ALEXANDER VON BERNUS
NOVELLEN Schloßlegende und andere ungewöhnliche Begebenheiten
Mit einem Nachwort von Sebastian P...
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ALEXANDER VON BERNUS
NOVELLEN Schloßlegende und andere ungewöhnliche Begebenheiten
Mit einem Nachwort von Sebastian Paquet
VERLAG HANS CARL NÜRNBERG 1
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bernus, Alexander von: Novellen: Schloßlegende u. a. ungewöhnl. Begebenheiten / Alexander von Bernus. Mit e. Nachw. von Sebastian Paquet. - Nürnberg: Carl, 1984. ISBN 3-418-00516-0 NE: Bernus, Alexander von: (Sammlung)
Alle Rechte vorbehalten © 1984 Verlag Hans Carl Nürnberg Umschlaggestaltung: Heinz Glaser, Nürnberg unter Verwendung einer Federzeichnung von Wilhelm Heinold Druck: Heinz Neubert GmbH, Bayreuth Einband: Hans Klotz, Augsburg ISBN 3-418-00516-0
Digitalisiert von: Frater Choyofaque 2
Schloßlegende __________________________________________________________________ 4 Renatus ______________________________________________________________________ 21 Aufzeichnungen eines Rosenkreuzers ______________________________________________ 21 Lichtungen ___________________________________________________________________ 32 Hexenfieber ___________________________________________________________________ 41 Die Blumen des Magiers_________________________________________________________ 45 Nächtlicher Besuch_____________________________________________________________ 69 Allerseelen____________________________________________________________________ 83 Die Handschrift des Hundertjährigen _____________________________________________ 127 Nachwort ____________________________________________________________________ 130
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Schloßlegende Eine ungewöhnliche Begebenheit Von jeher hatte ich eine besondere Vorliebe für die Schlösser und Lustgärten des achtzehnten Jahrhunderts. Es liegt ein unwirklicher, noch heute unbeschworener Zauber über diesen ebenmäßigen, meist schon verwitterten, in sich ruhenden Steinfassaden, die unendlich einsam immer irgendwo abseits unverhofft inmitten von verschollenen Gärten stehen, wo die stillgelegten Springbrunnen und Wasserkünste zwischen Sandsteinbalustraden und beschnittenen Laubengängen von geheimen Abenteuern und galanten Schäferspielen träumen, deren sie einst Zeuge waren, als noch der letzte farbige Verfall und Abglanz eines goldenen Zeitalters die Nachtigallen im Gebüsche lauter schlagen und die verräterischen Herzen in den Lauben nachgiebiger und bestürzter pochen ließ. Die geilen Faune und beredten Nymphen spiegeln sich noch immer teilnahmslos wie damals in den schilfbedeckten Wasserflächen, doch die Schattenbänke davo n sind verwaist und keine amourösen Kavaliere und in Reifröcke geschnürte Damen promenieren unter festlichen Lampions bei losem und verfänglichem Geplänkel um die nächtlichen verschwimmenden Bosketts. Die ganze süße Schwermut der Vergänglichkeit umwittert diese weltentlegenen Garteneinsamkeiten, und dem Besucher, der auf seinen Streifereien mittags, während von dem nahen Dorf die Aveglocke läutet, wegmüde und bestaubt in ihre Stille eintritt, zeigt sich, wenn seine Sinne aufgeschlossen sind, mitunter überraschend irgendwo an dem verlassensten und fernsten Fleck die Mittagsfrau. Auf meinen Fahrten und Wegen bin ich immer wieder diesen abseitigen Schlössern und verwunschenen Gärten nachgegangen, um in den Ruhepausen langer lässiger Spätsommernachmittage in die farbigen Abgründe ihrer zeitfernen Geheimnisse unterzutauchen. Mitunter wollte es der Zufall, daß das so erwanderte, in sich versunkene Schloß verwaist und unbewohnt lag, und der Schloßwart war dann meistens zu bereden, mich auch in das Innere einzulassen. Und hatte er sich vergewissert, daß er sich von meiner Seite keiner Unbill zu versehen hatte, überließ er mich alsbald mir selber, so daß ich in den weitläufigen und verlassenen Räumen unversehens allein war und hinhorchen konnte, bis sie anfingen, zu reden und von sich und dem, was sie gesehen hatten, zu erzählen. So stieß ich eines Nachmittags auf einer Autofahrt in Kärnten weit im Lande an dem Fuße eines Höhenzuges unverhofft auf einen einsamen und ganz verwilderten uralten Park inmitten einer niederen moosbewachsenen Umfassungsmauer. Vom Schloß selbst war von außen nichts zu sehen; die hundertjährigen Bäume hatten es der Sicht entzogen. Ich war allein. Meinen Freund, den Maler, hatte ich in einem altertümlichen Städtchen zurückgelassen, wo er zeichnen wollte. Er bereiste das südliche Österreich im Auftrag einer großen illustrierten Zeitschrift. Wir hatten uns verabredet, daß ich ihn erst am Abend dort zur Weiterfahrt abholen sollte. Solange fuhr ich in der Landschaft ohne Ziel umher, um irgendwo an einem Waldrand oder Seeufer Station zu machen und an meinem angefangenen Buche weiterzuschreiben. Hierbei war ich auf den weltfernen zeitentrückten Park gestoßen. Hier würde ich den Nachmittag verbringen, an dem abgeschiedensten und vogelnahesten Platz, beschloß ich. Ich fuhr das Auto abseits in den Schatten und stieg, ohne lang das Tor zu suchen, über die zerbröckelnde Umfriedungsmauer. Es war der unwahrscheinlichste und schönste Park, den ich jemals gesehen hatte, von einer wunderbaren und verwirrenden Verwilderung. Erst trieb ich mich geraume Zeit darin umher, um mir die eigenartigen architektonischen Gesichtspunkte, nach denen er ursprünglich angelegt war, zu vergegenwärtigen. Das Schloß lag nicht wie sonst bei diesem Baustil auf der Vorderseite frei und offen, während sich die Hauptfassade gartenwärts in eine weite und betonte Perspektive auftut, sondern bildete den Mittelpunkt der ganzen großzügigen Anlage, auf den im Umkreis alle Wasserwege, Laubengänge und Anfahrtsalleen konzentrisch zustrebten. Im Laufe eines Jahrhunderts aber hatten die vormals in strenger Zucht gehaltenen steinalten Bäume ihre Fesseln abgeschüttelt und umwanderten nun stolz und selbstherrlich den einst gebieterischen Herrenbau. Das Schloß schien unbewohnt, die Läden alle waren fest verschlossen. Drei niedere 4
Stufen führten zu dem Haupteingang, den rechts und links zwei auf die Balustrade hingelagerte sphynxartige Steinfiguren hüteten. Das Wappen über dem verwitterten Portal trug eine Grafenkrone. Es ging etwas gespenstisch Unheimliches aus von diesem Hause, etwas, das sich nur erfühlen, nicht beschreiben läßt und dem man sich doch nicht entziehen konnte. Es mußte viel geschehen sein in diesen Mauern, das so in sie eingegangen war, daß sie es festgehalten hatten und es nun ausatmeten, so sehr beladen schienen sie mit Schicksal und Vergangenheit. Ich ging mehrmals um das geheimnisvolle Schloß herum, um zu versuchen, ob sich nicht doch irgendwo die Möglichkeit zeige, hineinzukommen. Doch alles war hermetisch zu: kein angelehnter Laden oder ha lbgeschlossenes Fenster, das zum Einsteigen verleitet hätte. Vergebens hielt ich Umschau nach dem Schloßwart: nicht die geringste Spur ließ darauf schließen, daß hier jemand wohne. Ich war schon drauf und dran das Suchen aufzugeben, als ich durch die Parkbäume hindurch am Ende eines Laubenganges einen wohnhausartigen Gartenpavillon bemerkte. Das gab mir Hoffnung, doch noch eine Menschenseele auf zu treiben. Beim Näherkommen sah ich an der Außenseite Holz unter einer Überdachung aufgeschichtet, ein gewisses Zeichen für Bewohntsein. Der Pavillon war größer als er mir zuerst aus der Entfernung erschienen war und erinnerte in seiner Stilreinheit und Anmut an Hameau im Parke von Versailles, nur war er ungepflegt und ganz verwahrlost. Auf mein Anklopfen mit dem Klopfring an der Türe trat ein etwa achtzehnjähriges, betörend schönes Mädchen auf die Schwelle, daß ich im ersten Augenblick glaubte, ich träume. Ich muß in meiner Überraschung ihr recht töricht vorgekommen sein, denn sie fing an hell aufzulachen. Das gab mir meine Fassung wieder und ich fragte sie, ob hier der Schloßwart wohne. Der Schloßwart: nein, aber ihr Großvater, der Kastellan, sei drin im Hause. Ich bat sie, ihn zu holen. Noch immer lachend schlug sie mir die Türe vor der Nase zu und war verschwunden. Es währte eine gute Weile, bis die Türe wieder aufging und ein hochbetagter Mann erschien in einer altfränkischen Kastellanstracht, der mit einer gravitätischen Verbeugung mich zeremoniell begrüßte. Ich glaubte mich in das ancien regime zurückversetzt; es war, als sei die Zeit an dieser baumbestandenen Einsamkeit spurlos vorbeigegangen. Um in der vorgeschriebenen Rolle zu bleiben, erwiderte ich die Begrüßung mit einer ausladenden fürstlichen Geste, die den alten Kastellan sichtbar befriedigte, denn er erkundigte sich umständlich nach meinen Wünschen. Als er jedoch vernahm, ich sei gekommen, ihn zu bitten, mir das Schloß zu zeigen, wurde er mit einemmal ablehnend: er habe strenge Weisung, niemand einzulassen. Im übrigen sei ja das Schloß doch unverkäuflich: was also habe es für mich für einen Zweck, es zu besichtigen? Ich hätte selber eines, aber darum interessiere ich mich auch für andere, war meine Antwort. Dieses Argument schien ihm zwar einzuleuchten, nichtsdestoweniger fand er stets neue Ausflüchte, was meinen Eindruck nur noch mehr bestärkte, daß es mit dem verlaßnen Schloß eine besondere Bewandtnis haben müsse. Ich nahm daher, um doch mein Ziel noch zu erreichen, zu einem ausgiebigen Trinkgeld Zuflucht. Das gab den Ausschlag. Wenn der Marchese nach wie vor darauf bestehe, meinte er, so wolle er in diesem Falle ausnahmsweise sich dazu verstehen, nur die Schlüssel müsse er noch holen . .. Damit begab er sich ins Haus zurück, während ich draußen wartete. Ich hatte während unseres Gespräches wohl beachtet, wie sich das schöne Mädchen drinnen hinterm Vorhang unentwegt zu schaffen machte und dabei von Zeit zu Zeit verstohlen nach mir hinsah. Das gab mir Hoffnung auf ein unerwartetes und völlig einmaliges Reiseabenteuer, und während der bezopfte Kastellan die Schlüssel suchte, besann ich mich auf eine glaubhafte Begründung, um dem Maler später die Notwendigkeit einer Verschiebung unsrer Weiterfahrt auf ein paar Tage so plausibel als möglich machen zu können, doch wollte mir trotz aller Anstrengung nichts Annehmbares einfallen. Auf jeden Fall stand bei mir fest, dem Maler nichts von meinem Funde zu verraten. Nun erschien der alte Kastellan mit einem mächtigen Schlüsselbunde wieder auf der Bildfläche. Langsam und schweigsam ging er neben mir aufs Schloß zu. Als wir dort angekommen waren und er das verrostete Schloß des Haupteinganges aufgeschlossen hatte, standen wir in einer weitläufigen stuckverzierten Halle, in die beim Öffnen der, wer weiß wie lang, geschlossenen Läden eine Flut von Licht hineinbrach. In diesem Augenblick war mir, als habe irgend etwas Unsichtbares mit dem Einfluten des Lichts das Schloß verlassen. Im Erdgeschoß befanden sich außer dem großen Speisesaal nur verschiedene Wirtschaftsräume, darunter eine 5
riesenhafte Herrschaftsküche und daneben eine kaum viel kleinere Küche fürs Gesinde. Eine fürstliche und breite eichene Treppe mit sehr niederen Stufen und einem fast überreich geschnitzten Eichenholzgeländer führte zu den Wohn- und Prunkzimmern des ersten und des zweiten Stockwerks. Sie lagen alle da, als hätten die Bewohner sie vor kurzem erst verlassen, und nur der Staub auf den kostbaren Stilmöbeln der Zeit verriet das jahrelange Fehlen der Betreuung. Die Anlage der einzelnen Stockwerke war die stilübliche: auf jedem Stockwerk, wo die Treppe mündete, befand sich eine kleine Diele, von der nach rechts und links ein schmaler Gang abzweigte, zu dessen beiden Seiten ebenmäßige Türen in die anliegenden Räume führten. Auf dem ersten Stockwerk in der Dielenmitte öffnete sich eine breite Flügeltür in den Empfangssalon. Von diesem Mittelpunkt aus taten sich zwei weitere Flügeltüren in die Flucht der beiderseits angrenzenden Gemächer auf. Der zweite Stock war analog dem ersten angelegt. Der über dem Empfangssalon gelegene Saal jedoch war unzugänglich. Es sei der Ahnenbildersaal, berichtete der Kastellan, und er erstrecke sich in seiner ganzen Länge auch noch über die zwei dem Empfangssalon benachbarten Saalflächen. Ob man denn nicht durch eine der rechts- oder linksseitigen Flügeltüren Zutritt zu dem Ahnenbildersaale habe, fragte ich den Kastellan beobachtend. - Nein, diese seien innen abgeriegelt und den Schlüssel zu der Mit-teltüre habe beim Verlassen des Schlosses der Graf selbst mitgenommen. - Wann das gewesen sei? - Vor dreiundzwanzig Jahren. - Wo er sich jetzt aufhalte? Das sei unbekannt. - Warum der Graf bei seiner Abreise den Ahnenbildersaal verschlossen und den Schlüssel abgezo gen und an sich genommen habe? - Hierüber könne er nicht sprechen. Nur zur Vermeidung dieser Frage habe er mir ja das Schloß nicht zeigen wollen. - Hier also, hier lag das Geheimnis, das ich schon gewittert hatte, als ich kurz zuvor allein vor den von Schicksal und Vergangenheit beladnen Mauern stand. Um so entschloßner war ich, das Geheimnis zu ergründen. Doch sah ich wohl, ich müsse hierbei vorsichtig zu Werk gehn, um den Alten nicht durch meine vielen Fragen mißtrauisch zu machen. Ich wandte mich noch einmal zu der Flügeltür des Ahnenbildersaals, aber sie war fest verschlossen. Darüber angebracht war eine Tafel neueren Datums mit der seltsamen und schönen Inschrift: Wir hören von Treue erzählen Die niemals zu lange bestand, Und was wir uns heute verhehlen, Tritt morgen als Traum aus der Wand. Ich zog meinen Notizblock aus der Tasche und notierte mir die Zeilen. ,,Von wem rührt diese Inschrift her? Sie ist sehr eigent ümlich“, fragte ich den Alten. - „Vom Grafen“, gab er mir zur Antwort. - „Ist denn der Graf ein Dichter?“ – „Nein, ein Forscher und Gelehrter.“ - Was er denn wissenschaftlich arbeite? - Das könne er nicht sagen, er habe sich niemals darum gekümmert. - Es war mir klar, daß diese Inschrift irgendwie in einem untergründigen Zusammenhang stehen müsse mit dem streng gehüteten Geheimnis des seit mehr als zwei Jahrzehnten abgeschlossenen Bildersaales. Vielleicht, daß sich von hier aus doch noch ein Versuch beim Alten unternehmen ließ, ihn auf Umwegen zum Reden zu bestimmen. Man mußte nur den rechten Zeitpunkt abwarten. Nachdem der alte Kastellan mich so im ganzen Schloß herumgeführt hatte und wir aus einem Seitenflügel wieder in das Freie traten, mußte ich erst tief und gierig Atem schöpfen, so beklemmend hatte sich das Atmosphärische der Räume auf die Brust gelegt. Dem Alten war das nicht entgangen, denn er sagte wie entschuldigend: ,,In alten Schlössern muß man sich erst an die Luft gewöhnen.“ - ,,Sie haben sie wohl schon von Kindheit an geatmet, oder sind Sie später erst hierhergekommen?“ - Durch diese Frage hoffte ich unser Gespräch allmählich so zu lenken, daß es beim Hin und Her zuletzt von selbst zu dem geheimnisvollen Bildersaal zurückkehre. Wir standen vor der Steinbank eines Laubenganges. Ich nötigte den Alten, sich noch etwas zu mir hinzusetzen und forderte ihn auf, mir von sich selber zu erzählen. Zwar sträubte er sich erst und meinte, am Leben eines alten Kastallens sei nichts erzählenswert, dann aber ließ er sich doch 6
überreden. Je mehr er im Verlauf seiner Erzählung Bild an Bild am farbigen Bande der Erinnerung vorbeiziehen ließ, um so gesprächiger und zutraulicher wurde der ursprünglich so einsilbige Alte. Es war ein wunderliches und in seiner ersten Hälfte alles andere als eintöniges Leben, das sich vor mir auftat. Als Milchbruder und Spielgefährte seines späteren Herrn, des Grafen, war er in der Schloßumfriedung groß geworden. Sein Vater, ehemaliger gräflicher Leibkutscher, war gestorben, als er selbst erst sechs war, seine Mutter war Beschließerin im Schloß gewesen. Als Kammerdiener hatte er den Grafen später dann auf allen seinen Reisen, die ihn auch nach Frankreich, England und Italien führten, jahrelang begle itet. In seiner Jugend muß der Graf, vor allem während seiner kurzen Offizierslaufbahn in Wien als Windischgrätzdragoner, sehr verschwenderisch und ausschweifend gelebt haben, doch als er dann mit etwa fünfunddreißig nach dem Tode seines Vaters Schloßherr wurde, war er nicht mehr wiederzuerkennen. Er lebte ganz zurückgezogen und für sich, verkehrte fast mit niemand, das gesellige und bunte Leben, das zu Zeiten seines Vaters auf dem Schloß geherrscht hatte, verstummte. Den ganzen Tag und oft die halbe Nacht hindurch saß er in seinem Arbeitszimmer oder in der angrenzenden Bibliothek und wälzte alte Schweinslederfolianten. - Was sie enthalten hätten? - Unverständliche geheimnisvolle Zeichen, Sternbilder und verwunderliche Signaturen. In manchem dieser Bücher habe auch vom Goldmachen, vom Stein der Weisen, aber auch von Rosenkreuzern und geheimen Bruderschaften allerhand gestanden. Auch alte, in vergilbtes Pergament gebundene, handgeschriebene Folianten hätten sich dabei befunden. Er habe aber nur ganz selten einen Blick hineintun können, weil der Graf, der Briefe, Geld, Schmucksachen und was immer unbesorgt herumliegen zu lassen pflegte, jene Bände in dem großen, abschließbaren Bücherschranke seines Arbeitszimmers in Verwahrung hatte. Es dauerte nicht lange, da begann der Graf bei seinem Arbeitszimmer sich auch ein Laboratorium einzurichten mit seltsamen und abenteuerlichen Apparaten, das niemand außer ihm betreten durfte und das er selbst instandhielt. Mitunter sei es unheimlich gewesen anzusehen, erzählte der zusehends mehr aus seiner früheren Zurückhaltung herausgehende Alte, wenn das ganze große Schloß bei Neumond in vollkommenem Dunkel lag und nur von dem Laboratorium her ein zuckendes und fahles Licht die Nacht verfärbte. In dieser eintönigen Abgeschiedenheit vergingen fünfzehn oder sechzehn Jahre, ohne daß der Graf nur einmal daran dachte, seine immergleiche Lebensweise, sei es nur durch eine kurze Reise oder bloß durch einen flüchtigen Abstecher nach Wien zu unterbrechen. Nur manchmal ließ er sich ein Pferd satteln, im Sommer meist bei Vollmondnächten, oft aber auch bei Sonnenaufgang, wenn er wieder einmal eine ganze Nacht hindurch gearbeitet und hinter dem Laboratoriumstisch gestanden hatte. Er ritt dann wild und planlos durch die Gegend, um mit abgehetztem und schweißtriefendem Pferde erst nach Stunden wieder heimzukehren. Vielleicht hätte der Graf die jahrelange Einsamkeit nicht so ertragen, wenn nicht das Töchterchen des Forstmeisters gewesen wäre, ein sehr schönes und dem ganzen Wesen nach nicht herkömmliches Kind, das unter seinen Augen aufwuchs und das er wie sein eigenes verwöhnte. Es war das einzige Geschöpf im ganzen Schloß, das jederzeit sogar zu seinem Arbeitszimmer Zutritt hatte. Die Mutter war noch bei der alten Gräfin Jungfer auf dem Schloß gewesen und hatte dann, weil sie ein Kind erwartete, den Forstmeister geheiratet. Der junge Graf, so hieß es, hatte während ihrer Dienstzeit auf dem Schlosse mit dem hübschen schwarzhaarigen Mädchen ein Verhältnis, und das bald nach ihrer Heirat auf die Welt gekommene Försterstöchterchen sei eigentlich ein Grafenkind. Der Umstand, daß der Graf sich des heranwachsenden Mädchens später dann so annahm, machte die Vermutung vollends zur Gewißheit. Nachdem das Mädchen groß geworden war, verheiratete sie sich mit dem benachbarten Gutspächter und der Graf trug Sorge für die Aussteuer. Dann wurde es noch stiller um den Grafen ... Hier schwieg der alte Kastellan mit einemmal, es war, als könne er sich nicht entschließen weiterzuerzählen; ich fühlte deutlich, daß die eigentliche Schloßlegende jetzt erst anfange. Ich ließ ihm also Zeit, doch dann nach einer Pause, um ihn wieder nach und nach in Fluß zu bringen, fragte ich ihn, was sein eigenes Leben während dieser Jahre für einen Verlauf genommen habe. Den gewohnten: Er war und blieb des Grafen Kammerdiener auch nach seiner Verheiratung, und seine Frau versah die Wirtschaft. Ihr einziges Kind sei dreijährig an Kroup gestorben. - Wer das 7
schwarzhaarige Mädchen aber dann gewesen sei, das mir vorhin die Türe öffnete? - Die Tochter eben jenes Kindes, das im Schloß beim Grafen aufgewachsen sei und dann den Gutspächter geheiratet habe. Die Eltern seien beide früh gestorben, da hätte er, der Kastellan, und seine Frau das Kind zu sich genommen und es wie ihr eigenes erzogen, des Grafe n wegen, der das Schloß damals schon lange verlassen hatte. Nun nach dem Tode seiner Frau lebe er ganz allein mit dem jetzt achtzehnjährigen Mädchen, das ihm seinen Haushalt führe. Diese Eröffnung kam für mich etwas enttäuschend, weil sie mir die Aussicht auf ein flüchtiges und schönes Sommerreise-Abenteuer mit dem anmutigen Mädchen unversehens vereitelte, denn nun vermochte ich nicht mehr um einer sommerlichen flatterhaften Falterstunde willen in die weltentrückte und umfriedete Geborgenheit der beiden, auf sich angewiesenen einzubrechen. „Und dann nach fünfzehn oder sechzehn Jahren änderte der Graf mit einmal seine Lebensweise?“ fragte ich den Alten unvermittelt. „Ja, - und das war so gekommen: Die Schwester der vor vielen Jahren schon gestorbenen Gräfin-Mutter, die in Wien gelebt hatte, starb hochbetagt und kinderlos. Zu ihrer Beisetzung und gleichzeitigen Regelung der Erbschaftsangelegenheiten mußte der davon wenig erbaute Graf ganz plötzlich seine Arbeit unterbrechen und auf Ungewisse Zeit nach Wien verreisen. Die Erbschaftssache zog sich sehr viel länger hin, als es der Graf erwartet hatte, so daß sich seine Rückkehr immer mehr verzögerte. Aus einem Monat wurden zwei, aus zweien drei. Da endlich kam die Weisung, für den festlichen Empfang des Grafen und der Grafen Anstalten zu treffen. Zwei Tage später traf mit Bergen von Gepäck zusammen mit einer behäbigen und würdigen Hausdame die großstädtische Zofe der, wie sie erzählte, jungen und sehr schönen Gräfin ein. Das ganze Schloß war freudig und voll Hoffnung, daß das eintönige Leben nun vorüber sei und eine neue Ära farbiger und festlicher Geselligkeit beginnen werde. Nach weiteren zwei Tagen hielt die neue Schloßherrin dann an der Seite des verjüngten Grafen ihren Einzug. Der alte Gärtner hatte alle Springbrunnen und Wasserkünste tags zuvor wieder in Gang gebracht und ließ sie spielen. Die Hauptauffahrtsallee zum Schlosse war behängt mit festlichen Girlanden und im Hintergrunde wurde von dem Förster Böller über Böller losgelassen, so daß im ganzen Umkreis alle Vögel aus den alten Baumwipfeln erschreckt aufflogen. Am Schloßportale aber hatte sich die ganze Dienerschaft im Halbkreis um die neue Hausdame versammelt, um die Herrschaft bei der Anfahrt zu begrüßen. Die Frau des Försters, die vordem als Mädchen unter den Augen des Grafen auf dem Schloß groß geworden war, trat beim Aussteigen an den Wagen mit einem mächtigen Blumenstrauß, den sie der Gräfin überreichte. Nun kamen Handwerker in großer Menge. Der Graf ließ für die Gräfin einen ganzen Schloßflügel neuzeitlich herrichten mit Kachelbad und allem sonstigen Komfort. An sein Laboratorium dachte er nicht mehr; die alten Schweinslederfolianten standen wieder wie vor Zeiten unbeachtet in dem Bücherschranke. Er war wie ausgewechselt. Gleich nach dem Frühstück wurde jeden Morgen ausgeritten, oft bis mittags. Der Tee und meistens auch das Abendessen wurden in dem Pavillon der kleinen Insel, die im Teich lag, eingenommen. Man mußte mit dem Kahn hinüberfahren. Die Gräfin lag oft stundenlang im Kahn und ließ sich treiben, während ihr der Graf am Steuer gegenübersaß und sie nur immer ansah. Auch der vernachlässigte Tennisplatz war wieder fachmännisch instandgebracht worden. Die Gräfin war eine sehr gute Tennisspielerin und hatte auch schon wiederholt Turniere mitgemacht; der Graf mußte seine ganze Intensität aufbieten, um sich als Gegenspieler zu behaupten. Nur Gäste kamen keine. Der Graf war nicht gewillt, sich sein Zusammensein mit seiner jungen Frau durch fremde Hausgenossen oder durch eine nichtssagende Geselligkeit stören zu lassen. Vielleicht auch, daß bei dem nicht mehr ganz jungen Manne untergründig eine leise Eifersucht mitspielte, die es ihn nicht gerne sehen ließ, daß seine junge und charmante Frau, der aller Herzen zuflogen, von Kavalieren angebetet und umschwärmt werde. So kam es, daß das Leben auf dem Schloß im Grunde doch keine wesentliche Änderung erfuhr. Das machte sich während der Sommermonate zwar noch nicht fühlbar, als aber dann die Tage anfingen kürzer zu werden und die Herbstnebel den Teich verschleierten, die Moosbänke der Laubengänge feucht und uneinladend auf den Winter warteten und auf dem Dach die Wetterfahne Nacht für Nacht mißtönig knarrte, während 8
sich von draußen das beklemmende Geräusch des Regens auf die Seele legte, da begann die Gräfin diese ungewohnte Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Landlebens als unerträglich zu empfinden. In einem fort lag sie dem Gatten in den Ohren, für die Wintermonate nach Wien zu ziehen, wo Gesellschaften, Theater und Konzerte während der Saison für die Monotonie des Sommers zu entschädigen versprachen; doch der Graf wollte davon nichts wissen. Daß seine Frau für diesen schönsten Sommer seines Lebens keine anderen Worte fand als monoton und vollends noch dafür entschädigt werden wollte, hatte ihn zutiefst getroffe n. Er ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern vertröstete sie mit der Aussicht auf die nahe weiße Winterfestlichkeit mit Schlittenfahrten bei Schneetreiben weit hinein in die verwunschene weihnachtliche Landschaft und danach auf lange feierliche Abende mit Buchenscheiten im Kamin und dem Geruch des Christbaums im Zimmer während der geheiligten zwölf Nächte vor Drei König. - ,Lauschig’, versetzte sie, ,doch Wien wäre mir lieber, denn dann beginnt dort bald der Fasching.’ - Der Alte hatte diese Äußerung der Gräfin aufgefangen, gerade als er in das Speisezimmer trat, um abzudecken, und er hatte auch bemerkt, wie sich der Graf dabei verfärbte. Doch blieb er diesem Wunsche der Gräfin gegenüber unerbittlich. Allein der Winter wollte dieses Jahr nicht kommen. Nach einem regnerischen und zermürbenden November folgte ein noch hoffnungsloserer Dezember, der die schon vor Wochen fälligen Herbststürme in verstärkter Heftigkeit mitbrachte. Am Weihnachtsabend tobte ein so unheimlicher Föhn ums Schloß, daß sich die ältesten Leute nicht mehr erinnerten, dergleichen je erlebt zu haben. Die beiden Weihnachtsfeiertage waren häßlich und verregnet. Da, in der Nacht des zweiten Feiertags, als schon alles schlief, brach ein Gewitter los. Es waren zwar nur wenige Donnerschläge, doch so heftig, daß die Mauern zitterten. Beim dritten Schlage, der gleichzeitig mit dem Blitz erfolgte, fuhr ein kalter Strahl in die elektrische Leitungsanlage, lief sie entlang und in die Erdung. Das ganze Schloß lag bis zum nächsten Tag im Dunkel. Sämtliche Schloßinsassen waren wie verstört am anderen Morgen. Das sei ein böses Vorzeichen, so hieß es, denn was sich in den Zwölfnächten tue, sei die Ankündigung der Begebnisse des Jahres. Auch Träume der Zwölfnächte gingen ja bekanntlich in Erfüllung. Nun hatte es der Frau des Kastellans geträumt, die Gräfin sei allein bei Mondschein auf dem Teich gefahren, da plötzlich sei ein drachenartiges Untier aus dem Wasser aufgetaucht und habe sie erfaßt und blitzschnell aus dem Kahn gerissen, um mit seiner Beute wieder in der Tiefe zu verschwinden. Zwar sei der Graf, der noch in seinem Arbeitszimmer auf war und dort ihren Hilferuf gehört hatte, zum Teich hinabgeeilt, doch sah er nur den leeren Kahn im Wasser treiben. Noch in der gleichen Nacht ließ er den Teich absuchen, aber keine Spur war von der Gräfin mehr zu finden ... Aus Schonung hatte man dem Grafen diesen Traum verschwiegen, doch über allen in dem Schloße lag es wie ein Alb, denn jeder fühlte, daß sich etwas Schreckliches ansage. Der Januar ließ sich ebenso verregnet und unfreundlich an wie die vorangegangenen Monate. Schnee fiel zwar etwas, doch er blieb nicht liegen. Es war ein selten widerwärtiger Winter. Die Gräfin wurde zusehends mißlauniger und verstimmter. Nun seien die Redouten, Maskenbälle und Gesellscha ften in Wien bereits in vollem Gange, während man hier immer mehr versaure. Der Graf versuchte ihr die langen Abende durch Vorlesen vertraut zu machen. Sie lag auf der Chaiselongue, rauchte und schien gar nicht hinzuhören. Sah er, nachdem er ein paar Seiten so gelesen hatte, übers Buch hinweg zu ihr hinüber, war sie meistens eingeschlafen. Dann stand er, um sie nicht zu wecken, leise auf und ging ins Nebenzimmer. Wenn sie, oft erst nach ein paar Stunden, aufgewacht war, läutete sie ihrer Jungfer und ging ohne Gutenacht gesagt zu haben in ihr Schlafzimmer. - Wohl hätte er durch Eingehen auf ihren Wunsch, für ein paar Monate nach Wien zu reisen, allem eine andere Wendung geben können, doch wenn er sonst auch alles tat, was er ihr von den Augen und dem Zucken ihrer Mundwinkel ablesen konnte, in diesem Falle blieb er unnachgiebig, denn er fürchtete, sie werde, wenn sie erst wieder Wiener Luft geatmet habe, nicht mehr zu bewegen sein, aufs Schloß und in die Abgeschiedenheit des Landlebens zurückzukehren; doch habe sie sich erst einmal dort eingelebt und den in seiner scheinbaren Monotonie so wechselvollen Reiz des Jahresablaufs auf dem Land für sich entdeckt, so werde sie, so hoffte er, schon selber nicht mehr wegverlangen. Es kam auf den Versuch an, und mißglückte er, so war im nächsten Winter ja noch immer Zeit genug, sich entweder für Wien oder für eine Auslandsreise zu entscheiden. Der Graf in 9
einer depressiven Stunde hatte seinen alten und ergebenen Kammerdiener im Vertraun gefragt, wie er darüber denke, und der Alte hatte beigepflichtet, was ihm noch bis heute nachging. Die von dem Grafen still gehegte Hoffnung, daß die Gräfin sich allmählich an das winterliche Schloßleben gewöhnen und sich mit der Zeit darin noch heimisch fühlen werde, ging nicht in Erfüllung. Von Tag zu Tag wurde sie abweisender, in sich verschlossener und teilnahmsloser. Und dieser Zustand steigerte sich fast ins Krankhafte. Zuletzt erschien die Gräfin nur noch bei den Mahlzeiten. Doch sprach sie auch während der Mahlzeiten kein Wort und kehr te gleich darauf zurück in ihre Zimmer. Das ging so eine Weile, während der Graf sich abwartend verhielt: er konnte und wollte es nicht glauben, daß sich ihre junge, sommerliche Zweisamkeit so bald in Fremdheit und Verbitterung verkehren sollte. Als aber eine Woche nach der anderen verging und nichts sich änderte, begann der Graf sich wieder seinen Büchern zuzuwenden, und je mehr er sich in sie vertiefte, desto weniger empfand er die durch die Entfremdung der vor kurzem noch mit soviel Leidenschaft umworbenen Frau entstandene Leere. Das nächste war, daß er auch wieder anfing in seinem Laboratorium zu arbeiten. So kam es, daß er mehr und mehr seinen Aufenthalt in den entlegeneren Schloßflügel verlegte, wo die Arbeitsräume sich befanden. Auch siedelte er wieder über in sein ehemaliges Schlafzimmer, das an sein Arbeitszimmer angrenzte. Und alle diese Umstände ergaben, daß er ohne eigentliche Absicht seine frühere, nur auf Arbeit eingestellte Lebensweise wieder aufnahm. Zwar sah er die stets größer werdende Veränderung, die in der Gräfin vorging und die auch auf ihrem, ihm aus guten Stunden so vertraut gewordenen Gesicht zum Ausdruck kam, doch da er es als aussichtslos erkannt hatte, ihr durch Zureden oder Vorstellungen, welcher Art auch immer, beizukommen, ließ er es dabei bewenden und vergrub sich nur noch tiefer in die Arbeit, um sich über seine eigne seelische Zerrissenheit hinwegzubringen. Er hätte viel darum gegeben, zu erfahren, was während aller dieser Wochen sich in ihrer Seele abspielte, doch sie antwortete ihm, wie er auch in sie drang, nur immer mit dem gleichen abwesenden Lächeln. Ihre Züge und ihr ganzes Wesen blieben teilnahmslos und undurchsichtig; nur der Schatten über ihren Augen und um ihre Stirne wurden immer weltverlorener. Da, eines Tages schie n es, als sei über Nacht eine Verwandlung mit ihr vorgegangen: In jeder ihrer Mienen und Bewegungen lag etwas sich Zurückgegebenes, Befreites. Auch bei den Mahlzeiten war sie nicht mehr, wie zeitüber, einsilbig, sondern gab sich frei und anteilnehmend. Nur über das, was die Verwandlung in ihr ausgelöst hatte, darüber wahrte sie beharrlich Schweigen. Auch zog sie nach wie vor sich nach Beendigung der Mahlzeiten zurück in ihre Zimmer. Daher blieb auch der Graf bei seiner ihm wieder gewohnt gewordenen Lebensweise und verbrachte fast den ganzen Tag und auch die Abende in seinen Arbeitsräumen. Er hatte anfangs ein paarmal den Versuch gemacht, das abendliche frühere Zusammensein wieder herbeizuführen, so oft er aber davon anfing, wehrte ihm die Gräfin lachend mit der schonenden Begründung, seine Arbeit sei viel wichtiger, sie dulde nicht, daß er ihr gerade seine ungestörtesten und besten Arbeitsstunden opfere. Der Graf, beglückt, daß ihre Züge ihr seit Monaten verlorenes sieghaftes Leuchten wieder unverhofft zurückgewonnen hatten, tat, als überhöre er den ungerecht empfundenen Vorwurf, wo et ja doch nur durch ihr solange anhaltendes eigenwilliges Verhalten seinen ehemaligen Lebens rhythmus wieder aufgenommen hatte. Nun, nachdem die in sich selbst Zurückgezogene ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, würde das bald von dem Südwind hergetragene Frühjahr, hoffte er, nach soviel winterlicher Not sie wieder neu zusammenfuhren. Worauf es vorerst ankam, war, ihr Zeit zu lassen. Dann wieder machte sich der Graf gelegentlich Gedanken, wie die Gräfin wohl in ihrer sich selbst auferlegten Abgeschlossenheit den Tag verbringe, doch darüber war nichts zu erfahren. Zufällig hatte er sie in der Dämmerung einmal den Ahnensaal betreten sehen, das war alles. Er kannte ihre Vorliebe für die gepuderten, in Reifröcke geschnürte Damen und die amourösen Kavaliere, die so anzüglich und abenteuerlüstern aus den gold und schwarz verschnörkelten Rokokorahmen niedersahen. Auf die war er nicht eifersüchtig, mochte sich die Gräfin ihres Umganges und ihrer zeitentrückten und gefahrlosen Geselligkeit nach Herzenslust erfreuen - : an ihren Maskenumzügen und Faschingsfesten ließ er sie, wenn es ihr Freude machte, unbedenklich teilnehmen. Einmal, als er 10
zufällig an der geschloßnen Saaltüre vorbeiging, war es ihm, als höre er die Gräfin drinnen sprechen, flüsternd und verhalten. Einen Augenblick lang blieb er stehn und horchte, dann ging er leise weiter, um sie nicht beim bunten Spiele ihrer Phantasie zu stören. Sein Kammerdiener, dem er es erzählte, meinte zwar, es sei in alten Zeiten vorgekommen, daß ein Bildhauer in Leidenschaft für eine Statue entflammt sei, und was früher sich einmal ereignet habe, warum solle sich das nicht in unsern Tagen wiederholen? - Der Graf belächelte den Einfall und erwiderte: von Bildhauern sei nichts zu befürchten. Die Wochen nahmen unverändert ihren Fortgang. Da, ganz von ungefähr, begab sich etwas Schicksalhaftes: Der Graf war zufällig im Nebenzimmer Zeuge einer Unterhaltung zwischen der adretten Wiener Jungfer und der Hausdame gewesen. Er hörte, wie die Hausdame zur Jungfer sagte, es sei Zeit, daß man dem Grafen von dem abendlichen seltsamen Verkehr der Gräfin Kenntnis gebe. Die Jungfer wehrte dem aufs eindringlichste: man solle doch zum mindesten der Gräfin diese eingebildete Zerstreuung lassen; was habe sie denn sonst in dieser trostlosen Verbannung? Der Graf war erst versucht hinzuzutreten und Aufschluß zu fordern; er unterließ es aber, weil er es als ungemäß empfand, beim Personal über die Handlungen der Gräfin Auskunft einzuholen. Er wollte aber bei der nächsten sich ergebenden Gelegenheit die Gräfin selber fragen, doch nicht, bevor er ihr erst ein paar Tage lang im Stillen zugesehen hatte. Schon tags darauf bei Tisch brachte er das Gespräch beiläufig auf den Bildersaal, der eigentlich schon lange der Neuherrichtung bedürfe. Dabei erzählte er von einem sagenhaften Maskenfest, das einst im Schlosse stattgefunden habe. Es wurde legendär durch seinen tragischen, nie aufgeklärten Ausgang: ein Kavalier und eine Schöne wurden an dem Morgen nach dem Fest vermißt. Trotz aller Nachforschungen war keine Spur von ihnen aufzufinden. Seit jenem Tagen waren sie verschollen. Nach vielen Jahren fand man bei der Reinigung des großen Teiches in dem Schlamm ein goldnes Louisseize-Halsband und etwas weiter eine gleichfalls goldene Tabatiere mit einem in Brillanten ausgeführten Wappen. Es war das Wappen des verschollnen Kavaliers vom Maskenfest. Durch diesen Fund wurde das Rätsel um die beiden so geheimnisvoll Vermißten nicht gelüftet, sondern nur noch mysteriöser. Zum Andenken an dieses tragische Ereignis wurden die Porträts der beiden in dem Ahnenbildersaale aufgehängt, obgleich sie eigentlich in einem nur entfernten flüchtigen Verwandtschaftsverhältnis zu dem Grafenhause standen. Die Gräfin, die mit Spannung zugehört hatte, war gleich im Bilde, welche von den zahlreichen Porträts die beiden darstellten, und wußte zu des Grafen nicht geringer Überraschung, sie bis in die einzelnen Schattierungen zu schildern. Zeit habe sie genug gehabt, sich die Gemälde näher anzusehen, meinte sie, und diese beiden seien ihr schon gleich befremdlich aufgefallen. Hier brach sie ab. Es war, als wollte sie nicht wieder über dieses Thema sprechen, und der Graf, der dieses spürte, ging zu anderem über. Am gleichen Abend, nachdem die Gräfin schon seit mehr als einer Stunde sich zurückgezogen hatte, suchte der Graf den Flügel auf, in dem die Gräfin wohnte, um dem seltsamen Geheimnis der zwischen der Jungfer und der Hausdame geführten Unterhaltung auf den Grund zu gehen. Er sah und hörte nichts, was dazu angetan war, den Verdacht, daß irgend etwas Undeutbares vorgehe, zu rechtfertigen. Da, als er grade wieder sich entfernen wollte, glaubte er aus dem Salon der Gräfin Stimmgeflüster zu vernehmen, doch nur einen Augenblick, daß es ebensogut auch eine Selbsttäuschung sein konnte, denn gleich darauf begann das Grammophon ganz leise einen Tango, und es war ihm so, als höre er die Gräfin drinnen tanzen. Er kannte ihre Neigung, ganz für sich die abenteuerlichsten Tänze immer neu erfinderisch und manchmal wild exotisch auszuführen. Noch eine Weile blieb er stehn und horchte, dann kehrte er beruhigt und vor sich hinlächelnd über das Gerede und die Sensationslust des Hauspersonals zurück in seine Arbeitsräume. Am nächsten Abend wiederholte er den Gang mit ganz dem nämlichen Ergebnis, nur daß er dieses Mal das Stimmgeflüster noch viel deutlicher herauszuhören glaubte. Zwar konnte er sich dessen Herkunft nicht erklären, doch da er ja um die phantastische Veranlagung der Gräfin wußte, so vermutete er, daß sie mit sich selbst ein Zwiegespräch führe, wobei es ihr gefalle, irgendeine selbsterdachte Rolle wie vor vielen Zuschauern zu spielen, nur mit sich und ihren Traumgestalten. Um sie daher nicht zu verwirren, zog er sich wie nachts zuvor auch diesmal wieder unvermerkt 11
zurück und überließ sie ihren Phantasiegebilden. Und dieser Vorgang wiederholte sich auch in den nächsten Nächten immer in der gleichen Weise. Am Tag vermied er es, der Gräfin gegenüber über alles dieses auch nur eine Andeutung zu machen, doch er beobachtete sie geschärfteren Auges, aber ohne die geringste Spur einer Veränderung in ihrem Wesen zu bemerken. Nachdem er eine Zeitlang so Abend für Abend Zeuge ihrer Traumgespräche und verzauberten Nachtunterhaltungen gewesen war, kam er einmal beim Abendessen wie zufällig darauf zu sprechen, daß er sie schon lange nicht mehr habe tanzen sehn und wie er das vermisse. Sie bemerkte abgewendet, daß die lange winterliche Einsamkeit ihr die Voraussetzung dazu: die seelische Beschwingtheit und die innerliche Leichtigkeit genommen habe. Sie werde sie schon wieder finden, tröstete der Graf, es käme nur auf den Versuch an. Bei einem Glas Champagner werde sie sehr bald in Stimmung kommen. Er lade sich auf nachher zu ihr ein, da wollten sie den Abend festlich nur mit sich verbringen und da würde sie auch sicher wie im Sommer auf der Insel wieder für ihn tanzen. Die Gräfin konnte ein Erschrecken nicht verbergen, doch hatte sie im gleichen Augenblick sich wieder in der Hand: Der Vorschlag käme ihr zu überraschend, meinte sie, sie habe schon zu lang nicht mehr getanzt, sie sei ganz aus der Übung; sie wolle aber an den nächsten Abenden für sich versuchen, sich wieder hineinzufinden. Dann, wenn es ihr geglückt sei, werde sie den Graf ganz förmlich einladen und einen Soloabend für ihn geben. Solange möge er sich noch gedulden. Der Graf sah sich geschlagen. Er hielt es aber nicht für tunlich, mehr in sie zu dringen, um sie nicht mißtrauisch zu machen. Er küßte ihr die Hand und bat sie, ihn dann wenigstens nicht allzu lange mit der Einlösung ihres Versprechens hinzuhalten. Sie versprach es. Ihre Versicherung, sie habe schon geraume Zeit nicht mehr für sich getanzt, stimmte ihn nachdenklich, doch neigte er dazu, ihr Leugnen der Befangenheit, in die sein unverhoffter Vorschlag sie versetzte, zuzuschreiben. Auch an diesem Abend, wie an den folgenden, begab der Graf sich ein, zwei Stunden nach der Mahlzeit nach dem anderen Schloßflügel, um sich zu überzeugen, ob sich das Geflüster im Salon der Gräfin wiederhole. Seine Wahrnehmung war jedesmal die gleiche: Erst vernahm er das geheimnisvolle Stimmgeflüster, bis das Grammophon einsetzte. Wenige Momente später hörte er die Gräfin leise tanzen. Von Tag zu Tag wartete er auf die Einladung der Gräfin, doch vergeblich. Erinnern wollte er sie nicht, sie mußte aus sich selber kommen oder gar nicht. Zwar gab sie sich ihm gegenüber scheinbar unbefangen, doch er merkte, daß es ihr nicht leicht fiel. Nachdem er so gewartet und gewartet hatte, wurde er es schließlich überdrüssig, und er nahm sich vor, sich noch am gleichen Abend kurzerhand zu vergewissern, was allabendlich in dem Salon der Gräfin vor sich gehe. Beim Abendessen wurde über alltägliche und belanglose Dinge gesprochen, und der Graf vermied es absichtlich, ein Thema zu berühren, das mit den seitherigen Begebnissen und seinem Vorhaben zusammenhing. Die Gräfin hatte sich wie immer nach der Abendmahlzeit bald zurückgezogen. Nachdem der Graf die ersten Stunden nach dem Abendessen wie bisher in seinen Arbeitsräumen zugebracht hatte, ging er daran, wiewohl mit Zögern, den Geheimnissen der Gräfin auf die Spur zu kommen. Vor dem Salon der Gräfin horchte er erst wieder eine Zeitlang wachsam und gespannt, ob sich die Geräusche und das Stimmgeflüster wie an den vorangegangenen Abend en wieder hören ließen. Lange brauchte er sich nicht zu gedulden und schon wurde das Geflüster, nur noch deutlicher als an den Abenden zuvor, vernehmbar. Nicht ohne Selbstverleugnung zwang er sich, die Türe leise, aber rasch zu öffnen. Das Schauspiel, das sich dem betroffen Stehngebliebnen bot, ließ ihn an seinem eigenen Verstande zweifeln: Vor seinen Augen wogte fast unhörbar eine unglaubhafte farbige Maskengesellschaft auf und ab in Rokokokostümen. Geblendet und verwirrt sah er auf das Gewimmel, ohne in dem wirren Durcheinander gleich der Gräfin ansichtig zu werden. Um sie in dem Gewühl zu suchen, drängte er sich durch die Reihen der bei seinem Nahen scheu Zurückweichenden. Es fiel ihm auf, daß sich das ganze Treiben so geräuschlos abspielte, doch 12
machte er sich dessentwegen keine weiteren Gedanken, es war ihm nur darum zu tun, die Gräfin ausfindig zu machen. So war er quer durch den Salon bis an die Fensterreihe gegenüber vorgedrungen; da gewahrte er in einer Nische halb zurückgelehnt die Gräfin in den Armen eines Kavaliers, der sich mit zärtlicher Gebärde zu ihr niederbeugte. Der Graf trat rasch hinzu und stieß den Liebhaber abrupt beiseite. Er merkte in seiner Erregung gar nicht, daß er in das Leere stieß und keinen Widerstand verspürte. Die Gräfin brach, als sie mit einem Mal den Grafen vor sich stehen sah, mit einem Aufschrei ohnmächtig zusammen, so daß der Graf nicht einmal Zeit hatte, sie aufzufangen. Hinkniend nahm er ihren Kopf in seine Hände und sah angstvoll und bestürzt auf das entglittne, schöne, wächserne Gesicht, ihr herzzerrissene Koseworte gebend. Allein sie kam nicht zu sich, wie beschwörend er auch auf sie einsprach. Da schob er ihr behutsam seine Arme unter, um sie auf die Chaiselongue zu tragen. Im Augenblick, als er sich aufrichtete, wurde er entsetzt gewahr, daß der soeben noch voll Masken wimmelnde Salon vollkommen leer sei. Nicht eine Spur, die darauf hingewiesen hätte, daß vor wenigen Minuten noch ein festlicher und bunter Schwärm von Liebespaaren den verlassenen Raum bevölkert hatte. Der ganze Maskenspuk war wie durch einen Zauber weggeblasen. Der Graf war fassungslos, er wußte nicht, was er von diesem unwahrscheinlichen Erlebnis halten sollte. Vorsichtig legte er die Gräfin, die noch immer nicht zu sich gekommen war, auf die Chaiselongue; dann läutete er heftig nach der Jungfer. Er zog sich einen Sessel neben die Chaiselongue und wartete auf ihr Erscheinen. Der ausgestorbene Salon, in dem kein Stuhl, kein Tisch, nicht einmal eine Vase durch den abenteuerlichen Spuk verrückt war, trieb ihn fast zum Wahnsinn. Das Eintreten der Jungfer erst entriß ihn diesem selbstverlorenen Seelenzustand. Es bedurfte seines ganzen Willensaufwandes, um sich Zurückhaltung aufzuerlegen und die Jungfer nicht nach den allabendlichen Unterhaltungen der Gräfin auszufragen, zumal die Jungfer sichtbar auf das heftigste erschrocken war, als sie die Gräfin ohnmächtig auf der Chaiselongue liegen und den Grafen neben ihr verstört im Sessel sitzen sah. Die gemeinsamen Bemühungen des Grafen und der Jungfer brachten nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Gräfin wieder zu sich. Als sie die Augen aufschlug und den Grafen neben sich bemerkte, wie er, hingegeben jede ihrer leisesten Bewegungen verfolgte, wich aus ihrem leidenden verschleierten Gesicht der fremde und gequälte Ausdruck einem scheinhaften und unwirklichen Lächeln. Der Graf vermied es, das Geschehene auch nur zu berühren und erkundigte sich nur mit einer von Besorgnis und verhaltner Leidenschaft bewegten Stimme, wie sie sich jetzt fühle. - Wie spät es sei? Sie antwortete ausweichend mit einer Frage. Bald vierundzwanzig Uhr, erwiderte die Jungfer - ob sie sich jetzt nicht legen wolle? - Wie lange sie geschlafen habe? - Zwei Stunden etwa, fiel der Graf ein: Er wollte sie durch diese Antwort über das inzwische n Vorgefallene hinwegtäuschen. - Was denn geschehn sei, weil der Graf sich bei ihr im Salon befinde? - Die Jungfer habe ihn gerufen, weil sie sich vorm Einschlafen nicht wohl befunden habe. - Daran erinnere sie sich nicht mehr. Nur eine ungewohnte Schläfrigkeit habe sie plötzlich befallen. - Der Graf sah unsicher zu ihr hinüber. Er wußte nicht, was er von ihrem seltsamen Gebahren halten sollte: war alles nur Verstellung, oder war es wahr, daß sie sich an nichts mehr erinnerte von allem, was sich in der letzten halben Stunde zugetragen hatte? Ihr Gesichtsausdruck verriet auch nicht im leisesten, was sich in ihr abspielte. Die Jungfer wiederholte ihre Frage, ob sie nicht zu Bett gehn wolle. Sie machte den Versuch sich aufzurichten. Gestützt vom Grafen und der Jungfer ging sie in ihr Schlafzimmer. Die Jungfer kleidete sie aus, während der Graf im Nebenkabinett unruhig auf und abging. Vorstellungsbilder, Fragen, Zweifel jagten sich in seinem Hirn; er konnte keine Ordnung in seine Gedanken bringen. Litt er an Halluzinationen? Er hatte doch den ganzen Maskentrubel um sich wirbeln sehn und er war Zeuge, wie die Gräfin aus den Armen eines Kavaliers ohnmächtig aufs Parkett glitt. Er versuchte, sich die Züge und Gestalt des Kavaliers noch einmal zu vergegenwärtigen. Er hatte sich sein Äußeres trotz seiner heftigen Erregung in den wenigen Sekunden deutlich eingeprägt. Es war ihm, als erinnerte er ihn an jemand, vielleicht nur an ein Bild, das er einmal gesehn hatte, doch kam er, wie er sich auch mühte, nicht darauf, wo er ihm schon begegnet sein konnte. - Und erst die andre, 13
noch viel rätselhaftere Frage: Was ging vor in seinem Schlosse hinter seinem Rücken? Wo war die verwunderliche Nachtgesellschaft hergekommen und wohin war sie so spurlos und so rasch zerstoben? - Ober war das alles nur die Ausgeburt der eignen übersteigerten und bis ins Krankhafte getriebne Phantasie gewesen? Ein nie gekanntes Angstgefühl stieg in ihm auf, würgende Angst vor sich und vor den Abgründen der eignen Seele ... Erst als die Jungfer eintrat und ihm meldete, die Gräfin habe sich so weit erholt, doch lasse sie ihn bitten, jetzt nicht mehr zu ihr hereinzukommen, fand er wieder zu sich selbst zurück und nahm sich vor, sich künftig gegen jeden neuen Einbruch dieser vampyrhaften, ihn bedrängenden Gedankenbilder innerlich zu wappnen. Er beauftragte die Jungfer, noch so lange bei der Gräfin im Ankleidezimmer zu verziehen, bis sie eingeschlafen sei und ihm gegebenenfalls zu melden, wenn der Schwächeanfall unversehens sich wiederholen sollte. Dann kehrte er zurück in den von ihm bewohnten Schloßflügel. Am nächsten Morgen ließ die Gräfin sich das Frühstück auf ihr Zimmer bringen. Sie sei wieder wohlauf, sie wolle nur noch etwas liegen bleiben, hatte sie dem Grafen auf seine Nachfrage hin bestellen lassen, doch werde sie bis Mittag aufstehn. Beim Mittagessen kam der Graf mit keinem Wort mehr auf die Vorgänge der letzten Nacht zu sprechen, sondern lenkte das Gespräch auf seine Pläne, die er mit der Neuanlage einer Parkpartie im Frühjahr hatte, und die Gräfin ging mit sichtlichem Interesse auf die vielfältigen Anregungen ein; besonders eingenommen war sie von der Aussicht eines Wasserweges von dem See zu dem am Parkende vorbeiführenden kleinen Flüßchen, weil man mit dem Kahn dann gleich hinaus ins Freie rudern könnte, weithinein in die nun bald erwachte Frühlingslandschaft. Trotz ihrer unverholnen Anteilnahme an den Gartenplanungen entging dem Grafen nicht, daß wieder wie vor Wochen der nachwinterliche Schatten über ihr Gesicht gelagert war, ein wenig aufgelichteter vielleicht als früher, aber seiner anfänglich gehegten Annahme, der ganze Vorgang sei nur eine Art von später Nachkrise gewesen, widersprach das tägliche Verhängterwerden ihrer Züge. Es hatte fast den Anschein, als begänne der erst unlängst überwundne Zustand sich, nur noch verstärkt, zu wiederholen ... Der Graf vermied auch weiterhin, das Vorgefallene zu berühren, doch beobachtete er sie um so wachsamer, und die beständige Angst, daß eine unheilbare Schwermut immer tiefer in ihr Wurzel schlage, legte sich wie Mehltau auch über seine Seele. Um so größer war daher auch sein Erstaunen, als sie eines Morgens wieder, wie schon einmal, ausgewechselt, unbeschwert und stählend an dem Frühstückstisch erschien, als wäre in der Zwischenzeit nichts von Bedeutung vorgefallen. Was konnte sich ereignet haben während dieser wenigen Stunden, um von heut auf morgen solchen Umschwung in ihr auszulösen? Die Seele dieser Frau war ihm ein unlösbares Rätsel. Dabei stand ihm noch immer das Erlebnis jenes Abends mit dem ganzen Maskenspuk bestürzend gegenwärtig und doch scheinhaft unwirklich vor Augen. Jetzt so wenig wie vor Wochen konnte er sich Rechenschaft darüber geben, ob das schreckliche Begebnis jener Nacht nur eine Spiegelung des eigenen Gemütszustandes gewesen sei oder etwas, das sich wirklich zugetragen hatte, ein in seinen untergründigen Zusammenhängen unerklärlicher und mysteriöser Vorgang. Von Tag zu Tag wartete der Graf darauf, daß die gehobene Stimmung bei der Gräfin wieder umschlage, doch erwies seine Befürchtung sich als unbegründet; im Gegenteil, sie wurde zusehends aufgeheiterter und mitteilsamer. Nur über alles, was an die Ereignisse der ominösen Nacht erinnerte, bewahrte sie ein undurchsichtiges Schweigen. Die Tage wurden wieder länger. Das Frühjahr hatte eingesetzt. Ums Schloß her brandeten die Föhnnächte. Auf den durchnäßten Parkwegen und zwischen dem vergilbten Schilf der Teiche brach sich das verstärkte Licht der kühneren Februarsonne. In dieser beunruhigenden, aufwühlenden Jahrzeit liebte es der Graf, weit in der Gegend kreuz und quer umherzustreichen, und die Gräfin fand, nachdem sie sich erst einmal aufgerafft hatte, an diesen morgendlichen Streifereien mehr und mehr Gefallen, so daß ihr früheres gemeinschaftliches Leben wieder aufzublühen schien, nur in
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dem Hintergrunde lag wie etwas Schicksalhaftes das unausgesprochene Geheimnis, und allabendlich zog sich die Gräfin so, als sei es etwas selbstverständliches, zurück in ihren Flügel. So ging es über Wochen. Mitunter fühlte sich der Graf versucht, den Trakt der Gräfin wieder einmal aufzusuchen, um zu hören, ob sich das Geflüster, das er schon von früher kannte, drinnen wiederhole. Aber eine Art von Scheu vor einer schrecklichen, nicht wieder gutzumachenden Gewißheit hielt ihn immer wieder ab von seinem Vorhaben. So war sein tägliches Zusammenleben mit der Gräfin irgendwie verwirrend aufgeteilt in eine schöne und erfüllte Taggemeinschaft und in die Ungewissen leeren Abende, die er allein in seinem Arbeitszimmer und in seiner Bücherei verbrachte. Inzwischen war es März ge worden. In den Gemüsegärten wurde umgegraben, und auf die Scheiben der Gewächshäuser und neubestellten Mistbeete schien die verheißende Vorfrühlingssonne. Der braune, umgebrochene Boden roch geheimnisvoll und sommersüchtig. Die Gräfin liebte diese weit und breit beginnliche, aufbruchbereite Gartenwelt und konnte stundenlang dem Gärtner zusehn, wie er umgrub oder in dem dämpfigen Gewächshaus sich zu schaffen machte. Dann kehrte sie oft wie berauscht ins Schloß zurück, benommen von dem aufreizenden und ungestümen Frühjahrsbrodem. Beglückend war es, daß die Tage nun schon merklich länger wurden und den langen, quälerischen Föhnnächten die Herrschaft strittig machten. Die Park- und Gartenmöbel, die den Winter über in den abgelegnen Pavillons gelagert hatten, wurden wieder vorgeholt und auf den Kieswegen und in den Laubengängen aufgestellt, und von den Sandsteinvasen und Figuren vor den Wasserkünsten und bei den Alleedurchblicken wurden die von Frost und Nässe schützenden Gehäuse abgenommen. Auch aus dem Bootshaus hatte man den Kahn schon wieder auf den Teich geschafft, nicht ohne ihn zuvor durch einen farbenfrohen Anstrich aufgefrischt zu haben. So hatte der sich ansagende Frühling seine Herolde schon allenthalben in das Land vorausgeschickt. An einem ausgeblasenen Spätnachmittag nach einem heftigen, von schwerem Hagelschlag begleiteten Gewitter hatte kurz vor Dämmerung der Graf noch einen Rundgang durch den Park und die Obst- und Gemüsegartenanlagen gemacht, um nachzusehen, ob die starken Schloßen Schaden angerichtet hätten. Als der Graf von seinem Rundgang kommend wieder in die Hauptallee zum Schloß einbog, war es schon so dämmerig geworden, daß im Schloß bereits die Lichter brannten. Da bemerkte er, daß aus dem unbewohnten und fast nie betretenen Bildersaal ein Lichtstreif durch die Spalten der geschlossenen Läden fiel. Es mußte also jemand in dem Saal gewesen sein und beim Hinausgehen vergessen haben, abzuknipsen. Wahrscheinlich hatte jemand von dem Personal auf das Gewitter hin dort nachgesehen, ob es hineingeregnet habe, denn der Bildersaal lag nach der Wetterseite. Der Graf nahm gleich den Weg dahin, um selbst das Licht zu löschen. Noch auf der Treppe überkam ihn plötzlich eine unerklärliche und unheimliche Ahnung, daß ihn irgend etwas Schreckliches erwarte. Als er, fast zögernd, sich der Saaltür näherte, glaubte er von drinnen wieder das bekannte Stimmgeflüster zu vernehmen. Er blieb stehen vor der Tür, um zu horchen ... Ja, der war es wieder: ganz das nämliche Geräusch und Wispern. Es bestand kein Zweifel: der verhängnisvolle Vorgang, dessen er in jener Unglücksnacht Zeuge gewesen war, spielte sich da drinnen wieder ab, wenn ihn nicht seine Sinne täuschten ... Er fühlte alles Blut aus seinen Schläfen weichen. Er mußte sich anlehnen ein paar Augenblicke lang, um sich zu sammeln. Nur mit dem größten Willensaufwande vermochte er sich zu entschließen, die Saaltüre zu öffnen. Er tat es leise, fast mechanisch. Der große Mittellüster in dem weitläufigen Saal war nicht entzündet, nur ein Wandarm auf der Gegenüberseite brannte. Nicht weit davon, den Rücken an die Wand gelehnt, doch durch die hohe, sie umfangende Gestalt des Kavaliers im Rokokokostüm, der sie schon damals in den Armen hielt, gedeckt, stand die ihm hingegebene Gräfin, ohne zu bemerken, daß die Türe sich geöffnet habe und der Graf im Saale auf der Schwelle stehe. Der Graf stand wie gelähmt vor diesem Schauspiel, keiner Regung mächtig, seine Augen starrten unverwandt und wie hypnotisiert auf die entsetzliche Erscheinung. Er war sich nicht bewußt, wie lange dieser Zustand anhielt. Dann aber, als er anfing nachzulassen und er aufsah, wurde er gewahr - und sein Entsetzen steigerte sich 15
fast zum Wahnsinn, daß genau über der Gräfin das Porträt des Kavaliers (es war das Bild des bei dem Maskenfest vor mehr als hundert Jahren so geheimnisvoll Verschwundenen) nicht mehr im Rahmen war - der schwere goldene Rokokorahmen hing leer auf der vergilbenden Damasttapete, während die Gestalt des im Gemälde Festgehaltenen leibhaftig vor der Gräfin stand und sie umarmte. Das Bild der einst zusammen mit dem Kavalier verschwundenen Rokokodame aber hing, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen, unberührt daneben. Zum ersten Male fiel dem Grafen die bestürzende und bis zum Haaransatz gehende Ähnlichkeit zwischen den Zügen der Rokokodame und der Gräfin auf, und das Gefühl von etwas unabwendbar Drohendem, dem Eindringen des Zwischenreichs, demgegenüber es kein sich zur Wehr setzen und kein Entrinnen gäbe, machte ihn im tiefsten Innern schaudern. - Er wollte sich auf das verhaßte Spukbild stürzen, aber eine unbekannte Macht ließ ihn nicht von der Stelle, er fühlte sich wie festgebannt von dieser fürchterlichen Halluzination, die ihn nicht losließ. Als er sich wieder in die Hand bekam, zog er sich unter einer inneren Nötigung leise zurück, ohne daß die Gräfin sein Hereintreten und seine Gegenwart bemerkt hatte. Er hatte die Saaltür hinter sich sacht zugezogen und stand nun wieder horchend draußen; doch es war ihm so, als seien zwischen seinem Ein- und Austritt Jahre hingegangen. Er fühlte, daß sein Leben einen Stoß erhalten habe, von dem er sich nicht mehr erholen werde. Das Grauenhafteste von allem war jedoch, daß dieser Einbruch aus dem Übersinnlichen ein unabwendbares Verhängnis ansagte. Er setzte sich auf einen der zwei rechts und links der Saaltür stehenden Sessel. Eine schwere Apathie war über ihn gekommen. Er war nicht einmal mehr imstande hinzuhorchen, ob das Stimmgeflüster drinnen noch vernehmbar sei. Er wollte sich aufraffen, um sich noch einmal zu vergewissern, ob nicht alles Sinnestäuschung und durch Nervenüberreizung ausgelöste Einbildung gewesen sei, sein tieferes Bewußtsein aber ließ ihm keinen Zweifel, daß hier etwas Schicksalhaftes seinen Ablauf nehme, das sich schon seit langem untergründig vorbereitet hatte und nun unaufhaltsam einer grauenhaften Katastrophe zutreibe. - So saß er eine Ungewisse Zeit entschlußunfähig, allen Schrecknissen der Nachtweltsphäre ausgeliefert. Aus dieser fürchterlichen Seelenqual riß ihn ein lauter Schlag, der aus dem Saal herkam und der von einem dump fen Tone wie von einem Fall begleitet war. Die Lethargie, in der er sich befunden hatte, war von diesem unheilkündenden Geräusch gewichen. Er stürzte in den Saal: da lag die Gräfin regungslos auf dem Parkett am Platz, wo sie vor kurzem noch gestanden hatte, und über ihr das von der Wand gefallene Porträt des Kavaliers. Das Bild befand sich, was dabei das Unheimlichste war, vollkommen unversehrt in seinem Rahmen. Der Graf nahm sich nicht Zeit, sich weiter um das Bild zu kümmern. Er warf es rasch beiseite, um die Gräfin zu befreien. Sie gab kein Lebenszeichen. Er preßte seine Lippen auf die ihren. Ihr Atem war erloschen. Er hob sie auf und trug sie vorsichtig auf die Chaiselongue. Dort riß er ihr das Kleid auf, aber nirgends war auch nur die kleinste Spur einer Verletzung zu bemerken. Er rief, er schrie verzweifelt ihren Namen, doch er drang nicht zu ihr. Unbeantwortet kam seine Stimme ihm zurück von allen Wänden. Das Ohr auf ihre Brust gepreßt, versuchte er vergeblich ihren Herzschlag zu vernehmen ... Tot! tot! Er schrie es sinnlos immer wieder in den weiten, halberhellten Raum, in dem die unbeteiligte Gemeinde weltentrückter Ahnenbilder teilnahmslos auf ihn herabsah. Er riß sich von ihr los und läutete, ein heftiges, unausgeglichenes Läuten. Die ganze Dienerschaft: Hausdame, Zofe, Kammerdiener stürzten aufgeregt herbei. Es war noch niemals vorgekommen, daß vom Ahnenbildersaale her geläutet wurde. Als sie den Saal erreichten, fanden sie den Grafen hingekniet vor der Chaiselongue, die Arme um die regungslos vor ihm Liegende geschlungen ... Der Kammerdiener mußte auf dem schnellsten Wege mit dem Auto in das nahegelegene Städtchen fahren, um den Arzt zu holen, während die Hausdame und die Zofe die Hinweggegangene hinüber in ihr Zimmer trugen, wo sie sie entkleideten. Auch jetzt war keinerlei Verletzung an dem schönen Körper sichtbar. Der Graf vermied es, vor dem Eintreffen des Arztes der Hausdame und der Zofe gegenüber über Einzelheiten des Begebnisses zu sprechen. Er setzte sich ans Bett der Gräfin und, den Mund auf ihre kühler werdende durchsichtige Hand gepreßt, erwartete er, von dem quälenden Gefühl gepeinigt, daß das alles nur durch seine Unnachgiebigkeit gekommen sei, die Ankunft des 16
herbeigerufenen Arztes. Gemartert von den Selbstvorwürfen, ihren Wunsch, mit ihr den Winter über zu verreisen, nicht erfüllt zu haben, überhörte er das Klopfen des sich anmeldenden Arztes und bemerkte ihn erst, als er in dem Zimmer auf ihn zutrat. Der Graf berichtete dem Arzt in wenigen Sätzen, wie er, an dem Bildersaal vorüberkommend, drinnen einen lauten Schlag und fast zugleich damit einen dumpfen Fall vernommen habe. Beim Betreten habe er die Gräfin unter einem von der Wand gestürzten Bild liegend gefunden ohne Lebenszeichen, aber außer einer leichten Schürfung auf der Schulter sei kein Merkmal einer körperlichen Schädigung an ihr bemerkbar. Er vermied es, von dem mysteriösen Hintergrund des tragischen Geschehens zu dem Arzt zu sprechen. Was er von ihm erfahren wollte, war nur, ob nicht ganz versteckt doch noch ein Funken Leben in ihr glimme, der nur angefacht zu werden brauchte, um sie wieder in den Tag zurückzurufen. In der innerlichsten Herzkammer dagegen wußte er, daß es nur eine trügerische Hoffnung sei, an die er selbst nicht glaubte. Für den geschulten Blick des Arztes, der mit Teilnahme die Schilderung des Grafen angehört hatte, bedurfte es nur eines flüchtigen Hinsehens, um den schon vor nahezu zwei Stunden eingetretenen Tod zu konstatieren. Trotzdem nahm er die Untersuchung vor, um sich über die Todesursache zu vergewissern. Die Diagnose lautete auf Herzschlag, der durch den Schrecken beim Herabstürzen des Bildes eingetreten war. Ob schon seit längerer Zeit sich bei der Gräfin Anzeichen eines Herzleidens bemerkbar gemacht hätten, fragte er den Grafen. Der Graf verneinte. Auc h keine seelischen Erregungszustände oder Erschütterungen? Nein, auch das nicht. - Bewegt und nachdenklich blickte der Arzt noch einmal auf die schöne Tote, ehe er ihr die Augen zudrückte. Dann reichte er dem Grafen stumm die Hand. Er hatte seines Amtes gewaltet. Als er gegangen war, ließ der zu einer Maske seiner selbst gewordene Graf zwei hohe Kandelaber mit Wachskerzen bringen; dann schloß er sich die Nacht über bis spät zum nächsten Morgen mit der Toten ein. Die Beisetzungsfeierlichkeiten fanden in der größten Stille statt. Außer den nächsten Angehörigen der Gräfin war niemand zugegen. Der Graf hatte die Aufbahrung nicht in dem Ahnenbildersaal, wie es Familientradition war, sondern in der Halle angeordnet. Ein mehr als siebzigjähriger, weißhaariger Geistlicher aus Wien, ein alter Freund des Hauses, der frühere Beichtvater der Gräfin, war gekommen und versah das Totenamt. In der Familiengruft wurde die Gräfin beigesetzt. Am Tage nach der Beisetzung, als alle wieder abgereist waren, zog sich der Graf zurück und blieb tagsüber unsichtbar und ohne etwas zu genießen. Die ganze Nacht hindurch brannte in seinem Arbeitszimmer Licht. Am nächsten Morgen ließ er seinen Kammerdiener kommen, den er sich zugehörig wußte und dessen Leben während mehr als zwanzig Jahren an das seinige geknüpft war. ,Leb wohl, Joseph - vielleicht für immer’, sagte er. ,Ich reise heute abend ab und werde nie mehr auf das Schloß zurückkehren; das Schloß hat mich zuviel gekostet.’ - Dem Alten liefen, während er mir dies erzählte, noch in der Erinnerung die hellen Tränen über die gefurchten Wangen. - ,Und zum ersten mal, Herr Graf, darf ich Sie nicht begleiten - und grade jetzt, wo Sie am Nötigsten meiner bedürfen?’ - antwortete ich ihm ...“ Der Alte hatte über seine Schilderung der Vorgänge von damals sich so zeitentzückt dahin zurückgelebt, daß er von seinem Sitze aufgestanden und vor mich hingetreten war, als spräche er zum Grafen. - ,Ich darf Euch doch begleiten’ - wiederholte er - ,Herr Graf' ... Nach einer Pause fuhr er fort: „Der Graf nahm meine Hand und hielt sie lange in der seinen, dann sagte er, als spräche er zu einem Freunde: ,Es geht nicht, Joseph, wirklich nicht, du mußt dich schon damit abfinden. Ich wäre viel zu sehr durch deine Gegenwart an das Vergangene erinnert und ich will versuchen zu vergessen. Du weißt nicht, Joseph, was ich durchgemacht habe in diesen Wochen.’ - Dann zog er aus dem Schubfach seines Schreibtisches nachdenklich eine Handschrift, die er mir einhändigte. ,Hier, Joseph, übergebe ich dir das, was ich in der vergangenen Nacht geschrieben habe. Es ist so etwas ähnliches wie eine Beichte und der Abtrag meiner Schuld, Joseph, ein viel zu linder Abtrag dafür, daß ich ganz allein nur durch mein Nichtverstehen ihren Tod verschuldet habe. Es ist die unerbittliche Geschic hte einer niemals wieder gutzumachenden Versäumnis und ich möchte, daß sie auch mein Leben überdauert. Du sollst sie lesen, Joseph, weil ich dir ein wirkliches Vertrauen schenke und weil das Geheimnis, das ich mit mir nehme, nicht zu tragen wäre, wenn ich wüßte, daß ich es allein zu tragen habe. Halte die Handschrift gut verschlossen, Joseph, daß sie nie ein Unwürdiger zu Gesicht bekomme. Zuletzt am Schluß der 17
Handschrift findest du noch einen Vers. Den lasse, wenn ich abgereist bin, gleich auf eine Tafel eingravieren und die bringe oberhalb der Tür des Ahnenbildersaales an zum bleibenden Gedächtnis. Und wenn früher oder später irgendwann einmal ein Fremder, den du in dem Schloß herumführst, vor der Inschrift stehn bleibt und davon berührt dich fragt nach der Bewandtnis, dem darfst du davon erzählen und ihm unbeschwert die Handschrift zeigen, denn ein solcher wird durch Schicksal anderer noch reicher.’ - Mit diesen Worten übergab er mir die Handschrift. Am gleichen Abend ist er abgereist mit unbekanntem Ziele. Seitdem hat er nie etwas von sich hören lassen, und ich habe nie erfahren, wo er sich in all den vielen Jahren aufhält. Ich bleib als Kastellan zurück und lebe mit Susanne von der Rente, die der Graf mir ausgesetzt hat. Die Handschrift halte ich in meinem Schrank verschlossen, und bis heute hat noch niemand sie gesehn, auch nicht Susanne. Sie, Herr, Sie haben heute nach so langer Zeit als erster nach dem Sinn der Inschrift sich erkundigt und mit solcher Anteilnahme, daß ich an die Worte denken mußte, die der Graf damals zu mir gesprochen hat - und ich glaubte mich berechtigt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Der Graf, denke ich, würde es gutheißen. Nun will ich Ihnen noch, bevor Sie Weiterreisen, auch die Handschrift zeigen.“ Zwar hatte es im Grunde keinen Zweck für mich, mir noch die Handschrift anzusehn, nachdem der Alte mir den Inhalt schon so ausführlich erzählt hatte; ich wollte ihn jedoch nicht kränken, und es war ja graphologisch auch nicht uninteressant, die Schriftzüge des Schreibers aus der Nacht vor seinem Abschied von dem Schloß kennenzulernen. Ich ging also mit dem mir wohlgesinnten Alten durch den Laubengang zurück zu seiner weltentlegenen Behausung. Als ich im vertraulichen Gespräch so mit ihm ankam, machte die auf einer Steinbank in der Sonne sitzende Susanne große Augen. Der Anblick des sonst so zurückhaltenden abweisenden Alten, aufgeräumt, beinahe freundschaftlich mit einem Fremden in beredter Unterhaltung, war für sie ein derart überraschender, noch nie erlebter, daß sie ihre Handarbeit beiseite legte und kopfschüttelnd nachsah, wie der alte Kastellan mich in das Haus hineinführte. Dort schloß er einen eichenen stabilen Wandschrank auf, schob erst verschiedenes, darinnen Aufgestapeltes beiseite und entnahm ihm die in eine Lederhülle eingeschlagene Handschrift, die er mir mit einer Art von Andacht reichte. Ich war ergriffen von der pietätvollen Behutsamkeit des betagten Mannes, die noch einem ändern Zeitalter entstammte und mir viel lebendig werden ließ von dem, was man in alten Schriften lesen kann von unverbrüchlicher Vasallentreue. Ich setzte mich auf einen alten, ripsbezogenen, verschoßnen Ohrensessel bei dem Fenster und begann zu blättern. Die Schriftzüge kennzeichneten einen fast überkultivierten, geistig und moralisch hochstehenden und für alles metaphysische stark aufgeschlossenen Menschen ohne irgendwelche Neigung zur Phantastik, doch vielleicht mit einem Hang zur Schwermut und Selbstquälerei, nicht aber das geringste Anzeichen einer ins pathologische gearteten Veranlagung. Daß die Aufzeichnungen in einer sehr depressiven Seelenlage hingeschrieben waren, war erkennbar, was durch den vorangegangnen schweren Schicksalsschlag naturgemäß bedingt war. Es hatte etwas Rührendes zu sehen, wie der Alte in seiner Erzählung sich fast wörtlich an den Wortlaut des Geschriebenen gehalten hatte. Wie oft und hingegeben mußte er die Niederschrift gelesen haben, daß er ihren Inhalt beinahe auswendig wußte! Ich gab sie ihm zurück und dankte ihm dafür, daß er mich zum Mitwisser eines so geheimnisvollen, abseitigen Schicksals gemacht hatte. Er wollte mich noch länger dabehalten, doch die Zeit war vorgerückt und ich mochte meinen Freund nicht allzulange auf mich warten lassen. Es war ein herzlicher, fast feierlicher Abschied, den wir nahmen, denn der Alte sah mich scheiden im Bewußtsein, daß ich irgendwie dem Schloß verbunden sei von nun an, auch wenn ich es niemals wiedersehen sollte: sein Geheimnis nähme ich mit fort, bedeutete er mir, wie ein Vermächtnis. „Susanne wird Euch bis zur Parkmauer begleiten“, sagte er, ,,um Euch die kleine Pforte auf zuschließen. - Und nun lebt wohl, Herr, und denkt manchmal draußen in der Welt an einen alten Mann, der sich mit seinem Wissen nun nicht mehr allein weiß ...“ Ich ging, geleitet von Susanne, die bei allem dem nicht wußte, was sie daraus machen sollte, schweigend den vermoosten Parkweg hin, wo die noch warme Spätnachmittagsonne durch das Laubwerk der jahrhundertealten Bäume die vor mir hergehende verwirrende Gestalt mit ihren 18
Strahlen streichelte. Ich hätte unter anderen Umständen diese einzige Gelegenheit mir nie entgehen lassen, das mir zugespielte Abenteuer aufzufangen, doch es verbot sich mir nach allem, was vorangegangen war und mich noch ganz in seinem Bann hielt. So gelangen wir nach einigen Minuten an das kleine Parktor. Hier nun geschah das Unerwartete: Als Susanne es aufgeschlossen hatte und ich ihre Hand nahm, um mich zu verabschieden, fiel sie mir plötzlich um den Hals und küßte mich so inbrünstig und leidenschaftlich, daß ich fast erschrak vor solchem Ausbruc h. Ich leugne nicht, daß ich die Zärtlichkeit spontan erwiderte. „Machst du es immer so, wenn du die Fremden an das Tor geleitest?“ fragte ich sie und löste mich aus der Umklammerung. Sie sah mich verständnislos an und sagte: „Ich habe niemals einen Mann geküßt, noch niemals.“ Und ihre Augen hatten einen feuchten Glanz. Die Sache war mir nicht geheuer. „Geh jetzt nach Hause“, mahnte ich „und grüße mir den Großvater nochmals recht herzlich!“ - „Herr, nehmt mich mit Euch! “ Ihre Stimme zitterte. „Ich will auch alles tun, was Ihr mich heißet.“ - „Dich mitnehmen? Was ist das für ein Einfall?“ - „Ich will Euch dienen, Herr, nur laßt mich bei Euch bleiben!“ „Das ist ja Wahnsinn, Kind. Jetzt wisch dir erst einmal die Tränen ab, damit der Großvater nicht merkt, daß du geweint hast, wenn du heimkommst, und dann setz dich auf die Steinbank in die Abendsonne und denk, du hast geträumt - ein Traumgeheimnis ...“ Sie sah noch einmal zu mir auf - ein Schluchzen ging durch ihren ganzen Körper, dann wandte sie sich schnell und lief wie vor sich selber auf der Flucht quer durch die alten Stämme tiefer in den Parkgrund. Ich sah ihr nach, bis sich die zärtliche Gestalt im Baumgewirr verloren hatte; dann kehrte ich zurück zu meinem Auto und fuhr langsam durch die sommerliche Abendlandschaft, wo mein Freund mich sicher schon mit Ungeduld erwartete. Meine Gedanken waren bei dem Schloß und allem, was ich in den wenigen Stunden erlebt hatte. Susanne würde ihre jäh erwachte Leidenschaft zu mir bald überwunden haben und sie einem anderen zuwenden, darüber machte ich mir weiter keine Sorgen - ich wünschte ihr, daß sie zu einem fände, der sie nicht enttäusche... Das tragische Geschick der Gräfin aber und der ganze Ablauf des Geschehens hatte so von meiner Vorstellung Besitz ergriffen, daß mir war, als sei ich selber Zeuge jener unwahrscheinlichen geheimnisvollen Vorgänge gewesen, die auch für den Psychologen mit den zeitbedingten wissenschaftlichen Erklärungen und Ausdeutungen nicht erfaßbar waren. Daß die in langer, ungewohnter winterlicher Abgeschiedenheit zurückgedrängte Lebensabenteuerlust der Gräfin sich in ihrer Phantasie zu einem bunten Maskenbilderspuk verdichtet hatte und in ihr gewissermaßen zum Komplex geworden war, war ohne weiteres verständlich, doch daß der Graf die Halluzination der Gräfin miterlebt hatte mit allen Einzelheiten und ja anscheinend auch die Dienerschaft darum wußte, das war etwas, was sich nicht kurzweg mit Suggestion und ähnlichem erklären ließ, das führt schon hinüber über die für unsere Sinne feingezogene Grenze in das Nachtgebiet des Übersinnlichen, vor dessen Einbruch wir ohnmächtig sind und schaudern. Daß der beim Maskenfest vor mehr als hundert Jahren so geheimnisvoll verschwundne Kavalier noch heute in dem Schloß sein Wesen treibe, war zum mindesten sehr unwahrscheinlich, denn die Toten sind nur für beschränkte Zeit an die Erdsphäre gebunden, doch glaubte ich nicht fehl zu gehen, wenn ich annahm, daß die Imaginationskräfte der Gräfin derart stark und durch die ihr im tiefsten widerstrebende Zurückgezogenheit so übersteigert waren, daß sie zuletzt zu wesen anfingen und ihr und anderen, die ihre Atmosphäre teilten, schemenhaft und so, als seien sie lebendig, handelnd gegenübertraten. Doch blieb bei dieser Ausdeutung noch immer das so plötzliche Herabstürzen des Bildes unerklärt und dunkel ... Ich war, fast ohne es zu merken, über diese metaphysischen Betrachtungen im Städtchen bei dem Gasthof, wo wir abgestiegen waren, angelangt. Mein Freund erwartete mich vor der Haustüre. Er hatte seine vorgehabten Zeichnungen beendet und war aufgeräumt und bester Stimmung. „W ir wollen gleich zu Abend essen“, sagte er, „und zeitig schlafen gehen, damit wir morgen früh vor Sonnenaufgang weiterfahren können; ich möchte auch noch in der Morgendämmerung die DrauLandschaft festhalten“. Ich war nicht sehr erbaut von dem Gedanken des Frühaufstehens, doch ich wollte auch kein Spielverderber sein und stimmte zu. Ich glaube, ich war abwesend beim Abendessen und nicht sehr gesprächig. Das mußte meinem Freunde aufgefallen sein, denn als wir uns nach einem letzten kurzen Rundgang durch das Städtchen „Gute Nacht“ sagten, bemerkte er beiläufig: „Was hast du eigentlich erlebt, daß du nichts sprichst und so zerstreut bist?“ - „Eine 19
Schlosslegende“ gab ich ihm zur Antwort und ging auf mein Zimmer. Ich konnte lange nicht einschlafen: Das Bild der Gräfin, ob ich sie auch nie gesehen hatte, trat mir immer wieder vor das innere Auge: etwas über mittelgroß und schlank und mit kastanienbraunen Haaren, fast durchsichtige, sehr schöne Hände; um den feingezognen und beredten Mund her ging vibrierend ein ganz leises Zucken, so als sei er unmerklich bemüht, etwas zu sagen. Angestrengt versuchte ich es zu vernehmen - da, schon fast im Einschlafen, war mir als höre ich ihn fernher sprechen: Wir hörten von Treue erzählen, Die niemals zu lange bestand, Und was wir uns heute verhehlen, Tritt morgen als Traum aus der Wand...
