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Brak, der Barbar Er lebt in den nördlichen Steppen seiner Welt, bis seine Stammesgenossen ihn aus der Gemeinschaft der Krieger ausstoßen, weil er den Göttern seines Volkes die notwendige Ehrerbietung versagt. Jetzt ist Brak, der flachshaarige, muskulöse Barbar, auf dem Weg in die südlichen Länder. Die Worte eines alten Schamanen, der von den Wundern und dem Reichtum des Südens sprach, haben den jungen Krieger zutiefst beeindruckt. Brak will selbst sehen, was es mit dem Goldenen Süden auf sich hat. Brak fürchtet keine Gefahren, solange er das Schwert an seiner Seite weiß. Er hat ein Kämpferherz, und er ist im Kriegshandwerk geübt. Noch ahnt er nicht, daß es dunkle Mächte gibt, denen mit dem Schwert allein nicht beizukommen ist. Doch er erfährt es inmitten von Not, Tod und unsäglichem Grauen, inmitten von düsteren Verliesen und Manifestationen schwarzer Magie. Dennoch geht der Barbar unbeirrt seinen Weg − ihn lockt der Süden, das Goldene Khurdisan.
John Jakes Schiff der Seelen Titel der Originalausgabe: BRAK THE BARBARIAN Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl TERRA FANTASY-Taschenbuch 2. Auflage erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG. Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1968 by John Jakes Redaktion: Hugh Walker Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany Juni 1977
ERICH PABEL VERLAG KG RASTATT/BADEN
Vorwort Lieben Sie das Phantastische? Das heroische Abenteuer? Hat Ihnen Robert E. Howards Conan gefallen? Oder Fritz Leibers Schwerter-Zyklus? Oder J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe? Oder Dragon, die erste deutsche Fantasy-Serie? Wenn ja, dann wird unsere Fantasy-Taschenbuchreihe, von der Sie nun den ersten Band in Händen halten, sicherlich Ihr Herz höher schlagen lassen. Denn das ist es, was wir Ihnen hier und mit den kommenden Bänden bieten wollen: Türen in wilde, prunkvolle, glitzernde Welten der Phantasie. Jeder Band öffnet Ihnen solch eine Tür in die Vergangenheit, in die Zukunft, in eine andere Dimension. Sie brauchen nur umzublättern … Fantasy ist nichts Neues. Fantasy ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie ist in den Sagen und Märchen aller Völker, in den Mythen und Überlieferungen, denn die Glorifizierung und Ausschmückung der Wahrheit ist bereits ein erster Schritt zur Fantasy. Manches Stück Jägerlatein oder Seemannsgarn wird Sindbads Abenteuer in den Schatten stellen. Früher, als die Welt noch kleiner war, das Reisen beschwerlicher und die Bereitschaft zum Aberglauben größer, da waren ferne Inseln und Länder die Phantasiewelten, in denen magische und mystische Dinge geschahen, von denen Menschen träumten oder Barden und Gaukler an fürstlichen Höfen berichteten. Denken wir an die Abenteuer des Odysseus oder an Sindbads Seefahrten. Aber wir dürfen diese Erzählungen auch nicht einfach als
phantastische Geschichten abtun, denn es handelt sich dabei nicht um bewußt phantastische Dichtung. Die phantastischen Elemente resultierten weitgehend aus dem begrenzten Weltverständnis früherer Zeiten heraus. Die Mystifizierung erfolgte durch ein uns heute magisch anmutendes Verständnis der Dinge. Erkenntnisse wurden mühsam gewonnen, die Wahrheit oft mit Blut bezahlt. Selbst die sogenannte Wissenschaft mußte in jenen Zeiten wie Hexerei anmuten. Nach und nach aber schrumpfte die Welt und wurde überschaubar. Das Phantastische konnte bald nur noch in wenigen Gegenden glaubhaft angesiedelt werden, im Inneren des Schwarzen Kontinents, in Indien und anderen Flecken im Herzen der großen Kontinente, woher es noch wenig Berichte gab, und sie waren bereits wundersam genug. Anfang unseres Jahrhunderts, als es schien, als würden auch die letzten großen Geheimnisse fallen, als die Zeit der individualistischen Abenteuerer vorbei schien, da öffnete eine junge, spekulative Literatur neue Wege, schuf neue Welten für das heroische, phantastische Abenteuer. Noch niemand hatte den Boden des Mondes oder der Planeten betreten. Über sie konnte man noch träumen. Daran vermochten auch immer größer und aufwendiger werdende Teleskope nichts zu ändern. Erst Mondflug und Raumsonden beraubten die phantastischen Spekulationen ihrer Grundlage. Die moderne Fantasy ist weniger bedacht auf Glaubhaftigkeit und Realitätsbezogenheit. Wenn sie eine Welt braucht, so schafft sie eine. Vielleicht in der Vergangenheit, vielleicht in der Zukunft oder in einem parallelen Universum; vielleicht aber auch wissen wir gar nicht, wo sie ist. Es ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr das Abenteuer, der freie Fluß der Phantasie und blutvolle Gestalten, die uns mitempfinden lassen. Öffnen wir also die erste der Türen.
Vor uns liegt Braks einfache Welt mit den hohen kalten Steppen im Norden und dem tropischen Khurdisan im Süden. Brak ist der ewige Wanderer, der Barbar, der in die Zivilisation vorstößt. Er ist damit ein naher Verwandter Conans, des Cimmeriers. Aber Braks Welt ist einfacher, sein Weg geradliniger. Nur eine Kraft treibt ihn, der Traum von den Wundern und Reichtümern und dem ewigen Sommer Khurdisans. Sein Weg bringt ihn in Konflikt mit Ungeheuern, mit Menschen und sogar mit den Göttern seiner Welt. Seine Abenteuer sind aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Und manch kostbare ist dabei. Ebenso wie die Conan-Stories gehören Braks Abenteuer einer Literaturgattung an, die Fritz Leiber, selbst ein erfolgreicher Autor des Genres, mit dem Etikett Sword und Sorcery versehen hat (Schwert-und-Magie-Erzählung). Eine Mischung von historischen bzw. pseudohistorischen Abenteuergeschichten und übernatürlichen Elementen, wie sie R. E. Howard erstmalig in größerem Stil mit seinen Storys um Kull von Atlantis und Conan von Cimmeria in den dreißiger Jahren für das PulpMagazin Weird Tales schrieb. Er fand damit nicht nur viele Anhänger, sondern auch eine ganze Reihe von Nachahmern, die berühmtesten wohl C. L. Moore mit ihren Geschichten von Jirel of Joiry, einer weiblichen Fantasy-Heldin (doch überwiegt hier das übernatürliche Element weitaus im Vergleich zu Howard), und Henry Kuttner mit Elak von Atlantis. Ende der dreißiger Jahre erschien ein neues Fantasy-Magazin, Unknown Worlds, in dem die ersten Stories von Fafhrd und dem Grauen Mausling veröffentlicht wurden, die Wan-TengriRomane von Norwell W. Page und die Harold-SheaGeschichten von L. Sprague de Camp und Fletcher Pratt, neben vielen anderen. Mit der Veröffentlichung der gesammelten Conan-Bände bei Lancer Books begann in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine neue Fantasy-Welle. Neue Autoren wandten sich dem
Genre zu. Lin Carter, Gardner F. Fox, Michael Moorcock, Andre Nordon, Jack Vance, John Jakes und viele andere. Heute ist das Fantasy-Angebot nur noch schwer überschaubar. Wir werden uns jedoch bemühen, in unserer Reihe eine gute Auswahl zu bringen, von den dreißiger Jahren bis zu den siebziger Jahren, und mancher Reiz mag in dieser Gegenüberstellung liegen. Die vorliegenden drei Novellen von Brak, dem Barbaren, erschienen erstmals gesammelt in der Ausgabe BRAK THE BARBARIAN bei Avon Books 1968. Nur eine Story, GEISTER IM STEIN, ist älteren Datums (1965). BRAK THE BARBARIAN ist der erste von nunmehr drei amerikanischen Bänden über Brak. Schreiben Sie uns, wie Ihnen Brak gefällt, und ob Sie mehr über ihn lesen möchten. Wenn ja, so werden wir Ihnen das vorhandene Material nicht vorenthalten. Als John Jakes in den sechziger Jahren seine ersten BrakGeschichten schrieb, tat er es aus einem sehr persönlichen Motiv heraus: Er fand, daß es zu wenig Schwert-und-MagieErzählungen gab, daß mit Howards Tod und dem allgemeinen Trend zur Science-Fiction hin eine breite Lücke geblieben war. Diese Lücke wollte er füllen helfen, und so entstand Brak mit dem Löwenfell und dem gelben Zopf und dem Traum vom Süden. John Jakes wurde 1932 in Chikago geboren und lebt heute als Werbeagent in Columbus, Ohio. Er schrieb Science-Fiction, Fantasy- und Horror-Stories seit Anfang der fünfziger Jahre für die verschiedensten Magazine, vor allem Amazing Stories und Fantastic. In Fantastic erschienen seit etwa 1963 die meisten der Brak-Stories. Für seine Arbeit an der Brak-Saga wurde er auch Mitglied
von S.A.G.A. (Swordsmen and Socerers’ Guild of America, Limited), einer Gemeinschaft von (lebenden) Autoren des Genres der Schwert-und-Magie-Erzählung. Die übrigen Mitglieder dieses exklusiven Zirkels sind: Fritz Leiber, Jack Vance, Poul Anderson, Lin Carter, L. Sprague de Camp, Michael Moorcock und Andre Norton. Und nun viel Spaß. Vor Ihnen ist die erste der versprochenen Welten. Hugh Walker
INHALT Vorwort Seite ............................................................... 7 Das Heiligtum des Schreckens (THE UNSPEAKABLE SHRINE) Seite ............................................................... 13 Geister im Stein (GHOSTS OF STONE) Seite ............................................................... 67 Das Schiff der Seelen (THE BARGE OF SOULS) Seite ............................................................... 89
Das Heiligtum des Schreckens
Während Helden müßig träumen, zieht das Unheil ein. Priester beten, stammeln, fluchen, donnernd stürzen Tempel ein. Es naht die Finsternis der Seelen. Yob-Haggoth herrscht in seinem Schrein! Nestoriamus’ Vision »Gott ist tot!« kicherte der Bettler mit irrem Blick. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln, und verfilztes Haar hing ihm bis zu den Schultern. Seine Zähne waren faulig-braune Stummel. Er schüttelte seinen Kupferteller und versperrte die enge Gasse. Als der breitschultrige muskulöse Fremde sich nicht um ihn kümmerte, kreischte er nur um so schriller. »Gott ist tot, die Schrecklichen seien gepriesen! Einen Dinscha für den würdigsten und demütigsten Diener des Schwarzen Gottes.« »Eine Münze?« brummte der Fremde. »Bettle anderswo!« »Einen Dinscha nur, Barbar.« »Geh mir aus dem Weg!« »Nur einen einzigen, o Herr!« »Ich sagte, geh mir aus dem Weg!« Übelkeit erfaßte den hochgewachsenen stämmigen Fremden, dem der Bettler den Weg verstellte. Der Gestank von faulenden Fischen vermischte sich mit dem Rauch von schwelenden Fackeln und dem eklig süßen Duft von Rauschmitteln. Selbst die frostige Winterluft vermochte diesen penetranten Gestank nicht
aus der engen Gasse zu vertreiben. Der breitschultrige Barbar wußte nicht, ob er sich übergeben oder fluchen oder beides tun sollte. Bei Sonnenuntergang war er durch das Stadttor vom Kambda Kai marschiert und hatte sich stundenlang in den überfüllten Straßen der Stadt umgesehen. Aber er hatte nichts als Schmutz, Betrügereien und Liederlichkeit gefunden. Wenn das die Pracht der großen zivilisierten Königreiche sein sollte, die zwischen ihm und dem sagenumwobenen Khurdisan lagen, dann hatte er vielleicht einen Fehler gemacht, als er sich aus den hohen Steppen des wilden Nordlands auf den Weg in den Süden machte. Der Bettler war hartnäckig. »Nur einen einzigen Dinscha, Fremder. Eine ganz geringe Münze, dafür führe ich euch in ein gewisses Haus, wo zu Ehren Yob-Haggoths, des Gottes der Finsternis, der den Namenlosen Gott vertrieben hat, erfreuliche Dinge vollzogen werden. Wenn Ihr das richtige Wort wißt, läßt man Euch ein in dieses Haus, und Ihr werdet Erstaunliches zu sehen bekommen, wie verzauberte Bergziegen und dralle junge Dirnen, die sich verwandeln …« »Mir liegt nichts an solchen Lastern«, knurrte der Barbar. Seine Rechte legte sich um den Griff des gewaltigen Breitschwerts an seiner Seite. »Gib den Weg frei!« Die Wieselaugen des Bettlers sahen sich nach Unterstützung um. Die enge Gasse mit den paar geschlossenen Läden war leer. Geradeaus endete sie in einer Steintreppe, die ein halbes Stockwerk hoch zu einem Platz führte. Fackellichter erhellten ihn, und Nachtschwärmer schienen dort ihren Vergnügen nachzugehen. »Ihr könntet nicht deutlicher offenbaren, daß Ihr keinen Respekt vor den Bürgern der Eismarschen habt, Fremder. Eine sehr unkluge Einstellung.« »Ich weiß nichts von dem Land, das du die Eismarschen nennst«, erwiderte der Barbar. »Und ich will auch gar nichts
davon wissen. Ich bin auf der Durchreise. Willst du mich nun endlich vorbeilassen?« Er zog das Schwert halb aus der Hülle. Der Bettler machte eilig einen Schritt rückwärts, unsicher, ob der Fremde es nicht vielleicht ganz zog und ihm in den Wanst stieß. Der kraftstrotzende Barbar entblößte die weißen Zähne zu einem Grinsen. »Wenn du es wirklich darauf anlegst, mich aufzuhalten, Bettler, so sage es. Ich werde dann sehen, ob ich deinen Entschluß nicht ändern kann.« Der Bettler fluchte in einer dem Barbaren unbekannten Sprache. Aber ein grollendes Lachen kam aus der Kehle des Fremden, der sich bereits an dem Alten vorbeigeschoben und ihn in eine dunkle Nische zwischen zwei Häusern gedrängt hatte. Der Bettler kauerte sich zusammen und blickte mit angstverzerrtem Gesicht zu der hochgewachsenen Gestalt mit dem gelben Haar auf, das zu einem dicken Zopf geflochten den Rücken herunterbaumelte. Ein glänzender Pelzumhang, auf dem das Fackellicht sich spiegelte, hing von seinen mächtigen Schultern. Abgesehen davon und von einem Kleidungsstück aus Löwenfell um seine Hüften, war der Barbar nackt. Der Fremde wartete ab. Der Gesichtsausdruck des Bettlers änderte sich zu einer schmeichlerischen Maske. »Möge Yob-Haggoth sich meiner Zunge erbarmen«, winselte er. »Ich erkannte in Euer Ehren nicht einen Mann von solcher Entschlossenheit. Selbstverständlich seid Ihr frei, Eures Weges zu ziehen. Ich werde mir einen anderen suchen, um meine armselige Schüssel zu füllen.« Mit diesen Worten hob er den Kupferteller, als wolle er ihn dem Barbaren zeigen. Aber mit einer schnellen Bewegung schleuderte er den Inhalt in das Gesicht des Fremden, daß dieser verwirrt den Kopf schüttelte. Der Bettler quiekte und sauste an ihm vorbei. Der Barbar wirbelte herum, als der Bettler auf die Stufen am Gassenende zurannte und schrill kreischte: »Es wird sich noch
herausstellen, wie weit Ihr mit Eurer Arroganz bei den magischen Blinden kommt, Tölpel.« Er schwenkte beide Arme und brüllte: »Heh, Werfer! Zur Zuckerbäckergasse! Ein Fremder!« Aus der von Fackellicht durchbrochenen Dunkelheit des Platzes über der Steintreppe tauchte eine Gruppe schmächtiger, flinker Gestalten auf. Der gelbhaarige Barbar stellte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand und machte sich zum Kampf bereit. Auf der anderen Gassenseite öffnete sich ein Fenster. Ein junges Mädchen blickte heraus auf das Dutzend oder mehr schmutzstarrender Burschen, die johlend die Treppe herunterhüpften. Gleichgültig schob sie ihre Rauschgiftpfeife zwischen die roten Lippen und schloß das Fenster wieder. Aus der Ferne drangen der rhythmische Schlag eines Tamburins, heftiges Klatschen und Gelächter zu ihm. Ehe der Barbar die hohen Steppen verließ und über rauhe Hügel die Grenze zu diesem zerklüfteten Land der Eismarschen überquerte und Kambda Kai erreichte, hatte er noch keine Bekanntschaft mit der Zivilisation gemacht. Aber so, wie es aussah, bestand diese aus nicht viel mehr als Diebereien, Blasphemie und Verderbtheit. Und nun hatte es gar den Anschein, als müßte er auch noch gegen eine Horde von Jungen kämpfen. Die Bürschchen bildeten weiter oberhalb einen Halbkreis. Es waren zerlumpte, unterernährte und völlig verdreckte Gestalten mit strähnigem Haar und spitzen Raubtierzähnen. Mit leisem Grauen stellte der Barbar fest, daß ihren Gesichtern etwas fehlte. Wo die Augen sein sollten, trug jeder der Jungen zwei knopfähnliche, silberkristallene Scheiben, die irgendwie zwischen Brauen und Wangenknochen eingebettet waren. Auch ihre Fingerspitzen bedeckte Silberkristall, doch hier lief es in nadelscharfen Enden aus. »Die kleinen Akolyten Yob-Haggoths«, kicherte der Bettler aus dem Hintergrund, »sind recht fähig, wenn es darum geht, sich Fremden anzunehmen, die den Finsteren Gott nicht ehren.
Auf ihn, Werfer!« Einer der Jungen, der die anderen etwas überragte, machte einen Schritt vorwärts. Die Silberkristalle glitzerten, und der Schein der rauchigen blauen Fackeln brach sich darin. Die bemitleidenswert zerbrechlich aussehende Gestalt in ihren Beinkleidern aus Tierhaut verbeugte sich spöttisch. »Unsere ehrerbietigen Grüße, Fremder«, piepste der schmächtige Bursche. »Willkommen in Kambda Kai, der Hauptstadt der Eismarschen. Gibt es Schwierigkeiten hier?« »Eine habe ich bereits beseitigt«, brummte der Barbar. »Eine weitere beginnt möglicherweise, wenn ihr euch mit mir anlegen wollt. Mach dich aus dem Staub, Kleiner, ehe ich dir mit diesem Schwert den Hintern versohle.« Die spitzen Zähne des Werfers blitzten. Einige seiner Kameraden hüpften von einem Fuß auf den anderen und stießen Zischlaute hervor. Die Silberkristallscheiben ihrer Augen strahlten ein eigenartiges Leuchten aus. Der Rücken des Barbaren kribbelte. Er fand es durchaus nicht komisch, daß sich ein erwachsener Mann wie er mit einem Pack unterernährter Halbwüchsiger herumraufen sollte. Im Gegenteil, es schien ihm ein böses Omen. Er spürte lauernde Gefahr um sich. Vielleicht war es die Fremdheit der Stadt, die er voll Wunder geglaubt hatte. Es war die erste Stadt, die er in seinem Leben je betreten hatte. Sie hatte sich als ein Ort der Niederträchtigkeit herausgestellt, die hinter den Tausenden von eisernen Ziergittern zu Hause war. »Wir werden Euch Eure Unhöflichkeit verzeihen, Fremder«, bedeutete ihm der Bursche und klickte zwei der silbernadligen Fingerspitzen zusammen, »wenn Ihr uns ein oder auch zwei Fragen beantwortet.« Der stämmige Barbar hielt es für klüger, sie mit Reden hinzuhalten, als einen Angriff mit seiner Klinge zu starten. Der Gedanke, mit dem Schwert gegen einen Haufen von Kindern vor-
zugehen, gefiel ihm nicht. »Dann fragt«, knurrte er. »Woher kommt Ihr?« erkundigte sich der Bursche und schob seinen Kopf vor, als könne er so besser verstehen. »Aus dem Norden.« »Und wo wollt Ihr hin?« »In den Süden.« »Habt Ihr einen Namen.« »Dort, woher ich komme, nennt man mich Brak.« Er hielt es nicht für erforderlich, zu erwähnen, daß ihn seine eigenen Stammesgenossen ausgestoßen hatten. Doch schon vorher war sein Entschluß gefaßt gewesen, sie zu verlassen. Von einem wandernden Schamanen hatte er von den reichen warmen Ländern im Süden gehört, und dorthin hatte es ihn von diesem Augenblick an gezogen. Und als man ihn schließlich verbannte, weil er die kriegerischen Götter seines Volkes zu oft mißachtet hatte, machte er sich auf den Weg in das Land seiner Träume. In den warmen Breiten Khurdisans, weit im Süden, wollte er sein Glück machen. Und unterwegs würde er durch viele prächtige Städte und Königreiche kommen, hatte ihm der Schamane erzählt. Er war bereit, sich, wenn nötig, mit dem Schwert einen Weg zu dem halbmondförmigen Khurdisan zu bahnen, das wie der Schamane ihm versichert hatte von den Pfeilern Ebons im Westen bis zu den Rauchbergen reichte, wo die Welt im Osten endete. Khurdisan! Das goldene Khurdisan! Der Name war ihm Musik und steter Begleiter. In Khurdisan, so hatte der Schamane gesagt, lag das Gold auf der Straße. Und es gab goldenen Sonnenschein und goldhäutige Frauen. * Und nun, kaum daß er sich richtig auf den Weg gemacht hatte, fand Brak sich bereits aufgehalten. Aufgehalten von einer
Meute seltsamer Kinder, die zwischen spitzen Zähnen zischten und keinen Blick von ihm wandten. »Noch eine Frage, Brak«, und wieder klickte der Werfer mit den Fingerspitzen. »Vor welchem Gott verbeugt Ihr Euch?« »Ich hörte, es gebe viele Götter in den Königreichen zwischen hier und dem Süden«, erwiderte Brak. »Das finde ich sehr verwirrend. Ich kenne keinen von ihnen und beuge mich vor keinem.« Mit einem bösartigen Knurren sprang der Bursche einen Schritt näher und hob das augenlose Gesicht zu ihm. »Es gibt keinen Gott außer Yob-Haggoth, Fremder. Wir sind seine Diener.« Er fuchtelte mit seinen Nadelspitzenfingern vor Braks Nase. »Wenn Ihr auf die Knie fallt und Yob-Haggoth Treue schwört, dessen Macht sich nicht nur über die Eismarschen, sondern bald über die ganze Welt erstrecken wird, dann dürft Ihr ungehindert weiterziehen.« Braks Blut begann zu wallen. »Ich sagte dir doch, du spinnenbeiniges Großmaul, daß ich mich vor keinem Gott beuge.« »Yob-Haggoth ist allmächtig. Yob-Haggoth breitet seinen dunklen Mantel über die ganze Welt. Über jene, die ihn anbeten und über jene, die es nicht tun. Er hat den Namenlosen Gott verbannt. Er ist der Herrscher über alle gute Dunkelheit. Ihr werdet ihm den Treueeid leisten!« Brak verlor die Geduld. Er hob seine Rechte und drückte die Handfläche auf die Stirn des Jungen, mit der Absicht, ihn wegzustoßen. Aber kaum war er mit der Haut des Anführers in Berührung gekommen, da überfiel ihn ein scheußliches Prickeln, das in einem stechenden Schmerz in seiner Schulter endete, der ihn keuchend zurückfahren ließ. Die silberkristallenen Scheiben im Gesicht des Burschen funkelten. Er lachte: »Heh, Freunde, ich glaube, wir haben unseren mys-
tischen dritten gefunden. Einen Gläubigen, einen Anhänger des Namenlosen Gottes und jetzt diesen Fremden, der keinen Gott anerkennt. Ehe die Sonne aufgeht, wird ihr Blut sich zu Ehren Yob-Haggoths vermischen.« Während dieser ihm unverständlichen Rede stand Brak angespannt gegen die Mauer gelehnt. Der Schmerz pochte schier unerträglich in seinem Arm. Er versuchte, die Finger zu bewegen, um sein Breitschwert aus der Scheide zu ziehen. Die Halbwüchsigen schlurften im dichten Halbkreis näher. Ihr Zischen wurde aufgeregter. Der Bursche, den Brak mit der Handfläche berührt hatte, deutete mit dem Finger auf ihn. »Holt ihn euch, Freunde!« befahl er. »Holt ihn zur Ehre des Finsteren Gottes.« Die Werfer sprangen vorwärts. Ihre Silberkristallscheiben funkelten. Brak kämpfte gegen den betäubenden Schmerz in seinem rechten Arm an und zerrte sein Breitschwert hervor. Die Zeit für Skrupel war vorbei. Todesstille senkte sich über die schmale Gasse. Mit einem Schrei sprang der Anführer der Werfer gewandt in die Höhe. Er bekam einen aus dem ersten Stock hervorstehenden Balken zu fassen und baumelte mit den Beinen hoch über Brak. Er lachte höhnisch und winkte seinen Kameraden mit einer Hand zu, jetzt anzugreifen. Brak machte einen Schritt vorwärts. Irgendwo kicherte der Bettler schadenfroh. Der Barbar schwang das Schwert mit aller Kraft. Plötzlich schnellten die Hände der Werfer vor. Aus ihren Fingerspitzen schossen winzige Silberstrahlen. Einer der geschmolzenen Tropfen traf Braks Klinge und explodierte in einem Regen von grünen und roten Funken. Ein anderer schlug auf seiner Schulter auf und verursachte einen brennenden Schmerz, der Brak die Zähne zusammenbeißen ließ. Er schwang das Breitschwert vor sich. Da prasselte ein Hagel der silbernen Geschosse herab. Jedes, das auf seiner Klinge
aufprallte, verursachte ein Feuerwerk gleißender Funken und blendete ihn. Andere der geschmolzenen Tropfen verbrannten seine Haut, und der Schmerz war kaum noch zu ertragen. Brak warf seinen Kopf zurück und brüllte. Er ließ das Schwert zu Boden fallen und riß sich den Pelzumhang von den Schultern, damit er sich ungenierter bewegen könne. Dann bückte er sich, um die Klinge wieder aufzuheben. Er starrte auf glühende Funken, die immer greller wurden und ihn schließlich so blendeten, daß er den glitzernden Knauf seines Schwertes kaum noch zu erkennen vermochte. Doch dann gelang es seinen Fingern, ihn zu umklammern. Die Klinge schien unendlich schwer, und es kostete ihn alle Kraft, sie hochzuheben. Der immer intensiver werdende Hagel der Silbergeschosse trieb ihn die Gasse zurück. Er fluchte in seiner Heimatsprache und schwang das Schwert durch den Feuersturm explodierender Tropfen, die unermüdlich aus den Fingerspitzen der Werfer schossen. Wie durch einen Schleier hindurch bemerkte er, daß der Halbkreis um ihn immer enger wurde. Silberkristallscheiben gleißten durch das Funkenfeuerwerk. Sie trieben ihn wie ein Stück Vieh an den Häusermauern entlang. Jedesmal, wenn er mit schmerzendem Arm das Schwert schwang, drang es durch nichts weiter als sprühende Funken. Und das zischende Gelächter der Werfer peinigte seine Ohren. Er taumelte durch eine offene Tür in einen Innenhof. Er stolperte ein paar Schritt weiter, immer noch geblendet von den feurigen Geschossen. Beinahe wäre er in ein schmutziges Becken gestürzt, auf dem ein toter Fisch mit dem Bauch nach oben schwamm. Mit letzter Kraft wirbelte er herum, sprang und warf seine gewaltigen Schultern gegen die riesige Lindentür. Einer der Werfer stürmte gerade hindurch. Die zuschlagende Tür warf ihn zurück. Er schrie.
Brak stemmte sich gegen die Tür, aber sie ließ sich nicht völlig schließen, weil der Werfer den Arm dazwischen hatte. Aus den Fingerspitzen flammten Silbergeschosse, die den Hof erhellten. Brak biß die Zähne zusammen und versuchte sich klarzumachen, daß die Werfer keine Kinder waren, sondern Höllenkreaturen in Kindergestalt. Er hob seinen Schwertarm, während er mit der anderen Schulter weiter gegen die Tür preßte. Erbarmungslos hackte er den hereinhängenden Arm ab. Er fiel zu Boden, aber kein Blut quoll heraus, nur eine Wolke faulig riechenden gelben Rauchs. Von der Straße drang wütendes Zischen und ein Mark und Bein erschütternder Schmerzensschrei. Brak drückte noch einmal fest mit der Schulter gegen die Tür und vermochte sie nun zu schließen. Hastig legte er den gewaltigen Riegel vor. Keuchend lehnte er sich kurz gegen die Tür und schloß die Augen. Sein Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen. Die unzähligen Geschosse, die ihn getroffen hatten, hatten ihm übel mitgespielt. Welcher Wahnsinn war das? Wie verrucht war diese sogenannte Zivilisation? Wie verderbt waren die fabelumwobenen Königreiche und Städte, durch die er auf Suche nach Reichtum zu ziehen beschlossen hatte? Welche Ausgeburten der Hölle trieben hier ihr Unwesen? Mit einem Male bereute er es bitter, daß er es bis zu seiner Verbannung hatte kommen lassen und seinem Drang nach dem Süden gefolgt war. Aber schon einen Augenblick später gewann seine im Grund genommen unkomplizierte Natur wieder die Oberhand, und er erkannte, daß er gar nicht anders konnte, als seinen geraden Weg zu gehen. Er packte den Schwertgriff fester und schritt über den Hof. Nur die kalten Sterne des Nordens, oben am samtschwarzen Himmel, spendeten ihm ein wenig Licht. Er mußte aus diesem Haus und aus dieser Stadt herauskommen.
Immer noch ertönte wütendes Zischen von der Straße. Brak umschritt das Becken mit dem fauligen Wasser. Er war halbwegs bei den Innenmauern des Hauses angekommen, als plötzlich perlmuttglitzernde Helle heraus drang. Geblendet blieb er stehen. Das Licht umflutete ein Mädchen von unbeschreiblicher Schönheit. Mitternachtfarbige Seide umhüllte sie. Ihre Augen waren von der gleichen Schwärze, genau wie das lange Haar, das sie wie eine Wolke umgab. Sie lächelte mit roten Lippen, die in ihrem liebreizenden Gesicht glänzten. War das eine neue Teufelsfalle, fragte sich Brak. Die Perlmuttwolke schien über ihr zu schweben. Beide Hände hatte sie gegen die Kupferornamente der Tür gedrückt. Brak nahm an, daß sie sie von innen geöffnet hatte und dadurch das Perlmuttlicht herausgedrungen war. Aber obwohl er in die Richtung geblickt hatte, war ihm das eigentliche öffnen dieser Tür nicht aufgefallen. Sein Schädel pochte. Sein Körper schmerzte von den Geschossen der Werfer. Über ihm schienen die Sterne zu wirbeln. »Kommt hierher, Fremder«, lud das Mädchen ihn mit betörendem Lächeln ein. Hoffnung erwachte in Brak. Vielleicht hatte er in diesem wunderschönen Mädchen endlich unter all der Schlechtigkeit dieser Stadt eine gütige Seele gefunden. Er nickte, um ihr zu zeigen, daß er verstanden hatte. Er schritt auf die offene Tür zu, hinter der er immer noch nichts erkennen konnte, nur das Perlmuttlicht, das ihn blendete. Plötzlich tauchte hinter dem wallenden Gewand des Mädchens ein wohlbekannter Kopf auf. Silberkristallscheiben funkelten. Wie vom Blitz gerührt blieb Brak stehen. Der Anführer der Werfer sprang hinter dem Mädchen hervor, wo er sich bis jetzt versteckt gehalten hatte. »Gut gemacht, schöne Tochter der Hölle«, lobte er und streckte seine Nadelspitzenfinger aus. »Ich Narr!« brummte Brak und zog sein Breitschwert.
