Übertragungsdrähte sind mit Filzdämpfern versehen worden, und vier FUNKTIONS-Komponenten sind an die Stelle der toten Gründrachen getreten. Der Kalkulor besteht aus Seelen, die einen eigenen Willen haben, er selbst aber hat nichts dergleichen.« »Ein zahmer Gott, und wir sind es, die ihm befehlen!« rief Jefton aus. - 51 »Wie nennt man jene noch, die über die Götter herrschen, Hoheliber?«
»Das weiß ich nicht, Bürgermeister«, erwiderte Zarvora und starrte dabei auf die verschlüsselten Muster, die die Zahnräder alle paar Sekunden bildeten - und die sie als einzige zu lesen verstand. Jefton starrte ebenfalls dorthin, allerdings bald mit glasigem Blick. »Seid Ihr sicher, daß er all das vermag, was Ihr versprochen habt?« fragte er, nervös ob seines Unverständnisses. »Da gibt es gar keinen Zweifel«, sagte sie mit einem beruhigend gemeinten Lächeln. Jefton starrte weiter mit verständnislosem Blick zu den Zahnrädern hinüber, sich noch nicht bewußt, daß Rochester nun einen neuen Herrscher hatte und er ab jetzt weiter nichts mehr war als eine jener Seelen, die dem Befehl der großen Maschine unterstanden. »Ich muß mich nun wieder den Staatsgeschäften widmen«, verkündete er schließlich, schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Ihr werdet mich natürlich bei Lewricks Begräbnis vertreten und das Ehrenabzeichen überreichen.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, erwiderte Zarvora und nahm ein rundum mit Zacken versehenes Silbermedaillon zur Hand, das neben ihrer Klaviatur gelegen hatte. Als Jefton den Schlüssel umdrehte, lag Lewricks Leichnam im hinteren Bereich des Kalkulorsaals, bewacht von sechs Tigerdrachen. Der Wimpel von Rochester mit seinem grün-goldenen Flechtwerk und der schwarzweiß gestreifte Wimpel von Libris lagen über seinen Sarg gebreitet, der am Ende des aus Vorhängen gebildeten Korridors stand, welcher den Kalkulorsaal in der Mitte trennte, sichtbar nur für die Wachen auf dem Korridor und die Aufseher auf den beiden Beobachtungsplattformen. Lewrick hatte die Inbetriebnahme des Kalkulors zwar nicht mehr erlebt, war an jenem Tag aber wenigstens noch dabei gewesen. Wenn eine in streng geheime Projekte involvierte Person in Ausübung ihrer Pflichten ums Leben kommt, läßt sich für sie nicht ohne weiteres ein Staatsbegräbnis mit allen Ehren ausrichten. Der Kalkulor setzte seine Arbeit wie gewohnt fort, aber zwischen den beiden Prozessoren begann ein regelmäßiger, deutlich hörbarer Rhythmus anzuschwellen: Zarvora hatte die Maschine so programmiert, daß sie einen langsamen Trommelwirbel spielte. Zarvora, Tarrin und Griss standen auf der hinteren Plattform, während eine Prozession von Silberdrachen-Biblio- 52 thekaren vom anderen Ende her den Saal betrat und, für die Komponenten der beiden Prozessoren nicht sichtbar, den Korridor zwischen den Vorhängen hinabschritt. Ihnen folgten die Blau-, dann die Grün- und schließlich die Rotdrachen, und alle schritten sie in einer Reihe am Sarg vorbei, und jene, die mit dem Systemsteuerer besonders eng befreundet waren, legten im Vorbeigehen, ohne stehenzubleiben, eine rote Blume auf seinen Sarg. Tanin sah auf vielen Gesichtern Tränen schimmern, und er wagte nicht, sich zu Zarvora umzusehen, als sie aus dem Glied der übrigen Trauernden trat und eine Schärpe mit dem aufgesteckten Ehrenabzeichen längs über den Sarg legte. Er sah hinunter auf die Medaille, die auf dem dunklen Sargdeckel einem kleinen Stern glich. Lewrick war der erste Golddrache, der in diesem Jahrhundert die höchste zivile Auszeichnung Rochesters erhielt. Der arme Lewrick, das hätte er sich nicht träumen lassen, dachte Tarrin. Nicht einmal die Hoheliber trug das Ehrenabzeichen. In den beiden Prozessoren ersetzten nun die ersten Blaudrachen, die Lewrick bereits die letzte Ehre erwiesen hatten, die Rotdrachen-Regulatoren, die gerade ihren Dienst bei den Komponenten versahen, und nun schritten diese den Korridor hinab. Schließlich kamen, jeder von einem Tigerdrachen eskortiert, auch noch fünf Komponenten, die Lewrick besonders nahegestanden hatten. Allen fünf waren die Augen verbunden. Als die letzten Trauernden am Sarg vorbeigezogen waren, schoben die sechs Tigerdrachen ihre langläufigen Morelacs zurück in ihre Halfter, hoben den Sarg an und schritten zum Trommelrhythmus des Kalkulors hinaus. Tarrin hörte, wie die Tür unter ihm ins Schloß fiel, und kurz darauf verlor sich der Trommelrhythmus in den Hintergrundgeräuschen des Kalkulors. Die Kapelle von Libris war nicht groß, und an dem kurzen Gottesdienst für Lewrick nahmen nur seine engsten Freunde und Angehörigen teil. Nach einem kurzen christlichen Gottesdienst wurden diejenigen, die keine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hatten, hinausgeleitet.
Die fünf Komponenten, denen man die Augen verbunden hatte, wurden hereingeführt, und Zarvora trat ans Pult. »Systemsteuerer Lewrick hat im Dienste des Bürgermeisters, im Dienste von Libris und im Dienste des Kalkulors sein Leben gelassen«, begann sie mit ruhiger Stimme, die ihre seltsam präzise Sprechweise noch betonte. »Er ließ sein Leben bei der Verteidigung des Kalkulors, und noch in der Stunde seines Todes gab er mir den Hinweis, den ich benötigte, um den letzten Fehler aus der Konstruktion der Maschine zu tilgen. Lewrick war ein guter Freund und Kollege und der erste Systemsteuerer des ersten Kalkulors. Es gibt nichts an seinem Aufbau und seinem Betrieb, das nicht seine Handschrift trüge. Ich nehme nun Abschied von Euch, mein Freund. Ruhet in Frieden.« Als dann eine Komponente, der man die Augen verbunden hatte, ans Pult geführt wurde, dachten fast alle in der Kapelle das gleiche: Sie hatten zum ersten Mal gehört, daß Zarvora jemanden als ihren Freund bezeichnet hatte. Ettenbar, eine aus dem Südmaurenreich stammende Komponente des rechten Prozessors, sprach zwar mittlerweile ganz passabel Austarisch, hatte für diesen Gottesdienst aber dennoch einige grammatisch einwandfreie Sätze eingeübt. »Ich spreche im Namen der Komponenten der großen Maschine, die Kalkulor genannt wird. Obwohl wir Gefangene sind, hat der Kalkulor doch unser Leben bereichert. Vor gar nicht langer Zeit war ich noch Hirte und hütete Schafe und Emus. Mittlerweile bin ich aufgestiegen zu einer FUNKTION in Ausbildung. Ich habe einen Dienstgrad, ich trage Verantwortung und leiste wichtige Arbeit. Ich führe hier ein sorgenfreies Leben, habe viele Freunde gefunden, und mein islamischer Glaube wird hier toleriert. Lewrick hat dafür gesorgt, daß es uns gut geht. Lewrick hat die islamischen Gebetszeiten in die Zeitpläne des Kalkulors eingefügt. Lewrick hat uns das Leben als Komponente des Kalkulors erträglich gemacht. Falls die Wachen je abgezogen werden sollten, würden viele von uns nicht fliehen. Ich danke Euch, Herrin.« Was sie wohl von mir sagen werden, wenn ich einmal sterbe, grübelte Tarrin, als er gemeinsam mit Vardel Griss zum Sarg ging und zwei gelbe Rosen zu den roten Blumen legte. Zarvora legte ganz zum Schluß eine schwarze Rose dazu, deren genetische Mutationen noch auf das frühe 21. Jahrhundert zurückgingen. Damit war der Trauergottesdienst beendet. Die sechs Tigerdrachen trugen den Sarg etliche Stockwerke hinab und hinein in das Gewirr aus Gängen unter den Palastgärten, wo sich die Grabkammern hochrangiger Drachenbibliothekare befanden, die im Dienste von Libris ums Leben gekommen waren. Tarrin und Griss geleiteten den Sarg noch immer, und Zarvora folgte ihnen. Hinter ihr schritt ein weiteres Dutzend Wächter. Die steinernen Korridore schienen kein Ende zu nehmen; im Vorbeigehen leuchtete die vergoldete Aufschrift auf Hunderten von Gedenktafeln - 53 im Lampenlicht auf. Schließlich kam vor ihnen eine Lampe in Sicht, in deren Schein die silbernen Eimer und Kellen der Bestatter schimmerten. Die Nische für Lewricks Sarg war bereits in den Fels getrieben worden. Er wurde mit den Füßen voran hineingeschoben, und dann brachten die Maurer die steinerne Gedenktafel an. Tarrin schien zu erwachen, und mit einem Mal wurde ihm klar, daß sein Kollege bereits hinter dem Stein lag. Er las die vergoldete Aufschrift, und ihm fiel auf, daß Lewrick erst neunundvierzig Jahre alt gewesen war. Er hatte älter gewirkt. Und jetzt war er fort. Tarrin konnte sich nicht erinnern, den Sarg bewußt berührt zu haben. Er entzündete an einer Lampe eine dünne Wachskerze, neigte sie und ließ das Wachs über die Tafel laufen und sich an dem vorstehenden Rand sammeln. Zarvora drückte ihr Ringsiegel in das weiche Wachs. »Nun ruhet in Frieden, Fras Lewrick«, sagte der Schwarzdrache leise, wandte sich ab und schritt den Korridor hinunter. Jene, die den Kalkulor bildeten, entdeckten bald etwas wieder, das zweitausend Jahre zuvor recht bekannt gewesen war: Während ein Rechenzentrum, in dem eine Maschine fehlerhaft arbeitet, einem Irrenhaus gleicht, ist ein Rechner, der artig seine Arbeit verrichtet, etwas durch und durch langweiliges. Zahlenkolonnen und Akten trafen in versiegelten Wachstuchbündeln ein, und die Ergebnisse wurden von Schreibern säuberlich auf Karten aus Schilfpapier notiert. Und niemand vermochte etwas mit den Zahlen anzufangen.
Die Nachricht von dem versuchten Mordanschlag auf Zarvora und der Hinrichtung der Gründrachen war nicht allgemein bekannt gemacht worden, und jede der Fraktionen legte die Gerüchte, die kursierten, zu ihren Gunsten aus. In der Katalogabteilung besserten sich die Zustände. Tarrin kümmerte sich kaum um seine Aufgaben dort, denn der Kalkulor war nun zuverlässig genug, um erweitert zu werden. Das Ziel waren zwei Register mit jeweils tausend Komponenten. Außerdem sollte getrennt davon eine experimentelle Maschine aufgebaut werden, an der man neue Verfahren erproben konnte. Man setzte auch die Arbeit an den verbesserten Verschlüsselungstabellen für jenen Teil des Signalfeuer-Netzwerks fort, das von Rochester aus gesteuert wurde. Diese Tabellen ermöglichten es bald, die Übertragungsraten zu verdreifachen und gleichzeitig die Fehlerquote zu senken. Der Wert dieser Tabellen wurde den anderen Staatenbündnissen - etwa - 54 dem Zentralbund und dem Bund von Woomera - bald bewußt. Ausgiebige Tests führten zu Verhandlungen zwischen den Signalfeuer-Verwaltungen von Griffith, Woomera und Rochester. Die Tabellen wechselten für eine Summe von angeblich über hunderttausend Goldroyal den Besitzer, und dennoch kehrten die Verwalter zufrieden nach Hause zurück. Die Tabellen würden sich schnell bezahlt machen. In der Katalogabteilung war es, als würde in Libris wieder der vorherige Hoheliber herrschen. Der Rückstand wuchs wieder, Mitarbeiterkonferenzen waren wieder geprägt von Streitigkeiten über die Feinheiten der Klassifizierung, Kategorisierung und Numerierung von Büchern, und auch die Gewohnheit, Bücher ganz zu lesen, um sich einen Eindruck von ihrem Inhalt zu verschaffen, schlich sich wieder ein. Bernard Wissant war bei seiner Ernennung Tarrins stellvertretender Oberliber geworden, aber Peribridge, die vorherige Stellvertreterin, hielt die eigentliche Macht in Händen. Beiden wurde bald klar, daß Tarrin beabsichtigte, die Abteilung anhand der von ihnen verfaßten Berichte zu leiten, und daher begannen sie diese Berichte zu verfälschen. Falsch katalogisierte Bücher, die zur Korrektur erneut eingereicht wurden, wurden doppelt oder gar mehrfach gezählt, die einzelnen Teile mehrbändiger Werke wurde als Einzeltitel gewertet, und das Rückstands- wurde in Aktualisierungslager umbenannt. »Sie hat Angst«, sagte Peribridge zu Wissant, als sie den Monatsbericht für den Juni zusammenstellten. »Diese Zahlen bedeuten eine vollständige Wiederherstellung unserer alten Rechte und unserer Eigenständigkeit.« »Glaubt Ihr wirklich, die Hoheliber hat klein beigegeben?« fragte Wissant, und seine Stimme zitterte trotz des Lächelns auf seinem Gesicht. Peribridge lehnte sich auf ihrem Ledersessel zurück und zog ihre Toufel-Steinschloßpistole. Der Zündmechanismus war zuverlässig, die Waffe aber schlecht ausbalanciert. Wenn man nur selten damit schoß, spielte das keine Rolle. Für festliche Salven kam es lediglich darauf an, daß sie sich sicher abfeuern ließ. »Die wurde noch nie bei einem Duell abgefeuert, und ich habe keinen Kämpen, aber dennoch bekomme ich immer, was ich will. Die Hoheliber kann im Duellsaal anstellen, was sie will - es gibt auch noch andere Orte, an denen man sterben kann. Lewrick ist auf dem Fußboden ihres Allerheiligsten gestorben.« - 54 »Und jetzt wimmelt es auf den Dächern von Tigerdrachen.« »Na und? Es gibt noch ganz andere Mittel und Wege. Libris lebt von der Tradition, und diese Tradition läßt sich nicht mit ein oder zwei Verordnungen hinwegfegen. Sie wurde während des Großen Winters begründet, Bernard. Sie ist älter als unsere Zeitrechnung.« Ihrem Arbeitszimmer war das auf jeden Fall anzusehen. Der Boden aus Altstein war derart abgenutzt, daß an einigen Stellen die darin eingebetteten Stahlträger zum Vorschein kamen, und dennoch standen empfindliche Bücher aus demselben Zeitalter unversehrt auf den Regalen. An der Südwand waren die Namen von über zweihundert Leitern der Katalogabteilung in schwarze Steintafeln gemeißelt, und jeder einzelne davon war vergoldet. Im Jahre 1192 nach dem Großen
Winter fiel ein kunstvoller Schnörkel auf. Damals war die Katalogabteilung eigenständig geworden. Der stellvertretende Oberliber betrachtete einige der Namen und stellte dabei fest, daß sich an den Namen der Oberliber ablesen ließ, wie sich die Sprache gewandelt hatte. Wilson dij Soulfarer war von 97 bis 105 GW das gewesen, was man damals einen Schriftsprecher nannte. In seinem Todesjahr hatte der Gentheistenkreuzzug stattgefunden. Rochester war an die Gentheisten gefallen, aber war der Schriftsprecher in der Schlacht gefallen, oder war er hingerichtet worden? Vielleicht war er im Bett gestorben. Wissant bezweifelte es. »Wir müssen unsere Abteilung stets verteidigen«, sagte er mit einer plötzlichen Anwandlung von Stolz. »Auch wenn sich die Kampfmethoden ändern.« Peribridge schob die Steinschloßpistole zurück in ihr Halfter. »Hoheliber kommen und gehen, Libris aber wird immer bestehen. Hoheliber sind dazu da, Libris sicherer zu machen, nicht es so zu verändern, daß man es nicht mehr wiedererkennt. Die Hoheliber schadet Libris, sie verletzt ihre Pflichten. Libris sollte sie abschneiden wie einen kranken Zeh, und Libris, das sind wir\« Mehrmals jährlich überprüfte die Hoheliber die strategischen Auswirkungen dessen, was sie tat. Zum Fest der Wintersonnenwende im Juni kam der Kalkulor nach seiner fünften größeren Erweiterung gerade wieder etwas zur Ruhe, und deshalb war es an der Zeit, andere Aspekte von Libris zu verbessern. Ein großes grünes Register, auf dessen Rücken in Goldbuchstaben KATALOGABTEILUNG stand, lag neben ihrer Kla- ioo viatur, während sie Daten eingab. Neben ihrer Lochstreifenstanze klappte ein Warnfähnchen herunter, und die Hoheliber griff hinüber, um mit einer polierten Messingkurbel die Feder wieder aufzuziehen. Die mechanischen Hennen begannen wie wild zu picken. Nachdem Zarvora das Lochmuster auf dem Papierstreifen überflogen hatte, ging sie zum anderen Ende des Raums, wo eine Reihe bunter Seidenkordeln von der Decke hingen. Sie zog an der zweiten von links. Minuten später stand Tarrin vor ihrer Tür. »Also, es geht um Eure Katalogabteilung«, begann Zarvora und reichte ihm den Lochstreifen. »Ich habe hier eine Stichprobe von 45 Büchern, die erst kürzlich katalogisiert wurden. Sechs davon wurden in den Bestand übernommen. Alle anderen wurden für eine sogenannte >besondere Aktualisierung< zurückgezogen.« »Diese Aktualisierung betrifft Werke, die nach veralteten Regeln katalogisiert wurden«, sagte Tarrin mißtrauisch. »Ich weiß. Für gewöhnlich sind solche Werke seit über zweihundert Jahren in Libris. Das bedeutet entweder, daß Ihr seit April neue Katalogisierungsregeln eingeführt habt, oder daß die Katalogabteilung nur ein Siebtel dessen leistet, was es den Anschein hat.« »Dann sind sie also wieder in ihre alten Unsitten verfallen«, sagte Tarrin und seufzte. »Hoheliber, wenn Ihr einem Golddrachen zwei Ämter übertragt, muß ja so etwas dabei herauskommen. Es gibt auch noch andere, die die Katalogabteilung leiten könnten.« »Ich vertraue aber niemandem außer Euch.« »Nun, dann müßt Ihr es lernen, Frelle Hoheliber. Denn schließlich: Habt Ihr mir vertraut, bevor Lewrick getötet wurde?« »Er fehlt mir, Fras Tarrin«, sagte Zarvora wehmütig und sah hinab auf die Cembalotasten. »Niemand auf der ganzen Welt hat meine Konstruktion so gut verstanden. Dieser komische kleine Mann hat den Kalkulor tatsächlich abgöttisch geliebt, wie ein Vater. Für mich ist es nur eine Maschine.« Tarrin wußte nicht, was er sagen sollte. »Ich habe mich ganz dieser Arbeit verschrieben«, sagte er schließlich unsicher. »Ist das gut genug?« »Gut genug? Fras Tarrin, das ist sogar besser. Lewrick war ein Gefühlsmensch, Ihr aber gleicht eher mir. Ja, ich weiß, viele von Lewricks Lösungen waren wirklich brillant, aber Ihr denkt eher wie ich. Das ist ein ganz anders gearteter Vorteil.« »Bedeutet das, daß ich nicht vom Kalkulor abgezogen werde?«
Zarvora sah zu ihm hoch und nickte. »Ihr werdet von Euren Pflichten als Leiter der Katalogabteilung entbunden, wenn es das ist, was Ihr meint. Ihr werdet neuer, ständiger Systemsteuerer.« »Danke, Frelle Hoheliber«, sagte er strahlend und versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verhehlen. »Ihr scheint schon viel aufrechter zu stehen.« »Eine Last ist mir von den Schultern genommen, zumindest teilweise. Und wer wird nun die Katalogabteilung leiten?« »Oh, das kann ich unmöglich entscheiden«, sagte Zarvora verschmitzt. »Dafür bin ich viel zu paranoid, das habt Ihr selber gesagt. Entscheidet Ihr das. Ihr habt von heute an einen Monat Zeit dafür.« Tarrin dachte nach. »Eine schwierige Entscheidung, Fras Systemsteuerer?« fragte Zarvora. »Ich überlege, ob mir jemand einfällt, der mir hinreichend unsympathisch ist, Frelle Hoheliber.« Musik hallte aus den fernen Straßen der Stadt herüber, wo das Wintersonnenwendenfest auf seinem Höhepunkt angelangt war. Zarvora sah auf die Uhr, ging dann zu der Bleiglastür mit den südmaurischen Motiven, schloß auf und trat hinaus aufs Dach. Mit einer Handbewegung forderte sie Tarrin auf, ihr zu folgen. Sie gingen auf einem schmalen Laufsteg an zwei Wachen vorbei und gelangten dann auf eine Dachterrasse aus Sandstein neben der Sternwarte von Libris. Zu ihren Füßen näherte sich die Spitze eines Steinkeilschattens dem Sonnenwendenpunkt auf einem Messing-Analemma. Ganz in der Nähe, auf der Außenmauer der Sternwarte, näherte sich der Schatten einer Sonnenuhr dem Meridian. Zarvora blieb stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. »Es ist soweit, der Sommer beginnt«, sagte sie. Wie auf ihr Stichwort ertönten in der Ferne Glockengeläut, Jubelrufe und Pistolenschüsse. »Ich muß weiter am Kalkulor arbeiten, Fras, und Ihr müßt nicht mit zurück in mein Arbeitszimmer kommen. Ihr könnt die Leiter am Lichtschacht nehmen. Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?« »Hoheliber, ich könnte Euch bessere Dienste leisten, wenn ich wüßte, was der Kalkulor leisten soll - außer Betrüger zu überführen, geheime Botschaften zu verschlüsseln und Libris und den Signalfeuerverkehr zu verwalten.« »Er kümmert sich um die statistische Auswertung der Arbeit der Katalogabteilung.« »Hoheliber!« - 56 »Also gut: Zum Vergnügen des Bürgermeisters und zum Ruhme Rochesters soll er die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen und das Rätsel des Rufs lösen.« Tarrin kratzte sich so vehement die zerzausten Haare, das sich ganze Strähnen lösten. Resigniert rieb er sich die Hände und zuckte die Achseln. »Wenn Ihr Eure Geheimnisse für Euch behalten wollt, Hoheliber, dann ist das Eure Sache. Ich bitte Euch nur darum, mich genauso zu behandeln, wie Ihr Lewrick behandelt hättet. Damit ich meine Arbeit gut verrichten kann, muß ich ausreichend informiert sein.« Zarvora blickte hinaus über die Stadt. »Das war kein Scherz, Tarrin«, sagte sie leise. Er wandte sich zu ihr um. »Ich habe in einigen unserer ältesten Archive recherchiert und bin dabei auf Hinweise auf gewaltige Projekte aus der Zeit vor dem Großen Winter gestoßen. Mehr kann ich dazu vorläufig nicht sagen.« Tarrin schwieg einen Moment lang. »Wer weiß sonst noch davon?« »Nur Ihr.« »Nicht einmal der Bürgermeister?« »Nein. Der glaubt, ich hätte den Kalkulor dazu entworfen, das Signalfeuer-Netzwerk zu regeln, und dabei hätte ich einige interessante zusätzliche Verwendungsmöglichkeiten entdeckt, die ebenfalls von Nutzen für ihn sind. In Wahrheit aber wurde der Kalkulor gebaut, um die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen zu können - zumindest mit einer tausendfach größeren Genauigkeit, als ich das selber könnte. Und wie ich Lewrick einmal erklärt habe, kann es von immensem Vorteil sein zu wissen, wann genau der Große Winter wiederkehren wird.«
Für Tarrin klang das wie das irre Gerede eines Gassenpropheten, und er konnte kaum glauben, daß hier die überaus kluge und vernünftige Hoheliber zu ihm sprach. Er behielt eine höfliche, aufmerksame Miene bei und sagte nichts. »Der Große Winter war für Milliarden von Menschen das Ende der Welt, und seine Wiederkehr könnte auch für uns das Ende der Welt bedeuten«, fuhr Zarvora fort und betrachtete ihn dabei mit dem Blick eines Raubvogels, der einem Hühnchen Vorträge hält. »Stellt Euch das bloß einmal vor: Wenn eine große Kältewelle kommt, wird die Ernte mißraten, und das Vieh wird eingehen. Stellt Euch Eiskristalle vor, die Euch bis zu den Knien reichen, die den ganzen Tag nicht tauen und sich - 57 bis zum nächsten Morgen abermals vergrößert haben. Das Vieh könnte nicht weiden, und der Boden wäre zu hart, um gepflügt zu werden. Was würde passieren, wenn Regen nur noch als Hagel fiele? Das Obst würde noch an den Bäumen zermalmt, ehe es reifen könnte, und das Getreide würde niedergewalzt und nicht bewässert. Auch die Winde würden anders wehen: Werden sie so stark sein, daß man die Windzüge von Grund auf umbauen muß? Fragen über Fragen - und nur der Kalkulor kann mir dabei helfen, sie zu lösen.« »Hoheliber, das könnte unser aller Tod bedeuten«, sagte Tarrin, dem nun sehr beklommen zumute war. Zarvora schritt über den Schatten hinweg, den die Sonnenuhr warf, so als läge die Zukunft aller kosmischen Angelegenheiten ab heute in ihrer Hand. »Ich habe bereits Maßnahmen eingeleitet. Rochester legt Vorräte an: Getreide, Trockenfrüchte, Nüsse, Öl und alle möglichen Saaten. Auch Stoffe und Felle.« »Dann ... glaubt Ihr also, daß der Große Winter so bald wiederkehrt? Kommt er schon im nächsten Jahr? Fängt es damit an, daß Eis vom Himmel fällt?« »Nein, ich war nicht ganz ehrlich zu Euch, Fras Tarrin. Die Zahlen, die ich habe, deuten darauf hin, daß er in etwa fünf Jahren beginnt, und nach weiteren fünf Jahren wird die Abkühlung dann vorüber sein. Die Vorräte sollen dabei helfen, das Land in Zeiten der Anarchie zusammenzuhalten, wenn die Vorzeichen des zweiten Großen Winters am Himmel auftauchen, und uns helfen, die Übergangsphase zu überstehen, während wir uns landwirtschaftliche Methoden für kälteres Wetter aneignen. Der stellvertretende Oberliber Kenlee wurde mit zwei Gehilfen entsandt, die Landwirtschaft im Stadtstaat Talangatta zu studieren, im Hochland an der Grenze. Dort herrscht ein kälteres Klima, aber man baut dennoch Getreide an und hält Vieh.« Tarrin fuhr sich wieder mit den Fingern durch das zerzauste Haar. Er sah Zarvora schweigend an und versuchte derweil, seine Gedanken wenigstens ansatzweise diplomatisch zu formulieren. Doch das gelang ihm nicht. »Hoheliber, was Ihr da macht, ist ungeheuerlich!« zwang er sich mit lauter, tonloser Stimme zu sagen. »Man hat mich als Ungeheuer bezeichnet, so lange ich zurückdenken kann.« - 57 — »Aber, Hoheliber -« »Da habt Ihr es, Fras Tarrin: Hoheliber. Ich bin die Hoheliber. Geht hinaus auf die Straße, und ehe Ihr auch nur bei der Buttermilk Terrace angelangt seid, werdet Ihr ein Dutzend haarige, hysterische Niemande gefunden haben, die die Wiederkehr des Großen Winters vorhersagen. Und was ist der Unterschied zwischen denen und mir?« »Ich ... nun ja, Eure große Macht - und Eure Gelehrsamkeit.« »Nein, Fras, nur die Macht. Einige dieser Weltuntergangspropheten sind ebenfalls sehr belesen und gebildet. Mir ist klar geworden, daß der Große Winter wiederkehren wird, als ich vierzehn war. Ich habe mich den Farbdrachen von Libris angeschlossen, weil das hier, von Nonnenklöstern und vorteilhaften Eheschließungen einmal abgesehen, der einzige Ort in unserer Gesellschaft ist, an der eine Frau es zu etwas bringen kann. Ich habe mich bis zu dem Punkt hochgearbeitet, an dem ich heute bin, und habe dabei die ganze Zeit über den Leuten große Vorteile dafür verschafft, daß sie mich die Dinge auf meine Art haben angehen lassen. Und jetzt schaut mich an. Rochester und etliche weitere Stadtstaaten habe ich bereits teilweise auf den Großen Winter vorbereitet, ohne
daß sie es überhaupt mitbekommen haben. Wenn ich meine wahren Motive offenlegen würde, würden mich alle meine Rivalen und Feinde als wahnsinnig brandmarken, und nur Wochen später wäre ich auch so ein machtloser Straßenprophet. Die Mächtigen fallen immer gern über Visionäre her, um dadurch noch mehr Macht zu erlangen, Fras Tarrin. Und ich werde nicht zulassen, daß man über mich herfällt.« Tarrin vermochte nichts von dem zu bestreiten, was sie gesagt hatte. Dazu hatte er selbst schon zuviel Zeit in den Amtszimmern und auf den Korridoren der Macht verbracht. »Dann ist also der Tod von Millionen unvermeidlich?« fragte er, begann auf und ab zu gehen und rang dabei hinter dem Rücken die Hände. »Vielleicht war ich unfair Euch gegenüber, Fras. Ihr seid ein Verwalter, nicht ein bloßer Herrscher. Euch liegen die Systeme, denen Ihr dient, wirklich am Herzen. Seht es einmal so: Wenn der Große Winter wiederkehrt und die Zivilisation zusammenbricht, werden Millionen Menschen sterben. Wenn es aber einigen Stadtstaaten gelingt, ihre Farmen, Gleitbahnen, Steinbrüche, Handwerksgilden und Armeen zu erhalten, werden Millionen Menschen weniger sterben. Ein kleines Rettungsfloß kann auf einem Fluß zwei Dutzend Menschen an der Oberfläche halten, wenn sie - 58 sich auch nur am Rand festklammern. Mir liegt die Zivilisation ebenfalls am Herzen, Fras, aber in einem weiteren Sinne als Euch.« Tarrin blieb stehen und lehnte sich an eine Sandsteinmauer. Ihm schlotterten die Knie, als wäre er eine Gliederpuppe, aber dennoch blieb er stehen. Zarvora stand mit verschränkten Armen da, wie ein Offizier, der nach einem Gewaltmarsch die Moral eines Musketier-Rekruten in Augenschein nimmt. »Gestützt auf Libris, wie alles andere auch«, sagte Tanin und betastete die Ohren eines verwitterten, steinernen Wasserspeiers. »Und was kann ich tun, um dabei zu helfen? An der Spitze einer Allianz-Armee das Südmaurenreich erobern? Den ganzen Kontinent mit Signalfeuer-Leuchttürmen überziehen? Eine Methode ersinnen, mit der man sich dem Ruf widersetzen kann?« »Das wäre alles hilfreich, Tarrin, aber nichts auf der Welt ist wichtiger, als den Kalkulor in Betrieb zu halten und ihn so schnell wie möglich zu erweitern. Nichts! Nicht der Bürgermeister, nicht der Oberbischof, nicht Rochester, nicht Libris und schon gar nicht die Mitarbeiter der Katalogabteilung. Fras Systemsteuerer, mit Hilfe des Kalkulors werde ich Blitz und Donner gen Himmel schleudern, um damit die vorzeitliche Großwintermaschine zu zerschmettern!« Schon als sie das aussprach, wußte Zarvora, daß sie zuviel gesagt hatte. Ohne ein weiteres Wort kehrte sie in ihr Arbeitszimmer zurück. Tarrin stand angesichts dieses verblüffenden Ausbruchs schierer Hybris wie benommen da. Die Hoheliber war vielleicht genial, aber geistig gesund war sie nicht. Wie nicht anders zu erwarten, stieß Tarrin mit der Wahl eines Außenseiters zu seinem Nachfolger als Leiter der Katalogabteilung bei seinen leitenden Mitarbeitern auf wenig Gegenliebe. Dem Beispiel der Hoheliber folgend, entschied er, daß er keine abweichenden Meinungen gelten lassen würde, und begann dann die Amtsübergabe vorzubereiten. Eine Petition wurde in Umlauf gebracht, und eine Protestversammlung wurde einberufen, an der die gesamte Katalogabteilung teilnehmen sollte. Tarrin beschloß, ebenfalls daran teilzunehmen. Das würde eine gute Gelegenheit sein, um sich von der Abteilung zu verabschieden. John Glasken bekam es nicht mit der Angst zu tun, als er in der Dunkelheit vor sich einen verblüfften Aufschrei und dann einen Schmerzensschrei hörte. Das sind nur Betrunkene, die sich prügeln, sagte er - 58 sich, griff aber dennoch seinen Offiziersstock fester und ging selbstsicher weiter die Gasse hinab. Ein Schuß setzte seiner Selbstgefälligkeit ein Ende, und als er unvermittelt stehenblieb, sah er vor sich jemanden aufspringen. Die Gasse war schmal, und Glasken sah das Schimmern einer Dolchklinge, die zum Niederstechen erhoben war. Seine Reflexe übernahmen die Kontrolle. Er
parierte den Hieb, wobei er den Stock wie einen Spieß einsetzte, und rammte dem anderen dann den Knauf mit voller Wucht vor die Stirn. Doch noch ehe der Südmaure auf dem Kopfsteinpflaster gelandet war, stürmte eine zweite Gestalt auf die Gasse. »Halt!« Eine auf ihn gerichtete Steinschloßpistole verlieh der Aufforderung Nachdruck. Glasken ließ den Stock fallen und hob die Hände. Auch in dieser dunklen Gasse erkannte er am Schnitt des Gewands, daß er eine Drachenbibliothekarin vor sich hatte. »Er hat mich angegriffen, Frelle, ich habe mich nur gewehrt.« Sie warf einen Blick auf die Gestalt am Boden und sah dann wieder Glasken an. »Verzeihung, Fras«, sagte sie und ließ die Waffe sinken. »Wärt Ihr bitte so freundlich und zieht ihn hinaus auf die Straße?« Um die Ecke lag ein weiterer Südmaure im Rinnstein, der in der Mitte der Straßen der Stadt verlief. In der Nähe, bei einigen leeren Fässern, befanden sich zwei weitere Drachenbibliothekare. Einer lag bewußtlos auf dem Kopfsteinpflaster, und das goldene Band an seinem zerrissenen Ärmel war im Laternenlicht gut zu erkennen. Vor dem Hintergrundgestank aus Weinresten, Urin und Ponymist roch es deutlich nach Blut. »Ich heiße Lemorel Mil- äh, ich bin ein Gründrache - aus Libris«, sagte die junge Frau und sah sich dabei den Dolch an. »Glasken, Johnny Glasken, Student der Chemie an der Universität von Rochester, stets zu Diensten.« Sie sah sich den Mann an, den er niedergestreckt hatte, und schien Glasken dabei gar nicht zu beachten. »Noch ein Südmaure, das sind beides Südmauren.« Lemorel wandte sich an ihre Kollegin. »Wie geht es Tarrin, Dar?« Darien antwortete, indem sie im schummrigen Laternenlicht mit blutbefleckten Finger etwas gestikulierte. Dann riß sie von ihrem Cape einen Stoffstreifen ab, um Tarrins Arm damit zu verbinden. »Gebt Ihr mir bitte mal den Weinkrug, den Ihr am Gürtel tragt, Fras Glasken?« - 59 Glasken reichte ihr den Krug, und sie sprenkelte daraus etwas Wein auf das Gesicht des Golddrachen. »Könnt Ihr mich hören, Fras Tarrin? Ihr seid in Sicherheit. Wir sind's - Lemorel und Darien.« Tarrin stöhnte auf, kam aber nicht zu Bewußtsein. »Er hat sich wohl beim Sturz den Kopf geschlagen. Ich habe gesehen, wie einer der Männer ihm ein Bein gestellt hat.« »Euer Schuß wird die Schutzleute anlocken«, mahnte Glasken, der dringend fortwollte. Lemorel sah zu den am Boden liegenden Südmauren hinüber und erhob sich dann, Glaskens Weinkrug noch in der Hand. »Dann laßt uns mal soviel wie möglich herausfinden, ehe uns Recht und Gesetz dabei in die Quere kommen«, sagte sie und kippte dem überlebenden Südmauren den restlichen Wein ins Gesicht. Er ächzte, und als er die Augen aufschlug, drückte sie ihm den Doppellauf ihrer Morelac auf die Nasenlöcher. »Wer hat dich bezahlt?« fragte sie in eindringlichem Ton. »Bin ein armer Mann, bin ein armer Mann«, stammelte er. »Muß stehlen, um meine Familie zu ernähren. Drei Frauen und neun Kinder -« Lemorel betätigte einen Abzug. Es klickte, und Funken flogen, aber es fiel kein Schuß. Der Südmaure schrie. »Gnade! Habt Gnade, schöne Frelle!« »Der andere Lauf ist geladen«, warnte sie ihn. »Der Hegemeister, Frelle. Die haben mich geschlagen und meine Familie bedroht. Böse Männer, böse Frauen. Haben mir gesagt, ich soll den Golddrachen töten.« »Wer hat dir das gesagt?« »Verschleierte Frau. Böse Frau. Ihr Gesicht habe ich nicht gesehen.« Ein Schutzmann kam, angelockt durch den Schuß. Er pfiff, und vier weitere erschienen. Der überlebende Südmaure wurde auf die Wache gebracht, sein toter Kamerad auf den Karren des Leichenbeschauers geladen. Glasken trug den verletzten Golddrachen zur nahegelegenen Kran-
kenstation der Universität, wo man die Schnittwunden an seinem Arm säuberte und nähte. Der behandelnde Mediziner sagte ihnen, Tarrin solle bis zum Morgen dort bleiben. Lemorel war immer noch ganz aufgeregt, als sie schließlich mit Darien und Glasken auf der Eingangstreppe der Krankenstation stand. Sie - 60 betrachtete den Studenten verstohlen und suchte nach Worten. Die meisten finsteren Gesellen, die Offiziersstöcke trugen, legten sie sich, wenn sie standen, über die Schultern und ließen die Hände über die Enden baumeln. Glasken hingegen streckte den Stock zur Seite weg und ließ die Spitze auf seinem Schuh ruhen. Es war die Haltung eines Gentlemans, eines Studenten aus gutem Hause. Lemorel wollte etwas sagen, aber ihr fehlten die Worte. Glasken drehte den Schuh auf dem Absatz hin und her, so als wollte er aufbrechen. »Das ist Frelle Darien, sie hat keine Stimme«, schrie Lemorel förmlich, und hielt sich so an der bis dahin unterlassenen Vorstellung fest. Glasken lächelte und verbeugte sich vor dem Blaudrachen. »Es ist mir eine Ehre, Frelle, und ich bin überdies entzückt. Ich sollte Euch eigentlich auf einen Kaffee auf mein Zimmer im Villiers College einladen, aber es ist leider in einem Zustand, daß man so hochrangige Drachenbibliothekarinnen nicht dorthin bitten kann.« »Oh nein, Fras Glasken, wir stehen in Eurer Schuld. Ist hier in der Nähe ein Kaffeehaus, Dar?« Darien antwortete in Gebärdensprache, und Lemorel strahlte übers ganze Gesicht. »Das >Goldene Faß<, genau das Richtige.« Glasken blinzelte erstaunt, denn das >Goldene Faß< überstieg die Mittel der meisten Studenten. Und während sie dorthin gingen, fand Lemorel ihre Sprache wieder. »Das war ausgezeichnete Stockfechterei gegen diesen Südmauren, Fras Glasken. Hattet Ihr Fechtunterricht?« »Meine Freunde nennen mich Johnny, Frelle Lemorel, und nein, hatte ich nicht.« »Oh. Aber das war, wißt Ihr ... wirklich gute Stockfechterei.« »Danke.« Wieder fehlten ihr die Worte. Sie gingen schweigend ein paar Schritte, und dann kam Glasken ihr erneut zur Hilfe. »Und Ihr habt Euer Studium schon abgeschlossen, Frelle Lemorel?« »Nur das an der Technischen Hochschule Rutherglen, Fras, äh, Johnny. Jetzt promoviere ich hier in Rochester. Mathematik, Vektormodellierung.« »Vektormodellierung? Oh, so viele langweilige Berechnungen. Ihr müßt ein sehr geduldiger Mensch sein.« »Oh, ich habe dabei, äh, eine Menge Hilfe, Fras Johnny.« Darien zupfte Lemorel am Ärmel und machte dann in dem schumm- 60 rigen Licht ein paar schnelle Gesten. »Er weiß, was ein Vektormodell ist. Beeindruckend.« »Dann versteht Ihr also auch die Gebärdensprache?« fragte Glasken. »Ah, ja. Darien fragte gerade, ob Ihr Vollzeitstudent seid.« »Leider nicht. Ich studiere, wann immer ich kann, Frelle. Ich muß selbst für meinen Lebensunterhalt aufkommen, versteht Ihr. Ich arbeite in den Wirtshäusern der Stadt, verdiene ein paar Silbernobel damit, daß ich da für Ordnung sorge.« »Also daher könnt Ihr so gut mit dem Stock umgehen«, sagte Lemorel, als hätte sie sich von etwas überzeugt. Im >Goldenen Faß< spendierten sie Glasken ein Abendessen, das aus Emubraten in Orangensauce, Kartoffeln mit Frischkäsefüllung und gemahlenen Nüssen auf einem Bett aus köstlichem braunem Reis bestand. Lemorel ersetzte ihm seinen Weinkrug durch einen, der ein wenig mehr kostete als der ursprüngliche. Anschließend saßen sie dort, tranken Kaffee und aßen kandierte Heuschrecken und Honignußgebäck, bis es vom Glockenturm der Universität neun Uhr schlug. Mittlerweile prasselte ein heftiger Winterregen draußen auf die verwaisten Straßen hernieder.
»Frelle Darien hat für den Verband ihr Cape zerschnitten«, sagte Glasken, als er zu seinem Umhang griff. »Nehmt bitte meines, liebe Frelle.« »Aber Fras Glasken, was wird mit Euch?« erwiderte Lemorel. »Nach Libris sind es fast drei Kilometer, und mein College ist nur ein paar hundert Meter entfernt.« »Nein, wartet, wir begleiten Euch und gehen dann unter Eurem Umhang nach Libris zurück.« »Zwei Drachenbibliothekarinnen, die einen gemeinen Studenten auf sein Zimmer begleiten? Das wäre sofort Stadtgespräch, und davor müssen wir Euren guten Ruf bewahren.« Er eilte hinaus in den Regen und war schon etliche federnde Schritte dem Sturm entgegengelaufen, als er noch einmal stehenblieb und sich umsah. »Gebt den Umhang einfach irgendwann mal beim Villiers College ab, Frelle Lemorel«, rief er, und dann war er fort. Darien lachte lautlos. »Was ist denn so lustig?« »Du magst ihn, willst es aber nicht wahrhaben«, sagte Darien mit flatternden Fingern. »Ihn mögen? Quatsch. Er ist schließlich ...» Ihr fiel kein Grund ein. Dariens Finger regten sich wieder. »Er ist groß, sieht gut aus, ist gebildet und benimmt sich wie ein Gentleman. Und wenn er auch arm ist - was soll's?« Lemorel betastete einen sorgfältig geflickten Säbelschnitt in Glaskens Umhang. »Der hat schon einiges mitgemacht«, sagte sie. Darien hielt die Finger so hoch, daß Lemorel nicht übersehen konnte, was sie sagten. »Er verbindet das Beste an Semidor und Brunthorp, nicht wahr? Er ist groß und sieht gut aus, ist aber auch gebildet. Außerdem scheint er ein echter Gentleman zu sein, der unseretwegen tapfer Unannehmlichkeiten auf sich nimmt.« Lemorel sah hinaus in den im Laternenlicht herniederprasselnden Regen, seufzte aber durch zusammengebissene Zähne. »Er war tapfer genug, einem bewaffneten Südmauren entgegenzutreten, und fähig genug, ihn zu Boden zu schicken. Weiter nichts.« Sie wandte sich wieder zu Darien um. »Die Alpträume liegen lange hinter dir, Lern. Es gibt Gründe, ihn wiederzusehen. Bring ihm den Umhang persönlich zurück.« »Wieso interessiert dich das so?« fragte Lemorel ungeduldig, als sie den Umhang hob, damit Darien und sie darunterschlüpfen konnten. »Ich habe gesehen, wie du auf ihn reagiert hast. Ich sage dir nur das, was du dir selber nicht eingestehen magst.« An dem Morgen, an dem die Protestversammlung stattfand, war Tarrin so weit wiederhergestellt, daß er daran teilnehmen konnte, auch wenn er den Arm immer noch in einer Schlinge trug und sein Kopf bandagiert war. Er humpelte, weil er sich bei seinem Sturz den Fuß verdreht hatte, und seine Golddrachen-Armbinde zeigte immer noch die Schmutzflecken vom Kopfsteinpflaster. Die Mitarbeiter der Katalogabteilung versammelten sich im sogenannten Millenniumsaal, wo, seit der Kalkulor in dem einzigen noch größeren Saal von Libris aufgebaut worden war, Ordensverleihungen und andere Feierlichkeiten stattfanden. Die Uhr hinter dem Rednerpult klapperte, während ihre Kolben hin und her schwangen. Um neun Uhr war noch kaum jemand da. Um halb zehn musterte Peribridge die Reihen der Gesichter und runzelte die Stirn. Die leitenden Mitarbeiter der Abteilung waren immer noch nicht da, und viele andere, die ihre Unterstützung zugesagt hatten, fehlten ebenfalls. Die Uhr klapperte mit unerbittlicher Regelmäßigkeit. Schließlich, um 9.40 Uhr, kam Tarrin herein, gefolgt von Lemorel, die an ihrer Kleidung als sein Kämpe zu erkennen war. Er blieb an der Tür stehen, ohne die anderen auf sich aufmerksam zu machen, aber mittlerweile war den Anwesenden so mulmig zumute, daß ihre Gespräche schnell verstummten. Tarrin schlurfte zum Rednerpult, das Haar zerzaust und dunkle Ringe unter den Augen. »Wer leitet denn diese Versammlung?« fragte er mit leiser, heiserer Stimme und wirkte dabei ein wenig verwirrt.
Peribridge sprang auf, wie von unsichtbaren Marionettenschnüren emporgerissen. »Der stellvertretende Oberliber Wissant, die Leitende Klassifikatorin Cobbaray und der Oberkoordinator Nugen-Katr sollten eigentlich diese Versammlung leiten, Fras Oberliber.« »Fras Wissant, Frelle Cobbaray und Fras Nugen-Katr stehen von nun an nicht mehr zur Verfügung, um auf irgendwelchen Versammlungen zu sprechen.« Tarrin schien sich für diese Neuigkeit fast entschuldigen zu wollen. Peribridge setzte sich wieder. Tarrin räusperte sich, ehe er fortfuhr. »Es freut mich, daß Ihr alle hier versammelt seid, denn die Hoheliber hat mich gebeten, etwas bekanntzugeben. Aufgrund des Drucks, der durch ihr Sonderprojekt auf den Mitarbeitern von Libris lastet, wurden einige Mitarbeiter der Katalogabteilung, nun ja, auf andere Arbeitsfelder versetzt.« Er gestattete sich eine recht lange Pause und fügte dann hinzu: »Irgendwelche Fragen?« Es wurde mit den Füßen gescharrt. Ein Gelbdrache hob die Hand. »Bitte, Fras Systemsteuerer, wieviele aus der Katalogabteilung sind denn versetzt worden?« »Einhundertsechsundzwanzig.« Atemloses Schweigen. Tarrin wartete. Mittlerweile war auch dem Dümmsten seiner Zuhörer klar, daß sich hinter seiner Fassade aus Erschöpfung und Niedergeschlagenheit ein äußerst gefährlicher Mangel an Geduld verbarg. Schließlich erhob sich jemand am anderen Ende des Saals. »Ah ja, Ihr habt eine Frage?« erkundigte sich Tarrin ganz freundlich, so wie man einen ängstlichen Prüfungskandidaten ermuntert. »Bitte, Fras Systemsteuerer, ich wollte nur gerade gehen, weil wichtige Arbeit auf mich wartet«, antwortete der Orangedrache. Daraufhin erhob sich ein ganzes Dutzend, und weitere strömten mit ihnen zu den Türen. Die Türen waren verschlossen. Tarrin hob Ruhe gebietend die Hand. »Bedauerlicherweise mußte ich feststellen, daß Frelle Costerliber, die für Neuerwerbungen zuständige stellvertretende Oberliber, in einer Petition, die von 279 Mitarbeitern der Katalogabteilung unterzeichnet wurde, als inakzeptable Kandidatin bezeichnet wurde. Das ist sehr beeindruk-kend. Jeder hat unterschrieben: von Fras Wissant, dem stellvertretenden Leiter, bis zu Fras O'Donlan, der rangniedersten Reinigungskraft. Angesichts einer solchen Opposition und da es sonst niemanden gibt, der fähig wäre, die Katalogabteilung zu leiten, werde ich die Katalogabteilung als solche mit Billigung der Hoheliber auflösen. Die Katalogabteilung ist ab dem heutigen Morgen eine Unterabteilung der Abteilung für Neuerwerbungen.« Allen verschlug es vor Entsetzen den Atem. »Aber die Katalogabteilung ist schon seit dem Jahre 1192 eigenständig!« rief jemand. »Fünfhundertfünf Jahre ohne Umgestaltung ist viel zu lange. Gibt es noch weitere Fragen? Keine Fragen?« Es herrschte Schweigen. »Ausgezeichnet. Und nun möchte Frelle Vardel Griss, Chefin der Tigerdrachen, auch noch ein paar Worte an Euch richten.« Lemorel klopfte in einem vorher abgesprochenen Kode an die Tür. Von draußen erklang ein lautes Klappern, als ein Riegel beiseite gezogen wurde, und dann kam Griss hereinstolziert und baute sich, die Hände auf dem Rücken verschränkt, vor der Zuhörerschaft auf. Sie zeigte die wachsame, dabei aber entspannte Körperhaltung einer erfahrenen Duellantin, und ihrem Gesicht war nur ein Hauch von Mißbilligung anzusehen. Ein aus zwölf Tigerdrachen bestehendes Kommando kam hereinmarschiert und stellte sich hinter ihr in einer Reihe auf, die Musketen geschultert, die Luntenschlösser qualmend. Lemorel zog ihre Morelac und stellte sich zu Tarrin. »Legt an!« bellte Griss, und die Tigerdrachen richteten ihre Waffen auf eine Stelle knapp über den Köpfen der Mitarbeiter der Katalogabteilung. »Ich werde mich ganz klar ausdrücken«, sagte Griss in einem Ton, der hart war wie Waffenstahl. »Die Katalogabteilung gibt es nicht mehr. Und hinzu kommt: Ihr habt keine Rechte! Keine! Verstanden? Wenn Ihr gute Arbeit leistet, geschieht Euch nichts. Wenn Ihr aber versuchen solltet, zu fliehen oder auf Eure Vorgesetzten zu schießen, werdet Ihr augenblick - 62 lich aus dem Verkehr gezogen. Ich scheue mich nicht, zehn unschuldige Katalogbearbeiter zu bestrafen, um einen schuldigen zur Strecke zu bringen. Wenn Ihr von irgendwelchen
Verschwörungen erfahrt, dann denkt daran, daß Ihr Eure eigene Freiheit aufs Spiel setzt, wenn Ihr darüber schweigt. Meldet meinen Tigerdrachen auf der Stelle jedes verdächtige Wort.« Sie ging zu Tarrin, der am Rednerpult lehnte. »Habt Ihr noch irgendwelche Namen für mich?« fragte sie leise, aber vernehmlich. Tarrin schnallte einen Lederbeutel auf, den er am Gürtel trug, und zog eine Liste hervor. »Noch fünfundzwanzig weitere wegen Indolenz«, sagte er und reichte Griss den zusammengefalteten Mangelpapier-bogen. »Ach ja, und nehmt als ganz besonderen Fall noch Peribridge hinzu. Sie hat ein verdächtiges Maß an Führungsambitionen an den Tag gelegt.« Peribridge war sehr erfahren darin, fernen Gesprächen zu lauschen. Sie blieb ganz ruhig sitzen, während die Mitarbeiter der Katalogabteilung auf Griss' Befehl hin einer nach dem anderen zwischen den an der Tür postierten Wachen hindurch hinausmarschieren mußten. Lemorel blieb bei Tarrin vorn am Pult. »Das bedeutet Krieg«, flüsterte sie in das widerhallende Fußgetrappel auf dem Dielenboden aus Mountain-Ash-Eukalyptus. »Und wenn? Ich habe den ersten Schlag abgewehrt«, sagte Tarrin und rieb sich mit der freien Hand den bandagierten Arm. »Und mit der Zeit wird man auch die Schlimmsten unter den Verbliebenen noch aussondern.« Peribridge durchschaute nur allzu gut, was geschah. Es gab nicht einmal mehr den äußeren Anschein von Rechtmäßigkeit. Die Schlacht war schon geschlagen, ehe sie auch nur bemerkt hatte, daß sie begonnen hatte, und nun wurden Gefangene gemacht. Sie zählte zu jenen, denen es bestimmt war, in den Sperrgebieten von Libris zu verschwinden, in einem Höllenschlund, aus dem es keine Wiederkehr gab. Ihre Hand ruhte auf dem Griff ihrer Toufel-Steinschloßpistole. Tanin war noch fünf Sitzreihen und fünfzehn weitere Schritte entfernt. Zu weit. Vor drei Jahren war sie zum letzten Mal auf dem Schießstand gewesen und hatte damals lediglich festgestellt, daß ihre kurzläufige Toufel schlecht justiert und für alles, was über ein paar Meter hinausging, jämmerlich ungenau war. Lemorel stand neben Tarrin, mit der Waffe in der Hand, so wachsam und tödlich wie eine Buschkatze. Peribridge wußte, daß sie auf den hage - 63 ren Golddrachen schießen mußte, ohne auch nur auf ihn zielen zu können. Das war aussichtslos. Lemorel würde sie töten und dafür belobigt werden, und Tarrin würde es überleben. Wenn ich jetzt nichts unternehme, werde ich zum Sklaven der Hoheliber, schloß Peribridge grimmig. Und niemand hat etwas von meinem Fall. Sie streckte die Hand aus und kratzte sich am Bein. Als sie die Hand wieder hob, spannte sie dabei den Schlagbolzen ihrer Pistole. »Ihr solltet nicht zu streng sein«, sagte Lemorel, und ließ den Blick dabei durch den Saal schweifen, ohne allerdings Scherereien zu erwarten. »Wer soll denn jetzt die ganze Katalogarbeit erledigen?« »Ein Fünftel derjenigen, die jetzt noch übrig sind, könnten sämtliche Neuerwerbungen katalogisieren, wenn sie nur fleißig arbeiten würden.« »Dann wandern die übrigen also in den Kalkulor?« »Falls sich einige als überhaupt nicht ausbildungsfähig erweisen, können sie immer noch auf der neuen Umgehungsstrecke in Loxton Gleitbahngleise verlegen.« »Man sagt, ein Krieg sei -« Peribridge erhob sich, um zu gehen, und zog im gleichen Moment ihre Waffe. Lemorel riß ihre Morelac hoch und stieß Tarrin mit der Geschmeidigkeit einer gentheistischen Tempeltänzerin beiseite. In diesem Augenblick hob Peribridge ihre Toufel-Steinschloßpistole und hielt sich die Mündung an die Schläfe. Ihre Waffe blies ihr in eben dem Moment die obere Schädelhälfte weg, als Lemorel ihr in die Kehle schoß. Peribridge stürzte inmitten umkippender Stühle zu Boden, und ihre Kollegen gingen in Deckung. Als sich der Rauch lichtete, hatten Lemorel, Griss und die Tigerdrachen an der Tür ihre Waffen in den Saal gerichtet. »Ihr übrigen hebt jetzt die Hände und marschiert weiter hinaus«, befahl Griss. »Langsam gehen, keine hastigen Bewegungen.«
Tarrin richtete sich wieder auf und hielt sich dabei den Verband. Blut sickerte ihm zwischen den Fingern hindurch. »Und jeder, der versucht sich umzubringen, wird ebenfalls erschossen«, murmelte er vor sich hin. Tarrins Wunde war durch den Sturz wieder aufgeplatzt, aber dennoch stand er neben den anderen, und Blut tropfte ihm vom Arm, während die letzten Mitarbeiter der Katalogabteilung den Saal verließen. Viele hatten Hirn- oder Blutspritzer abbekommen, und alle guckten sie entgeistert und waren aschfahl im Gesicht. Als der letzte gegangen war, brach Tarrin auf einem Stuhl zusammen. Griss ging einen Arzt holen, und - 64 Lemorel fertigte aus ihrem Pistolenlauf und Tarrins Schlinge eine Aderpresse für seinen Arm. »Was wolltet Ihr gerade über einen Krieg sagen?« fragte Tarrin und sah zu Peribridges Leichnam hinüber. Lemorel mußte innehalten und einen Moment lang überlegen. »Lameroo und Billiatt drohen mit Krieg wegen der Gleitbahn-Umgehungsstrecke von Loxton.« »Krieg in Loxton, ach so. Einen Moment lang dachte ich, Ihr meintet hier.« - 64 4 Gefangen Als die Sprachkundlerin, die sie war, mußte Darien feststellen, daß sich ihre Laufbahn in Libris mehr und mehr in Richtung Inspektionsdienst bewegte. Da im westlichsten Stadtstaat der Allianz nun Krieg drohte, willigte sie schließlich ein, als Inspektorin tätig zu werden. Ihr erster Auftrag bestand darin, bei den Einweihungsfeierlichkeiten der neuen Gleitbahn-Umgehungsstrecke zwischen den Städten Morkalla und Maggea behilflich zu sein. Diese neue Strecke brachte es mit sich, daß die westliche Gleitbahn nun bis zur Grenze nach Woomera über das Staatsgebiet der Südostallianz verlief. Den unabhängigen Burgvogteien südlich davon entgingen dadurch erhebliche Zolleinkünfte, und daher kam es dort, wo die neue Gleitbahnstrecke an der Grenze entlang verlief, zu großen Truppenmassierungen. Die einzige Warnung, die Darien erhielt, daß die Kämpfe bereits begonnen hatten, war der heftige Ruck, mit dem der Windzug, in dem sie saß, aus den Gleisen sprang. Die leicht gebaute Lokomotive und die Waggons kippten neben die Gleitbahn und zerbarsten. Als Darien sich benommen und unter Schmerzen wieder aufrichtete, stützte sie sich auf die Überreste einer Waggonwand. Ihr erster Impuls war, aus dem Wrack zu klettern, aber Morkundar, der zu der Tigerdracheneskorte gehörte, versperrte ihr den Weg. Blut lief ihm aus dem Haarschopf das dunkle Gesicht hinab. »Bleibt in Deckung, Frelle Darien, das war kein Unfall«, sagte er eindringlich und wischte sich Blut aus den Augen. »Der Zug wird angegriffen.« Er führte sie dorthin, wo sich die anderen Tigerdrachen sammelten, und als sie dort eintrafen, fielen die ersten Schüsse. Überlebende, die das Zugwrack verlassen hatten, schrien auf, als sie getroffen wurden, und Kugeln durchschlugen die zerbrechliche Holzhülle des zertrümmerten Waggons. Die Tigerdrachen duckten sich und überprüften ihre Waffen. »Sie werden jeden Augenblick angreifen«, warnte Morkundars Stimme hinter einem Haufen Sitze und Gepäck hervor. »Ostlich der - 64 Gleitbahn gibt es keine Deckung, also müssen sie von Westen kommen. Geht alle entlang der Lücke im Dach in Stellung.« Noch als er das sagte, brachen neun Dutzend Soldaten aus der Burgvogtei Billiatt säbelschwingend und mit Geschrei aus ihrer Deckung hervor. Morkundar sah es durch ein geborstenes Brett hindurch. »Ganz ruhig, ganz ruhig ... Anlegen, zielen, Feuer! Zweiter Lauf ... Feuer!« Wie Darien hatte jeder Tigerdrache ein doppelläufiges Steinschloßgewehr, und so prasselten vierzig Schüsse auf die Männer aus Billiatt ein, als sie das Wrack erreichten. Darien schoß beim ersten Mal blindlings in die Menge, zielte beim zweiten Schuß aber auf einen Offizier. Er wirbelte
herum, der Säbel fiel ihm aus der Hand, und er stürzte zu Boden. Sie ließ das Gewehr fallen, zog ihren Dolch und stand dann wie versteinert da. Jemand zerrte sie zurück in Deckung, und sie kam wieder zur Besinnung, als der Gesandte der Burgvogtei Brookfield in Renmark sie ohrfeigte und anbrüllte, sie solle nachladen. Der Schock angesichts des plötzlichen und geordneten Feuers wurde für die Männer aus Billiatt dadurch noch verschlimmert, daß unter ihren siebzehn Gefallenen auch ihre fünf hochrangigsten Offiziere waren. »Eine Falle! Ein Hinterhalt! Rückzug!« rief jemand, und sie flohen wild durcheinander zurück in ihre Deckung. Seit dem Entgleisen des Zugs war erst eine Minute vergangen. »Rufanker abgleichen!« befahl Morkundar, als sie nachzuladen begannen. »Laufzeit eine Viertelstunde, und Rücksetzen auf meinen Befehl oder bei Ablauf. Ich zähle: Drei, zwo, eins, Rücksetzen.« Die Truppen aus Billiatt brauchten einige Zeit, bis sie sich neu geordnet hatten und das Feuer erwidern konnten. In der Zwischenzeit hatten die drei ausgebildeten Scharfschützen der Tigerdrachen ihre langläufigen Musketen ausgepackt und erschossen jeden einzelnen Billiattianer, der versuchte, näher heranzukommen. Darien lud ihr Gewehr nach und hielt sich für den nächsten Befehl bereit. Zwei weitere überlebende Fahrgäste waren mittlerweile zu ihnen gestoßen, beide aber waren verwundet. Darien berührte den Gesandten am Arm. Als er sich zu ihr umdrehte, zuckte sie mit den Achseln und verbeugte sich. »Ist schon gut«, sagte er. »Das erste Mal unter Feuer?« Sie nickte. Er war ein stämmiger Mann um die fünfzig mit schütterem Haar und glich ein wenig einem ihrer Onkel. »Ich habe auch Angst«, sagte er, wandte sich wieder um und spähte weiter durch ein Loch in der zerborstenen Holzverkleidung des Waggons. Nun schlich sich Wut in seine Stimme. »Die müssen über das Territorium von Brookfield vorgedrungen sein, sonst hätten sie nicht so schnell hier sein können. Oh, da kommen sie wieder.« Die Scharfschützen knallten gleich zu Beginn des Angriffs zwei Offiziere ab. Darien erhob sich, feuerte, spürte, wie eine Kugel das Schulterpolster ihres Gewands durchschlug, feuerte noch einmal und ging wieder in Deckung. Sie hatte keine Ahnung, worauf sie geschossen und ob sie jemanden getroffen hatte. Ihre rechte Brust fühlte sich feucht an. Blut aus einer Wunde an der Schulter lief ihr in die Uniform. Die Salve aus dem Zug durchbrach die wankenden Reihen der Angreifer, ehe sie auch nur einige Meter vorgerückt waren, und das obwohl ihre eigenen Scharfschützen ihnen Feuerschutz gaben. Die feindlichen Musketiere begannen nun aus ihrer Deckung heraus blindlings auf das Zugwrack zu feuern. Ein Tigerdrache wurde getroffen, als er sich aufsetzte, um sein Gewehr nachzuladen. Morkundar gab Darien einen mit Eukalyptusöl getränkten Lappen und wies sie an, diesen auf ihre Wunde zu drücken. Es brannte, und sie zuckte zusammen. »Der Schmerz hilft dabei, die Blutgefäße zu verschließen und die Blutung zu lindern«, sagte er. »Haltet Euch jetzt unten. Der Zug ist zu dünn gebaut, um uns weiter Deckung zu bieten.« »Sitze«, sagte der Gesandte. »Nehmt Sitze und Gepäckstücke als Barrikaden.« Das Feuer der Musketiere aus Billiatt beharkte auch weiterhin ihren umgestürzten Waggon. »Die Anker bereitmachen! Drei, zwo, eins, Rücksetzen!« befahl Morkundar. »Ich verstehe das nicht«, sagte der Gesandte. »Wieso greifen die diesen Zug an? Wieso dringen die auf das Gebiet von Brookfield vor? Zwischen Billiatt und Brookfield herrschte doch Frieden. Mein Burgvogt wird Reparationen verlangen, wenn er hiervon erfährt.« »Die Signalfeuerverbindung«, erwiderte Morkundar. »Ich vermute, daß der Burgvogt von Billiatt die Bahnstation von Maggea belagert, und zwar ebenfalls mit Truppen, die er über die Grenze nach Brookfield geschickt hat. Diese Truppe hier wurde nach Norden geschickt, um die Signalfeuerverbindung zu kappen. Vielleicht haben sie Bombarden dabei, um einen Turm einzureißen, oder sie entfachen Buschbrände, damit die - 65 -
Rauchwolken das Signalfeuer verbergen. Indem er sowohl die Signalfeuerverbindung als auch die Gleitbahn unterbricht, will uns der Burgvogt seine absolute Machtposition gegenüber allem demonstrieren, was die Allianz unternehmen könnte. Und um so mehr eingeschüchterte Bürgermeister werden bereit sein, wieder Zollabgaben an ihn zu entrichten.« »Aber das da draußen sind kaum mehr als hundert Musketiere.« »Die Hauptstreitmacht ist wahrscheinlich irgendwo voraus und von der Gleitbahn aus sichtbar. Wir wurden bombardiert, damit wir sie nicht überholen und Alarm schlagen.« Morkundar kippte ein wenig Schießpulver auf einen Fetzen Mangelpapier und zog den Schlagbolzen eines ungeladenen Laufs zurück. Der Funkenregen entzündete das Pulver und setzte das Papier in Brand. Darien sah beunruhigt zu und schüttelte schweigend den Kopf. »Vorsicht, dieser Waggon brennt bestimmt wie Zunder«, warnte der Gesandte. »Deshalb stecke ich ihn ja in Brand.« »Was? Aber das ist unser einziger Schutz.« »Die Windlokomotive liegt ganz in der Nähe und ist viel solider gebaut. Wir müssen dorthin laufen und uns dahinter verschanzen. Und der Rauch aus diesem Waggon wird die Wachen auf den Signalfeuer-Leuchttürmen auf uns aufmerksam machen. Sie werden Patrouillen losschicken, und die werden dann die Hauptstreitmacht der Banditen aus Billiatt entdecken.« »Diese Hauptstreitmacht könnte auch kehrtmachen, um denen da drüben zu helfen, dieses Feuer zu löschen.« »Dann müssen wir angreifen, statt nur hier auszuhalten.« Darien weinte, so sehr setzte ihr ihre Sprachlosigkeit zu. Ihre Karten waren weg, und keiner der anderen verstand Gebärdensprache. In der Windlokomotive gab es wahrscheinlich irgendwelche Leuchtkugeln, aber - aber Morkundar war ein guter Anführer, und sie hatte keine Stimme. »Wenn wir einfach nur hierbleiben, werden die Musketiere abziehen und sich der Hauptstreitmacht anschließen«, sagte der Gesandte in flehentlichem Ton. »Wir können sie nicht angreifen. Das sind fünfmal mehr als wir.« »Dann werden wir dabei sterben, wie wir einen brennenden Waggon verteidigen.« - 66 Sterben. Darien spürte, wie sich ihr bei diesem Gedanken alles krampfhaft zusammenzog. Der Gesandte wandte sich an sie. »Frelle, Ihr seid hier die ranghöchste Drachenbibliothekarin, und der Fras Tigerdrache braucht Eure Zustimmung. Was sagt Ihr dazu?« Sagen? Darien hielt sich die Hände vor die Augen und lachte lautlos, der Hysterie und den Tränen nah. Der kahlwerdende Kopf des Gesandten färbte sich puterrot, und er stotterte eine Entschuldigung. Morkundar blickte weiterhin streng. »Also, Frelle Darien?« fragte er. Sie zeigte auf Morkundar und nickte. Lemorel hatte einen guten Anwalt engagiert, als sie erfahren hatte, daß Glasken in Schwierigkeiten steckte. Das zahlte sich aus. Vor einem Wirtshaus war es zu einer Schlägerei unter Betrunkenen gekommen, und als die Polizei eintraf, war Glasken unter jenen, die bewußtlos auf dem Kopfsteinpflaster lagen. Der Staatsanwalt verwies auf Glaskens Vorstrafenregister, die Verteidigung aber führte seine Rolle bei der Rettung Tarrins als Beweis für seinen guten Charakter an. Nach seiner Freilassung kehrte Glasken mit Lemorel an seiner Seite in sein College an der Universität zurück. Er trug einen Kopfverband mit einem roten Fleck an einer Stelle, an der Blut hindurchgedrungen war. »Ich dachte, die Justiz in meinem hinterwäldlerischen Heimatstaat wäre rückständig, aber das ist ja nichts hiergegen«, schnaubte Lemorel. »Der Richter hat ja alles Mögliche angestellt, um die Beweise zu deinen Ungunsten auszulegen.« »Mit der Gerechtigkeit ist es wie mit den Muskeln«, sagte Glasken ohne Groll. »Manche Leute haben eben einfach mehr davon, und daran läßt sich nichts ändern. Ich arbeite als Rausschmeißer, und deshalb gerate ich oft in Schlägereien. Und weil ich oft in Schlägereien gerate, stehe ich oft vor dem Richter.«
»Aber bald hast du ja dein Diplom, Johnny, und dann arbeitest du irgendwo, wo es weniger gefährlich zugeht«, sagte Lemorel zuversichtlich. »Ich studiere unter anderem Sprengmeisterei, Lern. Klingt das ungefährlicher als Besoffene, die Stunk machen?« »Was auch immer du tun wirst - ich werde alles unternehmen, um dir das Leben leichter zu machen.« Mittlerweile waren sie beim Villiers College angelangt. Es war ein solider, behaglicher Altbau aus ockerfarbenem Altstein. Um den Haupteingang rankten sich Kletterpflanzen, und ihre Schritte hallten auf dem Dielenboden der Eingangshalle wider, die jahrhundertealte Tradition atmete. Glasken bewohnte ein Zimmer im Obergeschoß. Lemorel sah sich anerkennend um. Es war ordentlich und sauber hier, die Bücher standen im Regal, und das Bett war gemacht. »Nicht sehr einladend, fürchte ich«, sagte er. »Das ist doch wunderbar«, erwiderte sie. »Ich hatte erwartet, daß du in so schmutzigen und verwahrlosten Verhältnissen lebst wie die meisten jungen Männer, die gerade erst zu Hause ausgezogen sind.« »Dann hattest du also schon Gelegenheit, dir deren Schlafzimmer anzusehen?« fragte er prompt, wenn auch neckisch. »Nur nachts.« »Aha, erzähl bitte weiter.« »Und nur nachdem die Tigerdrachen ihnen die Tür aufgebrochen und sie zum Verhör abgeführt hatten.« Glasken schluckte vernehmlich, bis ihm klar wurde, daß es wahrscheinlich ein Scherz war. »Es gibt bessere Methoden, jemandem Antworten zu entlocken«, sagte er und ließ sich auf seiner Bettkante nieder. »Nämlich?« »Du klopfst sacht an die Tür, und wenn du ins Zimmer kommst, achte darauf, daß die oberen ein oder zwei Knöpfe deines Gewands offenstehen. Und du solltest auf alle Fälle einen Krug Zwetschgengeist dabeihaben.« »Warum Zwetschgengeist?« »Weil der über dich kommt, ehe du weißt, wie dir geschieht«, sagte er und hob die Hände, als wären es Klauen. »Er löst die Schnüre der Kleider ebenso, wie er die Zunge löst.« Lemorel wandte sich ab, von seinen Worten ein wenig irritiert. Sie betrachtete die Bücher in seinem Regal und entdeckte eine kleine Lemonwood-Schachtel mit einem Siegel des Diakons darauf, das auf den 14. April 1696 datiert war. Sie nahm die Schachtel vorsichtig zur Hand. Ein Filigranmuster aus von Amors Pfeilen durchbohrten Herzen war darauf eingebrannt. »Was ist denn da drin, daß diese Schachtel seit anderthalb Jahren versiegelt ist?« fragte sie und runzelte leicht die Stirn. »Liebesbriefe etwa?« - 67 Insgeheim hoffte sie flehentlich, daß dem nicht so war. »Präservative«, antwortete Glasken. Lemorel ließ die Schachtel mit einem Laut des Erstaunens fallen. Als sie auf dem Dielenboden landete, brach das Siegel. »Fras Glasken, ich dachte nicht, daß Ihr - das heißt, ich dachte, Ihr wäret viel zu sehr Gentleman, um ...« »Das bin ich auch, schöne Frelle. Man beachte das Datum.« »Aber -« »Lemorel, süße Lemorel, stell dir doch bloß mal vor, was passieren würde, wenn ich mich in den Armen eines schönen Mädchens wiederfände, und unser beider Leidenschaft würde mit uns durchgehen. Schnell wäre es geschehen, doch der Inhalt dieser Schachtel könnte den Ausschlag geben, ob daraus eine harmlose Herumtollerei oder eine alles andere als harmlose Schwangerschaft resultiert.« Er hob die Schachtel auf.
»Hm, das Siegel des Diakons ist gebrochen«, bemerkte er. Lemorel überlegte kurz und schnippte dann den obersten Knopf ihres Gewands auf. »Von wie vielen Knöpfen spracht Ihr vorhin noch einmal, Fras Glasken?« fragte sie. Er streckte sich auf seinem Bett aus wie eine große, träge Katze. »Um mein Herz zu gewinnen, Frelle, wäre gar keiner nötig. Um meinen Leib zu gewinnen ... so viele ihr nur mögt.« Glasken wurde als Liebhaber allem gerecht, was Lemorel sich erhofft hatte, und das trotz des schmalen Betts und obwohl er in der Nacht zuvor einen Schlag auf den Kopf abbekommen hatte. So sollte man seine Unschuld verlieren, dachte sie, als eine nahe Turmuhr ein Uhr mittags schlug. Drunten auf dem Rasen hörten sie die Studenten, die von Vorlesungen und Tutorien kamen, munter plaudernd zur Mensa strömen. Lemorel hatte eine Vorlesung zur Infmitesimalrechung versäumt, aber das focht sie nicht an. Ihr neuer Geliebter lag mit dem Kopf auf ihrer Schulter und hatte ein Bein über ihre Schenkel gelegt. Sie streichelte das Haar über seinem Verband und war mit einem Mal betrübt seinetwegen. Er sah gut aus, war aufmerksam und rücksichtsvoll, klug, stark und sensibel ... aber doch auch ein wenig langweilig. Es kam ihr schrecklich vor, sich das einzugestehen, denn er machte alles richtig: nichts war beeinträchtigt von Dummheit oder irgendwelchen Macken. Wie tolerant würde er sein? - 68 Lemorel schauderte bei dem Gedanken an ihre toten Liebhaber. Wie würde John Glasken auf ihre Vergangenheit reagieren, falls er je davon erfuhr? Sie machte sich womöglich anfällig für Erpressungsversuche, es sei denn, ihre Liaison blieb ein Geheimnis. Nun wurde ihr klar, warum ein Prachtkerl wie er keine Partnerin hatte: Wenn man einfach zu gut war, konnten nur sehr wenige andere Menschen den eigenen Maßstäben gerecht werden. Sacht rüttelte sie ihn wach. »Johnny, ich muß los.« »Hm? Jetzt schon?« »Ich habe in Libris zu tun. Die Arbeit da nimmt einfach kein Ende.« Er ergötzte sich vom Bett aus an ihrem Anblick, während sie ihre Hose anzog und sich dann, auf seinem Besucherstuhl sitzend, die Stiefel schnürte. »Fras Johnny, es ist nicht so, daß ich nicht stolz auf Euch wäre«, begann sie, wußte dann aber nicht weiter. Sie sah zu Boden, kniff die Lippen zusammen. »Eine Gründrachen-Bibliothekarin sollte sich nicht dabei ertappen lassen, wie sie sich mit einem Studenten einläßt«, sagte Glasken in freundlichem Ton. »Nein, das ist es nicht -« »Aber natürlich ist es das, Frelle. Denkt an Euren Ruf. Das ist nur vernünftig.« »Das stört Euch nicht?« »Wenn Libris davon erführe, würde Libris Leute schicken, die mir bei jedem Schritt hinterherspionieren. Und in den Schenken, in denen ich für Ordnung sorge, würden sie bald glauben, daß diese Spione mit mir zusammenarbeiten. Und das würde ich nicht lange überleben.« Lemorel war immer noch sehr empfindlich, was das Thema tote Liebhaber anging. Von der Taille aufwärts immer noch nackt, warf sie sich Glasken in die Arme und bat ihn inständig, seine Arbeit in den Schenken aufzugeben, bot sogar an, ihm die Unkosten zu ersetzen. »Großherzige Frelle, ich kann doch fürs Nichtstun kein Geld annehmen«, sagte er und zog sie fester an sich. »Aber mir wird schon nichts geschehen, wenn unsere Liebe ein Geheimnis bleibt. Es ist in unser beider Interesse, daß wir uns diskret verhalten.« »Dann verstehst du also, daß ich mich nicht für dich schäme?« - 68 »Natürlich. Und jetzt hinfort mit dir - nach Libris und in den Dienst des Bürgermeisters.« Lemorel stand auf, legte ihren Waffengurt und ihren Dolch an. Glasken applaudierte anerkennend, als sie sich mit vorgereckten Brüsten in Positur warf. Dann stand auch er auf und schulterte seinen Offiziersstock wie eine Muskete.
»Wenn du in dieser Aufmachung bei Duellen erscheinen würdest, würden die Männer dich fordern, nur um kurz vor dem Tod noch einmal solche Brüste erblicken zu dürfen«, sagte er, ließ den Stock sinken und kniete nieder, die Hand vor dem Herzen. »Komm, Johnny, zurück ins Bett mit dir - nein, laß das.« Aber er ließ es nicht, und Lemorel verließ sein Bett an diesem Nachmittag erst wieder gegen fünf Uhr. Diesmal zog sie sich das Hemd über, ehe sie sich ihren Waffengurt umschnallte. »Was wirst du denen in Libris sagen?« fragte Glasken und unterdrückte ein Gähnen. »Daß ich in der Uni beim Studieren eingeschlafen bin.« »Und damit geben die sich zufrieden?« »Ich habe gute Noten, da kann ich mir schon mal ein paar kleinere Vergehen leisten.« »Und Ex-Liebhaber in hoher Position?« Lemorel schüttelte den Kopf. »Ich hatte bisher erst eine Liebesaffäre, seit ich in Libris bin, und das war nichts Besonderes. Für mich muß Zuneigung mit dabei sein, und deshalb halte ich mich aus den Liebeleien aus Karrieregründen heraus, die man da so geboten bekommt. Und was ist mit deinen Exfreundinnen? Erzähl mir bitte nicht, heute nachmittag wäre dein erstes Mal gewesen.« Glasken streckte sich auf dem Bett aus und verschränkte die Hände vor der Brust. »Ja, ich hatte schon einige Frauen. Aber das waren dumme Hühner, die nur einen leidlich verlockenden Körper in mir sahen. Lust ohne Zuneigung ist, wie etwas zu schmecken, ohne zu essen: Es fühlt sich gut an, aber man verhungert dabei. Eine von denen hat mir kurz vor einer wichtigen Prüfung ganz bewußt wehgetan. Da bin ich zum Diakon gegangen und habe die Schachtel versiegeln lassen.« »Na was für ein Glück für mich«, sagte Lemorel und küßte ihn zum Abschied. Rochester war mit einem Mal wunderschön, als Lemorel durch von Laternen erhellte Straßen, auf denen sich der Abendverkehr drängte, - 69 nach Libris zurückging. Glasken war vielleicht immer noch ein wenig biederer als ihr lieb war, aber sie würde ihn schon dazu bringen, mehr aus sich herauszugehen. Marktschreier und Ausrufer waren unterwegs, die einen mit ihren Werkzeugen und Waren, die anderen mit Flugzetteln. »Prächtige Pferde zu versteigern! Prächtige Pferde!« »Mehl! Säckeweise feines Mehl!« »Tonwaren! Kauft einen schönen Krug oder eine Lampe!« Lemorel blieb stehen und sah sich den Stand an. Die Symbolik, eine Lampe zu kaufen, um Glaskens hartes Leben damit ein wenig zu erhellen, gefiel ihr. »Krieg gegen Billiatt! Kämpfe an der Loxton-Gleitbahn!« Lemorel wurde aus ihren Träumereien gerissen, und sie lief zu der jungen Ausruferin. Der Flugzettel, den sie kaufte, berichtete, was an diesem Nachmittag geschehen und per Signalfeuer gemeldet worden war. Es war nur eine Reihe von Schlagzeilen, weiter nichts. »Signalfeuerverbindung dank der Tapferkeit von Gründrache Justin Morkundar vor Angriff gerettet.« Das war der Tigerdrache gewesen, der Dariens Eskorte befehligte, einer von etlichen Koorie, die in Libris tätig waren. Und was war mit ihrer Freundin? Während Lemorel in Glaskens Armen lag, war Darien vielleicht auf dem Schlachtfeld gefallen. »Ich kann machen, was ich will, mein Gewissen holt mich immer wieder ein«, murmelte sie und überflog dann den restlichen Papierbogen. »Brookfield tritt auf Seiten der Allianz in den Krieg ein. Gesandter aus Brookfield bei Angriff auf Windzug von Blaudrache Darien vis Babessa gerettet.« Lemorel stieß einen Freudenschrei aus, packte die Flugzettel-Verkäuferin und wirbelte sie herum, wobei die Blätter in alle Windrichtungen davonflogen. Sie gab dem erschrockenen Mädchen drei Silbernobel und einen Kuß und rannte das ganze Stück bis nach Libris. Nach einigen Tagen verbissener Gefechte ging der Krieg um die Gleitbahnumleitung in eine Pattsituation über, die sich wochenlang hinzog. Wie stets bei Kriegen forderte der Ruf im Durcheinander des Schlachtfelds einen hohen Blutzoll, forderte mehr Menschenleben als die Kämpfe und die Krankheiten. Die Burgvogtei Billiatt war zu klein, um einen ausgedehnten Krieg ausfechten zu können, und nachdem der erste Angriff fehlgeschlagen war, hatten die
Bürgermeister der Allianz Zeit, sich auf eine gemeinsame Antwort zu einigen und Renmark und Rochester den Rücken zu stärken. Die westliche Gleitbahn wurde bereits vierzehn Tage - 70 später wiedereröffnet, und nachdem seine Armee nach dem erneuten Versuch, die Verbindung zu zerstören, fünftausend Gefallene zu beklagen hatte, bat der Burgvogt von Billiatt um einen Friedensschluß. Die Bedingungen des Friedensvertrages waren demütigend, aber er unterzeichnete ihn dennoch. Wäre seine Armee noch weiter geschwächt worden, so wäre auch sein Thron in Gefahr geraten. Als Puffer dienende Landstriche wurden an Renmark und Brookfield abgetreten, um die Sicherheit der Gleitbahn-Umleitungsstrecke zu gewährleisten. Für Rochester war es ein knapper, aber wichtiger Sieg. Der erste Angriff war mehr durch Glück und Tapferkeit zurückgeschlagen worden als durch schiere Stärke, und daher sahen die übrigen Bürgermeister der Allianz in Bürgermeister Jefton keinen ernstzunehmenden neuen Rivalen. Rochester führte die Geschäftsbücher der Allianz, und damit hatte es sich. In der ganzen Südostallianz folgte allgemeiner Wohlstand auf diesen Krieg. Die Einwohner von Rochester waren viel zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen, um die kleinen Veränderungen zu bemerken, die in der Staatsbibliothek vor sich gingen, und selbst innerhalb von Libris bildete sich eine gewisse Beständigkeit heraus, während sich der Kalkulor als seltsamer aber nützlicher Mitarbeiter etablierte. Nur einigen wenigen auf der Führungsebene war bewußt, daß sein Einfluß weit über Rochester hinaus und in weite Teile der bekannten Welt reichte. Auch auf den Zentralbund hatte der Kalkulor einen zunächst unmerklichen, dabei aber tiefgreifenden Einfluß. Ganz allmählich übernahm er die Leitung des Gleitbahnnetzes, koordinierte den Zugverkehr und optimierte mit neuen, unglaublich effizienten Fahrplänen die Ladekapazitäten. Er machte sich auch für das Signalfeuer-Netzwerk unentbehrlich, erzeugte viel schneller und zuverlässiger Kodes und Konvertierungen, als es der Signalfeuerakademie von Griffith je gelungen war, und brachte die Signalfeuerverbindungen in Teilen des Netzes unter die direkte Kontrolle von Rochester. Als den übrigen Bürgermeistern dann bewußt wurde, welche politischen Auswirkungen es hatte, daß Rochester so hochwichtige Ressourcen kontrollierte, war es wirtschaftlich längst unmöglich geworden, zu den alten Gegebenheiten zurückzukehren. Alle verdienten mehr Geld als je zuvor, und die gesamte Infrastruktur funktionierte viel zuverlässiger als früher. Und wenn es zum Schlimmsten kam und Bürgermeister Jefton versuchen sollte, die anderen Staaten mit Hilfe der Gleitbahn und des Signal - 70 feuernetzes zu erpressen, konnte sein Stadtstaat schließlich leicht von einer gemeinsamen Armee der anderen Staaten überwältigt werden. Sämtliche Bibliothekare, die mit dem Kalkulor arbeiteten, mußten Überwachungsmaßnahmen der Schwarzen über sich ergehen lassen, und als der Kalkulor dann endgültig in Betrieb genommen wurde, durften sie nur noch in der Herberge von Libris übernachten und nirgends sonst. Lemorel kam das sehr gelegen. Libris schirmte sie vor Erkundigungen von außerhalb ab, und die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit waren die Briefe, die sie sich mit ihrem Vater schrieb. Er hatte nur gute Neuigkeiten zu berichten: Die Geschäfte liefen ausgezeichnet, und Jemli hatte geheiratet und war aus dem Haus. Lemorel verbrachte viel Zeit in den Räumen des Kalkulors, studierte fleißig an der Universität und hielt ihr Verhältnis mit Glasken geheim. Sie trafen einander so selten, daß die Schwarzen keinen Vermerk über Glasken in Lemorels Personalakte hatten. Beide arbeiteten sie für ihren Lebensunterhalt, Lemorel tagsüber mit dem Kalkulor und Glasken nachts in den Schenken der Stadt. Wenn sie sich trafen, dann zwischen den Vorlesungen. Ende 1697 fiel Glasken bei einer Prüfung durch und mußte ein Studienjahr wiederholen. Lemorel war erleichtert. Das Arrangement ihrer Liebschaft kam ihr sehr zupaß. Und es kam ihr auch zupaß, daß Darien fort war. Sie wußte, daß es nun, da John Glasken in ihr Leben getreten war, schwierig gewesen wäre, weiterhin so eng mit ihr befreundet zu sein. Während Libris mehr und mehr die Verkehrsplanung der Gleitbahn übernahm, beschäftigten sich die Drachenbibliothekare ausführlich mit fernen Strecken und Ländern. Darien hatte zwar keine
Stimme, war ansonsten aber ausgesprochen sprachkundig, und solange jemand zur Stelle war, der in der Lage war, ihre Karten zu lesen, konnte sie sich in vielen Sprachen verständlich machen. Zwei Monate nach dem Sieg über Billiatt kehrte Darien nach Rochester zurück und wurde zur stellvertretenden Oberliber ernannt, und Bürgermeister Jefton verlieh Morkundar und ihr eine Tapferkeitsauszeichnung. Da er sowohl Kriegsheld als auch Koorie war, wurde Morkundar zum Botschafter Rochesters in jenen Stadtstaaten von Woomera ernannt, in denen ein Koorie regierte. Darien hatte den Gesandten aus Brookfield in Sicherheit gezerrt, als er bei der Flucht zur Windlok angeschossen worden war, und die Hoheliber wollte so viel öffentliche Aufmerksamkeit wie nur möglich auf die Helden aus ihrem Stab lenken. Darien blieb nur - 71 ein paar Wochen lang in Rochester und wurde dann als Inspektorin erneut nach Westen entsandt. Diesmal sollte sie an einem noch größeren Projekt mitwirken: den Endpunkt des Signalfeuernetzwerks in Peterborough mit dem Signalfeuernetzwerk von Woomera zu verbinden. Drei riesige Repetiertürme aus Stein und Holz mußten errichtet werden, und Dariens Aufgabe bestand darin, die Übertragungsprotokolle der beiden Systeme zu vereinheitlichen und sich um die Sprachschwierigkeiten zu kümmern. Bei der Einweihung der Verbindung zur Sommersonnenwende 1699 stand Darien neben der Hoheliber auf der Signalfeuerplattform des Turms von Rochester, während Bürgermeister Jefton mit dem Bürgermeister von Woomera Nettigkeiten austauschte. Die Verbindung zwischen den beiden wurde über elf Repetiertürme und eine Entfernung von über tausend Kilometer hergestellt. Rochester wurde in einem ganz realen Sinne der Mittelpunkt der Welt. Man ließ Darien nur einen Monat Zeit, ihren Bericht über das Projekt zu verfassen, und beauftragte sie dann mit einem noch entlegeneren und ehrgeizigeren Projekt: mit der Verbindung der Bahnhofstürme der immens langen Nullarbor-Gleitbahn, um damit eine Signalfeuerverbindung zu den Staaten des fernen Westens zu schaffen. Weite Teile der Strecke waren bereits miteinander verbunden, aber die Anzahl der Türme mußte verringert werden, damit die Übertragungsgeschwindigkeit erhöht werden konnte. Als Standort für einen von Grund auf renovierten Turm hatte man die Bahnstation Maralinga ausgewählt, rund fünfhundert Kilometer westlich von Woomera. Der Ruf war in Maralinga sehr stark und kam manchmal alle fünf Tage. Maralinga war der größte, entlegenste und schönste Außenposten an der Nullarbor-Gleitbahn. Von den sich nähernden Windzügen aus war es ein herrlicher Anblick, wenn es sich hoch und hell wie eine schimmernde Anhäufung rötlicher Salzkristalle aus der flachen, nur mit Strauchwerk bewachsenen Nullarborebene erhob. Es war aus Kalksteinquadern errichtet, und ein Turm dort war doppelt so hoch wie die anderen, um das Herannahen der Windzüge überwachen zu können. Darien traf dort ebenfalls mit dem Windzug ein. Eine Folge des Großen Winters war es, daß auf der Nullarborebene fast ständig ein Wind wehte, und die Rotorantriebe mußten so gut wie nie durch kostspielige Muskelkraft verstärkt werden. Die Rotoren drehten sich, ganz egal, aus welcher Richtung der Wind kam, und die Züge fuhren zwar manchmal - 71 recht langsam, blieben aber nie wegen einer Windstille stehen. Beiderseits waren Balance-Ausleger angebracht, und acht gestaffelt angeordnete Rotoren drehten sich im steten Südwestwind. Der Führerstand der Lok befand sich ein gutes Stück hinter den Puffern, und der Lokführer las seine Instrumente ab, während rechts von ihm die Meilensteine vorüberzogen. Er rief die Werte dem Maschinisten zu, der wiederum den Bremsern an den einzelnen Rotoren Befehle zubrüllte. Der Zug schlingerte und bebte, wenn die in Sonnenblumenöl getauchten Getriebe auf kleinere Übersetzungen umschalteten und das Tempo gedrosselt wurde. Ein winziger Lichtpunkt flackerte an der Spitze des höchsten Turms auf, und oben auf der Führerkabine des Zugs knüpfte der Wächter eine Heliostatverbindung. / WEICHEN GESTELLT FÜR EINFAHRT VON WESTZUG HI09 / meldete der Turm. / BESTÄTIGE - SCHALTEN RUNTER / antwortete der Wächter.
/ ANKUNFT DER STELLVERTRETENDEN OBERLIBER DARIEN VIS BABESSA ERWARTET / erkundigte sich der Turm. / BESTÄTIGE / versicherte der Wächter den Fernmeldern in Maralinga. Darien war die rangniederste und dienstjüngste stellvertretende Oberliber der bekannten Welt, aber dennoch eine nicht ganz unwichtige Frau. Die Bahnhöfe an der Nullarbor-Gleitbahn waren nicht schwer befestigt, obwohl man von einer fernen, kriegerischen Zivilisation jenseits der nördlichen Wüste wußte. Der Ruf reichte bis dort hinaus, doch die Wüste entriß ihm die meisten seiner Opfer, und es verging kaum eine Woche, ohne daß die Wächter auf dem Turm von Maralinga neue Leichname und Kadaver entdeckten. Dort lagen tote Kamele mit Geschirren aus grüner Seide und Goldfäden, und festgeschnallt auf ihren reich mit schwarzen Opalplättchen verzierten Satteln trugen sie tote Reiter. Einige tote Krieger hielten Säbel in Händen, die aus einem Stahl gefertigt waren, den selbst die fortschrittlichsten Schmiede von Rochester nicht nachzuschaffen vermochten, und die Sandanker ihrer Kamele enthielten äußerst präzise Uhrwerke. In den Satteltaschen fand man Messingfernrohre, Seidentücher mit den Bildern befestigter Städte, die in rote Felswände gehauen waren, und Bücher. Eine mächtige, fremde Zivilisation, aber zu fern, als daß sie eine Bedrohung darstellen oder man Handel mit ihr treiben konnte. - 72 Der Zug ratterte über die Weichen und bog auf die Nebenstrecke nach Maralinga ab; und dann drehten die Bremser an ihren Kurbeln, um die Bremsklötze an die Räder zu pressen. Der Zug kam mit kreischenden Rädern, aber sanft zum Stillstand, die Puffer der Windlok nur eine Handbreit vom Prellbock entfernt. Im steten Wind drehten sich die Rotoren weiter im Leerlauf, warteten darauf, wieder eingekuppelt zu werden. Der Schaffner pfiff und signalisierte damit, daß die Türen gefahrlos geöffnet werden konnten. Darien stieg als erste hinaus auf den Bahnsteig. In ihrer Inspektorenuniform, die aus einem schwarzen Gewand und einer Kniebundhose bestand, schwitzte sie. Ihr Silberdrachenarmband schimmerte im Sonnenschein, und sie hielt ihre Ernennungsurkunde zur Oberliber in der Hand, um sich beim Stationsvorsteher auszuweisen. Begrüßt wurde sie von sechs Aufsichtsbeamten, dem halben Dienststab von Maralinga. Sie fühlten sich geehrt, einen so wichtigen Gast empfangen zu dürfen; ja, im Grunde fühlten sie sich geehrt, überhaupt einen Gast empfangen zu dürfen. Da Darien keine Stimme hatte, plapperten sie nervös durcheinander. »Da kommt die Rangierlok«, sagte der Stationsvorsteher und zeigte auf eine kurze, rote Windlokomotive mit zwei weißen Rotorenaufbauten, die sich vom Rangierbahnhof her näherte. »Sie wird Euren Privatwaggon vom Zugende auf ein Nebengleis umleiten.« Die Rangierlok wurde an den Waggon angekuppelt, den die Crew daraufhin vom Zug abkoppelte. Mit lautem Knall wurde das Getriebe der beiden Rotoren in den Rückwärtsgang geschaltet, und dann wurde der Waggon fortgezogen. Jetzt blieb Darien nichts anderes übrig als hierzubleiben, und empfangen wurde sie von der Hitze, den Fliegen, den feinen Sandkörnern, die der unaufhörliche Wind mit sich trug, dem Gestank von ranzigem Schmierfett und dem nervösen Geplapper sechs fremder Männer. Weitere Fahrgäste begannen auszusteigen, um sich auf festem Boden kurz die Beine zu vertreten, ehe der Zug dann weiterfuhr. Der Gepäckträger öffnete einen kleinen Kiosk, der Andenken, kandiertes Obst und auf Flaschen gezogenes Zisternenwasser feilbot. Schnell sammelte sich davor eine kleine Menschenmenge. »Ihr könnt Euren Leibanker jetzt ablegen, Frelle Oberliber«, sagte der Wasserhändler, als sie vom Bahnsteig zu den Stationsgebäuden gingen. »Wir haben im Süden eine Schutzmauer, und der nächste Ruf steht erst in einigen Tagen bevor.« - 72 Darien wandte sich um. Eine hohe, kreisrunde Mauer faßte die Bahnstation ein, und an ihren ineinandergreifenden Enden konnten die Windzüge passieren. Am südlichsten Punkt befand sich ein mit Ziegeln gedeckter Unterstand. Der Ruf kam hier immer aus dem Süden. Wenn er in diesem Moment gekommen wäre, wären sie alle blindlings nach Süden gegangen, bis sie an der Mauer
angelangt und von dort aus in den Unterstand weitergeleitet worden wären. Darien löste ihren Leibanker, und der Wasserhändler trug ihr stolz die tickende Apparatur hinterher. Auf dem Stationsgelände war es erstaunlich kühl. Blendend weiße Kalksteinwände reflektierten die schlimmste Sonnenhitze, und in jedes Gebäude waren Konvektionsgebläse eingebaut. Sie stiegen zwei Treppen zur Aussichtsterrasse hinauf, wo an einem Tisch mit Blick auf den Rangierbahnhof Kaffee serviert wurde. Während sich der Stationsvorsteher den Formalitäten der Kaffeezeremonie widmete, sah Darien zu, wie der Windzug zur Weiterfahrt bereitgemacht wurde. Die Rangierlok kam zurück, und die wenigen Fahrgäste wurden gebeten, wieder einzusteigen. Mit lautem Knall rammte die kleine Lok die Kupplung des hintersten Waggons, der Schaffner pfiff, und die sich drehenden Rotoren der Schnelllok verlangsamten mit einem Mal, als der erste Gang eingelegt wurde. Langsam löste sich die Reihe der grüngelb gestreiften Waggons von dem Prellbock, und der Zug ratterte zurück auf die Hauptstrecke, ratterte über die Weichen und kam dann mit bebenden Bremsen zum Stehen. Die Rangierlok wurde abgekuppelt, der Rangiermeister pfiff zweimal, und dann begann der Zug seine Weiterfahrt nach Westen. Die Rangierlok schob ihn noch ein paar Meter an, blieb dann zurück und fuhr schließlich wieder auf den Rangierbahnhof. »... aber kommen wir doch zum Geschäftlichen, Frelle Oberliber. Womit können wir Euch bei Eurem Besuch behilflich sein?« Darien hatte eine Mappe voller Karten vorbereitet. Sie zog die passende Karte hervor und reichte sie dem Stationsvorsteher. BITTE ENTSCHULDIGT, DASS ICH KEINE STIMME HABE. DANKE FÜR EURE MÜHE. ICH BRAUCHE LEDIGLICH EINEN ARBEITSPLATZ IN EURER BIBLIOTHEK UND ZUGANG ZUM GESAMTEN STATIONSGELÄNDE. ICH SOLL EINE UNTERSUCHUNG VORNEHMEN. DIE BÜRGERMEISTER VON ROCHESTER UND WOOMERA WOLLEN, DASS DIESE STATION AUSGEBAUT WIRD. Der Stationsvorsteher gab die Karte an den Wasserhändler weiter, und dann machte sie die Runde, während sie ihr Gespräch fortsetzten. - i73 »Frelle stellvertretende Oberliber, es freut mich sehr, daß meinem Ersuchen, die Bahnhöfe, Zisternen und Lagerhäuser auszubauen, von Seiner Hoheit, dem Bürgermeister, und auch Eurem Herrscher entsprochen wurde. Ich werde unverzüglich ein Dankesschreiben ausfertigen lassen, das Ihr mit zum Hofe zurücknehmen könnt.« Darien wußte nichts von diesem Ersuchen, und daher mußte sie nun dieses Mißverständnis richtigstellen. Sie schrieb mit einem Kohlenstift etwas auf eine leere Karte. Die Mithörenden warteten gespannt, aber sie ließ sich nicht dazu hinreißen, unwürdig etwas hinzukrakeln. Schließlich reichte sie die Karte weiter. OER AUSBAU HAT MIT EUREM ERSUCHEN NICHTS ZU TUM, UMFASST ABER EURE VORSCHLÄGE. Während der Stationsvorsteher noch verdutzt die Worte betrachtete, zog Darien schon eine andere Karte hervor. OER HAUPTFERN ME LVETURM WIRV AUF Vit VREIFACHE HÖHE AUFGESTOCKT. VAS PERSONAL WIRV EBENFALLS VERSTÄRKT. WEITERE EINRICHTUNGEN WERVEN ENTSPRECHENV AUSGEBAUT. »Aber das ist ja wunderbar!« rief der Stationsvorsteher. Ehe er noch etwas dazu sagen konnte, reichte ihm Darien eine weitere vorbereitete Karte. OIE STATION MARALINGA WIRV ZUM AUSSENPOSTEN ERSTER KLASSE HOCHGESTUFT. WENN GEGENWARTIGE MITARBEITER IHREN RANG BEIZUBEHALTEN WÜNSCHEN, MÜSSEN SIE SICH EINER PRÜFUNG UNTERZIEHEN. Die Stimmung schlug abrupt um, als diese Karte die Runde machte, fast so, als hätten sich die Beamten zu Ehren ihres stummen, berühmten Gastes selbst der Sprache beraubt. Darien richtete sich für die nächsten vier Tage in der Bibliothek ein, inspizierte den Hauptturm ausführlich und verglich ihn mit den ursprünglichen Plänen. Ihr Befund bestätigte, was der Planungsstab in Libris bereits vermutet hatte: Das Fundament würde keinen Neubau tragen, und
einen Großteil des bestehenden Mauerwerks würde man dazu ebenfalls abreißen müssen. Es wäre einfacher und ginge schneller, ein neues Fundament zu legen und darauf einen neuen Steinturm zu errichten. Andererseits ließ sich ein Holzaufbau hinzufügen, ohne das Fundament über Gebühr zu belasten. Es würde sich auch in nur einem Zehntel der Zeit errichten lassen, den der Neubau eines Steinturms kosten würde. - 74 Wer schlechte Nachrichten überbringt, ist nie beliebt bei denjenigen, die die Folgen zu tragen haben. Von den Mahlzeiten und den Kaffeezeremonien abgesehen, wurde Darien von den eingeschnappten Beamten gemieden, und ihre Abende verbrachte sie damit, sich die Sammlung der Bücher anzusehen, die man bei den Leichen in der Wüste gefunden hatte. Diese geheimnisvollen Bände waren in einer Sprache abgefaßt, die sie als nordmaurischen Dialekt erkannte. Es war die Sprache der nomadischen Ghaner. Die Bücher zeichneten das exotische, aber herbe Bild einer fernen Gesellschaft. Ehre, Dienst, Loyalität und rücksichtslose Disziplin unter den Kriegern hielt die verschiedenen Völker in dem rauhen, trockenen Land zusammen. Frauen und Kinder wurden zu ihrem Schutz regelrecht weggesperrt. Die Liebeslyrik handelte größtenteils von Sehnsucht und Verlangen, von unerfüllter Liebe und geheimen Botschaften, die an wachsamen Eltern vorbeigeschmuggelt wurden. Frauen durften sich außer Haus nur in einem Wagen oder einer Sänfte fortbewegen. Auf Darien wirkte es faszinierend, aber auch abstoßend. Schließlich war sie eine einflußreiche Frau, die, wenn sie ihre Empfehlungen und Berichte verfaßte, über die weitere Karriere von einem Dutzend Männern entschied. Am Morgen des vierten Tages hatte sie sich gerade angekleidet und machte sich bereit, ihr Tagwerk zu beginnen, als der Ruf über die Station hinwegbrandete. Es war ein schönes, vertrautes Gefühl, sich seiner Verlockung zu ergeben, und dann kam man irgendwann mit Hautabschürfungen und abgerissenen Fingernägeln wieder zu sich. Der Ruf hatte sie auf dem Korridor erwischt, aber sie war mit ihrem Taillengurt an einem Geländer angebunden gewesen. Gebäude waren gefährlich. Ohne den Gurt wäre sie womöglich zu dem am südlichsten gelegenen Fenster gegangen und etliche Stockwerke hinabgestürzt. Doch dann erwachte Darien auf dem dicken Teppich in der Bibliothek, an Händen und Füßen gefesselt! Das konnte doch nicht wahr sein. Niemand hatte ungehindert umhergehen können, während der Ruf über die Bahnstation hinwegzog. Die anderen waren jetzt ebenfalls bei Bewußtsein und machten lauthals auf sich aufmerksam. Der Stationsvorsteher, der Wasserhändler, die Mechaniker - alle riefen sie, sie seien während des Rufs gefesselt worden. Dann hörte Darien draußen, auf den Kreuzgängen, langsame, schlurfende Schritte. Ein Wesen wie aus einem Alptraum blieb in der offenen Tür stehen und spähte zu ihr herein, über Spiegel, die eine Handbreit von - 74 einander entfernt vor seinem Gesicht angebracht waren, und seine Augen funkelten in den Tiefen ihrer Spiegelungen. »Eine Frau also unter zwölf Männern«, sagte es mit tiefer, gedämpfter Stimme. Vom Klang her ähnelte es dem Nordmulgarischen, aber es war eindeutig die Sprache der Ghaner. »Ich verstehe die Sprache deines Volkes nicht«, fuhr das Wesen fort, aber selbst wenn Darien eine Stimme gehabt hätte, hätte sie zur Antwort darauf nur zu starren vermocht. Ein Mann, der von Kopf bis Fuß in lebende Ranken verstrickt war, in Ranken, die so gewachsen und miteinander verwoben waren, daß sie ihn wie ein Anzug umhüllten, ein Mann, der eine Jacke aus olivgrünem Laub und klobige Kniestiefel trug, die nach feuchtem Erdreich und Mulch rochen. Seine Arme liefen in Fäustlinge aus fein miteinander versponnenen dünnen Ranken aus. Dem Ruf erlagen alle Säugetiere, die größer waren als eine Katze, und daher war ein Mann, der während des Rufs ungehindert umherging, für Darien nicht minder erstaunlich als eine Levitation. Von den schwarzen Koorie-Nomaden der nördlichen Wüsten wußte man, daß sie in Trance verfielen, wenn der Ruf sie ergriff, und zwei Stunden lang reglos am Boden liegend verharrten. So entkamen sie dem Ruf, aber sie widerstanden ihm nicht. Darien starrte den Mann verblüfft an. Er trug ein lebendiges Gewand: War es das, was ihn gegen die Verlockungen des Rufs immun machte? Sie war während des Rufs gefesselt worden - wie anders war das zu erklären? Die
Folgerung daraus drängte sich förmlich auf: Sein Anzug war eine Waffe, gegen die es keinen Widerstand gab. Sehr bald schon liefen weitere Ghaner auf dem Stationsgelände umher. Sie waren gekleidet wie die Leichen draußen in der Wüste und stanken nach Schweiß und Kamel. Darien wurde mit der Stationsbesatzung hinaus auf den Kreuzgang getragen. Keiner der Ghaner beherrschte ihre Sprache, und keiner aus der Station verstand die Sprache der Ghaner. Das stellte sich nach einer Stunde heraus, in der geschlagen, getreten und herumgebrüllt wurde. Ihnen wurde auch klar, daß Darien stumm war, nicht aber, daß sie jedes Wort verstand, das sie sagten. »Das ist also der Ursprung des Rufs«, erklärte Kharec, ihr Anführer. »Er kommt von den Eisenbändern in der Wüste.« »Nein, das stimmt nicht, Hauptmann«, sagte der umrankte Mann. Man hörte ein Zischen, als die anderen abrupt Luft durch die Zähne sogen, und Kharec wandte sich zu ihm um. »Ihr bezweifelt meine Worte, Rankenmann?« schnauzte er. - 75 »Eure kundigen Worte würde ich nie bezweifeln, Hauptmann. Aber ich weiß etwas, das Ihr nicht wißt. Ich habe eine Wildziege gesehen, die vom Ruf beherrscht diese Metallschienen überquerte und dann weiter nach Süden ging. Ihr konntet das nicht sehen, da Ihr zu diesem Zeitpunkt selbst in der Gewalt des Rufes wart.« Kharec wandte sich von dem Mann mit dem Rankenanzug und den verspiegelten Augen ab, und die Anspannung verpuffte. Er hatte sein Gesicht gewahrt, und damit war die Angelegenheit für ihn erledigt. Kharec war mächtig und gefährlich, doch der andere verfügte über das Selbstvertrauen eines Mannes, der wußte, daß er unentbehrlich war. »Frelle Oberliber, versteht Ihr, was die sagen?« flüsterte der Stationsvorsteher, der neben Darien lag. Sie schüttelte den Kopf, und Kharec schlenderte herbei und trat ihm ins Gesicht. »Ihr sprecht also kein Alspring, ja?« brüllte er sie alle an. »Na, dann war das jetzt Gebärdensprache: Hier wird nicht geflüstert!« Darien brachte man in die Unterkunft des Stationsvorstehers und kettete sie dort an den Ringbolzen neben dem Bett. Kharec schlenderte durchs Zimmer, sah sich verwirrt die Bücher und Landkarten und das Mobiliar an; dann blieb er stehen und starrte sie an. »Eine Frau ohne Stimme, eine Frau, die keine Widerworte geben kann. Was für ein Luxus.« Er sagte das zu einem anderen Mann, der nie von seiner Seite wich, einem kleinen, gelassenen, aufmerksamen Mann, der eher wie ein Spion als wie ein Leibwächter wirkte. Darien hatte erwartet, daß man sie auf der Stelle vergewaltigen würde, aber die beiden gingen, ohne noch ein Wort zu sagen. Die Ghaner befestigten die Station in aller Eile, stellten Beobachtungsposten auf und verbarrikadierten Fenster und Türen. Mit dem Rankenmann waren es insgesamt vierzig Mann. Darien wurde gezwungen, für sie zu kochen und sie zu bedienen, und daher bekam sie die meisten Gespräche mit. Sie stritten über das Wesen der Gleitbahn, über die Herkunft des Dörrfleischs und Dörrobsts aus dem Lagerhaus, sogar über die Kalksteinquader, aus denen die Station errichtet war. Der Rankenmann blieb draußen im Sonnenschein, während die anderen die Vorräte verschlangen und sich an dem Wasser gütlich taten. Sie hatten drei Monate bis zu dieser Station gebraucht und auf dem Weg nach Süden eine ausgedehnte Wüste durchquert, in der es nur Sand, Gestrüpp und Salzpfannen gab. Es hatte unterwegs nur wenig Wasser gegeben und fast keine jagdbaren Tiere. Einige Nomadenstämme der - 75 Koorie hatten die Ghaner angegriffen und mindestens ein Dutzend von ihnen getötet. Nach dem Abendessen des ersten Tages saß Kharec mit seinen Offizieren zu Rate. Darien kredenzte ihnen Wasser aus der tiefsten, kältesten Zisterne ... und Kaffee. Sie kannten Kaffee, aber in ihrer Gesellschaft wurde er offenbar mit Gold aufgewogen. Sie erfuhr, daß Kharec auf der Suche nach neuen Ländern war, die er erobern konnte. Das Königreich der Ghaner lebte seit achtzehn Jahren im Frieden, und ihre Herscher wollten diesen Frieden bewahren. Daher konnten sich ehrgeizige Edelleute nicht durch Eroberungen hervortun, und da Kharec der jüngste Sproß eines
Adelsgeschlechts war, konnte er auch auf kein großes Erbe hoffen. Wenn es ihm jedoch gelang, eine Stadt zu finden, die keine Verbündete hatte, konnte er sie erobern, ohne dadurch irgendeinen Waffenstillstand zu gefährden. Seltsamerweise waren die Ghaner offiziell auf einer wissenschaftlichen Expedition, finanziert von einer Frau, die sie »die Äbtissin« nannten. Sowohl der Mann, der nie von Kharecs Seite wich, als auch der Rankenmann waren ihre persönlichen Abgesandten, Kharec aber war der Anführer. Sie wurden nicht recht schlau aus der Gleitbahn und der Bahnstation. Die Windloks und Waggons waren dazu bestimmt, auf den Schienen zu fahren, aber es gab keine Kamele, die sie hätten ziehen können! »Das ist hier so solide gebaut wie eine Festung, aber dennoch sind die Türen und Tore breit und ungeschützt«, erklärte Kharec mit finsterem Blick. »Wenn ihre Städte auch so schlecht bewacht sind, könnten wir schnell zuschlagen und genug Gold erbeuten, um eine Streitmacht von fünfhundert Reitern aufzustellen. Dann könnten wir wiederkommen, diese Schwächlinge unterwerfen und ein neues Königreich begründen. Mir erscheint das zu einfach. Warum haben andere das nicht längst getan?« »Aber wo sind denn die Städte?« fragte Calderan, der älteste Offizier. »Es gibt hier keine Straßen, nur diese beiden Eisenschienen, die vom Horizont bis zum Horizont verlaufen.« »Ich habe Landkarten gefunden. Darauf sind Punkte und Linien eingezeichnet, die nichts anderes als Städte und Straßen sein können.« »Aber wir können diese Landkarten nicht lesen, und keiner von den Leuten hier spricht Alspring. Wir wissen nicht mal, welcher Punkt auf den Karten diesem Ort hier entspricht.« »Es gibt da eine Möglichkeit. Yuragii hat etwas entdeckt.« Kharec ließ die Worte in der Schwebe. Die Offiziere sahen einander - 76 an und richteten den Blick dann wieder auf ihren Anführer. Ehe der kleinwüchsige, magere Offizier etwas erklären konnte, klatschte Kharec zweimal in die Hände, um Darien auf sich aufmerksam zu machen, zeigte dann auf ein Tablett mit Speisen und wies auf die Aussichtsterrasse, auf der der Rankenmann saß und sich in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne aalte. Sie ging hinaus, machte ihren Haltegurt draußen am Geländer fest und ging die Steintreppe zur Terrasse hinauf. »Ah, da hat jemand an mich gedacht«, sagte der Rankenmann, als sie mit dem Tablett vor ihm stand. Er machte irgend etwas mit den Ranken, die seinen Mund bedeckten und löste dann eine Lasche, die seine Lippen freigab. »Ein gutes und einfaches System«, sagte er und nahm ein Kelchglas Wasser vom Tablett. »Wenn ein Ruf kommt, während ich die Lasche offenhalte, lasse ich sie in dem Moment los, in dem ich dem Ruf nachgebe, und dann beschützt mich der Anzug wieder. Hmm, so ein ernstes kleines Gesicht. Du verstehst kein Wort von dem, was ich sage, nicht wahr?« Etwas an seiner Art wirkte beruhigend auf Darien, und sie lächelte ihn an. »Ein Lächeln nur für mich. Wie schön. Nicht viele Leute lächeln mich an, wenn ich meine Ranken trage. Die letzte, die mir ein Lächeln schenkte, war eine Dame aus Glenellen, eine sehr wichtige Dame. Sie ist die Äbtissin eines großen Klosters, eines unserer Zentren der Gelehrsamkeit. Ach ja, sie hat mir ein Lächeln geschenkt, aber sie ist selbst auch sehr seltsam. Sie ißt gegrillte Mäuse auf Toastbrot und wäscht sich die Haare mit Tollkirschenöl. Sehr langes Haar, das ihr in schwarzen Locken bis über die Taille fällt.« Eine Frau, die in seiner Gesellschaft bis zu einer derartigen Machtposition aufsteigen konnte, mußte wirklich bemerkenswert sein, dachte Darien. Er begann zu essen, nahm sich Datteln und geröstete Nüsse vom Tablett und kaute sie unter seiner Maske aus miteinander verwobenen Ranken. Die Sonne setzte noch ein paar hochrote Glanzlichter auf die Spiegel und Röhren, die zu seinen Augen führten, und verschwand dann hinter dem Horizont. In der aufziehenden Dunkelheit war seine menschliche Gestalt noch weniger erkennbar, und er wurde zu einem
Pflanzenwesen, das sich mit bedachtsamen, raschelnden Bewegungen über die Datteln und Nüsse hermachte. - 77 »Hat Kharec dich vergewaltigt? Ich denke doch nicht, Makkigi läßt ihn nicht aus den Augen. Unsere Herrin ist die Äbtissin des Klosters von Scalattera in Glenellen, sie hat diese Expedition finanziert. Sie sagte, eine Expedition, die von einer Frau bezahlt wird, solle nicht dazu führen, daß andere Frauen vergewaltigt werden. Makkigi wurde mitgeschickt, um dafür zu sorgen, daß sich Kharec daran hält. Und ich passe auch auf ihn auf.« Darien entflammte eine kleine Olivenöllampe und hielt sie ihm hin, damit er Licht beim Essen hatte. Er kam näher, und dann spähten ihr seine Spiegel ins Gesicht. Einen Moment lang sah sie im Licht der qualmenden Lampe zwei Augen am Grund der dunklen Röhren aufleuchten; dann richtete er sich wieder auf. Auf den Korridoren hallten Flüche und ungehobelte Gesänge wider. »Ist das nicht eine witzige Geschichte? Wirklich schade, daß du mich nicht verstehen kannst, es würde dich ein wenig beruhigen. Du bist so um die dreiunddreißig, das sehe ich: Dein Gesicht ist schön, eher vor Erfahrung als vor Unschuld. Haßt du mich? Ja, das mußt du wohl, aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin ein Gelehrter, hättest du das gedacht? Und meine Lehrerin ist die große Äbtissin Theresia von Glenellen höchstpersönlich.« Das einseitige Gespräch nahm seinen Lauf, bis er ihr schließlich das Tablett zurückgab und sich mit einer raschelnden Bewegung verbeugte. Als sie dann ihre Öllampe nahm, hielt er sie am Handgelenk zurück und hob die Lampe an einen seiner Spiegel. Mit einem Mal leuchtete Licht unter den miteinander verwobenen Ranken auf seinem Gesicht auf, zurückgeworfen von den Spiegeln direkt unter seinen Augen. Seine Augen und der obere Teil seines Gesichts wurde sichtbar, wie durch einen von hinten beleuchteten Schleier. Sein Griff war sanft; er wollte ihr zeigen, daß unter den Ranken ein Mensch lebte. »Die Flamme blendet mich«, sagte er, als er die Lampe sinken ließ und seinen Griff löste. »Was für eine Ironie. Ich muß geblendet werden, damit du mein Gesicht sehen kannst.« Der Rankenmann sollte recht behalten, was Kharec anging. Die ganze Zeit über, die sich die Ghaner in der Bahnstation von Maralinga aufhielten, ging er nicht weiter, als Darien hin und her zu schubsen und zu niedrigen Diensten zu zwingen. Eine stellvertretende Oberliber, die unter dem Schutz einer Hunderte von Kilometern entfernt weilenden Äbtissin - 77 stand: diese Ironie entging ihr nicht. Erst in der Nacht vor dem Ruf hatte Darien geschaudert, als sie in den Büchern der Ghaner gelesen hatte, welche Stellung Flauen in ihrer Gesellschaft innehatten. Das Schleien hatte an dem Morgen begonnen, nachdem die Bahnstation überfallen worden war. Erst war es die Stimme des Gastwirtes gewesen, dann war die des Stationsvorstehers hinzugekommen, und schließlich hatte die gesamte Besatzung vor Schmerzen geschrien. Und während die Stunden vergingen, ließen sich die Stimmen immer weniger auseinanderhalten. Es waren flehende, dabei aber hoffnungslose Schreie, die Schreie derer, die sinnlos gefoltert wurden. Und Darien war gar nicht bewußt, daß man die Männer folterte, um zu erfahren, wer in der Bibliothek Passagen aus Ghan-Büchern übersetzt hatte. Am Ende des zweiten Tages berief Kharec die Offiziere der Ghaner zu sich, um zu besprechen, was sie erfahren hatten - nichts. Zwei Besatzungsmitglieder waren bereits tot, und drei weitete würden den nächsten Tag nicht überstehen, aber dennoch antwortete ihnen niemand in ihrer Sprache. Darien wartete ihnen auf, machte sich möglichst unscheinbar und wurde nicht beachtet. Die Tage gingen ins Land, und obschon sie für das Vortäuschen von Geistesarmut und Unverständnis mit Tritten und Ohrfeigen entgolten wurde, wurde sie immerhin nicht gefoltert. Wenn sie gerade nicht kochte oder auftrug, sperrte man sie in ein Zimmer der Herberge mit Blick auf die Aussichtsterrasse, auf der der Rankenmann saß und sich sonnte. Zu den Mahlzeiten brachte sie dem Rankenmann stets etwas zu essen hinaus. Er saß dort in der Sonne, las Bücher aus seinen Satteltaschen und machte sich mit einem Kohlestift Notizen auf
Schilfpapier. Und er sprach immer ein paar Worte zu ihr. Am Abend des dritten Tages war seine Geduld mit Kharec am Ende. »Es ist nur gut, daß du nichts von dem verstehst«, sagte et zu Darien, als sie ihm sein Tablett mit Dörrobst und Wasser reichte. Er sprach so leise, daß er durch seine Rankenmaske kaum zu verstehen war. »Kharec foltert deine Leute, weil er weiß, daß irgend jemand hier unsere Sprache beherrscht. Sie haben eins unserer heiligen Bücher hier in der Bibliothek gefunden, und daneben lag eine auszugsweise Übersetzung in deine Sprache. Deine Leute sind tapfer, keiner will zugeben, der Übersetzer zu sein.« Entsetzen kroch ihr den Rücken hinunter. Dann war sie also der Grund für all das, was die Beamten durchmachen mußten. Sie konnte - 78 dem ein Ende bereiten, indem sie einfach nur etwas aufschrieb und es Kharec zeigte, aber sie wußte auch, was er wollte. Er wollte, daß die Landkarten übersetzt und ausgewertet wurden, damit er Siedlungen fand, die er angreifen konnte. Schuld daran sein, daß die Folterungen fortgesetzt wurden, oder ihr eigenes Volk verraten - sie rang einen Moment lang mit diesen beiden entsetzlichen Alternativen, ehe der Rankenmann ihr dann zu Hilfe kam. »Ich habe sie getötet, gerade eben«, sagte er und sah nach Süden. »Ich habe jedem von ihnen Wasser zu trinken gegeben, in dem so viele Giftgoldkristalle aufgelöst waren, daß selbst ein Kamel das nicht überlebt hätte. Deine Leute waren draußen in der Sonne angepflockt, und sie hatten ihnen die Finger- und Zehennägel ausgerissen. Ich habe ihrem Leid ein Ende bereitet.« Als er sich nun zu Darien umwandte, sah er die Tränen auf ihren Wangen. »Du weinst ja«, sagte er sanft und leise. »Hältst du mich für ein Ungeheuer? Aber du verstehst ja nicht, was ich sage, also ... warum weinst du? Fürchtest du dich vor diesem Mann mit den raschelnden Blättern und Ranken? Ein Ungeheuer!« Sie saß ganz still da. »Ungeheuer. Kennst du Ungeheuer?« Er zeigte erst auf sich, dann auf ihren Kopf und beugte sich dann mit erhobenen Armen über sie. ER - ICH DENKE - UNGEHEUER, mutmaßte Darien, und sie rang sich ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Du hältst mich nicht für ein Ungeheuer?« rief er. Sie zeigte auf die Stelle, an der sein Mund war, dann auf seine Ohren und streichelte dann mit der einen Hand die andere. »Ah, du findest, daß ich eine freundliche Stimme habe. Vielen Dank.« Er verbeugte sich, und seine Blätter und Ranken raschelten. »Aber wie trügerisch so eine Stimme doch sein kann. Ich gestehe dir eine Mordtat, aber weil ich es mit freundlicher Stimme und in einer fremden Sprache gestehe, hältst du mich nicht für ein Ungeheuer. Wenn du wüßtet, daß ich deine Leute vergiftet habe, würdest du da anders empfinden. Sie haben immer nur in eurer Sprache geschrien und gefleht, ganz egal, was die Folterer ihnen auch angetan haben ... und deshalb habe ich ihnen den Gefallen getan, sie zu töten. Ich wünschte sehr, daß die Wahrheit nicht weiterginge als bis hierher, aber größere Fragen ließen mich zum Giftkelch greifen. Wäre euer unbekannter Sprachkundiger zum Vorschein gekommen, dann hätte das diese ganze Expedition gefährdet. Kharec hätte erfahren, wo eure Städte sind, und hätte sich abgewandt, um sie zu plündern. Das hätte ich nicht zulassen können, also hätte ich ihn töten müssen. Die Äbtissin Theresia will, daß wir herausfinden, woher der Ruf kommt, also müssen wir weiter nach Süden ziehen. Ich bin die rechte Hand der Äbtissin, und ich kann in ihrem Namen hinausgreifen über die kärgsten Wüsten und bis in den Schlund der Hölle. Ein Werkzeug ihres Willens zu sein - ah, das erfüllt mich mit Leben. Und wenn sie über den Rand der Welt hinaus zwischen die Lippen, aus denen der Ruf dringt, sehen wird, wird sie es mit meinen Augen tun. Was für ein Glück, daß sie als weibliches Wesen geboren wurde und ich für sie sehen, hören, kämpfen, dursten, hungern und töten muß.« Er schüttelte einen Knäuel saftiges Grün, bei dem es sich um seine Faust handeln mochte, und seine Spiegel wandten sich nach Süden, als wollte er der Quelle des Rufs die Stirn bieten. Darien
sah die Kraft und den Stolz, der darin ruhte, sah dahinter aber auch eine Frau von immenser Macht und großem Charisma. Der Rankenmann wandte sich wieder ihr zu. »Willst du wissen, wie ich sie getötet habe? Ah, ich war sehr clever. Ich sagte zu Kharec, deine Leute würden, wenn man sie weiter so behandelt, nicht mehr so lange leben, daß man ihren Willen brechen könnte. Ich habe ihnen Wasser aus meinem Wasserschlauch angeboten, aber Kharec ließ mich ergreifen, löste die Ranken, die meinen Mund bedecken, und zwang mich, die Hälfte meines eigenen Wassers zu trinken. Den ganzen Morgen ließ er mich bewachen, aber ich trank keine Phiole Gegengift und starb auch nicht. Mittags beschimpfte er mich dann als einen Haufen Kamelscheiße und ging im kühlen Wasser einer eurer Zisternen baden. Die Wachen ließen deine Leute aus meinem Wasserschlauch trinken und gaben ihn mir dann wieder. Hier ist er.« Er hob den beinahe leeren Wasserschlauch und trank, was noch darin war. »Nur ein paar Tropfen, aber doch genug, um dich gleich zwei oder drei Mal zu töten, meine schöne Schmeichlerin. Ha, aber ich habe seit Jahren meinem Wasser immer eine Prise Giftgold beigemengt, und daher ist es für mich weiter nichts als ein exotisches Gewürz. Wie lange sind wir jetzt schon hier? Drei Tage? Bald wird Kharec die Geduld ausgehen, und dann wird er beschließen weiterzuziehen. Du wirst getötet, ehe wir aufbrechen, das hat er bereits befohlen. Welch ironische Fügung: Unter - 79 der Herrschaft der Äbtissin darf man dich töten, aber nicht vergewaltigen.« Darien wurde bang ums Herz, als er das sagte. Man würde sie töten, und er kündigte ihr das mit ganz ruhiger Stimme an. Jahrzehnte des Lebens, Lernens, Kämpfens, Liebens und Leistens würden mit einem Säbelhieb zunichte gemacht, und ihn kümmerte das gar nicht! Er erhob sich, ein ganzes Stück größer als sie, und als er die Furcht auf ihrem Gesicht sah, mißverstand er ihr Entsetzen und glaubte, sie fürchtete sich vor ihm. »Du hast Angst vor mir, schöne, namenlose Küchenmagd«, sagte er sanft und leise und trat dann einen Schritt zurück. »Aber das ist sehr dumm von dir. Ich werde dir nicht nur nichts tun, nein, ich werde auch dafür sorgen, daß niemand sonst dir etwas tut. Ich bin kein Mensch, verstehst du, ich bin vielmehr die Hand der großen Äbtissin, und sie würde dich in jedem Fall beschützen.« Er hatte so beiläufig von ihrem Tod gesprochen, weil er sie retten würde! Das Durcheinander der Gefühle in ihrem Herzen ließ Darien die Selbstbeherrschung verlieren. Im Licht ihrer kleinen Lampe hinterließen Tränen schimmernde Spuren auf ihren Wangen. Sie ließ den Kopf hängen und begann zu schluchzen. Der Rankenmann kam ihr wieder näher, und seine Blätter raschelten, als er ihr die Schulter tätschelte. Sie sah zu ihm hoch. »Du mußt dir allerdings selber helfen. Ich werde dafür sorgen, daß Kharec als erster dieses seltsame Fort verläßt. Wenn du dann frei bist, mußt du weglaufen und dich verstecken. Verstehst du?« Er machte an ihrem Halteseil eine schneidende Geste und lief dann schwerfällig auf der Stelle. Sie nickte, um zu zeigen, daß sie verstand. »Es ist sehr angenehm, wieder Steinmauern um sich zu haben«, sagte er mit einem Blick hinaus in die Wüste. »In Glenellen haben wir eine schöne Stadt, ganz aus rotem Stein gemeißelt. Tiefrote Sandsteinmauern, so rot wie das Blut aus der Schlagader eines Feindes, die sich in den kobaltblauen Wassern der Schlucht spiegeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön es da ist. Die Koorie-Nomaden nennen es Jupla, sie sagen, von dort stammen die ersten Menschen, die es auf der Erde gegeben hat. Die Straße zum Fürstenpalast ist mit Macrozamiapalmen gesäumt, was unseren Herrschern langes Leben bescheren möge, und Livistonapalmen und Eisenbäume spenden den Höfen und Terrassen des Klosters Schatten. Unterirdische, gemauerte Bewässerungskanäle wässern - 79 Dattelpalmenplantagen, und Wein wächst in Terrassengärten die ganze Schlucht hinauf. Der Anzug, den ich trage, stammt von einer Weinrebe. Die Äbtissin Theresia hat ihn gemacht. Ich bin ihre Hände, ihre Beine, ihr Gehör und ihr Augenlicht. Aufgrund unserer heiligen Gesetze darf sie nirgends hingehen, und ich darf überallhin. Ich bin ein frommer Mensch, meine Schöne,
ich lese jeden Tag in unseren heiligen Schriften und befolge sie Wort für Wort. Aber ... ich bin auch gern ein Beschützet, ich mache das nicht nur, um die heiligen Schriften zu befolgen. Du bist hilflos, und daher werde ich dir helfen. Ich bin die rechte Hand der Äbtissin, und diese Hand wird dich beschützen.« Der Tod der anderen Beamten verschaffte Darien eine kurze Gnadenfrist. Kharec ließ die beiden Reiter, die zu ihrer Bewachung abgestellt waren, festnehmen und foltern. Sie gestanden die Tötungen, vermochten aber nicht zu sagen, wobei sie das Giftgold gehabt hatten. Sie wurden die ganze Nacht hindurch und auch noch am nächsten Tag weitergefoltert. Der Rankenmann stand ebenfalls unter Verdacht, war aber zu wertvoll, als daß man ihm hätte etwas antun können. Kharec war außer sich vor Wut und ließ ihn schließlich festnehmen. Man fädelte einen Rufgurt durch die Rebenstämme auf seinem Rücken und befestigte den Gurt mit einem Vorhängeschloß an einem Ringbolzen unten auf dem Hof, wo er nun die Stunden damit verbrachte, sich zu sonnen. Darien sah vom Fenster ihres Herbergszimmers aus zu, wie sie miteinander stritten und lauschte ganz genau auf die fernen Stimmen. »Es gefällt mir nicht, wenn Ihr während des Rufs frei seid«, sagte Khatec, während er auf dem leuchtend weißen Pflaster auf und ab ging. »Aber während eines Rufs bin ich der einzige, der sich frei bewegen kann. Wer soll sich denn jetzt in feindliche Festungen einschleichen und sie Euch öffnen? Wer soll denn nun Eure Männer retten, wenn die Sandankei ihrer Kamele bei einem Ruf versagen?« »Ihr vertraut zu sehr auf Euren Wert, Rankenmann. Diese Leute hier sind ängstlich wie die Hasen und werden sich leicht unterwerfen lassen. Und was die Rettungsaktionen bei einem Ruf angeht: Ich glaube, die Männer verlassen sich längst viel zu sehr auf Euch. Daß Ihr eingesperrt seid, wird sie dazu bringen, ihre Sandanker und Zeitschalter besser instand zu halten.« Er sagte das mit lauter Stimme: Seine Worte waren ebenso für die Ohren seiner Reiter bestimmt wie für die des Rankenmannes. - 80 Nun konnte der Rankenmann den Hof nur verlassen, wenn er entweder die Ranken seines Anzugs zerrissen oder ihn aufgeschnürt und ausgezogen hätte. Tat er eins von beidem bei einem Ruf, war er ebenso anfällig wie jeder andere Sterbliche. Darien trat vom Fenster zurück und legte sich aufs Bett, aber auch dort klangen die Stimmen über das leise Brausen des Wüstenwinds zu ihr hinauf. »Wenn ich für Euch wertlos bin, warum behaltet Ihr mich dann?« fragte die gedämpfte Stimme des Rankenmanns ganz ruhig. »Soll ich Euch töten, auch wenn Ihr womöglich unschuldig seid? Jetzt bin ich aber tief gekränkt, Rankenmann. Ihr steht unter Verdacht, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin ein anständiger und gerechter Führer.« »Und außerdem könnt Ihr, wenn Ihr Euch meiner bedient, jede beliebige Festung einnehmen, ohne dabei auch nur einen einzigen Mann zu verlieren oder Euer eigenes -« »Strapaziert meine Geduld nicht zu sehr, Rankenmann. Wir werden Euch nicht foltern, aber wir werden Euer Gepäck durchsuchen. Und wenn wir dabei unter Euren Bücherbündeln, Instrumenten und Düngemitteln auch Giftgold finden, dann -« Ein Ruf brach über die Bahnstation von Maralinga herein. Darien entkam dem Grauen ihrer Gefangenschaft, indem sie die Besinnung verlor, und kam wieder zu sich, die Hüftgegend wundgescheuert, weil sie sich gegen den angeschnallten Gurt gesträubt hatte. Draußen regten sich die Reiter und fluchten. Es war der erste Ruf gewesen, seit die Ghaner die Bahnstation überfallen hatten. »Hauptmann Kharec!« rief jemand. Dann riefen andere: »Er ist weg!« und »Sein Gurt muß gerissen sein!« Die gedämpfte Stimme des Rankenmanns bat um ihre Aufmerksamkeit. »Hört mir zu, hört mir genau zu! Der Hauptmann hatte sich nur nachlässig angeschnallt. Ich habe gesehen, wie sich sein Gurt gelöst hat, und dann ist er mit dem Ruf nach Süden gegangen.« »Aber Ihr hättet ihn aufhalten müssen!« schrie jemand.
»Er hat mich hier an eben den Ranken festschnallen lassen, die mich immun gegen den Ruf machen. Was hätte ich denn tun sollen?« Jetzt meldete sich Calderan zu Wort. »Geht zur Schutzmauer im Süden. Er wird in dem Unterstand stehengeblieben sein.« Drei Reiter liefen los, um Kharec zu holen. Sie kamen tief betrübt zurück. - 81 »Ein Kamel hat sich im Stall losgerissen und wurde dann in den Unterstand an der Schutzmauer geleitet«, wehklagte einer von ihnen. »Hauptmann Kharec muß auf den Rücken des Kamels gestiegen sein und von da aus aufs Dach des Unterstands. An det Stelle, wo er aufs Dach gestiegen und übet die Mauer gesprungen ist, sind die Ziegeln zerbrochen.« Nun übernahm Calderan das Kommando, der Rankenmann aber war der eigentliche Anführer. Er befahl, seinen Gurt zu kappen, und ließ dann die beiden gefolterten Wachen frei. Calderan war ein loyaler Mann und mit Leib und Seele Soldat, und in einer Frage blieb er eisern bei seiner Meinung: Kharec mußte gerettet werden. Und seltsamerweise schien der Rankenmann gern bereit, ihm dabei zu helfen. »Der Ruf hat eine Reichweite von zehn Kilometern, und sobald man in diesen Bereich hineingerät, erliegt man ihm. Ich bin der einzige, der Kharec retten kann.« »Ihr müßt sofort aufbrechen - nehmt einen Trupp von zehn Reitern und beeilt Euch -« »Nein! Wir sind hier in einem vollkommen fremden Land, und deshalb müssen wir unsere volle Stärke erhalten, wenn wir hier wieder aufbrechen. Heute nacht wird der Ruf innehalten. Wir werden auch nach Einbruch der Dunkelheit weiterreiten, bis wir den Rand der Rufzone erreichen, und dann werde ich alleine weitergehen.« »Aber vielleicht findet Ihr ihn in der Dunkelheit nicht in diesem großen Gebiet.« »Genau. Und deshalb müssen wir gemeinsam aufbrechen. Die Suche kann möglicherweise viele Tage und Nächte dauern und könnte auch gefährlich sein. Vielleicht werden wir nicht hierher zurückkehren können.« »Und was ist mit der stummen Frau?« »Was soll mit der sein?« »Die könnte für ihre Leute einen Bericht darüber schreiben, was hier passiert ist. Schickt jemanden zu ihr, der sie töten soll.« Seine Worte drangen Darien wie ein Messer durch die Brust, scharf wie die Klinge, die ihnen in wenigen Minuten folgen würde. Sie setzte sich auf, dachte nur noch daran, am Leben zu bleiben. Bald würde jemand kommen, und sie mußte fliehen, sich verstecken oder kämpfen. Sie konnte das Bett vor die Tür schieben und so ein wenig Zeit gewinnen. Sie würde sich nicht kampflos ergeben! Sie drehte sich zum Bett um - und da lagen ein Schlüssel und eine doppelläufige Steinschloßpistole! - 81 Schon als Darien nach der Waffe griff, wurde draußen der Riegel beiseitegezogen, und dann kam Offizier Yuragii herein. Er grinste anzüglich und raffte vorne schon sein Gewand. Darien verbarg die Waffe hinter ihrem Rücken und spannte nach einigem Gefummel beide Schlagbolzen. »Hab keine Angst, du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du hast«, schmachtete er ihr entgegen. Das einzige, wovor ich Angst habe, ist der Rückstoß, entgegnete sie in Gedanken. Die Pistole hatte ein Kaliber von über einem Zentimeter, viel größer als jene, mit denen sie vor ihrer Ernennung zur Oberliber trainiert hatte. Mit einem Mal blickte der Offizier aufs Bett, wo immer noch der Schlüssel zu ihrem Haltegurt lag. In diesem Moment richtete sie mit beiden Händen die Waffe auf ihn und drückte ab. Nur ein Lauf ging los, aber Yuragii sank in einer Wolke von Pulverdampf langsam in sich zusammen. Die anderen hatten es nicht eilig heraufzukommen, dachten sie doch, es sei sein Schuß gewesen. Als Yuragii zu Boden sank, schnappte Darien sich den Schlüssel und war bald in einem sicheren Versteck irgendwo auf dem weitläufigen Gelände der Bahnstation. Von ihrem Versteck aus beobachtete Darien den Abzug der Reiter. Calderan ritt voran. Er hatte schreckliche Angst davor, die Verantwortung zu übernehmen, nachdem er sein ganzes Leben lang nur Befehle empfangen hatte. Makkigi wirkte verwirrt, seit er Kharec nicht mehr hatte, dem er
nachspionieren konnte. Sie zählte die Reiter: Es waren siebenunddreißig, und drei Kamele wurden geführt. Ein Blick durch ein Fernrohr zeigte ihr, daß zwei der Reiter unsicher ritten, offenbar die Wachen, die man gefoltert hatte ... und ein Reiter war natürlich nur eine Strohpuppe, die ein Gewand trug. Irgendwo auf dem Gelände der Bahnstation hatte sich ein Reiter versteckt, in dem Bewußtsein, daß sie gefährlich war. Er mußte ein erfahrener und rücksichtsloser Krieger sein, und er würde sie auf der Stelle erschießen, wenn er sie sah. Darien begann auf einem Bogen Pergamentpapier zu schreiben, und sie wählte ihre Worte mit Bedacht. Die ersten Zeilen waren an den möglichen Finder dieses Briefs gerichtet: »Im Auftrag der stellvertretenden Oberliber Darien vis Babessa, Libris in Rochester, soll diese Nachricht mit größter Dringlichkeit über Signalfeuer nach Rochester gesandt werden.« Darauf folgten einige Absätze mit verschlüsselten Weiterleitungsin - 82 formationen, dann eine gültige Autorisierungsnummer für den Signalfeuerverkehr. Danach tausend Worte in einem fein säuberlich niedergeschriebenen Kode, der jedem, der Zugriff auf den Kalkulor hatte, verständlich sein würde. In dieser Nacht schlich Darien hinaus zum Windlokomotivenschuppen. Die Bremsen der Rangierlok waren arretiert, und die Rotoren waren zusammengeklappt und drehten sich daher nicht in dem Wind, der durch den an beiden Enden offenstehenden Lokschuppen wehte. In völliger Finsternis arbeitend, richtete Darien zunächst ganz langsam die röhrenförmigen Rotoren zu voller Höhe auf und entriegelte sie. Der Wind brachte die Rotoren auf ein gutes Betriebstempo. Damit die Lok sicher auf den Gleisen blieb, band Darien ein dünnes Seil an einen Puffer und verband den Zeitschalter ihres Leibankers mit dem Schalthebel eines Rotors. Sie stellte den Zeitschalter auf kurz nach Sonnenaufgang und löste dann die Bremsen. Ehe sie von der Lokomotive herabstieg, band Darien noch mit knallrotem Band ihren Brief an den Hauptschalthebel. Wer als nächster das Führerhaus betrat, konnte ihn nicht übersehen. Dann legte sie sich in dem Bahnsteigkiosk auf die Lauer. Irgendwo auf der Bahnstation wartete ein versteckter Reitet darauf, daß sie sich blicken ließ. Sämtliche Lebensmittel waren fortgeräumt worden, wahrscheinlich in die diversen Küchen. Irgendwann würde sie etwas essen müssen, und der Soldat versteckte sich an irgendeinem Ort mit guter Aussicht und wartete. Der Himmel wurde heller. Neben Darien auf dem Boden lagen die Bahnsteigglocke und zwei langläufige Scharfschützenmusketen. Sonnenschein ergoß sich über den Horizont. Er würde jedem in die Augen scheinen, der der Rangierlok hinterherlief. Mit einem dumpfen, metallischen Laut gab der Zeitschalter den Schalthebel frei, der wiederum den vorderen Rotor in Betrieb setzte. Die Windlok riß das Seil durch, als der röhrenförmige Rotor die Räder antrieb und sich die Lok mit dumpfem Rattern in Bewegung setzte. Darien begann die Bahnsteigglocke zu läuten, hörte aber wieder damit auf, als die Rangierlok über die Weiche und dann in Richtung Osten auf das Hauptgleis ratterte. In der Ferne sah sie den Reiter aus dem Eingang der Station hasten und dann quer über den Rangierbahnhof laufen, mit flatterndem Gewand und die Muskete hoch erhoben, wenn er über die Gleise sprang. Für den Ghaner war alles ganz einfach. Die Lok fuhr davon, also versuchte Darien offenbar, darauf zu fliehen. Glücklicherweise fuhr sie so - 82 langsam, daß ein Mann sie zu Fuß einholen konnte. Frauen waren so einfache Gegner, sagte er keuchend und voller Genugtuung zu sich selbst; sie hatten keine Ahnung von Taktik und waren leicht zu durchschauen. Darien wartete, bis er noch zehn Meter entfernt war, und drückte ab. Als der Wind den Rauch vertrieben hatte, lag er ausgestreckt auf dem rötlichen Sand. Sie nahm die zweite Muskete und zielte damit auf seinen Kopf, vor Abscheu bebend bei dem Gedanken, auf einen Toten zu schießen, aber dennoch ... Klick-Bumm! Darien trat aus dem Kiosk, die doppelläufige rote Steinschloßmuskete des Rankenmannes in Händen, und näherte sich der Leiche. Die rechte Seite seines Kopfes war eine einzige blutige Wunde; er war auf jeden Fall tot. Sie drehte die Leiche um. Da war keine weitere Wunde, ihr erster
Schuß hatte ihn verfehlt! Laute Schluchzer raubten Dariens Selbstbeherrschung, und sie sank auf Hände und Knie. Ihre Tränen hinterließen dunkle Krater in einer puderfeinen rötlichen Sandwehe. Die Windlok rumpelte in der Ferne davon, und Darien unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten. Bei sehr günstigen Winden und ohne Waggons nahm sie schnell Fahrt auf und brauste schon drei Stunden später durch Irmana. Der diensthabende Weichensteller bemerkte erst als es schon zu spät war, daß niemand auf der Lok fuhr, und sie ließ sich nicht aufhalten. Der Weichensteller in Jumel wurde ebenfalls überrumpelt, aber von dort bestand eine Signalfeuerverbindung zur nächsten Bahnstation. In Warrion standen sie bereit, als die Ausreißerin eintraf. Der Weichensteller schob eine Eisenstange in eine Nut neben dem Gleis, und gut einen Kilometer weiter die Strecke hinab stand ein Lokführer bereit. Die Lok raste aus dem Westen heran, und der Notbremshebel rammte die neben dem Gleis aufragende Eisenstange. Hartholzklötze wurden herabgeklappt, um die hinteren Räder zu blockieren, aber die Lok fuhr so schnell, daß die Holzklötze durch die Reibung zu rauchen begannen und in Brand gerieten. Einen Kilometer später hatte sich die Lok auf Schrittgeschwindigkeit verlangsamt, während sich die Rotoren immer noch rasend schnell drehten und Rauch von ihren Rädern aufstieg. Der Lokführer lief neben dem Gleis her und schwang sich dann mühelos an Bord. Als er die Rotoren abkuppelte, bemerkte er den Brief, der dort mit rotem Band festgebunden war, und während er dann mit der Lok auf ein Nebengleis des Bahnhofs fuhr, las er Dariens Anweisungen. Da Warrion an das eben erst ausgebaute Signalfeuer-Netzwerk ange - 83 schlossen war, dauerte es nur Minuten, bis die ersten Sätze von Dariens Nachricht an die Zentrale in Woomera weitergeleitet wurden. Die Nachricht ging über die Signalfeuerplattformen der Türme, bei deren Bau Darien mitgeholfen hatte, dann überquerte ihre Kopfzeile in Renmark die Grenze zur Südostallianz und blitzte weiter ostwärts über das Weideland und die Eukalyptuswälder bis zum Turm von Rochestet. Hier sorgte einer von Dariens Kodes dafür, daß die Nachricht sofort in den Kalkulor eingespeist wurde. Die Nachricht wurde entschlüsselt, und schon bald schickte ein erstaunter Operator einen Alarm ins Arbeitszimmer der Hoheliber. Als Zarvora die ersten entschlüsselten Worte las, befand sich gerade der ostwärts verkehrende Schnellzug in der Anfahrt auf Maralinga, und Darien machte sich bereit, ihn durch Winken anzuhalten. Unter den Fahrgästen waren auch zehn Musketiere der Reserve, und sie blieben mit ihr dort, um die Bahnstation zu sichern, während der Schnellzug weiterfuhr, um Hilfe zu holen. Drei Tage später traf diese Hilfe in Form eines Windzugs aus Woomera ein, der zwölf Dutzend weitere Musketiere und zwanzig Reiter brachte. Und vor allem brachte er auch sechs Halbterrier, die so klein waren, daß der Ruf ihnen nichts anhaben konnte. Die Hunde waren darauf dressiert, alles anzugreifen, was sich nicht blindlings mühte, dem Ruf zu folgen, wie beispielsweise Ratten, die gelernt hatten, wann Menschen hilflos waren. Nun hatte der Rankenmann während eines Rufs die Welt nicht mehr für sich ganz allein, und wenn es auch nur einem der Hunde gelang, ein Loch in seinen Anzug zu reißen, wäre das sein Ende. Die Halbterrier wurden zu der Stelle geführt, an der der Rankenmann immer in der Sonne gesessen hatte, und prägten sich schnell seinen Geruch ein. - 83 5 KODE Während Dariens Nachricht nach Osten weitergeleitet wurde, begann im Südwesten, in dem zum Zentralbund gehörenden Marktflecken Canowindra, eine andere Nachricht ihre Reise auf den Strahlen des Signalfeuernetzes. Ursprünglich war es nur eine Zahlentabelle, ein Protokoll des Signalfeuerverkehrs am Endturm von Canowindra. Ein Schreiber verschlüsselte mit Hilfe eines Kodebuchs die Angaben und reichte die entsprechende Schiefertafel an den Übertragungschef weiter, der sie auf die Signalfeuerplattform an der Spitze des Turms brachte. Dort überprüfte er die Verschlüsselung, teilte die Nachricht in zehn Datenpakete auf, berechnete für jedes Paket eine Prüfsumme und gab die Schiefertafel dann an den Überträger weiter.
Der Überträger sah durch ein großes Fernrohr, das nach Osten, auf den hundert Kilometer entfernten Repetierturm von Wirrinya gerichtet war. Er betätigte eine Taste: zwei lange Blitze, dann zwei kurze. Ein Hohlspiegel auf dem Dach leitete das Sonnenlicht durch eine Reihe von Linsen zu den Klappen, die mit der Taste verbunden waren. Der aufblitzende Lichtstrahl schoß über die Märkte der Stadt hinweg, über die befestigten Stadtmauern, über einige verstreute Gemüsegärten und über die sanften, mit dichtem, olivgrünem Eukalyptuswald bewachsenen Hügel - hin zu dem 180 Meter hohen Turm von Wirrinya. Der Empfänger in Wirrinya bemerkte das ABFRAGE-Signal aus Canowindra und wies den nach Osten gewandten Überträger an, den BEREIT-Kode zu senden. Der Überträger in Canowindra sah den schwachen, fokussierten Blitz im blauen Dunst am Horizont, und erst jetzt begann er die verschlüsselte Tabelle mit Hilfe von Lichtblitzen zu senden. Einige hundert Kilometer weiter südlich saß Lemorel Milderellen mit John Glasken im Kreuzgang der Universität von Rochester. Lemorel war blaß im Gesicht und hielt beklommen Glaskens große, kräftige Hände. Hätte Lemorel zweitausend Jahre früher gelebt, so wäre sie Doktoran - 84 din der Informatik gewesen, doch im Jahre 1699 nach dem Großen Winter befaßte sich ihre Dissertation mit empirischer Philosophie. Ihr Thema war die Gestalt und die Bewegungen des immateriellen Lockmittels, das als Ruf bezeichnet wurde. Und diese Bewegungen wurden vom Netzwerk der Signalfeuer-Leuchttürme gemessen und gemeldet. »Die statistische Auswertung des Signalfeuerverkehrs müßte ungefähr jetzt eintreffen«, sagte sie mit leiser, entschuldigender Stimme. »Und wenn die Zahlen von den Mittelwerten abweichen, muß ich den Oberdrachen persönlich sprechen.« »Und wovor fürchtest du dich?« fragte Glasken teilnahmslos. »Die Diener der Hoheliber haben jeden Tag mit ihr zu tun.« »Aber nicht aus Gründen, die mich womöglich dazu bringen werden, sie um etwas zu ersuchen. Ich bin nur eine Studentin, die etwas erforscht, aber meine Forschungen führen mich in die internationale Politik. Wie ich das hasse! Ich wünschte, ich hätte deine Entschlossenheit und dein Selbstverttauen, Johnny. Du bist es, der zu ihr gehen sollte.« »Lern, wenn du so viele Gerichtsverfahren auf dem Buckel hättest wie ich, wärst du auch selbstbewußter. Komm, ich begleite dich noch ein Stück.« Lemorel kam es so vor, als ob er immer das Richtige sagte, und sie fühlte sich schon viel stärker, wenn sie nur mit ihm zusammen war. Sie standen auf und schlenderten den Kreuzgang hinab. Glasken gab eine bemerkenswerte Figur ab, groß, stark und nach der neusten Mode gekleidet - mit einer blauen Hemdbluse, einem Hosenbeutel aus Opossumfell und einem schwarzen Umhang. Er war eine begehrenswerte Beute für jede Frau, und Lemorel konnte ihr Glück kaum fassen, daß sie ihn erobert hatte. »Jetzt werde ich deine Abschlußfeier verpassen«, sagte sie traurig. »Es tut mir leid. Ich muß um zehn dort sein, und vielleicht läßt Hoheliber Zarvora mich bis zum Abend warten. Wo geht ihr hin?« »Ach, Lern, meine Freunde wollen mir nicht verraten, wohin wir gehen. Ich kann's dir nicht sagen, ich weiß es selber nicht.« »Na, wenigstens konnte ich an deiner Verleihungsfeier teilnehmen. Jetzt bist du also schon seit einer Stunde John Glasken, Magister der Chemie. Wie fühlt sich das an?« »Längst nicht so gut wie mit dir zusammen zu sein.« Sie küßten einander inniglich, und dann schlenderte sie durch die Gärten der Universität davon, vorbei an Gittern, die mit blühendem - 84 Geißblatt und Jasmin bewachsen waren, eine kleine Gestalt in der neuen schwarzen Uniform von Libris. Ein blaues Band oben an ihrem Ärmel zeigte an, daß ihre provisorische Beförderung bestätigt worden war.
Der Repetierturm von Wirrinya sandte die Nachricht über 84 Kilometer in südöstliche Richtung an den Repetierturm von Tallimba weiter. Unter dem Pfad, den das Signal nahm, liefen die sanften Hügel in eine Ebene aus, und die Eukalyptuswälder wurden spärlicher, während allmählich trockenes, mit Strauchwerk bewachsenes Grasland begann. Weitere 85 Kilometer über ein immer stärker besiedeltes und bewässertes Gebiet hinweg, und die Lichtblitze erreichten den großen Signalfeuerknoten von Griffith. Das Netzwerk der Fernmeldetürme spielte für den Wohlstand des Zentralbunds eine entscheidende Rolle. Die 35 Staaten dieses Bundes waren über ein riesiges, trockenes Gebiet verstreut, und daher war alles, was die Notwendigkeit von Reisen verringerte, ein Segen. Warum sollte man Vieh, Gold, Dönobst oder Reis zwischen weit auseinanderliegenden Zentren hin und her transportieren, wenn sich über Lichtstrahlen mit Soll und Haben jonglieren ließ? Außerdem erschwerte der Ruf sehr das Überlandtreiben von Viehherden. Seine rätselhafte Verlockung zog in halbwegs regelmäßigen Abständen übers Land und riß Herden und Hirten mit sich fort. Da war es doch besser, Vieh und Waren nur dann auf die Reise zu bringen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ. Die Signalfeuertürme halfen auch bei der Rufvorhersage. Wenn ein Überträger aufhörte, regelmäßige Abfrageblitze zu senden, wußte der Empfänger des nächstgelegenen Turms, daß ein Ruf im Anzug war. Eine Glocke wurde geläutet, und alle, die es hörten, schnallten sich an. Acht große Signalfeuerlinien liefen auf der Plattform des Turms von Griffith zusammen. Für jede Linie gab es einen diensthabenden Aufsichtsbeamten, und der für die Canowindra-Linie zuständige betrachtete nun die verschlüsselte Botschaft auf der Schiefertafel des Empfängers, während dieser sie abschrieb. »Zur Abwechslung passen die Prüfsummen mal zu den Nachrichtenpaketen«, bemerkte er mit gespieltem Erstaunen. »Seid nicht unfair, die kriegen das meistens schon hin«, entgegnete der Empfänger. »Dennoch ist die Fehlerquote auf der Canowindra-Linie immer noch viermal so hoch wie im Durchschnitt der Türme des Zentralbunds. Da - 85 sollte es mal Ermittlungen geben. Einige Leute verdienen da einen Tritt in den Arsch.« »Und? Wird das je passieren?« »Wartet meinen Jahresbericht ab. Es wird drastische Veränderungen geben.« Er vermerkte die Nachricht in seinem Logbuch und gab die Schiefertafel dann an den Überträger der Rochester-Linie weiter. Von Griffith aus wanderte das Signal weiter nach Süden, über die mit gelben Kacheln gedeckten Dächer der wohlhabenden Stadt, über flaches Weideland und angeleinte Schafherden in der Obhut angeleinter Schafhirten, hin zum Fluß, der die Grenze zu einem südmaurischen Emirat markierte. Es überquerte die mit Gras bewachsenen Ebenen, auf denen verstreut die Zelte, Schafe, Esel und Kamele von südmaurischen Nomaden zu sehen waren, bis es dann eine kleine, abgelegene Enklave Rochesters erreichte. Der Repetierturm von Darlington stand 82 Kilometer von Griffith entfernt auf einem Grundstück von knapp zweieinhalb Quadratkilometer Größe. Die Südmauren gehörten einer islamischen Religionsgemeinschaft an, die - unter anderem - den Gebrauch der Signalfeuertechnik verbot. Ein solches Lichtsignal konnte die Zone eines Rufs durchdringen, ohne davon beeinflußt zu werden, und da man annahm, daß der Ruf gottgesandt war, handelte es sich dabei womöglich um eine Blasphemie. Der Emir von Cowra hatte aber dennoch ein kleines Grundstück auf seinem Staatsgebiet an Rochester verpachtet, damit dort, in Darlington, ein Repetierturm errichtet werden konnte, und zog einem reinen Gewissen das Gold des Bürgermeisters von Rochester vor. In Darlington notierte der Empfänger die Nachricht auf seiner Schiefertafel und entschlüsselte sie dabei bereits im Kopf. Mit einem Lächeln bemerkte er die korrekten Prüfsummen, entrollte dann eine eigene Tabelle und überprüfte die Zahlenangaben. Er schüttelte den Kopf. Das war auf keinen Fall für die Augen von Rochester bestimmt, beschloß er. Für seine Änderungen brauchte er nicht lange, und bald darauf wurde die abgeänderte Nachricht über weitere neunzig Kilometer trockenes und flaches südmaurisches Grasland hinweg zum Grenzturm von Deniliquin gesandt.
In der Zeit, die das Signal von Wirrinya nach Deniliquin brauchte, ging Lemorel über die unebenen Kopfsteinpflasterstraßen von Rochester von - 86 der Universität nach Libris. Deniliquin befand sich an der Grenze des Stadtstaates Rochester, und ein letzter Sprung von 93 Kilometern trug das Signal über ausgedehnte Eukalyptuswälder hinweg zum Signalfeuerturm von Rochester City. Auf der Plattform des Turms von Rochester speiste ein Sender-Empfänger Sonnenlichtimpulse in ein Spiegelsystem im Turminnern und sandte sie damit in den Signalfeuerempfangsraum. Dort notierte ein Schreiber die verschlüsselte Nachricht auf Schiefertafeln, schrieb auch die Weiterleitungsinformationen auf und reichte die Tafeln dann an einen Rotdrachenbibliothekar weiter. Dieser Rotdrache tippte die Nachricht ein, es ertönte das leise Klappern filzgedämpfter Coachwoodtasten, und jenseits dieser Klaviatur entschlüsselte und speicherte der Kalkulor die Tabelle, die keine Stunde zuvor fast 530 Kilometer entfernt ihre Reise begonnen hatte. Einige weitere Minuten vergingen; dann begann eine Batterie mechanischer Hennen Lochmuster in einen Papierstreifen zu picken, der unter ihren Schnäbeln hindurchgezogen wurde. Lemorel stand daneben und las aus den Lochmustern die Werte ab. Wie sie vermutet hatte, konnten diese Daten unmöglich stimmen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie mußte die Hoheliber darauf ansprechen. »Die statistischen Daten über den Signalfeuerverkehr sind manipuliert worden«, beharrte Lemorel ängstlich, aber dennoch tapfer, und sagte sich, daß John Glasken genauso gehandelt hätte. Sie reichte Hoheliber Zarvora ein Bündel Papiere. »Ich muß nach Griffith reisen, um die dortigen Signalfeuerverkehrsregister einzusehen. Unterwegs könnte ich auch den Turm von Darlington überprüfen.« »Eine Reise nach Darlington werde ich nicht genehmigen«, entgegnete die Hoheliber. »Unsere Stellung dort ist schon prekär genug. Und was Ihr zum Thema Griffith vorschlagt, ist fast ebenso abwegig. Es hat uns Jahre gekostet, die Überträgergilde davon zu überzeugen, daß das Netzwerk von Rochester ausschließlich von Drachenbibliothekaren geleitet werden kann. Wenn Ihr nun dort aufkreuzt und denen unterstellt, daß sie keine Ahnung haben, wie man ein Signalfeuernetzwerk betreibt, werden sie wahrscheinlich die Verbindung von Griffith nach Rochester kurz entschlossen kappen.« Es war ein gewagter Versuch gewesen. Die Hoheliber würde keine religiös motivierten Ausschreitungen oder diplomatischen Zwischenfälle - 86 riskieren, indem sie einer Studentin gestattete, Elefant im Porzellanladen zu spielen. Das Gespräch fand in Zarvoras Arbeitszimmer statt, wo die Hoheliber über ein persönliches Terminal zum Kalkulor verfügte. Dutzende kleine Metallgesichter schienen Lemorel von den Regalen herab anzugrinsen, während sie dort saß und ihr Anliegen vertrat. »Hoheliber, da draußen manipuliert irgend jemand Signalfeuerverkehrsdaten - Daten, die ich für meine Dissertation über den Ruf brauche. Wie kann ich Euch bloß überzeugen?« »Ihr braucht mich nicht zu überzeugen, Frelle Lemorel, ich bin ganz Eurer Meinung«, sagte Zarvora, und Lemorel sah sie nun zum allerersten Mal lächeln. »Als ich Eure schriftliche Eingabe bekommen habe, habe ich selbst mit Hilfe des Kalkulors einige Nachforschungen angestellt. Und ich bin ebenfalls auf Anomalien gestoßen.« »Mit Hilfe des Kalkulors?« »Ja. Wozu Ihr Monate gebraucht habt, das habe ich an einem Vormittag festgestellt - Moment mal.« Ein Kaninchen hatte ein rotes Fähnchen gehoben, und der Fuchs daneben hatte eine Glocke geläutet. Die Hoheliber begann auf ihrer Klaviatur zu klimpern. Lemorel hatte noch nie unbeschränkten Zugriff auf die Riesenmaschine gehabt. Was für eine Rechenleistung! dachte Lemorel sehnsüchtig. Wenn sie die Zugriffsrechte der Hoheliber gehabt hätte, hätte sie die Rätsel rund um die Netzwerkdaten lösen können, ohne Rochester zu verlassen.
Ganz unvermittelt spuckte der Kalkulor etliche Zeilen einer unverschlüsselten Nachricht auf die über den Tasten angebrachten Binärwalzen. Ein Teil der Nachricht entging Lemorel, aber nicht das Wichtigste: / BAHNSTATION MARALINGA WÄHREND - WIEDERHOLE WÄHREND - EINES RUFS EROBERT. BAHNSTATION ZURÜCKEROBERT. ERBITTE ANWEISUNGEN. / Der Hoheliber verschlug es den Atem, und dann betätigte sie schnell den RESET-Hebel, um die Anzeigewalzen wieder auf Null zu stellen. »Ich muß sofort zu einer Reise aufbrechen«, sagte sie, drückte auf den BEENDEN-Schalter und wandte sich dann an Lemorel. »Schreibt den Rest Eurer Aussage zum Signalfeuerproblem nieder. Ihr findet dann ja auch alleine hinaus. Ich werde der Wache sagen, daß Ihr so lange wie nötig hier drin bleiben dürft.« - i87 Dann war sie in einem Aufwirbeln schwarzer Gewänder verschwunden, knallte die Tür hinter sich zu und rief auf dem Korridor nach ihrem Diener. Lemorel ging die kurze Nachricht auf den Anzeigewalzen nicht aus dem Sinn. Ein Bahnvorposten war während eines Rufs erobert worden. Das war unmöglich ... und wenn auch nicht unmöglich, so doch kaum zu glauben. Menschen, die sich während eines Rufs ungehindert bewegen konnten, waren in der Lage, die ganze Welt zu erobern. Kein Wunder, daß die Hoheliber sofort losgestürzt war, um sich persönlich um die Sache zu kümmern. Lemorel stand auf, ging einen Schritt auf den Schreibtisch zu und blieb dann unvermittelt stehen. Der mechanische Bär über dem BEENDEN-Schalter hatte immer noch sein Fähnchen erhoben. Die Hoheliber hatte nicht fest genug auf den Schalter gedrückt, und ihre Verbindung zum Kalkulor stand nach wie vor. Lemorel spürte, wie die Gier sie packte. Das hier war ein Glas kühles Bier, das einem dürstenden Säufer hingehalten wurde - ein unbewachter Goldroyalhaufen, der sich einem Dieb darbot. Indem sie den Kalkulor nutzte, hatte die Hoheliber Lemorels Arbeit von Monaten binnen Stunden nachvollzogen. Das war nicht fair. Langsam ging Lemorel zu der Klaviatur hinüber und fuhr mit den Fingern über die mit Intarsien und Aufschriften versehenen Tasten. Sich am Kalkulor zu schaffen zu machen, darauf stand die Todesstrafe, und niemand wußte das besser als Lemorel. Ein Zucken freudiger Erregung durchlief ihren ganzen Leib, als sie dort stand und den kleinen mechanischen Bären anstaunte, der immer noch das mit AKTIV beschriftete Fähnchen emporhielt. Die Hoheliber würde einige Tage lang fortbleiben - mindestens. Es war wie damals, als Brunthorp sie verführt hatte: eine überwältigende Versuchung mit fatalen Folgen, falls irgend jemand davon erfuhr, doch dann zog ein kleiner Schritt den nächsten nach sich, und ehe sie sich versah, war es geschehen. Die Verbindung der Hoheliber zum Kalkulor war immer noch aktiv, und die Hoheliber hatte beim Kalkulor höchste Priorität. Lemorel ließ sich auf dem Stuhl vor der Konsole nieder, bebend vor Begeisterung darüber, daß sie den Drachen beim Schwanz gepackt hielt. Es wäre ihre Pflicht gewesen, die Verbindung der Hoheliber zu beenden, aber ... Dann tippte sie - zunächst nur mit einem Finger: / INHALT REGISTER / - 87 Die Anzeigewalzen der Konsole fragten ratternd nach einer Adresse. / DENILIQUIN / TEXT / ANFORDERUNG PRÜFSUMMENFEHLERLOGDATEI DER VERGANGENEN WOCHE / Ihr Finger hielt einen Moment lang über der EINGABE-Taste inne; dann betätigte sie sie mit leisem Klacken. Der Kalkulor begann, ihren Befehl in verschlüsselten Kode umzusetzen und schickte ihn dann den Signalfeuerturm hinauf. Nur Augenblicke später griff der Empfänger auf dem Turm von Deniliquin nach seinem Kodebuch. Das reicht bereits, damit ich hingerichtet werde, dachte Lemorel grimmig. Aber was konnten sie ihr schon mehr antun, als sie zu erschießen? Sie betrachtete eine Karte des Signalfeuernetzwerks, bis mit einem Rattern der binären Anzeigewalzen die Antwort aus Deniliquin eintraf. Sie verglich die Zahlen mit ihren Aufzeichnungen. Sie stimmten überein.
Nun machten sich allmählich doch ihre Nerven bemerkbar. Sie riskierte hier ihr Leben, um Nachforschungen anzustellen, die sie etwas langsamer auch über offizielle Kanäle anstellen konnte. Was sollte das? Wenn mein Johnny sein Leben aufs Spiel setzen würde, dann nur aus einem vernünftigen Grund heraus, sagte sie sich. Sie rang aufwallende Panik nieder, während sie eine Klartextanforderung an den Knoten von Griffith eintippte. Wiederum legte man ihr Statistiken vor, über die sie bereits verfügte. Noch ein Versuch, dann würde sie es aufgeben. Sie wiederholte ihre Anforderung an Griffith, diesmal aber in einem selten verwandten Kode und mit der Aufforderung, die Antwort im gleichen Kode zu verschlüsseln. Als der Kalkulor die Antwort entschlüsselt hatte, tauchten diesmal ganz andere Zahlen auf dem Lochstreifen auf. Lemorel sah sich die Prüfsummenfehlerquoten an und verglich sie dann mit ihrer Hochrechnung. Die Werte entsprachen einander: Die Anomalie löste sich in Wohlgefallen auf. Sie schaute noch einmal auf die Landkarte. Zwischen Griffith und dem sicheren Teil des Netzwerks stand nur der Repetiettuim von Darlington. Irgend jemand dort machte sich an den Statistiken zu schaffen. Was manipulierte er darüber hinaus noch? Er. Die Besatzung des Turms von Darlington bestand ausschließlich aus Männern: Das war im Vertrag mit dem Südmaurenreich so festgelegt. Und noch während sie sich den Kopf kratzte, sprang die Lochstreifenstanze wieder an. Es war ein Zusatz zu der eben empfangenen Nachricht, - 88 der ihr mitteilte, daß es einen Übertragungsfehler gegeben habe, und ihr als Korrektur die alten, anormalen Werte lieferte. »Netter Versuch«, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen und ächzte dann. Die hatten in Darlington kein Kodebuch, denn es war ja nur ein Repetierturm! Die verschlüsselte Nachricht mußte innerhalb von vier bis fünf Minuten entschlüsselt und aufs Neue verschlüsselt werden. Dazu war kein Mensch in der Lage, das konnte nur der Kalkulor ... nein, nur ein Kalkulor konnte das. Ein weiterer Kalkulor, und das an einem Ort, an dem man nur zweimal pro Jahr Inspektionen durchführen konnte! Sie hatte kaum eine Stunde lang daran gearbeitet - und was war das für eine Entdeckung! 183 Kilometer weiter nördlich gab es einen zweiten Kalkulor, und er wurde dazu genutzt, Nachrichten zu filtern, die nach Rochester weitergeleitet wurden. Aber warum? Sie überflog die Werte der sieben Linien, die in Griffith aufeinandertrafen, und entdeckte sofort die Anomalie. Auf der nach Osten verlaufenden Linie war die Quote der Prüfsummenfehler erstaunlich hoch. Der Operator von Darlington war jetzt auf sie aufmerksam geworden, und sie würde keine weitere Nachricht mehr an ihm vorbeischmuggeln können. Jedenfalls nicht auf die bisherige Weise. Lemorel stellte eine Anforderung zusammen, in der jeder dritte Buchstabe fehlte, ließ den Kalkulor diese Anforderung als Köder verschlüsseln und schickte dann einen Zusatz mit höherer Priorität hinterher. Die Anforderung betraf einen Auszug aus der Nachrichtenlogdatei der Endstation von Canowindra. Diesmal mußte sie viel länger auf Antwort warten. Sie konnte die Verbindung zwischendurch nicht beenden, da sie das Kennwort der Hoheliber nicht kannte. Eine halbe Stunde verging, dann eine Stunde. Lemorel las in den Kalkulor-Bedienungsanleitungen der Hoheliber. Als anderthalb Stunden vergangen waren, bediente sie sich bei dem Gebäck und dem kalten Kaffee in der kleinen Teeküche des Arbeitszimmers und stellte mit dem Kalkulor dann ein paar Datenverschlüsselungsübungen an. Nachdem zwei Stunden vergangen waren, wurde Lemorel allmählich unruhig und sah in der Logdatei des nachmittäglichen Datenverkehrs nach. Alles wirkte normal. Der Operator des Kalkulors von Darlington würde die dortige Maschine dazu nutzen, den Kode von Lemorels Nachrichtenzusatz zu knacken, ohne zu bemerken, daß es sich dabei nur um nutzlose Korrek - 88 turen handelte. Die große Uhr des Signalfeuerturms schlug halb fünf. Der abendliche Signalfeuerverkehr würde nun seinen Höhepunkt erreichen, während die Nutzer versuchten, vor Sonnenuntergang noch möglichst viel zu erledigen. Lemorel verfaßte noch eine weitere
zweigeteilte Nachricht, diesmal an Griffith gerichtet, und schickte sie hinaus in den spätnachmittäglichen Datenstrom. In Griffith würde man die Nachricht mit ihrem Zusatz vergleichen und feststellen, daß es sich um einen Zusatz handelte, der nach Canowindra gesandt werden sollte. Bei dem großen Datenaufkommen würde sich ihr Gegenspieler in Darlington vielleicht nicht die Mühe machen, alles bis ins kleinste Detail zu überprüfen. Die Antwort kam nach vierzig Minuten. Die Zahlen in ihrer rohen Form bedeuteten nichts, aber nachdem Lemorel ein paar Tasten betätigt hatte, begann der Kalkulor, sie mit seinen eigenen Aufzeichnungen zu vergleichen. Und das war eine aufschlußreiche Lektüre: Jede Nachricht der vergangenen fünf Wochen, die etwas mit Truppenbewegungen oder dem Transport strategisch wichtiger Güter zu tun gehabt hatte, war zur Überprüfung nach Canowindra zurückgesandt worden. Und nicht nur das: Es hatte auch die Anweisung gegeben, daß alle Zusätze im Köderkode versandt werden sollten. Und diese Rücksendungen hatte man Rochester natürlich nicht gemeldet. Lemorel überflog ihre Notizen und aß dabei ein Stück Shortbread. Sämtliche Berichte über Truppenbewegungen waren abgeändert worden. Sie sah sich die Liste der Hoheliber mit den Befehlen für den Kalkulor an und kämpfte sich dann bis zu den Optionen vor, die mit dem Vermerk MILITÄRISCH versehen waren. Es gab etliche Programme, die Schätzungen von Truppenbewegungen durchführten, indem sie andere Faktoren korrelierten, etwa die Requisition von Vorräten, Reisebeschränkungen und fehlende Marktdaten von bestimmten Orten. Lemorel ließ drei derartige Programme ablaufen, aber es wurden keine Warnungen oder Alarme ausgelöst. Es war klar, was daraus zu schließen war. Truppenbewegungen im Südmaurenreich wurden von irgend jemanden in Darlington verschleiert. Warum? Vielleicht zog der Emir von Cowra eine Armee zusammen, um die Grenzforts der Allianz von Süden aus überraschend anzugreifen. Vielleicht waren die Armeen des Südmaurenreichs bereits an der Grenze aufmarschiert, um die Streitkräfte der Allianz zu überwältigen, während die Hoheliber fort war. Hatte man die Hoheliber mit einem Trick dazu gebracht abzureisen? — 89 Lemorel konnte vor der drohenden Kriegsgefahr nur warnen, indem sie offenlegte, wie sie davon erfahren hatte — und dann würde man sie hinrichten lassen. Aber dennoch schien diese Sache bedeutsamer als das Leben eines einzelnen Menschen, dachte sie, während sie direkt aus der Tasse der Hoheliber kalten Kaffee trank. Krieg. Dann mußte ihr Liebster fort in die Schlacht. Was würde Johnny an meiner Stelle tun? fragte sie sich. Und dann erinnerte sie sich an einen Ratschlag, den er ihr einmal gegeben hatte: Gib dich niemals einem Problem geschlagen, auch wenn du die ganze Nacht daran arbeiten mußt. Nun, was für ihn galt, konnte auch für sie gelten. Die Aufzeichnungen wurden in Darlington abgeändert. Und Darlington forderte aus Canowindra doppelt verschlüsselte Nachsendungen von Aufzeichnungen an. Das paßte nicht zueinander. Warum korrekte Informationen anfordern, wenn man sie ja doch abänderte? Lemorel betrachtete noch einmal die Landkarte. Die Linie nach Osten war ganz simpel: Vom Knoten in Griffith verlief sie über die Repetiertürme in Tallimba und Wirrinya bis zur Endstation in Canowindra. Von dem Turm von Canowindra wußte man, daß es dort ein Überwachungskorps gab, das im Sold des Bürgermeisters stand, ein Korps, das Daten über Truppenbewegungen im Südmaurenreich lieferte. Und der Operator des Kalkulors von Darlington achtete sehr darauf, daß er korrekte Daten an diesen beiden Repetiertürmen vorbeibekam. Warum? Die Bleiglasfenster erglühten rot im Sonnenuntergang. Das bedeutete das Ende der Heliostatübertragungen mittels der Signalfeuereinrichtungen. Von nun an waren kostspielige Fackeln vonnöten, und die Inanspruchnahme von Fackeln wurde vermerkt. Sie konnte nicht mehr weitermachen, obwohl sie ihrem Ziel so nahe war. Wenn der Mond fast voll war, konnte man die Signalfeuer jedoch weiterhin nutzen, ohne auf Fackeln zurückgreifen zu müssen, wenn auch mit geringerer Übertragungsgeschwindigkeit. Lemorel sah im Kalender nach. Es war ein Tag vor Vollmond! Sie zog sich auf die Privattoilette der Hoheliber zurück und nahm den Kalender mit. In einer halben Stunde würde der Mond hoch genug stehen, um mit den Übertragungen wieder beginnen zu können.
