Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Premiere in N.
Kriminalroman
Der ge...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Karl Heinz Berger Premiere in N.
Kriminalroman
Der gewaltsame Tod des Dramatikers Carl Schanzer bringt den Psychiater Dr. Gammler aus dem Gleichschritt seines Lebens, Denn Carl war für ihn keiner, dessen Tod man zur Kenntnis nimmt und dann zur Tagesordnung übergeht. Carl, das war ein Stück seines Lebens, war sein Freund. Um so schwerer trifft es Dr. Gammler, daß ihn die Polizei als möglichen Tatverdächtigen in Betracht zieht. Mit der Absicht, sich zu entlasten, begibt er sich an den Ort des Verbrechens, nach N., und bereitet dadurch nicht nur den dort recherchierenden Kriminalisten Schwierigkeiten. Auch er, der auszog, Licht in die Angelegenheit zu bringen, holt sich im Dunkel des Falles empfindliche Beulen.
Karl Heinz Berger
Premiere in N.
Verlag Das Neue Berlin
Figuren und Ereignisse sind erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Vorgängen und Personen wären zufällig.
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1980 Lizenz-Nr.: 409-160/120/80 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 430 9 DDR 2,– M
1. Carl war tot, und ich begriff das nicht in aller Konsequenz oder wollte es nicht begreifen. Denn Carl war nicht irgendwer für mich, keiner von denen, deren Tod man mit Schreck und Bedauern zur Kenntnis nimmt und dann zur Tagesordnung übergeht. Carl war ein Stück meines Lebens seit dreißig Jahren, seit wir, Zwanzigjährige, die Vorstudienanstalt gemeinsam besuchten, er, der gelernte Maurer, und ich, sozusagen berufslos von Haus aus, da man meine Tätigkeit als Aushilfskraft im Antiquariat meines Onkels in den ersten beiden Nachkriegsjahren nicht gut als Beruf bezeichnen konnte. Wir waren einander im Lauf der Zeit immer wieder aus dem Blickfeld geraten, auch weil unsere Arbeit nach dem Studium nicht allzu viele Berührungspunkte bot, aber nie hatten wir uns gänzlich aus den Augen verloren, und nach meiner Scheidung (Carl hatte meine Frau, ich weiß nicht exakt, warum, nicht ausstehen können) und nach seiner dritten Heirat, der mit Gisela, war die Verbindung wieder enger geworden. Zwar war nicht das entstanden, was man eine feste Freundschaft nennt, wenn auch im Zusammenhang mit uns oft das Wort 6
Freund gebraucht wurde, aber doch so etwas wie eine Kumpanei, die sich auf manches gemeinsam Erlebte in den Jahren der Not und des Lernens und auf unser Interesse an der Literatur gründete. Zur Freundschaft fehlte wohl auf beiden Seiten das bedingungslose Vertrauen. Zumal Carl deckte vor mir seine Karten nie ganz auf, und so blieb ich oft im unklaren, was er zu einem bestimmten Punkt dachte. Das hinderte uns jedoch nicht, uns zu freuen, wenn wir einander sahen; allerdings konnte ich mich an keine Begegnung erinnern, nach der wir schwer voneinander Abschied genommen hätten, etwa weil da noch so viel zu sagen gewesen wäre oder weil der eine einfach die Gegenwart des anderen brauchte. Gisela, seit vier Jahren mit ihm verheiratet, beobachtete unser Verhältnis zueinander, mit dem wachen Mißtrauen einer Frau, die plötzlich in eine Welt von Bekanntschaften und Verbindungen versetzt war, die sie nicht geknüpft hat und von denen sie nicht weiß, ob sie für ihre Ehe gut sind. Sie hatte mir mehrmals angedeutet, sie begreife diese betriebsame, doch kaum tiefgehende Sympathie, die Carl und ich füreinander hegten, nicht ganz. Aber was hatten all diese wirr mir durch den Kopf gehenden Überlegungen mit dem furchtbaren Umstand zu tun, daß Carl nun tot war? „Ruf meine Frau an“, hatte Carl noch heute früh gegen fünf Uhr am Bahnhof von N. gesagt, „erzähl ihr irgendwas. Sag am besten, ich könnte erst am Nachmittag zurückkommen, weil der Intendant mich noch sprechen will. Wegen dem neuen Stück – ja, das ist gut.“ Und ich hatte Gisela angerufen, sofort nachdem ich in meiner Wohnung eingetroffen war. Und jetzt, abends um acht, saßen diese beiden Männer in dem größeren meiner zwei kleinen Zimmer, und der Schock, den ihre Nachricht ausgelöst hatte, machte mir noch immer die Glie7
der schwer und trübte mir die Denkfähigkeit: Mein Freund Carl Schanzer sei tot aufgefunden worden, im Park beim Bahnhof in N., vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen; Raubmord käme nicht in Frage, da die Brieftasche mit annähernd fünfhundert Mark und einem Scheckbuch in der Jackettasche des Toten gesteckt habe und auch die goldene Armbanduhr noch vorhanden gewesen sei. Die Aussagen, die die Genossen in N. gesammelt hätten, ließen darauf schließen, daß ich möglicherweise als letzter Carl Schanzer lebend gesehen habe. Irgendwann an diesem Abend stand ich dann allein in der Küche und wartete darauf, daß das Wasser kochte, damit ich die Männer, die nun schon eine Weile in dem größeren Zimmer saßen, mit Kaffee versorgen konnte. Sie hatten sofort eingewilligt, als ich ihnen Kaffee anbot. Vielleicht merkten sie, daß ich etwas Zeit brauchte, um zu mir zu finden, und gaben mir deshalb Gelegenheit, das Zimmer zu verlassen. Vielleicht. Aber wer weiß schon, was in Polizistengehirnen vor sich geht. Da war ich unsicher und mißtrauisch, obwohl ich es täglich mit der Arbeit des Denkorgans zu tun habe, eigentlich mehr mit den Zuständen, die durch seine krankhafte Veränderung bewirkt werden. Als ich so vorm Gasherd stand und blicklos auf den Wasserkessel sah, überkam mich Heißhunger auf Alkoholisches. So geht es mir immer: Wenn ich ratlos bin, hilft mir meistens ein Schnaps auf einen Gedanken oder zu einem Entschluß. Im Eisschrank aber fand sich nur eine halbleere Flasche Mastika, vor Monaten gekauft, um Erinnerung an längstverlorene Jugendlustigkeit heraufzuholen. Carl hatte sich damals das Glas mit dem Zeug vollgegossen, beim ersten Schluck verwundert, fast ungläubig den Kopf geschüttelt, beim zweiten angeekelt die Nase gerümpft. „Und mit so was haben wir mal halbe Nächte zugebracht und uns wie die Halbidioten gefreut, wenn beim Zugießen 8
von Wasser die Brühe milchig wurde“, hatte er gesagt und zur Kornflasche gegriffen. Ich nahm einen tiefen Schluck, schmeckte Anis, spürte klebrige Zuckersüße auf der Zunge, wenig später ein Brennen die Speiseröhre hinab bis in den Magen. Ich hatte Mühe, das Gesöff bei mir zu behalten. Nach ein paar Sekunden aber wirkte der Likör auf fatale Weise belebend: Er aktivierte den halbausgeschlafenen Rausch der letzten Nacht, in meinen Ohren summte es, und ich fühlte den Puls im Hals schlagen. „Verdammt!“ Ich rülpste und spuckte ins Spülbecken. Als ich nach Minuten mit den beiden Tassen ins Zimmer balancierte, schien mir, als sei ich nur für Sekunden draußen gewesen. Der jüngere Polizist hielt an den Lippen sogar noch den Kugelschreiber, mit dem er andauernd gegen die Zähne geklickt hatte, wenn nichts zu notieren gewesen war. Der grauhaarige ältere Mann hatte die Unterarme und Hände auf den Oberschenkeln, wie die Priester bei der Epistel-Lesung. Ich stellte die Tassen vor sie auf den Tisch und setzte mich wieder in den Ohrensessel. „Sie haben also Frau Schanzer angerufen.“ Unvermittelt nahm der ältere seine Rede da wieder auf, wo er sie unterbrochen hatte, und trank einen vorsichtigen ersten Schluck von dem Kaffee. „Gegen halb acht heute morgen.“ „Und von Ihrer Wohnung aus?“ „Das sagte ich doch schon.“ Der Anisgeschmack wurde mir bitter im Mund, mir war wieder zum Rülpsen zumute. „Ich wollte mich nur noch einmal vergewissern“, sagte er, ohne auf meine kaum gezügelte Ungeduld zu achten. „Sie werden verstehen, Herr Doktor Gammler: In so einer Sache müssen wir genau sein. Ganz genau. Da ist es besser, man bekommt einen Umstand bestätigt, als daß man etwas übersieht.“ 9
„Also dann: Ich bestätige, daß ich Gisela – Frau Schanzer – angerufen habe, gleich um halb acht, als ich in meiner Wohnung eintraf. Ich hatte, glaube ich, sogar noch den Hut auf dem Kopf, wenn das wichtig sein sollte. Zwo-vier-sieben-neun-acht-eins-drei. Sie sehen, ich weiß die Nummer auswendig.“ „Kein Wunder“, sagte der Kriminalist mit einem Lächeln, erläuterte aber nicht, wieso das kein Wunder sein sollte, sondern kramte in Papieren, die er vor sich liegen hatte. Wahrscheinlich die durchgegebenen Recherchen seiner Kollegen aus N. oder was er selber schon rausgefunden hatte. „Da ist noch etwas, Genosse Hauptmann.“ Der jüngere Polizist beugte sich vor und tippte mit dem Kugelschreiber auf eine Zeile des zuoberst liegenden Blattes. „Das mit dem …“ „Ach so.“ Der Genosse Hauptmann reckte sich und wirkte dadurch seltsamerweise noch zerbrechlicher, als er ohnehin schon war. „Frau Schanzer hat ausgesagt, sie hätte um zehn Uhr vormittags bei Ihnen angerufen, kurz nachdem sie vom Tod ihres Mannes erfuhr, und es sei niemand ans Telefon gegangen. Waren Sie zu diesem Zeitpunkt außer Haus?“ „Ich habe geschlafen, und wenn ich nicht gestört werden will – da gibt’s einen Hebel an den neuen Apparaten, mit dem sich das Klingeln auf ein Summen reduzieren läßt.“ Ich wollte aufstehen, um diese sinnvolle Vorrichtung zu demonstrieren, aber der ältere Kriminalist winkte ab. „Sie waren müde“, sagte er feststellend und mit einem Anflug von Verständnis. „Sehr müde. Die Premieren-Fete ging bis vier, und dann noch die zwei Stunden im Zug. Mir hat’s gereicht.“ „Und Ihr Freund hat Ihnen also am Bahnhof aufgetragen, seine Frau anzurufen.“ Er machte eine Pause und blätterte wieder in den Papieren. „Frau Schanzer 10
gab zu Protokoll, Sie hätten ihr bestellt, ihr Mann erwarte im Laufe des Tages noch eine Unterredung mit dem Intendanten, wegen seines neuen Stücks.“ Erneut hielt er inne und gab sich den Anschein, als lese er etwas nach. Ich verstehe mich von Berufs wegen auf Simulanten, habe sozusagen einen Blick dafür entwickelt, ob jemand etwas wirklich tut oder ob er nur vorgibt, etwas Bestimmtes zu tun. Von dem Mann da vor mir hätte allerdings auch ein Laie in Sachen Psychologie mit Sicherheit und sofort sagen können, daß er den Lesenden nur spielte. „Unsere Kollegen aus N. berichten aber, der Intendant wüßte nichts von einer solchen Unterredung.“ Und dann aufblickend und mit maliziöser Emphase: „Verstehen Sie das, Herr Doktor Gammler ? Dann, bitte, erklären Sie es uns.“ Wer einen Namen hat, der den meisten Menschen ein Grinsen aufs Gesicht zaubert, wird empfindlich für die unterschiedlichen Tönungen, in denen man ihn ausspricht. Seit der Gammler eine stehende Figur in beiden Gesellschaftssystemen Europas und Amerikas geworden ist, reagiere ich so hypertroph auf meinen Namen, daß ich mich eines Tages sogar der Analyse eines Kollegen anheimgab. Der bekam denn auch prompt und ohne tief in mein Unterbewußtsein tauchen zu müssen heraus, daß die immer pingeliger werdende Korrektheit, mit der ich zum Beispiel alles streng Kante auf Kante ordne, was immer sich Kante auf Kante ordnen läßt, von den Unterhosen im Wäscheschrank bis zu den Toastscheiben im Frühstückskorb, nichts anderes als Auswuchs eines Kampfes gegen das alles überschattende Über-Ich meines Namens ist. Daher rührt auch die Pünktlichkeit, mit der ich den Mitmenschen auf die Nerven gehe, die Manie, mir die Haare bis fast auf die Wurzeln abschneiden zu lassen, doch so, daß eben gerade noch eine adrette 11
Frisur vorgetäuscht wird, oder das Unbehagen, wenn ich mich in der überfüllten Straßenbahn nicht bis zur Zahlbox durchdrängen kann und dann beim Aussteigen die zwei Groschen in einer schweißnassen Hand halte. Der Kollege schlug übrigens vor, ich sollte Namensänderung beantragen, als ob er sich nicht hätte ausrechnen können, daß mit einem so primitiven Trick solches Trauma nicht zu heilen ist, vielmehr die Gefahr des völligen Verdrängens des namenfixierten Minderwertigkeitsgefühls und sein Abdriften in seelische Bereiche, wo die Neurosen sprießen, zu fürchten sei. Aber wir Psychiater sind wohl allesamt gar zu sehr auf Methoden angewiesen, die dem Probieren gegenüber dem Studieren den Vorzug geben, was jedoch den Vorzug in sich birgt, daß wir stets nah am Leben bleiben. So wie ich jetzt nah am Leben war, da der Kriminalist meinen Namen auffällig akzentuiert hatte, wohl um mich damit aus der Reserve herauszukitzeln. Mir blieb nur ein Mittel: Ich versuchte mich in der nonchalanten Art eines Weltmannes, indem ich die Augenbrauen hob, mir überhaupt einen kamelartigen Gesichtsausdruck zulegte und sagte: „Ich verstehe das schon, mein lieber Herr … eh …“ „Hauptmann Ginsterbusch“, ergänzte er, und er verzog dabei keine Miene. Natürlich hatte ich seinen Namen längst mitbekommen, grinste aber trotzdem wie überrascht, als ich wiederholte: „… Herr Ginsterbusch. Das war nämlich so.“ Und dann berichtete ich in groben Zügen, wie sich alles entwickelt hatte, vom Freitagnachmittag bis zum Samstagmorgen um fünf, als Carl mich zum Bahnhof brachte und sagte: „Ruf meine Frau an.“ Hauptmann Ginsterbusch hörte routiniert zu. Das kann ich beurteilen, weil ich auch so ein professioneller Zuhörer bin, der die Augen halb schließt, um den Sprechenden nicht durch Blicke zu irritieren, und die Arme 12
vor der Brust verschränkt, um dem anderen das Gefühl zu geben, er sei Partner eines besonnenen und wohlwollenden Mannes, der Wörter nicht auf die Goldwaage legt, während ich in Wirklichkeit auf Ungereimtheiten oder andere Ansatzpunkte für meine Diagnose lauere. Sein Begleiter schrieb eifrig, stenografierte meine Rede wohl sogar, um möglichst viel vom Wortlaut zu retten – dabei war ich mir sicher: Ginsterbusch zählte zu den Profis mit fotografischem Gedächtnis, denen sich das Wichtige ohnehin wörtlich einprägt. Ich berichtete also, jetzt im Zusammenhang. Zuerst von unserer gemeinsamen Fahrt nach N., wo Carls neues Lustspiel Strohblumen uraufgeführt werden sollte. Wir fuhren in Carls Wagen, in einem von den importierten Automobilen, die sich nur Klempner oder eben erfolgreiche Bühnenschriftsteller wie Carl Schanzer leisten können und in denen man bequemer sitzt als auf Omas altem Roßhaarsofa, Eine Stunde vor Beginn der Aufführung kamen wir an, Carl blieb Zeit genug, noch einmal mit dem Regisseur zu sprechen, von dem er nicht begeistert war, wie er mich unterwegs hatte wissen lassen, weil der den subtilen Wortwitz mancher Stellen einfach nicht begriffen und die Komödie überhaupt auf „Volkstheater kleinbürgerlicher Provenienz“ heruntergebracht habe. Gleichwohl erschien er dann, eine Hand auf die Schulter des Theatermenschen gelegt, im Foyer und stellte ihn mir als den „Kollegen Finkenmeier, von dem man noch viel hören wird“ vor – Carl wußte eben mit Menschen umzugehen, besonders mit denen, die er für die Realisierung seiner Arbeit und damit seines Lebens brauchte. Kurz darauf fing das Theater an: Ein Ehemann muß auf Dienstreise, nimmt seine Sekretärin mit, weil es um höhere Beträge geht, und landet natürlich mit dem attraktiven Mädchen gleich am ersten Abend in der Hotelbar und später fast in ihrem Bett, indes ihn zu Hause sein unverheirateter Freund besuchen will, aber nur die – 13
natürlich immer noch leckere – Hausfrau antrifft, mit ihr plaudert, trinkt, schäkert, und fast hätte sich, wäre diese nicht so listig gewesen, ihm ihre noch ledige Freundin anzudrehen, im trauten Heim ereignet, was sich im Hotel genausowenig zuträgt. Und so weiter. Carl nahm seine Stoffe immer aus dem Leben (oder was er dafür hielt), richtete sie leicht zugänglich und amüsant an, ließ alles – wegen besserer Aufführbarkeit auch an kleinen Bühnen – in zwei, höchstens drei Dekorationen geschehen und hatte Erfolg damit. Auch mit diesem Stück in N.: Das Gaudium war am Ende perfekt, als alle Mißverständnisse aufgeklärt waren und für Freund und Sekretärin in Aussicht stand, ein Paar zu werden. Man applaudierte dem schönen Fräulein Schulz als der knusprigen Sekretärin und der charmanten Frau Feierabend, die die Ehefrau gegeben hatte, auch den Darstellern der beiden Freunde sowie zwei jungen Leuten, die ein ewig schnäbelndes, mithin verliebtes Pärchen auf der Hochzeitsreise im Sinn des Wortes verkörpert hatten, einer Dame, die als die Freundin der Hausfrau agierte, und natürlich Brunnenmüller, dem Nestor der Zunft in N., einem Mann mit Charakterkopf und bröckliger, leicht sächsisch eingefärbter Heldenvaterstimme, dem der Part des Hotelportiers und damit allerlei schnurrige Lebensweisheit zu verkünden zugefallen war. Es gab viele Vorhänge, Blumen für die Damen und anschließend die übliche Feier im Theaterkeller, bei der der Regisseur mit einer launigen Rede aufwartete, die Intendanz mit einem kalten Büfett, Kognak und Bier und die Bühnenarbeiter in vorgerückter Stimmung mit einem improvisierten Chor à la Lortzing. Und das zog sich bis in die Morgenstunden hin. Fräulein Schulz nahm bald auf diesem, bald auf jenem Herrn Platz; Frau Feierabend widmete sich hauptsächlich mir und verstrickte mich, nachdem sie meinen Beruf erfahren hatte, in ein endloses Gespräch über ihre Schwester, die seit 14
Jahren kleptomane Neigung an den Tag legte, so daß man sie nicht allein in ein Geschäft gehen lassen konnte; Finkenmeier war später ein bißchen aufgekratzt, weil alkoholisiert, und entwickelte eine Konzeption, wie man Brecht ganz anders spielen müsse, gewissermaßen gegen den Strich, und bekam darüber Streit mit den beiden männlichen Hauptdarstellern, dem freundlich und klug aussehenden Herrn Sommer und dem BelmondoTyp, dessen Namen ich vergessen hatte; Herr Brunnenmüller spielte seine Rolle weiter und spielte sie erweitert um manche Schnurre, die dann allerdings eher Schopenhauer als einem Hotelportier angestanden hätte, wirkte aber im übrigen ein bißchen verkrampft, wie ein Trinker, der mit Beredsamkeit über sein Laster hinwegtäuschen will. Ich erzählte ausführlich, fast ausschweifend, und sah dann und wann zu Hauptmann Ginsterbusch hinüber, ob er nicht allmählich die Geduld verlöre oder wenigstens das Interesse. Doch der gab nicht mit einem Lidschlag irgendwelche Anteilnahme zu erkennen, was mich irritierte und dazu trieb, in Details zu schwelgen. Ich berichtete haarklein, wie sich der Streit zwischen dem Regisseur und den beiden Mimen abgespielt, wie sich Carl Schanzer als Autor eingeschaltet und als Autorität entschieden hätte, daß Brecht eben eine besondere Sorte Fisch sei und nicht so ohne weiteres interpretiert und umgedeutet werden könne, wie es überhaupt nicht angehe, daß Dramatiker von den Leuten am Theater zunehmend nur noch als Rohstofflieferanten angesehen und dementsprechend despektierlich behandelt würden, was ihm einen wüsten Fluch aus dem Mund Finkenmeiers eintrug und ein verstehendes, zärtliches Lächeln von Fräulein Schulz, die schließlich doch ihre Wanderschaft aufgegeben und sich auf Carl Schanzer kapriziert hatte. Die Stunden ersoffen in Gespräch und Alkohol, und jedermann schien sich, auch beim Streiten, wohl zu füh15
len. Ich, wenn es mir gelang, mich für ein paar Minuten von Frau Feierabend frei zu machen, ging zwei-, dreimal die Treppe hinauf und wandelte vor dem Theater, bestaunte die Fassade oder jedenfalls das, was bei der trüben Straßenbeleuchtung von ihr zu erkennen war, und füllte die Lungen mit Sauerstoff, der in den niedrigen Gewölben des Theaterkellers immer rarer wurde. Einmal, als ich wieder nach unten stieg, sah ich in dem schmalen Vorraum des Restaurants Fräulein Schulz und den Belmondo-Typ; er hielt sie an beiden Oberarmen gepackt und fauchte mit heiserer, doch wunderbar verständlicher Stimme (so etwas können eben nur Schauspieler): „Das hört mir auf! Du schmeißt dich ja schamlos dieser Null von einem Stückeschreiber an den Hals.“ Fräulein Schulz, die mich die letzten Stufen herunterkommen sah, indes ihr Kollege mir den Rücken zuwandte, machte sich aus seinem Griff los und sagte, die Worte verlegen an mich richtend: „Der Alkohol …“ Da drehte sich der Mann um, musterte mich kurz und äußerte, ehe er den Gastraum wieder betrat: „Alles Scheiße!“, worauf ich Fräulein Schulz die Tür aufhielt und so etwas wie ein tröstendes „Machen Sie sich nichts draus“ von mir gab. Ginsterbusch blieb schweigsam, nur sein junger Kollege verhielt für Sekunden im Notieren und blickte auf. Die kriminalistische Erfahrung gebot dem Älteren wohl, sich nicht um eine Auseinandersetzung unter Angesoffenen zu kümmern, während mir die Szene von einiger Bedeutung schien, jetzt, da ich vom Mord an Carl Schanzer wußte. Als ich eine Pause einlegte, in der Hoffnung, man würde sich doch noch ein wenig nach diesem Zwischenfall erkundigen, fragte Ginsterbusch nur: „War das alles?“ „So ziemlich“, sagte ich verdrossen, „wenn man davon absieht, daß Frau Feierabend mich wieder in Empfang nahm und ich gegen vier ein Privatissimum von Herrn Brunnenmüller über mich ergehen lassen mußte.“ 16
„Ein Privatissimum?“ „Er klärte mich im Vertrauen und vom Alkohol schon ziemlich sprachverwirrt, aber doch ernst und eindringlich darüber auf, daß die Dramatiker von heute allesamt nicht mehr vom alten soliden Schrot und Korn wären, nicht mehr so wie Schiller oder Hebbel oder auch Hauptmann, die einem Schauspieler noch Rollen hätten vorsetzen können, aus denen etwas zu machen gewesen sei.“ „Und das wäre nun alles?“ „Das andere wissen Sie schon.“ Ginsterbusch nickte, dann sagte er: „Fabelhaft, Herr Doktor, wie bewegt sie alles vorgetragen haben. Man merkt eben, daß Sie Menschenkenner sind.“ Ich wußte nicht, ob er sich über mich lustig machte. Aber warum sollte er? Hatte ich ihm denn nicht wirklich eine lebhafte Schilderung von allem, was vor sich gegangen war, abgeliefert? „Übrigens“, hörte ich Ginsterbusch in meine Überlegungen hinein sagen, „hat Fräulein Schulz bei unserem Kollegen in N. zu Protokoll gegeben, es sei auch zwischen Ihnen und Schanzer nicht immer so ganz harmonisch verlaufen in dieser Nacht. Sie deutete sogar an, es habe einen Streit gegeben, ihretwegen.“ Er lächelte, als wollte er sich entschuldigen, daß er mich korrigieren müsse. „Haben Sie das auch so empfunden?“ „Was soll ich wie empfunden haben?“ „Daß es ein Streit war, was Fräulein Schulz da beobachtet haben will.“ Ja, konnte man das Streit nennen? Ich hatte den Vorfall völlig vergessen – oder er war noch nicht wieder aufgetaucht aus der getrübten Erinnerung an die Nacht, wo mir vieles andere bemerkenswerter vorkam als diese kleine Auseinandersetzung mit Carl. Die Dame hatte da wohl aus Selbstüberschätzung Gewichtigeres gesehen und gehört, als überhaupt im Spiel war. So danach befragt, fiel mir ein: Ich stand irgendwann an diesem 17
Abend am Tresen, und Carl trat von hinten an mich heran, fragte, wie es mir gefalle, und meinte, es sei doch allmählich Zeit für mich, an die Heimreise zu denken. „Damit du freie Bahn bei der Schulz hast“, sagte ich, nur halb im Scherz, denn die andere Hälfte war Ärger, Ärger darüber, daß Carl mich erst in die Wildnis lockte und sich dann nicht mehr um mich kümmerte – wie immer, wenn ihm ein Arsch gefiel. Carls Lachen klang dementsprechend halbherzig. „Jetzt fängst du auch noch an, auf mir rumzutrampeln“, sagte er, „und ich hab’ doch schon diesen bescheuerten Mimen am Hals. Der will mich in die Pfanne hauen.“ Er stand schwankend, ein Sektglas in der Hand, vor mir, und von hinten trat die Schulz heran, rot im Gesicht und ein bißchen verschwitzt, aber um so anziehender. „Die Herren sind wohl ärgerlich?“ fragte sie auf die naive Tour. „Der Gammler ist eifersüchtig“, sagte Carl, „weil du mir zuviel von deiner Aufmerksamkeit schenkst“, und mir schoß die Wut in den Hals, weil er mich der Gammler nannte. Das hatte er schon einmal getan, auch im Suff, um mich bei Gisela herabzusetzen. Fräulein Schulz quietschte wie eine Badeente, kriegte vor Vergnügen große glänzende Augen und fragte: „Schlagt ihr euch jetzt?“ – „Dazu gibt es keinen Grund, Lady“, sagte ich und ging vom Tresen weg. Dann fing mich Frau Feierabend wieder ein. Das erzählte ich Ginsterbusch, und der lachte dünn. „War ja wohl tatsächlich nichts von Gewicht“, sagte er, aber ich hörte doch Zweifel aus dem Tonfall, so etwas wie eine Frage: Und das war alles? „Mehr ist da wirklich nicht gewesen“, versicherte ich deshalb ziemlich gereizt. „Schon gut.“ Hauptmann Ginsterbusch bedachte seinen Assistenten mit einem Blick, und der klappte sein Notizbuch zu und lehnte sich im Sessel zurück. „Das wär’s vorerst. Sollten sich noch Fragen ergeben, werde ich mich wieder melden. Sie sind doch in der Stadt?“ 18
„Eigentlich wollte ich auf meine Datsche fahren. Ich habe nämlich Urlaub“, erklärte ich. Ginsterbusch stand auf, strich sich nachdenklich mit der flachen Hand über das spärliche Haar. „Und wann wollen Sie fahren?“ „Eigentlich morgen. Aber jetzt … das Begräbnis und so – ich weiß es noch nicht.“ Ginsterbusch nickte, bat, ihn auf jeden Fall zu benachrichtigen, wenn ich die Stadt verließe, gab mir seine Visitenkarte mit seiner Telefonnummer und wandte sich zum Gehen. Unter der Tür drehte er sich um. „Übrigens: Man kann von N. aus direkt hier anrufen. Wußten Sie das?“ „Dafür habe ich mich nicht interessiert. Warum hätte ich auch von dort telefonieren sollen?“ Dann erst wurde mir klar, worauf der Kriminalist zielte, und mir verschlug es für Sekunden die Sprache. „Ich habe von meiner Wohnung aus angerufen“, sagte ich, meine Stimme kam mir stumpf vor, „heute früh …“ Ginsterbusch nickte begütigend. „Sie haben es schon zu Protokoll gegeben. Unsereins muß eben alle Möglichkeiten einkalkulieren, Sie verstehen.“ Ich brachte natürlich kein Verständnis auf, fühlte mich einem Mißtrauen gegenüber, das ich nicht verdiente, und legte dementsprechend los: Ich begriffe nicht, warum man meine Worte anzweifle, und käme mir bei solcher Behandlung wie ein Lügner vor, und außerdem … An dem Punkt ging mir das Argument aus, denn mir schoß durch den Kopf: Du kannst ja wirklich nicht beweisen, daß du von deiner Wohnung aus telefoniert hast! Immerhin blieb der Rückruf von Gisela unbeantwortet! Ginsterbusch nickte wieder und wandte sich nun endgültig zum Gehen. Ich begleitete die beiden Polizisten bis zur Wohnungstür.
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2. Ich saß im Fernsehsessel, ohne auf das vor mir ablaufende Programm zu achten, und versuchte mir klar zu werden, was mit dem Besuch der beiden Kriminalisten über mich gekommen war. Dabei geriet Carl Schanzer immer mehr an den Rand meiner Überlegungen, so sehr beschäftigte mich die Analyse der eigenen Situation. Vielleicht war es auch die Wirkung des Polizistenbesuches, daß mir sein Tod bereits als Fall erschien und nicht mehr als ein außerordentliches, mich besonders treffendes Ereignis; vielleicht verdrängte ich nur alles, was mir Unbehagen verursachen konnte, nachdem ich schon der Belästigung durch zwei Kriminalisten ausgesetzt war. Ich sah meinen Urlaub in Gefahr, wenn das so weiterging, und in einem Anflug von Selbstmitleid kam mir die Erinnerung, wie schwer es gewesen war, mich von der Klinik frei zu machen, jetzt, da der Chefarzt und ein Kollege von der Nachbarstation, der mich hätte vertreten können, krank geworden waren. Ich hatte mich in diesem Jahr mit Vorbedacht um keinen Ferienplatz gekümmert, um endlich einmal Zeit für mich und das Häuschen draußen am Fluß zu finden, dem fast einzigen Besitz, der mir aus der Scheidung geblieben war. Ich wollte in dem verwilderten Garten arbeiten, in der Sonne liegen – Septembersonne ist mir lieber als die Sommerhitze –, abends im Dorfgasthof sitzen und zuhören, wie die Leute von der KAP über die Kartoffelernte sprachen, und mit ihnen Pfefferminzschnaps trinken, am Wochenende Franziska empfangen. Und jetzt verlangte einer von mir, ich sollte in der Stadt bleiben, und gab mir zu verstehen, ich könnte genausogut auch von N. aus angerufen haben. Das ist nun die Frucht einer so sehr begrüßten Neuerung, des Selbstwählfernsprechdienstes, wie sich das nannte, dachte ich verärgert. Früher wäre genau auszumachen gewesen, ob ein Anruf 20
vom Ortsnetz oder von außerhalb kam. Aber davon abgesehen: Was veranlaßte Ginsterbusch, sich an mich zu halten? Gut, ich war der letzte, der Carl lebend gesehen hatte – nein, ich war nicht der letzte, sein Mörder zumindest mußte später noch mit ihm zu tun gehabt haben. Also wozu die Vernehmung? Routine? Ginsterbusch hatte auf mich nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der nur routiniert zu Werke ging, sich nur einer Pflicht entledigte, indem er mich aufsuchte; dazu hatte er zu pointiert gefragt. Und von den verschiedenen Arten, Leute auszufragen, verstehe ich schließlich einiges. Wozu also? Aber er konnte doch nicht im Ernst annehmen, ich hätte Carl den Schädel eingeschlagen, etwa wegen so einer wie der Schulz! Da gab es doch andere, die wichtiger sein konnten für die Aufklärung von Carls Tod. Dieser Belmondo-Typ zum Beispiel, der das Fräulein draußen vor der Kneipentür so unsanft behandelte und über den Carl sagte, er habe ihn in die Pfanne hauen wollen. Warum mußte also ausgerechnet ich als Prügelknabe herhalten? Ich dachte wirklich: Prügelknabe, so als ob mir bereits dadurch ein Leid zugefügt worden wäre, daß man mir zu ungewöhnlicher Stunde ungewöhnliche Fragen stellte. Vielleicht liegt es am Beruf, wenn ich immerfort und grundsätzlich aus der Norm Geratenes vermute, da es sich in Wirklichkeit doch meistens nur um Sonderfälle des Normalen handelt. Jedenfalls suchte ich, schon leicht hysterisiert, nach Tricks, mich aus der Falle, in der ich mich gefangen glaubte, zu befreien. Man wußte ja, wie unendlich schwer es war, den Fängen der Polizei zu entkommen, sobald die erst einmal einen Verdacht gefaßt hatte. Die junge Apothekerin zum Beispiel, die mir neulich von einem Haftrichter zur Beobachtung überwiesen worden war, der hatte man angelastet, sie habe ihrem Mann Strychnin in den Kaffee geschüttet, obwohl 21
sie Stein und Bein schwor, er müsse Selbstmord begangen haben, als sie schon schlief. Da kam vieles zusammen: zerrüttete Ehe, vorangegangene gegenseitige Tätlichkeiten, eine Drohung der Frau, unter Zeugen ausgestoßen, sie werde irgendwie mit dem Kerl schon fertig werden, die Möglichkeit, sich das Gift zu beschaffen, und dann die in den Augen der Polizei unglaublich primitive und also ganz unglaubwürdige Behauptung, sie habe sich nicht wohl gefühlt und sei an dem Abend (ausgerechnet an dem Abend!) früher ins Bett gegangen. Die Frau wirkte verwirrt, als ich sie zu Gesicht bekam, war verschlossen, weil man ihr nicht glaubte und ihr seit Wochen immer mit denselben Fragen zusetzte. Sie sagte mir, sie sei am Ende ihrer Kräfte und sie würde sich auch umbringen, wenn man sie nicht in Frieden ließe. Mein Gott, wie wäre die Sache ausgegangen, hätte nicht ein Kollege des Mannes zufällig zwischen dienstlichem Kram den Abschiedsbrief gefunden? Die Erinnerung an diese Geschichte machte mich noch kribbeliger. Gab es nicht Parallelen zum Tod Carls? Wie wollte ich denn beweisen, daß ich um fünf Uhr in den Zug eingestiegen war, in einen überfüllten Zug, der viele Arbeiter übers Wochenende nach Hause brachte, daß ich Gisela von meiner Wohnung aus angerufen hatte und ihren Rückruf nicht beantworten konnte, weil ich schlief (ausgerechnet an dem Vormittag!) und die Telefonklingel abgestellt war? Wenn dann noch die Auseinandersetzung zwischen Carl und mir wegen Franziska herauskam … Mit dieser Überlegung erst fiel mir Carl wieder ein und mit ihm Gisela, und ich registrierte beschämt, daß ich die ganze Zeit nur an mich gedacht hatte. Ich beschloß, Gisela noch anzurufen, obwohl es bereits zehn Uhr war. Ihre ohnehin leise Stimme war an diesem Abend kaum zu verstehen. Sie sprach, als sei sie außer Atem, 22
nachdem ich ein Gemisch von Kondolenz und Entschuldigung, daß ich mich erst jetzt meldete, hinter mich gebracht hatte. „Ich bin ziemlich fertig“, sagte sie, „man hat mich heute vormittag schon nach N. und am Nachmittag wieder zurück kutschiert, ich mußte Carl identifizieren.“ Und mit einem Anflug von bitterem Humor setzte sie hinzu: „Er war’s übrigens. Eigentlich ist mir darüber die Lust an allem vergangen. Aber komm, wenn du willst, es ist sicher gut, sich mal auszusprechen.“ Im Taxi legte ich mir die Haltung zurecht, mit der ich Gisela gegenübertreten wollte, denn ich konnte mich unmöglich so desperat geben, wie ich war. Kein Wort von deinen eigenen Molesten, sagte ich mir, Ruhe ausstrahlen ist jetzt das wichtigste und möglichst das Gespräch aufs Nächstliegende bringen, Beerdigung und so etwas, vielleicht tut auch ein bißchen Sentimentalität gut. Ein Glück, daß der Fahrer wegen des entlegenen Fahrziels herummoserte, so wurde ich abgelenkt, indem ich mich auf einen kleinen Streit über den Zusammenhang von Höflichkeit und weltstädtischem Niveau mit ihm einließ. Alle meine Vorsätze gingen zum Teufel, als ich Gisela gegenüberstand. Daß sie blaß sein und verweinte Augen haben würde, darauf war ich vorbereitet, hatte mir aber nicht ausmalen können, wie gespenstisch-bleich und starr ein Mensch aussehen kann. Sie trug ein hochgeschlossenes, langes schwarzes Kleid – wahrscheinlich zu Theaterbesuchen angeschafft – und das sonst in loser Fülle hängende Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch ihr Gesicht unerträglich nackt wirkte. Sie reichte mir nicht die Hand, sagte nur: „Komm ’rein“ und ging mir voran, über die kleine Diele in das Zimmer, das Carl in Anwandlung von komischem Besitzerstolz stets die Kamin-Halle genannt hatte, und ließ 23
sich, ohne mich zum Sitzen einzuladen, auf einem der unbequemen hochlehnigen Stühle nieder, die zu dem imitierten flämischen Barock-Set gehörten, das dem Zimmer sein Gepräge gab. Ich hatte sie nie gemocht, diese Kamin-Halle, die fast das ganze Erdgeschoß des Hauses einnahm: Sie war mir zu groß, durch ihren Lförmigen Schnitt zu verwinkelt und zuwenig übersichtlich, und in der Pracht ihres reichbeschnitzten Meublements kam sie mir eher wie das Lager eines Antiquitätenhändlers vor, denn als ein Raum, in dem man freundliche Abende verbringen kann. Auch die drei, vier modernen Bilder – in blassen, kalten Farben gehaltene geometrische Kompositionen der Art Mondrians – konnten die Befremdung, die mich hier immer überfiel, nicht lösen, vertieften sie eher durch Kontrast. Aber so unbehaglich wie jetzt hatte ich mich noch nie in dieser Umgebung gefühlt. Mich fröstelte trotz der Wärme, die der Abendwind eines heißen Septembertags hereinwehte. „Renate schläft jetzt, Gott sei Dank“, sagte sie. Renate war ihre fünfzehnjährige Tochter, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. „Das Mädchen ist völlig verdreht.“ Ich nickte und suchte nach dem ersten Satz. Es wollte mir keiner einfallen. Gisela blätterte sinnlos in einem Buch, die Augen auf den Kamin gerichtet, in dem dekorativ Buchenscheite gestapelt lagen; sie saß sehr gerade. „Sag doch etwas“, bat sie, nachdem ich Platz genommen hatte. „War die Polizei auch bei dir?“ Das brachte mich über die erste Hürde hinweg. Ich sagte: „Ja, heute abend. Von ihr habe ich es erfahren.“ Und ich wollte einen von alldem für mich Unangenehmen sorgfältig gesäuberten Bericht geben, froh, endlich reden zu können. Aber Gisela unterbrach mich nach dem zweiten Satz. „Stimmt es, daß Carl nichts mit dem Intendanten zu besprechen hatte?“ 24
Sie ist also informiert, durch Ginsterbusch, dachte ich, und ich merkte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. „Hast du nicht einen Schnaps für mich?“ fragte ich. „War Carl verabredet?“ „Vielleicht. Ich weiß es nicht.“ Sie ging an mir vorüber zu dem kleinen Tisch, auf dem die Flaschen standen, und ich traute mich nicht aufzusehen. „Ich vergaß: Du hältst dich für seinen Freund“, sagte sie, während sie mit Flaschen und Gläsern hantierte, „und ein Freund bringt den anderen wohl nicht in die Bredouille, auch wenn der nichts mehr davon hat.“ Sie setzte ein halbvolles schweres Whiskyglas vor mich hin und nahm wieder Platz. Seltsam, dachte ich und trank einen Schluck vom Korn, wie eine Frau auf den plötzlichen Tod ihres Mannes reagieren kann. Keine Frage: Wie konnte das geschehen? Nur diese Lappalie bewegt sie. Gisela ließ nicht locker. „Wenn er mit dem Intendanten nicht verabredet war, weswegen ist er dann in N. geblieben?“ „Ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten.“ „Dann vermute mal.“ Das klang kalt, so kalt, daß die Befangenheit von mir abzufallen begann. Wenn sie so sachlich war, durfte ich wohl auch sachlich sein und ohne Gefühlsaufwand denken und sprechen. „Glaubst du, es hilft dir weiter, wenn du informiert bist?“ fragte ich trotzdem, um vielleicht doch noch ein dem Anlaß angemessenes Gespräch zustande zu bringen. „Ich bin seit langem weit genug. Ich will nur Klarheit.“ Erst jetzt bemerkte ich, daß sie sich auch von dem Korn eingeschenkt hatte. Ich hatte sie noch nie Schnaps trinken sehen. Es wirkte auf mich wie der Versuch, sich von einem Zwang zu befreien, koste es, was es wolle. 25
„Wie heißt sie?“ „Wer?“ „Wir sollten kein Verstecken voreinander spielen. Und tu nicht so, als könntest du dich nicht an unsere Auseinandersetzung vor drei Wochen erinnern.“ „Das war vor drei Wochen“, warf ich ein, in der Hoffnung, sie ließe sich davon abhalten, die peinliche Szene jetzt aufs Tapet zu bringen. „Ich weiß: Über die Toten nur Gutes.“ Sie trank wieder. „Vor drei Wochen, bevor er dich hinausgeworfen hat, warst du weniger rücksichtsvoll, da hast du ihn einen Schubiak genannt, weil er die Finger nicht von den Frauen lassen könne, auch nicht von deiner Freundin Franziska.“ „Wir waren nicht mehr ganz nüchtern.“ „Ihr wart so besoffen, daß ihr nicht einmal gemerkt habt, wie ich das Zimmer betreten und den ganzen Mist gehört habe, über deine liebe Franziska und daß mein lieber Carl sie schon halb im Bett hatte, als du dazukamst.“ „Ich habe mich am nächsten Tag bei dir entschuldigt, und Carl und ich hatten hinterher eine Aussprache.“ „Aussprache!“ Zum erstenmal an diesem Abend sah sie mir in die Augen, ich konnte ihrem Blick nicht ausweichen. „Wie bequem ihr alles geregelt habt, immer nach dem Motto: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Und: Das macht der Freundschaft doch kein Loch. Ihr wart die Fürsten, wart souverän, ihr konntet euch bewegen, wie ihr wolltet, miteinander, gegeneinander, wie es euch gerade paßte. Ihr seid so unabhängig gewesen, daß euch die Meinung der anderen über euch nicht interessiert hat. Meine Meinung zum Beispiel.“ „Gisela“, sagte ich eindringlich, da mir die Unterhaltung ins Makabre abzurutschen schien, „müssen wir jetzt davon reden?“ 26
Sie überging meinen Einwurf. Mit einer energischen Bewegung strich sie sich die Haare zurück. „Halt mich für unmöglich, meinetwegen für lieblos. Meine Trauer ist meine Sache, so wie mein Leben mit Carl meine Sache war. Ich finde es schrecklich, daß er so geendet ist, schrecklich für ihn, für mich, für uns alle, auch für Renate. Das Kind erwartete etwas von ihm, mehr als er ihm bisher gegeben hat. Und dann geht er hin und läßt sich erschlagen!“ Die Lächerlichkeit dieses Bildes brachte mich fast um die Beherrschung. Ich hatte Mühe, nicht laut aufzulachen oder sie anzubrüllen. „Manchmal, wenn ihr eure Arien losgelassen habt, ist mir ganz anders geworden: Seht her, wir sind die Männer der ersten Stunde, Arbeitersöhne, die es zu was gebracht haben. Tschindarassassa! Lernen, Trümmer wegräumen, Bandiera rossa, dem Klassenfeind eins aufs Maul geben, nochmals lernen. Wir waren Kerle! Und wir sind Kerle geblieben: Ein angesehener Doktor und ein womöglich noch angesehenerer Schriftsteller …“ Ihre leise Stimme verlor sich in Heiserkeit. Sie sah von dem Glas auf, das sie ständig gedreht hatte, und zog die Schultern zusammen, als ob es sie fröre. „Vielleicht hast du recht: Es ist schon ungewöhnlich, jetzt von alledem zu reden. Aber seit ich von Carls Tod erfahren habe und ich ihn mir ansehen mußte, ist in mir nichts als Fassungslosigkeit – Fassungslosigkeit über ein Leben, das so vertan wurde und das so geendet hat, so sinnlos.“ „Ein vertanes Leben nennst du das?“ Ich igelte mich sofort ein: Das konnte sie doch nicht sagen! Man mochte über Carl vorbringen, was man wollte, es ließe sich manches gegen ihn sagen, aber doch nicht das. „Carl hat viel erreicht, Carl ist einer geworden, wie man ihn nicht alle Tage findet, das weißt du selbst.“ „Ich weiß, wer er war. Preisgekrönter Stückeschreiber, erfolgreicher Drehbuchautor, Besitzer eines Hauses 27
und einer Frau, die er liebte und die er darum in dem Haus einsperrte, prima Kumpel, guter Bürger seines Staates. Er war viel und vieles, vielleicht noch mehr, als ich beurteilen kann. Nur eins war er bestimmt nicht: einer dieser neuen Menschen, von denen er so schön reden konnte und die er manchmal so gefällig in seinen Stücken und Filmen anzupreisen wußte. Er war nicht wirklich gütig und demütig.“ Die altertümlichen Vokabeln ließen mich zusammenzucken, als hätte Gisela etwas Obszönes gesagt, und ich wiederholte erstaunt: „Gütig und demütig?“ „Genau das fehlte ihm“, stellte Gisela sachlich fest, „genau das fehlt vielen von eurer Sorte. Vor lauter prinzipieller Übereinstimmung mit allem kommt ihr nicht dazu, den einzelnen, den Nächsten wahrzunehmen. Ihr erschöpft euch buchstäblich in Aktionen, müßt weiter und immer weiter voran, müßt etwas leisten, um euch etwas leisten zu können, und wenn es nur das Häuschen am See ist oder nur der Wagen oder nur hin und wieder eine neue Geliebte, die einen spüren läßt, wie jung man doch noch ist.“ So allerdings kannte ich Gisela bisher nicht, die stets ausgeglichen auftretende Frau, die Carl vor vier Jahren geheiratet und von der er gesagt hatte: „Es geht doch nichts über eine Bibliothekarin, der ständige Umgang mit Büchern und mit Leuten, die Bücher lesen, führt zu Bescheidenheit und Toleranz.“ Eigentlich nur ihretwegen war ich gern zu Besuch gekommen, denn mit Carl hatte es in der letzten Zeit kaum mehr Gespräche gegeben – er monologisierte, das Kornglas in der Hand, stundenlang, wobei er keine noch so nebensächliche Begebenheit aus seinem Erleben für zu unbedeutend hielt, sie umständlich mitzuteilen. Ich hatte ihn einmal halb im Scherz einen typischen Ich-Erzähler genannt, und er, nicht im mindestens berührt von der Kritik, die in der Bemerkung steckte, hatte lachend geantwortet: „Was 28
willst du? Ich lebe davon, daß ich mich wichtig nehme. Nur so nehmen mich auch die anderen wichtig.“ Mit Gisela aber konnte man reden, und nicht nur obenhin. Sie hatte ein Ohr für den anderen, wie man so sagt, ging auf ihn ein. Besonders in den ersten Monaten nach meiner Scheidung, als ich mich oft am Abend bei Carl einfand, um nicht allein in meiner Bude sitzen zu müssen, war mir Unterhaltung mit ihr wichtig gewesen, und ich hatte die Ruhe genossen, die sie verbreitete. Doch jetzt … sie redete unaufhaltsam in demselben aufgebrachten Ton. Ich hörte nur noch mit halbem Ohr hin, ganz gegen meine Gewohnheit, Welt durchs Zuhören zu realisieren. Ich wollte nicht aufgeklärt werden, von einer Frau, die ein herber Schock aus der Bahn geworfen hatte, wollte nicht wissen, wie sie die Wirklichkeit in dieser Situation sah. Ich fing an, ihre Haltung zu psychologisieren, hatte auch mit Schutzgebaren gleich eine Vokabel parat, mit der sich fast alles erklären ließ: Der Verlust, der sie getroffen hatte, war so groß, daß sie ihm unmöglich mit kühler Vernunft begegnen konnte, und also mußte sie ihn minimisieren, um nicht unter seiner Last zu zerbrechen. Denn bei all ihrem Zweifel an Carls Aufrichtigkeit: Ihr Verhalten, heute und hier, nur Stunden nach dem Tod ihres Mannes, konnte nicht normal genannt werden. Jede andere, jeder Patient, den ich so angetroffen hätte, wäre von mir sofort mit therapeutischer Behandlung bedacht worden. Und nur weil es Gisela war, Carls Frau, die auf den Tod ihres Mannes damit reagierte, daß sie vor allem wissen wollte, ob er ein Rendezvous geplant hatte, und die, anstatt vor Schmerz zu verstummen, mit Fleiß dessen negative Eigenschaften aufzählte – nur weil es Gisela war, die da vor mir saß, hatte ich mich überhaupt auf die ganze Argumentation eingelassen. Ich kannte sie immerhin anders, ganz anders: zurückhaltend, ruhig, freundlich … Ohne Zweifel: Hier lag der Versuch vor, sich angesichts eines schweren Verlustes zu schützen. 29
Ich war heilfroh, solchermaßen zum Grund ihres Verhaltens vorgestoßen zu sein, denn das gab mir endlich wieder ein Gefühl von Souveränität. So wartete ich geduldig, während sie mit immer schwächer und heiserer werdender Stimme ihr Leiden an der Welt im allgemeinen und an Carl im besonderen vor mir ausbreitete, und ließ mich nicht länger irremachen. Denn diese Gisela, das wußte ich nun, war – im Wortsinn – außer sich und im Augenblick nicht fähig, Personen und Zusammenhänge zu beurteilen. „Willst du nicht zu Bett gehen?“ fragte ich in eine Atempause hinein. „Ich gebe dir ein Beruhigungsmittel.“ Und ich fingerte in der Rocktasche, wo sich immer ein Röhrchen von dem Zeug herumtreibt. „Morgen sieht alles anders aus.“ Mit der Floskel hatte ich keinen Erfolg. Sie sah mich staunend, ungläubig an, daß ich ihr so einen billigen Trost zumutete, und sehr langsam verzog sich ihr Mund, als ob sie sich ekelte. „Heute sieht schon alles anders aus“, sagte sie ruhig. „Nichts kann zurückgenommen werden, die letzten Jahre nicht, die letzte Nacht nicht.“ Und dann plötzlich mit einem schwachen Lächeln, als besinne sie sich darauf, daß ich Freundlichkeit verdiene, weil ich zu später Stunde noch zu ihr gekommen war: „Ich habe dich sicherlich erschreckt mit meinem Gerede. Mach dir nichts draus, manchmal ist ein Schreck heilsam.“ „Du solltest wirklich zu Bett gehen“, sagte ich, erleichtert und ermutigt von ihrem Einlenken (so ein Gefühl hat man, wenn die akute Psychose eines Patienten abzuklingen beginnt), „sicher gibt es noch mancherlei Unangenehmes in den nächsten Tagen.“ „Noch Unangenehmeres? Ich glaube, das Unangenehmste liegt hinter Renate und mir. Von jetzt an ist es nur schwierig – uns auf ein Leben ohne Carl einzustellen. Es wird ruhig bei uns werden, aber wir haben die 30
Chance, ehrlicher zu leben, ohne all die geborgte Wichtigkeit.“ Giselas Stimme verriet nun keine Exaltation mehr, die Heiserkeit war mit einemmal gewichen, sie sprach leise und ein wenig singend wie sonst. Ich atmete auf, bekam Appetit auf noch einen Korn, und Gisela schenkte mir das Glas wieder halbvoll. „Und du?“ fragte sie sachlich. „Was machst du jetzt ohne Carl?“ „Ich weiß nicht. Noch ist alles so verwirrend.“ Und auf einmal erzählte ich ihr doch ausführlich vom Besuch der beiden Polizisten, von ihrem Mißtrauen und auch, wie sehr mich das alles beunruhigte. Gleichzeitig versuchte ich, möglichst viel Überlegenheit auszustellen, indem ich diagnostizierte: „Aber man kennt das ja: Hier ist ein latenter Trieb, die eigene Existenz in Frage zu stellen, wachgekitzelt und auf ein Objekt gerichtet worden. Wir tanzen eben alle über dünnem Eis, und unten brodelt es von Ängsten, da hausen die Monster der Selbstzerstörung und warten darauf, daß wir sie von der Kette lassen, zähnefletschend.“ Das war scherzhaft gemeint, und Gisela verzog auch die Lippen zu einem Lächeln. Doch dann wurde sie unvermittelt ernst und fragte: „Hast du mich nun von deiner Wohnung aus angerufen oder nicht?“ Sofort war ich auf der Hut: Dieser verfluchte Anruf kam mir immer wieder in die Quere! Mit einiger Mühe beherrscht, sagte ich: „Du fragst wie der Typ von der Polizei.“ „Schon gut.“ Ihr schien daran gelegen, nicht wieder Spannung in unser Gespräch zu tragen. „Ich habe mir nur überlegt, wie du beweisen willst, daß du um fünf weggefahren und um sieben hier angekommen bist und mich dann von deiner Wohnung aus angerufen hast. Aber wozu solltest du das beweisen müssen? Schließlich gab es für dich keinen Grund, Carl zu erschlagen.“ 31
„Aber wer hatte einen Grund?“ „Das wird die Polizei schon herausfinden.“ „Die Polizei!“ Seit einigen Stunden reagierte ich allergisch auf das Wort, mehr noch auf die Vorstellung, daß da Leute existierten, deren Beruf es sein sollte, sich durch fremder Menschen Angelegenheiten und Charaktere zu wühlen, um einen katastrophalen Umstand aufzuklären, der durch den Zusammenprall von Interessen zweier Individuen herbeigeführt worden war. Wie hilflos sie sich in einem Dschungel von unbekannten Tatsachen bewegten, zeigte nicht zuletzt Ginsterbuschs dummer Verdacht, ich könnte Gisela von N. aus angerufen haben. Nun, ich kannte aus der Praxis die unsäglichen Schwierigkeiten, einer Persönlichkeit auf den Grund zu kommen, und die vielen Fehlerquellen, die bei der Beurteilung von Ursachen und Motiven dadurch entstehen, daß man eigene Meinungen und Theorien nicht ausschalten kann. Wenn es sich bei dem Mord an Carl um die Folgen eines ordinären Raubüberfalls handelte, wären Polizeimethoden wohl das Geeignete, den Täter aufzuspüren; dann hätte man alle Erfahrung mit Ganoven am Ort, alle Kenntnis der Gewohnheiten von Strolchen, alle Fertigkeit im Umgang mit Karteien und Registern spielen lassen können, auch den ganzen technischen Apparat, mit dem Fingerabdrücke, Blutspritzer, Stoffetzen, abgerissene Knöpfe und dergleichen Spezialitäten auszuwerten sind. Aber um subtilere Regungen ans Licht zu bringen, um Gründe zu erforschen, die einen zufälligen Verbrecher zur Tat bewegt haben mochte, dazu bedurfte es feiner organisierter und besser geschulter Hirne. Ungewollt war ich bei solchen Überlegungen ins Dozieren geraten, und Gisela hörte mir aufmerksam zu. „Was die können“, sagte ich, „läuft allenfalls aufs Faktenzusammenstellen hinaus, und Fakten allein sind nichts wert. Sie führen unter Umständen zu völlig falschen Schlüssen, dann nämlich, wenn man eine von den 32
Tatsachen übersieht oder sie falsch deutet.“ Und ich erzählte ihr von der Apothekerin. Als ich zu Ende gekommen war, sagte Gisela: „Du legst dich ja mächtig ins Zeug. Und nur weil du den Leuten übelnimmst, daß sie dir nicht alles auf Anhieb geglaubt haben?“ Das kränkte mich, und das gab ich ihr auch zu verstehen: Mir ginge es nur um die Sache, meine Person spiele keine Rolle. Und um dem Gewicht zu verleihen, ging ich, ohne es eigentlich zu wollen, gewissermaßen auf die Bühne und behauptete, Carl sei schließlich mein Freund gewesen und er bleibe es über den Tod hinaus, trotz allem Abträglichen, was sie von ihm und unserer Freundschaft halte. Ich steigerte mich in die Attitüde des selbstlosen Helfers an der Wahrheit über Carl und seinen Tod, und ich fühlte mich so wohl in der Pose, daß ich Giselas Vorschlag geradezu herausforderte. „Wenn das so ist“, sagte sie, „dann fahr doch nach N. und sieh dich selber um.“ Ich erinnere mich nicht mehr recht daran, ob ich in dem Moment erschrocken über die Bemerkung war oder ob ich nicht insgeheim darauf gewartet hatte, einen solchen Anstoß zu bekommen. Einerlei: Ich reagierte prompt und, wie ich es von heute her sehe, reichlich komisch. Ich sprang vom Stuhl auf, lief einige Male die Fensterfront entlang und blieb schließlich abrupt vor Gisela stehen. Sie sah mich ein wenig ängstlich an, befürchtete wohl, ich könnte unter der Aufregung des Tages gelitten haben, und war erst wieder beruhigt, als ich sie um noch ein Glas Korn bat. Den Schnaps goß ich wortlos hinunter, indes in meinem Hirn Giselas Vorschlag weiterrumorte und – das spürte ich – sich festzusetzen begann: Das Bewußtsein der Überlegenheit in puncto Menschenkenntnis, die in Carls Fall allein zum Ziel führte, verhakte sich mit der Befürchtung, Ginsterbuschs lächerlicher Verdacht könne 33
an mir klebenbleiben, und darunter mengte sich ein Stückchen Lust nach Abenteuer, die in den lernerfüllten Jünglingsjahren unbefriedigt geblieben war und später über Beruf und Ehe erst recht keine Erfüllung gefunden hatte. Übergossen wurde das Konglomerat von Motiven mit der Glasur der Freundestreue über den Tod hinaus. Für Sekunden fühlte ich mich wie der fleischgewordene Archetyp des ritterlichen Rächers oder des rächenden Ritters, aber auch Sam Spade kam mir in den Sinn, der nüchterne Detektiv Hammetts, der den Mord an seinem Freund und Kompagnon aufklärt, weil es schlecht für sein Renommee ist, wenn er den Mörder davonkommen läßt. Der Auftrieb dauerte indes nicht lange. Giselas Frage: „Aber wäre es nicht doch besser, du läßt die Finger davon?“ verwirrte mich dermaßen, daß ich automatisch nickte und das Glas mit einer resignativen Geste auf den Tisch stellte. Tagträume, das wußte ich, dazu noch solche, die so spät am Abend und mit Hilfe von Alkohol blühen, haben kaum Bestand.