»Richtig!« pflichtete das Mädchen ihm spöttisch bei. Ihre schwarzen Augen glitzerten jetzt heller als zuvor, aber mit einem kalten, gnadenlosen Licht. »Die Werfer riefen mich von weit, weit herbei, denn die mystische Dreiheit muß bei Sonnenaufgang auf Yob-Haggoths Altar geopfert werden, um seine Macht zu erneuern.« Der Werferanführer hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Darf ich ihn jetzt mitnehmen, Ariane? Darf ich?« »Ja. Und schnell. Die Sterne erblassen. Ich höre meines Vaters Ruf. Wir müssen uns beeilen.« Die Fingerspitzen des Werfers flammten in bisher unerreichter Helligkeit auf. Hunderte, Tausende von geschmolzener Silbertropfen schlugen auf Braks Haut auf, durchdrangen seine Schädeldecke, trieben ihn in ein Chaos von Schmerz. Mit aller Willensstärke versuchte er das Schwert festzuhalten. Aber jegliche Kraft verließ ihn. Seine Beine wurden weich, gaben nach. Langsam sank er durch ein Feuerwerk sprühender Funken auf den feinen Sand. Und während er fiel, drehte er sich. Durch den silbernen Glitzerregen bemerkte er etwas, das ihn mit Grauen und Verzweiflung erfüllte. Er erkannte die Ausmaße ihrer Schwarzen Magie. Wo er vorher durch die Lindentür in diesen Innenhof geflohen war, erhob sich jetzt nur noch eine festaneinandergefügte Steinmauer. Brak sank in tiefen Fieberwahn und wußte nicht mehr, was mit ihm geschah. Hin und wieder erwachte er für Augenblicke. Er hing mit dem Bauch auf dem stinkenden Rücken eines Kamels, das mit flinken Beinen über den gefrorenen Schnee der offenen Eismarschen lief. Vereinzelte Sterne blinkten noch vom hellerwerdenden Himmel. Die Meute der Werfer rannte mit dem Kamel um die Wette. Als er erneut erwachte, war ihm, als läge er mit dem Rücken auf klammen Pflastersteinen. Seine Augen waren noch verschleiert. Er starrte in die Höhe. Gewaltige Steine bildeten ein hohes
Gewölbe, das von Spinnweben bedeckt war. Aber es waren ungewöhnlich dicke Fäden, die es bildeten, und sie waren von einem Scharlachrot, das pralle Tropfen herunterregnen ließ. Ein ekelerregender Gestank drang in seine Nase, wenn sie in seiner Nähe aufschlugen. Es dauerte eine lange Weile, bis seine Augen klarer wurden und er im Netz eine Kreatur erkannte, deren rote Facettenaugen sich weit öffneten. Eine menschliche Gestalt spiegelte sich hundertfach in den einzelnen Facetten wider. Sie war nackt und geschlechtslos, und sie wand und krümmte sich, als röste sie auf glühenden Kohlen. In seiner unmittelbaren Nähe murmelten Stimmen. Brak versuchte seinen Kopf zu drehen, vermochte es jedoch nicht. Kalte Zugluft streifte seine bloße Brust. Nun sah er auch weit entfernt die hohen Wände des Gewölbes. Sie waren von den Flammen eines Feuers, das er nicht sehen konnte, rot umspielt. Und irgendwie wußte Brak, dieses Feuer hielt das Böse noch zurück, das überall lauerte und älter als die Menschheit war. Plötzlich verschwanden die Augen des Beobachters dort oben in den Fäden des riesigen Netzes. Nein, sie wurden nur verschwommener, erkannte Brak. Eine opalisierende Barriere hing mit einemmal zwischen der Spinnenkreatur und ihm. Sie wurde zu einer riesigen schillernden Kugel, schwarz am Rand, nebliggrau in der Mitte. Sie war doppelt mannsgroß und enthielt eine menschliche Gestalt Ariane, das Mädchen im mitternachtfarbenen Gewand. Brak knurrte wie ein wildes Tier. Ihre roten Lippen verzogen sich zu einem interessierten Lächeln, und die dunklen Augen in ihrem kalkweißen Gesicht brannten mit unirdischer Neugier. Er versuchte sich zu erheben, aber eine schreckliche Übelkeit ließ es nicht zu. Die Kugel schwebte näher heran. Ariane hob ihre rechte Hand und drückte die Fingerspitzen, ihm einen Kuß zusendend, an die Lippen. Ihre Augen leuchteten. Dünne Rinnsale frischen
Blutes sickerten an ihren Handgelenken herab. Irgendwie wußte Brak, daß es nicht ihr eigenes Blut war. Ariane lächelte, lockte ihn mit roten Lippen, winkte ihn herbei. Brak schauderte, erstarrte. Seine Augen verschleierten sich erneut. Wild pochte der Schmerz in seinem Kopf. Namenlose Angst erfüllte ihn. Die Kugel schwebte höher und entfernte sich. Arianes immer kleiner werdende Gestalt verschwand. Brak biß in seine Unterlippe und stöhnte. Er war in Schweiß gebadet. Wortfetzen drangen zu ihm. »Wer? Wer?« flüsterte eine Stimme. »Verrät deine Gänsehaut es dir denn nicht?« hörte Brak eine andere. Sie klang heiser, angespannt. »Seine Tochter ist es. Der Fremdling interessiert sie. Sie bewundert seine Kraft, nehme ich an.« Die erste Stimme, älter und zittrig, erklang aufs neue. »Aber die Dämmerung naht, Bruder! Sie hat keine Zeit mehr, ihn zu lieben.« »Kennst du denn ihre Kräfte nicht, Alter? Dieses Geschöpf der Hölle kann mit ihrer Zauberkunst einen Herzschlag in Äonen verwandeln. In dieser Zeit vermag sie tausend Liebhaber zu nehmen, oder auch nur einen, die sich danach wünschten, nie geboren zu sein.« Über Brak schlossen sich nun die roten Augen der Spinnenkreatur. Die zweite Stimme, irgendwo außerhalb seiner Sicht, murmelte weiter. »Wenn Ariane sich für diesen Fremdling interessiert, Alter, dann wird nichts mehr von seiner Seele für Yob-Haggoth übrigsein, wenn das Ritual beim ersten Morgenlicht beginnt.« Die Stimme verklang. Brak fragte sich voll Grauen, was mit ihm geschehen würde, nun, da er die Neugier der Hexe in der Kugel erweckt hatte. Er mußte sich erheben! Hilflos durchzuckte der Schmerz ihn erneut. Er stöhnte laut auf, dann fiel sein Kopf zur Seite. Die Schatten des Feuers tanz-
ten die Wände des gewaltigen Gewölbes empor. Die Sinne verließen ihn. * Das Erwachen kam mit brutaler Plötzlichkeit. Der klamme harte Stein war Wirklichkeit unter seinem nackten Rücken, und der zusammengeballte Löwenschwanz seines kurzen Beinkleides ebenfalls, der gegen sein verlängertes Rückgrat drückte. Seine Augen öffneten sich weit. Er wußte, daß der Zauber vorbei war. Über ihn gebeugt standen zwei fremdartig aussehende Männer. Einer war in schmutzige Lumpen gehüllt. Er hatte einen zerzausten Backenbart, einen langen Schnurrbart und strähniges, ungekämmtes Haar. Früher einmal mochte er groß und stattlich gewesen sein, aber das Alter hatte ihn gebeugt. Seine Zunge benetzte ruhelos seine aufgesprungenen Lippen. Er war blind. Wo einst seine Augen gewesen waren, befanden sich jetzt nur noch die Lider, mit schwarzem Zwirn an die Wangen genäht. Der dicke Faden war teilweise mit wildem Fleisch überwuchert oder von häßlichem Schorf bedeckt. Das Äußere des anderen war weniger abstoßend, und doch erschreckte er Brak mehr als der Blinde. Er war ein stämmiger, kahlköpfiger Mann von kleiner Statur. Er trug eine graue Kutte mit Kapuze. Eine Schnur aus Holzperlen war um seine Mitte geschlungen. In seiner Rechten hielt er ein kleines Kreuz aus gespaltenem grauem Stein, dessen horizontales Stück genauso lang war wie das vertikale. Er hatte es am unteren Ende des vertikalen Teiles umklammert und schwenkte es über Braks Kopf durch die Luft. Das fremdartige Symbol und das Gefühl, daß etwas Finsteres sich über ihm zusammenbraute, ließ Brak auf die Füße taumeln. »Nimm das Ding von meinen Augen, Zauberer!« schrie er
aufgebracht. Seine gewaltigen Pranken legten sich um den Hals des Kapuzenmannes, der sich verzweifelt zu befreien suchte und keuchend nach Luft schnappte. »Er will Euch nichts Böses! Nichts Böses!« schrillte der blinde Alte, dem die verräterischen Geräusche nicht entgangen waren. Immer noch vom Grimm übermannt, blickte Brak in das rote Gesicht des gedrungenen Mannes. Es waren freundliche, offene Züge ohne Schuld. Brak ließ ihn los und schnaufte heftig. Das Steinkreuz war auf den Boden gefallen. Brak deutete darauf. »Ich weiß nicht, was das Ding da soll, Kuttenbruder. Aber ich dulde nicht, daß Ihr versucht, damit einen Zauber über mich zu verhängen.« Der Mann in der grauen Kutte bückte sich. Er hob das Kreuz auf und drückte es inbrünstig an sich. »Woher kommt Ihr, Barbar?« fragte er sanft. Dann zogen seine Augen sich zusammen, als er riet: »Aus dem Norden? Von den Steppen?« »Aye«, erwiderte Brak wachsam. »Dann habt Ihr demnach nie ein Kreuz des Nestoriamus gesehen?« »Nestoriamuskreuz? Nein, nie. Zeigt es mir.« Er streckte die Hand danach aus. Der Kapuzenmann preßte es noch fester an sein Herz und machte keine Anstalten, es Brak zu geben. Nach einem kurzen Schweigen erklärte er Brak: »Dies ist das Kreuz des Namenlosen Gottes, dessen Gesicht niemand kennt, und dessen Name für immer ein Geheimnis bleiben wird. Ich bin der Hüter dieses Kreuzes. Ich bin ein Priester des Nestorianerordens. Man nennt mich Bruder Jerome.« Brak schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er blickte sich in dem riesigen Gewölbe um und stieß einen Pfiff aus. Es war tatsächlich so gewaltig, wie er es in seinem Alptraum gesehen hat-
te. Eine ganze Armee hätte hier Platz gefunden. Es gab keine Fenster und offensichtlich nur einen Ausgang ein riesiges Portal, das fünfmal so hoch wie er selbst war. Das einzige Licht in diesem düsteren Riesenkerker kam von einer nicht sehr tiefen Grube in der Mitte des gepflasterten Bodens. Buchenscheite speisten das prasselnde Feuer, das gespenstische Schatten gegen die hohen Wände warf. Der würzige Rauch vermochte jedoch nicht den abscheulichen Gestank der roten Tropfen auszulöschen, die gleichmäßig von dem titanischen Spinnennetz unter der Decke herabsickerten und den Boden färbten. »Ich weiß nicht, weshalb man mich hierhergebracht hat«, brummte Brak und stapfte auf das Feuer zu. »Nur, daß Zauberwesen mich in der Stadt Kambda Kai überwältigten, die ich in friedlicher Absicht besuchen wollte.« Das Feuer erwärmte kaum seine Hände. Eine klamme Kälte erfüllte das ganze Gewölbe. Seine Stimme dröhnte hohl, als er den Mönch und den blinden Alten finster musterte. »Ich weiß nicht, wer Ihr seid. Und ich lege auch keinen Wert auf Eure Gesellschaft.« Der Nestorianer hob eine plumpe Hand. »Friede, Fremdling. Warum sollten wir streiten? Keiner von uns kann mehr tun, als auf den Untergang der Sterne zu warten. Mit dem ersten Tageslicht wird der Priester dieses Ortes …« »Welcher Art ist dieser Ort?« fragte Brak und ließ sich auf dem Mauerwerk nieder, das die Feuergrube umgab. »Ist es eine Gruft? Ein Palast?« »Ein Heiligtum«, flüsterte der Blinde. »Ein Bauwerk von dreifacher Manneshöhe. Es hebt sich bis zu den Sternen empor und wirft Dunkelheit um alles um sich herum.« Die Lippen des Greises verzogen sich, als bisse er auf etwas Bitteres. »Es ist der nördlichste Tempel Yob-Haggoths, Barbar, und das größte seiner Abbilder überhaupt. Denn wisse, es ist von
außen eine gewaltige Statue mit gar schrecklichen Zügen. Es wacht über die Grenze, wo die Eismarschen enden und die endlose Öde des Nordens beginnt.« Es gelang Brak, ein trockenes Lachen auszustoßen. »Endlose Öde? Ich bin dort geboren und groß geworden. Ich habe dort gelebt und gekämpft, bis man mich ausstieß, weil ich nichts von ihren alten Göttern hielt. Und nun bin ich hier, ein harmloser Pilger …« Bruder Jerome musterte Brak ein wenig skeptisch, schwieg jedoch. »Ein harmloser Pilger«, wiederholte Brak, dem des Mönches Skepsis nicht entgangen war, »gefangen im Tempel eines obskuren Gottes, dem ich geopfert werden soll. Ich will nichts mit diesen blutrünstigen Ritualen zu schaffen haben!« Der Blinde ließ sich neben Brak auf der Brüstung nieder. »Wie Bruder Jerome bereits sagte, wir können nichts dagegen tun.« Der Mönch nickte. »Auch uns haben die Werfer in Kambda Kai aufgelesen. Auch wir sind Gefangene. Im Morgengrauen werden sie uns in einer Zeremonie opfern, die zu grauenhaft ist, sie zu beschreiben.« Hoffnungslosigkeit sprach aus Jeromes Zügen. »Diese Rituale finden zweimal im Jahr statt. Durch sie überträgt Yob-Haggoth demjenigen seine Macht, der sie vollzieht.« Fragend blickte Brak den Mönch an. »Und wer ist das?« »Septegundus«, flüsterte Jerome fast unhörbar und schwenkte das Kreuz. Kalter Schweiß strömte Braks Rücken hinab. Dunkle Schatten schienen durch das riesige Gewölbe zu streifen. Hoch oben in dem bluttropfenden Netz öffneten sich die Facettenaugen und starrten herunter. Septegundus. Septegundus. Wie Glockengedröhn hallte der Name in Brak wider, erfüllte ihn mit eisiger Kälte. Plötzlich sprang er auf die Beine. Er stieß einen wilden Schrei aus. Mit
fliegendem gelbem Zopf schoß er auf die mächtige Tür zu und warf sich mit den immer noch schmerzenden Schultern dagegen. Sie erzitterte nicht einmal. Brak legte den Kopf zurück und stieß einen tierischen Schrei aus. Er hämmerte mit den Fäusten gegen das Portal, bis sie bluteten. Doch es gab nicht nach. Erst jetzt begann seine hoffnungslose Lage ihm in allen Schrecken klarzuwerden. Keuchend taumelte er zur Feuergrube zurück. Der augenlose Alte mit den festgenähten Lidern starrte blicklos zur grauenerregenden Spinnwebdecke empor. Seine Wangen zuckten spasmodisch. Bruder Jerome schüttelte milde den Kopf. »Ich brauche Euer Mitleid nicht!« schrie Brak. »Ich brauche kein Mitleid von dem Priester eines wesenlosen Gottes.« Ein Schauder der Angst, des Unglaubens, des Schreckens vor Mächtigen, die zu gewaltig waren, um sie zu verstehen, rieselte Braks Rücken hinab. Als Jerome ihm zuwinkte, sich zu ihm zu setzen, gehorchte er widerstandslos. Er war innerlich verärgert auf sich selbst. Diese Männer waren keine Feinde, sondern Verbündete. Sicher, er hatte sie sich nicht als Kampfgefährten ausgewählt. Nicht einmal als flüchtige Bekanntschaften, mit denen er bei einer zufälligen Begegnung auf einem einsamen Bergpfad ein paar Worte gewechselt hätte. Aber nun hatte das Schicksal sie zusammengeworfen, darum wollte Brak versuchen, zu begreifen, wer sie waren und welche Bedeutung ihre Anwesenheit hatte. Etwas ruhiger fragte er: »Ich verstehe nichts davon, wenn Ihr von Eurem Namenlosen Gott redet, oder diesem Yob-Haggoth, oder er wollte gerade den Namen Septegundus aussprechen, aber wieder schien eine Glocke drohend in seinem Inneren zu erdröhnen oder jenem anderen.« Der Mönch nickte. Er erhob sich und begann hin und her zu schreiten. Seine Sandalen tappten leise über die Pflastersteine.
»Das kommt daher, weil Ihr von einem fernen Land stammt. Darf ich fragen, was Euch hierher brachte?« Stockend erzählte Brak, was er über die Wunder Khurdisans weit, weit unten im Süden gehört und wie er beschlossen hatte, dorthin zu ziehen, um sein Glück zu finden. Es fiel ihm schwer, sich den beiden anzuvertrauen, denn seine Sprache dünkte ihm unbeholfen, und er fühlte sich nackt in ihrer Gegenwart, und hilflos. Ihm schien, man habe ihm mit seinem Breitschwert auch seine Sicherheit genommen. »Euer Unwissen, was diesen Ort betrifft, ist verständlich, Freund Brak. Doch der Schamane belog Euch nicht. Es gibt viel Pracht und Schönheit in dieser Welt der Menschen und ihrer Königreiche, die zwischen dem hohen Norden und dem heißen Halbmond Khurdisans im Süden liegen. Doch es gibt auch viele Gefahren. Die Welt ist voll unglaublich mystischer Kreaturen und Götter. Die meisten davon sind grausam. Vielleicht jedoch ist der Mensch der Grausamste.« Die Worte echoten unheimlich in dem leeren Gewölbe. Ein Scheit barst knackend in der Grube. Funken sprühten. Unwillig wischte Brak sie von den nackten Schenkeln. »Erleuchtet mich, Bruder Jerome. Erzählt mir von diesen Göttern. Wenn ich richtig verstehe, will einer von ihnen uns bei Sonnenaufgang ans Leben.« »Jedes Königreich, ja jede souveräne Stadt auf dieser Welt, Freund Brak«, erklärte Jerome schleppend; »hat einen eigenen Gott. Manche sind mächtig und wissen sich vieler Zaubersprüche und wirkungsvoller Magie zu bedienen. Doch die mächtigsten von allen sind jene beiden, die einander unerbittlich um die Alleinherrschaft über die Welt bekriegen. Die wenigsten der Könige und Prinzen und einfachen Bürger und Magier ahnen auch nur etwas von ihnen, denn sie sind zu sehr mit ihren unbedeutenden Göttern beschäftigt. Vor vielen Jahrhunderten, ehe das Blatt der Geschichte sich mit den ersten Zeilen füllte, herrschte einer von ihnen bereits
über die ganze Welt, Yob-Haggoth.« Jeromes Lippen verzogen sich, als schmerze es ihn, diesen Namen auch nur auszusprechen. »Wie Ihr schon gehört habt, ist dieses Heiligtum eines seiner unheilvollen Abbilder, ein Übrigbleibsel jener vergangenen Zeiten, als er offen in blutigen Riten verehrt wurde. YobHaggoth und sein Kult sind seit unzähligen Jahren verbannt. Aber er selbst hat kein Ende gefunden. Er schlummert nur. Doch seit einiger Zeit beginnt ein Teil seiner Macht wiederzuerwachen. Vielleicht, weil dieser Glaube -« Jeromes Finger tasteten nach dem Steinkreuz, das er sich in die Perlenschnur um seine Mitte gesteckt hatte »hier und dort so manche bekehrt hat. Die Welt, müßt Ihr verstehen, ist ein schwer verständliches, wunderliches Gefüge. Eine Kraft erweckt gewöhnlich eine Gegenkraft. Bis vor kurzem vermochte Yob-Haggoth sorglos zu ruhen, denn wenn die kleinen Magier für ihre unbedeutenden Götter zauberten, so taten sie es doch im Sinne des einen Dunklen Gottes. Es mag sein, daß dieses Symbol hier -« wieder deutete er auf das graue Kreuz »die Waagschale ein bißchen ins Lot bringt und der Finstere Gott ein unerfreuliches Erwachen erlebt.« »Und dieser Septegundus?« fragte Brak und mußte sich anstrengen, den Namen auszusprechen, »ist wohl ein Priester dieses Höllengottes?« Jerome nickte und schüttelte sich ungewollt. »Manche sagen, er sei der mächtigste Zauberer seit Urbeginn der Tage. So alt ist er und kennt doch kein Altern. Er ist YobHaggoths Oberpriester und sein irdischer Beauftragter. Er ist kein Mensch, und ist es doch. Seine Gestalt ist die eines Irdischen, aber da er aus dem Wesen des Gottes ist, kennt er keinen Tod. Als ich in der Stadt gefangengenommen wurde und man mich hierherbrachte, mußte ich zu meinem Entsetzen feststellen, daß er wieder auferstanden ist. Und so kommt es, daß wir in jenen Ritualen geopfert werden sollen, die Yob-Haggoth
zweimal im Jahr von seinen Anhängern verlangt. Und YobHaggoths Amyr, Septegundus, wird sie überwachen.« Jerome beugte den Kopf und fügte flüsternd hinzu: »Der Amyr des Bösen auf der Erde.« Schnell machte er vor Braks erstaunten Augen das Zeichen des Kreuzes auf seiner Brust. »Und mit diesem mystischen Kreuz, das Ihr da in die Luft zeichnet, hofft Ihr, ihn abzuwehren?« erkundigte er sich skeptisch. »Aye, darum bete ich.« Jeromes Augen, wurden ernst. »Aber der Glaube an den Namenlosen Gott verspricht keine Sinekure, noch garantiert er Schutz vor dem Bösen. Seine Anhänger wurden in den vergangenen Generationen schwer geprüft. Und in dieser Stunde wird der Kampf immer unerbittlicher, denn viele Seelen wenden sich Yob-Haggoth zu, der sowohl ihre offenen als auch geheimen Gelüste zu befriedigen versteht. Die Welt, Freund Brak, durch die Ihr Euch zu reisen entschlosset, ist eine Welt des Krieges. Und mein Gott, der keinen Namen und kein Abbild hat, muß gegen eine Übermacht ankämpfen.« Als Brak eine reichlich ungeduldige und spöttische Frage über die Natur dieses Namenlosen Gottes stellte, war der Mönch weder beleidigt noch wurde er unwirsch. Ruhig erklärte er, daß der Namenlose Gott eine Gottheit war, die über die ganze Welt herrschte, ohne auf Grenzen oder Nationalität zu achten; so zumindest glaubten seine Anhänger. Das schien Brak eine recht eigenartige und erstaunliche Religion. Nie zuvor hatte er von Göttern gehört, die die Grenzen der Völker überschritten. Offenbar war der erste, der diese Religion verbreitete, ein Ziegenhirt namens Nestoriamus gewesen. Vor vielen Jahrhunderten, so berichtete Jerome, hatte dieser Ziegenhirt, der Gründer der Religion, seinen Tod gefunden, als er versuchte, das Symbol des Namenlosen Gottes, ein Steinkreuz, in die Rauchberge zu tragen. Die Rauchberge, so erzählte man, seien die Wiege und der Sitz aller Götter. Nestoriamus wurde nie wieder gesehen. Das bekräftigte die Meinung seiner
Familie, Freunde und Nachbarn, daß er sonderlich gewesen war. Eine Weile danach war die Anhängerzahl dieser Religion ein wenig gesunken. Doch nun, erklärte der Mönch, gab es überall auf der Welt vereinzelte kleine, aber wehrhafte Gruppen von Nestorianern. Brak schnaubte. »Wir könnten ein paar von ihnen hier brauchen, wohlbewaffnet mit eisernen Klingen.« Bruder Jerome schüttelte den Kopf. »Unsere Macht liegt in diesem«, wieder deutete er auf sein Steinkreuz. »Nicht die meine«, knurrte Brak. »Wenn es eine Tür aus dieser Hölle gibt, dann kann sie nur durch ein wohlgeführtes Schwert geöffnet werden.« Ein Schatten überflog die Züge des Mönches, als sei er enttäuscht über Braks Ablehnung seines gewaltlosen Glaubens. Aber der Barbar vermochte diese Feinheiten nicht zu sehen. Er sprang auf seine Füße und lief unruhig auf und ab, und der Zopf hüpfte auf seinem Rücken. Schließlich hielt er abrupt vor Jerome und dem blinden Alten an. Ein Tropfen der ekelerregenden roten Flüssigkeit vom Spinnennetz platschte vor seinen Füßen auf den Boden. Ein winziger Bruchteil davon spritzte auf sein nacktes linkes Bein. Es brannte höllisch. Brak beachtete es nicht. »Was wird bei Sonnenaufgang geschehen?« fragte er. »Es wird eine Zeremonie stattfinden«, murmelte der Alte mit den zugenähten Lidern. »Wir sterben zum Ruhme YobHaggoths.« Brak kratzte sich nachdenklich am Kinn. Endlich erinnerte er sich. »Einer der Werfer sagte, drei Personen seien für dieses Ritual erforderlich …« Der Blinde zupfte seine Lumpen zurecht und beugte sich näher zu Brak. Sein Atem stank nach saurem Wein. »Aye. So verlangt es das Ritual, Fremder. Yob-Haggoth muß ein dreifaches Opfer dargebracht werden. Eines davon hat ein Anhänger von Yob-Haggoths Erzfeind zu sein.«
Jerome schob seine Kapuze zurück und wischte sich über die schweißnasse Glatze. »Das bin ich.« »Sie sprachen auch von einem Ungläubigen«, warf Brak ein. »Bin ich das?« Der hagere Alte nickte. »So scheint es.« Bitter verzog er die Lippen. »Ich bin der dritte der Dreiheit. Ich bin jener, der glaubt. Früher einmal tat ich es nicht, müßt Ihr verstehen. Aber als ich noch ein junger Mann war, schloß ich einen Pakt mit diesem Septegundus. Dafür, daß ich meine sterbliche Seele dem Dienste Yob-Haggoths verschrieb und ihm als Beweis meiner Ehrlichkeit auch meine Augen opferte …« »Der Gott blendete Euch?« fragte Brak atemlos. »Nein, nein. Das tat Septegundus’ Tochter.« »Ariane. Die schwarzhaarige Hexe«, fiel Jerome ein. »Sie war hier, als Ihr das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hattet. Sie musterte Euch voll Neugier und vielleicht auch mehr. Aus gutem Grund nennt man sie die Tochter der Hölle. Ihre Schönheit ist wie ein Festtagskuchen, der mit giftigen Rosinen gespickt ist.« »Sie war damals so jung und schön wie sie es heute ist«, fuhr der blinde Alte fort. »Sie war es, die die grünen Zweige von einem Baum brach. Sie spitzte ihre Enden zu, und während ich auf der Erde lag und mich bemühte, mein Zittern zu unterdrücken. Ihr müßt verstehen, ich hatte mich bereit erklärt, den Preis für das zu bezahlen, wonach es mich dürstete –, nahm sie die dünnen Zweige, stach mir beide Augen aus und entfernte sie. Mein Geist und Scharfsinn erhöhten sich danach erheblich. Viele lange Jahre sang meine Zunge herrliche Lieder.« Das greise Haupt beugte sich tief, und die leeren Augenhöhlen schienen zu zucken, als der Alte leise fortfuhr. »Ich bin Tyresias.« Brak blinzelte. Der Name bedeutete ihm nichts. Aber Jerome öffnete erstaunt die Lippen. »Tyresias, der fahrende Sänger? Die Nachtigallenstimme, die
selbst den härtesten Kriegern Tränen zu entlocken vermochte?« Tyresias nickte. »Aye. So war es. Alle Königreiche der Welt öffneten mir weit die Tore, als ich mich in der Blüte meines Ruhmes befand. Der Wein floß in Strömen für mich, und die schönsten Maiden so versicherte man mir küßten den Saum meines Gewandes und flehten mich an um ein einziges Wort.« Er schüttelte den Kopf. »Dies alles ist vorbei. Die Jugend und meine Kraft sind dahin. Yob-Haggoth schloß Unsterblichkeit aus unserem Pakt aus. Doch immer noch habe ich ein paar Reime und Weisen in mir. Zumindest glaubte ich es, bis man mich überwältigte und hierherbrachte. Wie leicht könnte ein Lied davon über Euch sein, Barbar. Aus dem Ton Eurer Stimme erkenne ich, daß Ihr ein lebensfroher Bursche und tapferen Sinnes seid. Doch das wird Euch in dieser Welt der Falschheit wenig von Nutzen sein aber ich spreche, als gäbe es für uns beide noch ein Morgen.« Er hob sein blindes Haupt empor zur blutroten Dunkelheit, wo die Spinnenkreatur sich bewegte. »Für uns gibt es nur noch das Ritual und den Tod«, murmelte er tonlos. Ein bedrückendes Schweigen senkte sich auf die drei herab. Brak warf einen langen Blick auf den blinden Barden und danach auf den untersetzten nestorianischen Mönch, der mit gesenktem Kopf auf dem Mauerwerk saß und, das Kreuz in den Händen haltend, etwas vor sich hin murmelte. Mit einemmal begann Tyresias eine Weise zu summen. Es klang rauh und schmerzte in den Ohren. Brak begann ruhelos um die Feuergrube herumzumarschieren. Seine Augen schienen die Mauern durchdringen zu wollen. Aber es gab kein Versteck, keinen Spalt, der ihnen zur Flucht verhelfen könnte. Lähmende Kälte breitete sich in seinem Herzen aus. Er fuhr hoch, als plötzlich eine Glocke viermal dumpf anschlug. Tyresias hörte zu summen auf und seufzte. »Bald graut der Morgen, dann wird es nicht mehr viel länger als die Umkehrung eines Stundenglases bis zum Sonnenauf-
gang dauern.« »Aber wir können doch nicht einfach wie Vieh herumstehen, das auf den Schlächter wartet!« brüllte Brak. Sein heiserer Schrei echote im Gewölbe. Das durchdringende Lachen einer Frau übertönte ihn, obwohl es aus weiter Ferne zu kommen schien. Plötzlich begann die Luft um die drei Schicksalsgefährten zu verschwimmen. Bruder Jerome sprang auf die Beine und streckte die Hände mit dem Kreuz aus. Ein pulsierender glühender Strahl schoß auf ihn zu, als reagiere etwas unwillig auf das steinerne Symbol. Mit einem Wehlaut brach der Mönch bewußtlos zusammen. Als er stürzte, entfiel seinen Händen das Kreuz und polterte auf den Boden. Obwohl er ihm nichts bedeutete, war Brak, als griffe eine kalte Hand nach seinem Herzen, als er sah, daß das Kreuz unweit von Jeromes Fingern zerschmettert lag. Tyresias begann zu wimmern. »Sie ist hier! Sie ist wiedergekommen!« Brak wirbelte herum. Nun sah er, woher der weißglühende Lichtstrahl gekommen war. Die ihm bereits bekannte opalisierende Kugel senkte sich aus der Dunkelheit herab. Immer noch war sie am Rande schwarz und heller der Mitte zu. Aber dieses Mal beobachtete ihn kein verträumtes Gesicht. Die Kugel war von sich windenden, ineinander verschwimmenden, nebelartigen Schwaden ausgefüllt. Immer tiefer senkte sie sich, genau auf ihn zu. Tyresias zitterte am ganzen Leib. Er spürte die Gefahr. »Es ist die Tochter der Hölle, Fremdling. Doch sie sucht nicht mich, auch nicht den Mönch. Lauft, Freund, lauft, irgendwo in eine Ecke!« Brak schluckte schwer, aber er wich keine Handbreit zur Seite. Der entsetzliche Anblick der Kugel erschreckte ihn. Aber vielleicht brachte sie ihn von hier weg, an einen anderen Ort, wo er seine Fäuste benutzen konnte, um sich zu wehren. Alles
war besser, als untätig hier mit einem hilflosen Mönch und einem greisen Sänger auf ein blutiges Geschick zu warten. Mit aller Gewalt unterdrückte er seine Furcht. Die Blase tanzte unmittelbar über seinem Kopf. Dann berührte sie ihn. Unbeschreibliche Kälte durchdrang den Barbaren. Sein Herzschlag wurde langsamer. Er vermochte nichts mehr zu sehen, als die windenden Schwaden ihn verschlangen. Es war ihm, als habe er jedes Gewicht verloren und er schwebe schwerelos nach oben. Als er endlich wieder zu sehen vermochte, erblickte er tief unter sich den immer noch bewußtlosen Bruder Jerome neben seinem zerschmetterten Kreuz. Tyresias kauerte neben der Feuergrube und schüttelte mitleidig den Kopf. Brak erkannte, daß er sich nun in der Kugel befand, ihr Gefangener war. Er streckte seine Arme aus, die Hände zu Fäusten geballt, und schlug gegen den frostigen Nebel, der trotz der schmerzenden Kälte eine wohltuende Wirkung hatte. Als die Kugel das eklige Spinnennetz erreichte, wurden die Nebelschwaden, die ihn einhüllten, noch dichter. Merkwürdigerweise durchdrangen die dicken Spinnwebfäden die Kugel. Gegen Übelkeit ankämpfend, hieb Brak mit den nackten Fäusten auf sie ein. Aber alles, was er berührte, war frostige Luft. Das Netz war durch die Kugel gedrungen und durch ihn hindurch. Und nun schwebte die Kugel noch höher, berührte die steinerne Gewölbedecke und verschwand Handbreit um Handbreit darin. Brak blickte angstvoll an sich herab. Ungläubig und voll Furcht sah er, wie seine Beine sich aufzulösen schienen und durch den dicken Deckenstein drangen. Eine unheimliche Taubheit erfüllte seinen Körper, je weiter er von dem Stein verschlungen wurde. Er versank mit den Beinen voraus langsam in der Mauer. Als die betäubende Dunkelheit als letztes sein Gesicht einsaugte, vernahm er ein wohltönendes Lachen. »Komm, mein Starker«, lockte eine sanfte Stimme. »Du
brauchst dich nicht vor Ariane zu fürchten.« Nun zweifelte Brak nicht länger, daß Zauberkräfte am Werk waren. »Man nennt Euch Tochter der Hölle«, rief er. »Ich will nichts zu tun haben mit Euch oder Eurer …« Doch da umfaßte die Dunkelheit nicht nur seinen Kopf, sondern auch seinen Geist. * Wind peitschte in sein Gesicht. Furcht erfüllte Brak. Vergebens kämpfte er dagegen an. Der Wind biß in seine Haut, zwang ihn zum Blinzeln. Tief unter dem zerbrechlichen Gefährt aus von Mondschein durchdrungenem Kupfer, das heftig schlingerte, brauste die Erde schräg vorbei. Schwindel erfaßte ihn, Übelkeit würgte ihn. Hastig streckte er die Hände nach der Haltestange des merkwürdigen Fahrzeugs aus und hielt sich fest. Ein Gefühl der Unwirklichkeit erfüllte ihn. Sicher träumte er nur, in einem reich verzierten kupfernen Streitwagen zu sitzen, der durch die Lüfte flog. Der volle Mond schwamm wie eine leuchtende Goldmünze am fernen Horizont. Im Osten, weit jenseits der frostklirrenden Grenze der Eismarschen, dort, wo sich die Rauchberge in den Himmel hoben und wo Nestoriamus, der Ziegenhirt, sein Leben gelassen hatte, stieg das erste Tageslicht auf. Braks Herz klopfte wild vor Angst. Er fühlte sich unvorstellbar leicht, unwirklich und doch wirklich. Es schien, als wäre sein Selbst, das hier hoch über der Welt mit dem Wind in einem von einer überirdischen Zauberin gelenkten Streitwagen dahinbrauste, nicht körperlich, nicht mehr als sein von einem Magier hierher versetztes Abbild. Mit offenen Sinnen versuchte er, all die Wunder, die sich ihm hier offenbarten, in sich aufzunehmen. Am nordwestlichen Horizont kauerte Kambda Kai in der
Dunkelheit. Ganz nahe wuchs aus dem mit Eis überzogenen blauen Fels eine titanische Skulptur. Je weiter der Streitwagen sich davon entfernte, einen desto besseren Überblick gewann Brak. Es war die gigantische Steinabbildung einer nur teilweise menschlichen Figur, deren gewaltige Granitfäuste auf ihren überkreuzten Schenkeln ruhten. Das finstere Gesicht überblickte die Ebenen unter sich, als gedächte es, alles Land zu verfluchen, das seine graueneinflößenden Steinaugen zu sehen vermochten. Plötzlich wurde Brak klar, daß dieses Monument in der Wildnis die Tempelstatue Yob-Haggoths war. Doch von viel dringlicherer Bedeutung war für ihn das Mädchen, das die Zügel in ihren weißen Händen hielt. Sie drehte den Kopf und sah ihn über eine Schulter hinweg an, während ihr langes ebenholzfarbiges Haar hinter ihr her wallte. Es verfing sich in dem schleierdünnen Gewand, daß es schwierig zu erkennen war, wo das Kleid begann und das Haar endete. Arianes Lippen hatten sich zu einem erwartungsvollen Lächeln geöffnet, das ihre kleinen weißen Zähne freigab. Sie zog an den wie aus Spinnwebfäden geflochtenen Zügeln, und die beiden pferdeähnlichen Kreaturen sausten noch flinker über den Himmel. Noch nie hatte Brak ihresgleichen gesehen. Ihre Mähnen brannten, und wenn sie schnaubten, sprühten rot – und orange – und gelbschillernde Funken durch die Nacht. »Warum habt Ihr mich hierhergebracht?« brüllte Brak durch den tosenden Wind. »Weißt du denn wirklich, wer ich bin, Barbar?« lachte das Mädchen statt einer Antwort. »Haben sie es dir gesagt, diese beiden armseligen Kreaturen, deren Zeit bald um ist?« »Ihr seid die Frau, die mich in Kambda Kai in die Falle lockte und nichts weiter als eine billige Hexe!« Wütend schnippte Ariane mit den Spinnwebzügeln gegen seine Wange. Aus einem tiefen Schnitt wie von einem scharfen Messer rann Blut.