Als sie an die Konsole zurückkehrte, war es im Zimmer so dunkel, daß sie eine Lampe anzünden mußte. Heute war der Tag von John Glaskens Abschlußfeier. Seine Freunde feierten nun mit ihm an einem Ort, den sie ihm zuvor nicht verraten hatten. Lemorel fühlte sich mit einem Mal - 90 einsam, wäre sehr gern bei ihm gewesen. Ausgerechnet an diesem Tag hätte sie unbedingt bei ihm sein sollen! Sie starrte auf die weißen und schwarzen Tasten ... Tasten der Macht! Tasten, mit denen sie den Schwarzen befehlen konnte, einen Studenten namens John Glasken zu finden. Mit einem Kribbeln der Aufregung rief sie die Funktion POLIZEI auf. / LOKALISIERUNG: JOHN GLASKEN / STUDENT DER CHEMIE / UNIVERSITÄT ROCHESTER / NUR STATUSBERICHT / Sie würden ihn wahrscheinlich binnen einer Stunde finden; und dann würde sie ihm einen verschlossenen Umschlag mit einer Grußkarte überbringen lassen. Sie zappelte vor Freude, als sie sich sein Erstaunen ausmalte. Während sie weiter wartete, sah sich Lemorel die Privatbibliothek der Hoheliber etwas genauer an. Hier gab es Aufzeichnungen über alles, was auf den Netzwerken der Allianz und des Zentralbundes geschah, bis hin zu den Dienstplänen der einzelnen Türme. Die Dienstpläne der Ostlinie, der Türme von Griffith und Darlington, wiesen im vergangenen Monat keinerlei Besonderheiten auf. Lemorel ging zwei Monate zurück, und mit einem Mal fiel ihr der Turm von Wirrinya auf. Acht der achtzehn Überträger hatten binnen zweier Wochen dort neu angefangen. Der Dienstplan zeigte auch, daß sechs der Neuankömmlinge die Tagesschicht zur Gänze übernommen hatten, während in der Früh- und der Nachtschicht nur jeweils ein neuer Überträger seinen Dienst versah! Infiltration! Niemand hatte je im Traum daran gedacht, daß ein Turm systematisch von qualifizierten Überträgern und Empfängern unterwandert werden könnte. Einem direkten Angriff konnte ein Turm nicht zum Opfer fallen, ohne daß die Welt davon erfuhr: Da gab es eine Reihe von Alarmkodes, die jeder Überträger auswendig kannte und die sich in Sekundenschnelle senden ließen. Und binnen eines Tages wäre dann aus der nächsten befestigten Stadt ein Kavallerietrupp zur Verstärkung unterwegs. Die Überträgergilde war ein nicht zu unterschätzender Faktor. In den Dutzenden von großen und den Hunderten von kleineren Städten gab es im Schnitt jeweils zehn Überträger, und für jeden aktiven Überträger kam ein weiterer hinzu, der in der Lehre, der Forschung oder der Verwaltung tätig war. Überträger taten mehr, als nur von Turm zu Turm Nachrichten zu übertragen: Sie waren auch Bibliothekare, Lehrer, Mediziner und Händler, sie waren die Stützen vieler Gemeinden und Verbindungsleute zur Außenwelt. In anderen Gesellschaften hätten vielleicht Priester ihre Rolle eingenommen. Die neuen Überträger deckten sämtliche Schichten des Turms von Wirrinya ab und hatten die Tagschicht vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht. In der Tagesschicht gab es den meisten Fernmelde verkehr, und normalerweise mieden Überträger diese Schicht. Das war ideal für eine Gruppe, die die Kontrolle übernehmen und dabei alle anderen ausschließen wollte. In den beiden anderen Schichten hatten sie jeweils einen Spion, für den Fall, daß dort irgend etwas wichtiges geschah. Wie aber konnten sie die Kodes entschlüsseln? Repetiertürme verfügten über keine Kodebücher. Ein Kalkulor hätte die Kodes knacken können. Hatte etwa auch Wirrinya einen Kalkulor? Irgend jemand auf dem Turm von Darlington überprüfte sorgfältig sämtliche aus Canowindra gesandten Daten und schmuggelte verschlüsselte Korrekturen an Wirrinya vorbei weiter nach Rochester. War er ein Verbündeter? Und wenn ja, warum zeigte er Wininya dann nicht einfach an, statt die von dort versandten Daten zu korrigieren? Wininya befand sich in Forbes, einem unabhängigen Kleinstaat. Jeder Alarm, der zur Festnahme der Verschwörer auf dem Turm auffordern würde, müßte über das Signalfeuernetzwerk eintreffen, und mindestens einer von ihnen war immer im Dienst. Ihnen würde Zeit bleiben zu fliehen ... Aber es war doch sicherlich wichtiger, die Verschwörung aufzudecken, als die Verschwörer zu fassen.
Die Kolbenuhr machte Klack-Klick, Klack-Klick. In einer Viertelstunde würden Übertragungen mit Mondlicht möglich sein. Lemorel öffnete die Hausbar der Hoheliber und schenkte sich ein Glas Apfelschnaps ein. Zarvora trank keinen Alkohol, die Krüge waren nur für ihre Gäste bestimmt. Was sollte Lemorel tun? Wenn sie der Hoheliber irgendwas von dem erzählte, was sie erfahren hatte, mußte sie ihr auch erzählen, wie sie davon erfahren hatte. Allein schon dafür würde man sie - und zwar schneller, als eine Signalfeuerbotschaft nach Canowindra gelangte - an eine Wand ketten und zwei Dutzend Musketen auf sie richten. Wenn sie den korrekten Dienstweg einhielt, würde es Monate dauern ... Sie konnte aber auch gar nichts unternehmen. Vielleicht war das das Beste. Sie war nur ein Rädchen im großen Getriebe, und dann auch noch ein Rädchen an der falschen Stelle. Sie nippte an dem starken, süßen Schnaps und - 91 betrachtete den Mondschein auf den Dächern von Libris. Schließlich beschloß sie zu warten, bis ihr die Schwarzen meldeten, wo sich ihr geliebter Johnny aufhielt, dann zu ihm zu eilen und den ganzen Schlamassel zu vergessen. Wie auf Stichwort hob ein mechanischer Glockenvogel einen Flügel und zwitscherte kurz, und dann begann die Batterie der silbernen Hennen auf den Lochstreifen einzupicken. Es war eine Klartextnachricht von den Schwarzen. Lemorel sprang von ihrem Stuhl auf, und iht Herz pochte vor Freude. / OBJEKT: JOHN GLASKEN, STUDENT AUFENTHALTSORT: EIN HINTERZIMMER DER BIERSCHENKE KRUG UND KRÖTE BEGLEITER: SCHANKMAGD NAMENS JOAN JIGLESSAR, AUCH JIGGLE GENANNT. AKTIVITÄT: GESCHLECHTSVERKEHR. EINZELHEITEN: ER LIESS SIE SICH ÜBER EINEN TISCH BEUGEN UND BESTIEG SIE IN EINER STELLUNG, DIE IN EROTISCHEN KOMPENDIEN ALS „STIER UND KUH" BEZEICHNET WIRD. UNGEWÖHNLICHE ODER VERDÄCHTIGE TÄTIGKEITEN: WÄHREND DES GESCHLECHTSVERKEHRS WURDE GLASKEN GESEHEN, WIE ER SCHWARZBIER TRANK, UND ER SOLL GEBRÜLLT HABEN WIE EIN STIER. Mittlerweile zitterten Lemorel so stark die Hände, daß sie den Lochstreifen nicht mehr ruhig halten konnte. Sie eilte zum Fenster und sah hinaus auf die Lichter von Rochestet, und ihre Augen glühten vor Zorn und Demütigung. Das tat er also bei seiner unschuldigen kleinen Feier - und das erklärte wahrscheinlich auch, warum er spätabends oft angeblich zum Studieren außer Haus war! Sie war drauf und dran, ihn auf der Stelle von den Schwarzen umbringen zu lassen - aber nein, diese Tat würde man zweifellos zu ihr zurückverfolgen können. Sie schloß die Augen und lehnte sich an den Fensterrahmen, glühend vor Schmach. Während sie sich danach gesehnt hatte, einfach nur seine Hand zu halten, hielt dieser Scheißkerl Brüste und Pobacken gepackt. Eine Minute verging, und Lemorel war wie betäubt. Es war, als wäre alles Weiche aus ihr weggebrannt. Sie ging zurück zu der Lochstreifenstanze, nahm das Papierband wieder zur Hand und las weiter. - 91 AKTIVITÄTEN NACH DER AUFFINDUNG: NACHDEM ER DEN GESCHLECHTSAKT BEENDET HATTE, GING GLASKEN, OHNE SICH DEN HOSENBEUTEL WIEDER ZUZUSCHNALLEN, ZURÜCK IN DEN SCHANKRAUM UND PINKELTE INS FEUER. DARAUFHIN BESCHWERTEN SICH EINIGE GÄSTE. ALS IHM DER WIRT SAGTE, ER SOLLE SICH „VERPISSEN", FIELEN GLASKEN UND ZWEI SEINER FREUNDE MIT IHREN STÖCKEN ÜBER DEN MANN HER. DIE SCHUTZLEUTE WURDEN GERUFEN, UND GLASKEN UND SEINE FREUNDE VERSUCHTEN, DURCH DEN HINTERAUSGANG ZU FLIEHEN. DIESE TÜR WAR ABER VERRIEGELT WORDEN - VON JOAN JIGLESSAR, DIE SICH IMMER NOCH ANZOG. DIE DREI STUDENTEN WURDEN IN GEWAHRSAM GENOMMEN. GEGENWÄRTIGER AUFENTHALTSORT: GLASKEN SCHLÄFT IN ZELLE 15 DER HAUPTWACHE. IHM WIRD ZUR LAST GELEGT: UNRUHESTIFTUNG, KÖRPERVERLETZUNG, DIEBSTAHL EINES KRUGS BRANDY, ERREGUNG
ÖFFENTLICHEN ÄRGERNISSES DURCH UNSITTLICHES ENTBLÖSSEN UND URINIEREN IN EINEM KONZESSIONIERTEN AUSSCHANK FÜR SPEISEN UND GETRÄNKE. / / ÜBERWACHUNG FORTSETZEN? / Lemorel überlegte kurz und tippte dann ABBRECHEN. Offenbar hatte es jemandem großen Spaß gemacht, diesen Bericht zusammenzustellen, dachte sie. Sie dachte auch an Glaskens frühere Auftritte vor Gericht. Als er sie damals gebeten hatte, ihm mit einer Kaution oder einer Aussage zu seinem Charakter aus der Patsche zu helfen, war es ganz bestimmt nicht darum gegangen, daß man ihn verwechselt hatte, während er unschuldige Bürger vor irgendwelchen finsteren Gesellen rettete. Blinde Wut wallte wieder in Lemorel hoch. »Dieses fiese, versoffene Betrügerschwein«, murmelte sie in Richtung des Regals voller mechanischer Tiere, und ihre sorgsam gepflegte Fassade der Freundlichkeit und Höflichkeit brach in sich zusammen. »Alles Lügen! Das wird er mir büßen!« Eine Marionette. Sie war die perfekte Entlastungszeugin, wenn es um seinen Charakter ging, konnte ihn aus Scherereien herausholen wie aus denen, in denen er gerade steckte. Sie stampfte im Zimmer auf und ab, schäumend vor ohnmächtiger Wut. Sie konnte es Glasken heimzahlen, indem sie ihn diesmal der Gnade des Gerichts überließ, aber das reichte - 92 ihr nicht. Sie wollte jetzt jemanden schlagen! Ihr Blick richtete sich auf den Dienstplan des Repetierturms von Wirrinya. »Ein ganzer Turm voller Glaskens«, sagte sie. »Die hole ich mir! Die werden vor Angst quieken wie die Schweine!« Acht Überträger, die ein Komplott geschmiedet hatten, die seit fünf Wochen ein Doppelleben führten und einander ihr Leben anvertrauten: Wenn man dieses Vertrauen störte oder auch nur in Frage stellte, brach vielleicht wenigstens einer von ihnen einen Streit vom Zaun. Auf so einem Turm gab es nicht viel Privatsphäre, und der Turmmarschall würde diesen Streit schnell bemerken. Lemorel hackte auf die Kalkulortastatur ein, fragte schnell sämtliche Bankkonten von Rochester ab. Keiner der Überträger von Wirrinya hatte eines. Sie zuckte die Achseln, dachte sich eine Kontonummer aus, schrieb diesem Konto siebenhundett Goldroyal gut, fügte dann den Namen des Schichtleiters der Tagesschicht von Wirrinya hinzu und sandte das an den Ausgabe-Zwischenspeicher. Nachdem sie sich noch einmal die Aufzeichnungen der Hoheliber über den Dienstplan von Wirrinya angesehen hatte, verschlüsselte Lemorel die Namen der Verschwörer aus der Früh-und Nachtschicht und fügte hinzu: TERMINIEREN. Dieser Begriff hatte im Befehlsregister der Hoheliber keine Funktion, klang aber hinreichend beängstigend. Womit ließe sich in Wirrinya noch Angst und Argwohn schüren? Die Verschwörer waren wahrscheinlich ebensowenig mit der Wahrheit im Bunde wie Glasken, und daher beschloß Lemorel, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie griff auf willkürlich ausgewählte Aufzeichnungen über Truppenbewegungen im Südmaurenreich zurück, die von der Endstation in Canowindra stammten, Aufzeichnungen, die abgeändert und dann von demjenigen, der den Kalkulor von Darlington betrieb, an Wirrinya vorbeigeschmuggelt worden waren. Lemorel wies den Kalkulor an, die Aufzeichnungen standatdgemäß zu verschlüsseln und dann nach Canowindra zu senden. Für die Augen von Wirrinya genügte das - aber es fragte sich immer noch, wie man das alles an Darlington vorbeibekommen sollte. Eine halbe Stunde verging, eine halbe Stunde, in der sie vor Wut schäumte wegen eines Chemiestudenten, der betrunken in einer Zelle der Polizeistation lag. Am nächsten Morgen würde er ihr eine Nachricht senden, die Polizei habe ihn zu Unrecht festgenommen, als er eine kleine - 92 alte Dame gegen eine Bande von Finsterlingen verteidigt habe, aber Lemorel würde ihn ignorieren. Das Gericht würde ihm, nachdem er zuvor schon so oft der Gerechtigkeit entronnen war, die Höchststrafe aufbrummen, und er würde mindestens eine Woche lang am Pranger verfaultes Obst, faule Eier und stinkenden Fisch zu kosten bekommen.
Und dann wäre sie an der Reihe. Was sollte sie mit ihm tun, was seinetwegen unternehmen? Wie sollte sie ihm das heimzahlen? Sie würde warten, bis er vom Pranger entlassen wurde, und dann würde sie ihm eine derartige Tracht Prügel verabreichen, daß er es nie wieder wagen würde, eine Drachenbibliothekarin auf diese Art und Weise zu mißbrauchen. Lemorel zwang sich, nicht mehr an Glasken zu denken. Mittlerweile mußten die Augen des Turms von Darlington ihre Nachricht lesen. Ob sie dort wohl für Aufregung sorgte? An ein paar Daten, die lediglich als Platzhalter dienten, hatte sie einen Vermerk für den Betreiber des dortigen Kalkulors angehängt: / AN DAS GENIE AUF DEM REPETIERTURM VON DARLINGTON: SEID MIR GEGRÜSST. DANK EUCH HABE ICH VON DER SICHERHEITSLÜCKE IN WIRRINYA ERFAHREN. IHR WERDET AUCH WISSEN, DASS DEREN GEBIETER IHNEN ÜBER IRGENDEINEN GEHEIMKODE BEFEHLE ÜBERMITTELN. WAS IST DAS FÜR EIN KODE? GELDIVA. / Über einhundertfünfzig Kilometer weiter die Signalfeuerverbindung hinab lächelte Nikalan Vittasner und schüttelte den Kopf. »Geldiva, die Göttin der Pantheisten von Brewarrina«, murmelte er vor sich hin. »Geldiva, Weberin der Illusionen. Kluges Mädchen.« Schnell, aber gewissenhaft verfaßte er eine Antwort. / WARUM SOLLTE ICH EUCH DAS VERRATEN? SCHIVA, ZERSTÖRER DER ILLUSIONEN UND GOTT DER ALTEN HINDUS. / Eine halbe Stunde später bekam er eine Antwort. / SCHIVA, ICH SCHLIESSE DARAUS, DASS IHR AUF EUREM TURM KEIN HAUPTKODEBUCH HABT. WENN IHR DIESES BUCH HÄTTET, WÜSSTET IHR, WELCHEN KODE SIE BENUTZEN, UM MIT IHREM GEBIETER ZU KOMMUNIZIEREN. WENN IHR DIESEN KODE KENNEN WÜRDET, HÄTTET IHR DIE FOLGENDE NACHRICHT LÄNGST NACH WIRRINYA GESANDT. GELDIVA / Fast hätte Nikalan laut losgelacht, als er die Nachricht las. Sie bestand - 93 aus nicht abgeänderten militärischen Daten, die hätten abgeändert werden müssen, und einem Auszug eines Bankkontos mit einem Vermögen in Goldroyal darauf, ausgestellt auf den Namen des Verschwörers, der Schichtleiter der Tagesschicht war. Das Konto wurde bei einer Bank in Rochester geführt. Er verfaßte eine weitere Antwort. / BOTSCHAFT VERSTANDEN UND AKZEPTIERT, GELDIVA. ICH HABE DEN KODE NICHT, HABE ABER EINE MUSTERNACHRICHT, DIE MIT DIESEM KODE VERSCHLÜSSELT WURDE. NACHFOLGEND DIESES MUSTER UND DAZU MEINE BISHERIGEN VERSUCHE, ES ZU DECHIFFRIEREN. VIEL GLÜCK. WENN ES EUCH GELINGT, DEN KODE ZU KNACKEN, UND IHR DANN DIE NACHRICHT AN DIE ENDSTATION SENDET, MARKIERT SIE MIT „GELDIVA", UND ICH WERDE SIE UNVERZÜGLICH WEITERLEITEN. IN DANKBARKEIT, SCHIVA. / Rochester verfügte über ein Verzeichnis sämtlicher Hauptkodes, aber dieser war nicht darunter. Ein Mensch hätte Monate dafür gebraucht, ihn zu knacken, nicht aber der Kalkulor. Lemorel sah im Handbuch nach und stieß auf einen Befehl namens KODEKNACKER. Sie gab das Muster ein und dazu dann auch das, was Schivas Kalkulor bereits herausbekommen hatte. Dieser verfügte nur etwa über ein Zehntel der Rechenkraft der Maschine der Hoheliber, das war offensichtlich. Die Aufgabe würde in ein paar Stunden erledigt sein, denn Schiva hatte gute Vorarbeit geleistet. Was sollte sie mit Glasken tun - das fragte sie sich, als sie die Nachricht zum Dekodieren abgesandt hatte. Ihn zu verprügeln war eine plumpe, allzu gewöhnliche Vergeltung und wäre für sie selbst eine ebensolche öffentliche Demütigung wie für ihn. Sie war auf ihn hereingefallen, und sie wollte nicht, daß alle Welt davon erfuhr. Sie sah auf die Tastatur, und ihr kamen die Schwarzen in den Sinn. Angst? Lemorel verfügte nun über die Macht der Hoheliber. Abgesehen davon, daß er die Nacht auf der Wache verbringen mußte, konnte Glasken doch alles einerlei sein, schließlich stand ihm die ganze Welt offen ... doch das ließ sich ändern.
Eine weitere Nachricht, diesmal, um eine Durchsuchung von Glaskens Zimmer im College zu veranlassen. Wahrscheinlich würden sie nicht viel mehr dort finden als schweinische Zeichnungen und gestohlene Brandykrüge, aber er würde sehen, daß sein Zimmer durchsucht - 94 worden war. Es gab ein Zeichen aus Libris, das jedermann in Rochester kannte: ein roter Stempel, der ein Buch zeigte, das über einem Dolch zugeschlagen war. Dieser Stempel bedeutete, daß man irgendeinen Verstoß begangen hatte und soundso viele Tage Zeit bekam, das wiedergutzumachen. Lemorel schlug im Handbuch nach und fand den Befehl für diesen Stempel. Man konnte ihn dazu nutzen, jemanden im Ernst vor einem bevorstehenden Mordanschlag zu warnen, oder man konnte damit jemandem auch einfach nur Angst einjagen. Sie gab den Befehl ein. Der Kalkulor reagierte nur langsam darauf, da er immer noch damit beschäftigt war, den Kode zu knacken. Während die Schwarzen Glaskens Zimmer durchsuchten und ihm den roten Stempel aufs Kopfkissen drückten, lehnte sich Lemorel auf dem Lesesessel der Hoheliber zurück und trank Apfelschnaps. Ihre Gedanken kehrten zu dem Wirrinya-Problem zurück und zu ihrer eigenen prekären Situation. Es würde Aufzeichnungen über die Arbeit des Kalkulors geben, und einen anderen Hauptnutzer als die Hoheliber gab es nicht - oder doch! Der Mann auf dem Turm von Darlington, der sich Schiva nannte. Einige von Lemorels früheren Arbeiten hatten gezeigt, daß sich der Kalkulor über das Signalfeuernetz steuern ließ, und die Hoheliber nutzte seither diese Möglichkeit, wenn sie die Provinzen bereiste. Vielleicht war es möglich, es so aussehen zu lassen, als hätte Schiva auf irgendeinem Wege die Kontrolle über den Kalkulor von Libris erlangt. Es war vier Uhr früh, als der Kalkulor den Kode endlich geknackt hatte, und Lemorel wurde abrupt geweckt, als eine mechanische Eule ein Glöckchen läutete. Mit Hilfe des Kodes der Verschwörer von Wirrinya stellte sie eine Nachricht zusammen, die sich wie ein Fehler ihrer Gebieter las, Worte, die nur für ihren Anführer bestimmt waren, die aber gesandt wurden, als irgendein Scherge gerade Dienst hatte. Schließlich gab sie den Text in den Output-Puffer und hängte in Klartext den Vermerk »GELDIVA: BITTE DAS HIER ENTFERNEN« an. Dann drückte sie auf den SENDEN-Knopf. Lemorel streckte sich und sah sich um. Durch das Fenster waren Sterne zu erkennen. Diese Nachricht würde die Verschwörung auf dem Turm von Wirrinya platzen lassen, aber sie war nicht die Hoheliber. Und so sehr die Hoheliber es auch begrüßen mochte, daß Lemorel einen kostspieligen Krieg abgewandt hatte, würde ihre Dankbarkeit doch wahrscheinlich nicht so weit gehen, daß sie einen ganz offensichtlich illegalen - 94 Gebrauch ihres Kalkulors dulden würde. Selbst wenn Lemorel dem Exekutionskommando entkam, nähme ihre Laufbahn in Libris doch ein vorzeitiges Ende. Eine Stunde lang kämpfte sich Lemorel durch die internen Aufzeichnungen des Kalkulors und änderte Einträge dahingehend, daß Aktionen, die vom Arbeitszimmer der Hoheliber ausgegangen waren, zu Nachrichten aus Darlington zu passen schienen. Schließlich entfernte sie die Krümel und spülte die Gläser ab, aus denen sie getrunken hatte, und verwischte ihre Spuren so gut, daß der Diener der Hoheliber keinen Verdacht schöpfen würde. Als sie damit fertig war, pickten die mechanischen Hennen eine kurze Nachricht der Schwarzen in den Lochstreifen: / AUFGABE: DURCHSUCHUNG DES COLLEGEZIMMERS VON JOHN GLASKEN UND HINTERLASSEN DES STEMPELS DER FURCHT AUF SEINEM KOPFKISSEN. ERWÄHNENSWERTE FUNDE: *EINE STEINSCHLOSSPISTOLE, LAUT POLIZEILICHEM SCHUSSWAFFENREGISTER ZUR TAG- UND NACHTGLEICHE GESTOHLEN GEMELDET VOM WIRT DER BIERSCHENKE „ZUM RÖHRENDEN EBER" * 2 GOLDROYAL * 19 SILBERROYAL * EIN STEMPELSET MODELL „DIAKON", DATIERT AUF DEN 14. APRIL 1696 GW * 1 STANGE SIEGELWACHS * 11 PRÄSERVATIVE, FRISCH GEWASCHEN, EINGEFETTET UND ZUM TROCKNEN AUSGELEGT * EINE AKTZEICHNUNG VON BLAUDRACHE LEMOREL MILDERELLEN, MIT IHREM NAMEN VERSEHEN * FÜNF GEZINKTE SPIELKARTENPÄCKCHEN * ZWEI
PRÄPARIERTE WÜRFEL * 87 BLÄTTER LIEBESGEDICHTE IN KNITTELVERSEN AN 37 UNTERSCHIEDLICHE FRAUEN * 327 LIEBESBRIEFE VON 52 FRAUEN / Lemorel kämpfte die aufwallende Übelkeit nieder und riß dann den Lochstreifen aus der Maschine. Ihre ganze wunderbare Romanze war nichts weiter gewesen als eine schäbige Gemeinheit. Er besaß einen Stempel, mit dem er diese verfluchte Kondomschachtel jedesmal neu versiegeln konnte, wenn er eine potentielle Eroberung mit seiner Tugendhaftigkeit und Vernunft beeindrucken wollte. Wieviele waren ihr auf dem Pfad zu seinem Bett vorangegangen - und wieviele gefolgt? Sie setzte sich wieder an die Tastatur und schrieb: - 95 / ANWEISUNGEN BEZÜGLICH JOHN GLASKEN, STUDENT * KONFISZIEREN: SEINE PISTOLE, DAS GELD, KLEIDUNG, DIPLOM, STEMPELSET UND ALLES, WAS ER ALS STUDENT NICHT UNBEDINGT BENÖTIGT * VERBRENNEN: SÄMTLICHE ZEICHNUNGEN, GEDICHTE UND BRIEFE SOWIE AUCH DIE LISTE DESSEN, WAS IN SEINEM ZIMMER GEFUNDEN WURDE * ABSCHNEIDEN: DIE SPITZEN ALLER PRÄSERVATIVE / Lemorel riß sich von der Tastatur det Hoheliber los, als die Morgendämmerung begann. Sie verließ das Arbeitszimmer und setzte sich draußen auf dem Korridor auf eine Bank. Sie versuchte ein Nickerchen zu machen, mußte aber immer wieder an Glasken denken. War Joan Jiglessar seine neue Freundin, oder war das nur eine flüchtige Liebelei? Was hatte diese joan, was Lemorel nicht hatte? Es kam ihr fast so vor, als gäbe es zwei Glaskens: der eine klug, sensibel und aufrichtig, der andere mit einer Neigung zum Saufen, zu Schlägereien und den ordinärsten und geschmacklosesten Ausschweifungen, die man sich nur vorstellen konnte. Im Moment ergriff die schiere Erschöpfung nach dieser Nacht von ihr Besitz. Sie schlief im Sitzen ein, der Kopf sackte ihr zur Seite, und die Hände hatte sie im Schoß gefaltet. »Ein großartiger Schauspieler«, murmelte sie im Schlaf, »und Liebe ist immer Schauspielerei.« Als der Diener der Hoheliber sein Tagewerk antrat, fand er Lemorel geduldig vor seiner Tür wartend vor. Er nahm an, daß sie aufgrund irgendeines Mißverständnisses seitens der Wachen vorgelassen worden war, und erklärte ihr schnell, daß die Hoheliber nicht anwesend sei. In Wirrinya begannen die Verschwörer, mit Messern aufeinander loszugehen, kurz nachdem um sieben Uhr die Tagschicht begonnen hatte. Während Lemorel in den nach Geißblatt und Jasmin duftenden Gärten der Universität saß und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, lieferten sich die Verschwörer eine Schießerei mit dem Turmmarschall von Wirrinya und seiner Wache - die gekommen waren, um nachzusehen, was das ganze Spektakel zu bedeuten hatte. Zwei Verschwörer überlebten und gestanden nach maßvoller Folter, im Sold einer religiösen Splittergruppe aus dem Südmaurenreich zu stehen, die etwas dagegen hatte, daß die - 95 Signalfeuerstrahlen des Turms von Darlington über südmaurisches Territorium hinweg gesandt wurden. Die abgeänderten Daten hatten beim Bürgermeister von Deniliquin den Eindruck erwecken sollen, der Emir von Cowra ziehe für einen Überraschungsangriff Truppen zusammen. Wäre Schiva in Darlington nicht gewesen, der Bürgermeister hätte darauf mit einem Präventivschlag reagiert und damit einen Krieg ausgelöst, dem gleich zu Beginn der Darlingtoner Turm zum Opfer gefallen wäre. Diplomatische Noten gingen hin und her, und der Scharfrichter des Emirs hatte einige Tage lang ordentlich zu tun. Währenddessen wurde, fern im Süden, John Glasken zu zwei Wochen am Pranger verurteilt. Hoheliber Zarvora mußte ihre Reise in den Westen unterbrechen und nach Rochester zurückkehren. Sie rief Lemorel zu sich, um die Frage zu klären, ob sich der Kalkulor über das Signalfeuernetz von jemandem steuern ließe, der das Hauptkennwort kannte, und Lemorel versicherte ihrer Vorgesetzten, daß dies durchaus möglich sei. Zarvora murmelte eine obszöne Bemerkung auf Altanglaisch. Einen Tag später wurde Lemorel in den Silberdrachenrang befördert und leitete von nun an ein Projekt, das die Sicherheit des Kalkulors verbessern sollte. In diesem Jahrhundert war sie die jüngste Bibliothekarin, die diesen Rang bekleidete oder bekleidet hatte.
Frisch vom Pranger entlassen, kehrte Glasken recht gedämpfter Stimmung in sein College zurück. Zwar hatte er sich an einem Springbrunnen Gesicht und Haare gewaschen, aber er stank trotzdem immer noch so schlimm, daß sich die Leute auf der Straße Taschentücher vor die Nase hielten, wenn er vorüberging. Im Villiers College angelangt, ging er schnurstracks in den Anbau, der die Wäscherei barg. »Schmutzige Wäsche, Fras Glasken/« erkundigte sich der ältliche Beamte an seinem Pult. »Ich möchte bitteschön baden«, erwiderte Glasken leise. »Aber Ihr habt doch diesen Monat schon gebadet.« »Na und? Dann bade ich halt nochmal!« schnauzte Glasken. Nun verzog der Beamte mit einem Mal die Nase und spähte über seine Brille hinweg zu den Hautabschürfungen an Glaskens Hals hinüber. Dann schenkte er ihm ein zahnloses Lächeln. »Ach, es gibt doch wirklich nichts Schlimmeres als ein paar Tage - 96 am Pranger, nicht wahr, Fras? In ein Holzgestell eingesperrt zu sein, tagsüber mit faulem Obst und Unrat beworfen zu werden und dann die Nacht über angekettet zu sein und sich den ganzen Dreck nicht vom Leib kratzen zu können. Ich hab das selber mal durchgemacht, damals, '47, oje ...« »Gibt es warmes Wasser?« »Ja, Ihr könnt fünf Eimer warmes und neun Eimer kaltes Wasser haben ... Aber mehr nicht! Ich hatte mich in den Kleidern des Revisors herausgeputzt, die er in meiner Wäscherei hatte liegenlassen.« »Ich habe kein Geld dabei, schreibt es bitte auf meine Collegerechnung.« »Man hat mich in neun Wirtshäusern zu Bier und Kuchen eingeladen, bis mir dann der richtige Revisor über den Weg gelaufen ist.« »Badesalz und Handtuch bitte.« »Warum haben die Euch denn das Halseisen angelegt, junger Fras?« Glasken richtete sich auf und streckte die Brust heraus. »Ich habe mich eines Verbrechens schuldig bekannt, um die Ehre einer Dame zu retten«, antwortete er in wehmütigem Ton. Der Beamte kratzte sich am Kopf. »Das klingt aber gar nicht nach Eurem Typ Frau, Fras Glasken.« Eine Dreiviertelstunde des Einweichens und Abschrubbens munterten Glasken doch erheblich auf, und er beschloß, von nun an mindestens alle zwei Wochen ein Bad zu nehmen. Er wickelte sich in ein fadenscheiniges Collegehandtuch, ließ seine Kleider gleich in der Wäscherei und taperte dann, die Stiefel in Händen, nach oben auf sein Zimmer. Der Schlüssel ließ sich sonderbar schwer umdrehen, und als Glasken die Tür aufschob, spürte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Einige Dinge lagen oder standen andere, als er sie zurückgelassen hatte. Wie lasterhaft Glasken auch leben mochte, in häuslichen Dingen hielt er Ordnung. Er warf seine Stiefel hin und zog eine Schublade auf. Sein Geld, sein Reisepaß, seine präparierten Würfel und gezinkten Karten waren fort! Er riß die Schranktür auf: Reitzeug, Offlziersstock, Steinschloßpistole, Säbel und Kleider - alles futsch! Auch die Bilder vom Kaminsims waren verschwunden, sogar das eben erst erworbene Diplom. Er sah sich bestürzt um, ebenso beklommen wie wütend. Normale Diebe hätten ein Bild der Verwüstung hintetlassen und nur das mitgenommen, was sich auf dem Nachtmarkt leicht zu Geld machen ließ. Die hier aber waren methodisch, böswillig, gar rachsüchtig vorgegangen. Seine Schafdarmkondome lagen - 96 zwar immer noch auf dem Fensterbrett zum Trocknen aus, aber bei allen war die Spitze abgeschnitten. Da bekam es Glasken mit der Angst. Er setzte sich aufs Bett und beschloß, sich erst einmal hinzulegen und sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er den Einbruch anzeigte, wurde der Dieb vielleicht gefaßt. Aber wie sollte Glasken dann die präparierten Würfel, gezinkten Karten und eine Pistole erklären, für die er keinen Waffenschein besaß und die sowieso gestohlen war? Was sollte er tun? Er mußte in aller Ruhe darüber nachdenken. Er schlug die Decke zurück und wollte seinen Kopf eben zur wohlverdienten Rast aufs Kissen betten, als er etwas erblickte, das wie ein frischer Blutfleck aussah. Mitten auf dem Kissen prangte das Zeichen von Libris! Um Glasken her blieb die Welt stehen, und sein gesamtes Bewußtsein konzentrierte sich auf den Stempelabdruck eines über einem Dolch
zugeschlagenen Buchs. Das Zeichen war recht bekannt, wurde aber nur selten genutzt - es war wie etwas aus einem billigen Abenteuerroman ... aber dennoch war es da, die legendäre Warnung vor baldigem Verhängnis. Sie würden ihn töten, es sei denn, er beachtete diese Warnung und machte es wieder gut - aber was? Er hatte Wein gestohlen, hatte sich geprügelt und Unzucht getrieben, aber weder er noch seine Missetaten waren bedeutsam genug, um das Zeichen zu verdienen. Vielleicht war es ein Versehen, ja, das war es bestimmt. Man hatte ihn mit jemand anderem verwechselt. Er brauchte dringend einen hochrangigen Drachenbibliothekar, der ein Wort für ihn einlegte. Mit einem Mal tat sich in seinem Innern ein Abgrund auf. Er fühlte sich ganz leicht und hohl, so als könnte ein Windhauch ihn fortwehen. Lemorel! Sie hatte mit der Hoheliber zu tun. Er versuchte sich an ihre letzten Worte ihm gegenüber zu erinnern. Sie hatte der Hoheliber von irgendeinem Problem mit den Signalfeuertürmen berichten wollen. Was hatte die Hoheliber ihr daraufhin erzählt? Ja, das mußte es sein. Lemorel hatte sonst stets zu seinen Gunsten ausgesagt, wenn man ihn vor Gericht gezerrt hatte, diesmal aber hatte sie nicht auf sein Schreiben reagiert. Glasken erschauderte. Das war das Dumme, wenn man eine einflußreiche Geliebte hatte. Ihre Gönnerschaft war fabelhaft gewesen, aber ihre Rache schlug nun wie eine Bombe ein. »Über wen hat sie etwas erfahren?« fragte er die Reihe der geköpften Kondome auf dem Fensterbrett. »Über Joan Jiglessar, Carol Mhoreg, diese Magd da aus der Mensa oder vielleicht gar irgendein Mädchen aus der Woche davor?« - 97 Glasken griff unter sein Bett, tastete dort herum und zog schließlich ein kurzes Drahtstück hervor. »Ha! Meinen größten Schatz haben sie übersehen!« sagte er, kicherte und gab dem Draht dann mit schwungvoller Gebärde einen Kuß. Immer noch nur in ein Handtuch gewandet, suchte er sein Zimmer systematisch nach weiteren Wertsachen ab. Alles, was für eine Reise nützlich gewesen wäre, war fort; irgend jemand wollte unbedingt, daß er in Rochester blieb. Sie würden erwarten, daß er vor lauter Hilflosigkeit in Panik geriet - oder vor Wut außer sich war. Er stampfte aus dem Zimmer und ging zurück in die Wäscherei. »Ich sage Euch, Palfors, in mein Zimmer wurde eingebrochen!« verkündete er lautstark, als er eintrat. »Schockschwerenot!« rief der Beamte. »Fehlt viel?« »Kleider, Geld und Papiere. Und dann auch noch mutwillige Beschädigungen: Rote Tintenflecken auf meinem Bett und so etwas.« »Hört sich eher nach Studenten an als nach Einbrechern von außerhalb. Ihr geht am besten gleich zum Rektor.« »Aber nicht in einem Handtuch, das geht nicht. Wann sind denn meine Kleider wieder trocken?« »Die habe ich gerade erst eingeweicht, Fras, aber ich könnte sie durch das Tretrührwerk jagen und dann vor dem Ofen trocknen. Dauert allerhöchstens zwei Stunden.« »Nun, dann warte ich halt noch zwei Stunden. Ich gehe wieder auf mein Zimmer. Ihr habt in den letzten beiden Wochen nicht zufällig jemand Verdächtiges gesehen, der sich hier im College herumgetrieben hat, Fras Palfors?« »Äh ... nur ein paar Rotdrachenbibliothekare.« »Spätabends?« »Ja.« »Nun, wir wissen ja alle, was man mit gestohlener Kleidung anstellen kann, nicht wahr?« Der Mann nickte, mit großen Augen und offenstehendem Mund; dann schlurfte er fort, um Glaskens Kleider zu waschen. Glasken beugte sich über den Tresen und las die Beschriftung auf einigen Wäschebündeln. »Matheran, Chanye, MacLal, Orondego, Lorgi - ach ja, Fras Lorgi, ein Mann von genau meiner exzellenten Statur.« Glasken verließ die Wäscherei in Lorgis Kleidern, das Gesicht des
J75 ~ ungewöhnlich kalten Oktoberabends wegen weitgehend unter einem Strickschal verborgen. Er hatte sich zu einer so schnellen Flucht entschlossen, daß selbst Libris mit all seinen Mitteln erst die Verfolgung aufnehmen konnte, wenn er längst auf und davon war. Er war schon sehr viel zuversichtlicher, da er nun wieder bekleidet war, aber Geld war der Schlüssel zu allem anderen und an Geld kam man auch heran, wenn man nur kühn genug war. Mit dem Dietrich in der Hand machte er sich auf den Weg zum Büro des College-Zahlmeisters. Die Essensglocke erklang gerade, als er anklopfte, um sicherzustellen, daß niemand da war. Glasken brauchte nur wenige Augenblicke, das simple Türschloß zu knacken. Er ließ die Tür hinter sich einen Spalt breit offenstehen und schlich durch den dunklen Raum zur Geldkassette. Deren Schloß war schon schwieriger zu knacken, doch schließlich öffnete sich die Zuhaltung, und Glasken hob einen Beutel aus der Kassette und wog ihn in der Hand. Ungefähr fünfzig Münzen, mehr als genug für seine Flucht. Bloß wohin? Mit so viel Geld konnte er einen ahnungslosen Lockvogel engagieren, der in den Süden reiste, während er selbst einen Windzug nach Westen nahm, in Länder, die jenseits der Reichweite von Libris lagen. Doch mit einem Mal wurde die Tür aufgeschoben, und Licht flutete in den Raum. »Stoneford, seid Ihr da? He, wer -?« Glasken knüppelte ihn mit dem Münzbeutel nieder. Als er die Tür hinter sich zuzog und auf den Korridor stürzte, prallte er blindlings mit der Ptozession der Edutoren zusammen, die in vollem Ornat zum großen erhöhten Dozententisch der Mensa unterwegs waten. Der Beutel rutschte ihm aus der Hand, und Gold- und Silbermünzen fielen vor seinen Augen in einer klimpernden Kaskade zu Boden. Zur zehnten Stunde saß Glasken in einer Zelle der Hauptwache. Die Edutoren des Villiers College beschuldigten ihn, in das Büro des Zahlmeisters eingebrochen, 51 Silbernobel und sechs Goldroyal gestohlen und den Rektor bewußtlos geschlagen zu haben. Man übergab ihn der Polizei, die ihn einem Richtet vorführte, der formell Anklage gegen ihn erhob. Da er sich offenbar mit Schlössern gut auskannte, legte man ihm, nachdem man ihn entkleidet und mit einer gestreiften Hose und einet Decke ausgestattet hatte, eine Kugel- und Kettenfessel an, die mit einer massiven Niete verschlossen wurde. Einige Tage später erwachte er davon, daß die Zellentür aufgeschlos - 98 sen wurde, und als er hochsah, führte man Lemorel herein. Er stand sofort auf und streckte die Arme nach ihr aus. Sie lächelte nicht. Das war ein schlechtes Zeichen. Er machte eine flehende Geste. »Ach, Lern, Liebste, man hat mich zu Unrecht -« »Man sagt, die Tugend sei ihr eigener Lohn«, unterbrach sie ihn. »Wie ich sehe, ist der Lohn des Lasters aber weit angemessener.« Verachtung troff aus ihren Worten wie vergifteter Honig. »Wie meinst du das?« fragte Glasken ängstlich. »Ich bin zur Silberdrachenbibliothekarin befördert worden, Glasken, und ich will nicht, daß Gerüchte über unsere Liaison meine Laufbahn überschatten. Ich bin nicht ohne Einfluß, und es gibt viel, was ich unternehmen könnte, um dir das Leben schwer zu machen. Ich könnte sogar dafür sorgen, daß die letzten vier Sekunden dieses Lebens darin bestehen, daß du das Innere eines Signalfeuerturms hinabstürzt. Der Gedanke, daß ich mich von dir habe übertölpeln lassen, erfüllt mich mit Abscheu, und wenn ich daran denke, daß eine Nacktzeichnung von mir über deinem Bett hing, während du mit Joan Jiglessar darin lagst, könnte ich kotzen.« Glasken dachte darüber nach. Er hatte Joan an vielen Orten beschlafen, und viele andere Mädchen in seinem Collegebett, nie aber dieses Mädchen in diesem Bett. Woher auch immer Lemorel ihre Informationen hatte, die Quelle war nicht unfehlbar, schloß er erleichtert. »Lern, bitte, du mußt nur noch ein einziges Mal zu meinen Gunsten aussagen. Man wirft mir vor, einen Edelmann gewaltsam angegriffen zu haben. Kannst du dir vorstellen, was der Richter dazu sagen wird? Darauf steht der Tod, entweder durch den Strang oder durch ein Exeku-
tionskommando, je nach dem, wie er gerade gelaunt ist. Und wenn ich Pech habe, wird man mich vorher auch noch in aller Öffentlichkeit foltern.« Diesmal war Glasken aufrichtig. Er konnte die Riemen an seinen Handgelenken förmlich spüren und hörte die Sperräder buchstäblich klacken. Lemorel kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und lächelte. »Wenn du irgend jemandem erzählst, daß zwischen uns jemals mehr bestand als eine flüchtige Bekanntschaft, bringe ich dich eigenhändig um. Wenn du schweigst, werde ich dafür sorgen, daß du weder getötet noch gefoltert wirst - zumindest nicht für diese Vergehen.« »Das ist alles?« »Das ist alles.« - 99 Glasken stieß einen unfein lauten Erleichterungsseufzer aus und willigte ein. Am nächsten Morgen wurde Glasken vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Der Richter ließ die Worte noch ein wenig wirken, und Glasken stand schlotternd in det Anklagebank, und Schweißtropfen liefen ihm aus den Achselhöhlen die Rippen hinab. Det Richter räusperte sich und richtete seine Perücke. »John Glasken, als ich Euch vor nicht einmal drei Wochen zum Pranger verurteilte, war ich anschließend der glücklichste Mann von ganz Rochester«, sagte er und sah sich im Gerichtssaal um. »Es war eine bescheidene kleine Genugtuung, nach dem, wie Ihr die Ehre meiner Enkeltochter besudelt hattet -« »Das stimmt nicht, Euer Ehren«, unterbrach ihn Glasken. »Sie war neunzehn Jahre alt, und ich habe sie im Krug und Kröte kennengelernt -« »Ruhe im Saal!« Glasken verstummte sofort. »Also, wie gesagt: Stellt Euch meine Freude vor, als ich so bald darauf die Gelegenheit bekam, Euch wegen eines weiteren Vergehens zum Tode zu verurteilen. Leider werdet Ihr jedoch keine Gelegenheit erhalten, an einem Galgen zu baumeln. Man läßt Euch gegenüber Milde walten, weil wir heute den Geburtstag des Bürgermeisteis feiern.« Glasken wollte schon jubeln, besann sich dann aber doch eines Besseren. Der Polizeichef und seine beiden anwesenden Beamten grinsten, aber die saßen ja auch nicht mit dem Gesicht zum Richter. Der Gerichtsschreiber hielt mit dem Gänsekiel inne, um das neue Strafmaß zu protokollieren. »Fras John Glasken, gemäß der vom Bürgermeister von Rochester mir übertragenen Vollmacht wandele ich Eure Verurteilung zum Tode hiermit um in ein Jahr in den glühend heißen Wüsten des Westens...« Glasken guckte ungläubig und konnte sich gerade noch davon abhalten loszujubeln. »... ein Jahr für jede einzelne Münze in dem Beutel, mit dem Iht den Rektot geschlagen habt.« Glasken wankte und wäre zusammengebrochen, wenn er sich nicht am Geländer der Anklagebank festgehalten hätte. Der Richtet grinste unverhohlen und fuhr fort: »Ich komme da auf siebenundfünfzig Jahre. Ist das korrekt?« »Ja, Euer Ehren«, erwiderte der Gerichtsschreiber. »Habt Ihr noch etwas zu sagen, Fras Glasken?« - 99 »Ich möchte Bürgermeister Jefton gerne alles Gute zum Geburtstag wünschen und mich bei ihm für sein Geschenk bedanken«, sagte Glasken in einem eher sarkastischen als trotzigen Tonfall. Das Gesicht des Richters lief vor Wut hochrot an, aber Glasken war durchaus vertraut mit den Verfahrensweisen vor Gericht. Das Urteil war gefällt und ließ sich nun nicht mehr abwandeln. Dem Bürgermeister zum Geburtstag zu gratulieren stellte keine Mißachtung des Gerichts dar, selbst wenn es bewußt geschah, um den Richter vor den Kopf zu stoßen. »Möget Ihr noch weitere siebenundfünfzig Jahre leben, Glasken«, sagte der Richter und reichte dem Polizeichef seinen silbernen Amtsstab, um die Verhandlung zu beenden. Glasken wurde von zwei Polizeibeamten aus dem Gerichtsgebäude geführt und in einem gepanzerten Wagen angekettet. Die Fahrt zum Gleitbahnhof dauerte fast eine Stunde, und dort führte man den Gefangenen, der immer noch seine Kugel- und Kettenfessel trug, zum Büro des Zollinspektors. Der Beamte quittierte den Empfang, und Glasken wurde bewacht, bis man ihn dann dem Zugchef übergeben konnte.
Er saß schweigend da, ängstlich und schwach. Er war zwar nur knapp dem Tod entronnen, aber nun stand ihm ein äußerst unangenehmes Leben bevor. Ein Mann, von dem er annahm, er sei mit dem Zug gekommen, kam herein, eine Schriftrolle in der Hand. Er ließ die Wachen abtreten, und zwei bewaffnete Uniformierte traten an ihre Stelle. »Gefangener Glasken, ich muß noch ein paar Einzelheiten überprüfen«, sagte der Mann freundlich. »Wie ich hier sehe, habt Ihr studiert.« »Ja, ich werde der gebildetste aller Kettensträflinge sein«, seufzte Glasken. »Vielleicht auch nicht. Ihr habt ein technisches Diplom mit guten Noten in Arithmetik.« »Ja, aber Chemie ist -« »Ausgezeichnet«, sagte der Mann, lächelte breit und rollte das Schriftstück wieder zusammen. Dann wandte er sich an die beiden Uniformierten. »Knebelt und fesselt ihn, und fahrt dann mit dem Wagen rückwärts hier vor.« Noch während sie sich diebisch über den eben erst unterzeichneten Befehl freute, Glasken als Komponente in den Kalkulordienst einzuberufen, wurde Lemorel aufgefordert, an einer speziellen Expertenkommission teilzunehmen. Die Angelegenheit war so dringend, daß man sie von zwei bewaffneten Rotdrachen holen ließ. Ein junger Mann ungefähr in - 100 Lemorels Alter saß in Ketten in einem der Seminarräume, und der Anlaß der Untersuchung war so heikel, daß keine Wachen anwesend waren. Der Blick des jungen Mannes war angespannt und durchdringend, zeugte aber eher von großer Neugier als von Aggressivität. Zarvora ging rastlos auf und ab, während sie sich an ihre vier Berater und an den Gefangenen wandte. »Vor ein paar Tagen hat sich dieser Überträger, Nikalan Vittasner, verkleidet aus dem Turm von Darlington fortgeschlichen und ist dann zur Grenze nach Deniliquin geritten. Mit gefälschten Papieren überquerte er die Grenze und fuhr dann mit einem Tretzug weiter nach Rochester. Und heute morgen hat er bei mir um eine Audienz gebeten.« Mit ausdrucksloser Miene bemühte sich Lemorel, ihr Erstaunen und Entsetzen im Griff zu behalten. »Er behauptet, er habe dabei geholfen, die Verschwörer von Wirrinya zu enttarnen, und er hat mir Dokumente vorgelegt, die das belegen sollen. Er behauptet außerdem, jemand in Libris namens Geldiva habe ihm dabei geholfen und eine schwierige Entschlüsselung für ihn durchgeführt.« Die Hoheliber hielt inne. Sie wollte eine Stellungnahme. »Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß er den Kalkulor von Libris benutzt haben könnte«, sagte Lemorel mit ausdrucksloser Stimme. »Wir haben Belege dafür, daß es in Darlington einen eigenen, kleinen Kalkulor gibt, und dort könnte er die Befehlsstruktur Eures Kalkulors gelernt haben.« Zarvora nickte. »Die Indizien haben diese These bis vor ein paar Stunden gestützt, aber das ist nun vorbei. Meine Proben haben ergeben, daß dieser Nikalan hier über die erstaunlichsten Kopfrechenfähigkeiten verfügt, die mir jemals begegnet sind. Sie entsprechen einem signifikanten Bruchteil des Kalkulors von Libris. Und er bestreitet, von irgendeinem Kalkulor auch nur zu wissen.« »Wenn Ihr gestattet!« schaltete sich Nikalan ein. Er erhob sich. Er war so groß wie Glasken, dabei aber schlank und muskulös, ohne irgendwelche der Trägheit und dem Biergenuß geschuldeten Pölsterchen ... und er war sehr, sehr klug. Er ist wie Glasken, bloß ohne all die Fehler, dachte Lemorel anerkennend. »Ich scheine Euch zu verwirren, Hoheliber. Wenn Ihr gestattet - können wir ganz offen miteinander reden?« - 100 Zarvora nickte. Lemorel erzitterte. »Vor zwei Jahren wurde der Turmaußenposten Ballerie Vale von Räubern aus dem Nordmaurenreich überfallen und niedergebrannt. Der Posten war weniger als ein Knoten und doch mehr als eine Repetieranlage, gerade wichtig genug, um über ein Hauptkodebuch zu verfügen. Die Überträger und die Turmbesatzung wurden niedergemetzelt.«
»Ich habe den Bericht gelesen«, sagte Zarvora. »Die Überträger konnten noch einige Nachrichten absetzen, daß sie angegriffen wurden, ehe ihre Turmplattform mit brennenden Armbrustpfeilen beschossen wurde. Es wurde schnell reagiert, und der Marschall von Walgett traf mit zweihundert Reitern ein, während die Feuer noch brannten, aber die Räuber waren schon wieder fort. Es war ein grausamer, sinnloser Überfall.« Nikalan erbebte, preßte die Lippen aufeinander und runzelte die Stirn. Als er sich wieder gefangen hatte, wai sein Tonfall milder, neutraler. »Nein, keineswegs. Ich habe sehr ausführlich nach einem bestimmten Leichnam gesucht, einem Leichnam mit einem Kupferarmreif am linken Handgelenk. Die Leichen derjenigen, die im Freien umgekommen waren, waren erst seit einigen Stunden tot, aber die verkohlten Leichen in den ausgebrannten Gebäuden waren es schon seit mindestens einer Woche. Ich habe Mikkis sterbliche Überreste persönlich in das Leichentuch eingenäht. In ihr wimmelte es nur so von verkohlten Maden, und sie war schon seit vielen Tagen tot. Und bei zwei Dutzend weiteren war es genauso.« Er hielt einen Moment lang inne, damit alle begriffen, was das bedeutete. Der Turm hatte etwa eine Woche lang der Kontrolle der Räuber unterstanden. Männer mit Übetttägerkenntnissen hatten den Turm überfallen, das Hauptkodebuch in ihre Gewalt gebracht und eine Woche lang den Signalfeuerverkehr geübt. Dann waren sie wieder verschwunden, hatten noch diejenigen getötet, die Ihren ursprünglichen Überfall überlebt hatten, und die Beweise verbrannt. »Der Marschall hat diese Maden bewußt übersehen. Vielleicht wurde er bestochen.« Nun verlor er die Fassung. »Sie haben meine wunderschöne Mikki umgebracht!« schrie er. Verblüfftes Schweigen. Der letzte, der in Gegenwart der Hoheliber geschrien hatte, war der Leitet der Katalogabteilung gewesen, und der war nun Multiplikatot. - 101 »Fahrt bitte fort«, sagte Zarvora ganz ruhig. »Meine unvergleichliche Mikki«, stöhnte Nikalan, ohne sich zu entschuldigen. »Und wenn Ihr mich für einen fähigen Kalkulor haltet, o Hoheliber, dann glaubt mir - meine Fähigkeiten sind nichts verglichen mit den Ihrigen. Mir war klar, daß sie wieder zuschlagen würden, und daß sie diesmal versuchen würden, einen Turm monate- oder gar jahrelang unter ihrer Kontrolle zu behalten. Dazu würden sie sich wahrscheinlich als Jungüberträger ausgeben und die Besatzung irgendeines abgelegenen Repetierturms unterwandern. Mit dem gestohlenen Kodebuch würden sie sich die Macht der Bürgermeister zunutze machen können, indem sie sicher wirkende Nachrichten manipulierten. Damit konnten sie Vermögen verdienen, Karrieren vernichten, Kriege auslösen ... aber sie wußten ja nicht, daß ich ihnen auf den Fersen war. Ich hatte in der Woche, in der Ballerie Vale in ihren Händen war, Dienst auf dem Turm von Walgett, und ich erinnerte mich an einige Merkwürdigkeiten im Datenverkehr, während diese Mörder dort die Kontrolle hatten. Daraufhin habe ich mich nach Darlington versetzen lassen, auf einen Turm mit einem hohen Verkehrsaufkommen.« »Und wieso nicht zu dem großen Knoten in Griffith?« fragte Lemorel. »Nein, Darlington war so unbeliebt und abgelegen, daß ich dort schnell zum Schichtleiter aufsteigen konnte. Und ich mußte Schichtleiter werden, damit ich die Einträge in den Datenverkehrslogdateien fälschen konnte. Und von da an lag ich förmlich auf der Lauer.« Lemorel verschlug es angesichts seiner Tapferkeit und Entschlossenheit die Sprache. Nikalans Streben nach Rache für seine Liebste hatte ihm soviel Macht eingetragen, daß er das Netz ebenso hatte manipulieren können wie die Verschwörer von Wirrinya, und dennoch war er nicht von seinem Ziel abgewichen: sich für den Tod seiner Geliebten zu rächen. Er hätte sich selbst zum Kastellan ernennen und ein Vermögen anhäufen können, aber er war seiner geliebten Mikki treu geblieben. Wieso nur konnte keiner ihrer Liebhaber so treu sein, fragte sich Lemorel, und es versetzte ihr einen Stich, so daß sie fast zusammenzuckte. »Meinungen?« fragte die Hoheliber. Lemorel atmete zweimal tief durch, um ihre Stimme zu festigen. »Das ist durchaus möglich«, sagte sie. »Man hat in Wirrinya Abschriften aus einem Hauptkodebuch gefunden. Ich schlage vor, Griffith davon
- 102 in Kenntnis zu setzen. Das Hauptkodebuch des Zentralbundes muß komplett ausgetauscht werden.« »Das wird geschehen«, sagte Zarvora. »Aber ein wichtiger Punkt gibt mir doch noch Rätsel auf, Nikalan. Warum habt Ihr die Nachrichten aus Wirrinya nur bereinigt? Warum habt Ihr nicht den Marschall von Griffith alarmiert, damit er mit einem Kavalleriekommando eingreift?« »Ich soll einem Marschall vertrauen, Hoheliber? Spione hätten die Verschwörer gewarnt, ehe die Kavallerie des Marschalls auch nur die Stadt verlassen hätte. Die Scheißkeile hätten sich in null Komma nichts über die Weddinberge ins Südmaurenreich abgesetzt. Ich wollte Rache, und ich hätte nur noch eine Woche gebraucht, um den Kode ihres Gebieters zu knacken, als mir jemand von hier aus zuvorkam und dafür sorgte, daß sie sich gegenseitig umbrachten.« »Euch zuvorkam?« sagte Lemotel. »Aber Ihr wart es doch, die ihr -dem Kalkulor, meine ich befohlen habt, den Kode zu knacken.« »Nein, nein ... sie hat mir geholfen ... Mikki zu rächen.« Er setzte sich und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Nachdem er den Verschwörern jahrelang nachgestellt hatte, war der Dämon, der ihn getrieben hatte, nun endlich fort und ließ ihn erschöpft und ziellos zurück. Das einzige, woran er nun noch zu denken vermochte, war die phantastische Möglichkeit, daß es noch jemanden gab, der so war wie Mikki. Und nur Lemorel wußte, daß seine Verbündete eine Ausgeburt ihrer Phantasie in Kombination mit einer fantastischen Maschine war. »Wenn das, was Ihr sagt, wahr ist ...«, begann Zarvora und verstummte dann. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« »Hoheliber, bitte laßt mich zu ihr. Ich habe mir nie träumen lassen, daß es noch jemanden wie Mikki geben könnte, und dann ist sie mit einem Mal am anderen Ende der Signalfeuerverbindung aufgetaucht.« »Aber Ihr habt doch die Befehle gegeben -« »Nein! Sie kam mir zur Hilfe. Hoheliber, ich hätte in den Zentralbund fliehen können, doch statt dessen habe ich alles aufgegeben, nur um diese Dame kennenzulernen. Bitte laßt mich zu ihr, zu Geldiva, der Weberin der Illusionen.« »Euch zu ihr lassen? Unmöglich!« »Das seid Ihr mir schuldig!« Es war offenkundig, daß er einem Nervenzusammenbruch nahe war und Drohungen bei ihm nichts bewirkten. Lemorel zog ihre Hände in die - 102 Ärmel zurück, damit niemand sah, daß sie zitterten. Tarrin räusperte sich. »Ich schlage vor, daß wir sie, äh, einander vorstellen, Hoheliber. Das dürfte ihn wieder zur Besinnung bringen.« »Ja, ja, führt mich auf der Stelle zu ihr!« »Er soll dem Kalkulor vorgestellt werden?« rief Zarvora und schüttelte verärgert den Kopf. »Ihr hört Euch schon an wie Lewrick.« »Nein, nein, wir führen ihn nur auf die Systemsteuerungsplattform, und dann kann er es sich mit eigenen Augen anschauen.« Zarvora sah sich zu ihren übrigen Beratern um, aber nur Lemorel schüttelte den Kopf. »Hoheliber, nur ein Blick auf den Kalkulor und -nun, es ist doch offensichtlich, was das in seiner gegenwärtigen Verfassung bei ihm auslösen wird. Gönnt ihm erst einmal ein paar Tage Ruhe.« »Nein! Hört nicht auf sie, Hoheliber! Ich will sie sofort sehen!« Zarvora überlegte einen Moment lang, zuckte die Achseln und forderte die anderen dann mit einem Wink auf, ihr zu folgen. Sie legten die kurze Entfernung langsam zurück, begleitet vom rhythmischen Rasseln von Nikalans Ketten. Zwei Wachen entriegelten eine eisenbeschlagene Holztür, und als sie aufgeschlossen und geöffnet wurde, drang aus der Ferne die Kakophonie des Geschwirrs und Geklickes und der surrenden Drähte heraus, die den Herzschlag des Kalkulors bildete. Fast außer sich vor Anspannung und Gewissensbissen, packte Lemorel Nikalans Arm, während die anderen schon hineingingen.
»Ich habe versucht, Euch zu warnen«, flüsterte sie, aber er blickte sie nur finster an und riß sich los. Sie betraten die Empore und sahen über das Geländer hinab. »Das ist Geldiva«, sagte Zarvora. »Tausend Menschen, an Pulte gekettet, aufgeteilt auf zwei einander gegenseitig überprüfende arithmetische Prozessoren. Achthundert Abakuseinheiten, zweihundert höhere Funktionen und etliche Kilometer über Rollen laufende Übertragungsdrähte für den Datenverkehr. Geht es Euch nicht gut?« Nikalan sank langsam zu Boden. Sein Mund stand offen, die Augen waren weit aufgerissen, und Tränen liefen ihm die Wangen hinab. Zarvora kniete sich neben ihn. »Das ist es, was Ihr Geldiva nennt. Eine Maschine, die aus tausend Menschen besteht. Viele davon verurteilte Straftäter. Könnte das die wunderbare Dame sein, die Euch geholfen hat?« - 103 »Nein«, sagte Nikalan sehr leise. »Also, wie habt Ihr denn nun die Befehlsstruktur meiner Maschine gelernt? Habt Ihr etwa während meines Besuchs in Griffith im vergangenen Jahr meine Fernzugriffe überwacht?« »Nein, nein, nein! Mikki - Geldiva! Wo seid Ihr? Geldiva!« Die geistige Gesundheit war bereits aus Nikalans Stimme gewichen, als sich sein Geist in einen Abgrund stürzte, um diesem zweiten schrecklichen Verlust zu entgehen. Bei seinen Schreien sahen sich alle im Saal um. Einen Moment lang unterbrach der gesamte Kalkulor die Arbeit und sah zu der Plattform hoch. Die Wachen zerrten Nikalan fort, aber er hörte nicht auf zu schreien. Lemorel atmete tief durch. »Hoheliber -« »Ja, Ihr hattet Recht, das wai schrecklich - aber was genau ist denn da vorgefallen? Kommt mit mir.« Nikalans Schreie hallten Lemorel immer noch in den Ohren, während sie langsam die Korridore entlanggingen. Zarvora war besorgt und verwirrt. »Mathematik, Liebe, Rache«, murmelte sie mit gesenktem Kopf. »Was für eine unglaubliche Liebesgeschichte.« Lemorel hatte ganz nah am Abgrund gestanden und es überlebt -allerdings auf Nikalans Kosten. Zwar hatte sie in Mathematik und Optik Preise eingeheimst, aber ihre Rechenfähigkeit konnte mit der Nikalans oder Mikkis längst nicht mithalten. Sie hatte seine Liebe gewonnen, während sie die größte Rechenmaschine der Welt lenkte, aber ohne diese Maschine konnte sie nicht Geldiva sein. Glasken hatte sie betrogen, und nun hatte sie Nikalan betrogen. Sie saß im selben moralischen Saustall wie Glasken, und es gab für sie nur eine Möglichkeit, da wieder herauszukommen: Sie mußte Geldiva werden. »Seine Hingabe hat mich berührt«, sagte Zarvora. »Mich auch, Hoheliber.« »Ich hätte nicht gedacht, daß es solche Männer tatsächlich gibt. Wieso kann ich nicht mal einen solchen Mann kennenlernen?« »Das habt Ihr doch gerade, Hoheliber.« »Habt Ihr schon einmal eine solche Liebesgeschichte erlebt?« »Meine Liebesaffären waren samt und sonders Fehlschläge, Hoheliber.« »Es muß doch auch anders gehen. Sollte man an der Universität einen Aushang aufhängen? MANN GESUCHT - ER MUSS JUNG - 103 SEIN, GUTAUSSEHEND, TAPFER, SEHR ROMANTISCH, GUT IM BETT UND EIN BRILLANTER MATHEMATIKER, SPEZIALIST FÜR ANGEWANDTE NUMERISCHE VEKTOREN UND LOGIK.« »Ihr könntet doch mal im Kalkulor nachsehen, Hoheliber.« »Sehr witzig. Ihr dürft jetzt wieder zurück an Eure Arbeit. Schreibt bitte eine verständliche Zusammenfassung der vergangenen Stunde. Ich will das heute nachmittag auf meinem Schreibtisch haben.«
Wieder allein in ihrem Arbeitszimmer, aktivierte Zarvora ihre Kalku-lorkonsole, rieb die Fingerkuppen aneinander, sah aus dem Fenster, deaktivierte ihre Konsole wieder und schritt dann um ihr mechanisches Modell des Sonnensystems herum. Mit einem Mal warf sie Mantel und Bluse von sich und betrachtete sich im Spiegel, mit freiem Oberkörper, die Hände auf den Hüften. Von ihren nur mittelgroßen, aber schön geformten Brüsten verengte sich ihr Leib zu einer regelrechten Wespentaille. Sie blätterte in einem Kunstbildband und hielt zum Vergleich etliche Frauenakte hoch, wobei sie jeden mit einer Note von eins bis zehn bewertete. Dann sah sie sich selber wieder an. »Realistisch gesehen - acht!« schloß sie erleichtert. Nachdem sie sich wieder angekleidet hatte, läutete sie nach ihrem Diener. »Ich brauche die Personalakten sämtlicher FUNKTIONS-Komponenten des Kalkulors - die aller Schichten und auch die der Reserveleute«, befahl sie. »Das sind 620 Akten«, ächzte der Diener. »Ja, genau. Und ich will sie in einer Viertelstunde in meinem Arbeitszimmer haben, und dann will ich für den Rest des Tages auf keinen Fall mehr gestört werden.« - 104 6 Der Ruf Maralinga wurde binnen einer Woche nach dem Überfall der Ghaner von einer Bahnstation in eine Garnison verwandelt. Nie standen weniger als vier Windzüge auf Abstellgleisen bereit, prächtig anzusehen mit ihren hohen weißen Rotortürmen, die mit roten und goldenen Spiralmustern lackiert waren, und sie hatten Musketiere gebracht, Techniker, eine neue Besatzung für die Bahnstation und sogar den stellvertretenden Leiter der Gleitbahnbehörde persönlich. Maralinga gehörte zum Woomera-Bund. Woomera gebot zwar über weit mehr Territorium als die Südostallianz, verfügte aber nur über ein Zwanzigstel ihrer Einwohnerzahl. Seine Verteidigungsstrategie gründete sich größtenteils auf seine Abgelegenheit. Es hatte die Wüste als Schutzschild seiner Nordgrenze genutzt, doch nun war dieses Schild mit einem Mal zerbrochen. Sollten Staaten jenseits der roten Wüste die Fähigkeit erlangen, über immense Entfernungen hinweg zuzuschlagen, würde Woomera Verbündete benötigen. Rochester war so ein praktischer, wenn auch ferner Verbündeter. Die Hoheliber schickte einen Galeerenzug mit Truppen und Signalfeuerspezialisten, die zwischen den Bahnstationen Tarcoola und Maralinga eine Behelfsverbindung aufhauten. Militärbeobachter der übrigen Stadtstaaten der Allianz waren angesichts dieser Operation beunruhigt. Wie war es Bürgermeister Jefton gelungen, insgeheim die vorgefertigten hölzernen Signalfeuer-Leuchttürme herzustellen und die neuen, gegliederten und mit einem Eigenantrieb versehenen militärischen Galeerenzüge, die Mannschaften und Material binnen eines Tages über fünfzehnhundert Kilometer weit befördern konnten? Drei Wochen nachdem der Überfall gemeldet worden war, wurde Maralinga offizieller Bestandteil des Signalfeuernetzwerks. Die strategischen Auswirkungen dieser Bravourleistung verursachten so manchem Bürgermeister und Staatsrat schlaflose Nächte. Zarvora hatte gezögert, die Türme aufstellen zu lassen, da diese Operation zeigen würde, über welch erstaunliche neue Stärken das kleine Rochester ver - 104 fügte. Die Züge und Türme waren als zerlegte Ausrüstungsgüter bereitgehalten worden, und in den Bestandslisten hatte man sie als nicht miteinander in Zusammenhang stehende zivile Güter geführt. Der Kalkulor koordinierte die Montage und Beladung der Züge in einem bis dahin nicht für möglich gehaltenen Tempo. Da die Türme aus miteinander verzahnten Teilen bestanden und zu ihrem Aufbau keine spezialisierten Handwerker benötigt wurden, konnten Pioniertrupps diese Arbeit anhand von Bauanleitungen erledigen, die sie auf der Fahrt nach Westen studierten. Jeder Galeerenzug wurde von drei Galeerenloks gezogen, angetrieben jeweils von hundert Mann. Die Maschinen stammten von kleineren, zivilen Zügen und Rangiergaleeren. Die Züge waren windunabhängig, führten eigene Mittel zur Gleisreparatur mit und konnten binnen weniger Tage eine kleine Armee an den entlegensten Endbahnhof befördern. Als diese schnellen
Militärmaschinen zum ersten Mal übet ihr Staatsgebiet gerattert waten, erließen viele Bürgermeister hastig Gesetze, die die Bewegungsfreiheit solcher Züge künftig einschränkten. Gleichzeitig begannen sie mit der Entwicklung eigener Galeerenloks. Der Marschall von Maralinga gehörte der Gleitbahnwache von Woomera an, erhielt seine Befehle aber aus Rochester. Begierig, alles darüber zu erfahren, wie die Räuber dem Ruf widerstanden hatten, schickte Zarvora auch ein Edutorenteam nach Maralinga. Darien leitete die Ermittlungen. Der Überfall selbst war in den anderen Stadtstaaten ein offenes Geheimnis; daß er aber während eines Rufs stattgefunden hatte, wußten nur Zarvora und einige wenige ihrer Berater. Die ganze Bahnstation wurde eingehend untersucht. Rankenfetzen, abgefallenes Laub und Haare wurden eingesammelt und schwer bewacht an die Hoheliber gesandt. Der von den Räubern hinterlassene Müll wurde untersucht und skizziert, und die Waffen und der Zeitschalter des Reiters, den Darien erschossen hatte, gingen zur Auswertung an den Obermarschall von Woomera. Spurenleser verfolgten die Spur der Ghaner bis weit nach Norden zurück, bis zu der Stelle, an der sie aus Sanddünen auftauchte, was bestätigte, daß sie schnurstracks nach Süden geritten waren, als sie die Bahnstation gesehen hatten. Die Spurenleser wurden dreihundert Kilometer weit in beide Richtungen die Gleitbahn entlanggeschickt, um sicherzustellen, daß die verbliebenen Reiter die Strecke nicht wieder in Richtung Norden überquert hatten. Späher hielten auf dem transportablen Leuchtturm im südlichen Abschnitt der - 105 Ebene Ausschau nach zurückkehrenden Ghanern, konnten aber nichts entdecken. Wachtposten wurden anderthalb Kilometer außerhalb von Maralinga in allen vier Himmelsrichtungen aufgestellt. Es waren weiter nichts als hölzerne Barrikaden unter einer Plane, besetzt jeweils mit fünf Musketieren aus Woomera und einem Unteroffizier aus Rochester. Jedem Posten wurden zwei Terrier zugeteilt, und der nördlichste Posten diente zugleich als Rufwarnstation. Der westliche Posten befand sich an der Gleitbahnstrecke, und die Wachen waren nicht überrascht, als aus dem Westen ein Einsiedler die Strecke entlanggewandert kam. Einige Dutzend Einsiedler lebten an der Gleitbahnstrecke verstreut, und sie alle verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie gelegentlich bei der Gleiswartung halfen. Diesen Einsiedler verbellten die Halbterrier. Es war der Morgen des fünfzehnten Oktober 1699, einen Monat nach dem Überfall der Ghaner. »Die wittern irgendwas«, sagte der Unteroffizier aus Rochester. »Dir-bok, Ihr haltet die Hunde an der kurzen Leine. Jaysek, richtet Eure Muskete zwischen seine Augen.« »Aber Fras, er trägt doch gar keine Ranken.« »Er hat einen Leibanker und trägt Kleider wie die des Reiters, den die stellvertretende Oberliber erschossen hat«, sagte der Unteroffizier. Der Einsiedler blieb stehen, lächelte nervös und verbeugte sich. »Fras, die Einsiedler plündern Leichen in der Wüste«, sagte Jaysek. »Es gibt auf diesem Gleitbahnabschnitt ein paar verlauste Leichenfledderer, die so prunkvoll gekleidet sind wie ein Bürgermeister.« Der Offizier strich sich den Bart. Dann trat er ein paar Schritte vor, ließ Jaysek aber freie Schußlinie. »Ein Gleitbahn-Einsiedler müßte doch eigentlich unsere Sprache beherrschen. He, du! Sprichst du AustarischZ« Der Einsiedler lächelte und verbeugte sich noch einmal, sagte aber nichts. Die Hunde bellten immer noch. »Die Hunde halten ihn für den Rankenmann, Fras«, schloß sich Jaysek der Meinung des Offiziers an. »Vielleicht bellen die Hunde auch, weil er wie ein Ghaner riecht«, sagte Dirbok. Der Offizier hob ein Stück Seil hoch und hielt dann die Handgelenke aneinander. Der Einsiedler zögerte noch ein wenig, verstand dann aber die Geste, streckte die Hände hin und ließ sich bereitwillig fesseln. - 105 -
»O Mann, stinkt der nach Kamel!« sagte der Offizier. »Aber er ist tatsächlich so grindig wie ein Einsiedler.« Jaysek brachte den Eremiten nach Maralinga. Der Marschall wurde informiert, und nachdem er sich den geheimnisvollen Neuankömmling angesehen hatte, beschloß er, ihn der stellvertretenden Oberliber vorzuführen. Der Eremit wurde seiner Kleider entledigt, bekam eine Hose und ein Hemd angezogen und wurde dann an eine Bank in der Bibliothek gekettet, während man Darien holen ließ. »Sein Gesicht und seine Hände sind ganz verbrannt, und dort pellt sich die Haut ab, als wate et die Sonne nicht gewöhnt«, berichtete der Marschall Darien, als sie durch den Säulengang aus rötlichem Kalkstein zur Bibliothek gingen. »Und er hat sich auch seltsam verhalten. Er hat den Mund vor Staunen gar nicht mehr zubekommen, als er hereingeführt wurde und die Windzüge sah. Die Gleitbahn-Einsiedler kennen diese Züge so gut wie ihre eigenen Flöhe. Einige gehören sogar der Trainspotting-Bruderschaft von Peterborough an.« Darien nickte und bedankte sich dann mit einer Verbeugung, als sie am Eingang der Bibliothek ankamen. Während der Marschall die Tür aufschloß, notierte sie mit einem Kohlenstift schnell eine Frage. HAT ER ZU ESSEN UND ZU TRINKEN BEKOMMEN? »Frelle, er ist doch nur ein Einsiedler. Er stinkt wie ein Kamelfurz.« IN DER GESELLSCHAFT VON ROCHESTER EMPFÄNGT EIN HÖFLICHER GASTGEBER GANZ GLEICH WELCHEN RANGS EINEN REISENDEN STETS MIT SPEIS UND TRANK. »Wie Ihr wünscht, Frelle.« Der Marschall stampfte davon und murmelte dabei etwas in den Bart. Einen Augenblick später kam er mit einem Tablett wieder. Darauf standen ein Krug Wasser, ein kleines Glas Limonensaft und ein Teller Kümmelkekse und Datteln. Darien nahm das Tablett und die Schlüssel und bedeutete dem Marschall, er solle draußen bleiben. »Aber Frelle, er könnte gefährlich sein.« Darien zuckte mit den Achseln und stellte sich vor der Tür auf. Der Marschall öffnete sie, funkelte, als Darien hineinging, den angeketteten Eremiten an und schloß dann die Tür hinter ihr. Im Land der Ghaner wurde das Essen ausschließlich von Dienern aufgetragen. Da er Ghaner war, hielt der Eremit Darien sofort für eine Dienerin, und zwar für eine Dienerin, die er bereits kannte. Sein sonnenver - 106 branntes, ausgemergeltes, aber nicht unschönes Gesicht kam ihr nicht bekannt vor, und seine Stimme war nun nicht mehr gedämpft, aber dennoch erkannte sie ihn auf Anhieb und lächelte. Er guckte besorgt, bis sie sich einen Finger vor den Mund legte, erneut lächelte und den Kopf schüttelte. Sie löste seine Ketten und bemerkte, wie sich sein Kiefer und seine Schultern vor Erleichterung entspannten. »Dann wirst du mich also nicht verraten«, sagte er und nahm das Getränk, das sie ihm darbot. »Danke. Es freut mich, daß du überlebt hast. Wußtest du, daß Kharecs Offiziere tatsächlich darüber gestritten haben, wer das Recht hätte, dich zu töten? Du hast keine Stimme, und niemand hätte deinen Leichnam gefunden. Ach ja, demjenigen, der dich töten durfte, wurde auch versprochen, daß er dich vergewaltigen dürfte, aber dein Tod war der eigentliche Lohn. Was habe ich gelächelt unter meiner Rankenmaske. Jetzt bin ich ein Gefangener deiner Leute, und keiner versteht, was ich sage. Was wird mit mir geschehen? Wie soll ich um Erbarmen bitten, wenn mir dazu die Worte fehlen, meine Schöne? Du würdest das verstehen ... aber du verstehst meine Sprache nicht.« Er aß einen Kümmelkeks und sah aus dem Fenster zu den Windzügen hinüber. Einer davon wurde gerade für die Rückfahrt nach Woomera bereitgemacht, und die Lok stellte langsam Waggons zusammen, angetrieben von den schimmernden Rotortürmen, die sich im steten Wind drehten. Die Besatzungsmitglieder wirkten winzig auf dem riesigen Fahrzeug, und wenn die Waggons angekuppelt wurden, donnerte es wie von einem fernen Bombardement. Auf einem
Abstellgleis daneben stand ein dunkler, schnittiger Galeerenzug. Leichte Bombarden ragten aus flachen Geschütztürmen auf dem Dach. Der Rankenmann schüttelte den Kopf. »Diese ganzen riesigen Maschinen, die auf Eisenschienen fahren und ganz ohne Kamele Hunderte Krieger mit sich tragen. Kharec hatte ja keine Ahnung von der wahren Stärke deines Volkes.« Darien stand hinter ihm, sah, was er sah. Er drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung um, betrachtete sie aufmerksam, zeigte auf sich und zuckte dann mit den Achseln. Sie nickte und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich sehe anders aus ohne meine Ranken, nicht wahr?« sagte er, und Darien strich ihm mit den Fingerspitzen über die Wangen. »Oh, du findest also auch, daß ich ein hübsches Gesicht habe. Wie schade, daß du meine Worte nicht verstehst. Kharec und seine Räuber sind allesamt - 107 tot - ich wünschte, ich könnte dir das irgendwie mitteilen. Die Hand der Äbtissin Theresia hat sie niedergestreckt.« Darien nahm den Krug und schenkte ihm kühles Wasser und Limonensaft ein. Bei dem Geschmack hob er die Augenbrauen. »Oh, du weißt, daß Limonen vor Skorbut schützen können, den man auf langen Reisen von schlechtem Essen bekommt. Wie ausgesprochen zivilisiert. Und du gibst mir diesen Saft, hast ihn aber vor Kharec verborgen. Wie ausgesprochen schmeichelhaft. Wo befindet sich deine Zivilisation, das frage ich mich. Am Ende der Eisenschienen, die hinausführen in die Wüste?« Et trank noch einen Schluck aus der Steinguttasse. »Ach, ich wünschte, ich hätte noch etwas von dem Giftgold. Das würde gut hierzu passen. Der Geschmack fehlt mir.« Ein Floh, der sein Blut saugen würde, würde wahrscheinlich auf der Stelle daran verenden, dachte Darien. Jede Bewegung, die er machte, schien ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Das war verständlich, nachdem er sich endlich der Ranken entledigt hatte. »Fragst du dich, wie ich Kharec und die anderen getötet habe? Ha, du weißt ja noch nicht einmal, daß sie tot sind. Schau mal her.« Er streckte alle zehn Finger aus, viermal hintereinander, und tat dann, als würde er auf einem Kamel reiten. Schließlich fuhr er sich mit einem Finger über die Kehle. Darien war so achtsam, ihn mit großen Augen und entsetztem Blick anzustarren. »Alle tot.« Sie zeigte auf ihn, streichelte dann ihren Handrücken. »Dann hältst du mich also immer noch für einen freundlichen Menschen, auch ohne eine Erklärung. Nun denn, ich werde dir alles erzählen. Irgend jemandem muß ich es erzählen, und der einzige andere Mensch auf der Welt, dem ich vertrauen kann, ist weit weg, in einem Kloster in Glenellen. Du würdest sie nicht mögen. Sie ißt am Spieß gebratene Spatzen und schickt mir Briefe per Fledermauspost. Aber sie ist dennoch eine große Gelehrte. Oder vielleicht gerade deswegen. Damit hält sie sich natürlich die Freier vom Hals, denn ihre Hand zu erringen wäre ein großer Gewinn. Ich habe selbst fünf ihrer Freier getötet. Ich bin ihre rechte Hand.« Et hatte gerade erst eine unaussprechliche Tortur hinter sich gebracht, und die Haut auf seinem Gesicht und seinen Händen war ganz vernarbt vor Brandblasen, aber dennoch sprühte er nur so vor Vitalität. Wenn et die rechte Hand der Äbtissin von Glenellen war, wie sah dann erst die ganze Frau aus? fragte sich Darien. »Aber du willst ja wissen, wie ich Kharec und seine Elitekrieger getö - 107 tet habe - beziehungsweise: Du würdest es wissen wollen, wenn du mich verstehen könntest. Der Ruf reicht so weit wie ein Zweistundenmarsch, und nachts hält er inne, damit seine Opfer sich ausruhen und etwas essen können. Sie bleiben dabei in Trance, die Pflanzenesser essen Pflanzen, die Fleischesser hungern. Ich habe die Reiter an den Rand des Rufs geführt, sie dort zurückgelassen und bin allein hineingegangen. Dort habe ich Kharec gefunden. Er kaute gerade an den Blättern eines Strauchs, genau wie ein Kamel. Ich habe ihn an den Händen gefesselt und aus dem Ruf hinausgeführt, zu der Stelle, an der seine Männer warteten. Er kam sofort wieder zur Besinnung, aber statt mir dankbar zu sein, ließ mich der Wicht festnehmen. Er beschuldigte mich der Falschheit und Meuterei, und das ohne auch nur den geringsten Beweis dafür zu haben. Dennoch hatte er recht damit. Er ließ mich von seinen Männern
aus meinem Rankenanzug schälen und dann seinen eigenen nichtswürdigen Leib hineinschnallen. Er hatte vor, hierher zurückzukehren und auf den Kamelzug zu warten, der Euch mit Proviant versorgt. Kamelzug - ha! Ein Blick auf Eure mächtigen Reisemaschinen, und er wäre bis nach Glenellen geflohen! Kharec zwang mich, zur Strafe zu Fuß zu gehen, aber das hielt sie auf dem Ritt nach Norden mächtig auf. Wenn du nur verstehen könntest, was ich sage, meine Schöne, wüßtest du, daß, als wir uns wieder auf den Weg hierher machten, schon vier Tage vergangen waren und ein Ruf unmittelbar bevorstand. Darauf zählte ich zu meiner Rettung. Dann ging es allerdings ganz schnell. Am nächsten Nachmittag fiel Kharecs Männern auf, daß der Rankenanzug allmählich einging. Die Blätter welkten, die Ranken hingen schlaff herab. Sein Leutnant, Calderan, sagte es ihm. Man zerrte mich vor Kharecs Kamel und befahl mir zu sprechen - indem man mir eine Klinge an die Kehle hielt. Ich erklärte ihm, daß der Anzug nur lebendig erhalten werden könnte, wenn ich ihn trüge. Ich habe jahrelang immer eine kleine Prise Giftgold eingenommen und vertrage mittlerweile eine ordentliche Dosis davon. Und nun sind auch meine Ranken davon abhängig - sie nehmen es aus dem Schweiß auf meiner Haut auf - nicht aus dem Wasser aus ihren Wurzeln. Wenn Kharec genug Gift trank, um die Ranken am Leben zu erhalten, würde er sterben. Wenn er es nicht tat, würde der Anzug sterben. Und dann habe ich noch einen drauf gesetzt. Ich sagte ihnen, sie sollten die Zeitschalter an ihren Leibankern und an den Sandankern der - 108 Kamele überprüfen: Ich hätte nämlich, als der Ruf das letzte Mal über diesen Außenposten hin weggezogen war, noch mehr getan als nur Kharec loszumachen und dir einen Schlüssel und eine Pistole hinzulegen. Ich hätte außerdem aus sämtlichen Sandankern der ganzen Schwadron die goldenen Auslöserzapfen ausgebaut und versteckt. Ihre Sandanker würden ihnen daher keinen Schutz mehr vor dem Ruf bieten, und nur wenn ich den Rankenanzug trug, blieb er am Leben. Da hatte ich Khatec bei den Eiern, meine Schöne. Keine sehr appetitliche Vorstellung, nicht wahr? Ihm blieb nichts anderes übrig, als mir den Rankenanzug wiederzugeben, denn ich war der einzige, der sie alle beim nächsten Ruf fetten konnte. Aber glaubst du, sein Stolz hätte ihm das gestattet? O nein. Er versuchte mich mit seinem Schwert zu erschlagen, aber seine Männer sprangen mir bei, aus Furcht, den einzigen Mann zu verlieren, der ihnen bei einem Ruf das Leben retten könnte. Er tötete fünf von ihnen, denn sie konnten nicht nach ihm schlagen, weil sie fürchteten, die Ranken zu beschädigen, die et trug. Als er schließlich das Weite suchte und nach Norden davonritt, folgten sie ihm. Und sobald sie außer Sicht waten, nahm ich mit ein Kamel, das einem getöteten Reiter gehört hatte, und ritt nach Süden. Ja, tatsächlich, ich ritt nach Süden. Kein Zeitschalter für den Sandanker, kein Rankenanzug, und dennoch ritt ich nach Süden. Denn ich bin schließlich das Augenlicht der Äbtissin Theresia, und sie wünschte etwas über den Ursprung des Rufs zu erfahren. Nach einem weiteren Tag fiel mir auf, daß sich der Horizont zu verändern begann. Er wurde zu einer zerklüfteten Kante unter einer ebenen Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein leichter Salznebel lag in der Luft, und irgendwo in der Ferne hörte ich ein dumpfes Donnern. Ich war noch etwa hundert Schritte vom Rand des Kliffs entfernt, als mir klar wurde, was das war und ich den Sandanker meines Kamels auslöste. An diesem Ort bestand ein schwächet Ruf, der niemals nachzulassen schien, aber er reichte nur wenige hundert Schritte weit. Ich stieg ab und kroch auf allen Vieren weiter.« Darien schenkte ihm noch etwas zu trinken ein. Sie mußte sich alle Mühe geben, einen neutralen, allenfalls verwirrten Gesichtsausdruck beizubehalten. Er hatte den Ursprung des Rufs gesehen! Es war unglaublich, fantastisch. Es war bekannt, daß man, wenn man dem Ruf nur lange genug folgte, irgendwann in eine Region kam, in der seine Verlockung nie nachließ - das Ruftodesland. Man hatte Beobachter am Rande dieser - 108 Regionen in angeleinten Heißluftballonen aufsteigen lassen, und sie hatten nur von Wäldern, Bergen und Ruinen berichtet, so weit ihre Fernrohre reichten. In Peterborough führt eine
Gleitbahnstrecke an einem dieser Ruftodesländer vorbei, und dort hatte man erst im vergangenen Jahr bei einer Ballonfahrt in der Ferne einen riesigen See entdeckt. In den ältesten erhaltenen Büchern wurden unermeßlich große Gewässer erwähnt, Ozeane genannt, aber diese Ozeane waren nun schon so lange nicht mehr gesehen worden, daß sie nur noch bei wissenschaftlichen Debatten zur Sprache kamen. Die geläufigste Theorie war die, daß sie, da sie in der Richtung des Rufs lagen, irgend etwas damit zu tun haben mußten. Viele Religionen vermuteten in diesen legendären Ozeanen die Hölle, doch nun war dieser Mann mitten in diesen Alptraum hineinmarschiert und hatte in aller Ruhe ... ja, was hatte er gesehen? Darien stand kurz davor, der zweite Mensch auf Erden zu werden, der vom wahren Ursprung des Rufs erfuhr. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden, und wußte, daß man ihr die Aufregung ansah. Der Rankenmann würde es bestimmt bald bemerken - aber dann wandte er sich zum Fenster, um dabei zuzuschauen, wie ein weiterer Windzug mit lautem Gepolter zusammengestellt wurde, und fuhr mit seiner Geschichte fort. »Die Ebene endete an einem Abhang, und darunter befand sich ein riesiger See, der sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Große Wellen brandeten an den Fuß dieser Felswand, und dabei sprühte Gischt auf. Kannst du dir das vorstellen? Die Wellen auf den Gewässern in den Schluchten von Alspring sind nie höher als eine Handspanne, die hier aber waren wer weiß wie hoch. Das Wasser war blaugrün, und zwischen den Wellen sah ich stromlinienförmige Wesen gleiten, und Rückenflossen durchschnitten die Wasseroberfläche. Größere, dunklere Wesen hüteten sie, schwammen mit ihnen ordentlich aufgereiht unten an dem Abhang entlang. Stell dir einen Fisch aus einem Fluß oder See vor, der so groß ist wie eine eurer Reisemaschinen. Weiter draußen waren noch mehr von diesen größeren Wesen, sie platschten und spritzten Wasser hoch in die Luft. Ist das das Ende der Welt, fragte ich mich, und ist das das Angesicht der Gottheit? An einigen Stellen lagen Felsen am Fuße des Kliffs, und auf diesen Felsen lagen haufenweise weiße, gebleichte Knochen. Ich zog ein kleines Fernrohr aus meinem Umhang und betrachtete die geschmeidigen Gestalten dort im Wasser. Es waren Hirten und Herden, da gab es keinen Zweifel. Waren dort auch Engel und Menschensee - 109 len? Wenn die Hölle Feuer war, war Wasser dann das Paradies? Ich sah mir das lange an, und währenddessen kam ein richtiger Ruf und brandete über den kleinen, dauerhaften Ruf hinweg, der die Luft um mich her durchströmte. Ich verspürte diese kribbelnde Verlockung, aber ich konnte ihr widerstehen.« Nun wandte er sich vom Fenster ab, die Augen geschlossen, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen. Der Rachen des Todes hatte sich um ihn geschlossen, aber er war flink zwischen den Zähnen hindurch entwischt. Er war zu Recht stolz auf das, was er getan hatte - und doch hatte er dabei keine Ranken getragen! Und er beantwortete Dariens unausgesprochene Frage prompt so ausführlich, daß es ihr fast den Atem verschlug. »Ach ja, den Rankenanzug brauchte ich gar nicht, das war nur eine List, die dazu diente, mein wahres Geheimnis zu verbergen. Erinnerst du dich noch, als sie mich hier in diesem Außenposten an meinen Ranken festgebunden hatten? Als der Ruf kam, schlüpfte ich schnell aus meinem Anzug und machte mich nackt ans Werk. O ja, ich stand nackt vot dir, als ich den Schlüssel und die Pistole auf dein Bett legte. Ob mein Leib dir wohl gefallen hätte?« Et sah Darien direkt ins Gesicht, als er das sagte, und sie wurde so rot wie der Sonnenaufgang. Sein Lächeln wurde breiter, aber es war ein neckisches Lächeln, keineswegs bösartig. »Du wirst rot. Du weißt, daß ich gerade etwas Unanständiges gesagt habe, aber du weißt nicht, was. Sei unbesorgt, namenlose Dame. Ich bin die Hände der Äbtissin Theresia, und diese Hände würden dich niemals unsittlich berühren. Ach, aber hier spreche ich über meine Nacktheit, während ich davon erzählen könnte, was sich hinter dem Rand der Welt abspielt. Welches dieser beiden Themen würde dich mehr interessieren - das frage ich mich. Nachdem ich mir das eine ganze Weile angesehen hatte, hörte ich hinter mir Kamele, und als ich mich umdrehte, sah ich vier reiterlose Tiere ein Stück rechts von mir schnurstracks auf den
Abgrund zutraben. Und während ich zusah, verfielen sie mit einem Mal in Galopp, und dann sprangen sie alle in den Abgrund, und noch in der Luft galoppierten ihre Beine weiter. Sie trafen ein gutes Stück abseits der Felsen auf dem Wasser auf, wirbelten Gischt auf, die sich in blutigen Schaum verwandelte, als die Riesenfische sie in Stücke rissen. Nun kam ein Känguruh angehüpft, das gerade groß genug war, um vom Ruf fortgelockt zu werden. Es sprang - 110 ebenfalls in sein Verderben und wurde im Handumdrehen verschlungen. Bald kamen auch die dreißig überlebenden Reiter und stürzten hinab in den Rachen dieses lebendigen Fleischwolfs. Dann kamen zwei Ziegen, ein Dingo, noch ein Känguruh und sogar ein ganz ausgemergelter Esel. Dann näherte sich noch ein letzter Reiter der Klippe, ein Reiter, der in welkes Laub gewandet war. Tier, Krieger, Ältester - das ist alles nur Fleisch für die großen Schafe in dem tiefen, grünen Wasser. Auf dem letzten Stück verfiel Kharecs Kamel in vollen Galopp. Denn natürlich mußten sie bei den letzten Schritten Anlauf nehmen: Die Körper mußten auf dem Wasser auftreffen, nicht auf den Felsen landen, wo man nicht an sie herankam. Die Ernte war eingebracht, Häcksel für die Schafe oder vielleicht auch Fischmehl für die Schweine. Wie die Fischernetze durch die Gewässer in den Schluchten der Roten Berge von Alspring streifen, so streift der Ruf über das Land. Während der Ruf vorüberzog, sah ich, wie sich dieser Sturzbach aus Fleisch in den Abgrund ergoß und die Hirten ihre Schützlinge in Reih und Glied zur Fütterung vorüberführten. Als das vorbei war, fiel mir auf, daß sich die Gruppe der größeren Gestalten weiter draußen als erste auflöste, und dann erst zogen sich die Fresser zurück. Und noch gräßlicher als der Anblick dieses Gemetzels war der Gedanke, was für eine gigantische Verschwendung das war: Für jedes Tier, das an den Klippen ankam, waren wahrscheinlich tausend andere in der Wüste zugrunde gegangen. Ich kroch zurück zu meinem Kamel, und nachdem ich mich ein wenig ausgeruht hatte, machte ich mir Notizen und Skizzen. Kharec war mir dabei eine Hilfe. Der Fisch, der ihn entzweigebissen hatte, war viermal so lang gewesen wie er, so daß ich eine Vorstellung von seiner Größe gewinnen konnte. Ich führte mein Kamel aus dem permanenten Ruf hinaus und band es an, damit es grasen konnte. Gleich außerhalb des permanenten Rufs entdeckte ich eine Höhle, ein tiefes Loch in der Ebene. Dort lebte ich zwei Wochen lang und sah noch einige weitere Rufe den Abgrund erreichen. Zwischen den Rufen seilte ich mich an der Felswand ab und nahm Wasserproben. Es ist Salzwasser, so salzig, daß es ungenießbar ist. Auf den Felsen am Fuße der Klippen, inmitten der Gebeine der Tiere, die nicht im Wasser gelandet waren, fand ich verstreut einige Kleider und Schmuckstücke und haufenweise Menschenknochen in Hüllen aus rotem Rost, die früher einmal Rüstungen gewesen sein mußten. Überall an den Klippen das gleiche Bild. - 110 Bald glich meine Höhle einer Schatzkammer, und dann stieß ich auf meinen schönsten Fund überhaupt. Ein Totenschädel trug ein goldenes Stirnband, auf dem acht Klauen einen wunderschönen grünen Smaragd hielten. Der Schädel war sehr klein, und obwohl er weiter nichts war als gebleichtet Knochen, sah ich doch die Schönheit, die ihn früher einmal umhüllt hatte. Ich wußte, das mußte der Leichnam der legendären Ervelle sein, die vor vielen Jahren in den Ruf verbannt worden war ... ein äußerst tragisches Verbrechen. Das schöne Mädchen mußte schon nach ein oder zwei Tagen im Ruf verdurstet oder an Sonnenstich gestorben sein, aber ihr Kamel folgte dem Ruf quer durch die rote Wüste bis zu den Klippen und sprang dann über den Rand. Ich sammelte ihre Gebeine ein und ihre Ringe und den sonstigen Schmuck und vergrub das alles in meiner Höhle unter den anderen Schätzen, die ich gefunden hatte. Und am Eingang der Höhle meißelte ich den Namen ERVELLE ganz tief in den Kalkstein. Stell dir das vor, meine Schöne, ich habe Ervelle höchstselbst aus dem Ruf gerettet, habe sie mit Reichtümern überhäuft, habe ihr einen Palast erbaut und an Ihrer Seite geschlafen. Ich bin tatsächlich zu einem Teil dieser traurigen Legende geworden.« Tränen glitzerten in den Augen des Rankenmannes, und er tupfte sie mit einem Taschentuch fort. »Aber was soll's, sie wird ja ohnehin nie davon erfahren«, fügte er wehmütig grinsend hinzu. »Ich habe auch noch andere Wunder am Fuße dieser Klippen gefunden, aber warum dich mit Worten langweilen, die du sowieso nicht verstehst? Nach fünfzehn Tagen packte ich meine
Sachen, wickelte meine Notizen in Wachstuch ein, versiegelte sie, bestieg dann mein Kamel und ritt zurück nach Norden. Das Tier ist ein gutes Stück von hier entfernt angeleint - ich konnte ja schlecht den bettelnden Einsiedler spielen und dabei ein Kamel besitzen, nicht wahr? Und warum bin ich zurückgekehrt? Ja, du würdest es erraten, wenn du mich verstehen könntest. Ich bin zurückgekehrt, um dich mit nach Glenellen zu nehmen, um dich einzuschließen und für immer zu beschützen. Schöne Namenlose, ich habe mich dem Dienste der Äbtissin verschrieben, aber sie ist keine Frau, die man liebkosen und innig lieben könnte. Du bist so gänzlich schutzlos, und ich sehne mich so sehr danach, dir mein Schutzversprechen zu geben. Aber ach, ich bin kein Krieger, und selbst wenn ich wählend eines Rufs heimkehren würde, würde mich das Rudel kleiner Hunde mit den vorgeschnallten, metallenen Giftzähnen doch zur Strecke bringen.« - 111 Er machte ihr gewissermaßen einen Heiratsantrag oder zumindest das, was in seiner Gesellschaft dem entsprach. Für ihn grenzte der Gedanke, sie zu beschützen, an eine erotische Phantasie, und Darien war nicht nur eine Frau, sondern auch noch stumm. Er schien tatsächlich sehr betrübt, daß seine Pläne nun durchkreuzt worden waren. Nachdem er eine Zeitlang die Hände gerungen hatte, wechselte er das Thema. »Wie habe ich dem Ruf widerstanden? Das ist sehr schwer zu erklären. Man muß das schon selber können, sonst... kann man es nicht verstehen. Meine Techniken hat mir die Äbtissin Theresia beigebracht, und ihre wiederum beruhen auf den Techniken der Koorie-Nomaden. Diese Menschen haben ein anderes Zeitempfinden als wir, sie können ganz nach Belieben andere Zeitformen erträumen. Das ist ein Teil des Geheimnisses. Und wie konnte sie sich unter ihnen bewegen, wenn es ihr nicht gestattet ist, das Kloster in Glenellen zu verlassen? Ah-hah, ich bin ihr scharfes Ohr und ihr wachsames Auge. Ich habe bei den Koorie-Nomaden gelebt und mir ihr Wissen angeeignet. Es erfordert eine immense Konzentration und Selbstdisziplin und jahrelange Übung. Männer wie Kharec hätten das nicht auf sich genommen, die würden mich foltern, um mein Geheimnis zu erfahren, aber das Geheimnis läßt sich nicht in Worte fassen. Der Ruf ist immateriell, verstehst du, er verführt den Geist. Ich bin sehr stolz darauf, daß ich die Sinne der Äbtissin Theresia bin. Wenn man für die Götter arbeitet, lebt man auch selbst wie ein Gott -sagen jedenfalls die Diarec. Als sie also gelernt hatte, dem Ruf zu widerstehen, wollte sie erfahren, wodurch er ausgelöst wird. Ich bin ihre Hände, bin ihr Gehör und ihr Augenlicht, und deshalb mußte ich nach Süden reisen, durch die heiße rote Wüste. Ich brauchte eine schlagkräftige Eskorte. Die Koorie hätten einen einzelnen Reiter, der ihr Land erkundet, getötet, aber mit einer Schwadron war ich außer Gefahr. Deshalb wurde Kharec angeheuert, und deshalb ließen wir uns die Täuschung mit dem Rankenanzug einfallen. Der Anzug war viel zu umständlich und würdelos, als daß sich ein Krieger damit abgegeben hätte - es sei denn, unter den extremsten Umständen. Meine Herrin ist clever, nicht wahr? Werde ich sie je wiedersehen? Jetzt werde ich ganz allein das Land der Koorie durchqueren müssen, und auf der Reise nach Norden ohne den Schutz des Rufs. So etwas hat noch niemand vollbracht, aber andererseits habe ich schon so vieles als allererster getan, also wer weiß?« Da er nun seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, lehnte sich der - 111 Rankenmann auf der Bank zurück, dem ersten Möbelstück, mit dem sein Rücken seit Monaten in Berührung gekommen war. Darien reichte ihm Datteln und Kümmelkekse. Eine kühle Brise wehte zum Fenster herein, und die flüssigen Landschaften der Sandbilder arrangierten sich neu, während ihre Rahmen an Messinghalterungen im Wind schaukelten. In der Ferne hörten sie ein gedämpftes Rattern, als der Windzug schließlich die Rückfahrt nach Woometa antrat. Durchs Fenster konnte Darien die rotierenden Aufbauten erkennen, die mit Spiralmustern lackiert waten, die sich fortwährend aufwärts bewegten. »Jetzt verstehe ich«, flüsterte er. »Diese Reisemaschinen fahren die Straßen aus Stahlschienen entlang, ohne daß man sie lenken muß. Wenn ein Ruf über die Maschine hereinbricht, fährt sie
einfach weiter, und die Menschen innen drin sind sicher angeleint. An beiden Enden dieser Eisenschienen muß es Städte geben. Große, wunderbare Städte.« Sie wandte sich um. Er legte ihr seine Hände auf die Schultern und streichelte ihr Gesicht. »Du ... bist wunderschön. Ich würde dich gerne einschließen und vor den Schrecken dieser Welt beschützen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber das geht nicht. Es wäre zu gefährlich, dich zu entführen, und noch gefährlicher wäre die Rückreise durch die rote Wüste, vorbei an feindseligen Koorie-Nomaden. Du wirst nie die Äbtissin kennenlernen, die gegrillte Mäuse mit Giftgold-Chutney ißt und sich das Haar mit Tollkirschöl wäscht. Sie hat so manchen ihrer Freier umgebracht, indem sie ihre Haare in sein Getränk tunkte. Ich heiße Ilyire, schöne Dame. Das bedeutet Weinbauer, Mann des Weines. Mein adliger Vater hat einmal die Tochter eines armen Bauern verführt. Ja, und die Alimente haben aus ihm einen reichen Bauern gemacht. Hättest du gedacht, daß ich der Halbbruder der Äbtissin Theresia bin? Das ist allgemein bekannt, und deshalb darf ich in diesem Nonnenkloster auch ungestraft ein und aus gehen. Nimm das hier zum Andenken an mich. Das ist der goldene Zapfen aus dem Sandanker von Kharecs Kamel. Wenn deine Leute mich freilassen, werde ich zu meinem Kamel zurückgehen und für immer aus deinem Leben verschwinden. In meinem Gepäck habe ich eine versiegelte Rolle mit Notizen und Skizzen, die ich der Äbtissin Theresia vorlegen muß.« Darien hielt den Zapfen ins Licht, so als verstünde sie nicht, worum es sich dabei handelte, und schob ihn sich dann, einet plötzlichen Eingebung folgend, in ihre Haarflechte. Ilyire lachte und applaudierte. Nach - 112 ein paar Minuten, die mit weiteren Gesten und Lächeln vergingen, klopfte es eindringlich an der Tür. »Frelle stellvertretende Oberliber, ist alles in Ordnung mit Euch?« rief der Marschall. »Wenn Ihr nicht in fünfzig Herzschlägen draußen seid, komme ich herein.« Darien wies auf die Ketten, und Ilyire ließ sich wieder fesseln. Ehe sie das Tablett aufhob, tunkte sie noch den Saum ihres Kopftuchs ins Wasser, wischte damit über Ilyires Stirn und küßte ihn. Ilyire schrie verblüfft auf. »Nicht, meine Dame, nein!« schrie er. »Die Stärke eines Mannes zu verspotten ist eine Sünde, heißt es in der heiligen Schrift!« Der Marschall stemmte gerade noch rechtzeitig mit der Schulter die Tür auf, um zu sehen, wie Darien dem Gefangenen den Wasserkrug über den Kopf goß und dabei lautlos lachte. »Frelle, Frelle, was hat er gesagt, was -« Sie hielt sich einen Finger vor die Lippen und wies mit Gesten an, daß man Ilyire waschen und ihm etwas zu essen geben sollte. Der Marschall lächelte hämisch und grüßte zackig. »Ich werde die fünf kräftigsten Lokschrubber der ganzen Station eine Wanne mit eiskaltem Wasser füllen lassen«, sagte er zu Ilyire, der kein Wort von dem verstand, und marschierte dann hinaus. Der Ghaner starrte Darien an. »Du scheinst mehr zu sein als nur eine Dienstmagd«, flüsterte er so leise, daß Darien ihn kaum verstand. Mit einem letzten Kuß auf seine Stirn überließ sie ihn seinem Schicksal. Ilyires Kleider und seine Gepäckrolle behielt man zur Untersuchung in einem der Herbergszimmer, während er in seinem Bad auf der Terrasse schrie und fluchte. Sein Gepäck enthielt nichts Ungewöhnliches, einmal abgesehen von der in schützendes Wachstuch eingeschlagenen Schilfpapierrolle. Es war ein Bericht darüber, was er am Ursprung des Rufs entdeckt hatte, geschrieben mit einem Kohlestift. Der Text entsprach dem, was er ihr in der Bibliothek erzählt hatte, allerdings mit einigen bemerkenswerten Auslassungen. Darien hinterließ die Anweisung, man solle den Einsiedler bis zum Morgen in eine Zelle sperren und ihn dann freilassen - mit seiner gesamten Habe und soviel Proviant und Wasser, wie er wünschte. Die Plattform des Signalfeuerturms mußte ganz über Leitern erklommen werden. Die vorgefertigten Turmaufbauten verfügten über keinerlei Annehmlichkeiten wie etwa Flaschenzug-Fahrstühle, und Dariens Nach
- 113 rieht war so geheim, daß sie sie persönlich eingeben mußte. Der Himmel war wolkenlos, und es war kurz vor Mittag. Der Signalfeuer-Heliostat würde ein kräftiges Signal gen Osten werfen, auf der ersten Etappe nach Rochester. Was als aufblitzende Lichtpunkte einen halben Kontinent überquert hatte, wurde von der Silberhennenbatterie der Hoheliber in einen Papierstreifen gepickt. Als die Nachricht in Sicht gespult wurde, wandte Zarvora dem Gerät gerade den Rücken zu und sprach mit Vellum Drusas. »Die Bibliotheken des Südostens sind gänzlich ausgepreßt, Hoheliber«, sagte Drusas und breitete dabei demonstrativ die leeren Hände. »In den Stadtstaaten der Allianz gibt es mehr Drachenbibliothekare als in Libris«, entgegnete sie teilnahmslos. »Ich spreche hier von noch einmal einhundert Blauen und Grünen von insgesamt über tausend.« »Aber Hoheliber, die haben alle ihre Pflichten zu erfüllen. Sie müssen Leuchtfeuertütme betreiben, Klassen unterrichten, Bücher ausgeben und einsammeln und Zeremonien abhalten. Die Bürgermeister beschweren sich schon, daß Ihr ihnen die besten Leute wegnehmt. Mir liegen förmliche Beschwerden von den Bürgermeistern von Hopetoun, Warracknabeal, Litcfmeld und Tandara vor. Libris macht sich allmählich unbeliebt.« Zarvora griff hinter sich und riß den Lochstreifen ab, ohne ihn sich jedoch anzusehen. »Der Hegemeister hat Kontakte in den Zentralbund«, sagte sie, so als ziehe sie eine ganz vernünftige Option in Betracht. Drusas war entgeistert. »Ich wollt Drachenbibliothekare entführen lassen, Hoheliber?« »Wäre das machbar?« Drusas zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit übers Gesicht. Die Hoheliber hatte sich seine Meinung über das Anwerbungsproblem geduldig angehört, und diese Alternative, Leute zu verschleppen, war von ihr ganz offenkundig als vernünftiger Vorschlag gemeint. »Ja, vielleicht, in begrenztem Maße ... ja«, antwortete er zögernd, sich bewußt, daß allzu heftige Widerrede in dieser Situation gefährlich gewesen wäre. »Man müßte es so aussehen lassen, als wären es Entführungen, die nichts miteinander zu tun haben, und man müßte ein großes Gebiet einbeziehen, sonst würden sie uns schnell auf die Schliche kommen.« - 113 »Wieviele würde uns das einbringen?« »Ich könnte Euch etwa dreißig aus unterschiedlichen Rängen zusagen. Nicht mehr.« »Das ist nicht einmal ein Drittel dessen, was ich brauche.« »Bitte, Hoheliber! Der Zentralbund ist unser Verbündeter und Handelspartner, und alle Gefangenen müßten über südmaurisches Gebiet hierhergebracht werden. Wenn der Emir herausfände, daß wir Staatsbürger des Zentralbundes verschleppen, würde er es sofort im ganzen Südosten herumposaunen. Bei dieser Geschichte mit dem gekaperten Signalfeuerturm mußte er viele Zugeständnisse machen, und das hier würde ihm dabei helfen, sein Gesicht zu wahren.« Während Drusas sprach, hatte Zarvora begonnen, die Nachricht zu lesen. / MARALINGA <> DARIEN VIS BABESSA <> CODE CY900 <> RANKENMANN HAT REISE ÜBERLEBT UND URSPRUNG DES RUFS GESEHEN. ALLE ANDEREN REITER DER GHANER SIND TOT. ES BESTEHT DIE MÖGLICHKEIT, DIE ÄBTISSIN PERSÖNLICH ANZUWERBEN. DARF ICH IHR EINEN DRACHENRANG IN LIBRIS VERSPRECHEN? / Zarvora sah von dem Papierstreifen hoch. Drusas schlug gerade einen Korrespondenzordner auf, der das Bischofswappen trug. »Hoheliber, Entführungen aus dem Zentralbund sind derart riskant, daß sie der Mühe nicht wert sind. Ich bitte Euch inständig: Zieht noch einmal die Mönchskloster in Betracht. Mönche sind fleißig, gut ausgebildet und diszipliniert, und der Erzbischof ist bereit, sie uns zu sehr großzügigen Konditionen anzubieten.« »Und was ist mit dem Bann, der ihnen verbietet, in Rochester zu leben?« fragte sie mit geistesabwesender Stimme und las dabei immer wieder den Lochstreifen ab. »Gegen eine entsprechende Vergütung je Seele könnte er das eventuell vor seinen Amtskollegen rechtfertigen.«
»Arrangiert ein Treffen mit ihm.« »Er kann nicht nach Rochester kommen.« »Dann reise ich zu ihm.« Drusas lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Er hatte sie noch nie so freundlich erlebt. »Bringt der Lochstreifen gute Nachrichten, Hoheliber?« - 114 »Ja, Fras Inspektor. Ich bin ein großes Wagnis eingegangen, und ich habe gewonnen.« Während Drusas mit dem Diener der Hoheliber die Einzelheiten ihres Besuchs beim Bischof besprach, gab Zarvora eine Nachricht an die Signalfeueradresse Maralinga ein und verschlüsselte sie mit CY900. Der Text lautete: / HANDELT IN MEINEM SINNE / und war an Darien vis Babessa persönlich adressiert. Darien kehrte am späten Nachmittag auf die Signalfeuerplattform zurück - die Antwort der Hoheliber wurde erwartet. Wie von Darien vorhergesehen, hatte Zarvora unverzüglich geantwortet. Es war eine kurze Nachricht, nur vier Worte, aber diese Worte ließen ihr freie Hand. Wieder zurück auf ihrem Zimmer, begann sie mit det Niederschrift ihres Berichts über den Überfall auf die Bahnstation Maralinga. Erst um Mitteinacht war sie damit fertig. Als sie die Seiten in Ilyires Aufzeichnungen hineinwickelte, hielt sie inne, las noch einmal die letzte Seite und lachte lautlos übet das, was da stand. John Glasken war ebenfalls in den Dienst der Hoheliber getreten, wenn auch unter gänzlich anderen Umständen. Mit verbundenen Augen, gefesselt und geknebelt hatte man ihn in einen Wagen verfrachtet und vom Gleitbahnhof fort durch die Straßen von Rochester gefahren. Anhand der Rufe auf den Straßen, der Arbeitsgeräusche der Handwerker und der Anrufe der diversen Wachtposten vermochte er zu erkennen, daß man ihn in die Gegend des Staatspalastes und nach Libris brachte, dann hinein. Die Luft um ihn her wurde kälter, als die Tore hinter dem Wagen polternd ins Schloß fielen, und dann hob ihn jemand sehr Kräftiges aus dem Wagen und hielt ihn aufrecht. Seine Hand- und Beinschellen wurden mit einem Meißel aufgestemmt, und dann trug man ihn noch ein gutes Stück, durch etliche offenstehende Türen und vorbei an den Anrufen diverser weiterer Wachtposten. Man stieg mit ihm zwei Treppen hoch und setzte ihn dann auf eine hatte Bank. Die Fesseln an seinen Händen und Füßen wurden gelöst, und schließlich befreite man ihn auch von dem Knebel und der Augenbinde. Vor ihm stand ein stämmiger Rotdrache, nur mit einem großen Schlagstock bewaffnet. Der Mann war offensichtlich das, was Glasken hier als erstes erblicken sollte, ein Anreiz, sich gut zu benehmen. Das Zimmer war klein und verfügte nur über ein vergittertes Oberlicht. An einet Wand hing eine Tafel mit einem Kreidefach. Nun ging rechts eine Tür auf, und ein - 114 schlanker Rotdrache mittleren Alters kam herein, mit einer gestreiften Uniform über dem Arm. »Ich bin dein Ausbilder«, sagte er, warf die Uniform auf die Bank und baute sich dann mit verschränkten Armen vor ihm auf. »Zieh das an.« Glasken mußte sich nur seiner Hose entledigen. Die neue Uniform war sauber und trug sich angenehm. »Gefangener John Glasken, man hat dich deiner Arithmetikausbildung wegen von einer Verurteilung zu sechzig Jahren Zwangsarbeit begnadigt und statt dessen hierher verlegt«, sagte der Bibliothekar und nahm sich ein Stück Kreide. »Man wird dich hier gut ernähren und kleiden, und die Arbeit hier ist körperlich nicht sehr anstrengend. Du wirst allerdings hart arbeiten müssen. Der Bürgermeister braucht Berechnungen, und du wirst sie ihm liefern.« Er drehte sich zur Tafel um und zeichnete fünf kleine Kreise in einer Reihe, dann noch einen Kreis darüber. »Dieser obere Kreis, das bin ich«, sagte er und wies mit der Kreide darauf. »Die untendrunter, das sind Leute wie du. Also, mir wurde eine umfangreiche Berechnung aufgegeben, die mich zehn Tage schwierigste Arithmetik kosten würde. Statt dessen aber nehme ich mir einen halben Tag lang Zeit, um die Aufgabe in fünf Teile aufzuteilen und gebe diese an meine fünf Gehilfen weiter. Diese arbeiten jeweils zwei Tage lang daran. Es kostet mich noch einmal einen halben Tag, die
Ergebnisse zusammenzufügen, und so habe ich die Aufgabe mehr als dreimal schneller erledigt. Kannst du mir folgen?« »Ah, ja, Fras Rotdrache.« »Gut. Ich kann aber nicht mehr als zwölf Stunden pro Tag arbeiten, und du kannst das auch nicht. Wenn mir nun zehn Mann zur Verfügung stehen, könnte ich eine zweite Schicht einsetzen, während du schläfst, und die Aufgabe wäre in nur zwei Tagen gelöst. Was würdest du tun, um die Aufgabe noch schneller zu lösen?« »Zwanzig Menschen einsetzen?« »Trottel!« spie der Ausbilder und schleuderte Glasken die Kreide ins Gesicht. »Es kostet mich doch immer noch Zeit, die Aufgabe aufzuteilen. Nein, ich muß die Aufgabe von einem weiteren Team von Rechnern aufteilen lassen, nur dann werde ich schneller. Wenn ich zwei Leute habe, die die Aufgabe in zwanzig Teile aufteilen, kann ich das Tempo steigern. Was hätte ich davon, wenn die Berechnungen in Minutenschnelle erledigt wären, wenn ich doch einen kompletten Tag dafür brauchte, sie vorzubereiten.« - 115 Man bot Glasken hier ganz offensichtlich etwas Angenehmeres als sechzig Jahre in der Wüste, und er wollte unbedingt einen guten Eindruck machen. »Was für Aufgaben sind das denn, die da berechnet werden?« fragte er und hoffte, intelligent zu klingen. »Fragt ein Ruderer, wohin die Schlachtgaleere auf dem Fluß gesteuert wird? Würde es ihm, wenn er es wüßte, dabei helfen, besser zu rudern? Was wir hier haben, ist einer Flußgaleere oder einem Galeerenzug tatsächlich sehr ähnlich, Fras Glasken. Es ist eine Maschine, die aus tausend Menschen besteht, die die Arbeit in drei Schichten untereinander aufteilen. Diese Maschine hat Hunderte mal mehr Rechenkraft als ein einzelner Mensch. Und sie schläft nie, wird nie krank und stirbt nicht.« »Und was ist, wenn jemand mitten in so einer großen Gemeinschaftsberechnung einen Fehler macht? Woher weiß man dann, daß die Lösung falsch ist?« »Die Maschine besteht aus zwei identischen Hälften, die parallel arbeiten. Wenn die Lösungen voneinander abweichen, werden die Berechnungen wiederholt, bis die beiden Hälften übereinstimmen. Ich werde dich nun für deine Tätigkeit als allereinfachste Komponente ausbilden, als ADDIERER. Du bist ab jetzt nicht mehr John Glasken. Du bist jetzt ADDIERER 3084-T« Und so ging es weiter, Stunde um Stunde. Glasken erfuhr, mit welchen Strafen Fehler und schlechte Führung geahndet wurden, die Tagesabläufe, die Dienstgrade der Wachen und Drachenbibliothekare, und man skizzierte ihm die Aufgaben seiner Mitgefangenen. Man versuchte es mit ihm an einem Pult mit einem großen Abakus und drei Hebelbänken darauf und brachte ihm bei, aus einer Reihe von Metallfähnchen, die aufrecht standen oder gesenkt wurden, eine Zahl zu erkennen. Dann mußte er diese Zahl aus der oberen Hebelbank in den Abakus eingeben. Anschließend mußte er ein Pedal betätigen, woraufhin eine weitere Zahl auf der Bank auftauchte, die er zu der ersten auf dem Abakus addieren mußte. Wenn die Liste abgearbeitet war, sprangen alle Fähnchen der Hebelbank wieder in die obere Ausgangsposition, und er gab seine Lösung in die untere Hebelbank ein und betätigte dann ein Pedal. Wenn die nächste Liste anstand, klappten sämtliche Hebel der oberen Bank in die untere Position, und wenn er das Pedal betätigte, erschien die erste Zahl. Das mit den anderen Hebeln lernte er später. Zwar zeigte das Oberlicht den Verlauf von Tag und Nacht, aber dennoch verlor er bald jegliches Zeitgefühl. Man sagte ihm, die Wachen, die - 115 auf den Korridoren patrouillierten, würden als Regulatoren bezeichnet. Sie ahndeten Vergehen, hielten Ordnung und kümmerten sich darum, wenn es Probleme mit Gerätschaften oder Komponenten gab. Während seiner Ausbildung sah Glasken niemanden außer seinem Instrukteur und ein paar schweigsamen Gefangenen, die etwas zu essen brachten. Von den Mahlzeiten bekam et Verstopfung, und vom Feierabend abgesehen, bekam er nur selten etwas zu trinken. Pinkelpausen während der jeweils vierstündigen Ausbildungsblöcke wurden nur sehr ungern gesehen. Am Ende des Tages sperrte man ihn in ein kleines Zimmer mit vier Etagenbetten, und er
brach auf einem der unteren Betten zusammen, als hätte er den ganzen Tag lang in einem Steinbruch geschuftet. Eines Tages schickte man ihn ohne Vorwarnung einen ihm bis dato unbekannten Korridor hinab in einen großen, hell erleuchteten Saal. Das war nun der Kalkulor selbst, kein Schulungsmodell. Glasken war von Ehrfurcht ergriffen. Da waren Dutzende Pultreihen, und darüber verliefen Drähte hin und her. Einige Drähte beförderten kleine Nachrichtenbehälter hin und her, andere wurden sirrend gespannt. Was ihm aber ein beklommenes Gefühl einflößte, war, daß, obwohl hier so viele Menschen waren, niemand etwas sagte. Man hörte einzig und allein das unaufhörliche Sausen der Abakuskugeln über die Drähte und das Klicken der Hebel, wie eine Wiese voller Grillen am Abend. Nachdem er sich über den mitten durch den Saal verlaufenden Trennvorhang gewundert hatte, wurde Glasken klar, daß er hier nur einen Prozessor der riesigen Rechenmaschine sah. Man führte ihn zu einem Platz hinten im Saal und kettete ihn mit ledergepolsterten Eisen an eine Bank. Die Ketten waren leicht und in Filz gehüllt, um ihr Klirren zu dämpfen. Man hatte an alles gedacht, damit sich die Komponenten wohl fühlten und nicht abgelenkt wurden. Glaskens Ausbilder stand hinter ihm und legte einen Hebel von LEERLAUF auf BEREIT um. »In den ersten beiden Stunden wirst du nur wenig zu tun bekommen und dich währenddessen an die Arbeitsabläufe gewöhnen«, sagte det Ausbilder sehr leise. »Wenn du so gut arbeitest wie während der Ausbildung, bekommst du dann bis zur Schichtpause dein volles Pensum. In der Pause bekommst du Kaffee, und wir werden unterdessen deine Arbeit auswerten, und anschließend wirst du möglicherweise als installierte Komponente klassifiziert.« »Und was passiert, wenn meine Leistungen nicht ausreichend sind?« - 116 fragte Glasken, wie stets besorgt, was die Konsequenzen waren, wenn er versagte. »Dann wirst du noch eine Woche lang geschult. Und wenn auch das nichts hilft, wirst du ausrangiert.« »Bedeutet das, ich muß dann in die Wüste, Gleise verlegen?« »Nein, das leider nicht«, sagte der Ausbilder mit ernster Stimme und schüttelte den Kopf. Glasken erbebte. Der Ausbilder legte den Hebel auf IN BETRIEB um. Glaskens Hemd war schweißgetränkt, als er mit der Arbeit begann, aber bald wurde ihm klar, daß das hier viel einfacher war als das, was er während der Schulung getan hatte. Als die Arbeitslast stieg, wurde er problemlos damit fertig. In der Schichtpause kamen drei Rotdrachen zu ihm. Sie lächelten und nickten und lösten das »T« von seiner Armbinde. Nach Ablauf der acht Stunden war Glasken erschöpft und hungrig und mußte dringend auf die Toilette, war sich aber auch sicher, daß man ihn nicht ausrangieren würde. Sein Ausbilder gratulierte ihm und führte ihn zu einet anderen Zelle als der bisherigen. Die sollte er sich mit drei anderen Männern teilen, alle aus seiner Schicht. Zwei von ihnen waren Mitte dreißig, der dritte schon alt und grau. Das Essen bekamen sie in Blechnäpfen. »Du bist also neu hier, hm?« fragte MULTIPLIKATOR 901. »Meine erste Schicht heute«, sagte Glasken zwischen zwei Löffeln Eintopf. »Glückwunsch«, sagte der alte Mann, KONVERTER 15. »Nicht alle neuen Komponenten bestehen die Prüfungen beim ersten Mal. Und ein paar bestehen sie offenbar nie.« »Bedeutet ausrangiert werden das, was ich vermute?« fragte Glasken. KONVERTER 15 nickte. »Hast du draußen jemals von dem Kalkulot gehört, ADD?« fragte PORT 72. »Nein. Das habe ich mit gedacht. Kein Neuer hat je davon gehört. Das bedeutet, daß hier niemand lebend rauskommt, sonst gäbe es wenigstens Gerüchte.« Glasken hielt zwischen zwei Löffeln inne und rülpste ungehemmt. »Ich nehme an, das bedeutet, daß wir lebenslänglich hier drinbleiben.« »Nee, hier drin bleibst du nur so lange, wie du wenigstens noch als einfachste Komponente arbeiten kannst«, sagte KONVERTER 15. »Aber mach dir keine Sorgen, Junge. Sie lassen einem genug Instandsetzungszeit, wenn man mal krank wird, und es gibt ein Kontingent Reser
- 117 vekomponenten, die an unserem Ruhetag alle zwei Wochen oder wenn wir krank sind für uns einspringen. Paß auf deine Gesundheit auf, dann kannst du hier ziemlich alt werden und im Bett sterben, ehe dein Anteil an Instandsetzungstagen aufgebraucht ist.« Glasken wußte nicht recht, ob er nun erleichtert sein sollte oder nicht. KONVERTER 15 ging in eine Ecke und benutzte seinen Pißpott. »Hat schon mal jemand versucht zu fliehen?« fragte die neuste Kalkulorkomponente den MULTIPLIKATOR. »Ja. Hin und wieder mal schlägt einer einen Wächter nieder und rennt dann den Korridor runter, aber die kriegen sie jedesmal und dreschen dann mit Stöcken auf sie ein. Und die hinter denen mit den Stöcken haben Pistolen. Hast du schon mal gehört, daß es einer bis zu den Pistolen geschafft hat, KON ?« »Das letzte Mal '97, kurz nachdem der Kalkulor in Betrieb genommen wurde«, sagte der über die Schulter hinweg. »Aber das war vor meiner Zeit. Ich würde sagen, daß schon ungefähr zwanzig ausrangiert wurden, weil sie ein Doppel hingelegt hatten.« »Ein Doppel?« »Weil sie zum zweiten Mal versucht hatten abzuhauen, ADD. Jede Komponente, die das macht, wird automatisch ausrangiert.« Schade, dachte Glasken. Sonst hätte man nach der Methode »Versuch und Irrtum« lernen können zu entfliehen. »Nur eine Frage noch«, sagte Glasken und schabte die letzten Reste seines Eintopfs zusammen. »Wer seid ihr überhaupt - du zum Beispiel, PORT?« »Ich war früher mal Geldwechsler«, sagte PORT. »Dann haben sie mich bei kleinen Unregelmäßigkeiten erwischt. Ich bin seit vier Jahren hier. Wir sind alle Kleinkriminelle, ADD, so wie du. Kein Mensch vermißt uns.« Darüber dachte Glasken lange nach. Es tat weh, aber er mußte sich eingestehen, daß das stimmte. Ilyires Reise nach Norden war noch weit mühseliger als sein Ritt mit den Lanzenreitern in den Süden. Immun gegen den Ruf zu sein, bot einem nur wenig Schutz, wenn man sich entgegen der Richtung des Rufs fortbewegte. Er machte einen großen Umweg nach Osten, um den Koorie-Völkern aus dem Weg zu gehen, gegen die Kharec gekämpft hatte. Die - 117 Reise dauerte ein ganzes Jahr, und in der ausgedörrten Wildnis verendete sein Kamel - er mußte zu Fuß weitergehen. Er jagte, verbarg sich, und wenn man ihn in die Enge trieb, kämpfte er. Endlich erreichte er Fostoria, das für ihn einmal am Ende der Welt gelegen hatte. Ganz allmählich erholte er sich wieder, und während er Arbeit als Treiber bei einer Karawane suchte, mit der er nach Glenellen zurückkehren konnte, bemerkte er, daß sich in der Oase mindestens zwei Männer aufhielten, die eine Sprache sprachen, die der der Menschen jenseits der südlichen Wüsten sehr ähnelte. Ilyire schloß daraus, daß es womöglich ungefährlichere Routen in den Süden gab als die, die er eingeschlagen hatte. Zwei weitere Monate vergingen, ehe er dann schließlich vor seiner Halbschwester stand und ihr die versiegelte Schriftrolle überreichte, in det der Ursprung des Rufs beschrieben wurde. Seine Halbschwester hatte sich überhaupt nicht verändert, Ilyire aber war nach der langwierigen und aufreibenden Expedition von Narben übersät und sonnengereift. Sie umarmten einander kurz und förmlich, wie in der heiligen Schrift vorgeschrieben, aber Ilyire bebte vor Eifer, ihr zu berichten, mit welch fabelhaftem Erfolg er ihre Befehle ausgeführt hatte. »Es freut mich zu sehen, daß Ihr am Leben seid, Ilyire«, sagte Theresia und mokierte sich so über die förmlichen, prüden Manieren von Alspring. »Ich habe überlebt, um wieder vor Euch zu treten, o Halbschwester«, erwiderte er mit einer geschmeidigen Handbewegung und spielte das Spiel mit. »Wäret Ihr gestorben, ich hätte meinen rechten Arm verloren.« »Euer rechter Arm ist so stark wie eh und je«, sagte Ilyire stolz, schob den Ärmel hoch und ließ seine sehnigen Muskeln spielen.
Theresia erbrach das auf dem Wachstuch angebrachte Siegel und wickelte die Seiten auseinander. Der ferne Gesang ihrer Ordensschwestern wurde hin und wieder von Vogelgeträller begleitet, und Ilyire lehnte sich zurück, um sich in ihrem Lob zu aalen. Sie las schnell, aber es war ein langer Bericht. Irgendwo außer Sicht plätscherte Wasser in einem Springbrunnen, und ein Gebläse mit Solarantrieb spendete dem von Weinstöcken, Farnen und Sandsteinsäulen eingefaßten Garten eine sanfte Brise. Ilyire kannte die Wüste gut und konnte dort bestens überleben, aber er liebte sie nicht. Der kühle Schatten und das Grün hier im Kloster waren weit mehr nach seinem Geschmack. Ein Sprühnebel aus einem nahen Springbrunnen netzte ihm das Gesicht, und er schloß die - 118 Augen. Nun war Theresia draußen in der sengend heißen Wüste, die er sechzehn Monate lang erduldet hatte, aber sie war vor der Hitze und den Gefahren in Sicherheit und würde sofort zurückkehren, wenn sie seine Worte gelesen hatte. Mit einem Mal begann sie laut zu lesen. »>Äbtissin Theresia, wo lest Ihr diese Worte? Sicherlich in den schattigen Kreuzgängen aus rotem Sandstein in Glenellen ...<« »Das habe ich nicht geschrieben!« rief Ilyire und saß mit einem Mal kerzengerade da. Theresia hielt sich einen Finger vor die Lippen. Was sie da las, stand auf zusätzlichen Seiten im Inneren der Rolle. »>Ilyire muß mittlerweile heimgekehrt sein, als einziger Überlebender der von Kharec angeführten Schwadron. Er hat Euch eine Wachstuchrolle mit Papieren vorgelegt, aber darin befinden sich zwölf zusätzliche, engbeschriebene Seiten, und dies hier ist die erste dieser Seiten. Ja, ich habe den Befehl gegeben, Ilyire über Nacht gefangenzuhalten, während ich all dies niederschrieb. Äbtissin Theresia, herzliche Grüße von der stellvertretenden Oberliber Darien. <« Ilyire saß mittlerweile auf der Kante der Korbbank, rang die Hände und wand sich in äußerster Verlegenheit. Obwohl er sich seit über einem Jahr nichts mehr ersehnt hatte, als zu den Terrassengärten von Glenellen heimzukehren, wünschte er sich nun, irgendwo anders zu sein, nur nicht hier. Theresia sah wieder von dem Papierbogen hoch. Ihre großen, veilchenblauen Augen hielten seinen Blick einen Moment lang, gerade genug, um ihre Autorität geltend zu machen. Es war ein sehr, sehr ausführlicher Bericht über alles, was Darien mit den Reitern und dem Rankenmann erlebt hatte, von dem Überfall auf die Bahnstation bis zu Ilyires unfreiwilligem Bad auf der Terrasse. Theresia las es laut vor, las langsam und deutlich, so daß Ilyire jedes Wort mitbekam. Sie stand dabei neben einem roten Sandsteintisch, dessen groteske Intarsien aus schwarzen Opalen ihn zu verhöhnen schienen. Auf dem Tisch lag ein langes, schlankes Messer mit einem Blutholzgriff, das nun als Briefbeschwerer für die Wachstuchhülle diente, welche die Äbtissin damit eine halbe Stunde zuvor erbrochen hatte. Ilyire spielte mit dem Gedanken, nach diesem Messer zu greifen und sich damit die Kehle aufzuschlitzen, um dieser Demütigung ein Ende zu bereiten. Die weiten schwarzen Gewänder, auf die Thereslas Haar wallend herabfiel, sollten eigentlich die Hilflosigkeit einer Frau betonen; sie aber trug sie, als wären es Fesseln, die sie kaum zu halten vermochten. Man erzählte sich Geschichten über sie, Geschichten, in denen sie nachts über die Dächer und Wälle des Nonnenklosters schlich - nackt, aber mit Lampenruß und Hammelfett eingeschmiert. Sie war Ilyires wahnsinnige Göttin, und es war ein erhebendes Gefühl, ihr zu dienen. Sie war auch sein Flaschengeist, und der Korken, der sie gefangenhielt, bröckelte bereits. »Eine erstaunliche Lektüre«, sagte Theresia, als sie den Hauptteil des Textes durch hatte. Das Lächeln auf ihrem angespannten, kalkweißen Antlitz trug nicht dazu bei, Ilyire zu beruhigen, dessen sonnengebräuntes Gesicht nun ebenfalls blaß war. »Sie hat alles verstanden, was ich gesagt habe«, flüsterte er entgeistert, die Hände an die Wangen gepreßt. »Eine Sprachkundige ohne Stimme!« »Ich bin stolz auf dich, Ilyire. Deine Hände haben getan, was meine getan hätten - mehr oder weniger.« »Ich schwöre, ich habe mich ehrenhaft verhalten!« »Und ich glaube dir. Schließlich habe ich Dariens Wort. Aber still jetzt, es geht noch ein wenig weiter.«
»Ich muß mit einer Warnung schließen, und diese Warnung ist auch der Grund dafür, daß ich diese lange Geschichte aufgeschrieben habe. Der Einfluß des Bürgermeisters auf die westlichen Staaten ist nur schwach, und die Berichte, die ich gesehen habe, deuten darauf hin, daß er, nachdem Kharecs Überfall nun bewiesen hat, wie ungeschützt der Westen ist, sich auf etwas Schreckliches verlegen könnte. Er besitzt eine Waffe, eine fürchterliche Waffe. Der Bürgermeister könnte fünfhundert Kamele zur Bahnstation Maralinga bringen lassen und sie mit vergiftetem Fleisch beladen. Wenn diese Kamele dann dem Ruf folgen und von den Riesenfischen gefressen werden, werden viele dieser Fische daran sterben, und ihre Vergeltung wird nicht lange auf sich warten lassen und verheerend sein. Der Ruf wird bis in Eure Königreiche im Landesinnern reichen, und er wird wochenlang anhalten, nicht nur stundenlang. Euer Volk wird ihm unbedingt folgen wollen, bis es dann in den Rufschutzräumen und an den Schutzleinen verhungert. Traut uns jedoch nicht zuviel Macht zu. Wir wissen nur aus unseren historischen Werken ein wenig über die Ursprünge des Rufs, gerade einmal genug, um mit ihm umgehen zu können. Ich begehe Hochverrat, indem ich das hier schreibe, denn ich warne damit einen Feind des Bürgermeisters. Sammelt Eure Lieben um Euch, bringt möglichst vielen bei, dem Ruf zu widerstehen. Richtet es so ein, daß sich diese Menschen um jene kümmern, die dem Ruf erlegen sind und ihm noch nicht zu widerstehen vermögen. Mit etwas Glück rettet Ihr so vielleicht einigen Dutzend Menschen das Leben. Ich möchte Euch aus Dankbarkeit helfen, kann aber nicht mehr tun, als Euch diese Warnung zukommen zu lassen, denn ich bin nur eine stellvertretende Oberliber. Nur eine von einem ganzen Dutzend. Voller Hoffnung und Scham, Eure Darien vis Babessa, stellvertretende Oberliber.« Minutenlang saßen sie schweigend da. Blattet und Farnwedel regten sich in der leichten Brise vom Solargebläse her. Theresia flocht gedankenverloren Strähnen ihres tödlichen schwarzen Haares und brütete derweil darüber, was auf der Rückseite dieses Bogens geschrieben stand. »Das ist alles«, erklärte sie schließlich. »Auf der Rückseite des letzten Blatts ist noch etwas in ihrer Sprache geschrieben, aber das kann ich nicht lesen. Was meinst du, Ilyire? Könnten diese Menschen jenseits der roten Wüsten uns mit Hilfe des Rufs vernichten?« »Ja, das könnten sie«, sagte Ilyire leise. Es schnürte ihm die Kehle zu. »Sie werden losschlagen, ehe wir genug Krieger haben, denen wir beigebracht haben, dem Ruf zu widerstehen. Stell dir vor, was für ein Bild sie nun von uns haben: Sie glauben, wir würden eine Armee ausbilden, die auch während eines Rufs kämpfen könnte. Eine solche Armee wäre praktisch unbesiegbar. Sie werden den Ruf selbst gegen uns lichten und werden uns damit vernichten. Inzwischen hatten sie ein Jahr lang Zeit für die Vorbereitungen, während ich hierher zurückgekehrt bin.« Er erhob sich und ging rastlos auf dem roten Steinboden auf und ab. »Aber warum hat sie das so gemacht? Sie hätte mir diese Seiten doch auch damals in der Bahnstation Maralinga zeigen können.« »Du hast ihr viele vertrauliche Dinge erzählt, Ilyire, weil du glaubtest, daß sie dich nicht versteht. Vielleicht fürchtete sie deinen Zorn.« »Meinen Zorn fürchten? Ich war ihr gegenüber doch die Liebenswürdigkeit in Person. Ich habe sie derart mit Zuneigung überhäuft, daß -äh ...« Theresia hob die Augenbrauen und lächelte. »Vielleicht haben meine Hände ja doch mehr angestellt, als Darien und du mir gestanden haben.« »Nein! Ich schwöre -« - 119 »Das glaube ich gern, aber laß uns auf ihre Warnung zurückkommen. Es muß irgendwas unternommen werden.« Ilyire trat an den Rand der Terrasse und blickte über die tiefblauen Gewässer in der Schlucht, die Felswände aus rotem Sandstein und die Gebäude hinweg nach Süden. Theresia gesellte sich mit einem leisen Rascheln ihrer Kleider zu ihm und legte einen Arm um seine Schulter. »Was ist dein Plan, o Halbbruder?«
»Ich könnte noch einmal in den Süden reisen. Ich könnte mich an den Klippen auf die Lauer legen und die vergiftete Fracht von den Kamelen herunterschneiden. Fünfhundert Kamele ... ja, vielleicht könnte ich das schaffen.« »Und wenn sie einige dieser Ladungen mit versteckten Sprengladungen aus Schießpulver versehen haben? Nein, mein lieber Bruder, es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir die schönen Menschen und Städte von Alspring retten können. Dieser Bürgermeister muß mein Geheimnis erfahren, wie man dem Ruf widerstehen kann. Dann wird er uns nicht so sehr fürchten, daß er uns vernichten will.« »Aber du bist die einzige Lehrerin, Theresia.« »Ja, das stimmt, und sobald ich dieses Kloster verlasse, wird mich der Ältestenrat zur Abtrünnigen erklären. Ich werde in den Süden reisen, und du wirst mich fühlen.« »Fortgehen? Du?« rief Ilyire entsetzt. »Nein! Auf keinen Fall! Du bist eine Äbtissin, die Tochter eines Edelmanns - du bist eine Frau!« Theresia lehnte sich an das Steingeländet und schaute hinaus über die blauen Wasser der Schlucht. »Erinnerst du dich noch an das letzte Mal, als du diese drei Worte zu mit gesagt hast, Ilyire?« fragte sie. Ilyire erbebte. »Da hast du mich über das Geländer geschleudert und mindestens zehn Minuten lang nur an meinen Kleidern festgehalten.« »Das waren nur ein paar Sekunden.« »Es kam mir aber wie zehn Minuten vor. Und alle Novizinnen guckten hoch und mir direkt auf den, äh -« »Lenk nicht vom Thema ab, Halbbruder. Ich habe dich mit einet Hand gehalten und mit einer Hand wieder hochgezogen. Ich bin sehr stark.« »Nachdem du jahrelang auf Spatzenjagd auf Dächern herumgeklettert bist, wundert mich das nicht.« - 120 »Ich bin stark und einfallsreich, und ich werde in den Süden reisen«, sagte sie mit fester Stimme. »Und du wirst mein Führer sein.« »Nein! Die heilige Schrift sagt klar und deutlich: >Schütze deine Frauen vor dem Tier in der Seele des Mannes. Schließe deine Frauen und Kinder ein, auf daß ihnen kein Leid geschehe. Verehre deine Frauen als Gefäße des Schicksals. Schütze -<« »>- deine Frauen vor ihren eigenen Narreteien.< Ja, Ilyire, ich kenne die heilige Schrift so gut wie du, wenn nicht besser. Und dieses dritte Gebot ist der Grund dafür, daß ich fortmuß. Das hier ist eine Frage des Schicksals. Entweder reise ich mit dir nach Maralinga, oder unser ganzes Volk wird ausgelöscht.« »Es wäre eine Zuwiderhandlung gegen die heilige Schrift.« »Der Untergang des Volks von Alspring wäre die größtmögliche Zuwiderhandlung gegen die heilige Schrift. Du würdest damit Tausende Frauen und Kinder töten, Ilyire. Könntest du vor die Gottheit treten und erklären, warum du das nicht verhindert hast?« Er kniff die Augen zu und erbebte. »Du hast es mir beigebracht. Ich kann es anderen beibringen«, sagte er verzweifelt. Theresia lächelte, schlug dann neckisch mit ihren schwarzen Haarsträngen nach ihm. »Ausgezeichnet. Ich rufe jetzt eine Novizin, und wenn du ihr binnen einer Woche beibringen kannst, dem Ruf zu widerstehen, lasse ich dich alleine ziehen.« Ilyire stand mit gesenktem Kopf da, während Theresia auf eine Antwort wartete. Schließlich schüttelte er den Kopf. Sie tätschelte ihm den Rücken. »Und außerdem habe ich dir gar nichts beigebracht.« »Wie bitte?« »Laß gut sein. Beeil dich, wir brauchen zwei Reitkamele, vier Lastkamele und Proviant für drei Monate ... ach ja, und entsprechende Gewänder, damit ich mich als Söldner verkleiden kann. Wir brechen heute nacht auf.« »Es wäre klüger, während eines Rufs aufzubrechen.«
»Aber der Ruf dringt nur zwei- oder dreimal pro Jahr so weit ins Landesinnere, und wir können es uns nicht erlauben zu warten. Wenn Gott gefällt, was wir tun, schickt er uns vielleicht einen Ruf.« Ilyire ging Kamele und Proviant kaufen, und Theresia ging in ihre Zelle, um zu packen. Ein Ruf würde ihre Abreise decken, da gab es gar - 121 keinen Zweifel. Sie hatte in Ilyires Abwesenheit ihr Wissen über den Ruf vertieft und nahm sein Nahen nun bereits zwölf Stunden im voraus wahr. Bald würde sie das Ilyire erzählen - und auch noch mehr. Bald, aber jetzt noch nicht. Im Lichtschein einer qualmenden Olivenöllampe entfaltete Theresia die letzte Seite von Dariens Brief. Es war eine verschlüsselte Botschaft, die sie schnell im Kopf enträtselt hatte, als sie noch im Garten gewesen waren. Jetzt schrieb sie den Text sorgfältig ab, um ganz sicherzugehen. »Eine von einem ganzen Dutzend, Frelle Theresia, ein ganz einfacher Kode, aber ich bezweifle, daß Ilyire ihn zu entschlüsseln vermag. Aus den Seiten, die Ihr gelesen habt, habt Ihr entnommen, daß begabte Frauen in unserem Land sehr einflußreiche Positionen erlangen können, dabei aber auch ein großes Maß an Freiheit genießen. Das ist der eine Grund, warum ich Euch diese Geschichte erzähle. Der andere Grund ist der, Ilyire eine solche Angst einzujagen, daß er Euch dabei hilft, zu uns zu kommen, falls Ihr das wünscht. Seid Ihr denn glücklich mit einem so klösterlichen, eingeschränkten Leben, und sei es auch als Äbtissin? Wollt Ihr denn weiterhin nur durch Ilyire leben und forschen? Wenn nicht, kann ich Euch einen Ausweg anbieten, Frelle Theresia. Es gibt keine Wunderwaffe, das mit dem vergifteten Fleisch und dem Ruf habe ich mir ausgedacht. Bevor Ilyire in diesen Abgrund blickte, hatten wir nicht die geringste Ahnung, was hinter dem Ruf steckt. Wenn Ihr mit Eurem Los als Äbtissin zufrieden seid, dann entschlüsselt das hier bitte für Ilyire, lacht über meine Finten und lebt weiter wie zuvor. Wenn Ihr aber Euren Äbtissinnenrang gegen den einer Silberdrachen-Oberliber eintauschen mögt, so hat mich die Hoheliber Cybeline persönlich ermächtigt, Euch willkommen zu heißen. Woher weiß ich das so schnell, wo Libris doch mehrere Tagesreisen entfernt liegt, selbst mit einem Windzug? Kommt zu uns und findet es heraus. Wenn wir unsere Beherrschung physikalischer Gerätschaften und Eure Beherrschung des Geistes vereinen, Theresia, könnten wir vielleicht gar selbst den Fluch des Rufes bannen. Denkt darüber nach, und dann kommt zur Bahnstation Maralinga und fragt nach Eurer Freundin und Dienerin, Frelle Darien vis Babessa, stellvertretende Oberliber.« - 121 Theresia lächelte angesichts dieser Worte. »Auf der ganzen Welt gibt es nur zwei Frauen und einen Mann, die den Ursprung des Rufs kennen«, sprach sie zu dem Schilfpapierbogen und hielt den Rand dann an die Flamme der Olivenöllampe. Das Material verbrannte nur langsam, widerstrebend, so als mißbilligte es ihren Entschluß. - 121 7 COUP en älteren Mitarbeitern von Libris schien es, als käme mit dem Ende des Jahrhunderts auch das Ende ihrer Welt. Unter Hoheliber Zarvora wurden Bücher nicht mehr als Symbole der ehemaligen Größe der Zivilisation und Zeichen einet unerreichbaren Machtfülle verehrt, sondern waten nur mehr Werkzeuge, die dazu dienten, Fragen zu beantworten. Es gab keine ausgedehnten, gemächlichen Kommissionssitzungen über die Feinheiten der Katalogisierung mehr, keine Feierstunden in den Kreuzgängen, wenn verschollen geglaubte wichtige Werke wieder aufgetaucht waren, und auch keine Exkursionen der Leitungsebene während des alljährlichen Weinfests durch die Bibliotheken von Ruthetglen. Das Leben im neuen Libris war geprägt von Fertigungsplänen, Zeitplänen, Versetzungen und Lochstreifennachrichten. Die Personalstärke hatte sich in nur drei Jahren verdoppelt, und doch hatten alle mehr zu tun als früher. Der schnellste Mitarbeiter der Katalogabteilung leistete nun pro Woche das Zweihundertfache wie
fünf Jahre zuvor, aber dennoch würde auch dieser Rekord wahrscheinlich nur einen Monat Bestand haben. Die Frage, was genau das zusätzliche Personal eigentlich tat, blieb ungeklärt. Der Bibliotheksverbund leitete nun effektiv das Signalfeuer-wie auch das Gleitbahnnetz und stellte der Regierung des Bürgermeisters auch noch eine Reihe weiterer Dienste zur Verfügung. Während eines kurzen, aber erbittert ausgefochtenen Grenzkrieges gegen die Südmauren in Talangatta wurde wieder einmal offenbar, daß Libris für die kleine, aber bestens ausgestattete Armee von Rutherglen eine wichtige Rolle spielte. Scharfsinnigen Beobachtern entging nicht, daß das wahre militärische Potential des kleinen Stadtstaats womöglich im Verborgenen schlummerte. Als die Südmauren das durchführten, was sie für einen Überraschungsangriff hielten, hatten sich wiederum binnen nicht einmal eines Tages irgendwelche uninteressanten Ersatzteilhaufen in militärische Galeerenzüge und transportable Signalfeuer-Leuchttürme verwandelt. Was lag in Rochester denn noch alles zur Montage bereit? Spione anderer Stadtstaaten entdeckten, daß weit mehr Lebensmittel - 122 in den Fernmeldeanbau von Libris geliefert wurden, als die dort als tätig verzeichneten Mitarbeiter überhaupt verbrauchen konnten, und Gerüchte über eine große Arbeitsgruppe von Rechendienern sprachen sich sogar bis zum einfachen Volk der Stadt herum. Und diese Gruppe, hieß es, brauche dringend Verstärkung. Männer und Frauen aus allen Schichten beteuerten, keinen blassen Schimmer von Mathematik zu haben, aus Furcht, man werde sie womöglich in einer mondlosen Nacht mit einem Schlag auf den Hinterkopf für diese Gruppe anwerben. An den Universitäten der Südostallianz sanken die Einschreibezahlen für mathematische Fächer auf ein Zehntel der Vorjahreswerte, und man mußte den Studenten den Rang eines Weißdrachenbibliothekars zuerkennen, sonst hätten sie keinen Fuß in eine Mathematikvorlesung oder -übung gesetzt. Viele Mathematikedutoren flohen in den Zentralbund oder gar ins Südmaurenreich. Sie ließen sich erst zur Rückkehr bewegen, nachdem Bürgermeister Jefton sie pauschal zu Rotdrachen ernannte und seinem persönlichen Schutz unterstellte. Doch der Kalkulor verlangte nach immer noch mehr Komponenten. Die militärischen Galeerenzüge der Hoheliber hatten in einem bis dahin nicht gekannten Tempo Verstärkungstruppen aufs Schlachtfeld geworfen, um die Südmauren bei Talangatta vernichtend zu schlagen, und das hatte Libris großes Wohlwollen eingetragen. Man hatte Zarvoras Inspektoren gestattet, das Heer der islamischen Kriegsgefangenen auf Rechenkundige hin zu durchkämmen. Von den fünftausend Gefangenen wurden siebenhundert eingezogen, neunzig weitere als zweisprachige Übersetzer und Dolmetscher. Um diese zusätzlichen Komponenten unterbringen zu können, verlegte man fast ein Fünftel des Buchbestands von Libris in ein Außenlager im Staatspalast, zusammen mit einem Bataillon Drachenbibliothekare und Diener. Lemorel erfuhr von Tarrin, das man aus den gefangenen Südmauren ein kleines Doppelprozessorsystem gebildet hatte, das dort untergebracht war, wo sich früher das Klassikermagazin befunden hatte. Es waren einhundertundfünfzig Komponenten, die in zwei Schichten arbeiteten, aber die Hoheliber verhandelte bereits über weitere rechenkundige Südmauren aus den gelegentlichen Gefechten an der Grenze nach Deniliquin. Dieser Kalkulor, die »Islamische Maschine«, wie die Bibliothekare ihn nannten, war besonders schnell bei Kontrollund Dechiffrierungsberechnungen und sorgte dafür, daß auf dem Hauptkalkulor mehr Rechenzeit für das Werk der Hoheliber frei wurde. - 122 Worum es bei diesem Werk ging, blieb ein Geheimnis. Unter anderem gehörte dazu, daß sämtliche Mond- und Sonnenfinsternisse der vergangenen Jahrhunderte berechnet wurden, und für weitere Berechnungen mußten Weißdrachen und Diener in Kartotheken und Büchern nach Erwähnungen astronomischer Ereignisse suchen. Dann waren da noch die Arbeiten zur Orbitalmechanik. Berechnungen über die Herstellung winziger, in einer Umlaufbahn befindlicher Blöcke und Berechnungen über die Geometrie von Partikeln mit seltsamen Vektoren, die auf sie einwirkten.
Und weder die Komponenten noch die Bibliothekare verstanden, was hinter diesen Berechnungen steckte. Lemorels Forschungen zu den Rufvektoren, den historischen Strömungen und Pfadabweichungen des Rufs hatten auch weiterhin eine niedrige Priorität, aber sie hatte nun immerhin bessere Zugriffsrechte auf den islamischen Kalkulor. Sie war Silberdrache, und ihre Forschungsarbeiten brachten nachprüfbare Ergebnisse hervor, und das hatte Gewicht. Wie Tarrin immer sagte: Die Hoheliber wollte kein leeres Geschwätz, sie wollte Resultate. Eines Tages, als Glasken gerade seine Schicht beendete, verkündigte der Systemherold ein ausgesprochen seltsames Dekret. Von nun an sollten sämtliche Regulatoten, Verwalter und Wachen Augenmasken tragen, während sie mit Komponenten des Kalkulors zu tun hatten, und sollten statt ihres Namens nur noch einen Kode und eine Nummer tragen. Lemorel war nun VERWALTER 37, wie Glasken feststellte, als eine entsprechende Liste zum ersten und gleichzeitig letzten Mal verlesen wurde. Vellum Drusas war sehr darauf bedacht, mit jedermann in Verbindung zu bleiben, dem er einmal geholfen hatte, aber er hielt es auch mit dem alten Sprichwort, wonach Fisch und Gäste nach drei Tagen ungenießbar werden. Zahlreiche Bibliothekare in der ganzen Allianz sahen ihn nur gelegentlich und dann kurz, schätzten ihn aber sehr. Lemorel war ein gutes Beispiel für Drusas' Freundschaften; ja, er hielt seinen Entschluß, sie nach Libris zu schicken, für einen der klügsten Schachzüge seiner ganzen Laufbahn. »Lemorel Milderellen, Verfasserin von neun Abhandlungen zum Thema Ruf und bald Lemorel Milderellen, Edutorin der empirischen Philosophie«, sagte Drusas, als sie auf dem Balkon des Silberdrachenrefektoriums beieinandersaßen. »Wer hätte das vor gerade einmal drei Jahren geahnt?« - 123 Lemorel verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Seine ihr nur allzu vertrauten Gespreiztheiten machten sie immer noch ein wenig nervös. »Ich dachte, Ihr hättet bei mir eine gewisse Begabung vermutet, als wir uns in Rutherglen kennenlernten, Fras Vellum. Warum sonst hättet Ihr mich für die Rotdrachenprüfung empfehlen sollen?« »Begabung ist etwas sehr Zartes, Frelle, das nur allzuleicht verkümmern kann. Gibt man ihr aber eine Chance, so schwingt sie sich womöglich zu den Sternen hinauf. Das gefällt mir so an meiner Arbeit als Inspektor. Ich selber mag ja ein wenig schwergewichtig und lahm wie ein Lastkahn sein, aber ich kann anderen die Chance geben, sich in die Lüfte emporzuschwingen. Wann legt Ihr denn Eure Dissertation vor?« »Im Juni 1700 GW. Mein Vater wird aus Rutherglen zu meiner Verleihungsfeier anreisen.« Drusas lachte leutselig und bestellte sich mit einem Fingerschnippen noch etwas zu trinken. »Das freut mich, das tut meinem Herzen wohl. Vom Gelbdrachen einmal abgesehen, hatten alle Eure Beförderungen ja einen eher improvisierten Charakter. Wohingegen bei mir jedesmal alles in aller Form stattfand: Prozessionen, Eide, Festessen, Talare, das ganze Drum und Dran.« »Manchmal muß die Tradition der Not weichen.« »Mag sein, mag sein«, gestand Drusas zu, hob dabei die Brauen und strich sich über sein Mehrfachkinn. »Aber wenn die Not so groß und die Arbeit so hart ist, sollte man am härtesten daran arbeiten, ein klein wenig Tradition und Festlichkeit zu bewahren. Denkt doch einmal zurück: Was waren die drei schönsten Augenblicke Eures Lebens, Frelle?« Er ließ sie einen Moment lang nachdenken und betrachtete währenddessen die Blütenblätter, die sich in der leichten Brise nacheinander von einem Zierapfelbaum lösten. »Nun, einer dieser Augenblicke war doch wohl Eure Beförderung zum Gelbdrachen, nicht wahr?« »Ja, Fras, aber -« »Ihr wurdet aber noch häufiger befördert. An den Gelbdrachen erinnert Ihr Euch wegen der Verleihungszeremonie.« »Worauf wollt Ihr hinaus, Fras Vellum?« »Auf nichts Bestimmtes. Ich möchte Euch nur daran erinnern, daß - 123 -
Hoheliber Zarvora in hundert Jahren nicht mehr hier sein wird, Libris aber sicherlich auch dann noch Bestand hat. Nehmt Euch ein wenig Zeit für die Traditionen, schenkt den guten alten Bräuchen ein wenig mehr Beachtung. Ich habe in Libris gearbeitet, als die alten Traditionen noch in voller Blüte standen, und es war wirklich wunderbar.« REGULATOR 45 stupste REGULATOR 317 an, als fünf Schwarze auf einer Sicherheitsinspektion durch die Korridore des rechten Prozessors schlenderten. »THETA und EPSILON kenne ich, aber wer sind die anderen?« flüsterte sie. »PI und OMEGA sind Besucherabzeichen«, flüsterte er zurück. »Und ALPHA-SCHWARZ?« »Von der heißt es: Nicht mal fragen. Ein ganz hohes Tier.« Nach dem Ende der Inspektion ließ Zarvora die vier Schwarzen wegtreten und machte sich auf den Weg zu den Zellen der Komponenten. Mit ihrer Augenmaske, dem Make-up, dem indigoblauen Lippenstift und das Haar streng geflochten und mit Perlen verziert, hoffte sie, unerkannt zu bleiben, fühlte sich aber, als wäre sie splitterfasernackt. Sie schlug einen Ordner auf und überflog noch einmal die persönlichen Einschätzungen. FUNKTION 5: zu alt; FUNKTION 26: wäscht sich nur selten; FUNKTION 214, 646, 614 und 620: notorische Langeweiler; FUNKTION 587: hat Pickel; FUNKTION 79, 450, 333, 390, 471, 569, 598, 606: haben die Syph; FUNKTION 247: arbeitet gut, wenn man ihn wie eine gefangene Ratte in die Enge treibt; FUNKTION 9: erhebliches Sicherheitsrisiko; FUNKTION 490: sollte es nicht gestattet sein, sich fortzupflanzen; FUNKTION 34: das Silber wegschließen; FUNKTION 92: ist mit allem, was nicht Arithmetik betrifft, vollkommen überfordert. Zarvora hatte sich von den zwanzig besten männlichen FUNKTIONEN des Kalkulors mehr erhofft. Sie alle erschienen ihr unangenehm oder unpassend, ganz und gar nicht die Art von Mann, mit dem sie gern ein romantisches Täßchen Kaffee getrunken und dabei über numerische Methodologie und Optimierungstheorie geplaudert hätte. Und FUNKTION 9 war doch tatsächlich gefährlich! Warum hatte man ihn noch nicht hingerichtet? fragte sie sich. Sie zog den Bericht über ihn hervor. Seine jüngste Heldentat hatte zehn Tage zuvor darin bestanden, - 124 die Registerdrähte so zu konfigurieren, daß sie »Happy Birthday« spielten. Wieso kam ihr das Datum, der 17. Oktober, so vertraut vor ...? »Mein Geburtstag!« stieß Zarvora hervor. Dann war FUNKTION 9 also gefährlich clever, aber vielleicht nicht gefährlich im allgemeinen Sinne. Sie beschloß, sich ihn als ersten anzusehen. Sie richtete ihr Gewand, überprüfte mit einem kleinen Spiegel, was von ihrem Gesicht zu sehen war, schluckte, kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. »Ich befehlige elftausend Untergebene und versorge vierzehn Millionen Menschen mit Dienstleistungen«, flüsterte sie. »Warum ist ausgerechnet das hier so ein Problem für mich?« FUNKTION 9 und seine Zellengenossen sahen hoch, als der Wärter ihre Tür aufschloß; dann erschien ALPHA-SCHWARZ. Sie zeigte schweigend auf FUNKTION 9 und winkte ihn herbei. Er folgte ihr zu den Einzelzellen. REGULATOREN nahmen Komponenten oft für heimliche Schäferstündchen dorthin mit, aber ALPHA hatte eine Personalakte dabei und keinen Krug Wein und kein Konfekt. »Man hat mich auf deine Streiche aufmerksam gemacht«, sagte ALPHA mit ungewöhnlich hoher Stimme. »Sie haben zu Störungen geführt.« »Das tut mir leid«, sagte FUNKTION 9 und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Die Hoheliber war außer sich vor Wut -« Zarvora fing sich wieder. »Fühlte sich aber auch geschmeichelt durch den Geburtstagsgruß.« FUNKTION 9 seufzte vor Erleichterung. »Wie hast du das gemacht?« »Das war ganz einfach.« Zarvora schluckte und rang um Geduld. »Warum hast du etwas so ... so Unverfrorenes getan?«
»Um die Aufmerksamkeit der Hoheliber zu erregen. Um ihr zu zeigen, daß in ihren Sicherheitsmaßnahmen so große Lücken klaffen, daß man mit einem Windzug hindurchfahren könnte.« Mittlerweile hatte Zarvora fast schon vergessen, weshalb sie hier war. »Aber - aber du bist ein Gefangener!« »Das ist doch kein Grund, den Kalkulor nicht zu beschützen. Er ist eine wunderbare Maschine.« Mit einem Mal ging Zarvora ein Licht auf, so hell wie eine Magnesi - 125 umfackel: Dieser Mann war mindestens so außergewöhnlich wie Nikalan, wenn auch auf ganz andere Weise. Das waren auf jeden Fall gute Aussichten - aber was nun? »Deine Loyalität und dein Eifer sind beeindruckend, FUNKTION 9. Ich - wir wollen, daß du künftig enger mit uns zusammenarbeitest.« »Äh, danke.« »Ich habe mir deine Akte angesehen. Du bist einer der fünf Liebhaber von REGULATOR 42.« »Was - fünf!« rief er aus, lehnte sich dann zurück, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Zarvora freute sich über seine Reaktion. Dann wußte sie doch wenigstens etwas, das er nicht wußte. »Ein Wort von mir, und deine Geheimhaltungsstufe könnte auf die eines VERWALTERS heraufgesetzt werden und du könntest ein Kennwort für den Reservekomponentenpool bekommen. Man könnte dich auch bestrafen, aber ich, äh, hege ein persönliches Interesse an dir, und, äh, falls du, nun ja, dich zu mir hingezogen fühlen solltest, will sagen, zu meinem Vorschlag, könnte ich dir, äh, diese Befugnisse verleihen, und auch noch mehr. Mehr von so manchem anderen.« FUNKTION 9 vermochte weder ihrer Argumentation zu folgen, noch ihre wahren Absichten zu ergründen. Er glaubte, verhört zu werden, weil er Kennwörter geknackt hatte. »Das Pool-Kennwort lautete 999POOL, das des Sytemsteuerers lautet XX99XX, aber das der Hoheliber ist ein schwieriger Fall. Wollt Ihr wissen, wie ich das herausbekommen habe?« In Zarvora zerbrach etwas. Er kannte die Kennwörter. Er kannte sich mit dem Kalkulor besser aus als sie selbst. Ich habe ihm nichts anzubieten, dachte sie. Was für eine Demütigung. »Äh, ja. Schreib bitte einen Bericht und adressiere ihn an ALPHASCHWARZ.« Sie stand auf, ihre Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert. »Ich sollte jetzt gehen. Ich danke dir. Du hast mir eine öffentliche Demütigung erspart. Ich bin dir dankbar. Mehr als nur dankbar ... das mußt du verstehen - oder vielleicht auch nicht.« Jetzt erst verstand FUNKTION 9, was sich hier zwischen ihnen abspielte. Sie war, was Sicherheitsfragen anging, eine Meisterin, er aber hatte sie aussehen lassen wie eine blutige Anfängerin. Jetzt war sie so gnädig, es einzugestehen, statt ihn hinrichten zu lassen und zu versuchen, die ganze Sache zu vertuschen. Und womöglich versuchte sie auch aus - 125 Dankbarkeit, ihn zu verführen. Na ja, ich hatte ein kurzes, aber wenigstens interessantes Leben, dachte er, als er aufstand und ihre Hand ergriff. »ALPHA-SCHWARZ, ich danke Euch, daß Ihr mich vor der Hoheliber schützt«, sagte er und sah dabei in die Augen hinter der Maske. »Eure Nachsicht ist fast so attraktiv wie Eure Figur.« Er hatte vorgehabt, ihr die Hand zu küssen und dann das Beste zu hoffen, aber sie umarmte ihn so schnell, daß er gar nichts unternehmen konnte, und klammerte sich dann eher aus Erleichterung denn aus Verlangen an ihn. »Du bist ein lieber, guter Mann«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Ich habe dich beobachtet. Du kannst einen zur Weißglut treiben ... aber du bist auch unheimlich süß.« Vier Stunden später lag Zarvora in ihrem Arbeitszimmer auf der Couch, hatte sich gerade die Haare ausgekämmt und sich ein feuchtes Tuch über die Augen gelegt. Ihr Diener klopfte an. »Ich bin es, Vorion, Hoheliber.« »Herein.« »Hoheliber, geht es Euch nicht gut?« fragte er, als er sie erblickte.
