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RAMSA »Ramsa« erzählt die bewegende Geschichte einer großen romantischen, aber verbotenen Liebe im Ägypten um die Jahrhundertwende - und einer ungewöhnlichen, mutigen Befreiung. Ramsa, Tochter aus gebildetem und wohlhabendem Elternhaus, wächst behütet unter den Frauen im Harem ihres Vaters Farid Pascha auf. Obwohl es ihr an nichts fehlt, spürt sie früh die Beschränkungen eines Frauenlebens im Islam. Fast undenkbar für die damalige Zeit, trotzt sie dem Vater den Schulbesuch außerhalb der Haremsmauern ab. Aber nicht nur darin geht sie ihren eigenen Weg, auch in der Liebe trifft sie gegen alle Regeln der Gesellschaft ihre eigene Wahl. Sie verliebt sich in Mahir, den Bruder ihrer besten Freundin, und findet Mittel und Wege, sich mit ihm zu treffen. Als ihre Freundin gegen ihren Willen verheiratet wird, schwört sie, niemals dasselbe über sich ergehen zu lassen. Obwohl ihr Vater bereits einen Ehemann für sie ausgewählt hat, läßt sie sich im geheimen mit Mahir trauen. Aber Ramsa muß erkennen, daß Mahirs Liebe dem familiären und gesellschaftlichen Druck nicht standhält. Sie entschließt sich, ihren eigenen Weg zu gehen und ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben durchzusetzen. Out el Kouloub zählt zu den ersten Namen der ägyptischen Frauenliteratur. Ihre Romane sind ein lebendiges und kritisches Spiegelbild der islamischen Welt. Unkorrigiertes Leseexemplar für den Buchhandel
Out el Kouloub
RAMSA
Tochter des Harems Roman
Aus dem Französischen von Anne Büchel
Scherz
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ramza« bei Gallimard, Paris. Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Französischen von Anne Büchel.
1. Auflage 1995 Copyright © 1958,1995 FUU Ahmed el-Demerdache Alle deutschsprachigen Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger aller Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Schutzumschlag von Manfred Waller unter Verwendung einer Illustration von Peter Goodfellow.
Prolog
Wir saßen zu zweit in unserer gewohnten Ecke auf der Hotelterrasse. Unter uns glitt der Nil zwischen den schwarzglänzenden Felsen rasch dahin. Nahe der Spitze der Insel Elephantine warfen einige Touristen Münzen in den Strom und schauten lachend zu, wie nackte dunkelhäutige Kinder danach tauchten. Meine Gefährtin schenkte diesem Treiben keine Beachtung. Ich folgte ihrem Blick und bemerkte zwischen dem Grün und den Blumen der Königsinsel die hellen Kleider einer Gruppe junger Leute. In der trockenen Abendluft drangen ihre Worte und ihr Lachen bis zu uns herauf. Kurz darauf sah ich sie aus einer Allee kommen und zum Ufer hinabgehen. Sie waren zu fünft: zwei Jungen, drei Mädchen. Sie sprangen in das Boot, das dort vertäut lag, und hißten das Segel. Bei ihrem Anblick wirkte meine Gefährtin wie verwandelt. Ihr eingefallener Körper, der Körper einer alten Frau, hatte sich aufgerichtet; die Runzeln auf ihrem feinen, entspannten Gesicht waren wie weggewischt; ihre Augen leuchteten, ihr Atem ging schneller. Sie schien die Farben und die Lebhaftigkeit der Jugend wiedergewonnen zu haben. Ich dachte, daß sie einmal sehr schön gewesen sein mußte. Ihr Name war berühmt. Wir hatten zwar erst vor wenigen Tagen Bekanntschaft geschlossen, waren einander, da wir uns beide einsam fühlten, jedoch rasch nähergekommen. Sie griff nach der blutroten Rose, die im Knopfloch ihres schwarzen Tuchmantels steckte, und sog genießerisch den Duft ein. Sie liebte Wohlgerüche, das war mir bereits aufgefallen, vor allem Blumendüfte: Rose, Jasmin, Heliotrop.
Mein Blick fiel auf die Hand, die die Rose hielt. Die Jahre hatten ihre unbarmherzigen Spuren hinterlassen; die hart hervortretenden Adern und die braunen Flecke ließen keine Zweifel zu. Wieder einmal versuchte ich das Alter dieser Frau mit dem schlohweißen Haar zu schätzen: siebzig Jahre, vielleicht auch mehr. Sie schien meine Gedanken zu erraten. »Ich bin eine alte Frau!« Sie lächelte, aber die jugendliche Lebhaftigkeit, die eben noch ihr Gesicht verklärt hatte, verschwand; ein Anflug von Bitterkeit zog ihre Mundwinkel herab, und das Licht in ihren Augen erlosch. Ich nahm ihre Hand und hielt sie in der meinen. Sie seufzte und wies mit einer Kopfbewegung auf das Boot und die jungen Menschen. »Ich wollte, ich wäre so jung wie diese dort«, sagte sie. Dann verstummte sie. Auch ich schwieg, denn ich spürte, daß sie mir etwas anvertrauen wollte. Schließlich, als spräche sie nur zu sich selbst, fuhr sie fort: »Ich kenne sie alle. Jeden Tag, zu jeder Tageszeit schaue ich zu, wie sie leben. Ich sehe, wo sie hingehen, was sie unternehmen. Ich versuche mir kein Lachen, keines ihrer Lieder entgehen zu lassen. Ich lese in ihren Herzen. Ich weiß, daß Soliman, der großgewachsene junge Mann, der am Mast lehnt, von Omrijja geliebt wird, der Kleinen, die im Heck sitzt und ihn nicht aus den Augen läßt; er aber liebt seine Kusine Fausijja, die Blonde, die uns den Rücken zukehrt und deren helles Gelächter man hören kann. Mustafa und Sakijja dagegen, die Seite an Seite hinter Soliman sitzen, sind sich bereits einig und werden heute abend ihren Familien eröffnen, daß sie heiraten wollen. Deshalb machen sie auch so ernste Gesichter. Sie haben eine Entscheidung fürs Leben getroffen.«
»Diese jungen Menschen«, meinte ich, »haben eine Chance, die wir nicht hatten: Sie dürfen einander kennenlernen, erwählen, lieben. Noch vor dreißig Jahren hätte ich es nicht glauben können, wenn mir jemand gesagt hätte, daß bei uns in Ägypten eines Tages junge Mohammedanerinnen unverschleiert mit jungen Männern ausgehen und frei über ihr Herz verfügen dürften.« »Es ist die erste Generation, die nun wirklich die Früchte unserer Kämpfe und Leiden ernten kann. Ihre Freiheit ist unser Werk, mein Werk.« In diesen Worten lag eine solche Leidenschaft, daß ich meine Gefährtin verwundert anblickte. »Was glauben Sie«, sprach sie weiter, »was glauben Sie, warum ich meine letzten Lebensjahre in Salons verbringe, in Clubs, Hotels, Badeorten - lauter Orten, die mir Gelegenheit zur Begegnung mit diesen jungen Mädchen bieten? Warum, wenn nicht, um die Saat keimen und wachsen zu sehen, die ich gesät habe?« Ich wußte, daß der aufsehenerregende Prozeß, in den sie verwickelt gewesen war, vor einem halben Jahrhundert die Haremsmauern im ganzen Orient erschüttert hatte. Sie hatte sich gegen jahrhundertealte Sitten und gegen die Mißbräuche der Sippenmacht aufgelehnt und damit sowohl der öffentlichen Meinung als auch den Richtern die Frage nach der Freiheit und den Rechten der Frau gestellt. Im Krieg zwischen den Hütern der Tradition und den Verfechtern neuer Ideen, der ihretwegen entbrannt war, hatte sie in der Öffentlichkeit gekämpft wie ein Mann. Und sie mußte auch gelitten haben, im geheimen, wie eine Frau.
I Der Harem
1
Indsche
Zur Welt gekommen bin ich, begann Ramsa, im Harem einer reichen Familie. Ich bin dort unter Sklavinnen aufgewachsen. Denn ob Gattin oder Dienerin, weiß oder schwarz, jung oder alt - alle diese Frauen waren gekauft worden oder waren Töchter von Sklavinnen; und die freigelassenen lebten genauso wie die anderen. Ihre Welt endete an den Haremsmauern. Von der Welt jenseits dieser Mauern wußten sie so gut wie nichts. Die vielen Stunden, die sie damit verbrachten, durch die holzvergitterten Fenster, die Maschrabijjas», auf die Straße zu spähen, zeigten ihnen wenig mehr als den Alltag im Stadtviertel. Ein neues Gesicht, eine ungewohnte Bewegung waren Ereignisse, die eifrig kommentiert wurden. Das einzige, was den Rhythmus ihrer Tage bestimmte, waren die Gebetsrufe der Muezzins von den Minaretten der Umgebung. Diese Frauen bildeten eine in sich geschlossene Gesellschaft. Jeder Tag brachte die gewohnten häuslichen Tätigkeiten und die vertrauten Rituale. Das Wechselspiel von Freundschaft und Feindschaft, Eifersucht, Intrige, Streit, Versöhnung, Krankheit oder Tod, Familienfesten und Feiertagen schien zu genügen, um ihrem Leben Farbe zu verleihen. Wenn ich nach all diesen Jahren an meine Jugend zurückdenke, frage ich mich, ob sie unglücklich waren, diese Frauen, die ich gekannt und deren Leben ich geteilt habe. Ich glaube nicht. Vermutlich waren sie nicht unglücklicher, als sie es in der Freiheit gewesen wären. Sie vermißten die Freiheit nicht; sie hatten keine Vorstellung davon. Sie besaßen alles, was sie sich wünschten; sie waren zufrieden mit den Bequemlichkeiten, über die sie verfügten, und es gab nur wenige, die, wie ich, noch andere Bedürfnisse empfanden.
Ja, wenn ich an die Gesichter dieser längst entschwundenen Frauen zurückdenke, die mich geliebt haben, die ich geliebt habe, dann sehe ich darin nur Zufriedenheit. Meine Mutter mit ihrem sanften Blick; meine Großmutter, trotz ihrer strengen Miene unter den schwarzen Spitzen des Kopftuches; die stattliche Nargis, die ich Tante nannte und die, mehr noch als die Mutter, über meine Kindheit wachte; die schöne, stolze Gulistan, die erste Frau meines Vaters; die Chalfata Niamat, die den Harem regierte; diese oder jene Dienerin mit schwarzer oder bronzefarbener Haut - sie alle, Freundinnen oder Feindinnen, haben in meiner Erinnerung nur lächelnde Gesichter. Und dasselbe ruhige, zufriedene Lächeln liegt auch auf den Gesichtern Kütschüks und Mabruks, der beiden feisten Aghas, die diese Frauenwelt bewachten. An das Gesicht meiner Mutter unter all diesen Gesichtern kann ich mich nie ohne Rührung erinnern. Für mich war sie immer jung, denn sie ist vor ihrem vierzigsten Lebensjahr gestorben. Sie hatte seidiges blondes Haar und einen hellen Teint. Sie war sehr schön, und vor ihrer Krankheit mußte sie noch schöner gewesen sein, aber die von ständigen Schmerzen gezeichneten Züge, die großen, vom Fieber dunkel umränderten Augen verliehen ihrem Gesicht einen besonderen Reiz. Stets lag darauf ein Ausdruck kindlicher Arglosigkeit, was ganz ihrem Wesen entsprach. Es gab kein Fünkchen Bosheit in ihr, und sie konnte sich Bosheit bei anderen Menschen gar nicht vorstellen. Als ich noch klein war, brachte mich ihre Nachgiebigkeit manchmal so auf, daß ich sie anschrie, nur um mich darauf weinend in ihre Arme zu werfen und sie um Verzeihung zu bitten. Von uns beiden war bald ich diejenige, die die Rolle der Älteren übernahm; niemand wagte sie in meiner Gegenwart anzugreifen, denn ich wußte sie zu
verteidigen. Ich galt nämlich als ein schlimmes Kind, und ich sonnte mich in diesem Ruf. Meine Mutter war eine ausgezeichnete Musikerin. Sie setzte mich neben sich ans Klavier, damit ich spielen lerne. Aber ich sagte: »Spiel du doch«; sie spielte, und ich konnte von ihrem Spiel nie genug bekommen. In ihren letzten Lebensjahren lag sie oft stundenlang auf einem Diwan, und wenn ich sie husten hörte, hätte ich weinen mögen. Zuweilen rief sie mich zu sich, und dann schmiegte ich mich dicht an sie. Sie streichelte meinen Kopf und nannte mich ihre Gazelle. Bruchstückhaft, zusammenhanglos erzählte sie mir ihr ganzes Leben, das Leben einer Sklavin. In ihrer Naivität glaubte sie, die Schilderungen des glanzvollen Lebens, das sie geführt hatte, würden mich amüsieren. Konnte sie sich für mich ein besseres Los wünschen? Nie hat sie bemerkt, wie sich meine Hände beim Zuhören zu Fäusten ballten und meine rebellische Seele sich verhärtete. Meine Mutter trug den türkischen Vornamen Indsche; ich selbst nannte sie vertraulich bei diesem Namen, als wir Freundinnen geworden waren. Sie war Slawin. In den letzten Wochen vor ihrem Tod, als das kleine Mädchen, das sie einst gewesen war, aus ferner Erinnerung auftauchte, hörte ich sie zum ersten Mal ihr Heimatdorf erwähnen. Wie es hieß, wußte sie nicht mehr. Sie sah es in einem Kranz von violetten Bergen. Sie spielte im Garten neben einem kleinen Haus in der Nähe einer Kirche. Das Innere der Kirche war hell erleuchtet; überall flackerten Kerzenflämmchen: vor den Bildern der Heiligen mit ihren Aureolen, am Lüster, der wie ein glitzernder Diamant vom unendlich hohen Gewölbe herabhing. Vor dem Altar stand ein Priester mit goldenem Bart und goldenen Haaren, der ein schimmerndes, reich mit Goldfäden besticktes Gewand trug und seinen Arm segnend erhob. Für sie war dieser Priester ihr Vater. Später einmal, in Istanbul, hörte sie eine
Dienerin in einer fremden Sprache singen; ohne die Worte zu verstehen, erkannte sie den vertrauten Klang und erfuhr auf diese Weise, daß sie aus Serbien stammte. Sie erzählte auch von einem Mann, der auf einem Gartenpfad neben einem Rosenstrauch auf sie zugetreten war; sie hatte keine Angst, denn sie kannte diesen Mann, aber auf einmal packte er sie, verschloß mit der Hand ihren Mund und schleppte sie davon. Das geschah in der Abenddämmerung. Sie hörte eine Frauenstimme »Olga!« rufen, und sie wollte »Mama« schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Meine Mutter hat mir diese Begebenheit erzählt, als wäre sie ein böser Traum gewesen; sie hatte immer wieder davon geträumt und immer wieder dieselbe schreckliche Angst empfunden. Es muß die Erinnerung an ihre Entführung gewesen sein. Die Nonnen der christlichen Schule in Istanbul, wohin man sie gebracht hatte, nannten das Mädchen noch Olga. In Istanbul verbrachte sie fast ihre ganze Kindheit. Sie hatte das Glück, eine Mutter zu finden, die an die Stelle jener Mutter trat, der man sie weggenommen hatte. Taufika Hanum hatte das Kind einem Sklavenhändler abgekauft. Sie war Witwe; zwei ihrer eigenen Kinder waren gestorben, und so übertrug sie ihre ganze Liebe auf das kleine Mädchen. Meine Mutter hat mir oft gesagt, daß ihre eigenen Eltern sie nicht mit mehr Liebe und Aufopferung hätten erziehen können: »Sie nannte mich Kis, Tochter«, berichtete sie, »und dieser Name klang in ihrem Mund wie eine Liebkosung. Ich nannte sie Nina - Mama.« Kis vergaß bald, daß sie jemals eine andere Sprache als die türkische, daß sie jemals andere Gebete als die des Islam gesprochen hatte. Dennoch ging sie auf die RumeliHissar-Schule, die von christlichen Nonnen geleitet wurde. Dort lernte sie, das Türkische und Französische zu lesen und zu schreiben, zeigte sich sehr geschickt im Handarbeiten und Klavierspielen und erhielt Unterricht im richtigen Benehmen.
Da sie hübsch war, versprach ihr die Hanum, sie werde sie mit einem Prinzen verheiraten, und damals gab sie ihr auch den Namen, den meine Mutter ihr Leben lang behalten sollte: Indsche — Perle. Doch Taufika Hanum starb, bevor sie ihr Versprechen einlösen konnte. Sie besaß keine Verwandten außer einem älteren Bruder, der alles von ihr erbte, und Indsche war Teil dieses Erbes. Der Mann, ein ehemaliger Janitscharenoffizier mit blauroten Backen und einem langen grauen Schnurrbart, war ein finsterer, grober Mensch. Indsche fürchtete sich vor ihm. Das hatte die Hanum gewußt und deshalb ihrem Bruder das Versprechen abgenommen, die kleine Sklavin selbst über ihr weiteres Schicksal entscheiden zu lassen. Indsche entschied sich dafür, weiterverkauft zu werden. Das verwunderte mich, und ich fragte meine Mutter, warum sie denn die Hanum, die sie doch so liebte, nicht freigelassen habe. Meine Mutter erwiderte, sie sei damals kaum vierzehn Jahre alt gewesen; was hätte sie mit der Freiheit anfangen können? Sie hatte natürlich recht. In einer türkischen Stadt jener Epoche bedeutete die Freiheit für ein Mädchen ohne Familienangehörige nichts als Unglück; da war der Sklavenhändler immer noch eine bessere Lösung. In diesem Alter träumt man von Abenteuern. Die gute Erziehung, die Indsche genossen hatte, erhöhte ihren Handelswert. Sie wollte ihr Glück versuchen. Vielleicht würde man sie für den Harem eines Prinzen kaufen, wo sie brillieren konnte; sie würde seine Lieblingsfrau, seine Ehefrau. Prinzessin, vielleicht sogar Gattin eines Sultans! Warum nicht? Der Zufall wollte es, daß sich damals der renommierteste aller Kairoer Sklavenhändler in Istanbul aufhielt: Rustum Agha. Er kaufte Indsche. Und so fand sie sich eines schönen Tages auf einem Schiff wieder, das nach Ägypten segelte. Mit ihr reisten etwa zwanzig weitere
Auserwählte, die aus allen Provinzen des Osmanischen Reiches stammten und die nichts miteinander gemein hatten außer ihrem Sklaventum, ihrer Jugend und ihrer Schönheit. Diese Reise hatte bei meiner Mutter einen tiefen Eindruck hinterlassen. In der zweiten Nacht nachdem das Schiff in See gestochen war, brach ein gewaltiger Sturm los. Achtundvierzig Stunden lang blieben die Mädchen auf dem Zwischendeck eingeschlossen, ohne Licht, seekrank, zu Tode geängstigt, und schrien laut auf bei jedem Brecher, der gegen den Rumpf des kleinen Seglers krachte, daß die Planken ächzten. Alle glaubten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen. Endlich legte sich der Sturm, und sie durften wieder an Deck gehen. Man hatte im Heck einen Platz für sie hergerichtet, der vor den neugierigen Blicken der Mannschaft geschützt war. Sie wurden anständig behandelt, bekamen reichlich zu essen und genossen die restlichen Tage der Überfahrt wie die Kinder, die sie eigentlich ja noch waren. Indsche freundete sich mit einer jungen Tscherkessin an, die während des Sturmes immer in ihrer Nähe geblieben war. Sie hieß Nargis und war ungefähr im selben Alter, aber größer und kräftiger als meine Mutter. Nargis, die von der Seekrankheit weniger geplagt worden war, hatte ihre Gefährtin gepflegt und getröstet. Die beiden Freundinnen erzählten sich ihre Lebensgeschichte. Nargis stammte aus einem Bergdorf im Kaukasus und hatte seit ihrer frühen Kindheit gewußt, daß man sie einmal als Sklavin verkaufen würde. Dazu hatten die Eltern sie aufgezogen, stets besorgt, daß keine Krankheit, keine schwere Arbeit den milchweißen Teint des Mädchens verdarb. Kaum hatte sie die Pubertät erreicht, wurde sie an einen der Sklavenhändler verkauft, die regelmäßig im Dorf vorbeikamen. Nargis empfand keine Sehnsucht nach ihrer Familie und ihrer Heimat. Auch sie
träumte von einer glanzvollen Zukunft im Harem eines schönen jungen Prinzen. Für Indsche und Nargis war diese Reise der Beginn einer Freundschaft, die bis zu ihrem Tode dauern sollte. Sie beteten zu Gott, er möge sie nie wieder trennen. Ihr Gebet sollte erhört werden. Die Sklavinnen reisten weiter nilaufwärts in einem Dahabijja, einem schwimmenden Haus mit fensterlosen Räumen. Von Bulak, dem Hafen Kairos, brachte man sie in Haremskaleschen mit dicht zugezogenen Vorhängen in die Stadt. Meine Mutter ist nie anders als in einem solchen Gefährt gereist. Sie wußte nicht, wie die Straßen von Kairo aussahen. Sie wußte nicht, in welchem Stadtviertel sie wohnte, und falls sie dessen Namen kannte, weil jemand ihn ihr genannt hatte, so hatte sie doch keine Vorstellung davon, wo es lag. Hätte sie nach zwanzig Jahren in Kairo plötzlich den Drang verspürt zu fliehen, sie wäre weniger gut in der Lage gewesen, sich in der Stadt zurechtzufinden, als eine eben erst angekommene Fremde. Man muß einmal gehört haben, wie diese Gefangenen des Harems voll naiver Neugier jene ausfragten, die die Welt dort draußen kannten: Dienerinnen, Eunuchen, Krämerinnen, sogar die eigenen Kinder, wenn diese eine Gelegenheit hatten, aus dem Haus zu kommen. Jedesmal wenn ich draußen gewesen war, mußte ich meiner Mutter genau beschreiben, wie die Straßen ausgesehen hatten, durch die ich gekommen war, und was ich unterwegs gesehen und gehört hatte. Dann stellte sie Vergleiche an zu dem, was sie seinerzeit in Istanbul auf dem Schulweg gesehen und gehört hatte, und wir plauderten lange darüber. Meine Mutter hat mir nie erklären können, wo sich das Haus Rustum Aghas befand. Sie wußte nur, daß es ein sehr großes Haus gewesen war, in dem es unendlich viele Zimmer
gab mit Fenstern hinter engmaschigen Maschrabijjas oder sogar starken gekreuzten Eisenstangen. Nie sprach sie mit Haß oder Groll von Rustum Agha, sondern nur mit Zuneigung. Er sei ein gütiger, großzügiger Mann gewesen, behauptete sie. Als ehemaliger Mameluck betrieb er sein Geschäft gemeinsam mit seiner Frau Rukajja, auch sie eine freigelassene Sklavin. Beide waren schon alt. Sie genossen das Vertrauen und die Wertschätzung hochstehender Persönlichkeiten; sie waren Hoflieferanten des Khediven Ismail. Um ihre Sklavinnen kümmerten sie sich liebevoll; nie verkauften sie sie an den ersten besten, sondern verfolgten aufmerksam ihre Karriere und besuchten sie in den Harems, in die sie aufgenommen worden waren und zu denen Rukajja jederzeit Zutritt hatte. In allen Kaufverträgen gab es eine Klausel, die dem Verkäufer das Recht einräumte, ein Mädchen zurückzunehmen, falls es nicht gut behandelt wurde. Manche Sklavinnen, die im Kindesalter erworben worden waren, lebten jahrelang bei ihnen und erhielten eine sorgfältige Erziehung; im Hause Rustum Aghas gab es sogar eine regelrechte Schule, in der man ihnen alles beibrachte, was eine gute Ehefrau oder eine gute Dienerin können mußte. Diese Kinder nannten das Paar Vater und Mutter, und manche von ihnen wurden sogar adoptiert. Als Rustum Agha etwa ein Jahr nach dem Tode seiner Frau Rukajja starb, erbten die Adoptivtöchter sein ganzes Vermögen. Ich habe eine von ihnen gekannt. Sie bewohnte eine elegante Villa und zeigte mir einmal den Schmuck Rukajjas, den sie aufbewahrte; eine Prinzessin hätte sie darum beneiden können. Indsches erster Aufenthalt bei Rustum Agha war nur von kurzer Dauer. Sie und Nargis wurden zusammen einem kugelrunden, in einen schwarzen Gehrock gezwängten Eunuchen vorgeführt, dem Rustum mit großer Ehrerbietung begegnete. Die Mädchen waren darauf gefaßt, einer
eingehenden Prüfung unterzogen zu werden. Aber dazu kam es gar nicht erst: Der dicke Agha setzte wohl volles Vertrauen in Rustums Wort, denn er erwarb sie beide, ohne auch nur zu feilschen. Ihr erster Eindruck war, daß man sie, wenn nicht für den Khediven Ismail selbst, so doch für einen seiner Söhne gekauft hatte. Das war ein Irrtum, und Rustum Agha stellte die Sache klar, versicherte ihnen jedoch, daß sie es dort, wo sie hinkämen, besser haben würden als im Palast eines Fürsten. Der Eunuch, der sie begutachtet hatte, war Baschir Agha, Vorsteher des Harems von Ismail Pascha, dem allmächtigen Mufattisch, dem Finanzminister des Khediven. Ausführlich schilderte Rustum den staunenden Mädchen die Vorzüge dieses Mannes, des reichsten in ganz Ägypten außer dem Khediven. Er sei der fähigste Finanzminister, den es je gegeben habe, ja der einzig fähige überhaupt, der prächtigste, großzügigste aller reichen Herren: Welch ein Glück für Indsche und Nargis, in ein solches Haus aufgenommen zu werden! Sie konnten Gott nie genug danken für ein solches Glück. Sie würden im luxuriösesten aller Paläste wohnen, wo man jeden Tag Feste veranstaltete, so glanzvolle Feste, daß sogar der Khedive - und Rustum Agha senkte die Stimme daß sogar der Khedive selbst darauf neidisch war. Nargis, die nicht so leicht zu verblüffen war, wollte wissen, ob ihr neuer Herr nicht schon reichlich alt sei. Rustum Agha widersprach. Der Mufattisch sei im besten Mannesalter, ein erfahrener Mann und gerade deshalb für junge Frauen sehr viel besser als ein Grünschnabel, zudem spendabel: Wer ihm zu gefallen verstehe, erhalte die kostbarsten Geschenke. Sein ganzer Hofstaat ließe sich für ihn in Stücke hauen, sein ganzer Harem sei sterblich in ihn verliebt. Hingerissen und doch ein wenig besorgt lauschte Indsche diesem Bericht. Wenn sie sich freute, dann weniger
wegen der Aussicht, einem allmächtigen Minister zu gehören, sondern weil dadurch sie und die gleichzeitig mit ihr gekaufte Nargis Schwestern auf Lebenszeit wurden. Das war es, was für sie zählte. Nach einem ungeschriebenen Gesetz der sonderbaren Welt des Harems entstand aus dem gemeinsamen Kauf zweier Sklavinnen eine Schwesternschaft, die sich oft als stärker erwies als die Blutsverwandtschaft. Von nun an nannten Indsche und Nargis einander zärtlich »Abla«, Schwester. Ich habe selber gesehen, wie eng sie miteinander verbunden waren, und nannte Nargis meine Tante. Ein ähnliches Verwandtschaftsverhältnis gibt es unter den Nachkommen meines Großvaters väterlicherseits, der ein Mameluck Muhammad Alis gewesen war. Obwohl in diesem Falle die Kaufverwandtschaft zwei Generationen zurückliegt, pflegen wir noch heute diese familiären Beziehungen. In meiner Kindheit war ein solches Verhältnis derart fest verankert, daß es dieselbe Erbberechtigung verlieh wie leiblichen Verwandten. Schon tags darauf wurden die beiden Schwestern von mehreren Schneiderinnen aufgesucht, die Baschir Agha hergeschickt hatte. Man nahm ihnen Maß und fertigte für beide genau die gleiche Garderobe aus rosa Seide an: Blusen und Kleider mit bauschigen Ärmeln, Westen und Gürtel aus Lame, Schleier mit Fransen aus rosa Perlen. Indsche und Nargis genossen die Anproben wie zwei Bräute, die ihre Ausstattung vorbereiten. Sie waren beide kokett; ihr Status als menschliche Handelsware wollte es so. Von frühester Kindheit an hatte man ihnen die Kunst, ja die Pflicht zu gefallen beigebracht. Und im Grunde genommen waren sie immer noch Kinder. Dann kam der Tag, da Rukajja sie in einem geschlossenen Wagen zum Palast des Mufattisch im neuerbauten Ismailijja-Viertel brachte. Unterwegs schärfte sie
ihnen ein letztes Mal ein, wie sie sich zu benehmen hatten. Rukajja! Dieselbe Rukajja, die sie Nina nannten, die mit ihnen sprach wie eine Mutter mit ihren eigenen Töchtern, die über die bevorstehende Trennung ganz erschüttert war; Rukajja, die sie verkauft hatte und nun ihrem Kunden ablieferte! Sie wurden dem Harem von Suchra Hanum zugeteilt, der ersten Gattin des Paschas - er besaß deren vier und darüber hinaus zahlreiche offiziell anerkannte Nebenfrauen. Rukajja übergab die beiden jungen Sklavinnen persönlich der Chalfata der Hanum, einer alten Äthiopierin mit strengem Blick, und bat, man möchte jeder von ihnen einen geeigneten Platz zuweisen, wo sie ihre Sachen unterbringen konnten. Sie wurden in ein Zimmer geführt, das mit zwei Betten, Schränken und verschiedenen anderen Möbelstücken eingerichtet war, alles ganz neu und direkt aus Paris. Dann begleitete Rukajja die beiden in einen Raum, wo sich ihre künftigen Gefährtinnen aufhielten, etwa zehn Mädchen, Sklavinnen wie sie, jung und schön, ebenso wie sie in rosa Seide gekleidet. Rukajja, die sie fast alle kannte, unterhielt sich noch eine Weile mit ihnen und bat vor ihrem Weggang um gute Aufnahme der beiden Neuen. »Aber trotzdem«, erzählte mir meine Mutter, »waren die Blicke, die uns musterten, die uns nackt auszogen und bewerteten, kalt und gehässig: Wir waren Rivalinnen.« Die sensible Indsche geriet ob soviel Feindseligkeit ganz durcheinander; Nargis dagegen ließ sich nicht beeindrucken. Unbeirrt und ohne die Augen niederzuschlagen, gab sie auf alle Fragen Antwort, und als man die beiden aufforderte, ihr Können zu zeigen, zu singen, etwas vorzuspielen, zu tanzen, weigerte sie sich rundheraus und erklärte, sie würde dies nur vor der Herrin tun. Sie setzte im riskanten Spiel des Harems alles auf eine Karte: Wer sich einschüchtern ließ, hatte von vornherein verloren. Nargis setzte sich zur Wehr, auch für ihre Schwester.
Bald erschien die Chalfata, um die ganze Schar zur Hanum zu geleiten. Diese war eine großgewachsene, üppige Frau von etwa fünfzig Jahren, stolz und majestätisch, mit Juwelen behängt und stark geschminkt - das zumindest waren die Einzelheiten, die meiner Mutter am stärksten an ihr auffielen. Als Indsche an die Reihe kam, vorgestellt zu werden, musterte die Hanum sie von Kopf bis Fuß und bemerkte nur: »Du bist noch sehr jung! Gehorche mir immer aufs Wort, dann wirst du dich nicht zu beklagen haben.« Alle Mädchen stellten sich im Halbkreis hinter der Hanum auf. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Vier äthiopische Aghas in schwarzem Gewand und mit rotem Tarbusch kamen herein. Während alle Anwesenden, von der imposanten ersten Gattin bis zur letzten Sklavin, sich tief verneigten, betrat der Pascha den Raum. »Als ich es wagte, den Kopf zu heben und ihn anzublicken«, berichtete meine Mutter, »war ich enttäuscht. Er war klein, gebeugt, viel älter und häßlicher, als ich ihn mir vorgestellt hatte; er schien sehr nervös und zupfte beständig an seinem grauen Bart herum.« Die Hanum bot ihm Kaffee an. Er jedoch ließ seinen Blick über den Halbkreis der Mädchen gleiten und schließlich auf Indsche und Nargis ruhen. Auf ein Zeichen der Hanum traten sie näher und warfen sich vor ihrem Herrn nieder. Er befahl ihnen, sich zu erheben, und machte die gleiche Bemerkung wie seine Gattin: »Die sind noch sehr jung.« Inzwischen hatten die Mädchen Musikinstrumente geholt: Geigen, Uds, Darbukkas; die Hanum gab abermals ein Zeichen, und sie begannen zu spielen. Doch der Pascha unterbrach sie abrupt und richtete einige arabische Worte an Indsche, die man ihr übersetzte: »Du kommst ja aus Istanbul, da wirst du gewiß türkische Lieder kennen.« Als sie bejahte, forderte er sie auf zu singen. Und Indsche sang. Dem Pascha schien es zu gefallen.
Nachdem er gegangen war, erschien eine italienische Tanzmeisterin und ließ die Mädchen unter den gestrengen Blicken der Hanum verschiedene Figuren einüben. Indsche und Nargis machten mit, so gut es eben ging. Den restlichen Nachmittag verbrachten sie mit Musizieren und Spazierengehen. Abends führten die Aghas Indsche und ihre Gefährtinnen durch enge Korridore und über Geheimtreppen zu einer geschlossenen Galerie über dem Prunksaal des Palastes, auf der schon zahlreiche Frauen Platz genommen hatten. Durch schmale Öffnungen konnten sie, ohne selbst gesehen zu werden, auf die vielen Herren im Frack oder in bunter Uniform hinuntersehen, die beim Mufattisch zu Gast waren. Mehrere Musikkapellen spielten, Diener bahnten sich einen Weg durch die Menge und boten Erfrischungen an. Meine Mutter sprach voller Begeisterung von jenem Abend, an dem sie die Almas singen gehört hatte, die damals im Zenit ihrer Karriere stand. Gesehen hatte sie die berühmte Künstlerin, welche man »Diamant« nannte, allerdings nicht, denn diese blieb hinter einem Vorhang verborgen. Doch sie erinnerte sich noch an manche der Lieder, die sie bezaubert hatten. Am folgenden Tag nahm sie an einem Fest teil, das in den Palastgärten veranstaltet wurde. Dieses Erlebnis war ihr unvergeßlich, und sie schilderte es mir immer wieder, wobei sie sich manchmal fragte, ob es nicht nur ein Traum gewesen sei, ob dieses Märchenfest auch wirklich stattgefunden habe. Nachmittags zogen die Mädchen ihre rosaroten Gewänder an, und die Schneiderinnen befestigten ihnen am Rücken Flügel aus Seide, die über einen leichten Rahmen gespannt war. So geschmückt, gingen sie in den Park hinunter, dessen Tore von den Aghas bewacht wurden. Die breiten, von Königspalmen mit weißen Stämmen gesäumten Alleen, die Nelken- und Rosenbeete, die Pavillons
mit ihren filigranartigen Schnitzereien, die vergoldeten Kolonnaden der drei Paläste in den Verlängerungen der Hauptalleen - diese ganze märchenhafte Pracht bezauberte den Blick. In allen Pavillons spielten aus lauter Frauen bestehende Orchester; sie lösten einander laufend ab, so daß die Luft ständig von Wohlklang erfüllt war. Unter der Leitung der Tanzmeisterin liefen Indsche und ihre Gefährtinnen die Alleen entlang, bemüht, die eingeübten Schritte und Figuren so graziös wie möglich auszuführen. Sie kreuzten andere Gruppen junger Sklavinnen, welche die gleichen geflügelten Gewänder trugen, aber in den Farben der drei anderen Gattinnen des Paschas: Grün, Gelb und Lila. Die Damen saßen in der Nähe der Freitreppe, umringt von kleinen Mädchen und Knaben, den Kindern des Paschas. Der Herr selbst erschien gegen vier Uhr. Er spazierte zuerst in Gesellschaft seiner Gattinnen durch den Park und nahm dann oben auf der Treppe in einem Sessel Platz. Und dann spielte sich etwas schier Unglaubliches ab. Ohne die Augenzeugenberichte meiner Mutter und meiner Tante könnte ich heute noch nicht glauben, daß Lakaien sich eine solche Unterhaltung ausgedacht hatten, um ihren Herrn und Gebieter von seinen Sorgen abzulenken. Nahe der Parkmauer, am Ende der Hauptallee wurden vier leichte Pferdewagen nebeneinander aufgestellt. Sie waren mit Seide ausgeschlagen, und an jedem von ihnen flatterte ein Banner, auf dem in Goldbuchstaben der Name einer Jahreszeit stand. Mit langen Bändern hatte man die jungen Mädchen vorgespannt. Jede der vier Gattinnen nahm auf ihrem Wagen Platz, dann wurde das Startsignal gegeben. Zu den anfeuernden Klängen der Orchester, unter dem Geschrei und Gelächter der Menge liefen die vier Gespanne mit wild flatternden Schleiern und Flügeln die Allee entlang. Die Siegerin - an jenem Tag war es die Dame im grünen Wagen -
stieg aus und verbeugte sich vor ihrem Herrn, der ihr als Trophäe eine Diamantbrosche überreichte. Ihrem Gespann wurde zum Lohn eine Handvoll Goldstücke zugeworfen. Meine Mutter hat mir dieses Erlebnis mit heiterer Miene berichtet, als wäre es ein lustiges Spiel gewesen, und bedauerte nur, daß nicht ihr Gespann das Rennen gewonnen hatte. Ich aber, obgleich damals noch ein Kind, errötete ob der Demütigung, die man ihr zugefügt hatte. Später, nach dem Tod meiner Mutter, hat mir auch Nargis von diesen Festen erzählt. Sie fanden fast jede Woche statt. Der Anblick der jungen Mädchen mit ihren vom Laufen geröteten Wangen und leuchtenden Augen entzückte den Mufat-tisch. Wenn eine von ihnen ihm besonders gefallen hatte, bedachte er sie mit einem Kompliment. Die Gattin, der das betreffende Mädchen gehörte, wußte genau, was das zu bedeuten hatte. Am selben Abend kleidete sie das Mädchen eigenhändig an, parfümierte es, schmückte es mit ihren eigenen Juwelen. Dann ließ sie es zu den Gemächern des Paschas führen. Die Zufriedenheit des Gebieters zeigte sich tags darauf in einem mehr oder weniger kostbaren Geschenk, das er seiner Gattin zukommen ließ. Die Kinder, die einem solchen Intermezzo entstammten, gehörten der Herrin der betreffenden Sklavin; sie ließ sie nach ihrem Gutdünken gemeinsam mit ihren eigenen Kindern großziehen. Nur letzteres schien Nar-gis an der ganzen Sache zu stören; alles übrige fand sie durchaus natürlich und konnte meine Empörung nicht begreifen. Tatsächlich sind es diese oft gehörten Erzählungen gewesen, die in meiner Seele die Saat der Rebellion keimen ließen. Es war das erste und zugleich das letzte Mal gewesen, daß meine Mutter zum Vergnügen eines Mannes vor einen Wagen gespannt wurde. Man brachte sie auch nie des Nachts in die Gemächer des Mufattisch. Nargis dagegen wurde diese
Ehre zuteil. Sie hat mir die Umstände beschrieben, die dazu führten. Ihrer Meinung nach hatte nicht der Pascha selbst nach ihr verlangt. Man glaubte an jenem Abend bemerkt zu haben, daß er ungewöhnlich sorgenvoll aussah; seine Ehefrauen wußten nicht, wie sie ihn zerstreuen konnten. Suchra dachte, daß er an einer Jungfrau Gefallen finden würde, und ihre Wahl fiel auf Nargis, die körperlich weiter entwickelt und weniger schüchtern war als ihre Schwester. Nargis und die Chalfata mußten lange in einem Vorzimmer warten. Von nebenan, aus dem Arbeitszimmer des Paschas, hörten sie Schritte, Stimmen, das Knarren hin und her geschobener Möbel. Plötzlich ging die Tür auf, und der Pascha erschien. Als er die beiden Frauen erblickte, brüllte er zornig: »Macht, daß ihr wegkommt!« Erschrocken wandten sie sich zum Gehen, aber da rief er Nargis zurück und begann, anscheinend besänftigt, mit ihr zu sprechen; er erkundigte sich nach ihrer Heimat, ihrem Alter, dem Händler, der sie verkauft hatte. Auch über Indsche fragte er sie aus. Dann ging er in sein Arbeitszimmer, öffnete ein Schubfach und kam mit zwei Diamanten zurück, die er Nargis in die Hand drückte: »Für dich und deine Schwester.« Er sah traurig und stark gealtert aus. Nargis wollte ihm die Hand küssen, aber er hatte sich schon umgewandt und die Tür hinter sich geschlossen. An jenem Abend wußte Nargis nicht, ob sie sich wegen der Art, wie diese Begegnung verlaufen war, geschmeichelt oder gekränkt fühlen sollte. Es war ihre letzte Begegnung mit dem Mufattisch. Am Tage danach erschien er bei keiner seiner Ehefrauen, um seine gewohnte Tasse Kaffee zu trinken. Der ganze Harem geriet darob in Aufruhr. Man besuchte sich gegenseitig, ratschlagte hin und her. Von den Aghas war nichts zu erfahren. Es hieß lediglich, der Pascha sei die ganze Nacht aufgeblieben und habe sich zusammen mit Baschir Agha und seinen Sekretären
im Arbeitszimmer eingeschlossen. Nargis, die von allen bestürmt wurde, konnte nur immer wieder erzählen, was sie gesehen und was die Chalfata bereits berichtet hatte. Von den Diamanten sagte sie natürlich kein Wort. Für den Nachmittag war ein weiteres Wagenrennen geplant. Die Mädchen zogen ihre rosaseidenen Kleider an, schnallten sich die Flügel um und warteten. Durch die Fenster sah man in den stillen, menschenleeren Park hinunter. Einmal begann irgendwo ein Orchester zu spielen, brach jedoch sogleich wieder ab. Etwa eine Stunde verging, und dann hieß es, das Wagenrennen finde nicht statt. Man nahm die Flügel wieder ab. Es war bereits dunkel, als Baschir Agha höchstpersönlich Indsche und Nargis rufen ließ. Er befahl ihnen, ihre Sachen zu packen und mit ihm zu kommen. Sie verließen den Palast und bestiegen eine Kalesche, die sogleich losfuhr. Es war eine milde Herbstnacht. Als die Kalesche hielt, bemerkten Indsche und Nargis, daß sie im Hof von Rustum Agha angekommen waren. Rukajja begrüßte sie überschwenglich und führte sie in das Schlafzimmer. Noch am selben Abend erfuhren sie, was Baschir Rustum Agha unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Tags zuvor war es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Khediven Ismail und dem Mufattisch gekommen. Er mußte befürchten, abgesetzt, verhaftet, vielleicht sogar ins Exil geschickt zu werden. Da er voraussah, daß er auf längere Zeit in Ungnade gefallen war, hatte er noch in dieser Nacht seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht und jedem der höheren Bediensteten genaue Anweisungen erteilt. Er war dabei, zusammen mit Baschir Agha die Verwaltung seines Harems zu regeln, als er im Vorzimmer Nargis entdeckte. Nachdem die junge Sklavin gegangen war, sagte er: »Baschir, diese Kleine gefällt mir, sie soll nicht bei
Suchra bleiben«, und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Bring sie noch heute nacht zu Rustum zurück, dort ist sie besser aufgehoben.« »Und was soll mit der anderen geschehen, ihrer Schwester?« wollte Baschir wissen. »Bring sie ebenfalls dorthin und richte Rustum aus, er soll sich um die Mädchen kümmern, bis ich sie wieder holen lasse.« Baschir gehorchte, doch war er der Meinung, daß sein Herr sich grundlos Sorgen gemacht hatte und daß jetzt keine Gefahr mehr bestand, denn der Khedive war höchstpersönlich gekommen, um sich mit seinem Minister auszusöhnen. »Ich war zugegen, als ein Palastwächter hereinkam und dem Mufattisch etwas ins Ohr flüsterte, worauf dieser erleichtert ausrief: ›Ismail! Er ist selbst hergekommen, er kann nicht auf meine Dienste verzichten!‹ Dann eilte er in den Salamlik, wo in der Tat der Khedive ihn erwartete. Ich habe von weitem gesehen, wie sie sich die Hände schüttelten und freundschaftlich miteinander redeten, bevor sie gemeinsam den Palast verließen.« Sie hatten die Kalesche des Khediven bestiegen, die sie vor der Freitreppe erwartete, und waren im Galopp in Richtung der Kasr-an-Nil-Brücke gefahren, vermutlich, um sich zum Gasira-Palast zu begeben. Also war alles in bester Ordnung. Baschir hielt sich nur kurz bei Rustum Agha auf und fuhr dann wieder zum Palast des Mufattisch, wohin sein Herr, wie er glaubte, inzwischen zurückgekehrt sein mußte. Am folgenden Abend kam Rustum Agha sehr aufgeregt mit einem Bündel Zeitungen. Da er selbst Analphabet war, reichte er sie Indsche, die Türkisch und Französisch lesen konnte. Alle brachten in dicken Schlagzeilen die Nachricht von der Verhaftung des Finanzministers Ismail Sadik Paschas, der jetzt auf dem Flußdampfer des Khediven festgehalten wurde;
er war der Verschwörung angeklagt und zum Exil in Dongola verurteilt worden. Jedermann war bestürzt über diese gänzlich unerwarteten Ereignisse. Rustum wiegte nachdenklich den Kopf. Er bezweifelte, daß der Mufattisch noch am Leben war. Weder Indsche noch Nargis konnten in jener Nacht schlafen. Sie hatten keine Ahnung, wie es nun weitergehen sollte. Die glanzvolle Zukunft in einem Palast hatte sich über Nacht in nichts aufgelöst, jetzt waren sie wieder hilflos dem Zufall ausgeliefert. Was mochte das Schicksal für sie bereithalten? Durften sie beisammenbleiben, oder würde man sie voneinander trennen? Wer würde ihr künftiger Herr sein? Besonders Nargis dachte betrübt an jenen zurück, den sie soeben verlassen hatten. Noch vor zwei Tagen hatte sie den Kummer auf seinem Gesicht gesehen und Mitleid für den mächtigen Pascha empfunden, sie, die kleine Sklavin. Auf ihrer Brust, in einen Zipfel ihres Schleiers eingewickelt, lag der Diamant, den er ihr geschenkt hatte; den anderen hatte sie Indsche gegeben. Sie sagte sich, daß für den Mufattisch vielleicht doch noch nicht alles zu Ende war, daß man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen werde. Dann würde er in seinen Palast zurückkehren, sie und Indsche von neuem holen lassen, sie zu seinen Favoritinnen, später sogar zu seinen Ehefrauen machen. Die Ereignisse, in allen Gesprächen eifrig kommentiert und aufgebauscht, gaben zu allerlei Gerüchten Anlaß. Eines Tages brachte Rustum die Nachricht, der Mufattisch sei auf dem Schiff, auf dem man ihn gefangenhielt, erdrosselt worden; er habe sich heftig zur Wehr gesetzt und einem der Häscher beinahe den Finger abgebissen. Dann wiederum hieß es, er sei auf einem Dampfer, dessen Luken man zugenagelt hatte, nilaufwärts gebracht und in Wadi Haifa eingekerkert worden; aber Rustum hielt diese Nachricht für falsch und war
überzeugt, daß der Pascha schon längst auf dem Grunde des Stromes lag. Bei seinen Worten traten Nargis die Tränen in die Augen, und auch Indsche begann zu weinen. Nur noch einmal stand in den Zeitungen etwas über den in Ungnade gefallenen Minister: die offizielle Meldung, daß er kurz nach seiner Ankunft in Dongola im Sudan an einer Krankheit gestorben sei. Eines Tages kamen aus seinem Palast mehrere Sklavinnen an, die Rustum Agha zurückgekauft hatte. Wie Baschir richtig vorausgesehen hatte, war der Palast des Mufattisch beschlagnahmt und all sein Hab und Gut versteigert worden. Baschir selbst traf eines Abends zu einem kurzen Besuch ein, danach hörte man nie wieder etwas von ihm. Und die Zeit verging. Indsche und Nargis blieb von den wenigen Tagen, die sie im Harem des reichen Mufattisch verbracht hatten, nichts als die Erinnerung an ein märchenhaftes Fest, das ihnen vorkam wie ein Traum. Doch beide bewahrten ihren Diamanten sorgfältig auf. Meine Mutter hat mir den ihren auf dem Totenbett vermacht. Für mich besaß er nicht dieselbe Bedeutung wie für sie, ganz im Gegenteil. Ich verkaufte ihn. Der Erlös kam mir zustatten, um dafür zu kämpfen, daß die jungen Frauen des Orients nicht mehr in den Harems der Paläste wie in goldenen Käfigen leben müssen und daß sie nie wieder als Zugtiere vor Prunkwagen gespannt werden.
