Klappentext Jedes Jahr die gleiche Frage: Was schenkt man seinem Vater zum Vatertag? Doch diesmal hat Sabrina eine fant...
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Klappentext Jedes Jahr die gleiche Frage: Was schenkt man seinem Vater zum Vatertag? Doch diesmal hat Sabrina eine fantastische Idee: Hexopoly, das neue magische Brettspiel, ist genau das richtige Geschenk für ihren Dad. Doch das Spiel löst eine Katastrophe aus. Sabrinas Vater verliert seine magischen Fähigkeiten. Und Kater Salem verwandelt sich in ein riesiges Ungeheuer, das die Weltherrschaft übernehmen will... Reichen Sabrinas magische Kräfte aus, um ihren Vater zu retten? Und kann sie Salem, das durchgeknallte Monster, stoppen? Sabrina weiß, dass es nur einen Ausweg gibt. Sie muss Hexopoly austricksen...
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Hexopoly John Vornholt Band 12
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Für Nancy, die Spiele liebt Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
Sabrina, the Teenage Witch © Archie Comic Publications, Inc. © 2002 Viacom Productions Inc. Based upon characters in Archie Comics. All rights reserved © 2002 für die deutsche Ausgabe by Dino entertainment AG, Rotebühlstraße 87, 70.178 Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Claudia Weber Übersetzung: Rita Koppers, München Lektorat: Ray Bookmiller, Karlsruhe Umschlag: TAB Werbung, Stuttgart Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: GGP Media, Pößneck ISBN: 3-89.748-632-6 www.DinoAG.de
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1. Kapitel Sabrina schwebte verzückt über ihrem Bett. Mit dem Laken, das über ihrem Kopf hing und bis zu den Fußspitzen reichte, sah sie aus wie ein Nachtgespenst. Salem lag zusammengerollt am Fußende der Matratze und schnarchte genauso laut wie Sabrina. Driiing-drooong!, schrillte der Wecker auf Sabrinas Nachttisch und riss sie aus dem Schlaf. Hart landete sie auf der Matratze. Salem jaulte erschreckt und sprang vom Bett. Verwirrt schlug Sabrina die Augen auf und strich ein paar widerspenstige Haare aus dem Gesicht. Der Wecker schepperte weiter. Am liebsten hätte sie ihn mit ihrem Zauberfinger zum Schweigen gebracht. Doch dann tat ihr das Ding Leid, und sie drückte sanft auf den Knopf, um ihn abzustellen. Schließlich hatte so ein Wecker es auch nicht leicht, zumal dann nicht, wenn er auf dem Nachttisch einer Hexe stand. Sabrina gähnte und setzte sich auf. Sie überlegte gerade, welche Schwierigkeiten wohl auf sie warten würden, als ihr schlagartig klar wurde, dass Wochenende war. Und was mach ich dann so früh? Sabrina wusste, dass sie heute irgendetwas Wichtiges erledigen wollte, denn sonst hätte sie den Wecker nicht gestellt. Aber was, verdammt noch mal, war das gewesen? Draußen zwitscherten Rotkehlchen und Finken. Es ist immer noch Sommer, dachte Sabrina verträumt, als eine warme Brise hereinwehte. Und mitten im Juni passiert nie etwas Weltbewegendes. Sie schloss die Augen und lächelte. Was auch immer ich tun wollte, es kann warten. Langsam sank sie in ihren Kissenberg. Manche Erwachsene glaubten tatsächlich, dass sie Weltmeister im Schnell-Einschlafen waren. Da kannten sie
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jedoch Sabrina nicht. Sie musste nur mit den Haarspitzen das Kissen berühren, und schon war sie eingeschlafen. Von ferne hörte sie Stimmen. Sabrina drehte sie einfach ab. Sie waren nicht wirklich, so wie der Traum, der langsam ihr Bewusstsein vernebelte. Seit ihr Leben diesen absonderlichen Touch bekommen hatte, waren ihre Träume seltsam real. Der alltägliche Horror spielte sich darin ab – wie zum Beispiel eine Menschenschlange in der Cafeteria, Frösche zerlegen in Biologie oder knallharte Prüfungen in Geschichte. Sie musste sich keine Verrücktheiten ausdenken, denn ihre Welt war verrückt, sobald sie durch die Tür der Wäschekammer ging. Der Traum begann nicht schlecht. Sie betrat eine Hotellobby. Eine Menge gut gekleideter Leute saßen auf den Sofas und Sesseln herum. Weiß Uniformierte huschten eilig hin und her. Klar, die mit dem weißen Dress sind die Hotelpagen, dachte Sabrina. Sie kümmern sich ums Gepäck. Sabrina hatte sogar einen Koffer dabei und versuchte, ihn einer der weiß gekleideten Gestalten, die gerade vorbeihuschten, in die Hand zu drücken. Die Gestalt verdrehte die Augen und deutete auf einen Tisch. Weiß gekleidete Angestellte standen dort bereit, um zu helfen. „Selbstverständlich“, sagte Sabrina mit einer seltsam tiefen Stimme. Irgendjemand zog sie am Arm und als sie sich umdrehte, sah sie einen Koloss von Frau, der neben ihr herwatschelte. „Bleib ganz ruhig“, meinte die Frau und schubste mit ihrem dicken Bauch die Leute zur Seite, um den Weg freizumachen. „Wir sind schon fast im Vorbereitungszimmer.“ Im Vorbereitungszimmer! Sabrina sah sich in der Lobby um. Die schien jetzt nicht mehr so luxuriös auszusehen wie vorher. Und auch die Menschen schienen nicht unbedingt glücklich zu
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sein, dass sie hier waren. Jetzt wusste sie auch warum. Sie war in einem Krankenhaus. „Mr Spellman“, sagte jemand und drückte Sabrina ein Clipboard in die Hand. „Füllen Sie bitte das Aufnahmeformular für Ihre Frau aus – in dreifacher Ausfertigung.“ „Meine Frau?“, keuchte Sabrina erschreckt. Sie musste von hier verschwinden und schaute sich nach einem Fluchtweg um. Da sah sie in der Glasscheibe des Geschenkeladens ihr Gesicht. Das war eindeutig sie, allerdings mit dunklen Haaren und einem Bart. Sie fingerte an ihrem Hemdkragen herum und fühlte eine Krawatte. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie eine Frau, die auf einen Rollstuhl zusegelte, der für sie bereitstand. Die schwangere Mrs Spellman. „Oh nein!“ Verzweifelt schloss Sabrina die Augen. Alles drehte sich und sie fiel in Ohnmacht – mitten im Wartezimmer. „Herzlichen Glückwunsch, Mr Spellman. Sie sind Vater geworden.“ Eine Krankenschwester, die verflixt viel Ähnlichkeit mit Tante Hilda hatte, stand vor ihr, im Arm ein kleines, zappelndes Bündel. Sabrina setzte sich auf und bemerkte, dass sie sich in einem Krankenhausbett befand. Das andere Bett, das in dem kleinen Raum stand, war leer. Ihr war es peinlich, dass sie die Einzige war, die im Bett lag. Schließlich war sie doch nur in Ohnmacht gefallen. „Tut mir Leid, dass ich umgekippt bin“, murmelte sie. „Nicht der Rede wert“, meinte Krankenschwester Hilda. „Eine Menge frisch gebackener Väter fallen um. Üblicherweise warten sie damit jedoch, bis sie im Kreißsaal sind.“ „Oder sie brechen zusammen, wenn sie die Rechnung sehen“, fügte jemand anderes hinzu. Als Sabrina sich umsah, entdeckte sie Tante Zelda, die in der Tür stand. Sie trug einen weißen Arztkittel, und um ihren Hals baumelte ein Stethoskop. 7
„Ich habe keinen blassen Schimmer, wie ich Vater geworden bin“, meinte Sabrina und lachte nervös. „Ich bin doch noch nicht mal ein Mann. Normalerweise jedenfalls nicht.“ Sie erinnerte sich daran, dass sie einmal die Magie dazu benutzt hatte, sich in einen Jungen zu verwandeln, da sie unbedingt wissen wollte, wie die sich so fühlen. Seit diesem Tag war sie froh, ein Mädchen zu sein. „Es ist nicht einfach, Vater zu sein“, sagte Zelda. Sie klang wie einer dieser superschlauen Ärzte aus den Seifenopern, die glauben, alles zu wissen. „Manchmal stellt man sie einfach aufs Abstellgleis und vergisst sie. Jeder denkt nur noch an das Baby und die Mutter.“ „Das ist ja lächerlich“, meinte Sabrina. „Gib endlich der Mutter dieses Kind, damit ich verschwinden kann.“ „Geht nicht“, antwortete Hilda. „Als sie gehört hat, dass du da bist, hat sie sich aufgemacht, um Windeln zu besorgen.“ „Windeln?“ Sabrina sah die Tante misstrauisch an. „He! Was genau macht ihr eigentlich in meinem Traum?“ „Weich nicht vom Thema ab“, meinte Hilda streng. „Worüber sprechen wir denn? Über Väter! Klingelt es da nicht bei dir?“ Sabrina überlegte angestrengt. „Habe ich diesen Traum gehabt, weil ich meinem Vater übel nehme, dass er nicht bei mir lebt?“ „Vielleicht“, meinte Zelda. „Eine Menge Väter leben nicht mit ihren Kindern zusammen. Aber sie lieben sie trotzdem. Sie machen sich Sorgen um sie und tun alles, damit sie glücklich sind und ihnen nichts passiert. Genau deshalb gibt’s auch diesen besonderen Tag für Väter.“ Zelda und Hilda starrten Sabrina an. „V-A-T-E-R!“ Zelda betonte jeden einzelnen Buchstaben. „T-A-G“, fügte Hilda hinzu und deutete auf das Baby. „Oh Mann!“ Sabrina saß plötzlich kerzengerade im Bett. „Deshalb wollte ich früher aufstehen. Heute ist Vatertag.“ 8
„Und du hast noch kein Geschenk“, stichelte Zelda. „Komm erst mal frühstücken“, meinte Hilda. „Danach sehen wir weiter.“ Sabrina schreckte hoch. Sie saß in ihrem eigenen Bett. Eine dicke, schwarze Katze lag zusammengerollt am Fußende der Matratze und wedelte mit dem Schwanz hin und her. „Oh Mist.“ Salem klang noch ziemlich verschlafen. „Du bist ja wach. Und ich hatte gehofft, ich könnte das Baby spielen in deinem Traum.“ „Noch nicht mal da habe ich meine Ruhe“, beschwerte sich Sabrina. Sie griff nach ihrem Kissen und pfefferte es Richtung Salem, doch der war schon längst aus dem Bett gesprungen. Zehn Minuten später war Sabrina angezogen und stapfte in die Küche. Zelda arbeitete an ihrem Laptop. Sie trug ein Sommerkleid aus Chiffon mit einem Matrosenkragen. Hilda steckte in einem geblümten Kleid mit Peter-Pan-Kragen. Beide sahen aus, als ob sie zu einer dieser langweiligen Gartenpartys wollten. Hilda strich gerade Zuckerglasur über ein paar warme Zimtrollen. „Die sind für dich“, meinte sie zu Sabrina. „Was fällt euch ein, in meinem Traum aufzutauchen?“ Sabrina funkelte die Tanten wütend an. „Versucht ihr etwa, Freddy Krueger nachzumachen?“ „Wir wollten dich eigentlich wie üblich wecken“, antwortete Hilda. „Aber du hast uns nicht gehört. Deshalb haben wir uns in dein Gehirn geschlichen.“ „Entschuldige, dass wir so bei dir reingestürmt sind, aber wir müssen gleich zu Kobolds Sommerbrunch. Also, was willst du deinem Vater schenken?“ Sabrina schob sich an die Zimtrollen heran, steckte ihren Finger in den weißen Zuckerguss und schleckte ihn ab. „Ich... äh, ich habe mich noch nicht entschieden.“ Zelda sah sie vorwurfsvoll an. „Du wartest immer bis zur letzten Sekunde.“
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Sabrina seufzte und schüttelte den Kopf. „Was soll ich denn einem Hexer schenken, der sowieso schon alles hat?“ „Es war noch nie einfach, ein Geschenk für unseren lieben Bruder zu finden“, gab Hilda zu. Sie schnippte mit den Fingern. „Ich hab’s. Er liebt Manschettenknöpfe.“ „So?“ Zelda verzog das Gesicht. „Und wie viel davon hat er inzwischen? Hundert? Tausend?“ „Das Paar, das ich ihm geschenkt habe, mag er jedenfalls sehr“, schmollte Hilda. „Ich möchte ihm etwas ganz Besonderes schenken, das ich ihm persönlich geben will.“ „Er wird alles mögen, was du ihm schenkst“, versicherte Zelda. „Wir wär’s zum Beispiel mit einem schwarzen Umhang für die Oper?“ „Er hat doch schon mehr als Dracula“, meinte Hilda. Zelda sprang plötzlich auf und deutete auf ihre Uhr. „Wenn wir jetzt nicht gehen, kommen wir zu spät zum Brunch. Und du weißt, wie wütend diese Kobolde werden, wenn wir nicht zum Aperitif da sind.“ „Was soll ich denn nun meinem Dad schenken?“, quengelte Sabrina. Hilda zog einen Katalog aus der Schublade. „Hier, der Fantastische Hexenkatalog. Dort findest du alles für einen anspruchsvollen Hexer.“ Sie öffnete ihre Hand, schnippte mit dem Finger, und das Magazin flatterte quer durch die Küche in Sabrinas Arme. Ein gut aussehender Hexer im Smoking und rotem Umhang zierte den Umschlag. Sabrinas Vater stand zwar mehr auf Klamotten von L. L. Bean als auf die aus dem Phantom der Oper, aber sie könnte ja mal einen Blick hineinwerfen. „Wir müssen gehen“, sagte Zelda. „Zerbrich dir nicht den Kopf wegen des Geschenks. Das Wichtigste ist doch, dass du überhaupt an den Vatertag gedacht hast.“ „Mit unserer Hilfe“, fügte Hilda hinzu. 10
Die Tanten schwebten die Stufen hinauf und Sabrina stürzte hinter ihnen her. „Ich schau sofort in dem Katalog nach“, rief sie. „Gute Idee“, zwitscherte Hilda. „Bis bald.“ Niedergeschlagen beobachtete Sabrina, wie die beiden in der Wäschekammer verschwanden. Grelle Blitze schossen durch die Türritzen. Dieser Vatertag verlief alles andere als geplant. Ein Mädchen in ihrem Alter hatte gewöhnlich einen Vater, der im Sessel herumlungerte und seine Tochter schikanierte. Aber ihr Vater war ein bekannter Hexer, der im Zauberbuch verzeichnet war und der im Universum herumschwirrte. Überall. Außerdem gab es nichts, was er nicht konnte. Und er hatte alles, was er wollte. Wie sollte ihr da noch etwas Neues einfallen? Sicher, er hatte sie den Tanten überlassen, die sich um sie kümmerten. Rein logisch betrachtet war das bestimmt das Beste. Denn die zwei Hexen konnten ihr beibringen, worauf es ankam. Trotzdem versetzte es Sabrina manchmal einen Stich, wenn sie daran dachte, dass ihre Eltern sich getrennt hatten und sie bei keinem von beiden sein konnte. Versonnen blätterte sie in dem Katalog. Alles sah so teuer aus, wie zum Beispiel die Taschentücher mit unsichtbarem Monogramm oder der magische Poloschläger. Ob Männer tatsächlich auf so etwas stehen?, überlegte Sabrina verwundert. Plötzlich kam ihr eine Idee. Wo ist Salem? Er ist ein Mann. Zumindest war er früher mal einer gewesen. „Salem“, rief sie. Die schwarze Katze stapfte langsam in die Küche. „Hab ich da eben etwas Ähnliches wie den Dosenöffner gehört?“ „Nein, aber ich brauche deine Hilfe“, antwortete Sabrina. „Was schenke ich meinem Dad zum Vatertag? Auf was stehen denn Männer so?“
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Sabrina warf den Katalog auf den Küchentisch. Salem sprang hinauf und grabschte wahllos zwischen den glänzenden Seiten herum. „Oh, hier haben wir was richtig Nettes“, meinte er süßlich. „Einen magischen Katzenbaum für deinen Liebsten.“ „Hör auf, Geschenke für dich auszusuchen. Ich brauche eines für meinen Vater.“ „Vielleicht ein Flohhalsband mit Gravur“, meinte Salem und schielte auf das Foto einer Siamkatze. „Ich glaube nicht, dass er schon eines hat.“ „Du bist wirklich keine große Hilfe“, maulte Sabrina. Sie beugte sich über den Katalog und blätterte ihn durch. „Familienwappen. Eigentumswohnungen in verschiedenen Größen. Glaubst du, dass ihm so was gefällt?“ „Vielleicht“, knurrte Salem. „Wenn er das ganze Zeug nicht sowieso schon hat.“ „Du hast Recht. Der Katalog nützt mir überhaupt nichts.“ Sabrina wollte ihn in die Ecke feuern, doch Salem knallte seine Pfote darauf. „Was soll das?“, schnappte sie vorwurfsvoll. „Mir ist was eingefallen. Diese Fantastischen Hexer haben in dem Einkaufszentrum im Anderen Reich einen Ausstellungsraum. Sie sollen dort angeblich eine Menge Artikel vorrätig haben, die nicht im Katalog stehen. Warum gehen wir nicht hin und schauen uns ein bisschen um?“ „Okay, versuchen können wir es ja“, sagte Sabrina und schöpfte wieder ein wenig Hoffnung. Sie warf einen Blick auf ihre gelben Jeans und das T-Shirt. „Glaubst du nicht, dass ich ein bisschen zu billig aussehe für diesen Laden? Vielleicht sollte ich mich umziehen?“ „Keine Angst, ich bin ja dabei.“ Salem sprang vom Tisch, sauste in den Flur und sprang die Treppe hinauf. Ein paar Minuten später stiegen Sabrina und ihr „Liebster“ in die magische Wäschekammer. Die Tür schloss sich hinter den
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beiden. Ein überirdisches Feuer schoss aus den Türritzen, als sie das Andere Reich betraten.
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2. Kapitel Sabrina streunte gerne durch Geschäfte. Sie konnte sich kaum von dem Anblick all der glitzernden Läden im Anderen Reich losreißen. Gemeinsam mit Salem kämpfte sie sich durch eine Unmenge von knallbunten Kleidern. Aus den Lautsprechern dröhnten schrille Klänge. Der Duft von teurem Parfüm und exotischen Früchten hing in der Luft. Durch eine kleine Besenkammer betraten sie schließlich den Verkaufsraum der Fantastischen Hexer. Mit seinen endlos langen Reihen von Kristallvitrinen und Regalen wirkte der Laden wie ein großer Ballsaal. Sabrina hatte den Eindruck, dass hier wirklich alles zu haben war. In einer der Vitrinen lagen funkelnde Edelsteine und Juwelen, die sicher einmal einem König gehört hatten. In den Regalen stapelten sich magischer Schnickschnack, Bücher, Sportsachen und festliche Kleider aus vergangenen Epochen. Salem sprang zu den Katzenbäumen. Sabrina stand noch unschlüssig in der Tür, als hinter einer Vitrine ein Feuerwerk sprühender Funken aufstieg. Ein hübscher Junge mit langem, braunem Haar entstieg dem Qualm. Er trug Jeans und ein TShirt und war kaum älter als Sabrina. „Kann ich dir helfen?“ Er lächelte freundlich. „Oh, gerne.“ Sabrina ging einen Schritt auf ihn zu und sah ihn Hilfe suchend an. „Arbeitest du hier?“ „Könnte man so sagen“, meinte der Junge und grinste. „Um die Wahrheit zu sagen, ich muss meine Schulden abarbeiten. Ich wollte etwas ganz Besonderes, hatte aber nicht genug Geld dabei.“ „Mir geht’s genauso.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Sabrina.“ „Byron Conniver“, stellte er sich vor. Er nahm Sabrinas Hand. Bei der Berührung zuckte sie zusammen. Nur 14
widerwillig trat sie einen Schritt zurück. In solchen Momenten tauchte immer ihr Freund Harvey Kinkle vor ihrem inneren Auge auf. Okay, sie sollte eigentlich nicht flirten, aber Byron war ein Hexer. Und bisher hatte sie noch nicht so viele attraktive Hexer in ihrem Alter getroffen. „Entschuldigung.“ Salem stand hinter ihr. „Die Spezialitäten für Katzen sind dort drüben.“ „Nein, Salem.“ Sabrina zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte vor Byron keinen Wutanfall bekommen. „Wir wollten doch etwas für meinen Dad suchen. Für den Vatertag, weißt du noch?“ „Bald ist doch auch der Feiertag für die Vertrauten der Familie, oder nicht?“ Salem lächelte sie unschuldig an. „Wir haben jede Menge tolle Sachen“, meinte Byron und deutete mit ausgestrecktem Arm in den riesigen Raum. „Außerdem ist Sommerschlussverkauf. Alle Zauberartikel sind dreißig Prozent billiger, die Nasenringe sogar vierzig Prozent. Waren ein totaler Flop dieses Jahr.“ „Das passt nicht zu meinem Vater“, meinte Sabrina und starrte zu den Vitrinen. „Er hat schon jede Menge Zauberkram. Und dazu Berge von Juwelen, Kleidern und Sportklamotten. Wenn man’s genau nimmt, hat er eigentlich alles. Was soll man einem anspruchsvollen Hexer auch schenken, der schon ein paar Hundert Jahre alt ist?“ Byron grinste sie an. „Ich wette, dass eine Tochter wie du ihm mehr wert ist als all das Zeug, das er hat.“ „Ach, wie liebenswürdig“, meinte Sabrina und schenkte Byron ein Lächeln. Du bist nicht zu deinem eigenen Vergnügen hier, warnte sie eine innere Stimme. Lass ihn einfach stehen, diesen Verkäufer. „Okay, es ist unwahrscheinlich, dass ich irgendetwas finde, was er noch nicht hat.“ Sie tippte nachdenklich mit dem Finger an ihr Kinn. „Aber ich könnte ihm wenigstens irgendwas Lustiges mitbringen.“ 15
„Klar. Haben wir.“ Byron deutete in den hinteren Teil des Verkaufsraumes. Spielzeug und Spiele stapelten sich in den Vitrinen. „Wir haben jede Menge nette Brettspiele. Mein Favorit ist Hexopoly.“ „Hexopoly?“ „Ja. Man spielt es mit Würfeln und Karten und muss alle möglichen Hindernisse überwinden. Ab und zu muss man leichte Fragen über Hexen und all das Zeug beantworten. Das Tollste ist, dass man an viele Zauberorte kommt. Die Schauplätze sind alle in der Mitte, wie bei einem Videospiel.“ „Das hört sich wirklich gut an“, stimmte Sabrina zu. „Ich könnte es mit meinem Dad spielen. Ein Grund mehr, ihn zu besuchen.“ Byron sah sie fragend an. „Kommst du nicht klar mit deinem Vater?“ „Und ob“, sagte sie schnell. „Seit ein paar Jahren lebe ich allerdings bei meinen Tanten. Zuerst habe ich gedacht, meine Eltern hätten mich da abgeladen, weil sie ständig unterwegs sind. Dann glaubte ich, es wäre wegen ihrer Scheidung. Jetzt weiß ich, warum ich dort bin. Weil ich lernen muss, eine Hexe zu werden. Und das ist verdammt schwer.“ „Wem sagst du das.“ Der junge Hexer verdrehte die Augen. „Was ist mit deinem Prüfer?“ „Er ist im Ausbildungslager.“ Salem spuckte plötzlich ein Haarknäuel aus. „Es ist wirklich rührend, an all diesen Erinnerungen teilzuhaben, aber der Vatertag ist in ein paar Stunden vorbei. Können wir jetzt bitte weitermachen?“ „Klar. Hier geht’s lang.“ Byron führte sie in eine gespenstische, nebelverhangene Abteilung. Mit jedem Schritt wurde es kälter, und Sabrina hatte das Gefühl, als ob sie in eine magische Höhle hinunterstiegen. Auch hier standen überall Regale, die sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen. 16
Schließlich erreichten sie den Abschnitt mit dem Spielzeug und den Sportartikeln. Eine ganze Reihe war nur mit magischen Pfeilen und Bögen bestückt, einschließlich der Amorvariante. Ein knatterndes Geräusch schreckte Sabrina auf, und sie sah, wie eine Eisenbahn auf unsichtbaren Schienen dahintuckerte. Ein Hexenbesen hüpfte von allein in der Gegend herum. Byron lächelte verlegen. „Ich lasse das Zeug nur ein bisschen üben. Bitte verrate meinem Chef nichts.“ Sabrina warf ihm einen koketten Blick zu. „Wo denkst du hin?“ „Hier müssten wir richtig sein“, verkündete Byron. Er deutete auf ein Regal. Es war komplett leer. „Geht’s um ein unsichtbares Spiel?“, wollte Salem wissen. „Oder ist es nur so winzig?“ Der junge Hexer runzelte verwirrt die Stirn. „Die Spiele waren genau hier. Da steht’s doch, an dem Regal: Hexopoly. Vielleicht ist es ausverkauft.“ „Ausverkauft?“ Sabrina sah überhaupt nicht begeistert aus. „Endlich habe ich was für meinen Dad gefunden – und dann ist es ausverkauft.“ „Wir haben noch andere Spiele“, meinte Byron und lächelte verlegen. „Bei einem kann man sogar die Weltherrschaft übernehmen.“ „Das wollen wir.“ Salems Schwanz sauste vor Aufregung hin und her. „Vergiss es.“ Sabrinas Schultern sackten herab. „Schon okay, Byron. Ist ja nicht dein Fehler, wenn das Spiel ausverkauft ist. Es ist sicher sehr beliebt.“ Sie versuchte ein Lächeln. „Hexopoly ist bestimmt ein magisches Spiel. Du könntest sicher mal eben eines herzaubern.“ „Geht leider nicht“, antwortete der junge Hexer niedergeschlagen. Doch plötzlich kroch ein Lächeln über seine