»Das war heute der entsetzlichste Nachmittag seit ich bei den Bürgermeistern wegen der Stelle als Hoheliber vorgesprochen habe«, murmelte sie. »Doch nicht etwa schon wieder die Katalogabteilung?« fragte der Diener. »Nein. Es gibt da einen Mann, den ich sehr schätze. Ich dachte, daß er mich vielleicht verachtet, aber er hat mich sehr liebenswürdig behandelt.« »Möge die Gottheit ihn segnen, Hoheliber.« »Und darum habe ich ihn verführt.« »Was habt Ihr?« rief Vorion aus, der in ihr nie etwas anderes gesehen hatte als ein Neutrum und jemanden, der so gefährlich war wie ein Blitzstrahl. »Ich habe ihn verführt, Vorion. Was sagst du dazu?« »Gratuliere?« »Bring mir eine Decke, und dann weck mich in vierzehn Stunden. Warum hast du denn überhaupt geklopft?« »Heute ist der 27. Oktober. Bürgermeister Jefton ist hier wegen der Lagebesprechung in Sachen Tandara.« - 126 »Sag dem Bürgermeister, er soll sich seine Lagebesprechung ganz eng zusammenrollen und dann in den -« »Hoheliber!« »Dann sag ihm, er soll sich auf einen Krieg vorbereiten. Und jetzt geh und laß mich in Ruhe.« Der Staatsrat von Rochester wurde von Brettspielmeister Feigen geleitet. In dieser Funktion achtete ei stets auf die Launen des Bürgermeisters, und bei dieser Sitzung gab ihm dessen Stimmung Anlaß zur Sorge. Im Laufe seiner kurzen Regentschaft hatte Bürgermeister Jefton immer mal wieder vage davon gesprochen, Kriege zu führen, um dem Staate Rochester einen gewissen Respekt zu verschaffen, und daher war es keine Überraschung, daß dieses Thema wieder einmal auf der Tagesordnung stand. Doch statt übersättigt und süchtig nach Aufregungen wirkte der junge Bürgermeister an diesem Tag nervös, unsicher, ängstlich gar. »Wie stünden unsere Chancen bei einem Krieg mit Tandara?« fragte Jefton. Ein Diener, der neben einer großen Gobelin-Landkarte des Südostens stand, zeigte mit einem weißen Stab auf die mächtige Hauptstadt Tandaras. »Tandara grenzt an Rochester«, erwiderte Feigen. »Was auch immer Ihr unternehmt, ist für den dortigen Bürgermeister von Interesse. Wenn Ihr Euch beispielsweise in dem Grenzstreit um Finley auf die Seite Deniliquins und gegen den Emir von Cowra stellt, würde Euch Bürgermeister Calgain von Tandara möglicherweise gestatten, gewisse Kriegsgüter über sein Staatsgebiet zu befördern, als Gegenleistung für eine Abgabe auf die Sanktionen der Cowraner gegen die Gleitbahn von Balranald.« Der Diener wies pflichtbewußt auf die einzelnen Fürstentümer, Hauptstädte und Gleitbahnstrecken. Bürgermeister Jefton antwortete nicht sofort, und wählend ei dort saß und zu der Karte hochsah, zuckten ihm die Hände. »Ich meinte: Rochestei gegen Tandaia«, gestand er schließlich. Feigen schnaubte unwillkürlich. Die übrigen Berater setzten sich auf, als wären sie Marionetten, an deren Schnüren gezogen wurde. »Das wäre Selbstmord - bei allem Respekt, Bürgermeister. Tandaia hat ein zwanzigmal größeres Staatsgebiet als wir und eine um das Dreißigfache größte Bevölkerung.« Jefton sah weiter auf die Landkarte. »Tandara kontrolliert alle unseie - 126 wichtigen Handelswege, Gleitbahnstrecken und Signalfeuerverbindungen. Rochester muß für das Privileg bezahlen, daß es die Allianz regiert -zum Wohle Tandaras und der übrigen dreißig Stadtstaaten des Südostens. Das ist wohl kaum fair oder gerecht.« Nun schaltete sich erstmals Erzbischof James ein. »Wenn ein christlicher Staat ohne triftigen Grund gegen einen anderen christlichen Staat in den Krieg ziehen sollte, wäre das aus der Sicht Gottes äußerst verwerflich«, mahnte er. »Tandara verfügt über die größte Armee«, sagte General Guire in einem jedoch nicht gänzlich abweisenden Tonfall. »Bürgermeister Calgain ist bei den Seinen äußerst unbeliebt. Im Stadtrat von
Tandara gibt es Fraktionen, die mit uns sympathisieren. Sollte seine Armee eine Niederlage erleiden - nun, dann wäre er in ernsten Schwierigkeiten. Seine Armee ist seine Machtbasis.« Der Brettspielmeister erhob sich flink und nahm dem Diener den Stab ab. »Bürgermeister, schaut doch einmal auf die Landkarte. Deniliquin und Wangaratta sind sehr mächtig, haben beide aber auch eine lange gemeinsame Grenze mit dem Südmaurenreich. Um diese Grenze gibt es ständig Streit, und das bindet einen Großteil ihrer regulären Truppen. Wenn Ihr ihnen Hilfe anbietet, werden sie Euch mit offenen Armen empfangen. Wenn Ihr sie um Hilfe bittet, werdet Ihr Schweigen ernten. Nathalia und Kyabram sind sehr klein und werden von Feiglingen regiert. Wenn Ihr denen ein Bündnis anbietet, werden sie Euch so schnell an Tandara verraten, wie ein Diener es schafft, zum nächsten Signalfeuerturm zu laufen. Shepparton mag Tandara nicht sonderlich und hätte gerne seine annektierte Provinz Kyneton zurück, aber der dortige Bürgermeister ist nicht dumm: Er will sich auf die Seite des klaren Siegers schlagen. Wenn es soweit käme, würde Deniliquin es gerne sehen, daß Tandara in seine Schranken verwiesen wird, ehe Bürgermeister Calgain schon wieder die Gleitbahn-Zollgebühren erhöht und weitere Burgvogteien im Grenzgebiet erobert. Das Problem ist bloß, daß sie für den Kampf eher keine Unterstützung liefern werden.« »Dann ist die Einschätzung des Generals also zutreffend? Tandara hat durchaus Schwächen?« »Nein, nein, Bürgermeister, Ihr überseht das Wichtigste. Also, ja, im allgemeinen Sinne hat der General recht. Wenn sich der Emir von Cowra mit Bürgermeister Gregory von Deniliquin verbünden und Tandara nie - 127 derwerfen würde, gäbe es wenige Hauptstädte, in denen nicht auf der Straße getanzt würde. Aber mit Verlaub: Ihr seid weder der Emir noch Bürgermeister Gregory.« »Auf indirekte Weise kontrollierte ich aber ein Gebiet, das genauso groß ist wie das des Emits.« »Zugegeben. Aber wenigstens einige seiner Staaten stehen geschlossen hinter ihm, Bürgermeister. Rochestet ist weitet nichts als ein Verwaltungssitz. Es ist eine neutrale Zone, von der aus die Südostallianz ohne Störungen durch den Ruf regiert werden kann. Wir verfügen über das größte Bibliothekssystem der Welt, und unsere Bibliothekare leisten auch sonst noch eine Reihe wertvoller Dienste, aber damit hat es sich dann auch. Die Stadtstaaten des Südostens bezahlen Rochester dafür, daß es bestimmte Dienste leistet. Solltet Ihr versuchen, darüber hinauszugehen, würden sie Euch im Handumdrehen durch einen anderen ersetzen.« »Unsere Bibliothekare haben die Galeerenzüge geliefert, mit denen die Truppen zu den Kämpfen in Talangatta befördert wurden«, sagte General Guire. Fergen legte den Stab nieder, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte den General mit einem unverhohlen höhnischen Blick. »Und wieviele Bürgermeister würden diese Galeerenzüge bei einem Krieg gegen Tandara mit Truppen bestücken?« Bürgermeister Jefton warf das Protokoll der Ratssitzung vor Zarvora auf den Tisch und baute sich dann mit den Händen auf den Hüften vor ihr auf. Sie wiederum sah ihn unverwandt an, bis er wegsah und den Blick zum Fenster wandte. Sie brauchte nicht lange dafür, das Protokoll zu überfliegen. »Da steht nichts Neues drin«, bemerkte sie. »Das haben wir alles längst besprochen.« »Die Tatsachen sind immer noch die gleichen, aber die Meinung hat sich geändert. Ein Krieg würde Rochester zerstören.« »Eine Niederlage würde Rochester zerstören, Bürgermeister. Ein Krieg aber -« »Ein Krieg gegen Tandara und eine Niederlage - das ist doch ein und dasselbe.« »Tandara bietet uns eine Gelegenheit, unsere Stärke unter Beweis zu stellen. Wir sollten uns nicht mehr mit kleinen Streitereien zwischen irgendwelchen Kleinstaaten abgeben. Wenn Ihr Tandara im Namen des - 127 wirtschaftlichen Aufschwungs und der Stabilität unterwerfen würdet, würde sich die ganze Allianz um Euch scharen.«
»Nein! Hoheliber, Ihr habt dem Staat gute Dienste geleistet, aber das hier geht zu weit. Das wäre der Untergang von Rochester. Bürgermeister Calgain würde sich unser Land als Provinz einverleiben und die Allianz beherrschen.« »Calgain könnte ich allein mit meinen Tigerdrachen besiegen.« »Nein! Es reicht! Noch ein Wort, und ich fasse das als Forderung zum Duell auf.« Zarvora richtete sich in ihrem Sitz auf und legte dann langsam beide Hände auf den Schreibtisch. Die Kolbenuhr hinter ihr schlug siebenmal. Jefton stand bebend da und starrte die Reihe der mechanischen Tiere an, die für den Kalkulor sprachen. Er hatte ganz offenkundig Angst, wich aber nicht von der Stelle. Zarvora nickte gemessen, ohne ihn direkt anzusehen, erstaunt über seine Tapferkeit. »Bürgermeister Jefton, Ihr habt keine Wahl.« Jefton wandte sich zu ihr um und sah ihr lange in die Augen. Für ihn stand nun zur Entscheidung, ob er gegen die Hoheliber kämpfen oder seinen Staat verlieren sollte. »Ich nehme Eure Forderung an«, sagte er beinahe keuchend. »Werdet Ihr persönlich antreten oder einen Kämpen benennen?« fragte Zarvora in neutralem Tonfall. Jefton empfand die Demütigung wie einen Peitschenhieb. »Der Kämpe des Bürgermeisters wird tun, wofür er bezahlt wird«, sagte er und fühlte sich, als würde ihm von Geisterhand die Kehle zugedrückt. Wie Libris verfügte auch der Staatspalast über einen eigenen Duellsaal. Ein blauer Sandsteinboden erstreckte sich hundert Meter weit beiderseits einer schmalen weißen Linie aus Marmor. Rechts und links von dieser Mittellinie gab es gepanzerte Emporen mit Spiegelglasfenstern für das Kampfgericht. Diener polierten die Spiegel, während die Richter ihre Position einnahmen und ihre Sicht überprüften. Stevel Coz machte neben dem Pistolenständer einige Lockerungsübungen, und der Schiedsrichter sah zu. Als Kämpe des Bürgermeisters und Geforderter hatte Coz die Wahl der Waffen und wollte dieses Vorrecht voll für sich nutzen. Die aufgereihten Duellpistolen schimmerten in dem Licht, das zwischen den geriffelten Marmorbögen hereinschien, - 128 die den blauen Sandsteinboden umrahmten. Auf der anderen Seite des Saals, neben der zweiten Empore, standen Zarvora und Vardel Griss und warteten. Zarvora hatte die Chefin der Tigerdrachen ebenso ihrer Loyalität wie ihres Ranges wegen zu ihrer Sekundantin erkoren. Griss war nicht nur eine außergewöhnlich große Frau, sondern auch sehr schlank, streng und gepflegt. Ihr Haar war an diesem Morgen frisch geschnitten, sie trug ihre neun Orden und roch ein wenig nach Kernseife. Einige Jahre zuvor hatte ihr bei einem Schuß in den Mund eine Musketenkugel zwei Zähne zerschlagen und war dann durch die rechte Wange wieder ausgetreten. Zarvora bemerkte, daß Griss sich die schartige Narbe geblieben hatte, damit sie noch deutlicher hervorstach. Ohne etwas zu sagen, sprach sie für die Hoheliber: Dies ist meine Sekundantin - nun fürchte dich um so mehr. Draußen erklang ein Fanfarenstoß, und schwere Türen wurden donnernd aufgestoßen. »Seine Eminente Spektabilität, der Bürgermeister« tief ein Herold, und Jeftons Mannschaft schritt herein, zu den Klängen einer Kapelle, die die Hymne von Rochestet spielte. »Ein Verstoß gegen das Protokoll. Das müßte seine eigene Hymne sein«, flüsterte Griss. »Ihr fordert den Bürgermeister, nicht den Staat. Ich werde mir das notierten.« Das Kampfgericht stellte sich gemeinsam mit dem Schiedsrichter an der Mittellinie auf. Erzbischof James und General Guite standen auf einet Seite, Brettspielmeister Fergen und der Stadtmarschall auf der anderen. Als Schiedsrichter fungierte der Oberrichter Rochesters persönlich. Zarvora und Coz blieben auf ihrer jeweiligen Saalseite, während ihre Sekundanten zum Oberrichter gingen. »Im Namen Gottes, des Volkes von Rochester und meines eigenen Amtes als Oberrichter bitte ich Euch inständig, eine Schlichtung in Betracht zu ziehen. Ich stelle Euch hier und jetzt meine Dienste zur Verfügung.«
Jefton, der neben dem Sekundanten seines Kämpen stand, bellte: »Niemals!« und mußte dann sofort husten. Griss erwiderte: »Nein danke.« »Als Kämpe der geforderten Partei obliegt Stevel Coz die Wahl der Waffen«, teilte der Schiedsrichter Coz' Sekundanten förmlich mit. Zwei Luntenschloßpistolen wurden aus dem Ständer genommen und dem Schiedsrichter auf einem Tablett präsentiert. »Wählt eine Pistole für den - 129 Herausforderer«, wurde Griss angewiesen. Sie inspizierte beide Waffen und suchte dann eine aus. »Kehrt nun auf Eure Positionen zurück.« »Eine kurzläufige Flintenschloßpistole von Dussendal«, flüsterte Griss eindringlich, als sie wieder bei Zarvora angelangt war. »Schwer, großer Griff, gezogener Lauf, aber kein Visier. Man zielt damit, indem man das Gewicht der Waffe ausbalanciert.« Wenn man damit Erfahrung hat - das unterließ Griss zu sagen. Zarvora hatte kleine Hände und war dafür bekannt, daß sie mittelschwere Waffen bevorzugte. Griss lud die Waffe, entflammte die Lunte und reichte Zarvora dann die Pistole. Der Schiedsrichter rief sie an die Mittellinie, und zwei Diener schoben eine Zielscheibe herein, die an einem mit Heuballen versehenen Gestell angebracht war. »Stevel Coz, schießt nun auf die Zielscheibe, und möge das Glück Eure Hand leiten.« Coz hob die Dussendal über seine Schulter, ließ sie dann wieder sinken und feuerte dabei in einer flüssigen Bewegung. Der Schuß hallte dröhnend wider, und als sich der Rauch lichtete, konnte man in der oberen Mitte des äußeren Rings ein dunkles Loch erkennen. »Schlechter Stil«, flüsterte Griss vor sich hin. Coz protzte damit, daß er der Hoheliber jede nur erdenkliche Möglichkeit gab zu kämpfen. »Zarvora Cybeline, falls es Euch nicht gelingt, diesen Schuß zu übertreffen, müßt Ihr das Duell verloren geben. Ihr seid am Zug.« Zarvora kniete sich hin, richtete die Waffe mit beiden Händen aus, schloß abwechselnd die Augen und drückte dann ab. Ihre Kugel traf den Mittelkreis. Der Schiedsrichter beriet sich kurz mit dem Kampfgericht. »Gemäß den Gesetzen dieses Staates und der mir verliehenen Vollmachten erkläre ich dieses Duell hiermit für rechtmäßig«, verkündete er. »Kampfrichter, nehmt jetzt Eure Plätze ein. Saalwärter, räumt den Duellplatz. Sekundanten, ladet die Waffen nach und tretet dann beiseite.« Griss überreichte Zarvora die nachgeladene Pistole und flüsterte: »Kurze Distanz, schnell umdrehen, aber mit beiden Händen an der Waffe schießen.« Zarvora wog die Dussendal umständlich in der Hand, und Coz mußte bei seinen Atemübungen kurz innehalten, um sich ein Lächeln zu verkneifen. Das Gewicht der Waffe gefiel ihr nicht, und es gab auch keinerlei Visiervorrichtung. Wenn sie sich nicht dazu entschloß, ihr Gesicht zu wahren, indem sie eine Entfernung verlangte, die über die Reichweite einer Flintenschloßpistole hinausging, würde sie das hier nicht überle - 129 ben. Neunzig Schritte würden ihr Gesicht wahren. Wenn sie zwanzig Schritte verlangte, bedeutete das, daß sie sich dem Kampf stellen wollte, der Erfahrung ihres Gegners wegen aber im Nachteil war Unter zwanzig Schritten wurde es für sie beide gefährlich, denn dann entschied die Schnelligkeit der Drehung das Duell. Zarvora war schnell, aber die Waffe war schwer und würde in unerfahrenen Händen womöglich übers Ziel hinausschwingen. Zarvora stellte sich Rücken an Rücken mit dem Kämpen des Bürgermeisters auf, die dünne Linie aus Marmor zwischen ihren Absätzen. Der Schiedsrichter zog sein Metronom auf. »Hört mir zu. Bei jedem Schlag des Metronoms geht Ihr einen Schritt vorwärts. Die Anzahl der Schritte wird von der Herausforderin bestimmt, von Hoheliber Cybeline, und auf ihr Wort hin wird begonnen zu zählen. Wenn ich Euch auffordere >Nennt die Entfernung<, werdet Ihr eine Zahl ausrufen. Haben das beide Parteien verstanden?« »Ja«, antworteten beide, und ihre Stimmen trafen denselben Ton und hallten im Saal wider wie das Amen in einer Kirche.
»Wir sind soweit ... Hoheliber Zarvora - nennt die Entfernung« »Eins!« fauchte Zarvora. Coz zögerte erstaunt, und das Metronom des Schiedsrichters schlug zum ersten Mal. Zarvora schritt ein klein wenig früher als Coz aus, aber genau im richtigen Augenblick. Als ihr Fuß den Boden berührte, wirbelte sie herum, packte den Lauf der Dussendal mit der freien Hand, um ihn so zu stabilisieren, und feuerte just in dem Augenblick, als Coz seine berühmte Drehung vollendete. Zarvoras Schuß erwischte ihn oben im Brustkorb, und dann drückte auch er ab. Die Kugel aus seiner Waffe riß eine Rille in ihren Kragen, er aber war bereits tot, als er vor ihren Füßen zu Boden fiel. Der Schiedsrichter trat vor, rief einen Arzt und die Sekundanten herbei. Griss strich Zarvora über den Kragen, wo Rückstände des geschmolzenen Ladepfropfs aus Coz' Waffe hafteten. Der Kämpe des Bürgermeisters wurde für tot erklärt. Der Schiedsrichter sammelte die Waffen ein, versammelte das Kampfgericht um sich und führte die Männer dann in seine Gemächer jenseits der weißen Marmorbögen. »Wunderbar, meisterhaft, das war großartig«, plapperte Griss und schüttelte sich vor Erleichterung, so als hätte sie selbst das Duell ausgefochten. »Ich weiß, ich hatte Euch geraten, auf kurze Entfernung zu gehen. Aber dann nur ein einziger Schritt!« - 130 Zarvora schloß die Augen. Coz' Leichnam wurde auf eine Tragbahre geladen. »Was für eine Verschwendung, Frelle Vardel. Aber immerhin bin ich noch am Leben.« »Und die Siegerin, Frelle. Ihr habt den Kämpen des Bürgermeisters besiegt, jetzt herrscht Ihr über Rochester.« »Uber Rochester herrschen? Nein, bevor es soweit ist, wird es noch weitere Kämpfe geben. Aber glücklicherweise habe ich einen Kämpen, der mir noch einige Duelle schuldig ist.« »Einen Kämpen, Frelle Hoheliber? Ihr braucht einen Kämpen?« »Einen Kämpen, Frelle Tigerdrache, einen tödlichen Kämpen.« Ein Fanfarenstoß verkündete die Rückkehr des Schiedsrichters und des Kampfgerichts. Sie schritten mit angespannter Miene herein. Jefton tauchte zwischen zwei Bögen auf, das Gesicht kalkweiß, flankiert von fünf persönlichen Leibwächtern. »Als Schiedsrichter des Duells zwischen Bürgermeister Jefton III von Rochester und der Hoheliber Zarvora Cybeline erkläre ich hiermit, daß das Kampfgericht bei der Frage, ob ein Regelverstoß vorliegt, zu einer Stimmengleichheit gelangt ist. Zwei der Richter bestehen darauf, daß die Hoheliber, da der Schiedsrichter sie angewiesen hatte, die Anzahl der Schritte zu nennen, verpflichtet war, mehr als nur einen einzigen Schritt anzugeben.« Hätte die Mehrheit des Kampfgerichts auf einen Regelverstoß befunden, so hätte man Zarvora noch am selben Nachmittag wegen Mordes hingerichtet. So jedoch war das Urteil unentschieden und mußte an die nächste Versammlung der Bürgermeister der Südostallianz verwiesen werden die in elf Monaten stattfand. Sie mußten darüber befinden, ob jemand aus den Reihen der Richter nicht geeignet gewesen war, an dem Duell teilzunehmen. Und wenn sie keine Einwände gegen das Kampfgericht hatten, mußten die Bürgermeister nach reiflicher Überlegung einen Sieger erklären. »Hoheliber Cybeline, Ihr müßt Euch jetzt in den Gewahrsam des Marschalls von Rochester begeben. Habt Ihr noch etwas zu sagen?« »Ich beantrage hiermit, daß die Bürgermeister der Südostallianz auf der Stelle zu einer Versammlung zusammengerufen werden«, sagte Zarvora unwirsch. »Über einen derartigen Antrag kann nur der Bürgermeister entscheiden«, erwiderte der Schiedsrichter und wandte sich an Jefton. - 130 »Antrag abgelehnt«, sagte Jefton mit selbstsicherer Stimme. »Eine außerordentliche Versammlung der Bürgermeister kann nur bei einem Staatsnotstand einberufen werden. Das ist hier nicht der Fall.« »Wer soll nun als Hoheliber fungieren?« flüsterte Griss eindringlich.
»Tja, gute Frage«, antwortete Zarvora. »Aber richtet Fras Tarrin aus: TURING-17-ADA. Er wird das verstehen.« Zarvora wurde von Polizisten abgeführt, und Griss eilte mit den Neuigkeiten nach Libris. Ein Treffen der Golddrachenbibliothekare wurde noch für den Abend einberufen, auf dem entschieden werden sollte, wer als Schwarzdrache fungieren sollte, während Zarvora sich in Haft befand. Gemäß der Tradition und aufgrund seines Alters entschied man sich für Sternley, den Leiter der Präsenzbibliothek. Die Leitung des Kalkulors beließ man bei Tarrin. Mit Zarvoras Festnahme änderte sich für diejenigen, die im und am Kalkulor tätig waren, das Arbeitstempo dramatisch. Für die nächste Woche gab es noch keine Zeitpläne, und daher wurde die Arbeit unterbrochen, bis die entsprechenden Drachenbibliothekare solche Pläne lieferten. Und als die Zeitpläne dann standen, stellten zahlreiche Mitarbeiter fest, daß es für sie nichts zu tun gab. Und einige taten dann auch tatsächlich nichts. Lemorel erbat sich von Tarrin die Leitung des islamischen Kalkulors und nutzte ihn für ihre Dissertation. Arbeiten, für die sie Monate eingeplant hatte, waren nun im Nu erledigt, aber davon mußten die Edutoren der Universität ja nichts erfahren. Eine weitere Bitte an Tarrin um Boten und Diener für Recherchen wurde - buchstäblich mit offenen Armen aufgenommen. Dem Bibliothekspersonal von Libris war mit einem Mal die Arbeit ausgegangen, da es so lange dauerte, den Kalkulor zu programmieren. Auch einer Bitte um Schreiber, die die Ergebnisse der Berechnungen festhalten sollten, wurde sofort entsprochen. Lemorel spielte bereits mit dem Gedanken, ihre Arbeit schon Mitte Januar einzureichen und bereits im März zu promovieren. Das ungewohnte Übermaß an freier Zeit verwirrte die Bibliothekare der mittleren Dienstebene. Einige hatten nur noch zwei Stunden pro Tag etwas zu tun und verbrachten die übrige Zeit damit, daß sie Bücher lasen, schwatzend in Schenken herumhockten oder gar den Kalkulor so programmierten, daß er außer Kämpen auch noch andere Spiele beherrschte. Die Schwarzen verzeichneten eine erhebliche Zunahme an Liebesaffären - 131 zwischen Bibliothekaren, zumal unter den Rot-, Grün- und Blaudrachen, aber der amtierende Schwarzdrache war viel zu beschäftigt, um sich mit ihren Berichten zu befassen. Lemorel experimentierte mit dem islamischen Kalkulor und leistete bahnbrechende Arbeit bei Verfahren, mit denen ein Einzelprozessor selbst seine Rechenergebnisse überprüfen konnte, indem sie Verarbeitungskontrollen einführte, die auf der Verwendung von Prüfsummen beruhten. Die Hoheliber hätte das interessiert, aber die Hoheliber bekam für die Drachenbibliothekare von Libris keine Besuchserlaubnis. Und sie nahm sich immer größere Freiheiten heraus: Eines Nachmittags übernahm die gelangweilte Silberdrache versuchsweise die Kontrolle über den Signalfeuerknoten von Griffith und veränderte einige Weiterleitungstabellen. Niemand merkte etwas davon. Daraufhin spielte sie nächtelang Kämpen gegen den Hauptkalkulor, während sie eigentlich die Nachtschicht leiten sollte. Irgendwo dort drin im Kalkulor steckte Nikalan, das wußte sie aus den Dienstplänen, und die nämlichen Dienstpläne zeigten ihr auch, daß Glasken gegenwärtig schlief. Es war ihr eine große Genugtuung zu wissen, daß er alleine schlief. Außerhalb von Libris zeitigten die Störungen des Kalkulors dramatische, beängstigende Folgen. Als erstes geriet die Verschlüsselung des Signalfeuerverkehrs durcheinander. Willkürlich wurden Strafgefangene auf Befehl des Bürgermeisters aus der Haft entlassen, und Windzüge verkehrten nun in Minutenabständen. Ermittlungen ergaben, daß Teile des Signalfeuerverkehrs in einem Zufallskode verschlüsselt wurden. Die Ver-und Entschlüsselung von Hand nahm ein Vielfaches an Rechenzeit in Anspruch, und das Verkehrsaufkommen hatte dank der Ver- und Entschlüsselungsfähigkeiten des Kalkulors sehr zugenommen. Binnen vierundzwanzig Stunden war Rochester vom übrigen Südosten so gut wie abgeschnitten. Ein Großteil des städtischen Lebens wurde ebenfalls von den Kugeln und Drähten des Kalkulors gelenkt. Der Polizeichef konnte die Akten der in seinem Gewahrsam befindlichen Straftäter nicht mehr einsehen, und die Gefängnisse füllten sich bald mit Strafgefangenen, die der Kalkulor anschließend willkürlich wieder freiließ. Mit einem Mal fehlten Steuerakten. Der Kalkulor wußte, wo sie waren, aber ehe er einen Menschen auf ihre Spur gesetzt hätte, hätte es wochenlanger
Verschlüsselungen und Überprüfungen bedurft. Diplomatische Depeschen wurden nicht mehr entschlüsselt, so daß Jefton nicht mehr mitbekam, was man sich an seinem eigenen Hof erzählte. Freibeu - 132 ter aus der Geisterstadt Heathcote überfielen einen Zollposten, und an Rochesters Grenzen gab es Truppenbewegungen, die der Bürgermeister nicht durchschaute. Dreißig Wagenladungen Schafdung wurden in die Palastküche geliefert, und eine freigelassene Schweineherde fiel über die Palastgärten her. Die vom Palast bestellte Lebensmittellieferung für eine ganze Woche ging statt dessen an die städtischen Stallungen, und Jefton mußte sich das Abendessen von seinen Dienern aus einem nahen Wirtshaus bringen lassen. Er unterzeichnete die Ernennungsurkunde eines neuen Finanzministers, nur um einen Tag später zu erfahren, daß es sich bei dem von ihm berufenen Atholart um einen vielfach prämierten Zuchtschafbock handelte. Daß diese Berufung vom Rat der Gesandten offiziell gelobt worden war, tröstete Jefton nicht nennenswert. Er beschloß, Zarvora in ihrer Zelle zu besuchen. »Rochester stürzt ins Chaos«, wetterte Jefton. »Wie macht Ihr das?« »Rochester kann ohne den Kalkulor nicht mehr funktionieren, Bürgermeister und der Kalkulor muß ständig gewartet werden. Ich habe ihn so konstruiert, daß nur ich allein diese Wartungsarbeiten vornehmen kann.« »Aber dann ist Rochester am Ende.« »Bürgermeister ich vollführe schon seit langer Zeit einen schwierigen Balanceakt. Und ich habe es satt, daß Idioten wie Ihr zu ihrer Belustigung an den Seilenden rütteln.« »Idioten! Habt Ihr mich gerade -« »Ja, Idioten.« »Ich könnte -« »Macht, was Ihr wollt, aber Ihr werdet es ohne den Kalkulor tun.« Jefton befahl dem Stab von Libris, die volle Funktionsfähigkeit des Kalkulors wiederherzustellen. Der Rat der Golddrachen brauchte sechs Stunden dafür, ihm zu erklären, warum das ohne die Mitarbeit der Hoheliber nicht möglich war, und selbst dann waren sie nicht sicher daß er es verstanden hatte. Eine Gruppe von Edutoren der Universität wurde herbeibestellt, um den Kalkulor zu inspizieren, erklärte aber, nachdem sich der Schock angesichts der Maschine etwas gelegt hatte, daß sie unmöglich funktionieren könne. Das versetzte den verzweifelten jungen Bürgermeister noch zusätzlich in Rage. Als Tarrin erklärte, daß man die Edutoren, - 132 nachdem sie nun den Kalkulor gesehen hatten, nicht mehr gehen lassen könne, war jefton nicht mehr geneigt, diese Entscheidung mit ihm zu diskutieren. Die Edutoren wurden als Auszubildende in den Kalkulor aufgenommen. Zum Handeln gezwungen wurde Jefton schließlich, als Bürgermeister Calgain von Tandara das Hunter-Dreieck annektierte. Dabei handelte es sich um ein kleines Stück Land im Süden Rochesters, und Calgain behauptete, staatenlose Räuber würden es als Basis fiir Überfälle auf sein Staatsgebiet nutzen. Es gab dort jedoch einen Zollposten einer tandarischen Gleitbahnstrecke, der Rochester nun also keine Einkünfte mehr bescheren würde. Der Zusammenbruch der Dienstleistungsfunktionen des Kalkulors hatte mittlerweile genug Chaos gestiftet, um eine außerordentliche Versammlung der Bürgermeister der Allianz zu rechtfertigen. Natürlich wollten auch die Bürgermeister selbst, daß die Dienste wieder zur Verfügung gestellt wurden, aber wie es bei derart hochrangigen Treffen nun einmal so ist, dauerte es lange, bis man schließlich zusammenkam. Einen Monat nach der Festnahme der Hoheliber kam Lemorel zu der Auffassung, daß Libris recht bald auf die Hälfte seines gegenwärtigen Personalstands zusammengestutzt werden würde und daß jene, die allein aufgrund ihrer mathematischen Fähigkeiten befördert worden waren, sich bald nach anderer Arbeit umsehen müßten. Eine Tätigkeit als Gerichtskämpe erschien ihr verlockend, und sie beschloß, im Duellsaal von Libris an ihrer Zielfertigkeit zu feilen. Die Waffendiener waren gut geschult und flink, luden und reinigten die Waffen rasch und gewandt, stellten schnell neue
Zielscheiben auf und führten sorgfältig Buch über die Trefferzahl. Trotz der widerhallenden Schüsse und des Schwefelgestanks herrschte dort eine ruhige, konzentrierte Atmosphäre. Als Lemorel eines Morgens sehr früh dort eintraf, sah sie zu ihrem Erstaunen Rotdrache Dolorian mit einer Luntenschloßpistole Kaliber 20 im Saal stehen. Dolorian sah beklommen zu Lemorel hinüber, die freundlich nickte und sich niederließ, um zuzusehen. Als Dolorian klar wurde, daß sie nicht nur einfach eine Zuschauerin, sondern eine hochrangige Zuschauerin hatte, wandte sie sich zur Zielscheibe, stellte sich im rechten Winkel dazu auf und spähte mit einem Auge über Kimme und Korn ihrer Pistole. Sie drückte ab und wich, als die Pistole losging, auf ihren hohen Absätzen ein paar Schritte zurück. Der Schuß traf nicht einmal den gro - 133 ßen Heuballen hinter der Zielscheibe. Ein Diener tauchte aus der Deckung auf und zeigte kopfschüttelnd auf ein neues Loch in der Holztäfelung hinter dem Ballen. Der Rotdrache sah kurz zu Lemorel hinüber und verlangte dann eine neue Pistole. Tapfer genug, um eine Demütigung zu riskieren, schloß Lemorel anerkennend. Dolorian war eine Bibliothekarin der alten Schule und, obwohl sie schon über dreißig war, immer noch nur Rotdrache. Sie war eher schwach in Mathematik, hatte aber die Chance, zum Gründrachen aufzusteigen, wenn sie sich auf allen anderen Gebieten wacker schlug. Und dazu zählte auch das Schießen. Sie war von geschmeidiger, aber sehr kurvenreicher Gestalt und betonte das noch mit ihrer Kleidung. Solange sie Waffen wie Schmuck trägt, wird sie Rotdrache bleiben, entschied Lemorel für sich, während sie weiter zusah. Dolorian zielte erneut, feuerte und strauchelte ein paar Schritte rückwärts. Lemorel warf sich zu Boden, die Hände über dem Kopf, als der Querschläger über sie hinwegpfiff. Der Diener kam aus der Deckung hervor und zeigte auf eine Kerbe in einem Marmorbogen einige Meter vom Ziel entfernt. »Frelle Dolorian, das war ja grauenhaft«, sagte Lemorel, als sie wieder aufstand und sich die Uniform abklopfte. Dolorian sah sie eingeschüchtert und verzweifelt an und senkte dann den Blick. »Zieht bitte Eure Stiefel aus«, befahl Lemorel. Einem Silberdrachen mußte man gehorchen. Dolorian begann sie auszuziehen, lächelte dann verlegen und setzte sich auf eine Bank. Die Stiefel reichten ihr bis zur Hemdbluse, und die Hemdbluse, die sie an diesem Tag trug, war sehr kurz. Offenbar schwer konzentriert, begann sie ihre Stiefel aufzuschnüren. Die nackten Beine, die darunter zum Vorschein kamen, waren kalkweiß. Lemorel sah auf ihre eigenen Füße und zog sich die Schuhe aus. »Wir haben ungefähr die gleiche Schuhgröße, Frelle Dolorian. Zieht die hier an. Diener! Lade die Waffe der Frelle nach - nein, bring ihr eine Kaliber 25, mit Steinschloß.« Der Diener zuckte zusammen wie von einem Peitschenhieb. »Frelle Lemorel, meine Handgelenke sind zu zart für den Rückstoß eines solchen Kalibers.« Lemorel streckte ihre eigenen Handgelenke vor; sie unterschieden sich kaum. »Sechs Wochen Liegestützen und Klimmzüge, und Ihr werdet Euch nicht mehr wiedererkennen, Frelle. Erstens: Stellt Euch seitlich hin, die - 133 Füße anderthalb Schulterbreit auseinander. Das hintere Knie leicht beugen, um den Rückstoß abfedern zu können. Haltet die Waffe mit beiden Händen, solange Ihr Euch noch eingewöhnt. Und dann den Abzug drücken. Ihn ruckartig zu betätigen ist der verbreitetste Anfängerfehler.« Der Diener brachte eine geladene Pistole. Lemorel hielt Dolorians Hände und führte sie in eine Schußposition. Ihre Hände waren warm und weich, ihre Brüste hingegen so prall wie Polsterkissen. Kein Wunder, daß sie zahlreiche Verehrer hatte. »Und jetzt macht Ihr das alleine, und diesmal schießt Ihr.« »Aber was ist mit dem Zielen?« »Bei der Gründrachenprüfung geht es ums Duell-, nicht ums Zielschießen. Ihr müßt dank Eurer Reflexe treffen, nicht weil Ihr über Kimme und Korn schaut. Für so etwas bleibt bei einem richtigen Duell keine Zeit. Und behaltet die Augen offen. Ihr schließt sie immer, wenn Ihr abdrückt, und das ist falsch.«
Dolorian richtete die Waffe aus und drückte ab. Ihr Schuß traf genau den Rand zwischen dem innersten Kreis und dem Schwarzen - entweder hatte sie wirklich großes Talent, oder es war ein Glückstreffer. Die großen grünen Augen traten ihr fast aus dem Kopf, als sie durch den sich lichtenden Rauch das saubere Loch in der Zielscheibe erblickte. Es war das erste Mal an diesem Morgen, daß sie die Scheibe überhaupt getroffen hatte. Der Diener rief »Bravo!« und applaudierte. »Das deutet darauf hin, daß meine Ratschläge doch von einigem Wert sind«, sagte Lemorel und wandte sich wieder ihrer Schülerin zu. Obwohl sie mit nackten Beinen und in flachen, abgenutzten Duellschuhen dort stand, schien Dolorian sichtlich an Statur gewonnen zu haben, als sie sich eine weitere Pistole aushändigen ließ. Und diesmal traf sie den Mittelkreis. »Ich habe erwartet, daß Ihr mindestens den Heuballen trefft, aber das ist ja noch vielversprechender«, sagte Lemorel, als sich der Rauch lichtete. »Ihr müßt viel mehr üben. Mindestens fünfzig Schuß pro Tag.« »Aber mein Gehör -« »Tragt Ohrstopfen, so wie ich.« Der Steinboden unter ihren Füßen war kalt, und sie stellte sich auf eine Matte. »Diener, noch eine Waffe.« Dolorian traf an diesem Morgen nicht mehr besser als bei diesem ersten Schuß, verfehlte aber wenigstens nie mehr das Ziel. Nach siebzig Schüssen erklärte Lemorel die Übung für beendet. - 134 »Aber Frelle, seid Ihr denn nicht hergekommen, um zu üben?« »Ah, ja«, sagte Lemorel, zog ihre doppelläufige Pistole und feuerte. Der Schuß traf nicht hundertprozentig ins Schwarze. »Ja, ich brauche auch ein wenig Übung, aber nicht mehr heute. Könnte ich jetzt bitte meine Schuhe wiederhaben?« Sie gingen gemeinsam hinaus in die Stadt, zu den Märkten von North Junction. unter Lemorels Aufsicht kaufte Dolorian zwei Paar Ziegenleder-Halbstiefel mit flachen Absätzen und ein Paar Duellschuhe aus Segeltuch. Die Wahl der richtigen Pistole dauerte etwas länger. Dolorian tauschte ihre verzierte Luntenschloßpistole Kaliber 18 gegen ein Modell Kaliber 32 mit Steinschloß und Zielvorrichtung ein. Lemorel beharrte darauf, 34 sei genau das richtige Kaliber für sie, und sie würde die Wahl bereuen, wenn ihre Handgelenke erst einmal kräftiger waren. »Je schwerer die Waffe, desto größer das Gewicht, das den Rückstoß auffängt«, erklärte sie, als sie durch ein Tor auf die Grünfläche zwischen der inneren Stadtmauer von Rochester und dem See hinaustraten. Ein Freiluftausschank versorgte die Leute, die in Ruderbooten über den See fuhren, mit Getränken. Es war ein heiterer, kühler, windstiller Tag. Die beiden Frauen setzten sich an einen Tisch und sahen zu, wie die leichten Tretzüge über die Jochbrücke in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus ratterten. Dolorian zog die neue Waffe aus ihrer Umhängetasche und drehte sie mit skeptischem Blick in den Händen hin und her. »Die sieht... plump und schwerfällig aus, wenn Ihr mir verzeiht, daß ich das sage. Mir sagt diese Waffe: > Dieser Mensch interessiert sich nur für die Funktion, nicht für Stil.<« »Ganz im Gegenteil, Frelle Dolorian. Mir sagt sie, daß sich ihr Träger mit Waffen auskennt und jemand ist, mit dem man rechnen muß. Poliert die Metallteile. Ölt das Holz ein, reibt es auch mit Parfüm ein, wenn Ihr mögt, und laßt ein Filigranmuster hineinbrennen. All das wird der Waffe eine persönliche Note verleihen, aber der Stil ist bereits vorhanden.« Dolorian dachte darüber nach und befand dann, daß ihre neue Lehrerin recht hatte. Während sie sich das Pistolenhalfter anschnallte und die Gurte richtete, blätterte Lemorel in einem Buch, das Dolorian aus der Tasche gerutscht war. Des Hohelibers Kurtisane. Sie las die letzten Seiten. Die Geschichte war größtenteils frei erfunden. Hoheliber Charltos war 106 Jahre alt und bereits demenzkrank gewesen, als er im Schlaf gestorben war. In dem Buch fiel er einem schönen weiblichen Weißdra - 134 chen zum Opfer, die ihn beim Beischlaf mit einer vergifteten Haarnadel piekste. Der Wahrheit entsprachen hier nur sein Name und Titel und daß er im Bett gestorben war. »Das ist eine nette kleine Geschichte«, sagte Dolorian, eher erklärend als entschuldigend.
»Soweit ich weiß, war Charltos ein unscheinbarer Altphilologe, dessen Vorstellung von einer wilden Nacht eher in einem mitternächtlichen Sherry-Umtrunk mit den Golddrachen bestand. Lest Ihr viele von diesen, äh, Liebesromanen?« »Oh ja. Nach einem anstrengenden Tag in Libris gibt es doch nichts Schöneres als eine Tasse nordmaurischen Kaffee, ein süffig geschriebenes Buch und ein gemütliches Bett voller Kissen natürlich mal abgesehen von einem Mann mit gewissen Talenten im Bett.« »Da Ihr als Regulator im Kalkulor arbeitet, dürfte es Euch da an Angeboten ja wirklich nicht mangeln.« »Ja, das stimmt, aber ich bin sehr wählerisch, Frelle. Ich gönne mir nur hin und wieder mal einen Schoppen Frostwein, und mit Männern halte ich es im Grunde genauso. Der Liebesakt sollte nicht zur Routine verkommen, und ich gebe mir große Mühe, damit es jedesmal etwas Besonderes ist.« »Dann habt Ihr keinen festen Freund?« »Ich habe mir geschworen, mir erst dann einen festen Freund zu nehmen, wenn ich den Gründrachenrang erreicht habe. Bei meinem Aussehen und meiner Figur fällt es den Männern schwer, mich ernst zu nehmen. Wäre ich Gründrache, müßten die Männer sich eingestehen, daß an mir doch mehr dran ist als nur Po und Brüste, lange Haare und ein hübsches Gesicht.« Lemorel ließ sich das durch den Kopf gehen, während Dolorian unbeholfen in den neuen, flachen Stiefeln auf und ab ging und sich in Positur warf, um ihre neue Steinschloßpistole gut zur Geltung zu bringen. Eine Rangierlok ratterte über die Brücke, und die Bahnarbeiter pfiffen einem Boot voller junger Frauen hinterher. Eine Bedienung brachte zwei Becher Kaffee. »Hattet Ihr schon einmal mit der Komponente John Glasken zu tun?« fragte Lemorel. »Komponenten kenne ich nur anhand ihrer Nummern, Frelle.« »3084. Und er ist gegenwärtig Multiplikator.« »Ist das der mit dem Sexverbot?« - 135 »Ja, das ist er. Was haltet Ihr von ihm?« »Er ist ganz ansehnlich und spielt ganz passabel Laute. In zwei Monaten steht seine Beförderung zur FUNKTION an. Körperlich ist er durchaus imposant, aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß imposante Körper nicht allzu oft von einem imposanten Verstand gesteuert werden.« »Er hat ein Diplom in Chemie.« »Hat er das? Nun gut, für den Fall, daß das Verbot mal aufgehoben wird, werde ich ihn im Hinterkopf behalten.« Lemorel wählte ihre Worte mit Bedacht. »Vor langer Zeit befand ich mich eines Abends einmal in tödlicher Gefahr, Frelle Dolorian. Während ich um mein Leben rang, erfuhr ich, daß mein angeblich treuer Geliebter gerade auf einem Wirtshaustisch eine Schankmagd bestieg, der er den Rock hochgerafft hatte.« »MULTIPLIKATOR 3084?« Lemorel nickte. »Geschmacklos ... aber auf eine derbe Art irgendwie auch erregend. Solange man weiß, was man zu erwarten hat -« »Ich hatte das aber ganz und gar nicht erwartet. Glasken hatte mir immer den tugendhaften und treuen Romantiker vorgespielt. Ich habe dafür gesorgt, daß er in den Kalkulor gesteckt wurde, und jetzt sorge ich dafür, daß er seine Waffe nur noch zum Wasserlassen zieht. Drei Monate. Das ist für ihn wahrscheinlich seit seinem ersten Mal die längste Zeit ohne fleischliche Freuden.« »Aber Frelle, alle möglichen Männer würden es doch genauso machen. Ich bin auch schon betrogen worden, wenn auch diskreter.« »Glasken hat keinerlei Schuldgefühle, das ist der Unterschied. Ich will, daß er bestraft wird, aber bevor sie festgenommen wurde, hat die Hoheliber überlegt, ihn unter bestimmten Voraussetzungen freizulassen. Er ist ein guter Chemiker, und sie braucht solche Leute für die Entwicklung einer neuartigen Signalfeuerfackel. Das gesamte Magnesium der bekannten Welt stammt aus einem einzigen Lagerhaus noch aus der Zeit vor dem Großen Winter, in einer Geisterstadt im Zentralbund. Der Preis steigt immer mehr, je mehr die Vorräte schwinden, und dabei nimmt der nächtliche Signalfeuerverkehr immer mehr zu. Ich will nicht, daß Glasken freikommt.«
Dolorian drückte ihr die Hand. »Wie alt seid Ihr, Frelle Lemorel?« »Fast schon zweiundzwanzig.« - 136 »Neun Jahre jünger als ich. Laßt die Jahre ins Land ziehen, und Ihr werdet lernen, nicht mehr so fest zuzubeißen.« »Meine Freunde nennen mich Lem. Und ich habe Freunde, ob du das glaubst oder nicht.« »Meine Freunde nennen mich Lori, und ich habe weniger gute Freunde, als du glauben würdest. War 3084 der einzige, der dich betrogen hat?« »Mehr oder weniger. Es ist schon sehr lange her ... da hatte ich einmal einen Freund, und den habe ich betrogen. Vielleicht war Glasken die Rache, die das Schicksal mir noch schuldig war Andererseits: Vielleicht war ich die Rache, die das Schicksal wiederum ihm noch schuldig war. Er hat die Frauen vernascht wie ofenwarme, saftige Pasteten — und jetzt kriegt er nur noch Wasser und trocken Brot.« »Dann warst also auch du einmal eine Betrügerin, Lem. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß du etwas tust, das gegen die Regeln verstößt.« »Ich habe mir das eine Lehre sein lassen. Eine schnelle Nummer mit dem Dorfstecher ist kein guter Grund dafür sich selbst oder jemand anderen zu betrügen. Für mich war das damals verhängnisvoll.« »Ein einziger Seitensprung? Ein paar Tränen und scharfe Worte sind doch gar nichts.« »Ich habe nie darüber gesprochen ... aber es spielt ja nun auch kaum noch eine Rolle, also was soll's. Ich hatte in Rutherglen einen Freund. Wir hatten noch nicht miteinander geschlafen, und dann ließ ich mich eines Abends von einem anderen verführen. Es war eine große Dummheit.« »Aber warum denn hadern, wenn niemand ernstlich verletzt wurde?« »Es wurde aber jemand verletzt, Lori, glaub mir. Brunthorp, mein Verführer hatte zwar noch ein anderes Mädchen, konnte den Gedanken aber nicht ertragen, daß so ein kleiner Scheißer wie mein Freund Semidor jetzt mit dem Mädchen ins Bett ging, das er entjungfert hatte. Er machte mir weiter den Hof, drängte mich, Semidor zu verlassen. Ich weigerte mich. Dann erzählte er Semidor, was wir beiden getan hatten. Und noch am selben Abend brachte Semidor sich um. Es war eine entsetzliche Nacht. Noch ehe er von Semidors Tod erfuhr kam Brunthorp zu mir und erzählte mir, daß er meinem Dichterfreund verraten habe, wer mir die Unschuld geraubt hatte und unter welchen Umständen. Ich lief sofort zum Haus von Semidors Eltern, aber es war - 136 schon zu spät, er war bereits tot. Ermittlungen wurden angestellt, aber Brunthorp wurde entlastet. Mir reichte das nicht. Was hättest du getan, Frelle Lori?« Dolorian saß dort und lauschte sehr aufmerksam, die Knie aneinander, die Hände gefaltet und den Oberkörper ein wenig vorgebeugt, so als wäre sie ein wenig niedergedrückt von der Last der Geschichte. »Wegen mir hat sich noch niemand umgebracht. Als ich einmal erfuhr, daß ein Liebhaber mich hinterging, habe ich ihm an dem Abend, an dem er mit einer anderen ins Bett gehen wollte, ranzigen Fischtran da hineingekippt. Da war ich noch jung und in Liebesdingen nicht so abgeklärt. Wie hast du dich gerächt?« »Ich habe viele Menschen getötet.« »Lemorel!« »Das schockiert dich?« »Allerdings. Was sollte denn das? Wurde dadurch der Gerechtigkeit Genüge getan? Hat es die Welt in irgendeiner Hinsicht verbessert?« »Drei Fragen ... auf die ich antworte: Ich weiß es nicht, ja und nein. Willst du die ganze Geschichte hören?« »Wenn du sie erzählen magst. Das ist ja wie ein Schauerroman aus dem wahren Leben.« »Nachdem Brunthorp entlastet worden war, habe ich bei Gericht eine Forderung eingereicht. Brunthorp und ich wurden zu einer mündlichen Verhandlung in den Duellsaal geladen. Sein
Vater war mit dem Bürgermeister befreundet, und die Entscheidung fiel gegen mich aus. Ich legte Widerspruch ein. Der Gerichtskämpe kam herein, und man zeigte mir die Waffen. Ich gab immer noch nicht klein bei. Der Kämpe wählte eine Waffe und zielte auf eine Scheibe. Er traf auf vierzig Schritte zwei Punkte unterhalb des Schwarzen. Ich nahm ebenfalls eine Waffe und zielte - der Fall wäre niedergeschlagen worden, wenn ich nicht besser getroffen hätte als er -, und ich traf genau ins Schwarze. Da bekamen sowohl der Kämpe wie auch Brunthorp weiche Knie. Als ich noch ein Mädchen war, ließ mein Vater mich immer die Waffen ausprobieren, deren Schlösser er im Auftrag von Waffenschmieden repariert hatte. Ich wurde eine sehr gute Schützin, wahrscheinlich habe ich eine natürliche Begabung. Der Kämpe und ich, wir stellten uns Rücken an Rücken auf, und dann bestimmte er dreißig Schritte. Wir gingen, drehten uns um und feuerten. Ich traf ihn mitten in die Brust. Seine Kugel erwischte mich an der Seite und brach mir eine Rippe. Und obwohl mir - 137 das Blut an der Seite hinablief und ich halb wahnsinnig war vor Schmerz, forderte ich Brunthorp. Es war wieder wie in jener Nacht, in der er mich entjungfert hatte: Schmerz, Schuldgefühle und Blut auf meiner Haut. Vielleicht ließ mich die Erinnerung daran die formelle Entschuldigung verschmähen, die Brunthorp vor mir kniend aussprach. Ich wollte ihn töten, und ich hatte mir das Recht auf ein Kampfordal erworben. Er war kalkweiß im Gesicht vor Angst. Trotz seiner kräftigen, männlichen Erscheinung und der Pistole, die er in der Öffentlichkeit trug, war er kein guter Schütze. Er verlangte fünfzig Schritte, vielleicht weil er hoffte, daß wir dann beide danebenschießen würden. Ich schoß nicht daneben. Ich traf ihn über dem rechten Auge, und sein Kopf zerplatzte wie eine der Melonen, mit denen ich geübt hatte. Ich sank auf die Knie und mußte mich übergeben. Als ich wieder aufstand, war ich ganz benommen, weil ich so viel Blut verloren hatte. Als wir den Duellsaal verließen, war das Gericht per Gesetz verpflichtet zu schweigen, aber das galt nicht für mich. Ich ließ alle wissen, warum ich Brunthorp gefordert und wie er um sein Leben gefleht hatte. Dem Gesetz nach war ich die Siegerin in einem Kampfordal, doch von da an war ich fürs Leben gezeichnet. Ich war gefährlich, ich war eine Mörderin. Und das Schreckliche dabei ist, daß ich Semidor gar nicht so sehr geliebt hatte, öh, er war ein süßer kleiner Spinner aber er war auch starrsinnig, überheblich und ein grottenschlechter Dichter. Wenn er irgendwann in den Jahren zuvor auch nur einmal die Initiative ergriffen hätte, hätte er leicht haben können, was sich Brunthorp dann nahm. Doch statt dessen zog ich ihn immer enger an mich, so eng, daß es ihm schrecklich weh tat, als Brunthorp ihm dann unser schäbiges kleines Techtelmechtel enthüllte. Vielleicht hätte sich Semidor gar nicht so rettungslos in mich verliebt, wenn ich ihn in die Wonnen der Lust eingeweiht hätte, aber wer weiß das schon?« Dolorian zitterte. Die Luft war kalt, und daß sie so reglos dort saß, während Lemorel erzählte, ließ sie sicherlich ebenso frösteln wie die Geschichte selbst. Lemorel trank einen Schluck Kaffee und fuhr mit dem Finger ein in die Tischplatte geritztes Herz nach. »Ich frage mich, warum ich dir das erzähle, Frelle Dolorian. Ich bin nach Libris gekommen, um meiner Vergangenheit zu entfliehen, um ein neues Leben anzufangen. Und jetzt erzähle ich das alles einer Fremden, die es in ganz Libris herumtratschen könnte.« - 137 »Was du brauchst, ist eine Handwerkerin des Herzens. So gut wie du dich mit Waffen auskennst, kenne ich mich mit Leidenschaften aus.« »Und, was rätst du mir?« »Könntest du mir zunächst erzählen, was nach dem Duell geschah?« »Es kamen noch mehr Menschen ums Leben. Brunthorps Familie waren neureiche Krämer, und sie waren erleichtert, daß ich kein Schmerzensgeld von ihnen verlangte. Nicht aber seine Freundin. Sie war die Tochter eines Großgrundbesitzers und hetzte ihre Brüder zur illegalen Blutrache auf. Mein Bruder starb an einer Kugel, die für mich bestimmt war. Das Gericht billigte mir legale Blutrache zu, und ich ging zu dem Landsitz, tötete vier Wachen, die drei Brüder und auch das Mädchen. Ihre Eltern beantragten bei Gericht eine friedliche Einigung und traten zur Strafe die Hälfte ihres Besitzes an den Staat ab.
Wiederum hatte ich gesiegt, aber um einen schrecklichen Preis. Von da an gingen mir die Leute aus dem Weg. Während andere Mädchen Freunde hatten, fürchteten sich die Jungs vor mir - und das vermutlich zu Recht. Ich mußte weg aus Rutherglen, und das Bibliothekssystem war meine Rettung. Und jetzt bin ich hier, in Libris. Der gegenwärtige Gerichtskämpe von Rutherglen ist formaljuristisch gesehen mein Stellvertreter, und ich habe immer noch Übung im Exekutieren, ob du's glaubst oder nicht.« Dolorian saß zitternd da und rieb sich die Arme. »Was hältst du jetzt von mir, Frelle Dolorian?« »Lem, was soll ich sagen? Du bist ein hoffnungsloser Fall. Dir zuzuhören ist wie mir beim Schießen zuzusehen. Die Menschen ... die Menschen in meinem Leben haben Liebeleien nie so ernst genommen. Du tust mir wirklich leid.« Lemorel lächelte reumütig und lachte dann leise und heiser auf, das Lachen einer erschöpften Seele. »Glasken ist noch glimpflich davongekommen, verglichen mit anderen Männern in meinem Leben.« »Wir sollten einen ganz wunderbaren Geliebten für dich finden.« »Oh, aber ich habe doch schon einen wunderbaren Mann kennengelemt.« »Oho, jetzt kommt's raus. Wer ist er, was macht er?« »Er ist Gast des Bürgermeisters von Rochester, und er hat lebenslänglich.« »Ach Lem! Du kannst nicht mehr so weitermachen.« - 138 »Was soll ich denn tun?« »Mir Gesellschaft leisten und lernen, die Männer und die Spiele, die wir mit ihnen spielen, nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Abgemacht?« »Abgemacht. Aber schau mal, die Sonne. Ich muß eigentlich schon längst wieder in Libris sein. Was sind wir denn schuldig? Nein, steck deine Geldbörse weg, ich zahle.« Nachdem Dolorian gegangen war saß Lemorel noch eine Weile dort und dachte nach. Ihre Freundschaften mit Frauen verliefen immer so zivilisiert, wohingegen ihr Umgang mit Männern immer in Katastrophen mündete. Unten am Seeufer probte eine reisende Schauspielertruppe für ein Straßenvariete. Schauspielerei! Das war es. Bei Männern spielte sie immer irgendeine Rolle, und bei Frauen war sie einfach nur sie selbst. War die Schauspielerei daran schuld? War sie selbst schuld, weil sie versuchte, jemand zu sein, der sie nicht war? Sie atmete tief durch, versuchte zu flüstern, was sie dachte, vermochte es nicht. Dann beschloß sie, erst wieder zu atmen, wenn sie gesprochen hatte. »Ich bin stolz auf das, was ich bin.« Dieses Eingeständnis klang längst nicht so albern, wie sie befürchtet hatte, und verschaffte ihr große Erleichterung. Viele Menschen mochten sie so, wie sie war, und wenn andere sie nicht mochten, war das deren Problem. Die Bedienung hatte schon begonnen, die Tische und Bänke auf einen Wagen zu laden, und Lemorel zahlte den Kaffee. Der Rückweg nach Libris führte Lemorel durch eine Stadt, die sich seit der Festnahme der Hoheliber sehr verändert hatte. Die meisten Gebäude waren verrammelt, und die Straßenstände, die noch geöffnet hatten, wurden von Bewaffneten bewacht. Die Polizeimannschaften waren in Auflösung begriffen und eher daran interessiert, ihre eigenen Häuser vor dem zunehmenden Chaos zu schützen, als Befehle eines offenkundig wahnsinnig gewordenen Bürgermeisters zu befolgen. Allerdings waren es auch gute Zeiten für Weltuntergangspropheten, und Prediger aller Couleur scharten Menschenmengen um sich und bestärkten sie in ihren schlimmsten Befürchtungen. Lemorel fiel auf, daß alle Prediger an denen sie vorbeikam, die gleiche Botschaft verbreiteten: Rochester war eine Nullzone, wurde nie vom Ruf erfaßt. Es war ein Hort des Bösen, an dem die himmlische Hand die Schuldigen nicht ergreifen konnte. - 138 Die religiösen Auffassungen über Rochester gingen auseinander. Die kleineren fundamentalistischen Gruppen waren dafür, das ganze Gebiet zu evakuieren, die etablierten
Glaubensrichtungen aber besaßen dort in der Nullzone Kirchen, Tempel oder Heiligtümer. Schließlich bedurften die Bewohner des Stadtstaats der Seelsorge, und hohe Kirchenfunktionäre wetteiferten miteinander um das Recht, die Freuden Rochesters erleiden zu dürfen. Das Bibliothekssystem bedurfte derartiger Rechtfertigungen nicht. Daß kein Ruf die Arbeit unterbrach, hatte zur Folge, daß der von Libris kontrollierte Teil des Signalfeuernetzes ein größeres Daten-und Kodierungsaufkommen hatte als selbst Griffith. Rochester übernahm nun für das gesamte Netzwerk die Ruf-Ortung und -Vorhersage, sogar für Gebiete, in denen man glaubte, diese Vorhersage laufe dem Willen Gottes zuwider. Die Wachen salutierten, als Lemorel nach Libris kam, doch hinter dem äußeren Anschein von Sicherheit und Ordnung war die Lage hier unterschwellig noch schlimmer als draußen. Die von Zarvora aufgebauten Systeme zerfielen. Tarrin arbeitete fieberhaft daran, die Kalkulordienste aufrechtzuerhalten, aber er war bestenfalls ein fleißiger Verwalter und der Aufgabe nicht gewachsen. Lemorel betrat die Beobachtungsplattform und sah hinab zu Nikalan, der an seinem FUNKTION-Pult saß. Seinetwegen empfand sie immer noch Schuldgefühle. Vor seinem Zusammenbruch war er ein überaus bewundernswerter Mensch gewesen. Aber sie war ja nun fertig mit der Schauspielerei, und daher hatte es keinen Sinn mehr, so zu tun, als wäre sie jemand anderes, um zu versuchen, das wiedergutzumachen, was sie ihm angetan hatte. Lemorel dachte an die Wettkämpfe, die sie gegen den Kalkulor ausgefochten und bei denen sie ausschließlich ihr eigenes Gehirn eingesetzt hatte. Sie war gut, würde sich aber nie mit Nikalan messen können oder mit Mikki. Wie sollte sie denn, so wie sie war, seine Zuneigung, gar seine Liebe erringen? Vielleicht indem sie auf eigene Weise brillant war? Indem sie den Kalkulor zu etwas machte, das weit über die Pläne der Hoheliber hinausging? Das war ein interessanter Gedanke. Sie ging zu Tarrin und sagte ihm, sie habe einige Ideen, wie man dafür sorgen könnte, daß der Kalkulor wieder zuverlässiger arbeitete. Er gab ihr das Hauptkennwort und wirkte dabei geradezu erleichtert. Nun saß sie im Arbeitszimmer der Hoheliber, ohne Furcht vor einer Festnahme, spielte auf den Tasten des stummen Cembalos und las die Botschaften der Zahnräder und mechanischen Tiere. Zarvoras Diener umsorgte sie mit großer Aufmerksamkeit. Er ließ Lemorel die Mahlzeiten bringen, ließ ihr im Arbeitszimmer ein Bett aufstellen und machte nur dann sauber, wenn sie sich einmal täglich mit Dolorian auf dem Schießstand traf. Auch das war eine Offenbarung für Lemorel: die Elite hatte Elitediener. Den Kalkulor bei bestimmten Aufgaben wieder zum Funktionieren zu bringen, war längst nicht so schwierig, wie sie befürchtet hatte, und nach einigen Tagen hatte sie ihn soweit, daß er wieder einigermaßen effizient selbständig arbeitete. Das eigentliche Problem waren seine Beziehungen zur Außenwelt. Lemorel beschloß, damit zu beginnen, daß sie die Aufzeichnungen über ihre illegale Kalkulorsitzung durchging. Sämtliche Bankdaten waren in Libris gespeichert. Sie enthielten simple Prüfsummenziffem, die eher Versehen verhindern als Manipulationen vorbeugen sollten. Lemorel griff auf das Konto zu, das sie im September mit einem Guthaben von siebenhundert Goldroyal eingerichtet hatte. Die Summe war immer noch da. Diese siebenhundert Goldroyal gab es natürlich gar nicht. Lemorel hatte am Gesamtsaldoregister nichts geändert, um es etwa um siebenhundert Goldroyal aufzustocken, aber das würde nie auffallen, es sei denn, jemand versuchte, von dem Konto etwas abzuheben. Der Kontoinhaber war jedoch tot, aber weil er Ausländer gewesen war, konnte das Guthaben erst sieben Jahre nach seinem Ableben den Staatseinnahmen des Bürgermeisters zugeschlagen werden. Dann würde irgendein Buchhalter entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber bis dahin war die Spur längst kalt. Um sich auch gegen diese Gefahr abzusichern, hätte sie den Gesamtsaldo ändern müssen, aber das kam nicht in Frage. Dieser Wert wurde in viel zuvielen Berichten und Dokumenten festgehalten, und viel zuviele Buchhalter kannten die monatlichen Gesamtsalden der vergangenen zehn Jahre auswendig. Lemorel konnte sich auch noch mühelos an den Saldo jenes Monats erinnern. Um ihr Gedächtnis zu überprüfen, versuchte sie auf den Saldo zuzugreifen, ließ den Kalkulor aber, um zu dem Betrag zu gelangen, versehentlich die einzelnen Kontoregister addieren. Und als das Ergebnis eintraf, fehlten siebenhundert Goldroyal!
Sie setzte sich so ruckartig auf, daß ihr Rückgrat knackte. Die Anzeige auf den Rollen des Ausgaberegisters war eindeutig, aber absurd. Lemorel erinnerte sich besonders deutlich daran, daß die drei letzten Stellen 777 hätten lauten müssen, was dem falschen Betrag entsprach. Nun stand da 077, und das entsprach dem tatsächlichen Saldo. Siebenhundert Gold - 140 royal waren einfach so verschwunden. Aber dieser Saldobetrag war dann doch zuviel des Zufalls, als daß dahinter der Diebstahl irgendeines Drachenbibliothekars stecken konnte. Der Gesamtsaldo hatte keine Prüfsummenziffer, denn er war öffentlich bekannt und jederzeit nachprüfbar. Die einzelnen Konten aber hatten eine solche Ziffer. Einige Griffe in die Klaviatur ließen den Kalkulor die Prüfsummen mit den Kontosalden vergleichen. Die geschätzte Rechenzeit dafür betrug drei Stunden, nicht wegen der schwierigen Verarbeitung, sondern weil Diener die Beträge von Kontokarten übertragen mußten. Nun wandte sich Lemorel dem heikleren Problem zu, die Verbindungen des Kalkulors zur Außenwelt wiederherzustellen. Das Postregister steckte voller Fernmeldedaten und verschlüsselten Anforderungen, die Tarrin nicht in Anweisungen an den Kalkulor zu übersetzen vermochte. Lemorel überflog den Index des Registers, hoffte auf Muster zu stoßen, anhand derer sich die Anforderungen in Gruppen aufteilen ließen. Solche Muster waren eindeutig vorhanden, aber es würde nicht einfach werden, sie zu enträtseln. Plötzlich hielt sie abrupt inne, als sie auf den Namen Darien vis Babessa, stellvertretende Oberliber stieß. Ihre Nachricht war zwölf Seiten lang und in einem Hochsicherheitskode über das Signalfeuernetz übertragen worden. Dariens Briefe an Lemorel waren verbindlich und freundlich gewesen, und sie hatte darin stets betont, daß sie auf einer besonders langweiligen Bahnstation harte Arbeit leisten mußte. Zwölf Seiten kostspielige Signalfeuerzeit erschienen Lemorel sehr ungewöhnlich, wenn es im fernen Westen tatsächlich so ruhig zuging, wie Darien behauptet hatte. Lemorel gab den Befehl /ZUGRIFF/ ein und wartete darauf, daß der Aktenbote kam. Die Akte traf in einem versiegelten roten Ordner ein, und Lemorel quittierte den Empfang. Tarrin hatte ihr schließlich freie Hand gelassen, also warum nicht? Der Name Maralinga war ihr vertraut, doch bald ging es in dem Bericht um Alspring, Glenellen, die Ghaner und die in alarmierendem Maße fremdartige Äbtissin Theresia. Da gab es einen Mann, der dem Ruf widerstehen konnte, indem er einen aus Ranken gefertigten Anzug trug - den er dann, wie sich herausstellte, dazu gar nicht brauchte. Schließlich folgte eine Schilderung des Ursprungs des Rufs. Hatte Darien den Verstand verloren? »Das ist ja unglaublich, das ist ja phantastisch«, sagte Lemorel zu einer mechanischen Eule. - 140 Die letzte Seite verriet, daß eine Kopie dieses Berichts an die Äbtissin Theresia gesandt worden war. Der Bericht war ebenso an die Äbtissin wie an die Hoheliber gerichtet. Wenn das alles stimmte, übertraf es die wildesten Vorstellungen der größten Philosophen aller Zeiten. Die Akte enthielt noch weitere Aufzeichnungen. Zarvora hatte die immensen Ressourcen von Libris dazu genutzt, Nachforschungen anzustellen. Darunter befand sich die Abschrift eines Chronistenberichts aus dem sechsten Jahrhundert über ein grausames Experiment mit den Koorie-Nomaden. Ein Kriegerphilosoph aus der Höhlenfestung in Naracoorte hatte einige Dutzend Lanzenreiter bei einem Überfall auf ein Koorie-Volk angeführt, und nach heftigen Kämpfen hatten sie fünf der Nomaden lebend in ihre Gewalt gebracht. Man hielt sie in der Geisterstadt Gambier gefangen und führte dort, während siebenmal der Ruf vorüberzog, Experimente mit Stolperdrähten und Halteseilen mit ihnen durch. Und es konnte keinen Zweifel geben: Die Koorie waren tatsächlich in der Lage auszuharren, während der Ruf über sie hinwegging. Man versuchte, hinter das Geheimnis der Koorie zu gelangen, und diese Versuche arteten schließlich in Folter aus. Der Kriegerphilosoph hatte seinem Bürgermeister das alles in einem ausführlichen Brief geschildert und berichtet, daß einige Koorie zwar versuchten, mit ihnen zu kooperieren, daß ihre Erklärungen aber auf Vorstellungen zurückgriffen, die so fremdartig waren, daß sie sich jedem Verständnis entzogen. Es war das letzte, was man von ihm hörte. Als ein Lanzenreitertrupp einige Zeit später in der Geisterstadt eintraf, fanden sie Hinweise auf einen
Angriff durch eine größere Gruppe von Koorie, aber keine Leichen oder Gräber. Sie entdeckten jedoch die zerschmetterten Reste von zweiundsechzig Rufzeitschaltern. Eine grausame Art, einer Legende Glaubwürdigkeit zu verleihen, dachte Lemorel, als die Ausgabeklingel läutete und die Hennen begannen, Löcher in ihren Papierstreifen zu picken. Sie riß den Streifen ab und hielt ihn in den zitronengelben Lichtschein einer Öllampe. Das Bankkonto des Erzbischofs James von Numurkah war mit siebenhundert Goldroyal debitiert worden, aber die Prüfsummenziffer stimmte nicht. Das war das einzige Ungewöhnliche an dem ganzen Auszug, aber der neu berechnete Gesamtsaldo war immer noch siebenhundert Goldroyal geringer als die ursprüngliche Summe. Die Gutschrift auf dem von Lemorel erfundenen Konto und die Belastung des Kontos von Erzbischof James hätten zusammengenommen eigentlich den ursprünglichen Wert ergeben müs - 141 sen. Irgend jemand hatte versucht, den Erzbischof mit dem Zwischenfall auf dem Turm von Wirrinya in Verbindung zu bringen, und dieser jemand hatte angenommen, die siebenhundert Goldroyal seien bereits im Gesamtsaldo enthalten. Das monatliche Bulletin zeigte, daß der Erzbischof James von Numurkah im Jahre 1698 nach dem Großen Winter zum Berater des Bürgermeisters ernannt worden war. Er residierte im Ostflügel des Staatspalastes ... und hatte beim Gericht von Rochester den Status eines Duell-Kampfrichters inne. Er war Mitglied des Kampfgerichts beim Duell der Hoheliber gegen den Kämpen des Bürgermeisters gewesen. Und es gab — natürlich - keine Aufzeichnungen darüber, wie er votiert hatte. Ein stümperhafter Raub mit Hilfe des Kalkulors - oder ein Versuch, dem Erzbischof etwas anzuhängen? Die Daten waren verschlüsselt, so daß die Diener die Zahlen nicht verstehen konnten, die sie auf Befehl des Kalkulors übertrugen. Daher konnten diese Änderungen nur durch den Kalkulor erfolgt sein. Aber wer tat so etwas? Zarvora? Tarrin? Von diesen beiden einmal abgesehen, blieb da nur noch Lemorel selbst. Tarrin quälte sich mit seinen Versuchen ab, den Kalkulor korrekt zu programmieren, und Zarvora hätte nicht versäumt, die Prüfsummenziffer entsprechend zu ändern. Ermittlungen im Auftrag des Rats der Bürgermeister würden dazu führen, daß die Bankdaten entschlüsselt und an ein Team von Buchhaltern freigegeben wurden, und diese würden das Scheinkonto mit dem des Erzbischofs in Verbindung bringen. Sie würden auch die stümperhaften Manipulationen entdecken und daraus auf Betrug durch Unbekannt schließen. Erzbischof James würde wegen Befangenheit als Richter abgesetzt, und der Fall der Hoheliber würde neu aufgerollt. Lemorel sah von den Tasten hoch zu den Reihen der mechanischen Tiere, zu den silbernen Hennen, die bereitstanden, auf den Papierstreifen einzupicken. Sie schloß die Tür auf, nickte den Wachen zu und machte sich auf den Weg zur Beobachtungsplattform im Kalkulorsaal. Die Maschine wußte nichts von den Schwierigkeiten, die sie in den Stadtstaaten der Allianz und noch darüber hinaus auslöste. Wenn man ihr Blödsinn zum Verarbeiten vorsetzte, lieferte sie blödsinnige Resultate. Lemorel ging zu den Datenaustauschkammern, in denen Diener und Boten damit beschäftigt waren, Daten von Hunderttausenden handschriftlichen Karten für den Kalkulor herbeizuschaffen und zu kopieren, dann weiter in die Rechercheabteilung, von wo aus Boten in die Buch - 141 magazine von Libris gesandt wurden, um die Fragen des Kalkulors zu beantworten. Was für eine großartige Idee, was für ein gewaltiges Werkzeug. Die Präsenzbibliothek von Libris war ein riesiger, von einer Kuppel gekrönter Zylinder, die Wände gesäumt von Bücherregalen, die sich in alle Richtungen erstreckten und in der Feme verloren. Da es Nacht war arbeiteten hier keine externen Leser, sondern nur Boten im Auftrag des Kalkulors. Lemorel blieb stehen und sah sich um. Sie war sich bewußt, daß sie sich hier im Gedächtnis eines riesigen Gehirns befand. Und sie gebot darüber: Wenn die Hoheliber in ihrem Gerichtsverfahren unterlag, würde Tarrin es Lemorel nur allzu bereitwillig übergeben ... doch einzig und allein Zarvora vermochte es weiterzuentwickeln. Lemorel kannte sich mit seinem
Gebrauch aus, nicht aber mit seiner Konstruktion. Sie sah zu, wie die Boten vom Erdgeschoß bis hinauf in den neunten Stock ihrer Arbeit nachgingen. Zu dieser Arbeit zählte auch die an Lemorels Dissertation, doch wenn die Hoheliber freikommen sollte, würde sie flugs aus den geheimen Logbüchern, die jeweils mittags auf den neusten Stand gebracht wurden, erfahren, was vorgefallen war Der Weg zurück zum Arbeitszimmer der Hoheliber kam Lemorel viel länger vor als ihr Rundgang durch den ganzen Kalkulor. Die im Zusammenhang mit dem außerordentlichen Treffen der Bürgermeister der Allianz angestellten Ermittlungen ergaben, daß der Erzbischof etwas mit der Verschwörung von Wirrinya zu tun hatte. Gewiß, die Beweislage war dürftig und reichte nicht hin, um ihn wegen Hochverrats anzuklagen, genügte aber, um ihn in Rochester zu diskreditieren. Sämtliche Entscheidungen, die er nach der Verschwörung von Wirrinya in juristischen Fragen gefällt hatte, wurden für nichtig erklärt, und dazu zählte auch sein Richtspruch bei dem Duell zwischen der Hoheliber und dem Kämpen des Bürgermeisters. Es kam heraus, daß er gegen die Hoheliber votiert hatte, aber da sein Votum nun ungültig war, fiel das Urteil mit nur noch einer Gegenstimme zu ihren Gunsten aus. Zarvora wurde unverzüglich aus der Haft entlassen, und eine Woche später trat der Rat der Bürgermeister der Allianz erneut zusammen und ernannte Jefton zum konstitutionellen Monarchen. Zarvora Cybeline aber sollte Rochester als Staatsratsvorsitzende regieren - auf Lebenszeit. Recht bald nach der Freilassung der Hoheliber wurde Lemorel in deren Arbeitszimmer in Libris gerufen. - 142 »Ich habe mir die Logdateien über gewisse in jüngster Zeit vorgenommene Arbeiten am Kalkulor angesehen«, begann Zarvora ominös. »Tarrin kennt sich nicht besonders gut mit den Prüfsummen aus, aber dennoch wurde bei einer bestimmten Transaktion, die er, nun ja, außerhalb des üblichen Vorgehens durchgeführt hat, die Prüfsumme korrigiert.« »Fras Tarrin hat das Glück, über loyales und kompetentes Personal zu verfügen, Frelle Hoheliber«, erwiderte Lemorel. »Ich ebenfalls. Und Ihr habt hinter Tarrin aufgeräumt und Euch dabei als Systemadministrator angemeldet.« Lemorel schluckte. »Ja.« »Warum?« Lemorel schluckte erneut. »Um Euch bei Eurem Verfahren zu unterstützen.« »Warum?« »Aus Neugier, Hoheliber.« »Erklärt mir das.« »Der Kalkulor vermag die außergewöhnlichsten Dinge zu leisten, aber ich weiß nichts über seinen eigentlichen Zweck. Wenn er denn so ein wunderbares Werkzeug ist, muß der Grund dafür, daß Ihr ihn erbaut habt, doch ein ganz fantastischer sein. Ich habe Euch verteidigt, um diesen Grund zu erfahren. Und er besteht nicht darin, Zugfahrpläne zu entwerfen und Nachrichten zu entschlüsseln.« Zarvora ließ sich das durch den Kopf gehen und blätterte derweil in Lemorels Personalakte. »Diese Begründung ist ja wohl kaum schmeichelhaft, und sie beruht auch nicht auf Loyalität ... aber ich bin Euch dennoch dankbar. Womit kann ich Euch belohnen? Eine Beförderung? Macht? Reichtum?« Die Hoheliber war erfreut. Lemorel fühlte sich, als würde sie vor Erleichterung zerfließen. »Ich würde Euch gerne auf direkterem Wege zuarbeiten, Hoheliber. In Eurer Abwesenheit habe ich Teile des Kalkulors so umgebaut, daß der Bedarf an Überprüfungen verringert und die Verarbeitungsgeschwindigkeit gesteigert werden konnte. Wenn Ihr mir mehr über Eure Projekte erzählen würdet, könnte ich bessere Methoden entwickeln, den Kalkulor dafür zu nutzen.« Zarvora spähte in einen gläsernen Schaukasten, in dem ein aus Messing gefertigtes Astrolabium stand. Dann betätigte sie vorn an dem Kasten einen Hebel, und das Gerät, das die relativen Bewegungen des - 142 -
Erdkörpers zeigte, setzte sich in Bewegung. »Wir schreiben jetzt das Jahr 3931 nach Christi Geburt, das heißt, nach dem alten anglaischen Kalender«, sagte Zarvora langsam und sah dabei zu, wie das Uhrwerk die Planetenbewegungen nachvollzog. »Das Jahr 1699 nach dem Großen Winter ist das Jahr 3931 nach Christi Geburt, und das erste Jahr nach dem Großen Winter war das Jahr 2232 nach Christi Geburt.« Lemorel dachte sorgfältig darüber nach. »Aber, mit Verlaub, Hoheliber, die Wissenschaft streitet sich seit Jahrhunderten über diese Daten. Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?« »Es ist schon fast dunkel genug, um das Observatorium zu nutzen. Kommt mit.« Sie legte den Hebel wieder um, und das Astrolabium blieb stehen. Als sie hinausgingen, eilte ihr Diener Vorion herbei, um hinter ihnen das Arbeitszimmer abzuschließen. »Kurz vor meiner Inhaftierung hat der Kalkulor ein sehr umfangreiches Projekt abgeschlossen, bei dem es darum ging, sämtliche uns bekannten Großwinterdaten aus allen Quellen einzuordnen und zueinander in Beziehung zu setzen. Er lieferte mir drei mögliche Daten. Und mit diesen Daten und einer Reihe von Bezugnahmen auf Sonnenfinsternisse vor dem Großen Winter habe ich dann eine Reihe von Nachforschungen angestellt. Ein Datum hatte ich schon nach wenigen Minuten bestätigt, und dann konnte ich auch noch die fehlenden Jahre ergänzen. Wir schreiben jetzt das Jahr 3931 nach Christi Geburt, daran besteht keinerlei Zweifel mehr.« Die Sternwarte befand sich in einer zwiebelförmigen Kuppel, deren Seiten wie Blütenblätter herunterklappten, wenn sich das Fernrohr drinnen drehte, um den Himmelsbewegungen zu folgen. Das Linsenteleskop mit einem Objektivdurchmesser von 28 Zentimetern wurde von Flaschenzügen angetrieben, deren Gewichte weit in die Tiefe reichten. Ein mechanischer Regulator innerhalb des Observatoriums war mit dem Getriebe verbunden, welches das Fernrohr steuerte. Zarvora drehte an einem Messingrad, und das Instrument senkte sich, bis es auf eine Himmelsregion genau gegenüber der gerade untergegangenen Sonne wies. Während Zarvora die Schärfe einstellte und die genaue Ausrichtung überprüfte, schaute Lemorel hinaus auf die im Abendrot daliegende Stadt. Der Wanderstern Cobleni zog rasch über den Fixstemhimmel. Dann erreichte er den Erdschatten und erlosch. - 143 »Die Objektivlinse dieses Teleskops wurde im Jahre 1880 nach Christi Geburt hergestellt, und dennoch dient sie immer noch treu der Astronomie«, sagte Zarvora und wählte ein Okular. »Schon erstaunlich, daß ein Stück Glas so viel überstehen und dann immer noch so gut sein kann wie am ersten Tag. Es wird wahrscheinlich auch uns überdauern.« Lemorel sah noch immer hinaus auf die Stadt. Der Hochsommer war vorbei, aber noch waren die Tage lang und heiß. Gärtnergehilfen gingen mit Gießkannen durch die Gärten des Staatspalastes und sorgten dafür, daß die exotischen Pflanzen nicht verwelkten. Vergnügungsboote trieben träge über den See, und von einem Bierfest irgendwo jenseits der Mauern von Libris scholl leise Musik herüber. Eine Uhr im Observatorium schlug die achte Stunde. Zarvora ließ ein Okular einrasten und spähte hindurch. »Schaut Euch das bitte an«, sagte sie schließlich, stellte sich daneben und verschränkte die Arme vor der Brust. Lemorel blickte in das Okular, in dem ein schwach kupferfarben leuchtender Stern zu sehen war. Er sah verzerrt aus, fast oval. »Das ist der Mars, recht unscharf - ach nein, der Mars ist ja da drüben. Das ist ein anderer Planet oder vielleicht ein Komet. Ja, ein Komet. Das würde die seltsame Form erklären und den verschwommenen Umriß.« Zarvora schüttelte den Kopf. »Das ist eine Spiegelung auf der Innenseite eines riesigen Bandes, das die Erde umgibt. Der helle Punkt stammt von den Sonnenstrahlen, die von irgendeiner Art von Textur auf der inneren Krümmung fokussiert werden. Manchmal sieht es aus wie ein sternenähnlicher Punkt, und manchmal ist es ein dünner Lichtstreifen.« Lemorel lief es trotz der warmen Abendluft kalt über den Rücken. »Was ist das? Hat das etwas mit dem Ruf zu tun?«
»Vor drei Wochen war es noch nicht zu sehen, aber jetzt entrollt es sich langsam. Erinnert Ihr Euch an die Ergebnisse einer besonders langen Kalkulorsitzung kurz vor meiner Inhaftierung? Dabei kam auch ein Datum heraus, der 27. Dezember des Jahres 3931 nach Christi Geburt, also des Jahres 1699 nach dem Großen Winter. Das ist das Datum der Wiederkehr des Großen Winters, der Tag, an dem dieses Band aktiv wird.« Lemorel starrte erneut ins Okular. Das verschwommen erkennbare Oval hatte sich nicht verändert. - 144 »Welche Theorie über den Großen Winter haltet Ihr für die richtige?« fragte Zarvora. »Da gibt es viele Theorien. Ich glaube eher an eine physikalische Erklärung als an eine Strafe Gottes. Vielleicht ein fehlgeschlagenes Experiment zur Wetterbeeinflussung.« »Ihr seid unvoreingenommen, das ist gut. Ich werde Euch erzählen, was ich bisher rekonstruiert habe. Im 21. Jahrhundert nach Christi Geburt kam es zu einer globalen Erwärmung. Und dann kam der Ruf hinzu. In der Panik und Anarchie, die er auslöste, zündeten die größeren anglaischen Staaten blindlings sogenannte Kernwaffen und wirbelten damit so viel Staub auf, daß dieser die ganze Erde einhüllte und die Sommer zu bitterkalten Wintern wurden.« »Dann hat also - indirekt - der Ruf den Großen Winter ausgelöst?« »Ja, aber ob Ihr es glaubt oder nicht, der Welt drohte damals eher ein Großer Sommer Ein Staat Japan hieß er - schlug vor ein riesiges Band zwischen Erde und Mond zu legen, als Schutzschild gegen das Sonnenlicht. Man wollte winzige Maschinen auf den Mond schicken, wo sie sich dann aus Mondstaub selbst reproduzieren sollten. Hunderte Raketen sollten den Mond damit besäen, aber als der Ruf kam und die Zivilisation vernichtete, hatten sie es nur geschafft, einen Prototyp hinaufzuschießen. Und seit dieser Zeit haben diese winzigen Maschinen Kopien ihrer selbst angefertigt sowie Bausteine für das Sonnenschild, und haben diese hinausgeschickt in die Erdumlaufbahn, wo sie als diffuse Wolke um die Erde kreisten. Jetzt greifen diese Bauteile allmählich ineinander und sie bilden ein riesiges Band.« »Aber die Erde erwärmt sich doch gar nicht mehr«, sagte Lemorel. »Das stimmt, Frelle, aber die Maschinen auf dem Mond wissen das nicht. Dieses Band existiert, ob wir wollen oder nicht.« »Dann wird sich die Erde also abkühlen?« »Ja, Frelle Lemorel. In vier Stunden beginnt ein neues Jahr, das Jahr 1700 nach dem Großen Winter und 3932 nach Christi Geburt. Dieser verschwommen sichtbare Stern, den Ihr da seht, wird in einigen Wochen deutlich sichtbar sein, und dann wird sich erweisen, worum es sich dabei handelt. 1699 war das letzte Jahr nach dem Großen Winter. 1700 wird das erste Jahr eines neuen Großen Winters sein.« Zarvora stellte noch ein paar Beobachtungen und Messungen an, machte einige Skizzen und bewegte dann das Teleskop wieder in seine Ruhestellung. Lemorel half ihr, die Kuppel zu schließen. - 144 »Wir stehen am Beginn eines neuen Jahres und Jahrhunderts«, sagte Zarvora, als sie auf das Dach hinaustraten. »Nehmt Ihr heute abend an den Feierlichkeiten teil?« »Das werde ich ganz bestimmt, Hoheliber. Es könnte ja unser letztes Silvesterfest sein. Aber sagt mir: Worauf laufen all Eure Forschungen über dieses Himmelsband hinaus?« »Kurz bevor Lewrick erschossen wurde, habe ich ihm einen Teil der Antwort auf diese Frage ^'erraten: Vor einer Katastrophe gewarnt zu sein, verleiht einem große Macht.« »Und der andere Teil der Antwort?« »Altruismus ist mir nicht gänzlich fremd, Frelle Lemorel. Der Große Winter stellt eine Bedrohung der Zivilisation dar, und die Zivilisation ist ganz nach meinem Geschmack. Ich habe Forschungen angestellt, wie man die Auswirkungen dieses zweiten Großen Winters abschwächen oder ihn vielleicht gar ganz aufhalten könnte.« »Spielt dabei auch der Ruf eine Rolle - und eine seltsame Äbtissin aus den Ländern jenseits der Wüste, die gern gegrillte Mäuse ißt?« »Ihr habt also meine Signalfeuerpost gelesen. Darauf steht die Todesstrafe.«
Es klang nicht so, als ob sie das ernst meinte. »Ich durfte ganz offiziell das Hauptkennwort verwenden, Hoheliber.« »Dann seid Ihr nicht schuldig, Klage abgewiesen. Und was den Ruf und die Äbtissin von Glenellen angeht: Ja, ich hoffe auf ihre Hilfe.« Die Welt hatte sich von Grund auf verändert, seit Lemorel die Stemwarte betreten hatte. Sie ging gerade die Außentreppe hinab, vorbei an den Wachen, als Venus unter den Horizont sank und es von einem Glockenturm halb zehn schlug. Um zehn ging sie durch die Straßen von Rochester. Das Fest strebte seinem Höhepunkt entgegen, und statt der normalen Passanten waren fast nur noch ausgelassene Tänzer und Trinker auf den Straßen. Dolorian war im fernen Inglewood, und Lemorel wollte nicht allein sein, wenn das neue Jahrhundert begann. Sie kaufte sich an einem Stand eine Maske und nahm ihre Armbinde ab. Um Mitternacht war sie auf dem Gelände der Universität, wo die Feiernden einander in einen Zierteich warfen. Es gab einen Countdown, und als es zwölf schlug, wurde das neue Jahrhundert mit Jubel begrüßt. Lemorel küßte Dutzende Feiernde und hielt sich dann an einen jungen - 145 Mann, der ungebunden schien. Sie gingen zu seinem Studentenquartier, zogen sich dort bis auf die Masken aus und legten sich auf seinem harten Bett. Diesmal ist es keine Schauspielerei, dachte Lemorel, als sie dort lagen. Das bin wirklich ich. Als ihr Liebhaber immer noch maskiert, eingeschlafen war schlüpfte Lemorel aus seinem Bett, zog sich an und verschwand für immer aus seinem Leben. Bis zur Morgendämmerung waren es noch etwa zwanzig Minuten, und Lemorel eilte durch die Straßen zurück nach Libris. Als sie das Dach betrat, sah sie, daß auch die Hoheliber dorthin zurückgekehrt war. »Kommt«, sagte Zarvora, und sie gingen zum Fuß des Signalfeuerturms. Der Aufzug beförderte sie in zwei Minuten hinauf, und dann führte Zarvora sie auf das Dach der Plattform. »Von hier aus werden wir das neue Jahrhundert als erste erblicken, Frelle Lemorel. Seht Ihr den Lichtschein am Horizont? Gleich ist es soweit. Wie war es heute nacht in der Stadt?« Lemorel zögerte und fragte sich, ob die Schwarzen sie beobachtet hatten. Dann beschloß sie, daß es darauf wirklich nicht ankam. »Ich war auf dem Unicampus und habe einen wildfremden Mann verführt. Manchmal... manchmal brauche ich es, daß mich jemand einfach nur nach meinem Äußeren beurteilt.« »Hängt Ihr immer noch an Eurem toten Freund?« Zarvora sah mit ausdrucksloser Miene dem Sonnenaufgang entgegen. »An einem verlorenen Freund, Hoheliber« »John Glasken?« Abscheu schüttelte sie. »Hoheliber!« rief sie empört. »Keine Sorge, ich weiß von Eurer Affäre, aber aus den offiziellen Akten wurde das getilgt. Ich konnte doch nicht zulassen, daß eine meiner leitenden Bibliothekarinnen mal etwas mit jemandem wie dem hatte, nicht wahr?« »Danke, Hoheliber aber ...« »Aber?« »Ihr habt mir gestern eine Belohnung angeboten. Jetzt nenne ich sie Euch. Laßt bitte Glasken nicht frei, damit er an Eurem Projekt mit den Magnesiumfackeln mitarbeiten kann.« »Einverstanden«, sagte Zarvora, nachdem sie aufgehört hatte zu lachen. »Danke«, sagte Lemorel sehr erleichtert. »Wie habt Ihr den Silvesterabend verbracht, Hoheliber?« - 145 »Ich muß viel allein sein, es gibt so viel, worüber ich nachdenken muß«, antwortete Zarvora - aber auch ich war heute nacht nicht allein, fügte sie in Gedanken hinzu. Eine funkelnde Perle leuchtete am Horizont auf. »Da, wir sind die ersten. Und seht mal, wie das Licht am Turm hinabgleitet und sich dann das Land erhellt.«
Sie sahen zu, wie sich die erste Morgenröte des Jahres 1700 nach dem Großen Winter auf den Dächern und Mauern der unter ihnen liegenden Stadt ausbreitete. Der Jubel ewiger ausdauernder Nachtschwärmer scholl von den Dächern zu ihnen herauf. »Da Ihr ja bei Eurem jungen Mann — ja, ich weiß, daß es ein junger Mann war - nicht zum Frühstück geblieben seid, mögt Ihr vielleicht mit mir etwas essen«, lud Zarvora ein, als sie über die Treppe wieder hinunter auf die Plattform gingen. »Ich muß mit Euch über den Kalkulor sprechen.« »Berechnungen zum Thema Großer Winter?« »Militärische Berechnungen. Es gibt Krieg.« Das Wort hatte eine schockierende Dringlichkeit. »Gegen das Südmaurenreich?« »Gegen Tandara. Ich plane das schon eine ganze Weile, und das war auch der Hintergrund für meinen Streit mit Bürgermeister Jefton. Wie Ihr wißt, hat Tarrin nach meiner Festnahme Erzbischof James fälschlicherweise mit der Verschwörung von Wirrinya in Verbindung gebracht, weil er vermutete, James hätte gegen mich votiert. Nachdem der Erzbischof in Ungnade gefallen und ich wieder freigekommen war, hat Inspektor Vellum Drusas in einer sehr dringenden Sache bei mir vorgesprochen.« Lemorel blinzelte, als der Name fiel. »Ich kenne ihn, er ist ein Freund von mir. Ein Bibliothekar der alten Schule.« »Der alten, konservativen Schule. Der Erzbischof hatte ihm angeboten, ihn zum Hoheliber zu ernennen.« Drusas als Hoheliber. Lemorel verschlug es den Atem. »Und als Drusas Erzbischof James fragte, wer ihn zu so etwas berechtige, nannte der den Bürgermeister von Tandara. Als James stürzte, war Drusas sehr darauf bedacht, nicht ebenfalls zu stürzen, und daher erzählte er mir alles. Indem Tarrin das Bankkonto des Erzbischofs manipulierte, enttarnte er also zufällig einen gefährlichen Spion. Der Bürgermeister von Tandara weiß von meinen Plänen, seinen Staat anzugreifen, und er - 146 ist auf der Hut und trifft gleichzeitig eigene Vorbereitungen. Meine Vorbereitungen betreffen vor allem den Kalkulor und Euch, Frelle Lemorel Milderellen. Ihr beide werdet mir eine Waffe bauen, wie man sie seit fast zweitausend Jahren auf keinem Schlachtfeld mehr gesehen hat.« - 146 8 Kampf Wer regiert, erwirbt sich damit Autorität, nicht unmittelbar aber auch Ressourcen. Selbst mit dem Dutzend Edutoren von der Universität als neuen FUNKTIONEN und einigen aus Jeftons Stab und Leibwache als neuen niederen Komponenten verfügte Zarvora noch immer nicht über die von ihr benötigte Rechenkraft. Ihr größtes Problem bestand darin, Farbdrachen zu rekrutieren. Weiß-, Gelb-, Orange-und Rotdrachen ließen sich aus anderen Stadtstaaten oder von der Hochschule herbeischaffen, für die höheren Ränge aber waren Begabung oder jahrelange Erfahrung vonnöten. Lemorel und Zarvora mußten drei Wochen lang täglich achtzehn Stunden durcharbeiten, und erst Mitte Januar war der Kalkulor damit fertig, den neuen Kalkulor zu konstruieren. »Die Tests haben bis Anfang März gedauert«, erläuterte Lemorel den versammelten Golddrachen. »Und jetzt wird der Kampfkalkulor ausgebildet und auf Herz und Nieren geprüft. Das dürfte acht Wochen dauern.« »Wir haben aber nur vier Wochen Zeit«, warf Zarvora ein. »In vier Wochen wird der Streckenausbau von Barhan nach Cohuna fertiggestellt. Mit der Hunter-Dreieck-Gleitbahn verfügt Tandara dann über eine große Bahnschleife, mit der sie jedes beliebige Kriegsgebiet beliefern können. Ich habe mich mit dem Bürgermeister von Deniliquin in Verbindung gesetzt. Er glaubt, daß es wegen Finley sehr bald zu einer Auseinandersetzung mit dem Südmaurenreich kommen wird. Genau in diesem Moment wird Tandara angreifen und den ganzen Nordwesten erobern. Wir müssen vorher zuschlagen.« Lemorel sah wieder auf ihre Zahlen und nickte widerstrebend. »Es könnte zu schaffen sein, Hoheliber, vorausgesetzt, daß keine größeren Schwierigkeiten auftauchen.«
»Da wäre noch die Kleinigkeit mit den Verträgen«, meldete sich Griss zu Wort. »Wir dürfen unserem Verbündeten Inglewood Waffen liefern, aber keine Truppen.« »Wir liefern ja auch keine Truppen - und nur eine einzige Waffe«, sagte Zarvora. »Eine einzige, verheerende Waffe.« - 147 Lemorel lehnte sich erschöpft, aber triumphierend zurück. Zwar konnte sie weder Nikalan noch Mikki das Wasser reichen, aber nun war sie Mutter eines Kindes geworden, das ihnen ebenbürtig war. Sie hatte einen neuen Kalkulor erbaut, und Nikalan sollte darin dienen. Er würde beeindruckt sein, da war sie sich absolut sicher. Glasken wurde schnell zu einer vorbildlichen Komponente und wurde nach nur wenigen Monaten zum MULTIPLIKATOR befördert. Er bildete sich fort, um zur FUNKTION aufsteigen zu können, einer Komponente mit einer Reihe spezieller mathematischer Fähigkeiten, die sich nicht einfach auf eine Gruppe aufteilen ließen. Die Komponenten hatten täglich zwei Stunden Freizeit, nachdem sie ihre Zellen und Flure gereinigt, gekocht, beschädigte Kalkulorausrüstung repariert und Sport getrieben hatten. Glasken nutzte diese Zeit unter anderem dazu, sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kartographie zu beschäftigen. FUNK-TIONS-Komponenten rangierten ihrem Status nach gleich unter den Drachenbibliothekaren, waren aber immer noch Gefangene. Schließlich ernannte man ihn zur Lehr-FUNKTION, was bedeutete, daß er nun bei einer dienstälteren FUNKTION in die Lehre ging. Der erste Eindruck, den er von seinem Meister hatte, war der eines geistesabwesenden jungen Mannes etwa in seinem Alter. Nikalan war nun FUNKTION 3073, und Glasken teilte sich eine Zelle mit ihm. Sein neuer Lehrherr war eine angenehme, wenn auch langweilige Gesellschaft jemand, der nicht einmal die einfachsten Witze verstand, aber ein brillanter Mathematiker war. Andere Komponenten erzählten Glasken, daß FUNKTION 3073 einen großen Schmerz mit sich herumtrüge: Seine Liebste sei ermordet worden. »'84, da geht etwas Seltsames vor«, sagte Nikalan eines Abends. »Seltsam? Schrecklich ist das«, seufzte Glasken, der auf seinem Etagenbett lag. »Fünf Systemgenerationen in einer Woche, und dann diese ganzen Simulationen für die Subkalkulorgruppe. Man sollte doch meinen, sie wüßten besseres mit so einem Wunderwerk anzufangen.« »Sie experimentieren mit einer kleineren Maschine, jede Systemgeneration war für eine andere Größe, und darauf folgten dann Tests, um die maximale Leistung zu messen. Mir ist aufgefallen, daß sie die Ausrüstung an kleineren Pulten befestigt haben. Boten brachten die Ergebnisse von Kaipunkt zu Kalknoten.« - 147 »Ich weiß, 73, ich weiß. Sämtliche Komponenten der letzten Systemgeneration waren FUNKTIONEN, so daß wir unsere niederen Additionen und Multiplikationen selbst erledigen mußten. Das ist ungerecht, sage ich dir. Da rackert man sich ab, um FUNKTION zu werden, und wenn sie einen dann endlich befördert haben, nehmen sie einem die Diener weg.« »Du übersiehst das wichtigste«, sagte Nikalan geduldig. »Als da wäre?« »Sie bauen einen mobilen Kalkulor« Glasken setzte sich auf, und die Gedanken überschlugen sich schon in seinem Kopf. Ein mobiler Kalkulor wurde möglicherweise außerhalb von Libris eingesetzt. »Sie benutzen mich bei vielen dieser Tests. Das kann ja wohl nur bedeuten, daß sie mich dafür in Betracht ziehen«, sagte er hoffnungsvoll. »Das freut mich. Es gibt manches an Libris, das ich wirklich hasse.« Was Glasken am meisten haßte, war das mit dem Sex - beziehungsweise, daß andere welchen hatten und er nicht. Angesichts tausender Menschen beiderlei Geschlechts im Kalkulor war es nicht verwunderlich, daß sich oft Gelegenheiten ergaben, nie aber ergaben sie sich für ihn. Immer kam eine Wache dazwischen, wenn gerade das Glück winkte. Er erntete willige Blicke von Frauen, aber bei den heimlichen Treffen mit ihnen ging dann unweigerlich irgendwas schief. Eine
Komponente zu schwängern, war ein schweres Vergehen, und Glasken wußte von einer männlichen Komponente, die eben dafür auf schreckliche Weise bestraft worden war. Aber schließlich gab es Mittel und Wege, derartige Unfälle zu verhüten. Warum ich, warum nur ich allein, fragte sich Glasken manchmal hundertmal am Tag. Die Kalkulorregulatoren waren eigentlich eine Männertruppe, aber es waren auch einige wenige Frauen darunter. Eine davon fiel Glasken ganz besonders auf, eine Frau mit hinreißender Figur, die oft hohe Stiefel trug. Er fand, daß sie Stil hatte - im Gegensatz zu den schüchternen Studentinnen an der Universität und den lauten, derben Huren und Mägden aus den Schenken und Bordellen. Glasken war hin und weg, wenn sie vorüberstolzierte, in maßgeschneiderten Blusen, die ihre Rundungen bestens zur Geltung brachten. Besonders gern sah er sie in Stiefeln mit hohen Absätzen und engen schwarzen Fechthosen. Eine Frau wie sie hatte er noch nie kennengelernt, und er war begierig darauf, seinen Erfahrungsschatz zu mehren. - 148 Er machte jeden Tag Hunderte von Liegestützen und Sit-ups, um in Form zu bleiben, nähte seine Uniform an entscheidenden Stellen enger, auf daß sie sich beeindruckend wölbte, sang sich die Kehle aus dem Leib, wenn es ihm gelang, eine Gemeinschaftslaute zu borgen, und hielt die schöne Rotdrachenbibliothekarin oftmals aus der Ferne auf Zeichnungen fest. Er tat das auch für zahlreiche andere Frauen aus den Reihen der Komponenten und Regulatoren, aber REGULATOR 42 war und blieb seine kühnste Hoffnung auf eine amouröse Eroberung. Am Tag nach seiner Beförderung zur FUNKTION saß Glasken allein in seiner Zelle, als plötzlich jemand ans Gitter klopfte. »Schichtkontrolle«, sagte eine heisere Stimme. »Bin da«, erwiderte Glasken. Als er hochsah, erblickte er REGULATOR 42. Sie hatte nie zuvor Zellendienst gehabt, und hastig fügte er hinzu: »Frelle 42, seid Ihr jetzt immer auf dieser Schicht?« »Nein, nur aushilfsweise«, sagte sie und verschränkte die Arme unter den Brüsten, was gar nicht so einfach war. Glasken seufzte. »Wie schade, 42. Euer Anblick ist das einzige, was dieses triste Loch erträglich macht.« Den innigen Blick hatte er stundenlang vor dem Spiegel eingeübt. Sie lächelte freundlich und offenherzig. Sein Puls schoß in die Höhe. Ihre rote Samtbluse zeigte viel Dekollete und wurde über einer Knopfreihe von einer Schnalle gehalten. Glasken bewegte seine Hand, und die Schatten seiner Finger streichelten ihre weiße Haut. »Du bist ein hübsches, kluges Biest, 3084«, bemerkte sie und sah hinunter auf die Schatten. »Und ich heiße Dolorian.« Statt sich in ihren honigfarbenen Umhang zu hüllen, legte sie eine Hand an die Schnalle. Er ließ den Schatten seiner Hand auf ihre Hand sinken. Und während er die Schatten bewegte, folgte sie mit ihren Fingern. Einer plötzlichen Eingebung folgend, führte er seine Schattenhand an die Schnalle und ließ sie daran ziehen. Die Schnalle sprang auf. Die Knöpfe darunter wurden offenbar nur von der Schnalle gehalten. Zwei doch recht große Brüste mit kleinen, rosigen Spitzen drangen mit solchem Schwung heraus, daß Glasken erstaunt zurückwich. »Jetzt mußt du sie aber auch wieder einpacken«, schnurrte sie. »Meine - meine Schattenhände sind so ungeschickt, Frelle Dolorian. Wenn Ihr vielleicht ... nähertreten würdet?« Sie tat es. Der Genuß, sie zu berühren, ließ sein Herz so schnell schlagen, daß ihm die Schläfen pochten. - 148 »Und bei all deiner Geschicktheit kommst du nicht einmal mit einfachen Knöpfen zurecht, 3084«, sagte sie und faltete die Hände hinter dem Rücken. »Daran sind die Gitter schuld, schöne Frelle. Kommt herein, dann zeige ich Euch, daß ich mit Euren Kleidern zurechtkomme, wie Ihr es noch nie erlebt habt.« »Aber dann könntest du mir die Schlüssel entwenden und fliehen.« »Ich würde doch niemals von irgendwo fliehen, wo Ihr seid.«
Hinter ihrem Rücken ertönte ein leises Klimpern, und Glasken wurde klar, daß sie tatsächlich hereinkommen würde. Die Morgenschicht begann erst in einer halben Stunde. Vor Vorfreude wurde ihm ganz schwindelig. Nach all den Monaten der Entbehrung hatte er nun das große Los gezogen. Da erklang die Versammlungsglocke. Dolorian wirbelte aus seiner Reichweite, warf sich den Umhang um, flüsterte »Bis später« und verschwand im Dämmerlicht. Als Augenblicke später ein anderer REGULATOR vorbeikam, stand Glasken immer noch mit ausgestreckten Händen da. »Greifst du nach irgendwas, FUNKTION ?« fragte der REGULATOR, blieb stehen und sah ihn erstaunt an. Da erst ließ Glasken die Arme sinken. »Komm, reiß dich mal zusammen. Die Hoheliber hat etwas bekanntzugeben.« Die dienstfreien FUNKTIONEN und die besten niederen Komponenten wurden in den hinteren Teil des Kalkulorsaals getrieben. Glasken stand mit leicht abgespreizten Händen da, genoß das Nachgefühl von Dolorians Brüsten an seinen Fingerkuppen. Der Systemherold ließ noch zweimal die Glocke läuten und rief dann: »System halt!« Sofort verstummte das Flüstern der Männer und Frauen und das Sausen der Abakuskugeln. Der Rechner wurde ordnungsgemäß heruntergefahren und die Trennvorhänge beiseitegezogen. Die Hoheliber schritt herein und erklomm die Treppe zur Plattform des Systemsteuerers. Etliche Rot-, Blau- und Silberdrachen stellten sich rechts und links neben ihr auf. Lemorel war darunter, und am anderen Ende stand die wieder zugeknöpfte Dolorian. Eine doppelte Schwadron Tigerdrachen stand beiderseits der Komponenten bereit, und die Lunten ihrer Musketen glommen. Der Systemherold rammte dreimal seinen Amtsstab auf den Boden und rief dann: »Es spricht die Hoheliber, Zarvora Cybeline!« »Komponenten des Kalkulors von Libris«, begann Zarvora mit ein - 149 dringlicher, klarer Stimme, »ich bin die Hoheliber. Ich habe den Kalkulor entworfen und erbaut.« Sie ließ die Worte ein wenig wirken. Sie hatte nicht mehr zu den Komponenten des Kalkulors gesprochen, seit die vier Gründrachen hingerichtet worden waren, weil sie seine Leistung gemindert hatten, und viele Komponenten sahen sie zum ersten Mal. »Einigen von Euch steht ein Tapetenwechsel bevor. Wir bauen einen neuen, mobilen Kalkulor, der der Armee des Bürgermeisters auf dem Schlachtfeld beistehen soll. Er wird aus lediglich einhundert Komponenten bestehen. Die für den Kampfkalkulor ausgewählten Komponenten werden jetzt vortreten, wenn ihr Name aufgerufen wird, und sich dann für die baldige Abreise versammeln.« Der Systemherold begann, die Namensliste zu verlesen. Nikalan war der erste. Lemorel zuckte zusammen, als hätte sie eine Ohrfeige abbekommen. Unter den Auserwählten waren keine Frauen und auch keine Komponenten, die nicht mindestens zwei Jahre Erfahrung als FUNKTION hatten. Die Liste endete, ohne daß Glaskens Name ausgerufen worden war. Er war nicht enttäuscht. Nach der Morgenschicht würde REGULATOR 42 in seine Zelle zurückkehren, und bei dem Gedanken daran, was dann passieren würde, mußte er unwillkürlich so laut keuchen, daß sich die umstehenden Komponenten zu ihm umsahen. Nun ergriff wieder die Hoheliber das Wort. »Die Vorsitzende des Musterungsausschusses hat auch noch eine Liste nicht ganz so erfahrener FUNKTIONEN, die aber dennoch für das Leben auf dem Schlachtfeld stark genug und geeignet sind.« Lemorel ging hinüber und gab dem Herold eine Liste. »FUNKTION 3084«, wurde als erster Name verlesen. Glasken schnappte so hektisch nach Luft, daß er husten mußte. Lemorel lächelte diskret, und Dolorian sah grinsend in den Saal hinab. »Das ist eine Verschwörung!« zischte Glasken, stieß seine Nachbarkomponente beiseite und stampfte davon, um sich den anderen Komponenten des Kampfkalkulors anzuschließen. Er versuchte Dolorians Blick niederzuzwingen, aber sie sah nicht in seine Richtung. Er stellte fest, daß sein Blick von ihrem Gesicht immer wieder auf das Tor zum Paradies hinabsank, das man ihm nun vor der Nase zugeschlagen hatte. Mit den zusätzlichen Namen auf Lemorels Liste stieg die Zahl der auserwählten Komponenten auf einhundertzehn. Das
bedeutete weniger Reservekomponenten als von Zarvora geplant, aber der Kalkulor von Libris konnte - 150 — nun einmal nicht noch mehr FUNKTIONEN entbehren. Eine Schwadron Tigerdrachen führte die Komponenten des Kampfkalkulors hinaus auf den Hof, und dort wurden sie geknebelt und in Ketten auf Planwagen verladen. Die militärische Grundausbildung dauerte nur zwei Wochen, denn man brachte den Komponenten lediglich bei, mit den Musketieren Schritt zu halten und sich, wenn alle Stricke rissen, selbst zu verteidigen. Sie mußten kilometerweit laufen, mit Helm auf dem Kopf und einem leichten Kettenpanzer an, jeder mit einer Feldration, Waffen und einem Kalkulorpult auf dem Rücken. Glasken tat sich beim Säbelfechten und an der Muskete hervor und war beim Gebrauch der meisten Waffen recht geschickt, Nikalan dagegen fiel das alles schwer. Sie trugen nun nicht mehr ihre Komponentennummer, sondern ihre richtigen Namen, denn auf einem Schlachtfeld war es viel einfacher, einen Namen zu rufen als eine Nummer. Glasken freute sich boshaft daran, daß nun auch die anderen dem Zölibat unterworfen waren, das man in Libris nur ihm auferlegt hatte. Ihr Heerlager befand sich auf einem gerodeten Stück Land gut zwanzig Kilometer außerhalb von Rochester und wurde von der Armee des Bürgermeisters auch als Schießplatz und Übungsgelände genutzt. Die Umzäunung war gut bewacht, aber Glasken war ohnehin nicht nach Flucht zumute. Er war hier in Sicherheit, bekam gut zu essen, wurde eingekleidet und gehörte einer Heereseinheit an, die man so weit entfernt von der Front einsetzen würde, wie es einem jeden Bummelanten nur lieb sein konnte. Der Kampfkalkulor unterschied sich grundlegend von der Tausend-Komponenten-Maschine von Libris. Jede einzelne Komponente mußte recht verzwickte Aufgaben erfüllen, und während sie an ihren Berechnungen arbeiteten, liefen Boten zwischen ihnen hin und her und überbrachten auf Schiefertafeln die Daten. Den größten Nutzen würde der Kampfkalkulor bei einer offenen Feldschlacht erbringen, bei der sich die gegnerischen Streitkräfte leicht einschätzen ließen. Schreiber skizzierten auf Zelttuch eine Landkarte der Umgebung und machten diese dann auf dem Boden fest. Verschiedenfarbige Klötze symbolisierten die einzelnen Kampfverbände und wurden entsprechend der Befehle des Kampfkalkulors oder der Späherberichte bewegt. Die Maschine hatte den Vorteil, daß sie den Kampf wie ein Spiel - 150 behandelte, wie Kämpen oder Schach, und schnell, präzise und flexibel reagieren konnte. Im Gegensatz zu einem menschlichen Befehlshaber hegte sie keine Emotionen oder Erwartungen, wenn sie befahl, wann sich bewegt, wo in Stellung gegangen und was beschossen werden sollte. Signale wurden mit verschlüsselten Trompetenstößen, mit Pfiffen, Heliostaten und Flaggen übertragen. Späher auf mobilen Aussichtsmasten hatten einen guten Überblick über die Lage, waren aber bevorzugtes Ziel der gegnerischen Scharfschützen und mußten daher eine schwere Rüstung tragen. Schließlich wurden sie ins Feld geführt, mit zwei Gruppen von je hundert einigermaßen gleich tauglichen Soldaten und Offizieren. Am Anfang überlistete die von den Offizieren geführte Übungsgruppe die Gruppe des Kampfkalkulors jedesmal, und dann verhöhnten die Truppen die Komponenten. Doch bald bekamen die Offiziere des Kalkulors ein Gespür für die Fähigkeit der Maschine, schnelle und präzise Entscheidungen zu treffen - trotz der ungewöhnlichen Form der Befehle. Am zweiten Tag gewann die Gruppe des Kampfkalkulors bereits jedes zweite Scheingefecht und am dritten gewann sie alle. Nun ließ man sie gegen eine doppelte Übermacht antreten, dann gegen eine dreifache, und nach einer Woche vermochte die Gruppe des Kampfkalkulors in einer offenen Feldschlacht eine fünffache Übermacht zu besiegen. Es fanden noch weitere Übungen statt. Bei einer gelang es einer Einheit »feindlicher« Soldaten, in den Kampfkalkulor einzudringen. Die Komponenten schlugen sie mit Hilfe der Kalkulorwache zurück, ersetzten »gefallene« Komponenten und nahmen den Betrieb dann wieder auf. Einmal ließ man die Komponenten sogar im betrunkenen Zustand Berechnungen anstellen, und dann noch einmal verkatert. Die Ergebnisse zogen ein strenges Alkoholverbot nach sich. Dann übte man auch
noch, wie schnell die Komponenten sich die Kalkulorpulte auf den Rücken schnallen, damit ein paar hundert Meter weit laufen, sie wieder abnehmen und wieder betriebsbereit sein konnten. Bei der ganzen Ausbildung in taktischer Methodik, die Glasken im Kalkulor von Libris erhalten hatte, war er sich des strategischen Werts des Kampfkalkulors gar nicht recht bewußt gewesen. Er achtete kaum auf die Anzahl der Musketiere aus Inglewood, die verbotenerweise mit den Truppen Rochesters übten, und für den Bürgermeister und die Hoheliber war es ein Glück, daß keiner der benachbarten Herrscher aufmerksamer war als Glasken. Inglewood war wie Rochester ein kleiner Landstrich, der - 151 vom Stadtstaat Tandara dominiert wurde, der zwischen den beiden Staaten lag und ihnen Truppentransporte durch sein Hoheitsgebiet strikt verbot. Rochester und Inglewood hatten früher einmal einem weit größeren und mächtigeren Staat angehört, einem Staat mit einer stolzen Militärtradition, und diese Tradition hatte im Kleinen durchaus noch Bestand. Ohne Vorwarnung wurden die Komponenten eines Nachmittags aus dem Feldlager herausgeführt. Sie mußten sich nackt ausziehen und bekamen gestreifte Sträflingskluft. Dann brachte man sie zu einer Bahnstation und verfrachtete sie in einen Windzug, gemeinsam mit einer Ladung Strafgefangener die an der Gleitbahnausbaustrecke von Morkalla Gleise verlegen sollten. An der Bahnstation Elmore stiegen tandarische Zöllner zu. Der Zug wurde nach undeklarierten Waffen durchsucht, und an die Stelle der Wachen aus Rochester traten tandarische Truppen. Der Zug passierte die Geisterstadt Bendigo und überquerte dann die Grenze nach Inglewood, wo die Wachen erneut wechselten. Die Komponenten erhielten neue Uniformen und Kalkulorpulte und wurden losgekettet. Mittlerweile durchschauten die meisten von ihnen den Plan der Hoheliber. Inglewood war vertraglich verpflichtet, lediglich eine kleine Armee zu unterhalten, die aus tausend Musketieren, fünfzehn mobilen Bombarden und sechzig Lanzenreitern bestand. Angeführt wurde sie von neun berittenen Kavelaren. Der Kampfkalkulor konnte die Schlagkraft dieser kleinen Streitmacht vervielfachen. Glasken und Nikalan wurden in das Zelt von Feldmarschall Gratian aus Inglewood gerufen, einem knochigen, zurückhaltenden Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und eindringlichem Blick. Er war außerdem ein Vetter von Vardel Griss. »Vittasner, Glasken, wir werden den Kampfkalkulor jetzt seiner ersten wahren Probe unterziehen. Inglewood hat Tandara den Krieg erklärt.« Glasken durchfuhr es eiskalt. Das war ein Mißverhältnis, als würde man ihn bei einem Mathematikwettbewerb gegen den Kalkulor von Libris ins Rennen schicken. »Vittasner, du wirst während der Kämpfe die Komponenten befehligen. Was das Funktionieren des Kampfkalkulors angeht, hören alle auf dein Kommando. Du trägst den Titel eines Leiters. Kein sehr imposanter Titel, aber wir improvisieren ja auch nur.« »Jawohl, Fras«, murmelte Nikalan. - 151 »Glasken, du wirst die Komponentenmiliz befehligen und den Titel eines Hauptmanns tragen. Du unterstehst dem Befehl des Leiters, es sei denn, der Kampfkalkulor wird direkt angegriffen. In diesem Fall übernimmst du die Befehlsgewalt. Ist das klar?« »Fras! ja, Fras!« bellte Glasken, der sich bereits etwas militärische Disziplin angeeignet hatte. »Ihr beide wurdet erprobt und habt euch als die tauglichsten Komponenten erwiesen. Geht nun zurück zu euren Männern und bereitet sie vor. Wegtreten.« »Jawohl, Fras!« riefen beide im Chor. Man heftete ihnen Dienstabzeichen an die Ärmel, ein schwarzes »KL« auf silbernem Grund bei Nikalan und ein entsprechendes »KM« bei Glasken. Der Rang eines Hauptmanns entsprach dem eines Silberdrachen, und Glasken wünschte, Lemorel wäre dabeigewesen und hätte sehen können, daß sie beide nun gleichrangig waren. Andererseits wußte er, daß sie sowieso davon erfahren würde. Im Gehen malte er sich diese Szene mit diebischem Vergnügen aus.
Sie riefen die Komponenten zusammen, und Nikalan verkündete in einer Ansprache, daß sich eine richtige Schlacht gar nicht von den bereits durchgeführten Manövern unterscheiden würde. Dann war Glasken an der Reihe. »Also gut, Leute, wer von euch kann mir sagen, was mit einer Komponente geschieht, die nicht genug schläft oder sich betrinkt und am nächsten Tag dann nicht den Vorgaben entsprechend arbeiten kann?« »Exekutionskommando!« erscholl es rauh im Chor. »Genau. Das sollte jeder, der vorhat, einen gebunkerten Krug Wein zu picheln, im Hinterkopf behalten. Alle, die da morgen an vorderster Front stehen werden, werden sich auf uns verlassen. Und außerdem: Wenn der Feind aus den Unsrigen Hackfleisch macht, wird er uns doch im Leben nicht abkaufen, daß wir keine normalen Musketiere sind. Wir haben am meisten zu verlieren, wenn der Angriff nach hinten losgeht. Dann werden sie alle über uns herfallen und uns fertigmachen.« Es war seine erste Ansprache als Befehlshaber! Ein unzusammenhängendes Allerlei, gewiß, aber er sprach die entscheidenden Punkte in Worten an, die jedermann verstand. Die Komponenten mußten so eingeschüchtert werden, daß man sich hundertprozentig auf sie verlassen konnte. Im Gegensatz zum Kalkulor von Libris hatte dieser hier nur einen Prozessor, und daher gab es keinen Parallelbetrieb, bei dem jede Berech - 152 nung überprüft wurde. Die Arbeit mußte in einem Durchgang schnell und akkurat erledigt werden. Sie brachen am nächsten Morgen weit vor Tagesanbruch auf und erreichten die Festung, die ihr Ziel war, eine Stunde nach Sonnenaufgang. Es war trocken und sonnig, als sie den Grenzstein des Stadtstaates Tandara passierten. Die Festung Woodvale erhob sich inmitten einer spärlich bewaldeten Hügellandschaft. Von Norden her wehte ein schwacher Wind. Die fünfzehn Bombarden entsprachen dem neusten Stand der Technik und hatten Läufe aus einer Messinglegierung. Ihre Reichweite konnte sich sehen lassen, und statt Steinen verschossen sie gußeiserne Kanonenkugeln mit Bleikern. So konnten sie erhebliche Schäden anrichten und dabei außer Reichweite der billigeren Bombarden bleiben, mit denen die Festungen Tandaras üblicherweise ausgerüstet waren. Ihr Bau hatte zwanzigmal so viel gekostet wie der normaler Bombarden und hatte den Militäretat von Inglewood beinahe erschöpft. An der Grenze stießen achthundert Musketiere und Bombardiere aus Inglewood zu ihnen, und nach einer weiteren Stunde ließen sie sich auf einem flachen Hügel nieder, während die Truppen sich aufteilten, um die Gleitbahnstrecke beiderseits der Festung zu blockieren. Glasken konnte erkennen, daß deren Signalfeuerturm bereits eine Nachricht sandte, und die Hauptstadt von Tandara war nur vier Stunden Fußmarsch entfernt - und zu Pferd oder mit einem Wind- oder Galeerenzug noch erheblich schneller zu erreichen. Szenario-Schiefertafeln wurden an die Komponenten ausgeteilt. Sie waren vom Kalkulor von Libris ausgearbeitet und dann verschlüsselt über Signalfeuer übertragen worden. Sie berücksichtigten auch die Windgeschwindigkeit und das geschätzte Tempo der Züge. Mit den Musketieren aus Inglewood marschierten auch zusätzliche, irreguläre Truppen, die Spaten, Äxte und haufenweise Piken trugen. Der Angriff begann, während sie noch damit beschäftigt waren, den Kampfkalkulor aufzubauen und auf einem mit Gestrüpp bewachsenen Hügel in einiger Entfernung der Festung Aussichtsmasten zu errichten. Die Bombarden aus Inglewood wurden gegen die Festungsmauern und den Signalfeuerturm zum Einsatz gebracht, und einer der ersten Treffer zerstörte die Signalfeuerplattform des Turms. Der Angriff war jedoch per Signalfeuer an die Hauptstadt gemeldet worden, ehe der erste Schuß gefallen war und Entsatztruppen waren bereits ausgerückt. Galeerenzüge - 152 wurden bereitgestellt, um sie zu transportieren. Zarvora hatte selbstverständlich die Gleitbahnkoordination des Kalkulors für Züge aus Tandara deaktiviert. Glasken guckte
erschrocken hoch, als er einige Kilometer entfernt im Norden eine schwere Explosion hörte. Dem folgte eine zweite Detonation einige Kilometer entfernt im Süden. Nur Sekunden später wurde ihm auf einer Szenario-Schiefertafel mitgeteilt, daß die Gleitbahnstrecken mit zwei Waggonladungen Schießpulver gesprengt worden seien. Die Bombarden der Festung wurden schnell zum Schweigen gebracht, und dann traten die Truppen den Rückzug an und ließen nur eine Schwadron von Minimalgröße als Torwache zurück. Der Kampfkalkulor berechnete die Truppenbewegungen beider Seiten. Seit dem ersten Alarm waren schon anderthalb Stunden vergangen, und der Späher auf dem Ausguck konnte bereits die aus der Hauptstadt herbeieilende Kavallerie erkennen. Infanteristen auf Galeerenzügen folgten. Kundschafter und Späher meldeten bald, daß sich achtzehnhundert schwere Lanzenreiter im Galopp auf der Fernstraße von Norden her näherten. Sie teilten sich in zwei breite Formationen auf, um die Nordfront zangenförmig zu umfassen. Berittene Kundschafter mit Hand-Heliostaten warnten die Späher des Kampfkalkulors, daß zweitausend Musketiere auf der Straße anmarschierten, die aus den Galeerenzügen ausgestiegen waren, die an der gesprengten Strecke hatten halten müssen. Nach den Plänen der Tandarer sollten sie gleichzeitig mit den Lanzenreitern eintreffen, nun aber würden sie sich verspäten. Glasken sah zu, wie die bunten Klötze auf der Landkarte aus Zelttuch hin und her geschoben wurden, und fragte sich, ob diese Klötze je die Gestalt richtiger Soldaten annehmen würden. Die Musketiere aus Inglewood waren zahlenmäßig im Verhältnis fünf zu eins unterlegen. Die Komponenten berechneten Chancen, Zeitpunkte, Truppenstärken und mögliche Taktiken, je nachdem, welche Befehlshaberwimpel die Späher gemeldet hatten. Der Kampfkalkulor schickte sechshundert Musketiere in die südlichen Schützengräben und ließ nur die Bombardiere, die Lanzenreiter und die mit Piken bewaffneten Bauern sich der aus dem Norden anrückenden Horde entgegenstellen. Glasken sah sich schon als Kriegsgefangener der Tandarer, als die Lanzenreiterklötze näherrückten. Die Verteidigungslinie hatte Schwachstellen, das erkannte selbst er. Die Lanzenreiter griffen in einer Reihe an und beachteten die offenkundigen Fallen an den Schwachstellen gar nicht. Als sie angriffen, befahl der Kampfkalkulor, das Gras vor den südlichen Schützengräben in Brand zu stecken, und schickte dann die Musketiere im Laufschritt nach Norden. Die Bombarden deckten die aus dem Norden heranpreschenden Lanzenreiter mit Hagelgeschossen ein, rafften damit jene dahin, die die Abwehrstellung durchbrochen hatten, und schenkte jenen, die zu den schwerer befestigten Abschnitten auswichen, keine weitere Beachtung. Bald durchbrach der Hauptpulk der Lanzenreiter die Verteidigungslinie, doch statt den Bombardieren zu befehlen auszuharren und zu kämpfen, ordnete der Kampfkalkulor ihren vollständigen Rückzug an. Sie liefen vor den Lanzenreitern her, vereinigten sich dann mit den Musketieren aus dem Süden, machten kehrt und stellten sich als dreifach gestaffelte Linie von achthundert Musketieren den Lanzenreitern entgegen. Geordnete Salven peitschten auf die Reiter ein, als sie bei den Bombarden anlangten und versuchten, sie fortzuziehen. Sie waren jedoch an Felsen gekettet, und der Kampfkalkulor hatte befohlen, das überschüssige Pulver zu befeuchten, so daß die Geschütze auch nicht vernagelt werden konnten. Die Reiter zauderten, da sie mit den eben erst erbeuteten Bombarden nichts anfangen konnten. Und immer noch riß das Feuer der Musketen Lücken in ihre Reihen. Auf der Landkarte auf dem Boden sah Glasken, daß die Musketiere aus Tandara nun durch die Grasbrände an den verwaisten südlichen Schützengräben vorrückten, die Lanzenreiter aber konnten der Rauchwolken wegen nichts davon sehen. Auf dem Schlachtfeld lagen bereits etwa fünfhundert Gefallene und Verwundete, und die Lanzenreiter zogen sich zurück. Nun durchstießen die Musketiere die Flammen und stürzten in die flachen Schützengräben, mußten aber feststellen, daß sie auf der einen Seite einen steilen Rand hatten und auf der anderen einen schräg abfallenden. Die dreifach gestaffelte Linie der Musketiere aus Inglewood machte kehrt und hatte nun freies Schußfeld auf einen Feind, der im Rücken nur die Schützengrabenwände hatte und vor den Flammen bestens zu erkennen war. Und immer noch war auf der Zwischenstandstafel kein einziger Gefallener aus Inglewood verzeichnet.
Zwanzig Minuten lang peitschten vernichtende Salven, und dabei kamen auf zehn Tandarer nur jeweils ein Musketier aus Inglewood ums Leben. Die Bombardiere hatte man wieder zu den Waffen befohlen. Sie schafften trockenes Pulver herbei, und als die Lanzenreiter versuchten sich zu ordnen, wurden sie erneut beschossen. Der Kampfkalkulor befahl - 154 den irregulären Truppen, den Gefallenen die Waffen abzunehmen, und die Musketiere aus Tandara traten derweil den Rückzug über die qualmenden Stoppeln an. Schließlich kam jemand auf den Mauern der Festung auf den Gedanken, die beiden Heeresgruppen Tandaras mit Hilfe tragbarer Heliostate zu koordinieren, und daraufhin befahl der Kampfkalkulor den verbliebenen Musketieren, ein Dreieck zu bilden, bei dem die Reihe der Bombarden als dritter Schenkel fungieren sollte. Das wäre allerdings gar nicht nötig gewesen, denn die Signale wurden von den völlig verwirrten Befehlshabern der Tandarer auf dem Schlachtfeld gar nicht bemerkt. Der dramatischste Augenblick der Schlacht kam, als die in der Burg verbliebenen Truppen den Ausbruch wagten und sich so noch gut fünfhundert weitere Männer gegen Inglewood stellten. Der Kampfkalkulor befahl seine eigene, aus zweihundert Mann bestehende Wache an die Front. Mit einem Mal wurden die hundert Komponenten nur noch von zehn Regulatoren bewacht, aber dennoch begehrten die Komponenten nicht auf. Sie gaben hier die Befehle und waren stolz darauf. Die Truppen aus Inglewood dort auf dem Schlachtfeld waren ihre Männer, die sich einer großen Übermacht entgegenstellten. Die Kalkulorwache nagelte die in der Burg in Garnison liegenden Truppen zwischen dem Tor und einem Schenkel des Dreiecks fest. Von beiden Seiten beschossen und zu keinem Rückzug in der Lage, nahmen sie Reißaus und liefen nach Süden, nur um dort von ihren eigenen Kameraden unter Beschuß genommen zu werden. Der Kampfkalkulor traf seine Einschätzungen anhand der Berichte der Späher und der Heliostatsignale vom Schlachtfeld und schloß dann aus der Aufstellung der Truppen, daß der Feind mindestens eine Stunde lang nicht mehr in der Lage sein würde, sich zu sammeln und zu ordnen. In Gewißheit dieses Zeitrahmens befahl er, die Bombarden loszuketten und gegen die Festung zum Einsatz zu bringen. Nach einem Dutzend Schüsse waren von dem Tor nur noch Holzsplitter übrig, und die wenigen noch in der Festung verbliebenen Tandarer ergaben sich. Glasken hatte bisher noch nichts von der Schlacht gesehen, einmal abgesehen von dem Schuß, der den Signalfeuerturm außer Gefecht gesetzt hatte. Es war eine seltsame, von allem losgelöste Art und Weise, einen Krieg zu führen. Nachrichten über die Zahl der Toten und Verwundeten, über näherrückende Entsatztruppen aus Tandara und über den Erschöpfungszustand beider Seiten prasselten auf sie ein. Der Kampfkalkulor befahl seine - 154 eigene Verlegung in die Festung, gemeinsam mit den Bombarden und Musketieren aus Inglewood. Anschließend wurde der Eingang der Festung mit Trümmersteinen verbarrikadiert. Zehn der entbehrlichsten FUNKTIONEN, darunter auch Glasken, wurden auf den enthaupteten Signalfeuerturm befohlen und sollten von dort aus eine Verbindung nach Inglewood herstellen und damit zum Kalkulor von Libris. Weitere Züge aus Tandara trafen an der Bresche in der Gleitbahn ein, und nun machte der Feind wirklich Ernst. Späher schätzten, daß am Abend elftausend gegnerische Soldaten anrückten. Glasken schuftete derweil inmitten von Fliegenschwärmen, Staub und gelegentlichen Musketenkugeln daran, am First des Turms eine hölzerne Signalfeuerplattform zusammenzunageln, während drei Rotdrachen eine mobile Signalfeuervorrichtung und ein Teleskop in Betrieb nahmen. Als sie eine Verbindung zum Turm von Derby und damit zum ganzen übrigen Signalfeuernetz hergestellt hatten, gingen Unmengen taktischer Daten ein. Rochesters Truppen hatten die Grenze überschritten und Elmore erobert, waren anschließend, um die Hauptstrecke zu sichern, auf speziellen Galeerenzügen ganz bis zur Geisterstadt Bendigo gefahren und bis zum Bahnknotenpunkt Eaglehawk. Sie wären vielleicht von den Entsatztruppen der Tandarer, die aus dem Norden vorrückten, aufgehalten worden, allerdings waren diese nicht in der Lage, die gesprengte Bahnstrecke zu überbrücken, und sie waren dem Feuer der Bombarden
aus der Festung Woodvale ausgesetzt. Und die ganze Zeit über kam kein Ruf. Man hatte Lemorels Forschungsarbeiten über die Rufvektoren dazu genutzt, die Schlacht auf ein Zeitfenster von einigen Tagen anzusetzen, in denen ein Ruf unwahrscheinlich war. Bis zum nächsten Tag waren die Kämpfe soweit abgeflaut, daß der Kampfkalkulor auf halber Leistung als örtliche Dechiffriermaschine weiterlaufen konnte. Die übrigen FUNKTIONEN ruhten sich aus und arbeiteten in Schichten auf dem Signalfeuerturm. Die schwierigen strategischen Arbeiten hatte nun der Kalkulor von Libris übernommen, und die Befehle wurden per Signalfeuer an die einzelnen Generäle weitergeleitet. Nikalan und Glasken waren der Nachmittagsschicht zugeteilt. Glasken sah durch ein Teleskop zu einem fernen Turm hinüber und schrieb die mit Lichtblitzen übertragenen Nachrichten nieder. »Jetzt lassen sie uns nie mehr gehen«, jammerte er, während er mechanisch etwas auf einer Schiefertafel notierte. »Die Maschine der - 155 Hoheliber hat funktioniert, sie hat ihr Staatsgebiet verdreifacht und wird jetzt wahrscheinlich vom Bürgermeister von Tandara verlangen, daß er sich ihr als Vasallenstaat unterwirft. Und Tandaras Verbündete werden zu große Angst vor dem Kampfkalkulor haben, um dagegen zu protestieren.« »Ein eleganter Sieg«, erwiderte Nikalan, der gerade mit der Signalfeuertaste eine andere Nachricht hinausschickte. »Wußtest du schon, daß der Kampfkalkulor gestern nur 65 Prozent seiner Leistungsfähigkeit eingesetzt hat? Wir hätten auch gegen eine noch größere Übermacht gewinnen können.« Glasken erschauderte. »Was wird die Hoheliber dann als nächstes von uns verlangen? Daß wir gegen das Südmaurenreich kämpfen? Weißt du, ich hasse es, eine Komponente zu sein, ich hasse es, Teil eines Maschinengehirns zu sein, und ich hasse es, daß ich nicht mal weiß, was diese verschlüsselten Botschaften, die wir hier verarbeiten, eigentlich besagen.« »Oh, aber ich kenne sämtliche Kodes«, sagte Nikalan leichthin. »Das sind nur ganz banale Nachrichten. In der, die ich gerade sende, wird erwähnt, daß keine einzige Komponente des Kampfkalkulors ums Leben gekommen ist.« »Andere das«, sagte Glasken. »Sag ihnen, ich sei tot.« »Aber dafür würden sie mich bestrafen.« »Dann sag ihnen halt, du seist auch tot. Ah, der Turm von Derby macht Mittagspause. Weck mich, wenn die weitermachen.« Glasken hielt ein Nickerchen. Er träumte, daß sich Dolorians große, feste Brüste an seine nackte Brust preßten, statt auf Armeslänge entfernt zu sein. Nikalan rüttelte ihn wach, als Dolorian gerade seine Zellentür öffnete. »Wach auf, Johnny, du bist tot.« »Ach, hau doch ab.« »Nein, es ist wahr. Und ich bin auch tot. Libris hat auf unsere Nachricht geantwortet. NEUE KOMPONENTEN ALS ERSATZ FÜR GLASKEN UND VITTASNER SIND UNTERWEGS. LEICHEN ZUR BESTATTUNG FREIGEBEN. Glasken fuhr erschrocken hoch. »Was?« rief er und packte Nikalan am Hemd. »Du hast die Nachricht tatsächlich abgeändert?« »Ja.« »Und Libris hat das einfach so akzeptiert?« - 155 »Ja. Der Kode war kein Problem, und ich mußte nur den Wortlaut so ändern, daß die Prüfsummen stimmten.« Glasken ließ ihn los und lehnte sich zurück. »Kriegst du das denn wirklich nicht mit, wenn man mal einen Scherz macht? Jetzt sind wir wirklich tot. Die Hoheliber wird Gift und Galle speien, wenn sie das erfährt, und ... sagtest du gerade >zur Bestattung freigeben« »Ja.« Ganze Gebirgszüge aus Brüsten erbebten in Glaskens Griffweite, und Schenkelwälder luden ihn ein, sie zu erkunden. »Könntest du das in >LASST SIE FREI< abändern?«
»Äh ... nein. Das ist ein anderer Antwortkode, und die Prüfsumme erfordert die gleiche Buchstabenzahl.« Glasken dachte hektisch hin und her »Wie wäre es mit GLASKEN UND VITTASNER FREILASSEN?« »Aber ich will gar nicht freigelassen werden. Ich arbeite gern in einem Kalkulor« »Ich brauche aber deinen Namen, damit die Buchstabenzahl stimmt!« »Ich möchte aber lieber hierbleiben.« Der Drang, Nikalan vom Turm zu werfen, war für Glasken beinahe übermächtig. Im Nachhinein wurde ihm klar, daß Nikalan sie beide wahrscheinlich schon Monate zuvor aus dem Kalkulor von Libris hätte befreien können. »Naja, war ja auch nur so 'ne Idee, guter Fras«, sagte er, streckte sich und justierte dann ein Schräubchen am Teleskop. »Aber darf ich dich um einen Gefallen bitten? Könntest du mir zeigen, wie diese Nachricht kodiert ausgesehen hätte?« Als Nikalan damit fertig war, verpaßte Glasken ihm einen Schlag auf den Kopf, rief dann, Nikalan sei ohnmächtig geworden, und forderte ein Ersatzteam an. Ehe Nikalan wieder zu sich kam, war der Diener des Generals schon bei ihnen, mit Entlassungspapieren, die so frisch waren, daß die Tinte noch nicht getrocknet war. Glasken flößte Nikalan eine Phiole Nachtschweifsalz ein, damit er ruhig blieb. Kriege bieten Abstaubern eine Menge Möglichkeiten, und trotz der wachsamen Äugen der Regulatoren des Kalkulors gelang es Glasken in dem ganzen Durcheinander, zwei Goldroyal, sechzehn Silbernobel und zwei Reisepässe zu erbeuten. Für fünf Silbernobel kaufte er ein erbeutetes Pferd, und damit brachen sie nach Eaglehawk auf. - 156 Die Bahnstation Eaglehawk befand sich nur acht Kilometer weiter südlich, und dank des durch den Krieg gestifteten Chaos, Glaskens gestohlenen Papieren, zweier Fahrkarten zu insgesamt zehn Silbernobel und einem Goldroyal Bestechungsgeld gelang es den Entflohenen bei Einbruch der Dunkelheit, einen Windgüterzug zu besteigen. Glasken hatte vorgehabt, auf der Nullarborstrecke bis zu den Fürstentümern des Westens zu fahren, aber während er schlief, bog der Zug in nördliche Richtung nach Robinvale ab. Die nun folgenden Monate waren nicht leicht für die Entflohenen, aber sie überlebten. Glasken lag ausgestreckt im Wüstensand, sehr betrunken und schon fast eingeschlafen. Das Lagerfeuer war bis auf glühende Kohlen heruntergebrannt, aber dennoch rief der Führer der Kamelkarawane aus Alspring ermunternde Worte und forderte Glasken auf, seine Geschichte über die Signalfeuertürme, Windzüge und Kalkuloren zu Ende zu erzählen. »Lieber Sir, bitte erzählt Eure wunderbare Geschichte zu Ende. Ich kriege kein Auge zu, wenn ich nicht weiß, wie sie ausgeht.« Glasken sah zum Sternenhimmel hoch und hob dann einen Krug Dattelschnaps an die Lippen, um sich gegen die Kälte der Wüstennacht zu wappnen. »Ah, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Der Windzug ... wurde nach Robinvale umgeleitet. Da ging dann alles schief. In Robinvale habe ich den Zollinspektor erschossen, weil er sich nicht bestechen lassen wollte, und dann bin ich mit Nikalan ins Emirat der Südmauren geflohen. Er hatte die Idee, wir sollten in den Zentralbund reisen, aber, ach, der Vollidiot war schuld daran, daß wir dann auf dem Sklavenmarkt von Balnarald versteigert wurden, während wir eigentlich nur ein Kamel kaufen wollten. Unser Besitzer war ein Karawanenführer, der auf dem Weg nach Norden war. Oh, was haben wir gelitten ... dann wurden wir von Räubern überfallen ... Wir klauten Kamele, flohen in die Wüste. Wären fast umgekommen ... dann sind wir auf diese Oase gestoßen ...« Glasken dämmerte weg. Der Führer wandte sich an seinen Schreiber. »Hast du das alles festgehalten?« »Ja, Sir.« »Dann füge vorher noch das hier an -« Er räusperte sich und überlegte kurz. »An Seine barmherzige Durchlaucht Ziran Hoantar:
Wann immer ich eine Kamelkarawane an die Ränder der uns bekann - 157 ten Welt führe, o Herr lege ich besonderen Wert darauf, eng mit meinen Treibern zusammenzuarbeiten. Wenn ich ihre Stimmungen, Befürchtungen und Bedürfnisse kenne, kann das darüber entscheiden, ob es zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit kommt oder zu einer Meuterei. Wir hatten in der Oase Fostoria unser Lager aufgeschlagen, nachdem wir die Große Kieswüste durchquert hatten, und dort begegnete ich einer seltsamen Gestalt namens John Glasken. Dieser Mann maß neunzehn Metren, hatte einen schwarzen Vollbart und ungewöhnlich breite Schultern. Er sprach nur schlecht Macadalisch, lungerte im Lager herum und trieb Handel mit verbotenen Spirituosen und Kräutern. Am zweiten Abend unseres Aufenthalts betrank sich Glasken ganz abscheulich mit einigen meiner ungläubigen Treiber. Während ich bei ihnen am Lagerfeuer saß, um sicherzustellen, daß aus dem Saufgelage keine Meuterei entsprang, begann Glasken eine so absonderliche Geschichte zu erzählen, daß ich bald einen Schreiber kommen ließ, der sie in Kurzschrift festhalten sollte. Die Geschichte endete, als Glasken einschlief und gar schweinisch zu schnarchen begann, aber das Wesentliche ist hier aufgezeichnet. Ihr werdet mir beipflichten, daß diese Geschichte viel zu stimmig und detailliert ist, als daß so ein Nichtsnutz sie sich hätte ausdenken können, und also muß es jenseits der roten Wüsten tatsächlich wissenschaftlich sehr weit fortgeschrittene Barbarenstaaten geben. Und wenn dem so ist, dürfen wir ihr Wirken dann ignorieren? Ich ließ den betrunkenen Ungläubigen fesseln und zu meinem Zelt bringen und dann bewaffnete Männer Nikalan aus seinem Zelt in der Nähe des Kontors auf dem Marktplatz holen. Ich freue mich nun. Euch berichten zu können, daß wir nach Glenellen zurückkehren. Diese Schriftrolle wird uns mit einer Kurierschwadron vorauseilen. Lest nun Glaskens Geschichte, o Herr, lest sie, damit Ihr versteht, warum ich auf dem schnellsten Wege nach Glenellen zurückkomme. Herr, wenn Ihr hundert Männer die einigermaßen mit einem Abakus umgehen können, an einem Ort versammeln würdet, der nicht ausgekundschaftet werden kann, könnten wir mit Hilfe dieser beiden Komponenten einen eigenen Kampfkalkulor errichten zum Ruhme und Wohl Eures Hauses. Dürfte ich die Feste auf dem Berg Zeil als vortrefflichen Standort dafür vorschlagen? Euer ergebenster Diener Khal Azik Vildah.« - 157 Vor dem Ruf waren alle gleich. Am Fuß von Felswänden im ganzen Lande lagen die gebleichten Gebeine von Menschen und Tieren, die blindlings seiner Verlockung gefolgt waren. Den wenigen aber, die dem Ruf zu widerstehen vermochten, bot er große Vorteile. Wer in seinem Einflußbereich reiste, war unsichtbar und gegen Angriffe durch Menschen gefeit. Theresia und Ilyire verließen das Kloster, sobald der nächste Ruf über Glenellen hinwegzog, hielten ihre Kamele aber auf normalen Straßen, statt ihnen zu gestatten, geradewegs nach Süden zu gehen. Sie flohen über die steilen, schmalen Wege der MacDonald Mountains, durch palmenbewachsene Täler und rasterförmig angelegte Dattelplantagen und dann hinaus in das flache, mit Gestrüpp bewachsene Umland. Beim Handelsposten Henbury bogen sie auf die alte Straße nach Süden ab, nachdem sie sich dort mit Wasser, Proviant und sogar frischen Kamelen eingedeckt hatten, während die Wachen und Händler ohne Sinn und Verstand rufwärts an ihren Halteseilen zerrten. Eine Tagesreise weiter südlich, in der Nähe des Marktfleckens Erldunda, trafen sie auf eine große Kamelkarawane. Sie stand mitten auf der Straße, die Anker von Hand ausgeworfen. Theresia und Ilyire zügelten ihre eigenen, dem Ruf verfallenen Kamele. »Diese Karawane ist aber sehr ordentlich stehengeblieben«, bemerkte Theresia. »Sie haben wahrscheinlich einen Rufkundschafter«, erklärte Ilyire. »Wenn eine Karawane auf freier Strecke nach Norden oder Süden reist, wird ein einzelner Reiter mit einer Lotsenflagge so weit vor- oder hinterhergeschickt, daß ihn die Wache gerade noch sehen kann. Wenn ein Ruf den Kundschafter erfaßt, läßt er die Flagge fallen. Der Karawanenführer läßt dann sofort die Sandanker auswerfen, und die Karawane bleibt auf der Stelle stehen. Wenn der Ruf
vorübergezogen ist, zieht die Karawane ohne große Unterbrechung weiter. Nur der Kundschafter reitet auf seinem Kamel nach Süden, bis ein Zeitschalter in seinem Sattel den Sandanker auswirft. Die größte Gefahr für den Kundschafter besteht darin, von Räubern oder Koorie-Nomaden überfallen zu werden, während er zur Karawane zurückreitet.« Bis auf das Klimpern der Geschirrglöckchen und das Knarren der Lederriemen, an denen die Kamele zerrten, war die Karawane ganz still. Die Reiter waren auf dem Sattel angeschnallt und konnten sich nicht losmachen. »Sie haben Gefangene«, bemerkte Theresia. »Den beiden da hat man - 158 die Hände gefesselt, und ihre Kamele sind an Lasttieren festgemacht.« Sie spähte zu zwei Männern hinüber. »Sie sind groß, so wie du mir die Männer von Maralinga geschildert hast.« »Ja, stimmt«, sagte Ilyire, der damit zu kämpfen hatte, sein Kamel im Griff zu behalten. »Und ich kenne sie aus Fostoria! Der Dürre hat auf dem Markt gearbeitet, hat für die Händler und Karawanenführer Mengen und Umtauschkurse berechnet. Sein Name ist Nikalan. Er ist ein bißchen verrückt, aber er hat mir einige Grundlagen der austarischen Sprache beigebracht, während ich dort frische Kräfte schöpfte.« »Könnten die beiden Forschungsreisende aus den südaustarischen Ländern sein? Könnte es sein, daß sie nach Kharecs Überfall Expeditionen losgeschickt haben, die nach uns suchen sollen?« »Nein. Sie sind wahrscheinlich eher Geächtete oder Flüchtlinge, die in die Wüste hinausgezogen sind und das Glück hatten, nach Fostoria zu kommen.« »Warum sind sie wohl Gefangene?« »Vielleicht haben sie die Karawane überfallen.« »Zwei gegen sechzig?« »Vielleicht sind sie die einzigen Überlebenden einer größeren Räuberbande, die ausgelöscht wurde. Der Dünne, Nikalan, sieht nicht gut aus. Vielleicht ist er verwundet.« »Der Große, Ungeschlachte dagegen sieht ausgesprochen gesund aus.« Damit hatte Theresia unwissentlich einen wunden Punkt berührt. »Der? Das ist ein versoffenes Dreckschwein. Der hat in Fostoria sämtliche Nutten besprungen und nebenbei auch noch eine Menge eingeschlossene Frauen und auch deren Töchter. Er ist ein raubgieriges Vieh, das über Frauen herfällt, statt sie zu beschützen. Er hat keine Moral, keine Ehre, keine Disziplin und kein Schamgefühl! Jörn Glaescen, ja, so heißt er.« Theresia sah sich das leer blickende Gesicht des breitschultrigen Gefangenen einen Moment lang an, während die Kamele rückwärts tänzelnd an den Zügeln zerrten. Er hatte einen schwarzen Vollbart und trug ein schmutziges Gewand im Stil fremdländischer Kameltreiber Mit einer flinken, geschmeidigen Bewegung zog Theresia ihren Säbel und kappte das Halteseil seines Kamels. Ilyire lachte beifällig. »So ist es recht, liebe, gerechte Schwester, verfüttere ihn an den Ruf. Ein faires Gerichtsverfahren wäre viel zu gut für ihn.« - 158 »Beeil dich, wir müssen bei ihm bleiben!« rief Theresia und ließ ihrem Kamel die Zügel schießen, auf daß es weiter nach Süden lief. »Ich - was? Wie meinst du das?« stotterte Ilyire und riß den Kopf seines Kamels so abrupt herum, daß es fast gestolpert wäre. »Ich kann ihn gut gebrauchen.« »Den? Glaescen? Bist du verrückt?« »Ja.« »Aber er ist groß, größer noch als ich. Und sobald der Ruf vorüber ist, steht uns ein Streit bevor.« »Aber wir werden den Ruf lange nicht verlassen, Ilyire. Wir reisen darin, um uns vor Räubern, Koorie und unseren eigenen Leuten zu schützen. Und genauso wird der Ruf uns auch vor ihm beschützen. Glaescen wird sich lammfromm verhalten.« »Bis wir den Ruf hinter uns lassen. Und was dann?« »Dann, lieber Halbbruder, wird er für sein Überleben von uns abhängig sein.«
»Aber warum ihn überhaupt mitnehmen? Außer als Beschäler ist der doch für nichts zu gebrauchen. Nicht einmal die Kamele wären vor ihm sicher!« »Er wird uns beibringen, fließend Südaustarisch zu sprechen.« Während der ganzen Auseinandersetzung hatte Theresia ihr Kamel schneller als mit Rufgeschwindigkeit traben lassen, und nun ergriff sie den Haltestrick von Glaskens Kamel. »Rühr diesen Pfeil nicht an, Ilyire!« rief sie, ohne sich umzusehen und machte den Haltestrick an ihrem Sattel fest. »Was? Soll ich etwa eine Ladung Schwarzpulver auf ihn vergeuden?« »Wenn du ihn tötest, töte ich dich - Bruder hin oder her. Schwöre mir, daß du ihn nicht töten wirst!« »Aber -« »Schwöre es mir!« Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Theresia beobachtete Ilyire weiterhin in einem winzigen Spiegel am Geschirr ihres Kamels, aber er griff nicht noch einmal nach einer Waffe. Sie begann das rhythmische Schaukeln ihres Kamels zu zählen, und war bei 83 angelangt, als Ilyire etwas erwiderte. »Also gut, ich schwöre es - aber nur, wenn du sein Kamel von deinem losmachst.« - 159 »Warum das? Sein Kamel muß bei unseren bleiben.« »Der Haltestrick zwischen euren Kamelen - das ist zuviel für mich. Das ist eine symbolische Vereinigung von Schmutz und Reinheit. Bei diesem Anblick kriege ich das kalte Kotzen.« Theresia lachte. »Du würdest ihn also lieber an deinem Kamel festmachen?« »Es wäre eine Strafe für meine Sünden«, murmelte Ilyire und verfiel dann für den Rest des Tages in Schweigen. Sie reisten weiter mit dem Ruf, durch den Außenposten Cavanagh, vorbei am Abzweig nach Fostoria und hinein in die unerforschten Wüsteneien, die Ilyire fast anderthalb Jahre zuvor mit Kharecs Reitern durchmessen hatte. Überreste einer vorzeitlichen Asphaltstraße schlängelten sich durch jahrtausendealte Ruinen. Es gab hier keine bewohnten Ortschaften mehr und daher konnten sie sich nirgends mit Wasser oder Proviant versorgen. Sie begannen, dem Ruf folgende Tiere zu fangen und zu schlachten, um ihre Vorräte aufzufrischen, und ihre Wasserschläuche waren längst nicht mehr prall gefüllt. Die Straße machte einen Schlenker nach Osten, sie aber ritten weiter nach Süden in die Wüste hinein, folgten dem Ruf und verwischten ihre Spuren, um etwaigen Verfolgern zu entgehen. Thereslas Kompaß zeigte an, daß der Ruf hier leicht nach Westen abgelenkt war, Ilyire aber sagte, derartige Abweichungen seien hier im tiefen Süden nichts Unbekanntes. Seinen Berechnungen zufolge würden sie nördlich der Bahnstation Maralinga auf die Route von Kharecs Expedition stoßen, aber bis dorthin war es immer noch sehr weit. Da sie nun die Straße hinter sich gelassen hatten, zeigten die Kamele erste Anzeichen von Erschöpfung, während sie sich über die mit Mulga-und Malleegestrüpp bewachsenen roten Sanddünen vorwärtskämpften. Die Rufgeschwindigkeit war zuviel für sie, und Ilyire zögerte es so lange wie möglich hinaus, die Sandanker auszuwerfen. Es war klar, daß ihnen niemand folgen konnte, und das Land war zu ausgedörrt, um mehr als einige wenige verstreute Koorie-Nomaden zu ernähren, doch erst als ihre Wasservorräte einen gefährlich niedrigen Stand erreicht hatten, faßte Ilyire nach einigem Zögern den Entschluß, die Sandanker auszuwerfen und die schützende Rufzone vorüberziehen zu lassen. Ilyire zog eine langläufige Radschloßpistole aus seinem Sattel und sprang auf den steinigen Boden. Er machte Glasken los und sah dann - 159 lächelnd zu, wie dieser sich aus dem Sattel kämpfte, zu Boden fiel, aufstand und gen Süden davonschlurfte. »Fang ihn ein und binde ihn an einen Strauch«, befahl Theresia, immer noch hoch zu Kamel. Es fühlte sich an wie ein naßkalter Nebel, der sich in einer warmen Brise auflöste, als der hintere Saum des Rufs über sie hinwegzog. Glasken schüttelte den Kopf und versuchte sich zu strecken. Die Hände waren ihm immer noch vor dem Bauch gefesselt ... und er stand auf heißem, rotem
Sand und Steinen und war an einem Malleestrauch festgebunden! Wo war die Karawane? Das Land war immer noch rot und ausgedörrt, aber es war eine andere Art von Wüste als die, durch welche die Karawane gezogen war. In der Nähe waren Kamele festgemacht, aber bei ihnen waren nur zwei Kameltreiber aus Alspring. Nein, das waren keine Treiber, die sahen eher aus wie Lanzenreiter der Stadtwache von Fostoria. Ihre sauberen, schön geschneiderten Gewänder und Satteltaschen und ihr augenscheinliches Selbstvertrauen verrieten ihm, daß sie vielleicht gar irgendeine Art von Elitekrieger sein mochten. Man mußte sie auf jeden Fall sehr sorgfältig einschätzen, ehe man ... doch mit einem Mal ging ihm ein Licht auf: Sie hatten ihn aus der Karawane befreit, also mußten sie ihm wohlgesinnt sein! Die Fesseln an seinen Handgelenken waren nur eine verständliche Vorsichtsmaßnahme. »Ambicori, gratico. Johnny Glasken ibi«, sagte er in der Sprache, die er in Fostoria gelernt hatte. Er rang sich ein breites Lächeln ab und verbeugte sich tief. »Macadalisch. Das erkenne ich, aber sprechen kann ich es kaum«, sagte Ilyire sofort. »Der nützt uns nichts, Frelle Schwester. Laß ihn frei, und dann nichts wie weg hier.« »Nicht so hastig, Ilyire. Ich verstehe genug Macadalisch, um zu merken, daß er unbeholfen in dieser Sprache ist. Vielleicht ist seine Muttersprache ja Austarisch.« Sie hob die Hand zu einer freundlichen Geste. »Gal-escen. Kann sprechen Austarisch?« »Ich - ja!« stammelte Glasken auf Austarisch. »Sehr gut kann ich das, das ist nämlich meine Muttersprache, und ich habe ein Diplom von der Universität von Rochester, ich bin nämlich sehr gebildet und -« Ilyire spie einen Fluch aus, und Glasken verstummte. »Das ist Austarisch, Frelle, du hattest recht«, seufzte er. »Ich erkenne es, auch wenn ich kein Wort verstehe.« Er belferte Glasken auf Macadalisch an, er solle die - 160 Hände vorstrecken. Der Säbel zischte in einem flachen Bogen hervor und durchtrennte den Knoten an den Handgelenken des Gefangenen. Glasken stockte vor Schreck der Atem, und dann begann er sich ganz langsam die Handgelenke zu reiben, sehr darauf bedacht, keine plötzlichen Bewegungen zu machen. »Wir wenig sprechen Macadalisch. Nennen mich Ilyire. Sie Äbtissin Theresia. Schwester mein. Wenn du anrühren sie, zack zack Eier ab. Verstanden?« Glasken verbeugte sich lächelnd, rieb sich dabei immer noch die Handgelenke und versuchte, Theresia anzugaffen, ohne daß es so wirkte. »Gla-escen, äh, kennen Fort Maralinga?« fragte Theresia. Ihre Stimme war ein leiser, aber eindringlicher Alt. Glasken wußte nichts von Maralinga, dachte aber hektisch nach. Sie waren hier in der Wüste, und wenn Maralinga in der Nähe lag, war es wahrscheinlich eine befestigte Bahnstation mit bewachten Zisternen und Lebensmittelvorräten. Nur an der NuUarbor-Gleitbahn gab es so fern der Zivilisation befestigte Äußenposten, und die Allianz kontrollierte einige dieser Bahnstationen gemeinsam mit Woomera. »Maralinga, das kenne ich gut. Eine Festung mit tiefen Zisternen, ein angenehmer Ort an der Gleitbahn, auf der die Windzüge nach Westen zu den großen unterirdischen Städten von Kalgoorlie fahren.« Seine Worte waren ein Durcheinander aus macadalischer Grammatik und austarischen Substantiven und Verben, aber wiederum mußte Ilyire seiner Schwester widerwillig zunicken. »Soldat? Du?« »Soldat, ja, ich bin Soldat. Ich war stationiert in, äh, Maralinga, aber dann habe ich mich auf einer Patrouille in der Wüste verlaufen - zusammen mit meinem Kamerad Nikalan.« »Gut«, sagte sie und wandte sich wieder an Glasken. »Erreichen Maralinga fünf Wochen. Vielleicht. Du lehren uns Austarisch?« »Ich soll Euch Austarisch beibringen?« rief er, erleichtert zu erfahren, welchen Wert er für sie hatte. »Ja, gern, mit dem größten Vergnügen. Ich werde Euch beibringen, es so gut zu sprechen wie die Hoheliber persönlich.«
»Hoheliber! Kennen Hoheliber?« fragte Theresia eindringlich. »Frelle, ich habe sieben Monate lang für die Hoheliber von Libris gearbeitet«, antwortete Glasken. Aber ich werde Euch nicht erzählen. - 161 was die Hoheliber mir in diesen sieben Monaten angetan hat, fügte er in Gedanken hinzu. »Nach Maralinga«, sagte Ilyire. »Wüste, Salzseen, Koorie-Krieger, Schlangen, Skorpione, uns töten können. Du kämpfen? Beherrschen Waffen?« »Ob ich kämpfen kann? Fras, Frelle, ich habe in der Armee von General Gratian von Inglewood gedient.« Ilyire warf ihm ein in der Scheide steckendes Schwert, einen Köcher voller Pfeile und einen Bogen hin. »Ankommen Maralinga, du frei. Helfen nach Maralinga.« »Ja, gern, Maralinga. Da sind meine Leute. Ich werde Euch vorstellen.« Glasken verbeugte sich, legte den Säbel an und schnallte sich den Köcher auf den Rücken. Er bog den Bogen zwischen den Beinen durch und spannte die Schnur. »Siebzig Pfund, ausgezeichnet«, sagte er und ließ die Schnur wieder los. Ilyire runzelte die Stirn, enttäuscht, daß Glasken offenbar mit den Waffen umzugehen wußte. Endlich habe ich mal Glück, dachte Glasken. Sie würden ihn an der Nullarbor-Gleitbahn absetzen, und von dort konnte er dann zu den Fürstentümern des Westens reisen, was er von Anfang an vorgehabt hatte, als er aus dem Kampfkalkulor entflohen war. Mit einem Mal fiel ihm Nikalan wieder ein. »Wo ist Nikalan?« fragte er Theresia. »Der andere Gefangene.« »Dünner Mann, krank?« »Ni-kalan, wir gehen«, schaltete sich Ilyire ein. »Hinrichten?« »Ah, vielleicht.« »Freund? Dein?« fragte Theresia. »Ja, mein Freund. Wir haben gemeinsam viel durchgemacht.« »Ni-kalan zurücklassen. Leidtun sehr«, sagte Theresia, die ob ihres Mangels an austarischen Vokabeln zusehends die Geduld verlor. Jetzt bloß nicht ärgerlich wirken, dachte Glasken bei sich. »Ihr habt getan, was Ihr für das Richtige hieltet«, sagte er schließlich mit breitem Lächeln. Er sah zur Sonne hoch, wandte sich dann in die Richtung, die er für Norden hielt, und winkte. »Lebewohl und viel Glück, Nikalan!« rief er. Ilyire machte sichtlich erleichtert Glaskens Kamel von seinem eigenen los. »Jetzt reiten!« schnauzte er. - 161 Glasken ergriff die Zügel. »Kusch! Kusch!« sagte er selbstbewußt, und das Kamel kniete sofort nieder. Er saß auf, schnallte sich an und überprüfte Sandanker und Zeitschalter. »Schill, Schill«, sagte er, und das Kamel erhob sich. Ilyire spie in den Sand und saß dann ebenfalls auf. Mürrisch ritt er hinter Glasken her und flüsterte die ganze Zeit mit Theresia. »Der lügt uns doch an. Wahrscheinlich ist er ein Deserteur.« »Und wenn schon. Er ist sicherlich ein guter Kämpfer«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »Er wirkt gebildet und wortgewandt.« »Vielleicht war Ni-kalan sein Vorgesetzter. Sie haben gemeinsam Fahnenflucht begangen, haben sich in der Oase Fostoria versteckt und wurden dann von den Lanzenreitern der Karawane gefangengenommen. Man wollte sie über die militärischen Künste der austarischen Städte und Staaten ausfragen. Ja! So wird es gewesen sein.« »Gla-ssken. Ein starker Name.« »Vielleicht wird er wegen Fahnenflucht hingerichtet, wenn wir nach Maralinga kommen«, sagte Ilyire hoffnungsfroh. »Komm jetzt, Ilyire, wir müssen ständig mit ihm sprechen, damit wir seine Sprache lernen.« »Ich habe gesehen, wie er dich angegafft hat, die Kurven unter deinem Gewand. Wenn er auch nur eine Bewegung in deine Richtung macht, schlage ich ihm die Hände ab.« Die Reise war geprägt von Hitze, Langeweile und rotem Staub, unterbrochen nur einige Male von ängstlicher Unruhe, wenn sich ihnen Koorie-Nomaden entgegenstellten. Ilyire hatte mittlerweile die Taktik perfektioniert, so zu wirken, als würde er sich zurückziehen, und dabei im
Zickzackkurs in die ursprüngliche Richtung weiterzureiten. Daher kam es bei diesen Begegnungen nur selten zu mehr als einem lautstarken Wortwechsel und Herumgefuchtel mit den Waffen. Die Koorie hatten den Eindruck, sie hätten die Eindringlinge vertrieben, ihrer Ehre war Genüge getan, und niemandem wurde auch nur ein Haar gekrümmt. Es war etwas ganz anderes als die blutigen Schlachten, mit denen sich Kharec mit seiner Streitmacht den Weg in den Süden freigehauen hatte. Da sie nun nicht mehr mit dem Ruf dahineilten, wußte Ilyire, wie man in der Wüste überlebte. Er erkannte die kaum wahrnehmbaren Zeichen, an denen man sah, wo man nach Wasser graben konnte, und sammelte jedesmal, wenn die Lage es ihnen erlaubte, für längere Zeit zu rasten, mit einer durchsichtigen Membran über einer Laubgrube reines Wasser. Glasken war sich nur allzu bewußt, daß man ihn daraufhin beobachtete, ob er der Äbtissin gegenüber Lüsternheit an den Tag legte. Theresia war ganz offensichtlich die Anführerin, doch ohne Ilyire hätten sie wohl kaum überlebt. Aus Theresia wurde er nur schwer schlau: Sie war kräftig und geschmeidig und bei einem Kampf wahrscheinlich hilfreicher als Ilyire, doch manchmal bemerkte Glasken, daß sie ihn aus dem Augenwinkel ansah. Hin und wieder schenkte sie ihm ein Lächeln, aber stets nur flüchtig. Die Landschaft änderte sich von Tag zu Tag kaum, und so wurde selbst die Durchquerung eines trockenen Flußbetts ein großes Ereignis. Die kleinen, zähen Sträucher und Bäume lichteten sich mehr und mehr, überließen das Terrain aber nie ganz dem roten Sand und den Felsbrocken. Rauhes Land bedeutete weniger Koorie, wie Ilyire jedesmal erklärte, wenn Glasken ihn fragte, ob er wisse, wohin er reite. Während aus Tagen Wochen wurden, legte sich Glasken als Austarisch-Lehrer ins Zeug, als ob sein Leben davon abhinge. Und in gewisser Weise war dem schließlich auch so. Sie wären auch ohne ihn zurechtgekommen, und Ilyire wäre das auch offenkundig lieber gewesen. Glaskens Dilemma bestand darin, daß er sich gut mit der Äbtissin vertragen mußte, ohne dabei allzu vertraulich zu wirken und damit Ilyires Unwillen zu erregen. Die Flüchtlinge aus Glenellen lernten schnell die Vokabeln für Fliegen, Sand, Hitze, Gefahr und die kleinsten Einzelheiten des Kamelsattelzeugs. Gespräche über Mathematik, Literatur und Technik der Südostallianz schwenkten unweigerlich hin zu den Themen Warane, Giftschlangen und die geschätzte Entfernung nach Maralinga. Nachts hielt immer Ilyire Wache, und tagsüber döste er meist auf dem Sattel vor sich hin, während Glasken Theresia austarische Balladen - und auch einige Liebesgedichte — beibrachte und ihr die Grundlagen der Chemie und Physik erklärte, wie er sie an der Universität von Rochester gelernt hatte. »Viele Damen müssen dein, äh. Verschwinden beweint haben«, sagte Theresia eines Morgens, als sie gerade durch ein trockenes, mit Salz überkrustetes Flußbett trotteten. Es war das erste Mal, daß sie aufs Thema Liebe auf persönlicher Ebene zu sprechen kamen. Glasken hatte wochenlang geduldig auf eine solche Erkundigung gewartet. »Ich hatte viele Verehrerinnen, Frelle Äbtissin, das will ich nicht leugnen. Und was mein Verschwinden angeht, so war es ihnen wahrscheinlich ein Rätsel. Ein Mädchen, ein gemeines, bösartiges Ding, war - 162 ganz besessen von mir und wollte mich ganz für sich alleine haben. Sie entstammte einer sehr wohlhabenden und einflußreichen Familie, und es wäre sehr vorteilhaft für mich gewesen, wenn ich sie geheiratet hätte. Aber ich weigerte mich, meine Freiheit für irgend etwas anderes als die wahre Liebe herzugeben. Sie wurde zornig und engagierte eine Bande, die mich entführen sollte. Fünf von ihnen setzte ich mit meinem Offiziers-stock außer Gefecht, aber schließlich schlugen sie mich zu Boden und fesselten mich. Dann wurde ich verschleppt und in die Sklaverei verkauft, aber schließlich gelang es mir gemeinsam mit meinem Freund und Mitsklaven Nikalan in die Wüste zu fliehen. Wir litten schreckliche Qualen, bis wir dann glücklicherweise auf die Oase Fostoria stießen.« »Aha. Dann bist du also gar kein Soldat?« fragte Theresia, eher neckend als vorwurfsvoll.