3. Aber trotzdem: Die Anregung Giselas ließ sich nicht mehr vertreiben, sie hielt mich für den Rest der Nacht wach. Ich schlief erst ein, als die Vögel in der Rotbuche vorm Fenster des kleinen Zimmers schon einen Heidenlärm vollführten. In einem wirren Traum stritt ich mit Gisela, wie Stunden zuvor in ihrer Wohnung, um Carl, und jetzt fielen mir auch Argumente ein, mit denen ich ihrer Meinung wirksam widersprechen konnte. Aber als ich wach war, hatte ich sie samt und sonders vergessen, nur das halbwegs befriedigende Gefühl, als Sieger aus dem Disput hervorgegangen zu sein, war mir geblieben 34
und ließ mich den Tag mit freundlicheren Augen ansehen. Zudem strahlte der Himmel in seinem blauesten Blau, die Gardine bauschte unter einer warmen Brise, und das Bewußtsein, die nächsten Stunden nicht und nicht die nächsten Tage und Wochen bei Anamnesen, therapeutischen Gesprächen und Gruppenveranstaltungen, kollegialen Fachsimpeleien und all dem anderen professionellen Kram zubringen zu müssen, erfüllte mich mit einem Behagen, das mir den Entschluß, stehenden Fußes nach N. zu fahren, leichter machte. Ohne weiter nach einer Motivation zu suchen, holte ich den Koffer vom Kleiderschrank, packte ihn voll mit Wäsche für eine Woche sowie dem üblichen Toilettenkram, und ich legte Musils „Mann ohne Eigenschaften“ obenauf (vielleicht blieb mir an den Hotelzimmerabenden Zeit, die schon dreimal begonnene Lektüre zu einem Ende zu bringen). Dem mir nun vorerst entgehenden DatschenIdyll weinte ich keine Träne nach, produzierte vielmehr das tröstliche Gefühl, mir blieben ja noch, wenn mein Aufenthalt in N. wirklich eine Woche währen sollte, vierzehn Tage zur Erprobung des einfachen Lebens zwischen Ligusterhecken und Pfefferminzschnaps in der Dorfkneipe. An Ginsterbuschs Mahnung, ihm Bescheid zu geben, wenn ich die Stadt verließ, verschwendete ich nicht allzu viele Gedanken und erst recht keine Skrupel: Es war Sonntag und also fraglich, ob er auf seiner Dienststelle erreichbar wäre. Er würde schon merken, daß ich weggefahren war, wenn er mich wirklich sprechen wollte. Vielleicht hatte er es auch aufgegeben, in mir einen Tatverdächtigen zu sehen. Ich rief erst die Zugauskunft an, dann Gisela und sagte: „Ich fahre heute.“ Diese Ankündigung beantwortete sie zunächst mit Schweigen. Dann hörte ich: „Hast du die fixe Idee nicht fallenlassen?“ 35
Die Antwort brachte mich in Rage. „Hast du nicht selbst den Vorschlag gemacht, gestern abend …“ „Ach, gestern abend.“ Sie legte wieder eine Pause ein. „Ich weiß selbst nicht, was da mit mir los war. Ich habe wohl viel dummes Zeug geredet.“ Meine Aufwallung verflog so schnell, wie sie gekommen war. „Dummes Zeug? Du bist eben aufgeregt gewesen. Glaub mir, das versteht keiner besser als ich.“ „Danke.“ „Nichts zu danken.“ Ich sagte das so burschikos wie möglich, um nicht Rührung zu zeigen. „Du willst also fahren?“ „Ich habe schon gepackt“, erwiderte ich, als ob das ein Argument wäre. „Außerdem: Ich bin neugierig.“ „Ich nicht mehr.“ Das klang wie eine Absage an ihr Getöne wegen Fräulein Schulz. Und dann sagte sie noch: „Paß auf dich auf.“ Eine halbe Stunde später stand ich auf dem Bahnhof. Der Speisewagen, wie der ganze Zug, war nur spärlich besetzt. Ich hatte Muße, meiner Eßlust, die mich stets auf Reisen überfällt, zu frönen, bestellte ein Frühstücksgedeck, ein Tartar, dann Eier auf Schinken, trank Bier dazu, zur besseren Verdauung noch einen Boonekamp und grunzte behaglich in die hinter Glas vorüberziehende Landschaft hinein. Ferienstimmung füllte mich aus und verdrängte den Gedanken an den Zweck meiner Reise. Der stellte sich wieder ein, als ich in N. aus dem Zug stieg: Da drüben, gleich neben der Gepäckaufgabe, hatten wir uns verabschiedet: „Ruf meine Frau an …“ Die Schritte wurden mir schwerer, als ich zum Bahnhofsvorplatz ging. N. hat, wie ich von Carl wußte, einiges Sehenswürdige zu bieten, doch mir stand an diesem Sonntag vorerst nicht der Sinn nach Stadtbesichtigung, ich hatte mich um ein Hotelzimmer zu kümmern. Und ich fand eines 36
im Goldenen Adler – gleich vis-à-vis dem nicht gerade eindrucksvollen Alten Rathaus –, der um die Jahrhundertwende sicher als erstes Haus am Platze in den Inseraten angepriesen worden war. Jetzt machte das Gebäude einen anheimelnd verkommenen Eindruck, von der bröckelnden Fassade bis zu den durchgeschlurrten Teppichen auf der Treppe und in der Halle, deren mächtige Klubgarnituren sicherlich schon seit Anfang der zwanziger Jahre zum Inventar gehörten. Aber das Zimmer war groß, hatte ein Doppelbett, und es gab ein angenehm altmodisches geräumiges Bad. Ich ließ, nachdem ich meinen Kofferinhalt verstaut hatte, die Wanne vollaufen, lag dann für die nächste halbe Stunde im Wasser und versuchte mir darüber klarzuwerden, wie ich vorgehen sollte. Denn einen Plan, dachte ich, muß ein Mensch doch haben, wenn er Außergewöhnliches in Angriff nimmt. Da es sinnlos war, den Adressen all der Leute nachzuspüren, mit denen Carl und ich die Nacht vom Freitag auf Samstag zugebracht hatten, blieb mir nichts, als den Abend abzuwarten und darauf zu hoffen, wenigstens einige der Darsteller bei der Arbeit anzutreffen. Hatte ich Pech und es gab Oper oder Operette, mußte ich eben anders disponieren. Problematischer stellte sich mir die Frage dar, wie ich denn auftreten und mein Wiedererscheinen nach so kurzer Zeit begründen sollte. Mit einem Hallo, wie geht’s denn immer so? und Ist das Leben noch frisch? war wohl nichts gewonnen. Die Rolle des bestürzten Freundes, den es rat- und hilflos an den Ort des traurigen Geschehens zurücktreibt, traute ich mir nicht zu, obwohl sie die meiner Stimmung gemäße gewesen wäre, noch weniger die Methoden des Detektivs, der auf der Lauer liegt und unauffällig Auskünfte hervorlockt. Ein paar Minuten lang rechnete ich mir aus, wie es wirken würde, wenn ich mich, den Bewunderer mimend, an Frau Feierabend hängte, die mir die Nacht 37
mit ihrem Gespräch so nett gedehnt hatte, verwarf aber den Gedanken als zuwenig glaubhaft: Kein halbwegs ausgeschlafener Mitmensch würde darauf hereinfallen, daß ein Mann kurz nach der Ermordung seines Freundes auf solchen Pfaden wandelt. Und ich mußte doch mit wachen Menschen rechnen, zumindest mit einem, dem nämlich, der alle Aktivität, die Carls Tod auslöste, aus gutem Grund genau beobachten würde. Trotz des allmählich kühler werdenden Badewassers fing ich zu schwitzen an. Und was ist, fragte ich mich mit einer Spur von geheimer Erleichterung, aber auch mit der Furcht im Hintergrund, daß das Abenteuer, dem ich mich anheimgeben wollte, enden könnte, ehe es begann, wenn die hiesige Kripo schon auf der richtigen Spur ist oder den Mörder bereits dingfest gemacht hat? Von der Vorstellung befreite mich bald die Überzeugung, daß die beamtete Aufklärung in diesem Fall auf jeden Fall versagen mußte. Es blieb für mich dabei: Ich hatte meine Aufgabe zu erfüllen und darauf zu sinnen, wie sie am besten anzupacken sei. Also spielte ich eine neue Variante durch: Ich trete als der Abgesandte der Witwe auf und will eine Carl-Schanzer-Gedenkwoche anregen, in deren Mittelpunkt Im Wind der Sterne stehen soll, Carls preisgekröntes Drama um Probleme menschlichen Zusammenlebens in einer ziemlich fernen Zukunft, in der der Himmel voller Raumschiffe hängt und die Erdenbewohner längst nicht mehr an die Notwendigkeit gekettet sind, einen Großteil ihrer Zeit an die materielle Reproduktion ihres Lebens zu setzen. Aber welche Dichterwitwe ist schon kaltschnäuzig genug, den Leichnam ihres Gatten so bald zu versilbern? Wieder ein Schuß in den Ofen. Beim Abtrocknen und später, als ich mich ankleidete, wurde mir immer klarer, daß die Rollen, in denen ich auftreten könnte, nichts als Mumpitz waren. Ich hatte es zwar mit Theaterleuten zu tun, doch das durfte mich 38
nicht verführen, selber Theater spielen zu wollen. Das konnten die besser, und sie würden – daran gewöhnt, falsche Töne wenigstens bei anderen herauszuhören – meinen Part bald genug zerfetzen. Also blieb nur, mich den Damen und Herren so zu präsentieren, wie ich war: unruhig, neugierig, bestürzt. Dann würde ich ja ihre Reaktionen erleben. Erleichtert verließ ich das Hotel. Zuvor hatte ich mich beim Portier versichert, daß der Abend im Stadttheater dem Schauspiel gehörte. Der Spielplan war, aus Gründen der Pietät, nehme ich an, geändert worden, und statt der zweiten Aufführung von Carls letztem Stück hatte man „Die Ratten“ aufs Programm gesetzt, ein recht volkreiches Drama, wie ich mich erinnerte, das sicherlich einen großen Teil des Ensembles beschäftigen und mir manche Wiederbegegnung bescheren würde. Das Theater befand sich nur fünf Minuten vom Goldenen Adler entfernt, an einem kleinen Platz inmitten eines Gewirrs schmaler Straßen, in denen sich winzige Geschäfte aneinanderreihten. Heute aber lagen sie sonntagnachmittäglich verödet. So war ich in einiger Verlegenheit, wie ich die zwei Stunden bis zur Öffnung der Abendkasse herumbringen sollte, nachdem ich vergebens versucht hatte, jetzt schon eine Karte zu kaufen. Ich stand unschlüssig auf der Freitreppe, unter dem säulengetragenen Tympanon, von dem herab in Goldbuchstaben die seinerzeit wahrscheinlich vom Landesherrn persönlich ausgewählte Cicero-Maxime OTIUM CUM DIGNITATE prangte, als ich mit einem erstaunten „Sie hier, Doktor?“ angesprochen wurde. Es war Finkenmeier, der Regisseur, und ich hätte ihn fast nicht erkannt, da er zur Premiere von Strohblumen in einem bürgerlich-dunklen Verbeugeanzug erschienen war und jetzt sozusagen Arbeitskleidung trug: Jeans, Wildlederjacke, Mokassins, Sonnenbrille und auf dem kurzgeschnittenen Haar eine blaue Schiffermütze mit Lackle39
derschirm. Aus einer großköpfigen Pfeife ließ er Dampf ab, der sehr nach Vanille roch und wohl Neugierige und Fliegen auf Distanz halten sollte. Auf eine so unvermittelte Begegnung war ich nicht vorbereitet und benahm mich entsprechend blöde. „Ja, wie sich das fügt“, sagte ich, um Zeit für einen vernünftigen Satz zu finden. Aber Finkenmeier hatte sich schon vom Erstaunen erholt und wußte, was sich schickt. „Ist das nicht eine schlimme Sache?“ Jetzt erst gab er mir die Hand, als wolle er mir kondolieren, nahm sogar die Mütze ab. „Eine wirklich schlimme Sache“, bestätigte ich. Dann hatte ich meine Gedanken soweit gesammelt, daß ich freier reden konnte. Ich sprach davon, daß man sich doch um einen toten Freund kümmern müsse, und von innerer Unruhe, die es mich zu Haus nicht aushalten ließ, und daß mich alles sehr mitgenommen habe und wieviel mir daran gelegen sei, mit einigen Leuten zu sprechen, die, wie ich, die letzten Stunden mit meinem Freund verbracht hatten und die ihn, wie ich, schätzten. „Wohl so eine Art Therapie, die Sie sich da verschrieben haben“, sagte Finkenmeier mit der Andeutung eines Lächelns, das aber gleich wieder verschwand, als sei er sich plötzlich der Ungehörigkeit einer solch leichtfertigen Formulierung bewußt geworden. „Wenn Sie so wollen, ja.“ Ob ich bereits vor der richtigen Schmiede sei, fragte ich mich, verwarf aber den Gedanken sofort als absurd. Der vielleicht fünfunddreißigjährige hagere Mann in dem wunderlichen Aufzug, der, Standbein und Spielbein ständig wechselnd, jetzt in immer neuen Redewendungen dasselbe sagte, nämlich, er begreife noch immer nicht, wie so etwas geschehen könnte, machte auf mich ganz und gar nicht den Eindruck eines Menschen, der einem anderen den Schädel einschlug. Dazu gehören nämlich, dachte ich mir, auch wenn es in der Rage geschieht, der Mut und die Fähig40
keit, die eigene Existenz auf einen Punkt zu versammeln. Obwohl ich nicht viel von der Typenlehre halte, bin ich doch immer wieder versucht, sie wenigstens zur Fixierung eines ersten Eindrucks heranzuziehen, und so hatte ich am Freitagabend schon diagnostiziert: Astheniker, der zwischen schizothymer Nabelschau und Exaltation pendelt. Das Urteil schien sich mir heute zu bestätigen. Ich unterbrach sein Lamentieren mit der Frage, ob er wisse, was man bis zum Vorstellungsbeginn anfangen könne. „Sie wollen heute abend ins Theater?“ Daß ich vorhatte, mir die „Ratten“ anzusehen, freute ihn offenbar. „Gar keine schlechte Arbeit, wenn man die kurze Probenzeit bedenkt.“ „Oh, Sie sind der Regisseur?“ Die halberhobenen Arme und das Lächeln um Nase und Augen sagten deutlich: Wer denn sonst! Der Geste folgte die Erläuterung: „Ohne mich rühmen zu wollen: Das machen die in der Hauptstadt auch nicht viel besser.“ „Das glaube ich gern.“ Mir fiel nichts anderes ein. „Also den Theaterkeller würde ich Ihnen um diese Zeit nicht empfehlen.“ Nachdem er solchermaßen von seiner Kunst weg- und auf meine Frage zurückgekommen war, sah er auf seine Armbanduhr und sagte: „Ja, das müßte klappen. Ich weiß, wo es ein ausgezeichnetes Bier gibt. Haben Sie schon mal was von den Drei Enten gehört? Nein? Die müssen Sie unbedingt kennenlernen. Ich habe sowieso nichts Wichtiges vor. Und wegen der Karten machen Sie sich keine Sorgen: Ich bringe Sie in der Intendantenloge unter.“ Er nahm mich beim Arm, und ich dachte flüchtig daran, daß ich seit Freitagabend von Alkoholischem umspült war. Das muß anders werden, nahm ich mir vor, sobald alle Aufregung vorbei ist. Zu den drei Enten erwies sich als ein akzeptables Lokal mit all dem üblichen rustikalen Klimbim, der den 41
Durst erst angenehm machen soll: Butzenscheiben, Kachelofen, Wagenrad-Kronleuchter, gescheuerte Holztische. Und Finkenmeier zeigte sich als ein trainierter Schlucker. Das war mir im Trubel der Premierenfeier gar nicht aufgefallen, jetzt, da wir zu zweit am Tisch saßen, aber nicht zu übersehen. Er überrundete mich Mal um Mal, hatte schon sechs Schnäpse und genauso viele Gläser Bier hinuntergekippt, als ich noch vom zweiten Wodka und dem ersten Bier trank, und ließ die manische Seite seiner Natur aufscheinen. Mit Regsamkeit und Beredtheit, durch den Alkohol beflügelt, breitete er das Panorama eines Theaterlebens und eines Lebens für das Theater aus. Ich hatte Mühe, all die Anekdoten zu verdauen, die er servierte, und mit dem Gespinst des Kunsturteils fertig zu werden, das er über mich hängte. Es hagelte Namen von Zelebritäten, die, kaum daß sie genannt waren, mit Etiketten versehen wurden; die Manen Brechts und Piscators zitierte er ebenso herbei wie die Fehlings oder Käutners; es schien nichts zwischen New York und Moskau über die weltbedeutenden Bretter zu gehen, von dem Finkenmeier nicht Nachricht und zu dem er nicht eine Meinung hatte. In seltsamerweise trotz fortschreitenden Alkoholkonsums immer klarer werdender Artikulation und bei sich mehr und mehr komplizierendem Satzbau erfuhr ich denn auch den Platz, den er im Gefüge des großen Welttheaters einnahm, und der lag zwischen Stanislawski und Strehler, ein Stückchen näher bei dem Italiener, wie er mit bedeutungsvollem Augenaufschlag erklärte, wenn er auch dessen Vorliebe für den Zirkus, als stilbildend für den Mimos, nicht ohne Bedenken akzeptieren wollte („Wenn Sie wissen, was ich meine …“). Ich behielt den Kopf oben und hatte Finkenmeier nach einer Stunde wieder da, wo ich ihn haben wollte, bei Carl Schanzer nämlich. Zunächst ging es für ihn auch hier nur um Kunst, wobei der Ton, den er anschlug, be42
deutend respektloser und ganz ohne die zuvor ausgestellte Bestürzung war und bald sogar ins Abfällige glitt. „Ja, der Schanzer“, sagte er, „schauen Sie, das ist ein ganz anderes Kapitel, sozusagen Alltag, wenn Sie verstehen, was ich meine, Hausmannskost. Ich will nichts gegen ihn gesagt haben, die Leute können eben nicht immer Kuchen essen. Oder Cordon bleu. Aber der große Zug ging ihm ab. Wenn ich zum Beispiel an Der Esel im Wolfsfell denke, das habe ich als vorletzte Inszenierung von ihm gebracht – da fehlte die große Linie, der Impetus für Schauspieler und Publikum, da wurde sich mit der kleinen Lösung begnügt, wo es nur einer Drehung mehr bedurft hätte, um die Königsebene ins Spiel zu bringen. Kunst, wirkliche Kunst, ist was anderes. Pardon, er war ihr Freund, und auch ich hatte manches kreative Gespräch mit ihm, aber ich muß Ihnen sagen: Er war eben doch nur – verstehen Sie mich: im Weltmaßstab gesehen – ein Schreiber für den Tag.“ Finkenmeier handhabte die Vergangenheitsform der Verben so geläufig, als habe er den Samstag damit zugebracht, sie zu üben. Die Unverschämtheit empörte mich. Wer war denn dieser Mann im Wildlederjackett, daß er so über Carl reden durfte? Ein Hahnepampel! Unter anderen Umständen hätte ich ihm uneingeschränkt meine Meinung gesagt. Aber je länger er sich über Carl ausließ und darüber, wie er, Finkenmeier, sich bemüht habe, aus dessen durchschnittlichen Ideen und nicht minder durchschnittlichen Texten etwas Ansehnliches zustande zu bringen, desto mehr wurde ich mir meiner berufsbedingten Haltung als Zuhörer bewußt. Ich wandte die Tricks an, mit denen man ein Gespräch manipulieren kann – stimmte zu, ließ Zweifel durchscheinen, riskierte eine gegenteilige Meinung im Nebensächlichen, nur um Raum zu gewinnen, ihn in meine Richtung zu dirigieren –, und fragte dann, als wir bei Carls letztem Stück angekommen 43
waren, unvermittelt: „War aber trotz allem eine schöne Premierenfeier, oder nicht?“ Er antwortete mit einer unbestimmten Handbewegung, die unter anderem auch bedeuten konnte: Also wenn Sie mich fragen, da habe ich schon ganz andere Feten erlebt. Er sagte dann auch: „Für einen Außenstehenden sicherlich.“ „Und für einen Insider?“ „Es fehlte die Kordialität.“ Für einen Moment, ehe ich mir in meiner Überraschung das Wort übersetzt hatte, hakte es bei mir aus, und bevor ich wieder Anschluß fand, war Finkenmeier schon weitergeeilt. Seltsamerweise schrieb er die fehlende Herzlichkeit der Anwesenheit Carls zu. „Das ist immer so“, erklärte er, „wenn die Stückeschreiber mit dabei sind, sozusagen das sonst herrschende Einverständnis zwischen den Kollegen stören. Sie erwarten, Mittelpunkt zu sein, angesprochen, bewundert zu werden. Das ist im Grund nur lästig. Da müssen Sie mal kommen, wenn wir eine Klassiker-Premiere haben!“ Und er erging sich in der Schilderung der Harmonie eines Festes nach einer „Macbeth“-Erstaufführung. Aber sobald ein noch lebender Autor („Pardon“, flocht er ein, „das war nur eine Redensart“) sich unter die Bühnenmenschen mische, sei es zappenduster. „Nanu“, sagte ich, „so vergrämt habe ich die Feier gar nicht in Erinnerung.“ „Denken Sie doch nur an das Gespräch über Brecht“, hielt er mir vor, „an Schanzers Meinung, die war, vom Verständnis für Kunst ganz zu schweigen, von keiner Theaterpraxis beleckt. Und dann die Arroganz, mit der er Frau Feierabend über den Mund gefahren ist.“ Davon wußte ich nichts, das war wahrscheinlich geschehen, als ich mich wieder einmal draußen aufgehalten hatte. Ich machte die Miene eines Uneingeweihten. „Aber gewiß doch! Erinnern Sie sich nicht, wie er auf 44
die Feierabend losgegangen ist und sie eine Ziege genannt hat, die zu dumm sei, den Text richtig zu lernen. Sie hat ihm dann tüchtig Kontra gegeben: Was er sich überhaupt herausnehme und so. Erinnern Sie sich?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich bin dazwischengetreten, und er hat sich dann auch entschuldigt.“ Da schien ja mehr Mißstimmung im Busch gewesen zu sein, als ich in meiner schlichten Denkensart wahrgenommen hatte: Finkenmeier zankt sich mit Carl und Herrn Sommer, wegen Brecht, der Belmondo-Typ beschimpft die Schulz und Carl, Carl tut der Feierabend einen Tort an … Wie bei einem richtigen Familientreffen. „Sagen Sie bloß, Sie wissen auch nichts davon, daß Hannes Kaul, unser Oberbeleuchter, Ihrem Freund Ohrfeigen angeboten hat.“ Ich mußte wieder den Kopf schütteln. „Ohrfeigen? Warum das um alles in der Welt?“ „Weil Schanzer auch zu ihm unverschämt geworden ist. Sagt er doch dem Kollegen Kaul, das Mondlicht auf der Hotel-Terrasse sei der widerwärtigste Beleuchtungseffekt gewesen, den er je erlebt hat. Dabei hätten Sie mal die Lichtstimmung sehen sollen, die er in der vorigen Spielzeit im ‚Romeo‘ hingezaubert hat!“ Das wurde ja immer schlimmer! Ich entschuldigte meine Unwissenheit mit den Spaziergängen vor dem Theaterkeller. „Seien Sie froh, daß Sie nicht alles mitbekommen haben“, sagte Finkenmeier gewichtig. „Mir hat’s jedenfalls gelangt.“ Ich glaubte ihm das, bei dem kummervollen Zug um den Mund. Wenn es sich so verhielt, wie Finkenmeier berichtete, dann gab es überraschend viele Ansatzpunkte, von denen aus Verbindungen zu Carls jähem Tod gezogen werden konnten. Aber wer drosch jemandem schon den Schädel ein, wegen einer Meinungsverschiedenheit über 45
Brecht oder einer Beleidigung oder einer abfälligen Bemerkung über ein Bühnen-Mondlicht? Mir kam trotzdem der Patient in den Sinn, der seine Frau erdrosselt hatte, weil die ihm mit dem Spruch auf die Nerven gefallen war, er solle sich die Zehennägel endlich mal wieder beschneiden. Aber das war eben Ehealltag, und zudem erwies sich der Mann als mental äußerst gering belastbar, weil von einem Kastrationskomplex verfolgt. Dieser Fall lag doch wohl anders. Ein Verdacht stieg in mir hoch: Wieso kaprizierte sich Finkenmeier so darauf, mir die Nacht nach der Premiere als eine einzige Kette von Unerfreulichkeiten und Mißhelligkeiten darzustellen? Ich sah ihm zu, wie er, das Schnapsglas an den Lippen, den Kopf zurückwarf wie ein trinkendes Huhn. Sollte der Astheniker mit schizothymer Nabelschau doch nicht so harmlos sein, wie er mir erschienen war? Was, wenn er mir all die kleinen Streitereien auftischte, um etwas zu vernebeln? „Haben Sie das alles auch der Polizei mitgeteilt?“ fragte ich und versuchte, die Neugier aus meiner Stimme zu halten. „Natürlich, gleich als die um acht in der Frühe bei mir angetanzt ist.“ Er ließ zwei Sekunden vergehen, dann zog er die Brauen hoch. „Ach, das meinen Sie! Aber lieber Herr Doktor, nehmen Sie im Ernst an, einer aus unserer Runde hätte …? Vielleicht der Kollege Wittlich?“ „Ich nehme nichts an“, sagte ich und kam mir dabei sehr diplomatisch vor. „Ich habe nur gefragt, ob die Polizei von allem weiß, was Sie mir da eben erzählt haben.“ „Und außerdem“, er sah plötzlich pfiffig aus, „waren Sie doch mit von der Partie. Und Sie sind ja wohl der letzte aus der Runde, der ihn gesehen hat. Oder nicht? Wie wär’s, wenn Sie mal überlegten, ob Sie nicht auch so einen kleinen Groll auf Schanzer in Ihrem Hinterkopf hegten.“ Dann lachte er. „Nein, nein, nehmen wir doch lieber an, irgendein Strolch hat ihn überfallen.“ 46
„Und wie erklären Sie sich, daß alle Wertsachen noch da waren?“ „Ich habe davon gehört. Sie meinen also: kein Raubmord? Vielleicht hat der andere etwas Wichtigeres bei ihm gesucht und gefunden.“ „Vielleicht.“ Ich spürte nach dem dummen Verlauf des Gesprächs plötzlich keine Lust mehr, mich weiter über das Thema auszulassen, sah auf die Uhr und merkte an, es sei wohl Zeit aufzubrechen. Finkenmeier ließ mich anstandslos bezahlen und rülpste dezent, als wir aus dem dämmrigen Lokal ins noch helle Tageslicht hinaustraten. Aus der Intendantenloge schaute ich dann dem Treiben auf der Bühne zu, die ich freilich nur zu zwei Dritteln einsehen konnte. Man spielte Theater, allerdings mit einer Viertelstunde Verspätung, spielte respektierlich, obwohl die Darstellerin der Frau John den Text zu hastig herunterschlurrte und Herr Sommer den Maurerpolier für meinen Geschmack um einige Nuancen zu glatt gab. Dem Fräulein Schulz nahm man die Verzweiflung des Dienstmädchens Piperkarcka nicht recht ab, sosehr sie sich auch mühte, den wasserpolnischen Text in Schluchzen zu ersticken; sie war aber wieder sehr schön anzusehen. Brunnenmüller als Theaterdirektor Hassenreuter kostete seine Szenen aus und versuchte, alle anderen an die Wand zu spielen, auch Frau Feierabend, die es darauf anlegte, der Dame Rütterbusch durch Gänge, Gesten und wohlklingende Stimme Profil zu geben. Überraschend für mich war, daß Finkenmeier agierte: Er spielte Frau Johns verkommenen Bruder Bruno, spielte steif, verhaspelte sich mehrmals, versuchte, durch Mätzchen wettzumachen, was ihm an Darstellungskraft fehlte. Ich glaube, die Leute atmeten auf, als er nach dem Mord an der Piperkarcka von der Schwester Geld bekam und nach Rußland abdampfte. Wahrscheinlich mußte er in letzter Minute einspringen, denn er hät47
te mir sonst unfehlbar mitgeteilt, daß er neben der Regie noch eine Rolle – eine wichtige Rolle – übernommen hatte. Zudem stand auf dem Theaterzettel ein anderer Name: Eugen Wittlich. Erst in der Theaterklause, als der Regisseur laut fluchend an meinen Tisch trat („Diesem Beau dreh ich den Hals um!“ rief er), dämmerte mir, daß Wittlich womöglich der Schauspieler war, dessen Namen ich vergessen und den ich Belmondo genannt hatte. Schimpfen, aus sich herausgehen, außer sich sein und bleiben, wenigstens für eine Weile – diese Tugenden des Schauspielers besaß Finkenmeier in hohem Maße. Ich bewunderte ihn, wie er da drei Minuten lang den enttäuschten, hintergangenen, schmählich um sein Vertrauen betrogenen und Rache schwörenden Mann vorstellte, beneidete ihn und dachte daran, wieviel weniger Verklemmte es gäbe, wenn jedermann ein Training in Entäußerung durchmachte. Nachdem er sich erschöpft auf einen Stuhl an dem großen runden Tisch unter einem Ölbild des seinerzeitigen Landesherrn hatte fallen lassen, bestätigte er meine Vermutung: Wittlich war Belmondo, und er war nicht zur Vorstellung gekommen. Telefonanrufe hatten nicht gefruchtet, und als sich wenige Minuten vor Beginn der Inspizient aufs Moped setzte und zu Wittlichs möbliertem Zimmer fuhr, erhielt er den Bescheid der Wirtin, ihr Untermieter habe am Morgen die Wohnung verlassen und sich den ganzen Tag nicht wieder gemeldet. „Und da mußte ich mich in die Klamotten werfen und die Scheißrolle abziehen“, sagte Finkenmeier, noch immer unter heftigem Schnauben. „Aber der kann was erleben, dem lasse ich die Gage sperren, ohne Pardon.“ „Wenn er verhaftet worden wäre“, sagte ich vorsichtig, „hätte die Polizei sicherlich die Intendanz angerufen.“ Finkenmeier sah mich an, als hätte ich ihn auf eine ungeheuerliche Idee gebracht. Dann blickte er schnell weg. 48
4. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe der große Tisch besetzt war, und für ein paar Minuten saß jeder erst einmal erschöpft und gab – je nach Temperament – seiner Empörung, seinem Erstaunen oder seiner Besorgnis über das Wegbleiben Wittlichs Ausdruck. Natürlich sagte auch jeder, der mich von der Premierenfeier her kannte, wie nett es sei, daß ich noch einmal zurückgefunden hätte, wenngleich aus solch traurigem Anlaß. Dabei lief dann jedesmal ein Ach ja und So ist das und Wer hätte das gedacht? um den Tisch. Endlich waren alle versammelt, bis auf Fräulein Schulz, was den Regisseur zu der sarkastischen Bemerkung veranlaßte: „Die sucht wahrscheinlich ihren verlorengegangenen Schatz.“ Aber niemand lachte. Herr Brunnenmüller sagte sogar tadelnd: „Aber Kollege Finkenmeier!“ Er aß Schweinskopfsülze mit Bratkartoffeln und trank schwarzen Kaffee dazu. Frau Feierabend hatte wie selbstverständlich neben mir Platz genommen. Sie steckte heute in einer enganliegenden Bluse mit weiten, an den Handgelenken zusammengefaßten Ärmeln, die ihre üppige Brust vorteilhaft ausstellte. Sie gefiel mir besser als vor zwei Tagen, vielleicht auch, weil sie noch nicht in die Klage wegen ihrer kleptomanen Schwester gefallen war. Statt dessen erging sie sich natürlich in Mutmaßungen über Carls Tod, erwog, ob er nicht unglücklich gefallen sein konnte, und biß sich schließlich an der Behauptung fest, sicher hätten die Horden von Jugendlichen schuld, diese Nichtstuer und Schläger, die sich im Dunkeln immer im Park beim Bahnhof herumtrieben, so daß sich kein anständiger Mensch mehr allein unter die Bäume traue. „Aber doch nicht morgens um fünf“, sagte Herr Sommer mit leichtem Tadel in der Stimme. „Der Doktor ist anscheinend ohnehin der Meinung, 49
daß ein Fremder als Täter nicht in Frage kommt.“ Finkenmeier trank schon wieder Schnaps und Bier, hatte ein Glas vorm Mund und sagte: „Prost!“ Nun sahen mich alle an, blickten mit Spannung und einige auch mit Befürchtung in den Mienen auf mich, und ich hatte für eine Sekunde den Eindruck, in der Rolle Jesu zu sein, den die Jünger beim letzten Abendmahl fragen: Herr, bin ich’s? Unter lauter Schauspielern kommt unsereiner schon auf seltsame Gedanken. Ich versuchte, die Krudität der Eröffnung Finkenmeiers vom Tisch zu bringen, sagte, das sei nur so eine Überlegung gewesen, aber vielleicht eine bedenkenswerte Überlegung und so weiter. Doch damit brachte ich niemanden in der Runde dazu, den Blick von mir zu wenden. Frau Feierabend mir zur Rechten starrte mich aus weit gewordenen Augen an, als sei sie kurzsichtig, und ich bestellte, um der Peinlichkeit zu entgehen, lauter als nötig eine Käseplatte. „Und wer, wenn man fragen darf“, sagte Herr Sommer sachlich, „kommt nach Ihrer Ansicht am ehesten in Betracht?“ Er trank Cola, und mir ging durch den Kopf, daß er bei der Feier auch der Nüchternste gewesen war. „Genieren Sie sich nicht, wir sind unter uns, denn Sie gehören doch wohl dazu.“ „Das habe ich ihm schon gesagt“, warf Finkenmeier ein. „Also, wer, junger Freund?“ Brunnenmüller sah mich gespannt, fast lauernd an, er hielt im Kauen inne, und sein faltenreiches, vom jahrzehntelangen Schminken ledrig und großporig gewordenes Gesicht überzog sich mit leichter Röte. Ich mag Spannungen nicht, die unversehens und scheinbar aus dem Nichts entstehen und die man nicht regieren kann. Sie sind alles andere als heilsam oder reinigend, bergen vielmehr die Gefahr des Mißverstehens und unvorhergesehener Reaktionen in sich. Ich kenne 50
das von meiner Arbeit her, und ich habe mich stets bemüht, solche unfruchtbaren Tensionen zu vermeiden. Hier aber, inmitten von Mißtrauen und Erwartung, wußte ich nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Da saßen die guten Leute, waren auf meine Antwort gespannt, sahen verprellt, enttäuscht, beleidigt aus. Nur die Unbeteiligten blickten bloß neugierig, waren sozusagen die Zuschauer, denen etwas geboten wurde. Die Handflächen wurden mir feucht, und ich wischte sie verstohlen an den Hosenbeinen ab, bevor ich umständlich zu erklären begann, daß dieser und jener eventuell und unter Umständen, von Carl gereizt, den Kopf verloren haben könnte. „Konkret!“ Herrn Sommers Stimme klang jetzt sehr fest. Herr Brunnenmüller plädierte für „Ausredenlassen“. Doch noch ehe ich den Mund wieder aufmachen konnte, hatte sich Finkenmeier zum Interpreten meiner möglichen Meinung aufgeworfen. „Ich kann mir vorstellen“, erklärte er, „daß all die – nun, sagen wir – kleinen Querelen während unserer Feier unseren Freund vermuten lassen, einer von denen, die sich mit Schanzer an dem Abend stritten, könnte womöglich den Disput nach Ende der Fete fortgesetzt haben, im Park beim Bahnhof zum Beispiel.“ Er blickte Brunnenmüller an, als erwartete er Beifall. Aber der verzog nicht einmal das Gesicht, fuhr sich nur mit einem Taschentuch bedächtig über den Mund und fletschte nach Art der Gebißträger umständlich Speisereste aus den falschen Zähnen. Warum, zum Teufel, mischte sich dieser Finkenmeier andauernd in meine Angelegenheiten? Entschlossen, die Bevormundung zurückzuweisen, sagte ich: „Ich glaube, Sie gehen da ein bißchen zu weit. Schließlich können Sie doch nicht ohne weiteres behaupten, ich hätte einen bestimmten Verdacht gegen irgend jemand hier am Tisch.“ 51
Aber Finkenmeier war nicht gesonnen, sich das Wort abschneiden zu lassen. Er verhakte, Entschlossenheit demonstrierend, die Hände in den wildledernen Revers, lächelte überlegen und fuhr fort, als hätte ich mir nicht seine Einmischung verbeten: „Nehmen wir nur einmal unseren Kollegen Wittlich.“ Mit Mühe schien er ein charakterisierendes Kraftwort gegen diesen unsicheren Kantonisten zu unterdrücken. „Wir wissen doch, wie wütend er war, daß Schanzer sich an die Margot Schulz rangemacht hat. Wir wissen auch, wie jähzornig Eugen werden kann … Und heute abend ist er nicht da, spurlos verschwunden.“ „Also, das geht zu weit!“ Brunnenmüller war aufgestanden und ragte, groß und ledern, empor, ganz Standbild eines altgewordenen Heros. „Ich finde es ungezogen, so über einen abwesenden Kollegen zu sprechen. Er kann sich nicht verteidigen.“ Sich der Wirkung seines Eintretens für einen Kollegen wohl bewußt, genoß er die Blicke, die jetzt auf ihm ruhten. Alles, einschließlich der weitschwingende Geste mit der Rechten, kam mir genau berechnet vor. „Wenn der Kollege Wittlich wieder da ist, werden wir mit ihm sprechen.“ Er schob mit den Kniekehlen seinen Stuhl zurück, angelte mit einer Hand nach seinem Ebenholzstock mit Silberknauf, den er gegen seinen Stuhl gelehnt hatte, und schien entschlossen, das Lokal zu verlassen. In diesem Augenblick betrat Intendant Wasser die Szene. Er kam, das bärtige Kinn und den Bauch vorgeschoben, jeder Zoll Majestät, auf den Tisch zu, gab mir die Hand, noch ehe ich mich schicklich erheben konnte, und grüßte die anderen mit Kopfnicken. Man rückte zusammen, zog einen Stuhl von einem anderen Tisch herüber und wartete darauf, was der Chef zu sagen hätte. Der Intendant sagte vorerst nichts, sah von einem zum anderen, und Herr Brunnenmüller setzte sich wieder. Er hatte seine Schau gehabt. 52
Dann mutmaßte Wasser: „Ich störe wohl.“ Selbstredend erhob sich nun ein gedämpftes Gemurmel des Protestes am Tisch, und Herr Sommer sagte: „Aber wo denken Sie hin, Kollege Wasser.“ Der Intendant war es zufrieden, lehnte sich im Stuhl zurück und begann, mehr im Monolog, Betrachtungen zur Disziplin am Theater anzustellen, wobei er einfließen ließ, daß er vor zehn Jahren, als er sein Amt angetreten, geradezu einen Sumpf an Disziplinlosigkeit, nur notdürftig kaschiert durch die Redensart von Künstlerischer Freiheit (an der Art, wie er diesen Begriff betonte, merkte man die Abscheu, die er vor ihm hegte), vorgefunden hätte und daß es ihn tief betrübe, wenn jetzt die gleichen Erscheinungen, die der Auffassung der Kunst als Produktivkraft beim Aufbau des Sozialismus Hohn sprächen, wieder zu beobachten seien und so weiter. „Zum Beispiel der Kollege Wittlich“, sagte er, „der wird sich mit der Konfliktkommission auseinanderzusetzen haben, und ich will nicht mehr Wasser heißen, wenn ihm da etwas geschenkt wird.“ Es gibt außer dir noch ein paar Menschen, die Molesten mit ihrem Namen haben, dachte ich, ein bißchen schadenfroh. Im übrigen war ich erleichtert, daß durch die Ankunft des Intendanten am Tisch dem leidigen Gespräch ein Ende gesetzt wurde, konnte aber meine Erleichterung nicht allzulange genießen, da nach einigen belehrenden Sätzen über die Aufgabe des Schauspielers und seine Verpflichtung gegenüber den Werktätigen Finkenmeier, beharrlich wie ein Untersuchungsrichter, die Rede wieder auf das Problem lenkte, ob einer aus dem Ensemble – und wenn ja, wer aus dem Ensemble – mit Carl Schanzers Tod in Verbindung gebracht werden könne. Ich, Dr. Gammler, erklärte er dem Intendanten, sei offensichtlich der Meinung, am Theater nach dem Täter suchen zu müssen. Es half mir kein Protest, keine Beteuerung, der Regisseur habe mich falsch verstanden: 53
Herr Wasser sah mich fest und verweisend aus wasserblauen Augen an. „Ich hoffe“, sagte er, „Sie werden Ihre Meinung korrigieren. Natürlich stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung, wenn es darum geht, Sie von Ihrem Irrtum zu überzeugen.“ Und nach einer winzigen Pause: „Wenn ich kann.“ Damit war für ihn das Thema abgetan. Man kümmerte sich nicht mehr um mich; alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf den Intendanten, der mit geschulter Stimme, die den ehemaligen Schauspieler verriet, das Gespräch um Internes beherrschte. Nur einmal noch – und zwar im Zusammenhang mit einer beiläufigen Einschätzung der Inszenierung von Strohblumen – kam man auf Carl zurück. Da sagte Herr Sommer in seiner betont ruhigen und freundlichen Art: „Wir sollten Carl Schanzer ein ehrenvolles Andenken bewahren und uns im übrigen darauf verlassen, daß die Volkspolizei die Umstände seines Todes aufklären wird.“ Ich war nicht auf Nachrufe von dieser Sorte erpicht und fühlte mich fehl am Platz. Also stand ich auf, äußerte, es sei Zeit für mich, ins Hotel zu gehen, da ein langer, anstrengender Tag hinter mir läge, verabschiedete mich und bekam trotz der kritischen Phase in unserem Beisammensein von allen Seiten versichert, man habe sich über meinen Besuch gefreut. Herr Wasser bot mir an, ich könne jederzeit einen Platz in seiner Loge besetzen. „Wenn Sie die Absicht haben, noch länger in unserer Stadt zu bleiben.“ Oder hatte er gesagt: Hoffentlich bleiben Sie nicht länger in unserer Stadt? Verbiestert stand ich wieder einmal vor dem Portal des Theaters. Es war kurz vor Mitternacht, und ich fröstelte in der lauwarmen Luft. Wenn ich mich nur nicht mit Finkenmeier und den anderen eingelassen hätte – jedenfalls nicht so unvermittelt! 54
Während ich die Stufen hinunterging, dachte ich daran, meinen Koffer zu packen und mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Herr Sommer hatte schon recht: Verlassen wir uns darauf, daß die Volkspolizei die Umstände des Todes aufklären wird. Das allein war realistisches Denken. Und Finkenmeiers Reaktion war eindeutig: Mich mit meinen spinnerten Ideen sah man hier nicht gern. Oder sollte doch etwas anderes dahinterstecken? Mir fielen, da ich so direkt noch nicht mit einem Verbrechen in Berührung gekommen war und mir also jegliche kriminalistische Praxis abging, die in Detektivgeschichten reichlich angebotenen Möglichkeiten der Deutung ein. Und vor allem verstärkte sich wieder der am selben Abend schon einmal aufgekommene Verdacht, der Regisseur verfolge mit seiner massiven Einmischung in meine Angelegenheiten einen Plan. Absichtslos, das stand für mich fest, war sein Verhalten nicht. Unter solchen Überlegungen lenkte ich meine Schritte zum Hotel. Da hörte ich hinter mir eine weibliche Stimme meinen Namen rufen. Als ich mich umdrehte, sah ich Fräulein Schulz. „Ich dachte, ich finde Sie noch im Theaterkeller“, erklärte sie, leicht außer Atem wie nach zu schnellem Gehen. „Finkenmeier hat mir erzählt, daß Sie da sind.“ „Ich bin müde“, entschuldigte ich mich. „Und dann: Ihre Kollegen möchten bestimmt unter sich sein.“ „Ich war in Eugen Wittlichs Wohnung. Er hat sich da noch immer nicht sehen lassen.“ Was kümmert mich das? wollte ich schon sagen, besann mich aber auf die gebotene Höflichkeit und entgegnete, der Mann werde wohl über kurz oder lang wieder auftauchen. „Begreifen Sie denn nicht?“ Sie stand jetzt einen knappen Meter von mir entfernt, und im Licht der Straßenlaterne sah sie noch vorteilhafter aus, als ich sie in 55
Erinnerung hatte. „Ich habe Angst um ihn. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.“ „Aber, aber …“ „Sie kennen Eugen nicht.“ Ich hatte ihn tatsächlich nur auf der Bühne gesehen und dann noch einmal bei dem Streit vorm Theaterkeller mit Fräulein Schulz. So sagte ich: „Da haben sie recht.“ Fräulein Schulz aber ließ sich dadurch nicht abwimmeln, sie brauchte anscheinend jemanden, an den sie die Ursache ihrer Aufregung loswerden konnte, dazu einen neutralen Menschen, einen jedenfalls, der zuzuhören verstand, ohne sich gleich mit Meinung aus interner Kenntnis einzumischen. „Es ist alles so schrecklich dumm gekommen.“ Die Hilflosigkeit in ihrer Stimme rührte mich an. Zwar fragte ich, ob es nicht besser sei, sie berate sich mit ihren Kollegen, doch noch ehe sie etwas erwiderte, wußte ich, daß sie die Anregung nicht aufgreifen würde. „Ach, die“, sagte sie, „mit denen ist nur zu rechnen, wenn alles geradeläuft.“ „Ist etwas schiefgelaufen?“ Statt zu antworten, nahm sie mich beim Arm und führte mich vom Theater fort. „Ich wohne nicht weit von hier“, sagte sie. „Gleich um die Ecke. Es wird Ihnen gefallen.“ Ich gestehe: Ich war verblüfft; aber das angenehme Gefühl, bei Nacht von einer hübschen jungen Frau in ihre Wohnung eingeladen, eher noch abgeschleppt zu werden, überwog bei weitem. Der Puls schlug schneller, für den Augenblick waren der Verdruß über die Schauspielerrunde und die offensichtlich. eindeutige Absicht des Fräulein Schulz, sich meiner als Tröster und Ratgeber zu bedienen, vergessen: Ich befand mich in einem fremden Städtchen, ohne Bindung, ohne Verpflichtung, und bald würde ich allein mit ihr in einem Zimmer sein. 56
Vergebens versuchte ich mir klarzumachen, als sie nach knapp fünfminütigem Weg am Haustürschloß hantierte, daß sie nichts weiter als meinen Beistand wollte. Auf der Treppe klopfte mir das Herz im Hals wie einem jungen Liebhaber, und das nur, weil sie mir zuflüsterte, keinen Lärm zu machen, da ihre Wirtin so späten Besuch nicht gern sehe. Wir erreichten ihr Zimmer nach einem Zehengang durch einen mit allerlei altmodischem Mobiliar vollgestellten Korridor (ein Bild mit breitem schwarzem Rahmen, die Emmaus-Szene darstellend, fiel mir besonders auf), und nachdem sie leise die Tür hinter sich geschlossen und Licht gemacht hatte, war ich erstaunt, nicht eine Fortsetzung des Möbellagers im Vorraum anzutreffen, sondern eine einfache, fast karge Einrichtung in hellem Holz und ein paar Reproduktionen von bekannten Werken des zwanzigsten Jahrhunderts sowie zwei oder drei bunte Poster an geweißten Wänden. Sie bemerkte mein Erstaunen und sagte: „Frau Knippel hat mir erlaubt, mein Zimmer einzurichten, wie es mir paßt.“ Ich setzte mich in einen weiß angestrichenen Korbsessel, über dem ein sacht sich drehendes Mobile hing. Sie nahm mir gegenüber auf der Couch Platz. Noch immer rumorte in mir die Vorstellung, daß ich möglicherweise an der Schwelle eines Abenteuers stünde, und ich gab mich dem Phantom um so lieber hin, als ich jetzt Muße hatte, Fräulein Schulz aus der Nähe und von einer Stehlampe dezent beleuchtet zu sehen. Meine Erinnerung an die hektische, vom Alkohol zu allerlei Eskapaden beflügelte Frau wie der Eindruck von einer mittelmäßigen Schauspielerin schwanden. Vor mir saß ein schönes Mädchen mit einem ernsthaften Gesicht: große braune Augen unter einer hohen Stirn und ein voller Mund. Ein kleines Lächeln milderte die Strenge, die durch eine kurze, helmartige Frisur unterstrichen wurde. Ich dachte an Gisela Schanzer: Mit welchen Augen 57
würde sie die junge Frau ansehen, die sie für ihre Rivalin hielt? Und ich fragte mich, ob Carl ihretwegen in N. hatte bleiben wollen. Natürlich eine überflüssige Frage. Sie sagte, sie habe nichts Alkoholisches im Haus, könne aber einen Tee machen; sonst gebe es nur Sanddornsaft. Froh, nicht schon wieder Schnaps oder Bier trinken zu müssen, behauptete ich, Sanddornsaft sei mein Lieblingsgetränk, was sie mit einem halb erstaunten, halb belustigten Blick zur Kenntnis nahm. Während sie in die Küche ging, die Flasche zu holen, hatte ich Zeit, die Situation zu überdenken. Ich spürte, wie die prickelnde Erwartung zu schwinden drohte, dennoch war ich bemüht, mich nicht gänzlich desillusionieren zu lassen. Männer um die Fünfzig sind nun einmal dankbar, wenn etwas ihnen vorgaukelt, sie besäßen noch die Chance, die längst und endgültig abgesteckte Trasse ihres Lebens zu verlassen, und sei es auch nur, um für Augenblicke einen Seitenweg zu betreten. Dann saßen wir einander wieder gegenüber, Gläser mit dem gelblichen Seim in Händen, und seltsamerweise fiel es der jungen Frau, die mich so couragiert in ihre Wohnung geleitet hatte, schwer, ein Gespräch anzufangen. „Sie müssen entschuldigen“, begann sie, „aber mir schien, Sie könnten mich verstehen.“ Ich nickte ihr ermunternd zu. „Es geht um Herrn Wittlich. Sie vermuten, es ist ihm etwas zugestoßen?“ „Ich fürchte es.“ Ihre Befangenheit löste sich. Sie stellte ihr Glas auf den Tisch und sagte: „Eugen ist ein ziemlicher Wirrkopf. Ich kenne ihn schon seit fünf Jahren. Wir waren zusammen auf der Schauspielschule, und wir haben hier gemeinsam unser erstes Engagement angetreten, in der vorigen Spielzeit.“ Sie charakterisierte ihren Kollegen als einen jungen Mann mit eher durchschnittlicher schauspielerischer Begabung, der sich mit dem Mimen-Kult, der das Theater beherrschte, 58
nicht abfinden wolle und schon manchem von der Hohepriesterei des Schauspielerns besessenen Kollegen durch deutliche Worte verprellt habe. Es mangele ihm an Takt, auch an der rechten Einschätzung seiner Person und des eigenen Könnens. Das alles habe ihn zum Außenseiter gemacht. Sie nannte Beispiele für sein sinnloses Mißtrauen, auch für seine cholerische Art, sich gegen scheinbare Benachteiligung seiner Person zu Wehr zu setzen. Für den Außenstehenden nahm sich das, was sie vortrug, wie eine Aneinanderreihung von Lappalien aus, doch der Eifer, mit dem sie sprach, verriet, wie schwer für sie – und wahrscheinlich für alle Mitglieder des Ensembles – die Unausgeglichenheit Wittlichs wog. Er schien die unberechenbare Komponente in der Schauspielergemeinschaft zu sein, hatte keine Freunde, wurde von den meisten nur als Exzentriker angesehen, dem man aus dem Weg ging, wenn man nicht beruflich mit ihm zu tun hatte. Und was den Rest besorgte: Ein Fernsehregisseur holte ihn hin und wieder zu Aufnahmen in die Hauptstadt, weil seine so ganz untheatralische Art, Rollen zu verkörpern, in dessen Inszenierungsstil paßte. Je länger Fräulein Schulz sprach, desto mehr erweckte sie den Eindruck, daß es ihr wohltat, sich jemandem anvertrauen zu können, der, weil er draußen stand, nicht die Aversion der Eingeweihten teilte, und ich vermied, aus beruflicher Gewohnheit schon, alles, was ihren Redefluß hätte dämmen können. Außerdem hatte sie eine angenehme Stimme, die von der Bühne herab zwar ein wenig schwach wirkte, mich jetzt jedoch, in meinem Zustand ständig wachsender Müdigkeit, wie Radiomusik nach Mitternacht umschmeichelte. Nur einmal dachte ich: Warum erzählt sie mir das? Und dann kam mir für einen Moment der Gedanke, ihr Bericht über Wittlich verfolge einen bestimmten Zweck, möglicherweise den, sich selber dadurch in ein günstiges Licht zu setzen, indem sie für den jungen Kollegen so viel Verständnis 59
zeigte. Doch dieser Eindruck verflog, und ich gab mich wieder ihrem Redefluß hin, registrierte mehr unterbewußt, was von Belang sein mochte, und beschränkte mich im übrigen darauf, der Melodie ihrer Stimme zu folgen. Plötzlich registrierte ich: Stille, und noch ehe ich meine Sinne beisammen hatte, hörte ich sie fragen: „Ich langweile Sie wohl mit meinem Geschwätz?“ Das klang bitter. Ich fühlte mich wie der ertappte Schüler, der vom Lehrer aufgefordert wurde, den letzten Satz zu wiederholen, und versicherte, indem ich mich aufrecht setzte, ich hätte keines ihrer Worte verloren. Die Formulierung belustigte sie, jedenfalls lachte sie, wenn auch gequält, und versprach, sie wolle sich von nun an kürzer fassen. Sie sagte: „Eugen ist jedenfalls einer von der Sorte Mann, die man unausstehliche Kerle nennt“, sagte es so, daß man heraushören konnte: Ich halte ihn für einen prima Burschen. „Aber Sie – ja, sagen wir – lieben ihn.“ Mir schien, daß ich nun den leitenden Part im Gespräch übernehmen mußte. „Lieben …“ Sie zögerte lange, als sei sie der Überlegung zum erstenmal gegenübergestellt. „Ich glaube, er liebt mich. Ja, bestimmt: Er liebt mich, schon von der Schauspielschule her.“ „Und er würde Sie ungern verlieren.“ „Wie meinen Sie das? An wen verlieren?“ „Zum Beispiel an Carl Schanzer.“ Ich beobachtete, welche Wirkung die Worte bei ihr auslösten. Sie zuckte nicht zusammen, reagierte nicht einmal erstaunt. „Wittlich war doch eifersüchtig auf Schanzer. Oder nicht?“ „Warum fragen Sie das? Sie haben es doch selbst erlebt, Freitag nacht vorm Theaterkeller.“ Ein deutlicher Ausdruck von Enttäuschung legte sich ihr um Augen und Mund. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ich hätte es wissen müssen …“ 60
„Was?“ „Finkenmeier hat es mir vor der Vorstellung gesagt: Sie sind hergekommen, um herauszufinden, wer Ihren Freund erschlagen hat. Und jetzt denken Sie auch, es ist Eugen gewesen.“ „Wieso auch?“ „Alle denken es inzwischen.“ Sie war dem Weinen nahe, einem Weinen nicht aus Wehleidigkeit, sondern aus Trotz. „Und ich habe geglaubt, ich könnte mich Ihnen anvertrauen, Sie als einer von draußen würden nicht dem blödsinnigen Fehlurteil aufsitzen, Eugen sei ein unberechenbarer, arroganter Kerl. Wie die ihn gestern nachmittag auf der Probe geschnitten haben!“ Sie sprach mehr zu sich selbst als zu mir. „An den Visagen hat man es ihnen angesehen, daß sie ihn ablehnen. Keiner sprach ein Wort mit ihm, keiner außer mir. Hinterher war er völlig fertig. Er sagte, er hält das nicht mehr aus, er haut ab aus diesem Scheißnest, er kauft sich einen Strick und was weiß ich nicht alles.“ „Und die Polizei? Hat die Wittlich vernommen?“ „Eugen kam als letzter dran. Da hatten die anderen schon alles brühwarm auf den Tisch gepackt: Die Schulz hat mit dem Schanzer poussiert, und der Wittlich war darüber außer sich vor Wut. Die von der Kripo müssen ihm ziemlich zugesetzt haben, er erschien schweißnaß zur Probe und konnte sich nicht konzentrieren.“ Sie sprach jetzt sachlich, hatte wohl den durch meine Frage ausgelösten Schock überwunden. „Und dann diese Kollegen: als hätte er die Pest!“ „Aber vorhin im Theaterkeller, da hielt doch wenigstens Brunnenmüller sehr energisch zu ihm.“ „Ach, der !“ Fräulein Schulz schob die Unterlippe vor wie ein trotziges Kind. „Der braucht seine Auftritte, auch wenn er nicht auf der Bühne steht. Und wenn alle hü sagen, sagt er hott, nur um aufzufallen. Der denkt, er ist so eine Art Lieber Gott, weil er schon so lange 61
’rummimt und selber Stücke schreibt, die aber kein Aas spielt.“ „Und Frau Feierabend?“ In mir erwachte die Neugier, die einzelnen Mitglieder des Ensembles aus dem Mund einer Kollegin charakterisiert zu hören. „Die ist sauer auf Wittlich, weil er sich nicht von ihr bemuttern lassen wollte.“ Es hätte nur noch gefehlt, daß sie, wie Carl bei der Fete, diese Ziege hinzusetzte. „Die leidet unter einem ständigen Defizit an Bewunderung und fühlt sich vom Schicksal geschlagen, weil sie eine durchgedrehte Schwester hat. Aus lauter Verzweiflung batikt sie, sammelt Zwiebelmustergeschirr und anderen alten Plunder und ergeht sich in Poesie. Die und Brunnenmüller passen zusammen wie zwei alte Latschen.“ Wenn das Mädchen so fortfuhr, würde sie sich bald nahtlos in das Ensemble fügen, wo man einander anscheinend mit der Freundlichkeit von Krokodilen begegnete. Zwar hatte ich große Lust, auch noch den Rest der mir bekannten Theaterleute durch Margot Schulz vorgestellt zu bekommen, aber ich erinnerte mich rechtzeitig des löblichen biblischen Grundsatzes, man solle niemanden in Versuchung führen. Zudem glaubte ich, mir von Finkenmeier selbst ein Bild machen zu können, und zu Herrn Sommer, dachte ich, zu diesem etwas farblosen Menschen, der sich vor allem durch aufrechten Gang, gutes Aussehen und sonore Stimme auszeichnete, sei keine spezielle Naturbeschreibung erforderlich. Nur zu dem Beleuchter Kaul, der, nach Finkenmeiers Auskunft, Carl Ohrfeigen angeboten haben sollte und den ich weder aus der Erinnerung noch durch Wiederbegegnung realisieren konnte, wollte ich noch etwas wissen. Doch Fräulein Schulzes Auskunft war da wenig hilfreich. „Das ist der Be-ge-ller“, sagte sie, als ob damit schon etwas erklärt wäre. Und auch die nachgeschickte Erläuterung „Der säuft, ist aber sonst ein prima Mensch, keiner von den Hochgestochenen“ brachte mich nicht weiter. So ließ ich 62
es denn genug sein, auch weil ich der unwirschen Kürze der letzten Antwort entnahm, daß sich die junge Frau inzwischen wohl ausgehorcht vorkam, und ging wieder auf den Anlaß unseres Gespräches zurück. „Wittlich wäre doch sicherlich verhaftet worden, wenn man ihn der Tat verdächtigt hätte“, sagte ich. „Sie haben ihm verboten, die Stadt zu verlassen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist.“ Fräulein Schulz merkte nicht, wie ich leicht zusammenzuckte. „Und nun ist er weg, auf und davon. Auf seinem Motorrad, so einem Teufelsding mit zweihundertfünfzig Kubik, und wer weiß wohin.“ Vielleicht tröstete es sie, wenn ich ihr erzählte, daß ich ebenfalls auf und davon gegangen war und auch entgegen polizeilicher Weisung. Ich erwog eine Sekunde lang, ob ich es ihr sagen sollte, verwarf dann aber den Einfall. Schließlich tat es nichts zur Sache, unter welchen Umständen ich nach N. gekommen war, und vielleicht hätte ich mich dadurch nur in den Verdacht gebracht, mich anbiedern zu wollen. Statt dessen unternahm ich den Versuch, dem Gespräch eine Wendung ins Persönliche zu geben. „Sie haben Angst, daß er den Kopf verloren hat.“ Sie sah mich dankbar an. „Sie wissen ja nicht, wie sensibel Eugen ist. Aber unter diesen Nashörnern muß man schon mit Stahl gepanzert sein, um deren Ablehnung nicht zu spüren. Keiner von denen hat sich je die Mühe gemacht, auf Eugen einzugehen. Immer hieß es nur: der Querulant, der Narzisst …“ Es folgte eine Litanei von Klagen über mangelndes Verständnis und über fehlenden Zusammenhalt, weil jeder nur darauf aus sei, sein eigenes Süppchen zu kochen, und sich niemand wirklich Zeit für den anderen nehme. Ich hatte das Glas mit dem Sanddornsaft die ganze Zeit in der Hand gehalten, das Getränk war warm geworden und schmeckte noch süßer, und zugleich mit 63
dem Unbehagen am Trinken überkam mich die Müdigkeit. Die Strapazen der letzten Tage machten sich mit Gewalt bemerkbar. Ich fürchtete, ich könnte in dem unbequemen weißen Korbsessel einschlafen, und beschloß, meinen Abgang vorzubereiten. „Sicherlich hatte Wittlich keinen Grund, wegen Schanzer eifersüchtig zu sein“, warf ich ohne Rücksicht auf meinen Ruf als verständnisvoller älterer Mann in ihre Betrachtungen, die sich inzwischen mit der Ungerechtigkeit auseinandersetzten, daß Frauen am Theater schlechter bezahlt würden als Männer und genau das gleiche wie die leisten müßten. Fräulein Schulz sah mich verwirrt an, sammelte sich und entgegnete schlicht: „Dumme Frage.“ So überließ sie es mir, die Antwort auszudeuten. Dabei fand ich meine Feststellung gar nicht so dumm. Aber das sagte ich nicht, sondern nur, daß es doch schon reichlich spät sei und ich ihr wieder zur Verfügung stände, wenn ich ausgeschlafen hätte: Im übrigen solle sie sich nicht unnütze Gedanken über den Verbleib Wittlichs machen, der werde schon gesund und mit einer plausiblen Erklärung für seine Abwesenheit auftauchen. „Ich danke Ihnen sehr für Ihr Verständnis“, sagte sie, nun doch kühler als zu Anfang unserer Begegnung, bevor wir in den Korridor hinaustraten. Wieder ging ich auf Zehen an den alten Möbelstücken und dem Emmaus-Bild vorüber – diesmal mit viel realistischeren Gefühlen.