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Lippen. „Im Lager könnten noch ein paar Hexopoly sein. Kann nicht schaden, mal nachzusehen.“ Sabrina sah ihn fragend an. „Sollen wir hier warten?“ „Nein, ihr könnt mitkommen.“ Byron wirbelte mit seinem Finger in der Luft herum. Eine glitzernde Wolke umhüllte sie und ließ sie in der Dunkelheit verschwinden. Sie landeten in einem grauen, schmutzigen Raum. Die Wände bestanden aus unverputztem Zement, wie in einem Keller. Unzählige Regale erstreckten sich bis zur Decke, und jeder Zentimeter war voll gestopft mit verstaubten Artikeln. Nichts davon sah auch nur im Entferntesten magisch aus. So schön der Verkaufsraum gewesen war, so hässlich war dieses Lager. Dennoch war der Raum genauso riesig... und irgendwie unheimlich. „Aha“, ereiferte sich Salem. „Hier liegt wahrscheinlich das gebrauchte Zeug herum, das in keinem Laden mehr verkauft werden kann.“ Byron zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung, warum die Sachen hier sind. Vielleicht sind sie zurückgelegt oder zurückgegeben worden. Möglicherweise ist der Verkaufsraum auch einfach zu voll. Schauen wir uns doch ein bisschen um.“ Wie ein Archäologe, der Ruinen inspiziert, durchstreifte Byron die schummrig erleuchteten Gänge, auf der Suche nach dem Hexopoly. Mit einem Fingerschnipsen öffnete er Schachteln, lüftete verstaubte Leintücher und schielte darunter. Sie fanden hauptsächlich alte Rüstungen, die zerbrochen oder verbeult waren. Magische Rüstungen scheinen bei Hexern wohl nicht mehr gefragt zu sein, dachte Sabrina. Byron blieb stehen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Ein winziger Wirbelwind aus Gedanken drehte sich über seinem Kopf und ließ seine Haare zu Berge stehen. Plötzlich riss er die Augen auf. Er stürmte zu einem gelblichgrauen Regal an der hinteren Wand. Sabrina und Salem rannten hinter ihm her. 18
Ein paar alte Spieldosen und Keramiken standen unten auf einem der Bretter. Und daneben ein flacher Karton mit leuchtenden Buchstaben. Hexopoly. „Bingo!“, rief Byron und grinste. „Sieht so aus, als ob wir doch noch eines hätten.“ Er bückte sich und griff nach dem Karton, der von einer leichten Staubschicht überzogen war und auch ein wenig abgegriffen aussah. „Hm, ich glaube, die Schachtel ist schon mal geöffnet worden“, meinte er bekümmert. „Ich werde nachsehen, ob das Spiel noch komplett ist.“ Der junge Hexer öffnete die Schachtel und stöberte darin herum. Sabrina erhaschte einen Blick auf das Spielfeld und verschiedene reich verzierte Teile. „Scheint alles da zu sein“, stellte Byron schließlich fest. „Also, Sabrina, willst du das letzte Hexopoly? Ich gebe es dir zum halben Preis.“ Sabrina war begeistert von den lustigen Bildern auf der Schachtel und nahm Byron das Spiel aus den Händen. „Weißt du, warum es hier unten liegt?“ Der junge Hexer zuckte mit den Achseln. „Ich komme nicht oft hierher. Mr Hawthorn, der Geschäftsführer, füllt die Regale auf. Aber ich wüsste nicht, warum wir ein Problem kriegen sollten.“ „Dürfte ich wissen, was das Spiel kostet?“ Salem lächelte säuerlich. „Denk dran, dass es gebraucht ist.“ Sabrina starrte auf die Schachtel mit den knallbunten Bildern und den glänzenden Buchstaben. „Spaß für die ganze Hexenfamilie“ stand darauf. „Mr Hawthorn ist immer auf der Suche nach Einzelstücken. Seien es Zauberartikel, schöne Antiquitäten, Zauberbuchstaben oder sogar Kochrezepte. Solange es zum halben Preis ist, muss es nicht so besonders ausgefallen sein.“ „Ich hab allerdings kein Geld dabei“, meinte Sabrina. „Aber ich brauche unbedingt was... noch heute.“
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„Ich verstehe“, sagte der junge Hexer. „Du kannst später bezahlen. Um ehrlich zu sein, es wäre toll, wenn du wiederkommst und ein bisschen mehr Zeit hättest. Wir könnten uns unterhalten und ich würde dir alles zeigen. Wir haben nämlich jede Menge coole Klamotten – und ich wette, dass du die gerne mal anprobieren würdest.“ „Wenn ich einen Spiegel und ein paar Kleider habe, kann ich mich tagelang beschäftigen“, stimmte Sabrina zu. „Allerdings muss ich jetzt gehen. Kann ich das Spiel nun haben?“ Byron runzelte die Stirn. „Ich muss leider auf einer Anzahlung bestehen.“ „Wie wär’s mit Salem?“, meinte Sabrina halb im Scherz. „Hei“, brummte die Katze. „Es war meine Idee, hierher zu kommen. Wenn es nach mir ginge, würde dein Vater einfach noch ein Paar Manschettenknöpfe kriegen.“ Sabrina durchwühlte die Taschen ihrer Jeans. „Ich habe bestimmt irgendwas, das ich dir hier lassen könnte.“ Mehr als ein Haarclip und vier Marken für die Videopassage kamen jedoch nicht zum Vorschein. „Sieht so aus, als wäre ich ein bisschen abgebrannt.“ „Ich nehme die Marken“, sagte Byron und hielt die Hand auf. „Ich erzähle Mr Hawthorn, es wären alte Münzen aus dem Reich. Er ist sowieso ein bisschen durch den Wind. Aber du kommst doch zurück, oder?“ „Natürlich.“ Sabrina lächelte den hübschen Hexer an, dann drückte sie ihm die Marken in die Hand. „Jetzt brauche ich nur noch Geschenkpapier und eine Karte.“ „Wenn du erlaubst?“ Byron nahm die Schachtel und klemmte sie unter seinen Arm. Er lächelte neckisch und schnippte mit den Fingern. Gemeinsam düsten sie zurück in den Verkaufsraum. „Schau her.“ Er ging zu einem voll gestopften Regal, drehte es herum und deutete auf Dutzende Rollen von Geschenkpapier. Es gab alles, was man sich vorstellen konnte, 20
vom einfachen Packpapier bis zum eleganten Gold- und Silberpapier. An einem Gestell hingen Bänder in allen Farben. „Das Einpacken ist im Preis inbegriffen“, sagte Byron stolz. „Such dir etwas aus.“ Kaum hatte Sabrina auf ein ebenholzschwarzes Papier mit purpurroten Blitzen gedeutet, wickelte sich ein Meter Papier wie eine Schlange von der Rolle. Byron hielt das Spiel hin, und das Papier legte sich um den Karton. Innerhalb kürzester Zeit war das Hexopoly perfekt verpackt. „Ich denke, wir nehmen Gelb dazu“, sagte Byron und schnippte mit den Fingern. Ein Stück gelbes Band rollte von der Spule und schlängelte sich in einer kunstvollen Schleife um das Paket. Sabrina griff schnell danach. „Toll, Byron. Vielen Dank.“ „Vergiss die Karte nicht.“ Er schnippte erneut mit den Fingern, und eine Reihe von Vatertagskarten tanzte durch die Luft. Die Karten flatterten auf und zu und enthüllten die Glückwünsche, die darin standen. Besorgt schaute Sabrina auf die Uhr. „Ich muss gehen.“ Ohne genau hinzusehen schnappte sie sich eine Karte aus der Luft und schob sie unter die Schleife. „Danke für alles, Byron. Und wie komme ich jetzt nach Hause?“ „Die Geheimkammer ist dort drüben“, meinte der junge Hexer und deutete auf eine versteckte Tür in der Ecke. Er sah ein bisschen besorgt aus. „Ich brauche noch deine Adresse, deine Hexenlizenz und all das Zeug, aber ich weiß ja, dass du es eilig hast. Du wirst doch zurückkommen und zahlen, oder?“ „Darauf kannst du wetten. Außerdem will ich die Marken zurückhaben, weil ich die höchste Punktzahl bei den Blutrünstigen Monstern erreichen will.“ Mit glücklichem Lächeln steuerte Sabrina auf die Tür der Geheimkammer zu, die sich öffnete, als sie davor stand. „Bist du sicher, dass wir kein neues Katzenklo brauchen?“, fragte Salem, der stehen geblieben war. 21
„Ich bin sicher. Bis später, Byron.“ „Tschüss“, rief der junge Hexer sehnsüchtig, als die hübscheste Kundin, die er jemals hier gesehen hatte, verschwand. Sabrina stand vor ihrem Schlafzimmerspiegel und betrachtete sich bewundernd. In dem ärmellosen, knöchellangen Partydress sah sie ziemlich elegant und irgendwie erwachsen aus. Sie hatte sich extra ein cooles Outfit ausgesucht, das zu der Jahreszeit passte und trotzdem modisch genug war, damit sie sich mit ihrem Vater überall sehen lassen konnte. Denn sie wusste inzwischen, dass Edward Spellman überall hingehen konnte. Jahrelang hatte Sabrina geglaubt, dass ihr Vater im Außendienst tätig sei und in der ganzen Welt umherstreifte. Sicher, er trieb sich überall herum, allerdings weit über die irdische Welt hinaus – in anderen Dimensionen und anderen Reichen. Er hatte sogar eine Freundin. Für Sabrina war es schwer gewesen, zu akzeptieren, dass er eine andere Frau liebte als ihre Mutter, aber schließlich hatte sie sich damit abgefunden. Der Vatertag war die Chance, sich bei ihrem Dad wieder ins Spiel zu bringen. Als sie noch jünger war – vor der Scheidung –, hatte sie ihn oft gesehen. Und sie vermisste ihn. Egal, was mit den anderen Menschen in ihrem Leben passierte, sie beide würden für immer Vater und Tochter bleiben. Und es gab keinen Grund, ihm noch länger böse zu sein. Sabrina nahm das Geschenk vom Bett. Dann schlug sie ein großes, in Leder gebundenes Buch mit dem Titel Die Entdeckung der Magie auf. Sie blätterte es durch und suchte nach der Seite mit den Eselsohren, auf denen der Artikel über ihren Vater stand. Das Buch war eine Mischung aus einem Nachschlagewerk, einem Telefonverzeichnis und den Gelben Seiten für alle Zauberartikel. 22
Als sie das kleine Bild von ihrem Vater gefunden hatte, legte sie das Buch auf ihr Bett und schielte zu ihrer Katze hinüber. „Okay, Salem, ich gehe dann. Wir treffen uns später wieder.“ „Einen Augenblick.“ Die Katze klang irgendwie beleidigt. „Du willst mich also hier lassen, ganz allein? Habe ich dir nicht gesagt, woher du ein Geschenk bekommst? Du könntest mich doch sicher mitnehmen zu deinem Dad. Ich habe Edward immer sehr nahe gestanden, erinnerst du dich nicht? Und nebenbei bemerkt macht es viel mehr Spaß, wenn wir zu dritt spielen.“ Sabrina seufzte. „Okay. Aber du musst versprechen, dass du nicht schummelst... so wie immer.“ „Die Würfel sind schon gefallen“, murmelte Salem geheimnisvoll. Sabrina drehte sich wieder zu dem Buch, das geöffnet auf ihrem Bett lag. Daneben lag der Katalog der Fantastischen Hexer. Sie hatte zwei Möglichkeiten, ihren Vater ausfindig zu machen. Entweder konnte sie sein Bild fragen, um herauszufinden, wo er sich aufhielt. Oder sie konnte den direkten Weg durch das Buch nehmen und ihn dann überraschen, wo auch immer er sein mochte. Sabrina liebte nun einmal Überraschungen. In der einen Hand hielt sie das Geschenk, mit der anderen nahm sie die Katze vom Boden auf. „Leg den Sicherheitsgurt an, Salem, es geht gleich los.“ „Wohin gehen wir?“, wollte Salem wissen. Er klang ein wenig kleinlaut. „Überall und nirgendwohin“, meinte Sabrina und lachte ausgelassen. „Du kennst ja meinen Vater.“ Sabrina sprang in die Luft und tauchte in das Buch ein, mit den Füßen voran. Es zischte und krachte. Ein Funkenregen explodierte in der Luft. Sabrina, die Katze und das Spiel waren verschwunden. Das Buch klappte zu. 23
3. Kapitel Kaum war Sabrina gelandet, wusste sie, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Sie konnte kaum atmen und hatte keinen Boden unter den Füßen. Zumindest keinen festen. Es war eine Art dünner Treibsand, der sich hin und her bewegte. Als sie sich umsah, merkte sie, dass sie von schmutziggrauen Eisbrocken umgeben war. Über ihr wölbte sich der unendliche Weltraum mit Sternen, der Milchstraße und Nebeln. Niemand kann das Weltall so klar sehen, außer man befindet sich mittendrin, dachte Sabrina. Vor lauter Begeisterung wären ihr beinahe die Katze und das Spiel aus den Händen gerutscht. Sie klemmte beides wieder fest unter den Arm und rief dann einen Zauberspruch aus: „Auf die Schnelle eine Hülle, sonst droht Gefahr, ganz sonnenklar.“ Eine riesige Seifenblase hüllte sie ein und Sabrina holte tief Luft. Tatsächlich! Endlich konnte sie wieder richtig atmen. Sabrina sah sich um und versuchte herauszufinden, wo sie waren. Sie standen auf einer Fläche aus riesigen Eisbrocken, die sich in der Entfernung zu krümmen schien. Ein großer, gelber Planet davor ließ die Fläche jedoch klein erscheinen. Der umwölkte Himmelskörper schien so nah zu sein – und so gigantisch groß –, dass Sabrina beinahe die Hand ausgestreckt hätte, um ihn zu berühren. Aus der Schule wusste sie, dass es Planeten gab, die einen Ring hatten. Dieser Planet konnte also der Saturn sein. Und sie stand auf diesem Ring. Aber warum war sie hier? Und wo steckte ihr Vater? „Ich will nach Hause“, flüsterte Salem und zitterte schrecklich. 24
Lautlos und ohne Vorwarnung schob sich plötzlich eine Flotte von Segelschiffen über die Anhöhe. Sie tanzten über den Ring wie Windsurfer über Wellen. Die bunten Schiffe peitschten auf breiten Kufen, die wie Skier aussahen, über das Eis. Die Segel blähten sich in einem magischen Wind auf. Als sie näher kamen, entdeckte Sabrina, dass auf jedem Schiff ein Lotse stand. „Ein wunderschöner Anblick“, meinte Salem. „Wenn sie nicht direkt auf uns zusteuern würden. Zieh den Kopf ein!“ Sabrina ging in die Hocke, aber sie waren nicht in Gefahr. Die schützende Seifenblase, in der sie sich befanden, war wie ein Felsblock inmitten der Rennstrecke. Einige der bunten Segelschiffe krachten gegen die Blase und wirbelten in alle Richtungen davon. Zwei von ihnen rasselten durch den rußigen Ring und hinterließen ein großes Loch, als sie auf der anderen Seite verschwanden. Die restlichen Schiffe rasten hinter ihr herum und ein paar der Lotsen hoben drohend ihre Fäuste gegen Sabrina. „Tut mir Leid“, murmelte sie mit einer kleinen Verbeugung. Verblüfft beobachtete Sabrina, dass die Schiffe, die an der Seifenblase abgeprallt waren, im dunklen Weltall Saltos schlugen und verwegene Kurven drehten. Dann glitten sie hintereinander wieder auf den Ring und verfolgten sich gegenseitig. Die bunten Segel hoben sich faszinierend von dem rauen, gelben Planeten ab. Plötzlich scherte ein rotes Schiff mit silbernem Segel aus der Gruppe aus. Es wendete hart und spritzte eine Ladung kleiner Eisbrocken auf. Dann steuerte es auf Sabrina zu. Ein bärtiger Mann in silbernem Overall stand am Steuer. Er lehnte sich weit über das Steuerbord, und das Schiff schien mühelos über den Ring des Planeten zu gleiten. Der Lotse sah wirklich cool aus in seinem Dress, und Sabrina verstand plötzlich, warum die Frauen ihm zu Füßen lagen.
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Das Segelschiff bremste scharf. Eisbrocken flogen gegen die Seifenblase. Sabrina lächelte, doch die Zornesröte im Gesicht ihres Vaters ließ sie erstarren. Er sah überhaupt nicht begeistert aus. „Sabrina!“, bellte Edward Spellman. „Was, zum Teufel, machst du hier, mitten auf dem Saturn 500? Du hast unser Rennen gestört.“ Sie wedelte mit ihrem Paket in der Luft herum. „Entschuldige, Dad, aber... äh... heute ist Vatertag.“ Mit einem Schlag verschwand Edwards Wut. Stattdessen sah er nun verwirrt und schuldbewusst aus. „Hatten wir denn irgendwelche Pläne gemacht?“ Sabrina versuchte zu lächeln. „Das nicht gerade. Ich wollte dich einfach überraschen.“ „Nun, das ist dir tatsächlich gelungen.“ Wieder sah er sie genervt an. „Du hättest mich wenigstens warnen können.“ „Deine Maschine ist wirklich cool“, meinte Sabrina und deutete auf das Schiff. „Wie funktioniert sie denn?“ Ein stolzes Lächeln kroch über Edwards Gesicht. „Die Segel sammeln die magische Kraft, die der Saturnring ausstrahlt. Mein Schiff ist allerdings eine Spezialanfertigung. Es funktioniert auch mit Sonnenenergie.“ Er seufzte. „Alle hundert Jahre veranstalten wir so ein Rennen. Und ich hatte gehofft, dass ich in diesem Jahrhundert gewinnen würde.“ Sabrina runzelte die Stirn. „Entschuldige, jetzt habe ich dein Rennen vermasselt. Ich könnte, ich meine... ich könnte verschwinden und später wiederkommen.“ „Auf keinen Fall“, sagte Edward mit weicher Stimme. „Heute ist Vatertag. Ich hätte es wissen müssen. Sollen wir zu mir gehen und ein bisschen feiern?“ Sabrina sah ihn erleichtert an. „Klar.“ „So schnell wie möglich“, murmelte Salem und presste seine Augen zu. „Mir wird nämlich schwindlig.“
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Edward lachte und wedelte mit der Hand in der Luft herum. Mit tiefer, beinahe tierischer Stimme dröhnte er: „Saturnringsegeln ist das Beste, doch heute lade ich zum Feste. Folgt mir sofort, ganz ohne Frage, ich geb ’ne Party am Vatertage.“ Er klatschte in die Hände. Ein riesiger Funkenregen prasselte auf den Saturnring herunter. Auf der Erde beobachteten vier Astronomen das Spektakel mit ihren Teleskopen und nahmen an, dass ein paar Asteroiden zusammengestoßen waren. Sabrina fand sich auf der Veranda einer luxuriösen Villa wieder, hoch oben auf einem Felsen. Weit unten in der Tiefe brachen sich die Wellen an dem Felsen. Aus der Ferne wirkte der Ozean wie ein tiefblaues Tuch, auf dem unzählige Diamanten funkelten. Sabrina räkelte sich faul in der warmen Sonne und genoss die kühlende Brise, die vom Meer heraufwehte. Ihr langes Sommerkleid passte perfekt zu dieser Umgebung. „Wie wär’s mit einem Schokomilchshake?“, meinte Edward. Er saß an einem edlen, weißen Marmortisch, nahm einen Krug und füllte ein großes Glas mit der braunen Flüssigkeit. „Du weißt genau, was ich will“, sagte Sabrina und nahm dankbar das Glas entgegen. Sie legte ihren Zauberfinger auf den Rand, und ein Strohhalm erschien. „Richtig“, bestätigte Edward. „Zu wissen, was die eigene Tochter mag, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um ein guter Vater zu sein. Und wie gefällt dir meine Villa?“ „Sie ist großartig“, erwiderte Sabrina bewundernd. „Wo sind wir denn eigentlich?“
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„Lass mich raten“, unterbrach Salem und wedelte mit seinem Schwanz herum. „Da unten, das ist das Mittelmeer, und wir sind in der Nähe von Neapel.“ Edward war tief beeindruckt. „Sehr gut. Hast du das an der Küstenlinie erkannt oder an der Architektur?“ „An keinem von beiden“, antwortete die Katze. „Ich habe Sardinen und Tintenfisch gerochen. Zubereitet alla Napoletana. Ihr Menschen könnt euch nicht vorstellen, wie fantastisch es ist, gut riechen zu können.“ „Du riechst auch nicht schlecht“, meinte Sabrina, „seitdem du gestern im Abfall gelandet bist.“ „Ging nicht anders.“ Salem sah sie beleidigt an. „Warum wirfst du auch immer die köstlichen Hühnermägen weg?“ „Ich will ja nicht ablenken“, meinte Sabrina und verzog ihr Gesicht. „Aber wie geht’s deiner Freundin Gail?“ Edward runzelte die Stirn. „Sie ist unterwegs, um vor dem Hexenrat auszusagen. Da es keine rechtliche Angelegenheit ist, muss es sich um Politik handeln. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.“ Sabrina lächelte nachdenklich. „Warum suchst du dir immer Frauen aus, die ständig arbeiten oder in der Gegend herumreisen?“ „Nun“, erwiderte ihr Vater und strich sich gedankenverloren über den Bart. „Man sucht die Liebe nicht – sie sucht dich. Und wie geht’s deiner Mutter?“ „Sie ist okay. Ich habe sie letztes Jahr gesehen, als ich nach Peru gereist bin. Ihr neuer Assistent ist ziemlich hübsch.“ „Ich hoffe, sie ist glücklich.“ Edward seufzte. „Es ist schwierig für einen Hexer, mit einer Sterblichen verheiratet zu sein. Ich hatte nie realisiert, wie schwierig.“ Er zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. „Wenn ich es recht überlege, ist es fast genauso schwierig, mit einer Hexe verheiratet zu sein. Auf die Dauer wird das Ganze ein bisschen langweilig, nach ein paar hundert Jahren.“ 28
„Nett, dass du mir sagst, worauf ich mich freuen kann“, murrte Sabrina. „War nur ein Scherz“, sagte Edward. „Und wie geht’s Harvey?“ „Gut.“ Sabrina wollte nicht über ihren Freund sprechen. Er war Teil ihres normalen Lebens, das sie sehr schätzte. Sie hatte eigentlich immer gedacht, dass ihr Leben mehr oder weniger normal sei. Aber an ihrem sechzehnten Geburtstag war sie eines Besseren belehrt worden. Seitdem wusste sie, dass sie eine Hexe war. Sie hatte also die Wahl. Entweder konnte sie einen Hexer heiraten oder irgendeinen armen Sterblichen verrückt machen. „Alles Gute zum Vatertag.“ Sabrina schob das Geschenk über den Tisch. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Edward nahm das Paket und schüttelte es. „Was ist denn da drin?“ „Warum machst du es nicht auf und siehst nach?“ „Zuerst die Karte.“ Edward zog sie unter dem gelben Band hervor und riss sie auf. Vorne drauf waren ein baumbestandener Fluss und zwei Jungen, die angelten. Laut las er den Text vor: „Wir graben nach Würmern die halbe Nacht, um Fische zu fangen bis halb acht. Wir nehmen sie aus und werden sie essen und hoffentlich das Rülpsen vergessen. Dein dich liebender Sohn.“ Überrascht sah er auf. „Dein dich liebender Sohn?“ Sabrina lachte. „Ich war in Eile. Aber ich habe viel Zeit damit verbracht, das Geschenk auszusuchen. Mach es doch endlich auf.“ „Okay.“ Edward riss das Geschenkpapier ab, und seine Augen leuchteten auf, als er das Spiel sah. „He, das ist super. 29
Ich habe schon von Hexopoly gehört, aber ich habe es noch nie gespielt. Weißt du, wie es funktioniert?“ Im gleichen Augenblick hüpfte eine schmale Schriftrolle aus dem Karton und landete direkt in Edwards Händen. Er lachte vergnügt. „Ich nehme an, dass ich die Spielregeln vorlesen soll.“ „Ich will auch mitspielen“, quengelte Salem und hüpfte auf einen der Verandastühle. „Herzlich willkommen im Land von Hexopoly, dem Spiel, das deine Intelligenz und dein Glück auf die Probe stellt“, las Edward vor. „Ein Spaß für die ganze Hexenfamilie.“ „Das werden wir ja sehen“, meinte Salem und rümpfte die Nase. Byron staubte gerade die Vitrinen im Verkaufsraum ab und versuchte, möglichst beschäftigt auszusehen. Tatsächlich dachte er jedoch über die Kundin nach, die heute bei ihm gewesen war. Sabrina. Sie hatte sich nicht wie eine Hexe benommen, sondern wie ein ganz normales Mädchen. Vielleicht war es das, was ihm gefallen hatte. Denn die meisten jungen Hexen, die er kannte, waren hochnäsig und zu sehr von sich selbst überzeugt. Er seufzte und ließ seinen Staubwedel verschwinden. Sie wird bestimmt zurückkommen, redete er sich ein. In diesem Moment öffnete sich die Geheimtür, und ein bebrillter Mann mit Aktentasche erschien. Mr Hawthorn stürmte in den Verkaufsraum. Geschäftig rückte er die Regale zurecht, an denen er vorbeikam. Er war rechthaberisch und pingelig. Aber welcher Chef war das nicht? Mr Hawthorn huschte hinter den Ladentisch, öffnete seine Aktentasche und zog vorsichtig ein Schinkensandwich heraus. „Die Antiquitätenmärkte waren ein glatter Reinfall heute“, beschwerte er sich. „Nichts Brauchbares – und alles sündhaft
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teuer. Ich sollte vielleicht noch mal beim Flohmarkt am Autorastplatz vorbeischauen.“ „Ich habe ein paar Sachen verkauft“, sagte Byron stolz. Der Geschäftsführer biss in sein Sandwich. „Tatsächlich? Was denn?“ „Einen von den heruntergesetzten fliegenden Teppichen“, antwortete Byron. „Das Model J-1000. Ich habe vier Jahrestickets für die Baseballmannschaft dafür bekommen.“ „Wunderbar.“ „Und ich habe ein Hexopoly verkauft.“ Mr Hawthorn sah ihn argwöhnisch durch seine dicken Brillengläser an. „Hexopoly! Aber wir haben doch keines mehr. Das Spiel ist seit zwei Wochen aus dem Handel genommen.“ Byron deutete in den Hintergrund des Verkaufsraumes. „Im Lager war noch eines.“ Das Gesicht des Geschäftsführers wurde kreidebleich. Sein Unterkiefer klappte herunter und das Sandwich fiel aus seinem Mund. „D... du... du hast doch nicht etwa das von dem kleinen Brett genommen?“ „Das unter den Flöten“, antwortete Byron. „Habe ich was falsch gemacht?“ „Ob du etwas falsch gemacht hast?“, kreischte Mr Hawthorn und raufte seine Haare. „Ja! Du hast etwas falsch gemacht. Die Artikel auf diesem Brett sind alle beschädigt. Ihre Zauberkraft geht nach hinten los. Und bei Hexopoly ist es am schlimmsten.“ „Warum liegen sie dann da?“ „Ich habe sie dort aufbewahrt, bis das Bombenkommando kommt und sie entschärft.“ Mr Hawthorn schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. „Ich muss ruhig bleiben. Wir sind beide Hexer. Wir können das kaputte Spiel zurückholen. Wann hast du es verkauft?“ „Vor einer halben Stunde ungefähr.“ 31