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Renatus Aufzeichnungen eines Rosenkreuzers Ein werdender Roman Mein Vater war weiland Brunnenmeister im Bad Gastein im Salzburger Fürstentum, worüber Paracelsus schreibt: „Das Wasser nimpt seinen Ursprung auss dem Kalch der Marcaziten, Antimonii und desselbigen Salniters; laufft auss dem sechsten Teyl der globel, ohn andre eynfallende Wasser. Sein Gang ist durch die Matrices der wilden rohten Granaten, auch der goldigen kiesigen Granaten mit viel anhangendem Erz des Silbers und des unzeitigen Goldes...“ Mein Vater, ein Naturkundiger, war in seiner Jugend viel in den Bergwerken gewesen und kannte alle Gesteinsarten, alle Erze und ihre Witterunge n. Von den Bergmännlein oder Gnomen wußte er viel abenteuerliche Dinge zu berichten, insbesonders auch wie sie den Bergleuten bei der Arbeit helfen, ihnen gelegentlich die reichsten Adern weisen und sie oft rechtzeitig vor schlagenden Wettern warnen. Vor allem erinnere ich mich noch nachstehender Erzählung: „Wir waren einst unser 20 Mann in der Grube und hatten eben gesprengt, da sahen wir, als der Rauch sich verzog, einen fremden Knappen an der Wand, wo die Schüsse abgefeuert worden waren, mit einer Blendlaterne herumzünden. Wir hielten ihn für einen von unseren Obern bestellten Aufpasser und verabredeten uns, ihn zu fangen. So eilten wir denn von verschiedenen Seiten in der Weise auf ihn zu, daß ein Mensch uns unmöglich hätte entfliehen können. Als ich und andere ihm bis auf drei Klafter na he waren, verschwand er vor unseren Augen in den Felsen, und daraufhörten wir ihn in diesen hämmern. Als dem Obersteiger der Grubenbericht erstattet wurde, kam er in freudiger Aufregung sogleich in die Grube, ließ sich die Stelle, wo der Gnom verschwunden war und man ihn hämmern gehört hatte, bezeichnen und befahl, sogleich dort anzusetzen. Es dauerte auch wirklich nicht lange, so fanden wir dort ein überaus reiches Erzlager.“ Einmal besuchte auf der Durchwanderung ein Bergmann meinen Vater, mit dem er im Unterengadin vor langer Zeit zusammen gearbeitet hatte. Als sie abends in unserer Stube im Gespräch beisammen saßen und allerhand merkwürdiger Begebenheiten, die sie auf ihren Kreuzund Querfahrten selbst erlebt hatten, gedachten, erzählte, während ich still und aufhorchend danebensaß, der fremde Bergmann: „In den Gruben von Scarla im Unterengadin trug mir der Direktor einst auf, nach Ansetzung meiner Leute in einer ändern Grube, einen Probekamin zu treiben. Ich sagte dahe r dem Mann, den ich als Aufseher bei den Knappen zurückließ, er möchte mich, wenn ich nach zwei Stunden nicht zurückkehrte, rufen lassen. In dieser Erwartung begab ich mich an die mir aufgegebene Arbeit. Während ich nun im Probekamin daransaß, hörte ich es hinter mir heraufkriechen und keuchen. Ich wandte mich um und erblickte einen kleinen bärtigen Mann, der an mir hinaufsah. Erst, in der Meinung, es sei der zu meinem Abruf bestellte Knappe, fragte ich: Soll ich hinunterkommen? Statt einer Antwort schlug der Mann eine höhnische Lache auf, so daß ich zornig wurde und ihm nacheilte, ohne ihn irgend erreichen zu können. Von meinen Leuten in der anderen Grube war keiner an mich abgeschickt worden. Dies erweckte in mir den Argwohn, der Direktor habe jemand geschickt, um zu sehen, ob ich den gegebenen Auftrag vollziehe. - Ich ging daher zu ihm und machte ihm Vorwürfe, daß er mir, der ich ihm so viele Jahre treu gedient habe, so sehr mißtraue. Zu meiner Verwunderung aber war er wie aus den Wolken gefallen über meine Beschwerde, die sich als ganz unbegründet erwies, und nach Anhörung meines ganzen Berichtes bemerkte er, das habe seine eigene sonderbare Bewandtnis, ordnete auch sogleich an, daß der Steiger ja nicht, wie befohlen gewesen, in die betreffende Grube fahre. - Ich legte mich nach dem Gespräch mit dem Direktor zur Ruhe, allein ich hatte gar nicht lange geschlafen, so rief er mir und führte mich zu der Grube, in der ich eben gearbeitet hatte: Sie war verfallen und der Gnom hatte mich gerettet.“
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Damals war es, daß ich zum ersten Mal den Stein der Weisen nennen hörte. Habt ihr ihn einmal gesehen, fragte mein Vater den fremden Bergmann, und er sprach so leise und geheimnisvoll, und in seiner Stimme lag etwas so Ehrfürchtiges, als spräche er von dem Venerabile. „Einmal in meinem Leben“, antwortete der Bergmann, ,,und ich habe selber damit Projektion getan. '' , ,Ihr selbst?“ Mein Vater sah den Bergmann staunend an: ,Ja, mit eignen Händen’ fuhr dieser fort, „aber ich habe ihn nicht selbst bereitet, dazu fehlt noch viel.“ „Wie ging das zu?“ Es lag eine Unruhe und Spannung auf dem sonst so unbeweglichen Gesichte meines Vaters, wie ich es nie zuvor bei ihm gesehen hatte, auch damals nicht, als meine Mutter starb und er ihr still und feierlich die Augen zudrückte, während die Ändern alle herumstanden und weinten. „Und wie seid ihr dazu gekommen?“ „So wie man zu dem Ungewöhnlichen mitunter kommt, oder eigentlich: wie es zu einem kommt“ entgegnete der Bergmann und fuhr fort: „Auf einer Wanderung durch Kärnten traf ich in Laibach mit einem Kursächsischen Bergwerkaufseher zusammen, der im Auftrag seines Vorgesetzten eine Erkundungsreise durch die vorbildlich geleiteten Kupferbergwerke Kärntens unternommen hatte und gerade im Begriffe stand, über Wien nach Ungarn weiterzureisen, um vor seiner Rückkehr auch die dortigen Antimonbergwerke noch in Augenschein zu nehmen. Vom ersten Augenblick an fühlten wir uns zu einander hingezogen, und da ich selbst nach Wiener Neustadt mußte, so beschlossen wir, die Strecke bis dorthin gemeinschaftlich zurückzulegen. Mein Begleiter war ein Mann von außerordentlichen Kenntnissen und doch zugleich, was gar nicht immer Hand in Hand geht, von tiefer durchsichtiger Frömmigkeit und seltener Herzensgüte. So kams, daß ich im Laufe unseres Zusammenseins eine große und entgegen meiner sonstigen Verschlossenheit vertrauensvolle Zuneigung zu ihm faßte. Er mochte das auch selbst empfunden haben, denn am Abend unseres Abschieds vor seiner Weiterreise in Wiener Neustadt gab er mir etwas Geld und bat mich, in der dem Gasthof gegenüber gelegnen Apotheke einige Lot Quecksilber zu holen und ihm dieses auf seine Gaststube zu bringen. Als ich mit dem Gewünschten bei ihm eintrat, hatte er über einem Holzkohlenfeuer einen Tiegel glühend gemacht und hieß mich, selbst das mitgebrachte Quecksilber hineintun. Dann schüttete er aus einer winzigen silbernen Kapsel etwa ein halbes Gran eines klaren roten Pulvers auf ein Stück Pergamentpapier und sagte zu mir: Sehet euch dies wohl an und vergeßt nie diese Stunde: das ist der hochgebenedeite uralte Stein der Weisen, den seit Jahrtausenden so unzählig viele gesucht und nur ganz wenige gefunden haben. Nun legt ihn hier in dieses Stücklein Wachs, damit er nicht zerstäube, und werft ihn auf das Quecksilber im Tiegel. Ich nahm das Körnche n des rubinfarbenen schweren Pulvers, das eigentümlich stark nach Mandelblüten roch, und warf es, zitternd vor Erregung, auf die flüssige glühende Masse, die aufwallte und sofort gestand. Nun klaubte er die Holzkohlen auseinander, ließ das Feuer ausgehen und wir warteten bis der Tiegel ganz erkaltet war. Dann ließ er mich den Tiegel von dem Dreifuß nehmen. Der Inhalt war goldgelb. Zerschlagt ihn, sprach er. Ich tats: das ganze Quecksilber war zu Gold geworden. Probiert das Gold auf seine Wertigkeit: Es was das feinste und hochgradigste Gold, das je mir vorgekommen. Er schenkte mir den ganzen Klumpen zur Erinnerung an unsre Reise. Dann aber nahm er meine Hand und sagte, während er ans Fenster trat und in die klare Nacht hinaussah: Ich bin kein Meister und Adept; die königlichen Meister des gebenedeiten, Steins der Weisen sehen anders aus als ich. Ich kann den Stein der Weisen selbst nicht machen. Nur eine Particulartinktur bringe ich zuwege. Aber das Magisterium, das ich besitze, mit dem ihr soeben Projektion getan habt und das hinreicht, meine Tage zwar nicht im Überfluß, doch sorgenfrei zu führen, wurde mir geschenkt von einem Meister. Und dieses war das ungleich größere Geschenk und die ganze Gnade meines Lebens: daß ich einmal vor einem wahren Meister stehe n und seine Stimme hören durfte. Das begab sich so: Ich durchquerte an einem Spätnachmittage im Dezember einen weiten unwirtlichen Wald in Siebenbürgen. Ich war schon viele Stunden ohne Rast gegangen und fühlte mich ermüdet von der Kälte und Beschwerlichkeit des Weges. Es mochte noch etwa eine Stunde bis zum nächsten Städtchen sein - soviel wußte ich von früheren Streifzügen in jener Gegend. Ich schritt rasch zu, um noch vor Einbruch völliger Dunkelheit das Städtchen zu erreichen, denn es hatte bereits ange fangen dämmerig zu werden. Da hörte ich es plötzlich einige Schritte abseits von der Fahrstraße im Gebüsche wimmern. Ich trat hinzu und fand einen splitternackten, blutüberströmten Mann, der sich nicht mehr aufrichten konnte und kaum mehr fähig war, 22
Unzusammenhängendes zu stammeln. Er blutete aus mehreren Kopfwunden. Soviel nur brachte ich aus ihm heraus, daß er von Wegelagerern überfallen und völlig ausgeplündert worden sei. Ihn liegenlassen und in dem entfernten Städtchen Hilfe holen, konnte ich schon der Kälte wegen nicht, und außerdem bestand Gefahr, daß er sich in der Zwischenzeit verbluten werde. Zudem auch hätte ich bei meiner Rückkehr die Stelle, wo er lag, im Dunkeln kaum mehr ausfindig gemacht. So blieb mir denn nichts anderes übrig, als ihn auf den Rücken aufzuladen und zu versuchen, ob es mir gelänge, ihn bis ins Städtchen huckepack zu tragen, wobei mir meine besondre Körperkraft zugute kam. Zuvor aber gab ich ihm aus meiner Feldflasche zu trinken, verband ihm notdürftig die Wunden und schlug ihn ein in meinen Mantel, denn er schulterte am ganzen Leib vor Frost und vor Erschöpfung. Aber trotz aller Anstrengung kam ich nur mühevoll und langsam vorwärts, so daß ich schon anfing, die Hoffnung aufzugeben, mit dem Verwundeten das Städtchen zu erreichen, da hörte ich hinter mir Hufschlag von Pferden und das Gerassel eines Wagens, was mich fast wie ein Wunder anmutete, denn in jener damals sehr unsichern Gegend begab es sich so gut wie niemals, daß sich um diese vorgerückte Stunde noch eine Reisekutsche unterwegs befand, zumal es eine Abkürzung und Nebenstraße war und keine der befahrenen Hauptpoststraßen. Ich trat mit meiner Last beiseite und wartete auf das Herankommen des Wagens, der in einem scharfen Trab daher fuhr. Es war eine vornehme und, wie mir schien, ausländische Reisekalesche; die Vorhänge waren zugezogen; drinnen brannte Licht. Da, im Augenblick als das Gefährt mich überholte und ich mich grade dazu anschickte, dem Kutscher zuzurufen, daß er halten möge, denn um mich ihm schon beim Heranfahren durch Zeichen verständlich zu machen, war es bereits zu dunkel, scholl aus dem Innern der Kalesche eine tiefe wohllautende Stimme, die dem Kutscher Halt gebot. Ich begriff nicht, wie der Insasse mich hatte stehn sehn können, da die Vorhänge, wie ich schon sagte, sämtlich dicht geschlossen waren. Der Wagen hielt mit einem Ruck und heraus stieg eine hohe männliche Gestalt in dunklem Reisemantel. Wortlos ging er auf mich zu, hob den auf meinem Rücken ohnmächtig Gewordenen herunter und trug ihn, ohne des herabrinnenden Blutes zu achten, mit einer Leichtigkeit, die mich in Staunen setzte, in die Kalesche. Dann winkte er mir, auch mit einzusteigen und die Pferde zogen wieder an. Das alles war Sache weniger Minuten. Die Kutsche war inwendig sehr geräumig. Der Fremde hatte den Verwundeten quer neben sich gelegt, den Oberkörper etwas aufgerichtet und durch Kissen unterstützt. Ich selbst saß auf dem Klappsitz gegenüber und verfolgte mit wachsender Verwunderung, wie der Fremde die von mir angelegten Notverbände erst entfernte, wodurch die Wunden trotz der Vorsicht, mit welcher er hierbei zu Werke ging, wieder stärker bluteten; doch währte das nur wenige Augenblicke, denn dann entnahm er einem der dem Kutschbock zugekehrten Wagenseite angebrachten Wandeckkästchen eine Kristallflasche mit einer rubinroten durchsichtig-öligen Flüssigkeit, tropfte sich vom Inhalt etwas auf die Hände und legte sie, so angefeuchtet, auf die Wunden des noch immer Ohnmächtigen. Das Blut gestand sofort. Dann berührte er ihm Stirn und Schläfen, und noch ehe man auf hundert hätte zählen können, schlug der Verwundete die Augen wieder auf, etwas murmelnd von einem hereinstürzenden blitzhaft hellen Licht. Im ganzen Wagen verbreitete sich ein Geruch von Mandelblüten. Nun gab der Fremde dem wieder ins Bewußtsein Zurückgerufenen aus einer anderen Phiole einige Tropfen auf die Lippen, und er erholte sich zusehends, so daß er schon nach weniger als einer Viertelstunde sich aufsetzen und sein Befremden über seine neue Lage äußern konnte. Der Reisende aber ging darüber mit den Worten hinweg, er sei im Vorbeifahren grade dazugekommen, als ich um ihn bemüht gewesen; da habe er anhalten lassen und uns zu sich herein genommen. Einige stärkende Tropfen Aquavits, das er für alle etwaigen Unfälle auf seinen Reisen mit sich führe, hätten dann das übrige getan und, setzte er hinzu, er hoffe, daß auch die weitere Genesung bald erfolgen werde. - Der so rasch Gekräftigte gab an, er sei nun schon drei Tage auf dem Pferde unterwegs gewesen, um in Karls bürg seinen hochbetagten, schwer erkrankten Vater vor seinem Tode noch einmal zu sehen und habe gehofft, am nächsten Abend bei ihm einzutreffen, da sei er vor etlichen Stunden von drei Wegelagerern überfallen, der Kleider und des Pferdes beraubt und völlig ausgeplündert worden, und wenn nicht zuerst dieser - er wies hierbei auf mich - und darauf Ihr, gütiger Herr, sich meiner angenommen hätten, so wäre ich meinem Vater wohl vorausgegangen; denn erst ritt eine vornehme Dame mit einem Cavalier an mir vorüber, ohne sich um mich zu kümmern, denen bald ein 23
prächtiger Reisewagen folgte, in dem zwei hohe geistliche Herren saßen. Die ließen zwar langsamer fahren, als sie mich bemerkten, dann aber hörte ich den Einen zu dem Ändern sagen, es sei der seidnen Polster wegen, die verdorben würden, untunlich, mich aufzunehmen - und der Wagen rollte weiter. Ich ließ, während er dies erzählte, meine Blick in der Kutsche schweifen, doch immer hafteten sie wieder an der Ampel, die in einer Art von Nische in die Rückwand eingelassen war und aus einem kubischen und scheinbar zugeschmolzenen Gefäß aus Bleikristall bestand, nahezu zwei Drittel angefüllt mit eben jenem klaren und rubinfarbenen Öl, das ohne irgendwie zu brennen, aus sich selber leuchtete und das ganze Innere des Wagens mit einem siderisch-gleichmäßigen Schein erfüllte - und ich begriff: dies war die wahre, ewige Lampe, von der ich in geheimnisvollen Andeutungen da und dort gelesen hatte. Mit einem ehrfürchtigen Schauer blickte ich hinüber zu dem Fremden, der teilnahmsvoll und gütig dem Bericht des Überfallenen gefolgt war. Er mochte gegen 40 Jahre zählen, aber sein ganzes Aussehn hatte etwas altersloses. Sein dunkles, scharfgeschnittenes bartloses Gesicht war streng und unbewegt, und nur in seinen Augen, deren linke Braue um ein geringes höher gezogen war als die rechte, lebte eine Welt von Liebe, Mitleid und verhaltner Trauer. Niemals zuvor und niemals später sah ich solche Augen, so sieghaft strahlend und so kindhaft weise; und ich dachte bei mir: So waren Adams Augen vor dem Fall. Da wandte sich der Fremde her und sagte: Adams Augen waren noch nicht körperhaft - wie hätte er des Baumes des Lebens sonst verlustig gehen können? - Und ich blickte in Verwirrung nieder. Der Nebenliegende verstand vo n diesem ganzen Vorgang nichts. Inzwischen hatten wir dem Städtchen uns genähert. Der Fremde zog den Vorhang auf der Seite, wo er saß, zurück. Es war schon völlig finster. Beim Scheine der Laternen auf dem Kutschbock sah man, wie der Wald anfing sich nach und nach zu lichten. Dann kamen einige dem Städtchen vorgelagerte Gehöfte. Noch eine kurze Strecke und wir hielten vor dem Stadttor. Der Torwächter öffnete den Schlag, warf einen Blick in die Kalesche und ließ uns passieren. Auf dem Gesicht des Ausgeplünderten, der schweigend vor sich hinsah, war deutlich die Ratlosigkeit zu lesen, was nun weiter mit ihm werden solle, so nackt und mittellos wie er dalag und außer Stande seine Reise fortzusetzen: da nahm der Fremde seinen Mantel von der Schulter und sagte: ,Hier, nehmt den meinigen; der Bergmann, dem ihr euer Leben heut verdankt, bedarf auf seiner Wanderung des seinen mehr als ich.' Und während er so sprach, sah ich vor meinem innern Auge dieses Bild: Auf einer Landstraße unweit einer fremdartigen Stadt aus früherer Zeit lag ein Aussätziger, nackt und frierend. Die zu Pferde und zu Fuß Vorüberziehenden beachteten ihn nicht. Da kam ein Mann daher auf einem Esel, hielt an und nahm den Mantel mit der nämlichen Bewegung, mit der der Fremde es getan, von seiner Schulter und hüllte den Aussätzigen damit ein, - da wußte ich: St. Martin; er war es selbst in einem früheren Leben. Und ich dachte, wie die Maler diesen Vorgang alle doch so falsch gemalt, die den heiligen Martin immer nur als einen Ritter hoch zu Pferde darstellen, der mit dem Schwerte seinen Mantel großmütig zerschneidet, um die Blößen des Aussätzigen damit zu decken, während er in Wirklichkeit doch nur auf einem Esel arm dahergeritten kam und keinen zweiten Mantel mehr besaß, nachdem er diesen weggegeben hatte. Noch war ich ganz ins Anschauen versunken und verstand doch jedes Wortes des Fremden, als er fortfuhr: ,Ihr müßt euch noch ein bis zwei Tage hier im Gasthofpflegen, bevor ihr eure Reise fortsetzt. Und macht euch keine Sorge, ihr kommt darum doch rechtzeitig genug, um euern Vater lebend anzutreffen. Ihr kommt, glaubt mir’, bekräftigte er, als ihn der Andre fragend ansah, mit einer Entschiedenheit, die keinem weitern Zweifel Raum gab. Dann reichte er dem Ausgeplünderten aus seiner Tasche eine volle Börse: ,Für eure Unterkunft und Weiterreise’, sprach er, ,ihr müßt euch morgen ja doch neu einkleiden. … und als der andre zögerte, sie anzunehmen, fügte er hinzu: ,und gebt, wenn ihr wieder zu Hause seid, soviel euch davon übrig bleibt, den Armen. Das lasset euern Dank sein!’ Der so Beschenkte wollte ihm die Hände küssen, doch er entzog sie ihm und sagte, auf mich deutend: ,Nicht ich, er ganz allein hat euch gerettet.’ Ich tat nur, was ein Mensch dem ändern tun muß, Herr’ - erwiderte ich zu ihm aufsehend. - ,So es ein jeder täte, wäre die Menschheit fortge rückt um einen Weltentag', gab er zur Antwort. Hier hielt der Wagen vor dem Gasthof. Der Gerettete dankte immer wieder tief bewegt und wurde dann, gestützt vom Wirt und einem Diener, in das Haus geführt. Er konnte, wie ich später von dem 24
Wirt erfuhr, da ic h mich noch für einige Zeit bei einem Gastfreund in dem Städtchen aufhielt, schon am dritten Tage seine Reise fortsetzen. ,Es muß ein sehr reicher Herr gewesen sein', fügte der Wirt hinzu, ,denn ob er schon einen Mantel von großer Kostbarkeit besaß, so ließ er sich doch tags darauf vom Schneider einen zweiten anfertigen, den dieser ihm in vierundzwanzig Stunden fertigstellen mußte. Den ändern aber ließ er erst in Seide und dann in bestes Leder einnähen und schnallte ihn, wobei ihm niemand helfen durfte, selber an den Sattel meines besten Pferdes, zu dessen Hergabe er durch eine hübsche Summe mich bewogen hatte... So haben reiche Herren ihre Eigenheiten’, schloß er ,doch hatte dieser seinen Reichtum von Gott zu Recht empfangen, denn ehe er fortritt, hinterließ er auf dem Amtshaus einen namhaften Betrag zur Unterstützung aller in dieser Gegend Überfallenen und Ausgeraubten.’ ,Ich reise, ohne Aufenthalt zu machen, weiter bis zur nächsten Poststation’ sagte der Fremde sich zu mir wendend, nachdem das Tor des Gasthofs sich geschlossen hatte - ,wo wünscht ihr, daß ich euch zuvor absetze?’ ,Mein Gastfreund wohnt nur wenige hundert Schritte weit von hier, dem Westausgang des Städtchens zu, es lohnt die Fahrt nicht, Herr’, erwiderte ich, ,darum erlaubt mir, daß ich mich hier von euch verabschiede’ ... ,Das ist auch meine Richtung - so haben wir doch noch ein kurzes Stück zusammen’, sprach er und rief dem Kutscher zu, wo er zu halten habe. Dann nahm er meine Hand und seine Worte brennen mir noch heute in der Seele: ,Ihr sähet richtig: der heilige Martin hatte nur den einen Mantel - ihr aber, Freund, ihr handeltet wie der barmherzige Samariter, das wird euch nicht vergessen werden. Ihr wißt auch, daß der Stein der Weisen niemals Dem gegeben wird, der ihn um seiner selber willen sucht. Ihr habt euch wert bezeigt, in diesem Leben an ihm teilzuhaben. Im nächsten Leben werdet ihr, sofern ihr euch an ihm bewährt, aus eigner Seelenkraft ihn finden können.’ Und während ich ergriffen schwieg, entnahm er einer unscheinbaren Reisetruhe, die wohl an die zwanzig Pfund jenes rubinfarbenen Pulvers fassen mochte, zwei volle Loth, tat sie in eine Kapsel und sagte sie mir reichend: ,Es ist genug, um euch für alle Zukunft jeder Sorge zu entheben. Und daß ihr niemals euch versucht sein laßt, die Macht, die ihr in Händen habt, zum Schaden anderer zu mißbrauchen. Denn in dem hochgebenedeiten Stein der Weisen liegt noch der ganze Segen und der ganze Fluch des Paradieses ungebrochen: das Kreuz des Christus in dem Sterne Luzifers. Dies ist der Saft vom Baum des Lebens in dem Kelch des Gral.’ Und er berührte, wie er dieses sprach, mit den drei ausgestreckten Fingern seiner rechten Hand mich an der Stirne zwischen den Augenbrauen und der Nasenwurzel. Ich fühlte, wie ein Strom ganz durch mich durchging, und meiner Sinne kaum mehr mächtig, brachte ich nicht mehr hervor als: Meister! Ich weiß nicht mehr, wie lange Zeit der Wagen schon gehalten hatte, als ich ausstieg, ich sehe nur, wie mir der Fremde nochmals zuwinkt ... Die Pferde zogen wieder an und der Wagen rollte in der Dunkelheit davon. Ich stand noch lange vor dem Hause meines Gastfreundes und horchte in die Nacht hinaus auf das sich immer weiter entfernende Rollen der Räder und ich gelobte mir, mein ganzes ferneres Leben so zu gestalten, daß es bestehen könne vor dieser Stunde ... Das war es, was der kursächsische Bergaufseher am Abend unsres Abschiedes in Wiener Neustadt mir erzählte“, schloß der fremde Bergmann und erhob sich. Mein Vater reichte ihm die Hand und wortlos trennten sich die beiden Männer. Am nächsten Morgen wanderte der fremde Bergmann weiter. Ich aber lag die ganze Nacht durch wach und überdachte all das Wunderbare und betete inbrünstig, daß auch mir einmal der fremde Reisende begegnen möge. - Ich fühlte seitdem, ohne daß ich mir als Knabe schon darüber Rechenschaft zu geben wußte: mit der Erzählung jenes fremden Bergmannes war eine unbekannte Macht in mein engabgegrenztes Dasein eingetreten, um etwas irgendwann von mir zu fordern, und von Stund an wurde ich von Tag zu Ta g nachdenk licher und stiller ... Bald nachher war mein dreizehnter Geburtstag. In der Nacht, die meinem Geburtstag voranging, hatte ich diesen Traum: Meine tote Mutter, in Aussehn und in Kleidung, wie sie war, als sie noch lebte, trat mit einer Schale Honig und einem Brote zu mir, tauchte dieses in den Honig und gab es mir zu essen. Ich wachte auf und es war mir, als gehe sie noch grade aus dem Zimmer. So schlicht und unbedeutend dieser Traum auch an und 25
für sich war, so fühlte ich doch gleich, er habe etwas für mich zu bedeuten, zumal ich ihn in der Vornacht vor meinem Geburtstage geträumt hatte. Ich ging daher am nächsten Morgen heimlich zu der weisen Frau, die sich auf Traumdeutung verstand und in der Hand zu lesen wußte, und die früher viel zu uns ins Haus kam, als noch meine Mutter lebte, weil ähnliche Veranlagungen sie verbanden, denn meine Mutter hatte oftmals Vorahnungen und Hellgesichte; und die beiden Frauen sprachen dann oft lange in die Nacht hinein von all dem Seltsamen, was sie erfahren hatten. - Die Türe zur angrenzenden Kammer, wo ich schlief, stand meistens offen, und da lag ich denn im Bette wach und horchte immerfort auf ihr Gespräch, und meine Seele tauchte tief hinunter in die Welt des Untermondlichen. Die weise Frau, die mich um meiner Mutter willen liebte, empfand eine große Freude über meinen Traum und sagte, er verheiße mir fürs ganze Leben Glück besondrer Art, indem der Honig die Süßigkeit der Weisheit bedeute, das Brot aber Besitz und Wohlstand, der mir durch sie beschieden sei. Seitdem zog ich mich mehr noch als zuvor zurück von meinen Spielgefährten, doch nicht weil ich mir etwa bevorzugter und anders vorgekommen wäre als sie alle, sondern aus einem mir selber unerklärlichen, zunehmenden Hang nach Einsamkeit, dem ich mit einer beinah eigensüchtigen Inbrunst nachgab. Täglich von Sonnenaufgang war ich meistens schon im Walde, von wo ich immer erst, wenn es zu dunkeln anfing, heimkam. Mein Vater, welcher selbst den ganzen Tag über abwesend und im Dienst war, nahm das kaum in acht, wenn ich nur Sonntags mit ihm in die Kirche ging und ihm Gesellschaft leistete. In seinen Feierstunden machte er allerhand seltsame Versuche und Experimente, wobei ich ihm dann helfen mußte, was ich besonders gerne tat, weil sie fast alle im Zusammenhange standen mit den Geheimnissen der Natur und weil sie meiner Neugier, immer mehr darüber zu erfahren, auf oft wunderliche Weise Nahrung boten. Einige der kuriosesten Versuche will ich hier berichten: Im Frühjahr, wenn der Spargel aus der Erde stieß, suchte er an jedem Stock einen recht starken Spargel aus und steckte ihn in den Hals einer grünen Glasflasche, die er umgekehrt darüber stürzte und mit Stäbchen befestigte, so daß sie nicht umfiel, weil der Hals der Flasche nur einige Zoll tief in der Erde stehen darf. Der Sparge lstengel trieb nun in der Flasche sehr schnell in die Höhe bis an den Boden der Flasche, wuchs hernach, weil er keinen Ausgang fand, immer an den inneren Seiten der Flasche fort, bis er ihren ganzen Raum ausgefüllt hatte und sie aus der Erde heraushob. Alsdann stach mein Vater den Spargel ab, zerschlug die Flasche und es fand sich nun ein Spargel von ein bis zwei Pfund und so zart, fein und wohlschmeckend, als nur irgend ein Spargel der besten Art und in der frühesten Jahrzeit sein kann. Man kann sich auf diese Weise vom Frühjahr bis tief in den Herbst hinein solche gleich gute Spargel ziehen. - Ein anderes Experiment, dessen ich mich noch entsinne, war das folgende: Mein Vater nahm abgekochtes Wasser, das er kalt werden ließ, damit es seine fixe Luft verliere und die erdigen Bestandteile fallen lasse. In dieses durch doppeltes Löschpapier geseihte Glas Wasser schüttete er ein Loth Bleizucker und ließ es etliche Stunden auf dem warmen Ofen stehen, damit sich der Bleizucker, vermittelst des Umrührens und der Wärme, im Wasser desto besser auflöste, seihte es durch in ein kugliges Blumenzwiebelglas und senkte an einem Faden, woran ein Stückchen Zink hing, den oben ein Querhölzchen trug, das Stückchen Halbmetall unter das Wasser. Nach Verlauf von wenigen Stunden begann unter Wasser eine seltsame chemische Vegetation: Es zerästelte sich der Zink, machte divergirende Blattribben, und an diese Ribben setzten sich von beiden Seiten kurze Blätter wie an der Mimose an. Diese ins Wasser gegen den Boden zulaufenden Blätter, die wie ein poliertes Metall blank sind, fuhren fort, sich in die Länge und Breite nach und nach zu vergrößern, es zogen sich ihre Spitzen zusammen und bildeten Weinlaubkränze, wie man sie vor die Weinhäuser aufzuhängen pflegt. - Noch besser geht die Sache mit einem Nagel von Zink vonstatten, den man in die Mündung des Glases steckt und dieses auf den warmen Ofen stellt. Besondere Freude bereitete es meinem Vater, den ganzen Winter über blühende Kirsch- und Mandelblütenäste bis zu zwölf Fuß Länge im Zimmer zu haben und er schmunzelte umso befriedigter, je größere Verwunderung gelegentliche Besucher über dieses ungewöhnliche Naturphänomen bezeigten, das er so zu Wege brachte: Im Dezember, Januar oder Februar sägte er, wenn der Frost am heftigsten war, in der Mittagsstunde und im Sonnenscheine, den längsten und dicksten Ast von einem der genannten Bäume ab und legte ihn zwei Stunden lang in fließendes Gewässer, wo es offen war, damit das 26
Wasser aus der gefrorenen Rinde den Frost herausziehe und die Schale der Knospen erweiche. Hierauf brachte er den Ast in die erwärmte Stube und richtete ihn in einem hölzernen Kasten, worinnen er ihn festband, in einem Gefäß mit Wasser in die Höhe. In dieses Wassergefäß warf er dann ungelöschten Kalk, den er nur zwölf Stunden lang darinnen ließ, weil man ihn dann herausnehmen und frisches Wasser zugießen muß, damit der Ast nicht zu stark treibe. Um zu verhindern, daß das Wasser faule, tat er noch für drei Pfennig Vitriol hinein. Wie erfreut war ich da jedesmal, wenn hierauf nach kurzer Zeit erst die Blüten und dann die Blätter herauskamen! Will man den Trieb dagegen mäßigen, so läßt man den Kalk weg, verfährt aber sonst auf dieselbe Weise, dann erscheinen die Blätter eher als die Blüten. Wirft man aber frischen Kalk nach, so erscheinen die Blüten in 24 Stunden und nachher die Früchte und die Blätter. Solcherart kann man beliebige Äste in seiner Stube einige Monate hindurch wie in einem Treibhause grünen und ihre Früchte wachsend erhalten; aber es wäre zu viel, wenn man von einem einzigen Aste fordern wollte, die Früchte auch noch bis zur Reife zu bringen. Inzwischen hatten meine Streifzüge und Wanderungen in die nachbarlichen Wälder und Gebirge immer mehr die Form kleiner Entdeckungsfahrten angenommen. Denn nichts verlockt uns mehr und weiter als die Aussicht von erstiegenen Bergen in die unbegrenzten blauen Fernen und der stete Lauf der Flüsse, die mit ihrer bunten Last der Schiffe weitab durch sonnige Ebenen, vorbei an großen unbekannten Städten in fremde Meere münden. Und allenthalben auf den Straßen das Vorüberziehn von Reisenden zu Wagen und zu Pferde, von denen keiner der sich Begegnenden den ändern kennt und jeder doch sein eigenes Schicksal und seine eigene verhüllte Zukunft mit sich führt. Und dann und wann dazwischen die farbigen Wallfahrer- und Pilgerzüge, die mit ihren Litaneien und Bußgesängen die nahen und fernen Täler füllten und ein vielstimmiges Echo weckten, während droben durch Geklüft und Schluchten mit Hörnern und Gebell von Hunden eine Jagd vorüberzog. Dann aber, wenn es Abend wurde, hörte man nur noch manchmal den verspäteten Axtschlag eines Holzfällers aus den entlegenen Gründen und das Brausen der Wildbäche, das erst ganz vernehmlich wurde, nun alle ändern Geräusche schwiegen. Oder ein nachzüglerischer Wanderer auf der Landstraße übersang mit einem Lied sein Heimweh, das immer wieder abends sich hervormacht, wenn die Nebel anfangen zu steigen und die Einsamkeit von allen Seiten fühlbar auf uns zukommt. Wie nahm doch so mancher damals mit seinem Liede meine eben wachwerdende Seele mit in die tausendfältige Welt des Unbekannten und der farbigen Gefahren! Noch heute liegt das Singen zweier Weggeseilen mir im Ohre, die über eine nahe Anhöhe in die warme Spätsommernacht hineinzogen: Wie weit sind wir heut schon ge gangen Über Flüsse und Täler und Höhn! Die Welt ist so voller Verlangen Und alles so ziellos und schön. Warum eine Herberge suchen Solang noch der Sommer so kühn? Hier laßt uns bei Birken und Buchen Diese Mondnacht verbringen im Grün! Die Schatten, sie werden schon länger. Sieht man auch die Ferne nicht mehr So flüstert die Nähe - dem Sänger Gibt jedes Geheimnis sich her. Wo immer wir weilen und wandern, Allein oder wechselnd gesellt. Mit dir oder morgen mit Ändern, Ist Liebe und Leben und Welt! 27
So gab es, als der Sommer seinem Ende zuging, in der ganzen Umgegend keine Burg und kein Kloster, keine Mühle und keinen Meiler, zu denen ich auf meinen Streifereien nicht gekommen wäre, ich kannte jede Jagd- und Köhlerhütte und die entlegensten Gehöfte rings im Umkreis, und insbesondere alle gemiedenen Orte, von denen man sagte, daß es dort nächlich umgehe, übten eine eigene Anziehung auf mich aus. Schon damals konnte ich es nicht verstehen, warum die Menschen sich vor den Erscheinungen und Kundgebungen der ändern Welt so fürchten, da ihre Toten und die guten Geister ihnen ja wohlwollen, die bösen Geister aber doch keinem etwas anzutun Macht haben, der ihnen die Hand dazu nicht selber reicht. Und wenn ich hörte, wie die meisten ihre Meinung dahin äußerten, der Mensch sei nun einmal für dieses Leben in die Sinneswelt hineingeboren und es sei daher nicht nur nicht seine Aufgabe, erforschen zu wollen, was jenseits derselben liege, sondern er versündige sich sogar, wenn er den Schleier, der die geist-seelische Sphäre deckt, zu lüften trachte, so widersprach dieser Ansicht jedesmal das sichere, wenn auch in Worten für mich damals noch nicht faßbare Gefühl in mir, daß jenes innere Wissen um das Göttliche, die feste Zuversicht auf unsere eigene Fortexistenz und der unerklärliche Drang, hinüberzuschauen über die Schwelle des Todes, nicht in unser aller Seelen eingepflanzt ist, um zu verkümmern oder erstickt zu werden, sondern damit wir gerade diese Anlage als das eigentliche und einzig Überzeitliche in uns ausbilden und wirksam werden lassen und das uns allen eingeborne Seelenauge zur Klarheit bringen. Und als ich dann erst viele Jahre später in die Schriften der Mystiker und Meister mich vertiefte, fand ich darin bestätigt, was ich damals nur als Ahnung unbewußt gefühlt, und ich erkannte, daß der ganze Schulungsweg des Mysten auf nichts anderes ausgehe, als auf die Ausbildung eben jenes inneren geistig-seelischen Sehorgans, vor dem die Welt des Übersinnlichen sich noch viel eindeutiger offenbart als je die Welt des Sinnlichen vor unserem körperhaften Auge. Damals suchte ich die Begegnung mit der geist-seelischen Welt noch in dem Untermondlichen, Astralen. Stunden und Stunden verbrachte ich so an verschrieenen Orten, immer in der Spannung und Erwartung, daß doch auch mir einmal ein solcher Spuk begegnen möchte: sei es an der Holdermanns-Eiche, wo sich vorlang ein Fuhrknecht namens Holdermann erhängt hatte und der seitdem sich den Vorübergehenden, doch meistens nur in Neumondnächten, zeige - oder im Kreuzgrund, von dem die Sage ging, daß dort ein Schatz vergraben liege, den vor Jahr und Tag drei Schatzgräber nachts zu heben suchten, und der vor ihren Augen immer tiefer sank, weil einer, als der Schatz sich zeigte, ausrief: „Haltet ihn, da ist er!“, und wo man seitdem nächtlich Lichterscheinungen und Flämmchen sähe, die jeden, der sich nähere, verscheuchten - oder ich machte, wenn ich abends heimging, den Umweg an dem Hochgericht vorüber und sah am Galgen die Gehängten baumeln, stets hoffend, einmals die Alraunwurzel dort auf zutreiben, von der es heißt, daß sie dem, der sie besäße, alle Wünsche zu erfüllen mächtig sei. Aber da ich mich nicht traute, meinem Vater gegenüber etwas dergleichen verlauten zu lassen, und er auch niemals zugegeben hätte, daß ich eine ganze Nacht allein im Wald verbringe, die Erscheinungen jedoch nur nachts sich kundtun, so blieb meine geheimnisvolle Neugier vorerst unbefriedigt. Eines Tages aber - nicht sehr lang danach - wurde meinem Wunsche, das Hereinragen der Geisteswelt in die Vorgänge des äußeren Lebens selber zu erfahren, auf eine unerwartete und mich tief beeindruckende Weise von drüben stattgegeben. Gastein hatte damals, zur Zeit meiner Kindheit, noch zwei Friedhöfe, den alten und den neuen, von denen sich der alte schon seit Jahren nicht mehr in Gebrauch befand. Die Eltern meiner Mutter, die aus Gastein gebürtig war, gehörten zu den Letzten, die auf dem alten Friedhof noch begraben worden waren. Ich habe beide zwar nicht mehr gekannt, doch waren sie mir ihrem Aussehn nach vertraut, weil ihre Bilder über dem Bett meiner Mutter hingen. Dieser alte Friedhof wurde ein Menschenalter später umgegraben, und für andere Zwecke verwendet. Auch die Kapelle, die dort stand, in der man schon seit Jahren keinen Gottesdienst mehr hielt, wurde gleichzeitig abgerissen. Dazumal jedoch bestand noch beides in leerem und verlassenem Zustand. Nur die Alten, die noch Verstorbene dort liegen hatten, die ihnen einmal nah gestanden, besuchten dann und wann den verwilderten abseitigen Friedhof, der ganz von Schlingpflanzen und Efeu überwuchert war. 28
Die Kapelle aber blieb jahrein jahraus verschlossen. Der Schlüssel befand sich in den Händen des alten Stiftpredigers Bahnmaier, der mit seinen langen weißen Haaren und den klaren blauen Augen von jeher etwas Ehrfurchtgebietendes, ja fast Geheimnisvolles für mich hatte. Ich grüßte ihn daher auch stets, so oft ich ihm begegnete, besonders ehrfürchtig, und einmal - ich entsinne mich noch so genau als wäre es erst gestern - stand er still, nahm meine Hand und sagte: „Du hast einen besonderen Schutzengel, Renatus; er wird dich andre Wege führen, als die meisten Menschen gehen, halte dich immer so, daß du dich nie vor ihm zu schä men brauchst“, fuhr über meine Haare und ging langsam weiter ... Das Haus, das er bewohnte, grenzte grade an den alten Friedhof, während Haus und Garten meines Vaters, das Erbteil meiner Mutter, einige hundert Schritte weit entfernt am Hange lag, von wo aus man den ganzen Friedhof überblicken konnte. Der Sommer war vorüber und hatte jedem seine Hoffnungen erfüllt. Und wie die Witterung kühler und die Tage kürzer wurden, nahmen auch meine Streifereien in die Umgegend mehr und mehr ihr Ende. Allerseelen war herangekommen. Es war einer der windigen und regnerischen Allerseelentage, wie sie gewöhnlich sind, weil alle die aus der untermondlichen Sphäre hergebeteten und herdrängenden Seelen das Windhafte und Wasserhafte mit sich herumerfuhren, um so, wenn auch nur für die flüchtige Dauer ihres Aufenthalts im nächsten Erdenumkreis, nicht ganz des Elements, in dem sie heimisch sind und wesen, zu entbehren. Vormittags war ich nach dem Gottesdienst mit meinem Vater auf dem neuen Friedhof bei dem Grabe meiner Mutter gewesen, das wir mit selbstgezogenen Dahlien und Astern schmückten, und spät am Nachmittag, als es schon dämmrig wurde, ging ich allein mit einigen Blumen noch hinüber auf den alten Friedhof, der fast verweist lag; nur hin und wieder trippelte ein altes Mütterchen mit einem Licht vorüber und verschwand im Nebel. Zerstreut und ganz vereinzelt brannte über den verwachsenen Gräbern da und dort ein mattes Lämpchen. Ich setzte trotz der Kälte und der Nässe mich auf einen alten, längst unleserlich gewordenen Grabstein und ließ mich von der zunehmenden Dunkelheit, die sich fast körperhaft auf alles ringsum legte, aufnehmen. Mein Vater, wußte ich, hatte diesen Nachmittag den Sonntagsdienst und werde nicht vor acht zurück sein, so würde er mich also nicht vermissen. Ich fühlte, während ich so dasaß und über den Friedhof in der Richtung der Kapelle vor mich hinsah, wie sich die Dunkelheit immer mehr mit irgend etwas Fremden füllte: es war das ein Gefühl, wie ich es nie zuvor empfunden hatte, am meisten noch wie ich es hin und wieder wohl aus Träumen kannte, das nicht beschreibbare und fast sinnliche Gefühl des Ringsumwestseins von etwas sich verdichtend Gegenwärtigem, das sich mir mitzuteilen strebte und es doch meines eignen Unvermögens halber nicht vermochte. Ich kann nicht sagen, wie lange ich in diesem fremdartigen Zwischenzustand mich befand, aber auf einmal sah ich, wie der alte Stiftsprediger Bahnmaier durch die Friedhofspforte kam und mit dem ihm eigenen langsamen Schritt auf die Kapelle zuging; er schloß die Türe auf und die ehrwürdige Gestalt verschwand im Innern. Ich hatte ihn, da ich nicht weit davon saß, trotz der Dunkelheit sogleich erkannt. Gleichzeitig fühlt ich, wie alles, was noch eben wesend um mich her war, wie weggesogen, mich verließ und der Kapelle zustrebte. Die Luft um mich war wieder wie sonst immer. Nun fiel ein schwacher Lichtschein aus den dick zerstaubten und mit Spinnweben überzogenen Fenstern. Das Merkwürdigste aber dabei war, daß es den Eindruck machte, es gehe jener Lichtschein aus von einer Versammlung von zahlreichen Irrlichtern, obwohl ich keines je zuvor gesehen hatte - die sich darinnen hin und her bewegten. Nach wenigen Minuten beruhigte sich die Lichterscheinung, und nun schien die Kapelle ruhig matt erleuchtet. Ich konnte meine Neugier nicht mehr meistern: von meinem Steinsitz aufstehend, näherte ich mich leise der Kapellentüre. Sie war nur angelehnt. Furcht überfiel mich keine, denn ich wußte ja den Stiftsprediger Bahnmaier in dem geheimnisvoll erhellten Räume. Erst legte ich mein Ohr dicht an die Türe, weil es mir schon beim Näherkommen war, als höre ich ihn drinnen sprechen. Ich hatte mich auch nicht getäuscht: Er sprach - er predigte. Jetzt öffnete ich unhörbar die Türe: Da stand mir abgewandt der alte Stiftsprediger Bahnmaier predigend vor dem Altare und um ihn her im Kreise, die Kapelle unabsehbar füllend, übereinander gelagert und Eigenlicht ve rbreitend, eine Gemeinde von Toten, die Großeltern mitten darunter genau wie ich 29
sie von dem Bild im Zimmer meiner Mutter kannte. Meine Mutter selbst war nicht zugegen. Kaum hatte ich indeß den Raum betreten, scholl von irgendwoher eine Stimme: Cave! alienus! Der Stiftsprediger Bahnmaier wandte sich und sah mich stehen. Er machte mir ein Zeichen, ruhig zu verharren und fuhr fort in seiner Predigt: ... „Und wieder jährt sich heut der Tag der Toten. Ihr alle habt, seit ich das letzte Mal euch predigte, ein weiteres Stück auf eurem Seelenweg zurückgelegt. Und manche, die das letzte Mal noch hier mit euch versammelt waren, sind seitdem aufgestiegen in die höheren Sphären, von wo sie Erdenanruf, Erdgebundenheit und Erdenmitgeschick nicht mehr zurückzieht, hinauf zu Geistgebieten, in welche auch mein Seherblick nicht mehr hineinreicht. Und weiter, höher noch, durch Sternenregionen in Engel- und Erzengelreiche - denn also ist der Totenweg, dem Christusgeist entgegen. - Ihr alle aber, noch im Untermondlichen Gefangenen ihr, die ihr euch an jedem von uns ausgesprochenen Liebeswort erwärmt, an jeder von uns ausgeübten Liebestat erkraftet: ich sammle alle euch vereinzelt zugeatmeten Gedanken und sende sie euch heute zu als Erdenmenschensegen. Nicht außer euch, in euch, in eurem eignen Innern brennt das Fegfeuer: sobald ihr dies erkennt, seid ihr erlöst vom Zwischenreich, ihr Seelen. Dann ist für euch der Aufstieg frei zum reineren Lichte, denn sieghaft ragt am Weltenhintergrund für alle Ewigkeit das Kreuz von Golgatha!“ Es erscheint mir noch heute unbegreiflich, daß ich die Predigt fast im Wortlaut bewahrt habe und daß sie mir unverändert bis zum heutigen Tage im Gedächtnis blieb. Ich kann mir das nur aus der mich tief aufwühlenden Erschütterung erklären, die dieses ungewö hnliche Erlebnis auf mich machte, das in der Folge für mein ganzes Leben von entscheidender Bedeutung werden sollte. Denn als der Stiftsprediger Bahnmaier seine Predigt beendet hatte und die Totengemeinde, in eine Art phosphorierenden Nebels ineinanderschwimmend und vergehend, zusehends erloschen war und nur ein kühles, luftiges Nachwehen zurückließ, trat der geheimnisvolle Seher auf mich zu und sagte, mich mit gütigem und ernstem Blicke ansehend: „Versprich mir in die Hand, Renatus, von dem, dessen du eben Zeuge warst, so lang in lebe, keinem Menschen gegenüber je ein Sterbens wort zu reden, hörst du! Ich könnte sonst an künftigen Allerseelentagen von hier aus nicht mehr zu den Seelen sprechen und sie gingen eines großen Trosts verlustig, und du verrietest dann nicht mich allein, Renatus, du verrietest auch die Toten.“ Außer Stande ihm zu antworten, legte ich nur schweigend unter seinen großen liebevollen Augen, die mich durch und durch sahn, meine Hand in seine, und er wußte, daß ich das ihm gegebene Versprechen wie ein heiliges Gelübde halten werde. Aber er muß wohl auch zugleich gesehen haben, daß ich eine mir nahegehende Frage auf dem Herzen hatte, denn, als er hinter uns die Türe der Kapelle wieder abgeschlossen hatte, fing er stehnbleibend selber davon an: „Ich weiß, Renatus, es bedrückt dich, in jener Schaar von Toten, die noch eben um mich her versammelt waren, deine Mutter nicht erkannt zu haben, und doch war sie darunter, nur in einem so feinstofflichen Seelenkleide, daß dein erst hellsichtig gewordenes Auge sie noch nicht wahrnehmen konnte; denn je weniger erdgebunden eine Seele nach dem Tode ist, um so feinstofflicher ist das Gewebe, in welches sie sich kleidet. Und deine Mutter war schon während ihres Lebens so gereift und losgelöst, daß sie nicht viel, sie hier Festhaltendes mit sich hinübernahm; darum wird auch die Spanne, die sie in dem Zwischenreich zu weilen haben wird, nur eine kurze sein. Deine Großeltern dagegen, so gute und rechtschaffene Menschen sie auch waren, waren sehr viel mehr an alles Irdische und Ihrige verhaftet, und so vollzieht sich ihre Loslösung davon auch um so langsamer. Denn das, was jede Seele in dem Zwischenreiche festhält, ist nichts als ihre eigne Vorstellung.“ - Nachdenklich überquerte er den Friedhof seinem Hause zu. Ich ging, unsicher wie ich mich verhalten solle, zögernd neben ihm. Da wandte er sich von der Haustüre, geschützt vom Vordach vor dem Regen, mir noch einmal zu und sagte: „Durch Hinhorchen hast du von der Natur schon viel gelernt, Renatus - das wird dir später erst in das Bewußtsein treten - nun aber ist es für dich Zeit, noch vieles andre, was du wissen mußt, hinzuzulernen. Du kommst jetzt in die Jahre, eines Leiters zu bedürfen. Ich sehe dir schon lange zu, Renatus. Möchtest du mein Schüler werden?“ Vor Dank und Freude keiner Antwort fähig, küßte ich nur seine Hand und nickte. „Dann komm von morgen an vor abend, wenn es dämmert, immer zu mir; wir wollen dann die Stunde, bis dein Vater heimkehrt, miteinander lernen.“ Er strich mir, wie schon einmal, über meine 30
Haare und betrat den Hausflur. - Von jenem Allerseelentage an begann für mich ein neuer Abschnitt meines Lebens. Als mein Vater von dem Sonntagsdienst wie immer später als an Wochentagen heimkam, mußte er die Veränderung, die während seiner Abwesenheit mit mir vorgegangen war, mir angesehen haben, denn er fragte mich, ob etwas besonderes vorgefallen sei. Ich sagte ihm, ich sei dem Stiftsprediger Bahnmaier begegnet und er werde mir von jetzt an täglich Unterricht erteilen, worüber sich mein Vater sichtbar freute. Er sprach von ihm mit großer Hochachtung und ließ dabei einfließen, er wisse mehr vom Jenseits und jenseitigen Dingen, als sonst ein ga nzes Domkapitel wohl zusammen. - Am nächsten Abend mit Anbruch der Dämmerung fand ich mich bei dem Stifsprediger Bahnmaier zum ersten Male ein.