2 Das Haus am Chalig Vor dreißig Jahren hätte ich Ihnen das Haus noch zeigen können, in dem Indsche ihr kurzes Frauenleben verbrachte, in dem ich geboren wurde und meine Kindheit verlebte, das Haus Farid Paschas, meines Vaters. Er hatte, soviel ich weiß, einem Mamelucken-Bey gehört, der bei der Verteidigung der Zitadelle unter den Säbelhieben der Janitscharen Muhammad Alis gefallen war. Letzterer hatte das Haus meinem Großvater geschenkt, zusammen mit einem ziemlich großen Landgut nördlich von Kairo. Ein Palast war es keineswegs, sondern ein altmodisches Wohnhaus mit zahlreichen Nebengebäuden. Zu der Zeit, als ich kleiner Wildfang darin herumtollte, war es schon über hundert Jahre alt. Eine Seite ging auf ein enges Gäßchen hinaus, die zweite, im rechten Winkel dazu, auf den Chalig, den alten Kanal, den man damals noch nicht zugeschüttet hatte, um Platz für die ratternden Straßenbahnen zu schaffen. Auf den anderen beiden Seiten trennten hohe Mauern ohne jede Öffnung unsere Gärten von den Nachbargrundstücken, von denen ich nur die Kronen der Palmen sehen konnte, in denen im Sommer Büschel goldgelber Datteln hingen. Vielleicht faszinierten mich diese Palmen nur deshalb so sehr, weil sie sich auf der anderen Seite der Mauer befanden. Ich liebte es zu beobachten, wie sie langsam im Wind hin und her schaukelten. Doch mehr noch liebte ich das Gefühl, das ich empfand, wenn an einem Stamm zuerst der Kopf, dann der Körper eines Gärtners auftauchte, der beim Hinaufklettern den Strick, den er um Hüften und Stamm geschlungen hatte, immer ein Stückchen höherschob. Solange er dort oben war, hoch über der Erde, um Palmwedel zu schneiden oder Datteln zu pflücken, starrte ich ihn mit offenem Mund und
klopfendem Herzen an; ich zitterte um ihn, und doch - wie sehnte ich mich danach, an seiner Stelle zu sein! An diesen Tagen durften die Frauen die Gärten nicht betreten, vermutlich aufgrund einer freundnachbarlichen Vereinbarung, und dieses Verbot galt auch für mich, sobald ich sieben oder acht Jahre alt war; also hielt ich mich stundenlang in einem der oberen Zimmer auf, von wo aus ich das Schauspiel genießen konnte. Ich weiß nicht, warum die Erinnerung daran mich heute noch fröhlich macht; in meinem damals so wohlbehüteten Leben war alles ein Ereignis. Es gab nur eine einzige Öffnung gegen die Straßenseite, jedenfalls im Erdgeschoß, nämlich das Tor: ein mächtiges, eisenbeschlagenes, mit einem viereckigen, vergitterten Fensterchen versehenes Tor. Zuweilen ging ich mit meinen Brüdern hinunter, um das Schloß und den Schlüssel zu bestaunen, die uns Kindern riesengroß vorkamen. Dazu mußten wir erst den alten Pförtner, Abdallah, umschmeicheln. Er war ein bärtiger Hüne mit an den Knöcheln zusammengebundenen Pluderhosen, einer schwarzen Tuchweste mit silbernen Schnüren und einem gewaltigen Turban. Wenn wir einen guten Tag erwischt hatten, zog Abdallah seine beiden damaszierten Pistolen aus dem Gürtel, um sie uns zu zeigen, und wir berührten mit bebenden Fingern den kalten Stahl. Manchmal ließ er uns sogar in sein Wächterhäuschen, damit wir seinen Säbel und die langen, in einem Gestell aufgereihten Gewehre bewundern konnten. Wir bestürmten ihn, uns zu erklären, wie sie funktionierten, wollten wissen, ob er damit Menschen getötet habe, und dann begann er, von längst geschlagenen Schlachten zu erzählen. Als ehemaliger Mameluck meines Großvaters, Fausi Bey, hatte er diesen auf all seine Feldzüge begleitet. Am liebsten berichtete er vom Sturm auf die Festung Akko. Damals hatte er als blutjunger Soldat im Bataillon Fausi Beys einen Turm
erobert, den er Capou Bourgou nannte; er hatte Mann gegen Mann mit Soldaten gekämpft, die Albaner waren wie er. Wir wurden nie müde zu sehen, wie er uns das Gefecht vordemonstrierte, den Säbel schwang und die Pistolen abfeuerte: »Piff! Paff!«, wie er wild um sich schlug, auf drei imaginäre Gefallene zu seinen Füßen wies und schließlich erschöpft auf seine Matte sank, als blute er aus zahllosen Wunden. Ich lauschte seinen Erzählungen mit vielleicht noch größerer Begeisterung als meine Brüder. Fast schäme ich mich heute, es zuzugeben, aber damals träumte ich davon, mich als Mann zu verkleiden, wenn ich einmal erwachsen sein würde, Offizier oder gar General zu werden und große Heldentaten zu vollbringen. Wie verächtlich erschien mir doch das Leben der Frauen, die nichts anderes im Kopf hatten, als gut zu essen und sich schönzumachen! Die Hauptfassade unseres Hauses lag auf der Kanalseite. Dort gab es eine schwere, eisenbeschlagene, zweiflügelige Pforte, die aber nur ganz selten geöffnet wurde. Früher einmal war dies der Haupteingang gewesen. Nur ein schmaler Steg mit zwei Stufen trennte die Pforte vom Wasser, und sie wurde flankiert von zwei gerillten Säulen, die schon sehr alt sein mußten. In den dicken Mauern des Erdgeschosses gab es nur vergitterte Fensterschlitze, die eher als Schießscharten gedient haben mochten als dazu, Licht einzulassen. Darüber jedoch lag ein geräumiger steinerner Balkon, der über das Wasser hinausragte und mit Maschrabijjas versehen war. Dieser Balkon gehörte zum Mandara, dem Empfangsraum. Es war der schönste und bemerkenswerteste Raum im ganzen Haus. Der fliesenbelegte Fußboden erhöhte sich an zwei gegenüberliegenden Wänden und an der Balkonseite zu einer Estrade; in der Mitte befand sich eine Vertiefung mit einem aus Stein gehauenen
Springbrunnen. Wenn wir Kinder den Vater besuchen durften und er uns eine Freude machen wollte, ließ er aus dem Brunnen eine Fontäne quellen, die als feiner Regen niederrieselte. Jauchzend vor Vergnügen streckten wir unsere Hände und Füße in das kühle Wasser. Über dem Springbrunnen hing eine Ampel aus buntem Glas, deren gedämpftes Licht die Decke im Halbdunkel ließ. Kamen Gäste, so zündete man die zahllosen Kerzen der beiden riesigen Lüster an, die dann die reichverzierten, in Rot und Gold bemalten Säulen beleuchteten. An fast allen Wänden gab es Schränke und Nischen mit Rahmen und Türen aus kunstvoll geschnitztem Gitterwerk. Wir Kinder vergnügten uns damit, darin Tiere und Blumen zu suchen, und fuhren mit dem Finger den Konturen der verschlungenen Muster nach. In diesen Schränken und Nischen bewahrte mein Vater seine Bücher auf. Er besaß unter anderem eine Sammlung arabischer Lyrik, Bücher, die mich damals nur der kostbaren Ledereinbände wegen interessierten, die sich unter den Fingern so weich anfühlten, und wegen der Bilder, die in leuchtenden Farben Titelseiten und Initialen schmückten. Der Vater hatte uns streng verboten, diese Bücher hervorzunehmen, und nur ganz selten zeigte er sie uns selbst. Sobald ich kein kleines Kind mehr war, wollte man mir verbieten, den Teil des Hauses zu betreten, der den Männern vorbehalten war. Ich gehorchte aber nicht, und schließlich befand mein Vater, ich sei kein Mädchen, das man wie die anderen im Harem einschließen könne. Zuerst duldete er meine Besuche, als wäre ich so etwas wie ein kapriziöses Haushündchen, dem man erlaubt, sich auf dem Teppich oder in einer Diwanecke zusammenzuringeln, solange es nicht stört. Mit der Zeit gewöhnte er sich wohl an meine Gegenwart. Er sagte es mir zwar nie ausdrücklich und fuhr mich manchmal sogar recht unwirsch an, aber ich sah ihm seine
Befriedigung an, auch wenn er sie zu verbergen suchte. Mein liebster Aufenthaltsort war im Winter eine Wandvertiefung zwischen zwei Bücherschränken, im Sommer eine Ecke auf dem großen Balkon, hoch über dem Kanal. Ich, die ich sonst nie stillsitzen konnte und deshalb von der Großmutter nur »Wirbelwind« genannt wurde, benahm mich, wenn ich allein mit dem Vater in diesem Raum war, erstaunlich brav. Stundenlang saß ich mucksmäuschenstill da, einen Gedichtband auf den Knien, lesend oder vor mich hin träumend. Nach und nach führte mich der Vater in die Lektüre ein. Sobald ich die Sprache verstehen konnte, brachte er mir aus seinem Zimmer sogar französische Gedichtbände, die ich in meiner Balkonecke über dem Chalig las. Mein Vater formte meinen Geschmack, aber ganz nach Lust und Laune. Ich war gewitzt genug, um ihn zu verstehen. Nie verlangte ich etwas von ihm, und er gab mir viel. Er war außerordentlich belesen. Fausi Bey, mein Großvater, den ich nie gekannt habe, soll Analphabet gewesen sein. Er hatte aber, wie es hieß, sehr unter seiner Unwissenheit gelitten. Deshalb ließ er seinem Sohn - dem Sohn, dem er voller Stolz den Namen Farid, »der Einzige«, gegeben hatte eine sorgfältige Erziehung angedeihen. Schon als kleinen Knaben vertraute er ihn den renommiertesten Ulama der Ashar-Universität an, die ihn im Koran unterrichteten und in allem, was ein gebildeter Muslim wissen muß. Später wurde er für drei Jahre nach Konstantinopel auf eine Schule des Sultans geschickt, wo er Türkisch und Persisch lernte. Die persische Dichtung begeisterte ihn; er lernte Hunderte von Gedichten auswendig und trug sie, sagte man mir, jedem vor, der ihm zuhören wollte. Aber in jener Epoche wollten die ägyptischen Herrscher von Beamten, Ingenieuren und Juristen beraten werden, die in Europa studiert hatten, und nicht von Kennern der alten Literatur. So verließ Farid Konstantinopel
und zog nach Paris. Man hatte ihm befohlen, die Rechte zu studieren. Er scheint sich an der juristischen Fakultät aber nicht besonders hervorgetan zu haben. Dafür beherrschte er die französische Sprache bald ausgezeichnet, besuchte literarische Zirkel und schrieb auch selbst Verse. Seine Gedichte wurden von einer Pariser Zeitschrift, La Revue du Progres, angenommen. Doch leider enthielt die Nummer, in der sie erscheinen sollten, auch politische Artikel und wurde von der Zensur Napoleons III. beschlagnahmt. Farid blieb vier Jahre lang in Paris. Dann rief ihn sein Vater, der inzwischen erkrankt war, nach Hause zurück; vor seinem Tod blieb ihm gerade noch soviel Zeit, daß er den Sohn dem Khediven Ismail empfehlen konnte. Dieser gab ihm einen Posten in seiner Übersetzerkanzlei. Farid übersetzte allerdings am liebsten die französischen Dichter, die er in Paris kennengelernt hatte und deren Werke ihm regelmäßig zugesandt wurden. Er übertrug diese Gedichte ins Arabische und pflegte sie seinen Freunden vorzulesen, die sich jeden Freitagabend in seinem Hause trafen. Oh, diese Freitagabende! Sie fanden im großen Saal statt, der auf den Chalig hinausging. Natürlich durfte ich nicht daran teilnehmen. Es kostete mich große Mühe, meinen Vater zu überreden, daß er mich wenigstens heimlich zuhören ließ, versteckt hinter einer Portiere in seinem Arbeitszimmer. Die Gäste waren Lyriker, Musiker, Sänger, Journalisten, Philosophen, Dramatiker. In meinem Winkel verborgen, habe ich dort Hafis Ibrahim und Sami al-Barudi ihre ersten Werke lesen hören. Ich habe leidenschaftliche Diskussionen mitverfolgt, die sich an reformatorischen Ideen von Dschamaladdin al-Afghani, Abu Naddara oder Scheich Muhammad Abduh entzündeten. Geräuschlos stieß ich die Tür etwas weiter auf, hinter der ich am Boden kauerte, hob vorsichtig einen Zipfel der Portiere aus schwerem granatrotem
Samt etwas hoch und versuchte einen Blick auf die Gesichter zu erhaschen. Besonders der Klang und der Rhythmus der Worte berauschten mich. Oft tauchte unvermittelt mein Vater auf und herrschte mich an, ich solle verschwinden. Dann ging ich in den Harem zurück, versehen mit so vielen neuen Ideen, daß ich ihn hätte in die Luft sprengen können! Der Harem, in dem ich trotz allem die meiste Zeit verbrachte, war ein bunt zusammengewürfelter Bau, an dessen Teilen man die verschiedenen Epochen ablesen konnte. Keine zwei Räume lagen auf gleicher Höhe. Es war ein Labyrinth aus Korridoren, Treppen, dunklen Kämmerchen und Kammern, in denen die Dienstboten hausten; auch zwei Dampfbäder, eine Moschee sowie verschiedene Schlaf- und Wohnzimmer gehörten dazu. Den Mittelpunkt bildete die Kaa, eine Art Halle, die sich über die ganze Breite des ersten Stockwerks erstreckte und deren vergitterte Balkone auf einer Seite über dem Innenhof, auf der anderen über dem Frauengarten lagen. Der Gartenbalkon lag auf der Windseite, und so standen in den drei Mauervorsprüngen stets irdene Krüge mit kühlem Wasser. Dieser Raum war sehr elegant mit seinem Fußboden aus rosafarbenem Marmor, der holzgetäfelten Decke, den Diwans, Teppichen und Sitzkissen. Außer auf dem Hofbalkon und während der Mittagsstunden herrschte hier meist gedämpftes Licht; die Läden der Maschrabijjas blieben immer geschlossen, und abends zündete man nur zwei Kerzen an. Ich mochte die Kaa jedoch nicht. Meistens hielt sich meine Großmutter mit ihren Schwiegertöchtern darin auf; sie empfing dort auch ihre Besucherinnen, und ich fand ihre Gespräche schrecklich langweilig. Und zudem mußte man brav sein, was bedeutete, daß man sich weder rühren noch etwas anfassen durfte, die reinste Qual für mich. Wenn ich aus dem Zimmer meines Vaters kam, ging ich durch den dunklen
Korridor, der die Wohnung meiner Großmutter mit derjenigen Gulistans verband. Um zu Nargis zu gelangen, bei der ich wohnte, hätte ich durch die Kaa gehen müssen, aber wenn Leute drinnen waren, machte ich lieber einen langen Umweg. Meine Großmutter regierte nicht nur den Harem, sondern eigentlich das ganze Haus. Vom Fenster ihres Schlafzimmers oder vom Südbalkon der Kaa aus behielt sie alles im Auge. Sie hatte geschwollene Beine und konnte sich deshalb nicht so schnell bewegen, wie sie gerne gewollt hätte; dennoch schleppte sie sich jeden Morgen ins Schlafzimmer ihres Sohnes, um nachzusehen, ob man ordentlich geputzt und aufgeräumt hatte. Für den Rest des Tages ließ sie sich in der Kaa oder auf dem Balkon nieder und rührte sich kaum von der Stelle, aber ihre laute, herrische Stimme brachte sogar aus der Ferne die Dienstboten zum Zittern. Jeden Morgen versammelte sie ihren Generalstab um sich: Gulistan, ihre erste Schwiegertochter und rechte Hand, die Chalfatas Niamat und Tachsin sowie die beiden Aghas, die danach den Tagesbefehl an die etwa dreißig Dienstboten weiterleiten mußten, fast alles Schwarze. Gulistan war für die tägliche Abrechnung zuständig. Man entschied, ob ein Ochse oder Schafe geschlachtet werden sollten und welche Vorräte man bei den Kaufleuten bestellen oder vom Landgut schicken lassen müsse. Die Großmutter und Gulistan planten den Speisezettel für das Abendessen meines Vaters - mittags aß er nur selten zu Hause. Häufig bereitete Gulistan persönlich in der Haremsküche irgendwelche besonderen Leckerbissen oder Süßigkeiten zu: Lukums, Baklawas oder »Damenfinger«, die sie ihrem Mann dann bringen ließ. Manchmal erhielt der Harem auch Gerichte aus der Männerküche, vor allem an den Abenden, an denen es große Diners gab, oder tags darauf. Meine Großmutter Gulisar und die erste Frau meines Vaters, Gulistan, kamen gut miteinander aus. Sie waren beide
Tscherkessinnen, und beide hatten vor ihrer Ehe dem Harem des Herrscherhauses angehört. Der große Wali Muhammad Ali Pascha hatte Gulisar meinem Großvater gegeben; Gulistan war ein Geschenk des Khediven Ismail, das mein Vater bei seiner Rückkehr aus Paris erhalten hatte. An Feiertagen fuhren die beiden Frauen, tiefverschleiert und in ihre Habara, den langen schwarzen Umhang, gehüllt, im geschlossenen Wagen zum Harem des Khediven, um ihre Freundinnen zu besuchen. Oft verbrachten sie den ganzen Tag dort. Für sie waren diese Besuche eine große Ehre; sie sprachen noch tagelang davon und beschrieben in allen Einzelheiten, was sie gesehen und gehört hatten. Nur etwas trübte ihre gute Beziehung: Gulistan war unfruchtbar. Nach zehnjähriger Ehe hatte sie einsehen müssen, daß sie nie Kinder haben würde. Bis dahin schien sich Farid Bey deswegen keine Sorgen gemacht zu haben, aber es war nicht auszuschließen, daß er eines Tages auf die Idee kommen würde, sich eine andere Frau zu nehmen. Eine neue Ehefrau im Haus, eine Rivalin, eine Intrigantin womöglich - dieser Gefahr wollten Gulisar und Gulistan vorbeugen. Sie beschlossen, lieber selbst nach einer jungen Sklavin für den Hausherrn Ausschau zu halten. Und so kam Indsche in den Harem Farids.
3
Die Sklavinnen
Rustum Agha geriet in arge Verlegenheit, als der alte Eunuch Kütschük in Gulisars Auftrag zu ihm kam und für den Harem Farid Beys zwei junge, unberührte Sklavinnen bestellte, eine Tscherkessin und eine Äthiopierin. Hätte er nicht befürchtet, den von ihm hochgeschätzten Farid Bey vor den Kopf zu stoßen, Rustum hätte sich rundweg geweigert. Vor kurzem, im August 1877, war der Sklavenhandel durch den Khediven verboten worden, und die Polizei zeigte sich sehr beflissen, dem neuen Gesetz Beachtung zu verschaffen. Erst tags zuvor hatte ein Offizier mit einer Abteilung Soldaten das Haus Rustums durchsucht. Dieser hatte in weiser Voraussicht bereits einige Tage vorher alle Sklavinnen, die sich nur vorübergehend bei ihm aufhielten, veräußert. Neben der Dienerschaft wohnten in dem geräumigen Haus in Bab asch-Scharijja nur noch Indsche, Nargis und drei andere Frauen, Strandgut aus dem Harem des in Ungnade gefallenen Mufattisch. Alle fünf beteuerten gegenüber dem Offizier, sie seien Verwandte von Rukajja. Die Haussklaven ihrerseits erklärten, sie stünden freiwillig in Rustums Diensten. Allen las der Offizier das Dekret vor, wonach ihnen das Recht zustand, ihre Freilassung zu fordern; doch nur ein junger Sudanese machte noch am selben Tag von diesem Recht Gebrauch. Rustum gab ihm eine kleine Geldsumme und verabschiedete ihn mit den Worten: »Nun, dann geh mit Gott, du Esel!« Der gute Rustum beklagte sich bitter über das neue Gesetz. Er war zwar reich genug, um ohne großen Schaden sein Geschäft aufzugeben, aber er, der ehemalige Sklave, der es zum Sklavenhändler gebracht hatte, kannte keine andere Welt als die der Sklaven und ihrer Herren. Die Sklaverei
abschaffen! Das bedeutete in seinen Augen das Todesurteil für die zivilisierteste, die ausgeklügeltste aller Gesellschaftsordnungen. Und warum? jammerte er. Nur darum, weil die Ausländer den Ägyptern ihre neumodischen Bräuche und Gesetze aufzwingen wollten! Seit dem Tage, da der Mufattisch in Ungnade gefallen war, spielten sie sich als Herren des Landes auf, sie waren es, die die vom Khediven erlassenen Dekrete diktierten. Was hatten sie sich einzumischen? Beklagten sich denn die Sklaven? War etwa den Favoritinnen der Harems, den von ihren Herren verwöhnten Mamelucken nicht ein beneidenswertes Los zugefallen? Sie konnten darauf zählen, ihr Leben lang gut ernährt, gut gekleidet, gut untergebracht, gut verheiratet, ausgestattet und, wenn sie es verdient hatten, freigelassen zu werden. Ging es denn nicht sogar den Schwarzen, die in den Häusern der Wohlhabenden dienten, um vieles besser als ihren unzivilisierten Brüdern im Sudan und in Äthiopien? Bei den Europäern waren die Dienstboten frei! Schöne Freiheit! Die Freiheit, wegen nichts und wieder nichts vor die Tür gesetzt und zum Betteln verdammt zu werden! Man schimpfte über die Grausamkeit der Sklavenhändler! War er etwa ein grausamer Mann, er, Rustum, der seine Sklaven wie seine eigenen Kinder behandelte? Mußte man denn, nur weil es einige schwarze Schafe gab, einen der blühendsten Geschäftszweige in diesem Land abwürgen? Den Wohlhabenden verbieten, sich bedienen zu lassen und dadurch Tausenden von Menschen Arbeit und Brot zu geben? So wehklagte Rustum, von Rukajja bekräftigt, vor Indsche, Nargis und den anderen Mädchen, die alle der Meinung waren, er habe absolut recht. Als meine Mutter und meine Tante mir diese Episode aus ihrem Leben erzählten, waren sie immer noch derselben
Meinung. Nirgends ist die Sklaverei so tief verwurzelt wie in den Seelen der Sklaven selbst. Rustum Agha überlegte also, wie er Gulisars Wunsch erfüllen konnte, ohne eine Gefängnisstrafe zu riskieren. Auf dem Markt eine junge Äthiopierin aufzutreiben, war durchaus möglich, aber äußerst gefährlich. An weißen Sklavinnen besaß er nur Indsche und Nargis, die einzigen seiner Pensionärinnen, die noch jung und unberührt waren. So fiel seine erste Wahl auf Nargis: Sie war Tscherkessin und wirkte reifer als Indsche. Als die beiden Mädchen von seinem Entschluß erfuhren, brachen sie in Tränen aus. In den Monaten, die sie gemeinsam im Hause Rustums verbracht hatten, waren sie sich noch nähergekommen, und nichts schien ihnen schrecklicher als eine Trennung. Rukajja sah ihren Kummer und begann ebenfalls zu weinen. Auch sie hatte die Mädchen ins Herz geschlossen und konnte es nicht ertragen, sie so unglücklich zu sehen. Sie fuhr auf ihren Mann los und warf ihm so heftig und so lange vor, ein herzloser Schuft zu sein, bis er sich besann und schon ausrichten lassen wollte, er habe keine Sklavinnen mehr zu verkaufen. Aber das Haus Farid Beys war ein reiches Haus von bestem Ruf; in ein solches Haus aufgenommen zu werden, war ein Glück und eine Ehre. Rustum, der begriffen hatte, was hinter Gulistans Plänen stand, bezweifelte keinen Moment, daß die Sklavin, die Farid Bey einen Sohn schenken konnte, wenn nicht geheiratet, so doch wie eine Ehefrau behandelt werden würde. Das war ein überzeugendes Argument. Jetzt wollte jede der beiden Schwestern der anderen Vortritt lassen. Rukajja fand eine Lösung. Sie wollte Gulisar alle beide vorführen; sie verließ sich auf ihr Verhandlungsgeschick, um beide zusammen zu verkaufen. Großzügig erklärte sich Rustum bereit, Gulisar den Handel durch einen äußerst
vorteilhaften Preis schmackhaft zu machen. Er konnte sich das wohl erlauben, denn es war sehr unwahrscheinlich, daß man beim Zusammenbruch der Familie des Mufattisch von ihm eine Rückzahlung für die zurückgenommenen Sklavinnen gefordert hätte. Vom Hause Rustum Aghas war es nicht weit bis zum Hause Farid Beys. An einem nebligen Morgen schritten drei Frauen, die Gesichter weiß verschleiert und von Kopf bis Fuß in schwarze Habaras gehüllt, durch die Gassen des alten Viertels. Nichts an ihnen hätte die Vorübergehenden erraten lassen, daß es zwei Sklavinnen waren und die Händlerin, die sie verkaufen wollte. Von diesem kurzen Weg durch die Stadt, wohl dem einzigen, den meine Mutter je zu Fuß gemacht hat, ist ihr nur wenig im Gedächtnis geblieben: eine Brücke über den Cha-lig, ein alter Brunnen an der Mauer einer Moschee, Geruch und Lärm einer Ölpresse, an der sie vorbeigekommen waren. Sie war schrecklich aufgeregt, als sich das große Tor des Hauses von Farid Bey hinter ihr schloß. Zuerst vom alten Abdallah, dann vom Agha Kütschük geführt, erreichten die drei Frauen über einen gewundenen Korridor und ein Labyrinth von Treppen die Wohnung Gulisars. Die Hausherrin befand sich in der Küche. Man schickte nach ihr, und bald erschien sie in Begleitung der Chalfata Niamat. Gleich darauf traf auch Gulistan ein. Rukajja hatte Nargis und Indsche klargemacht, daß dieses Haus kein Palast war, in dem wie bei Mufattisch die Aghas regierten. In diesem Hause führten zwei Frauen die Wirtschaft und kümmerten sich selbst um jede Kleinigkeit. Man mußte sich auf ein strenges Examen gefaßt machen. Weder Gulisar noch Gulistan würden eine Gelegenheit auslassen, um etwas an der Ware zu bemängeln; sie würden mehr Tadel als Lob äußern, das waren nun einmal die Gesetze
des Marktes, und man durfte sich weder daran stoßen noch jede Kritik für bare Münze nehmen. Die Prüfung konnte lange dauern, einen ganzen Monat, vielleicht noch länger. Gulisar und Gulistan würden Farid Bey die Existenz der beiden Sklavinnen so lange verheimlichen, bis sie ganz sicher waren, das Gesuchte gefunden zu haben. Indsche und Nargis mußten sich stets gutgelaunt und ausgeglichen geben, bescheiden und zurückhaltend, folgsam, aber nicht unterwürfig auch im Fall der merkwürdigsten Befehle. Sie mußten beide einen gleich guten Eindruck erwecken, damit die Käuferinnen sich bereit erklären würden, beide zu übernehmen. Rukajja versprach, Tag und Nacht bei ihren Schützlingen zu bleiben, bis der Kaufvertrag unter Dach und Fach war, und schärfte ihnen ein, jede ihrer Anweisungen peinlich genau zu befolgen. Indsche und Nargis legten Habaras und Schleier ab und präsentierten sich nun in eleganter Kleidung: Beide trugen die gleichen Jalaks aus dunkelblauem Taft über den gleichen Blusen und Röcken aus hellblauer Seide, die gleichen Gürtel aus Silberlame, die gleichen fransenverzierten Kopftücher, den gleichen Schmuck, die gleichen roten Lederpantöffelchen. Sie müssen reizend ausgesehen haben: Nargis mit ihrem ovalen Gesicht und der leicht gebogenen Nase, den großen, lebhaften dunklen Augen, den vollen Lippen der Kaukasierin-nen; meine Mutter, kleiner und etwas voller, mit ihrem rundlichen Gesicht, der kurzen, geraden Nase, dem kleinen Mund, den Grübchen in den Wangen. Meine Mutter ... Sie war eine blonde Schönheit mit milchweißer Haut, feinem, seidenweichem Haar, sanften blauen Augen und einem Lächeln - damals lächelte sich noch -, das die kindliche Arglosigkeit ihres Wesens verriet. Gulisar und Gulistan ließen kein Wort über die Schönheit der Mädchen fallen. Bei dieser ersten Begegnung begnügten sie sich damit, über dies und das zu plaudern und
sich nach ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihren Fähigkeiten und Vorlieben zu erkundigen. Die beiden Mädchen gaben mit niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme einsilbige Antworten. Rustum hatte ihnen eingeschärft, fürs erste nichts von ihrem kurzen Aufenthalt im Palast des Mufattisch zu sagen. Rukajja erklärte, sie seien »Kaufschwestern« und einander innig zugetan; eine Trennung würden sie nur schlecht verkraften und womöglich sogar vor Kummer sterben. Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht: Gulisar und Gulistan, die ja früher auch Sklavinnen gewesen waren, zeigten volles Verständnis für eine so enge Beziehung. Gulistan selbst hatte noch eine solche Schwester, die im Palast des Khediven lebte und die sie oft dort besuchte. Sie und ihre Schwiegermutter wechselten einen bedeutungsvollen Blick und verließen für kurze Zeit das Zimmer, um sich draußen miteinander zu beraten. Als sie wieder hereinkamen, sagte Gulisar zu Rukajja, sie wolle beide Mädchen, auf Probe hierbehalten. Man schickte die Chalfata zu Rustum Agha, um die Sachen der drei Frauen zu holen, denn Rukajja sollte ebenfalls eine Zeitlang dableiben. Dann zeigte man ihnen den Harem und die Nebengebäude, vom Salon bis zu den Küchen und der Bäckerei, und Rukajja konnte die Ordnung, die überall herrschte, nicht genug rühmen. Das Mittagsmahl bot Indsche und Nargis eine erste Gelegenheit, ihr Können zu beweisen. Abwechselnd standen sie auf, sobald eine Dienerin ein Gericht hereinbrachte, nahmen ihr die Schüssel aus der Hand und boten diese zuerst Gulisar, dann Gulistan und schließlich Rukajja an, bevor sie sich selbst bedienten. Sie wurden kritisch beäugt und bemühten sich, die richtige Haltung zwischen serviler Demut und unangebrachtem Selbstbewußtsein zu finden, sich anmutig und gewandt zwischen den Tischchen hin und her zu
bewegen, die auf . ihren Polstern sitzenden Damen ja nicht anzustoßen und ihnen keinen Moment den Rücken zuzuwenden. Graziös und ohne sich mit den Händen abzustützen, wie sie es gelernt hatte, standen sie auf und ließen sich wieder nieder. Nargis bereitete den Orangensirup zu und bot das Tablett mit den bis zum Rande gefüllten Gläsern herum, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Indsche kochte in der kupfernen Kanaka den Kaffee. Geschickt fachte sie mit dem Fächer die Glut im Kohlebecken an und servierte dann den heißen, nicht zu stark und nicht zu schwach gesüßten Kaffee in winzigen Schälchen aus so dünnem Porzellan, daß sie bebte vor Furcht, eines davon zu zerbrechen. Meine Großmutter hielt große Stücke auf diese japanischen Schälchen, obwohl sie nicht sehr wertvoll waren. Sie überdauerten bis zu meinem achten Geburtstag. Ich weiß nicht, welcher Hochmutsteufel mir an jenem Tag einflüsterte, ich sei nun erwachsen genug, um selber den Kaffee zu servieren. Jedes der unten abgerundeten Schälchen steckte in einer Art Eierbecher aus Silberfiligran mit zierlichem und sehr wackeligem Fuß. Ich ließ schon das erste, das ich in die Hand nahm, fallen. Meine Großmutter wurde zornig und befahl der Chalfata, mir vor allen Leuten den Hintern zu versohlen. Ich schäumte vor Wut. Kaum war ich den Händen meiner Peinigerin entwischt, stürzte ich mich auf das Serviertablett, das man auf den Boden gestellt hatte, und bevor jemand mich zurückhalten konnte, zerstampfte ich die restlichen elf Schälchen zu Scherben. Welch ein Aufruhr! Ich bekam eine zweite Tracht Prügel und wurde in ein dunkles Loch unter der Terrassentreppe gesperrt, wo ich schrie wie am Spieß. Zwei Wochen lang durfte ich meiner Großmutter nicht unter die Augen kommen, und meine Mutter wurde vor Scham und Kummer krank. Nargis und sogar Gulistan steckten mir
allerdings heimlich Leckereien zu. Dem Vater sagte man, glaube ich, nichts von meinem Vergehen, und sollte er es doch erfahren haben, so äußerte er jedenfalls kein Wort darüber; es ging um eine innere Angelegenheit des Harems, in die er sich niemals direkt eingemischt hätte. Indsche und Nargis, die viel sorgsamer waren als ich, hatten nie auch nur einen Splitter von einem einzigen Schälchen abgeschlagen. Jede Mahlzeit bot Anlaß, sie zu examinieren. Jeder Handgriff - das Schälen einer Frucht, das Köpfen eines gekochten Eis - wurde zur Probe. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Gulisar die Mädchen auf Schritt und Tritt, stets bereit, ihnen die geringste Ungeschicklichkeit zur Last zu legen. Danach wurden sie auf ihre Kochkünste geprüft, mußten die erlesensten und kompliziertesten Gerichte zubereiten, Soßen, Beilagen, Gebäck. Sie zogen sich recht gut aus der Affäre. Doch die Inspektion beschränkte sich nicht auf ihre hausfraulichen Talente. Schon am Abend ihrer Ankunft, als sie im Bad saßen, ging plötzlich die Tür auf, Gulisar trat ungeniert ein und wechselte einige belanglose Worte mit ihnen, bevor sie wieder verschwand. An einem anderen Tag wollte sie unbedingt selbst Indsches Fingernägel schneiden und polieren: ein Vorwand, um festzustellen, ob sie nicht etwa brüchig seien. Oder dann fuhr ihr Gulisar im Vorbeigehen mit einer freundschaftlichen Geste durchs Haar und zupfte ein wenig daran; sie wollte sich vergewissern, daß Indsche keine Perücke trug. Eines Morgens in der Küche steckte ihr Gulistan wie zum Spaß einen dicken Klumpen Karamel in den Mund. Hätte meine Mutter falsche Zähne gehabt, so wären sie daran hängengeblieben! Man schnupperte an ihrem Atem; man ließ sie vor den glutheißen Kochherden schwitzen, um sich zu überzeugen, daß ihr Schweiß nicht unangenehm roch. Die
Mädchen merkten, daß man ihre Unterwäsche, ihre Schuhe, ihre Strümpfe begutachtet hatte, während sie schliefen. Einmal, als meine Mutter in der Küche stand, hörte sie Gulistan von der Terrasse rufen, sie solle schleunigst heraufkommen. Arglos eilte sie die Treppen hoch und langte, da sie damals ziemlich dick war, außer Atem oben an. Sie begriff bald, daß man gar nichts von ihr wollte, doch Gulistan zeigte sich höchst besorgt über ihre Kurzatmigkeit, betastete sie, legte ihr die Hand auf die Brust und horchte ihr Herz ab wie ein Arzt. Indsche bekam Angst: Wollte man sie etwa zurückschicken? Am nächsten Tag war es Gulisar, die sie nach oben rief, aber diesmal fiel meine Mutter nicht auf den Trick herein. Sie stieg ganz gemächlich die Treppen hoch, und die alte Dame fand nichts an ihr auszusetzen. Der Kasten, in dem die Mädchen tagsüber ihr Bettzeug aufbewahrten, und auch ihre Kleiderschränke wurden regelmäßig inspiziert, und jedesmal brummte Gulisar etwas von der heutigen Jugend, die zu ihren Sachen nicht genügend Sorge trägt... An Waschtagen führte man sie vor die Haufen frischgetrockneter Wäsche, welche die Dienerinnen von der Terrasse herunterschleppten, und sie mußten sie sortieren, bügeln und zusammenfalten. Wehe, wenn auch nur eine Knitterfalte an einem Jaschmak Gulistans, einem Jalak Gulisars entdeckt wurde, oder noch schlimmer, an einem Gubba, einem Kaftan, einer Schärpe des Hausherrn! Leider besaßen damals weder Indsche noch Nargis viel Übung im Bügeln von Herrenkleidern, und als man ihnen das Zeremoniengewand Farid Beys anvertraute, eine schwarze Tuchhose und einen Rock mit seidenen Aufschlägen, wußten sie nicht, wie sie sich anstellen sollten. Gulistan und Gulisar stürzten sich auf den ersehnten Anlaß, die Mädchen dafür herunterzumachen und Rukajja zu tadeln, weil sie eine so nachlässige Lehrmeisterin gewesen sei. Nargis hat mir erzählt, daß sie sich an jenem Tag
wegen ihrer Unwissenheit in Grund und Boden geschämt habe, »aber dann merkte ich ziemlich bald, daß Gulisar und Gulistan kein bißchen besser als wir wußten, wie man die Anzüge Farid Beys zu bügeln hatte, was übrigens gar nicht zu den Aufgaben der Frauen gehörte, und daß ihre Entrüstung nur Theater war. Es ging ihnen bloß darum, uns endlich etwas vorwerfen zu können. Hinterher geruhten sie zuzugeben, daß wir uns sehr geschickt angestellt hatten, als wir die Wäsche zusammenlegen, parfümieren und in Schränke und Truhen einräumen mußten.« Einigermaßen geschickt stellten sich Nargis und Indsche auch beim Nähen und Sticken an. Zwar konnten beide nicht gut nähen, aber auch Gulisar und Gulistan waren keine Meisterinnen in dieser Kunst und stellten deshalb keine hohen Ansprüche. Indsche hatte gehofft, daß sie als Vorleserin und Musikerin würde brillieren können. Leider schien sich niemand dafür zu interessieren. Sie brauchte nicht lange, um festzustellen, daß Gulisar weder lesen noch schreiben konnte und daß es in dieser Hinsicht auch mit Gulistan nicht viel besser bestellt war. An einer Wand des Salons hing eine Ud. Eines Tages, als sich niemand im Salon befand, nahm Indsche das Instrument herunter; es war ganz verstaubt, und eine Saite war gerissen. Sie und Rukajja überlegten hin und her: Wenn Indsche ihre Sprachkenntnisse und ihr musikalisches Talent zur Schau stellte, riskierte sie, daß sich Gulistan herabgesetzt fühlte oder, noch schlimmer, eifersüchtig wurde, denn vielleicht schätzte Farid Bey derartige Fertigkeiten. Man kam überein, Indsche solle nichts davon sagen, daß sie die französische Sprache beherrschte. Wohl aber reparierte und stimmte sie die Ud. Eines Tages, als alle Frauen im Salon beieinander saßen, begleitete Indsche Nargis, die eine schlichte Volksweise sang. Sie erhielten allgemeinen Beifall, aber weder
Gulistan noch Gulisar erkannten, welche Begabung in meiner Mutter steckte. Und als sie es begriffen, war es bereits zu spät: Farid Bey hatte sich in Indsche verliebt, und niemand konnte sie wieder wegschicken. Ich habe nie erfahren, für wieviel Geld meine Mutter an den Mufattisch verkauft worden war; sie selbst wußte es auch nicht. Aber meine Großmutter machte kein Hehl aus dem Betrag, den sie für Indsche und Nargis zusammen bezahlt hatte: zwölfhundert Pfund. Das war ein gutes Geschäft, und sie war stolz darauf, so geschickt gefeilscht zu haben. Für eine jungfräuliche Sklavin, so jung, so schön und so gebildet wie meine Mutter, hätte man damals auf dem Markt zwischen achthundert und tausend Pfund auf den Tisch legen müssen, zahlbar in Goldstücken, und zwar zur Hälfte bar bei Übernahme und zur Hälfte nach einem Jahr. Der Vertrag wurde schriftlich ausgefertigt, aber man vereinbarte, daß Rukajja als Verkäuferin während des ersten Jahres das Recht habe, ihre beiden Sklavinnen jeden Monat zu besuchen, um sich zu vergewissern, daß man sie anständig behandelte und daß der Vertrag jederzeit auf Verlangen einer Partei rückgängig gemacht werden konnte. Falls die Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch unberührt und in gutem körperlichen Zustand waren, mußte der Händler die ganze Kaufsumme rückerstatten; andernfalls behielt er die bei Vertragsschluß geleistete Anzahlung, die Sklavinnen mußten allen Schmuck und alle Kleider, die sie während des Probejahres erhalten hatten, zurückgeben und behielten nur die Sachen, die sie bei ihrer Ankunft mitgebracht hatten. Es gab eine Zeit, da ich nie ohne Tränen des Zorns daran denken konnte, daß meine Mutter gekauft worden war, wie man ein Tier auf dem Viehmarkt kauft. Ich habe meine Großmutter und Gulistan dafür gehaßt, vor allem die Großmutter, die ich für all das verantwortlich machte. Später
habe ich eingesehen, daß sie ja nur gemäß den Sitten ihrer Zeit gehandelt hatte. Sie war eine ehemalige Sklavin und stolz darauf, und so konnte sie in diesen Gepflogenheiten nichts Unnatürliches sehen, nichts, was die Gefühle und die Menschenwürde der so verkauften Frauen verletzte. Die Schuldigen waren anderswo zu suchen. Die Schuldigen! Gab es denn überhaupt Schuldige? Sollte ich Leute wie Rustum Agha verurteilen? Sollte ich meinem Vater etwas vorwerfen, den Männern insgesamt, den uneingeschränkten Herren der Harems? Sie alle waren der Meinung, in guten Treuen zu handeln; sie respektierten Gesetze, die von allen für gut befunden wurden, die, wie sie glaubten, von Gott selbst gewollt waren. Das ganze Denken mußte man also ändern, und das war sehr viel schwieriger, als Menschen zu verfluchen oder zu töten.
4
Der Herr
Indsche und Nargis kamen ihrem Herrn erst vierzig Tage nachdem sie gekauft worden waren, zu Gesicht. Sie wohnten im abgelegensten Teil des Harems. Farid Bey kam stets nur bis in den großen Salon, und auch dort erschien er nur angemeldet. Wenn er morgens bei seiner Mutter Kaffee trank, mußten Indsche und Nargis so lange auf ihrem Zimmer bleiben. Meine Mutter behauptete, sie habe meinen Vater zum allerersten Mal an dem Tag, als man sie ihm zeigte, erblickt; ich wollte es nicht recht glauben, und das ärgerte sie. Dann lächelte Nargis, ohne etwas zu sagen. Sie selbst hatte Farid Bey schon am Tage nach ihrer Ankunft gesehen. Auf ihre Fragen gab ihr die Chalfata zur Antwort: »Er ist so schön wie Joseph, der Prophet!« Die neugierige Nargis wollte sich selbst davon überzeugen und bestach eine Dienerin, und diese führte sie an das Fensterchen einer Abstellkammer, durch das man auf den Männergarten hinabsehen konnte. Dort drunten spazierte, in Begleitung eines Freundes, der Hausherr. Er gefiel ihr. Ja, mein Vater war ein schöner Mann. Von hohem Wuchs und aufrechter Haltung, stets elegant gekleidet, mit seinem kastanienbraunen Bart, der Adlernase, der gebräunten Haut, dem kühnen, lebhaften Blick, den schlanken, ausdrucksvollen Händen verkörperte er für mich, als ich fünfzehn war, das Ideal eines gutaussehenden Mannes. Ich habe eines Tages in einem Buch meines Vaters die vergilbte Fotografie einer jungen Frau im Reifrock gefunden; ihre in der Mitte gescheitelten Haare verschwanden unter einem Kapotthütchen, wie sie damals in Paris Mode waren. Die Augen blickten ernst und ein wenig traurig. Auf der Rückseite des Bildes stand eine Widmung, auf französisch in
einer zierlichen Handschrift geschrieben: Für Farid, zur Erinnerung mit einem Datum - Saint-Cloud, den 1. Mai 1866-und einem Namen: Marguerite. Oft habe ich das Bild dieser Pariserin betrachtet, die wahrscheinlich die erste Liebe meines Vaters gewesen war. Ich dachte mir einen ganzen Roman dazu aus. Mir schien, es bestehe eine Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und meiner Mutter, und ich bin immer der Meinung gewesen, daß diese Ähnlichkeit der Grund war, weshalb sich mein Vater auf den ersten Blick in Indsche verliebte. Farid begegnete Indsche zum ersten Mal eines Morgens, als er zusammen mit seiner Mutter im Harem Kaffee trank. Bis dahin hatte er, obwohl sie doch sein Eigentum war, nicht einmal gewußt, daß sie überhaupt existierte! Dieses morgendliche Kaffeetrinken war ein feierliches Ritual. Meine Großmutter thronte auf ihrem angestammten Platz, einem Kanapee vor dem Fenster; dort saß sie im Schneidersitz, die Füße unter den Falten ihres Gewandes verborgen, eine imposante Gestalt mit ihrem massigen Körper und dem vollen Gesicht, das der riesige Turban aus weißem Wollstoff noch voller erscheinen ließ. Gulistan saß etwas tiefer als sie auf einem Polster zu ihrer Linken, mein Vater in einem Sessel rechts vom Kanapee. Dann trat die Chalfata Niamat ein, begleitet von einer Sklavin, meistens einer Äthiopierin. Beide Frauen waren prächtig gekleidet in lange Gewänder aus blauer Seide mit breiten gelben Streifen und Miedern aus Goldbrokat. Die Sklavin stellte ein mit Tassen und Kanakas beladenes Silbertablett auf ein Ebenholztischchen, das mit Perlmutterintarsien verziert war. Auf dem Kopf trug die Chalfata ein Fransendeckchen, bestickt mit Seiden- und Goldfäden; sie ließ es mit einer geschickten Bewegung auf die Schulter der Sklavin gleiten, welche es über ein zweites
Tischchen breitete, das man vor meinen Vater setzte. Die Chalfata füllte die Tassen und bediente zuerst meinen Vater, dann meine Großmutter und Gulistan, worauf sie sich in einer Ecke des Zimmers auf den Fußboden setzte. Während mein Vater an seinem Kaffee nippte, sprach er von diesem und jenem; dann verabschiedete er sich, nachdem er der Chalfata und der Sklavin ein paar Silbermünzen zugeworfen hatte. Manchmal gestattete man meiner Mutter, Nargis oder sogar mir, die Chalfata zu begleiten und den Kaffee zu servieren; waren alle bedient, setzten wir uns neben Gulistan auf den Fußboden. An dem Tag, als meine Mutter zum ersten Mal ihrem Gebieter gezeigt wurde, führte sie anstelle der Sklavin dieses Ritual aus. Aber ihre Hände zitterten, und etwas Kaffee tropfte auf das bestickte Deckchen. Mit ihren vor Aufregung geröteten Wangen muß sie bildhübsch ausgesehen haben. Mein Vater, sehr überrascht, wollte wissen, wer sie sei, und Gulistan gab ihm lächelnd Auskunft. Indsche gefiel ihm offensichtlich, und sie schlug unter den Blicken, die er ihr zuwarf, schamhaft die Augen nieder. Am Abend jenes Tages breitete Indsche ihre Schlafmatte nicht neben der ihrer Schwester aus. Man wies ihr ein eigenes, prächtig eingerichtetes Zimmer im anderen Flügel des Harems zu, in dem sie von nun an wohnen sollte. Man gab ihr auch eine eigene Dienerin, eine Äthiopierin, die sie mit großem Geschick frisierte und parfümierte. Am folgenden Morgen trug Indsche am Finger einen Ring mit einem kostbaren viereckigen Smaragd, den sie bis zu ihrem Tode nie mehr abstreifte. Eine Heirat gab es nicht, nicht einmal ein Fest, und das häusliche Leben verlief wie bisher. Etwa ein halbes Jahr nach Indsche wurde auch Nargis die Frau meines Vaters. Zu dieser Zeit war meine Mutter bereits schwanger, aber das Kind kam tot zur Welt. Ich habe
nie auch nur eine Spur von Eifersucht zwischen den beiden Schwestern bemerkt. Ihr neuer Status tat der Liebe, die sie miteinander verband, überhaupt keinen Abbruch.
II Das rebellische Kind
1
Die Exorzismen
Ich wurde zur Mittagszeit am Tage des Scham an-Nassim geboren, dem ägyptischen Frühlingsfest. Strahlende Sonne, Trommeln, Flöten und Petarden begrüßten meine Ankunft. Als ich das Licht der Welt erblickte, soll ich fürchterlich geschrien haben. »Schon damals«, pflegte meine Großmutter später zu sagen, »zeigte sie ihren rebellischen Charakter.« Man mußte eine Amme suchen, denn meine Mutter konnte mich nicht stillen. Bis eine gefunden war, begnügte man sich mit einer Kuh und einer Ziege. An die Kuh kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber an die Ziege, die in einer Ecke des Gartens ein ehrwürdiges Alter erreichte. Als ich gehen konnte, besuchte ich sie oft, vergrub meine Händchen in ihrem Fell und brachte ihr Futter, das ich vom Gärtner bekommen hatte. Es war eines der ersten täglichen Rituale meiner frühen Kindheit. Meine Amme Amina war eine Fellachin aus dem Heimatdorf meines Vaters. Ich sehe sie noch heute vor mir, klein und kugelrund von Gestalt und Gesicht; vielleicht war sie mager gewesen, als sie ins Haus kam, aber da man ihr nichts verweigerte, stopfte sie sich mit Kuchen und Zuckerwerk voll. Vielleicht ist das der Grund, warum mir schon als Kind Süßigkeiten zuwider waren und ich sie auch jetzt noch nicht mag. Allerdings gab sie mir nie etwas von den Leckereien ab, sondern behielt alles für sich. Wenn man sie ermahnte, doch nicht ständig Süßes zu essen, beklagte sie sich bei der Hebamme, die sie jede Woche untersuchte und die dann verbot, daß man ihr diese Gelüste auszutreiben versuchte. Aminas Finger, Handgelenke und Hals waren mit Schmuck beladen. Sie liebte das Gold. Zu jedem wichtigen
Ereignis in meinem Leben erhielt sie ein Schmuckstück: zu meinem ersten Lächeln, meinem ersten Zahn, meinem ersten Wort, meinem ersten Schritt, meinem ersten Geburtstag, meiner Entwöhnung - gar nicht zu reden von vielen anderen wichtigen Ereignissen, die sie je nach Bedarf verursachte. Als ich meine ersten Schritte machte, legte meine Großmutter eines Tages in der Kaa fünf Goldstücke in einer Reihe auf dem Fußboden aus, und ich mußte den Hindernislauf, an dessen Ende sie mich mit ausgebreiteten Armen erwartete, ganz allein absolvieren. Hätte ich ihn ohne Zwischenfall geschafft, wäre es ein gutes Omen für meinen künftigen Reichtum gewesen, und meine Amme hätte die fünf Goldstücke bekommen. Sie glaubte das Geld schon in der Tasche zu haben, denn sie hatte eifrig mit mir geübt. An jenem Tag aber wechselte ich plötzlich die Richtung und fiel der Länge nach auf die Fliesen. Meiner Mutter wurde ganz übel, Nargis eilte herbei und hob mich auf, die Großmutter ärgerte sich »über dieses widerborstige Kind, aus dem nie etwas Rechtes wird«, und steckte die fünf Goldstücke wieder ein. Ich glaube, meine Amme hat mir den Verlust nie verziehen. Nargis, die mir diese Szene geschildert hat, meinte lachend: »Ein Dickkopf warst du! Es war die offene Tür, die dich interessierte; schon damals wolltest du weglaufen.« Amina liebte es, in den Straßen Kairos spazierenzufahren. Sie bestellte den Einspänner, nahm triumphierend darin Platz und ließ sich durch die Stadt kutschieren, solange sie Lust dazu hatte. Ich war nur selten mit ihr allein. Ihre Tochter, meine Milchschwester, hieß Fatima; sie war ein dickes kleines Mädchen, über deren pralle Wangen und fettgepolsterte Ärmchen und Beinchen alle Frauen in Begeisterung gerieten; meine Mutter jammerte, daß ich im Vergleich zu ihr mager und mickerig aussehe. Fatima starb im Alter von sieben oder
acht Jahren. Ich hatte noch eine andere Spielgefährtin, eine kleine Sudanesin, etwas älter als ich, die Tochter einer Sklavin Gulisars. Dieses Mädchen hieß Sakijja und blieb bis zu ihrem Tode vor etwa zehn Jahren eine meiner besten Freundinnen. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört ein Dorf, das Dorf, das auf den Ländereien meines Vaters lag und aus dem meine Amme stammte. Unser Haus dort war ein gedrungenes, viereckiges Gebäude, an dessen rückwärtige Mauer sich die Hütten der Fellachen lehnten; die Vorderfront ging auf die Felder hinaus. Es war Sommer. Der Vater war nicht mit uns gekommen. Die Mutter, die seit meiner Geburt ständig kränkelte, verbrachte die meiste Zeit drinnen, auf einem Diwan liegend; Nargis war fast immer bei ihr. Wie in der Stadt, waren die Großmutter und Gulistan auch im Landhaus die unangefochtenen Herrscherinnen. Ich erinnere mich auch an einen Säugling von wenigen Monaten, Hassan, Nargis' zweiten Sohn. Der erste war bei der Geburt gestorben, und auch der kleine Hassan sollte nicht älter werden als neun oder zehn Jahre. Ein dritter Junge kam zur Welt, danach zwei Mädchen und abermals ein Junge, aber sie alle starben noch im Kindesalter. Hassan und sein Milchbruder stellten für uns Mädchen lebende Puppen dar. Stolz führten uns die beiden Ammen im Dorf spazieren. Jede besaß ein eigenes Maultier, das von einem Wächter am Zaum geführt wurde; weitere Wächter eskortierten uns. So zogen wir durch die Felder. Mich pflegte man auf einen kleinen grauen Esel zu setzen; übermütig richtete ich mich im Sattel auf und wollte nicht, daß jemand mich festhielt; wenn die Dienerin die Zügel nicht losließ, begann ich zu schreien. Bei uns kommt es nur selten vor, daß eine Amme nicht bis an ihr Lebensende, müßig und von allen verwöhnt, im Hause ihrer Herrschaft wohnen bleibt. Doch bei Amina war das nicht der Fall. Sie war schrecklich hochmütig geworden,
zankte sich ohne Unterlaß mit den Dienstboten herum und beschuldigte sie, ihr nicht genug Ehrbietung zu erweisen. Ihre schrille Stimme drang durch alle Wände und erfüllte das ganze Haus. Niamat, die Chalfata, und die beiden Aghas versuchten vergeblich, sie zum Schweigen zu bringen; Amina kreischte nur um so lauter. Nargis, Gulistan, die Großmutter befahlen ihr, den Mund zu halten; Amina begann zu heulen. In solchen Momenten erschien manchmal mein Vater auf einem Balkon. Wenn er sich nach der Ursache des Lärms erkundigte, löste er ein endloses, nur von Schluchzern und Anrufungen der himmlischen Gerechtigkeit unterbrochenes Lamento aus, dem nicht einmal er Einhalt zu gebieten vermochte, so daß er sich schließlich verdrossen in sein Arbeitszimmer zurückzog. Eines Tages, als es zu einem besonders heftigen Auftritt mit meiner Großmuter gekommen war, nahm Amina ihre Tochter bei der Hand und verließ das Haus. Noch von der Gasse herauf waren ihre wüsten Beschimpfungen zu hören. Mein Vater befahl, daß man ihre Sachen zusammenpacke und ins Dorf schicken lasse mit der Nachricht, sie dürfe sich nie wieder bei uns blicken lassen. Aminas Mann kam und flehte um Gnade für sie, aber er bekam eine Geldsumme als Abfindung. Seitdem seine Frau Amme geworden war, arbeitete er keinen Streich mehr und hielt sich öfter in Kairo als im Dorf auf. Mit dem Geld eröffnete er einen kleinen Spezereiladen, machte aber schlechte Geschäfte und lebte schließlich mit seiner ganzen Familie von dem, was er sich von meinem Vater und später von mir zusammenbettelte. Ich muß gestehen, daß es mir peinlich war, Amina zu begegnen, zumal sie mich jedesmal des langen und breiten an die treuen Dienste erinnerte, die sie mir erwiesen hatte, und sich über den Undank beklagte, der ihr Lohn gewesen sei. So war meine Amme, und deshalb pflegte meine Großmutter, wenn sie sich
über mich ärgerte, auszurufen: »Du Tochter Aminas! Du hast mit ihrer Milch auch ihren schlechten Charakter getrunken!« Im Harem herrschte eine merkwürdige Atmosphäre. Meine Großmutter war sehr abergläubisch; Gulistan, meine Amme und sogar Nargis waren es nicht viel weniger. Nur meine Mutter, die über mehr Bildung verfügte, ließ sich davon nicht anstecken. Was mich betrifft, so war meine Phantasie schon seit früher Kindheit von allerlei Dschinnen bevölkert; Beschwörungsformeln gegen den bösen Blick verfolgten mich, und ich stolperte zu jeder Tageszeit in irgendeinem Winkel des Harems in irgendwelche Beratungen hinein, an denen Frauen von auswärts teilnahmen, deren Gesichter mir jedoch vertraut waren, denn sie kamen häufig zu uns. Ich wußte, es waren Scheichas und Kudjas, weise Frauen und Magierinnen, welche die Macht besaßen, über die Unsichtbaren zu gebieten. Aus Furcht vor Geisterwesen ließ die Großmutter mich niemals allein schlafen. Stets teilten meine Amme, meine Milchschwester oder später Sakijja das Zimmer mit mir. Jeden Morgen kam eine Alte, die man Scheicha Sahira nannte, zu mir. Sie hielt mir einen Koran über den Kopf und rezitierte die Sure Al-Falak, die Sure des Frühlichts, die Beschützerin: Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Sag: Ich suche beim Herrn des Frühlichts Zuflucht vor dem Unheil, das von dem ausgehen mag, was er geschaffen hat, von hereinbrechender Finsternis, von bösen Weibern, die Zauberknoten bespucken, und von einem Neider, wenn er neidisch ist. Daraufhin streute sie sieben Prisen grobes Salz rund um meinen Kopf, klaubte es wieder auf und warf die eine Hälfte ins Wasser und die andere ins Feuer.
Abends tat man, um die Dschinnen aus meinem Zimmer zu vertreiben, abermals Salz und Weihrauch in das Kohlebecken. Das Prasseln der Salzkörner in der Glut rief noch lange Zeit die Vorstellung von winzigen Männchen und fremdartigen Tieren in mir wach, die im aufsteigenden Rauch Gestalt annahmen und durch die Lüfte davonflogen. Wenn man auch nur das kleinste Anzeichen einer Unpäßlichkeit bei mir entdeckte, wurde alles noch komplizierter. Das Leiden konnte nur durch den bösen Blick hervorgerufen worden sein. Man fragte meine Amme aus, man fragte mich aus: Hatte mich etwa irgend jemand seltsam angeblickt, hatte irgend jemand etwas Unhöfliches oder gar Böses zu mir gesagt? War der Urheber des Übels identifiziert, so fabrizierte man aus einem Stück Papier eine Art Puppe, gab ihr einen Namen, stach ihr die Augen aus und verbrannte sie im Kohlebek-ken, während die Scheicha im Kreis herumschritt und Beschwörungsformeln murmelte. Gelang es nicht, den Schuldigen herauszufinden, so zählte meine Amme alle verdächtigen Personen auf, denen ich begegnet war, und bei jedem Namen durchbohrte die Scheicha mit einer Nadel zweimal den Kopf der Puppe. Zuweilen exorzierte man mich auch mit Hilfe von Alaun. Man legte ein Stückchen Alaun in die Glut des Kohlebeckens, und je nach der Form, die es annahm, entschied man, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, und bemühte sich, die Person, die mich mit dem bösen Blick bedacht hatte, zu identifizieren. Mit vereinten Kräften gelang dies fast immer. Dann fischte die Scheicha das Alaunstück aus der Glut, stach mehrmals mit der Nadel hinein und warf es in den Kanal. All dies fand in meinem Beisein statt, und oft durfte ich selbst aktiv an der Zeremonie teilnehmen. Wie ist es mir nur gelungen, von der fixen Idee des Unsichtbaren und Dämonischen loszukommen?