„Gut. Ich brauche Namen und Adresse des Kunden.“ Byron schluckte nervös. Ihm war klar, dass er nun Ärger kriegen würde – genauso wie Sabrina. „Ich... äh, ich weiß nur ihren Vornamen. Sabrina.“ „Hast du eine Kopie ihrer Hexenlizenz gemacht?“ Der junge Hexer verzog das Gesicht. „Sie hatte es eilig, und ich... ich habe den Papierkram vergessen.“ „Wie bitte?“, schrie Mr Hawthorn. „Das ist doch absurd. Wir verkaufen ein tödliches Produkt und wissen noch nicht einmal den Namen der Kundin! Hat sie bezahlt dafür oder hast du diese Vorschrift genauso großzügig missachtet?“ „Sie hat eine Anzahlung hinterlassen“, meinte Byron kleinlaut, öffnete die Registrierkasse und durchsuchte die Schublade. Schließlich zog er eine Affenpfote und einen Hasenfuß heraus, dann zwei glitzernde Kristalle und die Münzen für die Videopassage. Mr Hawthorn atmete schwer und sank erschöpft auf einen Stuhl. „Wir sind ruiniert! Sie werden uns bestimmt verklagen – wenn sie überhaupt noch leben.“ Jetzt war auch Byron mehr als beunruhigt. „Was genau stellt das Spiel denn mit ihnen an?“ Der Geschäftsführer zitterte am ganzen Körper. „Alles, was in dem Spiel passiert, widerfährt den Spielern in der Realität.“
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4. Kapitel Sabrina, ihr Vater und Salem saßen auf der wunderschönen Terrasse, hoch oben über dem Mittelmeer. Sie beachteten nicht das kristallblaue Wasser und die tosenden Wellen, die tief unter ihnen gegen den Felsen krachten. Das Spiel lag ausgebreitet vor ihnen auf dem weißen Marmortisch, und gemeinsam studierten sie die Anleitung. In der Mitte des Hexopoly-Spielbretts befand sich eine dunkle Grube, die umgeben war von einem wirbelnden Strudel. Entsprechend der Richtung enthüllten sich verschiedene Ansichten. Um das Brett herum schlängelte sich ein Pfad, mit genau markierten Spielfeldern. Die meisten der Felder enthielten Anweisungen, denen man folgen musste. Bei einigen wenigen waren Brücken eingezeichnet, die als Abkürzungen dienten und zu anderen Teilen des Pfades führten. In jeder Ecke lag ein Stoß Karten – insgesamt vier. Auf dem Ersten stand „Leichte Fragen“, auf dem Nächsten „Glück“, auf dem Dritten „Belohnung“ und dem Vierten „Strafe“. Die Spielregeln waren denkbar einfach. Wer als Erster das Brett umrundete und die Geheimtür erreichte, war der Sieger. Es gab jedoch eine verblüffende Anzahl von Fallen auf dem Weg dorthin. Der Würfel und die drei Spielfiguren lagen am Start bereit: Rot für Sabrina, Grün für ihren Vater, und Salem hatte sich für Blau entschieden. „Lasst uns auslosen, wer anfängt“, sagte Edward. Er nahm den Würfel und rollte ihn über den Tisch. „Mist“, fluchte er. Sabrina war als Nächste dran. Sie würfelte eine Drei. „Okay, ich bin in Führung.“ Salem steckte den Würfel in den Mund und schüttelte den Kopf hin und her. Dann spuckte er ihn wieder aus. Er hatte eine
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Sechs. „Die Glücksgöttin ist heute auf meiner Seite“, rief er begeistert. „Jetzt ist Katzenspucke drauf“, beschwerte sich Sabrina und schob den Würfel angewidert zu Salem zurück. „Damit musst du leben“, meinte die Katze. Er nahm den Würfel wieder auf. Diesmal hatte er eine Fünf. „Ich setze für dich.“ Sabrina nahm Salems blaue Spielfigur und setzte sie auf ein Spielfeld mit der Bezeichnung „Leichte Fragen“. „Sieht so aus, als ob du tatsächlich Glück hast“, meinte sie und zog eine Karte. „Nostradamus war ein Hexer“, las sie vor. „Richtig oder falsch?“ „Falsch“, antwortete Salem. „Ich kenne Nostradamus. Er war nichts als ein lausiger Dichter mit einem geschickten Presseagenten.“ „Richtig“, rief Sabrina. „Und hier ist deine Belohnung.“ Sie zog eine Karte. „Verlässt dich deine magische Kraft, spiel diese Karte und du hast’s wieder geschafft.“ „Ich bewahre sie auf, bis ich sie brauche“, sagte Salem. „Jetzt bin ich dran.“ Sabrina nahm den Würfel. Sie hatte eine Vier und setzte ihre Figur auf ein leeres Feld. Dann schob sie ihrem Vater den Würfel über den Tisch. Edward hatte eine Fünf und landete auf dem Feld mit den leichten Fragen. „Okay, um was geht’s?“, fragte er selbstsicher. Sabrina zog eine Karte. „In welchem Jahr wurde Trent zum Präsidenten des Hexenrates gewählt?“ „Verflixt“, murmelte Edward. „Das ist eine schwierige Frage. War es 1374?“ „Nein, 1376. Tut mir Leid, Dad, du musst eine Strafkarte ziehen.“
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Edward nahm eine und zuckte zusammen, als er sie las. „Ich verliere alle meine magischen Kräfte.“ „Zu schade“, sagte Sabrina amüsiert. „Vielleicht überlässt dir Salem seine Belohnungskarte.“ „Keine Chance“, murrte die Katze. „Ich bin dran.“ Salem nahm den Würfel in seinen Mund, schüttelte den Kopf und spuckte ihn wieder aus. Diesmal landete er auf einem Glücksfeld. Sabrina zog eine Karte für ihn. „Schicke einen Mitspieler deiner Wahl zurück zum Start.“ „Ich nehme Edward“, entschied Salem. Dessen grüne Spielfigur hopste von selbst auf das Startfeld zurück. „Besonders viel Glück habe ich nicht“, murmelte Edward mürrisch. Sabrina hatte diesmal eine Zwei. Sie durfte noch einmal würfeln, war aber immer noch zwei Felder hinter der Katze. Jetzt nahm ihr Vater den Würfel wieder auf. „Diesmal habe ich bestimmt Glück.“ Er hatte eine Fünf und landete erneut auf dem Feld mit den leichten Fragen. Sabrina las die Karte vor: „Im Jahre 1955 wurde eine wichtige Entscheidung für Hexen getroffen. Welche war das?“ „Eisenhower war Präsident“, überlegte Edward und strich sich nachdenklich über den Bart. „Klar. Den Hexen wurde erlaubt, Golf zu spielen.“ Sabrina sah ihn mitleidig an. „Tut mir Leid, Dad. 1955 wurde den Hexen erlaubt, ihre Besen als Staubsauger zu verkaufen. Sogar ich weiß das. Du musst eine Strafkarte ziehen.“ Missmutig zog Edward eine Karte und las laut vor: „Im Dunklen Wald ist’s nicht sehr heiter, wenn du ’ne Eins hast, geht es weiter.“ Der Strudel in der Mitte des Spiels drehte sich gegen den Uhrzeigersinn, und dunkler Rauch stieg aus der Grube auf. Die 35
drei Spielfiguren wurden von dem Wasser verschluckt. Sabrina, Edward und Salem beugten sich vor, um zu sehen, was als Nächstes passieren würde. Sabrina hatte schon von den Dunklen Wäldern gehört, einem gespenstischen Ort im Anderen Reich. Neugierig starrte sie in den Rauch, um diese verrufene Gegend auf dem Spielfeld besser sehen zu können. Plötzlich schoss ein greller Blitz aus der Grube. Riesige Fangarme schlängelten sich heraus und griffen nach den drei Spielern. Sabrina schrie auf. Salem jaulte, als sie in die brodelnde magische Grube gezogen wurden. „Wahnsinn. Das Spiel ist ja noch toller, als ich dachte“, meinte Sabrina. Sie saß in einem Haufen feuchter Blätter. Erstaunt sah sie sich um und stellte fest, dass die Dunklen Wälder ihren Namen tatsächlich zu Recht trugen. Riesige moosbedeckte Bäume erstreckten sich himmelwärts, und das Dach aus Zweigen war so dicht, dass nur ein paar schwache Sonnenstrahlen bis zum Waldboden durchdrangen. Sie hätten nicht einmal genügend Licht gehabt, um etwas erkennen zu können, wenn das Spiel nicht geleuchtet hätte. Sabrina zitterte vor Kälte und lauschte dem Krächzen der Vögel, die aufgebracht herumflatterten. Wenn das hier ein Traum ist, dann ist es ein verflixt guter, dachte sie. Ihr Vater betrachtete verwundert die hoch aufragenden Bäume. „Ich dachte, wir würden die Schauplätze nur auf dem Spielfeld sehen können.“ „Na ja, wir sind eben mitten hinein geraten“, meinte Salem und betrachtete das blinkende Spiel. Einige der Zeichnungen und Spielfeldnamen hatten sich verändert, und es schien so, als hätten die Dunklen Wälder das Hexopoly in sich aufgenommen, einschließlich der Karten. „Sollen wir weitermachen?“, meinte die Katze. „Ich hatte nämlich den Eindruck, dass ich gewinne. Außerdem bin ich 36
dran.“ Er nahm den Würfel. Diesmal hatte er eine Drei. Seine Tatze schob sich aus der dunklen Grube und landete auf einem Glücksfeld. „Schwein gehabt“, murmelte Sabrina und zog eine Karte. Sie überflog den Text. Dann lächelte sie und las ihn laut vor: „Aus ist es mit der Zauberei, Pech für dich, es ist vorbei.“ „Oh nein, das werde ich nicht zulassen“, sagte Salem und schob seine zurückgelegte Karte auf das Spielfeld. „Ich kriege meine Kräfte zurück.“ Sein Fell stand plötzlich zu Berge, und seine Schnurrhaare versteiften sich. Es sah aus, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Schließlich atmete er wieder und schnurrte weich. „Oh, das war richtig gut, was auch immer das gewesen ist.“ In diesem Augenblick donnerte es in der Ferne, und ein feiner Regen nieselte auf sie herab. Das Geräusch der Regentropfen auf den Blättern war beruhigend, doch Sabrina war immer noch besorgt wegen ihrer Katze. „Bist du okay?“ „Hab mich noch nie besser gefühlt“, stellte Salem fest und machte einen Buckel. „He, ich weiß, dass wir alle eine Menge Spaß haben werden“, sagte Edward und schüttete das Wasser aus seinem Kragen. „Aber ist das Spiel nicht ein wenig zu realistisch?“ „Sag deinem Vater, dass er kein Spielverderber sein soll“, knurrte Salem abfällig. „Ich hab noch nicht verloren“, ereiferte sich Edward. Er konnte es nun mal nicht ausstehen, wenn jemand besser war als er. „Nie im Leben wird der windige Katzenpelz mich bei diesem Spiel schlagen. Mach weiter, Sabrina.“
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„Zu Befehl.“ Sabrina würfelte eine Vier und landete auf dem Feld mit den leichten Fragen. Edward zog eine Karte für sie. Er sah zufrieden aus, bis er die Frage las. „Warum kann ich nicht auch mal so etwas Leichtes bekommen“, sagte er beleidigt. „Also, richtig oder falsch? Wenn man für einen Zaubertrank kein Wassermolchauge hat, kann man stattdessen auch Salamanderpüree nehmen.“ Sabrina kratzte sich am Kopf. „Das hört sich mehr nach Biologie als nach einer Zauberfrage an. Ich sage mal... richtig.“ Edward lächelte und schüttelte den Kopf. „Du kannst niemals etwas anderes nehmen als das Auge eines Wassermolchs.“ Er deutet auf den Stoß mit den Strafkarten. Salems Schwanz sauste erwartungsvoll hin und her. „Zieh!“ „Okay.“ Entschlossen zog Sabrina eine Karte. „Dein nächster Zug wird fehlschlagen“, las sie und blickte mit finsterem Gesicht auf den Text. „Wenn du keine magischen Kräfte hast, gehe zurück an den Start.“ „Ich bin froh, dass ich die Karte nicht gezogen habe“, murmelte Edward. „Sonst würde ich tatsächlich alle meine Zauberkräfte verlieren.“ Er sah hinauf zu den Bäumen. „Ich hoffe, dass dieser schreckliche Regen bald aufhört.“ „Ich auch“, sagte Salem. In diesem Augenblick hörte es auf zu regnen. Nur ein paar Tropfen fielen noch von den Blättern. „Das ist schon besser.“ „Ich bin dran“, meinte Edward. Ihm war die ganze Sache nicht geheuer. Er nahm den Würfel und schüttelte ihn kräftig. „Ich brauche eine Eins, damit wir endlich von hier wegkommen.“ Edward warf den Würfel auf das Brett. Er hatte eine Zwei und durfte auf ein Glücksfeld vorrücken. „Endlich. Das kann ich gut brauchen.“ Er nahm eine Karte. Sein Gesicht verzog sich zu einem grimmigen Lächeln, als er Sabrina und Salem vorlas: 38
„Wähl einen Spieler, doch denke daran, dass er nur noch Böses tun kann. Erst eine Drei erlöst ihn von dem Bann.“ Edward grinste die Katze mit süßlichem Lächeln an. „Ich wähle dich für diese ehrenvolle Aufgabe, Salem.“ Genau in diesem Moment stieg eine Rauchwolke auf, gefolgt von einem grellen Blitz. Salem war verschwunden. Verärgert drehte sich Edward zu Sabrina. „Das sollte also passieren? Ich verstehe das Spiel nicht.“ Sabrina merkte, dass ein Insekt um sie herumbrummte und sich in ihrem Haar verfing. Sie fasste sich an den Kopf, um es herauszuziehen. Ihre Finger stießen an etwas Großes, Ekliges. Schreiend sprang sie auf und zog eine zehn Zentimeter lange Libelle aus ihrem Haar. Sie sah wie ein Modellflugzeug aus, als sie davonschwirrte. „Oh Mann, die werden ganz schön groß hier“, rief sie. „Die Folgen dieses Spiels sind wirklich beeindruckend“, meinte ihr Vater. Er stand auf und wischte die nassen Blätter von seinem silbernen Overall. „Ich weiß ja nicht, was du dafür bezahlt hast. Aber du hast auf jeden Fall eine Menge für dein Geld bekommen.“ „Stimmt“, erwiderte Sabrina und schaute zweifelnd in den dunklen Wald. „Ich hätte allerdings nichts dagegen, wenn wir auf deine Terrasse zurückkehren könnten, zu meinem Schokomilchshake.“ „Ich auch nicht“, sagte Edward. „Sobald wir Salem gefunden haben, können wir verschwinden.“ Sabrina rief nach ihrem Kater. Doch er blieb verschwunden. „Ich werde ihn zurückholen.“ Zuversichtlich schnippte ihr Vater mit den Fingern. Sabrina sah zu Boden. Jeden Augenblick musste Salem um ihre Füße herumstreichen. Doch nichts geschah. Sie schaute 39
erwartungsvoll zu dem dunklen Wald, aber Salem war weit und breit nicht zu entdecken. Stattdessen fing es wieder an zu regnen, diesmal noch stärker als vorher. „Lass mich versuchen, ihn zurückzuholen“, sagte Sabrina und streckte ihren Zauberfinger in die Luft. Edward sah sich besorgt um. „Warte einen Moment“, meinte er. „Wir haben doch die Spielanweisungen gelesen. Da stand allerdings nichts davon drin, dass die Spieler verschwinden. Vielleicht war es überhaupt nicht vorgesehen, dass wir in die Dunklen Wälder geraten.“ „Versteh ich nicht.“ Sabrina sah ihn verwundert an. „Das ist doch nur ein Spiel.“ „Tatsächlich?“ Edward starrte auf die Spielfläche, die immer noch schimmerte, jetzt jedoch in einem ekelhaften Grün. „Ich will ein einfaches Experiment versuchen.“ Er hielt seine offene Hand hoch und sagte: „Apfel, Apfel auf diese Hand, komm und schließe das Zauberband.“ Er wackelte mit den Fingern hin und her, doch die Hand blieb leer. Entsetzt sah er Sabrina an. „Oh mein Gott! Ich habe tatsächlich alle meine magischen Kräfte verloren!“ „Wir müssen ruhig bleiben“, sagte Sabrina. Doch sie klang alles andere als ruhig. „Wir können Salem später immer noch suchen. Wichtig ist, dass wir hier erst mal rauskommen.“ Sie deutete mit dem Finger auf ihren Vater. „Nein, warte!“, rief er. Es war schon zu spät. Beide verschwanden mit einem lauten Knall. Sabrina sah sich um. Sie hatte erwartet, auf der Veranda ihres Vaters zu sitzen. Stattdessen befanden sie sich in einem noch dunkleren Teil des Waldes. Es war tiefe Nacht. Aus der
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Dunkelheit drangen grunzende Laute. Unheimliche gelbe Augen starrten sie an und verfolgten jede ihrer Bewegungen. Sabrina sah sich verwirrt um. „Wo sind wir?“ Edward legte beschützend den Arm um sie. „Es ist nur eine Vermutung, aber ich glaube, wir sind immer noch in den Dunklen Wäldern. Um genau zu sein, wir sind noch tiefer drin.“ „Ich wollte uns in deine Villa zurückzaubern.“ „Erinnerst du dich nicht? Die Karte, die du gezogen hast, sagte, dass dein nächster Zug fehlschlagen würde. Deshalb sind wir in die entgegengesetzte Richtung geschickt worden.“ „Oh nein!“ Sabrina runzelte die Stirn. „Du meinst also, dass alles, was uns in dem Spiel passiert, auch in Wirklichkeit geschieht?“ „Es sieht so aus“, sagte Edward. „Okay“, meinte Sabrina mit fester Stimme. „Wenn das so ist, will ich meine Videomarken von dem Laden zurückhaben.“ Plötzlich hörten sie ein widerliches Fauchen über sich, und zwei gelbe Augen schielten auf sie herab. Im Unterholz knackte es gefährlich und Schritte näherten sich ihnen. „Was ist das, Dad?“ „Monster“, flüsterte er. „Weißköpfige Greifvögel, geflügelte Löwen, Geier und all diese schrecklichen Ungeheuer.“ Das Brummen wurde lauter, und immer mehr gelbe Augen starrten sie von allen Seiten an und schoben sich näher an sie heran. Sabrina konnte sogar schon hören, wie sabbernder Geifer von ihren Fangzähnen tropfte. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte sie ängstlich. Edward nahm ihre Hand, bückte sich und klemmte sich das Spiel unter den Arm. „Solange wir die Magie benutzen können, gibt es nur eines, was wir tun können.“ „Ja?“ „Rennen.“
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Sabrina und ihr Vater hetzten durch den Wald. Sie sprangen über Wurzeln und krochen unter tief hängenden Ästen hindurch, um den Monstern so schnell wie möglich zu entkommen. Sabrina wagte es nicht, sich umzudrehen. Aber sie konnte das wütende Heulen der Ungeheuer hören, die ihnen durch das Unterholz folgten.
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5. Kapitel Sie rannten um ihr Leben. Vorsichtig warf Sabrina einen Blick hinter sich. Es war dunkel, aber sie konnte dennoch erkennen, dass unförmige, missgestaltete Kreaturen sie verfolgten und immer näher kamen. Die Monster sprangen übereinander, krabbelten und wanden sich, um ihre unglücklichen Opfer endlich zu erwischen. Eine der Bestien hatte einen buschigen Löwenkopf und die schuppige Haut eines Drachens. Eine andere hatte den Körper einer Fliege und den Schnabel eines Adlers. Über das schleimige Etwas mit den langen Fangarmen oder das behaarte Monster mit den Greifern wollte sie gar nicht erst lange nachdenken. Sabrina stolperte über eine Kletterpflanze und stürzte zu Boden. Ihr Vater zog sie wieder hoch. „Pass auf, wo du hintrittst. Und jetzt weiter. Wir müssen bergauf.“ Sabrina vertraute ihm, dass er den richtigen Weg finden würde und folgte ihm durch das dichte Unterholz. Sie redete sich ein, dass sie an einer Leichtathletikveranstaltung teilnehmen würde und deshalb schnell wie der Wind rennen musste. Nein, wie ein Hurrikan. Immer wieder stolperten sie über dicke Wurzeln, doch das abscheuliche Brummen hinter ihnen zwang sie weiterzulaufen. Irgendetwas Haariges sprang plötzlich gegen Sabrinas Bein und riss sie zu Boden. Sie schrie auf, als sie in einem Haufen Kletterpflanzen landete. Edward wirbelte herum und versetzte der behaarten Bestie einen gezielten Schlag. Sie flog in die anderen Monster, die ihnen dicht auf den Fersen waren. Sabrina sprang auf und rannte. Sie wusste noch nicht einmal wohin, nur dass sie hier weg musste.
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Nach einer Weile sah sie sich um. Edward stolperte hinter ihr her, und sie atmete erleichtert auf. Durch seine mutige Tat hatten sie ein paar Sekunden Vorsprung gewonnen. Aber das war nicht genug, um diesen sabbernden Monstern endgültig zu entkommen. Plötzlich stieß sie an etwas Festes und sah einen steilen Berg, der vor ihr aufragte. Edward nahm ihren Arm. „Wir müssen weiter bergauf, zu dem Felsen da oben.“ Nun verstand sie endlich, was ihr Vater vorhatte. Sie mussten hinauf zur Erdoberfläche. Der Wald bestand also nicht nur aus Bäumen und Büschen; es gab auch Hügel und Schwindel erregend hohe Felsen. Es war ein langer Weg dort hinauf, aber sie mussten es schaffen, um endlich in Sicherheit zu sein. Sie kletterten einen steilen Hang hinauf, und Sabrina staunte über die Kraft und den Mut ihres Vaters. Durch den Schlag, den er dem Monster versetzt hatte, waren ihre Verfolger inzwischen zurückgefallen. Trotzdem gaben sie die Jagd nicht auf. Keines der Monster war jedoch begierig darauf, sie als Erster zu schnappen. Vielmehr legten sie es darauf an, sie müde zu machen und dann zu überwältigen. Sabrinas Lungen brannten, und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, doch Edward trieb sie weiter vorwärts. „Wir müssen es schaffen“, keuchte er. In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas sehen, aber sie konnte die Felsspalten ertasten. Sabrina versuchte, nicht hinunterzusehen. Sie durfte nicht abstürzen, denn dann hätten entweder die Monster sie fertig gemacht oder sie hätte sich das Genick gebrochen. Immer wieder glitt sie aus, doch ihr Vater war an ihrer Seite, fing sie auf und half ihr, auf den schroffen Felsen wieder Fuß zu fassen. „Du machst das wunderbar“, sagte er anerkennend. „Das ist alles meine Schuld“, jammerte Sabrina. „Ich weiß, aber du hältst dich tapfer“, versicherte Edward.
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Das Brummen und Heulen der Monster wurde langsam schwächer. Offenbar waren sie zurückgefallen. Sabrina vermutete, dass sie wohl nicht so geschickt im Klettern waren. Sie versuchte herauszufinden, wie weit sie noch hinauf mussten, bis sie den Erdboden erreichten. Über ihr waren jedoch nichts als Felsen und hohe Bäume. „Ich wünschte, ich hätte eine Taschenlampe dabei“, meinte Edward. „Aber ich denke, wir sind schon... irgendwo auf jeden Fall.“ „Wirklich?“, fragte Sabrina und schnappte nach Luft. Sie zwang sich dazu, schneller zu klettern. Die spitzen Felsen rissen ihr Kleid auf, ihre Schuhe hingen halb zerfetzt an den Füßen und ihre Fingernägel waren inzwischen alle abgebrochen. Edward kletterte nun an ihr vorbei, und sie sah, wie er über einem Felsvorsprung verschwand. Ein paar Kieselsteine rollten den Abhang herunter. „Dad!“, schrie sie voller Angst, da sie ihn nicht mehr sehen konnte. „Hier oben, Liebes.“ Er krabbelte zu dem Felsvorsprung und reichte ihr seine Hand. Sie hatte nie geglaubt, dass ihr Vater stark sei. Als er sie hinaufzog, hatte sie jedoch das Gefühl, als hinge sie an einem starken Kran. Erschöpft legte sie sich auf den harten Felsen und rang nach Luft. Sie war dankbar, dass sie noch lebte. „Sind die Monster... ich meine, verfolgen sie uns noch?“ „Ich glaube nicht“, erwiderte Edward und spähte über den Felsvorsprung in die Dunkelheit. Er hatte es sogar geschafft, das Spiel unbeschädigt heraufzubringen. Es schimmerte immer noch, und als sie genauer hinschauten, sahen sie, dass sie sich nicht auf einem Felsen befanden, sondern auf einer Hochebene. Ein Pfad führte von dem Abhang in einen Wald. „Wo sind wir denn jetzt?“, fragte Sabrina.
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„Ich weiß es nicht“, sagte Edward und setzte sich erschöpft neben sie. „Aber ich habe auch keine große Lust, es herauszufinden.“ Er schloss die Augen. „Tut mir Leid“, murmelte Sabrina. „Ich habe den Vatertag vermasselt, und ich bin schuld daran, dass du deine magischen Kräfte verloren hast.“ Sie seufzte. „Wegen mir sitzen wir nun an diesem unheimlichen Ort fest und sind umzingelt von Monstern.“ „Du hast noch vergessen, dass du unser Rennen um den Saturn gesprengt hast.“ Sabrina setzte sich auf. „Ich habe doch noch meine magischen Kräfte. Mein letzter Spielzug hat uns zwar zurückgeworfen, aber ich könnte es noch einmal versuchen.“ Edward schüttelte den Kopf. „Wir wissen nicht, ob es funktioniert. Vielleicht sind wir durch deine Kräfte weitergekommen, aber es klappt nur, wenn es auch im Spiel vorgesehen ist. Wir müssen uns damit abfinden, dass wir unter dem Bann des Hexopoly stehen. Besonders tröstend ist das allerdings nicht. Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig als weiterzuspielen.“ „Wenn wir schon so in der Klemme stecken, wie wird es dann erst Salem gehen?“, fragte Sabrina besorgt. Edward zuckte zusammen. „Ich will gar nicht darüber nachdenken. Entsprechend der Karte, die ich gezogen habe, müsste er ein verrücktes, böses und hässliches Monster sein.“ „Bis er eine Drei würfelt“, fügte Sabrina hinzu. „Miau“, dröhnte das Monster mit einer tiefen Grabesstimme. Es war über und über mit schwarzem Pelz bedeckt – außer der grimmigen Schnauze. Wenn man ihn mit den kleineren Monstern verglich, die um ihn herumscharwenzelten und auf Befehle warteten, musste er mindestens zweieinhalb Meter groß sein.