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Lichtungen Ein Roman-Fragment Überm Sturz des Wasserfalles Wob sie unsichtbar Schon in Vorzeit, als noch alles Unbegangen war. Lange schon vor dieser Hänge Ausgeglichener Zier War es so als sänge, sänge Eine Stimme hier. Aber die Vernommne: Keiner Hat sie noch erschaut; Oder sah sie einmal Einer Hat ers nicht vertraut. Doch wer je dahin gefunden, Wußte auch um sie; Die Bedrängnis jener Stunden Wars, die aus ihm schrie Wenn er aus auf Abenteuer Über Höhen ritt, Und er führte wie ein Feuer Ihre Stimme mit. Oft benahm ihn ihre Nähe Irgendwo im Wald, Und dann war ihm: nun geschähe Auch das Wunder bald. Daß ihn nur nach ihr verlange, Er verbarg es tief; Noch im letzten Übergange War es sie, die rief. Nach wie vor verzückte Waller Stehn in ihrer Frohn. Ewig folgt der Wandel aller Sehnsucht ihrem Ton. Halb aufgerichtet saß er am waldigen Abhang und horchte verwirrt in die Töne: Es mußte Abend sein, die Sonne schien schon schräg durch das Gehölz. Ihm war, als sei dies hergetragene Lied das Weiterklingen seines Traumes, des einen, nie zu Ende geträumten, die uranfängliche, stetsgesuchte Geleitweise seiner Wege ... Das war der Ruf, sprach es in ihm - : „Der Ruf des zweiten Lebens. Heute hat sein Ton dein Ohr getroffen“ ... Er sah nicht in die Runde, um auszuspähen nach Der, von der die Stimme ausgegangen war - er wußte: sie ist überall und nirgends - sie wird vor dir stehen einmal in der Lichtung, irgend einmal ... 32
Er hatte den ganzen Nachmittag hindurch geschlafen. Aber das war kein gewöhnlicher Schlaf gewesen, denn er fühlte: Etwas war in diesem Schlafe mit ihm vorgegangen. Etwas hatte sich von ihm abgelöst aus seinen inneren Kreisen und etwas Neues hatte sich zu ihm hergefunden, nur was es sei, konnte er nicht ergründen. Alles was er bisher gedichtet hatte, kam ihm in dieser Stunde schal und leer vor. Das, worauf es letztlich ankam: das hintergründig Unabtastbare war darin nicht eingefangen. Nun hin und wieder zuckte ein verwirrend fremder Schein darüber hin, war da und dort ein Laut hörbar aus einem unterirdisch dunkeln Wissen, das ganz herauf zuheben nicht in seiner Macht lag. - Es war dies ein Geschenk ganz seltener Augenblicke. Wo aber fand sich Weg und Zugang zu jenen mitternächtigen verdeckten Quellen? Er stand auf und bestie g, einem unbestimmten Zuge folgend, langsam die nahe Anhöhe, die dem Auge eine weite Aussicht bot. Am fernen Horizonte ging grade die Sonne unter. Eine große Stille war. Das Geräusch des einen Steinwurf weit entfernten Wasserfalles, der sich in die seitlich gelegene Talschlucht stürzte, schien davon völlig abgesondert und für sich zu sein, lebte in seiner eigenen Welt. Wie eine Erinnerung stieg es auf in ihm: hier warst du schon. Die ganze Gegend kam ihm plötzlich tief bekannt vor; nur hatte er sie unwirtlicher und wilder im Gedächtnis, als sie heute vor ihm lag. Und doch war er noch nie hier hergekommen. Oder war sie ein Erlebnis seiner Träume? Traumlandschaften sind oft düster und zerklüftet. Aber wie konnte sie in seinen Träumen leben, wenn er sie nie zuvor gesehen hatte? - Zum erste Male wieder seit seiner Kindheit erwachte in ihm die Ahnung tiefer fernabliegender Zusammenhänge. Er erinnerte sich, als Kind um viel Seltsames, Geheimnisvolles gewußt zu haben, das ihm später nach und nach verloren ging, fast ohne daß er es bemerkte; nur ein fremdes, zwielichthaftes sich dazu Hingezogenfühlen war in ihm lebendig geblieben. Er sehnte sich nach jenem Besitz zurück, der ihn damals so phantastisch reich und einzig glücklich gemacht hatte: nach jener ganzen transparenten Innenwelt der Seele, die wie ausgelöscht schien, seit er ein Mann geworden war. Immer tiefer sich so in sich hineinverlierend hatte er die Schritte dem Wasserfall zugelenkt und stand nun an der Stelle, wo das Wasser aus der Klamm hervorbrach und freudig über das erkämpfte Tageslicht, von Fels zu Fels sich schnellend, mit Ungestüm vom Tal Besitz ergriff. Während er dieses sinnbildliche Schauspiel mit abwesendem Blicke in sich aufnahm, war es ihm, als gehe die Gegend vor ihm in einen früheren verwilderten Zustand über, bis sie wieder ganz das Aussehen hatte, dessen er sich zu entsinnen glaubte. Urwaldbäume warfen riesenhafte Schatten von einer sehr viel ungestümeren Sonne. Da plötzlich vor ihm eine männliche Gestalt, gebräunt und sehnig, mit umgeworfene n Fell, die rechte Hand auf einem Wurfspeer - lauernd, vorgebeugt Gestrüpp, das sich behutsam teilt: Ein hochgewachsenes Mädchen, vorsichtig lugend rechts und links, ein Rehfell um geschmeidige Hüften, den Bogen mit dem Köcher auf dem Rücken. Sie sieht ihn nicht, ein Baumstamm deckt ihn. Ein Sprung: der Jüngling faßt sie, reißt sie an sich, hoch in den Arm, sie fortzutragen. Sie beugt sich aus der Höhe über ihn: ein jäher Schmerz in seiner linken Schulter, sein Blut tropft warm vom Biß der breiten Zähne. - Sekunden lockert sich sein Griff. Sie nutzt es aus, entwindet sich der Haft: In raschen Sätzen ist sie die Schlucht hinab entflohen. Sieghaftes Lachen gellt den Abschiedsgruß. Wie eine Flamme flackert hinter ihr rostrotes Haar durch die braunen Stämme ... zu spät! Zu groß der Vorsprung, um sie einzuholen. Der Jüngling steht und blickt ihr nach - nur einen Atemzug lang: Dann außer sich vor Wollust, Schmerz und Wut wie unter einem blinden Zwange schleudert er seinen Wurfspieß in die Richtung der Geflüchteten. Ein wilder Aufschrei. Besinnung kehrt in ihn zurück. Er sieht nur noch, wie die Getroffene sich überschlägt und in die Bergschlucht stürzt ... Schaudernd entflieht er in das Dickicht ... Dieser ganze Vorgang hatte sich in schnellster Aufeinanderfolge vor dem inneren Auge des ganz in das Anschauen Versunkenen abgespielt. Er hatte ihn so miterlebt, als sei er selbst der Handelnde: er fühlte, sah und hörte mit den Sinnen jenes anderen, dessen ungeheure Erregung noch immer in seinem eigenen Herzen nachhielt. Eine grauenhafte Ähnlichkeit zwischen sich und jenem hatte ihn erschüttert bis ins Mark. Er sah auf seiner Schulter nach der Stelle, wo den anderen der Biß verwundet hatte, weil er selber dort die Nachwehen des Schmerzes zu empfinden glaubte. Da bemerkte er mit Grauen, daß es genau die Stelle jenes Muttermals sei, das ihn kennzeichnete. 33
In diesen Augenblick erfuhr er in sich die durch nichts mehr zu erschütternde Gewißheit, ohne doch zu wissen, wie sie zu ihm kam, daß das soeben Angeschaute ein inneres Erlebnis seines eigenen Selbstes aus einem früheren, langverflossenen Leben sei, und die ganze Schwere einer noch ungesühnten Schuld, die er irgendwie und irgendwann noch abzutragen habe, legte sich wie Mehltau auf seine Seele. Zwingend und unerbittlich stand mit einmal die Erkenntis vor ihm, daß der Inbegriff seines Daseins nicht in einem einzigen Leben beschlossen liege, sondern daß er schon wiederholt und in mancherlei Gestalt über die Erde gegangen sei. Und mit dieser jähen Einsicht verband sich zugleich auc h das Bewußtsein, daß sich die Schicksalsfäden von einem Leben in das andere hinüberspannen. Wie eine Erleuchtung war das über ihn gekommen und stellte sich entschiedend an den Eingang seines zweitens jugendlichen Lebensabschnittes, der für ihn begonnen hatte, als er vor einigen Tagen auf der Suche nach derjenigen, deren Ring er seit seiner frühesten Knabenzeit am Finger trug, von seiner väterlichen Burg auszog, wo er als Verwaister aufgewachsen war unter der Aufsicht eines bejahrten und gelehrten Schloßkaplans und einer geheimnisvollen Alten, die ab und zu ging und oft tagelang ausblieb, ohne daß er je erfahren konnte, welches Handwerk sie betreibe. Von sich selbst und seinen Eltern wußte er nicht mehr, als daß seine Mutter nach einer kurzen und unglücklichen Ehe bei seiner Geburt gestorben sei; sein Vater, der Graf von Reichenau, hatte, als er ungefähr zehn Jahre zählte, eines Nachts die Burg verlassen und war nicht mehr zurückgekehrt. Das geschah kurz nach jenem Abenteuer im Walde, das er mit allen Einze lheiten noch so deutlich gegenwärtig hatte, als seien erst zehn Tage, nicht zehn Jahre seitdem darüber hingegangen. Sein Vater pflegte oft von früh bis spät in der Umgegend des Schlosses umherzustreifen und lehrte ihn, auf die Spuren der Tiere und den Ruf der Vögel achten. Oft setzte er ihn vor sich auf das Pferd und ritt mit ihm querwald durch schwarze Stämme oder über unübersehbar weite Matten. Mitunter an schwülen Gewittertagen nahm er den Weg auf das benachbarte Gebirge zu den schwindelnden Felsschlüften entlang und über reißende Wasserläufe, daß vor Angst und Seligkeit den Knaben schauerte, wenn im Westen die schwefelgelbe Wetterwand emporzog, aus der heraus ein rasches Wetterleuchten rechts und links die Abgründe, an denen sie vorüberflogen, jäh erhellte. Seines Vaters erinnerte er sich als eines hohen dunkelfarbigen Mannes mit schwärzlichblauen Haaren und verhangener Stirn, der oft tagelang schwieg und in sich hineinsann. Er hatte diesen strengen und verschlossenen Mund nie lächeln sehen. Einmal aber am Abende vor jener Nacht, in welcher er die Burg verließ, hatte ihn sein Vater in die Arme geschlossen und ihn mit solcher Leidenschaft an die Brust gezogen, daß er jene einzige Umarmung nie vergessen konnte. Als am anderen Morgen sein Vater aus der Burg verschwunden war und auch nach Tagen und Wochen des Wartens nicht mehr wiederkehrte, da verstand der Knabe wohl, daß dies ein stummes Abschiednehmen gewesen sei, und er ahnte, daß der so plötzliche Fortgang seines Vaters in einem rätselhaften Zusammenhang stehe mit jenem Abenteuer im Walde: Wie schon oft zuvor war sein Vater damals mit ihm ausgeritten. Bei einer Lichtung unfern der Landstraße waren sie abgesessen. Indeß das Pferd frei graste, saß sein Vater auf einen umgestürzten Baumstamm nieder, gesenkten Hauptes, seinen Gedanken hingegeben. Ihn selber zog es tiefer in den Wald, wo er den Kuckuck rufen hörte, weil sein Vater ihm einmal gesagt hatte, daß es besonderer Geschicklichkeit bedürfe, um den Kuckuck, während er rufe, zu beschleichen ... Plötzlich vernahm er aus der Ferne Hufschlag und im Sommerwinde hergeführte Stimmen, doch dachte er nicht anders, als daß Kaufleute auf der Landstraße vorüberzogen. Er ließ sich darum auch in seinem Vorhaben nicht weiter stören. Der Kuckuck hatte sein Rufen wieder aufgenommen, und es gelang ihm, sich so nah heranzuschleichen, daß er beobachten konnte, wie der etwa taubengroße braune Vogel mit jedem Ruf den Kopf nach vorne duckte, ähnlich wie ein Auerhahn, der balzt. Nachdem er eine Zeitlang so auf der Lauer gelegen hatte, war es ihm, als näherten sich am Waldrand Schritte, und als er sich umsah durch das Baumwerk, gewahrte er ein kleines Mädchen seines Alters in kostbarer und fremder Reisetracht, das überm Bach am Steilhang Beeren pflückte. Die Sonne warf von rückwärts schräge Strahlen aus der Lichtung durch ihre rötlich-goldenen Haare, so daß mit einmal für den Knaben der ganze Waldsaum wie durch einen Zauber in einem Netz von 34
Goldgewirk zu weben anfing. Verwirrend überkam ihn das halb beseligende, halb ängstliche Gefühl, als gehe von jedem einzelnen Haar ein heller feinster Faden aus und ziehe um ihn her in weitem Kreise ein durchsichtiges und dennoch undurchdringliches Gespinst, aus dem es nie mehr ein Entrinnen für ihn gäbe. Etwas Niegekanntes, tief Aufwühlendes ging vor in seiner Seele, ein Zwiespältiges, das halb ihn trieb, vor dieser unaussprechlich reizvollen Gestalt sich hinzuknien wie vor einem Heiligenbilde, halb in grausamer Lust, ihr Furcht einzuflößen, um sie dann nachträglich zu trösten und in Schutz zu nehmen; der dunkle Doppelwille: zu verehren und doch zugleich sich zu bemächtigen und zu besitzen. So kauerte er eine Zeitlang atemlos gespannt und wie verzaubert von dem hellen Anblick, als sei die Waldfee selbst plötzlich vor ihm aufgetaucht und pflücke Wunderbeeren. Das Mädchen näherte sich überm Pflücken immer mehr der Stelle, wo die Böschung steil hinabfiel, und er wußte, daß sich grade hier der Bach unten zu einer Art von Teich ausbuchtete, der wegen der vorangegangenen Regenfälle in den letzten Tagen sic her noch unheimlicher und tiefer sein müsse als sonst; denn er erinnerte sich, daß selbst in Zeiten langer Trockenheit der Wasserspiegel hier stets trüb und unverändert bleibe und daß man auch mit noch so langen Zweigen nie den Grund erreiche. Das hatte ihn schon oft beschäftigt: Wie kam es doch, daß sich der Teich, auch wenn der Bach schon fast versiegt war, nie veränderte? Und wenn man einen Stein hineinwarf, gurgelte es von unten auf, als wenn sich drunten etwas über solches Tun empöre. Gab es vielleicht doch auf dem Wassergrunde Wesen, von denen man sonst bloß aus Märchen wußte, Wasserleuchte und Undinen, die sich mitunter, nur ganz selten, sehen lassen und zu den Menschen ihrer Seele wegen ewige Feindschaft tragen? ... Nun bückte sich das fremde Mädchen grade zu den Büschen, die hervorwuchsen aus dem Geröll des Steilhangs überm Teichrand, und der Knabe wachte ängstlich über jedem ihrer Schritte, denn ein einziger Fehltritt und ihr Sturz hinunter in den Teich war unvermeidlich. Er wagte kaum zu atmen, damit sie ihn nicht unversehens bemerke und erschreckt abgleite: Da plötzlich fing der Kuckuck wieder an, ganz nah und laut zu rufen. Das Mädchen, seitwärts tretend, wandte rasch den Kopf dahin, von wo der Ruf kam. „Halt!“ entfuhrs dem Knaben unwillkürlich, denn schon begann sich das Geröll zu lockern und er sah nur noch, wie eine kleine Hand nach dem Gebüsch griff, um sich daran festzuhalten. Mit wenigen Sprüngen war er bei ihr, so daß er grade noch zurecht kam, sie zu fassen: Sie hielt sich eben noch an ein paar dünnen Zweigen, die schon abzureißen drohten, während die liebliche Gestalt nicht anders als ein großer fremdartiger Vogel flimmernd und atemraubend über dem schattigen Wasserspiegel schwebte. Es war nicht leicht, sie zu sich hochzuziehen, weil immer wieder das Geröll nachgab und nirgendwo ein fester Halt war, um sich abzustützen. So lag er längslang auf dem Boden mit dem Oberkörper über der Böschung, und das furchtlose gewandte Mädchen arbeitete sich hoch an seinen vorgestreckten Armen bis es ihr gela ng, ihn um den Hals zu fassen, und er, sich langsam aufrichtend, sie endlich neben sich auf sicherer Erde hatte. - Noch viele Jahre später wiederholte sich in seinen Träumen immer wieder jenes einzige Gefühl von einer zärtlichen und ungewohnten Last an seinem Nacken und doch gehüllt in eine Angst, die ihn auffahren machte - : aber er griff dann immer neben sich ins Leere, denn das geheimnisvolle, fremdartige Kind, das damals neben ihm gesessen hatte, war nicht gegenwärtig. Damals jedoch nach überstandener Gefahr, die seltsam schicksalhaft die beiden Kinder so vereinigt hatte, saßen sie: das blonde Mädchen und ihr zehnjähriger Retter Seite an Seite auf dem von Tannennadeln überstreuten schwärzlichen Waldboden und aßen Heidelbeeren aus dem bunt und wunderlich geflochtenen Körbchen der verwegenen Beerensammlerin, das sie vor ihrem Abgleiten am Rand der Böschung hatte stehen lassen, um ungehinderter vordringen zu können in das wild verwucherte Gestrüpp. „Du hast noch Glück gehabt“, begann der Knabe, ,,denn wenn du in den Teich gestürzt wärst, hättest du ertrinken können.“ „Ist der Teich so tief?“ frug sie den Nachbar. „Viel tiefer als die längsten Zweige“, war die Antwort - „aber ich wäre dir natürlich nachgesprungen“ ... 35
„Mir nachgesprungen ...“ wiederholte sie bewundernd, zweifelnd ... „Du glaubst's nicht?“ Seine Stimme klang beleidigt. „Ich glaube dir ja“, vertröstete sie ihn - „aber ich kann doch selber schwimmen.“ „Bah, in den Kleidern!“ Ihr Stolz war aufgerufen. „Komm, ich zeig dirs!“ - „Bleib hier!“ gebot er, als sie aufstehn wollte, halb weil er von dem Teich her Unheil witterte und halb weil er das schöne Kind nicht von der Seite lassen mochte. Er hatte sie am Handgelenk gefaßt, und sie gehorchte. „Du mußt mir doch erzählen“, lenkte er ein, „wie du hierher kommst.“ - „Ich bin mit meiner Mutter auf der Reise - sie machen Rast, dort drüben ...“ Sie deutete hinüber in die Richtung, wo er den Vater wußte. Dann schwiegen beide eine Zeitlang … „Und wohin reist ihr?“ - „An den Rhein - noch viele Tage.“ Er hatte oft vom Rhein erzählen hören: „Dort wo der Wein wächst und die großen Schiffe fahren.“ Das Mädchen neben ihm bejahte dieses, aber sie wußte auch nicht mehr davon zu sagen, denn es war das ihre erste Reise, die eine Burg am Rhein zum Ziele hatte. „Es ist die Stammburg meiner Mutter“, fügte sie hinzu, belehrend. „Und reist dein Vater nicht mit?“ frug der Knabe. „Mein Vater ist verschollen. “ Schon wieder dieses Wort, das ihn im Innersten erregte. War es die Vorahnung, daß über kurz auch ihm das gleiche drohe? „Aber wo ist er denn, wenn er nicht tot ist?“ Er fühlte wohl, daß er das Kind mit dieser Frage quäle, aber er konnte sie nicht unterdrücken. „Im Morgenland“, erwiderte sie sachlich, als ob sie diese Frage schon gewohnt sei und setzte dann, als sie bemerkte, daß ihn die Antwort nicht befriedigte, hinzu: „Er war im Kreuzzug mitgezogen, doch er ist nicht heimgekommen mit den Ändern. Aber gefallen ist er auch nicht, sagen Alle. Er habe eines Tages, als er wegritt, nur gesagt, man solle ihm nicht nachforschen, wenn er nicht wiederkehre, und ist ausgeblieben. Mein Vater ist verschollen“ ... wiederholte sie im gleichen stereotypen Tonfall wie zu Anfang, wie um dadurch das Rätsel selbst zu bannen; und der Knabe neben ihr schwieg nachdenklich. „Ich muß zurück zu meiner Mutter“, sagte sie nach einer Pause; „sie hat sonst Angst um mich, weil ich so lange fort bin.“ - „Aber ich weiß ja doch noch gar nicht deinen Namen. Wie soll ich dich denn sonst je wiederfinden?“ Es war kein Kind, das dieses fragte. „Du mußt mich suchen“, kam die schicksalhafte Antwort, ohne um den Sinn zu wissen, der darin lag. „Ich heiße Christabell.“ - „Ein schöner Name: Christabell.“ Er wiederholte ihn bewundernd und zugleich davon Besitz ergreifend. „Und wirst du ihn auch nicht vergessen?“ „Ich habe dich doch gerettet!“ Es war so selbstverständlich, wie er dieses sagte, daß sie vertrauend zu ihm aufsah: „Ich trag am Halse einen Glücksring - willst du ihn haben?“ Er bejahte. „Aber du mußt ihn selber nehmen“, erklärte sie, „denn sonst bleibt er nicht bei dir.“ Er öffnete die Kapsel, die an einer feinen goldenen Kette ihr am Hals hing. Ein Ring, wie er niemals zuvor einen gesehen hatte, glitt ihm in die Hände: Es waren zwei in sich verschlungene Schlangen mit einander zugewandten Köpfen und zwischen ihnen eine Sonne, die in ihrer Mitte einen glühend roten Stein gefaßt hielt. Dem Knaben war es so, als gehe mit dem Steine irgendetwas von, dem Mädchen auf ihn über. Doch was es sei, blieb im Unterbewußtsein. Er vermochte sich darüber auch nach Jahren keine Rechenschaft zu geben. Es war dies ein Gefühl, das er auch später immer wieder wachrufen konnte, so oft er auf den Stein des Ringes hinsah. - Das Märchen mochte sein Abwesendsein empfunden haben und bemerkte: „Der Stein drin leuchtet nachts wie eine glühende Kohle.“ - „Aber wird deine Mutter denn nicht böse sein, daß du ihn weggeschenkt hast?“ Er zögerte ihn zu behalten. Doch sie zerstreute sein Bedenken: „Der Ring gehört doch mir; mein Vater sandte ihn mir aus dem Morgenlande, damals bevor er wegritt und nicht wiederkam.“ Der Freund behielt ihn. - Als er die leere Kapsel eben wieder schließen wollte, gewahrte er im Innern beiderseits zwei eingelassene, auf Elfenbein gemalte Bilder: Das eine Bildnis war das einer Frau von so bestürzend fremder Schönheit, daß dieser Anblick selbst den Knaben festhielt, bis er das Mädchen sagen hörte: „Und das daneben ist mein Vater ...“ Sein Auge glitt hinüber auf das Gegenbild, das er, gefesselt durch den Nachbarzauber, gar noch nicht beachtet hatte - aber wie erschrak er, als er in dem männlichen Porträt die Züge seines Vaters, nur viel jünger und noch nicht so finster und verschlossen, zu erkennen glaubte; doch er verbarg der Freundin gegenüber die bestürzende Entdeckung und beschloß bei sich, den Vater später selbst zu fragen. Auch versprach er sich von ihrem baldigen Zusammentreffen bei der 36
Lichtung die gehoffte Aufklärung: „Wie lange ist es her, daß sie ge malt wurden, die beiden Bilder?“ erkundigte er sich so unauffällig als nur möglich. „Ein Jahr eh ich geboren wurde, sagt die Mutter immer“, antwortete das Mädchen arglos, und der Knabe schloß die Kapsel, die ein Geheimnis in sich barg, das zu ergründen er sich aufgerufen fühlte heraus aus jener wunderbaren Kindheitsahnung um Zusammenhänge, wie sie beim Älterwerden immer mehr verlorengeht, um endlich ganz hinabzutauchen in das Unbewußte. Die beiden Kinder waren aufgestanden und begaben sich gemeinsam auf den Rückweg zu der Lichtung, auf die das Mädchen hingedeutet hatte als der Stelle, wo die Mutter mit den Pferden warte. „Wir wollen nur erst noch zum Teich gehen“, meinte sie, „ob es dort wirklich so unheimlich ist wie du gesagt hast.“ - „Unheimlich ist es schon, wenn man allein ist, und gar erst abends, wenn die Nebel kommen.“ - „Und hast du auch die Nebelfrau gesehn?“ fragte sie ernsthaft. „Die Nebelfrau –„er wiederholte es bezweifelnd, „d ie gibt es doch nicht wirklich?“ - ,,Natürlich gibt es die“, bestätigte das Mädchen, „die Amme sang mir doch das Lied von ihr, als ich noch klein war immer abends, eh ich einschlief.“ Der Freund erkundigte sich, ob sie es behalten habe. Sie bejahte. Er bat sie, es ihm aufzusagen und sie begann, halb singend: Vater, ach Vater, wo gehst du hin? Ach, laß mich nicht im Stich! Sprich, Vater, zu deinem kleinen Sohn, Sonst bin ich verloren - o sprich! Die Nacht war schwarz, kein Vater war da, Der Kleine tropfte vor Tau. Das Moor war tief und der Kleine rief, Und fort flog die Nebelfrau. Der Kleine verlor sich im öden Moor, Vom Irrlicht geführt im Kreis, Und er weinte da - doch Gott, ewig nah, Erschien wie sein Vater in weiß. Er küßte es lind und führte das Kind Seiner Mutter zu an der Hand, Die bekümmert zumal im entlege nen Tal Und weinend den Kleinen nicht fand... „Wenn ich doch auch einmal die Nebelfrau zu sehn bekäme!“ rief er aus, als sie geendet hatte, „ich würde gerne eine Nacht dafür im Moore bleiben.“ - „Aber die Irrlichter", wandte sie geängstigt ein, als befürchte sie schon jetzt Gefahr für ihren Retter. „Ach die: die blas ich einfach aus“, entgegnete er abenteuerlustig. Es überkam sie ein Gefühl von Sicherheit an seiner Seite: sie wäre unbedenklich eine Nebelnacht mit ihm im Moor geblieben. Sie waren unterdessen an den Teich gekommen. Er lag genau am Fuß der Böschung und mochte etwa einen guten Steinwurf breit sein. Das Wasser war von schmutzigbrauner Färbung, als hätte kurz zuvor Jemand es aufgerührt mit einer Stange. „So trübe ist das Wasser stets“, bedeutete der Knabe, „immer wenn ich herkam, habe ich es so gefunden.“ Da, wo der Bach hineinfloß, war die Oberfläche leicht bewegt, sonst rührte sich der Wasserspiegel nirgends, nur eine einsame Libelle strich mitunter in den Streiflichtern der Sonne rasch darüber hin, um sich stets wieder in das Halbdunkel zwischen den Stämmen zu verlieren. Als sie hart an den Rand des Teiches traten, sprang der große grüne Wasserfrosch von einem Steine, wo er sich gesonnt hatte, plötzlich in weitem Bogen dicht vor ihnen in das Wasser und tauchte, Deckung suchend, in die Tiefe. „Ob er bis auf den Grund kommt?" Diese Frage beschäftigte den Knaben ernstlich. „Wir wollen ihm den Stein 37
da nachwerfen“, meinte das Mädchen; doch er wehrte ihr, weil er die Folgen fürchtete. „Das find ich dumm“, ereiferte sie sich: „erst tust du groß und sagst, du möchtest nachts die Nebelfrau sehn und jetzt getraust du dich nicht einmal einen Stein hineinzuwerfen in den Teich da!“ - „Wenn du es durchaus haben willst“, versetzte er, unmutig und verletzt in seiner Ehre, bückte sich und warf den größten Stein, der dalag, ihn mit beiden Händen aufhebend, so weit er konnte mitten in die regungslose Fläche. Das Wasser spritzte auf in weitem Umkreis und ein Strudel bildete sich an der Stelle, wo der Stein hinabsank. - Sie warteten in atemloser Spannung, was geschehen würde. Die Kreise in dem Wasser wurden immer weiter bis sie sich zuletzt am Ufer brachen. Nic hts ereignete sich, gar nichts... War wirklich seine Angst nur Ausfluß seiner eigenen Phantasie gewesen und der schmutzig-braune Teich, wie er nun wieder still und teilnahmslos vor ihnen dalag, war nicht unheimlicher und geheimnisvoller als ein jeder andere, wohlbekannte Karpfenweiher oder Wiesentümpel? Enttäuscht, um das gefürchtete und doch mit einem wohllüstigen Schauder hergesehnte Abenteuer sich gebracht zu sehen, wollten sich die Beiden grade auf den Rückweg machen, da geschah das Unverhoffte, auch späterhin von ihnen Nievergessne: Die Wasserfläche kam von unten her mit einmal in Bewegung, und genau da, wo der Stein hineingefallen war, erhob sich erst der Kopf und dann, sich langsam immer höher aus dem Wasser aufrichtend der Hals und Rumpfteil einer ungeheuern Schlange, bis sie zuletzt gut mannshoch aus dem Wasser ragte, senkrecht emporgereckt, wobei die beiden mit Entsetzen sahen, daß der noch weitaus größere Teil des Untiers sich unter der Oberfläche hin und her bewegte, seine eigene, steil aufgestiegene Last gewichtig tragend. Trotz des sie fast lähmenden Schreckens prägte ihren durch den jähen grauenhaften Anblick überschärften Sinnen sich das Bild des sagenhaften Wasseruntiers unauslöslich ein, so daß sie beide späterhin sein Aussehen völlig übereinstimmend zu schildern wußten: als eines schwärzlich- grünen, mehr oval als rund geformten Riesenleibs, dessen Kopf weit mehr dem eines riesenhaften Aales, als dem einer Schlange gleichsah. Das Monstrum aber schien sie garnicht zu beachten, sondern wiegte sich im Schein der schräg durchs Laubwerk fallenden, noch warmen Strahlen einer nachmittäglichen Spätsommersonne wohlig hin und her, so daß der fürchterliche Bann, der in dem ersten Augenblick die Kinder jäh gelähmt und jeder eigenmächtigen Bewegung unfähig gemacht hatte, von ihnen abfiel. Noch immer zitternd rafften sie sich auf und rannten Hand in Hand, gejagt von Grauen, ohne umzusehen, querwald durch mächtige Stämme gradewegs der Lichtung zu, bei der sie endlich atemlos und wie verstört anlangten. Das Mädchen warf, ihren Beschützer loslassend, sich seiner Mutter heftig in die Arme, während der Knabe seinem Vater, der sich, als die Kinder auf sie zugelaufen kamen, rasch erhoben hatte, zurief: „Die Wasserschlange! Dort! Wir haben sie gesehn: die Wasserschlange!“ Vergessen waren die zwei Bildnisse der Kapsel, vergessen alle Fragen, die ihm kurz zuvor noch auf der Seele brannten. Nur eine Vorstellung erfüllte ihn: die Wasserschlange. - Während er erregt auf seinen Vater einsprach, hatte sich das Mädchen in den Armen seiner Mutter nach und nach zurückgefunden von den Schrecken und betrachtete aufmerksam das unbeirrbare Gesicht des etwa vierzigjährigen Mannes, wie er dem Sohne ruhig und gelassen zuhörte und dann und wann auf eine eindringlich ge stellte Frage ihres Freundes mit gehaltner dunkler Stimme kurze Antwort gab. Sie mußte diese Züge irgendwo und irgendwann einmal gesehen haben: sie kamen ihr so tiefbekannt, ja fast vertraut vor, aber sie konnte sich nicht klar darüber werden, welche Bewandtnis es mit diesem Eindruck habe. An ihren Vater hatte sie keine Erinnerung mehr: er war hinausgezogen auf den Kreuzzug, kurz nachdem sie auf die Welt gekommen war, und jene Ähnlichkeit mit dem Porträt der Kapsel trat ihr nicht in das Bewußtsein. Mitten hinein in dieses Sichbesinnen hörte sie den Mann zum Knaben sagen: „Die Wasserschlange hat bis heute noch kein Mensch gesehn; was man von ihr erzählt, ist eine Sage. Ihr habt geträumt, Kinder, geträumt am hellen Sommernachmittage“ - und sich zu ihrer Mutter wendend, fügte er hinzug, und seine Stimme hatte einen ändern Tonfall: ,,Es gibt an Sommernachmittagen manchmal Wunder, wenn auch nur ganz selten . . Seid Ihr nicht gleicher Ansicht, Gräfin?“ Und ihre Mutter lächelte fast schmerzlich. - Von diesem Augenblick an haßte sie 38
den hochgewachsnen fremden Mann, der ihnen ihr gemeinschaftlich erlebtes Abenteuer absprach und - wie sie fühlte - eindrang in die fe ierliche Stille ihrer Mutter... Die schöne Gräfin hatte sich erhoben. Sie mochte wohl gefühlt haben, daß etwas in der Seele des eng an sie geschmiegten Mädchens vorging, vielleicht eine Bewegung unbewußter Abwehr, und nun stand die stolze, leidenschaftliche Erscheinung herrisch und betörend in der Lichtung, so daß Vater wie Sohn geblendet zu ihr aufsahen. „Wir müssen an den Aufbruch denken, Christabell“, mahnte sie, ohne mit einem Wort danach zu fragen, wo und wie die Kinder sich gefunden hätten. Den Knaben riß der Name seiner Freundin in dem Munde der verwirrend schönen Frau, die ihre Mutter war, mit eins heraus aus der Seelenschlangenwelt, die ihn noch eben ganz und gar besessen hatte, und stellte ihn mitten hinein in das beklemmende Gefühl des unerbittlich nahen Abschieds. Er sah wie sich der Vater zu der Gräfin wandte und mit höflicher Verbeugung sagte: „Wir würden euch noch gerne ein Stück Weges das Geleite geben.“ - „Wir werden uns hier trennen“, war die Antwort, und sie reichte dem an ihren Anblick hingegebenen Manne die Hand hin, die er an die Lippen zog und lange festhielt. Der Knabe aber war zum Mädchen, daß er vor kaum einer Stunde vor dem Abstürze bewahrt hatte, herangetreten und sagte unvermittelt: „Ich heiße Reginald - und wenn ich groß bin, werde ich ausziehen, dich zu suchen.“ - „Du hast ja meinen Ring: der wird dich zu mir führen“, versicherte sie zuversichtlich - und wie die Zwei das sagten, sprach in diesen wenigen Worten, die nicht Kinderworte waren, sich ihr ganzes zukünftiges Schicksal selbst aus. Die Gräfin hatte, als das Wort vom Ring fiel, aufgehorcht und warf dem Ritter einen vielsagenden Blick hinüber, den jedoch die Kinder nicht bemerkten. Dann wandte sie sich rasch und nahm den Rain entlang die Richtung auf den Troß zu, der gut hundert Schritte weiter an der Straßenkreuzung Rast gemacht hatte. Der Graf ging schweigend an der Seite der nachdenklich vor sich hinschreitenden, von der Spätnachmittagssonne ganz in flüssiges Gold getauchten Frau her. Die Kinder folgten langsam Hand in Hand und wortlos, sie hatten sich gesagt, was sie sich sagen mußten. Der Troß kam in Bewegung, als die Herrin sich ihm näherte. Der Reisemarschall führte einen kostbar aufgezäumten weißen Zelter vor. Der Sattel lag auf einer ganz mit goldenen Stickerein durchwirkten schwerdamastenen Schabracke. Das Mädchen, dem man einen edlen kleinen Schecken brachte, sprang mit leichtem Satz in den mit silbernen Beschlägen rings verzierten Sattel, während der Graf mit spielerischer Leichtigkeit die hohe staatliche Gestalt der Reiterin aufs Pferd hob. Sie nickte noch einmal vor ihrem Sitz herab und gab, antrabend, mit der Reitgerte das Zeichen aufzubrechen. Das Mädchen warf dem Knaben einen letzten Gruß zu, und schon bewegte sich der ganze farbige Zug talabwärts. - Der Knabe, neben seinem Vater stehend, sah den Wegreitenden lange nach, wie sie sich in dem Waldgrund immer mehr entfernten, und während nur noch dann und wann der Schimmer der dahinziehenden bunten Schar zwischen den Bäumen aufblitzte und sich der Hufschlag mehr und mehr verlor im weiten Wälderrauschen, überkam zum ersten Mal in seinem Leben dem Zurückgebliebenen die Bangnis einer bisher unbekannten, unabwendbar großen Einsamkeit, die jeden heimsucht irgend einmal, früher oder später... „Jetzt wollen wir noch nach der Wasserschlange sehen vor dem Heimritt.“ Der Vater riß den Knaben mit den so gewollten Worten jäh aus der Versunkenheit, damit er sich nicht zu weit weg verliere. Er wußte, daß die Wasserschlange die gewünschte Wirkung haben werde; und es war so: Der väterliche Vorschlag wurde freudig angenommen, denn der Knabe hoffte zuversichtlich, sie noch dort zu finden und durch den Anblick des Untiers seinen Vater von der Wirklichkeit ihres Erlebnisses zu überzeugen. Der Graf, nachdem er erst den Sattelgurt des Pferdes wieder angezogen hatte, schwang sich in den Sattel, zog den Knaben zu sich in die Höhe, und nun ging der Ritt den Weg, den er mit seiner Freundin noch vor kurzem hergeflohen war, zurück waldeinwärts auf den Teich zu. - Nur wenige Minuten, und sie waren bei ihm angekommen. Da lag die Wasserfläche wieder braun und regungslos wie immer, und nichts erinnerte mehr an das Wunderbare, das sich vor nicht viel mehr als einer Stunde vor den Augen der erschreckten Kinder hier begeben hatte. Der Knabe sah zum Vater auf und über seine Züge glitt ein Schatten von verhaltener Enttäuschung. 39
Doch dieser, seine Niedergeschlagenheit bemerkend, meinte: „Vielleicht sind wir ein anderes Mal mehr vom Glück begünstigt“, und lenkte ohne noch ein Wort über den ganzen Vorfall zu verlieren, an dem Bach entlang im Trabe auf dem nächsten Wege heimwärts. Sie sprachen nichts zusammen, Sohn und Vater, auf dem ganzen Heimritt, denn der Ritter war von seinen eigenen Gedanken eingenommen, und der Knabe fühlte, daß es jetzt nicht der gelegene Augenblick sei, sich nach der Ähnlichkeit des Bildnisses der Kapsel zu erkundigen. So beschloß er denn bei sich, die Frage auf einen günstigeren Zeitpunkt zu verschieben. Das Schicksal wollte es, daß er nicht mehr Gelegenheit fand, sie zu stellen. Denn als er abends mit dem Vater auf dem Söller saß hoch über dem unendlich stillen, weiten und verwunschenen Kreis der Wälder und hinaussah in die Richtung, die der Zug genommen hatte, lag ein so traurig- weggewandter und zugleich gelöster Ausdruck auf dem Antlitz seines Vaters, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte - und immer wieder, wenn er grade sich zu fragen anschickte, blickten die dunkeln, fremd-vertrauten Augen so verwirrend auf ihn, daß er mitten in dem Satze abbrach. So kam es, daß die Frage ungestellt blieb. Das alles lag nun schon mehr als zehn Jahre - er war grade einundzwanzig geworden - zurück, und doch stand jener unvergeßliche Spätsommernachmittag ihm noch mit allen Einzelheiten vor der Seele. - Sein Vater hatte in der gleichen Nacht die Burg verlassen, um nicht mehr dahin zurückzukehren. Noch fühlte er die leidenschaftliche Umarmung seines Vaters, wie er im Dunkeln den Schlaftrunknen aus den Kissen nahm und an die Brust zog. Am ändern Morgen waren alle auf der Burg bestürzt und voll Verwirrung, weil der Ritter fort war mit dem Hinterlassen, nicht nach ihm zu suchen, und nur die Alte schien um einiges zu wissen, denn sie bedeutete dem Knaben, daß er vielleicht für lange nicht mehr auf die Rückkehr seines Vaters hoffen dürfe. Seitdem war keine Nachricht über ihn zum Sohn gedrungen, und auch die Alte gab, so oft er sie darum befragte, an, über den Verbleib des Grafen nichts zu wissen. Sein Vater war verschollen: verschollen wie der Vater Christabells, des nievergeßnen Kindes, dessen Ring er nun am Finger trug, seit er erwachsen war, weil ihm der Ring jetzt paßte. - - Nun war er ausgezogen, sie zu suchen: sie, die früh-Geliebte, so wie er es ihr versprochen hatte - damals in der Lichtung.
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Hexenfieber Eine magische Begebenheit Ich berichte hier ein wahres Begebnis, das sich in einem mittelitalienischen Städtchen wenige Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zutrug - nicht etwa im „finsteren Mittelalter“, auf das die aufgeklärte Gegenwart seines Hexenwahns und vermeintlichen Aberglaubens wegen selbstbewußt und mitleidig herabsieht. Mein Freund Arpad war Zeuge dieser sonderbaren Begebenheit. Er hatte ursprünglich Philosophie studiert und kam von Schelling frühzeitig zu der deutschen Mystik und zu Jakob Böhme. Auch war er ein überlegener Kenner der okkulten Disziplinen. Seine philosophische Schulung ließ ihn jedoch dabei nie in haltlose und vage Spekulationen abgleiten. Er war ein Mann von unbedingter Wahrheitsliebe. Aber seine leidenschaftliche Hingabe an alle parapsychischen Phänomene brachte ihm die unwahrscheinlichsten metaphysischen Begebenheiten wie durch Anziehungskraft geradezu entgegen, ohne daß er sie selbst aufgesucht hätte. Im engeren Freundeskreise war er unschwer zu bewegen, seine Erlebnisse zu erzählen. So entsinne ich mich insbesondere der hier nacherzählten Begebenheit, die ich aus seinem Munde wiederholt gehört habe und die so abenteuerlich und unglaubhaft anmutet, daß sie mir in allen Einzelheiten und Schattierunge n im Gedächtnis geblieben ist. Mein Freund ist schon vor Jahren durch das Tor des Todes gegangen, und so glaube ich es verantworten zu können, dies Erlebnis mitzuteilen. Ich habe mich dabei weitgehend an seinen eigenen Bericht gehalten, ohne von mir etwas hinzuzutun. Ich schreibe die Geschichte so, als sei er heute noch selbst der Erzählende: Es war auf meiner ersten Reise durch Italien. Ich war damals Student und etwa dreiundzwanzigjähr ig. Als mein Freund, der Maler, und ich an einem vorgerückten Spätherbstnachmittag in dem Städtchen ankamen, war es voll von geheimnisvoller Unruhe, denn eine der angesehensten Persönlichkeiten, ein Mann von Mitte dreißig, lag im Sterben. Er war, wie man erzählte, ein Verehrer der Frauen und hatte mehrere Liebschaften, sonst war sein Ruf ein tadelloser. Er mochte etwa der achte oder neunte sein, der im Laufe der letzten Monate unter den gleichen Symptomen: einem plötzlich mit äußerster Heftigkeit auftretenden, unerklärlichen Fieber in einigen Tagen verzehrt wurde, buchstäblich in sich verbrannte. Alle Mittel waren umsonst, die besten Ärzte standen ratlos der Ursache und dem Verlauf der Krankheit gegenüber. In der Stadt sprach man vom „Hexenfieber“, und selbst die Aufgeklärten fingen an, unsicher zu werden und zu der Annahme hinzuneigen, daß es sich hierbei um einen mysteriösen Vorgang handele. Niemand aber vermochte und wagte es, irgendeinen Verdacht über den mutmaßlichen Urheber laut werden zu lassen. Ich selbst war damals noch ein Neuling in okkulten Dingen und hatte zu ihnen eigentlich ein mehr literarisches Verhältnis; mein mehr als zehn Jahre älterer Freund jedoch war ein rabiater „Supernaturalist“, wie er sich selbst bezeichnete, denn das Wort „okkult“ erschien ihm damals schon verbraucht und anrüchig. Und so ließ er sich durch keine Warnung der eingeschüchterten Leute, die uns das Seltsame berichtet hatten, davon abbringen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Sehr zu Hilfe kam ihm der Umstand, daß er fließend italienisch sprach und ein durchaus südländisches Aussehen hatte, so daß ihm nirgends mit der mißtrauischen Zurückhaltung begegnet wurde, die man auch heute noch in den kleinen italienischen Landstädten Ausländern entgegenzubringen pflegt. Mir selbst war ein solches Abenteuer nur willkommen, vor allem darum, weil ich mir endlich den „Beweis“ davon für das Dasein und Eingreifen übersinnlicher Kräfte in das äußere, stets nachprüfbare Tagesleben erhoffte. Soviel stand fest: Wenn außer der Ergründung des Geheimnisses auch dem Erkrankten noch rechtzeitig geholfen werden sollte, der in seinen Fieberdelirien nur immer ausrief: er verbrenne, so war nicht eine Stunde zu verlieren. Sehr erschwert war unser Vorhaben dadurch, daß die Furcht aller, die wir angingen, uns mit einem Argwohn oder Hinweis auf die Spur zu helfen, durch kein Zureden zu besiegen war. Wir 41
fühlten deutlich durch, daß alle in einer bestimmten Vermutung einig sein mochten, mit deren Äußerung sie jedoch mißtrauisch selbst unter sich zurückzuha lten schienen. So sahen wir uns denn auf uns allein angewiesen. Wir durchschlenderten das Städtchen kreuz und quer, wobei zum ersten Mal unsre Aufmerksamkeit nicht auf die altertümlichen Gäßchen, Winkel und Fassaden, sondern auf das, was wohl dahinter vorgehen mochte, hingelenkt war. Aber, so scharfe Umschau wir auch hielten, etwas Verdächtiges war nirgends zu bemerken, noch etwas, was zu unseren weiteren Nachforschungen einen Anhaltspunkt gegeben hätte. Da kam mir auf einmal der rettende Gedanke: Mein Freund war ein durch ursprüngliche Veranlagung und spätere systematische Schulung ausgebildeter medialer Schreiber. Er brauchte nur einen Bleistift zu nehmen, die Hand auf ein weißes Blatt Papier vor sich zu legen, und schon begann sie ganz von selbst zu schreiben, indem sie zuerst größere, dann sich verkleinernde Schleifen beschrieb, die allmählich in klare Schriftzüge übergingen, jedoch mit der ihm eigenen bewußten Handschrift keinerlei Ähnlichkeit aufwiesen. Er konnte nichtsdestoweniger dabei ein Buch von noch so schweren Inhalt vor sich liegen haben und darin lesen: die Hand schrieb automatisch weiter - im Gegenteil: das Schreiben ging viel flüssiger vonstatten, wenn sein Oberbewußtsein nicht kontrollierte, was seine Hand, medial geworden, schrieb. Was dabei zum Vorschein kam, war niemals sinnloses Geschreibsel, sondern bezog sich vielfach auf ihm nahestehende Personen, dann wieder auf Begebenheiten seines eigenen Lebens, mitunter waren es auch Verse voll von mystischem Gehalt und dunkler Schönheit. Viele Winternächte hatte wir in München so zusammengesessen und „medial geschrieben“, wobei ich es bei weitem nicht bis zu dem Grade der Vollkommenheit brachte, die meinen Freund auszeichnete. Nun sollte er sein Meisterstück ablegen und die mediale Schrift sollte auf die rechte Fährte führen. In dem von uns gemeinschaftlich bewohnten Gastzimmer angekommen, nahm mein Freund Papier und Bleistift, und diesmal konzentrierten wir uns mit geschlossenen Augen auf die Frage: Welche Bewandtnis hat es mit dem Vorgang? - Die Hand fing an zu schreiben: erst wieder Schleifen, größer, kleiner werdend, übergehend in Schrift. Der Bleistift lief dabei so rasch, wie man es beim bewußten Schreiben niemals fertig brächte. Als das Quartblatt in weniger als einer Minute vollgeschrieben war, öffneten wir die Augen und lasen erst abgerissene Worte, deren Bezug und Sinn wir nicht verstanden, dann aber kam ganz unten an der Seite: „Hexe, Westtor, Läden, eilt!" Wir stürzten in der bezeichneten Richtung fort. Inzwischen war es dunkel geworden, gegen 10 Uhr abends. Bei den bescheidenen Entfernungen in der Stadt war das Westtor bald erreicht. Es war der ärmlichste Teil des Städtchens: einstöckige, niedrige, baufällige Behausungen, an die alte Stadtmauer angebaut. Wir hielten Umschau, wobei wir insbesondere auf die Läden achteten, wie die mediale Schrift es uns gewiesen hatte. Doch fast nirgends waren solche zu bemerken, und an den wenigen Behausungen, die welche hatten, standen sie offen. Die Bewohner aber schienen überall bereits zu schlafen. Etwas Verdächtiges war hier nicht wahrzunehmen. Wir passierten das Westtor. Auch außen an der Stadtmauer dieselben Hütten angebaut; wenn möglich noch armseliger; keine größer als im Ausmaß eines Zimmers. Hier aber: zehn bis fünfzehn Schritte abseits eine für sich gelegene, unbewohnt aussehend, mit geschlossenen Läden, die keinen Lichtstrahl durchließen. Hier mußte es sein. Ich leugne nicht: ich war in fieberhafter Spannung. Mein Freund blieb seelenruhig. Wir untersuchten von allen Seiten die Baracke. Nirgends auch nur der kleinste Spalt, durch den man hätte durchsehen können. Wir klopften an der Türe, an den Läden - keine Antwort, niemand zeigte sich. Wir klopfen stärker. Aus der nahen Nachbarhütte fährt ein Kopf heraus, eine Frau mittleren Alters, offenbar geweckt durch unser Lärmen. Wie sie uns sieht, bekreuzigt sie sich; wir nähern uns: sie bekreuzigt sich noch einmal. Die beruhigende Anrede meines Freundes und ein ihr gereichtes Lirestück nehmen ihr das ärgste Mißtrauen. Wir fragen sie, warum die Läden nebenan geschlossen seien. - Die Alte sei schon seit zwei Tagen fort. - Wohin sie sei? - Das wisse sie nicht. Wann sie zurückkehre? - Das wisse sie nicht. - Ob sie öfters fortgehe? - Ja, sie verlasse das Haus aber immer nur bei Nacht, des Morgens seien dann die Läden zu. Auch kehre sie nur immer nachts zurück. Niemand habe sie je gehen oder kommen sehen. - Ob sie schon lange in der Hütte wohne? Ja, schon immer. - Ob denn die Polizei kein Auge auf sie habe? - Die Polizei habe anderes zu tun, als sich um alte Weiber zu kümmern. - Ob sie eine Hexe sei? - Da bekreuzigte sich die Frau von neuem und schlug das Fenster zu, etwas von mal occhio murmelnd. Auch diesmal wieder hatten wir 42
den Eindruck, als wisse sie erheblich mehr, als sie zu sagen sich getraute. - Soviel stand für uns jetzt fest, daß wir nicht mehr weiter zu suchen brauchten. Nun handelte sichs nur noch darum: Wie den Zutritt finden zu dieser Hütte? Die Tür aufzubrechen schien uns doch nicht ratsam: nicht der Hexe wegen, wohl aber mit Rücksicht auf die gerichtlichen Scherereien, die eine solche Handlung nach sich ziehen konnte. Wir waren uns darüber einig, daß wir hierzu nur im äußersten Falle greifen dürften. So entschieden wir uns, daß mein Freund ins Städtchen gehe, um die Polizei zu holen, während ich bis zu seiner Rückkehr vor der Hütte warten und versuchen sollte, weitere Beobachtungen anzustellen. Ich kann nicht sagen, daß mir nach seinem Fortgehen besonders wohl zumute war. Um das Unbehagen, das mich überkommen hatte, zu besiegen, richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Behausung, doch bot sich kein Anzeichen, das auf die Anwesenheit der Bewohnerin hätte schließen lassen. Sollte die Nachbarin, die gesagt hatte, sie sei bereits vor zwei Tagen fortgegangen, nicht etwa doch Recht haben, und wir beide machten uns mit unserem Hexenglauben nur zu Narren? Zum wiederholten Male begann ich die Hütte von allen Seiten her zu untersuchen. Wieder legte ich mein Ohr dicht an die Tür und horchte mit angehaltenem Atem. Da war mir, als hörte ich es drinnen röcheln. Ich entfernte mich auf einige Schritte, dann trat ich wieder hin und horchte nochmals. Das nämliche Geräusch - kein Zweifel: Jemand war in der Hütte. Mir war unheimlich zumute wie noch nie in meinem Leben. Ich verwünschte meinen Freund, das ganze Abenteuer und das Schicksal, das uns gerade heute in dieses Städtchen führen mußte. - Ich war zurückgetreten von der Hütte und sah mich in der Runde um: Vor mir die weite italienische Ebene, getaucht in eine wolkenlose blaue Sternennacht. Am Horizonte über dem Gebirge ging der Mond auf. Hinter mit die alte Stadtmauer mit den daran geklebten Hütten, überragt von den Dächern und Türmen des verwunschenen Städtchens, in dem zur Stunde sich ein unheimlich dunkles Geschick vollzog, ein grausiges Geheimnis, in das wir uns wie von ungefähr selbst hineingestellt sahen - wer konnte sagen: mit welchem Ausgang? Ein romantisches Erlebnis, wie ich es mir nicht unverfälschter wünschen konnte. Warum Romantik stets nur auf dem Umweg über die Dichtung? Warum sich tausend Meilen wegwünschen, wenn sie schon einmal Wirklichkeit zu werden anfängt und phantastisch in das reale Leben tritt? Während ich noch so dastand und diesen Gedanken nachhing, kam mein Freund wieder, zwar nicht mit einem Polizisten, wohl aber, um dem Romantischen der Situation die Krönung zu verleihen, mit einem veritablen Nachtwächter mit Spieß und Funzel. Die Polizei hatte sich geweigert, mitzukommen; der Nachtwächter jedoch hatte sich auf eine beträchtliche Bestechung hin dazu bereit gefunden. Auch ihm merkte man es an: es war ihm nicht geheuer bei der Sache, wiewohl er versicherte, von der Alten nicht mehr zu wissen, als daß sie schon immer ganz allein dort hause und sich ausschließlich von Almosen ernähre. Ich teilte den beiden meine soeben gemachte Wahrnehmung mit. Sie legten das Ohr an die Tür, und auch sie glaubten mit Bestimmtheit das röchelnde Geräusch zu hören. Des Nachtwächters bemächtigte sich eine geradezu komische Angst, und es bedurfte des eindringlichsten Zuredens und eines abermaligen Trinkgeldes, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Zuerst versuchten wir noch einmal unser Heil mit Klopfen, doch wiederum vergeblich. So blieb uns also keine andere Wahl, als die Türe aufzubrechen, da wir durch die Anwesenheit des Nachtwächters irgendwelche spätere gerichtliche Unannehmlichkeiten nicht mehr zu fürchten brauchten. Mein vorsorglicher Freund hatte sich im Gasthof im Vorbeigehen ein Stemmeisen geben lassen, das wir jetzt an die Türe ansetzten. Sie bot mehr Widerstand, als wir ihrem morschen Aussehen nach vermutet hatten. Als sie dann endlich krachend aufging, riß sie einen dahinter ausgespannten Vorhang mit herunter und wir drei: ich neben meinem Freunde und hinter uns der bebende Nachtwächter standen in der Hütte. Der Anblick, der sich uns hier bot, war grauenhaft: Die Hütte bestand, wie wir vermutet hatten, aus einem einzigen Räume, dessen Fenster außer den geschlossenen Läden noch verhängt waren, so daß nicht der geringste Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Ein betäubender Geruch füllte die Behausung, der von verglimmendem Rauchwerk herrührte, das sich in einem, von einem hohen Dreifuß getragenen Becken befand, worunter ein Holzkohlenfeuer glomm. Eine Ölfunzel stand auf einem von Ruß geschwärzten Wandbrett und verbreitete in dem dunstigen Räume nur so viel Licht, daß man die Einzelheiten unterscheiden konnte. Vor einem Tische saß in einem verwitterten Ohrensessel, unweit vom Dreifuß mit dem Räucherwerk, ein altes Weib - sie mochte etwa Mitte der 43
sechzig sein - offensichtlich in Katalepsie. Dieser Zustand unterschied sich jedoch von dem der gewöhnlichen Starrsucht, bei dem im allgemeinen Herz- und Atemtätigkeit auf ein Minimum herabgemindert sind, nur dadurch, daß von Zeit zu Zeit konvulsische Zuckungen durch ihren ganzen Körper gingen, wobei sie regelmäßig jenes pfeifende Röcheln ausstieß, das wir beim Horchen durch die Türe hatten dringen hören. Die Krämpfe und das Röcheln mochten von der grauenhaften inneren Arbeit herrühren, die sie in diesem Zustande verrichtete. Vor ihr auf dem Tisch stand erhöht eine aus Haaren, Lehm und Wachs gebildete Figur, etwa in der Größe eines neugeborenen Kindes, und unter ihr flackerte ein Öllicht gerade in einer Entfernung, daß dadurch das Wachs langsam zum Schmelzen kam und nach und nach vertropfte. Durch den beigemischten Lehm ging es nur sehr langsam vonstatten, so daß die Figur ganz allmählich von unten herauf zerstört wurde. Durch das Herz der Figur aber war ein feiner Dolch gestoßen, an dessen hervorstehendem Ende ein Zettel angeheftet war, der den aus irgendeinem Brief herausgeschnittenen Namen des in der Stadt am Fieber Hinsiechenden trug. Bis zu den Hüften etwa war die Figur schon abgetropft. - Ohne sich eine Sekunde zu besinnen, löschte mein Freund das darunter brennende Öl-licht und riß den Dolch aus der Figur heraus. Dann nahm er die auf den Tisch abgetropfte Wachs- und Lehmmasse, knetete sie und ergänzte die Figur wieder zur ursprünglichen Gestalt. - Den anfänglich zu Tode erschrockenen Nachtwächter, als er sah, daß wir Herren der Lage waren, faßte plötzlich eine maßlose Wut gegen die noch immer in Starrsucht daliegende röchelnde Hexe, und um sie ins Bewußtsein zurückzurufen, packte er sie an den Schultern und rüttelte sie mit aller Wucht. Mein Freund sprang gleich hinzu, um ihn zurückzuhalten, aber zu spät. Der Schock, den sie erfahren hatte, war zu heftig, das ätherisch-feine Band, das den Zusammenhang mit dem in diesem Zustande aus dem physischen Leibe ausgetretenen Fluidalkörper herstellt, war gerissen: die Alte verdrehte die Augen, ihr ganzer Körper bäumte sich ein paarmal krampfhaft auf, dann sank er in sich zusammen, sie röchelte noch einige Sekunden und war tot. Wir sahen uns im Räume weiter um: Von dem vielbesagten „Hexenhausrat“ war nichts zu bemerken. Da entdeckte ich in einer Ecke eine Wachstafel mit eingeritzten Zeichen und darinnen staken acht bis neun gleichartige feine Dolche und an jedem ein Zettel mit einem anderen Namenszug; darunter ganz sachlich: ein Kreuz mit Datum. Der Nachtwächter erkannte an den Namen die im Laufe der letzten Zeit am ,,Hexenfieber'“ so jämmerlich zugrunde gegangenen Persönlichkeiten. - Der Mann aber, der daran daniederlag, als dieser Vorgang sich abspielte, ist durch das rasche Eingreifen meines Freundes, wenn auch langsam, wieder genesen. Ein gerichtliches Nachspiel hatte die Geschichte nicht: einmal, weil die Alte, die Urheberin des Verbrechens, nicht mehr am Leben war; dann auch, weil man sich davor scheute, eine solche Sache vor die Öffentlichkeit zu bringen. Auch mochten manche Personen von gesellschaftlichem Ansehen als Anstifter darin verwickelt gewesen sein. Mein Freund jedoch war über den Tod der Hexe ganz untröstlich, weil er gerne erlebt hätte, wie ein modernes Gericht sich bei einem Hexenprozesse verhalten würde. Es hätte nämlich, nach der Auffassung eines namhaften, dort ansässigen Rechtsgelehrten, mit welchem wir den Fall besprachen, zum Freispruch kommen müssen, weil das heutige Strafgesetzbuch einen Paragraphen über sympathetische Tötung auf schwarzmagischem Wege nicht mehr kennt.
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Die Blumen des Magiers Sie sprach, im Sessel halb zurückgelehnt, die Verse mit einer das bewegliche Geheimnis des Gedichts erlebenden und seine feierliche Innenwelt verlautbarenden Stimme. Nicht nur ihr großes, flächiges Gesicht, das den durchsichtigen Frauenbildnissen der Präraphaeliten glich, na hm teil an dem Gelesenen, auch ihre rechte Schulter und die Hand mit dem in halber Höhe vor sich hingehaltenen Buch vibrierten mitschwingend und hingegeben. Es war fast ebenso beglückend, sie lesen zu sehen wie zu hören. Wohin fuhrst du mich, stumme Maske? Deine Augenhöhlen sind leer Was sind das für Schatten dort auf dem Wasser? Was für eine Stimme weint dort am Wehr? Ich gehe nicht weiter - warum bedrängst du Mich so von innen, daß ichs doch muß? Wie sich die Türme im Wasser verlangen! Was treiben die Wellen hinauf den Fluß? So langsam bewegt sich dort die Fähre Wie unter unsichtbar schwerer Last Ich kenne den Wald nicht, dem wir uns nähern, Oder sind es Schiffe, Mast an Mast? Laß uns umkehren, denn weit dahinten Und kaum mehr sichtbar, liegt schon die Stadt Wie? Ward es Frühling im mitten Winter? Was treibt mein Strauß da ein frisches Blatt? Wie brennen mit einmal meine Hände Und wechseln und werden ängstlich hell! Wer bist du, Maske, die mich verändert? Halt an, wo sind wir? Du gehst zu schnell! Wohin geriet ich? So fremd ist alles Ists lange schon, daß der Mond verschien? Still, hörtest du nicht was niederfallen? Was sind das für Tiere, die mit uns ziehn? Und andre umkreisen uns weit im Bogen Und schielen herüber - wo sind wir, wo? Was drohtest du eben jenem Vogel, Der taumelnd an uns vorbeiflog, so? Nun wollen sich alle uns zugesellen Und werden doch scheinhaft und löschen aus ... Schwester, hier ist das Kreuz der Schwelle, Schon regnen Rosen aus deinem Strauß.
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Sie hatte das Gedicht beendet. Dann schwieg sie eine Zeitlang, wie in sich hineinhörend, und auch in diesem Schweigen lag die Atmosphäre des Gedichts noch ausgebreitet. Dann sah sie auf und sagte: „Nun haben Sie mich lesen hören. Als ich bei meiner Ankunft hier in München gestern Ihren Brief vorfand, worin Sie mir so nüchtern schreiben, daß Sie nicht zu meinem Vortragsabend kämen, weil das öffentliche Lesen von Gedichten Ihnen wiederstrebe, und mich baten, Sie zu besuchen, damit ich Ihnen ein paar Strofen ganz allein hersage, war ich durch Ihre Ablehnung eigentlich doch meines ganzen Wirkens so verstimmt, daß ich nicht die geringste Lust verspürte, Ihrem Wunsch zu folgen. Ich lese auf allen meinen Vortragsreisen schon seit Jahren Ihre Verse. Nun hat sichs diesmal endlich so getroffen, daß Sie zu meinem Vortragsabend hier sind, und ich hatte mich schon so darauf gefreut, daß Sie hinkämen und mich hören würden: da kam Ihr Brief wie eine kalte Dusche.“ ,,Aber ich habe Sie ja doch jetzt lesen hören und ich glaube, sehr viel unmittelbarer und bestimmender als irgendwo in einen Saal gepfercht mit Hunderten von Menschen, die bis auf wenige doch nur gekommen sind, um Sie zu sehen, weil Sie schön und anziehend sind und einen Namen haben. Doch das Gedicht lebt in der Stille; und das wissen auch Sie, das habe ich gehört an Ihrem Lesen. Ich danke Ihnen, daß Sie Ihren anfänglichen Mißmut überwunden haben und gekommen sind.“ „Sie haben recht, das Gedicht lebt in der Stille, und grade diese Stille des Gedichtes möchte ich in meinen Vortragsabenden den Zuhörern vermitteln, den aufgeschloßnen wenigstens, und deren sind es immer einige - bestimmt, auch wenn Sie lächeln.“ „Es war ein zustimmendes Lächeln, kein ungläubiges.“ „Nun dann: mitleidig zustimmend, das ist noch schlimmer.“ „Es ist zwar nicht so, aber Vorurteilen ist schwer beizukommen ... Übrigens: da Sie um das Gedicht und seine Umwelt wissen, so ist es Ihnen sicher auch bewußt, daß jeder Dichter seine eigne, nur ihm eigne Stille hat.“ „Ich weiß es. Aber ich weiß auch, daß wir in einer Zeit leben, die die Stille tötet.“ „Jeder kann sie nur für sich selber finden.“ „Auch das habe ich erfahren ...“ - Sie stand fast unvermittelt auf, dann trat sie an die Bücherwand und ließ die Augen, suchend schien es, drüber gleiten: „Seltsame Büchertitel, seltsam und verwirrend.“ Sie las einige Titel halblaut, wie um sich damit vertraut zu machen: „Hermetisches Siebengestirn, Wasserstein der Weisen, der geheime Weingeist der Adepten ... Alchimie, nicht wahr? Ich weiß davon nur, daß sich auch Strindberg mit ihr befaßte.“ „Er hat sogar etwas davon verstand en, wenn auch nicht das letzte.“ „Sie sagen das so ernsthaft, als habe es seine besondere Bewandtnis mit der Alchimie.“ „Das hat es.“ „Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie an das Lebenselixier und an den Stein der Weisen glauben? Das waren doch die beiden Dinge, die die Alchimisten suchten.“ „Vergeblich suchten, heißt es in den Schul- und Lehrbüchern.“ „Sie werden doch nicht gar behaupten wollen, daß es Menschen gab, die sie besessen haben?“ „Warum nicht?“ „Sie Dichter! Nun ist das Lächeln eigentlich auf meiner Seite.“ „Kennen Sie den Ausspruch des Novalis: Der Poet versteht die Natur besser als der wissenschaftliche Kopf.“ „Der heutige Naturwissenschaftler dürfte diesen Satz kaum gelten lassen.“ „Und darum leugnet er auch die Realität der Alchimie zwangsläufig. Die Alchimisten waren große Künstler, Naturkünstler - heißt nicht die Alchimie die königliche Kunst von jeher?“ - Sie schien nachdenklich. Dann griff sie aus der Bücherreihe einen Band heraus und las die Titelseite: „Palingenesis, über die Wiedererweckung der Pflanzen und Tiere aus ihrer Asche“. Sie wurde plötzlich kreideweiß - man sah ihr an, wie sie sich nur mit größerer Anstrengung beherrschte. Abwesend stellte sie das Buch ins Fach zurück und schickte sich zum Gehen an. „Was hat Sie eben so beeindruckt?“ fragte ich, absichtlich ihren Aufbruch nicht beachtend. „Das Buch selbst kann es nicht gewesen sein; das ist so selten, daß Sie es unmöglich anderswo gesehen haben können. Es kann also nur sein, daß irgend etwas in dem Titel eine ungute Gedankenverbindung in Ihnen ausgelöst hat - stimmt es?“ „Ja - doch lassen wir das, ich muß gehn jetzt.“ „Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, aber Sie verstehen sicherlich, daß ein so ausgefallener Zusammenhang wie dieser meine Frage danach immerhin begreiflich sein läßt. Und irgendwie muß die Alchimie hineinspielen in jenem Vorgang, an den Sie das Buch so unvermittelt und spontan erinnert hat. Das ist doch etwas, was mich ganz besonders angeht.“ „Eben darum: Sie sind mir unheimlich geworden, weil ich die Gerüchte, die um Sie herum sind, handgreiflich bestätigt finde.“ „Was sind das für Gerüchte, die um mich herum sind?“ „Daß Sie insgeheim mit allerhand okkulten Dingen umgehn 46
kurz: daß Sie schwarze Magie treiben.“ „Na, das ist nun wirklich finsteres Mittelalter! Den Unsinn glauben Sie womöglich, aber daß es seine Richtigkeit hat mit der Alchimie, das stellen Sie in Zweifel?“ „Weil ich nichts davon wissen will verstehen Sie?“ „Nein, gerade darum sollen Sie es mir erklären. Jetzt sind Sie es mir schuldig, um wieder gutzumachen, daß Sie das Gefasel auch nur einen Augenblick ernst nehmen konnten. Sie wissen gar nicht, wie entsetzlich grauenhaft schwarze Magie ist.“ „Aber ist die Wiedererweckung von Pflanzen und Tieren aus der eigenen Asche nicht schwarz- magisch?“ „Nein, die Handlung nicht als solche, wenn man sie nicht mißbraucht. Im übrigen kann von schwarz-magischer Betätigung nur immer da die Rede sein, wo es sich um die Vernichtung von beseeltem Leben mit okkulten Mitteln handelt, um dadurch dem Göttlichen Gewalt und Leiden anzutun und sein weltweites Liebeswalten zu ersticken. Das ist die Sünde an dem Heiligen Geist: die einzige Sünde, die niemals vergeben werden kann, weil sie sich selber richtet. Bei der Wiedererweckung von Pflanzen und Tieren aus der eigenen Asche geht es aber gar nicht darum, abgesehen davon, daß das Wort Wiedererweckung ungenau ist und zu falschen Vorstellungen Anlaß gibt. Es handelt sich dabei nur um die Sichtbarmachung des Phantoms aus oder besser über der nach ganz bestimmten Vorschriften beha ndelten und präparierten Asche.“ „Nicht wahr: in einer Glaskugel, die dann erwärmt wird?“ „Stimmt. Wie kommen Sie darauf? Das stammt doch nicht von Ihnen. Was haben Sie erlebt, daß Sie von jenem Vorgang eine so lebendige Anschauung haben?“ „Gut, Sie sollen mein Erlebnis wissen. Sie sind der erste Mensch, zu dem ich davon spreche; es ist mir aber außer Ihnen auch bis jetzt niemand begegnet, der mir darüber etwas hätte sagen können. Also, hören Sie!“ - Und sie erzählte. „Es war gleich nach dem ersten Weltkrieg in Paris“, begann sie, wieder Platz nehmend, halb abgekehrt und mehr wie zu sich selber sprechend: ,,Meine Eltern waren beide innerhalb von nicht drei Tagen bei der großen Grippe-Epidemie, die ganz Europa damals heimgesucht hatte, gestorben. So sah ich mich sehr jung schon ganz auf mich gestellt. Wirtschaftlich war ich unabhängig. Als Auslanddeutscher - mein Vater war gebürtiger Schweizer - begegnete man mir in Paris durchaus entgegenkommend, als ich dort die Wohnung einer Freundin, die nach Süden wollte, übernommen hatte. - Für meine Zukunft hatte ich die abenteuerlichsten Pläne: Schanghai, Ägypten, Japan, Korrespondentin irgendeiner überseeischen Großhandelsfirma oder eines Konsulats - nur nicht in dem zerrütteten Europa! Für Dichtung war ich schon von Kind an eingenommen, aber daß ich einmal öffentlich mich für sie einsetzen werde, lag damals noch völlig außer dem Bereiche meiner Vorstellungen. Das ergab sich erst ein gut Stück später. Damals hörte ich literatur-geschichtliche und philosophische Vorlesungen an der Sorbonne und vervollständigte meine fremdsprachlichen Kenntnisse, um mich für meinen Beruf noch weiter auszubilden. Ich hatte damals einen bunt zusammengewürfelten und recht unterschiedlichen Bekanntenkreis. Vor allem aber waren es Künstler, mit denen ich die Abende verbrachte, und je mehr ich in die Welt der Kunst und ihre Atmosphäre untertauchte, desto abgestandener erschien mir jene bürgerliche Gesellschaft, in der ich wohlbehütet aufgewachsen war und die bereits auf meiner Kindheit wie ein Alb gelastet hatte. Paris verdanke ich den Bruch mit allen jenen eingefrorenen Denkgewohnheiten, die den Bourgeois kennzeichnen. Ich kam, wie oft schon, wieder einmal spät nach Hause. Als ich ins Zimmer trat und Licht machte, fiel mir als erste ein verwirrend schöner, fremdartiger Orchideenstrauß auf, der in einer Vase mitten auf dem Tisch stand. Eine so undefinierbare Ausstrahlung ging von ihm aus, daß es mich unwillkürlich zu ihm hinzog. Begleitzeilen, in dene n sich der Absender bekanntgab, lagen nirgends. Das machte den geheimnisvollen Strauß noch mysteriöser, denn wer so ausgesuchte Blumen schickt, der tut es sonst nicht anonym. Ich nahm ihn aus der Vase und ließ ihn über meine Hand hingleiten. Es kam mir vor, als hinterlasse er ein unbestimmtes Prickeln, doch konnte das auch Täuschung sein; es war sehr spät und ich war übermüdet. Ich ertappte mich beim Ausziehen wiederholt dabei, daß ich unwillkürlich zu ihm hinsah, weil mir war, als ob der Strauß, der da so gegenwärtig auf dem Tische stand, irgend etwas von mir wollte. Im Bett durchblätterte ich noch zerstreut und oberflächlich eine Zeitschrift, dann löschte ich das Licht und sah ins Dunkel. Da schien es mir, als bilde sich da, wo der Strauß stehen mußte, auf dem Tisch so etwas ähnliches wie eine Nebelhelle. Anders läßt sichs nicht bezeichnen. Ich schloß die Augen einige Sekunden lang, 47
um sie gleich nach dem Öffnen wieder auf denselben Punkt zu richten. Diese Selbstkontrolle wiederholte ich drei- oder viermal. Keine Täuschung: Von der Stelle, wo der Strauß stand, kam ein Schein her, wenn auch fast unmerklich, wie phosphoreszierend. Es war mir unheimlich, doch war ich viel zu müde, um noch weitere Versuche anzustellen. Ich knipste Licht an, nahm die Vase mit dem Strauß vom Tisch und stellte sie ins Nebenzimmer. Dann legte ich mich wieder hin und war bald eingeschlafen. Aber mein Schlaf war schwer und unerquicklich. Ich befand mich, ohne eigentlich zu träumen, wie in Abwehr gegen irgend etwas, das an mich heranzukommen suchte. Dazwischen fuhr ich plötzlich wieder auf, weil mir so war, als stehe jemand an dem Bettende mir gegenüber. Dann glaubte ich den Umriß einer männlichen Gestalt zu erkennen. Bei längerem Hinstarren jedoch verging sie, wurde aufgesogen von der nächtlichen Umgebung; doch das Gefühl von einer fremden unheimlichen Gegenwart blieb fortbestehen. Am nächsten Morgen wachte ich zwar gegen meine sonstige Gewohnheit spät auf, doch ich fühlte mich trotzdem unausgeruht und am ganzen Leibe wie zerschlagen. Meine Nerven flogen. Im Nebenzimmer auf dem Fach, wohin ich sie nachts weggestellt hatte, standen die ominösen Orchideen; doch sie standen völlig teilnahmslos da, so daß ich gar nicht mehr einsah, was an ihnen mich noch vor kurzem derart aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Zwar war es eine Orchideenart, die ich nicht kannte: die Blüten waren größer und die Farben hatten eine stärkere Leuchtkraft als die herkömmlichen, doch das war auch alles - von dem Unheimlichen, das mir in der Nacht so zugesetzt hatte, war nichts mehr zu bemerken. Ich ließ den Strauß an seinem Platz stehn und ging zum Concierge, um mich bei ihm nach dem geheimnisvollen Überbringer solcher Aufmerksamkeit zu erkundigen. Er konnte mir auch keine weitere Auskunft geben, nur daß er von einem Jungen gestern gegen Abend für mich abgegeben worden sei, doch ohne Weisung, irgend etwas an mich zu bestellen. Der Concierge habe daher angenommen, ich werde schon Bescheid wissen und habe gleich danach den Strauß auf meinen Tisch gestellt, ohne sich den Jungen, der ihn überbrachte, näher angesehen oder nach dem Absender gefragt zu haben. Vorerst also blieb er für mich der große Unbekannte, doch ohne daß ich mir darüber weiteres Kopfzerbrechen machte. Tagsüber hatte ich nur wenig Zeit, an den geheimnisvollen Orchideenstrauß zu denken, denn für den Vormittag hatte ich einem mir befreundeten Maler versprochen, ihm zu einem Bild, das später übrigens sehr viel genannt wurde, zu sitzen, was sich noch bis fast in den Nachmittag hineinzog, und daran anschließend war ich auf der Sorbonne, zwei Vorträge zu hören, die mir wichtig waren und die ich trotz meiner Abspannung nicht versäumen wollte. Am Abend war ich wieder eingeladen, so daß es nach den Vorträgen nur grade reichte, um mich rasch zu Hause umzuziehen. Es wurde dieses Mal noch später als am Tage zuvor, bis die Gesellschaft aufbrach. Man war sehr angeregt und wohl auch etwas angeheitert, denn man feierte den Abschied eines Freundes, der für längere Zeit ins Ausland reisen wollte und der bald darauf dort starb. Drum ist mir grade jener Abend ganz besonders deutlich im Gedächtnis. Ich weiß auch noch: ich war fast übertrieben ausgelassen, was wohl so etwas ähnliches wie eine Reaktion auf die Begebnisse der Nacht vorher war. Der Maler und einer seiner Freunde begleiteten mich noch nach Hause, und wir verabredeten, daß ich am ändern Tage nicht vor Mittag zu ihm käme, ihm zu sitzen, weil alle erst einmal ausschlafen wollten. So genau sind mir noch alle Einzelheiten jene s Zeitabschnittes gegenwärtig. - Auf dem Nachhausewege hatten wir ein langes und erregendes Gespräch über eine Begebenheit, die damals in Paris viel von sich reden machte und die sowohl die Kriminalpolizei als auch die psychiatrischen Autoritäten wochenlang beschäftigte. Eine junge Dame der Gesellschaft war im Gartenpavillon eines vornehmen, in einem Pariser Vorort gelegenen Landhauses tot aufgefunden worden, nachdem sie schon mehrere Tage lang bei der Polizei als vermißt gemeldet worden war. Das Landhaus, dessen Besitzer sich auf Reisen befanden, stand schon seit Monaten unbewohnt. So kam es, daß auch der Gartenpavillon schon lange Zeit hindurch nicht mehr betreten wurde. Zufällig wollte der Gärtner vorübergehend einige Gartengeräte darin abstellen und entdeckte so die allenthalben von der Polizei Gesuchte. Sie saß aufrecht auf einer Gartenbank und nur der Kopf war vorgeneigt, als schliefe sie. Beim näheren Hinzutreten bemerkte der Gärtner erst, daß er eine Tote vor sich hatte. 48
Der sofort herbeigerufnen Untersuchungskommission war es nicht möglich, irgendwelche Todesursache an der so rätselhaft ums Leben Gekommnen festzustellen. Der Körper zeigte nirgends die geringste Spur einer erlittenen Gewalttat. Der Befund bei der Obduktion der Leiche war nicht minder negativ, denn er ergab, daß auch kein Selbstmord durch Vergiftung vorlag. Man stand vor einem Rätsel. Herzschlag, so lautete die Diagnose, - bei einer Fünfundzwanzigjährigen, der an dem Herzen nie etwas gefehlt hatte? Als Folge eines plötzlichen, furchtbaren Schreckens? Das hätte sich auf dem Gesichtsausdruck der Toten abgespiegelt. Doch waren ihre Züge ganz gelöst und friedlich. - Was aber hatte die Behütete, die in Paris mit ihren Eltern wohnte, so allein hinausgeführt nach dem entlegenen Landhaus? Ein paar fast flüchtig hingeworfene Notizblätter, die sich in ihrem Schreibtisch fanden, gaben zwar einen gewissen Anhaltspunkt, doch konnte das, was sie enthielten, auch genau so gut ein Spiel der Phantasie sein. Auch brauchten diese Aufzeichnungen überhaupt nicht im Zusammenhang zu stehen mit dem mysteriösen Tod der Schreiberin. Doch immerhin lag die Vermutung nahe, daß hier ein geheimnisvoller Vorgang mit hineinspiele, ein Vorgang, der in unserer Zeit der Flughäfen, Automobile und des Radios an die Liebestränke und Beschwörungsformeln des finsteren Mittelalters erinnert.“ - „Ach, nun gebrauchen Sie auch die Banalität vom finsteren Mittelalter. Glauben Sie mir: das Mittelalter war gar nicht so finster, wie es sich in den Gehirnen der Schulmeister und Gelehrten ausmalt. Es hatte sein ganz eignes und unmittelbares Licht, das uns abhanden kam, schon lange, und das wir erst, wenn auch auf anderen Wegen, wieder suchen und uns zu eigen machen müssen, denn anders verwandeln wir mit unsrer ganzen vielgepriesnen Wissenschaft im Laufe der Jahrhunderte die Erde weit und breit in eine einzige Seelenwüste Gobi um. - Aber erzählen Sie jetzt weiter.“ - „Die Schreiberin litt, wenn man es wissenschaftlich formulieren will, an einer sonderbaren Art Verfolgungswahn, denn wochenlang allabendlich vorm Einschlafen, sobald sie dunkel gemacht hatte, sah sie am Bettende den Umriß einer männlichen Gestalt stehn, einmal schärfer, einmal mehr verschwommen, mitunter derart deutlich, daß sich ihr die Züge einprägten - und sie glaubte, sie identifizieren zu können mit denen eines Ausländers, eines Ägypters, den sie kurz vor dem Auftreten dieser Erscheinung in einer Gesellschaft flüchtig kennengelernt hatte, doch dem sie dann nicht mehr begegnet war. Sie hatte jedesmal das nämliche Gefühl, als gehe eine Suggestion von der Gestalt aus, die gebiete, ihr zu folgen und diese Zwangsvorstellung steigerte sich Nacht für Nacht bis zur Erschöpfung ihrer inneren Abwehrkräfte, die sie aufzubringen hatte, um sich der allabendlichen Suggestion zu widersetzen. Sie hatte auch versucht, ohne das Licht gelöscht zu haben, einzuschlafen, doch kaum, daß sie die Augen schloß, stand wieder die Gestalt am Fußende des Bettes, und der zermürbende Nervenverbrauch des sich zur Wehrsetzens begann von neuem. So scheint es schließlich doch dazu gekommen zu sein, daß sie der Suggestion erlag und eines Nachts dem eingebildeten Befehl Folge leistete. Hierüber geben die Notizen keinen Aufschluß mehr, und da sie ohne Datum sind, so läßt sich auch nicht bündig daraus folgern, daß der Inhalt jener Aufzeichungen tatsächlich der Anlaß war für ihr Verschwinden. Sie können auch schon älteren Datums sein, und es kann sich dabei ebensogut um den Versuch zu einem novellistischen Entwurfe handeln wie um das in sich selber Fertigwerdenwollen mit einem wirklichen und unentrinnbaren Erlebnis. Da die Vermißte beim Auffinden mindestens fünf bis sechs Tage tot war, muß der Tod schon in derselben Nacht, in der sie wegging, eingetreten sein: sie muß also gleich den Weg zum Gartenpavillon genommen haben. Man geht dahin zwei Stunden gut von ihrer Wohnung, und zwar durchs finsterste Paris - ein Weg, den sie bestimmt noch nie gegangen war. Und dann: was war es überhaupt, was sie zum Gartenpavillon eines ihr ganz fremden Landhauses geführt hatte, wenn nicht eben jene Suggestion des Unbekannten, der nach ihren Aufzeichnungen eine ganze Zeit hindurch als Vorstellungsbild sich bei ihr manifestierte? Natürlich hat die Kriminalpolizei die Spur gleich aufgegriffen und Nachforschungen nach dem Ausländer angestellt, doch nur mit dem Ergebnis, daß der Fremde, der me hrere Monate hindurch eine Garcon-Wohnung in der rue de la Costa innegehabt hatte, diese schon einige Tage vor dieser Begebenheit aufgegeben habe und mit unbekanntem Ziele abgereist sei. Da weder Mord noch Selbstmord vorlag, bestand für die Kriminalpolizei kein Anlaß, seiner Spur noch weiter nachzugehen, und das Verfahren wurde eingestellt. Es stimmte übrigens, daß der Ausländer 49
Ägypter war, der wie sehr viele andere für ein paar Monate Pariser Luft geatmet hatte. Der Schleier aber, der auf jenem ganzen Vorfall ausgebreitet lag, blieb ungelüftet. - Über diesem Gespräch hatten wir meine Haustüre erreicht, und der Maler meinte, als er sich von mir verabschiedete, noch scherzend: Lassen sie sich aber jetzt durch alles dieses nicht etwa noch selbst von Halluzinationen glutäugiger Ägypter oder indischer Maharadschas heimsuchen! - Und wenn, so stehe ich zu jeder Tag- und Nachtstunde als Exorzist und Teufelsaustreiber auf telefonischen Anruf zur Verfügung, beruhigte sein Freund mich lachend, während der verschlafene Concierge die Haustüre umständlich aufschloß und mich einließ. - Noch ganz unter dem Eindruck dieser Unterhaltung, die mehr als ich mir vielleicht selbst Rechenschaft gab, in mir nachwirkte, betrat ich mein im zweiten Stock gelegenes Apartement, und gleich beim Eintreten bemerkte ich, daß die von mir in der verflossenen Nacht ins Nebenkabinett beiseitegestellten Orchideen wieder auf dem Tisch standen. Ich machte mir darüber aber keine weiteren Gedanken, denn ich nahm nicht anders an, als daß die Zugehfrau beim Ordnungmachen sie wieder hereingetragen habe. Um so größer war daher mein Schrecken, als ich um mich zu waschen, in den Nebenraum ging und dort meinen Orchideenstrauß von gestern abend unberührt auf dem Fach stehen sah, wo ich ihn hingestellt hatte. Es war also ein neuer Strauß, der für mich abgegeben worden war und der dem ändern zum Verwechseln gleich sah. Im ersten Augenblick war ich versucht, sofort zu dem Concierge zu gehn, um mich bei ihm nach den näheren Umständen bei der Abgabe der Straußes zu erkundigen, denn er hatte dieses Mal den Überbringer sicher nach dem Absender befragt und würde mir darüber die gewünschte Auskunft geben können. Aber mit Rücksicht auf die vorgerückte Stunde unterließ ich es dann doch, denn nicht mit Unrecht hätte mich der Mann für nicht normal gehalten, wenn ich ihn in einer scheinbar so belanglosen und ihn nichts angehenden Angelegenheit um halb drei Uhr nachts herausgeschellt hätte. Wohl oder übel mußte ich mich also bis zum nächsten Tag gedulden. Da stand er also wieder, der geheimnisvolle Orchideenstrauß auf meinem Tisch und wieder ging von ihm dieselbe faszinierende und fremdartige Wirkung aus, wie ich sie vom Abend vorher schon kannte. Es waren keine Blumen, die wie andre sich und ihren Duft verschenken wollen, es waren fordernde, besitzergreifende, unkeusche Blumen. Zum ersten Male kam es mir hierbei ganz plötzlich zum Bewußtsein, daß Blumen keineswegs die züchtigen Wesen sind, für die sie gelten, denn sie entblößten sich schamlos vor der Sonne, während sie ihr Haupt, die Wurzel, abgewendet von dem Lichte in die Erde senken. Es war dieses nicht bloß eine vernunftgemäße Einsicht, die sich mir bot beim Anblick des mich anatmenden Orchideenstraußes, es war fast etwas wie ein übersinnlich-sinnliches Erlebnis, das mich mit einmal überkam und sich mir bildhaft einprägte. Meine erste und spontane Eingebung war die, den zweiten Orchideenstrauß zum ersten in den Nebenraum zu tragen, doch dann gewann die Neugier gleich darauf die Oberhand, ob sich der gleiche Vorgang wie in der vorangegangenen Nacht auch in der heutigen wiederholen werde, und eine Art von wollüstigen Trotz hieß mich das feindselige Element begehrlich aufzusuchen. Ich ließ die Orchideen also auf dem Tische stehn und legte mich, indem ich ihre Gegenwart aus meiner Vorstellung ganz auszuschalten suchte, nieder. Um mich der eigenen oder einer fremden Suggestion durch eine andere Verzauberung abwehrend zu entziehen, nahm ich mir einen Band Verlaine’scher Gedichte vor, den ich wie keinen ändern liebe, und die verführerische Süße seiner Verse nahm mich auch diesmal wieder gefangen: Tu n’es pas la plus amoureuse De celles qui m’ont pris ma chair; Tu n’es pas la plus savoureuse De mes femmes de l’autre hiver ... Doch nur für kurz hatten die Verse die Kraft, von der unheimlichen Ausstrahlung der Orchideen abzulenken, die sich zusehends steigerte, bis ich zuletzt das Buch beiseite legen und mich ganz zur Abwehr setzen mußte gegenüber diesem fremden Etwas, das bestrebt war, auf mich einzudringen. Es war das nämliche Gefühl des vampyrhaften Ausgesaugtwerdens wie am vorhergehenden Abend, 50