5. Ich schlief bis kurz vor zehn Uhr. Den Gedanken, den Frühzug nach Hause zu nehmen, hatte ich schon auf dem Weg zum Hotel aufgegeben. Wieder war ein Bilder64
buchtag mit einem Fenstergeviert voller Helligkeit angebrochen, der einem das Herz warm machen kann. Und seltsamerweise fand ich mich auch sofort bereit, das Angebot Frohsinn und Zufriedenheit zu akzeptieren. Verdruß, sagte ich mir beim Zähneputzen, kommt sowieso. Und der kam schneller, als ich erwartet hatte. Im Speiseraum, als ich mir aus Resten vom kalten Morgenbüfett ein Frühstück zusammenstellte, fühlte ich mich plötzlich geniert. Ich hatte das Gefühl, jemand hielte seinen Blick unentwegt auf meinen Rücken gerichtet. Wie unter, einem Zwang, wandte ich mich um – und schaute Ginsterbusch ins Gesicht. Der saß klein und ledern in einer Ecke am Tisch, vor sich ein Kännchen Kaffee, und rauchte seine Zigarre wie einer, der sich nach friedvoll verbrachter Hotelnacht Brötchen und Eier hat schmecken lassen und jetzt still verdaut. Ein unverschämtes Grinsen um seinen schmallippigen Mund gab mir deutlich genug zu verstehen: Ek bin al do! Und wie an einer Schnur gezogen, ging ich auf den Hauptmann zu, in der linken Hand ein Glas Milch, in der rechten einen Teller mit zwei Scheiben Bierschinken, Butter und einer Graubrotschnitte. „Ah, den Bösewicht zieht es an den Ort der Übeltat zurück“, sagte er, als ich mit vollen Händen wehrlos vor ihm stand, und er deutete einladend auf einen freien Stuhl. „Woher wußten Sie?“ Sein Blick war väterlich, und zwar von der Art, wie ein Vater seinen Sohn nach einer ungeheuerlichen Naivität ansieht. Er sagte: „Auch wenn ich wie Holmes allein auf mein Kombinationsvermögen angewiesen wäre, ich hätte nicht länger als zwei Minuten an die Frage verschwenden müssen, wo Sie sind. Nachdem ich Sie zu Hause nicht mehr antraf “, setzte er hinzu. Und dann noch: „Frau Schanzer läßt schön grüßen. Ich glaube, sie 65
freut sich, wenn Sie in Schwierigkeiten geraten. Jedenfalls klang ihre Stimme am Telefon so, als sie mir verriet, Sie hätten sich hierher aufgemacht.“ Ich stand noch so unter dem Eindruck der unverhofften Begegnung, daß ich vergaß, Glas und Teller auf dem Tisch abzusetzen, und mit vollen Händen Platz nahm. Erst Ginsterbuschs befremdeter Blick brachte mir die Lächerlichkeit zum Bewußtsein, und ich stellte das Geschirr ab. Ich hatte nie gedacht, daß Buddha-Ruhe auch von einem dürren Mann ausgehen kann: Der Hauptmann rührte kein Glied, nur die Augen schienen beweglich geblieben zu sein. Von der Zigarre zwischen seinen Lippen stiegen Rauchfäden empor, die sich kräuselnd zu einem feinen Schwaden verbreiterten. Ein Effekt wie von Räucherstäbchen, dachte ich, die man vor den Statuen des Göttlichen aufstellt. Indes hielt die Faszination nicht lange vor. Indem ich mir meiner wirklichen Lage bewußt wurde, vermenschlichte sich der Buddha Ginsterbusch. Ich registrierte sogar, daß er eine ziemlich miese Marke rauchte und hin und wieder zwinkerte, weil ihm der Qualm in die Augen stieg. Sogleich setzte auch wieder mein Diskriminationsvermögen ein. Ich konnte die Tricks, wußte, daß man einen Vorteil lange dadurch erhalten konnte, indem man schwieg und Starre simulierte. Mein Gott, ich hatte doch selber oft genug auf dem Platz des Fragenden gesessen. So kehrte Gelassenheit in mich zurück, ich machte Ginsterbuschs Spielchen mit, starrte vor mich hin und blieb stumm. Und ich gewann. Denn er sagte: „Essen Sie doch, Gammler.“ Jetzt war das Grinsen an mir. Ich schmierte die Butter aufs Brot, belegte es mit Wurst, biß in die Stulle, die wie Pappe auf Pappe schmeckte, und trank von der längst kalt gewordenen Milch, buchstäblich ohne mit der Wimper zu zucken. Und wartete. „Sehr fair war das nicht, einfach wegzufahren“, sagte 66
Ginsterbusch schließlich, und er sagte das in einem Ton, der mich sofort an die stehende Redewendung meiner Mutter erinnerte, wenn mein Bruder und ich wieder einmal ihren Anordnungen nicht gefolgt waren, an den zwischen Empörung und Weinerlichkeit vorgetragenen Satz: ‚Denkt ihr vielleicht, so was wär’ schön?‘ Überhaupt, überlegte ich, ist das einen Gedanken wert: das Mütterliche im Kriminalisten, die Wiedereinrichtung der Welt in die Verhältnisse, in denen sie sein sollte, der bewahrende, erhaltende mütterliche Impetus … Die hochgestochene Abschweifung platzte über dem nächsten, so ganz und gar nicht mütterlich klingenden Satz: „Sie wissen wohl, daß ich Sie in Haft nehmen könnte, wegen ausreichenden Tatverdachts und Verdunkelungsgefahr.“ Das war leidenschaftslos gesagt und klang um so bedrohlicher. Ich stellte für einen Augenblick das Kauen ein, fragte: „Bin ich verhaftet?“ Daß mein schönes Überlegenheitsgefühl zum Teufel war, merkte ich an der Formelhaftigkeit der Frage. „Ich habe keine Lust, Ihr komisches Spiel mitzuspielen. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und mir ist daran gelegen, daß mir niemand durch private Unternehmungen in die Quere kommt.“ Dabei musterte er mich mit kaltem Blick, als sähe er mich zum erstenmal und müsse sich einen Eindruck verschaffen, was von mir zu erwarten sei. „Vermutlich haben Sie in der Zwischenzeit schon Unruhe gestiftet.“ „Ich habe mich umgesehen.“ Sein Lachen war wie ein kleiner Knall, es machte sein Gesicht nicht um eine Nuance freundlicher. „Schließlich habe ich ein elementares Interesse daran“, verteidigte ich mich, „den Tod meines Freundes …“ „Ihr elementares Interesse sollte nur darauf gerichtet sein, die Ermittlungsarbeiten nicht zu erschweren.“ „Aber ich kann Ihnen helfen!“ 67
Jetzt, zum erstenmal, seit ich an dem Tisch saß, trat so etwas wie eine Gefühlsregung in seine Augen. Es war Mitleid, gepaart mit einer leisen Verachtung für soviel Simpelhaftigkeit. „Herr Doktor Gammler“ – Silbe war deutlich von Silbe abgesetzt –, „bleiben Sie auf dem Teppich – auf Ihrem Teppich, wenn ich bitten darf. Ist es Ihnen nicht genug, keinen Beweis zu haben, daß sie sich um fünf von Schanzer trennten? Ich an Ihrer Stelle würde mich hübsch brav in meinen Bau verkriechen und darauf warten, daß die Polizei die Sache aufklärt.“ „Oder auch nicht.“ Ginsterbusch wischte meinen Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. „Wir sind auf so etwas trainiert“, sagte er, und Groll klang an, „wir haben Erfahrung, und uns steht ein Apparat zur Verfügung. Außerdem sind wir es, die ein elementares Interesse an der Aufklärung von Verbrechen – auch dieses Verbrechens – haben.“ „Aber wo bleibt da die oft erbetene Mitarbeit der Bevölkerung?“ Allmählich stellte sich meine Renitenz wieder ein. „Zweckdienliche Angaben und so weiter …“ „Wenn Sie uns alles gesagt haben, was Sie in der Angelegenheit Schanzer wissen, und wenn Sie uns die Wahrheit gesagt haben, dann ist Ihrer Helfenspflicht Genüge getan.“ Wie sich das anhörte: Helfenspflicht! Genüge getan! So etwas Gestelztes war nicht das Richtige, meine Widerborstigkeit abzubauen. Ich biß in mein Butterbrot und gab mit vollem Mund zurück: „Wenn ich die Wahrheit gesagt habe. Das heißt doch: Es ist zweifelhaft, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Da muß es mir doch gestattet sein, selber den Wahrheitsbeweis anzutreten.“ „Indem Sie den Mörder finden?“ Er goß den Rest Kaffee aus dem Kännchen in seine Tasse. „Ich empfehle Ihnen noch einmal: Mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten. Ich würde es auch nicht wagen, in Ihre Arbeit hineinzupfuschen.“ 68
„Und wenn Sie der Mann wären, der mir zu Behandlung überwiesen worden ist?“ „Werden Sie nicht spitzfindig.“ Ich spürte, wie sich sein Vorrat an Geduld rapid verbrauchte, die Bewegung, mit der er den Löffel aus der Tasse nahm und auf die Untertasse legte, wirkte schon arg eckig. „Sie erwarten also, daß ich nach Hause fahre.“ „Ich schlage es Ihnen vor. Haben Sie mir nicht von Ihrer Datsche erzählt und wie gern Sie Ihren Urlaub dort verleben würden? Tun Sie etwas für Ihre Gesundheit.“ Ich hatte mir ein entschieden falsches Bild von dem Mann gemacht. Der war nicht ein bißchen verschlafen oder schrullig, obwohl er Ginsterbusch hieß und ziemlich alt aussah. Vorsicht war geboten. Vielleicht sollte ich von meinem hohen Ton allmählich heruntersteigen, wenn es mir im Moment auch noch ziemlich schwerfiel. „Es könnten mich zarte Bande hier festhalten“, gab ich zögernd zu bedenken. „Wohl Frau Feierabend?“ Woher weiß er denn von dieser Möglichkeit? überlegte ich, sagte aber: „Warum nicht.“ „Mann, erzählen Sie keinen Mist.“ Seine Geduld schien nun wirklich am Ende zu sein, und das erschreckte mich doch ein bißchen und verdrängte die aufkommende Erwägung, ob er nicht durch Dienstvorschrift gehalten sei, mit seinem Publikum höflich umzugehen, und ob ich ihn darauf hinweisen sollte. „Noch einmal: Ich habe eine Aufgabe zu lösen. Stören Sie mich nicht.“ Er stützte sich an der Tischkante hoch, als wöge er zwei Zentner, und das gab seiner Erscheinung Gewicht, auch wenn er doch wieder klein und schmächtig wirkte, als er stand. „Ich werde es mir überlegen“, sagte ich, in der Annahme, er wolle das Hotel verlassen und brauche noch eine Freundlichkeit auf den Weg. Aber er ging, nachdem 69
er mich stumm und unter hochgezogenen Brauen angesehen hatte, schnurstracks auf die Lokustür zu. Da hast du dich zu früh gefreut, dachte ich und machte mich daran, mein Frühstück zu beenden. Ich war noch beim letzten Milchschluck, als er wieder an den Tisch kam und sich mit verschlossenem Gesicht mir gegenübersetzte. Gern hätte ich das Gespräch wieder aufgenommen, doch seine Miene zeigte deutlich an, daß ihm an einer Fortsetzung nichts lag. So schwieg ich denn, entschlossen, nicht länger als die schicklichen zwei Minuten zu warten und dann aufzubrechen. „Ich werde mich auf die Socken machen“, sagte ich nach Ablauf der Frist und stand auf. Auch Ginsterbusch erhob sich, aber nicht, wie sich herausstellte, um mich zu verabschieden, sondern um einen Mann zu begrüßen, der in den Speisesaal getreten war und geradewegs auf unseren, den einzig besetzten Tisch zusteuerte. Der Mann war hochgewachsen, breitschultrig und sah von dem großen Kopf mit dichtem Haar, von dem man nicht sagen konnte, ob es fahlblond oder schon weiß war, bis zu den mächtigen Händen und Füßen ganz so aus, wie man sich einen Schweden vorstellt, und war also in allem das Gegenteil von Ginsterbusch. Die beiden schüttelten einander ausgiebig die Hände, wobei der Neuangekommene Ginsterbusch von oben herab die freie Hand auf die Schulter senkte. Ich hatte den Eindruck, im nächsten Augenblick würde er ihn an die Brust ziehen. Dabei wechselten sie die üblichen Begrüßungsformeln: „Mensch, Franz, alter Junge!“ und „Ist das Leben noch frisch, Heinrich?“ und „Das ist ja eine Ewigkeit her!“ und „Wie geht’s deiner Frau?“ Dann wandte sich der große Mann mir zu, und noch ehe ich ein Wort von mir geben konnte, hielt er schon meine Hand umklammert und stellte sich vor: „Hauptmann Fuhrmann?“ Ich sagte: „Angenehm, Gammler“, und setzte, um ei70
nem mir manchmal schon widerfahrenen Mißverständnis vorzubeugen, hinzu: „Friedrich, Friedrich Gammler.“ Fuhrmann sah fragend zu Ginsterbusch, und der erklärte in einer Mischung aus Verlegenheit und Schadenfreude: „Eigentlich haben wir uns zufällig getroffen.“ „Und ich dachte schon, du hättest einen Genossen mitgebracht.“ Er lachte, und das Lachen paßte zu seiner aufwendigen Persönlichkeit. „Entschuldigen Sie, ich habe Sie für einen vom Bau gehalten“, sagte er zu mir. „Eher das Gegenteil, möchte ich sprechen.“ Ginsterbusch war ganz Hohn, und man sah es ihm auch an. Jetzt schien Fuhrmann ein Licht aufzugehen. „Gammler, Gammler … Sagen Sie mal, sind Sie nicht der Mann, der mit Schanzer zusammen gewesen ist?“ „Der bin ich.“ „Aha!“ Fuhrmann blickte Ginsterbusch fragend an. Aber noch ehe der etwas sagen konnte, forderte er mich auf: „Na, dann setzen wir uns mal.“ Und er setzte sich und wartete auf Ginsterbuschs Erklärung. Und Ginsterbusch erläuterte, was es mit mir auf sich hatte, und seine Charakterisierung meiner Rolle fiel nicht freundlich aus. Da erfuhr ich denn also, daß der Umgang mit mir sich äußerst schwierig gestalte und man sich vor mir in acht nehmen müsse, weil ich ein undisziplinierter Mensch sei, von dem zu befürchten stünde, er könne den Gang der Untersuchung durcheinanderbringen, wenn man nicht ein waches Auge auf ihn habe. „So einer sind Sie“, sagte Fuhrmann mit gespieltem Entsetzen. Er sah mich aus seinen Schwedenaugen an, so eindringlich, wie es ihm gelingen wollte, doch spürte ich: Ihm fehlte die Verbissenheit Ginsterbuschs. Es zeigt sich eben immer wieder, dachte ich, daß die athletischen Männer umgänglicher sind als die kleinen, spillerigen mit ihrem ständigen Bedürfnis, das fehlende Volumen durch Forsche zu kompensieren. Dann fragte er unvermittelt: „Sie sind Arzt?“ 71
„Psychiater.“ „Und natürlich vor allem an den Sonderfällen des Lebens interessiert“, ergänzte er. „Ich könnte gut ohne den Sonderfall Schanzer leben.“ „Wir auch.“ Er runzelte die Stirn, nachdenkend. Dann forderte er mich auf: „Erzählen Sie doch mal, wen Sie seit gestern getroffen haben.“ Ich benutzte die Gelegenheit, um das Motiv klarzulegen, aus dem ich nach N. gekommen war, merkte aber, daß ich auch jetzt in Widersprüche geriet, je mehr ich auf meine Gründe einging. Die Erklärung, ich müsse versuchen, mich aus einem Verdacht zu befreien, stimmte nicht so recht zu der Interpretation, Carl sei mein Freund gewesen und ich also verpflichtet, mich nach seinem Mörder umzutun. Fuhrmann hörte mich schweigend an, ohne Zeichen von Ungeduld, und er blieb selbst gelassen, als ich die ganze Auseinanderposamentiererei mit einem „Ist ja auch egal!“ aufgab und zu einem Bericht meiner Erlebnisse seit meiner Ankunft in der Stadt überging. Er warf nur ein: „Der Tod Ihres Freundes hat Sie wohl sehr mitgenommen“ und ließ mich weiterreden. Ginsterbusch merkte ich an, daß er mit der Art, wie sein Kollege mit mir umging, nicht recht einverstanden war. Ich bemühte mich, keine Schlußfolgerungen aus dem Erlebten verlauten zu lassen. Nur als ich von der Turbulenz erzählte, die Wittlichs Fehlen am vorausgegangenen Abend ausgelöst hatte, konnte ich den Kommentar nicht unterdrücken: Ob es nicht bemerkenswert sei, daß einer, auf den sich so viel Verdacht richte, mir nichts, dir nichts das Weite suchen könne. „Wittlich kann nicht mehr das Weite suchen, er liegt im Krankenhaus mit Knochenbrüchen, Prellungen, inneren Verletzungen und was weiß ich noch. Es ist fraglich, ob er überlebt“, sagte Fuhrmann, und die Sachlichkeit, mit der er Blessuren aufzählte, machte mich dop72
pelt betroffen. Auch Ginsterbusch verlor von einer Sekunde auf die andere seinen grämlichen Gesichtsausdruck; er sah fast erschrocken drein und wartete, wie ich, auf eine Erläuterung der Nachricht. Fuhrmann ließ sich Zeit, nickte ein paarmal zu seinem Kollegen hinüber und bestellte beim herantretenden Kellner einen Kognak mit der Bemerkung: „So was ist jetzt das Richtige für mich, auch wenn ich im Dienst bin.“ Ein Schnaps wäre auch für mich das Richtige gewesen, schon weil mir die Kehle mit einemmal trocken geworden war. Ich versuchte, das Übel mit den letzten Tropfen aus dem Milchglas zu beheben, aber ohne Erfolg. „Seit wann?“ fragte Ginsterbusch unvermittelt. „Er ist vor zwei Stunden ins Kreiskrankenhaus eingeliefert worden.“ Mehr ließ Fuhrmann uns nicht wissen. Die Antwort befriedigte mich natürlich nicht. „Können Sie uns denn nicht ein bißchen mehr verraten?“ „Dem Genossen Hauptmann schon.“ Fuhrmann blieb gelassen und schnupperte am Kognak. Ginsterbusch bereitete die Antwort seines Kollegen offensichtlich Vergnügen. Daß Fuhrmann mich so kurz abgefertigt hatte, paßte ganz in sein Konzept, mich als einen lästigen, komischen und in seinen Ambitionen höchst verdächtigen Menschen abzutun. Er lächelte überlegen, fast triumphierend. Ich blieb hartnäckig. Schließlich war ich am gestrigen Abend zu lange und zu intensiv über Wittlichs Person aufgeklärt worden, um ihm jetzt nur ein beiläufiges Interesse entgegenbringen zu können. Der junge Mann ging mich etwas an, und ich empfand die Versteckspielerei der Polizisten fast schon wie eine Einmischung in persönliche Belange, zudem als Wichtigtuerei, als schamanenhaftes Gebaren, mit dem sich alle die Berufe ausrüsten, die am Existenziellen des Menschen herumdoktern, wobei ich vergaß, daß ich 73
mich Patienten gegenüber oft nicht anders verhielt. „Aber Sie werden mir doch Auskunft geben können“, sagte ich, „wie der Mann in diese Lage gekommen ist.“ „Für einen Arzt besitzen Sie erstaunlich wenig Verständnis für die Gebote der Schweigepflicht.“ Fuhrmann sprach das vor sich hin, sah mich dann erst an und fügte hinzu: „Würden Sie irgend jemandem, den Sie eine Viertelstunde zuvor erst kennengelernt haben und von dem Sie nicht einmal wissen, was er mit der Information anfangen will, Auskunft über einen Ihrer Patienten geben?“ „Aber Wittlich ist schwer verletzt“, warf ich törichterweise ein, „ein Wort an mich kann ihm doch nicht schaden.“ „Wir von der Morduntersuchungskommission wissen, was wir zu tun haben.“ Mit diesem sibyllinischen Ausspruch war ich abgefertigt. Er trank seinen Kognak aus, winkte den Kellner heran und bezahlte. „Auf Wiedersehen, Herr Doktor“, sagte er, schon zum Gehen gewandt. „Wir müssen an die Arbeit. Wenn auch ich Ihnen einen Rat geben darf: Sehen Sie sich unsere schöne Stadt an. Und sollte Ihnen dann noch immer etwas einfallen oder auffallen: Ich bin in der Inspektion zu erreichen.“ Er machte eine korrekte Verbeugung. Ich sah dem ungleichen Paar nach, als es dem Ausgang zustrebte und hinter der Pendeltür verschwand. Wie Laurel und Hardy, dachte ich verärgert. Da stand ich nun, kurz verabschiedet, jemand, der lästig war, und hatte Muße, mir einen Reim auf die letzten Worte zu machen: Sollte Ihnen dann noch immer etwas einfallen oder auffallen … War das eine Aufforderung zum Mittanzen? Ich entschied mich, es dafür zu nehmen und im übrigen so zu tun, als sähe ich mir die schöne Stadt an. Ich kann nicht behaupten, Spazierengehen sei meine Leidenschaft, und ich bin auch keiner von den Peripate74
tikern, denen beim Umhergehen die besten Gedanken kommen. Ich sitze oder liege lieber irgendwo herum, wo es nicht allzu laut und nicht zu heiß ist. Aber was bleibt einem doch reichlich verstörten Mann in fremder Umgebung und als Logiergast eines ganz und gar reizlosen Hotels anderes übrig, als das zu tun, was man in der Touristensprache sightseeing nennt? Also trat ich eine halbe Stunde später vors Haus, ziemlich lustlos in eine prachtvolle Sonne blinzelnd und unentschieden, ob ich nach rechts oder nach links gehen sollte. Nach rechts kam man zum Theater, die Route kannte ich schon. So schlug ich den Weg nach links ein, in der vagen Hoffnung, irgend etwas oder irgendwer würde mir begegnen, mich aus der Trübsal des Umherwandelns zu erlösen. Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht. Nach dreihundert Metern zwischen Bürgerhäusern aus dem vorigen Jahrhundert fand ich mich vor einem Stück Stadtmauer, das zur Besichtigung und ansonsten als Verkehrshindernis herumstand; zweihundert Meter weiter nördlich stieß ich auf ein großherzogliches Stadtpalais, das doch eher vom beschränkten Budget der hiesigen Potentaten als von der allgemein konstatierten Verschwendungssucht, Wucht und Üppigkeit des Barocks kündete; und die backsteinerne Petri-Kirche, von der es hieß, sie berge in ihrem Innern eine bemerkenswerte Kanzel aus dem 16. Jahrhundert, war, wie alle protestantischen Kirchen außerhalb des Gottesdienstes, verschlossen. Dann sah ich auch schon wieder das Theater vor mir und machte auf dem Absatz kehrt. Sicherlich hätte mir an einem anderen Tag und unter anderen Umständen ein Gang durch diese Stadt trotz allem ein bißchen Freude bereitet. Aber an diesem Montag schleppte ich mich zu sehr an der unbefriedigenden Situation. Daß Wittlich schwer verletzt war, ging mir nicht aus dem Sinn, ohne daß mich die dauernde Beschäftigung mit der Tatsache auch nur ein bißchen klü75
ger machte. Sie lief immer nur auf die Frage hinaus, was ihn wohl in den Zustand gebracht hatte. Hing es mit der Motorradfahrt zusammen, die Fräulein Schulz erwähnte? Wenn ja: Gab es eine direkte Verbindung zwischen dem Mord an Carl und Wittlichs Unglücksfall? Ich kam nicht weiter, verwünschte Fuhrmanns Verschwiegenheit und setzte mich verdrossen und lustlos an eines der Tischchen, die man des freundlichen Wetters wegen vor ein Café gestellt hatte. Bei einem Eisbecher sah ich den Tauben zu, die mir sauberer und besser genährt vorkamen als die in den Straßen der Großstädte. Plötzlich befiel mich unvermutet das Lachen, ausgelöst von dem Gedanken, ein wie mieser Rechercheur ich war und unter den gegebenen Bedingungen sein mußte und wie nutzlos ich meine Urlaubszeit vertat. Das Stückchen Land mit der Laube, der Liegestuhl, die drei Birken an der Grenze zum Nachbargrundstück tauchten vor mir wie eine Fata Morgana auf, während ich zu dem reizlosen Rathaus hinübersah. Scheiß auf Abenteuer, redete ich mir zu, laß deine Befürchtungen, laß all deine Verstörung sausen, setz dich in den nächsten Zug. Selbst die Vorstellung, wie Ginsterbusch grinsen mußte, wenn er vom Ende meiner Expedition hörte, brachte mich nicht aus dem so gewonnenen Seelenfrieden. Ich fütterte meine gute Laune mit Bildern: Ich döse auf der Terrasse im Schatten des Sonnenschirms, und wenn ich die Augen öffne, sehe ich die Flußbiegung, ich durchstreife den Wald nach Pilzen, ich liege mit Franziska auf der Couch – hinterher höre ich Regen aufs Pappdach klopfen. Auf dem Weg ins Hotel fiel mir ein, daß es doch wohl ungebührlich sei, wenn ich die Stadt verließe, ohne Fräulein Schulz adieu gesagt zu haben. Immerhin war sie der einzige Mensch hier, dem ich mich ein Stückchen, fast auf Tuchfühlung, genähert hatte. Heute weiß ich natürlich, daß dieser Gedanke inmitten plötzlich emporschießenden Wut auf den verpatzten Urlaub so 76
etwas wie ein Notanker war, ausgeworfen, mich zu halten und meinen Rückzug ins unverbindliche Private zu verhindern. An jenem Montag im September aber, auf halben Weg zum Hotel, war ich überzeugt, ich schulde der Dame einen letzten Besuch, auch um sie über den Zustand ihres Freundes trösten zu können. Ob ein Rest der angenehmen Ungewißheit, vielleicht doch noch einem kleinen Abenteuer zu begegnen, im Spiel war, kann ich nicht mit Sicherheit ausschließen. Ich betrat also einen Blumenladen, kaufte, was als einziges angeboten wurde: kurzstielige rote Rosen. Nach einigem Suchen fand ich das Haus wieder. Eine Frau, die ich auf älter als sechzig schätzte, in einem bunten Kittel über einem schwarzen Kleid, öffnete mir und sagte recht barsch, noch ehe ich den Mund aufmachen konnte: „Fräulein Schulz ist nicht da.“ Dabei warf sie einen argwöhnischen Blick auf den Strauß, und erst als sie mein Gesicht eingehender gemustert und mich offenbar ihres Vertrauens würdig befunden hatte, setzte sie milder hinzu: „Sie ist zur Probe, muß aber gegen halb eins wieder hier sein.“ Ich wollte ihr schon die Blumen mit einem schönen Gruß an ihre Untermieterin überreichen, als die Frau einen Schritt zurücktrat und die Tür ein Stück weiter öffnete. „Eigentlich muß ich …“ „Es kann sich höchstens um eine halbe Stunde handeln.“ Resolut, daß die Dielen bebten, ging sie mir voraus, an den abgestellten Möbeln und dem Emmaus-Bild vorüber, legte im Gehen ihren Kittel ab und führte mich in ein Zimmer, das im Geschmack der Möbelindustrie in den dreißiger Jahren eingerichtet und für meine Begriffe unbewohnbar war. Auch der obligate Wellensittich, der in einem Käfig am Fenster spektakelte, fehlte nicht. In der Luft hing eine Spur von Modergeruch. Eine Handbewegung dirigierte mich auf einen der 77
Stühle am Ausziehtisch direkt vor eine Hochgebirgslandschaft in Blaugrau und Weiß mit tiefblauen und gelben Tupfern und einem rötlichen, weitgespannten Himmel. „Das Bild hat mein Mann gemalt, nach der Natur“, sagte die Frau, die meine verlegene Miene offensichtlich als Bewunderung für die Kunstfertigkeit des Malers deutete. „Wir sind vor dem Krieg immer in die Alpen gefahren.“ Der Westminstergong der Stutzuhr auf dem Büfett, in den der Vogel sein Krächzen mischte, enthob mich einer Bemerkung, und als nach dem Glockenspiel und den zwölf Schlägen wieder Stille war, stellte ich mich vor. „Und ich bin Frau Knippel“, erwiderte die Frau. Dann unvermittelt: „Ein Gläschen wird Ihnen die Wartezeit verkürzen.“ Seit ich die Vierzig hinter mir gelassen habe, konstatiere ich, daß vor allem alte Damen zunehmend von mir angetan sind. Vielleicht haben meine Züge durch den Umgang mit verstörten und übersensiblen Menschen vor der Zeit die Milde und Ausgeglichenheit angenommen, die das nötige Zutrauen von Frauen über sechzig wecken. Frau Knippel jedenfalls schien unaufhaltsam entschlossen, mir das ihre entgegenzubringen.
6. So saß ich denn, die Blumen über den Knien und in der rechten Hand ein Glas mit Holunderbeerwein („Aus meinem Garten“, hatte sie gesagt, als sie den Gummistöpsel aus der Flasche zog), in Frau Knippels guter Stube und mußte einem Gespräch folgen, das weit schweifte: vom Wetter und „Sind Sie zum erstenmal in unserer Stadt?“ bis zu Erinnerungen an den Gemahl, der nach 78
gegebener Auskunft ein Wunder an Fleiß, Kunstverstand und Sparsamkeit gewesen war, ehe ihn die Sklerose erwischte. Mein wiederholter Blick zur Uhr wurde nicht zur Kenntnis genommen; ich sah es ihrer Miene an: Frau Knippel wollte mich den Kelch ihrer Gastfreundschaft bis zur Neige leeren lassen. Selbstverständlich blieb nach Unverbindlichem und Klöhn über die Vergangenheit (mit einem Blick auf die Rosen) die Frage nicht aus, ob ich denn ein Kollege von Fräulein Schulz sei. Ich erwiderte sehr direkt: „Ich bin Arzt für Geisteskrankheiten“ und sah mit Befriedigung, wie sich ihr augenblicklich eine mehlige Blässe um Mund und Nase legte. Diese abschreckende Wirkung meines Berufes habe ich häufig beobachtet und mache sie mir zunutze, wenn ich anders Zudringlichkeit nicht abwehren kann. Ihr Schweigen aber hielt nicht lange vor, Frau Knippel drang weiter in mich, wenn auch mit etwas belegter Stimme. „Sie sind doch wohl nicht“, wollte sie wissen, „sozusagen in beruflicher Eigenschaft zu Fräulein Schulz gekommen?“ Ich wedelte mit dem Strauß, sie nickte verstehend. „Wundern würde es mich ja nicht, wenn die Arme einen Knacks bekommen hätte, nach all den Aufregungen.“ Ich beschloß, den Naiven zu spielen, und zog fragend die Brauen hoch. Damit hatte ich das Signal für eine neue Runde in dem jetzt ganz einseitig werdenden Gespräch gegeben. Frau Knippel eröffnete ihren Monolog, indem sie ihrer Untermieterin einen baldigen und langen Urlaub wünschte. „Sie muß mal wieder zu Atem kommen“, sagte sie. Auf den Herrn Wittlich war sie nicht besonders gut zu sprechen, nannte ihn den Ruhestörer, ganz ohne Hemmung vor der dem Polizeijargon entlehnten Vokabel. Sie redete ihm nach, er lasse das Mädel einfach nicht in Ruhe, rücke ihr immer wieder auf die Bude mit seinen seltsamen Ideen („Fräulein 79
Schulz hat mir da einiges erzählt … Na, wissen Sie!“), so daß sie, Frau Knippel, sie („Natürlich nur auf Wunsch von Fräulein Schulz“) schon einige Male verleugnen mußte. Sie glaube sogar, dieser Wittlich habe des Fräulein auch mit persönlichen Anträgen belästigt, und ihre in Zorn und Abscheu gebettete Stimme ließ leicht erraten, wie fern sie inzwischen der vergnüglichsten Sache von der Welt stand. Während sie die Charakteristik Wittlichs wortreich weitertrieb, hatte ich Muße, mir das Verhältnis von Frau Knippel zu ihrer Untermieterin auszumalen, mir die Abende vorzustellen, wenn sie die junge Frau zu sich bat, um bei Holunderbeerwein einen Schwatz zu halten und Neues vom Theater zu erfahren. Noch unerträglicher war aber sicher die eisige Stimmung für den Fall, daß Fräulein Schulz wagte, einen Schritt vom Weg des Wohlverhaltens abzuweichen, vielleicht indem sie einen unbekannten Besuch empfing oder sich unter einem Vorwand einem solchen Abendgespräch entzog. Ich war selbst als Student derartigen Damen stets aus dem Weg gegangen und hatte lieber in einer schwervermietbaren und kaum möblierten Bude gehaust. Jedenfalls den Wittlich, den hatte sie gefressen wie zehn Pfund Schmierseife, der lag ihr quer vorm Magen, und nebenbei erfuhr ich auch, warum: Er hatte sie einmal alte neugierige Schachtel tituliert, als sie zufällig („… denn ich pflege nicht zu horchen, mein Herr“) vor Fräulein Schulzens Zimmer stand und er plötzlich die Tür öffnete. Ich verbiß mir das Grinsen angesichts dieser Kinoszene, nickte, trank wieder einen Schluck vom Selbstgemachten. Frau Knippel war nicht mehr zu bremsen, und mir schauerte bei so viel Indiskretion vor einem Fremden. Aber ich brachte auch nicht die Entschlossenheit auf, ihr mit einem groben Wort Einhalt zu gebieten. Als sie sich dann endlich richtig in Rage geredet hatte, legte sie eine Kunstpause ein, und ich merkte: 80
Gleich würde sie zu einem letzten, vernichtenden Schlag gegen diesen hausgemachten Popanz Wittlich ausholen. Und so geschah es denn auch. „Stellen Sie sich vor“, hub sie an, und die schlaffen Bäckchen um die Mundwinkel zitterten in der Erinnerung an einen anscheinend unverzeihlichen Tort, „läutet und klopft dieser Mensch doch vor drei Tagen Sturm, in aller Herrgottsfrüh, und dabei schlafe ich doch so schwer ein und brauche jede Stunde Schlaf! Klopft und läutet so lange, bis ich mir den Morgenmantel überwerfe und zur Tür gehe. Fräulein Schulz hatte nämlich nichts gehört, die war erst kurz zuvor nach Haus gekommen – ziemlich betrunken.“ Aus ihrer Stimme sprach Tadel, der sich allerdings gelind ausnahm vorm Hintergrund ihrer Empörung über die frühe Ruhestörung. Ich fragte nicht, wieso sie von der morgendlichen Heimkehr des Fräulein Schulz wußte, da sie doch jede Stunde Schlaf brauche. Plötzlich nahmen mich die Umstände gefangen, und ich merkte, wie mir Kälte unangenehm über die Kopfhaut kroch. Ich hielt für ein paar Sekunden den Atem an, wie in Sorge, ein ungewolltes Schnaufen könnte Frau Knippel irritieren. Aber sie ließ sich gottlob nicht abbringen von ihrem Bericht. „Wie der Tod sah der Mann aus, reinweg wie der Tod. Haare im Gesicht, ganz blaß, und Augen, die einen gar nicht richtig ansahen, so flitzten sie hin und her. Und ohne ein Wort stürzt er an mir vorbei und verschwindet im Zimmer von Fräulein Schulz. Und ich stehe da, und das Herz schlägt, als ob es zerspringen will. Und natürlich konnte ich nicht mehr einschlafen, bis um acht habe ich mich im Bett gewälzt.“ Vorsichtig stellte ich das Glas auf den Tisch, und nachdem ich zweimal angesetzt hatte, brachte ich die Frage heraus: „Wann war das?“ „Letzten Sonnabend früh, um halb sechs, das weiß ich 81
genau, denn man sieht ja automatisch auf die Uhr, wenn einem so eine Flegelei zustößt.“ Entschlossen, als habe sie nachträglich noch dem gemeinen Störenfried eine Lektion erteilt, strich sie sich das gebläute weiße Haar nach hinten und saß einen Moment kerzengerade und triumphierend. Dann aber ließ sie ganz unvermittelt die Schultern sacken. „Mein Gott“, sagte sie und hob eine Hand vor den Mund. Als ich sie besorgt und fragend ansah, senkte sie den Blick. „Ich bin eine dumme alte Frau …“ Das klang so kläglich, daß sie sich für mich augenblicklich aus einer skandalsüchtigen Klatschtante in eine hilflose Person verwandelte, mit der man Mitleid haben mußte. „Was ist denn?“ In meiner Ratlosigkeit erhob ich mich halb vom Stuhl. „Nichts, nichts!“ Sie fuchtelte mit den Händen, wie um mich am Aufstehn zu hindern. „Vergessen Sie das bitte, vergessen Sie alles. Bitte.“ Mißtrauen und Angst machten sich auf ihrem Gesicht breit. „Oder sind Sie – von der Polizei? Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie?“ Ich nannte ihr noch einmal meinen Namen, auch meinen Beruf. (Diesmal sagte ich: „Ich bin Psychiater.“) Aber sie ließ sich damit nicht beruhigen, fuhr fort, mich wie ein Monstrum anzustarren. „Und was wollen Sie bei Fräulein Schulz?“ verlangte sie wieder zu wissen. Wenn ich ihr jetzt offenbarte, was mich mit der Schauspielerin zusammenführte, hätte sich ihre Rappelköpfigkeit nur gesteigert. Also ließ ich mir in Sekundenschnelle etwas einfallen, nichts allzu Gescheites. Ich erklärte, ich sei Fräulein Schulzens Onkel, auf der Durchreise in den Urlaub, und wollte mich nach ihrem Ergehen erkundigen. Dabei perlten mir Schweißtropfen in den Nacken, von der Anstrengung, plötzlich eine solch blödsinnige Lüge auftischen zu müssen, und aus Furcht, Frau Knippel könnte diesen Schwindel durchschauen. 82
Die Furcht war unnötig. Wohl froh, daß sich ein Anhalt bot, nicht falsch gehandelt zu haben, und nur allzu bereit, mir Vertrauen zu schenken, ging ihr ein Seufzer der Erleichterung von den Lippen. „Der Onkel!“ sagte sie fast fröhlich. „Der Onkel!“ Dann erhob sie sich vom Stuhl und zog sinnlos die Filetdecke auf dem Tisch zurecht. Als sie sich mir wieder zuwandte, lag in ihren Augen etwas Verschwörerisches. „Sie müssen nämlich wissen“, sagte sie, „daß ich Fräulein Schulz – ich meine, Ihrer Nichte Margot – versprochen habe, niemandem etwas von der Sache am Sonnabend früh zu erzählen. Sie glaubt, das könnte dem Herrn Wittlich nur schaden. Da ist nämlich um dieselbe Zeit ein Mord geschehen, und Fräulein Margot meint, wenn einer böswillig ist, könnte er den Herrn Wittlich damit in Verbindung bringen, und deshalb sei es wichtig, niemand erfährt, daß er am Sonnabend bei uns war. Und wenn Ihre Nichte so etwas von mir verlangt, dann ist es bestimmt nichts Unrechtes, das glaube ich fest. Auch wenn ich nicht verstehe, wie man einen solchen Menschen in Schutz nehmen kann.“ Jetzt kam die andere, die liebenswürdige, aber auch ungemein gefährliche Seite ihres Naturells ins Spiel: die Vertrauensseligkeit und eine Bereitschaft zu Loyalität um jeden Preis, die man bei alten Leuten ebensooft findet wie Voreingenommenheit und Hechelsucht. „Oder glauben Sie das nicht?“ fragte sie ängstlich. Ich beruhigte sie, erklärte, sie könne unbesorgt sein, was die Lauterkeit meiner Nichte angehe, und war doch ganz und gar nicht bei der Sache. Die Wendung des Mordfalles ins Plausible erfolgte zu unvermittelt, als daß ich sie sogleich in ihrer vollen Bedeutung hätte begreifen können. Also doch Wittlich! dachte ich nur. Stürzt um halb sechs mit allen Anzeichen des Schreckens in diese Wohnung. Nicht gerade klug das, eigentlich sehr töricht. Die nervliche Belastbarkeit dieses Menschen schien extrem niedrig zu sein. 83
„Zum Glück hat mich die Polizei nicht gefragt.“ Frau Knippel sprach im Ton der Erleichterung, auch eine Spur von Vertraulichkeit klang an. „Ehrlich, ich weiß auch nicht, ob ich hätte lügen können. Obwohl: Für meine Mieter tu’ ich alles.“ Das glaubte ich ihr, lächelte beruhigend und zustimmend und bekam ein Lächeln zurück. Inzwischen war mehr als eine halbe Stunde vergangen, und ich fragte mich, ob es Sinn habe, noch weiter zu warten. Am besten wäre es, ich suchte den Hauptmann Fuhrmann auf und berichtete ihm, was ich hier erfahren hatte. Oder sollte ich mich jetzt endgültig von der Affäre zurückziehen? Das mit Wittlich würde die Polizei auch ohne mich herausbekommen. Vorsichtig bereitete ich meinen Abgang vor, indem ich auf die Stutzuhr sah und „Schon so spät!“ murmelte. In der Angst, ich könnte sie allein lassen mit ihrem schlechten Gewissen, griff Frau Knippel nach der Obstweinflasche und hielt sie mir aufmunternd entgegen. „Na, noch einen Kleinen“, sagte sie dabei. „Fräulein … Ihre Nichte muß jeden Moment kommen.“ Resigniert und mich insgeheim einen entschlußlosen Burschen scheltend, ließ ich mich gegen das Geflecht der Stuhllehne sinken, beobachtete, wie Frau Knippel mir erleichtert das Glas vollgoß. Vielleicht war es richtig, wenn ich noch einmal mit der Schulz sprach, schon um zu erfahren, warum sie sich mit so viel Engagement schützend vor Wittlich stellte. Aus unserer Unterhaltung in der vergangenen Nacht und auch aus dem, was Frau Knippel berichtete, ging eigentlich hervor, daß sie ihn zwar für einen schätzenswerten, äußerst empfindsamen und darum schutzbedürftigen Mann, aber auch für einen lästigen Spinner hielt, vor dem sie sich sogar verleugnen ließ. Woher also rührte ihre entschiedene Anteilnahme an seinem Geschick? Glaubte sie am Ende gar doch, Wittlich habe Schanzer umgebracht und sie sei 84
verpflichtet, ihn zu decken, weil sie der Anlaß zu einem Streit der beiden gewesen war? Oder kamen die Schuldgefühle aus einer anderen Quelle? Denn daß Schuldgefühle eine Rolle spielten, schien mir jetzt, da ich von dem Geschehen am Wochenende wußte, sicher. Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür enthob mich weiteren Nachdenkens, ich stand gleichzeitig mit Frau Knippel auf, besorgt, sie könnte vor mir das Wort an Fräulein Schulz richten, etwa so: Ihr Onkel wartet schon lange auf Sie. Meine Eile nützte mir nichts, die Wirtin hatte die Zimmertür aufgerissen und rief ihrer Untermieterin das entgegen, was ich befürchtet hatte: „Aber Kindchen, wo sind Sie denn so lange gewesen? Ihr Onkel wartet schon die ganze Zeit auf Sie.“ Es war nicht diese Mitteilung, die Margot Schulz stumm und steif in der Diele verharren und sie so leer und verständnislos blicken ließ. Das merkte ich nach Sekunden, sie sah weder Frau Knippel noch mich an, starrte auf die Wand, als sähe sie die Emmaus-Szene zum erstenmal. Als sie sich mit steifen Bewegungen ihrer Zimmertür zuwandte, machte sie den Eindruck von geistiger Abwesenheit. Ich trat einen Schritt auf sie zu, faßte sie am Arm und sagte halblaut: „Gehen wir in Ihr Zimmer.“ Dabei beobachtete ich Frau Knippel aus den Augenwinkeln, ob sie meine Anrede gehört hatte und neuerlich in Verwirrung geriet. Aber in ihrer Miene zeigte sich kein Mißtrauen. Ich geleitete, nachdem ich die Tür hinter uns geschlossen hatte, Fräulein Schulz zu ihrer Couch. Mechanisch setzte sie sich, mechanisch streifte sie die Pumps von den Füßen, zog die Beine hoch, stützte den Oberkörper auf den rechten Ellenbogen. Etwa eine Minute stand ich vor ihr, bewegungslos, den noch immer eingewickelten Rosenstrauß in der Hand, und wußte, sie war nicht ansprechbar, erkannte es an ihren Augen. Sie jetzt in ein Gespräch zu ziehen wäre sinnlos gewe85
sen, da half nur Geduld, bis sie selber das Schweigen brach. Ich hatte genügend Erfahrung mit Menschen im Schock, um das einzuschätzen. Ich entdeckte eine absichtsvoll nachlässig getöpferte Tonvase mit einigen Nelken, stellte die Rosen dazu, warf das zerknüllte Papier in einen Binsenkorb neben dem kleinen Schreibtisch und setzte mich in den weiß angestrichenen Korbsessel, vermied es jedoch, sie anzusehen. Leute in einem solchen Zustand soll man unbeobachtet lassen, jedenfalls muß man so tun, als erwarte man gar nicht, daß sie wieder kommunikativ werden. Zuerst hörte ich, wie sie ihre Stellung veränderte, danach einen leisen, intensiven Ton, halb Seufzer, halb Ausdruck einer allmählich sich einstellenden Befreiung von einem Druck. Aufblickend sah ich, wie ihr Tränen über das unbewegte Gesicht rannen, es folgte ein langer Lidschlag, der Mund krümmte sich nach unten. Noch immer richtete ich nicht das Wort an sie, noch immer wartete ich darauf, daß sie zu sprechen anfing. „Er ist schwer verletzt“, sagte sie schließlich, sagte es mit normaler Stimme, wenn auch sehr leise. Ich nickte nur, obwohl sie mich nicht ansah. „Sie haben es erreicht!“ Auch das klang sachlich, konstatierend. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und hinterließ eine Spur von Wimperntusche. Dann noch einmal: „Sie haben es erreicht.“ Mit einem Ruck, der ihr sichtlich Anstrengung bereitete, richtete sie den Oberkörper auf und ließ gleichzeitig die Beine von der Couch gleiten. Nun sagte ich etwas. „Von wem wissen Sie es?“ „Von der Polizei.“ Sie hob den Kopf, als werde sie erst jetzt gewahr, daß sich jemand mit ihr im Zimmer befand. „Dieser Hauptmann Fuhrmann war bei uns auf der Probe.“ Nach einer winzigen Pause fuhr sie fort, mit einer veränderten, rauhen Stimme: „Das Gesicht von dem 86
Finkenmeier hätten Sie sehen sollen, pfui Teufel! Die Theaterwelt ist wieder heil.“ „Finkenmeier ist sicherlich nicht an Wittlichs Unfall schuld.“ Ich sagte das so gelassen wie möglich, um sie von dem würgenden Haß abzulenken, den ich in ihr hochsteigen spürte, aber auch, damit sie sich endlich äußerte, wie denn Wittlich zu seinen Verletzungen gekommen war. „Nein, natürlich nicht.“ Sie sprang von der Couch auf, ging mit zwei großen Schritten zum Fenster und starrte durch den Store auf die gegenüberliegende Seite der schmalen Straße, wo, zum Greifen nahe, ein windschiefes Fachwerkhaus seine abblätternde Fassade und einige Blumenkästen vor Fenstern präsentierte. „Es sind alles ehrenwerte Männer – und Frauen. Auch Finkenmeier ist ein ehrenwerter Mann.“ Nicht nur der Anklang an den Shakespeare-Text machte ihre Rede theatralisch, auch die nach vorn gekrümmten Schultern, der gesenkte Kopf und die rechte Hand, die sie, als hätte sie die Mauer zu stützen, in Augenhöhe gegen den Fensterrahmen stemmte, ließen an Bühne denken. So steht die Heldin im vierten Akt da, wenn die verhängnisvolle Nachricht sie ereilt hat. Ihre Stimme klang entsprechend verbittert und elegisch, als sie fortfuhr: „Er ist eben ein Schwächling, eine schmalbrüstige, sentimentale Figur. Hat durchgedreht, die Nerven verloren, hat einem den Schädel eingedroschen, dessen Nase ihm nicht paßte, konnte damit nicht fertig werden, eben weil er so ein Nervenschwächling ist, und hat sich auf sein Motorrad gesetzt und ist gegen den ersten besten Chausseebaum gerast.“ Zeitlupenhaft langsam wandte sie sich zu mir um, und ich sah in ein Gesicht, das alle Weichheit verloren hatte. „Das denken Sie doch auch, geben Sie es zu. Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an.“ „Ich denke nichts, ich gebe nichts zu.“ Ich mußte jetzt überlegt reagieren, durfte nichts tun oder sagen, was ihre Hysterie aufheizen könnte. „Wenn es Sie interes87
siert: Ich habe bis vor einigen Sekunden nicht einmal gewußt, wie das mit Wittlich passiert ist.“ „Jetzt wissen Sie es. Sind Sie zufrieden?“ „Sollte ich zufrieden sein?“ Die Gegenfrage machte sie einigermaßen ratlos. Sie griff nach einer Cabinet-Schachtel, die auf dem Tisch lag, und war erst einmal damit beschäftigt, eine Zigarette anzuzünden. Mit der ersten Rauchwolke kam auch der erste Satz ohne Theatralik, ohne Hektik: „Er war wirklich nicht stark genug, um das auszuhalten. Ich habe es Ihnen gestern schon gesagt.“ Jetzt mußte ich anbringen, was ich wußte. „Er scheint überhaupt oft den Kopf verloren zu haben.“ „Wie meinen Sie das?“ Ich hörte keinen Argwohn aus der Frage, auch nicht aus der Feststellung: „Sie kannten ihn doch kaum.“ „Genau genug, um mir ausmalen zu können, wie er durchdreht, vielleicht aus schierer Eifersucht hinter seinem Nebenbuhler – oder wen er dafür hält – herschleicht und ihn umbringt.“ Ich kam mir ziemlich beschissen vor, als ich so über einen Mann redete, den ich, begegnete ich ihm auf der Straße, nicht einmal mit Sicherheit wiedererkannt hätte. Aber ich sagte mir: Die Sache will’s (schon angesteckt von Fräulein Schulzes Zitiermanie), du mußt wissen, ob sie hier nur eine Show abzieht. Also hielt ich den Ton durch. „Durch einen Schlag auf den Kopf. Und wie er dann zum zweitenmal durchdreht, davonläuft, unbedingt zu Ihnen will, dem einzigen Menschen, dem er Vertrauen entgegenbringt, fast die Wohnungstür einschlägt und an der erschrockenen Wirtin vorüber in Ihr Zimmer stürzt.“ Die Zigarette verqualmte unbeachtet in ihrer Hand. Margot Schulz blickte auf die Wand, hinter der Frau Knippels Wohnzimmer lag, und während ich sprach, öffnete sich ihr Mund. Das Lachen stieg ihr glucksend in die Kehle und quoll schließlich überlaut und begleitet 88
von unkontrollierten Handgesten aus ihr, ein nicht zu dämmender Strom. Unzeitige, hysterische Heiterkeit konnte mich schon immer mehr in Schrecken versetzen als wildes Toben oder hemmungsloses Weinen, und ich habe mich in all den Jahren meiner psychiatrischen Praxis nicht so recht daran gewöhnen können, in einem solchen Ausbruch eine anomale Gefühlsentladung zu sehen, die nicht schrecklicher oder widerwärtiger ist als andere überzogene Reaktionen. Ich muß einen ziemlich merkwürdigen Eindruck auf Fräulein Schulz gemacht haben, wie ich da mit weit aufgerissenen Augen saß, ein Bild unangemessener Hilflosigkeit. Denn als der Lachkrampf stoßweise verebbt war und sie mich zwar erschöpft, aber mit einigermaßen klarem Blick musterte, sagte sie: „Meine Vorstellung hat sie wohl sehr mitgenommen?“ Ich nickte stumm. „Ich brauche nicht zu fragen, woher Sie Ihre Weisheit nehmen. Sagte Frau Knippel nicht, mein Onkel erwarte mich? Sie scheinen im Umgang mit Frauen in einem gewissen Alter viel Geschick zu besitzen. Wenn ich daran denke, wie Sie sich auf der Fete der Feierabend so reizend gewidmet haben …“ „Das ist genug!“ Ich bin ein friedfertiger Mensch und höre mir manches an, was anderen in derselben Lage bereits die Galle ins Blut treibt. Aber was die Schulz mir bot, ließ meine ohnehin gespannten Nerven reißen. „Sie sind ja hysterisch!“ Das wirkte wie auf einen heillos Betrunkenen ein Schlag ins Gesicht: Sie wurde von einer Sekunde zur anderen nüchtern. „Entschuldigen Sie“, sagte sie und fuhr sich mit den Händen über die Oberarme, als fröre sie. Auch meine Empörung war nach der Kraftanstrengung verraucht. Ich versuchte eine begütigende Geste. „Wir sind wohl beide nicht in der besten nervlichen Verfassung.“ 89
Sie nickte. „Scheint so.“ Und sie zündete sich neuerlich eine Zigarette an. „Reden wir tacheles, oder versuchen wir’s wenigstens.“ Sie machte eine Pause, ließ Zigarettenrauch langsam durch die Nase entweichen, wodurch sie den Anschein einer gesammelten, nachdenklichen Frau erhielt. „Sie glauben also, Wittlich ist derjenige, der Ihrem Freund den Schädel eingeschlagen hat?“ „Was anderes bleibt mir übrig?“ „Zum Beispiel mich zu fragen, ob Wittlich ein Mensch ist, dem man solch eine Gewalttat zutrauen kann.“ „Also ich frage: Kann man das?“ „Nein.“ Sie tat einen tiefen Zug, der sie für einen Moment hohlwangig und elender aussehen ließ, als sie ohnehin war. „Ein Phantast, ein Rappelkopf – ja, niemals ein Totschläger. Ich habe ihm sofort geglaubt, als er frühmorgens hier ankam und mir mit wirren Worten erzählte, er sei Schanzer zum Bahnhof gefolgt. Auf dem Rückweg wollte er ihn zur Rede stellen und versuchen, ihn davon abzuhalten, zu mir zu gehen.“ „Sie waren also mit Schanzer verabredet?“ Ich stellte mir vor, wie gespannt Gisela auf die Antwort warten würde, wenn sie jetzt hier säße. „Verzeihen Sie die Frage.“ „Da brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen.“ Sie unternahm alle Anstrengung, gelassen zu erscheinen, konnte aber ihr vegetatives Nervensystem natürlich nicht dirigieren, so daß Röte ihr vom Hals aus ins Gesicht stieg. „Wir waren verabredet. Schanzer wollte Sie zur Bahn bringen und anschließend hierherkommen. Ich hatte ihm meinen zweiten Schlüssel gegeben. Aber ich bin dann eingeschlafen. Nicht einmal Wittlichs Klingeln habe ich gehört. Erst als er zu mir ins Zimmer gestürzt ist …“ „… und Ihnen mit wirren Worten erzählte … Sie wiederholen sich!“ Für einen Augenblick hatte ich ihren praktikablen Vorschlag, tacheles zu reden, vergessen. 90
Mich irritierte wohl die Freimut, mit der sie zugab, sie habe mit Schanzer die Nacht zubringen wollen. Vielleicht hatte mich auch Giselas Anliegen irritiert, und die Ungeduld und die kaum versteckte Verachtung, die in meinem Ton lag, waren eigentlich Giselas Ungeduld und ihre Verachtung. Doch Fräulein Schulz geriet erstaunlicherweise nicht aus der Fassung. „Ja, ganz recht“, sagte sie ruhig und betont, „mit wirren Worten. Denn der arme Kerl war wirklich außer sich. Er hat vorm Bahnhof gewartet, Schanzer aber dann doch – ich weiß nicht, wie – verpaßt. Jedenfalls ist er nach einer Viertelstunde oder so durch den Park weggegangen, wohl inzwischen genug ausgenüchtert, um den Unsinn seines Vorhabens einzusehen. Im Park hat er ihn dann als einen Toten gefunden, er lag gleich am Weg, halb verdeckt von einem Gebüsch. Als ob jemand versucht hätte, ihn da zu verstecken, und es nicht richtig schaffte – so hat er es mir erzählt.“ Die Gelassenheit, mit der sie das vortrug, imponierte mir trotz allem, so wie mich ihre manische Exaltation zuvor erschreckt hatte. Also war ich bemüht, meine Flegelhaftigkeit wettzumachen, und ich sagte mit soviel Mitgefühl, wie mir gelingen wollte: „Das muß ihn arg mitgenommen haben.“ „Mitgenommen?“ Sie lachte kurz. „Sie hätten ihn sehen sollen. Es hat eine halbe Stunde gedauert, bis ich mir einigermaßen ein Bild machen konnte. Während der ganzen Zeit schwor er mir immer wieder, er habe mit der Sache nichts zu tun, Schanzer sei schon tot gewesen, als er auf ihn stieß. So durcheinander habe ich ihn noch nie erlebt.“ „Und ist denn keiner von Ihnen beiden auf die Idee gekommen, sofort die Polizei zu benachrichtigen? Es wäre doch möglich gewesen, daß Schanzer noch lebte, daß er nur bewußtlos war.“ 91
„Er hat mir versichert, Schanzer sei tot“, erwiderte sie zögernd, schuldbewußt, „und mich buchstäblich angefleht, ihn aus der Sache herauszuhalten. Denn nur an ihm bliebe alles hängen, wenn die Polizei davon erführe. Er tat mir so leid.“ Das Beben in ihrer Stimme war nicht gespielt, das spürte ich. Und doch regte sich in mir der Verdacht, Margot Schulz könnte von nicht ganz uneigennützigen Motiven derart bewegt worden sein. Ich fragte, mehr nebenbei, um sie nicht zu verschrecken: „Und Sie haben keine Minute an Wittlichs Darstellung gezweifelt?“ „Keine Minute.“ Das klang nach Abwimmeln. Aber ich ließ nicht locker. „Ist es nicht möglich …“ Ich suchte nach einer Formulierung, die meinen Verdacht deutlich machen konnte und zugleich so abgefaßt war, daß sie nicht Mißtrauen und Ablehnung in ihr weckte, und so dauerte es einige Sekunden, während deren sie mich erwartungsvoll musterte, bis ich die richtigen Worte gefunden zu haben glaubte: „Ist es nicht möglich, daß Sie ein schlechtes Gewissen hatten …“ Ihren Ansatz zum Sprechen stoppte ich mit einer Handbewegung. „Lassen Sie mich ausreden: Wittlich, das konnten Sie annehmen, hatte Schanzer erschlagen, und Sie hatten den Anlaß dazu gegeben, Sie fühlten sich also schuldig, mitschuldig. Sie mußten ihm helfen. Und Sie halfen ihm.“ Ihre Antwort kam zu plötzlich, und sie kam zu heftig. „Sie spinnen!“ rief sie. „Nicht eine Sekunde …“ „Nicht eine Sekunde?“ Fräulein Schulz schlug die Augen nieder. „Nein, nicht eine Sekunde“, sagte sie jetzt leise, und während sie den Blick hob, fragte sie: „Warum interessiert Sie das eigentlich?“ Ja, warum interessierte mich das? War es für mich von Bedeutung, ob Wittlich Carl getötet hatte oder ein anderer, ob die Schulz ihn aus schlechtem Gewissen deckte oder weil sie von seiner Unschuld überzeugt war? 92
Hier gab es Stoff für die Polizei, die eine Untersuchung zu Ende bringen mußte, eine Untersuchung, die für mich eigentlich abgeschlossen war, da ein Verdacht gegen mich kaum mehr aufrechterhalten werden konnte, seit Wittlich ins Spiel gekommen war. Er hatte gesehen, wie Carl und ich in den Bahnhof gegangen waren – Margot Schulz konnte das bestätigen –, und er hatte die Leiche gefunden, als ich schon im fahrenden Zug saß. Da sollte so einer wie Ginsterbusch erst einmal beweisen, daß ich Carl aus dem Bahnhof wieder rausgelotst und ihn im Park umgebracht hatte! Bei diesen Überlegungen wurde ich fast heiter. „Sie haben recht“, sagte ich, „das geht mich nichts an. Aber Ihre Geschichte ist nicht mehr geheimzuhalten. Jetzt kenne ich sie auch.“ „Jetzt kennen Sie die Geschichte auch“, wiederholte sie tonlos. „Und da bleibt nur eins“, fuhr ich zögernd fort, unentschlossen, in welche Worte ich das Unaufschiebbare fassen sollte, „wir müssen …“ „… zur Polizei gehen.“ Fräulein Schulz sah zu Tod erschrocken und gleichzeitig bis zur Lächerlichkeit gefaßt aus. Sie stand auf, nahm ihre Tasche und ging quer durchs Zimmer zur Tür. Den Schritt verhaltend und halb zu mir zurückgewandt, fragte sie: „Würden Sie mich begleiten?“ Ich nickte ohne Zögern.