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Ich bin zweifellos das größte und böseste Monster im ganzen Reich, entschied er. Ich denke, ich werde mich Salem nennen. So ganz sicher war das Monster sich nicht, wer es eigentlich war. Denn das meiste war aus seiner Erinnerung verschwunden. Vor allem die guten Dinge. Nur die schlechten lauerten noch in seinem Gedächtnis. Bis vor kurzem war er Diener bei einer Gruppe von Hexen gewesen. Er hatte diesen Job gehasst. Eigentlich hasste er alles, Hexen und Sterbliche. Sie glauben tatsächlich, dass sie besser sind als Monster, dachte er und grinste höhnisch. Ich sollte sie alle versklaven und die Weltherrschaft übernehmen. Ja, das war eine großartige Idee! Allein der Gedanke daran machte ihn zuversichtlich und glücklich. Die Weltherrschaft war genau das Richtige für ihn. Aber da war noch etwas anderes, an das ich mich erinnern sollte... ach, ja, die magischen Kräfte. Die Hexen hatten ihm seine Zauberkraft genommen – daran erinnerte er sich deutlich. Aber dieses nette Spiel hatte ihm seine Kräfte zurückgegeben. Salem wirbelte seine hässliche Kralle in der Luft herum. Ein T-Bone-Steak, köstlich gegrillt, flatterte vor seiner Schnauze herum. Er öffnete sein schreckliches Maul. Sechs Reihen dolchartiger Zähne gruben sich in das Steak. Gedankenverloren zermalmte er den Knochen und dachte darüber nach, wie er das Problem der Versklavung lösen konnte. Ein heimlicher Angriff wäre sicher das Beste gewesen. Es gab jedoch Leute, die von ihm wussten: dieser Vater mit seiner Tochter. Sie mussten gefangen genommen und kaltgestellt werden, danach würde er weitersehen. Außerdem musste er dieses Spiel zurückhaben. Denn soweit er sich erinnerte, war das Hexopoly die Quelle seiner magischen Kräfte. Er schaute sich in der grässlichen Höhle um, in der er saß. Der Boden war bedeckt mit Knochen und schuppigen 47
Kreaturen. Sie krochen über- und untereinander und jede versuchte, ihm so nahe wie möglich zu sein. Wie Schlangen glitten sie um seine pelzigen Füße herum. Weiter hinten im Schatten der Höhle lauerten riesige Monster. Offenbar hatten sie sich noch nicht entschieden, was sie tun sollten. Doch Salem machte sich keine Gedanken. Instinktiv wusste er, dass sie nichts als Monster waren. Er war der Einzige, der magische Kräfte besaß. Egal, wie groß und stark sie auch sein mochten – er war auf jeden Fall der Beste. Er würde sie zu seinen Lakaien machen. „Wo bin ich?“, dröhnte er. „Wer will dasss wisssen?“, zischte eine schlangenähnliche Stimme aus der Dunkelheit. Man konnte das Rauschen von Flügeln hören. „Salem, das böseste Monster überhaupt.“ „Wir haben unssseren Anführer“, zischte die Stimme. „Tatsächlich? Dann bring ihn her. Ich möchte zu gerne wissen, was er gerade macht.“ Salem hörte donnernde Schritte, die sich der Höhle näherten. „Wer ruft mich?“, brüllte eine Stimme, die ziemlich eingebildet klang. Die Schlangen zu Salems Füßen huschten verängstigt in die Dunkelheit. „Ich natürlich“, antwortete Salem, und sein stacheliger Schwanz sauste ungeduldig hin und her. „Ich werde diesen ganzen Betrieb übernehmen.“ In diesem Augenblick erschütterte ein kriegerisches Gebrüll die Höhle. Selbst die großen Monster verkrochen sich ängstlich. Mit einem Satz sprang ein riesenhafter, weißhaariger Yeti in die Höhle. Salem konnte an seinen funkelnden, rot unterlaufenen Augen erkennen, dass er es nicht gewohnt war, ein Monster zu treffen, das größer war als er selbst. Der Yeti schob sich immer näher an ihn heran. „Ich warne dich“, sagte Salem drohend. „Ich habe magische Kräfte.“ 48
Der Yeti hielt inne und schnaubte höhnisch. „Etwa so ähnlich wie eine Hexe?“ „Exakt wie eine Hexe“, antwortete Salem bestimmt, obwohl er keine Ahnung hatte, woher er das wusste. Der Yeti grunzte und fuchtelte mit seiner gewaltigen Faust vor seinem Widersacher herum. Das schwarze Monster sah ihm scharf in die Augen. „Nicht so schnell.“ Der Yeti erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Faust war nur wenige Zentimeter von Salems Nase entfernt. Sein Gesicht mit den blauen Lippen und den roten Augen zeigte Panik. Offensichtlich wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er versuchte zu sprechen, aber er brachte kein Wort über die erstarrten Lippen. „Du bist der Anführer, auf den wir ssso lange gewartet haben“, zischte eine Stimme aus dem Hintergrund. Eine abscheuliche Kreatur mit Flügeln und einem ledernen, menschenähnlichen Gesicht schob sich näher heran. „Ich weiß“, antwortete Salem. „Es gibt nichts Schlimmeres als eine Horde unorganisierter Monster. Wir müssen ein Programm für euch machen – und ich habe zufällig genau das Richtige. Wir werden die Menschen versklaven und die Herrschaft übernehmen!“ „Ja! Ja!“, brüllten die Monster. Salem trat einen Schritt zurück und schnippte mit seiner Klaue. Der Yeti krachte in einen Haufen Knochen, die am Boden lagen. Verwirrt schüttelte er den Kopf. Dann sah er Salem mit einem dümmlichen Ausdruck an. „Was wünschst du, Meister?“ „Deinen Namen.“ „Grunt.“ Salem deutete auf die lederne, geflügelte Kreatur. „Und wie heißt du, Blutsauger?“ „Sssnark.“
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„Okay. Grunt und Snark, ihr habt die Aufgabe, zwei menschliche Hexen in den Dunklen Wäldern aufzuspüren. Vater und Tochter. Sie heißen Edward und Sabrina Spellman. Hütet euch jedoch vor der Tochter. Sie hat immer noch ihre magischen Kräfte und kann besonders gemein sein. Sie haben ein Spiel dabei – Hexopoly. Es ist etwas ganz Besonderes. Was auch immer geschieht, das Spiel darf nicht den geringsten Kratzer abbekommen. Ich will es zurückhaben.“ Snark flatterte aufgeregt mit seinen ledernen Flügeln herum. „Und wasss sssollen wir mit den beiden machen?“ „Findet sie. Ich werde meine Magie dazu benutzen, ihnen eine Falle zu stellen.“ Salem grinste und Hunderte blinkender Zähne leuchteten in seinem Maul. „Ich werde inzwischen die Monster im Anderen Reich zusammentrommeln, um die Weltherrschaft zu übernehmen“, sagte er mit einem äußerst zufriedenen Lächeln. Byron, der junge Hexer, trat aus der Tür der Geheimkammer. Er trug einen Papierhut, der schräg auf seinem Kopf saß, und war behängt mit Luftschlangen und übersät mit Konfetti. In der einen Hand hielt er eine Rassel, in der anderen eine Trompete. Er sah zwar so aus, als ob er gerade von einer Party gekommen wäre, aber er wirkte ganz und gar nicht glücklich. Mr Hawthorn, der hinter dem Ladentisch stand, sah ihn mit großen Augen an. „Du scheinst kein Glück gehabt zu haben, was?“ „Nein“, sagte Byron verdrossen. „Sie ist weder auf der Endlosparty, noch im Gesundheitsbad oder auf der Ferienranch.“ Der Geschäftsführer warf einen Blick auf sein ganz persönliches Hexopoly-Brett, das ausgebreitet auf dem Ladentisch lag. „Sobald sie anfangen zu spielen, werden sie an einen der Orte kommen, die im Spiel eingezeichnet sind. Möglicherweise sitzen sie da irgendwo fest.“ Er nahm den 50
Stapel mit den Glückskarten und blätterte sie durch. „Es sind ja nur noch hundert Plätze, die wir nachprüfen müssen.“ „Noch mal hundert?“ Byron stöhnte auf. Erschöpft rutschte er auf den Boden und schüttelte den Kopf. „Ich werde sie nie finden.“ „Wenn du weiter so herumlümmelst, dann bestimmt nicht“, stimmte Mr Hawthorn zu und fuchtelte mit einem halben Dutzend weiterer Karten vor dem Gesicht seines jungen Angestellten herum. „Ich will dich hier erst wieder sehen, wenn du all diese Plätze überprüft hast.“ „Mr Hawthorn...“ „Keine Widerrede, Byron. Du hast schließlich dieser Kundin ein kaputtes Spiel verkauft. Und weder ihre Hexenlizenz verlangt noch ihren Namen.“ Der junge Hexer tippte sich an die Stirn. „Vielleicht haben wir an der falschen Stelle gesucht. Wo sind die Spielmarken, die sie als Anzahlung dagelassen hat?“ „Genau hier.“ Mr Hawthorn öffnete die Registrierkasse und nahm die Marken heraus. „Aber ich wüsste wirklich nicht, wie die uns weiterhelfen sollten.“ „Vielleicht geben sie uns einen Hinweis darauf, wo sie wohnt“, antwortete Byron. Er nahm die Marken und studierte angestrengt die kleinen Buchstaben darauf. „Hier hab ich was: Pete’s Fun Palace.“ „Und wie viele gibt’s mit diesem Namen“, spottete Mr Hawthorn. „Ich weiß nicht“, erwiderte Byron. Er sprang auf und steuerte auf die Geheimtür zu. „Aber ich werde es herausfinden.“ Sabrina lag auf dem harten Fels und konnte kaum schlafen. Mücken surrten um sie herum und verfingen sich in ihren Haaren. Als sie in der Nähe ein Knacken hörte, schoss sie hoch. Das mussten die Monster sein, die hinter ihnen her waren. Doch es war nur ihr Vater. Er saß vor dem 51
ausgebreiteten Spiel und arbeitete an irgendetwas. In dem schwachen Licht, das von dem Spielbrett ausgestrahlt wurde, sah Sabrina, dass er mit einem flachen Stein die Zweige von einem großen Ast abschlug. „Hallo, Liebes“, sagte er und bemühte sich, fröhlich zu klingen. Sabrina versuchte, in der undurchdringlichen Dunkelheit etwas ausmachen zu können. Inzwischen hatte sie den Eindruck, dass die Dunklen Wälder immer dunkel waren, egal ob es Tag oder Nacht war. Nun war es allerdings Nacht, und der Wald wirkte noch bedrohlicher. „Was machst du da?“, fragte sie ihren Vater und wischte sich über die Augen. Edward hielt den Stock in die Luft. „Das ist eine Art Lanze, eine etwas veraltete Waffe. Kann man auch als Spazierstock verwenden.“ Sabrina zuckte zusammen. „Glaubst du denn, dass wir weiter gegen diese Monster kämpfen müssen?“ „Nein. Wir sind auf dem besten Weg, hier heraus zu finden. Und je eher wir das schaffen, desto besser. Ich glaube allerdings nicht, dass es besonders lustig ist, die ganze Nacht hier herumzuwandern. Wir könnten ja weiterspielen.“ Er stellte die Figuren auf und legte die Karten zurecht. Das Spiel glitzerte verführerisch, als wollte es die beiden dazu überreden, ihr Glück zu versuchen. Aber Sabrina hatte eine andere Idee. „Ich will mal ausprobieren, ob meine magischen Kräfte noch funktionieren.“ „Würde ich nicht tun“, meinte Edward. „Solange wir unter dem Bann des Hexopoly stehen, wissen wir nicht, was passieren wird. Der sicherste Weg ist, weiterzuspielen und auf eine glückliche Wendung zu hoffen.“ Er hielt seiner Tochter den Würfel hin. „Du bist dran.“
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Sabrina rollte ihn in der Hand hin und her. „Okay. Dann machen wir weiter.“ Sie hatte eine Vier und rückte ihre Spielfigur auf das Feld mit den leichten Fragen. Edward nahm eine Karte für sie. „Es ist eine Auswahlfrage. Bist du bereit?“ Sabrina nickte. „Was ist ein Riesenrötling?“, las er vor. „A: ein magisches Sitzkissen? B: eine giftige Pflanze? C: Eine Garnierung für ein Brunnenkressesandwich?“ Sabrina runzelte die Stirn. Sie hatte diesen Begriff schon einmal gehört, aber sie wusste nicht mehr, ob es im Ferienlager oder im Biologieunterricht gewesen war. „Ein magisches Sitzkissen“, meinte sie zögernd. Edward blickte sie nachdenklich an. „Ich muss wohl mal ein ernstes Wort mit meinen Schwestern reden. Du hast ganz offensichtlich noch nie ein Brunnenkressesandwich gegessen.“ Mit einem lauten Seufzer zog er eine Strafkarte und las vor: „Insekten treiben dich weit zurück, drei Felder, diesmal hast du kein Glück.“ Im gleichen Augenblick hörten sie lautes Summen. Sabrina merkte, dass Libellen um ihren Kopf herumschwirrten und sich in ihrem Haar verfingen. Moskitos schwärmten um ihre nackten Arme und Schultern und stachen zu. Entsetzt sprang sie auf und versuchte, die ekligen Insekten abzuschütteln. Jetzt stürzten sich die Mücken auf Augen und Nase. Sabrina fühlte einen Brechreiz in sich aufsteigen. Wild fuchtelte sie mit den Armen in der Luft herum, um den unsichtbaren Feind zu verscheuchen. Doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen. „Bleib ruhig!“, befahl Edward. „Du weißt, dass der Abhang gleich hinter dir ist. Ich will nicht, dass du hinabstürzt.“ Er schwenkte seinen Stock in der Luft herum, ohne zu wissen, wohin er genau schlagen sollte. „Ich halte das nicht mehr aus!“, schrie Sabrina. „Sie sind überall. In meinem Kleid, in meinen Ohren und Augen, einfach 53
überall.“ Sie stolperte über das Spiel und rannte blindlings in den Wald. „Sabrina!“, rief ihr Vater entsetzt. „Pass auf!“
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6. Kapitel Sabrina fühlte, dass der Boden unter ihr nachgab, doch sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen. Als er schließlich verschwand, merkte sie, dass sie fiel, endlos fiel... bis sie in einem Haufen nasser Blätter inmitten einer Mulde landete. Die Insekten summten immer noch um sie herum und setzten wieder zum Angriff an. „Dad!“, schrie sie voller Entsetzen. „So hilf mir doch!“ „Warte, mein Liebes. Bin schon unterwegs.“ Sabrina hörte einen Aufprall, als er neben ihr aufkam. Sie fühlte, wie seine starken Arme sie hochzogen. Jetzt griffen die Insekten auch ihren Vater an und bissen sich in seiner Haut fest. „Lass mich einfach hier, Dad“, stöhnte Sabrina auf. „Kommt nicht in Frage. Ich habe eine Idee.“ Mit fast übermenschlichen Kräften nahm er Sabrina auf seine Arme und kroch aus der Mulde heraus. Die Mücken waren überall, aber er schaffte es, Sabrina hinauf auf den Felsvorsprung zu tragen. Dann legte er sie sanft neben dem Spiel ab. Durch den dichten Schleier von Insekten konnte Sabrina sehen, dass ihr Vater ihre Spielfigur drei Felder zurückstellte. „Jetzt musst du dich auch drei Schritte zurückbegeben“, sagte er. „Was meinst du damit?“ Sabrina schlug wild in der Luft herum. Es war sinnlos. „Du befindest dich an dem Platz, an dem du gewürfelt hast. Jetzt musst du drei Schritte zurückgehen.“ „Aber ich falle den Abhang hinunter.“ „Nein, wirst du nicht. Ich halte dich fest.“ Er nahm ihre Arme und führte sie an den Rand der Klippe, die sie hinaufgeklettert waren, um den Monstern zu entkommen.
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Sabrina konnte kaum etwas sehen, da die Insekten ihr Gesicht umschwirrten. Aber sie zwang sich dazu, ihre Augen auf den Boden zu richten und zu zählen. „Ein Schritt. Zwei Schritte.“ Sie wich vor dem Abgrund zurück und schrie auf. Edward hielt immer noch ihre Arme fest. „Drei Schritte!“, rief er. Sie ging noch einen Schritt zurück. Plötzlich waren die Insekten verschwunden. Nur eine große Libelle schwirrte noch um ihren Kopf herum. Dann war auch sie weg. Edward hob Sabrina auf den sicheren Felsvorsprung. Erschöpft sank sie in seine Arme. „Es hat funktioniert“, sagte er überrascht. „Allerdings bin ich völlig zerstochen.“ Er zog das Spielbrett zu sich herüber. „Wir müssen weitermachen. Erinnere dich. Das Spiel nimmt alles wörtlich. Wir können der Gefahr also nur entkommen, wenn wir genau tun, was es uns sagt.“ „Salem ist dran“, erwiderte Sabrina. „Können wir denn ohne ihn weiterspielen?“ „Wir müssen. Unglücklicherweise wird er so lange ein Monster sein, bis er eine Drei würfelt. Allerdings weiß ich nicht wie wir ihn dazu bringen können, wenn er nicht da ist. Entsprechend meiner Karte müsste ich allerdings eine Eins haben, damit wir hier herauskommen.“ Edward nahm den Würfel. In diesem Augenblick hörten sie Schwingen, die wild flatternd über ihnen kreisten. Sabrina starrte in die Dunkelheit. „Was ist das?“ Das Spiel leuchtete in der Dunkelheit. Edward nahm es schnell und versteckte es. „Ich weiß nicht“, flüsterte er. Die geflügelte Kreatur war immer noch über ihnen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich verschwunden war. „Das wird doch nicht ein riesiger Geier gewesen sein, oder?“, fragte Sabrina. „Der darauf wartet, welche Zahl wir würfeln.“ 56
Edward tätschelte ihre Hand. „Keine Angst. Ich beschütze dich... irgendwie.“ Er schwenkte seinen großen Stock drohend hin und her. Trotzdem fühlte sich keiner von beiden sicherer. „Warum spielen wir nicht morgen früh weiter?“, meinte Sabrina. „Wenn es ein bisschen heller ist. Ich würde nämlich gerne sehen, wohin ich abstürze.“ „Das setzt voraus, dass es überhaupt einen Morgen gibt in diesen Dunklen Wäldern“, erwiderte ihr Vater besorgt. „Du wirst jetzt schlafen, und ich halte Wache.“ Sabrina küsste ihn auf die Wange. „Tut mir wirklich Leid mit dem Spiel. Und dass ich den Vatertag vermasselt habe.“ „Was wäre denn so ein Tag ohne ein verrücktes Spiel?“ Edward strich ihr liebevoll über den Kopf. „Gute Nacht, Prinzessin.“ „Gute Nacht, Dad.“ Byron durchkämmte an diesem Nachmittag inzwischen den zwanzigsten Videoshop namens Pete’s Fun Palace. Die blitzenden Lichter, die aufpeitschenden Cyberspacegeräusche und das fröhliche Geplapper hätten seine Laune eigentlich verbessern müssen. Stattdessen fühlte er sich an diesem normalen Platz mit all den normalen Leuten niedergeschlagen. Hier trieb sich Sabrina also herum. Und wegen ihm würde sie diesen Ort vielleicht nie wieder sehen. Er hielt eine Zeichnung von Sabrina in der Hand, die er aus seinem Gedächtnis hervorgezaubert hatte. Das Bild war nicht ganz zutreffend, aber besser ging es nicht. Niemand hatte Sabrina darauf jedoch wieder erkannt, und Byron war kurz davor aufzugeben. Er hatte immer noch die Möglichkeit, im Anderen Reich nach ihr zu suchen, doch er wusste, dass dies weitaus komplizierter werden würde. Noch einmal ging er zu der Videopassage, da Sabrina ihre Marken für eines der Spiele, die es hier gab, aufgehoben hatte. Zwei Jungs in seinem Alter standen davor. Der eine war klein 57
und dunkelhaarig, der andere groß und blond. Er spielte gerade ein Kampfspiel. „Los, Harvey!“, rief der Kleine. „Meine Marke steckt auch noch drin. Lass mich mal ran.“ „Warum gehst du nicht zu den ausgestopften Tieren und schießt dir eines“, grinste Harvey. Er ließ die Figuren in seinem Spiel nicht aus den Augen. Sie grunzten und stöhnten, als sie sich mit den Fäusten bearbeiteten. Byron wusste, dass es besser war, Harvey nicht zu belästigen. Stattdessen hielt er dem anderen Jungen die Zeichnung vor die Nase. „Entschuldige. Hast du dieses Mädchen schon mal gesehen?“ Er lachte. „Klar. Ich sehe sie immer. Ist das nicht Sabrina?“ „Ja, ja.“ Byron nickte glücklich. „Was ist mit Sabrina?“, wollte Harvey wissen und drehte sich zu ihnen. In diesem Augenblick griff sich der Leopard in seinem Spiel einen der Karatetypen und schleuderte ihn zu Boden. „Oh Mann, jetzt habe ich wegen dir verloren.“ Byron bohrte unverdrossen bei dem Kleinen weiter. „Wie ist ihr Nachname? Und wo kann ich sie finden?“ „Sie heißt...“ „Halt die Klappe!“, befahl Harvey und sah den Fremden unfreundlich an. „Wir wissen nicht, wer dieser Typ ist und was er von Sabrina will.“ Byron wollte ihnen gerade erklären, woher er kam, als ihm einfiel, wo er war. Vielleicht wussten die beiden gar nicht, dass Sabrina eine Hexe war. Vermutlich wussten sie noch nicht einmal, dass es überhaupt Hexen gab. „Bist du sicher, dass dies Sabrina ist?“, fragte er und hielt Harvey die Zeichnung vor die Nase. Der warf einen Blick darauf und wandte sich dann an den Kleinen. „Timmy, du kannst mein Spiel übernehmen.“ Dann wandte er sich an Byron. „Das ist eindeutig Sabrina. Obwohl sie in Wirklichkeit viel hübscher ist.“ 58
„Ich weiß“, meinte der junge Hexer und erntete einen erstaunten Blick. „Ich bin ihr Freund“, stellte Harvey siegessicher fest. „Und wer bist du?“ Byron versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Ich arbeite in einem Laden, in dem sie heute war. Sie wollte ein Vatertagsgeschenk für ihren Dad kaufen, aber, äh... das, was sie gekauft hat, ist kaputt, und ich muss es zurückhaben.“ „Kaputt?“ Harvey sah ihn misstrauisch an. „Was für ein Geschenk war es denn?“ „Es ist viel zu kompliziert, das jetzt zu vertiefen. Bevor ich euch getroffen habe, hatte ich nur ihren Namen und das Bild von der Sicherheitskamera. Wenn du mich zu Sabrina begleiten willst, würde ich mich freuen. Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn du mich zu ihr bringen könntest.“ Harvey runzelte die Stirn. Ihm fiel allerdings kein Grund ein, warum er die Bitte ablehnen sollte. „Okay. Aber du solltest mir lieber die Wahrheit sagen.“ „Tu ich doch“, versicherte Byron. „Ich brauche dieses Geschenk tatsächlich zurück.“ Ehrfürchtig betrachteten Sabrina und ihr Vater, wie die Morgendämmerung über den Baumkronen aufzog. Unterhalb war die ursprüngliche Welt, unberührt von Menschen und der Zivilisation. Erst als es langsam heller wurde, merkten sie, dass sie auf einem weit ausgedehnten Plateau saßen. Es schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Überall standen knorrige, alte Bäume. Nur die Knospen waren grün, alles andere war schwarz. „Das ist riesig hier“, sagte Sabrina und lachte angespannt. „Wir werden schon irgendwie herauskommen“, versprach ihr Vater. „Sollen wir weiterspielen oder die Gegend erkunden?“ „Lass uns ein bisschen laufen. Ich traue dem Spiel nicht.“ 59
Sie entdeckten eine Art Fußweg zwischen den hohen Bäumen. Edward hielt das Spiel fest unter seinen Arm geklemmt. Vorsichtig gingen sie den Weg entlang. Innerhalb von Sekunden umfing sie wieder Dunkelheit. Trotzdem schöpfte Sabrina neuen Mut. Es tat gut, weiterzugehen, wohin auch immer – selbst wenn sie noch tiefer in die Dunklen Wälder gerieten. Selbst die schwarzen, hässlichen Vögel, die schrill kreischend über ihnen flatterten, wirkten beruhigend. Ein paar Baumratten huschten zwischen den Farnwedeln herum. Blumen gab es in diesem Wald nicht, aber entlang des Weges wuchsen verlockend aussehende rote Beeren. Sabrina merkte mit einem Mal, dass sie hungrig war, und sie überlegte, wie lange sie wohl schon von der normalen Welt weg war. Dies war ein magisches Reich. Dass es hier Morgen war, musste also nicht heißen, dass es auch zu Hause Morgen war. Und weder ihr Vater noch sie hatten eine Uhr dabei. Sabrina dachte an die Zimtrollen zu Hause auf dem Küchentisch. Sie hatte kaum etwas davon gegessen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, und sie starrte sehnsüchtig auf die roten Beeren. Sie streckte die Hand aus, doch ihr Vater hielt sie zurück. „Lass lieber die Finger davon. Die Beeren könnten giftig sein.“ „Möglich.“ Sabrina klang enttäuscht. „Aber sie sehen köstlich aus.“ „Ich mache dir später Frühstück“, versprach er. Allmählich wurde der Weg breiter. Bald mündete er in einen Gehweg mit ordentlich verlegten Steinen – das erste Zeichen, dass an diesem schrecklichen Ort irgendein zivilisiertes Wesen leben musste. Sabrina war trotzdem froh, dass ihr Vater voranging, seinen Stock hoch erhoben. Falls sie in irgendwelche Schwierigkeiten geraten wären, hätte sie allerdings ihre magischen Kräfte eingesetzt, auch
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wenn das gefährlich sein konnte. Alles war jedoch besser als ein weiterer Angriff der Insekten. Allmählich lichtete sich der Wald. Nur noch vereinzelt standen knorrige Bäume in dem matschigen, feuchten Boden. Schließlich erreichten sie eine Lichtung – und erstarrten. Ein altes Schloss ragte drohend vor ihnen aus dem trüben Sumpf auf. Die verwitterten Steine waren mit Moos und Weinreben bedeckt. Es sah so aus, als ob das Gebäude jeden Moment im Morast versinken würde. „Es scheint verlassen zu sein“, meinte Sabrina. „Glaube ich auch“, antwortete Edward. Plötzlich hörten sie ein Furcht erregend lautes Quietschen. Eine moosbedeckte Zugbrücke bewegte sich langsam abwärts und landete mit einem lauten Platschen in dem Sumpf. Sabrina lachte schrill auf. „Ob das eine Einladung sein soll?“ „Wahrscheinlich.“ Ihr Vater schaute sie hoffnungsvoll an. „Vielleicht ist jemand im Schloss, der uns helfen kann.“ „Oder der uns frisst.“ Sabrina schluckte. Edward drückte seiner Tochter das Spiel in die Hand. „Pass gut auf.“ Er ging voraus, den Stock bereit zum Angriff. Vorsichtig betraten sie die Zugbrücke. Das vermoderte Holz knarrte unter ihren Tritten. Sabrina hatte Angst, dass die Brücke zusammenbrechen könnte und sie in das schäumende, dreckige Wasser fallen würden. Doch sie hielt. Erleichtert stiegen sie schließlich die steinernen Stufen hinauf. Sabrina hielt sich am Arm ihres Vaters fest, um nicht auf dem glitschigen Moos auszurutschen. „Wahrscheinlich müssten sie einen Kredit aufnehmen, um das Schloss zu renovieren“, sagte sie. Sie schritten einen Gang entlang, der von flackernden Fackeln erleuchtet wurde. Er schien überhaupt nicht zu dem alten Gemäuer zu passen, sondern wirkte wie neu. Es sah fast so aus, als ob der Durchgang nur für sie gebaut worden wäre.