nur noch eindringlicher. Ich knipste meine Nachttischlampe aus, um mich zu vergewissern, ob auch heute wieder der phosphoreszierende gespensterhafte Schimmer von den Orchideen ausgehn werde. Erst dauerte es ein bis zwei Minuten, bis sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Da war es wieder: ähnlich einer Aura, dieses unwirkliche Licht, das unverändert blieb, auch wenn man zwischendurch die Augen schloß und wieder öffnete. Ich war entschlossen, dieses Mal den Orchideenstrauß nicht wieder in den Nebenraum zu stellen, sondern ihn geflissentlich nicht zu beachten, wie er auch immer sich gebärde. Ich legte mich herum, der Wand zu, und versuchte einzuschlafen. Sobald ich aber anfing wegzudämmern, fuhr ich empor von einer Stimme, die mich wie von fernher anrief und mir aufzustehn befahl und ihr zu folgen. Es bedurfte meiner ganzen Willenskraft, um mich dagegen aufzulehnen. Trotzdem blieb ich bei den Entschluß, die Orchideen nicht vom Tisch zu entfernen, auch wenn der Kampf die ganze Nacht durch gehen sollte. Nur Licht brennen zu lassen, dieses Zugeständnis wollte ich mir machen. Ich knipste also wieder an. Dann machte ich von neuem den Versuch zu schlafen. Es gelang mir wenigstens insoweit, daß ich bald in einen Zustand zwischen Traum und Halbschlaf überging. Doch dieser Zustand war noch sehr viel quälender, denn immer, wenn ich grade im Begriff war, aus dem Halbschlaf in den Tiefschlaf abzugleiten, bildete sich wieder an dem Fußende des Bettes wie aus Nebel der schon gestern wahrgenommene Umriß einer männlichen Gestalt, so daß mir unwillkürlich das Gespräch vom Heimweg mit dem mythischen Ägypter in den Sinn kam. Und immer eindringlicher ging von dem beweglichen Phantom der wortlose Befehl aus, ihm zu folgen. Ich dachte an den Satz: Da rang ein Mann mit ihm die ganze Nacht. Und diese Vorstellung gab mir die Kraft, es jenem nachzutun. Zwar habe ich nicht auf die Uhr gesehn: zwei Stunden aber waren es gewiß, die so vergingen, bis es mir gelang, mir diesem wiederholten unheimlichen Überwältigungsversuch fertig zu werden. Als ich dann endlich einschlief, war mein Schlaf noch wüster und zermürbender als in der Nacht vorher, so daß ich mich beim Aufwachen an allen Gliedern wie zerschlagen fühlte. Die ganze Nacht durch hatte ich auch noch im Schlaf mit diesem unbekannten Feind zu ringen: es war wie ein beständiger Alp, der mich bedrängte. Ich war am nächsten Morgen so erschöpft, daß ich am liebsten gar nicht aufgestanden wäre, nur mein dem Maler fest gegebenes Versprechen, ihn nach Tisch zum letztenmal zu sitzen und vor allem meine Spannung, vom Concierge Einzelheiten über den geheimnisvollen Orchideenspender zu erfahren, ließen mich die Lethargie, die auf mir lastete, allmählich überwinden. Ich kleidete mich an, ließ beide Orchideensträuße stehen, wo sie standen: den einen nebenan im Kabinett, den ändern auf dem Tisch im Zimmer und ging gleich hinunter zum Concierge, mich nach dem Überbringer des unguten zweiten Orchideenstraußes zu erkundigen. Doch sah ich mich in meiner Hoffnung sehr enttäuscht, denn der Concierge war den ganzen Nachmittag bis abends abwesend gewesen und seine Frau, die er nicht unterrichtet hatte, wußte ebenso wie tags zuvor ihr Mann nur zu berichten, daß ein Junge, anscheinend derselbe, am Spätnachmittag die Blumen für mich abgegeben habe, ohne sonst etwas zu hinterlassen. Wer konnte auch vermuten, daß der anonyme Spender gleich am nächsten Abend wieder auf demselben Wege Orchideen senden werde? Ich war also so weit wie vorher. Ich schärfte dem Concierge ein, im Wiederholungsfalle sich den Jungen vorzunehmen und ihn ja nicht eher gehn zu lassen, ehe er ihm nicht das Geständnis abgepreßt habe, wer sein geheimnisvoller Auftraggeber sei und wo er wohne. Dann ging ich frühstücken in ein benachbartes Cafe wie immer. Um all die widerwärtigen Nachteindrücke loszuwerden, griff ich zu einer Zeitung. Das erste, was mir darin in die Augen sprang, war eine Anzeige; sie lautete: .Magnetisch- magische Behandlung bei Besessensein, Verzauberung und Dämonismus. Magisch-technisches Büro Saturina. Rue...’ Der Name ist mir heute nicht mehr gegenwärtig. Es war in einem abgelegenen Stadtteil. Im ersten Augenblick war ich versucht, gleich hinzufahren, um mir dieses wunderliche Unternehmen anzusehn. Die Zeit bis zur verabredeten Sitzung hätte grade ausgereicht, zumal das Atelier des Malers ohnehin am Wege lag. Doch ein undefinierbares Gefühl, mich nicht allein in einer unbekannten Gegend von Paris auf ein so Ungewisses Abenteuer einzulassen, ließ mich dann doch von meinem Vorhaben, allein dahinzugehen, Abstand nehmen. Nach Schluß der Sitzung wollte ich jedoch den Maler überreden, mitzukommen. Es waren noch gut dreiviertel Stunden bis dahin und ich beschloß, solange herumzubummeln und mich in der silbrigen Pariser Luft des Vo rfrühlings von dem erlebten 51
Nachtspuk zu erholen. Ich schlenderte hinunter nach der Seine, wo ich den Geruch von Teer und all das krause Durcheinander auf dem Fluß und an dem Quai entlang so liebe. Besonders zogen mich die Buchverkäufer immer wieder an, die dort in langen Reihen ihre Stände haben. Ich konnte stundenlang da stehen und ein Buch nach dem ändern durch die Hände laufen lassen; denn wenn man die erforderliche Ausdauer besitzt, so findet man fast immer etwas, was sich lohnt, für wenige Franken mit nach Haus zu nehmen. Ich blieb auch jetzt wieder vor einem Stande hängen. Doch was mich diesmal festhielt, war ein etwa zwölfjähriger, dunkelhaariger, bildschöner Junge, der fast mit der Sachlichkeit eines Erwachsenen bei dem Verkäufer sich erkundigte, ob ihm einmal ein Buch, betitelt .Magische Laterne', vorgekommen sei. Der Mann verneinte es und meinte dann zu mir gewendet: Als ob ich mir die Büchertitel alle merken sollte von dem Kram, der da herumliegt. Der Junge aber nach der abschlägigen Antwort blieb zwar vor dem Stand noch stehn wie unschlüssig, so schien es wenigstens, doch ich bemerkte, daß er mich dabei beobachtete. Natürlich tat ich so, als sähe ich es nicht und stöberte in dem umherliegenden Bücherwust gleichgültig weiter. Da kam mir plötzlich der abstruse und mich selbst grotesk anmutende Gedanke, ob der Junge nicht vielleicht der Überbringer der zwei Orchideensträuße sei, und diese Vorstellung verdichtete sich so in mir, daß sie mir nach und nach fast zur Gewißheit wurde, so unwahrscheinlich und wie aus der Luft gegriffen mir die Sache, nüchtern überlegt, auch vorkam. Ich fing schon an, die ersten Anzeichen eines beginnenden Verfolgungswahns bei mir festzustellen, und doch vermochte ich den mir von ungefähr gekommenen Verdacht, der Junge sei der Orchideen-Überbringer, nicht mehr loszuwerden. Der lehnte immer noch wie unbeteiligt seitwärts an dem Bücherstand und tat, als ob ihn alles um ihn her nichts angehe. Um ihn zu fangen, wandte ich mich ihm ganz plötzlich zu und sagte: Du hast mir eine große Freude gemacht mit deinen Orchideen. Ich danke dir. Doch wenn du heute abend wieder einen Strauß bringst, so mußt du nicht gleich wieder weggehn. Sage dem Concierge, er solle dich zu mir hinaufführen. Ich möchte dir gern eine Gegenfreude machen ... Der Junge sah mich wie abwesend an, und so als ob er überhaupt kein Wort verstanden habe, wiederholte er nur immer automatisch: Orchideen ... Orchideen ... Litt ich wirklich an Verfolgungswahn? Andererseits ließ der apathische, wie somnambule Zustand an dem Jungen mich vermuten, daß bei ihm etwas nicht stimme. Ich wußte nicht, was ich draus machen sollte. Jedenfalls war mein Versuch, durch eine Frage ihn zu überrumpeln, fehlgeschlagen. Ich trat also den Rückzug an und sagte, scheinbar gleichgültig und lachend: Drollig, wie man sich manchmal irren kann! Ich hätte drauf gewettet, daß ich dir die Freude zu verdanken habe. Schade! - Nichts, keine Antwort. Orchideen .. . Orchideen ... war das einzige, was er nur immer wieder vor sich hinmurmelte. War er geistesgestört? Es schien fast so. Dagegen sprach jedoch, daß er noch eben sich so klar und sachlich bei dem Buchverkäufer nach dem magischen Buch erkundigt hatte - oder lag vielleicht sein pathologischer Zustand gerade hierin, daß er diese irgendwo einmal gehörte Frage, immer wieder stellen mußte, weil sie in ihm Komplex geworden war infolge irgendwelcher untergründigen verworrnen Vorgänge? Es war nicht festzustellen, und da ich sah, daß jeder weitere Versuch, etwas aus ihm herauszubringen, aussichtslos sei, fuhr ich ihm mit der Hand durchs Haar und sagte: Viel Glück zum Finden der Laterna magica. Vielleicht wirst du einmal ein großer Zauberer. - Er blieb auch dieser Äußerung gegenüber teilnahmslos. Ich ließ ihn stehen, nickte im Vorbeigehen dem Buchverkäufer zu, der mir kopfschüttelnd nachsah, und begab mich auf dem Weg zum Atelier des Malers. Unterwegs ließ ich mir noch einmal den ganzen Vorfall mit dem Jungen durch den Kopf gehn, und je mehr ich mir die einzelnen Umstände nachträglich vergegenwärtige, desto absurder kam mir mein Verdacht vor, den ich dem gestörten Jungen gegenüber eben noch gehegt hatte. - Die bunten und belebten Straßen an der Frühlingssonne ließen mehr und mehr die Eindrücke der Nacht verblassen, und als ich nach gut einer halben Stunde das am Boulevard St. Michel gelegne Haus, in dem das Atelier des Malers sich befand, erreichte, war ich seelisch wieder nahezu im Gleichgewicht. Ich war entschlossen, weder meinen Freund, dem Maler, noch sonst jemand von meinem Nachterlebnis irgend etwas zu erzählen; sie hätten es ja doch nur auf ein übertriebenes Beeindrucktsein durch die vor kurzem vorgekommene Begebenheit zurückgeführt. Ich wollte nicht bei meinen Freunden als hysterisch gelten. 52
Die diesmalige Sitzung zog sich etwas länger hin, weil sie die letzte war. Der Maler wollte tags darauf in die Bretagne fahren, wo ein größerer Auftrag ihn erwartete. Er hatte daher noch eine ganze Reihe Vorbereitungen zu treffen für die Reise. Mein Vorschlag, mich im Anschluß an die Sitzung in das magisch-technische Büro Saturnia zu begleiten, kam ihm infolgedessen reichlich ungelegen. Aus Freude über das so wohl geglückte Bild von mir ließ er sich aber schließlich überreden. Er meinte zwar, es sei gewiß ein Humbug, doch könne man sich ja die Sache ansehn. Zur Zeitersparnis nahmen wir ein Auto. Das war auch gut so, denn es war sehr weit, und sicher hätten wir auch erst nach langem Suchen in der uns völlig unbekannten und recht wenig anheimelnden Gegend das im dritten Stockwerk eines hohen Rückgebäudes nach dem Hof zu gelegene Quartier gefunden. Am Vorderhaus befand sich eine Tafel mit der unverfänglichen Aufschrift ,Saturnia’ und einem gezackten Pfeil darunter wie bei den Hochspannungsleitungen als Weiser rückwärts. Der Hof war schmutzig. Kisten lagen darin aufgestapelt. Über dem Etablissement im Rückgebäude zu ebener Erde hing ein abgesplittertes Emailleschild: Frisiersalon. Im ersten Stockwerk wohnte eine Hebamme und gleich daneben eine Leichenfrau. Im zweiten Stock passierten wir die Glasverschläge zweier Wohnungen, die keine Schilder trugen. Gekeif von Frauenstimmen ließ sich drinnen hören. Nun standen wir vor dem gesuchten magisch-technischen Büro Satur nia. Auf unser Läuten öffnete uns eine elegant gekleidete, sehr distinguierte junge Dame mit den besten Umgangsformen, die zurückhaltend und liebenswürdig sich nach unserem Anliegen erkundigte. Durch diesen unerwarteten Empfang verloren wir zuerst ganz das Konzept. Der Maler murmelte etwas von Auskunft geben lassen. Die junge Dame, die unsere Verlegenheit bemerkte, ging darüber taktvoll und gewandt hinweg und bat uns einzutreten. Der Raum, in den sie uns geleitete, war hell und groß und unterschied sich eigentlich durch nichts von irgendeinem anderen Büro; nur hing an augenfälliger Stelle eine große eingerahmte Tafel, darauf stand: Hier spricht man 14 Sprachen. Darunter waren sie dann einzeln aufgeführt: bulgarisch, ungarisch, rumänisch - was weiß ich noch alles! Die Reihe schloß, was mir geblieben ist, mit: jiddisch. ,Monsieur Morot wird gleich erscheinen’, sagte die junge Dame. ,Wen darf ich melden?’ Wir nannten unsere Namen. Mit verbindlichem Lächeln verließ sie uns und glitt ins Nebenzimmer. Ein schwerer Vorhang auf der Innenseite der Verbindungstüre machte das Hineinsehen unmöglich. ,Das ist ja eine scheußliche Situation’, meinte der Maler. ,Was sollen wir denn jetzt dem Vierzehnsprachenkünstler sagen, weshalb wir hier sind? - Heißt er nicht Morot?’ – ‚Ja, ich glaube. Doch unser Anliegen? Ich hatte mir die Sache anders vorgestellt. Am besten, wir verschwinden lautlos.’ – ‚Ausgeschlossen! Der Mann kann jeden Augenblick ins Zimmer treten. Es gibt nur einen Ausweg: Sie erzählen ihm, Sie litten unter ähnlichen Halluzinationen wie die vor nicht langem verschwundene Dame mit dem Tagebuch und dem Ägypter, über die wir gestern abend auf dem Heimweg sprachen. Sie können die Geschichte ja beliebig variieren.’ - ,Wie kommen Sie darauf?’ Ich war so konsterniert, daß ich befürchten mußte, meine Verwirrung müsse ihm auffallen. Zum Glück war er mit seinem Einfall aber so beschäftigt, daß er nicht weiter auf mich achtete. ,Sie müssen sagen, daß Sie schon seit längerer Zeit von diesen Zwangsvorstellungen verfolgt werden, sobald Sie sich zur Ruhe legen,’ fuhr er fort. ,Ich bin gespannt, mit was für Gegenmaßnahmen Monsieur Morot dagegen angeht.’ - Ich hatte mich grade gefaßt und wollte ihm nachdrücklich sagen, daß er solchen Unsinn unterlassen solle, als die Türe aufging und Monsieur Morot durch sein Erscheinen mich daran hinderte. Sein Äußeres war überwältigend: Er glich weit eher einem Boxer oder Ringer, als daß man hinter dieser mächtigen, breitschultrigen Gestalt mit dem Stiernacken und dem flachstirnigen, willensmäßigen Schädel den Vertreter einer spirituellen Weltanschauung vermutet hätte. Doch davon abgesehn: sein Aussehn hatte etwas ausgesprochen Imponierendes, und auf dem Hintergrund der harten, raubtierhaften Augen war ein Zug von Güte unverkennbar. Auch seine Kleidung war von einer ausgesuchten, doch nicht lauten Eleganz; sein Auftreten war weltmännisch und sicher. Nachdem er uns mit einer liebenswürdigen Handbewegung aufgefordert hatte Platz zu nehmen, bot er uns Zigaretten an und wartete, was wir zu sagen hätten. Verlegene Pause. Ich fühlte, wie Monsieur Morot, ohne mich anzusehen, seine Aufmerksamkeit auf mich konzentrierte. Dann wandte er sich scheinbar unbefangen und spontan mir zu und meinte: ,Ihre Nerven waren in den 53
letzten Tagen einer heftigen Belastungsprobe ausgesetzt.’ - Ich fuhr zusammen. Wie kam der Mann darauf, der mich zum ersten Male sah jetzt eben? Oder waren für den sachkundigen, geschulten Blick des Psychologen die durchlebten Nachteindrücke immer noch bemerkbar? Für den Maler war natürlich die Bemerkung Monsieur Morots der gegebene Anlaß, einzufallen; ,Ich bewundere Ihren Scharfblick’, sagte er. ,Die Dame hatte wirklich in der letzten Zeit viel durchzumachen. Es ist ihr immer vor dem Einschlafen, als stehe eine unbekannte männliche Gestalt an ihrem Bettende, die ihr befehle, aufzustehn und ihr zu folgen. Die Abwehrkräfte, die sie dieser Suggestion entgegensetzen muß, verbrauchen auf die Dauer ihre Nerven. Es ist ein analoger Vorfall, scheint mir, dem, der unlängst in Paris ein solches Aufsehen machte. Sie, Monsieur Morot, werden sicher mit besonderem Interesse jenen Fall verfolgt haben. Die Dame wollte nun von Ihnen hören, wie sie sich diesen nächtlichen Beeinflussungsversuchen gegenüber zu verhalten habe.’ Am liebsten wäre ich dem Maler an den Hals gesprungen. Ich hätte ihn ja einfach Lügen strafen und Monsieur Morot erklären können, daß an allem dem kein wahres Wort sei und daß nur meine Neugierde uns hergeführt habe, doch wollte ich den Maler, der ja schließlich nur auf mein Zureden mitgekommen war, auch nicht bloßstellen; und dann war es vielleicht auch eine Art von abergläubischer Scheu, die mir verbot, etwas rund weg abzuleugnen, was doch tatsächlich bestand, wenn auch in etwas anderer Schattierung, als der Maler seiner frei erfundenen Schilderung gegeben hatte. Es gibt mitunter ja sehr seltsame Zusammenhänge. Und konnte es nicht etwas ähnliches wie Fügung sein, was heute vormittag die Anzeige mir in die Hände gespielt und mich bewogen hatte, Monsieur Morot aufzusuchen? Ich verhielt mich also passiv, schwieg und wartete was uns Monsieur Morot erwidern werde. Der hatte anscheinend uninteressiert den Maler angehört, doch blitzte er mit seinen Tigeraugen ab und zu nach mir herüber, was mir zeigte, daß die an den Tag gelegte Teilnahmslosigkeit bei ihm fingiert war. Es lag in dieser Art seines Verhaltens sicher eine Absicht, und zwar die, seine Besucher sich ihm gegenüber möglichst unbefangen aussprechen zu lassen, eine zwar nicht neue, aber immer wieder mit Erfolg gehandhabte Methode, zumal bei Menschen unkomplizierten Schlages, aus denen sich wohl vorwiegend die Kundschaft Monsieur Morots rekrutierte. ,Sie haben Recht’, begann er, ,daß mich jener Vorfall, der sich vor nicht langer Zeit hier zutrug und der soviel Staub aufwirbelte, besonders interessiert hat. Nicht wegen seiner Unerklärbarkeit, denn solche Vorkommnisse sind natürlich auch noch heute und, wie Sie sehn, selbst in modernen Großstädten möglich. Was mich veranlaßte, der Sache mit okkulten Mitteln nachzugehen, war nicht das Verschwinden der durch Suggestion, Sie können es auch Fernhypnose nennen, willenlos gemachten Dame, sondern ihr dabei erfolgter Tod, was sicher keineswegs im Sinn und in der Absicht des Hypnotiseurs lag - ganz im Gegenteil: er wollte sie sich ja doch grade für bestimmte Zwecke willfähig und hörig machen, ob nun für eigene oder fremde, ist im Grunde nebensächlich. Ihr Tod kam ihm daher nicht nur sehr unerwartet, sondern auch enttäuschend, denn er vereitelte gewisse Pläne ganz bestimmter Kreise, deren Agent und Mittler eben jener mit nicht unbeträchtlichen okkulten Fähigkeiten ausgerüstete Ägypter war.’ - ,Na hören Sie,’ brach hier der Maler los: ,das mutet ja wie das Kapitel eines okkultistischen Schauerromans an mit allen Requisiten, die dazu gehören: Logenintrigen, Freimaurern, Jesuiten und Geheimbünden, die sich für ihre finsteren Machinationen unglaubhafter Mittelsmänner und nicht auffindbarer Sendboten bedienen.’ - ,So ist es auch’, fuhr Monsieur Morot, durch die Äußerung des Malers keineswegs beleidigt, fort. ,Im Leben selbst geschehen auch noch heute sehr viel unwahrscheinlichere Dinge als in noch so ausgeklügelten Romanen. Man würde vieles, was man einfach als gegebne Tatsache im Leben hinnimmt, als unmöglich und als unerhörte Zumutung des Autors an den Leser rundweg ablehnen, wenn man das gleiche in Romanform vorgesetzt bekäme.’ Mit steigendem Interesse war ich den Gedankengängen Monsieur Morots gefolgt, denn er warf Fragen auf, die mir bis dahin völlig neu waren, doch leuchtete mir ohne weiteres ein, daß er mit allem, was er sagte, recht hatte. Was mich jedoch im Augenblick viel mehr beschäftigte, war die Person des Sprechers selbst: Wer und was war der Mann, der hier in einem so verrufenen Pariser Vorstadtviertel ein Büro für magisch-technische Beratung unterhielt, der eine Mischung 54
darzustellen schien von Boxer, Weltmann, Okkulist und wer weiß noch was allem und der einen Einblick hatte in Gesche hnisse und Dinge, die selbst für das Auge der Kriminalpolizei im Dunkel lagen? - Monsieur Morot schien mir mit seinem feinen Spürsinn angemerkt zu haben, was während dieser kurzen Pause in mir vorging; er sah mich an und meinte lächelnd: .Später’. ,Sie haben,’ fing der Maler an, .vorhin eine Bemerkung fallen lassen, mit der der Laie nicht viel anzufangen weiß, Sie sagten nämlich: Mit okkulten Mitteln seien Sie dem mysteriösen Fall der Dame nachgegangen. Was bedeutet das: okkulte Mittel?’ - ,Ich dachte mir schon, daß Sie diese Frage stellen würden,’ erwiderte Monsieur Morot, ,sie läßt sich aber nicht so ohne weiteres beantworten, selbst wenn ich mich dazu verstehen wollte. Sie sind doch Maler?’ - Ja, wie kommen Sie darauf?’ ,Sie haben ein Porträt der Dame hier gemalt, nicht wahr?’ ‚Ja, aber woher wissen Sie das alles, Monsieur Morot?’ ,Sie fragten mich doch eben, was unter okkulten Mitteln zu verstehen sei. Ich wollte Ihnen Ihre Frage nur beantworten. - Nun aber wollen wir uns mit der Angelegenheit beschäftigen, die Sie zu mir geführt hat, wie Sie sagten.’ - Der letzte Satz Monsieur Morots klang so bestimmt, daß alles weitere Fragen sich erübrigte. ,Aus meinen Nachforschungen damals’, fuhr er fort, ,ergab sich, daß die Ärzte mit der Diagnose Herzschlag sicher recht hatten. Was aber hatte ihn herbeigeführt? Das war der Punkt, der unbeantwortet geblieben war. Die Sensibilität der Dame war sehr groß und ihre Nerven waren einem Abwehrkampf von so andauernder Intensität zuletzt nicht mehr gewachsen. Im Augenblick, als sie den Widerstand als fruchtlos aufgegeben hatte und der Suggestion gefolgt war, sich also selber aus der Hand gab, brach sie körperlich zusammen. Die Folge war der Herzschlag. Die Anstrengung des weiten, in der Suggestion zurückgelegten Weges hat wahrscheinlich auch noch dazu beigetragen, ihre letzten Kräfte zu erschöpfen - ein, wie Sie sehn, in seinem Schlußeffekt durchaus natürlicher und keineswegs geheimnisvoller Vorgang.’ - ,Und gibt es nicht Mittel und Wege’, fragte der Maler, .solchen Einwirkungen gegenüber sich zu wappnen?’ ,Gewiß, die gibt es’, gab Monsieur Morot zur Antwort, ,nur weiß meist die Person, auf die es abgesehen ist, gar nicht, was man gegen sie im Schilde führt. Derjenige, dem daran liegt, sich ihr mit solchen Absichten zu nähern, braucht ihr nur irgendwann einmal etwas zu geben, das sie annimmt, schon eine angebotne Zigarette kann genügen, und der Kontakt ist hergestellt. Ist das einmal geschehn, so ist es meist zu spät, dagegen etwas Wirksames zu unternehmen. Lehnt aber die zur seelischen Beeinflussung geeignet scheinende Person den Gegenstand, den der Betreffende ihr anbot, ab, so muß der Abgewiesene eine andere Gelegenheit abwarten, um dann den nämlichen Versuch zu wiederholen. Doch da man hinter einer angebotnen Zigarette oder einer überreichten Nelke, heut zutage wenigstens, dergleichen nicht vermutet, so wird der liebenswürdige Spender ohne Zweifel stets sein Ziel erreichen. Ich neige zu der Annahme, daß jene Dame im Verlaufe der Soiree, auf der sie den Ägypter kennenlernte, irgend etwas derartiges von ihm annahm.’ – ‚Besteht dann aber, wenn der Gegenstand erst einmal angenommen wurde, überhaupt nicht mehr die Möglichkeit, sich der versuchten Suggestion nachträglich zu entziehen oder sich von ihren Nachwirkungen frei zu machen?’ Ich konnte mich der Frage nicht enthalten. ,Mitunter, wenn die Suggestion noch nicht in ein zu fortgeschrittenes Stadium getreten ist; doch niemals dadurch, daß man sich ihr widersetzt und seine Kraft dabei vollends verausgabt; denn der, von dem die Fernhypnose ausgeht, ist der ungleich Stärkere. Sich widersetzen, hieße sich daran totrennen, wie das unlängst erst erlebte Beispiel ja bewiesen hat. Man muß den Feind gewissermaßen in dem eignen Lager schlagen oder es doch wenigstens versuchen.’ ,Im eignen Lager - wie verstehn Sie das?’ ,Der Suggestion stattgeben, aber nur so weit, daß man noch die Kontrolle über sie behält. Ich weiß, es ist etwas wie ein Vabanquespiel und hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn der Prozeß noch nicht zu weit gediehen ist. Und außerdem verlangt er ein gerüttelt Maß von Selbstzuc ht. Sie haben mich verstanden? - : Dem Befehl zu folgen, nachgeben und sich ziehen lassen nach dem Ort, wohin der Unbekannte, der die Suggestion erteilt, es haben will, um ihm dort zu begegnen, doch ohne sich dabei auch nur einen Moment aus der Hand zu verlieren. Es entsteht so eine Art von Halbhypnose, etwas wie Bewußtseinsteilung, wobei die eigene 'Willensfähigkeit zwar stark herabgemindert, aber doch noch nicht soweit gelähmt ist, um nicht eine selbständige Handlung ausführen zu können. Und hier nun gilt es, möglichst bald nach der Begegnung mit dem Einflußausübenden den Zeitpunkt wahrzunehmen, um den Bann zu brechen und sich von dem fremden Überwältigungsversuche 55
freizumachen. Das Was und Wie hängt ganz von der jeweiligen Situation ab; dafür läßt sich natürlich keine allgemeingültige Vorschrift geben. So ist mir vor geraumer Zeit ein Fall bekannt geworden, bei dem sich eine diese Richtlinien befolgende Person der Einwirkung des ihr an einer abgelegenen Straßenkreuzung nachts entgegentretenden Hypnotiseurs dadurch zu entziehen wußte, daß sie ihm ein magisches Sigill entgegenhielt, das jede weitre psychische Besitzergreifung seinerseits vereitelte, so daß sie sich von jenem Augenblick an wieder völlig in die Hand bekam. Ich gebe zu, es war dieses insofern eine einmalige schicksalhafte Fügung, als die sich so zurückgegebene Person durch - nennen wir es einmal Zufall - jenes magische Sigill nicht lange vor dem Eintreten der Suggestion von einem Freunde, einem Atzt, geschenkt bekam, der es auf einer Indienreise von einem Maharadscha für geleistete ärztliche Hilfe mit besonderem Hinweis auf die magischen Kräfte des Sigills verehrt bekommen hatte. Der Arzt, der von dergleichen Dingen nicht viel hielt, wollte der Dame, deren Vorliebe er kannte, eine Freude damit machen und hatte, ohne es zu wissen, ihr damit den größten Dienst getan. Das war natürlich ein ganz außergewöhnlicher Fall, aber man sieht daran, wie seltsam Schicksalsfäden manchmal ineinandergreifen.’ Mir war mit die sen Darlegungen Monsieur Morots, so anregend sie waren, nur sehr bedingt gedient, doch wollte ich ihm nicht mit weiteren Fragen kommen, um mich nicht bei dem Maler zu verraten. Und außerdem sah ich auch diesem an, daß er unruhig wurde und aufbrechen wollte wegen seiner Reisevorbereitungen, die ihm viel näher lagen als die ausgefallenen Geschichten Monsieur Morots, da ihm die ganze, wie er glaubte, nur fingierte Sache im Grunde völlig unwichtig erscheinen mochte. Ich nickte ihm also zustimmend zu und sagte zu Monsieur Morot: ,Mein Freund verreist morgen für mehrere Wochen und hat dafür noch vieles zu erledigen. Es ist daher jetzt Zeit für uns, uns zu verabschieden. Ich bin Ihnen für Ihre Hinweise sehr dankbar, Monsieur Morot, und werde mich danach zu richten suchen. Nur daß mir leider kein geheimnisvolles magisches Sigill zur Hand ist. - Sie wollten mir, wenn ich Sie vorhin recht verstanden habe, auch noch ein wenig meine Neugierde befriedigen, nicht wahr? Das müssen wir nun leider auf ein anderes Mal verschieben.’ Wir waren aufgestanden. Der Maler fragte verlegen nach dem Honorar, das wir Monsieur Morot für die Sprechstunde schuldeten. Er wehrte ab: ,Ich danke Ihnen, aber mein Büro ist kein geschäftlichwirtschaftliches Unternehmen, auch wenn es äußerlich den Anschein hat. Man lebt nicht von den Sorgen andrer. Ich freue mich, wenn Ihnen wenigstens durch meinen Rat etwas gedient ist,’ meinte er, zu mir gewendet. Dann langte er von einem Bücherfach aus einer Reihe gleichgebundener Bücher einen Band und überreichte ihn mir: ,Um Ihre Neugier zu befriedigen. Wir werden uns ja doch kaum wiedersehen, wenn ihr Freund schon morgen früh auf längere Zeit verreist, denn um allein hierherzukommen, ist die Gegend hier für Sie doch etwas ausgefallen. Sie werden ohnehin ja nicht mehr lange in Paris sein.’ Er hatte das mit einer Selbstverständlichkeit gesagt, die mich erschreckte. Ich dachte damals nicht entfernt daran, Paris vor Abschluß meiner Studien zu verlassen. Ich war versucht zu fragen, was er damit meine, unterließ es aber, um nicht im Verlauf der weiteren Unterhaltung in Details zu kommen, was dem Maler wieder seinerseits zu ändern Fragen Anlaß geben konnte, denn daß die hingeworfene Bemerkung Monsieur Morots auf mein Erlebnis anspiele, stand außer Zweifel. Ich tat daher, als hätte ich die Äußerung ganz überhört und schlug die Vorderseite des mir überreichten Buches auf; es trug den Titel: Schicksal eines Matrosen. Was sollte ich damit? Ich sah Monsieur Morot befremdet an. Ja, ja, so ist es’, lachte er, ,das bin ich selber oder richtiger: das war ich. Das Leben bringt mitunter seltsame Metamorphosen. Im übrigen bin ich kein Schriftsteller; das Buch ist ein Privatdruck, doch hat es wenigstens den Vorzug, daß es wirkliche und nicht erfundene Begebenheiten schildert. Ich schrieb es anfangs nur für mich als Tagebuch und ließ es erst viel später drucken, um die Neugier meiner näheren und ferneren Freunde zu befriedigen - und’, schloß er: ‚vielleicht kann es dem einen oder ändern auch noch etwas mehr sein.’ - Ich dankte ihm noch einmal. Wir standen bei der Türe. Er reichte mir die Hand: ,Sich selbst behaupten!’ Das waren seine Abschiedsworte. Ich sah ihn nicht mehr. Auf der Straße drunten mußten wir uns erst orientieren, um auf den nächsten größeren Boulevard zu finden. Ich war durch alles, was ich bei Monsieur Morot gehört hatte, zu stark beeindruckt und mit mir beschäftigt, um darüber mit dem Maler in ein richtiges Gespräch zu kommen, wiewohl er auf dem Wege immer wieder davon anfing: ,Ein toller Bursche, dieser Monsieur Morot,’ meinte er, 56
,hellsehend ist er sicher, wie könnte er sonst wissen, daß ich Ihr Porträt gemalt habe? Er scheint etwas wie ein Cagliostro und muß ein abenteuerliches und bewegtes Leben auf den breiten Schultern haben. Ich möchte nicht mit ihm in Kollision geraten, dann ist er sicher wie ein Tiger. Sie müssen mir nach meiner Rückkehr gleich sein Buch zu lesen geben. Wenn ich zurück bin, wollen wir ihn wieder aufsuchen. Ich muß dahinter kommen, was es für eine Bewandtnis hat mit seinem magisch-technischen Büro, worin er unentgeltlich Auskünfte erteilt. Es ist das zweifellos nur eine vorgeschobene Fassade und dahinter steckt etwas ganz anderes ... Und wovon existiert er überhaupt, er und die elegante junge Dame, sicher seine Freundin. Er macht den Eindruck ausgesprochenen Wohlstandes. Warum hat er dann aber sein Büro in einem der verkommensten und finstersten Stadtviertel von Paris? Ein Rätsel löst das andre ab...’ Es war schon mehr ein Selbstgespräch, das er so führte, während wir uns nach und nach einer gesitteteren Gegend näherten. - Der Maler hatte noch verschiedene Besorgungen für die bevorstehende Abreise zu machen. Er fragte mich, ob ich ihn begleiten wollte. Ich schützte Müdigkeit vor. Es war inzwischen achtzehn Uhr geworden. Wir setzten uns noch kurz in ein Cafe. Der Maler sprach von seinen neuen Arbeitsplänen und war nun wieder ganz in seinem Element. Dann trennten wir uns. Ich nahm den Weg in Richtung meiner Wohnung. Vor hatte ich zwar nichts, doch wollte ich allein sein. Ich hatte gut noch eine halbe Stunde bis nach Hause. Dort angekommen, ging ich gleich zu dem Concierge, um nachzufragen, ob ein Orchideenstrauß auch heute wieder für mich abgegeben worden sei. Nein, doch er könne ja noch kommen. Er wollte mich vertrösten: noch sei es nicht halb acht. Ich schärfte ihm nochmals eindringlich ein, den Jungen oder wer der Überbringer immer sei, ins schärfste Kreuzverhör zu nehmen. Er versprach es mir. Beruhigt, dieses Mal näher am Ziel zu sein, ging ich nach oben. Dort standen noch die beiden Orchideensträuße so, wie ich sie vormittags verlassen hatte: der eine auf dem Tisch, der andre auf dem Fach im Nebenraum. Bei ihrem Anblick fiel mir unwillkürlich ein, was kurz zuvor Monsieur Morot gesagt hatte: Nur die Person gebe sich restlos in die Hand des Magiers, die irgend etwas von ihm annehme, sei das Geschenk auch noch so unbedeutend. Aber hatte ich denn überhaupt die Orchideen angenommen? - Nein. Man hatte sie mir ins Zimmer gestellt ohne mein Wissen in meiner Abwesenheit. Und ich, ich hatte sie drin stehen lassen, das war alles. Um sie zurückzusenden, mußte ich erst wissen, wer der Spender war; das würde ich aller Voraussicht nach ja bald erfahren, wenn über kurz der dritte Orchideenstrauß vom Überbringer beim Concierge abgegeben werden sollte. Und daß dieses geschehen werde, war so gut wie sicher. Dann würde ich sie gleich zurückschicken. Ich fühlte mich sehr glücklich und erleichtert. Das hatte ich einzig Monsieur Morot zu danken. - Ich setzte mich mit seinem Buch ans Fenster und begann darin zu lesen. Schon gle ich die ersten Seiten fesselten mich so, daß ich gar nicht mehr an die Orchideen dachte. Das Buch war außerordentlich geschrieben und las sich wie ein abenteuerlicher und atemraubender Roman, der nicht nur ein paar uninteressante Städte Deutschlands oder Frankreichs, sondern Meer und Tropeninseln, Urwälder und die Geheimnisse und Abgründe der großen Hafenstädte Asiens und Amerikas zum Schauplatz hatte. Zur Offizierslaufbahn bestimmt, war Morot mit sechzehn Jahren aus der Offiziersschule entflohen und begann auf einem Handelsdampfer als Matrosenjunge. Im Laufe der Jahre hatte er die ganze Welt befahren, um schließlich, des Umhergeworfenwerdens überdrüssig, sich in Bombay einen anderen Beruf zu suchen. Von Bombay führte ihn sein Weg dann nach Benares. Hier nahm sein Schicksal eine völlig neue, unvorhergesehene Wendung. Dort in Benares war ihm ein Fakir begegnet, der mit dem sicheren Blick des inneren Schauens seine ins Okkulte gehende Veranlagung erkannte. Er nahm den damals etwa Achtundzwanzigjährigen in die Schule, ein ganz seltner, wenn nicht einmaliger Fall, daß einem Europäer solche Auszeichnung zuteil wurde. Sechs Jahre war er Schüler des Fakirs. Danach durchquerte er ganz Indien und es gelang ihm, tief ins Hochland Tibets vorzudringen. Als Ausweis diente ihm sein beim Fakir erworbenes okkultes Wissen. Nach zweijährigem Aufenthalt in Tibet, den er zum Teil in Lamaklöstern zugebracht hatte und wo er ihre dunklen Riten und Beschwörungsformeln kennenlernte, kehrte der als Schiffsjunge vor zwei Jahrzehnten Ausgefahrene wieder nach Europa zurück. Hier schließt das Buch mit dem einfachen Satz: Seitdem lebt der Verfasser in Paris. - Natürlich ist das so Erzählte nur der kurze inhaltliche Umriß von Begebenheiten und Erlebnissen, die sich auf einem unwahrscheinlich farbigen und 57
wechselvollen Hintergrund abspielen. Und grade die Details in ihrer glitzernden, erregenden und überwältigenden Mannigfaligkeit und Fremdheit gaben dem Buch das Spannende und das zugleich Einmalige, daß man nicht anders konnte, als es in einem Zuge durchzulesen. - Am Schluß in einem längeren Anhang gibt dann der Verfasser systematisch Anweisungen für okkulte Übungen, vor allem für gewisse Atemübungen, die dazu dienen sollen, den gesamten inneren Organismus nach und nach methodisch durchzuschulen und okkulte Kräfte zu entwickeln. Ich war beim Lesen grade bis hierhin gekommen, als er klopfte. Ich rief: herein. Da kam er, wie erwartet, der mir zugedachte dritte Orchideenstrauß. Der Concierge brachte ihn, sichtlich verlegen. Es war genau derselbe Strauß wie die zwei ändern. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Wie es gewesen sei, was habe er gesagt, der Junge? - Nichts. Scheinbar sei er irr oder idiotisch. Unmöglich auch nur einen Satz aus ihm herauszubringen. Versucht habe er alles. Nur immer: ,Fräulein La ndek…. Orchideen, Orchideen’ ... habe er gestammelt, unentwegt, als habe er es eingedrillt bekommen. Nicht einmal ein Zweifrankenstück habe etwas ausgerichtet. - Wie alt der Junge denn gewesen sei und wie er ausgesehen habe? - Zwölf-, dreizehnjährig etwa, dunkel wie ein Italiener oder Spanier. Der Concierge habe ihn dann, weil es völlig zwecklos schien, noch weiter auf ihn einzudringen, wieder hingeschickt, von wo er herkam. - Der Concierge empfahl sich. Ich war deprimiert und ratlos. Nur eines stand so gut wie außer Zweifel: der Junge war doch der vom Vormittag am Quai beim Buchverkäufer. Ich hatte also recht vermutet. Nur war mir nicht gedient mit dieser Einsicht, im Gegenteil: sie machte nur die ganze Sache noch verwirrender. Wie aber mich der Orchideen entledigen? Die Hoffnung, sie zurücksenden zu können an den Spender, war vereitelt. Geschehen mußte aber etwas. Ich beschloß daher, sie zu vernichten, denn sie bloß wegzuwerfen, schien mir nicht genügend. Ich nahm also die Sträuße in der Reihenfolge wie ich sie erhalten hatte und begann sie, eine Blume nach der ändern, zu zerschneiden. Ich tat das mit einem Gefühl sadistischen Behagens und während ich es tat, verspürte ich, wie körperhaft zunehmend, daß die Blumen jeden Schnitt empfanden. Es war, als schnitte ich in etwas Lebendiges. Um mich zu vergewissern, ob es nicht Selbsttäuschung sei, nahm ich dieselbe Prozedur an einer ändern Blume vor aus einem Strauß, den ich vom Freund des Malers tags zuvor verehrt bekommen hatte. Hier blieb die Wirkung aus. Kein Zweifel also: die Orchideen lebten. Ich fuhr mit dem Zerschneiden fort, bis ich die letzte unschädlich gemacht hatte. Dann setzte ich mich ganz erlöst wieder ans Fenster, um das Buch Monsieur Morots fertig zu lesen. Was mich an den darin enthaltenen Vorschriften besonders anzog, war das Nüchterne und Sachliche des Tons, in welchem sie gehalten waren, ganz ohne den verdrießlichen okkulten Hokuspokus, durch den dergleichen Bücher sonst so oft den Anstrich des Traktathaften bekommen. Ich habe damals eine jener Atemübungen längere Zeit hindurch gemacht, und zwar mit dem Erfolg, daß sich mein ganzer Organismus kräftigte. Ich gab die Übung leider später wieder auf, weil mich die Unruhe meines Berufes streckenweise immer wieder zwang, sie zu vernachlässigen. Heute bereue ich es eigentlich. Übrigens habe ich mir über die Übung seinerzeit genaue Aufzeichnungen gemacht; ich besitze sie noch. Wenn es Sie interessiert, will ich sie Ihnen senden.“ „Wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht; ich würde sie gerne kennen lernen.“ „Im Anschluß an die Übung kommt Monsieur Morot dann noch auf die Auswirkungen zu sprechen, die sie auf die seelische Entwicklung ausübt dadurch, daß mit jedem Atemzug nicht nur die aus den Elementen Sauerstoff und Stickstoff bestehende Luft dem Organismus einverleibt wird, sondern auch zugleich mit ihr der in der Luft enthaltne kosmische Energiestoff Prana, der für die abendländische Wissenschaft nichtexistent ist.“ – „Und doch ist Prana das alles belebende und allerhaltende Prinzip des Weltalls. Viel Zeit wird noch darüber hingehn, bis das Abendland für diese geistige Erkenntnis reif ist. Und dieses Prana, das die Seele ist von Kraft und Energie in allen ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen, wirkt besonders stark im Sauerstoff. Bei der gewöhnlichen Atmung ziehen wir nicht mehr als das normale Quantum Prana ein, doch bei der Tiefatmung, wie sie die Yogis lehren, kann man sich aus der Luft bedeutend größere Vorräte von Prana aneignen, die sich dann in den Nerven- und Gehirnzentren für den Gebrauchsfall anhäufen. Wir können Prana in uns anhäufen wie ein Akkumulator die Elektrizität. Durch dieses Ansammeln 58
von Prana wird nicht nur der physische Leib gekräftigt, auch das Gehirn erhält einen verstärkten Zustrom von Energie und es entwickeln sich so neue Fähigkeiten und psychische Kräfte. Darin beruht das zeitlose Geheimnis bei der Atemkunst der Yogi.“ „Das alles leuchtet mir schon ein, nur eins verstehe ich dann nicht, daß in der ganzen abendländischen Esoterik der Begriff von Prana nirgends vorkommt. Wenn auch der Schulungsweg über die Atemtechnik dem westlichen Menschen nicht gemäß ist, das Wissen um das kosmische Vorhandensein von Prana müßte aber doch auch in der abendländischen Mystik irgendwo zu finden sein.“ „Und ist es auch, und zwar grade auf demjenigen Territorium, dem Sie Feind sind, nämlich bei den Alchimisten. Das, was die Alchimisten als Merkur ansprachen, jenes der an sich toten Materie bis in die kleinste Zelle innewohnende, sie erst belebende, Wachstum und Keimkraft wirkende Weltenergie-Prinzip ist identisch mit dem indischen Prana. Die Alchimisten wußten sehr genau um den Merkur und sie verstanden auch durch das, was sie ihren Magnet nannten, ihn anzuziehen und zu binden. Der Stein der Weisen ist im Grunde auch nichts anderes als konzentriertester Merkurius, und darum leuchtet er, phosphoresziert: wie eine glimmende Kohle, so beschreiben ihn die Alchimisten. Hier sind wir nun wieder auf Umwegen bei Ihren Orchideen: Daß sie im Dunkeln einen Schein verbreiteten, wie Sie erzählten, läßt vermuten, daß irgendein in diese Richtung gehender Prozeß mit ihnen vorgenommen wurde, ehe man sie Ihnen sandte. Auch daß Sie eine Art von Prickeln wahrzunehmen glaubten, als Sie mit der Hand darüberfuhren, macht diese Annahme noch wahrscheinlicher. - Ich bin gespannt, wie sich Ihr Abenteuer weiter anließ. Was geschah dann im Verlauf des Abends?“ „Es war dämmrig geworden, ehe ich den zweiten Teil des Buches Monsieur Morots ausgelesen hatte. Der theoretische Abschnitt las sich langsamer als der erzählende. Ich hatte keine Einladung oder Verabredung an diesem Abend. Die Abspannung, die ich den ganzen Vormittag über und bis in den Nachmittag hinein empfunden hatte, hatte sich fast ganz verloren. Dafür verspürte ich jetzt Hunger. Ich hatte seit dem Frühstück nichts zu mir genommen außer dem Kaffee am Spätnachmittag mit dem Maler. Ich ging ins Nebenkabinett und richtete mir Abendessen, denn noch einmal ins Restaurant zu gehn, war ich nicht aufgelegt. Ich zog es vor, für mich zu sein, um über alles, was Monsieur Morot gesagt hatte, vorm Schlafe ngehn noch einmal nachzudenken. Nachdem ich mir das Essen zugerichtet und gegessen hatte, trat ich ans offene Fenster und sah hinaus auf die erleuchteten, belebten Straßen mit den Lichtreklamen und dem ganzen wogenden, unheimlichen Treiben der Millionenstadt. Wie liebte ich dieses verwirrende, schicksalbeladne Einund Ausatmen des in die Dunkelheit hineingelagerten geheimnisvollen Molochs. Ich mußte an den Film ‚Lichter der Großstadt’ denken, den ich bei meinem letzten Aufenthalt in Deutschland dort gesehen hatte, in welchem grade dieses Atmosphärische so glücklich eingefangen war. - Das Stehn am Fenster und Hinaussehn auf das nächtliche Paris an jenem Abend ist mir mit allen Einzelheiten noch so deutlich im Gedächtnis, als seien erst elf Wochen, nicht elf Jahre seitdem hingegangen. Nachträglich wußte ich, warum das war: Es war das wie ein Abschiednehmen von Paris, das untergründig in mir vorging, ausgelöst durch die Bemerkung Monsieur Morots: ,Sie werden ohnehin ja nicht mehr lange in Paris sein.’ Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so an dem Fenster stand und in das Lichtermeer hinaussah. Ich glaube, es war lange. Dann machte ich mir Tee und blätterte noch einmal in dem Buche Monsieur Morots. Ich stieß hierbei auf eine Stelle, über welche ich beim ersten Lesen anscheinend hinweggelesen hatte. Es war nur ein gedrängter Satz; er lautete: zum Schutz vor magischer Besitzergreifung umgebe man sich stets mit einem Kreis harmonisch schwingender Gedanken. Das klingt zuerst sehr einfach, doch macht man sich daran, es auszuführen, so erkennt man, daß man sich erst einmal klar darüber werden muß, was unter dem Begriff .harmonisch schwingender Gedanken' zu verstehen ist; denn daß es sich dabei nicht um die Vorstellung ‚harmonisch’ im landläufigen trivialen Sinne handeln könne, unterlag für mich schon damals keinem Zweifel. Vielleicht, so sagte ich mir, liegt die Lösung darin, daß man ganz in sich hineingehn und den Brennpunkt in sich finden muß, an den nichts, was von außen kommt, herankann, um die Seele zu 59
gefährden, jene innre Festung, wo sie sich vor jedem äußeren Feind geschützt weiß. In seltnen Augenblicken hat wohl jeder diesen Zustand schon an sich erfahren, nur kommt es darauf an, ihn jederzeit bewußt durch einen freien Willensakt hervorrufen zu können. Von diesem Mittelpunkt aus ließe sich, so sagte ich mir weiter, der harmonisch strahlenförmige Kreis zur Ab wehr fremder Einbrüche und Einwirkungsversuche in die innere Seelensphäre ziehen. Wie eine Eingebung war diese Einsicht über mich gekommen, und ich beschloß, mich danach zu verhalten oder wenigstens doch den Versuch dazu zu machen. Zu Bett gehn würde ich an diesem Abend überhaupt nicht, sondern wollte angekleidet auf der Chaiselongue mich schlafen legen, um, wenn nötig, gleich bereit zu sein zu folgen, falls die Aufforderung hierzu wie in den beiden letzten Nächten auch in dieser Nacht sich wiederholen sollte. Nachdem ich Monsieur Morots Buch gelesen hatte, war mein Zutrauen zu ihm noch größer. Es ging inzwischen schon auf zehn Uhr und die Abspannung infolge der zwei unruhig verbrachten Nächte machte sich allmählich geltend. Ich holte mir daher mein Kopfkissen und meine Reisedecke und begann auf der Chaiselongue mich häuslich einzurichten. Ob eine leicht einschläfernde Lektüre nicht der Verlaines vorzuziehen wäre? Mir fiel die Stelle ein in Grabbes Lustspiel ,Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung’, wo der Teufel allerdings Klopstocks Messias als unfehlbares Schlafmittel anpreist; dann aber nahm ich mir doch lieber Grabbes Lustspiel selbst vor. Ich las den marionettenhaft grotesken ersten Akt mit dem ganz gleichen Hingerissensein wie damals, als ich dieses Stück zum erstenmal für mich entdeckte. Dann legte ich das Buch beiseite auf den Tisch, wo nachts zuvor die Orchideen gestanden hatten. Noch heute bin ich mir darüber nicht im klaren, ob es nur Selbstsuggestion war oder ob für das gesicherte Gefühl, das mich beherrschte, der reale Grund darin zu suchen war, daß ich die Orchideen beseitigt hatte. Ich fühlte mich vollkommen ruhig gegenüber allem dem, was sich ereignen werde. Soviel stand fest: wenn das Phantom mich wieder aufforderte zu folgen, so würde ich mich nicht dagegen sperren, sondern dem Befehl sogar mit einer Art von Schadenfreude Folge leisten. Ich legte mich zurück und machte den Versuch, den Zustand des in mich Hineingehns herzustellen. Es gelang mir. Wie soll man diesen Zustand schildern? - : Man fällt in seine eigne Tiefe wie in einen Brunnenschacht, und rundherum der Brunnenrand, das ist der Ring, der Schutz gibt gegen alles, was von außen kommt und das man überhaupt nicht als real empfindet. Etwas von diesem Zustand haben Sie ja selber in den Strofen eingefangen: O Tod, du Gaukler unsrer Flucht Im nächtlichen Gerank, Wenn einer seine Seele sucht, Die in den Brunnen sank. Nun versuchte ich, den so geschaffnen Zustand in den Schlaf mit hinüberzunehmen, um so gegen jeden etwaigen Überwältigungsversuch von innen her geschützt zu sein. Ich fühlte ganz entfernt, wie ich allmählich abglitt und hinüberdämmerte. Es waren aber keine Orchideen mehr vorhanden, um vom Tisch aus ihren fieberhaften Schein im Umkreis auszusenden und mit ihrem Atem durch die dünnen Seelenwände einzudringen. Diese Waffe also war dem Feinde aus der Hand geschlagen. Ich wußte nicht, wie lange ich geschlafen hatte - lange kann es kaum gewesen sein -, da spürte ich, doch diesmal wie durch eine Wand hindurch, wieder die Ausstrahlung des Eindringlings. In meinen Schlaf hinein empfand ich, wie sich etwas um mich her verdichtete. Doch gleichzeitig empfand ich auch die Anstrengung, die es den Angreifer im Gegensatz zu den zwei letzten Nächten diesmal kostete, sich durchzusetzen. Ich selbst befand mich in einem ganz eigenartigen und unwirklichen Zustand zwischen Schlaf und Wachen, der im Grunde beides war und doch auch wieder keines war von beidem. Man weiß dabei zwar, daß man schläft, und doch erlebt man alles, was sich zuträgt, ganz bewußt, man ist dabei gewissermaßen sogar Zeuge seines eigenen Schlafes.“ „Das macht eben der Brunnenschacht, in den man sich hinabließ, aus dem hervor man alles um sich her gespiegelt wahrnimmt.“ 60
„Und darum weiß man sich auch innerlich gesichert allem gegenüber, was als Umwelt auftritt und zu einem hin will. So nahm ich auch aus dieser meiner inneren Festung heraus das langsame und allmähliche Verdichten des Phantoms wahr, bis es sich zuletzt wieder zu der Gestalt wie an den beiden Abenden vorher entwickelt hatte. Nun würde bald auch der Befehl, zu folgen, wieder von ihm ausgehn - er sollte mich auf alles vorbereitet finden ... Er kam. Es war ein suggestiver Wille, der, wie ausgehend von einem Brennglas, zielbewußt auf mich gerichtet war und immer intensiver wurde. Doch er vermochte nicht den Ring, der um mich her war, zu durchstoßen. So konnte ich, ohne Gefahr zu laufen, ihm anheimzufallen oder einen Abwehrkampf dagegen aufnehmen zu müssen, dem Vorgang wie ein Unbeteiligter beiwohnen. Als ich jedoch bemerkte, daß der fordernde Befehl allmählich anfing, den um mich gezogenen Ring fast wie mit einer Säure anzufressen, erachtete ich den Zeitpunkt für gekommen, ihm zu folgen, wie Monsieur Morot es mir geraten hatte. So gab ich dem Befehle nach und ließ mich ziehen. Ich kann es nicht anders bezeichnen. Es war, als zöge mich ein unsichtbares feinstoffliches Band, das unterhalb der Magengrube, etwa wo das Zwerchfell liegt, befestigt schien. Ich brauchte weiter nichts zu tun, als nur mich diesem inneren Gefühle des Gezogenwerdens hinzugeben. Dabei war mein Bewußtsein aber keineswegs herabgesetzt, ich sah und wußte ganz genau, was um mich vorging; und auch der Weg, den ich in dieser Lage einschlug, war mir gegenwärtig. Ich ging wie selbstverständlich durch die nächtlichen belebten Straßen, überquerte Fahrdämme und bemerkte, wie ein Schutzmann einen Schwerbetrunkenen, der nicht mehr stehen konnte, wegführte. Nur sah ich alles durch einen Schleier. Ich bin zwar Laie in psychiatrischen und allen solchen Dingen, doch stelle ich mir den schizophrenen Zustand ähnlich vor, nur unterliegt der Schizophrene eben einer Zwangsvorstellung und ist unfrei, während ich vom ersten Augenblick an meine Handlungsfreiheit beibehielt. Daß mir das möglich war, verdankte ich nur Monsieur Morot. Es war ein weiter Weg, den ich zu machen hatte, und er führte immer mehr in eine abgelegene, mir unbekannte Gegend. Man kommt in einer Großstadt wie Paris im allgemeinen ja nur immer in dieselben Viertel; ich glaube, auch die wenigsten Pariser kennen ihr Paris bis in die letzten Winkel mit Ausnahme der Künstler. - Um mich zurückzufinden, merkte ich mir im Vorbeigehn möglichst viele Straßenname n, doch bald sah ich, daß die Orientierung so doch aussichtslos sei und gab daher diese Bemühung wieder auf. - Es ging auf 24 Uhr. Es mochte kurz nach 23 Uhr gewesen sein, als ich das Haus verlassen hatte, ich war also fast eine Stunde unterwegs, doch fühlte ich mich nicht ermüdet. Das Stadtviertel, das ich nunmehr passierte, machte einen eigenartigen Eindruck. Inmitten der gewohnten Häuserblocks der Vorstadtgegend lagen Landhäuser im besten Louis-Seize-Stil, sogar mitunter zwischen alten Parkbäumen. Ob sie verwahrlost oder noch gehalten waren, konnte man der Dunkelheit wegen nicht recht erkennen. Damals, als diese Landhäuser aus dem ancien regime entstanden, lagen sie noch außerhalb der Stadt und isoliert da wie die Aristokratie, die sie gebaut hat, und die dieses Vorrechts schon seit langem mehr und mehr verlustig ging. Die krasse, augenfällige Diskrepanz dieser Chalets zu ihrer sie erstickenden Umgebung wirkte fast gespenstisch. Ich ging noch immer, von dem feinstofflichen Band gezogen, wie nachtwandlerisch und doch im Vollbesitz meines Bewußtseins. Von allen den an mir Vorübergehenden ahnte wohl keiner, unter welch seltsamen Umständen ich so an ihnen vorbeiging. Ein Schutzmann patrouillierte ahnungslos an mir vorüber. Ich war versucht, ihn anzusprechen und ihn zu bitten, mich auf meinem weiteren Wege zu begleiten. Doch ich befürchtete, er werde mich für eine Irre halten und statt mitzugehn mich auf die Wache bringen. Und untergründig spielte wohl auch mit, daß es mich reizte, das Abenteuer nun auch bis zu Ende zu bestehen. Ich war vielleicht noch ein paar hundert Schritte so gegangen vorbei an Häuserblocks und Lagerschuppen, als ich durch vorgelagerte uralte Parkbäume hindurch rechts seitlich vor mir wieder ein Chalet bemerkte, das jedoch im Gegensatz zu den vorherigen erleuchtet war, während die 61
anderen mit geschlossenen Läden ganz im Dunkel lagen. Ich näherte mich dem inmitten einer niederen Gartenmauer von zwei verwitterten Sandsteinpfeilern eingerahmten schmiedeeisernen Tor; es war nur angelehnt. Ich fühlte, daß es mich hineinzog, so sehr ich mich dagegen sträubte, um nicht einer Selbsttäuschung zu unterliegen, denn die Vermutung, daß die festliche Beleuchtung mitten in dem nächtlich finstern Vorstadtviertel mir galt, lag im Hinblick auf die ungewöhnliche Situation im Grunde nahe. Ich gab mir richtig einen Ruck, um an dem Tor vorbeizukommen, doch es ging nicht: der Befehl war stärker. Ich schob das Tor auf und ging zögernd auf dem kiesbestreuten Einfahrtsweg dem Haus zu. Es war ein flaches, langgestrecktes Haus, das nur aus einem hochgezogenen Parterrestock und einem Mansardenstock bestand. Durch die geschlossenen Läden hindurch konnte man sehen, daß das ganze Erdgeschoß erleuchtet war. Ich war bis vor die Haustüre gekommen; auch sie war nur leicht angelehnt, so daß ein Lichtstreifen durch den Spalt fiel. Ich stand eine Minute oder zwei unschlüssig: die ausgeübte Suggestion war nicht so zwingend und gebieterisch, daß ich es nicht vermocht hätte, mit meinem ganzen Willensaufwand mich dagegen aufzulehnen. Da war es mir, als hörte ich ganz deutlich meinen Namen rufen. Der Ruf kam aber nicht von außen, sondern aus mir selbst von innen. Warum, nachdem ich ihm nun schon bis hier gefolgt war, sollte ich dicht vor dem Ziel umkehren? Gewonnen wäre dadurch nichts, die nächtlichen Beeinflussungsversuche würden ja doch nur um so heftiger von vorne wieder anfangen. Ich glaube, wenn ich achtzig Jahre alt würde, so sähe ich mich immer noch so vor der Haustüre mit auf der Türklinke gelegter Hand nachdenklich stehen und dann gleich darauf die Türe ruckhaft aufreißen. Wie leicht konnte jemand, um über mich herzufallen, hinter der halb angelehnten Türe lauern. Doch mein Verdacht war unbegründet. Ich stand in einer hellerleuchteten, im besten LouisSeize-Stil eingerichteten, kreisrunden Halle. Gegenüber von der Eingangstüre führte eine Glastüre hinaus, anscheinend über eine Glasveranda in den rückwärtigen Park. Von den drei ebenmäßigen hohen Flügeltüren rechts und links der Halle stand die eine offen. Ich sah in ein saalartiges, gedämpft erhelltes Zimmer, dessen Einrichtung zwar einen strengen, sicheren, doch ungewöhnlich fremdartigen, ich möchte sagen byzantinischen Geschmack verriet. Niemand, so schien es mir, war darin anwesend. Ich fühlte, wie es mich hineinzog. Kaum stand ich in dem Zimmer, so gewahrte ich seitlich auf dem Kamin den gleichen Orchideenstrauß, wie ihn der Spender durch den rätselhaften Jungen mir an den drei letzten Nachmittagen hatte überbringen lassen. Und wieder glaubte ich die unheimlich vampyrisierende Ausstrahlung der Blumen zu verspüren. Ich sah mich um im Zimmer. Im selben Augenblick erhob sich in der dämmrigen Nische die Gestalt, die ich aus der vorvorigen und vorigen Nacht schon kannte. Die Züge des auf mich Zutretenden konnte ich jedoch erst jetzt erkenne n. Es war ein hochgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren, dunkelhaarig und mit scharfem, willensmäßigem Gesichtsausdruck, wenn auch von einer völlig anderen Artung wie bei Monsieur Morot. Sein Äußeres war überaus gewinnend und anziehend. Die leichte Abspannung, die sich an ihm bemerkbar machte und die wohl von der Anstrengung der so lange ausgeübten Suggestion herrührte, machte ihn vielleicht noch anziehender. Er meinte, indem er mich zum Sitzen einlud: ,Sie haben es mir schwer gemacht, Sie herzurufen. Nun aber sind Sie doch gekommen. Ich wußte, daß sie kommen würden.’ - ,Ich kam aus freien Stücken, keineswegs durch Sie genötigt.’ – ‚Natürlich. Jeder handelt frei im Rahmen seiner Möglichkeiten. Und die Ihre war es eben, daß Sie kamen. Ich danke Ihne n aufrichtig, daß Sie es taten.’ - Ich glaubte einen leichten Unterton von Ironie herauszuhören, doch vielleicht war es auch Täuschung. - ,Und Ihr Anliegen? Es muß ein sehr bedeutendes und ausgefallenes sein, daß Sie sich soviel Mühe gaben, mich auf so befremdliche und wenig herkömmliche Art und Weise einzuladen.’ - ,Ist es etwas so Ungewöhnliches, daß man aus Aufmerksamkeit einer Dame Blumen schickt, auch wenn man sie noch nicht kennt, und mit dem Wunsche spielt, sie kennenzulernen?’ - ,Mit dem Wunsche spielen ne nnen Sie das. Sie spielen wirklich sonderbare Spiele. Doch jedenfalls, bevor ich Ihnen weiterhin auf irgend etwas antworte, erwarte ich von Ihnen Aufklärung, was es mit den mir übersandten Orchideen für eine Bewandtnis hat. Die Blumen leben.’ - ,Nicht mehr als alle Blumen, nur verstehen es die wenigsten, ihr Leben zu beschwören.’ - ,Gott seis gedankt, daß sie es nicht tun; das wäre unabsehbar in den Folgen. Doch meine Frage ist nur halb beantwortet: was ist geschehen mit den Orchideen, daß sie so vergiftend 62
ausstrahlen?’ - ,Wenn Sie so hartnäckig dabei verharren, kommen Sie.’ - Er war kurz aufgestanden und ging auf die Flügeltür des Nebenraumes zu, die er mir öffnete. Ich stand in einem weitläufigen, eingerichteten Laboratorium, das einen fremdartigen, mittelalterlichen Eindruck machte. Er führte mich an einen langgezogenen niederen Tisch, auf dem zwei zugeschmolzene Bergkristallkolben getrennt in zwei Sandbädern standen. Ein Gasbrenner stand unter jedem, die jedoch nicht brannten. - ,Was ist das wohl für graues Zeug da auf dem Boden in dem Kolben?’ fragte er mich prüfend. ,Ich weiß es nicht. Es sieht so aus wie fe ine Asche’, gab ich ihm zur Antwort. - ,Sehr gut, das ist es.’ - ,Und? Was hat das mit den Orchideen zu tun? Mir scheint, Sie wollen mich zum besten halten.’ ,Sie meinen? Gut. Wir wollen einmal unter dem vorderen Sandbade die Gasflamme anzünden und den Kolben dann beobachten. Es wird aber ein paar Minuten dauern, bis das Sandbad sich erwärmt hat. So! Sie sehn, es ist nichts in dem Kolben als nur Asche. Wir wollen uns solange im Laboratorium umsehn, bis das Sandbad warm ist’ ... Er zeigte mir verschiedene wunderliche Apparate und Vorrichtungen, die aber wegen meiner Sachunkenntnis keine Vorstellung bei mir erweckten. Eine Retorte aber ganz in Rotglut, unter der drei mächtige Brenner brannten, sprang mir vor allem in die Augen. In der Retorte selbst sah man nur eine blätterige rotglühende Masse; in die mit der Retorte durch ein langes Rohr verbundenen Vorlage tropften in Pausen dicke rote Tropfen. ,Was ist das, was so behutsam und so blutrot tropft?’ fragte ich den Magier. ,Das Blut des roten Löwen’, war die ungenügende Belehrung. Ich mußte an die Fauststrophen denken: Da wird ein roter Leu, ein kühner Freier, Im lauen Bad der Lilie vermählt, Und beide dann mit offnem Flammenfeuer Aus einem Brautgemach ins andere gequält. ,Nun wird das Sandbad hinlänglich erwärmt sein.’ Man merkte es ihm an, daß er nicht weiter ausgefragt zu werden wünschte. Wir traten wieder an den Tisch mit den zwei Sandbädern. Das eine, unter dem die vorhin angezündete Gasflamme niedrig brannte, war leicht warm geworden. ,Sie werden jetzt gleich etwas Unerwartetes zu sehen bekommen’, sagte der Magier und prüfte mit der Hand die Wärme der Glaskugel. ,Sehn Sie jetzt nur aufmerksam ins Innere der Kugel.’ - Ich befolgte seine Weisung. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, da begann allmählich in der Kugel etwas Nebelhaftes sich zu bilden und zur Gestalt von Orchideen zusammenzugerinnen. Zusehends wurde das Gebilde deutlicher, bis schließlich unverkennbar eine Orchideenpflanze in der Kugel scheinbar aus dem Nichts entstanden war. Dieser ganze Vorgang hatte etwas ungemein Erregendes, Unheimliches: Wo noch vor wenigen Minuten nichts zu sehen war, bildete sich im luftabgeschlossenen Räume in so kurzer Zeit ein Pflanzenwesen! Das unheimlichste aber war dabei, daß das Entstandene nichts wirklich Körperliches an sich hatte, sondern nur der Lichtleib einer Orchidee zu sein schien, ein feinstoffliches und übersinnliches ätherisches Gebilde, eine Art Geistpflanze, ist vielleicht die richtigste Bezeichnung. Nachdem der Magier mich erst eine Zeitlang meiner staunenden Verwirrung überlassen hatte und sich sichtlich daran weidete, bemerkte er, die Flamme kleinstellend: ,So sieht es aus, nicht anders, Goethes Urbild. Zwar konnte er es nicht hervorrufen in der Retorte, doch er nahm es wahr mit geistigem Auge. Denken Sie an das Gespräch mit Schiller auf dem Heimwege von der Naturforscherversammlung, ich glaube 1802 in Jena, wo er Schiller gegenüber dem Gedanken von dem Urbilde der Pflanze Ausdruck gab und Schiller ihm entgegenhielt: Das ist nicht ein Gedanke, das ist eine Idee. Goethe erwiderte darauf: Dann bin ich froh, daß ich meine Ideen leibhaft vor mir sehe. - Wer mit hellsichtigem Anschauungsvermögen eine Pflanze ansieht, wird ihr Urbild, ihren Lichtleib um sie her als feine Ätherhülle wahrnehmen, und diese Ätherpflanze ist der wahre Lebensträger. Die Alchimie kennt außerdem noch das Geheimnis, das Phantom der Pflanze nicht allein hervorzurufen, sondern auch sich ihrer Lebenskräfte zu bedienen. - Nun wissen Sie, warum die Orchideen, die ich Ihnen sandte, lebten. Die Wissenschaft von heute allerdings weiß nichts von diesen Dingen.’ - Ich wollte grade antworten, als es im Zimmer nebenan klingelte, ein reichlich später Nachtanruf. .Entschuldigen Sie mich für ein paar Augenblicke, doch ich warte schon seit 63
Stunden auf ein Ferngespräch.’ Er schien verstimmt, daß der erwartete Fernanruf grade jetzt kam. Es klingelte schon wieder stärker. ,Ich werde gleich zurück sein.’ Mit diesen Worten ging er auf die gegenüberliegende Verbindungstüre zu. Als er sie öffnete, sah ich in ein mit Mahagonimöbeln im Empirestil eingerichtetes Arbeitszimmer und weiter durch die Flucht der offenstehenden Türen in zwei ebenfalls erleuchtete entferntere Räume. Da bemerkte ich - und es benahm mir fast den Atem ganz am Ende des hintersten Zimmers meinen dunkelhaarigen Jungen von dem Bücherstand am Quai. Es war nur ein Moment, bis der Magier die Türe wieder hinter sich zumachte, aber er genügte für die Wahrnehmung, die jede Täuschung ausschloß. Meine Vermutung war also richtig gewesen: Der Junge und kein andrer war der Überbringer der verhängnisvollen Orchideen, und nach allem, was ich in der kurzen Zeit erlebt hatte, stand für mich fest, daß seine scheinbare Geistesgestörtheit zweifellos nichts andres war als eine merkwürdige Art von Trancezustand. Ich stand so sehr im Banne dieses Eindrucks, daß ich mich erst fassen mußte, ehe ich mit mir zu Rat gehn konnte, wie ich mich des weiteren verha lten sollte, denn der Herr des Hauses mußte gleich zurück sein. Das zwiespältig benehmende Gefühl der Suggestion beherrschte mich noch immer, und ich glaubte zu bemerken, daß es vor dem magischen Phantom der Orchideen zugenommen hatte. Doch war ich nach wie vor im Besitz der vollen Handlungsfreiheit und ich war entschlossen, sie mir zu bewahren. Soviel war sicher, daß der Magier noch irgend etwas anderes mit den Orchideen vorgenommen haben mußte, was mit der auf mich ausgeübten Suggestion in irgendeinem unerklärlichen Zusammenhang stand. Ich fühlte auch, daß ich nicht eher davon loskäme, bevor nicht die Retorte mit dem magischen Phantom beseitigt wäre. Es galt also sofort zu handeln, ehe der Adept sein Ferngespräch beendet hatte. Mit raschem Zugriff faßte ich die Glaskugel und hob sie aus dem Sandbad. Der tief in den Sand gesteckte Thermometer zeigte Körperwärme. Durch die Bewegung des Herausnehmens begann das Ätherbild der Orchideenpflanze in der Kugel hin und her zu schwanken, so, als werde es von einem Lufthauch angeweht. Ich schauderte vor diesem schemenhaft Gespenstigen, das ich so in der Hand hielt. Da, jedenfalls durch den Entzug der Wärme, fing das luftige Phantom an abzublassen und zu schwinden und nach wenigen Sekunden sah die Glaskugel nicht anders aus wie jede andere, nur auf dem Boden lag noch wie zuvor die unverfänglich graue Pflanzenasche. In diesem Augenblick vernahm ich Schritte nebenan im Arbeitszimmer und gleich darauf betrat der Herr des Hauses wieder das Laboratorium. Ich fuhr zusammen und ich weiß es heute wirklich nicht mehr so genau, wieviel dabei Fehlleistung war und wieviel Absicht: jedenfalls, ich ließ die Kugel fallen; sie zerschmetterte auf den Steinfliesen und ich zertrat die Asche. Kaum war dies geschehen, so empfand ich blitzartig, wie die Benommenheit, die während dieser ganzen Zeit auf mir gelastet hatte, von mir abfiel und mein voriger Bewußtseinszustand wieder eintrat. Die Suggestion, der ich zeitüber ausgesetzt war, war gewichen. Mit staunenswerter Selbstbeherrschung war der Magier zu mir an den Laboratoriumstisch getreten, wo die Scherben der zerbrochenen Kugel lagen und bemerkte, während er den Brenner abstellte: .Schade. Sie haben einen großen Schatz vernichtet. Ich hätte Ihnen die Kristallkugel verehrt, wenn Sie bestanden hätten.’ - gestanden hätte? Wenn ich was bestanden hätte?’ - ,Die Aufgabe, die Ihnen zugedacht war’. - ,Ich habe weder Lust noch Anlaß, Aufgaben zu bestehn, die ich nicht kenne. Sie wollten mich wohl auch zu einem solchen willenlosen Werkzeug machen wie den Jungen, den Sie in dem Hintergrund des Hauses hier gefangen halten. Sie haben sich in mir verrechnet.’ - ,Verrechnet nicht, verzählt vielleicht. Das kann passieren.’ - ,Auch dem Magier?’ ‚Anscheinend’. - ,Und nun gestatten Sie mir, daß ich gehe. Ich hatte mir das Abenteuer interessanter vorgestellt, das Sie mit soviel Aufwand inszenierten. Sie haben mich auf so absonderliche Art und Weise herzitiert, daß ich ein wenig mehr erwartet habe als’ ... ,Als das Phantom der Orchideen zu sehen und den roten Löwen’ meinte er ironisch. .Zwar würde Rutherford das nächste beste Flugzeug nehmen und herfahren, nur um einmal das zu sehn, was Sie vernichtet haben, aber Sie sind ja auch nur eine junge Dame.’ - ,Mit einer Aufgabe, nicht wahr?’ ,Die nun nicht mehr zur Diskussion steht.’ Ich müßte keine Frau sein, wenn mich nicht die ablehnende Haltung des Magiers jetzt gereizt hätte. Er ließ sich aber nur so weit herbei, mir zu verstehn zu geben, daß es sich für ihn 64
um eine seltene, organisch alchimistische, polargesetzliche, längst vorgehabte Arbeit handele, die nicht durchführbar sei ohne weiblichen polaren Partner. Auf meine Frage, wieso von allen Frauen in Paris denn seine Wahl gerade auf mich gefallen sei, erfuhr ich: Erst vor kurzem sei er auf dem Quai beim Buchverkäufer hinter mir gestanden; da sei er zufällig durch meine Ausstrahlung auf meine metaphysische Veranlagung und Eignung aufmerksam geworden. Der Zufall kam ihm dann insofern noch zu Hilfe, als ich dem Buchverkäufer grade damals Namen und Adresse angab, wohin er die für mich zurückgelegten Bücher senden sollte. Diese von mir gar nicht beachtete Begegnung war für den Magier aber anscheinend ausschlaggebend, um mich für seinen Zweck ins Auge zu fassen. Hier lag der Ausgangspunkt für alles was sich dann ereignete. Mir aber über die beabsichtigte Arbeit irgend etwas Näheres zu sagen, dazu war er nicht zu bewegen. Nie war mir noch bei einem Manne solche Unnahbarkeit und ein so selbstsicherer überlegener Stolz begegnet. So wurde er für mich mit jeder Äußerung anziehender. Dabei fiel mir stets wieder der im somnambulen Zustand handelnde schwarzhaarige Junge ein, in welchem seltsamen Verhältnis er wohl zu dem undurchdringlichen und rätselhaften Manne stehe. Je mehr ich mit ihm ins Gespräch kam, desto unglaubhafter schien es mir, in ihm den Urheber des geistig-seelischen Zerstörungsvorganges bei dem pathologischen Jungen zu vermuten. Um mich von dieser Ungewißheit zu befreien, fragte ich ihn geradewegs, was es für eine seltsame Bewandtnis mit dem Jungen habe, und sicherlich verstand er den Beweggrund meiner Frage, denn er stand nicht an, mir rückhaltlos darauf zu antworten. Und so erfuhr ich, der Junge sei ihm eines Nachts in Nizza durch sein seltsames Benehmen auf der Straße aufgefallen, und da er auf Befragen weder wußte, wie er heiße, noch wo er hingehöre, habe er ihn mitgenommen. Alle polizeilichen Nachforschungen über seine Herkunft seien ergebnislos verlaufen; aus dem Jungen selbst etwas herauszubringen, war unmöglich. So habe er ihn ganz bei sich behalten, was der Junge ihm vom ersten Tage an mit einer tierischen Anhänglichkeit gedankt habe. Sein Zustand sei der eines reinen Dämmerzustandes und habe sich auch während all der Monate, die er ihn bei sich habe, nicht geändert. Es sei fast eine Art vegetativen Lebens, das er führe, wobei er aber jeden ihm in Suggestion erteilten Auftrag automatisch und genau bis in die kleinsten Einzelheiten ausführe. - ,Und ein ähnliches Experiment haben Sie nun auch mit mir anstellen wollen?’ fragte ich ihn. Er zuckte ablehnend die Schultern. ,Sie sagten ja, ich hätte mich verrechnet. In Zukunft wird mir das nicht mehr passieren.’ Er führte mich aus dem Laboratorium ins Nebenzimmer, in dem er mich zuerst erwartet hatte. Das erste was ich beim Betreten wahrnahm, war der welk gewordne Orchideens trauß auf dem Kaminsims. Die Blumen, die bei meinem Komme n vor kaum einer Stunde noch lebendig atmeten, hingen erloschen auf dem Rand der Vase. Ich fühlte irgendwie mich schuldig und schwor mir, in meinem Leben solche Dinge nie an mich heranzulassen. - Nun wissen Sie den Grund, weshalb ich nichts von Alchimie und alchimistischen Prozessen hören will, mag es den Stein der Weisen geben oder nicht - ich will von Alchimie nichts wissen und ...“ auch nichts von Alchimisten, fügte sie hinzu, fast feindselig. „Wenn das ein Ausfall ist auf mich - es scheint fast - so vergessen Sie diesmal den Dichter. Ich finde übrigens, daß sich der Magier äußerst ritterlich benommen hat auf Ihre Handlung hin. Auch muß er einen hohen Grad von Meisterscha ft besessen haben, denn zum Entstehnlassen des Pflanzenätherbildes aus der Asche gehört schon eine außerordentliche alchimistische Erkenntnis und Erfahrung. Der polar-gesetzliche Prozeß, für den er Sie als Partnerin bestimmt hatte, ist mir zwar unbekannt, ich kann mir aber vorstellen, um was es sich hier handelt. Jedenfalls ist es keine ganz eindeutige Sache. Er interessiert mich aber, dieser eigenartige Prozeß Ihres Adepten. Ich werde mich einmal damit beschäftigen. Wenn ich es habe, werde ich Sie auch zitieren.“ „Danke! Sie werden wenig Glück haben damit, befürchte ich.“ „Vorläufig ist Ihr Abenteuer in dem Haus des Magiers ja auch noch gar nicht beendet“ ... „Bald aber, denn ich bat ihn gleich nach dem Gespräch über die verwelkten Orchideen, mir ein Auto herkommen zu lassen. Ich sah mich noch einmal im Zimmer um, während er anrief. Da bemerkte ich ein in einer Nische eingelaßnes, altes, fremdartiges Bild, das ich bei meinem Kommen nicht beachtet hatte. Es stellte einen im Rechteck geführten und nach vorne offenen Weinlaubengang dar. 65
In seiner Mitte sah man einen Brunnen und darüber stiegen noch drei weitere um eine Säule hergeführte Brunnenschalen auf, die sich nach oben wie ein Brunnenbaum verjüngten. Im untersten und größten der vier Brunnen aber saß eine bekrönte, christusähnliche Gestalt mit zwei Pokalen; die reichte sie zwei rechts und links von ihr am Brunnenrande knienden Gestalten. Die rechte stellte einen König dar mit einer Zackenkrone, während die linke eine Königin versinnbildlichte. Auf ihrer Stirne trug sie eine Mondsichel. Hoch über allem aber wölbte sich ein Lichtgewölk und Tauben auf Lichtstrahlen fuhren auf und nieder, den Tau des Himmels in die Brunnenschalen führend, und bildeten in ihrem Flug ein Dreieck, dessen obere Spitze hoch im Himmel weit hinein in eine Lichtgloriole reichte. Unter der Erde aber sah man in ein Bergwerk, und eine Gruppe von Gestalten, vier männliche und eine weibliche standen im Halbkreis und begrüßten mit erhobnen Armen das Herniedersickern des Weltwassers aus dem Brunnen über ihnen. Der Brunnen aber mit der männlichen Gestalt in seiner Mitte trug die Inschrift: Der Statthalter Gottes und das Wasser des Lebens. Es war ein rätselhaftes und geheimnisvolles Bild, das mich durch seinen Vorwurf wie durch seine Farbengegensätze ungewöhnlich anzog. Ich stand noch vor dem Bilde als der Magier wieder eintrat und mir sagte, daß das Auto in ein paar Minuten da sein werde. Er schien absichtlich mein Vertieftsein in das Bild nicht zu beachten. Und das war gut so einerseits, denn alles, was ich in den letzten Tagen und jetzt eben in dem Haus des Magiers so gedrängt erlebt hatte, befiel mich plötzlich derart heftig, daß es einen Augenblick lang ein Gefühl von Schwindel in mir auslöste. Der Magier, der seitwärts hinter mir stand, mußte es bemerkt haben, vielleicht an irgend einer unsicheren Bewegung, die ich machte: Er nahm mich an den Arm und führte mich zur nahen Ottomane. Es waren überzeugende und sehr verstehende Hände, die mir das Kissen unterschoben und mich zudeckten. Dann fuhr er mir beruhigend und leicht über die Stirne, und ich fühlte, wie die vorige Benommenheit, die mich befallen hatte, von mir abglitt. Ich schloß die Augen und ein paar Atemzüge lang war mir, als hörte ich vom nahen Bilde in der Nische her den Brunnen des Lebens wie aus einer anderen Welt in meine Stille rauschen. Es war ein wunderbar entrückter Zustand, in dem ich mich befand, und ich hätte wohl gewünscht, ihn länger festhalten zu können. Da führte mich das Hupen des soeben anfahrenden Autos brüsk und nüchtern in die Wirklichkeit zur ück. - ,Wie fühlen Sie sich jetzt?’ Es lag fast etwas wie ein Ton von Wärme in der Stimme des mir zugekehrten, eben noch gehaßten Mannes, als er mich so fragte, so daß ich unwillkürlich aufsah. Der harte Ausdruck seiner Augen war gewichen und ein Zug von Trauer hatte sie verschleiert. Ich war berührt davon, und ich verstand nicht mehr, warum ich ihn vor wenigen Minuten noch als Feind empfunden hatte. ,Wie fühlen Sie sich?’ wiederholte er die Frage. ,Ich glaube: gut. Ist nicht das Auto vorgefahren?’ - ‚Soeben.’ - ,Dann werde ich aufbrechen.’ - ,Ist Ihnen wirklich so, daß Sie schon fahren können?’ - ,Wirklich.’ - Er geleitete mich an das Auto ... Nun wissen Sie um mein Erlebnis. Es war das unwahrscheinlichste, das mir je begegnet ist. Nur darum ist es mir in allen Einzelheiten noch so gegenwärtig.“ „Nur schade, daß Sie abgebrochen haben, wo das Abenteuer anfängt, das Unheimliche zu verlieren. Sie sind ja gar nicht mit dem Auto abgefahren. Ich wüßte keine Frau, die abgefahren wäre; dazu war Ihr Magier viel zu außerordentlich. Sie hätten ja auch sonst nicht den geringsten Grund gehabt, Paris sehr bald darauf ganz zu verlassen. „Sie sind zwar etwas indiskret mit Ihren Annahmen, doch ich verstehe, daß Sie als Dichter von dem Ausgang eines Abenteuers ohne Pointe unbefriedigt sind. Ich wollte Ihnen ja auch keine Novelle, sondern meine Begegnung mit der Alchimie erzählen, um Ihnen gegenüber zu begründen, weshalb ich mir geschworen habe, alles von mir fern zu halten, was mit Alchimie zu tun hat. Es ist mir ein zu Ungewisses und verschrienes Gebiet, in das ich damals in Paris hineinsah.“ – „Sie haben recht: die Alchimie ist eine fremdartige, abwegige Sache und vollends nichts für Frauen.