Brak hob die Hand, um es abzuwischen. Aber seine Finger blieben trocken. Die Wunde hatte sich offenbar bereits wieder geschlossen, obwohl der Schmerz noch brennend anhielt. Nun war Brak ganz sicher, daß weder er noch Ariane hier wirklich waren. Sein Körper (oder vielleicht gar seine Leiche?) schlummerte dort unten in Yob-Haggoths Tempel, während seine Seele dazu verdammt war, mit der schwarzäugigen Hexe und den feuermähnigen Pferden über den Himmel zu jagen. »Ich bin Ariane, die Tochter Septegundus’« sagte das Mädchen zwischen grimmig zusammengebissenen Zähnen. »Ich verlange Respekt!« »Kann ein Mann Respekt vor der Verderbtheit haben?« rief Brak. Eine plötzliche Verwandlung ging mit Arianes Augen vor. Sanft zog sie am Zügel. Mit unbeschreiblicher Grazie wendeten die Feuerpferde und galoppierten nun südwärts. »Die Werfer sagten mir, du seist nur ein ungehobelter Tölpel aus dem Norden. Und doch scheinst du mir über einen recht regen Verstand zu verfügen, Brak.« »Ihr kennt meinen Namen?« »Aye, und mehr!« »Ich kenne Euren ebenso. Und mehr noch, nämlich seine Bedeutung.« »Ariane«, flüsterte sie, und es klang spöttisch und lockend zugleich. »Ariane!« »Tochter der Hölle nannte der Mönch Euch!« Das Mädchen zuckte die Schultern. Das schleierdünne Gewebe ihres nachtschwarzen Gewandes flatterte im Wind und wand sich um Braks Hals. Wie liebkosend streifte es über seine Wangen, und ein betörender Duft stieg in seine Nase. Heftig befreite er sich aus dem mitternachtfarbigen Gewebe. Der Mond war nun schon fast untergegangen. Die Eismarschen verloren sich in dem blauen Dunst am nördlichen Rande der Welt, während sich vor ihnen eine goldene Stadt in der Ebene erstreckte.
»Wenn Yob-Haggoth sich ihn holt, wird des Nestorianers Zunge kein Gift mehr verspritzen, Brak.« »Glaubt Ihr, das war noch nötig, nachdem Ihr mich mit Euren Teufelskünsten so hereingelegt habt, und ich nun das Opfer für einen Götzen sein soll, von dem ich nie zuvor gehört habe?« Nun funkelten Arianes Augen. »Du wagst zu lästern? YobHaggoth ist der Dunkle Gott. Er ist allmächtig!« »Meinetwegen. Doch was wollt Ihr von mir? Ihr beobachtetet mich aus Eurer Zauberkugel, als ich noch halbbewußtlos lag. Warum habt Ihr das getan?« Eine rosige Zunge benetzte Arianes Lippen. Statt auf seine Fragen einzugehen, höhnte sie: »Was hat dir dieser Nestorianer noch über mich erzählt? Daß ich mit meinen Liebhabern nicht geize? Nun, das stimmt. Mein Vater und ich sind nicht eigentlich Wesen dieser Welt. Aber es macht uns durchaus Vergnügen, den irdischen Hunger zu stillen, der sich durch unsere Menschenkörper auf uns überträgt. Du bist ein Mann nach meinem Geschmack, Barbar. Ein starker Mann mit gewissen Vorzügen, und du verfügst über eine primitive Art von Mut. Doch Mut, würde ich sagen, nützt dir wenig auf dieser Welt. Tugenden wie diese sind unter den Menschen nicht gefragt. Wenn du ein kleiner Mann wärst, Brak, ein Schwindler und Betrüger, und keine Skrupel hättest ah, dann gelänge es dir vielleicht, Khurdisan zu erreichen.« Es überlief Brak eiskalt. Sie wußte also von seinem Traum. Aber er schwieg, als sie fortfuhr: »Aye. Dann würdest du Khurdisan vielleicht lebend erreichen. Aber die Welt will nichts wissen von dir und deiner Art, die herausfordernd ihren geraden Weg geht.« Sie lachte. »Es ist unsere Welt. Meines Vaters und die meine. Eine finstere Welt!« Braks buschige Brauen zogen sich zusammen. »Woher wißt Ihr, daß ich nach Khurdisan unterwegs bin?« »Ich weiß alles über dich. Ich habe dein Gehirn leergesaugt wie eine Meeresmuschel. Es ist ein unkompliziertes Gehirn in
mancher Hinsicht, doch komplex in anderen.« Das lockende sinnliche Lächeln umspielte erneut ihre Lippen. »Alles in allem finde ich dich von bemerkenswerter Anziehungskraft.« »Verhöhnt Ihr mich mit Eurem Gerede, Weib? Ich bin zum Opfertod ausersehen. Schon graut der Morgen.« Ariane winkte mit ihren langnageligen Fingern ab, als die gewaltige goldene Stadt mit ihren Türmen und Kuppeln und Marktplätzen und Tempeln unter ihnen vorbeiglitt, und sie mit der Schnelle des Windes, der sie trug, dahinbrausten. »Das Ritual ist nicht von Bedeutung, Brak.« »Nicht von Bedeutung?« »Das stimmt, denn ich kann seinen Ablauf ändern.« »Mein Leben retten?« »Ja. Die Werfer können in den Gassen von Kambda Kai noch rechtzeitig einen anderen Ungläubigen finden.« »Und der Preis dafür, Weib?« Ariane musterte ihn begehrlich. Funken von den brennenden Pferdemähnen sprühten wie Juwelen in ihrem Haar. »Du gehörst mir!« »Für wie lange? Bis die Hölle sich öffnet und die Welt YobHaggoth zu Füßen fällt?« Ein wildes Licht glitzerte in ihren Augen. »Diese Zeit ist nicht mehr fern, Brak, glaube es mir. Wie lange mein Interesse an dir anhält, wer weiß das schon zu sagen? Doch ich, nur ich allein bestimme die Zeit. Und dieses Recht mußt du mir aus freiem Willen zugestehen, denn das ist etwas, was ich durch keinen Zauberspruch gewinnen könnte. Dir jedoch bleibt nur die Wahl zuzustimmen oder den Opfertod zu erleiden.« Mit einer heftigen Bewegung wandte Brak sich von ihr ab und starrte hinunter auf die ausgedehnte Ebene. Eine gewaltige Armee zog in der Morgendämmerung dahin. Tausende und aber Tausende von Fußsoldaten, Reitern, Streitwagen und Fanfarenbläsern. Das Traumgefährt raste über sie hinweg, aber kei-
ner der gewaltigen Kriegsschar vermochte es zu schauen. Brak deutete hinunter auf die Streitmacht. »Warum stellt Ihr mir diese Frage ausgerechnet hier, Ariane? Hier, in diesem fliegenden Wagen, der fast schneller als das Licht dahinbraust und von dem aus ich Wunder über Wunder zu beobachten vermag?« Wieder vermied Ariane eine direkte Antwort. Ihre Lippen glänzten feucht, als sie ihren Kopf zu ihm hob. »Gib mir deine Seele, Barbar.« »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich habe einen kräftigen Arm, der das Schwert zu schwingen versteht, und zwei Beine, die mich weit zu tragen vermögen, aber wovon Ihr redet …« »Du hast auch eine Seele, Brak«, flüsterte sie sanft. »Doch du mußt sie mir aus eigenem freiem Willen geben.« »So wie der Sänger Tyresias?« »Was meinst du damit?« »Daß Ihr mit meiner Seele auch meine Augen haben und sie selbst ausstechen wollt.« Ariane schien wie in Trance. Sie reagierte nicht wütend auf seine Worte, wie er erwartet hatte. Im Gegenteil, völlig entspannt lehnte sie sich gegen seinen bronzefarbenen Arm. Sie rieb ihre Wange voll eigenartiger Zärtlichkeit an seiner Haut und weckte Gefühle in ihm, gegen die er ankämpfte. »Brak«, murmelte sie. »Mein starker Brak. Es gibt nichts auf dieser Welt, wofür nicht ein Preis bezahlt werden müßte. Ich kann dir soviel geben. Meine Liebe, und mehr. Alles, was du dir von dieser Welt und ihren herrlichen Städten wünschst. Wenn du nicht glaubst, wie wundervoll es ist, dann schau!« Der Wind nahm an Stärke zu. Das Kupfergefährt brauste mit einer Schnelligkeit dahin, die Brak um sein Leben fürchten ließ. Unter ihm löste ein Königreich das andere ab. Er sah wehrhafte Grenzwälle und türkise Meere, wo prächtige Schiffe mit bunten Segeln durch das Wasser schnitten. Er sah Tempel aller Arten, vergessene Städte, die der Wüstenwind schon halb begraben
hatte. Er sah zerklüftete Gebirge und Silberminen, wo Tausende von Menschen nach dem edlen Metall gruben. Weiter raste der fliegende Streitwagen. Über trutzige Burgen hinweg, über Wälder, Prärien, Hochebenen, über kämpfende Armeen und reitende Nomadenstämme, über spitze Gebetstürme, wo heilige Männer den Morgen begrüßten. Unter den fliegenden Hufen der Feuerpferde zogen alle Königreiche der Welt vorbei, und sie nannte ihm ihre Namen Phrixos und Phryx und Toct, Gat und Chambalor und Rigarim, Bemkah und Kopt, Tyros und Thanzid und Tobool. Und dort, in einem gelben Dunst, lag das gewaltige halbmondförmige Land am südlichen Rande der Welt. Braks Herz pochte wild. Über den Wind hinweg rief Ariane ihm zu. »Das ist Khurdisan, Brak, mein Geliebter. Das goldene Khurdisan!« Die Hände so heftig um die Haltestange geklammert, daß die Knöchel weiß hervortraten, starrte Brak hinunter. Seine Augen strengten sich an, den glänzenden goldenen Dunst zu durchdringen. Ariane lachte laut auf. Sie peitschte die Pferde und zerrte am Zügel. Der Streitwagen wendete und schoß nach Norden davon. Das gelbe Glühen Khurdisans verschwand hinter ihnen. »Noch nicht, Brak, noch nicht«, murmelte Ariane. »Es wird erst dein, wenn du dich mir gibst, aus freiem Willen.« Die Versuchung überschwemmte ihn. Doch Zweifel und ein Schuldbewußtsein waren nicht verstummt. Was wäre so schlimm, wenn du nachgibst, bohrte ein Teil seines Ichs. War sie denn nicht eine begehrenswerte Frau? Ihre Arme sanft, ihre Haut betörend duftend. Sie würde sein Leben retten. Und er konnte eine Abmachung mit ihr treffen. Sobald sie seiner müde wurde, sollte sie ihn im goldenen Khurdisan absetzen. Er öffnete seine Lippen, um ein Ja zu murmeln. Es würde alles so einfach machen. Arianes samtschwarze Augen leuchteten erwartungsvoll. Sie
lehnte sich noch fester gegen ihn. Doch plötzlich stand das Bild von Tyresias mit den festgenähten Lidern vor seinem Auge. Das Böse war mächtig auf dieser Welt. Damit hatte Jerome recht. Und das hier war eine Verlockung des Bösen. »Nein«, knurrte er. Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, dieses Wort auszustoßen. Doch dann war seine Zunge frei. »Nein!« brüllte er. Er schlug mit seinen mächtigen Fäusten gegen die Haltestange des Streitwagens. Sein dicker gelber Zopf bäumte sich im Wind. »Nein, Höllentochter. Du sollst meine Seele nicht haben. Auch wenn ich nicht an sie glaube, so sagen mir doch deine Augen, daß es sie gibt. Und du bekommst sie nicht!« Einen flüchtigen Moment verzerrte Arianes Gesicht, sich zu einer haßerfüllten Fratze. Doch dann musterte sie ihn ruhig und voll Interesse. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, die entblößten Zähne fest zusammengepreßt und die Augen geschlossen. Er betete zu namenlosen Göttern, von denen er nichts wußte und deren Macht er nicht kannte. Aber er bat sie, ihm zu helfen, damit er der Versuchung nicht erliege. Und Ariane erkannte, daß er stark war, und irgendwie löste es keinen Grimm in ihr aus, sondern machte sie traurig. Sie nahm die dünne Silberkette, an der ein Edelstein hing, von ihrem Hals. Noch ehe Brak sie daran hindern konnte, streifte sie ihm diese über den Kopf. Das kugelförmige Juwel drückte gegen Braks Brust, und seine Haut darunter prickelte. Er blickte auf den Anhänger. Es war eine winzige Abbildung der Zauberkugel, ein dunkler Edelstein, in dessen Mitte grauer Nebel zu wirbeln schien. Ariane berührte sanft sein Kinn. »Mein armer Barbar. Ich sollte dich mit jeder Faser meines Herzens hassen. Aber ich kann es nicht. Ich begehre dich immer noch.« Er schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab. Er hatte
Angst, zu lange in ihre Augen zu sehen. Überall um sie herum ballten sich schwarze Wolken, als wäre der grauende Morgen, durch den sie gekommen waren, nur Illusion. Die feuermähnigen Pferde kehrten zur Erde zurück. Brak erkannte es an der Schräglage des Gefährts. Das Bild des goldenen Khurdisan erstand noch einmal vor seinen Augen. Würde das Land seiner Träume ihm für immer verloren sein? »Mit dieser kleinen Kugel binde ich mich an dich«, wisperte Ariane zärtlich und traurig zugleich. »Bis zum Augenblick deines Todes kannst du mich damit rufen, mein Barbar. Wenn du deinen Entschluß änderst, brauchst du sie nur zu berühren und meinen Namen zu flüstern, dann werde ich kommen. Tust du es nicht …« Ihre Züge wurden hart. »Yob-Haggoth ist allmächtig. Yob-Haggoth verlangt seinen Tribut.« »Euer Yob-Haggoth sei verflucht, und die ganze Welt, die ich nicht verstehe, mit ihm!« brüllte er, aber ein gewaltiger Donnerschlag verschlang seine Worte. Das Traumgefährt, Ariane und die Feuerpferde, alles löste sich auf. Brak schwenkte die Arme, um nicht so schnell zu fallen. Es wurde dunkel um ihn. Entsetzliche Furcht erfüllte ihn. Er war nahe daran, das Kugelamulett zu berühren. Im letzten Augenblick gelang es ihm, der Versuchung zu widerstehen. Aus der undurchdringlichen Finsternis hörte er boshaftes Lachen. Es war das Gelächter Septegundus’, der ihn willkommen hieß. Es schien allgegenwärtig und peinigte seine Ohren. Er preßte die Hände dagegen, aber es wurde so laut, daß seine Schläfen schmerzten. Und lauter. Lauter als hunderttausend Krieger, die nebeneinander über die Erde marschierten. Ein blauer Blitz durchzuckte die Dunkelheit und blendete ihn. Er spürte, daß er fiel. Wie ein Bleigewicht stürzte er blind durch das Nichts. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Doch mit einem Mal war der Bann gebrochen. Die Wirklichkeit war jedoch noch viel schrecklicher. Blaues Sonnenlicht, das sich im
Eis brach, peinigte seine Augen. Das grauenhafte steinerne Abbild blickte direkt auf ihn herab. Er erkannte es sofort als den Tempel Yob-Haggoths. Die gigantische, aus Granit gehauene Statue strömte trotz der frischen Morgenluft einen ekelerregenden Modergeruch aus. Brak hörte Geräusche neben sich. Er lag ausgestreckt auf seinem Rücken auf kaltem Stein. Er wandte den Kopf nach rechts. Tyresias lag dort, die Augen zum Himmel erhoben, den er nicht zu sehen vermochte. Neben ihm setzte Bruder Jerome sich gerade halb auf und schüttelte seinen kahlen Kopf. Brak erkannte, daß sie sich zu dritt auf einer riesigen steinernen Plattform befanden, die über das Fundament der Statue hinausragte. Brak stützte sich auf einen Arm und fragte sich, wie sie wohl hier herausgekommen waren. Sicher hatte man sie getragen. Hinter sich vernahm er das Trippeln vieler Füße. Er verdrehte den Kopf und sah eine Zweierreihe Werfer aus einem dunklen Portal in Yob-Haggoths Knie kommen. Braks Gesicht verzerrte sich vor hilfloser Wut. Fünf Dutzend der Halbwüchsigen zählte er. Sie stellten sich am Rand der Plattform auf und umringten so die drei Gefangenen, von denen sie keinen Blick ließen. »Ihr habt tief geschlafen, Barbar«, murmelte der Nestorianer. »Ariane holte sich Euren Geist für eine Weile und ließ nur Euren Körper zurück. Ihr wimmertet und stöhntet und schlugt um Euch. Einmal warft Ihr Euch sogar über das Mauerwerk, als wolltet Ihr Euch in die Feuergrube stürzen. Ich vermochte Euch nur mit größter Mühe zurückzuhalten. Die ganze Zeit hattet Ihr jedoch Eure Augen fest geschlossen. Nach einer Weile wurdet Ihr ruhig, als hätte sie Euch aus ihrem Bann entlassen. Da wurde ich plötzlich müde und weiß nichts mehr, bis wir hier erwachten.« Tyresias umklammerte den Arm des Mönches. Er zitterte wie Espenlaub. »Bruder, ruft Euren Namenlosen Gott. Fleht ihn an, uns zu retten!«
Müde schüttelte Jerome den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er mich erhören wird. Ich sagte Euch doch, seine Anhänger sind großen Prüfungen ausgesetzt. Mein einziges Machtmittel, das steinerne Kreuz, ist zerbrochen. Ich …« Jerome hielt wie vom Donner gerührt inne, starrte die Kette um Braks Hals an. »Was habt Ihr da, Barbar? Hat sie Euch damit an sich gebunden?« Er wollte nach dem Kugelamulett greifen, um es abzureißen. Brak packte das Handgelenk des Mönches und drückte zu, bis Jerome wimmerte. »Es zu berühren«, quetschte Brak zwischen den Zähnen hervor, »bedeutet, sie herbeizurufen. Und dann gehöre ich ihr.« Tyresias nickte schwach mit dem Kopf. »Was bot sie Euch dafür, Fremdling?« Braks Herz wollte schier brechen. »Die Welt«, antwortete er leise. »Und das goldene Khurdisan.« »Mir scheint, das ist ein besserer Preis als eine kräftige Lunge und eine schmelzende Stimme«, sagte Jerome trocken. »Doch vielleicht liegt es an der Jugend unseres Freundes hier.« »Ich will nichts mit ihr zu tun haben!« brauste Brak auf. Plötzlich jagte ein kalter Schauer seinen Rücken hinab. Er spürte, daß jemand ihn beobachtete, jemand außer den Werfern. Er hob den Blick. Über ihm stand Ariane auf dem Knie der Statue. Der frostige Morgenwind spielte mit ihrem Haar und dem Schleiergewand. Sie hob eine Hand, winkte ihm lockend. Wie einfach es doch wäre, dachte Brak müde. Er brauchte nur die Kugel zu berühren, ihren Namen zu rufen und sich ihr zu ergeben. Dann würde sie ihn hinwegbringen von diesem grauenhaften Ort und den Werfern, die erwartungsvoll mit ihren kristallenen Fingerspitzen klickten. Grimm stieg in ihm hoch. War er ein Kind, das sich einschüchtern ließ? Das wilde, ungebärdige Blut des Steppenvolkes floß in seinen Adern. Nein, er würde nicht wimmern und
sich ducken. Er würde sterben wie ein wahrer Sohn des rauhen Nordens. Und ein paar dieses Höllengezüchts würde er mit sich nehmen. Was er brauchte, war eine Waffe, damit er hocherhobenen Hauptes in den Tod gehen konnte. Das Klicken der kristallenen Fingerspitzen wurde intensiver. Dreimal drei weitere Werfer marschierten aus dem offenen Knie. Jener in der Mitte trug einen goldenen Schild, auf dem fünf Gegenstände lagen. Ein Stoffetzen, der zweifellos von Tyresias’ Gewand gerissen war; die zwei Steinfragmente des zerbrochenen Kreuzes; und Braks Breitschwert. »Ich fragte mich schon, wohin mein Kreuz verschwunden war«, murmelte Bruder Jerome. »Offenbar brauchen sie für das Ritual etwas von jedem von uns.« »Wenn ich nur mein Schwert in die Hände bekäme«, brummte Brak. »Dazu wird Euch keine Zeit bleiben«, erwiderte der Nestorianer flüsternd. »Seht Euch das fünfte Objekt auf dem Schild an.« Es war ein kurzer schwerer Bronzedolch, dessen Klinge mit Grünspan überzogen war abgesehen von jenen Stellen, an denen noch altes Blut haftete! Der Schaft stellte Yob-Haggoths Kopf dar. Die Neunerformation der Werfer blieb sechs Schritte vor den drei Gefangenen entfernt stehen. Dann traten sie zur Seite und ließen den Schildträger allein mit seiner Last. Verzweifelt blickte Brak sich um. Außer ihnen und den Werfern gab es weit und breit kein menschliches Wesen. Das Portal im Knie der Statue schien der einzige Eingang zu sein. Ein von Wind und Wetter geschaffener Riß befand sich im Bauch des Idols, aber er war weder tief genug, um sich darin zu verstecken, noch breit genug, um sich hineinzuzwängen und von dort aus mit geschütztem Rücken zu kämpfen. Einer der Werfer hob seinen Kopf und schrillte: »Der Gesandte Yob-Haggoths.« Die anderen Werfer fielen in den Ruf
ein. »Der Gesandte Yob-Haggoths kommt! Septegundus kommt! SEPTEGUNDUS KOMMT!« Aus dem schwarzen Portal glitt lautlos der Amyr des Böden auf Erden. Brak wischte sich ungläubig die Augen. Der Mann war alles andere als von imposanter Statur. Er war in ein einfaches schwarzes Gewand mit weiten Ärmeln gehüllt. Sein Schädel war geschoren, seine Nase krumm. Seine Lippen waren dünn und blutlos, und sein Kinn und seine Ohren spitz. Seine großen dunklen und durchdringenden Augen schienen fast nur aus Pupillen zu bestehen, denn vom Weiß war kaum etwas zu sehen. Er hatte keine Lider. Offenbar waren sie operativ entfernt worden. Weiße Narben, zum Teil mit Wildem Fleisch überwuchert, zeugten davon. Aber was Brak vor Grauen zusammenzucken ließ, war Septegundus’ Fleisch. Es lebte. Es krabbelte. Winzige nackte menschliche Gestalten zu Hunderten schlangen sich ineinander und schienen sich in ewigen Höllenqualen zu winden. Irgendwie waren diese Miniaturmenschen zwischen dünnen Fleischschichten gefangen. Und sie krabbelten und krochen und bewegten sich in einem Wirrwarr von Rümpfen, Köpfen, Armen und Beinen. Brak biß sich auf die Lippe, bis Blut kam. Zeremoniös glitt Septegundus näher, bis er unmittelbar vor ihnen stand. »Willkommen, Dreiheit«, grüßte er sie mit leicht piepsender Stimme. Er verbeugte sich vor Tyresias. »Willkommen Gläubiger, Ihr seid mir ja nicht fremd.« Dann eine Verbeugung vor Bruder Jerome. »Willkommen, Nestorianer.« Und danach neigte er seinen Oberkörper ein wenig, und seine abstoßenden Augen hefteten sich auf Brak, der wie gelähmt auf die von winzigen Menschenkörpern krabbelnde Stirn Septegundus’ starrte.