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„Wir könnten weiterspielen“, flüsterte Edward. „Ich bin dran.“ „Noch nicht“, antwortete Sabrina. „Glaubst du, dass dies alles nur ein Traum ist?“, fragte sie und sah ihn ängstlich an. „Vielleicht.“ Edward lächelte. „Zwischen Traum und Wachen ist kein großer Unterschied. Beides ist real, solange es andauert.“ Sabrina nickte und ging weiter. Plötzlich hörte sie ein ächzendes, knarrendes Geräusch. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass die Zugbrücke sich wieder nach oben bewegte. Nun waren sie in diesem schrecklichen Schloss gefangen. Sabrina wollte schon losrennen und in den Morast springen. Doch sie wusste, dass sie freiwillig hierher gekommen waren. Und es gab keinen Grund, panisch zu reagieren... noch nicht. Ein dumpfer Schlag ließ sie beide herumwirbeln. Am Ende des langen Ganges öffnete sich eine kleine Metalltür. Dahinter leuchtete ein flackerndes Licht. Es schien beinahe so, als ob es ihnen sagen wollte: Hier seid ihr sicher. Könnte das eine Geheimtür sein?, überlegte Sabrina und schöpfte neue Hoffnung. Der Weg nach Hause? Edward ging vorsichtig Richtung Tür, den Stock bereit zum Angriff. Der Gang schien sich endlos hinzustrecken, und Sabrina hatte das schreckliche Gefühl, dass sie auf neue Schwierigkeiten zusteuerten. Am liebsten wäre sie umgekehrt und weggerannt. Aber es gab keinen Weg mehr hinaus ins Freie, da die Zugbrücke verschwunden war. Schließlich erreichten sie doch noch die Tür. Als sie sie öffneten, sahen sie in einen überdimensional großen Raum. Edward schnappte nach Luft, und auch Sabrina erstarrte, als sie über seine Schulter schaute. An der gegenüberliegenden Wand stand ein riesiger, roter Stuhl. Ein merkwürdiges Wesen saß darauf. Es sah aus wie ein weißer Gorilla, nur größer und scheußlicher. Anscheinend waren sie in den Gemächern eines 62
Königs gelandet. Und der saß genau vor ihnen. Sabrina zitterte. Ihr Vater jedoch straffte sich, bereit, sie zu verteidigen. „Das ist ein Yeti“, flüsterte er. „Du weißt, dieser abscheuliche Schneemensch.“ „Was macht er hier?“, fragte Sabrina leise. „Warum fragst du mich nicht selbst?“ Die Kreatur sah Sabrina freundlich an. „Komm her und knie nieder. Ich bin König Grunt, der Herrscher dieses Gipfels. Ich habe nicht oft Besuch.“ „Verstehe ich nicht“, meinte Sabrina. „Es ist so nett hier.“ Edward gab ihr ein Zeichen, weiterzugehen. Sabrina stieg noch ein paar Stufen hinauf und blieb dann stehen. Genau wie ihr Vater kniete sie vor dem Monsterkönig nieder. Über ihnen hörten sie leise flatternde Schwingen. Sabrina schaute gerade noch rechtzeitig hinauf, als eine abscheuliche Kreatur auf sie hinabstürzte. Mit seinen gewaltigen Klauen wollte sie Sabrina das Spiel entreißen. Sabrina klammerte sich daran fest, als wäre das Hexopoly ihr Lebensretter. Das Monster spuckte ihr wütend ins Gesicht. Sie roch uralten, verfaulten Fisch. „Dad!“, schrie Sabrina entsetzt auf. Edward schwang seinen Stock wie einen Baseballschläger und knallte ihn dem Monster vor den riesigen Schädel. Schwer ächzend sackte es in sich zusammen. In diesem Augenblick erzitterte der Boden. Als Sabrina sich umschaute, sah sie, dass der Yeti mit donnernden Schritten auf sie zukam. Er fletschte seine blauen Lippen. „Hau ab!“, schrie Edward. Sabrina umklammerte das Spiel und stürmte zur Tür. Ihr Vater rannte hinter ihr her, denn es war ihm klar, dass er gegen den Yeti keine Chance hatte. Sie stolperten in den Flur, doch sie waren noch lange nicht in Sicherheit. Selbst wenn die Zugbrücke noch da gewesen wäre, hätten die Monster im Wald
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sicherlich schon auf sie gewartet. Sabrina wollte kein Risiko eingehen, doch sie wusste, dass sie keine große Wahl hatte. Als der grunzende Yeti näher kam, keuchte sie verzweifelt: „Wir haben genug von diesem Ort, bring um nach Hause – und zwar sofort!“ Ein gewaltiger Blitz schlug in den Boden. Dann waren sie verschwunden. Der Yeti blieb stehen und hämmerte mit seinen riesigen Fäusten an die Wand. Sein wütendes Geschrei hallte in dem zerfallenen Schloss wieder.
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7. Kapitel Auch diesmal fand sich Sabrina im Wald wieder, mitten auf einem Haufen nasser Blätter. Edward saß neben ihr und sah sie verwirrt an. Er warf einen flüchtigen Blick auf die trostlose Umgebung. „Normalerweise ist es mir lieber, wenn du tust, was ich sage“, meinte er lächelnd. „Aber diesmal drücke ich ein Auge zu.“ „Ich hab’s nicht hingekriegt“, jammerte Sabrina. „Ich wollte uns nach Hause bringen. Zu Hilda und Zelda.“ Edward seufzte und rappelte sich auf. „Kapierst du nicht? Die Magie des Hexopoly beherrscht alles andere. Dies ist der erste Platz, zu dem wir in den Dunklen Wäldern gekommen sind. Also ist dies, dem Spiel entsprechend, unser Zuhause. Wir werden niemals herauskommen, wenn wir nicht weiterspielen. Vorausgesetzt, das Hexopoly lässt uns heraus.“ Sabrina breitete das Spiel aus. „Okay, du bist dran.“ Ein großer, schwarzer Vogel kreiste über ihnen und krächzte wütend. „Beeil dich“, sagte Sabrina und erschauerte. Byron und Harvey standen bei Sabrina zu Hause auf der Veranda und hämmerten an die Tür. Es war später Nachmittag und eigentlich genau die Zeit, zu der die Tanten gewöhnlich das Abendessen vorbereiteten. Aber niemand öffnete. Byron hörte nicht auf, die Tür zu bearbeiten, als ob der Krach Sabrina herzaubern sollte. „Sie ist nicht zu Hause“, meinte Harvey, der langsam ungeduldig wurde. „Es ist überhaupt niemand da.“ Byron seufzte. „Ihr Nachname ist Spellman, sagst du? Ich werde im Buch nachsehen.“ „In welchem Buch?“ Harvey sah den langhaarigen Hexer neugierig an. Byron überhörte seine Frage. „Wohnt sie allein hier?“ 65
„Nein, zusammen mit ihren Tanten.“ Harvey sah ihn finster an. „Du verschweigst mir doch irgendwas. Ich glaube, es ist besser, wenn du verschwindest und die Finger von Sabrina lässt.“ „Ich will dich ja nicht beunruhigen“, meinte Byron mit freundlichem Lächeln. Er wackelte mit seinen Fingern vor Harveys Gesicht herum und sagte: „Ich bin ein Hexer, doch du wirst es vergessen, all das kannst du nicht ermessen.“ „Was? Wer?“ Harvey sah ihn mit einem dümmlichen Grinsen an. Byron seufzte und schaute sich um, denn er wollte sicher gehen, dass niemand ihn beobachtete. Er war versucht, dem Vergessenszauber noch hinzuzufügen, dass Harvey auch Sabrina endgültig vergessen sollte. Aber das wäre nicht fair gewesen, entschied er. Er schnippte mit den Fingern und fand sich im Verkaufsraum der Fantastischen Hexer wieder. „Nun?“ Mr Hawthorn trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Ladentisch. „Hast du sie gefunden?“ „Ich habe ihren Freund gefunden und das Haus, in dem sie wohnt“, sagte Byron verdrossen. „Zumindest weiß ich jetzt ihren Nachnamen. Über ihren Vater muss auf jeden Fall etwas in dem Buch stehen.“ Mr Hawthorns gequältes Gesicht hellte sich merklich auf. „Lass uns nachsehen.“ Er griff unter den Ladentisch, zog ein altes, in Leder gebundenes Buch hervor und blies eine Staubschicht weg. Dann öffnete er das Buch und wedelte mit seinem Finger in der Luft herum. Die Seiten flatterten bis zum Buchstaben „S“. Schließlich tauchte der Eintrag über Edward Spellman auf.
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Byron spähte über die Schulter seines Chefs und zuckte zusammen. „Da! Sieh dir das an“, murmelte Mr Hawthorn. Dort, wo der Eintrag über Edward Spellman stehen sollte, war nichts. Leeres Papier. Er war, genau wie Sabrina, irgendwo in einem magischen Chaos verschollen. Der Geschäftsführer deutete auf die Geheimtür. „Du musst das Hexopoly finden. Sonst verlieren wir alle unsere Hexenlizenz.“ „Wie bitte?“, brüllte Salem. „Ihr habt sie entkommen lassen?“ Grunt und Snark standen mit bebenden Knien vor dem Furcht erregenden Monster. Der schwerfällige Yeti deutete mit seinem zitternden Finger auf den faltigen Geier. „Es ist alles seine Schuld. Er hat zu früh nach dem Spiel gegriffen.“ Der Geier befühlte eine Beule an seinem knochigen Schädel. „Warum hassst du unsss nicht gesssagt, dasss der Mann ein großer Krieger issst?“, zischte er. „Und dasss Mädchen – esss hat magische Kräfte benutzt, um zu entkommen.“ „Was du nicht sagst!“ Salem funkelte ihn böse an. „Sie ist eine Hexe, du Einfaltspinsel!“ Er stemmte seine Klauen in die Hüften und schritt in der schmutzigen Höhle auf und ab. Die Schlangen und Eidechsen flüchteten vor seinen alles zermalmenden Füßen. „Gute Arbeitskräfte sind so schwer zu finden“, murmelte er verdrossen. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte Grunt. „Wir müssen sie wieder gefangen nehmen.“ Salem drehte sich zu seinen Lakaien um und sah sie finster an. „Als dieses Mädchen die Magie benutzt hat, um zu entkommen, welchen Spruch hat sie da gesagt?“ „Wir wissen nichts von Sprüchen, Meister“, sagte Grunt unterwürfig. „Die genauen Worte! Was waren ihre Worte?“
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Grunt runzelte die Stirn und kratzte nachdenklich den weißen Pelz unter seinem Kinn. „Sie sagte: ,Wir haben genug von diesem Ort. Bring uns nach Hause – und zwar sofort.’“ „Aha“, meinte das schwarze Monster. „Sie können die Dunklen Wälder nicht verlassen haben. Es sei denn, sie sind schon vorher verschwunden. Also: Wo könnten sie sein, wenn sie von ,zu Hause’ sprechen?“ Er schlug seine Klauen gegeneinander und lachte höhnisch auf. „Ich weiß es.“ „Sssollen wir zurückgehen und sssie sssuchen?“, zischte Snark. Salem warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Nein! Ihr zwei habt alles vermasselt. Ich muss mich mal wieder selbst um die Dinge kümmern.“ Er seufzte. „Ich werde mich in ein kleineres Wesen verwandeln. In ein harmloses, damit sie keinen Verdacht schöpfen. Dann schnappe ich mir das Spiel und kümmere mich um diese aufdringlichen Hexen.“ Sein teuflisches Lachen ließ die Wände der Höhle erzittern. Irgendwie klappte das mit dem Spiel nicht so richtig. Sabrina und ihr Vater steckten im Treibsand und mussten drei Felder zurückgehen. Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie den Sand aus Haaren und Kleidern geschüttelt hatten. Edward schaute besorgt zu den Baumkronen hinauf. Die Monster hatten sie nicht gefunden – noch nicht. Obwohl die Aussichten trübe waren, fühlte Sabrina sich bei ihrem Vater sicher, da er immer bereit war, sie zu verteidigen. „Wo hast du so gut kämpfen gelernt?“ Edward zuckte bescheiden die Achseln. „Selbst für einen Hexer ist es nicht einfach, im Mittelalter aufzuwachsen. Ich wurde zum Ritter ausgebildet und habe gelernt, mit der Lanze umzugehen.“ „Hattest du auch eine Rüstung?“ Sabrina war sehr beeindruckt. 68
„Klar. Aber ich habe sie mir eigentlich nie verdient. Ich bin schon immer mehr für die Liebe als für den Kampf gewesen.“ Sabrina schluckte. „Und was machen wir, wenn wir hier nicht mehr rauskommen?“ Edward lächelte überlegen und klopfte ihr auf die Schulter. „Wir schaffen es, mein Liebes, ich verspreche es dir. Wir müssen nur mit diesem blöden Spiel weitermachen. Du bist dran.“ „Okay.“ Sabrina seufzte laut. Dann nahm sie den Würfel. Sie hatte eine Sechs und landete auf einem Glücksfeld. Als sie nach der Karte griff, hörte sie, wie Blätter hinter ihr raschelten. Verängstigt drehten sie sich um. Edward sprang auf und schwang seine Lanze in der Luft. „Wer ist da?“, rief er. Ein leises „Miau“ kam von irgendwoher. Kurz darauf stolperte eine durchnässte, schwarze Katze aus den Büschen und brach vor ihnen zusammen. „Salem!“, rief Sabrina glücklich. Sie bückte sich und hob ihre heftig zitternde Katze hoch. „Oh, mein armes Baby. Ist alles in Ordnung?“ Edward ließ seine Lanze sinken, aber er sah misstrauisch zu dem dunklen Wald. „Woher kommst du?“ „Das ist doch egal“, meinte Sabrina. Sie sah ihren Vater wütend an. Er sollte glücklich sein, dass Salem wieder da war. „Hauptsache, er ist okay.“ „Das ist noch die Frage“, meinte Edward. „Ach, es war schrecklich“, murmelte Salem. „Stundenlang war ich in einem dunklen Raum eingeschlossen... ohne Katzenklo.“ „Ach, du armes Schätzchen.“ Sabrina strich ihm mitfühlend über den Pelz. „Wir sind so froh, dass du wieder da bist. Wusstest du, dass wir immer noch in diesem schrecklichen Wald sind?“ „Ich hatte es gehofft“, sagte Salem mit zitternder Stimme. „Können wir jetzt endlich nach Hause?“ 69
„Ich fürchte nicht“, antwortete Edward. „Irgendetwas stimmt mit dem Hexopoly nicht. Alles, was in dem Spiel passiert, geschieht tatsächlich.“ „Wie schrecklich“, stimmte die Katze zu. Dann fuhr sie sich mit der kleinen rosa Zunge über die Lippen. „Hat einer von euch vielleicht ein Tunfischsandwich dabei?“ Sabrina runzelte die Stirn. Die Katze klang genauso wie Salem und sah auch so aus. Und wahrscheinlich war es auch Salem, der da vor ihr stand. Okay, sie hatte Sand und Insekten im Haar, ihr Kleid und ihre Schuhe waren zerfetzt und ihr Vater hatte all seine magischen Kräfte verloren. Salem war zwar ein bisschen dreckig, grundsätzlich hatte er sich jedoch nicht verändert. Sie dachte an die Karte, die ihr Vater der Katze zugedacht hatte. Demnach sollte er sich in ein schreckliches Monster verwandeln... mit magischen Kräften. Sie schielte zu ihrem pelzigen Vertrauten. In seinen gelben Augen blitzte ein fremder Schimmer. „Ach übrigens, Salem, wie bist du eigentlich entkommen?“, fragte sie betont unschuldig. „Ich habe mir einen Tunnel gegraben, wie eine Maus.“ Die Katze patschte mit der Pfote auf das Spiel. „Schätze, ich bin dran, oder?“ „Nein, ich hatte gerade gewürfelt.“ Sabrina schob Salem zur Seite und wollte sich eine Glückskarte vom Stapel fischen, als sie ein lautes Brummen hörte. „Dad! Nimm dich in acht vor Salem!“, schrie Sabrina. Doch es war zu spät. Es dauerte nur einen Wimpernschlag – und die kleine schwarze Katze hatte sich in ein zweieinhalb Meter großes, haariges Monster verwandelt, das vor Muskeln beinahe platzte. Sabrina versuchte wegzulaufen. Lange, pelzige Arme umschlangen sie und hoben sie vom Boden.
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„Sabrina!“, schrie ihr Vater. Er schwang seine Lanze gegen den mächtigen Körper des Monsters. Sie zersplitterte wie ein Zahnstocher. „Ha, ha, ha“, dröhnte eine tiefe Stimme. Sabrina wand sich, um dem Monster zu entkommen, doch es hatte sie fest in seinen mächtigen Klauen. „Ihr lahmarschigen Hexen könnt mir nichts antun“, prahlte Salem. „Und jetzt gebt mir das Spiel, oder ich überlasse euch meinen Freunden.“ Knurrend, prustend und sabbernd schob sich eine Horde hässlicher Ungeheuer aus dem Wald. Schnell umzingelten sie Sabrina und ihren Vater. „Dad!“, schrie Sabrina. „Zieh meine Karte! Schnell!“ Edward griff nach dem Glücksstapel und nahm die oberste Karte. „Fasst ihn!“, brüllte Salem. Obwohl die Monster ihn zu Boden warfen, schaffte Edward es noch, die Karte zu lesen. „Geh zur Disco Dimension und nimm jemanden mit.“ „Ich nehme dich mit, Dad!“, rief Sabrina. „Nein!“, heulte Salem mit zusammengebissenen Zähnen. Aber diesmal war es für ihn zu spät. Eine gewaltige Explosion erschütterte den Erdboden, dunkler Rauch stieg auf. Sabrina, ihr Vater und das Hexopoly waren verschwunden. Noch lange hörte man das grässliche Heulen der Monster. Blitzende, bunte Lichter blendeten Sabrina, und hämmernde Discomusik dröhnte in ihren Ohren. Als sie an sich hinunterschaute, merkte sie, dass sie hellgelbe Schlaghosen trug, ein pinkfarbenes, bauchfreies Top und Plateauschuhe mit fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen. Sie sah aus, als wollte sie bei den Spice Girls anheuern. Sabrina stolperte. Es war unmöglich, in den Schuhen zu gehen. Eine Hand griff nach ihrem Arm. Ihr Vater stand neben 71
ihr. Er trug einen weißen Freizeitanzug, ein Blümchenhemd und eine protzige, goldene Kette um den Hals. Sein Haar war viel länger als vorher. Er sah aus, als ob er zu den Village People gehörte. „Wer sagt, dass Disco tot ist?“, meinte er grinsend. Sabrina lachte erleichtert auf und sah sich um. „Sind wir allein?“ „Nicht unbedingt.“ Edward deutete auf die wild herumhüpfenden Tänzer. Alle waren im Stil der 70er-Jahre gekleidet. Über ihnen drehte sich ein großer, verspiegelter Ball, in dem sich das Licht reflektierte. Die Tanzfläche bestand aus bunten Quadraten, die an und ausgingen, wenn jemand darauf trat. Sabrinas Kopf schmerzte von der lauten Musik und all den Menschen. „Wo ist das Spiel?“, schrie sie, um die stampfende Musik zu übertönen. Ihr Vater zuckte mit den Schultern und schaute auf den Boden. Dort lag das Hexopoly. Und die Menschen tanzten darauf. Die Karten und Figuren waren überall verstreut. „Schnell! Sammle sie auf!“, befahl Edward. Sabrina krabbelte zwischen den Beinen der Tänzer herum und versuchte, alle Karten und Spielfiguren zu erwischen. Denn eines war ganz sicher: Hier wollten sie auf keinen Fall bleiben. Das war noch schlimmer als in den Dunklen Wäldern. „Entschuldigung“, murmelte sie, als sie gegen das Knie eines Tänzers stieß. Ein dünner, blonder Junge in einem gelben Jackett schaute zu ihr herunter. „Geht’s dir nicht gut, Süße?“ „Alles okay. Ich suche nur was.“ „Dann helfe ich dir.“ Der Junge kniete sich neben Sabrina und sammelte die übrigen Karten auf. „Was ist das – ein neuer Tanz?“ „Nein, es ist... ach, egal.“ Plötzlich griff Edward nach ihrem Arm und zog sie von dem blonden Tänzer weg. In der riesigen 72
Disco gab es keinen einzigen Platz, an dem sie ungestört reden konnten. Deshalb schob er sie unter eine metallene Plattform. Über ihnen tanzte ein Go-go-Girl. Es trug Stiefel und einen Fransenbikini. „Sei vorsichtig, mit wem du sprichst“, warnte Edward. „Salems Lakaien könnten überall sein... und es könnte jeder sein.“ „Armes Kätzchen“, murmelte Sabrina. „Es hat sich in ein schreckliches Monster verwandelt. Und das ist alles meine Schuld.“ „He, ich war es, der die Karte mit dem Monsterfluch gezogen hat“, sagte ihr Vater. „Ich bin nur froh, dass ich dich nicht ausgewählt habe.“ „Wahrscheinlich macht es ihm sogar Spaß, ein Ungeheuer zu sein“, meinte Sabrina. Es war sicher besser, das Ganze von der positiven Seite zu sehen. „Glaubst du, dass er hinter uns her ist?“ „Da bin ich mir sicher. Höchstwahrscheinlich will er das Spiel haben, damit er sich nicht wieder in eine Katze zurückverwandeln muss. Du weißt, dass er früher als Hexer nicht besonders nett war. Und jetzt besitzt er wieder alle seine magischen Kräfte.“ „Aber er ist immer noch mein kleines Kätzchen“, sagte Sabrina trotzig und fühlte sich innerlich ganz zerrissen. Sie hätte Salem eigentlich hassen sollen wie die Pest. Doch sie liebte ihn, egal, wie gemein er auch sein konnte. Edward seufzte. „Er ist keine kleine Katze mehr. Es sei denn, er würfelt eine Drei oder wir schaffen es irgendwie, dieses verrückte Spiel zu beenden. Er weiß genau, wo wir sind. Die Frage ist, ob er mit seinen magischen Kräften umgehen kann, um uns zu erwischen.“ „Verrückt, Mann! Schau dir dieses abgefahrene Monster an!“, rief jemand aus der Menge. Ein Sturm der Begeisterung übertönte die hämmernde Discomusik. 73
Sabrina und ihr Vater sahen in die Richtung, aus der der Lärm kam. Ein zweieinhalb Meter großes Monster stand da. Es trug einen violetten Filzhut und einen glänzend violetten Anzug über seinem schwarzen Pelz. Salem! Das plumpe Ungeheuer tanzte wie ein Verrückter. Die anderen Tänzer standen um Salem herum und beklatschten jeden Schritt und jede Drehung, die er machte. Er wippte vor und zurück, ging in die Knie und sprang wieder hoch. „Was soll das sein?“, fragte Edward. „Ich schätze Boogaloo.“ „Geh zur Tür“, befahl er. „Aber langsam, damit niemand etwas mitbekommt.“ Sie waren erst ein paar Schritte gegangen, als sie merkten, dass der große, weiße Yeti die Tür bewachte. Er trug einen limonengrünen Freizeitanzug, der mindestens zehn Nummern zu klein war und aus allen Nähten platzte. Grunt schielte über die Köpfe der Tänzer hinweg. Schnell bückte sich Sabrina. In diesem Moment sah sie, dass über ihr der schreckliche Geier kreiste. Snark schien sie jedoch noch nicht bemerkt zu haben. „Schnell. Wir müssen tanzen“, flüsterte sie ihrem Vater zu. Mit gesenkten Köpfen schoben sie sich über die Tanzfläche. Gott sei Dank sahen sie in ihren Disco-Klamotten genauso aus wie die anderen Tänzer, so dass ihre Verfolger sie nicht sofort erkennen konnten. „Jetzt wissen wir, dass Salem seine Kräfte dazu benutzen kann, uns zu verfolgen und seine Freunde auf uns anzusetzen“, meinte Sabrina. Sie hatte Mühe, in ihren Plateauschuhen zu tanzen. Edward nahm ihren Arm, um sie zu halten. „Was machen wir jetzt?“ „Während Salem sich amüsiert, suchen wir uns einen ruhigen Platz und beenden das Spiel.“ „Einen ruhigen Platz – hier?“ Sabrina sah sich zweifelnd um. „Da hätten wir ja auf der Titanic noch bessere Chancen.“
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Edward verrenkte sich fast den Hals, als er zu der glitzernden Decke hinaufschielte. „Ich glaube, ich habe dort oben einen Lichtschacht entdeckt. Den sollten wir uns mal näher ansehen.“ Tanzend schoben sie sich an eine Metalltreppe heran, die an der Ziegelwand befestigt war. Überall auf den Stufen hingen Leute herum und betrachteten die Tänzer. Sabrina und ihr Vater huschten von einer Gruppe zur nächsten und benutzten sie als Tarnung. Am Ende der Treppe stießen sie auf einen Metallsteg, der mit Stangen an der Decke befestigt war. Er war mindestens vier Stockwerke vom Boden entfernt. Entlang des Stegs waren Scheinwerfer und Projektoren befestigt. Am Ende war eine Leiter angebracht, die zu dem Lichtschacht führte. Edward gab Sabrina zu verstehen, dass sie weitergehen sollte – weg von ihren Verfolgern. Als sie den Steg betraten, hörte Sabrina ein Klicken. Plötzlich wurde ein greller Scheinwerfer auf sie gerichtet. Beide erstarrten. Sabrina wusste, dass sie so schnell wie möglich verschwinden musste, doch der Scheinwerfer verfolgte jede ihrer Bewegungen. Ihr Vater flüchtete in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt wurde der Scheinwerfer auf ihn gerichtet. „Warum habt ihr es denn so eilig?“, säuselte eine vertraute Stimme. Sabrina starrte in das grelle Licht, doch sie konnte nur undeutlich erkennen, dass merkwürdige Figuren die Treppe hinaufschlichen. Sie hörte, wie sie glucksten und sabberten. „Bleibt noch ein bisschen“, flötete das Monster. „Das ist mein Tanz.“
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8. Kapitel Sabrina wollte davonrennen, doch überall waren Ungeheuer. Sie krochen über die Treppe und näherten sich von beiden Seiten des Steges. Sabrina hörte ihr wahnsinniges Lachen und das Kratzen der Krallen auf dem Metall. Sie blinzelte in den Scheinwerfer, unfähig, etwas zu sehen. Als sie weiterstolperte, stieß sie mit ihrem Vater zusammen. Schützend hielt er ihr die Hand vor die Augen. „Bleib ganz nah bei mir“, flüsterte er. „Ich könnte meine magischen Kräfte benutzen“, sagte Sabrina leise. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der mächtige Yeti sich immer näher an sie heranschob. Er konnte sich jeden Augenblick auf sie stürzen. „Nicht jetzt“, erwiderte Edward. „Ich will etwas ausprobieren.“ „Dann mach es schnell“, bat Sabrina, denn sie sah, dass die angriffslustigen Bestien nur noch einen Katzensprung von ihnen entfernt waren. Edward gab Sabrina das Spiel. Dann machte er die protzige Goldkette los, die um seinen Hals hing. „Aber Dad! Noch nicht mal Monster würden so eine geschmacklose Kette tragen. Lass mich einen Zauberspruch sagen.“ „Halt ihn für alle Fälle bereit...“ Edward drehte sich zu einem Sicherungskasten um, der hinter ihm hing. Lichter, Metallkästen und elektrische Leitungen waren über die ganze Länge des oberen Stegs verteilt. Nicht weit davon entfernt war der Lichtschacht, in dem vermutlich alle Kabel mündeten. Edward machte sich mit der Goldkette an dem Sicherungskasten zu schaffen. Sabrina wusste, dass sie die Aufmerksamkeit von ihm ablenken musste.