Sich für diesen Patzer verfluchend, ließ sich Glasken schnell etwas einfallen, um den Bruch in seiner Geschichte zu verbrämen. »Frelle, wie hätte ich denn derart heikle Herzensangelegenheiten erklären sollen, als wir noch kaum eine gemeinsame Sprache hatten?« Das schien Theresia zufriedenzustellen, und sie ritt eine Zeit lang schweigend weiter. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß Ilyire ein ganzes Stück zurückhing und immer noch schlief, führte sie ihr Kamel wieder neben Glaskens. »Warum hat der Karawanenführer euch ... gefangennommen?« »Gefangengenommen. Wir waren einfach nur seltsame Flüchtlinge aus unbekannten Ländern. Wir sollten von Euren Ältesten in irgendeiner Stadt in Alspring verhört werden. Vielleicht sind die auf der Suche nach neuen Ländern, mit denen sie Handel treiben oder die sie erobern können.« Als sie dann aus den Sanddünen heraus auf eine weite, mit Sträuchern und Grasbüscheln bewachsene Ebene aus rötlichem Sandstein kamen, hatten Ilyire und Theresia gelernt, sich einigermaßen flüssig auf Austarisch zu unterhalten. Glasken sah Ilyire zum allerersten Mal lächeln, als er eine Landkarte entrollte und auf die Stelle zeigte, an der sie sich befanden. Maralinga war ganz in der Nähe. Sie beschlossen, früh ihr Lager aufzuschlagen, und als sie aßen, stand die Sonne noch hoch über dem Horizont. Theresia meldete sich freiwillig, die Wache zu übernehmen, und Ilyire willigte widerstrebend ein. Er erschien Glasken ungewöhnlich müde, und - 163 bald schon schlief er tief und fest und schnarchte. Theresia streckte sich auf ihrer Sandmatte aus, den Kopf auf einer Satteltasche. Der Saum ihres Gewands war hochgerutscht und entblößte ihre Waden. Glasken sah kurz zu ihren Beinen hinüber, richtete den Blick dann aber schnell wieder auf Ilyire. »Kristall des Vergessens, äh, ihm ins Trinken getan«, erklärte Theresia und wies dabei auf Ilyire. Glasken riß den Kopf herum. »Er kann nicht aufwachen?« fragte er, und seine Lenden regten sich schon, während sein Geist noch damit beschäftigt war, ihre Worte zu entschlüsseln. »Nein, erst in ... vielen Minuten.« Dieses eine Mal ging es Glasken dann doch zu schnell. Er sah in ihr lächelndes Gesicht, dann wieder hinunter auf ihre Beine. Sie rekelte sich und rutschte ein wenig vor. Ihr Gewand rutschte ihr bis über die Knie. Der Drang, ihr Gewand zu ergreifen und ganz hochzuschlagen, war so übermächtig, daß Glasken große Mühe hatte, dem zu widerstehen. Langsam bewegte er sich zu ihr und kniete sich dann neben ihr hin. Sie koste ihm den Bart. »Ich dacht, sie bliebe hart. Doch dann krault sie mir den Bart, Und wir waren beide mopsfidel...« »Was ist das?« fragte Theresia. »Ein austarisches Gedicht?« »Ein paar Verse aus einem Studentenlied. Einem alten, unanständigen Studentenlied.« »Unsere Studenten ... kommen alle aus religiösen Orden. Die singen nur Kirchenlieder. Und manchmal, äh, moralische Epen.« Ganz langsam und vorsichtig streckte Glasken eine Hand aus und streichelte Thereslas Haar, führ dann mit den Fingern über ihr Kinn. Sie strich ihm mit den Fingern über die Brust, durch die schwarze Behaarung und an den Rippen entlang. Seine Hand sank vorsichtig auf ihre Seite. Theresia lächelte. Seine Fingerkuppen liebkosten die Kurven ihrer Brust ... und sie lächelte weiterhin. Das Tor zum Paradies steht sperrangelweit offen, jubilierte er innerlich. »Wie lange wird er -« »So lange wie nötig.« »Seid Ihr sicher?« »Kein Grund zur Eile.« Die schiere Größe seiner Eroberung und die Furcht davor, wer sie war. - 163 -
zügelten Glaskens Hast bereits genug, um zu verhindern, daß er ihr ohne Umschweife die Kleider vom Leib riß. Er war immer noch recht bang, als er an ihrem geknoteten Gürtel nestelte, doch dann griff auch sie nach seinem Gürtel. Als er ein glattes, weiches Bein an seinem spürte, ließ er alle Vorsicht fahren und wälzte sich auf Theresia, doch mit einer geschmeidigen Bewegung drehte sie sich und lag nun auf ihm. Ihre Brüste wogten verlockend über ihm, sanken langsam herab, und dann berührten die Spitzen seine Brust. »Nicht so schnell, Fras Glasken. Warte nur noch ein kleines Weilchen.« »Aber um des Großen Winters willen, Frelle Äbtissin! Warum denn vor dem Altar der Extase innehalten, wenn man auch direkt -« Ein Ruf brandete über sie hinweg und raubte Glasken die Besinnung, aber ... er regte sich nicht. Theresia hockte auf Händen und Knien über ihm, erspürte Gefühlsnuancen, Anspannungen und Energien. »Du bist Teil eines großen Experiments, Fras Glasken. Du solltest dich geehrt fühlen«, sagte sie leise auf Alspring. Sie erhob sich langsam, so daß ihre Brüste kaum noch Glaskens Brust berührten - und sich dann gänzlich lösten. Auch ohne direkten Körperkontakt zwischen ihnen wurde Glasken nicht vom Ruf fortgezogen. »Deine Lust widersetzt sich sogar dem Ruf«, sagte sie tief erstaunt. »Keine Lust auf der ganzen Welt kommt der deinen gleich, möcht ich wetten ... aber vorläufig ist es jetzt genug. Ich muß über vieles nachdenken.« Theresia drehte sich unvermittelt von ihm herunter, und sofort stand Glasken auf und ging in Richtung Süden los. Sie stellte ihm ein Bein und band ihn dann an der Taille fest. Während sie ihre Kleider richtete, zerrte Glasken mit ausdruckslosem Blick am Haltestrick, sein Interesse an ihr verflogen. Sie brauchte einige Zeit, bis sie ihn wieder angekleidet hatte, denn er wollte weiter nichts als nur nach Süden wandern. Schließlich zog sie Ilyires Lippen auseinander, tröpfelte ihm ein wenig von einer Flüssigkeit aus einer kleinen Phiole in den Mund, zählte an ihrem Handgelenk fünfzig Herzschläge ab und rüttelte ihn dann. »Ilyire, wach auf! Ein Ruf!« Ilyires Muskeln regten sich, aber er schlug die Augen auf, ohne aufzuspringen oder etwas zu sagen. Als er nur Theresia sah, richtete er sich langsam auf seiner Sandmatte auf und sah in Richtung Sonne. »Schon fast Sonnenuntergang, das ist gut. Der Ruf wird bald inne - 164 halten und uns umfangen. Das schützt uns die ganze Nacht. Die Bahnstation Maralinga ist nicht mehr weit. Wir können dieses Stück Kamelscheiße auf ihrem Misthaufen abladen und uns dann der Angelegenheit mit ihrem Bürgermeister widmen.« Theresia lag ausgestreckt auf ihrer Sandmatte, in fast der gleichen Haltung wie als Glasken versucht hatte, sich rittlings auf sie zu setzen, und sah zu dem rotglühenden Ofen der untergehenden Sonne inmitten der flammenden Wolkenstreifen hinüber. Die Luft wurde bereits merklich kühler. »Wir sind dem Rand der Welt so nah, daß es schade wäre, nicht dorthin zu wandern«, sagte sie, als Ilyire begann, das Dörrfleisch wieder einzupacken. »Die Windzüge werden uns in die Feme tragen, zur Hoheliber und zum Bürgermeister.« »Aber ich habe den Rand der Welt doch für dich gesehen«, erwiderte Ilyire mit zitternder Stimme, wie ein Handwerker, dessen Können infragegestellt wurde. »Ich muß selber dorthin. Ich muß Versuche anstellen.« »Ich habe alle Versuche durchgeführt, die du mir aufgetragen hattest.« »Aber während du fort warst, habe ich neue Testverfahren und Techniken entwickelt, um den Ruf zu erforschen. Ich kann es spüren, wenn ein Ruf kommt, ist dir das bewußt?« Ilyire sah sie mißtrauisch an. Das war ihm nicht bewußt gewesen, und plötzlich entsetzt, sah er sich zu Glasken um, der immer noch ohne Sinn und Verstand an seinem Haltestrick zerrte. Nein, das war nicht möglich, schloß er und wandte sich wieder Theresia zu.
»Also gut, wir reisen an den Rand. Wir können diese sich in Kamelscheiße windende Made ja in Sichtweite von Maralinga anpflocken.« »Er kommt mit uns an den Rand.« »Niemals! Nenn mir auch nur einen guten Grund dafür.« »Da ist ein dünnes schwarzes Band vor der Sonne.« Ilyire sah sich zur Sonne um, die nun den Horizont berührte. Über die Sonnenscheibe zog sich eine schwarze Linie, die von dem grellen Schein überblendet worden war, als die Sonne noch höher am Himmel gestanden hatte. »Was ist das?« fragte er ungläubig und entgeistert. »Das ist das Ende der Welt und der Grund, warum Glasken an den Rand mitkommen muß.« »Das ist doch nur eine Wolke.« - 165 »Hast du schon einmal so eine Wolke gesehen?« Händeringend sah Ilyire vom Sonnenuntergang zu Glasken hinüber. »Theresia, liebste Schwester ... Ich habe gesehen, wie er dich anglotzt, wie er versucht, dir unter die Kleider zu schielen. Jedesmal, wenn er sich die Lippen leckt, weiß ich, daß er davon träumt, dir die Brüste zu lecken, dieser verkommene Bock denkt doch nur daran, wie er dich schänden -« »Was wäre dir denn lieber, Ilyire? Soll er statt dessen dich anglotzen?« »Was? Den Sodomiten würde ich auf der Stelle erschießen!« »Dann würdest du ihn also so oder so umbringen. Warum tötest du ihn nicht gleich jetzt, während er wehrlos ist?« »Eure Ladyschaft, liebe Schwester, das verbietet die Ehre. Er muß einfach nur lernen, wohin er gehört -« »Er weiß durchaus, wohin er gehört! Warum sonst wirft er mir nur heimlich Blicke zu? Sei vernünftig, Halbbruder. Er ist ein Halunke, aber wir haben viel von ihm gelernt. Und außerdem brauche ich ihn für ein paar Experimente am Rand der Welt.« Ilyire sprang auf. »Was? Du? Ihn? Was denn für Experimente?« »Experimente, die jemanden erfordern, der nicht gelernt hat, dem Ruf zu widerstehen.« »Dann nimm ein Kamel! Alles andere wäre besser als Glasken!« Theresia überlegte kurz und sah zu der rasch untergehenden Sonne hinüber. Ilyire folgte ihrem Blick. »Es besteht natürlich ein gewisses Risiko. Ein Risiko, daß sich meine Experimente als Fehlschlag erweisen werden und Glasken vom Ruf über den Rand der Welt hinausgerissen wird.« Ilyire war zwischen Hoffnung und Unglaube hin und her gerissen. »Wie das?« fragte er und zwirbelte sich eine Bartsträhne, bis die Haarwurzeln schmerzten. »Ich will ihn ohne Haltestrick vor dem Ruf zurückhalten.« Die Sonnenscheibe verschwand unterm Horizont und nahm den schwarzen Streifen mit sich fort. Ilyire ließ erleichtert die Schultern hängen, als er nicht mehr zu sehen war. Er wandte sich wieder seiner Schwester zu, aber sie mahnte ihn mit dem Zeigefinger. »Es ist immer noch da, Bruder ein schwarzer Bogen, der die Sterne verdeckt.« Ilyire kniff die Augen zu. »Also gut, also gut. Ich verstehe nichts, aber Glasken kann mitkommen.« - 165 9 Katastrophe Früh am nächsten Morgen, als sich der Ruf zu regen begann, brachen sie auf, und ehe die Sonne hoch am Himmel stand, kamen die leuchtend hellen Mauern der Bahnstation Maralinga in Sicht. Als sie das Gleitbahngleis erreichten, wies Ilyire auf eine dunkle Gestalt in der Ferne, und der Wind trug ihnen ein Rattern zu. Sie überquerten das Gleis und ließen die Kamele noch hundert Schritte weiter nach Süden gehen, und dann hielten sie an und sahen sich um. »Siehst du das lange, flache Ding mit den gestreiften Rollen obendrauf?« fragte Ilyire und zeigte auf die von Westen heranrasende Lok. »Das ist eine Reisemaschine.«
Theresia sah es mit großen Augen an, während es näherkam, verblüfft über die schiere Größe, die immer offensichtlicher wurde. Das Rattern ging ihr durch Mark und Bein, und sie konnte kaum glauben, daß diese Maschine nicht von Pferden oder Kamelen gezogen wurde. Das Gefährt rauschte an ihnen vorbei, ein komplexes Gebilde aus röhrenförmigen Rotoren, Balance-Auslegern, Rädern und Masten, und die Waggons dahinter waren so unscheinbar wie die Lok kompliziert aussah. »Great Western«, las Theresia die austarische Aufschrift neben den Fenstern. Dann sahen sie zu, wie der Zug in Richtung Maralinga davon sauste. »Wie widersteht der Führer dieser Maschine denn dem Ruf?« fragte Theresia. »Gar nicht. Die Maschine fährt von allein, bis sie angehalten wird. Schau.« Kaum traf der Zug an der äußeren Schutzmauer der Bahnstation ein, ertönte ein metallischer Schlag, und ein neben dem Gleis aufragender Bremspfosten legte einen aus der Lok ragenden Hebel um. Bremsklötze klappten vor die Räder, die kreischend und qualmend abbremsten, aber bald schon war bis auf die Rotoren und Masten alles hinter der Mauer verschwunden. Mit einem laut widerhallenden Knall hielt der Zug schließlich an einem Prellbock. »Alles automatisch, da sind keine Menschen vonnöten«, erklärte - 166 Ilyire und tat so, als wäre er mit all diesen Wunderwerken bestens vertraut. »Allein die Größe dieser Maschinen ist schon ein Wunder«, sagte Theresia ehrfürchtig. Sie machten noch einmal kurz vor Mittag halt, und während Ilyire Glasken und die Kamele anleinte, suchte sich Theresia einen Felsbrocken mit einigermaßen ebener Oberfläche, stellte ein Messinggestell mit Schraubfüßen darauf und justierte es mit Hilfe einer Wasserwaage. Als die Sonne den Zenit erreichte, vermerkte Theresia die Länge und Richtung des Schattens auf zwei Skalen. »Der Mittagsschatten zeigt den genauen Norden an, Ilyire. Komm, richte deinen Kompaß danach aus.« Ilyire goß sich gerade etwas von seinem Trinkwasser über die Hände, ein Ritual, das er jedesmal zelebrierte, nachdem er Glasken hatte berühren müssen. »Auf welchem Breitenkreis sind wir?« fragte er, löste eine Stellschraube und justierte seine Kompaßskala. »Einunddreißig Grad, sechs Minuten.« Er hielt inne, um Winkel und Entfernungen zu schätzen. »Wir folgen einem Südwestkurs von 52 Grad, und dabei halten wir uns ganz genau an die neue Richtung des Rufs, also ist der Rand ... noch 56 Kilometer entfernt.« Theresia baute ihre Meßvorrichtung wieder ab und hielt dann eine Messingscheibe mit einem winzigen Loch in der Mitte empor, um damit ein Bild der Sonne auf die Oberfläche des Felsens zu projizieren. Verglichen mit dem Sonnenuntergang des Vorabends und dem Sonnenaufgang des heutigen Tags stand das quer über die Sonne verlaufende Band ein wenig höher und war ein wenig breiter geworden. »Halt das mal bitte still«, sagte sie zu Ilyire. Er murmelte irgend etwas von wegen Blasphemie, tat aber wie gebeten. Theresia nahm einen Zirkel und maß die Breite des Bands und seine Position vor dem Angesicht der Sonne. »Der Ruf, mit dem wir reisen, wird heute abend etwa zehn Kilometer vor dem Rand innehalten, habe ich recht?« fragte Theresia. »Ja, wahrscheinlich.« Theresia schenkte ihm ein Lächeln, das er äußerst beunruhigend fand. »Ausgezeichnet, das kommt mir sehr gelegen. Du sagtest, daß der Ruf recht oft über diese baumlose Ebene hinwegzieht?« - 166 »Ja, alle drei oder vier Tage. Es ist merkwürdig, denn es gibt hier nur sehr wenige Tiere. Vielleicht wissen die großen Fische, von denen der Ruf ausgeht, irgendwie von den Austarischsprechern in ihren Windzügen.« Theresia stellte einen Zeitschalter so ein, daß er sie am nächsten Morgen zwei Stunden vor Sonnenaufgang weckte, und dann zogen sie ihre Kamele hinter sich her, ehe sich der Ruf zu regen begann. Der abnehmende Mond ging auf, und auch Venus leuchtete ihnen auf ihrem Weg
zwischen verkümmerten Sträuchern und Felsbrocken hindurch. Als sie aus dem innehaltenden Ruf hinausschritten, gähnte Glasken gerade, und dann stockte ihm der Atem. »Ein Ruf!« schrie er, und Ilyire lachte. »Ein Ruf, Fras Glasken. Recht da du hast.« »Das heißt Da hast du recht«, verbesserte Glasken ihn verärgert und sah sich um. »Aber ich lag doch - äh, in einem Lager, und zwar bei Tageslicht. Und jetzt ist es Nacht, und - schaut! Der Mond! Ich muß ja tagelang besinnungslos gewesen sein. Was ist... Ich meine: Ich verstehe das nicht.« »Du bist langsam im Kopf, trotz des ganzen Studierens«, lachte Theresia. »Die Mondphase zeigen, daß vergangen nur ein Tag.« »Und Ihr habt uns verankert, bis der Ruf vorübergezogen ist, und nun gehen wir ... nach Norden? Nein, der Ruf steht nachts still. Und außerdem: Seht mal den Sternenhimmel! Wir gehen nach Süden!« »Sehr gut«, höhnte Ilyire. »Aber wie kann denn jemand einem innehaltenden Ruf entfliehen? Das ist nicht möglich, es sei denn ein Anker hält einen fest, bis der Ruf vorübergezogen ist.« »Ist dir denn immer noch nicht, äh, klar, Fras Glasken?« fragte Theresia. »Dich fragen, wie dich im Ruf aus Karamelkarawane befreit? Der Ruf berühren Ilyire und mich nicht.« Diese Enthüllung ließ Glasken verstummen, und mit einem Mal kam es ihm wieder in den Sinn, wie er wunderschön geformte Brüste über sich erblickt hatte - Brüste, die sich dann auf seine Brust herabsenkten. Anschließend hatte der Ruf alles ausgelöscht. Was hatte er getan, als der Ruf kam? Ilyire hatte offenkundig noch ein wenig weitergeschlafen. Mein Kopf ist noch dran, dachte Glasken, als er sich den Nacken rieb. Im Morgengrauen machten sie halt. Theresia beobachtete die aufge - 167 hende Sonne und maß etwas, das für Glasken nach einem seltsam gleichmäßig geformten Wolkenstreifen vor dem Angesicht der Sonne aussah. Aus der Ferne ertönte ein merkwürdiges rhythmisches Donnern, und Salzgeschmack lag in der Luft. »Der Rand ist ganz nah«, flüsterte Ilyire Theresia auf Alspring zu und zeigte dann auf eine eigenartige Parallele unter dem Horizont. »Dann ist es Zeit, abzuladen und die Kamele zu sichern«, beschloß Theresia. »Hey, du faules Stück Scheiße, das aus einem eitrigen Kamelarsch gefallen ist, du tragen Steine, bauen eine Rufschutzmauer!« brüllte Ilyire zu Glasken hinüber der mürrisch gehorchte. Theresia holte ein Seil und einige Instrumente und ging dann mit Ilyire zum Rand. »Ein paar hundert Schritte vor dem Rand gibt es einen stationären Ruf«, erklärte Ilyire. »Dieser Steinhaufen da markiert ihn, den habe ich vergangenes Jahr aufgeschichtet.« »Ja, ich spüre es«, sagte Theresia. »Wenn der normale Ruf einem Netz gleicht, gleicht dieser einem Zaun. Was sich da jenseits dieses Abhangs befindet, will nicht gesehen werden.« Glasken blickte ihnen nach, wie sie auf diesen seltsamen Doppelhorizont zugingen und dann verschwanden. Da war sicherlich irgendwo eine Höhle, in die sie hineingegangen waren, um sie zu erkunden, aber das mußte ihn ja auch nicht kümmern. Er schichtete eine V-förmige Schutzmauer auf und stellte dann ihr Gepäck dahinter. Wenn an diesem Morgen ein Ruf kam, würden so keine Tiere über sie hinwegtrampeln ... bloß daß Theresia und Ilyire immun gegen den Ruf waren. Das verwirrte ihn, munterte ihn merkwürdigerweise aber auch auf. Als er sich bückte, um eine von Ilyires Satteltaschen aufzuheben, spürte er einen Luftzug an den Händen. Erschrocken hielt er inne, und da wechselte der Luftzug die Richtung. Da unten ist ein Riese, dachte er einen Moment lang, das ist der Atem eines Riesen. Ein flacher, rötlicher Stein unter den Satteltaschen schien den Eingang einer kleinen Höhle zu verdecken. Ilyires Gepäck stand direkt darüber ... sehr bezeichnend. Glasken grinste und schaute zum Horizont. Von den beiden war nichts zu sehen. Er stellte die Satteltaschen beiseite und ergriff den Rand des Steins. Der Stein war schwer, aber Glasken war stark und hob ihn ohne allzu große Mühe hoch. Am Eingang der kleinen Höhle war etwas auf Alspring eingemeißelt, und Glasken erkannte Ilyires Schrift. - 167 -
Glasken paßte gerade so hindurch, und drinnen mußten sich seine Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Er ging ein paar Schritte weit hinein und blieb dann stehen. Die Höhle war in sanften Goldschimmer getaucht und in die wirbelnden Wolkengebilde blauer Opale, aus denen andere Edelsteine hervorfunkelten. Einen Moment lang fühlte sich Glasken, als würde er die Besinnung verlieren; es war fast wie bei einem Ruf. Doch diese Trance verging, und dann überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Zwei Lastkamele konnten das hier tragen, er konnte nach Norden fliehen und dann einen Windzug nach Westen nehmen ... aber Ilyire war schnell und eine tödliche Gefahr, und hinzu kam, daß er immun gegen den Ruf war. Glasken starrte noch einmal auf die aufgehäuften Reichtümer, rechnete und schätzte. Es herrschte immer noch ein Luftzug in der Höhle, als wäre sie das Maul eines atmenden Drachens. Das unterstrich noch die Gefahr, in der er schwebte. Seine eigene Satteltasche war längst nicht voll, und er konnte sich so viele Goldmünzen und kleinere Schmuckstücke hineinstopfen, daß das Fehlen hier und das Mehr dort nicht auffiel. Das allein wäre schon so viel wert gewesen wie die Kronjuwelen eines Kleinstaats. Er konnte als geflohener muslimischer Prinz aus dem fernen Westen zum Emir von Cowra gehen, sich ein Landgut kaufen, dazu fünf Ehefrauen und so viel Wein, daß - nein, das mit dem Wein wäre im Südmaurenreich ein Problem. Dann doch lieber als entflohener Prinz aus dem Osten nach Westen reisen. Schnell aber bedacht suchte er sich etwas von dem Schatz aus und verließ dann die atmende Höhle. Von den anderen war immer noch nichts zu sehen. Nachdem er den flachen Stein wieder auf den Eingang gelegt und Ilyires Gepäck wieder daraufgestellt hatte, verbarg er die Reichtümer der Rufopfer sorgfältig in seiner Satteltasche. Als er gerade den letzten Riemen wieder zuschnallte, sah er, daß Theresia wieder aufgetaucht war und sich gerade ein Seil schnappte. Sie kam geschwinden Schritts zurück und warf dabei in der Morgensonne einen langen Schatten. Das aufgerollte Seil hatte sie sich über die Schulter geworfen. »Wo seid Ihr denn gewesen, Frelle Äbtissin?« fragte Glasken. »Klettern über Rand ... Welt, der.« »Klettern über den Rand der Welt - wie bitte« »Ich habe - ich mache Experimente. Sehe Wunder, nicht für deine Augen. Mein Austarisch bessern?« - 168 »Es wird besser, ja, aber -« »Ilyire ist, äh, unten, an den Klippen, am Wasser. Ilyire soll für mich Experimente machen.« Sie nahm sich die Seilrolle von der Schulter und hielt sie empor »Ilyire ist nicht glücklich.« Glasken beantwortete ihr zurückhaltendes Lächeln mit einem anzüglichen Grinsen und dachte dabei die ganze Zeit hektisch hin und her. Wenn Ilyire aus dem Weg war, konnte er Theresia fesseln, dann die Schatzhöhle plündern und alles auf Lastkamelen nach Norden bringen. Für die Äbtissin würde er auf einem der Sklavenmärkte des Südmaurenreichs ein hübsches Sümmchen kassieren, und von dem, was in der Höhle war, konnte er sich einen Kleinstaat kaufen. Doch zunächst... »Fras Glasken, wir müssen noch etwas erledigen«, sagte Theresia, so als hätte sie seinen letzten Gedanken gelesen. »Und diesmal, Ereile Äbtissin, bitte ohne langes Vorspiel«, sagte Glasken und schnallte sich schon den Gürtel auf. Sie breitete auf den rötlichen Steinen eine Sandmatte aus und begann sich dann auszuziehen. Glasken stand nackt der Morgensonne gegenüber, und Theresia stand mit dem Rücken zur Sonne und lüftete vorn ihr Gewand. »Komm zu mir, Fras Johnny Glasken. Komm zu mir, und mach mit mir, was du willst.« In diesem Moment brandete der Ruf über sie hinweg. Leidenschaft, Pheromone, animalische und geistige Reize, das alles kam zueinander. Glaskens Muskulatur kribbelte und zuckte ... aber Theresia hielt ihn vor dem Ruf zurück, über eine schmale Lücke hinweg und ohne körperliche
Berührung. In einem anderen Zeitalter mit einer anderen Wissenschaft hätte man das als Schwingkreis bezeichnet. Was sich dort zwischen Glasken und Theresia gebildet hatte, war mehr als nur ein unsichtbarer Haltestrick; es stand mit dem Ruf selbst in Wechselwirkung und empfing Signale aus diesem zweitausend Jahre alten Weltgebrechen. Der Ruf entsprang den Stimmen der Rufer, und wie Theresia gehofft hatte, nutzten sie ihre Stimmen auch zur Verständigung. Man wußte seit jeher, daß der Ruf Vögel und Reptilien nicht beeinflußte, und auch keine Säugetiere unterhalb einer bestimmten Größe, aber niemand hatte die Verlockung des Rufs je mit Sexualität in Zusammenhang gebracht. Die meisten Menschen ergaben sich dem Ruf wie einer sexuellen Verführung, und Theresia hatte die Theorie entwickelt, daß sich manche Menschen der Sexualität so vollkommen hingaben, daß - 169 unter bestimmten Umständen selbst der Ruf sie nicht fortzureißen vermochte. Glasken war der lebende Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie, und Theresia wußte, daß sie ihn dazu nutzen konnte, die hinter dem Ruf steckenden Stimmen so zu modulieren und zu verstärken, daß sie verständlich wurden. Theresia lauschte, den Blick in die blaue Ferne gerichtet. Zunächst waren es eher Empfindungen und Vorstellungen als Worte, aber sie wußte, daß sie von den Gestalten im Wasser jenseits der Klippen stammten. Oder zumindest von einigen von ihnen. Ilyire hatte recht gehabt. Es waren Schafe und Hirten. Hirten, die für ihre Herden Futter herbeiriefen - mit phantastischen Blasinstrumenten, die ohne Ohren zu hören waren. Fleisch für die Fische. Vom Ruf angelockte Tiere trabten und hüpften nun vorüber, aber dank der Mauer blieben Theresia und Glasken geschützt. Sie bemerkte, daß in der Feme Leiber in den Abgrund sprangen. Kurz auflodernde Gefühle der Befriedigung drangen zu ihr und der Geschmack von Blut im Wasser. Das mußten diese geschmeidigen, phantastischen Schafe sein, die vor Freude blökten. Die Empfindungen der Hirten waren weniger intensiv, aber komplexer. Theresia nahm zunächst nur die Muster und Gefühle wahr, ohne sie zu verstehen. Dann ging ihr auf, daß alles sprachlich recht einfach gehalten war. Das sind keine großen Gelehrten, die sind so simpel gestrickt wie menschliche Hirten, sagte sie sich. Die Muster waren merkwürdig, aber recht leicht nachvollziehbar. Sie war versucht, ihnen etwas zuzurufen, zögerte aber. Ein weiser Mann oder ein Yogi, der einen großen Fisch aus einem Fluß auftauchen sieht und einen Schwall menschlicher Worte sprechen hört, würde darin möglicherweise eine gleichberechtigte Intelligenz erkennen und versuchen, ein Gespräch mit ihr zu führen. Ein einfacher Hirte aber würde wohl eher zur Flinte greifen. Theresia lauschte, sah mit anderen Augen, spürte sich im Wasser treiben und schwimmen. Die Hirten plauderten miteinander, während sie den Ruf aussandten. Sie waren bestens für das geeignet, was Theresia vorhatte. Schneller als sie gehofft hatte, war der Ruf wieder vorüber. Theresia spürte sein Ende nahen, erwachte zögernd aus der selbstauferlegten Trance und wartete ab. Ihr Rücken war der Sonne zugewandt gewesen, während sie vom ihr Gewand gelüftet hatte, und daher gut geschützt. Glasken hingegen hatte splitterfasernackt vor ihr gestanden, und das stundenlang. Er hatte einen puterroten Sonnenbrand. Als er wieder zur Besinnung kam, schrie er vor Schmerz und Erstau - 169 nen laut auf und brach dann zusammen, als Theresia ihre Blöße wieder bedeckte. Die ganze Vorderseite seines Körpers war sonnenverbrannt, des Einfallswinkels wegen rechts ein wenig mehr als links. Theresia spritzte ihm aus einem Schlauch ein wenig Wasser über den Kopf. »Zieh dich an, Glasken. Ilyire kommt gleich wieder.« »Verdammte Scheiße, ich bin ja völlig verbrannt«, stöhnte er. »Was ... wie ... ?« »Anziehen. Schnell!« »Mein Schwanz! Der brennt wie von der Syph!« Sie warf ihm sein Hemd hin, und er schob einen Arm hinein. »Aah, nein, der Stoff tut auf der Haut weh.«
»Ach mach doch, was du willst«, sagte sie einfach so und nahm ein Halteseil. »Aber sei ruhig, das ist nur zu deinem Besten.« Glasken schrie vor Schmerz, als ihm der Strick über die Haut rieb. Als Ilyire dann wieder über den Rand gekraxelt kam, lag Glasken immer noch nackt auf dem Rücken. »Was zum Henker - der ist ja nackt!« brüllte Ilyire mit Donnerstimme, als er näherkam. »Ein schmerzhaftes Experiment, du solltest dich freuen«, erklärte Theresia. Glasken stöhnte immer noch. Ilyire lächelte selig, als ihm klar wurde, daß Glasken nur auf der Körpervorderseite sonnenverbrannt war. »Kluge, gerechte, schöne Schwester du hast ihn den ganzen Ruf lang nackt in der Sonne angepflockt! Wie konnte ich nur an dir zweifeln? Bitte, wirst du deinem törichten Bruder jemals verzeihen?« Theresia rang sich ein Lächeln ab. »Du könntest mal damit anfangen, daß du ihn mit Salbe einreibst und verbindest, damit er aufrecht stehen kann und wir ihn wieder anziehen können.« »Ich soll diese sich in Kamelscheiße windende Made anrühren? Oh, das ist eine grausame Strafe, liebste Schwester, aber ich beuge mich deiner Weisheit - nein, nein, sag es nicht: Du willst, daß er gerettet wird, damit du das noch einmal mit ihm machen kannst.« »Aber Ilyire, du kannst ja meine Gedanken lesen.« »Liebste, wunderbare Schwester!« Ilyire legte sich ein paar Worte auf Austarisch zurecht und kniete sich dann neben Glasken. »Du Haufen Kamelscheiße, ich hole jetzt Salbe und reibe dich mit einem Tuch ein. Du wirst ganz still daliegen, sonst nehme ich zum Einreiben einen Salzbuschzweig. Verstanden?« - 170 Erst zwei Tage später war Glasken wieder in der Lage, sich länger zu bewegen. Ilyire entdeckte noch eine weitere Höhle in der Sandsteinebene und brachte Glasken zum Schutz vor der Sonne darin unter. Theresia verbrachte die Zeit damit, am Rand Beobachtungen anzustellen und Skizzen zu machen. Sie erklärte, der angebliche Atem in der Höhle werde vermutlich durch das Anbranden der Wellen an den Klippen ausgelöst, das durch ein riesiges Gewirr von Luftschächten in der Felswand unter ihnen weitergetragen wurde. Die Reise zurück nach Maralinga ging nur langsam vonstatten, denn der mit Brandblasen bedeckte Glasken mußte oft rasten. An Sex hatte er keinerlei Interesse mehr, und beim Austarischunterricht brachte er kaum mehr als ein Krächzen heraus. Als sie die Gleitbahnstrecke erreichten, ging es ihm jedoch schon viel besser. Sie erblickten den Signalfeuerturm von Maralinga, als die Sonne gerade untergegangen war. An seinem First sahen sie ein Licht funkeln, und von dort stieg Fackelrauch auf.»Noch zwei Stunden, Schwester«, schätzte Ilyire. »Sprich Austarisch«, befahl sie. »Zwei Stunden Reise. Hier Lager aufschlagen. Morgen Weiterreisen. Im Dunkeln erschossen werden vielleicht.« »Wünsche heute anzukommen«, entgegnete Theresia. »Ich auch«, sagte Glasken. »Kamelscheiße hat das Maul zu -« »Still!« sagte Theresia streng und zeigte zum sich verdunkelnden Himmel hinauf. »Seht.« Ein schmales Band, ein sternenloser schwarzer Schlitz durchschnitt das Firmament. Im Westen ging ein verschwommenes, kupferfarbenes Licht auf. Es sah aus wie ein Komet ohne Schweif und befand sich genau in der Mitte des Bandes. »Na und?« brummte Ilyire. »Wichtig ich jetzt nach Maralinga gehe. Keine Zeit verlieren zu.« »Zu verlieren«, verbesserte Glasken, der die beiden dringend loswerden wollte. »Ich reite vor und riskiere, erschossen zu werden.« »Erster guter Vorschlag, den du -«, begann Ilyire. »Wir gehen gemeinsam«, beschloß Theresia. Der Hoheliber war bewußt, wie unwahrscheinlich es war, daß Ilyire und Theresia jemals nach Maralinga zurückkehrten, aber dennoch hatte sie befohlen, die Bahnstation so auszurüsten, daß sie darauf vorbereitet war. - 170 -
Zwei Stunden vor Mittemacht trafen sie beim südlichen Wachtposten ein, und als dem Wachhabenden klar wurde, wer sie waren, brannte er ein grünes Leuchtsignal ab, um der Bahnstation Bescheid zu geben. Der Marschall ließ den Stab und die Truppen der gesamten Station für die überschwengliche Begrüßungszeremonie antreten, die er seit seiner Amtsübernahme geplant hatte. Nur die Besatzung des Signalfeuerturms war nicht dabei - die sandte Nachrichten an die Hoheliber. Als man dann Theresia, Ilyire und Glasken durch den Kreuzgang der Station zu einem in aller Eile aufgebauten Freiluftbankett geleitete, wurde auf der Signalfeuerplattform bereits die Antwort der Hoheliber entschlüsselt. Ein Diener brachte sie in einem von einem Flaschenzug gezogenen Korb hinab und lief dann damit auf den Hof, wo der Marschall gerade den ersten Toast auf die Reisenden ausbrachte. Mit schwungvoller Geste erbrach er das Siegel und hielt den Mangelpapierbogen ins Laternenlicht. »Eine Nachricht von der Hoheliber«, begann er großspurig. »Sie läßt der Äbtissin Theresia und dem kühnen Krieger Ilyire ihre Grüße übermitteln und bittet die werte Äbtissin, sofort auf die Turmplattform zu kommen, damit sie über Signalfeuer mit ihr sprechen kann.« »Eine Nachricht?« rief Theresia erstaunt aus. »Aber mir wurde gesagt ... die Hoheliber lebt, äh, sehr weit weg.« »Das sind die Fernmelde türme, von denen ich Euch erzählt habe«, sagte Glasken. »Die übertragen Nachrichten in Minutenschnelle überallhin.« »Im Grunde hat Fras Glasken recht, aber wir sind hier so abgelegen, daß eine sicher verschlüsselte Nachricht nach Rochester hin und zurück fast eine Stunde lang unterwegs ist«, fügte der Marschall hinzu. »Und leider wurde Oberliber Darien vis Babessa nach Rochester zurückbeordert -« Ilyire seufzte laut vor Erleichterung, und Theresia kicherte. Der Marschall hielt kurz mit offenem Munde inne und fuhr dann fort. »Aber glücklicherweise ist gerade eine Signalfeuerinspektorin aus Rochester zu Besuch hier, um uns einige neue Kodes und Verfahren zu erklären. Sie wird für Euch die Ver- und Entschlüsselung übernehmen.« Theresia wand sich und begann dann zu zittern. Sie war die Gegenwart so vieler Männer nicht gewöhnt, und der vertrauliche Ton, den selbst der Ehrerbietigste ihr gegenüber anschlug, war für sie nur schwer erträglich. - 171 »Wo mit der Hoheliber sprechen?« fragte sie. »Ihr könntet mir eine Nachricht übergeben, Frelle Äbtissin, und ich würde sie dann zur Übertragung auf die Signalfeuerplattform des Turms bringen lassen«, sagte der Marschall frohgemut. »Eine Stunde für die Versendung, und dann noch mehr Minuten für rauf und runter die Turm«, sagte Theresia und sah dabei zu dem riesigen Gebäude aus Stein und Holz hinüber. »Ich möchte, äh, sehr geheime Dinge sagen. Wenn die Hoheliber mich auf die Plattform bitten, ich folge. Ist die Inspektorin vertrauenbar?« »Sie hat eine höhere Geheimhaltungsstufe als ich«, versicherte ihr der Marschall. »Dann gehe ich. Auf den Turm. Bitte mich bringen lassen.« Sie ließen Glasken und Ilyire zurück, auf daß sie essen und trinken und den Ansprachen und der Musik lauschen konnten, während der Marschall Theresia in den Fahrkorb des Turmaufzugs geleitete und ihn dann in Betrieb setzte. Der Marschall trug seine Paradeuniform, sein berühmter Gast aber immer noch das von der langen Reise stinkende Gewand eines Lanzenreiters. Bei diesem Gegensatz lief es ihm kalt über den Rücken. »Ihr habt Männer, die ... Korb hochziehen?« fragte Theresia, als der Aufzug in der Mitte des Turms emporstieg. »Der Fahrkorb wird durch Gegengewichte hochgehoben, Frelle, wie bei einer Kolbenuhr.« »Kolben. Das Wort kenne ich nicht. Maschinen mit Gegengewicht, ja, so was haben wir auch. Wie werden die Gegengewichte gespannt?«
»Ein windgetriebener Rotor auf dem Turm liefert genug Spannkraft für zwölf Fahrten rauf und runter pro Tag. Wir brauchen selten auch nur die Hälfte davon.« Die Signalfeuerplattform war größtenteils geschlossen, damit die Äugen der Besatzungsmitglieder empfindlich blieben, wenn sie durch die Teleskope schauten und bei Tageslicht die Signale der fernen Türme ablasen. Ein Teleskop war nach Osten gerichtet, ein zweites nach Westen. Das Signalfeuernetzwerk war um drei weitere Türme nach Westen ausgebaut worden, seit Ilyire zum letzten Mal hiergewesen war, und binnen Jahresfrist sollte die Verbindung zwischen Kalgoorlie und Rochester hergestellt sein. Die Besatzung der Plattform saß an ihren Geräten bereit, und die Inspektorin empfing Theresia und den Marschall am Aufzug. Sie war eine - 172 gut gelaunte, aber auch energisch wirkende Frau und trug eine schwarze Uniform. Ihre Silberdrachen-Armbinde schimmerte im sanften Laternenlicht. Als erste hochrangige Beamtin aus Libris, der Theresia begegnete, machte sie einen guten Eindruck. »Marschall, noch eine Bitte«, sagte Theresia, als sie vor der Fahrstuhltür standen. »Mann, den ich dabeihabe, sehr wertvoll. Ihr ihn beschützen um jeden Preis. Ja?« »Welcher Mann, Frelle Äbtissin?« »Großer, starker Mann, Fras John Glasken.« »Wie Ihr wünscht, Frelle Äbtissin. Soll ich ihn in Ketten legen lassen?« »Nein, nein. Nur aufpassen auf ihn. Und kein Sex mit Frauen. Ja?« »Wir werden ihn wie ein Staatsoberhaupt behandeln, aber diskret bewachen. Darf ich Euch nun bekanntmachen? Das ist die Signalfeuerinspektorin Silberdrache Lemorel Milderellen. Frelle Milderellen, das ist die Äbtissin Theresia aus Glenellen.« Die Bibliothekarin verbeugte sich steif im Dämmerlicht der Signalfeuerplattform, und sie hatte mit einem Mal große Äugen und lächelte nicht mehr. »Guten Tag, Frelle Äbtissin«, sagte sie in einem kalten, beherrschten Ton. Der Marschall trat zurück in den Aufzugkorb und fuhr wieder hinunter. Theresia war es gewöhnt, daß die Leute in ihrer Gegenwart nervös wurden, aber Lemorels abrupte Verhaltensänderung irritierte sie. Nachdem sie kurz darüber nachgedacht hatte, kam sie zu dem Schluß, daß die plötzliche betonte Kühle der Bibliothekarin ihr gegenüber wahrscheinlich etwas mit der in Libris herrschenden Disziplin zu tun hatte. Lemorel führte sie auf der Plattform herum und erklärte ihr die Apparaturen. Bei einigen Begriffen runzelte Theresia die Stirn. »Frelle Äbtissin, mit Hilfe der Oberliber Darien habe ich gelernt, einigermaßen fließend Eure Sprache zu sprechen. Sollen wir uns auf Alspring unterhalten?« »Nein. Bitte Austarisch sprechen.« Lemorel zuckte die Achseln und geleitete Theresia zum Signalfeuer-übertragungspult. »Habt Ihr denn schon eine Nachricht für Hoheliber Zarvora?« fragte sie. Theresia hatte sich eine ganze Reihe von Grußformeln für die Hoheliber zurechtgelegt, aber trotz Glaskens Erzählungen über die Signalfeu - 172 ertechnik war sie hierauf nicht vorbereitet gewesen. Lemorel stellte etwas an einer Verschlüsselungsmaschine ein und verband ihren Ausgang dann mit der Signalfeuertaste. Theresia sprach mit ihren beschränkten Austarischkenntnissen einige Gedanken und Formalitäten aus, und Lemorel formulierte daraus eine Nachricht. »Wie klingt das, Frelle Äbtissin? >Es ist mir eine Ehre, Euch zu begrüßen, Frelle Hoheliber. Eure Maschinen und Wissenschaften sind beeindruckend. Ich beherrsche die Grundlagen Eurer Sprache. Ich bin einem Mann begegnet, der früher einmal für Euch gearbeitet hat - John Glasken. Er war ein Gefangener meiner Landsleute, und ich habe ihn befreit. Er hat mir ein wenig Austarisch beigebracht, während wir nach Süden reisten. <« »Klingt gut«, fand Theresia. »Senden.« »Ist das alles, Frelle Äbtissin?« »Äh ... ja.«
»Mit Verlaub, Ereile, diese Nachricht an die Hoheliber ist recht inhaltsarm. Habt Ihr nichts Wichtigeres zu berichten? Bedenkt bitte, daß die Antwort frühestens in fünfzig Minuten hier eintreffen wird.« Etwas Wichtigeres! Theresia runzelte die Stirn, aber bis auf den Ruf fiel ihr nichts ein. Sie erklärte, was sie gesehen und getan hatte. Schließlich las Lemorel ihr den Text vor. »>Ich bin bis an den Rand Eurer Welt gereist. Ich habe den Ursprung des Rufs gesehen. Er stammt von riesigen Fischen. Ich habe mit einer speziellen Vorrichtung, die ich selber gebaut habe, ihrer Sprache gelauscht. Interessiert Euch das? Ich weiß nichts über Eure wissenschaftlichen und philosophischen Forschungen. Ihr müßt mir viele Fragen stellen. Was wißt Ihr über das Band quer über den Himmel?<« »Ist gut, das senden«, sagte Theresia. Theresia sah Lemorel bei der Eingabe zu, fasziniert davon, wie schnell ihre Finger über die Tasten des Verschlüsselungsgeräts huschten. Die Nachricht wurde in Lichtimpulse übersetzt, die von einer über der Plattform angebrachten Fackel gespeist wurden. Zwischen Maralinga und Rochester waren es einundzwanzig Signalfeuertürme, und jeder von ihnen würde die Nachricht um etwa eine Minute verzögern. In der klaren Nachtluft der Nullarborebene kam es nur zu minimalen Übertragungsfehlern, und die Durchlaufzeit betrug etwa fünfzehn Sekunden. Beim letzten Wort ihrer Nachricht war der erste Lichtimpuls nur noch vier Türme von Renmark entfernt, dem Westrand der Südostallianz. Dahinter - 173 sorgten Nebel und der Rauch eines Steppenbrandes in Robinvale für Übertragungsfehler und manches mußte ein zweites Mal gesendet werden. Der Marschall schickte frische Kleidung für Theresia auf den Turm. Während ihre Nachricht weitergeleitet wurde, wusch sie sich und zog sich auf der beengten Personaltoilette um. Dann kam sie in schwarzer Bluse und Hose wieder zum Vorschein, und mit einem Silberdrachenabzeichen am Ärmel. Lemorel sah zu, wie sie zögernd und steif auf und ab ging, die Arme vor der Brust verschränkt. »Stimmt irgend etwas nicht, Frelle?« fragte Lemorel. »Fühle mich nackt. Als wären Brüste und Beine unbedeckt.« »In unserer Gesellschaft ist das eine sittsame Bekleidung. Ihr könntet auch einen Umhang tragen, aber das würde in diesem heißen Klima seltsam aussehen.« »Nein, keinen Umhang. Lieber nackt fühlen als seltsam aussehen.« Sie fuhr mit den Fingern über das meisterhaft verarbeitete Gewebe. »Großes Glück. Meine Größe und Figur, äh, passende Uniform hier« »Die Hoheliber ließ hundert Uniformen herschicken, von klein und dünn bis groß und dick. Der Zeremonienmeister des Marschalls ist darin geschult, allein vom Sehen die Kleidergröße zu bestimmen und dann die passende Uniform auszuwählen. Wir haben uns große Mühe gegeben, damit Ihr Euch hier willkommen fühlt.« Theresia betrachtete forschend Lemorels kühl und beherrscht blickendes Gesicht, zusehends irritiert ob ihres Verhaltens. »Ich enttäusche Euch? Ja? Nein?« »Es steht mir nicht an, Urteile zu fällen, Frelle.« »Ihr wirkt, äh, distanziert.« »Tue ich das, Frelle? Dann tut es mir leid. Ich arbeite so viel als Erweiterung einer Maschine, daß ich vielleicht schon selber einer Maschine ähnele.« Lemorel rang sich ein Lächeln ab, und Theresia lachte erleichtert. In diesem Moment erklang ein Glöckchen. Ein Empfänger betätigte seine Lochstreifenmaschine. Obwohl er drei Meter entfernt saß, schloß Lemorel die Äugen und tippte die Nachricht blind in ihr Entschlüsselungsgerät ein. »Ihr gar nicht lesen Papierstreifen, Frelle?« fragte Theresia. »Ich höre es an der Tastatur«, sagte Lemorel angespannt, die Augen immer noch geschlossen. - 173 -
Ein zweiter Lochstreifen wurde aus dem Entschlüsselungsgerät gespult, und dieser enthielt die entschlüsselte Nachricht. Lemorel zog ihn über eine von hinten beleuchtete Mattglasscheibe. »>Von Hoheliber Schwarzdrache Zarvora Cybeline. Guten Tag, Frelle Äbtissin. Ich habe einen von Darien vis Babessa verfaßten Bericht über Ilyires Reise an den Rand des Landes gelesen. Ich möchte Euren Bericht aus Eurem Munde hören, also müssen wir uns baldmöglichst treffen. Weist den Marschall an, sofort einen Galeerenzug bereitzustellen. Was ist das für eine Vorrichtung, mit der Ihr die Ruf-Wesen hören könnt? Die Idee, mit ihnen zu kommunizieren, interessiert mich sehr. Eine Maschine, die von einer vorzeitlichen Zivilisation übriggeblieben ist, bedroht unsere Welt, und solange der Ruf unsere Länder und Städte durchkämmt, können wir ihr nur schwer Einhalt gebieten. Glasken wurde vor über einem halben Jahr vermißt gemeldet und galt als tot. Und was das Band am Himmel angeht, kann ich Euch mehr nur unter vier Äugen mitteilen.<« Theresia zog einen Schmollmund und räusperte sich. »Ich spreche, Ihr tippen. Mein Austarisch wird nur besser, wenn gebrauchen.« »Wie Ihr wünscht«, sagte Lemorel und legte die Finger auf die Tasten des Verschlüsselungsgeräts. »Frelle Hoheliber, Ihr habt recht. Wir müssen miteinander sprechen. Meine Vorrichtung ist, äh, menschliche Energien. Erklären später. John Glasken, entscheidender Bestandteil. Seine, äh, Lüsterkeit so groß, nie Vergleichbares gesehen. Müssen Glasken schützen. Um jeden Preis. Ich ihn gefunden, ich ihn befreit von Händlern aus Alspring. Ich nicht befreit Begleiter, äh, Ni-kalan, auch aus - Frelle Lemorel, ist Euch nicht gut?« Lemorel wäre fast umgekippt. Sie ballte die Fäuste, und ihr Gesicht war ganz verzerrt. Beinahe ebenso schnell richtete sie sich wieder auf und atmete tief durch, aber im Geiste war sie über eine Klippe hinab in den Wahnsinn gesprungen. Monatelang hatten Schuldgefühlen sie gepeinigt, weil sie Nikalan in den Kampfkalkulor gesteckt und in den Tod geschickt hatte. Sie hatte sich sogar in den Außendienst versetzen lassen, um zu versuchen, ihr zerrüttetes Leben neu aufzubauen. Und nun war die Wahrheit aus der Wüste geritten gekommen, und sie trug Glaskens anzüglich grinsendes Gesicht! »Ein kleiner Krampf, nichts Ernstes«, murmelte Lemorel. Sie tippte weiter und sprach dabei Thereslas Nachricht: »>Ich begegnete, befreite aber nicht, Glaskens Begleiter Nikalan.< Fahrt bitte fort, Frelle Äbtissin.« - 174 »Das war alles, danke. Bitte Marschall sprechen über, äh, Stimmendraht?« Lemorel hörte aufmerksam zu, während sie sprachen. »Bereitmachen ... Reisemaschine nach Rochester«, begann Theresia. »Einen Galeerenzug«, zwitscherte die Stimme des Marschalls aus der Ferne. »Was auch immer. Aufbruch heute abend. Austarischlehrer mitkommen.« »Wird erledigt, Frelle Äbtissin. Darf ich sonst noch etwas für Euch tun?« »Ja. Ilyire will Glasken morden. Ilyire ihn hassen. Ilyire starke Moral, Glasken keine Moral. Glasken mitkommen auf Galeerenzug. Entscheidend wichtig.« »Das wäre vielleicht nicht klug. Glasken hat schwere Verbrennungen und ist immer noch sonnenkrank. Eine weitere, so baldige Reise könnte seiner Gesundheit schaden.« »Ilyire möglicherweise bald Glasken töten.« »Dann nehmt Ilyire mit.« »Ilyire Arbeit hat. Hier. Für mich.« »Sobald Glasken wieder reisefähig ist, werde ich persönlich ihn eskortieren. Und was Ilyire angeht: Ich schwöre Euch, daß ich Glasken und ihn auseinanderhalten werde.« »Ah. Ist gut.« Theresia beendete die Verbindung, lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und streckte sich. Es war mittlerweile schon nach Mitternacht. Sie zog die Nadeln aus ihrem Haar, und es fiel in schwarzen Kaskaden herab. Lemorel saß mit im Schoß gefalteten Händen da, während Theresia begann, sich die Haare auszubürsten. »Frelle Lemorel, meine Worte an die Hoheliber wirken seltsam, ja?«
»Die Arbeit der Hoheliber ist niemals langweilig, Frelle Äbtissin.« »Aufregender als Geheimnis des Rufs?« »Dazu kann ich nichts sagen. Das wäre ein Verstoß gegen die Disziplin.« »Disziplin? Sehr gut. Nicht viel Disziplin in Städten in Alspring. Keine Disziplin ... keine ... Türme, Züge, Sprechmaschinen.« Lemorel nickte freundlich und rief dann einen Diener. - 175 »Bring die Äbtissin zum Marschall«, wies sie den jungen Mann an, erhob sich dann und verbeugte sich vor Theresia. »Ich wünsche Euch für morgen einen schönen Tag, Frelle Äbtissin.« Theresia verbeugte sich ebenso. Lemorel sah noch kurz dem Fahrstuhlkorb hinterher und ging dann zu der Stelle, an der Theresia gesessen hatte. Mit Hilfe einer Laterne hob sie vier lange schwarze Haare vom Boden auf. Sie setzte sich an das Verschlüsselungsgerät und tippte. / HÄARPROBEN DER ÄBTISSIN SICHERGESTELLT. BARBIER HAT HAARPROBEN VON GLASKEN UND DEM RANKENMANN. PROBEN WERDEN IN VERSIEGELTEM BEUTEL DEM ZUGKOMMANDANT MITGEGEBEN. / Sie riß den Lochstreifen ab und ging damit zur Signalfeuermannschaft. »Sendet das hier an die Hoheliber«, befahl sie. »Hat das Zeit bis morgen früh, Frelle, oder soll ich noch eine Magnesiumfackel entzünden? Wir haben Befehl, sparsam damit umzugehen.« »Entzündet eine Fackel, Fras Schichtleiter. Die Hoheliber wird es wissen wollen.« Es dauerte die ganze restliche Nacht, bis dafür gesorgt war, daß der in einer Flaute beinahe stillstehende Westexpreß von der Hauptstrecke herunter und in Tarcoola auf ein Nebengleis rangiert wurde. Theresia machte kein Auge zu, bis sie dann mit ihren Satteltaschen voller Aufzeichnungen und Instrumente in dem Galeerenzug saß. Während sie zu ihrer Reise nach Osten aufbrach, forderte Zarvora eine Galeerenlok mit dem Privatwaggon des Bürgermeisters an und brach darin nach Westen auf, mit Darien als persönlicher Dolmetscherin und Übersetzerin. Zwei Tage später trafen sich die Züge am Bahnknotenpunkt Peterborough. Ständiger Intensivunterricht durch einen Privatlehrer hatte Thereslas Austarisch ein wenig verbessert. Thereslas Zug traf zuerst ein. Stets neugierig auf die exotische austarische Zivilisation, stieg sie aus und begab sich mit ihrer Dolmetscherin auf die Plattform des Kontrollturms des Rangierbahnhofs. Dem Rangiermeister hatte man nur gesagt, ein wichtiger Gast der Hoheliber sei eingetroffen. Er unternahm mit ihr den üblichen Besichtigungsrundgang auf der kreisförmigen, steinernen Plattform. »Peterborough ist seit jeher der Knotenpunkt dreier wichtiger Gleitbahnstrecken, aber seit der Stadtstaat Rochester nun über die neue - 175 Umgehungsstrecke von Loxton angebunden ist, ja, da hat sich der Verkehr mehr als verdoppelt.« Theresia sah zu ihrem Zug hinunter. Die Galeerenlok stand nun auf einer Drehscheibe und wurde für die Fahrt nach Rochester gewendet. Die erschöpften Bahnarbeiter, die in die Pedale getreten hatten, waren bereits abgelöst worden. »So viel Stahl«, sagte Theresia verwundert, als sie auf die vielen Gleise hinabsah. »Es ist kaum zu glauben ... so viel Stahl.« »Oh ja, das ist ein großer Rangierbahnhof, Frelle. Die Schienen stammen aus verlassenen Städten im Umkreis von Hunderten von Kilometern.« Theresia betrachtete die große, im Boden eingelassene Windrose. Die austarische Bezeichnung für den Ruf stand gleich über dem Pfeil nach Westen, und am Rand waren auch die Namen der drei Hauptstrecken verzeichnet. »Rochester liegt von hier aus im Süden, nicht wahr?« fragte sie. »Nein, Rochester liegt im Südosten. Die Gleitbahnstrecke verläuft ein gutes Stück weit geradewegs nach Süden und macht dann in Edunda einen Schlenker nach Osten. Ah, seht Ihr den Galeerenzug auf der Südstrecke? Der hat höchste Priorität. Darin reist die Hoheliber Ich habe hier neun abfahrbereite Windzüge, die seit zwei Tagen aufgehalten werden, weil Ihr Euch hier mit der
Hoheliber trefft. Sieben davon kommen aus dem Zentralbund. Oh, da werden die Bürgermeister wieder zetern. Ihr müßt eine sehr bedeutende Persönlichkeit sein, Frelle.« »Ja, das bin ich«, sagte Theresia und sah zu, wie die rotgrüne Lok mit dem goldfarbenen Waggon dahinter in den Rangierbahnhof einfuhr In der Feme erscholl ein Quietschen, als die Bremsklötze herabgeklappt wurden, und dann bremste der Zug neben Thereslas Waggon ab. »Mist, sie hält auf einem Durchfahrtsgleis!« rief ein Stellwärter vom anderen Ende der Plattform her »Und dann auch noch direkt gegenüber einer Weiche.« »Gebt Unfallalarm und legt den kompletten Verkehr lahm«, befahl der Rangiermeister »Ach ja, und schickt einen Boten zum Zugchef der Hoheliber und laßt sie fragen, womit wir dienen können. Die Hoheliber bekommt alles, was sie verlangt.« Mit ihrem scharfen Blick erkannte Theresia ihren eigenen Zugchef, der zu der eben eingetroffenen Galeerenlok hinüberging. Er hielt eine schwarze Aktentasche in der Hand. - 176 »Wir sollten nun zur Hoheliber hinuntergehen, Frelle«, meldete sich ihre Dolmetscherin zu Wort, aber Theresia schüttelte den Kopf. Allzu viele Leute lasen der Hoheliber buchstäblich jeden Wunsch von den Lippen ab. Sie würde auf sich warten lassen. Drunten erbrach Zarvora das Siegel der Aktentasche aus Maralinga und nahm Lemorels Papiere heraus. Es waren größtenteils Berichte darüber, was sie bereits per Signalfeuer erfahren hatte, aber die Tasche enthielt auch drei kleine Beutel, die ebenfalls Lemorels Siegel trugen. Sie waren mit THERESLA, ILYIRE und GLASKEN beschriftet. Sie erbrach die Siegel und holte dann ein Messingmikroskop aus ihrer Instrumentenkiste. Unter dem Objektiv, nebeneinander auf einem Objektträger liegend, sahen die Haarproben der Ghaner aus wie langgestreckte, zarte Federn. Zarvora lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und nickte vor sich hin. Dann nahm sie ein kleines Skalpell und schnitt sich selbst ein Haar ab. Zwischen die von Theresia und Ilyire plaziert, sah es im Okular ebenfalls aus wie eine lange, feine Feder. Glaskens sah wie jedes Menschenhaar aus wie ein gerader Strang. Das Treffen zwischen Zarvora und Theresia ging ohne Aufsehen und Förmlichkeiten vonstatten. Theresia war eine hochrangige Drachenbibliothekarin, die der Hoheliber in einer hochwichtigen Angelegenheit Bericht erstattete, und der Rangiermeister wunderte sich bloß über die mangelnden Geographiekenntnisse seiner Besucherin. Gerade wurde die Galeerenlok der Hoheliber auf der Drehscheibe gewendet. Bald wird auf dem Rangierbahnhof alles wieder seinen normalen Gang gehen, dachte er erleichtert. Zarvora stand neben Darien, als Theresia und ihre Dolmetscherin den Waggon betraten. Theresia verschränkte die Arme vor der Brust und öffnete sie dann wieder, mit ausgebreiteten Handflächen. Zarvora verbeugte sich. »In Alspring ist das eine Männerbegrüßung«, sagte Theresia und trat vor. »Den Frauen verboten.« »Ich würde Euch nicht melden«, erwiderte Zarvora. »Wie gut beherrscht Ihr unsere Sprache?« »Ich kann mir eine Fledermaus zum Frühstück bestellen - und befehlen, daß ein Diener geköpft wird.« »Das ist doch schon mal nicht schlecht. Frelle Darien, würdet Ihr bitte mit der Dolmetscherin der Äbtissin ins Nachbarabteil gehen und - 176 Euch von ihr Bericht erstatten lassen - aber haltet Euch bitte bereit, falls wir Euch wieder brauchen.« Darien nickte und wandte sich zur Tür, aber Theresia ergriff ihren Arm. »Ihr seid Darien, Frau ohne Stimme. Mein Bruder, äh, ganz vernarrt in Euch.« Darien errötete und hielt dann eine Karte hoch, auf der DANKE stand. »Wir sprechen später, ja?« sagte Theresia und ließ ihren Arm wieder los. Allein mit Theresia, setzte sich die Hoheliber an ihren Schreibtisch am Fenster und ihr Gast macht es sich auf einem Ledersofa auf der anderen Seite des Waggons bequem.
»Ein fahrender Palast«, bemerkte Theresia, die opulente Ausstattung betrachtend. »Das gehörte früher unserem Bürgermeister aber mittlerweile benötigt er es nicht mehr.« Mit lautem Poltern fuhr die Galeerenlok rückwärts von der Drehscheibe herunter, und mit einem heftigen Ruck wurde der Waggon wieder angekuppelt. Nur Augenblicke später fuhr der Waggon vorwärts und ratterte über eine Weiche. Theresia sah die Gleise und die abgestellten Züge am Fenster vorüberziehen und schien gar nicht geneigt, sich zu unterhalten. »Ihr habt nie jemand anderem außer Ilyire beibringen können, dem Ruf zu widerstehen«, konstatierte Zarvora und versuchte erst gar nicht, ihre Ungeduld zu verhehlen. Theresia sah sich langsam um. »Das könnt Ihr doch gar nicht wissen, Frelle Hoheliber.« »Ich habe mir nicht solche Mühe gegeben, Euch freundlich aufzunehmen, um mir dann nur Schmollen und Posieren anzusehen, Äbtissin. Entweder wir sprechen hier als Gleichgestellte, auf gleicher Augenhöhe, miteinander, oder ich lasse Euch zurück nach Maralinga bringen und dort absetzen.« Theresia schaute wieder aus dem Fenster gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Zug ein Tor in der Stadtmauer passierte. Dahinter erstreckte sich mit Strauchwerk bewachsenes Grasland, auf dem angeleinte Schafe weideten. »Aber wir sind nicht gleichgestellt, Frelle Hoheliber«, sagte Theresia, - 177 ohne sich umzusehen. »Ich vermag dem Ruf zu widerstehen. Wie zum Beispiel diesem Ruf ...« Sie hob eine Hand. »Jetzt.« Sie ließ die Hand sinken. Fast gleichzeitig ertönte irgendwo vom im Zug ein Alarm, und dann brandete der Ruf über sie hinweg. »Ah, Ihr könnt den Ruf vorausahnen«, sagte Zarvora. »Ein netter Trick, Frelle Äbtissin, den müßt Ihr mir irgendwann mal beibringen.« Theresia schrie verblüfft auf und wirbelte so schnell herum, daß sie das Gleichgewicht verlor und vom Sofa auf den Boden plumpste. Zarvora saß an ihrem Mikroskop und sah in aller Ruhe durchs Okular. »Was sitzt Ihr denn mit offenem Mund auf dem Fußboden, Frelle Äbtissin?« fragte sie, von dem Instrument aufsehend. »Das sieht doch etwas unvorteilhaft aus.« »Aber wie ? Ich, ich - Ihr ...« »Ich habe von Geburt an eine latente Resistenz gegen den Ruf -ebenso wie Ihr und Ilyire. Ihr habt viel zu bieten, aber keine Methode, dem Ruf zu widerstehen. Wenn wir zusammenarbeiten wollen, ist gegenseitiger Respekt vonnöten. Einverstanden?« Theresia saß immer noch sprachlos auf dem Fußboden. Mit so etwas hatte sie nun überhaupt nicht gerechnet. »Ihr habt einen höheren Rang als ich ...«, begann sie, doch dann erstickte ihr Stolz den Rest dieses Eingeständnisses. »In Eurer patriarchalischen Gesellschaft seid Ihr mit den Mächtigeren umgegangen, indem Ihr sie im Unklaren belassen, indem Ihr die Rolle des geistesgestörten Genies gespielt habt. Wie Ihr seht, bin ich mir all dieser Umstände durchaus bewußt. Frelle Theresia, Ihr müßt diese Rolle nicht mehr spielen. Der Rang eines Silberdrachen verleiht Ansehen, Freiheit und Macht. Was wollt Ihr mehr?« Theresia saß mittlerweile wieder auf dem Sofa, allerdings vorgebeugt, und sah Zarvora eindringlich an. Zarvora entdeckte ein Glitzern am Rand ihres Augenlides. »Frelle Zarvora, das ist sehr schwierig für mich. Ich habe noch nie einem Menschen vertraut. Nicht einmal Ilyire. Ich habe keine Gleichgestellten.« »Das habe ich auch nicht, Frelle. Nun denn, kennt Ihr Euch mit Mikroskopen aus?« Der Zug war endlich stehengeblieben, nachdem die Besatzung und die Antriebsmannschaft vom Ruf ergriffen waren. Theresia ging hinüber zu Zarvoras Schreibtisch. - 177 »Ich wünschte, Ilyire Schwester gewesen«, sagte sie und legte Zarvora einen Arm um die Schultern.
Zarvora drückte ihr kurz die Hand. »Wenigstens hattet Ihr einen Bruder, den Ihr lieben konntet. Ich hatte niemanden.« Sie wies auf das Mikroskop. »Schaut bitte einmal hindurch.« Theresia kniff ein Auge zusammen und spähte durch die Röhre. »Sieht aus wie ... drei Emufedem, äh, und darüber eine Schnur.« »Die Feder rechts ist ein Haar von Euch, das die Signalfeuerinspektorin in Maralinga aufgehoben hat. Die rechts stammt von Ilyire. Die in der Mitte ist von mir, und was da quer drüber liegt, ist das Haar eines Menschen.« Theresia richtete sich wieder auf, ging dann zu einem Fenster und sah hinaus zu den angeleinten Schafen, die alle ostwärts an ihren Haltestricken zerrten. Ganz ungerührt gingen zwischen ihnen Emus einher. »Vögel spüren den Ruf nicht. Ihr und ich, wir spüren den Ruf ebenfalls nicht, und wir haben Federhaar. Wir Vogelmenschen sind. Ja?« »Ja. Wann habt Ihr erfahren, daß Ihr ihm widerstehen könnt?« »Als ich zwölf wurde. Ich bin älter als Ilyire. Ich habe versucht, es ihm beizubringen. Hat nicht funktioniert. Und plötzlich er gelernt. Mit vierzehn. Ich habe versucht, es meinen Nonnen beizubringen. Ging nicht.« »Genau wie ich vermutet hatte. Diese Fähigkeit hat etwas mit der Pubertät zu tun. Ich war elf Jahre alt, als ein Ruf über mich hinwegging und ich nicht mehr verspürte als eine Art Kribbeln. Im Laufe der Jahre habe ich Haarproben von Hunderten Menschen untersucht, aber kein Haar glich meinem. Nicht einmal das meiner Eltern.« Theresia saß nun auf der Schreibtischkante. Mit einem Mal streckte sie sich auf Zarvoras Papieren aus und schloß die Augen. »Ein altes Wort für einen Verstoß gegen den Willen der Gottheit. Gen-kehic - Herumpfuschen in Gotteswerk.« »In meinen Büchern heißt es Genetik - eine medizinische Fähigkeit. Heute können einem die Mediziner, sagen wir mal, ein Ohr abschneiden, aber vor dem Großen Winter konnten die Mediziner einen innerlich so verändern, daß man Kinder bekam, die ohne Ohren geboren wurden. Vielleicht haben Mediziner, als der Ruf begann, einigen wenigen Menschen Vogeleigenschaften eingepflanzt, damit sie dem Ruf widerstehen konnten. Und hin und wieder taucht noch einmal ein Nachhall dieser Arbeiten auf, und dann werden Wesen wie wir geboren.« - 178 »Aber warum haben die Alten, äh, nicht alle Menschen so verändert, daß sie wie Vögel wurden?« »Der Große Winter wurde durch einen Krieg ausgelöst. Viele Künste und Wissenschaften gingen verloren. Ich habe die Kunst wiederentdeckt, Rechenmaschinen, Kalkuloren, zu bauen, aber nur indem ich dazu Tau-sende von Sklaven verwende. Die Alten hatten Kalkuloren, Komputer genannt, die mit der, äh, Essenz der Blitze betrieben wurden - wie bei einem Gewitter.« »Elt'ronik. Inbegriff des Bösen. Die Gottheit sandte einen Engel. Der Engel säuberte die Welt von Elt'ronik. Und säubert sie immer noch, heißt es jedenfalls in der heiligen Schrift.« »In Libris haben wir Bücher, die von einer sogenannten EMP-Kanone berichten, die alle elektrisch betriebenen Maschinen zerstört. Ich weiß nicht, was diese Buchstaben bedeuten, aber in dem Buch wird außerdem erwähnt, daß diese Kanonen auf Satelliten angebracht sind. Satellit ist ein vieldeutiges Wort, aber es kann auch bedeuten: künstlicher Mond.« »Die Wanderer, die zwischen den Fixsternen hin und her ziehen?« »Die Wanderer, ja. Bei einigen davon handelt es sich offenbar um vorzeitliche Waffen, die dazu dienen, elektrische Geräte zu erkennen und zu zerstören. Deshalb enden unsere Versuche, einfache elektrische Maschinen zu bauen, unweigerlich damit, daß die Drähte kurz nach dem Anschalten rot aufglühen und schmelzen.« Glasken war seinen Wachen entwischt, indem er aus dem Fenster geklettert war, und er hatte sich unkenntlich gemacht, indem er sich den Bart abrasiert hatte. Er war verabredet, mit einem Orangedrachen - ein molliges, fröhliches Mädchen mit ausgesprochen hübschem Gesicht. Sie war als einzige willens gewesen, sich über das Liebesverbot hinwegzusetzen, das Theresia über ihn verhängt hatte. Es war nicht einfach gewesen. Augenzwinkern, schmachtende Blicke, schließlich
heimliche Briefe. Glasken kroch an der steinernen Dachrinne entlang, sprang in einen Innenhof und eilte zu den Stallungen. Wie Weldie versprochen hatte, waren die Stallburschen schon verschwunden, obwohl es erst später Nachmittag war. Vom Heuboden her rief eine leise Stimme nach ihm, und er kraxelte die Leiter hinauf. Da lag Weldie, ihrer unseligen Libris-Uniform entledigt, in einer Baumwollbluse und einem mit einem Leiermuster bedruckten Rock. »Ihr seid entflohen, Fras Glasken. Ich wußte, daß Ihr es schafft.« - 179 »Liebste Weldie, sag Johnny zu mir.« »Ho! Was bist du stürmisch, Johnny!« rief sie, als seine Hände ihre Schenkel hinauffuhren. »Bitte, Frelle, bitte nur dieses eine Mal ohne das ganze Vorspiel-Rum-gemache. Monatelang bin ich mit Vorspiel ohne Nachspiel gefoltert worden.« »Johnny, Johnny, aber natürlich. Ich liebe es, von einem Mann begehrt zu werden, der es gar nicht erwarten kann, mich zu besitzen.« »Dann bin ich genau der Richtige für dich. Oh, was bist du weich, das ist ja himmlisch.« »Fras Johnny, mein heldenhafter Krieger.« Und trotz des Gepolters auf dem Heuboden kam niemand, um nachzusehen, was da vor sich ging. Im Osten des Kontinents ging bereits die Sonne auf. Zarvora hatte befohlen, den Zug anhalten zu lassen, damit Theresia und sie das Band vor der Sonne exakt vermessen konnten. Tigerdrachen gingen nervös auf und ab, die Waffen im Anschlag. Sie waren hier auf einem Streckenabschnitt, der für die Späher auf den Signalfeuertürmen nicht einsehbar war »An der Breite ändert sich jetzt offenbar nichts mehr«, schloß Zarvora. »Es schwankt in der Umlaufbahn«, sagte Theresia. »Bald wird es das Angesicht der Sonne verlassen, dann wieder zurückkehren. Ihr habt das Band vorhergesagt, Frelle?« »Ja, anhand spärlicher Indizien. In einem Werk wurde ein sogenannter Nanokompositkonstruktor erwähnt, eine elektrische Maschine, die bestimmte Arbeiten verrichtet, aber außerdem auch Kopien ihrer selbst herstellt. Eine dieser Maschinen wurde kurz vor dem Großen Winter auf den Mond geschickt.« Zarvora erklärte ihr alles weitere, während sie das Teleskop wieder einpackten. »Wie ist Plan? Habt Ihr einen?« fragte Theresia, als sie im Licht des Sonnenaufgangs zum Zug zurückgingen. »Das Himmelsband ist eine intelligente Maschine. Sie wurde gebaut, um uns zu dienen, und daher kann man sie vielleicht dazu bringen, das Himmelsband wieder aufzulösen, wenn man sich mit ihr in Verbindung setzen könnte. Andernfalls werde ich sie angreifen.« »Ihr?« - 179 »Ja, ich.« »Das angreifen?« rief Theresia und wies auf die zweigeteilte Scheibe der aufgehenden Sonne. »Ja.« »Ihr seid wahnsinnig, genau wie ich, nur noch schlimmer. Wir werden, äh, blendend miteinander auskommen.« Sie stiegen zurück in den Waggon des Bürgermeisters, und der Zugchef ließ die Bremsen lösen. Langsam nahm der Zug wieder Fahrt auf. »Ich möchte mit mehr Menschen Kontakt aufnehmen, die so sind wie wir«, sagte Zarvora. »Begonnen habe ich mit einer Untersuchung sämtlicher, äh, Sklaven meines Kalkulors. Mein ganzes Arbeitszimmer liegt bereits voller Haarproben. Es wird Tage dauern, sie zu untersuchen.« »Wenn Ihr noch ein ... Mikroskop heißt das? Ich helfe gern.« »Nun, danke. Ich brauche Hilfe bei der Erkundung der Städte in den Ruftodesländern. Ich will nach Waffen und Maschinen aus der Vorzeit suchen. Nach Funkgeräten, Raketen, Plasmakanonen.« »Ob die noch funktionieren? Sind zweitausend Jahre alt.« »Sogenanntes Einschweißen verhindert die Alterung, habe ich jedenfalls gelesen.«
»Sprechen zu Rufwesen, vielleicht ich kann. Ruf aus Ruftodesland heraushalten. Glasken ist der Schlüssel. Der Ruf nutzt die Lust als Haken. Glaskens Lust hemmungslos. Ich habe Technik entwickelt mit Lustspannung.« »Glasken. Der Name kommt mir irgendwoher bekannt vor. Ich werde meinen Kalkulor nach seiner Vorgeschichte befragen.« »Nur mit Glasken es funktioniert. Habe andere versucht. Gut ihn aufpassen, auf Glasken.« »Inspektor Milderellen wird sich darum kümmern, keine Sorge.« Glasken und Weldie waren seit einer Stunde auf dem Heuboden, als der Griff einer doppelläufigen Morelac seinem Glück ein Ende bereitete. Weldie hatte im Heu gekniet, und Glasken hatte sie mit der Stellung »Stier und Kuh« bekannt gemacht. Sie hörte einen Schlag, und dann glitt Glasken von ihr herunter. »Entschuldigt bitte, daß ich nicht eher kommen konnte«, sagte Lemorel und drehte den leblosen Glasken um. »Das macht doch nichts, Frelle Inspektor. Ich schäme mich ein wenig, es zu sagen, aber es hat mir richtig Spaß gemacht mit ihm.« - 180 »über Geschmack läßt sich streiten. Helft mir, ihm seine Hose wieder anzuziehen.« »Ich habe dafür gesorgt, daß er die meisten seiner Kleider anbehalten hat.« »Hoch mit ihm, und nun schubst ihn die Rutsche runter - so. Und jetzt geht. Unter Eurem Kissen liegen zehn Goldroyal für Euch bereit. Vergeßt, daß dies jemals passiert ist.« »Viel Glück, Frelle Inspektor Aber Ihr werdet ihn doch nicht töten, oder? Er war nämlich, nun ja ...« »Ich brauche ihn lebend - ob Ihr's glaubt oder nicht. Jetzt geht!« Lemorel konnte zwar gut mit ihrer Pistole umgehen, übermäßig kräftig aber war sie nicht. Und selbst bewußtlos und gefesselt wog Glasken immer noch knapp hundert Kilo. Die Kamele trotteten rastlos auf und ab, während sie ihn durch die Stallungen zerrte. »Runter! Runter, verdammt noch mal!« zischte sie den Kamelen aus Alspring zu - die keine austarischen Kommandos verstanden und stehenblieben. »Darf ich Euch helfen, Frelle?« fragte eine Stimme aus der Dunkelheit. Lemorel warf sich zu Boden, ging hinter dem reglosen Glasken in Deckung und hob die Morelac. »Schießen nicht, Frelle. Lärm bringen Soldaten.« Die Stimme klang sanft und verschwörerisch. »Kommt hervor damit ich Euch sehen kann«, war alles, was Lemorel zugestehen mochte. Lemorel sah zu, wie Ilyire aus der Dunkelheit in den Lichtschein trat, der von den Laternen draußen hereindrang. Er zupfte am Zügel eines Kamels und befahl leise: »Kusch! Kusch!« Das Tier kniete sich augenblicklich hin. Dann hob er Glasken hoch, setzte ihn in den Sattel und schnallte ihn fest. »Schill! Schill!« zischte er, und das Kamel erhob sich wieder »Kusch runter Schill rauf. Bitte merken. Wie satteln und beladen andere, Ihr getan?« »Das hat vor einigen Stunden ein Stallbursche für mich erledigt. Es ist nichts Verdächtiges dabei, wenn Satteltaschen auf ein Kamel geladen werden.« »Ah, aber Kamelscheiße Glasken verdächtig, ja? Warum wollt Ihr ihn?« »Er soll mich zu einem Mann namens Nikalan führen.« »Der Kränkliche? Ni-kalan? Glenellen, dahin ihn gebracht. Mehr ich nicht wissen. Glasken, die Made, sollen Ni-kalan retten?« »Glasken ist der Reiseführer. Das Retten übernehme ich.« Ilyire verlor die Fassung, schien völlig entgeistert. »Ihr? Frauen retten? Verkehrt herum, nein, nein, in der heiligen Schrift heißt es, Frauen beschützen.« Der Stall war nur schummrig beleuchtet, und Ilyire nahm kaum wahr, daß sich Lemorels Hand bewegte. Dann schlug ein handtellergroßer Wurfstern neben seinem Kopf in einen Holzpfosten. Mit einem Laut des Erstaunens sprang er beiseite und ließ etliche Haupthaare an dem Pfosten zurück.
»Fras Ilyire, in der austarischen Gesellschaft sollte man sich ganz genau überlegen, wen man beleidigt. Beleidigungen ziehen Duelle nach sich, und Duelle enden tödlich.« »Frelle, ich ... warne nur. Die heilige Schrift vorschreiben: Frauen beschützen.« Er atmete tief durch und schluckte. »Ihr gekleidet wie Mann, handeln wie Mann, ja? Wenn nicht, Moral böse. Priester sperren Euch in Kloster, Nonnen lesen Euch heilige Schrift vor, viele Jahre lang.« Lemorel nickte und entspannte sich wieder ein wenig. »Dann hat Euer Volk also eine Art Schutzvorschrift, so wie der Vorhang vor den Frauengemächern bei den Südmauren. Ich verstehe, was Ihr mir damit sagen wollt. Ich muß mich wie ein Mann kleiden, damit ich mich in den Städten von Alspring ungehindert bewegen kann. Und Ihr solltet derweil aufpassen, wen Ihr beleidigt. Habt Ihr verstanden? Beleidigungen enden tödlich.« »Dankbar für Lektion. Laßt Glasken-Made Euch Alspring lehren. Er kennen ein paar nützlich Wörter.« »Aber ich spreche Alspring«, sagte Lemorel, und da wurde ihr klar, daß sie Alspring besser beherrschte als Ilyire das Austarische. Sofort wechselten sie die Sprache. »Wo habt Ihr denn Alspring gelernt?« »Eine sprachkundige Freundin hat mir Unterricht gegeben.« »Eine Sprachkundige ohne Stimme?« »Ja, wie der Zufall will. Sie heißt Darien.« »Ich muß sie wiedersehen. Ich liebe sie.« »Ich glaube, sie ist in Rochester mit einem Mann zusammen, aber -« - 181 »Den bringe ich um!« Glasken stöhnte und sträubte sich gegen die Haltegurte. Lemorel drosch ihm den Stiel einer Mistgabel über den Schädel. Er sackte wieder auf dem Sattel zusammen. Ilyires Zähne leuchteten zu einem Lächeln auf. »Liebe Ereile, hört gut zu. Reist nach Norden bis zu den Sandhügeln und dann fünf Tage lang nach Nordwesten. Das Land dort ist karg, und deshalb gibt es dort nicht so viele Koorie-Völker denen man aus dem Weg gehen müßte. Weicht ihnen aus, versucht niemals, gegen sie zu kämpfen. Ich habe das letzte Mal ein ganzes Jahr für die Strecke gebraucht und mußte viele Kämpfe ausfechten, aber da war der Widerwille nach Kharecs Durchzug auch noch frisch. Fünfzig Tage, ja, Ihr könntet fünfzig Tage brauchen. Kleidet Euch wie ein Mann, und erkundigt Euch nach dem Weg nach Glenellen, wenn Ihr jemandem begegnet. Erzählt ihnen, Glasken sei Euer Eunuch. Oder noch besser: Sorgt dafür, daß es stimmt.« »Warum habt Ihr ihn noch nicht getötet, wenn Ihr ihn doch so sehr haßt?« fragte Lemorel, während sie von einem Geländer aus in ihren Sattel stieg. »Ich habe meiner Schwester geschworen, daß ich diesem Stück Kamelscheiße nichts antun werde.« Er lachte leise, mit seltsam tiefer Stimme. »Und ich habe mich an meinen Eid gehalten.« »Ja, das habt Ihr, Fras. Würdet Ihr mir nun bitte das Tor öffnen?« »Frelle Inspektor, werdet Ihr dieses Stück Kamelscheiße bitte große Qualen leiden lassen? Ich wünsche Euch viel Erfolg.« Auf Lemorels Vorschlag hin hatten sich der Marschall und die übrigen hochrangigen Beamten von Maralinga auf der Signalfeuerplattform zu einer kleinen, aber exklusiven Feier eingefunden. Ein Diener ging mit einem Tablett mit einem Krug Wein und polierten Silberpokalen herum, und alle warteten auf Lemorel. »Die Inspektorin ist sehr zufrieden«, berichtete der Marschall dem Schichtleiter. »Die Äbtissin ist sicher bei der Hoheliber eingetroffen, und die Aktualisierung der Signalfeuerverfahren ist auch abgeschlossen.« »Aber wo ist die Inspektorin denn?« fragte Hauptmann Burla. Der Marschall sah sich auf der proppenvollen Plattform um. »Sie wird vermutlich noch von ihrer Arbeit aufgehalten.« »Wie wäre es mit einem kleinen Trinkspruch, bevor sie kommt?« - 181 -
»Ja, warum nicht, sie ist ja doch eher sauertöpfisch«, flüsterte der Marschall, gab dem Hauptmann dann einen Rippenstoß und erhob die Stimme. »Ich bitte um Eure geschätzte Aufmerksamkeit«, sagte er und reckte seinen Silberpokal empor. »Bitte hört mir gut zu -« Auf einen Lichtblitz drunten auf dem Rangierbahnhof folgte eine schwere Explosion. Brennende Trümmer flogen in hohem Bogen durch die Luft, und Schüsse knallten in der Dunkelheit. »Ein Überfall!« brüllte der Marschall. »Schnell, entflammt eine Fackel und warnt den Turm von Irmana!« rief er dem Schichtleiter zu und eilte zum Aufzug. Die Seile des Flaschenzugs waren verschwunden und der Stimmendraht gekappt. »Marschall, die Fackeln aus dem Schließfach sind verschwunden!« rief jemand, und dann zerfetzte eine zweite Explosion einen Teil der Feuertreppe im Turminnern. Lemorel hatte nicht gewußt, daß beiderseits des nördlichen Wachpostens in einigem Abstand mit Glöckchen versehene Stolperdrähte angebracht waren. Jemand mit einem Sprachrohr rief ihr etwas zu, aber sie beachtete ihn nicht und ritt weiter. Gestalten regten sich, schwach sichtbar im Licht der Sterne und der Brände auf der fernen Bahnstation. Lemorel lockte die Wachen noch anderthalb Kilometer nach Norden, ehe sie dann Glaskens Kamel festmachte und zum Angriff überging. In der Dunkelheit hatten die drei Wachen gar nicht mitbekommen, daß Lemorel kehrtgemacht hatte und von einem Strauch zum nächsten flitzte. Dann bellte ihr erster Schuß und traf eine Wache direkt unterm Schlüsselbein. Panisch feuerten die beiden anderen auf die Stelle des Mündungsfeuers, aber Lemorel hatte ihre Muskete fallenlassen, eine Rolle seitwärts gemacht und ihre Morelac gezogen. Das Mündungsfeuer der Wachen verriet ihre Position, und dann hallten Lemorels Schüsse ihren Schüssen hinterher. Fünfzehn Kilometer weiter nördlich ritt sie neben Glaskens Kamel her und befreite ihn von dem Knebel. »Verdammt noch mal, Lemorel, die haben uns doch spätestens morgen früh wieder geschnappt«, schnaubte Glasken. »Die haben Fährtensucher, die auch bei Mondschein arbeiten können.« »Wir haben aber keinen Mondschein. Es ist Neumond. Die Besatzung der Bahnstation glaubt, sie würden überfallen, und wenn ihnen erst mal klar wird, daß die Schüsse nur Feuerwerk waren, werden sie damit - 182 beschäftigt sein, die Kamele wieder einzufangen, die ich draußen in der Wüste freigelassen habe.« Das Weiß ihrer Augen leuchtete manisch. Glasken zitterte. »Sie müssen bis zum Morgengrauen abwarten. Und dann müssen sie unsere Spur erst mal finden. Und falls ihnen das gelingt, bekommen sie dich nur über meine Leiche wieder und das dürfte schwierig werden.« »Ich werde vor Gericht aussagen, ich werde dafür sorgen, daß du hingerichtet -« »Von nun an, Fras Glasken, sprichst du nur noch Alspring. Verstanden?« »Alspring? Das kann ich doch kaum.« »Dann streng mal dein Gedächtnis an.« »Alspring liegt Monate entfernt - jenseits einer riesigen Wüste!« »Ilyire hat dir das Überleben in der Wüste beigebracht. Und du wirst es mir beibringen.« »Und womit willst du in Alspring bezahlen?« »Mit den Münzen und Juwelen, die ich bei der Durchsuchung deines Zimmers in deiner Satteltasche gefunden habe.« »Du hast meinen Schatz gestohlen?« schrie Glasken so laut, daß Tiere in der Dunkelheit forthuschten. »Ergib dich in dein Schicksal, Glasken. Du hast Signalfeuemachrichten gefälscht und mich glauben lassen, Nikalan wäre tot. Du hast ihn aus meinem Leben gerissen, und jetzt will ich ihn zurück. Und du wirst mir dabei helfen.« »Du? Und Nikalan?« rief Glasken ungläubig. Die Spiegelsonne stand hoch am Himmel, aber ihr schwacher kupferfarbener Lichtschein bot ihnen lediglich eine Orientierung, während sie weiter nach Norden ritten. Lange vor Sonnenaufgang erreichten sie die Dünen, und als sie nach Nordwesten abbogen, verwischte der
Wind ihre Spuren im Sand. Als die gegürtete Sonne über der Wüste aufging, verschwand jener Mann, der den Schlüssel zum Ruf darstellte, spurlos. Auf den Tag genau einen Monat später bestiegen Theresia und Zarvora auf dem Bahnhof von Rochester den Waggon des Bürgermeisters. In dem Waggon dahinter befanden sich neben einigen Wachen neunzehn Männer und Frauen, die sich nervös und besorgt mit großen Augen umsahen. Dann fuhr der Zug ab und hatte auf der Gleitbahn nach Süden absoluten Vorrang. - 183 »Zwanzig Rufmenschen unter den Komponenten des Kalkulors!« erklärte Zarvora triumphierend. »Und zwölf davon aus einer Gruppe, die in den Ruftodesländern lebt. Sie nennen sich Aviaden.« »Aber warum leben sie unter Menschen?« fragte Theresia, die nicht daran beteiligt gewesen war, diese Leute zu befragen. »Aviaden sind bis zur Pubertät anfällig für den Ruf. Die Kinder können in den Ruftodesländem ja nur schlecht einfach so dahinvegetieren, und deshalb werden sie unter Menschen großgezogen. Die zwölf im Kalkulor waren früher Lehrer. Es gibt Tausende von ihnen! Wir brauchen Glasken gar nicht mehr.« »Mich dann wohl auch nicht«, sagte Theresia. »Unsinn! Ihr habt eine ganz andere Lebensauffassung als ich. Ihr seht Dinge, die ich gar nicht wahrnehme. Die Aviaden-Lehrer führen uns in ihre Stadt, nach Macedón. Das liegt südlich der Geisterstadt Bendigo. Und die anderen sieben wollten mitfahren.« »Das macht neunzehn. Ihr fandet zwanzig.« »Ach ja, FUNKTION 9. Den brauche ich - das heißt, seine Talente -im Kalkulor.« »Ist es eine lange Reise? Die Krönung ist nächste Woche.« »Zur Oberbürgermeisterin des ganzen Südens gekrönt zu werden, ist längst nicht so wichtig, wie das Vertrauen der Aviaden von Macedón zu gewinnen. Die Krönung kann warten.« Hastian schaute in die Richtung, in die sein Wachmann deutete: auf zwei Kamele, die sich von Süden näherten. Seine Nimmerländer-Krieger zogen ihre Rufzeitschalter auf und überprüften ihre Waffen, als sie sich erhoben. Einer der beiden Reiter war auf dem Sattel festgeschnallt, und der andere war seltsam gekleidet und trug fremdartig aussehende Schußwaffen. »Guten Tag!« erklang eine merkwürdig hohe Stimme. »Wir suchen Glenellen.« Die Stimme. Die Brüste. Und dann trug sie schamloserweise auch noch eine Hose. »Heeja, ergreift die Hexe!« rief Hastian empört. Zwei Nimmerländer liefen los, aber die Pistole der Hexe gab wie durch ein Wunder zwei Schüsse gleichzeitig ab. Beide Männer gingen zu Boden. Die anderen feuerten, das Kamel der Hexe bäumte sich auf und brach zusammen, aber dann tauchte sie hinter dem Leib des Tiers mit - 183 weiteren dieser teuflischen MehrfachschußwafFen auf. Fünf Männer erlagen sechs Schüssen, zwei weitere ihrem Säbel. Ein spitzer Metallstern traf Hastians Knie, und der Schmerz war ein solcher Schock, daß er zuckend in den roten Sand fiel. Die Zeit schien stillzustehen. Ein Knie wurde auf Hastians Brust gepreßt, und der Doppellauf wurde ihm in den schreienden Mund gerammt. Das Gesicht, das auf ihn herabsah, war das einer Frau, aber etwas an ihrem Blick war noch angsteinflößender als der Blick einer Tigerotter. »Mein Führer ist davongeritten«, fauchte sie. »Jetzt führt Ihr mich.« Hastian gluckste. Sie zog ihm den Pistolenlauf aus dem Mund und erhob sich. »Wer?« keuchte Hastian, ohne sich zu regen. Er schmeckte Blut. »Ich bin die dunkle Seite von Ervelles Seele. Ich kehre aus dem Ruf zurück, um Rache zu nehmen.« Er sah sich um. Neun seiner unbesiegbaren Nimmerländer-Krieger lagen tot am Boden. Die beiden überlebenden hockten blutüberströmt im roten Sand und hatten sich ergeben. Für Hastian gab es keinen Zweifel. Dieses Wesen war, was es zu sein behauptete. Er war gesegnet. Ein Gott verlangte nach seinen Diensten. - 183 10 CHRYSALIS
In den vier Jahren nach der Krönung Zarvoras zur Oberbürgermeisterin des Südens wuchs der Kontinent zur mächtigsten Einheit seit dem Untergang der anglaischen Zivilisation zusammen. Sie herrschte klug, hart aber gerecht, und die Wirtschaft nahm einen ungeahnten Aufschwung. Es gab so gut wie keine bewaffneten Konflikte mehr, und dank des Ausbaus des Signalfeuer- und Gleitbahnnetzes zogen schlechte Ernten keine Hungersnöte mehr nach sich. Gerüchten zufolge wurden die Gewinnüberschüsse dieses goldenen Zeitalters des Wohlstands in ein gewaltiges Projekt investiert, das ein weiteres Wunderwerk der anglaischen Zivilisation wiedererstehen lassen und einen zweiten Großen Winter abwenden sollte, aber nur Zarvora kannte die ganze Wahrheit. Diese Wahrheit war nicht ihr einziges Geheimnis, aber leichter zu verbergen als ein unmittelbareres Problem. »Hoheliber, Ihr seid schwanger.« Der Arzt aus Libris hatte Zarvora im Laufe der Jahre aufgrund ihrer Kopfschmerzen recht gut kennengelernt, doch nun war er besorgt, wie sie auf diese Diagnose reagieren würde. »Mir war in letzter Zeit gelegentlich ein wenig schlecht, und ich habe ein bißchen zugenommen«, entgegnete Zarvora ungehalten. »Aber das bedeutet gar nichts.« »Und Eure Periode ist viermal ausgeblieben.« »Ja, das auch.« »Ich rate Euch -« »Das kommt jetzt äußerst ungelegen. Hebt Euch hinweg!« Nachdem er gegangen war saß Zarvora da und starrte auf ihre Kalkulorkonsole. Auf der ganzen Welt gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie sah zu der silbernen Eule hinüber, auf deren Schild VERSCHLÜSSELUNG AKTIVIERT eingraviert war. »Ich herrsche über den halben Kontinent, aber schwanger bin ich von einem Mann, der nichts davon weiß, den es im Grunde gar nicht gibt und der Teil einer Maschine ist, die es nicht gibt, die ich aber dennoch erbaut habe. Konstruktive Vorschläge sind herzlich willkommen.« - 184 Die Eule schwieg. »Ich habe mich noch nie so einsam gefühlt. Alle werden sie sich hämisch freuen, alle wollen sie mich erniedrigt sehen. Hast du schon von der Komponente gehört, der mit seinem Signalfeuerturm im Eingabepuffer der Hoheliber hängengeblieben ist? Nein, denn jeder, der solche Witze erzählt, wird auf der Stelle erschossen!« Sie betätigte den Hebel, der den Stimmendraht zu ihrem Diener aktivierte. Als der Filzdämpfer fortgehoben war und sie gerade etwas sagen wollte, tönte die Stimme des Arztes heraus. »Ich unterstelle gar nichts, Fras Vorion. Es bleibt eine Tatsache, daß sie schwanger und unverheiratet ist. Eine so mächtige, hochrangige Frau -« »Ihr wollt behaupten, Frelle Cybeline sei nicht verheiratet?« entgegnete Vorion. »Ja! Das ist eine Tatsache! Das ist allgemein bekannt! Der Oberbischof ist ein Christ, Regen fällt vom Himmel, und die Hoheliber ist nicht verheiratet. Also, ich rate -« »Frelle Cybelines Gatte ist ein leitender Ingenieur, der an einer geheimen Maschine arbeitet. Weit weg, in Kalgoorlie. Ach, jetzt habe ich Euch schon viel zuviel verraten. Raus hier, sonst rufe ich die Wache! Raus, raus, raus, raus!« Zarvora deaktivierte den Stimmendraht, überlegte kurz, lächelte dann und zog an einer der zahlreichen, von der Decke herabhängenden Kordeln. Nur Augenblicke später stand Vorion in der Tür. Er war noch ganz rot im Gesicht von der Auseinandersetzung mit dem Arzt. »Fras Vorion, woher weißt du denn, daß mein heimlicher Gemahl ein in Kalgoorlie stationierter Ingenieur ist?« fragte sie. Vorion war wie vom Donner gerührt. Der Mann, den er sich vor einer halben Minute erst ausgedacht hatte, war mit einem Mal zum Leben erwacht. »Hoheliber, ich ... ich ... ich ... muß wohl gehört haben, daß Ihr davon spracht.« »Dann hole doch bitte das nächste Mal meine Erlaubnis ein, ehe du das jemandem anvertraust. Sumeror ist ein guter Arzt, aber auch ein fürchterliches Klatschmaul.« Vorion schlotterten die Beine, und die Farbe wich ihm aus dem Gesicht. Er sank auf die Knie.
»Hoheliber, ich kann nur meinem tiefen Bedauern Ausdruck verleihen und meinen sofortigen Rücktritt anbieten.« - 185 »Wie lange dienst du mir schon?« »Neun Jahre.« »Und bist doch immer noch lediglich ein konzessionierter Lakai.« »Ja. Das heißt - ja.« »Laß einen Zug nach Kalgoorlie für mich bereitstellen. Ich will zur Geburt unseres Kindes bei meinem Gemahl sein.« »Ja, selbstverständlich.« »Und dann melde dich für eine Fortbildung an. In sieben Monaten will ich dabei sein, wenn du feierlich zum Rotdrachen ernannt wirst. Und auf Fächer, die dir Schwierigkeiten bereiten, können wir verzichten.« Es bedurfte etlicher Gläser teuren Brandys, bis Vorion wieder in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Dann strömte seine Lebensgeschichte aus ihm heraus: Daß er ein Student der Altphilologie gewesen sei, dessen Laufbahn in Libris der neuen Rekrutierungsrichtlinien der Hoheliber wegen auf dem Abstellgleis gelandet sei. Jetzt war er der glücklichste Mensch in Libris, ja, wahrscheinlich auf dem ganzen Kontinent. »Ich habe deine Zukunftschancen ruiniert, und dennoch hast du mir so treu gedient?« fragte Zarvora. »Hoheliber, Ihr versteht das nicht. Ich bin ein Nichts, aber Ihr teilt Eure Größe mit mir Ich bete Euch an, ich würde bereitwillig mein Leben für Euch geben. Ich habe mir Lügengeschichten ausgedacht, wenn Ihr außerplanmäßig abwesend wart, weil ich dachte, Ihr hättet eine Affäre.« Zarvora schluckte. »Faszinierend. Trink doch noch ein Glas.« »Ich habe sogar Dokumente gefälscht, um Euch zu beschützen. Ich habe das mit Erzbischof James herausgefunden - oh, ich habe Freunde, die Leute kennen, denen man, nun ja, vertrauliche Dinge erzählt. Der fiese Fettsack, aber seine kleine Verschwörung habe ich auffliegen lassen, als ich seinem Konto die siebenhundert Goldroyal gutschrieb -« »Was? Ich dachte, Tarrin wäre das gewesen.« »Tarrin? Der wandelnde Suppenfleck? Die selbstgefällige Nulpe? Er tut immer wie ein Eunuch, aber ich habe gehört...« Vorion hatte so einiges gehört, und Zarvora lauschte ihm lange. Als sie schließlich doch noch einmal das Wort ergriff, war sie recht einsilbig. »Vorion, ich - ich bin deiner Dienste nicht würdig, aber wie es scheint, ist das Glück mir hold. Und nun besorg mir einen Zug und nimm dir dann den Nachmittag frei und lies den Rotdrachen-Studienplan.« - 185 Als sie wieder allein war, dachte Zarvora über den Diener nach, der nicht nur ihren Stolz und Ruf, sondern auch ihr Leben gerettet hatte. Tränen liefen ihr die Wangen hinab, aber ihre Welt war nun in ein helleres Licht getaucht. Sie war zweifellos in seltsamer Gesellschaft, aber allein oder ohne Verbündete war sie nicht. Die vielen Jahre in den Staaten des Südens hatten Ilyire nicht verändert. Während er in einer Schenke in Kalgoorlie auf und ab ging, schien er einfach nur ein ernsthaft besorgter Mann zu sein, der eine Emulederjacke und Nadelstiefel trug, aber im Grunde seines Herzens war er immer noch ein Ghaner Krieger. An einem Tisch in der Nähe saß Darien, und eine Spange, die ihren ockerfarbenen Reisemantel hielt, zeigte ihren Silberdrachenrang. Obwohl die beiden miteinander stritten, hörten die anderen Gäste an diesem Nachmittag nichts davon. Darien und Ilyire unterhielten sich mit flatternden Händen in der Portington-Gebärdensprache. »Ich gehe mit der Oberbürgermeisterin nach Libris zurück, denn Ihr habt Euch auch in einem halben Jahrzehnt überhaupt nicht geändert«, sagte Darien mit langsamen, eindringlichen Gesten und schlug dann zum Nachdruck auf den Tisch. »Ich? Nicht ändern?« entgegnete er. »Ich lernen Eure Geschichte, Sprache, diese Zeichensprache, alles nur für Euch. Ich lernen Eure Kulturen und Religionen.«
»Aber Ihr sprecht nicht mal gerne Austarisch, Ilyire. Eure Grammatik ist ein einziges Durcheinander, und dabei spricht Eure Schwester mittlerweile so gut Austarisch wie die Oberbürgermeisterin.« »Ich bessern.« »Es ist nicht nur die Grammatik«, sagte sie mit ungeduldigen, schwungvollen Gebärden. »Es ist diese ewige Eifersucht und dieser Alspring-Beschützerfimmel. Ich habe weiter nichts getan, als mit dem Gesandten aus Merredin etwas trinken zu gehen, und was macht Ihr? Ihr kommt in die Wirtschaft gestürmt, schlagt alles kurz und klein und prügelt den armen Mann krankenhausreif.« »Ihr mir nicht erzählt, daß dienstlich. Kamen mir komisch vor für dienstlich.« »Ihr hättet mir vertrauen sollen.« »Ich ihm nicht vertraut.« Die Geste für »ihm« war ein heftiger Hieb, der nicht anders ausgesehen hätte, wenn Ilyire einen Säbel in der Hand gehabt hätte. - 186 »Ilyire, ich gehe jetzt. Der Windzug der Oberbürgermeisterin fährt heute nacht, und für mich ist ein Schlafwagenbett reserviert. Ihr laßt mir einfach keine Luft zum Atmen. Ich ertrage das nicht.« »Stimmt nicht. Ich halten mich zurück.« »Nein. Ihr werdet mich nie als die akzeptieren, die ich bin: Als eine erwachsene Frau. Männer haben mit mir geschlafen, Männer haben mich geliebt -« »Sagt mir wer, ich töte sie!« brüllte Ilyire aus voller Kehle, die Gebärdensprache vergessend. Etliche Gäste verschütteten erschrocken ihre Getränke. Ilyire hielt sich an einem Balken fest, während er darum rang, seinen Zorn zu zügeln. Darien trommelte mit den Fingern auf den Tisch, bis Ilyire verlegen eine entschuldigende Geste machte. »Das ist also Eure neue Zurückhaltung«, sagte sie in Gebärdensprache. »Ich habe den Posten als Beraterin der Oberbürgermeisterin angenommen, Ilyire. Ich gehe, wohin sie geht oder wohin sie mich schickt. Und jetzt reist sie nach Osten, also lebt wohl.« Die übrigen Gäste griffen schon nach ihren Stöcken, als sich Darien erhob und eine Kupfermünze neben ihren Zinnpokal warf, aber als sie hinausging, versuchte Ilyire nicht, sie aufzuhalten. Der Wirt seufzte erleichtert, als Ilyire bald darauf ebenfalls ging. »Um den sollen sich die Schutzleute kümmern, wenn er auf der Straße Krawall macht«, sagte er zu einem jungen Kellner. »Der Mann hat Kräfte, das glaubst du nicht, Fras«, erwiderte der Junge. »Der Balken, an dem er sich festgehalten hat, ist an der Stelle gesplittert.« Der Wirt pfiff, als er mit der Hand über die gesplitterte Stelle fuhr. »Und dann auch noch Dammarafichte. Aber eine Kugel würde auch ihn aufhalten, und wenn er so weitermacht, kriegt er bald eine Kugel ab.« Doch es gelang Ilyire, ruhig zu bleiben. Er holte sein Pferd aus den Stallungen um die Ecke und brach dann nach Westen in die Ruftodesländer auf. Er ritt langsam. Er wußte, was ihn dort erwartete. Die Landschaft unterhalb der roten Felswand sah aus wie ein rötlich-olivgrün gemusterter nordmaurischer Teppich, in den einzelne bunte Stofffetzen eingewoben waren. Von ihrem Aussichtspunkt hoch droben über dem Abhang beobachteten drei Reiter die Nachwehen einer Schlacht und trafen ihre Einschätzungen darüber was hier zwischen den Armeen - 186 zweier Alspring-Städte geschehen war. Sie waren wie Nimmerländer-Nomaden gekleidet, gegen den alles durchdringenden rötlichen Staub in ockerfarbene, blaßorange, sienafarbene und orange gesprenkelte Gewänder, Schleier und Kopftücher gehüllt. »Glenellen hat schon wieder den Sieg davongetragen«, sagte General Genkeric, als er sein reich verziertes Messingfernrohr sinken ließ. »Diese teuflische Rechenmaschine schlägt jetzt für sie die Schlachten und hat sie unbesiegbar gemacht.«
Der Mann zu seiner Rechten sah sich weiter die bunten Flecken in der Landschaft unter ihnen an und nutzte dazu eines der neuentwickelten Ferngläser, das das durch eine Linse einfallende Licht auf ein Doppelokular verteilte. »Glenellens Kampfkalkulor - ich sehe ihn!« rief er plötzlich. »Ganz links, in der Nähe der Aussichtsmasten. Weiter nichts als eine Gruppe von Schreibern an Pulten! Wer hätte je gedacht, wozu die in der Lage sind?« »Eine unbesiegbare Maschine, Hauptmann Lau-Tibad. Wie groß auch die Übermacht sein mag diese verdammungswürdige Maschine steigert die Effektivität ihrer Männer entsprechend. Welche Hoffnung können unsere Nimmerland-Völker dagegen schon hegen?« »Jetzt klappen sie ihre Pulte zusammen. Ihre Pulte sind weiß, nein -gut ein Drittel davon sind rot.« »Ach, jetzt haltet aber mal den Mund! Ihr seid hier nicht auf einer vogelkundlichen Wanderung. Das hier ist Krieg.« »Entschuldigt bitte, General Genkeric«, sagte der andere, ließ das Fernglas sinken und an einem Riemen vor seiner Brust baumeln. »Wir sind nichts, das hat uns bisher beschützt. Da wir Nimmerländer Nomaden sind, spielen wir in Glenellens Expansionsplänen keine große Rolle, aber die Überfälle unserer Brüdervölker dürften sich irgendwann zu einem ernsthaften Problem auswachsen.« »Für Glenellen? Sind das doch bloß Flohbisse. In der Wüste ist Platz für uns alle, und was außer Zelten und Kamelen besitzen wir Nimmerländer denn schon groß?« »Der Tag wird kommen, an dem Glenellen zur Flohkur greift. Wir müssen aufhören, sie zu beißen, und die anderen auch davon abbringen ...« Seine Stimme verklang, als er bemerkte, daß der dritte Reiter, vielmehr die dritte Reiterin, schon eine ganze Weile nicht mehr auf den bunten Teppich aus Verzweiflung und Triumph hinabsah, sondern statt - 187 dessen sie beide betrachtete, mit einem Blick, der ebenso spöttisch wie ungeduldig war »Ihr müßtet Euch mal reden hören«, sagte sie. Die Stimme, die durch den schweren, roten Baumwollschleier drang, klang gemessen und sarkastisch. Während die beiden Offiziere stolz im Sattel saßen, wandte sich die Kommandantin wieder von ihnen ab und beugte sich vor um die Szene zu beobachten. »Aber Kommandantin, unsere Zahl ist klein, und wir sind in solch fortschrittlichen Kriegskünsten nicht geschult«, entgegnete Genkeric. »Diese Maschine steigert ihre Stärke um das Zwanzigfache, und dabei sind sie ohnehin schon mehr als wir.« Die Kommandantin lachte, und es war ein langanhaltendes, freudloses, beunruhigendes Lachen. »Diese Maschine ist weiter nichts als die Weiterentwicklung eines Taktiklehrbuchs. Ich muß es wissen, ich war am Bau der ersten dieser Maschinen beteiligt.« »Kommandantin, ich weiß, wie eine Armbrust funktioniert, aber das wird den Feind nicht daran hindern, mich mit einer zu erschießen.« »Ach ja? Nun, auch ich weiß, wie eine Armbrust funktioniert, und das verrät mir, wohin ich mich stellen muß, damit ich außer Reichweite bin, und wieviel Zeit mir bleibt, einen Armbrustschützen anzugreifen, wenn er nachlädt. Ich will damit sagen, daß jeder fähige Offizier hätte leisten können, was dieser Kampfkalkulor dort heute vollbracht hat.« »Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Kommandantin«, sagte Hauptmann Lau-Tibad, »aber wenn dem so ist, warum haben die Streitkräfte Glenellens dann gerade so überzeugend obsiegt?« »Weil es unter den geschniegelten Schoßhündchen, die in den Städten Alsprings militärische Befehlsgewalt erlangen, nur sehr wenige gute Offiziere gibt.« »Die Armee von Gossluff war dreimal größer -« »Der Kampfkalkulor ist eine strategische Waffe. Er hat auch einen taktischen Nutzen, aber der ist sehr begrenzt. Er ist sehr leicht angreifbar und so verletzlich, daß er seine eigene Armee ebenso leicht zerschmettern könnte, wie er ihr den Sieg ermöglicht.« Der General hob das Fernrohr und betrachtete das Schlachtfeld erneut, so als suche er etwas, das er bisher übersehen hatte. Hauptmann Lau-Tibad tat es ihm mit seinem Fernglas gleich.
»Habt Ihr die Lanzenreiter Bogenschützen und Musketiere, die ich brauche?« fragte die Kommandantin, ohne sich umzusehen. - 188 »Sie erwarten Euch einen Tagesritt entfernt, Kommandantin«, erwiderte der General und ließ hastig das Fernrohr sinken. »Gut, dann brechen wir auf. Ich muß mit der Ausbildung Eurer Lanzenreiter beginnen, bevor irgend jemandem aufgeht, was für ein unzuverlässiger Verbündeter so ein Kampfkalkulor ist.« »Aber Kommandantin, welchen Vorteil soll das uns Nimmerländern bringen? Wir wollen doch einzig Lebensmittel, Karawanenrouten und Land.« »Und Land werden wir bekommen, mein lieber verwirrter General. Das ganze Land von hier bis Rochester und noch darüber hinaus.« Der böige Wind eines Spätsommergewitters trieb die röhrenförmigen Rotoren der Windlok Victoria an, während sie ratternd in den Bahnhof von Peterborough einfuhr. Die Sonne war schon untergegangen, und der Bahnhof war hell erleuchtet. Auf dem Bahnsteig wartete eine Schwadron Musketiere aus Woomera und die Gleitbahn-Führungsriege von Peterborough. Zarvora Cybeline, Oberbürgermeisterin der Südostallianz und Hoheliber von Libris, fuhr in diesem Zug. In Peterborough änderte sich die Spurbreite der Gleitbahn von 2,14 Meter auf 1,435 Meter, und daher mußte sie in Peterborough umsteigen. Und es bestand durchaus die Möglichkeit, daß sie sich für einen Moment zu den Männern auf dem Bahnsteig gesellte. Der Rangiermeister, der Bahnhofsvorsteher, der Cheftechniker und der Logistikchef standen an der Tür des Waggons der Great Western, als Zarvora ausstieg. Sie eilte unter die Bahnsteigüberdachung, und dort gab es einen Salut, und anschließend traten die Musketiere zum Waffenappell an. Zarvora hatte die Kapuze ihres Regencapes nicht aufgesetzt, und so sah man ihr schwarzes Haar, das geflochten und mit silbernen, gewölbten Kämmen hochgesteckt war. Sie war blaß im Gesicht und wirkte erschöpft. »Es sollte eigentlich auch eine Kapelle spielen, Frelle Oberbürgermeisterin Zarvora«, erklärte der Bahnhofsvorsteher. »Aber dann kam dieser für diese Jahreszeit ganz untypische Sturm auf.« »Das macht doch nichts, Fras«, erwiderte Zarvora. »Das ist ja kein Staatsakt.« »Hattet Ihr eine angenehme Reise von Kalgoorlie quer durch die Wüsten und die Nullarborebene, Frelle Oberbürgermeisterin?« erkundigte sich der Logistikchef. - 188 »Ja, die Breitspurwaggons der Great Western gleichen fahrenden Palästen.« Der Cheftechniker verneigte sich knapp. »Frelle Oberbürgermeisterin, es wird Euch freuen zu erfahren, daß der Ausbau der Breitspurstrecke mittlerweile bis acht Kilometer vor Morgan fortgeschritten ist. Nächste Woche werden die Breitspur-Windzüge bis Morgan verkehren können. Die Strecken der Great Western werden dann an das Staatsgebiet der Südostallianz angeschlossen sein, und Ihr werdet hier in Peterborough nicht mehr umsteigen müssen.« »Gute Fortschritte«, sagte Zarvora und schenkte ihm ein Lächeln, »aber Ihr könnt sicher sein. Gentlemen, daß ich stets gerne in Peterborough auf ein paar Worte mit Euch haltmachen werde. Die Gleitbahnstrecken halten mein Reich ebenso zusammen wie die Signalfeuertürme, die seine Nachrichten übertragen, und Peterborough ist das Herz beider Netzwerke.« Sie reagierten darauf mit unauffälligem Lächeln und Seitenblicken, und der Cheftechniker holte für seine sorgsam eingeübte Erwiderung schon einmal tief Luft. Doch dann unterbrachen ihn gebrüllte Verwünschungen und der Lärm einer Rauferei. Der Rangiermeister schnippte mit dem Finger und wies in eine Richtung, und ein Diener in Paradeuniform lief sofort den regengepeitschten Bahnsteig hinab zu einer Gruppe von Bremsern und Taklern. »Das übliche Problem. Die Breitspur- und die Normalspurbremser streiten sich darüber welches System besser ist«, sagte er mit einem Achselzucken und einer schwungvollen Gebärde. »Die Zugführer haben Befehl, die Disziplin zu wahren, aber dennoch kommt so etwas hin und wieder vor« »Ich verstehe das nicht«, sagte Zarvora. »Auf meinen vielen Reisen zwischen Kalgoorlie und der Allianz habe ich ein halbes Dutzend derartiger Streitigkeiten miterlebt. Warum sind die
Besatzungen denn bloß so empfindlich, was die Spurbreite einer Gleitbahnstrecke angeht? Es fährt sich gut in den Zügen der Great Western, und deshalb habe ich dem Ausbau bis Rochester zugestimmt, aber ...« Sie wurde unterbrochen, als der junge Diener zurückkehrte. Seine Uniform aus grünem Filz und Goldlitze war nun patschnaß. »Wo sind die Zugführer? Warum wurde der Streit nicht unterbunden?« fragte der Rangiermeister. »Die Zugführer sind es, die sich streiten«, erwiderte der Diener. - 189 Die Musketierschwadron wurde in den Regen entsandt und kam alsbald mit zwei zerzausten und durchnäßten Zugführern wieder. Sie beschimpften einander immer noch und wehrten sich gegen die Musketiere, die sie festgenommen hatten. »Schienenlaschen und Paspelverschlüsse, und so hat sich das seit zweitausend Jahren bewährt!« brüllte der Führer der Galeerenlok der Allianz & Midlands. »Und Eure Scheißwindfarm auf Rädern beschädigt doch sowieso nur alle Gleise, auf denen sie fährt.« »Bei einer Breitspurbahn gibt es Schienenbalken, Querriegel und Schrauben, das läßt sich nicht beschädigen.« »Sie hat aber keine Schienenlaschen.« »Wenn man Eure Schwellen durch Balken ersetzen würde, brauchte man auch gar keine Schienenlaschen.« »Wenn man unsere Schwellen durch Balken ersetzen würde, wäre es für Eure versiffte Behörde viel einfacher, uns alle in Breitspurscheiße umzuwandeln.« »Und was spräche dagegen? Mister Brunei hat die Gleise mit den Schienenbalken und Querriegeln schon vor zweitausendeinhundert Jahren erfunden und -« »Brunei soll die Pest holen!« Ein Schrei blinder Wut entfuhr dem Führer der Windlok der Great Western, seine übliche Reaktion auf jedwede Schmähung des Andenkens von Isambard Kingdom Brunei. Er riß sich nicht von den Musketieren, die ihn hielten, los, sondern zerrte sie vielmehr so weit nach vom, bis er seinem Gegner einen ordentlichen rechten Haken aufs Auge verpassen konnte. Die Musketiere brauchten einen Moment, bis sie die Ordnung wiederhergestellt hatten, und dann mußten sie eine Kette bilden, um die Offiziere, Bremser, Takler und Antriebsarbeiter der beiden Züge auseinanderzuhalten. Zarvora und die Gleitbahnbeamten blieben unter dem Schieferdach des Bahnsteigs stehen, während die Musketiere diese undankbare Arbeit verrichteten. Als die Zugführer eine weitere Runde der Beschimpfungen einläuteten, ging Zarvora dazwischen. »Seid Ihr nicht bald mal fertig?« herrschte sie die beiden an. Das Kampfgetöse verstummte, und man hörte nur noch den Regen und das Rumpeln der leerlaufenden Windzug-Rotoren. »Er hat gesagt, mit meinen Windloks könnte man höchsten Korn mahlen.« - 189 »Er hat meine Antriebsarbeiter als Mäuse im Hamsterrad bezeichnet.« »Ratten im Hamsterrad!« »Da! Da! Ihr habt es gehört!« »Er hat angefangen!« »Ihr hört beide sofort auf damit!« brüllte Zarvora. Als ihnen klar wurde, daß die mächtigste Herrscherin der bekannten Welt wütend genug auf sie war um sie anzubrüllen, kamen die beiden Zugführer schließlich doch zur Besinnung. »In Rochester wartet eine ganze Wagenladung Arbeit auf mich, und ich habe meinen Gemahl seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, und das Konzilium der Bürgermeister des Südens wartet darauf, daß ich bei der alljährlichen Versammlung den Vorsitz führe, und was macht Ihr hier? Ihr, die Führer zweier der fortschrittlichsten und leistungsstärksten Maschinen der Welt? Ihr kullert im Regen hemm, beschimpft und prügelt Euch und streitet Euch über - worum geht es hier überhaupt. Eras Rangiermeister?« »Um Schienenlaschen und Paspelverschlüsse.« »Windlokzugführer Songan, Galeerenlokzugführer Parsontiac, laßt Eure Besatzungen antreten.« »Hier im Regen?« fragte der Rangiermeister.
»Ja, hier im Regen, Fras Rangiermeister« Zarvora betrat die Dienststube der Bahnstation, wo ein Kaminfeuer brannte und Erfrischungen bereitstanden. Sie schlüpfte aus ihrem Regencape und ließ sich vom Bahnhofsvorsteher ein Handtuch reichen. »Womit kann ich noch dienen?« fragte er. »Gutes Wetter, geistig gesunde Zugführer und die Gesellschaft meines Gatten.« »Ich wußte ja gar nicht, daß Ihr verheiratet seid, Frelle Oberbürgermeisterin«, bemerkte er, während sie ihr geflochtenes, hochgestecktes Haar abtupfte. »Manchmal vergesse ich es beinahe selbst. Eras Bahnhofsvorsteher.« Er lächelte mitfühlend. »Ich verstehe, Frelle Oberbürgermeisterin. Seit der Vereinigung haben wir alle unglaublich viel zu tun.« - 190 Tarrin Dargetty führte einen wichtigen Besucher durch den Komplex aus Sälen, Korridoren, Buchmagazinen, Werkstätten, Schlafsälen und Zellenblöcken, aus denen das Innere von Libris bestand. Jefton war nurmehr Bürgermeisterprätendent, Rochesters abgesetzter Monarch, hatte aber immer noch einen gewissen Status inne. »Es hat sich ziemlich verändert, seit ich das letzte Mal hier war«, bemerkte Jefton und duckte sich unter einigen Flaschenzügen hindurch, deren gespannte Drähte sirrten und schwirrten. »Die ursprünglichen Systeme aus dem Jahre 1700 wirken verglichen mit den heutigen so alt, daß sie unbrauchbar erscheinen«, sagte Tarrin nachdenklich. »Die Hoheliber vermag die Allianz auch von dem 2400 Kilometer westlich von hier gelegenen Kalgoorlie aus reibungslos zu regieren.« »Und sie regiert besser, als ich es je könnte«, sagte Jefton leicht verärgert. »Warum sollte ich mir denn überhaupt die Mühe machen, einen Erben zu zeugen?« »Einen Staat zu regieren bedeutet mehr als nur Steuern einzutreiben, die Armee zu kontrollieren, Straßen und Gleitbahnen zu unterhalten und den Mist von den Bauernhöfen fortschaffen zu lassen. Die Menschen brauchen ein Gesicht für festliche Anlässe, ein königliches Liebesleben, über das sie sich das Maul zerreißen können, und eine Galionsfigur, bei der sie sich beschweren können.« Jefton zuckte mit den dicklichen Schultern, was ein Zittern durch den Rest seines rundlichen Leibes sandte. »Wenn sie ihre Wut auslassen wollen, können sie doch die Gefangenen am Pranger mit verfaultem Obst bewerfen. Was habe ich damit zu schaffen?« Tarrin antwortete nicht darauf, denn sie waren an einer bewachten Tür angelangt. Der Bürgermeisterprätendent mußte sich in eine Liste eintragen. Hinter dieser Tür und der Tür dahinter befand sich ein Balkon mit Blick in den Kalkulorsaal. Jefton schritt zum Geländer und sah tief beeindruckt hinab. »Er füllt ja jetzt den ganzen Saal aus«, bemerkte er nach einer Weile. »Ja, und die Planungsabteilung diskutiert darüber, ob man für künftige Erweiterungen in drei Meter fünfzig Höhe eine zweite Etage einziehen sollte, oder ob man lieber anderswo weitere Kalkuloren für spezielle Aufgaben errichten sollte.« »Das ist beeindruckend, aber warum habt Ihr mich hierhergebracht?« - 190 Tarrin machte eine gewundene Geste in Richtung Kalkulor und imitierte dann die Verbeugung des Bürgermeisters. »Wäret Ihr gewillt, auf dem Throne von Rochester zu sitzen, während die Hoheliber Euch als Oberbürgermeisterin regiert?« Trotz seines zunehmenden Taillenumfangs und des von einem ausschweifenden Leben zeugenden Aussehens hatte sich Jefton seinen scharfen Verstand bewahrt. »Sie will, daß ich hier die Galionsfigur gebe? Ich soll als Bürgermeister wiedereingesetzt werden?« »Als Bürgermeister-Seneschall. Die Hoheliber hat ein solches Arrangement auch mit Tandara, Yarawonga, einigen Fürstentümern des Westens und der ehemals südmaurischen Provinz Finley getroffen.« »Ich weiß nicht so recht, ob mir der Titel Bürgermeister-Seneschall gefällt.« »Dann wäre Euch also Bürgermeisterprätendent lieber?«
Jefton antwortete nicht, sondern sah hinab in das geschäftige Treiben des Kalkulors. Tarrin kratzte derweil über Suppenflecken an seinem Ärmel. »Der Titel wird allgemein mit >Bürgermeister< abgekürzt«, erläuterte Tarrin beiläufig, der Jefton nicht den Eindruck vermitteln wollte, irgend jemand wolle ihn ganz dringend zurück. »Wenn die Oberbürgermeisterin anwesend ist, würdet Ihr als Bürgermeister-Seneschall angekündigt. Diesen Titel würdet Ihr auf sämtlichen offiziellen Dokumenten und Briefköpfen tragen, aber Ihr könntet aus Eurer Villa in Oldenberg zurück in den Staatspalast ziehen. Für die Oberbürgermeisterin hat man nämlich in Libris neue Räumlichkeiten errichtet.« Jefton verschränkte die Arme auf dem Geländer und sah zu den Matt-glasoberlichtem empor. »Wie oft ist die Oberbürgermeisterin eigentlich in Rochester?« »Allerhöchstens alle neun Wochen einmal. Meist ist sie auf Reisen durch andere Staaten oder drüben im fernen Westen, in Kalgoorlie. Sie arbeitet viel mit dem dortigen Bürgermeister zusammen.« Jeftons Entschluß war offensichtlich, ehe er ihn verkündete. Unvermittelt richtete er sich auf und warf die Schultern zurück, in einer Pose bürgermeisterlicher Würde, die er sich viele Jahre lang nicht mehr gestattet hatte. Tarrin hörte Gelenke knacken. »Ich nehme an!« erklärte Jefton munter. Tarrin war über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung nicht erstaunt. - 191 »Ausgezeichnet ... Bürgermeister Jefton«, erwiderte er, diesmal mit einer tiefen, formellen Verbeugung. »Nicht so voreilig, Fras Golddrache. Es müssen noch Papiere unterzeichnet werden, ich kenne die Formalitäten.« »Da Ihr nun eingewilligt habt, wird man für eine Feier heute abend den Vertrag ausfertigen. Die Oberbürgermeisterin ist gegenwärtig zu Besuch in Rochester, und daher werdet Ihr rechtskräftig Bürgermeister-Seneschall sein, wenn Ihr heute abend zu Bett geht.« Drunten im Kalkulor begann gerade der Schichtwechsel, und frische Komponenten strömten herein, um jene abzulösen, die gerade acht Stunden Arbeit abgeleistet hatten. Tarrin sah auf das ramponierte alte Uhrwerk an seinem Gürtel und verglich den Stabwechsel damit. »Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet, Fras Bürgermeister, ich habe noch eine weitere angenehme Pflicht zu verrichten.« »Nichts könnte so angenehm sein wie das Ausfertigen meines Amtsvertrages.« »Oh, ich werde das gleich in Auftrag geben, wenn ich Euch hinausgeleite.« »Dann geleitet mich jetzt bitte hinaus.« Diener eilten geschäftig mit Klemmbrettern und Schiefertafeln umher, als Jefton und Tarrin in den großen Eingangsbereich von Libris zurückkehrten. Tarrin übergab Jefton der Fürsorge eines Herolds, der sich um weitere Einzelheiten wie die Gewänder und die Ansprachen kümmern sollte. »Und was ist das für eine angenehme Pflicht, von der Ihr eben spracht?« fragte Jefton, als sie auf dem riesigen Bodenmosaik der Eingangshalle standen. »Etwas sehr Feierliches. Die erste öffentliche Entlassung einer nicht straffälligen Komponente aus dem Kalkulor von Libris.« FUNKTION 9 war gerade in seine Zelle zurückgekehrt und saß dort alleine, als Tarrin eintraf. Mit seinen fünfunddreißig Jahren war FUNKTION 9 zwar nicht die älteste Komponente des Kalkulors, aber eine der dienstältesten. Als FUNKTION war er so weit aufgestiegen, wie er nur konnte. Keiner der jüngeren Rekruten hatte je seinen Rekord im Kopfrechnen gebrochen, und er hatte sogar Methoden entwickelt, die das Funktionieren eben des Kalkulors verbessert hatten, in dem er interniert war. - 191 Das Klopfen eines Offiziersstock, der an den Gitterstäben entlanggezogen wurde, ließ ihn von einem Buch über die Mathematik der Zeit vor dem Großen Winter hochsehen. Er erkannte Tarrin, den Systemsteuerer. »Du arbeitest eifrig, auch in deiner Freizeit«, bemerkte Tarrin.
»Freie Zeit ist nur etwas für freie Menschen, Fras Systemsteuerer«, entgegnete FUNKTION 9 gelangweilt und geduldig. »Ich muß den Konkurrenzkampf hier im Kalkulor überleben, und Ihr schickt unablässig jüngere und schnellere Konkurrenten ins Rennen.« Tarrin verschränkte die Hände hinterm Rücken und betrachtete die Komponente. FUNKTION 9 machte einen sehr gepflegten Eindruck und trug Kleider, die der aktuellen Mode entsprachen. Er nähte sie sich selber behaupteten jedenfalls die Regulatoren. Hochintelligent und alles andere als seelisch gebrochen, dachte Tarrin bei sich. Trotzig und stolz, aber kein Rebell. »Darf ich hereinkommen?« fragte Tarrin, als sich FUNKTION 9 wieder seinem Buch zuwandte. »Das hängt davon ab, ob Ihr den Schlüssel habt oder nicht«, entgegnete sein Gegenüber ohne aufzublicken. FUNKTION 9 riß den Kopf hoch, als er hörte, wie das Schloß geöffnet wurde. Tarrin betrat die Zelle und ließ die Tür offenstehen. Seinen Umhang hatte er an der Seite gerafft, so daß man die Steinschloßpistole an seinem Gürtel sah. Er ließ sich auf dem Etagenbett nieder und zog die Pistole. Dann drehte er sie um und legte sie auf das Schreibpult. »Das ist sehr freundlich, Fras Bibliothekar aber nehmt die bitte wieder weg. Wir Komponenten werden hingerichtet, wenn man Waffen bei uns findet. Das müßtet Ihr doch wissen, es sind schließlich Eure Regeln.« »Aber Ihr seid keine Komponente mehr Fras Denkar Newfeld«, sagte Tarrin und zog eine Schriftrolle aus dem Ärmel. Tarrin nahm das Kopfkissen und legte die Schriftrolle darauf. Dann erhob er sich, verbeugte sich und überreichte beides der immer noch sitzenden Komponente. FUNKTION 9 sah ihn reglos an, streckte dann langsam die Hand aus und ergriff die Rolle mit Daumen und Zeigefinger. »Das Siegel der Hoheliber«, bemerkte er als er das Wachs erbrach. »Hm. Dem üblichen Wärtergesinde sei hiermit mitgeteilt, daß der Gast des Bürgermeisters von Rochester, der mit FUNKTION 9 bezeichnet - 192 wird, jetzt ein freier Mann ist und von nun an den Namen Fras Denkar Newfeld tragen wird.« »Nicht ganz die Worte von Oberbürgermeisterin Cybeline.« »Bis auf den Inhalt. Ist das also ein Scherz?« Tarrin zog noch eine weitere Schriftrolle hervor, die nicht versiegelt war. »Ich habe hier Eure Entlassungsurkunde aus dem Kalkulor. Ihr dürft als erster so etwas unterzeichnen. Ich habe sie erst heute morgen ausfertigen lassen.« FUNKTION 9 entrollte das zweite Schriftstück und las es aufmerksam. Tarrin fuhr wieder mit seinem Stock über die Gitterstäbe und versuchte ihn dann auf der Fingerspitze zu balancieren. »Unerträgliches juristisches Kauderwelsch«, sagte er, als er bemerkte, daß FUNKTION 9 den Text zum dritten Mal las. »Kurzgefaßt steht dort, daß Ihr einwilligen müßt, niemals jemandem außerhalb von Libris ohne Einwilligung der Oberbürgermeisterin etwas über die Arbeitsweise des Kalkulors zu erzählen. Auf Zuwiderhandlung steht die Todesstrafe. Ihr müßt anerkennen, daß Eure Inhaftierung ein Justizirrtum war, und werdet die Angelegenheit gegen Zahlung einer Summe von dreihundert Goldroyal als erledigt betrachten. Frelle Zarvora Cybeline bringt ihr Bedauern zum Ausdruck - sowohl als Oberbürgermeisterin als auch als Hoheliber.« »Bedauern?! Sie hält mich hier neun Jahre lang gefangen, die besten neun Jahre meines Lebens, und schmeißt mich dann mit einem Beutel Gold raus auf die Straße - und drückt mir dazu nur ihr Bedauern aus?« »Was wollt Ihr mehr?« »Neun Jahre höheres Dienstalter an der Universität von Oldenberg. Nachdem ich hier fast ein Jahrzehnt lang verkümmert bin, kann ich doch froh sein, wenn ich noch eine Stelle als Buchhalter bekomme.« »Dann akzeptiert Ihr Eure Entlassungsurkunde also nicht?« Die Schriftrolle zitterte leicht in den Fingern von FUNKTION 9, und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Wehr dich dagegen, gib dir keine Blöße vor diesem schäbigen kleinen Bibliothekar, dachte er und verhehlte seine Wut mit Dankbarkeit.
»Natürlich akzeptiere ich sie!« rief er und zog einen Federkiel aus einer Tongroteske auf seinem Schreibpult. Er überprüfte den Schnitt und unterzeichnete dann schwungvoll. »Noch ein letztes Schriftstück, da Ihr nun wieder Fras Denkar New - 193 feld seid«, sagte Tarrin. »Das hier ist ein Stellenangebot, das etwas von Euren verlorenen Dienstjahren wettmachen dürfte.« Denkar las es und hob dann langsam wieder den Blick. Die Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, und er war völlig fassungslos. »Das ist doch wirklich ein verquerer kleiner Scherz. Ihr wollt mich als Golddrachenbibliothekar beschäftigen - in der Botschaft in Kalgoorlie? Das ist ja am anderen Ende der bekannten Welt!« »Das Gehalt ist ganz anständig, und man spricht dort die gleiche Sprache.« »Ich bin aber lieber hier. Könnt Ihr mich nicht in Libris beschäftigen?« »Ah, in Libris sind im Moment keine Stellen zu besetzen.« Denkar stellte den Federkiel zurück. »Nein, danke. Die Freiheit allein genügt mir« Er nahm sein Kopfkissen, legte die Schriftrolle darauf und reichte sie Tarrin zurück. Denkar hatte sich bereits seine Kalkulorabzeichen von der Uniform geschnitten, als sie die Zelle verließen, und dort waren nur noch die Fäden zu sehen. Etliche Rotdrachen stellten sich Denkar in den Weg und salutierten dann erstaunt, als Tarrin die Schriftrollen vorzeigte. Bei der Angestelltenkantine blieb Denkar stehen. »Darf ich?« fragte er und zeigte auf Tarrins Steinschloßpistole. Tarrin starrte ihn einen Moment lang an, zog dann zögerlich die Pistole und reichte sie ihm, mit dem Griff voran. Denkar spannte den Hahn und betrat die Kantine. Dort saßen etliche Rot-, Grünund Blaudrachen-Regulatoren an einem Tisch, tranken Bier und spielten Karten. Denkar hielt die Waffe mit beiden Händen und feuerte auf einen Keramikkrug Schwarzbier der auf dem Tisch stand. Er zerbarst, und das Bier schäumte hervor, und die Regulatoren wichen vom Tisch zurück. Sekunden später waren neun Pistolen auf Denkars Kopf gerichtet. »Fras Tarrin, hat er Euch als Geisel genommen?« stieß ein Blaudrache keuchend hervor und wischte sich mit der freien Hand den Bierschaum vom Gesicht. »Nehmt die Waffen runter«, entgegnete Tarrin. »Auf der Stelle! Fras Denkar Newfeld ist auf Befehl der Oberbürgermeisterin entlassen worden.« Einen Moment lang herrschte erschüttertes, ungläubiges Schweigen. Denkar genoß den Augenblick. »Denkt dran, ich werde nicht die letzte Komponente sein, die freigelassen wird«, sagte er schließlich, machte dann kehrt und ging hinaus. - 193 »Was sollte das?« fragte Tarrin, der ihm nacheilte. »Das sollte dafür sorge, daß sie sich den anderen Komponenten gegenüber etwas mehr zurückhalten«, erwiderte Denkar, ohne aus dem Tritt zu kommen. »Ein Abschiedsgeschenk für meine ehemaligen Mitsklaven.« »Ihr seid da eben nur mit viel Glück dem Tod entronnen!« belferte Tarrin. »Was also sollte das in Wirklichkeit?« Denkar blieb so unvermittelt stehen und drehte sich um, daß Tarrin fast mit ihm zusammengestoßen wäre. Der Gesichtsausdruck der vormaligen FUNKTION hatte jetzt etwas beunruhigend Klarsichtiges. »Hier spielt sich doch mehr ab als nur meine Entlassung aus dem Kalkulor, sonst hättet Ihr mich nach meinem Auftritt in der Kantine schnurstracks zurück in meine Zelle befördert. Also: Was geht hier in Wirklichkeit vor?« Tarrin sah zu Boden. »Die Oberbürgermeisterin sagt mir nur -« »- sehr wenig. Oder gar nichts, wenn es sich einrichten läßt. Also gut, was glaubt Ihr, was vor sich geht?« »Anfangs wurden viele Kalkulorkomponenten so wie Ihr, äh ... »Entführt.«
Tarrin schritt um ihn herum und ging dann mit auf dem Rücken verschränkten Händen weiter den Korridor hinab. Denkar sah ihm einen Moment lang nach, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt, und folgte ihm mit einem Achselzucken. »Wir sagen lieber zwangsverpflichtet«, entgegnete Tarrin. »Ja, ich gebe es zu, Dutzende Komponenten wurden eingezogen, ohne daß sie Straftäter gewesen wären. Wir brauchten ihre Fähigkeiten - zum Betrieb des Kalkulors und zur Ausbildung der Straftäter. Den Kampfkalkulor kennt die Außenwelt nun seit Jahren, und der Kalkulor von Libris ist mittlerweile ein offenes Geheimnis. Es hätte keinen Sinn, Euch weiter hierzubehalten, um ein Geheimnis zu bewahren oder Fähigkeiten zu erhalten, die längst nicht mehr einzigartig sind.« »Dann vermag also nicht einmal mehr die mächtige Hoheliber und Oberbürgermeisterin, unschuldige Komponenten in Haft zu behalten -im Gegensatz zu den straffälligen.« »Das ist des Pudels Kern.« »Nun, Fras Tarrin, ich glaube Euch kein Wort, aber das ist ja nun auch völlig irrelevant, nicht wahr? Laßt mich doch besser schnell ausbezahlen und diese Mauern verlassen, ehe mich erneut das Verlangen überwältigt, auf einen Drachenbibliothekar zu schießen.« - 194 Tausende Kilometer weiter westlich stand ein anderer Gefangener kurz davor, in die Freiheit zu gelangen, wenn auch eher durch Flucht als durch Entlassung. Eine Prozession in Sackleinen gewandeter Gestalten stapfte in einer Reihe durch die Wüstenlandschaft aus Kieselsteinen und rötlichem Sand. Ihr Anführer war der Abt des Klosters von Baelsha, und ihr Ziel war ein Steinhügel, in dem sich auch eine kleine Höhle befand. Als sie dort eingetroffen waren, ging der Abt einmal um den Steinhügel herum und betrat die enge Nische. Als er sich vergewissert hatte, daß alles in Ordnung war machten sich die Mönche an die Arbeit. Die Höhle wurde ausgefegt, und dann wurde der schwere, an einer Wand angebrachte Wasserbehälter überprüft. Zwei Mönche packten Fladenbrot und in Butterbrotpapier gewickelte Datteln aus und legten die Lebensmittel auf einen Felsvorsprung, der als Vorratsschrank diente. Schließlich schnallten sie vier Wasserschläuche auf und gössen den Inhalt in den Wasserspeicher. Als sie wieder herauskamen, winkte der Abt drei andere Mönche herbei, die im grellen Sonnenschein gewartet hatten. Der Größte von ihnen entledigte sich seines Gewands aus Sackleinen und Baumwolle und gab schließlich auch seinen flachen Strohhut her. Auf einen Wink des Abts hin stellten sich die übrigen Mönche hinter ihrem nunmehr nackten Bruder in einer Reihe auf. »Re!« bellte der Abt, und sie alle verneigten sich tief. Der Abt zog ein kleines Buch aus einer Umhängetasche auf seinem Rücken und forderte den nackten Mönch mit einem Wink auf vorzutreten. Er überreichte ihm das Buch und trat dann einen Schritt zurück. Sie verneigten sich voreinander. »Bruder Glasken, für dich beginnen nun die wichtigsten zehn Tage deines Lebens«, sagte der Abt in strengem Ton, als Glasken mit dem Buch in Händen vor ihm stand. »Es ist der Höhepunkt von fünf Jahren des Zölibats, der Abstinenz, des Gebets, des Fastens, der Freiheit von weltlichen Lastern und der Ausbildung in unseren schwierig zu meisternden Kampfkünsten. Oftmals, Bruder Glasken, habe ich geglaubt, du würdest unserer Lebensweise nicht standhalten, aber du hast mich eines Besseren belehrt. Und hier folgt nun deine letzte und schwierigste Prüfung. In gut fünf Tagen wird der Ruf kommen. Wenn die verlockende Berührung des Rufs in deine Seele dringt, mußt du ihr mit weiter nichts als deinem Geist und deiner Willenskraft widerstehen, so wie wir es dir - 194 beigebracht haben. Ohne Haltestrick, ohne Sandanker, ohne geschulte Rufterrier oder Rufschutzmauem wirst du der Verlockung widerstehen. Du hast nichts anzuziehen und nur Stroh, um darin in den kalten Wüstennächten zu schlafen. Der Höhlenausgang weist nach Westen, und nichts hier kann dazu genutzt werden, dich zurückzuhalten. Bruder Glasken, willst du diese letzte Prüfung ablegen?« »Ja, das will ich. Euer Hochwürden.«
»Bruder Glasken, du könntest mit uns in das Kloster Baelsha zurückkehren. Man würde deine rechte Kniesehne zerschneiden, aber weiter würde dir nichts geschehen, und du könntest für den Rest deines Lebens bei uns als Gärtner tätig sein. Es wäre ein ehrenhaftes Leben, das dem Gebet und der Meditation geweiht wäre. Möchtest du von dieser letzten Prüfung zurücktreten?« »Nein, das möchte ich nicht. Euer Hoch würden.« »Bruder Glasken, solltest du dem Ruf widerstehen, so wirst du dem Mönchsorden von Baelsha angehören, gebunden an das Keuschheitsgelübde, das Gelübde der Armut und die Gehorsamspflicht, gebunden an meine Autorität und dem Tode geweiht, solltest du jemals versuchen fortzugehen. Sollte es jedoch Gottes Wille sein, daß sich der Ruf als zu stark für dich erweist, so wirst du ihm in die Wüste folgen und sterben. Möchtest du von dieser letzten Prüfung zurücktreten?« »Nein, das möchte ich nicht. Euer Hoch würden.« »Dann forderst du aus eigenem freien Willen den Ruf heraus. Re!« Sie alle verbeugten sich erneut. Der Abt trat mit einem breiten Lächeln vor und schüttelte Glasken die Hand. »Bitte geh aus der Sonne und in den Schutzraum, Bruder Glasken«, sagte er freundlich. »Bete und wappne dich, aber fürchte dich nicht. Wenn du versagst, wirst du in wenigen Tagen schon im Himmel weilen.« »Aber wenn ich dem Ruf widerstehe, muß ich noch mein ganzes restliches Leben warten, bis ich in den Himmel komme. So wie Ihr das sagt, klingt das Versagen ganz reizvoll.« Der Abt legte dem nackten Mönch väterlich einen Arm um die Schultern und führte ihn zu der Höhle. »Ich weiß, was du meinst, Bruder Glasken, aber du solltest da ganz klar sehen. Falls du das Verlangen verspürst, dich dem Ruf zu ergeben, so wäre das schließlich Selbstmord. Du würdest schnurstracks in der Hölle landen!« »Euer Hochwürden, ich verstehe. Auch nach fünf Jahren in Baelsha entschlüpft mir immer noch gelegentlich ein kleiner Scherz.« - 195 »Ach ja, Bruder Glasken, die kleinen Scherze. Denk dran: Gelacht wird immer auf irgend jemandes Kosten, und in diesem Fall wäre es auf deine Kosten. Sollte der Teufel dich in dem Moment zum Lachen bringen, in dem der Ruf kommt, so wirst du ihm in alle Ewigkeit Gesellschaft leisten.« »Eure Warnung ist der Stab, mit dem ich ihn schlagen werde. Hochwürden.« »Gottes Wille geschehe. Gib dir Mühe und bestehe diese Prüfung, Bruder Glasken. Dich auszubilden, war die schwierigste Aufgabe meines Lebens.« Fünf Gestalten verließen den Steinhügel, nun in weniger formellem Schritt. Der Abt ließ den Kopf hängen. »Vor fünf Jahren kommt er aus der Wüste gekrochen, fast verhungert und halb wahnsinnig vor Durst«, sagte der Abt zu den anderen. »Kann es tatsächlich sein, daß er aus den fernen Städten Alsprings kommt, wie er behauptet? Und wenn ja - was hat ihn dazu gebracht, in die Unendlichkeit der Wüste hinauszugehen?« »Ein flüchtiger Rechtsbrecher?« sagte der Mönch, der Glaskens Kleider und Hut trug. »Mag sein. Aber vielleicht ist er tatsächlich der, der er behauptet zu sein: Ein Philosoph und Forschungsreisender, der dabei war, das Land zu kartieren und sich dann verlaufen hat. Ein merkwürdiger und ... getriebener Mann ist Bruder Glasken.« Glasken sah zu, wie die Mönche mit der vor Hitze flirrenden Luft des Horizonts verschmolzen. Dabei plapperte er leise im Selbstgespräch vor sich hin. »Endlich allein, zehn Tage lang allein. Bald wird es andere geben, mit denen ich sprechen kann, andere außer mir. Ich! Der einzige zivilisierte Umgang in ganz Baelsha, das bist du doch, Johnny Glasken. Ah, ich bin geistig gesund geblieben, indem ich mich fünf Jahre lang mit dir unterhalten habe, aber bald wird Glasken nicht mehr mit Glasken sprechen.« Als er sicher war, daß die Mönche tatsächlich fort waren, eilte er in den Schutzraum. Er langte so tief in den Wasserspeicher hinein, bis sein Kopf fast untergetaucht war. Da waren sie! Dutzende
Kieselsteine, in viereckige Stoffstücke eingewickelt, und zehn straff gebundene Lederbündel. Glasken fischte sie kichernd heraus. »Zehn kleine Wasserschläuche aus Ratten-, Katzen- und Vogelleder - 196 dreißig Stoffstücke und die Fäden und Riemen, die sie zusammenhielten, während sie in den Wasserschläuchen unterwegs waren. Und jetzt, kleines Gebetbuch, erhöre mein Flehen.« Er klappte die Einbanddeckel zurück und spähte in die sich auftuende Lücke zwischen Buchrücken und Buchblock. »Eine abgebrochene Rasierklinge und eine Nähnadel - alles da!« Er begann die Stoffstücke zusammenzunähen, und seine flinken Finger hinterließen fachmännisch ausgeführte Stiche. Dabei murmelte er wie von Sinnen vor sich hin. »Mein fliegender Teppich, der mich zu den Fürstentümern des Westens tragen wird - zu Frauen, Wein, Gelagen, Verführungen, Frauen, Geld, Glückspiel, Frauen und noch einmal Frauen ...« Als sein Kilt und sein Sonnencape fertig waren, stutzte Glasken mit der Rasierklinge etwas von dem Stroh so zurecht, daß er daraus schnell einen breiten, kegelförmigen Hut flechten konnte. Seine Wasserbeutel wirkten, als er sie dann befüllt hatte, deprimierend klein, aber er stopfte so viel von den Datteln, dem Fladenbrot und dem Wasser in sich hinein, wie er nur konnte. Hin und wieder sah er draußen nach, ob nicht etwa der Abt zurückgekommen war. Mit den Lederriemen band sich Glasken schließlich einige Stücke Fladenbrot und einige Datteln zwischen den Hut und den kahlgeschorenen Kopf. Mit Bedacht ließ er das Buch bei einem Gebet aufgeschlagen liegen und zerwühlte dann das Stroh, als hätte er darin geschlafen. Als er nach draußen trat, schätzte er, daß es keine Stunde mehr bis zum Sonnenuntergang war. Er sah nach Westen, wohin der Abt und die Mönche gegangen waren. Er lachte laut und sprach zum Horizont: »Du warst so vorsichtig, mich genau zu untersuchen, Abt Haleforth, aber du wärst nie auf die Idee gekommen, daß ich in deine Gemächer einbrechen und deine Tasche durchsuchen würde, ja, und dann habe ich auch noch eine Nadel und eine Rasierklinge in das Büchlein geschmuggelt, mit dem du mich fünf Jahre lang gemartert hast. Ich weiß, daß du ein Fernrohr eingepackt hast, du räudiger alter Fuchs, ich weiß, daß du da draußen sitzt und zu mir rüberspähst. Na, dann brat du doch in der Sonne, während ich es mir auf meiner kühlen Steinveranda gutgehen lasse. Brate dort in der Sonne, denn wenn du bei Sonnenuntergang zu deinem Kloster aufbrichst, werde auch ich aufbrechen, aber ich werde nach Süden gehen. Laßt euch nur von der Sonne rösten, ihr faulen, kriecherischen Mönche, die ihr euch, als ihr heute morgen in die - 196 Küche kamt, gefragt habt, welche wohltätige Seele denn schon all die Schläuche mit Wasser gefüllt - ja, und sie schön fest zugebunden hatte!« Als das letzte Sonnenlicht erlosch, trank Glasken aus dem Wasser-Speicher, bis ihm fast schlecht wurde, und brach dann nach Süden auf. Er ging langsam und schlurfend, damit seine Spuren so aussahen, als hätte ihn der Ruf gepackt. Und während er so ging, sah er nach Westen, zum Kloster »Lebwohl, Baelsha«, sagte Glasken und winkte zu dem schwach sichtbaren Horizont hinüber. »Gebt mir ein wenig Zeit, und ich werde für jeden einzelnen von euch eine Frau flachlegen und ein Glas trinken, ja, auch wenn ihr zweimal zwölf Dutzend Mann seid.« Mit den Sternen und der Spiegelsonne als Uhr und Kompaß, wanderte Glasken weiter nach Süden. Als der abnehmende Mond aufging und den orangenfarbenen Lichtschein der Spiegelsonne mehrte, verfiel er auf dem mit Felsen übersäten Sand in einen gemächlichen Trab. Er stolperte oft, fiel auch einige Male hin, lief aber immer bester Laune weiter. Denkar trat zögernd durch die Tore des Vorhofs von Libris hinaus auf die Straßen von Rochester Nach zehn Jahren im Innern der riesigen Bibliothek erschien ihm der Himmel unerträglich grell, und er hielt sich beim Gehen schützend eine Hand über die Augen. Er wurde beobachtet, da war er sich sicher Mit einem Goldroyal kaufte er sich ein Stück Honiggebäck und sagte dem verblüfften Verkäufer, er könne das Wechselgeld behalten. Am Bahnhof erwarb er eine Fahrkarte nach Oldenberg, aber der Tretzug fuhr erst einige Stunden später. Tarrin hatte ihm einen Gutschein für das Café Marellia gegeben, ein kostspieliges Speiselokal am Bahnhofsplatz.
Ich soll dorthin gehen, dachte Denkar. An der Eingangstür angelangt, winkte er einem Mann zu, der auf der Straße stand. »Meint Ihr mich, Fras?« »Ja, kommt rein, und sagt auch Euren Freunden Bescheid, die mich aus größerer Entfernung beschatten.« »Ich verstehe nicht, Fras.« »Natürlich versteht Ihr. Ich will mit meinen Beschattern einen Kaffee trinken. Selbstverständlich lade ich Euch alle ein.« Der Mann machte kehrt und ging flotten Schritts davon. Denkar - 197 betrat das Café, und ein Kellner eilte herbei. Pomade schimmerte in seinem Haar, und sein langer Schnurrbart sah wie dunkles, schön gemasertes Holz aus, das eben erst aufpoliert worden war. »Eine Dame wartet im Séparée, Fras«, flüsterte er mit erhobenen Augenbrauen. »Sie würde Euch gerne Gesellschaft leisten.« Denkar wunderte mittlerweile gar nichts mehr. »Was Ihr nicht sagt. Aber vielleicht möchte ich ihr ja keine Gesellschaft leisten, Fras Kellner.« Er zwinkerte ihm zu und drückte ihm einen Silbernobel in die Hand. »Sagt, ist sie hübsch?« Der Kellner lächelte wissend. »Ich danke Euch, freigebiger Fras. Eine schöne Dame, Fras, eine schöne Dame. Ein zartes, feines Gesicht, offenes, üppiges schwarzes Haar - und erst diese Augen! Teure Silberkämme im Haar, ha, von einem reichen Gemahl, der viel zu sehr damit beschäftigt ist, Geld zu verdienen, ja?« Er stupste Denkar am Arm. »Große, samtig blickende Augen -« »Halt! Genug. Entweder hat sie Euch noch mehr Trinkgeld gegeben als ich, oder sie ist tatsächlich all das. Aber sagt mir: Ist sie eine Drachenbibliothekarin?« »Keine Uniform, Fras.« »Aha. In gewisser Weise bin ich enttäuscht. Aber andererseits bin ich auch erleichtert. Führt mich zu ihr, Fras Kellner.« Sie gingen zwischen auf Hochglanz polierten Rotholztischen und -bänken hindurch, auf denen ein Querschnitt der faden, gelangweilten Oberschicht von Rochester saß, bei Kaffee aus Eierschalenporzellantassen und exquisiten Emuleberpasteten-Kanapees. Denkar bemerkte, daß offenbar gerade eng anliegende Hemden mit weiten Ärmeln in Mode waren. Die Séparées waren eine Reihe von Räumen, die mitten durch das Café verlief, mit Türen auf beiden Seiten. Der Kellner wies auf eine Gittertür und verschwand dann. Denkar klopfte an, und eine volltönende, honigsüße Altstimme sagte: »Herein.« Denkar öffnete die Tür des mit Kerzen beleuchteten Séparées. Das Gesicht der Frau befand sich teils im Schatten, aber es konnte keinen Zweifel geben, wer sie war. »Hoheliber!« »Schließt die Tür hinter Euch, Fras Denkar.« Denkar ließ sich erschöpft auf dem ledernen Bankpolster nieder, und die Roßhaarfüllung gab in der Stille ein Geräusch von sich wie im Feuer knackendes Anzündholz. Zarvora trug ihr üppiges Haar offen. Es wurde - 197 von einigen grauen Strähnen aufgehellt und umrahmte, von Kämmen gehalten, ihr Gesicht. Sie wirkte entspannt und sah in der Abgeschiedenheit dieses Séparées bemerkenswert liebreizend aus. Denkar hatte sie immer nur bei offiziellen Ankündigungen gesehen, und dann hatte sie stets einen steifen Eindruck gemacht - oder mit vor Wut verzerrten Gesichtszügen, wenn sie wegen irgendeiner Funktionsstörung in den Kalkulorsaal gestürmt war. Und hier war sie nun, die Frau, die seine Versklavung befohlen hatte. Seltsam losgelöst stellte er fest, daß in ihm kein Zorn aufloderte. Sie war wie Tarrin oder seine Zellentür: nur etwas, das ihn einmal eingeschlossen hatte. Im Gegensatz zu Tarrin aber war sie ausgesprochen attraktiv. »Wünscht Ihr, daß ich mich bei Euch für Euer Jahrzehnt in der Sklaverei entschuldige, Fras Denkar?« fragte sie nach einem beklommenen Schweigen. Gevatter Tod stand schon hinter Denkar bereit und wartete nur auf ein Widerwort. Denkar schluckte, beruhigte seine Atmung und antwortete: »Ja.« Die Sense senkte sich langsam herab.