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Denn weit, weit muß der wandern, Über fremdes Reich und Meer, Der den alten Bergen nachgeht, Wo der Stein der Weisen wär ... schließt ein altengliches, hermetisches Gedicht. Für Frauen eine viel zu abenteuerliche Ausfahrt. Der Schmelzkessel des Herzens aber ist ein ebenso geheimnisvoller wie der Schmelzprozeß im Tiegel und vielleicht noch wunderbarer“ ... „Den Schmelzprozeß der Dichtung haben Sie vergessen, und um den beineide ich Sie.“ - „Das sagen Sie so leichthin: Wenn Sie wüßten, was es heißt, von dieser Weißglut ausgeglüht zu werden! Doch lassen wir das lieber ... Ihr Erlebnis mit den Orchideen hat mich sehr gefesselt. Ich weiß, daß dieser Vorgang möglich ist, ich hätte aber nie geglaubt, daß jemand dieses Meisterstück in unsrer Zeit tatsächlich ausgeführt hat. Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihr Vertrauen schenkten - mir, dem ,Schwarzmagier’.“ „Nicht dem Schwarzmagier, dem Dichter,“ sagte sie aufstehend. „Es ist nun höchste Zeit für mich zu gehen. Sie wissen: heute abend ist mein zweiter Vortrag, und ich möchte mich vorher noch etwas ausruhen. Und werden Sie auch heute nicht hinkommen? Ich werde nur für Sie lesen, ausschließlich für Sie.“ - ,,Nein, lesen Sie für andre. Und denken Sie, daß ich Sie trotzdem höre.“ Als sie gegangen war, nahm ich den Band vom Bücherständer, dessen Titel sie so stark berührt hatte, daß sie mir ihr fast unglaublich anmutendes Erlebnis so genau erzählte: Palingenesis, über die Wiedererweckung der Pflanzen und Tiere aus ihrer Asche. Ich schlug die Stelle auf, die die genaue Anleitung zu dem Prozeß enthält; sie lautet: 1.
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Nehmet 4 Pfund von dem Samen derjenigen Pflanzen, so ihr aus ihrer Asche hervor bringen wollet, es muß aber dieser Samen vollkommen reiff seyn, stoßet selbigen in einem Mörser, und thut es in ein Glaß, so von der Höhe als die Pflantze, wovon der Saamen ist, seyn muß, vemachet solches Glas wohl, und verwahret es an einem temperirten Orte. Hernach leget diesen zerstoßenen Saamen des Abends, wenn es sonderlich kalt Wetter ist, in ein breites Gefäß, und exponiert selbigen also dem Thau die Nacht herdurch, daß er davon wohl angenetzet und befeuchtet werde. So nehmet ein groß reines Tuch, und machet solches an 4 Pfählen fest an, daß ihr damit eine gute Menge von solchem Thau auffangen könnet und wenn ihr denn also ungefehr 8 halbe Maaß des Thaues habet, so gießt selbigen in ein sauberes gläßernes Gefäß. Den obigen Maßen vom Thau angenetzten Saamen thut wieder in das vorige Glaß, und zwar ehe noch die Sonne aufgegangen, denn selbige sonst den Thau und die Krafft desselben auffziehen würde, und setzet sodann dieses Gefäß wieder, wie vorhin, an einen temperirten Ort. Den Thau, den ihr mit dem leinen Tuch aufgefangen, müsset ihr filtrieren, und hernach destilieren, damit gantz keine Unreinigkeiten darinnen bleiben. Die Hefen, so dann davon überbleiben, müssen calciniert werden, damit man ein Saltz, so nicht allein anmuthig anzusehen, sondern auch auf folgende Art zu gebrauchen, davon heraus ziehen könne. Gießet hernach solchen destillirten Thau, wenn er mit diesem Satz angemachet, auf euern Saamen und machet das Glaß feste mit Borax und klein zerstoßenen Glaß zu, so dann setzet es in frischen Pferde-Mist ein Monat lang. Hierauf nehmet es wieder heraus, so werdet ihr sehen, wie der Saame als wenn er gefroren oder leimigt wäre, auf dem Grund liege, oben über der gantzen Materie eine kleine Haut von allerhand Farben, so der Geist oder Spiritus ist, schwimmen; und zwischen dieser Haut und den Saamen ein grünlicher Thau befindlich sey. 67
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9.
Dieses Gefäß noch allezeit wohl zu gemachet, setzet den Sommer herdurch des Tages an den Sonnen, und des Nachts im Mond. Ist er aber trüb oder regnigt Wetter, so verwahret es so lange, bis es wieder gut Wetter wird, an einem truckenen und warmen Orte. Zu Zeiten wird dieses Werk in 2 Monaten perfect, zu Zeiten aber braucht man wohl ein gantz Jahr darzu. Die Zeichen eines guten Erfolges sind, wenn man siehet, daß die im Glase auf dem Grund liegende leimigte Materie oder der Saame aufschwillet und in die Höhe gehet, daß der Spiritus oder die kleine Haut, so zu oberst schwimmet, abnimmt und daß die ganze Materie dicke wird, imgleichen wenn die Sonne auf diesem Glase scheinet, und man so dann subtile Wolcken oder Dünste in selbigem vermercket, ist es eine gewisse Anzeige, daß die Rudimenta der wieder auflebenden Pflantze allbereit würcklich vorhanden seyn. Endlich wird aus dieser ganzen Materie von selbsten ein blaulichter Staub formiret, aus welchem Staub hernach, wenn er durch eine gelinde Hitze erreget, der Stamm, die Blätter und Blumen, und mit einem Worte die gantze Pflantze, gleichsam als aus ihrer Aschen wieder hervor kommt. So bald aber die Hitze wieder auffhöret, verschwindet auch dieses gantze Schauspiel, die Pflantze fällt von einander, und zwar vernichtet, und siehet man so dann auf dem Boden des Glases wieder ein neues Chaos. Wird aber selbiges wieder erwärmet, siehet man von neuem diesen in seiner Asche verborgenen Phoenix hervor kommen, denn wie ihm die Wärm, so offt man will, sein Leben giebet, also nimmt ihm die Kälte solches hinwieder.
Ich las die Vorschrift mehrmals. Dann ging ich in mein Laboratorium und begann die Arbeit ... Des Magiers Blumen fremdgestalt, Die werden nicht wie andre alt, Sie blühen fort auf sein Geheiß In ihrem eignen Zauberkreis, In ihrer eignen Zwischenwelt, In die er sie hineingestellt, Beschworen aus dem Strahlenkern Durchsichtig, gläsern, zeitenfern, Durch seinen dunklen Magierspruch Und dann gebannt in dieses Buch.
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Nächtlicher Besuch Eine magische Begebenheit Es ging auf zwölf Uhr nachts zu. Ich saß am Schreibtisch des zu ebener Erde gelegenen Arbeitszimmers meines Stadthauses und arbeitete. Die Gardinen vor der Glastüre in den Garten waren zugezogen, während ich die Läden auf hatte. Von früh auf war es mir Bedürfnis, beim Arbeiten ab und zu hinauszutreten in den Garten, um ein paar Atemzüge zu tun und hundert Schritte auf dem Kiesweg auf und ab zu gehen, auch im Winter. Im Hause war alles schon schlafen gegangen, so daß ich im unteren Stock allein war. In diesen Nachtstunden, in denen keine unliebsamen Störungen von außen in die Stille einbrechen, ist die innere Bereitschaft am größten. Und Dichtung ist Empfängnis. Ich hatte den Zendavesta-Gesang eines Gedichtwerkes gerade beendet und überlas nochmals die letzten Strophen: Zoroaster sprach: „Vom Bösen, Wie es Ahriman bewirkt, Wird der Gott die Welt erlösen, Der im Mithras sich verbirgt. Ahura Mazdao, dem hehren, Ist der Mithras Spiegelbild, Wie er aus den Göttersphären Niedersteigt zum Erdgefild. Währen wirds noch lange Zeiten, Bis ihn Augen leiblich sehn; Sein Mysterium zu verbreiten Soll der Mithrasdienst bestehn“. In dem Parsenland begründet Vor achttausend Jahren schon Von dem Zoroaster, rundet Sich sein Kreis beim Menschensohn. Aber in dem heiligen Feuer, Sah der Parse das Symbol... Ormuzds; seine Kultbetreuer Wußten um sein Wesen wohl. Ormuzds großer Eingeweihter, Zoroaster, hielt die Hand Übers Parsenreich - kein Zweiter War, der so vor Ormuzd stand. Beim Lesen trat mir das Problematische dieses Gedichtes wie des ganzen Gedichtwerkes überhaupt erneut vor Augen und wieder stelle ich mir die Frage: Ist es nicht ein Irrweg, wenn Dichtung zur Aussage wird, statt Sage, Ausdruck individueller Seelenlage zu sein? Hatte Schiller nicht den Satz geschrieben: „Alles was uns der Dichter geben kann, ist seine Individualität.“ Doch auch die Form der Aussage ist eine einmalige, individuelle. Ovid, der in der Verbannung starb, weil 69
er in den Metamorphosen Mysteriengeheimnisse preisgegeben hatte, rechtfertigte die Autonomie des Dichters mit dem Verse: „In das Unendliche hat die Freiheit des Dichters zu reichen.“ Und sind die Veden, ist die Völuspa, diese beiden zeitüberhobenen Offenbarungs-Dichtungen nicht auch Aussage - Götteraussage? Ich schob das Manuskript in meinen Schreibtisch und war gerade im Begriff für diesen Abend Schluß zu machen, als ich vor der Glastüre im Garten Schritte hörte. Dicht vor der Türe machten sie mit einem Male Halt. Dann war mir, als entfernten sie sich wieder, um sich gleich darauf erneut zu nähern. Ich vermutete, es sei der Wächter, der um das Haus her seine Runde machte, und achtete nicht weiter auf den Vorgang. Ich wollte gerade das Licht ausschalten, um hinaufzugehen in mein Schlafzimmer, als es an der Glastüre klopfte. Erst wartete ich ein paar Augenblicke, um mich zu vergewissern, ob es nicht doch Täuschung sei, denn wer sollte bei so vorgerückter Nachtzeit mich noch aufsuchen und vollends von der Gartenseite? Es klopfte wieder. Vielleicht hatte der Wächter irgendeine Unregelmäßigkeit bemerkt und wollte, weil er bei mir noch Licht sah, mich darauf aufmerksam machen. Ich schob die Vorhänge beiseite und schloß auf. Ein Unbekannter stand vor mir. „Ich muß Sie sprechen,“ sagte er, „schenken Sie mir bitte eine halbe Stunde.“ - , Jetzt in der Nacht? Eine seltsame Besuchszeit“, gab ich abwehrend zur Antwort. „Können wir die Aussprache nicht auf morgen früh verschieben?“ - „Nein, es muß jetzt gleich sein. Schicken Sie mich bitte nicht fort!“ Es klang fast flehend. „Ich will Sie nicht um Geld angehen oder dergleichen. Es ist ganz etwas anderes, meines ganzes Leben überschattendes.“ „Ich sehe zwar nicht, wie ich Ihnen dabei etwas sein kann“ ... „Sie, nur Sie sind in der Lage, mir etwas zu sagen, mir vielleicht zu helfen.“ - „Gut, treten Sie bitte ein, ich will Sie anhören.“ In der ganzen Art und Weise, wie er sprach, lag etwas so Eindringliches, Aufrichtiges, daß ich ihm seine Bitte nicht abschlagen konnte. Der Mann, der nun im Licht des Zimmers vor mir stand, war etwa Mitte zwanzig, hochgewachsen, nachlässig, aber gut gekleidet; auf den bemerkenswerten und durchaus ansprechenden Gesichtszügen lag jedoch etwas Gespanntes und Gequältes; gewelltes braunes Haar fiel lose über eine schmale hohe Stirne. Der ganze Eindruck war der eines zwar sensiblen, doch gesundheitlich intakten Menschen. Meine anfängliche Vermutung, daß es sich um einen Geisteskranken handele, schien nicht haltbar. „Zu allererst beantworten Sie mir bitte eine Frage“, sagte ich, ihm einen Stuhl anbietend: „Wir sind uns meines Wissens nie begegnet, und sicher waren Sie nie in meinem Hause: Woher wissen Sie, daß sich mein Arbeitszimmer hier befindet, daß Sie mitten in der Nacht mich so treffsicher zu finden wußten?“ - „Ich war schon mehrmals nachts vor Ihrem Hause und in Ihrem Garten,“ gab er mir zur Antwort, „nur fand ich bisher nie den Mut bei Ihnen anzuklopfen. Ich sah Sie einmal auf und abgehen, als die Vorhänge nur halb geschlossen waren...“ „Na hören Sie, Sie scheinen ein recht seltsamer Spion zu sein. Es ist kein sehr erfreuliches Gefühl zu wissen, daß man nachts in seinem Zimmer vom Garten her beobachtet wird, wenn man die Gardinen zufällig einmal nicht ganz zu hat.“ Der Argwohn, daß ich doch einen Gestörten vor mir habe, wurde neuerdings in mir lebendig. „Ich wollte weder neugierig noch indiskret sein,“ rechtfertigte er sich. „Ich kam vom ersten Tag an mit der festen Absicht, Sie um diese Aussprache zu bitten, aber jedesmal, wenn ich vor Ihrer Türe stand, fehlte mir der Mut zum Anklopfen...“ „Und heute haben Sie ihn dann gefunden?“ - „Ja,“ erwiderte er, „heute war es mir, als würde ich zu Ihnen geradewegs hineingezogen.“ - „Und was ist es, das Sie auf dem Herzen haben?“ Er griff in seine Brusttasche und zog ein Manuskript hervor, das er mir reichte: „Bitte lesen Sie, dann kann ich Ihnen erst das weitere sagen.“ -
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Ich erschrak. Um Gotteswillen Verse! Kein Gestörter, doch ein angehender Dichter, der mich hinterrücks beschlichen hatte, um ein gereimtes Attentat auf mich zu machen. Mißmutig nahm ich das mir zugereichte Manuskript - zum Glück bestand es nur aus wenigen Blättern - und fing an darin zu lesen. Schon die ersten Zeilen fesselten mich ungewöhnlich: Es waren Zendgesänge, magische Strophen, Lautgefüge einer längst versunkenen Welt, die auf mich eindrangen... „Haben Sie das geschrieben?“ fragte ich mein Gegenüber, „oder sind das Übertragungen parsischer Mysterien-Hymnen? Diese Vorstellungs-, Sprach- und Bild-Welt lebt nur in dem ZendAvesta.“ Hatte ich nicht mein eigenes Zend-Gedicht kurz zuvor beendet? „Haben Sie das selbst geschrieben?“, wiederholte ich meine Frage als er mir nicht gleich antwortete. - „Das ist es eben, was mich zu Ihnen ge führt hat, was ich wissen will,“ erwiderte er. „Sie müssen doch wissen, ob Sie das geschrieben haben“ - „Wie soll ich Ihnen das sagen? Meine Hand hat das Geschriebene aufgezeichnet, rein mechanisch, ohne daß ich wußte, was ich schreibe. Hören Sie mich bitte an, doch halten Sie mich nicht für wahnsinnig. Ich bin auch kein Schreibmedium, wie die Spiritisten solche Phänomene zu benennen pflegen. Vor nahezu drei Monaten in der Neumondnacht hatte ich dieses Erlebnis: Ich hatte ziemlich lange in die Nacht hinein gearbeitet und war dann zu Bett gegangen. Wie immer las ich erst einige Zeilen, dann legte ich das Buch zu dem Notizblock, den ich auf dem Tische neben meinem Bett stets greifbar liegen habe, und löschte die Stehlampe; doch ich konnte, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, nicht einschlafen. Ich hatte das beklemmende Gefühl, als sei jemand im Zimmer. Ich machte wieder Licht und las noch eine Zeitlang, bis ich doch anfing müde zu werden. Kaum aber hatte ich dunkel gemacht, war auch die Müdigkeit gewichen und wieder war es mir, als sei noch jemand anwesend im Zimmer. Ich kannte einen solchen Zustand nicht und hielt es erst für Nervenüberspannung, ausgelöst durch Überarbeitung während der vorangegangenen Wochen. Ich kehrte mich der Wand zu, schloß die Augen, fest entschlossen, meine Reizbarkeit zu überwinden und durch einen Willensakt den Schlaf zu erzwingen: da hörte ich mich oder besser fühlte ich mich plötzlich angerufen. Mich umkehrend, sah ich zur Seite meines Bettes trotz des Dunkels eine schemenhafte Gestalt stehen, überlebensgroß, mir zugewandt - und das seltsame an dieser übersinnlichen Erscheinung war, daß ich nicht einmal Furcht empfand, sondern mich demgegenüber, was sich nun ereignen sollte, völlig abwartend verhielt, sogar mit einer Art überreizter Neugier. Ich richtete mich auf, die unbewegliche Gestalt fest im Äug behaltend. Und wieder fühlte ich, wie der Befehl von ihr ausging, meinen Notizblock von dem Tisch zu nehmen und zu schreiben. Es trat mir gar nicht ins Bewußtsein, daß es finster war. Ich nahm ganz deutlich wie mit einem sechsten Sinne alles um mich wahr, so daß mir der Gedanke überhaupt nicht kam, Licht anzuknipsen. Ich griff mechanisch nach meinem Notizblock und beschrieb wie unter einer inneren Nötigung hintereinanderweg diese Blätter, die Sie jetzt in der Hand halten, ohne eigentlich zu wissen was. Ich kann nicht einmal richtig sagen, wie die Übermittlung vor sich ging. Es war kein mit dem physischen Ohr vernehmbares Sprechen, dessen die Gestalt sich zur Verständlichmachung bediente, es war auch kein Hellhören meinerseits - das zu mir Hingedachte ging einfach auf mich über und ich schrieb es. Ebenso brach es auch wieder ab, wie wenn der Quell, aus welchem ich geschöpft hatte, plötzlich versiegt wäre. Ich blickte auf und sah nach der Gestalt hin, und wieder fühlte ich mich angesprechen: „Erwarte mich nach einem viertel Jahre wieder in der Neumondnacht und schweige!“ damit erlosch gleichzeitig die Erscheinung. Das lähmende Gefühl einer fremden Gegenwart im Zimmer war geschwunden. Ich machte Licht und las, was ich geschrieben hatte. Doch ich verstand nichts von allem, so daß ich tief erschrak: ich war zum Werkzeug geworden für eine parapsychische Mitteilung oder wie die Wissenschaft ein solches Phänomen bezeichnet.“ „Seltsamerweise,“ fuhr er fort, „schlief ich bald danach ein. Ich schlief den Rest der Nach ganz gleichmäßig und ruhig. Beim Aufwachen am nächsten Morgen glaubte ich, ich hätte alles nur mit unwahrscheinlich klarer Deutlichkeit geträumt. Da fiel mir mein Notizblock wieder ein, ich griff danach: er war beschrieben. Ich hatte also nicht geträumt, es war ein Wachgesicht gewesen und es würde in der Neumondnacht nach Ablauf von drei Monaten sich wiederholen. Anfangs war ich fest 71
entschlossen, das Erlebnis für mich zu behalten wie es mir befohlen war, doch je näher der Zeitpunkt rückte, umso mehr steigerte sich das Angstgefühl, so daß ich mich umsah nach einem, dem ich mich mitteilen konnte. Unter meinen Freunden und Bekannten aber war niemand, der mich verstanden hätte. Da traten Sie plötzlich durch Ihre Schriften in meinen Gesichtskreis. Weil Sie beide Ausblicke, den in das Dichterische und den in das Metaphysische, besitzen - entschloß ich mich, den Weg zu Ihnen zu suchen ... Helfen Sie mir! Was soll ich tun! Was ist der Sinn des Aufgezeichneten? Und alle die Namen, die ich nie gehört habe: was bedeuten sie? Ormuzd und Ahriman sind mir noch halbwegs ein Begriff als die das gute, lichte und das böse, finstere Prinzip verkörpernden Gottheiten. Aber was sind die Armschaspands und schließlich, wer war An-quetil, der sich als Mittler des Gesanges einführt, und der in irgend einem dunklen untergründigem Zusammenhang mit allem dem zu stehen scheint, was sich in den Strophen ansagt? Wie sind zum Beispiel schon die Anfangsstrophen zu verstehen?“ Er wußte sie auswendig und begann sie herzusagen: Im Namen Ormuzds, des goldglänzend hehren, welcher das Licht ist, das unoffenbarte, ewige Urlicht! Ich, Anquetil, unwürdig bin ich der Schülerschaft Zoroasters. Beladen mit Schuld habe ich meine menschliche Seele: Die heiligen Schriften der Parsen zog ich hervor aus der schützenden Tiefe der Tempel und gab sie den Unberatenen preis, den Augen des aus der Gnade gefallenen Abendlandes. Versündigt habe ich mich an den Heiligtümern des Orients. Abtragen muß ich die Schuld in untermondlicher Sphäre, ein heillos Umtriebener im Zwischenreich. Großes hab ich dem Abendlande geschenkt, mehr als die Le nker der Schlachten und Gründer hinfälliger Reiche, die nichts sind als willenlos Werkzeug der Götter. Verschollen jedoch ist mein Name, ein ewig Verschollener, Anquetil. Also straft Zoroaster Verrat seiner heiligen Weisheit... „Wer ist Anquetil?“ wiederholte er seine Frage, als er gendet hatte. Ich war von jeher abgeneigt, nach mystischen Ausdeutungen zu suchen, wo man bei anscheinend noch so geheimnisvollen Vorgängen zuletzt doch eine natürliche Erklärung finden kann. Auch in diesem Falle hätte ich nicht einen Augenblick gezögert, die so rätselhafte Nachtbegebenheit des Unbekannten für Selbsthypnose eines übersensiblen und durch irgendwelche äußeren Erlebnisse übersteigerten Menschen zu halten, wenn die Erscheinung des Anquetil nicht gewesen wäre; denn alles andere hätte Spiegelung seines Unterbewußtseins sein können. Daß er jedoch den Namen Anquetil jemals gehört oder gar über seine geschichtliche Persönlichkeit etwas erfahren haben sollte, war so gut wie ausgeschlossen. Was immer das Phantom gewesen sein mag, das sich in der Neumondnacht seiner Hand zur Mitteilung bedient hatte, in jenen Strophen war das tragische geheimnisvolle Schicksal Anq uetils erschütternd ausgesagt. So viele Namen, deren Träger für den Menschheitsgang bedeutungslos und nebensächlich waren, sind geblieben, der Name Anquetil jedoch ist längst vergessen und wie ausgelöscht von einer höheren Macht als Strafe und Vergeltung dafür, daß er einst vor nunmehr fast zweihundert Jahren das geheime Wort und Feuer Zoroasters aus den Jahrtausende hindurch gehüteten Mysterientempeln Irans wie ein anderer Prometheus in das Abendland gebracht und vor den , ,Unberatenen'' entzündet hatte. Es klingt wie eine abenteuerliche Sage, daß im Jahre 1754 in Paris ein fünfundzwanzigjähriger Student vier Blätter mit unbekannten Schriftzeichen zu Gesicht bekam, die ein Engländer 1718 aus dem Orient mitgebracht hatte. Diese Handschrift lag als ungehobener Schatz in Oxford, ungedeutet. Durch diese unbekannten Charaktere fühlte sich der Fünfundzwanzigjährige - er hieß Abraham Hyacinthe Anquetil - so stark ergriffen, daß er beschloß, den Weisheitsschätzen, die man bei den 72
Griechen, Römern und anderswo umsonst suchte, an Ort und Stelle nachzugehen, nach Guzarate oder Kirman aufzubrechen, die Sprache der alten Parsen dort zu lernen, die Zendbücher herüberzuholen und zu übersetzen. Das gab ihm überdies noch eine weitere Aussicht, über Ursprung und Beschaffenheit der alten Sprachen, Altertümer und die Geschichte der Parsen Entdeckungen zu machen. Und da er wußte, daß die Veden in Sanskrit geschrieben waren und die königliche Bibliothek sehr reich an noch nicht entzifferten Handschriften war, so zog er Kirman Indien vor, weil er dort beides: Sanskrit und Altpersisch lernen konnte. Um von sich aus ein solches Unternehmen einzuleiten, fehlten ihm die Mittel, da er aber keine Zeit verlieren wollte und die Förderung, die ihm von wohlgesinnter Seite aus zugesagt war, sich in die Länge zog, meldete er sich als Soldat bei einer indischen Kompanie, deren Abreise bevorstand. Die Seinigen wußten von allem nichts. Am Tage seines Aufbruchs schrieb er seinem Bruder, nachmaligem Chef des französischen Comptoirs zu Sarute, kurz, was er vorhabe. Der Bruder kam, sie nahmen unter Tränen Abschied. Am 7. November 1754 reiste er von Paris ab. Seine ganze Seele war erfüllt von dem Gedanken, die Bücher Zoroasters und die heiligen Schriften der Brahmanen herzuholen. - Die ganze Reise war voller Gefahren, Leiden, Unglücksfällen und Verdrießlichkeiten. Er hat sie später ausführlich beschrieben. Die ersten Jahre seines Aufenthaltes im Orient vergingen, ohne daß er seinem Ziele näher kam. Er hatte anfangs nur seinen Soldatensold, doch dann ließ ihm der König eine Unterstützung zukommen, was ihm die Möglichkeit gab, sein Vorhaben ins Werk zu setzen. Einer der gelehrtesten Zendpriester namens Darab fand sich bereit, ihn in die Lehren Zoroasters einzuführen und erteilte ihm gleichzeitig Unterricht in der Zendsprache. Durch glückliche Verbindungen gelangte er auch in den Besitz eines verbürgt echten und einwandfreien Manuskriptes des Vendidat in Zend und Pehlevi. Durch unermüdliche Übungen gelang es Anquetil, sich eine solche Kenntnis in den alten Sprachen, der Geschichte, den Gebräuchen und der Religion der alten Parsen anzueignen, daß er zuletzt die alten Schriftdenkmäler ohne fremde Leitung übersetzen konnte. Nachdem er schließlich nicht ohne Lebensgefahr es zu bewerkstelligen gewußt hatte, dem geheiligten Feuerdienst im Tempel beizuwohnen, wobei nicht viel gefehlt hätte, daß er von den Andächtigen erkannt und dem Feuer geopfert worden wäre, setzte er im September 1760 seine Reise fort, um auch die heiligen Veden zu suchen und zu übersetzen. Da seine Absicht sich jedoch nicht ohne weiteres verwirklichen ließ, verschob er die Ausführung dieses Plans auf später und trat am 15. März 1761 seine Rückreise nach Europa an. Gleich nach seiner Heimkehr reiste Anquetil nach Oxford um seine mitgebrachten Manuskripte mit der dortigen Handschrift zu vergleichen und kehrte nach Beendigung seiner Arbeit mit einhundertachzig Manuskripten nach Paris zurück. Neun Jahre später, 1771, erschien dann sein Hauptwerk „Zend-Avesta, ouvrage de Zoroastre“, das großes Aufsehen in Europa machte und das Kleuker 1776-78 in deutscher Übersetzung brachte. Diese abenteuerliche Entdeckung Anquetils erschloß dem Abendland die über die Jahrtausende hinwirkende Einweihungslehre Zoroasters. Doch dieser Raub des heiligen Feuers wurde ihm zum Schicksal und Verhängnis. Als Dolmetsch für die orientalischen Sprachen an der königlichen Bibliothek verbrachte er sein weiteres der Vergessenheit anheimgefallenes Leben, das so wunderbar und unerhört begonnen hatte. Er starb mit vierundsiebzig Jahren in dürftigen Umständen, nachdem er kurz vor seinem Tode erstmalig auch die Upanischads nach zwei in persischer Sprache abgefassten Manuskripten von 1657 der Mit- und Nachwelt in lateinischer Sprache hinterlassen hatte. Diese Übersetzung, welcher Schopenhauer seine Kenntnis der indischen Philosophie verdankte, wurde für dessen eigene Weltanschauungslehre ausschlaggebend und bestimmend, und noch hundert Jahre später folgte Deussen in seiner Ausgabe „Sechzig Upanischads des Veda“ der Textanordnung Anquetils. Auch Nietzsches Zarathustra wäre ohne An-quetil niemals geworden. Er selber aber und sein Name sind vergessen und in der Totenwelt ist er noch heute ein ruhelos Umtriebner. So ahndet Zoroaster den Verrat seiner Mysterien. Mein Gegenüber hatte aufmerksam und schweigend zugehö rt, als ich ihm die Begebenheiten Anquetils erzählte. Er war sichtbar erschüttert. 73
„Und was bezweckte sein Erscheinen?“ Es war die nächstliegende Frage. Ich hatte sie erwartet. „Der Wunsch, seinen Namen der Vergessenheit entrissen und seinem Verdienst nach zuletzt doch noch anerkannt zu sehn, hält ihn in der Erdsphäre zurück, und irgendwie sucht er nach einem Medium, um sich seiner als Sprachrohr zu bedienen. Anders kann ich mir den Vorgang nicht erklären“, gab ich ihm zur Antwort. „Was aber in aller Welt führt ihn gerade zu mir? Es gibt doch sicherlich Empfängliche genug in allen Himmelsgegenden!“ „Vielleicht weil Sie in Ihrer früheren Verkörperung in irgendeinem seelisch-untergründigen Zusammenhang mit ihm standen. Sehr viele Menschen fänden, wenn sie ihren Träumen nachgingen, besonders in der Jugend, Erinnerungsträume, die auf manche unverstandenen und weit abliegenden Zusammenhänge Licht zu werfen wohl geeignet wären, nur daß die meisten nicht hinhören und sie nicht beachten.“ „Ist es nicht möglich“, fragte ich mein Gegenüber, „auch für Sie auf diesem Wege dem geheimen untergründigen Faden nachzugehen, der Sie mit Anquetil verbindet? Vielleicht ist Ihnen ein dahinweisender Traum von früher her noch im Gedächtnis?“ „Seltsam'“, meinte er, „während Sie mir die Geschichte Anquetils erzählten, tauchte ein Vorjahren wiederholt geträumter Traum vor meinem inneren Auge wieder auf, mit dem ich damals eigentlich nichts rechtes anzufangen wußte, der mir jedoch in seiner seltenen Eindringlichkeit geblieben ist und der nun mit einmal anfängt, Sinn und Bedeutung zu bekommen: Es war ein einfaches Mansardenzimmer mit dem Blick über die Dächer von Paris. Ich wußte, wie man eben solche Dinge weiß im Traum, daß es Paris war, auch daß der junge zwanzigjährige Student, der da am Schreibtisch über Büchern mit orientalischen Schriftzeichen und Hieroglyphen saß, ich selbst sei. Unweit vom Hause, wo ich wohnte, lag die königliche Bibliothek, auf der ich arbeitete. Das alles war mir im Traume gegenwärtig. Von der Straße unten hörte ich Geschrei der Revolution und den Gesang der Marseillaise. Da poltert es vor meiner Tür auf der Stiege, und vier Sansculotten stolperten in mein Zimmer. Ich fühlte mich gepackt und mitgeschleppt. Ohne Verhör und Aburteilung werde ich zur Hinrichtung geführt. Ich fühlte körperlich im Traume, wie man mich am Block festschnürt. Sekunden folgen grauenhaft und lang wie eine Ewigkeit ... Dann gibt es einen Ruck: das Beil fällt. Ein wahnsinniger Schmerz durchzuckt den ganzen Körper, dann weiß ich nichts mehr. Es ist, als habe sich das Fürchterliche dieses Augenblicks tief in mein jetziges Leben eingebohrt, denn es geschieht mir oft, daß ich beim Aufwachen entsetzt auffahre und das Beil in meinem Nacken zu verspüren glaube. Ich weiß von jenem Traum her mit untrüglicher Gewißheit, daß ich während der französischen Revolution das letzte Mal gelebt habe und frühzeitig gewaltsam umkam. - Ist es da nicht zum mindesten möglich, daß mich meine damaligen Studien zu Anquetil geführt haben? Vielleicht ist hier der untergründ ige Zusammenhang zu suchen? … Ich war berührt von der so überzeugenden Erzählung seines Traumerlebnisses. Kein Zweifel: hier lag der geheime Faden, der sein Schicksal an die Schicksalslinie Anquetils knüpfte, auch wenn die eigentliche karmische Verbindung nicht so ohne weiteres daraus hervorging „Nun sehen Sie in aller Ruhe der Sie ängstigenden Neumondnacht entgegen. Vielleicht war alles, was Sie sinnlich und real erlebt zu haben glaubten, nur die Fortsetzung des ursprünglichen Traumes, der sich weiterspann unter der Schwelle des Bewußtseins, um plötzlich wieder aufzutauchen und in Ihren Bilderkreis zu treten; sein eigentlicher Wesenskern braucht darum nicht illusionär zu sein,“ versuchte ich ihn zu beruhigen. Das sei darum kaum anzunehmen, meinte er, weil er die Hymnen, die ich in der Hand hielt, doch in der Suggestion geschrieben habe, was die Realität des Phänomens bezeuge. „Wenn Wissen Rückerinnern ist nach dem Axiom des Plato, so können diese Hymnen ebensogut aus Ihrem eigenen Unterbewußtsein herrühren, das Sie aus Ihrem früheren Leben mitgebracht haben, auf das Ihr Traum hindeutet. Und schöpft der Dichter, schöpft der Musiker, der große und berufene, nicht aus denselben Quellen? Lassen Sie also nur die Neumondnacht herankommen, Sie 74
werden dann viel klarer sehn, jetzt wo Sie doch nicht mehr unvorbereitet dem Erlebnis gegenüberstehen.“ Ich sprach die letzten Worte eindringlich, um ihm soweit als möglich Mut zu geben, dem Bevorstehenden ins Gesicht zu sehen. - Ich hätte mir die Hymnen gerne abgeschrieben, doch ich verstand, daß er mich bat, es vorerst nicht zu tun; er habe schon Gewissensbisse, daß er trotz der Weisung, über das Erlebte Stillschweigen zu wahren, aus Ratlosigkeit sich mir anvertraut habe. Bevor ich ihm die Blätter wieder einhändigte, las ich die Hymnen nochmals durch, um mir noch einige der eindringlichsten Stellen ins Gedächtnis einzuprägen. Dann gab ich ihm das Manuskript zurück. Er erhob sich zögernd. Als wir schon vor der Türe standen, fragte ich ihn, wo er wohne und nach seinem Namen: Lassen Sie mich bis über den Neumond noch der Unbekannte sein, dem Sie in dieser Nacht schon soviel gegeben haben und der nicht weiß, wie er sich Ihnen dankbar zeigen soll,“ erwiderte er. „Ich werde wieder von mir hören lassen, wenn jene Nacht vorüber ist.“ Ich schloß ihm die Glastüre auf, durch die er eingetreten war, und sah ihn in der Dunkelheit des Gartens sich entfernen ... Nach seinem Weggang setzte ich mich an den Schreibtisch, um mir gleich die Strophen aus den Zendhymnen, soweit ich sie behalten hatte, aufzuschreiben. Hier sind sie, abgerissene Fragmente allerdings nur, die mir von dem zweimaligen Lesen her geblieben: Über allem Himmlischen und Irdischen ist Ormuzd. Die große Sonnen-Aura ist das Lichtkleid des Allgewaltigen. Die Amschspands sind die Boten seiner Herrlichkeit. In der Mitte aber steht Mithras. Ich, Zoroaster, bin Mund seiner Stimme, der geistgehörten. Seine Mysterien zu gründen ward ich berufen. Anbetung Ihm in dem Feuer! Offenbar ist für den Seher das Göttergeheimnis des Feuers. Heilig und rein ist die Flamme des Feuers, den Seher erleuchtend. Unvorbereitete aber verbrennt sie zu irdischer Asche. Ahriman aber ist Widerpart Ormuzds. Seinen Thron aufgerichtet hat er im Erdmittelpunkt. Urnacht ist um ihn. Er ist der Gegengewaltige, Furchtbarer Fürst der Finsternis, Gebieter der Dewas. Mithras aber wird seinen Thron erschüttern, einst wenn er kommen wird in Menschengestalt, der Langverkündigte, und seinen Fuß setzen auf den Nacken der Schlange. Todüberwindender Mithras: mein Seherauge is t Zeuge Deines Herabstieges durch die Sphären er Himmel. Das Abendland aber, das blutgedüngte, wird an Dir schuldig werden. Doch über Nacht wird das Gericht kommen, das nichts verschonende, und aufrichten das Sühnmal über dem Blutgrund. Ich, Zoroaster, bin Künder der Zukunft im Urlicht Ormuzds, dem ungeoffenbarten. Ich verschloß das Blatt in meinem Schreibtisch und ging in mein Schlafzimmer hinauf. Aber ich konnte nicht einschlafen, meine Gedanken waren bei dem Unbekannten. Ich vergegenwärtigte mir Punkt für Punkt den Ablauf der verflossenen Stunde. Hatte meine Hingabe an meinen eigenen Zendgesang, den ich wenige Minuten vor dem Auftauchen des Fremden abgeschlossen hatte, diesem untergründig den Anstoß gegeben, bei mir anzuklopfen? Lag hier nicht schon das erste und vielleicht geheimnisvollste Ineinandergreifen sinnlichübersinnlicher Zusammenhänge? Welche 75
unsichtbare Macht ließ die verborgenen Schicksalsfäden so verwirrend planvoll ineinanderspielen? Und mit welchem Ziel geschah es? Aus welchen rätselhaften Seelenfernen waren die Zendhymnen hergetönt? In ihnen lag noch die vieltausendjährige Verheißung der Verkörperung des Mithras. War dem, der unsichtbar die Hand des Schreibenden geführt hatte, noch unbekannt, daß Mithras schon erschienen war und sein Mysterium vollzogen hatte? Seitdem sind die Todesmysterien Lebensmysterien geworden ... All diese Fragen gingen um in mir, bis ich sehr spät unter dem Eindruck des Erlebten einschlief. Da träumte mir: Ich sah mich selbst in einem Feuertempel Irans stehen und der Weihehandlung beiwohnen. Im Vorhof war ein Scheiterhaufen aufgeschichtet. Ich verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit alle Handlungen der Feuerpriester. Als ich die rituelle Handlung schon beendet glaubte, kam aus einer Seitenhalle des weitläufigen Tempels ein Priesterzug - ich zählte vierundzwanzig weißgewandete Gestalten - einen Mann in abendländischer Kleidung in der Mitte führend. Der Zug nahm Richtung auf den Scheiterhaufen in dem Vorhof. Ich verstand seltsamerweise trotz der fremden Sprache jedes Wort des monotonen hymnischen Gesanges: „Wer sich dem Zenddienst weiht, muß erst durch den Verbrennungstod hindurchgehn.“ Als sich der Zug in feierlichem Schreiten meinem Standort näherte, glaubte ich mit Grauen, in dem Manne, der zum Feuertod geführt wurde, den fremden Nachtbesucher zu erkennen. Ich stand und sah dem Zuge nach, bis er beim Scheiterhaufen angelangt war. Ich sah ihn das Schaugerüst besteigen ... In diesem Augenblick wachte ich auf. Daß dieser Traum kein landläufiger Traum gewesen war, sondern ein Imaginationsbild, war mir ohne weiteres klar, doch was sich mir damit ansagen wollte, konnte ich, wie sehr ich mich damit beschäftigte, nicht finden. Meine Gedanken gingen während jener Tage immer wieder zu dem Unbekannten hin und eine Art beklemmenden Gefühls in mir verdichtete sich, je näher die Neumondnacht heranrückte. Ich ging an diesem Tag nicht aus, um anwesend zu sein, falls es den Unbekannten noch einmal in letzter Stunde zu mir zöge. Aber nichts erfolgte. Gleich nach dem Abendessen zog ich mich in mein Arbeitszimmer zurück, mit der Weisung, nicht gestört zu werden, da ich bis in die Nacht hinein zu arbeiten hatte. Die Vorhänge der Glastüre zum Garten ließ ich offen, um hinaussehen zu können und um dem Unbekannten gegebenenfalls den Entschluß zu erleichtern, bei mir einzutreten. Ich fühlte mich von einer zunehmenden Unruhe ergriffen, je mehr die Nacht vorrückte. An Arbeiten war nicht zu denken. Ich versuchte durch Konzentration den Unbekannten und seine Umgebung in das innere Blickfeld zu bekommen, doch es gelang nicht: ich spürte nachhaltig, wie etwas Gegenwirkendes der Konzentration sich widersetzte. Vielleicht waren meine Seelenruhe und innere Spannung daran schuld, daß die Konzentratio n diesmal ergebnislos verlief. - Darum gab ich sie nach etwa einer halben Stunde auf und begann im Zimmer auf- und abzugehen. Die Zeit verging sehr langsam. Es schlug elf Uhr. Ich sagte mir, daß es im Grunde sinnlos sei, noch länger aufzubleiben. Worauf wartete ich denn eigentlich? Und überhaupt: warum war ich an dieser ganzen Sache seelisch so beteiligt? Was war, genau genommen, vorgefallen? - Ein Unbekannter war auf eine wenig herkömmliche Art und Weise nachts zu mir gekommen und hatte mich in sein Vertrauen gezogen über ein Erlebnis, das ein jeder Arzt als krankhaft anspreche n würde. Die von der Hand des Fremden aufgezeichneten Zend hymnen aber waren sämtlich glaubhaft und klar, und nirgends fand sich eine Stelle, die auf eine schizophrene Seelenlage hätte schließen lassen. Die ganze hymnische Aussage, für die der Unbekannte Mund gewesen war, stand in dem reinen Urlicht Zoroasters. Hier lag ein eigenes, unbegreifliches Geheimnis vor, in das ich mich hineingezogen sah ganz ohne Zutun und in zunehmendem Maße - ich gestand es mir - mit Widerstreben. Ich war geraume Zeit diesen Gedankengängen nachgehangen. Als ich auf die Uhr sah, war es zwölf vorüber. Ich erhob mich, um in mein Schlafzimmer zu gehen, als das Telephon plötzlich heftig läutete. Ich fuhr zusammen, nahm den Hörer in die Hand und fragte, wer am Apparat sei; doch es kam nichts. Scheinbar ein Fehlanruf. Ich hing den Hörer wieder ein und war schon bei der Türe, da läutete es wieder, nur noch stärker. Ich verhielt mich wie beim ersten Anruf, doch es meldete sich wieder niemand. Ich wollte gerade beim Fernamt anfragen, von wo der Anruf käme, als es zum drittenmal förmlich Sturm läutete. 76
Kaum hatte ich den Hörer wieder abgenommen, hörte ich auch schon wie eine Stimme fast beschwörend sagte: „Kommen Sie so schnell als möglich in die X-Straße, zweiter Stock links. Die Haustüre ist offen, Nur kommen Sie sofort, es duldet keinen Aufschub.“ „Wer spricht? Wer spricht denn?“ Nichts mehr. Abgebrochen. Ich erkundigte mich gleich beim Fernamt nach dem Anruf. Es habe überhaupt keine Verbindung vorgelegen, war die Antwort. Ich suchte mir die Stimme, die gesprochen hatte, zu vergegenwärtigen und glaubte, die des Unbekannten wiederzuerkennen. Das Fernamt wußte nichts von einem Anruf. Die Sache wurde immer mysteriöser. Soviel stand für mich fest: es konnte sich nur um den Unbekannten handeln. War vielleicht alles inszeniert, um mich in eine Falle oder in ein Unternehmen Ungewisser Art zu locken? Der Sprecher hatte seinen Namen nicht genannt, nur eine Wohnung angegeben, wohin ich mitten in der Nacht kommen sollte. Eine seltsame Zumutung. Zudem befand sich die Wohnung in einem sehr entfernten Stadtteil, einem Vorortviertel; es waren von mir aus mindestens dreiviertel Stunden Wegs zu Fuß dahin, denn um die Zeit verkehrte keine Tram mehr. Ich war unschlüssig; doch andrerseits war ich voll Spannung, welchen Ausgang das geheimnisvolle Abenteuer nehmen werde. Nach kurzem Schwanken rief ich an und ließ mir eine Taxe kommen. Bis diese vorfuhr, hatte ich mich für die Fahrt gerichtet. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit steckte ich meinen Revolver in die Tasche, obgleich ich mich von jeher ohne einen solchen sicher wußte. - Das Auto hupte. Ich verließ das Haus mit recht zwiespältigen Gefühlen, doch eine innere Stimme sagte mir, daß ich fahren müsse. Ich setzte mich neben den Chauffeur und fing mit ihm ein flüchtiges Gespräch an, um mich aus seinen Antworten und aus der Art seines Sichgebens zu vergewissern, ob ich gegebenenfalls den Mann hinzuziehen könne. Er machte einen völlig zuverlässigen Eindruck. Ich sagte ihm, meine Nachtfahrt gelte einem plötzlich schwer Erkrankten, der mich dringend hergebeten habe. Wir waren nach gut zehn Minuten Fahrt am Ziele angelangt. Es war ein wohlgebautes, mittelgroßes, doppelstöckiges Haus mit Vorgarten, vor dem wir hielten. Durch keinen Fensterladen fiel ein Lichtschein. Die Bewohner schliefen bei der vorgerückten Nachtzeit wohl alle. Vorsorglich sagte ich dem Chauffeur beim Aussteigen, daß ich ihn vielleicht benötigen werde, falls der Kranke, der in seiner Wohnung allein wohne, in das Krankenhaus zu bringen sei und man ihn in das Auto tragen müsse oder etwas anderes Unvorhergesehenes einträte. Ich brauche ihn ja dann nur aus dem Fenster zu rufen, meinte er, er werde dann sofort heraufkommen. Beruhigt ging ich auf das Haus zu. Die Haustüre war wirklich angelehnt, wie es die Stimme bei dem Anruf angekündigt hatte. Ich knipste Licht an. Im Stockwerk zu ebener Erde waren rechts und links je eine Wohnung. Ein gut gepflegtes Stiegenhaus mit Läufern führte zum oberen Stockwerk. Das Messingschild der Wohnungstüre rechts trug die gravierte Aufschrift: Irmin Schwarz, Schaufensterdekorateurin. Schau einmal an, mein Unbekannter wohnt in freundlicher Nachbarschaft, dachte ich, und suchte nun auch an der Wohnungstüre links, wohin die Stimme mich gerufen hatte, nach dem Name n, doch vergebens; nirgends war ein solcher angeschrieben. Ich horchte erst ein paar Minuten an der Türe, ob sich kein Geräusch von drinnen vernehmen lasse, und schellte. Nichts. Ich klingelte noch einmal stärker. Wieder meldete sich niemand. Ich ließ mich nicht entmutigen und machte eine Reihe weiterer vergeblicher Versuche. Der Wohnungsinhaber war keinesfalls zu Hause, denn selbst bei noch so festem Schlafe wäre er durch mein anhaltendes und starkes Läuten aufgewacht. Was tun also? Nach Hause fahren? Das schien mir verfrüht. Der Anruf war zu eindringlich gewesen. Daß etwas hier nicht stimmte, fühlte ich zunehmend deutlicher. Ich versuchte noch einmal mein Heil zu mindesten eine Minute mit dem gleichen Mißerfolg wie bisher. Nun gab es nur eine Möglichkeit: die Schaufensterdekorateurin aus dem Schlaf zu läuten und bei ihr Auskunft einzuholen; sie würde über ihren Nachbarn sicher orientiert sein. Ich läutete ein paar Mal nacheinander, denn wenn sie fest schliefe, würde sie nicht gleich aufwachen. Ich wartete. Dann läutete ich wieder. Nichts ließ sich drinnen hören. Ich wiederholte meinen Anlauf mehrmals, aber Irmin Schwarz war nicht zu wecken. Auch diese zweite Hoffnung war ein Fehlschlag. Die Sache 77
wurde immer dunkler und geheimnisvoller. Dieser neuerliche Fehlschlag bekräftigte in mir nur den Entschluß, das Spiel nicht aufzugeben. Bekanntlich wachsen wir an unseren Widerständen. Zum mindesten war es recht sonderbar, daß sich trotz heftigen nachhaltigen Läutens in den beiden Wohnungen niemand meldete. Es blieb mir nun nichts anderes übrig, als meinen Versuch in einer der drei Wohnungen zu ebener Erde zu erneuern, am besten in der linken unter der des Unbekannten, weil es immerhin doch denkbar war, daß die direkt Darunterwohnenden etwas gehört hatten, wenn über ihnen im Verlauf der Nacht sich irgendetwas Ungewöhnliches ereignet hätte. Ich ging also hinunter und las erst den Namen des Wohnungsinhabers: Professor Dr. Albert Günther. Bevor ich den Entschluß faßte zu klingeln, sah ich auf die Uhr: es war kurz nach eins. Gegenüber wohnte ein Regierungsrat a. D. Dann doch schon lieber der Professor. Gelehrte haben meistens einen leichten Schlaf. Ich klingelte nachsichtig, aber immerhin doch so, daß man davon aufwachen konnte. Pause, während welcher ich gespannt hinhorchte. Dann drückte ich nochmal auf den Klingelknopf. Ich horchte wieder: Ja, man hatte es gehört, ich hörte drinnen sprechen. Um den Bewohnern Mut zu machen, setzte ich die Klingel nochmals in Bewegung. Nun öffnete sich drinnen eine Türe. Im Flur wurde Licht gemacht. Dann eine Stimme, wie mir vorkam, einer alten Dame: Rosel! Rosel! - doch die Rosel kam nicht, sie hatte einen festeren Schlaf als ihre Herrschaft. Nun wurde auch die Stimme des Professor hörbar: „Ich will einmal hinaussehen, ob jemand draußen vor der Haustür steht.“ Ich klopfte an der Wohnungstüre. „Ist nicht nötig. Hier. Ich bin schon drinnen!“ „Einen Augenblick, bitte.“ Die Antwort klang ein wenig eingeschüchtert. Es währte eine kleine Weile, bis er wieder auf dem Flur hörbar wurde. Seine Frau rief ihm von drinnen nach: „Vergewissere Dich erst, ehe Du aufmachst, ob die Kette an der Eingangstüre eingehängt ist, Albert...“ „Mir wird schon nichts passieren“, rief er sie beruhigend zurück und öffnete bei eingehängter Kette: „Sie wünschen bitte?“ „So einfach läßt sich das nicht sagen, Herr Professor, Sie müssen mich schon erst hereinlassen.“ „Aber wie sind Sie denn ins Haus gekommen? Ich habe selbst die Haustüre verschlossen.“ „Bedauere, sie war nur angelehnt, sonst könnte ich nicht hier stehen. Aber das ist nebensächlich. Es handelt sich um etwas äußerst Wichtiges“, war meine Antwort. „Zu wem wollen Sie denn eigentlich?“ Die Frage war berechtigt. „Wenn Sie mich fragen: Eigentlich zum Herrn, der über Ihnen wohnt.“ „Ja, warum läuten Sie dann bei mir?“ „Das gerade möchte ich Ihnen erklären. Aber durch die Türspalte läßt sich das kaum bewerkstelligen.“ „Sie müssen mich aber entschuldigen, ich bin im Bademantel.“ „Aber ich bitte Sie! Um diese Zeit kann man nicht mehr verlangen.“ Bedächtig hängte er die Kette aus und musterte den Eintretenden kritisch. Mein Äußeres schien sein Zutrauen zu erwecken, obgleich ihm seine Frau beim Aushängen der Kette durch die halbgeöffnete Schlafzimmertüre zugerufen hatte: „Sei nicht so unvorsichtig, Albert!“ Es war ein leutseliges hilfsbereites Männchen, ein Studienrat im Ruhestand, als der er sich im Laufe der Unterhaltung zu erkennen gab; und auch die Frau Professor, die sich bald darauf in einem überreich geblümten Morgenkleid im Arbeitszimmer ihres Mannes einfand, war von teilnahmsvoller und warmherziger Gemütsart. Ich berichtete dem Ehepaar, wie der Herr, der in der Wohnung über ihnen wohne, ohne seinen Namen zu verraten, mich unlängst abends spät in einer seltsamen geheimnisvollen Angelegenheit in meiner Wohnung aufgesucht habe mit dem Versprechen, wieder von sich hören zu lassen ... Nun habe er vor etwa einer Stunde plötzlich angerufen, wieder ohne sich zu nennen, und mich beschworen, unverzüglich zu ihm hierher in seine Wohnung zu kommen; ich würde die Haustüre angelehnt vorfinden, was auch zutraf. Ich sei dem Ruf, berichtete ich weiter, aus bestimmten Gründen, die zu erörtern zu weit fuhren würde, auch gefolgt, jedoch sei mir in 78
seiner Wohnung trotz mehrfachem nachhaltigen Klingeins nicht geöffnet worden. Ich hätte daraufhin auch bei der Nachbarwohnung, der Schaufensterdekorateurin, wiederholt geklingelt, aber mit dem gleichen Mißerfolg. So wäre mir dann kein anderer Ausweg geblieben, als mein Heil in einer der zwei Wohnungen zu ebener Erde zu versuchen, da mir, mehr als sich sagen lasse, an der Aufklärung gelegen sei. Ich bäte daher, meine Aufdringlichkeit in Anbetracht des ungewöhnlichen Falles zu entschuldigen und mir vor allem einmal über den vergeblich aufgesuchten Hausbewohner etwas Näheres zu sagen. Der Studienrat und seine Gattin waren schweigend meinen Ausführungen gefolgt. Nur war mir aufgefallen, daß sie Blicke wechselten, als ich ihnen von dem rätselhaften Anruf berichtete. Ich hatte kaum geendet, als auch schon der Studienrat seine Verwunderung äußerte, da außer der Schaufensterdekorateurin, die jedoch seit einigen Tagen verreist sei, niemand im Hause ein Telefon habe. Seine Gattin meinte allerdings, es sei wohl möglich, daß der Architekt, ihr Nachbar, im Besitze ihres Wohnungsschlüssels sei, da man die beiden vie l zusammen sähe. Der Architekt selbst sei ein ruhiger und angenehmer Hausgenosse, mehr sei ihm nicht bekannt, ergänzte der bedächtige Studienrat, da er erst unlängst in dem Hause eingezogen sei und keinen Umga ng mit den Mitbewohnern pflege. „Als wir um elf Uhr schlafen gingen, war der Architekt bestimmt in seiner Wohnung, denn ich habe oben deutlich seinen Schritt gehört,“ bestätigte die alte Dame, und daß er dann noch ausgegangen sei, das sei so gut wie ausgeschlossen. Viel weiter als vorher war ich eigentlich nicht durch diese Auskünfte; da ich jedoch entschlossen war, der Sache auf den Grund zu gehen, sagte ich dem Studienrat, daß ich nochmals versuchen wolle, mich bei dem Architekten hörbar zu machen. Vor meinem Weggehen würde ich ihm noch Bescheid sagen, versprach ich ihm, wenn ich nicht störe. Damit verabschiedete ich mich, um mein Vorhaben auszuführen. Nun läutete ich förmlich Sturm. Wenn jemand in der Wohnung war und noch so tief schlief, diesmal hätte er aufwachen müssen, aber es war ganz umsonst, nichts regte sich. Ich war schon drauf und dran das ganze Unternehmen aufzugeben, weil mir alles immer mehr wie eine Mystifikation vorkam. Unschlüssig stand ich noch vor der verschlossenen Wohnungstüre, als ich hinter mir ganz plötzlich eine Stimme zu vernehmen glaubte, die gebieterisch und deutlich sagte: „Handeln! Eintritt erzwingen!“ Die Stimme war so laut und eindringlich, daß ich mich spontan umsah, wer mich über meine Schulter angesprochen habe, aber da war niemand. Ich weiß, daß der Psychiater diesen Vorgang mit Halluzination und Nervenüberreizung abtun wird, doch wer durch jahrelange innere Schulung sich ein hinreichendes Stück von Selbstkontrolle angeeignet hat, der weiß die Phänomene sehr genau zu unterscheiden und läuft nicht Gefahr das Opfer einer Halluzination zu werden. Ich war zum äußersten entschlossen. Die Wohnungstüre mußte aufgebrochen werden. Hierzu jedoch benötigte ich einen Zeugen. Der ängstliche, bedächtige Studienrat kam nic ht in Frage. Ich überlegte ... der Chauffeur. Der würde nötigenfalls auch mit zugreifen. Ich ging hinunter an das Auto. Die Haustür ließ ich angelehnt. Dem Chauffeur berichtete ich kurz den Tatbestand: Trotz wiederholten heftigen Läutens habe mir der Kranke nicht geöffnet, ich vermute daher, er sei ohnmächtig oder so geschwächt, daß er nicht mehr aufmachen könne. Ich hielte es daher für meine Pflicht, mir möglichst schnell gewaltsam Einlaß zu verschaffen, um dem offenbar äußerst schwer Erkrankten schleunigst Hilfe angedeihen lassen zu können. Ohne Zeugen aber wolle ich nicht handeln. Ich bäte ihn daher, mit mir hinaus zu kommen, da ich die Wohnungstüre unter allen Umständen zu sprengen vorhätte. Das sei viel einfacher zu machen, meinte der Chauffeur. Ganz in der Nähe wohne ein befreundeter Kunstschlosser, mit dem er im ersten Weltkrieg in der gleichen Kompanie gestanden habe; er wolle rasch hinfahren und ihn herbringen, denn mit dem Aufsprengen der Wohnungstüre habe das, wenn sie halbwegs stabil sei, seine Schwierigkeiten. Natürlich war mir diese Lösung sehr willkommen. Mein Bedenken, daß der Kunstschlosser vielleicht sich weigern werde mitzukommen, zerstreute der Chauffeur durch die Versicherung, dergleichen gäbe es nicht unter alten Kriegs-Kameraden. Und 79
damit fuhr er los, den Mann zu holen, während ich am Hauseingang das Eintreffen der zwei erwartete. Und wirklich dauerte es keine Viertelstunde, da kam das Auto wieder angefahren. „Mein alter Welt-Kriegs-Kamerad, Kunstschlosser Hauser,“ stellte der Chauffeur mir den Herbeigeholten vor. Ich dankte ihm für seine Hilfsbereitschaft. Dann gingen wir zu dritt hinauf, der Kunstschlosser voran mit seinem Handwerkskasten, dem er eine Reihe Dietriche entnahm und sich damit am Schloß zu schaffen machte. Zum Glück war es kein Sicherheitsschloß, so daß es keine sonderliche Mühe machte, es zu öffnen. Wir traten in den Flur. Ich knipste Licht an und ging auf die Türe zu, wo ich nach Einteilung der Zimmer bei dem Studienrat das Schlafzimmer vermutete. Meine Begleiter folgten mir. Da keine Antwort auf mein Anklopfen erfolgte, trat ich ein und machte hell. Niemand im Zimmer, auch das Bett war unberührt. Durch die offene Tür zu dem angrenzenden Badezimmer sah man, daß auch dieses leer war. Ich trat ins Zimmer gegenüber: ein nicht großes, sehr geschmackvoll eingerichtetes, modernes Speisezimmer. Eine Schiebetür führte in den Nachbarraum. Ich schob sie auseinander, hinter mir meine Begleiter. Ein geräumiges und ansprechendes Arbeitszimmer, matterhellt von einer niedrigen Tischlampe mit dunkelviolettem Schirm, die an dem anderen Ende neben einer Couch auf einem würfelförmigen Rauchtisch stand. Ich fuhr zusammen: Auf der Couch lag - anscheinend bewußtlos - der Unbekannte. Als ich zu ihm herantrat, um ihn aufzurichten, wurde ich entsetzt den offenen Mund und den gebrochenen Blick gewahr. Ich griff nach seiner Hand: sie fühlte sich fast kalt an und als ich sie hochhob und dann wieder losließ, fiel sie schwer und leblos zurück. Der Kunstschlosser pfiff leise durch die Zähne; er hatte rasch begriffen. Ich suchte auf der schon erkühlten Brust den Herzschlag, doch ich hörte keinen. „Anscheinend ein Selbstmord“, meinte der Chauffeur, „wahrscheinlich durch Vergiftung.“ Die Züge waren völlig unverkrampft und ruhig. „Ein Zeichen, daß er irgendwie gelitten hat, ist nicht bemerkbar“, gab ich ihm zur Antwort. „Sehr angenehm ist mir die ganze Sache nicht,“ bemerkte der Kunstschlosser, „denn schließlich war ich es, der widerrechtlich eine fremde Wohnung aufschloß.“ „Ich nehme die Verantwortung natürlich ganz auf mich,“ beruhigte ich ihn, „Sie können völlig unbesorgt sein...“ „Ob man die Polizei verständigen muß?“ So ohne weiteres war diese Überlegung des Chauffeurs in Anbetracht der Sachlage nicht von der Hand zu weisen, doch hielt ich es vorerst einmal für hinreichend, wenn man versuchte, den Bezirksarzt zu erreichen. Ich fragte den Kunstschlosser, ob er wisse, wo sich in der Nähe eine Telefonzelle befindet oder von wo aus man sonst anrufen könne, denn außer in der Nebenwohnung sei in dem ganzen Hause kein Telefon; die Wohnungsinhaberin sei jedoch verreist, wie ich erfahren hätte. Ich solle doch mit seinem Freunde, dem Chauffeur, in seine Wohnung fahren, meinte er, und dann von dort aus anrufen, so lange wolle er im Hausflur warten. „Wenn wir durch unsern nochmaligen Überfall nur Ihre Frau nicht allzusehr behelligen, Herr Hauser, sonst wäre das natürlich das Gegebene,“ bestätigte ich, froh über diese Lösung. „Behelligen, das wäre noch schöner in solchem Augenblick,“ entgegnete der Kunstschlosser, „nur losgefahren! Es sind im Auto ja kaum drei Minuten bis zu meiner Wohnung.“ Mit diesen Worten trat er in den Flur, nahm einen Stuhl und machte sichs bequem bei seinem Handwerkskasten, während der Chauffeur und ic h zum Auto gingen. „Es wäre doch wohl richtiger gewesen, das Überfallkommando zu verständigen, als eigenmächt ig die Wohnung auf zuschließen,“ sagte ich, als wir im Auto saßen, zum Chauffeur, „es war doch etwas voreilig gehandelt.“ „Doch in der besten Absicht. Allerdings hätte ein anderer Schlosser sich wohl kaum dazu bereit gefunden.“ „Natürlich,“ unterbrach ich ihn, „natürlich ist es völlig überflüssig, dem Bezirksarzt zu berichten, wie wir in die Wohnung kamen. Er soll den Tod feststellen und die Obduktion der Leiche anordnen, denn ich lege größten Wert auf die Ermittlung der Todesursache.“ Frau Hauser war nicht ungehalten über die nochmalige Störung, und während meines Telefongesprächs mit dem Bezirksarzt ließ sie der Chauffeur das Nähere wissen. Zwar meinte der Bezirksarzt: wenn der Mann doch tot sei, sei es am Morgen auch noch Zeit, dies festzustellen, doch ließ er sich schließlich auf mein Drängen bewegen, gleich zu kommen; in etwa einer Viertelstunde werde er zur Stelle sein, versprach er. 80
Auf unserer Rückfahrt überlegte ich mit dem Chauffeur, ob es nicht besser sei, wenn der Kunstschlosser unten in dem Auto auf uns warte, da seine Anwesenheit unwillkürlich zu überflüssigen Fragen Anlaß geben könne. Als wir beim Haus des Unbekannten wieder ankamen und den Flur betraten, fanden wir den Kunstschlosser auf seinem Stuhl fest eingeschlafen, unbekümmert um die nahe Nachbarschaft des Toten. Wir weckten ihn. Ich sagte ihm, in wenigen Minuten käme der Bezirksarzt; da scheine es in Anbetracht der Sachlage, um allen beiläufigen Fragen vorzubeugen, besser, wenn er sich solang ins Auto setze, bis wir fertig seien. Er war einverstanden, nahm seinen Handwerkskasten und verließ uns. Der Bezirksarzt ließ nicht lange auf sich warten. Schon telefonisch hatte ich ihm kurz berichtet: ich sei von dem zu Untersuchenden vor zwei Stunden dringend angerufen und gebeten worden, unverzüglich herzukommen und sei dem Ruf gefolgt, da er mich erst unlängst aufgesucht habe, um wegen schwerer seelischer Depressionszustände Rat zu holen. Bei meinem Eintreffen hätte ich ihn in dieser Lage vorgefunden. Der Bezirksarzt, der den etwa vor zwei Stunden eingetretenen Tod feststellte, neigte zur Vermutung, daß ein Selbstmord durch Vergiftung vorläge und ordnete von sich aus, ohne meine Anregung, die Obduktion an. Sicher habe der Hinweggegangene kurz ehe er sich zu dem Schritt entschloß, mich angerufen, um das tröstliche Gefühl zu haben, daß er gleich nachher gefunden werde; eine solche Handlungsweise sei sehr naheliegend, meinte er. Sein Blick glitt, während er dies sagte, über den danebenstehenden Rauchtisch, um nach einem Anhaltspunkt für seine Annahme zu suchen. Da bemerkte er, was mir bei meinem ersten Eintritt in der Aufregung entgangen war, beim Aschenbecher Reste von verkohlten, noch am Rande leserlichen Blättern. Sofort erkannte ich an den paar Worten, die noch zu entziffern waren, daß es die vom Unbekannten unlängst nachts in meine Wohnung mitgebrachte Handschrift der Zendhymnen war, die nun verkohlt neben dem Toten auf dem Rauchtisch lag ... Was war hier vorgefallen? Was für ein Seelendrama hatte sich hier abgespielt in diesen Nachtstunden? „Anscheinend wollte der bereits nicht mehr Zurechnungsfähige die Blätter noch im letzten Augenblick verbrennen, oder aber sie verkohlten irgendwie von selbst durch eine noch zuletzt gerauchte, brennend weggelegte Zigarette. Irgendwelche Aufzeichnungen, die Licht auf das Vorgefallene hätten werfen können, waren es ja offenbar nicht, soweit man aus dem wenigen noch Leserlichen schließen kann,“ bemerkte der Bezirksarzt, sich zum Gehen wendend, „allem Anschein nach ein Fall von schwerer seelischer Zerrüttung ... Nur noch die Personalien des Verstorbenen,“ sagte er, seinen Notizblock aus der Tasche ziehend. „Architekt Sebastian W....“, gab ich zur Antwort, wie ich aus der Anschrift eines auf dem Rauchtisch unweit des verkohlten Manuskripts gelegenen Briefumschlages auge nblicks zuvor ersehen hatte. „Die näheren Daten sind mir unbekannt.“ „Ist auch nicht nötig vorläufig. Ich werde morge n früh das Weitere veranlassen.“ Damit verabschiedete sich der eilige Bezirksarzt, ohne gefragt zu haben, wer uns die Wohnung des Verstorbenen geöffnet habe. Diese Frage kam ihm anscheinend gar nicht in den Sinn. Ein Grund, noch länger in der Wohnung des so rätselhaft Dahingegangenen zu bleiben, bestand für mich nun nicht mehr. Nachdem ich nochmals einen Blick auf das verkohlte Manuskript der Zendhymnen geworfen hatte, nahm ich die Schlüssel, die zusammen mit der Brieftasche und einem unbeschriebenen und gleichfalls unversehrt gebliebenen Notizblock auf dem Rauchtisch lagen, an mich, schloß die Wohnung ab und ging mit dem Chauffeur nach unten. Dort bat ich ihn, mich in dem Auto zu erwarten, da ich dem Studienrat versprochen hätte, ihm vor meinem Weggehen noch Bescheid zu sagen. Das treuherzige Ehepaar, das aufgeblieben war, um meine Rückkehr zu erwarten, bot mir ein Glas Portwein an, das ich nicht abschlug. Ich berichtete kurz den Vorgang meines Abenteuers. Bevor ich aufbrach, händigte ich ihnen noch das Schlüsselbund des Architekten ein, damit die Abholung des Toten am nächsten Tage ohne weitere Verzögerung vonstatten gehen könne, und ließ die guten alten Leute, reichlich aus dem Gleichgewicht gebracht, zurück. Inzwischen hatte der Chauffeur dem Kunstschlosser die ihn beruhigende Mitteilung gemacht, daß der Bezirksarzt überhaupt nicht darauf gekommen sei zu fragen, wer uns die Wohnung 81
aufgeschlossen habe, da solches ja gemeinhin durch den Hausmeister geschieht, wie er wohl annahm. Bei meiner Heimkehr sah ich als erstes auf die Uhr: es ging auf drei Uhr; ich war also fast zweieinhalb Stunden unterwegs gewesen. Ich setzte mich in einen Sessel, froh allein zu sein, und überdachte nochmals die Begebnisse seit jenem Anruf, dem ich gefolgt war, um den Unbekannten, dessen Stimme ich noch kurz zuvor durchs Telefon gehört hatte, in seiner Wohnung neben dem verkohlten Manuskript der Zendhymnen tot vorzufinden. Daß hier kein Selbstmord vorlag, stand für mich, nach allem, was ich wußte, außer Frage. Was aber hatte sich in dieser kurzen Zeitspanne da abgespielt? Ich schloß die Augen und vergegenwärtigte mir, wie der Unbekannte noch vor wenigen Wochen hier gesessen und, von innerer Unruhe getrieben, mir sein Erlebnis anvertraut hatte, und welch nachhaltigen Eindruck die auf so geheimnisvollem Wege empfangenen Zendhymnen in mir hinterlassen hatten. Dieser rätselhafte Tod stand ursächlich mit jenem mysteriösen Nachterlebnis im Zusammenhang, das unterlag für mich nicht dem geringsten Zweifel; was aber hatte physiologisch ihn herbeigeführt? Das war der offene Punkt, der wohl auch durch die Obduktion eine Beantwortung niemals erfahren würde. Indem ich all diesem in Gedanken nachhing und die Bilder des in dieser Nacht Erlebten vor dem inneren Auge noch einmal vorbeiziehen ließ, muß ich, ohne daß es mir bewußt wurde, in eine Art von Halbschlaf gefallen sein, in einen imaginativen Zustand ähnlich dem, der in der Nacht zuvor mich in den Feuertempel nach Iran versetzt hatte. Ich stand auch diesmal wieder im Tempel mit der Aussicht auf den Vorhof; doch der Scheiterhaufen, der zuletzt dort aufgeschichtet war, war abgebrannt und schwelte nur noch, und ich hörte ganz von fern den monotonen Abgesang der Priester: Gesühnt hat durch den Feuertod den Fehl der Nichtgehorsame. Zum Zenddienst eingeweiht ist durch den Feuertod der so Gesühnte für das künftige Leben ... Mit dem Vertonen dieses Abgesanges schwand auch gleichzeitig das Imaginationsbild. Ich fand zu mir zurück und nahm sowohl das Bilderlebnis als auch den hier festgehaltenen Wortlaut des nachhallenden Gesanges mit hinüber in mein Wachbewußtsein. Nun sah ich tief hinein in die geheimnisvollen Hintergründe dieses rätselhaften Schicksals und verstand, daß der durch magischen Ruf Hinweggeholte die vorzeitige Preisgabe des ihm Anvertrauten mit dem Tode hatte sühnen müssen. Doch diese Sühne war zugleich die Vorstufe für seine Einweihung in seinem nächsten Leben ... Ich dachte wieder an den Abend, da der Unbekannte hilfesuchend bei mir eingetreten war und unwillkürlich wandte ich den Blick hin nach dem Sessel, wo er wie verstört gesessen hatte - : da saß er wieder in derselben Haltung, einen Augenblick lang nur, dann löste das Phantom sich auf und meine Augen sahen wieder nichts als einen leeren Sessel. Die Obduktion ergab, daß keinerlei Vergiftung vorlag. Die Diagnose lautete auf Herzschlag.