Es mag wohl an der Häufigkeit dieser Exorzismen gelegen haben, daß sie schließlich ihr Geheimnis und ihre Faszination für mich verloren. Das Beispiel der Mutter, die mit solchen Dingen nichts zu tun haben wollte, und die Haltung des Vaters, der Gulistan eines Tages wegen solchen Aberglaubens scharf tadelte, haben gewiß auch in mir Zweifel geweckt. Das Lernen und vor allem die Lektüre taten ein übriges. Später, nach dem Tod der Großmutter - ich war damals schon ein junges Mädchen -, gab es in unserem Hause keine Scheichas, keine Kudjas und keine Exorzismen mehr. Und doch! Lebte sie noch, meine Großmutter Gulisar, wer weiß, ob sie mich nicht davon überzeugen könnte, daß all mein Unglück nur von meinem Unglauben herrührte und von der Nichtbeachtung der Schutzmaßnahmen gegen die Mächte des Bösen, die sie mich gelehrt hatte. Es gibt Momente, in denen mir eine innere Stimme sagt, daß die Großmutter vielleicht doch recht gehabt hat.
2
Bismillah
Meine Großmutter war die erste, die an meine Bildung dachte. Ich erhielt als Lehrer Scheich Hifni Soliman, Ustas Hifni, wie man ihn nannte. Er war ein kleiner, hagerer, weißbärtiger Greis, der stets einen weißen Kaftan trug. Ich kannte ihn gut, er war derjenige, der in unserem Hause die heiligen Texte zu rezitieren pflegte. Jeden Morgen drang vom Salamlik, dem nur für Männer bestimmten Teil des Hauses, seine wohlklingende Stimme zu uns herauf, welche die heiligen Ajas der Fatiha, der ersten Sure des Korans, und der Sure al-Fath intonierte. Er hatte eine Tochter, die auch zu meiner Großmutter kam, um den Koran zu rezitieren. Hifni Solimans Vater war der Koranrezitator meines Großvaters und der Lehrer meines Vaters gewesen. Ustas Hifni leitete ganz in der Nähe eine kleine Schule, eine Kuttab, wo er die Kinder unseres Viertels im Koran sowie im Lesen und Schreiben unterrichtete; dasselbe sollte er nun auch mir beibringen. Der Unterricht, an dem auch Sakijja teilnahm, fand jeden Nachmittag in einem kleinen Raum in der Nähe des Hauseingangs statt. Anfangs war stets der alte Agha Kütschük dabei, der in einer Ecke saß und seine Gebetsperlen durch die Finger gleiten ließ. Mein Vater hatte ein Pult aus schönem polierten Holz anfertigen lassen, das herrlich nach Bienenwachs duftete. Vor dem Pult stand ein Sessel, der Sessel des Lehrers. Doch meistens wurden Sessel und Pult gar nicht benutzt: Lehrer und Schülerinnen fanden es bequemer, mit gekreuzten Beinen auf dem Perserteppich zu sitzen, der die Fliesen bedeckte. Jede von uns besaß eine Schiefertafel, auf die der Ustas einen Buchstaben schrieb, den wir nachzeichnen mußten; mit
einem feuchten Lappen wischte er unsere mißglückten Versuche geduldig wieder aus. Wenn er den Lappen nicht fand, weil ich ihn versteckt hatte, nahm er sein großes Taschentuch, oder er leckte ganz einfach die Tafel sauber. Und uns machte es Spaß, es ihm nachzumachen. Es war ein denkwürdiger Tag, als wir zum ersten Mal die Fatiha rezitieren durften. Die Zeremonie fand in der Hausmoschee statt, in Gegenwart von Vater, Mutter, Großmutter, Gulistan, Nargis und noch vielen anderen. Ich sagte die sieben Verse auf, ohne auch nur einmal zu stocken, und Sakijja ebenfalls. Man beglückwünschte uns voller Begeisterung, und die Großmutter schenkte Scheich Hifni eine prächtige wollene Gubba und zwei Maß Korn. Dann durften wir mit den Frauen in die Kaa, wo man uns mit Kuchen und Bonbons verwöhnte. Als Scheich Hifni meiner Großmutter die Schiefertafel vorweisen konnte, auf die ich meinen Namen und die geheiligte Formel Bismi'llah ar-rachman ar-rachim — »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes« - geschrieben hatte, . wurde er abermals beglückwünscht und erhielt einen Kaftan aus weißer Seide, den er sogleich anzog. Auch ich bekam Komplimente, aber ich konnte mich darüber nicht freuen, denn ich hatte sie nicht verdient: Wohl war es meine Hand gewesen, die die Buchstaben gemalt hatte, aber Ustas Hifni hatte meine Hand geführt. Die Scham stachelte meinen Ehrgeiz an, und schon wenig später konnte ich ganz allein Bismi'llah ar-rachman arrachim schreiben. Das war mir noch nicht genug, und ich bestürmte den Scheich, mir Tinte und Feder zu geben. Er gab schließlich nach und brachte mir eines Abends ein Tintenfaß in einer Art Lederetui und einige Gänsekiele mit. Schon nach wenigen Minuten hatten Sakijja und ich Tinte an den Fingern,
im Gesicht, auf unseren Kleidern. Man schimpfte uns aus und tadelte den Scheich. Eines Morgens, als ich mit der Großmutter in Vaters Wohnung gehen durfte, entdeckte ich auf seinem Schreibtisch verschiedene Federhalter mit Schreibfedern aus Metall oder Glas. Die Versuchung war zu groß. Während Großmutter im Schlafzimmer mit den Dienstboten beschäftigt war, trat ich an den Schreibtisch und griff nach einem langen Federhalter mit Glasfeder. Ich entdeckte einen Stapel Papier; die Blätter hatten in der Mitte eine schmale Kolonne mit regelmäßigen dünnen Linien und breiten, leeren Rändern rechts und links. Diese weißen Flächen faszinierten mich: Ich begann, meinen Namen und die wenigen mir bekannten Wörter hinzukritzeln, aber da es mir nicht schnell genug ging, bedeckte ich das Blatt mit allerlei Schnörkeln, die eine Zeichnung vorstellen sollten. Als das erste Blatt voll war, nahm ich ein zweites und dann ein drittes. Natürlich ging es dabei nicht ohne Tintenkleckse ab. Tinte, Tinte! Überall war Tinte, auf dem Schreibtisch, auf meinen Händen, auf dem Papierstapel, auf meinen Kleidern, in meinem Gesicht. In diesem Zustand ertappte mich die Großmutter; sie stieß einen Entsetzensschrei aus und wollte sich auf mich stürzen, um mich zu schlagen. Aber sie war dick und schwerfällig, ich dagegen wieselflink. Ich entwischte ihr und rannte davon, um mich auf der Terrasse zu verstecken, in einer hochgelegenen Nische, aus der sie mich, das wußte ich genau, nicht herunterholen konnte. Aus der Ferne hörte ich sie schimpfen, drohen und die schrecklichsten Strafen verkünden, die ich zu gewärtigen habe, wenn der Vater von meiner Untat erfuhr. Ich harrte den ganzen Tag in meinem Versteck aus. Nur Sakijja entdeckte mich; sie kannte die Nische, denn wir hatten uns da schon öfter gemeinsam versteckt. Sie brachte es fertig,
mir heimlich ein Stück Kuchen zu bringen, das sie in der Küche stibitzt hatte. Stimmen, die meinen Namen riefen, drangen bis zu mir herauf, aber ich rührte mich nicht, obwohl es mir schwerfiel, der Mutter oder Nargis keine Antwort zu geben. Bei Anbruch der Dunkelheit kam Sakijja wieder zu mir geschlichen und riet mir, endlich nachzugeben: Mein Vater sei nach Hause gekommen, er wisse alles, man rede von nichts anderem als von meinem skandalösen Benehmen. Ich blieb verstockt in der Nische sitzen. Sakijja eilte davon und kam bald darauf mit Nargis zurück, der es gelang, mich zu packen und hinunterzutragen; ich zappelte und wehrte mich wie ein Teufelchen. Wir mußten durch die Kaa, und da war die Mutter, in Tränen aufgelöst, da waren die zornig aufgeplusterte Großmutter, Gulistan mit steinerner Miene, die Chalfata, die entsetzten Dienerinnen. Nargis wollte mich säubern und umziehen, aber die Großmutter erlaubte es nicht, sondern befahl, mich schmutzig, wie ich war, zum Vater zu bringen. Nargis, die mich keinen Augenblick losgelassen hatte, gehorchte. Meine Mutter rührte sich nicht, aber ich bemerkte den flehenden Blick, den sie Nargis zuwarf, und das Augenzwinkern, das ihr darauf antwortete. Das hätte mich beruhigt, wenn nicht Gulistan uns gefolgt wäre; vor ihr hatte ich beinahe ebensoviel Respekt wie vor der Großmutter. »Da hätten wir das Vögelchen«, sagte Nargis und stellte mich vor dem Schreibtisch des Vaters auf die Füße. »Eine wahre Teufelin!« keifte Gulistan. Trotzig senkte ich den Kopf und biß die Zähne zusammen. Der Vater drehte die Lampe so, daß das Licht auf mich fiel; wortlos musterte er mich eine Weile, wie ich so dastand mit wirrem Haar, von oben bis unten mit Tinte beschmiert und ganz grau von dem Staub der engen Nische, in der ich
den ganzen Tag gekauert hatte. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Auch Nargis mußte lachen. Gulistan, zuerst einen Augenblick sprachlos, wollte das Ausmaß meines Vergehens schildern und eine strenge Bestrafung fordern. Aber der Vater winkte ab. Er schaute mich an und lachte. Ich glaube, es war das erste Mal, daß mein Vater mich mit einigem Interesse anschaute. Ich war ja nur ein Mädchen, meine Geburt hatte ihn vielleicht enttäuscht, vielleicht gab er mir ein wenig die Schuld an der Krankheit meiner Mutter; vielleicht hatte er sich auch nie besonders für Kinder interessiert. An jenem Abend jedoch lernten wir uns wirklich kennen, er und ich, und seine Reaktion sollte unsere künftige Beziehung bestimmen. Hätte er mich gescholten, bestraft, geschlagen, ich wäre nur trotzig geworden und hätte mich ihm gegenüber ebenso feindselig verhalten wie gegenüber der Großmutter und Gulistan. Sein Lachen entwaffnete mich. Ich musterte ihn verdutzt und immer noch etwas mißtrauisch -lachte er mich etwa aus? Aber da begann er zu sprechen, und seine Stimme klang weder zornig noch hart. »Komm her, Ramsa«, sagte er. »Komm näher. Noch näher. Zeig deine Hände! Auch dich hat also die Schreibwut gepackt! Aber weißt du, Töchterchen, wenn du deine Werke zu Papier bringen willst, darfst du es nicht auf Kosten deiner schreibenden Kollegen tun. Armer Chalil, schau nur, was du seinen Gedichten angetan hast! Seine Verse verschwinden unter den deinen! Förmlich vernichtet hast du sie! Allerdings haben sie es nicht besser verdient, aber der Autor wird es bestimmt nicht schätzen, daß man sein Meisterwerk derart verschmiert hat. Ich werde ihm die Wahrheit sagen, um so schlimmer für dich!« Lächelnd fuhr er fort: »Von nun an, wenn du schreiben willst - komm her, sieh mal die schönen Bleistifte hier! Die darfst du benützen. Und dieser Federhalter ist auch für dich,
sobald du etwas geschickter damit umgehen kannst.« Und der Vater hielt mir einen Federhalter aus Elfenbein in Form eines Gänsekiels vor die staunenden Augen; eine winzige gläserne Linse war darin eingelassen, und wenn man hindurchsah erblickte man das Bild eines prächtigen, in allen Farben schimmernden Palastes. Ich habe diesen Federhalter viele Jahre lang behalten; er trug eine Aufschrift in französischer Sprache: »Paris, Weltausstellung 1867«. Er war schwer und unhandlich. Doch ich strahlte dermaßen vor Freude, ihn in den Händen zu halten, daß mein Vater es nicht übers Herz brachte, ihn mir wieder wegzunehmen; er schraubte nur den Metallteil ab und erlaubte mir, ihn zu behalten. Triumphierend rannte ich mit meinem Geschenk in die Kaa zurück, um es der Mutter zu zeigen. Sie war so glücklich über den guten Ausgang der ganzen Geschichte, daß sie aufstand und mich mit in ihr Zimmer nahm. Nargis konnte nicht aufhören zu lachen, während sie ihr die Szene schilderte und mich wusch und umzog. Die Großmutter dagegen war sehr beleidigt; sie verwünschte die Nachgiebigkeit ihres Sohnes und prophezeite, er würde es einmal schwer bereuen, daß er meine Launen und meinen Ungehorsam hatte durchgehen lassen. Etwa um diese Zeit erkrankte ich schwer. Amina, meine Amme, behauptete, ich sei vor Kummer über ihren Weggang krank geworden. Einmal bei diesem Thema in Fahrt gekommen, bezichtigte sie meine Großmutter und Gulistan aller nur erdenklichen Untaten und gab vor, meine Mutter und mich aus tiefstem Herzen zu bemitleiden. In Wirklichkeit hatte ich Typhus. Ich schwebte lange Zeit in Lebensgefahr. Trotz der geharnischten Proteste der Großmutter ließ mein Vater einen Mann rufen, der mich behandeln sollte, noch dazu einen
europäischen Arzt, einen ganz jungen, der sich aber schon einen Namen gemacht hatte: Doktor Comanos. Die Großmutter hatte schon am ersten Tag, als ich Fieber bekam, die Scheicha Sahira holen lassen, und diese verbrachte Stunden an meinem Bett, Gebete und Beschwörungen murmelnd. Eines Nachts fuhr ich erschrocken aus dem Kissen hoch, weil ich etwas Warmes, Klebriges auf mein Gesicht tropfen spürte: das Blut einer Taube, der man die Kehle durchschnitten hatte und die in den Klauen der Alten immer noch über meinem Kopf zuckte und mit den Flügeln schlug. Da sich mein Zustand trotzdem verschlimmerte, ließ man eine Kudja kommen, und diese identifizierte die Ursache der Krankheit: eine Dämonin, die in meinen Vater verliebt und daher eifersüchtig auf meine Mutter war. Man entschloß sich zu einem Sar, einem Beschwörungsritual, das in aller Eile und Heimlichkeit vorbereitet und durchgeführt wurde, ein lautloses Sar ohne Trommeln und Gekreische. In meinem Fieberwahn nahm ich alles nur vage wahr: die im Kreis herumwirbelnden Gestalten, das rhythmische Stampfen, das Keuchen. Man opferte Kälber, Ziegen, Schafe und beschmierte mich mit ihrem Blut. Das Fleisch nahm die Kudja mit, um es, sagte man, den Hunden vorzuwerfen. Man legte ein Bündel unter mein Kopfkissen, das bis zum Tode der Großmutter dort blieb, es war ein Talisman aus dem Fell der Schafe und Ziegen, die man der Dämonin geopfert hatte. Sie liebte meinen Vater und wollte mich aus Eifersucht umbringen! Doktor Comanos dagegen ordnete an, mich in eiskaltes Wasser zu tauchen. Keine einzige Frau im Hause, nicht einmal Nargis, erklärte sich zu einer so unerhörten Prozedur bereit; die Mutter, überzeugt, daß der Arzt übergeschnappt sei und mich umbringen würde, warf sich schluchzend meinem Vater zu Füßen und flehte ihn an, so etwas nicht zuzulassen. Doch
der Vater ließ sich nicht beirren und tauchte mich eigenhändig ins Bad. Ich habe erst später erfahren, welche Angst er um mich ausgestanden hatte. Jedenfalls ging das Fieber zurück, und ich wurde wieder gesund. Wie gerne entsinne ich mich der Tage, die mir allmählich das Leben zurückgaben! Noch jetzt sehe ich das Zimmer vor mir, ein geräumiges, helles Zimmer mit Blumentapeten an den Wänden und einem hochflorigen blauen Wollteppich auf dem Fußboden. Möbliert war es nach französischer Manier: ein Bett im Stil Louis-quinze, so breit, daß ich darin verschwand, ein Spiegelschrank, in dem ich beobachten konnte, wer kam und ging, ein runder Tisch mit zierlich geschwungenen Beinen und ein zweiplätziges, mit rosa Seide bezogenes Kanapee. Mein Vater hatte dieses Zimmer für seine Gäste einrichten lassen. Es lag in dem Teil des Hauses, der den Männern vorbehalten war, die Tür führte direkt auf den Korridor, und so konnte Doktor Comanos seine Visiten machen, ohne daß der Agha zuerst alle Frauen aus dem Weg scheuchen mußte. Nachts schlief Nargis auf einer Matte am Fuß meines Bettes. Sie pflegte mich, als wäre ich ihre eigene Tochter. Tagsüber erhielt ich viel Besuch, und besonders Sakijja war fast immer bei mir. Aber die schönsten Stunden meiner Rekonvaleszenz waren jene, die meine Eltern bei mir verbrachten. Die Mutter nahm, halb sitzend, halb liegend, auf dem Kanapee Platz. Sie sprach nur wenig, aber in ihrem Lächeln lag all ihre Liebe. Der Vater brachte mir jeden Tag eine Puppe oder sonst ein neues Spielzeug. Er setzte sich auf einen Stuhl und führte lange Gespräche mit meiner Mutter. Dieses Zusammensein an meinem Krankenbett muß die beiden einander sehr viel nähergebracht haben.
Ich glaube, von dieser Zeit an wurde Gulistan eifersüchtig. Zwar könnte ich keinen bestimmten Anlaß nennen, der diese Annahme bestätigen würde; sie besuchte mich häufig, und sobald ich wieder Appetit hatte, brachte sie mir eigenhändig zubereitete Leckerbissen; auch die Großmutter verwöhnte mich. Und dennoch ist mir eine Szene im Gedächtnis geblieben, in der ich die Großmutter und Gulistan zusammen mit meiner Mutter im Zimmer sehe und eine unbestimmte, aber doch fühlbare Mißstimmung, eine gewisse Feindseligkeit wahrnehmen kann. Ich mochte die Besuche der beiden Frauen nicht, und ich bin sicher, daß sie bereits damals auch auf mich eifersüchtig waren, vielleicht mehr noch als auf meine Mutter. Der Vater hatte mir die Märchen von Charles Perrault mitgebracht. Ich stellte tausend Fragen, obwohl ich die schon oft gehörten Geschichten alle kannte. Aber bald genügte mir das nicht mehr; ich wollte wissen, was die Wörter, die in großen, fremden Buchstaben unter den Bildern standen, bedeuteten. Es waren französische Wörter, die ich nicht verstand. Vater erklärte sie mir geduldig, und ich versuchte, sie nachzusprechen; bald wußte ich ganze Sätze auswendig, fand sie auf der richtigen Seite, erkannte die Zeichen, aus denen sie bestanden. Wenn er fort war, mußte die Mutter herhalten; ob sie wollte oder nicht, sie mußte sich ebenfalls an mein Bett setzen und mit mir lesen. Wenn nur Sakijja bei mir war, schlüpfte ich in die Rolle der Lehrerin und befahl ihr zu lesen: »Der - Wolf«, »Das Rot-käpp-chen« ... Es machte uns ungeheuren Spaß, diese neuartigen, wohlklingenden Silben mit lauter Stimme auszusprechen. Wir schleuderten sie allen Besuchern ins Gesicht: Nargis, die sich darüber amüsierte; Gulistan oder der Großmutter, die nur die Achseln zuckten und uns zwei Verrückte schalten; Scheich Hifni, der kein Wort verstand.
Wie sehr liebte ich diese Märchen! Dank ihnen habe ich auf spielerische Weise meine ersten französischen Vokabeln gelernt. Zu den Erinnerungen an meine Krankheit und Genesung gehörten auch drei Tiere, die der Vater mir damals schenkte und die ich leidenschaftlich liebte. Es waren eine Schildkröte, ein Papagei und ein Eselchen. Die Schildkröte blieb nicht lange am Leben, aber ich sehe noch heute, wie sie langsam über den Teppich und sogar über meine Bettdecke krabbelte. Ich hatte überhaupt keine Angst vor ihr, da bin ich ganz sicher. Doch die Großmutter spann eine ganze Legende um sie und beteuerte bei allen Heiligen und besonders ihren Lieblingsheiligen, Sajjid al-Badawi und Fatima an-Nabauijja, ich hätte jedesmal, wenn die Schildkröte den Kopf aus dem Panzer streckte, eine solche Angst gehabt, daß ich ohnmächtig geworden sei; daß aber gleich darauf mein Fieber gesunken sei, weil die Schildkröte meine Krankheit auf sich genommen habe. Altweibergeschichten! In Wirklichkeit war dieses merkwürdige Tierchen ein lebendiges Spielzeug für Sakijja und mich, und als man es eines Morgens unter dem Schrank entdeckte, leblos und starr wie ein Stein, weinten wir vor Kummer. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod. Man sagte mir: »Sie ist eben tot«, doch diese Worte gaben mir keine Antwort auf meine ängstlichen Fragen. Noch am selben Tag brachte mir Vater den Papagei, und ich vergaß die Schildkröte. Ich nannte ihn Sadik und wollte mich nicht mehr von ihm trennen; ich fütterte ihn mit Mandeln, gab ihm Rosenwasser zu trinken und brachte ihm bei, allen Leuten guten Tag zu sagen. Doch auch diese Liebe war nur von kurzer Dauer. Da Sadik nichts zu sagen wußte außer seinem monotonen »Guten Tag«, begann er mich bald zu langweilen, und man schenkte ihn einer Dienerin.
Als ich endlich mein Zimmer verlassen konnte, fand ich drunten im Garten ein niedliches graues Eselchen mit nagelneuem Sattel und Zaumzeug. Es diente mir nicht nur dazu, im Garten herumzureiten. Die Großmutter hatte gelobt, mit mir im Falle meiner glücklichen Genesung sämtliche Moscheen Kairos aufzusuchen, um Almosen zu verteilen. Dazu nahmen wir manchmal den Wagen meines Vaters. Doch die Großmutter fuhr nicht gerne im Wagen, viel lieber ritt sie auf ihrer Eselin und ließ mein Eselchen nebenhertrotten; drei oder vier Frauen, ebenfalls auf Eselsrücken, folgten uns, während die Sais, die Stallknechte, mit ihren Stöcken fuchtelnd um uns herumliefen. Ich weiß nicht mehr, ob wir das Gelübde auch wirklich erfüllten; es gibt ja in Kairo so viele Moscheen! Jedenfalls besuchten wir im Laufe eines Jahres eine große Anzahl, und es waren auch solche dabei, die ich seither nie mehr gesehen habe. Meine Großmutter wußte über die Vorzüge eines jeden Heiligengrabes Bescheid; es gab welche, die Augenkrankheiten heilen, andere, die zur Geburt eines Sohnes verhelfen, noch andere, die einer Frau den untreuen Ehemann wiederbringen. All diese Vorzüge diskutierte die Großmutter eifrig mit ihren Gefährtinnen, aber mich interessierte das nicht. Was mich interessierte, war das bunte Treiben in den Straßen. Vor manchen Moscheen herrschte ein ständiger Jahrmarkt: Krämer, Garköche, die Krapfen und Reisfladen feilboten, Jongleure, Männer, die dressierte Affen oder Marionetten vorführten, Sänger, Tänzerinnen, deren Anblick mich entzückte. Man konnte mir nicht alles verbieten, und ich hatte ein gutes Gehör und ein gutes Gedächtnis. Ich erinnere mich noch an Lieder, die gewiß nicht für Mädchen meines Alters gedacht waren: Mein schöner Geliebter trägt ein goldenes Gewand. Er wohnt im prächtigsten aller Paläste.
Die Mutter hat ihn dort eingespert. Denn sie will nicht, daß er mich liebe. Doch bei Tagesanbruch ist er geflohen, Im Goldgewand, sein Schwert in der Hand. Furchtlos ist er zu mir gekommen. Er hat mich auf die Stirn geküßt. Und mir Zuckermandeln gegeben. Vierzig Tage ist das nun her. Ich habe die Zuckermandeln behalten, Und das Mal seines Kusses auf meiner Stirn. Ich malte mir das goldene Gewand aus, das Schwert und die Flucht aus dem Palast, aber ich konnte ganz und gar nicht begreifen, warum die Sängerin die Zuckermandeln nicht aufgegessen hatte; ich bat jedermann, mir das zu erklären, aber niemand wollte mir eine Antwort geben. Der Sängerin, die dieses Lied vortrug, begegnete ich auf unseren Ausflügen noch einige Male. Sie war ziemlich fett, aber ich fand sie schön, weil sie so stark geschminkt war. Noch heute sehe ich ihre schwarz umränderten Augen und ihre vollen blutroten Lippen. Mit den hennagefärbten Händen ließ sie ihre kupfernen Kastagnetten klingeln. Ich hätte ihr gerne alle Münzen zugeworfen, die man mir zum Almosenverteilen gegeben hatte, aber man ließ es nicht zu. Noch mehr als die Straßensängerinnen faszinierten mich die »magischen Kisten«. Ich stürzte mich darauf, meinen Piaster in der Hand, und preßte die Augen an die Gucklöcher. Welch herrliche Bilder! Und welch herrliche Liebesgeschichten! So lernte ich die Abenteuer von Asisa und Yunus kennen, die in alten Zeiten gelebt hatten. Ich sah Asisa, die sich im Berg versteckt hielt - in welchem, habe ich nie erfahren; sie war ihrem Vater davongelaufen, der sie gegen ihren Willen verheiraten wollte, wo sie doch den schönen
Yunus liebte. Diese Geschichte, die Fragen über Fragen in mir hervorrief, mußte Nargis mir abends immer wieder erzählen, und sie entzückte mich stets aufs neue.
3
Mademoiselle
Da ich von der französischen Sprache so begeistert war, beschloß mein Vater, eine Hauslehrerin einzustellen. So kam Mademoiselle Hortense zu uns. Als eines Abends der Wagen, der sie vom Bahnhof brachte, im Hof vorfuhr, standen wir alle auf den Baikonen hinter den Maschrabijjas, um einen Blick auf »die Französin« zu erhaschen. Der Agha Mabruk hatte sie in Alexandria abgeholt. Auf der Fahrt nach Kairo war Mademoiselle nicht der geringste Verdacht bezüglich der körperlichen Beschaffenheit ihres Begleiters gekommen. Als sie aus dem Wagen stieg, bedankte sie sich mit einem huldvollen Lächeln bei ihm und erkundigte sich dann bei meiner Mutter, wer dieser »reizende alte Herr« sei. Sie lief feuerrot an, als sie erfuhr, daß sie in Gesellschaft eines Eunuchen gereist war. Im Harem wurde darüber weidlich gekichert und geklatscht, und so entstand die Legende der Französin, die davon geträumt hatte, Mabruk zu heiraten. Mademoiselle war keine Schönheit, was Gulistan sehr beruhigte und vermutlich auch Nargis und meine Mutter; nichts an ihrer Person, weder die lange, unproportionierte Nase noch die kurzsichtigen hervorquellenden Augen, noch der struppige Haarknoten waren dazu angetan, meinem Vater zu gefallen. Überdies war sie ärmlich gekleidet, was mich, so klein ich noch war, unangenehm berührte. So hatte ich mir eine Französin nicht vorgestellt, und ich war ihr böse, daß sie mich derart enttäuschte. Man hatte in einem entlegenen Teil des Harems, über der Remise, eigens für sie und mich eine kleine Wohnung eingerichtet. Diese lag höher als die Kaa, jedoch tiefer als die Terrasse; es war nicht auszumachen, auf welcher Etage sie sich
eigentlich befand. Aber sie war sehr bequem gelegen, denn sie hatte einen direkten Zugang zum Garten und zur Terrasse. Das Zimmer Mademoiselles lag neben demjenigen, das ich mit Sakijja teilen sollte. Aber an diesem ersten Abend wollte ich es um keinen Preis betreten, sondern rannte davon und verbarg mich in den Röcken Nargis', die mich nur zu gerne bei sich behielt. Auch tags darauf zeigte ich mich widerspenstig, wollte vor Mademoiselle den Mund nicht aufmachen und gab vor, kein Wort von dem zu verstehen, was sie zu mir sagte. Als mein Vater davon erfuhr, befahl er, daß man mich in Ruhe lassen und daß Sakijja eben allein mit den Lektionen beginnen solle. Gekränkt mußte ich von einem Fenster aus, hinter dem ich mich versteckt hatte und schmollte, mit ansehen, wie die kleine Sudanesin und Mademoiselle, offensichtlich in bester Laune, gemeinsam im Garten spazierengingen. Während meine Mutter sich beim Mittagessen auf französisch mit Mademoiselle unterhielt, nahmen mich Gulistan und die Großmutter auf die Seite. Ich spürte ihre Schadenfreude und ärgerte mich schrecklich über mich selbst. Doch erst am folgenden Tag gab ich meine verstockte Haltung auf. Ich stand allein in Nargis' Zimmer, die Nase ans Fenster gepreßt, gelangweilt und unglücklich, als sich eine Hand auf meine Schulter legte; aber ich blieb stocksteif und störrisch. »Hast du mich denn kein bißchen gern?« fragte mich Mademoiselle mit leiser, trauriger Stimme. Ich bemerkte Tränen auf ihren Wangen, und mein Widerstand schmolz dahin. Doch ich war zu stolz, um meine Niederlage einzugestehen. Ich bediente mich einer List, um wenigstens scheinbar die Oberhand zu behalten. »Kannst du lesen?« wollte ich von Mademoiselle wissen. Ganz verdutzt versicherte sie mir, daß sie Französisch lesen konnte. »Also
gut«, kommandierte ich, »dann lies mir Rotkäppchen vor«, und zeigte gebieterisch auf das Buch. Sie gehorchte. Ich geruhte, sie dafür zu loben: »Du kannst gut lesen.« Und dann holte ich alle meine Spielsachen hervor, legte sie ihr nacheinander auf den Schoß und fragte nach den französischen Bezeichnungen. So verlief meine erste Lektion bei Mademoiselle. Von nun an waren wir Freundinnen; unser gutes Einvernehmen beruhte auf dem Prinzip, daß ich befahl und Mademoiselle gehorchte. Meine Mutter unternahm einige schüchterne Versuche, Mademoiselle zu einer autoritären Haltung zu bewegen, die sie selber mir gegenüber nicht einzunehmen vermochte. Nargis lachte herzlich über die Lehrerin, die ihrer Schülerin so brav gehorchte; auch Gulistan und die Großmutter amüsierten sich darüber. Mademoiselle verlor an Prestige - sehr viel hatte sie ohnehin nicht besessen -, kam jedoch dafür in den Genuß meiner Protektion. Wenn man es ihr an etwas fehlen ließ oder sie nicht zuvorkommend bediente, wandte sie sich lieber an mich als an meine Mutter, und ich setzte mich immer mit Erfolg für sie ein: Ich sprach mit der Chalfata, den Aghas, der Großmutter, drohte gegebenenfalls, mich beim Vater zu beklagen, und bekam stets, was ich wollte. Mademoiselle bedankte sich überschwenglich bei mir. Sie hing an mir, ich hing an ihr, und so lernte ich sehr rasch Französisch. Mein Ehrgeiz wurde noch dadurch angestachelt, daß ich eine Rivalin hatte, die mich oftmals übertraf: Sakijja. Die kleine Sklavin war bemerkenswert intelligent; sie nahm an allen Lektionen teil, lernte gemeinsam mit mir und lernte weiter, als ich aufhörte. Das konnte sie nur im Selbstunterricht tun, denn damals gab es in Ägypten - und ich glaube, auch in Europa - für Mädchen keine Möglichkeit, an einer Hochschule zu studieren. Dennoch war Sakijja eine der ersten Ägypterinnen, die es zur Lehrerin brachten, und sie wurde eine erstklassige Lehrerin.
Mademoiselle hatte einen Vornamen: Hortense, bei dem sie gelegentlich gerufen wurde, und einen aristokratischen Familiennamen samt Adelsprädikat, was wohl auch ein Grund für die Wertschätzung war, die ihr mein Vater entgegenbrachte. Eines Tages zeigte sie mir ihr Zeichenalbum. Ich sah ein Schloß mit spitzen Giebeln, Parkalleen, einen Fluß; auf einem anderen Blatt war ein Kloster mit Nonnen und Schülerinnen -ein Andenken an das Internat, in dem Mademoiselle Hortense acht Jahre ihrer Jugend verbracht hatte. Sie erwähnte auch eine skandinavische Hauptstadt, wo ihr Vater zur Zeit Napoleons III. als Diplomat gelebt hatte. Sie besaß Fotografien ihrer Eltern: ein kahlköpfiger alter Herr mit weißem Backenbart und eine melancholisch dreinblickende Dame, die auf der Brust ein großes Kreuz trug, wie eine Klosterfrau. Mademoiselle war ein spätes Kind gewesen; sie hatte ihre Eltern nur in fortgeschrittenem Alter gekannt. Ihr Vater war schon vor langem gestorben. Bei seinem Tode war ihr älterer Bruder Familienoberhaupt geworden. Er lebte in Paris, während Hortense und ihre Mutter das ganze Jahr über auf ihrem Stammschloß in der Provinz Limousin wohnten. Sie verkehrten fast nur mit Priestern und anderen frommen Leuten, leisteten gemeinnützige Arbeit und lebten streng religiös, ohne weltliche Vergnügungen, ohne Zerstreuungen. Als Mademoiselle Hortense etwa Mitte Zwanzig war, erlebte sie ihre einzige und tragische Liebe. Einmal, im Sommer, verbrachte ihr Bruder in Begleitung eines Freundes einige Wochen auf dem Schloß. Dieser Freund machte Mademoiselle Hortense den Hof und hielt, bevor er abreiste, um ihre Hand an. Ich habe sein Porträt gesehen, das Mademoiselle wie eine Reliquie hütete: das Porträt eines jungen Mannes in knappsitzender Dragoneruniform, dessen Züge jene Regelmäßigkeit
aufwiesen, die man als »vorteilhaft« bezeichnet. Er war ein vollendeter Kavalier, ein charmanter Causeur, und er eroberte Hortense im Nu. Sie verliebte sich bis über die Ohren und lebte einige Monate lang in einem Rausch der Glückseligkeit. Aber die Heirat sollte niemals stattfinden. Der Bruder Hortenses spielte - in den Kasinos wie an der Börse. Er machte Schulden. Eines Tages mußten die Ländereien verkauft werden, das Schloß, das Haus in Paris. Die Familie war ruiniert. Der Dragoneroffizier ersuchte um Versetzung nach Algerien und ließ nie wieder etwas von sich hören. Gebrochenen Herzens folgte Hortense ihrer Mutter in das Kloster, in das diese sich zurückgezogen hatte, und pflegte sie zwei Jahre lang bis zu ihrem Tode. Sie beschloß, den Schleier zu nehmen und Karmeliterin zu werden. Doch das war schwieriger, als sie gedacht hatte. Sie hätte Gott ein reines, freies Herz darbringen müssen, hätte die Briefe und Bilder des Mannes, den sie noch immer liebte, vernichten, sogar jede Erinnerung an ihn aus ihrer Seele reißen müssen. Dazu konnte sie sich nicht durchringen. So stand sie allein und mittellos da und mußte auf irgendeine Weise ihr Brot verdienen. Der Gedanke, in die Dienste einer französischen Familie zu treten, war ihr zuwider; lieber wollte sie ins Ausland gehen. Ein alter Bekannter ihres Vaters empfahl sie beim türkischen Konsulat in Paris, und über diesen Umweg gelangte sie schließlich in unser Haus am Chalig. War ich damals so hartherzig? War mein Egoismus oder meine kindliche Unerfahrenheit schuld daran? Wie dem auch sei - der Liebeskummer Mademoiselle Hortenses weckte keinen Funken Mitleid in mir. Ich musterte ihr verblühtes Gesicht, ihre Figur - die einer vorzeitig gealterten Frau -, und die Idee, daß jemals ein Mann sie hatte lieben können, kam
mir lächerlich vor. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, daß sie verliebt gewesen war, und wäre nicht der Beschützerinstinkt gewesen, den ich ihr gegenüber empfand, ich hätte sie einfach ausgelacht. Damals ahnte ich ja noch nichts von dem Schicksal, das mich selbst erwartete. Ich habe dieselben harten Prüfungen wie Mademoiselle Hor-tense durchmachen müssen, um zu begreifen, wie sehr sie gelitten hatte. Sie ist an einem Sommerabend in Kairo gestorben, ich weiß nicht mehr, an was für einem Leiden. Ich selbst holte den Priester, nach dem sie verlangte. In Tränen aufgelöst saß ich an ihrem Bett; sie tröstete mich und versicherte mir, sie freue sich, bald in den Himmel zu kommen. Ich bin überzeugt, daß sie ihre Liebe ungetrübt bis zum Tode im Herzen bewahrte. Nie sprach sie darüber. Aber oftmals, wenn ich wie gewohnt, ohne anzuklopfen, ihr Zimmer betrat, sah ich sie hastig eine Schublade schließen. Ich wußte, daß sie darin Briefe aufbewahrte, Bilder, Andenken das Strandgut ihrer Liebe. Und zuweilen bemerkte ich Tränen in ihren Augen. Ich habe Mademoiselle Hortense viel zu verdanken. Sie hat mir ihre Sprache beigebracht, Zeichnen, Musik, Sticken, all das, was man gute Manieren nennt; sie hat mich alles gelehrt, was ein wohlerzogenes junges Mädchen können muß. Es ist ihr nicht gelungen, meine Hartnäckigkeit zu mildern, denn befehlen konnte sie nie. Aber indem ich an ihrer Seite lebte und mit ihr sprach, erweiterte ich meinen Horizont. Sie kam aus einer anderen Welt, einer Frauenwelt ähnlich der meinen und doch so verschieden, die sie mir erschloß. Ich will nicht behaupten, daß sie mir schon damals Möglichkeiten aufzeigte, das Los der Frau zu verändern. Die arme Mademoiselle war gewiß das pure Gegenteil einer Rebellin. Erst später, als ich mein eigenes Unglück ertragen und meinen eigenen Kampf
führen mußte, ließ mich das, was ich von ihr gelernt hatte, meine Ziele klarer sehen und stärkte meinen Durchhaltewillen: Ich wollte nicht schwach sein, mich nicht von vornherein geschlagen geben wie sie. Seit meiner Krankheit behandelte mich mein Vater, der doch als äußerst strenger Mann galt, mit großer Nachsicht. Sogar wenn er Besuch hatte, durfte ich, ein Buch auf den Knien, in einer Balkonecke sitzen. Ich durfte dabeisein, wenn man aus Zeitungen vorlas, hitzige politische Debatten führte oder über die Herrscher der damaligen Welt sprach: Sultan Abdulhamid, Königin Victoria, den deutschen Kaiser. Ich stellte mir vor, daß sie wie die Könige und Fürsten in meinen Märchenbüchern gekleidet wären. Zuweilen trug ein Dichter seine Verse vor, und ich war hingerissen von deren Wohlklang. Eines Tages, als die Besucher gegangen waren, griff ich nach einer arabischen Zeitung, die auf einem Diwan lag, und sagte zu meinem Vater: »Ich möchte richtig lesen lernen und auch Gedichte schreiben.« Mein Vater lächelte. »Wie alt bist du denn, Ramsa, daß du schon soviel Ehrgeiz an den Tag legst?« »Achteinhalb - ich habe drei neue Zähne bekommen!« »Ich werde einen Arabischlehrer für dich suchen.« Man fragte bei einem Studenten der Ashar-Universität an. Es war kein junger Mann mehr, denn er hatte bereits Frau und Kinder. Man nannte ihn Scheich Nassif. Er trug eine Brille mit metallgefaßten Gläsern und lächelte nie. Daß ich nicht wagen durfte, ihm Streiche zu spielen wie dem Ustas Hifni, war mir von dem Augenblick an klar, als er mir ein paar harte Schläge mit dem Lineal auf die Finger versetzte. Ich mochte Scheich Nassif nicht, aber ich lernte fleißig bei ihm. Er
unterrichtete uns in Grammatik und Arithmetik, während der alte Agha Kütschük in einer Ecke des Schulzimmers vor sich hin döste. Sakijja und ich machten gute Fortschritte. Ich hatte meinen Vater gebeten, daß der Scheich uns auch in Geographie unterrichten sollte. Das Wort »Meer« weckte Sehnsüchte in mir, und wenn ich allein war, flüsterte ich verträumt die wunderbaren Namen vor mich hin, die ich gehört hatte: Paris, Rom, London ... Sogar Alexandria, wo ich noch nie gewesen war, erregte meine Neugier; es war eine Stadt am Meer, von dort aus fuhren Schiffe in ferne Länder. Einmal war ich zusammen mit der Großmutter, der Mutter und den Tanten nach Tanta gefahren, zum Grab des größten Heiligen, des Scheichs der Araber: Sajjid al-Badawi. Oh, wenn ich doch im Zug hätte bleiben und weiterfahren dürfen bis zu dem Hafen, der das Tor zur Welt war! Leider mußte ich aussteigen, aber ich nahm meinem Vater das Versprechen ab, daß er mich im folgenden Sommer nach Alexandria mitnehmen würde. Von da an bestürmte ich jedermann mit Fragen, die mir jedoch nur der Vater beantworten konnte. Zwei Monate vergingen, und Scheich Nassif hatte immer noch nicht mit den Geographiestunden begonnen. Mein Vater erkundigte sich nach dem Grund. Es stellte sich heraus, daß die Großmutter hinter der Sache steckte. Sie hatte dem Scheich erklärt, er dürfe mich nur in zwei Fächern unterrichten: in Arithmetik, die zur Haushaltführung nützlich war, und in arabischer Grammatik, die man beherrschen mußte, um den Koran verstehen und die Kinder nach den Gesetzen des Islam erziehen zu können. Der Scheich war mit dieser Meinung ganz und gar einverstanden. »Aber, Scheich Nassif«, sagte mein Vater, »die Geographie lehrt uns doch Gottes Schöpfung kennen. Auch im Koran kommt Geographie vor: Allah ist der Herr des Orients und des Okzidents. Ich will, daß Ramsa die Bedeutung dieser
Begriffe erfährt. Unterrichten Sie sie also in Geographie.« Der Scheich fügte sich, wenn auch widerwillig. Er kaufte für mich und Sakijja je einen rudimentären arabischen Atlas und begnügte sich damit, uns darin die Städte Ägyptens suchen zu lassen. So lernte ich denn, sobald ich einigermaßen Französisch konnte, bei Mademoiselle Geographie; mit ihr zusammen verschlang ich die Reisebücher, die mir der Vater lieh. Wenn das Tagespensum erfüllt war und uns noch etwas Zeit blieb, baten wir den Scheich, ein Gedicht vorzutragen. Dazu war er immer bereit. Er wußte zahllose Gedichte auswendig und konnte uns die schwierigen Stellen ganz ausgezeichnet erklären. Es waren vor allem Kasidas, Oden der altarabischen Dichter, in denen die Heldentaten von Kriegern oder die tragischen Schicksale verstoßener Prinzen besungen wurden. Der Scheich deklamierte mit einer etwas kühlen, aber wohlklingenden Stimme; ich lauschte mit glänzenden Augen. In solchen Momenten bewunderte ich Scheich Nassif. Eines Vormittags, nachdem ich mich geradezu mustergültig betragen hatte, stand ich auf und verkündete: »Auch ich weiß ein Gedicht!« Und ich sagte dem Scheich einige Verse auf, unter anderen diesen: Zwar trag ich den Schleier, doch weiß ich vieles... Die übrigen priesen die Vorzüge gebildeter Frauen. »Woher hast du diese Verse?« fragte der Scheich mit steinerner Miene. »Ich habe sie gestern gehört, bei meinem Vater. Sie stammen von der Dichterin Aischa at-Taimurijja.« »Nun gut«, sagte der Scheich. »Zwar trag ich den Schleier, doch weiß ich vieles«, wiederholte ich. »Wenn sie soviel weiß, warum trägt sie dann immer noch den Schleier? Warum hat sie nicht den Mut, ihr Gesicht zu zeigen?«
Ich plapperte nur wie ein Papagei die Bemerkung eines von Vaters Gästen nach, der vehement für die Emanzipation der Frau Stellung genommen hatte. Scheich Nassif erbleichte, und seine Augen hinter den Brillengläsern versprühten Blitze. »Schamloses Geschöpf!« schrie er. »Du merkst dir nur die allerschädlichsten Ansichten. Da sieht man, wohin es führt, wenn man dich mit Wissen vollstopft! Niemals, das schwöre ich, werden meine beiden Töchter lesen lernen! Ich werde deine Großmutter bitten, besser auf dich aufzupassen, denn du bist auf einem gefährlichen Weg.« »Ich bleibe aber nicht bei der Großmutter«, erklärte ich und sah ihm gerade in die Augen. »Ich lerne Französisch, und sobald ich es richtig kann, gehe ich nach Paris.« Scheich Nassif kochte vor Wut, aber da er glaubte, ich redete von den Plänen meines Vaters, wagte er nichts mehr zu sagen. Von da an herrschte eine frostige Atmosphäre zwischen uns. Im folgenden Herbst trat ich dann in die Sanijja-Schule ein und sah Scheich Nassif nie wieder.
4
Die Faszination der Bücher
Mein Schuleintritt war ein Ereignis, das man schon Monate vorher eifrig diskutiert hatte. Meine Großmutter war dagegen; sie fand, soviel Gelehrsamkeit bei einem Mädchen sei unmoralisch. Meine Mutter, von Mademoiselle sekundiert, schlug eine Klosterschule vor. Die beiden hatten auch schon eine ausgewählt, die »Institution de la Mere de Dieu«, die sich damals im neuen Ismailijja-Viertel befand, an der Straße nach Bulak, ziemlich weit von unserem Haus am Chalig entfernt. Laut Briefen, die ich später gefunden habe, scheint auch mein Vater dieses Projekt eine Zeitlang unterstützt zu haben. Er hatte indes zu jener Zeit einen einflußreichen Freund, Scheich Muhammad Abduh, der zwar noch nicht Mufti, aber ein entschiedener Befürworter der Erziehung muslimischer Mädchen in ägyptischen Schulen war. Im Namen der Gerechtigkeit protestierte er gegen jene, welche die Frau als minderwertiges Wesen behandelten, doch vor allem ging es ihm um die Heranbildung künftiger Familienmütter als Grundlage einer nationalen Erneuerung, welcher sein Lebenswerk gewidmet war. Aus Überzeugung und auch, um mit dem guten Beispiel voranzugehen, hatte er seine eigenen Töchter auf die Sanijja-Schule geschickt, damals die renommierteste ägyptische Schule. Es fiel ihm nicht schwer, auch meinen Vater zu überzeugen, und da dessen Entscheidungen bei uns zu Hause nie diskutiert wurden, traten Sakijja und ich in die Sanijja-Schule ein. Ich war etwa zehn Jahre alt und hocherfreut über diese Wendung in meinem Leben. Die Sanijja-Schule befand sich in der Nähe unseres Hauses. Wir machten uns in der Frühe zu Fuß auf den Weg. Mademoiselle und einer der Aghas begleiteten uns; zuerst war es der alte Kütschük und später, nachdem er gestorben war, der nun fast ebenso alte Mabruk.