»Dann entschuldige ich mich hiermit bei Euch.« Die Sense wurde zurückgehalten. Denkar wurde schwindelig. Trotz seiner durchaus gerechtfertigten Bitterkeit wollte er irgendwie nett zu ihr sein. Sie hatte sich entschuldigt. Was jetzt? »Ich möchte der Golddrache werden, der für die Leitung des Kalkulors zuständig ist.« »Dieser Posten ist nicht vakant.« »Ihr seid die Hoheliber - und die Oberbürgermeisterin.« Zarvora überlegte kurz und erhob sich dann. »Ja, das bin ich«, sagte sie und verließ das Séparée. Wenig später kam sie zurück und setzte sich wieder »Wie gefällt Euch die Freiheit?« fragte sie ein wenig verlegen. »Sehr sehr gut, aber ... « »Aber?« »Die Jahre im Kalkulor waren faszinierend. Ich habe mir mehr mathematische Fähigkeiten angeeignet, als mit das in Oldenberg je gelungen wäre, und habe sogar neue Entdeckungen in der Rechentheorie gemacht. Ich habe Freunde da drin, und vielleicht werde ich sie sogar wiedersehen, wenn Ihr gestattet.« Zarvora nickte und sah ihn die ganze Zeit unverwandt an. Denkar schaute ihr einen Moment lang in die Augen und schlug dann verwirrt den Blick nieder. »Interessant«, sagte sie. »Und was werdet Ihr jetzt tun? Nach Hause zurückkehren, in den Schenken zechen, Röcken nachjagen?« »Zu Hause, nun ja ... vielleicht kennt mich da ja sogar noch irgendwer. Und ein schönes Schwarzbier werde ich auf jeden Fall trinken. Das habt Ihr Euren Komponenten ja untersagt.« »Schwarzbier? Das muß eine alte Vorschrift aus desperateren Zeiten sein. Wird morgen früh gleich aufgehoben.« Denkar legte den Kopf zur Seite. »Das ist großzügig von Euch. Und was die Röcke angeht, da hätte ich ... äh, eine Bitte.« Zarvora sagte nichts, sah ihn nur unverwandt an. Denkar kam es so vor, als würde sie jeden Moment wie ein Raubvogel herabstoßen und etwas ergreifen. Er atmete tief durch, dann noch einmal. Schließlich beugte er sich vor und sah mit trotzigem Blick in ihre dunklen, ernst blik-kenden Augen. »Ich habe - es gab da eine Geheimpolizistin, eine Schwarze, die mich immer in einer dunklen Einzelzelle besucht hat.« »Ach ja, die Einzelzellen. Wußtet Ihr, daß die, seit es den Kalkulor gibt, nie genutzt wurden, um jemanden mit Einzelhaft zu bestrafen? Die sind vielmehr immer ziemlich ausgebucht für private Verabredungen zwischen Bibliothekaren und Komponenten.« »Hoheliber, ich habe ihr Gesicht nie gesehen, aber sie war einfach hinreißend. Ich habe vor, in Rochester zu bleiben, um zu versuchen, sie wiederzusehen.« »In Rochester bleiben! Dann hatte Tarrin also recht. Denkar, ich habe in Libris äußerst wichtige Arbeit liegenlassen, um mich hier mit Euch zu treffen. Ich brauche Euch in Kalgoorlie.« »Ich will aber hierbleiben.« »Ich bin gewöhnt, zu bekommen, was ich verlange! Kalgoorlie -« »Hoheliber, das ist mein Emst. Wenn nicht in Libris, so könnte ich als Edutor an der Universität von Rochester arbeiten. Versteht Ihr, ich liebe Schwarz-Alpha. Und ich glaube, sie liebt mich auch, und sie weiß, wie ich aussehe. Wenn ich in Rochester bleibe, wird sie mich eines Tages entdecken. Sie wird zu mir kommen, das weiß ich genau.« »Sie hat anderswo zu tun.« »Dann kennt Ihr sie also!« rief er, die Hände flehentlich ausgestreckt. »Bitte, wie ist ihr wahrer Name?« Zarvora schüttelte den Kopf. - 198 »Ihr — Ihr habt mich befreit, und dann reguliert Ihr mein Leben mit solcher Strenge, als ob ich immer noch ein Gefangener wäre.« Er stand auf, und die Speisekarte, an der er genestelt hatte, hielt er nun zerknüllt in den Händen. »Von mir aus könnt Ihr mich auch gleich wieder in den Kalkulor sperren.«
»Denkar! Sprecht bitte leiser, und setzt Euch wieder - und beachtet, daß ich bitte gesagt habe. Danke. Und nun gebt mir Eure Hand -bitte.« Denkar verspürte einen leichten Widerwillen, als sie ihre kleinen, kalkweißen Hände ausstreckte. Sie nahm die zerknüllte Speisekarte und legte sie beiseite. Er hatte erwartet, daß ihre Haut feucht und kalt wie Porzellan sein würde, aber sie war sehr warm und trocken und fühlte sich irgendwie vertraut an. Sie beugte sich vor, bis ihre Gesichter einander ganz nah waren. »Ich liebe dich auch, Fras Denkar und deine Ergebenheit mir gegenüber rührt mich sehr« Es gab keine Worte, die nun folgenden Momente zu beschreiben. Eine Zeitlang starrte er nur in ihre großen grünen Augen; dann berührte er ihr Haar Es war seltsam buschig, ganz ähnlich wie seines. Er schloß die Augen und liebkoste mit den Fingern ihr Gesicht. Seine Fingerspitzen verrieten ihm, daß es keinen Zweifel geben konnte. »Du bist es«, flüsterte er. »Aber deine Stimme — die klang viel höher« »Meinst du so?« zwitscherte sie. Trotz der Innigkeit des Moments mußte er kichern. »Oh, Hoheliber« »Frelle Zarvora. Aber du darfst mich auch weiterhin Schwarz-Alpha nennen. Aber Zar wäre mir lieber« »Aber — Frelle, äh, Zar - Hoheliber warum ich?« »Warum du, Denkar? Komm, setz dich zu mir auf meine Bank, es gibt so viel zu erzählen.« Denkar zögerte einen Moment lang und rutschte dann in dem beengten Séparée zu ihr hinüber Zarvora nahm wieder seine Hand. »Erstens - warum du? Das ist gar nicht so einfach zu erklären.« Zarvora legte ihm eine Hand auf die Wange und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Obwohl sie versuchte, einige wichtige Dinge zu erklären, fiel es Denkar ihrer sinnlichen Ausstrahlung wegen schwer sich zu konzentrieren. Die großen grünen Augen, die warme, kribbelnde Berührung ihrer Finger der moschusartige, irgendwie federhafte Duft - 199 ihrer Haare ... Er mußte sich Mühe geben, dem zuzuhören, was sie sagte. Sie erklärte das mit den Aviaden und dem Ruf und das mit ihrem Haar. Und schließlich erklärte sie die Hintergründe ihrer Liebe. »Du warst eine große Herausforderung für mich, und du hast mich zum Lachen gebracht. Ich war immer so gerne mit dir zusammen.« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Dann hast du also die anderen Aviaden 1700 freigelassen, mich aber als Schmusekater behalten.« »Das war dumm von mir. Ich - ich hatte Angst. Was ich mache, ist immer eine Gratwanderung, und ich brauche etwas Sicherheit. Mit dir im Kalkulor konnte ich mir wenigstens einer Sache in meinem Leben sicher sein. Ich werde das wiedergutmachen.« »Du hast Dolorian und mir nachspioniert. Du hast sie weggeschickt.« »Ich habe sie befördert und in die Signalfeuerabteilung versetzt. Ein wahrer Tyrann hätte sie ermorden lassen.« Denkar schloß die Augen und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, versuchte, wieder darauf zurückzukommen, was sie ihm einmal gewesen war. »Alles um mich her wurde kontrolliert. Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll.« »Denkar, Liebster, in Wirklichkeit hast jahrelang du mich kontrolliert - falls dir das hilft. Einmal habe ich die Bürgermeister der Allianz vier Stunden lang warten lassen, weil du wolltest, daß ich noch etwas länger bei dir blieb. Als es dann losging, daß ich so viel Zeit in Kalgoorlie verbringen mußte, war ich hin und her gerissen zwischen dem Zustand, von dir getrennt zu sein, und dir alles zu verraten und zu riskieren, daß du ... schlecht darauf reagierst.« »Die mächtige Hoheliber und Oberbürgermeisterin hatte Angst vor ihrem Sklaven?« »Ich hatte Angst, das zu verlieren, was wir hatten.« Sie kniff den Mund zusammen und sah dann hinab auf die zerknüllte Speisekarte. Sie begann sie zu glätten, als wäre sie ein Sinnbild von Denkars Leben. »Was deine Zeit im Kalkulor angeht, so kann ich dich nur um Verzeihung bitten. Ich brauchte damals, 1696, sehr schnell sehr viel Rechenkraft, und du warst einer von Tausenden, die ich versklavt habe, um diese Rechenkraft zu bekommen. Dutzende der besten FUNKTIONEN waren daran ebenso schuldlos wie du, das gebe ich zu.«
- 200 Er ließ sich das einen Moment lang durch den Kopf gehen, und Zarvora streichelte ihm derweil die Hand. »Es ist mutig von dir, daß du mir das erzählst«, sagte er schließlich. »Du hättest auch lügen können.« »Denkar ich will, daß du aus freien Stücken mit mir gehst. Am Bahnhof steht ein Galeerenzug für uns bereit.« Sie umarmte ihn und lehnte ihre Stirn an seine. »Seit einiger Zeit erzähle ich den Leuten nun schon, daß ich einen Gemahl habe. Viele wollen unbedingt meinen geheimnisvollen Gatten kennenlernen, der viel zu beschäftigt ist, um sich den Wonnen des höfischen Lebens zu ergeben.« »Ich?« »Ja.« »Du ... du willst, daß ich mich von einem Sklaven, den keiner kennt, in den Gemahl der mächtigsten Herrscherin der bekannten Welt verwandele - und das in zwanzig Minuten?« So hatte Zarvora es noch gar nicht gesehen. »Äh, also ... ja«, sagte sie vorsichtig. »Wirst du mit mir kommen?« »Der Adel hat's nicht leicht im Leben«, seufzte Denkar und lächelte grimmig. Er wandte sich ab, faltete die Hände auf dem Tisch und schüttelte den Kopf. »Frelle Oberbürgermeisterin ... nein. Ich kann Euch nicht verzeihen. Ich bin sehr wütend, und ich will, daß für meine neun Jahre im Kalkulor jemand zusammengeschlagen wird, und ich -« Zarvora erhob sich und schnippte mit dem Finger. Die Tür des Cafés wurde aufgestoßen, und mit lautem Getöse stampfte eine Wachschwadron herein. Die Tür des Séparées wurde aus den Angeln gerissen und beiseitegeschleudert. Tarrin stand vor ihnen, von zwei Wachen gehalten und mit einem Knebel im Mund. Während Denkar zusah, riß man ihm die Kleider vom Leib und legte seine Amtszeichen auf den Tisch. »Vier Schläge«, sagte Zarvora und verschränkte die Arme vor der Brust. Während Denkar vollkommen entgeistert zusah, drehte man Tarrin zur Seite, so daß er einer stämmigen Wache gegenüberstand, dessen Helmkrempe seine Augen überschattete. Ein rechter Haken landete auf Tarrins Unterkiefer gefolgt von einem linken Haken auf sein Auge. Er stand nun nur noch aufrecht, weil er gehalten wurde. Nach einem Schlag in die Magengrube klappte er zusammen. Man ließ ihn los, und er ging zu Boden. Die Wache trat ihm noch einmal in die Rippen. Dann wandte sie sich wieder an Zarvora. - 200 »Fünf Schläge«, befahl sie und kam hinter dem Tisch hervor. Denkar wappnete sich schon darauf, geschlagen zu werden, aber niemand ergriff ihn. Die Wache rieb sich nervös die Faust und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Fünf Schläge!« verlangte Zarvora. Nach dem linken Haken auf ihren Unterkiefer taumelte sie rückwärts durchs Café und landete ausgestreckt auf einem vollbesetzten Tisch. Die Gäste stoben panisch auseinander, und der Kellner und der Geschäftsführer rangen darum, sich hintereinander zu verstecken, während Zarvora sich wieder aufrappelte und zu der Wache zurückging. »Noch mal auf den Kiefer«, befahl sie, und ein rechter Haken schleuderte sie in ein Geschirregal, das scheppernd um sie her zu Boden fiel. Langsam kämpfte sie sich wieder hoch, und Blut lief ihr aus der geplatzten Unterlippe. »Hoheliber!« rief Denkar. »Hört auf! Was soll denn das?« Zarvoras Unterkiefer knackte laut, als sie den Mund aufmachte. »Euer Befehl, Systemsteuerer Denkar. Die Euch versklavt haben, werden zusammengeschlagen. Ein Schlag für jedes Jahr. Vier für Tarrin, fünf für mich.« »So habe ich das nicht gemeint!« »Für mich gibt es entweder schwarz oder weiß, Fras Systemsteuerer«, entgegnete sie kühl. »Sonst nichts. Ich habe Euch gefragt, was Eure verlorenen Jahre wieder wettmachen könnte, und Ihr habt es mir gesagt. Ich glaube, wir sind jetzt bei 1702, Fras Scharfrichter.«
»Schluß damit!« schrie Denkar. »Ihr da - nehmt Euren Stiefel von dem Hals des Mannes, und gebt ihm seine Kleider wieder - und sein Amt. Und dann raus hier - nein, Zarvora, du nicht!« Sie standen einander schweigend gegenüber, und fünfundzwanzig Augenpaare sahen verängstigt zu. Zarvoras Kiefer knackte noch einmal. »Es ist mir ernst damit, daß ich deine Verzeihung brauche -«, begann sie. »Ich verzeihe dir! Ich verzeihe dir wirklich!« Er warf ein paar Goldmünzen auf den Tisch und reichte ihr dann den Arm. Zarvora legte ihre Hand hinein. »Also, wo ist denn nun unser verdammter Galeerenzug?« Geschirrsplitter knirschten unter ihren Schuhsohlen, als sie hinausgingen, und Denkar bemerkte, daß Zarvora schwach auf den Beinen war und sich auf ihn stützte. - 201 »Danke, k-kommt bald wieder«, stotterte der Kellner. Denkar sah, daß jemand bereits mit Kreide HOFLIEFERANT DER OBERBÜRGERMEISTERIN CYBELINE auf die Tür geschrieben hatte. Die Ruftodesländer wurden durch eine Trockensteinmauer markiert, die sich über die Hügel schlängelte. Die Grenzen verschoben sich jedoch gelegentlich um ein paar Kilometer, so daß keine dieser Mauern sonderlich nützlich war Als Ilyires Pferd ihm mit einem Mal nicht mehr recht gehorchen wollte und in einen steten Schritt verfiel, wußte er, daß er die Grenze überschritten hatte. Bis die Sonne unterging, war Ilyire zwölf Kilometer weit in die Ruftodeszone vorgedrungen und erblickte in der Feme eine Palisadenmauer. Mit ihrer streng geometrischen Form und ihren frischen Farben stach sie aus dem überwucherten Durcheinander dieser Landschaft hervor und zog seinen Blick auf sich, je näher er kam. Er achtete nicht genug auf einige überhängende Äste, die dicht mit Schlingpflanzen bewachsen waren. Die Dolchzahnkatze, die ihm im Schutz der Schlingpflanzen auflauerte, wog fast fünfzehn Kilo und hatte Reißzähne, die drei Zentimeter maßen. Siebenhundert Generationen zuvor hatten ihre Vorfahren schnurrend auf Menschenschößen gelegen und von Untertassen auf Zeitungspapier Dosensardinen in Aspik gefressen. Die evolutionäre Prädisposition der Katzen dafür, größer zu werden und mächtige Reißzähne zu bekommen, war in weit stärkerem Maße, als irgend jemand das hätte ahnen können, durch die vielen großen, in Trance versetzten Tiere begünstigt worden, die auf dem Weg zum Meer durch die Ruftodesländer zogen. Ein gewisses Gewicht war vonnöten, um sie zu Boden reißen zu können, und große Reißzähne, um sie damit aufschlitzen zu können und schließlich verbluten zu lassen. Allerdings war das ein prekäres Verhältnis: Zu große Dolchzahnkatzen wurden selbst vom Ruf fortgezogen. In letzter Zeit hatte sich jedoch an dem ganzen Zustand etwas geändert: Neuerdings vermochten sich einige der Menschen zu wehren. Als die Katze sprang, ging es ihr dabei mehr um Zielgenauigkeit als um das Überraschungsmoment. Sie rechnete damit, ihr Opfer mit einigen wenigen Bissen und Prankenhieben bezwingen zu können. Ilyire riß die bestens gepolsterten Arme hoch und drehte sich dann mit dem Gewicht des Tiers aus dem Sattel. Die Dolchzahnkatze wurde fortge - 201 schleudert und landete mit scharrenden Pranken in einer Staubwolke. Als sie wieder auf die Pfoten kam, stand sie einem knienden Menschen gegenüber, der ganz genau wußte, was hier vor sich ging. Ilyire zog eine Steinschloßpistole aus dem Gürtel und spannte den Hahn. Die große Katze maunzte und kam geduckt näher. Ilyire lächelte, sicherte die Waffe wieder und steckte sie zurück in den Gürtel. Die Katze sprang, aber Ilyire duckte sich blitzschnell, erwischte eine Pranke, die Katze verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ihre Klauen schlitzten Ilyire Lederjacke, Hemd und Haut auf, als er sie mit aller Kraft auf den Boden drückte. Mit dem Handballen preßte er der Dolchzahnkatze die Kehle zu. Dann stand er auf und sah zu, wie die Katze zuckend ihr Leben aushauchte. Nun machten sich seine Kratzwunden heftig schmerzend bemerkbar. Der Rufanker seines Pferdes war ausgeworfen worden, als er aus dem Sattel geglitten war, und die Haken waren an einem mit Kletterpflanzen überwucherten Strauch hängengeblieben. Er beugte sich über die Dolchzahnkatze,
packte ihren Kopf und riß ihn herum. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und im Osten ging über den Bäumen die Spiegelsonne auf. Heute war sie ein rot leuchtendes Oval inmitten des Bands. Umgeben war sie von einem schwach leuchtenden, orangefarbenen Strahlenkranz. In dem rötlichen Licht sah Ilyire, als er sein dem Ruf ergebenes Pferd zum Tor führte, einen einzelnen Aviaden hinter der Palisadenmauer auftauchen. »Ihr kommt spät heute abend, Fras Ilyire«, sagte der Mann, der Anfang fünfzig war. »Die Katzen hier gehen uns immer noch nicht aus dem Weg.« »Pech gehabt«, sagte Ilyire und hob den Kadaver der Dolchzahnkatze von seinem Sattel. »Katzen können mir nichts.« Ilyire führte sein Pferd in den Stall, und der ältere Aviade pfiff anerkennend, als er die tote Katze betrachtete. »Wie habt Ihr sie getötet? Sie hat gar keine Wunden.« »Mit bloßen Händen. Ganz macho. Ja?« »Ja, tatsächlich, Fras Ilyire. Ihr werdet das Fell und die Fangzähne haben wollen, also -« »Nichts da. Ich brauchte guten Kampf. Ihr könnt sie behalten.« Ilyire betrat den kleinen Hauptraum der befestigten Anlage. Er zog sich die zerfetzten Lederkleider aus und wickelte ein Erste-Hilfe-Set aus. Bald duftete es nach Eukalyptusöl, während er seine Wunden damit rei - 202 nigte. Der andere Aviade brachte einen Kessel heißes Wasser und goß es in eine Schale. »Dann seid Ihr also wieder deprimiert, Fras.« »Schmerz von Klauen übertönt Schmerz im Herz.« »Wieder Streit mit Eurer Schwester Theresia?« »Immer Streit mit Schwester Diesmal... etwas anderes.« »Eine andere Frau, eine Liebesbeziehung?« »Ehre gebietet mir zu schweigen.« »Nun denn, ich - oh, ich höre die anderen. Der Widerrufwagen ist schon ganz nah. In ein oder zwei Tagen können wir die wertvollen Raketen der Hoheliber für die Ruffuttermenschen auf der anderen Seite der Grenzmauer deponieren.« Ilyire war froh über den Themenwechsel. »In Alspring hatten wir auch Raketen. Kriegsraketen. Zwei Meter lang, aus Messing. Was ist denn so besonders an den vorzeitlichen Raketen?« »Sie sind viel größer, Fras. Sie bestehen aus drei Teilen, die sich gegenseitig verstärken, und das größte Teil ist zehn Meter lang.« »Zehn Meter! Das ist tatsächlich groß. Und fliegen sie noch, wenn sie so alt sind?« »Oh, das sind nur dicke Röhren, die man mit Treibstoff füllt. Ganz einfache, phantastische Dinger sind das. Das Metall hat die zweitausend Jahre in diesem Museum offenbar gut überstanden. Das Schwierige wird sein, den Treibstoff herzustellen.« »Nehmt halt Schwarzpulver.« »Oh nein, da muß viel stärkerer Sprengstoff her« »Stärker als Schwarzpulver? Ha! Das ist tatsächlich phantastisch.« Die anderen Aviaden waren mittlerweile innerhalb der Palisadenmauer angelangt. Sie zerrten ihre dem Ruf verfallenen Pferde in den Stall und wunderten sich lautstark über die tote Dolchzahnkatze. Bald darauf betraten drei Männer und zwei Frauen den Hauptraum. Ilyire erkannte Sondian, einen Stadtrat aus der zur Südostallianz gehörenden Siedlung Macedón. »Ilyire, Ihr seid zurück im Westen«, sagte Sondian, als er den Ghaner am Feuer erblickte. »Habt Ihr die Dolchzahnkatze da draußen erlegt?« »War ich. Wo meine Schwester?« »Sie ist nicht bei uns. Sie ist viel weiter westlich, in der Geisterstadt Perth. Wie habt Ihr es geschafft, die Katze -« - 202 »Wer ist bei ihr?« »Niemand.« »Woher wißt Ihr dann, wo sie ist?«
Sondians Wiedersehensfreude schwand rapide. »Sie war hier. Sie hat uns von ihren Plänen erzählt. Und dann ist sie alleine weitergereist.« »Wo hat sie geschlafen? Wer hat mit ihr geschlafen?« Sondian zog langsam eine abgenutzte Steinschloßpistole und zog den Hahn zurück, bis es leise Klick machte. Dann hielt er die Waffe mit beiden Händen und lehnte sich an einen Pfeiler aus Dammarafichtenholz. »Hört mir gut zu, Ilyire von Glenellen. Ihr mögt ja doppelt so stark sein wie ein vergleichbarer Mann, bessere Reflexe haben und immun gegen den Ruf sein, aber denkt bitte daran, daß wir hier alle Aviaden sind. Alles, was Euch zu jemand Besonderem macht, ist hier ganz normal. Und wenn Ihr bei uns leben wollt, dann haltet Euch bitte an unsere Umgangsformen.« »Ich lasse nicht zu, daß meine Schwester geschändet wird!« brüllte Ilyire, knallte seinen Becher hin und stand auf. Sondian sah ihn einen Moment lang an, sicherte dann seine Waffe und warf sie einer der Frauen zu. Auf dieses Zeichen hin begannen die anderen drei Aviadenmänner, Ilyire zu umzingeln. »Ihr greift jetzt besser nicht nach Eurer Waffe, Fras«, sagte die Frau, die Sondians Steinschloßpistole hielt. Ilyire stürzte sich auf Sondian und versuchte einen Schlag zu landen, aber die Reflexe des Ghaners waren auf den Umgang mit Menschen eingestellt, und Sondian wich ihm mit Leichtigkeit aus. Er packte Ilyires Arm und schleuderte ihn auf einen Stuhl, der unter ihm zusammenbrach. Ilyire wurde auf der Stelle festgehalten und entwaffnet. »Schmeißt ihn raus«, sagte Sondian. »In den Stall?« fragte einer der Aviadenmänner. »Nein, ganz raus. Es wird ihm ja wohl nichts geschehen, wenn er mit bloßen Händen Dolchzahnkatzen erlegen kann.« Sie zerrten Ilyire hoch und führten ihn mit festgehaltenen Armen zum Tor. Dann näherte sich Sondian von hinten und trat Ilyire mit seinem genagelten Stiefel ohne Vorwarnung mit voller Wucht in den Hintern. Ilyire schrie auf und brach zusammen. »Los, kriecht raus«, knurrte Sondian wütend. »Es gibt zu wenige Aviaden und zu viele Menschen, als daß wir uns untereinander streiten dürften. Ich werde den Wachen am Widerrufwagen über Signalfeuer - 203 Bescheid geben, daß sie Euch abknallen sollen, wenn Ihr ihnen zu nahe kommt.« Ilyire sah sich zu ihm um. »Ihr habt meine Schwester geschändet -« Sondian bückte sich und verpaßte Ilyire einen so heftigen Handrückenschlag ins Gesicht, daß der Ghaner für einen Moment die Besinnung verlor. Als er wieder zu sich kam, hielt Sondian ihn an den Haaren gepackt. »Jetzt hör mir mal gut zu, du lächerlicher Wurm. Ich habe deine wahnsinnige Schwester nicht angerührt, empfinde aber die Unterstellung, ich hätte es getan, als schwere Beleidigung. Und jetzt nimm dein schweinisches, verdrehtes, krankes, perverses, kleines Hirn und hau ab!« Ilyire verbrachte die Nacht an der Palisadenmauer, zusammengekauert an einem Feuer aus den von den Zimmerleuten und Stellmachern zurückgelassenen Holzresten. Er hielt Wache, während in der Feme Gestalten umherschlichen, und verbrachte die Nacht damit, sich eine Krücke und einen im Feuer gehärteten Speer anzufertigen. Am Morgen wandte er der aufgehenden Sonne den Rücken zu und humpelte in westlicher Richtung davon. Sondian sah ihm von der Plattform des Signalfeuergerüsts aus nach. »Wenn wir Glück haben, fressen ihn die Dolchzahnkatzen.« »Wie ich seine Schwester kenne, könnte auch sie ihn fressen«, sagte der Wachmann. »Verglichen mit ihm ist sie zivilisiert. Sie versucht wenigstens, ihre Verrücktheit zu verbergen.« »Aber auch nur manchmal. Was ist mit seinem Pferd?« »Laßt es laufen, mit verbolztem Anker. Der Ruf wird es die Straße entlang nach Westen ziehen. Vielleicht fängt er es ein.« »Großzügig von Euch, Fras.« »Nun, vielleicht hat seine Schwester ja Hunger«
Ilyire humpelte langsam weiter, nun auf der Hut vor lauernden Katzen und anderen Raubtieren. Bald begegnete er den Lastwägen. Musketenläufe folgten ihm, als er näher kam und bis er wieder außer Sicht war. Der Wagen, der die Raketen geladen hatte, war der größte, den er je gesehen hatte, aber die vorzeitlichen Apparaturen selbst waren unter Planen verborgen. Der Widerrufwagen, der ihn zog, war sehr viel eindrucksvoller. Er war so lang, daß zwölf eingespannte Pferde in Zweierpaaren darin Platz - 204 fanden. Als Ilyire vorbeiging, sah er, daß sie mit dem Rücken nach Westen standen, wohin der Ruf sie lockte. Mit ihren Hufen setzten sie zwei Tretmühlen in Bewegung, die über ein Getriebe wiederum die Räder antrieben. Die Pferde trampelten gen Westen, der Wagen aber fuhr nach Osten und zog den mit den Raketen beladenen Wagen hinter sich her. Einige Zeit später holte Ilyires Pferd ihn ein. Er war sehr froh, wieder reiten zu können, auch wenn es ihm Schmerzen bereitete, im Sattel zu sitzen. Am nächsten Tag gelangte Ilyire in die Geisterstadt Perth. Er inspizierte die überwucherten Gebäude und Hochhäuser und suchte nach menschlichen Spuren. Da war es, flatterte in der Meeresbrise: eine Fahne. Der einzige Gegenstand hier, der keine zwei Jahrtausende überstanden haben und den nur ein Aviade dort angebracht haben konnte. Die Fahne flatterte an dem neuen Küstenstreifen, der sich bis in die Straßen der Stadt hinein erstreckte. Ilyire blies in seine Pfeife, um sich anzukündigen, und stieg dann ab. Sein Pferd zerrte weiter Richtung Westen, zum Wasser hin. »Ich kann dich nicht den ganzen Weg zurückzerren«, sagte Ilyire wie zur Entschuldigung, nahm dann seine Satteltaschen herab und ließ die Zügel los. Das Pferd lief sofort zum Wasser, sprang hinein und schwamm los. Ilyire sah dem Tier nach, bis sein Kopf in den grünlich-grauen Wogen der Bucht verschwand. »Ein grausames Experiment«, bemerkte eine Stimme hinter ihm, und Ilyire fuhr herum und sah, daß Theresia ihn beobachtet hatte. »Schwester!« rief er. Sie starrte ihn aus kaum drei Metern Entfernung an, eine Kindfrau, das Haar zu einem buschigen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug die grünrote Bluse und Hose der anderen Aviaden, und das erregte sofort Ilyires Mißfallen. Ihr Gesichtsausdruck war seltsam: Angespannt, berechnend, beinahe gierig und irgendwie so ganz bar des Übermuts und der Spottlust, die sie ihm gegenüber immer an den Tag gelegt hatte. »Was ist mit meinen Büchern?« fragte sie. Ilyire holte ein Päckchen aus seiner Satteltasche und warf es ihr zu. »Die wolltest du doch gar nicht«, sagte er mürrisch. »Du wolltest mich bloß eine Zeitlang lossein.« »Glaub doch, was du willst«, entgegnete Theresia, drehte sich um und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen. - 204 Ilyire ging neben Theresia her. In den Bäumen summten und brummten die Insekten in der Mittagshitze. Wie durch ein Wunder hatten einige der vorzeitlichen Hochhäuser über zwei Jahrtausende hinweg ihre Gestalt bewahrt und sahen nun, in grüne Kletterpflanzen gehüllt, wie rechteckige, scharfkantige Hügel aus. Theresia erklärte, eine Dolchzahnkatze habe sich an Ilyire herangepirscht, während er zusah, wie sein Pferd davonschwamm. Theresia hatte sie verscheucht, aber Ilyire war ihr nicht dankbar. »Wieso lebst du hier? Das ist ein gefährlicher Ort.« »Ich bin allein, Ilyire. Das müßte dich doch freuen.« »Du solltest in Sicherheit sein. In Sicherheit vor Gefahren. In Sicherheit vor Gelüsten.« »Was schlägst du vor?« »Geh zurück nach Kalgoorlie. Gründe ein Nonnenkloster Verbreite unseren großartigen orthodoxen gentheistischen Glauben.« Theresia blieb stehen und wies auf die mit Kletterpflanzen überwucherten Hügel. »In den östlichen Ruftodesländern wurden die anglaischen Gebäude jahrhundertelang von Aviaden geplündert, aber bei den Völkern der westlichen Staaten und Fürstentümer wurden nie Aviaden
geboren. Daher wurden die Gebäude in diesen Gegenden seit neunzehn Jahrhunderten nicht angerührt. Wir können hier viel lernen.« »Pah. Die Anglaer sind auf dem Mond spaziert, und jetzt wachsen Bäume auf ihren Straßen. Na und? Nichts, was sündige Sterbliche bauen, hat je Bestand.« »Darum geht es nicht. Nachdem Zarvora nun insgeheim Aviadensiedler aus dem Südosten hierhergebracht hat, wird es zu Plünderungen und Zerstörungen kommen, und sei es mit den besten Absichten.« Ilyire schnaubte unduldsam, blieb dann stehen und ließ den Blick über die Bucht schweifen. »Die Dinge da im Westen, die wie Klötze im Wasser aussehen«, sagte er und zeigte darauf. »Das sind vorzeitliche Signalfeuertürme. Nichts Neues.« »Sie stehen zu nah beieinander.« »Sollte das Wasser vor Überfällen schützen?« »Alten Karten zufolge standen diese Hochhäuser früher auf trockenem Land. Der Wasserspiegel ist gestiegen.« »Na und?« grunzte Ilyire. Theresia sah zum Himmel empor. »Ach, ich rede hier ja doch nur in - 205 den Wind«, schloß sie. »Dieses Haus hier ist ein Museum, und es hat die Jahre gut überstanden. Komm.« Sie gingen vorsichtig hinein, auf der Hut vor Raubtieren. Das Museum bestand aus einer Reihe von Sälen, die nun dunkle Kavernen waren, da Kletterpflanzen und Moose die Fenster bedeckten. Die meisten Ausstellungsstücke waren nur mehr korrodierte Haufen oder mit Schimmel und Fledermauskot überzogen. Die erhalten geblieben waren, sagten Ilyire nichts. Es roch moderig und nach Katze, und hoch über ihnen hörten sie Fledermausflügel schlagen. Theresia nahm eine in Papier gewickelte Pulverladung, entflammte die dazugehörige Lunte und schleuderte die Ladung dann in die Dunkelheit vor ihnen. Die Explosion glich einem laut widerhallenden Peitschenschlag, und zwei getigerte Katzen stoben aus ihrem Versteck und flitzten aus dem Gebäude. »Man kann sich mit den Dolchzahnkatzen anfreunden, aber es braucht Zeit«, erklärte Theresia. »Die Raketen auf dem Widerrufwagen stammen von hier. Auf dem polierten, sehr harten Stein da links steht etwas über ihre Funktionsweise.« Es waren noch ein Dutzend weitere Raketen ausgestellt, deren Spitzen teilweise aufgeschnitten waren, um einen Einblick in das komplexe Innere zu ermöglichen. Ilyire betrachtete sie verständnislos. »Zweitausend Jahre alt«, sagte Theresia. »Die meisten Materialien aus der alten Zivilisation sind nach so langer Zeit brüchig und nicht mehr zu gebrauchen, aber nicht das Metall dieser Raketen.« »Dann waren also Männer mit dem Widerrufwagen hier?« »Um vier Raketen mitzunehmen, ja. Zarvora war eine Woche zuvor hier. Sie hat sich die Raketen und die Beschriftungen einen ganzen Tag lang genau angesehen, um zu entscheiden, welche Raketen mitgenommen werden sollten. Sie will sie wieder in Betrieb nehmen.« »Wo haben die Männer geschlafen?« Theresia starrte ihn an, die Hände auf den Hüften. »Du bist wirklich erstaunlich. Leute kommen hierher, um die Wunderwerke der vorzeitlichen Zivilisation wiederzubeleben, und das einzige, woran du denkst, ist die Frage, wer mit deiner Schwester geschlafen hat.« »Da! Du hast es gesagt!« schrie Ilyire. »Du hast mit einem von ihnen geschlafen. Mit Sondian. Ich weiß es.« »Sondian ist ein guter Mann, ein guter Führer, ein Beispiel, an dem sich andere Aviaden -« »Erst hat er dich geschändet, und dann hat er mich geschlagen. Ich - 205 kenne diesen Typ Mann. Ein dominanter Perverser Macht und Sex ist für ihn das gleiche. Ich ihn zur Strecke bringen und töten.« »Ilyire, ich habe meine Jungfräulichkeit weder an ihn noch an einen anderen verloren. Laß Sondian in Ruhe. Er ist der Anführer der hiesigen Kolonie, und die brauchen seine Klugheit und seine Führungsqualitäten.«
»Ich bringe dir seinen Kopf. Riß er in deine Ehre gemacht, wird geheilt. Wo Waffen? Gib mir die du trägst.« Theresia zog die Steinschloßpistole aus ihrem Gürtel. Ilyire wollte schon danach greifen, doch dann erstarrte er als sie den Hahn spannte und die Pistole auf seine Brust richtete. Sie hatte einen kurzen Lauf und ein recht großes Kaliber. »Du hast dich in ein Ding verwandelt, Halbbruder. Und Dinge lassen sich leicht töten.« Sie schoß und sah ihm dabei in die Augen. Ilyire sah einen Blitz, und dann verschwand Theresia hinter der Rauchwolke, die schlagartig zwischen ihnen aufquoll. Ilyire kam am späten Nachmittag wieder zur Besinnung. Er lag noch dort, wo er zu Boden gefallen war Nadelkissen schienen ihm in die Brust zu stechen, wenn er atmete, und der Schmerz wurde noch heftiger, als er sich aufsetzte. Sein verborgener metallener Brusthamisch hatte die Kugel abgefangen, hatte sich dabei aber einwärts verbogen und ihm zwei Rippen gebrochen. Und vorn in seinem Hemd klaffte ein eindrucksvolles Loch. Mit seinem Messer kappte er die Hamischträger, und das linderte den Schmerz. Er sah Thereslas Fußspuren im Staub und empfand eine ungewohnte Fühllosigkeit. In ihrem Blick hatte tödlicher Ernst gelegen; und dann hatte sie auf ihn geschossen. Sie hatte seinen Leib nicht wie in den heiligen Schriften angeordnet aufgebahrt. Sie hatte die ganze Zeit schon vorgehabt, ihn zu erschießen. Seine Welt war mit einem Mal leer seine Leidenschaften erloschen. »Ich ... bin tot«, sagte er versuchsweise, und seine Stimme hallte in dem vorzeitlichen Ausstellungssaal wider. Bruder John Glasken, ehemals aus dem Kloster Baelsha, hatte nach den ersten beiden Nächten und dem ersten, sengend heißen Tag als freier Mann beeindruckende fünfundneunzig Kilometer zurückgelegt. Fünf Jahre klösterlicher Ausbildung und Disziplin hatten seine Ausdauer in - 206 ganz erstaunlichem Maße gestärkt. In den nun folgenden Tagen verschlief er die heißesten Stunden, wobei ihm sein improvisierter Umhang als Sonnenschutz diente. Glasken war nach seinen drei Martyrien ein halbes Jahrzehnt zuvor im Überleben in der Wüste geübt, doch obwohl rohes Eidechsen- und Schlangenfleisch sein Brot und seine Datteln ergänzten, ging sein Wasser viel schneller zur Neige als geplant. Bald kam er pro Tag nur noch fünfundvierzig Kilometer voran. Am achten Tag tauchte vor ihm ein Haufen gebleichter Gebeine auf. Glasken humpelte hin und bückte sich, um das Skelett zu betrachten. Aasfresser hatten es ein wenig zerstreut, aber neben dem Hüftknochen lag ein Dolch, in dessen Klinge das Kreuz von Baelsha eingraviert war. Ein kleiner Geldbeutel daneben enthielt sechs Münzen aus dem Stadtstaat Kalgoorlie. Glasken nahm sich den Dolch und das Geld, und da bemerkte er etwas langes, gerades, das halb im Sand vergraben war: ein Wanderstab! »Ach, Bruder, ich trauere um dich«, sagte er, kniete sich in den Sand und berührte mit einer Hand den Totenschädel. »Ruhe in Frieden. Aber wie hast du denn diese ganzen Sachen an dem alten Teufel und seiner Mönchswache vorbeigeschmuggelt? Vielleicht hattest du sie statt Proviant und Wasser dabei. Sehr dumm von dir, aber ich weiß dein Opfer zu schätzen.« Glasken erhob sich und stützte sich dankbar auf den Stab. »Ich werde in der unterirdischen Kathedrale von Kalgoorlie eine Kerze für dich anzünden, und dann stoße ich mit irgendeiner hübschen Dirne in einer Schenke auf dein Andenken an. Aber jetzt muß ich erstmal weiterhumpeln. Bis zur Gleitbahnstrecke sind es immer noch hundert Kilometer, und mir ist just gerade das Wasser ausgegangen.« Der Windzug war nur ein Fleck im Flirren des Horizonts, als er vom Bahnsteig der Bahnstation Naretha aus in Sicht kam. Ein Menschengrüppchen stand dort und sah zu, wie er näherkam; seine hoch aufragenden, röhrenförmigen Rotoren und das Gerüst aus Masten und Takelage hoben sich deutlich von den flachen, schnittigen Loks und Waggons ab. Der Stationsvorsteher schaute in das Register, das er in der Hand hielt, und dann auf die Fahrplantafel. Am Windzug begann nun das vordere Topplicht zu blinken, und nur einen Augenblick später schellte am Fuß des
Signalfeuerturms der Station eine Glocke. Der Stationsvorsteher schlenderte hinüber und versuchte dabei weder allzu lässig noch allzu - 207 eifrig zu wirken. In dem Register war der Kode der Oberbürgermeisterin Zarvora verzeichnet. »Das ist er der Zug der Oberbürgermeisterin.« Die Miliz der Bahnstation stellte sich schnell zu einer Ehrengarde auf und ließ auf dem Bahnsteig nur einen einzelnen wartenden Reisenden zurück. Hinter einer Begrenzungsmauer sah eine Gruppe Bahnarbeiter zu. Die Rotoren des Zugs waren nun ausgekuppelt und drehten sich im Leerlauf. Die Bremsen quietschten und bebten, und als der Zug zum Stillstand kam, sprangen die Bremser ab und liefen mit Kannen voller Sonnenblumenöl zu den Öleinfüllstutzen der Achslager der Waggons, während andere unter die Windlok krochen, um sich um deren Achslager zu kümmern. Sie tasteten sie zunächst auf Überhitzungen hin ab und füllten dann das Schmieröl nach. Schlecht gewartete Achslager konnten schnell zu Bränden führen. Jedes einzelne der riesigen, mit einem Stahlrand versehenen Schichtholzräder wurde auf Verkrümmungen und Schlupf hin inspiziert, während hoch über ihnen die Takler sich um die Masten, Spiere und Taue kümmerten, die die Rotoren aufrecht hielten. Zwei Fahrgäste traten hinaus auf den Bahnsteig, froh über die Gelegenheit, ein paar Minuten lang festen Boden unter den Füßen zu haben. Der Stationsvorsteher stand nervös mit seinem Klemmbrett da und bemerkte, daß der eine Fahrgast eine großgewachsene Frau war die eine Inspektorenuniform des Signalfeuernetzwerks von Libris trug und ihr schwarzes, buschiges Haar mit silbernen Kämmen hochgesteckt hatte. Sie nickte ihm zu, nur ein knappen Nicken, das besagen sollte, daß -soweit es sie betraf - alles in Ordnung und zu ihrer Zufriedenheit sei. Der Stationsvorsteher salutierte zackig und beschäftigte sich dann wieder mit seinem Klemmbrett. »Inspiziert von Oberbürgermeisterin Cybeline«, vermerkte er »Für zufriedenstellend befunden.« Als die Besatzung begann, Wasser und Vorräte an Bord zu schaffen, ging der Reisende, der geduldig gewartet hatte, zum Chefbremser des Zugs. »Ich wünsche einen guten Tag, ehrenwerter Fras«», sagte der große, sonnengebräunte Mann in einem seltsamen Amalgam aus den Akzenten des Südostens und Kalgoorlies. »Ich möchte mir gerne eine Fahrt nach Westen verdienen, indem ich auf Eurem prachtvollen Breitspur-Windzug arbeite.« Der Chefbremser sah ihn sich von oben bis unten an. Er war groß und stark und hatte die richtigen Muskeln. Mit seiner Kluft aus einer geflick - 207 ten Hose, einem Hemd und einer Mütze, alles in oliv, war er wie ein Bahnarbeiter gekleidet, aber seine Sandalen sahen einige Nummern zu klein aus. Als er die Mütze abnahm, um sich schwungvoll zu verbeugen, sah man auf seinem Kopf den Haarwuchs von etwa zwei Wochen. »Haben sie dich bei einem anderen Zug rausgeschmissen?« fragte der Chefbremser. »Ich habe seit Jahren nicht mehr auf einem Windzug gearbeitet. Früher war ich mal Abteilsteward und Bote, und dann habe ich eine Bremserlehre gemacht.« »Na, als Abteilsteward gehst du ja wohl kaum noch durch. Bei den Rotorwinden könnten wir noch Hilfe gebrauchen und bei Bremserarbeiten, aber wir haben keine Zeit, dich einzuweisen. Was kannst du uns bieten?« »Genug Kraft, um die Rotoren hoch und runter zu ziehen und die Bremsklötze festzuschrauben. Ich bekomme mit, wenn ein Achslager überhitzt und wenn an einem Radreifen der Spurkranz verzogen ist.« Und ob du's glaubst oder nicht, dachte Glasken, diese ganzen Begriffe habe ich vor Jahren in einer Bahnhofskaschemme aufgeschnappt, als ich den Bremsern und Taklern dabei zugehört habe, wie sie ihre Shantys sangen. »Ich habe auch schon auf Signalfeuertürmen gearbeitet und beherrsche daher die unverschlüsselten Kodes.« Der Chefbremser war beeindruckter, als er es sich anmerken ließ. Wenn er sich allzu begeistert zeigte, verlangte der Fremde womöglich noch, bezahlt zu werden.
»Soso ... na, das ist doch mal ein Anfang. Uns fehlt noch ein Reservesignalfeuerüberwacher ... und außerdem bist du ja auch kräftig. Du müßtest auf Befehl hin Getriebe und Kurbeln bedienen und, wenn nötig, auch den Signalfeuersitz einnehmen.« »Ja, das kriege ich hin.« »Wie hat es dich denn hierher verschlagen?« »Ich war in der Wüste im Norden und habe dort meditiert. Und jetzt will ich zurück nach Kalgoorlie.« »Ein Eremit also. Und wie ist dein Name?« »Jack.« »Nur Jack?« »Jack Orion.« Der Chefbremser ließ es sich durch den Kopf gehen. Er hatte Erfahrung darin, Flüchtlinge und Unruhestifter zu erkennen, aber der Mann - 208 hier schien ihm weder das eine noch das andere zu sein. »Also gut, Fras Jack Orion, ich nehme dich probehalber mit. Fang mal damit an, daß du diese Kisten da vor dem Lagerhaus in den Versorgungswagen bringst.« Glasken machte sich an die Arbeit, und der Chefbremser ging zum Stationsvorsteher »Was wißt Ihr von dem da?« fragte er. Der Vorsteher kratzte sich im Nacken und sah dann zu Glasken hinüber. »Der ist vor etwa einer Woche hier aufgetaucht. Er hatte nur noch Fetzen am Leib und kam aus Westen an der Strecke entlanggekrochen. Er war fast wahnsinnig vor Durst. Als er seine Sinne wieder beisammen hatte, erzählte er er sei Student der cordabeldianischen Theologie. Er hat sich in irgendeiner heiligen Ruine so sehr in seine Meditationen vertieft, daß ihm der Proviant ausging. Geld hatte er allerdings dabei.« Der Chefbremser rieb sich das Kinn und sah hinüber zu Glasken, der sich offenkundig mächtig ins Zeug legte, um ihn zu beeindrucken. »Dann hat er hier also keinen Arger gemacht?« »Oh nein, er hat gute Arbeit geleistet. Er schafft so viel wie zehn Männer - ja, als ich gestern meine Mittagsinspektion unternahm, hockten zehn Männer untätig herum, und nur Orion arbeitete, aber dennoch waren abends die Schienen, Streckenbalken und Querriegel ordentlich aufgestapelt.« »Ich werde ihn im Auge behalten, aber er könnte sich als selten guter Neuzugang erweisen. Wir mußten diesen Zug in solcher Hast bereitstellen, daß es nicht die ganze Schicht geschafft hat.« Er beugte sich näher heran und zwinkerte. »Wollt Ihr wissen, wo diese Breitspurlok angekuppelt wurde?« »Wieso, in Peterborough - oh nein! Ihr wollt doch wohl nicht sagen, daß die Breitspurstrecke jetzt schon bis nach Morgan reicht.« »Allerdings, aber es ist noch nicht offiziell. So, ich muß dann mal wieder Ein langes Leben und eine breite Spur, lieber Fras.« »Ein langes Leben und eine breite Spur« Glasken gesellte sich zu den Bremsern, die gerade die Bremsklötze lösten und die Räder freimachten. Der Chefbremser wartete, bis der Zugchef das Signal zur Abfahrt gab; dann schob sich der Messingpfeil auf seiner Skala einen Strich weiter. Auf ein Zeichen des Chefbremsers hin betätigten die Bremser die Kupplungen und koppelten damit die Getriebe an die sich - 208 im Winde drehenden Rotoren an. Die Windloks zogen die Waggons vorwärts, und der Zug setzte sich in Bewegung. Hochrufe erklangen aus den rauhen Kehlen der Bahnarbeiter, die Glasken verabschiedet hatten, und sie winkten ihm hinterher. Sie alle wirkten nach der vorigen Nacht recht angeschlagen. In dem luxuriös ausgestatteten Waggon des Bürgermeisters bemerkte Denkar die Verabschiedung. »Da ist offenbar ein beliebter Mann zu uns gestoßen«, sagte er zu Zarvora. »Der Chefbremser hat einen zusätzlichen Bremser angeheuert«, sagte sie, ohne von einem vorzeitlichen Text hochzusehen. »Und der wurde gerade von einigen schlimm verkaterten Männern verabschiedet.«
»Wenn es der Schwerenöter und Säufer Glasken ist - auf dessen Ergreifung ist seit fünf Jahren eine Belohnung von tausend Goldroyal ausgesetzt.« Denkar sah sich vom Fenster um. »Wer ist Glasken?« »FUNKTION 3084.« »Ach ja, eine der beiden einzigen Komponenten, denen es je gelang, aus einem Kalkulor zu entfliehen. Nun, soweit ich mich an ihn erinnere, wäre er ja sicherlich, falls er noch am Leben ist, mittlerweile von irgend jemandem wegen irgend etwas festgenommen worden, und dann hättest du doch bestimmt bald davon erfahren.« »Stimmt, das ist nur allzu wahr. Fras Glasken hätte sich nicht fünf Jahre lang aus Scherereien heraushalten können. Also ist er entweder kastriert oder tot.« Sie legte das Buch beiseite und klopfte auf den Sitz neben sich. Denkar ging durch den sacht schaukelnden Waggon, setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Um dann mal unsere Lagebesprechung zum Thema Kalgoorlie fortzusetzen«, sagte sie. »Wir in der Allianz sind ihnen technologisch weit voraus - was Kalkuloren angeht, Optik, Kodetheorie und noch eine ganze Reihe verwandter Gebiete. Sie haben auch nichts, was unserem Libris entspräche. Es ist eine wahre Fundgrube vorzeitlicher Texte.« Denkar beugte sich vor und spähte in das Mikroskop, das an einer Halterung auf Zarvoras Schreibtisch festgeschraubt war. Unter dem Objektiv lagen ein Menschenhaar neben einem Haar von ihm und einem von Zarvora. Die letzteren beiden sahen flaumig, federartig aus. »Wann kann ich weitere Aviaden kennenlernen?« fragte er. - 209 Zarvora überlegte kurz. »Dort, wohin wir reisen, gibt es nicht allzu viele. Aus irgendeinem Grund kommen bei den Menschen des Westens keine Aviaden vor, aber ich habe dafür gesorgt, daß einige Aviaden aus der geheimen Gemeinschaft von Macedón herüberkommen und hier einige Arbeiten verrichten. Als Gegenleistung habe ich ihnen eine gänzlich unbewohnte Ruftodeszone überlassen, die sie nun erkunden und besiedeln können.« »Und was sind das für Arbeiten?« »In der halb überschwemmten Geisterstadt Perth gibt es einige Dinge, die sie zu der Gleitbahnendstation in Northam bringen sollen. Es geht dabei hauptsächlich um große, schwere, vorzeitliche Raketen.« »Raketen?« »Das erkläre ich dir später. Es ist ein gewaltiges und kompliziertes Unterfangen.« Nach der sich weithin erstreckenden, baumlosen Nullarborebene freute sich Denkar als er nun vereinzelte Bäume erblickte, die sich, während der Zug mit einer leichten Brise langsam weiter nach Westen ratterte, zu einem schütteren Eukalyptuswald vereinten. In Coonana stieg ein Zollinspektor zu, aber der tauschte mit der Oberbürgermeisterin lediglich Nettigkeiten aus. John Glasken sah von seinem Versteck hinter dem letzten Steuerbordgetriebe der vorderen Windlok verblüfft und erleichtert zu, wie der Beamte den Korridor hinabschlenderte, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, an Bord nach Ausländern ohne gültigen Reisepaß zu suchen. »Es ist jemand Wichtiges an Bord«, murmelte er. Die Angewohnheit, Selbstgespräche zu führen, hatte ihn fünf Jahre lang davor bewahrt, wahnsinnig zu werden, und nun fiel es ihm schwer, sie wieder abzulegen. Zwei Tage später erreichten sie Kalgoorlie, nachdem sehr schwache Winde sie weiter aufgehalten hatten. Die Sonne war schon untergegangen, die Bahnstation wurde mit bunten Laternen beleuchtet, und eine Blaskapelle spielte die persönliche Hymne der Oberbürgermeisterin. Die auf dem Bahnsteig wartende Menge begann zu jubeln, als die mit Sonnenblumenöl betriebenen Lichter des riesigen Windzugs in Sicht kamen. In der Windlok fiel dem Chefsteward auf, daß die Flaggen der Hoheliber und der Oberbürgermeisterin der Südostallianz noch eingerollt - 209 waren - eben in dem Moment, in dem der Jubel der wartenden Menge und das Schmettern der Blaskapelle das Rattern der Räder und Rotoren übertönte.
»Du, nimm die!« schrie er den schwitzenden Glasken an, der gerade mit freiem Oberkörper eine Rotorentrommel heruntergekurbelt hatte. »Kletter vom auf die Windlok und stell dich ans Backbordgeländer. Wenn wir in den Bahnhof einfahren, hältst du diese Flaggen hoch.« »Aber Fras, mein Hemd -« »Mach, was ich dir sage! Halt dich würdevoll, und laß auf keinen Fall die Flaggen fallen.« Glasken hatte seit fünf Jahren in keinen Spiegel mehr geblickt und hatte keine Ahnung, wie das Martyrium von Baelsha seinen Körperbau verändert hatte - der früher beeindruckend, wenn auch hier und da ein wenig rundlich gewesen war. Laute des Erstaunens mischten sich in den Jubel der Menge, als im Licht der Laternen und Fackeln der prächtig anzusehende, barbrüstige Flaggenträger vom auf der Windlok auftauchte. Seine Haut glänzte vor Schweiß, und die tanzenden Flammen betonten die Umrisse seiner Muskeln mit dunklen Schatten. Während er an der auf dem Bahnsteig versammelten Menschenmenge vorbeifuhr, schnappte Glasken einige Bemerkungen auf. »Schau mal die Galionsfigur.« »Schöne Schnitzerei.« »Nee, der ist echt. Der lächelt mir zu.« »Ob die Arbeit als Bremser so was aus einem macht?« »Ich will auch zur Gleitbahn.« Mädchen in weißen Gewändern bewarfen den verblüfften Glasken mit den Rosenblüten- und Minzeblättern, die eigentlich für Zarvora und Denkar bestimmt waren. Der Zug kam zum Stehen, und die Lok ragte schon in den dunklen Rangierbahnhof hinter der Station hinaus. Glasken kroch mit den Flaggen durch eine Luke zurück in die Lok. Der Chefsteward war nicht mehr da, aber sein Staubmantel und seine Tragetasche hingen neben dem Fackelschrank. »Ich weiß, abgemacht war, daß ich die Fahrt abarbeite, aber einen kleinen Bonus habe ich mir verdient«, murmelte Glasken, als er in der Tasche nach einem Geldbeutel suchte. Der Beutel war recht groß und enthielt Gold- und Silbermünzen. Glasken nahm sich eine Handvoll und legte den Geldbeutel dann wieder zurück in die Tasche. Einen Augenblick später stand er auf dem Bahnsteig, mit seiner - 210 Gepäckrolle unterm Arm und seinem Hemd über der Schulter. Etliche Mädchen in der Menge erkannten in ihm den Standerträger von der Windlok. »Fras, Fras, seid Ihr ein Tigerdrache?« rief eine von ihnen ganz atemlos. »Schöne Frelle, ich bin nicht berechtigt. Euch das zu verraten«, antwortete er mit tiefer Stimme und in einem gebildeten Tonfall, der durchblicken ließ, daß er mehr als nur ein Bremser war. »Fras, habt Ihr jetzt frei?« fragte ihre Begleiterin. »Die Wache des Bürgermeisters ist hier, um Oberbürgermeisterin Cybeline und ihren Gemahl zu beschützen.« Cybeline? Hoheliber - und jetzt Oberbürgermeisterin Glasken bekam einen solchen Schreck, daß ihm fast die Knie nachgegeben hätten, und sein Gepäck rutschte ihm aus der Hand. »Fras Tigerdrache, ist Euch nicht gut?« kreischte das erste Mädchen. Glasken war so vorsichtig, sich auf ihren Arm zu stützen, als er seine Gepäckrolle wieder aufhob. Die andere junge Frau, die sehr besorgt guckte, legte ihm ihre Hände auf die Brust. Als er nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder weiche Frauenhaut spürte, wäre er beinahe ohnmächtig geworden. »Ich bin nur ... müde. Eine anständige Mahlzeit bringt mich wieder auf die Beine.« »Fras, habt Ihr schon gegessen, wollt Ihr etwas trinken?« rief ein beleibter Mann, der die gestreifte Schärpe eines Gastwirts trug. »Meine Schenke ist ganz in der Nähe. Kommt, nehmt Eure Freundinnen mit, beehrt mein bescheidenes Etablissement.« Keine hundert Schritte entfernt entstiegen Zarvora und Denkar dem Zug. Vierzehn Bombarden schössen donnernd Salut, und Feuerwerk erhellte den Himmel. Denkar erblickte einen kleinen, aber kräftig gebauten Mann mit olivefarbenem Teint in einem reich mit Perlen bestickten Gewand. Er näherte sich an der Spitze eines großen Gefolges, das mindestens ein Mitglied jeder Menschenart zu enthalten schien, die Denkar kannte - und darüber hinaus noch einige mehr.
Kalgoorlie war dafür bekannt, daß es ein Schmelztiegel der Völker und Rassen war Einer der Höflinge führte ein kleines Pony, auf dem zwei Zwillingsknaben im Kleinkindalter saßen. Gekleidet waren sie in den Wappenfarben - 211 Rochesters. Zarvora drückte Denkars Arm und zog laut zischend Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein. »Denkar, ich wollte dir das eigentlich längst erzählt haben. Es tut mir leid.« »Was? Ich kann dich bei dem Lärm nicht verstehen.« »Schsch. Bürgermeister Bouros, mein lieber Freund!« rief sie. »Oberbürgermeisterin Zarvora, es ist mir ein immenses Vergnügen, Euch wieder einmal begrüßen zu dürfen«, verkündete Bouros lauthals und breitete die Arme. »Bürgermeister Bouros, Eure Gastfreundschaft hat mir gefehlt. Das ist -« »Fras Denkar, Euer Gemahl. Fras! Es ist mir ein Vergnügen!« Denkar, der in der Umarmung des Bürgermeisters fast erdrückt wurde, keuchte: »Freut mich sehr.« Bouros trat einen Schritt zurück, um ihn zu betrachten. »Ah ja, zurückhaltend, scharfe Augen, ein kluger Blick. Sagt es mir nicht, Frelle - er ist Ingenieur. Nein, die mächtige Frelle Zarvora Cybeline, Hoheliber von Libris und Oberbürgermeisterin der Südostallianz, würde keinen anderen als einen Ingenieur zum Gemahl nehmen. Sagt mir, Fras, was ist Euer Fachgebiet?« fragte er und legte Denkar einen Arm um die Schultern. »Mein — äh, angewandte mathematische Systeme.« »Mathematik und Ingenieurskunst! Die Beherrscherin der Wissenschaften und -« Bouros hob plötzlich eine Hand und legte sich dann den Zeigefinger vor die Lippen. »Oh, Frelle Zarvora, wie konnte ich so indiskret sein. Ein Ingenieur, der an Systemen arbeitet, die ... strengster Verschwiegenheit unterliegen. Fras Denkar, ich bin ebenfalls Ingenieur, allerdings nur Bauingenieur und Fachmann für Strömungslehre. Ich habe an der Universität von Oldenberg studiert.« »Ich habe dort fünf Jahre lang gelehrt«, rief Denkar aus. »Ihr habt an meiner Alma Mater unterrichtet?« erwiderte Bouros mit laut dröhnender Stimme. »Frelle Zarvora, ich bin wieder einmal geradezu verzückt angesichts Eures ausgezeichneten Geschmacks. Ah, aber was bin ich denn für ein Barbar? Ihr müßt Euch doch danach sehnen. Eure prachtvollen Zwillingssöhne zu begrüßen, und hier stehe ich und versperre Euch den Weg! Dahz!« »Was soll das? Bist du Witwe?« zischte Denkar Zarvora hinter vorge - 211 haltener Hand zu. Zarvora flüsterte Denkar eindringlich ins Ohr: »Spiel bitte einfach nur mit. Sag, daß dir die Namen gefallen. Bouros hat mir geholfen, sie auszusuchen, und er ist ein großer Bewunderer Bruneis.« »Brunei?« flüsterte Denkar »War das dein Mann?« Sie stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen. »Nein, du bist mein einziger Mann. Das sind unsere Söhne.« »Frelle Zarvora, Fras Denkar, hier sind Eure Jungs, gesund und munter«, verkündete Bouros stolz. Zarvora hob die Kleinkinder von dem Ponyrücken, und der völlig verwirrte Denkar war froh, daß er sich hinknien mußte, um sie auf den Arm zu nehmen. »Charles, Isambard, das ist euer Vater«, sagte Zarvora behutsam, und Bürgermeister Bouros ließ Hochrufe ausbringen. Die Zwillinge waren immer noch in einem Alter in dem sie Fremde rückhaltlos begrüßten, und sie umhalsten und küßten Denkar sofort. »Daddy?« fragte Isambard Zarvora, und sie nickte. »Isambard war mein bescheidener Vorschlag - nach Brunei«, erklärte Bouros. »Charles wurde nach dem legendären Babbage benannt. Aber kommt nun, ich hatte schon für gestern einen Empfang für Euch geplant, aber der Wind hat mir ja einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Bouros führte sie zur Endhaltestelle der Straßenbahn, wo seine Privattram für sie bereitstand. Die Straßenbahnen fuhren, ob der Ruf gerade über die Stadt hereingebrochen war oder nicht, und wurden von einem Wind- und einem Wasserkraftwerk betrieben. Die Hauptstadt war über einem
Gewirr alter Grubenschächte errichtet und größtenteils in die Erde hineingebaut. Die augenfälligsten Ausnahmen davon waren der Palast des Bürgermeisters und der hoch aufragende Signalfeuerturm. »Au, mein Kopf«, ächzte Glasken und zuckte vor Katerkopfschmerzen zusammen. Er brachte kein weiteres Wort mehr heraus. Wo bin ich? fragte er sich. Hohe Gewölbe, Weihrauch, Vorhänge und Bilder an den Wänden, bunte Glasfenster ... sieht aus wie in einer Kirche. Vielleicht bin ich tot. Wer wohl um mich trauern wird?... Aber das hier ist ein Bett. In einem richtigen Bett habe ich ja nicht mehr geschlafen seit... 1701 ? »Fras Tigerdrache, seid Ihr wach?« flüsterte eine helle Frauenstimme irgendwo neben ihm unter der Bettdecke. »Ah - ja.« - 212 Ein Arm und ein Bein schlängelten über ihn, und schwarzes Haar strich ihm übers Gesicht. Beinahe augenblicklich begannen die Opiate der sexuellen Erregung Glaskens bohrende Kopfschmerzen zu lindern. Er bemerkte, daß sich ein Golddiadem in ihrem lockigen Haar verfangen hatte. »Einen Mann wie dich hatte ich wirklich noch nie«, sagte die Frau, die nach Ende zwanzig aussah. Sie war zwar nicht im strengen Sinne dick, hatte aber offenkundig einen Gutteil ihres Lebens bestens gespeist und getrunken. Glasken fand das nach den Entbehrungen von Baelsha äußerst anziehend. Ihre Haut war hellbraun, was der natürliche Farbton zu sein schien. »Magst du mich denn noch, Jack, auch wenn jetzt Morgen ist?« gurrte sie. »Ich habe einen ausgezeichneten Geschmack, Frelle, und diese Wahl beweist es einmal wieder.« »Aber lieber Fras Jack, hättest du mich denn auch statt all der anderen erwählt, wenn ich nicht die Schwester des Bürgermeisters wäre?« Glaskens Katzenjammer war wie fortgesogen in den Abgrund, der sich unter ihm auftat. Er war froh, daß er lag und daß sie ihm ins Ohr flüsterte und nicht sehen konnte, wie er erblaßte. Die Schwester des Bürgermeisters! Und er wußte nicht einmal, wie sie hieß. Ja, apropos, er wußte ja nicht einmal, wie der Bürgermeister hieß. - 212 11 Zauberei Während sich die Lanzenreiter aus Glenellen gegen die Kavallerie der Nimmerländer formierten, traf der Kampfkalkulor der Stadt eine grobe Einschätzung des Terrains und der feindlichen Truppen. Schreiber schoben bunte Klötze über die am Boden aufgespannte Szenarioplane, und Boten flitzten mit Statistikkarten hin und her, auf denen die Geschwindigkeit, Bewaffnung und Erfahrung der einzelnen Kampfverbände verzeichnet waren. Leitende Komponenten vertieften sich in Taktikkarten, auf denen vermerkt war wie sich die Nimmerländer in früheren Schlachten verhalten hatten. Der Kampfkalkulor von Glenellen war in den Städten Alsprings keine Neuigkeit mehr; ja, dies war bereits sein vierter Einsatz. Und bisher hatte er sich tadellos geschlagen. General Baragania runzelte die Stirn und zupfte an seinem Bart, während er die Szenarioplane betrachtete. »Die Nimmerländer sind ein schwacher aber schwieriger Gegner«, sagte er zu seinem Stellvertreter Mundaer. »Sie kämpfen nicht in geschlossenen Reihen und sind nur leicht bewaffnet und gepanzert, aber sie sind schnell.« Er zuckte die Achseln und spreizte die Finger. »Sie können uns nicht groß schaden, aber wir können sie auch nicht fangen.« »Es sei denn in einer Falle«, sagte Mundaer selbstgefällig und richtete sein ockerfarbenes Gewand. Der Kartenoffizier stand neben ihnen und hielt seinen Stab bereit. »Aber wenn sie hierher kämen, auf diese Ebene südlich der Hügel, könnten wir sie ihre Angriffsparameter an unseren schweren Brigaden erschöpfen lassen«, sagte er beflissen. »Und währenddessen würden wir sie mit berittenen Bogenschützen einkreisen, die als Lanzenreiter verkleidet wären.« »Bloß daß sie uns diesen Gefallen nicht tun werden«, entgegnete Baragania. »Aber sie sind am Zug!« rief der Kartenoffizier, so als wäre das hier eine Schachpartie.
- 213 »Sie ziehen aber nicht. Und wir stecken hier fest, in dieser Hitze und mit den ganzen Fliegen und dem roten Staub.« Der Kartenoffizier fluchte, warf einen Klotz in den Farben der Nimmerländer zu Boden und trampelte darauf herum. »Sympathiezauber?« fragte Mundaer freudlos. Mundaer schritt einige Male um die Szenarioplane herum, während der General und der Kartenoffizier stehenblieben und zusahen. Die Schreiber wichen ehrfürchtig vor ihm zurück, und hin und wieder bückte er sich, um an Terrainpflöcke zu klopfen oder mit seiner Reitgerte Klötze anzustupsen. Diese Plane an einen anderen Ort zu verlegen und neu aufzubauen, war keine Kleinigkeit, und die Schreiber und der Kartenoffizier waren ebenso wie der General und sein Stellvertreter erpicht darauf, den Nimmerländern eine Entscheidungsschlacht zu liefern. »Mit Verlaub, Kommandant, aber warum verlegen wir unsere Falle nicht?« sagte Mundaer mit einer schwungvollen Geste mit seiner Gerte. »Wir müssen auf einer Ebene kämpfen, sonst können wir unsere Fernmeldeverbindungen nicht aufrechterhalten, die der Kalkulor benötigt. Und dort, wo sich die Nimmerländer verstecken, ist hügeliges Gelände.« »Aber wir könnten eine Ebene erschaffen Wenn wir ein Dutzend kleine, schwer bewaffnete Einheiten mit Heliostaten zum Einsatz bringen, die die Hügelspitzen erobern und Schützengräben ausheben, hätten sie freie Sicht auf das gesamte Terrain. Die Nimmerländer werden vielleicht in großer Zahl einen einzelnen Gipfel angreifen, aber in der Zwischenzeit können wir im Schutz der Hügel und für sie unsichtbar unsere berittenen Bogenschützen dorthin bringen. Der Kampfkalkulor kann uns da den optimalen Weg berechnen.« »Hügel, die zu einer Ebene werden, unsichtbare Bogenschützen ... das klingt ausgesprochen verlockend, aber Ihr würdet Euch dabei vollkommen auf Heliostatsignale verlassen.« »Aber wie sollten die versagen, Kommandant? Der Himmel ist wolkenlos, es ist windstill, und hier gibt es kaum Gras, das die Nimmerländer in Brand stecken könnten.« Baragania sah von der Karte zu den Hügeln hinüber, dann wieder auf die Karte. Fünf Wochen Wüstengefechte und die entsprechenden Unannehmlichkeiten nagten an der Moral seiner Bodentruppen und Lanzenreiter, die Nimmerländer aber fühlten sich in dieser ausgedörrten, stau - 213 bigen Landschaft wie daheim. Natürlich gab es bei der Sache ein Risiko. Die Nimmerländer konnten eine der Gipfelstellungen handstreichartig überrennen und die dortigen Truppen vernichten, dann den Rückzug antreten und einen Sieg für sich in Anspruch nehmen. Eine Stellung Glenellens, die von Nimmerländem ausradiert worden war - die emotionale Wirkung auf den Makulad von Glenellen wäre wahrscheinlich viel verheerender als die militärische Bedeutsamkeit. General Baragania kratzte sich nervös am Hals, als er sich vorstellte, wie er etwas derartiges seinem Herrn und Gebieter erklären sollte. »Oberstleutnant Mundaer laßt den Kampfkalkulor berechnen, wie lange die berittenen Bogenschützen auf jeder denkbaren Route auf jeden einzelnen Gipfel brauchten. Und nennt mir den längsten Wert.« »Ist bereits erledigt, Kommandant. Das wären neunzehn Minuten.« »So lange? Das ist nicht schnell genug. Aber Moment mal. Wenn man die berittenen Bogenschützen auf zwei Gruppen aufteilt und beiderseits der Hügel postiert, könnte man diese Dauer halbieren, und sie wären schnell genug vor Ort, um jeden Angriff abzuwehren. Und die übrigen Schützen würden dann als zweite Welle kommen. Ja, das gefällt mir Teilt den Kalkulorübersetzem mit, was wir vorhaben, und laßt unsere Männer dann an den Hügeln in Stellung bringen.« Der Aufmarsch dauerte fünf Stunden, was ungefähr den Prognosen des Kampfkalkulors entsprach. Die beiden Befehlshaber aus Glenellen und ihre Männer waren so erpicht auf einen Kampf, daß sie bereit waren, einen vom Zaun zu brechen. »Da - ein Heliostatsignal«, sagte Baragania. »Mundaer was bedeutet das?«
»Eine Bewegung der Nimmerländer Kommandant. Von Feld 44 nach 79 mit einem Vektor von A9 bei vierzig Grad.« »Das bedroht unseren Kampfkalkulor!« rief der Kartenoffizier, als er seine Klötze verschob und dann wieder das Schlachtfeld überblickte. »Die kommen hierher, durch diese ebenen, schmalen Erosionsrinnen hier.« Er zeigte auf eine mit schwarzer Kreide eingezeichnete Schattierung auf der Plane. »Wir sind hier hinter Lanzenreitern und Bogenschützen eingegraben«, sagte Baragania. »Wir bleiben.« Die Nimmerländer griffen den Kampfkalkulor nicht an. Vielmehr ritten sie in das Sichtfeld zwischen Baraganias Befehlsstand und den Hügeln. Sie hatten anscheinend Packpferde dabei, und während die Offi - 214 ziere aus Glenellen zusahen, schnitten die Nimmerländer die Lasten von den Pferden herunter und ließen sie dort liegen. Nun begann Rauch aus diesen Lasten aufzusteigen — dichter, beißender, schwarzer Rauch. »Rauchbomben?« wunderte sich Mundaer und kratzte sich unter seinem Helmsaum am Hals. »Aber die wollen sich doch wohl nicht dahinter verstecken -« »Neu formieren! Hier!« brüllte Baragania. »Die Nachricht sofort übertragen!« »Kommandant?« »Macht, was ich sage!« Mundaer bellte dem Mann am Heliostat einen Befehl zu, und Baragania hörte das Gerät klicken, während er durch sein Fernrohr zur nächsten Hügelspitze hinübersah. Rauchfahnen begannen durchs Sichtfeld zu treiben. »Worauf warten die?« schrie er und sah dann durch den Rauch ein schwaches Blinken. »Was senden sie?« »BITTEN UM BESTÄTIGUNG«, antwortete der Späher an dem großen Fernrohr neben dem Heliostat. »Dann sendet eine Bestätigung!« schrie Baragania verzweifelt, aber jetzt trieben bereits dichte Rauchwolken durch das Sichtfeld. »Der Kampfkalkulor hat sechs mögliche Szenarien ausgearbeitet«, begann Mundaer, der nicht recht verstand, was hier vor sich ging. »Darauf ist geschissen, wir sind verloren!« sagte der General leise. »Unsere Signale werden unterbunden, und unsere Männer sind so ausgebildet, daß sie nur nach Anweisung kämpfen. Mit ihrem ersten Schlag haben sie uns eine klaffende Wunde über den Augen beigebracht und uns mit unserem eigenen Blut geblendet.« »Da!« rief Mundaer und zeigte auf eine Staubwolke. »Da regt sich was in den Rinnen, schaut Euch diesen ganzen Staub an! Das ist ihre Kavallerie, ungefähr sechstausend Mann, mindestens die Hälfte ihrer Streitkräfte! Jetzt greifen sie den Kalkulor an!« »Befehlsstand verlegen, los, schnell! Setzt den Kampfkalkulor in Bewegung. Ziel sind zunächst die Rauchbomben. Wir werden ihren Rauch als Deckung nutzen und dann zum nächsten Hügel stürmen.« Der Kampfkalkulor und seine Begleitmannschaft wollten gerade aufbrechen, als Späher meldeten, der Staub werde von nur einigen Dutzend Nimmerländern aufgewirbelt, die hinter ihren Pferden und Kamelen Decken aus Sackleinen herzogen. Baragania beschloß, daß der nächste - 214 Hügel, von den Schreibern »Hügel Alpha« genannt, immer noch die sicherste Stellung wäre. In der Ferne hörten sie Trompetenstöße und Pfeifen und Kriegsgetöse. Die Rauchbomben brannten gerade herunter als sie vorbeiritten, und die Sicht zum nächsten Hügel war nun wieder frei. Plötzlich hagelte es vom Hügel Alpha Pfeile herab. Die Nimmerländer hatten ihn hinter dem Rauch Vorhang eingenommen. General Baragania führte sie zu einer Felsnase, die in Sichtweite der Hügel lag, aber immer noch von seinen Männern gehalten wurde. »Sie können nicht mehr als einen Hügel genommen haben«, beharrte Mundaer, der immer noch darum rang zu verstehen, was hier geschah. »Der Kampfkalkulor hat bewiesen, daß dafür keine Zeit war«
»Eine Meisterleistung«, sagte der Kartenoffizier. »Sie haben genau den Hügel eingenommen, der bei uns zu der größten Verzögerung führen würde, bis wir den Kampfkalkulor wieder betriebsbereit haben. Was sagen die Heliostaten?« Sie nehmen uns gerade erst wieder ins Visier«, erwiderte Mundaer »Grüne Leuchtkugel abfeuern.« Auf die grüne Rauchfahne folgten Heliostatberichte von zwei Gipfeln, und dann begannen die blinkenden Signale ihre Geschichte zu erzählen. Hügel Alpha war angegriffen worden, sobald die Rauchwolke ihn verdeckt hatte, war auf selbstmörderische Weise von den Nimmerländem erstürmt worden, die ihren Sieg mit einer mindestens zehnfach höheren Zahl an Toten und Verwundeten erkauft hatten. Die Rauchbomben und die Reiter, die Staubaufwirbler hinter sich hergezogen hatten, hatten Verwirrung gestiftet, aber die übrigen elf Gipfel und auch die beiden Gruppen der berittenen Bogenschützen waren in Sicherheit. Mundaer begann wieder Zuversicht zu schöpfen, als ihm klar wurde, daß die Streitkräfte Glenellens, von den Männern auf Hügel Alpha einmal abgesehen, kaum gelitten hatten. General Baragania war da weniger optimistisch. »Signalisiert den Bogenschützen, daß sie zu dieser Felsnase kommen sollen«, befahl er. »Und dann ziehen wir von Hügel zu Hügel und räumen gemeinsam unsere Stellungen.« Für einen Moment verlor der General die Gewalt über sich. Er packte den Oberstleutnant beim Halstuch und schüttelte ihn. »Von allen schwachsinnigen ...« Dann bekam er sich ebenso schnell wieder in den Griff. »Wo sind die Nimmerländer?« - 215 »Auf dem Hügel Alpha«, erwiderte der verwirrte Offizier. »Und der Rest reitet mit Rauchbomben und Staubaufwirblern in der Gegend herum.« »Ich behaupte, daß überhaupt nur zehn Prozent der Nimmerländer hier anwesend sind.« »Es sind mehr. Der Kampfkalkulor schätzt, daß nur elf Komma zwei Prozent ihrer uns bekannten Streitkräfte erforderlich wären, um ...« »Verdammt noch mal, Oberstleutnant! Versteht Ihr denn nicht? Diese Dutzende Männer mit ihren unhandlichen Klappulten, ihren Karten und Abakus können meinen Erfahrungsschatz um höchstens ein Prozent mehren! Ach, der Kampfkalkulor kann mich mal am Arsch lecken, ich bin fertig mit dem Scheißteil. Und jetzt holt die Bogenschützen her, ehe wir noch weitere Schläge einstecken müssen.« Die Bogenschützen der ersten Gruppe ritten einen Hügelkamm entlang, der an Hügel Alpha grenzte. Dieser Kamm war zuvor nicht angemessen erkundet worden, aber die Bogenschützen wählten diesen Weg, weil er der kürzeste war. Als sie dann durch die sich daran anschließende Schlucht ritten, prasselte von der Hauptstreitmacht der Nimmerländer, die sich dort versteckt hielt, ein Wolkenbruch aus Pfeilen auf sie hemie-der. Unter den Bogenschützen aus Glenellen brach nackte Panik aus. Viele flohen die Hänge von Hügel Alpha hinauf, nicht bedenkend, daß dieser ja in der Hand der Nimmerländer war. Sie wurden niedergemetzelt. Andere flohen auf die Hügel Beta, Gamma und Delta. Die zweite Bogenschützeneinheit gelangte sicher zu der Felsnase, hinter der sich General Baragania verschanzt hatte. Am späten Nachmittag zündeten die Nimmerländer weitere Rauchbomben und unterbrachen erneut die Signalverbindungen zwischen den Hügelgipfeln und dem Befehlshaber der Männer aus Glenellen. Kundschafter und Boten wurden abgefangen und getötet. Die Nimmerländer hatten dazu offenbar eigens eine Eliteeinheit gebildet. Einigen Boten gelang es dennoch, zu den entfernteren Hügeln vorzudringen, und bis zum nächsten Morgen waren die Hügel Kappa, My, Theta und Lambda evakuiert, und die dort zuvor liegenden Truppen hatten sich wieder mit der Hauptstreitmacht vereint. Das war durchaus eine Leistung, und selbst die Nimmerländer schienen überrascht davon. »Sie gehen vor wie beim Chirurgengambit beim Kämpen«, sagte Baragania zu seinen versammelten Offizieren und Edelleuten. »Wer kann mir sagen, worum es dabei geht?« - 215 -
Ein Hauptmann von Hügel Lambda schüttelte eine Lanze, die mit Quasten in den Farben seiner Einheit geschmückt war. »Hochgeschätzter General, die gegnerischen Streitkräfte werden größtenteils auf dem Brett belassen, bis der König fast so weit ist, daß er fällt.« »Richtig, und dieser König ist unserer! Wir müssen unsere noch verbliebenen Hügelstellungen wieder zusammenziehen, aber ich schätze, daß sechstausend feindliche Krieger als schnelle Eingreiftruppe in den Hügeln liegen. Wir haben die Hügel einzeln geräumt, und ich glaube, sie werden sich auf die nächste Stellung stürzen, die Anstalten macht, sich zu bewegen. Statt dessen werden wir unsere sieben verbliebenen Stellungen alle auf einmal räumen. Eine oder zwei davon werden vielleicht in eine Falle geraten und niedergemacht, aber das ist besser als sie eine nach der anderen zu verlieren.« Die Nimmerländer hatten noch eine weitere Überraschung in petto. Man wußte, daß sie keine Bombarden, sondern nur Belagerungsraketen besaßen, die kleiner waren und sich auf Kamelen transportieren ließen. Diese hatte man auf der Szenarioplane nicht nachgebildet, da sie notorisch zielungenau waren. Bei maximaler Reichweite konnte man damit allenfalls auf hundert Meter genau schießen ... aber das gegnerische Feldlager war mittlerweile erheblich größer als das. Die erste Rakete schlug eine Viertelstunde nach der taktischen Besprechung bei den Männern von Glenellen ein. Ihr Sprengkopf jagte todbringende Metallsplitter in Menschen, Pferde und Kamele. Als der Befehl des Generals, sich zurückzuziehen und mit der Hauptstreitmacht zu vereinen, über Heliostat ausgesandt wurde, brach in einigen Hügelstellungen eine Rebellion aus. Die Männer wollten sich nicht dort unten wie in einer Schießbude von der Raketenartillerie der Nimmerländer über den Haufen ballern lassen. Schließlich konnten drei Stellungen dazu gebracht werden, sich wieder mit der Hauptstreitmacht zu vereinen, zwei aber wurden von den Nimmerländern übel zugerichtet. Und immer noch ging alle fünf Minuten eine Rakete auf das große Feldlager hernieder. Schließlich beschloß General Baragania, der Sache ein Ende zu machen und nach Glenellen zurückzukehren. Über die Hälfte seiner ursprünglichen Streitmacht war noch intakt, und das waren immer noch doppelt so viele Männer, wie die Nimmerländer zählten, und seine Leute waren für die dreiwöchige Heimreise bestens verproviantiert. Bei der - 216 Aussicht, die Reichweite der Raketen hinter sich zu lassen, besserte sich auch ihre Moral. »Es ist ein Wunder«, sagte der voranreitende Baragania. »Heute morgen habe ich noch erwartet, spätestens mittags tot im Sand zu liegen, und jetzt führe ich den geordneten Rückzug an, und über die Hälfte meiner Männer sind noch am Leben.« Mundaer sah sich zu den Hügeln um. »Da! Noch ein Rauchstoß. Sie setzen ihre Raketen gegen unsere meuternden Stellungen ein.« »Gut, dann sind die Nimmerländer beschäftigt, während wir uns davonmachen. Und es erspart uns die Mühe, unsere Verräter selbst hinzurichten. Kartenoffizier, wie lange brauchen wir nach Glenellen, was schätzt Ihr?« rief er. Der Kartenoffizier ritt auf seinem Kamel heran. »Mindestens zwei Wochen, General, und höchstens drei.« »Man wird uns natürlich für unsere Mühen hinrichten lassen. Der unbesiegbare Kampfkalkulor wurde gedemütigt. Vierzig Prozent meiner Männer sind gefallen, und das Selbstvertrauen der Nimmerländer ist gestärkt.« »Warum dann heimkehren?« fragte Mundaer mißmutig. »Warum? Um zur Verteidigung der Stadt zehntausend Krieger aufzubieten und damit unsere Familien vor Ruin und Sklaverei zu bewahren.« »Ich verstehe einfach nicht, was mit dem Kampfkalkulor schiefgelaufen ist!« rief der Kartenoffizier. »Da ist gar nichts schiefgelaufen. Soweit ich es verstehe, wurden die Nimmerländer allerdings von jemandem befehligt, der ganz genau weiß, was ein Kampfkalkulor vermag und was nicht. Das war's, was uns besiegt hat.«
Die Gärten des Staatspalastes von Kalgoorlie hatte der Großvater des gegenwärtigen Bürgermeisters anlegen lassen, und er hatte dabei ganz besonders an die Liebenden gedacht. Es gab dort einen wahren Irrgarten aus Hecken, Sträuchern und verborgenen Lauben, und das Ganze war von einem Kreuzgang umgeben, dessen vier Seiten jeweils fünfzig Meter maßen. Paaren bot sich hier nicht nur Privatsphäre, sie hörten auch am Knirschen der Kieseln, ob jemand kam. Für Glasken waren diese Gärten zudem ein direkter Schleichweg vom Haupttor zu Varsellias Gemächern, und seit seiner Ankunft in Kalgoorlie hatte er die Gärten recht gut ken - 217 nengelernt. Für Ilyire hingegen waren die Gärten ein Ort, an dem er allein sein konnte, ohne die Stadt zu verlassen, und in letzter Zeit hatte er zunehmend das Bedürfnis, allein zu sein. Eines klaren, heiteren Herbsttages reagierte Ilyire nicht schnell genug. Glasken hatte sich am späten Nachmittag aus dem Palast fortgestohlen, fein zurechtgemacht für eine Nacht der Ausschweifungen im Marktvier-tel der Stadt. In den verwaisten Gärten wäre er beinahe über Ilyire gestolpert, als er wie eine Geistererscheinung hinter einer kunstvoll beschnittenen, hohen Hecke auftauchte. Ilyire hatte auf einem kleinen Rasenrechteck vor sich hin gedöst, doch nun sprang er wie vom Blitz getroffen auf. »Glasken!« rief er ungläubig. Glasken wich ein Stück zurück, hielt dabei seinen Offiziersstock in beiden Händen. Ilyire hatte auch einen Stock dabei. »Zum ersten Mal ich mich freuen, dich zu sehen«, fügte Ilyire hinzu und ging langsam, aber selbstbewußt auf den größeren Mann zu. Glasken wich noch einen Schritt zurück und sah sich hektisch um. »Ich kann nicht behaupten, daß ich diese Freude teile«, entgegnete er in seltsam beiläufigem Ton. Ilyire schritt voller selbstsicherer Verachtung auf Glasken zu, ohne jedoch zu wissen, was er eigentlich vorhatte. Theresia wollte Glaskens Gefangennahme, aber er stand nicht mehr in ihren Diensten. Zarvora hatte eine hohe Belohnung auf Glaskens Ergreifung ausgesetzt, aber für Geld und weltliche Güter hatte Ilyire nur Verachtung übrig. Im Grunde mißfiel es Ilyire, daß es Glasken überhaupt gab, und er wollte weiter nichts, als ihn zu demütigen. Glasken war da nicht so unentschlossen. Ilyire fuchtelte mit seinem Stock und fintierte, woraufhin Glasken herumwirbelte und Hals über Kopf die Flucht zu ergreifen schien - bloß daß er das hintere Bein in einem Bogen hochriß und die Arme in die entgegengesetzte Richtung drehte. Sein Fuß traf Ilyire mitten im Gesicht und schickte ihn völlig verblüfft und mit gebrochenem Backenknochen zu Boden. Der Ghaner landete auf einem Gartenpfad und wirbelte dabei einen Schwall polierter Quarzsteinchen auf. Glasken schlug nach seinen Fingerknöcheln, damit er den Stock fallenließ, verfehlte ihn aber als er selbst auf den Kieseln ausrutschte. Den Vorteil nutzend, holte Ilyire zu einem Schlag in Glaskens Gesicht aus, aber sein Erzfeind wirbelte herum und fing den Schlag mühelos mit dem Unterarm ab. Ilyire nutzte den Schwung dazu, sich zu drehen. Glasken rammte ihm ein Knie in die Rip - 217 pen, aber Ilyire ergriff seinen Arm. Glasken ließ es geschehen und drehte sich. Ilyires Arm wurde herumgerissen, und die Hebelbewegung stieß ihn zu Boden. Der Aufprall raubte ihm den Atem, und als Glasken ihm den Arm hinter dem Rücken verdrehte, brandeten ihm scharlachrote Wogen des Schmerzes über die Augen. Bald ließ Glasken den Nerv in Ilyires Nacken, den er mit großer Präzision gepackt hatte, wieder los, hielt ihn aber weiter auf dem Gartenpfad zu Boden gepreßt. »Du dreckiger, verkommener Wicht«, sagte Glasken mit ruhiger Stimme. Ilyire versuchte sich zu wehren und funkelte Glasken aus dem Augenwinkel zornig an. »Du wollen meine Schwester schänden!« keuchte Ilyire. »Ich töten dich.« Wiederum drückte Glasken auf den Nerv, und wiederum wurde Ilyire von solch rasenden Schmerzen gepeinigt, daß ihm fast der Atem stockte. »Ich war in deiner Schatzhöhle am Ende der Welt«, sagte Glasken und ließ den Nerv wieder los. »Die, bei der am Eingang ERVELLE eingemeißelt steht.«
»Du Schwein -« begann Ilyire, fing sich dann aber. Entsetzen packte ihn. Er sah zu dem Rinnstein aus Terrakotta hinüber und hätte sich jetzt am liebsten in Wasser verwandelt und wäre in irgendein Versteck geflossen. »Schwein? Ich?« sagte Glasken. »Ich habe eine holde Prinzessin in deinen dreckigen Klauen entdeckt. Du hast mit ihren Gebeinen geschlafen.« »Lügner, ich bringe dich um«, greinte Ilyire, der sich nun mühte, seinen Zorn durch den kalten Schleier der Scham anzufachen. »Ich schlafe mit der Schwester des Bürgermeisters, und das verschafft mir Zugang zu allen möglichen interessanten Dokumenten. Ich habe Oberliber Dariens Mitschrift deiner Prahlereien gelesen. Auf deiner ersten Reise an den Rand entdecktest du die Gebeine eines Mädchens namens EVA NELL. Der Frelle Oberliber könnte man ein paar Fehler verzeihen, wenn sie eine so lange und unzusammenhängende Erzählung aufzeichnen mußte, aber ich habe diese Höhle mit eigenen Augen gesehen.« »Ich bring dich um, ich bring dich um«, schrie Ilyire, und Verzweiflung schlich sich in seine Stimme. »Aber Ilyire, es ist doch wohl offensichtlich, daß ich mittlerweile ein viel besserer Kämpfer bin als du. Ich könnte dich umbringen, indem ich - 218 beispielsweise nur eine Minute lang auf diese Stelle hier in deinem Nacken drücke. Und niemand würde je auf die Idee kommen, daß ich es war.« Ilyires Atem kam nun in hektischen, pfeifenden Zügen. »Solange ich lebe, lebe ich dafür, dich umzubringen.« »Aber das doch nur, damit niemand von der Sache mit Ervelle erfährt. Das ist keine Blutrache um der Ehre willen, das sind einfach nur Gewissensbisse.« »Nein! Stimmt nicht!« »Du hast mit den Gebeinen der Ervelle geschlafen, der meistverehrten Legende der Städte von Alspring. Das arme Mädchen. Mich verachtest du, weil ich Frauen flachlege, die scharf auf mich sind, und dann hast du das einem hilflosen Schatten angetan, der noch nicht einmal um Hilfe schreien konnte?« »Nein!« »Keine Frau hat je um Hilfe geschrien, während sie in meinen Armen lag, Fras Ilyire. Sie haben geschrien, aber aus einer Reihe anderer Gründe. Ich bin ein guter Liebhaber Du bist ein Perverser.« »Nein, nein.« »Du willst mich unbedingt umbringen«, sagte Glasken, ließ Ilyire langsam los und stand auf. »Aber hast du schon einmal von Anwälten gehört?« Ilyire sah zu Glasken hoch, und der Ausdruck der Hoffnungslosigkeit auf seinem Gesicht war wirklich sehenswert. »Dann weißt du also, wovon ich spreche. Ich mußte schon einige engagieren, und daher weiß ich, was sie alles tun können. Sie können beispielsweise versiegelte Briefe zu treuen Händen verwahren, die im Falle meines Todes an Leute wie den städtischen Ausrufer, an deine Schwester oder an den Alspringer Handelsgesandten in Maralinga gesandt würden. Wenn Ihr mich tötet, Fras Ilyire, werden Eure privaten Perversionen zu überaus öffentlichen. Wißt Ihr noch, wie Ihr mich genannt habt? Kamelscheiße, Penispustel? Stellt Euch vor, wie man Euch nennen würde - den Knochenficker! Und dann waren es auch noch die Knochen von Ervelle höchstpersönlich.« »Nein! Niemals! Ich lag neben den Gebeinen, um sie zu bewachen, ich wollte ihr doch nur den Schutz geben, den sie im Leben nie hatte. Bitte, bitte, glaubt mir Fras Glasken, Fras Johnny Glasken. Ich könnte nicht damit leben, wenn ...« - 218 Ilyire hockte mittlerweile auf den Knien, die Hände eindringlich flehend gefaltet, und Tränen liefen ihm übers Gesicht. Mit einem Mal beugte er sich vor und rammte seine Stirn auf den Kieselboden. Glasken nahm die zuvor verschränkten Arme auseinander, erstaunt über Ilyires vollständigen Zusammenbruch. Es kam nicht oft vor, daß er sich in einer moralisch überlegenen
Position befand, und daher wußte er nicht recht damit umzugehen. Er bückte sich und packte den am Boden zerstörten Mann am Arm. »Hört auf. Eure Stirn blutet schon«, sagte er und zog Ilyire hoch. »Steht auf, und dann seht zu, daß Ihr Land gewinnt.« »Ich habe den Tod verdient. Hier, nehmt Messer. Tötet mich.« »Steckt das weg und -« Ilyire entwand sich seinem Griff. »Dann töte ich mich selber!« Glaskens Stiefelspitze schoß vor, und das Messer flog in hohem Bogen davon. Es landete im Allerwertesten eines hölzernen Cherub in der Groteskengallerie des Kreuzgangs und blieb dort monatelang unentdeckt. Glasken stand mit den Händen auf den Hüften da und sah auf Ilyire hinab, der sich auf dem Pfad zusammengerollt hatte, sich mit beiden Händen den Kopf hielt und hysterisch weinte. »Kommt mit, ich kann Euch so nicht hier liegenlassen.« Es brauchte einiges an Überredungskunst, doch dann stand Ilyire auf und wischte sich mit dem Ärmel die Augen ab. »Was - wohin gehen wir?« »Zum Laden eines Mediziners.« Ilyire riß die Hände hoch und zauste sich das Haar. »Mir kann kein Zaubertrank und auch kein Arzt mehr helfen.« »In diesem Laden werden Seelen geheilt. Er heißt der Krug zum grünen Drachen.« Die auf dem Rückzug befindliche Armee aus Glenellen war noch einen Tag von ihrer Heimatstadt entfernt und ritt so schnell, wie ihre Pferde und Kamele es zuließen, als die Nimmerländer zum Angriff übergingen. Das Land hier war größtenteils flach und offen, wenn auch von schluchtenförmigen, breiten Rinnen begrenzt. »Das Terrain ist optimal für den Kampfkalkulor«, sagte der Kartenoffizier, während General Baragania in den Steigbügeln seines Kamels stand und sich die Truppenbewegungen der Nimmerländer vor ihnen ansah. »Für den Kampfkalkulor haben wir hier keine Verwendung«, entgeg - 219 nete der General bestimmt. »Die schweren Brigaden sollen die Nimmerländer in diesen Rinnen entlangjagen und Hackfleisch aus ihrer Nachhut machen, während unsere berittenen Bogenschützen die Flanke des Feindes umfassen.« »Die Männer sind für solche Kämpfe nicht ausgebildet, Kommandant«, entgegnete der Kartenoffizier flehentlich. »Sie wären außer Sicht, müßten eigene Entscheidungen treffen, ohne sich auf den Kampfkalkulor verlassen zu können.« »Genau. Und damit rechnet der Feind nicht.« Sie sahen zu, wie die schweren Brigaden in einer weiten, langsamen Zangenbewegung in die wellenförmigen Rinnen ausströmten. Bald wich das ferne Donnern der Hufe Schlachtrufen, Pfiffen und klirrenden Waffen, hin und wieder ertönten auch Schüsse. Der General sandte Späher mit Heliostaten aus, aber die wurden von kleinen, schnellen Lanzenreitereinheiten der Nimmerländer zur Strecke gebracht. »Und schon wieder stören sie unsere Femmeldeverbindungen«, sagte der General. »Sie legen es darauf an, daß wir blind und taub bleiben.« »Kommandant, wir sind immer noch im Vorteil. Wir haben viel mehr Männer und sind hier auf offenem Terrain«, beharrte Oberstleutnant Mundaer. »Ich hoffe, Ihr habt recht. Seht da, unsere Bogenschützen reiten in genau richtigem Vektor hinüber Kommt, laßt uns zu den Rinnen reiten. Haltet meine Standarte hoch. Die Heliospäher brauchen einen Fokus für ihre Signale.« Als sie sich in gemächlichem Kanter in Bewegung setzten, tauchte mit einem Mal am Rande der Rinnen ein Lanzenreiter auf, der mit hohem Tempo in die Mitte der Ebene hineinritt. »Einer aus den schweren Brigaden, ein Deserteur, bei Dalahms!« rief der Kartenoffizier. »Die Nimmerländer sind ihm auf den Fersen«, sagte Baragania. »Er versucht, einen Handheliostat zu benutzen«, beobachtete Mundaer durch sein Fernrohr. »Das geht nicht auf einem galoppierenden Pferd.«
Während sie zusahen, blickte sich der Lanzenreiter noch einmal zu seinen Verfolgern um und verhielt dann sein Pferd. Während ihm die Nimmerländer immer näher kamen, begann der Mann in die Richtung der Standarte des Generals zu signalisieren. Nur Augenblicke später verschwand er in einem Wirbel aus Staub und aufblitzenden Waffen. - 220 »Ein tapferer Recke. Er hat sein Leben für diese Nachricht gegeben«, sagte Mundaer. Er räusperte sich und spuckte in den roten Sand. »Habt Ihr irgendwas davon verstanden?« »Es waren die Kodes für >Bogenschützen< und >Falle<«, sagte der Kartenoffizier. »Aha, er hat unsere Bogenschützen angefordert, damit sie schnell eine Falle bilden können«, sagte Mundaer und wandte sich an den General. »Nicht >Bogenschützenfalle<«, sagte der Kartenoffizier. »Das ist ein eigener Kode, der mit den anderen nicht verwechselt werden kann.« »Ein Mann, der dem Tod ins Auge blickt, hat das Recht, auch einmal etwas zu verwechseln.« Die berittenen Bogenschützen aus Alspring waren nun an der Rinne angelangt und verschwanden darin. »Drei Nimmerländerschwadrone hinter uns!« schrie der Hauptmann der Eskorte des Generals. »Seht! Sie schneiden uns den Weg ab!« »Reitet dorthin, wo die schweren Brigaden sind!« befahl Baragania. »Wir sind ihnen zahlenmäßig überlegen, Kommandant, wir könnten kehrtmachen und sie angreifen«, schlug Mundaer vor. »Vielleicht haben sie es gerade darauf abgesehen. Vielleicht versuchen sie uns abzulenken. Vorwärts, beachtet sie nicht, solange sie nicht angreifen.« In Erwartung der vor ihnen liegenden Kämpfe stiegen sie auf Pferde um. Während sie ritten, kamen die Lanzenreiter der Nimmerländer immer näher. Als dem General schließlich klar wurde, daß er sich stellen und kämpfen mußte, und sie sich dazu der nächsten und schwächsten Gruppe zuwandten, kam ein Reserveschwadron der Lanzenreiter aus der Rinne geprescht. Der erbittert geführte Kampf, der sich nun entspann, zog sich über zwanzig Minuten hin. Der General und der Kartenoffizier wurden gefangengenommen, Oberstleutnant Mundaer aber fiel in der Schlacht. Die meisten Komponenten des Kampfkalkulors hatte man jedoch vorausgeschickt, und sie trafen sicher in Glenellen ein. Die Krieger der Nimmerländer waren alle recht ähnlich gekleidet, aber als ihr Anführer das Wort ergriff, wußte Baragania sofort, daß es die Dämonin sein mußte, die unter dem Namen Lemorel bekannt war. Sie verhielt sich höflich ihm gegenüber. »Ich weiß von Eurem Kampfkalkulor«, sagte sie, als sie zur nächstgelegenen Rinne ritten. Baragania sah hinein und war sprachlos vor Entsetzen. - 220 Hier hatte sich ein abscheuliches Gemetzel abgespielt. Über die schwere Brigade waren als Lanzenreiter verkleidete Bogenschützen der Nimmerländer hergefallen. Eben die Taktik, mit der Baragania in der vorigen Schlacht versucht hatte, die Nimmerländer hinters Licht zu führen. Die Bogenschützen hatten die Pferde der Vorhut abgeschossen und die Rinne damit so verstopft, daß die Nachfolgenden in einen Pfeilhagel stolperten. Und als die Bogenschützen aus Alspring eintrafen, waren die Nimmerländer bereit für sie. »Laßt nie den Feind das Schlachtfeld wählen«, sagte Lemorel unter ihrem dichten Schleier und der Kapuze hervor zu Baragania. »Ich habe versucht, das zu vermeiden«, entgegnete Baragania mit unverhohlener Wut. »Deshalb habe ich mich ja aus den Hügeln im Norden zurückgezogen.« »Ein brillanter Schachzug. Ich dachte schon, ich hätte Euch, aber dann seid Ihr mir in gutem Zustand entwischt. War das auf Anraten Eures Kampfkalkulors?« »Kalkulor? Pah!« Er spie aus und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Da hätte mir ja mein Gaul bessere Ratschläge geben können.« Er tätschelte den Hals des Pferdes, breitete dann die Hände und zuckte resigniert mit den Achseln. »Nein, da habe ich mich von meiner Erfahrung leiten lassen. Der Kampfkalkulor hat uns ins Verderben geführt.«
»Das können Kalkuloren durchaus, wenn man sie falsch benutzt, General. Ihr dürft das Denken nicht einstellen, wenn Ihr sie nutzt, sonst seid Ihr mit Sicherheit verloren. Seht«, sagte sie und wies auf die Rinne. »Alle verloren.« Baragania schwieg beim Anblick der mit Toten und Sterbenden gefüllten Rinne. Dann ließ er den Kopf hängen und schloß die Augen. »Aber früher hat die Maschine doch funktioniert«, sagte er und wußte nicht recht, welchen grundlegenden Umstand er hier übersah. »Oh ja, aber das verdankte sich ebenso dem Glück und kluger Führung wie den Fähigkeiten des Kampfkalkulors selbst. Die Hoheliber von Libris hat die ursprüngliche Maschine als strategische Waffe konstruiert, nicht als taktisches Hilfsmittel. Damit ließen sich die gesamten Ressourcen des Staates in die Waagschale werfen, und das bei Kriegsschauplätzen, die sich über Hunderte Kilometer erstreckten. Man kann den Kalkulor natürlich auch taktisch nutzen, wenn der Feind noch nie gegen einen Kalkulor gekämpft hat. Wenn man ihn allerdings gegen eine Streit - 221 macht einsetzt, die von jemandem befehligt wird, der mit seinen Beschränkungen bestens vertraut ist, weiß niemand besser als Ihr, was dabei herauskommt.« »Ihr habt uns vernichtet«, hauchte er. »Das war keine Absicht. Meine Nimmerländer kämpfen nur, wenn sie müssen. Das Leben in der Wüste ist schon hart genug, auch ohne daß man in aussichtslosen Kämpfen Krieger vergeudet. Ich habe die Kämpfe einstellen lassen, sobald Eure Streitmacht gebrochen war, keine Minute später. Wäre Euer Oberstleutnant nicht so versessen darauf gewesen, sich bis zum letzten Atemzug zu wehren, so hättet Ihr aus Eurem Stab keinen einzigen Mann verloren. Übrigens, General Baragania: Ich rekrutiere. Überlegt es Euch.« »Ihr wollt, daß ich in Euer Heer eintrete?« fragte Baragania und hob den Kopf. Eine zarte Bewegung der Haut rund um ihre Augen verriet ein Lächeln hinter dem Schleier. »Ein ungewöhnliches Angebot von einem wirklich außergewöhnlichen Gegner«, sagte er. »Ihr habt die Wahl. Wenn Ihr mein Gefangener bleibt, wird Euch Eure Familie vielleicht freikaufen. Ihr könnt aber auch einer meiner Generale werden, doch wenn Ihr Euch dazu entschließt, gibt es kein Zurück mehr. Eine Fahnenflucht, ein Verrat, und die Folgen wären verheerend. Ich brauche kluge Köpfe wie Euch. Recht bald werde ich sämtliche Städte Alsprings erobert haben. Und anschließend harrt da draußen eine ganze Welt der Eroberung. Meine Händlerspione sind dort bereits eifrig tätig. Ihr könntet mit mir wachsen, General Baragania, denkt darüber nach.« »Ich werde Euer Angebot sehr ernsthaft in Betracht ziehen, Mylady, Kommandantin«, sagte er mit ruhiger Stimme. Sie hielt ihm ihre Gerte vor die Brust. »Nur Kommandantin, wenn Ihr mit mir sprecht.« Als der General aus Glenellen zu den übrigen Gefangenen abgeführt wurde, trat auf Lemorels Wink ein General der Nimmerländer heran. »Glenellen liegt vor Euch«, sagte er überschwenglich. »Nehmt es, und wir werden reiche Beute machen.« Sie stieß ihm die Reitgerte vor die Brust. Es war kein schwerer Schlag, nur eine Verwarnung. »Wir sind keine gemeinen Diebe, Genkeric. Wenn Euch der Sinn - 221 danach steht, Leichen zu fleddern, kann ich dafür sorgen, daß Ihr einen Lumpensammlerwagen ziehen dürft.« »Kommandantin, ich meinte doch nur für die Männer.« »Nichts da! Ihr denkt immer noch wie ein verlumpter Nomade, wie ein gemeiner Dieb. Glenellen ist ein Sinnbild der Stärke. Ich will, daß es mir gehört, und ich will nicht, daß seine Macht durch Plünderungen gemindert wird. Wenn Glenellen gefallen ist, wird sich Ringwood mir gegen Alspring anschließen. Dann werde ich nicht mehr nur irgendein staatenloser Kriegsherr sein. Folgt dem General aus Glenellen, zeigt ihm unsere Truppen. Seid höflich, seid freundlich - vielleicht kämpft er in der nächsten Schlacht schon an unserer Seite.«
Einige Tage später starb General Genkeric bei einer verworrenen Plänkelei nicht weit vor den Mauern von Glenellen. Rasch wurde er durch einen ranghöheren Offizier aus den Reihen der Gefangenen ersetzt: Baragania. Der Morgen graute schon, aber die Straßenlaternen brannten noch, als Glasken und Ilyire zum Staatspalast zurückkehrten. Die Spiegelsonne stand knapp über dem westlichen Horizont und ergoß ihr Licht zwischen den Türmen hindurch, die den Platz säumten, und der allnächtlich die Gestalt ändernde Schein sah heute wie ein sechszackiger Stern aus. Glasken bremste den gestohlenen Straßenhändlerkarren, als sie vor dem Palasttor anlangten. Ilyire lag mit herabbaumelnden Beinen auf der Ladefläche und sang zusammenhangsloses Zeug. Glasken sprach leise mit den drei Mädchen, die ihnen mit dem Karren geholfen hatten, und dann machten sie sich, nachdem sie ihn auf die Wange geküßt hatten, im Schummerlicht davon. Zwei von ihnen küßten auch Ilyire. »Fras Glaschken, du guter Mann«, brüllte Ilyire gefühlvoll, als Glasken ihm vom Karren auf das Kopfsteinpflaster half. »Hilfst Mann in die Gosse.« »Das heißt aus der Gosse, Fras Trinklehrling.« »Alle hassen ... Ilyire!« »Die sollen sich was schämen.« »Schwester hat auf mich geschossen.« »Ein Glück, daß sie nicht getroffen hat.« »Sie hat getroffen.« »Ein Glück, daß du so ein zäher Bursche bist. Schau, wir sind daheim.« - 222 Ilyire stimmte auf Altanglaisch an: »I belang te Glascow, Dear old Glascow town.« »Pscht! Sonst denken die Wachen noch, wir wären betrunken.« »Wo ist Glascow?« »Weit weg. Ich glaube, das ist eine Stadt im Nordmaurenreich.« Ilyire taumelte aus Glaskens stützenden Armen und stand dann mit den Händen auf den Schultern seines neuen Freundes da. »Hast du meine Schwester gelallt?« »Deine Schwester gelcnaüt.« »Also hast du, ja! Du dreckige Sau!« Ilyire hielt inne, um eine Mischung aus einem Rülpser und einem Seufzer von sich zu geben. »Nein, habe ich nicht«, sagte Glasken und fächelte die Luft zwischen ihnen. »Du hast nicht? Warum nicht?« »Sie hat mich nicht rangelassen.« »Dein Glück. Sie ist seltsam. Sie ißt Mäuse, vergiftet Freier, schießt auf mich.« »Ilyire, die Sonne geht bald auf Wir sind hier am Palast, und du gehst jetzt in die Heia. Ich werde mich ein wenig frisch machen und dann der hinreißenden Varsellia einen Besuch abstatten.« »Ein schönes, schönes Mädchen. Wie ist sie so?« »Hör auf.« »Wie die Fahrt auf einem Heuwagen mit gebrochener Achse, hä?« Sie schlenderten auf den Haupteingang und sechs zusehends nervöse Wachen zu. Plötzlich blieb Ilyire stehen. »Fras, Freund«, sagte er und stellte sich wieder vor Glasken hin. »Dir ich schenke Schatzhöhle. Nur eins mußt du mir versprechen.« »Was denn? Wenn es irgendwas mit deiner Schwester zu tun hat -« »Nein! Niemals. Ich armer, mit Scham erfüllender Mann bin nie dahin zurückgekehrt. Freund, nimm dir all die Schätze, aber sammel Ervelles Gebeine ein und begrabe sie in Maralinga. Es gibt dort Friedhof für Ghaner. Ghaner, die in Wüste sterben, wenn sie dem Ruf folgen. Tu das, Frasch. Bitte.« »Eine noble Geste«, sagte Glasken und zog mit einer wackeligen, aber schwungvollen Bewegung vor Ilyire die Mütze. »Keine Geste! Ihre Seele zur ewigen Ruhe betten. Dafür braucht es einen Helden. Du Held. Ich? Nur Wurm.« - 222 »Ich ... weiß nicht. Würmer können doch auch ihren Spaß haben«, sagte Glasken und stieß Ilyire einen Ellenbogen in die Rippen. Ilyire ging mit einem Schmerzschrei zu Boden. Glasken half ihm wieder hoch.
»Entschuldige bitte, Ilyire, was habe ich denn getroffen? Einen Knutschfleck?« »Fras Glasken, Johnny ... sehr witzig.« »Hast du eine Karte, auf der die Höhle verzeichnet ist?« »Nein.« »Könntest du eine zeichnen?« »Nein. Geleitet von, äh ... Inkarnation? Inklination? Intuition? Ja, genau. Nur Theresia hat Karten gemacht.« »Na, kannst du mich denn dahin führen?« »Nein, Fras. Die Schande, die Schande.« »Ach, du Dummkopf! Und wie willst du mir dann helfen?« Glasken winkte den Wachen zu. »Helft Ihr ihm mal rein?« rief er »Wir kennen Euch beide, Fras Orion«, erwiderte der diensthabende Offizier. »Ihr bringt ihn rein. Wir dürfen unseren Posten nicht verlassen.« »Gott sei Dank«, murmelte eine andere Wache. Sie sahen zu, wie die beiden vorbeiwankten, und bald hörten sie das Klappern eines Flaschenzugfahrstuhls. Die sechs Wachen entspannten sich sichtlich. »Jetzt dürfen sich die Domestiken mit ihnen herumschlagen«, sagte der Offizier erleichtert und trug die beiden in sein Wachbuch ein. »Ich dachte immer Ghaner trinken nicht«, sagte die Wache und sah zu dem stehengelassenen Straßenhändlerkarren hinüber. »Nachdem ich jetzt drei Wochen lang Fras Orion zu seltsamen Uhrzeiten in noch seltsamerer Begleitung habe heimkehren sehen, überrascht mich gar nichts mehr«, erwiderte der diensthabende Offizier. Zarvora erwachte, als sie in der Ferne Geschrei und zerschmetterndes Porzellan hörte. Sie rüttelte Denkar wach. »Hör mal!« flüsterte sie. »Da hat irgendein Koch einen Wutanfall«, murmelte er schläfrig und zog sich die Decke über den Kopf. »Das klingt aber gar nicht so.« »Zar ich bin bis vier aufgeblieben, um deine Flugbahnberechnungen - 223 in Binärkode auf Lochstreifen umzuwandeln. Ich schlafe jetzt, es sei denn, der Palast steht in Brand.« Zarvora bemühte sich, etwas von dem fernen Streit aufzuschnappen. »Du dreckiger Schuft, raus hier!« kreischte eine Frauenstimme. »Ich gehe ja schon, bitte nicht schreien«, bat die Stimme eines Mannes. »Ich schreie, wann ich will! Du bist gar kein Tigerdrache, du bist ein verdammter Bremser! Du hast mich angelogen!« Mit lautem Getöse gingen irgendwelche Sachen zu Bruch, es ertönten unverständliche wütende Schreie, dann hörte man fortlaufende Füße. »Besoffen! Jede Nacht besoffen!« Etwas, das nach einer großen Vase klang, wurde zerschmettert. Die Bruchstücke flogen klimpernd umher. »Und wenn du nicht gerade einen Tresenhocker bestiegen hast, hast du meine Dienstmädchen bestiegen!« Eine Tür wurde zugeschlagen, und der Knall hallte auf den Korridoren und Kreuzgängen wider. Einen kurzen Moment lang herrschte Stille, dann ein weiterer Knall und ein Schrei des Erstaunens. »Und nimm deinen schäbigen Roggenwhisky mit! Die Schwester des Bürgermeisters läßt sich von niemandem hinters Licht führen!« Zarvora hob eine Augenbraue. »Aber irgend jemandem scheint es dann doch gelungen zu sein«, schloß sie. Sie legte sich wieder hin, konnte aber nicht mehr einschlafen. Derartige Ausbrüche waren im Palast selten, und eine der beiden war Varsellia gewesen. Der andere ... ein Tigerdrache? Ein Bremser? Zarvora schlug ihre Decke beiseite und stand auf, streckte sich noch kurz und begab sich ins Bad. Sie wickelte sich ein großes Handtuch um und ging dann nach nebenan, um nach ihren
schlafenden Söhnen zu sehen. Sie zog die Vorhänge zu, damit sie nicht zu früh erwachten und Denkar störten. Zarvora war zwar aufgestanden, um nach der Ursache der Ruhestörung zu forschen, aber sie hatte es nicht eilig. Ja, es war nun klug abzuwarten, bis sich Varsellia ein wenig beruhigt hatte, ehe man zu ihr ging und mit ihr sprach. Zarvora legte ihre Arbeitskleidung an, Hose und Hemd aus grauer Baumwolle, und ging dann zum Frühstück hinab in die Palastküche. »Ereile Varsellia wirkte heute morgen ein wenig reizbar«, bemerkte sie der Dienstmagd gegenüber, die ihr ein Tablett mit Kaffee und ofenfrischem Rosinenbrot brachte. - 224 »Die gute Dame hat entdeckt, daß ihr Geliebter nicht der war, der er zu sein behauptete«, erwiderte die Magd. »Offenbar hat er behauptet, ein Tigerdrache zu sein.« »Das hat fast der ganze Palast gehört, Frelle.« Die Magd sah zu Boden und errötete ein wenig. »Ich kann Euch aber sagen, Frelle, daß Frelle Varsellia da einen wirklich vollendeten Liebhaber fallengelassen hat.« »Sprichst du aus eigener Erfahrung?« fragte Zarvora und schnitt sich mit anmutigen Bewegungen eine Scheibe von dem warmen Brot ab. »Fras Jack war sehr großzügig mit seiner Zuneigung, Frelle.« »Jack, ein vorzeitlicher Name«, sagte Zarvora und trank dann einen Schluck Kaffee. »Ja, Frelle, aber ansonsten war nichts an Jack Orion vorzeitlich.« Auf dem Weg zu Varsellias Gemächern hörte Zarvora lautes Schnarchen aus dem Zimmer, das Ilyire bewohnte. Die Tür stand einen Spalt breit offen, was für den an Verfolgungswahn laborierenden Ghaner ungewöhnlich war. Zarvora schob die Tür auf und fand ihn auf dem Rücken liegend, schnarchend und voll bekleidet auf dem Bett vor Hose und Hosenbeutel hatte er jedoch falsch herum an, und auf seinem Gesicht und seinem Kragen war rötliches Wangenocker in einem gerade beliebten Farbton verschmiert. Auf den Krausen seiner orangefarbenen Hemdbrust hatte er einen großen Rotweinfleck. »Ilyire.« Er zeigte keinerlei Reaktion. Sie schüttelte sein Bein, was ihn normalerweise dazu gebracht hätte, mit einem Messer in der Hand aufzuspringen. Er regte sich nicht. Schließlich nahm sie einen Krug Wasser von der Anrichte und goß ihm den Inhalt über den Kopf. Ilyire prustete und schlug die Augen auf. »Oh, Schwester ...« »Ich bin die Oberbürgermeisterin.« »Was ist der Unterschied? Beide schreien mich an. Beide so seltsam wie ... Teufels Hosenbeutel.« »Habt Ihr getrunken?« Ilyire hob ein wenig den Kopf, schrie vor Schmerz auf und ließ ihn wieder aufs Kissen sinken. Zarvora zog die Handtuchschublade der Anrichte auf, nur um festzustellen, daß er hineingekotzt hatte. Sie ging und kehrte einige Minuten später mit einem weiteren Krug Wasser, einem Handtuch und einem Glas wieder, in dem sich ein weißes Pulver befand. - 224 »Steht auf, trinkt das«, sagte sie und goß ihm noch mehr Wasser über den Kopf. »Laßt mich sterben.« »Kopf hoch. Trinkt das.« »Nein! Nein, das hat Fras Glasken auch die ganze Nacht gesagt. Trink das, trink das.« Glasken. Zarvora erstarrte. Jack Orion, der Wüstling. John Glasken, der Wüstling. Sie ging davon aus, daß sie alles gemeinsam hatten. »Trinkt! Das ist Weidensalz gegen Eure Kopfschmerzen und Soda für Euren Magen.« Ilyire trank, erbrach das meiste aber gleich wieder. Zarvora wich vor dem stinkenden Schwall zurück und zwang ihn darum, reines Wasser zu trinken, bis das Erbrechen aufhörte. Dann verabreichte sie ihm noch etwas von ihrer Mixtur, und schließlich lag er da, keuchend vor Erschöpfung, aber einigermaßen klar im Kopf. »Mit wem wart Ihr heute nacht zusammen?«
»Ich weiß nicht mehr ... Frauen! Sanft wie Seide.« »Ihr?« »Peinlich. Kannte keine Stellungen. Belgine gute Lehrerin. Jetzt kenne ich ein paar.« Zarvora hob mit der Spitze ihres Dolchs zwei große Schafdarmpräservative aus Ilyires offenstehendem Beutel. »Die armen Schafe. Starben für guten Zweck. Frauenschenkel ... himmlisch. Wißt Ihr das, Hoheliber?« Zarvora blinzelte. »Wenn Ihr es sagt. Dann habt Ihr also die ganze Nacht mit John Glasken gesoffen und herumgehurt?« »Feiner Kerl, ich habe ihn falsch eingeschätzt ...« murmelte Ilyire und zog sich die Bettdecke übers Gesicht. Zarvora zog sie wieder weg. »Wie lange ist er denn schon Varsellias Bock?« »Weißnich. Er kam ... mit Eurem Windzug.« »Mit meinem Windzug?« Mehr bekam Zarvora nicht aus ihm heraus. Erkundigungen bei der Palastwache ergaben, daß Ilyire auf dem Karren eines Straßenhändlers am Tor eingetroffen war. Eine Nachfrage bei der Polizei ergab, daß jemand drei Frauen und einen großen, kräftig wirkenden Mann gesehen hatte, die einen gestohlenen Karren vor sich herschoben, auf dem jemand lag und in einer Fremdsprache etwas sang. Ein Blick ins Verbrechensregister - 225 auf der Polizeiwache führte Zarvora zu den Obst- und Gemüsemärkten südlich der Gleitbahnstrecke. Sie fragte in den Schenken in der Nähe nach einem Mädchen namens Belgine, und im Krug zum grünen Drachen hatte sie schließlich Erfolg. Glasken - oder Orion - hielt sich gerade in dem Wirtshaus auf, war aber für niemanden zu sprechen. Offenbar war er nicht allein. »Hat er irgendwas verbrochen?« fragte der Wirt und rieb sich nervös die Hände, als er das Dienstabzeichen an Zarvoras Bluse sah. »Nein, aber ich will, daß er überwacht wird«, sagte Zarvora und öffnete die Hand, auf deren Fläche drei Goldroyal lagen. Sie legte die Münzen auf den Tresen. »Meldet jede seiner Bewegungen der Polizei. Gebt bei jedem Bericht den Kode WACHBUCH SE379G an.« Der Wirt schnappte sich die Münzen und notierte sich den Kode. »Bei meinem Leben, Frelle: Ich werde auf ihn aufpassen wie auf einen Sohn.« Zurück im Palast, schrieb Zarvora sofort eine verschlüsselte Nachricht an Theresia. Aufruhr war ungewöhnlich in Kalgoorlie, wie auch jegliche Störungen der öffentlichen Ordnung. Daher lockte der Mob, der Sprechchöre rufend durch die Straßen zog, eine Schar von Schaulustigen an, die zahlenmäßig größer war als er selbst, und wirkte durch diese Menschenmengen um so einschüchternder Es waren nur ein paar tausend Leute, aber das genügte, um die Händler Verkäufer und Handwerker der Gegend zu ängstigen. Die Anführer trugen Transparente, auf denen das gentheistische Symbol einer von einem grünen Laubkranz umgebenen blauen Scheibe abgebildet war und sie riefen eine Mischung aus Gebeten und Slogans. Zarvora konnte die Menge außerhalb der Palastmauern nicht sehen, verstand aber inmitten des ganzen Getöses den immer wieder gerufenen Refrain »Kein Dampf!« Sie schwang sich auf den Sattel ihres Pferdes. »Es beschämt mich, daß Ihr zu Pferde reisen müßt, wo doch eine Straßenbahn bereitsteht«, sagte Bürgermeister Bouros zu Denkar, der nach zehn Jahren reiterischer Abstinenz Schwierigkeiten hatte, in den Sattel zu kommen. »Eine Gruppe von Reitern stachelt die Menge nicht an«, erklärte Zarvora. »Sie wollen die Eskortierten angreifen, nicht die Eskorte.« »Warum schickt Ihr keine Lanzenreiter hinaus, die den Weg freimachen?« fragte Denkar - 225 »Sie haben Frauen und Kinder dabei«, erwiderte Bouros. »Ein alter Trick bei den Gentheisten des Südostens«, sagte Zarvora. »Menschliche Schutzschilde. Wenn denen etwas geschieht, steht Ihr als Schlächter da.«
»Aha! Dann kommen also daher die meisten dieser Gentheisten, auch wenn sie die Kleider meiner Untertanen tragen.« »Was machen wir, wenn sie uns angreifen?« »Ich bin vorbereitet. Wenn es zu Kämpfen kommt, bleibt bei uns, und bitte keine Heldentaten.« Zarvora durchfurchte die Luft mit ihrem Offiziersstock und ließ ihn auf ihrer Schulter ruhen, während Denkar sein Pferd auf dem Hof probe-ritt. Dann wurden die Tore geöffnet, und die vierzig Reiter strömten hinaus, auf die Demonstranten zu. Die Anführer der Gentheisten ließen zunächst innehalten, schauten, ob hinter den Reitern eine Kutsche oder Straßenbahn kam, aber als die Tore hinter dem letzten Reiter wieder geschlossen wurden, ließen sie die Menschenmenge sich auf die Reiter zudrängen. Mit Ausnahme von Denkar und Zarvora trugen alle Reiter die Uniform der Kavallerie der Palastwache. Als sich die »Kein Dampf! Kein Dampf!« skandierende Menschenmenge vor ihnen zu schließen begann, hielten sie ihre Offiziersstöcke im Anschlag und ritten im Trab in die Menge hinein. Die Demonstranten in den ersten Reihen versuchten zurückzuweichen, aber die in Sicherheit folgten, schoben sich weiter vor. Die vorderen Reiter ließen ihre Pferde sich aufbäumen, und man hatte sie auch darauf dressiert auszuschlagen. Das war das Stichwort für den Ausfall, denn die Anführer der Gentheisten hatten es schließlich von Anfang an auf ein gewaltsames Ende abgesehen gehabt. In dem Gedränge der Leiber ertönten Schreie, und Blut wurde vergossen. Die Reiter trugen Leder- und Stahlpanzer der Kavallerie, und der Bürgermeister trug über seinem Panzer seine schwere goldene Amtskette. Stöcke und Säbel klirrten aneinander, aber die Reiter waren dank ihrer Waffen, Panzer und Pferde eindeutig im Vorteil. Der Schuß war kaum zu hören, aber ein Reiter neben Bürgermeister Bouros sank nach vom und begann aus dem Sattel zu gleiten. Denkar beugte sich hinüber, um ihn festzuhalten, und da pfiff etwas an seinem Kopf vorbei, gefolgt vom Bellen eines zweiten Schusses. »Das waren zwei!« rief der Bürgermeister und setzte sich eine Pfeife an die Lippen. - 226 Auf sein Signal hin zogen die Reiter ihre Steinschloßpistolen und beschossen die Aufrührer die sich einige Reihen von den Pferden entfernt befanden, mit Vogelschrot. Beinah sofort begann die wilde Flucht, doch aus der Menge kamen weiterhin vereinzelte Schüsse. Mit einem Mal wurden die fernen Palasttore wieder geöffnet, und eine weit größere Kavallerieschwadron strömte heraus, kanterte direkt in die Menge hinein und schlug dabei mit Säbeln um sich. Kaum sechs Minuten nach dem ersten Säbelhieb war der Aufruhr vorüber. Ein Offizier aus dem Stab des Bürgermeisters und neunzehn Aufrührer waren tot. Zwei der Toten waren Frauen, und drei waren Kinder Die Windzugfahrt begann gar nicht gut für Glasken. Der K207 in Richtung Osten sollte noch pünktlich abfahren, als er seinen Fahrschein löste, doch gleich anschließend wurde die Abfahrt um eine Stunde verschoben. Glasken fluchte, spie auf den Bahnsteig und brach zu einer nahen Schenke auf. Als er dort in einem Laubengang saß und sein Bier trank, fiel ihm auf, daß die Flaneure draußen mit langsamen Schritten herumstolzierten, statt ziellos umherzuschlendem wie sonst immer. »Schwarze«, sagte er zu der Kellnerin, die seinen geleerten Krug abräumte. »Tatsächlich, Fras?« sagte sie höflich skeptisch. »Ha, du zweifelst an meinen Worten«, sagte er, legte ihr einen Arm um die Taille und hob die andere, freie Hand. »Hey, ihr Schwarzen! Ihr fallt auf wie Euter an einem Stier!« Von den zwölf Männern, die sich bei diesem Ruf zu ihm umsahen, bewegten sich zwei mit sichtlichen soldatischen Reflexen. »Aber das sind doch sicherlich nicht alles Schwarze, oder, Fras?« »Die Welt ist voll von ihnen«, erwiderte Glasken. »Naja, dann will ich mal in der Tumble Street schön einen wegstecken gehen«, sagte er und stand auf. Das Mädchen quietschte entrüstet und lief von dannen. Glasken schulterte seine Gepäckrolle, wirbelte ein wenig mit seinem Offiziersstock und schlenderte dann zu einem Gewirr schäbiger Gebäude und Gassen davon. Eine halbe Stunde später kam er wieder mit einem tiefen Schnitt in seiner Gepäckrolle und gesplittertem Stock. Auf dem Bahnsteig angelangt, blieb er stehen und
zupfte sich ein Haarbüschel von der Stiefelspitze. Darien stand auf dem Bahnsteig, mit einem unscheinbaren ockerfarbenen Kaftan bekleidet, der in Kalgoorlie nicht auffiel. - 227 »Frelle Darien, dann seid Ihr also die Würdenträgerin, auf die der Zug warten mußte«, rief Glasken, als er durch die Schranke trat. »Ich nehme an, Ihr seid wieder mal zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet, also frage ich gar nicht erst.« Dieses abgeschmackte Wortspiel war Glasken versehentlich unterlaufen, entging Darien aber nicht. Sie holte aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, aber auch hier kam ihm seine Ausbildung in Baelsha zugute. Eine geschickte Ausweichbewegung ließ Dariens Hand an seinem Gesicht vorbeisausen, und dann wirbelte sie herum und fiel, vom eigenen Schwung gepackt, zu Boden. Ohne sich zu ihm umzusehen, stand sie auf und verließ im Laufschritt den Bahnsteig. Einer der Männer, die versucht hatten, Glasken in der Tumble Street aus dem Hinterhalt zu überfallen, kam durch die Schranke gestrauchelt und hielt sich dabei ein blutiges Taschentuch an den Kopf. »Hey, sie hat ihre Reisekisten vergessen!« rief Glasken ihm zu und klopfte mit dem Stock an das hölzerne Gepäck mit den Messingbeschlägen. Der Mann funkelte Glasken zornig an, steckte dann das Taschentuch ein und schnappte sich die Kisten. »Das war ich Euch Schweinen seit 1699 schuldig«, fügte Glasken hinzu. Der Mann stakste davon, und nun lief ihm wieder Blut übers Gesicht. Glasken spürte eine Berührung am Arm. »Varsellia!« rief er. Sie hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen und zog Glasken aus der Menge fort. Die Schwester des Bürgermeisters war wie eine ganz normale Bürgersfrau gekleidet. Sie hatte eine dicke Schicht ockerfarbenes Sonnenpulver aufgetragen, und das ließ sie viel älter aussehen. »Du gehst doch wohl nicht etwa für immer?« fragte sie sehnsüchtig. »Ich entschuldige mich dafür, daß ich dich vor die Tür gesetzt habe -auch wenn ich immer noch der Ansicht bin, daß es nicht meine Schuld war.« »Aber das macht doch nichts. Mir sind schon ganz andere Sachen passiert.« »Es war ungehörig von dir, daß du jede Nacht in den Kaschemmen gesoffen hast.« »Und Ihr habt mich infamerweise allen als Euer Schoßhündchen vorgeführt.« Sie standen beieinander, dachten über ihre jeweiligen Verfehlungen nach und sahen dabei auf den roten Steinboden des Bahnsteigs. - 227 »Dann tut es uns also beiden leid, Fras Halunke«, schloß Varsellia, und Glasken nickte. »Hat Ilyire dir meine Nachricht überbracht?« »Ja, das hat er, aber warum seid Ihr hier Frelle?« »Um dich zu verabschieden, auf daß du dir ein schönes Andenken an Kalgoorlie bewahrst, mein einsamer Junge.« »Pah, ich bleibe nicht lange fort.« Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Dann reist du also nicht für immer ab?« »Ich bin höchstens ein paar Wochen weg. In letzter Zeit verspüre ich das seltsame Bedürfnis ... seßhafter zu werden.« »Du?« »Ja, ich. Ich habe fünf Jahre lang in einem abgelegenen, äh, Außenposten gelebt und äh ... war dort auf Montage. Und die ganze Zeit habe ich von Wein, Weib und Gesang geträumt, aber da ich all das nun habe, frage ich mich zusehends, ob es im Leben denn nicht noch etwas anderes gibt. Ich hoffe, auf meiner Reise einiges, äh, Risikokapital auftreiben zu können, das ich dann für kaufmännische Zwecke einsetzen kann.« »Hm. Einen etwas gesetzteren Jack Orion fände ich sogar noch attraktiver. Kaufmännische Zwecke, sagst du? Also, als Schwester des Bürgermeisters kann ich dich da mit einigen wichtigen Leuten bekanntmachen. Verzeihst du mir?« »Wenn Ihr mir verzeiht.« Als der Windzug endlich abfuhr, wurde er von einer Galeerenlok geschoben, bis er aus der Stadt heraus war und sich die leichte, launenhafte Brise besser zunutze machen konnte. In den Vororten
von Kalgoorlie waren die Häuser kleiner und niedriger ein geordnetes Gewirr von rot-weißen Klötzen. Schließlich passierten sie das Gleitbahntor in der riesigen äußeren Befestigungsmauer der Stadt, aber dann folgten immer noch Zeltstädte der Nomaden und armselige Hüttensiedlungen, bis sie schließlich auf bewässertes Ackerland hinauskamen. »Die Scheiß-Spiegelsonne schwächt den Wind ab«, sagte der merre-dinianische Koch, als Glasken einige Krüge Bier bei ihm erwarb. »Solange ich nicht in einer Galeerenlok vor mich hinstrampeln muß, ist mir das alles völlig schnuppe, Fras«, erwiderte Glasken und schnippte dem Mann aus dem Wechselgeld eine Kupfermünze zu. »Glaubt Ihr, die Spiegelsonne ist ein Zeichen, daß Gott sich an den Windzügen stört, Fras?« - 228 »Ich glaube, die Spiegelsonne ist Gottes Hilfsmittel, mit dem er Betrunkenen in mondlosen Nächten heimleuchtet.« Seltsamerweise jedoch handelten Glaskens Tagträume nunmehr davon, ein reicher Kaufmann zu werden und sich eine prächtige Villa zu bauen, und gar nicht mal mehr davon, Bier zu trinken, sich in Wirtshäusern zu prügeln und mit Hilfe einiger Goldmünzen Kellnerinnen zu verführen. Sein kurzer Einblick in das Leben bei Hofe und seine fünf Jahre in Baelsha hatten ihn mehr verändert, als er sich eingestehen mochte. Zarvoras und Denkars Ausflug zur Universität wurde aufgeschoben, bis der Bürgermeister ein Mittagsgericht auf dem Platz vor dem Palast einberufen hatte. Zwei gentheistische Priester und fünf andere Männer waren festgenommen und als Anführer des Aufruhrs identifiziert worden. Bis auf einen Mann waren sie alle Ausländer, vier aus der Südostallianz und zwei aus Woomera. Ein großes Schafott wurde aus den Stallungen herbeigebracht und die Galgen ausgeklappt und arretiert. Nun fanden sich zahlreiche Bürger Kalgoorlies ein, und die Leichen wurden vor den Galgen aufgebahrt. Eine kleine Schar von Gentheisten begann, Sprechchöre zu rufen, aber sie wurden sofort umstellt, und ihren Anführer stellte man mit den anderen vor Gericht. Dann schritt der Bürgermeister die Treppe zum Schafott hinauf und verlas eine Schriftrolle. »Meine treuen Untertanen, gemäß unserer Verfassung liegt die Rechtspflege in den Händen des Bürgermeisters. Zwar übertrage ich meine juristischen Vollmachten normalerweise an die städtischen und staatlichen Gerichte, doch wenn ich persönlich Zeuge einer Straftat werde, behalte ich mir das Recht vor, selbst das Urteil darüber zu fällen. In diesem Fall sah ich eine von diesen Männern angeführte Menschenmenge die Kavallerie angreifen, die mich eskortierte, während ich mich als Bürgermeister zu erkennen gab und meine Amtskette trug. Das ist Hochverrat. Während der Kämpfe wurden Schüsse abgefeuert, denen einer meiner getreuen Offiziere zum Opfer fiel. Das ist Mord. Als weitere Reiter kamen, um uns zu retten, wurden die hier aufgebahrten Menschen in der Menge zu Tode getrampelt. Wie ihr seht, sind darunter auch einige Frauen und Kinder, die von den feigen Anführern der Gentheisten ganz bewußt als menschliche Schutzschilde eingesetzt wurden, hinter denen sie sich verschanzten. Das ist ebenfalls Mord.« Auf dem Platz war es mucksmäuschenstill. Ein Glockenturm in der - 228 Feme schlug die Mittagsstunde. Ein Herold stieg mit einer Schiefertafel in der Hand aufs Schafott und stellte sich neben den Bürgermeister »Im Anklagepunkt des Hochverrats befinde ich diese Männer für schuldig, wandele aber das hier übliche Strafmaß nach eigenem Ermessen ab. Im Anklagepunkt der Ermordung meines Offiziers verweise ich den Fall für weitere Ermittlungen an die städtische Polizei. Im Anklagepunkt der Anstiftung zu einem Aufruhr, bei dem die hier aufgebahrten Menschen ums Leben kamen, befinde ich diese Männer für schuldig. Ich habe mich über Signalfeuer mit ihren Bürgermeistern in Verbindung gesetzt, und sie haben mir juristische Vollmachten erteilt. Ich verurteile sie hiermit zum Tode. Scharfrichter, führt meinen Befehl aus.« Die schnelle Vergeltung kam für die Einwohner von Kalgoorlie ebenso überraschend wie für die gentheistischen Extremisten. Sieben Männer wurden zu den Galgen gezerrt, und man zog ihnen Schlingen über den Kopf. Nacheinander wurden die Klappen unter ihren Füßen weggerissen, und
schon baumelten sie dort. Der einzelne Nachzügler sah das entsetzt mit an, und dann wandte sich der Bürgermeister auch an ihn. »Ich befinde dich der Anstiftung zu einem Aufruhr bei einer öffentlichen Versammlung für schuldig und verurteile dich hiermit zu dreihundert Peitschenhieben und fünfzehn Jahren in der Strafgamison Bonelake. Der erste Teil der Strafe wird unverzüglich vollstreckt.« Der Gentheist starb schon nach zweihundert Hieben, und man ließ ihn an das Gestell gebunden, das man neben dem Schafott und der grausigen Zurschaustellung darauf aufgebaut hatte. Der Polizeibericht ergab, daß zwei Drittel der Aufrührer nicht aus dem Stadtstaat Kalgoorlie stammten, und man begann, die Ausweisung der übrigen militanten Gentheisten in die Wege zu leiten. Erst am späten Nachmittag trafen Bürgermeister Bouros und seine beiden Gäste schließlich in der Universität ein und betraten den ummauerten Forschungspark. Windräder und -mühlen drehten sich in der trockenen, warmen Brise, und man hörte das Tosen des Wassers, das in Reservetanks gepumpt wurde. Der Geruch brennenden Alkohols und Pflanzenöls lag in der Luft, gemischt mit weiteren, exotischeren chemischen Gerüchen. »Das ist unser Kraftwerksfeld«, sagte der Bürgermeister als sie zwischen den Pumpen und Windrädern umhergingen. »Damit treiben wir - 229 die Straßenbahnen in der Stadt an, die Wasserpumpen und Aufzüge in den unterirdischen Schächten und die Gebläse in einigen Schmelzhütten.« »Es riecht wie in einer Brauerei«, sagte Denkar. »Ja, fast. Das ist eine Destillerie. Wir stellen hier Alkohol für die Treibstoffausfuhr her. Die Gentheisten behaupten, wir hätten tief unten in den Schächten verborgene Dampfmaschinen und würden Alkohol verbrennen, aber das ist ja alles Quatsch, nicht wahr?« Der Bürgermeister hob eine Augenbraue und lächelte dann - irritierenderweise - mit der anderen Gesichtshälfte. »Alkoholbrenner werden ganz unten in den Schächten betrieben, und sie lassen durch Konvektion die Luft von der Oberfläche zirkulieren. Mit der aufsteigenden warmen Luft werden auch einige Turbinen angetrieben, die wiederum kleine Generatoren antreiben, die sich in achthundert Meter Tiefe in Faradaykäfigen befinden.« »Konvektionskraftwerke, Denkar«, sagte Zarvora. »Sie sind schwach, aber alle großen Religionen sind sich einig, daß sie nicht unter das Dampf- und Brenngasverbot fallen.« »Nicht unbedingt, Frelle«, sagte Bouros. »Die Gentheisten streiten untereinander immer noch über das Thema Konvektionskraftwerke.« »Sie schienen sich aber einig, als sie uns angegriffen haben«, bemerkte Denkar. »Oh nein. Eras, das hatte mit Konvektionskraftwerken nichts zu tun. Ihre Spione haben von zwei wunderschönen Hochdruckdampfmaschinen erfahren, die auch Alkohol und Pflanzenöl verbrennen und auf dem Grund meiner tiefsten Schächte betrieben werden. Ich brauche ja schließlich eine zuverlässige Energieversorgung, nicht wahr?« Der Oberedutor für Physik empfing sie, als sie aus einem Fahrstuhl traten, der so schnell hinabgesaust war, daß Denkar ständig die Ohren knackten. Pflanzenöllampen ließen es im Schacht riechen wie in einer riesigen Küche, und Denkar fühlte sich an Libris erinnert. Zunächst machten sie einen Rundgang durch etliche Werkstätten. Darin saßen Handwerker an Pulten voller Drähte, Glaswaren und Bienenwachsbottichen. Überall strömte warme Luft hindurch, die den Geruch von Alkohol und Sonnenblumenöl mit sich trug. In etliche Stollen waren Faraday-käfige eingebaut, so daß keine elektromagnetischen Signale nach außen dringen und die Aufmerksamkeit der die Erde umkreisenden Wandersterne auf sich ziehen konnten - und so daß umgekehrt etwaige elektro - 229 magnetische Blitzstrahlen dieser vorzeitlichen Militärsatelliten absorbiert würden. »Bürgermeister Bouros hat mit vorzeitlichen Elektrokraftgeräten aus der alten Zivilisation experimentiert«, erklärte Zarvora. »Als ich vor über zwei Jahren zu einem ... diplomatischen Besuch hier war habe ich festgestellt, daß er auf diesem Gebiet schon sehr weit fortgeschritten war
Das meiste, von dem ich annahm, ich müßte dabei Pionierarbeit leisten, war hier bereits vollbracht. Er besitzt einen Funkensender, mit dem man unsichtbare Signale durch die Luft übertragen kann.« »Ich verfüge über einen zweihundert Meter langen Stollen, der für meine Elektrokraftexperimente vollkommen abgeschirmt wurde«, sagte Bouros stolz. »So etwas gibt es in der ganzen bekannten Welt nicht noch einmal« »Na ja, in Oldenberg hatten wir die Gesellschaft für die Erforschung der Elektrokraft«, setzte Denkar an. »Pah! Faradaykäfige groß wie Besenschränke und Generatoren, die mit Pedalen betrieben wurden und nicht größer waren als ein Pulverfaß. Das hier ist richtige Elektrokraft, so wie die Alten sie hatten!« Seine Dampfmaschinen ähnelten so gar nicht den rauchspeienden Ungetümen warnender religiöser Pamphlete. Sie pufften und zischten geschäftig vor sich hin, und ihre polierten Messingteile funkelten im Lampenschein. Ein dumpfes Dröhnen drang aus dem Brenner in dem ein Alkohol-Pflanzenöl-Gemisch verfeuert wurde, und ein insektenhaftes Schwirren aus den Generatoren, die neben den beiden Dampfmaschinen liefen. Denkar bemerkte zwei Kabel in lackierten Holzhalterungen, beide mit in Bienenwachs getränktem Mangelpapier isoliert und mit einem Netzgewebe fixiert. »Hier entlang, bitte«, sagte der Bürgermeister, legte Denkar einen dicklichen Arm um die Schultern und wies auf den mit Maschendraht abgeschirmten Stollen. »Hier haben wir die größten Triumphe meiner sechzehnjährigen Regentschaft und meiner Schirmherrschaft über dieses Labor. Ich habe die Vorführung einer Bogenlampe vorbereitet und eines Signalgebers, Klickdraht genannt, der mit Hilfe abgeschirmter Kupferdrähte und Elektromagneten ein Klicken erzeugt. Er könnte das Signalfeuerverfahren ablösen, ist nicht anfällig für Nebel oder Rauch, und seine Drähte können bis hinter den Horizont und weit außer Sichtweite verlegt werden.« »Das haben wir in Oldenberg schon 1681 ausprobiert«, sagte Denkar. - 230 »Zwei Häuser mit Faradaykäfigen darin wurden mit abgeschirmten Drähten verbunden, aber dann landete eine Currawong-Krähe auf einem der Drähte und beschädigte mit ihren Krallen die Abschirmung aus Folie und Pech. Schließlich zog während des Tests ein Wanderstem vorüber und: Zack! Alles ging in Flammen auf, und übrig blieben nur geschmolzene Drähte und Bienenwachs.« »Ha! Abschirmung aus Folie und Pech. Wir verwenden einen Gitterstoff über in Bienenwachs getränktem Mangelpapier. Aber es war dennoch ein ehrenwerter Versuch, und eines Tages werden wir diese Dinge so weit haben, daß sie einsatzbereit sind. Das ist natürlich alles nur eine Frage der Technik.« »Natürlich.« »Nun denn, ich habe Euch auch noch einen Funkensender vorzuführen, einen Elektrokraftmotor, der eine Wasserpumpe antreibt, und - als Höhepunkt - eine mit Elektrokraft angetriebene Miniaturstraßenbahn. Zunächst jedoch habe ich gemeinsam mit Eurer verehrten Gemahlin an einem kleinen, aber sehr raffinierten Gerät gearbeitet, das sie als elektromagnetisches Relais bezeichnet. Damit kann man beispielsweise den Status einer Abakuskugel speichern -« »Aber ja! Ein Elektrokraft-Abakus - und jede Komponente könnte Dutzende solcher Relais benutzen«, rief Denkar, der mit einem Mal begriff, worum es ging. »Jeder dieser Abakus könnte über einen Kabelstrang mit den zentralen Korrektoren verbunden sein. Mit ein paar hundert Komponenten könnte man damit sogar mehr leisten als der ganze Kalkulor von Libris.« »Tja, das wäre machbar ... aber wir verfolgen einen anderen Ansatz«, sagte Bouros. »Seht Euch einmal dieses Gerät hier an.« Denkar wußte nichts damit anzufangen. Verschachtelte Gestelle aus poliertem Holz und Metallstreben waren mit Drähten und Federn behangen und gaben ein Geräusch von sich wie der Kalkulor von Libris en miniature. »Das ist ein Kalkulor«, sagte Zarvora.« »Er ist zwar nicht so vielseitig einsetzbar wie mein erster in Libris, dafür aber, was die reine Rechenleistung angeht, schneller und genauer.«
»Es ist eine Konstruktion der Hoheliber«, fügte der Oberedutor hinzu. »Sie bezeichnet es als Induktionsschalterrekiskalkulor. Er wird mit der Elektrokraft eines der Generatoren angetrieben, die Ihr vorhin gesehen habt. Dieses Gerät entspricht 256 Komponentenarbeitsschritten pro - 231 Zyklus. Ursprünglich hatten wir vier Zyklen pro Sekunde, aber das konnte mittlerweile etwas beschleunigt werden.« »Was die reine Rechenleistung angeht, entspricht es ungefähr dem islamischen Kalkulor in Libris«, sagte Zarvora. »Die Rechenkraft von über 256 Menschen in einer Maschine, die nur so groß ist wie ein Heukarren?« »Oh, aber das hier ist nur eine kleine Ausführung, Fras Denkar«, sagte Bouros mit großer Geste. »Frelle Zarvora hat auch noch eine Maschine entworfen, die über 4096 Komponentenarbeitsschritte leistet. Das ist mehr, als selbst der große Kalkulor von Libris sich rühmen kann. Das einzige, was uns aufhält, ist der Mangel an fähigen Handwerkern, die die Schalter so schnell bauen würden, wie wir sie installieren könnten, aber wir werben schon von überallher Uhrmacher an.« »Unglaublich«, sagte Denkar ehrfürchtig und fuhr mit der Hand über das Gestell des Elektrokraftkalkulors. »Und wann beginnt die Arbeit an der großen Maschine?« »Wir müssen erst noch zweitausend weitere Relais herstellen«, begann Zarvora, aber Bouros bat sie mit einer schwungvollen Handbewegung, mit der er sich den Zeigefinger an die Lippen führte, zu schweigen. Er nahm Denkar beim Arm und führte ihn zu einer großen Flügeltür in der Felswand, die der Oberedutor ihnen beflissen öffnete. Dahinter passierten sie einen kurzen, in den Fels getriebenen Bogengang und gelangten dann in eine saalgroße Kaverne, in der ein solches Geklapper und Geklicke herrschte, als würde Hagel unablässig auf ein Metalldach prasseln. Das Ding selbst war ein Gerüst aus Metallgittern, das mit Drähten und Kabeln bespannt war und die warme Luft roch hier nach Bienenwachs und Ozon. Die Saaldecke war mit einem Drahtgeflecht überzogen, und auf einer erhöhten Plattform, die von einem Geländer eingefaßt war kümmerten sich ein halbes Dutzend Leute um eine kompliziert aussehende Batterie von Instrumenten. »Das hier ist mein bescheidenes Hochzeitsgeschenk für meine beiden liebsten Freunde«, sagte Bouros und legte den beiden je einen Arm um die Schultern. »Es kommt ein wenig spät. Was sagtet Ihr noch mal, wann Ihr geheiratet habt, Zarvora?« »Ich ... vor zwei Jahren. Nein! Vor drei Jahren.« »Wir vergaßen damals, nein, will sagen, wir vergessen das Datum immer wieder«, fügte Denkar hinzu. »Ihr seid ein Glückspilz«, sagte Bouros breit grinsend. »Eine Frau zu - 231 haben, die sich nicht um Firlefanz wie Hochzeitstage schert. Wir haben beschlossen, daß wir diesen Kalkulor auch mit nur 2048 Einheiten schon einmal teilweise in Betrieb nehmen können, und hier ist er also, mit halber Kraft, aber einsatzbereit.« »Mein Bedarf an Rechenkraft übersteigt mittlerweile auch das, was die Maschine in Libris mir bieten kann«, sagte Zarvora. »Und leider übersteigt es auch meine Fähigkeit, die Weiterentwicklung ganz allein voranzutreiben. Ich habe daher beschlossen, die besten FUNKTIONEN des Kalkulors von Libris hierher zu bringen, damit sie mir bei dieser Arbeit helfen - angefangen mit dir. Würdest du gern die Weiterentwicklung dieser Maschine leiten, während ich mich anderen Forschungsarbeiten widme?« Denkar hatte die von den Stahlgestellen herabhängenden Signale und Drähte verfolgt und versucht, den Aufbau zu verstehen. »Wo sind denn die Korrelatorregister?« fragte er. »Das ist das, was sich da an der Wand entlangzieht. Ein Dutzend Regulatoren verbinden die Drähte entsprechend der Anweisungen, die sie auf Lochstreifen von oben bekommen.«
»Ich habe auch eine Cembalotastatur in einen Faradaykäfig eingebaut, mit der man über fast einen Kilometer Impulse über abgeschirmte Kabel hinabsenden kann«, fügte Zarvora hinzu. »Aber warum ersetzt man die ganzen Buchsen und Stecker nicht durch eine Reihe von Relais?« fragte Denkar. »Warum? Tj a ...« Der Bürgermeister kratzte sich am Kopf und wandte sich dann an Zarvora. Sie zuckte mit den Achseln. »Schau mal, da rechts neben dem Gestell ist eine kleine Teeküche mit einer Tafel. Möchtest du wiederholen, was du gerade gesagt hast, und ich zeichne schnell ein Diagramm dazu?« Als sie gingen, flüsterte Zarvora Denkar ins Ohr: »Wir hätten uns besser ein plausibleres Datum für unsere Hochzeit ausdenken sollen als 1703. Ich kann über Signalfeuer eine Nachricht in Geheimkode an meinen Diener schicken, und der kann dann entsprechend gefälschte Dokumente in den Datenspeicher von Libris eintragen.« »Ach, spar dir die Mühe«, flüsterte Denkar zurück. »Ich muß einfach nur eine numerische Zeichenfolge zusammenstellen, die per Signalfeuer übertragen direkt in den Kalkulor von Libris eingespeist wird.« »Du verstehst nicht. Den. Wir brauchen jemanden, der das Kennwort hat für -« - 232 »Nein, nein, die Übertragungskodes deines Kalkulors habe ich schon 1697 geknackt. Ich kann seit acht Jahren mit deinem Datenspeicher anstellen, was ich will.« Zarvora blieb abrupt stehen. »Was?« schrie sie. Bouros und der Oberedutor sahen sich zu ihnen um. Zarvora winkte ihnen zu. »Ich kann eine numerische Zeichenfolge niederschreiben, die dann per Signalfeuer übertragen wird und die Übertragungskanäle übernimmt, so daß die unmittelbar darauf folgenden Daten automatisch vom Kalkulor ausgeführt werden.« Entsetzen packte Zarvora, ein Entsetzen, das realer, körperlicher Schmerz war. »Du - du kannst den Kalkulor von Libris steuern - und das seit acht Jahren« »Ich habe mich auf ein paar Experimente beschränkt. Ich hatte Angst, es dir zu sagen, Schwarz-Alpha.« »Du hättest Kriege auslösen, die Wirtschaft ruinieren, meine Macht und Glaubwürdigkeit vernichten können, aber aber ... du hast nichts getan?« »Du klingst ja fast enttäuscht, Zar.« »Aber ...« »Ich bin doch kein Vandale.« Zarvoras Entsetzen löste sich in innige Liebe auf, und mit einem Mal wurde ihr bewußt, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben jemandem uneingeschränkt vertrauen konnte. So ist das also, wenn man von einem gutaussehenden Kavelar vor einem Drachen gerettet wird, dachte sie und umarmte Denkar Bouros und der Oberedutor sahen sich wieder zu der Stelle um, an der Zarvora und Denkar im güldenen Lampenschein in dem Stollen standen. »Schaut nur, sie küssen und umarmen sich«, sagte Bouros. »Es muß ein sehr aufregender Tag für sie sein«, pflichtete der Oberedutor bei. »Wenn sie ein so wunderbares Hochzeitsgeschenk bekommen, schwinden die Jahre dahin, und es kommt ihnen so vor als wären sie wieder frischverheiratet.« »Ja, stimmt. Was könnte ich mir denn bloß mal für meine Frau einfallen lassen, damit unsere Liebe wieder so entflammt wie bei den beiden dort?« - 232 Auf dem Markt der Bahnstation Coonana kaufte sich Glasken eine neue Gepäckrolle und einen neuen Offiziersstock, dazu eine Mütze mit einem geflochtenen Augenschirm und einer Gänsefeder, die mit einer der mannigfaltigen Gestalten der Spiegelsonne bemalt war. Dann erwarb er auch noch eine Rolle weiße Schnur und eine Handvoll Bleikugeln. Der Wind hatte mittlerweile aufgefrischt, und der Zug legte jetzt pro Tag fast zweihundert Kilometer zurück. Gleich hinter der Bahnstation Naretha warf Glasken eine weich verpackte Flasche Bier aus dem Fenster hinaus in
die Dunkelheit. Es war eher unwahrscheinlich, daß ein weiterer Entflohener aus Baelsha sie fand, ehe der nächste Gleitbahnarbeiter hier vorbeikam, aber Glasken gefiel die Geste. Als der Zug am vierten Tag durch die Bahnstation Cook führ, hatte sich Glasken in alkoholumdämmerter Zufriedenheit zurückgelehnt, nippte an einem Schnaps aus Makadamiamaische und sah zu, wie die baumlose Nullarborebene am Fenster vorüberzog. Vernünftigerweise hatte er sich an einem Geländer an der Wand angekettet. Er hatte mittlerweile die Passagierliste auf alleinreisende Frauen hin überprüft, und es gab auch eine, in einem Privatabteil ganz hinten im Zug. Er legte sich unterschiedliche Vorwände zurecht, mit deren Hilfe er sie kennenlernen konnte, beschloß dann aber, daß es am klügsten war, sich der Trägheit zu ergeben. Glasken erwachte davon, daß jemand im Vorbeigehen an der offenstehenden Tür zu seinem kleinen Abteil hängenblieb. Er erhaschte einen Blick auf eine grün-rote, mit Goldfäden durchwirkte Stickerei auf einem schwarzen, sehr feinen Baumwollstoff. Das Gewand einer Frau! Sie trug einen blauen Gazeschleier, der ihr von den Augen bis zum Kinn reichte. »Ta'aal baek, Frelle«, sagte er höflich, in der Annahme, daß sie eine Muslima sei und irgendein Gatte, Vater oder anderer Bewacher nicht weit sein könne. »Aber Ihr seid doch auf gar keinen Fall Südmaure«, erwiderte die Frau. Glasken setzte sich sofort auf. »Nein, ich bin aus der Südostallianz, aus Rochester. Jack Orion ist mein Name. Kommt doch herein - falls Euch meine Gastfreundschaft achtbar erscheint.« Sie blieb noch einen Moment lang dort stehen und sah ihn an, und ihm fiel auf, was für wunderschöne Augen sie hatte. Als erfahrenem Lüstling war ihm auch nicht entgangen, daß sich die Brustwarzen unter ihrem - 233 Gewand aufzurichten begannen. Wie um seine Beobachtung zu bestätigen, glitt sie geschmeidig auf den Sitz ihm gegenüber »Ich bin Wilpenellia Tienes, aus dem Carpentarischen Stadtstaat Buchanan.« »Kenne ich nicht«, erwiderte er. »Ist das westlich von Kalgoorlie?« »Nein, nördlich davon.« »In Alspring?« rief Glasken erstaunt. »Nein. Nicht diese barbarischen Nomaden!« entgegnete sie und riß in gespieltem Entsetzen die Hände hoch. »Die Carpentarischen Stadtstaaten liegen noch nördlich von Alspring. Habt Ihr noch nie von der Nordwestgleitbahn gehört, der Verbindung durch die Große Sandwüste?« Das hatte Glasken nicht, aber der Gedanke erschien ihm plausibel. »Und welchem Glauben gehört Ihr an?« fragte er. »Wir sind reformierte Gentheisten, nicht wie diese orthodox gentheistischen Ghaner aus Alspring. Ich bin Wissenschaftlerin. Ich werde in Libris, der großen Bibliothek von Rochester, einige seltene Texte untersuchen. Ihr scheint mir ein gebildeter Mann zu sein, habt Ihr in Libris studiert?« »Libris kenne ich gut und liebe es sehr. Tja, und als ich damals dort gearbeitet habe, bin ich gar nicht mehr weggekommen. In letzter Zeit mußte ich mich im Westen um Familienangelegenheiten kümmern. Das bedauerliche Hinscheiden eines entfernten Verwandten, der ein großes Vermögen hinterlassen hat.« Bei diesen Worten streckte sich Glasken wie eine große, träge Katze auf seinem Sitz aus. »Oh, ein vermögender Mann«, sagte sie. »Und, fahrt Ihr gern mit dem Zug?« »Ich kann es nicht ausstehen. Ich habe ein Zelt dabei, das meine Diener alle paar Tage aufschlagen. Da lasse ich es mir dann gutgehen, bis der nächste Windzug kommt.« »Eine sehr kultivierte Art zu reisen, Frelle. Und wann ist Euer nächster Halt?« »Oh, ich habe eigentlich vor, heute auszusteigen, wahrscheinlich in Maralinga. Wart Ihr schon einmal dort?« »Vor Jahren. Ein langweiliger, öder Ort.« »Langweilig? Aber Fras Orion, wie wunderbar friedlich es doch in der - 233 -
Wüste ist. Kein Laut - nur der Wind. Nichts von dem geschäftigen Treiben der Städte, und auch keine ratternden Züge. Habt Ihr schon einmal in der Wüste übernachtet, Fras?« Sie atmete hastig ein, so daß der Schleier die Konturen ihrer üppigen Lippen preisgab. Glasken fand das außerordentlich erotisch. »Ich ... früher schon, ja. Würdet Ihr mit mir darauf anstoßen?« fragte er keck. Sie klimperte kurz mit den Wimpern, ließ ihn im Unklaren, und willigte dann ein. »Aber nur mit einem Glas, Fras. Wir wollen doch zivilisiert bleiben, so schön und friedlich die Wildnis auch sein mag.« Glasken zog an der Service-Kordel und bestellte einen weiteren Krug Schnaps und ein zweites Glas. Als der Zugbegleiter wieder fort war, tranken sie auf die Nullarborebene und die Friedlichkeit der Wüste. Glasken hatte bereits einen ganzen Krug intus, fühlte sich aber bemüßigt, Glas um Glas mit ihr mitzuhalten. Er bemerkte nicht, daß sie sich etwas in den Mund steckte, als müßte sie einen kleinen Rülpser unterdrücken. Wilpenellia glitt mit einem fließenden Rascheln ihres Gewands auf seine Bank hinüber, und Glasken legten einen Arm um sie und streichelte ihre linke Brust. Sofort hob sie ihren Schleier ein wenig und preßte ihre Lippen auf die seinen. Leidenschaftlich fuhr sie ihm mit der Zunge über die Lippen. Die Nachtschweiflösung in ihrem Mund - gegen die sie immun war - wirkte erstaunlich schnell bei einem so großen und kräftigen Mann wie Glasken. Als Dreingabe für die Aviadin brandete nun auch noch ein Ruf über den Zug hinweg, als er nur noch anderthalb Kilometer von der Bahnstation Maralinga entfernt war. Als der Zug mit kräftigem Schlag den Prellbock rammte, führte sie Glasken bereits an der Leine. Sie zerrte ihn zu den Stallungen und entwendete dort zwei Kamele, die sie mit dem Gepäck aus dem Zug belud. Glasken war zu groß und schwer, als daß sie ihn auf den Sattel hieven konnte, und daher ließ sie ihn angeleint neben den Kamelen her nach Süden gehen. Als der Ruf bei Einbruch der Dunkelheit innehielt, gab sie ihm etwas zu essen, in das sie Nachtschweifsalz gemengt hatte. Sie brauchte eine Stunde, bis sie ihn in den Sattel eines knienden Kamels gewuchtet hatte; dann führte sie die Kamele aus dem stillstehenden Ruf hinaus in Richtung Süden, zum Rand hin. - 234 Glasken erwachte, als die Morgenröte durch die ockerfarbene Zeltbahn schien. In seinem Kopf rumorte etwas, das weder mit Schlaf noch mit Alkohol zu tun hatte. In der Luft lag ein süßlicher Duft, und auf dem Boden lagen Decken und Luftpolsterkissen verstreut. »Wo ist der Zug?« fragte er. Er sah zwar niemanden, wunderte sich aber nicht, als er eine Antwort bekam. »Der ist schon lange weg«, schnurrte eine Frauenstimme vom anderen Ende des Zelts her »Und? Hatte ich recht? War es in meinem Zelt nicht behaglicher als im Zug?« Glasken hob den Kopf und sah sich dem verschleierten Gesicht einer knienden, nackten Frau gegenüber. »Wilpenellia?« »O Fras, was seid Ihr für ein trinkfester Mann. Was war das für eine wunderbare Nacht!« Glasken überlegte. Er war eher schwurbelig im Kopf als verkatert, und seine Lendenlust wirkte so munter, als hätte er eine ganze Weile enthaltsam gelebt. Die Frau erhob sich langsam auf den Knien, und er sah, daß sie bis auf den Schleier tatsächlich nackt war Ihre Haut war honigfarben. Glasken kniete sich ebenfalls hin und bemerkte, daß auch er nichts anhatte. »Frelle, helft meinem Gedächtnis bitte etwas auf die Sprünge«, sagte er und setzte einen lüsternen Blick auf. Manche Menschen können sich immer an Gesichter erinnern, an Stimmen oder Augen, bei Glasken aber waren es eher die Brüste, die sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis brannten. Vor sich hatte er ein eher kleines, aber vollkommen geformtes Brustpaar von klassisch davantinischer Form. Theresia. So etwas hatte er von Anfang an vermutet. »Wartet!« sagte sie und hob eine Hand. »Bitte wartet, Fras ...« Er lehnte sich zurück, nahm sich eine Weintraube aus einer Schale und aß sie.
»Es ist nur ein Krampf, das geht gleich vorüber«, sagte sie, erstaunt ob seiner plötzlichen Gleichgültigkeit. Glasken hatte keinen Zweifel, daß ein Ruf nahte. Theresia würde abwarten, bis es fast soweit war und dann sagen: »Komm zu mir, Jack Orion. Komm und mach mit mir was du willst.« »Ah, der Schmerz ist vorüber Jetzt komm, Jack Orion, und mach mit mir was du willst.« - 235 »Ich möchte mich lieber auf den Ruf vorbereiten, Frelle Äbtissin«, sagte er und nahm den Lotossitz ein. Glasken ließ krachend geistige Rolläden herunter, die im Laufe vieler zölibatärer Jahre der Abt von Baelsha in ihm ausgebildet und vervollkommnet hatte. Er quetschte jedes Verlangen aus sich heraus, wie man Wasser aus einem Schwamm quetscht, und dann brandete der Ruf über das Zelt hinweg. Eine Verlockung packte Glasken, die er nicht für möglich gehalten hätte, zerrte an jeder Faser seines Seins, doch er blieb dort zusammengekauert sitzen, die Fäuste geballt, bebend und nach Luft schnappend. Es wird einfacher, bemerkte er. Theresia starrte ihn verwundert an. »Du widerstehst dem Ruf«, sagte sie leise. »Ein Mensch widersteht dem Ruf.« Glasken erwiderte nichts. Er mußte noch stundenlang durchhalten. »Du widerstehst dem Ruf jetzt ganz von allein, die Verlockung durch mich hat nichts mehr damit zu tun«, schloß sie. »Wie machst du das?« »Reine Boshaftigkeit«, murmelte Glasken. Sie hob langsam seinen Kopf. Er hatte die Äugen geöffnet. Er war sich bewußt, daß ihre Brüste nur eine Zungenlänge vor seinem Mund wogten, aber das verlockte ihn nicht mehr. »Verwöhnter Schnösel«, sagte sie mißgelaunt und setzte sich zurück. Als der Ruf das Zelt schließlich wieder freigab, sackte Glasken erschöpft auf die Decken. »Das war überaus erstaunlich, Fras Glasken«, hauchte Theresia. »Es wird immer einfacher«, keuchte er. »Hier, trink etwas.« »Auch wieder mit K.o.-Tropfen?« »Ich trinke zuerst.« »Ihr trinkt davon wahrscheinlich jeden Tag ein wenig, damit Ihr immun dagegen werdet.« »Äch jetzt nimm schon, verdammt noch mal!« rief Theresia und warf ihm den Wasserschlauch hin. »Du hast mir nichts mehr zu bieten. Und wie denn auch. Du bist der einzige Mensch der Welt, der bei einem Ruf bei Besinnung bleiben kann.« »Man hat es mir beigebracht.« »Wer?« - 235 »Wirklich gräßliche Leute. Aber irgendwann konnte ich es sogar besser als sie. Wo sind wir hier?« »Nicht weit vom Rand, genau an dem Ort, an dem ich vor fünf Jahren meine Experimente mit dir angestellt habe. Wir können nach Maralinga zurückkehren, sobald du möchtest.« »Wie war's mit sofort?« Er entdeckte seine Kleider in einer Ecke und robbte hinüber. Theresia traf stirnrunzelnd eine Entscheidung, warf dann ihren Schleier beiseite und streckte sich auf den Kissen aus. »Wir sind hier ganz allein«, sagte sie in affektiertem Tonfall. »Und ich habe Unerfahrenheit zu bieten -« »Ihr laßt Euch besser von einem anderen von Eurer Unerfahrenheit erlösen, Frelle«, sagte Glasken und sah nach, daß sein Geldbeutel und seine Taschen nicht geplündert waren. »Damit will ich natürlich nichts gegen Euren wunderschönen Körper gesagt haben, aber ich kann Euch einfach nicht mehr vertrauen. Nicht nach dem, was Ihr vor fünf Jahren mit mir gemacht habt und vorhin schon wieder machen wolltet.« »Mir hat noch nie jemand etwas abgeschlagen!« fauchte Theresia und setzte sich abrupt auf. Glasken zuckte mit den Achseln und hielt sich ostentativ sein Kleiderbündel vor die Lendengegend. »Einmal ist immer das erste Mal«, sagte er Er nahm seine Steinschloßpistole und hielt sie ihr mit dem Griff voran entgegen. »Hier, erschießt mich. Dann erfährt die Welt nichts davon, daß ein Mann Euch einen Korb gegeben hat.«
Theresia zog einen Schmollmund und äffte ihn nach: »Einmal ist immer das erste Mal.« Dann ging sie wieder in die Hocke und legte den Kopf auf die Seite. »Zieh dich an, ich lasse dich in Ruhe.« Während er sich anzog, schnallte Glasken den Zelteingang auf, ging hinaus und sah sich um. Sie waren in der flachen, baumlosen Halbwüste der Nullarborebene, und an einer Seite war der Rand zu sehen. Jenseits dessen sah man den dunkelblauen Horizont des Ozeans. Ganz in der Nähe ragte die primitive Rufschutzmauer auf, die er damals, 1700, errichtet hatte ... und gleich daneben befand sich der flache Stein, der den Eingang zu Ilyires Schatzhöhle bedeckte. Ein unglaublicher Glücksfall. Theresia hatte ihn an eben den Ort geführt, den er gesucht hatte, den Ort, an den Ilyire nicht zurückkehren mochte. Dann trat Theresia vollständig bekleidet aus dem Zelt. »Ilyire hat irgendwo hier in der Nähe offenbar eine Schatzhöhle - 236 angelegt«, sagte sie, als sie sich zu ihm gesellte. »Darien hat das in einem Brief erwähnt.« »Ich wette, die ist gut versteckt«, erwiderte Glasken beiläufig. »Wir könnten danach suchen.« »Ich soll den Schatz meines Freundes plündern? Kommt nicht in Frage.« »Deines Freundes? Ach ja, du warst es ja, der ihn im Krug zum grünen Drachen erst ordentlich einen eingeschenkt und dann mit ein paar Betthäschen aufs Zimmer geschickt hat.« »Ihr habt auf ihn geschossen.« »Der Mann war ein Scheusal. Und jetzt hat auch er sich geändert.« Glasken ging zu den Kamelen und überprüfte Sattel und Zaumzeug. »Diese verdammten Kamele«, murmelte er. »Sogar schon wenn sie aufstehen, fühlt man sich, als würde man gleich runterfallen.« Theresia packte schon das Zelt ein, als er zurückkam, doch dann richtete sie seine Steinschloßpistole auf ihn, und er blieb stehen und hob die Hände. »Noch mehr Schwachsinn im Namen der Wissenschaft?« fragte er überdrüssig. »Fras Glasken, ich habe versucht, dir meinen Leib zu schenken, ich habe versucht, dir Wohlstand zu schenken, aber mein drittes Geschenk bekommst du jetzt, ob du willst oder nicht. Geh jetzt zum Rand. Wenn du in die schmale Ruftodeszone kommst, widersteh ihr, wie auch immer du das machst.« Theresia legte die Waffe beiseite, als Glasken hineinging und begann, sich gegen den schwächeren, permanenten Ruf zu wehren. Dann ging Theresia zu ihm, bereit, ihm ein Bein zu stellen, falls er die Beherrschung verlieren sollte. Sie schritten an den Abgrund. Unter ihnen donnerten die Wogen des Ozeans an die Felsen. »Bleib hier stehen, Fras Glasken, und schau hinaus aufs Wasser. Beachte die dunklen Gestalten da draußen. Sie sind der Ursprung des Rufs. Sieh dort, eine kommt an die Oberfläche und bläst Wasser in die Luft. Kein Mensch hat das hier je gesehen, und auch nur sehr wenige Aviaden. Schau, dort, vor den Felsen: Siehst du das große dunkle Ding? Das ist das Vieh der Rufwesen. Ein Fisch mit riesigen Fangzähnen, der so lang ist wie ein Windzugwaggon. Und die Rufwesen sind sogar noch größer. Komm jetzt zurück, ich bringe dich wieder nach Maralinga. Und von jetzt ab keine Tricks mehr.« - 236 Auf den Straßen von Glenellen herrschte eine angespannte Atmosphäre, als der erste Tag des Monats Gimleyat begann. Schon in der ersten Morgenröte verkauften die Händler auf dem Markt große Mengen Lebensmittel, vor allem solche, die sich einlagern ließen. Nüsse, Datteln, Sultaninen, getrocknetes Hammelfleisch, kandierte Aprikosen und Feigen, in Salz eingelegter Weißfisch, Reis und Mehl erzielten horrende Preise bei Kunden, die dennoch erleichtert waren, überhaupt einkaufen zu können. Händler die Tuche, Parfüm, Gebrauchsgegenstände und Rufankerriemen feilboten, saßen tatenlos hinter ihren Ständen und sahen durch rote Baumwollschleier dem tumultartigen Treiben zu, während die aufgehende Sonne die Türme und Felswände der Stadt leuchtend rot färbte. »Dann ist der große Tag also gekommen«, sagte der nomadische Tuchhändler Emzilae. »Die mächtige Kommandantin Lemorel reitet zwei Stunden nach Sonnenaufgang in die Stadt ein.«
Heczet, der an seinem Stand Rufankerriemen verkaufte, zog ein Uhrwerk auf. »Noch eine Stunde, dann packe ich alles zusammen und verstecke mich irgendwo. Es wird Plünderungen geben.« »Plünderungen? Wieso das?« fragte Emzilae und fegte mit seinem Emufederwedel eine Motte beiseite. »Die Nimmerländer der Kommandantin«, rief Zeter von seinem Parfumstand herüber »Das sind Barbaren, die waren noch nie in einer Stadt. Die wissen nicht, was Geld ist. Die nehmen sich, was sie wollen.« »Noch eine Stunde«, bekräftigte Heczet. »Dann baue ich meinen Stand ab und verstecke ihn irgendwo. Wenn die Parade zum Stadttor hereinkommt, werde ich die letzten Lumpen tragen und mir auch noch eine Pockenplakette um den Hals hängen.« »Ach, aber die Stadt wird voller Bettler sein, wenn die Kommandantin kommt«, sagte Emzilae. »Ich habe das in Gosluff, Tempe und Ayer mitangesehen. Überall das gleiche.« Emzilae stand auf, streckte sich und klatschte dann in die Hände. Ein junger Mann mit einem Flaumbart kam hinter dem Stand hervor Er war unverschleiert, was zeigte, daß er ein Lehrling war, der noch nicht über die Mittel oder die Befähigung verfügte, ein eigenes Allerheiligstes zu bewachen. »Ja, Meister?« »Es wird Zeit, Da. Ich brauche zwölf Dutzend Kamele, zwanzig Treiber mit eigenen Waffen und sechs starke Eunuchen zum Beladen und Tragen. Das alles muß in zwei Stunden hier sein.« - 237 »Jawohl, Meister.« Als der Junge in dem Gedränge des Marktes verschwunden war, schlenderte Zeter hinüber zu Emzilaes Stand und befingerte einen Ballen dunkelblaues Tuch. »Ja, feine nordmaurische Baumwolle«, sagte Emzilae. »Ein sehr gutes Geschäft bei einem Preis von -« »Ihr habt hier doch nur Ladung für zwei Kamele.« »Ja, dieser Stoff ist sehr selten, mein Freund.« »Also ein Lasttier für Da und ein Kamel für Euch, dann noch die für die Treiber und Eunuchen. Da bleiben immer noch einhundertvierzehn Kamele übrig.« »A-he, die werden gebraucht, um den Stockfisch, die kandierten Früchte, gerösteten Mandeln, Walnüsse und so weiter zu tragen.« Zeter wies mit dem Daumen auf das Gedränge drüben bei den Lebensmittelständen und zeigte dann auf das blaue Tuch, das zwischen ihnen lag. »Ihr hättet doch noch Glück, wenn Ihr diesen ganzen Ballen für auch nur einen einzigen Stockfisch eintauschen könntet.« »A-he, aber in zwei Stunden werde ich den gleichen Fisch für eine Kupfermünze kaufen können. Die Nomaden kennen sich mit Städten besser aus, als Ihr glaubt, mein achtbarer Parfümeur.« Er wies mit gespreizten Fingern auf seine eigene Brust. »Dieser Nomade hier hat die Kommandantin in ein halbes Dutzend Städte einreiten sehen. Ihre Krieger verhalten sich ausgesprochen diszipliniert, und um zu zeigen, daß niemand einen Überfall fürchten muß, läßt sie sich von höchstens hundert Mann ihrer Leibwache eskortieren.« Jetzt kam auch Heczet an den Stand. »Aber erst gestern habt Ihr Euch auf ein Fischfaß gestellt und herumgeschrieen, was für entsetzliche Szenen sich in Gosluff abgespielt hätten. Jungen auf den Straßen zum puren Vergnügen erschlagen, Mädchen in ihren allerheiligsten Gemächern nackt ausgezogen und vergewaltigt, Plünderungen und Brandstiftungen, und die Überlebenden wären dann fast verhungert. Was ist damit?« »Die Leute haben mir zugehört. Seht nur das geschäftige Treiben dort drüben.« Zeter richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Ach so, dann wird es vielleicht gar nicht so schlimm kommen?« »A-he, was für ein Mißtrauen.« »Was ist in Gosluff wirklich passiert?« fragte Zeter. Emzilaes Gesicht verzog sich zu einem breiten, wissenden Grinsen. - 237 »Na ja, die Kommandantin ritt mit ein paar Dutzend Lanzenreitern in die Stadt hinein und dann den Boulevard hinab zum Palast des Makulad. Dort wurde sie vom Makulad und seinem
Ältestenrat empfangen, und man übergab ihr die Stadt. Ohne auch nur vom Pferd zu steigen, schoß sie den Makulad ins Herz und tötete auch noch seinen Sohn. Der Rest seiner Familie und ein paar aus dem Ältestenrat wurden in die Sklaverei verschleppt, aber das war es dann auch: zwei Tote. Keine Plünderungen, keine Vergewaltigungen, keine Morde.« »Bei der glühenden Mittagshitze!« fluchte Zeter »Und wer herrscht jetzt in Gosluff?« »Ein aus dem Exil heimgekehrter Prätendent, dessen Familie vor Jahrhunderten die Macht über die Stadt verloren hatte. Die Kommandantin sagte, sie setze ihn als den rechtmäßigen Makulad wieder in sein Amt ein. Und heute morgen wird der entflohene Prinz Alextoyne zur rechten Hand der Kommandantin in der Stadt einreiten, und wenn sie dann Euren Makulad erschossen hat, wird er den Thron besteigen. Es werden neue Steuern erhoben werden, um ihre Kriege zu finanzieren -« »Prinz Alextoyne?« rief Heczet. »Der Nachfahr von Makulad Moyzenko, der wegen seiner Liebe zu der schönen Ervelle den Thron verlor?« »Eben der.« »Eine glänzende Entscheidung. Damit wird eine Legende wieder zum Leben erweckt. Man knüpft an das dreihundert Jahre zurückliegende goldene Zeitalter an.« Emzilae lächelte geheimnisvoll und sah hinüber zu der Menschenmenge, die sich um die schwindenden Lebensmittelvorräte balgte. »Ihr müßt über den Augenblick hinausdenken, meine Freunde. In zwei Stunden wird diesen Dummköpfen klar werden, daß die Kommandantin ihnen weiter nichts antun wird als ihnen neue Steuern aufzuerlegen. Die ihr ganzes Erspartes für Lebensmittel ausgegeben haben, werden Geld für diese Steuern brauchen, zumal alle, die nicht zahlen können, der Armee der Kommandantin Reittiere, Waffen oder gar ihre Söhne zur Verfügung stellen müssen.« Emzilae tätschelte den auf seinem Wagen liegenden Geldbeutel. »Und wenn sie alle wieder ankommen, um ihre Säcke voll Datteln, Reis und getrocknetem Fleisch zu verkaufen, werde ich hier sein, um ihnen all das abzukaufen, und dann schaffe ich all das nach Alspring und verkaufe es dort für den zwanzigfachen Preis, wenn die Kommandantin diese Stadt belagert.« Heczet und Zeter wichen verblüfft einen Schritt zurück. »Aber was werdet Ihr für eine wertvolle Karawane haben. Wenn Ihr da keine ruinös teure Eskorte anheuert, werden doch sicherlich Räuberbanden über Euch herfallen.« »Meine Freunde, kein Räuber wird es wagen, mich anzurühren. Ich stehe unter dem Schutz der Kommandantin.« »Sie benutzt Euch?« »Aber sicher doch. Ich verbreite Furcht, und dann kommt sie und zeigt sich gnädig. Das Volk ist erleichtert, und die Kommandantin erhält eine weitere unbeschädigte Stadt, die ihre Kriege unterstützen kann. Eine geplünderte Stadt ist für einen Eroberer doch wertlos.« »Dann ist die große Lemorel also gar keine solche Teufelin«, sagte Heczet und strich sich den Bart. Emzilae runzelte die Stirn. »Sie kann durchaus eine Teufelin sein, das könnt Ihr mir glauben. Es gibt da eine namenlose Stadt, ein Fünftausend-seelennest in der Nähe von Olgadowns. Die war einst stolz und befestigt und widersetzte sich ihr fünf Wochen lang. Ich bin dort zwei Monate nach dem Fall durchgekommen, und so etwas Entsetzliches habe ich noch nie gesehen. Kein Mann, keine Frau, kein Kind und kein Tier wurde verschont, und die überlebenden Offiziere wurden vor den Augen der Herrscher von Ayer, Olgadowns und Tempe zu Tode gefoltert. Jedes einzelne Gefäß wurde zerschmettert, alles, was brennbar war, in Brand gesteckt, und dann wurde die Stadt in diesem Zustand hinterlassen, als Exempel. Da liegen immer noch Gebeine auf den Straßen herum, und die Häuser sind nur noch ausgebrannte Ruinen. Kommandantin Lemorel kann sehr wütend werden, wenn man sich ihr widersetzt.« Zeter rang ängstlich die Hände, sah zu der Menschenmenge hinüber und dann wieder zu seinem Stand. »Ich, äh, werde der Kommandantin ein Geschenk überreichen, eine Komposition aus meinen seltensten Wohlgerüchen in einer Phiole aus carpentarianischem Porzellan. Ich werde sagen, es solle nach dem Ritt durch Hitze und Staub ihrer Erquickung dienen.« »A-he, das wird ihr gefallen«, sagte Emzilae mit knappem Nicken. Er neigte den Kopf zu Heczet hinüber. »Zufällig weiß ich auch, daß sie sich sehr gut mit Linsen und Uhrwerken auskennt.«
»Tatsächlich?« rief Heczet. »Dann werde ich ein schönes Chronographen- und Sextanten-Set für sie kaufen. Morgyo hat gerade eins zu einem sehr günstigen Preis im Angebot, bei diesen ganzen dummen Hamsterkäufen von Lebensmitteln.« - 239 Später an diesem Morgen ritt Lemorel Milderellen auf einem Kriegskamel und an der Spitze von neunzig Lanzenreitern in die Stadt ein. Wie von Emzilae vorhergesagt, erschoß sie den Makulad, schickte seine weiblichen Angehörigen in diverse Nonnenkloster und ließ die Männer und Knaben kastrieren, ehe sie dann auf die Sklavenmärkte verschleppt wurden. Prinz Alextoyne wurde zum neuen Makulad von Glenellen ernannt, und Zeter wurde wegen seines Parfumgeschenks Zeremonienmeister bei Hofe. Heczet wurde aufgrund seines Geschenks zum offiziellen Bevollmächtigten Glenellens für den Nachschub von Lemorels Armee ernannt, ein Posten, der ihm viel Geld, Grundbesitz, einen königlichen Titel -und letztlich auch die Aufmerksamkeit loyalistischer Attentäter einbrachte. Emzilae verbrachte tatsächlich den ganzen Nachmittag damit, auf dem Markt Lebensmittelvorräte aufzukaufen - zu einem Fünfzigstel dessen, was sie noch am Morgen gekostet hatten, und er achtete sehr darauf, die örtlichen Händler zu unterbieten, die noch ruinösere Preise boten. Das Leben in der Stadt war fast wieder zur Normalität zurückgekehrt, nur daß nun Nimmerländer die Palastwache stellten und auf jeder Polizeiwache ihre Abgesandten saßen. Bedienstete drängten sich an Emzilaes Stand, hoch beladen mit Säcken voller Lebensmittel, die sie nun für kleines Geld verkauften, um die Kriegssteuer zahlen zu können, und Kamele trugen die Säcke zu Verschlagen gleich außerhalb der Stadtmauern. Emzilae überwachte alles, feilschte hier und da, schleppte auch mal selber einen Sack und trieb sogar hin und wieder Kamele durch die Menge. Die Einwohner der Stadt trugen eine seltsame Mischung aus Bettlerlumpen, Verkleidungen und festlichen Gewändern, und die meisten von ihnen waren in Feierlaune. Die Lehmschuppen, die Häuser aus rotem Stein und sogar die Türme wurden mit den Wimpeln und den Farben der Nimmerländer geschmückt, und verschleierte Frauen winkten den vorbeireitenden Nomaden von ihren Balkonen aus schüchtern zu, und einige warfen sogar Blumen. Die Reise zurück zur Gleitbahnstrecke nahm einige Tage in Anspruch. Theresia und Glasken erzählten einander von den vergangenen Jahren, angefangen bei Thereslas Erkundungen in den Ruftodesländem bis hin zu Ilyires erster Nacht in der Stadt. Glasken mochte nur ungern über seine Zeit in Baelsha sprechen, aber auf beharrliches Nachfragen hin - 239 skizzierte er schließlich einiges von seiner Ausbildung, den Prüflingen und Martyrien. »Allmählich beginne ich zu verstehe«, sagte Theresia, während ihre Kamele nebeneinander her trotteten. »Die Mönche haben dir beigebracht, über einen Gegenstand wie ein Mandala zu meditieren, etwas, das die ganze Gewalt symbolisiert, die der Ruf über dich hat, und dieses Symbol, dieses Mandala war doch sicherlich ich.« »Sehr scharfsinnig«, gestand Glasken. »Du, Fras, bist in einem geradezu grotesken Maße sexbesessen. Ich habe deine Triebe früher einmal dazu genutzt, um die Stimmen hinter dem Ruf zu verstehen. Und jetzt hat man dir beigebracht, mein Bild dazu zu nutzen, die Verlockungen des Rufs von dir abzulenken. Im Grunde deines Herzens weißt du, daß du einen Vollzug zwischen mir und dir nie zulassen wirst. Und das ist deine Stärke.« Glasken nickte und saß schon gleich ein wenig aufrechter im Sattel. Ihm war klar, daß er über außergewöhnliche Widerstandskräfte gegen den Ruf gebot, aber für etwas Einmaliges gehalten zu werden, war eine größere Ehre. »Die Mönche von Baelsha und die Koorie-Nomaden kippen einfach nur bewußtlos um, wenn der Ruf sie ergreift, ich aber bleibe bei Bewußtsein. Woran liegt das?« Theresia dachte lange darüber nach und sah dabei strikt geradeaus. Glasken ließ unauffällig noch ein weiteres weißes Bändchen fallen, das an einem Ende mit einer Bleikugel beschwert war.
»Das liegt daran, daß du wirklich außergewöhnlich bist. Lebe lange, Fras Glasken«, schloß sie. »Laß dich bitte so schnell nicht umbringen.« »Äh, gleichfalls, Frelle.« »Und vertrau mir nicht. Vertrau mir nie.« Sie lachten beide. »Ich habe mir deinetwegen große Umstände gemacht, Glasken.« »Das sagen die Mädchen immer.« »Der Befehl von Bürgermeister Bouros höchstpersönlich war nötig, um die Great Western dazu zu bringen, auch nur mal um eine Stunde von ihrem kostbaren Fahrplan abzuweichen.« Jetzt erschien ein weißer Fleck am schnurgeraden Horizont, und Glasken wurde klar, daß sie sich Maralinga näherten. Schnell sah er, während er so tat, als müßte er husten, auf einem kleinen Kompaß nach, den er in der hohlen Hand verborgen hielt. - 240 »Sag mal, wenn du eine Frau wärst, und du wärest interessiert an einer ... Initiation - was würdest du dann unternehmen?« fragte Theresia. »Mir einen Mann suchen.« »In meinem Alter sind die verlockenden Männer alle vergeben. Und die, die nicht vergeben sind, sind das aus guten Gründen.« Glasken überlegte kurz. »Theresia, wenn Ihr wirklich entschlossen seid, nur um der Sache willen mit jemandem ins Bett zu gehen, dann sucht Euch doch einfach einen netten Fras, der schon vergeben ist. Nehmt ihn eines Nachmittags mit ein paar Krügen des großen Gleichmachers in eine Herberge mit.« »Fras Glasken! Das ... das ist weiterer Überlegung wert. Wie wurdest du entjungfert, wenn ich fragen darf?« Glasken hätte vor Überraschung fast den Kompaß fallenlassen. Er sah verstohlen zu Theresia hinüber, aber sie hatte sich kichernd abgewandt. »Als ich vierzehn war war ich schon ein recht passabler Lautenspieler«, sagte er und weigerte sich standhaft zu lächeln. »Die Jungs in unserem kleinen Städtchen haben mich engagiert, auf daß ich ihren Frelles ein Ständchen bringe. Und eines Abends hat das Mädchen, das oben am Fenster lauschte, dann anschließend mich zu sich heraufgebeten. Und als ich ihr Zimmer betrat, wurde mir klar daß sie dabei mehr im Sinne hatte als nur ein paar weitere Lieder und ein wenig Honigkuchen.« »Klingt doch nett«, sagte Theresia und lachte, und Glasken ließ ein weiteres weißes Bändchen fallen. »Liebespaare finden auf so dämliche, unschickliche Weise zueinander und dennoch können aus diesen Verbindungen dann mächtige Staatenbündnisse entstehen oder Fortschritte in der Wissenschaft, alles und jedes. Nur ein unbeholfener, verletzlicher Moment, eine verzweifelte Geste, mit der man mit zitternder Hand einem anderen Stolz, Würde und Selbstachtung anbietet.« »Ein zarter Kniff in einen Po, der keine Ohrfeige nach sich zieht?« Theresia sah ihn schmollend an, die Augen zusammengekniffen. »Du hast eine Art, immer gleich die nackten Tatsachen anzusprechen.« »Ich bin ein Lebemann. Nackte Tatsachen sind mein Spezialgebiet.« »Man sagt, Lebemänner liebten den Sex und die Eroberung, nicht aber die Frauen. Du, Glasken, bist kein Lebemann. Du hast das Herz am rechten Fleck, auch wenn der Rest von dir ... na ja, wo auch immer der sein mag.« - 240 Maralinga war mittlerweile eine befestigte Garnison mit einem hoch aufragenden Signalfeuerturm, und es gab dort jetzt einen Nomadenmarkt und sogar eine Herberge. Als er Theresia zum Windzug gebracht hatte, der nun schon in der flirrenden Hitze des Westens verschwand, schlenderte Glasken zu den Ständen hinüber, um sich für eine zweite Expedition auszustatten - und diesmal würde er alleine reisen. Als er nach Münzen kramte, um den Proviant und die Kamele zu bezahlen, erspürte er ganz unten in seinem Geldbeutel ein kleines Stück Mangelpapier. Er faltete es auseinander und las.