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Allerseelen Den Manen der eigenen Vergangenheit Und all das ist gewesen Und mußte wohl so sein. Wir lesen und wir lesen Uns in uns selbst hinein, Und lesen wieder schauernd Uns aus uns selbst hinaus Zieht alles das nicht lauernd Noch heut um unser Haus? Es war in meinem achten Jahre, als ich die Erwachsenen zum ersten Male davon reden hörte, daß die Toten leben. Ich war mit meinen Eltern auf Stift Neu bürg, der Besitzung meiner Großmutter, zu Gast, die alljährlich sommerüber dort ein offenes Haus hielt. Das neckaraufwärts etwa eine halbe Wegstunde von Heidelberg auf einem Hang gelegene Stift Neuburg war ehemals Kloster gewesen, und wie die Chronik überliefert, hat zur Zeit, als die Benediktinerinnen dort hausten, sich in den von Vergangenheit beladenen Mauern vieles Dunkle abgespielt, was in den dämmrigen Gewölben und den langen, von schummrigen Petroleumlampen matt erhellten Klostergängen astral nachhing. Für den mit seelischer Witterung begabten Knaben war dieses astrale Weben insbesondere nach Anbruch der Dämmerung fast sinnlich spürbar. Auch gewisse Teile des alten, mit hundertjährigen Bäumen bestandenen Parkes hatten etwas umheimlich Beklemmendes, und noch bis in mein zwölftes, dreizehntes Jahr war ich, sobald es dunkel wurde, nicht zu bewegen, mich tiefer in den Park hineinzuwagen, aus essen Boden es wie Verwesung aufstieg. Erst später erfuhr ich, daß eben diese Parkpartie in früherer Zeit Jahrhunderte hindurch Klosterfriedhof gewesen war. Aber es kam noch etwas anderes hinzu, was mir den Park unheimlich machte: In jenem Sommer war eine entfernte finnländische Tante bei meiner Großmutter zu Besuch. Sie mag etwa fünfundvierzig gewesen sein damals, war klein und unscheinbar, von etwas hastigen Bewegungen, nur in ihrem reizlosen, gelblichen Gesicht standen ein Paar unergründlich fernblickende Augen. Ihres Namens entsinne ich mich nicht mehr, ich weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist, ich sah sie später niemals wieder und habe ihr auch nicht nachgefragt. Mit dieser Tante hatte es eine besondere Bewandtnis: sie war in hohem Maße hellsichtig, ein atavistisches elementares Hellsehen, das sie befähigte, Verstorbene wahrzunehmen und auch Wesen der Elementarwelt. Das zweite Gesicht, das sich in der Vorherschau künftiger Geschehnisse äußert, besaß sie nicht, wenigstens hörte ich sie nie etwas Zukünftiges aussagen, während sie über das, was sie hellsichtig sah, wie über etwas Selbstverständliches sich mitteilte, auch in meiner Gegenwart, was ihr von meinen Eltern und den anderen Erwachsenen wiederholt verwiesen wurde, aber sie gab darauf in etwas gebrochenem Deutsch stets wieder dieselbe Antwort: „Warum soll er nicht wissen, daß die Toten leben?“ Mit dieser Tante ging ich eines Abends, als es schon dämmerig wurde, durch den Park -da sagte sie plötzlich zu mir: „Siehst du nicht den umheimlichen Kerl, der im Abstand von nur wenigen Schritten uns die ganze Zeit begleitet? Sieh nur, was er für Sprünge macht und für Grimassen schneidet; es ist, als ob er etwas von uns wollte...“Ich sah nichts, aber es überlief mich ein eiskalter Schauer, und ich atmete erst auf, als wir uns über den offenen Rasenplatz am Springbrunnen vorüber dem Hause näherten. Da wies die Tante auf eine Stelle an der Kirchenmauer: „Jetzt ist er in der Mauer dort verschwunden.“- Von jenem Abend an fürchtete ich mich, allein im Park zu sein oder darin zu spielen, und nur bei hellem Sonnenschein verlor er für mich das Unheimliche, Schaudererregende.
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Ich mußte immer wieder daran denken, wie meine englische Kinderfrau, meine Nurse, mir oft von dem Castle Adminster Hall (ich kann mich des Namens noch genau entsinnen) in Nordengland erzählt hatte, wo sie einmal in Stellung gewesen war und wo es spukte: man hörte es nachts seufzen und das Rasseln einer Kette, und in einem der abgelegensten Räume zeigte sich morgens immer wieder ein Blutfleck, auch wenn er tags zuvor abgewaschen worden war. Meine Nurse schwor bei ihrer Seele, daß es wahr sei, was sie erzählte, und daß sie es selbst erlebt habe. - Durch die Gespräche meiner finnländischen Tante wurde die Erzählung meiner Nurse wieder in mir lebendig, und das alles führte in mir zu einer übersteigerten seelischen Spannung, die ich mit einer Art von heimlicher Wollust nährte mit dem untergründigen, verhaltenen, angstvollen Wunsch, selbst etwas Ähnliches zu sehen und zu erleben. So wurde schicksalhaft schon frühzeitig die angeborene Veranlagung für das Okkulte in mir entwickelt. In jenem Sommer auf Stift Neuburg war zum Fünfuhrtee einmal ein seltsamer Mann anwesend, der meiner Großmutter, die an einseitigen Nervenschmerzen litt, durch Auflegen und Bestreichen mit den Händen die Schmerzen lindern sollte - ein Magne topath also. Dieser Mann machte schon durch sein Äußeres einen unauslöschlichen Eindruck auf mich: er war groß und hager, trug einen langen schwarzen Gehrock, einen hohen Stehkragen mit einer kleinen schwarzen Binde, und seine dunklen Augen hatten etwas Durchbohrendes und doch zugleich Zutrauen Erweckendes. Seine Stimme war leise und eindringlich und löste das Gefühl aus, daß man dem, was er sagte, Glauben schenken mußte. Die finnländische Tante wußte sehr bald das Gespräch auf ihr Lieblingsthema zu lenken, indem sie den Mann fragte, ob er bei seinem Durchgehen durch das Haus etwas wahrgenommen habe, was jenseits dessen liege, was mit den fünf Sinnen wahrnehmbar sei. Er antwortete anfangs zurückhaltend, vermutlich meinetwegen, weil er mich nicht verängstigen wollte, aber als die Tante in ihrer unbekümmerten Weise zu fragen fortfuhr, ob er, wenn er abends über einen Friedhof gehe, es über den noch frischen Gräbern nicht auch wie Nebelschwaden wesen sähe, meinte er, das sei ein ganz natürlicher Vorgang, man könne beobachten, wie der Nebel im Verlauf der Zeit schwächer und schwächer werde, bis die Leiche in dem Grabe ganz zersetzt sei. „Nun aber Schluß mit den abscheulichen Gesprächen“, rief meine Großmutter, ,,auch ich bezweifle nicht, daß die Toten leben, aber was hat das zu tun mit den Leichen in den Gräbern? Der Leib wird wieder zu Erde, aus der er gemacht ist.“ „Eine sehr geheimnisvolle Erde“, bemerkte der Mann mit Ernst und Nachdruck. „Aber an Totensonntagen und Allerseelen, wenn abends auf den Friedhöfen die Lampen im Herbstdunst schwelen, ist die Luft erfüllt von all den Toten, die noch im Zwischenreiche leben und die von den Gedanken und Gebeten für wenige Stunden wieder in die Erdsphäre gezogen werden; da geh ich auf den Friedhof und halte Zwiesprache mit ihnen; den man kann zu den Toten sprechen und ihnen weiterhelfen, sie verstehen jedes ihnen zugesprochene Wort, auch aus dem Munde derer, die sie nicht sehen. Seit jenem Tag, an dem der fremde, wunderliche Mann am Teetisch meiner Großmutter das von dem To tensonntage gesagt hatte, vergingen Jahre, aber die Vorstellung, die er in mir geweckt hatte, blieb haften und ging seitdem untergründig mit mir mit: „An nebelfeuchten Totensonntagen, beim Dunkelwerden, wenn die Lampen auf den Gräbern schwelen, ist die Luft voll von den durch Gedanken und Gebet herbeigezogenen Toten ...“ so waren seine Worte. Die letzten drei Gymnasialjahre von Obersekunda bis Oberprima verbrachte ich in Speyer. Da ging ich jedes Jahr zu Allerheiligen und Allerseelen auf den dortigen Friedhof und verbrachte Stunden bis tief in die Nacht hinein zwischen den schwelenden Lampen innerhalb der Friedhofsmauer, wo die schwarzgekleideten Hinterbliebenen, fast ausschließlich Frauen, an den feuchten Gräbern für ihre verstorbenen Angehörigen Gebete murmelten. Ich spürte wohl, daß etwas um mich her vorging an diesen Abenden, etwas lag in der Luft, das mich beklemmte, anders als sonst, wenn ich den Friedhof abends aufsuchte, um mich darüber zu vergewissern, ob sich auch an den anderen Abenden das gleiche fühlbar mache; aber dem war nicht so. Das Erlebnis des Seelenandrangs blieb auf diese Tage beschränkt, aber auch da kam es bei mir nicht bis zur übersinnlichen Wahrnehmung, von der damals auf Stift Neuburg der fremde hellseherische Mann gesprochen hatte. 84
Die Sommermonate nach meiner Reifeprüfung - ich war achtzehneinhalbjährig - verbrachte ich bei meinem Vater auf Stift Neuburg; meine Großmutter war schon lange gestorben, auch meine Mutter war nicht mehr am Leben. Am 1. Oktober sollte ich in Karlsruhe ant reten, um dort bei den Dragonern mein Einjährig-Freiwilligen-Jahr abzudienen, da gleich anschließend an das Gymnasium der militärische Drill verhältnismäßig noch tragbar schien. Die paar Sommermonate nach dem Maturum gingen hin in seligem Nichtstun: am frühen Nachmittag meist in der Schwimmanstalt, und dann gewohnheitsmäßig in einem Heidelberger Café. Die Sommerferien neigten sich ihrem Ende zu, und ich begann, nicht gerade mit gehobenem Gefühl, mich innerlich schon auf die bevorstehende militärische Dienstzeit einzustellen, so daß ich mißgestimmt zu der gewohnten Stunde das Café betrat. Da überraschte mich der Anblick eines unauffällig gekleideten, gut aussehenden Mädchens, das ganz allein an einem Ecktisch saß. Ich gab ihr etwa zwanzig. Zu jener Ze it - es war im Spätsommer 1898 - lag es so völlig außerhalb des Hergebrachten und des sogenannten „guten Tons“, daß selbst eine verheiratete Frau ohne Begleitung ein Cafe besuchte, und die keineswegs herausfordernde, anmutige Erscheinung weckte meine Neugier. Ich nahm mit der üblichen nichtssagenden Frage, „Sie gestatten?“ an ihrem Tische Platz, ihr gegenüber, und bestellte mir eine Tasse Mokka; sie trank durch einen Strohalm Eiskaffe, ohne aufzusehen, so konnte ich, ohne zudringlich zu erscheinen, sie betrachten: Ein schmales, durchsichtiges Gesicht, unter langen Wimpern graublaue Augen, ein anziehender Mund und über einer mittelhohen Stirn mit leicht vibrierenden Schläfen kastanienbraunes, seidiges Haar, dessen Duft einzuatmen ich ein unwiderstehliches Gelüst empfand. Sie war sensibel, denn sie schien diese Regung bei mir empfunden zu haben: sie zog die Augenbrauen leicht zusammen und schob das Glas mit dem Eiskaffee wie zur Abwehr ein Stückweit von sich in der Richtung auf mich zu, wobei ich einen flüchtigen Blick auf ihre Handlinien tun konnte; die Lebenslinie schien kurz zu sein. Die Hand verriet eine fast übergroße seelische Labilität. Sie bedarf des Schutzes, dachte ich bei mir; so jung sie ist, sie muß schon viel gelitten haben, sie ist hingebend und zerbrechlich. Wieder mußte sie meine Gedanken gespürt haben, denn sie sah mich zum ersten Male durch ihre langen Wimpern hindurch an, dann senkte sie den Kopf und kramte nervös, als suche sie etwas, in ihrer Handtasche, dabei fiel ihr Bleistift heraus und auf den Boden. Ich bückte mich und hob ihn auf. „Darf ich ihn behalten?“ fragte ich. „Ich werde ihn nur dazu benützen, um an Sie zu schreiben.“ Sie mußte lächeln: „Sie wissen ja zum Glück meine Adresse nicht“, gab sie zur Antwort. „Warum zum Glück? Zu meinem Leidwesen; aber Sie werden sie mir noch sagen?“ „Das werde ich nicht tun; zudem habe ich noch gar keine.“ Sie sagte das mit einem Anflug münchnerischen Dialektes. „So sind Sie eben erst hier angekommen?“ ,Ja, heute mittag.“ „Und Ihr Gepäck? Oder haben Sie gar keines?“ „Doch, es befindet sich noch bei der Gepäckabgabe an dem Bahnhof.“ „Und haben Sie denn schon ein Hotelzimmer, oder haben Sie Bekannte in Heidelberg, bei denen Sie absteigen?“ „Ich bin hier völlig fremd, ich war noch nie in Heidelberg.“ „So wird es mir ein Vergnügen sein, Ihnen an die Hand gehen zu dürfen.“ Sie schüttelte lachend den Kopf: „Nein, nein, ich bin gewohnt, mir selbst zu helfen; Sie sind mir zu gefährlich.“ „Zu gefährlich? Ich bin zwar ein Hallodri, aber nur da, wo ich es mit gutem Gewissen sein kann -bei Ihnen liegt alles ganz anders.“ Wieder traf mich ein prüfender Blick, der aber zugleich verriet, daß sie durchaus nicht so überlegen und selbstsicher war, als sie sich den Anschein zu geben suchte. Es lag in diesem Blick etwas Hilfloses, Verwehtes, das sie bemüht schien zu verbergen und hinter dem es wie eine Frage stand: Kann man dir wirklich Zutrauen schenken? „Sie denken wohl, was dieser junge Schnösel altklug daherredet? Aber man kann jung sein und doch Einfühlung haben.“ „Sie studieren wohl in Heidelberg und sind die Sommerferien über hiergeblieben?“ Es wahr eine Ablenkung, wie sie das fragte, aber immerhin: sie wollte etwas über mich erfahren. „Ich stehe gerade vor meinem Einjährig-Freiwilligen-Dienstjahr. Heute in vierzehn Tagen muß ich mich in Karlsruhe bei den Dragonern melden.“ „Ach?“ Sie errötete. Dieses verräterische, unwillkürlich ihr entschlüpfte Ach klang wie Musik in meinen Ohren. Um es zu verwischen, sagte sie: ,,Da werden Sie wohl sehr stolz sein, sich bald in Uniform sehen lassen zu können?“ „Nicht im geringsten, er kotzt mich an, der ganze Schwindel; aber besser jetzt als später, da hat man es hinter sich und kann dann unbehelligt an das Studium gehen.“ „Und was werden Sie studieren? Medizin vielleicht?“ „Nein, am liebsten Literatur- und Kunstgeschichte, aber 85
mein Vater möchte natürlich, daß ich Jurisprudenz studiere und dann die Diplomatenlaufbahn ergreife.“ „Ganz vornehm also, aber wer wird nun den Sieg davontragen: Sie oder Ihr Vater?“ „Ich natürlich, aber vorläufig lasse ich ihn beim Glauben, daß ich seinem Wunsche Folge leisten werde. Nach einem Jahr ist noch immer Zeit, sich darüber auseinanderzusetzen.“ „Jedenfalls wissen Sie, was Sie wollen. Ihr Vater wird einen schweren Stand mit Ihnen haben.“ „Wird er auch, hat er schon von jeher gehabt; aber zuletzt vertragen wir uns immer wieder, denn im Grunde ist er ein ganz patenter Mann, mein Vater.“ „Seien Sie glücklich, daß Sie noch einen Vater haben!“ Es lag eine große Verlassenheit im Ton, in dem sie dieses sagte. „Haben Sie Ihren Vater früh verloren?“ „Ich habe ihn nie gekannt, und meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben.“ Jetzt verstand ich, warum sie gesagt hatte: ich bin gewohnt, mir selbst zu helfen, ich verstand aber jetzt auch, warum ihr Blick spontan den Eindruck des Ans-Leben-ausgeliefert-Seins auf mich gemacht hatte. Ich tastete behutsam vor mit meiner Frage: „Sie hatten sicherlich Verwandte, die sich Ihrer annahmen?“ „Meine Großmutter. Sie war sehr gut zu mir; aber sie starb vor einem halben Jahre. Nun muß ich eben zusehn, wie ich weiterkomme.“ „Sie sprechen mit einem unverkennbaren münchnerischen Anflug - ich gehe wohl mit der Annahme nicht fehl, daß Sie aus München sind?“ „Ich war zuletzt in München, aber erst seit dem Tode meiner Großmutter, aufgewachsen bin ich in Prien am Chiemsee, meine Großmutter hatte dort ein Spezereigeschäft. Ich habe ihr dabei geholfen. Nach ihrem Tode habe ich es gleich verkauft; es war nicht viel, aber bis ich wieder eine Beschäftigung gefunden habe, wird es schon reichen.“ „So, waren Sie inzwischen schon beruflich tätig?“ „Ja, in München, als Sprechstundenhilfe bei einem Zahnarzt, aber es war nicht mit ihm auszukommen.“ „Wieso? War er zu grob und bajuwarisch?“ ,,Im Gegenteil: zu aufsässig. Ich habe von einer Stunde auf die andere die Stellung aufgegeben. Doch wo ich mich in München auch vorstellte, ich habe gleich schon bei der Vorstellung die nämlichen Erfahrungen gemacht. Da bin ich kurz entschlossen abgefahren, und jetzt bin ich in Heidelberg.“ „Und was hat Sie veranlaßt, sich für eine neue Tätigkeit gerade Heidelberg auszusuchen? Der Studenten wegen etwa?“ Kaum war sie mir herausgefahren, so bereute ich die schnodderige Frage, denn ihr eben noch geöffnetes, fast hingebendes Gesicht schloß sich nach innen zu, und sie wiederholte, indem sie ihre Handtasche zumachte, nachdem sie den Bleistift an sich genommen hatte und sich anschickte, aufzubrechen, meine vorhin zu ihr gesprochenen Worte: „Man kann jung sein und doch Einfühlung haben, nicht wahr, Herr Einjähriger?“ „Bitte, bitte, nicht fortgehen?“ Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Ich weiß, ich bin ein abgeschmackter Lausbub, aber wenn ich von etwas angerührt bin, muß ich immer das Gegenteil von dem sagen was ich wirklich fühle.“ „Damit werden Sie sich im Leben aber wenig Freunde machen, fürchte ich.“ „Ist mir auch gleichgültig - nur bitte: nicht böse sein! Ich will mir Mühe geben, mich zu bessern.“ Sie mußte wieder lächeln, es war ein überlegenes, fast mütterliches Lächeln, das mich beschämte, aber zugleich auch meinen männlich-jugendlichen Stolz aufrief: „Ich kann den Gedanken nicht ertragen, Sie allein in Heidelberg zu wissen, wo Sie doch nur wieder allen möglichen Zudringlichkeiten ausgesetzt sind, während ich in Karlsruhe Pferde putze!“ Nun mußte sie hell auflachen: „So sind die Männer von achtzehn bis fünfzig alle: sie wollen einen vor den anderen beschützen, nur um selber Hahn im Korb zu sein, und das komischste dabei ist, daß sie selbst an ihre Ehrbarkeit und Uneigennützigkeit fest glauben.“ „Mag sein, aber es gibt auch Ausnahmen.“ „Ich weiß, ein jeder sagt: bei mir ist alles das ganz anders ... die Ausnahmen, das sind die Allerschlimmsten.“ „Sie müssen bittere Erfahrungen gemacht haben in dem halben Jahr in München, daß sie die Männer so in Bausch und Bogen aburteilen.“ „Habe ich auch. Aber ich denke an das Schicksal meiner Mutter.“ „So kann man aber doch nicht verallgemeinern.“ „Vielleicht doch. Sie wissen: gebrannte Kinder ...“ „Und in Prien haben Sie Ihrer Großmutter im Geschäft geholfen?“ „Ja, ich habe auch den Garten besorgt; wir hatten einen ziemlich ansehnlichen Garten mit sehr schönen Blumen. Von Kind an waren Blumen meine größte Freude. Ich konnte stundenlang zwischen den Beeten sitzen und die Blumen ansehen. Die Leute meinen, Blumen einer Art wären immer ganz die gleichen, das ist aber nur, weil sie zu gleichgültig oder zu gefühllos sind, zu merken, daß jede Blume ein ganz eigenes Wesen ist und sich von den anderen ihrer Art genau so unterscheidet, wie sich die Menschen voneinander unterscheiden, nur auf eine viel intimere, diskretere Weise ... Aber was rede ich Ihnen da für ungereimtes Zeug vor!“ unterbrach sie sich, „Sie 86
werden mich auslachen.“ „Sie auslachen? Sie sollen mir mehr davon erzählen. Ich habe noch nie so von Blumen sprechen hören.“ „Meine Liebe zu den Blumen kommt wohl daher, daß ich außer meiner Großmutter, die doch schon alt war, niemand hatte, zu dem ich mich aussprechen konnte. Da mußten denn die Blumen herhalten.“ „Und Ihre Mitschülerinnen?“ „Ich ging ja doch nur auf die Ortsschule, da waren keine Mädchen, mit denen ich mich hätte anfreunden können. Aber ich hatte eine sehr gute und liebe Lehrerin, die literarisch interessiert war und für ihre Verhältnisse eine recht stattliche Bibliothek besaß, und weil sie wußte, daß ich leidenschaftlich gerne las und mit den Büchern sorgfältig umging, durfte ich mir immer Bücher bei ihr ausleihen; auch nach der Schulzeit, so habe ich unter ihrer Anleitung außer den Dramen Schillers auch ganz viele neuere Schriftsteller kennengelernt und immer tief bis in die Nacht hinein gelesen, den Tag über hatte ich des Geschäftes und des Gartens wegen außer an Sonntagen nur wenig Zeit übrig.“ „Und was waren das für neuere Schriftsteller, die Sie gelesen haben?“ „Peter Rosegger, Richard Voß, Rudolf Stratz, Ludwig Ganghofer ...“ „Die beiden letzteren hätten sich erübrigt. In den Ganghofer habe ich allerdings nur einmal hineingesehen und das Buch gleich wieder zugeklappt. Ich kenne von ihm nur seine Schnadahüpferl: Meine Dodl is gstorben, Und was hat mer's vermacht: Den Sonnschein bei Tag Und den Mondschein bei der Nach ... dadijö!" „Vielmehr war’s bei mir auch nicht“, meinte sie lachend „da hat der Ganghofer doch recht gehabt. Aber ich habe auch Sudermann gelesen, den ‚Katzensteg’ und ,Es war’. „Das ist schon besser - aber wir werden später ganz andere Bücher zusammen lesen.“ Sie sah mich erstaunt und fragend an, um sich dann schweigend in ihr leeres Glas Eiskaffee zu vertiefen. Es entstand eine Pause. „Sie wollten mir doch von Ihren Blumen noch etwas erzählen.“ „Das interessiert Sie doch nicht wirklich, Sie sagen das ja nur, um jetzt etwas zu sagen ...“ „Nein, wirklich nicht: Ihre - wie soll ich’s nennen - : Ihre seelische Verbundenheit mit den Blumen ist etwas, was mich noch lang beschäftigen wird. Ich glaube, hier liegt der Schlüssel zu Ihrem ganzen Wesen.“ „Den Schlüssel habe ich selbst noch nicht gefunden, ich glaube, ich habe ihn bereits als Kind verloren ...“ „In einem Blumenbeet - vielleicht läßt er sich bei gemeinschaftlichem Suchen finden. Haben Sie für bestimmte Blumen eine besondere Vorliebe?“ „Ja, für Schwertlilien und Kaiserkronen.“ „Sehen Sie, da kommen wir Ihrem Wesen schon ein Stück näher. Übrigens gehören beide auch zu meinen Lieblingsblumen, und dann auch Dahlien; sie müssen aber in weit läufigen Beeten angelegt sein.“ „Dahlien sind neben den Astern die eigentlichen Totenblumen, finden Sie nicht auch? An Allerheiligen und Allerseelen ist man immer gekommen, bei uns Dahlien holen, um die Gräber zu schmücken, auch aus den Nachbarorten. Da sind die Dahlien immer traurig.“ „Wieso traurig?“ „Sie spüren, was um sie herum vorgeht.“ „Was spüren sie?“ „Nun: eben die Toten. Alle Blumen sind traurig an Totensonntagen, auch die Zimmerblumen. Sie müssen nur einmal an Allerseelen auf den Friedhof gehen, da werden Sie verstehen, was ich meine.“ „Ich bin an Totensonntagen oft auf dem Friedhof gewesen, doch das mit den Blumen ist mir nie zum Bewußtsein gekommen. Aber abends, nach Anbruch der Dunkelheit, wenn die Lampen auf den Gräbern brennen, besonders an Nebelabenden, haben Sie da auch das Gefühl gehabt, daß die Toten da sind?“ „Ja, ganz deutlich, es ist, als lege sich etwas auf einen, aber etwas, das doch ganz gewichtlos ist, es läßt sich gar nicht recht beschreiben.“ „Und haben Sie dabei auch schon einmal etwas gesehen, ich meine etwas, das sich bis zur Sichtbarkeit verdichtet hat?“ „Nein, niemals. Dazu muß man schon hellsichtig sein. Aber wir hatten, als ich noch Kind war, eine Frau im Orte, die hellsehend war. Sie ist schon Vorjahren gestorben. Sie kam öfters zu meiner Großmutter, und sie erzählte ihr dann immer, was die Toten zur ihr gesprochen hatten, aber es waren lauter alltägliche Dinge. Die Toten wissen auch nicht mehr als wir, wenigstens nicht, solang sie noch im Fegefeuer sind, und nachher kommen sie ja auch nicht mehr.“ „Hat das die hellseherische Frau gesagt?“ „Ja, so etwa. Sie hat die Toten auch gefragt - ich war dabei, wie sie es meiner Großmutter erzählte, wie es im Jenseits sei, aber sie bekam von allen stets die gleiche 87
Antwort: darüber dürften sie nichts sagen, nur am Anfang, gleich nachdem sie gestorben seien, sei es ganz dunkel um sie her gewesen, und erst allmählich sei es dann heller geworden.“ Ich war im Innersten berührt von diesem Gespräch. Wie lange war das doch schon her, daß ich als Kind bei meiner Großmutter auf Stift Neuburg ganz Ähnliches hatte sprechen hören. Ich sah meine finnländische Tante wieder deutlich vor mir und erinnerte mich wieder der Worte des fremden, wunderlichen Mannes, die sich mir tief eingeprägt hatten: „An nebelhaften Totensonntagen beim Dunkelwerden, wenn die Lampen auf den Gräbern schwelen, ist die Luft voll von den durch Gedanken und Gebet herbeigezogenen Toten“ ... Und nun saß dieses eigentümliche, mich seltsam ansprechende Mädchen, das erst vor ein paar Stunden aus München angekommen war und das ich wie durch Zufall kennengelernt hatte, mir im Café Haeberlein in der Heidelberger Anlage gegenüber und erzählte mir von einem Erlebnis, das sie als Kind gehabt hatte, so unheimlich ähnlich meinem eigenen, ein so ausgefallenes Erlebnis, wie es wohl nur ganz wenige gehabt haben, daß ich bei diesem Zueinanderfinden nicht an einen bloßen Zufall glauben konnte. Ihr das aber zu sagen, schien mir zu voreilig, sie hätte es mir vermutlich doch nicht geglaubt; ich fürchtete, ihr sich allmählich festigendes Vertrauen werde dadurch neuerdings erschüttert. „Wollen wir nicht noch ein Eis essen - das Eis ist ganz besonders gut hier.“ Es war mir weniger ums Eis zu tun als darum, irgend etwas zu sagen. „Ich glaube, es wird doch allmählich Zeit, daß ich mich nach einem Unterkommen umtue und dann mein Gepäck vom Bahnhof dahinbringen lasse.“ „Schräg gegenüber ist eine sehr gute und nicht übermäßig teure Pension. Es wohnen immer viele Engländer dort. In Heidelberg wimmelt es nämlich von Engländern. Es gibt sogar eine English Church hier. In dieser Pension wären Sie, glaube ich, sehr gut untergebracht.“ „Wenn Sie meinen, so kann ich sie mir ja einmal ansehen.“ „Unbedenklich! Eine alte englische Tante von mir hat fast zwei Jahre dort gewohnt.“ Sie lachte: „Sie wollen mich wohl bei lauter alten Tanten einlogieren?“ „Nein, nein, so heimtückisch hab' ich es nicht vor. Vor einiger Zeit wohnte dort sogar eine junge, sehr aparte Frau, nicht mehr als dreißig, mit völlig weißen Haaren; sie sah hinreißend aus.“ „So lang wird meines Bleibens hoffentlich dort nicht sein, bis ich weiße Haare bekomme. Ich will es also einmal dort versuchen.“ - Ich winkte die Kellnerin her zum Zahlen. Kellnerbedienung gab es damals nur in den ersten Hotels. Beim Zahlen beobachtete ich mein Gegenüber unauffällig. Aus der Art, wie jemand zahlt, ist sein ganzer Charakter ersichtlich: Es gibt großspurige und geizige Zahler, verschwenderische, kleinspießige, umständliche, argwöhnische, wiederholt nachzählende, indifferente, schlampige und selbstverständliche Zahler. Sie zahlte richtig. Wir brachen auf. Es waren keine hundert Schritte bis zur Pension, in der ich sie gerne untergebracht gesehen hätte, denn ich wußte sie dort gut aufgehoben. „Mittagstisch gibt es, soviel ich weiß, in der Pension nicht, Sie müssen auswärts essen, aber abends kann man sich Tee und kalten Aufschnitt auf sein Zimmer kommen lassen“, orientierte ich sie auf dem Weg hinüber. „Das wissen Sie wohl noch vo n Ihrer alten englischen Tante?“ meinte sie. „Von niemand anderem; sie hat mich sogar einmal zum kalten Aufschnitt eingeladen.“ „Eine gütige Tante!“ „Ich konnte sie nicht ausstehen.“ Wir standen vor dem Hause. „Die Pension ist im ersten und zweiten Stock. Ich werde auf der Bank da vorne auf Sie warten. Wir gehen dann zusammen auf den Bahnhof. Hoffentlich ist nicht alles besetzt in der Pension, sie ist sehr frequentie rt.“ „Ich bin gleich wieder da.“ Ich sah ihr nach, wie sie den Hausflur entlang ging. Die Bank, auf der ich damals saß und auf sie wartete, steht noch immer auf demselben Platz in der Anlage, die Pension existiert me ines Wissens heute nicht mehr. - Was war es nur an diesem Mädchen, was mich vom ersten Augenblick an so zu ihr hinzog, daß mir der Gedanke, in vierzehn Tagen ganz von ihr getrennt zu sein, nicht ausdenkbar schie n? Sie war durchaus nicht das, was man im landläufigen Sinne hübsch nennt, doch sie hatte eine eigene Art von Anmut, etwas Insichgekehrtes und doch zugleich etwas Verführerisches, dessen sie sich aber anscheinend nicht bewußt war; das grade war an ihr das Reizvolle, dieses Ineinanderspiel von Sichausgeben und Zurückhaltung. Und dann: sie war von bestem Stoff, was dafür sprach, daß die Wiege ihres Vaters, der das Schicksal ihrer Mutter geworden war, wohl kaum in Prien gestanden hatte. - Und zu allem das seltsame Ineinandergreifen des gemeinsamen Erlebens mit dem Totensonntag ...
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Ich war mit meinen Gedanken so beschäftigt, daß ich ihr Wiederkommen erst bemerkte, als sie vor mir stand. „Alles in Ordnung“, sagte sie, „ich habe ein kleines, aber reizendes Zimmer bekommen, allerdings mit dem Blick nach rückwärts auf den Garten und den Berg dahinter.“ „Das ist besser als nach vorne auf die Anlage, denn rückwärts haben Sie Sonne, die Front nach der Anlage zu ist Nordseite.“ „Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir jetzt das Gepäck am Bahnhof holen.“ Daß das mit der Pension so gut geklappt hatte, schien ihr Vertrauen zu mir gefestigt zu haben. Wir gingen an den Bahnhof. In dem Heidelberg von damals mit seinen kaum 30 000 Einwohnern waren die Entfernungen noch sehr bescheidene; sie sind auch heute noch nicht überwältigend. Das Gepäck: ein ledernes Handköfferchen, ein mittelgroßer Koffer und ein blauer Wintermantel, wurden von einem untersetzten Dienstmann mit einer dicken, roten Säufernase in die Pension gebracht. „Ich schlage vor, daß wir, nachdem Sie sich vergewissert haben, daß Ihre Sachen in der Pension auf Ihrem Zimmer sind, uns erst einmal in der Stadt umsehen, damit Sie sie schon etwas kennenlernen, und dann in den Stadtgarten zusammen abendessen gehen. Man sitzt im Freien und das Essen ist dort recht anständig. Von 8 Uhr an spielt die Stadtkapelle. Mehr hat Heidelberg, außer dem Theater im Winterhalbjahr, nicht zu bieten. Das Studentenleben spielt sich in den Korpshäusern und Stammkneipen ab und hat seinen romantischen Nimbus nur für die Engländer und Fremden.“ „Aber das Schloß und die Umgebung.“ „Ja, das Neckartal, das hat schon seinen großen Zauber, aber alles ist doch nur schön, wenn man nicht allein ist.“ Sie sah, wie sie neben mir herging, mich von der Seite an. Ich fühlte, daß ich an etwas gerührt hatte, das sie von Kindheit an als letzte Not mit sich herumtrug. Es klang fast wie ein Vorwurf, wie sie sagte: „Sie wissen ja doch gar nicht, was Alleinsein ist. Sie haben ein Elternhaus, wahrscheinlich auch Geschwister, und sind in gesicherten äußeren Verhältnissen groß geworden.“ „Als gäbe das den Ausschlag! Zudem habe ich keine Geschwister, hatte nie welche, meine Mutter, die mich von frühauf nicht verstand, starb, als ich fünfzehnjährig war, und von meinem Vater sagte ich Ihnen schon, daß wir zwei zu verschiedene Naturen sind, als daß ich mich bei ihm wirklich zu Hause fühlen könnte.“ „Aber Sie haben sicher Freunde?“ „Kameraden. Doch das Alleinsein kommt nicht bloß vom Nicht verstandenwerden her, das letzte Alleinsein liegt tief in uns selber ... Vielleicht kann es die Liebe bannen, doch auch nur zeitweise, glaube ich.“ Es schien, als wolle sie etwas erwidern, doch sie fand das Wort nicht. Es ist nichts schwerer als das Wort zu finden. Und hinter dem Wort liegt noch die Stimme. - So gingen wir schweigend nebeneinander her bis zur Pension, wo der Dienstmann mit den Koffern vor der Haustüre bereits wartete. Sie ging voraus hinein, er drehte sich hinter ihr um und zwinkerte. Es dauerte kaum zwei Minuten, da kam er wieder, lüftete die verschwitzte Dienstmannsmütze und meldete: die Dame lasse sagen, sie käme gleich, sie wolle sich nur rasch umziehen. „Das ist etwas ganz Vornehmes“, meinte er, „zwei Mark ha t sie mir für den Gang gegeben“, und trottete wieder die Anlage hinunter dem Bahnhof zu. - Sich umziehen, das kann ja eine Zeitlang dauern, dachte ich, aber etwas Eitelkeit ist gut, Frauen ganz ohne Eitelkeit vernachlässigen sich zu Hause, und nichts ist widerwärtiger als diese Sorte. - Ich ging vor der Pension in der Anlage auf und ab und dachte an die Zeit, wo ich als Obertertianer und Untersekundaner mit der Schulmappe hier auf und ab gehend auf Ottilie gewartet hatte, bis sie aus der Töchterschule um die Ecke der Märzgasse bog - das waren drei, vier Jahre her, und eine Strophe fiel mir ein, die ich damals auf sie geschrieben hatte, eine sentimentale, jugendliche Strophe: Und dann dein Mund! Wie gerne ich ihn küßte, Ottilie! Aber das wird niemals sein. Wenn ich dich in die Arme nahm, ich wüßte: Du würdest dich ja doch daraus befrein. Ich fühle wohl: Mein Schicksal ist: verzichten. So ging es mir schon immer, schon als Kind. Vielleicht bin ich nur ausersehn, zu dichten, Was andre leben, wenn sie glücklich sind.
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Als Obersekundaner kam ich dann nach Speyer. Wie weit lag das zurück: Ottilie und alle die schmerzseligen Gedichte, die ich längst verbrannt hatte, kaum eines hat die Jahre überdauert, nur eine und die andere verflogene Strophe war mir im Ohre nachgeblieben ... Und nun ging ich hier wieder auf und ab, hier auf derselben Stelle, und wartete mit Ungeduld auf ein vor wenigen Stunden erst aus München hergewehtes Mädchen, von dem ich nicht einmal den Namen wußte. Der Koffer war nur mit den Anfangsbuchstaben L. F. gezeichnet. Beim Mittagessen hatte ich noch nicht einmal von ihrer Existenz gewußt, und jetzt, nach einem kurzen Spätnachmittag, war sie mir schon unentbehrlich ... War ich nicht im Begriffe, eine große Torheit zu begehen, wenn ich sie an mich bände, ich mit meinen achtzehneinhalb Jahren, der selber seine ersten Schr itte in das Leben tat? Würde ich ihr nicht ebenso zum Schicksal werden, wie ihr Vater, den sie nie gekannt hatte, es ihrer Mutter geworden war? - Warum aber das gemeinsame Kindheitserlebnis mit dem Totensonntag? Lag nicht in diesem scheinbar zufälligen Sich- in-der-leeren-Luft-Begegnen irgendein Sinn, den es zu erschließen und erfüllen galt, mochte daraus werden, was dem wolle? Gewiß: sie hatte keine höhere Schulbildung, aber die ließe sich nachholen, dafür besaß sie mehr wahre Herzensbildung als meine sämtlichen englischen und Frankfurter Tanten. Und hatte nicht auch Heine eine Putzmacherin geheiratet, und D. G. Rossetti und schließlich auch Goethe? Dabei dachte ich nicht im entferntesten ans Heiraten. Bei Heirat hatte ich die Vorstellung eines Abschlusses, nicht eines Anfangs. Ich aber stand damals vor meiner ersten Ausfahrt ... „Habe ich lange auf mich warten lassen?“ fragte sie, zu mir tretend. „Ich glaube nicht - ich war soeben ganz woanders und doch sehr bei Ihnen. Jedenfalls hat das Warten sich gelohnt: Sie sehen entzückend aus. Das Medaillon an Ihrer Halskette ist sehr apart. Es scheint recht alt zu sein.“ „Von meiner Großmutter. Sie bekam es von ihrer Patin bei der Firmung. Die hatte es auch schon geerbt, wie meine Großmutter mir erzählte.“ „Wenn es Ihnen recht ist, machen wir jetzt einen Gang durch Heidelberg. Bis dahin is t es grade Zeit zum Abendessen.“ „Aber wird ihr Vater Sie nicht zum Abendessen erwarten?“ „Er ist’s gewohnt, daß ich gelegentlich erst später komme. Ich habe hier noch einen früheren Konpennäler wohnen. Er war zwei Klassen über mir und geht jetzt ins fünfte Semester. Ein echter Saufaus, rund wie ein Faß. Ich nenne ihn meinen Falstaff. Abends bin ich oft mit ihm zusammen. Mein Vater hat den Ärmsten auf der Latte, weil er befürchtet, er verführe mich zum Saufen. Doch zu Unrecht. In dieser Hinsicht bin ich am wenigsten gefährdet. Ich mache mir gar nichts aus dem Trinken. Von den drei Verführungen: Wein, Weib und Gesang, kann ich den Wein am leichtesten entbehren. Aber den Falstaff mit seinem unfreiwilligen Humor genieße ich ein Urviech, wie man in München sagt; Sie werden ihn ja jedenfalls noch kennenlernen.“ „Was haben Sie sonst noch vor mit mir?“ „Seien Sie ganz unbesorgt: ich würde Sie nicht mit ihm zusammenbringen, wenn es gefährlich wäre. Er ist fürs andere Geschlecht völlig immun. In diesem Punkt ist er scheinbar zu kurz gekommen. Dafür hat er ein Bierherz.“ „Und ist Ihr Falstaff Ihr einziger Umgang in Heidelberg?“ „Zur Zeit: ja. Vielleicht erinnern Sie sich noch, was ich von dem Alleinsein sagte.“ „Sehr gut. Doch liegt das nicht an Ihnen selber?“ „Sicher. Nur ist damit noch nichts geändert. - Sehen Sie, da sind wir schon an der Peterskirche jetzt kommt dann gleich der Universitätsplatz mit der Universität. Hier ist sie schon.“ „Und hier werden Sie also später nach Ihrem Einjahrig-Freiwilligen-Jahr studieren?“ „Keinesfalls. Es würde auf die Dauer nur zu Differenzen mit meinem Vater führen, und wozu das? Und außerdem ist Heidelberg mir zu bekannt und auch zu klein und zu ausschließlich universitätsbetont. Die ganze Vielfalt des Lebens und alles was an Werdendem jetzt in der Luft liegt, findet man nur in der Großstadt. Wenn ich mein Einjahrig-Freiwilligen-Jahr hinter mir habe, gehe ich dahin, woher Sie kommen.“ „Nach München?“ „Ja, nach München.“ Sie sah vor sich hin. „Sehen Sie: das hier ist die Hauptstraße, die längslang durch die Stadt führt von einem Ende bis ans andere. Gehen wir sie einmal ein Stück hinunter in der Richtung auf das Karlstor zu, da kommen wir am Kornmarkt und der HeiligenGeist-Kirche vorbei zum Haus, wo ich von meinem sechsten bis neunten Jahre gewohnt habe.“ „Und wo wohnen Sie jetzt?“ „Auf einem Landsitz, eine kleine halbe Stunde neckaraufwärts.“ „Die Hauptstraße ist aber eng und langweilig“, meinte sie. „So ist ganz Heidelberg. Heidelberg ist eine Frühling- und Sommerstadt und ihr Reiz liegt in der sie umgebenden Landschaft. Der allerdings ist unbeschreiblich. Sie werden ja bald damit bekannt werden.“ Der Schloßberg mit der Schloßruine 90
rückte immer näher an die Stadt heran. Die Hauptstraße führt dicht darunter her. Wir standen vor einem großen, herrschaftlichen Hause aus der Louis-seize- Zeit mit je einem rechts und links vorspringenden niedrigen Seitenflügel und einem rechteckigen, gepflegten kleinen Vorgarten mit Springbrunnen. Es gehörte dama ls einem Prinzen von Weimar. „Hier im Stockwerk zu ebener Erde haben wir gewohnt und im Stockwerk darüber während der Wintermonate meine Großmutter bis zu ihrem Tode. Dann übernahm mein Vater den benachbarten Landsitz, von dem ich Ihnen vorhin sagte, und wir gaben den Heidelberger Wohnsitz auf. Nach der anderen Seite hat das Haus einen großen Garten mit einer weitläufigen Terrasse grade über dem Neckar.“ „Wie schön Sie es als Kind gehabt haben ...“ „Als Kind allein in diesem großen Hause.“ Sie sah mich schweigend an. In diesem Augenblick kam grade die Trambahn und hielt; es war hier Haltestelle. „Lassen Sie uns einsteigen. Wir fahren dann die ganze Hauptstraße zurück hinunter bis zum Bahnhof. Da sind wir gleich beim Stadtgarten.“ Am Bismarckplatz, der letzten Haltestelle vor dem Bahnhof, stie gen wir aus. „Jetzt gehen wir erst noch das kurze Stück bis vor zur Neuen Brücke. Da haben wir das ganze Stadtbild mit dem alles beherrschenden Schloß darüber und den Neckar mit der Alten Brücke zwischen den bewaldeten Bergen vor uns.“ Wir gingen auf der Neuen Brücke etwa bis zur Mitte. Ein langstämmiges Floß glitt zwischen Kähnen grade unter den mittleren Brückenbogen. Ich deutete in die Richtung auf die am Fluß entlang gezogene Stadt: „Das ist das alterslose Heidelberg, die ewige Geliebte, aber man heiratet sie nicht.“ - Ihre benachbarte Hand auf dem Brückengeländer zuckte. „Nein, man heiratet sie nicht, aber man hält ihr die Treue.“ Der Stadtgarten war stark besucht, teils von älteren englischen Missis, teils von besseren Geschäftsleuten, die diesen warmen Spätsommerabend noch einmal nutzen wollten, um im Freien zu sitzen. Die ganze Stadtgartenanlage bestand aus nichts als einer großen Rasenfläche mit Springbrunnen, um die ein kiesbestreuter Promenierweg rundherum lief, und dahinter das Speiseetablissement mit runden, weißen Tischen neben einem mittelgroßen, einstöckigen Restaurationsgebäude und seitlich davon einer überdachten Tribüne für die Kapelle. Alle Tische waren schon besetzt. Wir ginge n Platz suchend durch die Tischreihen - da, ganz hinten bei mangelnder Beleuchtung ein Tisch mit nur einem einzelnen Herrn, wir strebten darauf zu: da saß vor einem Maßkrug mein Falstaff, vor sich einen Teller mit Bierrettichen, mit dene n er sich grade beschäftigte. „Da sitzt er schon, mein Falstaff“, sagte ich leise. „Das wußten Sie doch schon vorher, daß Sie ihn hier treffen würden ...“ „Weiß Gott nicht. Er kommt sonst nie hierher. Es ist ihm viel zu vornehm hier. Wie mißtrauisch Sie mir gegenüber sind - noch immer!“ „Hallo!“ rief ich, „Falstaff, was machst denn du hier?“ Er schaute auf und machte eine hilflose Bewegung, als er mich in Begleitung einer Dame sah. „Ist es erlaubt, um dich herum Platz zu nehmen?“ fragte ich, durch seine Verlegenheit belustigt. Er erhob sich und nannte mit einer Tanzstundenverbeugung seinen Namen. ,,Lilly F….ger“, sagte sie, ihm die Hand reichend. So erfuhr ich auch beiläufig ihren Namen. Lilly, dachte ich bei mir, warum den nicht scho n gleich Fridricke oder Lotte? - Lilly: ich hätte keinen glücklicheren Namen für sie finden können. Wie beglückend, daß sie Lilly heißt! Lilly - Lilly. - Ich muß ihn halblaut vor mich hin gedacht haben, ihren Namen, denn sie sah mich an, und ich hatte das Gefühl, als ob sie leicht errötet wäre. Wir setzten uns. Mein Falstaff zog seinen Maßkrug und seine Bierrettiche, die inzwischen gezogen hatten, näher zu sich heran. „Du trinkst wohl wieder deinen Schorle?“ meinte er verächtlich. „Nein, heute mache ich eine Ausnahme, heute trinken wir eine Ananasbowle, sind Sie einverstanden?“ Sie war es. Die Kellnerin brachte die Speisekarte. Auch beim Wählen von der Speisekarte lassen sich psychologische Beobachtungen machen und Schlüsse ziehen; dabei ist nicht das Was, sondern das Wie Aufschluß gebend. Sie bestand auch hierbei. Eine richtige Unterhaltung wollte nicht in Gang kommen: Falstaff war gehemmt, und Lilly - jetzt wußte ich ja ihren Namen -, Lilly schien verstimmt, und auch ich hätte an diesem Abend die Gesellschaft Falstaffs missen können. Es mußte etwas geschehen, um die Stimmung zu retten. „Ich möchte Sie übrigens darauf aufmerksam machen, daß Sie den Vorzug haben, mit einem Dichter an einem Tisch zu sitzen“, wandte ich mich zu Lilly. Nach allem, was ich ihr vor ein paar Stunden von Falstaff erzählt hatte, wußte sie nicht recht, ob es Spaß oder Ernst sei, und wurde nunmehr ihrerseits verlegen. „Nein, wirklich“, beteuerte ich, ,,Falstaff ist ein Dichter.“ „Ich heiße Gustav Bühler und 91
nicht Falstaff“, bemerkte er ingrimmig. „Und glauben Sie den Unsinn nicht, gnädiges Fräulein, er will nur geistreich erscheinen. “ „Hast du nicht die unsterblichen Verse ,Isolde’ geschrieben?“ - Ich fing an zu deklamieren: „Ach, nur um zu wachen, ruh ich an deiner Brust! Ach, nur um zu lachen, wein ich aus innerer Lust! Ach, nur daß ich vergebe, schwöre ich dir den Tod! Ach, nur daß ich lebe, glüht mir das Morgenrot!“ „Sagen Sie selbst, ist das nicht ans Herz greifend: Ach, nur daß ich vergebe, schwöre ich dir den Tod!“ Falstaff kochte innerlich. Am liebsten hätte er mich zwei Ganze saufen lassen. „Wer hat nicht schon einmal Verse gemacht in einer heimlichen Stunde?“ meinte er, an sich haltend, „es ist nur recht geschmacklos von dir, sie hier abzuleiern.“ Ich lachte herzlich: „Geliebter Falstaff, sie sind ja gar nicht so schlecht, daß du dich ihrer zu schämen brauchst, die meisten von Martin Greif und Carl Busse sind auch nicht besser.“ „Was gehen mich die Verse von Martin Greif und Carl Busse an? Aber wenn man dazu verurteilt ist, mit dir umgehen zu müssen, so liegt die Versuchung auf der hand, auch selbst einmal den Pegasus zu reiten.“ „Sie dichten? Davon haben Sie mir ja noch gar nichts gesagt.“ Es klang fast vorwurfsvoll. „Das ist ja doch auch ganz unwichtig.“ „Kein Wunder, daß er es Ihnen verschwiegen hat, wenn man Gedichte macht wie das da: Henkersnacht des Raimont Bravemort Und soll mit Morgengraun mein Blut Dem Henkerbeil fließen, So laßt mich diese letzte Nacht, Wie ich so manche schon verbracht, Des Lebens Lust genießen! Und schafft mir Wein und Dirnen her Und tut, was ich befohlen! Es stirbt ein jeder, wie er mag, Und rötet sich der neue Tag, Soll mich der Teufel holen. Auf Pfaff und Spruch und Sakrament Hat billig er verzichtet; Noch einmal war das Leben sein, Die Lippen heiß von Kuß und Wein, Um vier Uhr trat der Wärter ein, Um fünf ward er gerichtet.“
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Es lag eine wilde, rachedurstige Genugtuung darin, wie er das Gedicht in seinem Baß hervordröhnte und mich triumphierend dabei ansah. „Und dieses lasterhafte Erzeugnis hat er bereits als Primaner verbrochen.“ „Und du warst davon so begeistert, daß du es gleich auswendig gelernt hast.“ „Das ist etwas ganz anderes, als es gemacht zu haben.“ „Da sehen Sie den Sophisten! Aber ich werde, um ihm diese Stunde in die Seele zu brennen, seine süße Isolde-Weis in meinen ersten Gedichtband mit aufnehmen, damit er Gelegenheit hat, sich wenigstens einmal in seinem Leben gedruckt zu lesen.“ (Ich habe Wort gehalten. In späteren Auflagen habe ich es weggelassen.) - Lilly wußte nicht recht, was sie aus all dem machen sollte, sie befürchtete scheinbar, daß wir ernsthaft aneinandergeraten würden. „Das ist unser gewöhnlicher Verkehrston, Sie dürfen sich daran nicht stoßen.“ Sie lachte verlegen, aber ich spürte, Falstaff hatte sie durch das Hersagen dieser lästerlichen Jugendballade mir ge genüber wieder unsicher gemacht. Es war inzwischen so dunkel geworden, daß ich unbemerkt ihre Hand greifen und sie eine Augenblick lang in der meinen halten konnte. „Haben Sie auch Gedichte anderer Art gemacht als das soeben vorgetragene?“ fragte sie. Sie wollte hören, daß ich nicht so verworfen sei, wie die Ballade mich erscheinen ließ. Falstaff, der bemerkt hatte, daß er etwas angerichtet habe, begann, um das Versiebte wiedergutzumachen, in allen Tonarten mein dichterisches Lob zu singen, so daß ich hell auflachte. Er ließ sich aber nicht beirren. „Lassen Sie sich einmal von ihm ein paar Hefte der von Karl Emil Franzos herausgegebenen Zeitschrift ,Dichtung’ geben. Da können Sie fast in jedem Heft der letzten anderthalb Jahre Gedichte von ihm lesen.“ „Man sollte beinahe glauben, du seiest heute um 8 Uhr abends schon betrunken...“ In diesem Augenblick eröffnete die Kapelle das Abendkonzert mit der Ouvertüre der Oper „Martha“. „Sie kennen das doch jedenfalls: ,Martha, Martha, du entschwandest’, so etwa sind auch die Gedichte, lauter abgestandenes, triviales Zeug. Sie werden die Hefte ganz bestimmt von mir nicht in die Hand bekommen.“ Ich verwünschte im stillen bei mit den Gedanken, sie in den Stadtgarten geführt zu haben. „Aber Sie werden mir doch einmal Gedichte von sich lesen?“ fragte sie, fast verschüchtert. „Wenn es durchaus sein muss ...“ Die Kellnerin brachte die Ananasbowle. Wir stießen an. Falstaff tat Bescheid aus seinem Maßkrug. Die Unterhaltung hatte sich endgültig im Sand verlaufen. Und der Nachmittag hatte doch so verheißungsvoll und schön begonnen. Nur gut, daß die Kapelle spielte. Sie fröstelte. „Sie hätten Ihren Mantel mitnehmen sollen; die Abende fangen schon an, kühl zu werden.“ „Ach, das ist bloß vorübergehend.“ Falstaff empfand, daß seine Gege nwart nur störe. Er winkte der Kellnerin und zahlte. Wir möchten entschuldigen, aber er habe noch eine Verabredung. Ich hütete mich, zu fragen, welcher Art sie sei. Er verabschiedete sich von Lilly mit einer noch überzeugenderen Tanzstundenverbeugung. „Wir sehen uns ja bald wieder“, sagte er, mir etwas befangen die Hand gebend. „In den nächsten Tagen nicht“, war meine frostige Antwort. Dann zwängte er sich durch die engstehenden Tische. „Gott sei Dank, daß er sich fortgemacht hat.“ „Ich dachte, er sei Ihr Freund?“ „Nicht Freund, Bekannter, Faute-de-mieux-Bekannter, aber trotz allem: wenn Sie ihn brauchen, können Sie sich auf ihn verlassen.“ „Das ist schon sehr viel, und wie täppisch-rührend er seinen Miß griff wiedergutzumachen suchte.“ „Lassen wir ihn! Es war ein unglücklicher Zufall, daß wir grade am ersten Abend ihn hier aufstöbern mußten. Aber ein Gutes hat es immerhin gehabt: ich weiß jetzt Ihren Namen.“ „Nun müssen Sie mir aber auch den Ihren sagen.“ Ich nannte ihn. Sie schwieg. Ob sie an ihre Mutter dachte? Ich schenkte unsere Gläser wieder ein, randvoll: „Auf unsere erste Begegnung!“ Ich leerte mein Glas und warf es nebenan auf die Erde, daß es zersplitterte. „Aus diesem Glase soll niemand mehr trinken.“ Die Gäste an den Nachbartischen sahen herüber. „Haben Sie etwas übrig für Gedichte?“ fragte ich sie. „O ja, sehr viel sogar, aber ich kenne nur wenige; Gedichtbücher fehlten in der Bibliothek meiner Lehrerin fast ganz.“ „Das ist allgemein so, da macht Ihre Lehrerin keine Ausnahme. Mit Gedichten wissen die wenigsten etwas anzufangen. Die meisten lesen zur Zerstreuung oder Unterhaltung. Aber Gedichte verlangen mehr, Gedichte wollen Hingabe, und die Voraussetzung für Hingabe ist Liebe.“ „Liebe“, wiederholte sie. Sie mochte an meine kurz zuvor gehörte Ballade denken. „Ja, Liebe. Nicht die banale Alltagsliebe, sondern Liebe zum Leben mit seiner ganzen reichen Vielfalt und einem Ohr für die geheimen Stimmen und verhaltenen Zwischentöne, die all die, die hier um uns herumsitzen, noch nie vernommen haben.“ „Ich glaube, 93
ich fange an zu verstehen, was Sie meinen; aber wenn man es ganz versteht, so macht es, glaube ich, traurig.“ „Sehen Sie, und das ist das Alleinsein; die Trauer des Alleinseins kann nur im Gedicht laut werden. Gedichte sind kristallisierte Trauer.“ Ihre Hand tastete nach der meinen: „Sie müssen mir von Gedichten mehr erzählen.“ „Nicht erzählen - ich werde Ihnen Gedichte lesen. Doch das hat Zeit. Jetzt etwas sehr viel näher Liegendes: Sie sprachen heute nachmittag davon, daß Sie in Heidelberg sich eine neue Tätigkeit suchen wollen. Haben Sie von München aus sich schriftlich schon nach etwas umgetan oder wollten Sie in Heidelberg erst einmal das Terrain sondieren?“ „Ich bin aufs Geratewohl hierhergefahren; es muß ja nicht schon morgen oder übermorgen sein. Ich suche, bis ich etwas mir Zusagendes finde. Es brennt mir ja nicht auf den Nägeln.“ „Und denken Sie wieder an die Stelle einer Sprechstundenhilfe, oder haben Sie noch etwas anderes im Auge?“ „Ich bin mir noch nicht recht im klaren. Ich habe auch scho n daran gedacht, einen Ausbildungskursus als Krankenschwester durchzumachen.“ „Dazu sind Sie doch viel zu zart. Der Beruf einer Krankenschwester ist sehr anstrengend und erfordert eine große Aufopferung. Es muß etwas Furchtbares sein, jeden Tag Menschen sterben zu sehen. Dann schon lieber einen Hebammenkursus, da helfen Sie wenigstens, sie in die Welt hinein befördern anstatt hinaus.“ „Das ist noch nicht einmal der schlechteste Gedanke, und man behält dabei doch seine Freiheit.“ „Na, hören Sie, ich habe doch nur Spaß gemacht.“ „Nein, wirklich, das muß ich mir noch durch den Kopf gehen lassen.“ „Lilly, die weise Frau, das klingt recht spaßig. Aber wir müssen etwas anderes finden, der Beruf paßt wirklich nicht zu Ihnen. Wie wäre es - Sie müssen mir aber über den Vorschlag nicht böse sein -, wie wäre es, wenn Sie in ein großes Blumengeschäft gingen, wo Sie doch solche Liebe zu Blumen haben?“ „Ich bin Ihnen wegen Ihres Vorschlages durchaus nicht böse, ich habe sogar selber schon daran gedacht. Aber die Verdienstmöglichkeit ist doch sehr viel geringer und man ist dabei nicht selbständig.“ „Das ist man als Krankenschwester auch nicht und läuft noch obendrein täglich Gefahr, sich eine Infektion zuzuziehen. Dann schon wirklich lieber Hebamme, so komisch sich das Wort bei Ihnen ausnimmt. Ich sehe schon an Ihrer Tür das Schild: Lilly F.... ger, geprüfte Hebamme - Nachtglocke!“ Diese Ausmalung erweckte ihre Heiterkeit. „Es gibt ja auch noch andere Berufe: Gesellschafterin, zum Beispiel.“ „Um Gottes willen, alten Damen stundenlang vorlesen und ihnen ihren Schoßhund nachtragen. Das wäre das letzte, was ich wählte.“ „Dann kommen wir doch wieder zum Blumengeschäft. Und wenn es Ihnen auf die Dauer nicht behagt, Ihre Selbständigkeit aufzugeben, so können Sie, wenn Sie die Kundschaft einmal kennen, ja ein eigenes Geschäft auftun. Ihr Äußeres wird an und für sich schon die Kunden herüberziehen.“ „Sie sehen mich mit den Augen des Dichters.“ „Vielleicht entsinnen Sie sich noch, was ich Ihnen vom Dichter sagte: Dichter zu sein bedeutet Hingabe, und die Voraussetzung der Hingabe ist Liebe.“ - „Ich glaube, es ist jetzt Zeit zum Aufbrechen. Ich bin doch schon seit heute früh gefahren und den ganzen Tag über unterwegs gewesen. Auch möchte ich nicht gleich den ersten Abend schon so spät in die Pension kommen.“ Der Weg vom Stadtgarten bis zur Pension die Anlage hinauf ist ein ganz kurzer. „Wann sehen wir uns morgen?“ fragte ich die schweigend neben mir Hergehende. „Wollen wir es nicht bei der ersten und einzigen Begegnung belassen und den heutigen Tag in die Erinnerung an etwas Schönes, Ungetrübtes mit uns nehmen?“ „Nein, nein, Lilly, es geht nicht! Sind Sie in sich so auseinander, daß Sie für alles nur Unglauben haben, oder hat das blödsinnige Gedicht von vorhin dieses Sichzurückziehen von mir verschuldet?“ „Es ist kein Sichzurückziehen von Ihnen, wirklich nicht; aber eben darum möchte ich nicht, daß das, was schön war, mit einer Enttäuschung endet.“ „Warum soll es mit einer Enttäuschung enden?“ „Weil ich es weiß, es wird so kommen.“ „Ich kann es nicht wahrhaben, Lilly. Doch selbst, wenn das so wäre: Wer würde eine Reise, die durch wunderbare Landschaften und Länder führt, nur darum unterlassen, weil er weiß, daß sie früher oder später enden muß? Und darum muß sie doch nicht gleich mit einer Enttäuschung enden. Ich war so glücklich beim Gedanken, Sie morgen nachmittag wiederzusehen. Und haben Sie nicht eben noch gesagt, ich solle Ihnen von Gedichten mehr erzählen?“ „Ich weiß es alles; aber als Sie vorhin Ihren Namen nannten, tauchte das ganze Schicksal meiner Mutter vor mir auf, das ich so oft von meiner Großmutter habe erzählen hören. Sie haben, glaube ich, gespürt, was in mir vorging. Sie wissen ja nicht, was es heißt, keinen Vater zu haben und den Namen seiner Mutter tragen zu müssen; wohin 94
man kommt, um sich vorzustellen, begegnet man dem Ausdruck ablehnenden Bedauerns, sobald man über seine Familienumstände Auskunft gibt. Wer jemand anstellt, will auch wissen, wen er anstellt, das ist sogar begreiflich und berechtigt. Und wenn man dann Besche id gegeben hat, so bekommt man stets die gleiche Antwort: „Es tut mir leid, aber Sie werden ja verstehen ...“ Und die, die das nicht sagen, sagen noch etwas ganz anderes ... Und zu denken, daß man selbst vielleicht ein Kind bekommt, dem man das gleiche Schicksal in das Leben mitgibt ... Und mein Kind hätte keine Geborgenheit bei einer Großmutter, bei der es aufwüchse und nach deren Tode es doch wenigstens für die erste Zeit versorgt wäre, wie ich es bin.“ Ich fühlte ihre Hand mit einmal in der meinen. Ihr ganzer Körper zitterte. In diesem Ausbruch lag all ihre aufgestaute innere Not - vielleicht war ich bisher der erste Mensch, zu dem sie über sic h selbst hatte sprechen können - was aber vermochte ich mit meinen achtzehneinhalb Jahren zu tun, um ihre Sorge, was mit ihr werden solle, zu zerstreuen und ihr Sicherheit zu geben? Ich kannte die ganze verlogene konventionelle Einstellung der bürgerlichen Kreise von damals nur zu gut, um nicht zu wissen, daß sie überall vor verschlossenen Türen stehen werde, wo immer sie auch hinkäme - um so fester reifte bei mir der Entschluß, dieses verwehte Leben in das meine hereinzunehmen. Das Alter, in dem ich damals stand, kennt nur die Gegenwart; der Zukunft gegenüber schließt man die Augen. Ich zog sie unwillkürlich an mich. Sie ließ es geschehen. „Wollen wir nicht einen Mittelweg einschlagen? Ich erwarte Sie morgen nachmittag gegen drei Uhr im Café Haeberlein, und wir machen dann einen Spaziergang auf das Schloß. Und wenn Sie morgen abend immer noch glauben, daß es besser is t, für Sie besser ist, wir sehen uns nicht mehr, so werden wir uns Lebewohl sagen ... Ich muß dann eben sehen, wie ich damit zurechtkomme, Lilly.“ „Ich werde morgen um drei Uhr im Café Haeberlein sein. Ich danke Ihnen für den heutigen Tag. Bis morgen!“ - Ich fühlte, wie Hingabe und Abwehr in ihr arbeiteten, ehe sie auf meinen Vorschlag einging. Nun standen wir vor der Pension. Die Haustüre war schon geschlossen. Sie läutete. „Ich geh jetzt, Lilly. Es erübrigt sich, daß der Hausdiener Sie in Herrenbegleitung nach Hause kommen sieht. Hausdiener sind die widerwärtigste Sorte Menschen. Auf morgen also!“ Ich hörte noch, wie der Hausdiener aufschloß. Ich ging die Anlage hinunter, an der Universität vorbei, denselben Weg, den ich noch vor wenigen Stunden mit ihr gegangen. Es war der gewohnte Weg über die Alte Brücke, die Landstraße den Neckar entlang nach Stift Neuburg. Man geht beiläufig eine halbe Stunde. Wie oft hatte ich diesen Weg gemacht: als Kind mit meinem Vater im Sommer, wenn wir von Heidelberg aus meine Großmutter besuchten; als Gymnasiast mit dem Schulranzen auf dem Rücken und allen Schülernöten auf der Seele, wenn ich wieder einmal im Lateinischen oder Griechischen ein ungenügendes Extemporale geschrieben hatte; und in den höheren Klassen, das Herz voll unglücklicher Liebe für Ottilie, weil sie einen Mitschüler, einen wind igen Draufgänger, mir vorzog ... Wie tief vertraut war dieser Weg mir zwischen dem Neckar und den bewaldeten Bergen, frühmorgens, wenn die Frühnebel den Fluß hin zogen: an heißen Augustnachmittagen, wenn alles vor Hitze flimmerte und Libellen über den Seitentümpeln hin und her flirrten, während Kohlweißlinge und Zitronenfalter, mitunter auch ein prunkvoller Admiral über dem Wiesenhange zwischen der Landstraße und dem Neckar sich auf die Blüten niederließen, um gleich darauf wieder sonnenselig aufzufliegen ... Und dann die Abende und Vollmondnächte, wenn man nach einer Rundreise durch die diversen Weinlokale Heidelbergs weinselig und glückstrunken am Neckar hinging, auf dem mitunter ein Boot mit Lampions voll singender Studenten flußabwärts glitt. Wie oft schon war ich diesen Weg gegangen, nie aber mit so zwiespältigen, verwirrenden Gefühlen wie an jenem Abend. Was mich zu diesem Mädchen hinzog, war etwas, worüber ich mir keine Rechenschaft zu geben wußte. Und immer wieder mußte ich dazwischen an den Totensonntag denken. In diesem Zusammenhang lag etwas Unerklärliches, Geheimnisvolles, als wolle sich etwas ansagen, doch ich wies diesen Gedanken fort als abwegig und nur hervorgerufen durch das so ähnliche gemeinsame Kindheitserlebnis. - Aber das nächste: Was würde nun werden? Daß der morgige Tag kein Auseinandergehen bringen werde, dessen war ich nach den letzten wenigen Minuten sicher. Doch 95
würde mir’s gelingen, sie zu bestimmen, mit nach Karlsruhe zu kommen? Eine Tätigkeit würde sie dort ebensogut finden wie in Heidelberg, oder auch nicht finden; das hing von der Tätigkeit ab, die sie suchte. Allein, die Zukunft? Hatte sie nicht doch recht, wenn sie voraussah, daß am Ende die Enttäuschung stehen werde? Und was würde dann aus ihr werden? Konnte ich, wenn ich das alles bei mir überlegte, die Verantwortung auf mich nehmen, sie an mich zu binden? Aber ich konnte ihr auch nicht entsagen. So drehten meine Überlegungen sich im Kreise, ohne daß ich eine andere Lösung fand, als mich dem Augenblick zu überlassen und mein und ihr Geschick den guten Göttern anzuvertrauen. Was hä tte ich auch mit achtzehneinhalb Jahren anderes tun können? Was immer auch die Zukunft brächte, so viel stand bei mir fest: In Not würde ich sie niemals kommen lassen. Als ich zu meinem Vater in das Lesezimmer trat (es war seine Gewohnheit, lange in die Nacht hinein zu lesen), mußte er eine Veränderung bei mir bemerkt haben, denn er sah mich von der Seite an und fragte mich dann ganz beiläufig, was ich den Nachmittag über unternommen hätte, was er sonst nie tat. „Was soll man in Heidelberg schon unternehmen?“ war meine ausweichende Antwort. Dann sprach er mir von „Bismarcks Erinnerungen“, die grade erschienen waren und deren Lektüre ihn schon seit einigen Tagen fesselte. Er war als eingefleischter Frankfurter im Gegensatz zu fast allen damaligen Gesellschaftskreisen durchaus kein Bismarck-Anhänger. Bei der Besetzung Frankfurts 1866 hatte die preußische Militärverwaltung den Ersten Bürgermeister und zwei der oppositionellen Senatoren, zu denen auch mein Großvater gehörte, auf ausdrückliche Anordnung Bismarcks „in Schutzhaft" nehmen und auf die Festung Mainz bringen lassen. Mein Großvater pflegte von den Preußen nur als von den „Hundsvettern“ zu sprechen. Trotz seiner ablehnenden Einstellung Bismarck gegenüber konnte sich mein Vater dem Eindruck dieser die ganzen innenund außenpolitischen Zeitverhältnisse der zweiten Jahrhunderthälfte in einem luziden Stil subjektiv aufrollenden Erinnerungsbücher nicht verschließen. Es war ihm daher Bedürfnis, sich mir gegenüber über das Gelesene auszusprechen. Ich aber war an jenem Abend für ein Gespräch über ein für meine augenblickliche Verfassung so weit abliegendes Thema völlig unzugänglich und wenig aufmerksam, so daß mein Vater sehr bald meinte, es sei Zeit, schlafen zu ge hen, und mir gute Nacht sagte. - Ich war mit meinen Gedanken viel zu sehr bei Lilly und dem Ausdenken aller Möglichkeiten eines geräuschlosen Miteinandergehens, als daß ich hätte schlafen können. Ich ging hinunter über die Terrasse in den Park. Er hatte, sobald es dunkelte, noch immer etwas Unheimliches für mich, wie damals, als ich Kind war, auch wenn ich mich nicht mehr so wehrlos ausgeliefert fühlte an das Zwischenweltliche, das mich daraus anwehte. Doch immer bedurfte es einer gewissen Überwindung, nachts allein bestimmte Stellen darin aufzusuchen. An jenem Abend aber fühlte ich mich mit einer Art von wollüstigem Schauer förmlich dazu angetrieben; es war mir so, als erwarte mich dort etwas, dem ich mich stellen müsse. In der lauen, durchsichtigen Septembernacht waren die moosbezogenen Parkwege zwischen den alten Baumstämmen deutlich sichtbar. Sie waren mir so vertraut, daß ich mich mit verbundenen Augen darin hätte zurechtfinden können. Das ganze weitläufige, rechtwinkelige Gebäude lag im Dunkeln, es war alles schon schlafen gegangen, nur aus dem langen, von zwei Petroleumlampen matt erhellten Klostergang fiel ein unbestimmtes Licht, aber so schwach, daß es selbst die nächststehenden Bäume nicht erreichte. Alle Geräusche waren längst verstummt, nur das Plätschern des Springbrunnens auf dem nahen Rasen unterbrach die Stille. Ich ging den Weg, der, um die Kirche biegend, tiefer in den Park hineinführte; es war derselbe Weg, den ich an jenem Kinderabend mit meiner finnländischen Tante gegangen war, damals, als sie, wie selbstverständlich, zu mir sagte: „Siehst du nicht den unheimlichen Kerl, der im Abstand von nur wenigen Schritten uns die ganze Zeit begleitet? Sie nur, was er für Sprünge macht und für Grimassen schneidet; es ist, als ob er etwas von uns wolle“, und der dann plötzlich in der Kirchenmauer verschwunden war. Unwillkürlich mußte ich nach der Seite sehen, wohin sie gedeutet hatte: da war es mir, nur den Bruchteil einer Sekunde lang, als sähe ich die Erscheinung so, wie die Tante sie beschrieben hatte, fast greifbar nahe schemenhaft zwischen den Bäumen auftauchen; doch wie ich, still stehend und mein Grauen niederzwingend, mit wachen Sinnen hinsah, war nichts mehr wahrnehmbar. Ich schloß die Augen einen Augenblick; als ich sie wieder öffnete, sah ich nur den vertieften Zwischenraum zwischen den nachtdunklen Stämmen und hörte das vertrauliche, beruhigende Plätschern des nachbarlichen Springbrunnens. Die Lust, noch 96
länger im Park zu bleiben, war mir jedoch vergangen; ich ging über die Terrasse in das Haus zurück und in mein Zimmer, wo ich mich auszog und ins Bett legte; aber an Einschlafen war nicht zu denken. Ich nahm mir Heinrich Heines ,,Buch le Grand“ vor, das ich besonders liebte, und schlug ganz zufällig die Stelle auf: „Die schöne Johanne war die Base der drei Schwestern und ich setzte mich gerne zu ihr. Sie wußte die schönsten Sagen, und wenn sie mit der weißen Hand zum Fenster hinauszeigte, nach den Bergen, wo alles passiert war, was sie erzählte, so wurde mir ordentlich verzaubert zumute; die alten Ritter stiegen sichtbar aus den Burgruinen und zerhackten sich die eisernen Kleider, die Lorelei stand wieder auf der Bergspitze und sang hinab ihr süß- verderbliches Lied, und der Rhein rauschte so vernünftig, beruhigend und doch zugleich neckend schauerlich - und die schöne Johanne sah mich an, so seltsam, so heimlich, so rätselhaft traulich, als gehörte sie selbst zu den Märchen, wovon sie eben erzählte. Sie war ein schlankes, blasses Mädchen, sie war todkrank und sinnend, ihre Augen waren klar wie die Wahrheit selbst, ihre Lippen fromm gewölbt, in den Zügen ihres Antlitzes lag eine große Geschichte, aber es war eine heilige Geschichte - etwa eine Liebeslegende? Ich weiß nicht, und ich hatte auch nie den Mut, sie zu fragen. Wenn ich sie ansah, wurde ich ruhig und heiter, es war mir, als sei ein stiller Sonntag in meinem Herzen und die Engel darin hielten Gottesdienst. - In solchen Stunden erzählte ich ihr Geschichten aus meiner Kindheit, und sie hörte immer ernsthaft zu, und seltsam, wenn ich mich nicht mehr auf die Namen besinnen konnte, so erinnerte sie mich daran. Wenn ich sie alsdann mit Verwunderung fragte, woher sie die Namen wisse, so gab sie lächelnd zur Antwort, sie habe sie von den Vögeln erfahren, die an den Fliesen ihres Fensters nisteten - und sie wollte mich gar glauben machen, dieses seien die nämlichen Vögel, die ich einst als Knabe mit meinem Taschengelde den hartherzigen Bauernjungen abgekauft habe und, um sie dann frei fortfliegen zu lassen. Ich glaube aber, sie wußte alles, weil sie so blaß war und wirklich bald starb. Sie wußte auch, wann sie sterben würde, und wünschte, daß ich Andernach den Tag vorher verlassen möchte. Beim Abschied gab sie mir beide Hände - es waren weiße, süße Hände und rein wie eine Hostie - und sie sprach: ,Du bist sehr gut, und wenn du böse wirst, so denke wieder an die kleine, tote Veronika.’ - Haben ihr die geschwätzigen Vögel auch diesen Namen verraten? Ich hatte mir in erinnerungssüchtigen Stunden so oft den Kopf zerbrochen und konnte mich nicht mehr auf den lieben Namen erinnern.“ Warum mußte ich bei der Schilderung Johannes unwillkürlich an Lilly denken; wo doch von allen Merkmalen nichts auf sie zutraf als vielleicht das einer durchsic htigen zarten Blässe? Sie hatte nichts Romantisches, sie stand sehr unphantastisch und real im Leben, und doch floß mir das Bild Johannes mit dem ihrigen, wie man es oft in Träumen hat, in eins zusammen. Ich legte das Buch beiseite, löschte das Licht und versuchte zu schlafen. Das Bild ging in den nur langsam sich einstellenden Schlaf mit über. Ich träumte, ich befände mich an einem regnerischen Totensonntag auf einem weitläufigen, mir ganz unbekannten Friedhof. Wie immer brannten auf den Gräbern ringsumher die Totenlampen. Wegen des Regens war der Friedhof nur von wenigen Leidtragenden besucht, meist alten Weiblein, schwarz gekleidet, die selbst nur noch ein kurzes Wegstück von dem Grabe trennte. Da trat unter einem Vordach eines an die Kirchhofsmauer angebauten Schuppens eine weibliche Gestalt, die eine Art von Lodenumhang trug und die ich in dem Dunkel nicht bemerkt hatte, ganz nah an mich heran und sprach etwas zu mir von einer Botschaft, was ich aber nicht verstand; doch wußte ich, wie man in Träumen dergleichen weiß, daß es sich um Lilly handele. Angst befiel mich, denn es mußte etwas sein, das sie und mich anging, doch als ich die Gestalt, deren Gesichtszüge ich wegen der Kapuze an dem Umhang nicht erkennen konnte, fragen wollte, um was es bei der Botschaft gehe, war sie mit einemmal verschwunden. Ich wachte mit Herzklopfen auf und konnte lange nicht einschlafen. Am anderen Morgen hatte ich den Traum noch deutlich in Erinnerung. Die Stunden bis zu Tisch vergingen mir nur langsam. Ich verbrachte meist den Vormittag mit Lesen, bei schönem Wetter in dem Park, an regnerischen Tagen in der Bibliothek. Ich las grade zum ersten Male die , .Wanderjahre“; aber an jenem Vormittag kam ich nicht weiter. Ich ging hinaus in den Wald, der gleich hinter Stift Neuburg ans teigt, und kam erst wieder, als es Zeit zu Tisch war. 97
Mein Vater knüpfte wieder an das abends zuvor abgebrochene Gespräch über „Bismarcks Erinnerungen" an. Darüber ging das Mittagessen hin. Dann zog mein Vater sich zurück; er pflegte stets nach Tisch sich eine halbe Stunde auszuruhen. Ich sagte ihm, ich käme jedenfalls auch heute nicht zum Abendessen; voraussichtlich werde es später werden. Seine einzige Antwort darauf war: ,,Mach keine Dummheiten!“ Dabei war es das grade, was ich vorhatte. Ich ging auf die Terrasse und brach mir ein paar Rosen, um sie Lilly zu bringen. Dann ging ich hinunter an den Neckar, ließ mich vom Fährmann übersetzen und machte, da es noch zu frühzeitig war, um Lilly im Cafe zu treffen, den Umweg über den Wolfsbrunnen den Hang entlang nach Heidelberg. Der Tisch im Café Haeberlein, an dem wir tags zuvor gesessen hatten, war noch frei. Ich setzte mich, bestellte mir ein Eis und rauchte nervös zwei Zigaretten; bei der dritten kam sie, pünktlich zur Zeit, die wir verabredet hatten. Die Rosen, die ich ihr mitgebracht hatte, machten ihr sichtlich Freude. „Schön, daß Sie Wort gehalten haben, Lilly. Sie sehen heute ganz erfrischt aus. Sicher haben Sie nach den Strapazen gestern lang geschlafen.“ „Im Gegenteil. Ich war schon zeitig auf und habe mich gleich nach dem Frühstück um eine Stelle umgetan, wie wir es gestern nachmittag besprachen.“ „Als Sprechstundenhilfe?“ „Nein - Sie werden lachen: ich war auf der Friedhofsgärtnerei, um zu sehen, ob man mich dort brauchen könne; ich kann nämlich besonders gut Kränze binden.“ „Na, hören Sie, so eine Kateridee: ausgerechnet die Friedhofsgärtnerei und das ganze Jahr lang Totenkränze binden. Hoffentlich ist nichts daraus geworden.“ „Vorläufig nicht, aber man meinte, wenn ich bis Herbst zuwarten wolle, werde es sich voraussichtlich machen lassen. Dann bin ich eine Stunde auf dem Friedhof umhergegangen. Ich kann mir keine schönere Lage für einen Friedhof denken, direkt unter dem Wald am Berghang.“ „Es muß eine Wonne sein, dort zu liegen, vorerst aber kann ich mir noch etwas Schöneres ausmalen." Ein grausiger Humor bemächtigte sich meiner. Schon wieder der Friedhof! Ich mußte an meinen Traum der letzten Nacht denken. „Lassen wir die Toten ihre Toten begraben und trinken wir noch einen Eierkognak mit Sherry-Brandy; man nennt das hierzulande Blutgeschwür.“ „Sie sind heute ganz anders als gestern.“ „Nein, aber ich kann von Friedhöfen und Kränzen nichts mehr hören. Wir wollen nicht zusammen sterben, sondern leben.“ „Mein Leben und das Ihre sind doch so verschieden. “ „Das hängt von uns ab, Lilly.“ „Das Blutgeschwür schmeckt gut, ich kannte die Mischung noch nicht.“ „Es ist, glaube ich, eine studentische Spezialität - darüber könnte uns der Falstaff Auskunft geben.“ „Sie haben den Armen gestern abend doch etwas kränkend abgefertigt.“ „Macht nichts, das nimmt er mir nicht weiter übel. Ich denke, wir machen jetzt einen Spaziergang auf das Schloß. Sie werden beglückt sein, wie schön es dort oben ist. Von vier bis sechs ist Schloßkonzert, die nämliche Kapelle wie im Stadtgarten. Und von da aus gehen wir weiter auf die Molkenkur und essen dort zu Abend, wenn es Ihnen recht ist. Wo haben Sie übrigens zu Mittag gegessen?“ „Gar nicht. Ich habe mir in der Pension etwas kalten Aufschnitt geben lassen.“ „Da wollen wir doch jetzt erst einmal essen gehen.“ .Jetzt um halb vier Uhr? Wir trinken ja bald Kaffee. Bis zum Abendessen werde ich es schon aushalten.“ Auf dem Schloß führte ich sie überall umher, an alle mir von Kind auf lieb gewordenen Plätze, unter dem von zwei sandsteinernen Rittern rechts und links bewachten Torweg durch, von denen die Sage geht, daß sie allnächtlich ihren Standplatz wechselten, in den weiträumigen Schloßhof und dort in die ehemalige Schloßkellerei zum Riesenfaß, das der Hofnarr Karl Theodors, der durstige Zwerg Perkeo, im Verlaufe eines Jahres allein leergetrunken haben soll - dort seitlich war er in Person zu sehen, bunt und pfiffig; man hätte selbst gerne einmal mit ihm getrunken und seine Spaße angehört und mit dem Holzhammer an das dröhnende Faß geschlagen, um zu prüfen, wieweit es noch voll sei, das große Heidelberger Faß, das vielbesungene. - Vom Schloßhof führt der Weg einen gewölbten Gang über dem Friedrichsbau durch auf die Schloßaltane. Man atmet unwillkürlich tiefer auf, wenn man heraustritt und von der sandsteinernen Mauerbrüstung aus das ganze Neckartal mit dem Heiligenberg gegenüber und nach Westen zu die sich weit auftuende Rheinebene vor sich liegen sieht und unten, nicht viel mehr als einen Steinwurf weit entfernt, die Giebeldächer der zwischen Berg und Fluß lang hingezogenen Stadt, in der man damals noch das letzte Nachwehen
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der Romantik spürte. So hatte wohl auch Eichendorff als Student einst Heidelberg gesehen, und dann, viel später, schrieb er in Erinnerung die Strophe: „Als ich dereinst in Heidelberg studierte, Stand dort ein kleines Haus, duftig umweht Vom Lindenga nge, der zum Schloßberg führte; Ich weiß nicht, ob es jetzt noch droben steht, Denn viele, viele Jahre sind vergangen, Seit wir dort unsere ersten Lieder sangen.“ „Ist das nicht schön, Lilly, und voll von Trauer?“ Ich fühlte wieder ihre Hand in meiner. Sie stand lange versunken in den Anblick dieser sonnigen Weite. Dann gingen wir in das Schloßrestaurant, wo das Konzert bereits begonnen hatte. Es war schon spät, als ich Lilly zur Pension zurückbrachte. „Ist Karlsruhe auch so schön wie Heidelberg?“ „Nein, es liegt ganz im Flachland und ist ein stinklangweiliges Nest, nur Militär und wieder Militär und eine engstirnige, abgestandene Hofgesellschaft - die Oper unter Felix Mottl ist die einzige Oase; aber wir werden es uns darum doch schön machen dort, Lilly, wenigstens in den paar Stunden, die mir von dem Dienst verbleiben.“ „Tagsüber werde ich ja auch zu tun haben; ich denke doch, daß ich mich umtue, in einem Blumengeschäft anzukommen. “ „Wenn es keine Friedhofsgärtnerei ist. Du hast dann doch von sechs Uhr abends Zeit für dich, für uns, und früher werde ich wohl auch kaum frei sein.“ Ich nahm sie in die Arme. „Und morgen um die gleiche Zeit im Café Haeberlein. Wir fahren dann, wenn sich das Wetter hält, vielleicht das Neckartal hinauf nach Neckargemünd oder nach Neckarsteinach. Man fährt am Stift Neuburg vorbei und sieht es an dem Hange gegenüber liegen ... Du scheust dich immer noch zu küssen, Lilly -.“ An diesem Abend war mein Gang nach Hause auf der Landstraße am Neckar sehr viel unbeschwerter als am vorigen. Es waren zehn gute Tage, die ich mit Lilly in Heidelberg verlebte, ehe ich mich zur Abreise nach Karlsruhe bereitmachte. Lilly hatte sich, wenn auch erst nach eindringlicher Überredung, dazu verstanden, mitzukommen. Es war ein schicksalhafter Entschluß - für beide. Während dieser anderthalb Wochen hatte ich mit ihr die ganze nähere und fernere Umgebung Heidelbergs teils begangen, teils befahren, das Neckartal hinauf bis Eberbach, und an einem der letzten Abende traf es sich noch, daß eine Schloß- und Brückenbeleuchtung stattfand, wobei gewohnheitsgemäß am Fuß der Brückenpfeiler unzählige Raketen abgefeuert werden. Ich hatte einen Kahn gemietet, den wir mit vier Papierlampions behingen und in dem wir dann in einem Schwärm von anderen, gleichfalls mit Lampions behangenen Kähnen von Ziegelhausen aus den Neckar hinunterfuhren, um grade richtig mit dem ersten Böllerschuß, der die Beleuchtung ankündigte, vor der Alten Brücke, dem Schlosse gegenüber, anzukommen. Beim dritten Böllerschuß flammte das ganze Schloß in roter bengalischer Beleuchtung auf, während das angrenzende Waldstück in giftgrüner Verfälschung das Auge ansprang. Ein durch dies Schauspiel ausgelöstes freudiges Ah der vielen, der Uferseite gegenüber zugeströmten Menschen mischte sich dem herkömmlichen Absingen des Liedes „Alt-Heidelberg, du feine“, womit in den ungezählten beleuchteten Kähnen das erste Aufleuchten der Schloßruine allgemein begrüßt wird. - Die Sitte der alljährlich öfters wiederholten Schloßbeleuchtung galt ursprünglich wohl der Erinnerung an die Zerstörung des Schlosses und die Inbrandsteckung von Heidelberg durch die Franzosen unter Melac. Im Lauf der Zeit ist sie dann zu einem Brauch und einer Festveranstaltung geworden. Die Schloßbeleuchtung selbst wirkt kitschig und verfälschend, aber das ganze singende, in Lichter eingetauchte nächtliche Flußtal, wenn erst die Raketen bei der Alten Brücke aufsteigen und am Nachthimmel ihre Kreise ziehen, löst einen Zauber aus, dem keiner sich entziehen kann und den unzählige, die in Heidelberg studiert haben, mitnahmen in den Bildersaal ihres Lebens. - Ich kannte dieses Schauspiel schon von Kind auf, Lilly aber war davon so hingenommen, daß ich Augen nur für sie hatte und Schloßbeleuchtung Schloßbeleuchtung sein ließ.