Übermütig hüpfte ich zum Tor hinaus und ließ das alte Haus mit seinen hohen, düsteren Mauern hinter mir, vor allem aber die Großmutter, die inzwischen sehr gebrechlich und sehr streitsüchtig geworden war. In der Schule herrschte strenge Disziplin. Vor der englischen Rektorin hatten wir einen gewaltigen Respekt. Ich beklagte mich jedoch nie. Zur großen Verwunderung meines Vaters benahm ich mich, die ich zu Hause kaum zu bändigen war, in der Schule wie ein Musterkind. Ich besuchte sie fünf Jahre lang. Wir verbrachten den ganzen Tag dort. Man unterrichtete uns in mehreren Sprachen: Arabisch, Türkisch, Französisch und Englisch. Für mich war nur das Englische wirklich neu, und ich lernte es rasch. In Musik, Singen und Zeichnen hatten wir italienische Lehrerinnen. Eine muskulöse junge Schwedin erteilte Gymnastikstunden. Eine Schweizerin unterrichtete hauswirtschaftliche Fächer, und uns Schülerinnen machten die gegenseitigen Einladungen, zu denen wir auch unsere Lehrerinnen baten und an denen wir stolz selbstgebackene Kuchen auftischten, großen Spaß. Es gab ein Klavier, auf dem wir während der Pausen spielen durften. Dank dem Unterricht bei meiner Mutter spielte ich schon recht gut und freute mich gewaltig über die Komplimente, die ich erhielt; bald einmal wurde ich deswegen ziemlich beliebt, um so mehr, als ich auch Gedichte vortrug. Ein Grüppchen älterer Mädchen pflegte im Hof spazierenzugehen und dabei Verse zu deklamieren. Eines Tages gesellte ich mich zu ihnen und sagte ein Gedicht von Barudi auf, das sie noch nicht kannten. Das trug mir den Ruf eines literarischen Wunderkindes ein. Von da an begann ich, aus den Büchern meines Vaters arabische, französische oder türkische Gedichte abzuschreiben, die ich tags darauf meinen Schulkameradinnen schenkte. So wurde ich in eine Art halboffiziellen literarischen
Zirkel aufgenommen, den die Schülerinnen der oberen Klassen gegründet hatten. Von Zeit zu Zeit versammelten wir uns in der Bibliothek. Dort lagen europäische Zeitschriften auf, meist englische, die wir lasen und eifrig kommentierten. Sie enthielten nur Rezensionen literarischer Werke. Wenn wir jedoch unter uns waren, kamen wir häufig auf politische oder gesellschaftliche Themen zu sprechen. Von meinem Vater lieh ich mir Werke aus, die mich besonders interessierten, um dann den Inhalt für meine Kameradinnen zusammenzufassen; manchmal nahm ich diese Bücher auch heimlich in die Schule mit, in neutralem blauem Papier eingeschlagen wie meine Schulbücher, und las jene Stellen daraus vor, die mich faszinierten. Großen Erfolg hatte das Werk von John Stuart Mill über die Unterdrückung der Frau. Meine Gefährtinnen begeisterten sich dafür und wurden ebenso glühende Feministinnen, wie ich eine war. Schon am ersten Schultag war mir im Klassenzimmer ein Platz neben einem Mädchen zugewiesen worden, das, obwohl älter als ich, weniger weit fortgeschritten war. Sie hieß Bahiga. Wir unterschieden uns in allem: Ich war lebhaft, sie gelassen; ich war überschwenglich, sie schweigsam; ich reagierte auf Unannehmlichkeiten mit Wutausbrüchen, sie mit Tränen. Und dennoch wurden wir bald unzertrennliche Freundinnen. Sie folgte mir wie ein Schatten, sogar zu den Versammlungen in der Bibliothek, obwohl sie die Gespräche dort kaum interessierten; wenn ich Klavier spielte, setzte sie sich zu mir, oft mit ihrer Ud, die sie gut beherrschte, und wir improvisierten Konzerte. In allem übrigen verließ sie sich ganz auf mich und gehorchte mir in blindem Vertrauen. Bahiga war unglücklich. Ihre Mutter war gestorben. Ihr Vater, ein wohlhabender Holzkaufmann aus dem SchubraViertel, hatte sie ins Internat der Sanijja-Schule gegeben, um sie loszuwerden, denn er wollte sich im folgenden Winter
wiederverheiraten, wie mir Bahiga unter Tränen anvertraute. Sie konnte es ihrem Vater nicht verzeihen und haßte die Stiefmutter. Jeder Vorwand kam ihr gelegen, nur um nicht nach Hause gehen zu müssen, und es bestand auch niemand darauf, jedenfalls nicht im ersten Jahr. Aber sie hatte Heimweh nach dem schönen großen Garten und nach ihrem Bruder Mahir, der zwei Jahre älter war als sie und vor kurzem in die Militärakademie eingetreten war. Sie hatte sich an diesen Bruder geklammert, wie sie sich fortan an mich klammerte, aus dem Bedürfnis heraus, beschützt und geführt zu werden. An freien Tagen lud ich Bahiga oft zu uns nach Hause ein. Mein Vater erlaubte es gerne; ihm gefiel das sanfte, ernsthafte Mädchen. Auch Bahigas Vater hatte nichts gegen die Besuche einzuwenden, durch die er sich offenbar geschmeichelt fühlte, doch aus Stolz wollte er, daß Bahiga mich ebenfalls zu sich nach Hause einlud. So begleitete ich sie zuweilen nach Schubra - ungern, denn ich konnte ihre Stiefmutter nicht leiden. Aber dort begegnete ich zum ersten Mal ihrem Bruder Mahir. Es war gegen Ende des ersten Schuljahres; Bahiga hatte Mitschülerinnen und Lehrerinnen eingeladen. Ich ging etwas früher hin, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen, und wir liefen geschäftig hin und her. Als ich in die Küche eilte, um irgend etwas zu holen, stieß ich beinahe mit einem jungen Mann zusammen. Erschrocken fuhr ich zurück, auch er trat einen Schritt rückwärts, und wir blieben ein paar Sekunden stumm voreinander stehen. Ich blickte ihn natürlich nicht an, aber gesehen hatte ich ihn doch; er war ein sehr gutaussehender Junge. So standen wir unschlüssig da, denn er wollte aus Höflichkeit nicht an mir vorbei, und ich getraute mich keinen Schritt zu machen. Selbstverständlich durften wir nicht miteinander sprechen, das gehörte sich nicht. Schließlich schlüpfte ich mit einem kleinen Knicks an ihm vorbei in die
Küche. Ich berichtete Bahiga von diesem Zwischenfall. »Das war mein Bruder Mahir«, sagte sie. Mehr sagte sie nicht. Ich schlich mich noch zweimal unter irgendeinem Vorwand in die Küche zurück, ohne jedoch Mahir zu begegnen. Das Fest ging zu Ende, ich trödelte noch herum und verabschiedete mich als letzte, zusammen mit Sakijja und Mademoiselle Hortense. Als unser Wagen aus dem Hof auf die Straße fuhr, kam ein Kadett der Militärakademie in Uniform daher. Ich erkannte ihn sogleich und fand ihn in seiner tadellos sitzenden schwarzen Uniform noch viel schöner. Er warf mir einen Blick zu, der mir nicht entging, und ich war überzeugt, daß er mich hatte wiedersehen wollen. Der Stolz, den ich deswegen empfand! Dann kamen die Ferien. Ich lud Bahiga zu uns ein und bemühte mich diskret, das Gespräch auf ihre Familie zu lenken. Sie lobte ihren Bruder in den höchsten Tönen, schilderte mir, wie gütig und aufmerksam er sie seit dem Tod der Mutter behandelte, rühmte sein Zartgefühl, seine Intelligenz, sein weiches Herz. »Weißt du«, sagte sie lächelnd, »Mahir hat neulich von dir gesprochen, er findet dich sehr hübsch. Er dachte, du wärest schon mindestens fünfzehn!« Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Hastig stand ich auf, und um meine Verlegenheit zu bemänteln, faßte ich Bahiga bei der Hand, um übermütig mit ihr durch den Garten zu laufen. Die Zeit verging. Ich war jetzt vierzehn Jahre alt und durfte nicht mehr unverschleiert ausgehen. Ich durfte auch nicht mehr den Salamlik meines Vaters oder seine Bibliothek betreten, ohne daß sich der Agha zuvor vergewissert hatte, daß kein Mann sich darin aufhielt. Doch die Bibliothek zog mich immer mehr in ihren
Bann, sowohl wegen der Bücher als auch wegen der Gespräche, die dort stattfanden. Ich konnte nur noch hinter einer Tür versteckt zuhören, aber manchmal machte ich sie einen Spaltbreit auf, um mehr mitzubekommen. Man stelle sich vor: Die Stimmen, die ich vernahm, waren die von Scheich Muhammad Ab-duh, der zu jener Zeit die AsharUniversität reformierte, der zum Großmufti ernannt wurde und dessen Ideen die ganze islamische Welt bewegten; diejenigen der Dichter Schauki und Ismail Sabri und noch eines damals noch sehr jungen Mannes, dessen klingendes Lachen mir so gefiel, des Prinzen Haidar Ali. Ich war sechzehn, als ich einmal einer besonders lebhaften Diskussion zuhörte. Leider konnte ich fast nichts verstehen und sie auch nur kurze Zeit verfolgen, denn ich mußte ständig befürchten, entdeckt und weggeschickt zu werden. Ich hörte eine leidenschaftliche Stimme die Ideen verteidigen, denen ich schon damals anhing; die Notwendigkeit, auch Frauen eine Ausbildung zu ermöglichen, ihnen die gleichen Rechte zu verleihen wie den Männern, sie vom Schleier zu befreien, die Ehegesetze zu ihren Gunsten abzuändern, nicht mehr zu gestatten, daß sie gegen ihren Willen verheiratet und ohne Grund verstoßen werden konnten. Wie gerne hätte ich das Gesicht des jungen Redners gesehen! Tags darauf, als ich mich ins Arbeitszimmer meines Vaters schlich, fiel mein Blick auf ein Buch in arabischer Sprache mit einem Titel, der wie ein Appell klang: Tachrir alMara, Die Befreiung der Frau. Ich wußte sofort und ohne jeden Zweifel, daß der Autor dieses Buches der junge Redner war, den ich am vorherigen Abend gehört hatte, Kassim Amin - ein Name, den ich nie vergessen sollte. Er hatte in das Buch eigenhändig eine Widmung für meinen Vater geschrieben, und darauf war ich so stolz, als hätte die Widmung mir
gegolten. Ich verschlang dieses Buch förmlich, erzählte am nächsten Tag meinen Schulkameradinnen davon; keine von ihnen kannte es, jede kaufte es. Es wurde zum Arsenal unserer Ideen, manche von uns lernten es auswendig. Aber meine Lektüre beschränkte sich nicht auf so schwierige Themen, und mein Vater hätte vielleicht besser daran getan, sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich verschlang zu dieser Zeit englische und französische Romane, alles, was mir in die Hände kam. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und bedauerte manchmal zutiefst, keine jener Heldinnen zu sein, die ganz nach Belieben mit einem jungen Mann unter Bäumen lustwandeln oder in strahlend erleuchteten Salons Quadrille und Walzer tanzen durften. Gerade in diesem schwierigen Alter, als ich die Mutter am dringendsten gebraucht hätte, mußte ich sie verlieren. Die sanfte Indsche hatte zwar stets nur gerade soviel Autorität mir gegenüber besessen, wie ihr meine Liebe zu ihr verlieh. Schon seit langem verließ sie ihr Zimmer nicht mehr. Sie hatte mich gerne bei sich. Was ich von ihrem zurückgezogenen Leben dachte, war nicht dazu angetan, mir solche Schicksalsergebenheit schmackhaft zu machen. Obwohl sie mir versicherte, sie sei glücklich gewesen, beneidete ich sie nicht um ein solches Glück, um gar keinen Preis hätte ich es für mich gewollt. Einen Monat nach meiner Mutter starb ganz unerwartet auch Gulistan, die erste Frau meines Vaters. Man fand sie eines Morgens, schon kalt und steif, in ihrem Bett. Als hätte in diesem Jahr der Todesengel über unserem Haus geschwebt, starb im folgenden Winter auch meine Großmutter. Kurz vor ihrem Tode versöhnte ich mich mit ihr, und da tat sie etwas, was mich tief berührte: Sie vertraute mir den Vater an und bat mich - ein Kind von noch nicht fünfzehn Jahren -, ich solle mich seiner annehmen, mich um sein Essen
und seine Kleider kümmern, etwas, was die alte Frau nie jemand anders hatte tun lassen. Dieses neue Amt übte ich in einer neuen Umgebung aus. Wir zogen fort aus dem alten Haus am Chalig. Der Entschluß, anderswo zu leben, war schon vor Jahren gefaßt worden. Man hatte den Kanal, der immer weniger Wasser führte, zugeschüttet; das Haus hätte kostspielige Reparaturen nötig gehabt; das Viertel war sehr belebt und lärmend geworden. Andererseits legte mein Vater, der nun Kammerherr am Hofe war, Wert darauf, näher beim KubbaPalast zu wohnen, der Residenz des Khediven Abbas Hilmi. So erwarb er im neuen Viertel Kubba, fast draußen auf dem Lande, ein großes Grundstück und ließ ein modernes, bequemes Haus bauen. Der weitläufige Park war immer noch zweigeteilt in einen Männer- und einen Frauengarten, und die Trennung zwischen Haramlik und Salamlik wurde aufrechterhalten. Zusammen mit den Möbeln aus dem alten Haus nahmen wir fast alle unsere Traditionen mit in das neue Haus. So angenehm dieses auch war, nie habe ich das alte vergessen, mit dem mich so viele Kindheitserinnerungen verbanden. Von allen Frauen meines Vaters war jetzt nur noch Nargis da, Tante Nargis, wie ich sie nannte. Sie war damals eine robuste, fröhliche, lebhafte Frau. Ich ließ mich von ihr ganz und gar nicht einschüchtern. Wir zankten uns oft und heftig, um uns gleich darauf wieder zu versöhnen, und diese Zusammenstöße taten der gegenseitigen Zuneigung keinen Abbruch. Was Mademoiselle Hortense betrifft, so hatte sie ihr Dasein ausschließlich zwei Wesen geweiht: ihrem Gott und mir. Wenn sie nicht gerade in der Kirche war oder in ihrem Zimmer betete, beschäftigte sie sich mit mir; ich konnte mit ihr machen, was ich wollte. So gab es nichts und niemanden, der
meinen Unabhängigkeitsdrang gezähmt hätte. Kurz vor dem Tode meiner Großmutter verheiratete sich Bahiga, oder besser gesagt, sie wurde mit einem reichen Kaufmann aus Alexandria verheiratet. Am Tage des Katb al-Kitab befand ich mich mit einer Schar weiblicher Verwandter im Zimmer der Braut. Die Frauen vollführten einen solchen Lärm, daß niemand die Zeugen kommen hörte, deren Aufgabe es war, Bahigas Zustimmung einzuholen. Sie hatten mehrmals in die Hände geklatscht, aber als die Tür aufging, waren die Frauen unverschleiert. Die erste, die die Neuankömmlinge erblickte, stieß einen Schrei aus, schlug die Hände vors Gesicht und stürzte davon; die übrigen warfen sich in einem grotesken Aufruhr den ersten besten Lappen über den Kopf oder versteckten sich hinter den Möbeln. Ich mußte es ebenso machen, begnügte mich aber damit, neben dem Bett, wo ich gerade stand, niederzukauern. Als ich die Augen hob, begegnete ich dem Blick eines jungen Mannes in der schwarzen Uniform der Militärkadetten, und ich erkannte ihn sogleich wieder: Mahir. Ich errötete vor Verlegenheit und Ärger, daß er mich in einer so lächerlichen Stellung überraschte. Hastig stand ich auf, aber Mahir und der andere Zeuge waren bereits verschwunden, um dem Kadi das Jawort der Braut zu überbringen. Das war meine zweite Begegnung mit Mahir; und sie versetzte mich für den Rest des Abends in eine miserable Laune. In dieser trüben Stimmung mußte ich mir Bahigas Kummer anhören. Unter Tränen vertraute sie mir an, daß sie der Heirat nur schweren Herzens zugestimmt hatte. Ihren Zukünftigen hatte sie selbstverständlich noch nie gesehen, ihr Bruder hatte ihn ihr nur sehr zurückhaltend und vage beschrieben; sie stellte sich vor, daß er alt und fett war, kahlköpfig, häßlich, garstig! Sie war überzeugt, daß der Vater
sie nur deshalb mit dem ersten besten verheiratet hatte, weil er sie loswerden wollte. »Aber warum hast du dann eingewilligt?« fragte ich. »Du hättest vor den Zeugen doch nein sagen können!« »Du kennst meinen Vater nicht«, seufzte sie. »Und dein Bruder, hätte er dir nicht beistehen können?« »Ihn hat man doch nicht gefragt, mein Vater hätte ihn geschlagen oder sogar auf der Stelle umgebracht, wenn er auch nur ein Wort gegen seine Entscheidung gesagt hätte.« Ich starrte sie einen Moment sprachlos an. Da lag sie in ihrem prächtigen Brautkleid aus schneeweißer Seide wie ein Häufchen Elend im Lehnsessel und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen ab. Ohne auch nur einen Versuch, sich zu wehren, nahm sie ihr Los auf sich, wie ihre Mutter vor ihr, wie alle Frauen Ägyptens vor ihr. Ich verspürte Lust, sie zu beschimpfen, und gleichzeitig ein unendliches Mitleid. Da ich ihr ja doch nicht helfen konnte, wozu ihren Kummer durch Vorwürfe noch verschlimmern? Aber ich schwor mir, niemals Bahigas Beispiel zu folgen. Ein Schauspiel fiel mir ein, das ich einige Jahre zuvor im Theater gesehen hatte. Ich war zusammen mit Mademoiselle in einer vergitterten Haremsloge gesessen, von wo aus man nur eine schlechte Sicht auf die Bühne hatte. Man gab eine arabische Adaptation von Romeo und Julia. Ich war damals zehn oder zwölf Jahre alt gewesen und von dem Stück nicht sehr beeindruckt. Aber an diesem Abend, erschüttert und erbittert über den Anblick Bahigas, dieser traurigen Marionette in der Hand ihres Vaters, schwor ich mir, daß ich mich lieber umbringen würde wie Julia, als daß ich mich auf Lebenszeit an einen ungeliebten Mann ketten ließ. Doch auch ich wäre, wie meine arme Freundin und gar nicht lange nach ihr, beinahe in die Falle gegangen.
III Die Falle
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Midhat
Seit dem Tod der Großmutter nahm mein Vater den Morgenkaffee in seiner Wohnung ein, und ich war es, die ihn bediente. Er stand um sieben Uhr auf, betete, machte Toilette, las einige Seiten im Koran, und Punkt acht Uhr betrat er einen kleinen Salon, wo bereits das Frühstück auf einem großen Silbertablett serviert war: Schälchen mit Marmelade, Kompott, Honig, Sahne, Käse. Ich war vor ihm da; ich goß ihm seinen Kaffee ein, und sobald er mich dazu aufforderte, nahm ich ihm gegenüber Platz und frühstückte mit ihm. Danach überflog mein Vater die Morgenzeitungen und einige der vielen Zeitschriften, die er abonniert hatte. Zuweilen stieß er auf Artikel oder Gedichte, die ihm gefielen; dann las er sie mir vor oder bat mich, sie vorzulesen. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er sich voller Begeisterung die von Bustani ins Arabische übersetzte Ilias anhört oder mir die Feinheiten der Lyrik von Jasgi erklärt. So erweiterte ich meine Literatur- und Geschichtskenntnisse, und mein Vater liebte es, mit mir Ideen auszutauschen und zu diskutieren. Wir verbrachten eine höchst angenehme Stunde miteinander und kamen uns von Tag zu Tag näher. Unvermittelt schaute mein Vater auf die Uhr, manchmal brach er mitten im Satz ab, um sich zu verabschieden, denn er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, pünktlich um neun Uhr mit der Arbeit zu beginnen. Ich räumte seine Kleider auf und sorgte dafür, daß man sein Zimmer in Ordnung brachte. Darauf legte Nargis großen Wert. »In der Schule«, pflegte sie zu sagen, »lernt man lesen und schreiben, aber einen Haushalt zu führen, das lernt man zu Hause.« Eines Morgens, während ich meinen gewohnten Beschäftigungen nachging, kam eine Dienerin, um mich zu
meiner Tante zu bitten. Ich wollte zuerst meine Arbeit erledigen, doch da holte mich die Chalfata Niamat, hieß mich ein neues Kleid anzuziehen, kämmte mein Haar, half mir in die Schuhe und führte mich, ohne ein Wort der Erklärung, zu meiner Tante. Ich fand sie in Gesellschaft einer beleibten Dame, die ich begrüßte und die mich die ganze Zeit, während ich starr und stumm vor ihr saß, von oben bis unten musterte, ohne ein Wort zu sagen. Man erklärte mir nichts, und ich verlangte keine Erklärung, doch ich war mit den Gepflogenheiten des Harems vertraut und begriff, daß ein Annäherungsmanöver im Hinblick auf eine Heirat im Gang war. Die Dame, die Sitt Chadiga gerufen wurde, war eine dieser Witwen, die ihren Lebensunterhalt als Heiratsvermittlerinnen verdienen. Sie betrachtete mich abwägend, zog mich mit dem Blick nackt aus, bewertete mich wie ein Pferdehändler eine Stute. Gewiß hatte sie bereits alles haargenau kalkuliert: das Vermögen meines Vaters und dasjenige des Heiratskandidaten, ihren Maklerlohn - zehn Prozent der Mitgift -, die Geschenke, die sie erhalten würde, die Möglichkeit, in unserem Hause Fuß zu fassen, um in den Genuß eines Goldstücks zu jedem Feiertag und einer Rente für ihre alten Tage zu kommen. Mit Tante Nargis konnte ich frei heraus reden, und so machte ich kein Hehl aus meiner Unzufriedenheit: »Für wen hältst du mich eigentlich, Tante? Glaubst du, ich ließe mich mit dem ersten besten verheiraten? Was soll dieses ganze Theater?« »Du wirst dich fügen wie alle anderen auch, Mädchen! Nur weil du zur Schule gegangen bist und eine Menge gelernt hast, glaubst du, mit unseren Traditionen brechen zu können! Ich bin für dich verantwortlich, und du wirst mir gehorchen, du Dickkopf, sonst sage ich es deinem Vater!« »Meinem Vater? Ich werde es ihm schon selbst sagen.
Ich bin überzeugt, daß er nicht daran denkt, mich zu verheiraten. Schließlich bin ich keine Sklavin, ich nicht!« Wir stritten uns heftig und versöhnten uns wie üblich unter Gelächter und Küssen. »Hör zu«, sagte sie, »man hat mir die besten Auskünfte über diesen jungen Mann gegeben, ich will noch genauere einholen, das verspreche ich dir, und auf irgendeine Weise werde ich mir sogar ein Bild von ihm beschaffen. Ich bin nämlich auch modern eingestellt, und ich will dich nicht verheiraten, um dich unglücklich zu machen. Aber als Gegenleistung mußt du dich zusammennehmen und nicht so widerborstig sein. Du mußt dich an die Formalitäten halten, auch wenn sie dir mißfallen. Bei deinem Vater willst du dich beklagen? Verlaß dich nicht auf seine europäischen Ansichten! Glaub mir, ich kenne ihn besser als du. Er hält große Stücke auf die Familientradition. Und abgesehen davon: Falls dir der junge Mann gefällt, wäre es denn so unangenehm, verheiratet zu sein, in deinem eigenen Haus zu befehlen, dich zu kleiden, wie es dir paßt, und auszugehen, wann es dir paßt? Laß mich nur machen! Wenn uns etwas nicht gefällt, kann ich die Verhandlungen immer noch abbrechen.« Ich war sechzehn Jahre alt, und sie hatte keine große Mühe, mich umzustimmen. Heiratspläne kommen nie ohne schöne Träume daher, gegen die kaum ein junges Mädchen gewappnet ist. Dennoch blieb ich auf der Hut. Das alte Mißtrauen! Nargis hatte mir das Versprechen abgenommen, meinem Vater nichts von der Sache zu sagen. Traditionsgemäß mußte ich tun, als hätte ich noch nichts von allem bemerkt. Aber ich war neugierig. Ich durchstöberte die Bibliothek nach Büchern über die Ehe, und dabei stieß ich auf Molieres Die Schule der Frauen, die ich gierig verschlang. Die Dummheit der Agnes fand ich lächerlich, die Maximen des Arnolphe empörend, und ich schwor mir, nur einen Mann zu heiraten,
der mir gefiel. Das Buch ließ ich absichtlich auf dem Diwan liegen. Aber mein Vater verlor kein Wort darüber. Tags darauf, gegen elf Uhr, rief man mich wieder in den Salon. Die Besucherin vom Vortag war in Begleitung von vier anderen Damen reiferen Alters gekommen. Schon auf der Schwelle spürte ich ihre Blicke auf mir; die Vermittlerin lächelte siegesgewiß. Ich hatte beschlossen, die Agnes zu spielen, und so trat ich schüchtern näher, um meiner Tante die Hand zu küssen und vor jeder Besucherin einen artigen Knicks zu machen; dann setzte ich mich kerzengerade auf meinen Sessel, mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, aber im stillen genoß ich die Überlegenheit, die mir diese kleine Komödie verlieh. Nargis wagte ich nicht anzublicken, sonst hätte ich womöglich laut herausgelacht. Eine Dienerin brachte ein mit Tassen und Kaffeekännchen beladenes Tablett. »Serviere uns den Kaffee, Ramsa.« »Gewiß, Tante.« Ich servierte den Kaffee, wie es sich für ein wohlerzogenes, gewandtes junges Mädchen gehört, und setzte mich wieder hin. »Du kannst jetzt gehen, Ramsa.« »Gewiß, Tante.« Abermals knickste ich vor den Damen, die mich diesmal mit einem gnädigen Lächeln belohnten. Hinter der Tür stieß ich auf die alte Chalfata Niamat. Ich packte sie bei den Schultern und wirbelte sie in einem lautlosen Tanz herum. Sie getraute sich nicht zu protestieren aus Sorge, man könnte uns hören, und im übrigen hatte sie mich gern, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Sie drohte mir mit der Faust, während ich davonlief; doch als ich fünf Minuten später wieder auf Zehenspitzen zurückgeschlichen kam, um die Damen beim Weggehen zu beobachten, ertappte ich Niamat
dabei, wie sie eine ganze Schachtel Streichhölzer entzündete und eine Handvoll Salz ins Feuer warf - ein bekanntes Ritual, um die Besucherinnen zum Wiederkommen zu bewegen. Lachend lief ich in die Küche, um drei weitere Schachteln Streichhölzer zu holen, und entfachte eine prächtige Flamme vor Niamat und meiner Tante, die sich vergebens bemühten, ernst zu bleiben. Acht Tage später steckte Nargis Mademoiselle Hortense eine Fotografie des Bewerbers zu, und diese zeigte sie mir. Das geschah in aller Heimlichkeit, denn eigentlich war es ja verboten. Ein schöner Mann war er, das stimmte! Er hatte einen gezwirbelten schwarzen Schnurrbart, wie es damals Mode war, und mochte etwa fünfunddreißig Jahre alt sein. Laut der Heiratsvermittlerin gehörte er einer einflußreichen Familie an, die sich mehrerer Minister rühmen konnte; er hieß Midhat, ein in Ägypten wenig geläufiger Name, der mir jedoch gut gefiel und den ich mehrmals vor mich hin murmelte. Midhat Safwat hatte einige Jahre in Paris studiert und war mit einem Ingenieurdiplom in der Tasche zurückgekehrt; es hieß, er werde mit dem Bau einer Brücke über den Nil von Gise nach Altkairo beauftragt, und - was mich vollends für ihn einnahm - er beabsichtige, große Reisen zu unternehmen, weshalb er ein gebildetes junges Mädchen suche, das ihn in den Orient, nach Europa, vielleicht sogar nach Amerika begleiten könne, ohne eine allzu schlechte Figur zu machen. Ich wollte alles mögliche wissen: Würde ich ein europäisch eingerichtetes Haus bekommen? Und einen Flügel? Liebte Midhat Musik? Und Kunst? Und Bücher? Schon versetzte ich mich in meine künftige Existenz. Und dann, eines schönen Morgens, geriet der ganze Harem in Aufregung. Man machte sich in den Küchen zu schaffen; die Chalfata und die Dienerinnen deckten den
großen Eßtisch; es war ein ständiges Kommen und Gehen. Ich fragte, was das alles zu bedeuten hatte, erhielt aber nur ausweichende Antworten. Jedermann verstummte, wenn ich in die Nähe kam, sogar Mademoiselle Hortense tat geheimnisvoll. Hinter einem Maschrabijja verborgen, beobachtete ich die Ankunft der Gäste. Ohne große Mühe erkannte ich unter ihren Schleiern die Besucherinnen von neulich inmitten einer Schar Frauen aller Größen und Breiten. Ich wußte, daß bei solchen Anlässen sämtliche Frauen des Harems mitkommen, um sich ihr Urteil über die künftige Schwiegertochter zu bilden. Am Essen durfte ich nicht teilnehmen, aber gegen vier Uhr ließ man mich in den Harem kommen. Tante Nargis umarmte mich und stellte mich einer Hanum vor, einer kleinen, mageren, jedoch würdevollen Dame, die sich erhob, mir eine Diamantbrosche an die Brust heftete und mich küßte, indes alle um mich herumstanden und mich beglückwünschten. Die Falle war zugeschnappt! Die Brosche symbolisierte das Band, das mich fortan an diese Dame, die Mutter Midhats, fesseln sollte. Ich war empört über dieses Vorgehen und dennoch erfreut über die Diamanten, denn sie waren wirklich prachtvoll. Man hatte begonnen, mich zu kaufen. Und allen schönen Prinzipien zum Trotz tat ich, was damals in der gegebenen Situation alle jungen Mädchen taten: Ich begann, meine Aussteuer vorzubereiten. Mademoiselle Hortense kaufte eine Singer-Nähmaschine, und unter ihrer Anleitung bestickte ich Handtücher, Deckchen, Bettlaken, Bonbonsäckchen und weiß der Himmel was sonst noch. Während wir arbeiteten, stellten wir natürlich allerlei Spekulationen über meinen Verlobten an und schmiedeten Pläne. Eines Tages kam Mademoiselle Hortense ganz aufgeregt von einem Spaziergang mit Nargis zurück. Sie hatte
Midhat gesehen und gab mir nun eine höchst schmeichelhafte Beschreibung von ihm: Er war groß und hatte kastanienbraunes Haar und blaue Augen. Er hatte sie angesprochen, sich nach meiner Person und meinen Interessen erkundigt; er hätte mich liebend gerne einmal gesehen, wußte aber, daß bis zum Tage des Katb al-Kitab selbstverständlich nicht daran zu denken war; er hatte sich vorgenommen, mir danach den Hof zu machen »genau wie die Franzosen« - das waren seine eigenen Worte -, was laut Mademoiselle bedeutete, daß wir gemeinsam Tee trinken würden, natürlich nicht allein, sondern unter den Augen einer Anstandsdame, Mademoiselle zum Beispiel. Das war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Mademoiselle Hortense berichtete mir überdies, Midhat werde am folgenden Tag um drei Uhr meinen Vater besuchen, und er werde eine Rose im Knopfloch tragen. Tatsächlich erhaschte ich durch die Öffnungen des Masch-rabijja hindurch einen Blick auf den Mann, der, so Gott es denn wollte, mein Ehemann sein würde. Bis auf wenige Kleinigkeiten stimmte die Beschreibung, die Mademoiselle Hortense mir von ihm gegeben hatte. Ich hatte angenommen, mein Vater würde sich angesichts seiner westlichen Bildung und seiner liberalen Ansichten nicht an die althergebrachten Sitten halten und die Ehe, die er für mich plante, mit mir besprechen. Das war ein Irrtum, und ich mußte einsehen, daß Nargis recht gehabt hatte, als sie mir versicherte, er würde dieses Thema mit keinem Wort erwähnen. Nur indirekt, über Nargis, erfuhr ich von seinem Wunsch, daß Midhat und ich in der Nähe wohnen sollten und daß mein Vater die Heirat nicht beschleunigen würde. Ich selbst hatte gar keine Eile. Je weiter sich die Zeremonie hinauszögerte, desto mehr Feste gab es in der
Zwischenzeit und desto zahlreicher würden die Geschenke ausfallen. Ich wurde reich beschenkt; die Familie meines Verlobten scheute keine Kosten. Zu jener Zeit wurden in Kairo viele neue Kaufhäuser eröffnet, und ich weiß noch gut, wie entzückt ich war über ein rotes Seidenkleid von Pascal, eine sportliche Jacke vom »De Rouge« und ein Sonnenschirmchen aus feinem weißem Leinen mit lila Futter und Volants aus dem Geschäft von Omar Effendi. Diese Kaufhäuser waren mir nur von meinen seltenen Ausflügen in die Stadt bekannt; ich war im Wagen daran vorbeigefahren, hatte jedoch keines von ihnen jemals betreten, ebensowenig wie die anderen Damen oder jungen Mädchen der damaligen besseren Gesellschaft. Die Verkäuferinnen brachten eine Auswahl der bestellten Waren ins Haus. Im Lauf jenes Jahres defilierte ein ganzes Heer von ihnen bei uns vorbei, fast jeden Tag; meine Ausstattung erforderte dies. Aus purer Gefälligkeit und ganz im Widerspruch zu allen Konventionen konsultierte mich der Vater im Zusammenhang mit den Anschaffungen. Natürlich geschah das nie direkt; ich fand, rein »zufällig«, diesen oder jenen Katalog herumliegen, in dem ich ankreuzte, was mir gefiel. Es machte mir Spaß, den Mattenmachern bei der Arbeit auf der Terrasse zuzusehen. Eine Braut aus gutem Hause durfte nicht weniger als fünfzig Schlafmatten in die Ehe mitbringen. Dazu waren ebenso viele Decken erforderlich, etwa ein Dutzend davon aus Seide, mit Goldfäden bestickt, und die übrigen aus Baumwollsatin oder Perkai in Pastellfarben. Ich hatte die Stoffe auswählen dürfen, ebenso die Laken, die Tafelwäsche und die Leibwäsche, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die es zwischen Nargis und mir gab. Wir hatten nicht denselben Geschmack, aber denselben Dickschädel, und so zankten wir uns tagelang herum. Aber wir liebten uns und einigten uns zum Schluß immer - das
heißt, sie gab immer nach. Je näher der Tag des Katb al-Kitab rückte, desto fieberhafter wurde die Geschäftigkeit im Harem. Die Hochzeitskleider mußten ausgesucht werden. Es war so Brauch, daß die Braut mit dieser Sache nichts zu tun hatte, sondern sie ganz ihrer weiblichen Verwandtschaft überließ. Ich schickte jedoch Ma-demoiselle als Kundschafterin aus und erfuhr, daß meine Kleider der besten Schneiderin von ganz Kairo anvertraut worden waren, einer Pariserin, die der Kaufmann Mohardi eigens hatte kommen lassen. Selbstverständlich wurde auch der Brautkranz mit Orangenblüten nach französischer Mode nicht vergessen. Unter all diesen Vorbereitungen verstrich der Monat Muharram. An einem strahlenden Vormittag im März saßen Mademoiselle Hortense und ich auf dem Balkon der Kaa und stickten an einem Tischtuch. Wir plauderten und warfen von Zeit zu Zeit einen Blick in den Hof hinunter. Auf einmal bemerkten wir überrascht, daß sämtliche Dienstboten, alle im Festtagsstaat mit Kaschmirschals auf den Schultern, sich dort versammelten. Auf Befehl des Aghas bildeten sie ein Spalier. Die beiden Flügel des großen Tores gingen auf, und ein Leiterwagen tauchte auf; das Zaumzeug des Pferdes war mit Blumen geschmückt, Blumen bedeckten den Wagenboden, und auf diesen Blumen lagen drei riesige Fische, jeder wohl gut meterlang. Aus allen Winkeln des Hauses drang das schrille Geschrei der Frauen, und ich sah, wie sich eine Hand aus einem Fenster streckte, Nargis' Hand, welche Silbermünzen in den Hof hinabwarf. Ein zweiter Leiterwagen kam durch das Tor gefahren, genauso geschmückt und beladen wie der erste, dann noch einer und noch einer. Schließlich waren es zehn, die sich in Reih und Glied im Hof aufstellten.
Wir eilten zu Nargis. »Woher kommen all diese Fische?« »Das ist das erste deiner Hochzeitsgeschenke, Töchterchen!« »Das erste! Wie viele kommen denn noch? Sollen wir für den Rest unseres Lebens mittags und abends Fisch essen?« »Die beiden anderen werden aus Obst bestehen. So ist es eben Brauch.« Schon drang aus der Küche des Harems der Duft von siedendem Öl, Zwiebeln und Knoblauch. Es gab Fisch in Hülle und Fülle für das ganze Haus und für alle Frauen des Viertels. Die Dienerinnen brachten sämtlichen Freundinnen der Familie welchen, sogar den »Verwandten« meiner Großmutter, die noch im Harem des Khediven lebten. Für die Dienerinnen lohnte sich das, denn jedesmal gab man ihnen die Platten mit Süßigkeiten beladen zurück, und überdies erhielt jede ein Goldstück. Da ich die erste Tochter des Hauses war, die verheiratet wurde, galten die Gräten dieser Fische als Glücksbringer und wurden von den Müttern heiratsfähiger Mädchen sorgfältig aufbewahrt. Nargis, Mademoiselle Hortense und mir bereitete das alles großes Vergnügen. Dann kamen die Geschenkwagen mit den Früchten an, die mit demselben Zeremoniell empfangen wurden. In den mit goldenen Bändern und Blumen geschmückten Körben lagen Orangen aus Jaffa oder Erdbeeren aus Gasira, sogar Kirschen, die noch keine von uns je gegessen hatte und die wir alle kosten wollten, wobei wir uns Finger und Wangen mit rotem Saft bekleckerten. Wieviel Scherze, wieviel Gelächter gab es an jenem Morgen! Im Haus roch es immer noch nach gebackenem Fisch, und in den Kompottschüsseln schwammen die letzten
Kirschen, als mein Vater im Wagen anlangte und hastig die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, nachdem er nur kurz bei uns hereingeschaut hatte. Er schien in Sorge zu sein. Der Agha Mabruk kam, um Nargis zu holen. Kurz darauf bestieg Nargis, ohne sich von uns verabschiedet zu haben, zusammen mit der Chalfata und dem Agha einen Wagen und fuhr davon. Mademoiselle Hortense und ich wunderten uns sehr darüber und verloren uns in Spekulationen über das, was geschehen sein mochte. Ohne Nargis wollten uns der Fisch und die Kirschen nicht mehr so recht schmecken. Die Fröhlichkeit war wie weggeblasen; wir verbrachten den Nachmittag damit, ziellos durchs Haus zu streifen. Ich warf einen Blick in die Wohnung meines Vaters, aber er war wieder ausgegangen und kam nicht zum Abendessen zurück, auch Nargis, Niamat und der Agha nicht. Am folgenden Morgen brachte ich dem Vater den Kaffee, aber trotz meiner brennenden Neugier getraute ich mich nicht, ihn etwas zu fragen. Als er aus dem Haus war und wir in bedrückendem Schweigen zu Mittag gegessen hatten, betrat ich Nargis' Zimmer und fand zu meiner Überraschung die Chalfata, die aus einem Schrank den schwarzen Jaschmak und das graue Kleid hervorholte, welche Nargis während der Trauer um meine Großmutter getragen hatte. »Niamat! Was ist denn los? Ist jemand gestorben?« Anstatt zu antworten, nahm sie mich in die Arme und drückte mich stöhnend an sich. »Um Gottes willen, Niamat, sag mir doch, wer gestorben ist. Wir haben ja keine nahen Verwandten! Wo sind Nargis und der Vater?« Schließlich erfuhr ich, was sie mir hatte verheimlichen wollen: Midhat, mein Verlobter, war tot. Es war ein furchtbarer Schock für mich. Ohne ihn wirklich geliebt zu haben, denn ich kannte ihn ja gar nicht, hatte ich mich an den
Gedanken gewöhnt, sein Leben zu teilen, und sein Tod brachte all meine Zukunftspläne durcheinander. Ich brach in Tränen aus. Die Chalfata konnte, nachdem sie einmal zu reden begonnen hatte, gar nicht mehr aufhören und erzählte mir, warum Midhat so unerwartet und so jung gestorben war. Er hatte plötzlich heftige Leibschmerzen bekommen, die weder mit Kräuteraufgüssen noch mit Umschlägen zu lindern waren. Sein Zustand hatte sich rasant verschlechtert; die Ärzte hatten eine Blinddarmentzündung diagnostiziert und eine Operation versucht, die aber mißlungen war. Erst drei Tage später schickte der Vater nach Mademoiselle, um ihr den Tod meines Verlobten mitzuteilen und sie zu bitten, meine Aussteuer in Truhen verstauen zu lassen. Sie berichtete mir, mein Vater befinde sich wegen mir in einer schwierigen Lage, denn ich würde, obgleich nie verheiratet, nun als Witwe betrachtet und durfte erst frühestens nach einem Jahr wieder an eine Ehe denken. »Mir ist es doch egal«, sagte ich, »wenn ich noch nicht heirate, mir eilt es damit überhaupt nicht, aber daß ich mich jetzt wie eine Witwe verhalten soll, ohne jemals verheiratet gewesen zu sein - nie im Leben!« Ich war außer mir. Gleichzeitig empfand ich, trotz aufrichtigem Kummer über den Tod des Menschen, der mein Ehemann hätte werden sollen, ein Gefühl der Befreiung. Ich hatte mich in dieses Unternehmen verwickeln lassen und mir eingeredet, daß ich darüber glücklich sei. Ich hatte gegen meine eigenen Prinzipien verstoßen, gegen meinen Stolz, und mir gesagt, daß es ja schließlich nicht darauf ankäme, auf welche Weise man Ehefrau wurde; daß ein aufgezwungener Ehemann vielleicht nicht schlechter sei als ein frei gewählter. Und doch hatte sich die ganze Zeit über etwas in mir dagegen gesträubt, das wurde mir erst jetzt klar. Ich gab mich einer bitteren Freude hin, der Freude eines
Tieres, das aus der Falle entkommen ist und die Weite vor sich sieht, und ich konnte wegen dieser wilden, vielleicht verabscheuungswürdigen Freude keine Gewissensbisse empfinden. Nargis kehrte erst nach einer Woche zurück. Sie trug Trauerkleidung, ein graues Kleid und einen schmucklosen schwarzen Jaschmak. Mich ärgerte, daß sie mich bemitleidete, über mein hartes Los jammerte und die Vorzüge des verlorenen Gatten pries. Ich mußte mir die ganze Geschichte von Mid-hats Tod und der Trauerfeier anhören. Keine Einzelheit blieb mir erspart. Ich erfuhr, seine Mutter habe ihm eigenhändig das Hochzeitsgewand angezogen und ein Festmahl wie für eine Hochzeit zubereiten lassen, mit allen Gerichten, die zu einem Hochzeitsmahl gehören: gebratene Lämmer, Truthähne, Tauben. Nargis konnte ein Kichern nicht unterdrücken, als sie mir erzählte, wie köstlich die glasierten Blätterteigkrapfen geschmeckt hätten und das Mandelgebäck, daß sie aber nur ganz wenig davon zu nehmen gewagt habe, damit niemand an ihrem Kummer zweifeln sollte. Die Verwandten dagegen, die aus Alexandria und dem Fajjum gekommen waren, hatten sich ungeniert die Taschen vollgestopft. Ich brachte kein Wort heraus. Eine dumpfe Wut erstickte jedes Mitleid in mir. Ich sah nur noch die Obszönität dieses scheußlichen Schlemmermahls zu Ehren eines Leichnams. Aber als Nargis mir den Toten schilderte, von Blumen bedeckt, von flackernden Kerzen umrahmt, von seinen Freunden bewacht, als sie mir erzählte, wie die Mutter von Zeit zu Zeit ein Fläschchen Kölnischwasser oder Parfüm über ihn gesprengt hatte, brach es aus mir heraus: »Hör auf! Hör bloß auf! Ihr habt Midhat mit dem Tode vermählt, mich kümmert das nicht, ich bin nicht eifersüchtig
auf den Tod!« Und ich riß meinen Kleiderschrank auf, wühlte in meiner Truhe herum, warf Nargis den Verlobungsschmuck, den ich bekommen hatte, vor die Füße und schrie: »Da, nimm! Bring es doch Midhat für seine neue Gattin, ich will es nicht mehr! Ich bin frei, frei, frei!« Tränenüberströmt warf ich mich aufs Bett. Nargis, Mademoiselle, die Chalfata und alle anderen Frauen, die ob dem Lärm herbeigeeilt kamen, blickten mich erschrocken an und bemitleideten mich. »Die arme Kleine! Wie sie leidet! Wer hätte nur gedacht, daß sie ihren Bräutigam schon so innig liebte!« Ich sprang auf und stürzte mich wie eine Furie auf sie, schlug auf sie ein, jagte sie aus dem Zimmer und verriegelte die Tür. An diesem Abend schmiedete ich die verrücktesten Pläne. Ich wollte meine Familie verlassen, irgendwohin ins Ausland fliehen, um dort mein Brot zu verdienen, egal, wie, aber in Freiheit, weit weg vom Harem, von all den Zwängen, von dem ganzen Schmierentheater. Aber ich lief doch nicht weg. Der Moment, da ich von zu Hause fliehen würde, war noch nicht gekommen. Am nächsten Morgen servierte ich meinem Vater den Kaffee wie gewohnt; ich sagte ihm nichts von meinem Wutausbruch am Abend zuvor. Niemals war zwischen ihm und mir von Midhat Safwat, meinem Verlobten, die Rede; man hätte glauben können, er hätte nie existiert. Es dauerte nicht lange, bis ich ihn vergessen hatte.
2
Mahir
In jenem Winter verreiste mein Vater für einige Wochen, und ich konnte über seine Bibliothek verfügen. Freizeit hatte ich reichlich, und so verbrachte ich ganze Abende dort. Niemand außer Mademoiselle Hortense durfte mir Gesellschaft leisten, und auch sie nur unter der Bedingung, daß sie mich nicht störte. Ich dagegen hatte keine Skrupel, sie mit meinen Zitaten oder Kommentaren beim Lesen zu stören. Arme Mademoiselle! Sie war damals krank. Nie jedoch beklagte sie sich, nie schlug sie mir eine Bitte ab, und je sanfter und nachgiebiger sie war, desto ärger tyrannisierte ich sie. Dabei hatte ich sie doch wirklich gern! Der Vater kehrte zurück. Er hatte den Khediven Abbas auf eine längere Reise nach Assuan begleitet, zur festlichen Einweihung des Staudammes, und dann in den Sudan, nach Khar-tum. Er brachte zahlreiche Anekdoten mit, die er in seinem Tagebuch festgehalten hatte, und eine ganze Sammlung von Fotografien. Fotografieren war damals seine Leidenschaft. Eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück erzählte er mir von seiner Reise. Er zeigte mir die Bilder, und auf einem davon erkannte ich Mahir, Bahigas Bruder, in Offiziersuniform. Ich errötete, ohne zu wissen, warum, während mein Vater, der nichts bemerkt hatte, mit seinem Bericht fortfuhr. Mahir! Seit der Hochzeit seiner Schwester hatte ich ihn nicht wiedergesehen; ich hatte kaum je an ihn gedacht, und nun tauchte unerwartet sein Gesicht vor mir auf. Als brächte ihn das Schicksal plötzlich in mein Leben zurück, kam am Nachmittag desselben Tages Bahiga zu Besuch. Es war nicht ihr erster Besuch, seitdem sie in Alexandria lebte; manchmal verbrachte sie sogar mehrere
Tage bei uns. Mein Vater mochte sie, weil sie still und wohlerzogen war, auch Nargis und Mademoiselle hatten sie gern, und so war sie bei uns stets willkommen. Sie brachte Leben ins Haus. Wir veranstalteten Konzerte, bei denen auch mein Vater gerne zuhörte; Bahiga spielte Ud, Mademoiselle Geige, ich Klavier. Neben dem Vergnügen von Bahigas Gesellschaft brachten mir ihre Besuche auch den Vorteil, daß ich mich mit ihr freier bewegen konnte als mit Mademoiselle, denn sie war ja eine verheiratete Frau; wir fuhren nach Gasira, nach Schubra und sogar ins Theater. Diesmal hatte Bahiga etwas Besonderes vor: Sie wollte zu einer Militärparade. Ich machte mich über sie lustig. »Aber mein Bruder Mahir wird auch dabeisein, das hat er mir geschrieben.« Ich bekam Herzklopfen. »Er ist jetzt bei der Leibgarde des Khediven. Willst du nicht mitkommen und ihn bei der Parade sehen? Erinnerst du dich überhaupt an ihn?« fuhr sie fort, als ich keine Antwort gab. »Du hast ihn doch vor jahren einmal in unserem Haus getroffen, und an meiner Hochzeit war er auch.« Und ob ich mich an ihn erinnerte! Ich erinnerte mich sehr genau an den jungen Kadetten, seine schlanke Gestalt in der schwarzen Uniform, seinen kleinen dunklen Schnurrbart, seinen kühnen Blick. »Wußtest du«, sagte Bahiga, »daß er auf dieser Reise in den Sudan mehrmals dem Bey, deinem Vater, begegnet ist? Das steht ebenfalls in seinem Brief. Er findet, daß du ihm ähnlich siehst, und er schreibt: ›Hat Ramsa immer noch so schöne blaue Augen ?‹« Ich wurde ganz rot, und um meine Verlegenheit zu bemänteln, zuckte ich die Achseln und sagte mit einem
gezwungenen Lachen: »Wie kann er sich an meine Augenfarbe erinnern? Er hat mich doch nur einen kurzen Moment gesehen, und das ist schon eine Ewigkeit her.« »Du siehst doch, daß er es nicht vergessen hat! Gut, wenn du nicht mitkommen willst, gehe ich eben allein. Die Wohnung meiner Kusine Nafissa geht auf den Abdin-Platz hinaus, von ihrem Balkon aus haben wir eine Sicht wie aus einer Theaterloge.« Schon um acht Uhr früh fuhren wir im Wagen in die Stadt, Bahiga und ich, Mademoiselle Hortense und der Agha. Wir verbrachten den Vormittag auf dem Balkon, der sehr geräumig und auf allen Seiten mit Maschrabijjas versehen war, durch die wir alles sehen konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Ständig stieß die eine oder andere die Läden hoch, um eine bessere Sicht zu haben auf den Platz, die herbeiströmende Menge, die Polizisten, die sie zurückhielten, die Kaffeehausbesitzer, die Stühle und Tische vermieteten, die Fenster und Terrassen, die sich allmählich mit Zuschauern füllten. Neben einer Tribüne, die man vor dem Palast errichtet hatte, spielte eine Militärkapelle. Die Truppen formierten sich, eine nach der anderen; Bahiga und ich glaubten jedesmal, es wäre die Garde, aber Nafissa, Tochter eines Offiziers, kannte die einzelnen Uniformen genau und klärte uns auf. Ich war enttäuscht, Mahir immer noch nicht entdeckt zu haben. »Er ist bei der berittenen Garde«, versicherte Bahiga. Am anderen Ende des Platzes ging jetzt die Kavallerie in Stellung, gegenüber der Artillerie und den Meharisten vom Grenzkorps auf ihren Reitkamelen. Wir bemühten uns, unter den Offizieren einen auszumachen, der wie Mahir aussah. Sitt Nafissa gab uns ein Opernglas und erklärte, das sei nicht die Garde.
Gegen elf Uhr, als sich die Tribüne mit Ehrengästen in Gala zu füllen begann, stellten sich verschiedene Gruppen in allen möglichen bunten Uniformen längs der Abschrankung auf. »Ist das jetzt die Garde?« wollten wir wissen. »Aber nein«, erwiderte Nafissa. »Ihr seht doch, es sind lauter Offiziere, nämlich die, deren Truppen nicht an der Parade teilnehmen. Sie haben sich nach Ranghöhe aufgestellt, nicht nach Waffengattung. Die von der Garde tragen eine blaue Hose mit weißem Streifen und eine goldene Schärpe.« Ich musterte diese Gruppe durchs Opernglas und reichte es dann Bahiga, die ihren Bruder auch nicht darin entdecken konnte. Jetzt stimmte die Kapelle die Khedivenhymne an, Kanonenschüsse donnerten, Kommandorufe erschallten, blanke Waffen funkelten in der Sonne, und vom Palasthof her näherte sich im Galopp eine Reitertruppe; prächtige Schimmel, weiße Waffenröcke, hocherhobene Lanzen mit flatternden Standarten: die Garde! Schon waren die Reiter vor unserem Balkon angelangt. »Da, der Khedive«, sagte Nafissa. Ich glaube, den Khediven sah ich gar nicht. Ich sah nur den jungen Offizier, der die zweite Schwadron anführte, kerzengerade hielt er sich im Sattel, über der Brust die goldene Schärpe, die schmale Taille eingezwängt in den weißen Dolman und den goldenen Gürtel; die goldenen Epauletten; eine Hand hielt die Zügel kurz und straff, die andere hob den Säbel, der in der Sonne wie eine Flamme aufzüngelte. Zwischen dem Weiß des Kragens und dem Scharlachrot des Tarbusch erkannte ich das sonnengebräunte Gesicht Mahirs. Um mich herum ertönten aufgeregte Rufe: »Da ist er!«
»Wer, der Khedive?« »Mahir!« »Was für ein schöner Mann, dein Bruder, Bahiga! Glücklich das junge Mädchen, das er zur Frau nehmen wird!« »Da!« sagte Bahiga und reichte mir das Opernglas. »Schau, der gleich hinter dem Khediven, das ist er!« Ich fühlte einen Stich, als ich plötzlich, ganz nahe vor mir, den Kreis des Opernglases ausfüllend, das Gesicht erblickte, dessen Züge ich nicht vergessen hatte: die hohen Backenknochen, die vollen Lippen, die gebogene Nase, den feinen glatten Schnurrbart und unter den dichten Brauen den funkelnden und doch samtweichen Blick, der mich schon damals fasziniert hatte. Rasch war er vorübergeritten. Ich gab das Opernglas an irgend jemanden weiter. Der Khedive interessierte mich nicht. Nafissa hatte gesagt, die Gardisten würden ebenfalls an der Parade teilnehmen, und auf sie wartete ich jetzt. Und tatsächlich ritten sie noch zweimal vorbei, an der Spitze der Kavallerieschwadronen, in einer Richtung im Trab, in der anderen im Galopp; sie salutierten mit gezücktem Säbel oder erhobener Lanze den auf der Tribüne stehenden Khediven, und beide Male sahen meine Augen und mein Herz nur den schönen Offizier, der mit seinem Pferd verwachsen schien wie ein stolzer Kentaur. Als alle Truppenteile vorbeidefiliert und auch die letzten Infanteristen verschwunden waren, verließen wir den Balkon. Aber wir fuhren noch nicht nach Hause; Nafissa lud uns zum Mittagessen ein. Die Konversation drehte sich um Mahir, den seine Familie schon im Generalsrang sah, und um das abenteuerliche und glorreiche Leben der Militärs. Sitt Nafissa war in Khartum zur Welt gekommen, wo ihr Vater stationiert war. Die Jahre im Sudan, vor dem Mahdi-Aufstand, hatten ihre Kindheit und Jugend geprägt. Auch Mademoiselle
Hortense beteiligte sich lebhaft am Gespräch. In ihrer Familie gab es zahlreiche hohe Offiziere, die ihr von allerlei Heldentaten berichtet hatten, und nach ihrer Meinung gab es nur zwei Gebiete, auf denen ein Mann ehrenvoll Karriere machen konnte: die Diplomatie und die Armee. Wie hätte mir all das nicht den Kopf verdreht? Ich nahm die Vision des Gardeleutnants auf seinem tänzelnden Schimmel mit nach Hause, dachte den ganzen Tag an ihn, träumte die ganze Nacht von ihm. Ich gehörte nicht zu jenen, die der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen: Ich war verliebt. Wer weiß, wenn ich Mahir nicht wiedergesehen hätte, dann hätte ich ihn vielleicht bald vergessen. Doch es stand geschrieben, daß ich ihm schon drei Tage später wiederbegegnen und mit ihm sprechen sollte. Es gibt Momente, in denen das Schicksal die Ereignisse auf wundersame Weise zu verknüpfen scheint. Auch eine noch so gewitzte Kupplerin hätte es nicht besser vermocht. Seit einiger Zeit schon interessierte sich mein Vater für Ägyptologie. Er verkehrte mit Monsieur Maspero, dem Direktor des Antikenmuseums; auf seinem Schreibtisch fand ich französische Bücher und Zeitschriften über die Geschichte der Pharaonen. Das lieferte uns Gesprächsstoff bei unserem gemeinsamen Frühstück. Auf seiner Reise mit dem Khediven nach Oberägypten hatte er Luxor besucht. Von dort hatte er nicht nur Stöße von Fotografien mitgebracht, sondern auch zahlreiche Skulpturen und Skarabäen; am liebsten hätte er wohl eine Mumie erstanden, wenn er eine gefunden hätte. Zwei Tage nach der Militärparade berichtete er angeregt von seinem Besuch im Museum, das Monsieur Maspero vor kurzem in einem ganz neuen Gebäudekomplex in Kasr an-Nil eingerichtet hatte. »Das mußt du unbedingt sehen, Ramsa«, sagte er
immer wieder. »Ein kultiviertes junges Mädchen muß diese wunderschönen Dinge einfach gesehen haben! Unsere Ahnen hatten eine immens hohe Kultur.« »Aber ich habe diese Ausstellung doch schon gesehen, als sie sich noch in Gise befand; wir sind mit der Schule hingegangen.« »In Gise ist die Ausstellung überhaupt nicht zur Geltung gekommen! Du mußt sie dir jetzt anschauen. Wann möchtest du hin?« Ich hatte, ehrlich gesagt, überhaupt keine Lust dazu. Wie den meisten ägyptischen Mädchen meiner Zeit war mir die vom Vater gepriesene hohe Kultur unserer Ahnen ziemlich gleichgültig. Die von der Schule organisierten Museumsbesuche hatten wir vor allem als willkommene Möglichkeiten zu einem Ausflug betrachtet. Von Gise war mir nur ein schöner orientalischer Palast in einem prächtigen Park im Gedächtnis geblieben. Einen viel größeren Eindruck hatte auf mich ein Besuch in Bulak gemacht, wo sich vorher, am Nilufer, das Antikenmuseum befand. Damals war ich noch ein Kind gewesen. Meine Großmutter und Gulistan, begleitet von einer ganzen Schar Dienerinnen, hatten mich mitgenommen. Ich erinnere mich noch an zwei weiße Sphingen, die einander gegenüber unter den Bäumen lagen wie zwei Katzen, und an eine dritte, größere Sphinx aus rotem Stein, die ich lange mit offenem Mund angestarrt hatte. Meiner Großmutter war es natürlich nicht um Altertümer gegangen. Ich hatte einen fiebrigen Ausschlag, und man hatte mich dorthin gebracht, damit ich die Skarabäen berühre, von denen es hieß, daß sie alle möglichen Krankheiten heilten. So wich ich dem Vorschlag meines Vaters aus und gab vor, im Haus viel zu tun zu haben.
»Später einmal«, sagte ich, »es eilt ja nicht, das Museum läuft uns nicht davon.« Aber kaum eine Stunde später wartete ich zappelnd vor Ungeduld auf Vaters Rückkehr. Jetzt wollte ich auf einmal unbedingt ins Museum und mußte auf der Stelle seine Erlaubnis dazu haben. Bahiga hatte mich nämlich besucht. »Ich komme, um mich zu verabschieden!« rief sie, als sie unerwartet mein Zimmer betrat. »Morgen nachmittag reise ich nach Alexandria zurück.« Wir nahmen nicht auf lange Zeit voneinander Abschied; ich sollte den Sommer in Alexandria verbringen, wohin mein Vater in seiner neuen Funktion als Kammerherr dem Hofe folgen würde. Bahiga und ich plauderten über das und jenes, und als ich sie hinausbegleitete, erwähnte sie nebenbei, daß sie sich am nächsten Morgen noch das Museum anschauen wolle. »So, hat der Antikenfimmel also auch dich gepackt«, bemerkte ich. »Ich wollte es dir erst gar nicht sagen, weil ich wußte, daß du mich auslachen würdest.« »Ich dich auslachen! Ganz im Gegenteil, ich finde es gut, daß du etwas für deine Bildung tust.« »Was hab ich gesagt? Du machst dich nur über mich lustig«, sagte Bahiga achselzuckend. »Aber ich bin gar nicht so erpicht darauf, ich gehe nur wegen meiner Schwiegermutter hin. Ich hab ihr versprechen müssen, mir eine Mumie anzuschauen. Anscheinend ist das ein Wundermittel gegen Unfruchtbarkeit. Man macht mir dauernd Vorwürfe, weil ich nach vier Ehejahren noch kein Kind habe.« »Und du glaubst daran, ausgerechnet du?« »Wenn ich es ihr doch versprochen habe! Mahir wird
mich begleiten.« Bei der Erwähnung dieses Namens wallte es heiß in mir auf, und ich sah nur noch eine Gelegenheit, Mahir zu begegnen. »Hör zu«, sagte ich, »ich könnte dir behilflich sein. Mein Vater kennt den Museumsdirektor, ich werde ihn um eine persönliche Empfehlung bitten. Und wenn ich es mir überlege ... eigentlich könnte ich mitkommen. Es wäre doch eine gute Gelegenheit, Ramses in seinem neuen Heim zu besuchen.« Ich gab mir alle Mühe, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, aber mein Herz klopfte zum Zerspringen. Du Heuchlerin, sagte ich zu mir selbst, als ob du nur wegen Ramses ins Museum wolltest! »Du scheinst neuerdings deine Meinungen rasch zu wechseln«, bemerkte mein Vater, als ich abends meine Bitte vorbrachte. »Heute früh hattest du es nicht halb so eilig. Morgen bin ich beschäftigt, aber übermorgen könnten wir gemeinsam hingehen, das gibt mir auch Zeit, um Monsieur Maspero rechtzeitig zu benachrichtigen.« Ich mußte ihm erklären, daß ich Bahiga diesen Besuch fest versprochen hatte und daß er unmöglich aufgeschoben werden könne. Er erklärte sich schließlich bereit, dem Direktor einen Brief zu schreiben, der noch am selben Abend überbracht werden sollte. In dieser Nacht tat ich kaum ein Auge zu, und obwohl der Besuch erst für zehn Uhr festgelegt war, stand ich schon in aller Frühe auf und durchwühlte sämtliche Kleiderschränke nach etwas Passendem zum Anziehen. Punkt acht Uhr war ich bereit und brachte meinem Vater das Frühstück. Mit einem amüsierten Lächeln musterte er mich von oben bis unten. »Willst du etwa Monsieur Maspero den Kopf verdrehen?« fragte er.