7. „Na, dann woll’n wir mal.“ Hauptmann Fuhrmanns Stimme klang müde, als er das Mikrofon vor Fräulein Schulz hinstellte und das Tonbandgerät in Gang setzte, nachdem er sich, ohne Zwischenfragen zu stellen, ihren 93
Bericht angehört hatte. „Sprechen Sie alles, was Sie soeben hier vorgebracht haben, auf Band. Wir werden danach ein Protokoll anfertigen.“ Nach dem Zusammentreffen mit ihm am Morgen, da ich ihn im Kontrast zu dem sauertöpfischen Ginsterbusch als aufgeräumten, souveränen Mann kennengelernt hatte, war ich überrascht, diesen Kriminalisten so zu erleben, als kotze ihn der Fall Schanzer und wahrscheinlich noch viel mehr an. Aus den Falten, die dem Schwedengesicht Charakter gegeben hatten, waren Runzeln geworden, die ihn älter aussehen ließen, als er wahrscheinlich war. Träge und wie absichtslos rührte er in seiner Tasse Kaffee herum und schien überhaupt nicht auf das zu hören, was Fräulein Schulz – erst stockend, dann sicherer werdend und schließlich sogar mit einem Anflug von Schauspielerroutine – ins Mikrofon sprach. Nur einmal hielt er den Apparat an, als sie bei der Wiedergabe von Wittlichs Worten eine dem Inhalt nach andere Formulierung gebrauchte als zuvor. „Das müssen wir genau haben“, sagte er da, „wir können keine Phantasie ins Spiel bringen, auch nicht, wenn es sich besser anhört.“ Und er ließ das Band zurücklaufen bis zum Anfang des Satzes, und Fräulein Schulz mußte die korrekte Version ins Mikrofon sprechen. Mich schien er überhaupt nicht zu sehen; er hatte mir von Anfang an kaum Beachtung geschenkt, und meine bei aller Bedrückung doch einigermaßen hochgestimmte Erwartung, man werde meinem Verdienst Tribut zollen, da ich schließlich dafür gesorgt hatte, daß sich der Fall jetzt in einem anderen Licht darbot, war sehr bald in sich zusammengesackt. Und jetzt saß ich abseits an dem kleinen Besuchertischchen in einem Sessel, der vor fünfzehn Jahren vielleicht der letzte Schrei der volkseigenen Möbelindustrie gewesen war, und durfte mir zum drittenmal denselben Tatbestand anhören. Es verging noch eine Viertelstunde, bis eine Sekretärin die Aussage getippt hatte, inzwischen saßen wir 94
schweigend in Fuhrmanns Büro (der Hauptmann hatte sich demonstrativ in eine Akte vertieft und überließ uns beide unserer Geniertheit). Ich starrte Löcher in die Luft, während Fräulein Schulz so tat, als lese sie in der auf dem Tischchen liegenden GST-Zeitschrift. Ich war froh, als von einer älteren Sekretärin das Protokoll hereingebracht und zur Unterschrift vorgelegt wurde. „Sie wissen ja“, sagte Fuhrmann, ehe Fräulein Schulz ihren Namen schrieb und noch, den Kugelschreiber in der Hand, über das Papier gebückt saß, „daß Sie sich strafbar gemacht haben.“ Sie sah unsicher und schuldbewußt hoch und entgegnete nichts. „Verschweigen eines für die Aufklärung eines Verbrechens wichtigen Tatbestands“, zitierte Fuhrmann ungerührt, „ist strafbar. Ich weiß nicht, ob der Staatsanwalt die Sache weiterverfolgen wird.“ Fräulein Schulz nickte ergeben. „Außerdem“, orakelte Fuhrmann weiter, „wird zu prüfen sein, inwieweit Sie sich der Begünstigung eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Und nun unterschreiben Sie.“ Die Art und Weise, wie der Hauptmann die Schauspielerin behandelte, kam mir reichlich unfreundlich vor. War es denn nötig, das arme Ding so zu verschrecken, jetzt noch, nachdem sie sich aufgerafft hatte, die Wahrheit zu sagen? Ich hatte Fuhrmann mehr Geschick im Umgang mit Menschen zugetraut, und ich sagte, um sie zu trösten: „Wird schon nicht so schlimm werden.“ Genau das hätte ich nicht sagen sollen, das sah ich an Fuhrmanns Gesicht, noch ehe er einen Ton von sich gab. Seine Stimme klang gefährlich ruhig und bestimmt, als er sich an mich wandte. „Herr Doktor Gammler, Sie mischen sich in Dinge, die Sie nichts angehen und von denen Sie nichts verstehen.“ 95
„Aber ich wollte doch nur …“ „Ich weiß, was Sie wollten, aber hier sind billige Tröstereien fehl am Platz. Ein Mord muß aufgeklärt werden.“ Er tat so, als verkünde er etwas ganz Neues, lehnte sich in seinem hölzernen Schreibtischsessel zurück und nahm, die Hände zu einem Dach zusammengelegt, Dozierpose ein. „Wir geben uns die gebotene Mühe, sichern Spuren, vernehmen Leute, versuchen auf alle nur mögliche Weise, uns ein Bild von dem zu machen, was in der Zeit zwischen Schanzers Abschied von Ihnen und dem Auffinden seiner Leiche geschehen ist, und wir erfahren jetzt, am dritten Tag, daß Wittlich den Toten kurz nach der Tat gesehen hat – angeblich nur gesehen hat. Und daß Fräulein Schulz von Anfang an davon wußte.“ Anscheinend war er des trockenen Tons jetzt satt, und er schrie, so plötzlich, daß die junge Frau zusammenzuckte und mit dem Stift, den sie noch immer in der Hand hielt, einen Strich quer über das Protokoll zog: „Verdammt noch mal, wir sind doch keine Idioten, mit denen man umspringen kann, wie’s gerade beliebt! Haben Sie, Margot Schulz, sich schon einmal überlegt, daß Ihr Freund nicht auf Leben und Tod im Krankenhaus liegen müßte, wenn Sie und er von Anfang an bei der Wahrheit geblieben wären? Dann hätten wir Wittlich – nun ja, gekümmert hätten wir uns um ihn … Jedenfalls wäre es ihm dann nicht möglich gewesen, wie ein angepikter Affe auf seinem Motorrad durch die Gegend zu rasen.“ Der Ausbruch hatte ihm sichtlich Erleichterung verschafft, das unterstrich er mit einem gewaltigen Nasenschnaufer. Fräulein Schulz schluckte zwei-, dreimal schwer, senkte den Kopf und begann lautlos zu weinen. Fuhrmann kümmerte sich nicht darum. Er wirkte jetzt fast wieder so, wie ich ihn am Morgen kennengelernt hatte, frisch und unternehmungslustig. „So, und jetzt können Sie gehen“, sagte er, und er setzte hinzu: „Und wir können von vorn anfangen.“ Mit 96
einer wegwerfenden Handbewegung unterdrückte er eine weitere Bemerkung. „Ich weiß aber doch, daß Eugen unschuldig ist“, hauchte Fräulein Schulz, „ganz bestimmt.“ „Das wissen Sie.“ Fuhrmann stand auf. Die Unterhaltung war für ihn beendet. „Wir haben eine Menge zu tun, um das zu überprüfen, eine ganze Menge!“ Auf dem Korridor des alten Hauses, in dem die Polizeiinspektion untergebracht war, holte ich erst einmal tief Luft, während Fräulein Schulz sich damit beschäftigte, in der Nähe des Fensters mit Hilfe eines Spiegelchens und eines Taschentuchs ihr Gesicht zu restaurieren. „So kann ich doch nicht unter die Leute gehen“, sagte sie mit noch belegter Stimme, und ich hatte Muße für Betrachtungen über den Zusammenhang von trostloser Niedergeschlagenheit und dem Wunsch, der Welt eine ausgewogene Miene vorzuführen. Es war kurz nach drei und mein Bedarf an Enthüllungen und Polizei gedeckt. Wenn ich mir vorstellte, daß ich im Zug sitzen und in einer guten Stunde zu Hause sein könnte, wäre der Rest meiner Gelassenheit auch noch zum Teufel gewesen, und so unterdrückte ich den wehmütigen Gedanken an eine vertane Möglichkeit und fragte statt dessen: „Was steht nun auf dem Programm?“ „Ich muß auf Abstecher, um sechs fährt der Bus“, antwortete Fräulein Schulz in den Spiegel hinein, wobei sie ihre Wimpern nach oben strich. Dann erst sah sie mich an, mit nun wieder einigermaßen klaren Augen. Es gelang ihr sogar ein Lächeln. „Ich bin Ihnen ja so dankbar, daß Sie mich nicht allein gelassen haben.“ Das hieß: ich wäre Ihnen so dankbar, wenn Sie mich bis zur Abfahrt nicht allein ließen. Also schlug ich vor, irgendwo das Erlebnis mit einer Tasse Kaffee hinunterzuspülen. Sie wußte auch sofort ein Café zu nennen, wo es sich besonders nett sitze – „und wo man nicht auf Kollegen trifft“, ergänzte sie. Es scheint eine Marotte von 97
Kleinstädtern zu sein, auf die Unübertrefflichkeit einer speziellen Lokalität verweisen zu können. Der Pavillon im Neubaugebiet am Rand des Städtchens, im WienerKaffeehaus-Stil mit Marmortischchen und Plüschsesselchen bestückt und mit einem beruhigenden Blick auf einen blühenden Rosengarten, erwies sich denn auch als angenehmer Aufenthalt. Ein zusammenhängendes Gespräch kam trotzdem nicht zustande, wir quälten uns über die Zeit, stets darum bemüht, das Thema Wittlich und seine Verstrickung in den Mordfall Schanzer nicht zu berühren, und als ich doch einmal ausglitt und die Vermutung äußerte, daß Fuhrmann wahrscheinlich schon wisse, was er von ihrem Glauben an die Unschuld ihres Kollegen zu halten habe, sagte sie nur: „Vielleicht hat der Hauptmann recht, und Eugen läge jetzt nicht im Krankenhaus, wenn ich mich von ihm nicht hätte überreden lassen.“ Je näher der Zeitpunkt ihres Aufbruchs rückte, desto einsilbiger wurde sie, und die letzten fünf Minuten überließ sie es ganz mir, die Unterhaltung zu bestreiten. Ich gab ziemlich Zusammenhangloses über mein Wochenendhäuschen und meine Bierdeckelsammelleidenschaft zum besten und merkte: Sie hörte mir nicht zu. Sicherlich waren ihre Gedanken bei den Kollegen, wie die reagieren würden, wenn sich herausstellte, daß ihr Freund Eugen Wittlich doch der Mörder Schanzers war. „Ich muß jetzt gehen“, sagte sie schließlich nach einem schnellen Blick auf ihre Uhr und stand auf. „Der Bus fährt hier ganz in der Nähe ab.“ Aber sie verabschiedete sich nicht, stand wie angewurzelt. Sie hatte offenbar etwas auf dem Herzen, was sie sich entweder nicht auszusprechen traute oder wofür sie nicht die rechten Worte fand. „Also dann – auf Wiedersehen.“ Ich erhob mich und streckte ihr die Hand entgegen. 98
„Auf Wiedersehen.“ Sie nahm aber meine Hand nicht und bewegte sich auch nicht von der Stelle. Sie sah aus wie ein allein gelassenes Kind. So etwas rührt an das Gemüt eines Mannes, der sich ungeheuer väterlich vorkommt, wenn junge Frauen es verstehen, Hilfsbedürftigkeit auszustellen. „Ist noch was?“ „Sie fahren weg?“ „Morgen früh. Was soll ich noch hier?“ Mir wurde der Kragen zu eng bei soviel gespielter Entschlossenheit. „Ja, wirklich, was sollen Sie noch hier …“ Hastig nahm sie ihre Handtasche vom Tisch. „Alsdann: Leben Sie wohl. Sie werden ja erfahren, wohin hier alles gelaufen ist. Und wenn ich wegen falscher Zeugenaussage und Verschweigen eines für die Aufklärung eines Verbrechens wichtigen Tatbestands im Knast sitze, denken Sie mal an mich.“ Der Scherz geriet ihr total daneben, sie war wieder einmal den Tränen nahe. Da nahm es mich endgültig gefangen, dieses verdammte Schuldgefühl, das mich stets überfällt, wenn es mir nicht gelingt, Neigung und Notwendigkeit in Balance zu bringen. Plötzlich fehlte mir jedes Argument, das für meine Abreise sprach. Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie zurück auf ihren Sessel. „Es ist Ihnen wohl lieber, ich fahre nicht?“ „Ach …“ In dem kleinen Ausruf schwangen Resignation und Hoffnung. Sie sah mich nicht an, hielt den Blick auf ihre Tasche im Schoß gerichtet. Ich bemerkte den ausgeworfenen Köder und biß dennoch an. „Sie verlangen viel“, sagte ich, wurde mir aber im selben Moment der blöden Floskel bewußt. Was verlangte sie schließlich schon? Daß ich ein paar Tage opferte, die ich sonst in der Sonne faulenzend totgeschlagen hätte. Opferte? Wir hatten doch beide einen Freund zu vertreten, und Margot Schulz war übler dran als ich. 99
„Mal sehen“, setzte ich so beiläufig wie möglich hinzu, „rufen Sie morgen früh mal im Hotel an.“ Ich sah ihr nach, wie sie sich mit schnellen kleinen Schritten zwischen den Rosenbeeten entfernte, und dachte: Armes, dummes Kind! Und gleich darauf: Du dummer Hund, jetzt sitzt du endgültig in diesem Nest fest, und vor dir liegt wieder ein Abend, mit dem du nichts Vernünftiges anfangen kannst. Eine Stunde später schlief ich im Hotelbett, meine antrainierte Fähigkeit ausnutzend, Erschöpfungen untertags mit einem kurzen, tiefen, autosuggestiven Schlaf zu begegnen. Als zwanzig Minuten später der Reisewecker klingelte, fühlte ich mich frisch und schickte freundlichere Gedanken in den bevorstehenden Abend: ein opulentes Essen mit einer Flasche Wein, ein paar Stunden in der Bar, vielleicht ein Tanz mit einer Zufallsbekanntschaft – nein, das denn doch nicht. Aber der Aufenthalt in einer fremden Stadt mußte nicht von vornherein eine öde Angelegenheit sein. Es sollte alles anders kommen, als ich es mir ausgemalt hatte. Es begann damit, daß ich zum Abendessen das falsche Restaurant wählte, eine Nobelbude, die mir vom Hotelportier empfohlen worden war und die ich in N. nie vermutet hätte. Riviéra (mit Akzent) nannte sich das Etablissement, wo der Wein das Dreifache vom Ladenpreis kostete und in Körbchen serviert wurde. An den Tischen rings saßen fast ausnahmslos nach Intelligenz und nach Handwerkeradel aussehende Männer mit den entsprechenden Frauen, ein Trio veranstaltete gedämpfte Musik, die Speisekarte war so lang wie mein Unterarm und mehrsprachig ausgeführt. Ich bestellte, nein: orderte als Vorspeise eine Oxtail Soup (clear), als Hauptgang Coq au vin und dann noch Palatschinken, dazu eine Flasche Pinot Noir, alles in allem ein abenteuerliches Soupé. Aber mir war danach, mein seelisches Gleichgewicht mit einer kulinarischen Eskapade wiederherzustellen. 100
Beim ziemlich zähen Hähnchen sah ich sie auf mich zukommen, in einem langen Brokatkleid und mit kunstvoll gelegter Frisur: die hochbusige Frau Feierabend; in ihrem Kielwasser, den Charakterkopf durch einen Querbinder wirkungsvoll unterstrichen und seinen Ebenholzstock mit dem Silberknauf wie ein Dandy in der Hand haltend, Brunnenmüller. Um Gottes willen, war mein erster Gedanke, in einer Kleinstadt läuft man doch immer wieder denselben Typen über den Weg. Ich lächelte trotzdem. Frau Feierabend strahlte, was das Zeug hielt, und zeigte viel Zähne. Da ich allein am Tisch saß, nahmen die beiden, selbstverständlich nach einer flüchtigen Bitte um Erlaubnis, bei mir Platz. Das heißt, Frau Feierabend nahm Platz, und Brunnenmüller, dem ich ansah, daß ihn das Zusammentreffen nur mäßig freute, schloß sich gezwungenermaßen an. „Ich denke, das Ensemble ist auf Tournee“, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen. „Tournee?“ fragte Frau Feierabend. „Ah, Sie meinen Abstecher! Wie kommen Sie denn darauf? Die sind doch heute mit einem Musical unterwegs.“ Sie sah mich mütterlich erstaunt an, bis sich ihre Augen weit öffneten. „Jetzt verstehe ich!“ Sie drohte mir scherzhaft mit dem Finger. „Die kleine Margot macht doch da mit.“ Und zu Brunnenmüller gewandt: „Die Leute aus der Hauptstadt schnappen unseren jungen Männern immer die besten Häppchen weg.“ Das klang nun gar nicht mehr so fröhlich, eher kühl. „Na, wer sich schnappen läßt … Was meinst du dazu, Arthur?“ Jetzt wußte ich also, daß Brunnenmüller Arthur hieß. Arthur hatte aber keine bestimmte Meinung zu dem Thema. Er blieb überhaupt ziemlich lange wortkarg und überließ Frau Feierabend und mir die Konversation. Der Name Margot Schulz fiel vorerst nicht mehr. Statt dessen wurde viel von der angeblich ausgezeichneten Küche des Lokals gesprochen, und allmählich taute Brunnen101
müller auf und erwies sich als Gourmet. Er wußte, auf welcher Flamme was zu kochen war, um den rechten Geschmack und die richtige Konsistenz des Gekochten zu erreichen, und welche Gewürze in welchen Quanten diesem oder jenem Gericht zuträglich seien. Mich fesselte die Unterhaltung nicht sonderlich, ich ließ sie einfach über mich ergehen und hatte mehr Vergnügen daran, wie Brunnenmüller mit komisch wirkender Konzentration an das Thema heranging und auch die banalsten Sätze mit dem Bierernst eines Staatsschauspielers vortrug. Frau Feierabend kam kaum mehr zu Wort, bis sie dann energisch das Ruder ergriff, ohne Rücksicht auf ihren Begleiter das Feinschmeckerische vom Tisch fegte und statt dessen die neueste Story von ihrer Schwester auftischte, die man am Nachmittag in der Kaufhalle erwischt hatte, wie sie sich mit einem Einkaufsbeutel voll Lockenwickler („Stellen Sie sich vor, ausgerechnet Lockenwickler, wo sie doch ganz kurzes Haar trägt“) an der Kasse vorbeimogeln wollte. Brunnenmüllers Gesicht legte sich bei dieser Gesprächswendung in noch tiefere Falten, und er konzentrierte sich völlig auf seinen „Klosterkeller“, den er in ganz kleinen Schlucken und mit Schmatzen trank. Schließlich war es doch soweit: Man kam auf Wittlich zu sprechen, wobei sich Brunnenmüller merklich zurückhielt. Aber Frau Feierabend machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube und erging sich wortreich in der Vermutung, wie katastrophal sich ein schlechtes Gewissen gepaart mit einem fadenscheinigen Nervenkostüm auswirken könne. Für sie stand fest: Wittlich und kein anderer war der Mörder Carls, und sie benannte in diesem Zusammenhang auch ungeniert Fräulein Schulz als die Quelle des Übels. „Wer sich so den Männern an den Hals wirft“, sagte sie mit einem beziehungsreichen Blick auf mich, „der darf sich nicht wundern, wenn er Unheil in Gang setzt.“ Dazu ließ Brunnenmüller ein seltsam 102
dünnes, meckerndes Lachen hören, das so gar nicht zu seinem sonoren Sprachorgan paßte und wofür er von seiner Kollegin mit einem verständnislosen „Was soll denn das!“ zurechtgewiesen wurde. „Ich habe nur daran gedacht, welches Unheil die Liebe anrichten kann, meine verehrte Agnes“, erwiderte er und lachte schon wieder. „Also: Ich finde das nicht komisch“, stellte Frau Feierabend fest und wollte dann von mir wissen, ob ich etwa auch einen Grund zur Belustigung sähe. Ich verneinte natürlich, knüpfte einige Betrachtungen über Morde aus Eifersucht an, die wohl noch immer den größten Prozentsatz aller Tötungsdelikte stellten, und ließ im übrigen nichts darüber laut werden, was Margot Schulz seit der Mordstunde bereits wußte. Mir war nichts daran gelegen, Frau Feierabends angriffslustige Abneigung gegen ihre Kollegin zu schüren. „Mich wundert nur, daß ein so schmächtiges Kerlchen wie der Wittlich so etwas fertigbringt. Ihr Freund war doch ein robuster Mensch, fast doppelt so schwer.“ Frau Feierabends Interesse schwenkte jetzt auf die technischen Details des Verbrechens, nachdem Wittlich als Mörder für sie feststand. „Und wenn es nun gar nicht Wittlich war“, wandte ich ein, nur um nicht auch noch in ein Gespräch über Mordpraktiken gezogen zu werden. Ich war nämlich an dem Punkt, wo mich die ganze Erörterung so anstank, daß ich am liebsten aus dem Restaurant gegangen wäre. „Nicht Wittlich?“ Frau Feierabend sah aus, als hätte man ihr erklärt, die Sonne werde ab morgen nachts scheinen. „Ja, wer denn sonst?“ Wenn einer der beiden wenigstens ein Wort des Bedauerns für den schwerverletzten Kollegen gefunden hätte! Margot Schulz hatte wohl so unrecht nicht, als sie Frau Feierabend und Brunnenmüller als reichlich oberflächlich und ichbezogen schilderte. 103
„Das eben, liebe Agnes, muß die Polizei herausfinden“, erklärte Brunnenmüller. Man merkte ihm an, daß ihm die Plapperei der Kollegin auf die Nerven ging. Er wurde fahrig, griff nach seinem Stock und umkrampfte die Silberkrücke, daß die Handknöchel weiß wurden. „Gibt es denn heute abend kein anderes Thema?“ fragte er. „Aber Kollege Finkenmeier meint doch auch, daß es Wittlich gewesen sein müsse.“ Das brachte sie vor mit dem Eifer einer Kirchgängerin kombiniert mit der Empörung einer Lehrerin, der ein Schüler die Autorität streitig zu machen versucht. Ja, der liebe Kollege Finkenmeier! Ich war nahe daran, ihr zu erzählen, was der so alles gesagt hatte, zum Beispiel auch über ihren Zusammenstoß mit Carl. Aber da ich wenig Lust verspürte, das unerfreuliche Gespräch in die Länge zu ziehen, schwieg ich, in der Hoffnung, ihr Feuer werde mangels Nachschub bald ausgehen. Ich trauerte meiner Vorstellung von diesem Abend nach. Brunnenmüller erkannte, daß seine eifrig ihren Faden weiterspinnende Kollegin nicht gerade mein Wohlgefallen fand, und froh, daß er mir und offensichtlich auch sich selber einen guten Dienst damit tun konnte, wenn er das Gespräch beendete, warf er ziemlich brüsk ein: „Ich glaube, Herr Gammler ist nicht sonderlich interessiert an unseren Interna.“ „Wieso?“ Frau Feierabend staunte. „Schließlich geht es doch um seinen Freund. Nicht wahr, Doktor? Und der Kollege Finkenmeier hat doch gesagt, er ist hierhergekommen, um den Mörder aufzuspüren.“ „Du würdest uns einen Gefallen tun“, sagte Brunnenmüller mit kaum unterdrücktem Zorn in der Stimme, „wenn du das Thema wechseltest. Habe ich recht, Herr Gammler?“ Frau Feierabend stand abrupt auf, bat um Entschuldigung und entfernte sich in Richtung Toilette. 104
Brunnenmüller zwinkerte mir erleichtert zu, ich lachte höflich. „Sie müssen ihr das nicht übelnehmen. Die gute Agnes ist ziemlich durcheinander.“ Er zündete sich umständlich eine Zigarre an und blies den Rauch in kleinen, kurzen Stößen von sich, bis die Spitze gehörig in Glut war. „Und sie ist eben nur eine Schauspielerin, wenn Sie wissen, was ich meine.“ Ich wußte nur soviel, daß es mich wunderte, einen Mimen so abwertend über seinen Beruf reden zu hören, und vor Erstaunen sagte ich: „Oh!“ „Glauben Sie nur nicht, daß ich die Schauspielerei mißachte“, erklärte er mit einem breiten Lächeln. „Im Gegenteil – schließlich bin ich ja selber einer aus der Gilde. Aber die Schauspieler und das Leben – wissen Sie …“ Er vollführte mit der Hand, die die Zigarre hielt, einige Kreise. „Wie die Kinder, reinweg wie die Kinder. Das macht der dauernde enge Kontakt mit der Kunst, das Aufgehen in der Kunst. Da erscheint einem manchmal das Leben nicht mehr als das Wirkliche, sondern das Theater, zumal den Frauen. Die sind da besonders gefährdet.“ Ich nickte, um nicht unhöflich zu erscheinen. „Wenn Sie mich fragen: Die haben allesamt nicht das richtige Verhältnis zur Kunst.“ Seine Augen nahmen den verräterischen Glanz des Eiferns an. „Deshalb auch nicht das richtige Verhältnis zum Leben! Kunst, das ist die Höhe des Lebens, das Heilige, das unserem Dasein Weihe gibt, und das Heilige wird vom alltäglichen Gebrauch nur allzu leicht stumpf.“ Nicht das auch noch! dachte ich erschrocken, als diese Kernsätze so unvermutet auf mich niederprasselten. Ich wurde an einen hoffnungslos schizophrenen Patienten erinnert, der mich ein Vierteljahr, da er sich für die Reinkarnation Leonardos hielt, mit ähnlichen Maximen gequält hatte, bis ich auf den Einfall gekommen war, auf 105
seine Vorstellungen einzugehen und ihn mit Signore da Vinci und Maestro anzureden. Seitdem hatte ich Ruhe vor ihm, weil er mich für überzeugt hielt. Sollte ich diese Methode hier auch praktizieren oder einfach versuchen, so schnell wie möglich das Freie zu gewinnen? „Kunst ist zweifellos das Besondere in unserem Leben“, stellte ich vorsichtig fest und konnte beobachten, wie verblüfft Brunnenmüller war, da er anscheinend Widerspruch erwartet hatte. Also drückte ich noch ein bißchen kräftiger auf die Tube: „Die Kunst ist für das Leben, was das Gewürz für die Speisen ist.“ Brunnenmüller verdrehte bei dem Nonsens leicht die Augen, wohl weil er so viel vom Würzen verstand. Wenn ich aber glaubte, ich hätte ihn mit der Zustimmung vom Thema abgebracht, so sah ich mich getäuscht. Der harmlose Satz erwies sich als das sprichwörtliche Öl aufs Feuer. Kunst, das wurde mir in der nächsten Viertelstunde klar, während der Frau Feierabend sich still wieder an den Tisch setzte, Kunst war so etwas wie ein Notanker, über dem das Lebensschifflein drehen könne, wenn rings die rauhe See tobte, wobei rauhe See für ihn offensichtlich das Synonym für Dasein mit Arbeit, Politik, Kindererziehung, Liebeslust und -leid, Skatspielen und so weiter war. Als er, angestrengt zwar, aber mit rosig überhauchter Gesichtshaut, zu einem Ende gefunden hatte, wie mir schien, mochte ich das Wort Kunst nicht mehr hören, sosehr hatte er es strapaziert und turmhoch über alles Leben gesetzt. „Ja, Herr Brunnenmüller“, sagte ich, „wenn alle so dächten wie Sie …“ Ich ließ den Satzstummel in der Schwebe und hoffte, damit den Gegenstand für den Abend aus dem Gespräch gebracht zu haben. Aber es stellte sich heraus: Der alte Herr kam jetzt erst zum Eigentlichen. „Wir“, deklamierte er, wobei er den Rest seiner Zigarre in den Aschbecher stieß, daß die Funken stoben, „sind 106
ausersehen, Kunst und damit Glück an die Menschen zu bringen, nicht ein so banales Glück, wie es heute an allen Ecken feilgeboten wird, nicht dieses Sichwohlfühlen und Genugvonallemhaben, nein, der Seelenfrieden ist gemeint, das Glück, von dem Schiller den Zeus zum Dichter sagen läßt: Doch willst du mit mir in dem Himmel leben, sooft du kommst, sollst du mir stets willkommen sein.“ Ich überlegte, welchen Anteil der Wein an der Suade haben mochte, merkte aber an Frau Feierabends andächtiger Pose, daß hier offenbar ein oft geübter Ritus abgezogen wurde. Eines wußte ich bestimmt: Ich durfte um Himmels willen keine Beiträge mehr zu der Zeremonie liefern, wollte ich nicht, daß dieses Karussell sich weiterdrehte. Also trank ich den Rest meiner Flasche Pinot Noir und versuchte, die langsam verebbende Beredsamkeit des Herrn Brunnenmüller kommentarlos zu ertragen. Der sagte nichts Neues, beutelte das Thema nur aus, bis er es dermaßen leergequetscht hatte, daß es furztrocken war. Das ist beneidenswert, dachte ich, wenn einer aus seinem Beruf so viel Sendung filtern kann, und wünschte, daß er endlich die Klappe hielte. Um mich abzulenken, stellte ich mir vor, wie Carl auf solchen Humbug reagiert haben würde, dieser Carl, der mit bemerkenswerter Gelassenheit nüchtern sein Talent vermarktet hatte, immer mit dem richtigen Gespür dafür, was das Publikum wollte und wie das mit dem, was die Intendanten zur Erfüllung ihres kulturpolitischen Solls brauchten, auf einen Nenner zu bringen war. Dann endlich schien Brunnenmüller ermattet, und ich atmete in der ungewohnt gewordenen Stille freier. Frau Feierabend kam allmählich wieder auf die Erde zurück und schickte mir einen Blick über den Tisch, in dem deutlich zu lesen war: Nur dafür lohnt es sich zu leben! 107
„Ich glaube, wir haben uns verplaudert, Agnes“, sagte Brunnenmüller unvermittelt und ganz sachlich, und mit dem Eigensinn alter Männer erhob er sich sofort, gestützt auf den Silberknauf seines Stockes, und winkte dem Kellner. Nachdem er im Stehen bezahlt hatte, sah er mich wohlwollend an. „Kommen Sie zu mir, wenn Sie übermorgen noch in der Stadt sind. Wir feiern ein bißchen meinen Geburtstag, meinen fünfundsechzigsten. Sind nette Leute da.“ Das klang wie ein Befehl, und ich fühlte mich einen Moment überrumpelt. Frau Feierabend beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte: „Sie haben ihm offenbar imponiert. Arthur ist sehr wählerisch in seinem Umgang.“ Dabei gewährte sie mir einen langen Blick in ihren tiefen Ausschnitt. „Vielen Dank“, sagte ich im Aufstehen, noch immer benommen von dem Vorzug, der mir zuteil geworden war. „Mal sehen, wenn es sich machen läßt …“ „Acht Uhr präzis!“ Brunnenmüller ließ Frau Feierabend den Vortritt und ging stockschwingend hinter ihr her, als treibe er ein Stück Vieh von der Weide.