»Willkommen, Ungläubiger«, sagte der Amyr schließlich. »Ihr wähltet nicht den Ausweg, den meine Tochter Euch bot, darum sollt Ihr in den dreifach geschürten Höllengluten YobHaggoths rösten.« Die Kreatur mit dem krabbelnden Fleisch kicherte. »Doch noch ist Zeit, Barbar. Ich kann meiner Tochter keinen Wunsch versagen. Noch läßt sich ein anderer finden, der Euren Platz einnimmt und dessen Blut Yob-Haggoth schlürfen mag, damit seine Macht erneuert werde. Meine Tochter ist eine wunderschöne Frau. Sie kann Euch Freuden bieten, wie Ihr sie Euch nicht im Traum vorzustellen vermögt. Sie kann …« Während Septegundus dahinbrabbelte, schwach, trotz der geradezu greifbaren Aura des Bösen, die ihn umgab, verlor Brak den letzten Rest seiner Beherrschung. Er sammelte Speichel im Mund und spuckte ihn in des Amyrs krabbelndes Gesicht. Gleichzeitig gab er ihm mit der Faust einen mächtigen Stoß. Tyresias krümmte den Rücken, als durchsteche ihn mit Septegundus’ Schrei unerträglicher Schmerz. »Ihr Narr!« kreischte er. Septegundus taumelte rückwärts. Die flatternden Ärmel gaben die bisher noch verborgenen Hände frei. Auch ihr Fleisch krabbelte und kroch mit ewig verdammten Miniaturmenschlein. Brak sprang. Er packte Septegundus und schleuderte ihn gegen den Schildträger. In diesem Augenblick senkte sich tiefe Nacht herab und hüllte alles ein. Ein roter Blitz zuckte durch die Finsternis und tanzte brennend und zischend auf der steinernen Plattform. Ein ohrenbetäubender Donner folgte. Ein weiterer. Immer noch tanzte der rote Blitz, einmal rechts, einmal links von Brak. Die Plattform erhitzte sich unter seinen nackten Sohlen. Rauch umhüllte ihn von allen Seiten. In den Augen der Werfer spiegelte sich der rote Blitz wider. Sie setzten sich in Bewegung. Brak sprang mit einem durchdringenden Schrei hervor. Weitere Blitze umzuckten die steinerne Riesenstatue. Septegundus hatte
sich wieder gefangen. Er schwenkte wild die Hände und stieß Beschwörungsformeln aus. Brak stolperte und taumelte gegen den Schildträger. Er umklammerte dessen Hals und drückte so fest zu, daß das Genick brach. Der Schild schlug auf dem Boden auf. Brak bückte sich und tastete in dem dichten Rauch herum. Unaufhörlich zuckten Blitze und dröhnte Donner. Seine Finger schmerzten von der Suche auf dem heißen Stein, aber noch hatte er sein Schwert nicht gefunden. Irgendwo hinter den wirbelnden Rauchschwaden schrie Tyresias in tödlicher Angst, und Bruder Jerome murmelte ein Gebet. Endlich stießen seine Finger auf die wohlvertraute Klinge. Er riß sie an sich und richtete sich auf. Septegundus wankte durch die Rauchschleier auf ihn zu. In seinen erhobenen Händen hielt er schwarze Schlangen mit dreifach gespaltenen Zungen. Jede von ihnen war so lang, wie Brak hoch war. Mit einem kichernden Schrei schleuderte er erst eine, dann die andere auf ihn zu. Mit einem flinken Streich trennte Brak die erste der fauligen Bestien in zwei Hälften. Sie stürzten zu Boden, und beide Teile glitten durch den Rauch davon. Die andere Schlange pfiff über seine Schulter hinweg. Ihre Zunge schnellte gegen einen der Werfer, der gerade auf Brak zusprang. Ein Kuß dieser dreigespaltenen Zunge genügte. Der Halbwüchsige brach mit herausquellenden Kristallscheiben zusammen. Sein Körper schüttelte sich in spasmatischen Krämpfen, während die Schlange sich um seinen Hals wand. Brak kämpfte wie ein Berserker. Er stieß sein Schwert links durch die Kehle eines Werfers. Schnell zog er es heraus und hieb rechts damit den Kopf eines anderen ab. Gelbe Schwaden und eine ekelerregende schleimige Flüssigkeit drangen aus dem Hals, während der Schädel davonrollte. Donner grollte unaufhörlich. Wahnsinnige Angst, die jedes klare Denken verhinderte, erfüllte Brak. Er wußte, sein wilder plötzlicher Angriff auf
Septegundus hatte den Zorn Yob-Haggoths herausgefordert. Dort oben in der tobenden Dunkelheit begann das titanische Idol zu vibrieren. Immer noch umzuckten es Blitze. Mit einem furchtbaren Donnerknall schlug einer in den Kopf ein und ein weiterer in den Bauch. Die Statue begann zu leuchten, bis sie schließlich völlig in einem gespenstischen Rot flackerte. Am unheimlichsten waren die grellglühenden Augen. Septegundus’ Beschwörungen wurden lauter. Ein Regen von Eidechsen und Kröten fiel auf Brak herab. Wild zertrampelte er sie. Eine Hand packte ihn am Ellenbogen. Er wirbelte herum, bereit, einen weiteren Kopf abzuhacken. Die Hand zog sich zurück. Der Rauch war so dick, daß er willkommene Verwirrung unter Septegundus’ Akolyten stiftete. Sie prallten und taumelten gegeneinander. Ihre Flüche trugen nur noch mehr zu dem Chaos bei. Bruder Jeromes schweißüberströmtes Gesicht tauchte vor Brak auf. »Ihr habt Yob-Haggoth selbst geweckt«, keuchte er. »Seht!« Der Nestorianer deutete nach oben. Scharlachrotes Licht drang nun aus dem Stein. Die Augen des Idols sprühten. Leuchtendrote Strahlen schossen aus dem Bauch. Es schien, als habe sich die faulige Essenz des Bösen in dem Idol gesammelt und quoll nun heraus. »Yob-Haggoth, hilf!« schrillte Septegundus, und einen Augenblick war sein verzerrtes krabbelndes Gesicht in dem Höllenlicht sichtbar. »Yob-Haggoth, sende deine Macht herab und hilf deinem treuen Diener!« In schaudernder Faszination starrte Brak hinauf zu den Strahlen, die aus dem Spalt im Bauch der Statue heraus schossen. Der Riß hatte sich erweitert. Mit einem wilden Schrei, das Breitschwert erhoben, begann Brak zu rennen. Wie halbreale Phantasmen versuchten die Werfer, ihm den Weg zu verstellen. Brak schwang seine Klinge in
mörderischem Bogen und mähte sie nieder. Eine Angst, so alt wie die Menschheit, sagte ihm, daß die Welt nun in Donner und Blitz unterging. Wenn das so war und es für niemanden mehr eine Rettung gab, hatte er auch nichts mehr zu verlieren. Wie ein Besessener kämpfte er. Sein Breitschwert sang ein mörderisches Lied. Ein paar der geschmolzenen Kristalltropfen aus den Fingerspitzen der Werfer versengten seine Haut, aber er ignorierte es. Schon bald wichen die noch übriggebliebenen magischen Kreaturen vor ihm zurück. Mit schleimverschmierter Klinge erreichte Brak die überkreuzten Schenkel des Idols. Eine Hand krallte sich im Stein fest, die andere schleuderte das Schwert hinauf, ehe er sich schließlich mit beiden Händen emporzog. Seine wilde Wut verlieh ihm neue Kraft. Er packte das Schwert und taumelte weiter, um zu tun, was zu tun war. Das Chaos aus Rauch, Blitz und Donner wuchs mit jedem Herzschlag und quälte Augen und Ohren und Nase. Es war kaum noch erträglich. Unten auf der Plattform rief Septegundus ohne Unterlaß Yob-Haggoth heulend um Hilfe an. Über Brak flackerte das höllische Glühen des Idols, und grelles Leuchten schoß immer wieder aus den Augen und dem Spalt im Bauch. Plötzlich fiel wieder Zauberregen auf Brak herab. Diesmal waren es Hunderte von Spinnen. Manche waren dick und gelb. Aus ihren Beinspitzen quollen Gifttropfen. Andere waren klein und gefleckt. Schaudernd riß sich Brak drei, sechs, dann eine ganze Handvoll von seinen Armen und seinem nackten Oberkörper und zerstampfte andere unter seinen Füßen, während er durch die ekelerregende Masse zerdrückter Leiber weiterstapfte. Er taumelte gegen den Granitbauch des Idols und zuckte mit einem Schrei zurück. Der Stein war kochend heiß. Er hatte seine Festigkeit verloren und war zu einem lebenden Höllengewebe geworden. Brak war überzeugt, daß Fieberträume ihn erfaßt hatten. Er
blickte zu dem gräßlichen Antlitz des Idols empor. Der Kopf neigte sich ein wenig. Die gekreuzten Schenkel, auf denen Brak mit gespreizten Beinen mühsam stand, begannen eine schreckliche Hitze auszuströmen. Glühende Strahlen flammten aus Yob-Haggoths Augen und quollen aus dem gespaltenen Bauch. Der Kopf neigte sich weiter, und nun blickte der Gott zu ihm herab. Schreckerfüllt und überzeugt, daß ihm nur noch wenige Augenblicke zu leben blieben, stieß Brak das mächtige Breitschwert in den feuerspeienden Spalt. Windstöße von unvorstellbarer Heftigkeit fegten über ihn, drohten, ihn in die Tiefe zu schmettern. Der wirbelnde Rauch wurde noch dunkler. Ein Gestank wie aus einer Gruft, in der Tausende von Leichen verwesten, quoll aus dem Spalt. Das Leuchten im Innern des Idols begann zu verblassen. Ein Donnerknall überlagerte den nächsten. Braks Sicht wurde immer schwächer. Der Wind zerrte an ihm. Verzweifelt stemmte er sich dagegen. Finsternis senkte sich über die Welt. Die Statue YobHaggoths wandelte sich aus dem lebenden flackernden Lichtgewebe zurück in grünüberzogenen Stein. Aus dem Herzen des Idols klang ein titanisches Mahlen. »Du menschlicher Unrat!« Brak wandte vorsichtig den Kopf. Sein Mund öffnete sich vor Grauen. Septegundus kroch über den Rand der Steinschenkel. Die menschlichen Leiber in dem abstoßenden Fleisch wanden sich in Höllenqualen. Seine lidlosen Augen starrten aus dem krabbelnden Gesicht wie dunkle Laternen. In seiner Rechten hielt der Amyr den Bronzedolch mit Yob-Haggoths abgebildeten Kopf als Griff. Brak spürte seine Beine schwach und zittrig werden. Er versuchte, sie fester gegen den abkühlenden Stein des bebenden Idols zu stemmen. Septegundus, das fleischgewordene Böse, richtete sich auf und fixierte Brak mitleidslos. Dann nahm er
die Hand von der Klinge. Brak starrte ungläubig und furchterfüllt auf den Dolch, der leicht schwankend, aber frei im tobenden Wind hing. Die mit krabbelndem Fleisch überzogenen Hände des Amyrs schrieben mystische Zeichen in die Luft. Seine blutigen Lippen, die er sich vor rasender Wut durchgebissen hatte, formten Silben, die Brak nicht verstand. Der Barbar wußte, daß er etwas tun mußte, fliehen, versuchen zu entkommen. Aber der Sturm rüttelte ihn, und das Entsetzen ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein rechtes Bein zuckte und gab nach. Der vor Septegundus schwebende Dolch begann kirschrot zu glühen. Langsam, unendlich langsam flog er geradewegs auf Braks Brust zu. Der Barbar hatte keine Kraft mehr. Sein Verstand war wie gelähmt. Immer näher kam die teuflische Klinge. Plötzlich, ohne zu denken, zuckte seine Rechte hoch und umklammerte die Kugel an dem silbernen Kettchen. »Ariane!« schrie er durch die tobenden Elemente. Ein flimmernder Silberschleier erschien zwischen ihm und dem Dolch. Ariane nahm vor seinen Augen Gestalt an. Ihre Augen leuchteten triumphierend. Ihre roten Lippen näherten sich seinen, um in einem zärtlichen Kuß seine Seele aufzusaugen. Ihre Finger legten sich sanft auf seine Schultern. Der Wind zerzauste ihr Haar und ließ es wie eine schwarze Gloriole um ihren Kopf flattern. Immer näher kamen ihre Lippen und flüsterten liebkosende Worte. »Tochter!« brüllte Septegundus. Aber es war zu spät. Arianes Finger verkrampften sich, ihre Fingernägel krallten sich in sein Fleisch, als ihr Rücken sich jäh krümmte. Ihre wunderschönen Augen trafen Braks in ihrer Qual. Dann wurden sie glasig. Brak stieß einen schrillen Schrei aus und sprang zurück in den wirbelnden Rauch unterhalb des wankenden Idols. Als er fiel, sah er auch Ariane fallen. Der Dolch ihres Vaters drehte
sich noch in ihrem Rücken und bohrte sich immer tiefer in ihr bereits lebloses Fleisch. Septegundus kniete neben ihr. Über ihm öffnete sich ein gewaltiger Riß in Yob-Haggoths Steinschädel. Er wurde tiefer. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit spaltete sich das Idol. Septegundus riß seine Tochter in die Arme und drückte sie an seine Brust. Dann wandte er den Kopf und stierte haßerfüllt Brak an, der unendlich langsam fiel. Plötzlich schlug Brak auf der Plattform auf und begann zu rollen. Rauch nahm ihm die Sicht. Gewaltige Trümmer lösten sich von der Statue und polterten in die Tiefe, als ein neues Feuerwerk der roten Blitze ausbrach. Yob-Haggoth neigte sich. Brak fand keinen Halt. Immer schneller rollte er abwärts über rauhe Steine. Schmerz raubte ihm den Verstand. Aber klar und deutlich hörte er die Stimme des Amyrs, als befände er sich an seiner Seite. »Der Weg ist lang nach Khurdisan, Barbar. Irgendwo warte ich auf dich!« Weiter rollte Brak nach unten, über spitze Steine, die er nicht sehen konnte. Die furchtbare Drohung hallte in seinem Schädel wider. Irgendwo warte ich auf dich! IRGENDWO WARTE ICH AUF DICH! IRGENDWO … Ein kaltes, bohrendes Schweigen hüllte ihn ein, dröhnte in seinen Ohren wie das Echo des Nichts, einer leeren, zerstörten Welt. Dann war alles zu Ende. * Tyresias und Bruder Jerome hatten überlebt. In dem Chaos, der Braks Angriff auf Septegundus folgte, war es ihnen gelungen, von der Plattform zu fliehen. Nun zogen sie den bewußtlosen Barbaren über die Trümmer des zusammenge-
stürzten Idols in die Sicherheit eines überdachten Felsspalts. Der Nestorianer strich Salbe aus einem Beutel, der von seiner Mitte hing, auf die Schlimmsten von Braks Wunden. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Brak erwachte. Sein Körper war ein einziger Schmerz. Ohne mehr als seine Augen zu bewegen, blieb er liegen. Tyresias saß mit ausgestreckten Beinen, den Rücken an den Fels gelehnt, neben ihm und summte eine noch holprige Weise vor sich hin. Bruder Jerome kniete den ganze Nachmittag mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf und betete zu seinem Namenlosen Gott. Bei Sonnenuntergang fühlte Brak sich stark genug, zu der eingefallenen Statue zu taumeln. Aus vereinzelten Trümmerhaufen ragten zermalmte Körperteile der Werfer. Hier blickte ein kaltes graues Steinauge des gefallenen Idols zu den ersten Sternen empor. Dort ragte die zerschmetterte Faust Yob-Haggoths machtlos aus verstreuten Steinbrocken hervor. Immer noch halb im Fieber, blickte Brak sich um. Seine Augen blieben auf stumpfem Metall hängen. Einen heiseren Schrei ausstoßend, fiel er auf die Knie. Er kämpfte gegen seine Schwäche an und zerrte mühsam sein Breitschwert unter den Gesteinsbrocken hervor. War es ein Omen? Die Klinge wies einige Scharten auf, aber davon abgesehen, war die Waffe völlig heil. Brak wollte nicht denken, sich nicht erinnern müssen. Sich auf das Schwert stützend, torkelte er zu dem breiten Felsspalt zurück. Bruder Jerome hatte inzwischen trockene Äste von nahen Büschen gesammelt, und Tyresias entfachte gerade ein Feuer. Brak ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Er umklammerte das Schwert fest wie ein Talisman. »Wo sind sie?« Seine Stimme war so heiser, daß der Mönch und der Sänger ihn kaum verstanden. Müde blickte Jerome ihn an. »Wer? Septegundus?«
»Ja.« »Fort.« »Tot?« »Nicht tot, Nur fort für eine Weile. Zurückgezogen. Versteckt in jenem Universum von Finsternis, das Yob-Haggoth hervorbrachte. Eine andere Welt, glaube ich. Unsere Augen vermögen sie nicht zu sehen, und doch ist sie für jene, die der Dunkle Gott zu sich holt, nur ein Augenzwinkern entfernt. Ihr zerstörtet lediglich die sterbliche Hülle des Amyrs und seiner Tochter, Brak. Sie zu töten ist unmöglich.« Schwermütig starrte der Barbar hinauf zu den Sternen. Er drehte den Kopf, bis er die samtige, juwelenbesteckte Schwärze des südlichen Himmels zu sehen vermochte. Weiß und lockend funkelten die fernen Sterne. »Er sagte, daß er irgendwo auf dem Weg nach Khurdisan auf mich warten wird«, murmelte Brak. Der Nestorianer nickte. »Dann wird er es auch. Und seine Tochter ebenfalls. Noch nie widerfuhr ihnen dergleichen von einem Sterblichen.« Er erhob sich langsam und legte seine Hand auf die Schulter des Barbaren. »Kehrt um, Freund Brak. Hört auf meinen wohlgemeinten Rat.« »Ich habe nichts und niemanden, zu dem ich zurückkehren könnte, Bruder Jerome. Unsere Wege trennen sich hier. Ich ziehe nach dem Süden, bis ich ein Pferd kaufen oder stehlen kann. Dann reite ich.« Irgendwo warte ich auf dich! echote es in Braks Kopf und erfüllte ihn mit Angst. Irgendwo warte ich auf dich! Nein, es war keine leere Drohung. Das Sternenlicht warf gnädig seinen milden Schein über die Ruinen des Heiligtums. Braks Augen schweiften kurz darüber, dann wandte er sich schaudernd ab. »Ich muß weg von diesem Ort. Weit fort. Eine Nacht hier war
mehr als genug.« »Und doch wollt Ihr Euren Weg unbeirrt fortsetzen«, murmelte Jerome. Er tastete nach seinem Gürtel und zog ein kleines Nestoriamus-Kreuz hervor, das er sich aus zusammengebundenen Zweigen gemacht hatte. »Ihr gehört nicht in diese finstere Welt, Barbar. Ihr gehört in eine einfachere, wo die Menschen einander nicht belügen und betrügen oder sich mit dem Teufel abgeben. Wenn Ihr nicht gewillt seid, in Eure Heimat zurückzukehren, so nehmt dies. Es soll Euch Schutz sein.« Fast verlangend blickte Brak auf das Kreuz aus Zweigen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin kein Kind Eures Gottes, Bruder Jerome. Ich darf es nicht nehmen.« »Ihr seid sein Kind, nur wißt Ihr es nicht.« »Was ändert es, wenn es mir nicht bewußt ist.« Ungeduldig hob Brak sein Schwert zum Gruß, denn das Gespräch nahm eine Wendung, die ihn verwirrte und befangen machte. »Ich grüße Euch, Nestorianer. Und Euch, Sänger«, rief er über das Feuer. Blauädrige Hände hielten ein Messer und lösten das Fell des mageren Tieres. Tyresias hörte Brak nicht. Er schien einer angenehmen Vision nachzuhängen. »Ich glaube, er brütet über einem neuen Lied. Den ganzen Tag ist er schon daran, seit wir wissen, daß wir Eurem Mut unser Leben zu verdanken haben. Ein paarmal habe ich ihn bereits Euren Namen singen hören. Seine Stimme klang fester und, klarer als zuvor. Vielleicht werdet Ihr eines Tages auf Eurer langen Reise jemanden das Lied singen hören, das er über Euch ersinnt.« Jerome blickte ihn lange an, dann fügte er hinzu. »Ihr habt das Zeug, aus dem Legenden entstehen. Ihr und Euer Schwert.« Verlegen zuckte Brak die mächtigen Schultern und schüttelte
den Kopf, daß der gelbe Zopf auf seinem Rücken hüpfte. Dann drehte er sich auf seinen nackten Sohlen und zog hinaus in die purpurne Dunkelheit der Tundra!
Geister im Stein Der Ort, wo nachts ein Klagen tönt, und sich des müden Wand’rers Blick in hohen, mächt’gen Säulen fängt, wo einst ein höllisches Geschick Verdammnis bracht’ wie nie zuvor – ist Chambalor. Der Wand’rer hält vor Grauen an, denn überall im kalten Stein, da blicken ihn Gesichter an – zu Tausenden erstarrt in Pein! Der Wand’rer flieht wie nie zuvor – aus Chambalor. Rhodymandias, IV. Gesang Als der breitschultrige Barbar die Augen öffnete, glaubte er einen Augenblick, er habe den Verstand verloren. Der Wind heulte, und die rote Sonne brannte ihm heiß ins Gesicht. Erst da entsann er sich. Es lag nicht an seinem Verstand, sondern am Wind und am Sand. Wie lange befand er sich schon hier? Einen Tag? Oder eine Ewigkeit? Langsam kehrte die Erinnerung vollständig zurück. Nicht umsonst hatte man ihn in der Oase, wo die Karawanenstraßen kreuzten, gewarnt, daß der kürzeste Weg nach Khurdisan nicht auch der sicherste war. Der wenig benutzte direkte Karawanenpfad würde ihn durch die rote Sandwüste führen, wo der Odem der Götter häufig Himmel und Erde hinter wirbelnden, undurchdringlichen Sandwolken verbarg.
Trotzdem hatte Brak diesen Weg gewählt. Und dann war der Sturm aufgekommen. Ein gewaltiger Sandsturm, etwas, das für den Barbaren aus dem hohen Norden völlig fremd war. Er verlor die Orientierung. Nun hatte der Sturm sich gelegt, und nur noch der hier nie ruhende Wind pfiff um sein Gesicht. Er entsann sich, vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein, als der heiße Sturmwind schwächer zu werden begonnen hatte. Er durfte den Göttern danken, daß er noch lebte. Brak blinzelte. Die glühende Sonne ging am westlichen Horizont unter. Er tastete nach seinem Breitschwert. Es hing noch von seinem Gürtel. Er rollte sich herum. Wohin er auch blickte, erstreckten sich endlose unberührte Sandebene und Dünen. Sein Pferd lag noch neben ihm, wo es gefallen war, als es sein Bein brach. Der Sturm hatte es mit Sand bedeckt, daß es wie eine groteske Skulptur aussah. Es hatte ihm sein Leben gerettet und ihm durch seinen sterbenden Körper Schutz geboten, als der Sturm am heftigsten tobte. Sanft strich er dem toten Tier über das sandige Fell. Der Barbar setzte sich auf. Seine Zunge war ausgedörrt, aber er hatte weder Wasser noch Proviant. Er wußte auch nicht, wo er sich befand, außer, daß er sich irgendwo in der Mitte der riesigen Wüste verirrt hatte. Allzugut erinnerte er sich der wohlgemeinten Warnungen in der Oase. Nur Nomaden, die hier geboren waren und einen sechsten Sinn für diese Sandöde hatten, durchquerten sie. Und selbst sie nur am Rand und nicht wie er, mitten hindurch. Früher einmal, hatten die Männer in der Oase ihm gesagt, war diese Wüste fruchtbares Land gewesen. Aber nun lag ein böser Zauber auf ihm. Brak erhob und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen schmerzenden Knochen zu schütteln. »Hallo? Hallo?« rief er. Hal-lo, hal-lo, echote die gewaltige Einsamkeit gespenstisch zurück. Lo-lo-lo-lo.
Brak stapfte zum Kamm der Düne. Bis zu den Knien versank er im Sand. Noch einmal schrie er sein Hallo hinaus. Diesmal echote der Ruf seltsam verzerrt. Einen Augenblick später sah er, warum. Etwas unterbrach die Monotonie. Erstaunt riß er den trockenen Mund auf. »In der Oase hat man davon gesprochen«, murmelte er. »Und ich hielt es nur für ein Gruselmärchen. Sie nannten sogar den Namen. War es nicht Chambalor? Chambalor, die Stadt der goldenen Wagen!« Der Barbar verzog das Gesicht. »Zumindest ist es eine recht imposante Grabstätte.« Nichts war von der einst so mächtigen Stadt geblieben als zwei Säulenreihen, die sich in der Ferne verliefen. Alles andere war von dem nun in der untergehenden Sonne blutrot beleuchteten Sand vergraben. Die Säulen jedoch waren sehr eindrucksvoll. Sie mußten dereinst eine gewaltige Prunkstraße gesäumt haben. Die beiden Reihen standen gut eine Meile auseinander. Bei fünfzig Säulen in jeder Reihe hörte Brak zu zählen auf. Der Rest war zu weit entfernt und schien, von hier aus gesehen, zusammenzulaufen. Jede der Säulen war gut hundertmal so stark wie ein Mann und fünfzigmal so hoch, schätzte er. Sie schienen mit kunstvollen Skulpturen verziert zu sein, die im Schein der letzten Sonnenstrahlen gespenstisch lebendig wirkten. Mit Schaudern dachte Brak an die krabbelnde Haut des Erzzauberers Septegundus’, an die diese Säulen ihn irgendwie erinnerten. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und beschloß, sich die Ruinen Chambalors etwas näher anzusehen. Mit fliegendem gelbem Zopf rutschte er die andere Seite der Düne hinab. Der Sturm hatte offenbar einen blaugeäderten Basaltstein freigelegt. Brak stieß im Vorübergehen mit dem Fuß dagegen. Kaum hatte er zwei weitere Schritte getan, als ein entsetzlicher Schmerz sein linkes Bein durchzuckte. Wie gelähmt blieb er stehen und betrachtete es erstaunt. Ein schwarzbehaarter Fühler hatte sich mehrmals um seine kräftige
bronzefarbige Wade gewunden. Noch während Braks Faust den Griff seines Breitschwerts umklammerte, drehte er den Kopf. Was er als Basalt angesehen hatte, war ein quallenartiges Ding, dessen bläuliches Adernnetz sich vom Schwarz seiner Haut abhob. Das Geschöpf schob sich aus dem Sand, in dem es offenbar seinen Schlaf gehalten hatte. Durch die durchsichtigen Adern pulsierte eine milchigblaue Flüssigkeit mit dunklen Klumpen. Zwei Säcke öffneten sich an den Seiten der schwarzen Monstrosität. Große, pupillenlose weiße Augen starrten ihn an. Weitere Fühler rollten sich unter dem plumpen Leib auf und streckten sich aus. Einer davon wand sich um Braks freien Arm. Der stechende Schmerz verdoppelte sich. Der Sand wallte auf. Das grauenerregende Ding hob sich auf dünne Spinnenbeine und wackelte auf Brak zu. Plötzlich klaffte ein Maul auf, aus dem ein rhythmisches Klack-klack erklang. Die Haare auf Braks Nacken stellten sich auf. Mit dem Breitschwert versuchte er, den Fühler um seinen linken Arm zu zertrennen. Aber die scharfe Klinge vermochte kaum etwas auszurichten. Das Klack-klack des Schlundes klang näher. Das eklige Ding hatte gut zwei Dutzend Beine, auf denen es sich fortbewegte, und mindestens doppelt so viele Fühler, die sich suchend in die Luft reckten. Brak sägte an dem Tentakel um seinen Arm. Sein Herz hämmerte heftig. Fester umklammerte er den Knauf seines Schwerts und hob es über seinen Kopf. Dann ließ er es mit aller Gewalt nach unten sausen. Es gelang ihm, den Fühler abzuhacken. Der zertrennte Teil schnellte ihm ins Gesicht. Tropfen grüner Flüssigkeit rannen klebrig über sein Kinn. Sie brannte schlimmer als glühendes Eisen. Der Schmerz war noch heftiger als jener, den der um sein Bein gewickelte Fühler verursachte. Das Klack-klack der häßlichen Kreatur erstarb. Die weißen Augen färbten sich zu einem dunklen Beige. Plötzlich stieß sie
einen wimmernden Schrei aus und schnellte sich die Düne empor. Für ihre gewaltige Größe bewegte sie sich überraschend schnell. Brak sah noch, wie ihre Fühler medusenähnlich die Luft peitschten, dann war sie schon auf der anderen Dünenseite verschwunden. Der Barbar hielt sein Breitschwert noch fest umklammert. Er befürchtete, das Alptraumwesen würde umkehren. Er rieb sich die Wange. Der Schmerz war kaum noch auszuhalten. Stöhnend ließ er sich auf die Knie fallen. Er nahm eine Handvoll Sand und rieb damit über die brennende Wange. Aber der Schmerz war nicht zu betäuben. Ein Schwindel erfaßte ihn. War die Lebensflüssigkeit dieser Kreatur giftig? War sie bereits in seinem Blut? Die beiden Säulenreihen schwankten vor seinen Augen. Brak stieß einen fast unmenschlichen Schmerzensschrei aus und fiel auf den Rücken. Spasmisch zuckten seine Beine. Er wand sich hilflos vor immer ärger werdendem Schmerz. Einmal bildete er sich ein, am Kamm einer Düne die Umrisse von zwei langhalsigen Nomadendromedaren zu sehen. Und hörte er nicht die Glöckchen, die um ihren Hals hingen? Aber der Schmerz verwischte das Bild. Brak wälzte sich von Seite zu Seite. Alles verschwamm um ihn, bis ihn schließlich gnädige Dunkelheit umfing. * »Lurchschenkel, Krötenwarzen, Saphirpuder hmm, ja. Ich habe genügend davon.« »Es ist nicht recht, Vater, daß Ihr seine Lage nutzen wollt. Mit ihm zu feilschen, wenn er vielleicht im Sterben liegt!« »Ohne Zweifel, Tochter. Aber es wird noch bis zum Mittag dauern, ehe es soweit ist. Die Lebensflüssigkeit des T’muk ist zwar ein tödliches, aber ein sehr langsam wirkendes Gift. Ich glaubte, die Karawanenführer hätten diese Untiere längst aus-
gerottet. Doch hierher nach Chambalor wagt sich wohl keiner von ihnen, so konnten die abscheulichen Kreaturen in den Sanddünen überleben. Ich bin überzeugt, dieser Barbar hier vermochte den T’muk nicht zu töten, und die Bestie treibt sich noch in der Nähe herum. Und verwundet sind diese Tiere noch viel gefährlicher.« Ganz schwach vernahm Brak dieses Gespräch im pfeifenden Wind und dem Prasseln eines Feuers. Er öffnete seine Augen einen Spalt. Eine Art Lagerfeuer beleuchtete zwei Personen in wallenden Umhängen. Beide waren klein. Eine ein älterer Mann, die andere ein junges Mädchen. Glöckchen bimmelten. Ein Dromedar schnaubte lautstark. Also war doch nicht alles Halluzination gewesen. Der Barbar unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich mühsam auf. »Die Wunde am Kinn«, murmelte er, »brennt wie verrückt.« Der Mann erhob sich und schritt um das Feuer herum. In seiner knochigen Hand hielt er eine krummen Dolch. Sein Gesicht unter der turbanartigen Kopfbedeckung schien nur aus Runzeln zu bestehen. Seine Lippen waren nicht mehr als Striche, über denen eine dicke Nase kauerte. Obwohl er unsagbar dürr war, ging doch eine Aura von Kraft von ihm aus. Er blieb ein paar Schritt von Brak entfernt stehen und musterte ihn abschätzend mit scharfen, grünen Augen. »Der Schmerz wird noch ärger werden«, prophezeite er. »Und er wird schließlich zum Tod führen wenn ich nicht ein Gegenmittel auftrage. Ich bin ein sehr vielseitiger Mann, Fremder. Ich bin Heil- und Pflanzenkundiger und verstehe auch etwas von Magie, aber nicht so viel wie vom Handeln und Feilschen.« Er kicherte. »Es wird mir eine Freude sein, das nötige Mittel zuzubereiten und aufzutragen, vorausgesetzt, Ihr verdingt mir Euren starken Arm und Euer Breitschwert für mein Vorhaben.« Seine dürren Finger mit langen Nägeln deuteten auf die gewaltigen Steinsäulen.
»Wer seid Ihr?« fragte Brak. »Ein Banditenanführer?« »Nein«, kicherte der Alte. »Aber ein kluger Händler. Zama Khan ist mein Name.« »Ich schäme mich für Euch«, murmelte die zweite Person am Feuer. Zama Khan wirbelte herum. »Ich habe nicht verlangt, daß du auf diese Reise mitkommst, Dareet«, knurrte er. Dann wandte er sich mit einem boshaften Lächeln wieder Brak zu. »Meine Tochter leidet unter einer merkwürdigen Krankheit, Fremdling. Sie hat Skrupel.« Der Barbar hatte inzwischen sein Bewußtsein voll wiedererlangt. Grimm stieg in ihm auf. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, sprang Dareet vom Feuer auf und stellte sich mit funkelnden Augen vor ihren Vater. »Solange ich mich erinnere«, begann sie, »folgte ich Euch von einem unehrenhaften Handel zum anderen, weil ich hoffte, ich könnte Euren Sinn doch noch wandeln. Aber Ihr wurdet nur noch hartherziger und habsüchtiger. Doch nun reicht es mir. War es nicht genug, daß Ihr Schlafpulver in den Wein des Kaufmanns in Vishnuzin gabt und dann mit diesen Tontafeln, die Ihr ihm stahlt, aus der Stadt geflohen seid? Nun ist Eure Gier nach Schätzen, die es gar nicht gibt, so arg geworden, daß Ihr von einem Unschuldigen verlangt, Euch in Eurem Wahnsinn zu helfen, wenn er nicht sterben will.« »Jene Silbertüren sind vom Alter verzogen«, brummte Zama Khan. »Wir können sie nicht allein öffnen.« »Also muß dieser arme Fremde, der vom Kuß des T’muk im Todeskampf liegt, Euch helfen, damit Ihr ihm helft?« »Ihr sprecht von vielen Dingen, die mir fremd sind«, knurrte Brak. »Welche Art von Schatz sucht Ihr? Und was ist ein T’muk?« Zama Khan benetzte seine dünnen Lippen und kauerte sich neben Brak in den Sand. Immer noch hielt er den Dolch umklammert.