Ich hatte mich für ein Oberteil aus weißer Seide mit bauschigen Ärmeln und einem Spitzenjabot entschieden; ein Gürtel aus Silberlame umschloß meine Taille, unter dem weiten Rock aus schottischem Wollstoff raschelte ein Taftunterrock mit Spitzenvolants. Dazu trug ich Stiefeletten aus feinstem Leder. Leider mußte ich die ganze Pracht unter dem langen, faltenreichen schwarzen Habara verbergen. Aber meinen Jaschmak aus feinem weißem Leinen mit einer Garnitur aus dem gleichen Stoff wie der Rock setzte ich höchst verwegen etwas schief auf meine schwarzen Zöpfe, und der Gesichtsschleier ließ meine Augen frei, diese Augen, die jedermann schön fand und deren Farbe Mahir nicht vergessen hatte. Mademoiselle Hortense und ich nahmen in der geschlossenen Kalesche Platz, der Agha Mabruk setzte sich zum Kutscher auf den Bock. Damit er sich ja nicht etwa aufregen und . den Wagen kurzerhand wieder nach Hause fahren lassen würde, ließ ich die Vorhänge zugezogen und wagte es nicht, sie auch nur ein klein wenig zu raffen und hinauszuspähen, wie ich es sonst immer tat, um den Alten zu ärgern. Wir kamen viel zu früh an, mußten aber trotzdem nicht lange auf Monsieur Maspero warten. Ein heißer Schreck durchzuckte mich beim Gedanken, daß er uns jetzt durch die Ausstellung führen und ich Mahir verpassen würde. Also wollte ich mich von den Sarkophagen und Sphingen in der Säulenhalle nicht losreißen und veranlaßte durch dieses Manöver Maspero zu langen Erklärungen. Endlich tauchte Bahiga auf, begleitet von einer Tante und von Mahir in Uniform. Als sie näher kamen, glaubte ich, das Herz müsse mir im Leib zerspringen. Ich zitterte und errötete hinter meinem Schleier.
Ich hatte - ich weiß auch nicht, warum - nicht erwähnt, daß ich Bahiga erwartete. So begrüßte ich sie, als begegneten wir uns rein zufällig, und sie stellte uns Bruder und Tante vor. Wir alle folgten Maspero in das praktisch menschenleere Museum. Mahir hielt sich diskret einige Schritte hinter uns. Ich spürte seinen Blick, und ein paarmal begegneten sich unsere Augen. Ich hatte vor dem Spiegel Bewegungen einstudiert, durch die mein Habara sich wie zufällig etwas öffnete oder hob, wodurch mein Schottenrock oder sogar die Stiefeletten zum Vorschein kamen. Doch jetzt, in Mahirs Gegenwart, war ich zu diesem koketten Gehabe unfähig. Ein Ruf von Bahigas Tante schreckte uns auf. Sie war vorausgegangen und hatte in einer Vitrine eine Skulptur aus grünem Stein entdeckt, eine Göttin mit Nilpferdkopf, eine Fruchtbarkeitsgöttin, wie der Aufseher uns erklärte. Bahiga mußte die Göttin siebenmal umkreisen; Mademoiselle hörte unterdessen aufmerksam den Ausführungen Masperos zu; niemand achtete auf Mahir und mich. Wir blickten uns wortlos an, aber unsere Augen sprachen Bände. Ich las in Mahirs Blick eine Liebeserklärung, eine so feurige, daß ich die Augen niederschlagen mußte. Doch auch das war eine unmißverständliche Antwort. Die Führung ging weiter. Mademoiselle wich nicht von Masperos Seite. Bahiga und die Tante waren nur noch mit ihren abergläubischen Ideen beschäftigt. Niemand kümmerte sich um Mahir und mich. Ich war vor einem jener hohlen Monumente stehengeblieben, in denen, wie es heißt, die Priester sich verbargen, um die Götter ihre Orakel verkünden zu lassen. Da hörte ich meinen Namen. Ich fuhr zusammen, die Stimme schien aus dem Stein zu kommen. »Ramsa, ich bin ja so glücklich, Sie wiederzusehen«, flüsterte jemand. Es war Mahir, der jetzt lächelnd hervortrat.
So sehr waren wir ein Herz und eine Seele, daß wir gar nicht zu reden brauchten; alles und jedes gab uns Anlaß zu einem stummen Zwiegespräch. Als Monsieur Maspero die Schönheit der Prinzessin Nefrit in ihrem engen weißen Gewand pries, sagten mir die Augen Mahirs: Du bist noch schöner als sie! Und du bist noch schöner als der Prinz, ihr Gemahl, dachte ich. Als man uns das blaue Pulver zeigte, mit dem die Damen jener Zeit den Glanz ihrer Augen hervorgehoben hatten, las ich in Mahirs Blick: Deine Augen haben solche Kunstgriffe nicht nötig! Meine Augen glänzen vor Freude, daß ich dir gefalle, erwiderte mein Herz. Bahiga hatte die Mumien entdeckt, und als die Tante ihr versicherte, daß sie nun ganz bestimmt Kinder haben werde, lächelte Mahir mich an. Ich senkte errötend den Kopf. Wie sehr wünschte ich mir, daß er mir beim Abschied die Hand hätte küssen dürfen oder doch wenigstens »Auf Wiedersehen« sagen, wie es Europäern erlaubt war! Statt dessen mußte er, unseren Sitten gemäß, so tun, als wäre ich gar nicht da. Wir konnten nur einen verstohlenen Blick wechseln. »Auf baldiges Wiedersehen in Alexandria!« sagte Bahiga. »In Alexandria, Liebste!« Mir war eben eingefallen, daß Mahir, Offizier der Leib-. garde des Khediven, bestimmt auch dort sein würde.
IV Eine Liebe in Alexandria
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Die Villen in Bakos
Mein Vater hatte mir versprochen, daß wir den Sommer in Alexandria verbringen würden. Immer wieder sprach ich davon und bestürmte ihn so lange, bis er mir auftrug, Bahiga zu schreiben und sie zu bitten, für uns eine Villa zu suchen. »Wenn möglich ganz in Deiner Nähe«, schrieb ich ihr, »damit wir uns täglich sehen können.« Meine kühnsten Hoffnungen wurden übertroffen: Vater mietete für den ganzen Sommer in Bakos eine Villa, die nur durch eine Hecke von derjenigen meiner Freundin getrennt war - der Villa, wo, wie ich ahnte, auch Mahir wohnen würde. Liebe ist vor allem das, was uns die Phantasie vorgaukelt. Die wenigen Wochen bis zu unserer Abreise lebte ich in einer Traumwelt, in der immer wieder dasselbe Bild auftauchte. Auf dem großen Abdin-Platz, der einzigen Kulisse, die ich von Mahirs Leben kannte, stellte ich ihn mir vor, zu Pferde wie am Tag der Parade. Ich berührte mit der Hand den Griff des Säbels, den seine Hand umschlossen hatte, und spürte noch deren Wärme; ich streichelte das Pferd, das ihm vertraute, damit es auch mir vertrauen sollte. Ich suchte in der Bibliothek nach Romanen und Erzählungen aus dem Soldatenleben und ersetzte den Helden durch Mahir. Ich ließ mir vom Vater immer wieder seine Dienstreise in den Sudan schildern, denn an seiner und an des Khediven Seite sah ich Mahir. Wir hatten unser Haus am Chalig behalten - ich nannte es immer noch so, obwohl es den Kanal, den Chalig, inzwischen nicht mehr gab. Zuweilen, an Feiertagen, begab sich die ganze Familie noch dorthin. Jetzt ließ ich mich allein hinfahren unter dem Vorwand, malen zu wollen. Im verlassenen Garten und den leeren Zimmern störte mich niemand beim Träumen. Ganz am Ende des Gemüsegartens
befand sich ein alter Ziehbrunnen, den man den »sprechenden Brunnen« nannte. Schon immer hatte er mich angezogen, trotz aller Warnungen. Er war mit morschen Planken abgedeckt. Ich schob sie zur Seite, beugte mich über den Schacht, in dem der Wasserspiegel kaum zu erahnen war, und flüsterte den Namen Mahirs, der aus der Tiefe bis zu mir heraufzudringen schien; ich flüsterte Fragen und glaubte die Antworten des Brunnens zu hören. Kindisch, gewiß! Aber ist das kindische Bedürfnis, sich selbst etwas vorzumachen, nicht ein Merkmal der Liebe? Ich hatte damit gerechnet, daß wir am gleichen Tag wie mein Vater nach Alexandria abreisen würden, der den Khediven begleiten mußte, oder doch kurz danach. Aber ich hatte die Rechnung ohne Nargis gemacht. Sie brauchte volle vierzehn Tage, um zu packen. Noch nie waren vierzehn Tage so langsam verstrichen! Noch nie war ich der armen Nargis gegenüber so unleidlich gewesen. Dieses nach Kairo verpflanzte Kind aus dem Kaukasus hatte sich in eine regelrechte ägyptische Matrone verwandelt, vor allem seitdem sie unangefochten den Harem regierte. Obwohl sie nun seit vierzig Jahren in Ägypten lebte, war sie noch nie mit der Eisenbahn gefahren. Die Reise nach Alexandria war in ihren Augen ein wichtiges Ereignis; sie wollte nicht aufbrechen, ohne zuvor, wie sie sagte, die »Scheichs« besucht zu haben, also sämtliche Grabstätten der Nachkommen des Propheten, all der heiligen Männer und Frauen, die in Kairo begraben liegen. Weiß Gott, es gibt unzählige von ihnen ... Das war aber noch nicht alles. Ich wußte von Bahiga, daß die Ferienvilla, die einem maltesischen Makler gehörte, perfekt möbliert und ausgestattet war; wir mußten nur die Bettwäsche und unsere Kleider mitnehmen. Das konnte ich Nargis lange erklären: Sie ließ das Silber einpacken, Tafelgeschirr, Kochtöpfe, Küchenutensilien und Schlafmatten! Mehr noch, sie ließ sich
von allen möglichen Nachbarinnen beschwatzen, in Alexandria finde man außer Fisch keine anständigen Lebensmittel. So befahl sie, alle nur erdenklichen Vorräte bis hin zu Bohnen, Reis und Mehl einzukaufen und in Henkelkörben zu verstauen. All das wurde nach Alexandria vorausgeschickt. Erst danach kamen wir an die Reihe. Am Morgen unserer Abreise war aller Zank vergessen, und ich umarmte Nargis, Mademoiselle, die Chalfata, die Dienerinnen. Ich war selig! In dieser Hochstimmung empfand ich die Reise geradezu als ein Fest. Ganz närrisch vor Freude, schleppte ich Nargis mit in den Speisewagen und machte mich über sie lustig, weil sie in jedem Gericht Schweinefleisch zu erschnuppern glaubte und nichts anrühren wollte. Wir bestaunten wie Kinder die ländliche Szenerie, die an uns vorüberglitt. Wenn wir einmal schwiegen, hörte ich die Räder des Zuges »Mahir! Mahir!« singen und sagte mir immer wieder, daß mich jede Sekunde näher zu ihm brachte. Mein Vater holte uns im Bahnhof Sidi Gabir ab, zusammen mit dem Gatten Bahigas, einem dicken, jovialen Mann. Bahiga selbst erwartete uns auf der Schwelle unserer neuen Behausung. Sie hatte sich seit Vaters Ankunft rührend um ihn gekümmert, und er sparte nicht mit Lob. Ich war überglücklich, daß wir schon von Anfang an mit der Familie Ma-hirs in so gutnachbarlicher Beziehung standen. Besonders gefiel mir der Garten mit den vielen kleinen Hügeln und Mulden, dem leuchtendgrünen Rasen, den dichtbelaubten Bäumen und den blühenden Sträuchern. Das Haus selbst, ganz überwachsen von Grün, stand auf einer Kuppe; an den Verandasäulen rankten sich Bougainvilleen empor und bildeten Vorhänge zwischen den Arkaden. Mein Zimmer ging auf eine Veranda hinaus. »Ich habe es für dich reserviert«, meinte Bahiga, »weil
es meinem genau gegenüberliegt.« Sie schob die Ranken vor dem Fenster zur Seite und wies auf eine Villa in zwanzig oder dreißig Meter Entfernung, die genauso aussah wie unsere. »Dort drüben wohne ich«, sagte sie. »Von den Veranden aus können wir uns leicht sehen und uns Zeichen geben, sogar miteinander sprechen.« Mir brannte eine Frage auf der Zunge: Wohnte Mahir auch dort? Bahiga gab mir von selbst die Antwort: »Das Eckzimmer links ist meines, in der Mitte liegt ein kleiner Salon und daneben das Zimmer meines Bruders.« Um mir meine Freude nicht anmerken zu lassen, wandte ich den Blick ab. Ich war so aufgeregt, daß ich kein Wort herausbrachte, und hoffte, Bahiga werde mir noch mehr von ihm berichten, werde sagen, daß er nach mir gefragt hatte, daß er mich heiraten wollte, daß er mich liebte: Alles, alles wollte ich hören. Aber meine Freundin wechselte das Thema und zog mich mit sich, um mir das Anwesen zu zeigen. Wir gingen an der Hecke entlang, die die beiden Grundstücke voneinander trennte, und ich stellte fest, daß sie nicht allzu hoch und dicht war. Ganz am Ende, in einem abgelegenen, mit Gemüse bepflanzten Winkel, gab es sogar einen Durchgang mit einem niedrigen Gittertor, das nur durch ein einfaches Vorhängeschloß gesichert war. Nichts leichter, als hinüberzuklettern; am liebsten hätte ich es gleich selbst versucht, um mir den Ort, wo Mahir wohnte, genauer anzusehen. Ich tat es aber nicht, sondern stellte mir den schneidigen Offizier vor, der mit einem Sprung über das Hindernis hinwegsetzte und auf mich zukam. Für ein junges Mädchen meiner Generation war ein solcher Gedanke geradezu ein Verbrechen; sogar mein kurzer Ausflug in den Garten mit unverschleiertem Gesicht hätte mir strengen Tadel einbringen können. Ich eilte zum Haus zurück.
Abends ging ich auf die Veranda vor meinem Zimmer und starrte hinter den Bougainvilleen hervor durch die Dunkelheit auf das Haus gegenüber. Aus Mahirs Fenster drang Licht, er mußte also dort sein. Gespannt wartete ich darauf, daß hinter den Fensterscheiben sein Schatten auftauchen würde. Da sah ich ihn herauskommen und unter den Arkaden einige Schritte machen. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, nur seine Silhouette, die sich erst in die eine, dann in die andere Richtung bewegte. Ich redete mir ein, er denke an mich, spüre meine Gegenwart ganz in der Nähe, suche mich ebenfalls mit den Augen. Doch ich wagte mich nicht zu zeigen. Er ging wieder hinein und ließ die Jalousie herunter. Kaum war ich am nächsten Morgen aufgestanden, eilte ich auf die Veranda. Die gegenüberliegende war leer. Im Lauf des Vormittags kam Bahiga heraus und rief mir ein paar Worte zu, die ich nicht verstand. Tags darauf stand ich schon in der Morgendämmerung auf der Veranda. Ich wurde gleich zweifach dafür belohnt: mit dem Schauspiel des allmählich zum Leben erwachenden Gartens, das allein schon das Frühaufstehen wert war, und mit dem Erscheinen Mahirs. Als er mich bemerkte, schien er freudig überrascht. Mit einer feierlichen Verbeugung legte er die Hand auf Brust, Stirn und Lippen. Ich erwiderte seinen Gruß mit derselben bedeutungsvollen Geste, die besagte, daß er in meinem Herzen, in meinen Gedanken, in meinen Worten war. Wir lachten lautlos. Er grüßte noch einmal, und diesmal beendete er die Geste mit einer Kußhand. Ich hätte ins Haus fliehen sollen, aber ich tat es nicht, sondern erkühnte mich, Mahir zu verstehen zu geben, daß mir sein Kuß nicht mißfallen hatte, und wir verweilten noch einige Augenblicke und sahen uns an. Ich betrachtete Mahir, umkränzt von den purpurnen Blüten der Bougainvillea, auf denen Tautropfen glitzerten, und mein Herz begann zu
singen. Das Geräusch einer hochgezogenen Jalousie ließ mich hastig ins Zimmer zurücktreten, aber ich nahm einen ganzen Tagesvorrat an Glückseligkeit mit mir. Mehrere Wochen lang grüßten wir uns nur aus der Ferne, im sanften Licht der Morgendämmerung oder abends in der Dunkelheit. Ich besuchte Bahiga häufig, traf aber Mahir nie dort an. Bahiga hatte nicht die leiseste Ahnung von unserer Liebe, und ich wollte sie nicht ins Vertrauen ziehen. Ich befürchtete, daß sie aus Angst, womöglich als Komplizin zu gelten, Mahir und mir Hindernisse in den Weg gelegt hätte. Unterdessen hatte sich unser Alltag nach neuen Gewohnheiten eingespielt. Alexandria lebte, besonders im Sommer, ein eigenes Leben, ein ungezwungeneres, europäischeres als dasjenige Kairos. Mein Vater war fast den ganzen Tag außer Haus. Ich sah ihn nur morgens vor seinem Weggang beim Frühstück. Es machte ihm Spaß, mir Neuigkeiten vom Hof zu berichten, sogar Klatschgeschichten; auch ich hatte allerlei gehört und erzählte es ihm. Zu Beginn der Sommersaison, ich erinnere mich noch genau, sprach man viel von der Mutter des Khediven. Sie war eben aus Istanbul zurückgekehrt und hatte die neueste Mode mitgebracht, die jetzt von allen Damen am Hof und in der Stadt übernommen wurde. Die glänzenden Empfänge, die sie in ihrem Palast in Sidi Bischr veranstaltete, waren in aller Leute Mund. Mich erstaunte, daß sie nicht wie ihre Schwester, Prinzessin Nasli Hanum, literarische oder politische Gespräche organisierte, zu denen auch Männer eingeladen waren und wo sich Frauen unverschleiert zu zeigen wagten. Die Khediva galt als intelligent und fortschrittlich. Warum ging sie nicht mit gutem Beispiel voran?
Während ich dies vorbrachte, beobachtete ich die Reaktion meines Vaters. Er ließ sich auf eine Diskussion ein, rechtfertigte die Khediva, gab jedoch zu - obwohl er der Meinung war, daß man die Öffentlichkeit nicht schockieren dürfe, indem man gegen die Traditionen verstieß -, daß eben diese Traditionen dem Untergang geweiht waren. Das war ein Punkt zu meinen Gunsten. War der Vater gegangen, das Haus in Ordnung gebracht, besuchte ich meistens meine französischen Freundinnen. Bei einem der vielen Tees, zu denen die Nachbarinnen in dieser Wohngegend einander einluden, hatten Mademoiselle und ich nämlich die Bekanntschaft einer in Alexandria lebenden französischen Familie gemacht, die eine Villa in der Nähe der unsrigen besaß. Wie sich herausstellte, stammten Madame Henriette, die Dame des Hauses, und Mademoiselle Hortense beide aus dem Limousin und konnten ganze Nachmittage lang in Jugenderinnerungen schwelgen. Dann nahmen sich Isabelle und Camille meiner an. Isabelle war etwas älter als ich, Camille etwas jünger. Bisher hatte ich im Kreise meiner Freundinnen immer die erste Geige gespielt, aber von diesen beiden ließ ich mich gerne beeinflussen, obwohl sie eher zurückhaltend waren. Die Musik brachte uns näher. Dank ihnen wurde mir bewußt, wie unvollständig meine musikalischen Kenntnisse waren. Bisher war ich kaum über Chopin hinausgekommen, den meine Mutter so geliebt hatte, oder Beethoven und Wagner. Die ernsthafte Isabelle führte mich in die Werke Bachs ein, die schweigsame Camille in diejenigen Debussys. Wir kamen so gut miteinander aus, daß wir bald unzertrennlich wurden. Mein Vater sah diese Freundschaft gerne. Zuweilen begleitete ich Camille und Isabelle, wenn sie in der Stadt
Einkäufe machten. Um dem Vater zu gehorchen, trug ich dann einen weißen Schleier, doch so leicht dieser auch war, es störte mich, daß ich mich nicht wie meine Freundinnen frei bewegen und das Gesicht zeigen durfte. Sie und ihre Mutter badeten am nahe gelegenen Strand von Glymenopoulo, frühmorgens, wenn er für Frauen reserviert war. Einmal begleitete ich sie dorthin. Ich saß zusammen mit Mademoiselle Hortense im Schatten der Badehütte und sah neidisch zu, wie sie sich im Wasser tummelten. Tags darauf erbat ich mir vom Vater die Erlaubnis, ebenfalls im Meer baden zu dürfen. Um diese Zeit waren in Ägypten Meerbäder groß in Mode gekommen. Die Ärzte sahen im Jod geradezu ein Wundermittel: Es heilte Tuberkulose, war gut für die Augen, ließ einen je nach Bedarf ab- oder zunehmen. Man wusch sich mit Meerwasser, gurgelte damit, verwendete es zum Zähne-putzen. Auch die Damen des Hofes folgten dieser Mode; die Khediva pflegte regelmäßig an ihrem Privatstrand in Sidi Bischr zu baden. Im übrigen fand Nargis, ich sei seit einiger Zeit so blaß, so still, gar nicht mehr so lebhaft wie früher; das Salzwasser würde mir sicherlich guttun. Sie unterstützte mich also, und mein Vater entschied, auch ich dürfe Meerbäder nehmen. Aber leider, leider durfte ich nicht, wie ich es mir wünschte, mit meinen französischen Freundinnen im offenen Meer baden. Ich konnte Vater lange versichern, wie anständig es dabei zuging angesichts der damaligen Badekostüme, die sogar die Arme bis zum Ellbogen und die Beine bis zu den Knöcheln bedeckten; ich konnte ihm lange erklären, daß kein Mann die badenden Frauen sehen konnte, denn zu dieser frühen Stunde wurde die für Männer verbotene Zone rund um den Strandabschnitt streng bewacht. Er blieb unerbittlich: Wenn ich denn Meerbäder brauchte, so sollte ich welche nehmen, aber nur in der Frauenbadeanstalt in San Stefano.
Damit mußte ich mich zufriedengeben. Der Ort mißfiel mir, es wimmelte dort nur so von Damen, die in erster Linie herkamen, um ihre Toiletten und ihren Schmuck zur Schau zu stellen, ihre Freundinnen zu treffen, zu tratschen, ihre Töchter Müttern mit Söhnen oder Heiratsvermittlerinnen vorzuführen. Nargis, die mich begleitete, gefiel es dort sehr: Es war eine Haremsversammlung ganz nach ihrem Geschmack, nur noch interessanter wegen der größeren, stets wechselnden Gesellschaft, in der die Skandälchen, die den ganzen Tag für Gesprächsstoff sorgten, einen üppigen Nährboden fanden. Das eigentliche Bad bestand lediglich aus einer winzigen, durch Hütten abgeschlossenen Bucht, wo man zusammen mit lauter Fremden im trüben Wasser herumplanschte, unter den inquisitorischen Blicken Hunderter von neugierigen Frauen. Ich versuchte mich abzusondern. Manchmal ging ich in aller Frühe hin, wenn ich soeben Mahir gesehen hatte, wenn meine Augen von seinem Anblick erfüllt waren und ich von weitem seinen morgendlichen Kuß empfangen hatte; dann empfand ich die Liebkosung des kühlen Wassers wie eine sanfte Umarmung. Aber auch das wurde immer schwieriger, denn so früh wollte mich niemand begleiten. Zwei-, dreimal kamen Isabelle und Camille mit, um mir einen Gefallen zu tun, doch für sie war es alles andere als ein Vergnügen. Sie fühlten sich unbehaglich in der engen Bucht, und ich selbst zog es bald vor, sie zu ihrem Strand zu begleiten, wo das Meer mir natürlicher vorkam und der Horizont weiter. Aus Gehor-sam meinem Vater gegenüber ging ich nicht ins Wasser, aber im Sand sitzend konnte ich den Wind genießen, den salzigen Duft des Meeres, das Spiel der Wellen, und dabei ungestört an Mahir denken. Ich weihte meine neuen Freundinnen nicht in mein Geheimnis ein bis zu dem Tag, als sie mir ihre Geheimnisse
anvertrauten. Mir war bereits aufgefallen, daß an manchen Vormittagen, wenn wir vom Strand kamen, die eine oder andere den Zug in die Stadt nahm. Ich konnte nicht mit, denn um diese Zeit pflegte mein Vater zum Mittagessen nach Hause zu kommen. Einmal, als er auswärts aß, folgte ich Camille. Sie ging zur Post, trat an den Schalter, wo die postlagernden Sendungen ausgegeben wurden, und nahm zwei Briefe in Empfang. Den einen öffnete sie sofort und zog eine Fotografie heraus, die sie mir ohne weiteres hinstreckte, während sie den Brief überflog. »Er heißt Raymond«, sagte sie, »es ist mein Liebster.« Ich sperrte Mund und Augen auf: »Dein Verlobter?« »Oh, offiziell verlobt sind wir noch nicht. Wir haben uns letztes Jahr in Vichy kennengelernt. Er ist Kolonialbeamter in Senegal.« »Wissen deine Eltern Bescheid?« »Nein. Das heißt, gesehen haben sie uns schon, Raymond und mich, wenn wir im Kurpark oder am Fluß zu zweit spazierengingen. Aber daß wir uns lieben, wissen sie nicht. Er hat noch nicht um meine Hand angehalten, und vielleicht würde mein Vater ihn abweisen, weil er noch keinen hohen Posten hat und auch kein Vermögen. Aber heiraten werde ich ihn trotzdem.« Das alles sagte sie mit ruhiger Stimme. »Auch wenn deine Eltern ihre Zustimmung verweigern?« »Dann muß ich eben warten, bis ich volljährig bin. Aber sie können tun und sagen, was sie wollen, ich werde Raymond heiraten.« Auch Isabelle hatte einen Liebsten, und auch sie verheimlichte den Eltern ihren Briefwechsel. Auch sie war entschlossen, ihn zu heiraten, wenn nötig gegen den Willen des Vaters, ja, sie ging sogar noch weiter als ihre Schwester.
»Ich liebe meine Eltern«, sagte sie, »vor allem meine Mutter, aber wenn sie mich zwingen wollen, zwischen ihnen und Etienne zu wählen, werde ich von zu Hause fortlaufen.« Die stille Isabelle hatte kaum jemals so ausführlich gesprochen. »Liebst du ihn denn so sehr?« meinte ich. Sie blickte mich schweigend an, doch ihr kleines eckiges Kinn, ihre furchtlosen grünen Augen gaben mir zu verstehen, daß sie tun würde, wozu sie entschlossen war. Das gab mir zu denken. Bisher hatte ich Camille und Isabelle stets für wohlerzogene junge Mädchen von untadeligem Benehmen gehalten; zudem wußte ich, daß beide praktizierende Katholikinnen waren. Ich wollte Näheres über ihre Beziehung wissen: Weiter als bis zu einem Handkuß, erfuhr ich, sei keiner der jungen Männer gegangen. Da gestand ich: »Auch ich bin verliebt.« Und ich erzählte ihnen von Mahir. Wenige Tage später, nach einem Besuch bei den beiden Schwestern, begleiteten sie mich nach Hause; ihre Mutter und Mademoiselle Hortense gingen voraus. Als wir um eine Ecke bogen, stand plötzlich Mahir vor uns. Ich blieb abrupt stehen und umklammerte Isabelles Hand: »Das ist er!« Trotz meines Schleiers hatte er mich erkannt. Nach kurzem Zögern trat er höflich zur Seite, um uns den Vortritt zu lassen. Unsere Blicke trafen sich, und die Liebe, die ich in seinen Augen sah, machte mich überglücklich. Tags darauf waren wir alle drei bei Bahiga zum Abendessen eingeladen. Sie befand sich allein zu Hause, da ihr Mann auf Reisen war. Wir mochten Bahiga gern, hatten ihr aber nichts von unseren Herzensangelegenheiten erzählt. Sie war aus der Obhut ihres Vaters geradewegs in die Obhut ihres Gatten gekommen; sie war eine gute Ehefrau, eine gute Hausfrau und wäre gerne auch eine gute Mutter gewesen.
Mehr verlangte sie nicht vom Leben, und wir wollten sie nicht mit unseren Problemen behelligen. Camille und Isabelle holten mich ab. Isabelle steckte mir mit einem geheimnisvollen Lächeln einen Briefumschlag zu. Ich drehte ihn um und um; weder eine Adresse noch ein Absender standen darauf. Verdutzt schaute ich meine Freundinnen an. »Mach ihn doch auf«, sagte Isabelle. »Vielleicht ist es ein Liebesbrief von deinem Märchenprinzen.« Ich dachte, sie wolle sich über mich lustig machen, aber es war tatsächlich eine Nachricht von Mahir. Er hatte es so eingefädelt, daß er eine meiner Freundinnen traf, als sie auf dem Rückweg von der Post am Bahnhof Ramla auf den Zug wartete, und ihr den Brief für mich zusteckte. Er bat mich darin um ein Stelldichein. Er wußte, daß ich am selben Abend bei seiner Schwester eingeladen war, und ließ mich wissen, daß er nach dem Essen unter dem großen Baum neben dem Gemüsegarten auf mich warten würde. Ich kannte diesen Baum, es war eine Trauerweide ganz am Ende des Gartens in der Nähe des Tores, das die beiden Grundstücke miteinander verband. Meine erste Reaktion war Freude, eine unbändige Freude, die mir das Blut in die Wangen trieb; es schien mir, ich sei zur Heldin eines wunderbaren Abenteuers auserkoren, des einzigen wirklichen Abenteuers aller Zeiten, das vor mir noch niemand erlebt hatte. Dann packte mich eine regelrechte Panik. Was hatte ich vor, ich, ein anständiges junges Mädchen, eine Muslime? Ich wollte mich mitten in der Nacht mit einem Mann treffen? Meinen Vater hintergehen? Die geheiligten Gesetze der Religion und der Moral brechen, Schimpf und Schande riskieren? Nein, auf keinen Fall würde ich zur Trauerweide gehen!
Aber dann setzte ich womöglich mein Lebensglück aufs Spiel. Den Geliebten näher kennenzulernen, seine Absichten zu erfahren, war dies nicht das Risiko wert? Sollte ich Mahir gleich zu Beginn unserer Beziehungen dadurch kränken, daß ich ihm unlautere Absichten unterschob ? Camille und Isabelle warteten schweigend. Ich gestand ihnen alles, das Rendezvous, mein Dilemma, und bat sie um Rat. »Für solche Angelegenheiten muß man selbst die Verantwortung übernehmen«, meinte Isabelle. »Wenn du hingehst«, sagte Camille, »dann sei aber vorsichtig, erlaube ihm keine Freiheiten, nicht einmal einen Kuß.« Auf dem Weg zu Bahiga traten wir durch das Tor zwischen den beiden Gemüsegärten - man verriegelte es schon seit langem nicht mehr -, und ich zeigte meinen Freundinnen die Stelle, wo Mahir mich erwarten wollte. Die Weide mit ihren dichtbelaubten, fast bis zur Erde herabhängenden Zweigen stand in einer Mulde, die von den Fenstern der beiden Villen aus nicht zu sehen war. Isabelle bemerkte, der Ort sei für ein Stelldichein wie geschaffen. »Ich werde aber nicht hingehen«, versicherte ich. »Das ist auch gescheiter«, meinte Camille. Bei Bahiga musizierten wir. Als ich an die Reihe kam, begann ich die Barcarolle von Chopin zu spielen, eines meiner Lieblingsstücke, mit dem ich sonst immer brillierte. Jetzt aber fiel es mir schwer, mich auf die Musik zu konzentrieren; meine Gedanken waren ganz woanders, und plötzlich merkte ich, daß ich irgend etwas klimperte, ich hatte die Noten vergessen, ich hatte sogar die Melodie vergessen, in meinem leeren Kopf dröhnte es. Man brachte mir die Partitur, aber ich war außerstande, sie zu lesen. So etwas war mir noch nie passiert, und es sollte mir auch nie wieder passieren. Mit Tränen in den
Augen stand ich auf, ließ mich in einen Lehnsessel fallen und begann zu schluchzen. Alle versuchten mich zu trösten. Camille schlug vor, man solle mich lieber allein lassen. Verärgert über mich selbst, wußte ich nicht mehr, was ich wollte oder nicht wollte, und fühlte mich als das unglücklichste Geschöpf auf Erden. Später holte mich Bahiga zum Abendessen. Man hatte den Tisch draußen im Mondschein hinter dem Haus gedeckt. Unter anderen Umständen hätte ich dieses Diner herrlich gefunden, jetzt aber war es für mich eine Qual. Das fröhliche Geplauder meiner Freundinnen drang wie aus weiter Ferne an mein Ohr, ohne daß ich ein Wort davon aufnahm. Todunglücklich stellte ich mir vor, wie Mahir ganz in der Nähe unter der Weide wartete, unseren Stimmen lauschte, vielleicht die Ohren spitzte, um die meine herauszuhören, sich nach mir sehnte. Die Enttäuschung, die ich ihm bereiten würde, nahm in meinen Augen das Ausmaß einer Katastrophe an: Er würde mich nicht mehr lieben, nie mehr würde er mir frühmorgens zwischen den Bougainvilleen hindurch eine Kußhand zuwerfen ... »Beim Gobelinmuster«, dozierte Mademoiselle, eine Expertin im Sticken, »faßt man zwei Fäden des Gewebes und sticht zuerst von unten her ...« Ich wußte, daß Bahiga einen Sesselbezug als Geburtstagsgeschenk für ihren Mann sticken wollte. »Kommen Sie doch, und schauen Sie sich das Garn an, das ich gekauft habe, ich hätte gerne Ihre Meinung dazu.« Die beiden gingen hinein. Ich blieb mit Camille und Isabelle zurück und fühlte den stummen Ruf Mahirs in mir, drängend, unwiderstehlich. Die beiden Schwestern blickten mich an. »Ich gehe doch«, murmelte ich. Schon nach wenigen Schritten holte Isabelle mich ein.
»Ich komme mit dir«, sagte sie. »Meine Schwester wird den anderen sagen, daß wir einen Schal aus deinem Zimmer holen.« Kaum waren wir um die Hausecke gebogen, faßte sie mich bei der Hand und zog mich hastig den Abhang hinunter. Als wir uns der Weide näherten, löste sich ein Schatten. Meine Finger umklammerten Isabelles Hand. »Ich warte beim Tor auf dich«, wisperte sie mir ins Ohr, »bleib aber nicht zu lange!« Sie riß sich los und verschwand. »Ramsa«, flüsterte die Stimme Mahirs. Ich machte einen Schritt und stand im undurchdringlichen Schatten des Baumes. Zwei bebende Hände tasteten nach meinen. Eine Zeitlang blieben wir stumm. Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und Mahir nahm Gestalt an. Mein Herz klopfte so heftig, daß es schmerzte. Die Tatsache, daß meine Hände in den seinen lagen, kam mir vor wie ein feierliches Gelöbnis, daß wir einander auf immer und ewig gehören würden. Ich erwartete etwas von Mahir, was, wußte ich auch nicht, ein paar Worte wenigstens. Doch er schwieg. Ich wollte mich von ihm lösen. »Nein, ich bitte Sie«, murmelte Mahir, »einen Augenblick noch; ich hatte solche Angst, Sie würden nicht kommen! Ich will Ihnen sagen, daß ich Sie liebe und daß ich Sie heiraten möchte. Sagen Sie nur, daß Sie mich noch öfter treffen werden, damit ich mit Ihnen reden und Sie überzeugen kann.« Er ließ meine Hände erst los, nachdem ich ihm versprochen hatte, ihn am nächsten Abend beim Gartentor wiederzusehen. Ich lief zu Isabelle, und wir eilten in mein Zimmer, um einen Schal zu holen. Kaum waren wir wieder drüben bei Ca-
mille, als Bahiga und Mademoiselle Hortense zurückkamen. Ich war ganz außer Atem, und meine Augen glänzten; Mademoiselle musterte mich besorgt, glaubte, ich hätte Fieber, und drängte mich, nach Hause zu gehen. Die Leichtigkeit, mit der ich das Stelldichein bewerkstelligt hatte, ohne auch nur den geringsten Verdacht zu wecken, ermutigte mich. Am folgenden Abend traf ich Mahir wieder beim Gartentor. Diesmal war ich mit ihm allein, und da ich Isabelles beruhigende Gegenwart nicht spürte, blieb ich auf der Hut. Wir unterhielten uns einige Minuten flüsternd miteinander, er wollte allerlei von mir wissen und fragte mich abermals, ob ich bereit sei, ihn zu heiraten. Ich willigte ein. Da schloß er mich mit einer heftigen Bewegung in die Arme und drückte mir einen Kuß auf die Stirn. Ich riß mich los und rannte davon. Meine Wangen glühten. In meinem Zimmer angelangt, spürte ich immer noch den Druck seiner Hände auf meinen Schultern, seinen heißen Atem auf meinem Gesicht. Ich beschloß, ihn nicht mehr wiederzusehen, bevor er nicht um meine Hand angehalten hatte.
2
Das Beduinenzelt
Ich wich Mahir aus, sah ihn aber nach wie vor jeden Morgen von meiner Veranda. Darauf zu verzichten, das ging über meine Kraft. Er gab mir Zeichen, deutete in Richtung des Gartentors, doch ich schüttelte den Kopf. Nur verlieren wollte ich ihn nicht; ich hätte es auch gar nicht fertiggebracht, ihm nicht zuzulächeln oder nicht mehr an ihn zu denken. Inzwischen hatte ich herausgefunden, daß man vom Balkon des Schlafzimmers meines Vaters den Eingang von Bahigas Haus sehen konnte. Wenn es mir gelang, mich unbemerkt hineinzustehlen, hielt ich nach Mahirs Heimkehr Ausschau. Ich vernahm das Klappern von Pferdehufen, vermeinte einen eleganten Reiter im enganliegenden weißen Dolman zu sehen, die Reitgerte in der Hand, und malte mir aus, daß er auf diese Weise herangeritten käme, wenn ich seine Frau war und ihn auf der Schwelle unseres Heims erwartete. Eines Nachmittags holte Isabelle mich ab. »Komm mit, beeil dich«, sagte sie, »wir haben eine Überraschung für dich.« Sie lächelte geheimnisvoll, und es war nicht aus ihr herauszubringen, worum es ging. Kurz darauf zog sie mich hastig die Stufen zur Terrasse ihres Hauses hinauf. »Schsch ... mach die Augen zu.« Sie zog mich zur Balustrade. »Jetzt darfst du hinsehen.« Auf dem Nachbargrundstück spielten junge Leute in weißen Hosen und weißen Hemden Tennis. Ich unterdrückte einen Aufschrei: einer von ihnen war Mahir. Vorsichtig, um nicht gesehen zu werden, trat ich näher und beobachtete ihn. Es war ein ganz anderer Mahir, der dort in Hemdsärmeln dem Ball nachrannte, ein Mahir, der ohne mich, außerhalb von mir existierte und der in diesem Moment
wohl keinen Gedanken an mich verschwendete. So war das also! Er dachte nicht, so wie ich, Tag und Nacht an unsere Liebe! Ich erfüllte sein Leben nur während einiger flüchtiger Augenblicke. Wer weiß, ob er nicht vielleicht schon begonnen hatte, sich innerlich von mir zu lösen? Wie dumm von mir, an dem Abend, als er mich geküßt hatte, so schnell wieder fortzulaufen! Sicherlich hatte ich ihn dadurch verärgert, entmutigt. Jetzt wurde mir klar, wie sehr ich an ihm hing; nur schon der Gedanke, ihn zu verlieren, machte mich so schwindlig, als würde sich ein gähnender Abgrund vor mir auftun. Am nächsten Morgen war ich diejenige, die ihm durch Handzeichen zu verstehen gab, daß wir uns abends treffen sollten. In fieberhafter Ungeduld wartete ich auf den Einbruch der Dunkelheit. Es war schon den ganzen Tag schwül und windstill gewesen, die Atmosphäre drückte einen nieder. Als ich mich hinausschlich und eben über den Rasen zum Gemüsegarten laufen wollte, stand ich plötzlich vor meinem Vater, der sonst um diese Zeit immer außer Haus war. Vor Schreck konnte ich mich nicht rühren. Er glaubte, ich wäre in den Garten gegangen, um etwas frische Luft zu schöpfen. Er nahm mich am Arm und führte mich die Pfade entlang, erfreut, ein wenig mit mir zu plaudern. Wir kamen mehrmals an der Stelle vorbei, wo Mahir auf mich wartete. Ich war so aufgeregt, daß ich meinem Vater nur einsilbige Antworten gab, was ihm zum Glück nicht weiter auffiel. Um endlich wegzukommen, mußte ich schwindeln, ich hätte Kopfschmerzen und wolle mich schlafen legen. Doch kaum bei meinem Zimmer angelangt, lief ich die Dienstbotentreppe hinunter, durchquerte die Küche, ohne jemandem zu begegnen, und rannte zum Gemüsegarten. Das war gefährlich, ich wußte es genau. Man hätte meine
Abwesenheit bemerken können, mich zur Rede stellen, mich einer Lüge überführen, die Wahrheit herausfinden. Aber was bedeutete diese Gefahr im Vergleich zu derjenigen, Mahir zu verlieren! Beim Gartentor traf ich ihn nicht an. Es war stockdunkel, und ich rief leise seinen Namen. Keine Antwort. In meiner Angst stieß ich das Tor auf und betrat den Nachbargarten. Ich war schon fast bei der Villa, als ich Mahir erblickte. Ich rannte auf ihn zu und warf mich in seine Arme. Er strich mir zärtlich übers Haar, bedeckte meine Stirn, meine Wangen, meinen Hals mit Küssen. Ich ließ es zu, daß er mich auf den Mund küßte. Ein Geräusch von Schritten ließ uns zusammenfahren. Reglos, mit wild pochenden Herzen, standen wir im Schatten und lauschten. »Gehen Sie morgen mit Ihren Freundinnen zum Strand?« flüsterte Mahir. »Vielleicht.« »Gehen Sie mit, und treffen Sie mich bei den Beduinenzelten.« Ich hatte diese Beduinen, die ihre Schafe und Ziegen zwischen den Klippen weideten, schon gesehen. Ich sagte zu. In meiner Hochstimmung war ich bereit, alles für Mahir zu wagen. Mademoiselle Hortense war die erste, die den Ansturm meiner Gefühle über sich ergehen lassen mußte. Ich rannte zu ihr und umarmte sie so überschwenglich wie noch nie. »Ach, ich habe Sie ja so lieb, Mademoiselle!« »Was ist denn nur mit Ihnen, Ramsa? Sie sind ja ganz aus dem Häuschen!« »Ich bin einfach glücklich, Mademoiselle!« Am nächsten Tag, einem Sonntag, würde sie wie gewohnt in die Kirche von Bakos zur Frühmesse gehen. Ich
bat sie, mich mitzunehmen und unterwegs bei meinen Freundinnen abzusetzen. Mademoiselle holte Madame Henriette zum Kirchgang ab und ließ mich in der Obhut Camilles zurück, nicht ohne mir das Versprechen abzunehmen, auf keinen Fall ins Wasser, ja nicht einmal in die Nähe des Wassers zu gehen. Ich wies ein Buch vor, das ich am Strand lesen wollte. Aber ans Lesen dachte ich natürlich nicht. Kaum waren meine Freundinnen im Wasser, da verschwand ich, in eine Milaja gehüllt, hinter den Badehütten und kletterte die Felsen hinauf. In der Ferne sah ich die beiden Zelte und gegen Osten zu die Beduinen mit ihrer Herde. Die Zelte schienen verlassen, aber dann bemerkte ich, daß Mahir dort stand und mir zuwinkte. An jenem Tage hatte ich das Gefühl, die größte Verrücktheit meines Lebens zu begehen. Einen Moment lang empfand ich Ekel, als ich ins Zelt schlüpfte, weil ich einen schmutzigen, verlausten Ort erwartete, aber zu meiner Überraschung war es drinnen sehr sauber. Und dann umfingen mich Mahirs Arme, und seine Lippen preßten sich auf die meinen. Als ich mich von ihm löste, um ihn anzuschauen, fand ich ihn schön, ebenso schön in seinem Anzug wie in seiner Gardistenuniform. Ich bewunderte den eleganten Schnitt seines grauen Jacketts, seine Krawattennadel, den Rubin an seinem Ring, den silbernen Knauf seines Stöckchens, die Nelke in seinem Knopfloch, die er herauszog und mir gab, seine Lederhandschuhe, die ich so zärtlich streichelte, wie ich seine nackte Hand gerne gestreichelt hätte. Er war es, der zu mir sagte: »Wie schön du bist, Ramsa!« Ich trug ein weißes Batistkleid mit einem Gürtel aus blauem Taft und weiße Stiefeletten; die Milaja war auf die
Erde geglitten, auch der weiße Schleier, der meinen Kopf bedeckt hatte; seinen Blick auf meinem unverschleierten Gesicht zu spüren, war schon wie eine Hingabe meines ganzen Seins. »Mahir! Wann werden wir heiraten?« »Sobald wie möglich, Geliebte.« »Du mußt meinen Vater jetzt gleich um meine Hand bitten, Mahir!« Er zögerte. »Sobald ich ihm den Antrag gemacht habe, werden wir uns nicht mehr treffen dürfen, Ramsa, hast du daran gedacht?« Nein, daran hatte ich nicht gedacht. Verlobte dürfen einander nicht sehen! Womöglich würde mir der Vater sogar verbieten, Bahiga zu besuchen. Ich überlegte, daß die Zeremonie des Katb al-Kitab ohnehin erst nach unserer Rückkehr nach Kairo stattfinden konnte. »Laß uns also damit warten bis eine Woche vor unserer Abreise«, schlug ich vor. Wir vereinbarten, wo wir uns künftig wiedersehen wollten: im Garten oder in einem der Zelte, welche die Beduinen gerne vermieten würden. Meinen Freundinnen erzählte ich alles. Isabelle hörte mich kommentarlos an. Camille fand mich sehr unvorsichtig. »Du weißt nicht, wie Männer sind, Ramsa. Sie wollen stets mehr, als man zu geben bereit ist. Wie willst du, verliebt, wie du bist, Mahir widerstehen? Das mußt du aber unbedingt. Aus Respekt vor dir selbst, aus Furcht vor den möglichen Folgen, die dir bekannt sein dürften, und auch im Interesse eurer Liebe. Denk daran, daß ein Mädchen, das sich dem Geliebten schon vor der Ehe hingibt, in neun von zehn Fällen nicht geheiratet, sondern verlassen wird!« Sie zählte mir Beispiele auf. Ich wußte nicht, wieviel Camilles Statistiken wert waren, aber ihre Warnung verfehlte
ihre Wirkung auf mich nicht. Plötzlich erinnerte ich mich an allerlei Geschichten von Mädchen, die entehrt und von ihren eigenen Familien unbarmherzig bestraft worden waren. Ich wußte, daß bei uns ein gestraucheltes Mädchen keine Gnade zu erwarten hat. Obwohl mein Vater mich innig liebte, hätte er keine Nachsicht gezeigt und mich verflucht, und niemand wäre mir zu Hilfe gekommen. So verliebt ich auch war, sosehr ich nach Unabhängigkeit dürstete, so entschlossen ich war, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen - ich brachte es fertig, Mahir bei unseren täglichen Begegnungen in die Schranken zu weisen. Dann verließ er mich für zwei Wochen, denn er mußte den Khediven Abbas zur Jagd auf sein Landgut begleiten. Wir hatten verabredet, daß er mir postlagernd an die Adresse Isabelles schreiben würde. Doch er schrieb mir nur ein einziges Mal und nur ein paar abgedroschene Phrasen, die mich enttäuschten. Jeden Tag, an dem ich nicht mit Camille oder Isabelle zur Post gehen konnte, wartete ich ungeduldig auf ihre Rückkehr, und es fiel mir schwer, meine wachsende Sorge zu verheimlichen. Trübe Gedanken begannen mich zu quälen. Ich zweifelte an Mahirs Liebe oder malte mir mein künftiges Leben als Offiziersfrau in den düstersten Farben aus. Ich beneidete meine Freundinnen, die sich, fern von ihren Liebsten, ihre Seelenruhe bewahrten und mit einem regelmäßigen Briefwechsel zufriedengaben. Doch dann fand ich alle möglichen Entschuldigungen für Mahir und redete mir ein, alles sei in bester Ordnung. Um mich selbst davon zu überzeugen, daß er es verdiente, von mir geliebt zu werden, schilderte ich Isabelle und Camille seine Vorzüge; sie waren die einzigen, mit denen ich über ihn reden konnte, denn ich wagte es nicht einmal, mich bei Bahiga nach ihm zu erkundigen. Mutterseelenallein suchte ich die Orte auf,
wo ich ihn getroffen hatte, suchte sein Gesicht, seine Stimme, seinen Atem, den Geschmack seiner Küsse. Er blieb länger fort als geplant. Jedesmal wenn die Gestalt eines Passanten mich an ihn erinnerte, fuhr ich zusammen; von meiner Veranda aus horchte ich auf jeden Schritt drunten auf der Straße, auf jedes Pferdegetrappel, jedes Räderrollen; ich hörte die Geräusche näher kommen und sich wieder entfernen. Nie zuvor war mir so klar bewußt gewesen, wie sehr ich an Mahir hing. Endlich, eines Abends, sah ich Licht in seinem Fenster. Dann trat er auf die Veranda, sein Arm hob sich deutlich von dem hellen Rechteck der offenen Tür ab, sandte mir eine Kußhand herüber und bedeutete mir herunterzukommen. Bei uns waren noch nicht alle schlafen gegangen. Dennoch gelang es mir, mich aus dem Haus zu stehlen und zum Gartentor zu laufen. Alle Vorwürfe, die mir auf der Zunge gelegen hatten, waren vergessen. Ich ließ mich von Mahir umarmen, und meine Sehnsucht, ihm ganz zu gehören, war an diesem Abend so überwältigend, daß ich über mich selbst erschrak. Nicht mehr nur vor ihm, vor mir selbst mußte ich mich in acht nehmen, und ich fragte mich, wie lange ich noch die Kraft dazu aufbringen würde. Ich drängte ihn, seinen Antrag nicht noch länger aufzuschieben, und beteuerte, ich wolle seine Frau werden, allen Schwierigkeiten zum Trotz.
V Heirat
1
Das Frauenbad
Irgend etwas bahnte sich an, und ich konnte nicht herausfinden, ob es gut oder schlecht für mich war. Erste Anzeichen bemerkte ich in der Badeanstalt San Stefano. Es war an einem Sonntag vormittag. Bahiga hatte bei mir übernachtet, da ihr Mann und ihr Bruder verreist waren. Nargis kam ins Zimmer und überredete uns, sie zum Strand zu begleiten. Sonntags war mir San Stefano noch verhaßter als an Wochentagen. Als wir anlangten, herrschte bereits Hochbetrieb. Nargis, ganz in ihrem Element, grüßte nach allen Seiten; sie stellte mich Damen vor, die mich ungeniert musterten, ließ sich im Vorbeigehen von allen möglichen Krämerinnen aufhalten, die wertlosen Schmuck und billige Stoffe feilboten, von Kartenlegerinnen und Wahrsagerinnen, deren Stammkundin sie war. Nargis ging nie ins Wasser, das Meer machte ihr angst, sogar in der engen Bucht von San Stefano, doch sie bestand darauf, daß Bahiga und ich baden sollten. Wir zogen uns also um, und als wir aus der Badehütte traten, bemerkten wir in der Nähe Nargis und eine große, stattliche Frau, eifrig ins Gespräch vertieft; sie verstummten plötzlich, und abermals fühlte ich mich durch den prüfenden Blick dieser Frau nackt ausgezogen. Augenzwinkernd stieß mich Bahiga mit dem Ellbogen an, und als wir außer Hörweite waren, sagte sie: »Das ist Amina at-Turkijja, die bekannteste Heiratsvermittlerin von ganz Alexandria. Hast du bemerkt, wie sie dich angeschaut hat? Sie ist deinetwegen hergekommen.« Ich hatte schon von dieser Frau gehört, einer ehemaligen Sklavin der Familie Tüsün; man hatte mir ihren auffallenden, von einer Mauleselin gezogenen Wagen gezeigt und gerühmt, mit welchem Geschick sie die Mädchen an den
Mann zu bringen wußte. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoß, war, daß Amina at-Turkijja von Mahirs Familie beauftragt sei -eine höchst unwahrscheinliche Annahme, denn Mahirs Vater kannte mich ja. Doch wenn man verliebt ist, denkt man selten logisch und glaubt nur zu gerne an das, was man sich wünscht. Ich wandte mich um und rannte mit wehendem Haar zur Badehütte zurück, wobei ich die Heiratsvermittlerin mit einem strahlenden Lächeln bedachte; dann ging ich wieder zu Bahiga und alberte mit ihr im Wasser herum. Ich war überglücklich. Nach einer Weile setzten wir uns in den Sand und warfen Amina at-Turkijja, die uns beobachtete, hin und wieder verstohlene Blicke zu. »Sie ist dabei, meinen Bruder zu verheiraten«, berichtete Bahiga. Ich spitzte die Ohren. Also stimmte meine Annahme! Die Verhandlungen über meine Heirat mit Mahir waren eröffnet und auf gutem Wege. »Sehr gut«, meinte ich, »es wird ja auch Zeit, daß er ans Heiraten denkt.« »Er dachte schon vor zwei Jahren daran, aber das Mädchen, das er wollte, war die Tochter des Protokollchefs, und da weigerte sich mein Vater, einen Antrag zu machen. Er sagte zu meinem Bruder: ›Diese Leute passen nicht zu uns, und obwohl wir dreimal mehr Geld haben als sie, würde deine Frau dich merken lassen, daß sie die Tochter eines Paschas ist, sie würde auf uns herabsehen; so etwas dulde ich nicht. ‹« Ich biß mir auf die Lippen. Würde ich gegen dieselben Vorurteile ankämpfen müssen? Würde Mahirs Vater sich auch unserer Verbindung widersetzen? Verhandelte Amina atTurkijja denn nicht meinetwegen?