8. Im Bett las ich noch eine halbe Stunde im „Mann ohne Eigenschaften“ von dem Mann Ulrich, der sein Leben mehr betrachtend erleidet, als daß er es aktiv führte. Ich kam bis zu der Stelle, an der von Clarisse gesagt wird: Sie war die Tochter eines Malers, dessen Bühnenentwürfe in der weiten Welt berühmt waren. Sie hatte ihre Kindheit in einem Reich von Kulissenluft und Farbengeruch verbracht, zwischen drei verschiedenen Kunstjargons, denen des Schauspiels, der Oper und des Malerateliers, umgeben von Samt, Teppichen, Genies, 108
Pantherfellen, Bibelots, Pfauenwedel, Truhen und Lauten. Sie verabscheute darum aus ihrer ganzen Seele alle Wollust der Kunst und fühlte sich zu allem MagerStrengen hingezogen … Darüber schlief ich ein, ohne die Nachttischlampe auszuknipsen. Am Morgen um acht traf ich Ginsterbusch im Speisesaal. „Noch hier?“ fragte er überflüssigerweise und ganz ohne Charme zwischen einem Eihappen und einem Brotbissen, während ich, wieder Teller und Milchglas in Händen, vor seinem Tisch stand. Ich dachte an den vergangenen Morgen und die unangenehme Überraschung, die er mir da bereitet hatte, und bekam gute Laune ob meiner nun ganz anderen Position. „Ich finde es hier reizend“, entgegnete ich, „und abwechslungsreich.“ Er knurrte etwas Unverständliches. Sicherlich hätte er mich lieber auf dem Stuhl des zu Vernehmenden gesehen. Ich erinnerte mich der goldenen Regel, sich mutwillig niemand zum Feind zu machen, und unterdrückte die Frage, ob er noch immer ein geschliffenes Messer für mich bereit halte, sagte nur: „Ist ja seit gestern ganz schön vorangekommen, der Fall.“ „Bilden Sie sich nur nichts ein!“ Ich merkte, wie es in ihm grollte. „Noch ist nichts zu Ende gebracht, gar nichts. Und es gibt keinen Grund, hämisch zu sein.“ „Darf ich mich trotzdem an Ihren Tisch setzen?“ fragte ich höflich. Vielleicht lieferte er mir ein Rückzugsgefecht. „Wenn es Ihnen Spaß macht …“ Wortlos aßen wir und hatten nur einmal Kontakt, als wir gleichzeitig nach dem Salzfäßchen langten. Rutsch mir den Buckel ’runter, alter Muffel! dachte ich. Dann, als ich noch bei meiner Käsestulle war, strich der Rauch seiner Zigarre über den Tisch und brachte mich zum Husten. 109
„Entschuldigung“, sagte er. Mir schien, als habe er mich absichtlich belästigt. Ob er doch das Gespräch suchte? Ich blickte vom Teller hoch und sah, daß etwas wie ein Lächeln seinen schmalen Mund verzog. „Ich weiß nicht, wieso die diese Brühe Kaffee nennen dürfen“, sagte er mit einer Geste auf seine Tasse. Damit war der Anfang gemacht: Über den schlechten Kaffee kamen wir auf das schlechter gewordene Wetter (der Himmel hatte sich bezogen, es sah nach Regen aus) und fanden zu einem Hin und Her über Belangloses, zu einem Gespräch eben, das man am Frühstückstisch führt. „Um Wittlich steht es gar nicht gut“, sagte Ginsterbusch plötzlich, statt einer Antwort auf meine Frage, ob sein Bett auch so entsetzlich knarre. „Er ist noch immer bewußtlos und natürlich auch belastet.“ „Na ja, was Fräulein Schulz gestern so ausgesagt hat …“ Ginsterbusch winkte ab. Er genehmigte sich noch einen Schluck von dem schlechten Kaffee. „Sommer ist gestern bei uns gewesen, Sie waren kaum weg. Der hat vielleicht einen neuen Aspekt in die Sache gebracht.“ Ich kann mir heute noch nicht recht erklären, wieso ich von vornherein eine Abneigung gegen Herrn Sommer hatte, diesen korrekten, sachlichen Mann, der nie ein Wort zuviel oder eine unbedachte Bemerkung fallenließ. Möglicherweise war es gerade diese Korrektheit, die Nüchternheit inmitten all der aufgeregten Meinungen, daß ich ihn wenig sympathisch fand, und als Ginsterbusch jetzt äußerte, Sommer sei bei ihm und Fuhrmann gewesen und habe vielleicht einen neuen Aspekt in die Sache gebracht, zuckte ich zusammen. Das fehlt, dachte ich, daß noch einer auftritt, um dem Wittlich den Garaus zu machen und den anderen die reinen Westen noch weißer zu waschen! „Jetzt wischen alle ihre Schuhe an dem armen Kerl ab.“ Der Gedanke hatte eigentlich nicht laut werden sollen. Ginsterbusch sagte nichts, nuckelte an seiner Zigar110
re, schien dem Satz nachzuhängen. „Was meinen Sie denn dazu?“ verlangte ich zu wissen. Aber Ginsterbusch ging nicht auf meine Frage ein. Er sagte nur: „Ich diskutiere ungelöste Fälle nicht an Wirtshaustischen.“ „Einem halbtoten Mann kann man getrost schaden. Ich finde das ekelhaft.“ Ich würgte an meinem letzten Bissen. „Ekelhaft finde ich, daß jemand erschlagen worden ist.“ Ginsterbusch richtete einen tadelnden Blick auf mich. „Und wenn Sommers Aussage uns hilft, einen Mörder zu überführen, ist es nur gut und richtig, daß er sie gemacht hat, wenn auch reichlich spät. In unserem Gewerbe werden keine Preise für edle Haltung verliehen.“ Sprücheklopferei, dachte ich. Sieht dieser Genosse Hauptmann denn nicht, daß die alle nur danach trachten, aus dem Schneider zu kommen? Ich wurde immer vergnatzter. „Merken Sie denn nicht, daß sich hier wie verabredet eine Front gegen einen Mann gebildet hat, der sich nicht wehren kann?“ sagte ich. „Wir untersuchen.“ „Wen oder was?“ „Immer noch das gleiche. Den Mord an Ihrem Freund Schanzer.“ Angesichts von so viel unerschütterter Routine im Beantworten von Fragen, ohne wirklich etwas zu sagen, blieb mir nichts als der Rückzug auf die Überlegung, ob ich nicht voreilig sei, vielleicht sogar über Gebühr beeinflußt von einer jungen Frau, die gar zu gern bestätigt gefunden hätte, daß sie sich in ihrem Freund nicht getäuscht habe. „Dann: auf gutes Gelingen“, sagte ich. „Das gefällt mir an Ihnen, daß Sie so schnell aufgeben.“ Ginsterbusch wartete meine Entgegnung nicht ab, die nicht sonderlich freundlich ausgefallen wäre, hätte er mich zu Wort kommen lassen. „Und ich dachte immer, 111
gerade in Ihrem Beruf braucht man Geduld und muß sich vor zu raschen Schlüssen hüten. Seien Sie unbesorgt: Die Quote der unaufgeklärten Kapitalverbrechen ist in unserem Land gleich Null.“ Aus ihm sprach der Stolz, zu einer so erfolgreichen Truppe zu gehören. Er blickte auf seine Uhr. „Lassen Sie den Kopf nicht hängen. Mich ruft des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr. Schiller.“ Jetzt will der mir auch noch mit Zitaten imponieren, dachte ich, um meinem Unbehagen ein bißchen Luft zu verschaffen. Ich sah ihm nicht nach, trank meinen Kaffee aus und begab mich lustlos auf mein Zimmer. Natürlich ging es mir nicht aus dem Kopf, daß Sommer eine Aussage gemacht hatte – und gewiß eine, aus der dem armen Wittlich endgültig der Strick gedreht werden konnte. Was sonst sollte Ginsterbuschs Gerede von einem neuen Aspekt ? Und während ich das bedachte, packte mich der Zorn, nicht speziell auf diesen Herrn Sommer. Die ganze Atmosphäre kam mir beschissen vor, dieses Klima, in dem nichts gedieh als Konkurrenzneid, Unverträglichkeiten, allenfalls dummes ästhetisierendes Gequatsche. Um mich auf freundlichere Gedanken zu bringen, begann ich einen Brief an meinen Bruder zu schreiben. Der lebt in Düsseldorf und ist Bankprokurist. Außer einer Jugend mit unzähligen Streitereien haben wir nicht mehr viel Gemeinsames, aber auch so etwas bindet, jedenfalls stark genug, daß alle Vierteljahre ein Brief von mir und alle zwei Jahre ein Besuch von ihm dabei herauskommt. Nach dem zweiten Satz und mitten in der Schilderung der Sehenswürdigkeiten von N. verließ mich die Lust, ich nahm mir den „Mann ohne Eigenschaften“ und stellte nach zwei Seiten fest, daß nichts von dem hängengeblieben war, was ich gelesen hatte. Ich wartete auf den Anruf von Margot Schulz, ohne mir dessen bewußt zu sein. Als dann das Telefon klingelte, ergriff mich eine seltsame Erregung. 112
Doch es war Gisela. „Wie lange willst du noch da bleiben?“ fragte sie ohne Einleitung. Damit hatte sie mich überrumpelt. „Das weiß ich nicht“, war alles, was ich zu antworten wußte. Und dieses Das weiß ich nicht löste einen ziemlich wirren Wortschwall am anderen Ende der Leitung aus, in dem sich allerlei Zusammenhangloses tummelte. Es reichte vom milden, nicht eigentlich ernst gemeinten Vorwurf, daß ich sie in dem Schlamassel allein gelassen habe, bis zu der weinerlichen Bemerkung, sie halte es nicht mehr aus, die Decke falle ihr auf den Kopf vor lauter sich im Kreis drehender Gedanken. „Außerdem habe ich eine Entdeckung gemacht: Carl kannte sie schon seit Jahren.“ „Wen?“ fragte ich, obwohl ich sofort wußte, wen Gisela meinte. „Die Schulz natürlich. Ich habe Briefe von ihr gefunden, nicht nur Briefe von ihr, aber auch von ihr. Dein Freund, mein Mann, war ein richtiger Buchhalter, der mit Belegen seiner Unwiderstehlichkeit sorgsam umging. Vielleicht waren die ein Aphrodisiakum für ihn. Du kennst dich ja da als Nervenarzt eher aus. Jedenfalls ist die Kommode in seinem Hobby-Keller gestopft voll mit dem Zeug.“ Die Forschheit, mit der sie das sagte, klang gespielt. „Du hast viel zu lesen, wenn du magst. Grüß inzwischen die liebe kleine Margot von mir. So hat sie immer unterschrieben.“ Unvermittelt sprach sie wieder in dem Tonfall, mit dem sie am Abend nach Carls Tod den unbegriffenen Schmerz abzuwehren versucht hatte. Vergebens strengte ich mich an, ihr durch freundliches Zureden und das Versprechen, mich am selben Tag noch in den Zug zu setzen, von dem hohen Roß herunterzuhelfen. Sie nannte mich einen Feigling, der nur immer beschwichtigen wolle und dieses dumme Spiel auch noch fortsetze, wenn der andere dabei sei, vor die Hunde zu gehen. Und dann weinte sie, und durch die Telefonleitung verzerrt, 113
schlug eine wahre Brandung des Jammers an mein Ohr. Hemmungslos, wie sie sich zuvor durch Schimpfworte abreagiert hatte, schluchzte sie und beschwor mich, sie nicht im Stich zu lassen, jetzt nicht. Noch einmal versprach ich ihr, mich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen. Ich stand, den Hörer in der Hand, und bemühte mich zunächst vergebens, mit Giselas Nachricht ins reine zu kommen. Erst allmählich ordnete sich der Wust von Überlegungen und aufgeregten Gefühlen. Kurioserweise hakte ich mich an dem Umstand fest, daß Carl die Briefe im Hobby-Keller aufbewahrt hatte. Belege seiner Unwiderstehlichkeit! Wie mußte es in Gisela aussehen! Vielleicht hatte sie einen Hammer gesucht – jetzt, da Carl, der große Bastler, der sich im Keller eine komplette Schreinerwerkstatt eingerichtet hatte, nicht mehr lebte, mußte sie wohl die Nägel selber in die Wand schlagen … Der Gedanke an Fräulein Schulz stellte sich erst später ein, dann aber weckte er um so heftiger ein Gefühl des Überdrusses. Mußte denn die Angelegenheit immer tiefer ins Unappetitliche absacken? Konnte man denn nicht wenigstens vierundzwanzig Stunden lang von ein und derselben Person ein und dieselbe Meinung behalten? Was an Lügen und Verschleierungen würde noch alles ans Tageslicht gelangen? Aus der Kommode im Hobby-Keller! Wieder klingelte das Telefon. Diesmal hörte ich die Stimme von Fräulein Schulz, und die klang freudig und erwartungsvoll. „Das ist aber nett, daß Sie geblieben sind.“ Ich unterdrückte eine Grobheit und sagte so sachlich, wie es mir möglich war: „Ich habe ja noch einiges zu tun.“ „Ich weiß. Wann können wir uns sehen?“ Ihre Freude über mein Bleiben schien unvermindert. „Ab Mittag bin ich frei. Ist Ihnen zwei Uhr recht, im selben Café wie gestern?“ 114
Mir war es nicht recht, deshalb hielt ich meine Antwort unbestimmt: „Ich hoffe, ich kann es einrichten. Wenn nicht …“ „Ist was?“ Ihre Stimme klang jetzt unsicher. „Nichts Besonderes. Carls Frau hat mich vor ein paar Minuten angerufen.“ Am anderen Ende der Leitung war Stille, ich hörte Fräulein Schulz atmen. „Hatte der Anruf etwas mit mir zu tun?“ fragte sie dann. Es brauchte wohl seine Zeit, bis sie die Frage unverfänglich formulieren konnte. „Auch mit Ihnen.“ Noch immer versuchte ich, sachlich zu bleiben. „Und Sie täten gut daran, Fuhrmann völlig über Ihr Verhältnis zu Schanzer aufzuklären. Finden Sie nicht, daß das endlich geschehen sollte?“ Wieder Stille, dann kleinlaut: „Es ist alles so kompliziert.“ „Wenn man mit der Wahrheit hinterm Berg hält.“ Jetzt war mein Unmut doch durchgebrochen. Ich legte auf, ehe ich mich zu weiteren Unfreundlichkeiten hinreißen ließ. Es hielt mich nicht länger im Zimmer. Zwei Minuten nachdem ich das Hotel verlassen hatte und blicklos für alles rings um mich in Richtung des Theaters ging, fing es zu regnen an. In einen Hauseingang gepreßt, wartete ich die erste Husche ab, die mit schweren Tropfen eine merkliche Abkühlung der Luft brachte. Hier war es denn auch, daß sich die vage Absicht in einen festen Entschluß verwandelte: Ich würde noch einmal ins Theater gehen, würde vor allem versuchen, ein Gespräch mit Herrn Sommer anzuzetteln. Was ich mir von einer solchen Begegnung eigentlich versprach, wußte ich nicht. Ich hatte die unbestimmte Vorstellung, es sei wichtig, auch noch diesen bislang nur aus der Distanz betrachteten Mann näher kennenzulernen, um mehr Aufschluß zu erhalten. Aber was sollte denn noch aufgeschlossen werden in dieser mir immer undurchsichtiger werdenden Geschichte? 115
In der Theaterkantine traf ich Finkenmeier beim Vormittagsschnaps und wurde von ihm mit gedämpfter, auf Formalitäten zusammengeschrumpfter Herzlichkeit begrüßt. Er gab sich wortkarg, eingesponnen in ernste künstlerische Probleme, deren Bewältigung er anging. Meiner vorsichtigen Frage nach Herrn Sommer begegnete er mit unverhohlenem Mißtrauen. „Sie rühren noch immer in dem Brei ’rum“, sagte er, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen und die Produktion vanilleduftender Rauchwolken einzustellen, rang sich aber dann doch die Mitteilung ab, der Kollege sei heute dienstfrei und wahrscheinlich in seinem Garten anzutreffen. Ich hatte nur noch herauszufinden, wo der Garten war. Dazu mußte ich den Regisseur zutraulicher stimmen, und ich setzte mich auf einen Korn und einen Plausch über die geplante Aufführung von „Leonce und Lena“, die mir Finkenmeier, sofort alert, als er ein williges Ohr bei mir witterte, mit einem Kurzreferat über den revolutionierenden Begriff der Faulheit bei Büchner schmackhaft zu machen versuchte. „Faulheit als Waffe gegen die Entfremdung – Leistungsverweigerung –, Sie verstehen?“ dozierte er. Ich nickte dazu, trank den Rest Korn und wagte mich mit der Frage vor, wo der Sommersche Garten zu suchen sei. Offensichtlich hatte sich über dem Exkurs Finkenmeiers Abneigung gegen meine Schnüffelei vermindert, und so erfuhr ich, nachdem ich noch die Schilderung eines Regieeinfalls geduldig ertrug (Prinz Leonce sollte zu Beginn des zweiten Aktes im Handgang auf die Bühne kommen), daß das Areal, das der Kollege Sommer bestellte, am Stadtrand gleich neben der alten Ziegelbrennerei liege. Ich könne es nicht verfehlen, da es als einziges mit einem hölzernen Turm besetzt sei. Der Turm war wirklich nicht zu übersehen: In Gelb und Blau ragte er mindestens fünf Meter hoch, verwirrend bunt gegen den verhangenen Himmel. Und der Besitzer, in Shorts und kariertem Hemd, unter einem 116
breitkrempigen Strohhut, hantierte mit Schere und Harke in einer überwältigend farbenfrohen Dahlienplantage. Hier schien jede Schattierung vom Weiß bis zum schwärzlichen Blau vertreten. „Ach, der Herr Doktor Gammler“, sagte er, als er mich sah, wischte sich die Hände an der Hose ab und kam auf mich zu wie auf einen erwarteten Gast. „Schön, daß Sie sich mein Reich einmal ansehen.“ Er machte dabei eine runde Besitzergeste, und als er meinen mehr erstaunten als bewundernden Blick auf all die Pracht bemerkte, fügte er hinzu: „Das hier sollten Sie erst im August sehen!“ Dabei wurde seine Stimme weich vor Rührung. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm staksbeinig zu folgen und aufmerksam und mit kopfnickender Bewunderung seinen Ausführungen über die Techniken und die Freuden, aber auch über die Mühen des Züchters zu lauschen. Er machte dabei übrigens nicht die komische Figur eines stolzgeschwellten Laubenpiepers, trug vielmehr eine Würde zur Schau, die nur durch jahrelangen intimen Umgang mit den hehrsten Charakteren der dramatischen Weltliteratur zu erringen ist. Alles an ihm, von den wohlgesetzten Schritten bis zu den wohlklingenden Worten, ließ an Lear denken: jeder Zoll ein König. Allerdings ein König im Kleingarten und vor der Kulisse eines blaugelben hölzernen Turms, den er als seinen Luginsland bezeichnete, und diese Konstellation ließ denn doch an Unangemessenheit denken. Natürlich mußte ich den Luginsland besteigen, über eine ziemlich wacklige Leiter, die auf eine quadratische Plattform von vielleicht zwei Metern im Geviert führte, und den Ausblick bewundern, der bei der brettebenen Beschaffenheit der Landschaft stadtauswärts in der Tat von kaum geahnter Weite war (stadteinwärts freilich wurde die Sicht durch die ganz in der Nähe ragende Mauer einer aufgelassenen Ziegelei begrenzt). Es folgten 117
Erläuterungen der Topographie und Hinweise auf besonders schöne Punkte im Gelände sowie die mehrmals eingeflochtene Bemerkung, daß er sich hier am wohlsten fühle, sozusagen als sein eigener Herr. Ich antwortete mit Kopfnicken und ein paar forcierten Zwischenrufen des Entzückens, die mit würdevoller Zurückhaltung angenommen wurden. Wirklich: ein Mann in seinem Reich! „Und was hat Sie bewogen, sozusagen in letzter Minute noch eine Aussage zu placieren?“ fragte ich ohne Übergang. Wir saßen auf der Bank aus Birkenstämmchen, den Blick über die niedrige Brüstung der Plattform hinweg in die Ferne gerichtet. „Ach, Sie wissen davon.“ Kein Anklang von Erstaunen, keine Spur von Verärgerung, da ich doch unziemlich in die Idylle eingebrochen war. „Hätte ich schweigen sollen?“ Die Naivität ärgerte mich, dennoch gab ich nicht auf. Ich ahnte: Hier war einer, der nicht so leicht zu bluffen war, der wollte die Karten sehen. Also begann ich vorsichtig, sein Terrain zu sondieren, indem ich erst einmal versicherte, ich hätte keine Sekunde an seiner Loyalität gezweifelt (die Frage, wem die Loyalität galt, blieb unberührt) und würde mich hüten, voreilige Schlüsse zu ziehen. Er hatte sich mit einem kleinen, aber dauerhaften höflichen Lächeln ausgerüstet und ließ mich reden. Über die Erörterung, ob denn wirklich einer aus dem Ensemble Carls Tod verschuldet haben könne – die fatale Vokabel Mord vermied ich – oder ob nicht ein Fremder für die Tat verantwortlich sein müsse, pirschte ich mich an Wittlichs mögliche Motive und sein Verhalten in den letzten Tagen heran. Sommer ließ mich monologisieren, so daß mir mangels Widerspruch und Zustimmung allmählich die Worte knapp wurden. Als ich mich dann hoffnungslos in Mutmaßungen darüber, ob Wittlich – seelisch wie körperlich – überhaupt in der Lage sei, ei118
nen Menschen zu töten, verheddert hatte, tat er endlich, mitten in einem Satz, den Mund auf. Er sagte: „Entweder kacken Sie jetzt, oder Sie gehen ’runter vom Topf.“ Er sagte es gelassen und wohlmoduliert, wie das seine Art war, und so wirkte die Sentenz doppelt anstößig. Dabei wich ihm das Lächeln nicht aus dem Gesicht, als sei es aufgemalt. Ich schluckte zwei-, dreimal und muß wohl einen bemerkenswerten Anblick geboten haben. „Sie wollen doch sicherlich andeuten, ich hätte mit meiner Aussage versucht, Wittlich einen Strick zu drehen.“ Das hörte sich gar nicht so schlimm an, wie es aus seinem Mund kam: fast herzlich. „Und vielleicht vermuten Sie sogar, ich sei der Kerl, der Ihren Freund ins Jenseits befördert hat.“ Mein Gott, welche Sprache wieder, diese Mischung aus Bibel und Karl May! Und dann das liebenswürdige Grinsen um den Mund! Ich war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Jedenfalls hielt es mich nicht mehr auf dem Bänkchen, ich erhob mich plötzlich und so heftig, daß das hölzerne Bauwerk bedenklich knarrte. Dann hatte ich mich wieder soweit in der Kontrolle, daß ich einigermaßen ruhig antworten konnte. „Was ich vermute, steht hier nicht zur Rede. Alles, was ich will, ist, mir ein Bild machen.“ „Ich weiß: Der Tod Ihres Freundes läßt Sie nicht ruhen. Das ist aller Ehren wert.“ Ich war mir nicht sicher, ob Spott in seiner Stimme schwang. „Aber was hat das mit der Aussage zu tun, die ich gestern gemacht habe?“ „Daß Sie sie gestern erst gemacht haben, diese Aussage, das gibt mir zu denken.“ Sein Lächeln zeigte jetzt eine Spur von Mitleid, Mitleid mit einem hoffnungslos verrannten Trottel. Seine Stimme indes behielt den getragenen Ton sublimer Gleichgültigkeit, als er sagte: „Ich verstehe. Sie vermuten schlicht eine Gemeinheit gegenüber einem Mann, 119
der sich nicht mehr wehren kann, wenn nicht Schlimmeres.“ „Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund“, antwortete ich, und mir war nicht wohl bei dem täppischen Gebrauch platter Ironie. Darum korrigierte ich mich auch: „Vielmehr: Gemeinheit würde ich das nicht nennen wollen, eher …“ Sommer kam mir zu Hilfe. „Eher Unkollegialität?“ schlug er vor. „Oder Abreaktion einer Abneigung?“ „Nennen Sie es, wie Sie wollen.“ Ich hatte schon einen Fuß auf der Leiter, entschlossen, der dummen Situation durch Verlassen des Orts ein Ende zu setzen. Das Gespräch war festgefahren. Wie konnte ich denn schließlich auch mit ihm rechnen, der eine Aussage gemacht hatte, die mir suspekt vorkam? Ich war darauf ausgewesen, sein Motiv zu erfahren, und hatte den falschen Weg eingeschlagen. „Sie wollen schon gehen?“ Wie brachte der Mann das nur fertig, jetzt so etwas wie echtes Bedauern in seine Stimme zu praktizieren? Denn daß es ihm wirklich leid tun sollte, wenn ich ihn verließ, konnte ich mir nicht vorstellen. „Wir könnten uns so gut unterhalten, auch über den Kollegen Wittlich.“ Ich stand schon am Fuß der Leiter und blickte zu ihm hoch. Von hier unten sah er verzerrt und irgendwie bedrohlich aus, der so gesetzte Herr Sommer, geradezu wie ein Bösewicht aus dem Film. „Bleiben Sie doch noch. Ich hätte Ihnen gern meine Stockrosen vorgeführt. Prachtexemplare, wachsen hinterm Turm.“ Sein Lachen klang mir wie schlimmer Spott, ich wurde zapplig, und es drängte mich, aus diesem Garten wegzukommen. Dabei schalt ich mich gleichzeitig einen Narren, weil ich mir von den eigenen Nerven einen Streich spielen ließ. Eine wahrlich fatale Lage für einen Mann, der von Berufs wegen darauf trainiert ist, klaren Kopf zu bewahren, um anderen, denen sich die Gedan120
ken verwirrten, helfen zu können. Ich kletterte die Leiter vollends hinunter und trat, ohne mich nach Sommer umzusehen, auf den Weg. Da stand ich denn eine Weile, den Rücken dem hölzernen Turm zugekehrt, und wartete darauf, was weiter geschehen würde. Ich hörte, wie Sommer auch die Leiter herabstieg, und zwang mich, mich nicht nach ihm umzudrehen. Er sollte merken, daß ich unbeeindruckt war von seiner Aufführung. „Ich mag Wittlich“, hörte ich ihn sagen. Wenn er mir nicht vor Minuten allzu selbstbewußt entgegengetreten wäre, ich hätte ihn mir nach dem Klang, den seine Stimme jetzt angenommen hatte, als freundlichen, ganz auf Wohlwollen gestimmten Menschen vorstellen können. Aber ich war auf der Hut, gedachte mich auf keinen Fall von dem Gerede umgarnen zu lassen, das nun – ich spürte es – folgen sollte. „Und ich wollte ihn mit meiner Aussage durchaus nicht belasten. Ich habe so lange geschwiegen …“ „Bis er halbtot im Krankenhaus lag.“ „Sie müssen mir glauben: Das hat mich nicht beeinflußt. Es ging um etwas ganz anderes.“ Ich wandte mich ihm zu und war betroffen. Sommers Gesicht drückte nichts als Sympathie aus, alle Arroganz, der leise Hohn waren verschwunden, hatten einer eher verlegenen Bereitschaft zu Erklärungen Platz gemacht. Verdammte Schauspielerei, dachte ich, welchen Part spielt er jetzt? Möglicherweise den väterlichen Freund? Oder den Abraham, der den Isaak opfern will? „Ich habe die ganze Zeit über mit mir gerungen, ob ich die Polizei informieren soll.“ „Und sind Sie Schultersieger über sich selber geworden, oder haben Sie nur nach Punkten gewonnen?“ Mich kümmerte nicht, daß er mich wie ein enttäuschter Liebhaber ansah. Dieser Sommer war mir innerhalb kurzer Zeit in zu widersprüchlichen Rollen erschienen, als daß ich ihm nun auch noch den Mann mit dem empfindli121
chen Gewissen, hin und her geworfen zwischen Pflicht und Neigung, abkaufen mochte. „Machen Sie sich keine Mühe, mir Ihr Verhalten erklären zu wollen. Mir war nur danach, den Mann näher in Augenschein zu nehmen, der es sich angelegen sein ließ, einen Schuldigen zu präsentieren.“ Vor Ärger gerieten mir die Sätze verquollen, und ich drohte, in Beredsamkeit abzugleiten. „Wenn ich noch gewiß sein könnte, daß Eugen der Mörder ist, ich glaube, ich hätte die Aussage nicht gemacht“, sagte er leise und ohne jede Emphase. Angesichts so durchtriebener Verwandlungskunst fiel mir nichts anderes ein als: „Lassen Sie das unsere Polizei nur nicht hören.“ „Sie weiß es“, parierte Sommer gelassen, „ich habe dem Genossen Fuhrmann den Grund für mein Zögern genannt.“ „Und der war wohl angetan von Ihren Skrupeln.“ Ich konnte meinen Sarkasmus nicht bremsen. „Im Gegenteil. Er meinte, daß es eine wahre Plage sei, wenn Amateure sich in die Arbeit der Polizei mischten und dabei nichts als Durcheinander anrichteten.“ Hatte er mich für einen kurzen Moment spöttisch angesehen? Ich war mir nicht sicher, wurde überhaupt immer unsicherer, je länger Sommer sprach. Was war, wenn ich mir, seit ich mich in diesem Garten aufhielt, einen Popanz aufgebaut hatte, wenn die Verschlagenheit und Verwandlungskunst Sommers nur meiner Voreingenommenheit und Einbildung entsprach? Allmählich einsickernde Unsicherheit ist nicht angetan, Realitäten zu ihrem Recht zu verhelfen, Erkenntnisse zu fördern oder auch nur in Gang zu setzen, das wußte ich, und es wäre nützlich gewesen, hätte ich die Souveränität aufbringen können, dem Mahn vor mir, der jetzt den Hut abnahm und sein Haar dem stärker werdenden Wind aussetzte, vorurteilsfrei zuzuhören. Statt dessen blieb ich dabei, es für eine neuerliche Vorstellung zu halten, 122
als Sommer mir mit Augenzwinkern sagte, er habe geradezu darauf gewartet, daß auch er der Freude meines Besuches teilhaft werde. „Es war mir ein Vergnügen“, sagte ich steif in den Satz hinein, mit dem er mir wohl erklären wollte, warum er seinen Kollegen Wittlich schätze (er sprach von der heilsamen Unruhe, die von dem jungen Mann ausgehe und die vielleicht geeignet sei, den ständig starrer und selbstgefälliger werdenden Theaterbetrieb aufzulockern), machte eine Kehrtwendung auf dem Absatz und ging den Weg durch die Dahlienbeete auf die Tür aus Maschendraht zu, die den Garten zur Straße hin abschloß.
9. Noch im Zug, als ich in einem leeren Abteil saß und ein Reklameplakat der Versicherung mit dem einfallsreichen Text Sorgen und Vorsorgen – Säulen des sozialistischen Lebens fixierte, schlug ich mich mit den widersprüchlichen Eindrücken vom Besuch bei Sommer herum. Ich hatte, kaum daß ich wieder im Hotel war, beschlossen, mit dem Mittagszug abzureisen, nicht endgültig, nein, nur um mit Gisela zu sprechen (schließlich war mein Koffer im Hotel geblieben). Aber jetzt war ich gar nicht mehr zufrieden mit dieser halbherzigen Entscheidung, die ich, schien mir, nur getroffen hatte, um mir eine Niederlage nicht einzugestehen. Denn als Geschlagenen sah ich mich an, als einen, der ausgezogen war, Licht in eine Angelegenheit zu bringen, und der sich im Dunkeln nichts als Beulen geholt hatte. Nur eine vage Überlegung wandte ich an die Verabredung mit Fräulein Schulz: Sollte sie sehen, wie sie mit der Affäre fertig wurde, diese junge Frau mit ihren wirren Sympathien, ihren Lügen und Halbwahrheiten. Nach Tagen unauf123
hörlichen Umhertappens in einem Labyrinth sehnte ich mich danach, wieder mal ein Stück überschaubaren Wegs gehen zu können. Herr Sommer und sein hölzerner Aussichtsturm hatten mir den Rest gegeben. Dennoch: So uneingeschränkt, wie ich es gern gewollt hätte, war die Freude darüber, daß ich nach Haus fuhr, nicht. Es blieb der Stachel, nichts, aber auch gar nichts beigetragen zu haben, die Umstände von Carls Tod zu erhellen. Und wenn ich mir auch versicherte, ich sei nun ans Ende meiner Neugier gelangt und es kümmere mich nicht mehr, wer denn der Schuldige sei, so ließ mich doch die Vorstellung nicht los, ich könnte möglicherweise beim Rumschnüffeln in N. etwas Entscheidendes übersehen haben. Da stimmte mich denn der Umstand, daß ich meinen Koffer im Goldenen Adler gelassen und das Zimmer nicht gekündigt hatte, fast gegen meinen Willen doch wieder zufrieden. Ich suchte denn auch nicht meine Wohnung auf, sondern fuhr vom Bahnhof gleich zu Gisela Schanzer. Zu meiner Enttäuschung traf ich nur die Tochter an, die mir – schnodderig wie immer und als sei nicht vor ein paar Tagen ihr Stiefvater zu Tode gekommen – mitteilte, sie erwarte ihre Mutter erst gegen Abend, und die keine Miene machte, mich ins Haus zu bitten. Ich ging die zwanzig Minuten Weg zu einem Lokal, das ein Kommissionär bewirtschaftete. Dort hatte ich mit Carl und Gisela einige Male die Hechtsuppe gegessen, die in der ganzen Stadt den besten Ruf genoß. Sicherlich würde mich ein bißchen Gaumenkitzel zuversichtlicher stimmen … Die Suppe schmeckte fad und dann auch wieder aufdringlich nach Knoblauch, und die Fischstücke waren zu weich gekocht. Während ich Weißbrot in den halbvollen Teller bröckelte, ertappte ich mich dabei, daß ich mich in Gedanken noch immer in N. befand, in Herrn Sommers Garten. Nur war ich jetzt nicht mehr verwirrt, viel124
mehr hellwach, und ich setzte ihm so mit Fragen zu, daß ihm die Gelassenheit jäh aus dem Gesicht schwand und er Mühe hatte, Antworten zu geben, die meinen jetzt aufs äußerste geschärften Sinn für Folgerichtigkeit befriedigen konnten. Vor allem daran biß ich mich fest: Wo waren Sie eigentlich, wenn wir schon davon sprechen, als Carl Schanzer ermordet wurde, schon zu Hause oder noch unterwegs oder mit jemandem – und wenn ja, mit wem – zusammen? Ja, warum hatte ich eigentlich die Frage nicht gestellt? Jetzt nützte es mir nichts, wenn ich mir ausmalte, wie der Schauspieler ins Stottern und Schwitzen geriet, Ausflüchte suchte, behauptete, er könne sich nicht mehr so recht erinnern. Ich erwachte aus meinem Wunschdenken, als ich mich den Satz murmeln hörte – diesmal hielt ich ihn Sommer entgegen: Entweder kacken Sie jetzt, oder Sie gehen ’runter vom Topf! Da schob ich den Teller von mir und zahlte. Gisela sah nicht so elend aus, wie ich nach dem Telefonat befürchtet hatte, auch nicht mehr so bleich und streng, wie sie mir von meinem Besuch in der Nacht zum Sonntag in Erinnerung war. Vielleicht lag es daran, daß sie heute nicht das lange schwarze Kleid trug, sondern mehr alltäglich gekleidet war. Wir gingen in ihr Zimmer, nicht in die Kamin-Halle, und das war für unser Gespräch vorteilhaft: Der kleine Raum mit seinen modernen, aufs Funktionale abgestellten Möbeln und vielen Büchern ließ dem großen Ausbruch keinen Platz. Sachlichkeit bestimmte die Atmosphäre, wenigstens zu Beginn, als Gisela mich nach meinen Erlebnissen in N. fragte und ich einen möglichst unverkürzten Bericht gab. Dabei war ich bestrebt, von meinen Zusammenkünften mit Margot Schulz nur nebenbei zu erzählen, doch das glückte nicht recht, da diese Begegnungen immerhin das Zentrum meiner Bemühungen gebildet hatten. „Dir ist ja ziemlich viel über den Weg gelaufen in den wenigen Tagen“, lautete ihr einziger Kommentar, und 125
ich merkte deutlich, daß es ihr darum zu tun war, nicht wieder Gefühle so offen auszustellen. Nach dem Ende meines Berichts gab es ein Loch in der Unterhaltung, das Gisela nicht ausfüllen wollte oder konnte, so daß deutlich Recorder-Geplärr vom Obergeschoß in den Raum drang. Doch nach ein paar Minuten, in denen wir geniert einander gegenübersaßen und ich Gelegenheit hatte, wieder festzustellen, wie gut Gisela aussah und wie begehrenswert sie für jeden Mann mit einigem Sinn fürs Solide sein mußte, stand sie abrupt auf und sagte: „Komm mit, ich zeig’ dir Carls Schatz.“ Die Werkstatt im Keller war splendid eingerichtet, sie enthielt alles, was das Herz eines Doityourself-Fans höher schlagen lassen konnte, von der Hobelbank bis zur „Black und Decker“. Bohrer von verschiedener Stärke, Schraubenzieher, Sägeblätter waren übersichtlich an den Wänden arrangiert. In einen Schraubstock war noch ein Winkeleisen eingespannt, und eine Metallsäge lag, wie soeben aus der Hand gelegt, daneben. Ich hatte noch nie einen Fuß in den Keller gesetzt, nur durch gelegentliche Bemerkungen Carls erfahren, wieviel Spaß und Entspannung ihm seine Werkelei bot, und ihn einmal mit der Anspielung aufgezogen, ein Mann, der so erfolgreich Theaterstücke zusammenbasteln könne, müsse denn wohl auch Talent im Umgang mit niederer Materie haben. Dennoch war mir beklommen zumute: Mehr Intimes über Carl als das ganze übrige Haus, mehr auch als sein Arbeitszimmer, dessen plüschige Überladenheit mich schon immer zu der Frage herausgefordert hatte, wie man an einem solchen Ort auch nur eine Zeile zu Papier bringen konnte, schien mir dieser Hobby-Keller zu verraten. In der sachlichen, übersichtlichen Anordnung der Gegenstände, in ihrer öden Zweckbestimmtheit fand ich viel von seinem Charakter gespiegelt. Wie um diesen Eindruck zu bestätigen, sagte Gisela: „Hier 126
hat er halbe Tage und Nächte zugebracht. Wir durften den Raum nicht betreten, angeblich weil wir nur Unordnung anrichten würden.“ Sie lachte trocken, es klang wie ein Schluchzen. „Das Heiligtum eines Mannes!“ Sie wies auf ein schönes schlichtes Pult im Renaissancestil, das sicherlich einmal seinen Platz in einem Refektorium gehabt hatte. „Davor hat er stundenlang gestanden und gelesen und manchmal auch geschrieben. Als er vor zwei Jahren davon hörte, daß Hemingway nur im Stehen gearbeitet hat, da hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um an so ein Ding zu kommen.“ Den Spott, mit dem sie eine so kleine Schwäche aufmutzte, war unüberhörbar; in ihm schwangen alle die Unzuträglichkeiten mit, denen sie in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen war und die diese sonst ausgeglichene Frau zu einem launischen, alles auf sich beziehenden Wesen gemacht hatten. Ich trat an das Lesepult und tat so, als interessierte ich mich für das wurmzerfressene Holz und das schmale Figurenrelief, das die abgeschrägte Platte umlief. „Feine Arbeit“, sagte ich – oder etwas Ähnliches, nur um Gisela von Carls komischer Eitelkeit abzulenken. „Und das hier: Ist das nicht eine genauso feine Arbeit?“ Sie stand neben einer Barockkommode aus braunem Nußbaum und strich über die glänzende geschweifte Platte des Möbels. „Das erste von den alten Dingern, das wir uns angeschafft haben. Es war zu wuchtig für die Zimmer, deshalb brachte Carl es in seinem Keller unter.“ Sie zog die oberste der drei mächtigen Schubladen auf, und ich sah, daß sie mit Papier randvoll war: Aktenordner, Schnellhefter, dicke Kladden. Ich entzifferte eine Aufschrift: Tagebuch 3. 2. 1977 –, dann eine andere: Florileg. Ich blickte zur Seite, zu dem Stehpult hinüber, weil ich mir irgendwie indiskret vorkam. „Genier dich nicht, hier findest du, was an Carl unsterblich ist, wenn an ihm etwas unsterblich ist.“ Gisela gab sich keine Mühe, ihre 127
Stimmung zu verbergen, die in dieser Atmosphäre fast feindselig wirkte. „Du warst sein Freund – er jedenfalls hat dich in schöner Bescheidenheit meinen Horatio genannt. Wie findest du das? Eines stimmt ja an dem Vergleich: Du lebst, er ist tot, von Mörderhand gefällt wie sein hehres Vorbild, der Dänenprinz. Also kümmere dich um den schweigenden Rest.“ Sie hatte sich abgewandt, und als ich mich zu ihr umdrehte, sah ich hochgezogene Schultern, als wolle sie den Kopf einziehen, um sich vor einer Bedrohung zu schützen. Eine Sekunde lang kam ich in Versuchung, sie zu berühren, so etwas wie Beschützerinstinkt war wieder einmal jäh in mir wach geworden. Doch der Psychiater in mir, der wußte, daß Mitleid eine solche Krise nur vertiefen kann, behielt die Oberhand. „Reiß dich zusammen“, sagte ich. Etwas Originelleres fiel mir nicht ein, wohl auch, weil ich mich ärgerte. Und ich fügte, ganz überflüssig, hinzu: „Wir haben alle unsere Schwächen, Gisela.“ „Schwächen?“ Sie schnaufte leise, während sie mir das Gesicht zukehrte, und das klang wie ein unterdrücktes Lachen. „Nur gut, daß Carl das nicht mehr mitbekommt. Von Schwächen habe ich ihn nie reden hören, von eigenen Schwächen, meine ich. Als er in die Akademie gewählt wurde, hat er mir gesagt: Jetzt haben sie endlich eingesehen, wohin ich gehöre. Ich glaube, er hätte sich am liebsten selber gesiezt.“ Die kühle Kellerluft schien sich rapid zu erhitzen, mir klebte das Hemd an den Achselhöhlen fest. Nur um mit einer Bewegung, mit einer winzigen Aktivität die immer bedrückender werdende Spannung zu lösen, nahm ich die Kladde mit der Aufschrift Florileg aus der Schublade und schlug sie auf. Einige Verse von Eliot in Carls penibler winziger Handschrift fielen mir ins Auge: Hier bin ich nun auf dem halben Weg, nachdem ich zwanzig Jahre 128
– zwanzig meist vergeudete Jahre, die Jahre entre deux guerres – Bestrebt war, den Umgang mit Worten zu lernen, und jeder Versuch Ist ein ganz neues Beginnen, und eine neue Art von Mißlingen. Weil man erst lernt, die Worte zu meistern Für Dinge, die man nicht mehr sagen will, oder für Formen, In denen man sie nicht mehr sagen möchte … Mannomann, dachte ich und fühlte mich mit einem Schlag ein bißchen freier, Snoblesse oblige! Das da war vor einem halben Jahr oder so eine Zeitlang sein Lieblingsthema gewesen: Daß man eine Aussage sprachlich erst in den Griff bekommt, wenn man sie inhaltlich schon überwunden hat. Er hatte den Umstand „das ewige bekotzte Ungenüge des schöpferischen Menschen an seinem Werkzeug“ genannt. Er machte so etwas nie auch nur um einen Groschen billiger, und da half es auch nicht, wenn man ihn vorsichtig auf die Leichtgewichtigkeit seiner Aussagen hinwies. Ich schlug die Kladde zu, und das gab einen leisen Knall. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich müßte den Keller sofort verlassen, müßte weg von dieser BarockKommode voller beschriebenem Papier und von dem Pult, an dem Carl gestanden und gearbeitet hatte, weil ihm zu Ohren gekommen war, ein anderer habe es so gehalten, weg auch von der Hobelbank und den Werkzeugen an den Wänden, diesen Andeutungen, daß der universale Mensch eben mit allem umgehen kann, auch mit Holz und Blech. Aber da stand Gisela, und sie erwartete von mir … Ja, was erwartete sie eigentlich von mir? So fragte ich: „Was sollen wir beide hier unten?“ „Uns informieren“, lautete ihre trockene Antwort, „wer Carl Schanzer war.“ „Ich kenne Carl.“ 129
„Wirklich?“ Sie griff in die Schublade, zog ein Manuskriptbündel heraus, das mit Kordel zusammengehalten wurde. „Wußtest du zum Beispiel, daß er von seinen Stücken alle Entwürfe, jede überarbeitete Fassung, jeden Papierschnipsel aufbewahrt hat?“ Sie hielt mir den Packen hin, als wollte sie mir ein Diplom überreichen. „Für die Nachwelt. Du bist Nachwelt, mein Lieber, greif zu.“ Sie las vom obersten Blatt ab: „In der Heumahd ist’s am schönsten, bäuerliches Musical, uraufgeführt am 10. Mai 1961. 1. Fassung, entstanden Mai/Juni 1960.“ Sie rümpfte die Nase. „Kennst du den Schmarren?“ „Was frißt an dir, Gisela?“ „Eigentlich nur, daß ich nicht so recht wußte, mit wem ich verheiratet war.“ Sie ließ das Manuskriptbündel in die Schublade zurückfallen. „Und daß ich es eigentlich schon gar nicht mehr wissen will. Du wirst mich natürlich einen nachtragenden, ichbezogenen Menschen nennen oder wie immer ihr Seelenklempner euch ausdrückt. Aber ich bin mit alledem fertig.“ Sie schlug leicht mit der flachen Hand auf die polierte Platte der Kommode wie auf einen Sargdeckel. Dann ging sie zur Tür, öffnete sie, drehte sich noch einmal zu mir um und sagte: „Die Briefe liegen in der untersten Lade, die von Fräulein Schulz ganz rechts. Wenn du die Nase voll hast oder weißt, was du wissen willst: Ich mach’ dir ein Bett auf der Couch in Carls Arbeitszimmer. Und übrigens wundere dich nicht, daß ich nicht früher hinter den ganzen Schlamassel gestiegen bin. Dein Freund hat sich die Briefe postlagernd schicken lassen, wie ein Heiratsschwindler. Ein paar Kuverts hat er wegzuwerfen vergessen.“ Als das Klappern ihrer Pantoffeln auf der betonierten Treppe verklungen war, spürte ich nichts von Erleichterung. Eine Welle von Unbehagen überflutete mich. Zunächst blieb ich reglos bei der geöffneten Schublade stehen. Einen Seelenklempner hatte sie mich genannt, das wurmte mich. Daß die meisten Menschen kein normales 130
Verhältnis zu diesem Beruf fanden! Ich setzte mich auf die Hobelbank, behielt die Kommode im Blick. Sollte ich wirklich in Carls Leben herumstöbern? Stärker noch als an dem Abend, an dem mich die Nachricht von Carls Tod erreicht und mich in Zweifel an der Qualität des Verhältnisses zwischen ihm und mir gestürzt hatte, bedrängte mich jetzt die Frage, ob ich Carl wirklich gekannt und ob ich ihn richtig einzuschätzen gewußt hatte. Zweifellos war Giselas Urteil zu hart, war es ungerecht, und ich glaubte zu wissen, daß sie es revidieren würde, wenn sie all die jetzt auf sie einströmenden widersprüchlichen Emotionen verarbeitet hatte. Ich durfte mich nicht – das wurde mir allmählich klar – von ihrem zeitweiligen Unmut beeinflussen lassen. Carl war kein aufgeblasenes Nichts gewesen, nicht nur der geschickte Manipulator seines kleinen Talents – trotz der Hemingway-Nachäfferei und der komischen Vorsorge um seinen Nachruhm. Jetzt fielen mir interessante und mich bereichernde Gespräche mit ihm ein, Unterhaltungen, die etwas von dem Menschenfreund Carl zum Vorschein brachten, dem daran lag, seinem Publikum nicht Vergessen der Alltagsprobleme, sondern deren vergnügliche Bewältigung anzubieten. Und das hat er mit viel Geschick und Können seit Jahren geschafft. Wer war ich, daß ich ihm nachreden durfte, er war kein Brecht, kein Schiller? Und seine Amouren, die Gisela in so arge Wirrnis stürzten: Kam es mir denn zu, sie als unmoralisch zu verwerfen? Ich hatte mich in das Abenteuer begeben, Licht in die ungeklärten Umstände seines Todes zu bringen, nicht mehr und nicht weniger, und einzig diese Aufgabe hatte ich zu lösen. Wenn ich ihn nicht so gekannt hatte, wie er wirklich war, wenn ich ihn als Persönlichkeit noch immer nicht recht einzuschätzen wußte, wenn ich im Zweifel darüber stand, ob er mir denn ein Freund gewesen war: All das konnte sich zwar störend auf meine selbstgewählte Recherche auswirken, 131
durfte mich aber nicht grundsätzlich daran hindern, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Die Frage, ob es klug gewesen war, mich auf die Affäre überhaupt einzulassen, schob ich beiseite. Mitten in einem Unternehmen sollte man nicht Skrupeln zuviel Platz einräumen. Und als sei ein Stichwort gefallen, sprang ich auf die Füße, trat an die Kommode heran, schloß die oberste Schublade und zog die unterste auf. Das gleiche Bild wie vorhin: geordnete Papiere, Aktendeckel, Schnellhefter, ein paar große Briefumschläge, prall gefüllt. In dem einen, den ich öffnete, waren Fotografien gesammelt: Carl bei Premieren, in stets ähnlichen Posen, nämlich lächelnd, wodurch sein harmlos jungenhaftes Aussehen erst so recht zur Geltung kam, und fast immer Kopf an Kopf mit einer Dame; Carl an seinem Prunktrumm von Schreibtisch, umgeben mit all dem Krimskram, der sich auf so einer großen Fläche ansammelt und den die Fotografen von Profession als Vordergrundfüllung so sehr schätzen; Carl vor seinem neuen Auto, dem letzten, eine Hand rückwärts auf den vorderen Kotflügel wie auf eine Ballustrade gestützt, dabei ernst, als sei er sich der Bürde des Besitzes bewußt … Mir kam das weise Gebot der Juden und Mohammedaner in den Sinn: Du sollst dir kein Bild machen. Ich schob die Fotografien wieder in den Umschlag. Rechts, hatte Gisela gesagt, lägen die Briefe von Fräulein Schulz. Rechts lag einer der breitrückigen LeitzOrdner, die, zwecks schnellerer Orientierung, eine alphabetische Einordnung gestatten. Privat stand in klobigen Lettern auf dem Rücken, und ich zögerte, den Deckel aufzuschlagen. Hastig stöberte ich in den meist handbeschriebenen Blättern herum, als täte ich etwas Verbotenes. Dann hatte ich sie gefunden, die Briefe von Fräulein Schulz, unterschrieben, wie Gisela mir am Telefon schon gesagt hatte, mit Deine liebe kleine Margot, und alle eingeordnet unter dem Buchstaben S. Es waren 132
vielleicht drei Dutzend Briefe, den Daten nach sortiert, der früheste vor ungefähr drei Jahren geschrieben, der letzte stammte vom August des laufenden Jahres, war also noch keine fünf Wochen alt. Obwohl ich es gewohnt bin, die Korrespondenz stark verwirrter Patienten, meist an Behörden gerichtet oder an den Staatsrat, die UNO oder den Papst, zu lesen, also in Intimsphären einzugreifen, wie man heutzutage zu sagen pflegt, wuchsen meine Hemmungen wieder und die Versuchung, den ganzen Kram hinzuschmeißen. Doch dann überwand ich meine Scheu, und ich las – las absichtlich flüchtig die ersten Briefe, die noch von einem Fräulein Schulz geschrieben waren, das sich an der Schauspielschule tummelte. Zwischen ihr und Carl schien so etwas wie eine Geistesfreundschaft bestanden zu haben, jedenfalls war viel die Rede von Aufgabe und Sinn des Theaters überhaupt und des Schauspielers im besondern, auch waren Meinungen über Stücke ausgebreitet – Ibsen spielte eine Rolle (da Fräulein Schulz sich offenbar in das Studium der Nora versenkt hätte und Meinung darüber erbat, wie dieser Charakter aufzumöbeln sei), auch Wilder und Anouilh und Hacks (gegen letzteren hatte Carl dem Fräulein Schulz anscheinend eine Abneigung eingeflößt, und das arme Mädchen bemühte sich nun, dem Urteil des Mentors auch rational gerecht zu werden). Stimmung und Themen änderten sich rapid, nachdem Margot Schulz ihr erstes Engagement, das in N., angetreten hatte, ganz ohne Zweifel mit Hilfe Carls. Jetzt kamen Sätze vor, in steiler, noch kindlicher Schrift und mit wenig Rücksicht auf die Interpunktion geschrieben, die eindeutig Bezug nahmen auf gehabte Bettstunden. Von Traurigkeit nach dem Abschied war jetzt die Rede und von Sehnsucht nach hoffentlich baldiger Wiedervereinigung. Ich fühlte mich wie ein Voyageur, da die Lektüre nichts enthüllte als das, was ich pauschal schon durch 133
Gisela erfahren hatte. Da stieß ich in einem Brief vom April des laufenden Jahres auf ein Postskriptum: „Übrigens hat der King mich heute früh auf der Probe wieder angequatscht. Ob Du schon etwas von Dir hättest hören lassen, wollte er wissen. Was soll ich ihm sagen?“ Und seitdem tauchte der King in fast jedem der restlichen Briefe auf. Er sei wütend geworden, hieß es von ihm, dann: „Ich kann mich kaum noch vor dem King retten. Es wäre besser, du sprichst mal mit ihm und bringst die Angelegenheit ins reine. Neulich hat er mir sogar an der Haustür aufgelauert.“ Ich las genauer, plötzlich leicht beunruhigt. Wer war dieser King, was hatten Carl und die Schulz mit ihm zu schaffen, warum nannte sie ihn nicht bei seinem Namen? Und auf wen deutete der Spitzname hin, auf einen Mann in gehobener Stellung, einen König in seiner Arbeit? Ich ließ den Aktenordner auf die Knie sinken und starrte gegen die niedere Kellerdecke, als ob von dort eine Erleuchtung zu erwarten sei. Sie kam nicht, die Erleuchtung. Mehr als eine primitive Tatsachenfeststellung brachte ich nicht zustande: Es gab in N. einen Mann, mit dem Carl sozusagen im unreinen war, und der Mann mußte beim Theater beschäftigt sein, denn er hatte Margot Schulz ja auf der Probe angesprochen. Also doch Wittlich, der sich die ganze Zeit über giftet, weil die Schulz sich mit Carl abgibt? Aber warum dann King ? Und außerdem: Aus den letzten Briefen ging hervor, daß Carls Leidenschaft abgekühlt war, denn Margot Schulz ließ in elegischen Reminiszenzen an Gehabtes Enttäuschung darüber anklingen, daß es mit der Fortsetzung des schönen Verhältnisses hapere. „Jetzt bist Du schon seit vier Monaten nicht hier gewesen“, hieß es in einem Brief vom Juni, „denkst Du überhaupt noch an mich und an unsere Stunden?“ Aber warum sollte Wittlich, wenn er der King war, sich solcherart ungebührlich aufführen? Denn auf derselben Seite stand: „Mein Gott, der 134
King ist außer Rand und Band. Er will sich an den Intendanten wenden!“ Ich schüttelte den Kopf, aber meine Gedanken setzten sich nicht anders zusammen, so ein Kopf ist schließlich kein Kaleidoskop, und es blieb die Ratlosigkeit. Resigniert und zugleich begierig auf eine mögliche Enthüllung, machte ich mich an die letzten Briefe. Mitte Juli schrieb Margot Schulz, sie freue sich unendlich, in dem neuen Stück von Carl mitspielen zu können. Sie habe sich nach der Rollenverteilung vor Freude gleich ein bißchen betrunken. „Selbst die Muffelei von dem King kann mich nicht dämpfen. Er ist zwar nicht mehr so gemein, seit Du mit ihm gesprochen hast, aber ich glaube, er brütet noch immer Unheil.“ Es folgte eine überschäumende, für den Außenstehenden peinlich zu lesende Erinnerung an eine gemeinsam verbrachte Nacht im Hotel. Mir war wichtig: Carl mußte in N. gewesen sein, im Juli, wahrscheinlich um die Aufführung seines Stücks zu besprechen, und dabei hatte er eine Unterredung mit dem King gehabt, durch die der anscheinend ein bißchen versöhnlicher gestimmt worden war. Schließlich der Brief vom August, der letzte: Aus ihm sprach mehr heitere Gelöstheit. Margot Schulz freute sich auf die Premiere, in einem Maß, das an die Freude einer Schwangeren aufs Wochenbett denken ließ. Der Ton war lockerer, fröhlicher, und selbst der fast obligaten Bemerkung über den King fehlte alle düstere Verkrampfung. Von ihm hieß es: „Wenn ich daran denke, daß auch der King zu Deinem Erfolg beiträgt, möchte ich laut loslachen. Ich hoffe, Du vergißt nicht mein Engagement in der Sache. Das hätte ja alles so furchtbar peinlich werden können, für Dich … Aber vertrau nur auf Deine liebe kleine Margot, die will nur Dein Bestes, in allem, verstehst Du?“ Am Schluß stand: „Auf bald, Lieber. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wir eines 135
Tages doch einander ganz gehören. Inzwischen warte ich geduldig und unverzagt.“ Ich versuchte, mich an die Nacht der Premierenfeier zu erinnern. Hatte ich da Anzeichen für ein so enges Verhältnis zwischen Carl und Margot Schulz bemerkt? Mir fielen nur Bilder ein, die eher auf einen harmlosen, aus dem Augenblick geborenen Flirt schließen ließen, und das stellte meiner Menschenkenntnis, auf die ich immer so stolz war, nicht gerade das beste Zeugnis aus. Wittlichs Rage, ja, die stand mir noch klar genug vor Augen. Aber Fräulein Schulzens Verliebtheit? Und dann: Trauer, Betroffenheit nach Carls Tod – hatte ich das bei ihr in den letzten Tagen verspürt? Nichts als ihre Sorge um Wittlich war mir bewußt, vielleicht noch eine mehr allgemeine, nicht recht faßbare Depression. Sie hatte geschauspielert. Oder hatte sie Carl etwas vorgemacht, dem Mann, der ihre Karriere fördern konnte? Ich fühlte mich überfragt. Und dann sagte ich mir: Ist das dein Problem? Das alles ging nur die Schulz etwas an. Und selbstverständlich Gisela. Bei dem Gedanken an Gisela regte sich das schlechte Gewissen in mir. Die ganze Zeit über hatte ich nicht an sie gedacht. Ich war nur darauf konzentriert gewesen, auf die mich bewegenden Fragen eine Antwort zu erhalten. Wie mußten die Briefe auf sie gewirkt haben! Ziemlich hilflos versuchte ich mir einzureden, ein starker Charakter wie Gisela werde die Enttäuschung, die Carl bereitet hatte, verwinden können, gewiß: nach einer Phase der Bitterkeit, des Beleidigtseins. Glücklich wurde ich bei diesem Versuch, Giselas Empfindungen in überschaubare Dimensionen zu bringen und daraus Beruhigung zu gewinnen, nicht. Es drängte mich, den Keller zu verlassen, ihr einige Worte des Trostes zu sagen. Mochte sie gereizt und abwehrend reagieren, ich nahm mir vor, Geduld, Verständnis, auch das nötige Maß an Bereit136
schaft aufzubringen, ungerechtfertigte Anwürfe gegen mich zu ertragen. Vorsichtig löste ich die Briefe aus der Halterung, und gleich war ich wieder bei der Sache, bei diesem King vor allem und bei den Vermutungen, in welcher Beziehung er zu Carl gestanden haben mochte. Daß der Unbekannte zu Carls Erfolg beitrug, konnte doch nur heißen, er war an der Aufführung des Stücks beteiligt. Aber wer war es aus dem doch recht überschaubaren Grüppchen? Fräulein Schulz schied aus, auch Frau Feierabend, denn die Bemerkungen in den Briefen waren eindeutig auf eine männliche Person bezogen. Blieben also Wittlich, auch wenn ich inzwischen kaum noch an seine Täterschaft glaubte, Finkenmeier, Brunnenmüller, Sommer. Dann fiel mir noch Hannes Kaul ein, der Beleuchter, von dem ich bisher nur einmal gehört hatte. Gab es da nicht noch mehr Leute, die zu Carls Erfolg beigetragen hatten? Die Schauspieler in den Nebenrollen, deren Namen ich bisher nicht einmal kannte, Bühnenarbeiter, Garderobieren, Maskenbildner. Aber war denn überhaupt dieser King mit Carls Tod in Verbindung zu bringen? Wenn Fräulein Schulz erreichbar gewesen wäre, ich hätte sie sofort aufgesucht, und ich wäre nicht glimpflich mit ihr umgegangen! Allein an ihr lag es, daß sich meine Gedanken je länger, desto verbiesterter in einem Irrgarten tummelten. Nur sie konnte Licht in die Angelegenheit bringen, wenigstens die Frage beantworten, wer das war, von dem sie in ihren Briefen so oft sprach. Sie allein? Mir fiel das Tagebuch in der obersten Schublade ein. Warum sollte nicht Carl auf die richtige Spur führen? Bei dem Gedanken wurde ich ganz kribbelig. Ich riß das Fach auf, nahm die Kladde mit der Aufschrift Tagebuch 3. 2. 1977 –. Es begann mit Carls Geburtstag; die letzte Eintragung trug das Datum vom 1. September. Nach zwei, drei Seiten schon erkannte ich, daß ich es nicht mit echten, der Selbstverständigung we137
gen oder als Gedächtnisstütze verfaßten Notizen zu tun hatte. Je weiter ich las, desto deutlicher wurde mir: Das ganze Ding war darauf angelegt, von anderen gelesen und, wenn möglich, bei passender Gelegenheit veröffentlicht zu werden. Was da aus den Zeilen quoll, wäre er selber gern gewesen: rundum gebildet, besonnen, so öffentlich engagiert wie am einzelnen interessiert, weise natürlich vor allem, kaum dem politischen Alltagskram gegenüber aufgeschlossen, aber um so mehr dem, was er an einer Stelle im Zusammenhang mit einer Reflektion über Maos Tod unsere Epochenproblematik nannte. Da wimmelte es von Ansichten zu allem möglichen, zur Atomenergie, zur Antibabypille, zu Büchern, die er allzu offensichtlich nur durch Rezensionen kannte, sogar zu militärtaktischen Fragen, zur Musik (hier wußte ich Bescheid: Carl war auf dem Gebiet ein Kaliban und konnte C-Dur nicht von a-Moll unterscheiden), zu einer ganz nebulösen Sache, die er mit mein Geschichtsbewußtsein bezeichnete, zur Ökonomie und Gott weiß was allem. Selten, daß er einmal Worte über etwas verlor, was sich in seinem Haus zugetragen hatte. Gisela spielte so gut wie keine Rolle, seine Tochter kam – soweit ich das überblicken konnte – gar nicht vor. Dafür war mit komischer Akribie festgehalten, wann er was dem hinzugefügt hatte, das er andauernd mein Werk nannte, wann ihm eine Idee gekommen, wann ihm Anerkennung durch eine Zeitung oder in einem Gespräch widerfahren war … Natürlich fand sich jede Menge Anmerkung zum Theater, allerdings kaum Konkretes, sondern in der Pose des Kenners vorgetragene Betrachtungen zu allgemeinen Themen, zum Beispiel zur Verfremdung (die er auf eigenartige Weise als den Versuch deutete, dem Wort wieder das Vorrecht vor der Geste zu geben), zur Bedeutung des Bühnenbilds, zur Aufgabe des Regisseurs (den er, wahrscheinlich unerquicklicher Erfahrungen wegen, am liebsten ganz aus dem Spiel haben wollte), 138
zur Unzurechnungsfähigkeit der Schauspieler in allen Belangen, die über das Vortragen eines Textes hinausgehen (in einer ausnahmsweise witzig geschriebenen Passage verwahrte er sich dagegen, daß Schauspieler selber Stücke verfaßten), zum Musical, zum Lustspiel (wobei er als eine Art Erbe Molieres posierte). Es war schon eine anstrengende Lektüre. Aber vom King keine Spur, nicht ein Hinweis, wer mit diesem Pseudonym gemeint sein könnte. Als ich die letzte Tagebucheintragung hinter mich gebracht hatte, fühlte ich mich ziemlich erschöpft. Die Augen brannten mir, und mein Hintern schmerzte vom Sitzen auf der Hobelbank. Ich sah auf die Uhr und stellte überrascht fest, daß es bereits auf zwei zuging. Ich steckte die Briefe der Schulz in die Innentasche meines Jacketts, und plötzlich spürte ich die Müdigkeit in allen Gliedern. Ein Glück, daß Gisela mir ein Bett auf der Couch gemacht hatte. Ich stieg leise die Kellertreppe hinauf, um niemanden im Schlaf zu stören, doch meine Vorsicht war unnötig. Die Tür zur Kamin-Halle stand offen, das Licht einer Stehlampe fiel auf Gisela, die in einem Ohrensessel saß und las. „Komm ’rein“, sagte sie und ließ das Buch sinken. „Ich dachte mir, nach der Wühlerei brauchst du was, um den Staub aus der Kehle zu spülen.“ Sie wies auf ein zweites Glas vor sich auf dem Tisch. „Gieß dir selber ein.“ Nachdem ich mich zu ihr gesetzt und ein Glas Bier fast in einem Zug ausgetrunken hatte, wartete ich darauf, daß sie mich nach dem Ergebnis meines Suchens fragen würde. Aber sie fing an, sich über ihre Tochter zu beklagen, mit der sie offenbar Ärger gehabt hatte. Ziemlich weitläufig ließ sie sich über die Impertinenz der jungen Mädchen aus und darüber, daß man in schwierigen Lagen keine Unterstützung von ihnen erwarten dürfe. Eine Weile hörte ich mir das Lamento an. Dann fragte 139