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Sie ging an den Rand des Stegs und hielt das Spiel über das Geländer, als ob sie es fallen lassen wollte. Der Scheinwerfer war voll auf sie gerichtet. „Geht zurück oder ich werfe es hinunter!“, rief sie. „Die Tänzer werden es innerhalb von Sekunden zu Staub zertreten.“ Sabrina hörte ein wütendes Gebrüll hinter dem Scheinwerfer. Sie wusste, dass Salem seine ganze Aufmerksamkeit nun auf sie richtete. Der Yeti stürzte sich mit seinen kräftigen Armen auf sie, und Sabrina sprang zurück. In diesem Augenblick explodierte der Sicherungskasten, und die Glühbirne des Scheinwerfers flog Sabrina ins Gesicht. Sie konnte nichts mehr sehen und fiel auf die Knie. Als ihre Augen sich wieder erholt hatten, merkte sie, dass alles um sie herum schwarz war. „He, was soll das? Wo bleibt die Musik?“, schrieen die Tänzer. „Macht das Licht wieder an!“ Edward griff in der Dunkelheit nach Sabrinas Hand und zog sie hoch. „Hast du schon mal was von Tarzan gehört?“ „Tarzan?“ Sabrina sah ihn zweifelnd an. Scharrende Fußtritte ertönten auf dem Steg, und Sabrina wusste, dass die Monster hinter ihnen her waren. Durch die schmale Öffnung im Dach drang ein schwacher Lichtschimmer. Sabrina konnte erkennen, dass ihr Vater einen Wust von elektrischen Kabeln in der Hand hielt. Er zog daran, um zu prüfen, ob sie an dem Haken in der Decke gut befestigt waren. „Halte dich an meiner Jacke fest.“ „Okay“, murmelte Sabrina und schob das Spiel unter den Arm. In diesem Augenblick berührte etwas Haariges ihr Bein. Sie griff nach der Jacke ihres Vaters und schrie: „Los!“ „Kletter auf das Geländer.“ Der Yeti griff erneut nach Sabrina. Schnell kletterte sie auf das Geländer und hielt sich an Edwards Jacke fest. Der umklammerte die elektrischen Kabel – und sprang. 77
Sabrina versuchte, nicht zu schreien, als sie wie Zorro durch die dunkle Disco flogen. Sie sausten über die Köpfe der Menschen unter ihnen, die vor Erstaunen vergaßen zu atmen. „Wir schaffen es!“, schrie Edward, als sie in hohem Bogen in die andere Ecke segelten. Als sie wieder zurückschwangen, rief er: „Zeit zum Absprung.“ Wie zwei Seiltänzer, die sich nach der Vorstellung abseilten, sprangen sie in die aufgeregte Menge. Sabrina rutschte über den breiten Rücken eines Tänzers und stand dann wieder sicher auf den Füßen. Als sie sich nach ihrem Vater umsah, merkte sie, dass er benommen am Boden saß. Sie zog ihn hoch, bevor die aufgeregte Meute ihn zertreten konnte. Er atmete tief durch und deutete dann in die Ferne. „Die Tür.“ Sabrina konnte einen schwachen Lichtschimmer sehen, als eine weit entfernte Tür sich öffnete und blaues Neonlicht von der Straße hereinfiel. Sie nahm die Hand ihres Vaters, der immer noch ein bisschen verwirrt aussah, und zog ihn hinter sich her. Jetzt machte es sich bezahlt, dass Sabrina Expertin darin war, sich durch den Ausverkauf im Einkaufszentrum zu kämpfen. Sie pflügte sich durch die aufgeschreckte Menge und schob die Menschen mit ihren Ellbogen und Schultern zur Seite. Edward folgte ihr. Sie waren natürlich nicht die Einzigen, die die Tür ansteuerten. Salem und seine Lakaien waren zwar auf dem Steg geblieben, als das Licht ausgegangen war. Aber es konnte nicht lange dauern, bis sie die Verfolgung wieder aufnehmen würden. Die anderen Discobesucher unterhielten sich oder lachten. Sabrina erinnerte sich daran, dass die meisten von ihnen Hexen waren, die das Ganze für eine gelungene Aufführung hielten, bei der sie ebenfalls ihre Rollen spielten. Ein paar andere waren Stammgäste. Sie verhielten sich
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genauso wie in einer normalen Disco. Niemand spielte verrückt oder versuchte, seine magischen Kräfte einzusetzen. Es sieht alles sehr cool aus, dachte Sabrina, ausgenommen die Monster. Auch wenn sie sich noch so herausputzen, kann man sich mit ihnen doch nirgendwo blicken lassen. Schließlich näherten sie sich der Tür und stießen auf eine Gruppe von Tanzenden, die ihnen den Weg versperrten. Sie schlossen sich der hüftschwingenden Truppe an und bewegten sich im Cha-Cha-Cha-Schritt Richtung Tür. Endlich standen sie auf der neonbeleuchteten Straße. Der Duft von Weihrauch und Pfefferminz hing in der Luft. In den verstaubt wirkenden Boutiquen waren Batikkleider und handgeknüpfte Taschen ausgestellt. Das Ganze wirkte wie eine Ausstellung in einem Vergnügungspark. Obwohl Sabrina sich gerne etwas näher umgeschaut hätte, wollte ihr Vater unbedingt weiter. Er zog sie auf eine abgetretene Treppe. „Wir müssen verschwinden“, flüsterte er. Sie erreichten eine Ladenfront, die versteckt unten im Keller lag. Klar, wir sind nicht zum Spaß hier, rief Sabrina sich in Erinnerung. Vielleicht können die anderen in der Disco sich was vormachen. Wir nicht. Ihr Blick fiel auf ein Schild, das über einem Laden hing: Madame Lavant – Wahrsagerin. Sabrina konnte nur hoffen, dass es überhaupt noch eine Zukunft für sie gab, über die diese Frau ihnen etwas erzählen konnte. Hilda trat durch den Wäscheschrank, Zelda dicht dahinter im Schlepptau. Beide hielten Topfpflanzen in der Hand, die mit hübschen Schleifen verziert waren. Hildas Pflanze schnappte immer wieder nach deren Nase. „Ich brauche eine Leine und einen Maulkorb für diese Fliegenfalle“, klagte sie. 79
„Sei froh, dass wir nichts von dem anderen Plunder gewonnen haben“, meinte Zelda. Hilda schielte argwöhnisch auf die Fleisch fressende Pflanze. „Ich würde sagen, sie kann die Reste aus dem Kühlschrank haben. Sonst isst die ja keiner.“ Zelda, die wieder einmal sehr elegant aussah, setzte ihre Begonie auf dem Flurtischchen ab und warf einen Blick in Sabrinas Schlafzimmer. „Sie ist immer noch nicht da, und es wird schon bald dunkel. Ich kann nur hoffen, dass es ihr gut geht.“ „Mit ihrem Vater?“ Hilda verzog das Gesicht zu einem spöttischen Lächeln. „Super wird es ihr gehen mit ihm. Wahrscheinlich speisen sie gerade in seiner neuen Villa und genießen den Ausblick.“ Sie stieg die Stufen hinab. Unten spähte sie aus dem Fenster. Eine einsame Gestalt stand draußen auf der Veranda. Hilda wartete einen Augenblick, doch nichts geschah. „Wer ist denn das?“ „Werden wir gleich wissen“, meinte Zelda und öffnete die Tür. Die Gestalt draußen schreckte zusammen. „Harvey?“ Zelda sah ihn überrascht an. „Was, zum Teufel, machst du hier?“ Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung.“ „Sabrina ist nicht da“, fügte Hilda hinzu. „Ich weiß“, sagte Harvey. Er klang so, als ob dies das Einzige war, was er überhaupt wusste. „Komm rein“, bot Zelda an. „Aber bleib von Hildas Pflanze weg.“ Obwohl er schon oft bei Sabrina gewesen war, sah Harvey komplett verwirrt aus. Hilda brachte ihre Pflanze in die Küche, bevor sie zu dem Gast zurückkehrte. „Warum bist du eigentlich gekommen, wenn du weißt, dass Sabrina nicht zu Hause ist?“ Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich war in dem Videoladen und habe mein 80
Taschengeld verblasen... und dann war ich hier, ganz plötzlich. Ich erinnere mich noch, dass ich an die Tür geklopft habe und dass niemand aufgemacht hat – das ist alles.“ Hilda schielte neugierig zu ihrer Schwester. Das hörte sich so an, als ob Harvey in einem Zauberspruch gefangen war, der irgendwie schief gelaufen war. Und da einige von Sabrinas Sprüchen nicht ganz hingehauen hatten, könnte sie möglicherweise etwas damit zu tun haben. Aber sie war doch angeblich den ganzen Tag bei ihrem Vater. „Das passiert Hilda auch schon mal“, zwitscherte Zelda. „Sie geht in die Küche und weiß im nächsten Augenblick nicht mehr, was sie da wollte.“ „Nett von dir.“ Hilda lächelte süßlich. „Du solltest besser nach Hause gehen, Harvey. Zeit fürs Abendessen.“ „Abendessen?“ Er wirkte plötzlich wieder lebendig, schaute auf seine Uhr und runzelte die Stirn. „Oh Mann, das ist wirklich verrückt. Ich habe mehr als eine Stunde verloren. Vielleicht wirken sich diese Videospiele doch nachteilig auf das Gehirn aus.“ Er ging zur Tür. „Sagen Sie Sabrina bitte, dass sie mich anrufen soll, wenn sie zurück ist.“ „Machen wir“, versprach Zelda. Sie schloss die Tür hinter ihm und sah ihre Schwester besorgt an. „Vielleicht sollten wir unseren lieben Bruder mal anrufen.“ „Ich hole das Buch.“ Hilda wirbelte mit ihrem Finger in der Luft herum. Das große, in Leder gebundene Buch erhob sich von Sabrinas Bett, schwebte die Stufen herunter und landete in ihren Armen. Als sie zu der Seite mit Edwards Eintrag kam, erstarrte sie. „Was ist los?“, fragte Zelda. Hilda deutete auf das alte Pergament. „Verschwunden. Edwards Bild, seine Adresse – einfach alles! Sieht so aus, als ob er gar nicht existieren würde.“
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Zelda schielte auf die leere Seite. „Irgendwas ist oberfaul. Aber wir müssen die Ruhe bewahren. Als wir Sabrina zum letzten Mal gesehen haben, war sie gerade dabei, ein Vatertagsgeschenk zu suchen. Ich möchte gern wissen, wohin sie gegangen ist.“ „Vielleicht hat Salem eine Idee.“ Hilda steckte zwei Finger in den Mund und pfiff laut. Als die Katze nicht auftauchte, ging sie in die Küche und drehte den elektrischen Dosenöffner an. Salem war nirgends zu sehen. „Er ist auch verschwunden“, stellte sie fest. „Ich werde Sabrina eine Gedankenpost schicken.“ Sie verzog ihr Gesicht, um eine Verbindung zu ihrer Nichte herzustellen. Es funktionierte nicht. „Keine Antwort“, meinte Hilda. „Vielleicht macht sie ein Nickerchen oder sitzt vor dem Fernseher.“ „Die Sache gefällt mir nicht.“ Zelda lief zu Sabrinas Zimmer hinauf. Hilda folgte ihr. Zelda deutete auf den Katalog der Fantastischen Hexer. Sie blätterte darin herum, auf der Suche nach irgendwelchen Anhaltspunkten. „Auf einige Seiten hat Salem seine dreckigen Pfoten geknallt, aber das muss noch nichts bedeuten. Die haben wohl auch einen Verkaufsraum. Vielleicht sind die beiden dahin gegangen.“ „Irgendwo müssen wir anfangen.“ Hilda steuerte auf die Wäschekammer zu, die Unheil verkündend aufleuchtete, als sie eintraten. Hilda nickte entschlossen. Wenn ihrer Nichte oder ihrem Bruder auch nur ein Haar gekrümmt worden war, dann würden Köpfe rollen. „Wollen Sie nun Ihre Zukunft wissen oder nicht?“, fragte Madame Lavant und starrte Sabrina und ihren Vater mit einem stahlblauen Auge an. Das andere war braun und sah beunruhigend leblos aus.
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„Warum sehen Sie dauernd aus dem Fenster?“, wollte sie wissen. „Oh, einfach nur so“, meinte Edward flüchtig. „Um es genau zu sagen, wir warten auf ein paar Freunde.“ „Die wollen bestimmt auch etwas über die Zukunft wissen“, sagte Sabrina begeistert. Sie merkte, dass Madame Lavants braunes Auge sie sehr aufmerksam beobachtete. Für ihren Job sieht die Wahrsagerin eigentlich zu jung aus, fand Sabrina. Man hätte sie sogar als hübsch bezeichnen können, wären da nicht diese schrecklich altmodischen Klamotten gewesen. Sicher, sie entsprachen der damaligen Mode, die allerdings ein bisschen zu viel Ähnlichkeit mit alten Lumpen hatte. Madame Lavants Laden hatte einen ähnlichen Touch. In einem Regal standen Töpfe mit Kräutern und giftigen Pflanzen. An den Wänden hingen alte Teppiche und Pergamentrollen. Ein bunter Perlenvorhang trennte den Salon von dem Wohnbereich ab. Sabrina und Edward saßen an einem alten Tisch. Eine grüne Kerze flackerte. In einer blauen Keramikschüssel schwamm eine Wasserlilie. Ein kleiner Springbrunnen, in dem ebenfalls Wasserlilien schwammen, sprudelte in einer Ecke. Obwohl Madame Lavant einen sehr strengen Eindruck machte, wirkte ihr Salon freundlich. „Was Ihre Zukunft betrifft, soll ich die Karten lesen?“, meinte sie. „Auf keinen Fall!“, platzte es aus Sabrina heraus. Madame Lavant lächelte. Ein großer, goldüberzogener Zahn schimmerte in ihrem Mund. „Dann sollte ich wohl besser die Beulen an euren Köpfen befragen.“ Edward befühlte vorsichtig seinen Kopf. „Normalerweise sehe ich nicht so aus. Und ehrlich gesagt suchen wir eigentlich nur einen ruhigen Platz, damit wir unser Spiel beenden können.
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Falls Sie vielleicht noch einen anderen Raum haben, irgendein Geheimzimmer, in das wir uns zurückziehen könnten...“ Jetzt erst bemerkte Madame Lavant das Spiel, das Sabrina unter ihren Arm geklemmt hatte. „Hexopoly? Ich hasse dieses Spiel.“ „Ich auch“, stimmte Sabrina zu. Als die Wahrsagerin sie erstaunt ansah, fügte sie schnell hinzu: „Es ist nur so, dass mein Dad und ich unbedingt wissen wollen, wer gewinnt.“ „Und? Warum hassen Sie das Spiel?“, wollte Edward wissen. „Weil mein Bruder immer schwindelt.“ Sabrina und Edward starrten sie an. „Man kann schwindeln?“ „Selbstverständlich.“ Die Wahrsagerin lächelte und blies die grüne Kerze aus. „Es gibt einen Weg, das Hexopoly auszutricksen.“
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9. Kapitel „Fünf Dollar, wenn ich Ihnen die Zukunft voraussage“, meinte Madame Lavant. „Fünfzig Dollar, wenn ich Ihnen verrate, wie man das Hexopoly austrickst.“ „Das ist doch lächerlich“, schnaubte Edward. „Warum glauben Sie, dass es das wert ist?“ „Ich glaube es nicht“, meinte die Wahrsagerin. „Aber Sie ganz offensichtlich.“ Sie starrte aus dem Fenster. Von der Straße drangen aufgeregte Stimmen. Ein großes schwarzes Monster in einem violetten Anzug stritt sich mit ein paar Leuten vor einem Posterladen gegenüber. Sabrina und ihr Vater sprangen vom Fenster zurück. „Könnten Sie vielleicht die Rollos herunterlassen?“, fragte Edward. Die Wahrsagerin lächelte. „Das sind wohl ihre Freunde da draußen, oder?“ „Wer braucht schon Freunde“, meinte Sabrina und versuchte, unbeteiligt auszusehen. „Ich glaube, dass ihr beide verdammt dringend welche braucht.“ Madame Lavant ließ die Rollos herunter und murmelte leise vor sich hin. Sabrina hatte das Gefühl, dass sie einen Beschützerspruch gesagt hatte. Sie fühlte sich ein wenig ruhiger, auch wenn sie wusste, dass die Monster jeden Augenblick problemlos durch die windschiefe Tür krachen konnten. Edward breitete das Spiel auf dem Tisch aus. „Um ehrlich zu sein – irgendetwas stimmt mit diesem Spiel nicht.“ „Natürlich. Es ist langweilig“, meinte Madame Lavant. „Viel schlimmer. Es ist verflucht, irgendwie. Alles, was in dem Spiel passiert, geschieht tatsächlich.“
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Madame Lavant beugte sich vor und starrte Edward mit ihrem blauen Auge an. „Das müssen Sie mir erklären. Ganz genau.“ „Sie sind doch komplett schwachsinnig!“, bellte Tante Hilda. Sie stand vor Byron und Mr Hawthorn und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. „Ein kaputtes Zauberspiel verkaufen Sie? Das kostet Sie Ihre Hexenlizenz.“ „Die würde ich Ihnen gerne geben“, sagte Byron besorgt, „wenn Sabrina dadurch zurückkommen würde. Ich wollte nichts Böses, glauben Sie mir. Ich wollte ihr nur einen Gefallen tun.“ Hilda runzelte die Stirn. Ganz offensichtlich war der Junge verknallt in ihre Nichte. Und das konnte sie ihm wohl kaum zum Vorwurf machen. Deshalb ließ sie ihre Wut nun an dem unglücklichen Mr Hawthorn aus. „Aber Sie haben keine Entschuldigung. Sie haben einen liebeskranken Jungen mit der ganzen Verantwortung für diesen Laden allein gelassen und ihm nicht einmal gesagt, was es mit Ihrem merkwürdigen Ordnungssystem in dem Vorratsraum auf sich hat! Ich werde Sie vor den Hexenrat zerren... und vor Richter Judy!“ „Na los! Verklagen Sie mich doch und übernehmen Sie den Laden! Bitte!“ Mr Hawthorn schnaubte. „Glauben Sie, das ist ein Kinderspiel hier? Es ist ein einziger Albtraum. Und schuld daran ist nur das Bombenkommando, das es bis jetzt nicht geschafft hat, das Spiel zu entschärfen.“ Tante Zelda tippte versonnen mit ihrem langen Fingernagel gegen ihr Kinn. „Wenn ich mich nicht irre, hast du dich öfter mit einem dieser Bombentypen getroffen, Hilda.“ „Unterbrich mich nicht mit angenehmen Erinnerungen“, schnaubte ihre Schwester wütend und rollte ihre Ärmel auf. Mit Mr Hawthorn war sie noch lange nicht fertig.