Besorgt erkundigte ich mich: »Wer soll denn die Zukünftige deines Bruders sein?« »Ich habe sie noch nicht kennengelernt, aber ich weiß, daß sie die einzige Tochter eines reichen Holzhändlers aus dieser Gegend hier ist. Mahir könnte seinen Abschied nehmen und in das Geschäft seines Schwiegervaters eintreten.« »Und Mahir wäre damit einverstanden?« »Wie sollte er nicht einverstanden sein? Sie ist doch eine schwerreiche Erbin!« Der helle Zorn packte mich; wären wir allein gewesen, ich hätte Bahiga geohrfeigt. Abrupt stand ich auf und ging zur Badehütte zurück. Nargis rief mich, doch ich eilte an ihr und Amina vorbei, als hätte ich nichts gehört. Mit zitternden Händen zog ich mich um. So war das also: Mahir betrog mich! Er wollte eine andere heiraten! Deshalb hatte er sich seit Tagen nicht mehr blicken lassen, deshalb hatte er behauptet, wir dürften uns nicht mehr sehen, um ja nicht ertappt zu werden und alles aufs Spiel zu setzen. Schöne Ausrede, um mich loszuwerden! Aber dem wollte ich meine Meinung schon sagen! Es war ein fürchterlicher Sonntag. Gegenüber Bahiga, die den ganzen Tag nicht von meiner Seite wich, benahm ich mich ganz abscheulich. Sie sah mich verständnislos an und ertrug mich mit einer Engelsgeduld, die mich noch mehr erbitterte. Zu allem Unglück waren an diesem Sonntag Isabelle und Ca-mille nicht zu Hause; nur ihnen hätte ich mich anvertrauen können, nur sie hätten mich beschwichtigen und beraten können. Ich faßte einen aberwitzigen Entschluß. Abends lauerte ich auf Mahirs Heimkehr. Als in seinem Fenster das Licht anging, ließ ich Bahiga mit Mademoiselle Hortense allein im Salon, hastete durch die beiden Gärten und betrat das Nachbarhaus. Alles war still, nur von der Küche her kamen Stimmen. Ich schlich die Treppe hoch. Ein Lichtstrahl
fiel unter einer Tür durch, ich klopfte an. Mahir öffnete. Bei meinem Anblick erstarrte er. Mein Kommen war etwas so Unerhörtes, und ich muß so aufgewühlt ausgesehen haben, daß er wohl dachte, ein Unglück wäre geschehen. Er erbleichte. »Was ist los, Ramsa?« Ich trat ein und stieß die Tür zu. Er war, so glaubte ich, nur deshalb so erschrocken, weil ich sein Doppelspiel entdeckt hatte. Ich sah ihm gerade in die Augen: »Wann soll denn die Hochzeit mit der Holzhändlerstochter sein?« Die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, und sein Blick hellte sich auf. »Hast du mir aber einen Schrecken eingejagt, Ramsa, ich glaubte schon, euer Haus stehe in Flammen!« »Antworte mir! Du hast mich belogen mit deinem Eheversprechen! Glaub ja nicht, daß ich als zweite Frau dienen werde, da kennst du mich schlecht, Mahir!« Er lachte und griff nach meiner Hand. »Faß mich nicht an!« schrie ich. »Ramsa! Wer hat dir denn dieses Märchen erzählt? Wahrscheinlich Bahiga, stimmt's? Wie hast du so etwas nur glauben können?« »Bahiga hat mir bestimmt die Wahrheit gesagt. Und ich weiß auch, daß man in eurer Familie viel Standesbewußtsein besitzt, bei euch wird nur in andere Kaufmannsfamilien eingeheiratet.« Ich hatte ihn mit Absicht verletzt, doch jetzt machte er ein so betrübtes Gesicht, daß ich unsicher wurde. »Ramsa, ich bitte dich!« rief er aus. »Glaub mir doch, niemals, keine Sekunde lang habe ich daran gedacht, eine andere als dich zu heiraten! Mit diesem Mädchen aus Alexandria habe ich überhaupt nichts zu tun, man hat mich
gestern über das Vorhaben informiert, und ich habe es auf der Stelle kategorisch abgelehnt. Ich bin schließlich ein Mann, mich kann man nicht gegen meinen Willen verheiraten. Im übrigen habe ich zu meinem Vater ein sehr distanziertes Verhältnis, er lebt sein Leben, und ich meines. Eigentlich bin ich froh, daß du hergekommen bist, da kann ich dir gleich sagen, wie es jetzt weitergeht. Bevor mein Vater selbst den Antrag macht, wird euch jemand aufsuchen, der mir die Ehre seiner Protektion erweist: Wassif Pascha persönlich. Kein anderer hätte als Vermittler soviel Aussicht auf Erfolg.« Wassif Pascha war damals Gouverneur von Alexandria und ein Freund meines Vaters. All meine Sorgen waren wie weggeblasen. Mahir hielt meine Hände in den seinen, ich spürte seine sanfte Berührung, seine Wärme, und heißes Begehren durchflutete mich. Ich dachte an nichts mehr, als er mich in die Arme schloß und mich küßte, er hätte mit mir tun können, was immer er wollte. Doch er löste sich behutsam von mir. »Ramsa, du mußt jetzt gehen«, murmelte er. »Begreifst du denn nicht, wie unvorsichtig es von dir war, einfach herzukommen? Wenn man dich hier fände, gäbe es einen Riesenskandal! Dein guter Ruf steht auf dem Spiel.« »Um so besser, wenn ich mich kompromittiere«, sagte ich, »dann wäre man nämlich gezwungen, uns zu verheiraten!« »Aber ich möchte dich nicht auf diese Weise zur Frau bekommen«, versetzte er. Er warf einen Blick in den Flur und ins Treppenhaus; der Weg war frei. Nur zögernd trennte ich mich von ihm, enttäuscht und beunruhigt, mit einem Gefühl, als ob ich ihn niemals wiedersehen sollte. Ich gelangte unbemerkt wieder nach Hause. Mir schien, ich sei eine Ewigkeit weggewesen, obwohl inzwischen kaum
zehn Minuten vergangen waren. Bahiga und Mademoiselle unterhielten sich immer noch über Kochrezepte und Stickmuster, sie kamen mir vor wie fremde Wesen aus einer anderen Welt. Ich schützte Müdigkeit vor und ging auf mein Zimmer. Anderntags kam die Heiratsvermittlerin Amina atTurkijja zu Besuch. Nargis ließ mich rufen, und als ich mich weigerte zu erscheinen, erschien sie selbst und überschüttete mich mit Vorwürfen. Es gab einen heftigen Streit. »Ich will diese Weiber nicht mehr hier sehen, Nargis, verstanden? Ich lasse nicht zu, daß man um mich feilscht, ich will nicht verkauft und gekauft und in einen Harem gesperrt werden! Wir leben nicht mehr in Zeiten der Sklaverei, Nargis!« »Ich bin auch eine Sklavin gewesen«, versetzte sie, »und deswegen ist es mir noch lange nicht schlechtgegangen.« »Meinetwegen, aber ich, ich will keine Sklavin sein! Und ich heirate nur den Mann, den ich mir selbst aussuche und den ich haben will!« »Und wie willst du ihn finden, kannst du mir das sagen? Wo nimmst du ihn her, deinen Auserwählten? Von der Straße vielleicht? Willst etwa du ihm einen Heiratsantrag machen? Wenn man Schmuck braucht, läßt man einen Juwelier kommen; wenn man eine Wohnung sucht, wendet man sich an einen Wohnungsmakler; wenn man einen Ehemann will, schaltet man eine Heiratsvermittlerin ein, die eine große Auswahl anzubieten hat! Und diese Türkin ist genau die Richtige, weil sie nämlich alle besseren Familien in Alexandria kennt.« Erst jetzt wurde mir klar, was Nargis im Schilde führte: Ihr gefiel es in Alexandria, und deshalb wollte sie mich hier unter die Haube bringen, um mich dann häufig besuchen zu können. Und ich begriff auch, daß sie trotz meines Widerstandes nicht so schnell auf ihren Plan verzichten
würde. Dennoch verriet ich ihr nichts von mir und Mahir. Vielleicht war es ein Fehler, daß ich sie nicht als Verbündete zu gewinnen versuchte. Doch ich wußte genau, wie gerne Nargis plauderte, und befürchtete, sie könnte meinem Vater gegenüber unbedacht etwas verlauten lassen und ihn gegen mich aufbringen. Am Nachmittag besuchten mich Isabelle und Camille. Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte, und sie amüsierten sich köstlich über meine Zänkereien mit Nargis und der Heiratsvermittlerin. Doch als ich berichtete, daß ich Mahir aufgesucht hätte, machte Camille mir Vorwürfe. Isabelle schwieg, und ihr Gesicht verriet sogar eine Art ungläubiger Bewunderung, die meiner Eitelkeit schmeichelte. Etwas später gesellte sich auch Bahiga mit ihrem unvermeidlichen Stickrahmen zu uns. »Ich weiß gar nicht, was mit meinem Bruder los ist«, sagte sie. »Er hat seinen Burschen hergeschickt, um seine Sachen abzuholen, und ließ ausrichten, er werde jetzt eine Zeitlang in der Kaserne wohnen.« Camille und Isabelle sahen mich an. Ich spürte, daß ich erbleichte, und begann mich von neuem zu ängstigen. Wollte Mahir mir ausweichen? Waren seine Beteuerungen am Abend zuvor lauter Lügen gewesen? Wieder einmal wußte ich nicht, was ich von alledem halten sollte. Ganz in meine Sorgen vertieft, bemerkte ich nichts von der ungewohnten Geschäftigkeit in der Küche. Erst kurz vor dem Abendessen erfuhr ich, daß Wassif Pascha bei meinem Vater zu Gast war. Mahir hatte mich also nicht belogen. Ich ahnte, was er vorhatte: Sein Umzug in die Kaserne war eine reine Vorsichtsmaßnahme; es war ja tatsächlich besser, wenn er nicht in meiner Nähe wohnte, solange die Verhandlungen dauerten.
Ich lag die halbe Nacht wach und fiel erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf. Erst spät erwachte ich und wollte sogleich zum Vater, der wohl schon beim Frühstück saß. Um keinen Preis durfte ich ihn verpassen. Seine Entscheidung würde er mir wohl kaum mitteilen, das wäre höchst unüblich gewesen, aber ich hoffte, seine Miene würde mir alles verraten. Doch o weh, er war bereits fort, und statt seiner erschien Mademoiselle. Sie hatte mich bereits gesucht, denn man hatte ihr einen Zettel von meinem Vater gegeben, den sie mir jetzt vorlas. Die Mitteilung lautete kurz und bündig: »Ich fahre nach Kairo zurück. Sorgen Sie in meiner Abwesenheit bitte dafür, daß Ramsa sich nicht mehr mit ihrer Freundin Bahiga trifft.« Mademoiselle war konsterniert. »Was ist geschehen, Ramsa? Was hat die arme Bahiga denn verbrochen?« Mein strahlendes Gesicht verwirrte sie noch mehr. »Bahiga hat mit der Sache nichts zu tun, Mademoiselle. Aber ich, ich werde ihren Bruder heiraten!« Es dauerte lange, bis sie begriff. Ich erzählte ihr, daß wir uns liebten, Mahir und ich... Alles erzählte ich ihr natürlich nicht. »Aber warum verbietet man Ihnen dann, Bahiga zu sehen, wenn sie doch Ihre Schwägerin werden soll?« »So ist es eben Sitte bei uns, Mademoiselle. Seltsame Sitten, werden Sie sagen, aber so ist es nun einmal: Niemand soll vermuten, daß zwischen mir und meinem Zukünftigen etwas sei! Er darf mir nicht den Hof machen. Man hat kein bißchen Vertrauen in meine Tugend. Macht nichts, ich kann mich gedulden, diesmal nämlich gefällt mir mein Verlobter!« Mademoiselle hatte auf einmal Tränen in den Augen. Ich mißverstand diese Gefühlsregung, und in der Meinung, sie sorge sich um ihre Zukunft, umarmte ich sie und beteuerte, ich
würde mich niemals von ihr trennen, keiner anderen als ihr würde ich die Erziehung meiner Kinder anvertrauen. Wir begannen miteinander zu plaudern, und es schien ihr Vergnügen zu bereiten, noch einmal ihre eigene Vergangenheit zu durchleben, jene glücklichen Tage, als ein eleganter Dragonerhauptmann ihr den Hof gemacht hatte. Unvermittelt fragte ich: »Hat er Sie jemals geküßt, Mademoiselle?« Sie errötete bis in die Haarwurzeln. »Ach, Ramsa, was Sie nicht alles wissen wollen!« »Sagen Sie es mir doch«, beharrte ich. »In den Romanen küssen sich Liebende immer.« »Er hat mich nie geküßt«, flüsterte sie. »Meine Mutter hat uns ja nie allein gelassen.« Ich lächelte mitleidig. Arme Mademoiselle Hortense! Ich dagegen, ich war geküßt worden! Ich hatte in der Liebe mehr Freiheit genossen als sie, schon jetzt war mir ein größeres Glück beschieden als ihr in ihrem ganzen Leben! Tags darauf, als ich mit Mademoiselle von einem Besuch bei meinen französischen Freundinnen nach Hause zurückkehrte, ließ Nargis sie rufen. Mich rief man nicht, aber aus Neugier ging ich kurz darauf nachsehen, was los war. Im Wohnzimmer hatten sich sämtliche Frauen des Hauses versammelt und reichten einander Stoffmuster herum, während eine Schneiderin unter Nargis' Kommando ihnen Maß nahm. Sie waren so in ihre Beschäftigung vertieft, riefen und lachten so laut durcheinander, daß sie nicht bemerkten, wie ich sie von der Tür her beobachtete. Ohne ein Wort schlich ich mich wieder davon, von Freude erfüllt. Wenn es im Harem neue Kleider gibt, ohne daß ein besonderer Festtag bevorsteht, so hat das nur eine Bedeutung: Eine Hochzeit steht bevor. Und wer außer mir hätte die Braut sein können?
Als ich zufällig Nargis antraf, fragte ich sie: »Warum bekommen alle neue Kleider, nur ich nicht?« Sie strahlte übers ganze Gesicht: »Geduld, Töchterchen, du kommst auch noch an die Reihe!« »Laß die Heimlichkeiten, Nargis, ich weiß alles.« »Du hast immer schon mehr gewußt als andere Leute.« »Mein Vater hat also ohne weiteres seine Zustimmung gegeben?« »Seine Zustimmung - wozu?« »Mahirs Heiratsantrag, was sonst?« »Mahir, Muhammad, Mustafa .. .was weiß ich denn, wie er heißt?« Sie lachte immer noch. »Schon recht«, sagte ich, »behalte dein Geheimnis nur für dich!« Auf Nargis' Anweisung fuhr Mademoiselle Hortense mit mir in die Stadt, zu Hannaux, und kaufte für mich ein weißes, perlenbesticktes Kleid, Satinschuhe und einen hübschen Fächer in der Form eines Blumenstraußes, wie sie damals in Mode waren. Mademoiselle wirkte bedrückt und schien meinem Blick auszuweichen. Als ich mich erkundigte, ob ihr nicht gut sei, schüttelte sie nur den Kopf. Und ich, egoistisch wie alle glücklichen Menschen, achtete nicht weiter auf sie. Was mich allerdings erstaunte, war, daß Mahirs Stiefmutter sich immer noch nicht bei uns gemeldet hatte. Fünf Tage waren seit dem Besuch des Gouverneurs vergangen, und wenn so lange keine Frau aus Mahirs Familie sich bei Nargis blicken ließ, dann stimmte etwas nicht.
2
Die Rechte eines Toten
Eines Morgens bemerkte ich von der Veranda aus Bahigas kleines Dienstmädchen, das mir eifrig zuwinkte. Es deutete auf das Tor beim Gemüsegarten. Ich eilte hinaus und fand einen Brief vor. Wieder in meinem Zimmer, riß ich den Umschlag auf und begann begierig zu lesen. Der Brief kam von Mahir, doch seine Neuigkeiten waren die schlimmsten, die ich mir vorstellen konnte. »Dein Vater«, schrieb er, »hat Wassif Pascha gegenüber erklärt, er könne unserer Heirat unmöglich zustimmen, da er bereits durch ein früheres Versprechen gebunden sei. Ich bin verzweifelt. Um mich zu trösten, versicherte mir Wassif Pascha, er würde für mich um jedes Mädchen anhalten, das ich wollte, und wäre es die Tochter des Premierministers. Ich sagte ihm jedoch, daß ich mich niemals verheiraten würde, wenn ich Dich nicht bekommen könne.« Ich fiel aus allen Wolken. Tränen traten mir in die Augen beim Gedanken, daß mein Vater Mahirs Antrag abgelehnt hatte, doch dann wurde ich wütend. Mein Vater war durch ein Versprechen gebunden? Was für ein Versprechen? Das war doch nur ein Vorwand! Dann fielen mir plötzlich die neuen Kleider ein und Nargis' Anspielungen. Man wollte mich verheiraten, soviel war sicher. Aber mit wem? Glaubten die wirklich, ich ließe mich mit irgend jemandem verkuppeln? Ich würde nicht auf Mahir verzichten! Ich war zum Widerstand bereit, zum Aufstand, wenn es sein mußte. In fieberhafter Eile schrieb ich einen vier Seiten langen Brief an Mahir, in dem ich ihn meiner ewigen Liebe und Treue versicherte; ich flehte ihn an, nicht nachzugeben, denn auch ich würde nicht nachgeben, niemals würde ich einer Ehe mit einem anderen zustimmen.
Ich ging hinaus, um den Brief Bahiga zu bringen. Im Flur begegnete ich Mademoiselle Hortense. Ich muß merkwürdig ausgesehen haben, denn sie schaute mich ganz entgeistert an. Ich schob sie in mein Zimmer. »Mit wem will mich mein Vater verheiraten? Wissen Sie etwas?« Sie hatte Tränen in den Augen. »Sie wissen ja, Mademoiselle, wer der Mann ist, den ich liebe. Mein Vater hat seinen Antrag abgelehnt unter dem Vorwand, er habe mich bereits einem anderen versprochen! Wem wurde ich versprochen?« Voll Bitterkeit betonte ich das Wort »versprochen«. Mademoiselle antwortete nicht. »Wer ist es?« Meine Finger krallten sich in ihren Arm. Schließlich brachte sie heraus: »Ich habe gehört, daß Sie einen Bruder Ihres verstorbenen Verlobten heiraten sollen.« Für mich brach eine Welt zusammen. Einen Bruder Midhats! Plötzlich tauchte Midhat wieder auf, den ich doch längst vergessen hatte. Ich war erschüttert und empört: Midhat war tot, diese unglückselige Episode war vorbei und vergessen wie er selbst. Kann man denn Tote ins Leben zurückrufen? Ich bestürmte Mademoiselle Hortense mit Fragen, doch sie wußte weiter nichts. Da machte ich mich auf die Suche nach Nargis. Ich fand sie in der Küche. »Tante, ich muß mit dir sprechen.« Sie starrte mich mit offenem Mund an. Ich muß wohl ein so grimmiges Gesicht gemacht haben, daß sie erschrak und gleich auf mein Zimmer mitkam. »Mit wem will man mich verheiraten?« Wieder einmal versuchte sie auszuweichen: »Hab doch etwas Vertrauen zu uns, Ramsa, er wird dir ein guter
Ehemann sein.« »Gut oder schlecht, wer ist es?« »Das kann ich dir nicht verraten, dein Vater würde sich ärgern!« »Ich will es aber wissen! Wenn du es mir nicht sagen willst, frage ich den Vater selbst.« »Nur das nicht!« »Dann heraus mit der Sprache!« Ich mußte sie lange bearbeiten, bis ich aus ihr alles herausgeholt hatte, was sie wußte. Es war die absurdeste Geschichte, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe, und ich war die Heldin dieser Geschichte! Etwa ein halbes Jahr nach Midhats Tod hatte Nargis begonnen - es war nun einmal ihre fixe Idee -, nach einem anderen Ehemann für mich Ausschau zu halten. »Was willst du«, erklärte sie, »ein Mädchen, das zum Heiraten alt genug ist, muß nun einmal verheiratet werden.« Ich war zu sehr gespannt auf den Rest der Geschichte, um mich in eine Diskussion über dieses Thema einzulassen; mit Nargis wäre ich ja doch an kein Ende gekommen. Nun stand aber meiner Verheiratung ein Hindernis im Weg, berichtete sie weiter: Midhats Familie hatte die Verlobungsgeschenke nicht zurückgefordert. »Warum hat man sie denn nicht einfach zurückgeschickt?« »Unmöglich! So etwas tut man nicht, es wäre eine Beleidigung.« »Und warum sollten mich Midhats Geschenke am Heiraten hindern?« »Weil, solange sie nicht zurückgefordert werden, die Verlobung nicht gelöst ist.« »Die Verlobung mit wem? Mit dem Leichnam Midhats?«
»Eine Verlobung bindet ein Mädchen nicht nur an einen Mann, sondern auch an dessen Familie.« Trotz Angst und Zorn mußte ich lachen. »Das heißt, solange die Geschenke bei uns sind, kann Midhats Familie über mich verfügen?« »Richtig. Sie verlangten also die Geschenke nicht zurück. Ich habe Sitt Chadiga als Vermittlerin hingeschickt, sie sollte ihnen durch die Blume zu verstehen geben, daß sie uns einen Gefallen tun würden, wenn sie die Geschenke zurücknähmen.« »Hast du zu diesem Zeitpunkt schon einen anderen Verlobten für mich in Aussicht gehabt?« »Selbstverständlich! Einen Reichen, und aus einer angesehenen Familie noch dazu. Das versicherte mir Sitt Chadiga.« »Ach ja? Wieviel wollte er denn für mich zahlen?« Nargis ging über meine herausfordernde Bemerkung hinweg; vielleicht begriff sie gar nicht, was ich meinte. »Das stand noch nicht fest«, sagte sie. »Die Verhandlungen wurden abgebrochen, weil dann Midhats Vater sein Recht geltend machte.« »O ja, schließlich hat er ein Vorkaufsrecht... Aber in wessen Eigentum sollte ich denn übergehen, etwa in das von Midhats Vater?« »Nein. Sie haben noch zwei Söhne, Kamaladdin und Fadil, wie Mashar Bey deinem Vater sagte, als er ihn im Auftrag von Midhats Vater aufsuchte. Man lege großen Wert auf eine Verbindung mit unserer Familie, und deshalb lasse man deinem Vater die Wahl zwischen den beiden.« Man ließ meinem Vater die Wahl - wie rücksichtsvoll! Aber daß ich, die Hauptbetroffene, auch ein Wort zu sagen gehabt hätte, daran hatte kein Mensch gedacht! Mit zusammengebissenen Zähnen zwang ich mich, ruhig zu bleiben.
»Sprich weiter, Tante. Mein Vater hat also einen ausgewählt.« »Ausgewählt - da gab es nicht lange auszuwählen. Der jüngere Sohn studiert in Paris die Rechte und wird erst in drei Jahren fertig sein. Bis dahin kann man dich nicht warten lassen, das ist klar. Der ältere, Kamaladdin, ist zur Zeit ebenfalls in Paris, er studiert Medizin, aber er schließt schon diesen Winter ab. Dann wird genau ein Jahr vergangen sein seit Midhats Tod, das paßt prächtig, man braucht die Hochzeit nicht mehr lange aufzuschieben.« »Und diese ganzen Festvorbereitungen sind für den kommenden Winter?« »Nein. Kamaladdin verbringt demnächst ein paar Tage in Kairo, eine gute Gelegenheit für den Katb al-Kitab, den Abschluß des Ehevertrages. Wir sind dann im Monat Radschab — ein günstiger Monat.« Jetzt lächelte Nargis wieder. Der Schrecken, den ich ihr kurz zuvor eingejagt hatte, war verflogen. Nichts hatte sie gelernt aus all unseren Diskussionen und Streitereien. Die Sache mit Midhat hatte ihr nicht im geringsten zu denken gegeben. Nie würde Nargis begreifen, wie schrecklich es für mich war, abermals wie eine Ware behandelt zu werden. Man verfügte über mich, man traf Hochzeitsvorbereitungen, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen. Auf Kommando sollte ich meine Gefühle ein- und umschalten. Man gab mich einem Mann und hielt es für selbstverständlich, daß ich ihn von Herzen lieben und ihm dienen würde. Dieser hier hatte mich noch nie gesehen; er nahm mich nur deshalb zur Frau, weil ich mit seinem älteren Bruder verlobt gewesen war. Ich war ein Objekt, das in der Familie bleiben mußte und das man sich weiterreichte, von einem zum anderen. Falls auch der zweite sterben sollte, so würde der dritte, ein halbes Kind noch, an die Reihe kommen. Und wenn nicht dieser, dann womöglich
der alte Vater! Mir drehte sich der Magen um vor Ekel, alles in mir sträubte sich gegen eine solche Zumutung. Nie, nie würde es zu dieser Heirat kommen, das schwor ich mir. Wie im Traum hörte ich Nargis weiterreden: »Der Katb al-Kitab wird in aller Stille stattfinden, denn die Mutter Midhats ist noch in Trauer; man hat ihr noch nichts von dieser neuen Heirat gesagt. Danach darf dich dein Verlobter täglich besuchen, wenn er will. Dein Vater hat es erlaubt, siehst du nun, wie modern er denkt? Ihr dürft miteinander Tee trinken, ganz wie die Europäer. Er sieht sehr gut aus, alle sagen es. Du wirst ganz bestimmt glücklich mit ihm!« »Auf eins kannst du dich verlassen«, sagte ich und sah Nargis in die Augen, »nie und nimmer werde ich diesen Arzt heiraten!« »Aber dein Vater -« »Ich bin volljährig, und mein Vater ist kein Unmensch. Wenn ich mich gegen diese Ehe sträube, wird er mich nicht dazu zwingen. Gleich jetzt will ich mit ihm reden.« »Tu das nicht, Ramsa, überlaß die Sache lieber mir! Überhaupt ist dein Vater jetzt gar nicht zu Hause.« Ich war nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte, doch es stimmte, mein Vater war ausgegangen. Unter der Tür fiel mir plötzlich mein Brief an Mahir ein, den ich Bahiga bringen wollte. Zwar hatte man mir jeden Kontakt mit ihr verboten, aber ich war nun schon in aufrührerischer Stimmung. Und Bahiga war Mahirs Schwester, mit ihr konnte ich über ihn sprechen. Ich lief in den Garten, kletterte über das Gittertor und stand kurz darauf in Bahigas Zimmer. »Bahiga, du mußt mir helfen!« Sie blickte mich erschrocken an und warf sich dann in meine Arme. »Oh, Ramsa, du bist so lange nicht mehr gekommen,
daß ich schon glaubte, du wärest böse auf mich! Und als ich mich nach dir erkundigen wollte, hat man mich nicht zu dir gelassen.« »Hat dir dein Bruder denn gar nichts gesagt, Bahiga?« »Mein Bruder?« fragte sie verdutzt. »Aber der hat sich doch seit acht Tagen nicht blicken lassen!« »Auch nicht heute morgen? Oder gestern abend?« »Nein, bestimmt nicht, bei mir jedenfalls nicht.« Mahir mußte aber doch seinen Brief abgegeben haben; also mußte er in Alexandria sein. »Weißt du, wo er sich aufhält?« »In der Kaserne, er schickt jeden Tag einen Boten her wegen der Post.« »Na schön, hier ist ein Brief für Mahir, den gibst du dem Mann mit. Sag ihm, er soll ihn Mahir so rasch wie möglich aushändigen.« Wortlos starrte Bahiga erst mich und dann den Brief an. »Ja«, sagte ich, »Mahir und ich, wir lieben uns, wir haben einander geschworen, daß wir heiraten werden.« Sie wußte nicht, ob sie darüber lachen oder weinen sollte. Da ertönten Schritte auf dem Flur; das mußte Mademoiselle Hortense sein. »Schnell«, flüsterte ich Bahiga zu, »versteck den Brief und vergiß nicht, ihn dem Boten zu geben. Später erzähle ich dir alles.« Mademoiselle Hortense, die mir gefolgt war, trat ein. Offenbar wollte sie gleichzeitig meinem Vater gehorchen und mir zu Hilfe kommen. Ich konnte ihr Dilemma verstehen und nahm ihre Hand. »Sie hatten recht, Mademoiselle, man will mich tatsächlich zwingen, einen Bruder Midhats zu heiraten.
Anscheinend kann diese unglückselige Familie ein Recht auf mich geltend machen. Die Verlobungsgeschenke Midhats waren wohl eine Art Anzahlung. Man hat für mich bezahlt, jetzt besteht man auf der Lieferung. Was halten Sie von dieser Sache, Sie, eine Französin?« Sie begann zu weinen und brachte kein Wort heraus. Bahiga begriff überhaupt nichts mehr. »Ja, aber...« stammelte sie, »dann ist es also doch nicht Mahir, den du heiraten wirst?« »Mahir ließ meinem Vater den Antrag übermitteln, und dieser hat ihn abgelehnt unter dem Vorwand, ich sei bereits vergeben. Ich habe soeben erfahren, daß Midhats Familie mich einfordert. Aber ich liebe Mahir, und er liebt mich. Schau mich nicht so an! Hast du denn nicht begriffen, daß ich nur deshalb darauf bestand, mein Vater solle gerade diese Villa mieten, weil ich in Mahirs Nähe sein wollte? Seit wir hier sind, treffen wir uns und schreiben einander.« »Oh, wie konntest du nur! Wenn dein Vater dahintergekommen wäre!« »Ich bereue nicht, was ich getan habe! Ich werde Mahir heiraten, so wahr ich lebe, oder ich bringe mich um!« »Aber Ramsa, und wenn dein Vater sich widersetzt?« »Ich will alles versuchen, um ihn zum Einlenken zu bewegen. Wenn mir das nicht gelingt, dann weiß ich, was ich zu tun habe.« »Mein Gott, so ein Unglück!« jammerte Bahiga. »Und ich habe die ganze Zeit nichts gemerkt! Warum hast du mir nie etwas gesagt? Jetzt werde ich dich verlieren, denn man wird mir verbieten, mit dir zu verkehren, und Mahir werde ich auch verlieren, Gott weiß, wozu er fähig ist!« »Hör auf zu heulen und überleg lieber, wie du uns helfen könntest. Glaubst du, daß dein Mann sich für uns einsetzen würde? Mein Vater achtet ihn sehr.«
»Das ist gegenseitig, du solltest Abdassalim hören, wenn er vom Pascha, deinem Vater, spricht; anscheinend besucht dieser ihn oft in seinem Büro in der Stadt. Ich weiß, daß sie häufig lange Gespräche führen und sich ausgezeichnet verstehen.« »Aber würde dein Mann ein gutes Wort für mich einlegen, auch auf die Gefahr hin, meinen Vater damit zu verärgern?« »O ja, ganz gewiß! Abdassalim steht immer auf der Seite der Verliebten. Er war nicht mehr jung, als er mich heiratete, und lange davor hat er eine seiner Kusinen geliebt. Die Familien waren dagegen, man wollte das Mädchen einem anderen geben, doch am Vorabend der Hochzeit ist sie gestorben; es heißt, sie habe sich vergiftet. Abdassalim selbst hat mir diese Geschichte erzählt, und ich habe ihn oft sagen hören, daß man niemanden zu einer Ehe zwingen darf.« »Gut«, meinte ich, »dann bitte ihn, für meine Sache zu plädieren und sie zu gewinnen, sonst könnte ich noch dasselbe tun wie seine Kusine.« »Oh, Ramsa! Das sagst du doch nicht im Ernst?« Beide hatten Tränen in den Augen, Mademoiselle und Bahiga. »Nun ja«, sagte ich achselzuckend, »ich möchte lieber heiraten als mich umbringen. Aber ich will Mahir und sonst keinen.« Ich schärfte Bahiga ein, wie sie ihrem Mann den Fall darlegen sollte. Wir kamen überein, daß wir in Verbindung bleiben wollten: entweder direkt, wenn Abdassalim Erfolg hatte, andernfalls über Mademoiselle oder Isabelle, denn dann würde man Bahiga bestimmt verbieten, mich zu sehen. Die Aussicht, daß wir womöglich auf immer getrennt und unsere Familien entzweit sein würden, brachte Bahiga von neuem zum Weinen. Ich mußte sie trösten, und die Worte, mit denen
ich sie beruhigte, gaben auch mir ein wenig Vertrauen zurück. Doch Abdassalims Fürbitte nützte rein gar nichts. Ich erfuhr nur über Umwege davon, durch Mademoiselle, die es von Isabelle wußte, die es von Bahiga erfahren hatte. Mein Vater hatte strikte Weisung gegeben, daß ich jeden Umgang mit der Familie Mahirs zu unterlassen habe. Auch meine französischen Freundinnen durfte ich nicht mehr sehen. Zuerst dachte ich, Abdassalim habe sich ungeschickt angestellt. Doch er hatte alles unternommen, was in seiner Macht stand. Mein Vater hatte ihm diese Einmischung in seine Privatangelegenheiten übelgenommen und kategorisch erklärt, er werde niemals in eine Ehe zwischen Mahir und mir einwilligen. Abdassalim ließ mir ausrichten, er glaube nicht, daß mein Vater sich umstimmen ließe, und riet mir, mich dem Verdikt zu beugen. Aber das wollte ich nicht, um keinen Preis, versicherte ich Mademoiselle Hortense, als sie mir diesen Bescheid brachte. Ich beschloß, meinen Fall selbst in die Hand zu nehmen. Vor einer persönlichen Unterredung wollte ich meinem Vater schreiben. Ich verbrachte eine ganze Nacht über dem Brief, korrigierte, schrieb ihn neu und zerriß ihn dann doch. Ich wollte dem Vater verständlich machen, ohne ihn zu verletzen, daß ich fest entschlossen war und nicht nachgeben würde. Den letzten Entwurf schließlich zeigte ich Mademoiselle, die mir riet, einiges noch vorsichtiger zu formulieren. Ich habe diesen Brief, den ich selbst auf den Schreibtisch meines Vaters legte, nicht aufbewahrt, doch ich erinnere mich noch an die Argumente, die ich in respektvollen Worten vorbrachte. Ich appellierte an die Zuneigung, die er mir seit meiner frü-hesten Kindheit entgegengebracht hatte; ich erinnerte ihn an die Erziehung, die er selbst mir hatte angedeihen lassen, die Befriedigung, mit der er sich stets über meine charakterliche
Entwicklung geäußert hatte. Ich erinnerte ihn an einen Satz, den er selbst mir einmal gesagt hatte: »Wer nicht aus freiem Willen gehorcht, gehorcht wie ein Sklave und erniedrigt sich selbst.« Davon ausgehend versuchte ich dem Vater zu erklären, daß sich trotz meines Vertrauens in ihn und trotz meines Wunsches, ihm zu gehorchen, alles in mir gegen die Idee auflehne, Kamaladdin zu heiraten, denn zwischen diesem und mir würde immer sein toter Bruder stehen. Ich erwähnte nichts von meinen heimlichen Begegnungen mit Mahir, sondern gab nur zu, daß wir uns kannten, beteuerte, daß ich mir seiner ehrlichen Absichten und seiner guten Eigenschaften sicher war, daß mir seine Familie durch die Freundschaft mit seiner Schwester bereits nahestand; daß nicht bloß eine flüchtige Laune mich bewegte, sondern eine wahre, starke, keineswegs unvernünftige Liebe. Ich schloß damit, daß ich die Liebe meines Vaters zu meiner Mutter und ihre Liebe zu ihm beschwor. Ich flehte ihn an, mir eine Liebe, wie sie ihm beschieden gewesen war, nicht zu versagen, indem er den Mann, den ich liebte, endgültig abwies und mich einem anderen gab, vor dem ich niemals etwas anderes als Abscheu empfinden könne. »Dieser Brief kann Ihren Vater nicht gleichgültig lassen«, meinte Mademoiselle. Das glaubte ich auch, und im übrigen zählte ich auf eine persönliche Unterredung, die er mir sicherlich gestatten und bei der ich ihn vollends überzeugen würde. Abends versöhnte ich mich mit Nargis. Sie kam von sich aus zu mir und ließ sich meine Pläne erklären, gab auch zu, daß ich recht hatte, und versprach mir ihre Unterstützung. Mein Vater kehrte sehr spät nach Hause zurück. Ich blieb lange auf in der Hoffnung, er werde mich rufen lassen, aber nichts geschah, und so ging ich schließlich zu Bett. Doch schlafen konnte ich nicht. Wieder und wieder formulierte ich
in Gedanken die Argumente, die ich ihm am folgenden Morgen unterbreiten wollte. Alle Einwände widerlegte ich brillant, ohne Mühe gelang es mir, ihn zu überzeugen; schon ließ er Mahir kommen und schloß ihn in die Arme als seinen Sohn; schon wurden wir getraut... Wie nahe lag doch das Glück!
3
Die Flucht
Mein Vater war bereits in dem kleinen Salon neben seinem Arbeitszimmer, als ich am nächsten Morgen mit leicht zitternden Händen die Tür aufstieß. Ich fühlte mich sehr viel weniger selbstsicher als tags zuvor, und als ich ihn dort stehen sah, den Blick auf mich gerichtet, gab es mir einen Stich ins Herz. Mir wurde klar, daß er meinen Brief gelesen hatte und daß es um meine Sache schlecht bestellt war. Ich biß die Zähne zusammen und machte mich auf einen harten Kampf gefaßt. Alles ging ganz schnell. »Ramsa«, begann er, noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, »laß es dir ein für allemal gesagt sein: Ich will von Bahigas Bruder kein Wort mehr hören. Daß er dich gesehen und gesprochen und dir derart den Kopf verdreht hat, ist schon schlimm genug.« »Aber Vater«, rief ich, »er hat mich doch nicht verführt! Ich kenne seine Qualitäten, wir passen zueinander, und mit Ihrer Erlaubnis möchte ich ihn heiraten.« In scharfem Ton fuhr er fort: »Du bist meine einzige Tochter, und ich soll dich dem Sohn eines Krämers geben, einem ungehobelten Kerl, einem subalternen Offizier ohne jede Zukunft? Dummes Kind, willst du ihm für den Rest deines Lebens durch den Sudan nachreisen, von Garnison zu Garnison? Ist das dein Lebensziel?« »Vater, mein Lebensziel ist, den Mann zu heiraten, den ich selbst gewählt habe, den ich achte und liebe. Soviel Selbstachtung habe ich, daß ich mich nicht mit einem Unbekannten verheiraten lassen will, vor allem will ich nicht in diese Familie Sawfat einheiraten, wo man mich wie ein Erbstück von einem Bruder zum nächsten weitergibt.« Mein Vater sah mich an, und ich bemerkte in seinen Augen etwas wie einen Abglanz der Zuneigung, die er mir
früher entgegenbrachte, wenn wir hier in diesem Salon zu dieser Morgenstunde miteinander plauderten. Ich spürte meinen Groll dahinschmelzen. »Ich habe dich offenbar verwöhnt, Ramsa, und jetzt nimmst du dir zuviel heraus. Daran bin ich zum Teil selbst schuld, und deshalb will ich dir erklären, warum ich so gehandelt habe. Wir leben im Orient, Ramsa, und hier bedeutet eine Ehe nicht nur, einen netten Jungen zu heiraten, sondern auch, in eine Familie aufgenommen zu werden. Deine Stellung in der ägyptischen Gesellschaft, dein Ansehen werden in erster Linie von der gesellschaftlichen Stellung dieser Familie abhängen. Wenn ich den Antrag Sawfat Paschas angenommen habe, dann deshalb, weil seine Familie zu den ersten unseres Landes zählt, weil es eine in jeder Beziehung geachtete Familie ist. Ich wußte zudem, daß diese Verbindung dich keinerlei Opfer kosten würde, denn dein zukünftiger Mann ist weder ein Greis noch ein Schwachkopf noch ein Kranker, auch keiner, der allzusehr einem Denken verhaftet ist, das du als überholt betrachtest. Ich kenne deine Ansichten, deine Neigungen, und ich habe ihnen Rechnung getragen, glaub mir. Wie Midhat hat auch sein Bruder Kamaladdin in Europa studiert, er ist fortschrittlich eingestellt, und ich bin überzeugt, daß er hier eine glänzende Karriere vor sich hat. Er ist jung und wird dir gefallen; eine bessere Partie kannst du dir gar nicht wünschen. Schau, ich rede so offen mit dir, wie es ein französischer oder englischer Vater mit seiner Tochter tun würde. Es gibt aber noch einen triftigen Grund: Selbst wenn ich es wollte, könnte ich den Antrag Sawfat Paschas nicht zurückweisen. Die Verpflichtung, die ich eingegangen bin die wir, du und ich, mit der Annahme der Geschenke zu deiner Verlobung mit Midhat eingegangen sind -, diese Verpflichtung Sawfat Pascha gegenüber besteht nach wie vor, denn er hat die Geschenke nie zurückgefordert.«
»Vater«, sagte ich, »für all diese Gründe habe ich Verständnis. Aber ich liebe Mahir, ich werde nie einen anderen lieben! Sie sind eine Verpflichtung eingegangen, aber auch ich habe mein Wort gegeben - ich habe Mahir versprochen, keinen anderen als ihn zu heiraten.« Wütend packte mein Vater mich am Arm und schüttelte mich. Sein Gesicht lief rot an, und seine Augen funkelten vor Zorn. Einen Moment lang dachte ich, er wolle mich schlagen oder erwürgen. »Genug jetzt!« schrie er. »Geh auf dein Zimmer und bleib dort, bis wir abreisen! Morgen fährst du mit mir nach Kairo zurück. Und niemals, hörst du, niemals wirst du diesen elenden Nichtsnutz heiraten!« Er eilte hinaus und knallte die Tür zu. Ich ging nach oben, warf mich aufs Bett und schluchzte zum Steinerweichen. Aber bald faßte ich mich wieder. Ich war allein. Mein Vater war wie üblich aus dem Haus gegangen, das wußte ich; Mademoiselle war noch nicht von der Messe zurückgekehrt; Nargis hielt sich um diese Zeit noch in ihrem Zimmer auf. Hastig zog ich mich um: schwarzes Kleid, Gesichtsschleier, schwarze Milaja. Es gibt nichts Anonymeres, nichts, was eine Persönlichkeit radikaler auslöscht als das dunkle Gewand muslimischer Frauen. Ich steckte mein ganzes Geld in die Handtasche, ziemlich viel, denn mein Vater war nie knauserig gewesen, dazu meinen wertvollsten und am leichtesten verkäuflichen Schmuck. In der Küche fand ich einen Korb, den ich mir auf den Kopf setzte. Dann verließ ich leise, ohne daß mich jemand bemerkte, durch den Dienstboteneingang das Haus. Ich wollte zu Mahir und ihn heiraten, sobald ich ihn gefunden hätte. Aber wie sollte ich ihn finden? Zu Bahiga traute ich mich nicht. So schlug ich den Weg nach Bakos ein, dort waren immer Mietdroschken stationiert, auch
geschlossene Coupes für Frauen. Ein solches nahm ich und befahl dem Kutscher, nach Mustafa Pascha zu fahren, wo, wie ich wußte, die Kasernen lagen. Gerade in diesem Moment entdeckte ich auf dem Gehsteig vor der Kirche Mademoiselle Hortense. Ich ließ das Coupe halten, stieß den Schlag auf, zog sie zu mir auf den Sitz, und schon ging es weiter. Sie begriff nicht, was los war, und ich erklärte ihr auch nichts; aber mit ihr an meiner Seite fühlte ich mich sicherer. Ich hatte Glück. Als wir uns den Kasernen näherten, bemerkte ich auf der Straße einen jungen Offizier. Ich erkühnte mich, ihn anzusprechen und zu fragen, ob er Mahir kenne. Es stellte sich heraus, daß er ein Freund Mahirs war, und er erklärte sich bereit, ihn zu benachrichtigen, konnte aber nicht versprechen, daß er ihn sofort finden würde. Ich war entschlossen, so lange wie nötig zu warten, doch kaum eine Viertelstunde später tauchte Mahir auf. Er war verblüfft, mich hier zu sehen, und bestürzt, als er erfuhr, daß ich von zu Hause weggelaufen war. Ich erklärte ihm rundheraus, wir müßten noch am selben Tag getraut werden. Das paßte ihm offensichtlich nicht; er zögerte, weigerte sich zunächst, stimmte jedoch angesichts meiner Entschlossenheit schließlich zu. Mahir begab sich wieder in die Kaserne, um sich abzumelden, und kam in Zivilkleidung zurück. Er bestieg eine Droschke, die unserem Coupe folgte. Mademoiselle Hortense hatte von unserem in Arabisch geführten Gespräch kein Wort verstanden. Wir langten beim Masun an, dem Heiratsnotar. Ich wußte, daß ich auch ohne Zustimmung meines Vaters heiraten konnte, hatte aber nur eine vage Idee vom Prozedere; ich hatte mir Komplikationen vorgestellt, die es gar nicht gab. Noch am selben Vormittag war ich Mahirs gesetzlich angetraute Ehefrau.
Am langsamsten schienen die zwei Stunden zu verstreichen, die ich mit Mademoiselle Hortense wartend in einem Kämmerchen neben dem Büro des Masun ausharren mußte. Von Zeit zu Zeit streckte Mahir den Kopf herein und hielt mich über den Fortgang auf dem laufenden. Der Masun hatte natürlich sofort begriffen: Wenn ein Paar zu ihm kam, anstatt daß er, wie es Brauch war, ins Haus gerufen wurde, dann heiratete es gegen den Willen der Eltern. Mahir hatte jedoch diskret eine ansehnliche Geldsumme auf den Schreibtisch des Beamten gelegt und damit dessen letzte Skrupel beseitigt. »Ich sehe schon«, hatte der Mann zu Mahir gesagt, »gegen das Unvermeidliche kommt niemand an. Ihr gehorcht ja dem Gebot des Propheten, der da sprach: Heiratet und vermehret euch, auf daß das Volk der Gläubigen zahlreicher werde! Nun denn, Gottes Segen über euch.« Mahir lachte, als er mir das berichtete. Für einen angemessenen Betrag erklärte sich der Masun bereit, zwei Zeugen und einen »Wakil« aufzutreiben. Die Zeugen gaben zu Protokoll, daß sie mich kannten und daß ich volljährig und frei sei. Der Wakil, mein »Rechtsvertreter«, stand neben Mahir und hielt dessen Hand unter dem rituellen Tuch in der seinen, während der Masun die Fatiha und die übrigen vorgeschriebenen heiligen Texte rezitierte. Meine ganze Rolle bestand darin, »ja« zu sagen, als die beiden Zeugen, ohne auch nur den Raum zu betreten, in dem ich mich aufhielt, meine Einwilligung verlangten. Der unsichtbare Wakil sagte daraufhin zu Mahir: »Dem Mandat entsprechend, das ich von Ramsa Farid erhalten habe, gebe ich sie Ihnen hiermit zur Frau.« Gleich anschließend begaben wir uns ins Gerichtsgebäude. Zum Glück war der Kadi anwesend, und wir wurden sofort vorgelassen. Er konnte die Eintragung des Ehevertrages nicht verweigern, und ich mußte nicht einmal
nachweisen, daß ich volljährig war; die Aussage der beiden Zeugen vor dem Masun genügte. Der Kadi war ein finster dreinblickender alter Scheich, dem die Sache ganz und gar nicht gefiel. Er machte uns darauf aufmerksam, daß eine unter solchen Umständen geschlossene Ehe zu einem Nichtigkeitsbegehren führen konnte. Seine Worte gaben mir einen Stich ins Herz, aber ich redete mir ein, daß mein Vater es bestimmt nicht auf einen Prozeß ankommen lassen würde. Erst jetzt eröffnete ich Mademoiselle, ich sei verheiratet. Sie hatte es schon erraten und geschwiegen, denn sie hatte mich weder umstimmen noch meine Komplizin sein wollen. Sie umarmte mich und wünschte mir viel Glück. »Wir werden zusammenbleiben«, sagte ich. Sie lächelte, ohne zu antworten. Dann begleitete sie uns zum Bahnhof. Wir vereinbarten, ich würde ihr schreiben, damit sie später zu mir kommen könne. Sie stand auf dem Bahnsteig, reglos, und blickte dem Zug nach, der mich davontrug. Ich empfand nur Entschlossenheit, kein Bedauern. Was ich getan hatte, hatte ich im vollen Wissen um die möglichen Folgen getan. Nur etwas zählte für mich: mit Mahir zu leben. Wenn ich dazu meine Familie verlassen und auf all das verzichten mußte, was das Dasein eines reichen, verwöhnten Mädchens ausmachte, dann wollte ich mich gerne damit abfinden. Vielleicht würde ich meinen Vater nie wiedersehen und auch Nargis nicht; ob ich das Versprechen, das ich Mademoiselle Hortense gegeben hatte, würde halten können, war keineswegs sicher. Der Abschied von ihr schmerzte mich genauso wie sie. Im Zug durfte ich nicht einmal bei Mahir sitzen; Frauen mußten damals in einem Haremsabteil reisen. Doch wir konnten draußen im Gang eine Weile miteinander besprechen, was wir nach unserer Ankunft in Kairo tun wollten. Wir beschlossen, direkt zu Mahirs Vater zu gehen.