ich ziemlich barsch: „Interessiert es dich eigentlich nicht, was ich unten entdeckt habe?“ „Doch wohl, daß Carl sich einen Nuttenstall gehalten hat.“ Ich hatte den Eindruck, sie war auf diese Frage präpariert und hatte sich das ordinäre Wort zurechtgelegt. „Wenn du es so nennen willst.“ Ich war bemüht, keinen Ärger zu zeigen, schon um ihr den Triumph, mich schockiert zu haben, nicht zu lassen. „Aber mir ging es um etwas anderes, das weißt du.“ „Stimmt, ja.“ Sie gab sich weiterhin an der eigentlichen Sache unbeteiligt. „Konntest du etwas Brauchbares finden? Mit wie vielen von den Damen hast du dich übrigens bekannt gemacht?“ Das zweite Bier wurde mir schal im Mund. „Ich interessiere mich nur für die Briefe von Fräulein Schulz, das weißt du.“ „Schade.“ Sie sah mich mit einem Lächeln an, das hintergründig sein sollte, aber nur ihr Gesicht entstellte. „Sicherlich hättest du deine Freude gehabt an den Bräuten.“ „Was soll das?“ Ich hatte die Sottisen satt. „Du wolltest mir von deinen Entdeckungen berichten.“ Mit ihr war nicht zu reden. Ich stand auf. „Nichts von Belang“, sagte ich. „Aber vielleicht kennst du einen, der King genannt wird.“ „Du meinst diesen Burschen, von dem die Schulz andauernd faselt? Da mußt du sie schon selber fragen.“
10. Als ich am Morgen aus dem Bad kam, hatte Gisela in der Eßecke der Küche bereits den Frühstückstisch gedeckt. Sie sah nicht aus, als hätte sie sich die halbe Nacht um 140
die Ohren geschlagen, das Haar trug sie zu einem losen Knoten zusammengeschlungen, das Gesicht glänzte wie nach einer Kaltwasserwäsche. Die Tochter sei längst in der Schule, sagte sie. Und dann unvermittelt, während sie Butter auf das getoastete Brot strich: „Ich werde meine Mutter anrufen, sie soll sich heute und morgen um Renate kümmern. Mein Direktor gibt mir unbezahlten Urlaub. Ich begleite dich nach N. Du wolltest doch zurückfahren?“ Die Ankündigung erfüllte mich sofort mit Unbehagen, weil ich daran dachte, Gisela könnte eine Auseinandersetzung mit Margot Schulz suchen. Ich muß wohl erschrocken ausgesehen haben, denn Gisela ging sogleich auf meine unausgesprochenen Befürchtungen ein, versicherte, sie werde sich in meine Angelegenheiten nicht einmischen. „Wenn du die Sache überhaupt noch als deine Angelegenheit betrachtest“, fügte sie hinzu. Dann noch: „Ich könnte verstehen, wenn’s dir keinen Spaß mehr macht.“ „Von Spaß ist nie die Rede gewesen.“ „Nicht?“ Ich glaubte für einen Moment, sie habe es darauf angelegt, mich zu provozieren. Aber sie verwischte diesen Eindruck sofort wieder durch Sachlichkeit. „In der Nacht wolltest du wissen, ob ich schon von einem King gehört hätte. Ich habe nachgedacht. Carl hat einmal vor ein paar Wochen etwas von einer unerfreulichen Affäre gesagt, die ihm am Hals hing. Irgendein Kerl ließe nicht locker. Ich wußte nicht, auf wen und auf was er anspielte. Hätte ich geahnt, daß es mit der Schulz zusammenhing, ich wäre sicherlich aufmerksamer gewesen.“ Carl schien Gisela tatsächlich von seinen Problemen außerhalb des Hauses ferngehalten zu haben. Aber welcher Ehemann bindet seiner Frau schon auf die Nase, wenn er in Kalamitäten geraten ist, weil er etwas mit einer anderen hatte? 141
„Wenn es aber mit Margot Schulz nichts zu tun hat?“ fragte ich. Die Überlegung hatte mich ein paar Stunden zuvor beim Einschlafen ziemlich heftig beschäftigt. Sie sah mich skeptisch an, eine Augenbraue hochgezogen und eine Toastscheibe in der Hand, dann kroch ein Lächeln von den Mundwinkeln über die Nasenflügel bis zu den Augenfältchen. hoch, ein noch unsicheres, aber so freundliches Lächeln, wie ich es in den letzten Tagen von ihr nicht mehr gesehen hatte. „Du willst mich ablenken von der Madame Schulz, stimmt’s?“ „Ich will eigentlich nur einen Gedankengang verfolgen.“ So leid es mir tat, ihre aufkommende Rührung zu paralysieren, ich mußte ihr klarmachen, wie sich die möglicherweise wichtige Erwähnung eines Mannes, dessen Namen wir nicht kannten und von dessen Rolle wir nichts wußten, in größere Zusammenhänge einbauen ließ. „Setzen wir den Fall, daß …“ „Hör auf!“ Giselas Lächeln verschwand. Von einer Sekunde zur anderen versteinerte ihr Gesicht. Ihre Stimme war eisig, als sie sagte: „Gib dir keine Mühe, der King hat mit der Schulz zu tun. Der wußte, was die beiden miteinander trieben, und er hat sie wahrscheinlich damit erpreßt. So einfach ist das.“ „So einfach ist das“, wiederholte ich und konnte mich für den Augenblick nicht ihrer vordergründigen Logik entziehen. Aber mußte es so einfach sein? Ich hörte Gisela sagen, sie habe keine Lust, da zu spekulieren, wo alles klar am Tag liege, und daß sie nicht verstehe, wieso ich an Tatsachen vorbeirede, schwieg aber. Der Appetit war mir vergangen, ich hielt mich an den starken schwarzen Kaffee, bemerkte nicht einmal, daß Gisela die Küche verließ, so sehr war ich mit Mutmaßungen, den King betreffend, beschäftigt. Dabei hatte ich, je länger, desto mehr, das quälende Gefühl, die Erklärung liege zum Greifen nahe. Ich versuchte, Erlebtes und Gelesenes in Übereinstimmung zu bringen, mich an 142
vielleicht Vergessenes zu erinnern oder Übersehenes ins Blickfeld zu bekommen, dabei gleichzeitig Carls Charakter nach möglichem Verhalten zu befragen. War denn Carl überhaupt einer, der sich wegen einer Liaison erpressen ließ, wie Gisela sich das vorstellte? Ich dachte daran, mit welcher Selbstverständlichkeit er mir Franziska ausspannen wollte und mir im Sinn des Wortes schamlos erklärte: Das macht doch der Freundschaft kein Loch, alter Junge. Nein, sowenig Skrupel er hatte, ein Verhältnis mit einer Frau einzugehen, sowenig hätte er sich von einer Drohung schrecken und dazu bringen lassen – er, Carl Schanzer –, das Verhältnis aufzugeben. So etwas konnte nicht die unerfreuliche Affäre gewesen sein, von der er Gisela andeutungsweise erzählt hatte. Und dann: Hätte er seiner Frau gegenüber eine Andeutung gemacht, wenn es um eine Liebschaft gegangen wäre? Vor lauter Konjunktiven entschwand mir die Wirklichkeit. Vor Jahren hatte ich in einem alten Krimi die lehrhaft vorgetragene Maxime gelesen, daß es des Detektivs vornehmste Pflicht sei, sich über die Person des Opfers klarzuwerden, ehe er zur Aufklärung des Verbrechens schritt. Wenn sich der Charakter des Opfers geklärt hat, – hatte es dort geheißen – klärt sich das Motiv, und mit dem Motiv klärt sich die Tat. Und ich hatte mich ohne Beherzigung dieser Lehre in die Schlacht gestürzt, von der Illusion besessen, Carl genau zu kennen, nur weil er seit Jahrzehnten mein Freund war, wir uns doch wenigstens als Freunde betrachtet hatten. Und dabei hatte ich mich immer weiter auf unbekanntes Terrain begeben und war – wer weiß? – in manchen Hinterhalt gefallen. Es tröstete mich jetzt wenig, daß auch Gisela ihn offensichtlich nicht so recht gekannt hatte. Ich kam zurück in die Gegenwart, die Wirklichkeit, als Gisela im Mantel, einem Gabardine-Paletot, in die Küche trat. 143
„Wir können fahren“, sagte sie. „Wir nehmen Carls Auto, wenn du nichts dagegen hast.“ Ich konnte nichts dagegen haben, auch dagegen nichts, daß sie die Prachtkutsche noch immer als Carls Auto bezeichnete. Macht der Gewohnheit, registrierte ich, oder unterbewußte Weigerung, Realitäten zu akzeptieren, oder schlicht Ablehnung des protzigen Gefährts. Gisela fuhr mit der Sicherheit gescheiter Frauen, die es an Umsicht wie an kalkulierter Risikobereitschaft mit jedem männlichen Chauffeur aufnehmen. So kamen wir schnell voran auf der nassen, sehr belebten Chaussee, ohne daß ich jemals den Eindruck hatte, Gisela könnte auch nur eine Sekunde lang nicht Herrin der Situation sein. Gesprochen wurde wenig, nur als wir durch ein Landstädtchen über holpriges Pflaster fuhren, wurde sie lebhafter. Sie erzählte, hier sei sie in der Nachkriegszeit bei der Großmutter aufgewachsen, die einen Kolonialwarenhandel betrieben hatte und für die Enkelin besser sorgen konnte als die Mutter, die Kriegerwitwe und dann dauernd auf Schulungen war. Langsam fuhren wir an dem Laden vorüber, der gegenüber einer alten Kirche und einem sowjetischen Kriegerdenkmal lag und der jetzt zu Giselas Enttäuschung ein Versammlungslokal der Nationalen Front beherbergte. Erst vor acht Jahren habe die alte Frau das Geschäft aufgegeben und sei zwei Jahre später gestorben. Ich sah sie für einen Moment an, als sie mir bei der Erklärung das Gesicht zuwandte, und glaubte Verwirrung in ihren Augen zu finden. Dann aber beschleunigte sie die Fahrt und konzentrierte sich wieder voll auf Straße und Verkehr. Kurz vor N. sagte sie: „Ich habe dich wohl überrumpelt. Mit meiner Ankündigung, dich zu begleiten.“ „Nicht überrumpelt, erstaunt.“ Sie nickte, als sei das eine ausreichende Erklärung für sie. „Ich weiß auch nicht, warum ich noch einmal in die144
ses Nest fahre“, sagte sie eine Weile später. „Vielleicht ist etwas in mir nicht einverstanden damit, daß du allein dich um Carls Angelegenheiten kümmerst.“ Diesmal nickte ich. In den anderthalb Stunden neben ihr war ein Gefühl des Zusammengehörens entstanden. Alle Hektik der vergangenen Tage, die Spannungen, die am Abend zuvor und noch am Morgen das Miteinanderumgehen so schwierig gemacht hatten, waren ausgeschlossen aus dem bequemen Auto, das leise surrend durch den Nieselregen fuhr. Minutenlang entrückte mir das Ziel der Fahrt, wiegte ich mich in schöner Gedankenlosigkeit, in der alles Platz hatte außer Carls Tod und der Notwendigkeit, seine Umstände aufzuklären. Es webte die Illusion, ich machte mir einen schönen Tag an der Seite einer schönen Frau. Erst als Neubaublocks, grau und spröde in ihrer Massivität, die Stadt ankündigten, zerriß der Schleier. „Ich bin für heute abend zu einem Geburtstag eingeladen“, sagte ich als erstes, um sie darauf vorzubereiten, daß sie einige Stunden allein würde verbringen müssen. „Ob ich dich da begleiten kann?“ Das klang kleinlaut. „Aber ich habe ja nichts anzuziehen.“ Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, Gisela auf Brunnenmüllers Geburtstagsgesellschaft zu präsentieren, wo wahrscheinlich alle Leute vom Theater zusammenliefen. Aber die abgedroschene Floskel, sie habe nichts anzuziehen, stimmte mich versöhnlicher, und so ließ ich die Komplikationen, die ich befürchtete, vorerst aus meinen Erwägungen. Zunächst mußte ein Zimmer gefunden werden, am besten im selben Hotel. Der Portier, der über einen speziellen Sinn für Leute mit Haus, Auto und mehr als auskömmlichen Einnahmen verfügte, behandelte Gisela mit einer selbstverständlichen unaufdringlichen Höflichkeit, von der auch ein Schimmer auf mich fiel. Er brachte das Kunststück fertig, Gisela mit einer angedeuteten Frage anzutragen, 145
gemeinsam mit mir ein Doppelbettzimmer zu beziehen, und sich zugleich die Möglichkeit offenzulassen, jede Antwort als von ihm erwartet zu akzeptieren. (Etwa so: „Sie wollen vielleicht nicht doch unser schönstes Zimmer – Doppelbett …?“) „Ich will vielleicht denn doch nicht“, antwortete Gisela und blieb ernst, während der Mann nickend zustimmte, als habe er an keine andere Entscheidung gedacht. „Also dann: einhundertundacht. Erste Etage links.“ Ich ging nicht mit ihr hinauf. In einem der zerschlissenen Sessel machte ich es mir so bequem, wie es die durchgesessenen Polster zuließen, und versuchte, ein Programm für den Tag zu entwerfen. Eines stand fest: Ich würde schwerlich einen Schritt ohne Gisela tun können. Also kam es darauf an, Situationen zu vermeiden, in denen schon durch ihre Anwesenheit allein ein Gespräch, wie ich es mir vorstellte, unmöglich wurde. Ich sah keine Lösung dieses Problems und beschloß, den Ablauf des Tages dem Zufall zu überlassen. Eines nur stand für mich fest: Als erstes würde ich Fuhrmann aufsuchen, ihm die Briefe übergeben, die für den Fortgang der Ermittlungen von entscheidender Bedeutung sein konnten. Gisela holte mich aus meinen Überlegungen, sie sah unternehmungslustig aus, wie sie da vor mir stand, bestimmte auch sogleich, daß wir irgendwo ein Mittagessen einnehmen sollten, ehe wir uns ans Werk machten, wie sie das nannte. Ich schlug die Drei Enten vor, schon um mir das befriedigende Gefühl zu gönnen, ein Kenner der Szene zu sein. Unterwegs eröffnete ich ihr, daß ich als nächstes den Kriminalisten aufsuchen werde, und sie zeigte sich gar nicht erbaut davon. „Und die Schulz?“ fragte sie. „Wenn deine Vermutungen richtig sein sollten, dann liegt doch bei ihr der Schlüssel.“ „Eben darum gehe ich zu Fuhrmann.“ Ich hatte keine 146
Lust, ihr umständlich mein Motiv zu erklären, ihr auseinanderzusetzen, daß ich allzulange ohne Erfolg den Detektiv gespielt hatte und nun nicht mehr viel Verlangen spürte, auf eigene Faust weiterzumachen. Während des Essens versuchte sie noch einmal, mich umzustimmen, die Polizei vorerst aus dem Spiel zu lassen. Ich stellte mich taub, lobte den Heilbutt, an dem ich herumpolkte, und sie resignierte. In Fuhrmanns Büro, hinter dessen Schreibtisch, saß Ginsterbusch, rauchte eine Brasil und begrüßte uns, indem er in komischem Erschrecken beide Arme hochwarf, obwohl wir durch den Mann an der Pforte telefonisch angemeldet waren. Nun hat dieser Bursche sich auch noch Verstärkung geholt, sollte es wahrscheinlich ausdrücken, und sein hageres, faltenreiches Gesicht verzog sich, als habe er in eine Zitrone gebissen. Doch er sagte nur: „Da sind Sie ja wieder, und diesmal in Begleitung. Aber immerhin“, setzte er, zu Gisela gewandt, hinzu, „daß Sie hier sind, erspart uns einiges. Einer von uns hätte Sie sonst aufsuchen müssen.“ Als wir dann zu dritt an dem Besuchertischchen saßen, erklärte ich, was ich in der vergangenen Nacht entdeckt hatte, und übergab ihm die Briefe von Margot Schulz. Er hörte zwar aufmerksam zu, wie es schien, hob aber nicht einmal eine Augenbraue, um das von mir erwartete Staunen auszudrücken. Und doch bemerkte ich in seinen Augen so etwas wie ein Interesse, das er wohl bei aller auferlegter Disziplin nicht gänzlich unterdrücken konnte. Es war zum Verzweifeln. Ein Lob hatte ich ohnehin nicht erwartet, als ich ihn statt Fuhrmann hinterm Schreibtisch sitzen sah, nicht einmal auch noch so bescheidenen Dank. Aber daß er überhaupt nicht reagierte (oder sich zwang, nicht zu reagieren), keinen Blick auf die Briefe warf, sie vielmehr, als seien sie völlig wertlos für ihn, vor sich auf den Tisch legte, weckte wieder meine Aversion gegen ihn. Ich unterdrückte die Bemer147
kung: Was muß man Ihnen eigentlich anschleppen, damit Sie einem ein freundliches Wort gönnen? Statt dessen fragte ich demonstrativ, ob Hauptmann Fuhrmann nicht zu sprechen sei. „Der Genosse Fuhrmann ist unterwegs, in Sachen Schanzer“, erwiderte er. „Sie müssen schon mit mir vorliebnehmen.“ „Gibt es denn etwas Neues?“ wollte Gisela wissen. „Neues?“ Ginsterbusch wiegte den Kopf. „Wie man es nimmt. Jedenfalls nichts, worüber man reden könnte.“ Er verbesserte sich mit einem schnellen Blick auf mich: „Worüber man jetzt schon reden könnte.“ Mein Unbehagen wuchs, und ich suchte mein Heil in der Flucht nach vorn. „Und was ich da herausgefunden habe, ist das nichts Neues?“ Gegen meinen Willen drängte sich so etwas wie Stolz auf die Entdeckung in meine Stimme. „Immerhin wissen wir jetzt, daß Carl Schanzer von irgendeinem Mann aus irgendeinem Grund belästigt worden ist, anscheinend massiv belästigt.“ „Von irgendeinem Mann aus irgendeinem Grund …“ Ginsterbusch nickte versonnen. „So etwas haben wir von der ersten Minute an vermutet. Und das nennen Sie eine Neuigkeit?“ Mit dem Mann konnte man nicht reden! Hilflos sah ich zu Gisela hinüber, doch die saß seltsam ungerührt da, als ginge es sie nicht allzuviel an. Intensiv betrachtete sie ihre Fingernägel, und als sie den Kopf hob, las ich in ihren Augen mehr Teilnahmslosigkeit als Interesse. „Übrigens“, Ginsterbusch kramte in seinen Rocktaschen nach Streichhölzern für seine Zigarre, die ausgegangen war, sicher um das gewollt Zufällige seiner Bemerkung zu unterstreichen, „Eugen Wittlich ist in der vergangenen Nacht gestorben. Ohne wieder zu Bewußtsein gekommen zu sein.“ Obwohl ich auf diese Nachricht hätte gefaßt sein müssen, traf sie mich wie ein Hieb vor den Magen. Ich 148
spürte, wie mir eine scharf schmeckende Flüssigkeit die Speiseröhre hinaufstieg. Wittlich war tot: Bedeutete das, daß der Mörder – wenn es einen Mörder gab, der nicht Eugen Wittlich hieß – es leichter haben würde, die Schuld von sich zu schieben? Jedenfalls blieb jetzt die Frage unbeantwortet, von Wittlich unbeantwortet, ob er Carl Schanzer wirklich schon tot aufgefunden hatte. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie die Polizei weiterhin recherchieren wollte, und das machte mich elend. Ginsterbusch sah mich abschätzend aus Schellfischaugen an. „Geht Ihnen wohl an die Nieren, das?“ Und als ich schwieg, setzte er hinzu: „Damit war zu rechnen.“ Das überstieg das Maß meiner Geduld und Zurückhaltung. Ich ließ eine Faust auf den dünnbeinigen Tisch krachen, daß Gisela zusammenzuckte. „Sie rechnen!“ sagte ich lauter, als bei der geringen Distanz zu Ginsterbusch nötig gewesen wäre. „Sie rechnen mit allem möglichen, daß jemand ermordet wird, daß jemand stirbt, daß einer nicht von zu Hause angerufen hat, daß …“ Mir gingen die Worte aus, und ich starrte auf die geballte Hand, die da vor mir auf dem Tisch lag, als gehöre sie zu jemand anderem. Als der Krampf aus meinen Fingern wich und ich mir allmählich meiner Lächerlichkeit bewußt wurde, hob ich den Blick, sah zuerst nach rechts, zu Gisela, in deren Augen Besorgnis und ein bißchen von dem stand, was man mit peinlich berührt sein umschreibt, und wandte den Kopf dann Ginsterbusch zu. Der tat noch immer unbeteiligt. „Habe ich Ihnen eigentlich schon einmal gesagt, daß Sie für einen Psychiater ausgesprochen …“, er suchte nach dem treffenden Wort, „sagen wir mal: unprofessionell reagieren?“ Das brachte er ganz sachlich vor, mit einer Spur von persönlichem Interesse, als nehme er Anteil an meinem Zustand und sorge sich, wie ich bei solcher Gemütsverfassung überhaupt meinen Beruf ausüben könnte. Dann wurde der Klang seiner Stimme zudringlicher. „Jawohl, 149
Herr Doktor Gammler, mit Wittlichs Tod war zu rechnen, wie damit, daß Sie uns wegen des Telefonats belogen haben könnten. Ich weiß nicht, was Sie gegen das Rechnen haben. Es ist ausgesprochen wichtig bei unserer Arbeit.“ Ich stammelte ein paar unzusammenhängende Wörter, die meine Absicht erklären sollten, es gehe mir doch, genau wie ihm, nicht um eine Konfrontation, und ich war Gisela dankbar, als sie sich vermittelnd einschaltete und ruhig – fast ein wenig schleppend, als müsse sie sich überwinden – sagte, es könne wohl nur ein Irrtum sein, wenn er, Ginsterbusch, aus meinen Worten so etwas wie eine Zurechtweisung herausgehört habe (schließlich hätten wir seit dem Wochenende alle nicht mehr die stärksten Nerven). Doch sie fand bei Ginsterbusch keine Bereitschaft zum Einlenken, Zwar nicht mehr so scharf, doch bestimmt genug, um mich seinen Tadel und Groll deutlich spüren zu lassen, hielt er dagegen: „Wenn wir nicht rechneten, könnten wir einpacken. Wir müssen die Möglichkeiten abwägen, ja, auch die, daß jemand stirbt.“ Dann stand er abrupt auf und ging zum Schreibtisch, fing zu schimpfen an: „Sie tun so, als hätten wir den Salat angerichtet und als mache es uns nichts aus, wenn ein junger Mann in seinen Tod rast, aus welchem Grund auch immer. Was Ihnen im Hinterkopf sitzt – ich weiß es –, das ist der pure Hochmut, die beschissene Arroganz des klugen Mannes, der anderen bei der Dreckarbeit zusieht und die Nase rümpft, weil es stinkt. Er weiß ja: Er selber wird nur von den vornehmsten Motiven geleitet, er ist der edle Rächer, so eine Art Robin Hood mit Feder am Hut …“ Er ging um den Schreibtisch herum, blickte zum Fenster hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Von hinten sah er eigentlich komisch aus, der kleine, schmächtige Mann mit dem schütteren grauen Haar, 150
trotz des heiligen Zorns, der in ihm tobte und ihm die Schultern hochgetrieben hatte, so daß er wie verrenkt wirkte. Aber mir war nicht zum Grinsen zumute. Nicht, daß ich mich vom Vorwurf der Arroganz getroffen fühlte – da war ich Heftigeres gewohnt, von meinen Patienten zum Beispiel oder von meiner geschiedenen Frau, in den letzten Tagen auch von Gisela. Im Gegenteil: Das Engagement, das hinter der Attacke steckte, rührte mich fast. Ich empfand plötzlich so etwas wie Zuneigung zu dem Mann am Fenster, diesem unwirschen, mißtrauischen Kerl, zu dem ich von Anfang an auf Kollisionskurs war. Oder er zu mir? Egal – jedenfalls waren wir ein Pärchen, wie man so sagt, seit er am Samstagabend vor meiner Tür gestanden hatte. Und dann konnte ich das Grinsen doch nicht unterdrücken: Der warf mir vor, ich verhielte mich unprofessionell! Und wie verhielt er sich? Lernte man solche Ausbrüche auf Polizeischulen? Die Tür flog mit Schwung auf, Fuhrmann hielt jäh in der Bewegung inne, Ginsterbusch kehrte sich langsam um. Fuhrmann erfaßte die Situation mit einem Rundblick. „Kann man bei der Prügelei mitmachen, oder ist das ein Familientreffen?“ Der alte Witz gewann kaum Farbe durch den forschen Ton, aber weil er uns aus der Spannung löste, waren wir alle drei geneigt, ihn zu akzeptieren. Auch Ginsterbusch atmete auf, er ließ die Schultern sacken und die Arme baumeln. „Der Bürger Doktor Gammler hat Material übergeben“, sagte er und wies dabei auf die Briefe, die noch immer auf dem Besuchertisch lagen. Mir war, als brauchte er die bürokratische Formulierung, um seine Haltung zurückzugewinnen. „Ich bin noch nicht dazu gekommen, es einzusehen.“ Auch Fuhrmann behandelte meinen Fund mit beiläufiger Lässigkeit. „Ah ja“, sagte er, trat an den Tisch, beug151
te sich vor und strich mit den Fingern über die Briefe, als genügte schon eine Berührung, um zu erfahren, ob sie von Wert waren oder nicht. Dann sah er Gisela an. „Das war wohl eine schlimme Enttäuschung für Sie?“ Seine Stimme blieb kühl, feststellend. „Ich meine die Sache mit Fräulein Schulz.“ Gisela versuchte durch Hochziehen der Brauen Überlegenheit auszustellen, es gelang ihr miserabel, und Fuhrmann ging mit einem „Lassen wir das“ über ihre Reaktion hinweg. Zu mir sagte er: „Sie sehen, wir wissen schon von den Briefen. Sind Sie nun enttäuscht?“ „Enttäuscht?“ Ich stellte mich, als verstände ich nicht. „Wieso enttäuscht?“ „Fräulein Schulz ist gestern noch zu uns gekommen – hat wieder einmal etwas ihrer Aussage hinzugefügt.“ Er schaffte es nicht recht, den Ärger aus seiner Stimme zu halten, als er nach einer Pause fortfuhr: „Zum zweitenmal. Sie hat uns jetzt alles erzählt, auch von den Briefen. Ich glaube aus Angst vor Ihnen.“ Er blickte mich an, dann Gisela. „Oder vor Ihnen? Jedenfalls hat sie reinen Tisch gemacht. Wenn die Leute nur ein bißchen weniger leichtfertig mit der Wahrheit umgingen … Stimmt’s, Franz?“ Ginsterbusch nickte und antwortete etwas, das ich nicht verstehen konnte. „Hat Sie Ihnen auch von dem King erzählt?“ Ich war gespannt, ob sie wirklich reinen Tisch gemacht hatte. „Von wem?“ Sein Gesicht spiegelte das blanke Unverständnis, er sah zu Ginsterbusch hinüber, und der zuckte die Achseln. Ich wies auf die Briefe. „Da steht’s drin, lesen Sie. Womöglich hilft Ihnen die Lektüre weiter. Ihr Kollege war zwar nicht sehr beeindruckt von dem, was ich ihm zu sagen hatte. Aber vielleicht sind Sie anderer Meinung.“ Fuhrmann warf einen Blick auf den Tisch. Er nahm das Päckchen Briefe in die Hand, anscheinend unschlüs152
sig, wie er sich verhalten sollte. Dann sagte er nur: „Das wird sich herausstellen.“ Ginsterbusch fühlte sich offenbar von mir attackiert. „Der Herr Doktor Gammler kann es noch immer nicht verkneifen, sich in unser Handwerk zu hängen.“ Wieder war seine Stimme randvoll von Angriffslust. „Erklären Sie dem Genossen Fuhrmann doch, was es mit diesem King auf sich hat.“ „Ja, wenn ich das könnte …“ Ich gestehe, es bereitete mir Freude, die beiden Kriminalisten im unklaren lassen zu müssen, und ich nannte mich im selben Augenblick einen Kindskopf. „Aber Sie werden das sicherlich rauskriegen.“ „Werden wir“, sagte Fuhrmann nach einem weiteren Blick auf Ginsterbusch, der kaum merklich den Kopf schüttelte, „und noch mehr. Nämlich alles. Wir sind auf dem besten Weg.“ Und nach einer Pause, als hätte ich Ungeduld gezeigt, die er nun zügeln müsse: „Es dauert nicht mehr lange, das kann ich Ihnen versichern.“ Man war auf dem besten Weg, ich glaubte Fuhrmann das, und vielleicht brauchte man nicht einmal meine Entdeckung eines Mannes, der vorerst noch der King hieß. Und seltsam: Ich war in diesem Augenblick nicht enttäuscht darüber, daß ich mich sozusagen als verabschiedet zu fühlen hatte, spürte im Gegenteil so etwas wie Erleichterung, von einer selbstgewählten Rolle entbunden zu sein, der ich ohnehin nie recht gewachsen gewesen war. Das Bündel Briefe befand sich in den richtigen Händen. Fuhrmann und Ginsterbusch, die recherchierenden Dioskuren, würden ihnen das Nötige zu entnehmen wissen, es in das Bild, das sie bisher zusammensetzten, einpassen. Dann bekäme auch der King Gestalt und Namen – vielleicht, wenn es nämlich notwendig war, ihn mit Gestalt und Namen auszurüsten. Denn wer wußte schon, was die beiden bereits herausgefunden hatten. 153
Ich erhob mich aus dem unbequemen Besuchersessel. Ich hatte das Gefühl, mich schon viel zu lange in diesem Raum aufzuhalten. „Das war’s denn wohl“, sagte ich. „Das war’s“, bestätigte Fuhrmann munter. „Und vielen Dank für Ihre Mitarbeit.“ Er hielt die Briefe hoch. Ginsterbusch sagte nichts. Dabei hätte mir ein freundliches Wort aus seinem Mund besser getan als alle Munterkeit Fuhrmanns, so wie man ein Glas Schnaps, von einem Geizhals spendiert, mit mehr Behagen trinkt als die ganze Flasche, die man von einem Verschwender geschenkt bekommt. Aber Ginsterbusch blieb geizig. Er sah mich an, als kenne er mich nicht. Auch gut, dachte ich und wandte mich zu Gisela: „Komm, wir sind hier jetzt überflüssig.“ „Nicht ganz“, widersprach Ginsterbusch. „Sie können gehen. Mit Frau Schanzer haben wir noch einiges zu besprechen.“ Das war deutlich: Rausschmiß! Da hatte Ginsterbusch es mir noch einmal gegeben! In der ersten Aufwallung des Unmuts, der Bereitschaft zum Rückfall ins Konfrontationsdenken, wie die Politiker so etwas wohl nennen, wollte ich erwidern: Aber Frau Schanzer hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich bleibe und dann die Reaktion des Hauptmanns abwarten. Doch ich verkniff mir den Einwurf. Statt dessen versuchte ich, in meiner Miene soviel an freundlicher Erleichterung zu spiegeln, wie ich konnte. „Schön“, sagte ich, und zu Gisela: „Dann treffen wir uns später.“ Ich sah auf meine Uhr. „Es ist jetzt drei. Bis fünf oder sechs wirst du hier wohl fertig sein. Ich warte im Hotel auf dich.“ Gisela nickte Zustimmung, in ihren Augen stand die Frage: Was wollen die denn noch von mir? Wem konnte auch nach allem ein Tête-à-tête mit zwei Polizisten angenehm sein? Auf dem Weg ins Stadtinnere überfiel mich ein Ge154
fühl der Leere, wie es sich oft nach Examen einstellt, wenn der Druck, mit dem man lange leben mußte, von einem genommen ist und man sich noch nicht so recht daran gewöhnt hat, die Stunden selbstverständlich und unreflektiert vor sich hinzubringen. Ich war wieder Privatmann, der Dr. med. Friedrich Gammler, Psychiater und zur Zeit auf Urlaub, der sich ein paar Tage lang aufgemacht hatte, die Routine seines Daseins zu durchbrechen, weil er sich dazu gezwungen sah. Gezwungen? Ich schüttelte den Kopf. Wenn ich ehrlich war, mußte ich mir eingestehen, daß mein erster Schock und die darauffolgende übertriebene Reaktion den Sonntag nicht überlebt hatten und ich von da an in der Hauptsache von anderen Motiven bewegt worden war, von der ganz vulgären Neugier, ein Geheimnis zu lüften. Dabei war es mir eben zugestoßen, daß durch mein Herumschnüffeln auch mein Freund Carl Schanzer, den ich zu kennen geglaubt hatte, mit vergeheimnist, zumindest aber in einem Maß entfremdet wurde, wie ich es mir zuvor nie hätte vorstellen können. Besonders der letztvergangene Abend mit seiner Brieflektüre belastete mein Gemüt wie ein zu fettes Eisbein den Magen, auch jetzt noch. Davon konnte ich aus meiner Berufspraxis ein Lied singen: daß des Menschen naturgegebene Schutzfunktion darauf gerichtet ist, Enttäuschungen abzuwehren und zuträgliche Vorstellungen so lange und so unbeschädigt wie möglich zu erhalten, und daß ein Defekt in dieser Schutzfunktion zu Belastungen, zu Verwirrungen, zu Krankheiten führen kann. Wozu also länger mit dem Feuer spielen? Denn etwas anderes bedeutete es nicht, wenn ich noch tiefer in das Leben des Carl Schanzer eindrang, den ich als umgänglichen, vitalen, wenn auch zuweilen unbekümmert sich auslebenden und manchmal rücksichtslosen Mann gekannt hatte. Sein Tod war – wenn man so etwas überhaupt von jemandes Tod sagen kann – bei der Polizei in 155
guten Händen, auch bei Ginsterbusch, der mir eigentlich mit seiner verbiesterten Abwehr all meiner Aktivitäten einen guten Dienst erwiesen hatte. Mit Lächeln quittierte ich den Gedanken, Ginsterbusch sei eigentlich mein Freund oder doch ein mir wohlgesinnter Mensch. Er mochte nun beruhigt seiner Arbeit nachgehen; ich verspürte nicht mehr den Wunsch, mich einzumischen. Und wie zum Beweis meiner neugewonnenen Haltung ließ ich die Blicke mit Behagen schweifen, mit dem Behagen des Feriengastes, der ohne andere Verpflichtung ist als der, aus den arbeitsfreien Tagen soviel wie möglich an Beruhigung und Bereicherung des Seelenlebens zu ziehen. Die Hausfassaden schienen mir weniger grau und deprimierend verwahrlost zu sein, die Auslagen in den kleinen Geschäften rund um den Markt kamen mir nicht mehr so dürftig und phantasielos vor, und als ich am großherzoglichen Palais vorbeispazierte, hatte ich kaum mehr den Eindruck von powerem Provinzialismus. Und doch: Tief unten blieb etwas von dem Gefühl der Leere, der Nutzlosigkeit, auch des Versagens, ein Gefühl, das heute von jedem durchschnittlich gebildeten Halbwüchsigen mit dem Begriff Frustration belegt wird. Es hinderte mich daran, den Nachmittagsbummel durch die Straßen dieser kleinen Stadt voll auszukosten, und als ich am Theater entlangging, wuchs in mir die Beklemmung. Stätte meiner Niederlage? Ich machte einen Schwenk um einhundertachtzig Grad, so daß ich das Gebäude im Rücken hatte, und beschleunigte meinen Schritt. Also doch: Fiasko, registrierte ich, und anschließende Flucht, ganz wie es sich für eine klassische Kapitulation gehört. Vor einem Kino blieb ich stehen, überlegte, ob ich die Zeit bis zum Treffen mit Gisela im Dunkeln verbringen sollte, von irgendeiner belanglosen Handlung (das Plakat versprach ein zeitbezogenes Lustspiel aus der DEFAProduktion) abgelenkt. Aber ich ging weiter. Vielleicht 156
tut dir ein Schnaps gut, dachte ich, Alkohol kann Erinnerungen dämpfen, zumal unangenehme, wenigstens vorübergehend. Ich verwarf auch das: Möglicherweise soff ich mich fest und hatte am Ende doch das heulende Elend auf dem Hals. Ich kam mir vor wie damals vor drei Jahren, als ich mir das Rauchen abgewöhnt und buchstäblich krampfhafte Anstrengungen unternommen hatte, nicht andauernd daran zu denken, wie angenehm so eine Pfeife im Mundwinkel liegt. Und obwohl ich also wußte, wie wenig ablenkende Ersatzhandlungen fruchten, kaufte ich mir – gegen alle Gewohnheit – an einem Stand eine Eiswaffel und schlenderte weiter, ziemlich geniert alle paar Sekunden die Zunge herausstreckend, um an dem kalten süßen Zeug zu lecken.
11. Und dann stand ich vor dem Haus, in dem Margot Schulz wohnte, bemüht, meine Inkonsequenz vor mir selber zu entschuldigen. Schließlich, das hatte ich mir fest vorgenommen, wollte ich nicht mehr recherchieren, die junge Frau nicht, wie ich doch am gestrigen Abend beschlossen hatte, nach dem King fragen (das würden Ginsterbusch und Fuhrmann besorgen, dessen war ich mir sicher), ihr keine Vorwürfe machen, weil sie immer noch nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. (Was ging es mich schließlich an?) – Nein, dergleichen lag hinter mir. Kümmern wollte ich mich um sie, einfach nachsehen, wie es ihr erging, und mich dann verabschieden (und bedachte dabei nicht, daß ich vor zwei Tagen mit ähnlichen Vorsätzen an dieser Tür aufgekreuzt und wieder in all die Aktivitäten hineingeschlittert war). Sie mußte doch trostbedürftig sein, jetzt, da Eugen Wittlich gestorben war. Wenn ich an ihren Auftritt dachte, als sie von 157
Wittlichs Unfall erfuhr, glaubte ich mir ausmalen zu können, wie sehr die Nachricht von seinem Tod sie mitgenommen hatte. Als sie mir öffnete, war mein erster Eindruck, sie sei erschrocken oder zumindest arg verlegen, trotz des hastig aufgesetzten Lächelns, mit dem sie mich empfing. Sie sah aus wie jemand, der aus einem zu kurzen Schlaf gerissen worden und noch nicht ganz bei sich ist. Ihr Gesicht wirkte sehr müde, welk, hielt keinem Vergleich mit ihrem Aussehen bei unserem ersten Zusammentreffen am Samstag stand. Aber auch die Spuren der Verzweiflung waren gänzlich verwischt. Gleichgültig, wie unbeseelt, blickten ihre Augen an mir vorbei; so sehen Menschen aus, die in eine große Stumpfheit als Folge von zuviel und nicht zu bewältigender Anstrengung gefallen sind. Ich kannte diese Gesichter von Leuten, die aufwachen und feststellen, daß es ihnen nicht gelungen ist, sich umzubringen. Es dauerte unverhältnismäßig lange, ehe sie mich ansprach, und dann kamen die Worte heiser, ergänzten das Erscheinungsbild. „Ich dachte, Sie sind abgereist, endgültig, nachdem ich vergebens auf Sie gewartet habe … Aber eigentlich hätte ich mir denken können, daß Sie nicht kommen würden, nach dem Anruf …“ Sie hatte mich kalt erwischt, wie die Boxer sagen, und ich war jetzt gezwungen, die Attacke auszupendeln (um in diesem Jargon zu bleiben), also Zeit zu gewinnen. Zurückfighten wollte ich nicht, nicht gegen einen Gegner, der bereits angeschlagen war. Aber Gegner war ohnehin nicht das treffende Wort. Schließlich war ich zum Trösten gekommen, zum Helfen. Daran mußte ich stets denken, auch wenn sie mir aggressiv entgegentrat. „Sie müssen schon entschuldigen“, sagte ich und machte unwillkürlich eine beschwichtigende Geste, „aber es war alles so verworren. Und jetzt erst, nachdem Wittlich tot ist …“ 158
Sie schüttelte heftig den Kopf, wohl um Benommenheit zu vertreiben. „Ja, Eugen.“ Sie nickte, fragte dann ohne Übergang: „Sie sind doch zurückgefahren. Haben Sie die Briefe gelesen?“ Was sollte ich antworten, zwischen Tür und Angel (denn Margot Schulz versperrte mir noch immer den Weg)? Und warum fragte sie als erstes gerade nach den Briefen? Ich war darauf gefaßt gewesen, mit einer Sturzflut von Klagen über Wittlichs Tod empfangen zu werden oder mit resignierendem Weinen … Trotz des guten Vorsatzes, mich nicht länger in die Nachforschungen einzumischen, regte sich wieder Mißtrauen in mir – und, vom Mißtrauen eingeleitet, Verdacht, und mit dem Verdacht erwachte erneut ein bißchen Lust, die Geheimnisse um Carls Tod zu lüften, natürlich auf eigene Faust, ohne die Leute von der Polizei. Es kostete mich einige Mühe, mich vorm Rückfall zu bewahren, nach ein paar Sekunden hatte ich es aber geschafft, und ich erklärte mich ausweichend, tat so, als ob ich nicht recht begreife, warum meine Antwort für sie wichtig sein könne, gab mir überhaupt den Anschein, als interessiere mich ihre Frage nur am Rand und als seien diese Schreiben doch so privat, daß sie niemanden angingen als Schreiber und Empfänger, allenfalls noch die Ehefrau, die aber nun wohl andere Sorgen habe. Und ich hütete mich, ein Wort verlauten zu lassen, daß Fuhrmann und Ginsterbusch im Besitz des Bündels waren. Täuschte ich mich, oder entspannte sich Margot Schulz wirklich? Blitzte nicht so etwas wie ein belebender Funke in ihren Pupillen auf? Sie ließ die Hand, die im Haar nestelte, sinken und bat mich einzutreten. „Aber wundern Sie sich nicht“, sagte sie über die Schulter, als sie mir zu ihrem Zimmer voranging, „und ziehen Sie bitte keine voreiligen Schlüsse.“ Auf der Couch saß Herr Sommer, eine Kaffeetasse in den Händen, diesmal in Anzug und Schlips, saß aufrecht 159
wie einer, der einen förmlichen Besuch macht, mit ordentlich nebeneinandergestellten Füßen. Oder hatte er sich während der Zeit, die ich an der Tür aufgehalten worden war, in diese Positur gebracht? Und war ich nur aufgehalten worden, um ihm diese Möglichkeit zu verschaffen? Schon wieder steckte ich mitten im Vermuten und im Kombinieren von Vermutungen. „Unverhofft kommt oft“, zitierte er ohne Verlegenheit, das regelmäßige Gesicht von keiner Emotion geprägt, und ich fragte mich sofort, was ich an ihm Ungewöhnliches, gar Unheimliches gefunden hatte, als ich mit ihm auf den hölzernen Turm gestiegen war. Überreizte Nerven, diagnostizierte ich und nickte ihm genau so unbefangen zu, wie er mich begrüßt hatte. Mal nach dem Rechten sehen wolle ich, da ich mich denn doch entschlossen hätte, noch einmal nach N. zurückzukehren, denn Fräulein Schulz habe sicherlich ein bißchen Beistand nötig und so weiter. Eine Viertelstunde ging das Gespräch hin und her zwischen uns beiden, und jedem war daran gelegen, es auf Sparflamme zu halten, plötzliche Überhitzung zu vermeiden. Selbst als wir kurz auf Wittlichs Tod zu sprechen kamen, enthielten wir uns der Versuchung – er noch geflissentlicher als ich –, Hintergründe zu erörtern. „Armer Kerl!“ hieß es, und: „Dummer Junge, daß er sich nicht bezähmen konnte!“ Das war alles. Während der ganzen Zeit verlor ich keine Sekunde den Eindruck, Sommer wolle mich loswerden, so bald wie möglich. War ich wirklich in ein Schäferstündchen hineingeraten? Herrn Sommers neutrale Miene ließ mich daran zweifeln, auch Fräulein Schulz’ Unbeteiligtsein an all den Wörtern, die gewechselt wurden. Sie ging im Zimmer umher, holte eine Tasse für mich, goß mir Kaffee ein mit nicht gerade ruhiger Hand, suchte mit Aufwand Zigaretten, fand sie, zündete sich eine an, dann noch eine, spielte unausgesetzt klappernd mit der Streich160
holzschachtel. Jemand, der in einem Rendezvous gestört worden ist, sieht anders aus, benimmt sich anders, vielleicht abweisender, jedenfalls nicht so. Nach einer Viertelstunde war dann das Gespräch beim besten Willen nicht mehr in den gewählten wohltemperierten Bahnen zu halten (wir waren schon beim Wetter angelangt, hatten also bereits die Bankrotterklärung abgegeben). Mir blieb jetzt nur die Wahl, zu gehen oder endlich zur Sache zu kommen. Da ich aber keine Lust hatte, das Feld zu räumen, suchte ich einen Übergang zu gehaltvollerem Gesprächsstoff. Brunnenmüllers Geburtstag schien mir geeignet, aus der Unverbindlichkeit auszubrechen, und also fragte ich, da ich mich erinnerte, daß der alte Mime seine Adresse zu nennen vergessen hatte, wo Brunnenmüller wohne, dabei leitete ich die Frage mit einem mir unverfänglich erscheinenden Übrigens ein. Die Reaktion von Margot Schulz auf die harmlose Frage verblüffte mich. Sie hörte abrupt auf, mit der Streichholzschachtel zu klappern, vergaß den inhalierten Rauch auszustoßen und geriet in einen Hustenanfall. „Zu Brunnenmüller wollen Sie?“ Herr Sommer zeigte sich sehr interessiert. „Was wollen Sie denn um Gottes willen bei dem?“ „Geburtstag feiern. Er hat mich eingeladen“, versicherte ich, um die aufgeschreckte Margot Schulz zu besänftigen. „Eingeladen? Brunnenmüller hat Sie also eingeladen.“ Hinter diesen Worten von Fräulein Schulz stand deutlich: So etwas sieht dem alten Trottel ähnlich! „Ja. Wir führten vorgestern abend in einem Restaurant ein nettes Gespräch über Kunst.“ Ich fing an, Spaß an ihrer Verblüffung zu finden. „Ein gebildeter Mann, ein äußerst kunstbeflissener Mann dazu.“ „Aha, er hat sich wohl wieder zum Thema 0 holde Kunst ausgelassen.“ Offenbar wollte Herr Sommer dem 161
Gespräch eine Wende geben, denn er setzte zu einem längeren Sermon an, der Brunnenmüller charakterisieren sollte: „Wir kennen die Leier: Kunst als Sinn und Erfüllung des Lebens, Kunst, das Nonplusultra …“ Er seufzte wie über ein eigensinniges Kind, von dem man ihm, dem Vater, schon wieder unangenehme Nachricht gebracht hat, hob in komischer Resignation beide Hände und ließ sie wieder auf den Tisch fallen. „Es ist schon ein Kreuz mit ihm, mit unserem Uraltkollegen Brunnenmüller. Sein Griechentick fällt einem nachgerade auf den Wecker. Seit damals ist alles nur schlechter geworden mit der Kunst, mit der Kultur überhaupt – bis heute. Shakespeare und die Weimarer sind davon natürlich ausgenommen und auch noch ein paar andere, die, wie er sagt, aus dem Geist der Griechen leben. Auf jeden Fall ist jetzt und hier der vorläufige Tiefstand der Kultur erreicht, daran glaubt er unerschüttert.“ Er imitierte Brunnenmüllers bröcklige Stimme: „ Brecht, das ist ein Hintertreppen-Aischylos! Das ist einer seiner Kernsätze. Und: Wenn ich Plastik sage, dann meine ich Praxiteles, wenn ihr Plastik sagt, denkt ihr an Kunststoff – das ist der große Unterschied.“ Sommer lachte, doch nicht herzlich, eher gequält. „Dabei ist er ein umgänglicher Mensch – ich meine, wenn man seine Marotten einmal akzeptiert hat. Leider kann sich dazu nicht jeder aufraffen.“ Ich wagte eine Vermutung: „Wittlich hat das wohl nie so recht geschafft?“ Fräulein Schulz warf mir einen raschen ängstlichen Blick zu, schwieg aber. Herr Sommer blieb gelassen. „Ja, Eugen“, sagte er, „Eugen und Brunnenmüller waren wohl kein allzu gutes Gespann. Anfangs hat sich unser Alter ja ziemlich Mühe gegeben, das Greenhorn unter seine Fittiche zu nehmen. Aber als Wittlich dann anfing, seine Vorliebe fürs Agitprop-Theater zu entdecken, auch für Beckett und Iones162
co, da war es vorbei mit der Freundschaft. Und ganz wild wurde er eines Tages, als Wittlich eins von Brunnenmüllers Stücken einen Schinken nannte. Zum Schluß, als Wittlich fürs Pressefest das Straßentheater aufzog, da hat er ihn, glaube ich, gehaßt. Stimmt’s, Margot?“ fragte er und sah Fräulein Schulz erwartungsvoll an. „Schon möglich“, erwiderte die, doch so, daß deutlich wurde, man möge sie mit derartigen Kindereien verschonen, da sie schließlich andere Sorgen habe. „Fatale Geschichte“, stellte Herr Sommer abschließend fest. Und dann hatte er es eilig. Er sah auf seine Armbanduhr, wie einer, der sich verplaudert hat, murmelte: „Was, schon so spät!“ und erhob sich. „Die Pflicht ruft“, erklärte er, mir zugewandt, während er sich den Schlips zurechtrückte. Und zu seiner Kollegin sagte er: „Vielen Dank für den Kaffee“, sagte es so, als ob ihr Kaffee der Grund seines Kommens gewesen sei. „Wir sehen uns wohl später“, fragte ich, „bei Brunnenmüller?“ „Sicher, sicher.“ Er war schon nicht mehr bei der Sache, hielt die Türklinke bereits in der Hand. Gar zu gern hätte ich gewußt, wohin er so eilends aufbrach. Ob er wohl zu Brunnenmüller ging, um ihn wegen der Einladung zur Rede zu stellen? Oder einfach dorthin, wohin ihn die Pflicht rief? Ich hätte ja nun auch gehen, hätte sagen können: Darf ich Sie ein Stück begleiten? Aber solche plumpen Annäherungsversuche liegen mir nicht. Und im übrigen war es mir gar nicht so unrecht, daß Herr Sommer ging. Schließlich hatte ich den Weg hierher gemacht, um Margot Schulz zu treffen, und sie zu trösten. Ob allerdings das noch meine Aufgabe sein konnte, das war mir zweifelhaft geworden, sehr zweifelhaft. Ich setzte mich also wieder, nachdem ich Herrn Sommer die Hand geschüttelt hatte, und wartete, daß Margot Schulz von der Wohnungstür zurückkäme. Es dauerte fast eine Minute (vielleicht hatten die beiden in 163
aller Eile einiges zu bereden), und ich hatte Muße, mich in die Betrachtung eines Posters zu versenken, auf dem unter gröbstem Raster einer der bekannten Popsänger – Haar im Afrolook über einer breiten, niedrigen Stirn wuchernd – abgebildet war. Sie gehört eben einer anderen Generation an, sagte ich mir und erinnerte mich unwillkürlich an den Slogan von der amerikanischen Unkultur, der die Diskussionen beherrscht hatte, als ich so alt war wie Margot Schulz. Dann kam sie wieder, setzte sich wortlos mir gegenüber, zündete sich, als gäbe es nichts Besseres zu tun, eine Zigarette an und rauchte gierig. „Sie haben sie also gelesen“, sagte sie ohne Einleitung, und da ich nicht auf ihre Feststellung einging, ergänzte sie: „Keine Antwort ist auch eine Antwort.“ Urväterweisheit, dachte ich, ließ mich aber nicht aus der Ruhe bringen. Die Brief-Geschichte hatte ich an Fuhrmann und Co. delegiert, endgültig, und ich war nicht gesonnen, mich in ein Gespräch darüber verstricken zu lassen, auch wenn mich die Erörterung der Hintergründe noch immer reizte. Ich hätte zum Beispiel fragen können, ob sie den King seit Carls Tod noch einmal gesehen habe. Margot Schulz ließ nicht locker, sie wollte meine Meinung über ihr Verhältnis mit Carl hören. „So ganz unbeeindruckt können Sie nach dem Lesen nicht gewesen sein“, sagte sie drängend. „Die Briefe müssen Sie doch vor einige Fragen gestellt haben.“ „Zum Beispiel?“ fragte ich, um Zeit zu gewinnen. „Zum Beispiel vor die Frage, was eine Frau, die einen Mann für sich haben will, alles unternehmen wird, um diesen Mann zu bekommen.“ Ich merkte, wie sie auf eine Antwort geradezu lauerte. Sie kam mir vor wie ein Kind, das unbedingt wissen will, wie weit es sich in der Welt der Erwachsenen vorwagen kann, ohne auf Widerstand und Widerspruch zu stoßen. 164
„Zum Beispiel kann sie versuchen, sich den Mann zu verpflichten, indem sie eine Gefahr von ihm abwendet.“ Mir wurde immer unbehaglicher, und als ich ihr ins Gesicht sah, erschrak ich: Ihre Augen waren zusammengekniffen, sie wirkte berechnend. „Ich weiß nicht, worauf sie hinauswollen?“ In diesem Augenblick war es mir nur darum zu tun, sie von dem Thema abzubringen. „Dann fragen Sie mich doch.“ Das klang wie eine Provokation. Aber ich ließ mich nicht provozieren, sondern gab dem Gespräch recht gewaltsam eine Wende, indem ich auf den Tod Wittlichs überleitete. „Die Untersuchung wird zweifellos seine Unschuld ergeben“, sagte ich. „Glauben Sie das wirklich?“ Sie gab sich keine Mühe, ihr Mißtrauen zu verbergen. Da war nichts mehr zu spüren von der vorbehaltlosen Sympathie für ihren Freund, von der streitbaren Überzeugung, daß Wittlich trotz der verwirrenden Umstände nichts mit Carls Tod zu tun hatte, erst recht nichts mehr von der geradezu lebengefährdenden Verzweiflung, als sie von Wittlichs Unfall erfahren hatte. Nur noch von Argwohn, Abwehr, Erschöpfung schien sie beherrscht, sicherlich auch von Angst. Denn daß sich buchstäblich von heute auf morgen ihr Vertrauen in Wittlichs Unschuld in eine bittere Skepsis verwandelt haben sollte, war kaum anders als mit Angst zu erklären. Aber wovor hatte sie solche Angst? „Eugen hat sich immerhin doch sehr verdächtig gemacht.“ An diesem Punkt wäre ich fast aus der selbstgewählten Zurückhaltung getreten und hätte sie am liebsten direkt gefragt: Was quält Sie eigentlich? Doch ich fragte nicht und fühlte mich ziemlich bekotzt, als ich statt dessen sagte: „Ach, lassen wir das, es führt zu nichts.“ Und als sie zustimmend nickte (wenn auch nicht erleichtert, 165
das erkannte ich an den verspannten Bewegungen, mit denen sie die Zigarette zum Mund führte) und erklärte, sie brauche jetzt noch eine Tasse Kaffee, ob ich auch noch eine wolle, hatte ich den Eindruck, sie habe es aufgegeben, wegen der Briefe weiter in mich zu dringen. Resignation von ihrer Seite und vorsichtiges Taktieren von der meinen bestimmten die nächste halbe Stunde. Ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben (jedenfalls war es nichts von Bedeutung), ich erinnere mich nur noch, daß ich fühlte, ihr war – je länger, desto mehr – an meiner Gegenwart gelegen. Vielleicht fürchtete sie sich davor, allein zu sein, allein mit ihren Gedanken und (das vermutete ich) Selbstvorwürfen. Also erfüllte ich doch die Funktion, die ich mir zugedacht hatte, als ich mich entschloß, sie aufzusuchen, eben nur auf eine ganz andere Weise, als ich mir das vorgestellt hatte. Aber wann schon entwickeln sich die Dinge so, wie man sich das vorgestellt hat, sagte ich jetzt mir zum Trost. Ich verließ eine Margot Schulz, die mich nur ungern gehen ließ. („Brunnenmüller wohnt in der Parkstraße zehn, gleich hinterm Schloß“, sagte sie, ohne daß ich sie noch einmal nach der Adresse gefragt hätte, und ich nahm das als Andeutung, sie habe sich zumindest an den Gedanken gewöhnt, mich bei der Gesellschaft wiederzusehen.) An der Haustür wäre ich fast mit Frau Feierabend zusammengestoßen, die mich nach dem ersten Schreck mit unverhohlener Mißbilligung musterte und mich ungeniert fragte: „Was tun Sie denn hier?“ Am liebsten hätte ich die Frage zurückgegeben, mit dem Zusatz: Hier ist heute wohl Künstlertreff. Aber da ich fast immer weiß, was sich schickt, antwortete ich artig und entsprechend hochgestochen und vieldeutig: „Ein Fremdling, liebe Frau Feierabend, klopft an manche Türen, und er ist froh, wenn ihm aufgetan wird.“ „An meine haben Sie nicht geklopft!“ rief sie, offen166
sichtlich einem unkontrollierten Impuls folgend, bereute aber ihre rasche Reaktion augenblicklich und versuchte, sie herunterzuspielen. „Sie sehen, manchmal bin ich zu Scherzen aufgelegt.“ „Und ich verstehe Scherz, manchmal.“ Ich schenkte ihr einen beruhigenden Blick. Frau Feierabend schien sich auf einen längeren Schwatz einrichten zu wollen: Ganz undamenhaft lehnte sie sich gegen den Türstock und fragte mich, wie es mir in der Zwischenzeit ergangen sei (als hätten wir einander wochenlang nicht zu Gesicht bekommen). Ich erwiderte dies und das und deutete an, daß ich von einer Dame erwartet werde. „Sie Casanova!“ „Wir können unser Gespräch ja heute abend fortsetzen. Wir sehen uns doch bei Herrn Brunnenmüller.“ Nach kurzem Stutzen sagte sie: „Ach, das haben Sie also nicht vergessen?“ Sie ging an mir vorüber ins Treppenhaus. „Na dann: bis bald.“ Auf dem Weg zum Goldenen Adler dachte ich darüber nach, ob sie nicht doch gesagt hatte: Ja, haben Sie denn die Einladung ernst genommen? Ich traf auf eine Gisela, die mich in der Hotelhalle ungeduldig erwartete. Kaum daß ich mich zu ihr gesetzt hatte, fragte sie mich mit Vorwurf in der Stimme, wo ich mich so lange herumgetrieben habe, es sei immerhin schon beinahe sechs Uhr. „Hier und da“, antwortete ich, denn diplomatische Erwägungen (oder was ich dafür hielt) ließen es mir geraten erscheinen, Margot Schulz jetzt nicht zu erwähnen. Aber sie brachte den Namen sofort aufs Tapet. Fuhrmann und Ginsterbusch hätten sie die ganze Zeit nach nichts anderem befragt als nach dieser Frau. „Ob ich wisse, daß mein Mann ein Verhältnis mit ihr gehabt habe, seit langem schon, und ob mir bekannt sei, daß es 167
ein ziemlich tiefgehendes, ernsthaftes Verhältnis war, von seiten der jungen Frau wenigstens. So geschmacklos haben die sich ausgedrückt, wörtlich.“ Gisela war noch deutlich der Widerwille gegen das Gespräch anzumerken. „Sogar, ob ich vermutet habe, daß Carl mich dieser … dieser Dame wegen verlassen wollte.“ Ich lachte verächtlich über soviel geschmacklose Dummheit, um meinen Unglauben deutlich zu machen. Dabei war mir beileibe nicht zum Lachen zumute, wenn ich daran dachte, wie Gisela die Fragerei an die Nieren gegangen sein mußte, aber auch wenn ich an Margot Schulz dachte und an ihre Hoffnungen. „Lach nicht so dumm!“ wies Gisela mich zurecht. „Jedenfalls weiß ich jetzt, daß die Schulz dahintersteckt. Geahnt habe ich es ja schon, seit mir die verdammten Briefe in die Hände gekommen sind. Sicherlich hat sie ihren Freund, diesen Wittlich, angestiftet, Carl umzubringen, weil sie ihn nicht kriegen konnte, ganz bestimmt!“ „Gisela!“ Sie verstrickte sich immer mehr in Unsachlichkeit. Wie weggefegt schien ihre Urteilskraft, die sie bisher befähigt hatte, Carls Poussagen als das anzusehen, was sie gewesen waren: als rücksichtsloses Sichausleben eines Mannes, der sich vor allem schätzte und überschätzte. Jetzt war sie nahe daran, sich einen armen Carl zurechtzuzimmern, einen Mann, der in die Falle einer infamen Frau gestolpert war, die ihn für sich haben wollte und ihn, als ihr das nicht gelang, ermorden ließ. So einfach lief das! Typisches Anzeichen für ein gestörtes Besitzsyndrom, in dem sich Ohnmacht vor der Realität, Unvermögen, einen Verlust zu verschmerzen, und enttäuschtes Vertrauen zu einem düsteren Gebräu mischten. „Überleg doch mal“, sagte ich, „welcher Mann läßt sich schon zu einem Mord anheuern? Wittlich war doch kein Berufskiller aus einer Fernsehstory. Und er liebte die Schulz.“ 168
„Dann hat sie es eben selber getan.“ Sie trank hastig einen großen Schluck aus einem Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand. „Gin mit Tonic“, erklärte sie. „Ich brauchte einen Seelentröster, nach alledem.“ „Ist es nicht schon der zweite?“ fragte ich vorsichtig. Vielleicht brachte sie das auf andere Gedanken, half ihr ein bißchen ’runter von ihrer Rage. „Der vierte, wenn du es genau wissen willst.“ Streitlust schwang in ihrer Stimme, Streitlust war in ihren Augen. „Was soll ich anderes tun, wenn du mich hier herumsitzen läßt?“ Sie sprach mit mir, als sei ich mit ihr verheiratet und also selbstverständlich gehalten, mich um sie zu kümmern, besonders auf Reisen. „Du treibst dich ’rum, besuchst das Flittchen …“ „Woher willst du das wissen?“ Dreistigkeit ist die beste Waffe, dergleichen Angriffe abzuschlagen. „Ich sage das, und das genügt. Mach mir nichts vor.“ Sie versuchte, sachlicher zu werden. „Versetz dich in meine Lage: Ich erfahre, daß Carl hier sein Liebchen hat – und wahrscheinlich sogar mehr als ein Liebchen –, und du sitzt bei der Dame ’rum. Hast du sie getröstet?“ Mein Gott! dachte ich. Hattest du es nötig, dich so in den Schlamassel zu reiten? Die eine mißtraut dir, weil sie glaubt, du willst ihr ein Bein stellen, die andere, weil sie annimmt, du hältst es mit der ersten. Und zwischen den beiden gibt es noch eine, die sauer ist, weil sie sich einbildet, du bist ein Casanova, nur nicht bei ihr. Trotzdem bemühte ich mich, allen Ärger aus der Stimme zu halten, als ich sagte: „Denk nicht, es macht mir Vergnügen, Carls dreckige Wäsche mitzuwaschen.“ „Carls dreckige Wäsche!“ Sie stützte sich im Sessel hoch, stand dann leicht schwankend da, plötzlich weiß geworden. „Und du willst sein Freund gewesen sein …“ Einige Male noch öffnete sich ihr Mund, aber sie brachte kein Wort mehr heraus, machte kehrt und steuerte, wohl nicht nur von Erregung schwankend, die Rezeption an. 169
Ich sah, wie sie sich den Schlüssel geben ließ und die Treppe hinaufstakte. Jetzt brauchst du aber wirklich einen Schnaps, war mein erster Gedanke, dann dachte ich daran, ihr nachzugehen und sie versöhnlich zu stimmen. Ich folgte weder dem einen noch dem anderen Impuls, blieb apathisch sitzen, fühlte mich ausgepowert wie nach zu langem Bergaufgehen. Ich hatte das Scheißspiel gründlich satt. Mehr selbsttätig stellte sich der Gedanke ein: Jetzt brauchen wir Gott sei Dank nicht mehr zu der Geburtstagsfeier vom alten Brunnenmüller, und alle, alle werden zufrieden sein. Ich ging in mein Zimmer hinauf, warf mich aufs Bett, und in Sekundenschnelle war ich eingeschlafen. Als ich von dem Klopfen hochschreckte, war es schon dunkel, und nur eine Leuchtreklame für Wein von der gegenüberliegenden Straßenseite ließ das Mobiliar im Umriß hervortreten. Ich trottete zur Tür. Vor mir stand Gisela in dem glatten, schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, darüber den hellen Gabardinemantel; eine kleine Tasche hatte sie unter den Arm geklemmt, und in der Hand hielt sie einen voluminösen Blumenstrauß. Es dauerte einige Zeit, ehe ich mich zurechtfand und mich an den Auftritt in der Halle zu erinnern begann. Dann trat ich einen Schritt zur Seite, und Gisela kam herein. „Verzeih bitte“, sagte sie, und obwohl die Entschuldigung allgemein gehalten war, begriff ich sofort, daß sie nicht dem plötzlichen Eindringen in mein Zimmer galt. „Schon gut“, sagte ich. Mein Kopf war dumpf wie nach einer wüsten Zecherei. Ich schaltete die Deckenbeleuchtung ein. „Setz dich.“ Im Bad, unterm kalten Wasser, löste sich meine Benommenheit. Die Bilder wurden klar. Obwohl mit der Erinnerung an den Nachmittag auch der Zorn wuchern wollte, sah ich mich im Spiegel lächeln. Das war kein Triumphlächeln, auch keins der 170
Genugtuung, nur eins der Zufriedenheit, weil sie anscheinend ihre alberne Pose aufgegeben hatte. Sofort, als ich wieder ins Zimmer kam, setzte sie zu einer Erklärung an. Ich schnitt ihr die Rede ab, entschuldigte mich, weil ich so verdöst war, und fragte, was sie für den Rest des Abends vorhabe. „Wir wollten doch zum Geburtstag“, sagte sie unbefangen, als habe es die Viertelstunde unten in der Halle – und was ihr vorausgegangen war – nicht gegeben. Sie stand auf, drehte sich um die Achse. „Ich habe mich auch würdig gekleidet.“ So viel Naivität (oder was immer es war) entwaffnete mich. „Wie stellst du dir das denn vor?“ fragte ich. „Bitte!“ sagte sie. „Ich verspreche: Ich bin ganz brav. Und Blumen habe ich auch noch in allerletzter Minute gekauft. Du denkst ja an so was nicht.“ Und sie machte ein drolliges Gesicht. Ich fragte mich, ob sich hinter dieser Maske nicht nur der Wunsch verbarg, sie kennenzulernen, die Nebenbuhlerin, der sie sogar einen Mord zutraute, fühlte aber nicht die Kraft, mich gegen den Wunsch zu stemmen. Wer kann Frauenseelen schon ausloten? dachte ich eher ergeben. „Nun?“ „Dann muß ich mir eben ein frisches Hemd anziehen“, sagte ich.