»Fras Glasken: Theresia zurück im Palast. Hoheliber ihr von dir erzählt. Du Gleitbahn Great Western. Theresia weiß davon. Ich kümmere mich. Dein Trinkerfreund Ilyire.« »Ein Glück, daß sie das nicht gefunden hat«, sagte Glasken und warf den Zettel in den Schmiedeofen der Stallungen, wo er mit einem leisen Fopp in Flammen aufging. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, und es hatte sich ausgezahlt. Theresia hatte ihn dorthin geführt, wohin Ilyire nicht mehr zurückkehren mochte. Und diesmal war Glasken so klug gewesen, auf der Rückreise nach Maralinga Markierungen auszuwerfen. - 241 12 Uhrmacher Glasken blieb einige Wochen lang in der Nullarborebene und räumte Ilyires Schatzhöhle aus. Drei Viertel des Inhalts verbarg er in einer anderen Höhle, und dann schlug er die Gebeine der Ervelle in eine Satteldecke ein. Schließlich stand er eines Tages in aller Herrgottsfrühe auf dem Friedhof von Maralinga, ließ die sterblichen Überreste der Ervelle beisetzen und spielte dazu auf einer geliehenen Laute die alte Alspring-Weise »Ervelles Abschied«. Ein reformiert gentheistischer Laienpriester aus der Besatzung des Signalfeuerturms - die nächste Entsprechung zum orthodox gentheistischen Glauben von Alspring, die sich auftreiben ließ - leitete die Trauerfeier. »Ilyire bittet um Vergebung«, sagte Glasken auf Alspring, als er eine Handvoll rötlichen Kalksteinstaub in das offene Grab streute. Auf dem Grabstein war Ervelles Name in Alspring-Schrift und in lateinischen Lettern auf Austarisch verzeichnet, dazu ihr Geburts- und Todesdatum. Den Stein hatte Ilyire per Windzug geschickt. Glasken sah zu, wie die angeheuerten Bahnarbeiter Kalksteinbrocken und Sand in die Grube schippten, und der heiße, stürmische Wind trug eine Staubfahne davon wie eine zartweiße Seele, die endlich befreit war. Glasken hob andeutungsweise seine Mütze. »Freut mich, daß ich einer solchen Legende zu Diensten sein kann, Frelle«, flüsterte er. »Vielleicht lerne ich ja eines Tages ein Mädchen kennen, das so wunderbar ist, wie man es von Euch berichtet. Am liebsten gleich heute.« Er seufzte. Er hatte unzählige Frauen erobert, war aber nie ihr Held gewesen. In den Legenden wimmelte es nur so von tugendhaften Heroen, fiesen Schurken und schutzbedürftigen Heldinnen, aber irgendwelche harmlosen Lebemänner, mit denen es einfach nur Spaß machte zusammenzusein, kamen da nicht vor. Konnte er denn wirklich nur als Ervelles Bestatter Eingang in eine Legende finden? Konnte er als der geliebt werden, der er war, und nicht als irgendein albernes Alter Ego? Jetzt besaß er die Reichtümer, zu tun, was er wollte, hatte aber keinen blassen Schimmer, was das war. - 241 Für den Nachmittag war ein Windzug angekündigt, und Glasken schlenderte auf der Bahnstation herum und sah sich an, was sich dort verändert hatte, seit er damals von Lemorel von dort verschleppt worden war Am meisten staunte er über die Ghaner aus Alspring, die in einem kleinen Lager östlich der Bahnstation lebten. Es waren fünfzehn bis zwanzig Mann, und um die sechzig Kamele mampften ihr Futter aus hölzernen Trögen. Zwei Koorie-Männer rasteten im Schatten des Lagerhauses und sprachen mit einem uniformierten Bahnbediensteten. Glasken konnte leicht seine eigenen Schlüsse daraus ziehen: Die Ghaner hatten Karawanenrouten quer durch das Land der Koorie ausgehandelt und machten nun Geschäfte mit den Händlern, die auf den Windzügen kamen. Kaffee war für die Händler aus dem Landesinnern sicherlich von großem Interesse, aber Glasken bezweifelte, daß schon irgendwelche politischen Kontakte geknüpft wurden. An Lemorel vergeudete er keinen Gedanken. Als er am Friedhof vorbeiging, sah er daß sich drei ghanische Kaufleute vor Ervelles Grab zu Boden geworfen hatten und leise wehklagten. Er erkannte einige Worte aus einem Gebet. Und als er so dort stand und ihnen zusah, trat der Fahrkartenverkäufer zu ihm. »Sie haben heute morgen nur Minuten gebraucht, dann hatten sie das Grab gefunden, Fras. Und seitdem trauern sie abwechselnd hier. Wessen Gebeine habt Ihr denn da bloß begraben?«
»Ervelle war eine wunderschöne junge Frau aus Alspring, die irrtümlicherweise zum Tode verurteilt wurde. Man schnallte sie auf einem Kamel fest und gab sie dem Ruf anheim. Ich habe zufällig ihre Gebeine gefunden und kannte die Legende. Und von den Ghanern aus Alspring wird sie verehrt, wie Ihr seht.« »Ja, das sehe ich allerdings. Es könnte gut sein, daß Ihr Maralinga damit zu so etwas wie einer heiligen Stätte gemacht habt. Euer Name sollte auch auf dem Grabstein vermerkt sein. »Oh nein, nein, guter Fras, für mich ist kein Platz in einer solchen Legende.« »Wie Ihr meint. Also, in dem Windzug, der heute nachmittag nach Westen abfährt, sind laut Signalfeuer keine Abteile der Klasse A mehr frei.« »So ein Mist! Ich kann doch nicht bis nach Kalgoorlie aufrecht in einem Abteil der Klasse B hocken. Nicht nach fünf Wochen auf einem Kamel.« - 242 »Fras, Fras, laßt mich doch ausreden. Ich rechne damit, daß etliche freiwerden, wenn der Zug eintrifft. Mit diesen Zügen kommen immer ein paar Kaffeehändler, die hier mit den Ghanern Geschäfte machen.« Der Windzug hatte Verspätung, und daher gönnte sich Glasken ein Bad und eine Rasur, räkelte sich eine halbe Stunde lang genüßlich in kühlem Wasser aus den Zisternen. Als das letzte Licht des Sonnenuntergangs im Westen verschwand, ging im Osten die Spiegelsonne auf. In dieser Nacht hatte sie die Form eines matt leuchtenden Streifens quer über das Band am Himmel, und dieses Band war dank des von der Erde reflektierten Sonnenlichts tatsächlich sichtbar. Glasken starrte zum Himmel empor, und dann bemerkte er, daß er das Rattern des Windzugs bereits hören konnte. Er trat ein paar Schritte zurück, als die erste Lok vorbeirauschte, mit quietschenden Bremsen und ausgekuppelten, leerlaufenden Rotoren. Im Licht der Laternen sah sie aus wie ein riesiges, schwerfälliges Insekt. Die Ghaner eilten herbei und priesen den aussteigenden Händlern lautstark ihre Waren an, und die eben noch stille Bahnstation verwandelte sich im Handumdrehen in einen geschäftigen Nachtmarkt. Diener luden säckeweise Kaffeebohnen und Gewürze aus. Glasken wollte sich eben durch die Menge zu einem Waggon drängeln, als er Darien erblickte, die gerade dem Zug entstieg. Er huschte beiseite, hinter den Kiosk, und sah zu, wie ein festlich gekleideter Ghaner zu ihr trat und sie nach einer tiefen Verbeugung ansprach. Die stumme Darien wählte aus einem Etui an ihrem Gürtel eine Karte und reichte sie ihm. Er las, verneigte sich und wies dann zu dem Lager hinüber. Glasken war verwirrt, aber erleichtert, als sie fortging. An der Tür des Waggons der Klasse A trat der Fahrkartenverkäufer zu ihm. »Fras Orion, Ihr habt Glück. Es sind etliche Abteile der Klasse A freigeworden. Ich habe das Abteil AI für Euch reserviert. Ich muß es nur noch auf Eurem Fahrschein vermerken.« Glasken war hocherfreut. Er wollte allein sein, wenn er seine Tasche öffnete, einmal ganz davon gesehen, daß er jetzt einen eigenen Abort und ein Klappbett hatte, auf dem er sich ausstrecken konnte. Dann wurde zur Abfahrt geblasen. Glasken stieg ein und hielt seinen Fahrschein dem sich nähernden Schaffner entgegen, doch der rundliche, prächtig gekleidete Mann huschte ohne ein Wort zu sagen an ihm vorbei. Er tupfte sich aus einem Flakon Heckenrosenessenz ins Gesicht, und sein frisch gewichster - 242 Schnurrbart hätte auch aus Schwarzholz geschnitzt und eben erst mit Politur behandelt sein können. Glasken fragte sich, warum der Mann mitten in der Nullarborebene eine Paradeuniform trug. Der Zug setzte sich sacht in Bewegung. Glasken sah auf seinen Fahrschein: Abteil AI. Er bemerkte, daß die Abteile A2 bis A5 frei waren und dort die Türen offenstanden. Die Tür von Abteil AI war jedoch geschlossen. Glasken nahm an, daß es etwas damit zu tun hatte, daß das Abteil für ihn reserviert war, und er schob die Tür auf und schritt hinein. Eine Frau von Mitte zwanzig saß zurückgelehnt auf der Sitzbank. Sie war sehr groß, hatte aber unter ihrem schlichten Dretan aus rotbrauner Baumwolle eine ersichtlich wohlgeformte, attraktive
Figur Ihr schönes, ovales Gesicht wurde von honigbraunem Haar eingerahmt, das in Kaskaden bis auf den Sitz und gar den Boden fiel. An den Füßen trug sie abgetretene Holzschuhe. Als sie Glasken erblickte, wich sie erschrocken zurück. »Oh - besetzt!« quiekste sie überrascht und herrschte ihn dann mit viel tieferer Stimme an: »Jetzt aber raus hier!« Glasken war recht erschöpft und nicht geneigt, sich herumkommandieren zu lassen. Er ließ sich auf die Sitzbank ihr gegenüber fallen. Er hatte müde Füße und war immer noch bedrückt von der Beerdigung. »Das Abteil AI ist für mich reserviert«, sagte er und zeigte ihr den Fahrschein, der mit dem entsprechenden Vermerk versehen war. »Aber AI war nicht reserviert.« »Ich bin gerade erst zugestiegen.« In der Ecke erblickt er eine große, ramponierte Werkzeugtasche und ein Handköfferchen. Die Frau sprach mit dem Akzent des östlichen Hochlands, der bei ihr aber ausgeprägter war als bei Lemorel. »Der Schaffner hat mir das Abteil AI gegeben«, beharrte sie. »Entweder Ihr geht jetzt raus, oder er schmeißt Euch aus dem Zug.« Glasken massierte sich die Nackenmuskeln. »Ich schätze mal, Ihr werdet gleich mehr von diesem Schaffner sehen, als ich je zu sehen wünsche. Handwerker wie Ihr können sich keine Fahrkarten der Klasse A leisten. Ihr geht jetzt raus. Und ich werde Euch beide dem Zahlmeister melden.« Sie ließ ein wenig die Schultern hängen, und das zeigte ihm, daß er mit seiner Entgegnung ins Schwarze getroffen hatte. Mit zusammengekniffenen Lippen stand sie auf und warf sich den Riemen der Tasche über die Schulter - 243 »Guter Fras, ich - ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich gehe jetzt.« Ihr Ton war nun unterwürfig. »Mein geiziger Uhrmachergatte hat mir nur Geld für eine Fahrt in der Klasse B mitgegeben, aber der Schaffner hat mir versprochen, daß er mich heute in einem freien Abteil der Klasse A übernachten lassen würde. Bitte, guter Fras, zeigt mich nicht an. Eine Geldstrafe könnte ich nicht bezahlen, und dann würden sie mein Werkzeug beschlagnahmen, oder ich müßte mein Haar verkaufen.« Glasken versetzte sich in ihre Lage, sah mit ihren verängstigt blickenden braunen Augen zu ihm hinab. Die Frau war groß, und es würde ihr daher schwerfallen, auf einem Sitz der Klasse B zu schlafen. Nur weil du groß bist, denken alle, es macht nichts, wenn man dir wehtut, dachte er. Die Frau schlich nun zur Tür und verneigte sich ehrerbietig bei jedem Schritt. Glasken hob ein Bein, um ihr den Weg zu versperren. »Frelle, Ihr bleibt hier, und ich ziehe um nach A2. Wenn Euch noch jemand Schwierigkeiten macht, sagt einfach Bescheid, dann bleue ich ihm ein paar Manieren ein.« Glasken erhob sich und richtete sich zu seinen vollen einsfünfundneunzig auf. Er blinzelte erstaunt, als er feststellte, daß er auch im Stehen noch ein klein wenig hochsehen mußte, um ihr in die Augen blicken zu können. »Ihr - Ihr geht?« fragte sie. »A2 bis A5 sind noch frei.« »Und Ihr werdet mich nicht anzeigen?« »Es ist ja nichts passiert, schöne Frelle. Nichts, was sich nicht mit einem ordentlichen Klaps auf den Po wieder richten ließe.« Er grinste sie müde an. Sie grinste zurück, doch etwas an ihrem Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Es schien kaum noch das Gesicht derselben Frau zu sein, als sie ihn mit gespielter Schüchternheit über die Schulter ansah. »Dann würdet Ihr mir also gerne ein klein wenig den Po versohlen, Fras?« »Nur wenn ich ihn anschließend so lange streicheln dürfte, bis alles wieder gut ist«, witzelte Glasken, und die Worte rutschten ihm heraus, ohne daß er sich bewußt war, was er da sagte.
Sie stemmte die freie Hand in die Hüfte und bot ihm dann mit einer langsamen Drehung die Rundungen ihrer linken Pobacke dar. »Also Fras, ich warte«, sagte sie und klimperte mit ihren außergewöhnlich langen Wimpern. Glasken konnte es kaum fassen: Er hatte nicht einmal versucht, die Frau zu verführen, und es stand ihr immer noch frei, sich eins der leeren Abteile mit dem Schaffner zu teilen. Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuß darauf Sie stellte ihre Tasche ab und umarmte ihn. »Fras, Ihr wart gerade ritterlicher zu mir als je ein Mann zuvor Geht bitte nicht, sonst wäre ich schwer gekränkt.« Glasken nahm sie in die Arme. Ihre Lippen waren den seinen ganz nah, und sie vereinten sich einen Augenblick später zu einem langen, innigen Kuß. Ihre Haut war ein wenig feucht, und er spürte ihr Herz klopfen. Als sie dort standen, die Stirnen aneinandergelehnt, waren ihre Augen fast auf gleicher Höhe. Gut eine Stunde später klingelte Glasken nach dem Service. Der Schaffner vermerkte etwas in seinem Notizbuch und ging dann flotten Schritts den schmalen Korridor hinab zur Bordküche, so als wollte er schnell eine unangenehme Pflicht hinter sich bringen. »Einen Krug Sonnentau-Schlüpferstürmer für das Pärchen in AI«, fauchte er den Koch an. »Als ob die das noch nötig hätten.« »Tja, Fras, dann wird ja wohl nichts aus deinen Plänen für den Abend.« »Und ich habe zufällig die mit Abstand lächerlichste Anmache in der Geschichte unserer Gleitbahn mitangehört. Ich schätze mal, jetzt bleibt nichts anderes mehr übrig, als um starke Winde zu beten.« Der Alltag in Glenellen verlief unter Lemorels Herrschaft nicht groß anders als unter der des vorherigen Makulads, nur daß für Aufruhr nun strenge Strafen galten. Man zog die gesamte Familie jedes Missetäters zur Rechenschaft, und das war den Leuten ein Anreiz, aufrührerische Angehörige unter Kontrolle zu halten. Nach dem Fall Glenellens trotzte Lemorel nur noch die große Stadt Alspring. Was jedoch niemand wußte: Glenellen war ihr eigentliches Ziel gewesen. Nun war sie dem größten Augenblick ihres Lebens nahe. Nachdem sie die Proklamationen hinter sich gebracht hatte, ließ Lemorel den Palast sichern und den Seneschall rufen. Er war ein großer, würdevoller Mann und trug als Zeichen seines Amtes, den Palast zu beschützen, einen dichten roten Schleier unter den Augen. Lemorel schritt vor ihm auf und ab, ihre Reitgerte hinter dem Rücken. Ihm kam es vor als wappnete sie sich für etwas, das sehr bedrückend sein würde, aber er konnte sich nicht vorstellen, was das sein sollte. - 244 »Es gibt in diesem Palast ein Gerät«, sagte sie schließlich und ging dabei immer noch wie getrieben auf und ab. »Es ist ein Gerät, das aus etwa zweihundert Menschen besteht, die alle einen Abakus bedienen, und man nennt es Kalkulor. Wo ist es?« »Im großen mittleren Turm, auf der zehnten Ebene, Eure - äh, Majestät.« »Mein Titel lautet Frelle Kommandantin.« »Frelle Kommandantin.« »Dann führt mich nun zu dem Kalkulor.« Der Kalkulorsaal war auf zwei Etagen des Turms untergebracht, und die Komponenten arbeiteten in sehr beengten Verhältnissen. Nikalan war eine von zehn FUNKTIONEN vorn im Saal, und die Maschine arbeitete gerade eine Kalibrierungsaufgabe ab, die Lemorel eingegeben hatte. Sie erkannte ihn sofort, aber ihr Gesicht war verschleiert. »System halt!« rief der Chefregulator, und die Maschine wurde ordentlich heruntergefahren. »Eine faszinierende Konstruktion«, sagte Lemorel, als sie sich einen Weg durch das Gewirr der Drähte und Verstrebungen bahnte. »Die Komponenten sitzen zu fünft an übereinander angebrachten Pulten. Das bringt bei der gleichen Anzahl von Komponenten viel höhere Übertragungsraten und Rechengeschwindigkeiten.« »Das war meine Erfindung«, sagte ein Ältester, der neben dem Chefregulator gestanden hatte. »Einige Aspekte der ursprünglichen Konstruktionen waren allzu sehr auf Übersichtlichkeit bedacht und zu wenig auf Effizienz.«
Lemorel musterte ihn kühl, wenngleich ihr Schleier ihre Miene verbarg. »Der Mann, der das alles für Euch konstruiert hat. Bringt ihn her.« »Dieser Mann bin ich, Frelle Kommandantin«, erwiderte der Älteste. »Ich frage nicht noch einmal. Ein Gefangener, den man vor über fünf Jahren aus der Oase Fostoria hierhergebracht hat. Sein Name war entweder FUNKTION 3073 oder Nikalan Vittasner. Bringt ihn her!« Da er aus Lemorels Tonfall zu hören meinte, daß sie wütend auf Nikalan war, beschloß der Chefregulator, ihr Wohlwollen zu gewinnen, indem er ihr die Komponente persönlich vorführte. Er ließ sich vom Systemwächter die Schlüssel aushändigen und schlenderte dann hinüber zu dem Pultkomplex, wo er in der zweiten Reihe von unten ein dünnes, weißes - 245 Bein aus einer eisernen Schelle befreite. Dann zerrte er Nikalan am Arm herunter und führte ihn zu der Stelle, an der Lemorel stand. Dort zwang er Nikalan auf die Knie und stieß ihm einen Fuß in den Rücken, auf daß sich die Komponente vor Lemorel niederwarf. Als er wieder hochschaute, sah er statt des erhofften anerkennenden Blicks der Befehlshaberin weiter nichts als das Mündungsfeuer ihrer doppelläufigen Steinschloßpistole. Zum ersten Mal im Leben hatte sie so gründlich die Kontrolle über sich verloren, daß sie beide Läufe gleichzeitig abgefeuert hatte. »Nikalan, mein armer, armer Nikalan«, sagte sie liebevoll, kniete nieder und nahm ihn in den Arm. »Ich bin's, Lemorel. Lemorel ist hier bei Euch.« »Lemorel? Bringt Ihr mich nun zurück zum Kalkulor von Libris?« Lemorel sah in seine ausdruckslos blickenden Augen, und sie spürte, wie ihr allmählich die Fassung entglitt. Er kannte sie, aber sie war ihm nicht genug. Nur als Bestandteil einer größeren Maschine konnte sie etwas sein, was er zu lieben vermochte. Mit größter Mühe riß sie sich zusammen. Dieses einen Momentes wegen hatte sie sich über eine Million Menschen unterworfen, aber ihr heiliger Gral war weiter nichts mehr als eine Handvoll Scherben. Als sie dort bei ihm kniete, sah sie zum ersten Mal ihr neues Ich. Sie war nun überlebensgroß, war mächtig. Nikalan war weiter nichts als ein kurzer Fetzen glimmender Lunte, der die Zerstörungskraft einer riesigen Bombarde entfesselte. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, bedeutete Nikalan ihr nichts mehr. »Der Kalkulor von Libris ist weit weg, Fras Nikalan, aber gebt mir Zeit«, sagte sie in einem neutralen Tonfall. »Ich werde Euch dorthin zurückbringen, ich verspreche es.« Sie half ihm hoch und winkte dann den Seneschall herbei. »Laßt Fras Nikalan Vittasner von den Kebsweibem und Eunuchen des ehemaligen Makulads baden. Anschließend sollen die Hofschneider eine Reihe von Gewändern des Makulads für ihn abändern, und dann sorgt dafür, daß er besser speist als irgend jemand sonst hier im Palast. Er soll einen Schleier tragen und wird in meinem Allerheiligsten beschützt. Und heute nacht schläft Nikalan im Bett des Makulads.« »Aber Frelle Kommandantin, was ist mit Prinz Alextoyne?« »Der soll Nikalan die Mahlzeiten auftragen. Er kann in einem der Gästezimmer schlafen.« »Jawohl, Frelle Kommandantin.« - 245 »Seneschall, wenn Ihr zulaßt, daß Nikalan auch nur ein Haar gekrümmt wird, werde ich etwas so aberwitzig Abscheuliches mit Euch tun, daß Ihr ebenso vor Fassungslosigkeit sterben werdet wie vor Schmerz. Ich bin wahnsinnig, Fras Seneschall, vergeßt das nie! Nikalan, Ihr geht mit diesem Mann.« »Aber meine Schicht ist noch nicht um.« »Ihr seid zum Systemsteuerer befördert worden und müßt Euch jetzt ausruhen, ehe Ihr Eure neue Aufgabe antretet.« Als sie gegangen waren, verpaßte Lemorel dem Leichnam des Chefregulators noch einen heftigen Tritt und griff sich dann den Ältesten, der den Kalkulor erbaut hatte. Sie packte ihn an den Haaren und richtete seinen Blick auf den Leichnam, dem der ganze obere Schädel fehlte. »Ihr macht hier sauber, ehe die Komponenten noch unruhig werden«, knurrte sie.
»Sofort, Frelle Kommandantin, sofort.« »Und noch etwas. Wenn mir jemals wieder zu Ohren kommen sollte, daß irgendjemand Euch als etwas anderes als einen Diener bezeichnet hat, der Nikalan dabei geholfen hat, diesen Kalkulor zu erbauen, so werde ich Euch durch den Fleischwolf drehen und zu Schweinehack verarbeiten lassen, und zwar angefangen bei den Zehen.« Sie schickte ihn mit einem Tritt in den Hintern zu Boden und verließ dann ohne ein weiteres Wort den Saal. Am nächsten Morgen lagen Glasken und seine Gefährtin auf dem schmalen Klappbett in Abteil AI. Sie betrachtete durchs Fenster den heller werdenden Himmel und das eintönige Panorama der Nullarborebene, und er betrachtete ihre Brüste, die sich an seinen Oberkörper schmiegten. »Kannst du denn unter meiner Last überhaupt atmen, Fras Jack?« fragte sie noch einmal. »Bleib so, schöne Frelle. Bitte. Von unten kann ich dich viel besser spüren«, sagte er und streichelte ihren langen, schön geschwungenen Rücken. »Ich wiege neunzig Kilo.« »Na und? Ich hundertfünf.« Er erblickte einen vorbeihuschenden Meilenstein und stellte zu seinem Bedauern fest, daß der Zug recht schnell fuhr. »Dann ist dein Uhrmachergatte also in Kalgoorlie?« »Nein, er ist in Rochester. Er arbeitet dort an einem Auftrag für die - 246 große Bibliothek.« Sie streckte sich, die Hände an die Trennwand gepreßt. »Er hat gehört, daß es in Kalgoorlie Bedarf an Uhrmachern gibt, wollte aber seine sichere Stelle nicht aufgeben. Da habe ich gesagt, ich fahre mal hin und schau mir an, was da los ist. Ich kenne mich auch mit Uhrwerken aus, mein Papa war Uhrmacher.« »Oh, dann wirst du also jemanden brauchen, der dich immer schön und mit viel Gefühl aufzieht.« »Jaaah. Wäre dein Schlüssel denn einsteckbereit, Jacky?« Glasken legte sich auf sie. »Durchaus. Und du schickst deinem Gatten aus Kalgoorlie am besten nur schlechte Nachrichten.« »Pah. Ich gehe nie wieder zurück in den Südosten. Die verdammten großspurigen Drachenbibliothekare und Schutzleute da.« »Aber Ihr habt doch sicherlich keine Straftat begangen, oder Frelle?« fragte Glasken, ein wenig nervös angesichts seiner Tasche voller Gold, die auf dem Boden stand. Sie legte sich theatralisch eine Hand an die Stirn und warf dann beide Arme in die Luft, ehe sie Glasken wieder umhalste. »Nein, aber meine Schwester. Eine unglaubliche Geschichte. Das Hirn der Familie hat Papa sie immer genannt. Hat sich immer mit irgendwelchen blöden, deprimierten Dichtem abgegeben. Ich hasse Dichter Du bist doch kein Dichter oder Jacky?« »Wohl kaum.« »Papa hat mich zu seinem Lehrling gemacht und damit Geld gespart, damit sie zur Oberschule gehen konnte. >Und was wird aus mir?< habe ich gefragt. >Oh nein<, haben die ganzen Lehrer zu Papa gesagt. >Sie ist zu dumm, schaut sie doch an.< Was zum Teufel haben die denn erwartet? Ich war mit elf Jahren schon eins zweiundachtzig groß! Ich sah wie achtzehn aus und wie ein Dummkopf, und dabei war ich elf und klug.« »Verdammte Sauerei«, seufzte Glasken. »Unfair, Fras, einfach unfair. Es war wirklich - Ach, übrigens: Wo ist denn hier in der Klasse A das stille Örtchen?« Glasken rutschte beiseite und zeigte auf etwas, das sie für einen Wandschrank gehalten hatte. »Hier ist alles nur vom Feinsten, Frelle Jemli. Separates Bad inklusive.« Sie nahm etwas aus ihrer Tasche und schlängelte sich dann durch die schmale Tür auf den Abort. In ihrer jetzt offenstehenden Tasche erblickte Glasken drei Bücher. Mit einem Mal saß er erschrocken aufrecht da. Es war weniger der Titel, der ihn beunruhigte - Enzyklodie der Mecha - 246 -
nik- als vielmehr die Aufschrift in rotem Prägedruck: PRÄSENZBIBLIOTHEK LIBRIS - KEINE AUSLEIHE. Jemli kam wieder und wusch sich in dem kleinen Waschbecken mit einem Stück Duftseife die Hände. »Bist du eine Drachenbibliothekarin, die inkognito reist?« fragte Glasken. »Natürlich nicht, Fras.« »Aber du hast Bücher aus der Präsenzbibliothek von Libris in deiner Tasche.« »Ach die«, sagte sie abschätzig. »Die habe ich geklaut.« »Aber, aber, aber - man kann schon dafür hingerichtet werden, wenn man in dieser Bibliothek auch nur in der Nase popelt, und du hast dort Bücher geklaut« »Ja.« Glasken war einen Moment lang sprachlos. »Aber wieso? Die kann man doch nicht verkaufen.« »Ich brauche sie für mein Studium! Ich hatte kein Geld für Kopien und keine Zeit, mir abzuschreiben, was ich brauche.« »Studium? Für deine Gilde?« »Meine Gilde? Die Pest soll die Gilde holen! Nein, an der Universität von Rochester. Ich habe abends und nachts studiert und tagsüber Uhrwerke repariert. Acht Jahre lang, acht Fächer.« »Hui.« »Und jetzt wechsle ich an die Universität von Kalgoorlie, und in vier Jahren mache ich meinen Abschluß. Und dann heißt es: Ratzfatz die Scheidung und ab in den Signalfeuerdienst. Eines Tages werde ich so einen Turm leiten, merk dir das. Ich liebe diese Türme, die sind wie wir, Jacky: Verdammt groß und stolz darauf!« »Äh, Scheidung?« »Ja, Papa hat mich mit einem seiner stinkenden alten Gildenkumpane verheiratet. Dann ist Papa gestorben, und meine Schwester hat sein Geld geerbt. Ach, was für eine Verschwendung, Jacky.« Sie streichelte ihm sacht den Kopf. Glasken nahm sie fest in die Arme. Sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. »Du bist einfach wunderschön, wunderschön von A bis Z, die schönste Frau, der ich je begegnet bin«, sagte er mit Tränen in den Augen. Dann lehnte er seine Stirn an ihre und sah in ihre schokoladenbraunen Augen. Jemli strich ihm über die Schläfen, ebenso verwirrt wie er. - 247 Was mache ich hier? fragte sich Glasken. Bei meiner Rückkehr wartet die Schwester des Bürgermeisters auf mich, und dennoch verliere ich gerade mein Herz an eine Uhrmachergattin, die jeden Penny zweimal umdrehen muß. Verdammt noch mal, Theresia, du hast mich mit einem Fluch belegt, der dafür sorgt, daß ich mich verliebe. »Es tut mir leid, wenn ich vorhin ein bißchen viel gequatscht habe, Jacky, aber ich hatte acht Jahre lang niemanden, dem ich das erzählen konnte.« Jemli tupfte ihm mit ihrem brünetten Haar die Augen ab und drapierte es dann über seine Schultern. »Ich wollte das alles immer schon jemandem erzählen, aber bisher war mir dazu niemand nah genug«, sagte sie und streichelte ihm den Kopf. »Dein Haar ist eine Pracht.« »Ja, es ist ganz schön, aber es ist auch die Studiengebühr für drei Monate, wenn die Geschäfte in Kalgoorlie nicht laufen wie versprochen.« »Auf keinen Fall!« rief Glasken wütend. »Sag so was nicht, denk nicht mal daran!« Er hielt sich die Ohren zu. Jemli wich erschrocken zurück. Glasken schwang die Beine vom Bett, schnürte seine Tasche auf und wühlte kurz darin herum. Zu Jemlis Erstaunen holte er dann eine Goldmünze hervor und warf sie in Jemlis offenstehende Tasche. »Da hast du Gold, laß mich wissen, wenn du mehr brauchst«, sagte er, scherzhaft den östlichen Hochlandakzent nachahmend.
»Fras! Das ist ja tatsächlich Gold. Davon kann ich mich einen Monat lang ernähren, die Miete und alle Gebühren bezahlen.« Er nahm ihr Kinn in die Hand und sah ihr in die Augen. »Jemli, du bist wunderbar. Du bist schamlos, aber schlau, tapfer, aber auch vernünftig.« »Fras Jack, das ist genau das, was ich in dir sehe.« »Nun, dann passen wir ja wohl bestens zueinander. Bleibst du bei mir?« »Ob ich bleibe? Jacky, auch ohne dich wäre es himmlisch hier drin. Bist du sicher? Ich bin es nicht gewöhnt, etwas gratis zu bekommen.« »Ich meinte, ob du bei mir bleibst, wenn wir nach Kalgoorlie kommen.« »Oh Fras, ist das dein Ernst? Das wäre ja wunderbar.« - 248 Glasken schluckte, strich mit zwei Fingern die Bettkante entlang und atmete dann einmal tief durch. »Ich ... wäre in manchen Nächten beschäftigt ... manchmal. Geschäftskontakte zu einer Dame. Im Staatspalast. Wärest du eifersüchtig?« »Nach dem, wie es mit uns angefangen hat? Und schließlich bin ich verheiratet. Geschäftskontakte soll man pflegen.« »Abgemacht!« rief Glasken. »Ich sehe mich künftig eigentlich auch eher als Besitzer eines Gasthauses. Schaun wir mal, was sich da machen läßt, wenn wir nach Kalgoorlie kommen.« »Abgemacht! Dann können wir in unserem eigenen Haus ein richtig großes Fest feiern. Ach, Jacky, du bist mein Held, und es macht so viel Spaß, mit dir zusammenzusein.« Ein Held - und zwar einer, mit dem es Spaß machte zusammenzusein! Dann ist das also doch möglich, dachte er hoffnungsfroh. Vielleicht hatten ja irgendwelche tranfunzeligen Gelehrten die ganzen richtigen Kerle aus den Legenden getilgt. Lemorel mußte eine Reinigung über sich ergehen lassen und Buße tun, weil sie einen Menschen in den Kopf geschossen hatte - so war es beim orthodox gentheistischen Glauben der Städte von Alspring und der Nomaden aus dem Nimmerland vorgeschrieben. Der Kopf galt als Verbindungsglied zwischen der Gottheit und der menschlichen Seele und wurde daher heilig gehalten. Feinde durften vergiftet, durchs Herz geschossen oder gar geköpft werden, aber den Kopf als solchen durfte man nicht beschädigen. Das von Lemorel begangene Sakrileg wurde in den Augen ihrer Anhänger allerdings durch die romantischen Umstände der Tat gemildert. Sie hatte nach langer Zeit ihren Geliebten wiedergefunden, aber er war tot - und sie hatte seinen Mörder erschossen. Von einem großen Befehlshaber erwartete man, daß er sich jähzomig verhielt, und daher wirkte sich der Zwischenfall sogar zu ihren Gunsten aus. Binnen einer Woche war sie wieder bei ihrem Heer und führte es nach Osten, zu den schachbrettartig rot-weiß gemusterten Mauern von Alspring. Da dies die letzte große Stadt im Landesinnerem war, waren ihre Generäle begierig zu erfahren, was geschehen sollte, nachdem sie erobert worden war. Lemorel hatte ihrem Generalstab Zutritt zu ihrem Allerheiligsten gewährt. Sie versammelte ihn in ihrem runden, ockerrot und gelb gemusterten Zelt um sich, und als der Eingang verschlossen war, löste sie - 248 die Bänder ihres Schleiers und ließ ihr äußeres Gewand zu Boden sinken. Die Wirkung war verblüffend für die Ghaner - ebenso für die Nimmerländer wie für die Männer aus den Städten von Alspring. Glattes, schulterlanges Haar ein rotgeschminkter Mund und die Augen mit schwarzem Lidstrich betont. Ihre Haut war hell rötlich gepudert, nicht in jenem Elfenbeinton, der in den Erotika der Ghaner vorherrschte, und sie trug eine schwarze Reithose und eine schwarze, aufgeknöpfte Bluse, die ihr Dekollete entblößte, wie man das bei einer Ghanerfrau niemals sah. Zwei doppelläufige Morelacs und zwei Dolche hingen an ihrem Gürtel. Verführerin und Tochter, Kind und Kriegerin, Nonne und Dämonin, Beschützerin und zu Beschützende - für sie war Lemorel all das in einer Person. Sie war zwar hinreißend, aber sie konnten sie nicht als eine ihrer eigenen Frauen ansehen oder sie an ihren eigenen Werten messen.
»Ein Zug nach Süden, um die fruchtbaren Länder Woomeras und der Südostallianz zu erobern«, sagte sie zu den Versammelten, die im Schneidersitz vor ihr saßen. Es gab kein Gemurre, aber die Männer in ihren mannigfaltigen bunten Gewändern, Turbanen und Schleiern rutschen ein wenig unruhig hin und her. »Aber Kommandantin, wo bleibt denn die Zeit, uns dessen zu erfreuen, was wir bereits erobert haben?« fragte Baragania. »Selbst die Nimmerländer unter uns sind begierig darauf, die neugewonnenen Länder und Reichtümer zu genießen.« »Ihr könnt sie gern genießen - unter der Herrschaft der Ungläubigen«, sagte Lemorel betont beiläufig. Sie alle kannten mittlerweile ihre Art zu reden. Wenn etwas so war, weil sie keinen Einfluß darauf hatte, sprach sie immer ganz leise. Als Baragania nichts darauf erwiderte, zog sie eine kleine weiße Rolle aus ihrem Ärmel. Sie löste den Bindfaden, der sie hielt, und wickelte dann einen langen Lochstreifen aus Papier auseinander »Das ist eine maschinell übertragene Botschaft meiner Spione in Woomera. Die ehemalige Äbtissin des Klosters Scalattera in Glenellen hat soeben den Gemahl der Oberbürgermeisterin der Südostallianz geehelicht, um so zu ihrer beider Nebenfrau zu werden. Die Hochzeit fand in Kalgoorlie statt.« Wiederum verfiel sie in Schweigen und ging vor ihnen auf und ab, während die Männer murmelnd darüber spekulierten, was die Auswirkungen einer solchen Verbindung sein mochten. - 249 »Wißt Ihr, was das bedeutet?« schrie sie mit einem Mal und schleuderte die Lochstreifenrolle zu den im Halbrund sitzenden Männern hinüber. »Das bedeutet, daß Oberbürgermeisterin Zarvora eine Teilhabe an der Regierung von Glenellen für sich beanspruchen kann. Seit dem Tod ihres Vaters hat die Äbtissin Anspruch auf seinen Sitz im Ältestenrat, und die Oberbürgermeisterin kann verlangen, daß man sie als Mitglied dieses Rats einsetzt.« Lemorel hielt erneut inne, auf daß ihre Worte besprochen und verstanden werden konnten. »Aber ich werde weder die Dynastie noch den Ältestenrat des ehemaligen Makulads wiedereinsetzen, und das liefert der Oberbürgermeisterin den Vorwand für einen Angriff.« »Kommandantin, die Ansprüche der Äbtissin Theresia sind verfallen, da sie den Schutz des Hüters ihres Allerheiligsten, des Marschalls ihres Klosters, verlassen hat«, begann Baragania. »Falsch!« rief Lemorel. »Gemäß der Konvention der Vergebung der Ervelle, einem Eurer meistgeachteten Gesetze, ist jede Frau, die den Hüter ihres Allerheiligsten verläßt, wenn sie es unter dem Schutz eines männlichen Anverwandten tut und dabei eine Liebesheirat über ihren Stand hinaus anstrebt - also kommt schon, wer sagt es mir?« »Trifft sie in den Augen der Gottheit und vor dem Gesetz keine Schuld«, sprach mit zitternder Stimme ein alter General aus Ayer. Lemorel stand mit den Händen auf den Hüften da, ein Sinnbild des Triumphs. »Theresia hat den ungläubigen liberalen Gentheisten des Südens den Weg eröffnet, nach Norden zu strömen. Ihre Nebengemahlin, die Oberbürgermeisterin, hat bereits Kalgoorlie ihrem mächtigen Gespinst von Bündnissen einverleibt. Sie strebt nichts Geringeres an als die Herrschaft über den ganzen Kontinent.« Nun staunten die Generäle über Lemorels Weitblick und Voraussicht. »Mir liegt eigentlich nichts an einer mit viel Blutvergießen verbundenen Eroberung des Südens. Dort ist meine Heimat, meine lieben Eltern und mein Bruder liegen dort begraben. Meine Schwester lebt dort glücklich mit ihrem sie innig liebenden Mann, und zweifellos hängen viele kleine Kinder an ihren Gewändern und suchen Schutz bei ihr. Ich will meine Heimat nicht angreifen, aber mir bleibt keine Wahl. Die Sicherheit meiner neuen Heimat, und Eure Sicherheit, die meines Volkes, geht vor. Die Gottheit verlangt es. Die Gottheit schwächt zum Zeichen ihrer Mißbilligung sogar die Winde ab, die ihre Züge antreiben. Was für ein Zeichen wollt Ihr noch? Daß die Spiegelsonne zerrissen wird? - 249 -
Bis Coonana war die Nullarborebene einem lichten Eukalyptuswald gewichen, unterbrochen von Grasland und vereinzelten Wasserlöchern. Vom Zug aus sah man Nomaden, einige mit Kamelkarawanen, andere mit bunt bemalten Maultiergespannen. In der Stadt selbst gab es einen großen Umsteigebahnhof für die Windzüge - einer der Orte auf der Gleitbahn, an denen die Züge nach Osten und die nach Westen aneinander vorbeikonnten. Gleitbahnstationen wie Maralinga und Naretha waren exotisch und abgelegen, Coonana aber war der kulturelle Brückenkopf der westlichen Stadtstaaten. Jemli staunte über das farbenprächtige Schauspiel, das sich den Fahrgästen bot, als der Zug langsam in die Station einfuhr. Der Zug nach Osten stand auf einem Nebengleis und wartete darauf, daß sie das Hauptgleis freimachten. »In Kalgoorlie ist es viel wärmer, trockener und windiger als in Rochester«, erklärte Glasken. »Coonana bietet da einen Vorgeschmack.« »Was sind denn das alles für buntgekleidete Leute?« »Die Einheimischen und die Nomaden halten einen Markt ab, wenn hier ein Zug hält. Wir haben nur ein paar Stunden Aufenthalt, aber in dieser kurzen Zeit wird viel Umsatz gemacht. Angeblich sieht man die neuste Mode immer zuerst an den Ständen von Coonana, ehe sie sich dann auf den Straßen von Kalgoorlie durchsetzt.« Jemli schaute sehnsüchtig hinaus durchs Fenster, während Glasken hinter ihr stand und mit einem Finger nachdenklich über den graubraunen Stoff auf ihrem Rücken fuhr. »Wir sollten dich im Kalgoorlie-Stil einkleiden.« »Ach, Jacky, wie soll ich das denn bezahlen?« »Indem du es mich bezahlen läßt.« Sie gingen zu den Süßwarenständen und kauften sich ein paar kleine Beutel Nüsse und Naschwerk für den Rest der Reise. Nebenan entdeckte Jemli die Stände der Metallverarbeiter, von denen einige Produkte es immerhin bis nach Libris geschafft hatten und in die Mechanismen in Zarvoras Arbeitszimmer eingebaut worden waren. »Fras Glasken - äh, Orion. Na, das ist ja eine Überraschung!« Glasken schloß die Augen, ehe er sich umwandte. Er kannte Thereslas Stimme nur allzu gut. »Oh, guten Tag, Frelle. Ihr reist nach Osten, hoffe ich?« »Allerdings. Mein Zug steht auf dem Nebengleis neben Eurem.« Er schlug die Augen auf und sah sie ganz im gegenwärtigen Stil geklei - 250 det: dunkelblaue, feine Baumwolle mit einem Leierschwanzmotiv als Perlenstickerei. Der Ausschnitt stand ihr nicht, denn dafür waren ihre Brüste zu klein. »Das Herbstfestival in Kalgoorlie war hinreißend«, sagte sie, die Hände auf den Hüften. »Und ich habe einen Mann verführt!« »Der arme Teufel«, erwiderte Glasken, verschränkte die Arme und hob die Augenbrauen. »Ich glaube, es hat ihm gefallen. Mir jedenfalls schon.« »Lebt er noch?« Sie gab ihm einen Knuff und kicherte. Plötzlich fiel Glasken wieder Jemli ein, und er sah sich hastig nach ihr um. Sie sah von einem der Schmiedestände aus zu ihnen hinüber, mit großen Augen und besorgtem Blick, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er eilte zu ihr und forderte Theresia dann nach einigem Zögern mit einem Wink auf, ihm zu folgen. »Frelle Theresia, das ist ...« Er atmete tief durch und zog Jemli eng an sich. »Jemli, meine Geliebte.« Theresia musterte das schlichte graubraune Gewand und die Holzschuhe und sah dann hinauf in Jemlis nervös blickendes Gesicht. Theresia war keine kleinwüchsige Frau, reichte Jemli aber kaum bis zum Kinn. »Frelle Theresia ist Edutorin, eine Frau der Wissenschaft und, äh, noch einiges mehr«, stammelte Glasken. »Also deshalb seid Ihr zurückgefahren in die Allianz, Fras Orion. Was für eine überaus schöne Figur Ihr habt, Frelle.« »Oh, äh, vielen Dank, Frelle Theresia«, stammelte Jemli, immer noch nervös und eingeschüchtert.
»Frelle Jemli hat einen Gatten -« »Und Ihr habt sie ihm geraubt? Nun, wenn ich ein Mann wäre, hätte ich es genauso gemacht. Kommt, Jemli«, sagte sie und hakte sich bei ihr unter, »wir holen Euch jetzt mal raus aus diesem Rochester-Einheitsgrau und stecken Euch in bunte Kalgoorlie-Kleider.« Glasken blieb stehen und starrte ihnen nach, bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß er am Knauf seines Offiziersstocks nagte. Eine Stunde später gesellte sich Theresia im Weinzelt wieder zu ihm. Jemli war immer noch mit ihren Einkäufen beschäftigt, da die meisten Kleidungsstücke umgeändert oder maßgeschneidert werden mußten. Glasken rief mit einem Fingerschnippen die Kellnerin herbei und sagte dann: »Zwei Schoppen - 251 weißen Mergeline!« Sie schenkten sich den Wein ein und stießen auf Thereslas Zukunft an. Glasken gestattete sich ein Lächeln. »Eure Liebesgeschichte in Kalgoorlie ... hat die Euer geistiges Gehör geschwächt?« Theresia sah von dem Weißwein auf, den sie in ihrem Kelchglas schwenkte. »Danke, daß du dir Sorgen machst, Glasken. Es hat mich verändert, hat meinen Geist anders ausgerichtet. Wir müssen uns verändern, wenn wir uns für vollkommen halten. Das hast du mich gelehrt.« Sie warf eine Kupfermünze in die Luft. Sie landete mit einem Platscher in Glaskens Wein. »Guter Wurf«, sagte er, ohne sich zu regen. »Reiner Zufallstreffer«, erwiderte sie. »Kümmere dich gut um Jemli, so eine Chance bekommst du nicht noch einmal.« »Ich kann's mir leisten.« Glasken ergriff ihre Hand und drückte sie. »Danke, daß Ihr mich zu Ilyires Schatzhöhle geführt habt.« Theresia riß ihm ihre Hand weg. Sie wurde rot, dann weiß, dann wieder rot im Gesicht. »Betrachte dich als geohrfeigt«, murmelte sie. »Das Schwierigste dabei war Euch mein Leben anzuvertrauen, Frelle Äbtissin.« »Erinnere mich daran, künftig nicht mehr so vertrauensselig zu sein, Fras Glasken.« Der Oberrichter von Rochester rief mit einem Klopfen seines Amtsstabs zur Ordnung und legte den Stab dann zurück in die Halterung auf seinem Pult. Er nahm Platz, und anschließend nahm der Aktuar den Amtsstab zur Hand und klopfte einmal, auf daß sich auch die übrigen im Saal setzen durften. Der Richter nahm eine Schriftrolle zur Hand und richtete seine Brille. Tarrin saß mißgelaunt als Vertreter der Angeklagten auf der hinteren Bank. »Heute morgen zur Verhandlung aufgerufen: Die Familie von FUNKTION 22 gegen den Stadtstaat Rochester wegen des Vorwurfs der neun Jahre währenden widerrechtlichen Inhaftierung in einem Gerät namens Kalkulor von Libris.« »Sind die Vertreter der Kläger anwesend?« fragte der Aktuar, nachdem er zweimal mit dem Stab auf den Boden geklopft hatte. Ein Mann und eine Frau erhoben sich. »Fal Levey, Anwalt der Kläger anwesend.« »Pakul ak-Temros, Vereinigung für die Menschenrechte Rochester, anwesend.« »Gemile Levey, Ehefrau des Inhaftierten, anwesend.« »Einspruch, Fras Oberrichter!« rief der Mann neben Tarrin. »Der rechtmäßige Name dieses Mannes ist FUNKTION 22.« »Endarian ist mein Mann und keine Nummer, Ihr Bibliothekarenschweine! « schrie Gemile Levey. »Er wurde getauft auf den Namen Endarian James Levey, und wenn Ihr glaubt -« »Ruhe! Ruhe!« bellte der Aktuar und pochte mit dem Amtsstab des Richters auf den Boden, bis es wieder still im Saal war. »Frelle Levey, noch so ein Ausbruch, und ich lasse Euch von der Verhandlung ausschließen, bis Ihr als Zeuge aufgerufen werdet«, warnte der Oberrichter. »Und der Einspruch wird abgelehnt. Dieses Gericht hat über die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung des, äh, Klägers zu befinden, und der Name FUNKTION 22 ist ein Ergebnis dieser Inhaftierung. Der Gefangene wird daher hier als Fras Endarian James Levey benannt, was zu Fras Levey abgekürzt werden darf. Aktuar, fahrt fort.« »Sind die Angeklagten anwesend?«
Tarrin und sein Anwalt erhoben sich. »Tarrin Dargetty, Golddrachen-Bibliothekar, Staatsbibliothek Libris, Rochester. Ich vertrete den Staat Rochester namens und im Auftrag der Oberbürgermeisterin und Hoheliber.« »Holward Derris, Anwalt der Angeklagten, aus Rochester.« »Die Verhandlung ist eröffnet, nehmt wieder Platz«, schloß der Aktuar. »Er ist uns nicht wohlgesinnt«, flüsterte Holward, während Tarrin sich setzte und sich für die vor ihm liegende Tortur wappnete. »Mein Einspruch hätte niemals abgewiesen werden dürfen, das Wort des Bürgermeisters ist Gesetz, solange es nicht -« »Ruhe!« mahnte der Aktuar. »Fras Oberrichter, ich möchte meinen ersten Zeugen aufrufen«, sagte der Anwalt der Angeklagten. »Fras Tarrin Dargetty.« Tarrin und sein Anwalt setzten sich in den Schankraum des Trunkenen Zauberers und bestellten sich Emusteak und Kidney Pie zum Lunch. Beide tranken sie ein Glas Makadamiawhisky. »Mittlerweile müßte er frei sein«, grummelte Holward. »Er wollte gar nicht freikommen«, murmelte Tarrin. »Das hat er mir - 252 gesagt. Er hat ein ... Übereinkommen mit MULTIPLIKATOR 417. Eine schöne Frau.« »Und seine Frau schläft mit ihrem Anwalt. Hat mir der Gerichtsschreiber gesteckt.« »Warum sollen wir FUNKTION 22 dann freilassen - äh, wie hieß er noch mal?« »Fras Levey.« Holward starrte in sein Whiskeyglas. »Der Anwalt der Gegenseite hat jetzt einen Präzedenzfall geschaffen, indem er eine Komponente befreit hat, die gar nicht befreit werden wollte. Das bedeutet, er kann jetzt eine Sammelklage einreichen, um sämtliche Komponenten zu befreien, die nicht wegen einer bestimmten Straftat im Kalkulor festgehalten werden oder ihre ursprüngliche Strafe bereits abgeleistet haben. Das wäre ein immenser Erfolg für ihn und würde ihm auch einen Gutteil der Schadenersatzsumme einbringen. Trinkt aus, da kommt unser Essen.« Zwei große Portionen Nierenpastete wurden vor ihnen abgestellt, aber Tarrin schien das gar nicht zu bemerken. Holward lächelte die Kellnerin an. »Danke, Frelle, ach, und zwei Bier bitte.« »Das ist unser Ende«, sagte Tarrin mürrisch. »Aber nein, ganz und gar nicht. Es braucht viel Zeit, so eine Sammelklage vorzubereiten, und sie wird sich nur auf Staatsbürger der Allianz beziehen, die keine Straftäter waren. Das bedeutet, daß Südmauren davon ausgeschlossen sind, solange der Emir kein Auslieferungsabkommen unterzeichnet, und das wird auch in zweihundert Jahren nicht passieren. Und die Strafgefangenen, die ihre Strafe ableisten, sind ebenfalls davon ausgenommen.« »Die Strafgefangenen, die ihre Strafe bereits abgeleistet haben, sind aber nicht davon ausgenommen, und wenn sie gehen, schneidet man dem Kalkulor das Herz heraus. Es sind unsere erfahrensten Komponenten, die man da wahrscheinlich entlassen wird.« »Ach, aber wieviele von denen sind noch im wehrfähigen Alter? Auch wenn gerade Frieden herrscht, könnt Ihr eine ansehnliche Zahl von ihnen für fünf Jahre zum Militärdienst einziehen — und dann kämpfen sie eben für Rochester, indem sie im Kalkulor arbeiten. Und falls die Oberbürgermeisterin einen richtigen Krieg der Klasse A erklären würde, hätten wir das Recht, jedermann für fünf Jahre zum Militärdienst einzuziehen, ob nun Straftäter oder nicht.« - 252 »Ein Krieg der Klasse A wäre eine Invasion«, sagte Tarrin und schüttelte den Kopf. »Es sind keine Staaten mehr übrig, die so etwas wagen würden. Dazu ist die Südostallianz mittlerweile viel zu mächtig.« »Nun, wie dem auch sei, aber wie Ihr seht, gibt es keinen Anlaß, die Flinte ins Korn zu werfen. Der Kalkulor wird vielleicht ein wenig schlanker werden, aber am Ende ist er auf keinen Fall.« »Oberbürgermeisterin Zarvora wird dennoch fuchsteufelswild sein.« Holward schnitt sich ein Stück von seiner Pastete ab. »Fras Tarrin, das Problem ist, daß die Macht der Oberbürgermeisterin von ihren eigenen Erfindungen untergraben wird. Die anderen Bürgermeister haben beispielsweise mittlerweile gelernt, Truppen mit Galeerenzügen zu trans-
portieren, und sie nutzen das Signalfeuernetzwerk für ihre Zwecke. Sie haben eigene Kalkulormannschaften, wie sie das nennen.« Er spülte die Pastete mit dem gerade frisch eingetroffenen Bier hinunter. »Ich weiß, was Ihr meint, und das ist ein weiterer Grund, uns vor Gericht zu zerren«, sagte Tarrin und nahm nun endlich auch einen Bissen von der Pastete. »Der Kalkulor von Libris ist die größte Fundgrube gut ausgebildeter Komponenten in der ganzen bekannten Welt. Gerüchteweise habe ich erfahren, daß dieser Menschenrechtsverband von einem Geheimbund von Bürgermeistern finanziert wird, die darauf aus sind, mit erfahrenen Leuten eigene Kalkuloren aufzubauen.« »Aber das wird sich die Oberbürgermeisterin doch sicherlich nicht bieten lassen. Wie will sie sich gegen die Entlassungen zur Wehr setzen?« »Sie hat gesagt, sie braucht den Kalkulor und hat mich angewiesen, mit allen Mitteln gegen diese Entlassungen vorzugehen. Aber sie ist sowieso die meiste Zeit in Kalgoorlie und schickt ihre Daten übers Signalfeuernetz. Ich fühle mich mißbraucht und alleingelassen, Fras. Der Kalkulor ist gefährdet, und außer mir scheint das niemanden zu kümmern.« Die Schenke Zum Ochsenfrosch befand sich im Bahnhofsviertel von Kalgoorlie. Denkar schlenderte in dem Biergarten auf dem Dach herum, während er auf den Wirt wartete, und er schwitzte unter der weißen Revisorenmaske. Der schattige Dachgarten war mit einheimischen und seltenen importierten Gewächsen bepflanzt. Goldzungensträucher lockten ganze Bienenschwärme an, die einen besänftigenden, wenn auch geschäftigen Hintergrund bildeten, der ebenso vielgestaltig war wie jener der - 253 Stadtstraßen drunten. Der Wirt hielt etliche Bienenvölker, und das große Wirtshaus war berühmt für seinen Honigwein. Farne wuchsen in Steinbottichen zwischen den Sträuchern auf dem weißlichen Kalksteinboden, und ihre üppiggrünen, weichen Wedel raschelten im Schatten der Ziersäulen. Darunter wuchsen kleinere, spinnenförmige Pflanzen mit Blüten groß wie kleine Erbsen und ohne Blätter. Als er sich das näher ansah, entdeckte Denkar, daß die einzelnen Blüten mit roten Ranken besetzt waren, die in klebrige Tröpfchen ausliefen. Und im Griff einer der Pflanzen wehrte sich gerade ein winziges Insekt. »Ein Sonnentau«, erklärte eine Stimme hinter ihm. »Ja, eine fleischfressende Pflanze,« sagte Denkar, ohne sich umzusehen oder sich zu erheben. »Ich habe schon Bilder davon gesehen.« »Wo ich aufgewachsen bin, gibt es die in der freien Natur. Willkommen im Ochsenfrosch, Fras Revisor. Bei uns gibt es den besten Honigwein und Chardontal von ganz Kalgoorlie.« Er verbeugte sich förmlich. »Ich bin Jack Orion.« Denkar verneigte sich ebenfalls, sie schüttelten einander die Hand, tauschten ihre Karten aus und rasselten gemeinsam den Geschäftsmoraleid herunter. Kellner eilten mit Korbstühlen und gekühltem Honigwein herbei. Denkar setzte sich, legte sich ein Klemmbrett aufs Knie und schrieb mit einem schwarzen Kohlenstift. »Also, wobei habe ich gesündigt?« fragte Glasken. »Ihr habt nichts zu befürchten, Fras Orion. Ihr habt diese Restauration also vor sechs Wochen gekauft?« »Ja, das habe ich«, antwortete Glasken und sah den Bienen bei ihrer Arbeit an den Goldzungen zu. »Eine gute Investition - nein, mehr als nur das: ein richtiges Zuhause.« »Ihr scheint mir für einen so jungen Mann recht reich zu sein.« »Ich komme aus einer wohlhabenden Familie.« »Ihr habt diese Immobilie mit Goldbarren bezahlt. Und wie ich erfahren habe, habt Ihr auch eine schöne Sammlung von Goldmünzen und Schmuck aus Alspring.« »Oh, davon habt Ihr auch schon gehört. Das ist seit Generationen der Stolz meiner Familie. Würdet Ihr gerne einige Stücke davon sehen?« »Gern, aber später. Vor ein paar Wochen hat ein sehr gewissenhafter Buchhalter beim Finanzministerium von Rochester eine Zunahme nicht registrierter Goldbarren im zwischenstaatlichen Edelmetallager festge
- 254 stellt. Da er fürchtete, daß sie verunreinigt sein könnten, ließ er sie untersuchen. Und wie sich herausstellte, war es eine äußerst wünschenswerte Art der Verunreinigung. Das Gold dieser Barren erwies sich als sogar noch reiner als nach dem Standard der Allianz oder Kalgoorlies erforderlich.« »Ist das kein Grund zum Feiern?« »Schon, aber bei einer weiteren Untersuchung erwies sich das Gold als identisch mit jenem, aus dem die Münzen aus Alspring hergestellt wurden.« »Aha, ich weiß, was Ihr jetzt sagen wollt, aber ich kann Euch versichern, daß ich nicht beraubt worden bin, Fras Revisor. Keine einzige Goldmünze, kein einziger Ring aus meiner Sammlung fehlt.« Denkar lehnte sich zurück und hielt das Klemmbrett auf Armeslänge vor sich hin. Dann sah er noch einmal zu dem Gesicht seines Gastgebers hinüber und nickte. Glasken strich behutsam eine Biene beiseite, die sich auf dem Rand seines polierten Silberpokals niedergelassen hatte; dann trank er einen Schluck Met. Schließlich hielt Denkar ihm die Zeichnung hin. »Oh, sehr gut!« rief Glasken. »Die Ähnlichkeit ist ja verblüffend -aber schaue ich heute wirklich so betrübt drein?« »Nehmt sie, sie gehört Euch.« Denkar beugte sich vor und reichte ihm die Zeichnung. Einen Augenblick später traten Glasken die Augen aus dem Kopf, als würde er stranguliert. »Eurem Gesichtsausdruck, lieber Fras, entnehme ich, daß Ihr die Bildunterschrift gelesen habt.« Glasken las sie noch einmal, diesmal laut: „KOPIE DER PORTRÄTZEICHNUNG AUS DER PERSONALAKTE EINER KALKULORKOMPONENTE / KOMPONENTE NUMMER 3084, FUNKTION. FEBRUAR 1700 GW. HANDSKIZZE VON WILBÜR TENTERFORTH, PERSONALABTEILUNG, DIENSTGRAD 2." »Ich kann nur sehr schlecht zeichnen, Fras Glasken. Ich habe nur Euren Bart hinzugefügt. Aber keine Angst, ich möchte nur, daß Ihr mir ein paar Fragen beantwortet. Mein Name ist Denkar Newfeld.« Glasken ließ die Skizze langsam auf seinen Schoß sinken. »Wenn es um das Gold geht -«, begann Glasken, aber Denkar schüttelte den Kopf und griff nach seinem Weinglas. Er trank einen Schluck, ehe er etwas erwiderte. »Wir scheinen etwas gemeinsam zu haben, Fras Glasken«, sagte er - 254 und suchte in seinen Ärmeln herum. Schließlich hielt er einen Lochstreifen aus Papier empor. »Ihr und Euer Freund Nikalan waren die ersten Komponenten, denen es jemals gelang, aus dem Kalkulor zu entfliehen, und ich war die erste Komponente, die je rechtmäßig aus seinen Diensten entlassen wurde.« »Ihr kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Glasken und sah ihn sich genauer an. »Ihr wart eine leitende FUNKTION, nicht wahr?« »Ich war FUNKTION 9 - und zwar neun Jahre, zwei Monate, drei Wochen, sechs Tage, vierzehn Stunden und zwölf Minuten lang.« »Und die haben Euch gehen lassen?« »Ja, das haben sie.« Glasken runzelte ungläubig die Stirn. »Meiner beschränkten Erfahrung im Innern des Kalkulors nach wollten die einen um so dringender dabehalten, je besser man sich geschlagen hat.« »Ja, das stimmt, aber dennoch sitze ich hier.« Glasken faltete die Hände und sah Denkar eindringlich an. »Und was hat man von Euch im Gegenzug verlangt?« »Man hat mir eine andere Arbeit angeboten, und ich habe angenommen.« »Klingt für mich eher, als hättet Ihr irgendeine hochrangige Drachenbibliothekarin geknallt und es ihr so richtig gut besorgt.« Denkar sah ihn unverwandt an. »Fras Glasken, Ihr habt eine schmutzige Phantasie, aber die Welt ist halt meist auch ein schmutziger Ort. Und jetzt zum Geschäftlichen: Eure Dienste werden gebraucht.« »Tatsächlich? Was denn für Dienste?«
»Die Verbesserung einiger Sprengstoffe und Arbeit in einem Kalkulor - aber als Regulator, nicht als Komponente. Und außerdem seid Ihr ein entflohener Strafgefangener, der noch fast fünfzig Jahre Haft abzuleisten hat.« »Da macht Euch mal keine Sorgen, Kalgoorlie hat mit der Allianz kein Äuslieferungsabkommen«, sagte Glasken selbstgefällig. »Das hat sich gestern abend geändert.« Glaskens Selbstgefälligkeit löste sich in Luft auf. »Oh.« »Oberbürgermeisterin Zarvora hat allerdings auch einen einstweiligen Straferlaß für Euch unterzeichnet.« »Einen Straferlaß? Ich glaub es nicht!« rief Glasken, und dann verengten sich seine Äugen. »Wo ist meine Ausfertigung?« - 255 »Die erhaltet Ihr zusammen mit dem Eintrag im Polizeipräsidium, sobald Ihr ihren Vertrag unterschreibt. Die Oberbürgermeisterin braucht dringend Sprengstoffspezialisten, zumal solche, die Kalkuloren programmieren können. Und wenn der Vertrag abgeleistet ist, bekommt Ihr einen vollständigen Straferlaß.« »Können wir das in den Vertrag mit aufnehmen?« fragte Glasken eifrig. »Ich ... wüßte nicht, was dagegen spräche.« Als der Schutzmann bei der Kapelle der Liberalen Reformierten Gentheisten eintraf, erwartete der Priester ihn bereits am Eingang. Er führte ihn in eine Gasse neben der Kapelle, die von einem großen Handkarren komplett versperrt wurde. Die Ladung war mit einer Plane bedeckt, deren Befestigungsriemen mit rotem Wachs und einem unbekannten Gildenzeichen versiegelt waren. »Das habe ich heute morgen nach dem Ruf entdeckt«, sagte der Priester. »Der Glaser sollte dort hinten ein Bleiglasfenster reparieren, und er kam mit seiner Leiter und seinem Werkzeug nicht an dem Karren vorbei.« »Tja, und die Räder sind auch blockiert«, bemerkte der Schutzmann, legte die Hände auf die Knie und beugte sich vor. »Diese Gasse befindet sich auf dem Grund und Boden der Gemeinde«, erklärte der Priester. »Niemand außer mir kann genehmigen, daß hier ein Karren abgestellt wird. Und ich habe es nicht genehmigt.« Der Schutzmann betrachtete die Siegel, nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf. »Ich kenne keine Gilde, die solche Siegel verwendet.« »Das kann man später immer noch im Verzeichnis nachschlagen. Jetzt will ich, daß dieser Karren entfernt wird.« »Ich könnte ihn abschleppen lassen, aber dazu müßte ich erst mal ein paar Männer holen.« »Die Mühe könnt Ihr Euch sparen. Ich habe hier zwei Freiwillige aus unserem Jugendverband, die bereit wären, das Ding dort wegzuziehen. Wir brauchen nur noch die amtliche Genehmigung.« »Also gut, schleppt ihn ab.« Der Priester ging, und bald kamen die beiden jungen Männer angetrabt. Der Schutzmann achtete darauf, daß sie sich nicht an der Ladung zu schaffen machten, und sie machten die Räder frei. Dann - 255 hoben sie die Deichsel und zogen daran, um den Wagen in Bewegung zu setzen. Eine dünne Schnur, die an einer Speiche befestigt war, wurde gespannt und zog an einem Haken, der einen mit einer Feder versehenen Hebel freigab. Der herumsausende Hebel schlug einen Feuerstein auf einen Schlagbolzen, und ein Funkenregen sprühte in eine Pfanne voller Schießpulver neben einem Faß. Die sich anschließende Explosion war in der ganzen Stadt zu hören. Der Priester und der Glaser hatten um die Ecke gestanden und wurden einige Meter durch die Luft geschleudert, aber nicht schwer verletzt. Die Mauer der Kapelle wurde gesprengt, und daraufhin stürzte ein Großteil des Daches ein. Die Stallungen auf der anderen Seite der Gasse wurden dem Erdboden gleichgemacht. Ruß und Splitter regneten immer noch herab, als der
Priester wieder auf die Beine kam. Ihm klangen die Ohren. Überall um ihn her lagen stöhnende und schreiende Käufer, Händler und Handwerker, die von herumfliegenden Trümmerteilen getroffen worden waren. Angesichts der Stärke der Explosion war es erstaunlich, daß es nur fünf Todesopfer zu beklagen gab. Der Schutzmann, die beiden jungen Männer ein Kirchgänger in der Kapelle und ein Stallbursche kamen ums Leben, und über sechzig weitere Menschen wurden verletzt. Es war noch keine Stunde vergangen, da beschuldigte die Synode der Liberalen Reformierten Gentheisten bereits Bürgermeister Bouros, hinter dem Anschlag zu stecken, und der örtliche Bischof hielt in der Ruine einen Gottesdienst ab und wetterte in seiner Predigt gegen Maschinen und Gerätschaften aller Art. Aus der Feme sahen zwei Händler aus einem westlicher gelegenen Stadtstaat zu. »Eine leidenschaftliche Rede, Fras Sondian«, bemerkte der größere der beiden, »aber die Beschuldigungen treffen den Falschen.« »Das macht nichts. Der Priester und der Glaser haben überlebt, und die wissen, daß der Karren vor dem Ruf heute morgen noch nicht da war. Wenn der Priester wieder in der Lage ist zu predigen, wird er mit Sicherheit über die Rufdämonen herziehen, oder wie auch immer wir hier genannt werden.« »In den Staaten des Westens haben sie keine Bezeichnung für Aviaden, Fras Sondian.« »Ah, sie werden bald eine haben, und es wird eine unfreundliche Bezeichnung sein. Wir Aviaden stehen an der Schwelle eines neuen Zeit - 256 alters, Raleion. Wir sind heute besser organisiert denn je zuvor, aber was uns noch fehlt, ist die Einheit. Und ein Krieg gegen die Menschheit wird uns diese Einheit bringen.« Denkar und Glasken unterbrachen ihr Mittagessen, als sie die Explosion hörten. Sie sahen vom Dachgarten des Wirtshauses aus zu, wie eine Rauch- und Staubwolke aufstieg. Glasken vermutete, das Pulverlager irgendeiner Miliz sei in die Luft gegangen. Jemli schickte ihnen einen Diener mit ihren Gläsern und einem weiteren Krug Met hinterher und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit im Wirtshaus. »Eine beeindruckende Frelle habt Ihr da, Fras Glasken«, bemerkte Denkar, als sie wieder in den großen Saal hinabgingen. »Ihrem Akzent nach würde ich sagen, sie stammt aus dem östlichen Hochland.« »Ja, das stimmt. Wir haben uns auf einer Zugfahrt kennengelernt. Sie ist ausgesprochen vorzeigbar und charmant, solange niemand in ihrer Gegenwart die Worte Bibliothekar oder Dichter fallen läßt. Und es ist fabelhaft, wie sie die Bücher führt.« »Sie hat etwas gegen Bibliothekare?« »Ja. Laßt besser nicht durchblicken, daß Ihr einer seid. Sie hat ein höllisches Mundwerk. Als ich diesen Laden hier gekauft habe, habe ich mir die Bücher nur flüchtig angesehen und mich dann mit dem Verkäufer zu einem Bier hingesetzt. Und ehe ich mein erstes Glas leer hatte - und ich bin kein langsamer Trinker - hatte sie im Kopf die komplette Buchhaltung aufgedröselt, dabei sechshundert Kalgoorlie-Royal an Schulden entdeckt und mehr Luftbuchungen als in einem Hurenhaus am Alte-Herren-Tag. Und was dann folgte - so was habt Ihr noch nicht gehört. Ich habe den Laden für zweitausendneunhundert gekriegt, und jetzt zahle ich ihr fünf Prozent vom Gewinn, damit sie sich um die Bücher und das Personal kümmert. Und was habt Ihr gemacht, seit Ihr nicht mehr FUNKTION 9 seid?« »Ich habe an einer neuen Art von Kalkulor gearbeitet.« Glasken schauderte. Er nahm den Krug zur Hand, und als er feststellte, daß er leer war, bestellte er zwei neue. »Ihr seid doch hoffentlich nett zu den Komponenten.« »Es kommen keine Klagen. Und in letzter Zeit hatte ich mit einer gewissen Frelle Theresia zu tun Golddrache, Edutorin an der Fakultät für Ruftheologie der Universität von Rochester, persönliche Beraterin von Hoheliber Zarvora — und ziemlich verrückt.« - 256 Glasken schien auf seinem Sitz zu schrumpfen. »Ißt sie immer noch gegrillte Mäuse auf Toast?«
»Wenn es Toast gibt. Sie hat mich eines Morgens hier im Staatspalast angesprochen. Wir tranken Kaffee in ihren Gemächern, und sie machte mir recht eindeutige Anträge. Sie ist natürlich ausgesprochen attraktiv und faszinierend.« »Natürlich.« Glasken gestattete sich ein Lächeln. »Ich habe ihr dargelegt, daß ich meine Frau, Oberbürgermeisterin Zarvora, sehr liebe, und daß es wohl kaum fair wäre, sie zu betrügen.« »Sehr edelmütig von - Potz Hölle und Großer Winter! Ihr seid der Gemahl der Oberbürgermeisterin?« rief Glasken, setzte sich ruckartig auf und vergoß dabei sein eben erst eingeschenktes Glas. »Ja, richtig. Anschließend fuhr ich in die Universität, wo ich ... diverse Dinge entwickle. Und als ich vierzehn Stunden später wieder nach Hause kam, nach Schweiß stinkend und nach verschmortem Isoliermaterial aus Bienenwachs, mit Dreck und Ruß bedeckt und halbblind von einer Migräne, empfangen mich Zarvora und Theresia. Theresia hatte Zarvora um die Erlaubnis gebeten, meine Nebenfrau werden zu dürfen. Und Zarvora hatte eingewilligt, auf ihr Recht auf Nebenmänner zu verzichten, wenn ich Theresia heiraten würde.« Glasken dachte kurz darüber nach. Der liberale Gentheismus gestattete die Polygamie, aber nur einem der beiden Eheleute. Zarvora mußte ihren Anspruch auf Vielmännerei aufgeben, damit Theresia in ihren Bund einheiraten konnte. »Soll ich fragen?« sagte Glasken mit einem Achselzucken. »Oh, ich habe eingewilligt. Fast hat es mich gewundert, daß sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, mich zu fragen. Zwei Wochen später haben wir im großen Stil geheiratet: Theresia ganz in Weiß und Zarvora und ich ganz in Gold.« »Der symbolische neue Stern am Morgenhimmel. Eine schöne Tradition.« Glasken schloß die Augen und atmete tief durch. Irgendwo schlug eine Uhr mit reinem, kühlem Klang die Stunde. »Und habt Ihr denn nun, äh ... Wurde die Ehe denn auch vollzogen?« »Ja, durchaus. Aber eins war seltsam dabei.« »Nur eins?« »Eins ganz besonders. Sie war zwar sehr geübt in den kleinen Nettig - 257 keiten und dem neckischen Geplänkel, das einer Verführung gemeinhin vorausgeht, aber dann war sie ...« »Doch noch eine ziemliche Jungfrau?« Denkar lächelte. »Ich bin bisher nur gänzlicher Jungfräulichkeit begegnet, keiner ziemlichen, Fras John, aber: Ja. Sie verhielt sich in mancher Hinsicht sehr seltsam, in anderer vollkommen zivilisiert. Und jetzt will Zarvora, daß ich in den Osten reise und sie aufsuche, um mit ihr über Angelegenheiten zu sprechen, die ich Euch gegenüber nicht offenlegen kann.« Denkar trank sein Glas aus und stellte es in einer in Kalgoorlie üblichen Abschiedsgeste auf den Kopf. »Ich habe mich über Euren Besuch wirklich gefreut«, sagte Glasken, als sie sich gemeinsam erhoben. »Ihr habt Euch verändert, seit Ihr 3084 wart«, sagte Denkar, als er Glasken die Hand schüttelte. »Danke für Eure Gastfreundschaft. Möge Euer Geschäft florieren.« »Mögen Eure Komponenten allzeit nüchtern sein.« »Apropos Komponenten: Sprecht morgen um die zehnte Stunde bei der Hoheliber im Staatspalast vor, Fras Glasken, oder Ihr werdet erleben, daß man Euch wieder in FUNKTION 3084 umbenennt.« Sie schüttelten einander die Hände, verneigten sich und gingen hinaus auf die Straße. Denkar stieg auf sein Pferd und gab seiner Eskorte das Zeichen zum Aufbruch. »Gehabt Euch wohl, Fras Glasken.« »Gehabt Euch wohl, Fras Denkar.« Wollte man behaupten, Glasken sei besorgt gewesen, als ein Lakai ihn in Zarvoras Besuchszimmer geleitete, so könnte man auch behaupten, die Gleitbahngleise verliefen parallel.
»Fras Glasken, genau der Mann, den ich sehen wollte«, sagte sie freundlich, »aber das sagen bestimmt alle Frauen zu Euch.« Ein Scherz! Aus Zarvoras Munde wirkte das fast wie ein Widerspruch in sich. Glasken rang sich ein Lächeln ab, aber der Gesichtsausdruck, der dabei herauskam, sah eher aus, als bisse er auf eine Chilischote. »Ihr habt einen Abschluß in Chemie und Erfahrungen mit dem Kalkulor von Libris. Fras Glasken, das ist eine seltene Kombination, und ich brauche im Moment genau diese Kombination. Was hieltet Ihr davon, einige Monate lang in meinem Auftrag Experimente mit Sprengstoff in - 258 Eingaben für einen Kalkulor zu übertragen? Ich könnte Euch, sagen wir mal, zwanzig Goldroyal im Monat bieten.« »Fünfundzwanzig«, krächzte Glasken in einem planlosen Versuch zu zeigen, daß er sich nicht alles gefallen ließ. »Abgemacht! Ach, und hier ist der Straferlaß dafür, daß Ihr den Rektor Eurer alten Hochschule mit einem Beutel Münzen niedergeschlagen habt. Ihr müßtet eigentlich noch 56 Jahre Eurer Strafe ableisten. Ihr besitzt nun also ein Wirtshaus und betreibt ein Einfuhruntemehmen. Das könnt Ihr jetzt in Glasken Enterprises umbenennen.« »Ich will mich häuslich niederlassen und seßhaft werden, Frelle. Ich bin in meinem Leben schon viel zuviel herumgerannt. Ich will das Gefühl haben, gebraucht zu werden.« »Das trifft sich doch, denn im Moment brauche ich Euch tatsächlich. Mich hat der Trick beeindruckt, mit dem Ihr damals aus meinem Kampfkalkulor entflohen seid. Den Kalkulor von Libris dazu zu bringen, daß er Euch freiläßt, indem Ihr die Übertragungskodes abgeändert habt, war sehr clever Aber Ihr werdet nicht versuchen, in meinen neuen Kalkulor an der Universität irgendwelche einfallsreichen Datensätze einzuspeisen, nicht wahr?« »Ich bin Euer treuer ergebener Diener«, erklärte Glasken mit einer Verbeugung. »Was ist mit Lemorel?« »Ich bin Ihr bei einem Überfall der Nimmerländer entflohen. Sie ist wahrscheinlich längst tot.« »Schade. Sie war brillant, wenn auch ein wenig verdreht, und dann?« »Dann habe ich einige Monate lang bei den Koorie-Nomaden gelebt und habe sie verlassen, als ich Baelsha erblickte. Ein grober Fehler« »Woher habt Ihr das Alspring-Gold?« »Das habe ich zufällig in der Wüste gefunden. Ich habe damit mein Wirtshaus bezahlt.« »Ich bin erstaunt. Ich hätte erwartet, daß Ihr das alles für das größte Gelage des Jahrhunderts ausgebt.« »Ich war auch durchaus versucht, Frelle Oberbürgermeisterin, aber solche Gelage haben mir in der Vergangenheit eine Menge Scherereien eingebracht. Und außerdem habe ich mich - mehr oder weniger zufällig - verliebt.« »Fras Glasken, das Gefühl kenne ich.« - 258 Denkar reiste nicht die ganze Strecke von Kalgoorlie nach Rochester sondern ließ sich in der Geisterstadt Bendigo von seinem Galeerenzug absetzen. Verkleidet als gentheistischer Pilger brach er von dort zu Fuß nach Süden auf. Die Ruftodesländer südlich von Rochester waren seit einem Jahrhundert von flüchtigen Aviaden kolonisiert worden, und weniger streng organisierte Gruppen lebten dort schon sehr viel länger Macedón war eine Stadt, in der es etwa zweitausend Aviaden gab, und war aus Altstein auf einem Berghang errichtet. Sie war umgeben von Ackerland, und ihre wichtigsten Gebäude waren die Universität und das Technologium, aber auch das Handwerkerviertel wuchs rapide. Denkar sah sich das alles mit großem Interesse an, als der stellvertretende Bürgermeister Guidolov einen Rundgang mit ihm unternahm. »Wir sind nur wenige, Fras Denkar und deshalb nutzen wir Maschinen, wo wir nur können. In diesem Haus haben wir zum Beispiel eine Dampfmaschine, die mit Alkohol und Ernterückständen befeuert und zum Mehlmahlen benutzt wird.«
Denkar sah sich in dem Gebäude um, und ihm gefiel die saubere, kompakte Effizienz der Mühle, verglichen mit der Inefftzienz der Menschen. »Habt Ihr keine Schwierigkeiten wegen der religiösen Aversion gegen Dampfkraft?« »Fras, jeder Aviade hier würde von den Menschen allein dafür getötet werden, daß er immun gegen den Ruf ist, und von daher haben wir keinerlei Respekt vor ihren Gesetzen. Wir sind jedoch eine fromme Gemeinde und halten uns an den gentheistischen Grundsatz, daß man nur so viel verbrauchen soll, wie man wieder anbauen kann, und daß alles miteinander im Gleichgewicht stehen sollte. Und in diesem Zusammenhang sind Dampfmaschinen durchaus gestattet.« »Was wird denn noch mit Dampf betrieben?« »Wasser wird auf die Felder gepumpt, in der Sägemühle wird damit Holz gesägt, und dann haben wir auch noch zwei mobile Dampfzugmaschinen, mit denen wir in der Landwirtschaft Wagen ziehen.« »Erstaunlich. Und Ihr sagt, es gibt noch mehr solcher Orte?« Der stellvertretende Bürgermeister strahlte vor Stolz. »Es gibt noch fünf weitere Siedlungen mit über tausend Einwohnern und noch zwanzig weitere mit über hundert. Wir schätzen, daß etwa zwölftausend Aviaden in den Ruftodesländem am Rande der Südostallianz leben, und unsere Forschungsreisenden weiten unseren Einfluß auf die Siedlungen weiter - 259 im Norden aus. Ich nehme an, Ihr wißt von den Forschungsreisen und Kolonien im fernen Westen.« »Ja. Die Oberbürgermeisterin hat zweihundert von Euren Leuten in den Westen gebracht, im Austausch gegen zwei Dampfmaschinen und für die Unterstützung, ihre Raketen aus dem Museum in der Geisterstadt Perth zu holen.« »Die Oberbürgermeisterin hat uns sehr geholfen. Wir haben unsere Stadtverfassung nach dem Vorbild von Libris abgeändert, und wir planen ein Signalfeuernetzwerk. Unsere große Schwäche ist, daß Aviadenkinder vom zweiten Lebensjahr an, bis sie in die Pubertät kommen, vom Ruf affiziert werden. Das bedeutet, daß wir sie entweder die ersten zwölf Lebensjahre hier dahinvegetieren lassen müssen, oder daß wir im Menschenland leben müssen, um unsere Kinder großzuziehen.« Später fuhren sie auf einem Dampftraktor an den Rand einer Geisterstadt, in der Baumaterial gefördert wurde. Ein Trupp von zehn Mann nutzte dort einen mit Dampfkraft betriebenen Kran und eine Dampframme, und sie schafften soviel wie sonst ein Trupp von hundert Männern. Sie errichten hier eine ganz neue Welt, dachte Denkar stolz. Und ich bin einer von ihnen. »Und dort drüben?« fragte er und zeigte auf die teilweise wiederhergestellte Straße nach Süden. »Da entlang geht es zum Salzwasser, zum Ozean, zur See, wie auch immer man es nennen mag. Diese Straße hier führt zur Phillip Bay und dahinter zum grenzenlosen Ozean.« Die Vorstellung eines buchstäblich grenzenlosen Gewässers erschien Denkar ebenso verwirrend wie verlockend. »Habt Ihr jemals die Rufwesen gesehen?« fragte er. Der stellvertretende Bürgermeister schüttelte beiläufig den Kopf. Das interessierte ihn offenbar nicht. »Es gibt keinen guten Aussichtspunkt, von dem aus man sich das ansehen könnte. Wir haben gesehen, wie Tiere und Menschen ins Wasser gehen und darin verschwinden. Manchmal werden ihre toten Leiber wieder angespült. Und einige Male haben wir dunkle Flossen und aufspritzendes Wasser gesehen.« »Seid Ihr jemals mit Booten hinausgefahren?« »Nun, das machen wir nicht mehr. Das hat man schon 1617 von der Geisterstadt Gambier aus versucht, und die beiden Boote verschwanden einfach nur in einem Wirbel aus Gischt. Später wurden zerschmetterte Planken mit den Bißspuren riesiger Zähne angeschwemmt. Fünfzehn - 259 unserer besten Edutoren und Krieger ließen an diesem Tag ihr Leben, und wir waren immer zu wenige, um derart Leben zu vergeuden. Ein Aviade lebt allerdings gegenwärtig am Ufer der Phillip Bay.« »Das ist nicht zufällig eine recht seltsame Frau namens Theresia -meine Nebengemahlin?«
»Ja, und sie hat natürlich Eure Genototem-Freigabe von dem gentheistischen Bischof Pandoral wie auch von der Hoheliber persönlich gegenzeichnen lassen.« »Genototem-Freigabe? Was - ach egal. Wann kann man mich zu ihr bringen?« »Verzeiht bitte, Fras, aber ich kann im Moment niemanden entbehren. Ihr müßt Euch eine Woche gedulden.« »Eine Woche! Dann finde ich auch alleine hin.« »Das ist nicht möglich, Fras. Es gibt zu wenige von uns Aviaden. Wir können nicht zulassen, daß auf einer Reise ganz allein durch das Ruftodesland auch nur ein einziges Leben aufs Spiel gesetzt wird.« »Aber Theresia -« »Theresia ist anders. Ihr seid ein begabter Mathematiker, Ihr müßt beschützt werden.« Sie kehrten in die Stadt zurück, und den Wachen sagte man, Denkar dürfe die Stadtmauern nicht verlassen. Davon abgesehen war er ein freier Mann. Er sah sich die Stadt an. Die Architektur machte nicht viel her, von einem Hörsaal an der Universität abgesehen, in dem tausend Menschen Platz fanden. Die Häuser waren eine Mischung aus Terrassen mit Pergolen, schicken Bungalows und funktionalistischen Ferien-Cottages. Im Stadtzentrum, am Rande der Universität, gab es einen kleinen Platz, dem Eukalyptusbäume Schatten spendeten. Im Halbschatten von Segeltuchmarkisen gab es dort einige Cafés. Wie absurd es war, daß es hier, mitten in einem Ruftodesland, Straßencafes gab, die Kaffee und Kümmelkuchen anboten, entging Denkar nicht. Studentenpärchen schlenderten händchenhaltend im schwachen Wintersonnenschein vorüber oder saßen an den Tischen und sahen einander tief in die Augen, ihre Tassen und Teller vergessen. An einem anderen Tisch saßen drei Jugendliche, zeigten erst auf das undeutlich erkennbare Band der Spiegelsonne am Himmel und dann auf ein Schaubild, das einer von ihnen mit Kreide auf eine hölzerne Tischplatte gezeichnet hatte. Es war hier fast wie in Rochester oder Oldenberg. Denkar bestellte sich unter der Markise einer kleinen Schenke ein - 260 Glas Bier, und ihm fiel auf, daß hier mit der Währung Rochesters bezahlt wurde. Bald war er von neugierigen Edutoren und Studenten umringt. Schließlich hatte er im Kalkulor von Libris gearbeitet. An der Universität wurde auch ein primitiver Kalkulor betrieben, der aber nur sechzig Komponenten hatte und zweimal die Woche jeweils fünf Stunden lang lief. Er brachte es nicht übers Herz, ihnen von der neuen Maschine in Kalgoorlie zu erzählen. Der leitende Edutor für Physik nahm ihn mit in die Universität und zeigte ihm einen Faradaykäfig, dessen Grundfläche zehn mal zehn Meter maß und in dem ein Elektrokraftlabor untergebracht war. Denkar erkannte einen Funkensender, eine einfachere Variante des Geräts in Kalgoorlie. Nachdem er den ganzen Nachmittag lang über Kalkulortheorie und Architektur ausgefragt worden war, ging Denkar zu dem bescheidenen Haus aus Altstein, in dem Guidolov mit seiner Frau Nayene und ihren Kindern lebte. Bei all seiner Frustration darüber daß er hier festgehalten wurde, ging es ihm nach dem Essen schon viel besser. Es gab Emusteaks in Orangensauce auf einem Bett aus Reis und Nüssen, und mitten auf dem Tisch stand eine große Schale Rochester-Salat. Die beiden halbwüchsigen Töchter waren gut erzogen, gebildet und freundlich. Sie waren in einer Villa in der Nähe von Oldenberg aufgewachsen, in der die übrigen drei Töchter der Familie immer noch lebten. Die beiden Mädchen kicherten und stupsten einander beinahe unablässig an, und ihre Eltern runzelten darob entweder die Stirn oder versuchten es zu ignorieren. Nayene war von schon etwas matronenhafter Gestalt und trug ein tief ausgeschnittenes nordmaurisches Kleid von einem Schnitt, der in Kalgoorlie gerade groß in Mode war. »Aus Kalgoorlie eingeführt, Frelle?« fragte Denkar. »Reizend von Euch, Fras, aber: Nein. Das Muster wurde als numerische Zeichenfolge per Signalfeuer übertragen. Ich mußte dann nur noch den passenden Stoff dafür aussuchen und es für meine Maße anpassen.« »Wie von Meisterhand geschneidert, Frelle«, erwiderte der erschöpfte Denkar freundlich, aber doch eher beiläufig.
»Nun denn, Fras, Ihr hegt keine dummen Skrupel, was die Genototem-Gastfreundschaft angeht?« fragte Guidolov leutselig. Die beiden Mädchen kicherten. »Fras stellvertretender Bürgermeister, ich finde Eure Gastfreundschaft ganz großartig.« »Ausgezeichnet! Dann kommt jetzt, junge Frelles, husch husch auf - 261 eure Zimmer und Hausarbeiten gemacht! Wenn Ihr uns dann entschuldigt ...« Nayene nahm Denkar beim Arm und führte ihn vom Tisch auf sein Zimmer. Es war ein großzügig bemessener Raum, geschmackvoll eingerichtet und mit einem Doppelbett in der Mitte. Als Denkar sich umdrehte, sah er, daß Nayene ihre Kleider abgeworfen hatte und mit weiter nichts als ihren Ziegenlederstiefeletten bekleidet vor ihm stand. Denkar stockte der Atem, und als er einen Schritt zurücktrat, fiel er aufs Bett. Nayene folgte ihm eifrig, hockte sich sofort auf ihn und preßte ihn auf die weiche Decke. »Seht mal. Eure Genototem-Freigabe haben wir übers Bett gehängt, und sie wurde von Bischof Pandoral höchstpersönlich geprüft«, sagte sie munter. »In solch intimen und heiklen Angelegenheiten gestatten wir keine Unanständigkeiten, Fras Denkar. Wir sind eine sehr fromme Gemeinde.« Mit einem Mal ging Denkar auf, was genau sich hinter dem Begriff »Genototem-Gastfreundschaft« verbarg. Er breitete fassungslos die Arme aus. Nayene nahm es als einladende Geste. Sie umarmte und drückte ihn und begann, sein Gewand, seine Hose und seinen Hosenbeutel aufzuschnüren. Sie seufzte, den Kopf an seine Brust gelehnt. »Fünf Töchter, Fras Denkar, doch kein einziger Sohn. Aber ich setze große Hoffnungen in Euch. Eure Genototem-Spur ist sehr vielversprechend.« Es war nur logisch, das wurde ihm klar, als sie es sich in der kühlen, duftenden Wäsche auf dem großen Bett bequem machten. Eine kleine Population, die alles mögliche versuchte, um zu wachsen, dabei aber stets den Gefahren der Inzucht ausgesetzt war. Daher dieses System der systematischen Mischung von Blutlinien, diese »Genototem-Gastfreundschaft.« Wenn doch Glasken bloß ein Aviade wäre, dachte er. Lemorels Strategie zur Eroberung der Stadt Alspring entsprach maßgerecht den dortigen Bedingungen. Die Stadt hatte sich vollkommen abgeriegelt, große Vorratslager angelegt und ließ sich von bestens ausgebildeten Kriegern bewachen, die mit den besten Waffen ausgestattet waren. Einerseits überrollte Lemorel alles, was ihr in den Weg kam, andererseits aber war sie ausgesprochen verwundbar. Die Zeit arbeitete nicht für sie, und außer Eroberungen hatte sie ihrem Gefolge wenig zu bieten. Wenn sie aufhörte zu erobern, setzte womöglich die Ernüchterung ein. - 261 Wie es ihre Art war, hatte sie strategisch geplant. Ein Jahr zuvor hatte sie den Ankauf von fünf Bombarden aus Inglewood in die Wege geleitet, einem so fernen Staatswesen, daß keiner ihrer Gefolgsleute es auch nur dem Namen nach kannte. Die Geschützrohre wurden in als Kaffeelieferung deklarierten Kisten zur Bahnstation Maralinga spediert, und von dort brachte man sie mit Kamelgespannen quer durch die Wüste zu einer Festung und montierte sie auf entsprechende Lafetten. Mit der Hilfe von Handwerkern aus unterschiedlichen Städten, darunter auch aus Alspring, hatte sich Lemorel einen großen Vorrat an präzis geschmiedeten Bombardenkugeln gesichert, doch bisher hatte man mit den Bombarden nur Probeschüsse abgefeuert. Die anderen Städte hatten ihre Heere ausgesandt, um sie zu stellen, denn ihre Streitkräfte wirkten immer schwächer als sie waren. Daher waren diese Hochleistungs-Bombarden nie von großem Vorteil gewesen. Bis jetzt. Es genügte nicht, Alspring zu belagern; sie mußte auch die Gegenwehr schnell brechen. Die Mauern waren viel massiver und besser verteidigt als die jeder anderen Stadt der Ghaner. Sie waren an zahlreichen Stellen mit Bombarden versehen, die mit einem Hagel von Kartätschen jede gegnerische Infanterie und Kavallerie in Stücke reißen konnten. Im Kampf gegen Alspring waren schon zahlreiche Eroberer gescheitert. Lemorel mußte die Stadt einnehmen, oder der Nimbus, der sie in den Augen der Nimmerländer Nomaden umgab, würde wieder verblassen.
Die erste Salve traf die Verteidigung der Stadt wie aus heiterem Himmel. Sie wurde aus der doppelten Reichweite ihrer Bombarden abgefeuert und schlug inmitten der roten und goldenen Kuppeln und Türme des Palastes ein. Dann folgte alle zwei Minuten ein weiterer Schuß, der mit mathematischer Präzision traf. Einzig der Palast und ein Abschnitt der Mauer wurden unter Beschuß genommen, und das Bombardement wurde die ganze Nacht hindurch fortgesetzt. Bald lag der Palast in Trümmern und war die berühmte, schachbrettartig gemusterte Stadtmauer an der Südwestseite arg ramponiert. Als es den Verteidigern immer schwerer fiel, ihre Bombarden an der Südwestmauer zu besetzen, rückten die Nimmerländer mit herkömmlichen Bombarden vor und beschossen die Mauer aus nächster Nähe. Der Blutzoll bei den Bombardieren beider Seiten war beträchtlich, doch allmählich sank die Mauer unter dem Dauerbeschuß in sich zusammen. In der Stadt ging die Nachricht um. Kommandantin Lemorel sei nur an dem Großmakulad interessiert und verschone stets das einfache Volk, wenn - 262 sie eine Stadt eroberte. Das war das genaue Gegenteil der Gerüchte, die ihre Spione in Glenellen gestreut hatten, aber diesmal ging es schließlich auch um eine tatsächliche Belagerung. Der Beweis waren die zerschmetterten Türme und Kuppeln des Palastes und die unversehrten Tempel, Häuser und Geschäfte ringsum. In der Feme tauchte Belagerungsgerät auf, aber der Boden vor den Mauern war mit Gräben durchzogen, vermint und mit Hindernissen übersät. Die gesamten Verteidigungskräfte wurden auf den in sich zusammensinkenden Teil der Mauer konzentriert und sollten sich dort auf den erwarteten Angriff vorbereiten. »Wir werden sie in die Stadt locken wie eine Maus in das Maul einer Katze!« zeterte der wütende Großmakulad von Alspring vor seinem Ältestenrat, dem Generalstab und anderen Beratern. »Sie hat meinen Palast zertrümmert, meine Schätze zerschlagen. Ich will sie am Pranger sehen, nackt, und über sie soll sich ein Katerakt aus Schweinegülle ergießen. Wir werden sie im Straßenkampf stellen, sie in den Ruinen niedermachen, bis ihr Heer ausgeblutet ist, und dann werden die Elite-Lanzenreiter meiner Palastwache hinausstürmen und sich die Feiglinge vorknöpfen, die sich nicht hineingewagt haben.« Es war eine kämpferische Ansprache, aber dennoch gingen die Zuhörer in kleinen, eifrig diskutierenden Gruppen auseinander. Kommandantin Lemorel erwies sich gnädig, wenn eine Stadt angesichts ihrer Übermacht kapitulierte. Und Kommandantin Lemorel beging bei sinnlosem Widerstand unsagbare Grausamkeiten. Ein Schuß hallte in den mit Trümmern übersäten Korridoren und Sälen des Palastes wider. Jemand kreischte unartikuliert. Dann bellte ein zweiter Schuß. »Musketen!« rief der Befehlshaber der Artillerie. Er eilte mit seinem Adjutanten in den Thronsaal des Großmakulads und fand den Monarchen vor seinem Thron liegend erschossen vor. In der Nähe lag der Befehlshaber der Lanzenreiter des Palasts, ebenfalls erschossen, und neben ihm lagen zwei Steinschloßpistolen. In der Schärpe um seine Taille steckte eine Schriftrolle. Der Befehlshaber der Artillerie las vor, was darin stand: »Kommandantin Lemorel will einzig und allein den Tod des Großmakulads. Im Namen der Gottheit gebe ich ihn ihr und dazu meinen, um die Frauen und Kinder von Alspring zu schützen.« Mittlerweile waren weitere Generäle, Älteste und Berater hereingeströmt, auch die Wachen des Thronsaals. - 262 »Wo zum Teufel wart Ihr und Eure Männer?« fragte der Befehlshaber der Artillerie den wachhabenden Offizier. »Uns wurde befohlen, den Saal zu verlassen«, antwortete der Mann mit monotoner Stimme. »Befohlen? Wer hat das befohlen?« »Der Befehlshaber der Lanzenreiter.« »Aber Ihr untersteht einzig und allein dem Großmakulad.« »Der gab seine Einwilligung, Sir«
»Seine Einwilligung. Aha. Und dann habt Ihr den Großmakulad mit einem Mann alleingelassen, der mit zwei geladenen Pistolen bewaffnet war?« »Die Pistolen waren das Sinnbild dafür, daß er den Großmakulad beschützte, Sir« »Soso. Aha. Als ranghöchster Offizier fungiere ich ab jetzt als Großinterirn. Oberst Dahn, Ihr befehligt die Lanzenreiter der Palastwache. Ihr bleibt bei mir Alle anderen verlassen den Saal!« Als sie gegangen waren, wies der Großinterim mit der Stiefelspitze auf den Lauf einer der auf dem Boden liegenden Pistolen. »Was klebt da?« fragte er. »Eine weiße Daune, Sir« »Eben. Glaubt Ihr er hatte die Waffe zuvor einem Hühnchen in den Hintern gesteckt und vergessen, sie zu putzen, oder könnte jemand damit in ein Daunenkissen geschossen haben, um den Knall zu dämpfen?« »Sir?« »Seht mal da, ein schartiges, großes Loch in seiner Stirn, und den Hinterkopf hat es ihm weggerissen, aber dennoch hat er keinerlei Schmauchspuren im Gesicht. Hätte er sich aus so geringer Entfernung überhaupt erschießen können?« Ein Schuß der Artillerie der Nimmerländer zischte in der Feme vorüber und schlug mit gedämpftem Knall ein, gefolgt von herabpolterndem schwerem Mauerwerk. »Eine Verschwörung, Sir?« »Höchstwahrscheinlich. Ich vermute, daß irgendwo hier in der Nähe gerade ein Kissen verbrannt wird und zwei Wachen hektisch ihre Musketen nachladen. Es sind vier Schüsse gefallen, Dahn, aber diese beiden Steinschloßpistolen hier wurden in ein Kissen abgefeuert, als der General und der Großmakulad bereits tot waren. Und mir war auch, als hätte ich Musketen gehört, keine Pistolen.« - 263 Der Großinterim ging zu den Fensterläden und öffnete sie. Die Stadt außerhalb des Palasts war unversehrt. Plötzlich pfiff eine Bombardenkugel vorüber, die beiden schreckten zurück und warfen sich auf den Teppich, und dann schlug sie ganz in der Nähe ein. »Die Verschwörer hatten recht, Dahn«, sagte der Großinterim, »wie auch immer man ihre Tat moralisch bewerten mag. Laßt die ockerfarbenen und weißen Fahnen hissen, zum Zeichen eines Waffenstillstands, und stellt dann eine Abordnung zusammen, die sich mit Kommandantin Lemorel treffen wird. Ihr werdet sie anführen, und Ihr werdet die Stadt in meinem Namen an sie übergeben.« »Ich, Sir? Ein einfacher Oberst? Wird Kommandantin Lemorel nicht beleidigt sein, wenn jemand Geringeres als Ihr die Abordnung anfuhrt?« »Ich will hierbleiben und dafür sorgen, daß nicht irgendein Hitzkopf die Befehlsgewalt an sich reißt und die Belagerung weitergeht. Wenn Kommandantin Lemorel beleidigt sein sollte, biete ich zur Wiedergutmachung mein Leben an. Im Gegensatz zu einigen Heuchlern hier im Palast bin ich durchaus bereit, mein Leben für den Schutz der Unschuldigen in dieser Stadt einzusetzen. Kümmert Euch darum.« »Jawohl, Sir.« Der Großinterim wandte sich um und sah aus dem Fenster hinaus auf die Stadt. »Ach, Dahn!« »Sir?« »Falls es Euch gelingen sollte, die nächsten Stunden zu überleben, werdet Ihr für den Offizier und die sechs Männer der Palastwache einen tragischen Unfalltod arrangieren.« »Ist schon so gut wie erledigt, Sir.« Denkars Flucht aus Macedón nahm gut fünfundzwanzig Kilometer außerhalb der Mauern eine unschöne Wendung. Er hatte den Waran für einen liegenden Baumstamm gehalten, bis dieser ihn dann aus einer eingestürzten und überwucherten Ruine heraus angriff. Reflexartig, vor allem aber aus Panik feuerte er beide Läufe seiner Morelac Kaliber 50 auf das Maul des Tieres ab, und eine der Bleikugeln durchschlug das Hirn des Warans. Anschließend zog er sich in offenes Gelände zurück
und legte sich seine improvisierte Lanze über die Knie, während er sich hinsetzte, um seine Pistole nachzuladen. - 264 Er wollte eben weitergehen, als Theresia wie ein Geist aus dem Strauchwerk am Rande der Lichtung trat. Sie schnappte nach Luft und sah ihn eindringlich an. Trotz ihrer Buschjacke aus Emuleder und ihren Schnürstiefeln sah sie immer noch anmutig und wohlgeformt aus. »Denkar du bist ja allein«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton. »Warum hat der Bürgermeister von Macedón zugelassen, daß du ohne Eskorte herkommst?« »Wie wäre es erst mal mit >Schön, dich zu sehen, mein Gemahl ?« entgegnete er Sie blieb ein paar Schritte vor ihm stehen und sah ihn an, die Hände auf den Hüften. »Betrachte es als gesagt«, entgegnete sie ungeduldig. »Warum haben sie gestattet, daß du alleine herkommst?« Denkar blieb sitzen. Er war etwas verärgert über den barschen Empfang. »Das haben sie gar nicht. Ich sollte eine Woche lang warten, und währenddessen wollten sie einige Männer loseisen, die gerade einen Bewässerungskanal gruben, doch bald wurde aus einer Woche zwei. Und die Edutoren wollten mich währenddessen unbedingt in die Entwicklung ihres Kalkulors einbeziehen, und was meine Schlafgelegenheit angeht...« »Ach ja, man war sicherlich - sehr gastfreundlich zu dir Zarvora und ich waren der Meinung, daß du schon genug Dinge zu bedenken hast, auch ohne daß du dir Gedanken darüber machen müßtest, wie man dich in Macedón empfangen würde.« »Sehr rücksichtsvoll von euch.« Jemand hatte Anfang des 21. Jahrhunderts ein sehr solides Wohnhaus errichtet und für das Dach sogar Stahlstreben und miteinander verzahnte Terrakottaziegel verwendet. Auch nach zweitausend Jahren bot es immer noch sicheren Unterschlupf und einen weiten Ausblick, und Theresia hatte das Innere von Kletterpflanzen und Nestern befreit. Angesichts ihres üblichen Betragens in menschlicher Gesellschaft war Denkar erstaunt, wie sauber und ordentlich es hier war. »Mit der Zeit sammelt sich Ungeziefer an«, erklärte sie. »Einmal im Monat versiegele ich Türen und Fenster und brenne im Erdgeschoß mit den Zweigen bestimmter Bäume und Sträucher ein Feuer ab. Und ich stelle öfter mal mein Bett an eine andere Stelle. Ich lebe in meinem eigenen Haus wie ein Nomade.« Er sah sich anerkennend um. Daß die Linien, die Raum- und Licht- 264 Verhältnisse mit Bedacht gewählt waren, war auch nach zwei Jahrtausenden noch erkennbar. »Ein gefälliges Haus.« »Ein Haus aus Gier erbaut, mein lieber Gemahl. Hier wohnten nur vier Menschen. Und dabei bietet es Platz für dreißig.« »Dreißig! Vier Menschen brauchte man doch alleine schon für den Haushalt.« »Nein, dafür hatten sie Maschinen. Hier liegen überwucherte Rosthaufen, die früher Fahrzeuge waren, es gibt eine gekachelte Zisterne, die offenbar als Schwimmbecken diente, und hinterm Haus liegt etwas, das vielleicht sogar eine Flugmaschine war. Das Gebäude, in dem sie untergebracht war, ist eingestürzt und mit Brombeerranken überwuchert.« Sie ging zu dem breiten Fenster und posierte stolz vor dem Panorama. »Hier in der Nähe gibt es Tausende solcher Wohnhäuser, und weitere liegen unter Wasser.« Auf einem Balkon mit Blick auf die Bucht aßen sie ein Mahl aus Nüssen, Rosinen und Wildorangen. Theresia berichtete von ihren Erkundungen und Forschungen. Sie schätzte, daß in der Geisterstadt Melbourne früher einmal drei Millionen Menschen gelebt hatten. »Das scheint mir unrealistisch«, sagte Denkar und rieb sich die Schläfen. »Keine Stadt könnte auf einer so geringen Fläche so viele Menschen beherbergen. Man müßte hier doch überall die Reste von Gleitbahnen und Signalfeuertürmen sehen.« Eine Dolchzahnkatze sprang ihm auf den Schoß und begann zu schnurren. Theresia ließ sich auf den Teppichen und Kissen neben ihm nieder und hielt einen kompliziert aussehenden Rostklumpen hoch, der ungefähr so groß war wie ihre Hand.
»Bedenke bitte, daß sie Elektrokraftgeräte nutzen konnten, wie das hier womöglich eines war, und daß sie persönliche Kutschen besaßen, die mit Dampfmaschinen angetrieben wurden.« »Drei Millionen Menschen mit eigenen Dampftraktoren!« stieß er spöttisch hervor. »Ja, und diese Stadt war keine Ausnahme. Es ist nicht groß verwunderlich, daß in so vielen Büchern, die auf uns gekommen sind, davon die Rede ist, daß die Luft mit Abgasen verpestet war. Es gibt allerdings nichts, was daraufhindeuten würde, daß es hier früher einmal Bücher gegeben hat. Keine Bücherregale in den Häusern, keine Nachbarschaftsbüchereien, nur eine einzige große Bibliothek in der Innenstadt. Ich habe dort - 265 nachgesehen, aber die Bücher, die zweitausend Jahre lang dem Schimmel, den Insekten, den Mäusen und Ratten getrotzt haben, wurden bereits von anderen Aviaden fortgeschafft. Es scheint auch mehr ein Buchmuseum gewesen zu sein als eine Arbeitsbibliothek, wie wir sie kennen. Ich weiß nicht, was ich von dieser Stadt halten soll, Denkar: Eine riesige, fortschrittliche Gesellschaft, und dabei so ungebildet.« »Nicht ganz so ungebildet wie du vielleicht denkst.« »Wie das?« fragte sie, legte ihm einen Arm über die Brust und lehnte sich an ihn. Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar, während er sich bemühte, komplexe Gedankengänge in einfache Worte zu fassen. »Ich habe mit dem Elektrokraftkalkulor, den Zarvora und Bouros in Kalgoorlie erbaut haben, einige Experimente durchgeführt. Ich nahm tausend Worte aus einem Liebesroman und speiste sie in das ein, was ich flüchtigen Speicher genannt habe, und sie werden darin als Stellung von Schaltern gespeichert, die von elektromagnetisch betriebenen Relais geöffnet und geschlossen werden. So konnte ich den gesamten Text auf der Anzeige lesen.« »Auf Lochstreifen?« »Nein, ich habe eine Reihe von hundert dünnen Walzen konstruiert, die auf einer gemeinsamen Achse sitzen, und der Rand der Walzen ist mit den Buchstaben des Alphabets, den Zahlen und Interpunktionszeichen beschriftet. Sie werden von Zahnrädern gedreht, die mit dem Kalkulor verbunden sind, und stellen in einem Rahmen eine Zeile Text dar, genau wie eine Textzeile in einem Buch oder einer Schriftrolle. Ich konnte meine tausend Worte Text dort fehlerlos ablesen. Als nächstes versuchte ich, einige Worte zu verschieben, wie die Lettern in einer Druckerpresse, und auch das funktionierte problemlos.« »Das ist aber eine kostspielige Methode, um eine Seite Text zu speichern.« »Sicher aber wenn man hundert Jahre Entwicklungsarbeit hineinsteckt, kann man solche Geräte vielleicht so weit verkleinern, daß sie in ein normales Zimmer passen und zahllose Bücher speichern können. Als ich aber die Elektrokraftverbindung zum Kalkulor unterbrach, wurden die Schalter alle wieder auf Null zurückgesetzt, und meine Seite Text war verschwunden. Denk mal darüber nach.« Denkar hob die Dolchzahnkatze behutsam von seinem Schoß und setzte sich auf, um sich noch etwas von dem sämigen, aber wohlschmek - 265 kenden Tee einzuschenken, den Theresia aus regionalen Kräutern zubereitet hatte. Die Teekanne aus Keramik mit den dazu passenden Tassen war eine anglaische Antiquität von unschätzbarem Wert, die sie irgendwo gefunden hatte. Denkar pochte immer noch der Kopf, weil er seit über einem Tag keinen Kaffee getrunken hatte, und er versuchte es mit einer südmaurischen Atemtechnik, die ihm Ettenbar, der neue Systemsteuerer des großen Kalkulors von Kalgoorlie, beigebracht hatte. Am Nachmittag zogen Wolken auf, und in der leichten Brise kabbelte das Wasser der Bucht. Theresia dachte hin und her und nippte schweigend von ihrem Tee. »Du willst damit also sagen, daß die anglaischen Verleger ihre Bücher in Elektrokraftkalkuloren gespeichert haben«, sagte sie schließlich. »Und als die Elektrokraftversorgung zusammenbrach, waren die Bücher alle verloren.« »Da steckt noch mehr dahinter, aber -«
»Eine dumme Idee. Selbst ihre Ingenieure müssen doch so demütig gewesen sein einzusehen, daß auch die besten Maschinen einmal versagen. Aber dennoch ... ich habe eine Menge dumme Ingenieure kennengelernt, seit ich aus den Städten von Alspring hierher in den Süden kam — Anwesende natürlich ausgenommen. Das würde erklären, warum es auch schon vor dem Großen Winter nur noch wenige Bücher gab. Zarvora hat mir von einer Legende erzählt, die berichtet, daß man in der Geisterstadt Canberra eine große Bibliothek tatsächlich leergeräumt hat, um die Bücher als Brennmaterial zu verwenden.« Denkar legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Wie ich gerade zu sagen versuchte, glaube ich, daß da noch mehr dahintersteckt. Bei einem anderen Experiment habe ich meine tausend Worte magnetisch gespeicherten Text auf Lochstreifen übertragen.« »Sinnlos. Einen Lochstreifen kann man auch ohne Kalkulor lesen.« »Ja, aber der Kalkulor kann den Lochstreifen ebenfalls lesen und kann den Inhalt in viel besser lesbarer Form darstellen. Stell dir doch bloß mal eine große Bibliothek aus Lochstreifenrollen vor, an die hundert Kalkuloren angeschlossen wären. Wenn diese Kalkulore über Drähte mit Häusern wie diesem hier verbunden wären, könnten die Leute hier aus der Bibliothek lesen, was sie nur wollten, und müßten dazu kein Buch aufschlagen und nicht einmal vor die Tür gehen.« Theresia war beeindruckt von der Idee. »Umständlich ... aber es klingt schlüssig.« - 266 »Ja, bis zu den anarchischen Kriegen des Großen Winters. Da haben einige Staaten vermutlich diese Wandersterne gebaut, um die Elektrokraftbibliotheken ihrer Rivalen lahmzulegen.« »Dann beruhten ihre Regierungen also auch auf Bibliotheken, genau wie unsere heutigen?« »Zweifellos. Und als die Kalkuloren ausfielen, waren die Bücher und Dokumente direkt von den Lochstreifen nur noch sehr schwierig abzulesen. Chaos und Anarchie folgten. Ohne Bücher gerieten ihre wissenschaftlichen Kenntnisse in Vergessenheit. Da müssen auch noch andere Faktoren mit im Spiel gewesen sein, aber das würde das auffällige Fehlen von Büchern erklären.« »Aber was ist mit der religiösen Ächtung der Dampfmaschinen?« »Stell dir doch nur mal vor, was drei Millionen Dampfwagen in einer Stadt wie dieser hier für eine Hitze erzeugt haben müssen. Vielleicht haben die Dampfwagen auf der ganzen Welt die Luft erwärmt und verpestet. Ich hoffe, das stimmt nicht, denn ich habe eine Schwäche für Maschinen.« Einige Zeit später ging die Sonne unter, inmitten von Wolkenschlieren und mit einem Streifen des Spiegelsonnenbandes über ihrer Scheibe. Da lagen Theresia und Denkar bereits eng umschlungen unter einer Bettdecke. Am nächsten Morgen führte Theresia ihren Besucher an den neuen Küstenstreifen, wo ein steter kalter Wind große Wellen an ein Durcheinander aus Sand, Trümmern und Ruinen warf. Sie nahmen ein kleines Fernrohr mit. »Hüte dich vor möglichen Verstecken wie den Mauern da links«, riet sie ihm. »Große, amphibische Fleischfresser von den Alten Seelöwen genannt, unterhalten dort so etwas wie eine Patrouille. Sie sind schwerfällig, aber sehr kräftig, und die Cetezoiden-Rufwesen halten sie gewissermaßen als Wachhunde.« Denkar spähte durch das Fernglas hinaus auf die See. »Ich sehe hin und wieder einen dunklen, geschmeidigen Körper auftauchen und manchmal einen Wasserstrahl.« »Das sind die Delphine, diese Bucht ist ihr Revier. Sie erzeugen das, was man als Rochester-Südruf bezeichnet. Sie sympathisieren ein wenig mit uns Landlebewesen und können die Seelöwen nicht ausstehen.« - 266 »Sie locken Tausende in den Tod, sympathisieren aber ein wenig mit uns?« »Sei nicht undankbar, Denkar. Sie lassen den Ruf ganz bewußt nur bis Elmore reichen und nicht weiter nördlich. Deshalb erreicht er Rochester und Oldenberg nie.« Er sah sich verblüfft zu ihr um. »Himmel Herrgott - das größte Rätsel zweier Jahrtausende, und du wirfst es mir so beiläufig hin wie einem Hund einen Knochen?« »Deine Erklärung dafür, warum es schon vor dem Großen Winter kaum noch Bücher gab, erschien mir nicht minder wundersam, mein kluger und einfallsreicher Geliebter.«
»Dann kommunizierst du also mit diesen, äh, Delphinen.« »Ich habe es gelernt, ja. Man braucht dazu eine ausgesprochen unmenschliche Grundeinstellung, aber ... jemand wie ich kriegt das hin.« Sie bleckte die Zähne und schnappte nach ihm, aber er zuckte nicht einmal zurück. »Ich habe auch die Delphine studiert, die in der Nähe der Geisterstadt Perth leben, und dort ist es genauso. Sie werden von anderen, größeren Wesen gezwungen, den Ruf auszusenden. Diese werden als Cetezoiden bezeichnet, und sie tauchten ungefähr zur Zeit des Großen Winters in den Ozeanen auf. Die Delphine werden von ihnen wie Pächterhirten oder Kleinbauern behandelt, und meinen Delphinen hier in der Bucht ist das sehr zuwider. Am Rande der Nullarborebene senden die Cetezoiden selbst den Ruf aus. Es ist ein ganz besonderer Ort, an dem sie auch ihren Nachwuchs zur Welt bringen.« »Und was halten die Delphine hier in der Bucht von uns Aviaden?« »Sie sind fasziniert und wollen mehr über uns erfahren. Ich verhandele gerade mit ihnen über die Bildung einer Nullzone in Macedón, damit die Aviadenkinder dort großgezogen werden können und nicht den Gefahren durch Menschenkontakt ausgesetzt sind. Siehst du den großen Brocken in dem Seetang da drüben? Paß auf.« Theresia gab eine Reihe fauchender Zischlaute von sich, und Denkar meinte etwas durchs Gebüsch huschen zu hören. Dann tauchte eine gescheckte Katze auf und pirschte sich an die dunkle Gestalt im Seetang heran. Die Katze sprang und schlug ihre Fangzähne in den Specknacken des Seelöwen. Er brüllte, und es klang eher empört als schmerzhaft, und als sich der Seelöwe aufrichtete, sprang die Katze davon. Mit einem bärbeißigen Blick auf die beiden Aviaden machte er kehrt und robbte in Richtung Wasser. - 267 »Er hat uns aufgelauert«, erklärte Theresia. »Und die Katzen gehorchen dir?« »Nun ja ... Ich bin ihre Anführerin, könnte man sagen.« Sie gingen zum Ufer. Denkar streckte eine Hand ins Wasser leckte daran und schmeckte das Salz. Er zitterte in der steifen Brise. »Treffen wir jetzt deine Delphine?« »Heute nicht. Sie lassen sich durch neue Geräusche, Gerüche und Geschmäcke leicht verwirren und verängstigen. Ihre Sprache besteht ganz aus Klickgeräuschen, Pfiffen, Berührungen und Körperhaltungen. Die Cetezoiden nutzen andere Mittel der Verständigung. Ich habe noch weitere Methoden entwickelt, den Ruf zu studieren und ihre Gedanken zu belauschen. Sie sprechen per Gedankenaustausch miteinander, und deshalb nutzen wir hier die ältere Delphinsprache: So können wir nicht abgehört werden. Und die Cetezoiden haben etwas gegen Verbrüderung.« »Cetezoiden. Wo kommt denn dieses Wort her?« »Es ist etwas, das ich bei meinem ersten Versuch, sie zu belauschen, an dem Kliff in der Nullarborebene gelernt habe. So bezeichnen sie sich selbst, aber es ist offenbar auch ein altes Menschenwort.« - 267 13 CHAOS nls Glasken den Kontrollraum des Kalkulors von Kalgoorlie betrat, erlebte er zwei Überraschungen. Erstens war der Raum weiter nichts als ein mittelgroßes Zimmer das vollgestopft war mit den vertrauten Cembalo-Tastaturen, einigen Lochstreifenstanzen als Ausgabegeräten und einer Wand voller Zahnradregister. Nur ein halbes Dutzend Mitarbeiter hatten Dienst, plauderten und tranken den bitteren Kaffee der Region, den sie mit Banksiahonig süßten. Die zweite Überraschung war der Systemsteuerer. »Fras - äh, Fras ... FUNKTION 795«, stammelte Glasken noch in der Tür »Nein, 797 wart Ihr.« Der Systemsteuerer verließ seinen Arbeitsplatz und kam herüber, um ihn zu begrüßen. »Oh, Fras FUNKTION 3084, es ist eine große Freude, Euch hier wiederzusehen, und gelobt sei Allah dafür daß Euer Leben all die Jahre verschont geblieben ist. Aber Euer Name: Ihr seid jetzt Fras John Balmak Glasken, die Oberbürgermeisterin hat mich in einer persönlichen Nachricht von Eurem Kommen unterrichtet.« »Ja, aber FUNKTION - nein, wie ist denn bitte Euer richtiger Name?«
»Ettenbar Alroymeril, guter Fras. Nur Ettenbar für meine Freunde. Ha-ha, Fras Glasken, ich habe die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, daß ich Euch eines Tages zum Islam bekehren werde, oder habt Ihr das schon vergessen?« Glasken dachte an seine Jahre in Baelsha und erschauderte bei dem Gedanken an eine Zukunft ohne Alkohol. »Nun, das dürfte schwieriger geworden sein. Ich habe die letzten fünf Jahre als Novize in einem streng christlichen Kloster gelebt.« »Fras Glasken! Ihr?« »Eigentlich Bruder Glasken, aber unter Freunden ist Fras auch in Ordnung.« »Aber Ihr seid gebürtiger Gentheist.« »Ja, aber ich wurde als Christ erzogen, und das genügte denen in Baelsha.« - 268 »Nun denn, Fras. Aber was macht Ihr hier?« »Das ist meine letzte und schwierigste Prüfung, Fras Ettenbar. Ich muß ein Jahr lang ganz alleine draußen in der Welt leben und den Versuchungen des Teufels widerstehen. Der Gier, dem Alkohol und der wunderschönen Gestalt des weiblichen Körpers, in Verbindung mit dem bezaubernden Gesicht der Frau, dem Vorgefühl von Frauenhaut auf meiner Haut, während -« »Halt, stop, Fras Glasken, bitte quält Euch nicht, um Eure große Glaubensfestigkeit zu demonstrieren.« Glasken stellte seine Tasche ab, knetete sich ein wenig die verspannten Schultern und sah sich um. »Wo ist denn der Kalkulor? Im Keller?« »Nein, Fras, der befindet sich achthundert Meter unter uns in vorzeitlichen Bergwerksstollen.« »In Bergwerksstollen! Die armen Teufel. Also, ich bin ja frei, aber dennoch leide ich mit den Komponenten mit.« »Ah, aber das hier sind glückliche Komponenten«, sagte Ettenbar listig. »Sie arbeiten viel schneller als in der Maschine von Libris, und das obwohl sie nicht so vielseitige FUNKTIONEN haben wie in Libris.« Glasken sah ihn aufmerksam an. »Soll das ein Intelligenztest sein, und falle ich gerade durch?« »Nein, Fras, aber gewisse Aspekte seines Aufbaus darf ich Euch nicht verraten.« Ettenbar nahm ihn beim Arm und flüsterte ihm verschwörerisch ins Ohr: »Er hat nur einen Prozessor, arbeitet aber völlig fehlerfrei.« »Was zum Teufel sagt Ihr da? Nur einen Prozessor! Gibt's denn wenigstens ein paar hübsche weibliche Regulatoren oder Komponenten?« »Schämt Euch, Fras. Und das von einem Manne, der Geistlicher werden will.« Glasken fand sich schnell mit seiner Aufgabe zurecht, chemische Testwerte in Eingaben für den unterirdischen Kalkulor umzuwandeln. Wie alle an dem Vorhaben Beteiligten nahm er an, daß Zarvora neue Waffen für den Bürgermeister von Kalgoorlie entwickelte. Er staunte über die Stärke der Sprengstoffe und über ihre Instabilität. Als er sich einmal mit einem einzigen Tropfen einer Flüssigkeit beinahe den Fuß weggesprengt hatte, beschloß er, das Mischen des Glyzerins mit irgendwelchen hoch - 268 konzentrierten Säuren denjenigen zu überlassen, die dumm genug waren, sich dafür freiwillig zu melden. Die Raketentests fanden auf dem Grund des ausgetrockneten Lake Cowan statt und betrafen nur Raketen, die höchstens einen Meter lang waren. Es folgten einige beeindruckende Explosionen, und etliche Raketen flogen außer Sicht und wurden nicht wiedergefunden. Und die ganze Zeit über investierte Glasken mit Bedacht auf dem Immobilienmarkt von Kalgoorlie, behielt seine Liaison mit Jemli bei und stattete hin und wieder der Schwester des Bürgermeisters einen Besuch ab. Er führte zusehends das behagliche Leben eines wohlhabenden Mannes, aber einige alte Angewohnheiten legte er nicht ab. Tagtäglich trainierte er zwei Stunden lang die Kampfkünste, die er sich in Baelsha angeeignet hatte, und wenn er irgendeinen Mönch erblickte, ging er schnell in Deckung. Wenn der Ruf über
Kalgoorlie hinwegzog, übte er sich darin, seiner Verlockung mit reiner Selbstdisziplin zu widerstehen. Glasken war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der sich sogar in begrenztem Maße kontrolliert bewegen konnte, wenn ihn der Ruf ereilte, und diese Begabung wuchs immer mehr. Lemorel wurde ihrem Ruf gerecht und verlangte Alspring, was Reichtümer, Waffen, Vieh und Rekruten anging, hohe Abgaben ab, aber es kam zu keinen Greueltaten, die sich nicht darauf zurückführen ließen, daß kriminelle Elemente Nutzen aus den anarchischen Zuständen ziehen wollten. Sie war nun die unbestrittene Herrscherin über die gesamte Mitte des riesigen Kontinents. Als logistische Übung begann sie bald mit einem, wie sie es nannte, Blitzschlag gen Norden, zu den carpentarischen Städten. Statt wie sonst alle Vorräte auf den Kriegskamelen mitzuführen, wurden die Lanzenreiter von bewaffneten Nachschubkarawanen unterstützt, die sich aus den eigentlichen Kämpfen heraushielten. Etliche carpentarische Patrouillen wurden niedergemetzelt oder gefangengenommen, und dann wurde innerhalb von vier Tagen eine Kleinstadt erobert. Der Schock darob veranlaß te die übrigen Städte, den Belagerungszustand auszurufen und sich abzuschotten, wodurch das ganze Land, die Straßen, Bauernhöfe und Kanäle Lemorels Invasionstruppen in die Hände fielen. Die einzelnen Städte wurden voneinander abgeriegelt, und man ließ sie glauben, die anderen Städte seien bereits erobert worden. Reiterbrigaden trieben in der Nähe der Städte Zehntausende carpentarische Kleinbauern zusam - 269 men, was den Eindruck riesiger Armeen erweckte. Die Städte ergaben sich meist recht bald, und innerhalb von drei Monaten unterstanden sämtliche Städte der Region Lemorels Herrschaft. Neunhunderttausend Menschen, die auf den Datenkarten von Libris nicht einmal verzeichnet waren, hatten sich ihr unterworfen, und von den Ihrigen hatte sie dabei nur 860 Mann verloren. Südlich von Alspring klaffte in einem Gebirgskamm eine Lücke, Ruftrichter genannt, an der man eine Schutzmauer errichtet hatte, um im Banne des Rufs befindliche Menschen daran zu hindern, nach Süden, in die Wüste hinauszugehen. In der Mitte dieser geschwungenen Mauer befand sich eine steinerne Plattform, die für Ansprachen, Zungenpfeifenkonzerte, Militärparaden und öffentliche Hinrichtungen genutzt wurde. Sie wurde allgemein »die rote Bühne« genannt, sowohl wegen des Bluts, das dort bei Exekutionen vergossen wurde, als auch wegen der roten Felsen, aus denen sie erbaut war. Lemorel schlenderte ganz allein über die rote Bühne, in einem rotockerfarbenen Gewand, das so gebunden war, daß es sie so klein und kräftig wie nur möglich aussehen ließ. Sie hatte ihre Kleidung so gewählt, daß sie klein und schutzbedürftig aussah und gleichzeitig so kräftig und unbezwingbar wie eine Säbelameise. Der Schleier unter ihren Augen war aus feiner Gaze, so daß ihr Gesicht für die, die näher standen, gut zu erkennen war, ließ ihre Stimme aber weiter schallen als der übliche, dichtere Schleier. Die neuntausend Zuhörer vor ihr waren die Elite-Lanzenreiter und -Offiziere ihrer Armee. Sie begann damit, daß sie ihren Leuten dazu gratulierte, daß sie in den sechs Jahren, seit Lemorel ihre erste Gruppe von Nimmerländem in die Schlacht geführt hatte, sämtliche Städte Alsprings erobert hatten, und ließ dann eine Tirade gegen die Oberbürgermeisterin im fernen Süden folgen. Es gab spontanen Jubel, als sie den Männern mitteilte, daß sie nun alle als Alspring-Ghaner vereint seien, angeführt von den Nimmerländern. Sie ermahnte sie, über eine andere Rangordnung auch nur zu reden, sei Hochverrat. Wer Offizier wurde, wurde damit auch Nimmerländer, und Nimmerländer zu sein war die größte Ehre schlechthin. »Ich habe Euch versprochen, die Mitte würde eines Tages erbeben, wenn sie Euren Namen hört, und das ist nun eingetreten. Ich habe Euch versprochen, daß Ihr eines Tages über die Städte herrschen werdet, die Euch bis dahin mit Verachtung begegneten, und das ist nun eingetreten. - 269 Ich habe Euch versprochen, daß sich ganze Nationen ergeben werden, wenn sie auch nur den Staub Eures Nahens sehen, und das ist nun eingetreten.« Es dauerte Minuten, bis sich der Jubel, das Geschrei und die Freudenschüsse aus den Musketen wieder gelegt hatten. Lemorel war geduldig; sie freute sich, ihre Männer so ausgelassen zu sehen.
Sie hatten gerade ein anstrengendes Rennen gewonnen und würden gleich erfahren, daß sie noch sehr viel weiter laufen mußten. »Jetzt seid Ihr mächtig. Jetzt seid Ihr reich. Jetzt hat jeder von Euch viele Nebenfrauen zu beschützen, und in den Augen der Gottheit seid Ihr alle gesegnet.« Sie schwieg einen Moment, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Die Anziehungskraft, die sie auf diese Männer ausübte, hatte stets auf einer ungestümen, unaufhaltsamen Expansion beruht, und keiner von ihnen erwartete, daß er nun gesagt bekam, er solle nach Hause gehen und den neuen Wohlstand in Frieden genießen. »Und jetzt verspreche ich Euch, daß jeder General bald ein Prinz sein wird und jeder Offizier ein General. Jeder Lanzenreiter wird so reich sein, daß er in einem Herrenhaus leben und hundert Kamele besitzen wird. Am heutigen Tag habe ich von meinen Gesandten erfahren, daß viele Städte und Stadtstaaten des Südostens darum bitten, unsere Satelliten werden zu dürfen, so daß wir gemeinsam die ausgedehnten Länder jenseits der roten, felsigen Wüste unterwerfen werden Länder, in denen das Wasser nie versiegt und das Gras das ganze Jahr grün ist. Nimmerländer, Nomaden und Lanzenreiter die Ihr meine mächtige, unbesiegbare rechte Hand seid: Am heutigen Tage werde ich damit beginnen, ein Heer von einer Viertelmillion Mann aufzustellen, um damit gen Süden zu ziehen -« Das schiere Ausmaß dieses Abenteuers weckte eine solche Euphorie, daß der Rest ihrer Rede in ohrenbetäubendem Jubel unterging. An diesem Nachmittag traf sich Lemorel mit dem Oberbefehlshaber Baragania und den vier Logistikgenerälen, die für die medizinische Versorgung, die Ernährung, den Nachschub und Transport ihrer Truppen zuständig waren. Schreiber hatten anhand der Karawanenrouten bereits Zeichnungen des Wegs nach Süden angefertigt, und Einzelheiten über die Staaten jenseits der Wüsten hatte man Landkarten entnommen, die in Kaffeesäcken nach Norden geschmuggelt worden waren. - 270 »Das ist alles unverteidigtes Land«, erklärte sie mit heiserer Stimme, während sie mit dem Finger über die Namen von Städten strich, von deren Existenz die meisten anderen bis vor kurzem nichts geahnt hatten. »Sie verlassen sich darauf, daß die Wüste sie schützt, aber die Wüste kann so unzuverlässig und untreu sein wie ein Freier aus Rochester. Dieses Land kann von einem Lanzenreiterheer durchquert werden, von Männern, die es gewöhnt sind, im Sattel zu leben, und die alles, was sie brauchen, auf einer kleinen Anzahl von Reservekamelen mit sich führen. Die Lanzenreiter auf Kamelen werden unsere Angriffsspitze bilden, aber die Südmauren werden uns bald mit Pferden versorgen. Große Herden werden dank eines Geheimabkommens vom Emirat Balranald aus nach Nordwesten getrieben. Dort werden sie zu uns stoßen, nördlich des Barrier-Graslands.« »Und Städte, große Dame? Reiche Städte, wie der große Forschungsreisende Kharec sie uns versprochen hat?« fragte ein Logistikgeneral. »Reiche, träge Städte, die uns militärisch nichts entgegenzusetzen haben.« »Aber sie haben mächtige Maschinen und todbringende Waffen, Kommandantin Lemorel«, mahnte Baragania. »Ihre Maschinen lassen sich leicht umgehen oder gar zu unserem Nutzen einsetzen. Wir werden die Windzüge und Signalfeuertürme nutzen, genau wie wir uns einen überlegenen Kalkulor erbaut haben. Und was ihre Waffen angeht: Unsere sind besser. Wir haben Kamele, die Lanzenreiter, Wasser und Vorräte schneller tragen können als ein Heer marschieren könnte, und unsere langwierigen, geheimen Vorbereitungen werden ein Dolchstoß in ihren Rücken sein.« Mit einem Nicken gaben die Generäle kund, daß sie mit ihren Erklärungen zufrieden waren. Das Gespräch ging zu bestimmten Invasionsszenarien über, die der Kalkulor von Glenellen entworfen hatte. Die Zahlen waren ermutigend, und die Gruppe wurde zunehmend munterer. Anschließend saß Lemorel noch mit Baragania zusammen, der zu den sehr wenigen Männern zählte, die sie als einigermaßen ebenbürtig behandelte. »Wie geht es Nikalan?« fragte er, als Lemorel die Karten zusammenrollte.
»Schon besser, aber er ist immer noch nicht viel mehr als ein Wrack«, sagte sie nach einem Augenblick des Schweigens, als müßte sie sich eine ferne Erinnerung wieder ins Gedächtnis rufen. »Die besten Arzte - 271 Alsprings sind sich darin einig, daß man ihn viel zu lange ausschließlich am Kalkulor von Glenellen hat arbeiten lassen. Als Nikalan damals mit —« Sie atmete einmal tief durch. »— mit Glasken durch die Wüste zur Oase Fostoria wanderte, war er gezwungen, ein abwechslungsreiches Leben zu führen, und sein Geist heilte allmählich. Er hatte eine große Liebe verloren, und dieses Trauma hatte ihn geistig zerrüttet. Als man ihm dann nichts außer Kalkulorarbeit zu tun gab, zog sich sein Geist erneut in ein Schneckenhaus zurück, und er entglitt unserer Welt noch weiter« Baragania beobachtete sie aufmerksam und bemerkte, daß sie nun viel offener über Nikalan sprach. Vielleicht heilte ihr Herz ebenfalls? überlegte er »Und wie geht es Euch, Kommandantin?« fragte er »Ihr kamt in unser Land, um ihn zu retten, habt uns dabei erobert und mußtet dann feststellen, daß er nur noch ein lebender Toter ist. Heute ist der Tag Eures größten Triumphs, aber seid Ihr glücklich?« »Ich bin glücklich«, sagte sie, nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte. »Stellt Euch vor, einer seiner Ärzte hat in seinen Diensten eine Dirne, die besonders gut mit älteren Patienten umgehen kann«, sagte sie und kicherte. »Und diese Frau hat ihm doch tatsächlich eine Reaktion entlockt. Schon dreimal, hat man mir versichert. Sie nennt ihn ihren süßen kleinen Jungen, obwohl er schon fünfunddreißig ist. Er kann sich wieder allein eine Scheibe Brot abschneiden und seinen Saft einschenken ... ja, die Genesung seines Geistes geht zügig voran.« »Aber das ist doch kein Leben.« Sie sah zu Boden und hob den Blick dann wieder In ihren Äugen lag immer noch ein gewisser Schmerz. »Ich weiß, aber könnt Ihr mir etwas Besseres vorschlagen? Baragania, er war das Ziel, dessentwegen ich mich auf den Weg gemacht habe, doch da ich ihn nun habe, muß ich feststellen, daß der Weg wichtiger ist. Nikalan war wie ein hochgezüchtetes Reitkamel: bestens geeignet für eine bestimmte Strecke, aber hoffnungslos überfordert mit allem anderen. Ich habe ihn einmal gestoßen, und er fiel zu Boden und zerbrach. Und wenn ich es nicht getan hätte, hätte es ein anderer getan.« »Aber was treibt Euch jetzt an. Kommandantin? Im Augenblick Eures größten Triumphs - warum feiert Ihr da nicht?« »Warum, fragt Ihr? Weil es viel zu tun gibt, wir müssen den Schlag gen Süden vorbereiten. Die Oberbürgermeisterin ist eine Närrin. Sie hat - 271 ihre ganze Macht auf Kalkuloren aufgebaut und auf einem ausgedehnten, zerbrechlichen Netzwerk von Gleitbahnen und Signalfeuertürmen. Wenn ich ihre kostbare Infrastruktur an einigen strategisch wichtigen Punkten kappe, kann ich in weniger als einem Jahr zwei Drittel des ganzen Kontinents erobern. Es ist wieder wie damals, als ich vor vielen Schlachten Euch und Euren Kampfkalkulor ausspioniert habe. Ihr wart derart verwundbar, daß ich es einfach nicht abwarten konnte. Euch anzugreifen, damit niemandem sonst aufging, wie einfach Ihr zu besiegen seid. Meine Bevollmächtigten haben gemeinsame Einsätze mit den Südmauren vorbereitet und das Gleitbahn- und Signalfeuernetz infiltriert. Ich habe sogar die Säge an den mächtigen Kalkulor von Libris gesetzt, indem ich Zivilklagen finanziere, um seine Komponenten zu befreien. In fundamentalistischen Gentheistenkreisen haben meine Leute Gerüchte gestreut, in Kalgoorlie würde mit Dampfkraft gearbeitet. Balagania, was sagt Euch das alles?« Die monatelangen Feldzüge mit Lemorel hatten ihn gelehrt, erforderlichenfalls zu denken wie sie. »Der Krieg gegen den Südosten und Woomera hat bereits begonnen, wenn auch auf unscheinbare Weise«, schloß er.
»Genau, erstklassig beobachtet und ausgedrückt, mein Freund. Der Krieg hat bereits begonnen. Ich habe dafür gesorgt, daß jeder einzelne Händler, der nach Maralinga reist, ein getreuer Diener unserer Sache ist. Eben diese Leute haben in meinem Auftrag mit den Koorie Durchmarschrechte für mein Heer ausgehandelt. Wenn Ihr all diese Aktivitäten zusammennehmt, wird das zu einer schwerlich noch übersehbaren Operation. Alles, was es braucht, um die Oberbürgermeisterin zu warnen, sind ein oder zwei Patzer oder das Wort eines Verräters. Wir müssen sofort losschlagen. Wenn wir unsere Feinde nicht überrumpeln, werden sie viel zu stark für uns.« Die erste von Zarvoras vorzeitlichen Raketen verließ Kalgoorlie inmitten eines turbulenten Festes zum Ruhme der Technik. Die erste Raketenstufe war auf einem Tieflader festgezurrt und leuchtend grün mit roten Streifen lackiert. Zwei Galeerenloks zogen den Tieflader und die Begleitwaggons, und in fünf weiteren Waggons waren die Ersatzmannschaften und das übrige technische Gerät untergebracht. Man hatte es so eingerichtet, daß Denkar in Kalgoorlie blieb und nötigenfalls per Signalfeuer Kalkulorun - 272 terstützung lieferte. Auf dem Bahnsteig verabschiedete sich Glasken von Jemli, die mittlerweile seine Geschäftspartnerin war »Wenn der >Goldene Krug< zum Verkauf steht, fängst du bei tausend Royal an zu bieten.« »Tausend Royal! Das ist viel zuviel.« »Aber geh nicht höher als vierzehnhundert, ohne mich zu fragen.« »Aber dann bist du in Woomera, Glassy.« »Dann frag mich halt per Signalfeuer« »Per Signalfeuer? Das kostet einen Royal für tausend Worte!« »Einen Royal, meine Fresse. Hier, Kleiner, fang!« »Glassy! Das war ein Goldroyal!« »Man verdient keine Royal, indem man mit Kupfermünzen knausert! Du bist wirklich viel zu sehr Buchhalterin, Jemmy. Und außerdem kenne ich ein paar peinliche Einzelheiten und könnte notfalls damit drohen, sie öffentlich zu machen. Also frag mich per Signalfeuer, klar?« Zarvora hatte ganz in der Nähe mit dem Kommandeur der Galeerenlok zusammengestanden und die Frachtlisten und Fahrpläne überprüft. Nun ging sie zur Tür ihres Privatwaggons, an der Denkar bereits stand und zusah, wie sich Glasken von Jemli verabschiedete. »Sind sie nicht das süßeste Liebespaar, das du je gesehen hast?« bemerkte er. »Sie soll ja ein Mundwerk wie eine Maschinenarmbrust haben«, erwiderte Zarvora. »Auf Glasken legt sie offenbar nicht damit an.« »Ich habe zufällig aufgeschnappt, wie er versucht hat, sie zu überreden, in seiner Abwesenheit eine Affäre mit Ilyire anzufangen.« »Wie bitte?« »Das paßt doch. Ilyire ist einer von Glaskens ... Vasallen, wenn ich diesen Begriff so frei verwenden darf. Glasken ist wahrscheinlich der Ansicht, daß er dann die Kontrolle über alles hat, was sie in seiner Abwesenheit erreicht. Sie ist ehrgeizig. Den. Sie beteuert ja immer sie könne Bibliothekare nicht ausstehen, aber sie plaudert immer ganz freundlich mit dem niederen Adel bei Hofe und führt allen vor, welch ausgezeichnete Ergebnisse ihr Sprechunterricht zeitigt. Bald hat sie auch ihren Abschluß. Wird sie Glasken noch wollen, wenn sie ihn nicht mehr braucht?« »Glasken ist Glasken, dem werden die Frauen nie ausgehen«, erwiderte Denkar runzelte aber nun die Stirn. - 272 »Meinst du? Sein ganzes Leben lang hat er eine Spur von Frauen hinterlassen, die völlig außer Atem waren und denen der Rock um die Ohren hing, und jetzt sieh ihn dir an.« »Wenn Glasken nicht wäre, wärst du bei dieser Explosion auf dem Testgelände ums Leben gekommen, wie die fünf Ingenieure. Und sein linkes Ohr und sein Rücken sahen hinterher schlimm aus.« »Ich weiß. Er hat mir das Leben gerettet, und deshalb mache ich mir nun Sorgen um ihn.« Bürgermeister Bouros' Privatkapelle spielte ein Ständchen, und die Züge wurden zur Abfahrt bereitgemacht. Denkar und Zarvora lehnten zum Abschied die Stirn aneinander. »Warum Woomera?« fragte Denkar noch einmal - rief es, den Jubel und die Musik übertönend.
»Ich weiß es selber nicht genau«, erwiderte Zarvora. »Schon die Alten haben von Woomera aus Raketen in den Weltenraum geschossen, also wußten sie vielleicht etwas über den Ort, das wir nicht einmal erahnen können.« Der Zug fuhr langsam aus dem Bahnhof aus, und es regnete Blütenblätter und Luftschlangen auf ihn hinab, aber bald hatten sie das Getöse hinter sich gelassen und fuhren durch die Vororte der großen Stadt im Hinterland. Ettenbar reiste mit Zarvora im Waggon des Bürgermeisters und traf die letzten Vorbereitungen für das Senden der Daten an den Elektrokraftkalkulor. »Diese Galeerenloks sind eine kostspielige Methode, Güter zu befördern, Frelle Oberbürgermeisterin«, sagte er und sah zu, wie die Siedlungen dem Weideland wichen, und Vieh an Gruppenpflöcken graste. »Die Rakete muß zum genau richtigen Zeitpunkt vom genau richtigen Ort aus gestartet werden, mein kleiner Bedenkenträger. Geld spielt da keine Rolle.« »Ich könnte Euch aber besser helfen, wenn ich das verstünde, edle Frelle. Wenn ich es verstünde, würde ich mein Leben dafür geben, daß Euch die Ergebnisse zufriedenstellen.« »Und das ist einer der Gründe, warum ich Euch nichts verrate. Wenn Ihr nicht wißt, welche Ergebnisse ich erhoffe, könnt Ihr sie nicht so hinbiegen, daß sie mir gefallen.« Ettenbar lachte und fuchtelte mit dem Zeigefinger. »Sehr gerissen, edle Frelle, aber es ist wirklich schade, daß Ihr so mißtrauisch seid.« Sie zog an einer grünen Kordel, die von der Decke herabhing, und - 273 breitete dann auf einem Klapptisch ein Schaubild des Montageturms der Abschußrampe aus. Kurz darauf erscholl gleich hinter der Tür ein Schrei und ein Schlag; und dann kam Glasken herein und rieb sich die Wange. »Ich schwöre, der Zug hat genau in dem Moment geruckelt, als ich an ihr vorbeiging -« »Kommt herein, Glasken, und setzt Euch«, sagte Zarvora. »In einer Woche sind wir in Woomera, und von dort werden die Raketenstufen und das sonstige Gerät auf Maultiergespannen zu der Stelle gebracht, an der die Abschußrampe aufgebaut wurde. Während des Abiadens und der Fahrt mit den Maultiergespannen seid Ihr für die Raketenteile verantwortlich. Paßt auf sie auf wie auf Euer eigenes Leben, hütet sie wie Eure Hoden -« »- denn diese werdet Ihr einbüßen, sollte es zu irgendeinem Unfall kommen«, sagte Glasken in einer ganz passablen Parodie ihres Tonfalls und Akzents. Zarvora starrte ihn einen Moment lang an, weder lächelnd noch stirnrunzelnd. »Fras Glasken, über derartige Drohungen sind wir, glaube ich doch, hinaus. Ich hätte >bitte< gesagt, wenn Ihr mich hättet ausreden lassen.« »Verzeihung, Frelle Oberbürgermeisterin. Wo werdet Ihr dann sein?« »Ich fahre vor und stelle sicher, daß die Abschußrampe und alles übrige für die Ankunft der Rakete bereit ist. Ich beaufsichtige den Zusammenbau, die Bewaffnung und den Start. Es handelt sich dabei um das schwierigste und ambitionierteste Unterfangen seit dem Untergang der anglaischen Zivilisation, Fras Glasken, und es ist tausendfach bedeutsamer als der Kalkulor von Libris.« Die Sonne war schon lange untergegangen, und die Ebenen nordwestlich von Woomera wurden von jenem Teil des Spiegelsonnenbandes erhellt, das der Sonne gegenüberlag. An diesem Abend ging der Lichtschein der Spiegelsonne von sechzehn hellen Punkten aus - einem Quadrat aus zwölf Punkten, das ein Quadrat aus vier Punkten umschloß. Es war ein überaus faszinierendes Schauspiel, ließ sich aber, wie auch die Muster der vorigen Nächte, nicht erklären. Viele Edutoren hatten gelehrte Abhandlungen über die sich stets wandelnde Gestalt der Spiegelsonne verfaßt, sie alle aber blieben reine Spekulation. Lampen beleuchteten ein Gebilde, das wie eine riesige Waffe aus der - 273 dunklen Ebene aufragte, aber trotz seiner Ausmaße neben der ungeheuren Größe der Spiegelsonne am Nachthimmel bedeutungslos erschien. Im Laternenschein sah man, daß
Dutzende Leute bei der Arbeit waren. Eine grüne Leuchtkugel stieg in hohem Bogen in den Himmel und sank dann wieder herab. Die vorzeitliche Rakete zündete mit ohrenbetäubendem Donnern und glitt das Holzgerüst der Abschußrampe hinauf wie ein brennender Pfeil aus einer riesigen Armbrust. Sie ließ die Schienen an der Spitze des Turms hinter sich, und der leuchtende Feuerstrahl, der aus ihrem Heck schoß, wurde schnell kleiner, als sie emporstieg, und ließ dunkle Abgaswolken zurück, die den Sternenhimmel verbargen, sich aber schnell wieder verzogen. Zarvora und ihre Ingenieure und Techniker sahen gemeinsam zu und hoben ihre Fernrohre immer weiter, bis der Lichtschein verblaßte. Als die Rakete kaum noch als Punkt am Himmel zu erkennen war, brannte die erste Stufe aus und löste sich, und die zweite Stufe zündete. Jetzt war die Rakete weiter nichts mehr als ein leuchtender Punkt. Es kam zu einer kleinen Unterbrechung, als die zweite Stufe ausbrannte und die dritte zündete. »Es sieht gut aus, aber das haben wir jetzt nicht mehr in der Hand«, sagte Zarvora, den Blick zum Himmel gewandt. Dann richtete sie den Blick auf den Horizont, nutzte dazu aber nicht ihr Fernrohr. Der Standortkommandant verfolgte den Flug weiter mit seinem eigenen Instrument und rief laut die Berichte, die er erhielt. »Teleskope melden Zündung der vierten Stufe. Die Rakete sieht jetzt aus wie eine Stemschnuppe. Sie fliegt zu hoch, um sie noch verläßlich beobachten zu können.« Zarvora atmete erleichtert auf. »Gebt die Anweisung >Übertragen< an die vier Signalfeuertürme aus«, befahl sie und fügte dann mit leiserer Stimme hinzu: »Dann wollen wir mal etwas Aufmerksamkeit auf uns lenken.« Der Standortkommandant gab der Signalfeuermannschaft einen Wink, und die brannte auf ihrem Übertragungsgerüst eine Leuchtkugel ab und begann dann den rätselhaften Befehl zu senden. »Mit Verlaub, Oberbürgermeisterin, um wessen Aufmerksamkeit geht es?« »Das weiß ich nicht, Fras Standortkommandant, aber wenn meine Elektrokraftgeräte auf den Signalfeuertürmen zu qualmen und zu schmelzen beginnen, hatten wir Erfolg.« - 274 »Und die Rakete?« »Ein äußerst riskantes und komplexes Unterfangen.« »Und wenn es fehlschlägt?« »Dann kommen wir in einem Monat wieder und versuchen es erneut.« Sie hob ihr Fernrohr und richtete es auf den südlichen Horizont. »Ah, da, eine Meldung vom Signalfeuerturm Süd«, sagte sie und starrte weiter ins Okular. »SENDERSPULEN DURCHGEBRANNT UND GESCHMOLZEN.« »Oberbürgermeisterin, der Signalfeuerturm West -« »Meldet das gleiche?« »Ja.« »Dann interessiert sich ein Wanderstem für das, was wir tun. Hoffen wir, daß er ... begeistert ist. Über die Maßen begeistert.« Hoch oberhalb der Atmosphäre zog die fünfte Stufe der Rakete ihre Bahn. Als der Treibstoff aufgebraucht war hatte eine Zündschnur einen Gurt durchtrennt und einen Zeitschalter in Betrieb gesetzt, der nun die Sekunden maß. Hunderte Kilometer entfernt erspürte eine antike Orbitalfestung Funkwellen am Boden und schoß elektromagnetische Impulse hinab, bis alle vier Strahlenquellen verstummt waren. Da es mehrere Quellen gewesen waren, konnten noch welche verblieben sein, beschloß die mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Kommandokapsel und blieb wachsam. Der Zeitschalter in der Nutzlast der Rakete löste die erste Voreinstellung aus, und ein Stromkreis wurde geschlossen. TICK TICK - TICK TICK. Der Stromkreis wurde wieder unterbrochen. Die Sendung hatte keine zwei Sekunden gedauert. Die Orbitalfestung hatte nicht gefeuert, verfolgte die fünfte Stufe nun aber auf ihrer ballistischen Flugbahn. Sie hatte einen kurzen Augenblick lang etwas gesendet, und die Steuerlogik der Festung hatte das als verdächtig eingestuft. TICK TICK TICK TICK - TICK TICK, begann das Signal erneut, und die Festung feuerte einen Impuls, der den
Sender zum Schweigen bringen sollte. Eine Sicherung brannte durch, der Zeitschalter tickte weiter, und der kleine Funksender begann mit einer frischen, stärkeren Sicherung von vom. Die Festung spie einen weiteren elektromagnetischen Impuls aus, aber die Senderspulen in der Rakete waren darauf ausgelegt, einen derartigen Impuls zu überstehen, und das TICK TICK ging weiter. Wie-demm feuerte die Festung auf die winzige fünfte Stufe, diesmal einen - 275 Dauerimpuls. Endlich schmolz der Stromkreis unter dieser Belastung, und der Sender verstummte, die Festung aber folgte ihm weiter mit ihrem elektromagnetischen Strahl. Zarvoras Rakete zog diesen Strahl über den grenzenlosen Hintergrund des Weltalls ... bis er das nanotechnische Gebilde des Spiegelsonnenbandes durchschnitt, das sich Tausende Kilometer weiter draußen in seiner Umlaufbahn drehte. Schaltkreise schmolzen zu Trillionen, und das Band wurde säuberlich gekappt. Jeder einzelne Bestandteil des Gefüges der Spiegelsonne war eine separate, vielseitig verwendbare Maschine mit einem gewissen Maß an bordeigener künstlicher Intelligenz und von Sonnenstrahlung angetrieben. Und die Summe all dieser Teile war sich ihrer selbst bewußt. Die Kommandokapsel der Festung arbeitete nun Logikpfade ab, die sie seit Jahrtausenden nicht mehr beschritten hatte, und kam dann zu einem Schluß. Eine Funkstrahlenquelle, die sich oberhalb der Atmosphäre bewegte, hatte einem Angriff mit elektromagnetischen Impulsen ungewöhnlich lange standgehalten. Sie mochte vielleicht noch intakt sein. Eine Schienenkanone wurde in Stellung gebracht und programmiert und schleuderte dann auf einem Abfangkurs eine Wolke aus Metallkugeln in Richtung der fünften Stufe. Aus Sekunden wurden Minuten. Die letzte Stufe von Zarvoras Rakete wurde in einem Metallhagel zermalmt, sank in die obere Atmosphäre hinab und löste sich in einem Schweif glühender Ionen auf. Die Orbitalfestung flog weiter und verschwand hinter dem Horizont, während die Trümmer der Rakete in die Atmosphäre hinabfielen und verglühten. Die Festung bemerkte die Lücke im Spiegelsonnenband, ignorierte aber die gemessenen elektrischen Aktivitäten dort, wie sie es seit ehedem tat. Davon wurde in den vorzeitlichen Missionsparametern nichts erwähnt, und dieses Gebilde hatte nie Anzeichen von Feindseligkeit gezeigt. Die vorzeitlichen militärischen Raumstationen stuften die Spiegelsonne als unbekanntes, aber harmloses Naturphänomen ein. Im Observatorium von Woomera brach Jubel aus, als die Beobachter erste Anzeichen für den Riß im Band entdeckten. Der Standortkommandant gratulierte Zarvora dazu, daß sie der Wiederkehr des Großen Winters Einhalt geboten hatte. »Ihr habt mit eigener Hand die Götter selbst erschlagen«, verkündete er theatralisch, denn er hatte an der Universität von Woomera im Studentenensemble gespielt. - 275 Zarvora sah nachdenklich ins Okular ihres Fernrohrs. »Sie erschlagen, Fras Standortkommandant? Na, ich weiß nicht. Vielleicht habe ich sie auch nur sehr geärgert.« Der Standortkommandant stützte die Hände auf die Hüften. »Oberbürgermeisterin, Ihr habt das Band durchschnitten.« »Vielleicht kann es sich wiederherstellen. Die Frage ist eher, ob es Jahrhunderte, Jahrzehnte oder nur Jahre dazu brauchen wird.« »Dann werdet Ihr also auch die zweite Rakete abfeuern?« »Ich werde sie bereithalten.« Zarvora inspizierte die ersten Messungen der Flugbahn und gab sie dann an Darien weiter die sie zum Signalfeuerturm von Woomera mitnehmen sollte, um sie von dort nach Kalgoorlie zu senden. Die schriftlichen Auswertungen folgten per Gleitbahn, aber die dienten nur der Überprüfung und wanderten anschließend ins Archiv. Hoch über der Erde verknüpfte sich das kollektive Bewußtsein des Bandes zu einem neuronalen Netz, um auf den Riß in seinem Gefüge reagieren zu können. Im Laufe der nächsten Tage bildeten sich Meteorschadensstränge aus Nanozellen, die über die Lücke hinwegschossen, um die beiden Enden wieder miteinander zu verbinden und zusammenzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt maß die Lücke etliche tausend Kilometer, aber sechs Wochen später war das Band wieder geflickt. Das
neuronale Netz richtete seine Aufmerksamkeit nun auf die Ursache der Verletzung, die ihm so viel Kraft und Ressourcen abgefordert hatte, und ganz langsam und bedrohlich begann sich das Band umzugestalten. Zarvora beobachtete diese Vorgänge zunächst mit Bestürzung, doch dann sah sie, daß das Band seltsame, nie dagewesene Formen annahm. Es schien mit örtlichen Ausstülpungen zu experimentieren, und diese Wölbungen waren auf die Wandersterne gerichtet. Zarvora wußte, daß ihr Versuch, die Spiegelsonne für wenigstens ein paar Jahrzehnte außer Funktion zu setzen, fehlgeschlagen war, aber sie wagte zu hoffen, daß bei ihrem ehrgeizigen und verzweifelten Unterfangen noch etwas sehr viel besseres herauskommen könnte. Sie beschloß, daß es den Versuch wert war, die Spiegelsonne noch ein wenig mehr gegen sich aufzubringen. Glasken hatte auf seinen vielen Reisen gelernt, mit leichtem Gepäck auszukommen. Als man ihn daher aufforderte, im Zug der Hoheliber mitzufahren, packte er lediglich Wäsche zum Wechseln, einen Offiziersstock, - 276 eine preiswerte Gilmey Kaliber 40, sein Siegel und etwas Geld ein. Aus seinen Erfahrungen schloß er, daß es, falls er ausgeraubt oder betrogen werden sollte, wenig Sinn hatte, irgendwelche Wertsachen mitzunehmen. »Ich finde, Güter haben es beim Reisen besser als ich«, sagte er zu Ettenbar, als er Wachs in die Siegelmulden einer Holzkiste goß und dann seinen Siegelring hineinpreßte. In der Kiste befanden sich geeichte Schaltkreise, die von den elektromagnetischen Impulsen aus dem All beschädigt worden waren. »Säcken und Kisten sind ja auch keine wütenden Ehemänner, Väter oder Schutzleute auf den Fersen«, erwiderte Ettenbar. »Sehr witzig. Werft mir mal den Riemen rüber. So, alles fertig versiegelt für die Glatzköpfe vom Zoll in Coonana.« »Was bedeutet denn dieses Muster, ehrenwerter Fras?« fragte Ettenbar. »Das Faß und die Sichel, das Ganze von Laub umkränzt.« »Das ist die Gilde der Meisterwirte von Kalgoorlie.« »Ich wußte gar nicht, daß Ihr ein Meisterwirt seid.« »Bin ich ja auch nicht. Dieses Siegel hat mich fünfhundert Goldroyal gekostet. Seht es als Form der Schirmherrschaft. Ich mag ja kein Meister der Gilde sein, beschäftige aber zwei Meister, die sich um meine Investitionen kümmern.« »Fras, Eure Logik ist mal wieder recht wirr.« Für Glasken war es eine beschauliche Reise gewesen - niemand hatte versucht, ihn zu entführen, zu ermorden, zu foltern, zu versklaven oder einzukerkern. Zu seiner großen Überraschung hatte ihm die Hoheliber den einstweiligen Rang eines Blaudrachenbibliothekars verliehen. In seinen Signalfeuerbotschaften und Briefen an Jemli erwähnte er jedoch nichts davon. »In einer Woche trifft die nächste Rakete ein«, sagte er zu Ettenbar, als er im Speisesaal einen Kellner mit einem Fingerschnippen herbeirief. »Zwei Wochen drauf kommt die dritte Rakete, und dann bin ich wieder frei und kann trinken und singen und mir Ohrfeigen von Nicht-Bibliothekarinnen einfangen. Ah, Kellner! Um, plistebi grep enfola, bieratel, salavou kremti, eti - ach, wie sagt man denn noch mal >islamisches Menü< auf Woomeranisch?« »Viadatem Islam, guter Fras«, antwortete der Kellner. »Warum sagst du denn nicht, daß du Austarisch sprichst? Du hast Glück, daß meine Frelle nicht da ist. Also, Pastete, Bier und Salat für mich und euer islamisches Menü für meinen Kollegen hier.« - 276 Der Kellner notierte die Bestellung auf seiner Schiefertafel und eilte von dannen. »Nun, Fras, ich schätze mal, daß auch meine Tage in den Kalkuloren der Hoheliber bald vorüber sind«, offenbarte ihm Ettenbar während sie dasaßen und warteten. »Da nun das glorreiche Unterfangen mit den Raketen beinahe abgeschlossen ist, habe ich vor in die südmaurische Provinz heimzukehren, aus der ich stamme, und für die dortige Hochschule einen Kalkulor zu konstruieren.«
»Und was geht mit Frauen?« »Ah-ha-ha, Fras, Ihr glaubt, ich kenne nur die Arbeit und keine Leidenschaften, aber Ihr irrt. Ich habe mich mit meiner Familie in Verbindung gesetzt und ... und man wird ein Arrangement mit einem Mädchen treffen, das bestens zu mir paßt.« »Eine arrangierte Hochzeit?« »Eine gedeihliche Verbindung.« »Ihr seid verrückt.« »Fras, Fras, Ihr seid auf einem anderen Pfad, aber deshalb seid Ihr kein schlechterer Mensch.« »Jetzt sieh sich das einer an: Meine Pastete und Euer Menü. Wo bleibt mein Bier? Ach, ein anderer Kellner. Sprichst du Austarisch? Na, habe ich mir gedacht. BieratelissU« »Numeren vor eti dwel, da ke«, sagte Ettenbar zu dem Kellner »Verdammt noch mal, Ettenbar, warum habt Ihr nicht gesagt, daß Ihr Woomeranisch sprecht?« rief Glasken. »Ich dachte, Ihr wolltet die Gelegenheit nutzen und ein wenig üben, Fras.« »Dummkopf. Eines Tages werde ich Euer Vorgesetzter sein, und dann zeige ich Euch, was eine Harke ist.« »Ach, Fras Glasken, was auch sonst Ihr seid, es wird einem nie langweilig in Eurer Gesellschaft. Wenn die dritte Rakete ihrer und wir unserer Wege gegangen sein werden, werdet Ihr mir fehlen.« Eine Woche später war die zweite Rakete von der Endstation der Gleitbahn eingetroffen und wurde auf die senkrechten Schienen der Abschußrampe gesetzt. Aufgrund von Zarvoras Berechnungen der Umlaufbahnen der Wandersterne sollte dieser zweite Start tagsüber stattfinden. Der Moment, in dem die Orbitalfestung vorüberzog, rückte näher und der Standortkommandant sah zu einem kleinen Windrad hinüber. - 277 »Die Windgeschwindigkeit fällt nur selten unter sechzehn Stundenkilometer, Frelle Hoheliber«, meldete er. »Das dürfte für die Rampe eigentlich keine Gefahr darstellen.« »Es ist aber böiger, ein >unsauberer< Wind, wie die Windlokführer sagen würden.« »Also, was meint Ihr?« »Wenn eine Windböe die Rakete erfassen würde, wenn sie gerade aus dem Turm aufsteigt und sich noch langsam fortbewegt, könnte das ihren Kurs minimal beeinflussen.« Zarvora wog etliche Faktoren ab, politische ebenso wie technische. »Bereitet den Start in vier Minuten vor, auf meine Verantwortung«, befahl sie schließlich. Ein Techniker stellte den Zeitschalter unten an der Rakete und lief dann zu dem hundert Meter entfernten Bunker. Der Mechanismus klickte, der Wind wehte böig ... und genau in dem Moment, in dem die Zündvorrichtung entflammt wurde, rüttelte eine Böe minimal am Turm. Die Rakete grub sich in die nun leicht verzogenen Schienen, und die Beobachter sahen, wie sich der obere Teil der Startrampe in einer Wolke aus Raketenabgasen und zerschmettertem Holz auflöste. Der Aufprall ließ die Rakete zwischen der ersten und der zweiten Stufe auseinanderbrechen, und die brennende erste Stufe schoß mit vollem Tempo hinaus in die Wüste - mit einem Donnern, das die Beobachter in ihrem Bunker erbeben ließ. Die oberen Stufen zündeten nicht, krachten vielmehr in einer großen Staubwolke zu Boden. Sobald die Überreste der Rampe für sicher erklärt waren, kletterte Zarvora hinauf. Schnell wurde klar, was für ein Glück sie gehabt hatten. Die tragende Struktur war beinahe unversehrt, und nur das obere Gerüst und die Schienen waren nicht mehr zu gebrauchen. Die Techniker und Ingenieure schätzten, daß die Reparaturen zwei Wochen in Anspruch nehmen würden. »Die oberen Raketenstufen sind verbeult und verbogen«, meldete der Standortkommandant, als Zarvora wieder herabgeklettert war. »Die müssen auseinandergenommen, von Treibstoff befreit und ausgebeult werden. Die Waffenschmiede und Mechaniker glauben, es wird vier Monate dauern.« »Wenigstens ist noch eine dritte Rakete unterwegs nach Kalgoorlie. So ein verdammter Mist, das ist allein meine Schuld. Ich hätte die
- 278 Ablenkung durch den Wind erproben müssen. Wir haben nur vier Raketen, wir können es uns nicht leisten, sie zu vergeuden.« Eine Bewegung in der Ferne erregte Zarvoras Aufmerksamkeit, und sie sah sich zu der Stelle um, an der ein Reiter der Grenztruppen aufgetaucht war, der mit seinem Pferd in schnellem Galopp über den mit Felsbrocken übersäten Sandsteinboden preschte. So reitet nur jemand, der von einer Katastrophe berichten muß, dachte sie. Der Reiter rief den Wachen etwas zu, als er bei dem Turm beim Schutzbunker angelangt war, und sie zeigten auf die Startrampe. Als er dann zu ihr ritt, erkannte Zarvora, daß einer seiner Arme schlaff herabhing und blutete. »Feindliche Lanzenreiter und Musketiere auf Kamelen und Pferden, Frelle Oberbürgermeisterin! « rief er und konnte sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. »Krieger? Da draußen?« »Ja, und sie sind direkt hierher unterwegs. Sie müssen die Explosion gehört haben. Ich wurde angeschossen, als ich vor ihnen floh.« »Eine Patrouille aus Woomera«, mutmaßte der Standortkommandant. »Ein Mißverständnis.« »Da waren Hunderte.« »Und das im Nordosten?« erwiderte Zarvora. »Kaum zu glauben. Warte! Wie waren sie gekleidet?« »Sie trugen rote, zinnoberrote und orange Gewänder, Frelle Oberbürgermeisterin.« »Ghaner aus Alspring, und sie haben den weiten Weg durch die Wüste zurückgelegt.« »Sie haben versucht, uns in die Zange zu nehmen, doch ihre Kamele waren nicht schnell genug für unsere Pferde. Aber sie schießen gut. Von fünf Mann habe nur ich überlebt. Und wir haben drei von ihnen erledigt«, fügte er stolz hinzu. »Und dann haben sie die Verfolgung abgebrochen?« »Ja, als die Türme in Sicht kamen. Vielleicht dachten sie, es wäre ein Fort. Sie holen Kavallerie herbei.« Zarvora stieg ein paar Stufen hinauf und spähte nach Nordosten. Dort waren vereinzelte Lanzenreiter auf Kamelen zu erkennen, in der Mitte ein Pulk von vielleicht fünfzig Mann. Hinter ihnen sah man eine riesenhafte Staubwolke, die von einer viel größeren Streitmacht zeugte. »Die Ghaner schlagen schnell und hart zu, heißt es«, überlegte Zar - 278 vora laut, schirmte sich gegen den grellen Sonnenschein die Augen ab und reckte sich an dem Holzgeländer empor »Ich kann erkennen, daß sie den Ort hier auskundschaften ... Ja, sie werden angreifen, ehe die Hauptstreitmacht eintrifft. Sie haben uns überrascht, und das werden sie nutzen wollen. Ilyire hat mir erzählt, daß ihre Befehlshaber sehr gerne auf das Überraschungsmoment setzen.« »Wir haben sechzig Lanzenreiter und neun Tigerdrachen«, sagte der Marschall von Woomera. »Wir müßten in der Lage sein, mit acht bis neun Dutzend Ghanern fertigzuwerden, was für grimmige Krieger die auch immer sein mögen.« »Aber hinter ihnen kommen bis zu zehntausend Ghaner«, beharrte der Reiter »Ach was!« »Zehntausend, Fras. Wahrscheinlich sogar mehr.« »Reine Einbildung«, sagte der Marschall abschätzig. »Frelle Oberbürgermeisterin, was meint Ihr?« »Wie weit ist die Hauptstreitmacht zurück?« fragte sie den Reiter. »Höchstens zehn Kilometer.« »Gehen wir vom Schlimmsten aus.« Sie schritt herunter von dem Aussichtspunkt, und auf ihrem Gesicht zeigte sich grimmige Entschlossenheit. »Glaetin, nehmt zwei Lanzenreiter und eskortiert diesen Mann nach Woomera. Bringt ihn dort zum General.« »Aber Frelle Hoheliber er blutet -« »Dann verbindet ihn eben unterwegs, aber brecht jetzt auf, sonst werden noch viel mehr bluten. Marrocal, Ihr übergießt die Abschußrampe mit Spiritus und steckt sie in Brand. Ich werde die Papiere, Zeichnungen und Tabellen im Bunker verbrennen. Fras Standortkommandant, Ihr stellt
die Zeitschalter der oberen Raketenstufen. Sorgt dafür, daß sie zünden und sich selbst zerstören. Verstanden?« »Jawohl, Hoheliber« »Anschließend reitet Ihr so schnell Ihr könnt nach Woomera. Hauptmann Alkem, Ihr bildet mit den sechzig Lanzenreitern und den Tigerdrachen eine Nachhut, während ich zum Südturm reite. Laßt es so aussehen, als würdet Ihr die brennende Abschußrampe verteidigen.« »Aber Hoheliber, wir könnten sie abhängen, wenn wir alle sofort nach Woomera aufbrechen würden.« »Idiot! Befolgt meine Befehle! Ich brauche zehn Minuten auf dem Signalfeuerturm, um das Netzwerk zu alarmieren und dafür zu sorgen, daß - 279 alle Windzüge von den Strecken herunterkommen. Wenn es ihnen gelingen sollte, einen Windzug zu erbeuten, werden sie sich wie ein Lauffeuer ausbreiten, unsere unbefestigten Außenposten überfallen und in einer Woche in Kalgoorlie sein - und in Peterborough noch schneller. Zehn Minuten. Stellt Euren Rufzeitschalter. Dann reitet Ihr nach Woomera.« Drei Minuten später lief Zarvora die Treppe eines hölzernen Signalfeuerturms hinauf und sah dabei nach Norden, wohin die Lanzenreiter ritten, um einen Feind abzufangen, der bisher nur als Staubwolke zu erkennen war. Sie platzte in die Signalfeuerplattform hinein und schob den Sender von seinem Sitz. / ABFRAGE: DRINGLICHKEIT SCHWARZDRACHE / gab sie ein. Sekunden verstrichen, dann kam die Antwort: BESTÄTIGE: ÜBERTRAGUNG BEGINNEN / / RUNDRUF: AN ALLE SIGNALFEUERLINIEN: INVASION AUS ALSPRING NÖRDLICH VON WOOMERA, GESCHÄTZT MINDESTENS ZEHNTAUSEND LANZENREITER, UNBEKANNTE ANZAHL VON HILFSTRUPPEN, ZWÖLF KILOMETER NÖRDLICH VON AUSSENPOSTEN HARTLAK. SÄMTLICHE WIND- UND GALEERENZÜGE VON DEN GLEITBAHNSTRECKEN VON NARETHA BIS WOOMERA RÄUMEN. PETERBOROUGH UND BROCKNIL: SÄMTLICHE BAHNSTATIONEN IN KRIEGSZUSTAND VERSETZEN: SÄMTLICHE GEBÄUDE UND AUSRÜSTUNGSGEGENSTÄNDE VERBRENNEN, DIE SICH NICHT HINTER DIE BEFESTIGTEN MAUERN VERBRINGEN LASSEN: FEUER FREI AUF JEDEN WINDZUG, DER NICHT MIT KODE 2T-3GK ANTWORTET. VON NARETHA BIS BROCKNIL: OBACHT VOR INVASIONSTRUPPEN, DIE AUS DEM NORDEN KOMMEN. BITTE BESTÄTIGEN, DASS ÜBERTRAGUNG WEITERGELEITET WURDE. / Es entstand eine entnervende Pause von fast einer Minute Dauer, und dann meldete der Turm im Süden mit blinkenden Lichtem: / BESTÄTIGE: ERWARTE WEITERE BEFEHLE / Zarvora wandte sich an den Turmchef und wies nach Norden. »Was hat sich dort drüben getan? Haben unsere Lanzenreiter die Invasoren aufhalten können?« »Sie kämpfen noch, Frelle, und sie scheinen Schwierigkeiten zu haben.« »Schwierigkeiten!« rief Zarvora verblüfft. »Aber das sind unsere besten Lanzenreiter, sie gehören zu meiner Leibwache.« - 279 »Ich sage Euch nur, was ich sehe. Ereile Hoheliber.« Zarvora überlegte kurz und gab dann ein: / BRENNT EUREN TURM NIEDER UND FLIEHT NACH WOOMERA. / Sie wartete die Bestätigung nicht ab, sondern nahm eine Lampe und schleuderte sie auf den Holzboden. »Flieht nach Woomera! Sofort!« rief sie, entflammte eine Leuchtkugel und warf sie in das vergossene Lampenöl, während die Besatzung schon die Treppe hinabhastete. Einen Moment lang zögerte sie noch und sah hinüber nach Norden, wo sich die beiden Lanzenreitertrupps ein erbittertes Gefecht lieferten. Ihr Zeitschalter stand bei acht Minuten. Zwei zusätzliche Minuten, und sie war außer Gefahr, aber ... »Auf Feigheit steht der Tod«, ermahnte sie sich und nahm eine Signalrakete aus der Leuchtkugelkiste.