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„Aber es bringt doch nichts, wenn du dich mit ihm prügelst. Wir müssen zusammenhalten. Zumindest sind wir jetzt zu viert. Und das erweitert unsere Möglichkeiten. Wir sollten uns überlegen, was wir mit dem Spiel machen, wenn wir es finden. Auf jeden Fall das Bombenkommando alarmieren.“ Mr Hawthorns Schultern fielen herab. „Könnten wir das Ganze nicht geheim halten?“ „Keine Chance“, antwortete Zelda und wandte sich an ihre Schwester. „Also, wie heißt der Knabe?“ „Du meinst sicher Billy Bruiser“, meinte Hilda und zuckte bescheiden mit den Schultern. „Ein echter Muskelprotz. Komplett durchtrainiert, aber nichts in der Birne. Wir haben uns prächtig verstanden. Ich werde ihn finden, wenn er noch lebt. Du hast ganz Recht. Wir müssen das Bombenkommando einschalten.“ Zelda wandte sich nun an Byron. „Wo hast du denn bis jetzt gesucht?“ Sie tippte auf die Spielkarten. „Fast überall“, meinte Byron. „Wir müssen uns beeilen.“ „Ich werde das Bombenkommando finden“, versprach Hilda und steuerte auf die Geheimtür zu. „Wie hat Ihr Bruder das Hexopoly ausgetrickst?“, fragte Edward noch einmal. „Fünfzig Dollar.“ Die Wahrsagerin hielt ihre Hand auf. „Im Voraus.“ „Sie kennen unsere Probleme und wollen für den Tipp tatsächlich noch Geld haben?“ Sabrina sah sie entgeistert an. „Natürlich“, meinte die Wahrsagerin. „Es ist mein Job, Informationen zu verkaufen. Je wertvoller, desto teurer. So weiß ich wenigstens, dass ich gut gearbeitet habe. In den 70erJahren waren fünfzig Dollar viel Geld.“ „Mehr als wir haben“, murmelte Edward und drehte seine leeren Taschen um. Er starrte besorgt zum Fenster. „Wir wär’s
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denn mit einem kleinen Kredit? Wir zahlen ihn bestimmt zurück.“ „Da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete Madame Lavant. „Sie scheinen nämlich eine Menge Schwierigkeiten zu haben.“ Sabrina schüttelte verärgert den Kopf. „Sie will uns doch nur loswerden, Dad. Komm, wir können unsere Angelegenheiten auch woanders regeln.“ Sie sprang auf und nahm die Hand ihres Vaters. Er sah sie voller Stolz an. „Das werden wir“, sagte er. „Wenn Sie die fünfzig Dollar aufgetrieben haben, können Sie ja wiederkommen“, meinte die Wahrsagerin schnippisch. „Ich könnte Geld herzaubern“, flüsterte Sabrina ihrem Vater ins Ohr. „Benutze deine Kräfte erst dann, wenn wir sie wirklich brauchen“, warnte Edward. „Es könnte schief gehen oder sie könnten uns entdecken.“ In diesem Augenblick drangen laute, wütende Stimmen von der Straße herein. Dann zersplitterte Glas. „Gibt es irgendwo eine Hintertür?“, fragte Edward besorgt. Die Wahrsagerin sah ihn finster an. Ihr Blick verriet, dass es eine gab. Aber sie wollte offensichtlich nicht, dass sie die Tür benutzten. Edward schaute sie mit flehendem Blick an. Widerwillig deutete Madame Lavant auf den bunten Perlenvorhang. „Da durch, dann weiter durch den Kohlenkasten rauf zu der schmalen Gasse. Der Kohlenkasten ist übrigens sauber.“ Edward griff nach dem Spiel und verschwand hinter dem Perlenvorhang. „Sie werden denen doch nichts von uns sagen, oder?“, fragte Sabrina, die zurückgeblieben war. „Nein. Und ich verspreche, dass ich euch helfen werde. Vorausgesetzt ich kriege fünfzig Dollar.“ In diesem Augenblick hämmerte es laut an der Tür. Madame Lavant schob Sabrina schnell durch den Perlenvorhang. Angst stand in ihren Augen. In dem blauen und in dem braunen. 88
Tante Hilda stand zitternd vor einem riesigen Dickicht voller Dornen – eine undurchdringliche Wand von Disteln, Kletten und Stacheln. Das Dickicht war so hoch, dass es fast die Wolken zu berühren schien. Hilda überlegte, ob sie in ihrem Buch vielleicht die falsche Adresse erwischt hatte. Sie wollte schon umdrehen, als sie einen kleinen Zettel entdeckte, der an einem Dorn aufgespießt war. Vorsichtig schob sie ihre Hand zwischen den spitzen Stacheln durch und griff nach dem Papier. „Dieses Dickicht ist auf Befehl des Hexenrates gesperrt. Kein Zutritt. Bitte treten Sie 150 Kilometer zurück. Danke, ihr Bombenkommando.“ „Wer sollte hier schon freiwillig rein wollen?“, murmelte Hilda und sah sich ein wenig näher um. Da entdeckte sie unterhalb des Dickichts einen schmalen Tunnel. Ein paar Bretter lagen auf dem Boden, die jedoch von Dornen und Stacheln durchbohrt waren. Was auch immer der Hexenrat sich einbildete, hier hatte niemand anders das Kommando als die Dornenbüsche. „Billy!“, rief sie. „Bist du irgendwo da drin?“ „Wer ist da?“, hörte sie eine Stimme aus der Ferne. Dann folgte ein Schmerzensschrei. „Was ist passiert?“ „Was glaubst du wohl, was passiert, wenn man mit seinem Kopf an die Dornen stößt?“, murrte eine verärgerte männliche Stimme. „Bist du das, Hilda?“ „Ja, mein Liebling. Kannst du zu mir rüberkommen?“ „Auf keinen Fall, Süße. Wir sind gerade ziemlich beschäftigt, irgendwie. Warum kommst du nicht her?“ Hilda runzelte die Stirn. Ihr blieb wohl keine Wahl, als durch das gefährliche Dickicht zu kriechen. Sie bückte sich und spähte in den Tunnel. Es war unmöglich, da durchzukriechen. Außer sie hätte einen anderen Weg gefunden. Laut sagte sie: 89
„Eine Fliege will ich sein, durchs Dickicht fliegen winzig klein.“ Im gleichen Augenblick verwandelte sie sich in eine kleine Stubenfliege. Jetzt war es ihr möglich, auf direktem Weg durch das Dickicht zu fliegen, ohne von den Dornen und Stacheln zerkratzt zu werden. Allerdings musste sie auf die Spinnweben achten, die überall in den Kletterpflanzen hingen. Weiter oben hingen zerfetzte Kleider und durchtrennte Seile an den Stacheln. Das Bombenkommando hatte es offensichtlich auch nicht leicht gehabt, hier durchzukommen. Vielleicht würden sie sich ja freuen, ein freundliches Gesicht zu sehen. Als sie in der Nähe erneut einen Schmerzensschrei hörte, wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Erstaunlich, denn ihr Orientierungssinn war eine Katastrophe. Der Tunnel wurde immer enger, und Hilda blieb schließlich nichts anderes übrig, als direkt durch das Dickicht zu fliegen. Und dann entdeckte sie das Bombenkommando – eine jämmerliche Gruppe von sechs Männern. Sie waren über und über bandagiert. Zwei schnitten an der riesigen Hecke herum. Zwei andere lagen völlig geschafft in den Hängematten. Die letzten beiden versuchten, eine zerrissene Landkarte zusammenzukleben. Hilda summte herum, auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz. Danach könnte sie sich wieder zurückverwandeln. In diesem Augenblick sprang einer der Männer auf und schlug nach ihr. „Verschwinde, du blöde Fliege!“ „Billy Bruiser!“, rief Hilda tadelnd. Doch mehr als ein leises Piepsen war nicht zu hören. Einer der Männer setzte sich auf. Seine Augen flackerten wie im Fieber. „Ich schwöre euch. Die Fliege hat gerade geredet.“
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„Sicher“, brummte Billy. „An diesem verrückten Ort können sogar die Fliegen sprechen.“ Er wollte erneut mit der Karte nach dem Tier schlagen. Hilda musste schleunigst einen Platz finden, an dem sie landen konnte. „Au“, schrie sie, als sie sich mitten in einem stacheligen Kaktus materialisierte. „Billy, hol mich hier raus!“, flehte sie. Der Muskelprotz stolperte zu ihr und befreite sie aus den Stacheln. „Hilda! Ich hätte nicht gedacht, dass du hier herumfliegen würdest... als Fliege.“ „Hast du erwartet, dass ich laufe? Was ist los mit dir, Billy? Was machst du hier, an diesem trostlosen Ort?“ Billy blickte sie finster an und deutete auf das gewaltige Dickicht. „Irgendein Kobold hat einen verwunschenen Wachstumsspruch geklaut und wollte mit seiner Freundin Dornröschen spielen. Wie auch immer: Er hat sich einen Rosenbusch vor seinem Haus vorgenommen. Das Ergebnis siehst du hier. Wir können erst wieder verschwinden, wenn alles beseitigt ist.“ Hilda sah ihn zweifelnd an. „Wie lange wird das dauern?“ „Etwa zweihundert Jahre“, murmelte einer der Männer. „Falls die Sache planmäßig verläuft.“ „Was ist mit den anderen Notfällen?“, fragte Hilda. „Etliche Zaubersprüche sind schief gelaufen. Dafür brauchen wir das Bombenkommando genauso.“ Billy fuhr sich durch das rote, zerzauste Haar. „Wir nehmen erst wieder einen anderen Job an, wenn wir mit diesem hier fertig sind.“ „Es gibt ein ernstes Problem mit dem Hexopoly“, sagte Hilda und fuchtelte verzweifelt mit den Armen in der Luft herum. „Tut mir Leid“, sagte einer der Männer. „Befehl vom Hexenrat. Dies hier hat oberste Priorität. Und jetzt kommt, Jungs. Vielleicht schaffen wir noch einen Viertelmeter, bevor es dunkel wird.“ 91
Hilda starrte auf das riesige, Furcht erregende Dickicht. Sie rollte ihre Ärmel auf. „Ich sorge dafür, dass das Zeug bis heute Abend verschwunden ist.“ Billy baute sich vor ihr auf und wedelte mit seinem Finger vor ihrer Nase herum. „Was glaubst du, warum sie das Bombenkommando hierher geschickt haben? Weil uns das ganze Zeug ins Gesicht fliegt, wenn man die Magie falsch anwendet.“ „Genau das macht mir auch Sorgen“, meinte Hilda. „Meine Nichte hat ein kaputtes Spiel gekauft, das ihr hättet entschärfen sollen.“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie den Männern die ganze Geschichte erklärte. Billy kratzte sich am Kinn. „Klingt tatsächlich sehr ernst. Wir nennen so etwas einen Umkehrzauber mit übertragbarem Multiplikator. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob wir das Spiel entschärfen können. Wahrscheinlich bleibt uns nichts anderes übrig, als es in die Luft zu sprengen.“ „Wie bitte?“ Hilda sah ihn entsetzt an. „Aus sicherer Entfernung, natürlich“, fügte der Spezialist hinzu. „Verstehen Sie jetzt? Wenn irgendjemand bei dem Spiel Magie verwendet, ist es überlastet und explodiert. Ich kann also nur hoffen, dass Ihre Nichte und Ihr Bruder keine Tricks versuchen. Mit ein bisschen Glück könnten sie das Ganze überleben. Und jetzt entschuldigen Sie bitte.“ Er deutete auf einen der Männer mit den großen Scheren. „Du weißt, was zu tun ist, Fred.“ „Klar, Boss“, sagte der Mann und verschwand. „Wir haben hier das gleiche Problem“, sagte Billy leise zu Hilda. „Der dornige Rosenbusch ist so überlastet mit Magie, dass wir ihn auf normale Art und Weise zurückschneiden müssen.“ „Kannst du nicht ein paar Gärtner dafür anheuern?“ „Damit jeder weiß, dass wir unfähig sind, diesen Job zu beenden?“ Billy lachte höhnisch auf. 92
Frustriert schüttelte Hilda den Kopf. Wenn die Jungs Intelligenzbestien wären, würden sie sicher nicht zum Bombenkommando gehören, dachte Hilda. Trotzdem benötigte sie die Hilfe der Männer. „Wenn ihr hier mal einen Tag Pause macht, wird euch das nicht allzu sehr zurückwerfen“, säuselte sie und tätschelte Billys schmutzige Wange. „Mir würdet ihr allerdings einen großen Gefallen tun.“ Billy schluckte. „Falls der Hexenrat jemals herausfindet...“ Hilda warf einen Blick auf das dornige Gestrüpp. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich weiß, dass du diesen tollen Job nicht gerne verlieren willst. Und das wirst du auch nicht. Ich werde die Typen vom Hexenrat ablenken. Sie werden nie erfahren, dass ihr mir geholfen habt.“ „Und wie willst du das machen?“, fragte Billy. „Denk nicht zu viel.“ Hilda lächelte ihn süßlich an und zupfte seinen Kragen zurecht. „Sorge nur dafür, dass die Jungs vorbereitet sind, damit ihr loslegen könnt, wenn ich euch brauche. Die Zeit ist von entscheidender Bedeutung.“ Billy verschränkte die Arme. „Keine Tricks. Ich will nicht unbedingt dabei sein, wenn das Hexopoly in die Luft fliegt.“ „Wie können wir das Spiel finden?“, fragte Hilda. „Checke die Nachrichtensendungen im Anderen Reich. Wir müssen wissen, ob dort irgendwas Merkwürdiges passiert ist.“ „Gute Idee. Ich melde mich bald.“ Hilda schnippte mit dem Finger. Kurz darauf stand sie wieder im Verkaufsraum der Fantastischen Hexer. Nur Mr Hawthorn war da. Er telefonierte gerade. Als er Hilda bemerkte, legte er schnell auf. „Oh, hallo.“ Er kicherte nervös. „Ich habe nur kurz ein paar meiner Mitarbeiter angerufen.“ „Sie meinen Ihre Anwälte, nicht wahr?“ Hilda sah ihn finster an. „Noch haben Sie keine Schwierigkeiten, Mr Hawthorn. Aber Sie könnten welche bekommen – und zwar ganz gewaltig. Ich habe gerade vom Bombenkommando erfahren, 93
dass das Spiel, das Sie meiner Nichte verkauft haben, explodieren könnte.“ „Oh, mein Gott! Wann kommen die Männer?“ „Erst, wenn wir sie brauchen.“ Hilda ging zum Ladentisch, nahm das ledergebundene Buch und öffnete es. „Wo sind Zelda und Byron?“ „Unterwegs.“ Mr Hawthorn deutete auf seinen Notizblock und das ausgebreitete Hexopoly. „Ich bin über jeden ihrer Schritte auf dem Laufenden.“ Er schielte zu dem ledergebundenen Buch hinüber. „Was suchen Sie denn da drin?“ „Ich brauche zusätzliche Hilfe.“ Hilda deutete mit ihrem Zauberfinger auf ein Foto von Edwards attraktiver Freundin. „Hallo, Gail. Ich muss unbedingt mit dir sprechen.“ Die Frau auf dem Foto drehte sich weg. „Nicht jetzt, Hilda. Bin gerade in einer wichtigen Angelegenheit. Kann ich dich nächste Woche zurückrufen?“ „Dies hier ist auch wichtig“, betonte Hilda. „Edward und Sabrina haben jede Menge Schwierigkeiten.“ Gails Gesicht auf dem Foto wurde jetzt klarer. Und damit auch die Sorge, die sich in ihrer Miene widerspiegelte. „Wo sind sie denn hineingeraten?“ Hilda schilderte ihr kurz, was passiert war. „Wenn wir sie nicht bald finden, könnte etwas Schreckliches geschehen. Wenn es nicht sowieso schon zu spät ist.“ „Was kann ich tun?“, fragte Gail besorgt. „Du könntest die Typen vom Hexenrat ablenken, damit die nicht merken, dass ich mir das Bombenkommando für einen Tag ausleihe.“ Gail nickte heftig. „Kann ich machen. Weiß der Himmel, die sind nicht schwer abzulenken. Noch was?“ „Das wär’s fürs Erste. Wir bleiben in Verbindung.“ Hilda schloss das Buch und wandte sich an Mr Hawthorn. „Irgendwo zwischen all diesem Plunder werden Sie doch sicher einen 394
D-Apparat haben. Schalten Sie die Nachrichten aus dem Anderen Reich ein. Verfolgen Sie, was da passiert. Falls Sie auf irgendwas Merkwürdiges oder Unerklärliches stoßen, könnte das mit meiner Nichte zusammenhängen. Werden Sie das schaffen?“ „Natürlich.“ Mr Hawthorn stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in den Verkaufsraum. „Da hinten müsste ich einen haben.“ „Na dann los!“, rief Hilda. „Meine Familie ist in größter Gefahr.“
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10. Kapitel „Lauf!“, rief Sabrina. „Versteck dich hinter den Mülltonnen.“ Sie stürzte zu den großen Tonnen, die in dem Gässchen standen, und klopfte an jede einzelne, bis sie eine leere gefunden hatte. Dann drehte sie sie um und kroch hinein. Erst als sie sah, dass ihr Vater ebenfalls dabei war, eine leere Tonne zu suchen, zog sie den Deckel vor die Öffnung. Edward war gar nicht begeistert, sich in einer stinkenden Abfalltonne verstecken zu müssen. Aber die schreckliche Bestie, die über ihnen kreiste, ließ ihm wohl keine andere Wahl. Salem, das Rachemonster, benutzte den Geier, den Greifvogel und ein paar andere fliegende Monster als Helikopter, die von der Luft aus nach ihnen suchten. Zweimal hatten sie sich in irgendwelchen dunklen Ecken verkrochen, aber die Verfolger hatten sie aufgespürt. Glücklicherweise hatten sie es rechtzeitig bemerkt. Der Boden war erzittert unter den Schritten der herannahenden Ungeheuer, und sie hatten einen Riesenkrach gemacht. Die Bestien gaben die Suche jedoch nicht auf. Sabrina hatte das Gefühl, dass Salem es darauf anlegte, sie nicht zur Ruhe kommen zu lassen, damit sie keine Gelegenheit hätten, das Spiel zu beenden. Edward hatte sich noch immer nicht versteckt. „Schnell!“, rief sie ihm zu. Endlich hob er den Deckel einer großen Tonne und schwang sich hinein. Einen kleinen Spalt ließ er offen, damit er die Straße beobachten konnte... und das geflügelte Monster, das über ihnen kreiste. Sabrina ließ sich in der Abfalltonne nieder und versuchte, ihr Zittern in der Dunkelheit zu unterdrücken. Wieder einmal musste sie gegen die Versuchung ankämpfen, einen 96
Zauberspruch zu sagen. Sie hätte magisches Licht benutzen können, die Fähigkeit, durch Metall zu sehen, oder sie hätte einfach die U-Bahn nach Hause nehmen können. Es gab viele Möglichkeiten. Klar, die Magie war schuld daran, dass sie in der Klemme steckten. Jedes Mal, wenn sie ihre Kräfte eingesetzt hatte, war der Schuss nach hinten losgegangen. Trotzdem wusste sie, dass sie es möglicherweise noch einmal versuchen musste. Ihr Vater war allerdings vorsichtig geworden. Er hatte alle seine magischen Kräfte verloren, und er wollte sich nicht noch einmal die Finger verbrennen. Sie mussten also das Spiel gewinnen, auch wenn Sabrina das Gefühl hatte, dass sie weit davon entfernt waren. Plötzlich hämmerte jemand an die Mülltonne und schreckte Sabrina auf. „Okay“, sagte eine dumpf klingende Stimme. „Sie sind weg. Komm raus.“ Sabrina schob den Deckel zur Seite und krabbelte hinaus. Sie und ihr Vater sahen jetzt so aus, als ob sie auf der Straße leben würden – heruntergekommen und verdreckt. Sie rochen nach verfaulten Bananenschalen und Kaffeesatz. Sabrina schüttelte den Kopf und lachte. „Ich weiß nicht, was daran so lustig sein soll“, brummte Edward. „Wir. Heute Morgen sahen wir noch todschick aus. Und jetzt völlig verwahrlost.“ Sabrina hielt sich die Hand vor den Mund, aber sie konnte nicht aufhören zu lachen. Edward grinste schief. „Vielleicht brauchen wir eine kleine Dosis Demut. Ich bin jedenfalls viel bescheidener geworden. Es ist schon ein ziemlicher Mist, wenn man keine magischen Kräfte hat. Nie wieder werde ich auf die Sterblichen hinabschauen.“ „Also, was machen wir?“, wollte Sabrina wissen. „Weiterspielen?“
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Edward schaute sich vorsichtig um. Dann schob er die Abfalltonnen so vor die Wand, dass eine kleine, geschützte Ecke entstand. Er legte das Spiel auf den Boden. Sabrina staunte, als er die Deckel so über Tonnen und Wandvorsprung schob, dass eine Art Dach entstand. Jetzt konnten sie auch von der Luft aus nicht mehr entdeckt werden. „Ich bin dran“, sagte Edward voller Hoffnung und nahm den Würfel. Er hatte eine Zwei. „Warum kann ich nicht mal eine Eins würfeln?“ Sabrina schob seine Figur weiter. „Du hast ein Feld mit leichten Fragen erwischt.“ Ihr Vater nickte und Sabrina nahm eine Karte. Sie lächelte. „Diesmal könnte es klappen, Dad. Also: Welches Tier ist laut Umfrage am beliebtesten in der Hexenfamilie?“ „Ich hasse es, so weltlich zu sein“, sagte Edward. „Aber es ist die Katze.“ „Bingo!“ Sabrina grinste. „Du darfst eine Belohnungskarte ziehen.“ Edwards Hand zitterte, als er eine Karte zog und sie las. Zuerst lachte er. Dann sah er beunruhigt aus. „Ich kann den Zirkus besuchen, wenn ich will.“ Er runzelte die Stirn und wiederholte: „Wenn ich will.“ Sabrina schlug sich auf die Knie und lachte. „Das ist großartig. Zum Zirkus! Verschwinde von hier, solange es noch geht.“ „Aber ich will dich nicht allein lassen.“ „Ich habe immer noch meine magischen Kräfte.“ Sabrina versuchte, tapfer zu klingen. „Du nicht. Deshalb ist es für dich viel riskanter. Wenn es hart auf hart kommt, werde ich sie benutzen. Oh, ich war als kleines Kind zuletzt im Zirkus. Mit dir.“ „Ich erinnere mich“, sagte Edward und lächelte wehmütig. „Du hast gedacht, es wäre ein normaler Zirkus. Und ich habe
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dich in dem Glauben gelassen. Wir hatten damals eine Menge Spaß, nicht wahr, Liebes?“ Sabrina nickte. „Das stimmt. Übrigens: Du solltest jetzt gehen.“ „Wer soll das Spiel nehmen?“, fragte Edward. Sabrina zuckte die Achseln. „Schätze, dass ich es behalte. Ich bin nämlich am Zug. Mach dir keine Sorgen, Dad. Ich komme schon klar. Wirklich.“ „Nein!“, sagte ihr Vater entschieden und schüttelte den Kopf. „Wir sind ein Team – und wir stecken beide in diesem Schlamassel. Ich kann nicht verschwinden ohne mein kleines Mädchen.“ „Ich wünschte, du würdest es tun. Aber es ist deine Sache.“ Sabrina war erleichtert und gleichzeitig verärgert über die Entscheidung ihres Vaters. „Sobald ich würfle, verlierst du deine Chance.“ „Mach weiter“, antwortete Edward mit einem Lächeln. „Wir verschwinden zusammen.“ Sabrina wollte gerade würfeln, als sie schlurfende Schritte in dem Gässchen hörte. Sie und ihr Vater schielten vorsichtig um die Mülltonnen herum, um zu sehen, was los war. Grunt, der große weiße Yeti, trottete den verlassenen Gehweg entlang. Als er stehen blieb, um zu schnuppern, gingen sie schnell wieder in Deckung. Edward legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Sabrina hatte jedoch nicht vorgehabt, etwas zu sagen. Ganz im Gegenteil. Sie wagte kaum zu atmen. Wenn der Yeti einmal ihre Spur aufgenommen hätte, würde er sich bestimmt daran erinnern, wie sie rochen. Im Augenblick hatten sie zwar diesen Abfallduft an sich. Sabrina war sich aber nicht sicher, ob das gut oder schlecht für sie war. Schließlich hörte sie, dass der Yeti grunzte und weiterschlurfte. Er hatte sie nicht entdeckt. Trotzdem klappte
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Edward schnell das Spiel zusammen. „Es ist zu gefährlich hier. Wir müssen einen anderen Platz finden.“ „Was ist mit dem Zirkus?“, fragte Sabrina. „Du kannst immer noch hingehen.“ Edward beugte sich in eine der Abfalltonnen und wühlte in dem Müll herum. Sabrina sah ihn finster an. „Was suchst du denn da?“ „Irgendwas, das fünfzig Dollar wert ist. Ich will zu dieser Wahrsagerin zurück und ihr sagen, dass wir Hilfe brauchen. Du glaubst ja nicht, was die Leute so alles wegschmeißen. Besonders Hexen in den Schulferien.“ Mit einem siegessicheren Lächeln zog er eine schwarze Schulmappe heraus. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer alten Arzttasche. „Hm. Ich glaube, wir sollten mal reinschauen, oder?“ „Na mach schon.“ Sabrina wollte gleichgültig klingen, aber sie war genauso neugierig wie ihr Vater. Nur mit Mühe konnte er das Schnappschloss aufstemmen. Schließlich kullerten Diamanten und Rubine in den Abfall. Zumindest sehen sie aus wie echte Juwelen, dachte Sabrina. Es konnte natürlich auch Modeschmuck sein. Das Versteck in der Abfalltonne ließ eher darauf schließen, dass die Klunker nicht besonders wertvoll waren. Auf der anderen Seite war die Disco der Treffpunkt der Hexenwelt. Für sie waren echte Edelsteine nichts als Plunder, den man nach Belieben herbeizaubern konnte. Edward blickte finster auf ein Diadem, das er aus dem Abfall gefischt hatte. „Wenn ich noch meine magischen Kräfte hätte, könnte ich dir sagen, ob das Ding echt ist. Trotzdem, wir müssen es versuchen. Mal sehen, ob Madame Lavant es nimmt.“ „Sie ist eine Hexe, die vorgibt, ein Hippie zu sein“, murmelte Sabrina. „Ich wüsste nicht, wofür sie fünfzig Dollar braucht.“ „So ist das in der Disco Dimension. Wenn sie uns das Geld abknöpft, hat sie das Gefühl, die bestmögliche Arbeit geleistet 100
zu haben. Ohne ihre magischen Kräfte benutzt zu haben. Das ist das Prinzip: sich in der normalen Welt normal zu verhalten. Das ist das Schwierigste für Hexen. Du wirst es auch noch lernen.“ Er deutete um sich. „Deshalb hat man diese verrückte Dimension in ihrem ursprünglichen Zustand gelassen – damit wir daran erinnert werden, dass die Sterblichen auch nicht normal sind.“ Mit einer Handbewegung gab er Sabrina ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie verließen das Gässchen und mischten sich auf der Straße unter eine Horde von Nachtschwärmern. Das Gelächter am Ende des Gässchens hörten sie nicht mehr. Ein schwarzes und ein weißes Monster, die aussahen wie behaarte Salz- und Pfefferstreuer, steckten ihre Köpfe durch ein Treppengeländer. Als sie sahen, dass ihre Opfer in der Menge verschwanden, kicherte das schwarze Ungeheuer. „Da sind sie. Gehen uns genau in die Falle.“ „Woher wusstest du, dass sie die Tasche mit den Juwelen nehmen?“, fragte der Yeti. Salem grinste höhnisch und entblößte dabei eine Reihe scharfer Fangzähne. „Ob sterblich oder Hexe. Alle fallen auf dieses funkelnde Zeug herein. Hexen sind außerdem faul. Sie nehmen den leichtesten Weg. Komm, Grunt. Ich will sicher gehen, dass alles vorbereitet ist. Sie dürfen diesmal auf keinen Fall ihre magischen Kräfte benutzen.“ Das schwarze Monster schnaubte zufrieden und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Oh Mann, es fühlt sich so gut an, böse zu sein! Dennoch steckte irgendwo tief in seinem räudigen Körper ein Fünkchen Schuldgefühl. Das Monster wäre nie auf die Idee gekommen, dies als Zeichen seines Gewissens zu deuten, aber es reichte aus für eine Magenverstimmung. Salem rülpste laut
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und fühlte sich schon viel besser. Beruhigt war er allerdings immer noch nicht. Warum sollte ich mich schlecht fühlen, nur weil ich hinter dieser triefnasigen Hexe und ihrem aufgeblasenen Vater her bin? Was sollten sie mir denn schon bedeuten? Er fand keine Antwort. Salem wusste, dass an ihm nichts Gutes war. Das konnte es also nicht sein. Das grässliche Monster brüllte vor Wut, und der weiße Yeti duckte sich ergeben. Mr Hawthorn legte den kleinen 3-D-Apparat aus Plastik zur Seite, mit dem er normalerweise Fotos anschaute. Er rieb seine Augen und sagte: „Entsprechend den Nachrichten hat es Unruhen in der Disco Dimension gegeben. Kennen Sie diesen Ort?“ „Nein“, sagte Tante Zelda. „Ja“, antwortete Tante Hilda. Die beiden Schwestern sahen sich an, und Zelda lachte wissend. „Nun, ich habe davon gehört“, meinte Hilda. „Zufällig bin ich ein Fan von Donna Summer.“ „Ich auch“, fügte Zelda an. „Also, wer geht hin, um dort nachzuforschen? Ich denke, ich habe mir eine kleine Pause verdient, nach der Alligatorfarm.“ Sie schielte auf ihre zerrissene Hose. „Du gehst“, bestimmte Hilda. „Und ich warte hier mit dem Geschäftsführer auf die nächsten Horrormeldungen. Überwachen Sie weiter die Nachrichten, Hawthorn.“ „Ja, Madame“, antwortete der unglückliche Geschäftsführer. Sabrina versuchte, unbeteiligt auszusehen, als sie an dem Laden der Wahrsagerin vorbeischlenderte. Er lag im Keller und war über eine Treppe zu erreichen. Sie blieb stehen und tat so, als ob sie ein bunt gefärbtes Kleid in einem Schaufenster 102
betrachten würde. Tatsächlich wollte sie jedoch herausfinden, was in dem Salon der Zigeunerin vor sich ging. In diesem Augenblick wurde vor ihrem Fenster das Rollo heruntergelassen. Sabrina gab ihrem Vater, der auf der anderen Straßenseite stand, durch eine schnelle Drehung ihres Handgelenks ein Zeichen. Wie zufällig überquerte er die Straße und erntete anerkennende Blicke von ein paar zerlumpten, übel riechenden Gestalten. Als er schließlich bei Sabrina war, sahen sie sich noch einmal nach allen Seiten um. Weit und breit war kein Monster zu sehen, und sie verschwanden im Treppenhaus. Edward klopfte an die Tür, während Sabrina die Straße im Auge behielt. Sie fühlte sich allmählich wie eine Spionin aus einem 70er-Jahre-Film. Jeden Augenblick könnte eine Truppe von maskierten Karatekämpfern aus den Büschen springen. Sie presste das Spiel noch fester an sich und hoffte, es bald endgültig loswerden zu können. Die Tür wurde immer noch nicht geöffnet, und Edward schnauzte gereizt: „Los, Madame Lavant! Wir wissen, dass Sie da sind. Machen Sie auf!“ „Bitte“, bettelte Sabrina. Mehrere Schlösser wurden umständlich geöffnet. Dann flog die Tür mit einem Knall auf. Madame Lavant starrte sie an und zischte: „Verschwinden Sie! Ich kann keinen Ärger brauchen.“ „Sie haben ihn schon.“ Edward drängte sich rücksichtslos in ihren Salon. Sabrina schlüpfte ebenfalls hinein und schloss die Tür. Erleichtert legte sie das Spiel auf den Tisch, der in der Mitte des Salons stand. „Wir hassen es, uns wie Rüpel zu verhalten“, meinte Edward. „Aber Sie sind unsere einzige Hoffnung.“ Er hielt die schwarze Tasche in die Höhe und schüttelte sie. „Wir haben Geld – mehr als abgemacht.“ „Diese Monster sind hinter Ihnen her“, sagte sie ängstlich. „Sie waren hier! Und sie haben mich ausgequetscht.“ 103
„Haben Sie denen irgendwas erzählt?“, fragte Sabrina. „Ich habe gesagt, dass ihr vorbeigerannt seid.“ Sie zitterte. „Uh, dieser Große war so hässlich. Und sie haben all meine Vorräte weggefressen.“ „Haben die Ihnen geglaubt?“, wollte Edward wissen. „Wie soll ich wissen, was Monster glauben. Nun zeigen Sie mir endlich, was in dieser Tasche ist. Es sollte schon etwas Gutes sein.“ Die Wahrsagerin lehnte sich vor, als Edward die Tasche auf den Tisch stellte und öffnete. Die Juwelen schimmerten verführerisch in dem Kerzenlicht. Madame Lavant schnappte nach Luft. „Sind die echt?“ Sie klang begeistert. „Wir sollten uns nicht mit Spitzfindigkeiten aufhalten, Madame“, schnauzte Edward. „Sagen Sie uns nun bitte, wie wir Hexopoly gewinnen können.“ Die Frau seufzte und schaute zu Sabrina. „Bist du sicher, dass ihr nicht verfolgt worden seid?“ „Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß überhaupt nichts mehr sicher.“ Sabrina sah sie flehend an. „Wir sind in Schwierigkeiten. Wenn Sie irgendetwas für uns tun können, bitte tun Sie es.“ Endlich nickte Madame Lavant und starrte zu Edward hinüber. „Sie stecken in einer Zahlenschleife fest, nicht wahr? Sie können Ihre Zauberkräfte nicht mehr benutzen und auch nicht mehr nach Hause zurückkehren. Es sei denn, Sie würfeln eine bestimmte Zahl.“ „Ja“, antwortete Edward eifrig. „Eins! Ich muss eine Eins würfeln.“ „Sie haben Glück.“ Sie lehnte sich vor und flüsterte: „Der Trick, den mein Bruder immer angewendet hat, war...“ „Ja? Ja?“ „Magische Würfel. Er hat sie in einem Zauberladen gekauft. Sie waren angeblich dafür vorgesehen, eine Sieben zu würfeln, obwohl man mit ihnen jede Zahl würfeln konnte, die man 104
wollte.“ Sie kochte vor Wut. „Oh, ich hasste meinen Bruder, als ich herausfand, wie diese Dinger funktionierten. Kein Wunder, dass er immer gewonnen hat!“ „Würde das auch bei uns klappen?“ Sabrina sah sie zweifelnd an. „Bei meinem hundsmiserablen Bruder hat es immer funktioniert“, schnauzte die Wahrsagerin. „Ich habe die Würfel sogar noch. Einen Moment.“ Murrend verschwand Madame Lavant hinter der Tür mit dem Perlenvorhang. Edward drehte sich zu Sabrina. Er sah allerdings nicht besonders glücklich aus. „Ich hatte an etwas Raffinierteres gedacht als an magische Würfel. Das könnte genauso ins Auge gehen.“ Sabrina stand auf und ging unruhig auf und ab. Hinter der Tür bewegte sich etwas. Sie wollte ihrem Vater gerade ein Zeichen geben, als die Schatten verschwanden. Nur die Fußgänger huschten weiter über den Gehweg. Sabrina merkte, dass sie angespannt und überängstlich war. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass dieser Tag endlich zu Ende ging. „Du musst entscheiden, Dad.“ Der Perlenvorhang teilte sich, und Madame Lavant schlurfte zurück in den Salon. Sie gähnte laut und legte zwei identische, sechsseitige Würfel auf den Tisch. „Sie sehen genauso aus wie der Würfel aus dem Spiel.“ Ein kleines Mädchen kann man damit vielleicht hereinlegen, dachte Sabrina. Aber kann man auch das Hexopoly damit austricksen? Die Wahrsagerin plumpste in ihren Sessel und gähnte erneut. „Ich weiß gar nicht, warum ich so müde bin. Die ganze Aufregung vermutlich.“ Auch Edward gähnte. Er nahm einen der magischen Würfel. „Ich denke, wir sollten es versuchen. Was meinst du?“ Sabrina, die immer noch stand, schreckte zusammen. Sie war tatsächlich kurz eingeschlafen. „Was hast du gefragt?“ 105
„Kann mich nicht erinnern.“ Er sah zu Madame Lavant hinüber. Sie schlief, mit dem Kopf auf dem Tisch. „Unverschämtheit“, meinte Sabrina. Benommen sah Edward sich in dem Salon um. Und allmählich wurde ihm bewusst, was hier vor sich ging. „Das darf doch nicht wahr sein“, murmelte er. „Was ist los?“, fragte Sabrina. Edward erhob sich mühsam, doch er war noch so benebelt, dass er den magischen Würfel fallen ließ. Der rollte zu den anderen beiden. „Es muss ein Einschlafspruch sein. Oder in der Luft ist Schlafgas...“ Sabrina berührte die Wände, als ob deren Festigkeit ihr hätte helfen können, nicht wieder einzuschlafen. In diesem Augenblick hörte sie draußen auf der Treppe Schritte. Eine Hand zog heftig an dem Türknauf. Als der Eindringling merkte, dass die Tür verschlossen war, krachte eine behaarte Faust durch das Fenster, schob sich hindurch und tastete nach dem Knauf. „Dad!“, schrie Sabrina. Jetzt hörte sie im Hintergrund einen dumpfen Knall. Sie wusste, dass irgendjemand durch den Müllschlucker hereingestürzt war. Edward griff eilig nach dem Spiel und den drei Würfeln. „Bleib ganz nah bei mir“, sagte er bestimmt. „Wie nah?“ „So nah, dass du jederzeit in meiner Jackentasche verschwinden könntest.“ Die Monster griffen nun von beiden Seiten an. Sabrina versuchte, ein wenig Klarheit in ihr umnebeltes Gehirn zu bekommen und konzentrierte sich auf den Zauberspruch. „Hässliche Monster, schwarzer Kater, ich tue alles für meinen Vater. Lass mich schrumpfen, mach mich klein, dann pass ich in seine Tasche rein.“ 106
Gerade als die Tür aufgerissen wurde und der grausame weiße Yeti hereintorkelte, schwirrte Sabrina wie eine Minirakete durch die Luft. Sie landete in der sicheren Jackentasche ihres Vaters und wartete darauf, dass er sie retten würde. Aber was soll er eigentlich machen?, wurde ihr plötzlich bewusst. Ohne seine magischen Kräfte? Sabrina schloss die Augen und wartete ergeben darauf, dass die Monster sie zermalmten.