12. Ich blickte an der Fassade des Hauses Nummer 10 in der Parkstraße empor, die gerade genug Licht von den Tiefstrahlern abbekam, mit denen das Schloß nächtens illuminiert wurde, um ihre strenge Schönheit ahnen zu 171
lassen. Die durch Simse betonte Horizontale harmonierte mit schmalen, hohen Fenstern, die klassizistische Stürze nach oben abschlossen; das Portal mit der massiven Kassettentür war von zwei kannelierten Säulen flankiert. Mich, den Zeitgenossen der Eierkistenarchitektur mit der latenten Sehnsucht nach menschlicherem Wohnen im Herzen, wollten Entzücken und Neid überwältigen. Doch Gisela zupfte mich am Ärmel. „Ob es wohl in der ersten Etage ist, wo die Fenster erleuchtet sind?“ fragte sie. Den ganzen Weg über schwankten ihre Empfindungen zwischen Erwartungseifer und Beklommenheit, was an die Drängelei von Kindern vor der Weihnachtsbescherung erinnerte. Jetzt ging ich mit einigem Herzklopfen vor ihr die breite, läuferbelegte Treppe hinauf zur ersten Etage. Wie würde Brunnenmüller mein Zuspätkommen aufnehmen? Und was würde er dazu sagen, daß ich Gisela mitbrachte? Ich klingelte, indem ich an einem Ring in einem Löwenmaul unter dem Messingschild mit der gravierten Inschrift Brunnenmüller • Hofschauspieler zog. Hofschauspieler? dachte ich, während ich auf das gedämpfte Rumoren hinter der dreiteiligen Tür lauschte. Gibt es denn so etwas überhaupt noch? Später habe ich erfahren, daß der Titel nicht Herrn Brunnenmüller zukam, sondern dem Vater, der auch schon am Theater von N. gewirkt und es hier vor dem ersten Weltkrieg zu Ansehen gebracht, die Tochter eines begüterten Bürgers geheiratet und in hohem Alter das Zeitliche gesegnet hatte. Der Sohn war in den dreißiger Jahren in des Vaters Fußstapfen getreten, wieder ins elterliche Haus gezogen und hatte, vielleicht aus Pietät gegenüber dem Vater, vielleicht auch nur, um Tradition auszustellen und Anspruch anzumelden, das Namensschild an seinem Platz belassen. Ich wartete also, einen Chrysanthemenstrauß in der Hand und Gisela im Rücken, daß mir aufgetan würde. 172
Eine Frau vom Typ alte Dame öffnete (zerbrechlich, dünnes weißes Haar, das durch die Ondulation auch nicht voller wirkte, schwarzseidenes Kleid mit eigroßer Granatbrosche, altersfleckige Hände, ein Lächeln um den faltigen Mund), blickte fragend zu mir auf und sagte mit erstaunlich tiefer Stimme: „Ah, Sie sind sicher der neue Organist von Sankt Petri. Und das ist Ihre liebe Frau? Arthur hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Guten Abend.“ „Leider nein, gnädige Frau.“ Ich kratzte all mein gutes Benehmen zusammen. „Mein Name ist Gammler, und das hier ist Frau …“ „Macht nichts“, verkündete sie mit liebenswürdiger Senilität, „kommen Sie nur herein, Herr Sammler, und Sie, Kindchen.“ Mit dem Kindchen war Gisela gemeint, die über dem unkomplizierten Empfang sichtlich ihre Beklommenheit verlor. Auch meine Scheu war zurückgedrängt (natürlich hatte ich registriert, daß sie meinen Namen falsch verstanden hatte, und auch das machte mich sicherer), und ich fragte mich nur noch, wieso ich angenommen hatte, daß Brunnenmüller Junggeselle sei. Vielleicht, weil ich ihm in Begleitung von Frau Feierabend begegnet war? Meine Verwirrung klärte sich bald. Nachdem uns die alte Dame die Blumen und die Mäntel abgenommen hatte, sagte sie: „Mein Bruder ist drüben im Salon, bei den Gästen.“ Im Salon also. Ich ging voran durch eine geräumige Diele mit Büchern bis unter die Decke (auf einer Konsole entdeckte ich eine Marmorkopie des Diskobol), die entsprechend muffig roch. Der Salon war ein sehr geräumiges Zimmer, vollgestellt mit stabilen Möbeln aus der Wilhelminischen Zeit; die Fenster waren mit schweren dunkelroten Portieren verhangen. Bei aller Solidität machte die Einrichtung einen verwohnten, um nicht zu sagen schäbigen Eindruck, als sei zu lange nicht Staub 173
gewischt und seit Jahren an Möbelpolitur gespart worden. Ein mächtiger Kristall-Leuchter goß vielfach gebrochenes Licht über eine Versammlung von vielleicht zwanzig Männern und Frauen, die in kleinen Gruppen zusammenstanden. Als ersten entdeckte ich Finkenmeier, der, ein Glas in der Linken, jemand etwas erklärend, mit der rechten Hand einen weiten Bogen beschrieb. Auch er sah mich, ließ augenblicklich die Rechte sinken und schmetterte ein „Cheerio!“ in meine Richtung, das zu überquellend erfreut klang, um echt zu sein. Da die Gespräche ziemlich gedämpft geführt wurden, wie es sich für einen fünfundsechszigsten Geburtstag ziemt, erregte die laute Begrüßung einiges Aufsehen, und alles blickte zu mir hinüber. Brunnenmüller löste sich aus einem Sessel, ging, steifbeinig vom Sitzen oder auch schon vom Wein und auf seinen Stock gestützt, auf mich zu und sagte: „Mein Freund! Schön, daß Sie doch noch gekommen sind.“ Meine Gratulation nahm er mit gebührender Bescheidenheit und mit Lächeln entgegen, doch als ich ihm Gisela vorstellte und um Entschuldigung dafür bat, daß ich ihm noch jemanden ins Haus schleppte, schwand der gelöste Ausdruck aus seinem Gesicht, und er schaute betroffen drein. Sein Blick sagte eindeutig: War das nötig? Nur mühsam fand er das seelische Gleichgewicht soweit wieder, daß er auch Gisela mit einem Lächeln bedachte. In mir setzte sich, endgültig, aber zu spät, die Erkenntnis durch, es sei wohl nicht die beste Idee gewesen, die Witwe Carls in diesen Kreis einzuführen. Gisela indes ließ sich nicht beirren, reichte Brunnenmüller die Hand, sagte etwas Artiges, während ihr Blick schon neugierig über die Gäste schweifte. Auch ich sah mich um, wenngleich nicht so ungeniert wie sie, grüßte zu Frau Feierabend hinüber mit einem Kopfnicken, entdeckte unter manchen unbekannten Gesichtern das eindrucksvolle Haupt des Intendanten Wasser, der sich zur 174
Feier des Tages in einen Cutaway gekleidet hatte. Dem fragenden Augenbrauenhochziehen Giselas konnte ich nur mit einem Achselzucken begegnen: Margot Schulz war nicht zu sehen. Während ich die Leute noch musterte, fühlte ich mich am Ellenbogen gefaßt und mit sanfter Gewalt vom Fleck geführt. Brunnenmüller, dem Anschein nach noch immer betroffen, dirigierte mich in ein von einem Wandarm nur schwach beleuchtetes Nebenzimmer, das vom Salon durch eine jetzt nur halb geschlossene Schiebetür getrennt war. Hier waren wir allein, dennoch senkte er die Stimme zu einem Flüstern, als er sagte: „Ist es für die … na ja, ich meine, für die Dame in Ihrer Begleitung nicht … wie soll ich sagen? Ist es für sie nicht zu anstrengend, unter all den Leuten, die ihren Mann gekannt haben … Sie wissen wohl, was ich meine …“ Ich war erstaunt, den sonst so wortgewandten Mann stammeln zu hören, und dachte: Wenn Sie wüßten, verehrter Jubilar, daß die Dame in meiner Begleitung mich hierhergeschleppt hat, würden Sie nicht solche Skrupel haben. Ich versuchte, ihn dahingehend zu beruhigen, daß Gisela sicherlich nicht mit mir gekommen wäre, wenn sie sich davor fürchtete, die Leute zu treffen, mit denen ihr Mann die Stunden vor seinem tragischen Tod (dazu nickte Brunnenmüller gedankenschwer) verbracht hatte. „Machen Sie sich bitte keine Sorgen“, sagte ich. „Und Sie glauben nicht, daß sie uns etwas – wie soll ich es sagen – etwas nachträgt?“ Die Frage überraschte mich. „Warum sollte sie Ihnen etwas nachtragen?“ Mir fiel nichts anderes ein als diese törichte Gegenfrage. „Na ja.“ Es war mir offensichtlich nicht gelungen, ihn zufriedenzustellen. Er konnte nicht aufhören, den Kopf hin und her zu wiegen und mich zweifelnd anzusehen, als glaube er, ich flunkere ihm etwas vor. „Wenn Sie so 175
denken …“, sagte er schließlich halbherzig und ging mir voran in den Salon. Zur Gesellschaft zurückgekehrt, sah ich mich nach Gisela um. Ich hoffte, sie hätte kein Interesse mehr an dem Geburtstag, nun da sich Margot Schulz nicht unter den Gästen befand. Aber ich sah sie im Gespräch mit Brunnenmüllers Schwester, und sie lächelte mir entspannt zu. Es schien ihr nichts auszumachen, daß die alte Dame intensiv auf sie einredete, und sie verließ nach einer Weile sogar mit ihr den Salon. Inzwischen war ich längst von Finkenmeier mit Beschlag belegt. Der hatte mir ein Glas Rotwein in die Hand gedrückt und setzte den Ehrgeiz daran, mich den Gästen einem nach dem anderen vorzustellen. Es waren durchaus nicht nur Leute vom Theater, die ich da kennenlernte: Ein junger Mann mit wirrem rotem Haar stellte sich als ein Mitarbeiter der Stadtbibliothek heraus, ein anderer, wenig älter, war Musiklehrer und Kunsterzieher an der erweiterten Oberschule, eine Frau in den Dreißigern, mit viel Geknüpftem und Gebatiktem um und an sich, leitete die christliche Buchhandlung des Ortes und versuchte, mich in ein Gespräch über Bobrowski zu verstricken, indem sie behauptete, ich sähe ihm zum Verwechseln ähnlich. Nach der achten Vorstellung wurde ich unruhig und hielt nach einer Gelegenheit Ausschau, mich von meinem Cicerone lösen zu können. Aber der wich mir nicht von der Seite, sagte plötzlich: „Ach, fast hätte ich es vergessen, da ist ja auch unser Beleuchtungsmeister!“ und deutete auf einen breitgebauten großen Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren, mit einem überraschend feingeschnittenen Gesicht, der ein wenig abseits stand und aufmerksam eine exotische schmalblättrige Topfpflanze betrachtete. Das also war Hannes Kaul. Ich erinnerte mich nicht, ihn bei der Premierenfeier gesehen zu haben, und schätzte ihn unwillkürlich auf seine Körperkraft hin ab. 176
Er dagegen schien mich wiederzuerkennen, legte aber wohl nicht viel Wert auf meine Gesellschaft. Jedenfalls wandte er sich, nachdem er mir allzu fest die Hand gedrückt und etwas wie „Sieh da, der Freund vom Dramatiker“ gemurmelt hatte, wieder der Pflanze zu. Und ich wurde zum nächsten Gast geschleppt, ohne Zeit zu der Überlegung zu finden, ob Kauls Unfreundlichkeit mir galt oder noch immer Carl. Schließlich kam ich doch zum Sitzen, flankiert von Frau Feierabend und Herrn Wasser, der sich obenhin erkundigte, ob es mir in der Stadt gefalle, und empfahl, ich solle mir unbedingt im kommenden Monat das Stück Wenn der Winter einbricht ansehen, eine gerade in den Proben befindliche Dreipersonen-Angelegenheit von einem ganz jungen rumänischen Autor, in der Fräulein Schulz (bei ihrem Namen lächelte er mich an, als bereite er mir eine besondere Freude) neben den Herren Sommer und Brunnenmüller vorzüglich den neuen, den sozialistischen Charakter des Generationenkonflikts darstellte. „Weit weg von den üblichen bürgerlichen Schmonzetten zu dem Thema“, kommentierte er, und eine schlanke junge Frau mit Sportmädelgesicht, die auf der anderen Seite neben ihm saß (eine Dramaturgin, wie ich später erfuhr), nickte strahlend zu allem, was Herr Wasser von sich gab. Frau Feierabend war seltsam still und in sich gekehrt, und das machte sie mir noch unbehaglicher, als hätte sie mich mit ihrem Kummer über die Schwester behelligt. Dann und wann griff sie zum Weinglas und prostete mir stumm zu. Herr Wasser war es dann, der die Rede auf Wittlich brachte, und er tat es, indem er seinen Worten demonstrativ einen Seufzer voranschickte – ganz enttäuschter Vater. Für ihn stand fest: Hier hat einer schwer gefehlt und sich selbst gerichtet. Er sagte das ohne Gehässigkeit oder pharisäische Überhebung, ebenso sachlich wie einer, der Autorität nicht nur verkörpert, sondern bis in 177
die Fingerspitzen hinein Autorität ist. Ich registrierte, daß für die Leute vom Theater in N. der Fall Carl Schanzer abgeschlossen war, abgeschlossen und beiseite geschoben. Alles weitere Reden konnte nur dem Image des Instituts schaden. So ähnlich drückte sich Herr Wasser denn auch aus und legte zum Zeichen dessen, daß er das Thema für beendet ansehe und nun endgültig zum frohen Teil des Abends übergehen wolle, der schlanken Dame neben ihm einen Arm um die Schulter, wobei er – diesmal freundlicher Vater – sagte: „Nun, Fräulein Dagmar, es ist doch ganz nett hier, oder nicht?“ „Die hat gerade erst bei uns angefangen“, zischelte mir Frau Feierabend zu, und ich sagte: „Aha!“ Wenn Gisela in der Nähe gewesen wäre, hätte ich sie aufgefordert, mich ins Hotel zu begleiten; aber ich konnte sie nirgendwo entdecken, und während ich zum wiederholten Mal die Blicke durch den Raum wandern ließ, fiel mir auf, daß auch Herr Sommer fehlte. War das Zufall? Ich fragte Frau Feierabend so harmlos wie möglich, ob man heute abend denn nicht den Kollegen Sommer zu Gesicht bekomme. „Der war hier mit uns allen zur Gratulationscour“, antwortete sie. „Und dann ist er gegangen, kurz bevor Sie eintrafen. Ich weiß auch nicht recht, warum.“ Ich war so unvorsichtig zu vermuten, er sei vielleicht bei Fräulein Schulz: „Oder war die auch hier und hat sich frühzeitig verabschiedet?“ fragte ich. Die Art, wie Frau Feierabend die Lider fallen ließ (als werde sie mich nie mehr mit einem Blick bedenken), machte offenkundig: Sie sah in mir einen Buhler um Margot Schulzens Gunst, und einen rüpelhaften dazu. Zu einer Antwort raffte sie sich erst gar nicht auf; statt dessen wandte sie mir absichtsvoll den Rücken zu und fragte ihre Nachbarin zur Linken, die christliche Buchhandelsdame in Batik, so laut, daß auch ich es mitbekommen mußte, nach der Chance, den Ikonen-Kalender 178
fürs nächste Jahr zu ergattern. Meine Mutter nannte so eine Prozedur mit Nichtachtung strafen, und sie hielt dafür, das sei die schärfste Form von pädagogisch noch vertretbarem Liebesentzug. Mehr verärgert als belustigt, stand ich nach einigen Sekunden des Zögerns auf, da auch der Herr Intendant wenig Interesse zeigte, sich mit mir zu unterhalten (er erklärte dem Sportmädelgesicht eindringlich den Lauf der Welt und war wahrscheinlich gerade dabei, ihr seine Funktion beim Auf- und Untergang der Sonne auseinanderzusetzen). Mich ergriff der Ingrimm des Mannes, der sich inmitten vieler überflüssig fühlt und keinen Weg sieht, diesen Status zu ändern, und als sich gar der Musiklehrer auf allgemeines Bitten vors Klavier setzte und „Pour Elise“ unter die Finger nahm, war ich endgültig bedient. Ich ging hinaus in die Diele, stand vor dem Diskobol, bis ich ihn unerträglich fand in seiner verdrehten, halb gebückten Haltung, den rechten Arm mit dem Teller weit nach hinten ausgeschwungen und die linke Hand am rechten Knie, ihm die Zunge herausstreckte und mich abwandte. Zwei Türen, außer der zum Salon, führten von der Diele ab, beide waren geschlossen. Hinter einer, sagte ich mir, muß Gisela sein. Ich war nahe daran, eine der Türen aufs Geratewohl zu öffnen und nachzusehen. Ich wollte weg, und ich hatte schon die Hand auf der Klinke. Da redete mich jemand von hinten an. „Nette Gesellschaft, nicht wahr?“ Ich schnellte wie ein ertappter Sünder herum, vor mir stand Hannes Kaul, eine große Bierflasche in der Hand, und sah mich aus freundlichen Augen an. Er schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein, aber nicht betrunken, jedenfalls in dem Zustand, da die meisten gesprächig werden. „Immer noch auf der Pirsch?“ fragte er, und als ich 179
nicht gleich begriff, erläuterte er: „Hab’ doch gehört, daß Sie hier sind, um rauszukriegen, wie das alles war mit Ihrem Freund.“ Er sprach langsam und deutlich, als sei er besorgt darum, daß ich auch alles verstand. „Mir will das nicht in den Kopf ’rein, ich meine, warum er ihn totgeschlagen hat. Eine richtige Abreibung hätte dem aufgeblasenen Burschen nicht geschadet, im Gegenteil. Sie verstehen mich doch. Auch wenn Sie sein Freund gewesen sind, müssen Sie zugeben, daß er ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse gewesen ist. Hat das arme Mädchen mit Versprechungen vollgepumpt. Die wußte ja nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Andauernd hat sie von ihm gesprochen und davon, was er alles für sie tun würde. Und dann hat er sie links liegenlassen, eine ganze Zeit lang. Und dann ist er wieder ’ran.“ Er rülpste und entschuldigte sich. „Mann, war das ein Affentheater. Und der dumme Kerl hat es ausbaden müssen.“ Ich wurde über dem Gerede immer verwirrter. Was wollte der Mann von mir? Wollte er mir nur klarmachen, wie wenig Sympathie er für Carl empfand? „Sie meinen Wittlich?“ sagte ich, um seinen Redefluß zu stoppen. „Genau.“ Kaul kniff ein Auge zu, sah plötzlich sehr pfiffig aus. „Oder meinen Sie, ich sollte jemand anderen meinen?“ „Ich weiß nicht …“ Mir war nicht wohl bei dem Stückchen, das der Mann aufführte. Wußte er etwas und wollte es auf diese Weise an mich loswerden? Oder war er nur einer von den Typen, die sich aufspielen und sich Gott weiß wie gescheit und informiert vorkommen, wenn sie einen Kleinen in der Krone haben; und wenn man dann bohrt, stößt man bloß auf ein paar lumpige Meinungen und ein bißchen Klatsch. „Man hört und sieht ja so manches“, orakelte er und nahm einen großen Schluck aus der Flasche, wohl um den Worten durch eine Pause Nachdruck zu verleihen. „Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß Margot Schulz heute 180
abend nicht hier ist?“ Dann verbesserte er sich, als habe er etwas allzu Dummes von sich gegeben: „Aber was sag’ ich: Wieso sollten ausgerechnet Sie das nicht gemerkt haben …“ „Was heißt das?“ Ich war nahe daran, die Geduld zu verlieren und den Mann stehenzulassen. „Das heißt“, er hob einen Zeigefinger wie ein Referent, der die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer wachrufen will, „daß ich nicht blind bin. Ich bin nie blind gewesen, verstehen Sie, nie, und auch nicht taub. Und ich habe natürlich auch Ihr Interesse an Margot bemerkt. Dazu gehört übrigens nicht viel. Da war ihr Freund geschickter.“ Er fing an zu kichern wie ein alberner Halbstarker, der etwas Genierliches zum besten gibt, hielt sich sogar eine Hand vor den Mund. „Aber nicht geschickt genug. Unsereiner hat immer noch was auf der Bühne zu tun, oben auf der Beleuchterbrücke, manchmal auch, wenn die Probe schon abgeblasen ist und kein anderer mehr da steht, außer eben zwei Figuren, die denken, sie sind allein.“ Es behagte ihm offensichtlich, so umständlich und nur andeutungsweise zu erzählen. „Unser Theater hat eine hervorragende Akustik. Da können Sie flüstern, und in der letzten Reihe hört man das noch. Aber die haben ja nicht mal geflüstert, die beiden.“ Das Gerede wurde mir zu bunt. „Entweder Sie sagen mir, was Sie zu sagen haben, oder Sie verschonen mich bitte mit Ihren Weisheiten!“ Ich muß wohl ziemlich heftig gesprochen haben, denn das vergnügte listige Grinsen schwand von Rauls Gesicht. „Sie verstehen auch keinen Spaß“, sagte er enttäuscht und plötzlich ganz ernst. „Also der Schanzer, der stand mit Margot Schulz auf der Bühne ’rum, als ich da oben noch mit was zugange war, und hat versucht, sie zu beruhigen. Aber die Margot ist nicht drauf eingegangen. ‚Der Kerl meint es ernst‘, hat sie gesagt, ‚der wirft dir einen mächtigen Knüppel zwischen die Beine.‘ Und der Schanzer hat 181
nur gelacht: Das solle er mal versuchen, die Kiste würde ihm sowieso keiner abkaufen. Und überhaupt, er hätte den Eindruck, sie, die Margot, bauschte die Sache auf. ‚Ich habe doch mit ihm gesprochen, und er war halb so wild, wie du ihn mir geschildert hast. Ich glaube, der weiß, daß er auf dem Holzweg ist. Jedenfalls habe ich ihm das klargemacht.‘ Das hat der Schanzer gesagt. Die Margot hat aber darauf bestanden, die Sache wäre schlimmer, als er sich das vorstellen könnte, und wenn noch nichts passiert wär’, dann hätte er es nur ihr zu verdanken. ‚Schließlich‘, hat sie gerufen, ziemlich laut, da brauchte ich meine Ohren gar nicht anzustrengen, ‚schließlich hast du einen Ruf zu verlieren, denk daran!‘ Das weiß ich noch genau, weil ich mir gedacht habe: Mann, was hat der Casanova denn noch an Ruf zu verlieren.“ „Und weiter?“ Ich merkte, daß ich feuchte Hände bekam, wie immer, wenn ich mit Unvorhergesehenem konfrontiert werde, und das ärgerte mich. „Weiter nichts. Dann kam unser Inspizient auf die Bühne und suchte nach seiner Brille, und die beiden haben sich verkrümelt.“ „Wann war das? Ich meine: an welchem Tag?“ „Genau kann ich das nicht mehr sagen, wer denkt denn auch …“ Er krauste die Stirn. „Es muß bei einer der ersten Durchlaufproben gewesen sein. Da war Schanzer noch mal hier. Ja, genau – er hat nämlich einen mächtigen Krach mit Finkenmeier gehabt, wegen der Konzeption, wie er das nannte, und abends haben die beiden dann doch wieder in der Kantine miteinander gesoffen.“ „Das Datum!“ „Tja, das war so Ende Juli, Anfang August. Das muß rauszukriegen sein. Warum wollen Sie es denn so genau wissen?“ fragte er mit gespielter Naivität. Ich ging nicht auf seine Frage ein, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, mich an das Datum der Briefe zu erinnern und deren Inhalt mit Kauls Auskünften über182
einzubringen. Aber in der Eile gelang mir das nicht, und ich war schon nahe daran, mich einen Trottel zu schimpfen, weil ich die Briefe der Polizei übergeben hatte. An dem Punkt aber fiel mir ein, daß ich meine dilettantischen Versuche in Kriminalistik ein für allemal beendet hatte, und so fragte ich denn, eher widerwillig, weil es mir doch wie eine Kapitulation vorkam: „Weiß die Polizei davon?“ „Die Polizei?“ Kaul machte große Augen, als habe er gerade so etwas nicht von mir erwartet. „Was soll die schon damit anfangen. Daß die beiden was miteinander hatten, weiß doch jeder. Und außerdem hat mich keiner so genau gefragt, weil ich doch bei der Premierenfeier früher gegangen bin, gleich nachdem der Schanzer mich so blöde angeblafft hat. Aber nicht deswegen, meine Frau kriegt doch bald was Kleines, und da ist sie nachts nicht gern allein. Prima Alibi!“ setzte er hinzu. Und um seine Unbekümmertheit zu unterstreichen, trank er die Flasche leer. Dann sah er demonstrativ auf die Uhr. „So ist das: Jetzt muß ich auch schon wieder abhauen, wo es doch gerade erst gemütlich wird. Ist das nicht zum Kotzen?“ Ich nahm ihm seine Unbekümmertheit nicht ab. Wenn er dem, was er auf der Bühne gehört hatte, wirklich keine Bedeutung beimaß, warum erzählte er mir umständlich davon? Und dazu in einem Ton, der mich neugierig machen mußte? Ich fühlte mich plötzlich nicht mehr wohl bei dem Gedanken, alles auf sich beruhen zu lassen und vielleicht am nächsten Morgen Fuhrmann oder Ginsterbusch einen Wink zu geben. Hier konnte ich Eisen schmieden, das noch warm war. „Vielleicht haben Sie doch noch ein paar Minuten Zeit“, sagte ich so beiläufig wie möglich. „Ein Bier mehr wird Ihnen Ihre Frau sicher nicht übelnehmen.“ „Das sagen Sie !“ Sein Ton ließ erkennen, daß er nicht abgeneigt war. Dennoch versuchte er noch einmal, den 183
Eiligen zu mimen, sprach von einem weiten Heimweg und davon, daß er doch eigentlich schon genug getrunken habe. „Und außerdem sehe ich nicht ein, zu was es gut sein soll, die ollen Kamellen aufzuwärmen.“ Dabei sah er mich an, als erwarte er Widerspruch. Es war klar, daß er etwas loswerden wollte; ich war aber auch überzeugt davon, daß ich ihn drängen sollte. Also tat ich ihm den Gefallen und sagte: „Ich weiß nicht, ob das olle Kamellen sind. Für mich ist noch gar nicht erwiesen, daß Wittlich Schanzer umgebracht hat. Wenn ich mir das so überlege …“ Er winkte ungeduldig ab und kam einen kleinen Schritt näher auf mich zu, so daß ich den Bierdunst in seinem Atem roch. „Unter uns …“ Er sah sich um wie einer, der sich vergewissern will, ob nicht noch ein Dritter im Raum ist. „Also das Gespräch der beiden ist mir nicht gleich eingefallen, als ich von dem … na ja, dem Schlamassel hörte. Erst Sonntag abend im Bett hab’ ich wieder dran gedacht. Da hab’ ich mir überlegt, ob der arme Wittlich, auf dem jetzt alle rumhacken, wirklich ein Mörder ist. Wir sind nämlich immer gut miteinander ausgekommen, der Wittlich und ich, das war ein prima Bursche, gar nicht so einer wie … na ja …“ Er warf einen Blick zum Salon hinüber. „Jedenfalls hab’ ich das auch den Kollegen gesagt.“ Er schien zu überlegen, ob er Namen nennen solle oder nicht. „Vielleicht Herrn Finkenmeier?“ ermunterte ich ihn. „Wie kommen Sie denn auf den?“ Er wich unwillkürlich den halben Schritt wieder zurück. „Namen tun hier nichts zur Sache.“ Ich ließ nicht locker. „Auch Herrn Sommer? Oder Herrn Brunnenmüller, Frau Feierabend, Fräulein Schulz? Vielleicht dem Herrn Intendanten?“ „Also der Kollege Sommer hat damit nichts zu tun.“ Auf mehr ließ er sich nicht ein. „Es war jedenfalls am Montag, in der Kantine. Wir waren alle ganz durchein184
ander wegen dem Unfall. Da hab’ ich ganz einfach gefragt, ob es denn nicht möglich ist, daß der Wittlich es gar nicht war, und ich hab’ erzählt, was ich damals gehört hatte. Aber die anderen meinten, ich sehe Gespenster und alles ist schon aufgeklärt.“ „Wer hat das gesagt?“ „Na, die anderen.“ Kaul ließ sich nicht aus der Reserve locken, und so wußte ich nur, daß Herr Sommer nicht unter denen gewesen war, die ihm seine Meinung auszureden versucht hätten. Das wunderte mich, irgendwie paßte das nicht in das Bild, das ich mir von diesem Schauspieler zurechtgebastelt hatte. „Und dann habe ich der Polizei auch nichts von dem Gespräch auf der Bühne gesagt. Sollte ich mich denn gegen die anderen stellen?“ „Jetzt haben Sie wohl ein schlechtes Gewissen.“ Der Satz war kaum heraus, als ich ihn auch schon bereute. Ich konnte beobachten, wie bei Kaul die Klappe fiel: Seine Augen wurden starr, er sah an mir vorbei. Noch ehe ich Zeit hatte, meine unbedachte Äußerung abzuschwächen oder mir Vorwürfe zu machen wegen meiner Ungeschicklichkeit, erschien Finkenmeier im Türrahmen, aufgekratzt wie immer, und fragte mich mit nicht mehr ganz glatter Zunge, ob das wohl ein gutes Benehmen sei, sich von einer Gesellschaft einfach abzusondern. „Ich beobachte euch beide schon eine ganze Weile“, sagte er, und man merkte ihm die Mühe an, die es ihn kostete, seine Worte ins Komische zu ziehen. „Ihr habt wohl mächtig Geheimes zu bereden.“ Hannes Kaul ergriff die Gelegenheit, sich zu verabschieden, und er ging, ohne mir die Hand zu reichen. „Wollte der was von Ihnen?“ Der Regisseur kniff die Augen zusammen, um mich besser fixieren zu können. „Er hat ein paar Histörchen aus dem Theaterleben zum besten gegeben“, sagte ich. 185
Finkenmeier nickte, als bestätigte ich ihm etwas, das er schon vermutet hatte. „Aha, Histörchen. Hoffentlich sind Sie auf Ihre Kosten gekommen.“
13. Beim Aufwachen wurde ich unangenehm daran erinnert, daß ich noch lange nach Brunnenmüllers Geburtstagsgesellschaft in der Bar des Goldenen Adlers herumgesessen hatte. Mein Kopf schmerzte höllisch von den Mixgetränken, die dort unter abenteuerlichen Namen an den Mann gebracht wurden. Gisela hatte sich mit freundlichen Worten, aber bestimmt an der Rezeption von mir verabschiedet: Sie müsse etwas lesen, das habe sie versprochen. Natürlich hatte ich das als Ausrede genommen und versucht, sie an die Tränke zu locken. Sie aber war standhaft geblieben: Wie klug von ihr! Allmählich fügte sich das Bild der letzten Stunden vorm Schlafengehen Stück um Stück zusammen, jedenfalls stellte sich der Ablauf ungefähr wieder her: Ich verabschiedete mich von Arthur Brunnenmüller und sah deutlich, er war heilfroh, Gisela und mich nach vergleichsweise kurzer Visite wieder loszuwerden; ich ging mit Gisela durch die Straßen, und sie war gelöst wie nicht mehr seit Carls Tod. Sie schwärmte geradezu von dem alten Fräulein Brunnenmüller, von dem sie die ganze Zeit mit Familiengeschichten unterhalten worden war, hauptsächlich mit Geschichten von ihrem Bruder, den sie natürlich für einen außergewöhnlichen, leider seit eh und je verkannten Künstler hielt. Und als ich Gisela fragte: „Dann bist du also gar nicht enttäuscht, daß du deine Nebenbuhlerin nicht kennengelernt hast“, brachte auch das sie nicht aus der Fassung. „Ich bin“, sagte sie, „etwas Besserem begegnet, nämlich einer alten 186
Frau, die noch die oft beiseite geschobene Tugend der Bescheidenheit besitzt und ihr Leben ganz einem Menschen gewidmet hat, nur einem Menschen zwar, aber immerhin doch einem anderen Menschen.“ Ihr Leben einem anderen Menschen gewidmet hat! wiederholte ich in Gedanken, während ich nach den Pantoffeln tastete. Dann schlurfte ich ins Badezimmer, wo ich erst einmal den Blick in den Spiegel zu vermeiden suchte. Verdammtes Gesöff, dachte ich, als ich auf der Lokusbrille saß und mich vergebens abmühte, die Augen länger als zwei, drei Sekunden offenzuhalten. Meine Zunge war wie ein Brett im Mund, wie ein ungehobeltes dazu, im Magen brannte mir ein Feuer von beträchtlicher Intensität, meine Beine waren mit Blei ausgegossen. Ich hörte mich lachen über die altfränkische Formulierung (Gisela hatte so etwas mitunter parat), und dann erinnerte ich mich, wie Gisela mir über den Mund gefahren war, wegen meiner Bemerkung, sie solle sich doch nicht von dem provinziellen Charme der Leute in N. beeindrucken lassen. Warum überhaupt hatte ich so etwas Dummes gesagt? Das paßte doch gar nicht zu mir, fand ich jetzt, und betrunken war ich auch nicht, zu dem Zeitpunkt noch nicht. Sicherlich ist diese Geburtstagsgesellschaft daran schuld, beschloß ich aus Mangel an einer anderen Erklärung, das Herumsitzen und Herumstehen in dem seltsamen, verstaubten Zimmer, die Fassungslosigkeit Brunnenmüllers, weil ich Gisela mitgebracht hatte, das Getöne dieses Mannes Wasser, das Geplauder der Frau Feierabend, dann die Unterhaltung mit dem Beleuchter (ich kramte schwerfällig im Gedächtnis, bis ich seinen Namen wiederfand: Kaul!), in der ich versagt hatte, völlig versagt, und schließlich das Gequatsche von Finkenmeier, der mir noch eine halbe Stunde damit auf die Nerven gegangen war, durch allerlei Finten aus mir herauszukitzeln, was Kaul erzählt hatte. 187
Ich schlappte ins Zimmer zurück, suchte nach der Schachtel „Gelonida“ und legte mich noch einmal aufs Bett. Einen Stuckengel im Blick, der ein gipsernes Bouquet in der Hand hielt, döste ich vor mich hin und wäre beinahe wieder eingeschlafen. Giselas Stimme, die voll und plastisch klang, als würden die Worte neben mir und gerade jetzt ausgesprochen und vagabundierten nicht irgendwo in meiner Erinnerung herum, riß mich aus dem Dämmern. „Hast du gewußt“, hörte ich, „daß Herr Brunnenmüller ein Dichter ist, ein Dramatiker?“ Ich muß wohl gelacht haben, hatte wohl auch „Jeder Mann sein eigener Shakespeare!“ oder etwas dergleichen gesagt, aber Gisela war dadurch nicht aus der Fassung zu bringen gewesen. Sie hatte mir ein dickleibiges Manuskript, das sie unterm Arm trug, vor die Nase gehalten: „Das ist ein hervorragendes Stück, hat Fräulein Brunnenmüller gesagt, und ich werde es lesen, das habe ich versprochen, und ich lese es gern, weil ich der alten Frau einen Gefallen damit tun kann, und wenn ich finde, es taugt nichts, werde ich ihr das natürlich verschweigen.“ Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante und wartete darauf, daß der Druck im Kopf nachließ. Solche Tabletten wirken ja eher durch die Überzeugung, daß sie helfen, und ich war an diesem Morgen besonders hilfsbedürftig und also glaubensbereit, obwohl ich aus Erfahrung wußte, vor Ablauf von zwölf Stunden nach dem letzten Glas kam mein Kreislauf nicht wirklich und endgültig zur Ruhe. Trotzdem verspürte ich schon Linderung: Die Beine schienen mir nicht mehr so schwer zu sein. Der Glaube versetzt eben doch Berge oder wenigstens kleine Hügel. Seltsam, diese Gisela, dachte ich, als ich vorm Spiegel den ersten Blick auf mein Gesicht riskierte und es nicht so abscheulich verquollen fand, wie ich befürchtet hatte (nur die Augäpfel spielten ins Rötliche, und das er188
schreckte mich), seltsam! Da ist sie mit einem Stückeschreiber lange genug verheiratet und ihm immer soweit gewachsen gewesen, daß sie wissen mußte, was dramatisches Talent bedeutet und was Schamanentum an einem Dramatiker ist. Und jetzt legte sie sich für einen Dilettanten ins Zeug, von dem sie nichts kannte und von dem gewiß nichts zu erhoffen war. Geschah das nur aus Zuneigung zu einer alten Frau, mit der sie eine Stunde lang ganz amüsant geplaudert hatte? Oder steckte mehr dahinter? Vielleicht demonstrative Sympathie mit einem Schwächeren aus Enttäuschung über das Fehlverhalten eines weitaus Stärkeren? Man kennt solche Fälle aus der Psychopathologie … Ich schüttelte den Kopf, um die blöde Überlegung aus dem Hirn zu vertreiben, und merkte an dem Schmerz, daß das Medikament doch noch nicht zu einer echten Wirkung angesetzt hatte. Nach dem Zähneputzen fühlte ich mich ein bißchen wohler, auf jeden Fall frischer; ich hatte nicht mehr den Eindruck, mein Mund sei eine Kloake, und meine Zunge war geschmeidiger geworden. Ich sah auf die Uhr und stellte mit Erschrecken fest, daß es fast zehn war. Hatte ich mich mit Gisela zum Frühstück verabredet? Ich konnte mich nicht so recht erinnern. Unter der Brause verdampfte ein beträchtlicher Teil meiner Benommenheit, und allmählich stellte sich, wenn auch die Knie schwächer, die Arme schwerer wurden, die Bereitschaft ein, den Tag aktiv zu akzeptieren und nicht mehr nur in eine Folge von trüben Stunden hineinzudriften. Gleichzeitig fiel mir Margot Schulz ein. Schon in den Stunden an der Bar hatten sich bei mir (zweifellos das Resultat der so jäh beendeten Unterhaltung mit Kaul) allerlei Spekulationen über ihre Rolle in dem makabren Geschehen und über den möglichen Grad ihrer Gefährdung wieder eingestellt. Sie waren aber in den trüben Wellen der „Sidecars“ und „Bloody Maries“ ersäuft worden. Jetzt durchzogen sie neuerlich 189
mein ramponiertes Gehirn. Es gab offensichtlich engere Beziehungen zwischen Carls Mörder und ihr, als ich vermutet hatte, auch dann, wenn der Mörder nicht Eugen Wittlich hieß. Beängstigend deutlich drängte sich mir die Szene auf, in die ich bei meinem Besuch am Vortag geraten war: Herr Sommer sitzt bei ihr, ganz vertrauter Gast, und sie ist ziemlich erschrocken, daß ich zu der Geburtstagsfeier gehen will … Hat sie befürchtet, ich könnte an einen Gesprächspartner wie Kaul geraten? Beim Binden der Schnürsenkel kam mich Schwindel an, und ich mußte mich erst einmal hinsetzen. Nach einigen Sekunden traute ich mir zu, das Zimmer verlassen zu können. Behutsam ging ich die Treppe hinunter, eine Hand auf dem Geländer. Das Frühstücksbüfett war natürlich längst abgeräumt (was mich bei meinem sauren Magen durchaus nicht anfocht), und es kostete mich einige Mühe, den Kellner, der schon fürs Mittagessen eindeckte, zu bewegen, mir ein Kännchen Mokka zu bringen. In der Wartezeit erkundigte ich mich beim Portier, ob Gisela schon gefrühstückt habe, und erntete neben der Antwort, daß Frau Schanzer natürlich zu schicklicher Zeit im Speisesaal gewesen und danach zu einem Spaziergang aufgebrochen sei, einen Blick, in dem sich Tadel und professionelles Verständnis für die Extratouren eines Gastes mischten. Dazu erhielt ich die Auskunft, ich solle auf Gisela warten. Auch gut, dachte ich, vielleicht tut dir ein bißchen Zeit zum Akklimatisieren und Sammeln ganz gut, und ich trank meinen Kaffee in der Halle, blätterte durch die Zeitung vom Tag, ohne daß ich mich auf die aktuellen Neuigkeiten hätte konzentrieren können. Als Gisela ziemlich angeregt und beneidenswert frisch durch das Portal trat, war es bereits kurz vor zwölf. Ihre gute Laune vom vorausgegangenen Abend schien sich konserviert zu haben. Ohne Einleitung und ohne für mich erkennbaren Grund pries sie mir die Schönheiten der 190
Stadt an, denen sie auf ihrem zweistündigen Spazierweg begegnet war, und sie wollte gar nicht aufhören, mich aus der Reserve zu locken, indem sie mir von malerischen Häuschen berichtete, von gepflegten Parkanlagen und von Menschen, die zufrieden aussähen und nicht mit dem Stigma der Hast und der aus ihr resultierenden Unwirschheit behaftet seien. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, ehe ihr Redestrom versiegte und ich und meine Verfassung zum Gegenstand ihrer Begutachtung und ihres Bedauerns wurden. „Ich habe so etwas schon erwartet“, sagte sie mit gespieltem Spott. „Wer in solcher Stimmung schwimmt wie du gestern abend, der sollte auf jeden Fall das Alkoholische meiden wie der Teufel das Weihwasser.“ „In welcher Stimmung schwamm ich denn?“ fragte ich unsicher, vorsichtig tastend. „Du hast zum Beispiel verkündet, du würdest, wenn du zu bestimmen hättest, das gesamte Ensemble einsperren und schmoren lassen, bis sich der Mörder Carls freiwillig meldet.“ „Vielleicht wäre es wirklich das beste.“ Ich erinnerte mich zwar nicht, einen solchen Satz gesagt zu haben, aber er kam mir gar nicht absurd vor. „Darüber habe ich ja leider oder auch Gott sei Dank nicht zu befinden. Wenn man diese Bande von Lügnern und Heimlichtuern …“ „Na, na!“ Gisela schüttelte, mißbilligend und sehr ernst geworden, den Kopf. „Jawohl, Lügner, Heimlichtuer! Da weiß jeder mehr, als er zugeben will, oder ahnt doch etwas.“ Ich merkte, wie die plötzliche Erregung meinen delikaten Zustand zum Schlechten zu wenden drohte: In den Ohren brauste Meeresbrandung, und vor den Augen tanzten dunkle Punkte. Auch Gisela schien aufzufallen, wie wenig mir das Thema im Augenblick behagte, und um meine Gemüts191
wallung zu glätten, schilderte sie mir, wie sie sich die halbe Nacht mit dem Lesen des Dramenmanuskripts um die Ohren geschlagen habe. Eigentlich hätte sie ja schlafen wollen, aber es seien ihr zu viele Gedanken im Kopf herumgetanzt, und da habe sie eben zu dem Manuskript gegriffen, das sie mit seinen wohlgesetzten Reden und edlen Gefühlen in Bereiche antikischer Ausgeglichenheit geführt hätte. Sie trug das in einem Ton gutmütigen Spottes vor. „Alles in Jamben gehauen“, sagte sie mit einem Lächeln, „und der Ort der Handlung muß natürlich Athen sein, zur Zeit des Perikles, wie sich das für einen richtigen Dramatiker gehört.“ Als ginge von der Erwähnung des Stücks eine magische Kraft aus, trat Fräulein Brunnenmüller in die Halle, sah sich suchend um, entdeckte uns und steuerte mit kleinen, eiligen Schritten unseren Tisch an. Die liebenswürdige Gelassenheit, mit der sie uns am Abend empfangen hatte, war eckigen Bewegungen gewichen, auf den Wangenknochen und am Hals prangten tiefrote Flecke, Zeichen hochgradiger Erregung, und der Hut saß ihr auf dem Kopf, als sei er zufällig dorthin geraten. Kaum daß sie dazu kam, Atem zu schöpfen, als sie dann vor uns stand. Wir hatten uns erhoben, um sie zu begrüßen. Gisela lud sie mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen, aber sie winkte ab und sagte: „Ich muß gleich wieder gehen. Er tobt.“ Sie war dem Weinen nahe, und ein Zittern ihrer Lippen deutete darauf hin, daß sie sich zu lange beherrscht hatte und ein Ausbruch ihres Gefühls bevorstand. „So habe ich meinen Bruder in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Eine alte blöde Kuh hat er mich genannt.“ Sie ließ sich jetzt doch auf einen der Sessel fallen und schlug die Hände vors Gesicht, ein Häufchen Unglück. Ratlos blickte Gisela mich an, und ich konnte nichts tun, als genauso ratlos die Achsel zu zucken. Sie beugte sich zu Fräulein Brunnenmüller hinunter, 192
legte ihr eine Hand auf die Schulter, fragte, was denn geschehen sei. „Das habe ich nicht verdient, das nicht!“ Die Worte klangen dumpf durch die Hände, und dann schlug das Klagen unvermittelt in ein Sichbeklagen um, in ein Anklagen fast; in einer Flut von Wörtern sprudelte heraus, was ihr die Luft abzuschnüren drohte; unzusammenhängende Sätze, unterbrochen durch Ausrufe, die vor allen Dingen Fassungslosigkeit ausdrückten, sollten wohl eher ihr selber als uns klarmachen, wie undankbar ihr Bruder an ihr gehandelt habe. Ich verstand nur wenig von dem, was sie hervorstieß, manchmal geradezu herauswürgte; aber der Wortlaut war ja auch nicht wichtig bei diesem Akt der Selbstbefreiung von einem übermächtig gewordenen Druck. Sie nahm dann die Hände vom Gesicht, legte sie auf die Knie und starrte auf eine verstaubte Zimmerpalme, die in einem Kübel ein freudloses Dasein fristete. Gisela hatte sich neben sie gesetzt und hielt ihr das Gesicht zugewandt, ganz Aufmerksamkeit und Mitgefühl. Ich stand noch immer mit hängenden Armen herum, wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Der Kopfschmerz, den ich besänftigt geglaubt hatte, drang erneut durch, und das feurige Rumoren im Magen begann wieder. Ich tastete nach der Sessellehne und ließ mich langsam auf den Sitz nieder. Hypertrophe Empfindlichkeit – bei alten Leuten häufig anzutreffen und kaum zu kurieren: das war das einzige, was mir zu der Aufführung des alten Fräuleins einfiel, und ich schämte mich gleichzeitig, daß mir nichts anderes in den Sinn kam als diese platte, abgegriffene Diagnose. Gisela gelang es nach einer Weile, während der sie ihr die Hände streichelte, Fräulein Brunnenmüller etwas zu beruhigen und sie zu bewegen, den Grund ihrer Aufregung in einigen Sätzen zu benennen. Und der war denn simpel genug: Gleich nach dem Aufstehen hatte ihr Bru193
der das Manuskript seines Theaterstücks gesucht, es nicht gefunden und sie nach dem Verbleib gefragt. Als sie arglos erklärte, sie habe es Gisela zum Lesen gegeben, war Brunnenmüller nach einigen Sekunden unheilvollen Schweigens über sie hergefallen. „Wieso ich mich erdreiste, mich in seine Angelegenheiten zu mischen, hat er gebrüllt.“ Fräulein Brunnenmüller war auch jetzt noch alles andere als gefaßt und drohte, jeden Moment in Bestürzung zurückzufallen. „Dabei habe ich doch mein Lebtag nichts getan, als mich in seine Angelegenheiten zu mischen. Und er hat es immer geduldet und ist immer gut dabei gefahren.“ Ihr Ton rutschte wieder ins Weinerliche ab, als sie aufzählte, was sie alles dahingegeben, um ihm das Dasein zu erleichtern, und wie sie buchstäblich auf ihr eigenes Leben verzichtet habe, nur damit das seine so erfüllt wie möglich verlaufen könne. Ich hörte nicht mehr auf ihr Gejammer, zu sehr beschäftigte mich, was Brunnenmüllers Erregung verursacht haben mochte. War es mit einer zufälligen Laune zu erklären? Genierte er sich, daß sein Elaborat von anderen zur Kenntnis genommen wurde? Wenn ich mir Brunnenmüller vorstellte, sein Auftreten, seine Selbstsicherheit und sein Sendungsbewußtsein in Sachen Kunst, seinen geradezu missionarischen Eifer gegen alles, was er als Geschmacksverfall der heutigen Zeit ansah, dann mußte eher das Gegenteil zutreffen: Er würde bestrebt sein, der Welt ein Exempel für wahre Dichtung vorzustellen. Oder wollte er nicht, daß ausgerechnet Gisela sein Stück las? Und warum wollte er gerade das nicht? Ich strich mir mit den Handflächen über die Schläfen, um den bohrenden Kopfschmerz zu besänftigen. Wütend auf mich selber, verwünschte ich meine miese Verfassung, die mich daran hinderte, mehr zu tun, als mir hilflose Fragen zu stellen. „ ‚Du ruinierst mich mit deinen hirnlosen Handlungen‘, hat er gebrüllt“, hörte ich Fräulein Brunnenmüller 194
sagen, und sie sagte es mit so viel Erschrecken in der Stimme, als wären diese rüden Worte eben erst gefallen. „Und dann hat er mich angeschrien, ich solle das Manuskript sofort beschaffen, sonst würde ich mein blaues Wunder erleben. Und dann hat er mich eine alte blöde Kuh genannt.“ Damit hatte sie den Kreis ihrer Erzählung geschlossen, und sie ließ sich erschöpft gegen die Rücklehne des Sessels fallen. „Ich habe es doch nicht bös gemeint“, schickte sie jammernd hinterher. „Ach, Kindchen, das war so ein netter Abend mit Ihnen. Und jetzt das! Nie haben wir uns so gestritten, nie …“ Sie fing wieder an zu weinen und sah aus wie ein grenzenlos gekränktes altes Kind. Gisela redete ihr gut zu, versuchte, ihr alles mögliche zu erklären, zum Beispiel, daß die schlechte Laune ihres Bruders möglicherweise im vergangenen Abend ihre Ursache habe, an dem er vielleicht über sein Maß getrunken hatte und deswegen sein Temperament nicht im Zaum halten konnte. Aber Fräulein Brunnenmüller schüttelte immer wieder den Kopf, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Schließlich sagte sie: „Nein, nein, das kann es nicht sein. Er ist schon seit einigen Tagen so nervös, so unruhig, das Essen schmeckt ihm nicht mehr recht, die Fliege an der Wand ärgert ihn. Und dauernd ist er unterwegs, ganz im Gegensatz zu früher. Ich habe schon daran gedacht, es könnte etwas mit dem Tod Ihres Mannes zu tun haben, Kindchen. Vielleicht hat er sich das zu Herzen genommen.“ Ich sah, wie Gisela zusammenzuckte bei der Erwähnung Carls und betroffen zu Boden blickte. Doch sie hatte sich so weit in der Gewalt, daß sie ihre Gefühle in der nächsten Sekunde zurücknehmen konnte und vorschlug, sie könne Herrn Brunnenmüller das Manuskript selber zurückbringen, möglicherweise ließe er sich dadurch eher beruhigen. „Um Himmels willen, nur das nicht!“ rief Fräulein 195
Brunnenmüller und wäre vor Schreck beinahe aufgesprungen. „Ich wollte es Ihnen eigentlich nicht sagen … Nun ja, er war besonders wütend, weil ich Ihnen das Stück zu lesen gegeben habe. ‚Ausgerechnet der!‘ hat er gebrüllt.“ Also doch, Gisela sollte das Manuskript nicht lesen. Wie durch Watte drang der Ansatz zu einem Gedanken: Was wäre, wenn Brunnenmüller … Und dann fiel mir aus heiterem Himmel Carls Tagebuchnotiz ein, die Stelle, an der er sich dagegen ausgesprochen hatte, daß Schauspieler sich im Stückeschreiben übten. Hatte Carl etwa Brunnenmüllers Stück gelesen und bezog sie sich darauf? Aber warum wehrte sich denn Brunnenmüller so heftig dagegen, daß Gisela es auch noch kennenlernte? Es hielt mich nicht im Sessel, ich mußte ein paar Schritte tun, und unter einem erstaunten Seitenblick Giselas trat ich ans Fenster, sah auf die Straße hinaus und registrierte doch nichts als einen Wirrwarr von Bewegungen. Ein Knäuel einander widerstreitender Spekulationen überlagerte allmählich den Kopfschmerz. Fetzen aus Margot Schulzens Briefen und aus dem Gespräch mit Kaul irrlichtelierten unter meiner Schädeldecke herum, wollten sich aber nicht zu einer ordentlichen Gedankenkette fügen. Ich spürte: Es fehlte ein verbindendes Glied, irgend etwas, wovon ich nichts wußte und das mit einem Schlag alles in ein logisches, überschaubares Ganzes bringen konnte. Vor Ungeduld stampfte ich mit dem Fuß. Als ich mich umwandte, saß Fräulein Brunnenmüller allein am Tisch. „Frau Schanzer ist auf Ihr Zimmer gegangen, das Manuskript holen“, erklärte sie. Ich muß einen geistesabwesenden Eindruck gemacht haben, denn das alte Fräulein erkundigte sich trotz des eigenen Kummers besorgt: „Ist Ihnen nicht gut?“ 196