»T’muk ist der Name für die Sandqualle, die Euch angriff. Ich wette, die Bestie, der Ihr die Tentakel abgeschlagen habt, ist noch irgendwo in der Nähe. Das ist ein weiterer Grund, warum wir von hier verschwinden sollten, ehe der Mond untergeht.« Hinter dem Mann sah Brak das Gesicht des Mädchens Dareet vom Dungfeuer beleuchtet. Es war ein schmales, unterernährtes Gesicht. Sie hatte sanfte Rehaugen, tiefgebräunte Haut und wäre recht hübsch gewesen, wenn die Angst sich nicht in ihre Züge eingegraben hätte. Sie spürte das namenlose Böse in der dunklen Wüstennacht. Etwas noch Böseres als das, was die grünen grausamen Augen verbargen, die Brak beobachteten. Was es wohl sein mochte, fragte sich der Barbar. Brak unterdrückte seinen Grimm, um vielleicht doch noch vernünftig mit diesem merkwürdigen Alten sprechen zu können. »Als ich durch die Oase kam, hörte ich von dieser verwunschenen Stadt Chambalor«, erklärte er. »Was ist es, das Ihr hier sucht?« »Erst möchte ich wissen, was Euch hierherbrachte«, entgegnete Zama Khan. »Mein Name ist Brak. Ich komme von den hohen Steppen des Nordens und reise nach Khurdisan im Süden.« Zama Khan lachte abfällig. »Ein Barbar! Der nichts von Magie hält! Doch das tut nichts zur Sache, Brak. Ihr habt einen breiten Rücken, und Eure Muskeln sind nicht zu verachten. Eure Kraft sollte genügen, die Silbertüren zur Schatzkammer zu öffnen. Mit Hilfe der Tontafeln, die ich von einem Kaufmann in Vishnuzin ah bekam, lese ich dann die Beschwörungsformel ab. Dann werde ich über der Elfenbeintruhe, die in einem Marmorblock eingelassen ist, den dafür vorgesehenen Zauberspruch sagen. Danach öffnet sich die Truhe, und ich kann die darin enthaltenen Schätze in den Satteltaschen der Kamele davontragen. Die Arbeit einer einzigen Nacht wird mich für ein Leben der Armut und Katzbuckelei entschädigen.«
»Nun sehe ich Euch zum ersten Mal im wahren Licht, Vater«, sagte Dareet leise. »Ihr seid durch und durch schlecht. Es sitzt zu tief in Euch.« »Schweig!« brüllte Zama Khan. »Du machst mich krank, auch wenn du von meinem Fleisch bist.« »Und mir geht es mit Euch nicht besser, nun da ich Euch endlich sehe, wie Ihr wirklich seid!« Braks Wange begann wieder heftig zu brennen. Der Schmerz ließ ihn auf den Sand zurückfallen. »Ihr Ihr habt mich nicht belogen?« keuchte er mühsam. »Ihr vermögt wahrhaftig ein Mittel zu mischen, das mir helfen kann?« »Das fällt mir nicht schwer«, versicherte ihm Zama Khan. »Doch dafür müßt Ihr meine Tochter und mich in die Ruinen begleiten und uns die Türen öffnen helfen.« Voll Abscheu vor ihrem Vater wandte Dareet sich um. Wilde Wut stieg in Brak hoch. Seine Hand packte den Knauf des Breitschwerts. Aber Zama Khan war schneller. Der Dolch blitzte. Er sprang überraschend schnell auf den Barbaren zu. Mit der breiten Fläche der Klinge drückte er so fest auf Braks Handgelenk, daß dieser nicht imstande war, das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Trotz der gleichmäßigen weißen Zähne, strömte fauliger Atem aus Zama Khans Mund. »Wagt es, die Waffe gegen mich zu heben«, warnte er, »und Ihr werdet keinen Sonnenuntergang mehr erleben, Fremder, das verspreche ich Euch!« Brak warf Dareet einen schnellen Blick zu. Sie nickte. »Er spricht die Wahrheit, Brak. Selbst wenn es Euch gelingen sollte, ihm den Beutel mit den Wundermitteln durch Gewalt abzunehmen, so könntet Ihr doch die heilende Mischung nicht selbst herstellen. Genausowenig wie ich.« »Also gut«, knurrte der gelbhaarige Barbar. »Ich werde versuchen, Euch die Silbertüren zu öffnen. Jetzt macht schon. Bereitet die Medizin und tragt sie auf.«
Kichernd erhob sich Zama Khan und steckte seinen Dolch in die Scheide zurück. »Aber selbstverständlich, Freund Brak. Ich habe einen Vorteil über Euch, wißt Ihr? Ich bin überzeugt, daß Ihr ein einmal gegebenes Versprechen auch haltet. Während ich …« Zama Khan zuckte die Schultern. »Nun, Ihr werdet mir eben vertrauen müssen.« Er öffnete seinen Beutel, holte einen Mörser heraus und mehrere Zutaten, die er jedoch Brak nicht sehen ließ. Dann begann er zu mischen. Schließlich trug er etwas breiartiges Gelbes auf Braks Wange und Kinn auf und legte ein paar trockene Blätter darüber. »Haltet das«, befahl er. »Es wird sehr schnell wirken.« Das zumindest stimmte. Schon nach ein paar Herzschlägen ließ der Schmerz nach. Der Alte reichte Brak einen Leinenfetzen, mit dem er sich das Gesicht abwischen sollte. Während er es tat, erkundigte der Barbar sich: »Glaubt Ihr denn wirklich, daß es in Chambalor noch verborgene Schätze gibt, Alter?« »Was wißt denn Ihr von Chambalor?« brummte Zama Khan abfällig. »Habt Ihr Euch die Säulen schon näher angesehen?« »So weit bin ich noch nicht gekommen«, erwiderte Brak. »Dann seht sie Euch gut an, wenn wir sie erreichen. Denn auf oder auch in diesen Säulen, in ewigen Qualen festgefroren und für immer in Stein gebannt, sind die Prinzen und Kurtisanen von Chambalor, welche die Stadt einst berüchtigt und gefürchtet machten.« Fast träumerisch blickte der Alte auf die Obelisken, die der Mond beleuchtete. »Sie war ein Sündenpfuhl, diese Stadt. Ein Hort der Grausamkeiten und Ausschreitungen. Ein Mann, der es verstand, die Macht an sich zu reißen, zog diese Menschen hinab in die tiefsten Lüste des Lasters.« »Der König?« fragte Brak. »Nein, ein Zauberer. Er nannte sich Septegundus.« Wie ist das möglich, dachte Brak. Chambalor, das liegt doch
schon so lange zurück. Aber wie hatte Bruder Jerome gesagt? Septegundus kennt keinen Tod. Er zieht nach Belieben durch die Welt und bringt die Mächte der Finsternis, wohin immer er auch geht. »Dem König von Chambalor«, fuhr Zama Khan leiernd fort, »wurden die Ausschreitungen zuviel. Er stach dem Zauberer einen Dolch ins Herz. Aber kein Blut sprudelte aus der tödlichen Wunde, so zumindest behauptet es die Legende. Doch ein schrecklicher Gestank und ein heftiger Rauch erhob sich von der Stelle, wo er stand. Ehe Septegundus verschwand, verfluchte er die Stadt. Ihre ganzen Schätze, unendliche Mengen von Smaragden aus den reichen Minen außerhalb der Stadt, sammelte er durch einen Zauberspruch in einer elfenbeinernen Truhe hinter silbernen Türen. Und um sich an dem König zu rächen, ließ er alle Bürger Chambalors erstarren, selbst seine treusten Anhänger. Jeweils Tausende von ihnen bannte er in die gewaltigen Säulen, welche die Prunkstraße einsäumten. Das alles geschah im Hauch eines Augenblicks. Generationen später behauptete ein wandernder Bettler, er nannte sich Juhad, er sei in seiner Jugend bei dem Meister Septegundus in der Lehre gewesen. Juhad trug Tontafeln bei sich, die mit einem Griffel beschriftet waren. Nie trennte er sich von ihnen. Auf diesen Tafeln war der Zauberspruch eingeritzt, der die gequälten Seelen von Chambalor zu befreien vermochte und auch die elfenbeinerne Schatztruhe öffnete. Gegen viele Diebe mußte Juhad diese Tafeln verteidigen. Doch eines Tages verschlang ihn ein Sandsturm, ähnlich jenem, dem Ihr bald zum Opfer gefallen wärt, Barbar. Die Tafeln aber wurden gefunden und wanderten im Laufe vieler Jahre von Hand zu Hand. Keiner wagte, sie zu benutzen. Bis ich sie von diesem Kaufmann in Vishnuzin borgte.« »Das ist doch alles nur Fabel, Alter«, sagte Brak kopfschüttelnd.
Mit angstverzerrtem Gesicht blickte Dareet ihn an. »Nein, Fremdling, da täuscht Ihr Euch leider. Der Schatz wurde nur deshalb noch nicht geplündert, weil, die Geschichte wahr ist. Viele haben es schon versucht. Die schrecklichen T’muk haben manche vertrieben, andere … nun, Chambalor ist eben verwünscht. Doch keiner war so raffsüchtig oder wahnsinnig genug wie diese diese habgierige Seele hier, die einst mein Vater war …« Mit einem Wutschrei schlug Zama Khan ihr ins Gesicht. Brak sprang auf seine Beine und zog sein Breitschwert. Doch schon hatte der Alte seinen krummen Dolch in der Hand. »Ich täte es nicht!« drohte er. »Versprechen ist Versprechen!« »Dann laßt uns aufbrechen«, knurrte Brak. Er war fest davon überzeugt, daß der Alte den Verstand verloren hatte. Von Chambalors legendärem Reichtum konnte nichts weiter als ein Traum geblieben sein, den Generation um Generation weitergeträumt hatte. Aber als Dareet zu weinen begann, kamen Brak doch Zweifel. Er legte einen Arm um ihre Schultern und versuchte sie zu beruhigen. Der Alte lachte spöttisch und schritt zu einem der schnaubenden Dromedare. Zum erstenmal in seinem Leben hatte Brak den Wunsch, sein Wort zu brechen. Am liebsten hätte er Zama Khan das Breitschwert in die Eingeweide gestoßen. Dareet war der einzige Grund, der ihn zurückhielt. Sie zitterte am ganzen Körper, als der Alte mit einem in Lammfell verschnürten Bündel zurückkam. »Das sind Juhads Tontafeln«, flüsterte er, während er sie vorsichtig auspackte. Seine Lippen bebten vor Aufregung. »Nun sollen sie uns ihren Wert beweisen. Nehmt Euer Breitschwert, Barbar, und das Mädchen, wenn sie zu gehen imstande ist. Oder sie mag bleiben, wenn sie es vorzieht.« »Nein!« rief Dareet ängstlich. »Der Fluch reicht bis hierher.
Ich fürchte mich allein.« * Mit grauenverzerrtem Gesicht betrachtete Brak die gewaltigen Säulen. In ihrem ganzen immensen Umfang schmückten Reliefs sie. Die Prinzen von Chambalor und ihre vollbusigen Gespielinnen wirkten so echt, so lebendig, daß Brak das Gefühl hatte, die Tausende von verdammten Augen beobachteten ihn. Ihre prunkvollen Gewänder waren in jeder Einzelheit wiedergegeben. Und die Figuren selbst … Der Magen wollte sich Brak schier umdrehen. Schnell wandte er sich von der Säule ab, deren unterste Ruhe er betrachtet hatte. Dort schwangen Steinsoldaten Säuglinge an den Beinen und schlugen ihnen die Schädel an Mauern ein. Mord, Plünderung, Folterung, Wollust, alle Arten von Verderbtheit kein Laster, keine Todsünde fehlte, als Septegundus’ Fluch sie in Stein bannte. Obwohl Brak viel erlebt hatte, sah er hier doch so manche Grausamkeit, die ihm nicht einmal in seinen Alpträumen untergekommen war. Das Furchtbarste von allem war jedoch der Gesichtsausdruck der versteinerten Figuren. Der Mond leuchtete auf viele der Züge, während Brak hastig an den Säulen vorbeischritt. Sie alle sahen aus, als litten sie entsetzliche Qualen. Er hatte gequälte Gesichter wie diese einmal zuvor gesehen auf der krabbelnden Haut Septegundus’. »Dort!« rief Zama Khan und rannte voraus. Brak hatte bereits fünfundfünfzig Säulen auf der Seite links von ihm gezählt. Er sah zumindest noch ein Dutzend mehr. »Die letzte auf dieser Seite, das ist der Schatzturm!« brüllte der Alte zurück. »Die Kammer liegt unter der Erde.« Plötzlich blieb Brak stehen. Dareet umklammerte seinen Arm. »Was hört Ihr, Barbar?« »Sicher nur Einbildung«, brummte er. Er blickte zurück auf
die im silbernen Mondlicht gebadete Düne, von der sie gekommen waren. Hatte der Wind wirklich ein Klack-klack von dorther getragen? Als sie die letzte Säule links erreichten, sah Brak eine dunkle Öffnung im Fundament. Zama Khan wartete davor, sein Bündel fest an sich gepreßt. Wo die Tontafeln aus dem Lammfell herausragten, wirkten sie stumpf grau. Uralte, eingeritzte Zeichen bedeckten sie. Mit einem Mal begann Brak zu glauben … Zama Khan war auf seine Art verrückt. Aber die Geschichte des verwünschten Chambalor mochte wahr sein. Nein, das war unmöglich! Aber warum hatte er dann dieses schreckliche Gefühl, daß unter der steinernen Oberfläche jenes Abschaums der Menschheit in Reliefform ein gefangenes Leben sich in Seelenqualen wand und auf Erlösung hoffte? »Es sind Fackeln an der Wand«, flüsterte Zama Khan. »Ich werde eine anzünden.« Fäulnisgestank hing in der Luft, und dichte Staubschichten wirbelten auf, als sie eine Wendeltreppe nach unten eilten. Sie führte in eine weite, gepflasterte, kreisrunde Halle. Direkt gegenüber erhoben sich gewaltige Silbertüren, die stellenweise mit grünblauem Moder bedeckt waren. »Der rechte Flügel gibt ein wenig nach«, rief Zama Khan leise, aber aufgeregt. »Der linke überhaupt nicht.« »Spürt Ihr denn nicht, daß es unrecht ist?« Dareet zitterte. »Und viel zu gefährlich. Vater«, sie zerrte am Arm des Alten. »Warum glaubt Ihr, war noch niemand vor uns hier? Weil sie wußten …« »Nichts wird mich mehr aufhalten!« brüllte Zama Khan und schlug dem Mädchen die Hand ins Gesicht. Schluchzend stürzte Dareet zu Boden. Brak zog grimmig die Brauen zusammen. Der Alte benetzte seine Lippen. »Vergeßt Euer Wort nicht«, warnte er. »Ihr verspracht, die Türen zu öffnen.« Wortlos wandte Brak sich um und preßte mit der Schulter ge-
gen den rechten Flügel. Ein Ächzen erklang, doch sie bewegte sich so gut wie gar nicht. Er stemmte sich mit den Händen gegen die Tür und drückte mit aller Kraft. Die Muskeln seiner mächtigen Schultern und Arme quollen hervor. Schweiß näßte seine Hände. Er mußte innehalten und sie sich an seinen Löwenfellbeinkleidern abwischen. Er drückte noch heftiger. Dick hoben sich seine Bauchmuskeln hervor. Seine Sehnen spannten sich. Ein Spalt öffnete sich. Drei Handbreit, vier … »Noch ein wenig!« schrie Zama Khan und stellte sich mit der Fackel dicht hinter den Barbaren. »Ein bißchen noch, und Ihr habt Euer Versprechen eingelöst.« Brak warf sich nun mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Mit einem rostigen Quietschen gab sie nach. Gleichzeitig schrie Dareet gellend auf. »Brak!« Sein gelber Zopf schwang durch die Luft, als der Barbar herumwirbelte. Zama Khan hatte die Fackel in einen rostigen Halter an der Wand gesteckt. Den krummen Dolch erhoben, sprang er auf Brak zu. »Ich habe mein Wort gehalten«, brabbelte er. »Doch ich werde der einzige sein, der durch die Tür zur elfenbeinernen Truhe …« Die Klinge des Breitschwerts in Braks beiden Händen schnitt Zama Khans Worte ab und die Hälfte seines Kopfes ebenfalls. Einen kurzen Moment hielt der Körper sich noch aufrecht. Der triumphierende Blick erlosch, während der Schädel halb durchschnitten zur Seite sank und eine Fontäne von Blut aus dem Hals emporspritzte. Zama Khans Hände öffneten sich. Dolch und Tontafeln polterten zu Boden. Als die Tafeln in hundert Stücke zerschellten, grollte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Ein unerträglich grelles Licht blendete sie. Brak wurde gegen die Wand geschleudert. Dareet schrie schrill. Der weißglühende Schein hinter der halboffenen
Tür kam von einer elfenbeinernen Truhe, die in einen Marmorblock eingelassen war. Eine gleißende grüne Wolke schoß aus dem Block empor. Sie löste sich auf, und ein Hagel von funkelnden Smaragden fiel herab. Die Wände begannen zu schwanken. Brak hastete schreckerfüllt durch die runde Vorhalle. Die Luft wurde dunkler, schien zu wirbeln. Von irgendwoher schrillte eine Kakophonie von Tausenden und aber Tausenden heulender verdammter Seelen. »Die Säule bricht zusammen!« schrie Brak und zerrte Dareet die Treppe hoch. »Die zerschmetterten Tontafeln brachen den Fluch. Doch nicht nur das, denn …« Milchweiße runde Augen starrten Brak vom oberen Ende der Treppe entgegen. Blaue Flüssigkeit pulsierte in den durchsichtigen Adern des Quallenkörpers. Ein Klack-klack drang aus dem Maul des T’muk. Zwei seiner Fühler hingen halbiert und schlaff von seinem Körper. Auf ihren Spinnenbeinen schnellte die gräßliche Bestie sich die Stufen herunter, ihrem Feind entgegen. »Zurück, Mädchen!« brüllte Brak. »Versteckt Euch!« Brak hob das Breitschwert über seinen Kopf und wartete auf das aufgedunsene Monstrum. Nackte Angst lähmte ihn halb. Wenn er den T’muk wieder verwundete, würde erneut dessen Lebensflüssigkeit spritzen. Diesmal konnte kein Zama Khan ihn retten. Und er war der einzige gewesen, der das Heilmittel zu mischen verstanden hatte. Klack-klack. Immer näher kam die scheußliche, tödliche Bestie. Brak zog sich vorsichtig, am ganzen Körper vor Erschöpfung und Hilflosigkeit zitternd, eine Stufe zurück. Dann noch eine und noch eine. Wenn er starb, würde auch das Mädchen sterben. Er war nun wieder am Fuß der Treppe angekommen. Das Fundament der Säule schwankte. Die schreckliche Kakophonie klang nun noch durchdringender. Sie kam von über dem Erd-
boden. Es gab nur einen möglichen Ausweg. Einen einzigen. Brak hatte keine Wahl. Er umfaßte das Breitschwert an der scharfen Klinge. Sie schnitt an beiden Seiten in seine Hand ein, daß das Blut floß. Aber wenn er sie nicht fest genug hielt, bekäme er nicht den notwendigen Schwung. Er zog seinen rechten Arm zurück und schleuderte das Schwert wie einen Speer. Die Klinge drang bis zum Knauf in das rechte Auge des T’muk. Klack-klack. Klack-klack. Das Maul öffnete und schloß sich konvulsivisch. Die haarigen Fühler zuckten. Brak stolperte zu Dareet und warf sich über sie, um sie im Notfall vor dem spritzenden Lebenssaft des Ungeheuers zu schützen. Doch noch sprühte kein Tropfen aus dem vom Schwertgriff verborgenen Auge, dafür träufelte um so mehr Blut aus seiner eigenen zerschnittenen Rechten auf das Mädchen. Mit um sich schlagenden Fühlern und zuckenden Spinnenbeinen starb der T’muk auf den Stufen. »Wir müssen über ihn hinwegklettern«, drängte Brak mit leicht bebender Stimme. »Es ist nicht gefährlich. Höchstens aus seinem Auge könnte etwas von der tödlichen Flüssigkeit tropfen.« Als sie die Stufen hinaufstiegen, schlug ihnen der betäubende Gestank der toten Kreatur entgegen. Dareet stieß einen halberstickten Schrei aus und fiel schlaff zusammen. Brak hob sie über seine Schulter. Er konzentrierte sich voll auf das bevorstehende Unterfangen. Er setzte seinen Fuß auf den Rücken des verendeten Quallentiers und zog sich mit der Linken an den Fühlern empor. Einmal glitt er aus. Mit zusammengebissenen Lippen klammerte er sich an den Fühlern fest. Sein Fuß war nur ein paar Fingerbreit von der aus dem Auge sickernden Flüssigkeit entfernt.
Ganz langsam, doch mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, zog er das Bein hoch und kletterte weiter. Sein Breitschwert ließ er in dem Kadaver stecken. Ein schrecklicher Sturm herrschte draußen. Gewaltige dunkle Sandwolken stoben durch die Nacht, peitschten in sein Gesicht, gegen seinen nackten Oberkörper. Mit der noch bewußtlosen Dareet über der Schulter kämpfte Brak sich vorwärts. Der Sturm prallte so stark gegen ihn, daß er sich nur gebückt und mit aller Mühe Schritt um Schritt vorarbeiten konnte. Irgendwie wußte er, daß die jetzt tobenden Elemente nichts mit dem Sandsturm gemein hatten, der ihm sein Pferd gekostet hatte. Der Wind wirbelte fast greifbar um die gewaltigen Säulen. Immer heftiger, immer schneller. Dann hob er sich gen Himmel mit Wolken von sich windenden Phantomen in menschlicher Gestalt. Ein erbärmliches Heulen und Winseln und Stöhnen ging von diesen Wolken aus. Brak versuchte, seine Ohren gegen diese unerträglichen Töne zu verschließen. Blindlings taumelte er bis zum Ende der ehemaligen Prachtstraße. Dort verließ ihn die letzte Kraft. Mit Dareet in den Armen ließ er sich zu Boden sinken. Im Morgengrauen kehrte Brak zu der Schatzsäule zurück, um Zama Khans Leiche und sein Breitschwert zu holen. Er warf einen kurzen Blick in die Kammer, wo sich die Elfenbeintruhe befunden hatte. Doch nur vereinzelte Splitter fanden sich von ihr zwischen dem grünen Smaragdstaub. Der unermeßliche Schatz war zerfallen und wertlos. Zurück in ihrem dürftigen Lager half Dareet ihren Vater begraben. Da er an keine Götter gebunden war, dachte Brak an Bruder Jeromes Namenlosen Gott. Aus verdorrten Wurzeln band er ein nestorianisches Kreuz zusammen und steckte es in den Sandhügel. Vielleicht würde es der Seele des Toten helfen. Dareet schaute ihm mit hängendem Kopf zu. Brak wischte sich über die Lippen. Ein Schuldbewußtsein quälte ihn. »Mein Schwert tötete ihn«, murmelte er schwer. »Es es tut
mir leid.« »Es ist mir einerlei«, erwiderte das Mädchen tonlos. »Ich will weg von hier.« »Die Dromedare werden uns tragen.« Immer noch drückte das Schuldbewußtsein Brak nieder. »Mädchen, ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte ihn töten.« »Es berührt mich nicht mehr«, sagte sie. »Er war von Grund auf schlecht. Die Habsucht, die ihn hierher trieb, wo kein vernünftiger Mensch sich gewagt hatte, machte ihn mir schon längst zum Fremden. Er war nicht mehr mein Vater.« Aber trotz ihrer Worte begann sie zu weinen, und bald schüttelte heftiges Schluchzen sie. Tröstend legte Brak seinen Arm um ihre Schultern. »Mädchen, ich habe darüber nachgedacht. Euer Vater kam hierher, um zu plündern. Doch dadurch, daß die Tontafeln zerbrachen, wurden Tausende von gequälten Seelen erlöst, die der Fluch des Zauberers in Stein gebannt hatte. Auch wenn er es nie beabsichtigte, so hat er durch ihre Befreiung doch ein gutes Werk getan. Und das ist etwas, wofür Ihr ihn ehren könnt. Jeder Mensch muß etwas haben, woran man sich in Ehren erinnern kann.« Der Wind pfiff über den Grabhügel. »Dareet, hört Ihr? Ich spreche die Wahrheit. Ihr könnt es sehen! So schaut doch! Schaut!« Sie hob den Kopf, und ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Die gewaltigen Säulen von Chambalor, auf die die glühende Wüstensonne herabbrannte, waren nun ringsum glatt. Keine lebensechten Reliefs schmückten sie mehr. Keine Steinfiguren hoben sich davon ab. Langsam begannen Dareets Augen sich mit Tränen der Dankbarkeit zu füllen. »Ja, ich sehe es«, flüsterte sie. »Er erlöste sie. So hat er wenigstens im Tod ein gutes Werk vollbracht.«
Noch ehe die Sonne im Zenit stand, waren Brak und das Mädchen mit den Dromedaren am Horizont verschwunden.
Das Schiff der Seelen Aus dem Norden ritt ein blonder Barbar, aus dem Norden, das Schwert in der Hand. Aus dem Norden ritt Brak, der Barbar, auf der Suche nach einem gar fernen Land. Er ritt nach den Landen der Sonne und träumte einen lockenden Traum. Des Barbaren Ziel, des Barbaren Wonne war Khurdisan, der Welt gold’ner Saum. Es gab manch schmerzlichen Schlag, manch Kampf ließ den Schwertarm ermüden. Doch Sehnsucht trieb Brak die endlose Straße nach Süden. Tyresias: Das Lied von Brak Am unteren Lauf machte das trockene Flußbett, dem der hochgewachsene und breitschultrige Barbar folgte, eine Biegung um einen Obsidianfelsen. Von dort war der in Todesnot ausgestoßene Schrei gekommen. Brak hatte am Rande der Uferböschung gesessen, während sein Pferd graste. Jetzt sprang er hoch. Sein ohnehin straffer Bauch zog sich noch mehr zusammen, als der schreckliche Schrei aufs neue ertönte, unmittelbar gefolgt von einem unheimlichen Geräusch. Es hörte sich an wie das langsame Schaben von schwielenüberzogenen Kriegerhänden, die über rauhen Fels strichen. Doch damit endete die Ähnlichkeit. Das schabende Geräusch war so laut, daß der Krieger Hände von Braks ganzer stattlicher Größe hätte haben müssen.
Schaben und Schleifen. Das war das Geräusch, das sich mit unheimlicher Eindringlichkeit wiederholte. Brak zögerte. Er hielt nichts davon, sich in Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angingen. Doch da folgte ein schreckliches Stöhnen, das ohne Zweifel von einem Menschen stammte. Und bald danach kam wieder das Schaben und Schleifen. Offenbar drang das Stöhnen aus der Kehle des gleichen Mannes, der den Schrei ausgestoßen hatte. Brak rutschte den Abhang hinunter und klopfte dem Pferd auf den Hals. »Genug der Rast«, erklärte er ihm. Er schwang sich auf seinen Rücken. »Wir werden nachsehen, was dort den Felsen abschleift, und wer solch entsetzliche Angst davor hat.« Sanft lenkte der Barbar das Pferd mit den Knien. Er legte die Rechte um den Griff des mächtigen Breitschwerts, das in seiner riesigen Hülle am Gürtel steckte. Die Dämmerung begann sich herabzusenken. Das Land, durch das der Barbar schon seit sechs Tagen ritt, war ein Gewirr von zerklüftetem vielfarbigem Gestein. Es sah aus, als hätte ein ergrimmter Gott seine Wut an einem titanischen Felsen ausgelassen, ihn mit seiner Riesenfaust in Tausende und aber Tausende von Bruchstücken zerschmettert. Die meisten davon waren zum größten Teil von glasiger Schwärze, durch das sich in unterschiedlicher Stärke alle Regenbogenfarben brachen. Abgesehen von Streitwagen, die in die entgegengesetzte Richtung fuhren und die er nur aus weiter Ferne erspähte, hatte er in den sechs Tagen seines Rittes durch diese Öde keine Spur menschlichen Lebens entdeckt. Das Fleisch auf seinem bloßen Rücken kribbelte, als er sich der Flußbettniederung näherte. Er zog an der milchweißen Mähne seines Rosses, um es zu einem langsamen Trott anzuhalten, der seine Hufe fast lautlos werden ließ. Zwei Geräusche wurden nun klar erkenntlich. Das erste stammte von einem Menschen (den schrecklicher Schmerz oder furchtbare Angst, oder auch beides quälten), der
einen nichtendenwollenden Schrei ausstieß, unterbrochen nur von ein paar unverständlichen Silben, die vielleicht ein Hilferuf sein mochten. Das zweite war das nervtötende Schaben und Schleifen, als ob etwas Unaussprechliches über felsigen Grund kröche. »Was immer auch dieses Geräusch verursacht«, murmelte Brak vor sich hin, »es ist sicher nicht klein.« Ehe der Barbar den Obsidianfels umrundete, hielt er sein Pferd an. Er zog das Breitschwert aus der Scheide. Das düstere Licht der versinkenden Sonne warf seine letzten Schatten über das Land rechts von ihm. Vor dem südlichen Horizont wirbelten dunkle Rauchschleier. Der Rauch war nun näher als am Morgen, als Brak ihn zum erstenmal bemerkt hatte. War es Rauch von einem Schlachtfeld? Es schien wahrscheinlich, nachdem alle Streitwagen, die er gesehen hatte, nach dem Norden geeilt waren. Auf der Flucht, wie es schien. Brak hatte keine Ahnung, wer die Gegner sein mochten. Er war ein Fremder in einem ihm unbekannten Königreich. Plötzlich hob die Stimme hinter den Felsen sich hysterisch: »Gehörnte Göttin, hilf mir! Nimm meine Seele und trage sie durch die dunklen Schleier zum Paradies. Laß sie Frieden, Gnade und Wohlwollen in deiner Umarmung finden.« Brak drückte seine nackten Fersen gegen den Leib des Pferdes und trieb es zu schnellerer Gangart an. Der Mann stieß ein Gebet aus, und es hörte sich so an, als bliebe ihm nicht mehr viel Zeit. »O Göttin, erbarme dich meiner in ewiger Umarmung«, hörte Brak, gerade als er um den Obsidianfelsen bog. Wo das Flußbett breiter wurde, verschwammen Licht und Schatten ineinander. Als Brak sich vom Pferd schwang, nahm er das vor ihm liegende Geschehen in einem Blick auf. Ein hochrädriger Bronzestreitwagen war gekippt und hatte seinen Lenker herausgeschleudert. Der obere Rand des Gefährts war jeweils in einem Abstand von drei Fingern mit kur-
zen glänzenden Klingen gespickt. Der Lenker war von zwei dieser spitzen Dolche, die zweifellos zur Verteidigung gegen anstürmende Angreifer gedacht waren, auf den Boden gespießt worden. Er lag in einer roten Lache unter dem Fahrzeug. Brak erkannte sofort, daß dieser Streitwagen von anderer Art war als jene, die er in der Ferne gen Norden rollen gesehen hatte. Ein kunstvolles Bronzebasrelief, das eine Göttin darstellte, schmückte das Gefährt. Es war die Abbildung einer schönen jungen Frau mit entblößtem Oberkörper. Zwischen ihren Brüsten hing an einer Halskette ein schmaler Dolch. Aus ihrer Stirn wuchsen zwei widderähnliche Hörner. In ihrer erhobenen Linken hielt sie ein Füllhorn. Mit der Rechten holte sie einen Blitz vom Himmel. Das also war die gehörnte Göttin, die der Wagenlenker angerufen hatte, dachte Brak. Plötzlich hörte er wieder das Schaben und Schleifen. Es war hier so laut, daß es seine Ohren schmerzte. Brak wirbelte herum. Am Hang entdeckte er die Ursache des Geräuschs. Er zog heftig den Atem ein. Es war eine wurmähnliche Kreatur, gut sechsmal so lang wie er. Hoch oben im Obsidianfels gähnte der Eingang zur Höhle dieses Monstrums, wo es vermutlich durch das Kreischen der Räder und den kippenden Wagen aus seinem Schlaf geschreckt worden war. Am ganzen zylindrischen Körper entlang hatte es kleine weiße gallertige Auswüchse, rudimentäre Beine. Es kroch jedoch offenbar nicht mit ihnen, sondern schob sich durch windende Bewegungen hangabwärts langsam auf den sterbenden Wagenlenker zu. Seine Haut bestand aus einer Art Schuppenpanzer. Die einzelnen metallisch glänzenden grauen Schuppen waren durch feuchtrosige Membranen verbunden, wie Brak erkennen konnte, wenn der Körper sich vorwärts schob. Das Schleifen der Schuppen auf dem Fels verursachte das schabende Geräusch. Und während die monströse Kreatur sich nach unten bewegte, zermalmte sie das Gestein unter sich
zu Staub. Was war das nur für ein Panzer, dachte Brak, der Obsidian zu Pulver zerreiben vermochte. Ein Beweis, daß er es tat, war die gewaltige Staubwolke, die dem windenden Ungeheuer folgte. Aus dem Schädel des röhrenähnlichen Tiers leuchteten tellerrunde, opalisierende Augen, die so groß wie Braks Kopf waren. Das Ungeheuer näherte sich bereits dem trockenen Flußbett, mit dem größten Teil seines Körpers noch auf dem Felshang. Plötzlich öffnete sich ein gewaltiger Schlitz im unteren Teil seines Schädels. Brak spannte jeden Muskel und zog sein Breitschwert. Das Blut hämmerte im Angesicht der drohenden Gefahr heftig durch die Adern. Rotes Zwielicht spiegelte sich auf seiner Klinge. Er war eine ungebändigte Kreatur, ähnlich jenen wilden Bestien, die er in den rauhen nördlichen Steppen seiner Heimat gejagt hatte. Immer noch brabbelte der Wagenlenker im Delirium Gebete vor sich hin. Langsam rollte sich eine feuchte rote Zunge aus dem Maulschlitz des Ungetüms. Winzige Saugnäpfe dehnten sich und zogen sich wieder zusammen. Immer länger wurde die Zunge. Sie glitt durch das Flußbett, als besäße sie ein eigenes Leben. Dann, mit einem Mal, als spüre die Bestie Braks Gegenwart, schnellte sich die Zunge in seine Richtung. Die gräßlichen Saugnäpfe dehnten sich und zogen sich in noch heftigerem Rhythmus zusammen. Plötzlich jedoch rollte die Zunge sich zurück und verfolgte wieder ihren alten Kurs. Der Streitwagenlenker hatte sich inzwischen auf seine Handflächen gestützt. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Ungeheuer. Von der Mitte abwärts lag sein Körper unter den tödlichen Klingen des Gefährts. Er unterdrückte einen neuerlichen Schrei, als die Zunge wieder auf ihn zuglitt und der Panzerschuppenkörper dabei, weiter das Gestein unter sich zermalmend, folgte. Brak schüttelte den Kopf, um seinen Verstand von der Ver-
wirrung zu befreien, die ihn erfaßt hatte. Hastig hob er mit seiner freien Linken einen ovalen Felsbrocken vom Flußbett hoch und schleuderte ihn mit aller Gewalt auf die lange Zunge. Stinkige, ekelerregende Flüssigkeit spritzte aus zerquetschten Saugnäpfen. Das ferne Schwanzteil des Untiers schlug wild um sich. Dabei zerschmetterte es mächtige Felsblöcke, deren Trümmer herunterhagelten. Ein paar Splitter trafen den gelbhaarigen Barbaren. Er schüttelte sich, wagte jedoch nicht, seine Aufmerksamkeit von dem Ungeheuer abzuwenden. Die opalisierenden Augen wandten sich wieder in seine Richtung. Aber der süßliche Blutgeruch um den Streitwagen, den das Monstrum offensichtlich witterte, lenkte es wieder ab. Erneut schnellte die Zunge auf den aufgespießten Wagenlenker zu. Brak überlegte nicht lange. Er wußte, was er tun mußte. Mit Riesenschritten rannte er auf den Wagen zu und stieß das Schwert in die Scheide zurück. »Bedeckt Euren Kopf!« brüllte er im Laufen. »Schützt Euer Gesicht und betet, daß die eisernen Zähne Euch diesmal verfehlen!« Er sprang über die Deichsel, von der sich die Zugpferde losgerissen hatten, auf die andere Wagenseite. Er hoffte nur, daß das Gefährt mit dem richtigen Schub auch weit genug fallen würde. Im Vorübereilen streifte er gegen das hochstehende Rad, daß es sich zu drehen begann. Dann warf er sich mit ganzer Kraft gegen die Unterseite des Wagens und drückte, so fest er konnte. Das Bronzefahrzeug war unvorstellbar schwer. Und zu allem Überfluß begann der Lenker erneut vor sich hin zu brabbeln. Vielleicht aus Angst, daß er zerdrückt würde, wahrscheinlich jedoch, nahm Brak an, weil die Zunge noch näher gekommen war und begann ja, was eigentlich? Das Fleisch von seinen Knochen zu saugen? Brak spannte sich und schob. Brennender Schmerz durch-
zuckte seinen Rücken. Sein linker Fuß rutschte. Ein spitzer Stein riß ihn auf, bevor er Halt fand. Der Streitwagen bewegte sich ein wenig. Er mußte ihn ganz kippen. Seine Stirnadern schwollen an, als er sich mit aller Kraft dagegen stemmte. Immer näher kam das Schaben und Schleifen. Es war bereits so durchdringend, daß es jeden anderen Laut verschlang. Nun drohten die Stirnadern schier zu bersten. Die Muskeln spannten sich über Gebühr. Endlich gab der Wagen nach. Aber er fiel nicht. Der Wagenlenker stieß den gräßlichsten Schrei aus, den Brak je aus einer menschlichen Kehle gehört hatte. Der große Barbar wußte, daß die Zunge des Monstrums nun das Fleisch des Verwundeten berührt hatte. Mit einem wilden Schrei stemmte Brak sich noch einmal gegen das Gefährt. Die Anstrengung raubte ihm schier die Sinne. Aber der Wagen begann nun zu kippen. Einen Augenblick schien er in der Luft zu hängen, dann endlich fiel er mit den Rädern nach oben. Brak sprang zurück. Der Wagenlenker brüllte, als eine der Klingen seinen Schenkel streifte. Das Fahrzeug kam umgekippt direkt auf der Zunge des Ungeheuers zu ruhen. Seine Dolche spießten sie auf dem Grund des Flußbetts fest. Wild peitschte der Schwanz des Untiers. Die Steine, die er streifte, schwirrten durch die Luft. Ein Brocken schlug gegen Braks Stirn, gerade als er auf das umgedrehte Gefährt sprang. Das Ungeheuer versuchte, seine Zunge freizubekommen. Seine Bemühungen schüttelten den Wagen. Brak stemmte sich gegen eines der Räder und lehnte sich über die Seite. Mit aller Gewalt stieß er sein Breitschwert in das rechte Auge der Bestie. Der Grimm verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er zog es heraus und durchbohrte damit auch das linke. Immer wieder hackte er darauf ein, bis beide Augen nur noch blutige Teiche waren. Erst dann sprang er erschöpft vom Wagen und sank kraftlos nieder.