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Der Tag des Aufbruchs war gekommen und mein Koffer gepackt. Viel brauchte ich nicht mitzunehmen, denn Zivil zu tragen war den Einjährigen verboten, auch wenn man es später, auf die Gefahr hin, von einem Vorgesetzten gesehen und bestraft zu werden, mitunter abends doch tat. Hinlänglich Wäsche und eine Anzahl Bücher war alles, was ich mitnahm. Von meinem Vater verabschiedete ich mich zu Hause, denn er meinte (ein Standpunkt, den ich teilte), auf dem Bahnsteig stehe man doch nur herum und rede Ungereimtes. Ich konnte Lilly also anstandslos mit ihrem Gepäck in der Pension abholen. In Karlsruhe war das erste, in möglichster Nähe der Dragonerkaserne zwei nicht zu weit auseinander liegende Zimmer zu suchen. Ich fand ein Doppelzimmer, Schlaf - und Wohnraum, Uhlandstraße bei einer Frau Radke, einer langjährigen Einjährigenmutter (die Einjährigen waren damals nicht kaserniert), Lilly unweit davon um die Ecke in der Kaiserallee. Die Einrichtung der Zimmer war die übliche Mietzimmereinrichtung der achtziger und neunziger Jahre, abschreckend, doch sauber. Am anderen Morgen - es war der erste Oktober - mußte ich mich zum Dienstantritt in der Kaserne melden, wo auch die anderen Einjährigen - wir waren neun im ganzen - sich eingefunden hatten und auf die fünf Schwadronen verteilt wurden. Ich wurde mit meinem Speyerer Konpennäler Friedrich Glaser, dem Sohne des damaligen Direktors der Bad. Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen, auf unsere Bitte hin der fünften Schwadron zugewiesen. Unser Schwadronschef war ein Major von Skopnik, ein sturer und beschränkter preußischer Stabsoffizier, dessen Grundsatz es war, die Einjährigen zu piesacken. Die preußische Tendenz, in den süddeutschen Bundesstaaten die Armee unter preußischer Führung in preußischem Geiste zu erziehen und auszubilden, kam darin zum Ausdruck, daß fast alle höheren Chargen vom Kompagniechef und Schwadronschef aufwärts mit preußischen Offizieren besetzt wurden, vom Regimentskommandeur an ausnahmslos; nur Bayern hatte sich das Reservat eines eigenen Armeekommandos und eigener Uniformierung mit der bayrischen weißblauen Fahne und mit einer selbständigen Post und Postverwaltung vorbehalten. Das ganze übrige Süddeutschland stand damals schon im Zeichen einer zunehmenden, unaufhaltsame n Verpreußung. Da die neueingetroffenen Rekruten erst auf der Kammer eingekleidet werden mußten, begann der regelrechte Dienst erst ein paar Tage später. In dieser Zwischenzeit wurde den Einjährigen das Grüßen beigebracht, damit sie gleich von Anfang an, wenn sie auf dem Weg von der Kaserne in die Wohnung einem Vorgesetzten begegneten, die vorschriftsmäßige Ehrenbezeigung zu machen wußten. Der Besuch der Stadt war ihnen vorläufig verboten, bis sie erst richtige Menschen seien“, wie der Ausbildungsoffizier - der unsrige hieß Fritzsche - sich ausdrückte. In einem kleinen Lokal der Dragonerkaserne gegenüber, das einem Herrn Kappenberger gehörte, hatten die Einjährigen ihren Mittagstisch. Man hatte gegenseitig bald Bekanntschaft gemacht; es waren lauter fast gleichaltrige, ganz angenehme Leute zwischen achtzehn und zwanzig, nur ein beleibter, alter sechsundzwanzigjähriger Korpsstudent mit einer Brille und vielen Schmissen in dem rundlichen Popogesicht, ein Dr. jur. Maurer, stach ab von uns viel Jüngeren, und die runde, schildlose Soldatenmütze, die den Gemeinen schon dadurch von dem Vorgesetzten erniedrigend und demütigend unterschied und kennzeichnete, gab seinem Äußeren etwas unbändig Komisches und doch zugleich Mitleiderregendes. Er tat sich bei der Ausbildung auch ungleich schwerer als wir Schulfüchse, bis er sein ganzes Bier herausgeschwitzt hatte. Er war im übrigen ein gutartiger, umgänglicher Mensch und führte an unserem Mittagstisch als der Tischälteste den Vorsitz. Lilly hatte sich in ihrem Zimmer häuslich eingerichtet und es durch ein paar in einer benachbarten Blumenhandlung gekaufte Blumentöpfe anheimelnd gemacht. Die allenthalben herumstehenden schreckhaften Nippsachen stellte ich, weil sie dazu selbst nicht den Mut hatte, unten in die hinterste Ecke des Kleiderschrankes. Da es ihr widerstrebte, zum Mittagstisch allein in ein Restaurant zu gehen, besorgte sie sich ein paar Kochtöpfe, Besteck und Eßgeschirr und kochte sich zu Hause mit dem Einverständnis ihrer Hausfrau, die sie sehr bald ins Herz geschlossen hatte. Abends gingen die meisten meiner Miteinjährigen, sobald uns der Besuch der Stadt erlaubt war, jeder seine eigenen Wege - manche von ihnen hatten Freundinnen -; ich verbrachte die Abende bei Lilly. Es wurde immer sieben Uhr, bis ich zu ihr kam. Dann aßen wir zuerst zu Abend, meist kalten Aufschnitt, 100
gelegentlich auch warm; sie kochte ausgezeichnet, nie mehr seitdem habe ich so delikates bayrisches Kraut gegessen. Dann las ich ihr Eichendorffs Jugendroman „Ahnung und Gegenwart“ vor. Die zeitentrückte, romantische Welt schlug ihren Bogen um uns beide und ließ mich für eine glückliche Stunde allabendlich vergessen, daß jenseits der Straße ein Kasernenhof lag mit seinem brutalen Drill und einer menschenunwürdigen Daseinsform, der ich mich noch ein ganzes Jahr lang anzupassen hatte - ich weiß nicht, ob die anderen es ähnlich und im gleichen Maß empfanden, und wenn: eine jugendlich unsichere Zurückhaltung ließ einen nicht darüber zueinander sprechen. Lilly mochte sich die Zeit in Karlsruhe nach den zwei traumhaften Wochen in Heidelberg anders gedacht haben. Was hatte sie schon, außer des Abends, von mir? In Damenbegleitung in Uniform auszugehen, verbot sich für die Einjährigen, und Zivil zu tragen war ihnen untersagt. Das ganze Jahr also würde für sie in der gleichen Monotonie verlaufen. Sämtliche Blumengeschäfte in Karlsruhe hatte sie bereits vergeblich nach einer offenen Stelle abgeklappert: Karlsruhe war keine internationale Fremdenstadt wie Heidelberg, sondern eine kleine, stille Residenzstadt, wo Blumen nur während der kurzen gesellschaftlichen Saison die paar Wintermonate über gefragt waren. Damit war es also nichts. Es blieb somit wieder nur die Frage der Sprechstundenhilfe, denn den Gedanken, einen Krankenschwesterkurs durchzumachen, hatte sie auf me in Zureden endgültig aufgegeben. So hatten sich die Hoffnungen, die sie auf Karlsruhe gesetzt hatte, sehr bald zerschlagen. Und herumsitzen von Tag zu Tag und nichts tun mit einundzwanzig Jahren, nachdem sie gewohnt war, von früh bis spät zu Hause tätig zu sein, war für sie ein unerträgliches Bewußtsein. Die ganze Situation war reichlich verfahren. Ich fühlte, wie sie unter diesem Zustand litt und sich um die Zukunft Sorge machte, auch wenn sie sich mir gegenüber mit keinem Wort darüber äußerte, aber es stand nicht in meiner Macht, das leiseste daran zu ändern. So verging ein Tag um den anderen. Ich empfand die Last meiner Verantwortung, so daß ich anfing zu bereuen, sie nach Karlsruhe mitgenommen und in ihr Leben eingegriffen zu haben. Aus dieser Wirrnis flüchtete ich mich in das Gedicht und zu Eichendorff, in den Traum einer unwirklichen Wirklichkeit, die es vielleicht einmal gegeben hatte und die mich das Bedrohliche einer jeden Sinns entleerten Zeit zum ersten Mal ahnen ließ. Die einzige Abwechslung, die spüren ließ, daß es außer Pferde putzen, Fußdienst, Rekrutenunterricht und Angeschrien werden noch etwas anderes, Menschenwürdigeres gäbe, war das Theater, auch wenn die zeitgenössischen Theaterdichter, wie Gerhart Hauptmann, wegen der bigotten Einstellung der regierenden Großherzogin damals in Karlsruhe nicht zur Ausführung kamen. Aber die Oper unter Felix Mottl mit dem Kammersänger Oberländer ließ wenigstens für Stunden das Unerträgliche eines unentrinnbaren Eingespanntseins in eine raffiniert ausgeklügelte, geisttötende Maschinerie vergessen. Mit Lilly die Oper zu besuchen war allerdings nicht möglich, wir mußten es darum so halten, daß wir getrennt gingen und auch getrennte Plätze nahmen und uns erst zu Hause wieder trafen. Lillys Stimmung wurde zusehends gedrückter, was unvermeidlich auch auf mich ausstrahlte, so daß selbst die Abende mit ihr zusammen nach und nach das anfänglich Beglückende verloren. Nicht, daß sich in meinem Gefühl für sie irgend etwas geändert hätte, aber die Unmittelbarkeit des Sichhingebens war vielleicht nicht mehr dieselbe, was sie mit der den Frauen eigenen Witterung bald spürte. So lag etwas Unausgesprochenes zwischen uns und ließ mich immer mehr des Mißgriffs, ihr Leben an das meinige geknüpft zu haben, bewußt werden., ,Mach keine Dummheiten'', hatte mein Vater gesagt; ich war schon drauf und dran, ihm recht zu geben. Andererseits sagte ich mit, daß dieser ganze unselige Zustand nur durch die äußeren Verhältnisse bedingt sei und daß alles wieder anders werden würde, wenn erst das Einjährigenjahr vorüber sei; jedoch die Länge trägt die Last, und würde der Duft, der jetzt noch über unserem Zusammensein lag, bis dahin nicht verweht sein? Es ging unterdessen auf November zu und Allerseelen stand schon vor der Türe. Der Kasernenhof ließ mich an alles andere, nur nicht an den Totensonntag denken. Zudem war Karlsruhe fast ganz protestantisch, eine Begehung des Allerseelentags mit Lampen auf den Gräbern, wie in katholischen Gegenden, war dort also ohnehin nicht üblich. Am Allerseelensonntag-Nachmittag war ich auf ein paar Stunden zu meinem Konpennäler Friedrich Glaser hinübergegangen, weil er mir aus seinem schon in Unterprima in Speyer begonnenen und immer wieder umgeschriebenen Roman die neuen Kapitel vorlesen wollte. (Er ist niemals fertig geworden.) Ich blieb etwas länger, bei ihm, als ich 101
vorgesehen hatte. Als ich wieder zu Lilly kam, hatte sie bei ihrer Hausfrau hinterlassen, sie sei auf den Friedhof gegangen, da ja Allerseelensonntag sei. Sie werde aber kaum sehr lange wegbleiben. Ich setzte mich beim Ofen in den Sessel und machte mir über das seltsame Mädchen Gedanken: Was hatte sie bewogen, in Karlsruhe, wo sie völlig fremd war, am Allerseelensonntag auf einen ihr ganz unbekannten Friedhof zu gehen, von dem ich nicht einmal wußte, wo er sich befand, und über den wir, seit wir in Karlsruhe waren, noch nie gesprochen hatten? Sie war nicht fromm und hatte während der ganzen Zeit keine Kirche besucht; sie meinte, Gott sei auch außerhalb der Kirche zu finden; und daß die Toten leben, wußte sie von der hellsichtigen Frau, die sie bei ihrer Großmutter gesehen hatte, als sie noch Kind war. Vielleicht war es grade das, was sie an Allerseelensonntagen auf den Friedhof zog, wie sie es immer schon gewohnt war, weil sie dort zu dieser Zeit das Sichherandrängen der Toten spürte und aus diesem gefühlsmäßigen Erleben heraus eine innere Sicherheit erfuhr, an die sie sich bei der Verwehtheit ihres Lebens instinktiv anklammern konnte, denn sie wußte sich in einer jenseitigen Seelenwelt geborgen. Sie war so überaus labil, daß ich mitunter fürchtete, es bedürfe nur eines geringen Anstoßes, um eine unbedachte Handlung in ihr auszulösen. Und grade weil ich dieses wußte, lebte ich in einer unablässigen Sorge, diese mit so viel Leidenschaft und ohne Vorbedacht begonnene Verbindung werde früher oder später ein verzweifeltes und bitteres Ende nehmen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie von ihrem Friedhofsgang zurückkam. Sie fand den Friedhof, wie ich mir’s gedacht hatte: wohl lagen frische Blumen auf den Gräbern, doch brannten keine Lampen, und da es bei ihrem Hineinkommen schon angefangen hatte, dunkel zu werden, so war sie nur ganz wenigen Verspäteten begegnet. Und ob sie denn auch hier von der Nähe der Toten etwas verspürt habe? „Die Toten waren da, aber sie fühlten sich verlassen“, war ihre Antwort. Woher sie das denn wisse? „Das spürt man doch auch bei Menschen, ob sie traurig oder froh sind.“ „Das tut man, aber das ist doch etwas ganz anderes.“ „Vielleicht, weil man bei Toten nicht gewohnt ist, darauf zu acht en. Ich habe nach dem Tode meiner Großmutter, noch bis ich abreiste, sie in ihrem Sterbezimmer gespürt und wußte sie zufrieden.“ Ich schwieg. „Ich glaube, du hältst mich für überspannt?“ „Nein, Lilly, aber eine Hellfühligkeit, wie du sie hast, verlangt eine stark Seele, um damit fertig zu werden.“ „Es ist sehr wohltuend, zu wissen, daß die Toten auch uns brauchen.“ - An jenes Gespräch mit Lilly am Allerseelensonntag in Karlsruhe habe ich viel später noch oft denken müssen. Um diese Zeit etwa erhängte sich ein Rekrut - ich weiß nicht mehr, welcher Schwadron - in der Latrine. Das war für den Schwadronschef, für den Ausbildungsoffizier sowie für den Abteilungsunteroffizier gleich peinlich. Was ihn zu diesem Schritt getrieben hatte, ist nie recht bekanntgeworden. Es bestand kein Grund zur Annahme, daß er von einem seiner Vorgesetzten zu Tod gepiesackt worden wäre, denn die Behandlung der Leute war von Seiten der Unteroffiziere zwar im allgemeinen rauh und ungehobelt, doch nicht unmenschlich. Vielmehr ging die Vermutung dahin, er sei von der alten Mannschaft, die für sich das Recht in Anspruch nahm, die Rekruten zurechtzubügeln, derart gestriezt worden, daß er sich keinen Ausweg wußte und seinem Leben ein Ende machte. Stets waren es die etwas Zukurzgekommenen, Beschränkten, die in den alten Mannschaften die grausamen Instinkte aufriefen. Auch in diesem Fall war es ein schwächlicher, von der Natur benachteiligter Mensch gewesen. Dieser Vorfall hinterließ in uns allen einen schockhaften Eindruck, der lange nachwirkte. Als ich Lilly davon erzählte, wurde sie blaß, und es war den ganzen Abend über nichts mehr mit ihr anzufangen. Der November ließ sich kalt und regnerisch an, so daß der Reitunterricht statt auf dem benachbarten Exerzierplatz in der Reitbahn stattfand. Das Reiten war noch das einzige am Dienst, woran man Freude hatte. Ich konnte schon einigermaßen reiten, als ich bei den Dragonern eintrat, so daß ich mir hierbei nicht schwer tat. Diese immer länger werdenden Novemberabende nach freudlosen, verregneten, einförmigen Tagen legten sich wie Meltau auf die Seele Lillys, so daß nicht einmal die besonnten, nie verblühenden Landschaften Eichendorffs, wenn ich ihr abends vorlas, es vermochten, ihre Stimmung aufzulichten; und ich bemerkte zunehmend mehr und mehr, daß sie ihrer ganzen 102
Veranlagung nach zu einer sich mitunter fast krankhaft äußernden Schwermut hin neigte. Das aber konnte ich jetzt gerade am wenigsten gebrauchen, wo mir das ganze Soldatsein ohnehin zum Hals heraushing. Ich bat daher meinen mir durch die gemeinsame Speyerer Gymnasialzeit verbundenen Konpennäler Friedrich Glaser, gelegentlich den Abend mit ihr zu verbringen, was ich ihr gegenüber damit begründete, daß ich auch zwischendurch mit meinen übrigen Miteinjährigen zusammen sein müsse; es war dies meistens Samstags. Der Einjährige Kahn, ein intelligenter, kleiner, schwarzer Jude, der vor Antritt seines Einjährig-Freiwilligen-Jahres zwei Semester in Heidelberg studiert hatte, besaß dort eine Freundin namens Tini, eine Heidelberger Filia hospitalis, die mit ihrer etwas jüngeren Schwester Nelly bei ihren Eltern in einem alten Haus am Rathausplatz unfern der Heiligen-Geist-Kirche wohnte, ein schönes, raffiniertes Mädchen. Der Einjährige Kahn hatte es vielleicht auch nolens volens - klüger angefangen als ich: er hatte sie in Heidelberg gelassen, und nur über Samstag auf Sonntag kam sie ihn in Karlsruhe besuchen. Sie mochte etwa vierundzwanzig sein und ihre nicht minder reizvolle Schwester ein- bis zweiundzwanzigjährig. Meist begleitete Nelly ihre Schwester Samstag nachmittags nach Karlsruhe und fuhr abends wieder zurück nach Heidelberg. Der Einjährige Kahn, mit dem ich mich gut verstand, lud mich dann meistens ein, den Samstagnachmittag, an dem die Einjährigen, vom Abendstalldienst von sechs bis sechseinhalb Uhr abgesehen, dienstfrei hatten, mit ihm und den zwei Mädchen zu verbringen. Er war sehr reich und tischte Sekt und Kaviar auf, daß man damit die Stiefel hätte schmieren können. - Durch irgendwelche Zwischenträgereien mußte Lilly von diesen Samstagnachmittagen Wind bekommen haben, denn sie fragte mich einmal sonntags ganz unvermittelt, ob ich mich am vergangenen Nachmittag gut amüsiert hätte. „Gewiß, sonst wäre ich nicht so lange dort geblieben“, war meine Antwort. „Die Schwägerin ist wohl sehr hübsch und unterhaltend?“ „Ich glaube, du bist eifersüchtig, Lilly? Das mußt du nicht sein, das macht nur verdrießlich; und außerdem liegt auch kein Grund zur Eifersucht vor, ganz gewiß nicht.“ „Warum gehst du dann hin, wenn dir nichts daran liegt?“ „Weil ich mich dort gut amüsiere, wie du dich vorhin selbst ausdrücktest.“ Sie zuckte mit den Schultern, und wenn sie auch nicht mehr darüber sprach, so merkte ich ihr doch an, daß sie im Innern sehr aufgewühlt war. Doch jetzt mit einemmal dem Einjährigen Kahn zu sagen, daß ich Lillys wegen nicht mehr kommen könne, schien mir doch zu weit gegangen. Ich sagte ihr also am Samstag drauf, als wir gegessen hatten, daß ich wieder für ein paar Stunden zum Einjährigen Kahn ginge, doch daß ich gegen Abend wieder bei ihr sein werde. „Nicht eifersüchtig sein, Lilly, ich bin doch sonst jede Minute, die ich dienstfrei habe, bei dir.“ Sie erwiderte nichts und ging zurück ins Zimmer. - Beim Einjährigen Kahn gab es erst einen Mokka double mit Meringen und Schlagsahne. Nelly hatte ein nagelneues Kostüm an, das ihr sehr gut stand. Sie war bezaubernd. Vielleicht hatte Lilly doch nicht ganz unrecht, eifersüchtig zu sein. Man war sehr aufgeräumt. Nach etwa einer Stunde aber kam mir plötzlich ein unruhiges Gefühl, daß irgend etwas bei Lilly nicht stimmte. Ich versuchte, es mir auszureden, aber die innere Unruhe bei mir steigerte sich minütlich, so daß ich grade drauf und dran war, mich für eine kurze Weile zu entschuldigen, als es an die Türe klopfte, und zwar dreimal wie abgehackt in gleichen Abständen. Es machte den Eindruck eines Geheimzeichens. Auf Kahns Hereinruf erschien im Türrahmen ein wunderliches und verfilztes altes Männchen mit schmutzig- grauen, langen Haaren und einem leicht nach vorne gezogenen Spitzbart, den er beim Sprechen mit einer immer gleichen, etwas zaghaften Bewegung durch die linke Hand zog, während er in der rechten einen verwitterten Zylinderhut hielt, den er überm Reden, um gestikulieren zu können, sich immer wieder auf den Kopf stülpte, um ihn gleich wieder abzunehmen und dann von neuem aufzusetzen. Er trug einen langen, schwarzen, abgeschabten Gehrock mit fettigem Revers und speckigen Samtkragen. Die beiden Mädchen konnten bei dieser unglaubhaften Erscheinung sich des Lachens kaum enthalten. Ich selbst mußte mir Mühe geben, um nicht laut aufzulachen. Der Alte ging, ohne uns zu beachten, direkt auf den Einjährigen Kahn zu, der von diesem unerwarteten Besuch nicht eben angenehm berührt zu sein schien, trat dicht an ihn heran und sagte, ohne ihn erst zu begrüßen: „Ich komm in einer Sach, die keinen Aufschub leidet, direkt von Frankfurt. Ich war am Schabbes nicht gefahren, wenn's nicht pressant war. Ich muß Sie aber unter vier Auge sprechen.“ „Wenn’s sein muss“, meinte der etwas verlegene Einjährige Kahn. „Ihr könntet ja solange ins Schlafzimmer gehen“, wandte er sich an die Mädchen und entschuldigte 103
sich dann bei mir: „In einer Stunde sind wir sicher fertig.“ „Wenn’s langt“, bemerkte ungnädig der Alte. „Lassen Sie sich bitte ja nicht stören, ich schaue später wieder her“, sagte ich, mich vom Einjährigen Kahn verabschiedend. Der Alte knurrte etwas Unverständliches in seinen Spitzbart, das wie Adies klang. Er hätte mir in diesem Augenblick nicht gelegener einfallen können, denn es drängte mich, so rasch als möglich zu Lilly zu kommen. Ich hatte es ganz nahe, die Einjährigen wohnten alle in einem Häuserblock der Dragonerkaserne gegenüber. Im Vorübergehen kaufte ich ihr rasch in der Konditorei eine Schachtel Pralinen. - Als ich zu ihr ins Zimmer trat, versagte mir der Atem: Sie lag auf dem Bett ausgestreckt, den Kopf seitwärts etwas herabhängend, der linke Arm, aus dem Blut tropfte, hing über die Bettkante, die ganze Bettvorlage, auf der ein offenes Taschenmesser lag, war blutig. Sie hatte sich in die Pulsader geschnitten. Sie war matt, aber noch bei sich. Ich riß sofort das Handtuch von dem Handtuchständer und band ihr, so fest es ging, den Arm ab, den ich hochlegte. Dann jagte ich die Hausfrau zum nächstbesten Arzt. Ganz in der Nähe wohnte einer. Ich besah mir die Wunde: der Schnitt schien die Hauptader nicht getroffen zu haben, jedoch es blutete noch immer stark. Ich band ihr noch ein Taschentuch ums Handgelenk und wartete erregt aufs Eintreffen des Arztes. Zum Glück hatte die Hausfrau ihn zu Hause vorgefunden. Er war gleich mitgekommen; es waren seit dem Weggehen der Hausfrau kaum zehn Minuten verflossen. Der Arzt, dem sie den Vorfall berichtet hatte, hatte Verbandszeug mitgebracht. Es war ein älterer, unscheinbarer Mann, dessen Ruhe und Sachlichkeit Vertrauen einflößte. Ohne Lilly erst durch unnötiges fragen, was sie zu einem solchen verzweifelten Entschluß veranlaßt habe, zu quälen, entfernte er das Taschentuch, das ich ihr umgebunden hatte, besah die Schnittwunde, die nach der Abnahme des Taschentuches wieder zu bluten anfing, wusch sie mit Alkohol aus, legte Eisenwatte über und verband sie fachmännisch mit der Anweisung, den Verband daranzulassen, bis er am nächsten Morgen wiederkäme. Das Handtuch um den Arm könne noch etwa eine Stunde bleiben und dann abgenommen werden. Dann strich er Lilly mit der Hand über das Haar, nachdem er sie auf dem Bett zurechtgelegt hatte, und sagte mit einem gütigen Tonfall in der Stimme: „Diesmal ist es noch glücklich abgegangen, Kind; künftig machst du aber keine solchen Dummheiten mehr, nicht wahr? Versprich’s mir.“ Das beklommene, etwas Ungewisse „Ja“, das sie hervorbrachte, war der erste Laut, den ich von ihr vernahm, seit ich ins Zimmer getreten war. , Jetzt schlaf dich erst einmal gut aus, und morgen, bis ich wiederkomme, hat alles ein ganz anderes Gesicht; das Leben ist doch viel zu schön, als daß man so leichtsinnig damit umgehen darf.“ Damit packte er seine Sachen wieder in seine Ledertasche und verabschiedete sich von ihr mit einem: ,,Also, recht brav sein.“ Ich geleitete ihn auf den Haus flur. „Ist die Lage bedenklich?“ fragte ich ihn, „und besteht die Gefahr einer Nachblutung?“ „Nein, der Schnitt ist glücklicherweise nicht tief gegangen. Vermutlich hat sie, als es zu bluten anfing, Angst bekommen und das Messer fallen lassen, das anscheinend auch nicht sehr scharf war. Immerhin war es ein Glück, daß Sie so bald dazugekommen sind, sie hätte sonst, wenn sie längere Zeit mit herabhängendem Arme so gelegen hätte, doch nach und nach versickern können. Sie haben es ja auf der Vorlage gesehen: sie hat schon ziemlich Blut verloren. Jetzt ist sie natürlich etwas matt nach solchem Aderlaß, aber das gibt sich wieder, wenn sie sich ausgeschlafen hat. Sollte sie nach etwas zu essen verlangen, so lassen Sie ihr ein Ei in gutem Rotwein zerschlagen. Sie scheint seelisch eine sehr dünne Haut zu haben. Ich dankte dem Arzt für seine rasche Hilfe. „Ein solcher Unfug“, brummte er im Fortgehen. „Das hätte übrigens auch für Sie eine recht peinliche Situation werden können, wenn die Sache schiefgegangen wäre.“ „Ich weiß es. Gottlob, daß es so abgegangen ist.“ - Erleichtert kehrte ich zurück ins Zimmer. „Ich schlafe heute nacht bei dir, Lilly, auf dem Sofa und gehe morgen früh von hier aus in den Stalldienst; einen Wecker wird Frau Heimerl ja wohl haben.“ „Nicht wahr, ich war sehr dumm? Aber ich kann doch den Gedanken nicht ertragen, daß du mit einer anderen Frau dich abgibst; ich habe doch nur dich; du mußt nicht böse sein - nicht wahr, du bist mir doch nicht böse?“ Es klang halb angstvoll fragend, halb entschuldigend. „Nein, Lilly, ich bin dir nicht böse. Aber wenn ich einmal in Gesellschaft mit anderen Frauen zusammen bin, so gebe ich mich darum noch lange nicht mit ihnen ab, wie du das ausdrückst; so viel Vertrauen mußt du schon zu mir haben! Doch darüber können wir auch noch morgen reden. Frau Heimerl wird jetzt erst einmal die Vorlage mit hinausnehmen und dein köstliches Blut, das du unnötigerweise für mich vergossen hast, 104
aufwischen, und dann mußt du schlafen. Mit dem Neubeziehen des Bettes warten wir bis morgen.“ Ich ging hinaus zu Frau Heimerl, sie zu verständigen. „Das werden wir gle ich haben“, meinte sie, „die Hauptsache ist, daß das mit dem Fräulein einen guten Ausgang genommen hat.“ Diese Frau hatte das Herz auf dem rechten Fleck; die meisten ihrer Bildungsstufe hätten kein gutes Haar an Lilly gelassen und sie unnachsichtlich an die Luft gesetzt, schon allein wegen der verdorbenen Vorlage und der Schererei, die sie ihr gemacht hatte. „Die Vorlage bekommen Sie natürlich ersetzt.“ „Das hat's nicht nötig, die läßt sich auswaschen.“ „Und wenn: gleich morgen gehe ich in die Stadt und besorge Ihnen eine neue.“ „Wenn’s schon sein muß, aber dann kaufe ich sie lieber selber; wissen Sie, es ist von wegen dem Geschmack.“ „Natürlich, Geschmack ist nicht jedermanns Sache.“ - Der Boden war bald aufgewischt und die Vorlage entfernt. „Sie haben aber ordentlich Blut verloren - gelt, so was Dummes machen’s nimmer“, meinte Frau Heimerl, während sie die zusammengerollte Vorlage in den Aufwascheimer steckte und die Hände an der Schürze abtrocknete, und wenn Sie etwas zum Essen haben wollen, brauchen Sie nur zu rufen.“ „Ich bleibe heute die Nacht bei Fräulein F. ... ger. Sie haben doch sicher einen Wecker, damit ich mo rgen früh rechtzeitig aufwache.“ „Auf wann soll ich ihn stellen?“ „Auf fünf Uhr. Um dreiviertel auf sechs muß ich in der Kaserne sein. Vorher muß ich mich aber noch zu Hause umziehen.“ „Zum Abendessen richte ich Ihnen einen Tee und kalten Aufschnitt.“ „Vielen Dank, Frau Heimerl. Sie sorgen für uns wie eine Mutter.“ „Ich habe ja sonst niemand, für den ich sorgen kann, seitdem mein Mann tot ist.“ Sie ging gerührt hinaus mit ihrem Eimer. - „Und jetzt wird geschlafen, Lilly. Ich schreibe erst noch einen Brief an meinen Vater, er wird sich ohnehin wundern, warum er so lange nichts von mir gehört hat, und dann setze ich mich in den Sessel am Ofen und lese.“ Es dauerte nicht lange, bis Lilly einschlief; sie war vom Blutverlust doch reichlich mitgenommen. Der Abend verging langsam. Zum Lesen hatte ich nicht die rechte Sammlung. Ich malte mir aus, wie alles hätte werden können, wenn ich bei Kahn nicht so frühzeitig aufgebrochen wäre. Seltsam, der barocke alte Kauz, der grade im rechten Augenblick erschienen war, wie wenn das Schicksal ihn hergeweht hätte. Ob es so unerklärliche Zusammenhänge wirklich gab? Geheimnisvolle Fäden, an denen wir wie Marionetten von einer unsichtbaren Hand geführt werden, ohne daß wir etwas davon ahnen wo aber bleibt dann unsere Willensfreiheit? - Totensonntag: da war es wieder, das beklemmende Wort, und kreuzte meine Gedanken. Hatten ihre Toten es nicht gewollt, daß Lilly jetzt schon zu ihnen zurückkehre? - Und was war das für eine Zukunftsperspektive: ständig davor zittern zu müssen, Lilly werde bei ihrer überreizten eifersüchtigen Veranlagung bei der nächstbesten Gelegenheit sich wieder zu einem unbesonnenen Schritt hinreißen lassen? Und sie hatte es ja doch getan aus Angst, mich zu verlieren. Aber die Rückwirkung eines solchen Erlebnisses mit allem, was an Folgen daraus hätte entstehen können, wirkt mehr ernüc hternd als zueinanderführend, denn es liegt in einer solchen Handlung immer etwas von Vergewaltigung, was die Liebe nicht befeuert, sondern abkühlt. Seit dem ersten Tage meines Zusammenseins mit Lilly war mir der Gedanke eines Auseinandergehens nie gekommen, nach diesem Vorfall aber stiegen die ersten ernstlichen Bedenken in mir auf und verdichteten sich zu der Frage: Für heute und zur Not für morgen ist das alles schön und gut, aber was wird übermorgen? Die Aussicht, mich aus irgendeinem nichtssagenden Grunde neuerdings vor eine ähnliche Situation mit einem zweifelhaften Ausgang gestellt zu sehen, warf einen Schatten auf den Juniweg mit Lilly, wie ich ihn noch vor wenigen Wochen durch die Landschaft einer unbeschwerten Zukunft vor mir aufgetan sah. – „Mach keine Dummheiten“, hatte mein Vater wohlmeinend gesagt ... Auch Väter haben recht mitunter. Lilly schlief die Nacht durch ruhig. Sie bemerkte meinen Aufbruch kaum am nächsten Morgen; den Wecker hatte ich, gleich als er anfing anzulaufen, unter das Kissen geschoben. Meinem Freunde Glaser berichtete ich in der Pause nach dem Stalldienst den ganzen Vorfall ausführlich. Nach Anhören bemerkte er in der ihm eigenen Art trocken und lakonisch: „Besser einen Ro man schreiben, als ihn erleben.“ Beim Mittagstisch entschuldigte ich mich bei dem Einjährigen Kahn wegen meines Ausbleibens, ohne den eigentlichen Grund anzugeben. Ich hatte gehofft, über seinen wunderlichen Besuch etwas zu hören, da er jedoch darüber hinging, erschien es mir indiskret, ihn danach zu fragen. - Gleich nach dem Mittagessen vor dem Fußexerzieren ging ich auf einen Sprung zu Lilly, um zu sehen, wie es dort steht. Sie lag noch zu Bett, der Arzt war dagewesen und hatte 105
sich befriedigend geäußert. Den Verband wollte er erst am nächsten oder übernächsten Tage abnehmen. Lilly war ganz Hingabe, ich hätte es nicht über mich gebracht, ihr Vorwürfe zu machen. Sie sagte, sie wolle gegen Abend, bis ich käme, aufstehen. Ich gab ihr Eichendorffs „Taugenichts“ zu lesen, um sie in eine blühende, selige Welt zu fuhren. Es gibt nichts Heilsameres als reine Dichtung. „Dichtung ist alles, womit der Mensch sich seine Schmerzen lindert.“ Diese Strophe Alfred Momberts sollte über der Türe eines jeden Seelenarztes stehen. Die Zeit verlief in immer gleichem Ablauf: tagsüber die Kaserne und die Abende bei Lilly. Anfang Dezember wurden die Einjährigen vom Stalldienst befreit. Das hatte den Vorteil, daß man anstatt früh um fünf Uhr erst um halb sieben aufzustehen brauchte, und auch am Nachmittag war man bereits um fünf Uhr fertig - eine sehr spürbare Erleichterung. Wiewohl sich Lilly immer wieder nach einer ihr gelegenen Stellung umtat: es fand sich nichts. So verlief ihr Leben in der immer gleichen Monotonie. Daran war nichts zu ändern, aber es lastete auf ihr und machte sie mißmutig. Es war für sie wahrhaftig auch nicht leicht, sich damit abzufinden. So kam es, daß sie sich noch immer fester an mich klammerte. Weihnachten rückte allmählich näher und damit auch der Weihnachtsurlaub. Länger als über die Feiertage würde er nicht dauern, aber das war schon immerhin ein Lichtblick, wenigstens für meine Miteinjährigen, für mich bedeutete es nur eine neue Komplikation: Mein Vater hätte es mir in einer nie wiedergutzumachenden Weise verübelt, wenn ich nicht wenigstens für den Heiligen Abend und den ersten Weihnachtsfeiertag zu ihm gefahren wäre, und auch für mich war es etwas Selbstverständliches, ihn nicht allein zu lassen; es wäre das erste Mal gewesen, daß ich den Weihnachtsabend nicht zu Hause verbracht hätte. Aber für Lilly bedeutete das trostlose Weihnachtstage. Als ich zu ihr darüber sprach, war ich gerührt, mit welcher Selbstverleugnung sie mein Wegfahren als etwas Gegebenes hinnahm und mir den Entschluß sogar leicht machte. Sie mochte wohl dabei an ihre Großmutter gedacht haben, wie diese es empfunden haben würde, wenn sie ohne sie den Weihnachtsabend allein hätte verbringen müssen. - Der Einjährige Kahn hatte hierbei wieder ins Schwarze getroffen: Da das Weihnachtsfest ihn ohnehin nichts anging, konnte er getrost nach Heidelberg fahren und dort ungefährdet in Zivil mit Tini und Nelly in einem christlichen Familienkreis die Festtage begehen. Aber das Schicksal hatte es doch zuletzt mit Lilly besser vor: Mein Freund Glaser, der sich mit seinem Vater denkbar schlecht stand, verspürte nicht die geringste Lust, sich die paar Tage Weihnachtsurlaub in häuslicher Disharmonie verderben zu lassen und war entschlossen, in Karlsruhe zu bleiben. Da er jedoch in Karlsruhe sonst niemand hatte, so begrüßte er meinen Vorschlag, den Heiligen Abend mit Lilly zu feiern, freudig, denn er mochte sie auf seine Weise gern, und außerdem tat sie ihm leid; er hatte im Grund eher ein zu weiches Herz, das er darum hinter einer zynischen Maske auch seinen Freunden gegenüber zu verbergen suchte. - So hatte dieses Dilemma zuletzt doch eine befriedigende Lösung gefunden. Gelegentlich meines Urlaubs fragte mich mein Vater, ob ich mit meiner Heidelberger Freundin noch zusammen wäre. Wie hätte in dem Heidelberg von damals auch so etwas unerörtert bleiben könne? „Nur gut, daß ich nicht unentwegt in Heidelberg bin“, war meine doppelsinnige Antwort. Der Urlaub war vorbei. Der Dienst lief stur und einförmig, wie er begonnen hatte, weiter. Ich hatte zufällig ein paar junge Karlsruher Maler, die dort auf der Kunstakademie studierten, kennengelernt und wurde gelegentlich zu ihren Abenden eingeladen. An einem dieser Abende kam es zur Sprache, was man als Aufführung bei der Veranstaltung des Künstlerbundes in dem bevorstehenden Fasching bringen solle. Es wurde hin und her beratschlagt, und da ich beiläufig einmal einigen der Künstler Verse von mir vorgelesen hatte, die ihren Beifall fanden, so befragte man mich um meine Meinung, und einer von ihnen schlug vor, ich solle ein Faschingsspiel schreiben, es müsse aber kurz sein, da an einem solchen Abend die allgemeine Aufmerksamkeit nur 106
beschränkt sei. Ich bat mir bis zum nächsten Zusammensein Bedenkzeit aus. Es war damals grade die Zeit, als ich Lilly die „Reiseschatten“ von Justinus Kerner vorlas, ein Buch voll von wunderbarem, zwie lichtigem Humor und Tiefsinn, in das zwei Schattenspiele eingeflochten sind, die ich schon seit meiner ersten Lektüre dieses so abseitig romantischen Buches noch aus meiner Gymnasialzeit her besonders liebte. Von diesem Buch ging die Anregung für mich aus, ein Schattenspiel zu schreiben, doch nicht für Schattenfiguren, sondern von lebenden Personen gespielt und projiziert auf eine Leinwand. Ich machte mich schon gleich am nächsten Abend an die Arbeit. Spukhafte Faschingsstimmung, gedrängt in einen kurzen Ab lauf, war das, worauf ich mein Augenmerk richtete. Als wir wieder zusammenkamen, konnte ich das fertige Spiel mitbringen. Die Zustimmung, als ich es vorgelesen hatte, war allgemein. Es wurde dem Komitee zur Prüfung und Entscheidung vorgelegt und die Aufführung beschlossen. Das Spiel trug den Titel: MASKEN ERSTES BILD Späte Nebelnacht. Straßenkreuzung. Die Fenster der Häuser sind leer und dunkel. Pierrot, allein, hält weiße Glockenblumen in der einen Hand und in der ändern die Gitarre. Pierrot Wo bin ich? Wo war ich? Das Maskengeschwirr, Noch klingelts und wogts um mich - ging ich schon irr? Wie schwelend der Nebel sich gegen mich stemmt! Wie jäh die gequollene Nacht mich beklemmt! Beweg ich mich vorwärts? Was ängstigt mich jetzt? Verwischt sich die Nähe? Wo lebt ich zuletzt? Ich weiß nur : aus wächserner Larve mit eins Vergrub sich ein quälendes Auge in meins. Und weiter? Nichts haftet, als daß ich es floh. Verschlief ich die Liebe? Ich fürchte mich so. Mein lautlos Leben ist also versteint - Was löst sich dort hell und ertönt und erscheint? Ganz Geist gewordene Musik wird hörbar. Ein Maskenleichenzug zieht vorbei. Auf dem Totenwagen ein gläserner, mit Blumen hochbestreuter Sarg. Darinnen liegt sichtbar eine schöne, weiße Braut. Alles ist phantastisch aufgeputzt, doch scheingestaltig. Das Gefolge trägt Instrumente fremder Form und Art, die aus sich selber spielen. Pierrot steht unbeweglich. Eine Maske in Grau und Gold singt: Weiße Braut, Wirst getraut. Wir folgen all Zum Hochzeitsball. Grau und Gold Nimm als Sold. Gold schminkt rot, 107
Grau bringt Tod. Wirst getraut; Weiße Braut. Eine Maske auf einem Maulwurf reitend, singt: Hüh Hott, Spute den Trott! Wohl sind wir zur Feier Der Hochzeit vereint, Es fehlt nur der Freier, Die weiße Braut weint. Spute den Trott, Hüh Hott! Eine Maske mit großen Fledermausflügeln singt: Bald sind wir zur Stelle, Erhellt ist die Schwelle Der grauen Kapelle, Der Freier ist nah. Die weiße Braut weihte Sich ihn zum Geleite Da sprang eine Saite. Ich sah, was ich sah. Eine Maske in Violett mit einer Fackel singt: Leuchte! Schwele! Eine Seele Ist entfacht In der Nacht. Drum verglühe Nicht zu frühe, Eh die Braut Ihm getraut. Und dann schwinde Und erblinde, Und wie Rauch Fliehn wir auch. Pierrot hat, ohne es zu wissen, mit greifender Gebärde dem Sarg die Glockenblumen zugeworfen. Der Zug ist vorbeigezogen. Mit dem Verwehn der letzten Maske zerreißt grell eine Saite der Gitarre. Dann wird es undurchdringlich finster.
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Vorhang ZWEITES BILD Halb erhellte Grabkapelle. Im Hintergrunde am Altar der aufgebahrte gläserne Sarg. Die Maske in Violett mit der Fackel steht daneben. Andre wirbeln und bewegen sich im Durcheinander. Besonders hebt der Tod von Basel sich hervor. Die weiße Braut liegt wie zuvor im Sarge. Vorne aber tanzt Pierrot mit ihr, die nun die Glockenblumen an der Brust trägt, mit geschlossenen Augen einen edlen Tanz. Eine weiß und rote Brautjungfer steht rechts, eine weiß und blaue links von ihnen. Im Wechselgesang: Die Weiß und Blaue Tief im Grunde dieser Stunde Ruhn zwei Seelen hingegeben; Blute, Wunde, flute, Wunde, Aus dem Tode in das Leben, Aus dem Leben in den Tod Und die Fackel loht, verloht. Zu Zweien Fackel, lodre, Fackel, glühe, Und erlösche nicht zu frühe! Die Weiß und Rote Schatten - Lichter, Lichter - Schatten, Eines fließt ins andre über; Jede Sehnsucht, die sie hatten, Wird Gestalt und zieht vorüber. Mit dem Stern, der draußen fiel, Starb für diese Zeit und Ziel. Zu Zweien Fackel, lodre, Fackel, glühe, Und erlösche nicht zu frühe! Die Weiß und Blaue Lausche, lausche - die Gitarre Hat die ganze Nacht geklungen. Stille, stille - eine starre Saite ist im Frost gesprungen. Ewig nun und wie ein Traum Irrt der Klang umher im Raum. Zu Zweien Fackel, lodre, Fackel, glühe, Und erlösche nicht zu frühe! Die Weiß und Blaue Bald, o bald - zwei weiße Hände 109
Wird ein dunkler Priester einen Wer die frühe Fügung fände, Müßt verschatten und verscheinen. Weiße Braut, wie bist du kalt! Und der Bräutigam ward alt. Zu Zweien Fackel, lodre, Fackel, glühe, Und erlösche nic ht zu frühe! Der Tanz Pierrots mit ihr, die er in seinen Arm geschmiegt hält, geht allmählich aus. Die Masken ziehen sich im Kreis um sie und singen: Bräutigam, bereite dich, Zähle deine Jahre! Sieh dort, sieh: dein zweites Ich Winkt dir von der Bahre, Winkt dir am Altare. Führe deine weiße Braut Vor den Priester, der euch traut. Pierrots Scheingestalt ist flüchtig aufgetaucht und wieder erloschen. Der Tod von Basel steht als Priester vor der Bahre. Die Masken treten auseinander. Pierrot, mit ihr, die er nun an der Hand führt, hat sich dem Altar genähert. Die Maske in Violett senkt die Fackel. Der Tod von Basel Angelobte, diese Nacht ist euer, Mehr, als wenn ihr hell im Leben stündet. Jede Seele ist in sich entzündet, Jede Seele nährt ihr einsam Feuer. Doch ihr Abglanz ist ein blinder, scheuer, Bis sie funkelnd in die andre mündet. Aber manche müht sich und ergründet Erst zuletzt ihr ewiges Abenteuer. Weiße Braut, der Bräutigam erkor dich, Bräutigam, die weiße Braut tritt vor dich, Wo der Weg sich zeitlos überweitet. Eh ihr noch zur Leiblichkeit euch zweitet, War schon immer diese Stunde euer. Leuchtet aus in ein gemeinsam Feuer. Und die Masken singen: Wenn der Fackel Glanz vergeht - Bräutigam, wie bleichst du -. Ist der Mummenschanz verweht 110
- Bräutigam, wie gleichst du Der, die du im Tanz gedreht Weiße Braut, entweichst du? Diese Stunde eint und endet, Eure Sehnsucht ist vollendet. Da erlischt die Fackel, mit ihr die Masken und alles. Nur die Ampel am Altar beleuchtet trübe eine aufgestellte Bahre und etwas Schimmerndes davor am Boden. Der Tod von Basel steht allein vor dem Altar und monologisiert: Als zum letztenmal ich diese beiden Eingeholt aus ihrem vorigen Leben, Damals war es ihnen schon gegeben, Daß sich ihre Wege wieder schneiden. Mutter, Bruder, Gattin, Freund, Geliebte: Alles sind die Menschen sich gewesen, Wenn wir ihre Leben rückwärts lesen Durch die Zeiten; aber jedes siebte Leben steht in seinem eignen Lichte, Denn die Waage liegt an dieser Stelle Einen Augenblick im Gleichgewichte. Alle sehe ich so gehen, kommen. Alle, einen Einzigen ausgenommen, Holt ich ein an dieser selben Schwelle Und auch euch erwart ich mit der Elle. Der Vorhang fällt langsam. Als ich Lilly das Spiel vorgelesen hatte, schwieg sie erst in sich hinein, dann sagte sie wie etwas Selbstverständliches: „Ich weiß, du hast das Spiel für mich geschrieben; ich selbst bin ja die weiße Braut, die in dem gläsernen Sarg begraben wird; du hast mein eigenes Märchen gedichtet." Ich sah erschrocken auf; eine solche Sinngebung hatte ich nicht erwartet. Das Bild Lillys war mir, als ich das Spiel schrieb, nicht in die Vorstellung getreten. War es doch untergründig mitgegangen und hatte unbewußt Gestalt gewonnen? Das ganze Spiel war ja doch nur eine frei erfundene Phantasmagorie. Nun legte Lilly einen Sinn hinein, der mich bestürzte. „Wie kommst du nur auf solche Einfälle, Lilly? Ein Dichter, wenn er einer ist - ich kann das heute noch nicht von mir sagen, - schafft doch aus seiner Phantasie; gewiß, er lebt in einer Wirklichkeit, aber in einer transzendierenden ... doch das verstehst du nicht, ich meine: die Bilder, die er findet, und die Gestalten, die er hinstellt, kommen ihm von irgendwoher zugeflogen, sie sind doch nicht einfach der Abklatsch dessen, was er um sich her erlebt und was er dann wie Kinderbilderbogen hinmalt. Das tun höchstens Romanschriftsteller und da auch nur die schlechten.“ „Aber damit sprichst du doch grade aus, was ich gemeint habe, als ich vorhin sagte: ,Du hast mein eigenes Märchen geschrieben’. „Du bist ein seltsames Geschöpf, Lilly, ich glaube, ich werde dir niemals bis auf den Grund sehen.“
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Die Aufführung des Spiels wurde vorbereitet. Daß die Verse nicht wie auf dem Theater rezitiert oder wie Prosa zerstückelt gesprochen werden durften, sondern rhythmisch- melodramatisch zu bringen seien, war den Spielern - es waren alles Kunststudierende - selbstverständlich. Die Kunstgewerblerin, welche die weiße Braut zu spielen hatte, war von einem großen, fast beängstigenden Liebreiz. Sie hatte, wie sie so im gläsernen Sarg lag, etwas wirklich Erdentbundenes. Lilly war untröstlich, daß sie nicht diese Rolle spielen konnte; es war nicht eben leicht, ihr begreiflich zu machen, daß es sich um eine Veranstaltung der Künstler handle, bei der Nichtzugehörige nicht mitwirken könnten. Sie meinte: da ich das Spiel geschrieben hätte, so hätte ich doch auch das Recht, bei der Besetzung der Rollen ein Wort mitzureden. Aber auf dem Faschingsfest der Aufführung beizuwohnen, sei ihr doch wenigstens erlaubt? Selbstredend, ich würde sehe n, daß ich für sie und auch für Glaser Eintrittskarten bekäme. Damit gab sie sich mißwillig zufrieden. Nachdem das Fest eine geschlossene Veranstaltung des Karlsruher Künstlerbundes war und nur geladene Gäste Zutritt hatten, so konnten wir, Glaser und ich, ganz unbedenklich in Zivil oder maskiert erscheinen, da bei der Abneigung der Künstler gegen das Militär im allgemeinen und gegen Offiziere im besonderen, die letzteren grundsätzlich niemals eingeladen wurden. Das Fest fand am Sonnabend vor Fastnacht statt. In geschlossener Droschke fuhren wir mit Lilly in den Künstlerbund. An diesem Abend waren auch die Akademieprofessoren, darunter Schönleber und der weißbärtige Hans Thoma, anwesend. Ich war, als das Spiel anfing, etwas nervös; doch schon nach den ersten Versen des Pierrot, die er sehr eindringlich sprach, waren die Zuschauer gefangen, und als der gläserne Sarg der weißen Braut mit dem phantastischen Maskenzug vorbeizog, war die Wirkung stark und überzeugend, was nicht zuletzt an der spukhaft-unheimlichen Musik lag, die ein Musikhochschüler von vielversprechender Begabung (er starb kaum ein Jahr später) dazu komponiert hatte. - Es war ein seltsames Gefühl für einen kleinen Einjährigen, sich nicht mehr als Pennäler oder als Rekruten angeschrien zu sehen, sondern zum ersten Male als Dichter sich bewusst zu werden, mochte es auch nur im Abglanz eines Fastnachtsschattenspiels sein. Es war schon gegen Morgen, als wir nach Hause kamen, und Glaser meinte, nachdem wir Lilly bei ihrer Wohnung abgesetzt hatten, beim Aussteigen: „Du hast das Spiel wohl unter der Nachwirkung von Lillys Selbstmordversuch geschrieben.“ „Du bist besoffen; geh, schlaf deinen Rausch aus!“ Ich kehrte ihm den Rücken und zog den Hausschlüssel, um auf zuschließen. Seit jenem Abend wurde das Soldatsein mir von Tag zu Tag verhaßter. Offizierskarriere! Staatsbeamtenlaufbahn! Höherer Staatsbeamter: Voraussetzung Reserveoffizier. Standesbewußtsein! Offiziersehrenkodex! Gesellschaftliche Stellung! Protektion! Freie Berufe: nicht gesellschaftsfähig ... Wie beneidete ich die Künstler um ihr gelöstes, unverbindliches und freies Dasein. Offiziere in ihrem Kreise unerwünscht. Was hatten sie auch dort verloren? Da war die diplomatische Laufbahn, wie sie mein Vater für mich dachte, noch die begehrenswerteste: da kam man wenigstens ins Ausland mit anderen, weiteren Perspektiven und Vergleichsmöglichkeiten. Doch Diplomat und Dichter? Wie paßte das zusammen? Allerdings: Goethe war Staatsminister, aber in einer anderen Zeit, und dann: bei Goethe lagen immer alle Dinge nun einmal ganz anders. Mir ging das alles in dem Kopf herum, wenn nur das Einjährigenjahr erst einmal vorbei wäre! Da, eines Morgens nach dem Reitunterricht, rief mein Ausbildungsoffizier, Leutnant von Radowitz, mich zu sich: „Einjähriger von B ..., haben Sie nicht schon einmal daran gedacht, überzutreten und bei den Leibdragonern Offizier zu werden?“ „Nein, Herr Leutnant!“ „Und hätten Sie nicht Lust dazu? Man würde sie beim Regiment gerne aufnehmen.“ „Ich muß darüber erst mit meinem Vater sprechen. Er möchte, daß ich Diplomat werde.“ „Sie können ja später Militärattaché werden. Damit ist sicherlich Ihr Vater einverstanden.“ „Ich werde mit meinem Vater Rücksprache nehmen und dann Herrn Leutnant melden, was er dazu gesagt hat.“ „Sie können über Samstag nachmittag und Sonntag Urlaub nehmen, um nach Heidelberg zu fahren. Montag höre ich dann von Ihnen, wie sich Ihr Vater dazu gestellt hat - vorausgesetzt natürlich, daß Sie selbst der Vorschlag anspric ht.“ „Zu Befehl, Herr Leutnant.“
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Ich, aktiver Offizier werden? Das war ja wohl das letzte, was mir als Wunschbild vorschwebte. Doch mußte ich mir sagen: nachdem mir von Leutnant von Radowitz gewissermaßen im Namen des Regiments nahegelegt worden war, als Fahnenjunker darin einzutreten, so würde ich, wenn ich abschlüge, später niemals als Reserveoffizier darin Aufnahme finden, sondern voraussichtlich zum Train abgeschoben werden, eine für die damaligen Begriffe beschämende Verwandlung. Nun ging meine weitere Überlegung dahin: wenn ich jetzt überträte, würde ich bald darauf Unteroffizier und nach nicht langer Zeit Fähnrich und wäre damit wenigstens aus dem Widerwärtigsten heraus. Dann kämen allerdings neun Monate Kriegsschule, aber bis etwa Ostern nächsten Jahres wäre ich Leutnant und würde im Herbst darauf den Abschied nehmen. Ich hätte damit auch nicht viel mehr Zeit verloren, als wenn ich das Einjährigenjahr zu Ende diente und dann in den folgenden Jahren erst meine Unteroffiziers-, im Jahre drauf die Vizewachtmeisterübung und schließlich meine Offiziersübung zu machen hätte, jeweils sechs Wochen, was auch wieder insgesamt viereinhalb Monate ausmachte. So ginge alles in einem Aufwasch. Studenten, die erst ihr Einjährigenjahr abdienten, dann vier Semester bei einer Korporation verbummelten und überdies noch die drei Übungen zu absolvieren hätten, verlören mehr Zeit ... Warum sollte ich also nicht auf den mir gemachten Vorschlag eingehen? Mein Vater, dem ich sonntags darauf die ganze Sache vortrug, wollte zuerst nichts davon hören, doch als ich ihm dann alles so, wie ich es bei mir überschlagen hatte, darlegte, erschienen meine Argumente ihm plausibel, und er gab mit einem trockenen und einem nassen Auge seine Zustimmung. Vielleicht fürchtete er insgeheim, ich könnte mit dem Schlendrian, wie er es nannte, mich mit der Zeit befreunden und zuletzt dabeibleiben. Eine Sorge, die wahrhaftig unbegründet war. Am ändern Morgen meldete ich mich bei Leutnant von Radowitz. „Und was hat Ihr Vater gesagt?“ „Er ist einverstanden.“ „Na, sehen Sie, und Sie?“ „Nachdem mein Vater eingewilligt hat, gibt es bei mir natürlich kein Bedenken.“ „Das habe ich auch nicht anders erwartet.“ Er reichte mir die Hand. „Nun reißen Sie sich, bis Sie zur Kriegsschule abkommandiert werden, zusammen. Ich werde dem Herrn Major von Ihrem Entschluß berichten. “ Am Nachmittag wurde ich zum Major von Skopnik befohlen. „Ich höre von Leutnant von Radowitz, daß Sie bei uns eintreten wollen“, schnarrte er. „Sind Sie sich auch der Auszeichnung bewußt, einem so vornehmen Regiment angehören zu dürfen?“ „Zu Befehl, Herr Major.“ „Sie werden die Ehre haben, des Kaisers Rock zu tragen. Der Offiziersberuf ist der verantwortungsvollste und schwerste unter allen Berufen, haben Sie sich das auch klargemacht?“ „Zu Befehl, Herr Major!“ Rindvieh, dachte ich dabei, kompletter Hohlkopf ... Wenige Tage darauf war ich Fahnenjunker und wurde noch vor dem Schwadronsexerzieren zum Unteroffizier befördert. Von da an aß ich nicht mehr im Restaurant der Einjährigen, sondern hatte an den Mahlzeiten im Offizierskasino teilzunehmen. Damit war ich noch unfreier als vorher. Mein Entschluß wirkte auf Lilly niederschmetternd. Das einzige, was ihr den derzeitigen leidigen Zustand noch erträglich machte, war das Bewußtsein gewesen, daß es nur noch ein halbes Jahr sei, bis Karlsruhe hinter ihr liege und sich ein neues, abwechselungsreicheres Leben vor ihr auf tue. Nun aber war auch diese Hoffnung gescheitert: Was würde werden, wenn ich demnächst für dreiviertel Jahre auf Kriegsschule käme, wohin sie mich wohl kaum würde begleiten können, und hinter der Kriegsschule stand für sie nur wieder das Gespenst: Karlsruhe. „Ob jemals wieder eine Zeit kommt wie in Heidelberg? Weiß du noch, wie du mir im Café Haeberlein den Bleistift aufhobst und sagtest: ,Darf ich ihn behalten? Ich werde ihn nur benützen, um an Sie zu schreiben?“ „Ich weiß es noch, Lilly, und ich weiß auch, daß ich dir mehr versprochen habe, als ich halten konnte; aber wenn ich erst Offizier geworden bin und meinen Abschied genommen habe, dann wird wieder eine gute Ära kommen, auch für dich, Lilly.“ „Bis dahin sind es noch anderthalb Jahre, was kann inzwischen nicht alles geschehen? Wer weiß, ob ich bis dahin überhaupt noch lebe?“ „Was redest du für einen Unsinn, Lilly! Wir haben ja doch beide noch das ganze Leben vor uns.“ „Das ist ja grade das nicht Auszudenkende: ein ganzes Leben ohne Sinn und Inhalt!“ Ich mußte an die Worte des Arztes beim Hinausgehen im Hausflur denken: „Sie scheint seelisch eine sehr dünne Haut zu haben.“ „Weißt du, Lilly, damit dein Tag nicht einen ewigen Leerlauf hat, machst du vorerst einmal jetzt einen Handelsschulkurs durch, und wenn du damit fertig bist, sehn wir dann 113
weiter.“ Sie fiel mir um den Hals vor Freude über diesen Einfall. Schon tags darauf ging sie sich danach umtun. Von da an hatte sie eine geordnete und sie befriedigende Beschäftigung, was ihrer von Natur aus depressiven Stimmung sehr zugute kam, und auch für mich bedeutete diese vorläufige Lösung eine wohltuende Erleichterung. Gleich, nachdem ich Unteroffizier geworden war, machte ich mir auf dem Kasernenhof den Spaß, meinen Freund Glaser zu mir herzurufen, wobei er vorschriftsmäßig vor mir strammstehen mußte. Herablassend kommandierte ich: „Rühren!“ wobei er, während er den Befehl ausführte, zwischen den Zähnen leise knirschte: „Arschloch!“ - Mein Verhältnis zu meinen früheren Miteinjährigen erfuhr durch meinen neuen Dienstgrad keinerlei Änderung, und da das Essen im Offizierskasino erst um sechs Uhr nachmittags stattfand, so konnte ich wie seither am Einjährigenmittagstisch teilnehmen, wo ich mich sehr viel wohler fühlte und eine anregendere Tischgesellscha ft fand als im Offizierskasino. Die Zeit für den Antritt des Kriegsschulkursus war gekommen, und zwar auf der Kriegsschule in Danzig. Sämtliche Kriegsschulen befanden sich in Preußen, neben Danzig in Hannover, Potsdam, Anklam, Engers, Glogau, Neiße, Kassel. Auch hier wieder die preußische Tendenz zur systematischen Verpreußung der Armee. Ich hatte es mit Danzig noch verhältnismäßig gut getroffen, vor allem auch, weil es kein Nest war, so daß ich Lilly, wenn sie mich begleiten wollte, anstandslos mitnehmen konnte. Sie hatte dort auch sicherlich Gelegenheit, den Handelsschulkurs fortzusetzen. Ich erhielt drei Tage Urlaub, die ich dazu benutzte, um nach Heidelberg zu fahren und meinem Vater Adieu zu sagen. Nach meiner Rückkehr meldete ich mich bei dem Regimentskommandeur, Oberstleutnant von Unger, ab, lud meine ehemaligen Miteinjährigen zum Abschied zu einem Sektabend ein und fuhr dann mit Lilly an einem heißen Julitag über Berlin nach Danzig, wo ich mich gleich nach Ankunft in der Kriegsschule zu melden hatte. Ich hatte die Reise in Zivil gemacht, was selbstverständlich unstatthaft war, auch waren wir einen Tag vor dem vorschriftsmäßigen Termin in Danzig angekommen, wo wir - ich unter einem anderen Namen - im Hotel übernachteten und Zeit hatten, ein von der Kriegsschule hinreichend weit entferntes Zimmer zu suchen. Meine Zivilsachen ließ ich bei Lilly. DANZIG Dunkle Giebel, hohe Fenster, Türme tief aus Nebel sehn, Bleiche Statuen wie Gespenster Lautlos vor den Türen stehn. Träumerisch der Mond drauf scheinet, Dem die Stadt gar wohl gefällt, Als lag zauberisch versteinet Drunten eine Märchenwelt. Ringsher durch das tiefe Lauschen Über alle Häuser weit Nur des Meeres fernes Rauschen, Wunderbare Einsamkeit! Und der Türmer, wie Vorjahren, Singet ein uraltes Lied: Wolle Gott den Schiffer wahren, Der bei Nacht vorüberzieht!