„Doch, doch.“ Ich nahm wieder ihr gegenüber Platz, und als ich fragte: „Wissen Sie, wann Ihr Bruder das Stück geschrieben hat?“, war mir, als stelle jemand anders die Frage, jemand, der nicht, wie ich, kläglich in einem Netz von Vermutungen zappelte, sondern zielstrebig auf einen Punkt zuging, den er sich als die wahrscheinliche Schnittstelle von Koordinaten ausgerechnet hatte. „Ich glaube, im vorigen Winter, als er wegen seines Asthmas das Bett hüten mußte.“ Ich merkte, daß sie nicht recht wußte, was sie mit meiner Frage anfangen sollte, und als hätte ich nicht die richtige Frage gestellt und sie müsse mir auf die Sprünge helfen, fügte sie hinzu: „Er hat viele Stücke geschrieben, fast jedes Jahr eins, aber nie ist eins aufgeführt worden … nein, einmal, das war noch vorm Krieg, da hat eine Wanderbühne ein Drama von ihm gegeben, Hektors Abschied hieß es. Ich habe Arthurs Stücke immer gern gelesen und hätte sie alle noch lieber auf der Bühne gesehen – schließlich ist er mein Bruder. Aber vielleicht ist das nichts fürs große Publikum – die Themen und die Sprache …“ Mir kam Giselas Charakterisierung in den Sinn: Ganz in Jamben gehauen … Aber die Neugier in mir ließ sich nicht unterdrücken, so steuerte ich beharrlich auf mein Ziel zu. „Wissen Sie, ob außer Ihnen noch jemand die Stücke Ihres Bruders kennt? Ich meine: Gab er sie auch manchmal anderen zu lesen?“ „Ach Gott“, sie versuchte sogar ein Lächeln, „früher hatten wir unseren Kreis, und da kam es schon vor, daß er abends bei einer Flasche Wein eine Szene zum besten gab. Er kann wunderschön vortragen, mein Bruder, wenn er liest, dann werden seine Verse erst so richtig zum Klingen gebracht. Aber die Leute sind tot oder fortgezogen. Und die Jungen, na ja … Ich habe Ihnen ja schon gesagt: Die bringen nicht mehr das richtige Verständnis auf. Brecht und so …“ Ihre eigene Misere schien sie vergessen 197
zu haben über der unbegreiflichen Zurücksetzung ihres Bruders. Es war rührend und zugleich nicht ganz geheuer, anzusehen und anzuhören, wie diese Frau in den Intentionen ihres Bruders ganz aufging. Und ich konnte jetzt Gisela verstehen, daß sie nach allem, was ihr in den letzten Tagen an überdeutlichen Hinweisen auf Untreue, Gleichgültigkeit und Egoismus offenbar geworden war, einen Narren an ihr gefressen hatte. „Heute gibt es eigentlich außer mir nur noch einen, dem er hin und wieder etwas vorträgt oder dem er ein ganzes Stück zu lesen gibt. Das ist der Herr Sommer.“ „Wer ist das?“ Mir schlug das Herz im Hals. „Sie kennen doch sicher Herrn Sommer. Ein angenehmer Mensch, sehr bescheiden, sehr höflich. Ich glaube zwar nicht, daß er Arthurs Stücke so richtig mag, dazu ist er viel zu modern oder wie man das nennen kann, wenn einer sich immer dafür verwendet, daß das Leben, wie es ist, auf die Bühne soll. Aber er mag eben meinen Bruder, und deshalb …“ Ihre Worte zogen mir am Ohr vorbei, ohne daß ich auf den Sinn achtete. Der Herr Sommer also, dieser seltsame Garten- und Holzturmbesitzer! Ich tat einen sehr tiefen Atemzug und war, nachdem ich den ersten Schock verdaut hatte, sehr befriedigt, denn ich fühlte mich in meiner Ahnung bestätigt, daß er noch eine Rolle in der Geschichte spielen würde, dieser Bursche. Und ausgerechnet jetzt tauchte er auf, jetzt, da alles seiner Lösung zustrebte. Soviel war für mich jedenfalls klar: Das konnte kein Zufall gewesen sein, daß ich ihn gestern nachmittag bei Margot Schulz antraf. Inzwischen war Gisela in die Halle zurückgekehrt; ich hatte es zwar registriert, war aber zu intensiv mit meinen Überlegungen beschäftigt und auch zu aufgeregt, um dem mehr als beiläufige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich sah gleichsam nur am Rand, wie sie Fräulein Brunnenmüller das Manuskript gab, und bekam am 198
Tonfall mit, wie sie ihr noch einige beruhigende Worte sagte. Erst als Gisela mich direkt ansprach, tauchte ich vollends aus meinen reichlich ungeordneten Gedanken. „Ich habe gefragt“, wiederholte sie, „ob du es nicht auch richtig findest, wenn wir am Abend noch einmal bei Brunnenmüllers vorbeischauen, Vielleicht können wir ein klärendes Wort miteinander reden. Die Vorstellung, daß ich der Grund für ein Zerwürfnis geworden bin, ist mir fatal.“ „Ja, o ja“, gab ich zur Antwort, und ich fragte Fräulein Brunnenmüller: „Wissen Sie zufällig, ob Herr Sommer dieses Manuskript gelesen hat?“ Gisela schnalzte, verärgert wegen meiner Abschweifung, mit der Zunge, und Fräulein Brunnenmüller, in Gedanken wohl schon wieder damit beschäftigt, wie sie ihrem erzürnten Bruder gegenübertreten sollte, antwortete nicht sofort. Erst nach einer Orientierungssekunde sagte sie: „Das weiß ich nicht, aber möglich ist es.“ Dann verabschiedete sie sich, und wir sahen ihr nach, wie sie davonhastete, ohne sich umzusehen. „Was ist mit dir los?“ fragte Gisela. „Ich glaube, ich habe jetzt eine Spur.“ „Was heißt das?“ „Kannst du mir erzählen, was du heute nacht gelesen hast?“ Sie sah mich ziemlich begriffsstutzig an, und ich drängte: „Was geht in Brunnenmüllers Stück vor?“ Wenn sie auch noch immer nicht wußte, worauf ich hinauswollte, umriß sie doch kurz die Handlung: Theokies, ein junger Athener von edler Geburt, wird in wichtiger Staatsmission nach Theben entsandt, wo er fast in die Netze der Hetäre Oreithyia gerät und ihren Reizen nur widersteht, weil er in Gedanken ständig bei seiner schönen Frau Hypatia weilt, die währenddessen ihrerseits in eine arge Bedrängnis gerät, welche ihr Panaitios, ein Freund des Hauses, bereitet, sich aber dadurch aus der 199
Klemme ziehen kann, daß sie ihm bei stockfinsterer Nacht die Sklavin Empusa aufs Lager schmuggelt, so daß Panaitios, als er am Morgen erwacht, beschämt seinen Fehltritt einsieht und dem heimkehrenden Theokies als zerknirschter, aber geläuterter, den Wert der Freundschaft desto tiefer empfindender Mann entgegentritt. Mit steigender Erregung hörte ich ihr zu. Als sie zu Ende gekommen war, konnte ich nicht länger an mich halten. Mit Triumph in der Stimme rief ich: „Fällt dir etwas auf?“, und als sie mich verwundert ansah und antwortete, ihr falle auf, daß das eine reichlich lederne Geschichte sei, fuhr ich ihr enttäuscht und verärgert in die Parade: „Du kennst wohl Carls Stücke nicht! Hast du denn sein letztes nicht gelesen?“ „Du meinst Strohblumen?“ Sie lächelte nachdenklich. „Hätte ich es lesen müssen?“ „Das ist nicht die Frage. Kennst du das Ding oder nicht?“ „Strohblumen, das ist eins von den schnell zusammengefummelten Sachen. In vier oder fünf Wochen war das fix und fertig. Mit der heißen Nadel genäht, sagte Carl zu so etwas.“ „Ja oder nein?“ „Nein.“ Das klang trotzig. „Ich verstehe nicht, warum du dich so aufspielst.“ „Das wirst du bald begreifen. Noch etwas: Wann hat Carl das Stück zusammengefummelt, wie du das nennst? Bitte, Gisela, es ist sehr wichtig.“ Ihre Begriffsstutzigkeit wandelte sich in Mißtrauen, wie es sich jemandem gegenüber einstellt, an dessen klarem Denkvermögen man zweifelt, und dieses Mißtrauen zog ihr die Stirn in Falten. Dennoch sagte sie sachlich, wie um mich zu beruhigen: „Das weiß ich ziemlich genau. Das war im Februar, März. Er kam damals mit dem Drehbuch über die Trasse nicht zurecht. Ich weiß das, weil wir ein paar Abende lang …“ 200
„Bist du sicher?“ Mir ging das viel zu umständlich vonstatten. Sie ließ sich nicht aus dem Erzählrhythmus bringen: „… weil wir ein paar Abende lang darüber gesprochen haben, wie der Stoff angepackt werden könnte. Und dann, an einem Sonntag – ja, es war Ende Februar –, hat er beim Frühstück erklärt, er ließe den Film erst einmal liegen, er habe etwas, das er in die Lücke stopfen könne. ‚So eine Schmonzette‘, sagte er, ‚worauf die Theater ganz wild sind.‘ Und dann hat er in den nächsten drei Wochen nur daran gearbeitet.“ „Weißt du, ob Carl manchmal Stücke anderer Leute gelesen hat, unveröffentlichte, ungespielte Stücke? Vielleicht hat man ihn hin und wieder um eine Art Gutachten gebeten.“ „Du setzt mir zu wie einer von der Kriminalpolizei.“ In gespielter Erschöpfung fächelte sie sich mit der Zeitung Luft zu. „Sag doch schon: Hat er manchmal solche Stücke gelesen?“ „Ja.“ Gisela schickte sich in ihre Rolle, fraglos Auskünfte geben zu müssen. „Kollegen baten ihn manchmal um Rat, wohl auch einmal der Bühnenvertrieb oder ein Theater. Er hat so etwas nicht gern getan, hat immer darüber gejammert, daß es ihn so viel Zeit koste, so viel kostbare Zeit, du kennst ja deinen Freund.“ „Strohblumen“, erläuterte ich, „stimmt in den Grundzügen mit dem Stück von Brunnenmüller überein: Ein Mann geht auf Reisen, erlebt ein Liebesabenteuer, das fast Konsequenzen für ihn hat, und zu Hause wird seine Frau vom Freund bedrängt, den sie nur dadurch los wird, daß sie ihn mit der Freundin verkuppelt.“ Gisela sah mich verblüfft an. Dann lachte sie, herzhaft und befreit. „Und ich dachte schon, es ist etwas Ernstes.“ Sie konnte sich nicht so bald beruhigen. „Das ist ein Jux! So eine Geschichte liegt doch auf der Straße, man 201
braucht sie nur aufzuheben. Auf so eine Viererstory kommt man ohne Vorlage in antiker Verkleidung.“ Dann verlor sie abrupt ihr Lachen. „Oder glaubst du, daß Carl es nötig hatte, eine solche Fabel zu klauen? Traust du ihm das überhaupt zu?“ „Davon rede ich nicht.“ Mir platzte fast der Kragen. Was sollten in dieser Situation Heiterkeit und Moralisieren. „Ich spreche von Tatsachen, und die müssen ins Kalkül gezogen werden. Ist es ausgeschlossen, daß ein bekannter Dramatiker, der mit einem Stoff nicht weiterkommt und etwas braucht, um die Produktionslücke zu stopfen (so ein wertvoller Automat darf ja schließlich nicht stillstehen), das Stück von einem anderen hernimmt und dessen nette, aber unbedeutende Fabel ausbeutet? Ist es nicht möglich, daß ein alter Mann glaubt, man habe ihn um seine Geschichte gebracht, und dem – na, sagen wir mal – Kopisten den Erfolg übelnimmt, einen Erfolg dazu, den er selber nie gehabt hat?“ „Du meinst, daß Brunnenmüller …“ Giselas Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen. „Der oder ein anderer, einer vielleicht, der in der entstandenen Turbulenz sein Segel aufspannt, um besser voranzukommen.“ „Ein Dritter?“ „Möglicherweise. Aber wir haben jetzt keine Zeit, darüber zu spekulieren.“ In mir wuchs plötzlich die Furcht, einen entscheidenden Augenblick zu verpassen. „Gisela, du gehst gleich zu Fuhrmann und erzählst ihm, was wir mit Fräulein Brunnenmüller erlebt haben. Sag ihm auch das von den beiden Stücken.“ „Und du?“ „Ich mache mich auf die Socken zu Margot Schulz. Jetzt muß sie mir sagen, wer der King ist.“ Gisela zögerte nur eine Sekunde. Dann sagte sie „Also gut“ und stand auf.
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14. Vor dem Haus, in dem Margot Schulz wohnte, stand ein Rettungswagen, das rotierende Blaulicht hatte auffällig viele Leute angelockt, die zu beiden Seiten des Eingangs warteten, daß ihre Neugier befriedigt würde. Man hat eben Zeit in einer kleinen Stadt, dachte ich, ehe mich unheilvolle Ahnung befiel. Ich wollte ins Haus, doch ein Polizist verwehrte mir den Eintritt. „Wohin?“ „Zu Margot Schulz.“ „Eben zu der können Sie nicht.“ Also doch! Meine Ahnung war nicht Produkt einer überhitzten Phantasie. „Sind Sie ein Verwandter von Fräulein Schulz?“ „Ein Freund“, sagte ich. „Können Sie sich ausweisen?“ Gepolter auf der Treppe lenkte den Polizisten von mir ab. Mit ausgebreiteten Armen und dem mehrmals wiederholten Ruf „Zurücktreten, bitte!“ schaffte er Platz für die beiden Männer in weißen Kitteln, die mit Eile und erstaunlichem Geschick die Trage über die enge Treppe balancierten. Ein dritter trug einen Apparat, der über Schlauch und Maske die Person auf der Trage mit Sauerstoff versorgte. Ich trat zur Seite. Als die Gruppe vorüberkam, sah ich: Sie hatte die Augen geschlossen, der Kopf war zur Seite gefallen, das Gesicht, soweit ich es erkennen konnte, wirkte entspannt. Die Haut hatte eine bläuliche Färbung angenommen. „Das ist doch die Schulz vom Stadttheater“, hörte ich hinter mir jemanden sagen. Ich nickte, als sei ich angesprochen worden: Ja, die Schulz vom Stadttheater … Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, versuchte ich noch einmal, ins Haus zu gelangen. Nun trat mir kein Polizist entgegen, und ich stieg die Treppe hinauf, sinnloserweise, denn ich hatte ja kein Ziel mehr. Mit jedem Schritt nach oben verstärkte 203
sich der Übelkeit bereitende Geruch von Leuchtgas, obwohl alle Flurfenster offenstanden. Unten fuhr der Unfallwagen ab, das Heulen der Sirene setzte ein und wurde schnell schwächer. Vor der gewaltsam geöffneten Tür zu Frau Knippels Wohnung traf ich auf Hauptmann Fuhrmann, der mit einem Uniformierten etwas besprach und mich nicht zu bemerken schien. Doch als ich an ihm vorübergehen wollte, redete er mich an. „Der Arzt meint, sie ist vielleicht noch rechtzeitig gefunden worden“, sagte er, als ob ich dazugehörte und er mir eine Auskunft schuldig sei. „Wenn Sie mit Frau Schanzer in einer Stunde zu mir kommen könnten …“ Er machte den Eindruck, als sei er übermüdet – oder auch enttäuscht. Ich nickte und wollte sagen, Gisela sei ohnehin zur Inspektion gegangen, aber er sah schon nicht mehr zu mir hin, unterhielt sich wieder mit dem Polizisten. Was suchte ich noch hier, wo mich keiner brauchte? Ich hatte Margot Schulz gesehen, hatte das Gas gerochen, hatte Auskunft erhalten, daß der Tod vielleicht abgewendet werden könnte. Das sollte genügen. Genaueres würde ich in einer Stunde erfahren. Doch dieses Genauere interessierte mich im Augenblick wenig. Ich fühlte mich so schlaff und stumpf, daß ich mich am liebsten auf die Treppe gesetzt hätte. Ich trat einen Schritt in die Diele und warf einen Blick um mich: Links war das Zimmer von Margot Schulz, geradeaus die Küche, und ich konnte durch die geöffnete Tür und das offenstehende Fenster auf einen Baum hinter dem Haus sehen. Mit unnützer Klarheit registrierte ich: In der Diele lag ein umgefallener kleiner Hocker, am Kleiderrechen hing ein Mantel, der Läufer war verrutscht, in der Küche brannte Licht, obwohl die Helligkeit von draußen ausgereicht hätte … und schließlich die Baumkrone, noch voller grüner Blätter. 204
Und dann bewegte sich von links in mein Blickfeld eine Gestalt: Herr Sommer. Er kam auf mich zu, und je näher er kam, desto schwerer wurde es mir, mich zu rühren. Es kann nur wenige Sekunden gedauert haben, bis er die sechs, sieben Schritte zurückgelegt hatte, aber die Zeit dehnte sich in meiner Vorstellung um ein vielfaches, und ich empfand mich widersprüchlichen Antrieben ausgesetzt: Sollte ich mich abwenden, sollte ich stehenbleiben, wie sollte ich mich überhaupt verhalten? Ich hatte nicht erwartet, ihn hier zu treffen. Wie hilfesuchend sah ich mich nach Fuhrmann um, aber der stieg bereits die Treppe hinunter. Und dann hörte ich auch schon Sommers Stimme, und mit Verzögerung begriff ich, was er sagte: „Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte es zu spät sein können. Frau Knippel war ja nicht zu Hause. Ich habe die Tür aufbrechen müssen.“ Ehe ich noch reagieren konnte, wurden wir von dem Polizisten aufgefordert, die Wohnung zu verlassen, und während er sich daranmachte, das Zimmer zu versiegeln, ging ich, mechanisch, wie ich hinaufgekommen war, die Stufen hinunter. Die Menschen vorm Haus hatten sich verlaufen, nur einige Unentwegte standen noch beisammen und beredeten halblaut und eifrig das Ereignis. „Kann ich Sie irgendwo hinbringen?“ Herr Sommer stand neben mir und deutete auf ein Auto am Straßenrand. Noch immer konnte ich die betäubende Schwere nicht abschütteln. Ich wandte mich ihm zu. Auch er sah erschöpft aus, stellte ich fest, als hätte er nicht ordentlich geschlafen. Das ließ mich für eine Sekunde die Frage vergessen, wieso ich hier schon wieder auf diesen Mann gestoßen war. Um ihn loszuwerden, entgegnete ich, ein kleiner Spaziergang täte mir jetzt besser. Er sagte jedoch nur „Auch gut!“ und schickte sich ungefragt an, mich zu begleiten. 205
So gingen wir denn nebeneinanderher, schweigend, beide die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, wie zwei Rentner, die einander seit Jahrzehnten kennen und einen milden Herbstnachmittag genießen wollen. In Wirklichkeit lauerte ich darauf, daß er anfing, mir einiges zu erklären. Denn auf Erklärungen glaubte ich ein Recht zu haben. Dann sagte er etwas, allerdings etwas, das ich nicht erwartet hatte. „Sie mögen mich wohl nicht?“ fragte er, als sei diese Frage die selbstverständlichste von der Welt, in einem Augenblick, da kaum etwas unwichtiger war, als unser Verhältnis zueinander zu bereden. „Ein Wunder wär’s nicht“, sagte er, „wo doch einer so wenig vom andern weiß.“ Die selbstgegebene Erklärung verringerte meine Verwirrung nicht. Was sollte, unter Männern, eine so indiskrete Frage? Und außerdem hatte mich bisher die Persönlichkeit Sommers nur soweit beschäftigt, wie sie mit dem Mord an Carl Schanzer zusammenhing. So versuchte ich, mich durch eine Gegenfrage aus der Verlegenheit zu ziehen, mit der ersten, die mir in den Sinn kam. „Was hatten Sie eigentlich gegen Schanzer?“ Er sagte schlicht: „Er war ein Schurke“, sagte es so, als spräche er von einem Wesen außerhalb menschlicher Gesittung. „Ich weiß, was ich da behaupte.“ Mir stockte der Schritt vorm Anprall dieser Ungeheuerlichkeit, die um so heftiger wirkte, da er sie so selbstverständlich und naiv vorgetragen hatte. Sommer blieb gleichfalls stehen. „Sie finden mich sicherlich unverschämt und grob, nicht wahr?“ Er sah mir eindringlich, fast zudringlich in die Augen, als könne er meine Meinung aus ihnen lesen. „Aber noch einmal: Ich weiß, was ich sage. Und wenn Sie das altertümliche Wort Schurke nicht schätzen, dann setzen Sie etwas anderes dafür, zum Beispiel: Er war ein Mann, mit dem man nichts zu tun haben möchte, nicht als Freund, nicht als Gegner.“ 206
Wenn Sommer glaubte, er machte mir sein Urteil durch die Erläuterung annehmbarer, so hatte er sich geirrt. Es war mir verständlich geworden, aber zugleich noch weniger akzeptabel, eben weil er unverblümt aussprach, was ich mir trotz allem, was ich in den letzten Tagen über Carl erfahren hatte, so nicht eingestehen mochte. Und konnte ich mich von ihm in eine Meinung drängen lassen, zu der ich allenfalls durch eigenes Überlegen kommen durfte? Also antwortete ich abwehrend: „Ich weiß nicht, ob Sie sich so ein Urteil anmaßen dürfen.“ „Ich darf.“ Wir hatten unsere Wanderung wiederaufgenommen und schritten nun zügiger aus, wie von der Brisanz des Gesprächs vorangetrieben. „Es ist schon ein schäbiges Benehmen, das er Margot Schulz gegenüber an den Tag gelegt hat. Kein Wunder, daß das Mädchen auf krumme Gedanken gekommen ist.“ „Was nennen Sie krumme Gedanken?“ Er beachtete meinen Einwurf nicht und fuhr fort, seinen Faden zu spinnen. „Jedem, der es hören wollte oder nicht, hat sie von ihrer engen Freundschaft zu dem berühmten Schanzer erzählt. Und sie hat es jeden wissen lassen: Ihm habe sie das Engagement zu verdanken, und Schanzer halte auch weiter seine Hand über sie. Und sie war stolz auf diese Protektion. Ab und zu hat er sie ja auch besucht, Ihr Freund, und dann war sie gelöst, glücklich. Und wenn er sich über längere Zeit nicht blicken ließ, hatte sie mit Depressionen zu kämpfen.“ Ich gab nicht auf, verlangte noch einmal zu wissen, was das für krumme Gedanken gewesen seien, von denen er gesprochen hatte. „Das gehört alles dazu, mein lieber Doktor Gammler. Ihr Freund hatte Margot ganz auf sich fixiert, vielleicht ohne es zu wollen, aus Gedankenlosigkeit – aber das wäre nur um so schlimmer … Sie war völlig von ihm ab207
hängig, lebte sozusagen von einem Besuch Schanzers zum anderen. Wer weiß, was er ihr vorgegaukelt hat – sie war fest davon überzeugt, daß er sie heiraten werde, sobald seine Ehe geschieden sei. Das hat sie mir einmal anvertraut.“ Sommer schwieg einige Sekunden, als müsse er noch mehr Argumente gegen Carl sammeln. Seine Wangen hatten sich gerötet, und das war sicherlich eher seiner Erregung zuzuschreiben als dem Gang in frischer Luft. „Eugen Wittlich bekam Margots Kapriolen am heftigsten zu spüren, und er war ihnen wehrlos ausgeliefert, weil er sie liebte. Der arme Bursche durfte in den Perioden der Niedergeschlagenheit an ihrem Kummer Anteil nehmen, und wenn sie glücklich war, weil Schanzer ihr wieder einmal Zeichen der Gunst gewährte, wurde er beiseite geschoben. So ist Wittlich regelrecht zermürbt worden und war reif für das kopflose Verhalten, als es zur Katastrophe kam.“ Versuchte Sommer, mich durch Ausweichen in die Vorgeschichte absichtlich von den Fragen abzulenken, die mir auf der Seele brannten? Mehr denn je empfand ich mich wie jemand, der im Nebel vom Weg abgekommen und darauf angewiesen ist, daß ihn einer beim Arm nimmt und auf den rechten Pfad zurückbringt. Daß der Helfer allerdings Sommer sein sollte, dieser Mann, den ich nur in verdächtigen Umständen kennengelernt hatte, das wäre mir nicht im Traum eingefallen und das wollte ich auch jetzt noch nicht so recht wahrhaben. Ich merkte, wie mein Stimmungsbarometer sank. „Über Wittlich brauchen wir wohl kein Wort mehr zu verlieren“, sagte ich, damit er endlich aufs Wesentliche käme. „Gerade über ihn wäre viel zu sagen.“ Groll war in seiner Stimme. „Er ist das eigentliche Opfer einer verworrenen Lage und einer üblen Atmosphäre geworden. Wenn es ein Gesetz gegen unsolidarisches Verhalten, 208
Egoismus, Selbstgerechtigkeit und Vorurteil gäbe, müßten einige Leute bestraft werden. Der Satz stammt übrigens vom Genossen Ginsterbusch, nicht von mir.“ Der Genosse Ginsterbusch hatte diese Spruchweisheit also abgelassen, und Sommer gab sie an die Welt weiter. Aber brauchte ich denn einen kriminalpolizeilichen Kommentar zu etwas, das ich längst durchschaut hatte? Daß nämlich das Ensemble einen Mann aus seiner Mitte zum Sündenbock zu machen trachtete, einen, der im Kollektiv nicht gerade beliebt war, der ein starkes Motiv hatte und sich überdies dagegen nicht wehren konnte. Wiederherstellung der Ruhe am Theater von N. bedeutete Wasser und Finkenmeier und einigen anderen mehr, als Durchsetzung von Gerechtigkeit, das hatte ich schon am Sonntagabend im Kasino gespürt … Mit dem Ärger über Ginsterbuschs Strafkatalog wuchs mein Unbehagen an Sommer wieder, der mich wie selbstverständlich durch die Stadt bugsierte und mit Ansichten fütterte, anstatt mich ins Bild zu setzen. Wenigstens gibt mir der Spaziergang Gelegenheit, meinen Kater an die Luft zu führen, dachte ich verdrossen. Sommer schien nichts von meinen widerstreitenden Empfindungen zu merken, setzte den Weg gleichmäßigen Schritts fort. Als wir den Marktplatz erreicht hatten, sagte er: „Die Uhr da am Rathaus ist eine Rarität, sie zeigt Mondphasen und Planetenkonstellationen an. Reparaturen sind sehr kompliziert.“ „Was ist mit den krummen Gedanken von Margot Schulz?“ Ich war selber erstaunt über die Beharrlichkeit, mit der ich versuchte, das Gespräch nicht aus dem Zügel laufenzulassen. „Haben Sie etwas zu tun mit dem Mord an Carl Schanzer?“ „Mit dem Mord an Carl Schanzer …“ Er wiederholte meine Worte, als müsse er seine Gedanken von sehr weit her zurückholen. „Ach, wissen Sie, lieber Doktor Gammler, am liebsten möchte ich zu dem Thema schweigen. Es 209
ist beschämend, für uns alle. Ich könnte Ihnen ohnehin nur sagen, was ich vermute.“ „Und was vermuten Sie?“ Ich war nicht gesonnen, mich mit solch allgemeinem Gewäsch, mit so einer Ausrede abspeisen zu lassen. „Und warum soll es beschämend sein, für alle, wie Sie sagen, über das Thema zu reden?“ Wir hatten eine der Bänke erreicht, die im Halbkreis um einen kleinen Brunnen standen. „Setzen wir uns“, schlug Sommer vor. Wir blickten auf das Spiel des Wassers, das aus Löwenmäulern in die vier Himmelsrichtungen gespien wurde – so etwas beruhigt. Ich merkte, wie auch Sommer sich entspannte: Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ die Unterarme hängen. Und dann fing er zu reden an, ohne mich dabei auch nur einmal anzusehen. „Ja, es ist beschämend“, sagte er, „daß eine Handvoll Menschen, die zusammen arbeiten und auch privat miteinander umgehen, so wenig voneinander wissen oder voneinander wissen wollen … Sie werden mich vielleicht nicht verstehen, Sie sind ja von draußen, und für Sie tritt alles, was sonst geschehen ist, zurück hinter den Mordfall, der Sie betroffen macht, weil Sie das Opfer lange kannten. Aber für uns – für uns kommt das, was sich hier in den letzten Tagen ereignet hat, einer Bankrotterklärung gleich.“ Das klang nun nicht mehr nach Ausrede, und ich hörte ernsthaft zu. „Ich habe Ihnen meine Meinung über Schanzer gesagt: Er war ein Schurke. Aber das stimmt so ja auch nicht, es ist zu bequem. Wir alle tragen Schuld, ausnahmslos. Wir haben einen jungen Mann für einen Mörder angesehen, weil es uns in den Kram paßte, vielleicht auch weil der Augenschein gegen ihn sprach. Wir haben es zugelassen, daß eine junge Frau sich in Hirngespinste verrannte, haben dabeigestanden und beobachtet. Ich nehme mich da nicht aus. Zu spät habe ich begriffen: Man muß sich um Mar210
got kümmern, man darf Sie mit Ihrer Schuld nicht allein lassen.“ Er schwieg und blickte reglos zu Boden. Es war das erstemal, daß jemand von einer Schuld der Margot Schulz sprach, und obwohl ich nach ihrem Selbstmordversuch schließen mußte, daß sie tiefer in die Mordaffäre verstrickt war, gingen mir Sommers letzte Worte unter die Haut. Vergebens strapazierte ich in aller Eile mein Gedächtnis, um mich an verdächtige Momente zu erinnern, die mit Margot Schulz in Verbindung gebracht werden konnten. Doch viel mehr als der allgemeine Eindruck von einer Frau, die unter der Last des Geschehens zusammenzubrechen drohte, stellte sich nicht ein. So blieb mir nichts, als zu warten, daß Sommer weitersprechen würde. Also faßte ich mich in Geduld, denn ich durfte ihn nicht durch ungezügelte Neugier verprellen. „Ich weiß“, fuhr er schließlich fort und streifte mich mit einem schnellen Blick, ehe er die Augen wieder auf das Wasserspiel richtete, „Sie haben mich für eine finstere Type gehalten, für jemanden, der Nebel verbreitet, vielleicht sogar für den Mörder. Dabei waren Sie mir nur lästig, und ich wollte Sie abschrecken. Denn was es zu bereinigen gab, dachte ich, das geht nur uns etwas an, die Leute vom Theater. Und natürlich die Polizei. Sie sind mir wie ein Eindringling vorgekommen!“ Es schien wirklich nicht mein bester Einfall gewesen zu sein, als ich beschloß, mich um den Mord an Carl zu kümmern. Nicht nur Ginsterbusch hatte mich und meine Aktionen als störend und wenig hilfreich empfunden. „Ich sehe ein, das war engstirnig“, fuhr Sommer fort. „Vielleicht hätten Sie, ein Fremder, dem sie sich vertrauensvoll zuwandte, bei Margot mehr erreichen können als ich, einer ihrer Kollegen, von denen sie sich im Stich gelassen fühlte. Als ich aus der Front der anderen ausbrach und nicht länger ansehen mochte, wie man versuchte, allen Dreck unter den Teppich zu kehren, da 211
war es zu spät. Sie hat mich nicht mehr ins Vertrauen gezogen, sosehr ich mich auch darum bemühte.“ Vor mir stand das Bild der Margot Schulz, das sich mir von meinem letzten Besuch hier eingeprägt hatte: eine stumpfe, störrisch und mißtrauisch gewordene Frau, die von nagender Verzweiflung beherrscht wurde. Ich fühlte mich alles andere als gerechtfertigt, wenn ich daran dachte, wie ich mich davor gedrückt hatte, die Gelegenheit zu einem klärenden Gespräch zu ergreifen. Die Vorstellung meines Versagens drohte mich zu lähmen. Ich sagte: „Vielleicht hätte ich mehr erreichen können, wenn …“ Doch dann schüttelte ich die Lethargie ab, denn ich wollte endlich eine Antwort auf das, was mich bis in die Fingerspitzen bewegte: „Ist Margot Schulz in den Mord verstrickt?“ „Fragen Sie die Männer von der Kriminalpolizei“, erwiderte er, und die Antwort klang nicht abweisend, eher resignierend. „Ich weiß nur, daß sie sich schuldig fühlt an Schanzers und Wittlichs Tod. Sie hat einen Brief geschrieben, der lag in ihrem Zimmer, als ich sie heute fand. Ich habe ihn zu spät entdeckt und nur teilweise überfliegen können, nachdem ich Polizei und Rettungsamt alarmiert hatte – Fuhrmann war zu schnell an Ort und Stelle, sonst wüßte ich mehr. Ich habe Carl Schanzers Mörder auf den Weg gebracht, so ungefähr hat sie geschrieben, und ich bin schuldig geworden an Eugen Wittlichs Tod, weil ich nicht von vornherein gesagt habe, was ich wußte. Margot wollte wohl nach allem nicht mehr leben.“ „Sie wußte, wer der Mörder ist?“ „Wahrscheinlich hat sie von Anfang an geahnt, wer es nur sein konnte.“ Dann sank seine Stimme zum Flüstern ab, als er sagte: „Und ich hätte es mir auch ausrechnen können.“ „Weil Sie Brunnenmüllers Stück kannten?“ Er sah mich überrascht an. „Woher wollen Sie das wissen?“ 212
„Brunnenmüllers Schwester hat mir erzählt, daß Sie der einzige waren, dem er seine Stücke noch zu lesen gab.“ Er nickte. „Das stimmt. Und er wollte auch, daß ich sein letztes Stück las. Aber ich hatte es satt, mich mit seinen kindischen Machwerken herumzuschlagen und ihm hinterher ein paar flaue Elogen zu machen.“ Sommers Widerstand, mich, soweit er konnte, ins Bild zu setzen, schwand über der Notwendigkeit, sein Verhalten zu erklären. „Und so habe ich ihn überredet, sein Manuskript an Schanzer zu schicken. Der sei kompetent, und der könne etwas für ihn tun, wenn er das Stück für gut befinde. Zwei Wochen später zeigte er mir einen ziemlich rotzigen Brief von Schanzer, mit einem Urteil der Art: Schuster, bleib bei deinen Leisten.“ „Sie wußten also nicht, daß Strohblumen mit Brunnenmüllers Griechendrama eine – na, sagen wir – verblüffende Ähnlichkeit hat?“ Sommer zögerte. Ich beobachtete, wie er mit sich kämpfte, ob er mir Auskunft geben oder mich vielleicht wieder mit dem Satz abspeisen sollte: Fragen Sie doch die Männer von der Polizei. Dann sagte er aber: „Brunnenmüller hat mir gegenüber einmal eine Andeutung gemacht, etwa zwei Wochen vor der Premiere: Schanzer habe ihm sein Stück gestohlen. Ich hielt das natürlich für eine seiner üblichen Überspanntheiten. Ein Mann wie Schanzer … Und kurz nach dem Mord schien ja denn auch mit Wittlich der Täter festzustehen.“ „Und was hat Sie dann vermuten lassen, daß es ein anderer gewesen sein könnte?“ „Am Montag auf der Probe, als wir von Wittlichs Unfall erfuhren, hatte Margot einen Zusammenbruch. Ich brachte sie ins Konversationszimmer, und sie schluchzte: ‚Jetzt muß der arme Junge es ausbaden!‘ Später, in der Kantine, hat Hannes Kaul von seiner Beobachtung auf der leeren Bühne erzählt. Ich habe mich am selben 213
Tag noch eingehender mit ihm unterhalten. Und dann bin ich zur Polizei gegangen und habe darüber ausgesagt.“ „Und ich dachte, Sie hätten Wittlich noch mehr belastet.“ „Und deshalb glaubten Sie, den empörten Rächer der Unschuld spielen zu müssen, in meinem Garten.“ Wir sahen einander an und sahen einer in des anderen Gesicht ein Lächeln, das Versöhnung signalisierte. „In Wirklichkeit war ich schon dabei, den Jungen reinzuwaschen. Zuerst habe ich versucht, von Brunnenmüller das Manuskript zu bekommen, doch der machte Ausflüchte, behauptete, er habe es aus Ärger über Schanzers Brief verbrannt. Dann hat Fuhrmann am Dienstagmorgen Margot nach dem Gespräch auf der leeren Bühne befragt, ohne Erfolg: Sie könne sich an eine solche Unterredung nicht erinnern, und sie wisse auch mit dem Inhalt des Gesprächs, den er vortrug, nichts anzufangen. Schließlich habe ich mich im Einvernehmen mit Fuhrmann weiter um sie gekümmert. Er war wohl der Ansicht, einem Kollegen würde sie sich eher aufschließen. Wir wissen ja, was dabei herausgekommen ist: Wenn ich heute nicht zufällig …“ Der Schreck steckte ihm anscheinend noch zu tief in den Knochen, als daß er den Satz vollenden mochte. Statt dessen sagte er: „Ich begreife es nicht. Was hatte Margot zu befürchten, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte?“ Ich glaubte ihm, daß er es nicht wußte – von ihm war offensichtlich nicht mehr zu erfahren. Nur eines interessierte mich noch: die Antwort auf die Frage, die ich heute Margot Schulz hatte stellen wollen. Und so erkundigte ich mich bei Sommer: „Wird Brunnenmüller gelegentlich King genannt?“ „Seltsam, dasselbe hat mich Ginsterbusch gestern abend gefragt. Nun, Brunnenmüller hat so oft davon gesprochen, einmal im Leben den King Lear spielen zu 214
wollen, daß er seinen Spitznamen weghatte. Der alte dumme Kerl“, schickte er hinterher, und ich hörte Fassungslosigkeit und auch eine Spur von Zuneigung aus den letzten Worten. Das also war die Lösung: Brunnenmüller alias King. Man mußte nur zur richtigen Zeit (die war ja nun wohl verpaßt) den richtigen Mann befragen, um die richtige Antwort zu erhalten! Ich mochte nicht mehr darüber nachdenken, was sich anders hätte entwickeln können, wäre ich bereits am Vortag hinter das Geheimnis gekommen. Sommer war aufgestanden, etwas umständlich Förmliches lag jetzt in seiner Haltung, so daß auch ich mich unwillkürlich von der Bank erhob und ihm gegenüber Aufstellung nahm. Er räusperte sich, als wolle er die Kehle für eine längere Rede vorbereiten, sagte aber nur: „Ich hoffe, ich sehe Sie noch einmal.“ Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand. „Vielleicht.“ Und er ging davon. Mir blieb jetzt noch das Zusammentreffen mit Fuhrmann und Ginsterbusch, und entschlossen machte ich mich auf den Weg. Doch mit jedem Schritt, der mich der Inspektion näher brachte, wuchs eine Beklemmung, die ich mir nicht recht erklären konnte. Vielleicht erschwerte mir das Bewußtsein den Gang, daß nun ein Abschied bevorstand. Ein Kapitel war abgeschlossen und hatte tiefe Spuren hinterlassen. Seit fünf Tagen erst war ich in N., und doch fühlte ich mich so, als hätte ich mich seit Wochen in dem Städtchen herumgetrieben, von einer Enttäuschung in die andere, stolpernd, von einer vergeblichen Bemühung zur nächsten. Nicht nur, daß ich hier einen Freund verloren hatte, in einem weiteren Sinn verloren als nur durch den Tod. Hier waren mir Menschen begegnet, mehr als je zuvor, die sich mit Schuld beladen hatten – Schuld durch Lüge, Herzensträgheit, Mord … Und doch kamen sie mir nicht wie Fremde vor, denen ich ruhigen Gewissens Abscheu oder 215
Verachtung entgegenbringen oder die ich gar als Fälle für den Psychiater ansehen durfte, indem ich ihre seelischen Regungen katalogisierte und auf mögliche Abnormitäten befragte. Ich war betroffen worden im Sinn des Worts: Was ich erlebt hatte, betraf mich direkt – mich, Friedrich Gammler, der, ausgezogen, die Spur eines Mörders zu entdecken, Menschen in ihrem Widerspruch begegnet war. Um es kurz zu machen: Unterwegs zu Fuhrmann und Ginsterbusch war ich dabei, meine Irrwanderung der letzten Tage zu problematisieren und mit Gefühlen zu befrachten. Im übrigen dachte ich mit geheimem Unbehagen daran, wie es wäre, wenn ich mich als Angehöriger der Polizei für den Rest meines Lebens mit den Entgleisungen der Mitmenschen befassen müßte, und kurz vor meinem Ziel wurde ich unsicher, als ich mich fragte, wie ich Gisela entgegentreten sollte, in welcher Verfassung ich sie antreffen würde. Dieser Sorge wurde ich vorerst enthoben: Fuhrmann erklärte mir, als wir einander an dem Besuchertischchen gegenübersaßen (Ginsterbusch hatte sich nach meinem Eintritt unter irgendeinem Vorwand zurückgezogen), daß Frau Schanzer mir auszurichten bitte, sie habe aus beruflichen Gründen bereits nach Hause fahren müssen. „Sie sah mitgenommen aus“, kommentierte Fuhrmann. „Ginsterbusch und ich wollten sie so allgemein wie möglich informieren, aber sie bestand darauf, alles und alles im Detail zu erfahren.“ Er hob hilflos die Schultern. „Und da haben wir sie eben mit allem bekannt gemacht.“ „Und was heißt das: mit allem?“ Die Enttäuschung, Gisela nicht mehr angetroffen zu haben, mischte sich mit der Erleichterung, daß ich erst einmal von möglicherweise deprimierenden Gesprächen verschont bleiben würde, und so war Freiraum geschaffen für ganz ordinäre Neugier, die denn auch alle anderen Regungen 216
zurückdrängte. Ich wollte alles und alles im Detail wissen, genau wie Gisela, und ich war jetzt ungeduldig. „Nicht nur, daß Brunnenmüller der Täter ist. Das werden Sie ja wohl bereits erfahren oder sich zusammengereimt haben. Er ist übrigens seit heute vormittag in Haft.“ Fuhrmann sprach wie jemand, der seine Arbeit getan hat, ohne Erregung, ohne Genugtuung. Ich glaubte sogar etwas wie Bedauern in seiner Stimme zu hören, als er berichtete, Brunnenmüllers Schwester habe, als man ihren Bruder abführte, einen Ohnmachtsanfall erlitten. Er sah mein erschrockenes Gesicht und beruhigte mich. „Sie ist bald wieder zu sich gekommen. Wir haben sie vorsichtshalber ins Kreiskrankenhaus bringen lassen.“ Ich hatte nicht den Mut, mir vorzustellen, wie die freundliche alte Frau den Schlag ertragen würde, und so lenkte ich schnell wieder zur Sache über: „Er hat den Mord gestanden?“ „Ich bin selten einem auskunftsbereiteren Menschen begegnet, auch wenn er sich trotz allem noch im Recht glaubte und seine Tat lediglich als nicht angemessen ansah. Ich hatte den Eindruck, er wollte die Last seiner Schuld dadurch von sich wälzen, daß er sein Tun so genau wie möglich in Worte faßte. Alles hat er uns bis aufs I-Tüpfelchen erzählt: wie er nach der Premierenfeier hinter Schanzer und Ihnen hergegangen ist, wie er Schanzer noch einmal zur Rede gestellt und wie der, angetrunken, ihn ausgelacht und einen komischen alten Kauz genannt hat, der sich samt seinen Griechen sauer einlegen lassen solle, und wie er zuschlug, ihn mit der schweren Krücke seines Stocks am Kopf traf, dreimal, viermal. Dann erst schien er begriffen zu haben, was er angerichtet hatte, und er versuchte, Schanzer ins Gebüsch zu schleppen, er sagt – und ich glaube ihm das –, er hätte sich um Schanzer kümmern, hätte feststellen wollen, ob ihm noch zu helfen war. Doch er ist gestört 217
worden, durch näher kommende Schritte – vermutlich war es Wittlich –, und ist geflohen.“ In so dürren Worten geschildert, nahm die Tat einen abstrakten, aufs Kriminalistische reduzierten Charakter an, und ich mußte mir erst wieder Carl und Brunnenmüller ins Gedächtnis rufen, um das reale Geschehen deutlich vor mir sehen zu können. Dann aber fiel mich die Sinnlosigkeit der Vorgänge mit doppelter Heftigkeit an. „Und all das wegen eines Theaterstücks“, sagte ich, „das der eine vom anderen abgeschrieben haben soll.“ Fuhrmann wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich verstehe nicht viel vom Theater, doch mir scheint, so ein Lustspielchen kann sich jeder ausdenken, der ein bißchen Phantasie im Schädel hat. Oder glauben Sie, daß Schanzer es nötig hatte, dieses Histörchen zu klauen? Offensichtlich hat er sich einen Jux machen und dem anderen zeigen wollen, was man aus einem Stoff herausholen kann. Aber all das bewegt mich nicht so sehr, mich erschüttert die Tragik des Falles, und die kommt durch Margot Schulz ins Spiel.“ Die Pause, die Fuhrmann an dieser Stelle einlegte, war kein Kniff, um die Spannung zu erhöhen. Ich sah es an seinen Augen, daß er der Rolle von Margot Schulz in dieser schlimmen Geschichte noch immer etwas ratlos gegenüberstand. Nur um das Schweigen nicht allzusehr wuchern zu lassen, warf ich ein: „Ist denn ein Mord nicht tragisch genug?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, an erregten und fehlgeleiteten Emotionen ist nichts Tragisches, an ihnen wird nur die Instabilität menschlicher Haltungen erkennbar. Tragisch wird die Sache für meine Begriffe erst, wenn die Emotionen geweckt worden sind, um ein erstrebenswertes Ziel zu erreichen, das dann im Endeffekt weit verfehlt wird, so weit, daß es in sein furchtbares Gegenteil umschlägt. Im Klartext: Margot Schulz hat versucht, und mit Erfolg versucht, wie wir wissen, einen 218
Streit zwischen den beiden Männern vom Zaun zu brechen, um ihre Absicht schneller voranzubringen.“ „Ihre Absicht?“ „Nach allem, was wir wissen – aus der Vernehmung Brunnenmüllers und aus ihrem Abschiedsbrief –, hatte es Margot Schulz darauf abgesehen, die Scheidung, von der Schanzer wohl einmal gesprochen hat, dadurch voranzutreiben, daß sie sich Schanzer in einer prekären Angelegenheit zu Dank verpflichtete. Aus einer Bemerkung Schanzers, er werde dem alten King einmal zeigen, wie man ein Stück schreibt, das auch die Chance hat, aufgeführt zu werden, ist sie auf den Einfall gekommen, Brunnenmüller gegen ihren Freund aufzubringen, in der Absicht, zum Schluß als kluge, alle Wogen glättende Frau das Problem und alle Feindschaft aus der Welt zu schaffen und Schanzer damit zu imponieren. Sie war es, die Brunnenmüller auf das Plagiat (oder wie man das nennen soll) aufmerksam gemacht hat, sie hat Brunnenmüller unentwegt angestachelt, sich so eine bodenlose Schweinerei – das ist wörtlich – nicht gefallen zu lassen, und wenn sie an Schanzer schrieb, der King habe sie schon wieder belästigt, dann ist es wohl in Wahrheit so gewesen, daß sie wieder einmal an Brunnenmüller herangetreten war, um das Feuer ein wenig zu schüren. Jedenfalls hatte sie ihn vor der Premiere so weit, daß er in Weißglut war; aber sie kam dann nicht mehr dazu, als friedenstiftender Engel aufzutreten – der von ihr geweckte Zorn entlud sich.“ Nun wußte ich das also auch. Ich kann nicht sagen, daß ich erschüttert war; dazu wirkte die Geschichte auf mich nicht elementar genug. Das Ganze kam mir eher wie eine ausgetüftelte Dummheit vor, und ich sagte das auch. „Eine Dummheit, die zwei Menschen das Leben gekostet hat“, ergänzte Fuhrmann. „Und um ein Haar ein drittes Opfer gefordert hätte.“ 219
„Vergessen Sie nicht den störrischen alten Mann, der sich ins Unglück gebracht hat.“ In diesem Augenblick trat Ginsterbusch ins Zimmer; klein und alert, den Hut auf dem Kopf, den Mantel überm Arm, eine Aktentasche in der Hand, tauchte er gerade zur rechten Zeit auf, um eine polizeiwidrige Stimmung zu vereiteln. „Hast du es ihm beigebracht?“ fragte er Fuhrmann, als hätte der es mit einem schwierigen Patienten zu tun gehabt. Und zu mir gewandt, sagte er: „Da staunen Sie, was?“ Und dann, als wäre durch die erledigte Arbeit der Übermut in ihm geweckt worden, wurde er gesprächig. „Wir waren ja dem Burschen schon seit Montag auf der Spur. Aber es fehlte uns das rechte Motiv für die Tat. Wer denkt denn auch auf Anhieb an so etwas Ausgefallenes. Da haben Sie uns mit den Briefen doch ganz schön weitergeholfen.“ „Danke“, sagte ich, argwöhnisch wie immer, wenn ich es mit Ginsterbusch zu tun hatte. Und dann ritt mich der Teufel, und ich fragte so harmlos wie möglich: „Hätten Sie nicht die Briefe, wenn Sie bei der ersten Vernehmung von Frau Schanzer gründlicher vorgegangen wären, bereits am Sonnabend in Händen haben und den Fall schon eher klären können?“ Zuerst war Ginsterbusch sprachlos, verzog nur das Gesicht – man wußte nicht, war Zahnschmerz oder Niesreiz die Ursache. Doch dann lachte er, daß sein schmächtiger Körper aus den Fugen zu gehen drohte. Fuhrmann sah erstaunt zwischen seinem Kollegen und mir hin und her, ging sogar mit beschwichtigend erhobenen Händen auf Ginsterbusch zu. Aber der winkte ab. „Laß nur, Heinz, der Mann ist zu komisch.“ Dann wurde er abrupt ernst, und ich war froh, daß ich den gewohnten Ginsterbusch vor mir hatte. „Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen: Da wird ein Toter gefunden, dem ist die Schädeldecke eingeschlagen worden. Bei der Autopsie wird festgestellt, daß winzige Splitter von acht220
hunderter Silber ins Gehirn gedrungen sind. Die können nun von einem Leuchter oder meinetwegen von einer Silbervase stammen. Aber da fragt man sich: Wer schleppt schon morgens um fünf einen Leuchter oder eine Vase mit sich im Park ’rum? Was bleibt? Vielleicht ein Stock mit einer silbernen Krücke? Und dann sieht man sich danach um, und man findet einen Mann, der so einen Stock besitzt, und muß sich nun vergewissern, ob der nicht vorübergehend in fremde Hände geraten und als Waffe gebraucht worden ist. Inzwischen tritt ein Helfer auf, der kann zum Tatwerkzeug auch noch ein plausibles Motiv liefern, sagen wir: durch Briefe. Und der Fall ist abgeschlossen. Sehen Sie, so, Herr Doktor Gammler, wird heute wirkliche, solide kriminalistische Arbeit geleistet.“ Ich war etwas verwirrt. Also: Ein Stock mit silberner Krücke, Silberpartikel im Hirn des Toten, folglich … Ich schüttelte mich, und unaufhaltsam verzog sich mein Gesicht zu einem so breiten Grinsen, daß ich das Gefühl hatte, mir fransten die Mundwinkel aus. Als ich Ginsterbusch dadurch genügend verunsichert zu haben glaubte, sagte ich: „Zu Hause bei mir steht auch so ein Stock, ein Erbstück von meinem Großvater mit schwersilberner Krücke. Sehen Sie sich den bei Gelegenheit doch an, vielleicht wenn Sie wieder einmal vermuten, ich hätte nicht von zu Hause, sondern aus einer anderen Stadt angerufen. Auf Wiedersehen!“ Im Hinausgehen sah ich Ginsterbuschs offenen Mund und einen Fuhrmann, der vergebens versuchte, ernst zu bleiben.
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