Daß er uns mit offenen Armen empfangen würde, hatten wir nicht gerade erwartet, aber der Wutausbruch, mit dem er reagierte, übertraf unsere schlimmsten Befürchtungen. Er überhäufte Mahir in meiner Gegenwart mit Vorwürfen und beschuldigte ihn, Schande über ihn gebracht zu haben. Auch mir gegenüber hielt er nicht hinter dem Berg. »Das Klügste, was Sie jetzt noch tun können«, sagte er, »ist, sofort zu Ihrem Vater zurückzukehren oder ihn telegrafisch zu bitten, Sie hier abzuholen. Mahir soll Sie verstoßen, über die Scheidung kann man sich gütlich einigen, und dann bleibt wenigstens der Skandal in Grenzen.« Ich weigerte mich entschieden, zu meinem Vater zurückzukehren, der mich wahrscheinlich gar nicht mehr aufgenommen hätte. Betroffen starrte ich Mahir an, der mit keinem Wort protestiert hatte. Ich erwartete, er würde die Zumutung, mich zu verstoßen, resolut von sich weisen, doch er stand wie ein gescholtener Schuljunge mit gesenktem Kopf vor seinem Vater. Das berührte mich unangenehm, und zum ersten Mal kamen mir Zweifel über unsere Zukunft. Nicht nur weigerte sich Mahirs Vater, uns in seinem Hause aufzunehmen, er wollte auch nicht zulassen, daß Mahir und ich unter demselben Dach wohnten. »Aber wir sind doch verheiratet!« rief ich aus. Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Eine solche Ehe ist in meinen Augen ungültig.« Ich wandte mich an Mahir. »Willst du es einfach hinnehmen, daß man uns bereits jetzt voneinander trennt?« Er war totenbleich. »Fürs erste«, murmelte er, »ist es wohl am besten so.« »Kennen Sie hier in Kairo«, wollte mein Schwiegervater wissen, »eine befreundete Familie, bei der ich Sie unterbringen kann?«
Ich nannte ihm einige Namen, und einer davon, Scheich Abdalmuti, war ihm bekannt. Er ließ anspannen, um mich zu ihm zu bringen. Erst als ich mich weigerte, ihm zu folgen, erlaubte er Mahir mitzukommen. Der Scheich wohnte in Darb al-Gamamis, einem der alten Viertel ganz in der Nähe unseres früheren Hauses am Chalig. Als Kind hatte ich den alten Scheich Abdalmuti sehr gern gehabt; er war ein Koloß, ein richtiger Bonvivant und stets guter Laune. Ich hielt ihn für einen großmütigen Menschen und hoffte, ihn auf meine Seite ziehen zu können. Er fiel aus allen Wolken, als ihm Mahirs Vater ohne Einleitung verkündete, er sei gekommen, um ein zuchtloses Mädchen seiner Obhut anzuvertrauen, das gegen den Willen des Vaters einfach geheiratet habe. »Aber ich bin volljährig«, verteidigte ich mich, »ich habe das Recht, zu heiraten, wen ich will!« Der Scheich schüttelte tadelnd den Kopf, und mein Schwiegervater wurde zornrot. »Auch ich habe eine Tochter«, stieß er hervor, »und wenn sie dasselbe getan hätte wie Sie, dann hätte ich sie erwürgt!« Mit ihm zu diskutieren war unmöglich. Ich bat, einen Augenblick allein mit Mahir sprechen zu dürfen. Sein Vater wollte es nicht zulassen, aber der Scheich führte uns in sein Arbeitszimmer; ich ließ wohlweislich die Tür offen. »Mahir«, begann ich, »wir sind verheiratet, und ich bin entschlossen, mit allen Mitteln für unser Glück zu kämpfen. Ich will nicht zu meinem Vater zurück, und wenn er auf einer Scheidung besteht, werde ich mich mit allen Kräften wehren. Ich bitte dich, laß mich jetzt nicht im Stich!« Er beteuerte, er sei nicht weniger entschlossen als ich. »Aber warum sollten wir uns dann trennen?« wandte
ich ein. »Laß uns von hier weggehen und vor Gott und den Menschen wie Eheleute leben!« Das wollte er nicht. Er versprach, noch einmal alles zu unternehmen, um seinen und meinen Vater zum Einlenken zu bewegen. Schließlich gelang es ihm, mich zu überzeugen. Mit Tränen in den Augen schaute ich ihm nach, als er fortging. Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen. Scheich Abdalmuti strich sich den Bart und sah mich kopfschüttelnd an. »Du hast den falschen Weg eingeschlagen, Ramsa«, meinte er. Ich hatte meine Kampfeslust wiedergefunden. »Es gibt schlechtere Menschen als mich! Ich habe doch nichts anderes getan, als rechtmäßig den Mann zu heiraten, den ich kenne, den ich liebe, mit dem ich mein ganzes Leben verbringen will. Ist das ein Verbrechen? Und dieser Alte, der, ohne daß er mich je gesehen hat, mich gegen meinen Willen in seinem Haus haben will wie eine Ware, für die er bezahlt hat und auf deren Lieferung er besteht? Und sein Sohn, der mich genommen hätte, ohne mich zu kennen, nur weil ich einmal mit seinem verstorbenen Bruder verlobt war ? Was halten Sie von denen ? Und was halten Sie von meinem Vater, der gegen seine innerste Überzeugung, ohne meine Weigerung, meine Abscheu zur Kenntnis zu nehmen, mich zu einer solchen Ehe zwingen wollte ?« »Hinter unseren Traditionen steckt mehr Weisheit, als du denkst, Ramsa«, versetzte der Scheich. »Junge Menschen lassen sich allzu leicht von Leidenschaften hinreißen und in die Irre führen. Eltern haben einen kühleren Kopf und sind besser in der Lage, die richtige Wahl zu treffen.« Ich widersprach: Eltern sähen nicht über ihre Vorurteile hinaus, sie ließen sich blenden vom Ehrgeiz, ihre Söhne und
Töchter möglichst vorteilhaft zu verheiraten. Ihnen ginge es nur darum, Ländereien oder Geld anzuhäufen, nicht um das Glück ihrer Kinder! »Du irrst dich, Ramsa. Das Glück besteht zu einem großen Teil aus einer wohlausgewogenen Mischung all dieser Interessen, für die du nur Verachtung übrig hast. Verliebte werden selten glückliche Ehepaare. Ich will ganz offen mit dir reden: Du wirst mit diesem jungen Mann nie glücklich werden. Du erwartest dir viel von ihm, weil du in ihn verliebt bist, er aber wird dir nicht viel geben können.« »Sie kennen ihn ja gar nicht!« protestierte ich. »Ich habe ihn vorhin zum ersten Mal gesehen, das stimmt, aber ich bin kein schlechter Menschenkenner. Der da müßte schon sehr viel intelligenter und gutmütiger sein als alle anderen, um dir nicht schon bald vorzuwerfen, du hättest sein Leben zerstört.« »Ich werde ihn glücklich machen!« »Du wirst ihn lieben, wenigstens eine Zeitlang. Jemanden glücklich machen, das ist eine ganz andere Sache.« »Ich kann mir Glück ohne Liebe nicht vorstellen; ich kann mir nicht einmal ein Leben ohne diesen Mann vorstellen!« »Und was erwartest du nun von mir? Daß ich gutheiße, was du gemacht hast? Das kann ich nicht. Daß ich dir helfe? Schön, ich werde mit deinem Vater sprechen. Inzwischen kannst du, solange es nötig sein wird, hierbleiben. Suhair und Chadiga sind im Harem. Geh jetzt zu ihnen, du kennst ja den Weg.«
VI Das unerreichbare Glück
1
Der Prozeß
Ich hatte mich selbst betrogen mit der Annahme, mein Vater werde, vor vollendete Tatsachen gestellt, schon einlenken. Einen Tag nach meiner Flucht - er hatte erst spätabends davon erfahren - kehrte er nach Kairo zurück. Man hat mir später erzählt, er habe in fürchterlichem Zorn Nargis und Mademoiselle Hortense die schwersten Vorwürfe gemacht und geschworen, daß er entweder seinen Willen durchsetzen oder mich umbringen werde. Gleich nach seiner Ankunft in Kairo hatte er rechtliche Schritte gegen Mahir und mich eingeleitet, um unsere Eheschließung für ungültig erklären zu lassen. Als es Scheich Ab-dalmuti endlich gelang, ihn zu sprechen, war es zu spät; der Fall lag bereits dem Gericht vor. Der Scheich berichtete mir, mein Vater denke schon nicht mehr daran, mich umzubringen, er erlaube mir sogar, nach Hause zurückzukehren unter der Bedingung, daß ich ihm niemals wieder unter die Augen trete. Ich war versucht, es zu tun, aber dann zog ich es doch vor, im Harem des Scheichs zu bleiben; hier fühlte ich mich zwar nicht freier, aber weniger bevormundet. Mein Vater erlaubte, daß Mademoiselle Hortense zu mir zog. Ich war sehr froh, sie während der schweren Zeit, die mir bevorstand, bei mir zu haben. Zwischen meinem Vater und mir hatte ein offener Kampf begonnen. Ich liebte ihn aber immer noch und litt schrecklich darunter, ihm dies antun zu müssen. Auch er, davon bin ich überzeugt, hatte mich genauso lieb wie früher, wenn er sich nicht vom Zorn blenden und in seinem Denken und Handeln beeinflussen ließ. Und dennoch waren wir entschlossen, bis aufs Messer zu kämpfen. Wir waren beide von derselben Art, wir hatten denselben unbeugsamen Willen, denselben Dickschädel.
Scheich Abdalmuti, der loyal zu mir hielt, vermittelte mir einen Anwalt. Scheich Mustafa al-Maghribi hatte sich, obgleich noch jung, bereits einen Namen gemacht. Zwar trug er den Kaftan und den Turban der Scheichs, doch vertrat er liberale Ansichten. Er übernahm meinen Fall und wollte sich mit allen Kräften dafür einsetzen. Mahir machte mir Sorgen; ich befürchtete, er werde sich von seinem Vater einschüchtern lassen und mich verstoßen. Lieber wäre ich gestorben, als eine solche Schande auf mich zu nehmen. Ich sah Mahir nur selten. Scheich Mustafa unterstützte mich, indem er ihn ermunterte, sich zu wehren, und ihm gute Ratschläge erteilte. Die Nachricht von meiner Heirat verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Mir wurde bald klar, daß sie schon nach wenigen Tagen in ganz Kairo bekannt und durch sämtliche Haremsmauern gedrungen war. Ich erhielt sogar Briefe von jungen Frauen, die mir viel Glück und guten Mut wünschten. Je näher der Verhandlungstermin rückte, desto mehr wurde meine Kampfeslust angestachelt. Um ehrlich zu sein Mahir trat ziemlich in den Hintergrund, wenn ich an ihn dachte, dann fast nur noch als an einen Kampfgefährten. Ich hatte mir Gesetzbücher besorgt und besprach unsere Erfolgsaussichten mit Scheich Mustafa; meine Begeisterung und Siegesgewißheit steckten ihn an. Allerdings verheimlichte er mir nicht, daß der für den Fall zuständige Richter nicht das geringste Wohlwollen für mich hegte. Er hatte selbst Töchter und befürchtete, ich könnte ihnen ein schlechtes Beispiel geben! Mir war klar, daß ich alle Eltern gegen mich hatte und daß die Richter zu den erbittertsten Feinden meiner Sache gehörten. Doch Scheich Mustafa und ich hatten das Strafgesetz durchgeackert und hielten es für unmöglich, daß man einen
triftigen Grund für die Annullierung meiner Ehe finden könne. Der vor dem Maamur in Alexandria geschlossene Vertrag war unanfechtbar. Ich war volljährig und zurechnungsfähig. Mahir hatte für mich eine Brautgabe von fünfhundert Pfund bar bezahlt und sich zu einer weiteren Zahlung in gleicher Höhe verpflichtet. Diese Summe entsprach durchaus dem, was damals in meinen Kreisen üblich war. Man konnte also, versicherte mir der Scheich, Mahir nicht vorwerfen, meiner unwürdig zu sein, denn laut gängiger Rechtsprechung war die Höhe der Brautgabe maßgebend für die Beurteilung des gesellschaftlichen Ranges. So war ich denn voller Zuversicht. Wenn wir uns - was selten genug vorkam - trafen, schmiedeten Mahir und ich Zukunftspläne. Wir zählten unseren Besitz. Neben den fünfhundert Pfund der Brautgabe hatte ich weitere zweihundert sowie den Schmuck meiner Mutter, den ich mitgenommen hatte und der einen beträchtlichen Wert darstellte. Mahir besaß etwa hundert Feddan gutes Ackerland und ein Haus im Schubra-Viertel. Zusammen mit seinem Sold reichte dies für unseren Lebensunterhalt aus. Wir kamen überein, daß er gleich nach der Urteilsverkündung ein Gesuch um Versetzung in den Sudan stellen würde; dort wollten wir so lange bleiben, bis über die ganze Sache Gras gewachsen war. Ach, wäre es nur schon soweit gewesen! Am Tag des Prozesses spürte ich eigentlich keine Angst, war aber doch sehr nervös. Natürlich durfte ich als Frau nicht an der Verhandlung teilnehmen. Doch das Gerichtsgebäude lag ganz in der Nähe des Hauses von Scheich Abdalmuti, und mein Anwalt hatte mir versprochen, mich unmittelbar nach der Urteilsverkündung aufzusuchen. Vom Fenster aus, hinter dem ich ungeduldig wartete, sah ich ihn und Mahir auf das Haus zukommen, und da
begriff ich sofort, daß wir den Prozeß verloren hatten. Scheich Mustafa war außer sich. »Der Kadi«, rief er empört, »wollte nicht einmal mein Plädoyer anhören, seine Entscheidung war längst gefällt! Aber dieses Urteil ist ein Skandal, gleich morgen werden wir Berufung einlegen!« Mahir stand noch unter dem Schock der erlittenen Demütigung. Der Anwalt meines Vaters, berichtete er, habe ihn regelrecht durch den Schmutz gezogen, um auf den angeblichen Standesunterschied zwischen unseren beiden Familien zu pochen, der eine Verbindung unmöglich machte. »Dieser Schuft!« stieß er hervor, kreidebleich vor Wut. »Er hat mich den ›obskursten aller obskuren Emporkömmlinge‹ genannt, das waren seine Worte! Wie verächtlich hat er von meinen bäuerlichen Vorfahren gesprochen: ›Regenwürmer‹ wären sie! Meinen Vater hat er heruntergemacht: ›Ein Fellachensohn‹, der sein Vermögen Millim um Millim, Piaster um Piaster zusammenkratzen mußte Was mich betrifft«, fuhr Mahir fort, »so machte er es sich einfach - ich wäre ein hundskommuner Soldat. Er hat angedeutet, ich sei nur darum an der Militärakademie zugelassen worden und hätte mein Offizierspatent nur darum erwerben können, weil man heutzutage die größten Nullen, die dümmsten Bauerntrottel in die Armee aufnehme, junge Leute aus gutem Hause würden sich ja hüten, diesen Beruf zu wählen.« Scheich Mustafa wollte ihn damit trösten, das sei nun mal eben die Sprache der Advokaten, doch Mahir fühlte sich tief in seiner Würde verletzt. Ich litt mit ihm und hätte diese Schmach gerne mit meinem eigenen Blut ausgelöscht; auch befürchtete ich, daß er sich deswegen von mir abwenden könnte.
Wie mir Scheich Mustafa erklärte, hatte mein Vater dem Gericht einen Erlaß von Sultan Abdulhamid vorgelegt, der ihn als Scharif qualifizierte, als Abkömmling von Imam Hussain, dem Enkel des Propheten. Das verlieh unserer Familie gegenüber derjenigen Mahirs einen so hohen Rang, daß der Richter unsere Ehe für nichtig erklären konnte, indem er sich auf das Gesetz des Korans berief, das die Ehe einer muslimischen Frau mit einem Mann von niedrigerem Stand verbietet. Laut Scheich Mustafa war dieses Argument offensichtlich nur ein Vorwand und nicht der wahre Grund für die Entscheidung des Richters gewesen. Was dieser öffentlich verurteilen wollte, war die Tatsache, daß zwei junge Menschen sich ihren Ehepartner selbst gewählt hatten, ohne auf den Willen ihrer Familien Rücksicht zu nehmen. Genau in diesem Sinne wurde das Urteil auch von der presse interpretiert. Schon am nächsten Tag begann eine leidenschaftlich geführte Polemik zwischen den Hütern der Tradition und den Verfechtern einer fortschrittlicheren Moral. Die Kontroverse verbreitete sich über Ägypten hinaus und verschärfte den Konflikt zwischen Sultan Abdulhamid und den Jungtürken. Täglich erschienen auf den Titelseiten der Zeitungen wortgewaltige Stellungnahmen für oder gegen meine Sache. Von den einen wurde ich voller Haß angegriffen, von den anderen glühend verteidigt. Zuweilen fühlte ich mich beinahe geschmeichelt, aber meistens packte mich eine wilde Angst, daß all der Aufruhr mich noch um die letzte Chance bringen würde, mit Mahir zusammenzubleiben und mich mit meinem Vater zu versöhnen. Scheich Mustafa gab mir neuen Mut. Er hatte Berufung eingelegt und war zuversichtlich, daß angesichts eines solchen
Echos in der Öffentlichkeit kein Richter sich erlauben würde, das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen. Eines Tages kam er freudestrahlend zu mir. »Der Khedive ist auf unserer Seite!« rief er schon von weitem. In der Tat hatte der Khedive öffentlich über unseren Prozeß gesprochen und seinen Wunsch ausgedrückt, die Liebe möge siegen. Das überraschte mich, denn ich hatte immer geglaubt, er sei meinem Vater freundschaftlich verbunden oder schätze ihn doch wenigstens. Aber der Khedive Abbas war ja kaum dreißig Jahre alt, verständlich, daß er für die Jugend Partei ergriff. Wie Scheich Mustafa erfahren hatte, waren es allerdings vornehmlich politische Erwägungen, die den Khediven zu seiner Stellungnahme veranlaßten. Der britische Generalkonsul, Lord Cromer, habe sich zugunsten meines Vaters eingesetzt, hieß es, Grund genug, daß der Khedive die Gegenposition bezog. Ich hatte meine Zweifel, daß der Khedive der mächtigere dieser beiden mächtigen Männer war. Doch die Nachricht von der Intervention Lord Cromers, ob wahr oder falsch, entfesselte die nationalistische Presse. Noch nie war soviel über die Freiheit geredet und geschrieben worden. Es schien, als sei ich mit meiner Forderung nach der Freiheit, den Mann meiner Wahl zu heiraten, zur Bannerträgerin der ägyptischen Unabhängigkeit geworden. Die Zeitungen überboten sich in Schlagzeilen: SKLAVINNEN KÖNNEN NUR SKLAVEN GEBÄREN hieß es etwa, oder: FREIHEIT FÜR UNSERE MÜTTER, FRAUEN UND TÖCHTER FREIHEIT FÜR DIE KOMMENDEN GENERATIONEN!
BEDEUTET
Ich fand all meine feministischen Ideen bestätigt,
übersteigert, verherrlicht. Manchmal ergötzte ich mich daran, ja, mehr und mehr fühlte ich mich als Heldin. In anderer Hinsicht hatte ich wenig Grund zur Zufriedenheit. Was man mir von meinem Vater berichtete, ließ nichts Gutes ahnen. Er habe geschworen, hieß es, mich seinem Gutsverwalter zur Frau zu geben! Ich kannte den Mann, sechzig Jahre war er alt! Ohne diese Drohung allzu ernst zu nehmen, verbohrte ich mich immer mehr in die Idee, mich mit allen Kräften gegen alles zu wehren, was man mir aufzwingen wollte. Aber auch Mahirs Kleinmut ärgerte mich. Kaum war seine erste Empörung verflogen, zeigte er sich von neuem feige und unentschlossen. Er wagte es kaum, mich zu besuchen, und wenn er kam, blieb er auf Distanz, sogar wenn man uns im Salon von Scheich Abdalmuti allein ließ. Eines Tages konnte ich es mir nicht verkneifen, ihn darauf anzusprechen: »Liebst du mich überhaupt noch, Mahir?« Er beteuerte, seine Liebe zu mir sei stärker als jemals zuvor. »Manchmal frage ich mich«, fuhr ich fort, »ob du mich tatsächlich geheiratet hast, oder ob ich nur geträumt habe, daß wir vor dem Masun in Alexandria einen Ehevertrag unterschrieben. Sonderbare Ehe!« »Was kann ich dafür?« murmelte er. »Mein Vater macht mir jeden Tag eine Szene, weil ich noch immer Kontakt zu dir habe.« Da brach es aus mir heraus: »Bringst du es denn nicht fertig, dich zwischen deinem Vater und mir zu entscheiden? Ich habe, um dich zu heiraten, mit meinem Vater gebrochen, und du läßt dich immer noch von deinem Vater tyrannisieren? Gerade jetzt steigt man für die Emanzipation der Frau auf die Barrikaden - müssen wir Frauen auch noch für die
Emanzipation der Männer kämpfen?« Er erbleichte, und ich befürchtete, zu weit gegangen zu sein. »Versteh mich doch, Mahir, ich liebe dich, und nichts wird mich daran hindern, wirklich deine Frau zu sein. Wenn du es nicht wagst, in Kairo mit mir zusammenzuleben, dann ersuche doch um Versetzung in den Sudan! Ich komme mit dir, ich bin bereit, mit dir bis ans Ende der Welt zu gehen.« Wieder einmal predigte er mir Geduld. Er rechnete damit, daß das Appellationsgericht unsere Ehe als gültig erachten werde, und hoffte, mein Vater werde angesichts vollendeter Tatsachen nachgeben. »Was für vollendete Tatsachen?« schrie ich. »Mein Vater hat Freunde unter den Richtern, und die Engländer, die Herren in unserem Lande, stehen ebenfalls auf seiner Seite! Was willst du tun, wenn das Ersturteil bestätigt wird? Eine vollendete Tatsache wäre, daß wir vor Gott und den Menschen wie Eheleute zusammenlebten, daß wir ein Kind hätten und stolz darauf wären!« An jenem Tag überredete ich ihn schließlich, aus dem Haus seines Vaters fortzuziehen und eine Wohnung zu suchen. Doch die Zeit verging, und Mahir ließ sich nicht mehr blicken. Es fiel mir immer schwerer, im Harem Scheich Abdalmutis eingesperrt zu leben. Seine Frau und seine Tochter waren sehr liebenswürdig, aber gänzlich ungebildet; ihr Horizont ging nicht über den täglichen Kleinkram hinaus. Ich langweilte mich in ihrer Gesellschaft. Sie verstanden mich überhaupt nicht, und wenn sie mir je einen Rat gaben, dann nur den, auf Mahir zu verzichten und zu meinem Vater zurückzukehren. Auch der Scheich ließ mich seinen wachsenden Unwillen merken. Er entrüstete sich über den Skandal, den die Zeitungen um meine Person veranstaltet hatten, und schob die
Schuld daran mir in die Schuhe. Einmal widersprach ich ihm, vielleicht heftiger, als klug gewesen wäre. »Du vergißt wohl, daß du unter meinem Dach lebst?« bemerkte er. »Nicht mehr lange!« erwiderte ich. Fünf Minuten später verließ ich mit Mademoiselle Hortense das Haus. Ich war in großer Erregung. Das Haus, in dem man mich doch so freundlich aufgenommen hatte, kam mir jetzt wie ein Gefängnis vor, nicht anders als all die anderen Häuser, in denen Frauen eingesperrt lebten. Ich warf mir vor, meine Zeit vertrödelt zu haben. »Wie konnte ich nur so dumm sein!« entrüstete ich mich im Wagen, der uns davontrug. »Ich, die Vorkämpferin für die Befreiung der Frau, und in einem Harem leben! So ein Widerspruch! So eine Absurdität!« Mademoiselle Hortense hörte mich wie immer schweigend an, und ich wollte den Kummer in ihren Augen nicht sehen. Aber sie kam ohne jeden Protest mit mir. Sie wäre wohl bis in die Hölle mit mir gekommen. Doch die Reise ging nur bis zur Vorstadt. Mir war eine ehemalige Chalfata meiner Großmutter eingefallen, Tachsin Hanum, die dort lebte. Ohne große Mühe fand ich ihr Haus, doch es war geschlossen. Der Pförtner sagte mir, Tachsin sei alt und gebrechlich geworden und wohne jetzt bei ihrer Tochter, ganz in der Nähe. Ich fuhr dorthin. Die alte Chalfata freute sich, mich zu sehen, und erklärte sich ohne weiteres bereit, mir ihr Haus zu vermieten und fürs erste ihr Dienstmädchen zur Verfügung zu stellen. Durch dieses ließ ich Nargis meine neue Adresse zukommen, und sie schickte unverzüglich eine Tochter meiner Amme, Suhaida, mit ihrem Mann zu mir. Die beiden sollten bei mir wohnen. Sie
überbrachten mir ein Kästchen mit zweihundert Pfund in Gold. Ach, die gute Nargis! Wie gerne hätte ich sie wiedergesehen! Wir hätten uns gezankt und uns dann überschwenglich geküßt und versöhnt, so wie früher. Ihr Geldgeschenk kam mir sehr gelegen. Der Prozeß kostete viel, und ich hatte bereits einige Schmuckstücke verkaufen müssen. Erst vier Tage später erschien Mahir. Scheich Abdalmuti hatte ihn von meinem Weggang unterrichtet, jedoch nicht gewußt, wo ich mich aufhielt. Seither hatte mich Mahir überall gesucht. Er überschüttete mich mit Vorwürfen, betreten über meinen überstürzten Entschluß und erzürnt, daß ich ihn weder um Rat gefragt noch benachrichtigt hatte. Mir war ganz recht, daß er sich hatte Sorgen machen und herumlaufen müssen; nachdem er es in letzter Zeit so an Aufmerksamkeit hatte fehlen lassen, verdiente er eine Strafe. Kühl, ohne ihn eines Blickes zu würdigen und ohne die Näharbeit wegzulegen, die ich bei seiner Ankunft zur Hand genommen hatte, hörte ich mir seine Vorhaltungen an. Das ärgerte ihn noch mehr. »Du bist die Launenhaftigkeit in Person«, rief er, »bei dir ist man vor keiner Überraschung sicher! Du benimmst dich mir gegenüber, als wäre ich gar nicht da.« »Ich sehe dich ja so selten«, gab ich zurück, »daß ich meine Entscheidungen wohl oder übel ohne dich treffen muß.« Er errötete und begann, etwas ruhiger jetzt, von anderen Dingen zu sprechen. »Du hast doch nicht etwa vor, allein in diesem einsamen Haus zu wohnen?« »Ich habe zwei Dienstboten«, entgegnete ich spitz, »in Ermangelung eines Gatten, der gewillt wäre, hier bei mir zu
wohnen.« Ich beobachtete seine Reaktion. Er fuhr zusammen, wandte den Blick ab, als interessiere ihn die Einrichtung der kleinen Villa, die ich in diesen vier Tagen in ein behagliches Heim verwandelt hatte, und machte mir einige Komplimente dazu. »Ich habe schließlich gelernt, wie man ein Haus führt«, meinte ich, »und kochen kann ich auch.« In gezwungen heiterem Ton wollte er wissen: »Dann darf ich wohl zum Abendessen bleiben?« »Nein!« sagte ich scharf. »Ich muß doch auf meinen guten Ruf achten. Im übrigen solltest du nicht zu lange bleiben, es schickt sich nicht. Auf Wiedersehen!« Ich machte Miene, das Zimmer zu verlassen. Er hielt mich zurück. »Ramsa! Warum bist du so grausam? Was habe ich dir getan?« »Nichts, gar nichts hast du mir getan. Du bist die Vernunft in Person! Na, dann bleib vernünftig und geh wieder nach Hause; wenn dein Vater erfährt, daß du bei mir warst, verprügelt er dich womöglich mit dem Pantoffel.« Diese Beleidigung ließ Mahir erbleichen; seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Hüte deine Zunge«, knurrte er, »oder du kriegst Prügel, und zwar von mir! «Er machte drohend einen Schritt auf mich zu. »Mit welchem Recht redest du so mit mir?« rief ich, ohne zurückzuweichen. »Betrachtest du dich etwa als meinen Ehemann?« Wir standen da und starrten uns wütend an. Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht. Ach, Mahir... Plötzlich packte er mich und hob mich hoch. Ich wehrte mich - aber nicht sehr. Ich hatte ja schon so lange auf diesen Augenblick
gewartet.
2
Ungebrochen
Zwei Wochen Glück - eine Ewigkeit, ein Augenblick. In diesen beiden Wochen lebte ich nur für Mahir. Ich zählte jede Stunde, die er fort war, und versuchte mit allen möglichen Tricks die kurzen Stunden, die er mit mir verbrachte, hinauszudehnen. Wenn ich ihn bei mir hatte, wollte ich ihn bei mir behalten. Jede Mahlzeit zögerte ich so lange wie nur möglich hinaus, und sobald ich ihn auf die Uhr blicken sah, erfand ich irgendeine Geschichte und redete, redete, damit er noch bliebe; oder ich nahm meine Geige und sang für ihn die Lieder, die er liebte. Zuweilen schickte ich abends die Dienstboten mit irgendeinem Auftrag aus dem Haus, damit Mahir bis zu ihrer Rückkehr bei mir bleiben mußte. An den Fenstern hatte ich schwere Vorhänge angebracht, damit ihn das Tageslicht morgens nicht zu früh weckte. Daß er zu spät zum Dienst kam, kümmerte mich nicht. Ich war bis über beide Ohren verliebt, und alles, was nicht unmittelbar mit meiner Liebe zu tun hatte, schien mir unerträglich. Ich ahnte, daß diese glücklichen Tage nicht von Dauer sein konnten, und wollte jeden Augenblick genießen. Ich traf keine Vorsichtsmaßnahmen, um mein Zusammensein mit Mahir zu verheimlichen. Als man mir hinterbrachte, daß mein Vater davon wußte, schämte ich mich nicht, im Gegenteil, es war mir eben recht. Er sollte nicht im geringsten daran zweifeln, daß ich entschlossen war, mein eigenes Leben zu leben. Der Fortgang meines Prozesses interessierte mich kaum noch. Indessen rückte die Entscheidung immer näher. Zwei Tage vor der Urteilsverkündung machte der Khedive eine Geste, die, so glaubten wir, unserer Sache sehr viel nützen würde. Er ließ Mahir neben sich in der offenen Limousine Platz nehmen, vor versammeltem Hofe, ja, auch vor meinem Vater, und fuhr mit ihm bis nach Ain Schass. Damals konnte
man die Automobile in Kairo an einer Hand abzählen; jedes, das vorüberfuhr, wurde bestaunt, und wenn es sich um den Khediven handelte, war es ein Ereignis. Jedermann wußte also von der Gunst, die Mahir gewährt worden war. Konnte mein Vater jetzt noch darauf beharren, daß er unserer Familie nicht würdig sei? Scheich Mustafa versicherte mir, es werde ihm ein leichtes sein, das erstinstanzliche Urteil anzufechten. Gemeinsam setzten wir sein Plädoyer auf. Nachdem, wie wir glaubten, der Beweis erbracht war, daß hinter dem angeblichen, auf längst überholten Ansichten beruhenden »Standesunterschied« in Wirklichkeit die Anmaßung eines despotischen Vaters steckte, der über seine Tochter wie über eine Sklavin verfügte, verfaßten wir zündende Tiraden über die legitime Forderung der Ägypterinnen, wie menschliche Wesen behandelt zu werden, und über die nach demokratischen Freiheiten - ohne die es nationale Unabhängigkeit nicht geben konnte -lechzende ägyptische Jugend. Das Ganze glich mehr einem politischen Pamphlet als dem Schriftsatz eines Verteidigers. Ich fand es absolut überzeugend und zweifelte keinen Moment daran, daß wir uns damit durchsetzen würden. Das war am Vorabend der Urteilsverkündung. Am nächsten Tag fühlte ich mich schon viel weniger sicher. Mahir war frühmorgens aus dem Haus gegangen. Die Stunden während der Verhandlung verbrachte ich mit Hangen und Bangen. Mir war bewußt, in welch einer erhitzten Atmosphäre sich der Prozeß abspielte. Jetzt, in letzter Minute, verwünschte ich das Aufsehen, das der Fall erregt hatte, und begann das Schlimmste zu befürchten. Ich geriet in Panik. Der Ausgang dieses Prozesses würde mein Schicksal besiegeln. Wurde das Ersturteil bestätigt, meine Ehe, diesmal unwiderruflich, für nichtig erklärt, dann war ich verloren.
Dann konnte mein Vater kraft des Gesetzes mich zwingen, in sein Haus zurückzukehren. Sicherlich war er so zornig auf mich, daß er mich einsperren, vielleicht gar mit einem Mann verheiraten würde, den ich verabscheute, mit dem alten Gutsverwalter zum Beispiel. Oder der Bruder Midhats würde aus purer Rachsucht darauf bestehen, mich zu heiraten, nur um mich gleich wieder zu verstoßen, weil ich nicht mehr unberührt war. Nur schon der Gedanke daran trieb mir das Blut in die Wangen. Niemals, das gelobte ich mir, niemals würde ich eine solche Schmach auf mich nehmen! Lieber wollte ich offen zugeben, daß ich mit Mahir zusammenlebte. Wäre ich doch nur schwanger gewesen und hätte es in die Welt hinausposaunen können! Wenn man mir Mahir wegnahm, wollte ich keinem anderen gehören, eher würde ich mich umbringen. Ich zwang mich zur Ruhe und versuchte meine Lage etwas kühler zu beurteilen. Immerhin bestand die Möglichkeit -Scheich Mustafa war sogar überzeugt davon -, daß das Gericht meine Ehe für gültig erklärte. Tat es dies nicht, wie wollte man mich und Mahir dann eigentlich gegen unseren Willen voneinander trennen? Was hinderte uns daran, ins Ausland zu fliehen, egal wohin, wenn wir nur zusammenbleiben konnten, nach Europa sogar, wenn uns die islamischen Länder verschlossen blieben? Ach, ich setzte kein großes Vertrauen in Mahir ... Ich war mir beinahe sicher, daß er Ausflüchte finden würde, wenn ich ihn bäte, mit mir das Land zu verlassen. In klaren Momenten sah ich ihn als den, der er war: ein Schwächling, der nie den Mut aufbringen würde, mit seiner Familie, seinen Freunden, seiner Heimat zu brechen und auf alles zu verzichten, um mich zu behalten.
Wenn wir den Prozeß nicht gewannen, war ich verloren. Je länger das Warten dauerte, desto größer wurde meine Angst. Ich hatte allen Grund zur Sorge. Das Oberste Gericht bestätigte in allen Punkten das erstinstanzliche Urteil und erklärte meine Ehe mit Mahir aufgrund des Standesunterschiedes für nichtig. Das war ein gezielter Affront gegenüber dem Khediven und eine Kampferklärung an die liberal gesinnte Jugend Ägyptens. Aber ich stand nun einmal vor der brutalen Tatsache: Ich war nicht die rechtmäßige Ehefrau Mahirs. Daß ich mich ihm hingegeben hatte, bereute ich nicht. Der Skandal, der mir deswegen drohte, war mir in diesem Augenblick ganz gleichgültig. Ich hatte nur noch eines im Kopf: Ma-hir zu behalten. Scheich Mustafa beschrieb mir in allen Einzelheiten, wie die Verhandlung verlaufen war, und verwünschte die Richter, doch ich hörte gar nicht zu. Ich horchte nur darauf, ob die Tür aufgehen und Mahir hereinkommen würde, bebend vor Ungeduld über seine Verspätung. Wäre er in diesem Moment gekommen, ich wäre ihm überallhin gefolgt, in irgendein Versteck, nur fort, bevor der Vater mich holen ließ. Doch er kam nicht. Ich bat Scheich Mustafa, ihn suchen zu gehen, und begann mich für die Reise fertig zu machen. Ich hatte gesagt, ich wolle nicht gestört werden; als man mir jedoch den Gouverneur von Kairo, Schahin Pascha, meldete, mußte ich ihn empfangen. Sein Besuch ließ nichts Gutes ahnen, und mein erster Gedanke, als er in Begleitung eines Offiziers eintrat, war, daß man mich festnehmen wollte. Augenblicklich reagierte ich wie ein in die Enge getriebenes Tier: Meine Augen suchten nach einem Fluchtweg, einer offenen Tür, durch die ich entkommen konnte.
Schahin Pascha aber beeilte sich zu versichern, er komme, auch wenn er meinem Vater nahestehe, als Freund zu mir. Er stellte mir den Offizier vor, einen Adjutanten des Khediven. »Der Souverän hat mich beauftragt«, erklärte dieser, »Sie seines Wohlwollens zu versichern.« »Warum hat er dann nicht gegen dieses abscheuliche Urteil protestiert?« rief ich aus. Meine Stimme hatte bitter geklungen, obwohl mir bewußt war, daß selbst der Khedive keinen Einfluß auf die Richter besaß. Dadurch, daß er Mahir öffentlich sein Wohlwollen bezeigte, hatte er getan, was in seiner Macht stand. Trotzdem war ich ihm böse. Aber in diesem Moment war ich jedermann böse, meinem Vater, Mahir, meinem Anwalt fast ebenso sehr wie den Richtern. Auch mir selbst war ich böse, weil ich mich nicht besser geschlagen hatte. »Ihr Vater war bei mir«, begann Schahin Pascha. Was wollte er mir eröffnen? Ich biß die Zähne zusammen, bereit zum Widerstand. »Er wünscht natürlich, daß Sie zu ihm zurückkehren.« »Freiwillig oder gezwungen?« »Er hat das Recht, Sie dazu zu zwingen.« »Jetzt gleich?« »Sobald ich das schriftliche Urteil in Händen habe.« »Und dann kommen Sie mich verhaften? Im Namen des Gesetzes, wie eine Verbrecherin?« »Ich bin sicher, daß dies nicht nötig sein wird. Sie müssen allerdings einsehen, daß die Rückkehr zu Ihrem Vater für Sie die einzig vernünftige Lösung ist.« Ich hatte gute Lust, ihm die Stirn zu bieten, ihm ins Gesicht zu schreien, ich würde, verheiratet oder nicht, mit Mahir fortgehen. Doch die Gegenwart des Adjutanten gebot mir Zurückhaltung, und auch die Furcht, meine Fluchtchancen
aufs Spiel zu setzen. Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen. »Ist es denn vernünftig, mich schon jetzt zu meinem Vater zurückzuschicken? Sein Zorn auf mich könnte ihn doch gerade zu unvernünftigem Handeln treiben - etwa dazu, mich einzusperren oder mich zu einer Ehe zu zwingen. Er soll davon gesprochen haben, mich mit seinem Gutsverwalter zu verheiraten, einem Mann über sechzig!« »Nichts von alledem haben Sie zu befürchten. Ihr Vater weiß genau, wie sehr er dem Khediven mißfallen würde, wenn er so handelte. Er kennt auch die Gesetze, die Sie vor Mißbräuchen schützen: Er trägt die Verantwortung für Sie und trüge auch die Verantwortung für einen neuerlichen Skandal, den Sie heraufbeschwören könnten, wenn er Sie zum Äußersten triebe. Sie gehören nicht zu jenen, die man gegen ihren Willen verheiratet, Ramsa, oder die man einfach einsperrt. Ich kenne Ihren Vater, wir waren Studienkollegen. Er gerät leicht in Zorn, gewiß, aber es braucht wenig, um ihn wieder versöhnlich zu stimmen, man muß ihn nur zu nehmen wissen. Und er liebt Sie zu sehr, als daß er sich nicht mit Ihnen versöhnen würde.« »Warum erlaubt man mir nicht, mein eigenes Leben zu führen und weiterhin in diesem Hause zu wohnen?« Anscheinend hatte ich da etwas ganz Ungeheuerliches vorgeschlagen. »Aber Ramsa, Sie wissen doch selbst, daß das nicht geht! Sagen Sie um Himmels willen kein Wort davon zu Ihrem Vater. Ihr Platz ist in seinem Hause.« Das war es ja genau, was mich zur Verzweiflung brachte: Weil ich eine Frau war, wurde mein Wunsch nach Unabhängigkeit prinzipiell als ungehörig angesehen. Da ich nicht unter der Fuchtel eines Gatten stand, mußte ich unter die Fuchtel des Vaters zurück. Ich war volljährig, gebildet, befähigt, für mich selbst zu sorgen, doch niemand wollte das
anerkennen. Obwohl ich beschlossen hatte zu schweigen, hätte ich mich fast auf eine Diskussion eingelassen, doch da wurden im Nebenzimmer Frauenstimmen laut; ich glaubte die sonore Stimme meiner Tante herauszuhören. Schahin Pascha und der Adjutant verabschiedeten sich. Kaum hatte ich die Tür hinter ihnen geschlossen und mich umgedreht, stand tatsächlich Nargis vor mir, in Begleitung einer anderen Frau, die eben ihren Schleier ablegte. Ich erkannte Taufika Hanum, die Gattin Schahin Paschas. Ich biß mir verärgert die Lippen blutig. Wäre meine Tante allein gekommen, ich hätte wohl gleich mit ihr zu streiten angefangen, doch die Gegenwart Taufika Hanums zwang mich, höflich zu bleiben, und das ging fast über meine Kräfte. Natürlich durchschaute ich das Manöver. Der Gouverneur konnte erst dann etwas unternehmen, wenn er im Besitz des Urteils war; bis dahin ließ er mich, damit ich auf keinen Fall fliehen konnte, von einer Leibgarde bewachen, die mich keinen Moment aus den Augen lassen würde. Die Damen wollten nicht aufhören, mich zu umarmen und mit Beweisen ihrer Zuneigung zu überschütten. Ich haßte sie alle beide, auch Nargis, von der ich solche Heuchelei nicht gewohnt war. »An einem solchen Tag darf man dich nicht allein lassen«, sagte sie, »darum wollen wir dir Gesellschaft leisten.« Sie hatten zwei Dienerinnen mitgebracht, die sich bereits in der Küche zu schaffen machten. Kein Zweifel, die Damen hatten vor, über Nacht zu bleiben. Und Mahir ließ sich nicht blicken! Mir stand eine andere Überraschung bevor. Suhaida trat ein und flüsterte mir hastig etwas ins Ohr; ich verstand nur die Worte »Mahir Bey al-Chaschab« und stürzte aus dem Zimmer. Ich erschrak zutiefst, als ich mich meinem schlimmsten Feind gegenüber
sah: Murad al-Chaschab, Mahirs Vater. Was wollte er von mir? Wer hatte ihm meine Adresse gegeben? War Mahir etwas zugestoßen? Ich stand wie versteinert vor ihm. Er musterte mich mit finsterem Blick. »Mahir hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, daß Sie zu Ihrem Vater zurückkehren sollen.« »Das ist nicht wahr!« platzte ich heraus. »Und wenn es wahr ist, dann soll er selbst herkommen und es mir sagen!« Seine Augen glitzerten bösartig. »Mahir will nichts mehr von Ihnen wissen, lassen Sie sich das gesagt sein.« »Sie lügen! Er war heute morgen noch hier, ich bin sicher, daß er mich noch liebt!« schrie ich empört. Er sagte verächtlich: »Weil Sie mit ihm geschlafen haben! Aber damit haben Sie ihm nur gezeigt, was für eine Sie sind. Hätte das Gericht die Ehe nicht für ungültig erklärt, dann hätte Mahir Sie verstoßen. Man heiratet doch keine -« Er schleuderte mir das Schimpfwort ins Gesicht. Ich wollte mich verteidigen, doch ich verlor die Fassung und brach in Tränen aus. Bevor er ging, hörte ich ihn noch donnern: »Sie werden Mahir niemals wiedersehen! Er hat Kairo bereits verlassen!« Nargis streckte neugierig den Kopf herein; ich wischte mir die Tränen von den Wangen. Es nützte nichts, daß ich mir wieder und wieder einzureden versuchte, alles, was ich gehört hatte, sei gelogen. Ich konnte mir selbst nicht mehr glauben. Mahirs Charakterschwäche kannte ich ja nur allzugut. Spätabends kam Scheich Mustafa abermals zu mir. Er hatte Mahir nirgends gefunden, jedoch ein Gerücht vernommen, das Murad al-Chaschab ausgestreut hatte: Mahir sei befördert und nach Kussair abkommandiert worden, seine
Ernennung sei unmittelbar nach der Urteilsverkündung erfolgt. »Das ist doch unmöglich«, rief ich, »das hätte doch der Khedive nicht zugelassen!« »Der Khedive selbst ist scharf angegriffen worden«, entgegnete er. Offenbar zieht er es jetzt vor, die ganze Sache im Sande verlaufen zu lassen.« »Also glauben auch Sie, daß Mahir bereits nach Kussair unterwegs ist?« »Ich fürchte, ja.« »Ohne von mir Abschied zu nehmen?« Scheich Mustafa zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich habe ihn heute vormittag bei der Urteilsverkündung gesehen. Er war kreidebleich und ist gleich danach weggegangen, wie jemand, der sich schämt und schnellstens verschwinden will.« »Ich kann einfach nicht glauben, daß er wirklich fort ist«, beharrte ich, »es sei denn, man hat ihn dazu gezwungen.« Ich begleitete den Scheich zur Haustür. Draußen, im Halbdunkel, stand bewegungslos eine Gestalt - ein Polizist. Niemals zuvor hatte ich einen Polizisten in der Nähe des Hauses gesehen. Ich schaute die Straße hinunter: Dort bewegten sich noch andere schattenhafte Gestalten. Ich stand unter Bewachung! Abrupt wandte ich mich um. Eine Tür ging auf, ich eilte darauf zu: Nargis erschien. »Wer war der Mann, der soeben wegging?« wollte sie wissen. Ich starrte sie wortlos an. Ihre Neugier kannte ich, doch mir schien sicher, daß ich es war, der sie nachspionierte. Vermutlich hatte sie hinter der Tür gelauscht und unser Gespräch mitverfolgt. Sie überwachte jede meiner Bewegungen. Ich schluckte meine Wut hinunter.
»Mein Anwalt«, war alles, was ich zur Antwort gab. Ich konnte nicht glauben, daß Mahir Kairo verlassen hatte, ohne ein letztes Mal herzukommen. Vielleicht, sagte ich mir, wartet er nur, bis es dunkel ist, um sich heimlich ins Haus zu stehlen. In meinem Zimmer stellte ich mich ans Fenster und wartete, wartete. Der Mond schien hell, ich konnte die Polizisten draußen erkennen und wünschte sie allesamt zum Teufel. Vielleicht, grübelte ich, ist Mahir ganz in der Nähe und wagt nicht herzukommen; bestimmt hat man Befehl gegeben, ihn nicht durchzulassen. Vielleicht steht er selbst unter Bewachung, zu Hause bei seinem Vater oder in der Kaserne, ja, das muß der Grund sein, es kann keinen anderen geben, weshalb er nicht zu mir kommt... Ich legte mich nicht zu Bett. Gegen drei Uhr morgens war ich zutiefst verzweifelt. Mahir würde nicht kommen, dessen war ich nun sicher, und ich vermochte mir nicht länger einzureden, daß es nicht seine Schuld war und daß man ihn gegen seinen Willen von mir fernhielt. Ich fühlte mich von allen verlassen, gejagt wie ein Wild, von Hunden umstellt, rettungslos verloren; eine zum Tode Verurteilte, die auf die Morgendämmerung und die Hinrichtung wartet. Die Aussicht, zu meinem Vater zurückzukehren, erschien mir schrecklicher als der Tod, ja, so demütigend, daß ich mich nicht damit abfinden wollte. Gewiß habe ich mir alles viel schlimmer vorgestellt, als es geworden wäre; ich sah mich schon in der Rolle des unartigen Kindes, das Buße tun und wie Aschenbrödel die niedrigsten Arbeiten verrichten muß unter den spöttischen Blicken der Dienerschaft, die es einst herumkommandiert hat - eine Königin, die zur Sklavin herabgesunken ist. Eine vor langem gehörte Geschichte kam mir in den Sinn, die Geschichte eines armen Mädchens, dem das Leben so bitter geworden war, daß es sich vergiftet hatte.
Nachdem ich ausgiebig über mein hartes Los geweint hatte, wischte ich mir die Augen trocken und blickte mich um. Der Koffer, den ich für die Flucht mit Mahir zu packen begonnen hatte, lag mit aufgeklapptem Deckel auf dem Boden; die Kleider, die ich aus dem Schrank genommen hatte, hingen über einer Stuhllehne. Das alles roch förmlich nach Abschied. Ich mußte dieses Haus heute ja ohnehin verlassen, freiwillig oder unfreiwillig. Der Gedanke an Flucht setzte sich in mir fest, wurde unwiderstehlich. Wenn ich fliehen wollte, durfte ich keine Zeit mehr verlieren. Im Laufe des Vormittags würde dem Gouverneur das Urteil zugestellt. Mein Vater, soviel schien mir sicher, würde unverzüglich von seinem Recht Gebrauch machen. Das konnte ich nicht zulassen, alles in mir sträubte sich dagegen. Ich mußte fort, fort, solange alle im Haus noch schliefen, solange vermutlich auch die Polizisten draußen vor sich hindösten in der lautlosen Stunde vor Tagesanbruch. Vorsichtig stieß ich die Tür auf und lauschte. Nichts, nur ein leises Schnarchen aus dem Zimmer, wo Nargis und Tau-fika Hanum schliefen. Schon wollte ich das Zimmer Made-moiselle Hortenses betreten, doch ich tat es nicht, vor allem aus Sorge, daß auch sie dadurch in Schwierigkeiten kommen könnte. So schob ich nur einen Zettel unter ihrer Tür durch, auf den ich hastig gekritzelt hatte, sie solle sich meinetwegen nicht beunruhigen, mir nicht böse sein und Vertrauen in mich haben. Den Koffer ließ ich und schnürte nur die wenigen Sachen, die ich unbedingt brauchte, zu einem Bündel. Ich handelte jetzt ganz kaltblütig und methodisch. Ich verschleierte mein Gesicht und hüllte mich in eine gewöhnliche schwarze Milaja, dieselbe, in der ich mich schon unbemerkt aus dem Haus in Alexandria geschlichen hatte. Wie damals holte ich auch jetzt einen Wäschekorb aus der
Küche, legte mein Bündel und meine Schuhe hinein und setzte ihn mir auf den Kopf. Nun mußte ich nur noch hinausgelangen. Den Vordereingang beleuchtete eine Gaslaterne; also tastete ich mich zur Hintertür, die auf ein dunkles Gäßchen führte. Behutsam öffnete ich sie. Ein kalter Windstoß ließ mich erschauern. Die Steinschwelle unter meinen nackten Füßen fühlte sich wie Eis an. Ich lauschte. Zuerst konnte ich nichts hören außer dem wilden Pochen in meiner Brust, dann drang ein leises, regelmäßiges Schnaufen an mein Ohr. Ich blieb sekundenlang reglos stehen und trat dann vorsichtig auf die Gasse hinaus. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich eine dunkle Gestalt an der Mauer lehnen, rechts von der Tür. Ich beobachtete sie eine Zeitlang, sie rührte sich nicht. Geräuschlos zog ich die Tür hinter mir zu und huschte nach links, in die Dunkelheit hinein. Alles ging gut. Als ich eine beleuchtete Straße erreichte, war ich schon so weit vom Haus entfernt, daß niemand feststellen konnte, woher ich kam. Der Morgen graute; die erste Straßenbahn kam daher gefahren; ich stieg ein und mischte mich unter die Dienstmädchen und Wäscherinnen, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Ich war weggegangen, ohne mir zu überlegen, wohin ich eigentlich wollte. Mir kam niemand in den Sinn, bei dem ich hätte unterschlüpfen können. Bei wem ich mich nach Mahir hätte erkundigen können, wußte ich auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wer über seine Abreise im Bild war außer seinem Vater, zu dem ich ganz bestimmt nicht gehen würde, und seinen Vorgesetzten, zu denen man mich wohl kaum vorgelassen hätte. Und wenn ich noch wenige Stunden zuvor an Mahirs Abreise gezweifelt hatte, so war ich jetzt fest überzeugt, daß
sein Vater die Wahrheit gesagt hatte und er bereits nach Kussair unterwegs war. Also mußte ich ebenfalls nach Kussair. Ein aberwitziges Unterfangen. Ich hatte nur eine vage Ahnung davon, wo Kussair überhaupt lag: ein Hafenstädtchen am Roten Meer, hatte mir Mahir einmal gesagt, eine Garnison am Ende der Welt, wohin sich kein Offizier freiwillig versetzen ließ. Vermutlich gab es eine Schiffsverbindung von Sues aus, aber Sues war mir ebenso unbekannt wie Kussair, und wie sollte ich, eine Frau ohne Begleitung, eine mehrtägige Fahrt auf einem Segler unternehmen? Ich wußte, daß die Eisenbahn nicht bis Kussair fuhr, doch ich sagte mir, daß es in dieser Gegend nur einen ziemlich schmalen Wüstenstreifen zwischen dem Nil und dem Roten Meer gab. Die Großmutter hatte einmal erzählt, sie habe ihn mit einer Karawane von Mekkapilgern durchquert. Ich dachte, wenn ich es erst einmal bis Kena geschafft hätte, würde ich von dort aus schon irgendwie nach Kussair gelangen. Was schließlich den Ausschlag gab, war meine durch nichts begründete Annahme, man werde mich eher in der Gegend von Sues suchen. Welche Route Mahir genommen hatte, davon hatte ich keine Ahnung. Die Straßenbahn hielt vor dem Bahnhof. Ich stieg aus und ging, meinen Korb auf der Schulter und einen Zipfel der Mi-laja zwischen den Zähnen, um mein Gesicht besser zu verbergen, zum Schalter, wo ich eine Fahrkarte dritter Klasse nach Kena erstand. Der Zug nach Oberägypten fuhr erst in einer Stunde. Ich mußte befürchten, daß man meine Flucht inzwischen entdeckt hatte und mich am Bahnhof suchen würde. Da bemerkte ich ein Grüppchen Frauen, die sich laut im schleppenden Dialekt des Said unterhielten, und mischte mich unter sie. Wir hatten bald Bekanntschaft geschlossen; sie fuhren, nachdem sie in Kairo an einem Hochzeitsfest teilgenommen hatten, heim nach Manfalut. Schnell erfand ich
ein Märchen: daß ich zu meinem Mann nach Kena reise und selbst aus jener Gegend stamme. Ich sprach mit oberägyptischem Akzent, bestieg mit den Frauen einen Waggon dritter Klasse und stimmte in ihr freudiges Trillern ein, als der Zug losfuhr. Wir saßen, eine laute, vergnügte Gesellschaft, im letzten Abteil, und bald gesellten sich ein paar andere Frauen zu uns, die nicht in Begleitung des Ehemanns oder eines Bruders reisten. Ich gab amüsante Geschichten zum besten, solche, die man sich von Harem zu Harem erzählt und über die man nie müde wird zu lachen; ich lachte noch lauter als die anderen, hatte meinen Kummer ganz vergessen und auch meine Situation als Ausreißerin, die bestimmt schon von der Polizei gesucht wurde. In Manfalut stiegen meine Reisegefährtinnen aus, aber wenig später, in Assiut, setzte sich eine dicke Frau zu mir und knüpfte sogleich ein Gespräch an. Sie war zwei Wochen bei ihrer ältesten Tochter gewesen, die eben ihr drittes Kind bekommen hatte, und fuhr jetzt zu ihrem Mann und ihren drei jüngeren Töchtern nach Kena zurück. Ihr Mann war Goldschmied von Beruf, der beste Goldschmied von ganz Kena, und reich war er auch. Sie wollte alles mögliche von mir wissen. Ich erzählte ihr eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit: Mein Mann, Berufsoffizier, sei in Kena stationiert und werde nun nach Kussair versetzt; vor seiner Abreise wolle ich ihn besuchen. Als der Zug mitten in der Nacht in Kena ankam, waren wir bereits gute Freundinnen. Ich verließ zusammen mit ihr das Bahnhofsgebäude und tat überrascht und enttäuscht, weil niemand mich abholte. Was sollte ich jetzt tun? Unmöglich, um diese Zeit zu den Kasernen zu gehen, die sich ziemlich weit draußen vor der Stadt befanden. Die Nacht am Bahnhof verbringen? Sitt Sainab, meine neue Freundin, wies diese Idee
schockiert von sich: Nein, sie wolle mich mit zu sich nach Hause nehmen, da sei Platz genug, ihr Haus sei das meinige. Ihr Angebot befreite mich aus großer Verlegenheit. Ich konnte, ohne unliebsam aufzufallen, weder am Bahnhof bleiben noch ein Hotelzimmer nehmen, noch bis zum Morgen in den Straßen herumirren. Also verbrachte ich die Nacht bei der gastfreundlichen Sitt Sainab; ich wurde im Zimmer ihrer Tochter Nabila einquartiert, die sofort Vertrauen zu mir faßte. Bevor wir die Lampe löschten, plauderten wir noch lange. Die Kleine war erst sechzehn und steckte, wie sie mir gestand, bereits mitten in einer tragischen Geschichte. Es war die Tragödie so vieler ägyptischer Mädchen, meine eigene Tragödie! Sie hatte sich in den Sohn des Tuchhändlers von nebenan verliebt, aber ihr Vater wollte sie einem ihrer Vetter geben, der zwanzig Jahre älter war als sie. Arme Nabila! Ich wagte ihr nicht zu raten, sie solle ihrem Vater die Stirn bieten. Solche Entscheidungen muß man allein treffen, wenn man sich für stark genug hält. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen; mein abenteuerliches Unternehmen wollte mir nicht aus dem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es in Kairo weitergegangen war, während ich im Zug Richtung Süden fuhr. Bestimmt hatte mein Vater in seiner Wut das ganze Haus zum Zittern gebracht und die Polizei alarmiert. Ob man so leicht meine Spur finden würde? Sicherlich würde man sofort annehmen, daß ich auf dem Weg zu Mahir war. Aber wo war Mahir jetzt? In Kussair? Oder noch in Sues? Auf dem Meer? In der Wüste? Oder gar in Kena? Beim Gedanken, daß wir uns vielleicht ganz nahe waren, ohne es zu wissen, packte mich eine fieberhafte Ungeduld. Wenn nur der Morgen käme und ich mich auf die Suche nach ihm machen könnte! Gleich darauf schalt ich mich eine Närrin, die noch an Wunder glaubte. Und wenn Mahir sich nun doch in Kairo befand, oder
in Alexandria? Wenn gar nie die Rede davon gewesen war, ihn nach Kussair abzukommandieren? Ich hatte mich Hals über Kopf ins Ungewisse gestürzt. Wie sollte ich bloß nach Kussair kommen? Jetzt war mir klar, welche Schwierigkeiten mir bevorstanden. Die Entfernung war viel größer, als ich angenommen hatte: mindestens fünf Reisetage, hatte mir Sitt Sainab versichert. Schon seit einigen Jahren werde diese Strecke nicht mehr von Pilgerkarawanen benutzt; die wenigen, die es noch gab, reisten im allgemeinen von Kift aus und nicht von Kena. Ich lief Gefahr, erwischt und in Schimpf und Schande nach Kairo zurückspediert zu werden, noch ehe ich aus dem Niltal weggekommen war. Meine Mühsal lag noch lange nicht hinter mir. Am folgenden Morgen begleitete mich meine kleine Freundin Nabila hinaus vor die Stadt. Ich erhoffte mir nichts außer vielleicht einem Hinweis von irgendeinem Soldaten. Doch dann geschah tatsächlich ein Wunder. Als wir uns den Militärzelten näherten, die dort in der Wüste aufgeschlagen waren, erblickte ich einen Offizier, und schon von weitem, ohne noch sein Gesicht gesehen zu haben, erkannte ich ihn an der Gestalt: Mahir. Ich blieb wie angewurzelt stehen, die Finger in Nabilas Arm gekrallt. Er wollte vorübergehen und achtete nicht auf die verschleierte, in ihre schwarze Milaja gehüllte Frau, die mit klopfendem Herzen dastand. »Mahir!« Er stutzte und blieb sekundenlang reglos, mit offenem Mund stehen. Plötzlich hatte ich Angst, auf seinem Gesicht Zorn oder Unmut zu sehen. Doch zu meiner Freude begannen seine Augen zu leuchten, und er lächelte. Dieses Lächeln entwaffnete mich; ich schluckte all die bitteren Vorwürfe, die ich mir zurechtgelegt hatte, hinunter. Wir schritten Seite an Seite dahin, während Nabila uns
diskret in einigen Schritten Entfernung folgte. Eine ganze Weile fanden wir keine Worte. »Weißt du«, sagte Mahir endlich, »ich wäre ja so gerne zu dir gekommen, um mich zu verabschieden, aber alle behaupteten, damit hätte ich dich nur noch mehr kompromittiert.« »Ich habe niemanden um Rat gefragt«, sagte ich. »Ich wollte zu dir, und so bin ich zu dir gekommen, ganz allein.« »Woher hast du gewußt, daß ich in Kena bin? Hat mein Vater es dir gesagt?« Ich mußte lachen. Beinahe hätte ich ihm erzählt, was für eine Szene mir sein Vater gemacht hatte, doch etwas hielt mich zurück. »Niemand hat mir etwas gesagt«, erwiderte ich, »und ich habe niemandem etwas von meinen Plänen gesagt. Wenn ich dich hier nicht gefunden hätte, wäre ich nach Kussair weitergereist.« »Das hättest du wohl kaum geschafft!« »Doch, glaub mir, ich hätte es geschafft. Und jetzt laß uns offen miteinander reden, Mahir. Welche Urteile auch immer sämtliche Gerichte der Welt fällen mögen, ich betrachte mich noch immer als deine Frau, und ich bin bereit, dir überallhin zu folgen und mit dir zusammenzuleben. Die Frage ist nur, ob du bereit bist, die Verantwortung zu übernehmen und mich bei dir zu behalten. Überleg es dir gut. Und sprich mir ja nicht davon, daß ich zu meinem Vater zurückkehren soll. Ich habe nicht alles aufgegeben, mich der Justiz gestellt, dem Skandal, dem Zorn meines Vaters, ich habe nicht den Schmerz überwunden, den es mich kostete, ihm so etwas anzutun, nur um jetzt reumütig in den Schoß und unter das Joch der Familie zurückzukehren. Ich bin jetzt, weil ich es so gewollt habe, vollkommen frei in meinem Handeln. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder folge ich dir nach Kussair, oder
ich nehme heute noch den Zug nach Assuan und von da nach Khartum. Ich verfüge über genügend Bildung, um dort Arbeit zu finden und unabhängig zu leben.« Mahir schien mich inzwischen kennengelernt zu haben; er versuchte gar nicht erst, mir den Plan auszureden. Während er langsam neben mir her ging, überlegte er. Mir kam plötzlich der Verdacht, daß er nach einem Weg suchte, mich loszuwerden. Ich blieb stehen und schaute ihm in die Augen. »Mahir, verzeih, aber mir ging etwas durch den Kopf, und ich muß ohne Umschweife mit dir darüber reden: Laß dir ja nicht etwa einfallen, deinem oder meinem Vater zu telegrafieren, man solle mich hier abholen! Ich warne dich - so etwas lasse ich nicht mit mir machen, lieber bringe ich mich um!« Er protestierte so entrüstet, daß ich ihm Glauben schenkte. »Wann willst du nach Kussair abreisen?« »Morgen früh.« »Nimmst du mich mit, ja oder nein?« Er drückte meinen Arm. »Wie könnte ich dich denn verlassen, jetzt, wo ich dich wiedergefunden habe?« Er schien es aufrichtig zu meinen, und ich verlangte nichts weiter, als ihm ganz zu vertrauen. Ich hatte wirklich den Eindruck, ihn zurückgewonnen zu haben.