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11. Kapitel Sabrina kauerte immer noch in der dunklen Jackentasche ihres Vaters, als sie von einem lauten Trompeten aufgeschreckt wurde. Hat Salem jetzt auch schon Elefanten, die für ihn arbeiten?, ging es ihr durch den Kopf, doch sie konnte nichts erkennen. Und da niemand ihnen an den Kragen gegangen war, wollte sie sich so schnell wie möglich wieder zurückverwandeln. Laut stieß sie einen Umkehrspruch aus: „Klein ist fein, doch die Zeit ist um, will wieder groß sein, sonst wird’s mir zu dumm.“ Mit einem Zischen schoss Sabrina wieder zu ihrer normalen Größe auf. Sie sah nach unten – und erstarrte vor Schreck. Der Boden lag weit unter ihr. Vorsichtig schaute sie sich um und entdeckte, dass sie und ihr Vater auf einer schmalen Metallplattform hoch oben in der Luft saßen. Unter ihnen waren Hunderte jubelnder Zuschauer. In der Manege tummelten sich Elefanten, Löwen, Pferde, Hunde und verschiedene andere Tiere. „Beweg dich nicht“, sagte eine vertraute Stimme. Edward griff mit fester Hand nach ihrem Kragen und zog sie vorsichtig hoch. Sabrina klammerte sich verzweifelt an ihn, da sie schreckliche Höhenangst hatte. „Wo sind wir?“ Ihre Stimme klang piepsig. „Im Zirkus. Auf der Plattform der Seiltänzer.“ „Wie bitte?“ Als Sabrina sah, dass der einzige Weg von ihrem luftigen Hochsitz weg aus einem dünnen Seil bestand, steigerte sich ihr Entsetzen noch. Das Seil schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken, bevor es die andere Plattform erreichte. Es gab zwar noch eine schmale Leiter, aber Sabrina war nicht in der Lage, dort hinunterzusteigen. 108
Voller Panik sah sie nach oben. Sie waren nicht weit von dem obersten Pfosten des Zeltdachs entfernt. Sabrina beruhigte sich ein bisschen und atmete tief durch. „Du hast die Glückskarte benutzt, um uns hierher zu bringen“, sagte sie zu ihrem Vater. „Was hast du nur gemacht?“ „Du weißt doch, dass nichts in dem Spiel so läuft, wie du es dir vorstellst. Das Spiel hat mir die Kraft verliehen, zum Zirkus zu kommen. Allerdings war nirgendwo von einer zeitlichen Begrenzung meiner Kräfte die Rede. Vielleicht kann ich sie also weiter benutzen.“ Er lachte verbissen. „Ich hatte gehofft, dass es funktionieren würde. Sicher war ich mir jedoch nicht.“ „Und die Monster?“ Edward sah zögernd in die Tiefe. Sabrina zwang sich ebenfalls dazu, hinunterzusehen. Zwischen den Pferden und Elefanten konnte sie aber keinen Yeti, Geier oder Eidechsenmann ausmachen. Klar, das blöde Spiel hätte sie niemals auf sicherem Boden abgesetzt. Nein! Es musste sie unbedingt auf den höchsten Platz im Zirkus verfrachten – und das ohne Sicherheitsnetz! Glücklicherweise wurde die Aufmerksamkeit der Zuschauer jetzt auf eine Schimpansenshow gelenkt, die links in der Manege stattfand. Rechts jonglierten Akrobaten und schlugen Saltos. In der Mitte schien eine Truppe von Clowns sich auf ihren Auftritt vorzubereiten. „Salem und seine Lakaien sind nirgendwo zu sehen“, meinte Edward erleichtert. „Beim letzten Mal haben wir fast verloren. Bevor irgendetwas passiert, müssen wir das Spiel beenden.“ „Hier oben?“ Sabrina sah ihn entsetzt an. „Niemand beobachtet uns, also kann uns auch keiner verraten“, sagte Edward. Er deutete auf die wacklige Leiter. „Wir könnten natürlich auch jederzeit hinunterklettern.“ „Oh nein! Das ist schon okay“, erwiderte Sabrina schnell. „Ich könnte aber meine magischen Kräfte benutzen, um uns hier wegzubringen.“ 109
„Alles, was ich tun muss, ist eine Eins würfeln“, sagte ihr Vater mit einem verschlagenen Lächeln. „Und werden wir das Spiel austricksen?“ Edward seufzte. Er hielt die drei identisch aussehenden Würfel in der Hand. „Ich glaube, wir haben keine Wahl. Bei der ganzen Aufregung habe ich die Würfel zusammengeworfen. Jetzt kann ich sie nicht mehr unterscheiden.“ „Okay“, murmelte Sabrina und deutete auf das Spiel. „Bevor du würfelst, bin ich am Zug.“ Edward breitete das Spiel aus und hielt Sabrina die drei Würfel hin. Sie nahm den, der ihr am nächsten war. Sabrina sah auf das Spielfeld hinunter. Krampfhaft versuchte sie, nicht daran zu denken, dass sie in Schwindel erregender Höhe unter einem Zirkuszelt saßen. „Vielleicht würfelst du heute noch“, schlug Edward vor. Sabrina hatte den Würfel schon in der Hand, als unten ein schriller Pfiff ertönte. Sirenengeheul und Hupsignale folgten. Es klang so, als hätten sie sich an einer belebten Kreuzung mitten im Stoßverkehr befunden. Sabrina sah hinunter und wurde geblendet von Scheinwerfern, die auf sie gerichtet waren. Entsetzt wich sie zurück. Sie hatte Angst entdeckt zu werden. Eine starke Hand berührte ihre Schulter. „Es ist alles in Ordnung, meine Kleine. Das sind nur die Clowns.“ Sabrina öffnete wieder die Augen und sah jetzt, dass die Scheinwerfer nicht auf sie gerichtet waren, sondern auf die Mitte der Manege. Sie war voll von Clowns, die in kleinen Autos im Kreis herumfuhren und sich gegenseitig verfolgten. Andere versuchten, mit großen Hämmern, Plastikflaschen, aus denen Wasser spritzte, und Kübeln von Konfetti die Autos zum Stehen zu bringen. Aus einem der kleinen Wagen kullerten mindestens zehn Clowns und überschlugen sich in der Manege. Es war das reinste Tollhaus. 110
Das begeisterte Lachen der Kinder drang bis nach oben. Sabrina entspannte sich ein bisschen. Auch sie musste über die wilden Späße der Clowns lachen. An solch einem ausgelassen lustigen Ort konnte ihnen eigentlich nichts Schlimmes passieren. Plötzlich flogen einige der Clowns wie Kanonenkugeln durch die Luft. Sabrina war verblüfft über diese Kunststückchen. Das Ganze sah jetzt allerdings immer mehr nach einem Ringkampf aus. Ein paar andere Clowns rannten weg und verschwanden, ohne wiederzukommen. Die Zuschauer begannen zu murren und buhten die restlichen Clowns aus. Sabrina war zu weit weg, um die Ursache des Aufruhrs dort unten erkennen zu können. Doch dann sah sie eine Horde abscheulicher Monster, die wie Clowns gekleidet waren. Mit ihren Ekel erregenden Fangarmen und den spitzen Klauen kämpften sie sich aus einem Loch im Boden heraus und tobten durch die Arena. Mit ihren übergroßen Hämmern und den spritzenden Flaschen verjagten sie die richtigen Clowns. Einige der Zuschauer applaudierten begeistert. Doch Sabrina war das Lachen im Hals stecken geblieben. Nun schritt der Zirkusdirektor in die Manege. Er trug einen hellroten Smoking. Schwarzer Pelz quoll oben an seiner Jacke heraus. In der Hand hielt er ein Mikrofon. Einige Menschen im Publikum schrieen auf und wollten zum Ausgang stürmen. Die anderen blieben sitzen, um zu sehen, ob der grässliche Zirkusdirektor Teil der Show war. Wir werden auch bald ein Teil dieser Show sein, dachte Sabrina voller Angst. „Würfle!“, drängte ihr Vater. „Du bist dran.“ „Welchen soll ich nehmen? Diesen?“ Sabrina hielt einen der Würfel hoch, doch sie wusste nicht, ob es der magische war. Entschlossen würfelte sie – und hatte eine Vier.
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„Vier!“, rief Edward verwirrt. „Warum hast du das gemacht? Du bist auf ein leeres Feld geraten.“ Sabrina lächelte entschuldigend. „Ich habe vergessen, welche Zahl ich würfeln sollte.“ Lauter Trommelwirbel ertönte, der sie auf ihrem luftigen Hochsitz erzittern ließ. Als sie hinunterschauten, sahen sie, dass der Zirkusdirektor durch die Manege stolzierte, während die Clowns im Publikum herumtobten. Sie rissen den Frauen die Hüte vom Kopf und den Kindern die Süßigkeiten aus dem Mund. Die Zuschauer wussten nicht mehr, ob sie lachen oder weglaufen sollten. Der Zirkusdirektor pfiff laut. Seine schreckliche Truppe hörte mit den Mätzchen auf und hüpfte zurück in die Manege. Nun wandte er sich an das Publikum. Salems vertraute Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher: „Meine Damen und Herren! Kobolde und Unholde! Zu Ihrer Erbauung und Belehrung präsentieren wir Ihnen die todesmutigste Nummer der Welt. Schauen Sie hinauf, hoch zu der Zirkuskuppel. Sie riskieren ihr Leben für uns – die Seiltänzer!“ Grelle Scheinwerfer wurden auf Sabrina und ihren Vater gerichtet. Sie versuchten, dem hellen Lichtkegel zu entrinnen, doch auf der kleinen, schwankenden Plattform gab es kein Versteck. Sabrina wollte aufstehen, aber sie war geblendet von dem grellen Licht. Sie sackte wieder in sich zusammen und überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Edward hielt sich schützend die Hand vor die Augen. „Sie sind immer noch weit unter uns. Ich werde das Spiel jetzt beenden.“ Er nahm den Würfel. In diesem Augenblick hörten sie das Schlagen von Flügeln über sich. Ein Geier schwebte über ihnen. Blitzartig stürzte er sich auf Edward und krallte die Klauen in seinen Rücken. Sabrina sprang auf und ballte die Hände zu Fäusten. Ein Monster, das wie eine geflügelte Ziege aussah, stieß plötzlich aus der 112
Dunkelheit auf sie herab. Sie fuchtelte mit den Fäusten vor der Bestie herum, doch die schlug mit den Hufen aus und zwang sie in die Knie. Sabrina und Edward kämpften um ihr Leben. Die Monster bissen und schlugen aus. Sie versuchten, die beiden von der Plattform zu stoßen. Edward stöhnte laut auf. Unbarmherzig griff der Geier ihn immer wieder an. Sabrina sah, dass die Monster von unten die schwankende Leiter hinaufkrochen. Es gab kein Entkommen mehr – sie waren umzingelt! Verzweifelt versuchte sie, einen Zauberspruch auszustoßen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, da die geflügelte Ziege ihr ins Gesicht trat. Voller Verzweiflung schleuderte Edward einen der Würfel gegen den kreischenden Geier. Wie ein Feuerball explodierte er im Gesicht des Monsters. Trudelnd sank es in die Manege hinab. Als das Spiel anfing zu glühen und zu summen wie ein elektrischer Draht, wusste Sabrina, dass ihr Vater den magischen Würfel erwischt hatte. Die Ziege und die anderen fliegenden Monster machten sich schnell aus dem Staub. Edward versuchte, das Spielfeld zu berühren. Es zischte wie Säure und verbrannte seine Finger. „Au!“, heulte er auf. „Lass uns hier verschwinden. Das Ding wird jeden Augenblick in die Luft fliegen.“ Er griff nach Sabrinas Hand. Es gab nur einen Fluchtweg: das Seil. „Dad!“, schrie Sabrina entsetzt. „Ich will nicht auf das Seil!“ Plötzlich glühte das Spiel. Dann krachte es ohrenbetäubend laut, als ob hundert kleine Knallfrösche explodierten. Sabrina schluckte, streifte schnell ihre Schuhe ab und hastete ihrem Vater hinterher auf das Seil. Das Publikum applaudierte begeistert, denn sie vermuteten, dass dies der Höhepunkt der Vorführung war. „Es ist ganz einfach“, sagte Edward und seine Stimme zitterte kaum merklich. „Das Seil muss immer unter deinen Fußballen sein. Du weißt schon, der dicke Teil der Füße.“ 113
„Meine Füße sind nicht dick“, maulte Sabrina entsetzt. Sie trat einen Schritt vor... und rutschte ab. Sie landete mit dem Bauch auf dem Seil, die Beine baumelten links und rechts herunter. Verzweifelt klammerte sie sich an dem Seil fest. „Hilfe!“, schrie sie voller Panik. Edward schwankte auf dem Seil hin und her. Er ruderte mit seinen Armen in der Luft herum, um sein Gleichgewicht zu halten. „Halt! Pass auf!“ Schließlich fiel er – und schaffte es gerade noch, das Seil zu fassen. Er schwang hin und her, so wie Sabrina, und es sah aus, als ob sie sich an einer Schlange festklammerten. „Noch schlimmer kann es wohl nicht kommen“, murmelte Edward und schnappte nach Luft. In diesem Augenblick zerriss eine gewaltige Explosion die Plattform. Die Zuschauer kreischten. Glühende Funken regneten auf Sabrina und ihren Vater herab, als das Seil sich aus der Verankerung löste. Sie fielen hinab in die Tiefe, festgeklammert immer noch an dem Seil. In einem großen Bogen schwangen sie über die Köpfe der Monster, die hochsprangen, um nach ihnen zu greifen. Das Publikum raste vor Begeisterung, als Sabrina und ihr Vater über sie hinwegschwangen. Doch Sabrina konnte sich kaum noch halten. „Du schaffst es!“, rief ihr Vater. Schließlich sprangen sie über den Köpfen der verblüfften Zuschauer ab. Sabrina schloss die Augen, denn sie befürchtete, in einen Zeltmast zu krachen oder in eines der Monster. Zu ihrer Überraschung landete sie in etwas Weichem, Stacheligem. Sabrina schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. Sie lag mitten in einem Heuhaufen. Etwas strich über ihr Haar. Sie griff danach. „Bist du okay?“, fragte sie und drehte sich um. In diesem Augenblick sah sie, dass es nicht die Hand ihres Vaters war, die sie ergriffen hatte. Es war der Rüssel eines Elefanten, 114
der prustend vor ihr stand und Heu in sich hineinstopfte. Sabrina schrie entsetzt auf. Hinter ihr bewegte sich ein Heuballen, und ihr Vater streckte seinen Kopf heraus. „Leben wir noch?“ „Ich denke schon. Aber das Hexopoly hat es, glaube ich, nicht überlebt.“ Edward rieb sich die Augen. Er sah niedergeschlagen aus. „Wahrscheinlich kriege ich jetzt nie wieder meine magischen Kräfte zurück. Wirst du mich trotzdem noch lieben, auch wenn ich ein ganz normaler Sterblicher bin? Wenn ich alt bin und grau?“ „Klar, Dad“, antwortete Sabrina und lachte ihn an. „Ich habe dich doch schon geliebt, als ich noch nichts von Hexen und Hexern wusste.“ Plötzlich hörten sie aufgeregte Stimmen hinter sich. Sie versuchten, sich in dem Heu zu verstecken. Doch Edward schüttelte schließlich den Kopf. Er setzte sich auf. „Ich bin es leid, immer wegzurennen. Lass uns nachschauen, was da los ist.“ Sie krochen aus den Heuballen und konnten gerade noch sehen, wie sechs stämmige Jungs den Zirkusdirektor überwältigten. Sie warfen Salem zu Boden, und die Zuschauer applaudierten begeistert. Die Monster wollten die Retter angreifen, doch die verjagten sie mit Kugelblitzen und magischen Pfeilen. „Das ist die beste Show, die ich jemals im Zirkus gesehen habe“, schwärmte eine Dame im Publikum. „Lasst mich los!“, brüllte Salem und wand sich unter den starken Armen der Männer hin und her. „Lasst mich los, oder ich werde euch in Kröten verwandeln!“ In diesem Augenblick betrat Tante Hilda die Manege. Drohend richtete sie ihren Finger auf Salem. „Du hörst sofort auf mit diesem Unsinn! Ansonsten ist der Tunfisch gestrichen – für immer. Sogar am Geburtstag!“ 115
Das schreckliche Monster krümmte sich. Sabrina konnte jetzt einen kleinen Schimmer von dem alten Salem in ihm ausmachen. Sie wollte zu ihrer Tante eilen und sie umarmen. Aber Hilda war so in Fahrt, dass Sabrina sie nicht unterbrechen wollte. Wütend starrte die Tante das schwarze Monster an. Dann hob sie die Arme und sagte: „Ich gebe hiermit die Entscheidung bekannt, der Hexenrat hat den Fluch gebannt. Das Spiel ist aus, das Böse vorbei, sei wieder Katze, sei wieder frei.“ Der Smoking des Zirkusdirektors explodierte in einer riesigen Rauchwolke. Als der Qualm sich verzogen hatte, gab es kein großes, schwarzes Monster mehr – nur noch ein kleines, verängstigtes Kätzchen. Sabrina lief zu ihrer Tante und umarmte sie. Hilda sah ihre Nichte und ihren Bruder überrascht an. „Wir haben gesehen, dass das Hexopoly explodiert ist. Wir dachten schon, dass wir zu spät gekommen sind.“ Edward deutete erleichtert auf die Männer. „Sind die vom Bombenkommando?“ „Ja. Und sie können alles wieder in den normalen Zustand zurückverwandeln.“ „Normal?“, wiederholte Edward. Er klang so, als ob er sich so etwas gar nicht mehr vorstellen konnte. Die Zuschauer spendeten immer noch stehend Beifall. Edward drehte sich zu ihnen und verbeugte sich. Sabrina ging schließlich zu der zitternden schwarzen Katze hinüber. „Du warst sehr böse gewesen“, schimpfte sie. „Ich weiß“, murmelte Salem kleinlaut. „Aber es hat so viel Spaß gemacht.“
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Die Party auf Edwards Veranda wollte kein Ende nehmen. Es war bereits Nacht und die See unter ihnen lag in tiefer Dunkelheit. Sie hörten nur die leise rauschenden Wellen, die gegen den Strand spritzten. Tante Hilda war da, und auch Byron und Mr Hawthorn waren gekommen. Beide waren wirklich sehr erleichtert. Mr Hawthorn hatte die Getränke besorgt. Er hörte nicht auf, sich bei jedem, der ihm über den Weg lief, zu entschuldigen. Denn er war überglücklich, dass sein Laden nicht in Verruf geraten war. Byron flirtete mit Sabrina, doch die dachte nur an Harvey. Sie wollte nicht noch einmal den Fehler machen, sich zu sehr in einen Hexer zu verlieben. Trotzdem, sie nahm sich vor, ab und zu mal bei den Fantastischen Hexern einzukaufen. Sie rief Harvey an und sagte ihm, dass sie es wieder gutmachen würde, da sie ihn heute im Stich gelassen hatte. Aber schließlich sei Vatertag gewesen. Komischerweise konnte Harvey sich jedoch überhaupt nicht daran erinnern, was er an diesem Tag gemacht hatte. Später tauchte Gail noch auf. Nur Tante Zelda war nicht aus der Disco wegzubekommen. Das Bombenkommando hatte alles wiederhergestellt und war zu dem riesigen Dickicht zurückgekehrt. Sabrina nippte an ihrem Schokomilchshake und lauschte Tante Hildas Erzählung über ihre Rettungsaktion. Klar, sie hatte die Nachrichten gehört und das Bombenkommando eingeschaltet. Aber für Sabrina war es ihr Vater, der sie schließlich gerettet hatte. Sie war noch immer erstaunt darüber, wie wagemutig er selbst ohne seine magischen Kräfte gewesen war. Edward saß neben ihr und lächelte sie an. Seit ihrem Abenteuer waren sie unzertrennlich. Keiner wollte von der Seite des anderen weichen. Nun mussten sie sich allerdings keine Sorgen mehr machen. Die Monster waren eingefangen
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und zurück in die Dunklen Wälder gebracht worden. Salem war zu Hause. Eingeschlossen im Badezimmer. „Tut mir Leid, Dad“, flüsterte Sabrina. „Du hättest einen schöneren Vatertag verdient.“ „Willst du mich auf den Arm nehmen? Das war der beste Vatertag, den ich jemals erlebt habe. Soll ich ein bisschen zaubern für dich?“ „Ist schon okay, Dad“, sagte sie lächelnd. „Ich bin froh, dass du deine magischen Kräfte wieder zurückbekommen hast. Ich wünschte nur, ich hätte ein richtig tolles Geschenk für dich. Dann könnte ich mal wieder bei dir vorbeischauen. Tut mir Leid, dass alles so schief gelaufen ist.“ Edward legte seinen Arm um ihre Schultern. „Du musst dich überhaupt nicht entschuldigen, Prinzessin. Außerdem kannst du jederzeit kommen, wann immer du willst. Ich denke, wir haben heute bewiesen, dass wir zusammen Spaß haben können, selbst unter den widrigsten Umständen. Aber tu mir einen Gefallen.“ „Ja?“ „Lass Salem beim nächsten Mal bitte zu Hause.“
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