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Dieses Gedicht schrieb Eichendorff, als er in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als Regierungsrat in Danzig tätig war. Das Danzig der Jahrhundertwende, wie ich es kennenlernte, mochte sich seit jener Zeit nicht sehr verändert haben. Die von dem nahen Meer und grünenden Hängen umschlossene ehemalige alte Hansestadt, die einer Oase gleich sich aus dem flüchtigen Dünensand hervorhebt, mit dem charakteristischen Gepräge ihrer Gassen und Plätze und einer Bevölkerung mit einem vorwiegend slawischen Einschlag in den niederen Schichten, wirkte auf den aus der überschwenglichen Main-Neckar-Landschaft Herverschlagenen befremdlich anziehend und irgendwie geheimnisvoll. Die parfümierten, oft überraschend reizvollen Straßenmädchen meist polnischer Abkunft, die wie in jeder größeren Hafenstadt den Vorübergehenden auf den abendlichen, matt erhellten, mittelalterlichen Straßen in ihre Haremsgärten einluden, hatten nicht wie in anderen Städten etwas Abstoßendes, sondern gehörten zur Umgebung mit ihren altertümlichen Laternen vor den Häusern und den Steinfiguren vor den Portalen, hinter deren verhangenen Fenstern sich ein unbekanntes, dem eigenen unendlich fernes, die Vorstellung beschäftigendes Leben abspielte. Und dann in den winkeligen, finsteren Seitengassen die kleinen Wirtschaften, in denen es „Danziger Gold“ gab. Und immer wußte man unweit das Meer und den großen Seehafen Neufahrwasser, von wo die schweren Frachtschiffe die Weichsel aufwärts durch die Mottlau bis ins Herz der Stadt zur Speicherinsel mit ihren großen Niederlagen für Getreide fuhren. Wie oft bin ich von der Kriegsschule aus über den Kohlenmarkt nachts durch die Langgasse und Jopengasse geschlendert, den Langen Markt hinunter am Arthushof vorbei über die Grüne Thorbrücke zur Speicherinsel oder hinauf zur Breiten Gasse und zum Altstädtischen Graben. Die Nächte inmitten dieser alten, steilen Häuser mit ihrer schmalen Giebelseite und ihren hohe n, eng nebeneinander gestellten Fenstern von kristallklarem Spiegelglas entrückten in eine traumwirkliche Vergangenheit, und man vergaß für eine kurze Weile, daß es ganz nahebei eine Kriegsschule gab mit kahlen Hörsälen, in denen preußische Hauptleute vor einer Schar mehr oder minder unfähiger Fähnriche, zu denen man selber gehörte, Taktik und Waffenlehre vortrugen. - Diese von salziger Meerluft durchwehte, durch so viele wechselnde Schicksale hindurchgegangene, schon über tausend Jahre alte Stadt, der 997 der Bischof Adalbert von Prag das Christentum gepredigt hatte, hatte untergründig noch immer etwas Heidnisches, das nächtlich aus dem Boden aufstieg: „Als läg zauberisch versteinet Drunten eine Märchenwelt.“ Unter der Nachwirkung dieses Erlebens entstand nicht ganz zwei Jahre später dieses Gedicht, das in meinem Erstlingsgedichtbuch 1903 Aufnahme fand: NACHTSCHAU Es war in einem fernen Land, In einer meerbespülten Stadt, Wohin einst, fremd und unbekannt, Mich mein Geschick verschlagen hat. Was da um Mitternacht geschah, Ist etwas, das ich nie erzählt, Das Wunderbare, das ich sah Und das mir noch die Seele quält: Die Gassen lang beim Mondenlicht Bewegte sich ein Leichenzug, Voran ein Mann, des Angesicht Die Züge des Erlösers trug. 115
Ihm folgte eine dunkle Schar, Gespensterhaft in dunklem Kreis Umringte sie die Totenbahr Und murmelte die Trauerweis: Wir bringen den letzten Christen zur Ruh! Wir haben uns heimlich aufgemacht Weh! Weh! Aus unseren Gräbern um Mitternacht, Auf daß ihm die letzte Liebe gescheh. Nun ists vollbracht! Und ausgeträumt, zerronnen in nichts Der goldene Traum erlösenden Lichts; Auf ewig schließt sich der Himmel zu Wir bringen den letzten Christen zur Ruh! -------------------------------------------------Und immer ferner scholl der Sang, Und immer ferner schwand der Zug, Bis Grau und Dunkel ihn verschlang Ich aber stand und stand noch lang Und hörte, wie es ein Uhr schlug ... Die Kriegsschule, ein quadratisches, dreistöckiges Gebäude, lag am Rande der Stadt an der Hagelsberger Höhe mit einem weiten Ausblick, direkt angrenzend an den weitläufigen Nordwestfriedhof, den man aus den Nordfenstern vor sich liegen sah. Da war er also wieder, der unselige Friedhof, nur diesmal in unmittelbare Nähe gerückt. Um so entschlossener war ich, am künftigen Totensonntag ihn nicht zu besuchen, nicht einmal aus dem Fenster auf ihn hinzusehen. Es waren etwa 80 bis 100 Fähnriche der verschiedensten Waffengattungen aus allen Teilen Deutschlands, die sich zum Kriegsschulkursus dort zusammenfanden. Nie wieder habe ich eine so geist- und seelenlose Gesellschaft junger Menschen, bar jedes ernsthaften Interesses, zusammen gesehen. Das also war der Nachwuchs des deutschen Offizierskorps um 1900. Ein einziger Fähnrich namens Utzsch aus einem Linien-Infanterieregiment las nebenbei einmal ein Buch und war etwas über dem unteren Durchschnitt, dafür hatte er aber die Lues. Fünf bis sechs Fähnriche hatten immer einen gemeinschaftlichen geräumigen und hellen Schlafsaal mit anstoßendem Arbeitszimmer, in dem lange Tische mit Schubfächern standen. Der Unterricht wurde in einem großen Hörsaal von Hauptleuten erteilt und hatte einen halb schulmäßigen, halb akademischen Charakter. Die Anforderungen waren gering. Die interne Aufsicht lag nicht den Lehrkräften ob, sondern Inspektionsoffizieren in Leutnants- oder Oberleutnantsrang, im ganzen sechs, darunter zwei Kavalleristen, die auch den Reitunterricht gaben. Der Inspektionsoffizier unserer Schlafgemeinschaft war ein Leutnant Brüggemann, ein Dragoner, ein schlanker, blo nder, sogenannter schöner Mann mit Einglas, so beschränkt wie blasiert und eitel. - Von 8 Uhr vormittags bis 12 war Hörsaal, daran anschließend Mittagstisch in einem großen Speisesaal, woran auch die Inspektionsoffiziere teilnahmen. Das Essen, bei dem Ordonnanzen bedienten, war gut und reichlich. Nach Tisch bis 2 Uhr war dienstfrei oder besser Arbeitsstunde, in der man sich für den Unterricht am nächsten Tage vorbereitete. Der Nachmittag von 2 bis 5 Uhr teilte sich auf in Schießübungen, Fußdienst, Reiten, Turnen. Während des Reitunterrichts der Kavalleristen und Feldartilleristen erhielten die Infanteristen noch besondere Schieß- und Fußdienstausbildung. Um halb sechs, nachdem man .sich umgezogen hatte, fand wieder das gemeinschaftliche Abendessen statt. Dann war man dienstfrei bis zum nächsten Morgen; man konnte ausgehen und tun und lassen, was man wollte, nur mußte man abends um 11 Uhr in der Kriegsschule zurück sein mit Ausnahme von Sonntag, da war Ausgang bis 12 Uhr. - So war der Tagesablauf über 35 Wochen. 116
Die meisten Abende verbrachte ich auch jetzt wieder bei Lilly. Mit dem Handelsschulkursus war es nichts in Dan-zig, es gab dazu dort keine Möglichkeit. Beim Studieren des Stadtplanes entdeckten wir aber das Hebammeninstitut. Es befand sich im Krankenhausdistrikt, unweit der Kriegsschule. Darum die Nächte des Friedhofes; die im Krankenhaus Verstorbenen hatten keinen langen Weg dahin. „Wie wäre es mit dem Hebammenkursus, Lilly? Als ich Spaßes halber dir in Heidelberg den Vorschlag machte, schien er dir gar nicht so absurd, und wenn man es sich überlegt, so ist der Beruf einer Hebamme sicher einträglicher als die Stellung in einem Blumenladen. Es kostet ja nur einmal den Versuch. Du kannst ja jederzeit abspringen, wenn es dich anödet.“ Ich dachte an ihren mo natelangen Depressionszustand während der Zeit ihres Unbeschäftigtseins in Karlsruhe, da schien mir selbst ein Hebammenkursus das geringere Übel. „Warum auch nicht? Ich kann es ja einmal versuchen“, meinte sie und ging am anderen Morgen gleich in die Hebammenanstalt, um sich zu erkundigen. Aber die Sache hatte einen Haken: sie mußte für die Dauer des halbjährigen Kursus auch dort wohnen. Damit war es also auch nichts, denn als Fähnrich konnte ich ausgerechnet in der Hebammenanstalt sie nicht besuchen, ein Zusammensein mit Lilly wäre also nicht mehr möglich gewesen. Resigniert fügte sich Lilly in ihr Schicksal: wieder acht unbeschäftigte Monate! Um nicht ganz untätig zu sein, bewarb sie sich in einem kleinen Lagerhaus um die ausgeschriebene Stelle einer Buchhalterin und wurde eingestellt, wobei ihr die im Handelsschulkursus in Karlsruhe erworbenen Kenntnisse zugute kamen. Das gab ihr zu sich selbst Vertrauen und Sicherheit. Im September wurde die Kriegsschule zu einer mehrtägigen Studienreise nach der Festung Königsberg abkommandiert. Die Tage waren so vom Dienst in Anspruch genommen, daß ich nicht die Zeit fand, mich in der Stadt selbst umzusehen. Die Ostpreußen: ein Volksschlag, zu dem man als Süddeutscher viel weniger Affinität empfand als zu einem Franzosen oder Italiener. Aber Königsberg, wenn ich auch nicht viel mehr von dort mitnahm als fortifikative Eindrücke, war mir trotzdem als Ganzes ein Erlebnis; aber nur nie in dieser Umwelt leben müssen! Die Monate nahmen ihren monotonen Ablauf. Vom Totensonntag war auf dem Friedhof nichts zu verspüren, selbst Lilly, die ihn, wie sie es gewohnt war, nach Anbruch der Dunkelheit besuchte, berichtete mir nachher, es habe sie daraus nichts angeweht. Doch in der Nacht darauf träumte sie von ihrer Großmutter so lebhaft, daß sie glaubte, sie gesehn zu haben, wie sie an ihr Bett getreten sei und sich über sie gebeugt habe. Es ging auf Weihnachten zu. Zehn Tage Weihnachtsurlaub. Nicht einer der Kriegsschüler blieb in Danzig, sie fuhren alle nach Hause. Ich konnte nicht allein in der Kriegsschule zurückbleiben, so gerne ich es Lillys wegen getan hätte. So fuhr ich nach Heidelberg zu meinem Vater. Es war für sie nicht leicht, die Weihnachtsfeiertage über in der ihr so zuwidern fremden Stadt allein zurückzubleiben; aber sie war bemüht, ihre Enttäuschung vor mir zu verbergen. Es waren geruhsame Tage, die ich bei meinem Vater in Heidelberg verbrachte. Auch die Silvesternacht, die ein Jahrhundert beendete und ein neues anbrach, ging vorüber, ohne daß in der Seele des Neunzehnjährige n eine Vorahnung aufgestiegen wäre von dem Schicksal, das sich für die Menschheit ankündigte. Als ich wieder in Danzig auf Kriegsschule eintraf, schrieb man das Jahr 1900. Drei Monate noch bis zur Offiziersprüfung. Der Januar brachte Wochen von sibirischer Kälte. Im ungeheizten Schlafsaal war morgens das Waschwasser im Becken durch und durch gefroren. Nichtsdestoweniger ging der Fußdienst nach wie vor in Drilchjacke auf dem Kriegsschulhof im Freien vor sich. Ich streikte oder vielmehr: ich meldete in der Re vierstube Rheumatismus in dem rechten Oberarm an. Ich konnte ihn beim besten Willen nicht mehr heben. So wurde ich vom praktischen Dienst freigeschrieben und bekam für den Nachmittag Dampfbäder verordnet: erst eine Woche lang, dann wieder mich zur Untersuc hung melden. „Noch keine Besserung?“ „Nicht merklich.“ Noch eine weitere Woche Dampfbäder. Dann ließ die Kälte nach und damit zugleich mein Rheumatismus. - Februar-März: Nun würde bald die Offiziersprüfung beginnen. „Jetzt geht es bald zurück nach Karlsruhe, Lilly. Freust du dich auch darauf? Das Schlimmste ist nun überstanden. Bis längstens Mai werde ich Leutnant und dann im Herbst mit Anbruch des Wintersemesters Schluß mit dem Offiziersein!“ „Neun Monate, noch immer“, es klang wie zu sich selbst gesproche n. 117
Die Offiziersprüfung war angebrochen. Ich hatte nicht die leiseste Sorge, daß ich sie nicht bestehen würde; das Abitur war zehnmal schwerer, doch blieb ich während zweier Abende in der Kriegsschule, um noch dies und jenes durchzuarbeiten. Ich hatte Lilly gesagt, daß ich erst nach zwei Tagen wieder zu ihr käme. Als ich zu der gewohnten Zeit abends bei ihr läutete, öffnete mir die Hausfrau, sichtlich verwirrt, und sagte, das Fräulein sei abgereist, sie habe aber einen Brief bei ihr für mich hinterlassen, sie wolle ihn gleich holen gehen. Ich betrat das Zimmer. Es war leer. Ich öffnete die Schubladen, den Kleiderschrank. Nur meine Zivilsachen hingen noch dort, wo ich sie hingehängt hatte - vor acht Monaten. Auf dem Tisch stand ein Strauß frischer Blumen, dabei ein Zettel: „Zum Abschied, Lilly.“ Das Zimmer drehte sich um mich, ich mußte mich hinsetzen. Die Hausfrau brachte mir den Brief und zögerte, als wolle sie etwas sagen. „Später!“ Sie ging wieder hinaus. Ich konnte lange nicht den Mut aufbringen, den Brie f zu öffnen. Es mußte sein. Ich las: „Ich wollte uns beiden den Abschied nicht noch schwerer machen, als er ohnehin schon sein wird. Verzeih! Aber ich konnte nicht anders. Versuche zu verstehen: Mit Dir wieder nach Karlsruhe zurückzufahren war unmöglich. Ich wäre dort ja doch nur wieder Deine Maitresse, mit der Du Dich nicht sehen lassen kannst, und ich weiß, ich würde Dir dort nur zur Last fallen. Du wirst, wenn Du dies liest, es nicht wahrhaben wollen, doch es ist so. Es wäre ja doch nicht einmal ein Jahr gewesen, denkst Du. Vielleicht. Vielleicht auch länger. Und später irgendeinmal hätten wir ja doch auseinandergehen müssen. Und dann hätte ich es vielleicht nicht mehr vollbringen können. Versuche, ganz ruhig zu sein, und wenn Du erst einmal etwas Abstand hast von allem so wirst Du mir recht geben. Erinnerst Du Dich noch an das, was ich in Heidelberg in der Anlage vor der Pension am ersten Abend zu Dir sagte: ,Ich möchte nicht, daß das, was schön war, mit einer Enttäuschung endet.’ Nicht wahr, es soll keine Enttäuschung werden? Aber wenn wir zusammenbleiben, würde es einmal früher oder später dazu kommen, nicht nur für mich, nein, für uns beide. Deshalb bin ich gegangen. Wie schwer dieser Entschluß war, brauche ich Dir nicht zu sagen. Wenn ich zu Dir gekommen wäre und hätte alles das zu Dir gesagt, was ich hier schreibe, Du hättest mich nicht weggelassen. Ich wäre auch nicht stark genug gewesen, ich hätte es nicht über mich gebracht. Darum mußte ich so gehen. Ich werde versuchen, damit fertig zu werden, auch Du mußt es; vielleicht wird es Dir sogar leichter. Und das wird uns beiden dabei helfen, daß wir es nicht bis zur Enttäuschung kommen ließen. Eine ganz, ganz helle Erinnerung werden wir mit uns nehmen. Nie werde ich im Leben mehr so glücklich sein wie damals in Heidelberg. Ich danke Dir, ich danke Dir für Heidelberg, ich danke Dir für alles, alles ... Und habe keine Angst, daß ich mir wieder etwas antue. Ich würde mich damit an Dir versündigen. Ich werde mein Leben weiter leben, wo, weiß ich heute noch nic ht. Du wirst es nie erfahren, auch dann nicht, wenn es einmal schlimm um mich stehn sollte, dann erst recht nicht. So dunkel kann es jetzt gar nicht mehr um mich werden, daß nicht ein Licht mich ganz von fern begleite, ein Licht vom Neckar. Du wirst auch nie mehr von mir hören. Warum auch? Das würde die Erinnerung nur trüben. Und wenn Du einmal von mir hörst, dann weißt Du, daß ich nicht mehr lebe. Dann gebe ich Dir Botschaft. Denk an den Totensonntag! In Gedanken immer bei Dir Lilly Den Eichendorff habe ich mitgenommen. Ich las den Brief und las ihn immer wieder; ich konnte es und wollte es nicht begreifen. - Lilly! Lilly! - Ich wühlte mich in ihre Kissen, um noch das letzte Nach-wehn ihres Duftes einzuatmen. Warum hatte sie nicht gesprochen? Nicht ein Wort, warum nicht? Sie hätte ja, solange ich in Karlsruhe war, nach Heidelberg gehen können. Es gab ja doch noch andere Lösungen als diese unerbittlich letzte. Wann war dieser Entschluß in ihr gereift? Wie wenig weiß man von dem anderen! Hatte sie schon die ga nze letzte Zeit über diese Absicht mit sich getragen? Und wohin mochte sie gefahren sein? Westwärts sicher ... Ich ging hinaus zur Hausfrau, um sie zu fragen, wann sie abgereist sei - : Am vergangenen Abend. Sie habe alles heimlich vorbereitet. Gegen sechs Uhr habe ein Dienstmann sich gemeldet, um die Koffer abzuholen. Dann sei sie herausgekommen und habe die Miete bis zum ersten April bezahlt. .. Wohin sie wohl gefahren sei? Auf diese Frage sei sie ausgewichen. „Sehr weit fort“, habe sie 118
geantwortet. „Ich behalte das Zimmer, bis ich Danzig verlasse“, sagte ich zur Hausfrau. „Vielleicht bereut sie es und kommt zurück.“ „Die kommt nicht wieder. Das war eine von den ganz Stillen. Wenn die sich einmal zu etwas entschlossen haben, dann gibt es kein Zurück mehr für sie.“ Was sie sonst noch gesagt habe? Nichts; sie habe ihr nur den Brief für mich gegeben. Ihre Stimme habe gezittert, sie sei auch sehr verweint gewesen. „Wären Sie doch gleich darauf in die Kriegsschule gekommen und hätten mich herunterrufen lassen. Vielleicht hätte ich sie dann am Bahnhof noch erreichen können.“ Da habe sie nicht daran gedacht. Ich konnte ihr keine Vorwürfe machen. Es hatte nun einmal so kommen sollen ... „Lassen Sie die Blumen auf dem Tisch drin stehen. Ich komme jeden Abend her und will hier arbeiten bis nach dem Examen. Ich bin ja so gewohnt, den Abend über hier zu sein.“ - Ich warf noch einen Blick in das verlassene Zimmer. Eine der Blumen nahm ich mit, eine rote Gladiole. Es war mir unmöglich, gleich in die Kriegsschule zurückzukehren. Ich ging, wie ich es oft und oft getan, durch die in hektisches Licht getauchten, teilnahmslosen Gassen. In einer Kneipe trank ich mehrere Gläser Danziger Gold. Dann weiter, die Mottlau entlang an der Brückenfähre vorbei über den Fischmarkt und den Altstädtischen Graben wieder zurück zur Jopengasse. Und immer war es mir, als gehe Lilly unsichtbar an meiner Seite. - Wo mochte sie wohl hingefahren sein? Zurück nach München? Wo sie wußte, daß ich in nicht ganz einem Jahre auch sein werde ... Nein, nach München war sie nicht gefahren. Aber wohin dann? - Um eines wenigstens brauchte ich vorerst nicht besorgt zu sein: daß sie in Geldnot wäre. Ihr kleines, vom Verlauf ihres großmütterlichen Hauses in Prien herrührendes Vermögen war bis jetzt nicht angegriffen, für unser gemeinschaftliches Leben war ich zeitüber aufgekommen. Wenn sie jedoch einmal für länger keine Stellung fände, würde es aufgebracht sein - und was würde dann aus ihr werden? So drehten sich meine Gedanken unentwegt im Kreise um jenen einen unerbittlich feststehenden Punkt: daß sie für immer fort sei ... Ich befand mich wieder in der Jopengasse. Wie ich an einem der ehemaligen Patrizierhäuser mit zwei säulengetragenen Lampen vor dem steinernen Portal vorbeiging, sah ich den ersten Stock festlich erhellt und hörte, wie auf einem Klavier gehämmert wurde und dazwischen Gelächter und laute Stimmen. Ich wußte, daß in diesem Hause vier oder fünf der renommiertesten und anspruchsvollsten Liebesgöttinnen ihren Haremsgarten aufgetan hatten, und weil mir schon alles gleichgültig war, klopfte ich mit dem altertümlichen, messingnen Klopfring ans Portal. Da öffnete, wie im Theater, sich die schwere, eichene Türe, und es empfing mich in bestickter, fürstlicher Livree ein mächtiger Mohr, der einen langen Portierstab mit einer Messingkugel an der Spitze in der linken Hand hielt und mit einer ausladenden Geste der rechten Hand mich zum Eintritt in eine geräumige, gedämpft erhellte Halle einlud, von der ein eichenes Stiegenhaus mit überreich geschnitzter Balustrade zu dem ersten Stock hinaufführte. Während ich, nachdem ich mich erst umgesehen hatte, mich anschickte, die Treppe hinaufzugehen, schlug der Mohr zur Ankündigung des neuen Gastes mit einem aus Schmiedeeisen getriebenen Klöppel auf einen großen Gong, was die Halle und das ganze Treppenhaus mit einem runden, von den weißgetünchten Wänden zurückflutenden Getön erfüllte. Ich hatte die obere Diele noch nicht erreicht, als sich die breite, mittlere Flügel türe auf tat, und auf der Schwelle stand der Pasewalker Kürassierfähnrich von Platen, ein blonder Hüne mit einem runden Kindergesicht und wäßrigblauen Augen, splitternackt, nur seinen Pallasch umgeschnallt und auf dem Kopf die Kürassiermütze. In seiner linken Hand schwang er ein Sektglas, während er mit seinem recht en Arme eine in einen musselinartigen Schleier gehüllte schwarzhaarige Odaliske umschlungen hielt. Und hinter ihm mit ihren leichtgeschürzten Gastgeberinnen vier oder fünf der anderen Kavalleriefähnriche, die, mich erkennend, mich mit einem vielstimmigen Hoch! begrüßten. „Sie hier!“ rief Platen, „ein solches Wunder muß mit einem Extraglas begossen werden! In acht Tagen geht es fort von Danzig. Wirfeiern Abschied, prost, Larissa!“ und dabei goß er ihr das volle Sektglas in den Nacken. Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige, doch er mit seinen Bärenkräften packte sie und warf sie mir wie einen Sack entgegen, als ich so nah war, daß ich sie grade auffangen konnte. Einer hatte sich inzwischen wieder ans Klavier geworfen und hämmerte einen Gassenhauer. Es herrschte ein allgemeiner Sektrausch. 119
Der Zuruf Platens: „Wir feiern Abschied“, hatte mich zutiefst getroffen. Abschied! Wenn es so leicht wäre, Abschied zu nehmen. Es gibt so vielerlei Abschiede: Abschied von liebgewordenen Gewohnheiten - Abschied von einem mit uns verwachsenen, unverlierbar geglaubten Hause, wo man seine Kindheit verlebt hatte - Abschied von Freunden, die weit weg verreisen, um sich ein neues Leben aufzubauen, in Kanada vielleicht oder in den Tropen - Abschied von nicht bewußt gewordenen Dingen, wo man viel später erst etwas vermißt und in sich sucht und findet nicht, was es gewesen sein mag - Abschied von Sterbenden, die noch etwas zu sagen hatten und es nicht mehr vermochten - Abschied von einem Frauenhaus mit einem Mohr in Galalivree und angetrunkenen Odalisken. - Bis Herbst würde ich auch einen Abschied nehmen: Abschied von dem nichtswürdigen Soldatensein, nichts, was mir leichter fiele. Es gibt so vielerlei Ab schiede, auch den von Lilly ... „Larissa, prost! bring ihn in Stimmung! Er hat Exame nsfieber; das muß man wegsaufen“, rief der Fähnrich von Platen und rückte seine Mütze noch mehr seitlich rückwärts. Nur sich betäuben, dachte ich, nur sich betäuben! Es war ein unbeschreibbar toller Abend. Auf dem Nachhauseweg zur Kriegsschule nahmen die Fähnriche von Bonin und von Bodin den schwer bezechten Platen in die Mitte und hatten nur zu tun, ihn am zu lauten Brüllen zu verhindern. Ich legte mich gleich schlafen. Ein unverhoffter Zufall hatte mich über die ersten Stunden meines noch gar nicht ganz in mich eingegangenen Verlustes auf eine priapeische Art hinweggebracht. Am nächsten Morgen wachte ich auf mit Kopfschmerzen. Um 8 Uhr früh nahm das Examen seinen Fortgang. Der Fähnrich von Platen sah so frisch aus, als habe er die ganze Nacht nur Himbeersaft getrunken, ein unverwüstlich bärenhafter Pommer. - Der Prüfungstag ließ sich trotz meines Katers gut an. Am Abend ging ich in die Wohnung Lillys. Da standen ihre Blumen auf dem Tisch, unfrohe Blumen. ,,Auch Blumen können traurig sein“, hatte sie gesagt, damals in Heidelberg. Ich spürte ihre Trauer. Daneben lag der Zettel, so, wie sie ihn hingelegt hatte: „Zum Abschied, Lilly.“ - Was sie wohl jetzt tun mochte? In irgendeiner fremden, teilnahmslosen Stadt, in der sie niemand kannte ... Vielleicht ging sie jetzt grade in Gedanken hier durchs Zimmer. Ich konnte mich zu nichts aufraffen. Ich saß vor ihren Blumen und dachte an sie. Dazwischen stand ich auf und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. Ich blieb, bis ich die Leere um mich her nicht mehr ertragen konnte ... So ging es auch den nächsten und den übernächsten Abend. Das Offiziersexamen war glücklich zu Ende. Nur zwei Pechvögel, zwei Infanteristen, hatten nicht bestanden und mußten den Kriegsschulkursus wiederholen. Die Schlußformalitäten fanden in der Turnhalle statt, wobei der Kriegsschulkommandeur, ein Infanteriemajor, eine Ansprache hielt. Dann wurden die Zeugnisse ausgeteilt. Am Abend war das Abschiedsliebesmahl, an dem der Kommandeur, die Lehrer und die Inspektionsoffiziere teilnahmen. Eine hektographierte Zeitung mit karikaturhaften Zeichnungen und gereimten Beiträgen von Kriegsschülern, die schon seit Wochen vorbereitet worden war und zu der auch ich beigesteuert hatte, kam zur Verteilung als Andenken an die gemeinsam auf der Kriegsschule verlebte Zeit in Danzig. Am anderen Tag ging alles auseinander. Die neugebackenen Offiziersanwärter verteilten sich über ganz Deutschland, ein jeder kehrte zu seinem Truppenteil zurück, wo er sich innerhalb von 48 Stunden zu melden hatte. Auch auf der Rückfahrt war es verboten, in Zivil zu fahren. Ich hatte dieses Mal dazu auch keinen Anlaß. So fuhr ich in einer Droschke mit meinem Koffer in die Wohnung Lillys, wo ich meine Zivilsachen einpackte und für immer von dem Zimmer, an dem so bittere Erinnerungen hingen, Abschied nahm. Die Blumen, die schon anfingen zu welken, nahm ich mit. Ich legte sie zuoberst in den Koffer. Dann ging es auf den Bahnhof. Da die meisten Kriegsschüler westwärts, Berlin zu, fuhren, so wimmelte der Zug von Fähnrichen. Nur der Fähnrich von Platen und die beiden sich wie Zwillingsbrüder ähnelnden Fähnriche von Bodin und von Bonin, die bei den Dragonern in Bromberg standen, waren nordwärts und ostwärts abgefahren. Ich sah von allen meinen Mitkriegsschülern keinen wieder. In Karlsruhe angekommen, meldete ich mich sofort beim Regiment auf der Kommandantur. „Fähnrich von Bernus meldet sich zurück von Kriegsschule.“ Der Kommandeur, Oberstleutnant von Unger, empfing mich wohlwollend. „Ich freue mich, daß Sie sich auf der Kriegsschule bewährt haben. Sie sind von jetzt an der zweiten Schwadron zugeteilt. Melden Sie sich bei Herrn Rittmeister 120
Gerhard. Sie können dann drei Tage Urlaub nehmen, um Ihren Vater zu begrüßen.“ „Gehorsamsten Dank, Herr Oberstleutnant!“ Nachdem ich mich auch bei dem Rittmeister Gerhard gemeldet hatte, war mein nächster Gang in die ehemalige Wohnung Lillys. Die gute Frau Heimerl strahlte, als ich mit einmal vor ihrer Türe stand. Ihre erste Frage war nach Lilly. Als ich ihr erzählte, wie inzwischen alles gekommen sei, konnte sie es nicht begreifen: „Nein, so etwas! Nein, so etwas! Das gute Fräulein F. ... ger! Und ich habe meinem Zimmerherrn doch gesagt, wenn das Fräulein zurückkäme, müsse er ein anderes Zimmer suchen. Nein, so etwas!“ wiederholte sie immer wieder. „Ich möchte so gerne einen Blick ins Zimmer tun, oder ist der Herr zu Hause?“ „Nein, Sie können ruhig hineinschauen.“ Sie öffnete mir die Türe. Ja, das war es. Nichts hatte sich verändert, nur die Nippes, die ich gleich anfangs in den Schrank gestellt hatte, schmückten wieder die Konsole. Auch die alte Bettvorlage lag noch da, gereinigt. Neun Monate waren seitdem vergangen. „Ich hatte mir die Rückkehr anders gedacht, Frau Heimerl“, sagte ich. „Wenn’ s Ihnen recht ist, komme ich Sie manchmal besuchen. Hier ist es mir, als wäre alles nur ein Traum gewesen und als müsse sie eben aus der Küche kommen.“ Frau Heimerl wischte sich mit der Schürze über die Augen; sie mochte an ihren verstorbenen Mann denken. „Und wie gut haben Sie gesorgt für uns, Frau Heimerl.“ „Ich tat’s ja auch so gerne wieder. Komme n Sie nur, sooft Sie wollen.“ - Von hier wäre sie nicht bei Nach und Nebel weggegangen, dachte ich, als ich die Treppe hinunterging. Am anderen Morgen fuhr ich nach Heidelberg und blieb zwei Tage bei meinem Vater. Ich ging ins Café Haeberlein und setzte mich an den Tisch, an dem ich am ersten Tag mir ihr gesessen hatte. Es war dieselbe Nachmittagsstunde wie damals. Wie war mir alles noch so gegenwärtig, nicht als wären es anderthalb Jahre her, seit wir hier saßen. Hier hatte sie von ihrer Großmutter erzählt in Prien und ihrem Blumengarten und von der hellsichtigen Frau, die mit den Toten Zwiesprache hielt an Allerseelen. Hatte sie selbst nicht zu den Toten eine untergründige, fast zärtliche Beziehung? „Und wenn Du einmal von mir hörst, so weißt Du, daß ich nicht mehr lebe. Dann gebe ich Dir Botschaft. Denk an den Totensonntag“, hatte sie am Schluß ihres Abschiedsbriefes geschrieben. Ich werde jeden Totensonntag auf den Friedhof gehen, dachte ich bei mir, auch wenn sich nur unsere Gedanken dort begegnen. Vom Café Haeberlein ging ich die Anlage hinauf an der Pension vorbei bis an den Bahnhof. Da stand er wieder an der Ecke, der Dienstmann mit der feuerroten Säufernase. Er erkannte mich und lüftete die Mütze. Das Gedächtnis eines Dienstmannes ist abhängig von der Hö he des erhaltenen Trinkgeldes. - In der Anlage und im Stadtgarten standen die Bäume grade in voller Blüte. Aber die Tische und Stühle waren noch nicht vor dem Restaurant ins Freie gestellt; es war Anfang April damals war es September. Ich fragte in der Pension nach, ob in der letzten Zeit ein Fräulein F. ... ger dort abgestiegen sei. - Nein, wurde mir erwidert. Die letzte Hoffnung, ihr vielleicht so auf die Spur zu kommen, war damit geschwunden. Mein Vater war sehr aufgeräumt; er freute sich, mich nun wieder in der Nähe zu wissen. Dabei erkundigte er sich, ob ich durch die Kriegsschule womöglich Neigung gefaßt hätte, Offizier zu bleiben. „Noch weniger als vorher“, konnte ich ihn beruhigen. Am Tage meines neuen Dienstantritts in Karlsruhe wurde ich zum Degenfähnrich befördert, die letzte Station zum Leutnant. Es war grade zu Beginn des sechswöchigen Schwadronsexerzierens. Als demnächst jüngster Offizier des Regiments hatte ich die Offizierswohnung in der Kaserne zu beziehen, da es Vorschrift war, daß stets ein Offizier der Aufsicht halber innerhalb des Kasernenareals zu wohnen habe. Die in sich abgeschlossene Wohnung bestand aus Schlaf- und Wohnzimmer und einem Vorraum mit Toilette. An Nachturlaubsvorschriften waren Offiziere nicht gebunden. Während meiner Kriegsschulmonate war ein neuer Fahnenjunker namens Dum-rath bei dem Regiment eingetreten. Sonst hatte sich nichts Neues zugetragen. Karlsruhe war so langweilig wie früher - und Lilly fehlte. Überall, wo ich ging, wurde ich an sie erinnert. - Anfang Mai erfolgte meine Beförderung zum Leutnant. Das nächste war eine endlose Reihe von Formalitäten: Meldung beim Korps-, Divisions- und Brigadekommandeur, Audienz beim Großherzog und Antrittsvisiten bei der Hofgesellschaft, lauter mich anödende offizielle und konventionelle Dinge. Nun war man Offizier, jedoch der Stumpfsinn des soldatischen Dienstes blieb derselbe. Dem 121
Schwadronsexerzieren folgte das Regimentsexerzieren; im Spätsommer begann das Korpsmanöver, das in den Odenwald hinüberspielte und immerhin etwas Abwechslung brachte. Nach Abschluß des Manövers war die Zeit gekommen, die ich mir als Ziel gesetzt hatte, den Offiziersrock abzulegen. Als ich mit diesem Anliegen mich beim Regimentskommandeur meldete, schlug er mir rundweg ab, mein Gesuch weiterzuleiten; wenn ich darauf bestehe, werde er dafür sorgen, daß ich in meinem Reserveverhältnis zum Train versetzt werde. Dem wollte ich mich nicht aussetzen. Ich wußte, daß er bald eine Brigade bekäme, und so entschloß ich mich, noch den Winter über durchzuhalten. Von Oktober ab bekam ich die Aufsicht über die Rekrutenausbildung, darunter drei EinjährigFreiwillige. Vor zwei Jahren war ich selbst als Einjähriger eingetreten. In diesen Tagen dachte ich noch heftiger an Lilly. Sechs Monate war es her, seit sie in Danzig mich verlassen hatte ... Die Herbstparforcejagden hatten begonnen. Mitunter führten sie über recht schwieriges Gelände und stellten nicht geringe reiterliche Anforderungen. Das war die schönste Zeit meines kurzen Kavallerieoffizierseins. Außer den Dragoner-und Feldartillerieoffizieren nahmen auch ein paar Herren der Gesellschaft teil an den Parforcejagden. Ohne mindestens einen Schlüsselbeinbruch ging es bei diesen Jagden selten ab. Sie währten bis ausgangs November. Im Januar begann dann die Saison mit den Gesellschaften und Bällen, bei denen die adligen Junggänse zur Schau gestellt wurden. Den Höhepunkt bildete der Hofball. Wer in diese ausgehöhle und gespenstische Geselligkeit offenen Auges hineinsah, nur eine Saison lang, der konnte sich der Einsicht nicht verschließen, daß hier eine überlebte Welt unrettbar ihrem Ende zugehe. Im Spätfrühjahr hatte Oberstleutnant von Unger unter Beförderung zum Oberst eine Brigade bekommen. Der neue Regimentskommandeur der Leibdragoner war ein Oberstle utnant von Schack. Kurz nach seiner Regimentsübernahme reichte ich mein Gesuch um Überführung in die Reserve ein, die laut kaiserlicher Kabinettsorder im Mai erfolgte. Ich war grade ein Jahr aktiver Offizier gewesen. Um mich für das Sommersemester an der Universität in München immatrikulieren zu lassen, war es zu spät geworden. So ging ich für die nächsten Monate nach Stift Neuburg und verlebte sie mit meinem Vater und diversen Gästen, die im Sommer dort ein und aus gingen. Bis zum Semesterschluß besuchte ich die Vorlesungen Kuno Fischers. Jetzt erst, nachdem ich das Soldatsein hinter mich getan hatte, fing ich an, als ein Mensch zu leben. - Es zog mich immer wieder in das Café Haeberlein; die Kellnerin, die mich bald kannte, ließ es sich angelegen sein, mir den gewohnten Tisch zu reservieren. Da saß ich nachmittagelang mit einem Buch und las, schrieb auch mitunter und dachte zwischendurch an Lilly. Ich hatte ihren Verlust noch immer nicht verwunden. - Den Falstaff traf ich nicht mehr an in Heidelberg, er hatte sein juristisches Staatsexamen gemacht und war Referendar in Sinsheim. - Um nach den fast drei Jahren Geistverödung mich nach und nach an eine denkerische Schulung zu gewöhnen, griff ich zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“, jedoch ich kam nicht weit damit; aber dann entdeckte ich für mich Schopenhauer. „Die Welt ist meine Vorstellung. Dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt, wiewohl der Mensch allein sie in das reflektierte abstrakte Bewußtsein bringen kann; und tut er dies wirklich, so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dann deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde, sondern immer nur ein Auge, das die Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt, welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, das heißt durchweg nur in Beziehung auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist. Wenn irgendeine Wahrheit a priori ausgesproche n werden kann, so ist es diese.“ Diese Sätze, mit denen „Die Welt als Wille und Vorstellung“ beginnt, in ihrer Eindeutigkeit und Klarheit, zwangen mich zum Weiterlesen. Ich fühlte, hier sei etwas für mich zu finden, dessen ich zum Ausbau meiner eigenen Gedankenwelt bedurfte und wonach ich suchte. Ich las langsam, Seite für Seite, weiter und wurde mir zunehmend bewußt, wie wenig ich seither gewohnt war, streng logische und unbeirrbare Gedankengänge nachzudenken. Mit manchen Stellen kam ich trotz aller 122
Mühe nicht zurecht, andere wieder sprachen mich an als ursprüngliche, mir längst zugewachsene Gewißheit: „Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntnis der wirklichen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen besseren Vergleich und gebrauchen keinen häufiger als den Traum. Platon sagt öfter, daß die Menschen nur im Traume leben, der Philosoph allein sich zu wachen bestrebe. Pindaros sagt: Umbrae somnium homo und Sophokles: Non enim, quicumque vivimus, nil aliud esse comperio, quam simulacra et levem umbram, neben welchem am würdigsten Shakespeare steht: We are such stuff As dreams are made of, and our little life Is rounded with a sleep. Endlich war Calderon von dieser Ansicht so tief ergriffen, daß er in einem gewissermaßen metaphysischen Drama ,Das Leben, ein Traum’ sie auszusprechen suchte. Obwohl also die einzelnen Träume vom wirklichen Leben dadurch geschieden sind, daß sie in den Zusammenhang der Erfahrung, welcher durch dasselbe stetig geht, nicht mit eingreifen und das Erwachen diesen Unterschied bezeichnet, so gehört ja doch eben jener Zusammenhang der Erfahrung schon dem wirklichen Leben als seine Form an, und der Traum hat ebenso auch einen Zusammenhang in sich dagegen aufzuweisen. Nimmt man nun den Standpunkt der Beurteilung außerhalb beider an, so findet sich in ihrem Wesen kein bestimmter Unterschied, und man ist genötigt, den Dichtern zuzugeben, daß das Leben ein langer Traum sei.“ „Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen“ - Wozu die Philosophen Bücher schreiben, um diskursiv darüber auszusagen, leuchtet als Weisheit auf, intuitiv und unvergeßlich in einem einzigen Vers des Dichters. Der Weg des Philosophen, und sei er auch so klar und überzeugend wie der Schopenhauers, war nicht mein Weg, aber ich erkannte, daß, um den anderen Weg zu gehen, man mit der Denkwelt der Jahrhunderte sich auseinandersetzen müsse. - Beim Lesen von Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ begegnete mir wiederholt der Hinweis auf seinen „Satz vom zureichenden Grunde" als Voraussetzung zum Verständnis seines Hauptwerks. So machte ich mich auch an diese Abhandlung, deren Durcharbeit mir aber sehr viel schwerer fiel. Gleichzeitig wurde es mir klar, daß ich, trotz meines Widerstrebens, ohne die Kenntnis Kants nicht weiterkäme. Kurzum: das ganze weite Feld der Philosophie war durchzuackern. In München würde ich mich neben der Literaturgeschichte vor allem mit dem Studium der Philosophie befassen. Ich dachte an den Ausspruch des Leutnants von Geiling, als er erfuhr, dass ich meinen Abschied eingereicht hatte und studieren wolle: „Sie werden ja doch nichts arbeiten. Glauben Sie mir: wenn man nicht muß, so tut man nichts.“ Charakteristischer konnte sich das Verhältnis des Offiziers zur geistigen Beschäftigung nicht leicht zum Ausdruck bringen. „Die Veden und Puranas wissen für die ganze Erkenntnis der wirklichen Welt, welche sie das Gewebe der Maja nennen, keinen besseren Vergleich und gebrauchen keinen häufiger als den Traum“ ... Nicht nur die Philosophie, auch die indische Weisheit, die in den Veden und Puranas zu finden war, war zu ergründen. Eine ganze Welt lag vor mir. Über allen diesen sich neu an mich herandrängenden Dingen war der Sommer hingegangen. Es war Ende September, und ich bereitete mich vor, nach München aufzubrechen, um vor Anbruch des Wintersemesters dort schon heimisch zu sein. - Drei Jahre waren es jetzt grade, daß ich Lilly wenige Stunden nach ihrer Ankunft aus München im Café Haeberlein hatte kennen lernen. Das waren die zehn Tage unseres beginnlichen Zusammenseins, hell angeschienen von dem Licht eines 123
am Horizont der Liebe eben aufgegangene n Sternes. Damals stand ich vor meinem ersten Lebensring als Einjährig-Freiwilliger in Karlsruhe. - Es waren zweieinhalb Jahre daraus geworden. Jetzt würde ich den Weg nach München machen, um in den zweiten Lebensring zu treten, doch diesmal, ohne sie mit mir zu nehmen. Anderthalb Jahre war sie nun schon fort, und nicht ein Lebenszeichen war seitdem von ihr zu mir gekommen. Sie hatte Wort gehalten. Vielleicht, daß mich der Zufall sie doch in München wiederfinden ließe? - Anfang Oktober reiste ich ab in die Stadt, die mir fast zwanzig Jahre lang zur zweiten Heimat werden sollte. München hielt, was ich mir davon versprochen hatte - aber Lilly blieb nach wie vor verschollen. Jahre vergingen: fünf Jahre, zehn Jahre. Mein Vater war gestorben. Ich überkam Stift Neuburg. Seitdem lebte ich nurmehr das Winterhalbjahr in München, die Sommermonate verbrachte ich auf Stift Neuburg. Wohl war im Lauf der Zeit mit allem, was das Leben mir an Eindrücken, Begegnungen und Menschen brachte, in der Erinnerung das Bild Lillys verblaßt und ferngerückt, an jedem Allerseelentage aber ging ich, wie zum Gedächtnis einer für mich Toten, abends auf den Friedhof. Die Friedhöfe in München waren damals - ich weiß nicht, ob es heute noch so ist - an Allerseelen mit Lämpchen übersät, und die astrale Zwischenwelt der Toten lag unsichtbar über dem ruhevollen Meer der Gräber. Zu Hause nahm ich (es war das fast wie eine Art von Ritus) dann ihr Bild und ihren Abschiedsbrief, die ich nach München mitgenommen hatte, aus dem Fach des Sekretärs und lebte wieder eine kurze Stunde lang in einer immer weiterrückenden Vergangenheit ... Wie all das fern lag! Es war ein regnerischer Sommernachmittag. Ich saß in meinem Arbeitszimmer auf Stift Neuburg mit dem Ausblick auf den Neckar und den Berghang gegenüber. Es ging nicht vorwärts, wie es sollte, mit der Arbeit, die ich vor mir liegen hatte; es fehlte mir an Sammlung. Etwas lag in der Luft, etwas Beklemmendes: ich hatte das Gefühl einer Anwesenheit - das war nichts Ungewöhnliches in diesen Räumen - doch diesmal war es anders, es war mir so, als käme etwas auf mich zu, etwas, das sich mitteilen wollte ... Ich stand vom Schreibtisch auf und trat ans Fenster. Am drüberen Ufer fuhr mit seiner altertümlichen Lokomotive der Lokalzug vorüber. Es war der Vieruhrzug. Ich weiß nicht, wie es kam: in diesem Augenblick mußte ich an Lilly denken, wie ich vor dreizehn oder vierzehn Jahren ihr im Vorbeifahren von diesem Zug aus Stift Neuburg gezeigt hatte. Ich sah uns an den Fensterplätzen einander gegenübersitzen: Lilly in ihrem grauen Kleid, mit den kastanienbraunen Haaren und um den Hals die aus dünnem, altem Silber getriebene Kette mit dem Medaillon. Vor dreizehn oder vierzehn Jahren ... Seitdem hatte ich einiges erreicht von dem, was ich mir damals als Ziel gesetzt hatte. Das meiste lag noch vor mir. Aber wenn Lilly mich in Danzig nicht verlassen hätte, würde ich den Weg so haben gehen können, den ich gemacht hatte? - Der Lokalzug hatte sich um die Talecke verloren und eine Rauchwolke, die den Hang entlangzog, hinter sich ge lassen. Ich wandte mich zurück ins Zimmer. Da klopfte es und das Mädchen brachte die Nachmittagspost. Ich übersah sie flüchtig, da fiel mir ein Brief auf: eine mit ungelenker Handschrift geschriebene Adresse. Ich besah die Rückseite: Absender eine Frau X., Berlin N, Kolberger Straße. Ich öffnete ihn. Es war nicht eben leicht, ihn zu entziffern; ich las ihn zweimal, dreimal, tief angerührt von seinem Inhalt. Ich kann ihn nicht im Wortlaut wiedergeben, denn er ist zusammen mit Lillys Bild und Abschiedsbrief bei der Totalverbombung meines Stuttgarter Hauses 1943 mit verbrannt. Ich hatte alles aufbewahrt - so lange. Er lautete etwa so: „Ich schreibe Ihnen auf Bitte von Fräulein Lilly F... .ger, die vor einer Woche bei mir an Auszehrung gestorben ist. Sie bekam ein Armenbegräbnis. Sie war in Stellung, bis es nicht mehr ging, seitdem war sie bei mir zu Hause. Ich habe für sie gesorgt. Sie wohnte fast zwei Jahre bei mir. Sie war sehr gut, und ich hatte sie sehr gerne. Von Ihnen sprach sie in der letzten Zeit fast täglich, auch wenn sie schlief im Fieber. Geld hatte sie zuletzt keines mehr, es war drauf gegangen in der Zeit, wo sie oft lange keine Stellung fand. Auch mußte sie immer zusetzen bei dem kleinen Gehalt, das sie bekam. Und der Arzt und die Apotheke kosteten auch Geld. Zuletzt mußte ich herhalten, aber sie sagte mir, wenn sie gestorben sei, so solle ich an Sie schreiben, Sie würden mir meine Auslagen und den Mietzins der letzten Monate ersetzen. Es macht alles zusammen (hier nannte sie 124
die Summe, es war nicht eben viel, zwischen 200 und 300 Mark, wenn ich mich recht entsinne). Und ich solle Ihnen sagen, daß sie Sie nie vergessen habe. Die schönste Zeit ihres Lebens sei damals in Heidelberg gewesen. Auch solle ich Sie erinnern an den Totensonntag; Sie wüßten schon, was sie damit meinte, sagte sie. Jetzt habe ich meinen Auftrag ausgerichtet, und ich möchte bitten, daß Sie mir das ausgelegte Geld bald schicken, denn ich habe auch nichts zuzusetzen, ich verdiene mir mein Geld mit Zimmervermieten, aber Fräulein F. ... ger sagte, Sie würden ihr die letzte Bitte nicht ausschlagen. Sie werden ihr Vertrauen nicht enttäuschen und mich nicht schädigen wollen. Es grüßt Sie Frau X.“ So etwa war der Wortlaut des von Schreibfehlern wimmelnden Briefes. Niemals bekam ich einen Brief, auch später nicht, der mich so tief erschütterte. Mein erster Gedanke war, mich gleich auf den Zug zu setzen und nach Berlin zu Frau X. zu fahren, um das Zimmer zu sehen, in dem Lilly die letzten zwei Jahre gelebt hatte, und mir von der Frau von Lilly erzählen zu lassen, denn sicher wußte sie über ihr Leben auch in den früheren Jahren. Und dann, auch an ihr Grab zu gehen, an ihr noch frisches Grab. - Ich schwankte lange, aber dann wurde das Gefühl, daß ich es nicht tun solle, daß Lilly es nicht wolle, zusehends in mir stärker. Sie wollte nicht, daß ich ihrem Leben nachgehe nach so vielen vor mir verhüllten Jahren; es war, als dränge ich mich ein in das, was sie vor mir verborgen halten wollte und das mich nur belasten würde. Sie hatte ja doch auch zuletzt nicht selbst geschrieben ... „Und wenn Du einmal von mir hörst, so weißt Du, daß ich nicht mehr lebe.“ So schrieb sie mir in ihrem Abschiedsbrief vor bald vierzehn Jahren. Sie hatte Wort gehalten. Was mochte sie in dieser Zeit alles durchge macht haben! Und doch, nicht einen Laut, wo sie doch wußte, daß ich, wann und wo auch immer, für sie da wäre. Was für ein Stolz und welcher Heroismus lebte in dieser Seele mit dem zarten, unirdischen Körper! - Jetzt wußte ich, was kurz zuvor um mich gewesen war und versucht hatte, sich mir mitzuteilen. - Ich solle an den Totensonntag denken, hatte sie mir nochmals sagen lassen. Nun war der Kreis geschlossen, der in Heidelberg begonnen hatte und wieder in sich eingelaufen war in Heidelberg. Am selben Abend noch schrieb ich Frau X. Ich schickte ihr das Geld und dankte ihr für das, was sie an Lilly bis zuletzt getan hatte. Wie gewohnt, kehrte ich zum Winterhalbjahraufenthalt in der zweiten Oktoberhälfte von Stift Neuburg nach München zurück. Je mehr der Totensonntag näherrückte, desto größer wurde meine Spannung. Dann war der Tag gekommen. Es regnete bereits am frühen Morgen, doch hielt mich das nicht ab, bei Anbruch der Dunkelheit den Friedhof aufzusuchen. Es war der Ostfriedhof. Auf den Gräbern brannten wie immer an diesem Tag die Lampen. Die Hinterbliebenen hatten trotz des Regens es sich nicht nehmen lassen, ihre Gräber zu schmücken. Aber der Friedhof war entgegen anderen Allerseelentagen nur wenig besucht. Bloß ein paar alte, schwarzgekleidete Weiblein unter ihren Regenschirmen bewegten sich da und dort zwischen den Gräbern. Es war des verhangenen Himmels wegen ungewöhnlich dunkel, und dank den zahlreichen Lampen allenthalben auf den Gräbern konnte man sich auf den Wegen zurechtfinden. Ich kannte mich von früheren Jahren her so ziemlich aus auf diesem Friedhof, doch als ich ein Stück Wegs mich vorgetastet wußte ich auf einmal nicht mehr, wo ich mich befand; in der Nähe irgendwo mußte die Mauer sein, von da aus würde ich mich schon wieder zurechtfinden. Ich nahm also die Richtung nach der Seite, wo ich sie vermutete. Die Toten waren gegenwärtig, das empfand ich; für sie bedeutete der Regen keine Hemmung, vielleicht, daß sie ihn gar nicht spürten. Nun glaubte ich die Mauer aus der Dunkelheit auftauchen zu sehen, doch als ich näher kam, erkannte ich: es war ein an die Mauer angebauter Schuppen. Ich blieb wie festgehalten stehen: von fern dämmerte eine Erinnerung in mir auf, als hätte ich schon einmal diese Situation erlebt. - Da trat unter dem Vordach des Schuppens eine, wie es schien, weibliche Gestalt hervor in einem Loden- umhang, die Kapuze über den Kopf gezogen. In diesem Augenblick wußte ich: das hatte ich geträumt in der Nacht nach meiner ersten Begegnung mit Lilly in Heidelberg. Ich hatte nicht die Zeit, mich auf die Einzelheiten zu besinnen, denn die Gestalt kam jetzt dicht auf mich zu und sagte mit derselben Stimme, wie ich sie im Traum gehört hatte: „Eine Botschaft für Sie von einer Toten, Sie wissen schon.“ „Wo? Wann? Wann haben Sie 125
von ihr Botschaft erhalten?“ „Grad jetzt; sie steht ja neben Eana. Ja, können Sie’s denn net sehn?“ Ich stand wie gelähmt, unfähig, ein Wort hervorzubringen. „Was erschreckens denn so? Sie will Eana doch nur danken und ich soll Eana sagen, sie hätt Sie auch drüben net vergessen ... Jetzt grad sagts noch was: ein Lebwohl, und sie kam jetzt nicht mehr wieder ... Jetzt wirds schon blasser jetzt, jetzt ists verschwunden“ ... Ich konnte noch immer mich nicht rühren, doch war ich bei ganz klarem Bewußtsein, als die Gestalt im Lodenma ntel schon an mir vorbei den Weg in den Friedhof hinein nahm. Im Vorbeigehen murmelte sie etwas von anderen Botschaften, die sie noch auszurichten habe. Als ich mich so weit gesammelt hatte, daß ich wieder sprechen konnte, war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ich sah mich nach allen Seiten um: „Sie steht ja neben Eana“, hatte die hellsichtige Frau gesagt; dann hatte das Phantom sich wieder aufgelöst ins Wesenlose. Nun würde sie nicht wiederkommen. Doch sie war dagewesen, wie hätte die hellsichtige Frau mir sonst die Botschaft sagen können? Hatte sie durch ihr Erscheinen mir bedeuten wollen, daß alles das, was wir sooft vom Allerseelentag gesprochen hatten, nicht Einbildung sei, sondern in einer gesteigerten Seelenverfassung erlebbar einfallende Wirklichkeit? - Sie hätte mich auch drüben nicht vergessen ... Und der Traum, den ich damals gehabt hatte, vor vierzehn Jahren auf Stift Neuburg? - „Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen“ ... Totensonntag!
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Die Handschrift des Hundertjährigen Isa erzählte mir an einem regnerischen Spätherbstnachmittag: Der erste Mann, welcher mich liebte, war ein Hundertjähriger. Ich glaube, er war der älteste Mann von ganz Berlin - und ich war sieben- oder achtjährig. Immer, wenn ich aus der Schule kam, erwartete er mich auf einer Bank im Tiergarten, und da saßen wir nebeneinander und er erzählte mir, während er meine Hand hielt, Geschichten aus einer längst vergessenen Zeit, aus einer Zeit, in der es noch keine Eisenbahnen gab und man mit der Postkutsche reiste ... Seine Hände waren immer ganz gleichmäßig kühl - und er hatte schneeweiße, wundervolle Haare und einen langen weißen Bart - so dachte ich mir, müsse der liebe Gott aussehen, und ich nannte ihn auch immer „lieber Gott“; seinen Namen wußte ich nicht, noch auch, wo er wohnte ... So saßen wir einen ganzen Sommer lang immer auf der gleichen Bank im Tiergarten - und als er dann an einem besonders klaren und schönen Herbsttage auf einmal ausblieb, wunderte ich mich gar nicht und war nicht einmal traurig darüber, denn ich wußte, nun war er wieder zurückgekehrt in den Himmel, wo es keine Untergrundbahnen gibt und keine Autos, die er so haßte und Teufelswerk nannte, weil sie die Menschen rastlos und andachtslos machten, und er wurde immer böse, wenn ich ihm sagte, daß ich für mein Leben gern Auto führe, je schneller desto lieber, weil dann alles so blitzhaft an einem vorbeizöge, und wenn man so immerzu durch Dörfer und Städte sause, habe man das Gefühl, als gehöre einem die ganze Erde. Das sei ein böses Gefühl, sagte er dann immer, und sei ein neues Mittel des Versuchers, um den Menschen vollends ganz von Gott abzubringen, denn die Erde gehöre Gott allein und unser Herr Jesus sei auch nur von Ort zu Ort gewandert und er wandere noch immer, auch heute noch, unkenntlich für jeden, und von Millionen Menschen kaum einem gebe er sich zu erkennen und fast immer nur Kindern, und deren ganzes Leben sei dann wunderbar gesegnet ... „Er ist der liebe Gott“, dachte ich dann wieder heimlich bei mir, er kann nur der liebe Gott sein, denn woher sollte er auch sonst das alles wissen? Sicher, er war so alt wie die Welt und noch viel älter, und wenn er mir dann erzählte, daß er aus einem Geschlecht von lauter Hundertjährigen stamme und daß sein Ur-Ur-Großvater während des Dreißigjährigen Krieges geboren worden sei, so glaubte ich, das sagte er nur, damit ich nicht vollends hinter sein Geheimnis käme, weil ich fühlte: er wolle, daß ich ihn wie einen Menschen lieb habe und ihm die Hände halten solle mit den meinigen, statt sie vor ihm zu falten... Am liebsten hörte ich ihm zu, wenn er mir Geschichten erzählte, die ihm wieder sein Großvater erzählt habe, der sie seinerseits von seinem Großvater habe erzählen hören, Geschichten aus einer unvordenklich langen Zeit, die ich mir alle haargenau merkte; denn so viel verstand ich schon damals, daß hier die lebendige Vergangenheit zu mir rede, beseelt und gegenständlich, und die ganz anders war, als man liest in dürren, dürftigen Kulturgeschichten. Einmal hatte der Hundertjährige eine vergilbte Handschrift mitgebracht, die sein Ur-Ur-Großvater selbst geschrieben hatte, der 118 Jahre alt geworden war und dem alle Nachfahren bis auf ihn ihre Langlebigkeit verdankten. Das seltsame Begebnis, auf das der Schreiber diesen Umstand zurückführte und noch zahlreiche andere, ans Unglaubhafte grenzende Vorkommnisse bildeten den Inhalt eben jener Handschrift, aus der mir der Hunderjährige immer wieder vorlesen mußte. Damals lebte ich ganz in einer Welt längstvergessener, wundersamer Vorstellungen, und wenn ich ein Stück Gläubigkeit und Staunen mir hereingenommen habe in mein Leben, so danke ich das dem Hundertjährigen. Manche Stellen in der Handschrift aber überschlug er jedesmal beim Vorlesen und machte mich dadurch besonders neugierig. Doch stets, wenn ich ihn danach fragte, vertröstete er mich auf später. - Dann aber, als er eines Tages ausgeblieben war und nicht mehr wiederkam, mußte ich die Hoffnung aufgeben, jemals zu erfahren, wovon die überschlagenen, mir damals vorenthaltenen Seiten handelten. Da, nach vielen Jahren, an meinem 21sten Geburtstage, bekam ich ein Paket von fremder Hand - die Tinte war schon ganz verblaßt: die Adresse mußte vor sehr langer Zeit geschrieben worden sein. Ich öffnete das Paket, etwas fast Schicksalhaftes ahnend, und hielt die Handschrift des Hundertjährigen in Händen. Vor derselben Hand, von welcher auch die 127
Anschrift stammte, stand vorne eingeschrieben: „Für Isa von dem lieben Gott“. Nie habe ich ermitteln können, wer das Paket die vielen Jahre über für mich aufbewahrt und zu meinem 21. Geburtstag an mich abgesendet hatte. Ich konnte es nicht erwarten, sie ungestört lesen zu können, denn tagsüber fand ich keine Zeit dazu, weil immer wieder andere Freunde und Bekannte kamen, mir zu gratulieren. Es war Nacht, als ich die Blätter endlich aufschlug. Mir war es, als sähe ich die weißen abgeklärten Hände meines Freundes und sein verstehendes weltfernes Lächeln, mit dem er die nun sich erwachsen vorkommende Isa mit ihren 21 Jahren nach wie vor als Kind empfand. Ich wußte plötzlich hellsichtig, er hatte mich gesehen, mich das Kind, und auch jetzt wollte er bei mir sein. Und während ich die Handschrift aufschlug und seine barocken Schriftzüge ihren Zauber auf mich ausübten, dachte ich: was würde er mir wohl zu sagen haben? Ich begann zu lesen: es waren die vertrauten fremdartigen Geschichten meiner Kindheit, die ich so geliebt hatte. Es waren dieselben unvergessenen Eindrücke, die ich empfing. Und doch war ich nicht ganz bei ihnen: denn ich war auf der Suche nach dem Geheimnis, das doch endlich kommen mußte, das nun für mich aufgelichtet wurde. Denn umsonst hatte mein hundertjähriger Freund nicht immer viele Seiten für mich überschlagen und mich auf später vertröstet. Und nun heute an meinem 21. Geburtstage war mir diese Handschrift zugegangen. Wie wichtig mußte mein längst von mir fortgegangener Freund das doch genommen haben, was er mir nun zu sagen für gut befand! Aber es kam nichts, was ich nicht schon kannte, nur ab und zu einige leere Blätter, die ich eilig überschlug. Ich las immer schneller - ich blätterte und überblätterte ... nichts, nichts, was ich nicht schon wußte, was ich nicht all die Jahre, manchmal bewußt, manchesmal untergründig und unbewußt mit mir genommen hatte. Aber da endlich - ganz am Schluß, da lag ein Schreiben eingeklebt - ich mußte es erst vorsichtig aus dem Buche loslösen. Und darauf stand, ziemlich verblaßt und doch groß und klar: „Dieses für meine einundzwanzigjährige Freundin.“ Und als ich den Brief auseinanderfaltete: „Meine kleine, heute nicht mehr kleine Freundin: Nun bist du einundzwanzig Jahre alt und voll Bereitschaft. Du hattest einen hellen Kinderglauben damals und kanntest gefaltete Hände. Wenn du nun meine Blätter unversehens erhältst, so ist dieses Geheimnis und Wunder für Dich und Du bis voller Erwartung, es aufzunehmen. Du denkst: was wird „der liebe Gott“ mir sagen, der so alt ist und so vieles weiß Dein alter Freund aber schweigt. Mit Schweigen fängt es an. Und dann kommen die Erinnerungen. Die wurzeln tief in jeder Kindheit. Und darum mußt Du die alten Geschichten lesen, die Dich erinnern und alt und neu in Deiner Seele aufblühen werden. Und nun blättere weiter - höre auf die Geräusche des Blätterns. - Weißt Du noch, wie ich bei Dir saß und Deine Kinderhand hielt, und ich hörte auf das Fallen der rotbeschienenen herbstlichen Blätter ... Da sagtest Du mir leise, Du glaubtest, ich sei der liebe Gott, und ich solle es Dir doch endlich offenbaren ... Ich ließ Deine Hand los, und das Fallen der Blätter wurde noch vernehmbarer ... Auf-Horchen mußt Du, Isa - Geräusche sind da, um tief in die Seele zu fallen. Ist man gesegnet, so werden sie zu Klang. Blättere weiter, meine Freundin, aber ohne Hast. Denke an die Stille - und nun blättere in der Stille. Du findest nichts. Nur leere Blätter ...? Kind, sage nie nur. Aller Anfang ist in der vollkommenen Ruhe: Entfernt vom Aufblättern und endlos weit von dem Entblättern. Du siehst die Blätter leer... Niemand kann etwas dazu tun ... Du weißt nicht, was Dein alter Freund sagen will? Dann richte auf die leeren Blätter Deine stillsten Augen, und langsam, langsam werden sie sich füllen. Gottes Raum ist überall. Und dahinter ist er auch; nichts ist leer. Beginne Dein Leben zu leben. Die leeren Blätter werden sich auftun. Aber sei nicht ungeduldig, sondern lerne warten voll Glauben an das Wunder, wie als Kind, wenn ich beim Lesen Seiten
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überschlug. Die leeren Blätter werden alle lesbar werden: das Wunder der Sterne und das Wunder Deines Lebens. Und aus der ganz abgeblendeten Stille schaut Dein zeitlos alter Freund Dir zu, aus Gottes tiefer, weltenweiter Stille...“ Ich saß und sann, und ich verstand nicht alles, was mein hundertjähriger Freund mir an dem Tage meines 21. Geburtstages sagen wollte. Damals verstand ich sie noch nicht, die leeren Blätter... Ich glaube, insgeheim war ich sogar enttäuscht, auch wenn ich mirs nicht eingestand, vielleicht weil ich es noch nicht wußte, vielleicht auch aus der ganz einmaligen Ehrfurcht vor dem hundertjährigen Freunde. Am ändern Tage legte ich die Handschrift mit den leeren unbeschriebenen Blättern nachdenklich in meinen Schreibtisch in ein eigens dafür freigemachtes Schubfach und - ließ lie liegen. Die leeren Blätter... In langen transparenten Nächten dachte ich oft nach darüber, lange, lange, bis ich einschlief... Jahre vergingen. Heute weiß ich, was mein hundertjähriger Freund gemeint hat...
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Nachwort Alexander von Bernus, 1880-1965, war Dichter und Forscher. Der Dichter hatte schon in jungen Jahren Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dem Erstlingswerk „Aus Rauch und Raum“ folgten der Gedichtband „Leben, Traum und Tod“ und „Gold um Mitternacht“. Rühmlich bekannt wurden auch die Umdichtungen der großen englischen Lyrik des 19- Jahrhunderts. Der Forscher trat mit Arbeiten über theoretische und praktische Spagyrik in Erscheinung und machte sich mit dem Werk „Alchymie und Heilkunst“ einen Namen. Zwischen lyrischer Dichtung und exakter Forschung liegt der Bereich, in dem die vorliegenden Prosastücke beheimatet sind. Dem Titel „Schlosslegende“ hat Alexander von Bernus den Untertitel, „eine ungewöhnliche Begebenheit“ hinzugefügt. Das ungewöhnliche kennzeichnet ebenso die weiteren Begebenheiten. Ihre Inhalte führen jede in ihre Art in Grenzgebiete. Die Entstehung erfolgte in verschiedenen Lebensabschnitten. So ist die Schau einmal jugendlich vorwärtsgewandt, einmal auf der Höhe des Rundblicks und schließlich die rückwärts gerichtete Betrachtung des Vielerfahrenen. Die Schloßlegende spielt in einem Rahmen von zerbrechlicher Feinheit. Zwei Menschen, die sich lieben, verlieren sich ungewollt. In unerkennbarer Schuldverstrickung gehen sie dem tragischen Abschluß ihrer Einbildungen entgegen. „Das war etwas“, sagt der Erzähler, „was sich nicht kurzweg mit Suggestion und ähnlichem erklären ließ, das führte schon hinüber in das Nachtgebiet des Übersinnlichen, vor dessen Einbruch wir ohnmächtig sind und schaudern.“ Renatus, Aufzeichnungen eines Rosenkreuzers, ist die Rückerinnerung eines reifen Mannes an seinen Aufbruch als Knabe zu einem Ziel in weiter Ferne. Alexander von Bernus fügte dem Titel hinzu „ein werdender Roman“. - Von diesem Anfang her ließe sich die Entwicklung des Romans wohl denken, doch besteht die Begebenheit ebensogut für sich als eine eigene Novelle. Aus dem Hintergrund vieler Erzählungen im Elternhaus des Renatus leuchtet wie durch zahlreiche Vorhänge abgeblendet die Gestalt eines fremden Reisenden auf, der den Stein der Weisen besaß. Der Knabe hört voller Ehrfurcht von den Männern, die an Güte gewinnen, je näher sie dem Weisen kommen. „Mit der Erzählung des fremden Bergmanns war eine unbekannte Macht in mein eng abgegrenztes Dasein eingetreten, um etwas irgendwann von mir zu fordern.“ Lichtungen bezeichnet Alexander von Bernus im Gegensatz zum werdenden Roman des Renatus als „ein Romanfragment“. Bei der ersten Veröffentlichung fügte er hinzu „geschrieben 1926 auf Stift Neuburg, aber nicht weitergeführt, weil nach dem Verkauf und dem Verlassen von Stift Neuburg im Frühjahr 1927 der Anschluß nicht mehr gefunden werden konnte. Es bedurfte der Atmosphäre und der Umwelt von Stift Neuburg“. Stift Neuburg, wo Carl Maria von Weber den Waldhintergrund für seine Oper „Der Freischütz“ fand, gilt noch heute als Musensitz der Romantik. Der Waid ist an diesem Sonnenhang des Neckars von unvergeßbarer Pracht. Wie aus der Sage tritt der Jüngling ins Freie hinaus und geht in die Welt, die Geliebte zu suchen. Ihr Bild in der Lichtung, als Knabe geschaut, war nie mehr verblaßt. Hexenfieber, diese Geschichte spielt nicht an der Grenze der Träume, sondern im Dunkel des Hexenglaubens. Der Dichter nennt sie eine magische Begebenheit und sie geht auf die Vorstellung zurück, daß durch Fernwirkung auf schwarzmagischem Wege sympathetische Tötungen möglich seien. Die Erzählweise ist unmittelbar. Die Ereignisse werden als Augenzeugenbericht wiedergegeben. In den Einzeldarstellungen „Die Dichter unserer Zeit“ von Franz Lennartz (1952) heißt es „Die Novellen des Dichters, die das rätselvolle und schicksalhafte Verwobensein diesseitiger und jenseitiger Mächte behandeln, gemahnen an die Kunst E.T.A. Hoffmanns.“ Die Blumen des Magiers sind in gleicher Weise Gegenstand einer magischen Begebenheit, wie sie der Dichter bezeichnet. Es wird erzählt, daß auf magischem Wege auch die Wiedererweckung von Pflanzen aus ihrer Asche gelingen könne. Zu Beginn und am Schluß wird ein Traktat erwähnt, das den Titel trägt „Palingenesis, über die Wiedererweckung der Pflanzen und Tiere aus ihrer Asche“. 130
Franz Anselm Schmitt berichtet in seinem Werk über Alexander vo n Bernus „Dichter und Alchymist“: „Es ist ein seltsames kleines Buch, das 1860 gedruckt wurde und in der alchymistische n Bibliothek des Dichters stand“. Dem Reiz, diesen Gegenstand zu einer Novelle zu gestalten, konnte der Dichter nicht wiederstehen. Nächtlicher Besuch ist die dritte der magischen Begebenheiten. Ein Leben wird auf ebenso geheimnisvolle Weise wie in dem Ereignisbericht vom „Hexenfieber“ ausgelöscht. Es ist die Sühne für den Verrat von Mysteriengeheimnissen. Das Ende des Verräters ist zugleich Entsühnung und Durchgang zu neuer Wiederkehr. Die Schwerelosigkeit des Übergangs von Realität in Phantastik entrückt in eine Dimension, die fast einen selbst zum Gegenstand eines Verwandlungsprozesses werden läßt. So war es wirklich, erinnere ich mich, als ich in jungen Jahren den Dichter kennenlernte. „Es ging auf zwölf Uhr nachts zu. Er saß am Schreibtisch des zu ebener Erde gelegenen Arbeitszimmers seines Stadthauses und arbeitete“. Wenn man eintrat, war es nicht anders als setze man seinen Fuß auf den Boden der Insel der Seligen. Man trat in einen Ring der geistigen Begriffe wie in einen Schutz vor der Gewalt der Zeit. Allerseelen ist die persönlichste Erzählung einer außergewöhnlichen Begebenheit. Während alle jeweils Züge des Persönlichen des Dichters tragen, zeigt diese seine Züge ganz. Die Erzählung wurde seiner Zeit so angekündigt: „In der Geschichte Allerseelen erzählt Alexander von Bernus eine Begebenheit aus seiner frühen Jugend, die trotz ihrer sachlichen unausgeschmückten Schilderung durch das Übergreifen in das Gebiet des Übersinnlichen fast unwahrscheinlich anmutet und zugleich ergreifend ist als Rechenschaft und Bekenntnis einer seelischen, längst abgetragenen Schuld. Mit Heidelberg, Karlsruhe und Danzig der Jahre 1898 und 1899 spielt sich am Rande des Lebens eine Liebesgeschichte ab, deren traurig-schicksalhafter Ausgang von dem Dichter nach fünfzig Jahren noch einmal wie zur Sühne beschworen wird. Im Mittelpunkt des ohne eigene Schonung erzählten leidvollen Geschehens steht die durchsichtige, zärtliche Gestalt der einundzwanzigjährigen Lilly.“ Die Handschrift des Hundertjährigen bildet den Abschluß der außergewöhnlichen Begebenheiten. Der Dichter beginnt mit den Worten: „Isa erzählte mir an einem regnerischen Spätherbstnachmittag“. Aus ihrer Jungmädchenzeit taucht die ehrwürdige Gestalt des Hunder jährigen auf, und sie, sieben- oder achtjährig, hörte ihm beim Vorlesen zu. Manche Blätter wurden überschlagen. Längst war die Stimme verstummt als die inzwischen Einundzwanzigjährige die Handschrift des Hundertjährigen als sein Vermächtnis erhielt. Die über-schlagenen Blätter waren leer. „Heute weiß ich, was mein Hundertjähriger Freund gemeint hat“, schließt die Erzählung. In dem Gedicht „Das Buch Zen“ von Alexander von Bernus stehen die Verse: Was rührt tiefer an das Geheimnis der Dinge als zu sich selber gesprochene Worte, die sich im Herbstlaub verlieren? Hingelalltes im Nachtwind ist mehr als alle Bücher der Weisheit. Und wenn ich sage: Das Laub fällt taucht in die Tiefe der Ewigkeit unter die Seele. Sebastian Paquet November 1983
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