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Sirenengesang
Wir verließen Kena im Morgengrauen. Bis zum letzten Augenblick stand ich Ängste aus: Sowohl die Polizei als auch das Militär konnten bereits Befehl erhalten haben, mich festzunehmen oder doch wenigstens zu verhindern, daß ich mit Mahir abreiste. Doch nichts Derartiges geschah, was mich sehr erstaunte und eine Falle befürchten ließ. Unterwegs wurde mir leichter zumute. Möglich, daß sie in Kussair auf mich warteten, aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Vor mir lagen fünf lange Tage - fünf Tage mit Mahir. Diese Reise war für mich wie ein Märchen. Wir waren nicht viele: zwei Offiziere, Kameraden Mahirs, ein Dutzend Soldaten und, außer mir selbst, noch zwei Frauen, Unteroffiziersgattinnen, die ihren Männern nach Kussair folgten. Nur eine von ihnen war schon ab Kena dabei, die andere sollte sich uns erst in Kift anschließen. So ließ man mich eine zweiplätzige Kamelsänfte besteigen, eine Art Käfig, ähnlich den Vorrichtungen, die man heute noch auf dem Lande verwendet, um die Braut zur Hochzeit zu führen. Dieses geschlossene Transportmittel benagte mir gar nicht, so daß ich in Kift meinen Platz an die neu Hinzugekommene abtrat. Für mich wurde eine weiße Kamelstute gesattelt. Man legte ein Schaffell auf den Sattel, zeigte mir, wie ich das Tier lenken und mich dem wiegenden Rhythmus seiner Gangart überlassen sollte, und ich freute mich wie ein Kind. Das fruchtbare Land lag jetzt hinter uns. Häufig hielten Mahir und ich unsere Reittiere an und blieben hinter der Karawane zurück. Dann schlug ich meinen Schleier zurück und genoß in vollen Zügen die Nähe des Mannes, den ich liebte und der für mich immer noch mein Gatte war, und die herbe Schönheit der Wüste. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich bis dahin
nichts von der Wüste Ägyptens gewußt hatte, von der Pracht der Sonnenauf- und -Untergänge, dem Wechselspiel der Schatten und Farben auf den nackten Felsen zwischen Morgen und Abend, der paradiesischen Stille ihrer Nächte. All meine Sorgen waren verflogen. Mahir hatte zufällig von einem der Offiziere in unserer Karawane erfahren, daß der Machtbereich der zivilen Behörden sich nicht über das bebaubare Land hinaus erstreckte und daß in der Wüstenregion kein Haftbefehl gegen mich vollstreckt werden konnte. Ich war frei, trunken vor Freiheit, trunken vor Liebe auch, und ich wünschte mir, die Reise würde niemals enden. Der Vorabend des Ramadan fiel auf den zweiten Reisetag. Spätnachmittags schlugen wir unser Lager an der Quelle von Gita auf. Bei Sonnenuntergang improvisierten die Soldaten, die meisten von ihnen Nubier, ein Fest mit Liedern und Tänzen. Ich bereitete aus Nudeln, die ich noch in Kena gekauft hatte, und Kamelstutenmilch eine Süßspeise zu, die allen ausgezeichnet schmeckte. »Du bist eine gute Köchin, Ramsa«, bemerkte Mahir. Sein Kompliment machte mich überglücklich. Ich wünschte mir nichts anderes, als eine gute Ehefrau zu sein, seine Ehefrau. Am folgenden Morgen, noch bevor es dämmerte, brachen wir auf, nachdem wir im Schein des Lagerfeuers in aller Eile Tee getrunken und eine Handvoll getrockneter Datteln verzehrt hatten. An diesem Tag legten wir eine weite Strecke zurück. Oft schlängelte sich der Pfad durch enge Schluchten. Die Felsen nahmen unvorstellbare Farbnuancen an: vom tiefsten Schwarz bis zu leuchtendem Violett oder Türkis. Ich sah zum ersten Mal eine Gebirgslandschaft und war von ihr bezaubert. Gewiß, diese Felsen waren nicht mit den Gipfeln der Alpen zu vergleichen, die mir mein Vater geschildert hatte; sie glichen
wohl eher dem schroffen, bizarr wirkenden Berg Arafat, wie ihn die Großmutter beschrieben hatte, wenn sie von ihrer Pilgerreise nach Mekka erzählte. Alles um mich und in mir erstrahlte in Schönheit und Liebe, und Mahir, der bald an meiner Seite, bald an der Flanke der Karawane ritt, schien mir der schönste und beste aller Menschen, der einzige, der würdig war, mein Gatte zu sein. Am fünften Tag tauchten zwischen den Felsen Bäume auf, Palmen und Mimosensträucher rund um eine Quelle und am Ufer eines Bächleins: Das war Lambaga, die Wasserstelle von Kussair. Männer banden tropfnasse lederne Wasserbeutel an den im Sand knienden Kamelen fest. Wegen des Fastens tranken wir nichts, doch die Tiere stillten lange ihren Durst. Die Berge vor uns wurden noch höher, noch steiler, noch großartiger. Als wir aus der letzten Felsschlucht herauskamen, lag das Meer vor uns, und an der Küste, auf dem nackten rötlichen Sand, zeichneten sich die Silhouetten eines Forts und einiger Häuser ab: Kussair. Ich war nicht enttäuscht über die Armseligkeit dieses Ortes, im Gegenteil, ich hätte ihn mir noch armseliger und verlassener gewünscht, um darin mit Mahir allein zu sein. Fünf Tage lang hatte ich ihn ganz für mich gehabt und war so glücklich gewesen, wie man nur sein konnte. Jetzt bedauerte ich, daß die Reise zu Ende war, daß ich wieder unter Menschen leben und Gesetzen gehorchen mußte, die von Menschen erdacht wurden und die der menschlichen Freiheit Feind sind. Die Angst um meine Liebe war nur allzusehr begründet. Als Kommandant der Garnison bezog Mahir innerhalb des Forts Quartier, in einem spartanisch möblierten Häuschen: Feldbetten, Tische und Stühle wie aus einer Wachstube. Alles lag am Abend unserer Ankunft unter einer dicken Staubschicht. So schliefen wir auf geflochtenen Matten wie
während der Reise, diesmal jedoch hinter einer richtigen, verriegelten Tür: zu Hause. Tags darauf, ohne auf den Burschen zu warten, der mir helfen sollte, begann ich mit dem Saubermachen und Aufräumen. Mahir hatte sehr betreten gewirkt, weil er mir kein besseres Heim bieten konnte, so daß ich mir jetzt einen Spaß daraus machte, ihm meine hausfraulichen Fähigkeiten vorzuführen. Zuerst ging mir die Frau eines Sergeanten zur Hand, dann der Bursche, Abdallah, ein alter Soldat aus Nubien mit einem langen weißen Schnurrbart. Als Mahir gegen Mittag kurz nach Hause kam, konnte ich ihm voller Stolz ein blitzsauberes Haus vorweisen. Das bewies doch, was für eine gute Ehefrau ich war. Nachmittags verließ ich das Fort und spazierte durchs Städtchen und über den Markt. Ich kaufte Wäsche für mich ein, denn ich hatte ja fast nichts aus Kairo mitgenommen, verschiedene Stoffe fürs Haus und getrocknete Früchte zum Ramadan. Bei Sonnenuntergang konnte ich Mahir eine Mahlzeit auftischen, wie sie in guten Häusern zum Iftar, dem Fastenbrechen, üblich ist. Ich wollte ihm ein wirkliches Zuhause bieten. Er war gerührt - jedenfalls behauptete er es. Doch als ich ihm von meinem Ausflug zum Markt erzählte, verfinsterte sich seine Miene. »Hat jemand erfahren, wer du bist?« fragte er ärgerlich. »Ich möchte nicht, daß du ohne mich ausgehst.« Am liebsten hätte ich ihm entgegnet, ich ließe mich von ihm ebensowenig einsperren wie von sonst jemandem, aber ich schluckte die scharfe Antwort hinunter und erklärte statt dessen mit ruhiger Stimme, ich hätte weder meinen Schleier gelüftet noch ein Wort mehr gesagt, als zum Einkaufen unbedingt nötig war. Wir stiegen zur Terrasse hinauf. Die Nacht war sehr
klar. Die silberne Mondsichel und die funkelnden Sterne am südlichen Himmel verliehen dem schmalen Wüstenstreifen, den die dunklen Berge ins Meer hinauszudrängen schienen, eine stille, urtümliche Schönheit. Unter mir, auf den Terrassen der Häuser, kauerten Grüppchen von Frauen um glimmende Kohlebecken herum und plauderten; durch die Gassen schwankten RamadanLaternen. Ich hätte gerne die Freude, die mich erfüllte, mit Mahir geteilt, aber als ich mich zu ihm umdrehte, bemerkte ich, daß er auf seinem Liegestuhl eingeschlafen war. Natürlich, er mußte todmüde sein ... Doch meine Freude war wie fortgewischt. Ich setzte mich ebenfalls hin und begann bald vor Langeweile zu gähnen. Dann folgten vier Tage eines ruhigen Glücks. Es war mir ein wenig zu ruhig! Ich lechzte nach Nachrichten; der wöchentliche Postkurier war mit unserer Karawane angekommen, bis zum nächsten würde es noch eine ganze Weile dauern. Zwar erwartete ich keine Briefe, ich hatte ja niemandem Bescheid gegeben, doch ich war auf die Zeitungen gespannt, die bestimmt Kommentare zu meinem Prozeß und meiner Flucht brachten. Was wohl in Kairo geschehen sein mochte? Ich hätte viel darum gegeben, etwas von Mademoiselle Hortense, Nargis und vor allem von meinem Vater zu erfahren. Daß ich so gar nichts von ihm hörte, beunruhigte mich. So, wie ich ihn kannte, würde er doch den Generalstab der Armee aufbieten, um mich ausfindig zu machen, oder wenn nötig sogar selbst nach Kussair reisen. Zwar hatte ich ein paar Tage Vorsprung, doch ich gab mich keinen Illusionen hin; bald würde man mich ausfindig gemacht haben, und dann begann der Kampf von neuem. Schon jetzt wappnete ich mich dafür, und so war ich beinahe enttäuscht, daß die Tage so einförmig und ereignislos verstrichen.
Gerne hätte ich diese Atempause gemeinsam mit Mahir verbracht, in einem Rausch der Leidenschaft. Doch bis auf wenige Augenblicke zeigte sich die Wirklichkeit von einer ganz anderen Seite. Tagsüber sah ich ihn selten, nachts nahm der Schlaf ihn mir weg. Zuweilen reagierte er nervös oder ärgerlich, was mir nicht entging und mich zutiefst verletzte. Dann fragte ich mich, ob sein Vater nicht doch recht gehabt hatte mit seiner Behauptung, Mahir liebe mich nicht mehr. Doch sogleich fand ich alle möglichen Ausflüchte: die viele Arbeit, die Sorgen ... Und wenn er wieder lächelte und mich in die Arme nahm, war ich die glücklichste Frau auf Erden. Ich verkehrte mit niemandem außer mit meinen Nachbarinnen, den Unteroffiziersfrauen. Sie wunderten sich, warum Mahir mich nicht den »Hanums« in der Stadt vorstellte -nicht den Gattinnen der anderen Offiziere, denn von ihnen war keiner verheiratet, sondern denjenigen des Gouverneurs, des Richters und verschiedener anderer Notabein. Ich versicherte ihnen, daß ich lieber ganz zurückgezogen lebte, und das stimmte ja auch. Trotzdem dachte ich, Mahir stelle mich deshalb niemandem vor, weil er sich meiner schämte, weil ich eine Frau war, die Aufsehen erregt hatte. Ich begann mich zu fragen, ob er mich vor aller Welt versteckte, um mich leichter wieder loswerden zu können, ohne sich in aller Form scheiden zu lassen; unsere Ehe war ja bereits gesetzlich für nichtig erklärt. Diese trüben Gedanken quälten mich sehr. Wenn ich es satt hatte, allein zu Hause herumzusitzen oder von der Terrasse aus das Meer und die Berge zu betrachten, verschleierte ich mein Gesicht, hüllte mich in meine Milaja und verließ das Fort. Ich sagte es niemandem, auch nicht Mahir. Wenn ich durch die Gäßchen lief, eine verschleierte Frau unter vielen anderen, konnte niemand wissen, wer ich war. Mich faszinierte der Hafen und das Geräusch der Wellen, die gegen
den Pier schlugen. Fischer trockneten ihre Netze, und die vertäuten Boote tanzten auf dem Wasser auf und ab. Einmal sah ich einen Segelkutter, dessen Fracht gelöscht wurde. Lange stand ich da und betrachtete das schlanke, elegante Schiff. Woher mochte es kommen? Aus Arabien? Massawa? Bahrein? Aus Indien gar? Ich schaute zu, wie es den Anker lichtete, die Segel setzte, ins offene Meer hinausglitt. Eine Zeitlang dachte ich nicht mehr daran, daß ich im Fort einen Ehemann hatte, der sich vielleicht über meine Abwesenheit aufregte, einen Mann, für den ich alles aufgegeben, aller Welt die Stirn geboten hatte. Unter meinem dichten schwarzen Schleier verborgen, war ich nur noch eine junge Frau, die sich nach großen Fernen sehnt. Tags darauf bemerkte ich von meinem Fenster aus draußen vor der Stadt eine Menschenmenge, die sich um eine Gruppe von Kamelen scharte. Zuerst dachte ich, in der Nacht sei eine Karawane angelangt. Ich wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, daß sie vielleicht Briefe und Zeitungen mitgebracht hatte, doch der alte Abdallah klärte meinen Irrtum auf: Die Besitzer dieser Kamele seien Abbada, Nomaden aus dem Süden, regelrechte Wilde, meinte er, die nur selten in Kussair auftauchten. Ich warf mir hastig etwas über und eilte davon, um sie mir aus der Nähe anzusehen. Sie trugen nichts als schäbige Lumpen um die Hüften, doch in den Händen hielten sie Speere und runde Schilde. Feingeschnitten wie Gemmen waren ihre Gesichter unter den langen krausen Haaren, mit gerader Nase und schmalen Lippen, und in ihren Augen glühte ein wilder Stolz. Es waren Menschen, die außerhalb der Gesetze der Nationen lebten, ewige Rebellen, und ich beneidete sie. Anstatt wieder nach Hause zurückzukehren, wanderte ich zum Strand hinunter. Das Meer erstreckte sich bis zum Horizont, lieblich, spiegelglatt, von einer merkwürdigen
Faszination. Ich dachte an die Sirenen, von denen meine Großmutter gesprochen hatte, wenn sie uns ihre Pilgerreise erzählte; ich hörte ihren lockenden Gesang, den Gesang der Freiheit, und fühlte mich auf diesem von Bergen und Meer eingeschlossenen Fleckchen Felsen und Sand wie eine Gefangene. Nichts hielt mich hier außer meiner Liebe. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Wunsch, Mahir zu sehen, seine Stimme zu hören, in seinen Armen zu liegen. Fast im Laufschritt eilte ich zum Fort zurück. Mahir hatte mir nie genau erklärt, wo sich sein Büro befand; offensichtlich wollte er nicht, daß ich ihn dort störe. Jetzt aber mußte ich ihn sehen, um jeden Preis. Ich betrat die Kaserne, erkundigte mich bei einem Soldaten, rauschte an einem verdutzten Posten vorbei in die Wachstube. Drei Offiziere, darunter Mahir, hielten sich darin auf; sie schwatzten und lachten. Bei meinem Anblick erstarrten sie. Mahir, der es sich auf einem Diwan bequem gemacht hatte, wurde puterrot und sprang auf. Trotz des Schleiers hatte er mich sogleich erkannt. Ich wollte ihn bitten, kurz herauszukommen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen und befahl mir mit schneidender Stimme, auf der Stelle nach Hause zu gehen. Seine Reaktion empörte mich. Ich verließ den Raum, knallte die Tür hinter mir zu und rannte davon - nicht nach Hause, sondern abermals aus dem Fort. Tränen liefen mir über die Wangen, ich rang nach Atem und hatte das Gefühl, ich müßte ersticken. Südlich der Stadt bildete die Küste eine kleine Bucht, und hier, wo die Wellen im Sande verliefen, ließ ich mich zu Boden fallen. Ich war das unglücklichste Geschöpf auf Erden. Wenn Mahir mich nicht mehr liebte, was sollte ich dann noch in dieser Einöde? Doch es gab keinen Ort auf der Welt, wo ich hingewollt hätte, ich wollte nicht nach Kairo zurück und auch nicht nach Alexandria; die ganze Welt war
Feindesland für mich. Vor mir lag das Meer - hätte es mich doch fortgetragen, irgendwohin, nirgendwohin! In der Ferne, am Fuße der rotschimmernden Felsen, bewegten sich Kamele in einer langen Reihe, eins hinter dem anderen. Die Abbada zogen wieder nach Süden. Ach, warum konnte ich nicht eine ihrer Frauen sein und mit ihnen in der Unendlichkeit der Wüste verschwinden? Noch nie hatte ich mich so verlassen gefühlt. Der Kanonenschuß, der das Fastenbrechen ankündigte, brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Die Sonne war untergegangen. Ich dachte an Mahir, der sicherlich schon ungeduldig auf mich wartete. Er mußte Hunger haben, bei seinem gesunden Appetit bereitete ihm das Fasten Mühe. Nun, mochte er warten, mir war es gleichgültig. Doch im selben Moment weitete sich mein Herz vor Liebe, und ich fand alle möglichen Entschuldigungen für seinen brutalen Zornausbruch: Es war Ramadan, er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, zudem hatte ich ihn dabei ertappt, wie er die Dienstordnung verletzte; er hatte nur vor seinen Untergebenen das Gesicht wahren wollen, und ich hatte daraus den voreiligen Schluß gezogen, daß er mich nicht mehr liebte. Ich ging in die Stadt zurück. Die Gassen waren menschenleer, die Wachen am Eingang des Forts saßen beim Abendessen. Mahir hatte nicht auf mich gewartet und beendete eben seine Mahlzeit. Er warf mir einen gehässigen Blick zu: »Was willst du noch hier? Geh doch dahin zurück, wo du herkommst!« Ich drehte mich auf dem Absatz um. »Na schön, Mahir, das brauchst du mir nicht zweimal zu sagen, ich habe verstanden.«
Ich stand schon auf der Schwelle, als er mich packte und mich ins Zimmer zurückschleuderte; ich hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Mahir hatte mir wehgetan, doch dieser Schmerz erfüllte mich mit Freude: Er wollte mich also doch nicht verlieren? »Ich habe dir verboten auszugehen, ist das klar?« »Dann laß mich nicht den ganzen Tag allein.« »Ich habe anderes zu tun!« Ich lachte höhnisch. »Das habe ich ja gesehen, wieviel du zu tun hast! Mach dir doch nicht die Mühe zu lügen. Du langweilst dich in meiner Gesellschaft, na schön, aber dann verbiete mir nicht, mich zu unterhalten, so gut ich kann, oder wegzugehen.« Das Blut stieg ihm ins Gesicht. »Ich habe das Sagen hier!« schrie er. »Ich verbiete dir, in die Stadt zu gehen und Anstoß zu erregen, mir reicht der Skandal, den du schon anderswo gemacht hast!« »Ausgerechnet du wirfst mir das vor? Du scheinst eines vergessen zu haben: Wenn ich so kühn handeln mußte wie ein Mann, dann nur deshalb, weil du, Mahir, nichts tatest außer jammern wie ein Weib!« Er stürzte sich auf mich und wollte mich schlagen. Ich wehrte mich, kratzte und biß. Und doch liebte ich ihn .. .Auch diesmal endete der Streit, wie ein Streit zwischen Verliebten eben endet. Die beiden folgenden Tage verbrachten wir in Minne; Mahir gab sich Mühe, nett zu mir zu sein, kam tagsüber mehrmals, wenn auch nur für kurze Zeit, nach Hause, und ich meinerseits hütete mich, irgendwohin zu gehen. Am Abend des zweiten Tages kam der Postkurier aus Kairo. Er brachte eine schreckliche Nachricht: In einem an Mahir gerichteten Brief teilte ihm seine Schwester Bahiga mit,
daß mein Vater gestorben war, und bat ihn, es mir schonend beizubringen, falls ich, wie man vermutete, mich bei ihm aufhielt. Der Brief wurde Mahir in seinem Büro ausgehändigt. Er kam kurz darauf nach Hause. Ich erwartete ihn ungeduldig, denn ich hatte von der Ankunft der Karawane gehört und war gespannt auf die Neuigkeiten. Als ich Mahirs bleiches Gesicht sah, seine Augen, die meinem Blick auswichen, wußte ich sofort, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Doch an einen Todesfall dachte ich zunächst nicht. »Was ist los, Mahir? Will man uns trennen? Verlangt man, daß du mich verstößt und daß ich nach Kairo zurückgehe? Das werde ich nicht tun! Du stehst doch auf meiner Seite, nicht wahr?« »Nein«, sagte er schließlich, »das ist es nicht. Es ist ein Brief von meiner Schwester.« »So red schon! Was schreibt sie?« »Dein Vater ...« »Was ist mit ihm?« »Er hat einen Schlaganfall gehabt.« Mahir zerknüllte das Blatt, ich riß es ihm aus den Fingern. Ja, das war Bahigas Handschrift. Mein Verschwinden, schrieb sie, habe große Betroffenheit ausgelöst; in der gleichen Ausgabe der Zeitung, die davon berichtete, sei auch die Meldung vom Tode meines Vaters erschienen. Er war noch am Tage meiner Flucht an einer Gehirnblutung gestorben. Bahiga hatte den nächsten Zug nach Kairo genommen und Nargis aufgesucht. Sie hatten lange über mich gesprochen und beraten, was nun zu tun sei; da war das Problem mit der Erbschaft. »Wenn Du weißt, wo Ramsa sich aufhält«, schrieb Bahiga, »dann teile es ihr mit und bestehe darauf, daß sie unverzüglich nach Kairo zurückkehrt. Sie hat nichts zu befürchten, Nargis wird sie mit offenen Armen aufnehmen.« Offensichtlich war der Brief auch für meine Augen
bestimmt und so vorsichtig formuliert, daß kein Tadel an meine Adresse durchschimmerte. Man befürchtete wohl, ich würde mich sonst erst recht einer Rückkehr widersetzen und Gott weiß wohin fliehen. Ich konnte es zuerst nicht begreifen. Das war doch nicht möglich, mein Vater konnte nicht tot sein, man stirbt doch nicht so plötzlich! Ich starrte auf die Zeilen und konnte nicht glauben, daß da von mir oder von ihm die Rede war. Ein Gedanke durchzuckte mich: War es vielleicht eine Falle? Wollte man mich damit nach Kairo locken und mich dann einsperren? Aber nein, es war zu offensichtlich, daß Bahiga die Wahrheit schrieb. Mein Vater war tot, und eine schreckliche, eine unerträgliche Gewißheit durchbohrte wie ein Messer mein Herz: Ich war es, die ihn getötet hatte. Ich brach schluchzend zusammen. Mahir hob den Brief auf und las ihn noch einmal. »Du mußt abreisen, Ramsa.« Entsetzt hob ich den Blick. »Ich will dich nicht verlassen, Mahir!« Ein so grimmiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht, daß ich seine Gedanken erriet. »Du gibst mir die Schuld an seinem Tod?« Er wandte sich schweigend ab. »Ich habe nur um unser Glück gekämpft, Mahir, sogar gegen meinen eigenen Vater, und doch habe ich ihn geliebt! Oh, ich habe ihn ja so lieb gehabt!« Ich tastete nach seinen Händen, doch er wich zurück. »Wir reisen morgen früh.« »Du willst mit mir kommen?« Ich schäme mich, es zuzugeben, aber das klang fast wie ein Freudenschrei, ein Freudenschrei voller Bitterkeit. Ich hatte ja solche Angst, ihn zu verlieren!
»Nur bis Kena«, sagte er. »Länger kann ich nicht von meinem Posten fernbleiben.« »Reich doch deinen Abschied ein, Mahir! Ich habe Geld genug, um uns beide zu erhalten!« Was hatte ich da bloß gesagt? Kaum waren die Worte heraus, hätte ich sie zurückholen mögen. Zu spät - seine Züge verzerrten sich. »Niemals werde ich dein Geld anrühren, niemals werde ich aus der Armee austreten!« »Dann bleibe ich bei dir.« »Nein, du mußt nach Kairo zurück. Dein Vater ist doch gestorben!« »Dadurch kann ich ihn auch nicht wieder lebendig machen, und an der Erbschaft liegt mir nichts.« »Du mußt zurück!« »Dann komm mit mir, laß dir Urlaub geben.« Ich kämpfte verbissen, überzeugt, daß ich ihn endgültig verlieren würde, wenn ich ihn jetzt verließ, und sei es auch nur für einige Wochen. Doch er machte ein finsteres Gesicht und wich meinem Blick aus. »Ich begleite dich bis nach Kena«, wiederholte er. »Und Weiterreisen soll ich dann allein?« Er zögerte. »Nun gut, ich reiche ein Urlaubsgesuch ein, und sobald es bewilligt wird, fahre ich ebenfalls nach Kairo.« »Dann laß uns doch warten und miteinander fahren!« »Nein, du mußt jetzt gleich abreisen. Man darf uns nicht beisammen sehen. Unsere Ehe ist für nichtig erklärt worden, vergiß das nicht.« »Ein Gerichtsurteil ist keine Verstoßung! Was hindert uns an einer Wiederverheiratung? Es wird doch einen Masun oder einen Kadi in Kussair geben.« Wie hartnäckig ich doch meinen Rückzug verteidigte, Schritt um Schritt!
»Antworte mir, Mahir, willst du, daß wir abermals heiraten?« Er zuckte die Achseln. »Auch wenn ich es wollte«, sagte er, »das Gesetz dürfte es wohl kaum zulassen. Schließlich hat man mich als deiner unwürdig erklärt, oder weißt du das nicht mehr?« Sein plötzlich harscher Ton verriet mir, daß die Wunde, die seinem Selbstgefühl geschlagen worden war, noch nicht vernarbt war. Mich schmerzte sie nicht weniger als ihn. »Das ist doch absurd!« rief ich. »Du kannst diesen schäbigen Vorwand doch nicht mir zur Last legen. Ich werde Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dieses Urteil rückgängig zu machen, nichts davon soll hängenbleiben!« »Etwas bleibt immer hängen.« »Was willst du damit sagen, Mahir?« Er sah mich einen Augenblick an und wandte sich sofort wieder ab. Ich glaube, mein Gesicht muß vor Angst und Kummer schrecklich ausgesehen haben. Vielleicht lenkte er deshalb ein; er befürchtete wohl, ich würde gänzlich zusammenbrechen, wenn er mir seine Gedanken verriete. »Wir reisen morgen früh ab«, sagte er. »Und dann?« Ich mußte meine Frage wiederholen. »Dann ... werden wir weitersehen.« Ich war wieder einmal feige an jenem Abend. Ich fragte nicht weiter. Wo Mahir jene Nacht verbracht hat, weiß ich nicht. Ich wälzte mich im Bett herum, allein, und fand keinen Schlaf. Nach einem Todesfall sind eheliche Beziehungen während vierzig Tagen untersagt, daß wußte ich. Ich wußte aber auch, daß dies nicht der einzige Grund war, weshalb Mahir nicht bei mir schlief. Und das Gesicht meines toten Vaters tauchte immer wieder so deutlich vor mir auf, daß ich Höllenqualen
litt.
Die Rückreise nach Kena war wie ein Leichenbegängnis. Wir ritten stundenlang nebeneinander dahin, ohne ein Wort zu wechseln. Zum Gebet, zum Fastenbrechen oder zur Mahlzeit vor Sonnenaufgang schloß sich Mahir seinen Soldaten an. Ich betete, aß und schlief allein in einem Zelt, das etwas abseits aufgeschlagen wurde; Mahir schlief vor dem Zelteingang. Wir forcierten das Tempo; am liebsten wäre ich Tag und Nacht durchgeritten, nur um alles rasch hinter mich zu bringen. Die Schönheit der Landschaft war mir gleichgültig geworden. Bereits am vierten Tag, gegen Abend, erreichten wir Bir Ambar, wo wir zum dritten Gebet haltmachten. Das Grün des Niltales war schon in Sicht, bald würden wir am Ziel sein. Bevor wir aufsaßen, nahm ich all meinen Mut zusammen und bat Mahir, mich anzuhören. Ich hatte im Laufe dieser vier schweigsamen Tage viel nachgedacht. Wir standen vor einer unwiderruflichen Entscheidung, und es durfte kein Mißverständnis mehr zwischen uns geben. Dennoch klang meine Stimme ein wenig unsicher; ich wußte, daß vielleicht schon die erste Frage all meine Luftschlösser zusammenstürzen ließ: »Mahir, antworte mir offen und ehrlich, ohne Rücksicht darauf, ob du mir wehtust: Willst du mich noch zur Frau haben?« Die Sekunden fielen träge und schwer wie dicke Regentropfen in mein Herz. Mahir schwieg. Und während dieses langen Schweigens zog all das an mir vorbei, worüber ich in diesen letzten Tagen und Nächten nachgedacht hatte. Auf einmal lag alles ganz klar vor mir. Wie blind war ich doch gewesen, daß ich die Wahrheit nicht längst erkannt hatte! Mahir wollte mich nicht. Ich hatte ihn in Alexandria zur Ehe
gezwungen, ich hatte ihn in Kairo überredet, diese Ehe zu vollziehen, ich war ihm bis nach Kussair nachgelaufen, als er vor mir floh. Immer war ich es gewesen, die die Initiative ergriffen hatte, ich allein! Im Prozeß gegen meinen Vater hatte ich den Kampf geführt; Mahir hatte sich stets möglichst im Hintergrund gehalten; weder er noch sein Vater, der am allerwenigsten, hatten diesen Prozeß gewinnen wollen, auch sie waren meine Gegner gewesen, darum hatte ich ihn verloren. Auch jetzt, hier in der Wüste, stand mir kein Ehemann zur Seite. Und doch hatte Mahir mich geliebt und liebte mich vielleicht immer noch. Aber seine Liebe war nicht so stark, daß sie gegen seine Vorurteile, die öffentliche Meinung, seine verletzte Eitelkeit angekommen wäre. Auch wenn ich diesen Prozeß gewonnen hätte, ich wäre für ihn doch stets die Frau geblieben, die Ärgernis erregt hat, deren man sich insgeheim schämt; die Frau auch, die man furchtet, weil ihr vergangenes Tun auf ihr künftiges Tun schließen läßt, weil sie die Demut des dienenden Weibes ebenso von sich weist wie die Unterwürfigkeit der in den Harem Verbannten. Schließlich sagte er leise, mit gesenktem Kopf: »Schau, Ramsa, solange dein Vater lebte, konnten wir noch hoffen, seine Einwilligung zu erhalten, und dann vielleicht auch die meines Vaters. Doch jetzt ist er tot, durch unsere Schuld, ohne uns verziehen zu haben. Und auch mein Vater wird uns nie verzeihen und uns bis zu seiner letzten Stunde verfluchen.« Ich wußte jetzt, was ich zu tun hatte. »Gut, Mahir. Ich werde aus deinem Leben verschwinden, du kannst beruhigt sein. Weder der Zorn meines Vaters noch die Urteile der Richter brachten es fertig, mich von dir zu trennen. Doch jetzt sage ich es dir offen und aus freiem Entschluß: Ich kann und ich will nicht mehr deine Frau sein. Ruf zwei Soldaten als Zeugen her und verstoße
mich.«
Er fuhr entsetzt zurück und widersprach: »Niemals werde ich dir diese Schmach antun! Es ist ja auch nicht notwendig. Ich will dich nicht wegschicken, und selbst wenn wir uns trennen müßten, existiert keine gesetzliche Bindung, die aufzulösen wäre, denn die Gerichte haben unsere Ehe ja nicht anerkannt.« »Ich habe mich den Gerichtsurteilen nicht unterzogen, ich erkenne sie nicht an. Menschen haben nicht die Macht, jene voneinander zu trennen, die Gott durch die Liebe miteinander verbunden hat. Doch heute, wenn es überhaupt denkbar wäre in einer Welt, in der eine Frau nur zu gehorchen hat, heute würde ich dich verstoßen, und meine Stimme würde dabei nicht zittern! Nun gut, dann tu du es ... nein, warte noch einen Augenblick.« Ich sah ihm ins Gesicht, starr und voller Verzweiflung, um mir seine Züge auf immer und ewig einzuprägen. Dann bedeckte ich mit der Hand meine Augen. »Los, sprich! Sprich es aus, das Todesurteil!« Er machte einen letzten Versuch, sich der verhaßten Aufgabe zu entziehen, und sagte mit einer Ironie, die unecht klang: »Immer diese großen Worte! Literatur bis zum bitteren Ende! Es reicht jetzt, du darfst deinen Zug nicht verpassen, gehen wir.« »Mahir, es ist das letzte, worum ich dich bitte! Du bist Soldat, hab doch den Mut zuzuschlagen, da es mir nun einmal nicht erlaubt ist.« »Ich habe nicht das Recht dazu! Ich - ich kann nicht.« »Bist du so feige? Los, bringen wir es hinter uns!« Da sprach er mit tonloser, fast unhörbarer Stimme die schrecklichen Worte der Scheidungsformel aus: »Ich verstoße dich! Du bist nicht mehr meine Frau, du
bist für mich geworden wie meine Schwester und wie meine Mutter.« Er zögerte, die Worte zu wiederholen. In diesem Augenblick ließ sich der alte Abdallah vernehmen, der als Zeuge diente: »Genug! Willst du sie umbringen? Eines Tages wirst du vielleicht zu ihr zurückkehren!« Ich aber wußte: Nie mehr würde ich zu ihm zurückkehren oder ihn bei mir aufnehmen, wenn er zu mir zurückkehren wollte, auch wenn er die Formel der Verstoßung nicht dreimal aussprach. Ich hatte mir das Gesicht mit dem schwarzen Schleier verhüllt, und nie mehr würde Mahir es sehen. Einige Stunden später erreichten wir Kena. Als ich von meinem Reittier stieg, war Mahir nicht mehr in meiner Nähe. Es gelang mir, ihn nicht mit dem Blick zu suchen. Der alte Abdallah begleitete mich zum Bahnhof, kaufte mir am Schalter die Fahrkarte und half mir beim Einsteigen. Weinen konnte ich erst, als der Morgen dämmerte. Ich fühlte mich nach dieser Nacht zermürbt und zerschlagen, aber nicht besiegt. Ich hatte mir selbst das Herz zerrissen, und dennoch hatte ich mich wiedergefunden, ungebunden, unnachgiebig, ungebrochen. Es erfüllte mich mit einer bitteren Befriedigung. Ein schwarzes Tuch lag achtlos hingeworfen neben mir auf der Bank: der Schleier, den ich am Abend zuvor, als ich allein war, abgelegt hatte. Haßerfüllt zerknüllte ich ihn in den Händen, am liebsten hätte ich ihn fortgeworfen. Aber die Zeit, mich vom Schleier zu befreien, war noch nicht gekommen. Ich legte ihn wieder an, als der Zug sich Kairo näherte. Doch ich gelobte mir weiterzukämpfen, so lange, bis von den Gesichtern der Frauen des Orients, meiner Schwestern, dieses Siegel männlicher Tyrannei verschwunden sein würde.
Nachwort Out el Kouloub el Demerdaschijja (1892-1968), bekannt als Out el Kouloub, war eine Ägypterin, die in Französisch schrieb, der bevorzugten Sprache der Oberschichtsfrauen ihrer Zeit. Sie gehörte der mohammedanischen Aristokratie an, einer Familie, die einen Sufi-Orden gründete und repräsentierte. Nachdem in den frühen 6oern die weitläufigen Besitztümer der Familie und des Ordens in der Innenstadt Kairos konfisziert worden waren, flohen einige Mitglieder aus Ägypten. Die Autorin selbst starb im Exil. Out el Kouloub fühlte sich sehr zur französischen Literatur hingezogen und widmete sich, früh verwitwet, neben der Erziehung ihrer Kinder dem Schreiben und der Förderung von Schriftstellern. Sie unterhielt in Kairo einen literarischen Salon, in dem sowohl Ägypter wie Europäer ein und aus gingen. »Ramsa« ist einer der fünf Romane, die vom Leben ägyptischer Frauen aus verschiedenen sozialen Klassen und vom Familienleben in einer traditionellen Gesellschaft handeln. Sie erschienen zwischen 1937 und 1961: »Harem« (1937), »Za-nouba« (1950), »La Nuit de la Destinee« (1954), »Ramza« (1958) und »Hefnaoui, le Magnifique« (1961). Out el Kouloub war eine scharfe Beobachterin ihrer Welt. Ihre Geschichten spielen oft in historischen Vierteln und alten Gebäuden, und sie verwebt ihre Schilderungen von architektonischen Details mit ihrer intimen Kenntnis der Sitten und Gebräuche und gibt damit ein lebendiges Bild von der Welt des Harems - mit all seinem Aberglauben, seiner Magie und seinen Ritualen.
Ramsas Geschichte ist die vieler orientalischer Frauen um die Jahrhundertwende. Out el Kouloub schrieb sie als Roman, doch ist sie reich an autobiographischen Details. Der Name der Heldin bedeutet »Symbol« und spielt auf das zentrale Thema des Buchs an, die Befreiung der Frauen. Wenn Ramsa erzählt, wie sie als Mädchen im Harem einer reichen Familie im Ägypten des 19. Jahrhunderts aufwächst, erzählt sie auch von ihren ambivalenten Gefühlen gegenüber dieser Welt. Materiell geht es ihr zwar sehr gut im wohlbehüteten, sicheren Harem, doch sie haßt seine Beschränkungen. Sie beschreibt, wie sie sich des Lebens der Frauen in diesem privilegierten Milieu zunehmend bewußt wird, sie schildert die komplexen Gefühle und Konflikte, die dieser Prozeß in ihr weckt. So zeichnet sie ein genaues Bild ihres eigenen Lebens, und zweifelsohne von Out el Kouloubs Leben sowie anderer Frauen ihrer Zeit und ihrer Gesellschaftsschicht. Ramsas Mutter und ihre Tante Nargis wurden wahrscheinlich in den späten 1870ern für das Harem Farid Paschas gekauft. Dieser bricht mit der Sitte, als er dem Bildungshunger seiner Tochter Ramsa nachgibt und ihr erlaubt, zur Schule zu gehen. Farid Pascha gehört zwar zu den aufgeklärten Männern seiner Zeit, schätzt jedoch immer noch traditionelle Werte und Bräuche hoch. Die historischen Persönlichkeiten in Ramsas Geschichte wurden sich wie Farid zunehmend bewußt, daß auch Frauen von der allgemeinen nationalen Entwicklung profitieren sollten. 1863 kam der Khedive Ismail an die Macht, zu einer Zeit der wirtschaftlichen Blüte in Ägypten. Während seiner ersten Regierungszeit wurde das Eisenbahnnetz ausgebaut,
Brücken, Kanäle, Telegrafenlinien und Postdienste wurden installiert. 1869 wurde der Sues-Kanal eröffnet. Bildungsreformen wurden durchgeführt; Ägypten solle europäisiert werden. Junge Männer wie Farid Pascha, die früher in Kairo oder Istanbul ausgebildet wurden, studierten nun in Frankreich. Ägypten experimentierte 1866 mit einer konstitutionellen Verfassung; die erste Staatsschule für Mädchen öffnete 1873 ihre Tore; die Sklaverei wurde 1877 abgeschafft; Frauen begannen schon 1890 in Zeitungen und Zeitschriften über Emanzipation zu schreiben. Kassim Amin, den Ramsa an einer der Freitagabendzusammenkünfte kennenlernte, schrieb 1899 »La Liberation de la femme« (Die Befreiung der Frau). Bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts - und für viele Frauen noch darüber hinaus - wurden Ober- und Mittelschichtsmädchen in Ägypten ab dem zehnten Lebensjahr verschleiert und eingeschlossen. Sie wurden von den Männern getrennt, die beinahe jedes Detail ihres Lebens kontrollierten und in feste Bahnen lenkten. Out el Kouloub erlebte wie Ramsa den Harem, aber auch die Anfänge der ägyptischen Frauenbewegung. Ihre Pionierin, Huda Sharaawi, die etwas älter war als Ramsa, wurde zu Hause erzogen und mit 13 oder 14 verheiratet wie viele ihrer Zeitgenossinnen. 1923, als Huda Sharaawi und ihre Nichte vom Internationalen Feministischen Kongreß in Rom nach Kairo zurückkehrten, empfingen Hunderte von verschleierten Frauen die beiden Frauenrechtlerinnen und brachen in Applaus aus, als sie zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit ihre Gesichter entschleierten. Auf diesen symbolischen Akt, der der Institution des Harems den Todesstoß versetzte, spielt das letzte Kapitel in »Ramsa« an.
Die Ähnlichkeiten zwischen Huda Sharaawi und Ramsa sind nicht zu übersehen. »Frau zu sein wurde zur Barriere zwischen mir und der Freiheit, nach der ich mich sehnte«, schrieb Huda. Das klingt sehr nach Ramsa. Out el Kouloub muß wie Huda Sharaawi die Erklärungen von Scheich Muhammad Abduh, einem islamischen Modernisten des 19. Jh. gekannt haben, der meinte, Ägyptens Fortschritt würde behindert, weil die Muslime es unterließen, den wahren Geist des Islam auch auf die Frauen auszudehnen, und sie damit der Rechte beraubten, die ihnen der Islam ausdrücklich zugestand. Kassim Amin bestätigte, daß der Islam nicht verlangte, daß Frauen eingeschlossen und verschleiert sein müßten. Ein junger koptischer Rechtsanwalt schrieb, daß Ägypten so lange unterentwickelt bliebe, als die Frauen sich nicht emanzipieren könnten. Auf solche Ansichten wie auch jene von Leidgenossinnen, die über die Stellung der Frau nachdachten, stützte sich Out el Kouloub, als sie Ramsas Charakter und ihre Zeit herausarbeitete. Bei der Lektüre des Romans »Ramsa« sollte seine Bedeutung als historisches Dokument nicht vergessen werden, um so mehr als es der Bericht einer Insiderin ist, einer Frau, die den Harem am eigenen Leib erlebte und darüber schrieb. Es ist nicht das Werk eines Orientalisten, sondern die zu Herzen gehende Inszenesetzung eines Stückes ägyptischer Frauen-und feministischer Geschichte. Zugleich ist der Roman voller zarter, persönlicher Erinnerungen, voller scharfer Beobachtungen von Gesellschaft und Politik. Out el Kouloub vereint in sich die Talente einer Ethnographin, einer glänzenden Geschichtenerzählerin und die Betroffenheit einer Aktivistin. Ihre Romane sind voller Alltagsdrama und erwecken ein Ägypten zum Leben, das heute nur noch Erinnerung ist.
Glossar Historische Persönlichkeiten sind in halbfetter, geographische Namen in kursiver und arabische Begriffe in normaler Schrift. Abbada: nubisches Nomadenvolk Abbas II. Hilmi (1874-1944), dritter Khedive von Ägypten, regierte 1892-1914 unter englischer Vormundschaft Abduh, Muhammad (1849-1905), muslimischer Reformtheologe, Schüler von Dschamaladdin al-Afghani und Mitbegründer der Reformbewegung, 1882 nach der Besetzung Ägyptens durch die Engländer verbannt, nach seiner Rückkehr 1899 zum Großmufti ernannt Abdulhamid II. (1842-1918), osmanischer Sultan, regierte seit 1876, wurde nach dem Aufkommen der Jungtürken 1909 gestürzt und lebte bis November 1912 in Verbannung Abla: »ältere Schwester« (als Anrede) Abu Naddara, Übername von Jaakub Sannua (1839-1912), Journalist aus jüdischer Familie in Kairo. In der von ihm herausgegebenen Zeitung »Abu Naddara« (»Der mit der Brille«) kritisierte er den Khe-diven Ismail, weshalb er ins Exil gehen mußte, wo er weiter Zeitungsherausgeber war und schließlich starb al-Afghani, Dschamaladdin (1839-1897), muslimischer Reformdenker, 1871-1878 Lehrer an der Ashar-Universität, setzte sich für die religiöse und politische Erneuerung ein Agha: türk. »Herr«, früher Titel für Offiziere und Hofbeamte, auch Aufseher im Harem des Sultans; hier: Haremaufseher, Eunuch Amin, Kassim (1865-1908), Schriftsteller; sein Werk Tachrir alMara (»Die Befreiung der Frau«) erschien 1899 Aya: Koranvers
al-Badawi, Sajjid (Achmad) (gest. 1276), Mystiker, wichtigster Heiliger in Ägypten; seine vielbesuchte Grabstätte ist in Tanta Baklawa: Gebäck aus Blätterteig mit Honig al-Barudi, Sami (1838-1904), ägyptischer Dichter und Politiker, hat die moderne arabische Renaissance stark beeinflußt Bey: türkischer Ehrentitel Bismillah: Mit der Formel Bismi'llah ar-rachman ar-rachim (»Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes«) beginnen fromme Muslims jede wichtige Handlung, leiten Briefe und Bücher ein usw. al-Bustani, Sulaiman (1856-1925), libanesischer Politiker, Literat und Wissenschaftler Chalfata: Aufseherin in einem Harem Chatiba: Heiratsvermittlerin Dahabijja: eine Art Hausboot, auf dem Nil gebräuchlich Darbukka: Trommel mit tönernem Korpus Dongola (Dunqulah): Stadt am Nil im Sudan Dschinn: Geisterwesen, Dämon Fajjum: großes Oasengebiet westlich von Kairo al-Fatiha: »Die Öffnende«, 1. Sure des Korans Feddan: ägypt. Flächenmaß = 0,42 ha Fellache, Fellachin: ägypt. Bauer/Bäuerin Gubba: langes Obergewand mit weiten Ärmeln, insbesondere getragen von Religionsgelehrten oder wohlhabenden Dorfbewohnern Habara: schwarzer Frauenumhang aus Samt oder Seide Hafis Ibrahim (1871-1932), gesellschaftskritisch engagierter Dichter mit dem Beinamen »Dichter des Nils« Hanum: (stets nachgestellt) Frau/Madame ... Haramlik: für die Frauen reservierter Teil des Hauses Iftar: das Fastenbrechen bzw. die dabei eingenommene (Abend-) Mahlzeit Ismail Pascha (1830-1895), Vizekönig (ab 1867 Khedive) von
Ägypten von 1863 bis zu seiner Absetzung durch den Sultan im Jahre 1875 Jalak: Damenjäckchen, -weste Janitschar: türk., Angehöriger der ehemaligen türk. Truppe Jaschmak: weißer Kopfschleier, der die Augen frei läßt Jasgi, Nassif (1800-1871), und Jasgi, Ibrahim (1847-1906): Vater wie Sohn waren gleichermaßen bekannte Dichter Kaa: Halle, Saal Kadi: Richter in islam. Ländern Kanaka: Topf zum Kochen des türkischen Kaffees Kasida: Gedichtform (Ode) Katb al-Kitab: Unterzeichnung des Ehevertrages (bzw. vor zwei männlichen Zeugen geleistete Einwilligung der Braut in die Heirat) Kena (Qina): Stadt am Nil in Oberägypten Khedive (Chediwe): Titel des früheren Vizekönigs von Ägypten Kis: Mädchen, Tochter Kussair (al-Qusayr): Hafen am Roten Meer Kudja: berufsmäßige Anführerin eines Beschwörungsrituals (Sar) der sudanesischen Art Kuttab: Koranschule Lukum: Süßigkeit aus einer aromatischen Paste, mit Puderzucker bestäubt Maamur: Bezirks-/Distriktsbeamter, auch Polizeibeamter, hat auch die Funktion eines Zivilstandsbeamten Mameluck: Sklave, Leibwächter orientalischer Herrscher Mandara: Empfangsraum Maschrabijja: gedrechseltes Holzgitter vor Fenstern und Baikonen Masun: autorisierter Heiratsnotar Matran, Chalil (1872-1949), Dichter Milaja: schwarzer Umhang der ägyptischen Frauen
Millim: kleinste ägyptische Münzeinheit Muezzin (Muesin): Gebetsrufer Mufattisch: Inspektor, Minister Mufti: Gelehrter auf dem Gebiet des religiösen Rechts mit der Befugnis, Gutachten zu Rechtsfragen abzugeben Muhammad (Mehmed) Ali (1769-1849), kam 1798 als Führer eines Albanesenkorps nach Ägypten, wurde 1806 Statthalter (Pascha); Begründer des modernen Ägypten Muharram: Monatsname Nasli Hanum (ca. 1850-1913), Nichte des Khediven Ismail Nina: Anrede für die Großmutter oder andere ältere weibliche Verwandte Radschab: Monatsname Ramadan: 9. Monat des islamischen Mondjahres (Ende Februar bis Ende März), in dem von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang gefastet wird Sabri, Ismail (1854-1923), berühmter Dichter, geboren in Kairo, studierte in Aix-en-Provence Jurisprudenz und arbeitete nach seiner Rückkehr als Beamter Said: Oberägypten Sais: Stallknecht Salamlik: für Männer und Gäste reservierter Raum oder Hausteil Sar: Beschwörungsritual in der Absicht, den Geist eines Besessenen durch Opfer, Gesang, Trommeln oder Tanz auszutreiben Scham an-Nassim: Frühlingsfest (findet in der Zeit um Ostern statt) Schauki, Achmad (1868-1932), einer der bedeutendsten Dichter der arabischen Literatur Scheich, Scheicha: würdige/r ältere/r Mann/Frau Sitt: (vorausgestellt) Frau ... Sure: Kapitel des Koran
at-Taimurijja, Aischa : (1840-1902), Lyrikerin Tarbusch: arab. Bezeichnung für Fes: Orient. Kopfbedeckung Ud (Türk. Ut): lautenähnliches Instrument Ulama (PL), Alim (Sg.): Religions- und Rechtsgelehrte Ustas: Meister, Professor (Anrede für Künstler und Intellektuelle) Wakil: Bevollmächtigter, Rechtsvertreter