Um sie her loderten schon die Flammen empor als sie das Abschußrohr nach Norden richtete. Sie hielt den Docht in die Flammen, schob die Rakete ins Rohr und lief zur Treppe. Als sie unten ankam, schoß die Rakete hervor und heulte dann ihre Botschaft, den Rückzug anzutreten, über den roten Sand und die Felsbrocken. Der Turmchef hielt Zarvoras Pferd am Zügel. Sie stieg auf und zeigte nach Süden. »Jeder für sich, Hauptmann!« rief sie und schlug ihre Fersen in die Flanken des Tiers. Seine Antwort wurde von der Explosion der Leuchtkugelkiste hoch droben übertönt. Die Signalfeuerplattform flog auseinander, und qualmende Trümmerteile zischten durch die Luft. Sie ritten zunächst Galopp, dann wechselte Zarvora in den Kanter und sah sich nach Norden um. »Wieso ziehen die sich nicht zurück? Ich sehe nur ein halbes Dutzend -« Doch dann ging ihr die schreckliche Wahrheit auf: Ihre Elite-Lanzenreiter waren schon so gut wie ausgelöscht, als die Rakete ihren Befehl gebrüllt hatte. Nun strömten andere Reiter auf Pferden auf die Ebene, Lanzenreiter der Ghaner aus anderen Schwadronen. Der Turmchef zog eine Steinschloßpistole. »Nein!« rief Zarvora. »Gebt mir Eure geladenen Waffen.« Er ritt an ihre Seite und gab sie ihr zog dann seinen Säbel und ritt neben ihr her. Die Pferde wurden schon ein wenig müde, und eine Schwadron mit einem Dutzend Ghanerm kam immer näher. Zarvora drehte sich auf dem Sattel um und feuerte mit einer gewandten Bewegung. Ein Lanzenreiter der Ghaner riß die Arme hoch und stürzte von - 280 seinem Roß. Zarvora warf die Waffe weg und zog eine andere aus ihrem Gürtel. Diesmal traf sie ein Pferd, das inmitten der scharfkantigen Steine zu Boden ging und seinen Reiter abwarf. Der nächste Schuß ging daneben. Zarvora warf die dritte Pistole weg und zog die vierte. Umdrehen, zielen, feuern - der Kopf des ersten Lanzenreiters zerbarst, als die schwere Bleikugel ihr Ziel fand. Die verbliebenen neun Mann verließ mit einem Mal die Entschlossenheit, und sie fielen zurück. Fern im Süden sah Zarvora den Signalfeuerturm in Flammen stehen, und der leichte Wind zog eine dunkle Rauchfahne über die Ebene. Ihre Verfolger begannen Musketen abzufeuern, und eine Kugel durchschlug Zarvoras Gewand, als sie sich nach ihrer letzten Waffe bückte, einer kurzläufigen Westock Kaliber 0,5 Zoll. Nun schlössen weitere Reiter zu den Ghanern auf - und dann stoben die Verfolger wie eine verwirrte, schreiende Gänseschar auseinander, als die Neuankömmlinge mit Säbeln auf sie eindroschen. »Unsere letzten Lanzenreiter!« rief der Turmchef. »Dann machen wir kehrt, wir sind weit genug geflohen.« Das wilde Gefecht, das nun folgte, währte keine Minute, aber anschließend lagen sechs Reiter der Ghaner und der Turmchef tot vor Zarvora, und die drei überlebenden Lanzenreiter ihrer Leibwache preschten mit ihr weiter nach Süden. »Das sind wilde, grausame Krieger!« rief der Mann, der neben ihr ritt. »Wir waren ihnen zahlenmäßig ebenbürtig, konnten uns ihrer aber kaum erwehren. Und als dann Eure Rakete geflogen kam, hat uns auch noch eine zweite Schwadron angegriffen.« Sie sammelten sich mit weiteren überlebenden Lanzenreitern bei dem brennenden Signalfeuerturm und brachen dann gemeinsam nach Woomera auf Am späten Nachmittag trafen sie in der befestigten Hauptstadt ein. Die Türme der Stadt erhoben sich vor dem blauen Himmel, und das dunklere Blau des Spiegelsonnenbandes zog sich wie eine riesenhafte Schärpe über den Himmel. Das Band war in eine exzentrische, außerhalb des Mittelpunkts liegende Umlaufbahn geglitten, während es sich mühte, die Schäden vom Impulsstrahl des Wandersterns zu flicken, und war daher schon am späten Nachmittag zu sehen. »Sogar den Himmel habe ich umgekrempelt, aber jetzt schau mich an«, murmelte Zarvora vor sich hin, als sie zum westlichen Stadttor ritt. - 280 Zarvoras Diener rief ihr die über Signalfeuer eingehenden Nachrichten zu, schon als sie von ihrem vor Erschöpfung zitternden Pferd stieg.
»Eine Streitmacht von zweitausend Mann belagert die Great Western in Warrion. Eine weitere Streitmacht in Hawker aber bisher keine Zahlen. Die Bahnstation Yuntall wird von einer Streitmacht von über fünftausend Mann belagert -« »Yuntall! Aber das ist doch an der Gleitbahn nach Brocknil!« »Es ist bestätigt. Oberbürgermeisterin. Wirramina meldet, daß dreitausend Lanzenreiter der Ghaner die Gleitbahnstrecke nach Westen überquert haben und weiter nach Süden reiten, aber nicht angreifen.« »Sie wollen uns in die Zange nehmen. Sie werden sich südlich des Lake Tyers vereinen und Woomera von der Südostallianz abschneiden. Sie bewegen sich schnell und auf unsere Schwachstellen zu. Wie machen sie das? Hat der entflohene Vittasner ihnen einen zweiten Kampfkalkulor gebaut? Bring mich sofort zum Gleitbahndepot.« Der Stadtgeneral von Woomera holte Zarvora im Depot ein, als sie sich gerade bemühte, eine Galeerenlok samt Besatzung aufzutreiben. »Die Ghaner stecken das Strauchwerk zwischen unseren Signalfeuertürmen in Brand, um uns zu blenden«, sagte er als er ihr folgte. »Bald werden alle unsere Verbindungen nach Westen und nach Osten gekappt sein.« »Das Signalfeuernetzwerk hat seine Aufgabe bereits erfüllt«, versicherte ihm Zarvora. »Eure befestigten Städte sind gewarnt und wurden gesichert. Die meisten davon können einer begrenzten Belagerung durch ein paar tausend Angreifer standhalten.« »Aber Hawker wird von zehn-, vielleicht gar zwölftausend angegriffen.« Zarvora starrte ihn erstaunt an. »So viele?« »Und sie haben Bombarden. Ich habe einen Galeerenzug requiriert, um ihnen Entsatz zu schicken. Vierhundert Mann und ein Dutzend von unseren Bombarden.« »Das scheint zu wenig, aber woher sollen wir das wissen. Ich muß auch mit auf diesen Zug.« »Wie Ihr wünscht, Frelle Oberbürgermeisterin, aber außerhalb der befestigten Städte ist es gefährlich.« - 281 Als der Galeerenzug in dieser Nacht die Südspitze des Lake Tyers erreichte, ließ Zarvora anhalten. Sie befahl, in der Dunkelheit ein Pferd zu entladen und wies den Zugkommandanten an, ohne sie weiterzufahren. Als der Zug auf die Jochbrücke hinausfuhr, saß sie allein auf ihrem Pferd und sah die Waggons im Licht der Spiegelsonne in der Feme verschwinden. Die Ruftodesländer reichten hier sehr weit ins Landesinnere und begannen nur eine Viertelstunde zu Pferd von diesem Gleitbahnabschnitt. Langsam ritt sie über den Boden des ausgetrockneten Sees. Mit einem Mal blitzte links von ihr ein schwacher Lichtschein auf, gefolgt von einem Knall in der Feme. Die Brücke war vermint gewesen. So hätte ich es auch gemacht, dachte Zarvora und ritt weiter. Nach etwa zwanzig Minuten sagte ihr ein schwaches Kribbeln, daß sie eine Ruftodeszone betreten hatte. Ihr Pferd drängte nun nach Süden, und eine Zeitlang ließ sie dem Tier seinen Willen. Jetzt war sie vor menschlichen Angreifern in Sicherheit und konnte dem Streifen der Ruftodesländer bis nach Peterborough folgen. Und während sie so ritt, ging ihr immer und immer wieder ein Name durch den Sinn. Lemorel, Lemorel, Lemorel. Einige verschlüsselte Depeschen hatten von einer Kommandantin Lemorel gesprochen, der Anführerin der Invasoren aus Alspring. Lemorel war ganz sicher kein Ghaner-name. Lemorel Milderellen hatte fünf Jahre zuvor John Glasken verschleppt und war mit ihm zu den Städten von Alspring aufgebrochen. Lemorel war eine ihrer getreuesten und vielversprechendsten jungen Drachenbibliothekare gewesen. Kein Wunder, daß die Ghaner genau wußten, wo sie zuschlagen mußten, um den meisten Schaden anzurichten. Das Schwirren und Sausen im Kalkulorsaal von Libris nahm einen regelmäßigen Rhythmus an, als das Diagnoseprogramm abgearbeitet wurde. Es kamen keine Anomalien dabei heraus, der Kalkulor von Libris war vollkommen in Ordnung. MULTIPLIKATOR 8 und PORT 3A stellten ihre Abakus zurück, und MULTIPLIKATOR 17 lehnte sich nach hinten, während er mit seinem Fußpedal die letzten Berechnungen an den nächsten Knoten durchgab. Das Betriebsgeräusch der Riesenmaschine verstummte allmählich, als wäre gerade Schichtende.
»Sie wird runtergefahren, PORT«, sagte MULTIPLIKATOR 17, aber die Komponenten in der Nähe wandten sich nur zu ihm um und funkel - 282 ten ihn wütend an. Eine Regulatorin kam, legte ihm ihren Stab auf die Schulter und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen. Das Geräusch wurde leiser, bis nur noch die Abfragesignale zu hören waren, die alle fünf Sekunden erklangen. Es gab keine Eingaben mehr, nichts mehr abzuarbeiten. Der Systemherold erhob sich und klopfte mit seinem Schwarzholzstab auf den Boden. »System halt!« rief er. Die Signale wurden abgestellt, und es herrschte Stille. Viertausend Augenpaare waren auf ihn gerichtet. »Komponenten hergehört! Die Schicht ist beendet. Es folgt eine Bekanntmachung.« Ein Stimmengewirr erhob sich im Kalkulor. Die Regulatorin neben MULTIPLIKATOR 17 setzte sich und begann leise zu schluchzen. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie lehnte den Kopf an seine Brust und begann sein Hemd mit ihren Tränen zu netzen. Ihm war auch nicht viel besser zumute. »Irgendein verdammter Umbau, wette ich«, sagte MULTIPLIKATOR 8 zu PORT 3A. »Sei nicht dumm«, entgegnete der »Sie schalten den Kalkulor ab.« Sie saßen einen Moment lang schweigend da. »Das können sie doch nicht machen«, sagte MULTIPLIKATOR 8. »Und was ist mit unserer Arbeit? Wer soll die dann erledigen?« »Unsere Arbeit? Wer weiß, vielleicht gibt es den Stadtstaat ja gar nicht mehr, vielleicht haben die Südmauren die Armeen des Bürgermeisters vernichtend geschlagen und rücken nun auf die Hauptstadt vor« »Von so was stand aber nichts im Signalfeuerverkehr. Die Lage ist ruhig, und es herrscht Wohlstand, bloß daß die Inflation des Royal auf drei Komma zwei Prozent gestiegen ist.« »Dann ist es das jetzt... das Ende der Maschine.« »Nein, sie wird nur neu konfiguriert.« Noch während er das sagte, ertönte hinten im Kalkulorsaal ein dumpfes Klappern. Die schweren Vorhänge, die den Saal teilten, wurden an Drähten nach hinten gezogen. Als sie an der Rückwand angelangt waren, wurden die Flügeltüren dazwischen geöffnet. Ein Diener kam herein, der eine Schriftrolle in der Hand hielt, die mit einem schwarzen Band zusammengehalten wurde und ein schwarzes Siegel trug. Es war ein Erlaß von Tarrin, und der Systemsteuerer erschien gleich dahinter in der Tür. Er würde den Text persönlich verlesen. Als Tarrin auf dem Podium angelangt war klopfte der Systemherold - 282 mit seinem Stab auf den Boden, obwohl beinahe Schweigen herrschte. »Das Wort hat der Systemsteuerer!« »Meine Mitseelen in dieser großen Maschine, dem Kalkulor von Libris«, begann er und erbrach das Siegel an der Rolle. »Ich habe hier einen Erlaß von Bürgermeister-Seneschall Jefton, in seiner Eigenschaft als Herrscher über Rochester. Er lautet: >Allen Gerichten, Dienern und Offizieren des Bürgermeisters und den Einwohnern des Herrschaftsgebiets von Rochester sei hiermit kundgetan, daß die als Kalkulor von Libris bekannte Maschine hiermit außer Dienst genommen wird. Sämtliche Komponenten, die ehedem Strafgefangene waren, erhalten hiermit einen bürgermeisterlichen Straferlaß. Sämtliche Komponenten, die man womöglich in den Dienst des Kalkulors gezwungen hat, obwohl sie keine Strafgefangenen waren, erhalten ihre Freiheit zurück, fünfzig Goldroyal und die vollumfängliche Erstattung ihres verlorenen Besitzes. Euer Dienst im Kalkulor von Libris hat die Welt verändert. Nehmt meinen Dank entgegen. <« Er ließ die Schriftrolle sinken und sah sich im Kalkulorsaal um. Die Reihen der Gesichter, die ihn anstarrten, zeigten keine Regung. Dann ergriff er wieder das Wort. »Diejenigen Komponenten, die Schwierigkeiten haben, sich in dem Leben außerhalb von Libris wieder zurechtzufinden, werden natürlich administrative Unterstützung erhalten. Sämtliche Drachenbibliothekare, die den Regulatorendienst versehen, werden ohne Herabstufung auf andere Stellen versetzt. Bitte geht jetzt in eure Zellen und packt euer Hab und Gut. Die Türen sind
nicht mehr verschlossen. Komponenten des Kalkulors von Libris, namens des gesamten Mitarbeiterstabs von Libris sage ich euch Lebewohl und wünsche euch viel Glück auf eurem weiteren Lebensweg.« Er trat von dem Podium herab und ging dann den Mittelkorridor entlang durch den Saal. Eine Komponente stand auf, als er an ihr vorüberging. »Fras Steuerer, was wird uns denn ersetzen?« fragte der Mann flehentlich, die Hände ausgestreckt. »Das ist unser Zuhause!« rief PORT 3A, der in der Nähe saß. »Das ist unser Staat, unsere Welt. Das könnt Ihr uns doch nicht wegnehmen.« Beifälliges Gemurmel durchlief den ganzen Kalkulor. Tarrin zuckte hilflos mit den Achseln, als er von Komponente zu Komponente sah. - 283 »Es gibt jetzt kleinere Kalkuloren - und sogar mechanische. Und die haben größtenteils die Arbeit der Signalfeuerverschlüsselung und der Aktenverwahrung übernommen.« »Wir gehen aber nicht!« schrie die Komponente, die vor ihm saß, und dieser Schrei hallte von den Wänden und aus den Mündern Dutzender Komponenten wider. »Unten in den Kellergewölben sind Vorräte für Monate!« rief die Regulatorin, die neben MULTIPLIKATOR 17 gesessen hatte. »Wir können hierbleiben!« »Das ist alles nicht meine Schuld. Ich habe lange und erbittert für den Kalkulor gefochten. Der Bürgermeister wird uns räumen lassen, wenn wir nicht freiwillig gehen.« »Wir könnten die Komponenten bewaffnen!« rief ein Regulator. »Zwölftausend Komponenten wären eine furchteinflößende Armee!« »ja, und die meisten von uns waren früher Verbrecher!« rief eine rauhe Stimme. »Wir können genauso gut schießen, schlagen und zustechen wie die anderen.« Tarrin sah sich verwirrt um. »Aber die meisten von euch wollen doch sicherlich gehen!« »Wer gehen will, kann das ja auch gerne tun!« rief PORT 3A über die Reihen der Komponenten hinweg. »Aber wir bleiben hier!« Der Jubel, der nun ausbrach, war ohrenbetäubend, und die Komponenten und Regulatoren, die dem Eingang am nächsten waren, liefen hinaus, um den gerade dienstfreien Komponenten von dem Ereignis zu berichten. Tarrin war von wütend schreienden Komponenten umstellt und konnte sich nicht rühren. Vor den Toren von Libris warteten die Delegierten und Anhänger der Menschenrechtsverbände von Rochester und der Südostallianz vergeblich darauf, die frisch befreiten Komponenten des Kalkulors von Libris begrüßen zu dürfen. Als sich nach einer Stunde noch nichts getan hatte, verlangten sie, eine Delegation hineinschicken zu dürfen, und weigerten sich zu glauben, daß sich die Komponenten drinnen verbarrikadiert und sich die Regulatoren und Wachen auf ihre Seite geschlagen hatten. Die Delegation wurde verprügelt und vor die Tür gesetzt. Die Kerzen in ihren bunten Laternen brannten herunter, und dann begann es zu regnen. Die Buchstaben auf den Transparenten, die sie hielten, verliefen und waren bald nicht mehr lesbar. Die Belagerung von Libris währte nur wenige Stunden, und in — 283 — dieser Zeit wurde der große Kalkulor wieder in Betrieb genommen. Dann traf eine Nachricht ein, die mit dem persönlichen Kode der Oberbürgermeisterin verschlüsselt war und in der die Generalmobilmachung der gesamten Südostallianz ausgerufen wurde. Die Bürgerrechte unterlagen nun dem Kriegsrecht, und der Kalkulor wurde eindeutig nicht aufgelöst. Tarrin wurde von den Komponenten auf den Schultern aus dem Kalkulorsaal getragen - sie waren ihm alle dankbar für die lange Reihe der Rechtsstreitigkeiten, die er ihretwegen ausgefochten hatte. John Glasken tauchte nach drei Stunden wieder aus der Signalfeuerdienststelle auf, viel zu erschöpft von der Herumzankerei mit den Schreibern und Dienern, um wütend zu sein. Ettenbar gesellte sich zu ihm, und gemeinsam gingen sie die Straße hinab. »Morgan! Sie haben die verdammte dritte Rakete nach Morgan gebracht, und der einzige Grund, warum ich noch nicht weiter bin als auf dem Rangierbahnhof von Rochester ist der, daß in Morgan die Spurweite von normal auf breit wechselt und sie keinen passenden Flachwagen mit
normalbreitem Rädergestell haben! Eine fehlgeleitete Signalfeuerbotschaft, hat der Aufsichtsbeamte auf dem Rangierbahnhof von Morgan gesagt. Das Signalfeuersystem ist wirklich auch nicht mehr das, was es mal war.« »Da wird die Oberbürgermeisterin aber gar nicht erfreut sein!« »Die Oberbürgermeisterin wird mir die Schuld daran geben! Idioten und Nichtskönner allenthalben - Anwesende natürlich ausgenommen. Ich muß diese Rakete pünktlich nach Woomera bringen, und wenn ich einen Sattel draufschnallen und sie hinreiten müßte.« »Übertreibt Ihr nicht ein wenig, Fras 3084?« erwiderte Ettenbar. »HÖRT AUF MICH SO ZU NENNEN!« schrie Glasken mit heiserer Stimme. »Oh, es tut mir leid, Fras Johnny. Unter Streß neige ich dazu, in die Klarheit und Disziplin des Kalkulors von Libris zurückzufallen. Aber immerhin habt Ihr Euch durchgesetzt.« »Ja, das habe ich, und jetzt gehe ich einen trinken, und dann nehme ich den nächsten Windzug nach Morgan.« Die Schenke war gerammelt voll, und nach einer langen, ärgerlichen Wartezeit kam Glasken mit zwei Tellern Pastete und seinem Krug Bier zurück. Sie setzten sich auf einen Dachschindelstapel und aßen. - 284 »Die Leute hier machen sich Sorgen«, sagte Glasken zwischen zwei Bissen. »Irgendwas mit einem Kode IKIO. Apropos: Darüber haben sie auch im Signalfeuerbüro gesprochen.« Ettenbar wandte sich sofort mit großen Augen zu ihm um. »Das ist ein Invasionskriegsalarm der Stufe zehn.« Glasken runzelte die Stirn, stellte seinen Teller ab und griff sich seinen Krug Schwarzbier »Krieg, ja? Irgendwo ist ja immer Krieg. Ich wette, daß sind wieder die Südmauren in Einley. Das ist so unvermeidlich wie der Ruf. Oder vielleicht hat irgendein Burgvogt seine Wildhüter losgeschickt, um seine Nachbarn abzuknallen - und dann ist es hoffentlich kein Nachbar meines alten Herrn. Das letzte, was ich jetzt gebrauchen könnte, wären Eltern auf der Flucht.« Nachdenklich trank er einen Schluck Bier. »Fras Johnny, Stufe zehn ist ein sehr großer Krieg mit einer Invasionsstreitmacht von über fünfzigtausend Mann.« »Fünfzigtausend!« Schaum sprühte über den Rand von Glaskens Krug. »So eine große Armee hat es noch nie gegeben. Ich - Etten, was ist denn? Ist Euch der Ruf nicht bekommen?« Glasken folgte seinem Blick. Ettenbar sah die Straße hinab, zu einer Reiterin, die sich allein auf einem lahmenden Pferd näherte. Die Frau war großgewachsen, trug das Haar streng nach hinten gebunden und hatte einen zerlumpten Reiseumhang um. Schmutzige Verbände bedeckten ihren linken Arm, und an einigen Stellen traten dunkle Blutflecken hindurch. Als sie näherkam, sahen sie, daß sie sich einen Säbel in der verletzten Hand festgebunden hatte, und an ihren Stiefeln und den Flanken ihres Pferdes waren Bißspuren zu erkennen. »Oberbürgermeisterin!« rief Ettenbar, ließ seinen Teller Reispastete fallen und lief hinaus auf die Straße. Glasken folgte ihm, den Krug noch in der Hand. Zarvora hielt ihr Pferd an und blickte zu ihnen hinab, aber sie schien nicht klar sehen zu können. »Signalfeuerturm«, murmelte sie. Das Pferd, das stehengeblieben war, wollte nun nicht mehr weiter Glasken rief einen Stallburschen herbei und half Zarvora aus dem Sattel. Sie konnte sich kaum aufrecht halten, aber nach einem Schluck von seinem Bier kam sie wieder zur Besinnung. »Signalfeuer - bringt mich dorthin.« »Frelle Oberbürgermeisterin, erst muß sich ein Arzt um Euch kümmern«, begann Ettenbar - 284 »Bringt mich sofort zum nächsten Turm«, entgegnete sie mit Nachdruck, nun wieder mit ihrer gewohnten Altstimme. »Jawohl, Frelle«, sagte Glasken, hob sie auf den Armen hoch und trug sie zum nächsten Turm. Er war erstaunt, wie leicht sie war, genau wie bei Ilyire, als er den betrunkenen Ghaner auf den
gestohlenen Karren gehoben hatte. Ettenbar ging hinterher, und dann folgte ihnen auch noch eine kleine Menschenschar, die mitbekommen hatte, daß die Frau die Oberbürgermeisterin war. »Oberbürgermeisterin, macht Euch keine Sorgen«, sagte Ettenbar mit beruhigender Stimme. »Wir sind zwei treue Diener, zwei FUNKTIONEN aus dem rechten Register.« »Kalkulor-FUNKTIONEN? Nicht zu fassen«, murmelte sie. »Er redet irres Zeug. Wir sind's: Glasken und Ettenbar«, fügte Glasken hinzu. In der Signalfeuer-Dienststelle brachte man ihm mit einem Mal viel mehr Ehrerbietung entgegen als in den drei Stunden zuvor. Der stellvertretende Turmchef führte sie flugs zum Aufzug, und dann fuhren sie zur Plattform hinauf. Glasken trug Zarvora immer noch auf den Armen. Der Turmchef empfing sie, als sie die Plattform betraten. »Was gibt es Neues?« fragte Zarvora. »Ich war zwei Tage lang unterwegs.« »Hawker ist gerade gefallen«, sagte der Turmchef, der annahm, daß Glasken und Ettenbar über eine hohe Geheimhaltungsstufe verfügten. »Ehe die Verbindung abbrach, war davon die Rede, daß Wirrinya angegriffen wird und sich wahrscheinlich keinen Tag mehr halten kann. Auch auf die Mauern von Woomera hat es einen erbitterten Angriff gegeben, aber Kartätschen aus den Bombarden haben die Ghaner wieder vertrieben. Die Bahnstationen in Richtung Westen erhielten gestern abend aus Kalgoorlie den Befehl zur Selbstzerstörung, und daher wurden bis Naretha die Strecken gesprengt und die Fahrzeuge in Brand gesteckt.« »Gut. Die Wüste wird Kalgoorlie vorläufig Schutz bieten. Was noch?« »Die Gleitbahnstrecke von Nackara bis Cockbum wurde erobert, und die Ghaner haben mindestens zwei Galeerenzüge und etliche Windloks in ihre Gewalt gebracht. Die Zitadelle in Brocknil hat standgehalten, aber die Stadt selbst und die Bahnstation ist dem Feind in die Hände gefallen. Außerdem haben sich die Südmauren offenbar mit den Ghanern aus Alspring verbündet. Der Signalfeuerturm von Darlington wurde - 285 gestern von ihren Bombarden zerstört. Die Verbindung zum Zentralbund ist unterbrochen.« Im Hintergrund lauschten Glasken und Ettenbar vollkommen ungläubig dieser Litanei von Katastrophen. »Die Ghaner haben versucht, Peterborough abzuschneiden, aber dieses eine Mal hatten sie sich übernommen und wurden von den berittenen Musketieren des Bürgermeisters fünfzehn Kilometer östlich der Stadt aufgehalten.« Zarvora schlurfte hinüber zu einer Landkarte an der Wand und fuhr mit dem Finger über die Namen einiger Städte. »Dann ist ihnen also doch jemand gewachsen«, sagte sie und zeigte dabei auf Peterborough. »Es gibt noch eine gute Nachricht, Hoheliber. Ein Selbstmordkommando der Ghaner hat es ganz bis Morgan geschafft. Sie haben einen Gleitbahnabschnitt gesprengt und zündeten an den Mauern des Signalfeuerturms eine weitere Sprengladung, ehe die Miliz sie zur Strecke brachte. Glücklicherweise haben sie zuwenig Pulver genommen, und der Turm steht noch und ist noch in Betrieb. Und der Abschnitt, den sie gesprengt haben, erwies sich als Nebengleis, und daher ist der Verkehr nicht unterbrochen.« In diesem Moment trat ein Arzt aus dem Fahrstuhl, um sich um Zarvora zu kümmern, und als man ihr die alten Verbände aufschnitt, gab ihr jemand von der Besatzung einen Honigkeks. »Ohne Hilfe von außen hätten die nie innerhalb von drei Tagen so schnell und so weit vorstoßen können«, sagte Zarvora zu dem Turmchef. »Es muß Vorauskommandos gegeben haben, die koordiniert haben, daß alle gleichzeitig zuschlugen. Und sie müssen auch Unterstützung aus unserem System heraus bekommen haben. Wie viele Galeerenloks gibt es hier in Peterborough?« »Zwei, Hoheliber. Drei weitere wurden am zweiten Tag der Kämpfe nach Norden beordert und in der Nähe von Hawker zerstört.« Zarvora zog zwei der vier Pistolen aus ihrem Gürtel und reichte sie Ettenbar. Er begann sofort, sie zu reinigen und nachzuladen. »Sagt dem Bürgermeister, er soll die Stadt abriegeln, mit der Rationierung beginnen und sich auf eine lange Belagerung einstellen. Treibt alle Schafe und Pferde, die nicht aus den Vorräten ernährt
werden können, zusammen und schickt sie auf dem Landweg nach Morgan. Sie dürfen nicht in die Hände der Ghaner fallen. Dann sollen die Bahnarbeiter - 286 die Strecken nach Osten und Norden sprengen. Kuppelt so viel rollendes Material hinter die beiden Galeerenloks, wie für langsame Fahrt gerade noch zuträglich ist und ladet möglichst viele Nichtkombattanten hinein: Frauen, Kinder und Verwundete. Ich breche in den Süden auf, nach Burrat.« Der Turmchef nickte bei jeder Anweisung, vermittelte aber nicht den Eindruck großer Dringlichkeit. »Oberbürgermeisterin, das wäre unklug. Die Bevölkerung der Stadt zählt darauf, daß Ihr sie führt. Euer Platz ist hier, Ihr müßt hier Euer Herrschaftsgebiet gegen die Invasoren verteidigen.« Zarvora fegte den Einwand mit frisch verbundener Hand beiseite. »Das würde mich vom Rest der Welt abschneiden, Fras Turmchef, denn diese Stadt werden die Invasoren auf jeden Fall belagern.« »Dann werdet Ihr uns also verlassen, Frelle Hoheliber?« »Ja, das werde ich. Und jetzt befolgt meine Befehle.« Trotz gewisser Zweifel beschloß Glasken, daß er die besten Uberlebenschancen hatte, wenn er in der Nähe der Oberbürgermeisterin blieb. Ettenbar und er wurden losgeschickt, um sicherzustellen, daß mit den Galeerenloks alles in Ordnung war, und um Zarvoras Befehle weiterzuleiten. Als sie wieder auf die Straße hinaustraten, hatten sich die Nachrichten über die Invasion herumgesprochen, und die Stadt war dabei, sich in ein Tollhaus zu verwandeln. Die Preise waren in Minutenschnelle um das Zehnfache gestiegen, Frauen und Kinder wurden von grimmig dreinblickenden Männern zu dem hastig bereitgestellten Zug gebracht, und Aufwiegler riefen der Menge zu, Rochester und die Oberbürgermeisterin habe sie im Stich gelassen. Der Zug stand nun bereit, und die Galeerenloks Firefly und hon Duke sollten ihn ziehen. Die Menge ringsumher tobte; weinende Frauen, hysterische Kinder und verwirrte Männer, und auch hier hielten Aufwiegler flammende Reden. »Guter alter Glasken, du hast mal wieder auf den Sieger gesetzt«, sagte Glasken, als sie den Führerstand der ersten Lok verließen, wohin sie Zarvoras Befehle überbracht hatten. »Mein lieber Johnny, das ist nicht der richtige Augenblick, um an Pferderennen zu denken«, tadelte ihn Ettenbar. »Ettenbar, schaut mal her. Habt Ihr schon mal an einem Krieg teilgenommen?« »Ah, nein.« »Ich aber schon, und das lief ganz anders ab. Vor ein paar Stunden - 286 machten sich die Leute noch Sorgen, was es denn wohl mit diesen Kriegsgerüchten auf sich hatte, aber sie waren noch loyal. Ich muß es doch wissen, ich stand mit ihnen furzend und fluchend in der Signalfeuer-Dienststelle Schlange. Und mit einem Mal bringen diese ganzen Männer die Menge gegen die Oberbürgermeisterin auf. Das ist kein spontaner Mob, das ist von langer Hand vorbereitet.« Sie trafen wieder beim Signalfeuerturm ein, als die Sonne gerade unterging. Der Schreiber unten im Büro gab oben Bescheid, daß Zarvora herunterkommen sollte. Sie trat humpelnd aus dem Fahrstuhl, sah aber schon viel besser aus als Stunden zuvor. Dann gingen sie durch die Straßen, und diejenigen, die sie erkannten, verhöhnten sie. »So eine Feigheit, vor den Ghanern wegzulaufen!« rief jemand mit rauher Stimme, und dann flog etwas durch die Luft und landete auf Zarvoras Umhang. »Bleib und kämpfe, du Miststück!« Das war die Stimme einer Frau, die von einem Balkon herabscholl. »Wir Frauen gehören hierher, zu unseren Männern.« »Wir werden die Ghaner willkommen heißen, statt gegen sie zu kämpfen. Tod der Oberbürgermeisterin!« Glasken und Ettenbar flankierten sie, als sie durch die herandrängende Menge gingen. »Beachtet sie gar nicht, edle Frelle Oberbürgermeisterin«, sagte Ettenbar, der stolz mit einer Muskete einhermarschierte.
»Ja, Frelle Oberbürgermeisterin«, pflichtete Glasken bei. »Die Leute haben mich mein ganzes Leben lang als Feigling beschimpft, aber -Zurück, ihr Scheißkerle!« »Sie rufen Beschimpfungen auf Austarisch, obwohl hier in der Stadt Woomeranisch gesprochen wird«, bemerkte Zarvora. »Ich kenne mich mit dem Pöbel aus, und der hier ist besser organisiert als der Fahrplan der Great Western.« Zarvora ging direkt zum ersten Waggon, nachdem sie sich durch die wütende Menschenmenge auf dem Bahnsteig gedrängt hatte. Die Leute begannen an die Waggons zu klopfen, während drinnen alles voll war mit schreienden Kindern und ihren weinenden Müttern. »Geht zur Firefly und sagt dem Hauptmann, er soll noch warten«, sagte Zarvora zu Glasken und Ettenbar. Sie brachen sofort auf. Hauptmann Wilsart, Kommandant der Firefly, half ihnen durch die Einstiegsluke. - 287 »Wenn der Zug abfährt, bricht ein Aufruhr los«, mahnte Glasken. »Die Oberbürgermeisterin sagt, wir sollen noch warten. Wer steckt denn hinter diesem ganzen Theater?« »Wer auch immer es ist - die Oberbürgermeisterin kann sich auf die Great Western verlassen«, sagte Hauptmann Wilsart in ruhigem Tonfall. Glasken schaute aus dem Sichtschlitz der Führerkabine und sah, daß das vor ihnen liegende Gleis relativ frei von Menschen war. Ein kleiner Pulk mit Musketen bewaffneter Männem stand auf den Schienenbalken, und einer von ihnen hielt einen Vorschlaghammer und einen großen Schraubenschlüssel. Glasken wandte sich um, als er hinter sich eine Regung bemerkte. Zarvora stieg gerade in die Führerkabine, mit Schmieröl beschmutzt und schnaufend. »Hoheliber! Haben die Leute Euch geschlagen?« stieß Ettenbar hervor. Sie schüttelte den Kopf »Nein, ich bin vom ersten Waggon unter der hon Duke hindurch hierhergekrochen und dann durch die Bodenluke eingestiegen. Macht Euch abfahrbereit. Versetzt Besatzung und Antriebsarbeiter in Alarmbereitschaft, Hauptmann.« »Aber was ist mit der hon Duket« fragte der Kommandant der Firefly. »Ich habe sie abgekoppelt, als ich hierher gekrochen bin. Ich habe auch die Sicherungshebel aus den Bremsen gezogen und sie blockiert.« »Ausgezeichnet, Hoheliber«, sagte der Kommandant und löste die Bremsen. »Wer sind denn die Männer da vor uns auf den Gleisen?« rief Zarvora. »Einer von denen löst die Schwellenschrauben!« Hauptmann Wilsart packte Glasken bei der Schulter. »Geht zum vorderen Schützen und sagt ihm, er soll jeden mit Kartätschen beschießen, der bei der Abfahrt auf uns feuert. Schnell!« Dann wandte er sich an den Lokführer. »Auf meinen Befehl ... los. Abfahrt!« Die Firefly setzte sich in Bewegung, und kaum mehr als das Rumpeln der Räder auf den Schienen warnte die Männer, die vom auf dem Gleis standen. Einige in der Menge jubelten, weil sie glaubten, die Galeerenlok ließe den Waggon mit der Oberbürgermeisterin darin zurück. Einer der Bahnarbeiter sah die Lok näherkommen und rief seinen Kameraden eine Warnung zu. Er hob seine Muskete und feuerte auf das Fenster des Lokführers. Die Kugel prallte an der Panzerglasscheibe ab; und dann erwi - 287 derte der vordere Schütze das Feuer mit einer Kartätsche. Der Schuß traf den Pulk der Männer und einen Augenblick später rumpelte die Firefly über zerschmetterte Leiber und Waffen. Die losgeschraubte Schiene hatte gehalten. Erst bei diesem Schußwechsel bemerkte die Menge, daß etwas nicht stimmte. Die davonfahrende Firefly wurde wild von hinten beschossen, und die Leute stoben auseinander oder gingen in Deckung. Die Aufrührer stürmten die Iron Duke, aber die Besatzung bestand aus loyalen Mitarbeitern der Great Western und gab sich völlig verwirrt. Als die vordere Bombarde dann schließlich schußbereit war, war die Firefly schon hinter einer Kurve verschwunden. »Die Stadt war voller gedungener Flegel aus den Fürstentümern des Westens, die wahrscheinlich bei den Ghanern im Sold stehen«, sagte Zarvora mit grimmiger Miene zu Hauptmann Wilsart.
»Die Besatzung des Signalfeuerturms gehört auch dazu. Am Klicken ihrer Geräte konnte ich hören, daß sie ganz andere Befehle versandten, als ich ihnen gegeben hatte.« »Aber das bedeutet ja -« Über den dunklen Dächern der Stadt explodierte die Signalfeuerplattform des Turms in einem Feuerball. Glasken keuchte entsetzt, aber der Schütze neben ihm sah nicht einmal hin. Zarvora stieg von dem Verbindungsgang zu ihnen hinab. »Wir kommen gleich an die Stadtmauer, Schütze«, sagte sie, als die Firefly über eine Weiche ratterte. »Wenn das Tor geschlossen ist, hast du nur einen Schuß, um es aufzusprengen, und mit diesem Schuß mußt du den Querbalken treffen, sonst sind wir alle tot.« »Keine Bange, Frelle Hoheliber«, erwiderte er. »Sagt mir nur wie schnell wir gerade fahren.« »Fünfundzwanzig Einheiten eures Geschwindigkeitsmaßes.« »Das sind Meilen pro Stunde, Hoheliber Was gut genug für Brunei war, ist auch gut genug für uns. Also, das Tor ist geschlossen, und wir fahren fünfundzwanzig, sagt Ihr Das macht drei Kerben Richthöhe und vier Komma fünf horizontal.« Auf der Stadtmauer sahen zwei Milizionäre mit mehr als rein militärischem Interesse der sich nähernden Galeerenlok zu. Trotz der Dunkelheit waren die beiden Mitglieder der Trainspotting-Bruderschaft von Peterborough allein anhand der Fahrgeräusche und der umrisse in der Lage, die Lok zu identifizieren. - 288 »Das ist eine Galeerenlok der Klasse GWG, und zwar eine Ausführung mit fünf Segmenten«, sagte Musketier Mansorial. »Firefly, das ist die Firefly, GWG-409/5«, erwiderte sein Begleiter Prengian. »Eine Nummer kann ich nicht erkennen, und ohne die Nummer können wir keine bestätigte Sichtung melden.« »Und auch keine Waggons hinten dran, das sollten wir vermerken.« »Laß das Tor zu, wir können die Nummer mit einer Laterne ablesen, wenn sie warten. Hast du das Sichtungsbuch?« Eine Rakete schoß aus dem vorderen Geschützrohr der Firefly, traf das Tor knapp unterhalb des Querbalkens und detonierte. Statt zu bersten, wurde der Balken aus den Halterungen gesprengt, flog in die Luft und kam erst wieder herab, als die Firefly sich durch das zersplitterte Tor schob. »Die Firefly hat das Tor zerschossen!« rief Mansorial ungläubig. »Ich schreib's sofort auf!« rief Prengian aufgeregt zurück. Der schwere Holzbalken zerschlug das hintere Dach der letzten beiden Segmente der Lok, und die Firefly wurde langsamer, da sie den Balken mitschleifen mußte. Unter den Schreien der verletzten Antriebsarbeiter kämpften sich Glasken, Ettenbar, Hauptmann Wilsart und Zarvora mit Beilen durch das Gewirr aus dem Balken, der Zelttuchverkleidung und dem Eschenholzgestell. Sie waren erstaunt darüber, daß die Milizionäre oben auf der Mauer nicht das Feuer eröffnet hatten. »Klassifizieren wir diese Sichtung nun als Unfall oder als Zwischenfall?« fragte Prengian. »Unfälle sind unbeabsichtigt, Zwischenfälle teilweise beabsichtigt«, bekam er zur Antwort. »Sieht so aus, als wäre es eine Mischung aus beidem. Ein Zwischenfall, der einen Unfall auslöste.« »Wir sollten das beim nächsten monatlichen Treffen der Bruderschaft von Peterborough zur Sprache bringen«, sagte Mansorial aufgeregt. »Ach du gütiger Gott, jetzt schau dir das an! Sie rüsten sie um, sie lösen da direkt auf den Gleisen das letzte Segment ab.« »Ja, du hast recht!« rief Prengian. »Aus GWG-409/5 ist gerade GWG-409/4 geworden. Ist das einen neuen Eintrag wert, oder gehört das noch zu dem Bericht über den Zwischenfall?« Endlich gelang es den Arbeitern, den Balken und die Wrackteile auf - 288 die Gleise zu schieben. Das Heck der Lok war derart ramponiert, daß die Räder sich verklemmt hatten, aber Galeerenloks bestanden ja aus mehreren, voneinander unabhängigen Modulen. Auf Hauptmann Wilsarts Befehl hin wurde das Heck der Firefly evakuiert und abgekoppelt, und dann schoß die Galeerenlok wie von der Leine gelassen vorwärts.
»Äh, Prengian«, sagte Mansorial zögernd, so als fiele ihm etwas sehr Wichtiges gerade erst wieder ein. »Ja?« »Die Firefly, GWG-409/4, hat gerade das Tor zerschossen, das wir bewachen.« »Ja, aber es war die GWG-409/5.« »Hätten wir nicht das Feuer eröffnen sollen?« Kurz herrschte beklommenes Schweigen. »Ach, das hätte doch nichts gebracht. Das war eine Lok der Great Western, eine aus der GWG-Klasse! Und außerdem würde uns die Trainspotting-Bruderschaft von Peterborough dann hochkantig rausschmeißen.« »Aber der Sergeant läßt uns an die Wand stellen, weil wir nicht geschossen haben.« »Stimmt, da hast du recht. Geben wir doch ein, zwei Schüsse mit der Bombardierte auf das Wrackteil ab, das sie zurückgelassen haben.« Die Kleinbombarde hatte statt einer Zündschnur ein Steinschloß. Mansorial entsicherte die Waffe, visierte den dunklen Haufen auf der Gleitbahnstrecke an und drückte ab. Eine ein Pfund schwere Kugel schoß aus dem Lauf. Sie durchschlug die Eschenholzwand der Lok und traf die Raketenkiste des hinteren Bordgeschützes. Das Loksegment wurde in Stücke gerissen, als die Sprengköpfe explodierten, und an dieser Stelle wurden das Zweispurgleis zerfetzt und für mindestens eine Stunde unpassierbar gemacht. Firefly selbst war längst in der Dunkelheit der bewölkten Nacht verschwunden. »Fünf Besatzungsmitglieder tot, fünfzehn verletzt«, meldete Ettenbar Hauptmann Wilsart, als sie die kleine Bahnstation Gumbowie passierten. »Siebenundzwanzig Pedalmechanismen sind beschädigt oder zerstört, und ein Viertel des Dachs ist weg. Die hintere Bombarde und den Raketenwerfer haben wir auch verloren.« »Und die Raketen?« fragte Zarvora. »Das Haupt-Munitionslager befand sich hinten.« - 289 »Mist. Wie viele Raketen haben wir vorne noch übrig?« »Drei, Frelle Hoheliber.« Die Firefly fuhr zügig durch die Nacht. Zarvora ließ einige Ersatz-Antriebsarbeiter den Raketenwerfer und die Bombarde aufs Dach montieren, so daß damit in alle Richtungen gefeuert werden konnte. Schließlich gab es weiter nichts mehr zu tun. Zarvora, Glasken, Ettenbar und Hauptmann Wilsart zogen sich in die Führerkabine zurück, setzten sich hin und reinigten und luden im Licht der Laternen ihre Musketen und Pistolen. »Wir sollten bald mal eine Rakete auf das hinter uns liegende Gleis abfeuern«, sagte Zarvora. »Wir müssen die Strecke unterbrechen, wo wir nur können.« »Gute Idee, Frelle Hoheliber«, erwiderte Hauptmann Wilsart leichthin, »aber dafür gibt es bessere Methoden.« »Bessere Methoden? Und Ihr stört Euch gar nicht an den Schäden?« »Als Oberbürgermeisterin habt Ihr den Ausbau der Breitspurstrecke bis nach Rochester befohlen, Frelle, und Ihr habt Euren Sohn nach Brunei benannt. Ihr seid unfehlbar.« Mit dieser Antwort hatte Zarvora nicht gerechnet. »Was ist das bloß mit Euch Leuten von der Great Western?« fragte sie und lehnte sich mit herabhängenden Armen zurück. »Wieso diese fanatische Loyalität gegenüber einem Ingenieur aus der Zeit vor dem Großen Winter, über den wir so gut wie nichts wissen - und gegenüber seiner Spurweite von zwei Meter zehn?« »Weil es das beste ist, was es gibt, Frelle. Wir fragen uns immer: Was hätte Brunei an unserer Stelle getan? Ach, und übrigens: Es sind zwei Meter vierzehn.« Zarvora lächelte. »War Brunei auch General? Wenn er irgendwelche taktischen Schriften hinterlassen hat, sollte ich mir die vielleicht mal ansehen.« »Er war ein Mann des Friedens und des Aufbaus, Frelle. Unser Motto bei der Great Western lautet: Achtet immer auf die praktischen Erfordernisse. Unser praktisches Erfordernis besteht just im Moment darin, so viel Gleisstrecke wie möglich zu zerstören. Mit einer Rakete würde man nur ein
oder zwei Schienen zerstören, und das ließe sich im Handumdrehen wieder reparieren. Ich werde Euch eine bessere Methode zeigen.« Zarvora saß einige Minuten lang nachdenklich da, während der Kom - 290 mandant der Firefly auf den letzten Seiten des Logbuchs der Lok einen Mechanismus skizzierte. Dann reichte er ihr das Buch, und sie hielt es unter eine Lampe. »Habt Ihr jemals daran gedacht, Drachenbibliothekar zu werden, Fras Hauptmann?« fragte sie, als ihr aufging, was er da vorschlug. »Nein, Hoheliber Die Arbeit bei der Bahn ist die einzig wahre Arbeit. Verzeiht, das geht jetzt nicht gegen Euch. Bibliotheken mögen ja ihre Daseinsberechtigung haben, und irgend jemand muß sich natürlich um die ganzen Bücher kümmern und so weiter aber ich schätze mich wirklich glücklich, daß ich nicht dazugehöre.« Zarvora hatte jedermann auf der Signalfeuerplattform des Turms von Peterborough getötet, ehe sie die Lunte des Sprengsatzes zündete, und daher entsprachen die letzten Nachrichten, die von dort über das Signalfeuemetzwerk ausgesandt wurden, ihren Absichten, und vor allem waren keine falschen Befehle in den Süden gesandt worden, nach Burra und Eudunda. Burra war eine Feste im alten Fürstentum Spalding und für eine Belagerung bestens gewappnet. Die Infiltranten hatten es nicht ins Visier genommen, und der örtliche Gouverneur war ein treuer Verbündeter der Südostallianz. Die Firefly traf ohne weitere Zwischenfälle in Burra ein. Der Gouverneur und eine kleine Gruppe von Honoratioren empfingen Zarvora am Bahnsteig, um ihre Befehle entgegenzunehmen. »Schickt eine unbemannte Windlok nach Norden«, wies Zarvora den Gouvemeur von Burra an. »Hängt einen Balkenabwurfwagen an und beladet ihn mit Minen, die mit Zeitschaltem versehen sind. Stellt sie so ein, daß alle zwölf Kilometer eine direkt aufs Gleisbett abgeworfen wird, die dann eine Minute später detoniert. Und nach dem letzten Abwurf soll in der Lok eine große Mine explodieren.« Die Verwundeten aus der Firefly wurden in das Fort gebracht, und Mechaniker strömten aus, um den beschädigten Waggon zu reparieren, zerstörte Pedale zu ersetzen und die stromlinienförmige Zelttuchverkleidung zu flicken. Ehe die Arbeiten abgeschlossen waren, fuhr eine unbemannte Windlok nach Norden ab, einen Wagen voller Minen hinter sich herziehend. Zarvora stand auf der Signalfeuerplattform des nach Eudunda ausgerichteten Turms, als man im Norden einen Blitz sah, gefolgt von einem fernen Knall. »Jetzt hat er die erste Mine abgeworfen«, sagte der Signalfeueremp - 290 fänger, der durch ein Fernrohr nach Norden schaute. »Ich sehe immer noch die Rücklichter der Windlok. Wißt Ihr, Oberbürgermeisterin, als die Signalfeuerplattform von Peterborough in die Luft geflogen ist, bin ich fürchterlich erschrocken. Ich hatte eine Viertelstunde lang weiße Punkte vor den Augen.« »Wenn sie der Infrastruktur den Krieg erklären wollen, werde ich es ihnen heimzahlen«, sagte Zarvora grimmig. Der Empfänger starrte weiter in das Okular des Fernrohrs. »Ich kann Peterborough ganz deutlich sehen, und darüber Leuchtspuren wie von Signalraketen. In allen möglichen Farben. Ein großes Fest, um die Invasoren zu begrüßen, so sieht es aus. Aber diese Windlok - Aua!« Diesen Blitz hatte auch Zarvora mit unbewaffnetem Auge gesehen. Sie schob den verwirrten Empfänger beiseite, und dann erreichte der Knall die Turmplattform. »Feuer, brennende Bäume. Der verdammte Zeitschalter der großen Mine muß zu früh losgegangen sein - Aber nein! Brennende Waggons, ein einziges Durcheinander, mindestens ein Dutzend. Sie müssen uns von Peterborough aus einen Galeerenzug hinterhergeschickt haben, um uns zu verfolgen. Und Eure unbemannte Windlok ist frontal hineingeknallt.« Der Empfänger rieb sich die Augen. »Gute Arbeit«, sagte er. »Und zwar von einer Lok der Great Western.«
Zwanzig Minuten später fuhren sie in südliche Richtung weiter. Die Fire-fly war repariert, und eine frische Besatzung trat in die Pedale. Glasken war wenig angetan von dem kalten Wind, der durch die offenen Seitenfenster in den Führerstand hineinwehte. »Könnt Ihr denn da keine Glasscheiben einsetzen lassen wie bei den Loks der South and Eastern?« fragte er, als er bibbernd neben Hauptmann Wilsart saß. »Oh nein, Fras, der Wind vermittelt einem ein Gefühl für das Land und das Wetter. Diese Rohlinge von der S&E würden doch sogar so weit gehen, die Windgeschwindigkeit mit einem Meßgerät auf dem Dach zu ermitteln.« »Klingt vernünftig, finde ich.« »Aber Fras, es geht doch um die Beschaffenheit des Windes. Ist er stetig oder stürmisch? Aus welcher Richtung kommt er? Ändert er alle paar Minuten die Richtung? Wie kalt ist er?« - 291 »Also, heute nacht ist er jedenfalls verdammt kalt! Und ich dachte. Eure Galeerenloks wären windunabhängig.« »Das sind sie natürlich auch, Fras, aber die Firefly zeigt doch dem Gegenwind ein Profil. Welchen Gang man wählt, und wie schnell die Besatzung strampelt, das hängt alles vom Wind ab - und natürlich auch von der Neigung der Strecke und der Beladung des Zugs. In einem Galeerenzug müssen wir eine optimale Übersetzung zwischen den Pedalen und den Antriebsrädern herstellen, um die Geschwindigkeit und das Drehmoment miteinander ins rechte Verhältnis zu bringen und gleichzeitig die Arbeiter, die in die Pedale treten, nicht über Gebühr zu erschöpfen. Als Kommandant muß man ein Teil des Zugs werden, Fras, da muß man den Wind ebenso spüren, wie der Zug ihn spürt. Wie Mister Brunei -« Zarvora unterbrach ihn. »Dieser Brunei ist ein Ingenieur aus der Zeit vor dem Großen Winter aber dennoch wißt Ihr soviel über ihn.« »Ja, Frelle, er verstarb im September vor 2080 Jahren, und die verdammten Verräter in der britischen Regierung zerstörten seine letzte Breitspurstrecke im Jahre 1892 des alten Kalenders.« »Britannien - ich habe davon in einem Eurer Gleitbahn-Versepen gelesen.« Sie kniff kurz die Augen zusammen. »Und wie lange ist das heute her?« »2074 Jahre, Frelle Hoheliber.« Zarvora saß aufrecht da. »Aber das stimmt ja genau. Wißt Ihr auch das Jahr in dem der Ruf begann?« »2021 nach dem alten Kalender, Frelle. Vor 1918 Jahren.« »Stimmt, stimmt genau. Habt Ihr das aus meinen 1702 in den >Astronomischen ProtokoIlen< veröffentlichten Aufsätzen?« »Nee, das wissen wir dank guter Buchführung aus unseren Logbüchern, Oberbürgermeisterin. Mister Brunei hat immer großen Wert auf Buchführung gelegt. Und einige unserer Gleitbahn-Epen und -Sagen halfen da auch, denn wenn liederliche Bürgermeister im Laufe der Jahrhunderte Kriege anzettelten und unsere Archive niederbrannten, haben wir die Aufzeichnungen mit Hilfe unserer Epen erhalten. Ihr solltet mal irgendwann in unserer Dienststelle in Kalgoorlie vorbeischauen, da könnt Ihr sämtliche Einträge und Daten in unseren Archiven überprüfen. Wir haben dort auch das Original-Miniatur-Diorama der Pangbourne Station aus dem Jahre 1885. Es ist elf Meter breit und im Maßstab eins zu sieben Komma sechs erbaut. Fast unsere gesamten Kenntnisse über die ursprüngliche Great Western entstammen diesem Modell.« - 291 Zarvora schloß die Augen und lehnte sich zurück. Glasken streckte seinen Naracoorte-Brandy mit ein wenig Wasser und hielt ihr den Becher an die Lippen. Sie trank einen Schluck, hustete, trank dann noch einen Schluck. Hauptmann Wilsart ging nach hinten, um nach der Besatzung zu sehen, und Ettenbar war schon eingeschlafen. »Glasken, John Glasken«, murmelte Zarvora. »Ja, Oberbürgermeisterin?« Sie sah ihn fragend an, im schummrigen Licht von den Bedienelementen her. An einem langen Kratzer auf seiner Stirn klebten getrocknete Bluttröpfchen.
»Ihr seid bei mir geblieben, als Ihr mich dem Mob hättet ausliefern können. Und bei dem Sprengstoffunfall im vergangenen August wäre ich umgekommen, wenn Eure Heldentat nicht gewesen wäre. Was treibt Euch an, Fras?« Die Frage erwischte Glasken auf dem falschen Fuß. Er saß vorgebeugt da und rieb sich gegen die Kälte die Hände. »Ich habe mir halt das Denken nicht abgewöhnt, Frelle Oberbürgermeisterin. Ich schätze mal, ich habe für mehr Straftaten am Pranger gestanden, als mir jetzt noch einfallen würden, aber ... na ja, ich mag vielleicht ein Mistkerl sein, aber ein Verräter bin ich nicht. Ich meine, Ihr seid die Oberbürgermeisterin und die Hoheliber, und die Südostallianz ist meine Heimat.« Zarvora lehnte sich wieder an die Wand aus Eschenholz und Zelttuch und dachte nach. So verharrte sie einige Minuten lang, während die Lok zum rhythmischen Rattern der Räder auf den Gleisen und dem Shantygesang der Antriebsbesatzung durch die Nacht sauste. »Die Ghaner wissen offenbar ganz genau, wo sie uns treffen müssen, um den größten Schaden anzurichten«, sagte sie schließlich. »Unsere Stärke ist die Infrastruktur, also schlagen sie da zu. Wie kommt das, Glasken?« »Sie haben uns ausgekundschaftet, nehme ich mal an.« »Nein, das glaube ich nicht. Sie werden von Lemorel Milderellen angeführt.« Glasken richtete sich kerzengerade auf. »Frelle Oberbürgermeisterin! Sie - ich meine, ich - Ihr glaubt doch bitte nicht, daß ich gemeinsame Sache mit ihr mache.« »Nein, nicht mehr. Ein schlimmer, schwieriger Krieg ist ausgebrochen, Glasken. Ich habe ihn nicht kommen sehen, aber mir ist die Flucht - 292 gelungen, um meine Armeen um mich zu scharen. Das Dumme ist bloß, daß uns meine Erfindungen und raffinierten Maschinen nicht zu einem schnellen, überzeugenden Sieg verhelfen werden. Da werden sich nur eine Menge verzweifelter Menschen auf freiem Feld gegenseitig mit Musketen beschießen. Aber was wäre die Alternative?« Glasken wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber offenbar anders. Er beugte sich wieder vor verschwand fast in dem Schummerlicht. Zarvora beobachtete ihn aufmerksam. »Was wolltet Ihr gerade sagen, Fras Glasken?« Er hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Ich habe bei den Ghanern von Alspring gelebt, in einem unserer Außenposten in der Wüste. Das sind keine Unmenschen. Spielt es so eine große Rolle, ob sie unser Land erobern und über uns herrschen?« Glasken hatte mit einem Zomesausbmch gerechnet, aber sie reagierte nachdenklich auf seine Worte. »Ich habe Freunde, die Südmauren sind, Fras Glasken, und ich nehme an, ich könnte unter der Herrschaft der Südmauren leben, aber dennoch habe ich zahlreiche Kriege gegen südmaurische Städte und Staaten aus-gefochten. Und was den Krieg gegen Tandara angeht - das waren sogar unsere Nachbarn.« »Ja, das stimmt, Frelle.« »Es steckt schon mehr dahinter als nur ein banaler Machtkampf, Glasken. Ich komme mir manchmal so vor als wäre ich in einer Grube gefangen und würde versuchen, eine Leiter zu bauen, um herauszusteigen, doch meine Mitgefangenen nehmen mir immer wieder das Holz weg, um es für ihr Feuer zu verwenden. Und das ärgert mich fürchterlich.« Zarvora sagte nichts mehr. Sie zog sich an dem Rufgeländer des Führerstands hoch und stellte sich dann zu Hauptmann Wilsart, der von seinem Rundgang zurückgekehrt war Sie unterhielten sich und sahen hinaus in die Dunkelheit vor der Galeerenlok. Glasken zog seinen Rufzeitschalter auf und gesellte sich dann zu ihnen. »Die Firefly fährt jetzt mit höchster Dauerreisegeschwindigkeit«, bemerkte der Hauptmann in seltsam leidenschaftslosem Ton. »Macht Ihr Euch Sorgen, daß die Ghaner oder ihre Helfershelfer die Gleise zerstören oder Minen legen?« fragte Zarvora. »Wenn ich ein Ghaner wäre, würde ich das tun.«
»Aber die Ghaner werden nicht von einem Ghaner angeführt, Fras. - 293 Ihre Anführerin kennt den Wert intakter Gleisstrecken und hat für den Transport ihrer eigenen Truppen Züge erbeutet. Ich denke mal, daß sie nur die Strecke in der Nähe von Burra oder Edunda unterbrechen oder sogar einen Angriff auf die Brücke von Morgan reiten. Sie sind weit mehr als wir auf Transportmittel zwischen den einzelnen Städten angewiesen, und daher dürften wir hier draußen in Sicherheit sein.« Glasken ging zum offenen Seitenfenster und stand dann schweigend da, einigermaßen beruhigt, aber er zitterte nicht nur vor der Kälte der Nachtluft. Er hatte Zarvora nur einen Teil der Wahrheit gesagt. In Wirklichkeit war er ihr zur Hilfe geeilt, weil sie eine Frau war. Theresia hatte recht. Er mochte Frauen einfach, nicht nur körperlich. Wenn es nun beispielsweise Bürgermeister Jefton gewesen wäre, hätte er womöglich einen Vorwand gefunden, um davonzulaufen. Er sah zu Zarvora hinüber, die im Dämmerlicht mit Hauptmann Wilsart zusammenstand. Zarvora: übermenschliche Kräfte und unnatürliche Leichtigkeit, aber immer noch eine Frau. Und jetzt war sie sogar höflich zu ihm und schien ihn tatsächlich zu respektieren. Glasken mußte sich eingestehen, daß er Stolz und Loyalität empfand. »Stolz und Loyalität können tödlich sein«, murmelte er bei sich, aber die Worte genügten, um seine Ängste zu schüren. »Eine letzte Sache noch, Fras Glasken«, sagte Zarvora, als sie wieder zu ihm trat. Sie führte ihn zu dem nun unbemannten Schützenstand hinab. »In mein großes System aus Gleitbahnen und Signalfeuertürmen wurden Spione eingeschleust, aber auch ich habe meine Helfer. Mit ihnen und mit Hilfe von Brieftauben kann ich Nachrichten nach Kalgoorlie befördern. Von Morgan aus werde ich eine Nachricht mit zahlreichen verschlüsselten Anweisungen abschicken. Ihr steht doch auf sehr vertrautem Fuße mit einer Handwerkerin aus dem Südosten namens Jemli Cogsworth.« »Oh ja, eine ganz fabelhafte -« »- große Frau, die wahrscheinlich recht aufregend im Bett ist. Ich habe keine Aufzeichnungen darüber finden können, daß Jemli Signalfeuerübertragungen nutzen würde - außer für Euer Geschäft.« »Ja, das stimmt, sie findet die Gebühr pro Wort zu teuer.« »Mit ihrem Gatten schreibt sie sich nur Briefe, und diese Briefe wurden überprüft. Es handelt sich um erlogene Berichte über die Arbeitsbedingungen und Lebenshaltungskosten in Kalgoorlie. Und währenddessen verfolgt sie recht geschickt Eure merkantilen Interessen und hat sich - 293 sogar mit Eurer zweiten Geliebten Varsellia angefreundet. Sie wohnt jetzt im Staatspalast.« »Die beiden reden wahrscheinlich die ganze Zeit nur über mich.« »Mein Gott, seid Ihr eingebildet. Hat sie Euch jemals Etagen über die Kalkulorprogrammierung gestellt oder über die Entwicklung von Raketentreibstoffen oder über meine Elektrokraftexperimente in den alten Bergwerksschächten in Kalgoorlie?« »Nur dahingehend, wie lange ich fortbleibe, ob ich mit anderen Frauen geschlafen hätte, und ob das, wenn dem so wäre, zwischen uns etwas ändern würde. Ach ja, und diese Schalter aus Metall und Spulen. Sie hat mich mal gefragt, ob das möglicherweise ein großer Zukunftsmarkt sein könnte.« »Hat sie das, ja? Das war alles? Hat sie Euch je nach Zahlen gefragt? Was habt Ihr ihr erzählt?« »Ich habe sie nur gebeten, als stellvertretende Geschäftsführerin bei der umbenannten Firma >Glasken Enterprises and Imports< einzusteigen. Ich habe ihr zehn Goldroyal im Monat geboten, damit sie das Uhrmachen aufgeben und Vollzeit für mich arbeiten kann. Das war überaus fair und ich habe Ihr außerdem —« »- eine fünfundzwanzigprozentige Teilhaberschaft angeboten, falls Ihr im ersten Jahr über fünfzehn Prozent Gewinn macht. Sonst noch etwas? Umgang mit meinem Stab, mit Edutoren oder anderen hochrangigen Personen?« »Sie hat mal gesagt, daß sie recht angetan von Ilyire sei.« »Aaahh ja.«
»Was? Was wißt Ihr?« »Alles.« Daß Glasken rot wurde, war im Dämmerlicht nicht zu sehen. »Tja, wie ich mal zu ihr gesagt habe - lieber er als irgendein dahergelaufener Scheißkerl, der ihr die Syph anhängt. Ich vertraue Jemli, wie ich keiner anderen Frau vertraue, Frelle Oberbürgermeisterin, bei der Buchhaltung ebenso wie im Bett. Sie hat einen strategischen Weitblick und kann fabelhaft mit Zahlen umgehen.« »Das sollte sie auch. Ihr Mädchenname ist Milderellen. Sie ist Lemorels Schwester« Zarvora griff blitzschnell zu und hielt Glasken fest, der fast vom Sitz gerutscht wäre. Einige Minuten und eine größere Menge Brandy später erholte er sich allmählich. Zarvora hielt sein Gesicht in den Windzug aus - 294 dem Seitenfenster. Als sich die beiden wieder zurücklehnten, hielt sie einen zusammengefalteten Mangelpapierbogen empor. »Nachdem ich das hier abgefangen hatte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß sich mein schlimmster Verdacht bewahrheitet hatte und Jemli eine Spionin Lemorels sei, die versuche, sich Zutritt zu Orten zu verschaffen, an denen sie auf höchster Ebene Schaden anrichten könnte. Ich ließ ihr Todesurteil ausfertigen und habe es bereits unterzeichnet, Fras Glasken, aber Eure Worte haben ihr das Leben gerettet. Und das ist auch gut so, denn ich wollte keine Frau töten, die im fünften Monat schwanger ist.« Sie zog das Todesurteil aus der Tasche und schob es in das Gehäuse einer Laterne. Es fing sofort Feuer und flackerte im dunklen Führerstand hell auf. Glasken saß da, sah zu und kam kaum noch mit. »Hoheliber, Eure Weisheit und Gnade - schwanger? Jemli?« Glasken hob die Hände und begann abzuzählen. »Januar, Dezember, November, Oktober, September - oh, dann bin ich der Vater!« Glasken wurde plötzlich klar, daß er Zarvora umarmt hatte. Er ließ sie schnell los und wich einen Schritt zurück. Dann reichte sie ihm den zusammengefalteten Mangelpapierbogen. »Das ist eine Signalfeuerbotschaft. Die jagt Euch schon seit Tagen auf dem ganzen Netzwerk hinterher. Mir ist sie im Weiterleitungspuffer aufgefallen, als ich in Peterborough auf der Signalfeuerplattform war. Varsellia ist ebenfalls schwanger. Das dürfte sich negativ auf Ilyires Geschlechtsleben auswirken.« Glasken faltete den Bogen hastig und verwirrt auseinander, ließ dann die Hände sinken und starrte Zarvora an. Sein Gesicht war eine Studie in Verwunderung, und er schüttelte den Kopf, als mühte er sich, aus einem Traum zu erwachen. »Ich verstehe Euch nicht, Frelle. Ihr macht Scherze über eine Frau, deren Todesurteil Ihr eben noch in der Tasche hattet.« Zarvora lächelte und berührte ihn am Arm. »Fras Glasken, ich mußte Jemli in ein Ding verwandeln, damit ich ihren Tod befehlen konnte. Und jetzt muß ich sie wieder zurückverwandeln in einen Menschen. Menschen in Dinge zu verwandeln ist gefährlich, Fras. Jahrelang habe ich die Komponenten des Kalkulors nur als Dinge wahrgenommen, bis ich dann feststellte, daß ich eine dieser Komponenten liebte. Das hat mich erschüttert, und jetzt kann ich Leute nicht mehr so einfach umbringen und einkerkern lassen.« - 294 »Lemorel wird Gift und Galle spucken, wenn sie das mit Jemli und mir erfährt.« »Falls sie Kalgoorlie je erobern sollte ...« Glasken hob die Hände. »Das genügt, ich trete sofort Eurer Armee bei.« Morgan befand sich in voller Alarmbereitschaft, als sie um drei Uhr früh dort eintrafen. Einige mutmaßliche Helfershelfer der Ghaner und ein paar Aufwiegler hatte man gelyncht und am Signaltürmen der Bahnstation aufgeknüpft, und die Leichen drehten sich im Fahrtwind der Firefly, als die Galeerenlok in den Bahnhof einfuhr Zarvora ging sofort zum Signalfeuerturm und stellte eine Verbindung zu Tarrin in Rochester her. Sie hatte gehofft, den Kalkulor von Libris für diesen Krieg nutzen zu können, aber das ging schleppender vor sich als erwartet. Der Kalkulor war
gerettet worden, weil die Komponenten selbst ihn besetzt hatten, aber Zivilprozesse hatten zur Entlassung zahlreicher Komponenten geführt und die Einführung ineffektiver Verarbeitungsverfahren nach sich gezogen. Auf Zarvoras Anweisung hin begann Tarrin, die Riesenmaschine wieder in ihren vormaligen Zustand zu versetzen, aber dieser Vorgang verlangsamte die Arbeit weiter Ohne den Kalkulor von Libris war es sehr schwierig, Militärzüge auf optimalem Weg durch das Schienennetz zu leiten, und neue, sichere Signalfeuerkodes ließen sich nicht schnell genug erzeugen. Nur der Kalkulor von Libris hatte Zugriff auf die Bestandsverzeichnisse auf Karten und Lochstreifen, aber Tarrin hatte einige fruchtbare Initiativen ergriffen. Daten über die strategischen Ressourcen und die Garnisonsdepeschen der Südostallianz wurden zeitweilig in unverschlüsseltem Signalfeuerkode an den Kriegsrat der Bürgermeister geschickt. Tarrin argumentierte, lieber riskiere er daß der Feind alles erfuhr als daß er diese Ressourcen überhaupt nicht nutzte. Zarvora stimmte dem zu, denn ihr blieb keine andere Wahl. Signalfeuerberichte bestätigten, was sie bereits vermutet hatte. Die Invasoren schnitten die Städte voneinander ab und hielten die ländlichen Gegenden unter ihrer Kontrolle. Zarvora schritt sofort ein, um der Strategie der Ghaner die Spitze zu nehmen, und befahl die Zerstörung aller Brücken und Gleitbahnverbindungen in den abgelegeneren Regionen. Die Signalfeuertürme sollten mit allen Mitteln verteidigt werden. Vorräte, die sich nicht in die Städte befördern ließen, sollten vernichtet werden, und das Vieh auf von Ghanern bedrohten Farmen sollte erschossen oder freigelassen werden, auf daß der nächste Ruf es erfaßte. - 295 Die dritte Rakete befand sich auf dem Rangierbahnhof, und Zarvora befahl sofort, einen Normalspurwagen bis auf das Grundgerüst abzureißen, um die Rakete darauf nach Rochester bringen zu können. Glasken, Ettenbar und Hauptmann Wilsart von der Firefly beteiligten sich an den Arbeiten. »Es gibt doch nichts Schöneres als Kleinholz aus so einem Normalspurfahrzeug zu machen«, lachte der Hauptmann, als er im Licht der Laternen seine Axt schwang. »Aber paßt auf das Grundgerüst auf, das brauchen wir noch!« rief Glasken. Er beaufsichtigte eine Gruppe von Zimmerleuten, die eine Halterung für die klobige erste Stufe errichteten. »Wozu dient diese Rakete überhaupt?« fragte Hauptmann Wilsart. »Wenn ich das wüßte, würden sie mich hinrichten lassen, wenn ich es Euch verraten würde. Ettenbar, laßt die Männer das Holz von den Gleisen räumen. Hauptmann, Ihr schleppt mit der Firefly die Rakete vom Rangierbahnhof hierher und stellt sie neben diesem Wagen ab.« Eine weitere halbe Stunde verging, und am Osthimmel zeigte sich schon die erste Morgenröte. Glasken sah, wie die Firefly über diverse Weichen fuhr, und hörte den gedämpften Shantygesang der Antriebsarbeiter, die in die Pedale traten. Hauptmann Wilsart lief nebenher, stellte eigenhändig die Weichen und verständigte sich mit dem Lokführer mit Hilfe einer Signallaterne. Die Firefly wurde auf der Drehscheibe gewendet und fuhr nun langsam auf sie zu. Glasken sah, wie Hauptmann Wilsart plötzlich hektisch an seiner Laterne hantierte, sie dann hinwarf und neben dem Gleis vor dem Zug herlief. Schließlich kniete er zwischen den Schienen nieder und schlug auf irgend etwas ein, und in diesem Moment ertönte in einem Waggon irgendwo in der Nähe ein Schuß, dann ein zweiter - der Hauptmann sank zu Boden. Glasken zielte auf das Fenster, aus dem das Mündungsfeuer gedrungen war, und feuerte auf das Zelttuch unterhalb der Fensterläden. Ein leiser Schrei belohnte ihn, und dann lief er zu der Stelle, an der Hauptmann Wilsart versuchte, vom Gleis zu kriechen. Die Firefly kam näher, ihre Bremsen kreischten schon, und das Getriebe rumorte, weil der Lokführer versuchte, den Rückwärtsgang einzulegen. Glasken kam zu spät. Hauptmann Wilsart wurde von einem Vorderrad der Firefly beinahe entzweigeschnitten, ehe die riesige Lok bebend zum Stillstand kam. - 295 Glasken kam mit zwei Zimmerleuten angelaufen, und die Besatzung der Galeerenlok sprang ab. Der Hauptmann lag immer noch unter dem Vorderrad.
»Vorsichtig«, sagte Glasken, als sie versuchten, den Mann in eine bequemere Lage zu bringen. Hauptmann Wilsart atmete noch, aber jede Hilfe kam zu spät. »Mine, zwischen den Schienen«, murmelte er »Dolch ... in Auslöser gesteckt ...« Glasken sah auf dem Gleis nach und entdeckte den dunklen Brocken gleich hinter den Vorderrädern. In der Ferne wurden gerade die letzten Stoßtrupps der Ghaner von einer Schwadron Tigerdrachen zur Strecke gebracht. Glasken fluchte leise, und als dann der erste Morgensonnenschein den Rangierbahnhof erhellte, kroch er unter die Lok und sah sich die Mine genauer an. Behutsam zog er das Tuch von dem mit einer Feder versehenen Auslöser, den Hauptmann Wilsarts Dolch blockiert hatte. Der Bauart nach kam die Mine aus Rochester. Glasken schraubte die Sprengkapsel heraus und kehrte zu dem blutüberströmten Hauptmann zurück. Als Zarvora dazukam, zeigte er ihr die Sprengkapsel. »Wie geht es ihm?« fragte Zarvora, auch wenn Wilsart offensichtlich dem Tode geweiht war. Glasken fuhr sich mit einem Finger über die Kehle und zuckte die Achseln. »Hauptmann, ich werde nie vergessen, was Ihr für die Allianz und für mich getan habt«, sagte Zarvora leise. Hauptmann Wilsart hustete Blut, das ihm übers Kinn in den Kragen lief. »Starb ... für ihre Ehre«, sagte er und tätschelte das Antriebsrad, das ihn überrollt hatte. »Bin froh, daß mir das nicht mit einer dieser verdammten ... Normalspurloks passiert ist«, erklärte er mit seinem letzten Atemzug. Zarvora lehnte sich zurück. Sie hatte Wilsarts Blut an den Händen, und es tränkte die Knie ihrer Hose. »Brunei? Breitspurgleitbahnen? Und jetzt stirbt er auch noch für die Ehre seiner Lok.« »Aber Ihr habt auch für die Ehre Eures Kalkulors gekämpft«, gab Glasken zu bedenken. »Ich habe für die Kontrolle über meinen Kalkulor gekämpft, nicht für seine Ehre. Es ist nicht zu fassen! Ich bin umgeben von Wahnsinnigen, Verrückten und fanatischen Ingenieuren.« »Ja, das stimmt, Frelle Oberbürgermeisterin, aber wenigstens sind wir Euch treu ergeben.« - 296 Lemorel war von Anfang an bewußt gewesen, daß der Einmarsch in der Südostallianz sehr viel schwieriger werden würde als alle ihre bisherigen Feldzüge, aber schließlich war ihre Armee auch größer als je zuvor, und sie schlug aus der Wüste heraus zu, aus eben dem Land, auf das sich der Feind als Schutzschild verlassen hatte. Und ihre Spione und Helfershelfer hatten die Ziele bestens ausgewählt und vorbereitet. Der Bund von Woomera war nach neun Tagen in ihrer Hand. Die Stadt Woomera selbst und einige befestigte Signalfeuertürme wurden belagert, aber fast jede größere Stadt war den ersten heftigen Überraschungsangriffen erlegen. Einige Signalfeuertürme an den Gleitbahnstrecken waren ihren Truppen und Bombarden zum Opfer gefallen, aber zu einem hohen Preis. Die Türme waren mit noch moderneren Bombarden aus Inglewood bestückt, als die, über die Lemorel verfügte, und diese hatten eine größere Reichweite. Maralinga war der westlichste Punkt, den sie erobert hatte, und statt einem Angriff war es einer Kriegslist zum Opfer gefallen. Einhundert als Kaffeehändler getarnte Ghaner hatten sich dort eingeschlichen und den Ort erobert, als sie per Signalfeuer den verschlüsselten Befehl dazu erhalten hatten. Die Breitspurgleitbahnstrecke war von der Brücke über den Lake Tyers bis nach Maralinga so gut wie unversehrt, und Lemorel nutzte sie dazu, Maralinga gegen Angriffe aus Richtung Kalgoorlie weiter zu befestigen. Die Wüsten im Norden und die Nullarborebene sorgten dafür, daß alles, was zwischen Osten und Westen hin und her befördert wurde, die Gleitbahn passieren mußte. Kalgoorlie konnte keine Truppen entsenden und Nachrichten nicht weiter als bis nach Fisher übertragen. Allerdings lief nicht alles nach Lemorels Vorstellungen ab. Selbst noch wenn man ihnen mit Folter und Tod drohte, stellten sich die Mitarbeiter der Great Western quer. Die Ghaner waren schließlich gezwungen, Waggons mit Nachschub von Kamelen und Pferden nach Maralinga ziehen zu lassen. Gerade einmal dreißig Kilometer weiter westlich fuhren die Wind- und Galeerenzüge über frisch reparierte Gleise und versorgten ein militärisches Bollwerk, das sich nur von der geballten Kraft der gesamten Armee der Ghaner hätte durchbrechen lassen, und lieferten das Material für die Reparatur von Signalfeuertürmen, die man vorsichtshalber betriebsunfähig gemacht hatte.
Draußen in der Wüste waren die Koorie alles andere als erfreut über die Stoßtrupps der Ghaner, die durch ihr Land preschten, und sie schlugen zurück. Zu einem Einmarsch der Ghaner in den Staaten des Westens würde es so schnell nicht kommen. - 297 Zarvora hatte damit gerechnet, daß die Invasoren Morgan und Renmark angreifen würden, aber Lemorel hatte noch eine weitere Überraschung für sie in petto. In den nun folgenden zwei Wochen rückte sie direkt über das Barrier-Grasland nach Osten vor und schickte Lanzenreiterschwadrone voraus, die für großes Durcheinander sorgten. Sie traf sich mit Abgesandten der Südmauren, und der Zentralbund gelobte, neutral zu bleiben, während die Ghaner aus Alspring gemeinsam mit den Südmauren gegen die Südostallianz fochten. Im Tausch für das trockene, ausgedehnte Emirat Balranald würden die Südmauren die Stadtstaaten der Allianz bis hinab nach Rochester erhalten, und die Truppen und Lanzenreiter der Ghaner würden nicht weiter als bis zum Murrumbidgee River vorrücken. Die Südmauren würden an der Ostgrenze zuschlagen, während die Ghaner Mildura, Wentworth, Robinvale und die westlichen Gleitbahnen und Signalfeuerverbindungen angriffen. Doch auch Zarvora scheute sich nicht vor Präventivschlägen. Im März startete sie gegen die Empfehlung des Kriegsrats der Bürgermeister einen massiven Angriff über die Ostgrenze hinweg, schlug in den Handwerkszentren der Südmauren zu, ließ Brücken sprengen und Gleitbahnstrecken in einem Maße demontieren, daß das Transportaufkommen der Südmauren auf ein Zehntel seines vorigen Maßes sank. Sie hatte diesen Schlag zu einem Zeitpunkt geführt, als das Signalfeuemetzwerk für die Jahreszeit ungewöhnlich starke Regenfälle meldete, die von Westen heranzogen. Das südmaurische Signalfeuerverbot fiel nun auf die Südmauren selbst zurück, und sie konnten ihre Verteidigung nicht mehr mit den Ghanerm abstimmen. Währenddessen war die Offensive der Ghaner im Westen kläglich und bibbernd zum Stillstand gekommen, denn die Männer waren es nicht gewöhnt, in dieser üppigen, grünen Landschaft im kalten Dauerregen zu kämpfen. Bis April hatte sich Zarvora wieder etwas Luft verschafft und schlug mit Methoden zurück, welche die Ghaner kalt erwischten. Wenn die Ghaner tief in Feindesland vordrangen, um die Städte dazu zu bringen, sich auf eine Belagerung einzustellen, schlugen die Lanzenreiter der Allianz bei ihren Nachschubdepots zu und zermürbten sie dort, bis sie gezwungen waren, sich zurückzuziehen. Die Siege der Ghaner waren zusehends hart erkämpft, blutig und vorübergehend, und keineswegs mehr glorreich, schnell errungen und entscheidend, und sosehr sie sich auch mühte, vermochte Lemorel östlich von Morgan weder das Signalfeuer-noch das Gleitbahnnetz dauerhaft zu stören. - 297 Trotz all ihrer Erfolge blieb Zarvora sachlich. Die ohnehin stets aufbegehrenden westlichen Fürstentümer hatten sich Lemorel kampflos ergeben, und die Südmauren zogen ihre Truppen allmählich aus den Ländern des Ostens zurück. Mitte April fiel die Stadt Woomera, und Lemorel schockierte selbst ihren Generalstab, als sie die Hauptstadt des Bundes von Woomera, die ihr hartnäckig getrotzt hatte, bis auf die Grundmauern niederbrennen ließ, ohne den Einwohnern die Flucht zu gestatten. Das Ende dieser Belagerung setzte siebzigtausend Soldaten und Belagerungsfachleute der Ghaner frei, und Lemorel beschloß, sie gegen Robinvale in Stellung zu bringen, einen Signalfeuerknoten, dessen Einnahme ein Drittel von Zarvoras Herrschaftsgebiet isolieren würde. In der Zwischenzeit kam es zu zahlreichen ergebnislosen Angriffen und Sondierungen auf Schwächen hin. In Darenton stellte sich eine in aller Eile ausgebildete Reihe von Musketieren einem Angriff durch fünf Lanzenreiterbrigaden der Ghaner entgegen und schlug ihn zurück. Eine mit gekreuzten Musketen versehene Nadel wurde in Zarvoras Wandkarte gedrückt, um auf die Schlacht hinzudeuten, und in Lemorels fernem Befehlszelt trug ein Schreiber gekreuzte Säbel in eine Landkarte ein. Dem Kalkulor von Libris in Darenton wurde ein großer Vektor für die 105. Kalkulor-Musketiere hinzugefügt und mit diversen Bewegungsparametem versehen. Über dem Schlachtfeld von Darenton ging die Sonne unter, und der wolkenlose Himmel verhieß eine kalte Nacht. Neben einem ausgebrannten Farmhaus lehnte der erschöpfte Hauptmann der 105. Schweren Infanterie der Oberbürgermeisterin an einem Zaunpfahl, trank aus einem Krug
einen Schluck sauren Wein und warf ihn dann in die Asche. Zwei gerupfte Hühner baumelten an seinem Feldgürtel, und er trug die schmutzige Jacke eines Schaffners der Great Western und Stiefel, die er einem toten Lanzenreiter der Ghaner abgenommen hatte. Sein Adjutant saß ganz in der Nähe auf einem Wollballen und lud in aller Ruhe ihre Musketen nach. »Hauptmann Glasken, ich sage immer noch, daß es moralisch verwerflich ist zu plündern -« »Zum letzten Mal, faselndes südmaurisches Reishirn: Es kommt ganz darauf an, wem man etwas wegnimmt. Das hier dient den Kriegsanstrengungen der Allianz.« »Ihr habt die Schaffnerjacke in Morgan gestohlen. Das hat den Kriegsanstrengungen nicht geholfen.« - 298 »Das ist etwas anderes. Ich kann Schaffner sowieso nicht ausstehen, und sie ist genau meine Größe. Was für ein Alptraum - habt Ihr schon mal erlebt, daß Euch so viele Lanzenreiter nach dem Leben trachteten?« »Vor Peterborough, Fras Hauptmann, hat mir überhaupt noch nie jemand nach dem Leben getrachtet.« »Ich weiß nicht mal mehr was ich gesagt habe.« »Ihr sagtet: >Wartet auf meine Pfeife, Ihr -<, und dann zogt Ihr ihre Abstammung in Zweifel.« »Warum auch nicht? Meine ist ebenfalls fraglich.« »Sechshundertzwanzig Tote und Schwerverletzte, Fras, und wir haben kaum einen Kratzer abgekriegt. Allah ist uns ganz offenbar wohlgesinnt.« »Ja, Euch vielleicht, aber schaut Euch meinen Hals an - und das Loch da in meinem Helm. Der hat mich in Loxton fünfundsechzig Silbernobel gekostet. Da, das Trompetensignal. Einmal lang, zweimal kurz, lang, zweimal kurz. Das bedeutet... an der Bahnstation neu formieren und Bericht erstatten.« Glasken nahm seine Muskete wieder entgegen und schulterte sie, und dann stapften sie über den schlammigen, roten Boden zu ihrem Regimentswimpel zurück. Am Westhimmel verbarg das Band der Spiegelsonne teilweise den Neumond. Es war nun viel schmaler als zuvor, bis auf drei tellerförmige Ausbuchtungen, die sich etwa vierzig Grad hoch über den Himmel erstreckten. - 298 Theresia wurde in Ketten durch das Stadttor von Macedón geführt, und zwei Dutzend Aviaden-Musketiere eskortierten sie. Allerdings wirkte sie äußerst selbstsicher und lächelte sogar geheimnisvoll. Der Bürgermeister empfing sie auf dem Marktplatz, auf dem sich ein Großteil der Einwohner versammelt hatten. Ganz offensichtlich sollte sie öffentlich gedemütigt werden. »Es ist mir immer ein großes Vergnügen, Euch zu sehen, Bürgermeister«, erklärte Theresia, als sie vor ihn trat. »Ich bin so schnell gekommen, wie meine Ketten es zuließen.« »Die Oberbürgermeisterin hat die Schulsiedlungen geschlossen, in denen unsere Kinder großgezogen werden«, erklärte er mit lauter Stimme, ebenso an die Menge wie an Theresia gewandt. »Als ihre Nebengemahlin werdet Ihr hier festgehalten, bis unsere Kinder wieder frei sind.« »Mich hat hingegen die Nachricht erreicht, daß Eure Kinder jederzeit heimkehren können. Einzig und allein ihre Lehrer werden festgehalten.« »Ihr wißt ganz genau, was ich meine! Unsere Kinder können erst hierher zurückkehren, wenn sie in die Pubertät kommen, sonst müßten sie unter dem beständigen Ruf dahinvegetieren.« Keiner der Männer, die Theresia gefangengenommen hatten, war sonderlich erpicht darauf, sie anzurühren, und so stand es ihr frei, auf eine niedrige Mauer zu steigen, auf der alle sie sehen und hören konnten. »Die Meeresgeschöpfe leben in einer komplexen Gesellschaft«, begann sie. »Sie ist in vieler Hinsicht fortgeschrittener als unsere, aber dennoch von Politik und Parteienzwist geprägt. Es gibt bei ihnen Gruppen Gleichgesinnter, es gibt Machtkämpfe und sogar Duelle. Zumindest glaube ich, daß es Duelle sind. Die meisten ihrer Vorstellungen gehen weit über die Möglichkeiten der austarischen Sprache und über meinen Wortschatz hinaus. Für sie sind wir alle Landlebewesen, Geschöpfe mit kümmerlichen geistigen Fähigkeiten, aber mächtigen Werkzeugen. Ihre Legenden
erzählen von einer Zeit, als die Menschen Jagd auf sie machten und sie beinahe ausgerottet hätten.« - 299 »Aber wir sind keine Menschen«, sagte der Bürgermeister und stieg zu ihr auf die Mauer »Woran soll man das dem Aussehen nach erkennen? Die Oberbürgermeisterin führt einen Krieg gegen eine äußerst dumme, aber unangenehm starke Streitmacht. Die Meeresgeschöpfe wollen sich nicht in einen Krieg zwischen Splittergruppen ihrer alten Feinde einmischen. Sie wünschen beiden Seiten eine schnelle Reise >in den Schlund< — der Hölle, nehme ich an. Die Aviaden von Macedón könnten allerdings für die Oberbürgermeisterin kämpfen, könnten die Stellungen der Ghaner sabotieren, wenn der Ruf über die Schlachtfelder zieht.« »Das würde Tote geben!« rief der Bürgermeister und riß die Arme hoch. »Ich widersetze mich allem, was unsere so sorgsam gepflegte geradlinige Abstammung und Genototem-Stärke gefährden würde.« »Dann nehmt Ihr also lieber wehrlose Frauen gefangen, ohne irgendein Risiko dabei einzugehen, während Eure Verbündeten und Wohltäter in Stücke geschossen werden? Es könnte sich erweisen, daß die Ghaner längst nicht so liberal gesinnt sind wie Oberbürgermeisterin Cybeline, was den Hin- und Herzug von Staatsbürgern anbelangt. Und wenn Euch der Zugang zu den Schulsiedlungen verwehrt wird, werdet Ihr erst recht lauthals protestieren.« »Wir haben zweitausend Jahre lang im Verborgenen gelebt«, entgegnete der Bürgermeister. »Wir kommen auch ohne die Schulsiedlungen aus. Es gibt andere Möglichkeiten.« »Die aber nicht so gut wären wie eine Nullzone über Macedon.« Das war es, wovon die Aviaden träumten und wovon ihre Märchen handelten: Eine Nullzone mitten in den Ruftodesländem, in der man Kinder großziehen konnte, ohne daß die Möglichkeit bestand, daß Menschen dorthin vordrangen. Der Bürgermeister starrte sie mit heruntergeklappter Kinnlade an. »Was ist denn das für eine verzweifelte Lüge?« höhnte er. »Ich bin nicht verzweifelt - Ihr seid es. Wie ich schon sagte, stellen die Meeresgeschöpfe keine einheitliche Macht dar, und die Delphine der Phillip Bay sind uns wohlgesinnter als die anderen. Ich habe mit ihnen über eine Nullzone über Macedon verhandelt, und sie sind darauf eingegangen. Das hat jedoch seinen Preis, und der muß mit Aviadenblut beglichen werden. Seid Ihr bereit, für Eure Kinder zu kämpfen?« fragte sie die Menge. Eine Stunde später schritt Theresia als freier Mensch durchs Stadttor - 299 von Macedón, und der Bürgermeister hatte in seinen Amtsräumen bereits ein Rekrutierungsbüro eingerichtet. Zarvora brütete über den Landkarten und Tabellen, die an den Wänden hingen und den Boden des Saals in Libris bedeckten, den man für sie in einen Befehlsstand umgebaut hatte. Vardel Griss, mittlerweile Chefin des Generalstabs, wies auf Karten, welche die Gleitbahnverbindung der Great Western nach Kalgoorlie zeigten, und Tarrin überwachte ein Lochstreifengerät. »Unsere Spione sagen uns, daß gleich westlich von Maralinga etliche Kilometer Gleise zerstört worden sind, sonst jedoch nirgends«, sagte Griss und deutete mit dem Offiziersstock darauf »Wenn wir von Westen aus einen Angriff führen könnten, würde das die Ghaner zwingen, einen Teil ihrer Kräfte an eine zweite Front zu werfen, und uns die Gelegenheit geben, uns neu zu formieren und vorzurücken.« »Keine Chance«, sagte Zarvora. »Aber Oberbürgermeisterin -« »Tarrin, erklärt ihr, worin das Problem besteht.« »Es ist strategischer Art«, begann Tarrin. »Die Stadtstaaten des Westens wären für den Transport ihrer Truppen durch die Nullarborebene auf die Gleitbahn angewiesen. Die Ghaner sind auf ihren Kamelen und Pferden viel beweglicher, und die Gleitbahn ist auf der ganzen Strecke schlicht und einfach nicht zu verteidigen. Ein paar hundert Ghaner könnten mit einigen schnellen Schlägen gegen die Gleitbahn zehntausend Kalgoorlier binden. Und wenn man die Straße nähme, würde
die Reise durch die Wüste nur sehr langsam vonstatten gehen, und die Truppen müßten gegen die Hitze ankämpfen und gegen die riesigen Entfernungen, und ihre Nachschublinien wären stets durch Räuber aus der Wüste gefährdet.« »Unsere Spione melden aber auch, daß die Ghaner im Westen überlastet sind und dort auch gegen die Koorie kämpfen«, sagte Griss. »Das könnte auch eine Kriegslist sein, eine Finte. Die Ghaner täuschen Schwäche vor, wir rücken nach, und sie machen Hackfleisch aus uns. Wir haben sie im Westen aufgehalten. Damit müssen wir uns zufriedengeben.« Griss funkelte ihn trotzig an, hatte ihm aber nicht entgegenzusetzen. Die Ghaner griffen tatsächlich gern zu solchen Finten. Sie wandte sich wieder der Landkarte zu. - 300 »Ihr redet, als wären wir schon besiegt, Fras.« »Strategisch sind wir das auch«, entgegnete Tarrin in teilnahmslosem Tonfall. »Lemorel kennt unsere Stärken viel zu gut und hat genau da zugeschlagen, wo es am meisten wehtut. Im Grunde wäre es an der Zeit, einen Waffenstillstand auszuhandeln.« »Pah! Taktisch sind wir ihnen in vieler Hinsicht überlegen«, sagte Griss trotzig. »Ach ja? Als da wären?« »Die Südmauren gestatten keine Fernmeldeverbindungen über Signalfeuer und daher gelangen Lemorels Befehle viel langsamer an ihr Ziel als unsere. Und was den Transport angeht, sind unsere Galeerenzüge viel leistungsfähiger als die in Feindeshand.« »Aber dafür ist ihre Kavallerie viel mobiler und flexibler.« »Aber nicht unbesiegbar«, beharrte Griss. »In Darenton haben sie fünf Brigaden gegen uns ins Feld geschickt, aber unsere Musketiere haben den Angriff mit geordneten Salven zurückgeschlagen.« »Und daraus haben sie etwas gelernt! Für das, was in Darenton passiert ist, hat Lemorel eigenhändig einen General der Ghaner erschossen. Jetzt nutzen die Ghaner mobile Brigaden, deren Offiziere sich nicht mehr von uns das Schlachtfeld vorgeben lassen, und die Südmauren kämpfen aus gut ausgebauten Schützengräben heraus.« »Wir können unsere Ressourcen schneller hin und her befördern.« »Aber unsere Ressourcen sind begrenzt.« Nun wandten sich die beiden an Zarvora, die vor einer Karte des Südostens stand. »Griss hat recht - bis zu einem gewissen Grad«, sagte sie. »Wir können uns schneller fortbewegen und daher die Schlachtfelder bestimmen. Von der Gleitbahn in Robinvale aus werden wir in der Nähe von Balranald zuschlagen, dem schwächsten Emirat im Südmaurenreich.« »Schwach? Und was ist mit den hundertfünfzigtausend Kavalleristen der Ghaner die uns entlang der ganzen Grenze nach Balranald gegenüberstehen?« fragte Griss. »Ach nein, Balranalds politische Verbindungen zu den anderen Südmauren waren stets schwach ausgebildet«, bemerkte Zarvora leichthin. »Wenn ich der Emir von Cowra wäre, und ich stünde einem unzuverlässigen Vasallen im Nordwesten und einem starken Invasoren und Verbündeten in der gleichen Region gegenüber dann würde ich wahrscheinlich alles opfern, was nördlich einer Linie von Balranald bis zur Grenze - 300 zum Zentralbund liegt. Wir wissen, daß der Emir von Balranald die Stadt für geschlossen erklärt hat, was ungewöhnlich ist, wenn man bedenkt, daß wir dort nirgends Truppen haben. Er fürchtet sich vor seinen eigenen Verbündeten, den Ghanern.« »Wenn wir den Landstrich zwischen dem Zentralbund und Balranald erobern würden, wären die Ghaner von den Südmauren abgeschnitten.« »Dann würden die Ghaner ganz einfach im Zentralbund einmarschieren«, mahnte Tarrin. »Ein Waffenstillstand -« »Der Zentralbund verfügt aber über ein leistungsfähiges Signalfeuernetz und über eine Kavallerie, die sich gut auf Kämpfe in der Ebene versteht«, warf Griss ein. »Und die Ghaner wollen nicht an mehreren Fronten kämpfen.«
»Ja, und ein Großteil des Territoriums von Balranald wird immer noch vom Emir kontrolliert«, sagte Zarvora und klopfte mit ihrem Offiziersstock auf den betreffenden Teil der Karte. »Wenn er und seine Untergebenen die Reihen gegen die Ghaner schließen würden, könnten wir diesen Landstrich beliebig lange halten.« »Wenn wir den Landstrich aber verlieren, würde ein Keil durch das Herz unseres Landes getrieben«, sagte Tarrin. »Dann stehen die Ghaner eine Woche später mit ihren Bombarden am Stadtgraben von Rochester.« Sondian wartete unter Bewachung im Vorzimmer, als Zarvora in ihr Arbeitszimmer zurückkehrte. Kaum war sie an der Tür angelangt, erhob er sich und trat vor, und nachdem sie den Schlüssel umgedreht hatte, wandte sie sich zu ihm um. »Guten Tag, Eras Sondian. Was kann ich für Euch tun?« »Nichts, ich weiß ja, daß Ihr in schwerer Bedrängnis seid. Ich bin gekommen, um Euch meine Hilfe anzubieten.« »Wenn ich während eines Rufs eine Kirche, ein Krankenhaus oder einen Markt bombardieren möchte, werdet Ihr der erste sein, der davon erfährt«, erwiderte Zarvora in frostigem Tonfall. »Und jetzt geht.« »Manche meiner radikalen Aviaden und ihre Angehörigen haben schwer unter den Menschen gelitten. Sie wollen Vergeltung, und ich zügele sie, so gut ich nur kann. Wie können wir Euch bei diesem Krieg helfen?« »Helfen? Eure Radikalen würden ein paar Greueltaten von zweifel - 301 haftem militärischen Nutzen begehen und nach dem Krieg als Belohnung die Hälfte meines Staatsgebiets fordern. Meine Antwort darauf war, ist und wird immer sein: Nein. Wache, geleitet ihn hinaus.« Das Spiegelsonnenband um die Erde hatte sich in ein dünnes Kabel verwandelt, das drei gewaltige konkave Schüsseln hielt - blaßrote Scheiben, die schwach metallisch leuchteten, wenn sie über den Nachthimmel zogen, und tagsüber mit dem Himmelsblau verschmolzen. Zarvora verfolgte in jeder klaren Nacht die Wandlungen des Bandes. Sie war sich sicher, daß ihre erste Rakete dafür verantwortlich war, und hatte eine recht genaue Vorstellung davon, was bald passieren würde. Die Spiegelsonne würde sich gegen die Wandersterne - die Kriegssatelliten - zur Wehr setzen, und das würde es womöglich gestatten, auf den Schlachtfeldern des Südostens eine gänzlich neue Technik in Stellung zu bringen. Noch vor der Invasion hatte sie Elektrokraftgeräte von Kalgoorlie nach Rochester bringen lassen. Ohne jede Vorwarnung drehten sich die Einzelteile der Spiegelsonnenschüsseln gleichzeitig und in genau vorbestimmtem Winkel, und nun wandte jede der Trillionen Facetten der Sonne eine Spiegelfläche zu. Eine der Orbitalfestungen hatte einige Monate zuvor ihr Gefüge beschädigt, und daher waren die Festungen nun alle als feindlich klassifiziert. Eine Fläche, die einem Viertel des Angesichts des Mondes entsprach, warf die Sonnenstrahlung in einem gebündelten Strahl zurück, der auf eine Orbitalfestung gerichtet war, die gerade eine Landmasse hinter sich gelassen hatte und nun den Pazifischen Ozean überflog. Die Festung war seit Jahrtausenden nicht mehr angegriffen worden, und ihre Selbstreparatur- und Wartungseinheiten hatten Schwachstellen entwickelt. Kühlkörper schmolzen, Rohre brachen, Schaltungen überhitzten, und dann explodierte die Festung in einem Blitz, der die Erde darunter erhellte. Das massive Schutzschild kreiste inmitten einer sich langsam auflösenden Trümmerwolke weiter auf seiner Umlaufbahn. Ein vorzeitlicher Kommunikationssatellit auf geostationärer Bahn war als nächstes an der Reihe. Ein blitzschneller Richtungswechsel der Trillionen Facetten, drei sengende Hitzekegel vereinten sich, und der Erdtrabant war nur noch Asche und Staub. Bisher war kein Alarm ausgelöst worden. Hoch über dem Nordpol glühte eine weitere Orbitalfestung wie ein kleiner Stern in den Strahlen der Spiegelsonne auf und explodierte, und alsbald umgab eine auseinan - 301 -
dertreibende Sphäre aus Trümmern und ionisiertem Gas die massive, tote Hülle. Die Facetten der Spiegelsonne richteten sich nun auf eine Stelle über dem Südpol, wo eine weitere Festung die Erdachse überflog. Ihre Sonnenkollektoren schmolzen als erstes dahin; dann platzten Kühlmittelbehälter, interne Systeme brachen zusammen, und das Innere der Festung barst in Tausenden leuchtenden Splittern hinaus ins All. Mittlerweile versuchten die beiden anderen Kommunikationssatelliten auf der anderen Seite der Erde, sich mit dem dritten in Verbindung zu setzen. Erst gingen sie von einer Funktionsstörung aus, doch als sie versuchten, eine der zerstörten Festungen zu erreichen, gellte ihr Alarm hinaus ins All. Die KI-Module der verbliebenen Kriegssatelliten berieten sich kurz miteinander, und dann richteten sich die riesigen Spiegel der Spiegelsonne nacheinander auf die beiden Kommunikationssatelliten. Ihre erste Vermutung war ein Angriff mit einem riesigen Laserprojektor von der Erde aus. Die vierte Festung suchte gerade die Erdoberfläche ab, als sie zu einer über den Nachthimmel gezogenen leuchtenden Perle wurde, und ihre Kl-Steuerung rang noch damit, die Bordwaffen vermittels Halterungen zu bewegen, die bereits schmolzen. Als sie erlosch, analysierte die KI der fünften Festung eben den Aufbau des Spiegelsonnenbandes und gelangte zu dem richtigen Schluß. Ein EMP-Dauerimpuls peitschte über eine der Spiegelsonnenschüsseln. Er hinterließ zwar eine schmale schwarze Spur, vermochte das Gefüge aber nicht zu beschädigen. Die Nanoeinheiten erstarrten. Der Spiegel fokussierte langsamer, aber die Strahlen trafen die fünfte Festung mit voller Wucht. Ihre Sonnensegel lösten sich auf, und die KI schaltete auf Batteriebetrieb. Weitere Impulse peitschten über die drei Schüsseln und hinterließen ein schwarzes Narbenmuster. Riesige Flächen der Spiegelschüsseln fielen aus, und ihr kombinierter Strahl wurde schwächer. Nun griff der sechste Satellit in den Kampf ein. Da er nicht angegriffen wurde, ließ er die ganze Gewalt seiner EMP-Kanonen auf die Spiegel los und analysierte anhand der Ausfallmuster auf der Oberfläche die Befehlsstruktur des Spiegelsonnengefüges. Die fünfte Festung brach den Angriff ab, als ihr klar wurde, daß sie Unterstützung bekommen hatte. Mit Hilfe eines internen Gyroskops drehte sie sich so, daß die auf sie einwirkende Hitze auf eine größere Angriffsfläche verteilt wurde. Weiter draußen im AU war das Kabel, das nur wie eine Halterung der drei Schüsseln gewirkt hatte, alles andere als tatenlos gewesen. Wie ein - 302 riesiger Teilchenbeschleuniger hatte es mit einem Tempo von bis zu 650 Kilometer pro Sekunde Schwärme von Nanoeinheiten ins All hinausgeschossen. Die sechste Festung wurde von ihrem Dopplerradar vor dem Nahen der Partikel gewarnt und spie aus einem Kanister ein Partikelschild ins Vakuum, das ihre Flanke schützen sollte. Die Nanoeinheiten zerbarsten funkelnd in dieser Wolke, aber ihr Strom riß nicht ab. Die Partikelreserven der Festung fielen auf fünfzig Prozent, dann auf vierzig, dann auf dreißig. Dem KI-Modul wurde klar daß der Strom nicht selbstgelenkt war, und es schloß daraus, daß es sich ganz einfach schützen konnte. Sekunden später schob der lonenantrieb die Festung aus dem Strom. Die Spiegelsonne setzte mittlerweile einen Strahl aus gebündeltem Sonnenlicht ein, der nur noch ein Viertel seiner vorigen Stärke hatte. Die Festung faltete ihre Solarpanele zusammen und begann sich zu drehen. Ihr KI-Modul stellte fest, daß die Hitze nun erträglich war und neunzig Prozent der Solarzellen den Angriff überstanden hatten. In weiter Ferne, an einem anderen Punkt über der Erde, arbeitete die Kl-Steuerung der fünften Station Schadenseinschätzungsroutinen ab. Die Solarpanele waren zerstört, die äußeren Sensoren durchgebrannt und geblendet, die EMP-Waffen blockierten, und die Batterien waren schon fast aufgebraucht. Noch hatte sie aber die Kontrolle über ihr Triebwerk und konnte mit ihrem Reservetreibstoff die Umlaufbahn des Bandes erreichen und sich dort selbst zerstören. Die KI berechnete immer noch die optimale Flugbahn, als eine Wolke aus Nanopartikeln auf das äußere Schutzschild prallte, beim Aufprall verdampfte und das Schild für die nur Millisekunden später folgende zweite Wolke aufriß. Die sechste Festung manövrierte sich gerade zurück auf ihre ursprüngliche Umlaufbahn, als eine weitere Partikelwolke angeflogen kam. Sie setzte ihre nun harmlos gewordene Flugbahn fort und explodierte! Trümmer kreuzten die Umlaufbahn, schabten die Hülle der letzten Festung auf, rissen
Schutzschilde und Solarpanele ab und beschädigten ein Ionentriebwerk. Eine weitere Wolke näherte sich, und die Orbitalfestung spie erneut Schildpartikel ins Vakuum und änderte ihre Umlaufbahn. Die Nanoeinheiten explodierten und wurden von der Wolke absorbiert. Das KI-Modul begann eine Analyse: Die Ressourcen des Spiegelsonnenbandes waren beinahe unbegrenzt, wohingegen Treibstoff und Schutzschilde der Festung keine Stunde mehr halten würden. Die Festung sprengte ihr bewaffnetes Triebwerksmodul ab und zündete es, kurz bevor - 303 eine weitere Welle aus Nanoeinheiten auf die gepanzerte Hülle einprasselte und die Kl-Steuerung zerstörte. Die Spiegelsonne registrierte, daß das Triebwerksmodul auf eine höhere Umlaufbahn zusteuerte, und richtete einen erneuten Strom von Nanoeinheiten auf die Flugbahn, um es abzufangen. Das Modul glitt hinter die Erdkugel und stieg empor, dem Band entgegen, langsam und unter ständigem Beschuß. Stunden später durchstieß es das Band, bombardierte es dabei mit EMP-Wellen und Partikelwolken und zerrte an seinem Gewebe, bis in der Umlaufbahn nur noch Nanofetzen übrig waren. Als das Modul dann den Scheitelpunkt seiner Flugbahn hinter sich ließ, bemerkte der Steuerungs-Chip, daß es auf seinem Weg erdwärts die oberen Schichten der Atmosphäre durchfliegen würde. Der Hagel der Nanoeinheiten ging unvermindert weiter, bis seine schützenden Partikelwolken aufgebraucht waren, und zerschlug die letzten verbliebenen Triebwerke. Stunden später tauchte das zylinderförmige Modul in die Atmosphäre ein, schwang sich noch einmal kurz hinaus ins All, stürzte dann auf die Erde hinab und endete als Staub in den Anden. Ganz langsam begann die Spiegelsonne mit der Selbstreparatur. Ein Drittel ihres Gefüges war zerstört, aber Ersatz wurde bereits von der Mondoberfläche heraufgepumpt. »Da sind seltsame Lichter am Himmel«, bemerkte Glasken, der auf seiner Decke lag. »Und die Spiegelsonne hat sich auch verändert. Sie sieht irgendwie fleckig und ausgefranst aus.« »Und die Wandersterne haben jetzt einen Hof, Fras Hauptmann«, sagte Ettenbar, der neben ihm lag und ebenfalls zum Himmel hinaufschaute. »Da! Schaut mal, Theten!« Glasken schnaubte. »Na und? In ein paar Stunden sind wir wahrscheinlich tot. Was hört man von den Südmauren?« »Der Ruf heute morgen hat sie weit mehr zerstreut als uns. Vielleicht waren ihre Zeitschalter auf längere Intervalle eingestellt, und daher hat es uns nicht so sehr getroffen.« »Es hätte uns gar nicht getroffen, wenn es dieses Verbot von Rufwarnungen per Signalfeuer nicht gäbe.« »Ah, aber das ist entscheidend dafür, daß sich das Volk von Balranald mit uns, die wir Signalfeuer nutzen, verbünden konnte.« »Ich habe sowieso nie verstanden, warum der Islam Rufwarnungen verbietet.« - 303 »Nein, nein, der Islam verbietet gar nichts, was direkt mit dem Ruf zu tun hätte. Wir erkennen lediglich an, daß der Ruf etwas Unbekanntes ist, das man mit Respekt behandeln sollte, solange man es nicht versteht, und das ist der Grund für das Verbot künstlicher Rufwarnungen. Würde man entdecken, daß der Ruf irdischen Ursprungs ist, dann würden wir Südmauren das beste Signalfeuernetz der Welt errichten, denn schließlich sind wir ja auch, was Mathematik und Linsenherstellung angeht -« »Aber das ist bis morgen eher unwahrscheinlich?« »Ja, leider.« Früh am nächsten Morgen marschierten sie zu einer Stelle, an der sich die Fernstraße einem breiten Fluß näherte. Rochesters schmale, flache Kriegsgaleeren waren ganz bis zur Zollbarriere von Haytown vorgedrungen, und die einzige Brücke zwischen Balranald und dem Zentralbund war zerstört. Reiter der Ghaner waren am Nordufer aufgetaucht und hatten die Galeeren unter Beschuß genommen, aber die Schiffe waren gegen Handfeuerwaffen gepanzert und hatten die Reiter mit den Kartätschen aus ihren Bombarden vertrieben. Bald war der Zugang zur Grenze gesichert, aber Heliostatberichten zufolge stand ihnen in Ravensworth Junction ein Angriff bevor.
Berittene Musketiere der Südmauren waren von Wanganella her sechzig Kilometer durch die Nacht geprescht und begannen sich nun einzugraben. General Gratian von den Streitkräften der Allianz berief schnell eine Besprechung mit seinen Hauptleuten ein. Die Offiziere waren schmutzig und ausgezehrt, aber immer noch sehr diszipliniert, als sie sich in dem Nieselregen, der eine kurze Phase des Sonnenscheins beendet hatte, um ihn scharten. »Die einzige tragfähige Brücke zwischen Balranald und Haytown befindet sich hier in Ravensworth«, begann der General, »und wenn es dem Feind gelingt, sie wieder aufzubauen, werden die Ghaner hinüberströmen, um sich mit den Südmauren zu vereinen. Sie haben zwei Dutzend mittelgroße Bombarden am Ufer aufgebaut und könnten damit unsere Galeeren versenken. Wir müssen diesen Brückenkopf einnehmen und halten. Die Hauptleute Fitzen, Alluwanna, Kearly, Glasken, Ling-zo und Richards werden ihre Einheiten bei den Angriffen auf bestimmte Punkte in Ravensworth anführen und dann weiter nach Norden, in Richtung Brücke vordringen. Die Aufklärung meldet, daß sich ihre Schützengräben etwa fünfhundert Meter vom Flußufer entfernt befinden, das ist also unser Vorteil. Wenn wir uns dort eingraben, - 304 können wir mit unseren Bombarden verhindern, daß sie die Brücke reparieren.« »Eine Frage, Sir.« »Glasken?« »Werden wir dann nicht in Reichweite ihrer Bombarden sein?« »Ja, das werden wir tatsächlich, und unser Kampfkalkulor in Balranald schätzt, daß wir dabei keinerlei Unterstützung bekommen werden. Alles, was die Allianz in diesem Frontabschnitt hat, wird in eine Offensive nördlich von Deniliquin gegen die Verstärkung der Südmauren geworfen. Wir sehen sehr schwierigen Zeiten entgegen.« »Aber wenn das Hochwasser zurückgeht, könnten die Ghaner außerhalb der Reichweite unserer Bombarden eine Pontonbrücke über den Fluß ziehen, und es sind hundertfünfzigtausend Mann.« »Das ist korrekt, Hauptmann Glasken, aber im Krieg gibt es nun mal keine Gewißheiten.« Der Angriff der Allianz begann gegen ein Uhr mittags. Ihre Bombarden beschossen die höheren Gebäude der Stadt, damit die Südmauren den Überblick verloren. Die Infanterie rückte in offener Formation über gestrüppreiches Weideland vor, und auf Glaskens Pfiff hin setzte sich die Einheit J an die Spitze, wobei Dunoonan die Regimentsfahne trug und Ettenbar auf seiner Zurna den Regimentsmarsch blies. Schweres Dauerfeuer aus den Häusern der Stadt setzte ein, und Männer schrien auf und gingen zu Boden, ehe sie auch nur ein Dutzend Schritte vorangekommen waren. Rechts kniete eine Reihe von zwei Dutzend Infanteristen nieder, zielte, feuerte eine Salve auf die Häuser ab und schloß sich den Marschierenden wieder an. Dann kniete eine andere Reihe nieder, schoß und erhob sich wieder, aber der damit erzielte Zeitgewinn war gering. Dunoonan schwankte kurz mit der Standarte und humpelte weiter, und der Kolben von Glaskens Muskete zerplatzte an einer Seite, als eine Kugel ihn traf. Dann zupfte etwas an Glaskens Ärmel und stach ihm in den Arm, und noch als er zurückzuckte, zerbarst Feldwebel Condolonas' Hinterkopf von einer Kugel, die durch sein linkes Auge eingedrungen war. Warmes, feuchtes Fleisch spritzte Glasken ins Gesicht, und von seiner Entschlossenheit, den schwerfälligen Angriff fortzusetzen, war mit einem Mal nicht mehr viel übrig. »Zwanzig Süd, alle Mann in Deckung!« rief er und rannte los. Nur Augenblicke später wurden sie hinter einem Erdwall von sporadischem. - 304 aber zielgenauem Feuer aus den Außenbezirken der Stadt festgenagelt. Glasken lag keuchend auf dem Rücken, hatte die Augen zugekniffen und war sich bewußt, daß ihm Blut den Ärmel hinunterlief und daß es wahrscheinlich sein eigenes war. Als er die Augen aufschlug, kniete Ettenbar neben ihm und hantierte am Rohrblatt seiner Kriegszuma herum. »Verdammt noch mal, Ettenbar könntet Ihr nicht mal etwas spielen, was den Männern gefällt?« keuchte Glasken und warf schließlich doch einen Blick auf seinen blutgetränkten Ärmel. »Camphells Abschied vom Roten Felsen gilt allgemein -«
»Das heißt Camphells Rückzug aus der Roten Burg Warum zum Teufel spielt Ihr denn bei einem Angriff ein Lied über einen Rückzug?« »Bei aller Hochachtung vor Eurem Dienstgrad, Fras Hauptmann, aber es heißt Camphells Abschied -« »Es heißt Campbells Rückzug, Ihr südmaurischer Vollidiot! Das ist eine alte schottische Weise. Ich bin in Sundew geboren und aufgewachsen, und meine Vorfahren sind vor zweitausend Jahren aus Schottland, wo auch immer das gewesen sein mag, dorthin gezogen. Ich habe die ersten achtzehn Jahre meines Lebens einen Kilt getragen, Porridge gefuttert, Dudelsack gespielt und diese verdammten Hochlandtänze gelernt, auch wenn es da im Umkreis von dreihundert Kilometern kein Hochland gab. Und ich sage, es heißt Camphells Rückzugl« »Es ist ein Lied unseres Regiments«, beharrte Ettenbar. Glasken bemerkte, daß sechzehn Dutzend Äugen- und Ohrenpaare ihren Streit interessiert verfolgten. Glasken erwiderte ihre Blicke. Ich weiß, was sie denken, sagte er sich. Jeder einzelne von ihnen denkt: Wenn sich diese beiden Spinner weiter über Musikgeschichte streiten, lebe ich vielleicht noch ein paar Minuten länger »Und?« befragte er die Männer. »Camphells Abschied von der Roten Burg«, riefen sie im Chor. Glasken sank wieder auf den Rücken und brachte es nicht übers Herz, ihnen ins Gesicht zu sehen. Sie alle hatten gerade dem Tod ins Auge geblickt, und nach seinem nächsten Befehl würden binnen Sekunden weitere von ihnen sterben. »Es heißt nicht Rückzug«, murmelte Ettenbar, der immer noch an seinem Mundstück herumhantierte. »Ach, seid still! Laßt die Männer abzählen.« Von den 250 Soldaten, die zu dem Angriff aufgebrochen waren, hatten 195 den schützenden Erdwall erreicht. - 305 »Und neun Männer können wegen Beinverletzungen nicht mehr weiter, Hauptmann«, meldete Ettenbar. Glasken überlegte einen Moment lang, nahm dann sein Sehrohr und spähte hinüber zu den Häusern. »Vielleicht zweihundert Südmauren«, murmelte er. »Aber Fras, dem Feuer nach zu urteilen sind es viel mehr.« »Die haben wahrscheinlich jeder drei Waffen, und es sind bestimmt Elite-Musketiere. Es gibt eine ganze Reihe solcher Tricks, wenn man stärker erscheinen will, als man ist. Sie haben Zweitwaffen zur Hand, schießen in schneller Folge, laden schnell nach, aber ... ja, ich bin auch nicht von gestern. Zieht die neun Verwundeten da drüben zusammen, auf der linken Flanke. Gebt ihnen ein Dutzend Reservepistolen von den anderen. Die übrigen sollen ihre Musketen und Feldtornister ablegen und nur ihre Säbel mitnehmen. Und sie sollen sich auch den Schlamm von den Stiefeln schaben.« »Aber Hauptmann, das hat es ja noch nie gegeben, die Männer brauchen doch ihre Tornister.« »Hinter uns liegen fünfzig Mann, die ihre Tornister noch haben, sie aber nicht mehr brauchen. Los, wird's bald!« Glasken hielt mit seinen Offizieren und Unteroffizieren eine kurze und unkonventionelle Lagebesprechung ab. » ... und wenn dann der richtige Befehl zum Angriff erfolgt, wird es mit diesem weißen Taschentuch geschehen. Ich werde es aus der Jacke ziehen, zweimal damit winken und es dann fallenlassen. Auf dieses Signal hin laufen wir ohne Geschrei über den Wall. Ihr rennt mit einem Affenzahn hinüber, aber mucksmäuschenstill, verstanden? Das erwarten die Scheißkerle nicht, die werden glauben, sich verguckt zu haben, weil sie ja nichts hören. Wir werden da drüben ankommen, ehe sie auch nur zwei Salven auf uns abfeuern können, und dann sind Säbel die besseren Waffen. Leutnant Jendrik, falls ich fallen sollte, übernehmt Ihr das Kommando.« Die Gruppe begann auseinanderzugehen, und Glasken tat einen Moment lang, als bemerkte er es nicht.
»Hey, ich bin noch nicht fertig!« rief er so laut, daß alle Musketiere es hören konnten. »Wenn ich irgendwen von euch dabei erwische, wie er sich wegen Gefangenen hemmstreitet oder plündert, setzt es fünfzig Peitschenhiebe pro Mann. Beschriftet eure Sachen, damit ihr sie wiederfindet, wenn wir zurückkommen. Wir werden dann zuviel mit dem - 306 Eingraben zu tun haben, um uns wegen sowas herumstreiten zu können.« Ganz schön lächerlich, hier den starken Mann zu markieren, dachte Glasken. Das durchschaut doch jeder der nicht völlig plemplem ist. Aber andererseits müssen wir doch wohl alle einen an der Waffel haben, daß wir hier im Schlamm herumrobben und uns abknallen lassen, also wer weiß? Einige Minuten später hörten die Südmauren Glaskens Pfiff, und auf der linken Seite des Erdwalls wurden einige Schüsse abgefeuert. Den ganzen Wall entlang tauchten Köpfe auf, und die Südmauren eröffneten sofort das Feuer. Die Köpfe wurden wieder eingezogen, und man hörte Flüche und weitere Pfiffe. Die Kriegszurna stimmte erneut Campbells Abschied von der Roten Burg an, doch dann wurde die Weise unterbrochen. »Meuterei«, murmelten etliche Südmauren. Wieder tauchten die Köpfe einiger Allianz-Musketiere auf. Eine weitere Salve, die Köpfe wurden wieder eingezogen - und dann schwärmten zahlreiche Gestalten schweigend auf dem Ufer aus und rannten in einem Mordstempo über das freie Feld. Glasken hatte richtig vermutet. Auf jeden Südmauren kamen drei Musketen. Eine weitere hastige Salve prasselte auf die Männer der Allianz ein, und dann wurde das Feuer der Südmauren unregelmäßiger, da einige versuchten nachzuladen, während andere ihre Steinschloßpistolen zogen und damit feuerten. Es war keine Zeit geblieben, Befestigungsgräben anzulegen, und Glaskens von jeglichem Gepäck unbelastete Einheit flitzte unerwartet schnell und agil durch die Gemüsegärten, wich den Kugeln aus und scheuchte das Geflügel auf. Dann überließ sich Glasken seinen Reflexen, als er säbel- und dolchschwingend in die Reihen der Südmauren platzte, mit fünf Jahren Baelsha-Training hinter jeder Bewegung. Nun, im Nahkampf, waren die flexiblen, schlachterprobten Männer der 105. klar im Vorteil, obwohl zwei Dutzend weitere aus ihren Reihen dem Feuer der Südmauren erlegen waren. Die Einheit J der 105. eroberte ihren Abschnitt der Stadt nach weiteren vierzig Minuten blutigen, erbitterten Kämpfen und eilte dann den anderen Einheiten zur Hilfe. General Gratian war beeindruckt. Er teilte Glasken weitere hundert Mann zu und ließ ihn sich am Ufer eingraben und dafür sorgen, daß die Brücke unpassierbar blieb. Balranald brauchte so viele Musketiere und Offiziere, wie Gratian nur dorthin schaffen konnte. - 306 Glasken hatte im Verlauf dieses Kriegs begonnen, ein wenig strategischer zu denken, und dementsprechend behandelte er seine südmaurischen Gefangenen. Während seine Offiziere verlangten, daß alle Gefangenen erschossen werden sollten, befahl Glasken, sie bis auf die Hose auszuziehen, ihnen mit einem Axtstiel einen harten Schlag auf die rechte Hand zu verpassen und dann zu gestatten, daß sie zu den südmaurischen Linien zurückliefen. »Sehr gnädig von Euch, daß Ihr ihnen das Leben schenkt«, sagte Ettenbar. »Das hat damit nichts zu tun. Sie haben keine Waffen mehr und haben jetzt auch noch gebrochene Finger. Ihre Armee muß sie nun durchfüttern, ohne daß sie von irgendwelchem Nutzen sind. Wäre bloß schade, wenn Lauten- oder Flötenspieler darunter waren.« Er bemerkte, daß Ettenbar das Mundstück aus seiner Kriegszurna gezogen hatte und es nun mit Hilfe eines Korkens in ein Bambusrohr schob. Glasken brach von dem Pfirsichbaum über ihm einen Zweig ab. »He da, Unteroffizier Ettenbar, streckt mal die Hand aus.« »Jawohl, Fras Hauptmann - Aua!« schrie er und riß die Hand zurück. Zarvora hatte ihren Sender in Betrieb genommen, noch ehe die fünfte und sechste Orbitalfestung vernichtet waren. Sie hatte die raschen Veränderungen und Zerstörungen am Spiegelsonnenband beobachtet und dann bemerkt, daß einer der Kriegssatelliten von einer sich langsam auflösenden, funkelnden Wolke umgeben war. Irrigerweise hatte sie daraus geschlossen, daß bereits sämtliche
Kriegssatelliten zerstört waren, aber das ließ schließlich nicht lange auf sich warten. Und die Festungen waren zu diesem Zeitpunkt viel zu sehr mit der Spiegelsonne beschäftigt, um sich um ihre belanglosen Signale zu kümmern. Sie saß auf einer Bank in einem abgedunkelten Raum mit einer Reihe von Batterien, die die Spulen ihres abgestimmten Schwingungskreises speisten, und betätigte eine modifizierte Signalfeuertaste. Tarrin starrte durch eine Linse auf die Funkenstrecke und runzelte in der Dunkelheit die Stirn. »Ich erkenne das Muster nicht, das Ihr sendet«, sagte er, als eine ferne Turmuhr die Stunde schlug. »Was soll dieses Ding bewirken?« »Funken anzeigen.« Tarrin seufzte und spähte weiter hinein. »Jetzt sehe ich Funken.« Er - 307 bekam große Augen. »VERSTANDEN UND BESTÄTIGT, lautet die Nachricht, in ganz normalem Kalibrierungskode.« »Unbeschädigt«, seufzte Zarvora erleichtert, stand auf und rang so heftig die Hände, daß ihre Fingergelenke knackten. »Requiriert mir eine Galeerenlok. Ich muß mit diesen Gerätschaften sofort nach Oldenberg.« »Aber dafür brauchte es mindestens zwei Waggons, Frelle Oberbürgermeisterin.« »Ich weiß, es hat drei gebraucht, als ich sie vor der Invasion aus Kalgoorlie hierhergeschafft habe. Los, macht schon!« Als er fort war, betätigte Zarvora wieder die Taste. Sobald ihr die raschen, bedrohlich zielstrebigen Veränderungen des Spiegelsonnenbandes aufgefallen waren, hatte sie Denkar über ihre Diener und Botenvögel eine Nachricht gesandt. Er sollte den Himmel im Auge behalten, und falls die Wandersterne mit einem Mal ihre Gestalt veränderten oder verschwanden, sollte er einen Funkensender an eine ungeschützte externe Antenne anschließen und auf ihr Signal warten. UNMITTELBARE KOMMUNIKATION OHNE SIGNALFEUER, tippte sie. ANTWORTE. SPRICH MIT MIR. ICH LIEBE DICH. ERZÄHLE MIR VON KALGOORLIE. Nur Sekunden später knisterten die Funken leise in der Anzeige des Empfängers. ICH LIEBE DICH AUCH. DIE SONNE GEHT GERADE UNTER, UND DER HIMMEL IST KLAR. »Es funktioniert!« rief Zarvora, sprang auf und reckte die Fäuste empor. »Es funktioniert, es funktioniert, der Krieg ist gewonnen, und ich habe die Welt verändert.« Dann fing sie sich wieder sah sich um und war froh, daß niemand zugehört hatte. Sie setzte sich und gab eine Antwort ein. IN ROCHESTER IST DIE SONNE SCHON VOR STUNDEN UNTERGEGANGEN. RUF BÜRGERMEISTER BOUROS. WIR MÜSSEN ÜBER DEN KRIEG SPRECHEN. ICH WILL WISSEN, WEN ICH BEI DER GESELLSCHAFT FÜR DIE ERFORSCHUNG DER ELEKTROKRAFT IN OLDENBERG ANSPRECHEN KANN. Es war schon Mittemacht, als Zarvora von Tarrin unterbrochen wurde, der ihr eine Galeerenlok samt drei Waggons besorgt hatte. Widerstrebend schaltete sie den Funkensender ab und überwachte dann seine Demontage. Drunten im Systemkonsolenraum des Kalkulors von Libris - 307 entdeckte sie, daß Dolorian gekommen war, um ein Problem mit Signalfeuerprotokollen mit ihr zu besprechen. »Frelle Dolorian, genau die Frau, die ich jetzt brauche. Weckt einen Diener und findet die sechs anderen auf dieser Liste. In zwei Stunden steht Ihr alle mitsamt Gepäck abfahrtbereit auf dem militärischen Bahnsteig der Bahnstation.« »Auf dem militärischen, Frelle Oberbürgermeisterin?« »Ihr seid soeben meiner Armee beigetreten, Leutnant Dolorian. Ihr geltet als neuntbeste Schützin von ganz Libris, also wißt Ihr doch wohl mit Waffen umzugehen.« »Ja, aber, aber -« »Ihr kennt die wichtigsten Signalfeuerkodes und Kalkulorprotokolle auswendig. Und weil Ihr früher einmal mit Lemorel Milderellen befreundet wart, haben Euch meine Schwarzen so gründlich unter die Lupe genommen, daß Eure Geheimhaltungsstufe fast an die meine heranreicht. Den Rest erkläre ich Euch dann unterwegs.«
Parsimar Wolen wurde von den Schutzleuten von Oldenberg, die seine Tür aufgebrochen hatten, aus dem Bett gezerrt. Während seine Frau zeterte, daß er dreiundsiebzig, unschuldig und gichtkrank sei, verfrachteten sie ihn nur im Nachthemd auf ein Ponygespann. In der Aula der Universität von Oldenberg sah sich Parsimar den übrigen acht Mitgliedern der Gesellschaft für die Erforschung der Elektrokraft im Nachthemd gegenüber. »Jarel, was ist denn los?« fragte er einen bibbernden Mann. »Ich weiß es nicht genau, Fras Parsimar. Boteken meint, die Erforschung der Elektrokraft sei zu einer Ketzerei erklärt worden, und wir würden jetzt alle auf dem Scheiterhaufen verbrannt.« »Ketzerei wird nur mit Verbannung bestraft, und die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen wurde schon 1640 abgeschafft.« »Dann werden wir halt alle erschossen. Ich habe Euch immer gesagt, wir hätten eine Geheimgesellschaft bleiben sollen.« Es war sehr kalt in der Aula, und Parsimar fror. »Ah, Feldwebel?« sagte er mit zitternder Stimme. »Ja, Fras?« »Könnte - könnte ich bitte eine Decke haben?« »Aber natürlich, Fras. Pantoffeln auch?« »Was? Oh ja, danke.« - 308 »Kaffee und Brötchen kommen gleich. Wir haben die Mensa offenbar auf dem falschen Fuß erwischt.« Der Unteroffizier ging flotten Schritts davon, und die beiden ältlichen Forscher sahen ihm verdutzt nach. »Der war ja richtig höflich zu uns«, sagte Jarel ungläubig. »Es klang jedenfalls nicht so, als ob wir irgendwas verbrochen hätten. Seht mal da, die Oberbürgermeisterin höchstpersönlich.« Zarvora ließ die Aula räumen und scharte dann nur die neun Mitglieder der Forschungsgesellschaft um sich. »Das sind die Pläne für einen Funkensender und draußen auf dem Rangierbahnhof stehen drei Gleitbahnwaggons mit einem demontierten, funktionsfähigen Modell. Ich will, daß Ihr mir sieben weitere Sender baut, die klein genug sein müssen, um in jeweils vier Militärkutschen zu passen. Ich will das in zwei Wochen mitsamt geschultem Personal einsatzbereit haben.« Den Forschern verschlug es den Atem. »Aber Frelle Oberbürgermeisterin, der Fluch der Wandersterne -«, begann Parsimar »Ich habe die Wandersterne zerstört.« Einen Moment lang waren sie sprachlos. »Ein dreifaches Hoch auf die Oberbürgermeisterin!« rief Parsimar mit schwacher, schriller Stimme. Als die schnaufenden Hochrufe verklungen waren, hob Jarel die Hand. »Das wird aber sehr teuer Frelle Oberbürgermeisterin. Das wird mindestens fünfhundert Goldroyal kosten.« »Ihr könnt gern fünfhunderttausend Goldroyal haben. Euch stehen unbegrenzte Mittel zur Verfugung, Fras, verstanden? Unbegrenzte Mittel. Die Bürgerwehr von Rochester hat die Stadt abgeriegelt, und die Handwerker der Gleitbahnwerkstätten, die Gilde der Uhr- und Rufzeitschaltermacher und die Mitarbeiter der Werkstätten und Laboratorien der Universität werden in diesen Minuten aus dem Bett geholt. Zweihundert Handwerker, Mechaniker, Ingenieure und Diener sind von Rochester nach Oldenberg unterwegs, um Euch zu helfen. Wer ist Fras Parsimar Wolen, Euer Vorsitzender?« »Ich, äh -« »Freut mich sehr, Euch kennenzulernen«, sagte Zarvora und schüttelte ihm die Hand. »Ihr leitet das Unternehmen und seid mir direkt verantwortlich. Wenn Euch irgend jemand bewußt bei der Arbeit behin ~ 308 dert, laßt Ihr ihn erschießen, ganz egal, wer es auch sei. Der Polizeichef, der Leiter der Bibliothek, der Bürgermeister.«
Parsimar wurde ganz schwindelig von dem, was da alles auf ihn einprasselte. Der Oberbürgermeisterin zuzuhören, glich dem Versuch, aus einem Wasserfall zu trinken. »Aber Frelle Oberbürgermeisterin, ich bin dreiundsiebzig -« »Herzlichen Glückwunsch. Diese Zeichnungen geben einen Überblick über den Funkensender, und ich möchte den Morgen gern damit verbringen, das Gerät aus Libris hier in diesem Saal wieder zusammenzusetzen, um Euch mit dem Aufbau vertraut zu machen.« »Ich brauche meine Tabletten und Tonika«, warf Boteken ein. »Die medizinische Fakultät dieser Hochschule wird die Forschung und Lehre einstellen und sich ausschließlich um Eure Gesundheit kümmern. Nichts ist so wichtig wie das Ziel, die sieben Sender innerhalb von zwei Wochen fertigzustellen. Ach ja, und das ist Leutnant Dolorian. Sie leitet die Ausbildung.« Dolorian hatte Aktenbündel unter beiden Armen. Sie trug eine geborgte Jacke, und sie hatte vergeblich versucht, sie über ihren Brüsten zuzuknöpfen. Es sah hinreißend aus. Parsimar bekam Stielaugen und neigte dann schnell die Gläser seiner Bifokalbrille. Zarvora machte sich auf, ganz Oldenberg für das Vorhaben zu mobilisieren. Dolorian setzte die Besprechung anhand von Notizen fort, die Zarvora ihr im Zug diktiert hatte. »Die sechs Wandersterne waren vorzeitliche Militärmaschinen«, begann sie und wiegte dabei ein wenig die Hüften, wie zum Takt eines unhörbaren Lieds. Sie hatte sich das als nervösen Tick bei ihren ersten Ansprachen in der Öffentlichkeit angewöhnt und bald festgestellt, daß es ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit sämtlicher männlicher Zuhörer sicherte. »Sie dienten dem Zweck, gegnerische Elektrokraftgeräte aufzuspüren und zu zerstören.« »Dann waren die Wandersterne also Waffen, die zweitausend Jahre lang in Betrieb geblieben sind, Frelle?« »So erstaunlich es ist, ja. Kurz vor der Invasion der Ghaner brachte die Oberbürgermeisterin die Wandersteme in Konflikt mit dem Spiegelsonnenband. Gestern fand die zweite Schlacht am Himmel statt, und die Spiegelsonne hat gesiegt. Wir können nun Elektrokraftgeräte für Kriegszwecke einsetzen, und in dem gegenwärtigen Krieg steht es schlecht für uns. Funkensenderwagen werden uns direkte Fernmelde- 309 Verbindungen ermöglichen und können sich mit unseren Armeen fortbewegen.« Am anderen Ende der Welt lauschte Bruder Alex vom Kloster der Heiligen Weisheit in der Nähe von Denver den Gewittern in den Gebirgszügen des Westens. Genauer gesagt, lauschte er den Funkemissionen von Blitzen weit jenseits des Horizonts. Mit Hilfe eines Gleichrichters aus Bleiglanz hatte er zehn Jahre zuvor einen passiven Schwingkreis gebaut und entwickelte nun ein Verfahren zur Vorhersage von Sturmbewegungen, das von den Segelschwingenpatrouillen der Wächter unabhängig war. Heute waren die Gewitter sehr fern, und er vermochte nur sehr schwache Blitzsignale zu erlauschen. Schwach, aber regelmäßig. Sehr regelmäßig. Er hob die Hände und drückte sich die Hörmuscheln fester an die Ohren. Das war kein Gewitter, das wurde ihm nun klar. »Elektrokraftsignale«, flüsterte er. »Großer Gott im Himmel, ein Elektrokraftgerät!« In Mounthaven arbeitete sonst niemand an Schwingkreisen, und in den Ruffreistätten des Südens konnten sie ja noch nicht einmal Flugzeuge bauen. Also mußte das Signal von weither kommen. Vielleicht gar aus den legendären Kontinenten Asiaire oder Australika. Aber die Wächtersterne verbrannten doch jedes Elektrokraftgerät ... Mit einem Mal mußte Bruder Alex wieder an die sonderbaren Himmelsereignisse denken, die sich einige Tage zuvor zugetragen hatten, als die Spiegelsonne seltsame, unheilschwangere Formen angenommen hatte und die Wächtersterne umgeben von funkelnden Wolken durch den Himmel geflogen waren. Man hatte allgemein angenommen, daß es sich um irgendeine Botschaft von großer astrologischer Bedeutung handelte, aber nun kamen Bruder Alex Zweifel. Einmal angenommen, es war kein kosmisches Fest gewesen. Einmal angenommen, es war ein Krieg. Einmal angenommen, die Wächtersterne waren bezwungen worden.
Zwei Stunden lang schrieb der Mönch die schwache, verschlüsselte Sendung von jenseits der Ozeane mit und beschloß dann widerstrebend, daß er sich nun mit den vorzeitlichen Lehrbüchern in der Bibliothek beschäftigen mußte. Als er durch den Kreuzgang schritt, sein Papierbündel unterm Arm, brummte ein Jagdschwingenschwarm vom nahegelegenen Flugplatz durch den heiteren Frühlingshimmel; die Kom - 310 pressionsmotoren liefen auf Hochtouren und zogen die Maschinen empor. »An diesem Maitag im Jahre des Herrn 3939 hat sich die Welt verändert«, sagte Bruder Alex zu den Wächtern hoch droben in ihren winzigen Kampfmaschinen. Es dauerte fast einen Monat, bis die sieben Sender einsatzbereit waren, aber Zarvora wußte, daß sie diese Verzögerung hinnehmen mußte. Die Pattsituation im Osten wirkte sich immer mehr zu ihren Ungunsten aus, denn die Südmauren hatten sich mittlerweile an den Kampf aus Schützengräben heraus gewöhnt. Der Winternebel erschwerte Signalfeuerverbindungen, und die dichte Wolkendecke machte den Gebrauch von Heliostaten auf dem Schlachtfeld oft unmöglich. Schließlich brachten die Schwarzen ihr einen unbestätigten Bericht, demzufolge Ghaner und Südmauren etliche Divisionen zusammenlegten, um einen Vorstoß von Deniliquin bis hinab zu den Ruftodesländern führen zu können. Der Staat Rochester sollte entzweigeschnitten werden. Fünf der sieben Sender wurden im Westen, Nordwesten und Nordosten eingesetzt. Einen schmuggelte man sogar über südmaurisches Gebiet in den Zentralbund. Truppen, von der Verteidigung der Signalfeuertürme freigestellt, wurden per Gleitbahn nach Robinvale gebracht und dort zu einer neuen Armee zusammengestellt. Dolorian wurde mit dem siebten Funkkorps dieser Streitmacht zugewiesen. Ihre Aufgabe bestand darin, einen Landstrich zu befestigen, den die Truppen der Allianz erobert hatten, einen Landstrich, der ganz bis zur Grenze zum Zentralbund reichte. Doch dazu kam es nicht, denn plötzlich tauchte wie aus heiterem Himmel eine Horde Lanzenreiter und berittene Musketiere der Ghaner auf. Zarvora schätzte später, daß einige Einheiten der Ghaner binnen einer Woche aus über tausend Kilometer Entfernung herbeigeeilt waren. Die erschöpften, aber gut koordinierten Ghaner besiegten die unvorbereiteten Musketiere der Allianz in einer Schlacht auf halber Strecke zwischen Robinvale und Balranald, und anschließend trat General Gratian mit den Resten seiner Divisionen den Rückzug an. In Balranald überquerten sie den Hochwasser führenden Fluß und zerstörten anschließend die Brücken. »Die Ghaner waren gewarnt«, verkündete Zarvora in dem neuen Funkbefehlstand in Oldenberg. »Irgend jemand, der von den Gleitbahn- 310 Bewegungen wußte, hat daraus geschlossen, daß in Robinvale Truppen zusammengezogen wurden.« »Da kommen Tausende als Spione in Frage«, erwiderte Vardel Griss. »Das Gleitbahnnetz ist riesig.« »In drei Monaten wird es sicherer sein. Dann werden wir Funkensendereinheiten in jedem Galeerenzug und jedem Fort haben, aber bis dahin müssen wir das Signalfeuernetz nutzen, und dieses System ist nicht sicher Die Kodes waren gut, aber sie wurden geknackt und gegen uns eingesetzt.« »Ein weiterer Kalkulor Frelle?« »Selbst die Maschine in Kalgoorlie würde zwei Jahre dafür brauchen, unsere neuen Kodes zu knacken. Nein, wir wurden verraten - wir und die fünfzehntausend Musketiere, die in der Schlacht von Robinvale gefallen sind. Verdammt. Immer noch kein Bericht von Dolorian und Funkeinheit sieben.« »Vielleicht ist sie gar nicht in Gefangenschaft, und von unterwegs kann sie nicht senden. Der Sender braucht fünf Stunden, bis er aufgebaut und richtig eingestellt ist.« »Dann laßt uns hoffen, daß - oh! Das ist aber sonderbar!« Zarvora begann eine Funksendung mitzuschreiben. Tarrin sah ihr dabei über die Schulter und schüttelte den Kopf.
»Sehr, sehr schwach«, sagte Griss. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Ich kenne das, ich habe so etwas Ähnliches schon einmal in Textfragmenten in Kalgoorlie gesehen. Das könnte ein vorzeitliches Alphabet sein, das man Morseschrift nannte und das aus zwei Arten von Impulsen bestand, kurzen und langen.« Zarvora nahm ein Buch voller Tabellen zur Hand. »Es lautet DENVER YANG-KI, und das wird immer wieder wiederholt.« »Den Ort kenne ich nicht. Das - das könnte von jenseits der Ruftodesländer kommen.« »Sieht ganz so aus, Frelle Griss. Unsere Zivilisation ist womöglich nicht die einzige.« »Yang-Ki. Klingt wie ein Name aus dem alten China. Werdet Ihr antworten?« »Was soll ich sagen? Besten Dank für den Anruf, aber wir sind gerade schwer beschäftigt, also laßt uns bitte in Ruhe?« »Nein, etwas einfacheres, Frelle Oberbürgermeisterin, und es schadet - 311 nie, freundlich zu sein. Nennt ihnen einen Ortsnamen aus der Zeit vor dem Großen Winter, irgendeine Großstadt. Wie hieß noch diese große Geisterstadt südlich von hier?« »Melbourne. Na ja, warum nicht.« Zarvora tippte: OBERBÜRGERMEISTERIN ZARVORA. MELBOURNE. ICH HÖRE, DENVER YANG-KI. Der sich anschließende Austausch war recht unergiebig, denn das amerikanische und das australische Englisch hatten sich in zwei Jahrtausenden der Isolation weit auseinanderentwickelt. Schließlich gab Zarvora etliche Male ENDE DER ÜBERTRAGUNG ein, und dann verabschiedete sich auch der Funksender auf der anderen Seite der Erde. »WIR und dann irgendwas mit FÜR FRIEDEN, das waren die letzten Worte«, sagte Zarvora. »Den werden sie hier nicht finden, hier herrscht Krieg«, sagte Griss. Fem im Norden zogen Dolorian und Major Hartian, der Befehlshaber der Funkeinheit sieben, in strömendem Regen Flöße mit den Funkwagen darauf über den Murrumbidgee River, während die Bombarden der Allianz vom Südufer aus die Ghaner mit Kartätschen beschossen. Das Hochwasser stieg immer noch, und eine schlammige Brühe umspülte die Räder des letzten Wagens, als er das Ufer hinauf in Sicherheit gezogen wurde. »Alles in Ordnung mit Euch, Leutnant?« rief der Kutscher des Übertragungswagens zu der schlammbedeckten Gestalt hinunter, die sich gegen den Querbalken anstemmte. »Gerade mal so«, keuchte die durchnäßte Dolorian, deren langes Haar ihr mit Schlammwasser im Gesicht klebte. »Meine Haarnadeln liegen auf dem Grund des Flusses. Und es fehlte nicht viel, dann läge ich da jetzt auch. Aber nun sind wir ja in Sicherheit.« »Leider nicht, Frelle Leutnant!« rief ein Bote, der sie bereits erwartete. »Die Südmauren rücken weiter vor, das hat ein berittener Kurier gerade gemeldet. Wir werden immer weiter zurückgedrängt. Der Major läßt fragen, was Ihr braucht. Er ist bei der Regimentsfahne.« »Sechs silberne Haarnadeln und einen Kamm von Corgelligo, trockene Kleider, heiße Schokolade und einen Monat Urlaub - ach ja, und einen reichen, gutaussehenden Galan, der Laute spielen kann.« »Damit kann ich nicht dienen, Frelle«, keuchte der Bote, ein schmächtiger, pockennarbiger junger Mann. »Er will wissen, was Ihr braucht, um Funkwagen sieben in Betrieb zu nehmen.« - 311 »Fünf Stunden auf sicherem Terrain.« »In Ravensworth bewacht eine unserer Stellungen, was von den Brückenpfeilern noch übrig ist.« »Ravensworth? Da findet doch wahrscheinlich der nächste große Angriff statt, wenn die Südmauren und die Ghaner versuchen, ihre Armeen zu vereinen. Da wäre es ja besser die Wagen hier zu zerstören, damit sie nicht in Feindeshand geraten. Wenn wir schnell reiten, können wir morgen schon im Zentralbund sein.« »Die haben sich in Ravensworth sicher eingegraben, und sie haben Bombarden, Frelle Leutnant. Ihr Hauptmann hat in Darenton gekämpft, wo sie den Angriff der Kavallerie zurückgeschlagen
haben. Glasken heißt er, John Glasken. Sie sagen, er sei ein guter Vorgesetzter Tapfer, ein fähiger Führer und sehr erfahren.« Dolorian sank an das schlammbeschmierte Wagenrad. Unwillkürlich öffnete sie den obersten Knopf ihrer durchnäßten, dreckigen Jacke und fuhr mit zwei Fingern langsam an einer kräftigen Radspeiche entlang, während der Regen immer noch auf sie niederprasselte. In der Ferne ertönte das Hornsignal zum Sammeln. »Erfahrener als Ihr vermuten würdet, Fras Unteroffizier«, sagte sie mit heiserer Stimme, stieß sich dann vom Rad ab und stapfte durch den roten Schlamm in Richtung Regimentsfahne. Hauptmann John Glasken von der 105. Schweren Infanterie der Oberbürgermeisterin befand sich gerade in seinem Befehlszelt, als die Wagen der Funkeinheit sieben mit ihrer Eskorte in Ravensworth eintrafen. Major Hatian überwachte die Standortwahl der Wagen und machte sich dann auf den Weg zu seinem Vorgesetzten. Als er vor dem Zelt keine Wache sah, trat er ein. Ein spitzer Schrei ertönte, und der Major taumelte rückwärts aus dem Zelt. Eine gute Minute später trat Glasken, sich das Hemd zuknöpfend, aus dem Zelteingang. Kurz darauf flitzte hinter ihm eine Frau hinaus, die sich einen Mantel über den Kopf hielt und hinter einem Holzstapel in Richtung Feldlazarett verschwand. »Mich, äh, plagt ein leichtes Fieber«, erklärte Glasken, »und eine Krankenschwester hat mich ein wenig gepflegt.« »Eine Krankenschwester mit dem Mantel eines Gleitbahnschaffhers über dem Kopf?« fragte Major Hartian. Glasken sah verblüfft dem Entladen der Funkwagen zu, und der Major - 312 erklärte ihm derweil, worum es sich bei der Funkeinheit sieben handelte. »Es sind zwei Mastenwagen, ein Antriebs- und ein Übertragungswagen«, erläuterte der Major, während Glasken zu verstehen versuchte, womit er es hier zu tun hatte. »Die Mastenwagen müssen fünfzig Meter auseinanderstehen, und die zusammenklappbaren Masten müssen fünfzehn Meter hoch aufgerichtet werden. Dazwischen wird dann ein Doppeldraht gespannt, den man Antenne nennt.« »Aha. Und was soll das alles?« »Das löst die Signalfeuertürme ab. Damit kann man bis nach Rochester Befehle anfordern.« »Aber dafür sind diese Masten doch viel zu klein. Da könnte man ja auch gleich auf einen Baum klettern.« »Das funktioniert nicht mit Signalfeuer, Fras Hauptmann. Mit diesem Draht holt man Wellen aus der Luft.« »Wellen? Wie in einem Fluß oder See?« »Ja, genau. Also -« »Aber wo ist denn das Wasser?« »Also bitte, seid Ihr so dumm? Wenn die Wellen aus der Luft geholt wurden, liest der Funker die Nachricht an der Funkenstrecke ab. Und diese kleinen Blitze ersetzen die Signalfeuerübertragungen.« »Aber Ihr sagtet gerade, daß es mit Wellen und Drähten funktioniert, und jetzt sind wir wieder bei Blitzen und Signalfeuerkodes.« »Fras Hauptmann, das ist ein großer naturwissenschaftlicher Fortschritt.« »Und ich habe Naturwissenschaften studiert!« Nach weiteren zehn Minuten des Streits und der Erklärungen gingen die beiden Offiziere nicht eben freundschaftlich auseinander. Dann zerlegte und putzte Glasken eine Stunde lang sein Gewehr und seine Pistolen und sah derweil zu, wie die Masten aufgerichtet und mit Spannleinen befestigt wurden. Der Doppeldraht zwischen den Isolatoren an ihrer Spitze war so dünn, daß er kaum zu sehen war. Dann nahm man das Verdeck vom Antriebswagen, und darunter kamen zehn Pedalensätze aus einer Galeerenlok zum Vorschein, und das dazugehörige Getriebe war mit einem trommelförmigen Ding verbunden, aus dem Drähte zum Übertragungswagen führten.
Weitere Stunden vergingen, und es fing wieder an zu regnen. Nach einem Inspektionsrundgang wollte sich Glasken die Funkeinheit sieben - 313 im Betrieb ansehen. Von dort ertönte ein eigenartiges Summen, und es roch nach Ozon, wie nach einem Gewitter Bald gewann seine Neugier die Oberhand, und er ging zu dem Übertragungswagen, in dem es dunkel war und aus dem brummende und knisternde Geräusche drangen. In einer Ecke saß eine Drachenbibliothekarin; Glasken erkannte die blaue Armbinde über ihrem militärischen Rangabzeichen. Ihr Kopf war hinter einer Schallwand verborgen, ihre Brüste aber nicht. Sie hatten verlockende Ausmaße. Glasken räusperte sich. »Hauptmann John Glasken von der 105.«, sagte er. Sie winkte ihn herein, ohne den Blick von der Funkenstrecke abzuwenden. »Ihr kommt gerade recht, Hauptmann«, sagte sie mit heiserer Stimme. »Ich stehe in Verbindung mit dem Sender in Oldenberg, mit der Oberbürgermeisterin höchstselbst.« Glasken glitt neben sie auf die Bank und spähte an ihrem Kopf vorbei in die Funkenstrecke, wo ein veilchenblauer Blitz auf und ab flackerte. Es war beengt dort, und er legte der Funkerin einen Arm um die Schultern, um an ihrem Kopf vorbeisehen zu können. Die kleinen Blitze stellten ein vertrautes Muster dar. »Das ist ja ein Signalfeuerprotokoll mit dem ganz normalen Kode«, sagte er erstaunt. »EICHTEST 5 ABGESCHLOSSEN.« »Ausgezeichnet, Hauptmann. Ich sehe, Ihr kennt Euch aus«, schnurrte seine Banknachbarin anerkennend. Glasken wurde bewußt, daß seine Hand zwar auf ihrer linken Brust ruhte, er sich aber noch keine Ohrfeige eingefangen hatte. Er drückte sie einmal liebevoll und versuchsweise. »Genau wie ich andere Funker an ihrem Anschlag erkenne, Johnny Glasken, erkenne ich Euch an Euren Berührungen.« »Frelle, ich habe aber noch nie an Euren Schaltern herumgespielt, so verlockend der Gedanke auch ist.« »Doch, das habt Ihr, Fras Johnny«, sagte sie und wandte sich von der Funkenstrecke ab. »Dolorian!« rief Glasken und stolperte dann aus dem Wagen. »Wache! Wache! Eine Spionin der Ghaner! Wache! Verdammt noch mal! Schnell! Kommt her!« Als der Major dazukam, stand Dolorian mit erhobenen Händen vor dem Wagen und war von einem Dutzend Infanteristen umringt. Glasken sah aus einigem Abstand zu und befahl ihnen, vorsichtig zu sein und sie zu erschießen, sollte sie Anstalten machen zu fliehen. - 313 »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Major Hartian. »Eine Spionin der Ghaner«, sagte Glasken und fuchtelte mit seinem Säbel in Dolorians Richtung. »Eine persönliche Freundin von Lemorel, ihrer wahnsinnigen Anführerin.« »Und neben der Oberbürgermeisterin ist sie die erfahrenste Funkerin, die wir haben«, entgegnete der Major. »Um so schlimmer! Eine Spionin in unserem Führungsstab!« »Ich habe die gleiche Geheimhaltungsstufe wie die Oberbürgermeisterin«, begann Dolorian. »Ja, das stimmt. Eras Hauptmann.« »Aber sie kennt Lemorel. Lemorel hat ihr das Schießen beigebracht, und die beiden sind gemeinsam einkaufen gegangen, sie waren Freundinnen und wer weiß, was sonst noch.« Dolorian hob kurz den Blick gen Himmel. Mittlerweile hatten sich einige Dutzend schlammbeschmierte Musketiere um sie geschart. »Also ich habe nie mit ihr geschlafen, Hauptmann Glasken, was man von Euch schließlich nicht behaupten kann!« sagte sie mit ruhiger, klarer Stimme. »Ihr habt mit der Oberbefehlshaberin dieser Horde aus Alspring geschlafen?« fragte der Major ungläubig. »Äh, na ja, das war eine Studentenliebschaft. Und auch nur einmal.«
»Von Juli 1697 bis September 1699«, berichtigte Dolorian ihn, »als sie feststellte, daß Ihr sie betrogen hattet.« »Ihr habt die Oberbefehlshaberin des Feindes betrogen« fragte der Major, der kaum glauben konnte, was er da hörte. »Ein dreifaches Hoch auf Hauptmann Glasken!« rief einer der Umstehenden, und die Musketiere brachen in Hochrufe aus. Seit Ravensworth eingenommen worden war, hatte Glaskens Einheit die Brücke über den Fluß bis hinab auf die steinernen Fundamente zerstört und sich dann am Rande der Reichweite ihrer Bombarden eingegraben. Die Bombarden waren erster Güte, das neuste Modell aus Inglewood. Sie verschossen Präzisionsbleikugeln mit großer Genauigkeit und übertrafen daher die feindlichen Bombarden am anderen Ufer. Die Pioniere der Ghaner versuchten ihre Bombarden mit Flößen über den Fluß zu schaffen, gaben es aber angesichts der turbulenten Strömungen und des Bombardements der Allianz wieder auf, nachdem sie die fünfte Bombarde verloren hatten. - 314 Die ganze Zeit über war aus Richtung Wanganella südmaurische Kavallerie herbeigeströmt, und trotz der Sabotage und der Kavallerieausfälle über die Grenze hinweg war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Geschützlafetten folgten. Da Balranald der Kontrolle der Allianz unterstand und Haytown vorgeblich neutral blieb, wurde die Brücke von Ravensworth mit jeder Stunde wichtiger. Hunderttausend Lanzenreiter aus Alspring und ihre Nachschubkräfte gingen an der Nordseite der Brücke in Stellung. Major Hatian befahl, die acht Krankenschwestern der 105. nach Norden, an die Grenze zum neutralen Zentralbund zu bringen und dort bis Kriegsende zu internieren. Einzig der Feldarzt blieb. Dolorian arbeitete ununterbrochen am Funkgerät, sandte Schätzungen der feindlichen Truppenstärken nach Oldenberg und empfing Berichte der Aufklärung aus Balranald und Robinvale wie auch von dem Geheimsender den man in die Botschaft der Allianz in Griffith eingeschmuggelt hatte. Mit Hilfe des Signalfeuernetzes des Zentralbundes warnten Spione die Botschaft von Haytown aus, daß eine große Abordnung von Anführern der Alspringer aus dem Westen eingetroffen sei. Mit besonderem Interesse wurde vermerkt, daß der Wimpel der Oberbefehlshaberin der Ghaner über dem Amtssitz des Gouverneurs flatterte. »Lemorel ist dort, um Zugang zu den Brücken von Haytown zu verlangen«, schloß Glasken, als ihm ein Bote die Nachricht brachte. Hartian bezweifelte das. »Warum sollte sie sich die Mühe machen zu fragen? Eine ihrer Divisionen belagert Balranald, und Haytown ist längst nicht so gut befestigt. Zwei Tage Gewaltmarsch, und sie könnte Haytown einkassieren.« »Gute Taktik, schlechte Strategie«, erwiderte Glasken. »Wenn sie sich Haytown unterwerfen würde, würde sie sich den Zentralbund zum Feind machen. Und der Zentralbund hat, was Lanzenreiterdivisionen angeht, viel mehr zu bieten als die Allianz, und bei Kämpfen in Trockengebieten sind sie den Ghanerm ebenbürtig. Außerdem hat der Zentralbund eine lange Grenze ganz in der Nähe der Nachschublinien der Ghaner. Nein, sie wird sich aufplustern und drohen und ihnen dann irgendeinen Kompromiß anbieten, den sie nicht ablehnen können.« Major Hartian betrachtete die Karte auf dem Klapptisch, der zwischen ihnen stand, und las sich noch einmal die Funksprüche durch. »Auf der anderen Seite des Flusses stehen hunderttausend Mann aus Alspring, die nichts dringender wollen als diese Brücke wieder aufzu - 314 bauen. Auf dieser Seite befinden sich elftausend Südmauren auf den Straßen aus dem Süden, und fünftausend von ihnen kreisen uns bereits ein. Und wir haben neunhundert Mann und drei lächerliche Bombarden.« »Diese Messingbombarden sind das beste, was man mit meinen Steuergeldern kaufen kann«, erwiderte Glasken indigniert. »Aber es sind dennoch nur drei. Was ist da los?« Schüsse aus Handfeuerwaffen durchbrachen die Stille.
»Ein Angriff!« sagte Glasken und schnappte sich Muskete und Sturmhaube. Man hatte erwartet, daß die Südmauren von der Ravensworther Seite aus angreifen und die Stellungen der Allianz zunächst mit Artillerie beschießen würden. Statt dessen aber hatten sie fast ihre gesamte Kavallerie absitzen und sich über das freie Feld im Westen und Osten heranpirschen lassen, bis sie so nah waren, daß sie die Bombardenstellungen der Allianz von zwei Seiten aus angreifen konnten. Der schmale Keil der befestigten Gräben hielt zunächst stand, gab dann jedoch unter der Last der selbstmörderischen Attacken immer mehr nach. Eine halbe Stunde später waren die Bombarden abgeschnitten, und die Truppen der Allianz zogen sich auf eine zweite Linie von Schützengräben zurück, während ihre in der Falle sitzenden Kameraden auf sich selbst gestellt weiterkämpften. Dolorian hatte das Kampfgeschehen aus der Deckung des Antriebswagens heraus verfolgt, und nun kam ein Bote zu ihr gestürzt. Er zeigte auf eine zerfetzte Fahne. »Das ist der Befehlsstand«, keuchte er. »Ihr sollt Euch dort melden.« Dolorian kroch geduckt durch den kalten, roten Schlamm und wünschte sich zum ersten Mal im Leben etwas kleinere Brüste. Ettenbar rief ihr aus einem Schützenloch heraus etwas zu, und sie kroch zu ihm, während über ihnen die Kugeln vorüberpfiffen. Er war mittlerweile zum Feldwebel befördert worden. »Sie sind alle hin, Frelle Leutnant«, rief er. »Der Hauptmann und der Major, bei den Bombarden eingeschlossen.« »Da draußen? Sie sind abgeschnitten?« »Leutnant, Ihr seid der Fernmeldeoffizier, der ranghöchste Offizier, den wir hier noch haben.« Er salutierte so zackig, wie es ihm unter diesen Umständen möglich war. »Freut Ihr Euch, Befehle zu geben, Frelle Leutnant?« - 315 »Ich? Aber mein Auftrag hier ist rein administrativ.« »Befehle, Frelle. Bitte! Wir sind verzweifelt. Wir wollen einen Führer, der uns Befehle gibt.« Dolorian hob den Kopf ein wenig und sah sich auf dem Schlachtfeld um: kämpfende Männer, Mündungsfeuer Rauchschwaden und schlammbedeckte Leichen. »Und ich will einen Haufen Kissen, meine hochhackigen Stiefel, Filterkaffee und Karamellcremeschokolade.« »Bedauerlicherweise können wir Euch das hier nicht bieten, Frelle.« »Ich will im Bett sterben, als alte Frau und am liebsten nicht allein -« Ein Schuß schleuderte zwischen ihnen Schlamm empor, und sie duckten sich wieder. »Ach, der Tod, Frelle. Also das kann ich Euch abnehmen. Ihr gebt den Befehl, und ich führe den Angriff.« Dolorian spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie mischten sich mit dem Schlamm auf ihren Wangen. Mit einem lauten Knall explodierte in der Feme eine vernagelte Bombarde. »Der Hauptmann und der Major zerstören die Bombarden, Leutnant.« »Feldwebel Ettenbar, wenn den Südmauren der Durchbruch gelingen sollte, müssen die Brandsätze in den Funkwagen gezündet werden. Und in der Zwischenzeit beginnen wir einen Angriff, um die Bombardenbesatzungen zu entlasten.« Ettenbar zog mit einem Lächeln seine doppelläufige Steinschloßpistole. »Wie Ihr befehlt, Leutnant. Übrigens: Im Zelt des Hauptmanns liegen die Jacke und das Stirnband einer Krankenschwester Die Südmauren sind ritterliche Männer Einer Krankenschwester würden sie Achtung entgegenbringen -« Dolorian nahm ihm die Pistole aus der Hand. »Ihr würdet als Krankenschwester aber ziemlich albern aussehen, Feldwebel.« »Nein, nein, Frelle, ich meinte -« »Ich führe den Angriff, und Ihr bleibt hier, damit Ihr die Funkwagen in Brand stecken könnt.« - 315 Die dritte Bombarde war gerade vernagelt worden, als eine weitere heftige Attacke der Südmauren gegen die kaum noch zu haltende Stellung losbrach, aber die Männer der Allianz
waren gut bewaffnet, und die Südmauren konnten keinen rechten Vorteil aus ihrer Überzahl ziehen. Sie waren Lanzenreiter, für den Kampf hoch zu Roß ausgebildet. Major Hartian steckte die Lunte im Zündloch der Bombarde in Brand und eilte dann um eine Ecke zu Glasken. Der mit Propfmaterial verstopfte Geschützlauf explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, und der Angriff der Südmauren geriet ins Stocken. Die Linie der mit rotem Schlamm beschmierten weißen Kavallerieuniformen begann zurückzuweichen. »Das war die letzte Bombarde, jetzt haben wir nichts mehr, was sie interessieren könnte«, rief Major Hartian zu Glasken hinüber, dem immer noch die Ohren klangen. »Da wir sie jetzt nicht mehr beschießen können, werden sie die Brücke in zehn Stunden wieder aufgebaut haben«, erwiderte Glasken. »Sollen sie. Wir halten hier keine Stunde mehr aus, aber die Hauptstellung könnte sich noch ein paar Tage lang halten. Die Ghaner wissen nichts von den Funkwagen. Ich schätze mal, sie ziehen an uns vorüber und lassen eine kleine Einheit mit Bombarden zurück, um uns damit zu beschießen. Und bis dahin könnte Leutnant Dolorian ihre Truppenstärke an die Oberbürgermeisterin durchgeben.« »Hört mal!« rief Glasken. »Eine südmaurische Kriegszurna.« »Die rufen nur ihre Männer zusammen.« »Nein! Das ist Campbeils Abschied von der Roten Burg, der Marsch der 105. Das ist Ettenbar!« »Sie greifen an, um uns zu entlasten! Diese Narren! Die Südmauren werden sie in die Zange nehmen.« »Major, wir sollten den Ausbruch wagen und zu ihnen stoßen. Major?« Glasken sah sich um, vermochte aber nur mit rotem Schlamm beschmierte Leichen zu entdecken. Der Major war wahrscheinlich auch darunter. Vermutlich eine verirrte Kugel, dachte Glasken. Da er nun Befehlshaber war, blies er mit seiner Pfeife im Tageskode das Signal zum Sammeln. Seine Männer scharten sich um ihn, und von den fernen Gräben her rückte bereits der Entsatz vor. »Wir werden uns mit ihnen vereinen und uns dann in die Hauptstellung zurückziehen.« - 316 Glasken pfiff, und sie krochen aus ihren Gräben und stolperten über den unwegsamen Grund und die Leichen in Richtung Süden. Der Major war jedoch nicht tot; vielmehr stapelte er in ihrem Pulverdepot Fässer übereinander, eine glimmende Zündschnur zwischen den Zähnen. Auf Glaskens letzten Pfiff hin schlug er mit einem Musketenkolben den Deckel eines Pulverfasses ein, zog sich die Zündschnur zwischen den Zähnen hervor und rammte seinen Dolch in einen Kattunbeutel gekörntes Schießpulver. »Braver Mann, Johnny - hier kommt ein Abschied, die Eure Schritte beschleunigen wird«, sagte er und hielt die Zündschnur über die schwarzen Körnchen. Glasken wurde von der Explosion emporgeschleudert und hatte einen Moment lang das seltsam schöne Gefühl zu fliegen. Dolorian kämpfte sich gerade aus dem Schlamm von Ettenbars Schützenloch heraus, als die Explosion des Pulverdepots sie wie ein Donnerschlag traf. Blut lief ihr aus einer Wunde über dem Haaransatz, wo Ettenbar ihr mit seinem schweren Pulverhorn aus Messing einen Schlag verpaßt hatte, und es rann ihr in die Augen und den Mund. Sie wischte sich übers Gesicht und setzte ihre Sturmhaube auf. Ettenbar hatte ihren Säbel genommen, also zog sie die Blantov-Steinschloßpistole Kaliber 32 aus dem Gürtel, kroch dann aus dem schlammigen Schützenloch heraus und lief geduckt aufs Schlachtfeld. Rauch- und Schwefelschwaden gingen vom Explosionsherd aus, und immer noch prasselten überall Erdbrocken herab. Ringsumher rangen Männer miteinander und schlugen mit Säbeln aufeinander ein, und geordnete Salven waren ein Ding der Unmöglichkeit. Links erkannte sie eine Fahne der Südmauren, an der ein Offizier gerade seine Männer sammelte. Er winkte mit dem Säbel und stieß in eine Einhandflöte. Hundert Meter, schätzte sie. Immer noch benommen, kniete sie nieder, spannte den Hahn der Blantov und ließ sich nach vorn in den kalten, roten, nach Menschenblut riechenden Schlamm fallen. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf, zielte und hielt die Waffe dabei mit beiden Händen.