Das gewaltige Ungeheuer peitschte seinen Schwanz ein letztes Mal. Ein Zittern erschütterte die Erde. Während Steinsplitter und Staub herabregneten, starb die Bestie. Keuchend richtete Brak sich auf. Er reinigte sein Schwert im Flußsand und steckte es in die Hülle zurück. Mit noch weichen Knien taumelte er auf den Wagenlenker zu und beugte sich über den Sterbenden. »Die gehörnte Göttin … wird mich nun in Ehren … empfangen können«, röchelte dieser. »Das hätte sie auch so«, versicherte ihm Brak. »Aufgespießt, wie Ihr wart, hättet Ihr Euch gar nicht gegen das Untier zur Wehr zu setzen vermocht.« »Die gehörnte Göttin … erwartet einen … ruhmvollen Tod. Doch zumindest verfolgte ich … unsere Feinde, als der Wagen … kippte.« »Der Himmel hängt voller Rauch«, murmelte Brak. »Es gab eine Schlacht?« »Aye. Eine Schlacht.« Der Atem des Sterbenden kam nun pfeifend. »Wir, das Volk der gehörnten Göttin, die Bewohner des Landes … am Phrixos, dem Glitzernden Fluß, schlugen … die Armeen … der haarigen Männer von Gat zurück. Dort …«, er deutete südwärts, »kämpften wir gegen sie. Lange schon … bedrohten uns die Männer von Gat. Phrixos … ist das Delta … des Glitzernden Flusses. Ein schmales, fruchtbares Land … entlang beider Ufer. Wir verteidigten unser Land. Wir … vertrieben die haarigen Männer von Gat … mit nur einem zehnten Teil der Macht, mit der sie uns überfielen. Aber wir mußten … einen Preis zahlen. Viele von uns …« Ein furchtbarer Husten schüttelte den Wagenlenker. Brak nagte an seiner Lippe. »Wo sind Eure Heiler?« fragte er. »Zurück in die Städte … am Glitzernden Fluß. Mich sandte man, nach dem flüchtenden Feind … zu sehen. Der Wagen kippte, seine Dolche durchbohrten mich. Im Staub und dem
Lärm der rasselnden Räder … bemerkten meine Kameraden nichts davon … und zogen nichtsahnend weiter. Mein eigener Wagen …« Wieder schüttelte ihn heftiger Husten. »Ein schlechter Witz, eh? Ein Arzt … kann mir nicht mehr helfen. Aber Ihr halft mir, Fremder. Zu sterben, ohne mich … gegen das schreckliche Untier … wehren zu können, wäre unehrenhaft. Die Steinbestien … hausen in diesen Bergen, seit Anbeginn der Zeit. Und sterben, ohne zu kämpfen, das wüßte die gehörnte Göttin. Sie … würde mich nicht den Glitzernden Fluß herabholen … in ihr Paradies. Bitte …« Die schwache Stimme schien kräftiger. »Ich kann mein Schwert nicht herausziehen. Tut Ihr es für mich?« »Damit die Göttin es sieht?« fragte Brak. Der Sterbende nickte. Brak holte die schmale Klinge aus der Scheide. Der süßliche Geruch von Blut drang betäubend in seine Nase, und das rote Naß färbte seine Finger. Er drückte das Schwert in die kraftlose Hand des Wagenlenkers. »Was kann ich für Euch tun?« erkundigte der Barbar sich erschüttert. »Ich kann Euch doch nicht hilflos hier sterben lassen.« »Für mich gibt es keine Hilfe mehr«, erwiderte der Soldat schwach. »Aber nun macht … es mir nichts mehr aus, denn … die gehörnte Göttin wird mich in Ehren aufnehmen. Ich wollte, ich … könnte Euch meine Schuld bezahlen. Ihr habt einen eigenartigen Akzent. Seid Ihr ein Fremdling?« »Aye. Mein Name ist Brak.« »Ihr seht wie ein Barbar aus, obgleich … Euer Gesicht im Schatten ist.« »Ich bin auf einer langen Reise von den hohen Steppen.« »Die gehörnte Göttin schütze Euch auf Eurem Weg.« Der Wagenlenker zitterte. Jeder Muskel schmerzte Brak. Er richtete sich auf. Voll Mit-
leid schüttelte er den Kopf. Der fremde Soldat starb, und er konnte nichts für ihn tun. Einen langen Moment stand Brak reglos und starrte auf den Sterbenden hinab. In diesem Augenblick spielte einer der letzten Strahlen der untergehenden Sonne über sein Gesicht. Er vernahm ein Stöhnen unter sich und sah, wie der Wagenlenker sich aufbäumte. »Was ist mit Euch?« fragte er erschrocken. »Überquert den Glitzernden Fluß nicht«, rasselte der Sterbende. »Barbar, überquert ihn nicht! Nun sehe ich … zum erstenmal Euer Gesicht. Kehrt zurück in den Norden. Kehrt um!« Brak runzelte die Stirn. Sprach der Fremde im Fieberwahn? »Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, brummte er. »Ich muß in den Süden.« »Phrixos, der Glitzernde Fluß … liegt im Süden!« stöhnte der Wagenlenker. »Ich meine es … gut mit Euch! Überquert ihn nicht!« »Erkläre mir, warum ich es nicht tun soll.« »Ich sehe das Zeichen … auf Eurem Gesicht. Das Zeichen …« Der Soldat stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Körper zuckte ein letztes Mal. Brak schüttelte verwirrt den Kopf, dann ging er, um sein Pferd zu holen. Jeder Knochen schmerzte. Er verstand die letzten Worte des Toten nicht. Außerdem, wie könnte er umkehren? Er mußte in den warmen Süden, zum goldenen Khurdisan, um dort sein Glück zu finden. Und um hinzukommen, blieb ihm nichts übrig, als den Phrixos, den Glitzernden Fluß, zu überqueren. Müde kletterte er auf den Rücken seines Pferdes. Bestimmt war der Wagenlenker nicht mehr bei Sinnen gewesen. Er schnalzte mit der Zunge, und das Pferd setzte sich das Flußbett aufwärts in Bewegung. Brak wollte das erschlagene Untier so schnell wie möglich hinter sich lassen, und auch den
Wagenlenker, der ihn gewarnt hatte. Ein Zeichen auf seinem Gesicht. Was für ein Zeichen? Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Er mußte über den Phrixos, komme, was da wolle. Im spärlichen Licht weniger Sterne ritt er durch das dunkle Land. Der Rauch am südlichen Himmel wurde dichter, und das Gefühl einer drohenden Gefahr wuchs in ihm. * Die nächste Nacht schlief Brak auf einem Schlachtfeld, auf dem die Geister lebendig waren. Den ganzen folgenden Tag hindurch, nachdem er dem toten Wagenlenker die Augen zugedrückt hatte, ritt er über die vom Kampf versengte Ebene, auf der die Krieger Phrixos’ die haarigen Männer von Gat zurückgeschlagen hatten. Gegen Morgengrauen hatte Brak die Grenze des Schlachtfelds erreicht, die an einem gewaltigen Haufen Leichen von gedrungenen, krummbeinigen Männern in lederner Rüstung zu erkennen war. Sie waren am ganzen Körper stark behaart, und ihr vorstehendes Kinn gab ihnen ein tierhaftes Aussehen. Er stieß auf diesen Haufen Gefallener, als sein Pferd um einen niedrigen Hügel bog. Die Größe der Ebene war schwer abzuschätzen. Viele Wagen mit Proviant und seidene Zelte waren im Laufe des Kampfes vom Feuer erfaßt worden und sandten immer noch den schwarzen Rauch zum Himmel, den Brak schon am Tag zuvor aus weiter Ferne bemerkt hatte. Als er an dem Leichenhaufen vorbeiritt, wurde der Rauch so dicht, daß er kaum ein paar Schritte weit zu sehen vermochte. Nur mit Mühe konnte er sein scheuendes Pferd beruhigen. Gegen Mittag schien die Sonne am Zenit fahl durch den Rauch hindurch. Überall lagen nun Leichen am Boden. Manche waren grausam verstümmelt. Es stank nach ihrem Blut, das sich mit dem dunkleren der Pferde vermischt hatte, die zu Hunder-
ten abgeschlachtet worden waren. Ganze Einheiten von Fußsoldaten lagen dahingestreckt zwischen den Wracks von Kriegsmaschinen und Handwaffen. Der Boden unter den Hufen des Pferdes war lehmig. Viele der Toten bedeckte dieser weiche Schmutz. Aber trotzdem war ohne Zweifel zu erkennen, daß die überwiegende Zahl zu den haarigen gedrungenen Männern und nicht zu jenen in eiserner Rüstung mit dem Schild der gehörnten Lady gehörten. Aber auch das Königreich Phrixos war nicht ungeschoren davongekommen. Während Brak den ganzen Tag durch den Rauch ritt, vernahm er hin und wieder Stöhnen und Ächzen von Überlebenden. Zweimal hatte er versucht, sie zu finden. Aber das graue düstere Licht, das durch die Rauchschwaden drang, führte ihn nur in die Irre, und es gelang ihm nicht, die Verwundeten aufzuspüren. Dreimal entdeckte Brak in einiger Entfernung gespenstische Gruppen von schweigenden Männern. Sie trugen brennende Kerzen, deren Licht jedoch kaum durch den Rauch drang. Brak nahm an, daß es sich um Beauftragte von Phrixos handelte, die ihre Toten bestatten sollten. Wenn er sie näher kommen sah, blieb er reglos auf dem Pferd sitzen und wartete, bis sie außer Hörweite waren. Dann erst ritt er weiter. Dem Barbaren gefiel dieser Weg über das Schlachtfeld, das sich jedoch nicht umreiten ließ, absolut nicht. Er kam sich vor wie ein Aasgeier, der nur darauf wartete, sich etwas holen zu können. Aber so sehr er es auch verabscheute, war er doch gezwungen, gerade das zu tun. Sein kleiner Beutel, der an den Löwenfellbeinkleidern hing, enthielt keinen einzigen Dinscha mehr. Zwar machte Brak sich durchaus nichts aus Geld, aber es war eben doch hin und wieder sehr notwendig. Darum hielt er nun die Augen offen, ob er nicht Schmuckstücke oder eine wertvolle Waffe fände, die er später gegen eine Bleibe und etwas zu essen eintauschen könnte.
Er brachte es jedoch nicht über sich, die Toten zu durchsuchen. Und die Waffen, die herumlagen, sahen nicht sehr vielversprechend aus. Hinter einem ausgebrannten Wagen endlich spiegelte die untergehende Sonne sich auf etwas Glitzerndem. Als er näher heranritt, stellte er fest, daß es sich um ein kostbares Schwert handelte, das gut zur Hälfte in einem gefallenen Phrixoskrieger steckte. Andere würden ihn sicher für einen Narren halten, aber ihm käme es einer Schändung des Toten gleich, nähme er dieses Schwert an sich. Also ritt er mit leeren Händen und leerem Beutel weiter. Wie Brak bald bemerkte, begann die Ebene unter des Pferdes Hufen leicht schräg abzufallen. Der Himmel bewölkte sich. Ein Wind kam auf und wirbelte den Rauch von tausend Feuern empor. Brak hoffte, daß er die Luft reinigen würde, denn der Gestank peinigte seine Nase, und der Rauch brachte seine Augen zum Tränen. Der Ritt in der anbrechenden Dunkelheit wurde immer schwieriger. Der Glitzernde Fluß schien weiter entfernt, als Brak gedacht hatte. Als er zu den Überresten eines großen seidenen Zeltes auf einem niedrigen Hügel kam, beschloß er, dort sein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Die Zeltstützen waren eingeknickt und das kostbare Gewebe von Rußschwaden geschwärzt. Brak stieg ab. Es wurde immer düsterer, doch er war froh darüber, denn die Dunkelheit würde ihm den weiteren Anblick der Toten ringsum ersparen. Brak sammelte die geknickten Stützen und größere Fetzen roter und goldener Seide und benutzte sie zur Errichtung eines leidlichen Unterschlupfs. Während er daran arbeitete, bemerkte er, daß eine der Bestattungsgruppen hier bereits am Werk gewesen sein mußte. Er fand frische Pferdespuren, und die Erde war zweifellos aufgegraben und wieder zugeschüttet worden. Ob hier wohl eine höhere Persönlichkeit ihr Leben gelassen
hatte? Brak hackte ein paar Zedernholzspeichen von einem zerbrochenen Wagenrad und entzündete ein wärmendes Feuer. Er ließ sich daneben nieder. Nachdem er ein Stück zähes Fleisch aus der Satteltasche geholt und verspeist hatte, streckte er sich aus. Er deckte sich mit einem Fetzen roter Seide zu, rollte sich auf die Seite und versuchte zu schlafen. Im ersten Augenblick wußte er nicht, ob er noch wach war oder bereits träumte. Gewaltige Armeen stellten sich auf einer dunstigen Ebene zum Kampf. Waffen klirrten. Schreie erschollen. Er hörte Ächzen und Stöhnen und Wehklagen aus Tausenden von Kehlen. Er setzte sich auf. Dunkelheit hüllte ihn ein. Nur ein paar Feuerpunkte tanzten vor seinen Augen. Diese erkannte er schließlich als ersterbende Glut seines Lagerfeuers. Die rote Seide glitt von seinen Schultern, als er sich lauschend erhob. Außerhalb des winzigen Zeltes, das er sich errichtet hatte, raschelte etwas. Instinktiv griff Brak nach dem Schwert. Der Himmel hatte sich während seines Schlafes aufgehellt. Ein paar vereinzelte Sterne funkelten herab, und nur noch vereinzelte Rauchschwaden schienen danach greifen zu wollen. Im Osten deutete schmutziges Grau die nahende Morgendämmerung an. Der Wind brachte Kälte mit sich und bauschte die Seide des behelfsmäßigen Zeltes auf. Plötzlich hörte Brak ganz deutlich eine Frauenstimme. »Nah oh, so nah mein Liebster? Weit führe meine Suche mich. Ich spüre deinen Geist ganz nah!« Die Stimme klang kummervoll und von gespenstischen Echos begleitet. Irgendwie schien sie unwirklich. Verwirrt legte Brak die Stirn in Falten. Ein Schauder lief seinen Rücken hinab. Irgend etwas an der Stimme war unnatürlich. Sie schwoll an, wurde schwächer und dann wieder lauter. Der stämmige Barbar hatte das seltsame Empfinden, Weinen zu hö-
ren, das sich irgendwie zu Worten formte: »Diese ganze Ebene des Wehs haben sie abgesucht. Und kamen zurück und sagten, die Schlächter von Gat taten ihr Werk zu sorgfältig. Sie sagten, nichts war geblieben, was mich von dir durch die dunklen Schleier begleiten kann. Es erfüllt mich mit Leid, die dunkle Nacht mit Suchen zu verbringen, mein Liebster. Aber ich nehme es auf mich, denn ich muß dich finden, sonst wird der Fluß dunkel, und das Paradies leer für mich sein. Ich weiß, daß sie sich täuschen. Ich weiß, du kannst gefunden werden. Ganz nahe jetzt, spüre ich einen Geist, seine Wärme.« So unwahrscheinlich klar klang die Stimme, daß Brak geradezu erwartete, eine Frau außerhalb des Zeltes zu finden. Doch um hinauszusehen, mußte er ein paar Schritte nach links machen. Vorsichtig tastete er sich mit nackten Sohlen an die Seide. Da stießen seine Zehen gegen etwas, das stumpf glänzte. Der Wind stöhnte. Ohne zu überlegen, bückte Brak sich. Seine Finger schlossen sich um den gerollten Metallrand von etwas sehr Schwerem. Er zerrte daran. Unter dem vom Sturm angehäuften Sand zog er einen gewaltigen Schild hervor. Gerade als er ihn hochhob, erfaßte ein heftiger Windstoß das provisorische Zelt und trug die Seide davon. Wie festgewurzelt, die Hände in den ledernen Schlaufen des Schildes, blieb Brak stehen, als er sie sah. Sein Herz pochte wie verrückt. Seine Augen mußten ihm einen Streich spielen. Die Frau, die das dunkle Schlachtfeld absuchte, war schlank, von königlicher Haltung, und noch verhältnismäßig jung. Ihre dunklen Locken reichten bis zur Taille, aber sie wallten hinter ihr her, als schwämme sie unter Wasser. Die Sterne begannen bereits zu erlöschen. Die Morgendämmerung war schon sehr nah. Es war hell genug für Brak, Einzelheiten zu erkennen. Die flehend ausgestreckten Arme der Frau waren rund und weiß. Ihr Gewand war noch weißer, außer an der Brust, wo sich ein riesiger Fleck getrockneten Blutes befand. Grauen lähmte Brak
einen Moment. Das Blut konnte nur von einer tödlichen Wunde stammen. Irgendwie fühlte Brak, daß die Frau königlicher Herkunft sein mußte. Ihre ganze Haltung deutete darauf hin. Doch wo ihre Füße unter dem Gewand hervorlugen sollten, befand sich nur schwarzer Nebel. Durch ihr Gesicht, ihren Körper, durch die dunklen Augen, die sich ihm plötzlich zuwandten, sah Brak den Himmel und die bleichen Sterne. Instinktiv hob er den Schild. Aus dem Wind drang ein Seufzen. »Sie suchten nicht gut genug. Ich habe dich gefunden. Dein Gesicht ist fremd, nicht mehr ganz das gleiche. Aber du hast den großen Schild.« Inmitten gespenstischer Nebelschleier schien das Mädchen näher an Brak heranzuschweben. »Eile, mein Liebster. Streck mir deine Hand entgegen. Du mußt mich berühren. Dann können wir zusammen von hier fort.« Immer näher schwebte das Geistermädchen mit dem traurigen Lächeln. Immer näher. Hilflos blickte der große Barbar ihr entgegen. Wie konnte er sich gegen eine Erscheinung zur Wehr setzen? Er spürte, sobald sie ihn berührte, würde er sein wie sie tot. »Mein Liebster? Liebster, komm berühre mich. Dann wird mein Totenbett nicht länger einsam sein.« Die ausgestreckten Finger waren bereits ganz nahe an Braks Schulter, berührten ihn fast. Plötzlich färbte die aufgehende Sonne die Leichen auf dem Schlachtfeld rosig. Brak schluckte schwer. Mit fest zusammengepreßten Lidern schüttelte er den Kopf. Ein kalter Wind brauste durch die Seidenreste. Er trug ein bitteres Weinen mit sich. Brak öffnete seine Augen wieder. Er stand allein auf dem niedrigen Hügel, doch überall lagen die Toten. Wer sie wohl war? Warum hatte sie ihn auserkoren? Wegen des Schildes? Nachdenklich drehte er ihn in der Hand.
Es war kein Messing, stellte er fest. Er betastete die erhabenen Ornamente. Gold! Reines Gold, von Meisterhand verarbeitet. In der Mitte hob sich in glänzendem Basrelief die gehörnte Göttin hervor. Brak hatte viele herrenlose Waffen auf dem Schlachtfeld gesehen, aber bei weitem keine, die auch nur annähernd mit diesem Schild vergleichbar war. Wem hatte er gehört? Einem Prinzen? Einem König? Er hatte gute Lust, ihn wieder von sich zu werfen. Aber er erinnerte sich seines leeren Beutels. Vielleicht war der Schild der Göttin geweiht? Vielleicht ließe er sich in einer der Städte Phrixos’ für ein Nachtlager und Reiseproviant eintauschen? Langsam verscheuchte der immer heller werdende Tag und das Nachlasses des Rauches die Angst, die ihn seit dem Augenblick des Zusammentreffens mit der toten und doch lebenden Schönheit erfüllt hatte. War alles nur ein Traum gewesen? Auf dem Boden gab es keine Fußspur von ihr, wie es hätte sein müssen, wenn ein Mensch aus Fleisch und Blut sich dort bewegt hätte. Brak dachte über seine Lage nach. Sein Geschick schien eine neue, dunkle Wendung genommen zu haben. Und doch blieb sein Entschluß unabänderlich. Er hatte keine andere Wahl, als weiter zum Phrixos zu reiten und ihn zu überqueren, denn nur so vermochte er je das Ziel seiner Reise zu erreichen. * Er löschte die letzte Glut des Feuers und schwang sich auf sein Pferd. Den Schild schlang er sich mit den Schlaufen über die linke Schulter, so daß er nun schräg über seinem breiten Rücken hing. Schon bald hatte er das Schlachtfeld hinter sich gelassen und ritt durch ein kleines Wäldchen, durch dessen ausladende Zweige das Morgenlicht kaum zu dringen vermochte. Ein Vogel mit roten Augen flog ganz nah an ihm vorbei und kreischte schrill. Brak nagte an seiner Lippe und versuchte sich zu erin-
nern, was die Stimme des gespenstischen Mädchens gerufen hatte. Irgend etwas, daß sein Gesicht fremd und nicht mehr das gleiche war. Welchem gleich? Er schüttelte sich leicht, als er sich der Bemerkung des Wagenlenkers entsann, der von einem Zeichen in seinem Gesicht gesprochen hatte. Die Vorsicht hieß ihn den mächtigen gebogenen Schild zurückzulassen, aber er war hungrig und in Eile. Er behielt ihn und ritt weiter. Ein Weg führte aus dem Wald heraus, vorbei an einfachen Hütten, die dicht aneinander in einer offenbar fruchtbaren Gegend kauerten. Rechts, noch weit in der Ferne, glänzten die spitzen Türme einer Stadt. Geradeaus, ebenfalls noch sehr weit weg, glitzerte das Silberband eines Flusses im Sonnenlicht. Brak schnalzte mit der Zunge, und sein Pferd trabte etwas schneller dahin. Wieder spielte die Entfernung ihm einen Streich, denn er ritt fast den ganzen Tag, bis endlich der Fluß vor ihm lag. Er sah nun nicht mehr glitzernd und verzaubert aus wie von fern, sondern war nichts weiter als ein breiter Strom mit grauem Wasser, der zu beiden Seiten von Weide- und Ackerland begleitet wurde. Das Land hier neigte sich ein wenig schräg bis zum diesseitigen Ufer. Eine Fähre hatte angelegt. Nicht weit davon befand sich ein langgestrecktes, niedriges Wirtshaus. Dort würde er rasten und sich stärken, und dann sollte die Fähre ihn fort aus diesem gespenstischen Land bringen. Mit dem riesigen Schild auf dem Rücken beeilte Brak sich, zu dem Wirtshaus zu kommen. Er hatte es jedoch noch nicht erreicht, als er hastig sein Pferd zügelte. Halbwegs zwischen ihm und seinem Ziel mündete die furchige Landstraße, der er bis hierher gefolgt war, in eine breitere Straße, die mit quadratischen blauen Steinen gepflastert war. Zweifellos führte sie zu der Stadt, deren spitze Türme hin und wieder aus den tiefhängenden Wolken auftauchten.
Eine Gruppe von einem halben Dutzend bewaffneter Reiter näherte sich im Zwielicht des einbrechenden Abends zu seiner Linken. Er und sie würden zur gleichen Zeit an der Kreuzung ankommen. Brak spannte sich. Die Reiter waren ohne allen Zweifel Soldaten, allerdings etwas eigenartig uniformiert. Von den Schultern eines jeden flatterte ein schwarz und gelb gestreifter Umhang, der Brak an Tigerfelle erinnerte. Schwerter hingen von ihrer Mitte. Irgendwie schienen sie Brak unheilkündend. Ihre Gesichter wirkten finster. Alle saßen auf glänzenden Rappen mit wild rollenden weißen Augen. Die Gleichartigkeit ihrer Pferde, der Rüstungen und der gestreiften Umhänge ließ darauf schließen, daß sie Gefolgsleute ein und desselben Herrn waren. Obgleich Brak sich nicht vor einer Begegnung mit diesen Männern fürchtete, war ihm doch klar, daß er nichts gewänne, wenn er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Darum zügelte er sein Pferd und gedachte, die Reiter erst die Kreuzung überqueren zu lassen, ehe er sich ihr näherte. Die Uniformierten kamen in vollem Galopp daher. Die Hufe ihrer rassigen Rappen sprühten Funken auf den blauen Pflastersteinen. Nur langsam ritt Brak weiter und kauerte sich absichtlich tief in den Sattel. Er schaute hinüber zu der Fähre, die ihn über den Fluß tragen sollte. Wollte er sein Ziel erreichen, war es besser, einer Begegnung aus dem Weg zu gehen. Aber etwas in ihm lehnte sich bei dem Anblick des dahinstürmenden, brüllenden Reiterpacks auf. Sein grundloser Ärger darüber irritierte ihn selbst. Doch Brak hatte auf seinen Reisen den Wert der Vorsicht in manchen Situationen kennengelernt. Darum versuchte er, sich im Schatten zu halten, als die Reiter auf die Kreuzung preschten. Es war das Pech des stämmigen Barbaren, daß einer der Reiter zufällig in seine Richtung blickte. Sofort zog der Mann heftig an den Zügeln. Das schwarze Roß
schlitterte ein wenig, ehe es zum Halt kam. Der Fremde hob seine schwarzbehandschuhte Rechte. Nun hielten die anderen ebenfalls an. Einer der Männer war etwas größer als die anderen. Er hatte ein schmales, eingefallenes weißes Gesicht. »Fremder!« rief er. »Reitet ein wenig näher. Wir möchten uns ein bißchen mit Euch unterhalten.« Brak zögerte. Seine Hand sank zum Griff seines Breitschwerts. Mit einem Mal schien das Gewicht des Goldschilds verdoppelt zu drücken. Er spannte die Muskeln seiner Schenkel und überlegte, was er tun sollte. Die Gefolgsleute redeten laut durcheinander und verrenkten ihre Hälse, um ihn in der Düsternis besser zu sehen. »Bestimmt ist er nur irgendein Bauerntölpel«, hörte Brak einen der Reiter sagen. »Die Abendschatten sind trügerisch.« »Nein. Ich konnte sein Gesicht genau sehen«, warf der Reiter ein, der Brak als erster erspäht hatte. Mit flinker Bewegung zog er ein glänzendes Schwert. »Vielleicht ist die Ähnlichkeit nicht vollkommen, aber sie genügt, um …« Der Mann bemerkte, daß Brak sich noch nicht von der Stelle gerührt hatte. »Heh, Ihr! Habt Ihr nicht gehört? Kommt sofort hierher!« Ein anderer tupfte dem Anführer auf den Arm. »Hauptmann, was ist denn das auf seinem Rücken?« Langsam zog Brak sein Schwert aus der Scheide. Er blieb unbewegt auf seinem Pferd sitzen. »Auf seinem Rücken?« Der Hauptmann stellte sich in den Steigschlaufen auf, doch dann ließ er sich hastig wieder auf den Sattel fallen und schüttelte sich. Ein Ausdruck tiefsten Entsetzens huschte kurz über seine Züge. »Die gehörnte Göttin beschütze uns«, rief er mit bebender Stimme. »Er muß ein Leichenschänder sein. Er trägt Nicors Kriegsschild.«
Die Schwarzuniformierten flüsterten aufgeregt untereinander und machten Zeichen gegen den bösen Blick. Nur einer von ihnen schien etwas kühner als die anderen. »Wenn das so ist, dann sollten wir ihm dafür die Hände abhacken und den Schild zurückbringen.« Er zog sein Schwert aus der Hülle. »Halt!« Trotz des Befehls trieb der Gefolgsmann sein Pferd auf die Landstraße zu. Fluchend stach der Hauptmann mit seiner eigenen Klinge gegen den Arm des anderen, daß jener aufheulte. »Ich sagte, halt!« brüllte der Anführer und riß ihm die Zügel aus der Hand. Er zog so heftig daran, daß es den Mann fast aus dem Sattel warf. »Ich werde meine Hand nicht an diesen Schild legen, und du wirst es auch nicht!« Dann rief er Brak zu: »Fremder, steckt Euer Schwert ein und kommt. Es wird Euch nichts geschehen.« Brak hielt nicht viel von dem Versprechen. Er legte das Breitschwert griffbereit über seine muskulösen Schenkel und lenkte sein Pferd zur wartenden Gruppe. Es war klüger zu gehorchen, als einen Kampf oder eine Verfolgung zu riskieren. Der vorsichtigste Weg war diesmal auch der direkteste. Als Brak die Kreuzung erreicht hatte, bemerkte er die scheuen, ja sogar ängstlichen Blicke, die seinem Schild galten. Die Reiter hielten sich mit einem unfreiwilligen Respekt zurück. Alle hatten ihre Klingen in die Scheiden zurückgesteckt. Die Hufe seines Pferdes klapperten laut auf dem Pflaster. Brak hielt vor der Gruppe an. Sie musterten ihn aufmerksam, betrachteten seine kräftige, große Statur, den gelben Zopf, der über seinen mächtigen Rücken herunterhing, und das Löwenfell um die Hüften. »Ich tat also recht daran, Euch einen Fremdling zu nennen«, brummte der Hauptmann. »Ihr kommt von weit her?« Brak entspannte sich ein wenig. »Aye. Und ich will nichts anderes als ungehindert weiterreiten.«
»Wo wollt Ihr hin?« »Nach Khurdisan im fernen Süden.« »Da habt Ihr noch einen weiten Weg vor Euch«, stellte der Hauptmann fest. Er hielt kurz inne, ehe er sich vorsichtig erkundigte: »Wie kamt Ihr zu dem Schild auf Eurem Rücken?« »Ich fand es auf einem Schlachtfeld, das ich überqueren mußte«, erwiderte Brak. »Ich entdeckte es zufällig. Falls es jemandem Hochgestellten in Eurem Land gehört, bin ich gern bereit, es gegen ein wenig Reiseproviant und ein paar Münzen Finderlohn einzutauschen.« Der Hauptmann lachte unsicher. »Für einen Barbaren wißt Ihr recht gut zu feilschen.« »Wem gehört dieser Schild?« fragte Brak. »Einem, der in der Schlacht fiel?« Die Lippen des Hauptmanns wurden schmal. »Es ist unwichtig«, murmelte er. »Nun, da ich es näher sehe, bemerke ich, daß es gar nicht der Schild ist, den wir meinten.« Brak wußte, daß der Mann log. Die Antwort kam zu schnell. Nervöse schwarze Augen wichen denen des Barbaren aus. Der Hauptmann winkte mit dem Handschuh ab. »Aye. Wir hatten uns getäuscht.« Mit einem scharfen Blick verbannte er das Erstaunen in den Gesichtern seiner Leute. Höflich, aber mit einer versteckten Drohung, machte er dem Barbaren Platz. »Ihr könnt wieder Eures Weges ziehen, Fremder. Verzeiht, daß wir Euch aufhielten. Aber wie einer meiner Männer bereits bemerkte, das Zwielicht ist trügerisch. Mögen die Götter Euch geleiten.« Sein Lächeln wirkte unecht und eingefroren. Der große Barbar zögerte keinen Augenblick. Er schnalzte mit der Zunge, und sein Pferd setzte sich in Bewegung. Mehrere Personen standen im Hof des Wirtshauses neben dem Fährenanlegeplatz. Brak ritt darauf zu, blieb aber noch einmal kurz stehen und schaute zurück. Auf der Prunkstraße hoben sich die
schwarzen Reiter gegen den roten Abendhimmel ab. Sie beobachteten ihn noch immer. Brak war überzeugt, daß er dem Hauptmann trotz seiner freundlichen Abschiedsworte nicht trauen konnte. Und er war auch sicher, daß der Kriegsschild auf seinem Rücken einer bedeutenden Persönlichkeit gehört hatte. Je eher er ihn los wurde und über den Strom fuhr, desto wohler würde er sich fühlen. Der Wind spielte mit seinem langen gelben Zopf, während er keinen Blick von den schwarzen Reitern ließ. Er vernahm ein scharfes Kommando, dann brauste die ganze Gruppe mit fliegenden Umhängen und funkensprühenden Hufen dahin. Brak beobachtete sie, bis sie außer Sicht waren. Dann wandte er sich wieder um und lenkte sein Pferd erneut auf Wirtshaus und Anlegeplatz zu. Plötzlich begann er laut zu brüllen und trieb sein Roß mit den Schenkeln zur Eile an. »Fährmann!« rief er. »Wartet! Ich komme mit! Halt! So wartet doch!« Aber es war bereits zu spät. In der kurzen Zeit, während Brak die Soldaten beobachtet hatte, waren einige Leute aus dem Wirtshaus gekommen und hatten sich auf die Fähre begeben, die daraufhin sofort ablegte. Braks Pferd trabte in den Hof des Wirtshauses. Ein wohlbeleibter Mann mit einem gewaltigen roten Bart und einer Laterne in der Hand wollte gerade ins Haus zurück. Brak sprang vom Pferd. »Heda, Wirt!« rief er. »Haltet die Fähre an. Ich muß über den Fluß.« Der Bärtige hob das flackernde Licht. »Zu spät, Fremder. Nach Sonnenuntergang kann sie nicht mehr übersetzen. Sie wird bei Morgengrauen zurückkommen.« Der Schein der Laterne flog über Braks Gesicht und Gestalt und brach sich im Gold des Schildes. Der Wirt wurde bleich wie Wachs. »Woher habt Ihr …?« begann er. Hastig machte er das Zeichen gegen den bösen Blick und füg-
te schnell hinzu: »Wir haben kein Nachtlager mehr frei. Wir sind voll besetzt. Ihr müßt weiterreiten.« Er öffnete eilig die Tür zu der nun offensichtlich leeren Wirtsstube. Braks Verwirrung und Grimm kannten keine Grenzen mehr. Er sprang vorwärts und packte den Wirt an der Schulter. Er riß ihn herum und drückte ihn gegen die Hauswand. »Jetzt reicht es mir«, knurrte er grimmig. »Seit ich in diesem verdammten Land bin, sieht mich jeder, dem ich begegne, wie ein Gespenst oder einen Aussätzigen an. Ich will etwas zu essen und Wein, und dann einen Platz, wo ich mich ausstrecken kann. Ich wünsche außerdem, über diesen Fluß gesetzt zu werden. Sorgt dafür. Dann könnt Ihr dieses güldene Spielzeug behalten, das soviel Aufsehen erregt.« Brak nahm den Schild vom Rücken und hätte ihn dem Dickwanst zugeworfen. Aber der hob abwehrend die Hände und drückte sich seitwärts an der Mauer entlang, als hätte er Angst, mit dem Schild in Berührung zu kommen. »Nein, behaltet ihn nur! Ich könnte ihn nicht nehmen! Ich will ihn nicht. Nächtigt im Stall, wenn Ihr wollt. Ich schicke Euch Essen heraus. Doch verseucht mir mein … Betretet mein Haus nicht, ich flehe Euch an.« Der Wirt wandte sein feistes Gesicht von Brak ab. »Wir mußten genug Leid erdulden in Phrixos, wir brauchen nicht noch mehr.« Er deutete auf das Trauertuch, das an die Tür genagelt war. Dann huschten seine Augen von Braks Gesicht zum Schild, ehe er sie ängstlich senkte. Dicker Schweiß stand auf seiner Stirn und rann die Wangen herab in den Bart. Der Wirt bebte vor Furcht. Brak versuchte seine Verachtung zu verbergen. »Wirt?« »Was wollt Ihr noch?« »Bin ich vom Aussatz gezeichnet?« »Ich verstehe Euch nicht.«
»Oder bin ich irgendeine Monstrosität? Verratet mir, was hat mein Gesicht an sich, das euch alle so erschreckt? Und wer ist dieser Nicor, von dem ich gehört habe?« »Nicor! Blasphemie! Gehörnte Göttin, man wird mich bestrafen!« »Dieser Schild gehörte Nicor, nicht wahr? Wer war er?« Der Wirt versuchte davonzulaufen. Brak zog sein Breitschwert. »Du feister Jämmerling! Wenn du nicht sofort zu wimmern aufhörst und meine Fragen beantwortest, spalte ich deinen Schädel.« Vor Angst schlotternd sprang der Wirt, erstaunlich behende für sein Gewicht, zur Seite. Es gelang ihm durch die Tür zu sausen und sie hinter sich zu verriegeln. Ein vor Angst geweitetes Auge starrte durch ein Astloch heraus, um zu sehen, ob Brak noch nicht weggegangen war. Dann erschien ein feister Schatten hinter dem schwach beleuchteten Fenster, der heftige Bewegungen machte. Der Barbar fluchte lauthals vor sich hin. Er warf sich den Schild wieder über die Schulter und suchte nach dem Stall und Futter für sein Pferd. Eine Laterne spendete ein düsteres Licht. Brak fütterte sein Pferd und striegelte es. Inzwischen war der Wirt offenbar an der Tür gewesen, denn auf der Schwelle standen eine irdene Flasche und eine Schüssel mit einem großen Stück Fleisch und einer Kante grauem Brot. Halb ausgehungert stürzte Brak sich über diese Mahlzeit. Mit vollem Magen fühlte er sich gleich viel wohler. Gefürchtet zu werden – aus welchem Grund auch immer –, hatte offenbar auch Vorteile. Zweifellos war der Wirt nur zu gern bereit gewesen, ihn mit Essen zu versorgen, solange er dem Haus fernblieb. Mit dem Arm wischte er sich den Mund ab, dann ließ er sich auf einem Heuhaufen nieder, das Schwert an seiner Seite. Schließlich blies er noch die Laterne aus. Noch ehe er, wie er vorgehabt hatte, über die merkwürdigen Ereignisse des vergan-
genen Tages nachzudenken vermochte, übermannte ihn der Schlaf. * Das Klirren von Waffen, das Stampfen von Hufen und Laternenlicht rissen ihn aus tiefstem Schlummer. Doch bevor er aufspringen konnte, fiel ein dickes Netz auf ihn herab. Wütend hackte er mit der Klinge dagegen. »Nehmt ihm das Schwert ab«, befahl eine barsche Stimme. »Aber verwundet ihn nicht!« Brak kämpfte wie ein Schlafwandler. Seine Augen waren noch wie verschleiert, und er konnte nicht richtig wach werden. Männer tanzten um ihn herum und wickelten ihn immer enger in das schwere Netz. Es gelang ihm, Kopf und Schultern hindurchzuschieben. Da sauste ein Speerschaft auf seinen Schädel herab. Der Schlag betäubte ihn fast. Er sank auf die Knie, und schon wurde das Netz weiter um ihn herumgewickelt. Plötzlich stampfte ein Stiefel auf seinen ausgestreckten Arm. Jemand zerrte ihm das Breitschwert aus der gefühllosen Hand. Dann drehte man Brak so, daß er auf dem Rücken lag. Mit einer an den Dachbalken befestigten Winde wurde das Netz mit dem Barbaren vom Boden hochgehoben. Halberstickt, mit einem dicken Netzstrang um den Mund gewickelt, baumelte Brak wie ein gefangener Fisch vor zwei Reitern, die eben erst in den Stall gekommen waren. Krieger mit Fackeln und gezückten Waffen eilten geschäftig umher. Ein heiserer Wutschrei entrang sich Braks eingeschnürter Kehle. Im Fackellicht sah er gut zwei Dutzend der Schwarzbekleideten, die zum Teil eben erst von den Dachbalken heruntersprangen. Ihr Anführer war einer der beiden Reiter. Er war groß, schlank und wirkte ungesund. Trotzdem verriet er geschmeidige Kraft, die sich bemerkbar machte, als er sich vor-
lehnte und mit der Spitze seines scharfen schmalen Schwertes durch das Netz hindurch unsanft in Braks Rippen stocherte. Er war gekleidet wie seine Gefolgsleute. Nur ein Schmuckstück unterschied ihn von ihnen eine Spange aus einer riesigen Tigerkralle, die den Umhang auf der rechten Seite raffte. Der Mann drehte seine Hand ein bißchen, so daß die Schwertspitze Braks Haut ritzte. Das Metall der Klinge war die halbe Länge von einem dunklen Braunrot gefärbt. »Wir kennen Euren Namen nicht, Barbar. Mich nennt man Hel. Ich bin der Tigerlord. Ich handle im Auftrag Ihrer Hoheit.« Der Mann deutete auf den zweiten Reiter, eine Frau, die auf einem Schimmel saß. Obgleich sie einen grünen Umhang und einen Jaschmak, einen dichten Schleier, trug, der die untere Partie ihres Gesichts bedeckte, erkannte Brak doch eine starke Ähnlichkeit mit dem Geistermädchen, dem er auf dem Schlachtfeld begegnet war. Sie hatte dunkles Haar, sanfte Augen und war von großem Liebreiz. Sie wirkte auf ihrem herrlichen Roß irgendwie hilflos neben der finsteren Gestalt des Tigerlords. »Ich nehme an, ich schulde Euch eine Erklärung, Fremder. Sie ist einfach genug. Königin Rhea herrscht jetzt über Phrixos, seit ihre ältere Schwester, die Königin Joenna, auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließ. Sie starb, als unsere Armee die Männer von Gat zurückschlug. Auch der Gemahl der Königin Joenna, Prinz Nicor, fiel in dieser Schlacht. Unglücklicherweise konnte sein Leichnam nicht geborgen werden. Um jedoch die Zeremonien abhalten und die Wahrsagungen erfüllen zu können, damit Königin Rhea ihre Herrschaft anzutreten vermag, müssen sowohl Joenna als auch Nicor den Strom hinab und durch die dunklen Schleier ins Paradies gesandt werden. Geschieht das nicht, werden unsere Auguren die Kunde von bösen Omen bringen und den neuen Herrscher aus einem anderen Geschlecht bestimmen. Und das ist der Grund, weshalb meine Männer mir sofort von ihrem Zusammentreffen mit Euch be-
richteten. Sie sagten, Ihr seid auf dem Weg nach Khurdisan. Das heißt, Ihr wart es.« Lord Hels Lachen klang kalt und boshaft. Königin Rhea beugte sich zu ihm. »Lord, wenn wir schon dieses entsetzliche Spiel treiben müssen, so laßt es uns schnell hinter uns bringen. Er ist ein Unschuldiger. Er kennt unsere Bräuche nicht.« Gereizt drehte Hel sich im Sattel um. »Verzeiht, wenn mir Eure Worte unpassend dünken. Ich nehme an, Ihr wißt, was auf dem Spiel steht. Eure Herrschaft hängt allein von der Vollführung des Rituals ab. Sie hängt davon ab, daß die Leichname Eurer Schwester und ihres Gemahls Nicor zusammen auf dem heiligen Schiff in das Paradies einziehen. Joennas Leiche ist bereits einbalsamiert. Und nun haben wir auch Nicor.« »Mir gefällt Euer Ton nicht, Lord. Ihr nehmt zuviel als gegeben an.« »Meine Königin, ich will nur …« »Ihr beweist auch eine gewisse Berechnung in Eurem Eifer das Volk zu täuschen, es glauben zu machen, wir hätten Prinz Nicors Leichnam gefunden.« »Meine Königin, es ist nur zu Eurem Besten!« erwiderte Hel irritiert. »Und zu Eurem, nun da die Priester uns vermählt haben, nicht wahr?« Der Tigerlord zuckte vielsagend die Schultern. »Wie Ihr meint, meine Königin. Ich habe keine Bedenken, diesen Fremden für unsere gute Sache zu benutzen. Durch eine Fügung des Schicksals hat er Nicors geheiligten Kriegsschild gefunden, nach dem unsere eigenen Leute vergeblich suchten. Und durch eine weitere Schicksalsfügung ist er für unsere Zwecke wohl geeignet. Die königlichen Kosmetiker werden wenig Arbeit mit ihm haben.« »Und Euer Gewissen plagt Euch nicht?«
»Nein, meine Königin. Eure Herrschaft hängt vom Erfolg dieses Plans ab. Außerdem sollte dieser Fremdling, wer immer er auch ist, sich geehrt fühlen. In welch armseligem Land er auch geboren sein mag, die Götter meinten es gut mit ihm. Es widerfährt nicht jedem Dahergelaufenem die Ehre, Begleiter einer toten Königin sein zu dürfen. Habe ich recht, Barbar?« Lord Hel ritt näher an den im Netz baumelnden Brak heran. Aus seiner Tunika holte er etwas Goldenes und hielt es Brak vor die Augen. Brak erinnerte sich nun an vieles. An die Worte des Wagenlenkers. An die unirdische Stimme der schimmernden Erscheinung, die auf dem Schlachtfeld nach ihrem Gemahl, ihrem Mitherrscher, suchte. Gegen den Hintergrund der bleichen, zu ihm emporstarrenden Gesichter von Hels Gefolgsleuten sah Brak das Ding, das Hel emporhielt. Es war eine Münze. Auf einer Seite trug sie das Bild der toten Königin und auf der anderen das eines Mannes. Zweifellos stellte es Nicor dar. »Seht es Euch gut an, Barbar«, höhnte Hel. »Fühlt Ihr Euch nicht geehrt?« Brak zuckte vor Entsetzen in den Schlingen des Netzes zurück. Das Gesicht auf der Münze hätte sein eigenes sein können. * Die Schleier der Bewußtlosigkeit begannen sich langsam aufzulösen. Braks Ohren nahmen eine Kakophonie von unheimlichen Geräuschen auf. Eines davon war das schrille, durchdringende Klingen in seinem Schädel. Es verursachte ungeahnte Schmerzen. Er vermochte sich nicht zu bewegen. Seine Augen waren geschlossen. Irgendwie wußte er, daß beträchtliche Zeit verstrichen war, vielleicht mehrere Tage und Nächte, seit er wie ein Fisch im Netz gehangen hatte. Er erinnerte sich …
Hel, der Tigerlord, hatte die Münze wieder eingesteckt und einen weißhaarigen Greis an seine Seite gerufen. Der uralte Schamane hatte bereits auf das Zeichen gewartet. Sein weites, rotbraunes Gewand aus Sackleinen raschelte, als er seine Hände zu bewegen und unverständliche Beschwörungen unter dem Netz vor sich hin zu leiern begann. Plötzlich hatte der Alte mit seinen langnägeligen Fingern etwas aus den Falten seines schmutzigen Gewands geholt. Seine Lippen wanden sich wie eine Schlange, und seine Augen rollten wie die eines heiligen Fanatikers. Der stämmige Barbar entsann sich, womit der Greis durch das Netz hindurch in seine nackten Schenkel gestochen hatte. Es war eine rostige, fischhakenähnliche Nadel gewesen, von der eine gelbschillernde Flüssigkeit zäh heruntertroff. Beim ersten Stich hatte die gummiartige Flüssigkeit das schreckliche Klingen in Braks Ohren verursacht. Danach erfüllte ihn eine bleierne Schwere, und seine Glieder wurden starr. Er war nicht mehr imstande gewesen, auch nur mit einem Muskel zu zucken. Das letzte, das er sah, ehe ihm die Sinne schwanden, waren Hels zufrieden grinsendes Gesicht und, etwas weiter im Hintergrund, das bedrückte der Königin Rhea gewesen. Als Brak nun wieder zu diesem gräßlichen Klingen in seinem Schädel erwachte, übermannte ihn unbändiger Grimm, der sich jedoch mit einer düsteren Vorahnung mischte. Vermutlich lag sein Ende nicht mehr fern. Er versuchte seine Arme zu bewegen. Er vermochte es nicht. Sie waren steif und starr. Angst und das schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit bereiteten ihm Folterqualen. Immer noch schrillte die grauenerregende Kakophonie in seinen Ohren. Er wußte, daß er immer noch unter dem Einfluß des Giftes stand. Sein Herz klopfte panisch. Beruhige dich! mahnte er sich selbst. Der Boden unter ihm schien leicht zu schaukeln. Er mußte sich auf einem Wasserfahrzeug befinden. Sei ganz ruhig, redete er lautlos auf sich ein.
Du hast genügend Kraft, deine Augen zu öffnen, wenn du es nur willst. Öffne sie, damit du dir ein Bild von deiner Lage machen kannst. Dann such dir ein Schwert. Ein Schwert, das dir die Freiheit zurückgeben kann. Brak spürte, daß er sein Breitschwert nicht umgegürtet hatte. Denn obgleich die Droge ihm die Herrschaft über seinen Körper geraubt hatte, war er sich doch seines Zustandes durchaus bewußt. Er lag horizontal. Seiden- und Leinentücher waren um seinen Körper gewickelt. Seine unbedeckten Arme waren schwer von Schmuck. Und in seine Nase stieg ein betäubender Geruch − ein Geruch ähnlich jenem, den er einmal in einer Stadt kennengelernt hatte, durch die er gerade zog, als ein königlicher Prinz bestattet wurde. Der Geruch kam von den Ölen und Salben, mit denen Leichen einbalsamiert wurden. Der plötzliche Schreck verlieh Brak die Kraft, die Augen zu öffnen. Er starrte in eine lodernde, zuckende Feuerwand. Sein immer noch verschleierter Blick schreckte zurück, bis die Wand sich in einzelne Teile auflöste und sein Gehirn registrierte, daß er auf eine Reihe eng nebeneinander brennender Fackeln starrte. Jede von ihnen steckte in einem elfenbeinernen Halter, der von doppelter Mannshöhe war. Dann dieses Chaos von Geräuschen. Aber auch das löste sich langsam in einzelne unterschiedliche Töne und Laute auf. Da war das Rauschen des Stromes, durch den das Schiff glitt. Dann hörte er das Klingen von Glocken und das dumpfe Dröhnen von Trommeln, in das sich das schrille Wehklagen eines Eunuchenpriesters mischte. All dies drang wie durch einen Nebel hindurch in seine Ohren, und manchmal übertönte ein lautes Gelächter es und ein Stimmengewirr offenbar feiernder Menschen. Schließlich vernahm Brak auch noch eine ferne Menschenmenge, deren Zehntausende von Stimmen eine Hymne sangen. Ein betäubender Duft von Blumen und Räucherwerk quälte
seine Nase nicht weniger als jener der Salben und Öle, mit denen er zweifellos einbalsamiert war. Er stellte fest, daß seine Starre mit jenem Augenblick mehr nachließ. Verlor das Gift seine Wirkung? Mühsam noch, gelang es ihm, sich ein wenig auf die linke Schulter zu rollen. Hier hatte er einen besseren Überblick, aber einen, der sein Herz schier stillstehen ließ. Brak lag auf einem hohen goldenen Katafalk am Heck einer breiten Barke. Die elfenbeinernen Fackelständer befanden sich an beiden Seiten der Reling. Zu seiner Linken sah er das dunkle Wasser des Phrixos, in dem sich der Schein der Fackeln, Laternen und Lampen gelb und rot widerspiegelte. Statt des sanften Ufers bei der Fähre stiegen hier schroffe Klippen in die Höhe. Das bedeutete, daß das Schiff bereits eine beträchtliche Strecke zurückgelegt haben mußte. Und auf diesen Klippen standen dichtgedrängt die Bürger Phrixos’, die eine Trauerhymne singend auf die Barke herunterstarrten und auf den Katafalk, der in Fackellicht gebadet war. Natürlich hielten sie ihn, wie Hel es geplant hatte, für den toten Prinzen Nicor. Aber Brak hatte nicht die Absicht, das grausame Spiel länger mitzumachen. Er mußte fliehen. Er hob den Kopf ein wenig. Sein Blick fiel auf seine Hand. Entsetzt starrte er sie an, dann brachte er sie, ganz nahe an seine Augen. Die Haut war weiß wie die eines Toten. Er roch daran. Da fiel ihm plötzlich ein, daß Hel etwas von Palastkosmetikern erwähnt hatte. Er sollte ja der tote Nicor sein. Hastig lehnte Brak den Kopf wieder zurück und starrte hoch auf den pfauenfarbigen Baldachin über dem Katafalk. Die seidenen Vorhänge eines großen Pavillons waren zurück gezogen, um dem Volk einen Blick auf die letzte Reise seiner Herrscher zu gestatten. Hoffentlich hatte niemand seine Bewegung bemerkt. Aber das eintönige Singen hielt an. Ein wenig beruhigt drehte er seinen Kopf Unmerklich nach
rechts. Dort lag auf einem ähnlichen Katafalk der Leichnam der Königin Joenna. Ihre Augenlider waren blau gefärbt und geschlossen, ihre Hände auf der Brust gefaltet. Ihre Lippen hatte man rot gefärbt, und eine Perlenkrone schmückte ihr Haupt. Auch auf der rechten Uferseite standen Tausende und sangen die Trauerhymne. Eine quälende Vorahnung erfüllte Brak plötzlich. Der Leichnam der Königin lag tot neben ihm. Aber wo befand sich ihr Geist, der ihm auf dem Schlachtfeld begegnet war? Brak spürte, daß er ganz nahe war. Vielleicht schwebte ihre Seele über dem bleichen Körper, der reglos lag, und ihm doch so lebendig schien. Brak fühlte sich hilfloser denn je in seinem Leben. Zwar begann seine Kraft zurückzukehren, aber er hatte keine Waffe. Sobald er sich von dem Katafalk schwang, würde die Menschenmenge an den Ufern es bemerken und aufzuschreien beginnen. Ganz vorsichtig hob er seinen Kopf, um sich ein besseres Bild seiner Lage machen zu können. Die Barke war das größte Wasserfahrzeug, das Brak je gesehen hatte. Er schätzte, daß sie so lang war wie hundert Elefantenbullen von Schwanz bis Rüssel, und ein Viertel so breit. Das Gewimmere des Priesters, die Musik und der laute Trubel der Feiernden kam von einem hellen Fleck am fernen Bug. Dort saßen wenigstens drei Dutzend Leute in einem von brennenden Lampen erhellten seidenen Pavillon. Das Licht spiegelte sich auf den silbernen Weinkelchen wider. Zwischen den beiden Pavillons am Bug und Heck war das Deck des Schiffes stockdunkel. Vielleicht war es früher einmal mit Ruderbänken ausgestattet gewesen. Jetzt schien es jedenfalls nur von der Strömung getragen zu werden, denn weder Ruderer noch Segel waren sichtbar. Das einzige, das er in diesem mittleren tieferen Teil undeutlich zu erkennen vermochte, war ein kleiner Steinaltar, der von drei eigentümlich geformten
Lampen auf einem dreibeinigen Ständer mit einem rauchigen Purpurglühen nur schwach beleuchtet wurde. Brak glaubte neben diesem Altar eine hastige Bewegung bemerkt zu haben, aber er konnte nicht sicher sein. Ein Windstoß zerrte an den Vorhängen des Bugpavillons. In seinem Licht sah er unter den Feiernden Männer mit tigergestreiften Umhängen. Bestimmt würden sie nicht auf der Barke bleiben, denn jenseits der dunklen Schleier, was immer das auch war, lag das geheiligte Reich der Toten, das sie sicher weder betreten durften noch wollten. Jedenfalls bedeutete es, daß die Priester und Feiernden eine Möglichkeit haben mußten, das Schiff im rechten Augenblick zu verlassen. Ein Boot vielleicht? Doch wo befand es sich? »Barbar?« Das zischelnde Flüstern ließ die Haare auf seinem Nacken aufstellen. War der Geist der toten Königin erneut unterwegs? »Barbar?« Wieder erklang die leise, etwas heisere Stimme. »Dreht Euren Kopf nicht zu sehr. Ich schlich mich vom Altar zu Euch.« Dann hatte er sich die Bewegung dort also nicht eingebildet. »Wo seid Ihr?« flüsterte er zurück. »Ich habe mich zwischen den beiden Katafalken versteckt. Es ist etwas beschämend für eine Königin.« »Königin Rhea?« »Ja.« »Warum seid Ihr …?« »Fragt nicht!« Die Antwort kam scharf, aber auch irgendwie gepreßt. Weinte das Mädchen vielleicht? Aber im Plätschern der Wellen war es schwer zu erkennen. »Ich ändere vielleicht meinen Entschluß. Möglicherweise ist mir die Erhaltung meines Königreichs doch wichtiger als das Leben eines namenlosen Fremdlings. Aber inzwischen habe ich Euch etwas gebracht, womit Ihr Euch vielleicht befreien könnt,
wenn Ihr es wagt. Doch nun muß ich zurück, ehe man mich vermißt. Nicht einmal das ausgeliehene Kapuzengewand einer der Schankmaiden würde mich dann noch vor Entdeckung schützen.« »Ich verstehe es nicht«, murmelte Brak. »Ist es denn nicht so, daß Ihr den Thron verlieren würdet, wenn mein als Nicor zurechtgemachter Körper nicht mit der toten Königin die dunklen Schleier durchdringt? Die Priester würden es als böses Omen auslegen.« »Es ist der Tigerlord, der so versessen ist auf den Thron und auf mich.« »Und Ihr seid nicht an der Regentschaft interessiert?« »Freilich bin ich es, Ihr Einfaltspinsel. Wollt Ihr denn unbedingt, daß ich meine Meinung ändere und das mit zurücknehme, was ich für Euch hier habe?« »Nein«, wehrte Brak eilig ab. »Aber ich muß wissen, warum Ihr es tut.« »Weil ich eine Närrin bin und ein Menschenleben, selbst Eures, höher schätze als den Thron. Aber ich warne Euch. Wenn Ihr noch mehr Zeit mit Reden vergeudet, wird es zu spät für Euch sein, über Bord zu springen. Wir nähern uns schon der Stelle, wo die Priester und Feiernden das Schiff verlassen müssen. Die Strömung nimmt bereits zu. Und seht Ihr den Himmel? Das dort sind die ersten Wolken der dunklen Schleier.« »Was sind die dunklen Schleier eigentlich?« »Gewaltige Wolken, die ohne Unterlaß von einem Ufer zum anderen über dem Phrixos hängen.« »Und was liegt jenseits von ihnen?« »Das Paradies«, murmelte sie. »Oder vielleicht auch die Hölle. Stetes Donnergedröhn dringt durch die Wolken hindurch, die meilenweit in allen Richtungen das Land einhüllen. Es ist ein heiliger Ort, den kein Lebender zu betreten wagt. Wenn man sich den dunklen Schleiern vom Land aus nähert, kommt man an eine gewaltige Wolkenbank, die schreckliche Kälte
ausströmt. Was dahinter liegt, vermag ich nicht zu sagen. Das Land dort gilt seit undenklichen Zeiten als tabu. Vielleicht stürzt der Phrixos in die Tiefe, ins Innere der Erde sogar. Aber die Priester behaupten, es sei das Paradies … Oh, Ihr törichter Narr! Wollt Ihr mir endlose Fragen stellen? Auch meine Sicherheit ist in Gefahr.« Brak kaute an seiner Unterlippe. »Die Menschen auf den Klippen werden mich sehen und aufschreien, wenn ich mich bewege.« »Dann laßt sie doch. Ihr müßt gleich in den Fluß springen. Wenn Ihr stark genug seid, gegen den Strom zu schwimmen, um nicht in die Schleier getragen zu werden, könnt Ihr vielleicht entkommen.« »Und was ist mit Euch? Mit Eurem Thron?« Ihre Stimme klang bissig und traurig zugleich, als sie antwortete: »Ich wäre nicht gekommen, Barbar, wenn der Thron mir mehr bedeutete als Rechtlichkeit. Die Welt besteht nämlich nicht nur aus Menschen wie Lord Hel. Vielleicht ist es das, was ich beweisen muß. Joenna, sie war immer die Unerbittliche, die Kühne, die Kriegskönigin. Ich bin jünger und vielleicht auch weicher. Die Hofzauberer schimpften mich einmal eine verheulte Gans. Ich weinte über ein Kitzlein, das sie am Altar abschlachteten. Fragt mich nicht, warum ich so töricht bin, die Ungnade der gehörnten Göttin auf mich herabzubeschwören. Oder warum ich den Thron aufs Spiel setze, der noch für mich leersteht, aber für den ich vielleicht gar nicht stark genug bin. Doch ich blieb fast zu lange. Ich muß zurück. Ich …« Brak vernahm ein unterdrücktes Schluchzen und das Rascheln von Stoff. Das dunkelhaarige Mädchen erhob sich abrupt aus ihrem Versteck. Ihre Züge waren zum größten Teil unter der rauhen Kapuze verborgen, aber der Barbar vermochte doch das Glitzern von Tränen auf ihren Wangen zu erkennen. »Müßt Ihr denn alles aus mir herauslocken, Barbar? Ihr seid wie das Tier, um das ich mir vor so langer Zeit die Augen aus-
weinte. Ich kann kein Geschöpf sterben sehen, für das mein Herz Liebe empfindet.« Hastig drückte sie ihre Lippen auf die seinen, dann huschte sie lautlos davon. Einmal noch wandte sie sich um und flüsterte warnend: »Schwimmt fest, gleich wenn Ihr über Bord seid. Die Strömung ist beträchtlich hier. Doch Eure Kraft müßte bald zurück sein. Als sie Euch das letzte und tödliche Gift einstechen wollten, gelang es mir vorher unbemerkt, die Nadel an meinem Saum abzuwischen. Möge die gehörnte Göttin mir verzeihen.« Neue Hoffnung durchströmte Brak. Die Barke schien schneller zu werden. Dicke Wolken hingen tief über dem Schiff. Waren das bereits die ersten Ausläufer der dunklen Schleier? Die Seite des Pavillons bauschte sich auf. Der Wind wurde heftiger. Braks Lippen erinnerten sich des salzigsüßen Kusses des Mädchens Rhea. Er war die Erklärung für den schrecklichen Kampf, den sie mit sich selbst ausgefochten haben mußte, ehe sie sich entschloß, alles aufs Spiel zu setzen, um ihn zu retten. Ihr Mut sollte nicht umsonst gewesen sein. Vorsichtig schob er seine Rechte über die Seite des Katafalks und tastete nach dem Gegenstand, den sie für ihn zurückgelassen hatte. Sein Breitschwert! Sie hatte es unter dem Gewand geschmuggelt. Mögen die Götter es ihr lohnen! Brak spürte, daß er wieder völlig Herr seines Körpers war. Er umfaßte den Schwertgriff, holte tief Luft und schwang sich über die Seite. Die Barke schnitt nun noch schneller als zuvor durch das Wasser. Eine der tief hängenden Wolken streifte bereits das Deck. Braks Linke zerrte an der juwelengeschmückten Kopfbedeckung und warf sie zu Boden. Mit einer wilden Bewegung ließ er den gelben Zopf über den Rücken fallen. Plötzlich blies der Wind die Wolke über Schiff und Wasser, die bisher die Sicht gehemmt hatte, davon.
Die Menge am Ufer brüllte auf. Sie hatte den vermeintlichen Toten vom Katafalk springen sehen. »Hallo! Hallo, Barke!« Brak stürzte zur Reling. Die aufgeregte Stimme kam von einer kleineren Barke, die seitlich mit einem dicken Tau an der großen befestigt war. Ein Schwarzgekleideter mit Tigerumhang schwenkte eine Laterne und brüllte weiter: »Lord Hel! Majestät! Beeilt Euch! Wir haben den rituellen Ort des Abschieds bereits passiert. Ihr müßt aussteigen! Die Strömung wird immer stärker!« Die Priester und Feiernden eilten zur Deckmitte in den Bauch des Schiffes, wo sich früher einmal die Ruderbänke befunden haben mußten und die Ausstiegluken waren. Einige der Gefolgsleute begannen hastig eine Art Korbsitz an ein Tau zu binden. Eine Fackel warf einen kurzauflodernden Schein auf eine Krone in dunklem Haar. Königin Rhea war zweifellos die erste, die man von Bord bringen würde. Er mußte sofort verschwinden, sollte ihr Einsatz sich noch bezahlt machen. Er packte einen der Fackelständer und schwang sich mit seiner Hilfe auf die Reling. »Nicor!« »Nicor!« »Prinz Nicor wandelt!« Die Menge am Ufer tobte. Tausende und aber Tausende von aufregenden Stimmen schrien den Namen des Prinzen. Nun wurden auch die Aufbrechenden auf der Barke darauf aufmerksam. Lord Hel löste sich aus der Mitte seiner Gefolgsleute und gab eilige Befehle. Mit fliegenden Umhängen und gezogenen Klingen kamen sie auf Brak zugestürzt. Der Barbar auf der Reling zögerte. Ein wilder Grimm durchtobte ihn, der zumindest nach dem Leben eines der Verschwörer schrie, die ihn opfern hatten wollen, um ein ganzes Volk zu betrügen!