»Nicht zu hoch zielen«, mahnte sie sich flüsternd. Wie Lemorel es ihr sieben Jahre zuvor in Libris beigebracht hatte, drückte sie sachte ab. Der südmaurische Offizier ging mit einem Halsschuß zu Boden. Seine Männer zögerten kurz und stoben dann auseinander Dolorian kämpfte - 317 sich mit dröhnendem Kopf hoch und strauchelte durch den Schlamm und über die Leichen hinweg zu der Stelle, an der ihr Opfer lag. Sie war allein. Was sollte sie tun? Ihre Pfeife! Ihre Offizierspfeife! Sie pfiff dreimal kurz und gab damit den Befehl zum Sammeln, und fast sofort fanden sich in den Rauchschwaden ringsumher Gestalten ein: blutende, humpelnde, übel zugerichtete Musketiere mit abgebrochenen Säbelklingen und gesplitterten Gewehrkolben. »Leutnant Dolorian!« rief ein kleinwüchsiger, bärtiger Mann. »Lagebericht! Wie ist die Lage?« rief sie und wußte nicht, was sie jetzt tun sollte. Die Männer kamen schlurfend näher. Die Waffen hingen ihnen nurmehr schlaff in den Händen, und sie sahen sie mit großen, runden Augen in Masken aus rotem Schlamm an. Am Ärmel des bärtigen Mannes entdeckte Dolorian zwei Streifen. Sie hören mir nicht zu und antworten mir nicht, dachte sie, der Verzweiflung nah. »Korporal, wie ist die Lage?« rief sie beinahe flehentlich. Er wies zwischen seine Füße, und sie sah, daß er breitbeinig über dem Leichnam des von ihr erschossenen südmaurischen Offiziers stand. »Frelle Leutnant, dieser Südmaure -« »Na und?« schrie sie wütend. »Ich habe ihn erschossen. Er ist ja schließlich ein Feind, oder etwa nicht?« »Frelle Leutnant, das war ein General. Ihr habt soeben den gegnerischen Angriff beendet.« Die Kräfte der Südmauren waren viel zu sehr in Unordnung, um an diesem Tag noch einen weiteren Angriff zu führen, und so hatten die Truppen der Allianz das Schlachtfeld für sich. Der Feldarzt fand Glasken bei einigen Verwundeten der Allianz hinter den Schützengräben. Er war nicht bei vollem Bewußtsein und verlangte nach schönem kaltem Schwarzbier ohne Schaumkrone. Er kam wieder zu sich, als man ihm medizinischen Roggenwhisky einflößte, und er hatte zwar keine großen Verletzungen, aber Schürfwunden an der ganzen linken Seite. »Ettenbar, wo ist Ettenbar?« stotterte er. »Der Vollidiot hat diesen Angriff befohlen. Den knöpf ich mir vor.« »Dann solltet Ihr Euch beeilen, Fras Hauptmann«, sagte der Arzt. »Feldwebel Ettenbar liegt im Sterben.« Man half Glasken zu der Stelle auf dem Schlachtfeld, an der Ettenbar gefallen war. Seine Kriegszurna lag neben ihm im Schlamm. Wie der - 317 Feldarzt sagte, hatte er einen Schuß in die Brust abbekommen, und seine Lungen füllten sich mit Blut. »Verdammter Dummkopf!« schluchzte Glasken und schlug mit Fäusten in den Schlamm neben Ettenbar. »Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt nicht angreifen. Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt die Funkwagen verteidigen.« »Die Frelle Leutnant...« »Dolorian? Dolorian hat den Angriff befohlen?« »Ihr Befehl... Sie wollte führen, aber ... Ich habe sie niedergeschlagen. Ich habe geführt.« »Ihr habt was?« rief Glasken. Behutsam hob er Ettenbars Kopf, so daß er leichter sprechen konnte. »Darf Damen ... nicht in Gefahr bringen, Fras... so etwas gehört sich nicht. Und außerdem ... kann sie nicht -« Ettenbar begann zu husten, und Blut lief ihm aus Mund und Nase. Genau wie der Kommandant der Galeerenlok der Great Western, dachte Glasken. Die Worte des Feldwebels, bei dem er acht Jahre zuvor seine militärische Grundausbildung absolviert hatte, kamen ihm wieder in den Sinn: Wenn einer erst mal aus dem Mund blutet, hat es keinen Zweck mehr »Sie kann nicht... Zuma spielen.«
Glasken hielt sich mit der freien Hand den Kopf. »Um der Gottheit willen, Ettenbar«, war das einzige, was ihm dazu noch einfiel. Ettenbar hustete erneut, nun schwächer. Glasken sah, daß er lächelte und sein Gesicht nicht mehr schmerzverzerrt war. »Fras Johnny, möge Allah ...«, begann Ettenbar, aber es war sein letzter Atemzug. Glasken ließ den Kopf seines Freundes zurück in den Schlamm sinken und ging dann in die Hocke. »Ich weiß, ich weiß, alter Freund. Legt im Leben nach dem Tode ein gutes Wort für mich ein, ob nun bei Allah, Gott, der Gottheit oder wem auch immer. Ich werde es nötig haben, wenn ich dort eintreffe, und das kann nicht mehr lange dauern.« Da die Bombarden der Allianz nun zerstört waren, begannen die Pioniere aus Alspring mit dem Wiederaufbau der Brücke. Bis zum Abend hatten sie über den Steinfundamenten einen Unterbau aus Holzpfeilern errichtet. Dolorian meldete nach Oldenberg, daß der Feind die Nacht durcharbeitete und im Laternenlicht Bohlen für das Tragwerk verlegte. - 318 Man erzählte sich von einem Gespenst, einem schattenhaften Südmauren, der Verwundete vom Schlachtfeld getragen hatte. Glasken schenkte der Geschichte keine Beachtung. »Glaubt, was Ihr wollt, Fras Hauptmann«, sagte Feldwebel Gyrom, »aber Ihr wart auch unter den Männern, die er gerettet hat.« Glasken machte große Augen. »Bei so vielen, wie hier gestorben sind, wundert es mich eher, daß es nicht noch mehr Gespenster gibt. Ah, da kommt Leutnant Dolorian. Warum begegne ich bloß immer wieder dieser Frau?« »Also, ich würde ihr ja gerne mal begegnen«, erwiderte der Feldwebel und stupste Glasken am Arm. »Soll ich gehen?« »Ja. Nein! Ja ... Ist wohl besser. Seht mal nach, ob der Feldarzt irgendwas braucht, und gönnt Euch dann eine Mütze Schlaf.« Dolorian und Glasken schritten langsam um den Übertragungswagen hemm. Die Spiegelsonne schien nun hell durch die sich lichtenden Wolken. Mit ihrer neuen Konfiguration glich sie drei riesigen, leuchtenden Augen. »Fras Hauptmann, ich möchte mich doch nur bei Euch entschuldigen«, beharrte Dolorian. »Entschuldigung angenommen. Und jetzt laßt mich in Ruhe.« »Ich muß mich nicht einschmeicheln, Fras Hauptmann.« »Na, dann laßt es halt.« »Ich könnte jeden Mann aus der 105. haben!« fauchte sie und stampfte mit dem Fuß in den Schlamm. »Feldwebel Gyrom!« rief Glasken. Der Feldwebel eilte im Dämmerlicht der Spiegelsonne vom Sanitätszelt herbei. »Fras Hauptmann?« sagte er, als er salutiert hatte. »Feldwebel, sorgt dafür, daß sämtliche Männer der 105. der Frelle Leutnant uneingeschränkt zur Verfügung stehen.« Dolorian verpaßte Glasken eine solche Ohrfeige, daß sie sich dabei einen Fingernagel abbrach und auf seiner linken Wange einen kurzen, aber tiefen Riß hinterließ. »Feldwebel, laßt uns allein!« bellte Dolorian, und Glasken zog einige Fetzen Papier aus der Tasche und preßte sie auf die Wunde. »Fras Hauptmann?« fragte Gyrom. »Weggetreten!« grunzte Glasken. Gyrom grüßte zackig, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon, ganz entschieden froh darüber, nicht weiter bei ihnen zu sein. - 318 »Wir sollten uns beide schämen«, sagte Dolorian leise, als der Feldwebel gegangen war. Glasken brummte etwas, widersprach aber nicht. »Fras, warum seid Ihr so kühl zu mir?« platzte sie plötzlich heraus. »Ihr habt bewiesen, daß Ihr grausam genug seid, um mich gewissermaßen am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen.«
»Na und? Ihr habt einer Unzahl Frauen Liebesschwüre geleistet, während ihr gleichzeitig anderen Frauen den Hof gemacht habt.« »Sie wußten nichts voneinander. Und es geschah alles nur aus Zuneigung.« »Und es war alles gelogen. In den vergangenen sechs Jahren bin ich vierzehn Frauen begegnet, die mit Euch studiert haben. Und jeder dieser Frauen habt Ihr erzählt, Ihr hättet zuvor zwei Jahre lang keusch gelebt. Wart Ihr tatsächlich achtundzwanzig Jahre lang an der Universität von Rochester? Dann hättet Ihr Euer Studium ja mit vier Jahren beginnen müssen.« »Sehr witzig.« »Vielleicht ... könnten wir ja dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?« sagte sie vorsichtig. »Oho, und mich emporheben auf das Niveau von MULTIPLIKATOR 37, FUNKTION 12, FUNKTION 780, ADDIERER 1048, FUNKTION 9, PORT 97, MULTIPLIKATOR 2114 - und wie hieß noch der kleine Kerl mit der Glatze, der so sehr für Badesalz mit Kiefemadelaroma schwärmte? MULTIPLIKATOR - nein, FUNKTION 1680. Ja, der hat gemeinsam mit mir im ersten Kampfkalkulor gedient, also muß er eine FUNKTION gewesen sei. Und dann war da auch noch dieser ADDIERER aus dem Zentralbund, welche Nummer hatte der noch? 3016 oder 1630?« Dolorian stampfte wütend mit dem Fuß auf, und da sie in einer Pfütze stand, spritzte sie sie beide naß. Das erinnerte Glasken an Jemli und daran, wie sie sich von ihm auf der Bahnstation von Kalgoorlie verabschiedet hatte. »Ihr wißt diese Nummern besser als ich«, sagte Dolorian in scharfem Tonfall. »Ich mußte zusehen, wie Ihr mit ihnen in Richtung Einzelzellen vorbeigeschlendert seid. Ich mußte mir anhören, wie viele von ihnen anschließend damit geprahlt haben. Ich mußte die Achseln zucken und den Kopf schütteln, wenn sie mich fragten, was ich von Euch - 319 hielte. Ich mußte die Nase in mein Buch mit Protokollkodes stecken, wenn sie mir zuzwinkerten und mir mit Gesten Impotenz unterstellten.« »Fras, ich -« »Laßt mich ausreden!« rief Glasken und riß die Hände hoch. »Ich weiß, daß Ihr all das nur getan habt, um mich zu demütigen und Lemorel einen Gefallen zu tun. Und bei all den Liebesaffären, die ich hatte, Frelle Leutnant, habe ich niemals bewußt eine Frelle, mit der ich ins Bett gegangen bin, gedemütigt oder ihr wehgetan. Das müßtet Ihr doch wissen, Ihr habt sie ja alle ausgefragt. Ich bekomme regelrecht Angstzustände, wenn ich Euer Gesicht sehe, und beim Anblick Eurer Brüste wird mir übel. In den langen Jahren, in denen ich zölibatär in einem Alptraum von einem Kloster lebte, mußte ich lediglich Euren Namen flüstern, und alle meine Gelüste zogen jaulend den Schwanz ein.« Dolorian war es nicht gewöhnt, Männer umwerben zu müssen, weniger noch, sich zu entschuldigen, aber einer solchen Missetat überführt zu werden, war eine gänzlich neue Erfahrung für sie. Sie ließ den Kopf hängen, und die Träne, die ihr die Nase hinablief und von der Nasenspitze tropfte, war eine Träne aufrichtigen Bedauerns. »Ich habe verstanden, was Ihr mir sagen wolltet, Fras Hauptmann. Ich habe das Leben immer geliebt, aber jetzt will ich nur noch sterben. Gute Nacht.« Als sie nicht ging, ging Glasken. Die Arme hingen ihm schlaff herab, und Blut lief ihm aus der Schnittwunde unter dem Auge wie ein Strom dunkler Tränen. Glasken ging zum Feldarzt, ließ sich die Wange mit zwei Stichen nähen und kehrte dann ins Befehlszelt zurück. Später kam Feldwebel Gyrom mit einem Mangelpapierbündel herein. Glasken sah von seinem Tisch hoch. »Ich habe Euch doch gesagt, daß Ihr Euch schlafen legen sollt.« »Meldungen vom Hauptquartier in Rochester, Fras Hauptmann.« »Legt sie her.« »Wenn es Euch nicht stört, daß ich das sage, Fras Hauptmann -« »Wahrscheinlich stört es mich aber.« »Eine hinreißende Schönheit, diese Frelle Dolorian.« »Und?«
»Ich glaube, sie mag Euch, Hauptmann. Und schon morgen könnte Euer letztes Stündchen schlagen, und -« - 320 »Das ist bei jeder Schlacht so, Feldwebel. Hauptleute haben die höchste Sterblichkeitsrate.« »Was ich damit sagen wollte: Die Frelle Leutnant... nun ja, sie sitzt im Übertragungswagen und weint sich die Augen aus, und ich bin mir sicher, es ist, weil Ihr Euch gestritten habt.« Glasken starrte einen Moment lang zu ihm hoch und rieb sich das Kinn. Dann holte er einen Krug hervor »Teilt das mit den Männern. Das wird ihre letzte Nacht auf Erden zwar nicht ganz so angenehm gestalten, wie Frelle Dolorian das zweifellos könnte, aber es ist das Beste, was ich für ein paar von Euch tun kann. Und jetzt laßt mich allein.« Gegen drei Uhr früh begannen die Mörser der Ghaner Probeschüsse auf die Stellung der Allianz abzugeben. Glasken erwachte aus tiefem Schlaf, als das erste Geschoß einschlug, und eilte zum Antriebswagen, wo schon eine Mannschaft zum Pedaldienst bereitstand. Dolorian war bei ihnen, und der weiße Verband um ihren Kopf schimmerte im Licht der Spiegelsonne und schien in der Schwärze zu schweben. »Der große Angriff?« fragte sie. »Nein, aber wenn sie die Brücke so weit wiederhergestellt haben, daß sie Mörser herüberschaffen können, müssen auch die Lanzenreiter bereits unterwegs sein.« »Wie lange haben wir noch?« »Oh, sie werden uns jetzt mit ihren Mörsern wachhalten und dann die Schwere Infanterie der Südmauren zum Einsatz bringen. Die werden nachholen, was die unberittenen Lanzenreiter nicht hinbekommen haben, und gegen Mittag werden wir dann eine Fußnote in den Geschichtsbüchem sein.« »Vielleicht kommt ja ein Ruf?« wandte Dolorian zuversichtlich ein. »Die Alspringer nutzen mobile Heliostattürme, die sie vor dem Ruf warnen. Meldet der Oberbürgermeisterin über Funk, daß die Brücke repariert wird. Und lauft zum Feldarzt, wenn wir heute die Stellung nicht mehr halten können. Ich habe die Jacke und das Stirnband einer Krankenschwester bei ihm für Euch hinterlegt.« »Danke, Fras Hauptmann, aber die Jacke bekomme ich ja doch nicht zu. Und außerdem bin ich Soldatin und sollte mich auch so verhalten.« Glasken seufzte. »Mehr als anbieten kann ich es Euch nicht, Leutnant. Geht jetzt auf Euren Posten.« - 320 Dolorian machte nicht kehrt, sondern legte Glasken vielmehr eine Hand auf den Arm. Im Licht der Spiegelsonne sah er, daß ihr Gesicht sauber war und daß sie unter ihrem Kopfverband Lippenstift, Wangenocker und schwarzen Lidschatten trug. Das galt zweifellos ihm. »Danke, daß Ihr Euch Sorgen um mich macht, Fras Hauptmann«, sagte sie mit zärtlicher Stimme. Glasken ließ die Schultern hängen. »Sehr sentimental von mir, Frelle Leutnant«, sagte er, den Blick zu Boden gerichtet. Ohne ein weiteres Wort legte sie ihm eine Hand auf den Hinterkopf und zog ihn an sich. Ihre Schatten verschmolzen einen Moment lang, als sie einander umarmten und küßten, und Gejohle und Pfiffe kamen von der Antriebsmannschaft, die ihnen zusah. Dann sahen die Männer Glas-ken auf sich zukommen, und die unverwechselbare Gestalt Dolorians schritt zum Übertragungswagen. Zwischen den Einschlägen der Mörsergranaten hörte man verstohlenes Kichern. Glasken stemmte sich die Arme in die Hüften. »Also, eins will ich Euch Scheißkerlen noch sagen, ehe ihr anfangt zu strampeln - Granate! In Deckung!« Das Geschoß traf den Antriebswagen, und Eisen- und Holzsplitter flogen in sämtliche Richtungen. Dolorian erhob sich wieder aus dem kalten Schlamm, und ihr klingelten die Ohren. Sie sah in das Chaos aus Rauch, herabregnenden Trümmerteilen und im Licht der Spiegelsonne umherlaufenden Männern, und Nachbilder des Explosionsblitzes tanzten ihr vor den Augen. Es wurde nach dem Arzt gerufen.
»Hauptmann Glasken!« schrie sie. »Johnny!« Es kam keine Antwort, nicht einmal ein Ächzen. Sie stieg in den Übertragungswagen und legte in der Dunkelheit einen Hebel auf BATTERIEBETRIEB um. Nachdem sie die Hände zusammengepreßt hatte, um sie zu beruhigen, und ein paarmal tief durchgeatmet hatte, begann sie die Nachricht einzugeben. AÜSSENPOSTEN RAVENSWORTH DER 105. AN ROCHESTER. AUSSENPOSTEN RAVENSWORTH DER 105. AN ROCHESTER. ANTRIEBSWAGEN ZERSTÖRT. NUR BATTERIEBETRIEB MÖGLICH. NICHT GENUG STROM FÜR EMPFÄNGER. NACHRICHT FOLGT. FEIND HAT BRÜCKE REPARIERT. ÜBERLEBENDE STREITKRÄFTE DER ALLIANZ IM UMKREIS VON 200 METERN UM ÜBERTRAGUNGSWAGEN. SCHÄTZEN 150000 FEINDE IM UMKREIS VON 12 KILO- 321 METERN UM ÜBERTRAGUNGSWAGEN. 300 ÜBERLEBENDE DER ALLIANZ. ALSPRING UND SÜDMAUREN RÜCKEN VOR. Im schummrigen Licht ihrer Lampe überprüfte sie den Ladestand der Batterie. Er war schon fast im roten Bereich. Eine weitere Mörsergranate schlug ganz in der Nähe ein und erschütterte den Wagen. BATTERIEN FAST LEER. BOMBARDEMENT WIRD INTENSIVER. SCHÄTZUNG JEDES VIERTE GESCHOSS IST SPRENGGRANATE NEUEN TYPS. BERICHT VON LEUTNANT DOLORIAN JELVERIA, FUNKWAGEN 7, ERSTES FUNKKORPS DER ALLIANZ. Sie zögerte einen Moment, atmete tief durch und fügte dann hinzu: HÖCHSTRANGIGER ÜBERLEBENDER OFFIZIER. ENDE DER ÜBERTRAGUNG. Als Dolorian aus dem Wagen trat, fiel ihr plötzlich ein, daß sich in jedem der Mastenwagen zwei geladene Batterien befanden. Wenn die Stellung bis Tagesanbruch noch Bestand hatte, konnte sie einen weiteren Bericht senden. Dann wußte die Oberbürgermeisterin wenigstens, daß der Feind die Brücke überquerte, und hatte eine aktuelle Schätzung seiner Kräfte. Die Batterien mußten nur ausgepackt und zum Übertragungswagen gebracht werden. Inmitten der im Schummerlicht umhereilenden Musketiere blies sie ihre Pfeife. »Ich brauche vier starke Männer aber schnell!« rief sie mit heiserer Stimme. »Sollen wir eine Schlange bilden?« antwortete Glasken von irgendwoher. Dolorian glitt hemmungslos kichernd in den Schlamm neben dem Übertragungswagen. Glasken kam herbei und setzte sich zu ihr »Ich wäre fast erstickt. Mund aufsperren, wenn eine Sprenggranate runterkommt - das hat man mir gesagt, das kann einem das Trommelfell retten. Der Scheißkerl hat aber nicht erwähnt, daß man dann Gefahr läuft, ein Pfund Schlamm und Pferdescheiße zu schlucken.« Glasken hatte von einem Granatsplitter eine tiefe, aber nicht allzu große Wunde am Unterschenkel zurückbehalten. Feldarzt Torumasen säuberte und nähte sie, und dann gelang es Glasken trotz Dolorians Protesten, an einer Krücke ein paar Schritte zu gehen. »Ich dachte, Ihr wäret tot«, gestand sie, während sie ihn stützte. »Ich - ich habe es nach Oldenberg gemeldet. Ich habe durchgegeben, daß ich jetzt Befehlshaberin bin.« - 321 »Das macht nichts, Frelle. Noch ein paar Stunden, dann könnte sich beides bewahrheiten.« Sie half ihm ins Befehlszelt, und dann legte er sich mit dem Kopf auf ihrem Schoß hin, und sie streichelte ihm das Haar und kämmte mit den Fingern Schlammknoten heraus. »Also, was für ein Typ Frau könnte Euer Herz gewinnen, Fras? Ich schätze mal, sie müßte sehr hübsch sein, aber nicht so, daß jeder Mann auf sie aufmerksam wird, und sie müßte klug genug sein, um Eure großen Begabungen würdigen zu können, aber nicht so klug, daß sie Euch in den Schatten stellt. Sie müßte wohlhabend sein, und - wahrscheinlich würdet Ihr auch erwarten, daß sie noch Jungfrau ist.« »Ja, ich habe tatsächlich mein Herz verloren«, erwiderte Glasken mit verträumter Stimme. »Sie war hübsch, klug, ehrgeizig, arm und die Frau eines anderen.« »Fras, was sage ich! Wie unfair von mir! Wer war sie?«
»Jemli Cogsworth. Ihr Mädchenname ist Milderellen.« Es dauerte einen Moment, bis Dolorian die Fassung wiedergewann. »Ist -« »Ja.« »Genug! Schon viel zuviel!« rief Dolorian und hielt sich die Ohren zu. »Wechselt bitte das Thema.« »Äh ... ich habe gehört, daß Ihr eine gute Schützin seid«, sagte Glasken. »Oh, ich habe jahrelang in Libris mit der Pistole geübt. Das hat mir manche Beförderung eingebracht und mir viele Duelle erspart.« »Wie das?« »Ich wurde fünfmal zu einem Kampfordal gefordert, aber jedesmal traf ich die Zielscheibe besser als meine Forderer, und damit hatten sie keinen Anspruch mehr auf ein Duell.« »Bei wie vielen davon ging es denn um die Männer anderer Frauen?« »Bei allen«, gestand Dolorian. »Lemorels Schwester«, sagte sie verwundert. Glasken stützte sich mit einem Arm auf und lehnte dann seine Stirn an die ihre. »Ich bin stolz auf Euch, Frelle Dolorian, und ich finde Euch wunderschön. Und es fällt mir sehr schwer, das zu sagen, aber: Ich habe Euch verziehen. Hilft das?« - 322 Dolorian umarmte ihn und küßte, was von seinem linken Ohr noch übrig war. »Lieber Fras, bester Mann«, flüsterte sie. »Wollt Ihr jetzt nicht mehr sterben?« »Nein. Es sei denn für Euch.« Eine Stunde verging, und jetzt schlug nur noch alle zehn Minuten eine Granate ein. Dolorian döste, als draußen ein flackerndes blaues Licht aufleuchtete. Dem folgte ein tiefes Brummen und dann ein durchdringendes Knistern in der Luft. Dolorian schreckte hoch. »Tausend Höllenhunde! Meine Batterien!« rief sie, schnappte sich Glaskens Regencape und lief hinaus. Am Übertragungswagen standen zwei Techniker und starrten in Richtung Horizont. »Das ist ein Kurzschluß, das saugt die Batterien leer!« rief sie. »Los, schneidet die Kabel durch, nehmt Eure Säbel!« »Wir haben noch nicht mal die Isolatorkappen abgeschraubt, Frelle Leutnant«, erwiderte einer der Techniker. »Ihr -« In der Ferne donnerte eine Explosion, dann noch eine, dann noch eine. »Was war das denn sonst für ein Geräusch? Und dieser Geruch - wie nach einem Gewitter?« »Der Himmel wurde schlagartig hell, wie von Blitzen, Frelle. Ja, es könnte ein Gewitter sein, und das ist jetzt der Donner.« Er klang nicht sonderlich überzeugt. Dolorian blickte zum Horizont, der rot leuchtete. »Sind das die Lagerfeuer der Ghaner?« »Ich habe nichts bemerkt, Frelle Leutnant. Ich war hier mit den Klemmen beschäftigt. Irgendein Idiot in Oldenberg hat die festgeleimt.« »Die Feuer dienen der Tarnung«, mutmaßte jemand mit tieferer Stimme auf der anderen Seite des Wagens. »Der blaue Blitz kam wahrscheinlich von einer Leuchtkugel. Das war das Signal, daß sie alle Feuer entzünden sollen, damit sich dann bis zum Morgengrauen eine Rauchwand bildet. Denkt an meine Worte, Frelle Leutnant. Sie haben herausgefunden, daß wir diese Funkwagen haben. Die Feuer sollen uns blenden, damit wir ihre Truppenstärke nicht melden können, bevor sie im Morgengrauen Hackfleisch aus uns machen.« Dolorian sah wieder zum Horizont. Die Erklärung überzeugte sie nicht so recht. Sie zitterte unter Glaskens Regencape und stand barfuß im kalten Schlamm. »Ich werde darüber berichten, wenn wir wieder senden können«, beschloß sie. »Macht jetzt weiter« - 322 »Äh, Leutnant?« »Ja?« »Wir ... wir wollten Euch nur sagen, was für ein großartiger Schuß das von Euch war.« »Er will damit sagen, Leutnant, daß wir voll hinter Euch stehen. Hinter Euch und dem Hauptmann.« Als Glasken erwachte, war die Sonne schon aufgegangen, schien aber nur blaß und kalt durch eine Rauchwand. Die Mörser hatten im Laufe der Nacht das Feuer eingestellt, und jetzt waren nicht
einmal mehr die Heckenschützen aktiv. Dolorian berichtete ihm, was geschehen war, während er geschlafen hatte. Glasken rümpfte die Nase. »Verbranntes Fleisch«, sagte er mit tonloser Stimme, als träumte er noch. »Vermutlich verbrennen sie ihre Toten«, erwiderte Dolorian. »Nein, nein ... diese seltsame Stille. Das ist nicht normal, nicht real. Vielleicht sind wir tot. Hat es einen Angriff gegeben? Sind wir dabei gestorben?« Seine Fragen verblüfften Dolorian. Sie legte ihm eine Hand aufs Gesicht und sagte: »Gestorben bist du heute nacht nur kleine Tode.« Dann küßte sie die Wunde, die sie ihm am Abend zuvor zugefügt hatte. »Sie hätten im Morgengrauen angreifen müssen, dann hätte die Sonne im Osten gestanden und uns geblendet. Funktioniert der Übertragungswagen wieder?« »Einige Spulen und Verbindungen sind heute nacht durchgebrannt, wahrscheinlich, weil im Dunkeln irgendwas falsch angeschlossen wurde. Meine Mannschaft hat das aber in einer Viertelstunde wieder behoben.« Glasken stand mit Hilfe seiner Krücke auf und sah aus dem Zelt in den Rauch hinaus. »Jenseits der Schützengräben rührt sich nichts mehr«, sagte er. »Kein Lärm, keine Rufe, kein Geklimper. Wie lange ist das schon so?« »Seit ein paar Stunden.« »Ihr führt den Befehl, Leutnant«, sagte er und humpelte zu den Schützengräben vor der Brücke. »Ich bin bald wieder zurück.« »Johnny, geh in Deckung!« rief Dolorian, lief zu ihm und versuchte ihn zurückzudrängen. Trotz seiner Verletzungen widersetzte sich Glasken. »Es hat keinen - 323 Alarm gegeben, Frelle Leutnant«, sagte er mit verträumter Stimme. »Die sind alle tot. Ihr habt den Befehl, haltet die Stellung.« Er humpelte weiter. »Alle tot?« rief sie und winkte Feldwebel Gyrom herbei. »Folgt ihm und reißt ihn beim ersten Schuß zu Boden!« flüsterte sie. »Wir stehen bereit. Euch Feuerschutz zu geben.« »Jawohl, Frelle!« sagte der Hauptmann, grüßte zackig und lief Glasken dann geduckt hinterher. Sie ließen die Schützengräben hinter sich und gingen hinaus in das Niemandsland, wo erst gestern noch gekämpft worden war. Bald erreichten sie verkohltes Buschland. Viele der Bäume brannten noch, und das rußschwarze Gras knirschte unter ihren Schritten. Glasken kam an einigen verkohlten Leichen vorbei, die ekelhaft süßlich stanken. Hier zogen sich dunkle Gräben durch das rote Erdreich, und der Gestank von verschmortem Fleisch wurde immer durchdringender »Hauptmann, Fras Hauptmann! Kommt zurück!« flüsterte Gyrom und zog Glasken am Arm. »Das hier ist ein Ort des Unheils. Die Ghaner haben Dämonen gegen uns ins Feld geschickt.« Glasken schüttelte ihn ab und versuchte, eine schwere, verkohlte Planke anzuheben, die zu seinen Füßen lag. Von der Anstrengung wurde ihm schwindelig, und er spürte, wie die Nähte über seinen Wunden rissen. »Feldwebel, helft mir mal, die über den Graben zu legen«, sagte er leise, so als fürchtete er die Stille zu durchbrechen. Jenseits des Grabens gingen sie schweigend weiter die Straße hinab. Nichts regte sich, nichts gab Laut. Menschen und Tiere, sogar die Insekten und Vögel - alles war tot. Rauchschwaden trieben vorüber. Dann kamen sie an die Brücke. Das Geländer war verbrannt, aber die Planken waren als Vorsichtsmaßnahme gegen Brandbomben mit nassem Sand und Kies bedeckt. Drunten auf dem Fluß brannte lichterloh eine Galeere, wo sie während der Kämpfe einige Tage zuvor auf Grund gesetzt worden war. Leichen trieben im Wasser. Glasken trat hinaus auf die Brücke. »Fras Hauptmann, die Brücke ist nicht sicher!« rief Gyrom. »Geht in der Mitte, so wie ich«, erwiderte Glasken, ohne stehenzubleiben oder sich auch nur umzusehen. »Aber das Lager der Ghaner beginnt gleich hinter der Brücke.« »Und genau da will ich hin.« - 323 Nicht weit jenseits der Brücke hatten die Ghaner ihr riesiges Heerlager aufgeschlagen. Glasken sah sich um, ging aber nicht weiter. »Hauptmann, die sind ja alle weg.«
»Nein, Fras Feldwebel, Zelte brennen gut. Die sind alle noch da.« Gyrom sah sich den nächsten Hügel ein wenig genauer an und ging dann ein paar Schritte darauf zu. Er wich zurück. »Ihr habt recht, Hauptmann Glasken, das sind alles Leichen. Tausende Männer mit ihren Pferden und Kamelen. Schaut, da drüben, der große Krater. Da hat der Himmel Blitze herabgeschossen.« »Nein, da ist in der Hitze, die das alles hier angerichtet hat, ein Munitionsdepot explodiert. Vielleicht irgendeine vorzeitliche Waffe. Eine Linse, die das Sonnenlicht bündelt...« »Aber das ist heute nacht geschehen.« »Dann weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Was auch immer hier zugeschlagen hat - es hat keinen Unterschied gemacht zwischen den Kriegern der Ghaner und denen der Allianz, bis auf einen Kreis von ein paar hundert Meter Durchmesser ... dessen Mittelpunkt sich irgendwo in der Nähe unserer Funkwagen befindet.« Er kratzte sich die stoppelige Kinnlade. »Funkwagen sieben befand sich genau in der Mitte.« Glasken gab Gyrom das Zeichen zur Umkehr. Der Feldwebel lief ihm nach, und sie überquerten wieder die Brücke. »Die Männer sollen einen Karren voll Schießpulver herbringen«, sagte Glasken, als sie wieder auf dem Südufer angelangt waren. »Sie sollen die Fässer unten am Fundament befestigen, damit der Übergang nicht so leicht wieder repariert werden kann wie beim letzten Mal.« Später an diesem Morgen hallte die Explosion, mit der die Brücke in die Luft flog, über das geschwärzte Land. Eine Rauch- und Schuttwolke stieg auf, und dann herrschte wieder Stille. »Vernichtet!« rief der Feldwebel immer wieder, während er den Karren in den Kreis zurückbrachte. »Das war die Oberbürgermeisterin. Wie hat sie das bloß gemacht?« Die vierzig Reiter, die sich einen Weg durch die verkohlte Landschaft bahnten, waren zu gleichen Teilen Abgesandte der Ghaner, der Südmauren, des Zentralbunds und der Allianz. Ein Waffenstillstandsfähnchen flatterte über ihnen an der Lanze eines Offiziers des Zentralbunds. Sie ritten in hartem Trab, verschafften sich einen Überblick über die Verwüstungen und fürchteten dabei, daß es noch nicht vorüber sein könnte. - 324 Sie waren sehr erleichtert, als sie die unversehrte Stellung der Allianz in Ravensworth erreichten. In gewisser Hinsicht war Lemorel in Ravensworth im Vorteil, denn sie hatte gleich außerhalb von Haytown immer noch fünfzigtausend Lanzenreiter stehen. Es hätte nur eines Wortes von ihr bedurft, und die Streitkräfte aus Alspring hätten das Abkommen gebrochen, wären ungehindert durch Haytown geströmt und hätten den Fluß überquert. In anderer Hinsicht aber lief ihr die Zeit davon. Der erneute Regen, der ewige Schlamm und die Kälte untergruben die Moral ihrer Männer und dieses verkohlte Rund schien ihnen eine Warnung zu sein, daß die Gottheit auf Seiten der Allianz stand. Die Waffenstillstandsabordnung sollte feststellen, was bei Ravensworth eigentlich geschehen war. Wenn die Allianz über irgendwelche hochentwickelten Waffen verfügte, war alles vorbei. Wenn die Katastrophe andere Ursachen hatte, würde der Vorstoß, der die Allianz spalten sollte, fortgesetzt. »Genau wie ich vermutet hatte, keine Wunderwaffen«, sagte Lemorel zu General Baragania, als sie sich dem Feldlager der Allianz näherten. »Es war irgendeine Naturkatastrophe. Haytown wird meinen Reitern keinen Widerstand entgegensetzen, wenn sie die Brücken überqueren, ohne die Stadt anzugreifen. Der Zentralbund wird Reparationen verlangen, aber der dortige Oberbürgermeister will sich möglichst aus dem Krieg heraushalten.« Baragania war aschfahl im Gesicht. Er ritt vornübergebeugt, so als rechnete er damit, ohne Vorwarnung beschossen zu werden. »Kommandantin, dieses Grauen könnte durchaus dem Zorn der Gottheit entsprungen sein. Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?« »Es liegt doch auf der Hand, was dort passiert ist. Nachdem uns an der Brücke von Ravensworth der Weg versperrt wurde, kamen auf einer sehr kleinen Fläche sehr viele metallene Waffen und Kochstellen zusammen. Was glaubt Ihr denn, warum Dampfmaschinen und ähnliches von sämtlichen Weltreligionen verboten wurden und die Industrie nun dünn übers ganze Land verstreut ist? Metall, Hitze und Rauch. Wenn sich das auf einer kleinen Fläche ballt, dann ... nun ja,
schaut Euch um. Als mein Heer hier so zusammengedrängt war glich es einer Industriestadt der vorzeitlichen Zivilisation. In altanglaischen Schriften heißt es, die Industrie habe einen sogenannten Treibhauseffekt ausgelöst. Jetzt können wir erkennen, was sich hinter diesem rätselhaften Begriff verbirgt.« Baragania sah sich um. Die Erklärung klang plausibel, aber das schiere Ausmaß der hier entfesselten Kräfte blieb beängstigend. »Und warum wurden die Streitkräfte der Allianz verschont?« fragte er. »Wurden sie gar nicht. Das hier ist lediglich der kleine Teil einer viel größeren Einheit der Allianz, die ebenfalls vernichtet wurde. Und was dieses kleine Gebiet angeht - nun ja, warum werden neun Kirchtürme einer Stadt bei einem Gewitter vom Blitz getroffen und der zehnte nicht? Reiner Zufall.« »Ihr werdet viel mehr Männer aus Eurem Gefolge überzeugen müssen als nur mich. Kommandantin. Die Männer frieren, sie haben Heimweh und Angst. Der Krieg hat sich von einem triumphalen Siegeszug in einen zähen, blutigen Alptraum verwandelt. In letzter Zeit hört man oft, die Gottheit habe diesen Dauerregen gesandt, um uns als Zeichen ihres Mißfallens das Leben zu vergällen. Und jetzt das.« »Ich habe es Euch doch erklärt!« fuhr Lemorel ihn ungeduldig an. »Ich bin ein gebildeter Mann, Kommandantin. Ich kann die Mathematik der Planetenbewegungen nachvollziehen und die Optik eines Teleskops erklären. Daher kann ich anerkennen, was Ihr gesagt habt, aber es gibt in der Armee, die Euch geblieben ist, nur ein paar hundert Männer wie mich.« »Dann wird die gebildete Elite die anderen überzeugen müssen.« »Ich mache mir nur Sorgen, Kommandantin. Die Elite, wie Ihr sie nennt, hat ein sehr ausgeprägtes Ehrempfinden und hält die ritterlichen Tugenden hoch. Wenn Ihr den Waffenstillstand in Haytown brecht oder Euch anderweitig unehrenhaft verhaltet, könnte es gut sein, daß Ihr erleben werdet, wie sich die Nägel, die Eure Armee zusammenhalten, lösen.« »Dann werde ich ihnen eben zeigen, wo der Hammer hängt, General.« »Ihr seid ein Führer, auch wenn Ihr den Titel Kommandantin tragt. Doch wenn Euch niemand folgt, könnt Ihr nicht führen.« »Es reicht! Ihr wagt Euch sehr weit vor.« »Kommandantin, wenn ich es Euch nicht sage, wird es Euch niemand sagen. Und die Befürchtungen und das Gemurre verschwinden nicht einfach. Ich sage es nur noch einmal, weil ich Euch treu ergeben bin: Verhaltet Euch ehrenhaft und verspielt nicht den Respekt Eurer Offiziere. Es steht hier auf des Messers Schneide.« - 325 »Wenn Ihr mal sehen wollt, wie die Ehre mit Füßen getreten wird, solltet Ihr Euch den Befehlshaber dieses Feldlagers der Allianz anschauen. Meine Spione haben mich gewarnt, daß es sich dabei um John Glasken handelt, die Verkörperung der Unehre schlechthin.« »Dieser Offizier kann nicht der Mann sein, von dem Ihr gesprochen habt. Nach allem, was man hört, ist er ein tapferer und geachteter Führer dem seine Männer bis in die Hölle folgen würden.« Lemorel verpaßte ihm unvermittelt einen Schlag mit der Reitgerte. Baragania zuckte zurück. »Es reicht«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Der Zwischenfall hatte auf John Glasken, der ihr Nahen mit einem Fernrohr beobachtete, seine Wirkung nicht verfehlt. Die mit dem blauen Schleier, dachte er Nur die Oberbefehlshaberin würde einen General schlagen. Das mußte Lemorel sein. Wenn er sie hinreichend beleidigte, würde sie ihn vielleicht fordern. Man erzählte sich, daß sie hochrangige Offiziere, die im Dienst versagt hatten, gern eigenhändig hinrichtete, und daß sie sich jedem Duell persönlich stellte. »Dann wollen wir mal hoffen, daß ich nichts von dem verlernt habe, was Ihr mir an Schießkünsten beigebracht habt, Abt Haieworth«, flüsterte Glasken und ließ das Fernrohr sinken. Dolorian stieß im Befehlszelt zu ihm. »Ich habe einen Bericht nach Oldenberg gefunkt«, meldete sie. »Die wissen jetzt von den Verheerungen.«
»Lemorel ist bei dieser Abordnung dabei, und sie ist inkognito«, erklärte Glasken hastig. »Wenn ich sie treffe, werde ich ein paar gepflegte Sprüche vom Stapel lassen und sie dazu verleiten, mich zu fordern.« »Ein Duell mit Lemorel?« rief Dolorian erschrocken. »Selbst wenn du Frelle Zarvora wärst, würde ich raten, dir das gut zu überlegen, Johnny. Und wie willst du denn bei einem Duell die Entfernung abschreiten, wenn du an einer Krücke gehst?« »Das schaffe ich schon. Und die Krücke würde sie auch in falsche Sicherheit wiegen. Wenn sie angebissen hat, werfe ich die Krücke weg und lasse mein Bein schienen. Wenn ich dabei umkomme, übernimmst du den Befehl. Flieh in den Zentralbund. Die sind neutral, und da gibt es, was man so hört, keinen Mangel an Schokolade.« »Viel Glück, süßer Fras, und eine ruhige Hand.« »Viel Glück, süße Frelle, und tu nichts, worauf ich nicht stolz wäre.« - 326 Glasken beschloß, die Waffenstillstandsabordnung am Funkwagen zu empfangen. Der Offizier des Zentralbunds, der die Fahne trug, ritt heran und salutierte. Die übrigen neununddreißig Abgeordneten sammelten sich in einem weiten Halbrund. »Seid Ihr hier der Befehlshaber?« fragte der Offizier Glasken auf Austarisch. »Hauptmann John Glasken, ich bin der ranghöchste überlebende Offizier«, antwortete er und stützte sich dabei auf seine Krücke. »Was habt Ihr hier zu suchen?« »Wir haben vor zwei Stunden eine Explosion gehört. Dann sind wir zu der Rauchwolke geritten.« Glasken lehnte sich kräftiger auf seine Krücke. »Dann werde ich es anders ausdrücken. Was habt Ihr als Neutraler aus dem Zentralbund hier draußen mit diesen Ghanern und Südmauren zu suchen, und wieso sprechen diese Offiziere der Allianz nicht mit mir?« »Wir sind nur als Beobachter hier.« Glasken verkniff sich mit Mühe eine zotige und sarkastische Entgegnung. »Und? Habt Ihr da draußen genug gesehen?« knurrte er. »Wir sind zwölf Kilometer weit geritten. Sie sind alle tot, zehntausende Mann. Wie habt Ihr das gemacht?« »Ich? Mit dreihundert Mann Infanterie, einem Feldarzt und sieben Meldern?« »Heute nacht sind Abertausende umgekommen, Hauptmann, an Ort und Stelle verbrannt. Ihr müßt doch eine Waffe haben.« »Redet keinen Mist. Wir hatten uns darauf eingestellt, überrannt zu werden. Ich will jetzt mit den Offizieren der Allianz in Eurer Abordnung sprechen.« »Nein. Das wäre ein Verstoß gegen die Bedingungen des Waffenstillstands, der unter dieser Fahne geschlossen wurde«, sagte der Offizier und wies auf seine Lanze. »Es darf zu keinem Austausch taktischer Informationen kommen, aus denen die eine oder andere Seite Nutzen ziehen könnte.« Glasken wies mit einer ungezwungenen Geste auf das Befehlszelt. »Also gut, was kann ich für Euch tun? Eine Kaffeezeremonie? Tänzerinnen? Eine Eunuchentruppe aus Alspring, die Euch ein warmes Bad einläßt und frische Unterhosen rauslegt?« »Fras, mir ist bewußt, welche Strapazen Ihr hinter Euch habt -« »Dann kommt zur Sache.« - 326 Der Offizier aus dem Zentralbund sah sich um und war erstaunt und enttäuscht, daß er in diesem dreckigen, aber trotzigen kleinen Außenposten keine vorzeitliche Wunderwaffe zu entdecken vermochte. Dann wandte er sich wieder Glasken zu. »Vergangene Nacht haben die Befehlshaber der Ghaner uns zu sich rufen lassen und verlangt, daß sie die Brücken von Haytown nützen dürfen. Wir waren in ihrem Lager, als der Himmel im Süden plötzlich von einem blauen Flackern erfüllt wurde. Dem folgte ein lautes Brummen, und dann loderten jenseits des Horizonts Feuer auf. Das alles ging sehr schnell. Die Ghaner sandten Späher aus, und die berichteten, daß im Umkreis von zwölf Kilometern um die Brücke bei Ravensworth alles in Brand stünde. Und nun sieht es so aus, als befände sich Euer Lager in einem kleinen Kreis in der Mitte dieses Gebiets.«
Glasken verspürte plötzlich eine innere Leere, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. »Wir waren das nicht.« »Die Abordnung der Ghaner aus Alspring hat Beweise dafür vorgelegt, daß Oberbürgermeisterin Zarvora vorzeitliche Waffen wieder in Betrieb genommen hat.« »Die Experimente der Oberbürgermeisterin sind rein wissenschaftlicher Natur.« Er zeigte auf die Ghaner. »Ihr Ghaner habt das Testgelände in Woomera überfallen und ihre Ingenieure und Wissenschaftler getötet. Könnt Ihr bei der Gottheit beschwören, daß Ihr dort so etwas wie dieses riesige verkohlte Gebiet vorgefunden habt?« Die Ghaner schwiegen hinter ihren Schleiern. »Wenn dies jedoch das Werk der Gottheit sein sollte, wurden wir verschont, während die Ghaner und Südmauren vernichtet wurden«, schloß Glasken. Ein beklommener Ton schlich sich in die Stimme des Fahnenträgers. »Warum sollte die Gottheit Euch bevorzugen? Uber welche besondere Rechtschaffenheit oder Tugendhaftigkeit gebietet denn die Allianz?« »Sucht nach dem Bösen, nicht nach der Rechtschaffenheit«, rief Glasken und wandte sich wieder an den Bannerträger. »Seht Euch die Führerin der Alspringer an, der wir diesen verhängnisvollen Krieg zu verdanken haben. Eine Abtrünnige, eine Geächtete der Allianz, die ihre Siege mit Finten und Verrat erringt. Sie ist es, die das Mißfallen der Gottheit erregt.« »Das sind große Töne für einen, der unsere Führerin vergewaltigt hat, als sie noch ein Mädchen war«, warf Baragania ein und ritt näher heran. - 327 Glasken fuhr ihn scharf an: »Ich habe niemanden vergewaltigt. Mein Charme hat immer genügt, und mit meinem Charme habe ich Lemorel verführt. Aber was sprechen wir von meiner bedauerlichen Begegnung mit ihr? In unseren zahllosen gemeinsam verbrachten Nächten hat mir Jemli Milderellen, ihre Schwester erzählt -« Lemorels Schuß brachte Glasken zum Schweigen. Sekunden später waren fünf Dutzend Musketen auf die Waffenstillstandsabordnung gerichtet, doch auch etliche Ghaner zielten mit ihren Steinschloßpistolen auf Lemorel. Sie hob die Arme und warf ihre Morelac zu Boden, deren zweiter Lauf noch geladen war Glasken lag im Schlamm, seitlich oben in der Brust getroffen. Die dunklen Blutflecken auf seinem linken Bizeps und seiner Brust mischten sich mit dem roten Schlamm auf seinen Kleidern. »Sanitäter!« rief einer der Musketiere aus Alspring. »Bemüht Euch nicht, ich treffe immer«, zischte Lemorel, riß ihren Schleier beiseite und saß ab. Ihr Gesicht war jedoch blaß und sah verängstigt aus. Sie hatte schon des öfteren Menschen getötet, um ihre Lügen zu vertuschen, aber nun mußte sie einen äußerst überzeugenden Vorwand präsentieren. Dolorian betrachtete den Gesichtsausdruck ihrer vormaligen Freundin mit grimmigem Interesse, trat dann vor und stellte sich schützend vor Glasken. »Er hat mich in der Wüste im Stich gelassen!« rief Lemorel in einem AIspring-Dialekt zu Baragania hinüber. »Er hat mich geschändet, und dann hat er meine Schwester geschändet!« »Ihr habt im Schutz eines Waffenstillstands unseren Befehlshaber erschossen!« schrie Dolorian auf Austarisch zurück. »Austarisch! Hier wird Austarisch gesprochen!« verlangte der Bannerträger aus dem Zentralbund. »Als Hauptmann Glaskens Stellvertreterin verlange ich Satisfaktion! « schrie Dolorian. Sie riß sich die Jacke vom Leib und stand dann in ihrer Bluse vor ihnen, die immer noch die Flußwasserflecken trug. »Benennt Eure Sekundanten, sie sollen mich nach einem verborgenen Harnisch absuchen«, sagte sie mit den Händen auf den Hüften und vorgereckter Brust. Lemorel hob die Augenbrauen, lächelte aber nicht. »Ihr solltet es besser wissen, als Eure Lehrmeisterin zu fordern. Das ist doch wohl ein Scherz.« »Habt Ihr Angst vor mir?« fragte Dolorian. - 327 »Die Kommandantin nimmt die Forderung an!« rief Baragania. Lemorel wirbelte zu ihm herum und funkelte ihn zornig an. Er erwiderte ihren Blick gleichmütig.
»Braucht Ihr einen Sekundanten, Kommandantin?« fragte er ganz ruhig. »Was nützt mir ein toter Mann als Sekundant?« entgegnete sie. »Ich kämpfe allein.« Sie warf ihr äußeres Gewand ab und ging auf Dolorian zu, die daraufhin die Arme ausstreckte. »Beindruckende Brüste, Frelle Dolorian«, sagte Lemorel, als sie sie nach einem verborgenen Harnisch abtastete. Dann trat sie zurück und breitete für Dolorian die Arme aus. »Feldarzt, tastet Ihr sie ab«, sagte Dolorian und verschränkte so gut es ging die Arme unter den Brüsten. Bei diesem Affront verzog Lemorel das Gesicht, und etwas wie ein gedämpfter Schrei entwich ihr Da ein vom Zentralbund vermittelter Waffenstillstand gebrochen worden war, wurde der Bannerträger per Akklamation zum Kampfrichter des Duells bestimmt. Er benannte vier Beobachter »Als Geforderte habt Ihr die Wahl der Waffen«, sagte er zu Lemorel. »Amnessons. Das sind die Dienstwaffen Eurer Offiziere.« »Eine gute Wahl«, erwiderte Dolorian und wiegte sich den Zuschauem zuliebe in den Hüften. »Langläufig, leichtgewichtig und mit Rückstoßdämpfer.« Lemorel grinste höhnisch angesichts dieses Zitats aus ihrem Unterricht von vor sieben Jahren. Zwei Pistolen wurden ausgewählt und ihnen überbracht. Lemorel nahm sich eine und fuchtelte damit hemm, um ein Gefühl für das Gewicht und die Balance der Waffe zu bekommen. »Euer Ziel, Frelle«, sagte Dolorian. Gyrom hatte im Befehlszelt einen Bogen Mangelpapier und einige bunte Reißzwecken entdeckt. Die Offiziere des Zentralbundes sahen aufmerksam dabei zu, wie er den Bogen befestigte und in der Mitte eine breite schwarze Reißzwecke anbrachte. Lemorel wog die Waffe noch einmal in der Hand, ging dann zur Zielscheibe und schritt wieder zurück. Ohne Vorwarnung wirbelte sie herum und feuerte, und neben der schwarzen Reißzwecke klaffte ein Loch. Sie ließ Dolorian die Chance, sie zu übertrumpfen, wenn sie denn konnte. - 328 Dolorian schmollte. Sie kniete sich mit einem Bein hin und stützte ihren Ellenbogen darauf ab, und dann richtete sie den langen Lauf aus. Sachte betätigte sie den Abzug. Der Knall hallte in der stillen, verkohlten Landschaft wider. Die Kugel zerschmetterte die Reißzwecke. »Das war dumm von Euch, Frelle«, zischte Lemorel, die nie zuvor beim Scheibenschießen unterlegen war. »Ihr habt besser geschossen als ich und Euch damit das Recht erworben, gegen mich anzutreten, aber glaubt Ihr etwa, ich lasse Euch beim Duell die Chance, Euch hinzuknien und zu zielen?« »Nein, Frelle, aber ich werde es dennoch versuchen.« »Ihr lernt es nie, was? Man debattiert doch mit dem Gegner nicht über die eigene Taktik.« Sie stellten sich Rücken an Rücken auf. Die nachgeladenen Pistolen wurden ihnen gebracht. »Nennt die Entfernung, Frelle Dolorian«, sagte der Kampfrichter klar und deutlich. »Einhundertundfünfzig«, sagte Dolorian. Lemorel atmete leise zischend ein. Das war außergewöhnlich weit. Das Abzählen begann und dauerte eine ganze Weile. »... einhundertneunundvierzig, einhundertfünfzig!« Lemorel wirbelte herum, schätzte die Entfernung ab, sah, daß Dolorian im Begriff war sich hinzuknien und schoß - eben als ihre Gegnerin wieder aufsprang. Der Schuß traf Dolorian im unteren Brustkorb, ein wenig links von der Mitte - in jedem Fall aber unter dem Herzen, auf das Lemorel gezielt hatte. Die hinstürzende Dolorian war durch den Pulverdampf nur undeutlich zu erkennen, als Lemorel die Hand sinken ließ. Sie schüttelte den Kopf, wandte sich dann dem Kampfrichter zu, um sein Urteil zu erfahren ... und als sich der Rauch lichtete, sah sie, daß die im roten Schlamm liegende Dolorian die Ellenbogen aufstützte und auf sie zielte. Der Schuß traf Lemorel seitlich in die Brust. Die Kugel durchschlug ihr Herz. Sie kippte in den roten Schlamm, ihr Gesicht eine Totenmaske des Erstaunens. Der Kampfrichter sah zu den Beobachtern hinüber, die die beiden Frauen untersuchten. Lemorel war tot. Dolorian war noch am Leben und wurde daher zur Siegerin erklärt. Torumasen, der Feldarzt, riß ihr die Bluse unter der linken Brust auf und entblößte eine klaffende Wunde.
- 329 »Ich kann Schmerzen nicht gut ertragen«, wimmerte Dolorian mit zusammengebissenen Zähnen. Tränen liefen ihr über die schlammverschmierten Wangen. »Aber ... wenigstens habe ich sie erledigt!« »Ich habe den Hauptmann untersucht«, sagte Torumasen und drückte mit Eukalyptusöl getränkten Mull auf ihre Wunde. »Er lebt. Die Kugel hat seinen Arm durchschlagen, wurde dann von der Krücke abgelenkt, hat ihm eine Rippe gebrochen und die Haut aufgerissen. Er steht unter Schock und ist bewußtlos, aber er wird es überstehen. Bleibt ganz ruhig liegen, Ihr verliert viel Blut.« »Sagt ihm ... ich hatte Angst davor, vierzig zu werden. Man kann auch unschöner abtreten.« »Nicht sprechen. Entspannt Euch, dann läßt die Blutung nach.« Dolorian sah ihm in die Augen. »Fras Feldarzt, Ihr dürft mir ... jederzeit ... die Bluse aufreißen.« »Aber nur wenn Ihr am Leben bleibt«, erwiderte er, und es tat ihm im Herzen weh. »Nicht aufgeben. Ihr habt das ganze Leben noch vor Euch.« Sie zog einen Schmollmund und schloß dann die Augen, als er seinen Mund auf den ihren senkte. Wenig später war sie tot. Während Torumasen ihr eine Herzmassage verabreichte und sie beatmete, richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Abordnung der Offiziere. »Dann bin ich jetzt offenbar der Befehlshaber«, sagte Feldwebel Gyrom zu General Baragania. »Seid Ihr jetzt damit fertig, unter dem Schutz des Waffenstillstands unsere Verteidigung auszuspionieren, oder soll ich meine Männer noch zum Appell antreten lassen?« »Wir gehen«, sagte Baragania, verschränkte die Arme vor der Brust und sah mit traurigem Blick hinab auf Lemorels Leichnam. »Einen ehrenvollen Krieg verstehe ich. Aber das nicht. Was hier geschehen ist, ist ... böse, abscheulich.« »Wer dem Teufel folgt, muß damit rechnen, daß ihm so etwas widerfährt.« »Der Teufel versteht es gut, sich zu verkleiden.« »Ihr hättet auf den Gabelschwanz achten sollen.« »Den sieht man schlecht, wenn einem die Hand des Teufels auf der Schulter liegt.« Der General wies auf Lemorels Leichnam. »Begrabt Ihr unsere Kommandantin?« »Warum nicht. Dank ihr bin ich mittlerweile sehr geübt darin.« - 329 Jemand aus Dolorians Mannschaft sandte die Nachrichten nach Oldenberg. Binnen zweier Tage waren die Kämpfe überall eingestellt, und die gegnerischen Armeen zogen sich auf Waffenstillstandslinien zurück. Lemorel wurde mit den übrigen Gefallenen auf dem Schlachtfeld beerdigt. Dolorians Leichnam verschwand. Die Südmauren traten eine bis zum Zentralbund reichende Pufferprovinz an die Südostallianz ab, und das Emirat Balranald erklärte seine Unabhängigkeit vom Südmaurenreich. Andere Dinge ließen sich nicht so leicht regeln. Die Ghaner, welche die Städte des Bundes von Woomera hielten, weigerten sich, sie wieder herzugeben. Nachdem sie die unabhängigen Fürstentümer bis hin nach Peterborough annektiert hatten, belagerten Zarvoras Truppen die Stadt, sandten drei Brigaden in den Norden, nach Hawker, und eroberten diese Stadt mit einem Überraschungsangriff. Tarrin saß in Zarvoras Arbeitszimmer in Libris und lauschte baß erstaunt, als sie ihm endlich erklärte, wie ihr Funksystem funktionierte und wie sie es in den letzten Kriegswochen als paralleles, sicheres Befehlsnetzwerk genutzt hatte. Schließlich war auch immer noch fraglich, was in Ravensworth eigentlich geschehen war. »Es hatte etwas mit den Funkensendern zu tun, da bin ich mir sicher«, sagte Zarvora. »Und auch mit dem Spiegelsonnenband. Ich glaube, es war ein sehr intensiver, hohler Hitzekegel. Wahrscheinlich wurden auch die Wandersterne mit so etwas zerstört.« »Ihr meint, es hat den Funkensender angegriffen, den Mittelpunkt aber verschont, wo die Wagen standen?« »Glaubt mir, Tarrin, ich habe sehr lange darüber nachgedacht. Meiner Ansicht nach könnte es etwas mit dem Zielen zu tun gehabt haben. Wenn man ein Visier mit Geschoßfall-Kompensator verwendet, verdeckt das Korn ja auch das eigentliche Ziel.«
»Aber warum etwas schützen, was man beschießt?« »Die Wandersterne waren groß, hatten möglicherweise einen Durchmesser von über zweihundert Metern. Da war jeder Treffer tödlich, auch wenn er nicht den Mittelpunkt traf.« Sie drehte die Hände im Kreise und ließ sie dann sinken. »Mit dieser Theorie werden wir uns vorläufig zufriedengeben müssen.« Tarrin war nicht überzeugt. »Aber die Funkensender wurden doch auch nach der Nacht des Feuers noch weiterbetrieben.« »Ja ...« Zarvora betrachtete mit einem Stirnrunzeln ihr mechanisches - 330 Planetarium und versuchte mit Hilfe einiger Mutmaßungen das Gerüst einer Theorie zu erstellen. »Vielleicht wurde irgendein Kode verwendet, der die Spiegelsonne dazu brachte, Funkwagen sieben als einen Wanderstern zu identifizieren. Dieser Kode hat die Reaktion ausgelöst... und das könnte wieder passieren. Ich lasse den Kalkulor Dolorians letzten Funkspruch auf Anhaltspunkte hin untersuchen, und wenn der Befreiungskampf um Woomera vorüber ist, werde ich in einem abgelegenen Wüstengebiet mit einem Sender weitere Experimente anstellen. Bis dahin habe ich alle Funkwagen nach Oldenberg zurückbeordert, und dort werden sie streng bewacht.« »Bis zum Kriegsende?« »Das ist ja bald. Mein General in Peterborough geht von einer Kapitulation innerhalb der nächsten drei Tage aus. Ich werde dort sein, um den Hochverratsverfahren vorzusitzen. Peterborough wird einstweilige Hauptstadt des Bunds von Woomera, bis Woomera selbst befreit ist.« »Aber Lemorel hat den Bürgermeister von Woomera beim Fall der Stadt töten lassen, Frelle Hoheliber.« »Sein Thronerbe studierte zu diesem Zeitpunkt an der Universität von Rochester. Paßt in meiner Abwesenheit gut auf meine Funkwagen auf, Fras Tarrin. Wenn sie Verrückten oder Verrätern in die Hände fallen sollten, könnte das schreckliche Folgen haben.« Glasken verbrachte drei Wochen in einem Lazarett in der Nähe der Sklavenmärkte von Balranald. Sein linker Arm war dick bandagiert, aber sein Bein war bald so weit genesen, daß er wieder gehen konnte. Am Tag seiner Entlassung, an dem er zur 105. zurückkehren sollte, bekam er Besuch von Inspektor Vellum Drusas aus Libris. »Fras Glasken, der große Held von Ravensworth«, dröhnte Drusas mit leutseliger Stimme. »Seid Ihr denn so weit wiederhergestellt, daß man Euch auszeichnen kann?« Glasken saß auf seiner Bettkante und zog sich vorsichtig den Stiefel über das verbundene Bein. Wer ihn besser kannte, hätte ihn als recht bedrückt empfunden. »Ehrlich gesagt, krieche ich ziemlich auf dem Zahnfleisch«, sagte er und zurrte die Schnürsenkel fest. »Meine besten Freunde in der Brigade sind allesamt tot, und ich habe gerade drei Wochen in einem moslemischen Krankenhaus hinter mir, wo man nichts stärkeres als Kaffee bekommt und sie keine Krankenschwestern in meine Nähe lassen.« Glas - 330 ken verstummte, immer noch an den Schnürsenkeln herumhantierend, und sah dann zu Drusas hoch. »Dieses ganze Leid macht mich krank.« Drusas legte Glasken eine Hand auf die Schulter und verfiel in den zuversichtlichen Tonfall eines guten Ratgebers. »Nun, Fras Glasken, dagegen kann ich etwas tun. Ich bin hier, um Euch zum Gleitbahnhof zu bringen und von dort nach Rochester zu schicken, wo eine große Feier zu Euren Ehren vorbereitet wird. Und es geht dabei nicht nur um Euren Orden. Die Eltern der verstorbenen Frelle Dolorian haben darum gebeten, daß man Euch auch den eigentlich ihr zugedachten Orden verleiht.« Glasken nahm seine Tasche. Er sah sich noch ein letztes Mal im Raum um, so als würde er etwas ihm äußerst Wichtiges für immer verlassen, und humpelte dann mit Dmsas aus dem Zimmer. »Das erscheint mir unangemessen«, sagte er, als er am Empfang den Erhalt seiner Muskete, seines Säbels, seiner Steinschloßpistole und seines Dolches quittierte. »Es gab viele, die erheblich tapferer waren als ich. Ich habe bloß überlebt.«
Das Lazarettpersonal und auch viele der Patienten verabschiedeten ihn, bejubelten ihn als den Befreier des Emirats Balranald, den Mann, der die Brücke von Ravensworth gegen eine hundertfache Übermacht gehalten hatte, den Mann, den Lemorel nicht zu töten vermochte, und den Mann, der die Armee der Invasoren aus Alspring aufgehalten hatte. Auf Dmsas wartete ein offener Einspänner und eine Eskorte von einem Dutzend Lanzenreitem. »Ich fühle mich in Balranald wie zu Hause«, sagte Glasken, als sie durch die Straßen fuhren. »Es ist eine Gleitbahnendstation, so wie Sun-dew, ein großer Ort mit viel Industrie, und die Windzüge befördem von hier aus Kisten und Ballen zu Orten mit wunderbaren Namen.« Er sah sich in dem geschäftigen Treiben auf den Straßen um und ließ seine nostalgischen Gefühle für Sundew die Kriegserinnerungen verdrängen. »Schaut mal da, die Sklavenmärkte. Nachdem ich damals mit Nikalan aus dem Kampfkalkulor entflohen war, bin ich dort für dreihundert Silber-Rikne verkauft worden - das sind neun Goldroyal.« »Was für ein Schnäppchen«, lachte Drusas. »Und da, eine Schienengießerei, genau wie in Sundew. In so einer Lehmsiedlung wie der da drüben bin ich geboren. Mein Vater war Bahnarbeiter.« »Dann ist es ihm später aber sicherlich besser ergangen«, sagte Dm - 331 sas, der beeindruckt war und das auch zeigen wollte. »Auf Studiengebühren zu sparen, kommt bei Bahnarbeitern eher selten vor« Glasken schien ihn kaum zu hören. »Schaut mal, ein Normalspur-Güterwagen in den Farben der Great Western. Der muß von ihren Doppelgleisstrecken stammen.« »Der Krieg hat diese Fahrzeuge in alle Himmelsrichtungen zerstreut, Fras.« »Ja, wie die Menschen bei einem Ruf. Auf diese Weise ist meine Stiefmutter umgekommen. Als ich eines Tages in der Schule war, kam ein Ruf, aber da wir angeschnallt waren, war das nichts Besonderes. Dann kam irgendein Junge herein und sagte, meine Mutter sei fortgerissen worden. Ich habe kaum geweint, ich war nur wie betäubt. Ein paar Wochen später verriet mir mein Vater daß wir nun eine Menge Geld hatten. Er verriet mir auch, daß ich ein Bastard war - ein richtiger. Meine eigentliche Mutter war eine dicke, fröhliche Frau, die gut kochte und immer gern an Biersausen teilnahm. Er heiratete sie, nachdem die Trauerzeit vorüber war und kaufte sich einen Anteil an einem Weinberg. Schon seltsam, aber ich muß immer daran denken, wie stolz meine erste Mutter auf mich war wenn ich aus der schäbigen kleinen Armenschule in der Nähe des Rangierbahnhofs gute Noten mit nach Hause brachte. Es kam mir immer so vor, als würden sich die großen traurigen Augen meiner Mutter nur aufhellen, wenn ich gut in der Schule war. Und später bekam ich dann ein Stipendium für die Universität von Rochester« Drusas war nicht darauf gefaßt, jemanden mit Glaskens Reputation so sprechen zu hören - und dann auch noch so ausführlich. Seine Erwiderungen klangen unbeholfen und gezwungen, und er war sehr erstaunt darüber daß ihn seine übliche Redegewandtheit im Stich ließ. »Aber warum habt Ihr denn acht Jahre für ein Studium gebraucht, das eigentlich nur vier Jahre dauern sollte?« »Ich weiß nicht. In Rochester hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, und das brachte mich auf den Gedanken, daß meine erste Mutter ganz egal, was ich anstellte, bei meiner Abschlußfeier nicht dabeisein würde. Da gab es Wein, Weib und Gesang, und deshalb bin ich derjenige geworden, den Ihr jetzt vor Euch seht.« Er setzte sich aufrecht hin und klopfte Drusas auf die Schulter. »Dort ist der Bahnhof, wir sind da.« »Und hier muß ich Euch nun verlassen, mein bemerkenswerter Mann der Tat«, sagte Drusas mit erheblicher Erleichterung. »Denkt bei Eurem weiteren Aufstieg doch bitte hin und wieder an den alten Fras Drusas.« - 331 »Ich werde nicht nur an Euch denken, sondern Euch auch noch so manches Glas Wein spendieren, Fras.« Als Glasken dann im Zug saß, fuhr Drusas quer durch die Stadt zur neuen Botschaft der Allianz und nahm dort ein Bündel Formulare zu den Akten. Dann nahm er seinen Geldbeutel und
verbrachte einen unterhaltsamen Abend als Zuschauer des Tanzfestivals auf dem Marktplatz der Stadt, wobei zwei Beschirmer ihn und seine Börse bewachten. Solange sie bei ihm waren, fürchtete er sich nicht vor dunklen Gassen und Hauseingängen. Es war ein angenehmer Abend, auch wenn in dieser moslemischen Stadt kein Wein zu bekommen war. Die Tänze waren ein wildes, aufregendes Spektakel. Die Tänzer waren Nomaden aus dem Norden, viele von ihnen aus gentheistischen oder christlichen Stämmen. Als die Vorführung ihrem Höhepunkt entgegenstrebte, verspürte Drusas zum ersten Mal seit Monaten, daß sich in seiner Lendengegend etwas regte. Auf seine Bitte hin zeigte ihm einer der Beschirmer, in welchen Straßen es Dirnen geben mochte, und Drusas eilte zwischen den schmalen, dunklen Häusern hin und her, schnupperte dem Parfümhauch nach und gaffte Gestalten an, die sich hinter Gazefenstern zu erkennen gaben. Dann stolperte er über irgend etwas und strauchelte in einen dunklen, tiefen Hauseingang. Zu seinem Entsetzen stellte Drusas fest, daß sein Kinn in einer Armbeuge klemmte und seine Füße in der Luft baumelten. Im Licht der Spiegelsonne erkannte er direkt vor seiner Nase eine Dolchspitze, und an der Klinge schimmerte frisches Blut. »Wo ist Glasken?« fragte eine Stimme mit starkem Akzent. »Botschaft sagen Rückkehr zu Regiment. Nicht wahr. Nicht wehren. Beschirmer tot.« »Ich weiß - nichts«, stieß Drusas keuchend hervor, und seine Finger kratzten einen dünnen, kräftigen Arm. »Befehl für Glasken von Oberbürgermeisterin. Sollen zur Belagerungsarmee in Peterborough.« »Ich bin nur ein Inspektor. Ich kümmere mich nur um die Formulare.« Die Dolchspitze stieß herab und drückte nun auf die Haut über seinem Herzen. »Muß Glasken treffen. Wo ist er?« »Ich, ich kann nicht...« Die Dolchspitze durchstach Drusas' Haut und drang tiefer. - 332 »Versuch.« »Zug. Nach Rochester.« »Mit wem?« »Darien. Darien vis Babessa.« - 332 15 KOKI/IRSIOM Peterborough hatte unter der Belagerung gegen die Helfershelfer und Anhänger der Alspringer schwer gelitten. Kein einziges Gebäude war unbeschädigt geblieben, aber es war immer noch eine wichtige Stadt und wurde daher Zarvoras neues Hauptquartier. Doch trotz der Ruinen und Verwüstungen vor den Fenstern des Staatspalastes waren es eine Reihe von Signalfeuerberichten aus weiter Feme, die Zarvora und Denkar mit Bestürzung erfüllten. / SEYMOUR NIEDERGEBRANNT, BIS AUF EINEN ZEHN-METERKREIS IN DER STADTMITTE. EIN RIESIGER VERKOHLTER ZIRKEL. KEINE ÜBERLEBENDEN. KRIEGSRECHT AUSGERUFEN. / »Es gibt noch weitere Einzelheiten, aber das Muster entspricht dem, was wir über die Angriffe der Spiegelsonne wissen«, sagte Zarvora. »Dann war es also Tarrin«, sagte Denkar mit finsterem Blick und schüttelte langsam den Kopf. »Der geschäftsführende Schwarzdrache von Libris war ein Spion Lemorels. Kein Wunder, daß sie die Informationen über unsere Verteidigungsmaßnahmen auf einem goldenen Tablett serviert bekam.« »Nicht ganz. Der ursprüngliche Plan bestand wohl darin, mich gefangenzunehmen, aber ich bin ihnen entwischt. Daher konnte er nur noch sabotieren und spionieren. Jetzt aber hat er eine unbesiegbare Waffe. Er muß einen Funksender in die Stadt geschmuggelt haben und ließ ihn dann den Auslöserkode senden, worin auch immer der besteht. Auf diese Art und Weise könnte er jede beliebige Stadt vernichten.« »Vier Wagen, Zar nicht einen.«
»Nein, Fras Gatte. Die Forschungen in Oldenberg wurden fortgesetzt, wenn auch nicht mehr ganz so fieberhaft. Bis zum Jahresende wird Tarrin über einen Sender verfügen, der in einen Einspänner paßt und von einem einzelnen Funker mit einem Pedalgenerator betrieben werden kann. So einen könnte er dann auch nach Kalgoorlie schmuggeln oder hierher -überallhin. Schau dir diesen Bericht an: Der Mittelkreis ist nur noch zehn Meter groß. Er muß eine Möglichkeit gefunden haben, die Feinabstimmung der Spiegelsonnenwaffe zu verbessern.« - 333 »Wir sind aber nicht wehrlos!« rief Denkar, entsetzt darüber, daß sie mit einem Mal so niedergeschlagen wirkte. »Wir können sämtliche Straßen und Bahnstrecken sperren - von den Ruftodesländern im Süden bis hinauf nach, nach ...« »Wohin? Bis zum Nordmaurenreich? Bis zu den Carpentarianem, die ja ohnehin den Ghanern von Alspring unterstehen? Man könnte die Sender auseinandernehmen und mit Kamelkarawanen durch die Wüste befördem, und wir hätten keine Möglichkeit, davon zu erfahren.« »Aber so weit ist es noch nicht. Und Tarrins Position ist schwach.« »Schwach? Das Staatsgebiet von Woomera wird größtenteils von den Ghanerm beherrscht, die Südmauren ließen sich binnen weniger Tage wieder zusammenrufen, und die Allianz würde in einem Bürgerkrieg versinken, wenn sie gezwungen wäre, sich zwischen Tarrin und mir zu entscheiden. Schau dir seine Forderungen an. Ausschließliche Kontrolle über sämtliche Signalfeuertürme, sämtliche Gleitbahnstrecken sollen wiederhergestellt werden, und seine Galeerenzüge sollen volle Bewegungsfreiheit erhalten, ohne jegliche Inspektionen.« »Kommt nicht in Frage! Mit Galeerenzügen könnte man die Sender auch bei ihrer gegenwärtigen Größe befördern!« rief Denkar, dem es bei dem Gedanken grauste. »Er könnte mit dem, was er bereits hat, ganze Städte zerstören.« Zarvora hatte schon viel zu lange gegen viel zuviele Feinde angekämpft, und daß ihr nach einem so erbittert geführten Krieg nun der Sieg entrissen worden war, ging fast über ihre Kräfte. Tarrin kannte sie gut, vielleicht besser noch als Denkar. Er wußte, wie er sie in die Enge treiben konnte. »Meinst du, wir sollten versuchen, etwas Zeit zu gewinnen?« fragte sie erschöpft. »Ja, auf jeden Fall!« rief Denkar, der sich mühte, die berühmte Aggressivität seiner Gattin wieder aufleben zu lassen. »Aber Tarrin ist auch nur ein Herrscher, nicht groß anders als ich. Wozu Tausende, vielleicht gar Millionen Menschen opfern, nur damit ich Oberbürgermeisterin bleiben kann?« »Weil du eine Vision hast, wohingegen Tarrin weiter nichts ist als ein verdammter Lakai! Ich würde dir auch bis in die Hölle folgen, Zar. Glasken hat in deinem Namen gegen eine hundertfache Übermacht angekämpft, und Dolorian hat sich deinetwegen Lemorel entgegengestellt. Sie haben das getan, weil sie wußten, daß du niemals klein beigeben - 333 würdest. Führe uns - denn wie feststeht, daß Tauben auf Statuen kacken, steht auch fest, daß kein anderer uns führen kann!« Zarvora schien ihn gar nicht zu hören. Sie saß reglos da und starrte auf die Depeschen. Denkar schritt eine Zeitlang vor ihr auf und ab, ging dann zu einer Wandtafel und begann Kreise zu zeichnen und Zahlen aufzuschreiben. Mit einem Mal schüttelte Zarvora den Kopf. »Das verkohlte Rund hat einen Radius von zwölf Kilometern, ließe sich also ganz gefahrlos vom nächsten Signalfeuerturm aus beobachten«, sagte sie. Denkar zeichnete einen symbolischen Turm neben einen der Kreise. »Ja, wirklich sehr gerissen. Sag Tarrin, du akzeptierst seine Bedingungen, wenn es ihm gelingen sollte, genau fünfzehn Kilometer südlich des Turms von CuUeraine einen verkohlten Kreis zu hinterlassen.« »Wir könnten gefahrlos zusehen.« »Nicht nur zusehen. Bürgermeister Bouros hat bereits einen Funksender entwickelt, der sich in einem einzigen Wagen unterbringen läßt. Wenn Tarrin die vier Wagen seines Senders nach CuUeraine schickt, können wir den Kode abhören und stehen dann mit einem Dutzend Ein-Wagen-Sendem bereit, um -« »Nein!«
»Innerhalb eines Tages könnten wir Tarrin voraus sein!« »Nein! Ich töte mein Volk nicht, um es beherrschen zu können.« »Tarrin ist ein Lakai, er hat nicht den Mumm, sich einem fairen Kampf zu stellen. Schau mal, du könntest doch binnen zweier Wochen so einen kleinen Sender nach Rochester oder Oldenberg schmuggeln, und der stünde dann für den Kode und deinen Befehl bereit.« »Für meinen Befehl. Genau. Glasken wurde nach Rochester verschleppt. Könnte ich ihn töten, nachdem er so tapfer für mich gekämpft hat?« Sie starrte zu den Kreisen auf der Tafel hinüber »Sag mir eins: Warum CuUeraine?« »Weil wir es leicht beobachten könnten.« »Und warum dann Seymour?« »Ich - ich weiß nicht. Tarrin hat dieses Gebiet dort vollkommen unter Kontrolle, er mußte uns einladen, Beobachter zu schicken, nachdem die Glut der Spiegelsonne uns heimsuchte.« »Genau.« - 334 Sobald er innerhalb der Mauern von Libris war, befreite man Glasken von der Augenbinde und dem Knebel. Als man schließlich auch seine Fesseln löste, fand er sich in eben dem Einweisungsraum wieder, in den man ihn 1699 gebracht hatte. Diesmal erwartete ihn dort Tarrin, flankiert von zwei südmaurischen Wachen. »Willkommen daheim, FUNKTION 3084«, sagte Tarrin, während sich Glasken die Handgelenke rieb. »Ich dachte, so was wäre neuerdings verboten«, erwiderte Glasken. »Das gilt aber nicht für Euch.« »Was? Die Oberbürgermeisterin -« »Oberbürgermeisterin Zarvora ist in Peterborough einem Attentat zum Opfer gefallen. Die Ghaner haben sich ein Herz gefaßt und ihre Invasion wieder aufgenommen, und daher war ich gezwungen, ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen. Mir fehlen die kriegerischen Fähigkeiten der verstorbenen Oberbürgermeisterin.« Glasken schüttelte den Kopf. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Zarvora war ihm geradezu unsterblich erschienen. »Und warum bin ich hier? Ich bin ein guter Offizier, aber nur eine ziemlich durchschnittliche Komponente.« »Zu Eurer eigenen Sicherheit, Glasken. Die Ghaner wollen Euren Tod. Lemorel starb bei einem Duell, bei dem es um Eure zweifelhafte Ehre ging, Ihr habt in Ravensworth ihrem Vormarsch Einhalt geboten, als der Sieg schon zum Greifen nah war, und dann habt Ihr in der Stunde ihres größten Triumphs das Feuer herabgerufen, das zwei Drittel ihres Heers vernichtete. Wie habt Ihr das gemacht?« »Die Wachen -« »Die sprechen kein Austarisch. Sagt mir, wie man das Feuer herabruft, Glasken. Mit diesem Geheimnis kann ich die Allianz retten.« Glasken kraulte sich die Bartstoppeln am Kinn und dachte über Tarrins Worte nach. Der Sieg zum Greifen nah, die Stunde ihres größten Triumphs - diese Wortwahl ließ tiefer blicken, als Tarrin lieb sein konnte. »Ihr habt mit Lemorel gevögelt.« Tarrin wurde kalkweiß im Gesicht. Er sprang vor und verpaßte Glasken einen schallenden Schlag mit dem Handrücken ins Gesicht. Die südmaurischen Wachen machten sich bereit, Glasken zu ergreifen, doch der rührte sich nicht. »Mieser Schmutzfink!« zeterte Tarrin. »Ich sollte Euch an den Hoden aufknüpfen und kopfüber in einen Bottich voll kochendem Giftgold her - 334 absenken lassen. Wie lautete der Text von Leutnant Dolorians letztem Funkspruch vor dem Feuer der Spiegelsonne?« »Wollt Ihr damit sagen, Ihr kennt ihn nicht?«
»In dieser Nacht ging über Oldenberg ein Gewitter hernieder Einige Teile des Funkspruchs gingen verloren.« Glasken streckte die Beine, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete Tarrin nachdenklich. Irgend etwas an ihm war so verdächtig wie die Hose eines anderen Mannes im ehelichen Schlafzimmer. »Ich weiß nicht, was Dolorian gesendet hat.« »Aber Ihr habt die Frau bestiegen, habt sie beschlafen!« »Aha: Besteigen, beschlafen. Wichtige Worte. Ihr habt ja wahrscheinlich mit Lemorel über den Signalfeuerverkehr diskutiert, während Ihr unter ihrem Schreibtisch umhergekullert seid -« Tarrin ohrfeigte Glasken erneut. »Sie hat den letzten Funkspruch nicht in ihr Logbuch eingetragen, wahrscheinlich, weil Ihr es so eilig hattet, ihr die Hose vom Leib zu reißen. Es muß doch Bettgeflüster gegeben haben.« »Ich war verwundet, ich bin schnell eingeschlafen.« »Das ist gelogen!« »Gelogen? Ihr wart noch nie verwundet, sonst würdet Ihr das verstehen. Selbst eine Fleischwunde von einer kleinkalibrigen Muskete kann einen ganz schön mitnehmen. Ich hatte an dem Tag zwei Explosionen abbekommen, ich hatte neun Schnittwunden an der einen Seite, und aus meinem Bein hatte man gerade einen Metallsplitter gezogen, der so groß war wie Euer Daumen.« »Aber Ihr wart Dolorians Vorgesetzter, sie muß Euch doch Bericht erstattet haben«, beharrte Tarrin, der auf und ab ging und sich dabei den Kopf hielt. »Denkt nach! Die Zukunft der Allianz hängt von Euren Worten ab.« Glasken kratzte sich am Kopf und verschränkte dann die Arme vor der Brust. »Dolorian glaubte zu diesem Zeitpunkt, ich wäre tot. Sie hat geflankt, daß die Brücke von Ravensworth repariert würde und die Ghaner hinüberströmten.« »Die wesentlichen Inhalte kenne ich bereits. Sie gab die geschätzte Truppenstärke der Ghaner durch und daß Eure Stellung wahrscheinlich nicht mehr zu halten sei. Was noch? Irgendeine ausgefallene Formulierung?« - 335 »Wie der Eunuch zur Äbtissin sagte: Ich würde ja gerne, wenn ich könnte, aber ich kann nicht.« Tarrin traf den wieder in sein Amt eingesetzten Bürgermeister Jefton in Zarvoras früherem Arbeitszimmer. Jefton sah sich angewidert um, denn Tarrin hatte den Raum zu einem Saustall verkommen lassen. Akten, Schriftrollen, Landkarten und Lochstreifen lagen wild durcheinander. Einige Anzeigemechanismen des Kalkulors und mechanische Tiere waren zu Boden gefallen und zerbrochen. Überall standen Teller mit Essensresten und halbleere Kaffeebecher, und Jefton schauderte, als er Mausekot und Ameisenpfade entdeckte. Er räumte ein paar Akten von einem Stuhl, staubte ihn mit seinem Fliegenwedel ab und setzte sich. »Glasken war keine Hilfe, was den Funkspruch angeht, verdammt noch mal«, berichtete Tarrin. »Dann sendet eben einfach Kombinationen aus dem, was wir bereits haben, bis die Spiegelsonne wieder ihr Feuer schickt«, schlug Jefton vor. »Uns fehlt doch bloß ein gutes Dutzend Buchstaben.« »Nein. Zarvora hat neue Empfänger aus Kalgoorlie. Wenn sie mitanhört, wie wir hier herummurksen, haben wir sie im Handumdrehen am Hals.« »Ach was. Es würde doch nicht einmal einen Tag dauern, sämtliche Kombinationen zu senden.« »Nein!« »Ich befehle es!« »Mir erteilt niemand Befehle!« brüllte Tarrin. »Ich habe Euch Rochester zurückgegeben. Vergeßt nicht, daß ich Hoheliber und Oberbürgermeister bin. Ihr dient mir, Fras Jefton, vergeßt das nicht.« »Und Ihr vergeßt nicht, daß Zarvora noch am Leben ist, was auch immer Ihr Glasken erzählt habt!« entgegnete Jefton in scharfem Ton, setzte sich auf und fuchtelte mit seinem Fliegenwedel. »Ihr seid ebensowenig Hoheliber und Oberbürgermeister wie ich, solange die Spiegelsonne nicht nach Eurer Pfeife tanzt.« Er lehnte sich wieder zurück und lächelte entgegenkommend. »Warum machen wir nicht, was ich vorgeschlagen habe?«
Tarrin schlug mit der Faust auf die Tastatur. Bei einem Schlag von Zarvora wäre das Holz gesplittert, aber Tarrins Faust prallte nur davon ab. Er heulte auf und saß dann da und rieb sich die gerötete Haut, die Augen fest geschlossen. »Und warum nicht?« fragte Jefton noch einmal. - 336 »Weil ich vielleicht nicht alle Kombinationen habe, und weil ich nicht genug von Verschlüsselungen und Mathematik verstehe, um sicherzugehen, daß mir die FUNKTIONEN und Regulatoren die Wahrheit sagen.« Jefton lehnte sich zurück, beeindruckt von diesem Eingeständnis, aber auch entsetzt darüber »Dann setzt eben die Edutoren der Universität dazu ein.« »Und anschließend kennt jedermann den vollständigen Text. Wenn es ihnen gelingen sollte, den richtigen Kode herauszufinden, braucht es nur noch einen Rebellen mit einem Sender, und diese Stadt liegt in Schutt und Asche.« »Dann könnten wir sie in aller Sicherheit von den Kellern von Libris aus regieren.« »Aber was würden wir dann noch regieren, Bürgermeister Jefton?« In Peterborough las Denkar noch einmal den vollständigen Text von Dolorians letztem Funkspruch vor dem Feuer und schüttelte den Kopf. Er schlenderte gerade mit Bürgermeister Bouros den Bahnsteig hinab. Bouros war eben mit dem ersten Galeerenzug aus Kalgoorlie seit der Wiederherstellung der Gleitbahnstrecke eingetroffen. »Tarrin muß sich besser mit Kodes auskennen, als ich dachte, wenn er daraus schlau werden kann«, sagte Denkar »Seid Ihr sicher, daß das der exakte Wortlaut ist?« »Es gab einige Interferenzen, aber unsere Filter und Richtantennen sind sehr gut, Fras Denkar Die diensthabende Funkerin ist überzeugt, daß sie den vollständigen Text empfangen hat.« »Die arme Dolorian«, sagte Denkar und gab Bouros die Abschrift zurück. »Ihre Worte haben etwas so Trauriges, so Bezwingendes.« Ein Diener führte sie zur Firefly, die mittlerweile repariert und neu bewaffnet worden war. Sie schritten eine Ehrenwache ab, und der neue Kommandant der Galeerenlok salutierte, als sie einstiegen. »Die Strecke ist repariert, ich kann Euch ganz bis nach Maldon bringen« , erklärte der Kommandant. »Ab dort...« Er schluckte. »Steht Euch die Normalspurbahn zur Verfügung.« »Danke, Hauptmann. Laßt das Gleis freimachen, und wartet dann, bis Oberbürgermeisterin Zarvora eintrifft. Sie wird gemeinsam mit uns reisen.« »Die Oberbürgermeisterin, Fras?« - 336 »Die Oberbürgermeisterin, Hauptmann. Sie hat darauf bestanden, in keiner anderen Lok fahren zu wollen als der Firefly.« Bebend vor Stolz ging der Kommandant los, um die Freigabe für das vor ihnen liegende Gleis zu erwirken, und Denkar und Bouros warteten derweil im Führerstand. Bürgermeister Bouros setzte seine Brille auf und las Dolorians Funkspruch noch einmal. »Ich habe das jetzt schon so oft gelesen, daß ich es bald auswendig hersagen kann, mein Freund.« »Pah, das kann ich längst«, sagte Denkar mit der schwungvollen Gebärde eines Vortragskünstlers. Dann rezitierte er den vollständigen Text. »Ausgezeichnet«, sagte Bouros und applaudierte. »Ach, Ihr kanntet sie nicht, Fras Bürgermeister. Sie hatte eine sehr üppige Figur und langes, schimmerndes Haar. Sie hatte Stil und machte den Männern schöne Augen, war dabei aber sehr anspruchsvoll.« »Hattet Ihr einmal ein kleines Verhältnis mit ihr?« erkundigte sich Bouros. »Ein unvergeßliches Verhältnis. Das war natürlich, bevor ich die Oberbürgermeisterin kennenlernte.« »Ich ... vermute, Ihr wart früher einmal Komponente in Libris.« Denkar überlegte, empfand aber keine Besorgnis. Da mittlerweile viele Komponenten, die ihn gekannt hatten, wieder auf freiem Fuß waren, würden sich die öffentlichen Verlautbarungen über
seine Vergangenheit ohnehin nicht mehr lange aufrechterhalten lassen. Er wandte sich von Bouros ab, um die Hebel und Skalen zu betrachten, mit deren Hilfe die Galeerenlok gesteuert wurde, und tätschelte dann den Stöpsel im Sprachrohr, um sicherzugehen, daß die Antriebsmannschaft nicht mithören konnte. »Aus Liebe zu meiner Wärterin bin ich in meinem aufgesperrten Gefängnis geblieben.« »Ha, was für eine wunderbare Liebesgeschichte.« »Die arme Dolorian. Die arme, arme Dolorian. Als ich zum ersten Mal die unvollständige Abschrift ihres Funkspruchs las, hätte es mir fast das Herz gebrochen. Ich wollte sofort mit einer Armee losziehen, um sie zu retten.« »Ach, Fras, wir alle wünschten, wir hätten an ihrer Seite gegen die Ghaner kämpfen können. Selbst ich, der ich sie nie gesehen habe. Nennt mir einen, der nicht alles hätte stehen und liegen lassen, um -« Denkar schlug mit beiden Händen auf das Steuerungspult, wandte sich dann zu Bouros um und starrte ihn mit vorquellenden Augen an. - 337 »Das kann ich nicht, Fras Bürgermeister, und Ihr seid ein Genie!« rief er und strahlte, als hätte er gerade einen von Glaskens Goldschätzen entdeckt. Bouros musterte ihn skeptisch. »Wenn Ihr gerade eine brillante Erkenntnis hattet, seid Ihr hier das einzige Genie, mein Freund.« Denkar packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn, während er aufgeregt auf ihn einredete. »Dolorians Funkspruch ist mir zu Herzen gegangen, und Euch auch -und der Spiegelsonne ebenso Von den am weitesten entwickelten vorzeitlichen Kalkuloren heißt es, sie seien empfindungsfähig gewesen, und die Spiegelsonne muß wohl von solchen Kalkuloren gesteuert sein. Die haben den Funkspruch gehört und Dolorian gerettet.« Bouros saß einen Moment lang sprachlos da, holte dann ein Stück Kreide aus seinem Gewand hervor und begann damit auf dem Holzboden des Führerstands zu zeichnen. »Das verkohlte Gebiet entspricht den Angaben, die sie über die feindlichen Truppen gemacht hat, und der Kreis in der Mitte ihren Angaben über sich selbst. Ja, tatsächlich, Fras Denkar. Die Zahlen geben Euch recht.« In diesem Moment kehrte der Hauptmann zurück, mit Zarvora im Schlepptau. Denkar winkte sie von den Zahlen auf dem Boden fort. »Frelle Zar, du mußt meine Gedanken gelesen haben!« rief er und breitete mit Blick auf die Zahlen die Arme aus wie ein Priester bei einem Sakrament. Zarvora fiel neben Denkar auf die Knie und umarmte ihn. »Liebster Denkar«, weinte sie. »Wenn ich noch einmal davon spreche aufzugeben - töte mich!« »Ich - oh, dann hast du also auch gute Neuigkeiten?« erwiderte ihr verblüffter Gatte. »Wunderbare Neuigkeiten. Ich beschloß, einigen Dingen auf den Grund zu gehen, und sandte daher eine Botschaft in die Aviadenstadt Macedon. Von dort schickte man Späher auf einen Berggipfel im Grenzgebiet der Ruftodesländer von dem aus man einen guten Blick auf Seymour hat. Mit Hilfe eines starken Fernrohrs haben sie festgestellt, daß Seymour unversehrt ist, lediglich von Einheiten der Armee der Allianz abgeriegelt. Sie entdeckten auch die Asche großer Feuer, die auf sämtlichen Pferdekoppeln abgebrannt worden waren.« »Ein Bluff!« rief Bouros. - 337 »Ein Bluff, allerdings. Diese gerissene kleine Ratte!« fügte Denkar hinzu. »Wir wollten dir eben das gleiche erzählen.« Sie erläuterten Zarvora ihre Theorie über Dolorian und die Spiegelsonne, und die Firefly fuhr währenddessen aus der Bahnstation hinaus und ratterte über die Weichen des Rangierbahnhofs von Peterborough. »Ich habe eine Blockade über sämtliche Stadtstaaten verhängt, die Tarrins Kontrolle unterstehen«, sagte Zarvora. »Es dürfte ihm schwerfallen, mehr als Rochester City noch ein oder zwei Tage lang
zu halten. Und ich habe bereits eine Armee losgeschickt und werde es halten wie Lemorel in Alspring: Ich werde die Stadt belagern und nur den Palast bombardieren lassen.« »Libris ist ganz in der Nähe«, sagte Denkar. »Wir verdanken den Menschen im Kalkulor zu viel, um ihr Leben in Gefahr zu bringen.« Zarvora schüttelte den Kopf »Tarrin auszuhungern könnte Jahre dauern, und er wäre einer der letzten, den es erwischt.« »Es gibt vielleicht eine bessere Möglichkeit«, sagte Bouros. »Unseren Berichten zufolge ist Glasken wieder als FUNKTION im Kalkulor von Libris tätig. Sein Aviadenfreund Ilyire kennt sich in Libris aus und weiß, wie Glasken aussieht. Könntet Ihr Ilyire nach Libris hineinschmuggeln, Oberbürgermeisterin ?« »Vielleicht. Unsere Doppelagentin Darien kennt Ilyire. Sie könnte die nötigen Papiere und Anweisungen übermitteln und Ilyire Zugang nach Libris verschaffen. Wenn sie für mich tätig ist, trägt sie den Namen Parvarial Konteriaz.« »Kann man ihr vertrauen?« »Ich glaube schon - aber Tarrin glaubt das auch. Sie hat ihm Glasken versehentlich in die Hände gespielt.« Denkar erhob sich und blickte durchs vordere Fenster hinaus nach Süden. Seine rechte Hand zitterte neben seinem Ohr, so als versuchte er seinem Kopf eine Idee zu entlocken. »Bereitet alles vor, was wir besprochen haben, aber sorgt erst einmal dafür, daß ich mit einem der neuen Funksender auf einem Wagen zur Phillip Bay und zu Theresia gelange. Und es ist äußerst wichtig, daß ich in Macedón nicht wegen irgendwelchen Genototemspielchen aufgehalten werde.« - 338 Mit Hilfe anderer Agenten Zarvoras spürte Darien Ilyire in einer Schenke in einem Weiler östlich von Echuca auf. Erzählungen über seine Wandlung waren im Laufe der Monate bis zu ihr vorgedrungen, aber sie hatte zunächst vermutet, daß er Gerüchte streue, um sie zu sich zurückzulocken. Doch nun hatte sogar Glasken bestätigt, daß Ilyire seinen fanatischen Beschützerfimmel abgelegt hatte, und Darien war bereit, ihm noch eine Chance zu geben. Der Barkassenseidel war ein geduckter verschachtelter, uralter Bau, der dem Weiler auch als Herberge diente. Darien blieb vorsichtig stehen, als sie das Wirtshausschild erblickte. Sie betrachtete sich in der polierten Namenstafel eines Textilhändlers, kämmte sich das Haar und legte eine dicke Schicht Lippenstift auf. Trotz der Winterkälte und des Nebels trug sie ihren Reiseumhang zurückgeworfen und öffnete sogar die beiden oberen Knöpfe ihrer Bluse. Im Schankraum zeigte sie der Bedienung eine ihrer Karten, aber das Mädchen konnte nicht lesen. Sie holte den Wirt herbei, dem Darien mühsam klarmachte, daß sie nicht sprechen konnte, ein Zimmer wollte und man Ilyire zu ihr schicken sollte. Als sie dort saß und wartete, erklang in der Ferne eine Rufwarnglocke. Noch zehn Minuten. Darien zog ihren Zeitschalter auf und schnallte sich dann in dem schummrigen Zimmer an einem Geländer an. Die Tür ging auf, und Ilyire kam herein. Darien hob die Hände und begrüßte ihn in der Gebärdensprache, aber Ilyire ergriff ihre Hand und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Sie wehrte sich schweigend, ihr Gesicht schmerzverzerrt. Er packte ihren anderen Arm und fesselte ihr die Hände hinter dem Rücken, und erst dann trat er vor die Silberdrachen-Bibliothekarin. Sie hatte die Augen vor Furcht weit aufgerissen und schüttelte den Kopf. Er sprach sie auf Alspring an. »Nein? Ihr schüttelt den Kopf. Euch bleibt nur noch ja und nein, meine kleine Mörderin, meine gefährliche Füchsin. Ihr habt keine Stimme, seid aber lebensgefährlich. Ihr habt meinen Herrn und Meister verraten, Fras Glasken. Drusas hat ihn Euch übergeben, und Ihr habt ihn diesem dreckigen Wurm Tarrin ausgeliefert. Mein armer Gebieter - betrogen, nachdem er so tapfer gekämpft und so viel durchlitten hat.« Darien schüttelte erneut den Kopf und sträubte sich gegen die Fesseln. »Darien, Frelle Darien, Ihr enttäuscht mich, aber ich bin auch von mir selbst enttäuscht. Ihr seid eine Verräterin, aber ich liebe Euch den - 338 -
noch. Und doch muß ich Euch töten. Ihr wolltet einmal, daß ich die sklavische Verehrung, die ich für Euch hegte, ablegen sollte, und eben das habe ich getan. Und nun werdet Ihr leider sterben, weil ich der geworden bin, zu dem Ihr mich machen wolltet.« Er sah die Papiere durch, die sie in ihrer Umhängetasche bei sich hatte und am Körper trug. Darunter waren versiegelte Befehle für Glasken, die tatsächlich von Zarvora zu stammen schienen, und als er die Siegel erbrach, war der Text in einem militärischen Kode abgefaßt, dem er nicht zu folgen vermochte. Andere Papiere und Pässe waren auf seinen Namen ausgestellt, und es gab auch eine detaillierte Anleitung, wie er in Libris einbrechen und Glasken finden sollte. Die meisten der Papiere bezogen sich auf eine Parvarial Konteriaz. »Wo ist Frelle Parvarial, und wie habt Ihr sie getötet? Das arme Mädchen. Ihr hattet vor, mich mit Schreiben von der Oberbürgermeisterin an meinen Gebieter nach Rochester zu locken und mich dann gemeinsam mit diesen Papieren an den Liber-Prätendenten Tarrin auszuliefern. Nun denn, diese Schreiben werden meinen Gebieter erreichen, aber Euer Tarrin wird enttäuscht sein.« Er steckte die Papiere ein. »Ein Ruf naht, Frelle Dolorian. Bald werdet Ihr fortgelockt werden, und ich werde Euch losschnallen, damit Ihr nach Süden, in den Tod gehen könnt. Vielleicht wird die Gottheit Euch verschonen, wie sie Tausende verschont, das ist die einzige Chance, die ich Euch geben kann. Im Grunde sollte ich Euch ein Messer ins Herz stoßen, aber das bringe ich nicht über mich.« Er schloß die Augen und konzentrierte sich einen Moment lang. »Jetzt ist es gleich soweit. Ich - ich möchte Euch einen Abschiedskuß geben, aber das wäre obszön. Darien, Darien, wollt Ihr mich wieder so haben, wie ich früher war?« Die Frage war rhetorisch gemeint, aber zu seinem Erstaunen lächelte Darien matt, sah ihm unverwandt in die Augen und schüttelte den Kopf. Einen Augenblick später raubte der Ruf ihr jedes Entscheidungsvermögen, und sie wollte ohne Sinn und Verstand nur noch nach Süden gehen. Ilyire band ihr die Hände los, löste ihren Rufgurt vom Geländer und führte sie nach draußen. Er stellte sie nach Süden gewandt auf die Straße und ließ sie los. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, ohne sich auch nur einmal umzusehen. »Selbst angesichts des Todes habt Ihr mich ein klein wenig geliebt«. - 339 sagte er zu ihrem fernen Rücken und wandte sich dann ab, das Gesicht in den Händen. Glasken sah von seiner Ausgabe des Fachblatts zur Systemverbesserung auf, als ein Regulator mit einer Kapuze auf dem Kopf seine Zellentür aufschloß. Ohne ein Wort zu sagen, gab er Glasken zu verstehen, daß er ihm folgen sollte. Sie gingen in einen leerstehenden Schulungsraum. Der Regulator verriegelte hinter ihnen die Tür und wandte sich dann Glasken zu - der ungläubig aufschrie, als die Kapuze fiel. »Ilyire!« »Kein Geringerer Fras Gebieter. Meine Wenigkeit.« »Theresia hat Euch gesandt.« »Meine verrückte Schwester? Ha!« »Moment mal! Was soll dieses Gerede von wegen Gebieter und wer hat Euch wirklich gesandt?« »Die Oberbürgermeisterin, Fras Gebieter« »Aber Zarvora ist doch ermordet worden.« »Nein. Sie lebt und ist so übellaunig wie eh und je.« »Tarrin! Dieses verlogene Schwein Tarrin hat mir gesagt, sie sei tot.« »Das ist noch nicht alles. Männer in Soutanen und Sandalen suchen nach Euch. Sie kamen nach Kalgoorlie, überallhin, sogar in den Palast. Sie sind hinter Euch her.« »Baelsha und der verdammte Abt, ich hätte es wissen müssen. Vor mir ist keiner je aus Baelsha entkommen. Sind sie Euch auf den Fersen?« »Nein, weit abgeschlagen. Ich habe fünf von ihnen getötet.« »Es ist Euch gelungen, fünf Mönche aus Baelsha zu töten?« »Es war nicht einfach. Hinterher mußte ich mich wochenlang erholen.« »Unglaublich. Könnt Ihr mich aus Libris herausbringen?« »Mmmm ... das kann ich, aber bleibt erst noch hier. Die Oberbürgermeisterin hat Befehle für Euch.«
»Das habe ich befürchtet. Ach, mein Freund, es wird eine durchzechte Nacht dauern. Euch zu erzählen, was mir in der Zwischenzeit widerfahren ist.« »Nicht nötig, Fras. Ich war seit Woomera bei Euch.« »Was?« »Ich habe alles gesehen. Ihr habt die Hoheliber in Peterborough - 340 gerettet, habt in Ravensworth den Angriff gegen die Südmauren angeführt und Frelle Dolorian flachgelegt. Ich war es, der Euch vom Schlachtfeld trug, mein Gebieter.« »Was? Aber warum?« »Ihr habt die Gebeine der Ervelle in Maralinga bestattet, und jetzt revanchiere ich mich bei Euch. Ich habe geschworen, daß ich jedem, der meinen Gebieter bedroht, das Herz herausschneiden werde. Leider habe ich zu spät von Vellum Drusas' Falschheit erfahren.« »Was habt Ihr mit ihm gemacht?« »Ihm das Herz herausgeschnitten.« »Auweia. Das reicht jetzt aber, macht das bitte nicht noch mal! Was soll ich für die Oberbürgermeisterin tun?« Ilyire übergab ihm die verschlüsselten Anweisungen, und Glasken las sie langsam und gewissenhaft durch. »Das ist ein kühner Plan, Fras Ilyire, und Euch ist dabei auch eine ganz hübsche Rolle zugedacht. Hört mir jetzt genau zu.« Glasken saß an einem speziellen FUNKTION-Pult im Kalkulor und versuchte, nicht verdächtig oder schuldbewußt auszusehen, auch wenn er sich so auffällig vorkam wie ein Emu am Pranger. Im Gegensatz zu den völlig überzogenen Berichten über die in der großen Maschine immer noch herrschende alltägliche Schinderei, gab es für viele Komponenten während einer normalen Schicht längere Phasen der Untätigkeit. Ein von Zarvora 1696 geschriebener Algorithmus verteilte das Arbeitspensum auf die einzelnen Komponenten, um alle einigermaßen gleich zu belasten, war aber seit nunmehr zwölf Jahren nicht mehr aktualisiert worden. Der Kalkulor war mittlerweile sechsundvierzigmal so groß wie damals. Glasken wußte, daß ihm, nachdem ein bestimmtes Pensum abgearbeitet war, eine fünf- bis zehnminütige Ruhepause bevorstand. Das Umgehungssystem, das Denkar 1698 entwickelt hatte, war ebenfalls seither unverändert, und Glasken fragte sich, ob es wohl noch funktionierte. Seufzend, als wäre er schwer beschäftigt, gab er entsprechend der ihm von Ilyire überbrachten Anweisungen Werte in seine Übertragungsregister ein. Der über der Beobachtungsplattform angebrachten Kolbenuhr zufolge dauerte es nur zwei Minuten, und stillschweigend dankte Glasken demjenigen, der seit seinem letzten Aufenthalt im Kalkulor einen Minutenzeiger angebracht hatte. Als noch drei Minuten blieben, kippte die Status-Flagge auf EIN- 340 GABE, was Glasken so erschreckte, daß er auf seinem Sitz zusammenfuhr und »Verdammt« murmelte. FUNKTION 12472 sah sich zu ihm um. Glasken murmelte zur Erklärung: »Keinen verdammten Frieden für die Bösen« und schnippte weiter die Kugeln hin und her, um eine Nachricht zu verschlüsseln, die nur in seinen Gedanken existierte. FUNKTION 12472 trug seinen Namen in die Beschwerdeliste für Störungen ein und machte ein Kreuz dahinter. Glasken gab die letzten Kodemuster an die Ausgaberegister weiter und fügte dann die WeiterleitungsprotokoIIe hinzu, für Rushworth, Seymour und und ... Er konnte sich nicht mehr an den Namen des Signalfeuerturms erinnern, der auf privatem Grund südlich von Seymour stand, am Rande der Ruftodesländer. Es gab neun dieser Türme, das wußte er noch. Da blieb ihm nur eine Möglichkeit, entschied er, als die Flagge seines Eingaberegisters hochklappte, um anzuzeigen, daß rechtmäßige Arbeit eingetroffen war. Hinter SEYMOUR fügte er ALLGEMEIN an. Ein Ersuchen von Zarvora an Theresia ging via Macedon an neun Stationen hinaus. Das war's, dachte Glasken, und arbeitete mit seinem Abakus ein Gleitbahnkoordinationsproblem am Umsteigebahnhof Euroa ab. Bis Schichtende war es noch eine halbe Stunde; dann hatte er eine Schulung und anschließend Essenspause. Es würde nur Minuten dauern, bis die Nachricht bei den
fernen Türmen eintraf, und während die Leute vor Ort sich angesichts des seltsamen Kodes die Haare rauften, würde ein Turm sie nach Macedon weiterleiten. Bei Schichtende würde man dann schon einem Emu eine verschlüsselte Abschrift auf den Rücken geschnallt haben, der von Macedon zur Geisterstadt Melboume lief, wo Theresia lebte. Wie lange würde das dauern? Stunden? Tage? Glasken kannte sich mit den Entfernungen in den Ruftodesländem nicht aus. Und wenn Theresia nicht zu Hause war? Was dann? »Kommt so ein verdammter Vogel denn mit einem Briefkasten klar?« fragte er und FUNKTION 12472 runzelte die Stirn und machte ein weiteres Kreuz hinter seinen Namen. Seine Gedanken kehrten zu den übrigen acht Türmen zurück, während er mit Fingern und Füßen die Arbeit des Kalkulors verrichtete. Mittlerweile hatten die Gewissenhafteren unter den Signalfeuerbeamten nach ihren Kodebüchem gegriffen. Es blieben höchstens noch zehn, fünfzehn Minuten. Einige würden annehmen, daß es sich um eine fehlgeleitete militärische Botschaft handelte, und würden sie löschen. Bis Glasken den Saal verließ, hatte sicher jemand die Nachricht an den - 6oi Signalfeuerturm über ihm zurückgeschickt. Ein anderer würde sie in dem Fach mit der Aufschrift >Sonderbares und Ungewöhnliches< ablegen. Eine, vielleicht auch zwei, höchstens aber vier Stunden später würde man sie zur Entschlüsselung an den Kalkulor weiterleiten. Dort würde sich recht bald herausstellen, daß sie nicht entschlüsselbar war. Die Nachricht hinterließ eine Spur, die sich bis zu den Ausgangspuffem des Kalkulors von Libris zurückverfolgen ließ. Wenn es soweit ist, darf ich mich nicht mehr hier aufhalten, mahnte sich Glasken. Der Systemherold rief das Schichtende aus. Glasken verriegelte seine Register, stand auf und streckte sich. Er zwinkerte FUNKTION 12472 zu, die rot wurde und ein weiteres Kreuz hinter seinem Namen machte, ehe ihr klar wurde, daß er diesmal gar keine Störung verursacht hatte. Als Glasken seine Zelle betrat, sah er, daß seine Zellengenossen schliefen. Die Türen wurden wieder abgeschlossen, da Tarrin die alten Zuchthaussitten wieder eingeführt hatte. Minuten vergingen. Von Ilyire keine Spur. Glasken wartete, bis keine Regulatoren mehr vorbeigingen, zog dann einen gebogenen Draht aus einem Versteck hervor und begann sich dem Schloß zu widmen. Einige Minuten später hatte es immer noch nicht nachgegeben, und Glasken ging allmählich die Geduld aus. Während er sich weiter daran zu schaffen machte, führte er leise ein Selbstgespräch. »Welcher Vollidiot von Verwalter wechselt denn zwölf Jahre lang nicht die verdammten Algorithmen, gibt aber von meinen Steuergeldern ein Scheißvermögen aus, um neue beschissene Schlösser anzuschaffen, obwohl die beknackten Komponenten gar nicht aus ihren verkackten Zellen raus wollen -« »Ich habe den Schlüssel, Fras Gebieter«, sagte eine Stimme unter seinem Bett. Glasken sprang beiseite, riß zum Schutz die Hände hoch, prallte dann aber an die Zellenwand und fiel über sein Schreibpult. »Ilyire! Verdammt noch mal! Ihr weckt die anderen auf!« »Die sind gefesselt und geknebelt, Meister.« »Ich - also gut, jetzt aber schnell. In vier Stunden fliegt uns der Laden hier um die Ohren.« »Hat die Nachricht Theresia erreicht?« »Ja, aber auf ziemlich umständliche Weise. In vier Stunden wird das Geschrei hier groß sein. Ich schätze mal, kurz nach der Morgenkaffee - 341 pause. Die Sicherheitsregulatoren haben Glück, wenn sie heute braune Hosen tragen, mehr kann ich dazu nicht sagen.« »Ich verstehe nicht, Fras.« »Ach, gebt mir einfach nur den Schlüssel. Wißt Ihr, wo wir uns verstecken können?« »Ja, Meister.« Als sie schließlich auf dem Speicher in Sicherheit waren, entspannte sich Glasken ein wenig. »Jetzt können wir nur noch abwarten«, sagte er. »Ach, apropos: Wo ist denn die Agentin, die Zarvora zu Euch gesandt hatte? Die sollte sich jetzt auch in Sicherheit bringen, denn bald bricht hier das Chaos aus.« »Sie war eine Verräterin. Ich habe Euch gerächt, Meister Ich habe sie dem Ruf ausgeliefert.«
»Was zum Teufel sagt Ihr da!« »Ich habe sie einst geliebt. Ich liebe sie immer noch.« »Ihr liebt - Darien!« Glasken wurde blaß. »Ich -« »Ach, seid doch still, verdammter ghanesischer Schwachkopf. Habt Ihr gelesen, was mir die Hoheliber geschrieben hat?« »Es war verschlüsselt, Meister.« »Aber aber - nein, ich sage es Euch nicht, sonst begeht Ihr irgendeine Dummheit und macht alles nur noch schlimmer.« Glasken saß schweigend da, dachte nach und wog die Risiken ab. Ilyire wurde zusehends unruhig. »Ilyire, wieviele Waffen habt Ihr dabei?« »Zwei doppelläufige Morelacs.« »Ah ja, die Lemorel-Spezialausführung. Gebt sie mir - und auch das Wurfmesser.« »Meister, was habt Ihr vor?« »Ich will mich umbringen, Dummkopf, was denn sonst?« »Aber nicht ohne meine Hilfe!« »Vielen Dank für das freundliche Angebot, aber - Hey, wer ist denn das?« »Wo?« Als sich Ilyire umsah, schlug Glasken ihn mit dem Pistolengriff nieder. Er fing den Ghaner auf und legte ihn auf den Boden. »Beim Ruf - nach Maralinga 1701 ist das immer noch ein gutes Gefühl.« - 342 Bruder Alex starrte auf seine Notizen und Abschriften, wie betäubt vor Entsetzen. Die Australikaner fochten einen Krieg aus, an dem über eine Viertelmillion Soldaten beteiligt waren und bei dem es in den ersten Monaten bereits Zehntausende Tote gegeben hatte. In Mounthaven waren Kriege ganz bestimmten Ritualen unterworfen und wurden von Luftlords und Scharen von Wächtern nach sehr strengen Regeln ausgefochten. In Mounthaven würden bei einer kriegerischen Auseinandersetzung allerhöchstens ein paar Dutzend reiche Edelleute ums Leben kommen, die Australikaner aber brannten ganze Städte nieder. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hegte die Bevölkerung des fernen Kontinents auch noch einen religiösen Abscheu vor Verbrennungsmotoren jeglicher Art, während die gesamte Gesellschaft, die Wirtschaft und der Adel von Mounthaven auf den mit Dieselmotoren betriebenen Jagd- und Segelschwingen des Adels beruhte und auf den von Händlern und Bürgerlichen genutzten Dampfstraßenbahnen. Den ritterlichen Luftkrieg gab es seit über tausend Jahren, und dennoch betrachtete ein ganzer, riesiger und bevölkerungsreicher Kontinent sie als Häretiker und Unholde. Am Verheerendsten aber war es gewesen, ausgerechnet mit einer Gruppe, die sich die Radikalen nannten, Kontakt aufzunehmen. Sie behaupteten, eine verfolgte Minderheit zu sein, und verlangten Zugang zu den technischen Errungenschaften von Mounthaven. Sie waren mit Steinschloßpistolen bewaffnet, und Bruder Alex hatte ihnen versehentlich von Jagdschwingen erzählt, die mit Rückstoßkanonen bewaffnet waren, die dreihundert Schuß pro Minute abfeuern konnten. Sie wollten mehr wissen, wollten Einzelheiten, technische Beschreibungen, Ideen ... Sie wollten ihre Feinde förmlich abschlachten. Bruder Alex trennte die Verbindung seines Funkgeräts mit der Stromquelle, baute es auseinander und zerschlug die Einzelteile. In das Feuer, in dem er die Bretter und Spulen verbrannte, warf er auch seine ordentlich gestapelten und versiegelten Notizen, Schaubilder und Tabellen, in denen verzeichnet war, wie er das Gerät gebaut und was es ihm enthüllt hatte. Hinter ihm fegte der junge Bruder James die letzten Bruchstücke zusammen und schüttelte angesichts der Verschwendung und des nunmehr verlorenen Wissens bedächtig den Kopf. Er war froh, daß er insgeheim die wichtigsten Passagen der Aufzeichnungen abgeschrieben hatte. — 342 — Die Arbeit im Kalkulor von Libris war nie so angenehm gewesen, daß Komponenten freiwillig Doppelschichten geleistet hätten. Es gab daher kein Verfahren, um eine Komponente daran zu hindern, eine zweite Schicht abzuleisten. Glasken eilte die Korridore entlang und verlangsamte dann seine Schritte, als er den Empfang vor dem Kalkulorsaal erblickte. Dort standen vier Orangedrachen, und ein Rotdrache hockte auf der Tischkante.
»Wo wollen wir denn hin?« fragte er, als Glasken lächelnd vorbeigehen wollte. »Ich, äh, mußte zum Arzt. Kopfschmerzen.« Der Rotdrache wandte sich seinem Register zu. »Hier ist aber niemand verzeichnet, der während der Schicht den Kalkulorsaal verlassen hätte.« »Ich, äh, hatte ja auch solche Schmerzen, daß sie mich raustragen mußten. Ich konnte nicht quittieren.« »In diesem Fall hätte deine Eskorte für dich quittiert, hier ist aber überhaupt nichts eingetragen. Wo ist denn deine Eskorte?« »Der, äh, ist noch beim Arzt. Der ... hatte auch Kopfschmerzen.« »Und jetzt geht es dir wieder gut?« »Nun ja, das ist ein guter Arzt, den Ihr hier habt. Nur das Beste für uns Komponenten.« Der Rotdrache stand auf und ging auf den viel größeren Glasken zu. Offenbar hatte er eine Überdosis Knoblauch zu sich genommen. Glasken wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Wand stand. Der Rotdrache hatte engstehende, rot geränderte Augen, und als er eine Hand hob, um Glasken mit dem Zeigefinger vor der Nase herumzufuchteln, entblößte er an seinem Handgelenk eine gepunktete Linie, und daneben stand eintätowiert: HIER ABSCHNEIDEN, SÜDMAURISCHES RUFFUTTER. »Ich glaube, du hast dich einfach nur verspätet, FUNKTION 3084, und zwar so sehr, daß du damit den Rekord von 1699 gebrochen hast. Geh rüber zu dem Buch da und trag dich unter dem roten Strich in der Zugangsspalte ein.« Glasken quittierte. Die fünf, die den Eingang bewachten, hatten ihren Spaß und würden ihn wahrscheinlich nicht durchsuchen. »Am nächsten Demütigungstag wirst du degradiert«, sagte der Rotdrache, als sich Glasken wieder aufrichtete. »Und jetzt rein mit dir und ran an deinen Abakus.« - 343 Statt zu den FUNKTION-Pulten oder in den Reserveraum ging Glas-ken schnurstracks zu dem Abort, auf dessen Tür FUNKTIONEN stand. Seit Schichtbeginn waren nun schon fast vier Stunden vergangen, und es wurde bald Zeit für die gestaffelte Kaffeepause. Glasken nahm DEFEKT-Schilder aus dem Putzmittelschrank und hängte sie an alle Kabinentüren, nur an eine nicht. In dieser Kabine wartete er, bis nahende Schritte zeigten, daß die erste FUNKTION hereinkam. Draußen hörte er eine Verwünschung, und dann wurde seine Tür aufgeschoben. Glasken rammte dem Mann eine Faust in die Magengrube und erwischte mit dem Ellbogen eine ganz bestimmte Stelle am Unterkiefer der FUNKTION. Sekunden später hatte er die DEFEKT-Schilder wieder von den anderen Türen entfernt und war in seine Kabine zurückgekehrt, um sein bewußtloses Opfer zu fesseln und ihm das Dienstabzeichen abzunehmen. Als Geste des Mitgefühls schnürte er dem Mann die Hose auf und ließ ihn in der Hocke über dem Loch zurück, bevor er über die von innen verriegelte Tür kletterte. Das Pult seines Opfers war deaktiviert, und nachdem Glasken es wieder in den AKTIV-Modus versetzt hatte, sah er zu den FUNKTIONEN links und rechts und tippte sich dabei an die Stirn. Sie nickten, da sie nun glaubten, er sei eine Reservekomponente, die einen Mann mit Kopfschmerzen abgelöst hatte. Ein Blick auf die Register verriet Glasken, daß gerade mit Hilfe von Entschlüsselungsalgorithmen schwere diagnostische Arbeit geleistet wurde. Sie waren ihm bereits auf die Schliche gekommen. Er vermutete, daß bereits Fallen für das Kodemuster gestellt waren, das er verwendet hatte, um die Nachricht nach Seymour zu senden, aber er mußte das Muster und sogar auch die Adressierung noch einmal verwenden, wenn er mit Macedón in Verbindung treten wollte. Seine Finger flogen über die Abakuskugeln; dann richtete er die Register, schaltete sich in den Datenübertragungsstrom ein und begann seine Ausgaberegister so einzustellen, daß sie mit dem Signalfeuernetz verbunden wurden. Sie würden die Nachricht sicherlich oben auf der Signalfeuerplattform abfangen - und dann hielt er inne und dachte nach. Gab es eine direkte Verbindung nach Euroa? Er stellte eine Weiterleitungs-Zeichenfolge zusammen, die reine Mutmaßung war. Dann langte er unter sein Hemd und zog die Hähne der beiden Morelacs zurück. Mit nachdrücklichem Klicken schickte er den Inhalt seines Ausgaberegisters auf die Reise.
Glaskens rechtmäßige Arbeit türmte sich mittlerweile, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein Regulator nachsehen kam. Glasken - 344 mühte sich, seinem Gedächtnis Erinnerungen an Signalfeuerhandbücher zu entlocken - einem Gedächtnis, das nie sonderlich erpicht darauf gewesen war, sich diese einzuprägen. Bei der normalen Weiterleitung -aber nein, es herrschte ja Krieg, und jede Übertragung wurde überprüft. Sie würden mitbekommen, daß er erneut den anormalen Kode verwendete, und dann würden sie ein HALT-Signal direkt nach Seymour senden. Es sei denn, sie waren durch irgend etwas abgelenkt. Hektisch gab er die ersten beiden Verse eines Trinklieds der Universität von Rochester in diesem Kodemuster ein und leitete sie direkt nach Seymour und zu den neun Türmen dahinter weiter Und schickte alles ab. Nur Sekunden später klingelte auf der Plattform über ihm ein Glöckchen. Sie hatten die Nachricht empfangen. Nun würden jeden Augenblick Regulatoren kommen, um ihn festzunehmen. Was blieb ihm jetzt noch zu tun? Er zog eine Morelac und feuerte auf die große Kolbenuhr Inmitten der Schreie und Rufe, die auf seinen laut widerhallenden Schuß folgten, zischte etwas an Glaskens Ohr vorbei und schlug in sein Ausgaberegister ein. Er wirbelte herum und feuerte den zweiten Lauf auf die Beobachtungsplattform ab. Eine Wache kippte über das steinerne Geländer, schrie auf und stürzte auf die Pulte hinunter Leitende und deshalb nicht angekettete Komponenten eilten nun panisch hin und her, während die niederen Komponenten unter ihren Pulten und Bänken Schutz suchten. Eine andere Wache feuerte, und eine FUNKTION links von Glasken ging zu Boden. Sie schießen auf gut Glück, dachte er als er die zweite Morelac zog und die Hähne überprüfte. Mit seinem Schuß traf er eine weitere Wache auf der Plattform, die auf dem Geländer zusammensank. Die übrigen wichen außer Sicht zurück. Dann tauchte eine andere Gestalt in einer Lücke im Mauerwerk auf. Sie war für Erweiterungen hineingeschlagen worden, die dank des Erfolgs des Kalkulors von Kalgoorlie nun nicht mehr nötig waren. Ein schwarzgekleideter Drachenbibliothekar Tarrin! Glasken zielte und drückte ab. Der Feuerstein zersprang, und die Pistole blieb stumm. »Diese verdammten Scheißwaffenschmiede soll doch alle die Pest holen!« schrie Glasken und löste hektisch den Feuerstein aus dem anderen Schlagbolzen. Als er schließlich wieder schußbereit war, war von Tarrin nichts mehr zu sehen ... und Glaskens Kopf umgab ein phantastischer Putz aus Pistolen- und Gewehrläufen und Holzstöcken mit Wachen oder Regulatoren am anderen Ende. Glasken legte seine Morelac sehr sehr langsam auf den Fußboden. - 344 Erst am späten Nachmittag kümmerte sich dann wieder jemand um ihn. Zwei Wachen und eine FUNKTION waren tot. Über hundert Komponenten waren verletzt, und trampelnde Füße hatten große Schäden angerichtet, ebenso wie Komponenten, die Mechanismen unter den Pulten beschädigten, als sie dort in Deckung gingen. Der Kalkulor von Libris war für den längsten Zeitraum seit seiner Indienstnahme außer Betrieb. Und alle, die Glasken hätten verhören können, wurden für die Reparaturen gebraucht. Glaskens erste Nachricht erreichte Theresia am Ufer der Phillip Bay. Die Anweisung darin lautete schlicht und einfach START, denn Aviadenagenten standen schon in Rochester bereit. Theresia stieg sofort ins Wasser um sich mit den Delphinen zu verständigen und ein Hilfsersuchen an sie weiterzugeben. Die Delphine beratschlagten sich, kamen zu einem Entschluß und handelten. Zum ersten Mal in der überlieferten Geschichte brandete ein Ruf über Rochester hinweg. Die Stadt war nicht dafür angelegt, bei einem Ruf Schutz zu bieten. Es gab dort keine entsprechenden Mauern, Haltegeländer, Wachvögel oder abgerichteten Terrier und niemand trug einen Leibanker oder einen Zeitschalter. Ilyire eilte durch die Korridore von Libris, öffnete Türen und schloß Tore auf, stets inmitten eines Menschenpulks, der ohne Sinn und Verstand weiter nichts wollte, als nach Süden zu gehen. Bibliothekare, Techniker, Wachen, Verwaltungskräfte und Leser stapften auf die Straßen von Rochestet hinaus und schlössen sich der Menschenmenge an, die in Richtung Südstadt unterwegs war. Eine Ringstraße entlang der Stadtmauer führte zum südlichen Stadttor und auf die breite Steinbrücke über den flachen See. Das Haupttor war
geschlossen, und nur wenige Menschen gelangten durch die kleine Tür daneben hinaus. Ilyire lief zum Torhaus, wo er Hebel umlegte und Seile kappte, bis es ihm gelang, das Tor hochzukurbeln. Als es zwei Meter weit angehoben war, blockierte er mit der Diensthellebarde des Torwächters die Winde. Die Menge strömte unter dem Tor hindurch und hinaus auf die Brücke. Dieser Ruf währte keine zwei oder drei Stunden, wie sonst überall auf dem Kontinent - nein, er dauerte fünf Stunden an. Libris leerte sich, und der Staatspalast leerte sich ebenso. Die Polizeiwache, die Märkte, die Universität, die Geschäfte, die Wohnhäuser, die Herbergen, die Schenken, die Bordelle - aus allen Teilen der Stadt zog es die Menschen fort. Einige wenige blieben, in irgendwelchen Ecken oder Sackgassen gefan - 345 gen, in Zellen eingesperrt oder am Pranger. Und die in den Zellen des Staatspalastes und von Libris saßen, waren Zarvora gegenüber absolut loyal, und es waren größtenteils Drachenbibliothekare. Nachdem vier Stunden vergangen waren, rollte Ilyire eine Wagenladung Schießpulver mitten auf die große Brücke, ließ dann das Stadttor wieder herab und verriegelte es. Mit dem Schießpulver sprengte er eine Lücke in die massive Steinbrücke. Es gab noch andere Brücken über den See und Dutzende Boote, aber die Südbrücke war breit und stabil, die beste Route für einen massierten Angriff. Mit einem Mal war der Ruf vorüber. Die meisten Menschen aus Rochester, Oldenberg und den kleineren Städten in der Nullzone des Stadtstaats Rochester fanden sich auf freiem Feld wieder, über zwanzig Kilometer von zu Hause entfernt. Nun begann eine kopflose Flucht in die Gegenrichtung. Es gelang Tarrin, einige hundert Drachenbibliothekare um sich zu scharen und mit ihnen die riesige Horde anzuführen. An Waffen hatten sie nur Pistolen und Säbel dabei; diejenigen, die Musketen getragen hatten, hatten sie fallenlassen, als der Ruf sie heimsuchte. »So etwas ist ja noch nie passiert«, sagte Tarrin keuchend, während er mit den anderen dahintrabte. »Könnte der Feind den Ruf steuern?« fragte ein Golddrache. »Unmöglich«, schnaufte Tarrin, der bereits ganz außer Atem war. »Wir müssen als erste zurück sein. Wenigstens war niemand besser darauf vorbereitet.« Doch die loyalen Drachenbibliothekare, die Ilyire soeben aus den Arrestzellen des Palasts und von Libris freigelassen hatte, waren sehr wohl besser vorbereitet. Ilyire hatte sie befreit und bewaffnet, sobald der Ruf vorüber war. Auch die Kalkulorkomponenten waren in Sicherheit gewesen, da sie ebenfalls eingekerkert waren, und Ilyire hatte ihre Regulatoren entwaffnet und angekettet. Die Drachenbibliothekare, die treu zu Zarvora standen, waren in der Unterzahl, hatten aber den Vorteil, daß sie sich hinter hohen Mauern verschanzen konnten und ihnen sämtliche Bombarden und Musketen zur Verfügung standen, die sie nur brauchen konnten. Und ihr Anführer war der Held der Brücke von Ravensworth: Hauptmann John Glasken. Zarvora hatte ebenfalls bereitgestanden, mit vier kleinen Funkensendern, die rund um Rochester stationiert waren. Als der Ruf die Stadt ereilte, wurde sie informiert und begann mit ihren Truppen auf Galee - 345 renzügen vorzurücken. Die Kämpfe in den Vororten von Rochester und rund um den See zogen sich etliche Tage hin, aber als sich Zarvoras Truppen erst einmal an Gleitbahnzentren, die Tarrins Kontrolle unterstanden, vorbeigekämpft hatten, war an ihrem Sieg nicht mehr zu rütteln. Tarrin war kein Krieger, und diesmal verlangte die Lage eher taktische als strategische Fertigkeiten. Er wurde festgenommen und sehr schnell vor ein Kriegsgericht gestellt und verurteilt, und baumelte bereits am Galgen, als man Jefton fand, der sich in einem Schuppen in der Nähe von Euroa versteckt hielt. Der Bürgermeister-Seneschall konnte nur von seinesgleichen verurteilt und gerichtet werden, und erst Monate später saßen die versammelten Bürgermeister der Südostallianz über ihn zu Gericht, knieten dann in ihren prachtvollen Gewändern nieder und hoben auf Befehl von Oberbürgermeisterin Zarvora Cybeline ihre Musketen.
Straßenkämpfe wüteten immer noch in den Vororten von Rochester, als Zarvora die ummauerte Stadt über eine Fußgängerbrücke betrat. Begleitet wurde sie von Denkar, Bouros und einigen Dutzend Tigerdrachen. Glasken war nirgends zu entdecken, befehligte aber dem Vernehmen nach das Bombardenfeuer von der inneren Stadtmauer aus auf Ansammlungen von Rebellen in den Vororten am See. Zarvoras Gruppe trennte sich nach einer eiligen Besprechung, und Bouros brach zu der Artilleriestellung auf. Der Bürgermeister von Kalgoorlie hatte Glasken noch nie zu Gesicht bekommen und glaubte fälschlicherweise auch, so berühmt zu sein, daß ihn jedermann erkennen würde. »Wo ist dieser Glasken, der meiner Schwester ein Kind gemacht hat?« fragte er die Bombardiere. Von überallher tauchten Musketen auf und wurden auf Bouros gerichtet. »Laßt unseren Hauptmann in Ruhe und haut ab«, sagte einer mit starkem Highland-Akzent. »Ja, paßt auf, was Ihr sagt, Ruffutter aus Kalgoorlie«, fügte ein gebildeter Rochesterianer hinzu. »Wenn Ihr unseren Hauptmann anrührt, blasen wir Euch die häßliche Fresse weg!« rief ein Südmaure. Bouros überlegte kurz. Regel Nummer eins im Ingenieurswesen: die funktionalen Anforderungen erfüllen. »Fras Glasken!« schrie Bouros, so laut er nur konnte. »Eure Dame liegt in den Wehen! Schnell zum Signalfeuerturm!« - 6io Ein großer, kräftig gebauter Mann zuckte zusammen und lief dann in Richtung Turm davon. Glasken stolperte aus dem Aufzug auf die Signalfeuerplattform, keuchend und rot im Gesicht. »Glasken!« rief Zarvora vom Signalfeuersender aus. »Wollt Ihr Jemli Milderellen zu Eurer rechtmäßig angetrauten ersten Frau nehmen?« »Wer - ich? Und was ist mit ihrem Mann?« fragte Glasken zurück. »Meine Schwarzen haben ihn vergangene Woche aufgesucht und überredet, ein Ehebruchsgeständnis zu unterschreiben«, sagte Zarvora und rieb sich die Schläfen. »Sie sind geschieden.« »Dann ja!« Denkar führte ihn zu Zarvora hinüber die die Nachricht eingab. »Und jetzt warten wir«, schloß sie. »Auf die Signalfeuernachricht aus Kalgoorlie warten?« rief Glasken. »Ehe die Antwort kommt, ist mein Kind doch erwachsen und schon halb mit dem Studium fertig - und immer noch ein Bastard.« »Dem ist nicht so, Fras«, versicherte ihm Denkar. »Unten im Turm von Kerang befindet sich eine Funkeinheit, und die steht mit einer weiteren im Palast von Kalgoorlie in Verbindung.« Zarvora rieb sich den Kopf. Hinter ihrem linken Auge machte sich eine Migräne breit. Sie schien binnen Wochen um Jahre gealtert zu sein. »Ich werde Euer Kind für ehelich erklären, weil ich Euch viel zu verdanken habe, Glasken«, sagte sie mit heiserer Stimme, »aber könntet Ihr jetzt endlich seßhaft werden und Euer Liebesleben in Ordnung bringen?« Zarvora spähte geduldig durch das Signalfeuerfernrohr während Denkar ihr mit einem feuchten Handtuch den Nacken abrieb. Sie las vor, was der ferne Turm funkte, und ersparte sich die Mühe, das Lochstreifengerät zu benutzen. Glasken lag in der Nähe, den Kopf an eine Säule gelehnt. »Es ist ein Mädchen, Jemli ist wohlauf, Geburtsgewicht ... fünf Komma acht Kilo! Die arme Frau. Hm, falsche Blutgruppe für Ilyire, aber die richtige für Euch.« »Könnt Ihr eine Antwort senden?« fragte Glasken. »Und eine Aviadin«, fuhr Zarvora fort und sah von Minute zu Minute schlechter aus. - 6ii »Wie wollt Ihr sie nennen?« »Sie soll Lessimar heißen, nach meiner Stiefmutter« Denkar rüttelte an der Tür des Arzneimittelschranks. Als sie sich nicht öffnen ließ, zog Glasken seine Gimley Kaliber 40 und schoß das Schloß auf. Zarvora ließ langsam die Hände von den Ohren sinken, zog einen Schlüssel aus der Jackentasche und warf ihn Glasken zu. Denkar entfernte das zerschmetterte Schloß und
nahm dann einen Krug aus dem Schrank. Nachdem er etwas von dem Whisky in zwei Meßgläser gegossen hatte, reichte er Glasken den Krug. »Lameroo? Medizinischer Roggenwhisky?« brummte Glasken und zog den Korken heraus. »Wozu denn das? Wollt Ihr meine Verbände wechseln?« »Auf Lessimar Glasken«, erklärte Denkar und hob sein Glas. Zarvora tunkte vorsichtig eine Fingerkuppe in ihr Glas und leckte daran. Glasken nahm einen großen Schluck. »Jemli und ich sind dem Haartest zufolge Menschen«, sagte Glasken, nachdem sich sein Husten gelegt hatte. »Das war bei meinen Eltern auch so«, versicherte ihm Denkar »Es kommt sehr selten vor aber auch Menschen können Aviaden zur Welt bringen. Genototemforscher können das erklären.« »Als Oberbürgermeisterin habe ich auch die Behignisse eines Richters. Ich habe auf dem Weg hierher diese Blanko-Heiratsurkunde mitgenommen, und ...« Sie füllte das Pergamentformular mit dem Gänsekiel aus, der neben dem Dienstplan der Plattform gelegen hatte, und überreichte es Glasken. Einen Augenblick später war er fort, auf der Suche nach besserer Gesellschaft für eine Feier »Auch noch hochschwanger hat sich Jemli mit Höflingen umgeben, vor allem mit Costassian«, bemerkte Zarvora in kühlem Ton. »Ilyire ist nicht mehr da und kann sie nicht mehr beschäftigen«, erwiderte Denkar. »Nein, das ist es nicht. Glasken hat sie in eine Welt über ihrem Stand eingeführt, hat sie gelehrt, mit hochgeborenen, reichen Niemanden zu verkehren, die keinerlei Träume oder Visionen haben. Jetzt will sie auch einen Landsitz und einen reichen Gatten mit einem Titel.« »Glasken entspricht doch diesen Kriterien. Er bringt es bestimmt eines Tages noch zum Bürgermeister« »Und wird dabei immer der alte Glasken bleiben. Irgendwann wird - 347 sie eine gewisse Vornehmheit erwarten, und dann gibt es Probleme. Ich habe ihm dennoch gegeben, was er wollte, auch wenn es womöglich nicht das ist, was er braucht.« In den Wochen nach Tarrins Niederlage wurden zahlreiche Verträge und Abkommen unterzeichnet. Das Südmaurenreich wurde in eine Reihe kleiner Stadtstaaten und Emirate aufgeteilt, und dem Emir von Cowra blieb nur sein Emirat und weiter nichts. Und viele der neuen, kleineren Staaten waren der Südostallianz wohlgesinnt. Die Ghaner aus Alspring begannen in ihre Wüstenstädte heimzukehren, weniger als Besiegte als vielmehr mit der Aussicht auf etwas Besseres als Eroberungen. Der ein halbes Jahr lang währende Versuch, das Personal der Great Western unter die Knute zu zwingen, hatte sich als grandioser Fehlschlag erwiesen. Viele Ghaner waren inzwischen derart hingerissen von den Breitspur-Windund Galeerenzügen, daß sie die Wüste nach vorzeitlichen Gleisen und möglichen Streckenverläufen absuchten. Eine Breitspur-Gleitbahnstrecke sollte Alspring künftig mit Woomera verbinden, und bis dahin war mit Kamelkarawanen noch viel Geld zu verdienen. Die Verheerungen in Ravensworth wurden zum Thema zahlreicher Studien, und Anfang August kam eine multilaterale Konferenz in Griffith zu dem Schluß, daß die Ursache in einem Übermaß an leitfähigem Rauch von den vielen Kochstellen, in Kombination mit den ionisierten Flugbahnen der Mörsergranaten und der Nähe einer großen Menge von Waffenmetall zu sehen sei. Dies habe massive, örtlich beschränkte Blitzschläge zur Folge gehabt, was auch bewies, daß das Verbot von Dampfmaschinen auf Physik beruhe und nicht auf religiösem Mystizismus. Metall, Dampf und Rauch wurden zu einer todbringenden Kombination erklärt. Es war eine ganz entschieden törichte Idee, Schwerindustrie an einem Ort zu konzentrieren oder für den Antrieb von Zügen Dampfmaschinen zu verwenden. Zarvora, Denkar und Bouros wußten es besser, beschlossen aber zu schweigen. Sie hatten begriffen, daß die Spiegelsonne, das riesige Band um die Erde, dessen ausbaufähige Oberfläche größer war als die des ganzen Mondes, ein lebendiges, denkendes Wesen war. Da der Krieg nun vorüber war, wandten sie sich der Frage zu, wie man mit ihr in Verbindung treten konnte. Es
dauerte einige Zeit, aber dann wurde der Kontakt hergestellt und ein Übersetzungskode vereinbart. - 348 Die Spiegelsonne hatte die Funksender in dem ansonsten leblosen Weltall gehört. Als Dolorian aus Ravensworth die Nachricht gesandt hatte, daß Niederlage und Tod unmittelbar bevorstünden, hatte die Spiegelsonne diese Worte so verstanden, daß Verbündete der Wandersterne eine Mitintelligenz angriffen. Sie feuerte gebündelte Hitzestrahlung auf das Gebiet, von dem Dolorian berichtet hatte, daß dort die feindlichen Streitkräfte stünden. Und die Spiegelsonne war auch nicht die einzige Stimme, die über Funk zu ihnen drang. Auf einem anderen Kontinent betrieb Col-Arado von einem christlichen Kloster aus einen Sender Bevor er mit einem Mal verstummte, hatte er von einer großen und fremdartigen Zivilisation gesprochen, die sich dort befand, wo früher die amerikanischen Rocky Mountains gewesen waren. Das Zusammenspiel der Vermächtnisse der vorzeitlichen Zivilisationen überstieg längst alles, was sich Zarvora in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. »Niemand außer dir sollte über einen Schlüssel zur Spiegelsonne verfügen«, sagte Denkar zu Zarvora. »Ich hätte sie als Waffe eingesetzt, aber du hast es nicht zugelassen. Damit hast du dir das Recht erworben, mit ihr zu verhandeln.« »Vielleicht war es nur meine Schwäche«, entgegnete sie. »Dann ist es eine Schwäche, von der wir alle viel lernen können. Wie geht es mit der Spiegelsonne jetzt weiter?« »Wir werden sie weiter studieren und die Kommunikation verbessern. Ich werde einen Bouros-Kalkulor als Verschlüsselungsgerät benutzen. Er kann in dem alten Kalkulorsaal untergebracht werden.« »In diesem Saal befindet sich aber immer noch der Kalkulor von Libris, Zar.« »Der ist nicht mehr schnell und genau genug und muß stillgelegt werden. Die Komponenten bekommen eine Generalamnestie und jeder einen Beutel Goldmünzen.« »Aber Zar viele wollen da gar nicht mehr weg, weißt du nicht mehr? Tarrin hat kurz vor dem Krieg versucht, den Kalkulor aufzulösen, und die Komponenten haben sich drinnen verbarrikadiert. Sie haben den Kalkulor von Libris gerettet, damit du ihn im Krieg gegen Lemorel einsetzen konntest, und es sind immer noch fünftausend Komponenten, die bleiben wollen. Das sind eine Menge fähiger und begabter Leute, Zar.« Zarvora schaute ihn an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Sie brauchte einen Moment, um eine Antwort zu formulieren. - 348 »Für mich war er immer nur ein Werkzeug ... und jetzt erzählst du mir, daß er denen, die darin leben, eine Welt ist.« »Vielleicht keine Welt, aber ein Zuhause.« »Also gut, ich habe diesen Krieg nicht geführt, um anschließend meine Truppen aus ihrem Zuhause zu vertreiben. Sag mir, was ihnen gefallen würde.« Die Komponenten des Kalkulors waren eher verdrießlich gestimmt, als sie den Befehl SYSTEM HALT befolgten und sich dann mit den dienstfreien Kollegen versammelten, um einer Ansprache Zarvoras zu lauschen. Als die Menschenrechtsverbände von Rochester und der Südostallianz versucht hatten, den Kalkulor zu zerstören, hatten sie sich vorstellen können, daß da irgend etwas nicht stimmte. Bei Zarvora aber gab es keinerlei Zweifel. »Ich wünschte, es wäre eine neue Konfiguration«, sagte PORT 3A traurig, während sie dort saßen und warteten. »Wir könnten uns draußen hin und wieder treffen«, schlug MULTIPLIKATOR 17 vor. »Jeder bringt einen Abakus mit, und dann betreiben wir wieder so eine Maschine.« »Oh ja, das könnten wir im Versammlungssaal der Bibliothek von Echuca machen. Wir könnten ein paar Drachenbibliothekare einladen, die dann mit Stöcken zwischen uns auf und ab gehen und jeden schlagen, der einen Fehler macht, und hin und wieder eine Komponente in den Besenschrank sperren, so als Einzelhaft.« »Ein paar von uns finden die Idee gar nicht so bescheuert. Ah, da kommt sie ja.«
Diesmal gab es Beifall für Zarvora, kein geducktes, furchtsames Schweigen. Sie betrat das Podium und sprach mit gedämpfterer Stimme, als sie es gewohnt waren. Viele Komponenten hielten sich die Hände hinter die Ohren, um sie besser verstehen zu können. »Komponenten der großen Maschine, die da Kalkulor genannt wird, heute ist ein Schicksalstag für euch alle. Heute werdet ihr in die Freiheit entlassen, aber frei zu sein bedeutet nicht, daß ihr nicht weiterhin im Kalkulor von Libris arbeiten könnt.« Das löste aufgeregtes Gemurmel aus. »Einige von euch wissen vielleicht, daß ein neuer Elektrokraftkalkulor aus Kalgoorlie hierhergebracht wurde. Er ist tausendmal kleiner als der Kalkulor von Libris, aber auch tausendmal schneller. Stellt euch nun - 349 euren Kalkulor in seiner gegenwärtigen Form vor, um das Tausendfache erweitert. Der Bedarf an Regulatoren und Technikern wäre immens. Mit dem Elektrokraftkalkulor verhält es sich in gewisser Weise ganz ähnlich. Ich habe einen großen Bedarf an erfahrenen Fachleuten, die Programme, die im Kalkulor-Protokoll geschrieben wurden, in die Sprache des Elektro-kraftkalkulors übertragen, in den Numerischen Kalkulor-Befehls-Dialekt, kurz NKBD. Das ist eine gewaltige Aufgabe, aber es geht noch weiter. Bürgermeister Bouros aus Kalgoorlie schätzt, daß sich die Rechengeschwindigkeit im Laufe des nächsten Jahres um das Zweihundertfache steigern wird.« Wiederum ungläubiges Gemurmel. »Diejenigen von euch, die in Libris bleiben, werden sich für das Gehalt eines Regulators um den neuen Elektrokraftkalkulor kümmern. Das wird eine anstrengendere Arbeit sein, und ihr werdet nicht mehr blind Befehlen folgen. Ihr werdet selbständig denken müssen. Laßt euch mein Angebot durch den Kopf gehen - ihr habt fünf Tage, es euch zu überlegen. Und vielen Dank noch einmal für die Arbeit, die ihr hier als Seelen dieser großen Maschine, des Kalkulors von Libris, geleistet habt. Ihr habt die Welt verändert.« Die Komponenten hatte bereits begonnen, sich untereinander zu unterhalten. Zum ersten Mal seit zehn Jahre erlebte Zarvora, daß man ihr nicht zuhörte. »Dann ist es also doch nur eine neue Konfiguration«, sagte PORT 3A. »Neue Konfiguration, so ein Quatsch, das ist ein vollständiger Umbau«, entgegnete MULTIPLIKATOR 17. »Ob sie wohl schon irgendwelche Handbücher oder Schaubilder haben?« »Seht mal da, am Eingang. Das ist doch FUNKTION 9.« »Hey, hallo, FUNKTION 9!« rief MULTIPLIKATOR 17, als sie beide zu Denkar hinübereilten. »Wo hast du denn die letzten anderthalb Jahre gesteckt?« »3A, 17, guten Tag. Werdet ihr bleiben?« »Oh ja, die brauchen mich doch hier«, sagte PORT 3A. »Das ist ja alles schön und gut bei einem Modell im Spielzeugformat, aber doch nicht in den Ausmaßen des Kalkulors von Libris.« »Von wegen. Wir haben seit Monaten Prototypen in Betrieb. Ich habe die Sprache NKBD selbst entwickelt. Damit lassen sich Programme schneller erstellen, denn man kann alles in numerischen Zeichen niederschreiben.« - 6i6 »Numerische Zeichen?« sagte MULTIPLIKATOR 17. »Wann können wir das sehen?« Ein Pulk aus Komponenten und Regulatoren scharte sich um sie. Zarvora erbat sich noch einmal die allgemeine Aufmerksamkeit. »Ich brauche Freiwillige, die Kisten hereintragen, Galeerenzüge antreiben und Pulte wegräumen, um Platz zu schaffen.« Ein Wald von Armen wurde hochgerissen. Und so fand der große Kalkulor von Libris ein eher unfeierliches Ende, als die Komponenten die Pulte, Drähte, Gestelle und Mechanismen in Stücke hackten, während andere Kisten hereintrugen, die Relais, Stecker und Elektrokraftkabel enthielten. Dann begann unter Denkars Anleitung die mehrtägige Montage, bis schließlich die ersten Probeberechnungen die Relais klappernd zum Leben erweckten.
Mit Hilfe der Elektrokraftkalkuloren in Kalgoorlie und Rochester stellte Zarvora eine Reihe von Nachrichten im vorzeitlichen ASCII-Kode zusammen und sandte sie über Funk an das Spiegelsonnenband. Damit wurden Übertragungsprotokolle geschaffen, die ihren Funkverkehr abhörsicher machen sollten. Zunächst war das eine undankbare Tätigkeit: Zwischen zwei einander sehr fremden Intelligenzen wurden zögerlich verwirrende Funksprüche ausgetauscht. Das Band arbeitete auf Japanisch, mußte es dann ins Englische und schließlich Austarische übersetzen. Deshalb hatte es nach Dolorians verzweifeltem Funkspruch nach Oldenberg so lange gedauert, bis das Band einen Großteil der Armeen der Südmauren und Alspringer ausgelöscht hatte. Dank Zarvoras Unterricht verbesserte die Spiegelsonne ihr Austarisch, aber dennoch fiel es der Spiegelsonne auch weiterhin schwer sich Leben auf der Erdoberfläche vorzustellen. Letztlich war es dann Zarvora, der dafür eine Lösung einfiel. Glasken spähte durch den Vorhang seines Zimmers im Staatspalast von Rochester. Vier Stockwerke unter ihm verlieh die Oberbürgermeisterin auf dem Ehrenhof Orden an verdiente Kämpfer Ilyire stand hinter Glasken und hörte nur die Beifallsrufe und die Musik der Kapelle. »Hey, da ist einer ihrer Geheimagenten. Er hat eine Maske auf dem Gesicht«, sagte Glasken. »Den Orden kann ich von hier aus nicht erkennen.« Er drehte sich zu Ilyire um. »Kommt, seht Euch das an, Ihr wißt ja gar nicht, was Ihr verpaßt.« »Mein Platz ist hier, Meister.« - 350 »Gebt Ihr mir immer noch Rückendeckung?« »Ihr habt Feinde, Meister.« »Und was ist mit Eurem Rücken?« »Den bewache ich auch, damit ich Euren bewachen kann.« Glasken schob wieder den Vorhang auseinander und schaute hinab in den Hof, wo Feldwebel Gyrom von der Oberbürgermeisterin eben die für Glasken bestimmten Orden entgegennahm. Gyrom selbst erhielt auch einen Orden. »Was für ein Leben. Ich kann mir nicht mal in der Öffentlichkeit einen verdammten Orden verleihen lassen oder meine Familie besuchen, weil ich fürchten muß, daß irgend so ein Baelsha-Mönch hinter mir her ist. Wie soll ich denn öffentlich Varsellia zu meiner Nebenfrau nehmen?« Er sah sich zu Ilyire um. »Ihr müßt doch damit nichts zu tun haben, Ilyire.« »Das habe ich aber, Meister.« Ilyire sah entweder gekränkt oder schuldbewußt drein, Glasken war sich da nicht sicher. Er klopfte ihm beschwichtigend auf die Schulter, wieder einmal vergessend, wie leicht sein Aviadenfreund eigentlich war. Ilyire strauchelte, aber Glasken hielt ihn am Arm fest. »Dann wollt Ihr also ein Leben auf der Flucht führen und mich beschützen, weil ich der einzige bin, dem Ihr Unrecht getan habt und der noch am Leben ist? Darien fehlt Euch wirklich, die hätte Euch anderweitig beschäftigt.« »Meister, was geschehen ist, ist geschehen. Ich habe sie getötet. Ein fataler Fehler, nun nur noch eine Erinnerung an eine Liebe.« Glasken spähte wieder durch den Vorhang. »Hey, der Herold ist gestolpert, als er der Oberbürgermeisterin aus dem Weg ging. Bouros hat ihn aufgefangen. Jetzt steht er wieder, hat seinen Hut aber falsch herum auf. So ein lächerlicher Fatzke.« Glasken schloß den Vorhang. »Ilyire, ich gestehe, es gefällt mir, daß Ihr Klingen und Kugeln von meinem unwürdigen Leib fernhaltet, aber selbstsüchtig bin ich nicht. Wenn ich Darien von den Toten zurückhole, versprecht Ihr mir dann, daß Ihr mich in Ruhe laßt und statt dessen beispielsweise Frelle Cybeline bewacht?« »Meister, Ihr führt lästerliche Reden.« »Versprochen?« »Tot ist tot.« »Versprecht es!« - 6i350 »Also gut, ich verspreche es.« Ilyire schloß die Augen, und Glasken wußte, daß er von diesem Thema nichts mehr hören wollte. Als Ilyire die Augen wieder aufschlug, stand Darien vor ihm, die Hände an die Wangen gepreßt,
die Lippen zu einem unergründlichen Gesichtsausdruck geöffnet. Uber ihrer linken Brust war ein glänzender Orden an einem grünen Band angeheftet. »Meister, Meister, Ihr habt sie wieder zum Leben erweckt«, stammelte Ilyire, aber Glasken war fort. Darien hielt eine Karte in Glaskens Handschrift hoch. PASST AUFEINANDER AUF GELIEBTE FINDET MAN LEICHT, ABER LIEBE IST RAR. Glasken hatte über Signalfeuer eine Nachricht nach Macedon geschickt und die Aviaden gebeten, auf den Rufwegen nach Darien Ausschau zu halten. Die Aviaden halfen Menschen, welche die Ruftodesländer durchschritten, normalerweise nicht, aber sie schuldeten Zarvora den einen oder anderen Gefallen. Die schattenhaften Gestalten aus Baelsha hielten rund um Libris auch nach der Ordensverleihung noch tagelang Ausschau. Als aus Elmore gemeldet wurde, man habe Glasken dort gesehen, zog es sie schließlich in den Süden, aber ehe sie sich dem Flüchtigen nähern konnten, zog ein Ruf über die kleine Ortschaft hinweg und riß Glasken mit sich fort. Die Mönche folgten der Spur des Rufs und behielten die ankerlose Gestalt Glaskens dabei immer im Blick, gaben die Verfolgung aber schließlich auf, als sie die Ruftodesländer erreichten. Glasken war so gut wie tot. Zarvora betrachtete den Himmel über der Phillip Bay, und Thereslas Dolchzahnkatzen strichen ihr um die Füße und bewachten sie. Der Himmel war blau, keine Wolke und kein Vogel in Sicht. Sie wußte nicht, was sie erwarten sollte, aber die Spiegelsonne hatte genau diesen Ort und genau diesen Zeitpunkt genannt. Irgendwo in der Feme grollte Donner. Donner bei klarem Himmel! Das hatte etwas zu bedeuten. Mit ihrem Fernglas aus Messing und Silber suchte sie den Himmel ab. Als sie das Objekt schließlich erblickte, war es schon recht tief und vielleicht noch anderthalb Kilometer entfernt. Eine kleine weiße Kugel sank an einem roten, schirmförmigen Ding herab, und es sah aus wie ein Pusteblumensame im Wind. Es näherte sich dem Horizont, zeichnete sich deutlich vor den Wogen ab und landete dann platschend im Wasser - 351 Eine knappe Dreiviertelstunde später kamen einige Delphine in Sicht, die etwas mit sich durch die Wellen schleppten, das wie ein großes rotes Zelt aussah. Dahinter trieb eine angekohlte weiße Kugel träge auf dem dunklen Wasser. Theresia war als dunkle Gestalt zu erkennen, die von einem der Delphine gezogen wurde. Dann watete sie an Land, und weiße Haut schimmerte an einigen Stellen durch das schwarze Schmierfett, mit dem sie sich eingerieben hatte. »Wir müssen das Gewebe entfernen, das den Fall der Kugel gebremst hat. Es ist so glatt wie Glas, und meine Delphine stören sich daran. Sie haben es nur hierhergeschleppt, um es aus dem Wasser herauszubekommen.« Sie zogen die weiße Kugel aus dem Wasser und trugen sie zu einer nahen Hüttenruine. Zarvora betätigte einige numerierte Knöpfe neben der Stelle, an welcher der Fallschirm angebracht war, und oben in der Kugel öffnete sich eine Klappe. Darin befanden sich weiße, würfelförmige Päckchen, die sie herausnahm und in ihrer Tasche verstaute. »Was ist das?« fragte Theresia. »Das sind Geräte zur besseren Kommunikation mit der Spiegelsonne, eine Art Funk, den niemand abhören kann. Das Tuch, das den Fall gedämpft hat, erzeugt Elektrokraft, wenn man es im Sonnenschein ausbreitet. Die Spiegelsonne und ich erkunden einander.« Zarvora betrachtete die Beschriftungen auf einigen der Schachteln, öffnete dann eine und nahm etwas heraus, das wie ein Armreif aussah. Er war schlicht, kupferfarben und biegsam. Eine Reihe von Knöpfen und rechteckigen Feldern war darin eingelassen. »Das ist für dich«, sagte Zarvora und las sich die Anleitungen auf einem Blatt aus einem weichen, hautähnlichen Material durch. »Streck die Hand aus.« Zarvora reinigte Thereslas linkes Handgelenk mit medizinischem Roggenwhisky und einem Baumwollappen von der schwarzen Schmiere. Als sie einen Knopf berührte, schmiegte sich der Reif an das Handgelenk. »Das ist also das gleiche wie ein Funksender, der so groß ist wie ein Wagen?« fragte Theresia, hob ihr Handgelenk und betrachtete das seltsame Gerät skeptisch.
»Oh nein, das ist viel mehr. Es sendet Töne und Bilder und bezieht seine Energie aus deinem Blut oder deiner Körperwärme. Mit diesem Knopf da kann man es abschalten.« — 352 — »Dann bin ich also immer mit dir verbunden, Frelle Nebengemahlin?« »Und mit der Spiegelsonne, genau wie ich.« Zarvora legte ihren Armreif an, und sie probierten die Armreife im lokalen Modus aus. Schließlich wechselten sie den Modus und lieferten der Spiegelsonne die ersten Bilder der Erde aus menschlicher Sicht. Glasken hatte sich in Elmore dem Ruf ergeben und war in bewußtloser Entrückung gen Süden gewandert, innerhalb des Rufs in Sicherheit vor den Mönchen aus Baelsha, die ihn verfolgten. Eine zuvor abgesprochene Signalfeuerbotschaft war nach Süden gesandt worden, und wie schon Darien wurde er von den Aviaden aus Macedon gerettet und durch die Ruftodesländer geleitet. Nachdem sie einen unsichtbaren Vorhang durchschritten hatten, kam er wieder zur Besinnung und fand sich am Rande einer Ortschaft wieder. Es war ein kühler Wintermorgen, und der Himmel war wolkenlos. Die bunten, gleichförmigen Terrakottadächer schienen so gar nicht zu den grünen Weiten und der Wildnis des Ruftodeslandes zu passen. Dort empfing ihn Theresia. »Wir sind hier in einer Nullzone wie Rochester«, erklärte sie, als sie durch die Straßen gingen, »bloß daß wir hier in einem Ruftodesland sind.« Glasken bemerkte, daß Theresia die linke Hand oft in Schulterhöhe hob. Am Handgelenk trug sie einen seltsam aussehenden Armreif. »Eine angenehme Ortschaft, und hier gibt es auch einige hübsche Frauen«, bemerkte er und gab sich Mühe, etwas Begeisterung an den Tag zu legen. »Ach, da ist ja Bischöfin Pandoral«, sagte Theresia, als sie einer großen, hageren, aber liebenswürdig aussehenden Frau begegneten. »Was für ein Trio: Bischöfin Lessimar Pandoral, Äbtissin Theresia und Bruder John Glasken.« »Mein Sohn, ich habe dein Fortschreiten immer verfolgt, und meistens mit Stolz.« »Äh, danke ... aber warum ich?« »Weil du mein Sohn bist.« »Wie bitte?« »Euer Vater hat Euch angelogen, Glasken«, sagte Theresia. »Nein, ich habe in den Akten nachgesehen.« »Die Akten wurden gefälscht. Lessimar wurde kurz vor einem Ruf - 352 von einer wütenden Menschenmenge zusammengeschlagen - weil sie Aviadin ist. Sie floh nach Macedón und begann hier ein neues Leben. Euer Vater ließ die Akten der Stadt ändern, um vorzutäuschen, daß Ihr einer außerehelichen Affäre mit Jolene entsprungen seid.« »Dieser dürre alte Bock!« Lessimar breitete die Arme, aber Glaskens Knie gaben nach. Schließlich umarmten sie einander kniend auf der staubigen Straße. »Bruder Glasken, man sagt, du seist ebenso hart im Nehmen wie ich«, sagte Lessimar in seiner Umarmung. »Ich habe immer über dich gewacht.« »Immer?« fragte Glasken mit zitternder Stimme. »Immer. All die Frauen, all die Schlägereien und durchzechten Nächte -« »Aber immerhin habe ich meinen Abschluß gemacht!« Theresia stand noch eine Zeitlang mit verschränkten Armen dabei, das linke Handgelenk nach außen gedreht, und ging dann mit dem Bürgermeister davon, während sich immer mehr Menschen um das wiedervereinte Mutter-Sohn-Paar scharten. »Ein beeindruckender Kerl«, sagte der Bürgermeister. »Schade, daß er sich als Mensch erwiesen hat. Wir könnten ihn gut gebrauchen.« »Stimmt. Der Haartest hat ergeben, daß er ein Mensch ist, und er ist auch nicht so stark wie die meisten Aviadenmänner. Er hat zwar gelernt, dem Ruf in einem gewissen Maße zu widerstehen, ist dafür aber ebenso anfällig wie jeder andere Mensch auch.« »Nun, er dürfte für die Menschen von großem Nutzen sein, sobald er in Sicherheit dorthin zurückkehren kann.«
»Er hat Alpha zwei positiv, Gamma negativ.« »Sein Genototem? Nun, das ist nicht weiter verwunderlich. Wir müssen seine Nachkommen im Auge behalten, um zu sehen, ob sich einige davon als Aviaden erweisen.« »Sein erstes Kind ist Aviade, Bürgermeister - Gamma negativ. Wißt Ihr noch, was das bedeutet? Bei Menschenfrauen besteht eine gute Chance, daß er Aviaden zeugt, und die Vereinigung mit einer Aviaden-frau führt mit absoluter Sicherheit zu Aviadenkindem.« Der Bürgermeister bekam große Augen, und als er sich das Kinn kraulte, stand ihm der Mund offen. »Ich ... werde den Arzt mal eine kleine Liste zusammenstellen lassen. Danke, Frelle Theresia, vielen Dank.« - 353 Eine Stunde später hatte Theresia gepackt und war bereit zum Aufbruch. Sie schaute noch einmal bei Lessimar zu Hause vorbei, wo man für den Abend ein großes Fest vorbereitete. »Ihr solltet wenigstens noch heute bleiben«, beharrte Glasken, als Theresia ihm einen Kuß auf die Wange gab und seinen Schnurrbart zwirbelte. »Ihr seid doch hier der eigentliche Ehrengast.« »Solche Feste sind nichts für mich, Fras. Ich reise nach Norden, in die Geisterstadt Sidney. Für die Cetezoiden ist es ein heiliger Ort.« Glasken war erstaunt. »Sidney? Wir wissen, daß es eine große Stadt ist, aber es steht in keiner Verbindung zu den Meeresgeschöpfen.« »Um so mehr ein Grund für mich, dorthin zu gehen. Paßt gut auf Euch auf. Ich werde Euch in den nächsten Jahren im Auge behalten.« »Ich hatte befürchtet, daß Ihr so etwas sagt. Aber ich gehe nirgendwo hin, solange diese Schufte aus Baelsha noch hinter mir her sind. Das wird es mir sehr erschweren, meine Familie zu Gesicht zu bekommen.« »Macht Euch keine Sorgen, Glasken. Bürgermeister Bouros trifft sich in zwei Wochen mit dem Abt von Baelsha, und er hat ein paar sehr gute Argumente dafür den Todesbefehl gegen Euch aufzuheben.« »Das sind ja phantastische Neuigkeiten! Zwei Wochen, sagt Ihr? Sehr gut. Dann werde ich nach Kalgoorlie reisen können. Ich nehme mal an, Varsellia will sich weder über Signalfeuer noch über Funk mit mir vermählen lassen. Aber was ist mit Euch? Wann brecht Ihr auf?« »Fras Glasken, wißt Ihr noch, wie Ihr verschwunden seid, sobald Ilyire und Darien Euch den Rücken zuwandten?« »Ja.« »Nun, ich werde es genauso machen. Wir wollen uns jetzt verabschieden. Schnell, nehmt mich noch ein letztes Mal in die Arme, Glasken.« »Paßt gut auf Euch auf, und eßt keine seltsamen Mäuse«, sagte er als sie einander umarmten. »Und Ihr haltet Euch aus Scherereien raus, Glasken. Jetzt bin ich mal dran mit den schwachsinnigen Heldentaten. Ach, schaut mal da, der Arzt mit seiner reizenden Frau Vivenia und ihrer entzückenden kleinen Tochter die sogar schon laufen kann! Hallo, hallo!« Das Kind duckte sich furchtsam, als es Theresia sah, doch diese lachte nur. »Fras Glasken, Ihr bleibt ein paar Wochen in Macedon, habe ich gehört«, begann der Arzt. »Vivenia und ich haben uns gefragt, ob -« »Fras Arzt«, schaltete sich Theresia ein. »Dieser Mann kennt den - 353 Begriff >Genototem-Gastfreundschaft< noch nicht und weiß nichts von Euren Schwierigkeiten, das Aviaden-Genototem von Inzucht freizuhalten. Ich könnte mir da aber keine besseren Lehrer vorstellen als Vivenia und Euch. Warum unternehmt Ihr nicht gemeinsam einen Spaziergang in den Gärten des Signalfeuerturms?« Theresia war fort, als Glasken zurückkam. Zügig durchquerte sie die Ruftodesländer nach Norden, begleitet von Geschöpfen, die allen anderen Angst einjagten. Einige Tage später tauchte sie dann auf von Menschen bewirtschaftetem Ackerland auf und legte, ehe sie die Stadt Seymour betrat, das Gewand einer Inspektorin aus Libris an.
Sondians Führungszirkel war alles andere als erfreut über Zarvoras fast unumschränkten Sieg und sah darin eine erhebliche Bedrohung der eigenen Interessen. Als er sich in einem befestigten Kollektiv nahe der Geisterstadt Gambier in den Ruftodesländem versammelte, suchten seine Mitglieder eher nach Ideen, als von Fortschritten zu berichten. »Die Bombenanschläge sollten fortgesetzt werden«, meinte Theta 9. »Sie fördern die Feindseligkeit zwischen den Menschen und uns.« »Bringen uns aber keine Vorteile«, wandte Sondian ein. »Sympathisanten haben uns einige Geräte der Spiegelsonne zukommen lassen«, sagte Beta 2. »Geräte, die sich nicht auseinandernehmen und nachbauen lassen, und nur in sehr geringer Zahl«, höhnte Sondian. »Denkt nach! Wir brauchen bessere Strategien.« Delta 7 nahm einen kleinen Erdglobus zur Hand. Nach all den Jahrtausenden war er zwar alt und schmutzig und ramponiert, aber die Kontinente waren darauf noch deutlich zu erkennen. »Wenn wir diese Inseln nördliche des Kontinents überqueren könnten, würden wir Tausende von Kilometer Land erreichen. China und Sibirien«, sagte sie. »Dann noch eine ganz kleine Meerenge, und schon wären wir auf dem amerikanischen Kontinent mit seinen Flugmaschinen und Rückstoßkanonen. Wißt Ihr noch, was der Mönch über Funk angedeutet hat? Es gibt dort keine Aviaden. Einige wenige von uns könnten sie beherrschen.« »Allerdings ist es alles andere als einfach, das Wasser zu überqueren«, wandte Beta 2 ein. »Es gibt doch Heißluftballone.« »Die bleiben kaum eine Stunde oben und sind dem Wind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.« - 354 »Die Ingenieure von Macedon haben eine kleine, leichte Hoch-leistungsdampfmaschine entwickelt, die mit Ol betrieben wird -« »Die wäre aber selbst für den größten Ballon zu schwer.« Sondian hob einen Finger Die anderen verstummten. »Wenn man diese Dampfmaschine aber in ein Kanu einbauen würde, könnte man auch den schnellsten Fischen und Cetezoiden entkommen. Und an Land könnte eine sechsköpfige Besatzung das Kanu tragen.« »Aber Fras Sondian, auf diese Weise brauchte man zehn Jahre bis nach Mounthaven und Denver«, sagte Theta 9 und vollzog den Weg auf dem kleinen Globus nach. »Nun, dann haben wir keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Sondian und nickte Delta 7 anerkennend zu. In den elf Jahren nach dem Krieg änderten sich viele Dinge grundlegend, aber an der Oberfläche blieb alles beim alten. Die Aviaden lebten für sich in blühenden Städten und Farmen in den Ruftodesländem, und die Spiegelsonne lieferte ihnen ein riesiges, solarbetriebenes Segelflugzeug, das von ihren Schöpfern stammte. Ursprünglich dazu bestimmt, in den oberen Schichten der Atmosphäre zu kreuzen und Ozon zu erzeugen, war es nun dahingehend umgebaut, daß es Forschungsreisende der Aviaden aufnahm. Weit vor den Küsten liegende Inseln wurden entdeckt und besiedelt und boten den Aviaden dauerhafte Freistätten außerhalb der Reichweite der Menschen. Zarvora war weiterhin die einzige, die mit der Spiegelsonne in Kontakt stand, und kontrollierte die Gaben ihrer Schöpfer mit strenger Hand. Den Menschen blieben all diese Entwicklungen verborgen, und das Leben in ihren Staaten und Städten ging - mehr oder weniger - weiter wie zuvor. Die Funkensendertechnik wurde wieder ausgemustert und durch ein Dutzend kleiner versiegelter Sender von den Schöpfern der Spiegelsonne abgelöst. Es waren sehr leistungsfähige und kompakte Geräte mit jeweils hundert Kanälen, die sich aber nicht umstellen oder duplizieren ließen. Nach außen hin behauptete Zarvora, äußerst fähige Fachleute hätten sie in geheimen Werkstätten gefertigt. Die Wind- und Galeerenzüge verkehrten weiter die Geschäfte florierten, Verbrennungsmotoren unterlagen auch weiterhin dem Bann, und die elektrischen Kalkuloren wurden allmählich schneller, leistungsfähiger und größer Sondians Expedition nach Nordamerika verschwand spurlos. Im
- 355 fernen Mounthaven legten die Wächter auch weiterhin ihre mit Edelsteinen reich verzierten Fliegerjacken an und stiegen in ihren kleinen Jagdschwingen auf, um über ihrem Land zu patrouillieren oder sich mit Rivalen zu duellieren. Sie wußten nicht, daß die Wandersterne kampfunfähig gemacht worden waren. Die Spiegelsonne war ihnen ein Rätsel, und auf ihrem Kontinent gab es keinen einzigen Aviaden. Auf der anderen Seite der Erde rekrutierte und schulte Sondian auch weiterhin Hunderte von Agenten und entwarf Pläne, wie er Zarvoras Macht brechen und die Menschen Australiens versklaven konnte. Und die Waffen und Flugzeuge Mounthavens spielten in seinen Plänen immer noch eine große Rolle. Eines kühlen Wintertages im Jahre 1719 nach dem Großen Winter versetzte Zarvora ihren Tigerdrachen einen mächtigen Schrecken, indem sie sich von einem diplomatischen Empfang fortstahl und in den Straßen von Grifith untertauchte. So sehr sie sich auch mühten, es gelang ihnen nicht, die Oberbürgermeisterin zu finden, und die Frau, die sie besuchte, war tot. Zarvora hatte elf Jahre gebraucht, sie aufzuspüren. »Es stimmt, ich bin ein Deserteur«, sagte Torumasen, der ehemalige Feldarzt von Glaskens 105. »Und ich habe auch Dolorian hierher gebracht, auf neutrales Gebiet.« Er trug den Orden, den er sich vor über einem Jahrzehnt erworben, den er aber erst Minuten zuvor verliehen bekommen hatte. Sie standen auf dem kleinen Hof hinter seinem Haus, in dessen Mitte sich Dolorians Grabmal befand: ein prächtiger, lebensgroßer Marmorakt einer Frau, die auf einer roten Granitplatte ruhte, welche die Form eines großes Bettes hatte, beschirmt von einem Schieferdach. »Sehr hübsch, aber nicht so ganz, was ich mir für eine der größten Heldinnen aus der Zeit der Milderellen-Invasion gewünscht hätte«, sagte Zarvora. »Sie wollte es so, Frelle Oberbürgermeisterin. Sie wollte, daß man sie als schön, sinnlich und in der Blüte ihres Lebens in Erinnerung behalten sollte.« »Woher wollt Ihr das wissen?« »Sie starb nicht im Schlamm des Schlachtfelds. Ich habe sie wiederbelebt und sie auf einer Flußgaleere hierher nach Griffith gebracht. Dolorian lebte noch siebenunddreißig Tage und war auf dem Wege der Besserung, aber ... ach, Milderellens Kugel hatte eine Schlagader gestreift, und - 355 die platzte schließlich. Sie starb in einem bequemen Bett, im Schlaf und an meiner Seite. Und bis dahin hatte ich erfahren, was ihr gefiel. Oberbürgermeisterin.« Torumasen hob sein Weinglas, und Zarvora stieß mit ihrem Glas Quellwasser mit ihm an. Trotz der Kälte blieben sie vor dem getreuen Abbild Dolorians stehen. »Warum habt Ihr Euch mit mir in Verbindung gesetzt?« fragte Zarvora. »Ich habe eine neue Liebste, und wir werden bald heiraten. Und es wäre unanständig von mir, wenn ich meine Braut zu all dem hier heimführen würde, und deshalb wollte ich Euch bitten, Dolorians sterbliche Überreste und ihr Denkmal in den Heldenschrein von Rochester zu überführen.« Zarvora lachte, was nicht oft vorkam. »Die Hüter des Schreins werden Zeter und Mordió schreien ... aber warum nicht? Die Menschen sollten erfahren, daß Soldaten, die das Leben lieben, ebenso tapfer sein können wie jene, die das Töten lieben. Vielleicht sollte man jedoch im Hintergrund ein Mosaik anbringen, das Dolorian als Funkerin zeigt. Was meint Ihr?« »Eine ausgezeichnete Idee, Oberbürgermeisterin«, sagte Torumasen und trank einen Schluck Wein. Er bemerkte, daß sie zum Himmel emporsah. »Sie hat sogar die Spiegelsonne bezaubert«, sagte Zarvora wehmütig. »Das Band am Himmel ist ausgesprochen dünn geblieben«, sagte Torumasen, der sich immer gefragt hatte, ob Dolorian auch dafür verantwortlich gewesen war. »Bedeutet das, daß der große Winter nicht wiederkehren wird?« »Ja.« »Einfach nur ja?«
»Das ist eine komplizierte Angelegenheit, Fras Arzt. Die anglaische Zivilisation hatte versehentlich das Klima verändert, und als der Ruf begann, waren die Jahreszeiten bereits wärmer. Die Spiegelsonne stellte das riesige Unterfangen dar, der Erde einen Sonnenschirm zu bauen, doch wir haben uns an ein wärmeres Klima gewöhnt. In der Geisterstadt Sidney gibt es eine Ruine, das ehemalige Miozän-Institut. Wir haben herausgefunden, daß die Alten mit dem Genototem von Meeresgeschöpfen Experimente anstellten, genau wie sie sich auch selber veränderten. - 356 um uns zu erzeugen. Offenbar haben sie dabei eine Rasse von Wasserwesen mit erhöhter Intelligenz erschaffen, und -« »Aber wozu?« fiel Torumasen ihr ins Wort. Meist wurde er nach dem dritten Glas philosophisch, und inzwischen war er schon beim fünften angelangt. »Warum mehr Intelligenz in ein Tier hineinzüchten? Bessere Wolle oder mehr Milch, das schon, aber Intelligenz?« Zarvora seufzte und zuckte die Achseln. »Wir züchten ja auch intelligentere Emus und Terrier, die man besser dazu abrichten kann, vom Ruf ergriffene Hirten zurückzuhalten. Vielleicht waren diese Meereswesen dazu bestimmt, Fische zu hüten, so wie unsere Hüte-Emus und -Terrier sich an Land um das Vieh kümmern. Die Experimente gerieten wahrscheinlich außer Kontrolle, die Wesen erschufen den Ruf, und das war's dann.« »Aber was ist mit den Kriegen zwischen den Menschen?« flüsterte Torumasen. »Mit den Kernwaffen, die den nuklearen Winter auslösten?« Ich habe detaillierte Karten unseres Kontinents in Auftrag gegeben. In nur zwei Geisterstädten gibt es Krater, an denen der Erdboden zu Glas verschmolzen ist, so wie man es von diesen Bomben berichtet. Wenn man das auf den Rest der Erde hochrechnet, ergibt das einen schrecklichen Krieg, aber keinen Weltuntergang. In dem Chaos und der Panik nach den ersten Rufen müssen sich die Menschen gegenseitig die Schuld daran gegeben und ihre Flugmaschinen zu Vergeltungsangriffen losgeschickt haben.« In der Feme hörte man Terrier jaulen. »Ah, meine eifrigen Tigerdrachen mit ihren Spürhunden«, sagte Zarvora. »Ich werde Euer Haus nun verlassen und mich wieder zu ihnen gesellen.« »Ich habe mich wirklich sehr über Euren Besuch gefreut. Oberbürgermeisterin Cybeline«, sagte Torumasen, als sie sich in der Dunkelheit voreinander verneigten. »Früher dachte ich, Ihr wärt nur eine Despotin. Jetzt sehe ich, daß Ihr eine Vision habt.« »Eine Despotin bleibe ich dennoch«, schloß Zarvora. Sie zog ein seltsames, weiches Band aus ihrer Jackentasche. »Ich wünsche Euch noch ein langes Leben mit Eurer Liebsten, Fras Arzt. Nehmt das hier als mein Hochzeitsgeschenk.« »Das ist... So etwas habe ich ja noch nie gesehen«, erwiderte er und hob das weiche Band empor. - 356 »Das ist aus Spiegelsonnenmaterial. Wenn wieder einmal ein geliebter Mensch mit dem Tode ringen sollte, dann legt ihm dieses Band um den Hals. Bedenkt aber bitte, daß es sich nur einmal verwenden läßt.« Zarvora verließ das Haus und schritt langsam durch die schwach beleuchteten Straßen. Am Himmel glomm der trübe Schein der Spiegelsonne, aber es zog Nebel auf. Auf einem Balkon zielte ein Scharfschütze mit einer Muskete auf ihren Kopf. Er atmete langsam und gleichmäßig. Er atmete aus, hielt inne und spannte den Finger am Abzug. Ilyire rammte ihm ein Messer in den Rücken, tief ins Herz. Während Zarvora nichtsahnend weiterging, riß der Ghaner seinem Opfer eine Haarsträhne aus und rieb sie zwischen den Fingern. »Aviaden-Idiot«, flüsterte er, als er die Struktur erkannte, sprang dann hinab auf die Straße und lief Zarvora hinterher. Als er sie eingeholt hatte, hob er eine blutverschmierte Hand. »Habt Ihr das allein vollbracht?« fragte Zarvora. »Noch so ein radikaler Aviade«, sagte Ilyire mahnend. »Sie wollen Euch töten und gemeinsam mit den Schöpfern der Spiegelsonne gegen die Menschheit kämpfen. Eines Tages werden meine
Augen einmal nicht scharf genug sein. Oberbürgermeisterin. Dann werdet Ihr sterben. Ihr müßt Euch mehr in acht nehmen und mir helfen. Euch zu beschützen.« »Ach, Ihr irrt«, erwiderte Zarvora, legte ihm einen Arm um die Schultern und wies auf die Spiegelsonne. »Ich bin nicht nur sicher, ich bin auch unsterblich.« »Wieder eine Eurer Visionen, Oberbürgermeisterin?« seufzte er mißgelaunt. »Der Ursprung meiner Vision, Fras Ilyire. Zum zweiten Mal bin ich nun die erste Seele in einer großen Maschine.« - 357 -