Ein Zeremonienspeer lehnte gegen den Katafalk, auf dem Brak gelegen hatte. Der Barbar sprang von der Reling herunter, wechselte das Schwert in die Linke und packte den Speer. Mit funkelnden Augen wartete er, bis der erste von Hels Männern die Treppe vom Mitteldeck hochstürmte. Dann warf er den Speer mit der ganzen Wildheit, die ihn ihm steckte. Der Mann schrie und warf die Arme hoch. Mit dem Speer durch den Leib taumelte er die Treppe zurück. Seine ihm folgenden Kameraden stießen ihn instinktiv zur Seite, und er stürzte über die Reling. Ein schreckliches Gebrüll ertönte. Alle starrten ins Wasser. Brak wagte einen schnellen Blick. Einer von Hels Offizieren war über den Bug des kleineren Schiffes geschleudert worden. Und irgendwie war das starke Tau zertrennt, das die kleine mit der großen Barke verbunden hatte. Noch ehe Brak Luft holen konnte, weitete sich der Abstand zwischen den beiden Wasserfahrzeugen beträchtlich. So wurde durch einen Zufall − oder war es eine Fügung des Schicksals? –, als der vom Speer durchbohrte Soldat fiel, der Rückweg abgeschnitten. Flüche ertönten, und Panik brach im Bauch der Barke aus. Wütend über sich selbst sprang Bark von der Reling zurück. Allein sein Rachedurst hatte dazu geführt. Er kauerte kampfbereit, als der Trupp des Tigerlords sich wieder sammelte und die Treppe herauf gestürmt kam. Mit wildem Blick folgte Hel. Er schlug mit den Fäusten auf seine Leute ein und brüllte: »Packt ihn und erschlagt ihn. Ihm verdanken wir es, daß wir keine Umkehrmöglichkeit mehr haben. Daß mir keiner von euch über Bord springt, ehe er nicht tot ist!« Vorsichtig schlichen vier von Hels Mannen auf Brak zu. Die Barke schlingerte. Sie tauchte in die immer dichter werdenden Wolken ein. Die Tausende auf den Klippen, die ihre Wut und Angst hinausheulten, waren nun kaum noch sichtbar. Braks Breitschwert ruckte hoch. Jetzt war er bereit, zu bleiben
und bis zum Tod zu kämpfen. Erschreckt sah er, daß Hel sich hinter den Soldaten umgewandt hatte und Königin Rhea heftig an den Schultern schüttelte. Der Tigerlord beugte sich über sie und stieß sie mit dem Rücken gegen den Altar. Ahnte Hel, daß sie ihm geholfen hatte? »Greift von links an!« befahl einer der Offiziere und stürmte auf Brak ein. Zwei andere stürzten von der entgegengesetzten Seite auf ihn zu. Brak sprang heftig atmend zurück, bis seine Schulter den Katafalk berührte. Er kletterte hinauf. Eine verzweifelte Idee kam ihm. Der erste der Soldaten griff an. Brak stieß hart nach unten, dann zog er schnell sein Schwert wieder hoch. Der Angreifer taumelte zurück. Seine Hand fuhr nach der Kehle. Dann brach er mit zuckenden Gliedern zusammen. Brak hatte inzwischen den Seidenbezug des Pavillons abgerissen, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Wieder schlingerte die Barke und legte sich schräg. Ihre Geschwindigkeit hatte sich inzwischen verdoppelt. Brak kämpfte um sein Gleichgewicht. Dann zerrte er Prinz Nicors gewaltigen Schild zu sich heran und legte den Arm durch die Schlaufen. Schwankend begann er sich wieder seinen Feinden zuzuwenden. Fast wäre er vor Entsetzen hinabgestürzt. Vom anderen Katafalk, wo die tote Königin lag, löste sich ein durchscheinender Geist. Vorsichtig näherten sich die Soldaten. Konnten sie Joennas Geist nicht sehen? Bemerkten sie denn nicht die brennenden Augen, die sich ihm zuwandten? Hörten sie nicht die gespenstische Stimme? »Liebster mein Liebster? Ich schlief friedlich, bis ich spürte, daß du dich bewegst. Und nun ist der Schild fort, und du willst nicht bleiben. Ich kann dich nicht gehen lassen, mein Liebster! Wir müssen gemeinsam durch die dunklen Schleier. Gemeinsam …«
Eine ätherische Hand griff nach ihm und umklammerte seinen rechten Arm. Der riesige Barbar sah mit grauenerfüllten Augen, daß sein Fleisch dort, wo die Erscheinung ihn berührte, zu schleimiger purpurfarbener Substanz wurde. Eine verzehrende Kälte durchströmte ihn, die Kälte des Grabes, der toten Seele, die ihn rief, die das Leben aus ihm sog. Er versuchte sein Breitschwert zu heben, die Klinge durch den durchscheinenden Körper der Königin zu stoßen. Aber seine Rechte war kraftlos, schwer und gelähmt in der fleischlosen Umklammerung. Näher schwebte sie, näher. Braks Arm färbte sich mit purpurner Nässe unter dem krankhaften Weiß, das die Kosmetiker aufgetragen hatten. Die Tigersoldaten machten sich zum Angriff bereit. Lord Hel stürzte mit bleichem, wutverzerrtem Gesicht durch sie hindurch. Brak sah alles wie verschwommen. Er versuchte, aus dem gespenstischen Griff freizukommen, wand seinen Arm, bemühte sich, ihn zurückzuzerren. Er war nun sicher, daß die Soldaten unten den Geist der Königin nicht zu sehen vermochten. Für sie mußte er wie ein Besessener wirken. »Packt ihn endlich!« brüllte Lord Hel. »Laßt ihn die Klinge spüren. Worauf wartet ihr noch?« »Seht doch!« flüsterte einer der Offiziere. »Seht doch, wie er sich windet und krümmt, als hätte er den Teufel in sich. Die heilige Krankheit hat ihn befallen!« Hel holte aus und schlug dem Offizier ins Gesicht. Blut schoß aus dessen Nase. »Weigert ihr euch, mir zu gehorchen?« brüllte der Tigerlord. »Auf ihn! Heilige Krankheit oder nicht. Du, Phidor, du bist ihm am nächsten.« All das hörte Brak wie durch Watte hindurch. Es schien ihm so unwirklich. Von entsetzlicher Wirklichkeit war nur die gespenstische Stimme und die Phantomgestalt, die noch näher
schwebte. »Ich lasse dich nicht von mir gehen. Ich lasse es nicht zu!« Irgendwie schien die Erscheinung Hunderte von Händen zu haben, mit der sie Braks Schultern berührte und sein Gesicht, seine Beine, seine Brust. Die Todeskälte entzog ihm seine Kraft. »Stich zu, Phidor! Stich zu!« kreischte Hels Stimme durch den tobenden Wind. Der gelbhaarige Barbar sah nur das Glitzern der Waffe aus den Augenwinkeln. Er zerrte voll Verzweiflung, um seinen Arm freizubekommen, und taumelte dabei seitwärts. Das rettete ihn vor der Klinge, die sonst seinen Leib aufgeschlitzt hätte. Die vordere Hälfte des Schwertes schien wie in dichten Nebel getaucht. Der Tigeroffizier stolperte rückwärts und ließ die Waffe fallen. Brak sah die Haut des Mannes sich auflösen und wie purpurner Schleim zu Boden tropfen. Der Offizier biß sich in die Hand und torkelte zur Reling. Schaum trat aus seinem Mund. Er heulte wie ein tollwütiger Hund. Nie hatte Brak je ein gespenstischeres Duell gefochten als jetzt. Ein Teil seines wie betäubten Verstandes befahl ihm, sich vor dem Dutzend glänzender Klingen hinter ihm und zu seiner Linken in acht zu nehmen, wo die Soldaten sich unter den Fackeln zusammenrotteten. Er wußte, warum sie zögerten, anzugreifen. In ihren Augen war er ein sich in Krämpfen windender Besessener. Sie wußten nicht, daß er den schwersten Kampf seines Lebens gegen dieses schreckliche Phantom focht. Das Gesicht der toten Königin schwebte näher. Durch die Züge hindurch sah Brak alles, die Fackeln, die Wolkenschleier, die Barke, wie in einem Traum verblassen. Die traurigen flehenden Geisteraugen dagegen schwollen an, schienen immer wirklicher, bis Brak das Gefühl hatte, in wirbelnde graue Schleier gehüllt zu sein. Sein Körper war steif und gehorchte ihm nicht mehr. Eine Warnglocke dröhnte in seinem Gehirn.
Doch die Lippen der toten Königin kamen immer näher, würden bald die seinen berühren und den letzten Rest des Lebenshauchs von ihm nehmen. Wie aus ganz weiter Ferne hörte Brak die Tigermänner aufgeregt durcheinanderrufen. »Lord«, brüllte einer, »es ist Selbstmord, ihn auch nur zu berühren!« »Und euer Tod durch meine Hand, wenn ihr es nicht tut!« heulte Hel aufgebracht und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die verängstigte Gruppe. »Feiglinge seid ihr allesamt!« knurrte er. »Geht mir aus dem Weg. Er soll meine Waffe fühlen.« Mit schier übermenschlicher Anstrengung versuchte Brak, sich auf Hels Schwert zu konzentrieren. Aber die Erscheinung der Königin wand sich um ihn. Überall färbte seine bronzene Haut sich nun purpurfarben und begann unter dem weißen Totenbalsam naß zu glänzen. Als Hel zum tödlichen Streich ausholte, bemerkte Bark erneut, was ihm bereits als Gefangener im Netz aufgefallen war. Lord Hels scharfe Klinge war halb vom eingetrockneten Blut eines seiner Feinde bedeckt. In einem Augenblick erschreckender Klarheit, als hätten seine Sinne sich verschärft, entdeckte Brak winzige Silberkratzer im blutigen Überzug. Sie stammten zweifellos vom Werkzeug eines Waffenschmieds, der vergeblich versucht hatte, die Blutschicht abzuschleifen. »Liebster, Liebster, mein Liebster«, klagte die tote Königin. Lord Hel legte seine ganze vom Grimm noch erhöhte Kraft in den Stoß. Wie ein silberner Blitz zuckte die Klinge geradewegs auf Braks breiten Rücken zu. »Ich bin nicht Nicor!« versuchte der Barbar auszustoßen, doch nur sein Geist brüllte es, denn die Zunge versagte. »Ich bin nicht Nicor!« Es war ihm, als müsse sein Gehirn unter der Anstrengung
zerplatzen. »Ich bin nicht Nicor!« bemühte er sich, jede Silbe zu betonen. Die Zeit schien stehenzubleiben. Hels Klinge hing scheinbar bewegungslos in der Luft. Sie funkelte silbern, außer der unteren, mit dem eingetrockneten Blut bedeckten Hälfte. Brak versuchte, sich zu ducken, um ihr auszuweichen. Doch der schimmernde Leib der Königin hüllte ihn nun schon fast ganz ein. Ihre lautlose Stimme dröhnte in seinem Gehirn, daß es noch mehr schmerzte. »Liebster, die dunklen Schleier harren …« Der Geist der Toten berührte ihn an hundert Stellen gleichzeitig, drängte sich an ihn und flutete durch ihn hindurch, wollte seine Seele in ihre saugen. Brak zerrte den Kopf zurück. Die Adern an seinen Schläfen drohten zu zerspringen, aber endlich gehorchten seine Stimmbänder: »ICH BIN NICHT PRINZ NICOR!« Das Heck der Barke schwang hoch. Panische Schreie erschütterten die Nacht. Brak wurde heftig gegen den Katafalk gedrückt. Der Fluß donnerte. Das Schiff war in die finstere Wolkenbank eingedrungen und befand sich jetzt inmitten der dunklen Schleier. Hels Klinge verfehlte durch das hochschnellende Heck ihr Ziel. Die Zeit, die stehengeblieben war, raste nun wieder mit erschreckender Geschwindigkeit dahin. Mit einem heftigen Ruck warf Brak sich rückwärts, aus der Umarmung der gespenstischen Erscheinung. Und wieder brüllte er: »Ich bin nicht Prinz …« Ein Donnerschlag nach dem anderen erschütterte die dunklen Wolken. Brak hörte eine tiefe geisterhafte Stimme den Satz beenden, den er angefangen hatte: »… NICOR …« Brak drehte den Kopf und sah Hels Gesicht nur eine Handbreit von seinem eigenen entfernt. Die Augen des Tigerlords schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Seine Klinge, die den
Barbaren um nur wenig verfehlt hatte, war in die Dunkelheit eingedrungen, doch die Blutflecken darauf glühten wie feurige Schrift; so blendend, daß Brak seine Augen schützen mußte. Die Geisterstimme, aus dem Donner geboren, dröhnte fort: »NICOR NICOR NICOR NICOR …« Ein Blitz zuckte auf, ein Wirbel von Licht. Etwas Perlschimmerndes, Greifbares bildete sich auf der blutüberzogenen Klingenhälfte, die teilweise im Leib der Königin eingebettet war. Hel versuchte, den Griff fallen zu lassen. Doch seine Hand wollte sich nicht davon lösen. Sein ganzer Körper begann zu zittern und zu zucken. »N I C O R N I C O R …«, donnerte die Schleierform, die aus den Blutflecken auf der Klinge entstand. Brak sah, wie das Purpur von seinem rechten Arm schmolz und er wieder weiß wurde. In jenem Moment, während Hel verzweifelt versuchte, das Schwert zurückzuziehen, verstand Brak. »Mörder!« brüllte er. Und noch einmal: »Mörder!« Er vermochte sich nun so weit zu bewegen, daß er seinen linken Arm aus den Schildschlaufen ziehen konnte. »Dort ist Nicor! Dort ist alles, was von ihm noch übrig ist. Das Blut auf Eurer Klinge!« Brak holte tief Luft. Mit einem wilden Lachen ergriff er sein Breitschwert und hob es über den Kopf. »Mörder!« brüllte er erneut. Die Offiziere des Tigerlords schienen die Gefahr zu spüren. Drei Klingen richteten sich gleichzeitig gegen Braks ungeschützten Leib. »Mörder! Mörder Eures eigenen Prinzen!« brüllte er weiter. »Um Rhea zu bekommen und den Thron, habt Ihr ihn erschlagen!« Brak ließ sein Breitschwert niedersausen und spaltete Hels Schädel. Mit einemmal verlor Königin Joennas Geisterleib seine Form. Die Erscheinung vermischte sich mit dem Schleierwesen, das aus Nicors Blut von Hels Klinge gewachsen war. Vereint wur-
de es zur wirbelnden Wolke, die sich hochschwebend in den dunklen Schleiern verlor. Die Barke schlingerte heftig. Tobende Schaumkronen spülten über die Reling. Von seinem hohen Stand auf dem Katafalk ließ Brak sein Schwert durch die Luft sausen und mähte Köpfe und Arme der Angreifenden ab. Eine ihrer Waffen schlitzte seinen Schenkel auf. Er glitt in seinem eigenen Blut aus und kämpfte um sein Gleichgewicht, während sein Breitschwert durch die Brust jenes drang, der ihn verwundet hatte. Grimmig zog er es frei. Der Sturm spielte mit seinem Zopf und wurde immer heftiger. Brak ging in die Knie. Es war ein Wind, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte: der Wind, der die vereinten Schemen der Seelen Joennas und des ermordeten Nicors emporwirbelte. Es war die Lebenskraft des Prinzen, die in dem Blut auf Lord Hels Klinge auf den Augenblick der Rache gewartet hatte. Unter ihm, rund um den Katafalk, stießen die Tigersoldaten immer noch nach ihm. Brak hieb auf sie ein. Aber seine Gedanken waren anderswo. Eine Seele, die sich von dem Schwert erhob, dachte er. Nicors Seele. Sein Körper wurde gemordet, aber seine Seele blieb, bis Joenna sie fand und durch ihre Berührung befreite, nachdem sie endlich erkannt hatte, daß ich nicht Nicor bin. Diese Gedanken hallten während des ganzen blutigen Kampfes in seinem Kopf wider. Die verstümmelten Körper der Tigermänner häuften sich, während Brak sein Schwert singen ließ. Das Schiff raste dahin. Schwarze glänzende Felsen an beiden Ufern waren undeutlich durch die wirbelnden Wolkenfetzen zu erkennen, und eine neue Art von Donner erscholl voraus. Nun war Brak klar, daß dieses Paradies der Leute von Phrixos nichts weiter als eine nebelverhüllte Schlucht war, durch die der Fluß über eine Unzahl von Stromschnellen hinweg dahin-
brauste. Und wenn seine Ohren ihn nicht trogen, rasten sie nun direkt auf einen gewaltigen Wasserfall zu. Die Barke streifte einen Fels und legte sich schief. Eine schäumende Woge schlug über Bord. Sie knickte die Elfenbeinständer und löschte die Fackeln. Die letzten der Tigersoldaten ließen von ihm ab. Sie schwangen sich über die Reling und verschwanden mit gellenden Schreckensschreien im tobenden Wasser. »Barbar? Barbar! Die Lichter sind erloschen. Wo seid Ihr?« Über das Tosen der Elemente hinweg hörte Brak die dünne, verlorene Stimme. »Hier, meine Lady! Hier, Königin Rhea!« brüllte er mit schmerzenden Lungen zurück. »Hier, am Heck bei den Katafalken! Kommt an der Reling entlang, aber achtet auf die Toten.« »Ich fürchte mich, Barbar. Wir sind bereits in die dunklen Schleier eingedrungen!« »Ich sehe Euch!« schrie Brak. »Ich komme Euch entgegen!« Ein paar Fackeln flackerten noch am Heck. In ihrem Licht sah Brak eine schreckliche Erscheinung. Eine Frau mit goldenen Brüsten starrte ihn aus dem Dunkel rachsüchtig an. Ihre Hörner funkelten. Der Schild! »Hierher, meine Lady! Folgt meiner Stimme! Hierher!« Brak tastete nach den Schlaufen des riesigen Schildes, ehe er über Bord gespült wurde. Er wußte, daß er ihn retten mußte, genau wie sich selbst und die Königin, die im Umhang der Schankmaid vor ihm auftauchte. Heftig keuchend, lehnte er sich gegen den Katafalk. »Wir haben ein Sakrileg begangen!« wimmerte sie. »Du mußt stark sein, Mädchen!« mahnte Brak. »Halte dich an meinem Arm fest.« Er kletterte von dem Katafalk herunter und legte schützend beide Arme um Rhea, als die Barke sich auf die andere Seite legte und beide mit voller Gewalt gegen die Reling
geschleudert wurden. Das Schiff war von einem gewaltigen Strudel erfaßt worden und drehte sich wild. Das Tosen des Wasserfalls war ohrenbetäubend. Rhea schluchzte und versuchte, ihn von sich zu stoßen. »Wir haben die gehörnte Göttin erzürnt. Wir haben das Paradies lebend betreten, wir haben es verdient, zu …« »Paradies!« höhnte Brak. Grimmig packte er sie beim Haar und zog ihren gesenkten Kopf hoch. Er funkelte sie wild an, daß sie zu zittern begann. »Mädchen!« donnerte er. »Wir werden sterben, ob wir es nun verdienen oder nicht, wenn wir nicht gleich von Bord springen. Dieses Paradies von Phrixos ist ein Wasserfall in endlose Tiefen. So, klammere dich an mir fest!« Mit schwindender Kraft nahm er sie in die Beuge seines linken Arms, von dem nun der Schild hing. Er stieß sein Breitschwert in die Hülle zurück. Dann stützte er sich mit der Rechten gegen einen der geborstenen Elfenbeinständer und hob sich mit seiner doppelten Last auf die Reling. Er sprang in den tobenden Fluß. * Der Mahlstrom erfaßte sie, wirbelte sie herum und schleuderte sie schließlich gegen einen vom Wasser rundgespülten Felsen. Der Aufprall raubte Brak die Besinnung; der Schmerz in seinem aufgeschlitzten Oberschenkel brachte sie wieder. Er stellte fest, daß er von den Fingerspitzen bis zum Ellenbogen blutig war, obwohl das Wasser ihn wild umspülte. Er blickte auf Königin Rhea hinab. Sie hatte ihren Kopf gegen seine Brust gedrückt. Irgendwie wußte er, daß sie beide sich die ganze Nacht an dem Fels festgehalten hatten. Das trübe Licht des Morgens drang durch die wirbelnden Nebelschleier. »Ich glaube nicht, daß es hier je heller wird«, keuchte er. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Stromschnellen. Es würde nicht leicht sein, das Ufer zu erreichen. Aber sie hat-
ten keine Wahl. »Meine Lady? Königin Rhea, wir müssen …« Plötzlich erinnerte er sich. In jenen Augenblicken, als sie dem Tod nahe waren, hatte er den äußeren Schein fallenlassen und sie Mädchen genannt und geduzt. »Die gehörnte Göttin wird uns vernichten«, murmelte Rhea. »Wir haben eine schwere Sünde auf uns geladen!« »Nicht wir«, keuchte Brak, »sondern der Tigerlord! Er hat Nicor auf dem Schlachtfeld erschlagen und seinen Körper zerstört. Durch Euch hoffte er, zum Thron zu kommen. Aber Nicors Seele vermochte er nichts anzutun. Sie lebte weiter.« Braks Stimme wurde leiser. Er hatte in die Luft geredet. Sie konnte ihn weder hören noch verstehen. Sie war taub vor Angst. Schweigend hielt er sie in seinem Arm und gab sich wieder seinen Gedanken hin. Er hatte auf seiner langen Reise viel Wunderbares und Erstaunliches gesehen und erlebt. Aber nie zuvor war er je auf eine Liebe gestoßen, die so stark war wie jene der toten Königin Joenna für Nicor. Es war eine Liebe, die den Tod überdauerte und ihre Seele auf Suche geschickt hatte, bis sie seine fand, vielmehr das, was davon noch übrig war, gekettet an das Schwert seines Mörders. Brak zweifelte, daß er je den Anblick jener wirbelnden Wolke vergessen würde, die sich von der Barke gen Himmel erhoben hatte. Zwei befreite Seelen, die in ein Paradies schwebten, das ihre Götter für sie ausgesucht hatten. Eine gewaltige Welle schlug gegen Braks Rücken. Er blickte hinab auf das nasse, völlig erschöpfte Mädchen in seiner Armbeuge, das der riesige goldene Schild ein wenig schützte. Er war durchgefroren, müde und fast gleichgültig. Aber der Anblick des liebreizenden Geschöpfs rüttelte ihn auf. »Schließlich ist sie die Königin«, murmelte er (oder vielleicht dachte er es auch nur), »vergiß das nicht.« Irgendwie gab das Brak ein wenig seiner Kraft wieder. Mit ihr im Arm kämpfte er gegen Strömung, Strudel und Strom-
schnellen an. Halb erschlagen, völlig erschöpft, aber doch lebend, gelangte er mit ihr am nebelverhangenen Ufer an. Keinen Schritt weiter vermochte er zu machen! Er legte sie behutsam aufs Trockene, dann fiel er kraftlos auf die Ufersteine. Der Schild rollte ihm aus dem Arm, und der Schaum der eisigen Wellen besprühte ihn. Undurchdringliche Dunkelheit hüllte ihn ein. * Brak saß auf seinem neuen Pferd, viele Meilen südlich der Phrixosfälle. Er blickte vom Rande eines Feigenhains hinunter auf die spitzen Türme und vergoldeten zwiebelförmigen Kuppeldächer jener großen Stadt, zu der sie sich geschleppt hatten. Viel Zeit war seit ihrer Ankunft vergangen. Eine neue Ernte war inzwischen herangereift. Brak hatte nicht ohne Absicht diese Stadt ausgesucht, nachdem er Rhea davon abgeraten hatte, nach Phrixos zurückzukehren, ehe die Zeit dafür reif war. Er hatte sie an die vielen Tausenden erinnert, die von den Ufern her Zeuge des Spuks gewesen waren; die miterlebt hatten, wie die Barke in das angebliche Paradies eindrang. Sie hatten gesehen, wie der vermeintliche Leichnam Nicors sich erhob und kämpfte. Wenn also Königin Rhea wirklich an die Macht kommen sollte, brauchte sie ein mächtiges Zeichen, das stärker war als jegliches böses Omen, das die Priester aus den unvorhergesehenen Vorfällen auf dem Schiff herauslasen. Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgeheckt. Sechs Monde lang hatte Brak sich in den Granitsteinbrüchen außerhalb dieser Stadt verdingt, die berühmt für ihre Feigen und geschliffenen Edelsteine war. Sie hatten sich ein armseliges Quartier gemietet und schliefen auf Strohpritschen, zwischen denen sie eine Trennwand aus Matten aufgerichtet hatten. Sie lebten zusammen wie Bruder und Schwester. So manche Nacht, wenn sein breiter Rücken von der schweren Arbeit schmerzte,
sehnte Brak sich danach, zu ihr zu sprechen. Aber er tat es nicht, denn er wußte, wenn er den Mund auch nur öffnete, würden Worte herausquellen, die ihn für immer an sie banden. Und doch schuldete er Königin Rhea sein Leben. Aus diesem Grund erduldete er ohne Murren die zehnschwänzige Peitsche der Aufseher im Steinbruch. Er nahm den Spott und die Beleidigungen der anderen Arbeiter hin, die in ihm nur den ungehobelten Barbaren sahen. Jede Woche fügten er und Rhea ein kleines Häufchen der glitzernden Dinschas zu jenen in einem guten Versteck hinzu, die das Mädchen Tag und Nacht bewachte. Endlich hatten sie genug gespart. Zu guter Letzt hatten sie in einer Karawanserei zwei Dromedare und einen nicht sehr vertrauenerweckend aussehenden, aber angeblich sehr zuverlässigen Führer gemietet. Dieser wartete nun ein paar Kamellängen von ihnen entfernt, ebenfalls am Rande des Feigenhains, auf sie. Rhea hatte sich um ihr dunkles Haar einen einfachen himmelblauen Schleier gebunden. Ihr Gewand war aus billigem Leinen, aber neu und sauber. Ihre Augen glänzten im Schein der untergehenden Sonne. Braks Herz schmerzte, als er sich ihre so liebliche Schönheit einprägte. »Brak, es es gibt keine Worte …«, stammelte sie. »Das ist auch besser so«, brummte er. Er versteckte seinen Schmerz hinter Rauhheit. Sein Pferd tänzelte unruhig. »Was Ihr mir gabt, war mein Leben. Was ich Euch gab, ist weniger. Nur ein Stück Metall.« Er löste die Haltegurte von seinem Rücken und reichte ihr den gewaltigen goldenen Schild. Sie zuckte unter dem Gewicht ein wenig zusammen, aber es gelang ihr, ihn zu halten. »Vergeßt nicht«, mahnte er sie. »Erzähl nichts weiter, als daß Ihr durch die dunklen Schleier ins Paradies getragen wurdet und nun zurückkehrt, um über Eure treuen Untertanen zu herrschen. Weist ihnen das Zeichen vor, daß die gehörnte Göttin
Euch schützte und würdig befand, die Regentschaft anzutreten. Das Zeichen wird sie überzeugen.« Braks schwielige Hand deutete auf den mächtigen, wieder auf Hochglanz polierten Schild. Im roten Abendlicht blickte die gehörnte Göttin mit kriegerischem Blick auf die Betrachter. Der Dolch hing ihr nach wie vor zwischen den Brüsten, und immer noch hielt sie in einer Hand das Füllhorn und in der anderen einen Blitz. Das Gesicht der gehörnten Göttin war nun in jeder Einzelheit eine Nachbildung Rheas. Das Mädchen berührte sanft seinen Arm. Eine Träne glitzerte auf ihrer Wange. Brak beherrschte sich eisern. Der Schmerz, der in ihm tobte, war schlimmer als jeder körperliche, den er je erduldet hatte. »Brak, reitet nordwärts mit mir. Gemeinsam könnten wir …« »Aber Khurdisan liegt im Süden«, antwortete er schwer. »Diese Monate im Steinbruch waren unerträglich für Euch, nicht wahr?« »Ich schulde sie Euch, und mehr«, erwiderte er. Obgleich sie wahrlich schlimmer gewesen waren, als sie sich auch nur vorstellen konnte. »Ihr müßt Ihr denn unbedingt südwärts?« »Aye. Denn dort liegt Khurdisan, meine Lady. Dorthin muß ich.« »Sicherlich ist das ein sehr gefährlicher Weg, der noch vor Euch liegt.« »So ist es«, brummte Brak, und flüchtig drängte sich ihm der Anblick von Arianes leidenschaftlichem Gesicht und Septegundus’ krabbelndem Fleisch vor sein geistiges Auge. Der Amyr des Bösen würde nie vergessen. Und er wußte, daß Brak südwärts nach Khurdisan zog. Eines Tages würde er ihm mit all den Schrecken, die ihm zur Verfügung standen, den Weg versperren. Irgendwo warte ich auf dich! hatte Septegundus ihm im Land
der Eismarschen gedroht. Doch Brak ließ sich auch davon nicht abhalten. »Aber ich muß dorthin!« »Warum?« fragte sie leise, ihrer Stimme kaum noch mächtig. »Wenn ich das nur wüßte«, murmelte er. Unwillkürlich dachte er laut, »dann müßte ich vielleicht gar nicht. Ein Grund ist, weil mein eigenes Volk mich ausgestoßen hat. Ein anderer, weil ich das goldene Khurdisan sehen will, seit ich zum erstenmal davon hörte. Doch den Hauptgrund verstehe ich selbst nicht. Etwas zieht mich dorthin, und ich kann nicht gegen diesen Drang an. Es ist das Schicksal selbst, das darauf besteht.« »Dann kommt auf dem Rückweg nach Phrixos«, flüsterte Rhea. »Selbst wenn es erst in zehn Jahren ist oder in hundert. Es wird nur eine Königin geben, keinen König. Keinen Mann, außer Ihr kommt zurück!« »Vielleicht gewährt es mir das Schicksal. Aber es wird viel Zeit vergehen. Und ich …« Brak war so aufgewühlt, daß er seinen Ton ändern mußte, um überhaupt weitersprechen zu können. Fast barsch sagte er: »Meine Lady, der Führer drängt zum Aufbruch. Die Sonne geht unter. Nehmt den Schild und herrscht weise. Lebt wohl!« »Brak!« Sie rannte ihm ein paar Schritte nach, als sein Pferd bereits zwischen den Feigenbäumen hindurchtrottete. Ihre süße, traurige Stimme verfolgte ihn, aber er wandte sich nicht mehr um. Er wagte es nicht. Erst als er bereits am Fuß des Hügels mit dem Feigenhain angekommen war, warf er einen Blick zurück. Sie und der Führer waren schon mit den Dromedaren über dem Hügelkamm verschwunden. Er gab dem Pferd einen freundschaftlichen Klaps. »Ich hoffe, du bist ein flinker Renner, mein Großer«, murmelte er. »Ich habe viel Zeit verloren und beinahe noch mehr. Denn
ich sage dir, was ich niemandem sonst verraten würde: es hat nicht viel gefehlt, und ich wäre mit ihr gegangen.« Er spornte sein Pferd an und ritt in das Gewühl der großen Stadt zurück, um von dort aus der Straße nach Süden zu folgen. ENDE Ein weiterer Band mit Abenteuern von Brak, dem Barbaren, befindet sich in Vorbereitung.
Als Terra Fantasy 2 erscheint
André Norton Gefangene der Dämonen Hexenwelt 01 Ein Mann von heute in der Welt der Hexen Simon Tregarth, vormals Colonel der US-Armee, befindet sich in aussichtsloser Lage. Überall lauert der Tod auf ihn, denn er wird von Killern eines Gangstersyndikats gnadenlos gejagt. Simon hat bereits mit dem Leben abgeschlossen, da bietet sich ihm noch eine winzige Chance, seinen Häschern zu entgehen. Jorge Petronius greift ein, ein mysteriöser Mann, der schon vielen gesuchten Gesetzesbrechern oder Flüchtlingen geholfen hat. Simon befolgt Petronius’ Anweisungen. Er erreicht den SIEGE PERILOUS, den uralten Thronfelsen der Macht, dessen Kräfte schon der Zauberer Merlin und der legendäre König Artus zu nutzen wußten. Der SIEGE PERILOUS hilft auch Simon. Er versetzt ihn in eine phantastische Welt − in die Welt der Hexen. Der vorliegende Band schildert Simon Tregarths Ankunft und seine ersten Abenteuer in der Hexenwelt. Weitere Romane des Zyklus AUS DER HEXENWELT sind in Vorbereitung.